Killy Literaturlexikon Band 6: Huh – Kräf
Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann
Walter de Gruyter
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Killy Literaturlexikon Band 6: Huh – Kräf
Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann
Walter de Gruyter
Killy Literaturlexikon
Band 6
Killy Literaturlexikon Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraumes 2., vollständig überarbeitete Auflage Herausgegeben von Wilhelm Kühlmann in Verbindung mit Achim Aurnhammer, Jürgen Egyptien, Karina Kellermann, Steffen Martus, Reimund B. Sdzuj Band 6 Huh – Kräf
Walter de Gruyter • Berlin • New York
Die erste Auflage erschien unter dem Titel Literatur Lexikon. Autoren und Werke deutscher Sprache im Bertelsmann Lexikon Verlag, Gütersloh/München, herausgegeben von Walther Killy unter Mitarbeit von Hans Fromm, Franz Josef Görtz, Gerhard Köpf, Wilhelm Kühlmann, Gisela Lindemann, Volker Meid, Nicolette Mout, Roger Paulin, Christoph Perels, Ferdinand Schmatz, Wilhelm Totok und Peter Utz. Die in diesem Lexikon gewählten Schreibweisen folgen dem Werk „WAHRIG – Die deutsche Rechtschreibung“ sowie den Empfehlungen der WAHRIG-Redaktion. Weitere Informationen unter www.wahrig.de Redaktion: Christine Henschel (Leitung) und Bruno Jahn Redaktionsschluss: 31. März 2009
1 Gedruckt auf säurefreiem Papier, *
das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. ISBN 978-3-11-021393-5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. für die 1. Auflage by Bertelsmann Lexikon Verlag GmbH, Gütersloh/München 1988 – 1993 Alle Rechte vorbehalten für die 2. Auflage 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Laufen Satz: Process Media Consult, GmbH Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Wolfgang Achnitz Irmgard Ackermann Erik Adam Antonio Aguirre Philip Ajouri Yvonne-Patricia Alefeld Robert J. Alexander Stefan Alker Claus Altmayer Alfred Anger Ilse Auer Friedhelm Auhuber Achim Aurnhammer Martina Backes Änne Bäumer Susanne Barth Karl W. Bauer Stefan Bauer Susanne Bauer Günter Baumann Hanno Beck Sabina Becker Thomas Becker Manfred Behn-Liebherz Michael Behnen Maria Behre Wolfgang Behringer Jochen Bepler Rüdiger Bernhardt Eckhard Bernstein Thomas Betz Wolfgang Beyrodt Raimund Bezold Wolfgang Biesterfeld Helmut Blazek Herbert Blume Michael Böhm Heiner Boehncke Holger Böning Ralf Georg Bogner Klaus Bohnen Gerhard Bolaender Dorothea Bolte
Alexander von Bormann Michael Braun Michael U. Braun Astrid Breith Reinhard Breymayer Gisela Brinker-Gabler Horst Brunner Walter Buckl Hans Peter Buohler Volker Busch Gabriele Busch-Salmen Elisabeth Chvojka Sibylle Cramer Ralf Georg Czapla Julia Danielczyk Birgit Dankert Rudolf Denk Heinrich Detering Hartmut Dietz Stephan Ditschke Ingeborg Dorchenas Alfred Dreyer Jürgen Egyptien Andrea Ehlert Bettina Eschenhagen Hans Esselborn Gesa von Essen Edith Feistner Bernhard Fetz André Fischer Cornelia Fischer Ernst Fischer Thorsten Fitzon Josef Fleckenstein Jürgen Fohrmann Konrad Franke Jutta Freund Christophe Fricker Jochen Fried Hans-Edwin Friedrich Hartmut Fröschle Hans Fromm Frank Fürbeth
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Kurt Gärtner Klaus Garber Iris Gareis Sabine Geese Andrea Geier Gudrun Gleba Jens Glebe-Møller Ingeborg Glier Uta Goerlitz Bernd Goldmann Walter Grab Katharina Grätz Fritz Graf Klaus Graf Jürgen Grambow Barbara Gribnitz Wolfgang Griep Martin Grill Gunter E. Grimm Michael Großheim Isabel Grübel Detlef Haberland Wilhelm Haefs Claudia Händl Günter Häntzschel Hiltrud Häntzschel Lutz Hagestedt Peter-Henning Haischer Rainer Hank Sven Hanuschek Matthias Harder Edward P. Harris Anneli Hartmann Heiko Hartmann Volker Hartmann Peter Hasubek Jens Haustein Manfred Heiderich Ingrid Heinrich-Jost Horst Heintze Ernst Hellgardt Mechthild Hellmig Gabriele Henkel Nikolaus Henkel Christine Henschel Klaus Hensel Werner Herbst Peter Heßelmann Walter Hettche Alex W. Hinrichsen Achim Hölter Winfried Hönes Stefan Höppner Nele Hoffmann
Heinz Holeczek Detlef Holland Johann Holzner Christoph Huber Martin Huber Agnes Hüfner Rainer Hugener Bernhard Iglhaut Nadine Ihle Wilfried Ihrig Ferdinand van Ingen Michael Irmscher Ingo Irsigler Jürgen Jacobs Andrea Jäger Hans-Wolf Jäger Bruno Jahn Harald Jakobs Detlev Janik Gerhard Jaschke Herbert Jaumann Ulrich Joost Renate Jürgensen Matthias Jung Werner Jung H. Wolf Käfer Rudolf Käser Dieter Kartschoke Elke Kasper Dirk Kemper Christian Kiening Kathrin Klohs Arnulf Knafl Manfred Knedlik Reinhard Knodt Hans-Albrecht Koch Jörg Köhler Peter König Barbara Könneker Jörg-Dieter Kogel Sabine Koloch Gisela Kornrumpf Lars Korten Fritz Krafft Hannes Krauss Hans Joachim Kreutzer Wynfrid Kriegleder Detlef Krumme Astrid Kube Wilhelm Kühlmann Hartmut Kugler Walther Kummerow Susanne Kunisch Lothar van Laak
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VII Johann Lachinger Henrike Lähnemann Gerhard Lampe Peter Langemeyer Ingo Langenbach Corinna Laude Erwin Leibfried Gerrit Lembke Claudia Lenssen Pia-Elisabeth Leuschner Ulrike Leuschner Virginia L. Lewis Ludger Lieb Sandra Linden Charles Linsmayer Tim Lörke Reinhard Löw Martin Loew-Cadonna Dieter Lohmar Sabine Lorenz Raffaele Louis Ulrich Maché Barbara Mahlmann-Bauer Hendrik Markgraf Lea Marquart Hanspeter Marti Matías Martínez Arno Matschiner Gert Mattenklott Christopher Meid Albert Meier Andreas Meier Christoph Meinel Ute Mennecke-Haustein Jörg Martin Merz Dietrich Meyer Jochen Meyer Eckhardt Meyer-Krentler Annette Meyhöfer Wolfgang F. Michael Alain Michel Zygmunt Mielczarek Rita Mielke Jean Mondot Elfriede Moser-Rath Alexander Müller Angelika Müller Dominik Müller Gerd Müller Mario Müller Oliver Müller Waltraud Müller Wolfgang Erich Müller Wolf-Dieter Müller-Jahncke
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Kurt Müller-Vollmer Albert Mues Volker Neuhaus Bernd Neumann Gerhard Neumann Walter Olma Reinhard Olt Ernst Osterkamp Bernadette Ott Norbert H. Ott Stephanie Over Johannes G. Pankau Walter Pape Georg Patzer Günther Patzig Roger Paulin Silka Pfahler Kristina Pfoser-Schewig Roland Pietsch Beate Pinkerneil Thomas Pittrof Jörg Platiel Anna Poeplau Hans Pörnbacher Ute Pott Fabian Prechtl Ulrike Prokop Martin Przybilski Yong-Mi Quester Fidel Rädle Jürgen Rathje Otto Friedrich Raum Martin Rector Philipp Redl Friederike Reents Pia Reinacher Heimo Reinitzer Angela Reinthal Johannes Rettelbach Roland Reuß Nicolai Riedel Gerda Riedl Helmut Riege Wolfgang Rieger Bernd Roeck Werner Röcke Monika Rössing-Hager Eberhard Rohse Karin Rother Martin Rothkegel Thomas Rothschild Johannes Sachslehner Eda Sagarra Jutta Sandstede
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Paul Sappler Hans Sarkowicz Ingrid Sattel Bernardini Gerhard Sauder Armin Schäfer Gregory Schalliol Franca Victoria Schankweiler Renate Scharffenberg Stefan Scherer Jürgen Schiewe Regina D. Schiewer Jörg Schilling Wolfgang Schimpf Volker Schindler Regula Schmid Christine Schmidjell Wolf Gerhard Schmidt Walter Schmitz Ronald Schneider Barbara Schnetzler Sabine Schmolinsky Dietrich Scholze Luise Schorn-Schütte Hermann Schreiber Alexander Schüller Marco Schüller Rolf Schütte Erhard Schütz Hans J. Schütz Armin Schulz Gerhard Schulz Johannes Schulz Kristin Schulz Ursula Schulze Meinolf Schumacher Gudrun Schury Leonore Schwartz Christian Schwarz Reimund B. Sdzuj Wolfgang Seibel Peter Seidmann Rolf Selbmann Rita Seuß Lesley Sharpe Hania Siebenpfeiffer Winfried Siebers Reinhart Siegert Franz Günter Sieveke Friedhelm Sikora Kai Sina Johann Sonnleitner Bengt Algot Sørensen Stephan Speicher Günter Spendel
Björn Spiekermann Carlos Spoerhase Ingeborg Springer-Strand Paul Stänner Guido Stefani Johann Anselm Steiger Robert Steinborn Hajo Steinert Frank Steinmeyer Andrea Stoll Alfred Strasser Gerhard Stumpf Dieter Sudhoff Erika Swales Anette Syndikus Christian Teissl Joachim Telle Erika Timm Michael Titzmann Jochanan-C. Trilse-Finkelstein Elke Ukena-Best Helgard Ulmschneider Martin Unkel Gesa M. Valk Klaus Völker Jochen Vogt Dominica Volkert Konrad Vollmann Gisela Vollmann-Profe E. Theodor Voss Torsten Voß Hans Wagener Bernhard Walcher Jürgen P. Wallmann Axel E. Walter Klaus-Peter Walter Berbeli Wanning Ernst Weber Walter Weber Hilkert Weddige Wolfgang Weismantel Christoph Weiß Ursula Weyrer Norbert Wichard Heiner Widdig Stefan Wieczorek Peter Wiesinger Ulla Williams Werner Williams-Krapp Christoph Willmitzer Michaela Wirtz Heinz Wittenbrink Theresia Wittenbrink Matthias Wörther
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IX Jürgen Wolf Rainer Wolf Elsbeth Wolffheim Elisabeth Wunderle Werner Wunderlich W. Edgar Yates
Verfasserinnen und Verfasser der Beiträge dieses Bandes Karin E. Yes¸ ilada Mario Zanucchi Carsten Zelle Markus Zenker Christian von Zimmermann
Inhaltsübersicht Huh I J K Kes
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Huhn, Kurt, * 18.5.1902 Elbing/Westpreußen, † 16.9.1976 Berlin/DDR. – Lyriker u. Erzähler. Der Arbeitersohn war nach einer Schlosserlehre lange arbeitslos, übernahm Hilfsarbeiten u. veröffentlichte mit 18 Jahren erste Gedichte. 1923 wurde er Mitgl. der KPD u. schrieb für die »Rote Fahne« Arbeiterkorrespondenzen (psycholog. Studien des Arbeitsalltags) sowie für »Die Linkskurve«; 1928 war er Mitbegründer des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, dessen Sektion »Lyrik« er leitete. 1938–1940 im Konzentrationslager in Haft (dazu die Skizzen Solange das Herz schlägt. Halle 1960), lebte er anschließend im Untergrund. Nach 1945 Journalist, unterstützte er junge Autoren aus der Bewegung schreibender Arbeiter. H. schrieb Naturlyrik sowie kommunistische Kampf- u. Arbeiterlieder (Kampfruf! Bln. 1925). In der DDR trat er neben kulturkrit. Essays mit parteipolit. Liedern hervor (Nur der Gleichschritt der Genossen siegt. Bln./DDR 1958). Weitere Werke: Rhythmus der Zeit. Bln. 1923 (L.). – Flügelschlag der Epochen. Bln./SBZ 1948 (E.en). – Beschreibung eines Weges. In: Hammer u. Feder. Bln./DDR 1955, S. 160–181. – 22 Erzählungen. Bln./DDR 1977. Detlef Holland
Huizing, Klaas, * 14.10.1958 Nordhorn. – Verfasser von fiktional-biografischer Erzählliteratur u. theologischen Schriften; evangelischer Theologe. H. studierte 1977–1986 Philosophie u. Theologie an den Universitäten Münster, Kampen (Niederlande), Hamburg, Heidelberg u. München. 1986 in Heidelberg zum Dr. phil. (Das Sein und der Andere. Lévinas’ Auseinandersetzng mit Heidegger. Ffm. 1988), 1989 zum Dr. theol. (Das erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie. Gütersloh 1992) promoviert, habilitierte er sich 1993 an der Universität München, wo er 1988–1995 als Assistent bzw. Oberassistent tätig war. Seit 1995 vertrat er den Lehrstuhl für Systematische Theologie u. theolog. Gegenwartsfragen an der Universität Würzburg, den er seit 1998 als Ordinarius innehat. Seine theolog. Hauptforschungsgebiete sind die ästhe-
Huizing
tische Theologie, Schrifttheologie, Hermeneutik, Anthropologie u. Christologie. H. arbeitet auch zu Fragen einer Phänomenologie des Alltags u. zum jüdisch-christl. Dialog. Er lebt in Berg am Starnberger See. Nach den frühen Romanen Tagebuch des Kunststudenten K. (St. Michael 1980) u. Oberreit – oder: Der Gesichtsleser (Stgt. 1992) war H.s literar. Durchbruch die fiktionale Biografie Der Buchtrinker (Mchn. 1994), die in mehrere Sprachen übersetzt worden ist. Sie handelt in »zwei Romanen und neun Teppichen« vom lesesüchtigen Falk Reinhold u. seinem histor. Bruder im Geiste, dem bibliomanen Pfarrer Johann Georg Tinius aus der Zeit um 1800, den seine Leidenschaft für Bücher schließlich zum Mörder werden lässt. Erfolgreich waren auch der Kant-Roman Das Ding an sich (Mchn. 1998) u. die biogr. Darstellungen von Kierkegaard (Der letzte Dandy. Mchn. 2003) u. Henriette Herz (Frau Jette Herz. Mchn. 2005). In ihnen vermittelt H. in einem eingängigen, anspielungsreichen u. ironisch-leichten Stil die philosophischen Grundanliegen u. Grundgedanken mit der histor., sozialen u. kulturellen Atmosphäre ihrer Zeit. Im Roman In Schrebers Garten (Mchn. 2008) wird die psycholog. Krankengeschichte Paul Schrebers, des Sohns des Erfinders des Schrebergartens, zu einer wichtigen Fallstudie Freuds. Zu H.s theolog. Werken zählen die Habilitationsschrift Homo legens. Vom Ursprung der Theologie im Lesen (Bln./New York 1996) u. die drei Bände seiner Ästhetischen Theologie (Bd. 1: Der erlesene Mensch. Eine literarische Anthropologie. Stgt. 2000. Bd. 2: Der inszenierte Mensch. Eine Medien-Anthropologie. Stgt./Zürich 2002. Bd. 3: Der dramatisierte Mensch. Eine TheaterAnthropologie. Ein Theaterstück. Ebd. 2004). 2003 gab H. den Sammelband Medientheorie und Medientheologie (Münster) heraus. Der 2007 erschienene Band Handfestes Christentum. Eine kurze Kunstgeschichte christlicher Gesten (Gütersloh) bietet wieder eine aspektreiche Engführung ästhetischer u. theolog. Überlegungen. H., ab 1997 Mitgl. des dt. P.E.N.-Clubs, wurde 2007 Chefredakteur des saarländ. Kulturmagazins »OPUS«. Er erhielt 1995 den Förderpreis des Freistaates Bayern für junge Schriftsteller, 1999 den TZ-Stern, 2002 den
Humboldt
Villa-Concordia-Preis des Freistaates Bayern u. 2003 das Villa-Concordia-Stipendium in Bamberg. Weitere Werke: Paradise. Die Roman-Illustrierte. Mchn. 1996. – Auf Dienstreise. Mchn. 2000. – Das Buch Ruth. Mchn. 2000. Literatur: Bernard Granier: Liebe zu Kuchen u. Büchern. K. H. schätzt den philosoph. Hintergrund. In: Land in Sicht. Literaten am Rand der Stadt. Hg. Michael Bremmer. Mchn. 2005, S. 58–60. – Gisela Brude-Firnau: Die Theorie als Muse. Levinas, Derrida u. das Konzept ›Spur‹ in den Romanen v. K. H. In: ABnG 49 (2000), S. 353–371. Lothar van Laak
Humboldt, (Friedrich Wilhelm Heinrich) Alexander Frhr. von, * 14.9.1769 Berlin, † 6.5.1859 Berlin; Grabstätte: ebd., Schloss Tegel, Campo Santo. – Verfasser von Reiseberichten, Essays u. Naturbetrachtungen. H. befreite sich im Salon von Henriette Herz u. nach einem wenig erfolgreichen Studienbeginn in Frankfurt/O. seit 1788 aus den Fesseln seiner Jugendzeit, wenngleich Unrast u. Krankheiten bis zum Beginn der Forschungsreise in die Tropen der Neuen Welt (1799) Begleiter eines ungehemmten Forschungseifers seiner sich ausprägenden Persönlichkeit blieben, die – im Vergleich mit dem älteren Bruder Wilhelm – zunächst von der gesamten Umwelt unterschätzt wurde. Von 1788 an entwickelte er drei Forschungsprogramme, die ihn 1793 zu einer Methodologie, einer Leitwissenschaft u. dem Beginn einer speziellen Vorbereitung seiner Reise führten. 1793 wurde er mehrfach anerkannt, auch von Wilhelm, der seinem Genius in einem seitenlangen Brief huldigte. Seine Leitwissenschaft nannte H. eindeutig »Physikalische Geographie« (auch »physique du monde« = »Physik der Erde« oder »Theorie der Erde«); in ihrem Rahmen behandelte er Morphografie, Klimatologie, Erdmagnetismus, Hydrografie (Gewässer des Festlandes u. Ozeanografie), Geografie der Pflanzen, der Tiere u. des Menschen. Bei Reisebeginn war er bereits der führende Geograf seiner Zeit. In der Verwirklichung des reisegeschichtl. Dreiklangs (sechsjährige Vorbereitung, fünf-
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jährige Ausführung u. über drei Jahrzehnte währende Auswertung im größten privaten Reisewerk der Geschichte) wurzelte sein Weltruhm: Sein Reisewerk ist H.s größte wissenschaftl. Leistung. In ihm begründete er die Pflanzengeografie (Ideen zu einer Geographie der Pflanzen. Tüb./Paris 1807), wobei sich ein schöpferischer Gleichklang mit Goethe bei der Darstellung des »Naturgemäldes der Tropenländer« ergab, in der er erstmals seine »Hauptergebnisse« in einem dreidimensionalen Profil darstellte u. im Text ausführlich erläuterte: künstlerisch wie wissenschaftlich auf Ganzheit strukturiert u. von Goethe mit dem Profil einer »idealen Landschaft« begleitet. In seinem frz. Reisewerk (Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent. 34 Bde., Paris 1805–38. Neudr. Amsterd./New York 1970–73. Nur teilweise dt. Übers.en des eigentl. Reiseberichts: 4 Bde., Stgt. 1859/60; die einzige vollst. Übertragung stammt von Paulus Usteri, Stgt. 1815–32) eröffnete er am Beispiel Mexikos (annehmbare dt. Übers.: Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien. 5 Bde., Tüb. 1809–14) u. Kubas (keine brauchbare dt. Übersetzung) die moderne geografische Landeskunde in meisterhafter Sprache u. Problemorientierung mit teilweise ungeahnt scharfer Argumentation gegen Sklaverei u. Entrechtung u. breiter Berücksichtigung der räuml. Verhältnisse des Menschen, auf den seine gesamte Physikalische Geografie stets bezogen blieb. H. gelang die entscheidende Neuformung der Landeskunde, weil er die Naturgeografie erstmals in ausgewogener u. sinnvoll beschränkter Art mit einer statistisch unterbauten sozialgeografischen Behandlung vereinigte. Ein Text, der infolge schlechter Zugänglichkeit wie die meisten Werke H.s nicht traditionsbildend wirken konnte. Seit der Heimkehr aus Amerika 1804 widmete sich H. seinem Reisewerk, der Planung einer asiatischen Forschungsreise u. diplomatischen Missionen im Auftrag Preußens, dabei zumeist in Paris lebend. 1808 veröffentlichte er die populärwissenschaftl. Ansichten der Natur (Tüb. 31849), ein »rein auf deutsche Gefühlsweise berechnetes Buch«. Im Titel inspiriert von Georg Forsters, seines Lehrers, Ansichten vom Niederrhein, bestimmte
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H.s »Lieblingswerk« die Form des dt. Essays mit: in der rhetorischen Prägung des Anfangs u. des Schlusses in teilweise hexametrisch gebundener Sprache, der stilistisch überzeugenden, knappen Darstellung der Tropen, mit einer Fülle von Anregungen in den die Länge des Textes übertreffenden Anmerkungen. Goethe, der es sehr schätzte, würdigte den wichtigsten Essay Ideen zu einer Physiognomik der Gewächse in kongenialer Rezension. Kritiker haben, wie H. schließlich einmal selbst, die zahlreichen Adjektive beanstandet; sie entsprechen indessen der Vielfalt der Pflanzenwelt des Regenwalds u. der Feuchtsavannen ebenso wie der Vegetation der trop. Hochgebirge (zum Beispiel der Páramo-Region). 1827 kehrte H. aus Paris endgültig nach Berlin zurück u. hielt vielbeachtete Vorlesungen über »Physikalische Geographie«, deren Drucklegung er schließlich zu seinem bekanntesten Werk, dem Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (5 Bde., Stgt./Tüb. 1845–62), ausweitete: Beginnend mit der Astronomie ist der Physikalischen Geografie zwar auch jetzt noch der entschieden größte Anteil erhalten geblieben, doch ist das Werk in der Vereinigung von »Himmel und Erde« etwas Neues. Vom ausführlichsten Register eines dt. Buches aufgeschlossen, blieb es eine literar. Fundgrube ersten Ranges. Mitarbeiter waren neben den Brüdern Grimm viele weitere Philologen, aus deren Briefen oft ausgiebig zitiert wird. Auch deshalb sind H.s Urteile über Naturschilderungen u. die Entfaltung des Naturgefühls von der Antike über Georg Forster u. Bernardin de Saint-Pierre u. die Naturpoesie der Bibel viel beachtet worden. Sicher ist der Kosmos keine Kosmografie, vielmehr die stilistisch gelungene Form, in welcher der greise H. sich von der Welt der Erscheinungen verabschiedete. Das Werk war der größte Bucherfolg in der ersten Hälfte des 19. Jh. Wie die vorangehenden Vorlesungen bedeutete es das Ende der Romantik u. den Beginn eines naturwissenschaftl. Zeitalters. – Das Werk bezeugt keineswegs die Darstellung sämtl. Naturwissenschaften, wie bis heute immer wieder gemeint wurde, sondern die Synthese einer Ganzheit von geschaffener Welt (vom fernsten Nebelflecken bis zu un-
Humboldt
serer ird. Sphäre) u. der Reflexion des Menschen. Neben der äußeren Welt existiert im Inneren des Menschen die ideale Welt, die zum Kosmos-Begriff gehört. Haben reale u. innere Welt in der Darstellung Klarheit gewonnen, erschien H. der Titel Kosmos gerechtfertigt, wobei die eigentl. Entstehungsgeschichte des Universums Zukunftsaufgabe blieb. Die Ganzheit der Natur erschließt sich nur dem, der sie erforscht un d erlebt. Mit Goethe teilte er die Überzeugung vom »Zusammenhang« aller Erscheinungen u. ihrer Ordnung, die er selbst z.B. in der Geografie der Pflanzen u. der Klimatologie empirisch erwies. Heute wird H. von falschen Superlativen überdeckt u. als Universalist bezeichnet, eine Überhöhung, die er ablehnte u. nicht einmal für Leibniz u. Newton gelten lassen wollte. Er selbst glaubte, es fehle ihm die bes. Begabung für Philosophie u. Mathematik. Sein umfassendes Mäzenatentum u. seine erstaunl. Personenkenntnis beruhten auf seiner Humanität u. grenzenlosen Hilfsbereitschaft, die dem jungen jüd. Mathematiker Eisenstein ebenso galt wie der Abwehr einer bösartigen Erkenntnisunterdrückung im Fall des jungen Heinrich Brugsch, der als »genialster deutscher Ägyptologe des 19. Jahrhunderts« in die Wissenschaftsgeschichte einging. – Seine bedeutende internat. Wirkung, auch über seine breit gefächerte Physikalische Geografie hinaus, ist bis jetzt ausführlich nur in der Biografie (2 Bde., Wiesb. 1959–61) belegt worden. Schon der Geograf Oskar Peschel hatte 1873 erstmals die einzigartige Stellung H.s infolge seiner breit angelegten Physikalischen Geografie erkannt, welche die moderne Ökologie u. das seit 1509 bestehende Geografische Anordnungsschema Natur u. Mensch umfasst. Aus diesem Grund gibt es heute kein ökolog. Lehrbuch, das nicht H. als Kronzeuge dieser Koexistenz anführte. Die sechs Bereiche (oder die »Geofaktoren« seit 1911) bezeichneten damals noch keine modernen Spezialwissenschaften wie seit 1870. Einen Universalismus konnte man deshalb noch keinem Geografen nachweisen. – Die Werke H.s bedürfen heute des krit. Kommentars. Die mangelhafte Ausgabe des Rei-
Humboldt
seberichts Hermann Hauffs (Stgt. 21860/61) ist grundlegend zu revidieren. H. war der einflussreichste Mäzen seiner Zeit u. hat viele Gelehrte, Dichter, Künstler u. Schriftsteller unterstützt, so Heine, Tieck, Klaus Groth u. Balduin Möllhausen. Zu seinen Bekannten gehörten Joachim Heinrich Campe, Claudius, Forster, Jacob u. Wilhelm Grimm, August Wilhelm Schlegel sowie Schiller u. Goethe samt ihren Familien. H.s Kenntnis auch der frz., span., engl. u. russ. Literatur war erstaunlich. Schon früh als »klassischer Prosaiker« der dt. Literatur bezeichnet, war H. ein Meister des Gesprächs u. des freien Sprechens – Goethe: »vielleicht der größte Redekünstler« –, gewiss der größte Geograf, der maßgebende Forschungsreisende u. der anregendste themat. Kartograf seiner Zeit. Niemand ist von Goethe mehr anerkannt worden als er. Weitere Werke: Relation Historique du Voyage aux régions équinoxiales du Nouveau Continent. 3 Bde., Paris 1814–25. Neudr. hg. v. Hanno Beck. Stgt. 1970. – Ges. Werke. 12 Bde., Stgt. o. J. [1889]. – Gespräche A. v. H.s. Hg. H. Beck. Bln. 1959. – Beiträge zur A.-v.-H.-Forsch. (Briefw. mit Gauss, Heinrich Christian Schumacher, Gustav Lejeune Dirichlet, Auszüge aus den Tagebüchern, Briefe an das preuß. Kultusministerium). Bisher 14 Bde., Bln./DDR 1968–85. – Studienausg. Hg. H. Beck. 10 Bde., Darmst. 1987 ff. (mit Komm.). – Briefwechsel: Briefe an Karl August Varnhagen v. Ense. Hg. Ludmilla Assing. Lpz. 1860. – Briefw. mit Heinrich Berghaus. 3 Bde., Lpz. 1863. – Correspondence inédite. 2 Bde., Paris 1865. – Briefe an Christian Carl Josias Frhr. v. Bunsen. Lpz. 1869. – Im Ural u. Altai. Briefw. mit Graf Georg v. Cancrin. Lpz. 1869. – Briefe an seinen Bruder Wilhelm. Hg. Familie Humboldt. Stgt. 1880. – Lettres américaines. Hg. Ernest Théodore Hamy. Paris 1904. – Goethes Briefw. mit den Gebrüdern v. Humboldt. Hg. Ludwig Geiger. Bln. 1909. – Briefe an Ignaz v. Olfers. Hg. Ernst Werner Maria v. Olfers. Nürnb./Lpz. 1913. – Briefw. mit Achille Valenciennes. Paris 1965. – Jugendbriefe 1787–99. Hg. Fritz G. Lange u. Ilse Jahn. Bln./DDR 1973. Literatur: Bibliografien: Karl Bruhns (Hg.): A. v. H. 3 Bde., Lpz. 1872. Bd. 2, S. 485–552. – Goedeke 14. – H. Beck: A. v. H. 2 Bde., Wiesb. 1959–61. Bd. 2, S. 345–380. – Studienausg., a. a. O. Bd. 1, S. 25–30. – Weitere Titel: H. Beck: A. v. H. u. Mexico. Bad Godesberg 1961. – Ders.: A. v. H.s amerikan. Reise. Stgt. 1985. Lenningen 52003. – Ders.: A. v.
4 H.s Reise durchs Baltikum nach Rußland u. Sibirien. Stgt. 31985. – Herbert Kessler (Hg.): Die Dioskuren. Probleme in Leben u. Werk der Brüder H. Mannh. 1986. – H. Beck u. Wolfgang-Hagen Hein: A. v. H.s Naturgemälde u. Goethes ideale Landschaft. Stgt. 1989. – H. Beck u. Peter Schoenwaldt: ›Der letzte der Großen‹. A. v. H., Konturen eines Genies. Bonn. – Frank Holl (Hg.): A. v. H. Netzwerke des Wissens. Bonn 1999 (Ausstellungskat.). – I. Jahn u. Andreas Kleinert: Das Allgemeine u. das Einzelne. Johann Wolfgang v. Goethe u. A. v. H. im Gespräch. Halle/Saale 1999. – Horst Fiedler u. Ulrike Leitner: A. v. H.s Schr.en. Bibliogr. der selbständig erschienenen Schr.en. Bln. 2000. – Ursula Schneider: Zur Faszination des Organischen. A. v. H. als ›homme des lettres‹ zwischen Naturwiss. u. Geisteswiss. Diss. Ffm. 2001. – Ottmar Ette u. Walther L. Bernecker (Hg.): Ansichten Amerikas. Neuere Studien zu A. v. H. Ffm. 2001. – O. Ette: Weltbewußtsein. A. v. H. u. das unvollendete Projekt einer anderen Moderne. Weilerswist 2002. – Jürgen Hamel, Eberhard Knobloch u. Herbert Pieper (Hg.): A. v. H. in Berlin. Sein Einfluß auf die Entwicklung der Wiss.en. Augsb. 2003. – F. Holl (Hg.): Alejandro de H. una nueva visión del mundo. México 2003 (Ausstellungskat.). – Nicolaas A. Rupke: A. v. H. A Metabiography. Ffm. 2005. – Steven Jan van Geuns: Tgb. einer Reise mit A. v. H. durch Hessen, die Pfalz, längs des Rheins u. durch Westfalen im Herbst 1789. Hg. Bernd Kölbel u. Lucie Terken. Bln. 2007. Hanno Beck
Humboldt, (Friedrich) Wilhelm (Christian Karl Ferdinand) Frhr. von, * 22.6.1767 Potsdam, † 8.4.1835 Tegel bei Berlin; Grabstätte: ebd., Schloss Tegel, Campo Santo. – Schriftsteller, Staatsmann, Sprachwissenschaftler u. Philosoph. H. entstammte väterlicherseits einer seit dem 15. Jh. im ostdt. Raum ansässigen, 1738 geadelten bürgerl. Familie; die Mutter, geb. Colomb, war von hugenott. u. schottisch-dt. Herkunft. Wie sein Bruder Alexander hat auch H. keine öffentl. Schule besucht. Unterrichtet wurden die Brüder zunächst in Tegel, seit 1785 in Berlin, von Privatlehrern, die der Vater u. nach dessen frühem Tod (1779) die Mutter unter den führenden Köpfen der Berliner Aufklärung rekrutierte. Elementarunterricht erteilte u. a. der bekannte Pädagoge u. Übersetzer von Defoes Robinson Crusoe, Joachim Heinrich Campe. Nach Stu-
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dium der Naturwissenschaften, der griech., lat. u. frz. Sprache wurde H. von Ernst Ferdinand Klein u. Christian von Dohm in die Staatswissenschaften eingeführt. Unter Johann Jakob Engel lernte er die zeitgenöss. Philosophie (Logik, Ästhetik, Metaphysik, Sprachphilosophie) kennen u. las mit ihm Schriften von Leibniz, Hume, Locke, Harris, Herder u. Rousseau. Seine erste Publikation Sokrates und Platon über die Gottheit (Bln. 1785–87) verfocht den aufklärerischen Gedanken der natürl. Religion. In Berlin frequentierte er mit seinem Bruder Alexander den Salon von Markus u. Henriette Herz u. schloss sich dem von Henriette Herz inspirierten »Tugendbund« an, durch den er mit Brendel Veit (der nachmaligen Dorothea Schlegel), den Schwestern von Lengefeld (Charlotte von Lengefeld heiratete 1790 Friedrich Schiller) u. seiner späteren Frau, Caroline von Dacheröden (1766–1829), bekannt wurde. Nach einem enttäuschenden Semester in dem provinziellen Frankfurt/O. bezogen die beiden Brüder H. 1788 die Universität Göttingen, wo H. für drei Semester neben Jurispruidenz auch Klassische Philologie bei Christian Gottlob Heyne u. Naturwissenschaften bei Georg Christoph Lichtenberg hörte, der H. als einen der »besten Köpfe, die mir je vorgekommen sind«, ansah. Er setzte sich mit der Philosophie Kants auseinander u. schloss Bekanntschaften u. Freundschaften mit August Wilhelm Schlegel, Georg u. Therese Forster u. Friedrich Jacobi. Im Aug. 1789 besuchte er mit Joachim Heinrich Campe das revolutionäre Paris, anschließend das Rheinland u. die Schweiz u. hielt seine Eindrücke in einem Tagebuch fest. Gleichzeitig entwickelte er im Austausch mit Jacobi u. Forster in der wichtigen Frühschrift Über Religion und Staatsverfassung (GS 1, S. 45–76) seine eigene philosophisch-anthropolog. Grundposition. Sie betont die sinnlich-geistige Einheit der menschl. Natur gegen den überkommenen Dualismus von Körper u. Geist u. versteht die »geistige Tätigkeit« als »unmittelbar aus der Sinnlichkeit« hervorgehend. H. entwirft eine histor. Typologie des Verhältnisses zwischen Religion u. Staatsgewalt u. sieht den Zweck des modernen Staats darin, es dem Bürger zu
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ermöglichen, »seine ganze Bestimmung als Mensch vollkommen zu erfüllen« (GS 1, S. 54). Dazu gehört, dass der unter den bisherigen Herrschaftsformen unterdrückten Sinnlichkeit freier Spielraum gewährt wird. Der Weg zu der von Kant geforderten Selbstbestimmung führt nur über die Kultivierung der Sinnlichkeit. Somit kommt dem Bereich des Ästhetischen eine Schlüsselfunktion zu: die »Kluft« zur sittl. Selbstbestimmung zu überwinden. Im Jan. 1790 trat H. in Berlin in den preuß. Staatsdienst ein, wurde im selben Jahr Legationsrat u. Referendar, verließ aber bereits im Mai 1791 auf eigenen Entschluss den Dienst. Im Juni heiratete er Caroline von Dacheröden u. verbrachte die folgenden Jahre auf deren Familiengütern in Thüringen. Dort trat er in nähere Beziehung zu Friedrich August Wolf, Karl Dalberg, Johann Wolfgang von Goethe u. Friedrich Schiller. Seine gesellschafts- u. staatspolit. Ansichten legte er in einer Reihe von Artikeln dar (u. a. Ideen über Staatsverfassung, durch die neue französische Constitution veranlaßt. GS 1, S. 77–851), die er 1792 in der »Berlinischen Monatsschrift« u. der von Schiller redigierten »Neuen Thalia« publizierte. Sie waren Teil der aus Furcht vor der Zensur erst postum (Breslau 1851) veröffentlichten Ideen zu einem Versuch die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, eines Werks, das die klass. Aussage der humanistisch-liberalen Tradition im polit. Denken Deutschlands darstellt. In ihm beschränkt H. Funktionen u. Befugnisse der Staatsmacht so weit als möglich. Im Juni 1794 war H. nach Jena übergesiedelt, gerade als Stadt u. Universität zum Zentrum des Deutschen Idealismus u. der beginnenden romant. Bewegung geworden waren, unterhielt dort Kontakte u. a. mit Fichte sowie mit Friedrich u. August Wilhelm Schlegel u. übernahm die Rolle des krit. Beraters u. Mitarbeiters Schillers, später auch Goethes. H.s kreative Kritik begleitete u. förderte die Entstehung wichtiger Werke der Weimarer Klassik, u. a. von Schillers Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795), seiner Gedankenlyrik, der Tragödie Wallenstein sowie von Goethes Hermann und Dorothea.
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Mit dem Bruder u. Goethe studierte er bei dem Jenaer Professor Justus Leder die neue Disziplin der vergleichenden Anatomie, verarbeitete seine Einsichten in dem Plan einer vergleichenden Anthropologie (1797. GS 1, S. 377–410) u. entwickelte daraus später den für seine Sprachwissenschaft u. Sprachphilosophie zentralen Begriff des »allgemeinen Sprachtypus« (GS 5, S. 364–475). Der Problematik des Nationalcharakters u. seiner Einbindung in die histor. Welt widmete H. eine weit ausholende Studie, Das achtzehnte Jahrhundert (1797. GS 2, S. 1–112). Schon bald fand er Gelegenheit zu eigenen Beobachtungen, als er im Herbst 1797 mit seiner Familie nach Paris zog, wo er, abgesehen von zwei längeren Reisen (Spanien: Nov. 1799 – April 1800; Baskenland: Frühjahr 1801) bis zum Sommer 1801 verblieb. Dem Studium der frz. Gesellschaft des Directoire in ihren kulturellen u. polit. Lebensprozessen sich widmend, wovon die Tagebücher (GS 14–15) ein beredtes u. umfangreiches Zeugnis ablegen, unterhielt H. Kontakte zu den führenden frz. Politikern u. Intellektuellen, u. a. Sieyès, Roederer, Garat, Cabanis, Degérando, Daunou, Benjamin Constant u. Madame de Staël. Er studierte u. kommenierte so gut wie den gesamten Kanon der klass. u. zeitgenöss. frz. Literatur (u. a. Molière, Rousseau, Diderot, Madame de Staël). Diese Kommentare u. besonders seine Kritik an Condillac u. seinen Anhängern enthalten wichtige Hinweise zum Verständnis von H.s eigener denkerischer Position. Goethe publizierte zwei von H.s Essays über frz. Theater u. Malerei in seiner Zeitschrift »Die Propyläen« (GS 2, S. 345–376, 377–400). In Paris schrieb er sein poetolog. Hauptwerk, Aesthetische Versuche I. Ueber Goethes Hermann und Dorothea (Braunschw. 1799), sowie in frz. Sprache eine gekürzte Version für Madame de Staël, (Paris 1799). In Aesthetische Versuche I verbindet H. die Interpretation von Goethes Hermann und Dorothea mit der Grundlegung der Ästhetik u. Gattungstheorie. Aus der transzendentalen Fragestellung »wie sind überhaupt ästhetische Wirkungen durch den Künstler möglich?« (GS 2, S. 318) u. mit Hilfe einer aus Kant u. Fichte entwickelten Theorie der Einbildungskraft entwirft H. eine Wirkungs-
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ästhetik, welche die Dichtkunst von der Dreiheit Künstler, Werk u. Rezipient her begreift. »Die Fertigkeit« der Kunst besteht darin, »die Einbildungskraft nach Gesetzen produktiv zu machen« (ebd., S. 127), »die Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden« (ebd.) u. so »eine Art lebendiger Mittheilung« ins Werk zu setzen (ebd., S. 132). Poesie als »Kunst durch Sprache« u. Produkt der Einbildungskraft erschafft dabei eine Welt eigener Totalität, die sie von der Realität abhebt. Von den Zeitgenossen hatte nur Schiller Verständnis für H.s Leistung, die, obwohl romant. Theoretiker u. idealistische Ästhetiker aus ihr als unbenannter »Quelle« schöpften (Schiller an H., 27.6.1798), sich von diesen grundlegend unterscheidet. Entdeckung u. Studium des Baskischen (1800) markierten für H. den Durchbruch zur eigenen Sprachauffassung u. Sprachwissenschaft, in der er eine Lebensaufgabe fand. In seiner Sprachauffassung brach er mit dem mimetisch-repräsentativen Sprachmodell, welches seit Aristoteles in Europa bis hin zu den zeitgenöss. Vertretern des Rationalismus u. Empirismus dominant gewesen war (Brief an Schiller, Sept. 1800). Mit seinen Studien Ankündigung einer Schrift über die Baskische Sprache und Nation (1812. GS 3, S. 288–299) u. Berichtigungen und Zusätze über die kantabrische oder baskische Sprache (1817. GS 3, S. 222–287) etablierte H. seinen Ruf als Sprachforscher u. Begründer der modernen Baskologie. Von 1803 bis Ende 1808 war H. preuß. Ministerresident am Hl. Stuhl in Rom. Die diplomatischen Aufgaben mit Effizienz u. Geschick erledigend, verblieb ihm Zeit für eigenes Arbeiten. Neben dem Baskischen beschäftigten ihn nun die amerikan. Indianersprachen, Übersetzungen aus dem Griechischen (Pindars Olympische Oden, Aischylos’ Agamemnon. Lpz. 1816) u. Probleme der antiken Geschichte: Latium und Hellas (1806), Geschichte des Verfalls und Untergangs der griechischen Freistaaten (1807/08. GS 3, S. 136–170, 171–218). Unter dem Eindruck von Schillers Tod schrieb H. die Elegie Rom (Bln. 1806), seine bekannteste Dichtung. Die Residenz in der Villa Gregoriana war Sammelpunkt der Künstler- u. Gelehrtenkolonie, zu der Bertel Thorwaldsen, Christian Daniel Rauch, Gott-
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lieb Schick, Karl Ludwig Fernow u. Johann Georg Zoëga gehörten. Zu den auswärtigen Besuchern zählten Madame de Staël, A. W. Schlegel u. der engl. Dichter Coleridge. Obwohl H. in Rom zwei Söhne verlor – von den acht Kindern der H.s starben insg. drei im Kindesalter –, bezeichnete er die röm. Zeit als die glücklichste seines Lebens. Der röm. Aufenhalt verband sich für ihn v. a. mit der Erschließung einer neuen u. wesentl. Dimension seiner linguistischen Interessen: die der eingeborenen Sprachen Amerikas. Bereits vor der Abreise seines Bruders in die Neue Welt hatte er ihn gebeten, dort nach linguistischen Materialien für ihn Ausschau zu halten. In Rom machte H. die Bekanntschaft des ehem. Leiters der amerikan. Jesuitenmission u. damaligen Direktors der päpstl. Quirinalbibliothek, des span. Abts u. Sprachgelehrten Lorenzo Hervás (1753–1809), dessen Werk (z.B. Catálogo de las lenguas de las naciones conocidas. 1787) er bereits kannte. Nun hatte er Gelegenheit, dessen Materialienarchiv amerikan. Indianersprachen einzusehen u. für sich abschreiben zu lassen. Dessen Bestände bildeten den Grundstock für H.s eigene Materialiensammlung zum intensiven Studium der amerikan. Sprachenwelt. In der Folge des Zusammenbruchs Preußens nach Deutschland zurückgekehrt, übernahm H. die Sektion für Kultus u. Unterricht im Preußischen Innenministerium u. leitete 1809/10 mit energ. Hand die grundlegenden Reformen, durch die in kürzester Zeit ein allgemeines u. durchgehendes Erziehungssystem von der Elementar- u. Sekundarstufe bis zur Universität errichtet wurde. Bei der Gründung (1810) der Universität Berlin gelang es H. jedoch nicht, die durch eine Landschenkung vorgesehene Autonomie gegenüber dem Staat durchzusetzen u. die Universität vor der Einflussnahme durch die Politik u. der Einführung hierarch. Strukturen zu schützen. Durch die erfolgreiche Zusammenführung von wissenschaftl. Forschung u. Lehre in einer Institution entwickelte sie sich jedoch im 19. Jh. zu einem weit über Deutschland hinausreichenden Modell der modernen Forschungsuniversität. 1811 als Gesandter nach Wien geschickt, hat H. maßgeblich den Beitritt Österreichs
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zur Großen Koalition gegen Napoleon befördert. Dort fand er dennoch Zeit für seine linguistischen Studien u. schrieb (1812) seine grundlegende Abhandlung, Essai sur les languages du Nouveau continent (GS 3, S. 300–341). An den Verhandlungen zum ersten u. zweiten Pariser Friedensvertrag u. am Wiener Kongress, wo er sich erfolgreich für die jüd. Bürgerrechte u. ohne Erfolg für eine liberale Verfassung des Deutschen Bundes einsetzte, nahm H. als zweiter Bevollmächtigter Preußens teil. 1815–1819 war er nacheinander preuß. Bevollmächtigter auf dem Bundestag in Frankfurt/M., Vorsitzender einer Steuerreformkommission u. preuß. Gesandter in London. 1819 kehrte er als Minister für ständ. Angelegenheiten nach Berlin zurück. Mit seinem Widerstand gegen die Karlsbader Beschlüsse u. seinem Versuch, den großangelegten, bis ins Detail ausgearbeiteten Entwurf einer liberalen Verfassung (GS 2, S. 389–455) für Preußen durchzusetzen, scheiterte H.; am 31.12.1819 wurde er von König Friedrich Wilhelm III. aller Ämter enthoben. Seine Entlassung bedeutete das Ende seiner polit. Laufbahn u. der polit. Entfaltung des dt. Bürgertums in freiheitl. Institutionen. Die Jahre von 1820 bis 1835, die H. mit wenigen Unterbrechungen (1828 unternehm er eine Reise nach Paris u. London) auf dem von Karl Friedrich Schinkel klassizistisch umgestalteten Familiensitz in Tegel verbrachte, waren den sprachwissenschaftl. Forschungen gewidmet. Bereits in seinem Akademievortrag vom Juni 1820, Ueber das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung (GS 4, S. 1–34), zog er das Fazit aus seiner bisherigen Arbeit u. entwarf ein umfassendes Forschungsprogramm, in welchem er die Aufgaben einer eigenständigen allgemeinen u. vergleichenden Linguistik grundlegend bestimmte u. das er in den folgenden Jahren in regem Austausch mit Gelehrten Europas u. Amerikas (u. a. mit Franz Bopp, August Wilhelm Schlegel, Jean-Francois Champollion, Jean-Pierre Rémusat, Alexander Johnston, Peter S. Du Ponceau u. John Pickering) entfaltete. Es gab kaum eine Sprachgruppe, welcher der Besitzer einer der umfangreichsten linguistischen Sammlungen Europas
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nicht seine Aufmerksamkeit schenkte. Die Schwerpunkte seiner Forschungen lagen auf den Sprachen von Süd-, Mittel- u. Nordamerika, dem Sanskrit, dem Chinesischen u. ab 1827/28 auf der von Madagaskar bis Hawaii sich erstreckenden, von ihm erstmalig wissenschaftlich nachgewiesenen austrones. Sprachenfamilie. Die Verpflichtung regelmäßiger Akademievorträge, die H. sich auferlegt hatte, erlaubte ihm, eine zwischen philosophischem Essay u. wissenschaftl. Abhandlung kreativ sich bewegende Darstellungsform zu finden. Erst im Verlauf des 20. Jh. wurden im Lichte der modernen Linguistik, Anthropologie u. Philosophie, d.h. nach Saussure, Cassirer, Jakobson, Whorf, Chomsky u. Wittgenstein, die eigentl. Dimensionen von H.s »Sprachenkunde« in ihrer Verbindung von philosophischer u. empir. Sprachforschung sichtbar. Von seinem der KawiSprache auf der Insel Java u. den pazif. Sprachen gewidmeten mehrbändigen Werk (Ueber die Kawisprache) konnte H. vor seinem Tod nur den ersten Band mit der Einleitung (Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und seinen Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. 1836. GS 7, S. 1–344), in der er seine sprachphilosophischen Ansichten zusammenfassend darstellte, sowie das erste Buch selbst für den Druck vorbereiten. Der zweite u. dritte Band des Werks wurden 1838 u. 1839 (beide Bln.) von seinem Mitarbeiter J. C. Eduard Buschmann herausgegeben. Das Werk H.s präsentiert sich in einer inhaltlich wie gattungstheoretisch kaum überschaubaren Vielfalt, von dem zu H.s Lebzeiten nur ein kleiner Teil veröffentlicht wurde u. dem gegenüber alle bisherigen Editionen unvollständig geblieben sind. Es besteht aus Essays, philosophischen Reflexionen u. Fragmenten, Studien, Aufzeichnungen u. Abhandlungen, deren Thematik sich von der Staatstheorie, Anthropologie, Ästhetik, Bildungstheorie, Literatur u. Geschichte bis zur Hermeneutik, Ethnologie, Linguistik, Sprachphilosophie u. Übersetzungstheorie erstreckt. Hinzu kommen Nachdichtungen u. Übersetzungen (GS 8, u. a. Lukrez, Pindar, Aeschylos, Aristophanes), eine bis ins Alter reichende dichterische Produktion (GS 9, u. a. Weibertreue, Die Griechensklavin, Rom, An Alex-
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ander, Alters Sonette) u. zahlreiche polit. Denkschriften, die H.s bedeutenden geistigen u. schriftstellerischen Leistungen zuzurechnen sind. Zu H.s Werk zählt auch sein für die dt. Literatur-, Geistes- u. Wissenschaftsgeschichte nach Vielfalt, Welthaltigkeit u. Umfang einzigartiges Briefkorpus, das, alle bedeutenden Persönlichkeiten der Epoche einbeziehend, sich über sein ganzes Leben erstreckt. Dazu gehören die Briefwechsel mit Caroline von H. (7 Bde.), mit dem Bruder Alexander, mit Franz Bopp, Karl-Gustav Brinkmann, Charlotte Diede (»Briefe an eine Freundin«), Friedrich Gentz, Johann Wolfgang von Goethe, Henriette Herz, Friedrich Jacobi, Christian Gottfried Körner, Friedrich Schiller, August Wilhelm Schlegel, Germaine de Staël, Friedrich Welcker u. Friedrich Wolf sowie seine überwiegend noch unpublizierte Korrespondenz mit den führenden Sprachforschern in Europa u. Amerika (z.B. John Pickering, Peter S. Duponceau, Alexander Johnston, Roorda van Eijsinga, John Crawfurd, Abel Rémusat, Jean-François Champollion, William Marsden, Friedrich August Rosen). Im H.schen Œuvre stellen nur die Ideen zu einem Versuch die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen (1792), die Aesthetischen Versuche (1799) u. Band 1 des Kawiwerks (1836) relativ in sich abgeschlossene Werke dar. Dagegen überwiegen neben den für einen bestimmten Anlass verfassten Essays u. Abhandlungen die zahlreichen Entwürfe, Studien u. Darstellungen, in denen es weniger um die endgültige Fixierung von Positionen geht als darum, ein Problem von immer neuen Seiten u. in abgewandelten sprachl. Formulierungen zu entfalten. Die H.sche Sprachwissenschaft ist in ihrer universalen Spannweite u. theoret. Absicht auf die »Ausmessung der menschlichen Sprachfähigkeit« (GS 4, S. 10) gerichtet, die sich in der Vielfalt der natürl. Sprachen kundtut. Dabei durchdringen sich Empirie u. philosophisches Anliegen in einem für H. typischen Wechselbezug, wobei seine sprachtheoret. u. -philosophischen Einsichten vielfach erst durch die empir. Sprachstudien ermöglicht wurden. Seine sprachphilosophische Position hat H. in einer Reihe von
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Texten dargelegt, die mit den aphorist. Thesen von 1795/96, Über Denken und Sprechen (GS 7, S. 581–583), einsetzen u. in den späteren Abhandlungen (Grundzüge des allgemeinen Sprachtypus. GS 5, S. 364–375. Von dem Grammatischen Baue der Sprachen. GS 6, S. 337–486) entfaltet werden. Auch die heutige, typolog. Fragestellungen nachgehende Linguistik hat H.s Vorgehen in ein neues Licht gerückt. Eine angemessene u. umfassende Bewertung von H.s sprachphilosophischem u. linguistischem Werk soll durch eine neue, auf 24 Bände veranschlagte krit. Ausgabe seiner Schriften zur Sprache u. Sprachwissenschaft ermöglicht werden. Dort werden neben den anthropolog. u. ästhetischen Texten erstmalig die in dem umfangreichen, lange als verschollen geltenden Nachlass erhaltenen zahlreichen Untersuchungen u. Studien H.s zu den Sprachen der Welt u. zu spezif. Problemen (wie zum Sprache-Schrift-Verhältnis in unterschiedl. Schriftsystemen) zugänglich gemacht. Weitere Werke: Gesamtausgaben: Ges. Werke. Hg. Carl Brandes. 7 Bde., Bln. 1841–52. Neuaufl. Bln. 1988. – Ges. Schr.en. Hg. Königl. Preuß. Akademie der Wiss.en 17 Bde., Bln. 1903–36. Abt. 1: Werke. Hg. Albert Leitzmann. Bde. 1–9 u. 13. Abt. 2: Polit. Denkschr.en. Hg. Bruno Gebhardt, Bde. 10–12. Abt. 3: Tagebücher. Hg. A. Leitzmann. Bde. 14–15. Abt. 4: Polit. Briefe. Hg. Wilhelm Richter. Bde. 16–17. – Werke in fünf Bdn. Hg. Andreas Flitner u. Klaus Giel. Darmst. 1960–81. – W. v. H. Studienausg. Hg. Kurt Müller-Vollmer. 2 Bde., Ffm. 1970/71. – Schr.en zur Sprachwiss. in 7 Abt.en. Hg. K. Müller-Vollmer in Zusammenarbeit mit Tilman Borsche, Volker Heeschen, Bernhard Hurch, Manfred Ringmacher, Jürgen Trabant u. Gordon Whittaker. Paderb./Mchn. 1. Abt.: Die Formierung v. H.s Sprachwiss. 2. Abt.: Baskisch. 3. Abt.: Amerikan. Sprachen. 4. Abt.: Allg. u. vergleichendes Sprachstudium. 5. Abt.: Indoeurop., Asiat., Afroasiat. Sprachen, Schrift. 6. Abt.: Austrones. Sprachen. 7. Abt.: Sprachwiss. Korrespondenz. Paderb./Mchn. 1994 ff. (bisher 3 Bde. v. 24). – Die bask. Materialien aus dem Nachlass W. v. H.s. Hg. B. Hurch. Paderb./Mchn. 2002. – Briefe: Briefw. zwischen Schiller u. W. v. H. Mit einer Vorerinnerung über Schiller u. den Gang seiner Geistesentwicklung v. W. v. H. Stgt./Tüb. 1830. – W. v. H.s Briefe an Friedrich Gottlob Welcker. Hg. Rudolf Haym. Bln. 1859. – Briefe v. W. v. H. an Friedrich Heinrich Jacobi. Hg. u. erl. v. A. Leitzmann. Hal-
Humboldt le/S. 1892. – Briefw. zwischen Franz Bopp u. W. v. H. (1819–1835). In: Salomon Lefmann: Franz Bopp, sein Leben u. seine Wiss. Nachtr. Bln. 1897, S. 1–104. – W. u. Caroline v. H. in ihren Briefen. Hg. Anna v. Sydow. 7 Bde., Bln. 1906–16. – Briefw. zwischen W. v. H. u. August Wilhelm Schlegel. Hg. A. Leitzmann. Mit einer Einl. v. B. Delbrück. Halle/S. 1908. – Briefe an eine Freundin. Zum ersten Male nach den Originalen hg. v. A. Leitzmann. 2 Bde., Lpz. 1909. – Goethes Briefw. mit W. u. Alexander v. H. Hg. Ludwig Geiger. Bln. 1909. – W. v. H. u. Frau von Staël. Hg. A. Leitzmann. In: Dt. Rundschau 169 (1916), S. 95–112, 271–280, 431–442. 170 (1917), S. 95–108, 256–266, 425–435. 171 (1917), S. 82–95. – Georg u. Therese Forster u. die Brüder v. H. Urkunden u. Umrisse. Hg. A. Leitzmann. Bonn 1936. – Briefe an Karl Gustav v. Brinkmann. Hg. u. erl. v. A. Leitzmann. Lpz. 1939. – Briefe an Christian Gottfried Körner. Hg. A. Leitzmann. Bln. 1940. – Briefe an Christine Reinhard-Reimarus. Hg. Arndt Schreiber. Heidelb. 1956. – Der Briefw. zwischen Friedrich Schiller u. W. v. H. Hg. Siegfried Seidel. 2 Bde., Bln. 1962. – Briefw. mit Jean-Pièrre Abel-Rémusat: Lettres Ëdifiantes et Curieuses sur La Langue Chinoise. Hg. Jean Rousseau u. Denis Thouard. Villeneuve-d’Ascq 1999. – Eine Gesamtausg. von H.s Briefw. fehlt bis heute; die Edition der Schriften zur Sprachwissenschaft wird (Abt. 7) H.s sprachwissenschaftl. Korrespondenz enthalten. Literatur: Bibliografien: Goedeke, Bd. 14, (1959), S. 502–578, 1015 f. – Paul R. Sweet (s. u.), Bd. 2, S. 530–556. – Philip Mattson: Verz. des Briefw.s W. v. H.s. 2 Bde., Heidelb. 1980. – Gesamtdarstellungen: Gustav Schlesier: Erinnerungen an W. v. H. 2 Bde., Stgt. 1843–45. Neuausg. 1854. – Rudolf Haym: W. v. H. Lebensbild u. Charakeristik. Bln. 1856. – Eduard Spranger: W. v. H. u. die Humanitätsidee. Bln. 1909. – Otto Harnack: W. v. H. Bln. 1913. – Siegfried Kaehler: W. v. H. u. der Staat. Mchn. 1927. 2., durchges. Aufl. Gött. 1963. – Robert Leroux: Guillaume de H. La formation de sa pensée jusqu’en 1794. Paris 1932. – Friedrich Schaffstein: W. v. H. Ein Lebensbild. Ffm. 1952. – W. v. H. Sein Leben u. Wirken, dargest. in Briefen, Tagebüchern u. Dokumenten. Ausgew. u. zusammengestellt v. Rudolf Freese. Bln. 1955. – Eberhard Kessel: W. v. H. Idee u.Wirklichkeit. Stgt. 1967. – Herbert Scurla: W. v. H. Werden u. Wirken. Bln. 1970. Düsseld. 1974. – Luigi Heilmann: W. v. H. nella cultura contemporanea. Bologna 1976. – P. R. Sweet: W. v. H. A Biography. 2 Bde., Columbus, OH 1978–80. Dt. Übers. v. Hans-Werner Scharf. Paderb. 2008. – W. v. H. Vortragszyklus zum 150. Todestag. Hg. Bernfried Schlerath. Bln. 1986. –
Humboldt Tilman Borsche: W. v. H. Mchn. 1990. – Ästhetik, Kunst, Literatur: O. Harnack: Die klass. Ästhetik der Deutschen. Lpz. 1892. – A. Leitzmann: W. v. H.s Sonettdichtung. Bonn 1912. – Karl Borinski: Die Antike in Poetik u. Kunsttheorie vom Ausgang des klass. Altertums bis auf Goethe u. W. v. H. Bd. 2, Lpz. 1924. – Gaetano Marcovaldi: Il pensiero estetico di Guglielmo H. In: W. v. H.: Scritti di Estetica. Firenze 1934. – Horst Rüdiger: W. v. H. als Übersetzer. In: Imprimatur 7 (1936/37), S. 79–96. – Robert Leroux: L’esthétique sexué de Guillaume de H. In: EG 3 (1948), S. 261–273. – Walter Rehm: Europ. Romdichtung. 2., durchges. Aufl. Mchn. 1960, S. 174–196. – Kurt Müller-Vollmer: Poesie u. Einbildungskraft. Zur Dichtungstheorie W. v. H.s. Stgt. 1967. – Cora Lee Price: W. v. H. u. Schillers ›Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen‹. In: JbDSG 11 (1967), S. 358–373. – Richey A. Novak: W. v. H. as a Literary Critic. Bern 1972. – Lydia Dippel: W. v. H. Ästhetik u. Anthropologie. Würzb. 1990. – Irina König: Vom Ursprung des Geistes aus der Geschlechtlichkeit. Zur chronolog. u. systemat. Entwicklung der Ästhetik W. v. H.s. Egelsbach/New York 1991. – Politik und Bildung: Bruno Gebhardt: W. v. H. als Staatsmann. Stgt. 1896–99. Neudr. Aalen 1965. – E. Spranger: W. v. H. u. die Reform des Bildungswesens. Bln. 1910. Tüb. 1965. – Friedrich Meinecke: Staat u. Persönlichkeit. Bln. 1933. – Helmut Schelsky: Einsamkeit u. Freiheit. Reinb. 1963. – Clemens Menze: W. v. H.s Lehre u. Bild vom Menschen. Ratingen 1966. – Gordon Craig: W. v. H. as Diplomat. In: Studies in International History. Hg. Kenneth Bourne u. Donald Cameron Watt. London 1967, S. 81–102. – Ulrich Muhlack: Das zeitgenöss. Frankreich in der Politik H.s. Lübeck/Hbg. 1967. – K. Müller-Vollmer in: Studienausg., a. a. O. – Clemens Menze: Die Bildungsreform W. v. H.s. Hann. u. a. 1975. – Ders. in: Vortragszyklus [...], a. a. O. – Dietrich Benner: W. v. H.s Bildungstheorie. 3., erw. Aufl. Weinheim 2003. – Jürgen Kost: W. v. H. – Weimarer Klassik – Bürgerl. Bewusstsein. Würzb. 2004. – John Roberts: German Liberalism. W. v. H. A Reassessement. Cincinnati, OH 2004. – Dietrich Spitta: Menschenbildung u. Staat. Das Bildungsideal W. v. H.s. Stgt. 2006. – Jens Petersen: W. v. H.s Rechtsphilosophie. Bln. 2007. – Anthropologie, Geschichte, Hermeneutik: E. Spranger: W. v. H.s Rede ›Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers‹ u. die Schellingsche Philosophie. In: HZ 100 (1908), S. 541–563. – Joachim Wach: Das Verstehen. Bd. 1, Tüb. 1926. Neudr. Hildesh. 1966. – Fritz Heinemann: W. v. H.s philosoph. Anthropologie u. Theorie der Menschenkenntnis. Halle/S. 1929. – E. Spranger: Aufgaben des Geschichtsschreibers. In: HZ 174 (1952), S. 251–268. – Johann Gustav
10 Droysen: Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie u. Methodologie der Gesch. Hg. R. Hübner. Darmst. 31958. – Robert Leroux: L’Anthropologie comparée de Guillaume de H. Strasbourg 1959. – Peter B. Stadler: W. v. H.s Bild der Antike. Stgt./ Zürich 1959. – Hans-Georg Gadamer: Wahrheit u. Methode. 3., erw. Aufl. Tüb. 1972. – Manfred Riedel: Erklären oder Verstehen? Stgt. 1978. – K. Mueller-Vollmer: Von der Durchdringbarkeit des wirkungsgeschichtl. Bewußtseins: Gadamer, Hegel u. die Hermeneutik W. v. H.s. In: Literary Theory and Criticism. FS René Wellek. Hg. Joseph P. Strelka. Tl. 1, Bern u. a. 1985, S. 475- 497. – Jean Quillien: L’Anthropologie Philosophique de Guillaume de H. Lille 1991. – Donatella Di Cesare: Individualität der Sprache u. Verstehen des Anderen. H.s dialog. Hermeneutik. In: Internat. Ztschr. für Philosophie 2 (1996), S. 160–183. – Philosophie und Sprachwissenschaft: E. Spranger: W. v. H. u. Kant. In: Kant-Studien 13 (1908), S. 57–129. – Ernst Cassirer: Die kant. Elemente in W. v. H.s Sprachphilosophie. In: FS Paul Hensel. Hg. Julius Binder. Greiz 1923, S. 105–127. – Ders.: Philosophie der symbol. Formen. 3 Bde., Bln. 1923–31. Darmst. 4 1964. – Wilhelm Lammer: W. v. H.s Weg zur Sprachforsch. 1785–1801. Bln. 1936. – Helmut Gipper. W. v. H. als Begründer der modernen Sprachforsch. In: WW 15 (1965), S. 1–19. – Bruno Liebrucks: Sprache u. Bewußtsein. Bd. 2: Sprache: Von den Formen ›Sprachbau u. Weltansicht‹ über die Bewegungsgestalten ›innerer Charakter der Sprachen‹ u. Weltbegegnung zur dialekt. Sprachbewegung bei W. v. H. Ffm. 1965. – Noam Chomsky: Cartesian Linguistics. New York/London 1966. – Volker Heeschen: Die Sprachphilosophie W. v. H.s. Diss. Bochum 1972. – H. Gipper u. Peter Schmitter: Sprachwiss. u. Sprachphilosophie im Zeitalter der Romantik. Tüb. 1979. – Tilman Borsche: Der Begriff der menschl. Rede in der Sprachphilosophie W. v. H.s. Stgt. 1981. – Wulf Oesterreicher: Wem gehört H.? Zum Einfluß der frz. Aufklärung auf die Sprachphilosophie der dt. Romantik. In: Logos Semantikos. FS Eugenio Coseriu. Bd. 1. Hg. Jürgen Trabant. Bln./New York/ Madrid 1981, S. 117–135. – Ulrike Buchholz: Das Kawi-Werk W. v. H.s. Münster 1986. – J. Trabant: Apeliotes oder der Sinn der Sprache. Mchn. 1986. – Klaus Welke (Hg.): Sprache, Bewußtsein, Tätigkeit. Zur Sprachkonzeption W. v. H.s. Bln./DDR 1986. – P. Schmitter: Das sprachl. Zeichen. Münster 1987. – Tullio De Mauro u. Lia Formigari (Hg.): Leibniz, H., and the Origins of Comparativism. Amsterd./ Philadelphia 1988. – H.-W. Scharf (Hg.): W. v. H.s Sprachdenken. Essen 1988. – D. Di Cesare: Pour une herméneutique du langage. Epistémologie et méthodologie de la recherche linguistique d’ après
11 H. In: Cahiers Ferdinand de Saussure 4 (1990), S. 123–140. – J. Trabant: Traditionen H.s. Ffm. 1990. – K. Mueller-Vollmer: W. v. H.s Sprachwiss. Ein komm. Verz. des sprachwiss. Nachlasses mit einer Einl. u. zwei Anhängen. Paderb./Mchn. 1993. – Klaus Zimmermann, J. Trabant u. K. MuellerVollmer (Hg.): W. v. H. u. die amerikan. Sprachen. Paderb./Mchn. 1994. – H.-W. Scharf: Das Verfahren der Sprache. H. gegen Chomsky. Paderb./Mchn. 1994. – K. Mueller-Vollmer: Sprache, Zeichen u. System: H. gegen Saussure. In: Ein Leben für Dichtung u. Freiheit. FS Joseph P. Strelka. Hg. Karlheinz F. Auckenthaler u. a. Tüb. 1997, S. 603–622. – Christian Stetter: Schrift u. Sprache. Ffm. 1997. – Ders.: Einl. zu W. v. H.: Grundzüge des allg. Sprachtypus. Bln./Wien 2004, S. 9–32. – Tze-wan Kwan: W. v. H. on the Chinese Language: Interpretation and Reconstruction. In: Journal of Chinese Linguistics 29 (2001), H. 2, S. 169–242. – Rainhard Roscher: Sprachsinn. Studien zu einem Grundbegriff im Sprachdenken W. v. H.s. Paderb. u. a. 2006. – V. Heeschen u. K. Mueller-Vollmer: W. v. H.s Bedeutung für die Beschreibung der südostasiat. Sprachen u. die Anfänge der SüdostasienForsch. In: Gesch. der Sprachtheorie. Hg. Peter Schmitter. Tüb. 2007, S. 430–461. – Markus Meßling: Pariser Orientlektüren. Zu W. v. H.s Theorie der Schrift. Paderb./Mchn. 2007. – Übersetzungen in andere Sprachen: Neben bestehenden Übers.en ins Spanische (Reisetagebücher, bask. Studien) erschienen in den vergangenen Jahrzehnten Übers.en v. anthropolog., hermeneut., sprachwiss. u. philosoph. Texten H.s u. a. ins Englische, Italienische, Japanische, Russische u. bes. ins Französische (s. u. Bösch 2006 u. Chabrolle-Cerretini 2002). – Zur Rezeption: USA: Daniel G. Brinton: Essays of an Americanist. Philadelphia 1890. – N. Chomsky, 1966, a. a. O. – E. F. Koerner: W. v. H. and North American Ethnolinguistics. Boas (1894) to Hymes (1961). In: North American Contributions to the History of Linguistics. Historiographia linguistica. Amsterd. 1990, S. 111–128. – Frankreich: Anne-Marie Chabrolle-Cerretini (Hg.): W. v. H.: Editer et lire H. Sondernummer (Dossier) Revue Histoire Epistémologie Langage 1, Paris 2002. – Sarah Bösch (Hg.): Sprachdenken zwischen Berlin u. Paris: W. v. H. Tüb. 2004. – Dies.: W. v. H. in Frankreich [...] 1797–2005. Paderb./Mchn. 2006. – Spanien: Inaki Zabaleta-Gorrotxategi: W. v. H., the Basques and the Basque language. In: Revista Internacional de los Estudios Vascos 48 (2003), S. 163–198. Kurt Müller-Vollmer
Humbracht
Humbracht, (Luise Ernestine) Malvina von, auch: Luise Ernesti, * 30.11.1825 Minden/Westfalen, † 22.10.1891 Bad Nauheim. – Erzählerin. Die Tochter eines preuß. Offiziers gelangte nach mehreren Versetzungen ihres Vaters über Köln, Aachen u. Dortmund nach Magdeburg, wo sie in einer höheren Töchterschule u. durch Privatlehrer unterrichtet wurde. Nachdem ihr Vater aus dem Militärdienst ausgeschieden war, zog die Familie nach Lübbecke u. später nach Bielefeld. Nach dem Tod ihrer Eltern lebte sie in den 1850er Jahren für eineinhalb Jahre in der Grafschaft Glatz, bevor sie zu ihrer Schwester Elvira nach Westfalen zurückkehrte. Seit Herbst 1857 in Dresden ansässig, bezog sie 1863 die sog. Gerbermühle, die zu einem alten Lehensgut der Familie nahe Frankfurt/M. gehörte. Aus gesundheitl. Gründen ließ sie sich 1882 in Bad Nauheim nieder, wo sie 1891 an den Folgen eines Unfalls starb. Bereits in jungen Jahren verfasste H. Erzählungen, die zunächst nicht publiziert wurden. Schon ihre erste Veröffentlichung, der Roman Eine Partie nach den Externsteinen (Lpz. 1856), ermöglichte H. die Realisierung ihres Wunsches, als freie Schriftstellerin zu leben. In rascher Folge erschienen dann in ihrer Zeit erfolgreiche Novellen u. zumeist mehrbändige Romane, die meistens mehrere Auflagen erfuhren. Das umfangreiche literar. Werk orientierte sich publikumswirksam an den Bedürfnissen des zeitgenöss. Literaturmarktes. Es entsprach dem Geschmack sowie den ästhetischen u. ethischen Normen eines breiten Lesepublikums, indem es leichte Identifikationsmodelle bereitstellte. Die Romane u. Erzählungen, die konventionellen Mustern folgen, basieren auf trivialen Stoffen u. Themen. Liebesbeziehungen werden sentimental geschildert, schablonenhafte Figuren bleiben weitgehend ohne psycholog. Differenzierungen. Darüber hinaus kennzeichnen klischeehafte Handlungen, floskelhafte Sprache u. stereotype Bilder eine seichte Unterhaltungsliteratur, die – wie in den Romanen Unauflösliche Bande (2 Bde., Lpz. 1869) u. Ersehntes Glück (Breslau 1883) – konserva-
Humery
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tiv-bürgerlich geprägte moraldidakt. Intentionen impliziert. Weitere Werke: Die Heimath im Vaterhause. 4 Tle., Lpz. 1858 (R.). – Unterwegs. Reise-Novellen u. Reise-Skizzen. 2 Bde., Lpz. 1858. – Geld u. Talent. 3 Tle., Lpz. 1860 (R.). – Bilder u. Skizzen aus dem Leben. 2 Bde., Lpz. 1861. – Waldemar Bookhouse oder der Wert eines Namens. 2 Bde., Lpz. 1861 (R.). – Unverhofft kommt oft. Lpz. 1862 (N.). – Die Tochter des Spielers. 3 Bde., Lpz. 1862 (R.). – Aus alter u. neuer Zeit. Novellen u. Skizzen. 2 Bde., Jena 1865. – Die Aristokratin u. der Fabrikant. 4 Bde., Jena 1865 (R.). – Zwei Fürstinnen. 2 Bde., Jena 1867 (R.). – Ein unerfülltes Wort. 3 Bde., Jena 1867 (R.). – Todtes Capital. 4 Bde., Jena 1870 (R.). – Am Scheidewege. Wien 1872 (N.n). – Die Eremitin von St. Cloud. Wien 1873 (R.). – Ein neues Jahr, ein neues Leben. Bremen 1873 (R.). – Ein kaiserl. Wahlspruch. 2 Abt.en, Jena 1874 (R.). – Die zwölfte Perle. 3 Bde., Breslau 1880 (R.). – Gleiche Wege, andere Ziele. 3 Bde., Jena 1887 (R.). – Aus den Fluthen des Lebens. Breslau 1889 (N.n). Literatur: Franz Brümmer: M. v. H. In: ADB 50. – Westf. Autorenlex. 2. – Goedeke Forts.
aber auch »allen gefangenen und auch allen den, die in anderm trocke, anfechten vnd lyden des elende dieses jamertalis der werlde buwent und doldent« eine Trostschrift bieten wollte. H. bemühte sich um ein leicht verständl. Deutsch, verzichtete weitgehend auf rhetorischen Schmuck, verdeutschte die stoische Philosophie des Boëthius u. gab ihr ein eindeutig christl. Gepräge. Zahlreiche Weglassungen, v. a. aber sich zu kleinen Exkursen erweiternde Zusätze u. Glossen weisen auf H.s starkes persönl. Interesse hin. Literatur: Otto Herding: Probleme des frühen Humanismus in Dtschld. In: AKG 38 (1956), S. 344–389. – Michael Mommert: K. H. [...]. Diss. Münster 1965. – Ferdinand Geldner: Johannes Gutenberg, Johannes Fust u. Dr. K. H. In: Börsenblatt für den dt. Buchhandel, Frankfurter Ausg. 24 (1968), S. 309–317. – Eckhard Bernstein: Die Lit. des dt. Frühhumanismus. Stgt. 1968, S. 93 f. – Franz Joseph Worstbrock: K. H. In: VL. Eckhard Bernstein
Humm, Rudolf Jakob, * 13.1.1895 Modena, † 27.1.1977 Zürich. – Erzähler, EsHumery, Konrad, * nach 1400 Mainz, sayist, Kritiker u. Übersetzer. † vor 1478 Mainz. – Übersetzer. Peter Heßelmann
Der Sohn eines Mainzer Kaufmanns studierte 1421 in Erfurt, 1421–1423 in Köln. 1427 begab er sich nach Bologna, wo er 1432 im kanonischen Recht promovierte u. wahrscheinlich auch mit humanistischen Lehrern Kontakt aufnahm. Seit 1435 war er Syndikus seiner Vaterstadt; als Führer der Zünfte war er am Sturz des Geschlechterregiments 1444 beteiligt. Er wurde Kanzler u. Schreiber des Neuen Rats der Zwanzig. In der Bischofsfehde zwischen Diether von Isenburg, in dessen Dienst er 1459 getreten war, u. Adolf II. von Nassau nahm H. für Diether Stellung u. geriet nach dem Sieg Adolfs u. der Eroberung von Mainz 1462 in Gefangenschaft. 1471 jedoch entschädigte ihn der neue Bischof Adolf für die erlittenen Verluste. In Mainz stand H. Gutenberg nahe. Sehr wahrscheinlich verfasste H. während seiner einjährigen Gefangenschaft die handschriftlich erhaltene Übersetzung von Boëthius’ De consolatione philosophiae, mit der er »den ungelarten« ein Werk »zu beßerung irs leben auch selen« in »mütterlichen zungen«,
H., Sohn eines Aargauer Kaufmanns, wuchs in behüteter Umgebung in Modena auf; er hielt die Erinnerungen an diese ital. Kindheit, die ihm Stoff für seine schönsten literar. Werke liefern sollte, lebenslang in sich wach. Ab 1915 studierte er in München, Göttingen, Berlin u. Zürich zunächst theoret. Physik, dann Nationalökonomie. 1922 brach er sein Studium ab u. lebte von da an, seit 1923 verheiratet mit der schott. Künstlerin Lili Crawford, als freier Schriftsteller, Journalist u. Übersetzer in Zürich. Als Erzähler debütierte H. 1928 mit Das Linsengericht. Analysen eines Empfindsamen (Freib. i. Br.). Der Roman schildert die Erlebnisse einer Gruppe junger Leute während eines winterl. Ferienaufenthalts in den Bergen u. ist v. a. seiner feinsinnigen Psychologie wegen bedeutsam. Bewegend ist auch das Porträt eines gewissen Werner, hinter dem sich der geniale Musikgelehrte Wolfgang Graeser (1906–1928) verbirgt. Das Buch fand u. a. die begeisterte Zustimmung Hesses, mit dem H. von da an in einem intensiven Gedankenaustausch stand (Briefwechsel Hermann
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Hesse – Rudolf J. Humm. Hg. Ursula u. Volker Michels. Ffm. 1977). Eine erste, außerordentlich poetische u. stimmungsvolle literar. Aufarbeitung der ital. Kindheit brachte der Roman Die Inseln (Zürich 1936. 21968. Ffm. 1980. Neuausg. Ebd. 1990), der als H.s gelungenste künstlerische Leistung angesehen wird. Das Titelwort bestimmt Konzept u. Stimmungslage; es meint »aus dem Meer des Vergessenen« wieder aufgetauchte Momente gelebten Lebens, die sich zu einem mehr assoziativ als logisch verknüpften Mosaik zusammenfinden. In den 1930er Jahren wurde H.s Wohnung im Zürcher »Rabenhaus« zur Anlaufadresse vieler aus Deutschland emigrierter Schriftsteller u. zu einem Insidertreffpunkt, wo junge Schweizer Autoren (Glauser, Zollinger, Hohl, Adrien Turel, Albert Bächtold) ihre Arbeiten vorstellen u. beurteilen lassen konnten. H. hat diese Epoche lebendig beschrieben im Memoirenbuch Bei uns im Rabenhaus. Aus dem literarischen Zürich der Dreissigerjahre (Zürich 1963. Frauenfeld u. a. 2002). Romanhafte Gestaltung fand diese Zeit in Carolin. Zwei Geschichten aus seinem Leben (Zürich 1944), einem Werk, das sich als Schlüsselroman der dt. Emigration im Zürich der Jahre 1933/34 lesen lässt (siehe dazu: Werner Mittenzwei: Exil in der Schweiz. Lpz. 21981). Ab 1938 leistete H. auch als Übersetzer einen Beitrag zur geistigen Öffnung der schweizerischen Enge. Vorwiegend für die sozialistische »Büchergilde Gutenberg« übertrug er Werke von Ignazio Silone, Monique SaintHélier, Denis de Rougemont, Orlando Spreng, C.-F. Landry u. andere. Für seine Kinder richtete H. um 1940 in seinem Haus ein Marionettentheater ein, für das er Stücke wie Theseus und der Minotaurus (Zürich 1943) schrieb. Für die große Bühne war er erfolgreich, als er mit Der Pfau muß gehen (Zürich 1951), einem »Festspiel, das keines sein will«, den ersten Preis im Dramenwettbewerb der Stadt Zürich anlässlich der 600-Jahr-Feier des Zürcher Beitritts zur Eidgenossenschaft gewann. Obwohl H. seit 1936, als ihn die Moskauer Prozesse zu einem Umdenken bewogen hatten, nicht mehr parteipolitisch engagiert war, behielt er dennoch zeitlebens eine dezidiert
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gesellschaftskritische, »linke«, aber in keiner Weise orthodoxe Haltung bei. Dieser Nonkonformismus kommt v. a. in seiner »Einmannzeitschrift« »Unsere Meinung« zum Ausdruck, die er von 1948 bis an sein Lebensende als weitgehend einziger Textverfasser selbst redigierte, druckte, verlegte u. vertrieb. Unter den Romanen, die er nach 1945 noch veröffentlichte, verdienen Der Vogel Greif (Zürich 1953) u. Der Kreter (Zürich 1973) Beachtung. Mit dem ersten unternahm H. den Versuch, seine ital. Kindheit ein zweites Mal, aber jetzt mit größerer Faktengenauigkeit, zu gestalten, während Der Kreter sich kritisch mit dem zeitgenöss. Zürich der Hochkonjunktur auseinandersetzt. Eher unterhaltenden Wert haben Spiel mit Valdivia (Zürich 1964), ein humoristischer Gesellschaftsroman um einen hochstaplerischen falschen Schachmeister, Alex der Gauner (Bern 1966), ein in Süddeutschland spielender Schelmenroman, u. Lady Godiva (Zürich 1980), ein Zirkusroman. Weitere Elemente aus H.s Lebensgeschichte sind in Universität oder Ein Jahr im Leben des Daniel Seul (Zürich 1977) sowie im postum erschienenen Band Ich bin ein Humm (Zürich 1982) enthalten, der Texte aus »Unsere Meinung« zusammenfasst. Auszüge aus dieser Zeitschrift sind auch u. d. T. Mitzudenken. Reflexionen aus zwei Jahrzehnten (Bern 1969. Nachw. von François Bondy) erschienen. H., in dessen Schreiben sich intellektuelle Verve, sprachl. Präzision u. gelegentlich eine gewisse Spröde manifestieren, stand zwischen Tradition u. Moderne u. nahm in den Augen vieler jüngerer Schweizer Literaten die Position eines glaubwürdigen Vermittlers ein. 1969 erhielt er den Literaturpreis der Stadt Zürich. Weitere Werke: Glimmer u. Blüten. Ges. N.n. Herrliberg 1945. – Die vergoldete Nuss. Basel 1951 (N.). – Die Schuhe des Herrn Lamy. Szenen aus der Pariser Kommune. Zürich 1953 (D.). – Sieben Märchen der Elisa Barbanti. Zürich 1953. – Springinsfeld u. Sauerkloß oder Das Freudenfest. Ein Märchen. Aarau 1954. – Kleine Komödie. Zürich 1958 (R.). – Die Nelke oder Freut euch des Lebens. Zürcher Novelle. Zürich 1962. – Der Wicht. Zürich 1976 (R.). – Marionettenspiele im Rabenhaus. 1941–1946. Zollikon 2005.
Hummelt Literatur: Barbara Loepfe u. Christine Voss: R. J. H. In: Werner Weber (Hg.): Helvet. Steckbriefe. Zürich 1981. – Eric Streiff: Nachw. zu R. J. H.: Das Linsengericht. Hg. Charles Linsmayer. In: Frühling der Gegenwart. Zürich 1981. – Beatrice v. Matt: R. J. H.s letzter Roman. In: Dies.: Lesarten. Zürich 1985, S. 114–118. – Wolfgang Klein: R. J. H. Rede auf dem Pariser Schriftstellerkongreß 1935. In: ZfG 7 (1986), H. 4, S. 435–444. – Malcolm Pender: Nachw. zu: R. J. H.: Die Inseln. Ffm. 1990. Charles Linsmayer / Red.
Hummelt, Norbert, * 30.12.1962 Neuss. – Lyriker, Essayist, Herausgeber. H. begann etwa Mitte der 1980er Jahre Gedichte zu schreiben. Er studierte Germanistik u. Anglistik in Köln u. war bis 1992 an der Kölner Autorenwerkstatt (u. a. als Herausgeber einer Anthologie zur Reihe weiter im text) beteiligt. Zusammen mit Marcel Beyer u. Ingo Jacobs trat er im Köln-Düsseldorfer Raum mit performance-artigen Sprechkonzerten auf, die Text u. Musik kombinierten. Die dem Gedichtband singtrieb (Weil a. Rh./ Basel 1997) beigefügte CD vermittelt einen Eindruck davon, in welchem Maße H. die Stimme als variables Medium der Textrealisation einsetzt. Zum einen wird die Stimme selbst durch Rhythmisierung u. Gesang musikalisiert, zum anderen tritt sie in Dialog mit verschiedenen Instrumenten. Seine ersten Gedichtbände beziehen ihre Sujets u. ihre sprachl. Expressivität häufig aus der Kneipenszene. So verwendete H. etwa für den Band Pick-ups (Siegen 1992) in diesem Milieu aufgespießte Sprach- u. Gesprächsfetzen. Diese Herkunft seiner Sprache schlägt sich in der Anreicherung mit zahlreichen engl. Worten nieder, wobei H. sie gelegentlich in der Manier Ernst Jandls ihrer Pronunziation entsprechend notiert (z.B. ›Feit se pauer‹). Häufig bedient sich H. auch sprachexperimenteller Techniken der literar. Avantgarde wie etwa der Dissolution von Worten (z.B. ›Irre Wo Kabel‹) oder der Inversion traditioneller Formen (z.B. ›Bukolisches Sonett‹). Neben den Anschlüssen an die Avantgarde lässt sich an H.s Dichtung zunehmend eine Orientierung an der Romantik erkennen. H. selbst erklärte 2004 in einem poetolog. Programmtext, dass ihn die Romantik fasziniere,
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weil sie ihm so modern erschiene, u. die Moderne ihn dort am meisten anspreche, wo sie ihm romantisch erscheine. Die Werke des poeta doctus H. sind von einem dichten intertextuellen Netz durchzogen, zu dessen Knotenpunkten u. a. Eichendorff, Novalis, Wilhelm Müller, Hölderlin, George, Benn, Trakl u. Thomas Kling gehören. Besondere Bedeutung hat Eichendorff für H. erlangt, was sich in seinen zahlreichen Landschafts- u. Kindheitsgedichten dokumentiert. In den seit 2000 erschienenen Gedichtbänden dominieren diese Themen, die H. teilweise in lockerer zykl. Form zusammenfasst (›rheinprovinz‹ in Stille Quellen. Mchn. 2004), während Gedichte über Alltag, Jugendkultur u. Milieu eher zurücktreten. Statt einer expressiven Sprechhaltung herrscht ein träumerischer, zuweilen melanchol. Sprachduktus vor, der einen ganz eigenen Sound besitzt, den H. durch den virtuosen Einsatz von Enjambements, Binnenreimen, Apokoinus u. einer durchgehenden musikal. Rhythmisierung evoziert. H. erhielt 1996 den Rolf Dieter Brinkmann-Preis, 1998 den Mondseer Lyrikpreis u. 2007 den Niederrheinischen Literaturpreis. Er nahm 2002 u. 2003/04 eine Gastprofessur am Literaturinstitut in Leipzig wahr; dazwischen war er 2002/03 writer-in-residence am Deutschen Haus in New York. H. ist Mitgl. der Redaktion von »text + kritik«, Herausgeber der »Lyrikedition 2000« u. lebt seit 2006 in Berlin. Weitere Werke: oh an-atomie. Köln 1987 (L.). – irre parabel. Köln 1990 (L.). – maisprühdose. Ausgew. Gedichte 1986–1991. St. Vith 1991 (zus. mit Ingo Jacobs: geknautschte zone). – Knackige Codes. Bln. 1993 (L.). – Palmers Hütte. In: Da schwimmen manchmal ein paar gute Sätze vorbei ... Aus der poet. Werkstatt. Hg. Heinz Ludwig Arnold. Ffm. 2001, S. 200–209 (Ess.). – Zeichen im Schnee. Mchn. 2001 (L.). – Fensterausschnitt, Antennendraht. In: Zwischen Handwerk u. Inspiration. Lyrik schreiben u. veröffentlichen. Hg. Martina Weber. Söhlde 2004, S. 20–27 (Ess.). – Zu den Quellen. Eine poet. Rückkehr zu den Erstbegegnungen mit den Dingen. In: Wohin geht das Gedicht? Hg. Roman Bucheli. Gött. 2006, S.42–48 (Ess.). – Totentanz. Mchn. 2007 (L.). Literatur: Sebastian Kiefer: Seele, Soma, Sema. Gedichte v. N. H. u. Ulrike Draesner in der
15 ›Sammlung Luchterhand‹. In: NDL 49 (2001), H. 540, S. 171–179. Jürgen Egyptien
Huna, Ludwig, * 18.1.1872 Wien, † 28.11. 1945 St. Gallen/Steiermark. – Dramatiker, Romancier. In Wiener Neustadt u. Krakau zum Berufsoffizier ausgebildet, musste H. 1906 wegen einer Duellverweigerung den Dienst quittieren. Als Dramatiker nicht sehr erfolgreich (u. a. Erstarrte Menschen. Bln. 1902. Lockere Vögel. Bln. 1908), konnte er von seinen nach 1911 entstandenen Romanen als freier Schriftsteller leben u. gewann v. a. in der Zwischenkriegszeit ein breites Lesepublikum. Seine historisch verbrämte Voyeursprosa hat noch heute Liebhaber. War der Roman Offiziere (Bln. 1911. 81913) noch durch eigene Militärärgernisse geprägt, so fand er nach dem Ersten Weltkrieg u. dem Ende der Zensur zu einer erzählerisch konventionellen Darstellung hemmungsloser Tat- u. Genussmenschen. Sein größter Erfolg war die BorgiaTrilogie (Die Stiere von Rom. 1920. Der Stern des Orsini. 1921. Das Mädchen von Nettuno. 1922. Alle Lpz. 1 Bd., Wien 1938. 3 Bde., Mchn. 1977). Mit dem Renaissanceroman Die Kardinäle (Salzb. 1939) versuchte H. noch einmal an diese Erfolgsthematik anzuknüpfen. Weitere Werke: Romane: Monna Beatrice. Lpz. 1913. Wien 1977. – Die Harmonien im Hause Sylvanus. Lpz. 1915. – Der Kampf um Gott. Lpz. 1923. – Wieland der Schmied. Lpz. 1924. – Die Verschwörung der Pazzi. Lpz. 1925. – Granada in Flammen. Lpz. 1927. – Der Goldschmied v. Segovia. Lpz. 1929. – Bartholomäusnacht. Lpz. 1932. – Die Hackenberg. Lpz. 1935. – Nacht über Florenz. Bln. 1939. – Linde Schönwaiz. Wien 1954. Literatur: Hans Kandolf: L. H. (1872–1945). Erinnerung an den einst sehr erfolgreichen Schriftsteller aus dem obersteir. St. Gallen. In: Da schau her 22 (2001), H. 2, S. 8–12. Hermann Schreiber / Red.
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Meißen, wo er um 1640 als Lehrer nachzuweisen ist u. den Dichter Johann Klaj kennen lernte. Als »Der Erneuernde« war H. Mitgl. der Zesen’schen Deutschgesinneten Genossenschaft. Nach Studien in Altdorf (1642), Helmstedt (1648) u. Leiden (1650) u. längeren Reisen nach Italien, Frankreich u. Holland erwarb er 1654 in Straßburg den Grad eines Lic. jur. Neben Harsdörffer u. Klaj gehörte H. 1645 als »Myrtillus I.« zu den Gründungsmitgliedern des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg; 1646 besuchte ihn Birken in Gebhardshagen in der Lüneburger Heide. Seit Mitte der 1650er Jahre stand er als Hofmeister u. kurfürstlich sächs. Rat im Dienst Johann Georgs III. von Kursachsen. Er hinterließ eine reichhaltige Bibliothek. Aus der Feder H.s ist nur wenig überliefert. 1640–1642 schrieb er einige Gelegenheitsgedichte für Hamburger Bürger. 1645 beteiligte er sich am Pegnesischen Schäfergedicht. In den vierziger Jahren verfasste er Hirten-Gedichte für Harsdörffers Gesprächsspiele u. Ehrengedichte zu Werken von Klaj, Schottelius u. Rist, in den 1650er Jahren eine Reihe lat. Gelegenheitsgedichte (Stolberg Nr. 7911 u. 22.499). 1651 veröffentlichte er in Leiden eine Sammlung Geistliche Lieder, die nicht mehr nachzuweisen ist. 1653 gab er unter dem Pseud. Numa Sedulia Innocentii X. Bullam ac defensionem Belgarum contra illius Bullae receptionem heraus. Literatur: Johann Herdegen: Histor. Nachricht v. deß löbl. Hirten- u. Blumen-Ordens an der Pegnitz Anfang u. Fortgang [...]. Nürnb. 1744, S. 238-241. – Zedler. – Kosch. – Heiduk/Neumeister, S. 57, 387. – Konrad Schröder: Biogr. u. bibliogr. Lexikon der Fremdsprachenlehrer des deutschsprachigen Raumes. Bd. 2, Augsb. 1991, S. 246. – Jürgensen, S. 102–104. – DBA. Renate Jürgensen
Hundt-Radowsky, Joachim (Johann) Hartwig von, * 1779 oder 1780 Gut Hund, Samuel, * um 1620 Bickau bei Schlieven bei Parchim/Mecklenburg, Herzberg, † nach 1660 Dresden (?). – † 15.8.1835 Burgdorf/Kt. Bern. – Lyriker, Kurfürstlich sächsischer Rat u. Historio- Erzähler u. Publizist. graf. Über den Lebenslauf H.s ist nur wenig bekannt. Aufgewachsen ist er vermutlich in
H., Sohn eines Gutsbesitzers aus mecklenburgischem Landadel, nahm 1806 im Alter von 26 Jahren (Immatrikulationsakten) ein
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Jurastudium an der Universität Helmstedt Machthabern, radikalisierte er in seinen späauf. 1807 veröffentlichte er erste Gedichte u. ten Schriften Inhalt u. Ausdruck komproErzählungen u. d. T. Blüten des Lebens (Bln.). misslos. Seine Zeitschrift »Die Geissel« (2 Der sicheren Juristenlaufbahn – 1810–1813 H.e, Straßb. 1832), gegen die Heilige Allianz, Hofgerichtsadvokat in Parchim – zog er die den Bundestag u. Metternich gerichtet, journalistische vor, die ihn in heftige Fehden brachte ihn auf die schwarze Liste der Bunverwickelte. Einerseits engagierter Verfechter deszentralbehörde zur Überwachung der der bürgerl. Freiheiten, Republikaner mit Deutschen im Ausland. Leidenschaftlich erjakobin. Tugendliebe, Sympathisant der griff H. Partei für das unterdrückte Polen poln. Befreiungsbewegung – aus diesem (Polen und seine Revolution. 2 Bde., Stgt. 1831); Grund legte er sich den Beinamen Radowsky noch im Schweizer Exil mahnte er demokrazu –, gilt er andererseits durch seine antise- tische Tugenden an (Der Schweizerspiegel. Stgt. mitischen Hetzschriften wie Judenspiegel. Ein 1831). Schand- und Sittengemälde alter und neuerer Zeit Weitere Werke: Harfe u. Speer. Bln., Lpz. 1815 (Würzb. 1819) als ein Propagandist der Hep- (L.). – Kotzebues Ermordung. Bln. 1819. – Über die Hep-Pogrome im Sommer 1819. In H.s Gewaltstreiche der Regierungen [...] gegen die Schlüsselroman Truthähnchen. Ein satyrisch- Preßfreiheit in Baiern, Würtemberg u. Baden. komischer Roman (Merseburg 1820. Rezension Straßb. 1832. – Die sieben Todsünden der Liberavon Börne in: Die Wage 1,8, 1820) mischt sich len. Burgdorf 1834. Literatur: Stefan Rohrbacher: Gewalt im BieÄrger über die Praktiken August Kuhns, Herausgeber des »Freimüthigen«, dessen dermeier. Antijüd. Ausschreitungen in Vormärz u. Revolution (1815–1848/49). Ffm. 1993. – Gudrun Mitarbeiter H. war, mit antisemitischen EntHentges: Schattenseiten der Aufklärung. Die Dargleisungen. Auch die lebendigen Zeit- u. stellung von Juden u. ›Wilden‹ in philosoph. Charakterstudien des autobiogr. Wiechart oder Schr.en des 18. u. 19. Jh. Schwalbach 1999. aus dem Leben eines alten Demagogen (3 Bde., Ulrike Leuschner / Red. Liestal 1835) in witzig-iron. Stil – dort gibt H. das Geburtsjahr seines Alter ego Wiechart Hunnius, Aegidius, * 21.12.1550 Win(= Hartwig) mit 1769 an – verlieren viel durch nenden (Württemberg), † 4.4.1603 WitH.s antijüd. Vorurteile. tenberg. Der Staatsgewalt in der Metternich-Ära trat H. mit zahlreichen Broschüren entgegen. Den H., Sohn eines recht wohlhabenden FärberBespitzelungen der polit. Polizei entzog er meisters, besuchte seit 1563 die Klosterschusich durch Ortswechsel: Nach Aufenthalten len Adelberg u. Maulbronn u. studierte seit in Berlin u. Leipzig war er ab 1818 in Alten- 1565, gefördert durch ein herzogl. Stipendiburg, ab 1820 längere Zeit in Straßburg, das um, in Tübingen, wo Jakob Heerbrand sein er schon früher einige Male besucht hatte, wichtigster Lehrer wurde. Seit 1574 Diakon ging von dort 1834 in die Schweiz, wurde aus in Tübingen, wurde er nach der Promotion Appenzell ausgewiesen u. lebte zuletzt in zum Dr. theol. in Tübingen 1576 auf eine Burgdorf. Professur für Theologie nach Marburg beruMit Lust an der Polemik scheute H. auch fen. Dort entfaltete er eine facettenreiche Flügelkämpfe nicht; eine Schrift des Re- Lehr- u. Publikationstätigkeit u. setzte sich gimekritikers Maximilian von Grävell rezen- erfolglos für die Einführung der Konkorsierte er größtenteils negativ, nahm aber das dienformel in Hessen ein. Nach der zweiten Verbot dieser Rezension durch die preuß. Niederringung des sog. Kryptocalvinismus in Zensurbehörde zum Anlass prinzipieller Kursachsen wurde H. 1591 als Professor priAgitation gegen geistige Unterdrückung marius u. Propst an der dortigen Schlosskir(Über Herrn Regierungsrath Grävell’s Werk [...] che nach Wittenberg berufen; 1595 überund über Censur, Steindruck, Geistesdruck und nahm er zudem das Amt des Stadtsuperanderen Druck. Lpz. 1819). intendenten. 1593–1597 beteiligte er sich Zeigte H. bis etwa 1830 noch eine gewis- maßgeblich an den Auseinandersetzungen se Verständigungsabsicht gegenüber den mit dem 1592–1594 in Wittenberg als Theo-
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logie-Professor lehrenden Samuel Huber u. fession. Der Beitr. v. Ä. H. (1550–1603) zur Entdessen Gnadenuniversalismus. 1599 erhielt stehung einer luth. Religionskultur. Lpz. 2004. Johann Anselm Steiger H. einen Ruf auf die Nachfolge seines Lehrers Heerbrand nach Tübingen, den er jedoch ablehnte. Beim Religionsgespräch in Re- Hunnius, Monika (Adele Elisabeth), gensburg (1601) verteidigte er die luth. Lehre * 2.(14.?)7.1858 Narva, † 10.12.1934 Riga. gegen die jesuit. Theologen Jakob Gretser u. – Verfasserin (auto-)biografischer Schriften. Adam Tanner. H., der vielen als der wichtigste Theologe Die Pastorentochter aus balt. Patriziat wuchs der Wittenberger Reformation nach Luther u. in Narva u. Riga auf, ging 1882 nach FrankMartin Chemnitz gilt, hat ein überaus breites furt/M., wo sie eine Gesangsausbildung erliterar. Œuvre hinterlassen, in dem die Exehielt, verkehrte freundschaftlich mit Brahms gese der neutestamentl. Briefliteratur einen u. Clara Schumann u. ließ sich dann in Riga Schwerpunkt bildet (u. a. Exegesis epistolae ad als Gesangs- u. Sprechpädagogin nieder. Ein Hebraeos. 1586. Epistolae Divi Pauli apostoli ad Nervenleiden führte in den 1920er Jahren zu Romanos expositio. 1587. Epistolae Divi apostoli einer Lähmung (bis zum Verlust ihres Pauli ad Corinthios prioris expositio. 1596). H. Sprechvermögens). hat sich insbes. dadurch verdient gemacht, H., eine der bekanntesten dt.-balt. Autodass er dem Konkordienluthertum die dierinnen, begann auf Anregung des mit ihr sem bis dato fehlende systematisch-theolog. verwandten Hesse, der sich auch bei VerleKohärenz verlieh (Mahlmann). Hohe Bedeugern für sie einsetzte, zu schreiben (Mein Ontung kommt nicht zuletzt H.’ intensiver Bekel Hermann. Heilbr. 1921. 101.–105. Tsd., fassung mit der Providenz- u. Prädestinati1984. Zuletzt Bietigheim-Bissingen 2001). onslehre zu (Articulus de providentia Dei et aeDie russ. Besatzungszeit hielt sie in Bildern aus terna praedestinatione. 1596), doch auch beder Zeit der Bolschewikenherrschaft in Riga (ebd. züglich einer Vielzahl anderer loci hat H. 1921) fest, die zeit- u. kulturgeschichtlich wichtige Publikationen vorgelegt, deren bedeutsam sind, da sie neben den polit. VerWirkung (etwa bei Leonhart Hütter u. Johann werfungen auch die untergegangene Welt Gerhard) immens ist. Nach H.’ Tod gab sein dt.-balt. Volkstums u. das Zusammenleben Schwiegersohn Helwig Garthe bis dahin under balt. Völker eindringlich dokumentieren. gedruckt gebliebene Schriften aus dem H. verfasste außerdem Charakter- u. LandNachlass heraus u. veranstaltete eine Geschaftsskizzen (Menschen, die ich erlebte. Heilbr. samtausgabe von H.’ lat. Werken. H. ist auch 1911. 87.–90. Tsd., 1962. Italienische Reise. als Verfasser von bibl. Dramen in ErscheiEbd. 1935) u. autobiogr. Schriften (u. a. Mein nung getreten (Josephus: Comoedia. 1584. Ruth. Elternhaus. Ebd. 141986. Zuletzt Bietigheim1586). Bissingen 2001. Meine Weihnachten. Ebd. Ausgabe: Opera latina. 5 Bde., Ffm. 1606–09. 1922. 391982). Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Salomon Gesner: Eine Christl. Predigt bey der Leich vnnd Begräbniß [...] Aegidii Hvnii. Wittenb. 1603. – Leonhart Hütter: Threnologia de vita, rebus gestis & [...] obitu [...] Aegidii Hvnii. Wittenb. 1604 [z.T. auf autobiogr. Angaben H.’ fußend]. – Gottfried Adam: Der Streit um die Prädestination im ausgehenden 16. Jh. Neukirchen-Vluyn 1970. – Theodor Mahlmann: Ae. H. In: TRE. – Die theolog. Fakultät Wittenberg 1502 bis 1602. Hg. Irene Dingel u. a. Lpz. 2002. – Zur Rechtfertigungslehre in der luther. Orthodoxie. Hg. Udo Sträter. Lpz. o. J. (2002). – Markus Matthias: Theologie u. Kon-
Weitere Werke: Balt. Häuser u. Gestalten. Heilbr. 1926. – Aus Heimat u. Fremde. Ebd. 1928. – Wenn die Zeit erfüllet ist. Hg. Anne-Monika Glasow. Ebd. 1936. 41959 (Briefe u. Tagebuchbl.). Literatur: Erik Thomson in: Ostdt. Monatsh.e 25 (1958/59), S. 942–944. – Eckhard Schulz: M. H. In: NDB. – Friedrich Wilhelm Bautz: M. A. E. H. In: Bautz (mit. Lit.). Christian Schwarz / Red.
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Hunold, Christian Friedrich, auch: Menantes, * 19.9.1681 Wandersleben/Thüringen, † 6.8.1721 Halle/Saale. – Verfasser von Romanen, Lyrik, Briefstellern, Poetiken, Verhaltensanleitungen; Übersetzer. H. zählt wie Bohse zu den ersten Autoren, denen der literar. Markt die Möglichkeit eröffnete, von der Schriftstellerei zu leben. Der Sohn eines gräflich Hatzfeldschen Amtmanns besuchte die Schulen in Weißenfels u. studierte ab Juni 1698 in Jena Rechtswissenschaft. Daneben beschäftigte er sich mit Sprachen, Rhetorik, Poesie u. Musik. Finanzielle Schwierigkeiten zwangen ihn Anfang 1700 zum Abbruch des Studiums. Auf dem Weg nach Hamburg lernte er seinen späteren Biografen, den Buchhandelsgehilfen Benjamin Wedel, kennen. Dieser vermittelte, als H. in Hamburg aus Not zu schreiben begonnen hatte, den Kontakt zu Georg Liebernickel, der die meisten Schriften H.s verlegte. H. war ein vielseitiger u. produktiver Autor. Er schrieb eine thematisch weitgespannte u. formenreiche Lyrik (Die edle Bemühung müssiger Stunden. 2 Bde., 1702. 41729. Erw. u. d. T. Galante, Verliebte Und Satyrische Gedichte. 1704), die – in der Nachfolge von Hoffmannswaldau – auch Ironie u. Satire als künstlerisches Mittel einsetzt. Das »Galante« äußert sich in einem andeutenden, verschiedene Tonlagen verknüpfenden Sprechen über Sinnlichkeit u. Sexualität, das dem Leser in der Art der Bewältigung des Gegenstands intellektuellen u. emotionalen Genuss bereiten will. Erfolgreich war H. auch mit zwei dem ital. Geschmack entgegenkommenden Opernlibretti (Die über die Liebe Triumphirende Weisheit / Oder: Salomon. 1703. 41713. Der Gestürzte und wieder Erhöhte Nebukadnezar. 1704. 4 1728. Neudr. Mchn. 1980) sowie mit Briefstellern, die einen am frz. Klassizismus orientierten Begriff des natürl. Stils propagieren (Die Allerneueste Art Höflich und Galant zu Schreiben. 1703. 61729). Vor allem aber entsprachen seine vier, bis zur Jahrhundertmitte mehrfach aufgelegten Romane, die »galante Conduite«, d. h. Regeln u. Exempel einer personen- u. situationsbezogenen Etikette vermitteln, dem Geschmack eines adligen u. patrizisch-bürgerl. Publikums, das sich mit
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erot. Geschichten aus der Sphäre der Höfe unterhalten wollte (Die Verliebte und Galante Welt. 1700. Tl. 2, 1707. Neudr. Bern/Ffm. 1988. Die Liebens-Würdige Adalie. 1702. Neudr. Stgt. 1967. Der Europäischen Höfe Liebes- Und Helden-Geschichte. 1705. Neudr. Bern/Ffm. 1978. 1. Forts. von Johann Georg Hamann. Hbg. 1728. 31741. 2. Forts., Hbg. 1740. 2 1747). Mit der Veröffentlichung des Satyrischen Romans (Hbg. 1706. Rev. Tl. 1 und neuer Tl. 2. Stade 1710), der unter dem Vorwand der Fiktion private Affären seines Autors reputationssteuernd ausbreitet, beendete H. sein Leben als freier Autor. Diese Lebensform hatte er – wie die Bewerbung am Hof von Eutin zeigt – nicht angestrebt, aber zu nutzen gewusst. H. hat sich nie gescheut, seine Feder für seine literar. Überzeugungen (z.B. in der satir. Komödie Der Thörichte Pritschmeister. 1704) wie zur persönl. Rache einzusetzen, wobei beides wohl auch der Hebung seines Marktwerts dienen sollte. Im Satyrischen Roman brachte er kaum verhüllt Intimes aus dem Personenkreis um die Hamburger Oper an die Öffentlichkeit. Der Verhaftung – in Hamburg wurde der Roman konfisziert – entzog sich H. am 24.6.1706 durch Flucht. In Wolfenbüttel, Rudolstadt u. Braunschweig versuchte er vergeblich eine Anstellung zu erhalten. 1708 ließ er sich in Halle nieder, um bis zu seinem frühen Tod mit Vorlesungen über Moral, Rhetorik u. Stilfragen sein Brot zu verdienen. Zugleich setzte er seine literar. Tätigkeit mit den schon in Hamburg erprobten Gattungen fort (Theatralische / Galante Und Geistliche Gedichte. 1715. Neue Briefe / Und Allerhand ausbündige Und zu Recht bestehende Obligationes [...]. 1715. 41739), erweitert um poetolog. Abhandlungen (Einleitung zur Teutschen Oratorie. Halle/Lpz. 1709. 51726. Einl. zu Erdmann Neumeisters Poetik Die Allerneueste Art / Zur reinen und Galanten Poesie zu gelangen. 1707. 11 1742), Lehrbücher des Verhaltens u. Sprachratgeber (Die Manier Höflich und wohl zu Reden und zu Leben. 1710. 41729), die zu einer bis heute wirksamen Verhöflichung der Sprache beigetragen haben. Die Distanzierung von seinen früheren Schriften (u. a. in der Vorrede zu Accademische Neben-Stunden allerhand neuer Gedichte. Halle/Lpz. 1713) mag
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Ausdruck tatsächl. Abkehr des nun im pietistischen Halle zum Gelehrtenstand Gehörenden (Promotion 1714) von der auf Polemik u. Sensation hin angelegten Schreibart sein. Sie entspricht aber auch der in den Verhaltensanleitungen, Briefstellern u. Romanen entworfenen Lebensform des Galanten als einer situationsangepassten, von Selbst- u. Menschenkenntnis getragenen, doch allein dem eigenen Interesse verpflichteten Verhaltenskunst. Die galante Lebens- u. Schreibart verfiel mit der Etablierung einer bürgerl. Kultur schnell der Kritik. Gottsched rügte an H.s Werk den Mangel an nützl. Gedanken (in: Beyträge zur kritischen Historie. 3. Stück, 1732, S. 539) u. die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jh. sah in H. nur einen »Vertreter poetischer Nichtswürdigkeiten« (Gervinus in: Geschichte der deutschen Dichtung. 51872, S. 653), der in Erotik schwelge (Vogel, S. 70). Erst eine stärker sozialgeschichtl. Betrachtungsweise ist v. a. den Romanen gerecht geworden. Sie gelten als selbstständige Übergangsformen zwischen höf. u. bürgerl. Literatur im Kontext eines grundlegenden Normen- u. Bewusstseinswandels, mit dem eine Verlagerung des sozialen Orts der Literatur vom Hof zur Stadt einherging. So folgte H. zwar dem Fiktionsverständnis des höfischhistor. Romans, wenn er nur wahre Geschichten für lehrreich hielt (Accademische Neben-Stunden) u. daher seinen Stoff der europ. Hofgeschichte entnahm. Die Adalie z.B. schildert, in manchem verändert, den Aufstieg der Tochter eines kleinen Adligen aus Poitou, die 1676 die Gemahlin des Herzogs von Celle-Lüneburg wurde, wobei H. Jean de Préchacs L’illustre Parisienne (1679) als Vorlage benutzte. Auch behält er unter Vereinfachung der Handlungsstränge u. Erweiterung der Episodenzahl weitgehend das Heliodor’sche Strukturmodell bei, wenngleich in der Forschung auch die These vertreten wird, dass H.s Romane eher in der Erzähltradition der »novelas ejemplares« des Cervantes stehen. Sie unterscheiden sich jedoch vom höfischhistor. Roman grundsätzlich in ihrer pragmat. Ausrichtung (darin dem polit. Roman nahe), im Verzicht auf ein das Handeln der (meist adligen) Figuren leitendes metaphys.
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Normensystem – statt heroischer Tugend herrscht Opportunismus – u. in der Ersetzung des »Politischen« durch eine Welt der Leidenschaften u. Affekte. In der Aufdeckung von psych. Motivation wie in rudimentären Ansätzen eines perspektiv. Erzählens u. dem pragmat. Charakter zeigen H.s Romane Züge eines bürgerl. Gattungstypus. Weitere Werke: Die beste Manier in Honnêter Conversation sich Höflich u. Behutsam aufzuführen [...]. Hbg. 1707. 71762. – Auserlesene [...] Gedichte unterschiedener Berühmten u. geschickten Männer zusammen getragen u. nebst eigenen an das Licht gestellet v. Menantes. Halle 1718–21. Neudr. Hildesh. 1991. Literatur: [Benjamin Wedel:] Geheime Nachrichten u. Briefe v. Herrn Menantes Leben u. Schrifften. Köln 1731. Neudr. Lpz. 1977. – Hermann Vogel: C. F. H. (Diss. Lpz.) Lucka 1897 (mit Werkverz.). – Amadeus Schmidt-Temple: Studien zur Hamburg. Lyrik im Anfang des 18. Jh. Mchn. 1898. – Herbert Singer: Der dt. Roman zwischen Barock u. Rokoko. Köln/Graz 1963. – Reinhard M. G. Nikisch: Die Stilprinzipien in den dt. Briefstellern des 17. u. 18. Jh. Gött. 1969. – Hans Wagener: Vorw. zu C. F. H.: Der Satyr. Roman. Bern/Ffm. 1973. – Ders.: Vorw. zu C. F. H.: Der Europ. Höfe Liebes- u. Heldengesch. Ffm./Bern 1978. – Wilhelm Voßkamp: Adelsprojektionen im galanten Roman bei C. F. H. In: Legitimationskrisen des dt. Adels 1200–1900. Hg. Peter Uwe Hohendahl u. Paul Michael Lützeler. Stgt. 1979, S. 83–99. – Ernst Weber u. Christine Mithal: Dt. Originalromane zwischen 1680 u. 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. 1983. – W. Voßkamp: C. F. H. In: Dt. Dichter des 18. Jh. Hg. Helmut Steinhagen u. Benno v. Wiese. Bln. 1984 (mit Werkverz.). – H. Wagener: Vorw. zu C. F. H.: Die verliebte u. galante Welt. Bln./Ffm. 1988. – Bernhard Fischer: Ethos, Konvention u. Individualisierung. Probleme des galanten Romans in C. F. H.s ›Europäischen Höfen‹ u. im ›Satyrischen Roman‹. In: DVJs 63 (1989) S. 64–97. – Udo Sachse: C. F. H. u. die dt. Konversationstheorie am Anfang des 18. Jh. In: Weißenfels als Ort literar. u. künstler. Kultur im Barockzeitalter. Hg. Roswitha Jacobsen. Amsterd./Atlanta, GA 1994, S. 295–303. – Albrecht Greule: Sprachpflege am Übergang v. Barock u. Aufklärung. C. F. H. alias Menantes. In: Resonanzen. FS Hans Joachim Kreuzer. Hg. Sabine Doering, Waltraud Maierhofer u. Peter Philipp Riedl. Würzb. 2000, S. 37–46. – Olaf Simons: Menantes. Dichter zwischen Barock u. Aufklärung. In: Palmbaum 13 (2005), S. 6–29. – Ders.: Menantes. Ein Meister der galanten Conduite. In: Palmbaum
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Huppert, Hugo, * 5.6.1902 Bielitz-Biala/ Österreichisch-Schlesien, † 25.3.1982 Wien; Grabstätte: ebd., Friedhof Ober-St. Veit. – Lyriker, Erzähler, Kulturkritiker u. Huppelsberg, Joachim, * 2.2.1907 Brüs- Übersetzer. sel, † 15.3.1988 Lemgo. – Essayist, ÜberH. entstammte einer Beamtenfamilie, schloss setzer, Lyriker. 14 (2006), S. 8–29. – Cornelia Hobohm (Hg.): Menantes. Ein Dichterleben zwischen Barock u. Aufklärung. Jena 2006. Ernst Weber
Der Fabrikantensohn besuchte eine Werkkunstschule in Barmen. Nach dem Kriegsdienst 1939–1945 freier Übersetzer, war er 1951–1972 Volkshochschulleiter in Lemgo. H. war mit der Malerin Anne Huppelsberg verheiratet. Vor allem in der Nachkriegszeit wirkte H. mit Essays u. Übersetzungen als wichtiger Vermittler frz. Literatur in Deutschland (Lamartine: Graziella. Braunschw. 1947. Balzac: Physiologie der Ehe. Krefeld 1951. Lyrik von Nouveau, Supervielle, Cocteau u. a.). Die von ihm übersetzte u. herausgegebene Sammlung der Gedichte, Prosadichtungen, Briefe und Tagebücher Maurice de Guérins (Krefeld 1949) ist die bislang umfangreichste dt. Ausgabe des Autors. H.s Nachdichtung machte die Elegien von Francis Jammes (Düsseld. 1948) erstmals in Deutschland bekannt. Die teils mit den Übersetzungen, teils in Zeitschriften publizierten Essays zu Dichtern u. bildenden Künstlern Deutschlands u. Frankreichs sind lebensvolle poetische Porträts. Der Essay Rainer Maria Rilke (Mchn. 1949), gegen den Willen H.s als »Biographie« ediert, zeichnet in bewusst subjektiver Auseinandersetzung die »Physiognomie dieses Dichtertums« nach. Auch die Monografie über einen vergessenen Maler u. Architekten der Jahrhundertwende, Karl Junker (Lemgo 1983), zeigt H. als geistvollen u. kunstsinnigen Essayisten. Eigene, meist in der Tradition des Symbolismus stehende Gedichte erschienen in Zeitschriften. Weitere Werke: Nachdichtungen. In: Flora Klee-Palyi (Hg.): Anth. der frz. Dichtung v. Nerval bis zur Gegenwart. 2 Bde., Wiesb. 1951–53. Ffm./ Bln. 1958 (gekürzt). – Lemgoer Kirchen. Lemgo 1977. – Lemgo. Bielef. 1980. Heinrich Detering
sich jedoch schon nach dem Ersten Weltkrieg der Arbeiterbewegung an. Er studierte Staatswissenschaften in Wien (1925 Dr. rer. pol.) u. Soziologie in Paris. 1927, nach der Juli-Erhebung der Wiener Arbeiter, wurde er als Mitgl. der KPÖ verhaftet u. emigrierte 1928 in die Sowjetunion. In Moskau arbeitete er zunächst am MarxEngels-Institut, wo er an der Edition der Marx-Engels-Gesamtausgabe mitwirkte (1928–1932); anschließend absolvierte er ein dreijähriges Studium am Institut der Roten Professur für Literatur u. Publizistik. Gleichzeitig war er als Feuilletonredakteur der »Deutschen Zentral-Zeitung«, 1936–1938 auch als stellvertretender Chefredakteur der »Internationalen Literatur. Deutsche Blätter« tätig. Seit 1930 Mitgl. der KPdSU, wurde H. 1938 im Sog stalinistischer Verfolgung inhaftiert; nach seiner Freilassung wirkte er 1939–1941 als Dozent am Maxim-Gorki-Institut für Weltliteratur in Moskau, später publizistisch für die Sowjetarmee, als deren Major er 1945 nach Wien zurückkehrte, um am kulturellen Neuaufbau seiner Heimat mitzuarbeiten. Vier Jahre später wurde er in die UdSSR zurückkommandiert. Ab 1956 lebte er als freier Schriftsteller wieder in Wien. Anfangs von Karl Kraus beeinflusst, orientierte sich H. seit den 1920er Jahren an realistischen Schreibweisen sozialistischer Schriftsteller; in der Sowjetunion hatte er v. a. zur »Lef«-Gruppe, später zu zahlreichen dt. Exilautoren engste Kontakte. Mitte der 1960er Jahre wandte er sich von der »explikativen« Dichtung ab u. der »implikativen« Poesie zu – ohne aus dem Kontext der sozialistisch-realistischen Literatur auszubrechen. Sein Werk umfasst neben Reiseskizzen (Sibirische Mannschaft. Moskau 1934), Essays, Gedichten u. Poemen auch eine großangelegte Autobiografie (Die angelehnte Tür. Halle 1976. Wanduhr mit Vordergrund. Ebd. 1977. Schach
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dem Doppelgänger. Ebd. 1979) sowie Abhandlungen zur Literaturgeschichte u. Poetologie (Sinnen und Trachten. Ebd. 1973). Die größte Beachtung fanden H.s Übersetzungen, bes. die Ausgabe der Werke Majakowskis, u. die Nachdichtung des georgischen Nationalepos Der Recke im Tigerfell von Schota Rusthaweli. H.s Werk ist v. a. in der DDR verlegt u. dort auch wiederholt ausgezeichnet worden. Weitere Werke: Gesammelte Werke in Einzelausgaben: Wolkenbahn u. Erdenstraße. Gedichte u. Poeme. Halle 1975. – Bannmeile u. Horizont. Ausgew. Prosa. Ebd. 1976. – Erinnerungen an Majakowski. Ffm. 1966. – Minuten u. Momente. Ausgew. Publizistik. Ebd. 1978. Literatur: Fritz Mierau: Interview mit H. H. In: WB 18 (1972), H. 12, S. 30–60. – Johann Holzner: Geglückte Integration in der UdSSR – gestörte Integration in Österr. Anmerkungen zu H. H. In: Wolfgang Frühwald u. Wolfgang Schieder (Hg.): Leben im Exil. Hbg. 1981, S. 122–130. – Martin Reso: H. H. In: Horst Haase u. Antal Mádl (Hg.): Österr. Lit. des 20. Jh. Einzeldarstellungen. Bln./ DDR 1988, S. 442–460. – Anatol J. Kafel: H. H.s Reisebilder aus Österr. In: Rocznik naukowodydaktyczny 5 (1989), S. 147–157. – LöE. – Peter König: Hans Weber-Lutkow, Tadeusz Rittner, Georg Drozdowski u. H. H. Zur Migrationsgesch. vierer Altösterreicher v. Geburt. In: Sascha Feuchert (Hg.): Flucht u. Vertreibung in der dt. Lit. Ffm. u. a. 2001, S. 81–100. Johann Holzner / Red.
Hurter, Friedrich (Emanuel) von, * 19.3. 1787 Schaffhausen, † 27.8.1865 Graz. – Theologe, Historiograf. Der Sohn eines Druckereibesitzers, Verlegers u. Leiters des späteren »Schweizerischen Correspondenten« wurde streng konservativ erzogen. 1804–1806 studierte er Theologie in Göttingen u. betrieb histor. Privatstudien; 1807 ließ er den ersten Band seiner Geschichte des ostgothischen Königs Theoderich (Schaffh. Bd. 2: 1808) erscheinen, die immerhin Johannes von Müllers Anerkennung fand. 1808 übernahm H. die Landpfarrei in Beggingen im Klettgau, 1810(-1824) in Löhningen bei Schaffhausen. Gegen theolog. Rationalismus wie polit. Liberalismus eingestellt, begann H. die Unabhängigkeit der kath. Kirche öffentlich zu vertreten (Artikel im »Schweizerischen Correspondenten«) u. befreundete sich
Hurter
mit Karl Ludwig von Haller. 1824 zum zweiten Vorstand der Kantonsgeistlichkeit gewählt, setzte er sich politisch gegen die Erneuerungsbestrebungen in den Kantonen u. später für ein Eingreifen des Auslands in die frz. Julirevolution ein (»satanisches Prinzip der Nichtintervention«). Die 1834 auf Müllers Anregung verfasste Geschichte Papst Innozenz III. (2 Bde., Hbg.) sicherte H. in weiten kath. Kreisen Aufmerksamkeit, jedoch mehr religionspolit. Motive halber (erstarkender Ultramontanismus) als der wissenschaftl. Qualität wegen. Seit 1835 Antistes, wurde er gleichwohl Mitarbeiter von Guido Görres’ »Historischpolitischen Blättern«. Eine Österreichreise brachte die auch äußerl. Annäherung an kath. Machtzentren. Sein Bericht Ein Ausflug nach Wien und Preßburg (2 Tle., Schaffh. 1840) rief seine Schweizer Amtskollegen endgültig auf den Plan; H. antwortete mit Der Antistes Hurter von Schaffhausen und sogenannte Amtsbrüder (ebd. 1840). 1841 legte er alle Ämter nieder. Wohl die Lektüre von Möhlers Symbolik gab den letzten Anstoß zur Konversion 1844 (vgl. seine Autobiografie Geburt und Wiedergeburt. 3 Bde., ebd. 1844/45. 41867). Nachdem H. mit Metternich Verbindung aufgenommen hatte, wurde er 1845 Hofhistoriograf. Die vom Hof erwünschte Geschichte Kaiser Ferdinands II. erschien ab 1858 (ebd.) u. umfasste schließlich elf Bände. In ihrer Bedeutung umstritten, stellt sie H.s Hauptwerk dar, das er mit zahlreichen Monografien, u. a. über Wallenstein, begleitete. Bis ins Alter rastlos tätig, beteiligte er sich an der Leitung der kath. »Wiener Litteraturzeitung« u. am Kampf gegen den österr. Liberalismus. Literatur: Heinrich v. Hurter: F. H. 2 Bde., Wien 1876/77. – Franz X. v. Wegele: F. E. v. H. In: ADB. – Peter Vogelsanger: F. H.s geistige Entwicklung. Eine Studie zur Gesch. der romant. Konversionsbewegung. Bern-Bümplitz 1954. – Ottfried Hafner: Der österr. Reichshistoriograph F. v. H. in seinen Beziehungen zu Erzherzog Johann u. Leopold v. Sacher-Masoch. In: Schaffhauser Beiträge zur Gesch. 67 (1990), S. 321–331. Christian Schwarz / Red.
Husanus
Husanus, Henricus, eigentl.: Heinrich Haussen, * 6.12.1536 Eisenach, † 9.12. 1587 Lüneburg. – Jurist u. neulateinischer Lyriker.
22 – Anke-Marie Lohmeier: Beatus ille. Tüb. 1981, S. 161–164 u. ö. – Friedrich Merzbacher: H. H. In: NDB. – Hermann Wiegand: Hodoeporica. BadenBaden 1984, S. 241–244, 497 f. – VD 16. Wilhelm Kühlmann
H. besuchte die Universitäten Jena u. Wittenberg (immatrikuliert 31.5.1553). In freundschaftl. Kontakten zu den von Melan- Husserl, Edmund (Gustav Albrecht), * 8.4. Prossnitz/Mähren, † 27.4.1938 chthon beeinflussten Dichtern Johannes 1859 Stigelius u. Friedrich Widebram fand er zu Freiburg i. Br.; Grabstätte: Freiburg Günterstal. – Philosoph. eigenen poetischen Versuchen. Das entstehende lyr. Werk konzentriert H., Sohn eines Kaufmanns, studierte Mathesich auf Themen der Bibel, verarbeitet aber matik u. Philosophie, promovierte in Matheebenso autobiogr. Erfahrungen, teilweise mit matik u. habilitierte sich für Philosophie. zeitkrit. Tendenz. Auch Erlebnisse der fol- Sein philosophisches Werk ist dennoch nicht genden Studienjahre wurden in Gedichten von einer Integration des Mathematischen ins festgehalten. Über Ingolstadt (1556) wandte Philosophische geprägt: Große Teile seines sich H. zum Rechtsstudium nach Bourges Schaffens galten dem Kampf gegen die Ma(1557) u. Padua (1559). Seine Kenntnisse thematisierung der Natur u. dem Versuch verschafften ihm die Stelle eines herzoglich- einer erkenntniskritisch-ontolog. Thematisächs. Rats u. Rechtsprofessors in Jena sierung des jeglichem naturwissenschaftl. (1561–1562). Im Zusammenhang der Gebilde vorgängigen lebensweltl. Bodens. »Grumbach’schen Händel« reiste H. 1564 H. wurde 1901 Professor in Göttingen; in nach Frankreich u. England (darüber ein der Folge entstand allmählich in Deutschland poetischer Bericht El. 1, 9), fiel jedoch bald in eine phänomenolog. Bewegung, die sich zuUngnade. Sein Vermögen wurde konfisziert, nächst über Europa u. dann weltweit ausH. floh in die Pfalz (1566). Herzog Johann breitete. Ihre Bedeutung wurde noch größer, Albrecht von Mecklenburg ernannte ihn bald nachdem H. 1916 nach Freiburg i. Br. berufen darauf zum Rat u. Kanzler (1567–1568). worden war. Zu Lebzeiten veröffentlichte H. Zermürbende polit. Konflikte mit den Stän- die Logischen Untersuchungen (2 Tle., Halle den u. der Stadt Rostock, Krankheit u. Wi- 1900/01), die Ideen zu einer reinen Phänomenoderwille gegen das Hofleben veranlassten H., logie und phänomenologischen Philosophie (ebd. um seinen Abschied einzukommen (1573). 1913), die Formale und transzendentale Logik Die diesbezügl. Gedichte formulieren das (ebd. 1929) u. Aufsätze in verschiedenen Ideal einer musisch-gelehrten Existenz u. Zeitschriften, darunter Philosophie als strenge gelten als sehr persönlich gefasste Doku- Wissenschaft (in: Logos 1, 1910/11, S. 289–341) mente der zeitgenöss. Hof- u. Fürstenkritik. u. Die Krisis der europäischen Wissenschaften und Bis zu seinem Tod stand H. als Syndikus im die transzendentale Phänomenologie (in: PhiloDienst der Stadt Lüneburg. sophia 1, 1936. Erw. Den Haag 1954). 1928 Weitere Werke: Imagines aliquot plenae pie- gab Heidegger Husserls Vorlesungen zur Phätatis et doctrinae. Rostock 1573. – Horarum succi- nomenologie des inneren Zeitbewußtseins (Halle) sivarum [...] libri duo. Elegiarum libri totidem. Hg. heraus; das Buch enthielt Teile einer VorleNathan Chytraeus. Rostock 1577. – In obitum sung vom WS 1904/05 die seine Assistentin Hulderici Husani. Rostock 1582. – Dierum domiEdith Stein und H. 1917 neu redigiert hatten. nicarum preces anniversariae. Hg. Michael Lang. Rostock 1601. – Teildrucke in: Janus Gruter (Hg.): Auf Französisch erschienen seine Vorträge Delitiae poetarum Germanorum. Bd. 3/1, Ffm. von 1929 an der Sorbonne unter dem Titel 1612, S. 581 ff. (lesbar in Internet-Datei CAMENA). Meditations Cartesiennes (Paris 1931). Sein un– Amphitheatrum sapientiae. Hg. Caspar Dornau. ter abenteuerl. Umständen geretteter NachBd. 1, Hanau 1619. Neudr. Ffm. 1995, S. 813. lass umfasst mehr als 40.000 stenografische Literatur: Fromm: H. H. In: ADB. – Johannes Blätter: Vorlesungen, zur Veröffentlichung Merkel: H. H. Gött. 1898. – Ellinger 2, S. 137–146. Bestimmtes, v. a. aber Arbeitsmanuskripte,
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die im Husserl-Archiv in Leuven aufbewahrt werden u. seit 1950 in der Reihe »Husserliana« (Den Haag) veröffentlicht werden. Die Veröffentlichung der Forschungsmanuskripte, v. a. der späteren mit Themen wie Intersubjektivität, Lebenswelt, Erfahrung als »Vermöglichkeit«, Ethik, passive Synthesis u. Zeitkonstitution, hat dazu geführt, dass das von den Ideen I geprägte Bild des einseitig »cartesianischen« u. transzendental idealistischen Philosophen korrigiert wurde. Wichtig für H.s philosophisches Werden waren die Vorlesungen von Franz Brentano, die er zwischen 1884 u. 1886 in Wien hörte. Von Brentano übernahm er den für alle von ihm behandelten Disziplinen zentralen Begriff der »Intentionalität«. Schon in den Logischen Untersuchungen wird dieser Grundzug des Bewusstseins analysiert. Die V. Untersuchung enthält Betrachtungen des Bewusstseinserlebnisses, welches dadurch gekennzeichnet ist, dass es den jeweiligen Gegenstand sozusagen in sich, intentional immanent, trägt. Obwohl H. in den Untersuchungen nicht nur die Intentionalität, sondern auch viele andere Begriffe seines späteren Systems einführte, bleiben sie ein Werk mit einer eingeschränkten, vorwiegend logisch-phänomenolog. Thematik. Erst die Ideen bieten eine transzendentalphilosophische Betrachtung, deren Grundmotiv nicht mehr nur darin besteht, reine Deskription von Phänomenen zu sein, um sie von der Fracht irrtüml. Interpretationen zu befreien. Die Ideen bezwecken darüber hinaus eine Erklärung des Zustandekommens von immanenten oder transzendenten Phänomenen. Das transzendentale Bewusstsein wird in seinen Leistungen zur Stätte der subjektiven Konstitution des Erfahrenen. Insofern kann es für sich den Charakter des Absoluten beanspruchen, während die Welt in ihrem Sein bewusstseinsrelativ wird. Diese Wende wurde von kaum einem der Phänomenologen der ersten Stunde, noch weniger von den Späteren mitvollzogen. Man sah in ihr ein Weiterleben des Neokantianismus oder gar des alten Cartesianischen Rationalismus, die es doch gemäß der Formel »Zurück zu den Sachen« zu überwinden galt.
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Die Ideen stehen unter dem Einfluss Descartes’ in der zweifachen Beziehung der Aufnahme u. Ablehnung. Als Einstieg in die philosophische Problematik taugt der Zweifel nicht, denn er ist Modifikation einer in Gewissheit vollzogenen, Wirklichkeit anzeigenden Wahrnehmung, setzt diese also voraus. An seine Stelle tritt bei H. die aus der antiken Skepsis übernommene method. Haltung der Epoché, d.h. das Zurückhalten eines Urteils über Sein oder Nicht-Sein der Welt, das in der natürl. Einstellung immer schon gefällt wird. Damit wird alles vermeintlich wirkl. Sein der eigenen Existenz beraubt u. in ein phänomenales Korrelat des Bewusstseins verwandelt, ohne im Sinne eines »esse est percipi« (Berkeley) zu einer immanenten Transzendenz zu werden. Dieser Gedanke entspricht den Reflexionen Descartes’, bevor dieser, um die Bewusstseinsunabhängigkeit der Dinge wieder herzustellen, auf Gott u. seine Wahrhaftigkeit zurückgriff. H. vollzog nicht mehr diesen Gedanken der ontolog. Heraussetzung der erfahrenen Wirklichkeit in ein An-sich. Er sieht die »cogitata«, die im Bewusstsein gedachten Dinge, nicht als Bilder der wahren Sache an, sondern als die erscheinenden Sachen selbst. Diese endgültige Überwindung eines Zwischenreichs der Vorstellungen ist eines der wichtigsten Ergebnisse des phänomenolog. Denkens. Das Ding, den Gegenstand des intentional Gedachten, nannte H. »Noema«, den Akt selbst, also die in Wahrnehmungen, Erinnerungen usw. vollzogene Auffassung, »Noesis«. Das zunächst universal gültige Modell der Konstitution als intentionale Auffassung eines sinnl. Auffassungsinhalts ist charakteristisch für die erste Periode des H.schen Philosophierens, wurde später jedoch sinnvoll beschränkt. Wichtig für die phänomenolog, Forschung insg. wurde H.s Entdeckung der Horizontstruktur jeder Erfahrung. Ihre systemat. Anwendung zeichnet die Ideen gegenüber den Logischen Untersuchungen aus: Intentionalität wird zur Horizont-Intentionalität. Denn der noemat., im Bewusstsein intendierte Gegenstand ist immer nur einseitig, stückhaft, durch Ansichten, Phasen, Aspekte gegeben. Die Intention eines Gegenstands ist jeweils die Erfahrung einer
Husserl
Horizont-Totalität, die durch eine Synthesis der Teile u. Momente des Gemeinten zustande kommt. Descartes schon, aber v. a. Kant, die H. philosophierend ständig vor Augen standen, hatten diese Synthesis als Ergebnis einer auf die sinnl. Mannigfaltigkeit ausgeübten Handlung des Verstands angesehen. H. verabschiedete diese intellektualist. Auslegung. Seine phänomenolog. Sicht des Erfahrungsgeschehens verwehrte es ihm, darin eine Handlung des Verstands zu sehen. Die Wahrnehmung bedarf keiner anderen Vermögen, um wirklichkeitsgebend zu sein. Eine entscheidende Rolle in dieser Synthesis übernimmt die Erinnerung. Die Vorlesungen zum inneren Zeitbewußtsein analysieren die Konstitution der immanenten Gehalte einer Wahrnehmung. Anhand eines Diagramms der Zeit verdeutlicht H., wie ein sinnl. Datum, etwa eine Tonempfindung, eine Phase des Bewusstseinsstroms »urimpressional« besetzt, während sie zgl. abklingt u. doch in diesem Abklingen nicht verloren geht, sondern im Bewusstsein erhalten bleibt dank der passiven Erinnerungsform, der »Retention«. In jedem Punkt des kontinuierl. Auftretens neuer Töne trägt so jeder Ton einen Kometenschweif passiver Erinnerungen mit sich, die selbst als Erinnerung fungieren. Zugleich ist sich das Ich der sich ankündigenden neuen Töne in Form der »Protention« oder passiven Erwartung bewusst. Das Wahrnehmen eines Gegenstands ist in sich selbst also auch Erinnerung u. Erwartung, u. nur deshalb kann das Ich sich an die Inhalte, die es passiv behalten hat, wiedererinnern u. immer wieder Erlebtes aus der Versenkung holen. Die Wiederholung der urspr. Erfahrung durch die Wiedererinnerung festigt diese Erfahrung: Das Seiende bewährt sich in seiner Wirklichkeit. Dieses in Wiedererinnerung u. Erwartung manifeste »Vermögen«, »Können« des Ich, universalisierte H. als ein »System des Ich kann«, einen »Organismus von Vermögen« (Ideen II, S. 253 f.). Dabei ist die Wahrnehmung wesentlich durch das Vermögen der körperl. Bewegung, der Kinästhesen, bestimmt: Einer bestimmten Augen- oder Handbewegung entspricht eine bestimmte Erscheinung. Die alte Vermögenslehre von Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Verstand u.
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Vernunft wurde so radikal uminterpretiert: Sie sind jetzt nichts als Funktionsformen des »Ich kann«. So konstituiert sich eine wahrgenommene Welt, die noch keine prädikative Leistung aufweist. Diese Welt des Vorprädikativen hat H. exemplarisch dargelegt im ersten Abschnitt von Erfahrung und Urteil (Prag 1938; die 1. Aufl. wurde nach der dt. Okkupation fast vollst. eingestampft. Hbg. 21954). Durch ausführl. Analyse der Grundstruktur des Vorprädikativen wird die Genesis des Urteils, seine Konstitution als Erfahrung höherer Stufe, nachgewiesen. Auch das Urteil ist eine Form der Horizont-Intentionalität: »s ist p« bedeutet ein durch die jeweilige Erfahrungssituation bewirktes Innehalten in einer Reihe: »s ist p, q, r, usw.« Zu jedem Seienden gehört wesentlich die durch dieses »usw.« gekennzeichnete intentionale Horizontstruktur. Kant hatte seinen transzendentalen Idealismus dazu benutzt, die Anmaßung der Philosophie zurückzuweisen, aus reiner Vernunft Erkenntnissätze über nicht sinnl. Gegenstände aufzustellen. Parallel hierzu bediente sich H. der Ergebnisse der transzendentalen Phänomenologie, um nun die Anmaßung der Naturwissenschaften zu entlarven, mit ihren Aussagen über die einzig wahren Prädikate der Dinge zu verfügen, demgegenüber alles andere bloß subjektiv relativ sei. Schon die §§ 40 u. 52 der Ideen I entwickeln den Gedanken, dass zwar das Ding der Naturwissenschaft den von den Alltagserfahrungen abgesteckten Rahmen überschreitet, doch sei dies kein Anzeichen dafür, dass der Wissenschaftler mit einem anderen Ding zu tun habe als mit dem des vorwissenschaftl. Lebens. In der Krisis u. in vielen Manuskripten aus den 1930er Jahren differenzierte H. das Verhältnis zwischen der Welt des Situativ-Okkassionellen – nun Lebenswelt genannt – u. der in mathemat. Formeln eingekleideten Welt der Wissenschaften. Unter dem Einfluss des neuzeitl., an der Naturwissenschaft orientierten Objektivismus (Descartes, Galilei) geht das Reich des Subjektiv-Relativen – des Vorgeometrischen, Inexakten – zugrunde. Zwei Motive waren für H. von Bedeutung: a) Die Welt des Inexakten hat keineswegs geringere ontolog.
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Dignität als die Welt des mathemat. Exakten. Dieter Lohmar: Erfahrung u. kategoriales Denken. Die Wahrheit des Wissenschaftlers u. die des Dordrecht 1989. – Christoph Jamme u. Otto PögMarkthändlers sind je aus einer Situation geler (Hg.): Phänomenologie im Widerstreit. Ffm. entstanden, u. ihre Maßstäbe sind die für die 1989. – Dan Zahavi: H. u. die transzendentale Intersubjektivität. Dordrecht 1996. – D. Lohmar: E. gerade in Frage stehenden Zwecke jeweils H.s Formale u. transzendentale Logik. Darmst. bestmöglichen. Gilt z.B. für die Wissenschaft 2000. – Dermot Moran: H. Founder of Phenomedie kopernikan. Lehre der Bewegung der nology. Cambridge 2005. Erde, so nicht für das vorgeometrisch prakt. Antonio Aguirre / Dieter Lohmar Leben. b) H. weist nach, dass die exakt abstrakten Wahrheiten in der konkreten LeHut, Hans, * um 1490 Haina , † 6.12.1527 benswelt fundiert sind u. zugleich in sie einAugsburg. – Täuferführer. strömen u. sie bereichern. Indem sie ein Teil von dieser werden, hebt sich der Gegensatz H. zog im zweiten Jahrzehnt des 16. Jh. aus zwischen beiden Welten auf: Die Lebenswelt seinem Geburtsort in der Grafschaft Hennewird die eine u. einzige universale Welt. Je berg ins nahe Bibra. Dort lebte er bis 1525 als nach »Tätigkeit« grenzen sich Sonderwelten Krämer u. Kirchner (Küster). Nebenher reiste aus, deren Objekte jedoch nie den zu jeder er als fahrender Buchhändler im Raum zwiErfahrung gehörenden Welthorizont über- schen Nürnberg u. Wittenberg. H. besaß ofschreiten, sondern in ihm immer schon anti- fenbar Lateinkenntnisse u. hörte gelegentlich zipativ vorgezeichnet sind. Denn nur von Vorlesungen in Wittenberg. Entscheidend für dem, was unter die Intentionalität als das H.s weiteren Weg wurde der Einfluss Thomas vorgriffshafte Vermeinen von etwas fällt, lässt Müntzers, dessen Ausgedrückte Entblößung 1524 von H. verlegt wurde. Im Mai 1525 sich mit Sinn reden. Ausgabe: Husserliana. Den Haag 1950 ff. (ca. wurde H. auf der Seite Müntzers u. der aufständ. Bauern Zeuge der Schlacht bei Fran40 Bde.). Literatur: Bibliografie: Steven Spileers: H.-Bi- kenhausen. Die Niederlage der Bauern verbliogr. Dordrecht 1999. – Weitere Titel: Alfred arbeitete H. in einer apokalypt. GegenwartsSchütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. deutung u. der Erwartung des Weltendes Wien 1932. – M.-A. Bera u. a.: H. (Cahiers de zum Pfingstfest 1528. Nachdem er bereits seit Royaumont 3). Paris 1959. – René Toulemont: dem Winter 1524/25 die Kindertaufe abgeL’essence de la société selon H. Paris 1962. – Ulrich lehnt hatte, ließ sich H. im Mai 1526 von dem Claesges: E. H.s Theorie der Raumkonstitution. spiritualist. Täufer Hans Denck in Augsburg Den Haag 1964. – Klaus Held: Lebendige Gegen- taufen u. setzte seit Sommer 1526 eine weit wart. Ebd. 1966. – Ernst Tugendhat: Der Wahrausgedehnte Missions- u. Tauftätigkeit in heitsbegriff bei H. u. Heidegger. Bln. 1967. – Gang, deren Ziel die Sammlung der 144.000 Ludwig Landgrebe: Phänomenologie u. Gesch. Auserwählten war, wobei er die Taufe als Gütersloh 1968. – Antonio Aguirre: Genet. Phänomenologie u. Reduktion. Den Haag 1970. – El- deren »Versiegelung« (vgl. Offb. 7,3 f.) deumar Holenstein: Phänomenologie der Assoziation. tete. Den Heilsweg des Einzelnen beschrieb er Den Haag 1972. – Hermann Noack (Hg.): H. anhand einer aus dem Alltagsleben entlehnDarmst. 1973. – Robert Sokolowski: Husserlian ten Metaphorik, die er »Evangelium aller Meditations. Evanston 1974. – J. N. Mohanty: E. Kreatur« (vgl. Mk. 16,15) nannte, als das ErH.s Theory of Meaning. Den Haag 1976. – Hubert leiden des Wirkens Gottes. Nach MissionsDreyfus (Hg.): H. Intentionality and Cognitive Sci- reisen durch Franken, Passau, Nikolsburg ence. London 1982. – A. Aguirre: Die Phänomeno- (Mikulov, Südmähren), Nieder- u. Oberlogie H.s im Licht ihrer gegenwärtigen Interpr. österreich wurde H. im Anschluss an ein Darmst. 1982. – J. N. Mohanty: H. and Frege. überregionales Treffen von Vertretern des Bloomington 1982. – K. Held: Einl. In: E. H.: Phänomenologie der Lebenswelt. Stgt. 1986. – Täufertums in Augsburg (»Märtyrersynode«) Elisabeth Ströker: H.s transzendentale Phänome- am 15. Sept. verhaftet. Während des von der nologie. Ffm. 1987. – Rudolf Bernet u. a.: E. H. Stadt Augsburg geführten Prozesses starb er Hbg. 1988. – Hans Rainer Sepp (Hg.): E. H. u. die in der Haft an den Folgen eines Fluchtverphänomenolog. Bewegung. Freib. i. Br. 1988. – suchs.
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Obwohl H. keine seiner Schriften selbst drucken ließ, können ihm mit hinreichender Wahrscheinlichkeit u. a. die anonym erschienene Christliche Unterrichtung, wie die göttliche Schrift vergleicht und geurteilt soll werden (1527) u. die beiden Lieder O Herre Gott in deinem Reich u. O allmächtiger Herr Gott (Wackernagel 3, Nr. 508, 510) zugeschrieben werden. Von seinen handschriftlich überlieferten Werken hat die Vom Geheimnis der Taufe auf das oberdt. Täufertum des 16. Jh. großen Einfluss ausgeübt. Als Zeugnisse der Lehre H.s gelten auch die Schriften seiner Anhänger Leonhard Schiemer u. Hans Schlaffer, zweier ehem. Priester, die 1527 als täuferische Missionare in Tirol hingerichtet wurden. H.s apokalyptisch-myst. Verkündigung stellt ein eigenständiges Phänomen innerhalb des Spektrums des frühen Täufertums dar. Nach dem Ausbleiben der für 1528 angekündigten endzeitl. Ereignisse entstanden aus Teilen der von H. selbst organisatorisch kaum strukturierten Anhängerschaft täuferische Gemeinden, in denen trotz einer pazifistischen Neuorientierung die von H. vermittelten charakterist. Elemente der Theologie Thomas Müntzers nachwirkten, so bei den Hutterischen Brüdern in Mähren. Ausgaben: Flugschr.en vom Bauernkrieg zum Täuferreich. Hg. Adolf Laube. Bln. 1992, S. 687–701, 858–861. – Briefe u. Schr.en oberdt. Täufer. Hg. Heinold Fast u. Gottfried Seebaß. Gütersloh 2007, S. 164–199. Literatur: Werner O. Packull: Mysticism and the Early South German-Austrian Anabaptist Movement. Scottdale, Pa./Kitchener, Ont. 1977. – Gottfried Seebaß: H. H. In: Hans-Jürgen Goertz (Hg.): Radikale Reformatoren. Mchn. 1978, S. 44–50. – Ders.: Die Reformation u. ihre Außenseiter. Gött. 1997, S. 186–243. – Ders.: Müntzers Erbe. Werk, Leben u. Theologie des H. H. Gütersloh 2002. – James M. Stayer: Swiss-South German Anabaptism, 1526–1540. In: John D. Roth u. James M. Stayer (Hg.): A Companion to Anabaptism and Spiritualism. Leiden 2007, S. 83–117. Martin Rothkegel
Hutmacher, Rahel, * 14.9.1944 Zürich. – Erzählerin. Zunächst Bibliothekarin, studierte H. 1971–1975 Psychologie u. ist seit 1976 als
Psychotherapeutin, Dozentin für psycholog. Gesprächsführung in Zürich u. Düsseldorf u. Supervisorin mit eigener Beraterpraxis tätig. H. schreibt Prosaminiaturen u. Romane. Ihre Poetik erinnert in mancher Hinsicht an die Ilse Aichingers. In H.s Werken begegnen dem Leser auf den ersten Blick alltäglich-gewöhnl., in simplem Ausdruck erfasste Dinge, Vorgänge u. Tätigkeiten. Beim näheren Zusehen zeigt sich jedoch, dass diese Art Realität in ihrem zweckfreien Schreiben eine eigene Geheimdimension birgt; diese wird in der Sprache u. Symbolik des Windes, der Bäume, der Steine hörbar, spürbar, fühlbar erkundet, »erfunden nicht und nicht geträumt«. Ein anderes Leitmotiv in der Prosa H.s ist die Welt der Frau aus gelinde angerissener feminist. Perspektive – als Zusammensein von Frauen in gegenseitiger Verbundenheit (Dona. Darmst./Neuwied 1982), als Mutter-TochterBeziehung (Tochter. Ebd. 1983) oder auch als Wiederentdeckung von Liebe u. Freundschaft (Wie ich meine Liebste wiederfand. Ebd. 2001). Ihre Darstellungen verdichten menschl. Grunderfahrungen wie Liebe u. Tod, Geborgenheit u. Einsamkeit. Schon H.s erste Prosastücke u. d. T. Wettergarten (ebd. 1980), die z.B. mit Ungeheuer, Berghund u. Bannspruch überschrieben sind, legen davon beredt Zeugnis ab. Im Allgemeinen sind ihre Werke bestimmt von einer geheimnisvollen Atmosphäre, die sich aus der Vorliebe der Autorin für versatzartig in den Erzählfluss eingebaute Sagen- u. Märchenmotive, für suggestive, änigmat. Bilder archetypischer Provenienz ergibt. H. erhielt den Förderpreis der Stadt Düsseldorf (1980), den Rauriser Förderpreis (1980), den Förderpreis der Stadt Zürich (1981) u. den des Landes Nordrhein-Westfalen (1981). Weitere Werke: Wildleute. Darmst./Neuwied 1986 (E.en). – Neunerlei Holz. Ebd. 2001 (R.). Literatur: Volker Hammerschmidt u. Andreas Oettel: R. H. In: KLG. – Diana Orendi Hinze: R. H.s Schr.en. Botschaften aus dem Bereich des Unbewußten. In: Orbis Litterarum 48 (1993), H. 1, S. 39–50. – Dagmar C. G. Lorenz: Keepers of the Motherland. German Texts by Jewish Women Writers. Lincoln/London 1997. Pia Reinacher / Zygmunt Mielczarek
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Hutten, Katrine von, auch: Anna Steinbach, * 3.5.1944 Lohr/Main. – Lyrikerin, Erzählerin, Übersetzerin.
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hanna auf Erkundungen ins »Schmerzland«, welches – ein literar. Topos – in der Kargheit der Küste Lanzarotes sich spiegelt. Die zentrale, jedoch nicht abschließende Erkenntnis: »Der Schmerz hatte sie scheitern lassen, nicht gescheiter gemacht«. Johanna resigniert jedoch nicht; immer hält sie präsent, was Glück für sie sei. Das führt zu einzelnen schönen Stellen; im Ganzen jedoch ist H. der Roman sprachlich u. thematisch nur mittelmäßig geraten. Als Zeugnis einer Krankengeschichte ist er respektabel, als ästhetische Arbeit sticht er nicht hervor. H. erhielt u. a. 1969 den Leonce-und-LenaPreis, 1988 den Münchner Literaturpreis u. 1991 den Puchheimer Literaturpreis.
H. studierte Germanistik u. Philosophie in Heidelberg, Marburg u. Bonn (1964–1967), wobei sie die »Lyrischen Hefte« mitredigierte. Dann studierte sie freie Grafik in Darmstadt (1970–1972) u. war 1974–1981 in den USA als Schriftstellerin u. Übersetzerin sowie auf Vortragsreisen tätig. Sie lebte in Saarbrücken, Darmstadt, Hamburg, New York u. München. 1990 erkrankte H. an multipler Sklerose. Heute lebt sie in Heidenheim an der Brenz. H. publiziert Lyrik u. Kurzprosa seit 1966, ab 1972 auch Hörspiele, Kindergeschichten, Weitere Werke: Von Kopf bis Fuß. Zürich 1973 Lyrik für Kinder u. Drehbücher für Film u. (L.). – Halb zwölf. Zürich 1974 (Kurzp.). – Nonni Fernsehen. Bekannt wurde sie mit der Er- (zus. mit Radu Gabrea). 1983 (Drehb.). – Rosenemil zählung Im Luftschloß meines Vaters (Zürich (zus. mit Radu Gabrea). 1984 (Drehb.). 1983). Darin schildert sie ihre in der NachLiteratur: Uwe Herms: Profil eines Vaters. K. v. kriegszeit auf Schloss Steinbach bei Lohr H.s neue Erzählung. In: die horen 29 (1984), H. verbrachte Kindheit u. Jugend mit ständigem 134, S. 162 ff. Christian Schwarz / Marco Schüller Bezug auf ihren Vater, einen Nachfahren Ulrich von Huttens. Dieser Vater hält zwischen den unterschiedlichsten Vaterbildern die Hutten, de Hutten, Huttenius, Ulrich von, Mitte. Einmal ist er sanft, dann wieder eisern; * 21.4.1488 Burg Steckelberg bei Schlüeinmal ist er listig, dann wieder wie gelähmt chtern, † wahrscheinlich 29.8.1523 Insel u. hilflos, zuletzt ein Fantast. Er wird deshalb Ufenau im Zürichsee; Grabstätte: ebd., von H. nicht im geschlossenen Porträt dar- doch nicht mehr zweifelsfrei bekannt. – gestellt, sondern in einer Folge kurzer u. Humanist u. neulateinischer Dichter, stimmungsvoller Erinnerungsvignetten. Die reichspolitischer Publizist u. Aktivist. Erzählung ist gerade wegen dieser Form ein H. wurde als ältester Sohn des Ritters Ulrich durchaus origineller Beitrag zur Väterlitera- von Hutten u. seiner Frau Ottilie von Ebertur der 1960er u. 1970er Jahre. stein geboren. Die väterl. Familie von reichsIm Luftschloß meines Vaters blieb für mehr als ritterl. Grundherren war seit Jahrhunderten zwei Jahrzehnte H.s einziges publiziertes in der Region südlich von Fulda ansässig, für Prosawerk. In dieser Zeit widmete sie sich fast die große Buchenwälder charakteristisch waausschließlich ihrer Tätigkeit als Übersetze- ren, u. H. nennt sich aus diesem Grunde rin (u. a. von Margaret Mead, Margaret At- wiederholt (neben »Eques Germanus« bzw. wood, Elizabeth Bowen, Eudora Welty, Na- »Francus«) »Phagigena« oder »de buchen«: dine Gordimer, Paul Theroux). Im Febr. 2007 der aus den Buchenwäldern stammt. Der Vaveröffentlichte H. nahezu unbemerkt den als ter sah für den Erstgeborenen eine Position Roman deklarierten Text Die Klippe (Hom- als adliger Kleriker vor, u. der Knabe wurde burg). Es handelt sich um eine Auseinander- deshalb 1499 in die Stiftsschule der Benesetzung mit dem eigenen Leben im Schmerz. diktinerabtei Fulda geschickt, wo er sich früh Er verzichtet auf Handlung zugunsten mit Latein u. Kirchenmusik (Orgelspiel) bedurchgängiger Selbstreflexion. Hauptbe- schäftigte, für die sich auch der Student weizugspunkt ist Müllers u. Schuberts Winterrei- ter interessiert hat. Um 1505 ließ er sich gese. Während dreier Winter auf Lanzarote be- gen den Willen des Vaters zum Studium der gibt sich die Sängerin u. Schriftstellerin Jo- Artes beurlauben, verbrachte die folgenden
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Jahre an mehreren Universitäten in Deutschland u. knüpfte Kontakte zu humanistischen Lehrern u. Poeten, besonders zu Crotus Rubeanus in Erfurt, Köln u. an der Viadrina, der eben (1506) eröffneten märk. Universität in Frankfurt/Oder, wo Markgraf Albrecht von Brandenburg, der spätere Dienstherr in Mainz, u. der mit Celtis befreundete Eitelwolf vom Stein (gest. 1515), später kurfürstl. Diplomat u. einer der wenigen gelehrten Ritter, der der wichtigste Gönner seiner Jugendjahre gewesen ist, zu seinen Studienfreunden zählten. In Mainz war Johannes Rhagius Aesticampianus sein wichtigster Lehrer, neben Eobanus Hessus u. Georg Spalatin, beide Mitglieder des Erfurter Humanistenkreises, u. dem romkrit. Kanoniker, Humanisten u. Juristen Dietrich Gresemund. Nach dem Frankfurter Bakkalaureat (im Sept. 1506) begann H., in Leipzig, einem der wenigen Zentren des Humanismus im nördl. Deutschland, als Begleiter des Aesticampianus, die ›litterae humaniores‹ zu lehren, u. verstand sich seither als ›poeta‹ (damals nahezu synonym mit ›humanista‹). Vor allem Celtis lieferte das Rollenmuster für den humanistischen Poeten u. Autor, daneben wenig später gewiss auch Erasmus. Als er im Herbst 1509 als mittelloser Student, angeblich infolge eines Schiffbruchs auf der Ostsee, in Greifswald auftauchte, hatte er eine abenteuerl. Wanderzeit u. die Infektion mit Syphilis hinter sich, die zunächst noch nicht allgemein unter diesem Namen bekannt war (vielleicht 1508) u. den jungen Poeten in eine schwere Krise stürzte. Als er im Winter 1509/ 10 die wohlhabende Kaufmannsfamilie Lotz (die ›Lötze‹), die ihn mit Quartier u. Geld versorgt hatte, verließ, wurde er verfolgt, verlor erneut seine Habe u. rettete sich nach Rostock. Doch was man von dem GreifswaldRostocker Abenteuer weiß, stammt aus Briefen an Dritte u. aus eigenen Versen, v. a. aus dem Band Querelae (»Lötzeklagen«), in denen sich zum erstenmal der Polemiker H. artikulierte, indem er gegen bildungs-, dichtungsu. nicht zuletzt adelsferne Geldbürger zu Felde zog. Für die Selbstrolle des Humanisten H. war immer die Verbindung von poeta u. adligem Reichsritter (Eques Germanus) zentral, weshalb er es auch nie für nötig hielt,
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seinen Adelsnamen durch die übliche lat. oder graecolat. Namensform zu ersetzen, mit der andere auf den Status eines Angehörigen der humanistischen ›nobilitas litteraria‹ Anspruch erhoben, den Adel des Geistes u. der Feder. Die Gedichte gegen die Greifswalder (20 Elegien in zwei Büchern) wurden 1510 in Frankfurt/O. gedruckt, die 10. Elegie des zweiten Buchs (Ad Poetas Germanos), mit 278 Versen die längste der ›Klagen‹, enthält H.s persönl. ›Kanon‹ zeitgenöss. dt. Dichter u. Humanisten, grob nach Regionen eingeteilt, teils den Kreis der engeren Freunde, teils berühmte Autoren wie Laurentius Corvinus u. Hieronymus Emser, Aesticampianus, Mutian, Crotus, Eobanus Hessus, Trithemius, Hermann von dem Busche, Murmellius, Wimpfeling, Sebastian Brant, Jakob Locher (Philomusus), Heinrich Bebel u. Johann Reuchlin. Im selben Jahr erschien in Erfurt der Dialog Nemo, der erst in einer erweiterten Fassung (Augsb. 1518) größere Verbreitung fand, u. 1511 in Leipzig seine später noch viel gelesene Verspoetik De Arte versificandi (oder Stichologia). 1511/12 ging H. nach dem Willen des Vaters zum Jurastudium über Wien, wo er die Bekanntschaft Vadians u. seines Kreises machte, dann nach Italien (Pavia u. Bologna). Zurückgekehrt, wurde er 1514 in Erfurt in die Hilfsaktion der Humanisten für Reuchlin einbezogen u. lernte diesen auch selbst kennen. Um diese Zeit arbeitete er zunächst als eine Art Legationssekretär bei Albrecht von Brandenburg, der inzwischen die Würde des Kurerzbischofs von Magdeburg u. von Mainz erlangt hatte. Im nahen Frankfurt lernte er im selben Jahr Erasmus persönlich kennen: Wie Alkibiades dem Sokrates möchte er sich ihm anschließen, schrieb er, aber der Zwang zum Rechtsstudium hindere ihn. Erasmus seinerseits idealisiert den jungen Poeten, bes. aufgrund des panegyr. Großpoems In laudem Alberti Archiepiscopi (1515), mit dem sich H. dem mächtigen Albrecht auch als Vertreter der jungen Poetengeneration empfohlen hatte. Auch ein zweiter Aufenthalt in Italien mit finanzieller Unterstützung durch Albrecht (1515 in Bologna, 1516/17 in Rom, dann kurz in Ferrara) brachte viele produktive Kontakte, führte jedoch nicht zum Ab-
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schluss des juristischen Studiums. Stattdessen sammelte H. in Rom Erfahrungen, die ihn dazu bewogen, seine Feder künftig in den Dienst kirchenfeindl. u. patriotischer Agitation zu stellen. Nicht unwichtig war dabei ein mehrwöchiger Aufenthalt in Venedig, wo er kurz vor der Rückkehr nach Deutschland im Sommer 1517 mit Adligen u. Humanisten der von ihm kurz zuvor in Schmähgedichten verachteten ›Händlerrepublik‹ in engen Kontakt kam u. die Offizin des Aldus Manutius kennen lernte, ein Arbeits- u. Geschäftszentrum der humanistischen Philologie u. Buchproduktion. In diese Zeit fällt auch die Bekanntschaft mit Johannes Cochlaeus, später ein führender Autor der antiluth. Publizistik, bei dem H. das Manuskript (oder den ersten Druck von 1506?) der Schrift Lorenzo Vallas gegen die ›Konstantinische Schenkung‹ entdeckte, die er sofort abschreiben ließ, um sie viel später (1519/20) mit einer Vorrede in Basel zu publizieren, als ersten einer Reihe von Neudrucken älterer Texte gegen den Primatsanspruch u. die Schandtaten des röm. Klerus u. der Päpste in der Geschichte. In Italien entstanden seine Maximilian gewidmeten Epigramme (Augsb. 1519) u. der erst postum (Hagenau 1529) veröffentlichte Dialog Arminius, in dem H. als erster Deutscher Hermann den Cherusker als Vorkämpfer dt. Freiheit gegen röm. Unterdrückung feierte. In Bologna schrieb er auch seine ca. 60 anonymen Beiträge zum zweiten Teil der Epistolae obscurorum virorum (Druck Speyer 1517, Beiträge H.s zu Teil 1 von 1515/ 16 sind eher umstritten) u. einige seiner fünf ›Ulrichreden‹ (d. i. Deploratio. Mainz 1519) gegen Herzog Ulrich von Württemberg, der 1515 seinen Vetter Hans von Hutten ermordet hatte. Auch H.s erster gedruckter Prosadialog Phalarismus (Mainz 1517) war gegen den Herzog gerichtet. H., der Zeitgenossen bald als ›deutscher Lukian‹ galt, übernahm hier noch mehr als später Konzeptionen, Schauplätze u. Motive der ›Totengespräche‹ des spätantiken Satirikers. Auf dem Titelblatt dieses Werks erschien zum erstenmal H.s Devise »jacta est alea« (seit 1520 in dt. Version: »Ich habs gewagt«). Nach seiner Rückkehr aus Italien wurde H. am 12.7.1517 in Augsburg von Kaiser Maxi-
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milian zum Poeta laureatus Caesareus gekrönt, auf Empfehlung Konrad Peutingers, dessen Tochter Constantia den Lorbeerkranz geflochten hatte. Die kaiserl. Ehrung galt auch der Familie H.s im schwebenden Rechtsverfahren gegen den Herzog von Württemberg. Im Herbst trat er formell als Hofrat in den Dienst Albrechts von Brandenburg in Mainz u. Halle/Saale. In einem Bekenntnisbrief an Willibald Pirckheimer, der ›Lebensbrief‹ genannten Selbstdiagnose (Epistola vitae suae rationem exponens. Augsb. 1518) erklärte er, er wolle sich vorerst dem aktiven Leben widmen. Aus diesem Brief stammen die für das H.-Bild späterer Jahrhunderte berühmten Sätze »O seculum, o litterae! Iuvat vivere! ...« (O Jahrhundert, o Bildung! Es ist eine Lust zu leben! Auch wenn man sich noch nicht zur Ruhe begeben kann, mein Willibald. Die Studien blühen, [...] Barbarei, nimm einen Strick und mach dich auf Verbannung gefaßt.«) Zur gleichen Zeit war auch der Traktat über die – in Augsburg im Selbstversuch erprobte – Therapie der Syphilis mit Hilfe des Guajakholzes entstanden (De Guaiaci medicina et morbo Gallico. Mainz 1519); hofkrit. Bemerkungen aufgrund eigener Erfahrungen enthielt der Dialog Aula (Augsb. 1518). Vor der polit. Öffentlichkeit trat H. erstmals während des Augsburger Reichstags im Juli 1518 mit seiner »Türkenrede« hervor, auch wenn es wegen seiner Krankheit nicht zu dem geplanten Vortrag vor Kaiser Maximilian kam. Er griff darin u. a. (besonders in der Beilage »Brief an alle freien Deutschen«) das Thema der finanziellen Ausbeutung Deutschlands durch die Kurie auf (Ad Principes Germaniae, ut bellum Turcis invehant exhortatoria. Mainz 1518. Ungekürzt ebd. 1519). Hier zeichnen sich die beiden Hauptrichtungen seiner polit. Publizistik deutlich ab: der Kampf gegen das Papsttum als weltl. Macht u. der Kampf gegen den Machtegoismus des dt. Territorialfürstentums, das sich nicht scheute, sogar mit der Kurie zu paktieren, die die Landesfürsten gegen die Autorität des Kaisers u. des Reichs in Stellung bringen wollte. Die Vorgänge auf dem Reichstag bildeten auch den Hintergrund der lukianischen Dialoge Febris prima (separat Mainz 1519),
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Febris secunda u. Inspicientes. Zusammen mit Aula u. Vadiscus sive Trias Romana erschienen sie im Sammelband Dialogi (Mainz 1520); 1521 wurden sie, ohne die Aula, größtenteils in H.s eigener Übersetzung als Gespräch büchlin in Straßburg veröffentlicht (Feber das Erst; Feber das Ander; Wadiscus oder die Römische dreyfaltigkeit; Die Anschawenden). Mit diesen Dialogen, von denen bes. der Vadiscus schärfste Anklagen gegen Rom enthielt, sagte H. der Kirche offen den Kampf an. Im Gegensatz zu Luther, den er nicht persönlich kannte, war H. ohne religiöses Engagement. Typisch ist die erste, ganz beiläufige Erwähnung der Wittenberger Vorgänge von 1517 im Offenen Brief an den gleichgesinnten Humanisten u. Theologen Hermann von Neuenahr über den Reuchlin-Streit (Epistola ad illustrem virum Hermannum de Neuenar Hutteniana, qua contra Capnionis aemulos confirmatur. Mainz 1518). Im Zusammenhang mit barbarischen Ereignissen, die nur der Blüte der humanistischen Studien schadeten (»impedimento sunt literis«), spricht er darin spöttisch vom neuesten Mönchsgezänk in Wittenberg (ohne den Namen Luthers zu erwähnen): »Wie ich höre, hat es zu Wittenberg im Sächsischen wieder einmal einen Aufstand gegen die Autorität des Papstes gegeben [...], ein einträgliches Geschäft für die Buchdrucker ...«. Die Theologie u. Glaubensreform der Reformation ist dem Humanisten u. Ritter immer fremd geblieben, ja die ›deutsche Freiheit‹ H.s steht eigentlich gegen die von den weltl. Machtverhältnissen unabhängig gedachte ›christliche Freiheit‹ Luthers. Mit dem Wittenberger wird er anfangs ohne eigenes Dazutun nur durch die gegen beide gerichtete kuriale Bannpolitik in Verbindung gebracht, u. umgekehrt denkt auch Luther nicht daran, sich H.s nationalpolit. Reform anzuschließen. Zentral wurden für H. der Gedanke einer polit. Generalreform gegen die für den Bestand des Reiches schädl. Libertät der Landesfürsten u. die Hoffnung auf aktive Unterstützung durch die romfeindl. Stände. Dazu ist er ist von der Renaissance-Idee bestimmt, dass Macht nicht auf Legitimität u. Tradition, sondern auf Usurpation beruht, u. dafür steht für ihn Franz von Sickingen. Zentral ist die Vorstellung von einer ›deut-
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schen Nation‹: aber nicht als natürl. oder ethn. Größe u. nicht auf Souveränität gegründet, sondern als eine moralische Kultureinheit in der Nachfolge u. im frühhumanistischen Geist des Quattrocento Enea Silvio Piccolominis. Der dt. Nationalismus des 19. u. 20. Jh., für den H. eine Leitfigur war, aber seit Friedrich Engels auch das marxistische Schema von der ›Frühbürgerlichen Revolution‹ in der Zeit der Bauernkriege konnten dieses Konzept nur missverstehen. Als er sich nicht mehr gegen seine eigenen Vorstellungen benutzen lassen wollte, wurde H. 1519 vom Hofdienst in Mainz beurlaubt. Er suchte Unterstützung bei Sickingen, von dessen Ebernburg herab er ab Herbst 1520 zahlreiche dt. u. lat. Klag- und Mahnschriften (Conquaestiones) an die Reichsstände, die Fürsten u. Karl V. richtete, um sie zu gemeinsamer Aktion gegen die Kirche aufzurufen. Im folgenden Jahr verschanzte der Flüchtling sich auch auf anderen Burgen Sickingens: Diemstein bei Kaiserslautern, Wartenberg u. Landstuhl. Die gereimte Clag und vormanung [Vermahnung] gegen den übermässigen unchristlichen gewalt des Bapsts zu Rom (Straßb. 1520) war H.s erste Schrift, die er von vornherein auf Deutsch verfasste. Bald ließ er eine weitere lat. Dialogsammlung erscheinen, in der er die Führungsrolle des niederen Adels im bevorstehenden Kampf gegen Rom propagierte (Dialogi novi. Straßb. 1521. Darin: Bulla vel Bullicida; Monitor I; Monitor II; Praedones). Der Ausgang des Wormser Reichstags, in den er von der Ebernburg aus eingriff, u. das Edikt gegen Luther im Mai 1521 führten zu seiner völligen Isolierung u. der Einsicht, dass seine Hoffnungen auf ein gemeinsames Vorgehen gegen die Kirche gescheitert waren. Nun entschloss er sich zum »Pfaffenkrieg« (bellum sacerdotale), einer Art Guerilla im Alleingang, wobei er die von Worms aus rheinabwärts reisenden päpstl. Gesandten als Geiseln zu nehmen versuchte. Das berühmte Lied Ich habs gewagt mit Sinnen (Ain new lied. Schlettstadt 1521) ist »die Legitimation der Tat« (Ukena 1982). Als Sickingens von H. mitgeplante gewaltsame Annexion des geistl. Kurfürstentums Trier im Sept. 1522 scheiterte, führte dieser Fehlschlag seines einzigen Verbündeten zu H.s Resignation u. Flucht,
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zunächst ins elsäss. Schlettstadt zu humanistischen Freunden, von dort aus noch Ende 1522 nach Basel, wo der von der Krankheit Gezeichnete in der Herberge »Zur Blume« unterkam. Erasmus ließ ihm ausrichten, er solle von einem Besuch in seinem Haus absehen, weil er seinen Humanismus nicht mit »bösem Aufruhr« in Verbindung sehen wolle. Das veranlasste H. zu seiner letzten Anklageschrift Ulrichi ab Hutten cum Erasmo [...] Expostulatio (Straßb. 1523. Sogleich dt. u. d. T. Ulrichs von Hutten mit Erasmo [...] handelung. Halberst. 1523). Erasmus’ 1523 gedruckte, schwache Erwiderung (Spongia adversus aspergines Hutteni) hat er nicht mehr erlebt. Nach der Nachricht von Sickingens Tod auf Landstuhl floh der kranke Ritter im Mai nach Zürich, wo Zwingli ihn aufnahm. Nach einem Kuraufenthalt in Pfäfers bei Bad Ragaz fand er, wiederum mit Zwinglis Hilfe, seine letzte Zuflucht auf der Insel Ufenau im Zürichsee, wo er seiner Krankheit erlag. Die Opera poetica gab der Freund Eobanus Hessus heraus (Straßb. 1538), an den seine letzte Schrift gegen die Fürsten gerichtet war (In tyrannos, zunächst ungedruckt, erst 1922 wurde die Abschrift eines größeren Fragments bekannt). In einem Brief vom 15.8.1523 an den Bürgermeister u. Rat der Stadt Zürich formulierte er noch einmal eine Selbstverteidigung gegen Erasmus (der die Ausweisung des gefährl. Subjekts hatte durchsetzen wollen). H. hinterließ ein paar beschriebene Blätter u. eine Schreibfeder. Die Familie der Steckelberger Hutten ist bereits 1577 ausgestorben. Ausgaben: Querelarum libri duo / U. H.s Klagen gegen Wedeg Loetz u. dessen Sohn Henning zwei Bücher. Hg., übers. u. erl. v. G. C. F. Mohnicke. Greifsw. 1816. – U. H.s Jugendleben. Nebst Gesch. u. Beschreibung der Urschrift der Klage als Einl. zu der Ausg. u. Übers. derselben. Hg. G. C. F. Mohnicke. Greifsw. 1816. – Ulrichi ab Hutten, Equitis Germani, Opera quae extant omnia. Hg. E. Münch. Bde. 1–3, Bln. 1821–23. Bde. 4–6, Lpz. 1824–27. – Opera quae reperiri potuerunt omnia / U.s v. H. Schr.en. Hg. Eduard Böcking. 5 Bde., Lpz. 1859–61. Nachdr. Aalen 1963. 2 Suppl.-Bde., Lpz. 1864–70. Nachdr. Osnabr. 1966 (Inhalt der Bde.: 1–2: Epistolae, ad eundem deque eodem ab aliis ad alios scriptae. 3: Poemata cum corollariis. 4: Dialogi, Pseudohuttenici nonnulli. 5: Orationes et
Hutten Scripta didascalica cum corollariis. Suppl.Bde. 1–2: Epistolae obscurorum virorum). – Gespräche H.s. Übers. u. erl. v. David Friedrich Strauss. Lpz. 1860 (= Erg.-Bd. 3 zur Biogr. Lpz. 1858–60). – Über die Heilkraft des Guaiacum (dt. Übers.). Bln. 1902. – Epistolae obscurorum virorum. Hg. Aloys Bömer. 2 Bde., Heidelb. 1924. Nachdr. Aalen 1978. – Dt. Schr.en in Ausw. Hg. Peter Ukena. Mchn. 1970. – Dt. Schr.en. Hg. Heinz Mettke. 2 Bde., Lpz. 1972–74. – Ausw. in: Der dt. Renaissancehumanismus. Hg. W. Trillitzsch. Lpz./ Ffm. 1981. – Die Schule des Tyrannen. Lat. Schr.en (in dt. Übers.). Hg. u. Nachw. v. Martin Treu. Lpz. 1991. – Ausw. der lat. Lyrik mit Übers. u. Komm. in: HL, S. 159–201, 1033–1064. Literatur: David Friedrich Strauß: U. v. H. 3 Bde., Lpz. 1858–60 (Erg.-Bd. 3: Gespräche H.s, übers. u. erl.). Veränderte Neufassung. Bd. 1 u. 2. Hg. Otto Clemen. Lpz. 1927. 31938. – Eduard Böcking: Index bibliographicus Huttenianus. Verz. der Schr.en U.s v. H. Lpz. 1858 (separat u. in Böcking I, 1859, S. 1*-104*). – Siegfried Szamatolski: U.s v. H. dt. Schr.en. Untersuchung nebst einer Nachlese. Straßb. 1891. – Gustav Bauch: Die Anfänge der Universität Frankfurt an der Oder. Bln. 1900. – Walter Brecht: Die Verfasser der ›Epistolae obscurorum virorum‹. Bln. 1904. – Paul Kalkoff: U. v. H. u. die Reformation. Lpz. 1920. Nachdr. New York/London 1971. – Aloys Bömer: Ist U. v. H. am 1. Teil der ›Epistolae obscurorum virorum‹ nicht beteiligt gewesen? In: Aufsätze Fritz Milkau gewidmet. Hg. Georg Leyh. Lpz. 1921, S. 10–18. – P. Kalkoff: Der Wormser Reichstag von 1521. Mchn./ Bln. 1922. – A. Bömer: Verfasser u. Drucker der ›Epistolae obscurorum virorum‹. Kritik u. eine neue Hypothese. In: Zentralblatt für Bibliothekswesen 41 (1924), S. 1–12. – Friedrich Gundolf: H., Klopstock, Arndt. Drei Reden. Heidelb. 1924. – Olga Gewerstock: Lucian u. H. Zur Gesch. des Dialogs im 16. Jh. Bln. 1924. – P. Kalkoff: H.s Vagantenzeit u. Untergang. Weimar 1925. – Werner Kaegi: H. u. Erasmus. Ihre Freundschaft u. ihr Streit. In: Histor. Vjs. 22 (1924/25), S. 200–278, 461–514. – Fritz Walser: Die polit. Entwicklung U.s v. H. während der Entscheidungsjahre der Reformation. Mchn./Bln. 1928. – Hajo Holborn: U. v. H. Lpz. 1929. Gött. 1968. – Heinrich Grimm: U.s v. H. Lehrjahre an der Universität Frankfurt (Oder) u. seine Jugenddichtungen. Frankf./O./Bln. 1938. – Robert H. Fife: U. v. H. as a Literary Problem. In: GR 23 (1948), S. 18–29. – Karl Kleinschmidt: U. v. H., Ritter, Humanist u. Patriot.. Bln./DDR 1955. – Josef Benzing: U. v. H. u. seine Drucker. Eine Bibliogr. der Schr.en H.s im 16. Jh. Wiesb. 1956. – Gerta Calmann: The Picture of Nobody. In: Journal
Hutterli of the Warburg and Courtauld Institutes 13 (1960), S. 60–104. – Rosalie L. Colie: Paradoxia epidemica. The Renaissance Tradition of Paradox. Princeton 1966. – H. Grimm: U. v. H. Gött. 1971. – Ders.: U. v. H. In: NDB. – Wolfram Setz: Lorenzo Vallas Schr. gegen die Konstantin. Schenkung. Tüb. 1975. – Jacques Ridé: L’image de Germain dans la pensée et la littérature allemandes de la redécouverte de Tacite à la fin du XVIe siècle. 3 Bde., Lille/Paris 1977. – Barbara Könneker: Vom ›Poeta laureatus‹ zum Propagandisten: die Entwicklung H.s als Schriftsteller in seinen Dialogen v. 1518 bis 1521. In: L’humanisme allemand (1480–1540). XVIIIe Colloque international de Tours. Mchn./Paris 1979, S. 303–319. – Helmuth Kiesel: ›Bei Hof, bei Höll’‹. Untersuchungen zur literar. Hofkritik v. Sebastian Brant bis Friedrich Schiller. Tüb. 1979, bes. S. 65–77. – Frank Hieronymus: Huttenica. In: Ztschr. für Gesch. des Oberrheins 88 (1979), S. 159–242. – P. Ukena: Legitimation der Tat. U. v. H.s ›Neu Lied‹. In: Gedichte u. Interpr.en. Hg. Volker Meid. Bd. 1, Stgt. 1982, S. 44–52. – Jan-Dirk Müller: Gedechtnus. Lit. u. Hofgesellsch. um Maximilian I. Mchn. 1982. – Jean-Claude Margolin: Le ›Nemo‹ d’U. v. H. Crise du langage, crise de conscience, crise de société? In: Virtus et Fortuna. FS Hans-Gerd Roloff. Hg. J. P. Strelka u. J. Jungmayr. Ffm. 1983, S. 118–163. – Wilhelm Kreutz: Die Deutschen u. U. v. H. Rezeption v. Autor u. Werk seit dem 16. Jh. Mchn. 1984. – Michael Peschke: U. v. H. [...] als Kranker u. als medizin. Schriftsteller. Köln 1985. – Claude Quétel: Le mal de Naples. Histoire de la syphilis. Paris 1986 (engl.: Baltimore 1990). – Petra Kuhlmann: Untersuchungen zum Verhältnis v. Latein u. Deutsch in den Schr.en U.s v. H. Diss. Ffm. 1986. – Eckhard Bernstein: U. v. H. Reinb. 1988. – Helmut Spelsberg: Veröffentlichungen U.s v. H. [mit guten Inhaltsangaben]. In: U. v. H. Ritter, Humanist, Publizist 1488–1523. Kat., bearb. v. Peter Laub. Schlüchtern 1988, S. 412–441. – Volker Honemann: Erasmus v. Rotterdam u. U. v. H. In: U. v. H. in seiner Zeit. Schlüchterner Vorträge zu seinem 500. Geb. Hg. J. Schilling u. E. Giese. Kassel 1988, S. 61–86. – U. v. H. Akten des Internat. H.-Symposions [...] in Schlüchtern 1988 (= Pirckheimer-Jb. 4 [1988]). Hg. Stephan Füssel. Mchn. 1989. – Wilhelm Kühlmann: Edelmann – Höfling – Humanist. Zur Behandlung epochaler Rollenprobleme in U. v. H.s Dialog ›Aula‹ u. in seinem Brief an Willibald Pirckheimer. In: Höfischer Humanismus. Hg. August Buck. Weinheim 1989, S. 161–182. – Philippe Walter: Albrecht v. Brandenburg u. der Humanismus. In: Albrecht v. Brandenburg [...] 1490–1545 [...]. Hg. Horst Reber u. a. Mainz 1990 (Kat.), S. 65–82. – Volker Honemann: U. v. H. In: Füssel,
32 Dt. Dichter, S. 359–376. – James V. Mehl: Language, Class, and Mimic Satire in the Characterization of Correspondence in the ›Epistolae obscurorum virorum‹. In: The Sixteenth Century Journal 25 (1994), S. 289–305. – Hannes Fricke: ›Niemand wird lesen, was ich hier schreibe.‹ Über den Niemand in der Lit. Gött. 1998, bes. S. 113–139. – Helmar Junghans: Der nationale Humanismus bei U. v. H. u. Martin Luther. In: Ders.: SpätMA, Luthers Reformation, Kirche in Sachsen. Ausgew. Aufsätze. Hg. M. Beyer. Lpz. 2001, S. 67–90. – Sari Kivistö: Creating Anti-Eloquence. ›Epistolae obscurorum virorum‹ and the Humanist Polemics on Style. Helsinki 2002. – Alexander Thumfart: U. v. H. (1488–1523) u. Crotus Rubianus (ca. 1480–1545): die Verfasser der Dunkelmännerbriefe. In: Große Denker Erfurts u. der Erfurter Universität. Hg. D. v. der Pfordten. Gött. 2002, S. 184–220. – Georg-Wilhelm Hanna: Mänade, Malefiz u. Machtverlust. Herzog Ulrich v. Württemberg u. Hans v. Hutten. Polit. Folgen eines Mordfalles. Köngen 2003. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 928–935. Herbert Jaumann
Hutterli, Kurt, auch: Claudio Turri, * 18.8.1944 Bern. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker u. Künstler. Nach einer Ausbildung zum Sekundarlehrer übernahm H. eine halbe Stelle an einem Berner Gymnasium, wo er Unterricht in Französisch u. Italienisch erteilte. Seit seiner Auswanderung im Jahr 1996 lebt er in British Colombia, Kanada. Sein Werk wurde mehrfach mit Preisen bedacht, u. a. zweimal mit dem Buchpreis der Stadt Bern. Häufige Aufenthalte im Tessin u. ein Werkjahr in Finnland haben in seinen literar. Arbeiten ihren Niederschlag gefunden. H. lehnt sich in seinen Prosaarbeiten gegen das Rollenbild vom »starken Mann« auf u. lässt so die verhaltene Sprache seiner frühen Lyrikbände hinter sich (Blätter zur Acht. Egnach 1963. aber. Bern 1972). Die beiden Bände felsengleich. Ein fiktiver Tagungsbericht (Bern 1976) u. Ein Hausmann (Aarau/Ffm. 1980) kreisen das Thema in Form von Textcollagen ein. Ein Schweizer Soldatenbuch (Bern 1974) ist die präzise Milieustudie einer Rekrutenschule. Die parabelhafte Erzählung Die Faltsche (Bern 1977) handelt von einem Messer, seinem Besitzer u. dessen Vorstellung, alles, was man begreifen wolle, müsse aufgebrochen, aufge-
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schnitten werden. Riskanter u. weniger überzeugend ist H.s Darstellung einer positiven Alternative, die der Protagonist im Roman Elchspur (Bern 1986) in der heilen Welt eines finn. Dorfs findet. H. behandelt Machtgehabe u. Unterdrückung auch in seinen burlesken, meist in histor. Dekor spielenden Theaterstücken. In den 1990er Jahren betätigte sich H. vermehrt auch als Kinder- u. Jugendbuchautor, wobei er zunächst unter dem Pseudonym Claudio Turri die Erzählung Mir kommt kein Tier ins Haus (Solothurn 1991) veröffentlichte. Unter seinem richtigen Namen publizierte er später die Erzählung Die sanfte Piratin (Aarau/Ffm. 1994). Seit 1995 schreibt H. Kindergeschichten für das Schweizerische Radio DRS 1. Sein 2004 erschienener Roman Das Centovalli-Brautgeschenk (Frauenfeld) ist nur vordergründig eine literar. Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte. Er ist v. a. ein Exerzierfeld für fortwährende Grenzüberschreitungen, die in der Vorstellung von der Traumonautik ihre gedankl. Explikation finden. H. begreift sich selbst als einen solchen Traumonauten, der die Fähigkeit zum Klarträumen besitze u. damit zur Transzendierung der Wirklichkeit. Die Grenzen zwischen der Alltagswirklichkeit u. den Wachtraumexpeditionen verschwimmen bald auch im erzählten Geschehen. Inhaltlich macht sich das daran bemerkbar, dass das Personal des Romans aus den verschiedensten Epochen
Hutterli
stammt: Neben den beiden Hauptfiguren Luigi Turri u. Pietro Angeloni melden sich u. a. Napoleon III. u. Victor Hugo zu Wort, während ein japanischer Autor des 17. Jh. reinkarniert, in der Gestalt eines Professors, wiederkehrt. Auch formal überschreitet H. mit seinem Roman Grenzen, indem er ihn aus heterogenen Materialien komponiert: In den laufenden Text eingefügt sind Sagen, indian. Mythen, fiktive Briefe, sog. Klopfdiktate u. Dialoge. Die im Titel genannten Centovalli sind als »Randschaft« der Schweiz eine Chiffre für diese Grenzüberschreitungen. Weitere Werke: Das Matterköpfen. Aarau/Ffm. 1978 (D.). – Finnlandisiert. Gedichte u. Prosa. Ebd. 1982. – Überlebenskunst. Urauff. Bern 1983 (D.; Welti-Preis 1982). – Bakunin am Lago Maggiore. Urauff. Bern 1984. – Baccalà. Kriminalgesch.n. aus dem Tessin. Bern 1989. – Gaunerblut. Das Leben des Ein- u. Ausbrecherkönigs Bernhart Matter posthum v. ihm selbst dargestellt u. mit Materialien aus der Slg. seines Schreibers ergänzt. Zürich 1990. – Gounerbluet. Drama. Belp 1993. – Happy Holidays. Jugendtheaterstück. Belp 1993. – Rouchzeiche. Drama. Belp 1993. – Omlet. Prinz v. Telemark oder die feierl. Einweihung des grossherzogl. Theaters von Illustrien dargestellt durch die fahrende Truppe Saltimbocca-Tiramisú. Belp 1994. – Im Fischbauch. Belp 1998. – Der Clown im Mond. Drama. Belp 2000. – Hotel Goldtown. Komödie. Hochdt. u. berndt. Fassung. Belp 2000. – Wie es euch gefällt. Ein Stück für neue Talente. Belp 2006. – Üxi. Belp 2007. Dominik Müller / Alexander Schüller
I Ickelsamer, Valentin, * um 1500 Rothenburg/Tauber (?), † 1541 (?) Augsburg. – Grammatiker. I. studierte in Erfurt (Baccalaureus 1520) u. Wittenberg, wo er sich bald Karlstadt anschloss. Seit 1524 war er Prädikant u. Schulmeister in Rothenburg. Als Mitgl. des »Gemeindeausschusses« versuchte er 1525, zwischen aufständ. Bauern u. dem Rat zu vermitteln. Den in Rothenburg weilenden Karlstadt verteidigte er in der Clag etlicher brüder (o. O. u. J.) gegen Luther. Nach der Niederschlagung des Aufstands floh I. mit Karlstadt, wurde 1527 verurteilt u. aus Rothenburg verbannt. In Erfurt veröffentlichte er Die rechte weis auffs kürtzist lesen zu lernen (Marburg 2 1534). Er versöhnte sich mit Luther, blieb aber Anhänger Karlstadts. Seit 1530 lebte er als Schulmeister in Augsburg u. trat dort in freundschaftl. Beziehung zu Schwenckfeld. Um 1534 veröffentlichte er sein Hauptwerk Ein Teütsche / Grammatica / Darauß einer von jm selbs / mag lesen lernen. (o. O. u. J. [wohl Augsb.]. Stark überarb. u. erw. Nürnb. 21537 u. ö. Leßbüchlein mit 40 Ermahnungen zum christl. Wandel im Anhang). Diese erste gedruckte dt. Grammatik bot künftigen Grammatikschreibern, Lehrenden u. Lernenden Vorüberlegungen zu einer deutschsprachigen Grammatik des Deutschen, grammatikograf. Ausführungen u. didakt. Anweisungen. I. behandelt die dt. Sprache im Hinblick auf ihre Eigenständigkeit; das Kategorialsystem entnimmt er der lat. Grammatikografie, deutscht jedoch die Terminologie weitgehend ein. I.s Sprachverständnis ist rhetorisch geprägt. Von der Syntax fordert er die Einführung in eine auch »kunstmäßige« Wort- u. Satzfügung. Das Lesenlernen teilt I. in Dis-
tanzierung vom bisherigen Leseunterricht in zwei Phasen: Segmentierung der Lautwerte aus dem Lautkontinuum gesprochener Worte (Lautiermethode) u. Zuordnung der Lautwerte zu den Lautzeichen (Buchstaben). Didaktisch relevant u. zukunftweisend ist die erste Phase. – Als Gegenstände der Wortforschung fordert er Etymologie u. Bedeutungserklärung gebräuchl. Fremdwörter. Der angestrebte Sprachunterricht gehört zum Konzept einer ganzheitl. Erziehung, in der jeder Teilprozess formal u. inhaltlich einen festen Stellenwert hat: Die muttersprachl. Grammatik z.B. schult die Verstandeskräfte u. bereitet auf bestimmte Berufe u. die Erlernung von Fremdsprachen vor; die Beschäftigung mit der Etymologie dient der Erhaltung der Sprache, führt zu bewusstem Sprachgebrauch u. wird so zur Voraussetzung für ein gottesfürchtiges Leben. I.s religiös geprägte Auffassung von der Funktion der Sprache zeigt seine Nähe zu den »Schwärmern« u. weist zgl. auf Impulse aus der Devotio moderna u. der »Freunde Gottes«Bewegung. Das Werk wurde bald vergessen, doch nahm Schottelius in die Ausführliche Arbeit von der Teutschen HaubtSprache zentrale Gedanken I.s auf. Ausgaben: Aus dem Kampf der Schwärmer gegen Luther. Hg. Ludwig Enders. Halle 1893 (›Clag etl. brüder‹). – Johannes Müller: Quellenschr.en u. Gesch. des deutschsprachigen Unterrichts bis zur Mitte des 16. Jh. Gotha 1882. Neudr. Hildesh./New York 1969 (S. 120–159: 2. Aufl. v. ›Ein Teütsche Grammatica‹). – Vier seltene Schr.en des 16. Jh. Hg. Heinrich Fechner. Bln. 1882. Neudr. Hildesh./New York 1972 (›Die rechte weis [...]‹; ›Ein Teütsche Grammatica‹). – V. I.: Die rechte weis [...]. Ain Teütsche Grammatica. Hg. Karl Pohl. Stgt. 1971.
35 Literatur: Heinrich Noll: Der Typus des religiösen Grammatikers im 16. Jh. Dargestellt an V. I. Diss. Marburg 1935. – Michael Giesecke: Schriftspracherwerb u. Erstlesedidaktik in der Zeit des ›gemein teutsch‹. In: Osnabrücker Beiträge zur Sprachtheorie 11. Schriftspracherwerb. Bd. 1 (1984), S. 48–72. – Monika Rössing-Hager: Konzeption u. Ausführung der ersten dt. Grammatik. In: Lit. u. Laienbildung im SpätMA u. in der Reformationszeit. Hg. Ludger Grenzmann u. Karl Stackmann. Stgt. 1984, S. 534–556. – Dies.: Ansätze zu einer dt. Sprachgeschichtsschreibung vom Humanismus bis ins 18. Jh. In: Sprachgesch. Ein Hdb. zur Gesch. der dt. Sprache u. ihrer Erforschung. Hg. Werner Besch, Oskar Reichmann u. Stefan Sonderegger. Halbbd. 2, Bln./New York 1985. S. 1564–1614 (zu V. I.: S. 1566 u. 1575). – HKJL, Bd. 1, Sp. 429–439. – Birgit Eichler: V. I. u. Hans Fabritius – sprachgeschichtl. Reminiszenz an zwei frühe Erfurter Schulmeister. In: Histor. Aspekte des Deutschunterrichts in Thüringen. Hg. Horst Erhardt u. Edith Sonntag. In: Beiträge zur Gesch. des Deutschunterrichts 24 (1995), S. 33–47. – Andreas Gardt: Gesch. der Sprachwiss. in Dtschld.: Vom MA bis ins 20. Jh. Bln./New York 1999 (zu V. I.: S. 56–61). – M. Rössing-Hager: Frühe grammat. Beschreibungen des Deutschen. In: Gesch. der Sprachwiss.en. Ein internat. Hdb. zur Entwicklung der Sprachforsch. v. den Anfängen bis zur Gegenwart. Hg. Sylvain Auroux, E. F. K. Koerner, Hans-Josef Niederehe u. Kees Versteegh. Teilbd. 1, Bln./New York 2000, S. 777–784. – Eva Maria Rastner: Frühnhd. Grammatiker, Didaktiker u. Moralist. V. I. Eine Studie zu Leben u. Werk. Diss. Univ. Klagenf. 2001. – Ludwig Schnurrer: V. I. (ca. 1500–1547): Laientheologe u. Pädagoge. In: Fränk. Lebensbilder 19 (2002), S. 51–64.
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durch den Hund eines Jägers entdeckt. Der reumütige Graf eilt zu ihr u. bittet sie um Verzeihung. I. lehnt eine Rückkehr ab, bittet ihn aber, ihr eine Kirche zu bauen, in der sie Gott dienen kann. Die urspr. Legende ist in dt. Sprache – ein äußerst seltener Fall in der mittelalterl. Hagiografie – wohl um 1470 im Thurgau entstanden. Diese Fassung benutzte Albrecht von Bonstetten als Quelle für seine beiden lat. I.-Viten, die er im Auftrag des Abts des Benediktinerstifts Fischingen herstellte, dessen Patronin I. war. Eine in einem Straßburger Druck der Sammlung Der Heiligen Leben überlieferte dt. Fassung dürfte ebenfalls auf Albrecht zurückgehen. Daraus wurde sie in das Habsburgische Heiligenbuch Jakob Manlius’ übernommen. Literatur (jeweils auch Ausgaben): Leo M. Kern: Die I. v. T.-Legende. In: Thurgauische Beiträge zur vaterländ. Gesch. 64/65 (1928), S. 1–136. – Bruno Meyer: Die hl. Ita v. Fischingen. In: ebd. 112 (1974/75), S. 21–97. – Werner Williams-Krapp: Die dt. I.-Legende des schweizer. Humanisten Albrecht v. Bonstetten. In: Ztschr. für Gesch. des Oberrheins 130 (1982), S. 71–80. – Ders.: I. v. T. In: VL. – Wilfried Kettler: Trewlich ins Teütsch gebracht. Lat.-dt. Übersetzungsschrifttum im Umkreis des schweizer. Humanismus. Bern u. a. 2002. Werner Williams-Krapp / Red.
Iffland, August Wilhelm, * 19.4.1759 Hannover, † 22.9.1814 Berlin; GrabstätMonika Rössing-Hager te: ebd., Friedhof der Jerusalems- u. Neuen Kirchengemeinde. – Schauspieler, Theaterdirektor u. Dramatiker. Ida von Toggenburg. – Mittelalterliche Der Sohn eines Registrators bei der kgl. deutsche Prosalegende in verschiedenen Kanzlei in Hannover sollte nach den Plänen Fassungen aus dem 15./16. Jh. Die Handlung: Der thurgauischen Gräfin I. wird der Ehering von einem Raben gestohlen. Ein Jäger findet den Ring zufällig im Nest des Vogels u. steckt ihn an den Finger. Ein missgünstiger Diener erkennt den Ring u. weckt daraufhin im Grafen Zweifel an der ehel. Treue I.s. Der wütende Graf lässt den Jäger töten u. I. von der Burgmauer stürzen. Durch Gottes Hilfe bleibt sie aber unversehrt u. beschließt, ihr Leben als Reklusin in der Einöde zu verbringen. Nach langer Zeit wird sie
des Vaters eigentlich Theologie studieren. Schüleraufführungen des Altstädter Gymnasiums, bei denen I. u. sein Klassenkamerad Karl Philipp Moritz begeistert mitwirkten, v. a. aber die Gastspiele der Ackermann’schen u. Seyler’schen Truppe erregten ein lebhaftes Interesse des Jungen für das Theater. Nach einem heftigen Disput mit dem Vater verließ I. im Febr. 1777 heimlich das Elternhaus. Zuerst suchte er vergeblich ein Engagement bei der Marchand’schen Truppe, dann stellte er sich dem berühmten Schauspieler Konrad
Iffland
Ekhof, Leiter des Herzoglich Gothaischen Hoftheaters, vor, welcher I. auf Probebasis aufnahm. In Gotha errang I. seine ersten Erfolge. Nach Ekhofs Tod im folgenden Jahr wurde das Hoftheater aufgelöst u. ein großer Teil der Schauspieler, darunter auch I., 1779 durch Wolfgang Heribert von Dalberg nach Mannheim berufen. Mannheim hatte damals gerade seinen Status als Residenzstadt verloren, da Kurfürst Karl Theodor die Residenz u. damit auch die standesgemäß höf. Oper nach München verlegt hatte. Dafür sollte der Stadt durch das neu begründete dt. Nationaltheater ein neues Betätigungs- u. Repräsentationsfeld eröffnet werden. Diese Chance verstanden sowohl Dalberg als auch I. zu nutzen, I. selbst vornehmlich dadurch, dass er nun auch als Dramatiker hervortrat. Sein erstes Theaterstück, Albert von Thurneisen (1781), ein bürgerl. Trauerspiel, hatte nur mäßigen Erfolg. Den Geschmack des Theaterpublikums traf I. erst mit seinem vierten Stück, Verbrechen aus Ehrsucht, einem ›ernsthaften Familiengemälde‹, das 1784 unter ungeheurem Beifall in Mannheim uraufgeführt wurde. Dem folgten in I.s Mannheimer Jahren über 20 weitere Stücke, darunter sein erfolgreichstes u. wohl auch bestes Stück Die Jäger. Ein ländliches Sittengemälde (Bln. 1785), das bis ins 20. Jh. hinein gespielt wurde. Ein schauspielerischer Triumph wurde die Uraufführung von Schillers Die Räuber am 13.1.1782 mit I. in der Rolle des Franz Moor. In einer anonymen Selbstrezension seines Dramas für das »Wirtembergische Repertorium der Litteratur« 1782 hob Schiller besonders I.s Leistungen hervor u. schloss seinen Bericht mit den Worten: »Deutschland wird in diesem jungen Mann noch einen Meister finden.« Während Schillers Anstellung (1783/84) als Theaterdichter in Mannheim entstand zwischen ihnen eine kurzlebige Freundschaft (I.s Rat folgend, änderte Schiller den Titel seines bürgerl. Trauerspiels Luise Millerin zu Kabale und Liebe), jedoch zeugen Schillers letzte Monate am Theater von einer wachsenden Rivalität, welche öffentl. Ausdruck fand, als I. in der Rolle des Dramatikers Flickwort in einer Aufführung von Gotters Komödie Der schwarze Mann Schiller karikierte. Beide begegneten sich erst
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1796 wieder, als I. im Rahmen eines Gastspiels am Weimarer Hoftheater die Titelrolle in Goethes Egmont spielte (Schiller hatte das Stück für die Bühne bearbeitet). Die 1780er Jahre waren die Glanzzeit des Mannheimer Theaters. Nach dem Ausscheiden des Regisseurs Abel Seyler schuf Dalberg aus einer kleinen Anzahl von Schauspielern (darunter I.) einen Ausschuss, mit dem er regelmäßig die Entwicklung des Repertoires u. künstlerische Fragen beriet. Dieses Regiment ermöglichte es dem ehrgeizigen jungen Schauspieler, Einfluss beim Intendanten zu gewinnen. Dalberg war um einen künstlerisch ambitionierten Spielplan in Mannheim bemüht; Shakespeares König Lear, Julius Cäsar, Der Kaufmann von Venedig wurden z.B. in den 1780er Jahren mit Erfolg inszeniert, wobei I.s Begabung für Charakterrollen deutlich hervortrat. Zahlreiche Theaterstücke u. Gastspielreisen mehrten seinen Ruhm. 1792 wurde er Regisseur, allerdings zu einer turbulenten Zeit im Rheinland, als Mannheim im Zuge der frz. Revolutionskriege immer wieder beschossen u. belagert wurde. Das Theater musste mehrmals geschlossen werden u. die Sparmaßnahmen des Kurfürsten ließen an seiner künftigen Unterstützung zweifeln. I.s konservative Position gegenüber der Französischen Revolution (s. sein 1791 im Auftrag des Kaisers Leopold verfasstes Trauerspiel Die Kokarden) sowie seine Nähe zu einigen regierenden Fürstenhäusern waren für seine Kritiker der Anlass, ihn einen Fürstendiener zu nennen. Verschiedentlich hatten renommierte Bühnen versucht, ihn von Mannheim wegzulocken. 1796 entschied er sich, als Direktor des kgl. Nationaltheaters nach Berlin zu gehen. Diesen Kontraktbruch, der bei Dalberg große Bitterkeit erregte, versuchte I. mit seiner als Autobiografie getarnten Verteidigungsschrift Meine theatralische Laufbahn zu rechtfertigen. Allerdings erwähnt er nicht, dass seine ungeheuren Schulden u. die Bereitschaft des preuß. Königs, sie zu tilgen, ein entscheidender Grund für seinen Umzug waren. In den folgenden Jahren gelang es I., das 1786 gegründete Berliner Nationaltheater, das bis zum Tod Friedrich Wilhelms II. 1797 auf keiner festen künstlerischen, finanziellen
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oder organisatorischen Basis gestanden hatte, Die Träger der emotionalisierten Familienzu einer der ersten Bühnen Deutschlands ideologie sind Kaufleute u. Fabrikanten, v. a. umzugestalten. Dabei spielte, neben erhöh- aber Beamte, bald bürgerlicher, bald adliger ten Zuschüssen von der Regierung u. dem Herkunft. Schurken finden sich allerdings Bau eines neuen Theaters auf dem Gendar- auch unter ihnen, die um so schlechter hanmenmarkt, I.s Entwicklung des Repertoires deln, je näher sie dem Hof u. der Stadt stehen. eine äußerst wichtige Rolle. Vor allem I.s Im Hintergrund wacht jedoch der stets gutaufwändige Inszenierungen von Schillers herzige u. gnädige Fürst. Trotz Sentimentaspäten Dramen waren große Erfolge (Die lität zeugen die besten I.schen Stücke von Jungfrau von Orleans war zu I.s Lebzeiten das seiner Fähigkeit, lebhafte u. natürl. Dialoge meistgespielte Stück auf der Berliner Bühne), zu schreiben, u. von seinem Sinn für Komik die wesentlich dazu beitrugen, diesen Stü- (s. z.B. Die Hagestolzen). Während I. als cken eine Schlüsselstellung im Repertoire der Schauspieler auch über die Grenzen dt. Bühnen im 19. Jh. zu sichern. Das Berliner Deutschlands hinaus Bewunderung fand, Theater gewann außerdem durch diese von I. blieb ihm als Dramatiker trotz des Publigepflegte Verbindung zu Weimar an Prestige. kumserfolgs die Anerkennung der Kritiker u. Nie ließ I. jedoch außer Acht, dass er den Literaturhistoriker weitgehend versagt. Als Wünschen eines vielfältigen Publikums ent- Theaterdirektor jedoch hat er ein bleibendes gegenkommen musste. Singspiele u. die Er- Vermächtnis hinterlassen, da seine Fördefolgsstücke des Tages (v. a. die von Kotzebue) rung von literarisch anspruchsvollen Bühmachten neben anspruchsvollen Inszenie- nenstücken die Repertoiregestaltung bis ins rungen von Goethe, Lessing, Calderón, 20. Jh. geprägt hat. Shakespeare u. Racine u. a. immer noch einen Weitere Werke: Dramat. Werke. 26 Bde., Lpz. Großteil der Darbietungen aus. Während der 1798–1802. Bd. 1: Meine theatral. Laufbahn. Auch frz. Besetzung Berlins (1806–1808) verhin- sep. u. später u. d. T. Über meine theatral. Laufderte I. die Schließung des Theaters kraft bahn. Heilbr. 1886. Neudr. Stgt. 1976. – Theorie eines geschickt gestalteten Spielplans, mit der Schauspielkunst [...]. 2 Bde., Bln. 1815. – zahlreichen, z.T. von I. selbst angefertigten Theater v. A. W. I. Erste vollst. Ausg. 24 Bde., Wien 1843. – I.s Briefw. mit Schiller, Goethe, Kleist u. Übersetzungen aus dem Französischen u. eiTieck u. a. Dramatikern. Hg. Curt Müller. Lpz. o. J. ner strikten polit. Neutralität. 1809 wurde I. – Theatral. Werke in einer Ausw. 10 Bde. in 5 Bdn. in Anerkennung dieser Leistung von Fried- Lpz. 1858–60. Nachdr. Hildesh. u. a. 2006. rich Wilhelm III. mit dem Roten Adlerorden Literatur: Wilhelm Koffka: I. u. Dalberg. Lpz. dritter Klasse dekoriert. Wegen häufiger Ab- 1865. – Karl-Heinz Klingenberg: I. u. Kotzebue als wesenheiten, finanziellen Ungeschicks u. Dramatiker. Weimar 1962. – Horst A. Glaser: Das Homosexualität war er, trotz seines Ruhms, bürgerl. Rührstück. Stgt. 1969. – Alois Wierlacher: unter dem Berliner Theaterpersonal nicht A. W. I. In: Dt. Dichtung des 18. Jh. Hg. Benno v. unumstritten. Der König schätzte dennoch Wiese. Bln. 1977, S. 911–930. – Bengt A. Sørensen: seine Treue, u. 1811 wurde I. Generaldirektor Herrschaft u. Zärtlichkeit. Mchn. 1984. – Sigrid Salehi: A. W. I.s dramat. Werk. Versuch einer der kgl. Theater zu Berlin. Als Verfasser von Familiengemälden ge- Neubewertung. Ffm. 1990. – Lesley Sharpe: A National Repertoire. Schiller, I. and the German Stage. hörte I., vor allem bis ca. 1800, zu den poFfm. 2007. – Mark-Georg Dehrmann u. Alexander pulärsten Dramatikern seiner Zeit. Der his- Kosˇ enina (Hg.): I.s Dramen. Ein Lexikon. Hann. tor. Wert seiner Theaterstücke liegt v. a. dar- 2009. Bengt Algot Sørensen † / Lesley Sharpe in, dass sie Einblick in die Mentalität des dt. Theaterpublikums u. in die Theaterströmungen im ausgehenden 18. Jh. gewähren. Igel, Jayne-Ann, auch: Bernd I., * 18.9. Ihnen allen liegt die Idealvorstellung der 1954 Leipzig. – Lyrikerin, Prosaautorin. harmonisch in sich ruhenden patriarchal. Kleinfamilie zugrunde, deren stat. Idyllik Die aus einem Angestelltenhaushalt stamvon innen u. außen gestört werden kann, sich mende I. studierte nach einer Lehre im Bischließlich aber doch als heile Welt bewährt. bliotheksbereich sieben Semester Theologie,
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arbeitete anschließend im Gesundheitswesen u. als Verwaltungsangestellte in einem Pfarramt in der Nähe von Leipzig, ab 1988 als freie Schriftstellerin. Sie erhielt in den neunziger Jahren verschiedene Stipendien, arbeitete 1993–1994 im Leipziger Literaturbüro u. siedelte 1995 nach Dresden über. Dort war sie u. a. an einem Projekt zur Dresdner Frauengeschichte beteiligt (Von Maria bis Mary. Frauengeschichten aus der Dresdner Neustadt. Zus. mit Una Giesecke. Dresden 1998) u. arbeitete als wissenschaftl. Mitarbeiterin im Frauen-StadtArchiv. 2007 erhielt I. die Dr. Manfred Jahrmarkt-Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung von 1859. Bis zu einer Geschlechtsumwandlung 1990 veröffentlichte sie unter dem Namen Bernd Igel. I. lässt sich kaum in die Tradition der DDRLyrik bis Ende der 1980er Jahre einordnen. Ihr erstes Buch erschien in der BR Deutschland, während sie in der DDR fast ausschließlich in inoffiziellen Literaturzeitschriften (»Anschlag« u. »schaden«) gedruckt wurde und u. a. zusammen mit Detlef Schweiger Künstlerbücher im Eigenverlag produzierte. In den Anthologien Berührung ist nur eine Randerscheinung. Neue Literatur aus der DDR (Hg. Sascha Anderson u. Elke Erb. Köln 1985) u. Sprache & Antwort. Stimmen und Texte einer anderen Literatur aus der DDR (Hg. Egmont Hesse. Ffm. 1988) sind I.s Prosagedichte in locker gefügten Strophen eine Ausnahme im Ensemble der sprachexperimentellen Arbeiten der Generationsgenossen. Das Geschlecht der Häuser gebar mir fremde Orte (Ffm. 1989) ist I.s erster eigener Band. Die Themen der Texte kreisen um Traum u. Tod, Kindheit u. Bestrafung, Angst u. immer wieder um die »Scham des Sprechens«. ›Zunge‹, ›Lippen‹, ›Mund‹ sind wiederkehrende Worte. Die Gedichte handeln von der Suche nach einer eigenen Sprache u. Identität gegen den Widerstand der Umwelt. Gott ist nur eine metaphys. Instanz, die dem lyr. Ich – das oftmals zum Wir wird – Furcht einflösst. Die Metaphorik ist zwar mitunter religiös, der freie Rhythmus der Gedichte wirkt jedoch einer unzeitgemäßen Feierlichkeit entgegen. Auch in den Anthologien Schöne Aussichten (Hg. Christian Döring u. Hajo Steinert. Ffm. 1990), Ein Molotow-Cocktail auf fremder Bett-
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kante (Hg. Peter Geist. Lpz. 1991) u. Vogel oder Käfig sein (Hg. Klaus Michael u. Thomas Wohlfahrt. Bln. 1991) finden sich Prosagedichte I.s. In Fahrwasser. Eine innere biographie in ansätzen (Lpz. 1991) beschreibt I. in Form eines Tagebuchs ihre äußere Angleichung an das innere Geschlecht als einen Weg von Frage u. Antwort, rück- u. vorausblickend, eine Erkundung im Spiegel des Du, die auch das eigene Schreiben reflektiert. Wolfgang Hilbig verweist in seinem Vorwort auf die »Chancenlosigkeit« des lyr. Ichs in den Gedichten zuvor als Ausgangspunkt dieses Aufbruchs aus einer Versiegelung des Ichs, der zgl. Ankunft bei sich bedeutet. Diesem inneren Leitfaden folgt I. auch in der Erzählung Unerlaubte Entfernung (Basel/Weil am Rhein 2004), in der die Kindheit u. Jugend des Ich-Erzählers als scheiternde Aufnahme in der »schweigenden übereinkunft der erwachsenen« (Familie, Lehre, Armee) forterzählt wird. Der Versuch, die eingestandene »abwesenheit« durch »flucht nach vorn« aufzuheben, misslingt; dabei wird Schreiben zum Ausbruchsversuch, der die Handlung vorwegnimmt: »vollends von der truppe abzufallen«, ohne vom Ballast der Geschichte (»im kernland der lagermentalität«) u. der eigenen Biografie erlöst zu werden. Die vertrauten Ortschaften u. Figuren, aber auch die lyr. Ausuferungen u. Verzweigungen der Sätze setzen sich auch in I.s nächster Prosakomposition Traumwache (Basel/Weil am Rhein 2006) fort u. führen schlafwandlerisch durch das innere Labyrinth; der Traum fungiert dabei als »Umspannwerk« für die Gedanken, das Schreiben als Bewegung u. als Sammlung von Wegen gegen die Auslöschung ganzer Zeilen auf dem Stadtplan autobiogr. Topografien. Weitere Werke: Die vom Traum verlassene Stätte Mensch (Aufsatz zu Jakob van Hoddis). In: SuF 41 (1989), H. 6, S. 1325–1330. – Poesiealbum 259. Bln./DDR 1989. – Hausaufgabe. In: Zwischen den Zeilen. Ztschr. für Gedichte u. ihre Poetik, Nr. 6 (1995). – Wiederbelebungsversuche. Gedichte u. Resonanzen. Aschersleben 2001. – Berliner Tatsachen. Basel/Weil am Rhein 2009. Literatur: Heinz Czechowski: Die Regungen des Mundes. Über J.-A. I. In: Peter-Huchel-Preis. Ein Jb. 1990. Ernst Jandl, J.-A. I. Texte, Doku-
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39 mente, Materialien. Hg. Bernhard Rübenach. BühlMoos 1991, S. 41–43. – Stefan Schulze: ›Der fliegende Teppich bietet wenig Raum.‹ Schriftstellerinnen der ehem. DDR vor, während u. nach der Wende: Brigitte Burmeister, J.-A. I., Helga Königsdorf, Angela Krauß u. Christa Wolf. Biogr., textkrit. u. literatursoziolog. Diskurse. Diss. Univ. Lpz. 1997 (enthält ein ausführl. Gespräch mit I.). – Hanne Kulessa: ›sprechen, wieder- & widersprechen ...‹. Laudatio auf J.-A. I. In: die horen 52 (2007), H. 228, S. 179–183. Hajo Steinert / Kristin Schulz
Ihering, Herbert, * 29.2.1888 Springe bei Hannover, † 15.1.1977 Berlin/DDR. – Theater- u. Filmkritiker. Der Sohn eines Amtsrichters studierte u. a. in Berlin bei Erich Schmidt, war von 1909 an Theaterkritiker bei Siegfried Jacobsohns »Schaubühne« u. als Nachfolger Alfred Kerrs am »Tag« (bis 1922); während des Ersten Weltkriegs Dramaturg u. Regisseur der Volksbühne Wien, war er 1918–1933 wieder Kritiker an der »Weltbühne« u. am »Berliner Börsen-Courier«, 1934–1936 erneut als Nachfolger Kerrs am »Berliner Tageblatt«. 1936 wurde I. aus der Reichspressekammer ausgeschlossen. 1937–1941 war er Besetzungschef der Filmgesellschaft Tobis u. arbeitete 1942–1944 am Wiener Burgtheater. I. entwickelte die Prinzipien seiner Theaterkritiken von Anfang an im Gegensatz zum Stil Alfred Kerrs, dessen krit. Einfluss er Mitte der 1920er Jahre erreichte. Im Rückblick wurde deshalb die Theaterkritik der Weimarer Republik als die widersprüchl. Einheit Kerr – Ihering bezeichnet. Den Stil seiner Kritiken beschrieb I. so: »Kein Bildungsjargon, kein Schreiben um der schriftstellerischen Nuance willen, Verantwortung für jeden Satz.« Den Gegensatz zwischen Kerr u. I. zeigt die Favorisierung unterschiedlich ausgerichteter Regisseure u. Theaterautoren. Während Kerr am Illusionstheater Max Reinhardts festhielt, sprach sich I. für die geometrisch orientierte Bühnenkonzeption Leopold Jeßners aus, um sich nach 1925 – der Entwicklung des dt. Regietheaters entsprechend – dem neuen Realismus u. der Neuen Sachlichkeit Jürgen Fehlings u. Erich Engels zuzuwenden. Kerr sah in Gerhart Haupt-
mann den überragenden zeitgenöss. Dramatiker, I. förderte Brecht, den er als Autor der Neuen Sachlichkeit lobte, der die »Mechanik des Maschinenzeitalters selbstverständlich nimmt« u. dem er als Preisrichter 1922 den Kleist-Preis zuerkannte. I. versuchte, den kargen, sachl. Sprechstil als vorbildlich zu setzen u. befürwortete die Politisierung der Bühne, etwa durch Erwin Piscator. Nach dem Zweiten Weltkrieg war I. bis 1954 Chefdramaturg des Deutschen Theaters Berlin u. Mitarbeiter der Zeitschriften »Sinn und Form« u. »Sonntag«. Wegen seines Engagements für die im Ostsektor der Stadt liegenden Bühnen Berlins wurde I., der seinen Wohnsitz in Berlin-Zehlendorf nie aufgab, in Westdeutschland kaum beachtet. Nach dem Mauerbau u. der Revisionismusdebatte um »Sinn und Form« gab I. – gleichzeitig mit dem Rücktritt des Chefredakteurs Peter Huchel – das Theater- u. Filmreferat der Zeitschrift auf, das er seit 1955 betreut hatte. Weitere Werke: Der Kampf ums Theater. Dresden 1922. – Aktuelle Dramaturgie. Bln. 1924. – Die vereinsamte Theaterkritik. Bln. 1928. – Reinhardt, Jeßner, Piscator oder Klassikertod? Bln. 1929. – Von Josef Kainz bis Paula Wessely. Heidelb. 1942. – Von Reinhardt bis Brecht. 3 Bde., Bln./DDR 1958–61. – Theater der produktiven Widersprüche 1945–49. Bln./Weimar 1967. – Bert Brecht hat das dichter. Antlitz Deutschlands verändert. Ges. Kritiken zum Theater Brechts. Mchn. 1980. – Werner Krauß. Ein Schauspieler u. das neunzehnte Jh. Hg. Sabine Zolchow u. Rudolf Mast. Mit einem Vorw. v. Klaus Kreimeier. Bln. 1997. Literatur: Ursula Krechel: Information u. Wertung. Untersuchungen zum [...] Werk v. H. J. Diss. Köln 1972. – Lothar Schöne: Neuigkeiten vom Mittelpunkt der Welt. Der Kampf ums Theater in der Weimarer Republik. Darmst. 1994. – Rudolf Mast: Die ›Entdeckung‹ Bertolt Brechts durch H. I. als ›Wiederentdeckung‹ H. I.s durch Bertolt Brecht. In: Walter Delabar u. Jörg Döring (Hg.): Bertolt Brecht (1898–1956). Bln. 1998, S. 113–118. – Dieter Mayer: ›... gleichsam mit einer unsichtbaren Jakobinermütze‹? Der Theaterkritiker H. I. u. seine Charakteristik in Carl Zuckmayers ›Geheimreport‹. In: Gunther Nickel (Hg.): Carl Zuckmayer: Briefe an Hans Schiebelhuth 1921–1936. Gött. 2003, S. 373–422. – Tabea Hörnlein: H. I. Barlachs wichtigster Theaterkritiker. In: Christian Juranek
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Ihlenfeld, Kurt, * 26.5.1901 Colmar, † 25.8.1972 Berlin. – Pfarrer; VerlagsleiChristian Schwarz / Red. ter, Romancier, Essayist, Lyriker.
(Hg.): Unerhörtes Abenteuer im Irgendwo. Ernst Barlach u. der Harz. Quedlinb. 2006, S. 81–85.
Ihlee, Johann Jakob, * 8.10.1762 Elmarshausen/Hessen, † 11.7.1827 Frankfurt/M. – Theaterdichter u. Theaterdirektor. Durch den plötzl. Tod des Vaters, eines Amtmanns, schien I.s Lebensweg vorgezeichnet zu sein. Er musste die Schulausbildung abbrechen u. ein Handwerk erlernen u. wurde Posamentierer (Bortenwirker), fand aber schon während der Wanderschaft, die er als bedrückend erlebte, Gelegenheit, seiner Liebe zum Theater nachzugehen, erst als Souffleur, dann als Kassierer, Sekretär u. Librettist. Bereits vor seiner Meisterprüfung (1793) war er Mitgl. des 1792 gegründeten Frankfurter Nationaltheaters. 1805–1813 betrieb er das Theater gemeinsam mit Musikdirektor Carl Joseph Schmitt auf eigene Rechnung u. brachte es zu wirtschaftl. u. künstlerischer Blüte; bis zu seinem Tod blieb er dessen künstlerischer Leiter. I.s Theatertexte, heute weitgehend vergessen, machten damals Theatergeschichte. Seine zahlreichen Bearbeitungen u. Übersetzungen aus dem Italienischen u. Französischen sollen im süddt. Raum ähnlich vorbildgebend gewesen sein wie die von Carl Alexander Herklots im norddeutschen. Als Quellentext zur Revolutionszeit heute noch interessant ist sein Tagebuch von der Einnahme Frankfurts durch die Neufranken (Ffm. 1793). In den Bänden Gedichte (Ffm. 1789 u. 1791), die beide I.s ungewöhnl. Berufsweg auf dem Titelblatt vermerken, zeigt er sich in der Tradition der Gesellschaftsdichtung des GleimKreises (Gleim, der Förderer junger Talente, hatte auch den Handwerksgesellen I. ermuntert u. protegiert). Als Bruder Redner der Frankfurter Loge verfasste I. Freimaurerreden u. Logenlieder.
I.s Heimat u. Lebensraum sind die Stammlande Preußens, dessen kulturelle u. luth.kirchl. Tradition seine Arbeit bestimmten. 1933–1943 leitete er in Berlin den EckartVerlag u. den von ihm gegründeten »EckartKreis«, der zahlreiche weit verstreute Zirkel literar. Interessierter verband. Sein literar. Spektrum reichte vom Konservatismus Bergengruens bis zur mäßigen Modernität Rudolf Alexander Schröders. Politisch war dieser Kreis ein Zentrum der kirchlich-konservativen Verweigerung gegenüber dem Nationalsozialismus. Allerdings fehlte ihm eine eigene polit. Konzeption, was sich auch darin zeigte, dass I. nach 1945 in seinen Werken über die Beschwörung der vergangenen Jahrzehnte u. die Klage über den »Untergang« der östl. Gebiete des ehem. Deutschen Reichs nicht hinauskam. Dies gilt für die drei Romane Wintergewitter (Witten/Bln. 1951. Wien 1979, mit einem Vorw. v. Ingeborg Drewitz), Der Kandidat (Witten/Bln. 1958) u. Gregors vergebliche Reise (ebd. 1962) wie für die Sammlung von Essays Noch spricht das Land. Eine ostdeutsche Besinnung (Hbg. 1966), in der I. gegen die Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland, Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn, Stellung nimmt: Während »Westdeutschland [...] ein stark rationaler und technischer Zug [...] kennzeichnet«, habe er »immer in Ostrichtung gelebt und gedacht«. Unter dem Druck der NS-Diktatur hatten der »EckartKreis« u. sein Projekt einer in luth. u. dt. Tradition stehenden »christlichen Dichtung« ein klares, menschlich beeindruckendes Profil gewonnen, das seine ostdt. provinzielle Herkunft vergessen ließ.
Weitere Werke: Verzeichnisse der Bühnentexte bei Goedeke 11,1 (1951), S. 271–275, u. Kosch. – Fragment einer Autobiogr. in Börnes ›Iris‹ (1827), S. 901–903. – Die für 1828 angekündigten hinterlassenen Werke sind wohl nicht erschienen.
Weitere Werke: Unter dem einfachen Himmel. Witten 1959 (L.). – Stadtmitte. Krit. Gänge in Berlin. Bln. 1964. 1997. – Das wirkende Wort. Annäherungen an prominente Protestanten v. Martin Luther bis Jochen Klepper. Lahr/Schwarzwald 1994 (Ess.s).
Literatur: Elisabeth Mentzel: J. J. I. In: ADB. Reinhart Siegert
Literatur: Joachim Günther: J. In: NDH 19 (1972), H. 4, S. 212 ff. – Christian-Erdmann Schott:
41 K. I. In: Wolf-Dieter Hauschild (Hg.): Profile des Luthertums. Gütersloh 1998, S. 337–348. – Gunnar Müller-Waldeck: K. I. u. Jochen Klepper – ein Verleger u. sein Autor. In: Ders.: Literar. Spuren in Greifsw. Greifsw. 1990, S. 125 ff., 149. – HansJoachim Beeskow: ›Er schrieb – an eines andern Statt, der niemals schrieb. Den frage weiter.‹ Bemerkungen zu Leben u. Werk v. K. I. In: FrankLothar Kroll (Hg.): Dt. Autoren des Ostens als Gegner u. Opfer des Nationalsozialismus. Bln. 2000, S. 403–414. Walther Kummerow † / Red.
Ilberg, Werner, * 20.7.1896 Wolfenbüttel, † 30.12.1978 Berlin/DDR. – Erzähler, Lyriker, Essayist u. Literaturkritiker. I., Sohn jüd. Eltern, lernte wie sein Vater Textilkaufmann. Später handelte er mit antiquarischen Büchern u. begann selbst zu schreiben. 1925 trat er der SPD bei, wurde jedoch bald als Kommunist aus der Partei ausgeschlossen. Noch Ende 1932 wurde er Mitgl. des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. 1933 emigrierte er in die CˇSR, wo er sich der KPD anschloss. Vor den Nationalsozialisten flüchtete er nach London u. wurde Mitarbeiter der antifaschistischen Zeitschriften »Das Wort« (Moskau) u. »Freie deutsche Kultur« (London). 1947 nach Wolfenbüttel zurückgekehrt, siedelte I. 1956 in die DDR über u. lebte als freier Autor in OstBerlin. Als bedeutendstes Werk I.s gilt der Roman Die Fahne der Witwe Grasbach (Bln./SBZ 1948), für den er 1935 den zweiten Preis der Büchergilde Gutenberg erhielt. Der Roman beschreibt präzise das Leben in Deutschland unmittelbar vor dem Nationalsozialismus u. stellt I.s polit. Entwicklung dar. Sein literar. Hauptanliegen ist der Kampf gegen den Faschismus. Weitere Werke: Rastlose Jahre. Bln./SBZ 1948 (E.en). – Traum u. Tat. Romain Rolland in seinem Verhältnis zu Dtschld. u. zur Sowjetunion. Halle 1950. – Romain Rolland. Bln./DDR 1951 (Ess.). – Unser Heine. Ebd. 1952 (Ess.). – Die Befreiung aus dem Zuchthaus. Ebd. 1955 (E.). – Der schwere Weg. Leben u. Werk Romain Rollands. Schwerin 1955 (Ess.). – Bernhard Kellermann in seinen Werken. Ebd. 1959 (Biogr.). – Hans Marchwitza. Lpz. 1971 (Bildbiogr.). Literatur: Jonathan Ross: ›Grenzüberschreitungen‹. The Life and Works of W. I. (1896–1978).
Ilg In: Ian Wallace (Hg.): German-speaking Exiles in Great Britain 1 (1999), S. 95–115. Helmut Blazek / Red.
Ilg, Paul, * 14.3.1875 Salenstein/Kt. Thurgau, † 15.6.1957 Uttwil/Kt. Thurgau. – Erzähler, Dramatiker u. Lyriker. Der unehel. Sohn einer Fabrikarbeiterin verbrachte die ersten Lebensjahre auf dem Bauerngut der Großeltern, wurde anschließend Hausierer im Appenzellerland u. versuchte es nach der Absolvierung der Realschule in St. Gallen als Schlosser-, Koch- u. Handelslehrling, bis er Sekretär der Genfer Landesausstellung von 1896 u. 1900 Redakteur bei der »Berliner Woche« wurde. Gefördert durch die exzentr. Dichterin Annemarie von Nathusius, lebte er ab 1904 zunächst in Berlin u. später in Überlingen bzw. in Uttwil als freier Schriftsteller. I. erarbeitete sich seine Bildung autodidaktisch. Unmittelbare literar. Vorbilder waren ihm Zola u. Maupassant, in deren Manier er in seinen gelungensten erzählerischen Texten die eigene schwere Kindheit u. Jugend zu weitgespannten, sozialkritisch relevanten Romanen verarbeitete. Im Mittelpunkt steht dabei die Tetralogie Das Menschlein Matthias (Zürich 1941–43. Gekürzt in einem Bd. 1959), welche die urspr. selbstständigen Teile Das Menschlein Matthias (Stgt. 1913. Bern 1939). Die Brüder Moor (Lpz. 1912), Lebensdrang (Stgt. 1906. Lpz. 1912. 1923) u. Der Landstörtzer (Bln. 1909. Lpz. 1912) umfasst. Das Werk ist letztlich ein negativer Entwicklungsroman, denn Matthias Böhi, das Arbeiterkind, scheitert an den Bedingungen des bürgerl. Lebens u. endet als moderner Landstörtzer, der ruhelos herumwandert u. nur in der Einsamkeit der Natur noch Trost findet. Stark gesellschaftskritisch orientiert war auch I.s Roman Der starke Mann (Frauenfeld 1916. Zürich 1981), eine eindringl. Parabel über das Scheitern eines fanat. Militaristen, die während des Ersten Weltkriegs in der dt. Schweiz als armeefeindlich bekämpft wurde u. den Autor auch seinem an Schweizer Heimatliteratur interessierten dt. Lesepublikum merklich entfremdete. Nach dem Krieg wandte sich I. mit Erfolg sensationellen Stoffen wie der Biografie des
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Schweizer Flugpioniers Oskar Bider (Probus. Zofingen 1922) oder der Chronik einer skandalumwitterten Insel im Genfer See (Sommer auf Salagnon. Ein Filmroman. Bern 1937) zu, erreichte aber die erzählerische Dichte u. Glaubwürdigkeit seines autobiografisch bestimmten Frühwerks nicht wieder. Weitere Werke: Maria Thurnheer. Frauenfeld 1916 (E.). – Der Führer. Lpz. 1918 (D.). – Das Mädchen der Bastille. Zürich 1933 (R.). – Der Erde treu. Zürich 1943 (L.). – Grausames Leben. St. Gallen 1944 (R.). – Der Hecht in der Wasserhose. Arbon 1953 (humorist. E.en). Literatur: Martin Stern: P. I. Nachw. zu ›Der starke Mann‹. Neu hg. v. Charles Linsmayer. In: Edition ›Frühling der Gegenwart‹ Zürich 1981. – Nicolaus Schubert: P. I. In: Uttwil, das Dorf der Dichter u. Maler. Uttwil 1988. – Manfred Bosch: Ein Selfmademan der Lit. Leben u. Werk des Thurgauers P. I. In: Ders.: Bohème am Bodensee. Lengwil 1997, S. 352–357.
Gewissen« u. antwortet auf die »PoliticalCorrectness-Polizei« mit satir. Vorschlägen zur Regelverletzung. Generation Golf zwei (Mchn. 2003) reagiert auf die Anschläge vom 11.9.2001, indem es die Selbstkritik einer Generation verschärft, »die ihr Leben nicht mehr als authentisch empfindet, sondern als ein einziges Zitat«: »Aber wir hatten nicht damit gerechnet, dass die Wirklichkeit wirklicher sein konnte als ›wie im Film‹«. In Ortsgespräch (Mchn. 2006) versucht I. das widersprüchl. Wesen der Provinz zu erfassen, indem er sich im Geburtsort Schlitz mit der eigenen Kindheit konfrontiert. Weiteres Werk: Hg. mit Jörg Bong: Kleines Dt. Wörterbuch. Ffm. 2002. Albert Meier
Imhasly, Pierre, * 14.11.1939 Visp/Kt. Wallis. – Erzähler u. Lyriker, Publizist, Übersetzer.
Charles Linsmayer / Red.
Illies, Florian, * 4. 5. 1971 Schlitz bei Fulda. – Essayist, Kulturjournalist u. Herausgeber. Nach einem Studium der Kunstgeschichte in Bonn u. Oxford war I. ab 1993 als freier Mitarbeiter für die »FAZ« tätig (anfangs im Ressort ›Kunstmarkt‹), in deren Feuilletonredaktion er 1997 eintrat. Ab 1999 verantwortete I. die ›Berliner Seiten‹ der »FAZ« u. übernahm 2001 auch die Leitung des Feuilletons der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung«. Nach dem Ausscheiden aus der »FAZ« (2002/03) begründete er 2004 gemeinsam mit seiner Ehefrau Amélie von Heydebreck die Zeitschrift »Monopol. Magazin für Kunst u. Leben«. Kultstatus als ›Popliterat‹ hat I. mit Generation Golf. Eine Inspektion (Bln. 2000) erlangt. Die mit Reklamefloskeln spielende Reflexion über das Selbstverständnis der »zwischen 1965 und 1975 Geborenen«, die »gut genährt, ansonsten aber völlig orientierungslos« aufgewachsen sind, jedoch »das ironisch Gebrochene bei jeder Handlung« mitdenken müssen, zeigt die Altersgenossen als »ewig infantil« u. narzisstisch. Anleitung zum Unschuldigsein (Bln. 2001) deklariert sich im Untertitel als »Übungsbuch für ein schlechtes
Aufgewachsen u. ansässig im deutschsprachigen Oberwallis, fühlt sich I. stark von der romanischen Kultur angezogen. Nach dem Studium der dt. u. frz. Literatur in Freiburg/ Schweiz u. Zürich hielt er sich längere Zeit in Spanien u. Italien auf. I.s großes Poem Widerpart oder Fuga mit Orgelpunkt vom Schnee (Zürich/Ffm. 1979) setzte den in Erstaunen, der von einem Buch über das von einer plötzl. Modernisierung überrollte Wallis eine weitere bodenständige »Mauleselgeschichte« erwartet hatte. Der kühne, nach musikal. Kompositionsprinzipien strukturierte Text geht von der hymn. Anrufung der Geliebten über in beißende Attacken gegen die Scheinheiligkeit der Mächtigen, die sich z.B. über die den ital. Gastarbeitern zugemuteten Opfer hinwegsetzen. Mit der Lage des Wallis als Grenzland mag zusammenhängen, wenn sich ein reiches Netz fremdsprachl. Anspielungen entfaltet. Viele der Motive tauchen bereits in weniger hermetisch-komprimierter Form im Prosaband Sellerie, Ketch up & Megatonnen (Bern 1970) auf. Von I.s Faszination für den Stierkampf zeugt der reich bebilderte Band Corrida (Bern/Mchn. 1982). I.s umfangreichstes Werk, die an Ezra Pound gemahnende Rhone Saga (Ffm. 1996), reist in einer Kombination disparater Text-
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sorten u. visueller Elemente dem Fluss vom Wallis bis in die Provence nach. Hoher Ton steht neben Alltäglichem, Persönlichstes neben der Kulturkritik. Durchschossen sind alpenländ. Motive mit span. Stierkampfbildern u. fernöstl. Assoziationen; Identität u. Übergänglichkeit lösen einander ab, befeuert immer wieder von subtilen erotischen u. drastischen sexuellen Bildern. Die Begegnungen ermöglichende Kraft von Dichtung wird im Text selbst wiederholt postuliert u. im Rahmen kleiner Porträtvignetten vorgeführt. Während die Vielgestaltigkeit des geografischen u. kulturellen Raumes eindrucksvoll deutlich wird, fehlt dem Text die Zielstrebigkeit, die den realen Fluss auszeichnet (auch dies ein Unterschied zu Hölderlins Flussgedichten). Die folgenden Poeme, Paraíso sí (Ffm. 2000) u. Maithuna/Matterhorn (Ffm. 2005), schließen formal u. inhaltlich an die Rhone Saga an, wobei die Vielzahl der Anspielungen zunehmend schwerer zu entschlüsseln ist. Leni, Nomadin (mit Fotos von Renato Jordan. Ffm. 2001) ist ein dichterisch-fotografisches Porträt einer unzeitgemäßen Alten, deren Alltag u. Erfahrungen einfühlsam vorgestellt u. dramatisch überhöht werden. Katholische Frömmigkeit wird textlich durch griech. Mythen u. fernöstl. Attribute erweitert. Unter den Autoren, deren Bücher I. übersetzte, ist der Französischwalliser Maurice Chappaz zu erwähnen, den I. als seinen literar. Mentor bezeichnet. 1983 erhielt I. den Staatspreis des Kantons Wallis. Dominik Müller / Christophe Fricker
Immermann, Karl (Leberecht), * 24.4. 1796 Magdeburg, † 25.8.1840 Düsseldorf; Grabstätte: ebd., Golzheimer Friedhof. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Essayist, Kritiker. Der Sohn eines Kriegs- u. Domänenrats war von Beruf Jurist u. in dieser Eigenschaft tätig in Magdeburg (1818/19 u. 1824–1827), Münster (1819–1824) u. seit 1827 als Landgerichtsrat in Düsseldorf. Während des – durch die Schließung der Universität HalleWittenberg 1813 u. die Teilnahme an den Befreiungskriegen 1815 unterbrochenen –
Studiums trat I. 1817 zum ersten Mal mit Streitschriften gegen die Burschenschaft »Teutonia« publizistisch an die Öffentlichkeit. In die Münsteraner Zeit fallen seine ersten dramat., lyr. u. epischen Versuche (Die Prinzen von Syrakus. Hamm 1821. Trauerspiele. Ebd. 1822. Gedichte. Ebd. 1822. Die Papierfenster eines Eremiten. Ebd. 1822) sowie der Beginn (1822) der langjährigen Freundschaft mit Elisa von Ahlefeldt(-Lützow). In Düsseldorf unterhielt I. enge Beziehungen zu Wilhelm Schadow u. den Schülern der Düsseldorfer Kunstakademie, Beziehungen, die in seiner Biografie wie im literar. Werk ihre Spuren hinterließen. Er stand in z.T. freundschaftl. Verbindung mit namhaften Zeitgenossen wie Heine, Grabbe, Tieck, Varnhagen, Fouqué, Eckermann, Goethe, Friedrich von Müller, Gutzkow, Laube, Halm, Freiligrath, Brockhaus, Campe u. Cotta. Besondere Nähe verband ihn mit Amalie von Sybel, Michael Beer, Felix Mendelssohn-Bartholdy, Karl Schnaase, Friedrich von Uechtritz u. mit Marianne Niemeyer (Heirat 1839). Die Lyrik I.s sowie seine 16 Dramen verraten den Einfluss der Antike, Shakespeares, Goethes, Schillers u. der Romantik. Selbst mit den von ihm als bes. wichtig angesehenen Dramen hatte er nur wenig Erfolg: mit Das Trauerspiel in Tyrol (Hbg. 1828. Umgearbeitet u. d. T. Andreas Hofer, der Sandwirt von Passeyer. Düsseld. 1835; Bd. 3 der 14 Bde. umfassenden Schriften), mit der Tragödie Alexis (Düsseld. 1832), die den Vater-Sohn-Konflikt zwischen Zar Peter I. u. dessen Sohn Alexis thematisiert, u. mit der »Mythe« Merlin (Düsseld. 1832), in der I. im Gewand des Sagenstoffs aus dem Artuskreis auch Spannungen u. Gegensätze in seiner eigenen Person u. seiner Gegenwart spiegelt. In seinen Lustspielen (z.B. Das Auge der Liebe. Hamm 1824. Die Verkleidungen. Hbg. 1828. Die Schule der Frommen. Stgt. 1829) gelingt es I., überzeugende kom. Effekte u. Figuren zu gestalten. Erfolgreicher betätigte sich I. als Theaterleiter: Er gründete das Düsseldorfer Stadttheater u. entwickelte diese Bühne in den Jahren 1834–1837 zu einer Musteranstalt, die in ganz Deutschland Bewunderung u. Anerkennung fand. I. legte (mit dem Prinzip der
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Werktreue) bes. Wert auf mustergültige Inszenierungen klass. Dramen u. bewirkte durch intensive Probenarbeit einen für die Zeit beispielhaften Darstellungsstil. Während I. bestrebt war, sich einen Namen als Dramatiker zu machen, schätzte er seine Prosaarbeiten weniger hoch ein. Gerade aber auf den Gebieten der humoristisch-satir. Erzählung, des zeitkrit. Romans u. der autobiogr. Prosa kommt I. bes. Bedeutung zu. Vor allem seine beiden großen Zeitromane Die Epigonen (3 Tle., Düsseld. 1836) u. Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken (4 Tle., Düsseld. 1838/39), vorbereitet durch den in Thema u. Stil noch unfertigen, in Goethe’scher u. romant. Tradition stehenden Roman Die Papierfenster eines Eremiten, die Erzählungen (Der neue Pygmalion. In: Taschenbuch zum geselligen Vergnügen, 1825. Der Carnaval und die Somnambüle. In: Miscellen. Stgt./Tüb. 1830) u. vor allem das kleine Meisterwerk Tulifäntchen (Hbg. 1830), eine Parodie auf das große Heldenepos u. Satire auf die Zeit um 1830, bei dem Heine an der äußeren Form bessernd mitwirkte, weisen I. als krit. Beobachter u. Analytiker seiner Zeit aus, dessen Thematik u. Romankonzeption noch weit in das 19. Jh. ausstrahlen sollten. In den Epigonen wird, äußerlich noch mit den Mitteln des Bildungsromans nach Art des Wilhelm Meister, ein Bild der Gesellschaft der 20er u. 30er Jahre des 19. Jh. entworfen. Schwerpunkte sind dabei bestimmte Formen des Adels, der eher von der Tradition lebt, als notwendige polit. Aufgaben der Gegenwart in Angriff zu nehmen, u. des Bürgertums mit der zeittypischen Präponderanz des sich entfaltenden Unternehmertums, dessen Ziele u. Bestrebungen von I. sehr skeptisch beurteilt werden. Andere Aspekte des Zeitbilds der Epigonen bilden die Schul- u. Erziehungsfragen, die studentischen Umtriebe der 1820er Jahre mit den entsprechenden staatl. Gegenmaßnahmen u. bestimmte Kunstrichtungen der Zeit. I. lastete der Gegenwart an, keine originellen vorausweisenden Leistungen zu vollbringen, in vieler Hinsicht nur epigonal vom Erbe früherer Zeiten zu zehren: »Unsere Zeit [...] krankt an einem gewißen geistigen Überfluße. Die Erbschaft ihres Erwerbes liegt zu leichtem Antritte uns bereit; in diesem
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Sinne sind wir Epigonen. Daraus ist ein ganz eigenthümliches Siechthum entstanden, welches durch alle Verhältniße hindurch darzustellen, die Aufgabe meiner Arbeit [der Epigonen] ist« (24.4.1830). Der Protagonist Hermann, der den Zeitgeist repräsentiert u. an sich typische Krankheitssymptome der Zeit erfährt, findet am Schluss eine angemessene Lebensaufgabe. I.s überwiegend pessimistische Zeit- u. Gesellschaftsanalyse lässt also letztlich doch noch eine positive Weiterentwicklung der Zeitproblematik zu. I.s zweiter Zeitroman, Münchhausen, besteht aus zwei Teilen, die miteinander verflochten sind: den Geschichten von u. um Münchhausen u. den Begebenheiten, die im Umfeld des Oberhofs, eines großen Gutshofs in Westfalen, angesiedelt sind. In die Geschichten um Münchhausen sind in vielfältiger Weise in der Form von Arabesken krit. u. satir. Darstellungen problemat. Erscheinungen der Gegenwart I.s eingefügt. Zeitgenossen wie Pückler-Muskau, Gans, Raupach, Raumer, Vertreter des Jungen Deutschland u. andere werden angegriffen u. satirisch bloßgestellt, Strömungen u. Tendenzen der Gegenwart in Wirtschaft, Politik, Medizin, Literaturbetrieb u. Kunst werden teils kritisiert, teils lächerlich gemacht. Dieser von I. als negativ aufgefassten Wirklichkeit steht die Welt des Oberhofs kontrastiv gegenüber. Mit der Darstellung der bäuerl., in sich gefestigten Welt Westfalens gestaltet I. im Gegensatz zu dem »Schwindelgeist« der MünchhausenGeschichten lebensbejahende u. dauerhafte Werte. Im Prinzip greift I. damit die Problematik der Epigonen erneut auf, nur setzt er die Akzente anders: Die satir. Elemente werden verstärkt, ebenso die Gestaltung der positiven Gegenwelt, die in den Epigonen nur andeutungsweise zur Geltung kam, was bereits I.s Zeitgenossen als Mangel empfanden. Freilich rechtfertigt die auf traditionellen Werten basierende Darstellung der Oberhofwelt nicht die separate Publikation dieses Romanteils, die im 19. u. 20. Jh. aus ideolog. Gründen häufig vorgenommen wurde. In den letzten Jahren seines Lebens verfolgte I. die Absicht, seine Memoiren, geschichtl. Beobachtungen u. Erfahrungen über das Theater in Deutschland u. bes. in Düs-
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seldorf zu veröffentlichen. Von den umfangreichen Plänen dazu wurden verwirklicht: Grabbe. Erzählung. Charakteristik. Briefe (in: Franks Taschenbuch dramatischer Originalien, 1838), Die Jugend vor fünfundzwanzig Jahren (1. Bd. der Memorabilien. Hbg. 1840) u. Düsseldorfer Anfänge. Maskengespräche (in: Deutsche Pandora, 1840). Die Jugend vor fünfundzwanzig Jahren enthält die Darstellung der Zeitgeschichte in Verbindung mit biogr. Aspekten, ein innerhalb der Geschichte der Autobiografie interessantes Konzept, während die Düsseldorfer Anfänge teils theatergeschichtl., teils biogr. Elemente miteinander verflochten schildern. – Zu I.s autobiogr. Schriften gehören auch seine Tagebücher, von denen die zur Theatergeschichte Düsseldorfs neben den Reisetagebüchern, in denen sich I. als Kunstkenner seiner Zeit u. der Tradition erweist, bes. hervorzuheben sind. Weitere Werke: Werke in 5 Bdn. Hg. Benno v. Wiese. Ffm. 1971–78. – Briefe. Textkrit. u. komm. Ausg. in 3 Bdn. Hg. Peter Hasubek. Mchn. 1978–87. – Zwischen Poesie u. Wirklichkeit. Tagebücher 1831–40. Hg. ders. Mchn. 1984. Literatur: Harry Maync: I. Der Mann u. sein Werk. Mchn. 1921. – Manfred Windfuhr: I.s erzähler. Werk. Gießen 1957. – B. v. Wiese: K. I. Sein Werk u. sein Leben. Bad Homburg u. a. 1969. – Sengle 3, S. 815–887. – P. Hasubek (Hg.): Epigonentum u. Originalität. I. u. seine Zeit – I. u. seine Folgen. Ffm. 1997. – Markus Fauser: Intertextualität als Poetik des Epigonalen. I.-Studien. Mchn. 1999. – P. Hasubek u. Gert Vonhoff (Hg.): I.-Jb. Beiträge zur Lit.- u. Kulturgesch. zwischen 1815 u. 1840. Ffm. 1 ff. (2000 ff.). – P. Hasubek: ›Ein Lieblingsbuch des dt. Volkes‹. I.s ›Münchhausen‹ u. der ›Oberhof‹. 150 Jahre Editions- u. Rezeptionsgesch. Bielef. 2004. Peter Hasubek
Immessen, Arnold, urkundlich erwähnt 1483 u. 1486. – Verfasser eines mittelniederdeutschen geistlichen Spiels. I. ist einer der wenigen namentlich bekannten Autoren eines mittelalterl. geistl. Schauspiels. Er nennt sich selbst in einem Akrostichon zu Beginn des Wolfenbütteler Sündenfalls, einer umfangreichen dramat. Behandlung der Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zur Darstellung der dreijährigen Maria im Tempel unter dem Aspekt der Er-
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lösung des Menschen, einem Spiel, das in der Tradition des mittelalterl. dt. Theaters weitgehend isoliert steht. Zwei urkundl. Erwähnungen eines I. (1483, 1486) verweisen auf Einbeck u. Alfeld als mögl. Heimat des Dichters; die sprachl. Analyse des Textbestands ordnet das Spiel dem GöttingischGrubenhagenschen Gebiet mit engerer Festlegung auf wiederum Einbeck u. Alfeld (Krage) oder aber Goslar zu (Hohnbaum, mit wesentl. Argumenten gegen Einbeck). Die einzige erhaltene Handschrift des Spiels wurde nicht von I. selbst angefertigt, sondern von dem Goslarer Schreiber Johannes Bokenem, dessen Namen der Schlussvermerk überliefert. Außer ihm lassen sich noch wenigstens zwei weitere Hände nachweisen, die an der Herstellung der Abschrift von I.s Spieltext beteiligt waren. Wie viele andere Handschriften mittelalterl. geistl. Spiele wurde auch dieser Codex vermutlich zu Lesezwecken angefertigt, doch repräsentiert er mit Sicherheit einen für eine Aufführung verfassten Text. Das im späten 15. Jh. entstandene Spiel gehört mit 3962 Versen zu den umfangreichsten religiösen Dramen des dt. MA. Es beginnt mit einer Vorrede des Verfassers, die – da der Autor anschließend das Wort an den Praelocutor übergibt u. auf den Aufführungsort verweist (»wy [...] sint gesamet up dussem plane«, v. 65) – vermuten lässt, dass I. selbst bei der Aufführung mitgewirkt hat. Nach einführenden Worten des Praelocutor über die »materie« des Spiels (Erschaffung des Menschen, Sündenfall, Vertreibung aus dem Paradies, Bemühungen der Propheten u. Gottes um die Wiedererlangung des Ewigen Lebens für die Menschen, Erfüllung dieses Ziels durch die fünf Wunden Christi) beginnt mit der Anbetung des Creator durch die Engel u. dem Sturz Luzifers ein weitaus umfangreicheres Spiel, als die Eingangsworte erwarten ließen. Durchsetzt von lat. Zitaten u. Gesängen werden im folgenden die Erschaffung Adams u. Evas, ihre Einführung ins Paradies, der Sündenfall – bei dem, ganz ungewöhnlich, Luzifer selbst die Rolle des Verführers als »serpens in specie virginis« übernimmt – u. verschiedene, teils präfigurativ gedeutete »Szenen« aus dem AT vorge-
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stellt (das Opfer Kains u. Abels, der Bruder- 1855. – Der Sündenfall. Hg. Friedrich Krage. Heimord, Seths Gang zum Paradies, Adams Tod, delb. 1913. Literatur: Carl Klimke: Das volkstüml. ParaBegräbnis u. Höllenfahrt; die Arche Noah, Sintflut u. Noahs Tod; Abrahams u. Melchi- diesspiel u. seine mittelalterl. Grundlagen. Breslau sedechs Opfer). Im anschließenden Prophe- 1902. – Wilhelm Hohnbaum: Untersuchungen tenspiel beraten zunächst David, Jesaias, Jer- zum ›Wolfenbütteler Sündenfall‹. Diss. Marburg 1912. – Friedrich Krage: Vorarbeiten zu einer emias u. Ezechiel über die Erlösung, kommen Neuausg. v. A. I. ›Der Sündenfall‹. Heidelb. 1912. – aber zu keinem Ergebnis. Sie wenden sich an Toni Weber: Die Praefigurationen im geistl. Drama Salomo, der die übrigen Propheten u. die Deutschlands. Diss. Marburg 1919, S. 22 f. – Gustav zwölf Sibyllen zu einem sehr plastisch aus- Rosenhagen: Die Wolfenbütteler Spiele u. das Spiel gestalteten Gastmahl einlädt, in dessen An- des A. v. I. In: FS Conrad Borchling. Neumünster schluss sie ihre Weissagungen auf Christus 1932, S. 78–90. – Ludwig Wolff: A. I. Einbeck 1964. vortragen. Mit einem Gang dreier Propheten – Willy Krogmann: A. I. In: Einbecker Jb. 27 (1966), zum Creator, wie Gottvater bei I. durchgän- S. 108–116. – Adalbert Elschenbroich: A. I. In: gig bezeichnet wird, der Vertröstung ihrer NDB. – Brian Murdoch: A. I. In: VL. – Rolf BergErlösungshoffnungen auf eine spätere Zeit u. mann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. einer Klage Adams »de profundis« endet der Bernd Neumann / Red. alttestamentar. Teil des Spiels. In einem letzten Handlungskomplex behandelt I. die Geschichte von Anna u. Joachim, verbunden Inglin, Meinrad, * 28.7.1893 Schwyz, mit weiteren Bittgängen Davids zu Gott, † 4.12.1971 Schwyz. – Erzähler, RomanKlagen Adams u. der schließl. Verheißung schriftsteller. der göttl. Gnade, die sich in der Geburt Marias manifestieren werde. Eingebunden in die I.s Vater war Uhrmacher u. Goldschmied, die Handlung hat I. dabei den Streit zwischen Mutter, Josephine Eberle, entstammte einer Iustitia u. Misericordia, die auch aus anderen erfolgreichen Hoteliersfamilie. Kindheit u. Spielen bekannte »litigatio sororum«. Mit Jugend waren überschattet durch schwere der Darstellung der dreijährigen Maria im Schicksalsschläge – der Vater verunglückte Tempel, einem Schlusswort Davids u. einem 1906, die Mutter erlag 1910 einem heimtück. gemeinsamen Lobgesang auf Maria endet das Leiden – sowie durch eine lange vergebl. SuSpiel. che nach einem gangbaren Lebens- u. BeDie Vielzahl lat. Zitate im Text, Rückbe- rufsweg. I. besuchte die Mittelschule in ziehungen auf Augustinus, die Einbringung Schwyz, versuchte es in Luzern mit einer der Seth-Episode unter Verwendung einer Uhrmacherlehre, kehrte reumütig an die mittelniederländ. Vorlage (Dat boec van den Mittelschule zurück, um bald erneut auszuhoute), Kenntnis der Opuscula des Philippus de brechen u. als Kellner nach Caux bzw. Luzern Barberiis wie auch die Aufnahme lat. Hym- zu ziehen. Bereits als Uhrmacherlehrling nen u. anderer liturg. Gesänge machen hatte er 1909 in einer Lokalzeitung erstmals wahrscheinlich, dass I. dem geistl. Stand an- eine Erzählung publiziert u. in der Folge gehörte. Daneben erweist er sich aber zgl. als immer wieder durch kurze Texte u. Gedichte geschickter Dramatiker, der die einzelnen auf seine erwachende Begabung aufmerksam »Szenen« bis ins Detail formal wie argu- gemacht. Auf Anraten eines verständnisvolmentativ klug zu verknüpfen wusste u. auch len ehem. Lehrers brach er im Herbst 1911 die der Sprache u. Metrik seines Stücks große Kellnerlaufbahn ab u. kehrte ein drittes Mal Aufmerksamkeit schenkte – so sind z.B. die ans Kollegium Schwyz zurück: diesmal in die Reden aller auftretenden Personen bis auf humanistische Abteilung u. mit der festen drei Ausnahmen konsequent durch Reim- Absicht, Schriftsteller zu werden. Seinen Lebensweg bis zur endgültigen Berufswahl hat brechung miteinander verbunden. Ausgaben: Der Sündenfall u. die Marienklage. I. in seinem späten Roman Werner Amberg Zwei niederdt. Schausp.e aus Hss. der Wolfen- (Zürich 1949) sehr anschaulich u. nur wenig büttler Bibl. Hg. Otto Schönemann. Hanover [sic] verfremdet dargestellt. Nach dem Besuch der
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Rekruten- bzw. Unteroffiziersschule immatrikulierte sich I. 1913 ohne Matura an der Universität Neuenburg u. studierte dort, in Genf u. zuletzt in Bern moderne Sprachen, dt. Literatur, Journalistik u. Psychologie (bei Häberlin, dessen welt- u. staatsbejahende positive Ethik ihn nachhaltig beeinflusste). Den Ersten Weltkrieg erlebte I., der aus aristokratischer Neigung mit Begeisterung Offizier war, zunächst als »Steigerung des Bewußtseins«, dann aber, in der zermürbenden Tatenlosigkeit der bloßen Grenzbesetzung, als frustrierendes Trauma. Außer journalistischen Arbeiten für das »Berner Intelligenzblatt« entstanden während des Kriegs zwei erste größere Prosawerke: der Nietzsche verpflichtete aristokratische Künstler- u. Entwicklungsroman Rudolf von Markwald (unveröffentl.) u. die expressionistische, gegen die schweizerische Enge u. Spießbürgerlichkeit gerichtete Utopie Phantasus (in: Martin Stern: Expressionismus in der Schweiz. Bd. 1, Bern 1981, S. 36–91). Nach einem erfolglosen Versuch als Dramatiker (Der Abtrünnige. 1917; ungedr.) gelang I. ein eigentl. Debüt erst 1922, als die Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart den Roman Die Welt in Ingoldau (2., veränderte Fassung. Lpz. 1943. 3., veränderte Fassung. Zürich 1964) herausbrachte. Geschildert werden darin die Schwierigkeiten u. Nöte einer Gruppe pubertierender Jugendlicher in einem von moralischer u. religiöser Repression bestimmten schweizerischen Landstädtchen. Im Mittelpunkt steht der abtrünnige Priester Anton Reichlin, der in seinen Ideen u. mit seinem pädagog. Engagement eine freiere, offenere Gesellschaft antizipiert. Das Buch begründete I.s Ruhm als Erzähler, führte aber in Schwyz, wo er nach Aufenthalten in Zürich u. Berlin, seit 1939 verheiratet mit Bettina Zweifel, bis zu seinem Tod lebte, zu einem Skandal. So vermied er es danach – mit Ausnahme etwa des Romans Urwang (Zürich 1954), dem epischen Abgesang auf ein in einem Stausee ertränktes Bergtal – fast immer, als Autor zu aktuellen polit. oder sozialen Fragen Stellung zu nehmen. Wendel von Euw (Stgt. 1925), I.s nächster Roman, stellt dar, wie ein nach bürgerl. Vorstellungen gescheiterter Intellektueller bei der Heimkehr in sein
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Heimatdorf auf Feindschaft u. Ablehnung stößt. Er flieht wieder hinaus in die Welt u. findet zusammen mit einer jungen Frau in der Einsamkeit der Ostseelandschaft zu sich selbst. Formal ausgereifter als dieser Roman, wenn auch etwas gekünstelt in seiner klassizistischen Diktion, wirkt die Erzählung Über den Wassern (Zürich 1925. Neu bearb. in: Güldramont. Lpz. 1943. Bamberg 1948. Zürich 1968): Ein junger Dichter tritt während eines idyllischen Sommers auf einer Alp mit einer mythisierten Fauna u. Flora in Kontakt u. verherrlicht die alpine Natur in antikisierendem Tonfall als Zuflucht u. Alternative zur modernen Zivilisation. Gegen die Zivilisation gerichtet ist im Grunde auch der Roman Grand Hotel Excelsior (Zürich 1928), der I.s Kenntnisse als Nachkomme einer Hoteliersdynastie bzw. seine Erfahrungen als Kellner literarisch nutzbar macht. Das Hotel stellt eine rein merkantile, auf Profit ausgerichtete Scheinwelt dar, der sich Gäste u. Angestellte fraglos einfügen, bis der Palast unversehens in Flammen steht u. die soziale Hierarchie im Taumel des Untergangs auf anarchischdionys. Weise zusammenbricht. Der Brand ist von Peter Siegwart, dem Bruder des Direktors, gelegt worden, der auf diese Weise die Landschaft vom Makel des touristischen Schandmals befreien will. I. hat sich später von diesem v. a. stofflich interessanten Roman distanziert. Was I.s Hotelroman gleichsam an einem abschreckenden Beispiel evozierte, brachten der Essay Lob der Heimat (Horgen 1928. Neuausg. in: Notizen des Jägers. Zürich 1973. 1991) u. der Erzählzyklus Jugend eines Volkes (Horw 1933. Lpz. 1939. Neufassung Zürich 1948) affirmativ zum Ausdruck: die Zuwendung zur »ursprunghaften«, in ihrem Kern bäuerl. Schweiz als idealer Gegenwelt zu den Bedrohungen der Zivilisation. Während Lob der Heimat mit seinem nationalen Pathos u. seiner »völkischen« Wortwahl einen extrem einseitigen, von I. bald wieder preisgegebenen Standpunkt kennzeichnet, überzeugt Jugend eines Volkes in ihren besten Partien – z.B. in der Darstellung Wilhelm Tells – zumindest von den erzählerischen Qualitäten her. Der Text erlangte im Zeitalter der sog. geistigen Landesverteidigung erhöhte Bedeutung u.
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wurde auch ins Französische u. Italienische übersetzt. Als eine Art resignierender Abgesang auf das gleiche Thema liest sich Ehrenhafter Untergang (Zürich 1952), die epische Gestaltung des Untergangs der patriz. Eidgenossenschaft unter dem Vordringen der Armee Napoleons. Der Durchbruch zur Anerkennung in Deutschland gelang I. 1935 mit dem Roman Die graue March, den sein neuer Verleger Staackmann in Leipzig herausbrachte (Neufassung Zürich 1956). Das Geschehen ist in einem abgelegenen Waldtal angesiedelt u. führt dem Leser den harten tägl. Existenzkampf vor Augen, dem nicht nur die Tiere des Waldes, sondern auch die bäuerl., diesmal in keiner Weise idealisierten Menschen ausgesetzt sind. Das Buch, das zuerst Menschen und Tiere hätte heißen sollen, stellt sowohl kompositions- als auch stimmungsmäßig u. von der sprachl. Ausformung her I.s geschlossenste literar. Leistung dar. Seit 1917 bereits beabsichtigte I., die schweizerische Geschichte der Jahre 1914 bis 1918, die er als Zeitzeuge bewusst miterlebt hatte, romanhaft zu gestalten. Im Dez. 1931 begann er mit der Niederschrift, im Juni 1938 war das Werk beendet u. erschien noch im gleichen Herbst in Leipzig unter dem an Gotthelfs Bauernspiegel erinnernden Titel Schweizerspiegel (Neufassung Zürich 1955. Bln. 1998). Unter Verwendung eigener Tagebuchaufzeichnungen u. Notizen lässt I. die für die Schweiz entscheidenden Jahre der Grenzbesetzung u. des Generalstreiks sich in den Erfahrungen, Reaktionen u. Vorstellungen der Mitglieder einer einzigen Familie spiegeln: derjenigen des liberalen Nationalrats Ammann, dessen Tochter u. drei Söhne völlig unterschiedl. Wege gehen. Während Gertrud durch ihre Scheidung von einem ehrgeizigen Offizier u. ihre Zuwendung zu einem sensiblen jungen Dichter gegen die bürgerl. Moralvorstellungen rebelliert, verkörpern Severin, Paul u. Fred Ammann der Reihe nach den Typus des engstirnigen Konservativen, des zum Anarchismus, dann zu den Zielen des Sozialismus neigenden, aber schließlich resignierenden Intellektuellen u. des idealistischen Patrioten, der die Zukunft in einer Erneuerung des Bauernstands sieht.
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Obwohl das Werk in vielem Leonhard Ragaz’ skept. Programm einer Neuen Schweiz (1917) verpflichtet ist, wirkt es in seiner bürgerl. Grundtendenz dennoch weit weniger pessimistisch als Jakob Bossharts die gleiche Epoche behandelnder Rufer in der Wüste (1924) u. gipfelt in der moderaten Erkenntnis, dass die Schweiz »ein Land für reife Leute« sei u. dass allein der »vorzeitige Gefechtsabbruch«, d.h. der demokratische Kompromiss, ihr Überleben garantiere. Im Gefolge dieses epischen Großwerks, mit dem I. laut Zollinger »das Schweizer Schrifttum international legitimierte«, verstärkten sich in seinem Schaffen nicht nur ideologisch, sondern auch formal die konservativen, traditionalistischen Tendenzen u. arbeitete er mehrere frühere Werke in einem klassizistischen, aber auch verharmlosenden Sinne um. Sein Bestes gab I. nun in meisterhaften kurzen Erzählungen wie der um das Vater-Sohn-Thema kreisenden Novelle Die Furggel (in: Güldramont. a. a. O.), der anarch. Bauernerzählung Der schwarze Tanner (in: Die Lawine. Zürich 1947. 1998. Eigenständig veröffentlicht 1975. 3 2006) oder in der an Mark Twains Huckleberry Finn gemahnenden Vagabundengeschichte Begräbnis eines Schirmflickers (in: Verhexte Welt. Geschichten und Märchen. Zürich 1958. 1970). Weitere Werke Besuch aus dem Jenseits u. a. E.en. Zürich 1961. – Erlenbüel. Ebd. 1965 (R). – Erzählungen I. Ebd. 1968. – Erzählungen II. Ebd. 1970. – Notizen des Jägers. Aufsätze u. Aufzeichnungen. Ebd. 1973. – Werkausgaben: Ges. Werke in 8 Bdn. Hg. Beatrice v. Matt. Ebd. 1981. – Ges. Werke in 10 Bdn. Hg. Georg Schoeck. Zürich 1986 ff. – Die schönsten E.en. Hg. G. Schoeck. Ebd. 1993. – Erinnerungen an die internierten Polen in der Schweiz. Hg. u. komm. v. Marzena Górecka. Freib. (Schweiz) 2002. Literatur: Egon Wilhelm: M. I. Weite u. Begrenzung. Zürich 1957. – Beatrice v. Matt: M. I. Eine Biogr. Zürich 1976. – Daniel Annen: M. I. (1893–1971). Sinnverdunkelung u. Gnadenlicht – im Vertrauen auf den allerhöchsten Schöpfer. In: Joseph Bättig u. Stephan Leimgruber (Hg.): Grenzfall Lit. Die Sinnfrage in der modernen Lit. der viersprachigen Schweiz. Freib. (Schweiz) 1993, S. 121–146. – Elisabeth Schoeck-Grüebler: M. I. – seine Welt in Bildern. Hg. v. der M.-I.-Stiftung. Schwyz 1993. – Esther Schneider-Handschin: Kakanien im Schweizerhaus? Zu Robert Musils ›Mann
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49 ohne Eigenschaften‹ u. M. I.s ›Schweizerspiegel‹. In: MAL 30 (1997), H. 3/4, S. 144–157. – Joseph Bättig: M. I. (1893–1971), Josef Vital Kopp (1906–1966). Tradition u. Aufbruch im Spannungsfeld zweier Wegbereiter der literar. Frühmoderne in der Zentralschweiz. Luzern 1999. – Christian Jehle: La Suisse de l’entre-deux-guerres: quelle patrie pour ses écrivains? Étude des aspects littéraires et historiques à l’appui des œuvres de Robert Walser, M. I. et Friedrich Glauser. Villeneuve d’Ascq 2002. – Johann Ulrich Schlegel: M. I. Der schweizer. Klassiker des 20. Jh. In: Schweizer Monatshefte 82 (2002), H. 7/8, S. 57–60. – Marzena Górecka: Tendenzen der Innerlichkeit in der deutschschweizer Lit. der Zwischenkriegszeit. Studien zu M. I. u. Albin Zollinger. Lublin 2006. Charles Linsmayer / Red.
Meister Ingold, † zwischen 1440 u. 1450. – Dominikanerprediger; Autor eines allegorischen Predigtzyklus.
guren des Schachspiels in moralisierenddidakt. Absicht allegorisch ausgedeutet werden. I. vergleicht die sieben Hauptsünden mit den sieben »goldenen« Spielen (Schachspiel, Tric-Trac, Kartenspiel, Würfelspiel, Schießen, Tanzen, Saitenspiel). Mehr als die Hälfte des Umfangs nimmt allein die Auslegung des Schachspiels ein, was sich wohl auch aus der Quellenlage erklärt, konnte sich I. dabei doch auf eine breite literar. Tradition stützen, v. a. auf Konrads von Ammenhausen dt. Versbearbeitung von Jacobus de Cessolis Schachzabelbuch von 1337, die er selbst nennt. Weitere nachweisbare Quellen sind Johannes Herolts De eruditione christfidelium, Johannes’ von Rheinfelden Ludus cartularum moralisatus u. der Traktat Was schaden tantzen bringt. Die moralisierenden Auslegungen der Spiele nach scholast. Schematik sind mit vielerlei Beispielerzählungen durchsetzt, die der Bibel, der patrist. u. der Fabelliteratur, aber auch der mhd. Epik (z.B. Baumgartenszene des Tristan) entnommen sind. Noch die Narrenschiffpredigten Geilers von Kaysersberg von 1510 führten die Entwicklungslinie dieser allegorisch-didakt. Predigtzyklen weiter.
Der am Schluss des Guldîn spil als Verfasser genannte »priester predigerordens mayster Ingold« ist wohl mit dem Dominikaner Ingold Wild identisch, der 1400 auf Anordnung des Ulmer Provinzialkapitels in Mailand sein Studium aufnahm, 1405 u. 1415 in Basel beAusgaben: Das Goldene Spiel. Hg. Edward zeugt ist, 1416 in einer Wiener Immatriku- Schröder. Straßb. 1882. lationsurkunde erscheint u. 1427 im Basler Literatur: Lucian Pfleger: Zur Gesch. des PreKonvent erstmals als »magister Ingoldus« digtwesens in Straßburg vor Geiler v. Kaysersberg. erwähnt wird. Da sich Basel der strengen Straßb. 1907, S. 27–30. – Wolfgang Heinemann: Ordensobservanz anschloss, ging I. 1429 nach Zur Ständedidaxe in den dt. Dichtungen des MA. 2. Straßburg, wo er offenbar eine Schlosska- Tl. In: PBB (Halle) 89 (1967), S. 290–403, hier planstelle innehatte, 1432 Lesemeister wurde S. 329–332. – Barbara Weinmayer: Studien zur Gebrauchssituation früher dt. Druckprosa. Mchn./ u. bis zu seinem Tod als Prediger wirkte. Zürich 1982, S. 29–36. – Hellmut Rosenfeld: M. I. Drei Predigten I.s (über Lk 11, 5–13; Mt 22, In: VL. Norbert H. Ott / Red. 42 u. über sieben Paternoster) sind dt. überliefert; Exzerpte des Johannes Streler von 1442 aus 20 weiteren Predigten lassen erIngold, Felix Philipp, * 25.7.1942 Basel. – kennen, dass die deutschsprachige MündErzähler, Lyriker, Essayist, Übersetzer. lichkeit der Predigten auf lat. Konzepten beruht. Auch sein 1432 entstandenes Haupt- I., Sohn eines techn. Angestellten, studierte werk, das Guldîn spil (Goldenes Spiel), in sie- seit 1961 Vergleichende Literaturwissenben Handschriften u. einem Druck des 15. Jh. schaft, Slawistik, Philosophie u. Kunstgeüberliefert, geht – als Niederschrift seiner schichte in Basel u. Paris. 1965/66 war er als Hörer – auf einen Predigtzyklus über die Dolmetscher an der Schweizer Botschaft in sieben Todsünden zurück, den I. als Schloss- Moskau tätig. Nach der Promotion 1968 (Inkaplan in Straßburg hielt. Das Werk steht in nokentij Annenskij. Sein Beitrag zur Poetik des der Nachfolge der seit dem 13. Jh. in ver- russischen Symbolismus. Bern 1970) trat er als schiedenen volkssprachl. Fassungen tradier- Publizist, Übersetzer u. Journalist hervor. Ab ten sog. Schachzabelbücher, in denen die Fi- 1971 war I. als a. o., von 1988 bis zur Emeri-
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tierung 2005 als o. Prof. für Kultur- u. Sozi- zählung Der Bau entwirft, tritt hier eine poalgeschichte Russlands an der Hochschule St. sitiv bewertete Offenheit u. Pluralität: »Wir Gallen tätig; daneben lehrte er an der Eidge- werden nicht mehr linear und also nicht mehr kausal oder historisch denken, sondern in nössischen Technischen Hochschule Zürich. I.s umfangreiches u. vielseitiges Œuvre, das Schlingen, die sich in sich selbst verschlinfast alle literar. Textsorten sowie Essays, li- gen.« Für seine Übersetzung von Edmond Jabès’ teraturwissenschaftl. Abhandlungen u. journalistische Beiträge umfasst, kennzeichnet Vom Buch zum Buch (Mchn. 1989) erhielt I. den insg. die krit. Auseinandersetzung mit den Petrarca-Preis; für sein literar. Werk wurden traditionellen Konzepten von Autorschaft, ihm u. a. der Große Literaturpreis des Kanliterar. Werk u. sprachl. Repräsentation: tons Bern (1998), der »manuskripte«-Preis »Jegliche Rede erweist sich [...] als ein Strom (2001) u. der Ernst-Jandl-Preis für Lyrik von Zitaten, jeglicher Text als ein Kompilat, (2003) verliehen. und der Autor bleibt verwiesen auf die Rolle Weitere Werke: Schwarz auf Schnee. 58 Gedessen, der das je schon Gesagte, Geschrie- dichte. Zürich 1967. – Leben Lamberts. Zürich/ bene sammelt, ordnet, neu ›vereinigt‹ [...].« Ffm. 1980 (P.). – Unzeit. Gedichte. Stgt. 1981. – Der I.s Haupts Werk. Das Leben (Mchn./Wien 1984) Autor am Werk. Essays. Mchn./Wien 1992. – Freie kann als beispielhafte Umsetzung dieser Hand. Ein Vademecum durch poet., krit. u. private postmodernen Ästhetik gelesen werden. Die Wälder. Mchn./Wien 1996. – Zeichensatz. Gedichte zu Schildern. Münster 1997. – Auf den Tag genaue facettenreiche Konstellation von theoret. Gedichte. Graz 2000. – Im Namen des Autors. ArFragmenten, Gedichten, essayistischen Tex- beiten für die Kunst u. Lit. Mchn. 2004. – Tagesten, poetolog. Exkursen usf. verweigert jeden form. Gedichte auf Zeit. Graz/Wien 2007. – Russilinearen Aufbau. Entworfen wird stattdessen sche Wege. Gesch. – Kultur – Weltbild. Mchn. 2007. ein offenes, intertextuell aufgeladenes u. as- – Gegengabe. zusammengetragen aus krit., poet. u. soziatives Textgewebe, das eine bestimmte privaten Feldern. Basel/Weil am Rhein 2009. Art der Lektüre herausfordern will: »Es Literatur: Marc Aeschbacher: Prolegomena zur müssen Bücher sein, welche man nicht Entwicklung neuer hermeneut. Praxisformen für durchliest; aber häufig aufschlägt.« Die die Befassung mit hermet. Texten der neuesten selbstbezügl. Durchlässigkeit des literar. Schweizer Lit. In: Romey Sabalius (Hg.): Neue Werks wird dabei gespiegelt auf das Leben u. Perspektiven zur deutschsprachigen Lit. der das Ich, die ebenso nicht als konsistente Ein- Schweiz. Amsterd. 1997, S. 235–247. – Martin Zingg: F. P. I. In: KLG. – Nicola Bardola: F. P. I. In: heiten, sondern als sprachl. u. mithin wanLGL. – Manfred Schmeling: Narrativer Konstrukdelbare Entwürfe gedacht werden; damit tivismus in den Labyrinthen der Postmoderne. realisiert dieses Buch, wovon es spricht: Undine Gruenter, Lars Gustafsson u. F. P. I. In: »Werk ... / Werkstatt. / Werkstatt Leben. / Hans Richard Brittnacher u. a. (Hg.): Labyrinth u. Werk statt Leben: / Lebenswerk! / ... Leben?« Spiel. Umdeutungen eines Mythos. Gött. 2007, Dieses Modell geht einher mit dem Versuch, S. 252–266. Kai Sina die sprachl. Ordnung bis an die Grenzen der Verstehbarkeit zu dehnen u. damit in einem Ingrisch, Lotte, auch: Tessa Tüvari, eiübertragenen Sinne auch das Subjekt von der gentl.: Charlotte von Einem, geb. Gruber, Macht seiner sprachl. Bestimmtheit zu be* 20.7.1930 Wien. – Verfasserin epischer, freien (Mit andern Worten. Mchn. 1986): lyrischer u. dramatischer Texte. »Nehme ich den Weg den engen in die Welt. Lieber gleich jetzt, bevor ich verglüht, ver- Das Pseud. Tessa Tüvari benutzte I. lediglich kohlt, bis zu den Leisten abgestanden, bin; zur Publikation ihrer ersten drei Unterhalein Baum sein wie jeder.« Auf dieser Folie tungsromane, die während ihrer Ehe aktualisiert I. in seinem Roman Letzte Liebe (1949–1965) mit dem Philosophen Hugo (Mchn. 1987) den Mythos des Labyrinths, der Ingrisch entstanden. Den großen Publihier ins Utopische gewendet wird; an die kumserfolg erzielte sie mit makaber-iron., Stelle eines bedrohl. Orientierungsverlusts, z.T. für das Fernsehen verfilmten Einaktern wie ihn etwa noch Franz Kafka in seiner Er- (Damenbekanntschaften. Ffm. 1971). Die
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1970er Jahre standen im Zeichen dramat. Arbeiten (Hörspiele, Fernsehspiele u. -filme, Libretti). Das Libretto zu der »Mysterienoper« Jesu Hochzeit (Bln. 1979. Musik von I.s zweitem Ehemann Gottfried von Einem) löste wegen seines angeblich blasphem. Charakters bei der Uraufführung in Wien 1980 einen Skandal aus. Die in diesem Werk bereits vertretene Idee der Einheit von Leben u. Tod manifestiert sich in I.s esoter., sehr persönl. Texten der 1980er Jahre. Insbesondere die Thematisierung von ominös wirkenden Bereichen des Transzendenten bestimmt bis heute I.s literar. Produktion; Beispiele hierfür sind etwa die Werke Unsterblichkeit. Protokolle aus dem Jenseits (Mchn. 2000), »Der Himmel ist lustig«. Jenseitskunde oder Keine Angst vor dem Sterben (Mchn. 2003) u. Physik des Jenseits. Einsteins Märchen, Quantenmythen und exakte Geisterwissenschaft (Mchn. 2004). 2002 erhielt I. das Österreichische Ehrenkreuz 1. Klasse für Wissenschaft und Kunst, 2006 das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Bundesland Niederösterreich. Weitere Werke: Schmetterlingsschule. Wien 1986 (Ess.). – Romane und erzählerische Texte: Verliebter September. Hbg. 1958. – Das Engelfernrohr. Hbg./Wien 1960. – Das Fest der Hungrigen Geister. Hbg./Wien 1961. – Amour noir. Wien 1985. – Die Pestsäule. Wien 1989 (R.). – Hörspiele: Alle Vöglein, alle ... NDR/SR 1965. – Eine leidenschaftl. Verwechslung. NDR/SR 1966. – Höchste Zeit, daß die Delphine kommen, höchste Zeit ... 1980. – Bühnenwerke: Die kybernet. Hochzeit. Ffm. 1968. – Wiener Totentanz. Ffm. 1970 (als Fernsehsp. 1971). – Der rote Bräutigam. Ffm. 1974. – Die fünfte Jahreszeit. o. O. 1977. – Lambert Veigerl macht sein Testament. Ffm. 1980. – Fernsehspiele: Glückl. Leben. 1968. – Der Hutmacher. 1972. – Teerosen – Fairy – Abendlicht. Halle 1977. – Esoterische Texte: Reiseführer ins Jenseits. Wien 1980. – Nächtebuch. Freib. i. Br. 1986. – Das Donnerstagebuch. Wien 1988. – Der Geister-Knigge. Vom Umgang mit Totengeistern, Naturgeistern, Tiergeistern u. dem Großen Geist selbst. Mchn. 2006. – Eine Reise in das Zwielichtland. Im Waldviertel u. anderswo. Wien 2007. Elisabeth Chvojka / Michaela Wirtz
Innerhofer, Franz, * 2.5.1944 Krimml/ Salzburg, † 19.1.2002 Graz. – Erzähler. Mit sechs Jahren kam I., unehelicher Sohn einer Landarbeiterin, auf den Bauernhof sei-
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nes Vaters, wo er bis 1961 als Hilfsknecht lebte u. arbeitete. Nach einer Schmiedelehre besuchte er ein Gymnasium für Berufstätige u. studierte ab 1970 einige Semester Germanistik u. Anglistik in Salzburg. 1973–80 lebte er als freier Schriftsteller vorwiegend in Arni bei Zürich; danach arbeitete er u. a. auf dem Bau, als Schlosser u. als Buchhändler in Graz. Sein Dasein als Knecht, als »Leibeigener« auf dem väterl. Bauernhof, dann als Lehrling, Abendschüler u. Student beschreibt I. in einer Romantrilogie (Schöne Tage. Salzb./Wien 1974. Verfilmt 1981, Buch u. Regie: Fritz Lehner. Schattseite. Ebd. 1975. Die großen Wörter. Ebd. 1977. Neuaufl. der Trilogie, Salzb./ Wien/Ffm. 2002). Er zeigt das Elend, die ländlich-proletar. Sprachlosigkeit, die grausame Brutalität des Knechtschaftsverhältnisses, die sich hinter den »ländlichen Idyllen« verbergen. Die Natur erscheint erbarmungslos u. gewalttätig, die Dorfgemeinschaft funktioniert archaisch, bestimmt von starrem u. lähmendem Katholizismus. In diesem engen Umfeld, der patriarchalisch-autoritären Herrschaft des Vaters wehrlos ausgeliefert, wird Holl – die Hauptfigur der Trilogie – als billige Arbeitskraft missbraucht. Die Authentizität des Romans wird nicht nur durch die Thematik, sondern v. a. durch die Erzählhaltung bestimmt. I. schreibt in der dritten Person u. schafft sich damit Distanz, um der Sprachlosigkeit zum Ausdruck zu verhelfen. Der erste Roman, ein überraschender Erfolg, löste eine Reihe von Protesten der Bauernschaft u. der Kirche aus, die sich verunglimpft sahen. In Schattseite wechselt die Erzählperspektive mit der Entwicklung der Handlung u. der Hauptfigur: Der Autor schreibt in der Ich-Form u. zeichnet so einen Lernprozess Holls nach. Sein Weg aus der »Leibeigenschaft« über das Fabrikproletariat ins Abendgymnasium u. zur Universität wird als verzweifelte Befreiung dargestellt. Doch die »Welt des Redens« enttäuscht die Erwartungen, Holl sieht die Bedeutungslosigkeit der »großen Wörter«, hinter denen sich Vorgesetzte u. Politiker verschanzen. In der Erzählung Der Emporkömmling (Salzb./Wien 1982) lässt I. den Protagonisten den Weg des Aufstiegs zurückgehen: Nach langem Universitätsstudium bleibt nur der
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Ekel vor »der Leere, dem Nichts« – er will 13 (1980), Nr. 1, S. 163–175. – Renate Lachinger: zurück in seine Vergangenheit u. lässt sich als Der österr. Anti-Heimatroman. Eine Untersuchung am Beispiel v. F. I., Gernot Wolfgruber, Michael Arbeiter bei einer Baufirma anstellen. Eine Gegenidylle fand I., der sich zuneh- Scharang u. Elfriede Jelinek. Diss. Salzb. 1985. – Gerald A. Fetz: F. I. In: Donald G. Daviau (Hg.): mend von den Themen der Herkunft u. des Major Figures of Contemporary Austrian Literafrüheren Lebenswegs löste u. keine weitere ture. New York u. a. 1987, S. 237–263. – Ders.: F. I. Fortsetzung des Elendsrealismus verfassen In: DLB 85 (1989), S. 211–216. – Rainer Fribolin: F. wollte, für viele Jahre in Orvieto, wo 1990 I. u. Josef Winkler. Die moderne bäuerl. Kindsein Drama Orvieto uraufgeführt wurde. Um heitsautobiographik vor dem Hintergrund ihrer das Leben in der umbr. Stadt geht es auch – Tradition vom 16. bis zum 20. Jh. Bern u. a. 1989. – im Gegensatz zu dem in der geschäftigen, Sylvia Szely: Heimat / Bilder. Lektüre dreier österr. lebensverneinenden »Festspielstadt« Salz- Romane u. Filme aus den siebziger u. achtziger burg – in dem sprachlich oft nicht überzeu- Jahren. ›Schöne Tage‹ (F. I. – Fritz Lehner), ›Herrenjahre‹ (Gernot Wolfgruber – Axel Corti), ›Der genden Roman Um die Wette leben (Salzb./ Stille Ozean‹ (Gerhard Roth – Xaver SchwarzenWien 1993), in dem nach einer Abrechnung berger). Wien 1998. – Johannes Birgfeld: F. I. als mit Verlegern u. Literaturkritikern u. a. das Erzähler. Eine Studie zu seiner Poetik. Mit einer »selbstverständliche Nebeneinander von Ar- Forschungsübersicht u. einer Werkbibliogr. Ffm. beitern, Professoren, Künstlern und nur für u. a. 2002. – W. Martin Lüdke: F. I. In: KLG. – sich existierenden Leuten« beschworen wird. Frank Tichy: F. I. Auf der Suche nach dem MenDer »schönen Literaturliebhaberin« stellt I. schen. Salzb. 2004. – Anton Reininger: Il problema den Poeten, Flaneur u. Clown philosophique dell’emancipazione individuale in una società reTino Trenta gegenüber: »Bloßes Existieren pressiva. Il neorealismo austriaco negli anni setallein ging auch und galt in Urbs Vetus tanta e ottanta. In: Studia austriaca 13 (2005), S. 69–117. – Klaus Kastberger: F. I.: ›Schöne Tage‹. durchaus als Lebenszweck.« I., der zuletzt an In: Grundbücher der österr. Lit. seit 1945. Erste einem Text über Das rechte Murufer arbeitete, Lfg. Hg. ders. u. Kurt Neumann. Wien 2007, wurde am 22.1.2002 in seiner Wohnung in S. 47–54. Kristina Pfoser-Schewig / Bruno Jahn Graz tot aufgefunden, wo er sich erhängt hatte. I. erhielt 1975 den Literaturpreis der Freien Innsbrucker Spiele, auch: Neustifter Hansestadt Bremen u. den Rauriser Litera- Spiele, erste Hälfte des 14. Jh. – Drei turpreis, 1993 den Literaturpreis des Landes mittelalterliche geistliche Spiele. Steiermark u. den Literaturpreis der SalzDie in einem Sammelcodex überlieferten I. S. burger Wirtschaft. Weitere Werke: Innenansichten eines begin- – ein Spiel von der Himmelfahrt Mariae (I. H. nenden Arbeitstages. Mit Originalgraphiken von M.), ein Osterspiel (I. O.) u. ein FronleichMargarethe Keith. Pfaffenweiler 1976 (E.). – Burg- namsspiel (I. F.) – wurden 1391 von einem hölzli. In: Gerald Brettschuh u. F. I.: Out of Arnfels. bislang nicht identifizierten Schreiber aufgeBilder aus Polen u. Burghölzli. Hg. Anton u. Inge zeichnet. Seine Vorlage(n) entstammte(n) Klampfer. Graz 1989, S. 115–129. – Orvieto. Das dem thüring. Sprachgebiet; sprachl. UnterStück u. seine Produktionsgesch. Hg. Birgit Jürgens suchungen weisen das I. H. M. u. das I. O. u. Lies Kató. Graz/Wien 1990. – Scheibtruhe. dem Hennebergischen (Schmalkalden?), das Salzb./Wien 1996. – Da waren Leute, die ich erfin- I. F. jedoch dem Ostthüringischen (Rudolden wollte. F. I. im Gespräch mit Frank Tichy. In: stadt?, Blankenburg?) zu, wo sie etwa 50 LuK 37 (2002), H. 361/362, S. 21–35. – Der FlickJahre früher entstanden sein dürften. Späschuster. Ein Fragment. Mit einem Nachw. v. Ludwig Hartinger. Salzb./Paris 2004 (zuerst in: testens 1445 befand sich die Handschrift im Besitz des Klosters Neustift in Südtirol; wie Tages Anzeiger Magazin, Zürich, 8.2.1986). Literatur: Ulrich Greiner: F. I. In: Ders.: Der sie dorthin gelangte, lässt sich nicht mehr Tod des Nachsommers. Aufsätze, Porträts, Kritiken feststellen. Die Handschrift scheint, verzur österr. Gegenwartslit. Mchn./Wien 1979, gleichbar dem Erlauer Codex (s. Erlauer Spiele), S. 101–121. – Peter R. Frank: Heimatromane v. als eine Art Arbeitsmanuskript angelegt unten – einige Gedanken zum Werk F. I.s. In: MAL worden zu sein, aus dem künftige Bearbeiter
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die gewünschten Texte für eine Aufführung schöpfen konnten. Diverse Randbemerkungen im I. H. M., v. a. aber im I. O., u. eine eindeutig von späterer Hand herrührende zweite Überschrift zum I. F. stützen diese Vermutung. Das erste Spiel der Handschrift (I. H. M.) ist nicht vollständig überliefert; der Schreiber schließt nach Vers 3168 den Text vor dem Ende des letzten Handlungsteils abrupt mit einem »Et cetera«, dem gleichwohl – wie bei den beiden anderen Spielen auch – ein »Explicit«-Vermerk folgt. Orientiert an apokryphen Überlieferungen (Transitus Mariae, Ps.Melito B), gestützt auf Partien der Vita beate Virginis Marie et Salvatoris rhythmica u. in erstaunl. Nähe zu dt. Versionen der Legenda Aurea gestaltete der anonyme Verfasser des I. H. M. unter Verwendung einer Vielzahl lat. Gesänge verschiedener Marienoffizien, zumeist Antiphonen u. Responsorien ad Assumptionem S. Mariae (15. Aug.), ein in fünf Handlungsblöcke gegliedertes, sorgfältig durchstrukturiertes Spiel, dessen Leitthemen Marienverehrung u. die Durchführung des von Christus erteilten Missionsauftrags sind. Dargestellt werden neben Tod, Begräbnis u. Himmelfahrt Mariae (Tle. 2–4) die Ausbreitung des Christentums durch die Apostel (Tl. 1) u. – geschickt mit Teil 1 verknüpft durch Wiederaufnahme der eingangs unterbrochenen Handlung – die Zerstörung eines jüd. »castrum« (Jerusalem?) durch einen heidn. König u. seine Ritter (Tl. 5). Wie viele andere spätmittelalterl. Spiele spiegelt auch das I. H. M. Mentalität, Normen u. Wertvorstellungen stadtbürgerl. Initiatoren u. Rezipienten wider. Didaktische u. affirmative Bestrebungen bestimmen mit Mitteln der anschaul. Erklärung u. predigthaften Vermittlung theolog. Sachverhalte gleichermaßen den Text wie krit. Auseinandersetzungen mit Problemen der Gegenwart. So werden z.B. in Teil 5 die Pflichten wahrer, d.h. christl. Ritterschaft dem zeitgenöss., ganz dem Diesseits verhafteten (Raub-)Rittertum entgegengehalten, womit der Dichter zudem noch »ins Allgemeine ausgeweitete Moralund Weltklagen« wie auch die »Forderung nach ethischer Neubegründung des adeligen Standes« verbindet (Schmid). Der fünfteili-
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gen Gliederung des Textes entsprechen die Bühnenmodalitäten. Wie vielerorts üblich, ging der Aufführung eine Prozession aller Mitwirkenden voran, die sich beim Erreichen der Bühne(n) in Teilnehmer am Umgang u. Darsteller im Spiel sonderte. Im I. H. M. ziehen fünf von Musikanten begleitete Gruppen in hierarch. Ordnung auf die ihnen vom Praecursor zugewiesenen, offenbar separat errichteten Bühnen, die hier als »borg« bezeichnet werden: Christus mit seinen Engeln, Maria mit drei Jungfrauen, die zwölf Apostel, die Juden u. die Heiden. Dass in dieser besonderen, ansonsten nicht näher beschriebenen Bühnenform ein Typ der Simultanbühne zu sehen ist, zeigt sich mehrfach im Text (z.B. V. 2653); deutlich wird auch, dass auf einem größeren Platz im Freien gespielt werden sollte. Das I. O. gehört mit 1188 Versen u. etwa 40 Darstellern zu den umfangreichen Vertretern seiner Gattung. Auf einen vom »expositor ludi« gesprochenen Prolog folgen Dingung der Grabwache, Wächterspiel, Christi Höllenfahrt, Erlösung Adams u. Evas durch Christus, die »Ständesatire« u. der Gang der drei Marien zum Grabe, mit dem ein umfangreiches Krämerspiel verbunden wurde. Der weitere Spieltext ist bestimmt von »Szenen«, die sich in ihrem Bestand an der Tradition lat.-liturg. Feiern orientieren: Grabbesuch (»visitatio«), Hortulanus- u. Thomasszene, Verkündigung der Auferstehung durch Maria, Apostellauf u. Vorweisung der Grabtücher durch Johannes u. Petrus. Von bes. Interesse sind dabei jene beiden Handlungskomplexe, in denen die stadtbürgerlich-didakt. bzw. heilspädagog. Intention des Spiels bes. hervortritt: Ständesatire u. Krämerspiel. Da sich durch Christi Höllenfahrt u. die Erlösung der Altväter (im I. O. vertreten durch Adam u. Eva) die Hölle geleert hat, fordert Luzifer Satanas auf, für Ersatz zu sorgen. Die folgende Aufzählung potentieller Opfer weist weit über den allg. Begriff einzelner Stände hinaus u. zeigt, ganz im Sinne mittelalterl. theolog. Didaxe, die Allgegenwart des Teufels, vor dessen Einfluss niemand gefeit ist: weder der Papst in Avignon noch seine Kardinäle, Patriarchen u. Legaten;
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weder Kaiser, König, Grafen, Fürsten, Ritter oder Kriegsknechte; weder Vogt, Schiedsmann oder Schöffe; weder Pfaffen noch Mönche; weder der städt. Handwerker (es werden 24 Berufe genannt) noch die Vertreter unehrl. Berufe wie die Spielleute – eine vergleichbare Liste findet sich sonst nur noch im Brandenburger Osterspiel (Hg. Renate Schipke u. Franzjosef Pensel. Bln. 1986). Die anschließende Befragung der eingefangenen Seelen durch Luzifer u. deren Selbstkritik trifft – alltagsbezogen u. aktuell – jedoch nur Vertreter städt. Handwerke, dazu einen Kaplan u. einen Buhler. Damit stellt sich das geistl. Schauspiel ganz in den Dienst stadtobrigkeitl. Intentionen, deren Ziel unbedingte Ordnung in allen Lebensbereichen war. Wie die »Ständesatire« weist auch das Krämerspiel Parallelen zu anderen Spielen auf (z.B. Erlauer Osterspiel, Melker Osterspiel, Wiener Osterspiel). Es umfasst etwa die Hälfte des gesamten Textbestands vom I. O. u. konfrontiert in schroffer, nur scheinbar kom. Weise ein völlig unzulängl. Saeculum voller Betrügereien, Grobheiten u. Obszönitäten mit der Heilswelt Christi. Auch hier liegen, ganz im Sinne heilspädagog. Publikumsunterweisung, didakt. Absichten – Abkehr von der Welt, Hinwendung zu Christus – zugrunde: Dem menschl. Arzt (Medicus, Salbenkrämer) u. seiner Unfähigkeit steht Christus als der wahre Seelenarzt gegenüber (Linke). Das I. F., von seinem Schreiber als »ludus de corpore Christi«, von späterer Hand dann weitergehend als »ludus utilis pro devocione simplicium intimandus et peragendus die corporis Christi [...] de fide Catholica« bezeichnet, ist der bislang älteste bekannte Vertreter dieser im späten MA im dt. Sprachgebiet dann weit verbreiteten Gattung. In seinem Zentrum stehen Betrachtung u. Verehrung des Sakraments; Ziel ist es, die innere Handlung der Messe zu erläutern (z.B. die zwölf Glaubensartikel) u. das Dogma der Transsubstantiation auch dem Laien verständlich zu machen. Dies geschieht in 756 Versen weniger durch Handlung, als vielmehr durch eine Aneinanderreihung belehrender Monologe oder Wechselgespräche, die von Adam, Eva, zwölf Propheten u. zwölf
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Aposteln (Weissagung u. Bestätigung), Johannes dem Täufer, den Hl. Drei Königen u. endlich vom Papst selbst (als exegetische Schlusspredigt) vorgetragen werden. Adam u. Eva fungieren dabei als Vertreter des sündigen Menschen, der »schuldbeladen zur Messe kommt und beim Meßopfer die Erlösung aus der Hölle der Sünden erlebt« (Franke); die Hl. Drei Könige symbolisieren den Typus des anbetenden Menschen in seiner Sehnsucht nach Gott u. dem inneren Erleben seiner Offenbarung im Messopfer. Wie sie fordert auch Johannes der Täufer die Zuschauer zu Preis u. Anbetung des in der Eucharistie gegenwärtigen Herrn auf. Nur eine solche Haltung – verbunden mit Bußfertigkeit, reinem Herzen u. rechtem Glauben – kann den Menschen retten; Unglauben oder falsche Lehrmeinungen, gegen die das I. F. sich richtet, aber werden beim Jüngsten Gericht, dessen Folgen für den sündigen Menschen eindringlich geschildert werden, von Gott furchtbar bestraft. Ausgaben: Franz Joseph Mone (Hg.): Altteutsche Schauspiele. Quedlinb./Lpz. 1841. – Eduard Hartl (Hg.): Das Drama des MA. Bd. 2, Lpz. 1937. Neudr. Darmst. 1964, S. 136–189 (I. O.). – Das I. O. Das Osterspiel v. Muri. Hg. Rudolf Meier. Stgt. 1962. Neudr. 1974. – Die Neustifter-Innsbrucker Spielhs. v. 1391. Hg. Eugen Thurnher u. Walter Neuhauser. Göpp. 1975 (Vollfaks. aller drei Spiele). Literatur: Bis 1974 bei Thurnher/Neuhauser (s. Ausg.n). – Wilhelm Breuer: Zur Aufführungspraxis vorreformator. Fronleichnamsspiele in Dtschld. In: ZfdPh 94 (1975), Sonderh., S. 55–57, 64, 67 (I. F.). – Ursula Hennig: Die Klage der Maria Magdalena in den dt. Osterspielen. In: ebd., S. 108–138 (I. O.). – Rainer H. Schmid: Raum, Zeit u. Publikum des geistl. Spiels. Mchn. 1975 (I. O., I. H. M.). – W. F. Michael: Das Neustifter-Innsbrucker Osterspiel u. die Tiroler Passion. In: Egon Kühebacher (Hg.): Tiroler Volksschauspiel. Bozen 1976, S. 167–177. – Hans Moser: Die Innsbrucker Spielhs. in der geistl. Spieltradition Tirols. In: ebd., S. 178–189. – Barbara Thoran: Das Osterspiel der Innsbrucker Hs. Cod. 960 – ein Neustifter Osterspiel? In: ebd., S. 360–379. – Dies.: Studien zu den österl. Spielen des dt. MA. Göpp. 1976. – Max Siller: Die Innsbrucker Spielhs. u. das geistl. Volksschauspiel in Tirol. In: ZfdPh 101 (1982), S. 389–411. – Bernd Neumann: I. F.; I. O; I. H. M. In: VL. – Rolf Bergmann: Kat. der deutschsprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. Mchn. 1986. – Hansjürgen Linke: Drama u. Theater. In: Ingeborg Glier (Hg.):
55 Die dt. Lit. im späten MA. Tl. 2, Mchn. 1987, S. 172–175 (I. O.), 197 (I. F.), 202 f. (I. H. M.). – B. Thoran: Fragen zur Herkunft u. Nachwirkung des Innsbrucker Thüringischen Osterspiels. In: Osterspiele. Texte u. Musik. Hg. M. Siller. Innsbr. 1994, S. 187–202. – B. Neumann: Das ›Innsbrucker Spiel v. Mariae Himmelfahrt‹. Gedanken zu einer Neuedition. In: Neue Beiträge zur Germanistik 1 (2002), S. 191–206. – Karl Konrad Polheim: Die doppelte Eintragung. Zur Neustifter-Innsbrucker Spielhs. In: Ders.: Studien zum Volksschauspiel u. mittelalterl. Drama. Paderb. 2002, S. 93–96. – Jens Haustein u. Winfried Neumann: Zur Lokalisierung der Innsbrucker (thüring.) Spielhs. In: Magister et amicus. FS Kurt Gärtner. Hg. Vaclav Bok u. Frank Shaw. Wien 2003, S. 385–394. – Christian Kiening: Präsenz – Memoria – Performativität. Überlegungen im Blick auf das Innsbrucker Fronleichnamsspiel. In: Transformationen des Religiösen. Performativität u. Textualität im geistl. Spiel. Hg. Ingrid Kasten u. Erika Fischer-Lichte. Bln. 2007, S. 139–168. – B. Neumann u. Dieter Trauden: ›Rubin, du machst wol eyn schalk syn!‹ Zur Funktion sprachl. Gestaltungsmittel im Melker u. Innsbrucker Salbenkrämerspiel. In: Neue Beiträge zur Germanistik 6 (2007), S. 131–156. Bernd Neumann / Red.
Institoris, Henricus, latinisiert aus Heinrich Kramer, * um 1430 Schlettstadt/Elsass, † 1505 Mähren. – Dominikaner. I. trat um 1445 in Schlettstadt in den Dominikanorden ein u. studierte u. a. in Schlettstadt u. Rom. 1458 nahm er als Beichtvater an der Verbrennung des Waldenserbischofs Friedrich Reiser in Straßburg teil. Nach dem Studienabschluss 1474 in Rom wurde ihm durch das Generalkapitel des Ordens die Befugnis zur Inquisition erteilt (15.6.1474). Auf der Rückkehr unterstützte er 1475 den Bischof von Trient bei seinem Ritualmordprozess gegen die örtl. Judengemeinde (Hl. Simon von Trient). »Frater Henricus de Sletstat« sammelte auf einer Rundreise durch Oberdeutschland Material über Ritualmordprozesse (Endingen, Ravensburg etc.). Als extremer Kurialist genoss I. das Vertrauen mehrerer Päpste. Er publizierte gegen Waldenser, Hussiten, Böhmische Brüder u. Taboriten, gegen Anhänger eucharist. Irrlehren, Anhänger der Konzilsbewegung u. des kaiserl. Primats. Am. 13.3.1479 von Sixtus IV.
Institoris
zum päpstl. Inquisitor von Oberdeutschland ernannt u. am 13.12.1479 vom Ordensgeneral zum Doctor theologiae promoviert, entwickelte er sich zum Verfolgungsspezialisten. Er war an Hexeninquisitionen in den Diözesen Straßburg, Basel, Konstanz u. Brixen, möglicherweise auch Metz u. Trier beteiligt. 1480 ermittelte er in Augsburg gegen Frauen wegen tägl. Kommunion. Getrieben von der eschatolog. Angst vor dem bevorstehenden Weltende, setzte sich I. über rechtl. Beschränkungen hinweg, veranlasste die unbeschränkte Anwendung der Folter u. scheute nicht vor der Fälschung von Urkunden u. – wie der Vergleich seiner Ausführungen mit den Prozessakten zeigt – Zeugenaussagen zurück. I.s unmäßiges Auftreten rief regelmäßig Widerstand hervor. Aus diesem Grund erwirkte er von Papst Innozenz VIII. die Bulle Summis desiderantes (5.12.1484), die ihn zur Hexenverfolgung in allen dt. Diözesen aufforderte. Auf dem Rückweg von Rom begann er in Innsbruck eine Hexeninquisition, die nacheinander die Bürgerschaft, die Landstände, den Herzog, das Domkapitel u. den zuständigen Bischof Georg Golser von Brixen gegen ihn aufbrachte. Aus Ärger über den Hinauswurf verfasste I. in Eile ein Werk, in dem er seine gescheiterte Hexenverfolgung zum leuchtenden Erfolg umdefinierte, den Malleus Maleficarum (»Hexenhammer«), ein Handbuch zur Hexenverfolgung, das im Herbst 1486 bei Peter Drach in Speyer erstmals im Druck erschien u. bis 1523 in Deutschland (Speyer, Nürnberg u. Köln) u. Frankreich 13, zwischen 1574 u. 1620 noch einmal 14 Auflagen, sowie eine letzte in Lyon 1669 erlebte. In der Apologia bezeichnete I. den Prior der dt. Ordensprovinz, Jakob Sprenger, als Mitautor (u. bis heute finden wir ihn als solchen in Bibliothekskatalogen!). Tatsächlich bekämpfte Sprenger, der dem observanten Flügel des Ordens angehörte, die Aktivitäten des Konventualen I. u. überzog ihn seit 1485 mit Verweisen u. der Androhung von Strafen, mit Beherbergungs- u. Predigtverboten. Zu den vielen Skandalen (»multa scandala«), die I. verursachte, gehören u. a. 1473 eine Haftstrafe wegen Beleidigung Kaiser Fried-
Isaac
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richs III., 1475 Diebstähle an Ordensbrüdern Isaac, Heinrich, Ysac, Yzach, auch: Arrigo in Rom, 1482 die Unterschlagung von Ab- Tedesco, * um 1450 Flandern, † 26.3.1517 lassgeldern in Augsburg, die zu einem wei- Florenz. – Komponist u. Liederdichter. teren Haftbefehl führte, 1485 der HinausDer erste belegte Lebensabschnitt I.s sind die wurf aus Tirol, 1487 die Fälschung eines Jahre 1485–1495, in denen er in Florenz als Notariatsinstruments der Kölner Universität Sänger u. Komponist in den Diensten der sowie die vorgetäuschte Autorschaft SprenMedici stand. Nach deren Vertreibung aus gers am Hexenhammer. 1491 rühmte sich Florenz gelangte er nach Augsburg an den »Heinrich Kramer« in einem Gutachten für Hof Maximilians I., der ihn, ohne ihn aus den Nürnberger Rat, dass durch sein Vorgeseinen Diensten zu entlassen, 1497–1499 der hen bereits mehr als 200 Hexen hingerichtet Torgauer Hofkapelle Friedrichs des Weisen worden seien. Mit der Neigung zum Verdreüberließ. Etwa seit 1500 lebte I. – abgesehen hen von Argumenten u. seinem schlechten von einigen längeren Aufenthalten in Süd- u. Latein entsprach I. dem Spottbild des »DunMitteldeutschland – in Florenz. Seine enge kelmannes«, wie es von Humanisten geVerbindung mit Medici bezeugt v. a. der zeichnet wurde. Aber auch den dt. DominiUmstand, dass man ihm auf Betreiben seines kanern war er unerträglich: Der anhaltende früheren Schülers Giovanni de Medici (des Druck vonseiten der Kölner Oberen führte späteren Papstes Leo X.) ab 1514 eine Altersdazu, dass I. 1493 nach Salzburg, 1496 nach Venedig u. 1500 im Auftrag Papst Alexanders rente gewährte. Als der vielleicht bedeutendste Komponist VI. (31.1.1500) als Inquisitor nach Olmütz seiner Zeit schuf I. vornehmlich Lieder, ausweichen musste, wo er 1505 – quasi im Messen u. Motetten. Berühmt wurde er früh Exil – unbeachtet verstarb. durch sein Lied Innsbruck, ich muß dich lassen Weitere Werke: Epistola contra quendam con(o. O. u. J.), das er zweifach vertonte: als Teciliistam archiepiscopum Craiensem. Reutlingen 1482. – Malleus maleficarum. Speyer 1486. 1487. norlied u. als modernes Diskantlied. Anders 1490. Köln 1494. Nürnb. 1494. 1496. – Tractatus als in dem volkstümlich wirkenden Innsnovus de miraculoso eucaristie sacramento. Augsb. brucklied pflegte I. in über 20 weiteren dt. 1493. – Tractatus varii ... contra quattuor errores Lieddichtungen einen eher höfisch-lehrhafnovissime exortos adversus divinissimum eucha- ten Stil. Der große Einfluss, den er auf die ristie sacramentum. Nürnb. 1496. – Opusculum in nachfolgende Komponistengeneration (z.B. errores Monarchie. Venedig 1499. – Sancte Romane Ludwig Senfl u. Balthasar Resinarius) wie ecclesie fidei defensionis clippeum adversus Wal- überhaupt auf die dt. Musik des 16. Jh. ausdensium seu Pickardorum heresim. Olmütz 1501. übte, hat seinen Grund weniger in der AusAusgaben: Heinrich Kramer (Institoris): Der sagekraft seiner Liedtexte als vielmehr darin, Hexenhammer. Malleus Maleficarum. Hg. Günter diesen eine höchst kunstvolle u. dennoch Jerouschek u. Wolfgang Behringer. Neu aus dem stets unprätentiös klare musikal. Form gegeLateinischen übertragen v. W. Behringer, G. Je6 rouschek u. Werner Tschacher. Mchn. 2000. 2007. ben zu haben. Literatur: André Schnyder u. Franz Josef Worstbrock: H. I. In: VL. – Peter Segl (Hg.): Der Hexenhammer. Entstehung u. Umfeld des Malleus Maleficarum von 1487. Köln/Wien 1988. – W. Behringer u. G. Jerouschek: ›Das unheilvollste Buch der Weltliteratur‹? Zur Entstehungs- u. Wirkungsgesch. des Malleus Maleficarum u. zu den Anfängen der Hexenverfolgung. In: Heinrich Kramer (Institoris): Der Hexenhammer. Malleus Maleficarum, a. a. O., S. 9–98. Wolfgang Behringer
Literatur: Hellmuth Christian Wolff: Die Musik der Niederländer. Lpz. 1956. – Martin Staehelin: H. I. u. die Frühgesch. des Liedes ›Innsbruck, ich muß dich lassen‹. In: Liedstudien. Hg. Martin Just. Tutzing 1989, S. 107–119. – Martin Picker: Henricus Isaac. A guide to research. In: Garland composer resource manuals. Vol. 35, New York 1991. – M. Staehelin: Zur musikgeschichtl. Stellung v. H. I. In: Hartmut Boockmann u. a. (Hg.): Lit., Musik u. Kunst im Übergang vom MA zur Neuzeit. Gött. 1995, S. 216–245. – Walter Salmen (Hg.): H. I. u. Paul Hofhaimer im Umfeld v. Kaiser Maximilian I. Innsbr. 1997. – M. Staehelin: H. I. In: MGG. Rainer Wolf / Red.
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Isaak, Stephan, * 1542 Wetzlar, † 1597 Bensheim/Bergstraße. – Katholischer, dann reformierter Theologe, Hebraist, Autor einer Autobiografie.
Ischyrius wird [...]. Bremen 1592. – De Petro Michaelis Brilmachero et Iesuitarum artibus. In perniciem tam Papistarum quam Evangelicorum comparatis. Bremen 1592. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel:
I. wurde 1546 in Marburg mit seinem Vater, Max Lossen: S. I. In: ADB. – Wilhelm Rotscheidt: S. einem jüd. »Lehrer«, durch Johannes Draco- I. Ein Kölner Pfarrer u. hess. Superintendent im nites lutherisch getauft. Die Berufung des Reformationsjahrhundert [...]. Lpz. 1910 (mit Vaters als Professor für Hebräisch an die Abdr. des ›Sendbriffs‹ u. der ›Apologia‹). – Hassia Universität Löwen bedingte 1548 den Über- Sacra. Hg. Wilhelm Diehl. Bd. 3, Darmst. 1928, S. 333. – Aus dem Zeitalter der Reformation u. der tritt zum Katholizismus. 1551 zog die FamiGegenreformation. Hg. Marianne Beyer-Fröhlich. lie nach Köln, wo I. bis 1557 die Schule be- Lpz. 1932. Neudr. Darmst. 1964, S. 75–92. – Rusuchte. Ab dem 1.6.1559 studierte er Philo- dolf Kunz: S. I., Superintendent in Bensheim sophie in Köln (Magister 1561), danach Me- (1591–98). Lebensschicksal eines getauften Juden. dizin; zeitweilig hielt er sich in Löwen auf In: Der Odenwald 14 (1967), S. 42–42 (mit Text(Immatrikulation am 20.7.1560). 1564/65 auszug aus der ›Historia‹). – Gerhard Müller: I. S. wurde I. Professor des Hebräischen in Douai, In: NDB. – Michael Tilly: S. I. In: Bautz. – Veronika wo er auch als Arzt praktizierte, 1565 emp- Albrecht-Birkner: S. I. In: RGG, 4. Aufl. Helgard Ulmschneider / Red. fing er in Köln die Priesterweihe u. wurde dort Professor, gleichzeitig Priester an St. Ursula, ab 1572 auch Canonicus an St. Marien-Ablass. Als Kontroversprediger gefeiert, Ischyrius, Christian, eigentl.: C. Sterck. – geriet er durch eine Predigt gegen die Aus- Katholischer Theologe u. lateinischer wüchse des Kölner Bilderdienstes 1583 in den Dramatiker. Verdacht der Ketzerei, wurde angeklagt, ver- Der aus Jülich stammende I. nahm am zichtete im April 1584 freiwillig auf seine 31.10.1496 in Köln das Artes-Studium auf, Ämter u. begab sich in die Kurpfalz, wo er das er am 5.12.1497 mit der Magisterprüfung zum reformierten Glauben übertrat, den er abschloss. Am 12.3.1499 erlangte er dort den nun gleichermaßen streng vertrat. 1586 hei- Grad eines Lizentiaten. Als Priester in Maasratete er (Heidelberger Professoren widmeten tricht veröffentlichte er, neben zahlreichen ihm hierzu lat. Carmina, die im Druck er- theolog. Werken, u. d. T. Homulus [...] comoedia schienen); 1584–1591 war er Pfarrer an St. in primis lepida et pia (Köln 1536. 1537. 1539. Peter in Heidelberg, ab 1591 Superintendent Antwerpen 1538. 1546) seine lat. Bearbeitung in Bensheim. der niederländ. Moralität Elckerlijc (= JederSein Leben als »Mann aller Konfessionen« mann), die Peter van Diest im letzten Drittel hat I. in einer 1586 (o. O.) erschienenen Au- des 15. Jh. verfasst hatte. Sie steht in der tobiogr. geschildert: Wahre und einfältige His- Tradition der spätmittelalterl. »artes moritoria Stephani Isaaci – einer äußerst anschaul. endi« u. handelt vom Sterben des reichen Quelle zur Zeitgeschichte, die auch sprachl. Mannes, der in einer ihm vom Tod noch geQualitäten besitzt. Angehängt war, in enger währten Frist die Hinfälligkeit weltl. VerAnlehnung an den Heidelberger Katechis- hältnisse u. ird. Besitzes erkennt u., nach mus, eine Christliche Bekandtnuß von allen Re- Reue u. Beichte, mit dem Beistand der alleligions Artickeln sowie eine Notwendige [...] Apo- gor. Figuren »Cognitio« u. »Virtus« (= gute logia und Antwort auf Angriffe der Kölner Ge- Werke) ein seliges Ende findet. I. hält sich im schichtsschreiber Michael Eitzinger u. Mi- Wesentlichen eng an seine Vorlage, verstärkt aber die Kritik an der Geistlichkeit. In Jaspar chael Isselt von Amerßfort. Weitere Werke: Malachias Propheta, hebraice van Genneps sehr erfolgreicher dt. Übertraet latine interpretatus [...]. Köln 1563. – An den gung des Homulus (1540) ist das Gewicht der edlen [...] Johann von Münster [...] Sendbriff: guten Werke bes. betont, an die Stelle von I.s Darinnen der Jesuiten Secten Geheimniß u. Trie- Kirchenkritik tritt hier die grobe Attacke gerey in vielen Stücken klar an den Tag gegeben gegen die Position Luthers. Den Höhepunkt
Iselin
in der literar. Entfaltung des JedermannThemas bildet für den lat. Bereich der Hecastus (Köln 1539) des Macropedius. Weitere Werke: Passio Jesu Christi amarulenta [...] vario carmine Benedicti Chelidonij, et tandem Christiani Ischyrij illustrata. Köln 1526. – De sanctorum veneratione pia dissertatio. o. O. ca. 1530. – Hortulus anime [...]. Köln o. J. Antwerpen 1533. Löwen 1551. – In psalmos poenitentiales [...] ecphrasis et enarratio [...]. Köln ca. 1535. Ausgaben: Homulus. Hg. Alphonse Roersch. Gent 1903. – Vom Sterben des reichen Mannes. Die Dramen v. Everyman, Homulus, Hecastus u. dem Kauffmann. Übers., hg. u. eingel. v. Helmut Wiemken. Bremen 1965. Literatur: Bibliografien: Klaiber, Nr. 2978–2980. – VD 16. – Weitere Titel: Jean-Marie Valentin: Die Moralität im 16. Jh. In: Daphnis 9 (1980), S. 769–788. Fidel Rädle / Red.
Iselin, Isaak, * 7.3.1728 Basel, † 15.7.1782 Basel; Grabstätte: ebd., Münster. – Publizist, Popularphilosoph. I. wuchs bei seiner geschiedenen Mutter Anna Maria Burckhardt in Basel auf u. studierte dort zunächst an der Philosophischen Fakultät, an der er 1745 den Magister erwarb. Ein Jurastudium in Basel u. Göttingen folgte; I. schloss es 1755 mit der Promotion ab. Seit 1756 war er Ratsschreiber der Republik Basel. Als Mitbegründer der Helvetischen Gesellschaft trat er für eine Gesamtreform der alten Eidgenossenschaft aus dem Geist der Aufklärung ein. In seinen ökonomischen Schriften erweist er sich als Anhänger der physiokratischen Schule (Versuch über die gesellige Ordnung. Basel 1772). Als pädagog. Schriftsteller war er Verfechter der philanthropischen Ideen Johann Bernhard Basedows, die er in Basel vergeblich durchzusetzen suchte, u. Förderer Johann Heinrich Pestalozzis, dessen Roman Lienhard und Gertrud (1781–87) er herausgab. Ab 1776 schuf er sich mit den »Ephemeriden der Menschheit« (nach I.s Tod bis 1786 fortgeführt von Wilhelm Gottlieb Becker) eine eigene Zeitschrift als Plattform für sein publizistisches Wirken. I.s geschichtsphilosophisches Lebenswerk ist eine anhaltende Auseinandersetzung mit der Kulturkritik Jean-Jacques Rousseaus, begonnen beim Zusammentreffen beider 1752
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in Paris, fortgesetzt mit der 1755 anonym erschienenen Schrift Philosophische und patriotische Träume eines Menschenfreundes (Karlsr. 1784); sie erreichte ihren Höhepunkt 1764 mit I.s Ueber die Geschichte der Menschheit (Frankf./Lpz.), einem Hauptwerk aufgeklärter »Menschheitshistorie«, das, von Moses Mendelssohn begeistert rezensiert u. als beste Gegenschrift zu Rousseaus Diskurs über die Wissenschaften und Künste (1750) u. Diskurs über die Ungleichheit (1755) empfohlen, in 27 Jahren sieben Auflagen erlebte. Rousseau hatte gegen den Fortschrittsoptimismus des aufgeklärten Zeitalters nachzuweisen versucht, dass mit der Entwicklung der Kultur Sittenverderbnis u. Degeneration einhergingen u. dass der Übergang des Menschen vom »natürlichen« in den »gesellschaftlichen Zustand« für Ungleichheit, Zwietracht u. Krieg verantwortlich sei. I. sah demgegenüber die Menschheitsgeschichte als stetige, wenn auch nicht geradlinige Entwicklung zum Besseren u. als unbedingtes Fortschreiten zu wahrer Humanität. Mit metaphys., theolog., psycholog. u. insbes. histor. Argumenten u. unter Verwendung ethnografischen Materials suchte er zu demonstrieren, dass Rousseaus hypothet. Konstruktion des »Naturzustands« philosophisch unhaltbar sei u. die Identifizierung dieses Zustands mit vergangenen Zeiten den geschichtl. Tatsachen widerspreche. Der Zuwachs an »Glückseligkeit« durch Aufklärung der Begriffe beim Einzelmenschen gelte analog auch für ganze Völker u. Weltalter. Herder, der in seiner Streitschrift Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit (1774) I.s Werk noch scharf abgelehnt hatte, räumte ihm später einen hohen Rang in der geschichtsphilosophischen Diskussion ein. »Eigentlich folgen wir so aufeinander: Iselin, ich und Kant [...]. So stehen wir drei in der Weltgeschichte« (an Garlieb Merkel, 12.12.1799). Weitere Werke: Pariser Tgb. 1752. Neudr. hg. v. Ferdinand Schwarz. Basel 1919. – Philosoph. u. Polit. Versuche. Zürich 1760. – Schreiben an die Helvet. Gesellsch. über Basedows Vorschläge zur Verbesserung des Unterrichts der Jugend. Basel 1769. – Einige Briefe über das Basedowsche Elementarwerk (zus. mit Lavater). Zürich 1771. –
Isidor
59 Schreiben an Ulysses v. Salis v. Marschlins über die Philanthropinen [...]. Basel 1775. – Versuch eines Bürgers über die Verbesserung der öffentl. Erziehung in einer republikan. Handelsstadt. Basel 1779. – Briefe: Holger Jacob-Friesen (Hg.): Profile der Aufklärung. Friedrich Nicolai – I. I. Briefw. (1767–1782). Ed., Analyse, Komm. Bern u. a. 1997. Literatur: Ulrich Im Hof: I. I. Sein Leben u. die Entwicklung seines Denkens bis zur Abfassung der ›Gesch. der Menschheit‹ v. 1764. 2 Bde., Basel 1947 (mit Bibliogr.). – Ders.: I. I. u. die Spätaufklärung. Bern 1967 (mit Bibliogr.). – Wilhelm Kühlmann: Aufgeklärtes Befremden. Friedrich v. Spees ›Güldenes Tugendbuch‹ (Ausg. 1748) in einer Besprechung I .I.s. In: LitJb 29 (1988), S. 35–42. – SigridUrsula Follmann: Gesellschaftsbild, Bildung u. Geschlechterordnung bei I. I. in der Spätaufklärung. Münster u. a. 2002. – Andreas Urs Sommer: Gesch. als Trost. I. I.s Geschichtsphilosophie. Basel 2002. – Béla Kapossy: I. contra Rousseau. Sociable patriotism and the history of mankind. Basel 2006. Raimund Bezold / Red.
Isemann, Bernd, * 19.10.1881 Schiltigheim bei Straßburg, † 4.10.1967 Gernsbach; Grabstätte: ebd. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker.
Jean Philipps Erbe. Ein Lothringer Roman (Stgt./ Heilbr. 1920) erzählt die Entwicklungsgeschichte eines vom Vater geprägten »empfindsamen Nachgeborenen«, soll aber dadurch auch den »deutschen Kern der Seelen« der ehem. Reichslande zeigen u. ist symptomatisch für I.s zwiespältige Orientierung zwischen dem »einzig wichtigen inneren Sein« (Mein Garten. Buch der Lebensfreude und der Naturliebe. Köln 1927. U. d. T. Hinter der Gartentür. Eine Romanidylle. Köln 1938) u. erzwungener Politisierung in einer konfliktreichen Region. Weitere Werke: Lothringer Novellen. Bln. 1913. – Der Musikantenstrauch. Ffm. 1914 (M.). – Christus. Ein Mysterienspiel in drei Tln. Stgt. 1922. – Zeitgarbe. Neue Gedichte. Stgt./Heilbr. 1923. – Das härtere Eisen. Hzg. Georg Hans, Pfalzgraf v. Lützelstein. 2 Bde., Straßb. 1942. U. d. T. Der Pfalzgraf v. Lützelstein. Histor. Roman. Stgt. 1952. – Die Gerbermühle. Ein Roman um Goethe. Stgt. 1956. – Die Reise um das Herz. Autobiogr. Roman. 1956–58 (ungedr.). Literatur: Ber. über die 4. Verleihung des Erwin-v.-Steinbach-Preises an B. I. [1966]. In: Studien der Erwin-v.-Steinbach-Stiftung. Hg. Christian Hallier. Bd. 2, Ffm. 1968, S. 231–242. – Adrien Fink: B. I. In: NDBA. – Walter E. Schäfer: Zum vierzigsten Todestag v. B. I. In: Badische Heimat 85 (2007), S. 520–522. Hartmut Dietz / Red.
I., Sohn einer aus elsäss. Bauernfamilie stammenden Mutter u. eines dt. Richters, wuchs in Colmar auf, studierte in München, Straßburg u. Heidelberg u. lebte nach 1904 als Privatlehrer vorwiegend in Schleißheim Sogenannter althochdeutscher Isidor. – bei München. Lateinisch-althochdeutsche Sammlung Sein zeitabgewandtes, aber von der dt.-elvon Texten aus Bibel, Theologie u. Presäss. Herkunft u. ihrer Problematik geprägtes digt, entstanden am Ende des 8. Jh. Werk kreist um die Begriffe Heimat u. Familie, ohne der Heimatkunstbewegung ganz Die Texte der Sammlung sind in zwei zugerechnet werden zu können. – I. debü- Handschriften fragmentarisch erhalten. Die tierte als Lyriker im Umfeld des »Jüngsten Pariser (P), entstanden kurz nach 800 an eiElsaß« (Moderne Elegien. Straßb. 1903), wandte nem unbekannten, austrasischen Schreibort, sich jedoch bald ab von dieser den Anschluss enthält vor anderen, nicht zur Isidorgruppe an die europ. Moderne suchenden Gruppe gehörigen Texten hauptsächlich den Traktat um Schickele, Flake u. andere. In religiösen De fide catholica contra Iudaeos des span. KirDichtungen (Die große Passion. Mchn. 1907) chenvaters Isidor von Sevilla (570–636). Das trat I. als Katholik für eine Erneuerung des Werk gehört in die literar. Tradition der paChristentums ein, schrieb Märchen, Tierge- trist. Auseinandersetzung mit dem jüd. schichten (Nala und Re. Eine Ameisenfreund- Glauben u. entwickelt auf der Grundlage schaft. Stgt./Heilbr. 1920) u. eine Reihe von bibl., v. a. alttestamentar. Prophetien die Novellen u. Romanen um die Familie Chris- Grundzüge einer christl. Dogmatik, indem es toph als Inkarnation ihrer lothring. Heimat, nachweisen will, dass die Messiasprophetien später gesammelt in Gehöft in den Vogesen. Ro- des AT auf Christus als den wahren Sohn des manhafte Geschichten (Straßb. 1941). dreieinigen Gottes zutreffen (Buch 1) u. dass
Isidor
die Heiden, nicht die Juden zum Volk Gottes berufen seien (Buch 2). Vorne fehlen in P acht Blätter, mit dem Anfang von Isidors Traktat, dessen erstes, De nativitate Domini überschriebenes Buch bis Blatt 49 reicht; es folgt bis Blatt 79 das zweite Buch De vocatione gentium. Die ersten 33 Blätter der Handschrift sind in ungleich breite Spalten unterteilt, von denen die schmalere linke den lat., die breitere rechte den dt. Text enthält. Dieser reicht bis Blatt 22. Dann bleibt die rechte Spalte leer, bis ab Blatt 34 mitten im Satz die Kolumnenteilung aufgegeben u. nur noch der lat. Text eingetragen ist. Aus dem Einbandmaterial von Büchern des Klosters Mondsee bei Salzburg sind zahlreiche Bruchstücke einer im 15. Jh. zerschnittenen Handschrift (M) zutage gekommen, die um 810 wohl in Mondsee geschrieben wurde. Auch diese Handschrift ist zweisprachig angelegt, indem von zwei gegenüberliegenden Seiten immer die linke den lat. Text, die rechte die dt. Übersetzung enthält. Vor dem Isidortraktat befanden sich in M noch weitere Texte in lat.-dt. Synopse, von denen Fragmente erhalten sind. Am Anfang stand das Evangelium des Matthäus. An dessen Schluss bittet eine nur fragmentarisch erhaltene Subscriptio einen unbekannten, hochgestellten Adressaten um Beurteilung einer Sammlung von Texten, deren Abschluss in der Vorlage von M das Matthäusevangelium gebildet haben muss. – In M folgt auf dieses u. die Subscriptio unmittelbar eine Predigt, die nur hier überliefert ist u. von der Forschung den nur teilweise zutreffenden Titel De vocatione gentium erhalten hat (nicht identisch mit dem erwähnten zweiten Buch von Isidors Traktat). Die Predigt handelt in einem Teil A aufgrund zahlreicher Bibelstellen von der Verschiedenheit der Sprachen unter den Völkern u. davon, dass Gott sie alle versteht, wie er überhaupt die innersten Gedanken der Menschen kennt. Sie lehrt ferner, dass Gott auch um der Kläglichkeit der menschl. Sprache willen Mensch (Wort) geworden sei. In Teil B fügt das Stück Paulusworte über die Einheit aller Getauften als Gotteskinder u. Christus als ihr Haupt zusammen, bietet einen langen Auszug über die Liebe zu Gott aus der Hiobauslegung Gregors des Großen,
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führt Christi Gebot der Gottes- u. Nächstenliebe aus u. bricht schließlich ab mit einem Zitat aus der Apostelgeschichte, in dem sich Paulus u. Barnabas von den verstockten Juden ab- u. den freudig glaubenden Heiden zuwenden. Die Zusammengehörigkeit der Stücke A u. B zu ein u. derselben Predigt ist fraglich. – An späterer Stelle der Handschrift folgen weitere Predigten, von denen die letzten Sätze einer nicht identifizierten Homilie u. unmittelbar anschließend Bruchstücke aus Augustins Sermo 76 erhalten sind. Augustin spricht hier im Anschluss an die Geschichte vom übers Wasser wandelnden Petrus von diesem als Abbild der Kirche aufgrund seines Schwankens zwischen Glaubensfestigkeit u. Kleingläubigkeit. – Den Beschluss der Sammlung in M bildete der Isidortraktat. Die hier erhaltenen Fragmente bieten z.T. Parallelüberlieferung, z.T. Ergänzungen zum Text von P im Bereich der dort fehlenden Anfangspartie. – Die Subscriptio zum Matthäusevangelium sowie sprachl. u. paläograf. Indizien lassen darauf schließen, dass der Schreiber von M zwei Vorlagen hatte, von denen die eine den I. enthielt, die andere das Matthäusevangelium u. die Predigten. Das Matthäusevangelium hat er aus der Schlussstellung der Vorlage an den Anfang seiner eigenen Sammlung gesetzt. Über all dies hinaus finden sich Wirkungen der verlorenen Handschrift einer vergleichbaren Sammlung, aus der das lat.-ahd. Glossar einer um 820 geschriebenen Handschrift aus Murbach/Elsass signifikante Wörter entnahm, die auch den in P u. M enthaltenen Texten angehören. Schließlich ist der Hinweis des 831 entstandenen Bibliothekskatalogs von St. Riquier/Nordfrankreich auf eine lat.-dt. Passio Domini vielleicht auf das Matthäusevangelium der Isidorgruppe beziehbar. Die Zusammengehörigkeit der zur Isidorgruppe gerechneten Texte ergibt sich nicht nur aus den Indizien der Überlieferung, sondern v. a. aus der im ganzen unverwechselbaren Einmaligkeit einer ihnen allen gemeinsamen sprachl. u. literar. Eigenart. Sprachgeschichtlich sind die Fragmente sowohl wegen der erstaunl. Konsequenz u.
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Systematik ihrer Orthografie von großer Bedeutung, als auch, weil sie grammatisch einen sehr frühen Stand des Althochdeutschen zuverlässig fassbar repräsentieren. Doch ist zu bemerken, dass die P-Überlieferung mit ihrem westlich fränk. Lautstand erheblich originalnäher ist als die M-Überlieferung, in der die orthograf. Systematik verfällt u. die westlich dialektale Färbung einer bair. Überformung ausgesetzt ist. In der schwierigen Frage der genaueren sprachl. Lokalisierung des Originals neigt die Forschung heute wieder zu einer Entscheidung für das westl. Südrheinfränkisch des lothring. Raums (Metz, St. Avold, Hornbach). Die literar. Bedeutung der Texte beruht auf dem bewundernswerten Niveau ihrer Übersetzungsleistung, das in der dt. Literatur erst Jahrhunderte später wieder erreicht wird. Freilich sollte bei dieser Wertung bewusst bleiben, dass es diesen zweisprachigen Texten nicht um die Schaffung einer autonomen dt. Wissenschaftsprosa für Theologie u. Philosophie ging, sondern um ein optimales, durchschaubar verantwortetes Verständnis der autoritativen lat. Texte, die übersetzt wurden. Schwankungen im Niveau von Sprachbehandlung u. Übersetzungsleistung haben die Frage aufgeworfen, ob die Sammlung von verschiedenen Übersetzern, einer Übersetzerschule oder einer einzigen Übersetzerpersönlichkeit stammt. Sie darf heute wohl als zugunsten eines einzigen Übersetzers entschieden gelten. Schon früh hat man die Übersetzungen der Isidorgruppe mit den von seinem Biografen Einhard bezeugten Bestrebungen Karls des Großen um die Grundlegung einer Grammatik der Volkssprache in Verbindung gebracht. Außer sprachl. Gründen – Karl wird ein westlich geprägtes Fränkisch gesprochen haben – können personelle u. sachl. Argumente für diese Sicht angeführt werden. So stellt z.B. zwischen Mondsee als Überlieferungsort u. Karl die Person Hildebolds eine mögl. Verbindung her, da dieser als Erzbischof von Köln Karls Kanzler u. zgl. Abt von Mondsee war. Die ausgeprägte Tendenz der Isidorsammlung zu normierender Sprachbehandlung steht in Übereinstimmung mit Karls Programm einer Wiederherstellung des
Isidor
geistigen u. polit. Lebens nach dem Ideal einer »norma rectitudinis«. Auch inhaltlich lassen die Texte der Sammlung Bezüge zu aktuellen Themen von Politik u. Geistesleben erkennen. Augustins Sermo greift das für Karls Regierung vielfältig aktuelle Thema der Glaubensfestigung auf. Die Bedeutung der Heidenthematik in De vocatione gentium für die Heidenmission seiner Zeit ist nicht von der Hand zu weisen. Die im selben Stück gelehrte Auffassung von der Gleichwertigkeit aller Sprachen vor Gott wird entsprechend auf dem Frankfurter Konzil von 794 verhandelt. Die christolog. u. die Trinitätsthematik von Isidors Traktat schließlich ist im Zusammenhang der span. Häresie des Adoptianismus am Ende des 8. Jh. aktuell, die u. a. auf dem erwähnten Frankfurter Konzil verurteilt u. 799 nochmals auf einem Aachener Konzil in Gegenwart Karls diskutiert wurde. Ausgaben: The Monsee Fragments. Hg. George Allison Hench. Straßb. 1890. – Der ahd. Isidor. Hg. ders. Straßb. 1893. – Der ahd. Isidor. Hg. Hans Eggers. Tüb. 1964. Literatur: Raphaela Gasser: Propter lamentabilem vocem hominis. Zur Theorie der Volkssprache in ahd. Zeit. In: Freiburger Ztschr. für Philosophie u. Theologie 17 (1970), S. 1–83. – Klaus Matzel: Untersuchungen zur Verfasserschaft, Sprache u. Herkunft der ahd. Übersetzungen der Isidor-Sippe. Bonn 1970. – Klaus Matzel: Ahd. Isidor [...]. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Wolfgang Haubrichs: Die Anfänge: Versuche volkssprachiger Schriftlichkeit im frühen MA (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1,1). Ffm. 1988, S. 307–311, 451 f. (Lit.); 2., durchges. Aufl. Tüb. 1995, S. 252–256. – Achim Masser: Die frühe volkssprachige Lit. In: Ders. u. Alois Wolf (Hg.): Geistesleben um den Bodensee im frühen MA. Freib. i. Br. 1989, S. 87–106. – Elke Krotz: Auf den Spuren des ahd. Isidor. Studien zur Pariser Hs., den Monseer Fragmenten u. zum Codex Junius 25. Mit einer Neued. des Glossars Jc. Heidelb. 2002. – Yvon Desportes: ›auh‹ im ahd. Isidor. In: Ders. (Hg.): Konnektoren im älteren Deutsch. Akten des Pariser Kolloquiums März 2002. Heidelb. 2003, S. 271–319. – Ders.: Zu ›huu-‹, ›ir‹, ›th-‹, ›these‹ im ahd. Isidor. Vorbemerkungen zu einer Analyse der Korrelate u. Korrelatverbindungen. In: Albrecht Greule u. a. (Hg.): Entstehung des Deutschen. FS Heinrich Tiefenbach. Heidelb. 2004, S. 31–64. – Helge Eilers: Die Satzsyntax der ahd. Isidor-Übers.
Isolani im Vergleich zur lat. Vorlage. In: ebd., S. 61–63. – Y. Desportes: Stimmenvielfalt u. Sprecherwechsel im ahd. ›Isidor‹. In: Strukturen u. Funktionen in Gegenwart und Gesch. FS Franz Simmler. Hg. Claudia Wich-Reif. Bln. 2007, S. 95–176. Ernst Hellgardt
Isolani, Gertrud, eigentl.: G. Sternberg, geb. I., auch: Ger Trud, * 7.2.1899 Dresden, † 19.1.1988 Riehen/Schweiz. – Erzählerin. I., Tochter des Journalisten u. Schriftstellers Eugen Isolani, veröffentlichte neben ihrer Arbeit für Berliner Zeitungen u. den Rundfunk mehrere Romane u. Novellen. In ihrem literar. Salon verkehrten u. a. Brecht, Joseph Roth u. Ernst Weiß. Als Jüdin musste sie 1933 die Arbeit beim Rundfunk aufgeben. Im selben Jahr emigrierte sie nach Paris, wo sie wieder journalistisch tätig war. 1940 wurde sie zunächst in Paris, später im Frauenlager Gurs interniert. Ihre Erlebnisse in Gurs schildert sie in dem in mehrere Sprachen übersetzten Roman Stadt ohne Männer (Zürich 1945). Nach ihrer Entlassung aus dem Lager lebte sie in Südfrankreich u. floh 1942 in die Schweiz, wo sie ihre journalistische u. schriftstellerische Arbeit wieder aufnahm. Weitere Werke: Golda Meir. Israels Mutter Courage. Ein Lebensbild. Basel 1969. – Briefe Gespräche Begegnungen. 1. Tl. der Memoiren. Köln/ Wien 1985. Literatur: Anja Clarenbach: G. I. u. Heinrich Eduard Jacob. Korrespondenz über ›Stadt ohne Männer‹. In: Exil 14 (1994), H. 2, S. 37–50. – Lisa A. Bilsky: Adrienne Thomas, G. I., and Gabriele Tergit. German Jewish Women Writers and the Experience of Exile. Diss. Madison 1995 [MikroficheAusg.]. – Renate Wall: G. I. In: Dies.: Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen im Exil. 1933–1945. Gießen 2004, S. 165 ff. Ilse Auer / Red.
Italiaander, Rolf, * 20.2.1913 Leipzig, † 3.9.1991 Hamburg. – Ethnologe, Romancier, Übersetzer u. Herausgeber. Der Sohn holländisch-dt. Eltern besuchte in Leipzig das Gymnasium u. begann dort 1930 das Studium der Naturwissenschaften, Germanistik u. Völkerkunde. Aus polit. Gründen – I. hatte die Studentenverbindung »Paneu-
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ropa-Union« gegründet, die sich für ein geeintes Europa einsetzte – wurde er 1934 von der Universität verwiesen u. führte sein Studium zunächst in Berlin, dann in Rom u. Oxford weiter. Während der NS-Zeit wurden I.s Bücher teilweise verboten; er selbst war nach seinen Berichten Verfolgungen ausgesetzt u. hielt sich während dieser Zeit in Holland u. Italien auf. Allerdings erschienen auch unter der Naziherrschaft mehrere biogr. Werke teils zur Historie der Fliegerei (u. a. Manfred Freiherr von Richthofen, der beste Jagdflieger des Großen Krieges. Bln. 1938) sowie über Größen der dt. Geschichte (Der junge Nettelbeck. Bln. 1938. Neuaufl. Stgt. 1955. Götz von Berlichingen. Bln. 1939). 1947 ließ sich I. in Hamburg nieder u. begründete gemeinsam mit H. H. Jahnn (Briefe an I. in: Auskunft 7, 1987, S. 168–178) die Freie Akademie der Künste, deren Generalsekretär er bis 1968 war, als er wegen Anschuldigungen des Journalisten Horst-Dieter Ebert, die seine Veröffentlichungen während des »Dritten Reichs« betrafen, zurücktrat. I. lehrte als Gastprofessor an zahlreichen außereurop. Universitäten u. begründete 1970 mit seiner Sammlung zeitgenöss. afrikan. Kunst das »Museum Rade« in Hamburg. In eine Stiftung umgewandelt ist die Sammlung heute in Reinbek zu sehen. I.s große Zahl von Publikationen – seine Bibliografie verzeichnet allein über 100 Buchveröffentlichungen – ist nicht ohne seine zahllosen Reisen vorstellbar. Vom 19. Lebensjahr an bis 1960 unternahm I. zehn Reisen nach Afrika; später richtete er sein Interesse auf Südamerika u. Asien. Seine Reisebücher wie Der ruhelose Kontinent. [...] (Düsseld. 1958) u. Die neuen Männer Afrikas (ebd. 1960) zählten lange zu den einschlägigen Werken über Afrika. Großen Erfolg hatte er auch mit seinem Buch über Lateinamerika, Terra Dolorosa (Düsseld. 1969). I. setzte sich intensiv mit anderen Religionen auseinander, u. a. in der Untersuchung zur mohammedan. Religion, Die Herausforderung des Islam (Gött. 1968). Daneben trat er als Übersetzer sowie Herausgeber u. Kinder- u. Jugendbuchautor hervor (darunter Kalle und der Schuhputzjunge. Augsb. 1980).
63 Weitere Werke: Die neuen Männer Asiens. Düsseld. 1964 (Ber.). – Die Friedensmacher. Kassel 1966 (Ber.). – Akzente meines Lebens. Düsseld. 1980. – Von Lust u. Leid des Schriftstellers. Geesthacht 1983. – Vielvölkerstadt. Hamburg u. seine Nationalitäten. Düsseld. 1986. – GedankenAustausch. Erlebte Kulturgesch. in Zeugnissen aus 6 Jahrzehnten. Hg. Harald Italiaander. Düsseld. 1988. – Herausgeber: Bücherrevision. Zwischen Erfolgen u. Niederlagen. Hbg. 1977. – Briefe: Helmut Schmidt an I. In: Auskunft 8 (1988), S. 314–328. Literatur: Hans Ludwig Spegg (Hg.): Unterwegs mit R. I. Begegnungen, Betrachtungen, Bibliogr. Hbg. 1963. – Diaboado Jules Lompo: Schwarz-weißer Dialog. R. I. u. sein Afrika-Bild. Düsseld. 1989. – Regina Kirchhoff: Ergänzungsbibliogr. R. I. 1977–1991. Herzberg 1997. Gerhard Bolaender / Wilhelm Kühlmann
Ittner, Joseph Albrecht von, * 2.3.1754 bei Bingen/Rheinhessen, † 9.3.1825 Konstanz. – Erzähler, Dichter u. Verfasser volkskundlicher u. biografischer Schriften. Nach dem frühen Tod seines Vaters, eines kurmainzischen Beamten, verbrachte I. seine Jugend bei seinem strengen Oheim, dem Leibarzt des Mainzer Kurfürsten. Er besuchte das Mainzer Jesuitengymnasium, ließ sich aber von einem preuß. Offizier zum Kriegsdienst anwerben. Von seiner Familie ausgelöst, studierte er Jura in Mainz u. Göttingen, wo Heyne sein Interesse für die griech. Dichtung förderte. Die juristische Praxis übte I. beim Reichskammergericht in Wetzlar, in Regensburg u. in der Kanzlei des Reichshofrats in Wien. Danach wirkte er als Hofrat u. Archivar des Fürsten von HohenzollernHechingen; 1786 wurde er Kanzler des Großpriorats von Deutschland des Malteserordens in Heitersheim. Hier assoziierte er sich dem Dichterkreis um den Freiburger Dichterprofessor Johann Georg Jacobi u. richtete in dem botan. Garten des Schlosses einen Dichterwinkel ein (›Poet’s Corner‹), den Jacobi in einer Epistel an Gottlieb Konrad Pfeffel pries (in: Iris, 1805). I. trug zu Jacobis Freiburger Almanach »Iris« v. a. mytholog. u. völkerkundl. Aufsätze bei. In seinen biografisch angelegten Erzählungen u. Prosaskizzen dominiert ein auf-
Ittner
geklärter Humanismus. Meist als Rahmenerzählungen komponiert, lässt I. seine Figuren als Binnenerzähler selbst zu Wort kommen u. ihre Lebensentwürfe erklären. So kompensiert Der Prälat, Titelgestalt von I.s bedeutendster Erzählung, den Verzicht auf seine Jugendliebe mit segensreichem Wirken im Dienste des niederen Volkes, u. in dem gefangenen türk. Schiffskapitän Ali lässt I. in religiöser Toleranz einem »edeln Muselmanne« Gerechtigkeit widerfahren. Neben Digressionen im Stile Sterne’s spielen in den heiteren Erzählungen klass. Reminiszenzen eine große Rolle (Neuausg. u. d. T. Der schöne Scharfrichter. Konstanz 1983). I.s Dichtungen in griech. u. lat. Sprache wurden wegen ihrer gelehrten Sprache u. Form bewundert, u. Johann Peter Hebel schrieb dem »vir amicissimus« lat. Briefe u. widmete ihm ein alemann. Gedicht (An den Geheimrat von Ittner). In Heitersheim verlebte I. die »glücklichsten Jahre seines Lebens«, ehe er nach der Säkularisation des Ordens 1805 als Staatsrat in badische Dienste trat. 1806/07 führte er im Auftrag des Großherzogs die Säkularisation des Klosters St. Blasien durch; anschließend war er Kurator der Universität Freiburg im Breisgau. I. setzte sich für den botan. Garten der Universität ein; er besorgte wertvolles Pflanzenmaterial, u. a. von Carl Christian Gmelin (1762–1837) aus Karlsruhe, der eine Pflanzengattung nach seinem naturkundlich interessierten Freund »Ittnera« benannte. 1807–1818 war I. außerordentlicher badischer Gesandter in der Schweiz. Daraus resultieren seine Verbindungen zu David Heß, Johann Georg Müller u. Heinrich Zschokke, zu dessen Zeitschriften er kulturgeschichtl. Beiträge lieferte. 1812 wurde I. Direktor des Seekreises in Konstanz, wo er bis zu seinem Tod lebte. In Konstanz blieb er dem oberrheinischen Dichterkreis um Jacobi verbunden. So war er neben Joseph von Laßberg mit dem Bistumsverweser Ignaz Heinrich Karl von Wessenberg befreundet, der für einen aufgeklärten Katholizismus im Geiste Jacobis eintrat, u. schrieb – als Denkmal ihrer Freundschaft – die ausführl. Biografie des 1814 verstorbenen Jacobi (Leben Johann Georg Jacobis), die in dessen Werkausgabe aufgenommen wurde (Bd. 8, Zürich 1822). Hein-
Itzinger
rich Schreiber, ein Mitgl. des oberrheinischen Dichterkreises, gab auch I.s Werke heraus u. verfasste dessen Biografie. Werke: Werkausgabe: Schr.en. Hg. Heinrich Schreiber. 4 Bde., Freib. i. Br. 1827–29 (Digitalversion: http://freimore.uni-freiburg.de/receive/ DocPortal_author_00010064). Bd. 1: Erzählungen. Bd. 2: Erzählungen u. scherzhafte Aufsätze. Bd. 3: Vermischte Schr.en. Bd. 4: Ausgew. Briefw. Nebst dessen [J. A. v. I.s] Leben [v. H. Schreiber]. – Einzelwerke: Ueber die Gesetze u. Verfassung der Maltheser-Ordens Republick. Karlsr. 1797. – Paul der Erste, russ. Kaiser, als Großmeister des Malteserordens. Wichtiger Beitr. zur neuesten Gesch. dieses Ordens. Aarau 1808. – Piae Memoriae Caroli Friderici Magni Badarum ducis. Zürich 1811 (wieder: Hg. Franz Karl Grieshaber. Rastatt 1834 u. ebd. 1844). Literatur: Friedrich v. Weech: Josef Albert v. I. In: Bad. Biogr.n. Hg. ders. Bd. 1, Heidelb. 1875, S. 427–429. – Adalbert Elschenbroich: J. A. v. I. In: NDB. – Otto Weiner: J. A. v. I. u. Johann Georg Müller. In: Bad. Heimat 41 (1961), S. 310–317. – Achim Aurnhammer u. C. J. Andreas Klein: Johann Georg Jacobi u. sein oberrhein. Dichterkreis: 1784–1814. 2., erw. u. verb. Aufl. Freib. i. Br. 2001, S. 118–123. – Hermann Wiegand: ›In der imperatorischen Kürze der Römer‹ – Ein lat. Lebensbild Großherzog Karl Friedrichs v. Baden aus dem Jahr 1811. In: 200 Jahre Vereinigtes Großherzogl. Lyceum. Karl-Friedrich-Gymnasium Mannheim. Hg. ders. u. Wilhelm Kreutz. Heidelb. u. a. 2008, S. 19–38. Achim Aurnhammer
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seiner Werke. Die passende Analogie zu seiner Zeit glaubte I. in der Epoche der blutigen oberösterr. Bauernkriege gefunden zu haben: Mit seiner Romantrilogie Ein Volk steht auf rief er unverhohlen zum Widerstand gegen den Ständestaat auf. Der erste Teil, Das Blutgericht am Haushamerfeld (Graz/Lpz. 1933. Neuaufl. 1941. 1. Fassung u. d. T. Der Bauerntod. Ebd. 1925), wurde 1935 beschlagnahmt u. nach kurzzeitiger Freigabe erneut mit einem Verbreitungsverbot (bis Febr. 1937) belegt. Auch die Folgebände Es muß sein! (Graz/Lpz. 1936. Neuaufl. 1941) u. Ums Letzte (ebd. 1937. Neuaufl. 1941) wurden erst nach dem März 1938 ungehindert verbreitet. Weitere Werke: Der Sündenbock. Graz 1922 (R.). – ›Nie wieder Habsburg!‹ Die Habsburger in der Gesch. der Deutschen. Mchn. 1937 (polit. Pamphlet). – Tgb. vom 10. Febr. bis 13. März 1938. Linz 1938. – Der Ketzerfürst. Graz/Lpz. 1941. Mchn. 1967 (R.). Literatur: Beatrix Müller-Kampel: ›Ein hohes Lied dt. Heldentums‹. Elemente nationalsozialist. Ideologie in K. I.s Bauernkriegstrilogie ›Ein Volk steht auf!‹ In: ÖGL 32 (1988), S. 134–146. – Yutaka Katsube: K. I. (1888–1949) u. seine Zeit. Bauerndrama der Heimat, Festaufführung u. Zeremonie. Sendai 1993, S. 147–160. Johannes Sachslehner / Red.
Ivanji, Ivan, * 24.1.1929 Veliki Beckerek (Groß-Betschkerk, heute: Zrenjanin), Vojvodina, Jugoslawien. – Romanautor, Itzinger, Karl, auch: Kunz Iring, * 26.2. Essayist, Journalist, Übersetzer; Diplo1888 Ried im Innkreis, † 13.4.1948 Linz. mat. – Erzähler. Nach einer Handwerkerlehre wurde I. Mitarbeiter des »Salzburger Bauernbündlers«, einem Organ des Landbundes. 1919 übernahm er die Schriftleitung des Blatts, 1920 auch die der »Oberösterreichischen Bauernzeitung«. Als deren späterer Verleger u. Herausgeber weiterer regionaler Blätter gewann er bedeutenden polit. Einfluss; 1931 wurde er Pressereferent des Landbundes u. schloss sich in der Folge der NSDAP an. Im »Dritten Reich« avancierte I. zum SA-Obersturmbannführer. Nach 1945 kam sein Gesamtwerk auf den Index des österr. Unterrichtsministeriums. Grund dafür war der kämpferisch deutschnationale u. antiklerikale Ton
Der Sohn eines jüd. Arztes kam bei einer Tante in Novi Sad unter, nachdem 1941 seine Eltern verhaftet worden waren. Im Jan. 1942 wurde er Augenzeuge von Massakern an der Donau. 1944/45 war er in den Konzentrationslagern Auschwitz u. Buchenwald interniert. Nach dem Krieg studierte er an der Universität Belgrad Architektur u. Germanistik. I. war u. a. in der Bauwirtschaft, als Lehrer, Journalist, Verlagslektor u. Dramaturg tätig u. leitete mehrere Belgrader Theater. 1974–1978 arbeitete er als Botschaftsrat Jugoslawiens in Bonn, danach bis 1981 im jugoslaw. Außenministerium in Belgrad. Seine Erinnerungen an seine Tätigkeit in der Politik u. der Welt der Diplomatie erschienen
Ivanji
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u. d. T. Titos Dolmetscher. Als Literat am Pulsschlag der Politik (Wien 2007. Zuerst Beograd 2005). 1982–1988 war I. Generalsekretär des jugoslaw. Schriftstellerverbandes. Er lebt in Wien u. Belgrad. Seine Erfahrungen verarbeitete I. in zahlreichen Romanen. In Schattenspringen (Wien 1993. Neuaufl. Wien 2009) schildert er, wie ein Sechzehnjähriger das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebt. Zusammen mit seinen erwachsenen tschech. Freunden verlässt er das Lager Buchenwald u. kommt nach Magdeburg, wo er die Arbeit in einer Ambulanz aufnimmt. Neben der Jagd nach Lebensmitteln ist die erste Liebe in einer zerstörten Stadt leitendes Thema. »Der Kleine« kehrt schließlich in sein Heimatdorf zurück, doch von seiner Familie hat keiner überlebt. Nach dem Roman Ein ungarischer Herbst (Wien 1995), einer Schilderung des ungarischen Volksaufstandes von 1956 aus dem Blickwinkel eines jungen, verliebten Sportjournalisten, verflocht I. in dem Roman Barbarossas Jude (Wien 1996) die Geschichte des Übersetzers Friedrich Barbarossas, des Juden Isaak, der sich nach dem Tod des Kaisers in Serbien niederließ, mit der Geschichte des ehem. jugoslaw. Agenten Marko, der im Jahr 1993 seine Tochter u. deren Kinder aus dem besetzten Sarajewo zu retten versucht. In dem Roman Die Tänzerin und der Krieg (Wien 2002) wird anhand der Biografie des serb. Waisenmädchens Daria, das Tänzerin wird, die
wechselvolle Geschichte Jugoslawiens erzählt. I. verfasste auch Beiträge zu polit. Themen für dt. Zeitungen u. Zeitschriften, u. a. für den »Spiegel« u. den »Rheinischen Merkur«. Er übersetzt seine eigenen Romane sowie Bücher von Danilo Kisˇ u. anderen jugoslaw. Autoren ins Deutsche sowie Werke deutschu. ungarischsprachiger Autoren ins Serbokroatische (u. a. von H. Böll, W. Borchert, B. Brecht, M. Dor, M. Frisch, G. Grass, K. Jaspers, P. Weiss; S. Petöfy, M. Szabó, S. Veres). Weitere Werke: Zˇivec´u uvek prolec´em. Beograd 1950 (L.). – Smesˇak pod tacˇkom razno. Novi Sad 1951 (L.). – Vozovi. Beograd 1952 (L.). – Dioklecijan. Beograd 1973. Dt.: Kaiser Diokletian. Bln./DDR 1976, Mchn. 1978 (R.). – Nemacˇke teme. Devet eseja. Beograd 1975. – Smrt na Zmajevoj steni. Beograd 1982. Dt.: Der Tod auf dem Drachenfels. Dorsten 1984. – Konstantin. Beograd 1988. Dt.: Kaiser Konstantin. Bln./DDR 1988 (R.). – Rache u. Scham. Das Schicksal der Volksdeutschen in Jugoslawien. WDR 1990 (Feature). – Der gutherzige Hai. Eine Erzählung für Erwachsene u. Kinder. Wien 1991. – Er nannte sich Südwind. ORF 1993 (Hörsp.). – Die andere Seite der Ewigkeit. Zwanzig Gesch.n vom Tod. Wien 1994. – Das Kinderfräulein. Wien 1998 (R.). – Der Aschenmensch v. Buchenwald. Wien 1999 (R.). – Wetten am Tor. Wien 2000 (E.). – Geister aus einer kleinen Stadt. Wien 2008 (R.). Literatur: Thomas Kraft: I. I. In: LGL. Bruno Jahn
J Jablonski (bis 1685 Figulus), Daniel Ernst, * 20. (oder 26.) 11.1660 Nassenhuben bei Danzig, † 25.5.1741 Berlin. – Evangelischer Theologe, Hofprediger, Bischof der Unitas Fratrum. J.s Vater, Peter Figulus († 1670), aus dem Dorf Jabloni stammend, war Senior der böhmischen Brüderunität (1662) u. Prediger der reformierten Gemeinde in Memel (1667), seine Mutter Elisabeth († nach 1670) eine der beiden Töchter von J. A. Comenius. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Lissa (Leszno) nahm er am 2.6.1677 das Studium der Theologie in Frankfurt/O. auf, das er 1680–1683 in Oxford fortsetzte, wo ihm später (am 26.4.1706) der theolog. Doktorgrad verliehen wurde. Dort habe er, wie es in seinem Brief v. 10.1.1708 an den anglikan. Theologen William Nichols heißt (Darlegung, S. 5 u. 49), nach Überwindung tiefer Vorurteile gegenüber der engl. Kirche zudem erkannt, dass diese »dem Musterbilde der ersten christlichen Kirche weit näher« komme als jede andere reformierte Kirche (»eamque [...] inter omnes Ecclesias Reformatas ad exemplar Ecclesiae Primitivae proxime accedere«). Aus England zurückgekehrt, wurde J. 1683 zum Feldprediger in Magdeburg, 1686 zum Prediger der poln. Brüderunität in Lissa u. Rektor des dortigen Gymnasiums berufen. Am 7.2.1688 heiratete er Barbara Fergushill, die Tochter eines schott. Emigranten, mit der er zahlreiche Kinder hatte. 1691 wurde J. Hofprediger in Königsberg, 1693 auf Vorschlag des Ministers Paul von Fuchs am Berliner Dom. Am 10.3.1699 weihte ihn die poln. Unitas Fratrum zu ihrem Senior u. Bischof; in diesem Amt vertrat er die Interessen der
evang. Gemeinden in Polen, Böhmen u. Ungarn am Berliner Hof. An der von Leibniz angeregten Gründung einer Akademie der Wissenschaften in Berlin war J. maßgeblich beteiligt; zusammen hatten sie die Statuten der 1700 vom Kurfürsten gestifteten Sozietät entworfen, die freilich erst 1711 offiziell eröffnet wurde. J. leitete viele Jahre die orientalistische Klasse; 1733–1741 war er Präsident der Akademie, sein Bruder Johann Theodor (1654–1731) ihr ständiger Sekretär. Ab 1697 bemühte sich J. in persönl. u. briefl. Gesprächen mit Leibniz, in die auch Gerardus W. Molanus, Abt des Klosters Loccum, einbezogen war, um eine Vereinigung der getrennten protestantischen Konfessionen, die über die bloße wechselseitige Ziviltoleranz hinausgehen sollte. Dieses Ziel suchte er v. a. durch die Einführung der anglikan. Liturgie u. des Episkopats in Preußen herbeizuführen. Dabei betonte er, dass die Abkehr vom presbyterialen Kirchentum u. die Redintegration des Bischofsamtes nicht das landesherrl. Summepiskopat angreife (Entwurf [...] zur Einführung des Episcopates in den Staaten des Königs von Preußen. In: Darlegung, S. 92–107). Von seinen die Unionsbemühungen betreffenden Schriften sind die wenigsten zu seinen Lebzeiten gedruckt worden, andere wie etwa die Kurtze Vorstellung der Einigkeit und des Unterschiedes im Glauben, beyder Evangelischen so genandten Lutherischen und Reformirten Kirchen (1697; Auszüge bei Hübener, S. 126 f.) u. sein Votum (für Paul von Fuchs) über das ›decretum absolutum‹ (1698) noch unveröffentlicht. Trotz des ergebnislosen Verlaufs des vom König einberufenen ›Collegium Irenicum‹ in Berlin (1703) setzte J. seine iren. Anstrengungen – auch nach dem Tod von Leibniz († 1716) u. Molanus († 1722) – unbeirrt fort. 1718 wurde
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er zum Mitgl. des luth. Konsistoriums ernannt; 1728 trat er als Kirchenrat in das reformierte Kirchendirektorium in Berlin ein. Mit großer Anteilnahme verfolgte J. die Entstehung der Herrnhuter Brüdergemeine, an die er das Bischofsamt weitergab. Am 13.5.1735 weihte er David Nitschmann zu ihrem ersten Bischof u. später (am 20.5.1737) auch den Grafen N. L. v. Zinzendorf (vgl. Büdingische Sammlung, Bd. 1, Register). Neben seiner kirchl. u. kirchenpolit. Arbeit entfaltete J. eine rege wiss. Tätigkeit als Herausgeber – u. a. veranstaltete er eine hebräische Ausgabe des AT (Biblia Hebraica cum notis hebraicis et lemmatibus latinis [...]. Bln. 1699) – und als Vermittler engl. religiöser Literatur, die er in dt. u. lat. Übersetzungen zugänglich machte. Die Geschichte seiner Kirche behandelte er in der Historia consensus Sendormiriensis (Bln. 1731). Weitere Werke: Eines wahren Christen eigentl. Kennzeichen, u. hohe Ehre, aus den Worten St. Pauli Rom. VIII. v. 14. [...]. Cölln a. d. Spree o. J. [1697]. – Iura et libertates dissidentium in religione christiana in regno Poloniae, et M. D. Lithuaniae [...]. o. O. [Bln.] 1708 u. ö.; dt.: Rechte u. Freyheiten [...]. Stargard o. J. [1714]. – Unvorgreifl. Gedancken v. der Union, oder Vereinigung beider Evang. Kirchen (1716). In: Kvacˇala, S. 142–147. – An.: De ordine et successione episcopali in Unitate Fratrum Bohemorum conservato etc. 1717. ad Dn. Guilielmum Wake. In: Christoph Matthäus Pfaff: Origines juris ecclesiastici [...]. Tüb. 1756, S. 309–328. – Christl. Predigten, über verschiedene auserlesene Sprüche, Heil. Schrifft [...]. I.-VIII. Zehend. Bln. 1717–27 u. ö. – An.: Das betrübte Thorn [...]. Bln. 1725 (auch Joh. Theod. J. zugeschrieben). – Ad [...] Paulum Aemilium de Mauclere [...] epistola apologetica [...]. Bln. 1731. – Betrachtungen v. dem göttl. Ursprung der Heil. Schrift [...]. Bln. 1741. – Briefe und Gutachten: Johann Erhard Kapp: Slg. einiger vertrauten Briefen, welche zwischen [...] Leibnitz, u. [...] J., auch andern Gelehrten, bes. über die Vereinigung der Luth. u. Reformirten Religion [...] gewechselt worden sind [...]. Lpz. 1745. – Darlegung der im vorigen Jh. wegen Einf. der engl. Kirchenverfassung in Preußen gepflogenen Unterhandlungen. Urkundlich belegt mit Briefen v. dem Hofprediger J. [...] u. Andern. Lpz. 1842. – Jan Kvacˇala (Hg.): Neue Beiträge zum Briefw. zwischen D. E. J. u. G. W. Leibniz. Jurjew 1899. – Übersetzungen: Henry Ainsworth: Das HoheLied Salomonis [...]. Frankf. 1692 u. ö. (Solomons
Jablonski song of songs [...]. o. O. 21623). – Gilbert Burnet: De praedestinatione et gratia tractatus [...]. Bln. 1701 u. ö. (Teilausg. aus: An exposition of the thirty-nine articles of the Church of England. London 1699). – Richard Bentley: Stultitia et irrationabilitas atheismi [...]. Bln. 1696 (The folly and unreasonableness of atheism [...]. London 1693). – Josiah Woodward: Ber. v. dem Uhrsprung u. Fortgang der gottseligen Gesellschafften in der Stadt London [...]. Bln. 1700 (An account of the rise and progress of the religious societies in the city of London [...]. London 21698). Literatur: Büding. Slg. einiger in die KirchenHistorie einschlagender [...] Schrifften. 3 Bde., Büdingen 1742–44. Nachdr. in: Zinzendorf: Erg.Bde. VII-IX. Hildesh. 1965/66 (Register). – Catalogus librorum, viri [...] D. Dan. Ernesti J. [...]. Bln. 1742. – Adolf Harnack: Gesch. der königl. preuß. Akademie der Wiss.en zu Berlin. 3 Bde., Bln. 1900. – Norman Sykes: D. E. J. and the Church of England [...]. London 1950. – Rudolf v. Thadden: Die brandenburg-preuss. Hofprediger im 17. u. 18. Jh. Bln. 1959. – Eduard Winter: D. E. J. u. die Berliner Frühaufklärung. In: Ztschr. für Geschichtswiss. 9 (1961), S. 849–863. – P. Brock: D. E. J. and education in Lower Lusatia. In: The Slavonic and East European Review 44 (1966), S. 444–453. – Walter Delius: Berliner kirchl. Unionsversuche im 17. u. 18. Jh. In: Jb. für berlin-brandenburg. Kirchengesch. 45 (1970), S. 7–121. – Hans Hohlwein: D. E. J. In: NDB. – Dietrich Meyer: D. E. J. In: TRE. – Wolfgang Hübener: Negotium irenicum. Leibniz’ Bemühungen um die brandenburg. Union. In: Studia Leibnitiana, Sonderh. 16 (1990), S. 120–169. – Estermann/Bürger, Bd. 1, S. 693 f.; Bd. 2, S. 805–808. – Maria C. Pitassi: ›Nonobstant ces petites differences‹: enjeux et présupposés d’un projet d’union intra-protestante au début du XVIIIe siècle. In: La Tolérance: Colloque international tenu à Nantes en mai 1998 [...]. Hg. Guy Saupin. Rennes 1999, S. 419–426. – Jürgen Splett: D. E. J. In: Noack/Splett, Bd. 2 (2000), S. 203–216 (mit Werk-, Brief- u. Nachlassverz., teilweise korrekturbedürftig). – D. Meyer: D. E. J. u. seine Unionspläne. In: Irenik u. Antikonfessionalismus im 17. u. 18. Jh. Hg. Harm Klueting. Hildesh. u. a. 2003, S. 153–175. Reimund B. Sdzuj
Jacob
Jacob, Heinrich Eduard, eigentl.: Henry Edward J., auch: Eric-Jens Petersen, Henry J., Andrea Serbelloni, * 7.10.1889 Berlin, † 25.10.1967 Salzburg. – Erzähler, Sachbuchautor.
68 Weitere Werke: Romane: Jacqueline u. die Japaner. Bln. 1928. Neuaufl. Reinb. 1989. – Ein Staatsmann strauchelt. Wien 1932. Reinb. 1990. – Estrangeiro. Ffm. 1951. Neuaufl. Reinb. 1988. – Stationen dazwischen. Mit einem Epilog v. Alfred Döblin. Bln.-Köpenick 1993. – Sachbücher: Sage u. Siegeszug des Kaffees. Bln. 1934. Erw. Neuaufl. 1952. U.d.T.: Kaffee. Mchn. 2006. – Sechstausend Jahre Brot. New York 1944. Dt. Hbg. 1954. – Mit dem Zeppelin nach Pernambuco. Bln.-Köpenick 1992 (Reiseber.). – Biografien: Joseph Haydn. Seine Kunst, seine Zeit, sein Ruhm. New York 1950. Dt. Hbg. 1952. 31970. – Mozart oder Geist, Musik u. Schicksal eines Europäers. Ffm. 1956. Neuaufl. Mchn. 2005. Literatur: Hans J. Schütz: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Vergessene u. verkannte Autoren des 20. Jh. Mchn. 1988, S. 129–134. – Jeffrey B. Berlin: In exile. The friendship and unpublished correspondence between Thomas Mann and H. E. J. In: DVjs 64 (1990), H. 1, S. 172–187. – Hans Jörgen Gerlach: H. E. J. Between Two Worlds / Zwischen zwei Welten. Aachen 1997. – J. B. Berlin: ›Durch mich geht’s ein zur Stadt der Schmerzerkorenen, durch mich geht’s ein zum ewigl. Schmerz. [...] Laßt, die ihr eingeht alle Hoffnung fahren!‹ – The unpublished correspondence of H. E. J. in KZ Dachau and Buchenwald 1938–1939. In: GRM, N. F. 49 (1999), H. 3, S. 307–331. – Anja Clarenbach: ›Finis Libri‹ – Der Schriftsteller u. Journalist H. E. J. (1889–1967). Diss. Hbg. 2000 [2003 als Volltext im Internet veröffentlicht]. – H. J. Gerlach: H. E. J. In: Dt. Exillit., Bd. 3, Tl. 1, S. 215–257. – Ders.: H. E. J. In: MLdjL. – LöE. – Isolde Mozer: Zur Poetologie bei H. E. J. Würzb. 2005. – Jens-Erik Hohmann: Unvergänglich Vergängliches. Das literar. Werk H. E. J.s (1889–1967). Lübeck/Marburg 2006. – Jan Brandt: Der Biograph der Dinge. Wie u. warum H. E. J. vom Romancier zum Sachbuchautor wurde. In: Non-Fiktion 2 (2007), H. 1. – Lex. dt.jüd. Autoren. Hans J. Schütz † / Red.
Nach dem Studium war J., Sohn eines Bankdirektors, Ägyptologen u. Zeitungsherausgebers, bis 1927 in Berlin als Journalist tätig. 1927–1933 war er Chefkorrespondent des »Berliner Tageblatts« in Wien. 1933 standen seine Bücher auf der ersten »Schwarzen Liste« der Nationalsozialisten, die ihn vom 1.4.1938 bis zum 10.1.1939 in den Konzentrationslagern Dachau u. Buchenwald inhaftierten. Nach seiner Freilassung emigrierte J. über England in die USA. Nach dem Krieg lebte er abwechselnd in New York u. verschiedenen Orten Westeuropas. Bis 1939 war der produktive u. vielseitige J. ein anerkannter Autor, dessen Werk sich durch Erfindungsreichtum u. eine sensible u. prägnante Sprache auszeichnet. Er verstand sich als Kosmopolit u. fühlte sich dem abendländ. Humanismus verpflichtet. Nach 1945 geriet er mit einem großen Teil seines Werks in Vergessenheit u. scheint als bedeutender Autor der Weimarer Zeit erst seit Mitte der 1980er Jahre wiederentdeckt zu werden. J.s expressionistisch gefärbtes Frühwerk behandelt zeitgeschichtl. Themen im Roman Der Zwanzigjährige (Mchn. 1918. Neuaufl. Bln. 1983) u. histor. Stoffe in der Erzählung Das Flötenkonzert der Vernunft (Bln. 1923). Sein bester Roman Blut und Zelluloid (Bln. 1930. Neuaufl. Bad Homburg 1986) ist der Neuen Sachlichkeit zuzurechnen. Von der zeitgenöss. Kritik als polit. Roman begriffen, setzt er sich kritisch mit der kapitalistischen Filmwirtschaft u. den Gefahren einer Mas- Jacobi, Friedrich Heinrich, * 25.1.1743 senmanipulation durch das Medium Film Düsseldorf, † 10.3.1819 München; Grabstätte: ebd., Alter Südlicher Friedhof. – auseinander. Mit seinen Büchern über den Kaffee u. das Romanschriftsteller; Philosoph. Brot gilt J. als einer der Begründer der Gat- Dem väterl. Wunsch entsprechend, kam J., tung des modernen Sachbuchs. Er bezog Bruder von Johann Georg Jacobi, 1759 als historisch-polit. wie kulturgeschichtl. As- Handelslehrling nach Frankfurt/M. u. Genf. pekte ein u. schrieb mit profunder Sach- Das Manufakturwarengeschäft seines Vaters kenntnis u. großer Anschaulichkeit. Seine übernahm er 1764, im Jahr seiner Heirat mit Bücher wurden in viele Sprachen übersetzt. Helene Elisabeth von Clermont. J. aber nutzte diese finanzielle Freiheit, um sich dem J. trat auch mit Musikerbiografien hervor.
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Schöngeistigen zuzuwenden. Während seines Genfer Aufenthalts 1759–1762 war er durch den Mathematiker Georges-Louis Le Sage mit der Philosophie, bes. mit den Ideen Voltaires u. Rousseaus, vertraut geworden; autodidaktisch beschäftigte er sich mit Spinoza, Leibniz, Bonnet u. Kant. Zugleich boten sich J. im öffentl. Leben Möglichkeiten: 1765 wurde er Schatzmeister der Loge »La Parfaite Amitié« zu Düsseldorf; 1772 erlaubte ihm die Ernennung zum kurfürstl. Hofkammerrat, den Kaufmannsberuf aufzugeben. Sieben Jahre später ernannte man ihn zum Geheimen Rat u. zum Ministerialreferenten für das pfalzbayer. Zoll- u. Handelswesen. Als Verfechter der Freiheit des Individuums machte J. Reformvorschläge, u. a. zur Rationalisierung der Zölle u. zur Abschaffung der Leibeigenschaft, konnte sich aber nur teilweise durchsetzen. Nach Düsseldorf zurückgekehrt, widmete er sich hauptsächlich literar. Projekten. Bereits 1772 hatte er mit Wieland den Plan einer dt. Zeitschrift nach Vorbild des »Mercure de France« entwickelt. In der Folge verfasste er Rezensionen u. Aufsätze für diesen »Teutschen Merkur«. Die Begegnung mit Wieland, Sophie von La Roche u. Goethe ließ empfindsame Freundschaften entstehen u. regte J. zu seinen Romanen Eduard Allwills Papiere u. Woldemar an. Enttäuscht von der Reaktion v. a. Goethes, schrieb J. seitdem ausschließlich philosophische Abhandlungen, häufig in Form von Sendschreiben oder aus seinem Briefwechsel hervorgehend. Von J. sind etwa 2600 Briefe überliefert; er korrespondierte u. a. mit Wieland, Goethe, Nicolai, Lavater, Heinse, Claudius, Klopstock, Georg Forster, Lessing, Hamann, Herder, Mendelssohn, Lichtenberg, Jean Paul, Fichte u. Schelling. Nachdem J. auf Reisen durch Deutschland viele bedeutende Schriftsteller kennen gelernt hatte u. sein Haus in Pempelfort bei Düsseldorf zu einer Begegnungsstätte von Dichtern u. Philosophen geworden war, musste er 1794 vor den frz. Truppen nach Holstein fliehen. Einem Aufenthalt in Paris 1801/02 folgte 1805 der Umzug nach München, wo J. in die Bayerische Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde; 1807–1812 war er deren Präsident. Schon
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seine Eröffnungsrede Ueber gelehrte Gesellschaften, ihren Geist und Zweck (Mchn. 1807) bezog eine kontroverse Stellung zu Schelling. Die Auseinandersetzungen führten schließlich dazu, dass J. 1812 in den Ruhestand versetzt wurde. Bis zu seinem Tod beschäftigte ihn die Gesamtausgabe seiner Werke. Briefe – echte u. fingierte – prägten J.s Schaffen, wobei Allwill ein reiner Briefroman in der Tradition von Richardson, Rousseaus Julie u. Goethes Werther ist, der Woldemar dagegen der Versuch eines philosophischpsycholog. Romans mit eingestreuten Briefen. Das Entstehungsjahr 1775 der ersten Fassung von Eduard Allwills Papieren (erschienen in: Iris 4,3, 1775, S. 193–236. Dann in: Teutscher Merkur, April u. Juli 1776. Davon Neudr., hg. Heinz Nicolai. Stgt. 1962) ist zweifach mit Goethe verknüpft: 1774 waren Die Leiden des jungen Werthers erschienen, u. am 22. Juli desselben Jahres hatte J. mit Goethe einen enthusiastischen Freundschaftsbund geschlossen. Allwill trägt eindeutig Züge Goethes. Er ist der moderne Mensch, der alles will, ein »mächtiger Genius« (Werke 6,1, S. 72) von »brausende[r], unaufhörlich gährende[r] Natur« (S. 70). Wie Werther hat er ein tiefes Verhältnis zur Natur, welche die Landschaften seiner Seele abzubilden scheint; wie jener übt er Kritik an der adligen Gesellschaft u. verkündet ein Ideal von Leidenschaft u. Freiheit des Herzens. Aber nicht in einer fortlaufenden Geschichte wie Werther, sondern in fragmentar. Reihung von Briefen verschiedener Korrespondenzpartner wird Allwill charakterisiert. Ziel des Romans sei es gewesen, so J. an Hamann am 16.6.1783, »Daseyn zu enthüllen«. Das gilt v. a. für die Figuren Sylli u. Allwill. Sylli verkörpert das Ideal der reinen Liebe einer Schönen Seele. Dem Schicksalsfatalismus setzt sie eine Seelenkultur der »Fülle des Herzens« (Werke 6,1, S. 10) entgegen, getragen von Unschuld u. allumfassender Liebe. Ihr gegenüber steht Eduard Allwill. Er vertritt einen rigorosen eth. Subjektivismus, verwechselt triebhafte u. sittl. Liebe, seinem »tobenden Herzen« (S. 48) fehlt Mäßigung. J. gestaltete in ihm die Kritik am Missverhältnis von monomanisch um sich kreisendem Individuum u. allg. Sittengesetz. J.s Lösung lautet: »Süße, reine, ew i ge Won-
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ne der Unschuld – das ist es doch; ja, Eduard! das ist es was auch Du suchst – ach! [...] Liebe allein kann ihn retten [...]« (S. 80). In J.s zweitem Roman Woldemar (Flensburg/Lpz. 1779. Ausg. in 2 Tln., Königsb. 1794) findet sich diese Vorstellung wieder, angeregt von der Beziehung zu Goethe, wobei die krit. Auseinandersetzung mit dem im Allwill entwickelten Freundschaftsideal Distanz zur früheren Empfindsamkeit verrät. Mit den Begriffen Freundschaft – Liebe – Sympathie gestaltet J. die Geschichte der Beziehung zwischen Woldemar, Henriette u. Allwina, aber nicht, um eine »ménage à trois« zu thematisieren, sondern das Verhalten sittlich-gereifter Menschen. Dass solch ein Ideal letztlich Utopie bleiben muss, wird am Ende des ersten Teils deutlich, wenn Freundschaft u. Liebe zu bloßen Chimären zu werden drohen u. Woldemar einsehen muss, dass »stille Zufriedenheit« schwärmerischen »Entzückungen« (Werke 7,1, S. 107) vorzuziehen ist. Einen gewichtigen Teil des Romans machen philosophische Reflexionen aus. J. will eine Seltenheit aus der Naturgeschichte (Untertitel) darbieten, eine Naturgeschichte des menschl. Ringens um die Aussöhnung von unbedingtem Gefühlskult u. rationalistischer Bescheidung. Der 1777 u. d. T. Freundschaft und Liebe u. 1779 als Woldemar publizierte Roman brachte J. die Anerkennung Wielands u. Lessings. Goethe aber, an dessen Urteil J. besonders lag, reagierte spektakulär: Im Sommer 1779 improvisierte er im Ettersburger Park ein Standgericht u. nagelte ein Exemplar des Romans an eine Eiche. Seine Parodie des Woldemar-Schlusses wurde gegen seinen Willen von Herzogin Anna Amalia in Druck gegeben. Den Skandal der Woldemar-Kreuzigung verwand J. lange nicht. Dennoch widmete er Goethe 1796 das um einen zweiten Teil erweiterte u. neu bearbeitete Werk: »es gehört Dir; ich übergeb’ es Dir [...]. Wie hätte ich D ir widerstanden, Du Mächtiger!« (Werke 7,1, S. 206). Der zweite Teil u. d. T. Der Kunstgarten, ein philosophisches Gespräch (zuerst 1781) zeigt als philosophischer Dialogroman J.s gewandelte Romanauffassung. Gespräche über das Verhältnis von Individuum u. Gesellschaft, von Gefühl u. Vernunft treten in
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den Mittelpunkt. Die letztgültige Lösung von Woldemars Lebensproblem liegt in dem Versuch, eine untrennbare Einheit von sittl. Wollen u. Gefühlskultur zu finden; »Gemüth« u. »Grundsätze« gehen eine heilige Allianz ein. Die letzte Woldemar-Fassung von 1794 erfuhr weite Beachtung. Berühmt geworden ist Friedrich Schlegels Rezension (1796), in der er den Begriff der »Friedrich-HeinrichJacobiheit« (Friedrich Schlegel: Kritische Ausgabe 1,2, S. 68) für eine Haltung »vollendeter Seelenschwelgerei« (S. 74) prägte. Er attestierte J.s Figuren zwar »leisestes sittliches Gefühl« (S. 57), mokierte sich aber über die Idee der »gegenseitigen Unheiratbarkeit« von Woldemar u. Henriette (S. 64). »[U]nd das theologische Kunstwerk endigt, wie alle moralischen Debauchen endigen, mit einem Salto mortale in den Abgrund der göttlichen Barmherzigkeit« (S. 77). J.s bedeutendste Leistung scheint in seinen Romanen auf dem Gebiet der Ethik zu liegen (Baum in: TRE); im Allwill scheitert ein »Genie« an der Lebensunmittelbarkeit einer religiös gefestigten Frau, Woldemar ist der dichterische Aufweis, dass den Antrieben des Herzens nicht zensurlos zu folgen ist. J.s große Bedeutung für die Philosophie um 1800 ergibt sich insbes. aus der frühen krit. Rezeption von Kants Transzendentalphilosophie u. dem durch seine ›Spinozabriefe‹ (Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Breslau 1785. 2., erw. Aufl. 1789) ausgelösten Spinozismusbzw. Pantheismusstreit, der zu einer Spinoza-Renaissance führte. Anlass für diese Briefe war ein Gespräch mit Lessing im Juli 1780, der sich bei der Lektüre von Goethes Gedicht Prometheus zum Spinozismus bekannt hatte. J. sollte nun Lessings Freund Mendelssohn hierüber Rechenschaft ablegen. Letzterer versuchte, Lessings Bekenntnis zu Spinoza zu marginalisieren, u. griff Spinozas Philosophie an. Der Streit weitete sich zu einer Debatte um den Rationalismus aus. J.s Spinoza-Auffassung ist vielschichtig u. gab Anlass zu vielen Missverständnissen: Einerseits hielt er Spinozas Philosophie für die einzig konsequente u. rationale Philosophie u. trachtete danach, sie in eigenen Begriffen
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rational zu rekonstruieren: Anstelle von Spinozas Substanzbegriff stellte J. das ›Sein‹. Das ›Sein‹ sei nicht nur ein bloßer Gedanke, sondern das »l au t ere Prinzipium der Würklichkeit in allem Würklichen, des S eyn s in allem Daseyn« (Werke 1,1, S. 39). Der Gedanke des ›Seins‹ gehe allem bestimmten Seienden voraus. Zur Spinozistischen These von der Immanenz der Substanz in aller Wirklichkeit (bzw. allen Seins im Dasein) gelangte er ex negativo: Ein Übergang von einem getrennten Sein ins Dasein sei unbegreiflich, weil aus einem Unendlichen kein Endliches hervorgehen könne. Insofern sei der Spinozismus die einzig mögliche konsequente u. rationale Philosophie. Da jedoch die Philosophie mit ihrer Privilegierung des Verstands immer nur auf Bedingtes u. Determiniertes stoße, sei sie fatalistisch u. werde in den Nihilismus führen. Der Begriff ›Nihilismus‹ gelangte durch J. zu größerer Bekanntheit. Andererseits stellte J. dem Spinozismus seine philosophische Theologie entgegen, in der es einen transzendenten unbedingten Gott, eine »verständige persönliche Ursache der Welt« (Werke 1,1, S. 20) u. menschl. Freiheit gab. Beides entzieht sich der Begründung, weil Begründung Bedingung impliziere. Über die fatalistische Philosophie hinaus gelange man nach J. durch einen »Salto mortale« (Werke 1,1, S. 20), einen Überschlag, in den Glauben, den sich Lessing scherzhaft mit Rücksicht auf sein Alter verbat. J. ging letztlich von einer vorgängigen Gottesgewissheit aus, die er auf unmittelbare Intuition gründete u. die nicht selbst begründet werden konnte. Dieses Wissen nannte er unorthodox ›Offenbarung‹; »Da se yn zu enthüllen, und zu offenbaren« (Werke 1,1, S. 20), wurde ihm zur eigentl. Aufgabe des Forschers. Obwohl J. diese Position mit dem Spinozismus für unvereinbar hielt, konnte ihm doch durch seine Wertschätzung Spinozas eine große Nähe zu dem Niederländer bescheinigt werden. Um sich vom Irrationalismus-Vorwurf zu befreien, den ihm seine Betonung des Glaubens in der Spinozismus-Debatte eingebracht hatte, veröffentlichte J. die Schrift David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus
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(Breslau 1787). J. behauptete hier, er habe ›Glaube‹ im Sinne von Humes ›belief‹ benutzt. Die Beilage Über den transcendentalen Idealismus wurde zu einem ›locus classicus‹ der Kant-Kritik. In dieser Schrift argumentierte J., dass er »o hn e jene Voraussetzung [des Dings an sich und seiner Wirkung auf die Sinne] in das [Kant’sche] System nicht hineinkommen, und mi t jener Voraussetzung darinn nicht bleiben konnte« (Werke 2,1, S. 109). Zwei weitere große Debatten bestimmten J.s Leben nachdrücklich. 1799 wurde er in den Atheismusstreit verwickelt. J. schrieb einen offenen Brief an Fichte (Jacobi an Fichte, 1799), in dem er Fichte als den »wahren Meßias der speculativen Vernunft« (Werke 2,1, S. 194) ansprach u. seinem als Nihilismus verstandenen Idealismus die eigene individuelle Glaubensgewissheit entgegensetzte. 1811 schließlich richtete J. die Schrift Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung gegen Schellings Naturphilosophie u. entfachte damit eine neue Auseinandersetzung. J.s Philosophie bildet den Nährboden, in dem romant. Denken Wurzeln schlug. Sie schuf die Spinoza-Renaissance u. hat bestimmend die klass. dt. Philosophie beeinflusst: in Fichtes Wissenschaftslehren nach 1800, in Hölderlins, Schellings u. Hegels Werken. Wenngleich im Schatten der philosophischen Größen seiner Zeit stehend, J. hat sie alle geprägt. Weitere Werke: Gesamtausgaben: F. H. J.s Werke. 6 Bde., Lpz. 1812–25. Nachdr. Darmst. 1968. – Werke. Hg. Klaus Hammacher u. Walter Jaeschke. Stgt./Hbg. 1998 ff. (zitiert: Werke). – Teilausgabe: Vermischte Schr.en v. F. H. J. 1. Theil, Breslau 1781. – Weitere Einzelwerke: Etwas das Leßing gesagt hat. Bln. 1782. – Briefe: F. H. J.s Auserlesener BriefWechsel. 2 Bde., Lpz. 1825–27. – Briefw. Reihe I (Texte) u. II (Komm.). Stgt. 1981 ff. – ›Ich träume lieber Fritz den Augenblick ...‹. Der Briefw. zwischen Goethe u. F. H. J. Hg. Andreas u. Paul Remmel. Bonn 2005. Literatur: Bibliografie: Ulrich Rose: F. H. J. Eine Bibliogr. Stgt./Weimar 1993. – Weitere Titel: Eberhard Zirngiebl: F. H. J.s Leben, Dichten u. Denken. Wien 1867. – Siegfried Sudhof (Hg.): Der Kreis v. Münster. Briefe u. Aufzeichnungen Fürstenbergs, der Fürstin Gallitzin u. ihrer Freunde. 1. Tl.: 1769–88. 2 Bde., Münster 1962–64. – Renate
Jacobi Knoll: Johann Georg Hamann u. F. H. J. Heidelb. 1963. – Heinz Nicolai: Goethe u. J. Gesch. ihrer Freundschaft. Stgt. 1965. – Günther Baum: Vernunft u. Erkenntnis. Die Philosophie F. H. J.s. Bonn 1969. – Klaus Hammacher: Die Philosophie F. H. J.s. Mchn. 1969. – Ders. (Hg.): F. H. J. Philosoph u. Literat der Goethezeit. Ffm. 1971. – Karl Homann: F. H. J.s Philosophie der Freiheit. Freib. i. Br./ Mchn. 1973. – Jörn Göres (Hg.): Veränderungen 1774:1794. Goethe, J. u. der Kreis v. Münster. Düsseld. 1974 (Kat.). – Hans Blumenberg: ›Zündkraut einer Explosion‹. In: Ders.: Arbeit am Mythos. Ffm. 1979, S. 438–466. – K. Hammacher u. Kurt Christ: F. H. J. Düsseld. 1985 (Kat.). – Peter Paul Schneider: Die ›Denkbücher‹ F. H. J.s. Stgt. 1986. – G. Baum: F. H. J. In: TRE. – K. Christ: J. u. Mendelssohn. Würzb. 1988. – F. H. J. Dokumente zu Leben u. Werk. Stgt. 1989 ff. Darin: Konrad Wiedemann (Hg.): Die Bibl. F. H. J.s. Ein Kat. 2 Bde., Stgt. 1989. – Friedrich Bechmann: J.s ›Woldemar‹ im Spiegel der Kritik. Ffm. u. a. 1990. – Dieter Henrich: Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795). Stgt. 1992, S. 48–73. – Ders. (Hg.): F. H. J. Präsident der Akademie, Philosoph, Theoretiker der Sprache. Mchn. 1993. – Friedrich Vollhardt: Die Romanprojekte F. H. J.s. In: Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Dtschld. Neue Beiträge zur Erforsch. seiner Rezeption. Bln./New York 1994, S. 79–100. – K. Christ: F. H. J. Rousseaus dt. Adept. Rousseauismus in Leben u. Frühwerk F. H. J.s. Würzb. 1998. – Birgit Sandkaulen: Grund u. Ursache. Die Vernunftkritik J.s. Mchn. 2000. – Nicole Schumacher: F. H. J. u. Blaise Pascal. Einfluß – Wirkung – Weiterführung. Würzb. 2003. – Siobhán Donovan: Der christl. Publizist u. sein Glaubensphilosoph. Zur Freundschaft zwischen Matthias Claudius u. F. H. J. Würzb. 2004. – Walter Jaeschke u. B. Sandkaulen (Hg.): F. H. J. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit. Hbg. 2004. – Dieter Martin: Pygmalions Glück u. Krise. Ein Wunsch- u. Warnbild empfindsamer Liebe. In: Gefühlskultur in der bürgerl. Aufklärung. Hg. Achim Aurnhammer. Tüb. 2004, S. 227–242. – Monika Nenon: Aus der Fülle des Herzens. Geselligkeit, Briefkultur u. Lit. um Sophie v. La Roche u. F. H. J. Würzb. 2005. – George di Giovanni: F. H. J. In: The Stanford Encyclopedia of Philosophy. Hg. Edward N. Zalta (Frühjahr 2006; http://plato.stanford.edu/archives/ spr2006/entries/friedrich-jacobi/). – Stefan Schick: Vermittelte Unmittelbarkeit: J. ›Salto mortale‹ als Konzept zur Aufhebung des Gegensatzes von Glaube u. Spekulation in der intellektuellen Anschauung der Vernunft. Würzb. 2006. – Dirk Fetzer: J.s Philosophie des Unbedingten. Paderb. u. a. 2007. – Christopher Meiller: Vernünftiger Glaube –
72 glaubende Vernunft. Die Auseinandersetzung zwischen Kant u. J. Wien/Bln.7Münster 2008. – Carmen Götz: F. H. J. im Kontext der Aufklärung. Diskurse zwischen Philosophie, Medizin u. Lit. Hbg. 2008. Gudrun Schury / Albert Mues / Philip Ajouri
Jacobi, Johann Georg, * 2.9.1740 Düsseldorf, † 4.1.1814 Freiburg i. Br.; Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Lyriker, Erzähler, Herausgeber. Der Vater, Kommerzienrat Johann Konrad Jacobi, stammte aus einer Theologenfamilie, die Mutter, eine geb. Fahlmer, aus einer Düsseldorfer Kaufmannsfamilie. J. erhielt in Düsseldorf eine sorgfältige Erziehung u. war früh mit frz. Sprache u. Literatur vertraut. 1758 begann er in Göttingen mit dem Studium der Theologie. Neben Hebräisch lernte er Italienisch, Englisch u. Spanisch. Ostern 1761 zog er nach Helmstedt, wo er Jura u. Philosophie belegte. Eine »unbesiegbare Hypochondrie« zwang ihn ein Jahr später zur Heimkehr nach Düsseldorf, wo er durch seinen aus Genf zurückgekehrten Bruder Friedrich Heinrich mit der neuen frz. Literatur vertraut gemacht wurde. Im Herbst 1762 setzte J. sein Studium in Göttingen zunächst fort, ließ sich aber bald von Christian Adolph Klotz zum Studium der alten u. neuen Sprachen ermuntern. J. folgte Klotz nach Halle u. erhielt dort 1766 eine Professur der Philosophie u. Beredsamkeit. Im Sommer 1766 lernte er in Bad Lauchstädt Wieland kennen u. Gleim, der den jungen Dichter für sich gewann. Er verschaffte ihm eine Präbende am Mauritius- u. Bonifatiusstift in Halberstadt – seit 1768 war J. Kanonikus. Gleim plante »eine Art Akademie zur Vereinigung der Edelsten Deutschlands und zur Belohnung des Verdienstes« (Brief an J., 18.2.1768), an der auch die übrigen Halberstädter Poeten teilnehmen sollten. Mit Heinse übersiedelte J. – zu Gleims Leidwesen – 1774 nach Düsseldorf, wo die Zeitschrift »Iris« gegründet wurde; Heinse war der Redakteur. 1774 lernte Goethe bei einem Besuch in Düsseldorf die Brüder J. kennen u. wurde als Mitarbeiter der Zeitschrift gewonnen. 1777 besuchte J. Goethe in Weimar. Versuche, eine Stelle an
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der Universität Halle oder am Collegium Carolinum in Braunschweig zu erhalten, scheiterten. 1784 wurde er zum Professor der schönen Wissenschaften im habsburgischen Freiburg i. Br. ernannt. Am 26.12.1791 heiratete er Maria Ursula Müller aus St. Peter/ Schwarzwald. Der einzige Sohn starb mit 17 Jahren. Im literar. Bewusstsein war J. seit den 60er Jahren des 18. Jh. vorwiegend Lyriker. Kennern stellte er sich mit Prosaübersetzungen vor (Romanzen aus dem Spanischen des Gongora übersetzt. Halle 1767). Damit wurden erstmals in Deutschland Stoffe der span. Kunstromanze bekannt gemacht, was für die Entstehung einer ernsten dt. Kunstballade von Bedeutung war. Über Tasso hatte J. seine Dissertation verfasst (Vindiciae Torquati Tassi. Gött. 1763). Der Freundschaft mit Klotz verdankte er fundierte Kenntnisse antiker Literatur u. Kunst. Er war mit den Anakreonteen vertraut u. ließ sich, wie die übrigen Halberstädter Dichter, auch von Amoretten u. Grazien auf Gemmen inspirieren (vgl. J.s Vorrede zu seinen Sämmtlichen Werken. Zürich 1807–22). Nach dem Vorbild von Chaulieu, Gresset u. Hagedorn entwickelte J. einen »zärtlichen Stil« mit Bevorzugung des Kleinen u. der amönen Landschaft. Die strophenlosen, gereimten u. meist sieben- oder achtsilbigen Verse ahmen die »odes anacréontiques« nach; die mytholog. Elemente sind Allgemeingut der dt. Rokokolyrik der 1760er Jahre. In seinen Liebesgedichten an Chloë entdeckte J. »natürliche« u. volksliedhafte Töne (z.B. Der erste Kuß). Seine lyr. Schöpfungen (In der Mitternacht, Litanei auf das Fest Allerseelen, Wiegenlied für ein Mädchen, Hochzeitlied, Schifferlied, Abends), aber auch Gedichte mit religiöser Thematik wie Vertrauen oder Die Linde auf dem Kirchhofe wurden dank ihres Liedcharakters u. oft mehrerer Vertonungen geradezu populär. Neben Briefgedichten u. Kantaten schuf J. mehrere Vorspiele mit Arien, Singspiele u. zahlreiche Gelegenheitsgedichte. Die Briefe von den Herren Gleim und Jacobi (Bln. 1768) waren unter den Zeitgenossen berühmt-berüchtigt. Weniger die Mischung von Prosa u. Versen in jamb. oder trochäischen Dimetern als die artifizielle u. durch
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Wiederholung an Wirkung eher verlierende Sprache eines empfindsamen Freundschaftskults provozierte die Leser. Alltägliches wie Abschied, Besuch, Erwarten eines Briefes teilen sich die »zärtlichen« Freunde mit; sie beteuern Liebe u. Treue. Gelegentlich ist auch von neuen Gedichten, von literar. Kritik u. den Berufspflichten die Rede. J. wird zum dt. Gresset, Gleim zum neuen Anakreon stilisiert. Viel diskutiert wurden J.s Versuche der Sterne-Nachahmung in Deutschland: Die Winterreise (Düsseld. 1769) u. Die Sommerreise (Halle 1770). Obwohl die Bemühung, Sterne’sche Technik u. Komposition zu adaptieren, deutlich zutage tritt, kann J. einen Rest von Originalität für sich beanspruchen. Nicht nur dank seiner Verwendung der Vers-Prosa-Mischung nach dem Vorbild von Chapelles u. Bachaumonts Voyage – die Synthese aus Rokokolyrik der 1760er Jahre u. Sterne’scher Empfindsamkeit, die J. zuvor als »Zärtlichkeit« besungen hatte, gelang ihm. 1770/71 veröffentlichte J. fünf Predigten nach Sternes Vorbild. In einem Brief aus Erfurt wunderte sich Wieland darüber, dass es J. habe wagen können, »den Düsseldorfern öffentlich das Evangelium Yo ri ks zu predigen« (15.11.1770). Aber Wieland akzeptierte diese Mischung aus purem, verfeinertem »Epicurismus« u. Grazienphilosophie. J.s Schreiben eines Freidenkers an seine Brüder (Bln. 1771) erregte allenthalben, bes. in der Schweiz, Aufsehen, obwohl sich seine wesentl. Thesen gegen die Freidenker richteten. Er wollte zeigen, »daß überhaupt die Religion der Christen, vor allen andern, die Religion der Empfindung sey« (S. 34). J.s popular-philosophische Arbeiten (vgl. seinen Nachruf auf Rousseau im »Teutschen Merkur«, 1778) sind noch kaum beachtet worden. Die Zeitschrift »Iris« (8 Bde., 1774–76 [-78]. Neudr. Bern 1971), die zunächst im Düsseldorfer Selbstverlag, ab Band 5 in Berlin erschien, war ausschließlich für Frauen bestimmt. Sie wurde in 800 bis 1000 Exemplaren verbreitet. Ein genau umrissenes Programm gab es nicht. Die zur Tugend erziehende Tendenz der Moralischen Wochenschriften war für J. vorbildlich, obwohl er »nicht immer von Religion und Tugend«
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sprechen u. »Empfindungen der Natur« wecken wollte, »ohne der zur Mode gewordenen trägen Empfindsamkeit zu schmeicheln« (An meine Leserinnen). Die Freundschaftlichen Frauenzimmer-Briefe von Sophie La Roche u. J.s Aufsätze zur weibl. Ethik erfüllten dieses Programm am ehesten. Mit der »Iris« öffnete sich J. den neuen literar. Tendenzen der Empfindsamkeit u. des Sturm und Drang, den er aber insg. eher distanziert beurteilte. Zu Beginn der 1770er Jahre hatte sich J. von der Schematik der Rokokolyrik abgewandt. Seine Gedichte, bes. aber sein Briefwechsel mit Gleim hatten ihm scharfe Kritik eingetragen. Bodmer schrieb 1769 eine Polemik Von den Grazien des Kleinen; auch die Winterreise u. Sommerreise ließ man kaum gelten: Mauvillon, Unzer, Gerstenberg, Lichtenberg, Nicolai, Klopstock, Herder u. Goethe traten als Kritiker auf. Dessen Farce Das Unglück der Jacobis ist nicht erhalten; zu Beginn von Götter, Helden und Wieland, in dem Gedicht Flieh, Täubchen, flieh! u. in Rezensionen findet sich der Spott auf den späteren Freund. Auch Bürger u. die Göttinger wandten sich gegen die »Jacobitchen«. Die Förderung durch Klotz u. Gleim, die Freundschaft mit den übrigen Halberstädtern, mit Wieland u. Sophie La Roche haben J. in seiner Schriftstellerei bestärkt. Von Freiburg aus wurde Johann Georg Schlosser in Emmendingen, dessen zweite Frau, Johanna Fahlmer, J.s Tante war, oft besucht. Durch Schlosser wurde J. mit Pfeffel in Colmar bekannt. J. hat sich in den 1770er Jahren immer mehr von den rokokohaften »Grazien des Kleinen« abgewandt. In die Ausgabe der Sämmtlichen Werke (2. Auflage) hat er seine früheren Dichtungen nicht mehr aufnehmen wollen. Dem Einspruch seiner Freunde war es zu verdanken, dass er seine Absicht nicht konsequent verwirklichte. J. wurde von der Forschung lange vernachlässigt. Dank regionaler Literaturstudien hat sich dies geändert: Eine Untersuchung der Tasso-Rezeption in Deutschland würdigte J.s Hallenser Tasso-Vorlesung; eine Ausstellung in Freiburg u. Düsseldorf über J. in Freiburg u. seinen oberrheinischen Dichterkreis galt 2000/2001 seinem Wirken. Auch
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die Rezeption in der Musik wurde beachtet. In einem Band über literar. Leben in Südbaden um 1800 erscheint J. im Kontext der Josephinischen Aufklärung, von Lesegesellschaften u. polit. Meinungsbildung. Leider lassen Neuausgaben auf sich warten. Weitere Werke: Werkausgaben: Sämmtl. Werke. 1./2. Tl., Halberst. 1770. 3. Tl., ebd. 1774. 2 1773–75. 2., rechtmäßige, verb. u. verm. Aufl. 8 Bde., Zürich 1807–22. 8. Bd.: Leben J. G. J.s. Von einem seiner Freunde [Joseph Albert v. Ittner]. 3., rechtmäßige Original-Ausg. Zürich 1819–22. – Teilausgaben: Auserlesene Lieder v. J. G. J. Hg. Johann Georg Schlosser. Basel 1784. – Theatral. Schr.en. Nachtr. zu seinen sämtl. Werken. Lpz. 1792. – Briefe: Briefe v. Herrn J. [an Gleim]. Bln. 1768. – Ernst Martin: Ungedr. Briefe v. u. an J. G. J. mit einem Abrisse seines Lebens u. seiner Dichtung. Straßb. 1874. – Ich bin mehr Herz als Kopf. Sophie v. La Roche. Ein Lebensbild in Briefen. Hg. Michael Maurer. Mchn. 1983. – Einzeltitel: Abschied an den Amor. Halle 1769. – Nachtgedanken v. J. o. O. u. J. [Halberst. 1769]. – Ueber die Wahrheit nebst einigen Liedern v. J. G. J. Düsseld. 1771. – An das Publikum. Halberst. 1771. – Die Dichter. Eine Oper [...]. Halberst. 1772. – Ueber den Ernst. Halberst. 1772. – Der Schmetterling nebst drey Liedern v. J. G. J. Halberst. 1772. – Elysium. Ein Vorsp. mit Arien [...]. Königsb. 1774. – Charmides u. Theone, oder die Sittl. Grazie. Halberst. 1774 (R.). – Phädon u. Naide, oder der redende Baum. Lpz. 1788 (Singsp.). – Tb. v. J. G. J. u. seinen Freunden für 1795 [1796]. Königsb./Lpz. 1798. Basel 1799. – Überflüssiges Tb. für das Jahr 1800. Hbg. 1800. – Tb. für das Jahr 1802. Hbg. 1802. – Iris. Ein Tb. für 1803 [bis 1813]. 11 Bde., Zürich 1803–13. Literatur: Bibliografie: J. G. J.-Bibliogr. u. Briefverz. Hg. Achim Aurnhammer u. C. J. Andreas Klein. Tüb. 2009. – Weitere Titel: Karl v. Rotteck: Gedächtnißrede auf J. G. J. Freib. i. Br. 1814. – Joseph Longo: Laurence Sterne u. J. G. J. Wien/Lpz. 1898. – Otto Manthey-Zorn: J. G. J.s Iris. Diss. Lpz. 1905. – Friedrich Ausfeld: Die dt. anakreont. Dichtung des 18. Jh. Ihre Beziehungen zur frz. u. zur antiken Lyrik. Straßb. 1907. – Helmut Paustian: Die Lyrik der Aufklärung als Ausdruck der seel. Entwicklung v. 1710–70. Diss. Kiel 1932. – Ursula Schober: J. G. J.s dichter. Entwicklung. Breslau 1938. – Hermann Bräuning-Oktavio: J. G. J.s ›Schreiben eines Freydenkers an seine Brüder‹ (1771) [...]. In: WB (1961), S. 694–738. – Carl Hammer: J.’s Memorial to Rousseau. In: Die Neueren Sprachen. N. F. 15 (1965), S. 280–283. – Walter Falk: Die erste dt. Begegnung mit Gongora (Gleim – J. – Herder). In: GRM 17 (1967), S. 26–52.
75 – Alfred Anger: Literar. Rokoko. Stgt. 21968. – Herbert Zeman: Die dt. anakreont. Dichtung. Stgt. 1972. – Jürgen Wilke: Literar. Ztschr.en des 18. Jh. (1688–1789). Tl. 2: Repertorium. Stgt. 1978. – A. Aurnhammer: J. G. J.s Hallenser ›Tasso‹-Vorlesung. In: Torquato Tasso in Dtschld. Seine Wirkung in Lit., Kunst u. Musik seit der Mitte des 18. Jh. Hg. ders. Bln. 1995, S. 398–422. – J. G. J. in Freiburg u. sein oberrhein. Dichterkreis 1784–1814. Ausstellung des Deutschen Seminars der Univ. Freiburg vom 31. Mai bis zum 14. Juli 2000. Kat. v. A. Aurnhammer u. C. J. A. Klein. Freib. i. Br. 2000. 2., erw. u. verb. Aufl. Freib. i. Br. 2001. – Dieter Martin: ›Sagt, wo sind die Veilchen hin‹. Zur Entstehungs- u. Erfolgsgesch. v. J. G. J.s ›Kunstlied im Volksmunde‹. In: Lied u. populäre Kultur 46 (2001), S. 39–69. – Zwischen Josephinismus u. Frühliberalismus. Literar. Leben in Südbaden um 1800. Hg. A. Aurnhammer u. Wilhelm Kühlmann. Freib. i. Br. 2002. – Hans-Joachim Kertscher: ›Amor‹ u. die schönen Wiss.en. J. G. J.s Aufenthalt in Halle. In: Anakreont. Aufklärung. Hg. Manfred Beetz. Tüb. 2005, S. 239–274. Gerhard Sauder
Jacobowski, Ludwig, * 21.1.1868 Strelno/ Posen, † 2.12.1900 Berlin. – Lyriker, Erzähler. J., als drittes Kind einer jüd. Kaufmannsfamilie geboren, studierte Philosophie, Geschichte, Literatur, Psychologie u. Nationalökonomie in Berlin u. Freiburg i. Br. 1891 promovierte er über Klinger und Shakespeare – ein Beitrag zur Shakespearomanie der Sturm- und Drangperiode u. veröffentlichte unter dem Einfluss der Ästhetik Gustav Theodor Fechners eine Arbeit über den Ursprung der Sprache u. Dichtung aus »Empfindungswerten« (Die Anfänge der Poesie. Dresden 1891). Seinen Lebensunterhalt verdiente sich J. in einer Berliner Schuhfabrik u. als Angestellter beim »Verein zur Abwehr des Antisemitismus«. Ab 1898 war er Herausgeber u. Schriftleiter der Zeitschrift »Die Gesellschaft. Halbmonatsschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik«. Sein erster Gedichtband Aus bewegten Stunden (Dresden/Lpz. 1889) spiegelt ein Leben zwischen Schwermut u. Heiterkeit, das vom frühen Tod der Eltern u. Brüder u. seiner Braut Martha (1891) gezeichnet war. Im noch unsicheren Sprachduktus der jugendl. Gedankenlyrik spricht sich das Streben nach
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Lebensidealen u. der Unabhängigkeit vom Zeitgeschmack aus. Als Reaktion auf die antisemitischen Strömungen der 1890er Jahre entstanden der von Goethe inspirierte Roman Werther, der Jude (Dresden 1892), inzwischen im Zentrum des germanistischen Forschungsinteresses, u. die Studie über das Ende des christl. Staats u. eine neue freie Gesellschaftsordnung: Der christliche Staat und seine Zukunft (Bln. 1894). – In der Gedichtsammlung Aus Tag und Traum (Bln. 1895), dem Freund Carl Busse gewidmet, kleidete J. seel. Stimmungen in Naturbilder. Von den widerstreitenden Urkräften der Seele, Liebe u. Hass, repräsentiert in dem unwissenden Balder u. dem mit Weisheit begabten Loki (Minden 1899), rekurrierend auf die Göttersagen der Edda, handelt sein reifstes Prosawerk. Nach J.s Tod veröffentlichte sein Freund u. erster Biograf Rudolf Steiner die nachgelassenen Gedichte (Ausklang. Minden 1901) u. Skizzen (Stumme Welt. Symbole. Minden 1901) u. führte die von J. begründete literar. Gesellschaft »Die Kommenden« weiter. Weitere Werke: Funken. Dresden 1891 (L.). – Diyab, der Narr. Bln. 1895 (Kom.). – Anne-Marie. Breslau 1896 (E.). – Der kluge Scheikh. Breslau 1897 (E.). – Satan lacht u. a. Gesch.n. Lpz. 1898. – Glück. Minden 1899 (Versdichtung). – Leuchtende Tage. Minden 1900 (L., P.). – ... die ungeteilte Melodie. Basel 1966 (L., E.en). – Auftakt zur Lit. des 20. Jh. Briefe [...]. Hg. Fred B. Stern. 2 Bde., Heidelb. 1974. – Ges. Werke in einem Bd. Romane, Erzählungen, Lyrik, Dramatik, krit., essayist. u. poetolog. Schr.en. Bibliogr. der Primär- u. Sekundärlit. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Alexander Müller u. Michael M. Schardt. Oldenb. 2000. Literatur: Fred Benno Stern: L. J. Persönlichkeit u. Werk eines Dichters. Darmst. 1966. – Christoph Siegrist: Werther als Identifikationsfigur für Außenseiter: J.s Roman: Werther, der Jude. In: Recherches Germaniques 15 (1985), S. 87–94. – Itta Shedletzky: L. J. (1868–1900) u. Jakob Loewenberg (1856–1929). Literar. Leben u. Schaffen ›aus dt. u. aus jüd. Seele‹. In: Juden in der dt. Lit. Hg. Stéphane Moses u. Albrecht Schöne. Ffm. 1986, S. 194–209. – Mark M. Anderson: ›Jewish‹ mimesis? Imitation and Assimilation in Thomas Mann’s ›Wälsungenblut‹ and L. J.’s ›Werther, der Jude‹. In: GLL 49 (1996), Nr. 2, S. 193–204. – Jonathan M. Hess: Fictions of a German-Jewish Public: L. J.’s
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Jacobs, Monty, eigentl.: Montague Jacobsohn, auch: Paul Monty, * 5.1.1875 StetAngelika Müller / Alexander Müller tin, † 29.12.1945 London. – Theaterkritiker. Jacobs, (Christian) Friedrich (Wilhelm), Der Sohn eines engl. Geschäftsmannes wuchs * 6.10.1764 Gotha, † 30.3.1847 Gotha. – nach dem Tod seiner Mutter bei Verwandten (Jugend-)Schriftsteller, Altphilologe u. in Berlin auf. 1893–1898 studierte er PhiloBibliothekar. logie u. Literaturgeschichte (u. a. bei Erich ›Werther the Jew‹ and Its Readers. In: Jewish Social Studies 11 (2005), Nr. 2, S. 202–230.
Nach dem Studium der Theologie in Jena u. der Philologie in Göttingen (bei Heyne) trat der Advokatensohn 1785 eine Stelle als Lehrer am Gymnasium in Gotha an. Von dort wurde J. 1807 auf Vermittlung Niethammers als Professor an das Lyzeum in München berufen u. zum Mitgl. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften ernannt. Infolge von Anfeindungen kehrte er 1810 nach Gotha zurück u. erhielt dort die Ämter des Oberbibliothekars u. des Direktors des Münzkabinetts. Besondere Verdienste erwarb sich J. im Bereich der Altphilologie. Er veranstaltete Editionen u. Übersetzungen antiker Schriftsteller u. verfasste Elementarwerke zur griech. u. lat. Sprache. Seine Erzählungen, die sich auch an die Jugend wenden, sind aufklärerisch-unterhaltenden Charakters u. behandeln häufig histor. Themen (vgl. z.B. die Sammlung Die Feierabende in Mainau. Lpz. 1820/21). Das Kinderlesebuch Allwin und Theodor (3 Bde., Lpz. 1802–07), das Begebenheiten aus dem tägl. Leben der Titelfiguren schildert, erfreute sich bis zur Mitte des 19. Jh. großen Zuspruchs. J.’ verstreut erschienene Erzählungen sind in dem siebenbändigen Werk Erzählungen (Lpz. 1824–37) gesammelt. Die zur Bewältigung des Todes seiner Frau verfasste Schrift Rosaliens Nachlaß (Lpz. 1812) wurde zu einer beliebten u. von Erziehern empfohlenen Lektüre für junge Mädchen (Grenz, S. 159 ff.). Später befasste sich J. – wie viele Pädagogen seiner Zeit – auch theoretisch mit Fragen der weibl. Erziehung (vgl. sein Vorwort zu Die Schule der Frauen, oder Schriften zur Belehrung des weiblichen Geschlechts. 7 Bde., Lpz. 1827/28). Literatur: Hamberger/Meusel. – Karl Regel: F. J. In: ADB. – Goedeke 10. – Erich Strobach: C. F. W. J. In: LKJL. – Dagmar Grenz: Mädchenlit. Von den moralisch-belehrenden Schr.en im 18. Jh. bis zur Backfischlit. im 19. Jh. Stgt. 1981. Susanne Barth
Schmidt) in München, Berlin u. Heidelberg, wo er mit der Arbeit Gerstenbergs Ugolino, ein Vorläufer des Geniedramas (Bln. 1898) promovierte. Nach Berlin zurückgekehrt, wandte sich J. ganz dem Journalismus zu. 1905 übernahm er als Nachfolger Mauthners die Theaterkritik am »Berliner Tageblatt«. 1914 trat er in die Fußstapfen des Theaterkritikers Arthur Eloesser bei der »Vossischen Zeitung«. Der Ausbruch des Kriegs unterbrach J.’ Laufbahn. Als Engländer wurde er interniert, doch ließ er sich naturalisieren u. meldete sich freiwillig zum Fronteinsatz. Nach dem Krieg trat er erneut in die Feuilletonredaktion der »Vossischen Zeitung« ein u. wurde mit seinen Nachtkritiken (den über Nacht geschriebenen Kritiken, die den ersten Eindruck der Aufführung festhalten sollten) bald einer der angesehensten Theaterkritiker Berlins. Sein Urteil galt als maßvoll. Er war »auf Ausgleich und Förderung (besonders junger Kräfte) bedacht; er färbte seinen Stil durch Temperament, nicht durch Eitelkeit« (Rühle). Seiner künstlerischen Einstellung gemäß, dass Dichtung in Harmonie befreien sollte, verhielt er sich dem Expressionismus u. Strindberg gegenüber ablehnend; ebenso negativ war sein Verhältnis zu polit. Stücken u. zum Agitationstheater der 1920er Jahre. 1921 wurde J. Leiter des Feuilletons der »Vossischen Zeitung«. Neben verschiedenen Editionen (u. a. von Arnim u. Kleist) u. einem Buch über klass. Rollen u. die Geschichte ihrer Besetzung (Deutsche Schauspielkunst. Lpz. 1913) veröffentlichte er bereits 1901 die erste krit. Studie über Maeterlinck (Lpz.) in Deutschland. J. war der gewählte Leiter mehrerer Berufsorganisationen sowie Mitgl. des Kunstrats der Kleist-Stiftung. Nach dem Machtantritt der Nationalsozialisten musste er seinen Stuhl als Chefredakteur bei der
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»Vossischen Zeitung« räumen. 1938 emigrierte er über die Schweiz nach England, wo er sich in den verschiedenen Organisationen der Exilierten engagierte u. sich an Schriften gegen das NS-Regime (In Tyrannos. London 1944) beteiligte. Weitere Werke: Ibsens Bühnentechnik. Dresden 1920 (Ess.). – Die drei Bilder der Welt. Erlangen 1925 (Ess.). – Jonathan Swift. Bln. 1948 (Biogr.). Literatur: Joachim Werner Preuss: Der Theaterkritiker M. J. (1875–1945). Bln. 1965. – Günther Rühle: Theater für die Republik 1917–33. Ffm. 1967. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Peter König / Red.
Jacobs, Steffen, Pseud.: Jakob Stephan, * 4.4.1968 Düsseldorf. – Lyriker, Essayist, Kritiker, Herausgeber u. Übersetzer.
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Untersuchung u. versucht die Aktualität ihrer Gedichte für das 21. Jh. zu bestimmen. J. war 2002 jüngster Hugo-Ball-Förderpreisträger. Er erhielt mehrere Auszeichnungen, darunter 1994 das Alfred-DöblinStipendium u. zuletzt das Heinrich-HeineStipendium der Stadt Lüneburg (2008). Seine Gedichtbände Der Alltag des Abenteurers (Ffm. 1996), Geschulte Monade (Ffm. 1997) u. Angebot freundlicher Übernahme (Ffm. 2002) wurden u. a. mit dem Kunstpreis Berlin u. 2004 mit dem New-York-Stipendium des Deutschen Literaturfonds ausgezeichnet. Weitere Werke: Lyr. Visite oder Das nächste Gedicht, bitte! Ein poetolog. Fortsetzungsroman. Zürich 2000 (Pseud.). – Angebot freundl. Übernahme. Gedichte. Bln. 2002. – Herausgeber: Die liebenden Deutschen. 645 entflammte Gedichte aus 400 Jahren. Ffm. 2006. – Liederlich! Die lüsterne Lyrik der Deutschen. Ffm. 2008. – Hörbücher: Frauen. Naja. Schwierig. Lyrik live (zus. mit Hellmuth Opitz u. Matthias Politycki). Hbg. 2005. – Übersetzungen: Kyril Bonfiglioli: Das große Schnurrbart-Geheimnis. Ffm. 2003. – Philip Larkin: Wirbel im Mädcheninternat Willow Gables. Ffm. 2004. – Neil Jordan: Schatten. Bln. 2005.
J., der seit 1987 in Berlin lebt, studierte Germanistik u. Theaterwissenschaft an der FU Berlin. In den 1990er Jahren arbeitete er als Rezensent, u. a. für die »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, »Die Welt« u. die »Neue Rundschau«. Er verfasst Filmkritiken u. gibt Lyrikseminare. Bekannt wurde er u. a. durch Ingo Langenbach seine Kolumnen als »Lyrikdoktor« sowie durch seine »Lyrische Visite« unter dem Jacobsohn, Siegfried, auch: Germanicus, Pseudonym Jakob Stephan, in der er spöttisch S. J., Dr. Balduin, * 28.1.1881 Berlin, u. ironisch Neuerscheinungen des deutsch† 3.12.1926 Berlin. – Herausgeber u. sprachigen Lyrikbetriebs analysiert. Das Journalist. Werk J.s. umfasst sowohl Gedichtbände u. Essays als auch Übersetzungen aus dem Der theaterbegeisterte Schüler, Sohn einer Englischen. Mit der Herausgabe der Ge- wenig begüterten Kaufmannsfamilie, ging dichtanthologie Die komischen Deutschen. 881 vor dem Abitur vom Gymnasium ab u. stugewitzte Gedichte aus 400 Jahren (Ffm.) gelang dierte als Gasthörer Germanistik in Berlin. ihm 2004 ein kommerzieller Erfolg (Hörbuch 1901 begann er als Theaterkritiker bei der Ffm. 2005). freisinnig-liberalen »Welt am Montag«. Nach J.’ Lyrik orientiert sich formal am klass. einer einjährigen Italien- u. Frankreichreise Gedicht (Hexameter u. span. Trochäen), gründete J. 1905 »Die Schaubühne«, trotz weshalb die Literaturkritik ihn in die Nähe finanzieller Probleme eine der einflussvon Jandl, Benn u. Fried sowie in seinem reichsten Theaterzeitschriften der Zeit. Ab Talent zur Pointe in die Riege von Tucholsky, 1913, jetzt mit satir., wirtschaftl. u. polit. Kästner u. Gernhardt stellt. Mittels der So- Beiträgen, erschien sie mit dem Untertitel nettform verarbeitet er mit poetolog. Refle- »Wochenzeitschrift für Politik, Kunst und xion u. teilweise humoristischen Versatzstü- Wirtschaft«. cken Themen des alltägl. Lebens. In seiner Im Zuge der auch den kulturellen Bereich zweiten Essaysammlung Der Lyrik-TÜV. Ein erfassenden Politisierung wandelte sich J.s Jahrhundert deutscher Dichtung wird geprüft (Ffm. Journal nach der Novemberrevolution 1918 2007) unterzieht J. zehn bekannte Dichter der zur »Weltbühne«. Eindeutig linksbürgerlich, dt. Literaturgeschichte einer werkanalyt. antimilitaristisch u. antinationalistisch ori-
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entiert, wurde sie unter seiner Leitung zum Jacobus a (de) Voragine, * 1228/29 Vaführenden Organ der pazifistischen Linken razze bei Genua, † 1298. – Verfasser des (Auflage 10–15.000) in der Weimarer Repu- bedeutendsten Legendars des Mittelalblik u. galt als »klassische Schule des freien ters, der Legenda aurea. Journalismus« (Eggebrecht). J. verpflichtete prominente Autoren (u. a. Alfred Polgar, Paul J. wurde 1244 Dominikaner. Er könnte 1258 Fechter, Julius Bab, Fritz Engel, Egon Frie- Subprior im Dominikanerkloster in Genua dell, Willi Handl, Lion Feuchtwanger, Her- gewesen sein, 1267–1277 u. 1281–1286 war er Provinzialprior der Lombardei u. 1274 bert Ihering). Mit Tucholsky befreundet, wurde J. dessen Teilnehmer am Konzil von Lyon. Seine Förderer u. gewann ihn ab 1913 als wich- wachsende Bedeutung im Orden bezeugt die tigsten Mitarbeiter der Zeitschrift. 1926 Ernennung zum Verwalter der vakanten übernahm Tucholsky nach dem plötzl. Tod Stelle des Ordensgeneralmeisters. Er wurde J.s die Leitung der »Weltbühne«, trat sie je- 1286 zum Erzbischof von Genua vorgeschladoch im Juni 1927 an Carl von Ossietzky ab, gen u. schließlich 1292 geweiht. Die Legenda aurea war im Wesentlichen beder bis zum Verbot 1933 Herausgeber blieb. Neben Kerr galt J. als der einflussreichste u. reits 1266 abgeschlossen. Sie ist in über 1000 gefürchtetste Kritiker des Theaters in den Handschriften überliefert, in denen der Le1920er Jahren. 1900 hatte er in einer pro- gendenbestand z.T. sehr stark divergiert. Eigrammat. Schrift die Theaterentwicklung nen terminus post quem liefert die Legende von 1870 bis 1900 dargestellt u. eine Synthese des 1252 von Ketzern getöteten Petrus von aus klass. u. modernem Theater als Idealvor- Mailand, die eindeutig von J. stammt. Die stellung formuliert, die seiner Ansicht nach älteste datierte Handschrift ist ein Pariser in der Folgezeit von Max Reinhardt eingelöst Codex aus dem Jahre 1281. Der Titel stammt nicht von J., sondern wurde. J. würdigte dies in seiner Publikation Max Reinhardt (Bln. 1910). Neben seiner Be- wurde dem schon früh geschätzten Werk erst wunderung für Shakespeare, Goethe, Kleist nachträglich verliehen. Der häufig anzutrefu. Lessing setzte er sich für die Anerkennung fende Titel Historia lombardica geht nicht (wie moderner Autoren wie Ibsen, Strindberg, oft angenommen) auf den Abriss der Langobardengeschichte in der Pelagiuslegende zuGerhart Hauptmann u. Wedekind ein. Weitere Werke: Das Theater der Reichshaupt- rück, sondern weist lediglich auf die Herstadt. Bln. 1904. – Der Fall Jacobsohn. Bln. 1913. – kunft der Sammlung hin: »Historia« kann Oscar Sauer. Bln. 1916. – Die ersten Tage. Bln. auch im Sinne von Legende beziehungsweise 1917. – Jahre der Bühne. Theaterkrit. Schr.en. Hg. Legendar verstanden werden. Walter Karsch. Hbg. 1965. – Briefe an Kurt TuDie Legenda aurea steht in der Tradition cholsky. 1915–26. Hg. Richard v. Soldenhoff. dominikan. Hagiografie (Jean de Mailly, Mchn. 1989. – Ges. Schr.en. 1900–1926. Hg. Gun- Bartholomäus von Trient) u. sucht, die große ther Nickel. 5 Bde., Gött. 2005. Fülle heterogener hagiografischer ÜberliefeLiteratur: Wolf Seidl: Die geistige Haltung der rung in stilistisch u. erzählerisch möglichst neueren dt. Theaterkritik. Diss. Mchn. 1951. – vereinheitlichter Form zusammenzustellen. Wolfgang Steinke: Der Publizist S. J. als TheaterJ. hat nur in wenigen Fällen eigenständige kritiker. Diss. Bln. 1960. – Axel Eggebrecht: S. J. In: Hans Jürgen Schultz (Hg.): Journalisten über Jour- Legenden verfasst. Er ist also vorwiegend als nalisten. Mchn. 1980. – G. Nickel: Die Schaubühne Kompilator u. Redaktor tätig gewesen, aber – Die Weltbühne. S. J.s Wochenschr. u. ihr ästhet. die von ihm zur Vollendung entwickelte Programm. Opladen 1996. – Stefanie Oswalt: S. J. »andachtbildartige Gestaltung« der Texte Ein Leben für die Weltbühne. Gerlingen 2000. – prägte das Legendenerzählen im ganzen Lex. dt.-jüd. Autoren. SpätMA. Die Legenda aurea ist nach dem KirWolfgang Weismantel / Red. chenjahr gegliedert, mit der Adventszeit beginnend, u. enthält neben Legenden von J. verfasste »lectiones« zu den Herren-, Marienu. anderen Festen (Letania, Allerheiligen
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usw.). Wie im Prolog angekündigt, stellt J. Heiligenlegenden in die Perspektive der gesamten Heilsgeschichte. Typisch für die Legenda aurea sind auch die jeweils den Legenden vorausgehenden Namensetymologien der Heiligen. Das Werk dürfte urspr. sowohl für die tägl. monast. Tischlesung als auch für die Predigtvorbereitung konzipiert worden sein. Im Lauf der Jahrhunderte wurde es aber zum hagiografischen Standardwerk schlechthin; seine Wirkungsgeschichte, die auch die bildende Kunst umfasst, ist völlig unüberschaubar u. wird noch in der vereinzelten Kritik an dem z.T. fabulösen Inhalt (etwa bei Nikolaus von Kues) greifbar. Die Legenda aurea wurde in die meisten europ. Volkssprachen übersetzt (z.T. mehrfach), zuerst in den 80er Jahren des 13. Jh. ins Französische. Im dt./niederländ. Raum sind mindestens zehn, corpusmäßig wie im Lateinischen z.T. stark voneinander abweichende Vollübersetzungen u. unzählbare Einzeltextübersetzungen belegt. Der Text diente auch als Hauptquelle für das Passional u. die Sammlung Der Heiligen Leben. Die älteste dt. Übersetzung, die Elsässische Legenda aurea, entstand vor 1350 in Straßburg u. gehört zu den wichtigsten Prosadenkmälern des 14. Jh. Ihre Corpuszusammensetzung weist auf eine Vorlage aus dem bairischösterr. Raum. Das populäre Werk ist am besten in einer Straßburger Prachthandschrift aus dem Jahr 1362 überliefert u. fand große Verbreitung im 15. Jh., vornehmlich am Oberrhein u. in der Schweiz, mit Ausläufern im Schwäbischen, Rheinfränkischen u. Österreichischen. Der Straßburger Jakob Twinger von Königshofen hat es als Quelle für seine Chronik benutzt. Die älteste niederländ. Übersetzung ist 1358 in Flandern vom sog. »Bijbelvertaler van 1360« veranstaltet worden (Südmittelniederländische Legenda aurea). Sie ist in etwa 100 Handschriften überliefert u. wurde im gesamten niederländ., mittelfränk. u. niederdt. Raum verbreitet, v. a. in Klöstern u. Institutionen, die vom Geist der »Devotio moderna« getragen wurden. Im frühen 15. Jh. entstand dann auch eine nordmittelniederländ. Übersetzung, die aber weit hinter der Popularität der älteren Version zurückblieb. Die restl. dt.
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Übertragungen – zwei ostmitteldt., drei bairisch-schwäb. u. eine niederdt. – waren wenig erfolgreich; sie sind fast alle nur einfach überliefert. Der magere Erfolg von Legenda aurea-Übersetzungen im schwäb. u. bair. Bereich lässt sich durch den Siegeszug der Sammlung Der Heiligen Leben in diesem Raum erklären, die sich ab 1400 zum volkssprachl. Legendar schlechthin entwickelte. Von geringer Bedeutung für die dt. Literatur, aber dennoch Werke, die weite Verbreitung fanden, sind vier nach Abschluss der Legenda aurea von J. verfasste, ganz in der scholast. Tradition stehende Predigtreihen. Nur einige wenige dieser »sermones« sind ins Deutsche übersetzt worden. Eine Geschichte der Stadt Genua, in den Jahren 1295–1297 entstanden, ist im dt. Raum unbekannt geblieben. Ausgaben: Legenda aurea: Hg. Theodor Graesse. Lpz. 1846. Neudr. 1965. – Giovanni Paolo Maggioni. 2 Bde., Florenz 1998. 21999 (krit. Ed.; auch auf CD-ROM). – Nhd. Übers. durch Richard Benz. Jena 1925 (mehrfach nachgedruckt). – Elsässische Legenda aurea: Ulla Williams u. Werner WilliamsKrapp: Die Elsäss. Legenda aurea. Bd. 1: Das Normalcorpus. Tüb. 1980. – Konrad Kunze: Die Elsäss. Legenda aurea. Bd. 2: Das Sondergut. Tüb. 1983. – U. Williams: Die Elsäss. Legenda Aurea. Bd. 3: Die lexikal. Überlieferungsvarianz. Register, Indices. Tüb. 1990. – Sermones: Hg. anonym. 4 Bde., Venedig 1573–90. – P. Adel. Figarol. 2 Bde., Tolosae 1874. – G. P. Maggioni: Sermones quadragesimales. Florenz 2005 (krit. Ed.). – Chronica Januensis: Hg. Giovanni Monleone. 3 Bde., Rom 1941. Literatur: Bibliografie: Thomas Kaeppeli: Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi 2. Rom 1975, S. 348–350. – Weitere Titel: Ernest Cushing Richardson: Materials for a Life of J. New York 1935. – Maria v. Nagy u. Christoph v. Nagy: Die Legenda aurea u. ihr Verfasser J. de V. Bern/ Mchn. 1971. – Johann Baptist Schneyer: Repertorium der lat. Sermones des MA 3. Münster 1971, S. 221–283. – Alain Boureau: La Légende dorée. Le système narratif de Jacques de V. Paris 1984. – Brenda Dunn-Lardeau (Hg.): Legenda aurea: sept siècles de diffusion. Paris/Montreal 1986. – Repertorium fontium historiae medii aevi 6. Rom 1990, S. 136–139 (Lit.). – Reglinde Rhein: Die Legenda aurea des J. de V. Köln/Weimar/Wien 1995. – Stefania Bertini Guidetti: I Sermones di Iacopo da Varazze. Florenz 1998. – Barbara Fleith u. Franco Morenzoni (Hg.): De la sainteté à l’hagiographie.
Jacoby Genèse e l’usage de la ›Légende dorée‹. Genf 2001. – S. B. Guidetti (Hg.): Il Paradiso e la Terra. Iacopo da Varazze e il suo tempo. Florenz 2001. – Alain Boureau u. a. (éd. trad. com.): Jacques de V., La légende dorée. Paris 2004 (wichtiger Komm.). – Zu den deutschen Übersetzungen: Werner WilliamsKrapp: Die dt. Übers.en der Legenda aurea des J. de V. In: PBB 101 (1979), S. 252–276. – Konrad Kunze: J. a V. In: VL (Lit.). – W. Williams-Krapp: Die dt. u. niederländ. Legendare des MA. Tüb. 1986. – Rüdiger Schnell: Konstanz u. Metamorphosen eines Textes. Eine überlieferungs- u. geschlechtergeschichtl. Studie zur volkssprachl. Rezeption von J.’ d. V. Ehepredigten. In: Frühmittelalterl. Studien 33 (1999), S. 319–95. – Armand Berteloot, Hans van Dijk u. Jasmin Hlatky (Hg.): ›Een boek dat man te Latine heet Aurea Legenda‹. Beiträge zur niederländ. Übers. der Legenda aurea. Mchn. u. a. 2003. Werner Williams-Krapp / Konrad Vollmann
Jacoby, Johann, geb. Jonas ben Gerson, * 1.5.1805 Königsberg, † 6.3.1877 Königsberg; Grabstätte: ebd., Jüdischer Friedhof (im Zweiten Weltkrieg vermutlich vernichtet). – Publizist u. Politiker. J., Spross einer jüd. Kaufmannsfamilie, studierte Medizin u. Philosophie in seiner Heimatstadt u. eröffnete dort 1828 eine ärztl. Praxis. Während der poln. Erhebung von 1830/31 half er den Aufständischen bei der Bekämpfung der Cholera u. setzte sich publizistisch für polit. Rechte der Polen ein. J., der die Judenemanzipation als Teil des allg. Befreiungskampfes gegen die überholte Privilegienordnung ansah, verfasste 1841 die aufsehenerregende u. weitverbreitete Flugschrift Vier Fragen, beantwortet von einem Ostpreußen. Dieses Manifest, ein Glanzstück polit. Publizistik, artikuliert mit schneidender Logik u. zwingender Macht der Beweisführung die Aspirationen der bürgerl. Opposition u. fordert die Umwandlung Preußens in einen parlamentar. Rechts- u. Verfassungsstaat. Wegen Majestätsbeleidigung u. Hochverrats angeklagt u. in erster Instanz verurteilt, wurde J. vom Appellationsgerichtshof freigesprochen. Seine mutige Haltung machte ihn zum »Liebling der Nation« (Herwegh). Im Sturmjahr 1848 war J. Mitgl. des Frankfurter Vorparlaments u. des Fünfzigerausschusses. Er wurde in Berlin in die Preu-
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ßische Verfassunggebende Nationalversammlung gewählt u. trat dort als Wortführer der Linken für Volkssouveränität, Volksbewaffnung u. soziale Rechte der Arbeiterschaft ein. Während der Reaktionsperiode der 1850er Jahre war er in Königsberg als Arzt tätig u. nahm seit Beginn der »Neuen Ära« (1859) wieder am polit. Leben teil. 1863 als Abgeordneter der Fortschrittspartei in die zweite Kammer des preuß. Parlaments gewählt, war er 1867–1870 Mitgl. des Reichstags des Norddeutschen Bundes. Als entschiedener Gegner des Bismarck’schen Scheinkonstitutionalismus rief er während des preuß. Verfassungskonflikts zur Steuerverweigerung auf u. wurde 1865 zu einer halbjährigen Gefängnisstrafe verurteilt; im Kerker entstand Der freie Mensch. Rück- und Vorschau (Bln. 1866), worin er, ausgehend von Spinozas Ethik, nachzuweisen suchte, dass die fortschreitende Welterkenntnis das Menschengeschlecht zu sittl. Freiheit emporführen werde. In einer viel beachteten Rede über das Ziel der Arbeiterbewegung bekannte er sich zu einem sozialreformerischen Sozialismus u. propagierte in dem Organ »Die Zukunft« ein Bündnis des fortschrittl. Bürgertums u. der Arbeiterschaft. J.s Protest gegen die Annexion ElsassLothringens im Sept. 1870 brachte ihm wochenlange Festungshaft ein. Während des Hochverratsprozesses gegen Bebel u. Liebknecht 1872 trat er demonstrativ der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei bei, lehnte jedoch ein Reichstagsmandat ab, weil er eine Umgestaltung des dt. Militärstaats in einen Volksstaat auf parlamentar. Wege für nicht realisierbar hielt. Bis zu seinem Tod gehörte J. dem Zentralkomitee der »Internationalen Friedens- und Freiheitsliga« an. Weitere Werke: Ges. Schr.en u. Reden. 2 Bde., Hbg. 1872. 31889. – Briefw. Hg. Edmund Silberner. 2 Bde., Hann. 1974 u. Bonn 1978. Literatur: E. Silberner: J. J. Politiker u. Mensch. Bonn 1976. – Bernt Engelmann: Die Freiheit! Das Recht! J. J. u. die Anfänge unserer Demokratie. Bonn 1984. – Rolf Weber: J. J. Köln 1988. – Gabriele Schneider: ›Freundschaftsbriefe an einen Gefangenen‹ oder: ›Über die Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen‹. Unbekannte Briefe Fanny Lewalds an J. J. aus den Jahren 1865 u. 1866. In:
81 Menora 6 (1995), S. 137–160. – Unbekannte Briefe der Schriftstellerin Fanny Lewald an den liberalen jüd. Politiker J. J. aus den Jahren 1865 u. 1866. Hg. G. Schneider. Ffm. u. a. 1996. – Walter Grab: J. J. Ein dt.-jüd. Freiheitskämpfer [zuerst 1982]. Wieder in: Ders.: Zwei Seiten einer Medaille. Demokratische Revolution u. Judenemanzipation. Köln 2000, S. 260–283. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Walter Grab † / Red.
Jacoby, Leopold, * 29.4.1840 Lauenburg/ Pommern, † 20.12.1895 Zürich. – Lyriker u. Literaturwissenschaftler.
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tigsten Vorläufer der sozialistischen Gegenwartslyrik. Weitere Werke: Das Lustsp. Bln. 1870 (Kom.). – Die dt. Makame. Hbg. 1883 (Aufs.). – Dt. Lieder aus Italien. Mchn. 1892. Literatur: Minna Geith: L. J. Ein Lebensmärchen, aus Mitt.en, Briefen u. Schöpfungen erzählt. Mchn. 1893. – L. J. In: Lexikon sozialist. Schriftsteller. Halle 1963, S. 262–264. – Manfred Häckel: Vorw. zu: L. J. Ausw. aus seinem Werk. Bln. 1971, S. XI–LVII. – Ernst Gottfried Lowenthal: L. J. In: NDB. – Goedeke Forts. Jörg Platiel / Fabian Prechtl
Der aus einer Lehrer- u. Kantorenfamilie Jacoby, Wilhelm, * 8.3.1855 Mainz, † 20.2. stammende J. besuchte bis 1862 das Gymna1925 Wiesbaden. – Schwankautor. sium in Danzig, studierte anschließend Medizin, später auch Naturwissenschaften in Nach Abbruch einer Buchhändlerlehre wurde Berlin u. promovierte 1867. Noch 1869 hatte J. 1875 Redakteur beim »Niederschlesischen er sich in seinem Gedichtband Weinphantasien Anzeiger« in Glogau. Ab 1878 war er Chef(Marburg 1869. 21870) emphatisch für ein redakteur des »Mainzer Tageblatts«; daneben vereinigtes dt. Kaiserreich ausgeprochen. Als stand er dem »Mainzer Carneval-Verein« Mitgl. der freiwilligen Krankenpflege erlebte (MCV) vor. J., seit 1880 auch Verfasser karder approbierte Arzt in Lazaretten – zuletzt nevalist. Texte, kam durch den Schwankautor nahe Paris – die Gräuel des Deutsch-Franzö- Carl Laufs zum Lustspiel. In Partnerarbeit sischen Kriegs von 1870/71. Nach dem Waf- entstanden die Posse Pension Schöller (Bln. fenstillstand lernte J. in der frz. Hauptstadt 1890) u. die Schwänke Der ungläubige Thomas die Ziele der Pariser Kommune kennen u. (Hbg. 1893) u. Der große Komet (Bln. 1895). kehrte 1871 als »aufwachender Sozialist« Das Erbe der väterl. Buchhandlung ernach Deutschland zurück. Mit seinem noch möglichte es J., sich 1892 als freier Schriftim selben Jahr ausgelieferten Gedichtband Es steller in Wiesbaden niederzulassen. Karnewerde Licht (Bln. 1872. Mchn. 41893) stellte er valist blieb er auch in seiner Wahlheimat. sich auf die Seite der dt. Arbeiterbewegung. In J.s. Stücken dominiert das MissverIm hymn. Grundton seiner Lyrik an der Li- ständnis als Mittel der Situationskomik. teratur der dt. Klassik orientiert, wurde er Durch ständiges Verkennen des Gegenüber in zum wichtigsten Vertreter sozialistischer Rede u. Verhalten entsteht ein kom. Chaos. Weltanschauungsdichtung seiner Zeit. Auf Der unmotivierte Schluss folgt direkt auf der Flucht vor dem Sozialistengesetz in diesen Höhepunkt. Deutschland, wo Es werde Licht an erster Stelle Weitere Werke: Der histor. Festzug (zus. mit der indizierten Bücher stand, lebte J. in Arthur Lippschitz). o. O. 1901 (Schwank). – Der Amerika, Triest u. Mailand u. lehrte dort in Tanzhusar (zus. mit Harry Pohlmann). Bln. 1907 den 1880er Jahren an der Reale Accademia (Schwank). – Laß das Rullo geh’n. Mainz 1924 (L.). Literatur: Bernd Wilms: Der Schwank. Diss. scientifico letteraria dt. Literaturgeschichte. Als künstlerisch gelungenstes Werk gilt sein Bln. 1969. – Volker Klotz: Bürgerl. Lachtheater. »Gedicht aus Indien« C¸unita (Hbg. 1885. Mchn. 1980. – Bühnenschwänke [darin: ›Die span. Zürich/Lpz. 21896), mit dessen Makamen- Fliege‹]. Hg. Helmut Schmiedt. Mit einem Ess. v. Alain Michel / Red. form er in die Tradition Rückerts tritt. In V. Klotz. Würzb. 2000. seinem politisch-philosoph. Hauptwerk Die Idee der Entwicklung (2 Tle., Bln. 1874–76. Zürich 21887) versuchte J., darwinistische Entwicklungslehre u. wissenschaftl. Sozialismus zu vereinigen. J. gilt als einer der wich-
Jacques
Jacques, Norbert, * 6.6.1880 Eich/Luxemburg, † 16.5.1954 Koblenz; Grabstätte: Schlachters bei Lindau. – Romancier, Reiseschriftsteller, Essayist, Drehbuchautor u. Übersetzer.
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1919), in dem eine ländl. Idylle als Chance zur Erneuerung der Nachkriegsgesellschaft erscheint. In den 1920er u. 1930er Jahren verfasste J. viele Reisebeschreibungen; er galt aufgrund seiner zahlreichen Reisen u. Essays als Kenner der ostasiatischen Inselwelt. Es folgte eine ganze Reihe eher mittelmäßiger Unterhaltungsromane. Von Interesse sind darunter allein der histor. Roman Der Bundschuhhauptmann Joß (Bln. 1936) u. insbes. der Schillerroman Leidenschaft (Bln. 1939. Neuaufl. Blieskastel 2001), eine der bis heute eindrucksvollsten Bearbeitungen des Schillerstoffs. Von den Arbeiten, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden, verdient v. a. die Autobiografie Mit Lust gelebt (Hbg. 1950. Neuaufl. St. Ingbert 2004) Beachtung, die im Plauderton ein kulturhistorisch u. sozialpsychologisch gefärbtes Bild der Jahre 1901–1930 entwirft.
In seinem Geburtsland Luxemburg galt J. wegen seiner betont prodeutschen Haltung, die er insbes. während des Zweiten Weltkriegs einnahm, lange Zeit als unerwünscht. Im übrigen dt. Sprachraum ist der Autor von 55 Romanen, Erzählungen u. Gedichtbänden, einer unüberschaubaren Zahl von Essays, Reiseskizzen u. Rezensionen heute nahezu vergessen. Da half es auch nichts, dass Thomas Mann ihn schätzte, Schnitzler ihn kannte u. Kafka ihn gelesen hatte. Allenfalls die durch Fritz Langs Verfilmung zu Weltruhm gelangte Hauptfigur seines größten Romanerfolgs Dr. Mabuse der Spieler (Bln. 1921–22, zahlreiche Neuauflagen) erinnert noch an das sich gängigen Einordnungen Weitere Werke: Der Hafen. Bln. 1910 (R.). – Die widersetzende, qualitativ wie inhaltlich he- Pulvermühle. Bln. 1922 (R.). – Reise nach Sumatra. terogene literar. Werk J.s. Der Name des Schicksale v. Menschen u. Tieren. Hbg. 1926 (ReiErzbösewichts Mabuse ist noch heute präsent sebuch). – Die Limmburger Flöte. Bln. 1929 (R.). – – nicht zuletzt dank zahlloser Adaptionen Dr. Mabuse, Medium des Bösen. Hg. Michael Farin (u. a. im Comic durch Isabel Kreitz) u. der u. Günter Scholdt. 3 Bde., Hbg. 1994 (Werkausg.). – Der Bodensee hintenherum ... 33 kulturhistor. insg. zwölf Filme, die ihn im Titel tragen. J. stammte aus einer wohlhabenden Kauf- Skizzen. Hg. Josef Hoben. Uhldingen 1995. Literatur: Günter Scholdt: Der Fall N. J. Über mannsfamilie. 1901 entzog er sich »durch Rang u. Niedergang eines Erzählers. Stgt. 1976. – Flucht« der von ihm immer wieder beklagten Dr. Mabuse der Spieler. Roman, Film, Dokumente. Enge seiner Heimat. Ein in Bonn begonnenes Hg. G. Scholdt. St. Ingbert 1987. – Josef Hoben: N. Jurastudium brach er allerdings schon nach J. (1880–1954). Der Erfinder des Dr. Mabuse. In: etwa einem Jahr ab. Er arbeitete als Journalist Allmende 14 (1994), H. 40/41, S. 124–143. – Elisain Hamburg u. Berlin, wurde dann Landwirt beth Bronfen: Die tödl. Schrift des Dr. Mabuse. Ein am Bodensee u. etablierte sich schließlich als Spiel mit der Tiefe, dem Double, der Abwesenheit. freier Schriftsteller. Erste größere literar. Re- In: Dr. Mabuse, Medium des Bösen. Hg. M. Farin u. sonanz erzielte J. schon früh, nämlich 1909 G. Scholdt. Bd. 3. Hbg. 1994, S. 323–334. – David mit dem bei S. Fischer in Berlin erschienenen Kalat: The Strange Case of Dr. Mabuse. A Study of Roman Funchal. Eine Geschichte der Sehnsucht. the Twelve Films and Five Novels. Jefferson, NC 2001. – Erik Butler: Dr. Mabuse. Terror and DeAnknüpfend an neuromant. u. impressionisception of the Image. In: GQ 78 (2008), H. 4, tische Zeitströmungen, wendet er sich darin S. 481–495. Frank Steinmeyer / Marco Schüller gegen Intoleranz u. rassistische Vorurteile, erliegt ihnen aber selbst in den nach 1914 entstandenen Kriegsschriften. Anschluss an Jaeckle, Erwin, * 12.8.1909 Zürich, † 2.10. frühere Thematik u. literar. Niveau fand J. 1997 Zürich. – Lyriker u. Essayist. mit seinem Erfolgsroman Piraths Insel (Bln. 1917), der zu den bedeutenden Zeugnissen J., Sohn eines Zeichners, studierte Philosoexotistischer Literatur in Deutschland ge- phie u. Germanistik in Zürich u. promovierte zählt werden kann. Zivilisationsmüdigkeit 1936 mit der Arbeit Rudolf Pannwitz. Eine spiegelt auch der Roman Landmann Hal (Bln. Darstellung seines Weltbildes (Hbg. 1937).
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1939–1942 war er Lektor im Zürcher Atlantis [1994]. – Andreas Mauz: ›... dass die [...] vermitVerlag, 1943–1971 Chefredakteur der von telung zwischen dem schöpfer einer neuen welt u. ihm mitbegründeten Tageszeitung »Die Tat« Ihrem alten lande Sie übernehmen‹. Rudolf Pannu. und stand 1962–77 der Kulturbeilage »Li- witz u. E. J. im Briefw., nebst Bemerkungen zu Pannwitz’ Performance u. J.s emphat. Rezeption. terarische Tat« vor. 1937 dem Landesring der In: Gabriella Rovagnati (Hg.): ›der geist ist der köUnabhängigen beigetreten, war J. 1942–1950 nig der elemente‹. Der Dichter u. Philosoph Rudolf Mitgl. des Gemeinderats von Zürich (1945 Pannwitz. Overath 2006, S. 43–84. Präsident) u. 1947–1962 des Nationalrats. Guido Stefani / Red. 1992 gründete er zusammen mit seiner Frau die Jaeckle-Treadwell-Stiftung zur Förderung Jaeger, Henry, eigentl.: Karl-Heinz J., mitbürgerlichen Kulturschaffens. * 29.6.1927 Frankfurt/M.† 4.2.2000 AsJ.s formal traditionelle Lyrik beschäftigt cona – Erzähler u. Romancier. sich mit zeitgenöss. Themen wie dem Spannungsfeld zwischen Technik u. Natur (Glück Der Sohn eines Kupferschmieds wurde 15in Glas. Zürich 1957). Auch als Verfasser kul- jährig zum Kriegsdienst eingezogen; nach turgeschichtl. Werke über Religion u. My- der Heimkehr aus brit. Gefangenschaft verthologie wurde er bekannt. In Die Osterkirche suchte J. in verschiedenen Berufen Fuß zu (Stgt. 1970) untersucht er antike u. kelt. fassen, plante Schulabschluss u. MedizinstuEinflüsse auf das frühe Christentum. J.s dium, blieb aber erfolglos. Als Anführer einer Freundschaft mit Walther Meier, dem Leiter Bande, die Raubüberfälle u. Einbrüche verdes Manesse Verlags, u. mit Max Rychner übte, wurde er 1956 zu zwölf Jahren Zuchtschlägt sich in seinem Erinnerungsbuch Die haus verurteilt. Der Erfolg seines ersten, noch Zürcher Freitagsrunde. Ein Beitrag zur Literatur- in der Haft geschriebenen Romans Die Festung geschichte (Zürich 1975) nieder. Angeregt (Mchn. 1962) bewirkte, dass J.s Strafe 1963 durch Rudolf Gelpke befasste sich J. auch mit zur Bewährung ausgesetzt wurde. Ab 1965 dem Einfluss von Halluzinogenen auf die lebte er als freier Schriftsteller in Ascona/ dichterische Kreativität (Dichter und Droge. Schweiz. Wie schon in Die Festung beleuchtet J. in Zürich 1973). – J. erhielt u. a. 1958 den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis u. 1974 den Zür- seinem zweiten Roman Die Rebellion der Verlorenen (Mchn. 1963) die Problematik der ancher Literaturpreis. fangs hoffnungsvollen, bald scheiternden, Weitere Werke: Die Kelter des Herzens. Zürich aber nicht verzweifelnden Außenseiter in der 1943 (L.). – Das himml. Gelächter. Zürich 1962 (L.). – Die Botschaft der Sternstraßen. Stgt. 1967 (Ess.). – aufstrebenden Nachkriegs- u. WirtschaftsSignatur der Herrlichkeit. Sechs Vorträge zur Natur wunderzeit. Genaue Milieukenntnis u. deren im Gedicht. Zürich/Freib. i. Br. 1970. – Evolution treffende sprachl. Artikulation beweist auch der Lyrik. Stgt. 1972 (Ess.). – Eineckgedichte. Zü- der Roman Die bestrafte Zeit (Mchn. 1964), eine rich/Stgt. 1974. – Vom sichtbaren Geist. Natur- Anklage gegen die inhumanen u. von der philosophie. Stgt. 1984. – Die Idee Europa. Ffm./ doppelbödigen Moral der Gesellschaft toleBln. 1988. – Erinnerungen an ›Die Tat‹. rierten Methoden des Strafvollzugs. J.s sozi1943–1971. Zürich 1989 (Autobiogr. 1943–1971). – alkrit. Impetus artikulierte sich weitgehend Die johanneische Botschaft. Verwirrendes Rätsel – appellativ – eine realist. Chance zum Aufstieg beglückendes Wunder. Lahnstein [1989]. – Die haben seine Figuren nie. Fülle des Verzichts. Ein Gedicht. Lahnstein [1991]. J.s zum Teil in Fortsetzungen geschriebe– Die alltägl. Spiegelschrift. Zürich 1992. – Bürgen nen u. in Illustrierten veröffentlichten Rodes Abendlandes. Neue Beiträge zur ›Idee Europas‹. Lahnstein [1992]. – Die Lebenslinie. Eine seltsame mane gerieten zunehmend kolportagehaft; Biogr. Stäfa 1993. – Die Siebensilber. 3 Bde., die fast ausschließlich in der Welt des soziaLahnstein [1994] (L.). – Die unausdenkl. Spur. len Abseits angesiedelten Personen u. HandBegleitgedichte der Siebensilber. Ebd. [1995]. – Das lungen tragen mitunter stark klischeehafte Hexeneinmaleins des Spiegels. Ebd. [1997] (Ess.). Züge. Seine Vorliebe für multiperspektiv. Literatur: Willem Enzinck, Eduard Stäuble u. Erzählen steigerte sich im Lauf der Jahre, E. J.: E. J. in Porträt u. Selbstporträt. Lahnstein wurde aber weithin als bemüht u. letztlich
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erfolglos eingestuft. Während J.s erste Romane in den großen Feuilletons besprochen u. rasch verfilmt wurden, fanden spätere Werke fast keine Resonanz. Darunter sind die an drast. Sexszenen reichen Romane Das Freudenhaus (Mchn. 1966) u. Die Schwestern (1971) sowie konventionelle Liebesgeschichten in Unter Anklage (Mchn. 1978) u. Die Menschen nennen es Liebe (Mchn. 1980); Prostitution behandelt auch Ein Mann für eine Stunde (Mchn. 1979). Seinen eigenen Weg von einer glücklosen Jugend bis zur Straffälligkeit arbeitete J. erst zwei Jahrzehnte nach seiner Verhaftung in dem Roman Nachruf auf ein Dutzend Gauner (Mchn. 1975) auf. Weitere Werke: Der Club. Zürich 1969 (R.). – Jakob auf der Leiter. Mchn. 1973 (R.). – Hellseher wider Willen. Mchn. 1977 (R.). – Der Tod eines Boxers. Mchn. 1978. U. d. T. Ein Mann geht in die Falle. Mchn. 1980 (R.). – Zwölfmal Liebe. Erot. E.en. Mchn. 1979. – Onkel Kalibans Erben. Mchn. 1981 (R.). – Amoklauf. Ascona 1982 (R.). – Auch Mörder haben kleine Schwächen. Mchn. 1983 (E.en). – Kein Erbarmen mit den Männern. Mchn. 1986 (R.). – Der Nachtportier oder Die Rache des Stellvertreters. Assenheim 1987 (E.en). – Glückauf Kumpel oder Der große Beschiss. Ascona 1988 (R.). – Der Sieger oder Weit ist der Weg nach Marathon. Mit sechs Lithografien v. Alban Welti. Ascona 1993. – Schnee. Mchn. 1995 (R.). Literatur: Norbert Schachtsiek-Freitag: H. J. In: KLG. Bernhard Iglhaut / Christophe Fricker
Jaeger, Werner (Wilhelm), * 30.7.1888 Lobberich, † 19.10.1961 Boston/USA. – Altphilologe. J. studierte in Marburg u. bei Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff in Berlin, wo er 1911 promovierte. Seine Dissertation Studien zur Entstehungsgeschichte der Metaphysik des Aristoteles (Bln. 1912) stellt die alte Überzeugung, dass die Metaphysik des Aristoteles eine einheitl. Abhandlung sei, in Frage. Stattdessen vertrat J. die daraufhin viel diskutierte Ansicht, dass sie eine Sammlung von Vorträgen sei, die Aristoteles zu unterschiedl. Zeiten gehalten habe u. in denen sich die Entwicklung seines Denkens zeige. Zwar sind die Einzelheiten von J.s Ergebnissen inzwischen überholt, doch hat er damit die Erkenntnis
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durchgesetzt, dass die Brüche u. Widersprüche in Aristoteles’ Philosophie ihr immanent u. hermeneutisch nicht zu überwinden seien. Eine ähnl. These stellte J. schließlich für alle Schriften Aristoteles’ in seinem Werk. Aristoteles. Grundlegung einer Geschichte seiner Entwicklung (Bln. 1923. 21955. Nachdr. Hildesh. 2006) auf. Nachdem sich J. 1914 in Berlin über Nemesios von Emesa (Bln.) habilitiert hatte, wurde er an die Universität Basel berufen. Im folgenden Jahr erhielt er einen Ruf nach Kiel u. 1921 nach Berlin, wo Wolfgang Schadewaldt zu seinen Schülern gehörte. Während dieser Zeit gründete u. edierte er die Zeitschriften »Die Antike« (Bln. 1924–44) u. »Neue Philologische Untersuchungen« (Bln. 1926 ff. Neudr. New York 1973). In seinem Lebenswerk Paideia. Die Formung des griechischen Menschen (3 Bde., Bln. 1934–47. 3. bzw. 4. Aufl. 1959. Nachdr. in 1 Bd. Bln./New York 1973. 1989) begriff J. – in Überwindung des antiquarischen Historismus – das Griechentum als die Idee, den Menschen nach einem bestimmten Ideal zu formen. Die Gesamtheit der griech. Kultur sei ein Ausdruck dieses Strebens, deren Wirkungsgeschichte auf das frühe Christentum er in der Schrift Early Christianity and Greek Paideia (Cambridge 1961. Dt. Bln. 1963) skizzierte. J.s Bemühen, das Interesse für diese Auffassung von der Formung des Menschen nach einem Ideal wiederzuerwecken, ist in seinen Humanistischen Reden und Vorträgen (Bln. 1937. 21960) zu erkennen. 1936 erhielt J. einen Ruf nach Chicago; 1939 wurde er zum ersten Leiter des Institute for Classical Studies an der Harvard University ernannt. Zu seinen philolog. Leistungen gehören krit. Ausgaben: Aristotelis de animalium motione et de animalium incessu (Lpz. 1913) u. Aristotelis Metaphysica (Oxford 1957); zudem begründete er die krit. Ausgabe Gregorii Nysseni Opera (Bln., später Leiden 1921–60). Weitere Werke: Diokles v. Karystos. Bln. 1938. 1963. – Demosthenes. Berkeley/Cal. 1938. Dt. Bln. 1939. Neudr. 1963. – Die Theologie der frühen griech. Denker. Stgt. 1953. Nachdr. Stgt. 1964. – Scripta Minora. 2 Bde., Rom 1960. – Humanismus u. Theologie. Heidelb. 1960. – Gregor v. Nyssas Lehre vom Hl. Geist. Leiden 1966. – Five Essays. Montreal 1966 (mit Bibliogr.). – Rudolf Borchardt,
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85 W. J. Briefe u. Dokumente. 1929–1933. Hg. Ernst A. Schmidt. o. O. [Ebersberg] 2007. Literatur: Hermann Langerbeck: W. J. In: Gnomon 34 (1962), S. 101–105. – Wolfgang Schadewaldt: Gedenkrede auf W. J. Bln. 1963 (mit Bibliogr.). – William M. Calder III (Hg.): W. J. Reconsidered. Proceedings of the Second Oldfather Conference. Atlanta, GA 1992. – Carlo Franco: W. J. in Italia. Il contributo di Piero Treves. In: Quaderni di storia 20 (1994), H. 39, S. 173–194. – Manfred Landfester: Die Naumburger Tagung ›Das Problem des Klassischen u. die Antike‹ (1930). Der Klassikbegriff W. J.s. Seine Voraussetzung u. seine Wirkung. In: Hellmut Flashar (Hg.): Die Altertumswiss. im Dtschld. der zwanziger Jahre. Neue Fragen u. Impulse. Unter Mitarbeit v. Sabine Vogt. Stgt. 1995, S. 11–40. – Andrea Follak: Der ›Aufblick zur Idee‹. Eine vergleichende Studie zur Platonischen Pädagogik bei Friedrich Schleiermacher, Paul Natorp u. W. J. Gött. 2005. Gregory Schalliol / Red.
Jägersberg, Otto, * 19.5.1942 Hiltrup bei Münster/Westfalen. – Verfasser von Gedichten, Prosa, Hör- u. Fernsehspielen. Der Sohn eines Eisenbahnbeamten arbeitete nach abgeschlossener Lehre zunächst als Buchhändler; daneben versuchte er sich als Theaterdramaturg u. Journalist. 1965–1968 war J. Redakteur beim WDR. Seit 1969 ist er als freier Schriftsteller, Drehbuchautor u. Regisseur tätig. J. debütierte mit dem amüsanten Roman Weihrauch und Pumpernickel (Zürich 1964). Bereits in diesem humorvoll-ironisch gehaltenen »westphälischen Sittenbild« – Traditionslinien verweisen auf Heimat- u. Schelmenroman – zeigten sich J.s Hang zu fragmentarisch-sprunghaftem Erzählen, sein Ohr für die Umgangssprache u. sein Auge für die Komik des Alltäglichen. Während der Roman das Lob der Literaturkritik fand, sorgten die satir. Attacken auf die westfäl. Dorfwelt für einen Skandal in der Heimatregion des Autors. Das für ihn typische, in seinen Kinderbüchern u. Erzählungen wiederkehrende Thema – das Leben des kleinen Mannes – griff er auch in dem Roman Nette Leute (Zürich 1967) auf. In seinen zahlreichen, häufig journalistisch ausgerichteten Fernsehspielen behandelte er mit gesellschaftskrit. Absicht aktuelle Pro-
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bleme wie etwa die Überalterung der Bevölkerung (Seniorenschweiz. Reportage unserer Zukunft. Zürich 1976). Persiflage u. reportagehafte Sachlichkeit dienten ihm als stilistische Mittel, um krit. Information zu vermitteln u. Problembewusstsein zu schaffen. Den größten Erfolg hatte J. mit der sorgfältig recherchierten u. unterhaltsamen Fernsehspielserie Die Pawlaks, die das bewegte Schicksal einer aus Ostpreußen stammenden Familie zeigt, die am Ende des 19. Jh. im Ruhrgebiet ansässig wurde. Mit dem Roman Der Herr der Regeln (Zürich 1983) kehrte J. zur Prosa u. dem Sujet des Kleinbürgeralltags zurück. Die teils autobiogr. gefärbte Entlarvung der Kurortidylle – J. lebt in Baden-Baden – ist betont sachlich gehalten. Der Roman unterscheidet sich darin von den mehr satirisch-iron. Erzählungen (Der letzte Biss. Zürich 1977. Vom Handel mit Ideen. Zürich 1984). Sie leben wie die in Wein, Liebe, Vaterland (Zürich 1985) gesammelten Gedichte von humorvollen, versponnenen Gedankenspielen. Aber nicht nur die präzise beobachtete u. dargestellte, zuweilen skurrile Alltagswelt der Kleinbürger, sondern auch das bizarre Leben der feinen Gesellschaft wird in J.s zeitkrit. Erzählungen karikiert. Weitere Werke: Fahrradklingeln für Vera Tereschkowa. Stierstadt 1963 (L.). – Der Waldläufer Jürgen. Stierstadt 1969 (E.). – Der große Schrecken Elfriede. Köln 1969 (Kinderbuch). – Cosa Nostra. Zürich 1971 (szen. Texte zu Hörsp.en). – Das Kindergasthaus. Köln 1973 (Jugendbuch). – Land. Ein Lehrstück für Bauern u. Leute, die nichts über die Lage auf dem Land wissen. Zürich 1975 (Fernsehsp.). – He, he, ihr Mädchen u. Frauen. Konsumkomödie. Zürich 1975. – Söffchen oder nette Leute. Zürich 1975 (R.). – Der industrialisierte Romantiker. Reportage unserer Umwelt. Zürich 1976 (Text zum Fernsehfilm ›Die Ansiedlung‹). – Empörte Frauen. Prosa. Düsseld. 1980. – Die Pawlaks. Eine Gesch. aus dem Ruhrgebiet. Mchn. 1982 (Materialbd. zum gleichnamigen, dreizehnteiligen Fernsehfilm). – Dr. Georg Groddeck in Baden-Baden. Marbach 1991. – Das zweite Leben der Bücher. Warmbronn 2002 (Prosa). – Artmann 1991, 1993. Zürich 2003. – Herausgeber. Georg Groddeck. Der wilde Analytiker, Es-Deuter, Schriftsteller, Sozialreformer u. Arzt aus Baden-Baden. Dokumente u. Schr.en. Bühl-Moos 1984.
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Literatur: Walter Gödden: O. J. u. das Böse im Alltag. Ein Kenner guter Küche, Pilze u. Manieren. In: Westfalenspiegel (1996), H. 2, S. 30 f. – Manfred Durzak: O. J.: Dazugehören. In: Ders.: Die dt. Kurzgesch. der Gegenwart. Autorenporträts, Werkstattgespräche, Interpr.en. Würzb. 32002, S. 417–419. – Westf. Autorenlex. 4. Detlev Janik / Peter Heßelmann
Jaeggi, Urs, * 23.6.1931 Solothurn. – Erzähler, Essayist u. Aktionskünstler; Soziologe. Nach mehrjähriger Tätigkeit als Bankkaufmann studierte J. Volkswirtschaft u. Soziologie. Er war Professor der Soziologie in Bern, Bochum u. New York; 1972–92 lehrte er an der FU Berlin. Für sein literar. Werk erhielt er 1981 den Ingeborg-Bachmann-Preis. Seit Mitte der 1980er Jahre ist J. auch als Künstler tätig. In seinem wissenschaftl. Hauptwerk Kapital und Arbeit in der Bundesrepublik (Ffm. 1973) diagnostiziert J. die zunehmende Anonymität der Macht im Kapitalismus, redet aber einem ökonomischen Determinismus ebensowenig das Wort wie der strukturalistischen Abdankung des Subjekts. Die Frage nach dem subjektiven Faktor der Geschichte führte den Soziologen, der schon in den frühen 1960er Jahren Erzählungen in verschiedenen Zeitschriften u. Sammelbänden sowie Romane veröffentlicht hatte, zur Literatur zurück. Im Roman Brandeis (Darmst. 1978) gibt J. in autobiogr. geprägter Perspektive eine der umfassendsten Darstellungen der 68er Jahre in der BR Deutschland. Die Spannung zwischen individueller Erinnerungsarbeit u. objektivierender Analyse äußert sich formal im Umspringen von Ich- in Er-Perspektive sowie in der Komposition. Der Text ist ein lockeres Geflecht aus Tagebuchnotizen, dialogisch gestaltetem Theoretisieren, typisierenden Porträts u. Seismogrammen eines hellwachen Herumstreunens in Kneipen u. Quartieren. Der Roman Grundrisse (Darmst. 1981) erzählt die Fortsetzung des individuellen Widerstands in den späten 1970er Jahren als Geschichte eines die Karriere abbrechenden Architekten. Mit seiner Tochter Ruth erlebt er zwar befremdet, aber solidarisch das Erwachen einer neuen Jugendbewegung. J.s Essay
Versuch über den Verrat (Darmst. 1984) fragt in hartnäckig insistierenden Denkansätzen nach dem Individuum als dem brüchigen Rest, der nicht Ruhe gibt, Verrat übt, um sich treu zu bleiben, u. sich verraten muss, um Treue zu halten. Rimpler (Zürich 1987) ist der Monolog eines Patienten in der Psychotherapie. Auf die sich verhärtenden Konflikte in seiner Tätigkeit als Polizist reagiert Rimpler mit psychosomat. Lähmung. Zur schweigenden Therapeutin spricht dieser gebrochene Mann, der kein »Bulle« zu sein vermag, aggressive u. traurige Sätze: »Irgendwann werden sie sich immer wieder an den Polizisten erinnern müssen, der tagelang, monatelang sein Zimmer nicht verließ. [...] Das hat er gesagt und jenes. Dies und das. Oder streifen Sie ihre Kunden ab wie ein verschwitztes Hemd?« Die längeren Publikationspausen nutzt J. für seine künstlerische Arbeit – insbes. Installationen u. Performances –, die die Literatur häufig in Sprach-Bilder überträgt, in denen er die Reduktion, das »Zusammenschrumpfen« zum Prinzip macht. 1990 erschien der Heimkehrerroman Soulthorn (Zürich 1990). »Versuche, die Gegenwart zu verstehen«, unternimmt J. ausdrücklich in seinem persönlich gehaltenen Essayband Durcheinandergesellschaft (Stgt./Wien 2008), der als facettenreicher Durchkreuzungstext seines theoret., künstlerischem u. literar. Schaffens gelten kann. Weitere Werke: Die Wohltaten des Mondes. Mchn. 1963 (E.en.). Neuaufl. u. d. T. Fazil u. Johanna. Ffm. 1985. – Die Komplicen. Mchn. 1964. Neuausg. Bln. 1982 (R.). – Ein Mann geht vorbei. Zürich 1968 (R.). – Macht u. Herrschaft in der Bundesrepublik. Ffm. 1969. – Lit. u. Politik. Ffm. 1972 (Ess.). – Theoret. Praxis. Probleme eines strukturalen Marxismus. Ffm. 1976. – Was auf den Tisch kommt, wird gegessen. Aufsätze. Darmst. 1981. – Heicho. Gedichte in Schweizer Mundart. Bln. 1985. – Figuren. Zürich 1991. – Tessin (mit Fotos v. Remy Steinegger). Zürich 1991. – Am Ende Ein stein. Installation u. Performance. Solothurn 1995. – Entre Ahora y Ahora. Mexico, D. F. 1998. – Lange Jahre Stille als Geräusch. Bln. 1999. – Kunst. Bln. 2002. – Weder Noch Etwas. Klagenf. 2008. Literatur: Gisela Ullrich: U. J. In: KLG. – Peter Truebner: U. J. In: LGL. Rudolf Käser / Günter Baumann
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Jaeglé, Johann Jakob, * 16.3.1763 Straßburg, † 21.10.1837 ebd.. – Lyriker, Erzähler, Übersetzer, Verfasser geistlicher Schriften.
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befördern). Unter den Gedichten überzeugen v. a. die in Italien geschriebenen: In der Lebensfülle südl. Bilder bei hoher Literarizität erinnern sie oft an Platens spätere Bilder Neapels. Erwähnenswert ist ferner J.s Tätigkeit als Erzähler (siehe bes. Werrn) u. als Übersetzer (z.B. Gedichte nach englischen Originalen. Regensb. 1799 u. die Recherche sur la domesticité des Abbé Grégoire. Ungedr., siehe Werrn).
Der Vater von Georg Büchners Braut Minna dürfte, nach seinem Leben u. Werk zu urteilen, ein ergiebiger Gesprächspartner gewesen sein: Geboren als Sohn eines Straßburger Postillons, studierte er 1780–1786 in seiner Literatur: Goedeke 13. – Anne Fremantle (Hg.): Vaterstadt u. a. protestantische Theologie; er The Wynne diaries. 2 Bde., London 1935–37, passtand 1789 positiv zur Französischen Revo- sim. – Jean Strohl: Oken u. Büchner. Zürich 1936, lution, hielt sich aber jahrzehntelang S. 90 f. – Ders.: Georg Büchner à Strasbourg. Vie en (1789–1803) als Hauslehrer reicher Familien Alsace. Straßb. 1936, S. 193–196. – Jan-Christoph an verschiedenen Orten der Schweiz, Bayerns, Hauschild: Georg Büchner. Studien u. neue QuelTirols u. Italiens auf, u. a. mit der engl. Fa- len. Königst./Taunus 1985, passim. – E. Theodor milie Wynne in Venedig, Padua, Florenz, Elba Voss: Arkadien in Büchners ›Leonce u. Lena‹. In: u. vornehmlich in Neapel, von wo aus er im Georg Büchner. Leonce u. Lena. Krit. Studienausg. Hg. Burghard Dedner. Ffm. 1987, S. 350 f. – PaMai 1797 eine Anzahl von Gedichten an trick Werrn: J. J. J. In: NDBA. – Ders.: Le pasteur et Schiller schickte (Nationalausg. 37, 1, homme de lettres alsacienne J. J. J. In: Bulletin de la S. 17 f.), der daraus Das Meer im »Musenal- Société d’histoire du protestanisme français 4 manach auf 1798« brachte. Nach seiner (1992), S. 577–586. E. Theodor Voss Rückkehr ins Elsass hatte J. 1805–1826 fünf verschiedene ländl. Pfarrstellen inne; seit 1826 wirkte er an St. Wilhelm in Straßburg Jagdallegorien, 13. bis 15. Jh. (in seiner Wohnung Rue St. Guillaume Nr. 66 Jagd als Metapher der werbenden Bemüwohnte Büchner 1831–1833). Der Versteige- hungen eines Mannes um eine Frau ist ein rungskatalog seiner Bibliothek (Straßb. 1838) seit der Antike reich belegtes Motiv. In der dt. ebenso wie die zahlreichen Veröffentlichun- Literatur des MA erscheint minnetheoret. gen deuten zurück auf J.s reiche Belesenheit Reflexion u. a. in allegor. Texttypen, denen in den europ. Literaturen. Von J.s zahlreichen Methoden der Jagd auf Rotwild als HandPredigten, geistl. Reden u. späten Gedichten lungsmodell zugrunde liegen. Ein gemeinauf Verstorbene (darunter 1828 auf seinen sames Merkmal dieser der Gattung der Minfünfjährigen Sohn u. seine Frau. In: Der Cy- nereden zugehörigen Allegorien ist, dass die pressen-Hain, Klage und Trost bei dem Scheiden Jagdhunde positiv oder negativ bewertete unserer Lieben. Straßb. 1830) unterscheiden Formen der Minnewerbung sowie Eigensich die 1805 in Straßburg erschienenen Ge- schaften oder Stimmungen des Jägers verdichte seiner Wanderjahre, überdies die da- körpern. nach in Einzeldrucken erschienenen Gedichte Abgesehen von Jagdmetaphorik in der höf. auf bestimmte Gelegenheiten (z.B. Marie- Dichtung (Burkhard von Hohenfels, Lied IX), Louise, Kaiserin der Franzosen, an ihren Vater als er entfaltet um 1340 Hadamar von Laber in der gegen Napoleon zog. Straßb. 1813. Napoleons Zug Jagd (Brandis 513) die Konstellationen einer aus Elba nach Paris. Straßb. 1815. Gottes Gericht Jagdallegorie, die sich mit steter Reflexion oder der Thronensturz. Straßb. 1830): Sie zei- des Jagdgeschehens bis hin zur Klage vergen das Bild eines politisch engagierten, bindet. Bekannte Rollen können vertauscht selbst in den 1790er Jahren fortschrittlich werden, sodass z.B. die Dame als »meisterorientierten, danach für Napoleon u. Louis- inne« des ihr Minnelob sprechenden, kanifiPhilippe Partei ergreifenden Autors von zu- zierten Dichters erscheinen kann (vgl. Minweilen beachtl. Ausdrucksvermögen (dazu neburg, VV. 1631–1671; Brandis 485). angetan, auch die Auflösung des KlischeeZwei anonyme, je einfach überlieferte alebilds einer bigotten Minna Jaeglé weiter zu mann. Dichtungen in Reimpaarversen ahmen
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Hadamars allegor. Verfahren nach; sie führen es jedoch zu anderen Schlüssen. In Die Jagd der Minne (wohl zweite Hälfte des 14. Jh.; Brandis 505) sieht sich ein Jäger, der mit den Hunden »wil«, »lieb«, »trost«, »hare«, »stätte«, »trü« jagt, einem »heck iäger« mit unedlen Mitteln u. unhöf. Hunden gegenüber; jenem gelingt es, seine Jagd hoffnungsvoll fortzusetzen. Die Jagdallegorie (Brandis 504) in einer verschollenen Königsberger Handschrift, die heute für jünger als Hadamars Werk gehalten wird, lässt hingegen die negativen Kanifizierungen obsiegen: Mit ihnen zu jagen, hatte der zehn Jahre lang erfolglose Jäger sich geweigert; der Dichter fängt das Wild mit Hilfe von »zwifel«, »wenken« u. »falsch« sogleich u. führt es dem Gericht der Minne vor. Die Verurteilung der Frau illustriert die angeschlossene Lehre, dass es der weibl. Verantwortung anheimgestellt ist, nur »staete« zu erhören. Peter Suchenwirts wohl 1360–1370 entstandene Rede Daz geiaid (Brandis 501) ist wiederum auf den glückl. Ausgang der Jagd hin gesprochen: Zwei Unwetter »Meld« u. »Merk« repräsentieren die Gesellschaft als Gegenspieler. Hadamars Werk am nächsten steht Die Jagd (Brandis 502) bzw. Die Jagd auf einen edlen Fasan (Mareiner), eine wohl bair. Jagdallegorie in Titurelstrophen, die in einer 1483 fertig gestellten Wiener Handschrift zusammen mit fünf anderen Minnereden überliefert ist. Im Rahmen umfängl. Minnereflexionen u. Jagdlehren beginnt eine Jagd mit Hund u. Vogel auf einen Fasan, die in ein langes Gespräch des Jägers mit einem anderen über die rechte Art des Jagens mündet; es fällt eine Entscheidung zugunsten der Werbung mit »triuwe« u. »staete«. Offensichtlich als bekannt vorausgesetzt, können die Konventionen des Texttyps Jagdallegorie auch reduziert erscheinen. Im wohl 1475–1479 entstandenen ersten Teil einer Sammelhandschrift aus der Bibliothek des Nürnberger Arztes u. Chronisten Hartmann Schedel finden sich zwei Minnereden, die moselfränk. Verfolgte Hindin (Brandis 506) u. die oberdt. Drei Hunde als Beschützer (Brandis 197), in denen die Jagdhandlung hinter dem Zitat weniger Rollen verschwindet. Dem Jäger, der eine wunderschöne Hindin jagt, fehlt der Hund, u. so bleibt ihm nur, sie an-
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zuschauen u. im Selbstgespräch seine Minnesehnsucht zu reflektieren, bis ihm durch Ratschläge der Jungfrauen »stete«, »trew« u. »ere« sowie des weisen Mannes »trewer rat« das Bild des Wildes für immer im Herzen steht. Die drei Hunde »versagen«, »es darff sein nit« u. »las ab pej zeit« sind die Begleiter einer Frau, die im Gespräch mit einem alten Mann psychologisch detailliert das Werben u. die Charakterzüge eines Mannes, den sie nicht erhörte, sowie ihr eigenes Fühlen u. Denken darlegt. Zu den rheinischen J. des 15. Jh. zählt in Hadamars Tradition neben der Verfolgten Hindin auch die in einer ripuar. Handschrift von 1481 überlieferte Jägerin (Brandis 508): »vrouwe stede« jagt mit ihren zehn Hunden ein Wild; den fragenden Dichter lehrt sie die Eigenschaften, die ein Jäger besitzen muss. Ein älteres, ungewöhnlich kurzes Gedicht in einer Handschrift von etwa 1375, Die Brackenjagd (Brandis 507), scheint als erot. Parodie der Minnejagd gelesen werden zu sollen: Ein Bracke – wohl ein Bild des Phallus – spricht über die Freuden u. Hoffnungen seiner Hetze nach einer schönen Dame; sein Herr überzeugt diese, dass jener all ihre Abwehrmaßnahmen leicht überwinden könne. Allegorien der Jagd können auch anderen Themen als dem Minnediskurs gelten. In der Frauenklage (Brandis 408; Rheinheimer), einem anonymen mittelrheinischen Gedicht aus dem 14. Jh., wird ein Jäger vorgeführt, der alle Arten von Tieren mit positiven Kanifizierungen jagt; er bleibt erfolglos, da die Hunde »nyt«, »melde«, »zwivil« u. »klaffe« in der Welt allgegenwärtig sind (VV. 241–387). In dieser Form der Zeitklage polemisiert schon der Autor des Seifried Helbling in seiner 1296–1298 entstandenen vierten Satire gegen die polit. Zustände in Österreich (VV. 401–460). Geistliche J., die Hirsch- oder Einhornjagd, sind in ihren Bezügen zu weltlichen kaum untersucht. In der anonymen lat. Karfreitagspredigt Neptalym cervus emissus aus der Mitte oder der zweiten Hälfte des 14. Jh. erscheint Christus als gejagter Hirsch, seine Passion als die Jagd. Die Einhornjagd, ein Bildtypus v. a. des 15. u. 16. Jh., zeigt den
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Jagemann
Engel Gabriel als Jäger des Einhorns mit den Jagemann, Karoline, eigentl.: Henriette (Kardinal-)Tugenden als Hunden. Carolina Friederica J., seit 1809 von HeyAusgaben: Tilo Brandis: Mhd., mittelniederdt. u. mittelniederländ. Minnereden. Mchn. 1968 (unter den angegebenen Nrn. Verz. v. Hss. u. Ausg.n der einzelnen Texte). – Melitta Rheinheimer: Rheinische Minnereden. Göpp. 1975. – Michael Mareiner: ›Die Jagd auf einen edlen Fasan‹. Eine mhd. Minneallegorie. Ed. u. Übers. Bern 1990. Wörterbuch u. Reimwörterbuch. Bern 2005. – http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/cpg326/0020 u. 0132 (Faks.: Hadamar v. Laber, Die Jagd, Anfang u. Schluss). – http://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/ cpg455/0005 (Faks.: Hadamar v. Laber, Die Jagd, Fragm.) Literatur: David Dalby: Lexicon of the Medieval German Hunt. Bln. 1965, bes. S. XXII–XXV. – Walter Blank: Die dt. Minneallegorie. Stgt. 1970. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971. – Marcelle Thiébaux: The Stag of Love. The Chase in Medieval Literature. Ithaca/London 1974. – Rheinheimer, a. a. O. – Arthur Thomas Hatto: Poetry and the Hunt in Medieval Germany. In: Ders.: Ess.s on Medieval German and Other Poetry. Cambridge 1980, S. 298–322, 360–363 (zuerst 1966). – Ursula Schulze: Hadamar v. Laber. In: LexMA. – Volker Mertens: Minnewild u. Minnejagd. Zu Hadamar v. Laber. In: Tierepik im MA. [...]. Hg. Danielle Buschinger u. Wolfgang Spiewok. Greifsw. 1994, S. 57–69. – Antonia Gertruda Ermes-Körber: Zwei Künste, beflügelt v. einem Ideal. Eine Untersuchung des Falkenmotivs in der Lyrik, Epik u. Minneallegorie des 12.-14. Jh. Amsterd. 1995. – Helmut Brackert: ›deist rehtiu jegerîe‹. Höf. Jagddarstellungen in der dt. Epik des HochMA. In: Jagd u. höf. Kultur im MA. Hrg. Werner Rösener. Gött. 1997, S. 365–406, hier S. 398–400. – Ulrich Steckelberg: Hadamars v. Laber ›Jagd‹. Untersuchungen zu Überlieferung, Textstruktur u. allegor. Sinnbildungsverfahren. Tüb. 1998. – Sonja Emmerling: Hadamar v. Laber u. seine Liebesdichtung ›Die Jagd‹. Regensb. 2005. – Artikel zu den einzelnen Texten in: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – http://www.handschriftencensus.de/werke/615, 1690, 1647, 963, 1662. Sabine Schmolinsky
gendorf, * 25.1.1777 Weimar, † 10.7.1848 Dresden. – Sängerin u. Schauspielerin; Autobiografin. J. gilt als eine der bedeutendsten Sängerinnen u. Schauspielerinnen ihrer Zeit. Die Tochter des Weimarer Hofbibliothekars Christian Joseph Jagemann u. der gebildeten Mariana Barbara, geb. Spoerer, ging mit 13 Jahren nach Mannheim zur Gesangsausbildung unter Josepha u. Heinrich Beck u. Iffland u. debütierte 1792 am Nationaltheater Mannheim. 1797 trat sie als Sängerin u. Schauspielerin am Weimarer Hoftheater ihre zweite Stelle an. Dort blieb sie bis 1828. 1802 wurde sie die Geliebte Herzog Karl Augusts von Sachsen-Weimar. 1808–1817 leitete sie die Oper; 1817–1828 war ihr Einfluss am Theater ausschlaggebend. Nach ihrem Abschied von der Bühne u. dem Tod des Herzogs 1828 lebte J. in Berlin u. Mannheim oder auf ihrem Gut bei Dresden. Dort schrieb sie Die Erinnerungen der Karoline Jagemann (Hg. Eduard von Bamberg. 2 Bde., Dresden o. J. [1926]), um ihren Söhnen u. dem »große[n] Publikum« »die Motive – imaginäre oder wirkliche – meiner Lebensverhältnisse anschaulich zu machen« (an Georg von Mecklenburg-Strelitz, 8.8.1844. Zitiert nach Bamberg, S. 574), wobei sie in erster Linie die Motive meinte, die sie dazu bewogen hatten, in das Verhältnis mit dem Herzog einzuwilligen. Zu Unrecht wurde behauptet, J. habe Goethe durch Intrigen zum Rücktritt als Intendant des Weimarer Theaters (1817) veranlasst. Literatur: Eduard v. Bamberg, a. a. O., S. 11–16, 171–439. – Wolfgang Frhr. v. Löhneysen: K. J. In: NDB. – Heidemarie Förster-Stahl: K. J. vor 200 Jahren erstmals in Rudolstadt. In: Rudolstädter Heimathefte 45 (1999), S. 230–234. Bettina Eschenhagen / Red.
Jahn
Jahn, Friedrich Ludwig, * 11.8.1778 Lanz bei Lenzen/Prignitz, † 15.10.1852 Freyburg/Unstrut. – Begründer der Turnbewegung. »Der Name dieses seltenen Mannes«, so hieß es im Neuen Nekrolog der Deutschen 1852 über J., »braucht nur genannt werden, um in Allen, welche die größte Zeit des deutschen Vaterlandes nicht blos vom Hörensagen kennen, eine unendliche Fluth von Gedanken und Meinungen tiefinnerlichst aufzuregen«. Während der »Turnvater« J. einer modernen Öffentlichkeit lediglich als Namenspatron zahlreicher Sportvereine ein Begriff ist, war er für die Zeitgenossen vor allem das Symbol eines »bieder«-derben dt. Patriotismus, galt entweder als vorbildhafter Kämpfer gegen Frankreich u. den Internationalismus oder aber als Propagandist eines rückständigen u. potenziell gefährl. Nationalismus. J., Sohn eines Pfarrers, verließ 1795 das Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin ohne Abschluss; auch die theolog., histor. u. philosophischen Studien, die er bis 1803 an den Universitäten Halle, Greifswald u. Göttingen betrieb, schloss er nicht ab. 1809 siedelte er sich in Berlin an, konnte sich allerdings nicht für eine feste Lehrstellung qualifizieren. Während seine erste Veröffentlichung Über die Beförderung des Patriotismus im Preußischen Reiche (Halle 1800) noch dem herkömml. Landespatriotismus huldigte, erstrebte der 1810 gemeinsam mit Friedrich Friesen gestiftete »Deutsche Bund« – laut dem programmat. Bundesbuch – v. a. die Befreiung Deutschlands von der frz. Herrschaft u. die nationale Einheit. 1811 eröffnete J. den ersten Turnplatz auf der Hasenheide in Berlin. Das Turnen sollte, ganz im Sinn der Philanthropen, die »verlorengegangene Gleichmäßigkeit der menschlichen Bildung wiederherstellen«; darüber hinaus sollte aber die – in dem Turnerspruch »frisch, frei, fröhlich, fromm« zusammengefasste – Lebensgestaltung dazu beitragen, »im Herzen das neue Deutschland aufzubauen«. Während J. in den patriotischen Kriegen 1813–1815 als Leutnant im Lützow’schen Freikorps diente, wurde das Turnen in Berlin weitergeführt. Volkserziehung u. Wehrtur-
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nen fügten sich dann auch den Zielen der von J. mitinspirierten studentischen Burschenschaft ein, die 1815 in Jena gegründet wurde. Die preuß. Regierung beargwöhnte, je weiter die Restauration vorrückte u. die für Volksbeteiligung am Staat plädierende Reformpartei ins Abseits geriet, das »vaterländische Turnen« mehr u. mehr als verkappte Demagogie, bis zur vorläufigen Einstellung 1819 u. dem Verbot 1820. J. selbst wurde 1819 »als geheimer, hochverrätherischer Verbindung verdächtig« verhaftet, dann nach Kolberg verbannt u. 1825 mit der Auflage freigesprochen, sich in keiner Universitäts- oder Gymnasialstadt aufzuhalten. J. zog sich unter dürftigen Lebensumständen in das abgelegene Freyburg, 1828–1836 nach Kölleda zurück. Er wurde erst 1840 unter Friedrich Wilhelm IV., der ihm nachträglich das Eiserne Kreuz II. Klasse verlieh, völlig rehabilitiert. Breiteres Wirken konnte er freilich nicht mehr entfalten, auch nicht 1848 als Abgeordneter in der Frankfurter Paulskirche, wo er monarchische Positionen vertrat. J.s Werk ist im Kontext der Befreiungskriege gegen Napoleon zu sehen. Von anderen zeitgenöss. Autoren unterscheiden ihn nicht sein scharfer Nationalismus, wohl aber die rassistisch-biologistischen Fundamente seiner Weltanschauung. Sein Hauptwerk, Deutsches Volksthum (Lpz. 1810), angeregt von Fichtes Reden an die deutsche Nation, gilt als erster Versuch einer »Erfahrungsseelenlehre der Völker«. Indem J. neben Natur u. Vernunft in der Geschichte eine »heilige Offenbarung der Menschheit« erblickt, ordnet er sich jenem patriotischen Historismus zu, in dem auch die dt. Philologie wurzelt. Wie die Begründer der Germanistik begriff J. die Sprachnation als polit. Einheit. Er verstand Volkswerdung als göttl. Gebot der Vervollkommnung im Geschichtsprozess; dabei galt den biologistischen Aspekten bes. Augenmerk. J.s schöpferische Pflege der Muttersprache artete oftmals in einen teils skurrilen, teils militant-aggressiven Kampf gegen Fremdwörter u. »Ausländerei« aus: »Wälschen ist Fälschen, Entmannen der Urkraft, Vergiften des Sprachquell.« In den Kontext der Befreiungskriege gehört auch die Turnbewegung, die nicht zuletzt der auch ideolo-
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gisch untermauerten Wehrertüchtigung dienen sollte. Wegen seines Kampfs gegen die »Freiheitelei« des Liberalismus unterstellten ihm Gegner wie Heine u. Immermann eine »ungewaschene Opposition« gegen Weltbürgertum u. Humanität, das »Ideal eichelfressender Germanen, versetzt mit etwas starrem Protestantismus«. Zwar wirken in J.s Werk vielfach Tendenzen der Aufklärung nach – zu nennen sind etwa sein Tugendenthusiasmus u. die Sehnsucht nach dem »ewigen Frieden« –, insg. aber konnte J. von den Nationalsozialisten ohne größere Schwierigkeiten als »politischer Soldat« (Baeumler) vereinnahmt werden. Weitere Werke: Bereicherung des hochdt. Sprachschatzes. Lpz. 1806. – Dt. Wehrlieder. 1. Slg., [Bln.] 1813. – Runenbl. Ffm./Lpz. 1814. – Die dt. Turnkunst (zus. mit Ernst Eiselen). Bln. 1816. – Dank- u. Denklieder zur Jahresfeier der Leipziger Schlacht. Bln. 1817. – Neue Runenbl. Naumburg 1828. – Merke zum Dt. Volksthum. Hildburghausen 1833. – Denknisse eines Deutschen oder Fahrten des Alten im Bart. Hg. Karl Schöpach. Schleusingen 1835. – Schwanenrede. Ffm. 1848. – Werke. Hg. Carl Euler. 2 Bde., Hof 1884–87. – Briefe. Hg. Wolfgang Meyer. Lpz. 1913. – Briefe. Hg. Friedrich Quehl. Lpz. 1918. Literatur: Bibliografie: Peter Rohrbach u. Otto Thiele (Hg.): F. L. J. Bln. 1978 (Verz. des Nachlasses in der Berliner Stadtbibl.). – Weitere Titel: Karl Wassmannsdorff: Das geschichtl. Richtige über das Verhältnis J.s zu Guts-Muths u. Rousseaus zu dem dt. Turnen. Dresden 1871. – Heinrich Pröhle: F. L. J.s Leben. Bln. 21872. – Carl Euler: F. L. J. Stgt. 1881. – Edmund Neuendorff: Turnvater J. Jena 1928. – Michael Antonowytsch: F. L. J. Ein Beitr. zur Gesch. der Anfänge des dt. Nationalismus. Bln. 1933. – Alfred Baeumler: F. L. J. in der dt. Geistesgesch. Lpz. 1940. – Günther Jahn: F. L. J. u. das dt. Studententum 1798–1848. Diss. Gött. 1958. – Willi Schröder: Das Jahnbild in der dt. Turn- u. Sportbewegung. Diss. Lpz. 1958. – Ders.: Der Anteil der Turner u. Burschenschafter am Kampf um die Lösung der nationalen Frage in den beiden ersten Jahrzehnten des 19. Jh. Habil.-Schr. Jena 1965. – Horst Ueberhorst: Zurück zu J.? Bochum 1969. – Gerhard Stöcker: Volkserziehung u. Turnen. Untersuchung der Grundlagen des Turnens von F. L. J. Schorndorf 1971. – Klaus Ziescharng: Vom Schützenfest zum Turnfest. Die Entstehung des Dt. Turnfestes unter bes. Berücksichtigung der Einflüsse v. F. L. J. Ahrensburg 1977. – H. Ueberhorst: F. L. J. 1778/1978. Mchn. 1978. – Internat.
Jahn J.-Symposium. Hg. Hajo Bernett. Köln 1979. – Reinhard Sprenger: Die J.-Rezeption in Dtschld. 1871–1933. Schorndorf 1985. – Siegfried H. Sichtermann: Drei Eulenspiegel-Stellen bei F. L. J. In: Eulenspiegel-Jb. 29 (1989), S. 67–71. – G. Jahn: F. L. J. Göttingen 1992. – Hans Martin Kruckis: Charakteristik F. L. J.s. In: Lebensläufe um 1800. Hg. Jürgen Fohrmann. Tüb. 1998, S. 177–202. – Wolfgang Kaschuba: L’identité comme différence: l’allemand comme le non-français chez Herder, J. et Arndt. In: Revue germanique internationale 21 (2004) (L’horizon anthropologique des transferts culturels), S. 183–195. – Dieter Langewiesche: Vom Scheitern bürgerl. Nationalhelden. Ludwig Uhland u. F. L. J. In: HZ 278 (2004), H. 2, S. 375–397. Walter Schmitz / Christopher Meid
Jahn, Janheinz, * 23.7.1918 Frankfurt/M., † 20.10.1973 Messel bei Darmstadt. – Erzähler, Essayist, Übersetzer. J. studierte Romanistik u. Orientalistik in München u. Perugia, lebte nach dem Zweiten Weltkrieg abwechselnd in Afrika u. Deutschland u. war Konsul von Senegal, ab 1968 Lehrbeauftragter für Neoafrikanische Literatur an der Universität Frankfurt/M. J. war einer der ersten, die den Versuch unternahmen, afrikan. Literatur nach Deutschland zu vermitteln. Vor allem für Lyrik u. Erzählkunst der Afrikaner setzte er sich unermüdlich erläuternd u. werbend ein. Ein erster Erfolg war die Anthologie Schwarzer Orpheus (Mchn. 1954) mit Beiträgen aus aller Welt. Durch Übersetzungen machte er v. a. Léopold Sédar Senghor u. Aimé Césaire in Deutschland bekannt u. entdeckte den Erzähler Amos Tutuola. Seine Forscher-, Sammler- u. Übersetzertätigkeit dehnte er auf die zeitgenöss. Volksliteratur des Vorderen Orients, der Karibik, Mittelamerikas u. Indonesiens aus u. förderte junge Autoren dieser Gebiete. Zugleich begleitete er die Entwicklung der neuen Staaten Schwarzafrikas kritisch (Muntu. Umrisse der neoafrikanischen Kultur. Düsseld. 1958. Mchn. 21995), widmete sich der Neoafrikanischen Literatur (Eine Einführung. Düsseld. 1966) u. hielt seine Eindrücke in krit. Reisebüchern fest (Durch afrikanische Türen. Erlebnisse und Begegnungen in Westafrika. Düsseld. 1960. Wir nannten sie Wilde. Mchn. 1964). 1970 erhielt J. den
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Übersetzerpreis der Deutschen Akademie für Sprache u. Dichtung. Weitere Werke: Herausgeber: Diwan aus Al-Andalus. Nachdichtungen hispano-arab. Lyrik. Kassel 1949. – Schwarze Ballade. Moderne afrikan. Erzähler beider Hemisphären. Düsseld. 1957. – Rumba Macumba. Afrocuban. Lyrik. Mchn. 1957. – Reis u. Hahnenschrei. Moderne Lyrik v. den Inseln Indonesiens (zus. mit Willem Alexander Braasem). Heidelb. 1957. – Afrika erzählt. Ffm. 1963. – Blues and work songs. Ffm. 1964. – 34 x schwarze Liebe. Ffm. 1968. Literatur: Edris Makward: Two ›African travelers‹ from Germany. Leo Frobenius and J. J. In: Blacks and German culture (1986), S. 54 ff. – Edris Makward: Two ›African travellers‹ from Germany. Leo Frobenius and J. J. In: Reinhold Grimm u. Jost Hermand (Hg.): Blacks and German culture. Wisconsin 1986, S. 54–64. – Ernstpeter Ruhe: Aimé Césaire et J. J. ›Les débuts du théâtre césairien‹. La nouvelle version de ›Et les chiens se taisaient‹. Würzb. 1990. – Ulla Schild (Hg.): On stage. Proceedings of the Fifth International J. J. Symposium on Theatre in Africa (Mainz 1987). Gött. 1994. – Dies. u. János Riesz (Hg.): Genres autobiographiques en Afrique. Actes du 6e Symposium International J. J. (Mainz-Bayreuth 1992). Bln. 1996. – Gerhard Grohs: Die Anfänge der Beschäftigung mit moderner afrikan. Lit. in Dtschld. J. J., Ulla Schild, Ulli Beier In: Reinhart Kößler u. a. (Hg.): Gesellschaftstheorie u. Provokationen der Moderne. Münster 2005, S. 267–273. – Thomas Geider: J. J. als Vermittler afrikan. Lit. in den dt. Sprachraum u. die Weltlit. In: Anna-Maria Brandstetter u. Carola Lentz (Hg.): 60 Jahre Institut für Ethnologie u. Afrikastudien. Köln 2006, S. 141–162.
deutsch. In den 1920er u. 1930er Jahren entstanden Gedichte u. Erzählungen in ostfries. Mundart, die der niederdt. Dialektliteratur des 20. Jh. in Sprache u. Thematik neue Dimensionen eröffneten. Der Autodidakt J. verarbeitete in Werken wie der Briefnovelle Luzifer (Hbg.-Wellingsbüttel 1956) oder der in bewusst antikisierendem Deutsch verfassten Erzählung Boleke Roleffs (Gött. 1930) schwierige religiöse u. philosophische Fragestellungen. In beiden Fällen berichtet er in Anlehnung an alte Chroniken über das Schicksal vermeintl. Teufelsbündner, die den Ketzertod starben. J.s Humor, der v. a. in dem Gedichtband Ulenspegel un Jan Dood (Lübeck 1933) zum Ausdruck kommt, meidet jede derbe Komik, mit der die unterhaltende plattdt. Literatur bis heute identifiziert wird. Thematisch bleibt J. in fast allen seinen Werken seiner norddt. Heimat u. ihrer Geschichte verhaftet. Zunächst von der Heimatkunstbewegung beeinflusst, geriet J. nach 1933 durch seine Freundschaft mit Börries von Münchhausen u. Hans Grimm ganz in den Bann der NSIdeologie. Er übernahm Funktionen in der Reichsschrifttumskammer u. ließ in einige seiner Werke rassistisches Gedankengut einfließen. Im Rahmen der offiziellen Wertschätzung der Blut-und-Boden-Literatur wurden ihm zahlreiche Auszeichnungen zuteil. Seit dem Krieg wird J.s Werk nur noch regional rezipiert.
Christian Schwarz / Red.
Weitere Werke: Ges. Werke. Hg. Hermann Blome. 3 Bde., Gött. 1963/64.
Jahn, Moritz, * 27.3.1884 Lilienthal bei Bremen, † 19.2.1979 Göttingen-Geismar. – Erzähler, Lyriker.
Literatur: Dieter Stellmacher (Hg.): Studien zu M. J. Rinteln 1986 (= Name u. Wort. Göttinger Arbeiten zur niederdt. Philologie, Bd. 8). – Günter Sachse: Erinnerung an M. J. Gött. 2006.
Jörg Schilling / Red. Als Sohn eines kleinen Beamten verbrachte J. seine Jugendjahre in einem Arbeiterviertel Hannovers. Er besuchte das Lehrerseminar, Jahnn, Hans Henny, * 17.12.1894 Hamunterrichtete 1906–1921 an Schulen u. Lehburg, † 29.11.1959 Hamburg; Grabstätte: rerausbildungsseminaren in verschiedenen ebd., Nienstedtener Friedhof. – DramatiStädten Norddeutschlands u. war zuletzt ker, Romancier; Orgelbauer. Rektor einer Volksschule. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er pensioniert. J. entstammte einer Schiffbauerfamilie u. Anfang der 1920er Jahre studierte J. einige hielt sich als Kind häufig im Hamburger Semester Germanistik in Göttingen u. trat Hafengebiet auf. Daraus resultierte seine zunächst mit hochdt. Balladen an die Öf- starke Affinität zur Seefahrt. Nach Abschluss fentlichkeit. Bald schrieb er auch in Platt- des Realgymnasiums 1914 strebte er keine
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Berufsausbildung an. Er lebte teils im Elternhaus, teils bei wohlhabenden Freunden in der Lüneburger Heide u. widmete sich vornehmlich seinen schriftstellerischen Neigungen; seit dem 15. Lebensjahr schrieb er. 1915 floh er, um der drohenden Einberufung zu entgehen, zusammen mit seinem Freund Gottlieb Harms nach Norwegen. Dort befasste er sich mit literar. Projekten u. als Autodidakt mit dem Orgelbau. 1918 kehrte er nach Hamburg zurück u. begann mit der Restauration der Arp-Schnitger-Orgel in der Hamburger St. Jacobi-Kirche. Im Laufe seines Lebens hat J. etwa 100 Orgeln restauriert bzw. nach seinen Plänen bauen lassen. Für sein Drama Pastor Ephraim Magnus (Bln. 1919) erhielt J. 1920 den Kleist-Preis. Es verletzt nahezu alle Tabus bürgerl. Moral. Doch sind die verbalen u. sparsamen gestischen Exzesse nicht frivol gemeint, sondern versinnbildlichen die Erlösungssehnsucht der drei Protagonisten. »Lebendige Kunst«, so J.s Überzeugung, muss »böse sein, verbreiternd, vertiefend, verdeutlichend [...] modern, unsittlich, frech.« Nicht durch die Sprache, wohl aber durch die Thematik zeigt das Stück enge Verwandtschaft zum Expressionismus. Den neuen, nur seinen Affekten gehorchenden Menschen zu beschwören, die durch den Ersten Weltkrieg in ihren Grundfesten erschütterte abendländ. Gesellschaft zu reformieren, war J.s zentrales Anliegen in den 1920er Jahren. So gründete er zusammen mit Freunden die »Glaubensgemeinde Ugrino«, die – analog zu verwandten zeittypischen Gruppierungen – lebensreformerische Ideen propagierte. Wie Pastor Ephraim Magnus erregten auch seine weiteren Dramen Die Krönung Richards III. (Hbg. 1921) u. Medea (Lpz. 1926) beim Theaterpublikum wie auch bei den meisten Kritikern Anstoß. Die literar. Vorlagen wandelte J. so weit ab, wie dies sein subjektives Menschenbild erforderte, das den Leib-Seele-Dualismus ebenso zurückwies wie eine psychoanalyt. Deutung der Figuren. J. greift mit nahezu all seinen Stücken auf archaische Grundmuster zurück, wobei seine Grundüberzeugung ist, dass der Mensch in seiner Charakterstruktur von Anfang an determiniert ist. Sprachlich gehören die beiden
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genannten Stücke zu den Höhepunkten von J.s dramat. Schaffen. 1929 publizierte J. den Roman Perrudja (Bln. Ffm. 1998), von dem nur der erste Teil abgeschlossen ist. Vom zweiten Teil, dem monströsen Konzept der Menschheitserneuerung durch eine künstlerische Elite, gibt es nur Fragmente. Perrudja ist stark von Joyce beeinflusst mit Wortreihungen, Verkürzung der Sätze auf minimale Segmente, mit dem Wechsel der Erzählperspektive u. einmontierten autonomen Erzählungen. Die in J.s Werk nahezu stereotype Figurenkonstellation – eine Frau zwischen zwei voneinander erotisch affizierten Männern – wird auch hier mit leichter Abwandlung durchgespielt. Im Zentrum aber steht der misslungene Reifungsprozess der Titelfigur: Perrudja, eine Art Kaspar Hauser, der unvermittelt zu unerhörtem Reichtum gekommen ist, bleibt so entscheidungs- u. willensschwach wie zu Beginn des Romans. 1926 heiratete J. die Gymnastiklehrerin Ellinor Philips. Gleichwohl minderte die Heirat nicht seine Liebe zu dem Jugendfreund Harms, der bereits 1931 starb. 1933 emigrierte J. mit Frau u. Tochter zunächst nach Zürich, dann auf die dän. Insel Bornholm, wo er einen Bauernhof bewirtschaftete. J. wurde von den Nationalsozialisten nie ausgebürgert; er mied auch jegl. Kontakt zu anderen Emigranten. Mehrmals reiste er sogar während des »Dritten Reichs« nach Deutschland, um mit Verlegern zu verhandeln. Doch wurde zwischen 1933 u. 1945 mit Ausnahme einer Übersetzung aus dem Ungarischen kein Werk von ihm publiziert. Sein polit. Eskapismus ist auf die Angst vor finanziellem Ruin zurückzuführen, aber auch auf eine generelle Unsicherheit, die teilweise aus seiner bisexuellen Anlage resultierte. Unbeugsam war J. jedoch in seiner antizivilisator. Grundhaltung, die er bereits in den 1920er Jahren vertreten hatte. Sein Credo »Im Anfang war der Leib« stand in Einklang mit seinem Misstrauen gegenüber dem homo faber, der mit seinem Pragmatismus die Natur u. ihre Geschöpfe in den »Folterkammern der experimentierenden Wissenschaft« misshandelt. Dies war seine zentrale These in zahlreichen Aufsätzen. Im Bornholmer Tagebuch
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(Hbg. 1986) polemisierte er gegen die Ausrottung bestimmter Tierarten, die Kastration von Haustieren u. die chem. Düngung der Felder. Auf Bornholm, in der »großen Abgeschiedenheit von Europa«, schrieb J. sein zentrales Werk, die epische Trilogie Fluß ohne Ufer (Mchn. 1949/50. Ffm. 2000), deren letzter Teil nur fragmentarisch überliefert ist (Ffm. 1961). Im Mittelpunkt steht die homoerot. Liebe zwischen dem Komponisten Gustav Anias Horn u. dem Matrosen Alfred Tutein. Nach einer abenteuerl. Schiffsreise von Südamerika nach Europa suchen die Freunde Zuflucht in einer abgelegenen Gegend Norwegens, um polizeil. Nachstellungen zu entgehen. Tutein hat nämlich Horns Verlobte Ellena ermordet u. will diesen zum wenigstens virtuellen Komplizen seiner Tat machen. Mit obsessiver Beharrlichkeit treibt Tutein den Freund in immer größere Abgeschiedenheit. Nach Tuteins frühem Tod macht Horn sich daran, in seiner Niederschrift – so der Titel des Hauptteils – die gemeinsamen Erlebnisse aufzuzeichnen. Sie weitet sich aus zu einer Rechtfertigung ihrer erot. Exzesse, einer Anklage gegen die Schöpfung, die Tod u. Verbrechen zulässt, u. überdies zu einer geistig-künstlerischen Rechenschaft. Eingeflochten in die Rückblenden sind bezwingende Beschreibungen der skandinav. Landschaft u. ihrer Bewohner. Die Faszination, die für J. von der Urtümlichkeit dieser Lebensform ausging, hat ihm – zu Unrecht – den Ruf eingetragen, er bewege sich in der Nähe der Blut-und-Boden-Literatur. In Wahrheit greift er mit seiner Romankonzeption auf archaische Mythen zurück. Mit Bezug auf das altbabylonisch-sumerische Gilgamesch-Epos grundiert der Hauptteil der Trilogie die Totenklage des Gilgamesch, der seinen Freund Enkidu an die Unterwelt verloren hat. Horns Klage um den verstorbenen Freund wiederholt den myth. Klagegesang aber nicht in Form einer historisierenden Adaption, sondern durch die Wiedervergegenwärtigung verschütteter Erfahrungsbereiche. »Was ich schreibe, steht nur in Beziehung zu einer Welt, die es nicht gibt, die sich auch nicht formen wird – die ich in Wirklichkeit vor ein
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paar Jahrtausenden verfehlt habe« (Brief vom 26.2.1948). Nach der Kapitulation reiste J. einige Male nach Westdeutschland, um dann 1950 endgültig nach Hamburg zurückzukehren. Hier widmete er sich vornehmlich kulturpolit. Aufgaben. Trotz seines Kulturpessimismus, ja Geschichtsfatalismus engagierte er sich unermüdlich gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik, gegen die Atombombe, gegen die Verseuchung der Umwelt. Von dieser Tätigkeit zeugen zahlreiche polem. Texte, die er auf Demonstrationen u. Diskussionsveranstaltungen vortrug. Überdies wurde er zum engagierten Verständigungspolitiker, reiste häufig in die DDR u. einmal – 1956 – auch nach Moskau. Trotzdem fand er Zeit für einen neuen Roman mit dem Titel Jeden ereilt es (Ffm. 1968), der allerdings Fragment blieb. Dieser Torso, aus dem J. einen in sich geschlossenen Komplex, Die Nacht aus Blei, herauslöste u. publizierte (Hbg. 1956. Ffm. 1999), wiederholt nochmals die Figurenkonstellation aus Fluß ohne Ufer, doch ist hier die Handlung partienweise in einem irrealen Zwischenreich angesiedelt, wo der Mensch Spielball außerird. Mächte ist. Mehrere seiner Dramen gelangten nach 1945 zwar auf die Bühne, hatten aber kaum Erfolg: Der Dramatiker J. ist womöglich noch unbekannter geblieben als der Romancier. – Seine Tätigkeit als Orgelbauer u. -restaurator übte er weiterhin aus. Außerdem gründete er in Hamburg die »Freie Akademie der Künste«, deren erster Präsident er wurde. Weitere Werke: Ausgaben: Werke u. Tagebücher in 7 Bdn. Einl. v. Hans Mayer. Hg. Thomas Freeman u. Thomas Scheuffelen. Hbg. 1974. – Werke in Einzelbdn. Hg. Uwe Schweikert. Hbg. 1985 ff. – Jubiläumsausg. in 8 Bdn. Hg. Ulrich Bitz u. Uwe Schweikert. Hbg. 1994. 1998. – Einzeltitel: Der Arzt/ Sein Weib/Sein Sohn. Klecken 1922. – Der gestohlene Gott. Potsdam 1924. – Neuer Lübecker Totentanz. Bln. 1931. – Straßenecke. Bln. 1931. – Armut, Reichtum, Mensch u. Tier. Mchn. 1952. – Thomas Chatterton. Ffm. 1955. – Die Trümmer des Gewissens. Ffm. 1961. – Ugrino u. Ingrabanien. Ffm. 1968. Literatur: Hans Wolffheim: H. H. J. – Der Tragiker der Schöpfung. Ffm. 1966. – Walter Muschg: Gespräche mit H. H. J. Ffm. 1967. Hg., komm. u. mit einem Ess. v. Jürgen Egyptien [Der
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95 Baumeister imaginärer Welten. Zu H. H. J.s ästhet. Denken u. zur Struktur des ›Perrudja‹, S. 173–188]. Aachen 1994. – Thomas Freeman: H. H. J. Eine Biogr. Hbg. 1986. – Elsbeth Wolffheim: H. H. J. Reinb. 1989. 32007. – Hans-Ulrich Prautzsch (Hg.): Almanach H. H. J. 1994. Halle 1994. – Ulrich Bitz, Jan Bürger u. Alexandra Munz: H. H. J. Eine Bibliogr. Aachen 1996. – Andréa Lauterwein: Le obstacles à la réception de H. H. J. Diss. Paris 1996. – Dossier H. H. J. In: Juni 25 (1996), S. 30–76. – Lotti Sandt: H. H. J. Zur Lit., Harmonik u. Weltanschauung des Schriftstellers u. Orgelbauers. Bern 1997. – Jochen Hengst: Ansätze zu einer Archäologie der Lit. Mit einem Versuch über J.s Prosa. Stgt./Weimar 2000. – Thomas P. Freeman: The case of H. H. J. Criticism and the literary outsider. Rochester/Woodbridge 2001. – Reiner Niehoff: H. H. J. Die Kunst der Überschreitung. Mchn. 2001. – Toni Bernhart: ›Adfection derer Cörper‹. Empir. Studie zu den Farben in der Prosa v. H. H. J. Wiesb. 2003. – Jan Bürger: Der gestrandete Wal. Das maßlose Leben des H. H. J. Die Jahre 1894–1935. Bln. 2003. – Karlheinz Deschner: Musik des Vergessens. Über Landschaft, Leben u. Tod im Hauptwerk H. H. J.s. Bad Nauheim 2003. – Diethelm Zuckmantel: Tradition u. Utopie. Zum Verständnis der musikal. Phantasien in H. H. J.s ›Fluß ohne Ufer‹. Ffm. 2004. – Heinz Ludwig Arnold: Der Fremde. Über H. H. J. In: Ders.: Von Unvollendeten. Gött. 2005, S. 66–92. – Michèle Godau: ›Wirkliche Wirklichkeit‹. Mythos u. Ritual bei Adalbert Stifter u. H. H. J. Würzb. 2005. Elsbeth Wolffheim † / Red.
Jakob von Warte, um 1300. – Schweizer Liederdichter.
folgendem Dialog Frau – Wächter u. Frau – Ritter könnte eine bewusste Nachgestaltung der Tagelieder Johannes Hadlaubs sein; der Schlussvers »ich sihe den morgensterne schône ûf brehen« greift die bekannte Wendung der provenzal. Alba »vei l’alba« auf. Die fünf Minnekanzonen, davon vier mit Natureingang, variieren in traditionellen Motiven u. Bildern das Thema des vergebl. Minnedienstes, gesteigert in der Bitte des Liebenden an die Angebetete, ihn nicht aus ihrem Dienst zu entlassen (1). Die Dame steht ganz in der Tradition des hochhöf. Minnesangs: Sie ist unnahbar u. behält sich die Belohnung des Sängerdienstes vor. Ausführlicher wird sie nur in Lied 3 gepriesen; charakteristisches äußerl. Attribut ist der rote Mund (Lied 3 u. 5; vgl. v. a. Gottfried von Neifen). Vier Lieder enthalten die v. a. im Minnesang des 13. Jh. beliebten Anreden an die personifizierte Minne. Sprache, Motive u. Minnekonzeption stellen J. in die Nähe des Zürcher Dichterkreises um Rüdiger II. Manesse. Die Aufnahme seiner Lieder in die im Umkreis der Manesse entstandene Prunkhandschrift C zeugt von einem zumindest lokalen Interesse an seiner konventionellen Minnelyrik. Ausgaben: Die Schweizer Minnesänger. Nach der Ausg. v. Karl Bartsch neu bearb. u. hg. v. Max Schiendorfer. Bd. 1: Texte. Tüb. 1990, S. 16–24. Literatur: Friedrich Techen: Die Lieder des Herrn J. v. W. Diss. Gött. 1886 (mit Ausg.). – Friedrich Grimme: Die Schweizer Minnesänger. In: Germania 35 (1890), S. 302–339, hier S. 327–329. – Herta-Elisabeth Renk: Der Manessekreis, seine Dichter u. die Maness. Hs. Stgt. 1974, bes. S. 158 f., 209–211. – Günther Schweikle: J. v. W. In: VL.
Der Sänger gehörte dem Thurgauer Freiherrengeschlecht von Warte mit Stammsitz bei Neftenbach an. Von den zwischen 1242 u. 1331 urkundenden drei Namensträgern hält Claudia Händl / Red. man im Allgemeinen den Bruder des an der Ermordung König Albrechts 1308 beteiligten Rudolf von Warte für den Dichter. Demnach Jakob, Ludwig Heinrich von (russischer besaß dieser das Zürcher Bürgerrecht. Das Adel seit 1816), * 26.2.1759 Wettin bei Wappen in der Großen Heidelberger LiederhandHalle/Saale, † 22.7.1827 Lauchstädt. – schrift (C), dem einzigen ÜberlieferungsträPhilosoph, Nationalökonom, Staatsrechtger, stimmt mit dem der Freiherren von ler. Warte überein. Die 26 unter J.s Namen überlieferten Stro- Als Sohn eines Handwerkers u. Kleinbauern phen gliedern sich in vier fünfstrophige (1–4) musste J. sein Studium der Theologie, Philou. zwei dreistrophige Lieder (5 u. 6) mit logie u. Philosophie, das er nach dem Besuch stolligem Strophenbau. Das Tagelied 6 mit der Domschule in Merseburg u. des GymnaWächtermonolog im Liedeingang u. darauf siums in Halle 1777 an der Halleschen Uni-
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versität aufnahm, mühsam durch Privatun- mitzuarbeiten, die aber bereits 1812 ihr Ende terricht finanzieren. Nach Lehrtätigkeit am fand. 1816 kehrte J. als Professor für StaatsGymnasium wurde er 1787 a. o., 1791 o. Prof. wissenschaften nach Halle zurück. In seinen der Philosophie in Halle u. widmete sich da- letzten Jahren trat er v. a. durch eine Einleitung in das Studium der Staatswissenschaften bei v. a. der Verbreitung der Lehren Kants. Neben einer kommentierten Übersetzung (Halle 1819) u. durch eine theoretisch, prakdes für Kant so wichtig gewordenen Treatise tisch u. historisch orientierte Darstellung der on Human Nature von Hume (Ueber die Staatsfinanzwissenschaft (2 Bde., Halle 1821) menschliche Natur. Halle 1790–92) u. einem hervor, womit er zur Etablierung dieser von J. herausgegebenen Rezensionsorgan, das Wissenschaft als eigener Disziplin der Wirtden Kant’schen Kritizismus gegen neue schaftswissenschaften beitrug. Dogmatismen verteidigen wollte (»Annalen Weitere Werke: Über das moral. Gefühl. Halle der Philosophie und des philosophischen 1788. – Beweis für die Unsterblichkeit der Seele Geistes«. Halle/Lpz. 1795–97. Neudr. Brüssel [...]. Züllichau 1790. – Über den moral. Beweis für 1969. Mikrofiche Bln. 1997), sind hier v. a. das Daseyn Gottes. Liebau 1791. – Grundriß der seine krit. Auseinandersetzung mit Men- Erfahrungsseelenlehre. Halle 1791. – Philosophidelssohns Gottesbeweisen (Prüfung der Men- sche Rechtslehre oder Naturrecht. Halle 1795. – Die allg. Religion. Halle 1797. Neudr. Brüssel 1970. – delssohnschen Morgenstunden. Lpz. 1786. Vermischte philosoph. Abh.en. Halle 1797. – Neudr. Brüssel 1968) sowie die Philosophische Theorie u. Praxis in der Staatswirthschaft. Halle Sittenlehre, die 1794 in Halle erschien (Neudr. 1801. – Kurze Belehrung über das Papiergeld. Halle Brüssel 1969), zu nennen. 1806. – Über die Arbeit leibeigener u. freier Bauern Das verbreitete, nicht zuletzt durch Goe- in Beziehung auf den Nutzen der Landeigenthüthes u. Schillers Xenien geprägte Bild J.s als mer. Petersburg/Halle 1814. – Zeitschrift: Annalen von Kant’schen Ideen lebender, zu selbst- der Preuß. Staatswirthschaft u. Statistik. Hg. zus. ständigem Denken unfähiger Vielschreiber mit Leopold Krug. Halle 1804/05. Literatur: Ersch/Gruber 2, 14, S. 240–242. – ist teilweise zu korrigieren. In seiner anonym erschienenen Schrift Antimachiavell (Halle Marie-Elisabeth Vopelius: L. H. v. J. In: NDB. – 1794) setzt sich J. mit Kants Revolutionskritik Hans Pototzky: L. H. v. J. als Nationalökonom. auseinander u. vertritt dabei, scheinbar im Straßb. 1905. – Bernhard Jannsen: L. H. v. J.s Stellung auf dem Gebiete des Geldwesens. Diss. Namen Kants, deutlich gegen-kantische PoHalle 1921. – Stephan Bieri: Zur Stellung der früsitionen, so insbes. wenn er dem Volk das hen dt. Finanzwissenschaft unter bes. BerücksichRecht zuspricht, Maßnahmen u. Gesetze des tigung v. J., Soden, Lotz u. Malchus. Zürich 1968. – Souveräns auf ihre Recht- u. Pflichtgemäß- Michael Stolleis: Staatsraison, Recht u. Moral in heit hin zu prüfen. philosoph. Texten des späten 18. Jh. Meisenheim/ Seit 1798 wandte sich J. mehr u. mehr Glan 1972. – Christa Fleckenstein: L. H. J. als VerFragen der Nationalökonomie zu. Die mittler sprachphilosoph. Ideen der Aufklärung Grundsätze der National-Oekonomie (Halle 1805) nach Rußland. In: Aufklärung u. Erneuerung. Hg. stellen einen wichtigen Beitrag zu der in Günter Jerouschek. Hanau 1994, S. 218–225. – GiDeutschland verspätet einsetzenden Rezep- sela Licht: Tochter u. Vater. Therese Albertine Luise v. Jakob-Robinson (1797–1870) u. L. H. v. J. tion der nationalökonomischen Theorien (1759–1827). Halle 1999. Claus Altmayer / Red. Adam Smiths dar. Durch Übersetzungen schuf J. die Grundlagen für die Aufnahme auch anderer Klassiker der NationalökonoJakobs, Karl-Heinz, * 20.4.1929 Kiauken/ mie in Deutschland. Ostpreußen. – Lyriker, Erzähler u. Publi1806 folgte J. einem Ruf als Professor für zist. Politische Ökonomie u. Staatskunst an die russ. Universität Charkow. Aufgrund der Am Ende des Zweiten Weltkriegs als FlakSchrift Über Rußlands Papiergeld [...] (geschrie- helfer eingesetzt, arbeitete J. danach in verben 1809, gedr. Halle 1817) wurde er 1809 schiedenen Berufen, bevor er eine Maurernach Petersburg berufen, um an der Verfas- lehre absolvierte u. Abendkurse an der Ingesungs- u. Verwaltungsreform des russ. Reichs nieurschule besuchte. 1956 wurde er von der
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Baustelle des Kraftwerks Trattendorf an das Leipziger Literaturinstitut »Johannes R. Becher« delegiert. Seit 1958 ist er freier Schriftsteller u. Journalist. In dieser Funktion gehörte J., der die Literaturzeitschrift »Temperamente« herausgab, 1976 zu den Erstunterzeichnern des Protests gegen die Ausbürgerung Biermanns u. wurde deshalb 1977 aus der SED u. 1979 aus dem Schriftstellerverband der DDR ausgeschlossen. 1981 ging er mit einem Dreijahresvisum in die BR Deutschland u. lebt seitdem in Velbert. 1986/ 87 hielt J. Poetikgastvorlesungen in den USA. Im Nov. 1989 wurde J.s Ausschluss aus dem Schriftstellerverband revidiert, was ihn zur Forderung nach einer Neuauflage seiner Werke durch das Kulturministerium der sich auflösenden DDR motivierte. Nach eher epigonalen Gedichten (Guten Morgen, Vaterlandsverräter. Halle 1959) u. zwei Erzählbänden (Die Welt vor meinem Fenster. Halle 1960. Das grüne Land. Halle 1961, Mchn. 1975) gelang J. mit dem Roman Beschreibung eines Sommers (Bln./DDR 1961) ein viel beachteter Erfolg. In der Tradition früher Industrieromane, diese zgl. kritisch reflektierend, werden die Konflikte eines jungen Ingenieurs auf einer Großbaustelle geschildert, der – vom Faschismus gründlich desillusioniert – jetzt trotz grundsätzl. Loyalität auch dem Sozialismus skeptisch gegenübersteht. Das Buch schlägt ein Thema an, das in den 1960er Jahren für die DDR-Literatur bestimmend war; er wurde bereits 1963 von der DEFA mit Manfred Krug in der Hauptrolle verfilmt. Sein lyr. Talent zeigt sich in J.’ Nachdichtung (aus dem Jiddischen) von Dora Teiltelboims Ballade von Little Rock (Bln. 1961). Die folgenden Romane (Eine Pyramide für mich. Bln./DDR 1971. Die Interviewer. Ebd. 1973) führen die Auseinandersetzung mit der Rolle der techn. Intelligenz in einer sozialistischen Industriegesellschaft fort. J.’ Bücher sind nicht immer frei von ästhetisch-literar. Schematismen, beeindrucken aber durch die Aufrichtigkeit, mit der wichtige gesellschaftl. Fragen aufgegriffen werden. Dies gilt bes. für die – ausschließlich in der BR Deutschland erschienenen – Texte, in denen er offensichtlich enttäuscht mit der DDR abrechnet: den Roman Wilhelmsburg
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(Düsseld. 1979) u. den Kriminalroman Die Frau im Strom (Mchn./Königst. 1982). Die dokumentar. Collage von Ereignissen im Umfeld des Biermann-Protests mit den Erinnerungen eines ehem. GULag-Opfers (Das endlose Jahr. Düsseld. 1983) überzeugt durch die Rigidität, mit der alte Tabus gebrochen werden. In den letzten Jahren ist J. vor allem mit journalistischen Arbeiten (darunter vorzügl. Reisereportagen) hervorgetreten. An seine früheren literar. Erfolge hat J. allerdings nicht mehr anschließen können. Thematisch bleibt J. einer krit. Auseinandersetzung mit einem stalinistisch reglementierten Sozialismus treu. In seinem Roman Leben und Sterben der Rubina (Bln. 1999) beschreibt er das Schicksal der dt. Lehrerin Rubina, die durch den stalinistischen Terror desillusioniert wird u. sich schließlich im GULag wiederfindet. Somit verarbeitet J. auch in diesem Spätwerk das Scheitern von Idealen u. Hoffnungen an der Realität. Weitere Werke: Merkwürdige Landschaften. Halle 1964 (E.en). – Einmal Tschingis-Khan sein. Bln./DDR 1964 (Reiseber.). – Tanja, Taschka u. so weiter. Ebd. 1975 (Reiseroman). – Heimatländ. Kolportagen. Ebd. 1975 (Reportagen, Ess.s, Interviews). – Wüste kehr wieder. Ebd. 1976, Düsseld. 1979 (Afrika-R.). – Fata Morgana. Bln./DDR 1977 (Fantast. Gesch.n). Literatur: Dieter Schlenstedt: Ankunft u. Anspruch. Zum neueren R. in der DDR. In: SuF 18 (1966), S. 814–835. – Interview mit K.-H. J. in: WB 21 (1975), H. 5, S. 80–104 u. in: die horen 24 (1979), H. 114, S. 133–141. – Christel Berger: Die Biogr. der Dinge. Methoden u. Formen der Realitätsaneignung bei K.-H. J. In: NDL 23 (1975), H. 5, S. 148–167. – Jochen Staadt: Zur Entwicklung des Schriftstellers K.-H. J. In: Jos Hoogeveen u. Gerd Labroisse (Hg.): DDR-Roman u. Literaturgesellsch. Amsterd. 1981, S. 103–112. – Manfred Behn: K.-H. J. In: KLG. – Thorsten Hinz: Auf der großen Düne von Nidden. Der Ostpreuße K.-H. J. In: Kulturpolit. Korrespondenz. Sonderdienst 63 (1995), S. 82–85. – Martin Jankowski: K.-H. J. In: LGL. Hannes Krauss / Torsten Voß
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Jaksch, Friedrich, auch: F. Bodenreuth, * 4.4.1894 Budweis/Böhmen, † 18.2.1946 Buchenwald (in sowjetischer Haft). – Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Essayist.
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Britain (London 1937). Weiterhin arbeitete er als freier Journalist für zahlreiche Zeitungen u. Rundfunkanstalten. Weitere Werke: Millionen aus dem Nichts. Bern 1937. – London, wie es nicht im Wörterbuch steht. Ffm. 1961. – Wenn ich mich recht erinnere. Bern/Stgt. 1963 (Autobiogr.). – So macht man Wunder. Mchn. 1967. – Berlin – so wie es war. Düsseld. 1969.
Schon J.s frühe Lyrik aus seiner Zeit als Prager Jurastudent u. Frontsoldat (Wellen und Wogen. Prag 1918) enthält die Hauptelemente seines Schaffens: Vaterland, Heldenpathos u. Sentimentalität. Nach Versuchen als Dramatiker Literatur: Volker Spiess (Hg.): Gauner, Künst(Hartherz, der Zwerg. Lpz. 1919) u. Dramaturg ler, Originale. Die 20er Jahre in Berlin. Bln. 1988. gründete er 1923 die »Bücherei der DeutHeiner Widdig / Red. schen« in Reichenberg, die den Status einer »Nationalbibliothek der Sudetendeutschen« Jamsthaler, Herbrandt. – Dichteralchereklamierte. Als ihr Direktor brachte J. das mist des 16. Jh. Lexikon sudetendeutscher Schriftsteller und ihrer Werke für die Jahre 1900–1929 (Reichenberg Seit Erscheinen des Viatorium spagyricum. Das 1929) heraus. Völkisch-nationales Gedan- ist: Ein [...] Wegweiser/in den edlen Sonnengarten kengut wie die Blut-und-Boden-Parolen im der Hesperidum zu kommen (Ffm. 1625), einer Gedichtband Gott stellt die Zeiger (Breslau 1577 abgeschlossenen u. 1579 dem Oettinger 1935) verhalf J. zu literar. Erfolg im »Dritten Grafen Wilhelm II. gewidmeten LehrdichReich«. Von seinen unter Pseud. geschriebe- tung, zählt man J. zu den dt. Dichteralchenen Zeitromanen erzielte Alle Wasser Böhmens mikern, doch ist der Verfassername gänzlich fließen nach Deutschland (Bln. 1937) mit ungesichert. Der weitgehend in biogr. Dunkel gehüllte Lehrdichter wurde vermutlich 266.000 die höchste Auflage. um 1530/40 in Süddeutschland geboren, Weitere Werke: Sklavin. Reichenberg 1920 (Trag.). – Eros-Licht. Ebd. 1922 (L.). – Sonne über lebte vielleicht zeitweilig in der Umgebung Böhmen. Breslau 1934 (R.). – F. Bodenreuth des Oettinger Grafen Friedrich V. u. gehörte sicher zu den Anhängern des Paracelsus. (Pseud.): Söhne am anderen Ufer. Bln. 1940 (R.). Im Mittelpunkt des Wegweisers steht ein Stefan Bauer Alchemiker, dem nach manchen Irrfahrten Jameson, Egon, eigentl.: Egon Jacobsohn, die Göttin der Weisheit den rechten Weg zum * 2.10.1895 Berlin, † 23.12.1969 London. Ziel seiner Kunst offenbart. Die Stelle ereig– Journalist, Erzähler, Reiseschriftsteller. nisreicher Episoden nehmen in dieser allegor. Odyssee zahlreiche Lehrvorträge ein, die keiJ. besuchte das Gymnasium in Berlin, war ne genuin paracels. Lehren, sondern Wis1916 Volontär des Ullstein Verlags u. 1918 sensgut der Alchemia transmutatoria darbieMitarbeiter der »Berliner Morgenpost«. ten. Obwohl sich der Wegweiser als eine auto1920–1923 gab er die Zeitschrift »Film-Höl- biogr. »Erzehlung« gibt, vereinigt er hauptle. Unabhängige Blätter für und gegen den sächlich Auszüge aus Werken von Leonhart Film« heraus. 1934 musste er nach London Thurneisser (Archidoxa. Münster 1569. Quinta emigrieren u. arbeitete während des Zweiten Essentia. Münster 1570) u. aus dem Zodiacus Weltkriegs u. a. für die BBC. Nach 1945 vitae des Marcellus Palingenius Stellatus in kehrte er nach Deutschland zurück u. schrieb einer Übersetzung des Augsburger Meisterfür »Die Neue Zeitung« in München, ging singers Johann Spreng (Ffm. 1564). Der aber später wieder nach London. Bekannt Kompilator verwirklichte eine Kombination wurde J. zum einen durch seine zahlreichen alchem. Fachtexte mit religiösen Unterweihumoristischen Erzählungen, Anekdoten- u. sungen, Tugend- u. Sittenlehren, die dem Aphorismensammlungen wie Egon Jamesons Wegweiser als einem Frühwerk der theoKnigge (Offenbach/M. 1953 u. ö.) oder ABC der alchem. Literatur in der Geschichte der dümmsten Sätze (Reinb. 1965) u. zum anderen durch Reisebücher wie 1000 Curiosities of Great
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deutschsprachigen Alchemikerdichtung eine Sonderstellung sichert. Der Wegweiser wurde auszüglich u. in Vollfassungen sowohl in Drucken als auch in Handschriften verbreitet. In Vollfassung gelangte er nur 1625 in Druck, wobei er in defekter Textgestalt u. mit sekundären Illustrationen präsentiert worden ist. Doch bezeugen manche Zitate in alchem. Fachschriften u. zwei Nachdichtungen einiger Abschnitte in der Güldenen Rose des Monogrammisten J. R. V. (Hbg. 1705 u. ö.) seine bis ins 18. Jh. reichende Bekanntheit. Ausweislich seiner Erwähnung in Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst (Lpz. 1751, S. 574) blieb der »historico-poetische Discurs« auch außerhalb alchem. Fachkreise nicht unbeachtet. Literatur: Leif Ludwig Albertsen: Das Lehrgedicht. Aarhus 1967, S. 73 f. – Herwig Buntz: Dt. alchimist. Traktate des 15. u. 16. Jh. Diss. Mchn. 1968, S. 45–47. – Ders.: Die europ. Alchimie v. 13. bis zum 18. Jh. In: Emil Ernst Ploss u. a.: Alchimia. Mchn. 1970, S. 119–209, hier S. 183 f. – Joachim Telle: Bemerkungen zum ›Viatorium spagyricum‹ v. H. J. u. seinen Quellen. In: FS Arthur Henkel. Heidelb. 1977, S. 427–442. Joachim Telle
Janacs, Christoph, * 4.10.1955 Linz/Oberösterreich. – Verfasser von Romanen, Kurzgeschichten u. Gedichten; Übersetzer. J. studierte Germanistik u. Theologie in Innsbruck u. Salzburg. Er lebt in Niederalm/ Salzburg u. ist als Lehrer tätig. In seinen Prosatexten setzt sich J. kritisch mit sozialen, religiösen u. polit. Problemen (u. a. in Mexiko) auseinander. Gemeinsam ist sowohl seiner Prosa als auch der Lyrik ein ständiges Durchbrechen der formalen Konventionen durch bes. Textanordnungen, so dass der visuelle Charakter der Texte oftmals betont wird. Das Interesse für intermediale Bezüge bildet eine Konstante seines Werks. J. erhielt 1988 den Rauriser Förderungspreis, 1992 den Stefan Zweig-Preis der Stadt Salzburg, 1999 den Prosapreis des Südtiroler Autorenverbandes u. 2003 den Salzburger Lyrikpreis (2003). Werke: Schweigen über Guernica. Salzb. 1989 (R.). – Das Verschwinden des Blicks. Salzb. 1991
Jandl (E.en). – Stazione Termini. Salzb. 1992 (E.). – Nichtung. Ottensheim 1993 (L.). – Der abwesende Blick. Weitra 1995 (L.). – Templo Mayor. Mexikan. Gedichte. St. Georgen an der Gusen 1998. – Brunnennacht. Gedichte. St. Georgen an der Gusen 1999. – Sˇumava. Baden bei Wien 2000 (L.). – Tras la Ceniza. Der Asche entgegen. Introducción: Marco Antonio Campos. Traducción: Javier García-Galiano. México D. F. 2000 (L.). – Aztekensommer. Linz/Wien 2001 (R.). – Der Gesang des Coyoten. Mexikanische Gesch.n. Innsbr 2002 (E.en). – draußen die Nacht in uns. Wien 2002 (L.). – Sumava / Böhmerwald. Oberplan 2004 (L.). – Meteoriten. St. Georgen an der Gusen 2004 (Aphorismen). – unverwandt den Schatten. 21 Gedichte. Ebd. 2006. – Eulen. Prosagedicht. Ebd. 2006. – Schlüsselgeschichten. Short Stories. Weitra 2007. – Die Ungewissheit der Barke / La barca sin certidumbre. Dt.Span. Übers. v. Héctor Orestes Aguilar. Gosau 2008 (L.). Gerrit Lembke
Jandl, Ernst, * 1.8.1925 Wien, 9.6.2000 Wien. – Lyriker, Hörspiel- u. Dramenautor. Der Sohn eines Bankbeamten wurde nach dem Abitur 1943 zum Kriegsdienst eingezogen u. 1944 an die Westfront abkommandiert. Er desertierte u. kam in das Kriegsgefangenenlager nach Stockbridge/England. 1946 kehrte er nach Wien zurück u. nahm das Studium der Germanistik u. Anglistik auf, das er 1949 mit der Lehramtsprüfung abschloss. J. wurde mit der Dissertation Die Novellen Arthur Schnitzlers promoviert. 1950–1979 arbeitete er, mit zeitweiligen Unterbrechungen, als Lehrer an Wiener Gymnasien. J. kam als Jugendlicher über seine Mutter Luise J., die Gedichte verfasste, zum literar. Schreiben. Während der Kriegsgefangenschaft lernte er erstmals amerikan. Literatur kennen. In den 1950er Jahren begann er in Auseinandersetzung mit dem Expressionismus (August Stramm, Johannes R. Becher, Wilhelm Klemm), Dadaismus (Kurt Schwitters, Hugo Ball, Raoul Hausmann) sowie amerikan. u. frz. Literatur (E. E. Cummings, Gertrude Stein, Jacques Prévert) erste eigenständige Gedichte zu schreiben, die zunächst verstreut in Zeitschriften erschienen. Sein erster Gedichtband Andere Augen (Wien 1956)
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wurde in der Öffentlichkeit kaum beachtet. 1954 lernte er Friederike Mayröcker kennen, mit der er eine lebenslange Beziehung einging. Über Gerhard Rühm trat er mit H. C. Artmann u. der Wiener Gruppe in Austausch, blieb aber distanziert gegenüber deren Lebensform u. ästhetischem Programm. J. konnte wegen der eingeschränkten Publikationsmöglichkeiten für avantgardistische Literatur zunächst keine weitere selbstständige Veröffentlichung vorlegen. 1966 publizierte der Verleger u. Autor Otto F. Walter den Band Laut und Luise (Olten 1966), der u. a. konkrete Poesie, Sprechgedichte, visuelle Lyrik, Dialektgedichte u. kurze Prosastücke versammelt. J. verstand den Autor nicht als einen Schöpfer, sondern löste das Gedicht von einem traditionellen Verständnis der Lyrik als Ausdruck, Stimmung u. Beschreibung ab u. exponierte stattdessen den Selbstwert des Sprachmaterials. Er arbeitete seit Mitte der 1950er Jahren »an zwei Arten von Gedichten: 1. in einem im weitesten Sinne gesellschaftskritischen in komprimierter Alltagssprache; 2. in einem im weiten Sinne sprachkritischen in manipulierter Sprache, wobei die Manipulation innerhalb des Gedichtes systematisch erfolgt, das System von Gedicht zu Gedicht jedoch wechselt«. Die Gedichte sind nicht so sehr aus einer Intention des Autors zu verstehen u. verweisen auch nicht auf etwas Unaussprechliches oder einen Überschuss an Sinn, sondern sind durch Wörtlichkeit u. Knappheit des Sagens gekennzeichnet. J. begreift Sprache als ein Medium, in dem auf komplexe Weise die Codes von Schrift u. gesprochener Sprache aufeinander bezogen sind: Er baut das Gedicht als eine topografische Verteilung von gesehenen Formen auf oder gibt Anweisungen für eine Folge von Artikulationsvorgängen; Material der »Lautgedichte« sind nicht mehr Wörter, sondern die Sprachlaute selbst. J. erkundet die Bedingungen, unter denen das Sagen zur Literatur wird. Einerseits erforscht er mit literar. Mitteln linguistische u. sprachphilosophische Problemstellungen; anderseits werden mittels der Sprachpointe oder des verunglückten Sprechakts traditionelle Erwar-
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tungen an Bedeutsamkeit u. Sinnstiftung gegenüber Lyrik unterlaufen. Seit Mitte der 1960er Jahre nahm J. verstärkt am literar. Leben teil. Er übersetzte u. a. Robert Creeley (Die Insel. Ffm. 1966), John Cage (Silence. Neuwied 1969), Gertrude Stein (Erzählen. Vier Vorträge. Ffm. 1971) sowie Gedichte von Wystan Hugh Auden (Wien 1973). 1970/71 war er Stipendiat des DAAD in Berlin u. 1971 German Visiting Writer an der Universität Austin, Texas. 1972 unternahm er gemeinsam mit Mayröcker eine Vortragreise durch die USA. Mit seiner Resolution im Grazer »Forum Stadtpark« gegen den österr. P.E.N.-Präsident Alexander LernetHolenia, der die Verleihung des Nobelpreises an Heinrich Böll kritisiert hatte, gab J. 1972 den Anstoß zur Gründung der »grazer autorenversammlung«. In der künstliche baum (Neuwied/Bln. 1970), dingfest (Darmst., Neuwied 1973) u. serienfuss (Darmst./Neuwied 1974) setzt J. die »Erfindung, Entdeckung und Entwicklung neuer Arten zu dichten« fort, ohne sich auf eine avantgardistische Programmatik zu verpflichten: »es gibt dichter«, heißt es in der Vorbemerkung zu dingfest, »die alles mögliche sagen, und dies immer auf die gleiche weise. solches zu tun habe ihn nie gereizt; denn zu sagen gäbe es schließlich nur eines; dieses aber immer wieder, und auf immer neue weise.« J. hat in seinen poetolog. Schriften die handwerkl. Seite seiner Arbeit herausgestellt u. die physiolog., sprachl. u. medialen Bedingungen des Schreibprozesses untersucht. In theoret. Texten u. in Vorträgen über seine Schreibweise stellt er die Gedichte in ihren Entstehungskontext, analysiert die verwendeten Techniken u. ordnet sie in die Geschichte der Dichtung von Schwitters, Brecht u. Ball über Stein bis zu Heißenbüttel u. Rühm ein (Die schöne Kunst des Schreibens. Darmst./Neuwied 1976. Erw. Neuausg. 1983. Das Öffnen und Schließen des Mundes. Frankfurter Poetik-Vorlesung. Darmst./Neuwied 1985). J. hat Lyrik als Teil eines Medienverbunds begriffen: Er schuf eine eigenständige Vortragskunst, die auf Schallplatten (laut + luise. Bln. 1968. hosi + anna. Bln. 1971), Tonband (13 radiophone texte. Düsseld. 1977) u. Video (Ernst Jandl live. Darmst. 1984) dokumentiert wur-
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de, trat mit Jazzmusikern auf u. schrieb gemeinsam mit Mayröcker Hörspiele, die Sprache konsequent als akust. Material verstehen u. von den techn. Bedingungen des Rundfunks ausgehen. So verwendet Fünf Mann Menschen (Erstsendung SWF 1968. Neuwied/Bln. 1971), das 1969 mit dem »Hörspielpreis der Kriegsblinden« ausgezeichnet wurde, die Stereophonie, um für den Auftritt der Rede eine räuml. Situation zu schaffen. Seit Mitte der 1970er Jahre begann J., die Subjektposition, die der Sprecher eines Texts einnimmt, immer mehr zu hinterfragen. Auch wenn sich im Gedicht kein lyr. Ich ausspricht, bringt die Sprache zwangsläufig den Effekt einer Subjektivität hervor. J. entwickelte verschiedene Strategien, um den Zusammenhang von sprachl. Anordnungen u. Subjektivitätseffekten aufzuzeigen. Das Stück Aus der Fremde. Sprechoper in 7 Szenen (Darmst./Neuwied 1980. Urauff. Graz 1979), für das J. 1980 den Mülheimer Theaterpreis erhielt, gebraucht die dritte Person Singular u. den Konjunktiv, um die von äußeren Mächten bestimmte, depressive Figur eines fünfzigjährigen Schriftstellers hinzustellen. J. erschafft eine »heruntergekommene Sprache«, die etwa durch den Gebrauch des Infinitivs die Subjektposition unterbestimmt lässt u. neue Möglichkeiten des Aussagens gewinnt. In dem Gedicht von einen sprachen heißt es: »schreiben und reden in einen heruntergekommenen sprachen / sein ein demonstrieren, sein ein es zeigen, wie weit / es gekommen sein mit einen solchenen: seinen mistigen / leben er nun nehmen auf den schaufeln von worten / und es demonstrieren als einen den stinkigen haufen / denen es seien«. Die Gedichtbände die bearbeitung der mütze (Darmst./Neuwied 1978), selbstporträt des schachspielers als trinkende uhr (Darmst./ Neuwied 1983) u. idyllen (Ffm. 1989) erschließen mit den Funktionen des Körpers, dem Altern u. dem Tod einen Themenkreis, der mit der fraglich gewordenen Subjektposition des Sprechers korrespondiert. J. erhielt 1984 den Österreichischen Staatspreis für Literatur u. den BüchnerPreis. 1990 wurde er für idyllen mit dem Peter-Huchel-Preis ausgezeichnet. Im Gedicht-
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band stanzen (Hbg./Zürich 1992) schreibt J. Gedichte auf Englisch u. im Wiener Dialekt u. berichtet im Nachwort von seiner Begegnung mit der Rap-Musik. Nach dem Erich-FriedPreis (1991) erhielt er 1993 den Kleist-Preis u. 1995 den Friedrich-Hölderlin-Preis. J. hat seinen letzten Gedichtband peter und die kuh (Mchn. 1996) in Zusammenarbeit mit seinem langjährigen Lektor Klaus Siblewski zusammengestellt, der auch den postumen Band Letzte Gedichte (Mchn. 2001) edierte. J.s Nachlass wird im Österreichischen Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aufbewahrt. Vielfach wurde J. auf die Rolle des Komikers, Didaktikers oder Unterhalters festgelegt; die Rezeption seiner Gedichte war lange Zeit durch Gedichte wie lichtung, das mit der systemat. Vertauschung der Konsonanten »l« u. »r« arbeitet, oder ottos mops gelenkt. Neuere Lektüren haben entweder stärker die polit. u. autobiogr. Bezüge der Gedichte herausgestellt oder aber Bezüge zu Sprachphilosophie, Dekonstruktion u. Diskursanalyse herausgearbeitet. J.s Wirkungsgeschichte ist eng an seine Person u. seine Lesungen geknüpft. Mit seinen Auftritten u. seiner Zusammenarbeit mit Musikern hat J. eine performative Kunstform geschaffen, an die eine rezente Avantgarde anknüpft. Weitere Werke: Ges. Werke. Gedichte, Stücke, Prosa. Hg. Klaus Siblewskli. 3 Bde., Darmst./Neuwied 1985. – Poetische Werke. Hg. K. Siblewski. 11 Bde., Mchn. 1997–99. – lange gedichte. Stgt. 1964. – klare gerührt. Frauenfeld 1964. – mai hart lieb zapfen eibe hold. London 1965. – Hosi-Anna. Bad Homburg 1966. – No Music Please. London 1967. – sprechblasen. Neuwied/Bln. 1968. – flöda u. der schwan. Stierstadt/Ts. 1971. – Das Röcheln der Mona Lisa. Schallplatte. Darmst. 1972. – übung mit buben. Bln. 1973. – die männer. ein film. Düsseld. 1973. – wischen möchten. Bln. 1974. – für alle. Darmst./Neuwied 1974. – der versteckte hirte. Düsseld. 1975. – Alle freut, was alle freut. Ein Märchen in 28 Gedichten. Köln 1975. – der gelbe hund. Darmst./Neuwied 1980. – falamaleikum. Darmst./Neuwied 1983. – Briefe aus dem Krieg. 1943–1946. Hg. K. Siblewski. Mchn. 2005. – Liebesgedichte. Ausgew. u. mit einem Nachw. vers. v. K. Siblewski. Ffm./Lpz. 2009. Literatur: Heimrad Bäcker (Hg.): my right hand. my writing hand. my handwriting. e. j. Linz
Jandl 1976. Erw. Neuaufl. 1985. – Michael Wulff: Konkrete Poesie u. sprachimmanente Lüge. Von E. J. zu Ansätzen einer Sprachästhetik. Stgt. 1978. – Kristina Schewig: E. J. Versuch einer Monogr. Diss. Wien 1981. – Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): E. J. Materialienbuch. Darmst./Neuwied 1982. – Alfred Estermann (Hg.): E. J. Ffm. 1984. – Kristina Pfoser-Schewig (Hg.): Für E. J. Texte zum 60. Geburtstag. Werkgesch. Wien 1985. – K. Siblewski (Hg.): E. J. Texte, Daten, Bilder. Ffm. 1990. – Michael Vogt (Hg.): ›Stehn Jandl gross hinten drauf‹. Interpr.en zu Texten E. J.s. Bielef. 2000. – Karl Riha, Susanne König-von Jan u. Hermann Korte: E. J. In: KLG. – Volker Kaukoreit u. Kristina Pfoser (Hg.): Interpr.en. Gedichte von E. J. Stgt. 2002. – Jörg Danger u. Peter Gendolla (Hg.): e. j. 1925–2000. eine bibliogr. Siegen 2003. – Bernhard Fetz (Hg.): E. J. Musik, Rhythmus, Radikale Dichtung. Wien 2005. – Anne Uhrmacher: Spielarten des Komischen: E. J. u. die Sprache. Tüb. 2007. – Michael Hammerschmid u. Helmut Neundlinger: ›von einen sprachen‹. Poetolog. Untersuchungen zum Werk E. J.s. Innsbr. u. a. 2008. Armin Schäfer
Jandl, Hermann, * 1.3.1932 Wien. – Lyriker, Erzähler, Hörspielautor. Obwohl J. in großen dt. Verlagen debütierte, blieb sein Wirkungskreis bis zum heutigen Tag im Wesentlichen auf Österreich beschränkt. 1960–1980 arbeitete er als Pflichtschullehrer in Perchtoldsdorf/Niederösterreich; seither lebt er wieder in Wien. Durch viele Jahre hindurch engagierte er sich zudem aktiv im österr. P.E.N.-Club (u. a. als Herausgeber der Anthologien Duda. Wien 1977 u. Das verschlossene Fenster. Wien 1991), dessen Ehrenmitgl. er ist. J.s Lyrik zeichnet sich durch ein hohes Maß an Lakonie aus u. trägt mitunter unverkennbar aphoristische Züge. Auffallend sind der radikale Verzicht auf jegl. Metaphorik u. die gezielte Verwendung der Umgangssprache. Nicht zu Unrecht wurde er von der Kritik als »lyrischer Minimalist« bezeichnet. Die Nähe zur experimentellen Lyrik seines älteren Bruders Ernst lässt sich lediglich in J.s frühen Gedichten – gesammelt in dem Band Leute, Leute (Ffm. 1970) – erkennen; die drei späteren Sammlungen Kernwissen (Baden bei Wien 1985), Schöne Welt (ebd. 1993) u. Ein Goldgräber (ebd. 1997) stehen hingegen im Zeichen einer
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pointierten, teils spielerischen, teils nüchtern konstatierenden Sozialkritik. Parallel zu diesem schmalen lyr. Werk hat sich ein wesentlich umfangreicheres Prosawerk entfaltet. Nach den knappen, an die absurde Literatur eines Daniil Charms erinnernden Miniaturen des Bandes Vom frommen Ende (Ffm. 1971) fand J. schließlich zu einer völlig eigenständigen Erzählweise u., ohne sich je in der Romanform zu versuchen, auch zu größeren erzählenden Prosazyklen mit stark szen. Elementen. Im Zentrum von J.s Prosa steht fast immer ein zu Selbstbeobachtung u. Pedanterie neigender Einzelgänger, der sich ohnmächtig einer undurchsichtigen, unausdeutbaren Konsumwelt gegenübersieht u. sich zudem ständig an seinen eigenen Zwängen u. Phobien abzuarbeiten hat. Der Ort, an dem die meisten Erzählungen J.s – von Storno (Wien/ Mchn. 1983) bis Durst (Krems 2001) – spielen, ist der Kopf seiner Protagonisten. Dort wird, wie Franz Richter treffend bemerkt hat, »ein groteskes Pandämonium durchgespielt: Angst vor der Krankheit, auf die man seit Langem wartet, Angst vor Infektion, die man sich von einer Bettdecke holen kann, wenn sie bis zum Mund reicht; Schriftstellerangst vor dem weißen Papier, dann aber auch vor dem beschriebenen«. Letzteres wird v. a. in den stark autobiografisch gefärbten Erzählungen Die Übersiedlung (St. Pölten 1985) u. Die Tür ist offen (St. Pölten 1997) thematisiert. In Die Tür ist offen greift J. Ansätze seines dramat. Frühwerks (v. a. des politisch engagierten Theaterstücks Das Geständnis. Urauff. Wien 1968) wieder auf u. so gelingt es ihm, den eigenen, streckenweise geradezu autistisch anmutenden Erzählkosmos in der Zeitgeschichte zu verorten. Weitere Werke: Geständnisse. Zwei Akte. Neuwied 1969. – Samstag. HR 1973 (Hörsp.). – Ein Mensch, oder: Das Leben ist eines der schwersten. St. Pölten bzw. ORF 1979 (Hörsp.). – Bindungen. ORF 1984. (Hörsp.). – Licht. Wiener Neustadt 1987 (E.). – Kein Flieger. Wien 1993 (E). – Der Denker (St. Pölten 1994). – Schattenspiel. Prosa. Weißenkirchen 2006. – Schau dass du weiterkommst. Ges. Gedichte 1955–2006. Wien 2007. Literatur: Franz Richter: von leute gibt es keine einzahl. H. J. auf der Suche nach dem Menschen.
103 In: Podium Porträt 7 (2002), S. 6–20. – Helmuth A. Niederle: Zwischen den Lagern. Adnotes zur Lyrik v. H. J. In: H. J.: Schau dass du weiterkommst, a. a. O., S. 311–313. Christian Teissl
Janitschek, Maria, auch: Marius Stein, geb. Tölk, * 22.6.1859 Mödling bei Wien, † 28.4.1927 München. – Erzählerin u. Lyrikerin. J., Tochter einer Näherin, gehört zu den Schriftstellerinnen im Umkreis der bürgerl. Frauenbewegung um die Jahrhundertwende. Ihre freizügigen Schilderungen in Liebes- u. Eheromanen brachten ihr zu Lebzeiten scharfe Kritik ein (Mimikry. Lpz. 1903. Eine Liebesnacht. Lpz. 1908). Aufgewachsen in ärml. Verhältnissen in Ungarn, lebte J. nach der Heirat mit dem Kunsthistoriker Hubert Janitschek in Straßburg u. Leipzig, nach dessen Tod 1893 in Berlin, ab 1902 in München. Nach ersten Lyrikveröffentlichungen (Verzaubert. Mchn./ Stgt. 1888. Gesammelte Gedichte. Stgt. 1892) u. der Mitarbeit an Zeitschriften (u. a. »Moderne Dichtung«, »Wiener Rundschau«) wandte sich J. mit Die neue Eva (Lpz. 1902) dem emanzipator. Frauenroman zu. Ihre große Anzahl an Publikationen brachte ihr den Ruf einer Vielschreiberin u. Unterhaltungsautorin ein, deren gesellschaftskrit. Engagement erst heute wieder in vollem Ausmaß erkannt wird. Weitere Werke: Vom Weibe. Charakterzeichnungen. Bln. 1896. – Die Amazonenschlacht. Lpz. 1897 (N.). – Frauenkraft. Bln. 1900 (N.). – Stückwerk. Lpz. 1900 (R.). – Der rote Teufel. Lpz. 1916 (R.). – Kinder der Pußta. Bln. 1920 (R.). Literatur: Isolde Wermbacher: M. J.s Persönlichkeit u. dichter. Werk. Diss. Wien 1950. – Marion Tapken: Anpassung, Dekadenz u. Weiblichkeit im Roman ›Mimikry‹ von M. J. Mag.-Arbeit Osnabr. 1988. – Natalie Lettner: M. J., eine feminist. Autorin oder eine feminist. Interpr.? In: Schwierige Verhältnisse. Hg. Theresia Klugsberger. Stgt. 1992, S. 151–177. – T. Klugsberger: Wissen u. Leidenschaft. M. J.: ›Esclarmonde‹ u. Marie v. Najmájer: ›Der Stern von Navarra‹. Histor. Romane zweier österr. Schriftstellerinnen der Jahrhundertwende. In: Osman Durrani u. Julian Preece (Hg.):
Janka Travellers in Time and Space. Reisende durch Zeit u. Raum. Amsterd./New York 2001, S. 263–281. Christine Schmidjell / Red.
Janka, Walter, * 29.4.1914 Chemnitz, † 17.3.1994 Potsdam. – Verlagsleiter, Dramaturg u. Publizist. J., der in einer Arbeiterfamilie aufwuchs u. den Beruf des Schriftsetzers erlernte, wurde gleichermaßen Opfer des Faschismus wie des Kommunismus. 1933 wegen seiner Arbeit im kommunistischen Jugendverband erstmals verhaftet, nach anderthalb Jahren Zuchthaus Bautzen in das KZ Sachsenburg überführt u. 1935 in die Tschechoslowakei ausgewiesen, schloss er sich 1936 den Internationalen Brigaden in Spanien an. Nach seiner Flucht aus der frz. Internierung (1939–1941) reiste er 1941 nach Mexiko aus. Dort partizipierte er an kulturpolit. Aktivitäten (Bewegung Freies Deutschland, Heinrich-Heine-Klub) u. leitete den Exilverlag El Libro Libre, in dem u. a. Anna Seghers’ Roman Das siebte Kreuz erschien. 1947 kehrte J. nach Berlin/SBZ zurück, arbeitete ein Jahr im Parteivorstand der SED, wurde 1948 Generaldirektor der DEFA u. ging 1950 als stellvertretender Leiter zum Aufbau-Verlag, dessen Leitung er 1952 übernahm. Bemüht um einen innerdt. Literaturaustausch, fand er unter schwierigen polit. u. finanziellen Bedingungen Lösungen für das dt.-dt. Lizenzgeschäft, traf Vereinbarungen mit westdt. Verlagen u. förderte so ein eigenständiges kulturpolit. Verlagskonzept. Nach dem Ungarnaufstand 1956 wurde er wegen »konterrevolutionärer Verschwörung« gegen die Regierung Ulbricht verhaftet u. im Rahmen eines Schauprozesses im Juli 1957 zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Der Hauptvorwurf gründete sich auf den Verdacht, J. habe »das Haupt der Konterrevolution«, den Philosophen Lukács, nach OstBerlin holen wollen. Dank internat. Proteste 1960 vorzeitig aus dem Zuchthaus Bautzen entlassen, mit Berufsverbot belegt, lebte J. zunächst von Übersetzungen u. Synchronisationen, wirkte später als DEFA-Dramaturg (1962–1972) an bedeutenden Filmen mit u. schrieb Artikel über den Spanischen Bürger-
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krieg. Am 1.5.1989 erhielt J. den Vaterländischen Verdienstorden in Gold, ohne rehabilitiert zu werden. Er veröffentlichte daraufhin das Buch Schwierigkeiten mit der Wahrheit (Reinb. 1989. Bln./Weimar 1990) – drei Kapitel seiner urspr. für ein Archiv verfassten Memoiren (Spuren eines Lebens. Bln. 1991). Der Bericht über den Prozess von 1957, bei dem der mitangeklagte Philosoph Wolfgang Harich als Zeuge gegen J. gesprochen u. einflussreiche Schriftsteller, darunter Anna Seghers, geschwiegen hatten, löste eine öffentl. Debatte über die Vergehen der SED-Diktatur aus. Harich erwiderte die Darstellungen mit einer Klage wegen Ehrverletzung u. reichte seine Sicht der histor. Ereignisse nach (Keine Schwierigkeiten mit der Wahrheit. Bln. 1993). 1990 erfolgte J.s Rehabilitierung. Nach der Öffnung der DDR-Archive trat er mit zwei weiteren Publikationen an die Öffentlichkeit, in denen er seine Arbeit beim Aufbau-Verlag sowie die Begebenheiten von 1956/57 dokumentierte, die nach wie vor kontrovers diskutiert u. bewertet werden. Weitere Werke: ›... bis zur Verhaftung‹. Erinnerungen eines dt. Verlegers. Bln./Weimar 1993. – Die Unterwerfung. Eine Kriminalgesch. aus der Nachkriegszeit. Mchn./Wien 1994. Literatur: Wolfgang Kießling: Exil in Lateinamerika. Lpz. 1984. – Alfred Eichhorn u. Andreas Reinhardt (Hg.): Nach langem Schweigen endlich sprechen. Briefe an W. J. Bln./Weimar 1990. – Brigitte Hoeft (Hg.): Der Prozeß gegen W. J. u. a. Eine Dokumentation. Bln. 1990. – Judith Marschall: Aufrechter Gang im DDR-Sozialismus. W. J. u. der Aufbau-Verlag. Münster 1994. – Carsten Wurm: Der frühe Aufbau-Verlag 1945–1961. Konzepte u. Kontroversen. Wiesb. 1996. – Ders.: Der AufbauVerlag u. der geteilte Buchmarkt (1950–1956). In: Das Loch in der Mauer. Der innerdt. Literaturaustausch. Hg. Mark Lehmstedt. Wiesb. 1997, S. 157–165. – Günter Jordan: Die Unterwerfung oder Der Fall W. J. In: apropos: Film 2001. Das Jb. der DEFA-Stiftung. Bln. 2001, S. 261–295. – Ingrid Poss u. Peter Warnecke (Hg.): Spur der Filme. Zeitzeugen über die DEFA. Bln. 2006. Hajo Steinert / Susanne Bauer
Janker, Josef W(ilhelm)., * 7.8.1922 Wolfegg/Württemberg. – Prosaautor. J., Sohn eines Schuhmachers u. Vulkaniseurs, erlernte den Zimmermannsberuf. Er wurde
zum Fronteinsatz in der UdSSR u. Polen eingezogen u. geriet in Frankreich in Gefangenschaft. Nach dem Krieg wurde J. als Schwerkriegsbeschädigter eingestuft u. nahm ein Fernstudium der Bautechnik auf. Neben unterschiedl. berufl. u. ehrenamtl. Tätigkeiten sowie autodidaktischer Weiterbildung veröffentlichte er ab 1957 Erzählungen, Romane, Feuilletons u. Reiseberichte. J. lebt in Ravensburg u. Kappel. Für sein Werk erhielt er u. a. den Schubart-Literaturpreis u. 1999 den Hermann-Lenz-Literaturpreis. J.s Prosa, auf die Böll frühzeitig aufmerksam machte, ist zu großen Teilen vom Erlebnis des Kriegs bestimmt. J. zeichnet akribisch die Deformation der Persönlichkeit durch den Krieg nach, wahrgenommen aus der Perspektive von Außenseitern, so in den Romanen Zwischen zwei Feuern (Köln 1960) u. Der Umschuler (Ffm. 1971). Er kritisiert damit die Anpassung der Gesellschaft an einen Scheinfrieden, der in Wahrheit noch ein moralisch nicht verarbeiteter u. deshalb weiterbestehender Kriegszustand ist. Ab 1973 erarbeitete J. mit dem Fotografen Rupert Leser einen (nicht verkäuflichen) Jahreskalender zu histor. u. sozialen Aspekten einer »kritischen Heimatkunde«. Erst ab 1991 trat J. wieder mit größeren literar. Publikationen an die Öffentlichkeit, zunächst mit seinen Reiseerinnerungen Ein willkommener Auftrag. Tagebuch einer NamibiaReise (Eggingen). Darin schildert er ein Land mit verschiedenen, teils divergierenden Gesichtern, für das die exotische Schönheit der Natur ebenso konstitutiv ist wie die kolonialgeschichtl. Vergangenheit u. eine von der Apartheid tief gespaltene Bevölkerung. Die 1994 veröffentlichten Memoiren Meine Freunde die Kollegen (Friedrichshafen) komponierte J. aus zahlreichen anekdot. Miniaturporträts, die das erinnerte Ich gelegentlich beinahe verschwinden lassen; in der radikalsubjektiven Sicht auf die literar. Landschaft der BR Deutschland nach 1945 bleibt es dennoch präsent. Weitere Werke: Werkausg. in 4 Bdn. Hg. Manfred Bosch. Friedrichshafen 1988. – Mit dem Rücken zur Wand u. a. E.en. Ffm. 1964. – Aufenthalte. Sechs Ber.e. Ffm. 1967. – Ravensburg. Porträt einer oberschwäb. Landschaft (zus. mit Erich Beu-
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105 rer; Fotos v. Rupert Leser). Ravensb. 1971. – Das Telegramm (Zeichnungen v. Günter Bruno Fuchs). Düsseld. 1977 (E.). – Thema Vorarlberg. Bregenz 1987. – Herausgeber: Im Zeichen v. Annette von Droste-Hülshoff (zus. mit Dino Larese). Amriswil 1983. Literatur: Heinrich Böll: Zwischen allen Feuern. In: Ders.: Essayist. Schr.en u. Reden 1. 1952–63. Köln 1979, S. 458 ff. – Peter Hamm: J. W. J. In: Klaus Nonnenmann (Hg.): Schriftsteller der Gegenwart. Dt. Lit. 53 Portraits. Olten/Freib. i. Br. 1963, S. 168–176. – Gottfried Just: Zur dt. Lit. der sechziger Jahre. Pfullingen 1972. – Peter Renz (Red.): Seht ihn. J. W. J. zum 60. Geburtstag. Stiftung Literaturarchiv Oberschwaben 1982. – Johann Peter Tammen: ›Eine Prosa, in ihrer Keuschheit geradezu avantgardistisch‹ (Heinrich Böll). In: die horen 34 (1989), H. 153, S. 212–216. – Manfred Bosch: J. W. J. In: KLG. – Ders.: J. W. J. In: LGL. Christian Schwarz / Alexander Schüller
Jann, Franz Xaver, * 25.11.1750 Weißenhorn/Bayern, † 19.6.1828 Weißenhorn/ Bayern. – Dramatiker, Historiker u. Pädagoge.
Sonntage in den Fasten. 2 Bde., Augsb. 1790–92) wissen sich der iren. Katholizität Sailers verpflichtet; der apologetische Essay Ist der Verfasser der Correspondenz der Heiligen aus dem Mittelalter [...] nicht der ehrloseste Pasquillant? (Augsb. 1788) bekundet die Fähigkeit des Autors zur Selbstironie. J.s universalhistor. Tätigkeit (Die Geschichte der Christlichen Kaiser von Constantin dem Großen bis auf Franz II. Augsb. o. J.) folgt jugend- u. volksaufklärerischen Vorgaben des Benediktiners Anselm Desing. Die belletristische Produktion J.s umfasst eine Vielzahl von Schauspielen u. Komödien (Etwas wider die Mode. Gedichte und Schauspiele ohne Caressen und Heurathen, für die studirende Jugend. 7 Bde., Augsb. 1782–1803 u. 1821). Trotz konsequenter Pädagogisierung der Stoffe erreichten J.s Typenkomödien frz. (u. sächs.) Spielart erhebl. Publikumswirkung. Einige seiner Stücke blieben in den Spielplänen süddt. Bauerntheater noch lange präsent (Der mißvergnügte Holzhacker u. Der eingebildete Kranke. Neudr.e Düsseld. 1895). Literatur: Placidus Braun: Gesch. des Kollegiums der Jesuiten in Augsburg. Mchn. 1822, S. 206 f. – Bayer. Bibl. Bd. 3. Hg. Hans Pörnbacher. Mchn. 1990, S. 418–424, 1222. Gerda Riedl
J. trat 1767 als Laienbruder in die Augsburger Kongregation des Jesuitenordens ein. Nach dessen Aufhebung (1773) studierte er in Dillingen Theologie (1773/74) u. erhielt 1774 in Janosch, eigentl.: Horst Eckert, * 11.3. Eichstätt die Priesterweihe. Da ihm aufgrund 1931 Hindenburg (Zabrze)/Oberschleseiner früheren Ordenszugehörigkeit keine sien. – Autor u. Illustrator von KinderPfarrei zugewiesen wurde, betrieb er neben büchern, Romanautor. einer subsistenzsichernden Privatlehrertätigkeit weiterführende Studien im Bereich des Der Sohn eines Eisengießers arbeitete nach Kirchenrechts. 1776 erhielt J. eine Anstellung einer Schlosserlehre als Hilfsarbeiter. Nach als Gymnasiallehrer am (ehemaligen Jesu- dem Krieg kam J. nach Westdeutschland u. iten-)Kolleg St. Salvator in Augsburg. Die besuchte in Krefeld einen Lehrgang für Angliederung Augsburgs an das Königreich Musterzeichnen, schaffte jedoch nicht die Bayern (1805) führte aufgrund von Vorbe- endgültige Aufnahme in die Münchner halten gegen die früheren Jesuiten u. wegen Kunstakademie. Nach Veröffentlichungen in (angebl.) polit. Umtriebe einiger Kollegsmit- der satir. Zeitschrift »Pardon«, der »Zeit« u. glieder zur Auflösung von St. Salvator (1807). der »Süddeutschen Zeitung« erschienen seiVon da an lebte J. stellungslos u. zwangs- ne bekannten Bilderbücher. J. lebt seit 1980 pensioniert in Weißenhorn. auf den Kanarischen Inseln. Ganz im Sinne aufklärerischen SelbstverJ.s zeichnerisches u. malerisches Werk ist ständnisses benediktin. u. jesuitischer Kleri- vielfältig. Die Kinderbuchillustrationen beker des ausgehenden 18. Jh. betätigte sich J. gannen mit bewusst einfachen Schwarzunter streng pädagog. Prämissen theologisch, weißzeichnungen, die nicht den üblichen universalhistorisch u. belletristisch. Seine Erwartungen entsprachen; Farbillustratioanschaul. Fastenpredigten (z.B. Geschichten nen folgten. Erst später entstanden die beaus der göttlichen Schrift in Predigten, auf alle rühmten Tiger- u. Bärenfiguren. Den oft
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naiven Bildern entspricht ein ebenso ab- Bäume fliegen. Ebd. 1964. – Hannes Strohkopp u. sichtsvoll kunstloser Erzählstil. Im Mittel- der unsichtbare Indianer. Ebd. 1966. – Lari Fari punkt der Geschichten stehen sympath. Tier- Mogelzahn. Jeden Abend eine Gesch. Weinheim Helden, die meist harmlos-alltägl. Abenteuer 1971. – Die Löwenreise. Ebd. 1974. – Das große J.Buch. Ebd. 1976. – Die Maus hat rote Strümpfe an. bestehen. Die Vielfältigkeit J.s liegt eher in Ebd. 1978. – Hallo Schiff Pyjamahose. Zürich 1986. den Genres: Kinderreime, Bildergeschichten – Rasputin. Das Riesenbuch vom Vaterbär. Ebd. bzw. Comics (Die Globeriks. Ravensburg 1986. – Schnuddel. Hasenmotor kostet nix. Hbg. 1973–75. Mehr von Gliwi und dem Globerik. 1990. – Polski Blues. Mchn. 1991. – Von dem Stgt. 1981), Märchenparodien (Janosch erzählt Glück, Hrdlak gekannt zu haben. Mchn. 1994. – Grimm’s Märchen. Weinheim 1972), Lügenge- Von dem Glück, als Herr Janosch überlebt zu haschichten (Der Mäuse-Sheriff. Lügengeschichten ben. Gifkendorf 1994. Neuausg. u. d. T.: Leben & aus dem Wilden Westen. Recklinghausen 1969). Kunst. Ebd. 2005. 3., erg. Aufl. Ebd. 2008) – Für sein bekanntestes Kinderbuch Oh, wie Gastmahl auf Gomera. Mchn. 1997 – J.s kleine Tischön ist Panama (Weinheim 1978) erhielt J. gerschule. Zürich. 1997. Literatur: Werkverz. in: Herwig Guratzsch: J. 1979 den Deutschen Jugendbuchpreis. Mit Gemälde & Grafik. Hg. Wilhelm-Busch-Gesellsch. dieser Erzählung vom Glück der BescheiHann. 1980, S. 86–93 (Kat.). – Horst Künnemann: denheit u. dem Preis des einfachen Lebens J. In: LKJL 2. – Uwe Dietrich: ›Nur Glücklichsein (Fortsetzungen u. a.: Komm, wir finden einen macht glücklich‹. Die Welt im Werk von J. Ffm. Schatz. Weinheim 1979. Post für den Tiger. Ebd. 1992. – Klaus-Ulrich Pech: Abenteuer auf dem 1980. Ich mach dich gesund, sagte der Bär. Zürich Plüschsofa. J.s ›Oh, wie schön ist Panama‹. In: 1985. Guten Tag, kleines Schweinchen. Ebd. Bettina Hurrelmann (Hg.): Klassiker der Kinder- u. 1987) nimmt J. die idyllische Welt aus Jugendlit. Ffm. 1995, S. 563–578. – Monika SalKenneth Grahames Kinderbuchklassiker The men: J.: Illustratives Schreiben aus polnisch-oberWind in the Willows (1908) auf. J.s Erzählung schles. Reminiszenzen. In: Wilhelm Gössmann u. wird heute auch zu den Klassikern der Kin- Klaus-Hinrich Roth (Hg.): Literar. Schreiben aus regionaler Erfahrung. Westfalen – Rheinland – der- u. Jugendliteratur gezählt. Oberschlesien u. darüber hinaus. Paderb. 1996, Die Auflage von J.s Büchern geht insg. in S. 198–212. – Axel Feuß u. Andreas J. Meyer (Hg.): die Millionen; Übersetzungen in viele Spra- J. Kat. mit einer vorläufigen Bibliogr. seiner bisher chen liegen vor. Seine Geschichten wurden erschienenen Bücher. Gifkendorf 1998. – Winfred auch als Fernsehserie (Janoschs Traumstunde) Kaminski: ›Magische Lebensläufe‹ oder die Umverarbeitet; 2006 kam Oh, wie schön ist Panama wertung der Vergangenheit. Das Kindheitsbild im Werk v. J. (d.i. Horst Eckert). In: Henner Barthel als Zeichentrickfilm ins Kino. Neben seinen Arbeiten für Kinder schrieb J. u. a. (Hg.): Aus ›Wundertüte‹ u. ›Zauberkasten‹. Romane für Erwachsene (u. a. Cholonek oder Über die Kunst des Umgangs mit Kinder- u. Jugendlit. Ffm. 2000, S. 309–317. – Saskia Kipping: J. Der liebe Gott aus Lehm. Recklinghausen 1970. In: LGL. – Bernd Dolle-Weinkauff: J. In: Jack Zipes Sacharin im Salat. Mchn. 1975. Sandstrand. (ed.): The Oxford Encyclopedia of Children’s LitWeinheim 1979) u. Theaterstücke (u. a. Zurück erature. Vol. 2, Oxford 2006, S. 318 f. nach Uskow. Gifkendorf 1992). In diesen Walter Pape / Norbert Wichard Werken, die z.T. die eigene, schwierige Kindheit verarbeiten, werden die kirchl. u. Janowitz, Franz, * 28.7.1892 Podeˇbrady/ pädagog. Institutionen kritisch gesehen. Böhmen,† 4.11.1917. – Lyriker. Darüber hinaus entwickelte sich u. a. mit Radierungen zu Werken de Sades oder Der Sohn eines jüd. Fabrikanten, Bruder von Charles Bukowskis ein neues Themenfeld. J. Hans Janowitz, studierte in Leipzig u. Wien wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. 1992 mit Chemie, dann theoret. Philosophie u. plante eine Dissertation über Otto Weininger. Er dem Andreas-Gryphius-Preis. Weitere Werke: Die Gesch. v. Valek dem Pferd. fand Zugang zum »Prager Kreis« um Brod, Mchn. 1960. – Der Josa mit der Zauberfidel. Ebd. der im Almanach »Arkadia« 1913 Gedichte 1960. – Reineke Fuchs. J. Wolf. v. Goethe [Text frei von ihm veröffentlichte. Seit 1914 als Freinach Goethe]. Mchn. 1962. – Das Auto hier heißt Ferdinand. Ebd. 1964. – Onkel Poppoff kann auf
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williger im Ersten Weltkrieg, erlag er einer Janowitz, Hans, * 2.12.1890 Podeˇbrady/ schweren Verwundung. Böhmen, † 25.5.1954 New York. – LyriKarl Kraus, mit dem J. eng verbunden war, ker, Erzähler u. Drehbuchautor. gab postum dessen einzigen Gedichtband Auf Nach dem Besuch des Gymnasiums in Prag der Erde (Mchn. 1919) heraus; im »Brenner« u. ging J. als Angestellter einer Getreidefirma in der »Fackel« erschienen Schriften aus dem nach München, wo er auch Geschichte u. SoNachlass. Eine von Karl Röck in Angriff geziologie studierte. Anschließend wurde er nommene Edition des Nachlasses scheiterte Regieassistent am Deutschen Schauspielhaus trotz der Aufforderung zur Subskription im in Hamburg. »Brenner« u. in der »Fackel« am mangelnFrühe expressionistische Arbeiten druckden Publikumsinteresse. Kraus setzte dem ten die »Herder-Blätter« u. »Arkadia«. Aus Freund im Schlussmonolog des Nörglers der Letzten Tage der Menschheit ein literar. Denk- dem Krieg kehrte J. als Pazifist zurück u. mal. J.’ deistisch inspirierte Lyrik sucht einen gründete in Berlin die »Wilde Bühne«, wo glückl. Urzustand, eine den Kosmos einbe- seine frivolen Asphaltballaden (Bln. 1924. Sieziehende Weltharmonie zu evozieren. Die gen 1994) gesungen wurden, die später in Grenzen der Sprache werden mitreflektiert: numerierter Auflage mit 16 Lithografien von »[...] Nahe kommt / dem Wort, um das die Marcel Slodki erschienen. Mit Carl Mayer Welt sich dreht, nur das Schweigen.« Erst die verfasste er das Skript für den expressionisGedichte nach 1915, in denen zunehmend tischen Film Das Kabinett des Dr. Caligari vierhebige Trochäen meisterhafte Verwen- (1920); weitere Szenarien folgten, ehe J. 1924 ˇ dung finden, thematisieren den Krieg: In Die die väterl. Ölmühle in Podebrady übernahm. Sein neusachl. Roman Jazz (Bln. 1927), der die galizischen Bäume wird die Natur Sprachrohr Geschichte einer Jazzband erzählt, ist auch der Anklage, in Reglement des Teufels. Aphorismen (in: Die Fackel, Juli 1925) rekurriert J. auf formal nach den Gesetzen der Jazzmusik die christl. Mythologie, um dem Grauen komponiert. Ein Lyrikheft Requiem der brüderlichen Brüderschaft (Prag 1928) widmete er Ausdruck zu verleihen. dem Andenken des Bruders Franz. 1939 Weitere Werke: Der Glaube u. die Kunst. emigrierte J. mit seiner Frau nach New York, Aphorismen aus dem Nachl. In: Der Brenner 11 (1927), S. 88–100. – Auf der Erde u. a. Dichtungen. wo er Parfümhersteller wurde. Im Exil Werke, Briefe, Dokumente. Hg. Dieter Sudhoff. schrieb er u. a. Gedichte (Hinter der Brücke), den Roman So wie die Andern, Kurzprosa (PhantaInnsbr. 1992. Literatur: Christine Ulmer: F. J. Diss. Innsbr. sien in New York) u. The Story of a Famous Story, 1970. – Gerald Stieg: Der Brenner u. die Fackel. die Geschichte des berühmten Caligari-Films Salzb. 1976. – Christine Czuma: F. J. In: Untersu- (zumeist ungedr.). Der Nachlass befindet sich chungen zum ›Brenner‹. FS Ignaz Zangerle. Hg. in der Deutschen Kinemathek in Berlin. Walter Methlagl, Eberhard Sauermann u. Sigurd Paul Scheichl. Salzb. 1981, S. 294–303. – Dieter Sudhoff: Der Dichter des Tages oder Die Last der Welt. Über Leben u. Werk v. F. J. In: Expressionismus in Österr. Die Lit. u. die Künste. Hg. Klaus Amann u. Armin A. Wallas. Wien/Köln/Weimar 1994, S. 253–274. – Ders.: F. J. u. Willy Haas. In: Von Franzos zu Canetti. Jüd. Autoren aus Österr. Hg. Mark. H. Gelber. Tüb. 1996, S. 59–90. – Grazia Pulvirenti: I fiori di un lontano paradiso e le pietre della terra: scomparire come destino esistenziale ed essenza del segno poetico nell’opera di Franz Janowitz. In: Cultura tedesca 15 (2000), S. 135–148. Johann Sonnleitner / Red.
Weitere Werke: Jazz. Roman [enthält CD mit Jazz-Aufnahmen der 20er Jahre]. Hg. u. mit einem Nachw. v. Rolf Riess. Bonn 1991. – Das Cabinet des Dr. Caligari. Drehbuch v. Carl Mayer u. H. J. zu Robert Wienes Film v. 1919/20 mit einem einführenden Ess. v. Siegbert S. Prawer u. Materialien zum Film v. Uli Jung u. Walter Schatzberg. Mchn. 1995. Literatur: Siegfried Kracauer: Von Caligari zu Hitler. Ffm. 1984, S. 67–83. – Jürgen Serke: Böhm. Dörfer. Wien/Hbg. 1987, S. 408–411. – Rolf Riess: H. J. In: Dt. Exillit. Bd. 3, Tl. 1, S. 258–282. – Nathalie Baumann: Die Lit. war Jazz geworden. H. J.’ ›Jazz‹-Roman als polyphones Stimmungsbarometer der zwanziger Jahre. In: WB 52 (2006), H. 3, S. 354–377. Dieter Sudhoff † / Red.
Jans Enikel
Jans (der) Enikel. – Verfasser chronistischer Werke, zweite Hälfte des 13. Jh. Vielleicht mit den einflussreichen Familien Paltram u. Greif verwandt, gehörte J. zu den höchsten Kreisen des Wiener ritterl. Stadtbürgertums, aus dessen Perspektive er auch seine literar. Werke verfasste: eine vermutlich um 1272 begonnene Weltchronik u. ein (etwas späteres) Fürstenbuch. Die Weltchronik (28.558 Verse), in der neben der Bibel, der Kaiserchronik u. der Imago mundi des Honorius Augustodunensis zahlreiche andere Quellen kompiliert sind, beginnt nach einem Prolog, der programmatisch geistl. u. profane Historie nebeneinander stellt, mit dem Schöpfungswerk. Mit einer für Weltchronistik typischen Ausführlichkeit der alttestamentl. Partien durchschreitet J. die bibl. Geschichte u. die Zeit des röm. Imperiums, springt dann auf Karl den Großen u. stellt mit einem Königs- u. Kaiserkatalog (in Prosa) bis Friedrich II. die Verbindung zur eigenen Gegenwart her. Der Umgang mit den Vorlagen ist frei u. innovativ. J. nimmt einzelne Personen (z.B. Noah, Moses, David, Alexander) zum Ausgangspunkt für die Bildung größerer Erzählkomplexe, die durch das Schema der sechs Weltalter nur locker gegliedert sind. Er stellt das Sensationelle in den Vordergrund, betont Fantasievolles u. Anekdotisches (wie der Ägypter Moses sich seiner jüd. Identität bewusst wurde), nimmt aber auch eine Rationalisierung des Fremdartigen vor, dazu führend, dass die alttestamentl. Figuren gelegentlich wie Vorläufer zeitgenöss. Stadtbürger wirken. Der Akzent fällt auf Emotionales, Erotisches u. Dialogisches. Neue Stofftraditionen werden begründet. Für die Sage von der Päpstin Johanna u. die Parabel von den drei Ringen bietet die Chronik jeweils die erste überlieferte Version. Das fragmentar. Fürstenbuch (4258 Verse), von der gleichen episod. Struktur geprägt, lässt sich stärker als die Weltchronik einer konkreten polit. Situation zuordnen: Unter Benutzung einer durch das Wiener Schottenkloster vermittelten Babenbergergenealogie verfolgt J. die österr. Herrschergeschichte von Markgraf Albrecht (1025) bis zu Friedrich dem Streitbaren (1246), wobei das Interesse
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der Wiener Oberschicht an gesellschaftl. Selbstinterpretation (das Fürstenbuch beginnt mit der Gründungssage Wiens) immer wieder durchscheint. Auch Formen ritueller Kommunikation spielen eine wichtige Rolle. Die beiden von Freude am Erzählen, aber auch von krit. Bewusstsein geprägten Werke spiegeln die Ausdifferenzierung volkssprachl. Historiografie im Laufe des 13. Jh. Noch stärker als dem Fürstenbuch, dessen sagenhafte Partien von der lokalen Geschichtsschreibung verschiedentlich aufgegriffen wurden, war der Weltchronik starkes Weiterleben beschieden. Eine Leipziger Handschrift bezeugt vielleicht die Weiterarbeit am Text noch in der Wiener Werkstatt. Andere Handschriften, etwa aus dem Umkreis der monumentalen Weltchronik Heinrichs von München, bieten Verbünde u. Verschmelzungen verschiedenen chronikal. Materials, in dem J.-Texte – kompiliert, verkürzt u. neu funktionalisiert – einen prominenten Rang einnehmen. Teile der Chronik gingen, in Prosa aufgelöst, in die Historienbibeln ein, wurden aber auch (wie die Geschichte der Königstochter von Reußen oder des Zauberers Virgilius) separat überliefert. Ausgabe: J. E.s Werke. Hg. Philipp Strauch. Hann./Lpz. 1900 (MGH Dt. Chron. 3). Neudr. Mchn. 1980. Literatur: Karl-Ernst Geith: J. E. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Horst Wenzel: Höf. Gesch. Mchn. 1980, S. 87–116, 133–140. – Ursula Liebertz-Grün: Das andere MA. Mchn. 1984, S. 71–100. – Leopold Hellmuth: Die Assassinenlegende in der österr. Geschichtsdichtung des MA. Wien 1988. – Jörn-Uwe Günther: Die illustrierten mhd. Weltchronikhandschriften in Versen. Mchn. 1993. – Graeme Dunphy: Daz was ein michel wunder. The Presentation of Old Testament Material in J. E.’s Weltchronik. Göpp. 1998. – Horst Brunner (Hg.): Studien zur ›Weltchronik‹ Heinrichs v. München. 5 Bde., Wiesb. 1998. – Fritz Peter Knapp: Die Lit. des SpätMA in den Ländern Österr., Steiermark, Kärnten, Salzb. u. Tirol v. 1273 bis 1439. Graz 1999, S. 234–263. – Christiane Witthöft: Ritual u. Text. Formen symbol. Kommunikation in der Historiographie u. Lit. des SpätMA. Darmst. 2004. Christian Kiening
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Jansen, Erich, * 31.10.1897 Stadtlohn, Jansen, Johannes, * 6.1.1966 Berlin/DDR. † 28.8.1968 Stadtlohn. – Verfasser von – Prosaschriftsteller, Lyriker, FilmemaLyrik u. Kurzprosa. cher u. Grafiker. Abgesehen von der Teilnahme am Ersten Weltkrieg führte der Lyriker J. eine unauffällige Existenz als Apotheker im westfäl. Stadtlohn. Sein schmales Werk ist bis heute nahezu vergessen, wiewohl es einmal lebhafte Zustimmung von Kennern wie z.B. Johannes Bobrowski gefunden hat, der 1963 die »Genauigkeit im sprachlichen Kalkül«, das »Leben der Bilder« u. den »Charme« der Poesie J.s gerühmt hatte. Das Lob galt dem Band Aus den Briefen eines Königs (Köln 1963. Aachen 22001 [nicht textidentisch mit Ausg. von 1963]); alle zuvor – seit der Kurzprosasammlung Die grüne Stunde (Bln. 1937) – erschienenen Bücher verwarf J. später als epigonal u. unzureichend. Der Band von 1963 u. Die nie gezeigten Zimmer (Hbg./Düsseld. 1968. Neuaufl. mit einem Nachw. von Winfried Freund. Aachen 1987) zeigt J.s Können in spät beschworenen Kinder- u. Traumlandschaften, die real u. zgl. fantastisch anmuten. Biedermeierliche Sujets, altmod. Interieurs, werden in eine leicht surreale Sphäre versetzt. Dabei entstehen anmutige Verse, die bei aller Fantastik u. Traumhaftigkeit nie den Bezug zur Sinnenwelt verlieren. Die Metaphorik verselbstständigt sich nicht zu schwer auflösbaren Chiffren, die hochpoetische spätromant. Sprache wird nicht preziös, sprachl. Klarheit u. Bildhaftigkeit bleiben erhalten. Weitere Werke: Skurilla. Hbg. 1950 (E.en). – Michael Orsenjew. Oberhausen 1956 (Legende). – Die Galerie. Ebd. 1957 (L.). – Der Schildpattkamm. Ebd. 1958. – Ville oubliée, Vergessene Stadt. Paris 1974 (L.; dt. u. . frz.). – E. J. Lesebuch. Hg. u. mit einem Nachw. v. Hartmut Vollmer. Bielef. 2008. Literatur: Marc Houben: ›Die Substanz der Seele fühlbar machen‹. Zum poetolog. Selbstverständnis E. J.s. In: Jb. der Ernst-Meister-Gesellsch. 2 (1992/93), S. 99–109. – Dieter Breuer (Hg.): Die Welt kennt keine Poesie. E. J. 1897–1968. Aachen 1997 (mit Auswahlbibliogr.). – Westf. Autorenlex. Bd. 3. – Hermann Jansen: ›Die Welt kennt keine Poesie‹. Über E. J. In: Jb. der Ernst-Meister-Gesellsch. 8 (2000/01), S. 115–124. Jürgen P. Wallmann / Red.
J. absolvierte eine Lehre als Graveur, brach das Studium zum Kommunikationsdesigner ab u. lebt jetzt als freier Autor u. Grafiker in Berlin. J. begann seine künstlerische Tätigkeit als ein auf den ersten Blick typischer Vertreter der jungen DDR-Boheme der 1980er Jahre. Er schrieb Texte für den Selbstverlag, produzierte Hörstücke mit Musikern für den Rundfunk (in West-Berlin), drehte Filme in Super 8, beschickte Ausstellungen mit eigener Grafik u. schuf Installationen für alternative Galerien, z.B. für EIGEN + ART in Leipzig 1989. Doch im Gegensatz zu den meisten anderen Künstlern der »PrenzlauerBerg-Literatur« wurde J. schon früh von den offiziellen Verlagen entdeckt. 1988 erschienen seine Gedichte in der Lyrikreihe Poesiealbum (Heft 248; Bln./DDR); 1990 publizierte er sein erstes eigenes Buch: prost neuland – spottklagen und wegzeug (Berl./Weimar). Zwei Prosaarbeiten finden sich in Schöne Aussichten. Neue Prosa aus der DDR (Hg. Christian Döring u. Hajo Steinert. Ffm. 1990), J.s ersten Veröffentlichungen in der BR Deutschland. Die Texte J.s sind keine nacherzählbaren Geschichten, sondern sprachl. Erkundungen der inneren u. äußeren Landschaft, Textwanderungen von unterwegs durch die Labyrinthe der Seele wie durch die realen Provinzen u. Städte der DDR/BRD, Versuche, die Disparatheit der tägl. Wahrnehmung zu überwinden. Während viele Texte der 1990er Jahre wie Reisswolf. Aufzeichnungen (Ffm. 1992) oder Splittergraben. Aufzeichnungen II (Ffm. 1993) von einer aggressiven, die »synthetischen rhythmen des alltags als textmaschine« benutzenden Sprache geprägt sind, beruhigt sich in der Folge der Rhythmus von J.s Werken: Kleines Dickicht (Klagenf./Wien 2000), Verfeinerung der Einzelheiten (Ffm. 2001), Halbschlaf. Tag Nacht Gedanken (Ffm. 2004) oder Bollwerk. Vermutungen (Idstein 2006) knüpfen zwar an den Erkundungsstil früherer Texte an, jedoch geht es nun vermehrt um die Erforschung von Innenwelten, um die detaillierte Beschreibung von Bewusstseinszustän-
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den, die sich zwischen Schlaf- u. Wachträumen bewegen. J.s jüngere Veröffentlichungen setzen sich verstärkt mit der DDR-Vergangenheit auseinander: im keinland ist schönerland stumm (Idstein 2007) u. Nicht Hin..s.eh.en. Sequenzen (Bln. 2007) präsentieren frühe, im Ost-Berlin der 1980er Jahre spielende Texte; mit Liebling, mach Lack! Die Aufzeichnungen des Soldaten Jot Jot (Idstein 2004) legt der Autor eine Skizzensammlung vor, die seine Erfahrungen in der Nationalen Volksarmee schildern. 1990 erhielt J. den Anna-Seghers-Preis, 1996 für Dickicht Anpassung (Klagenf./Wien 2002) den Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb; 1997 wurde ihm die Ehrengabe der Deutschen SchillerStiftung verliehen. Weitere Werke: fundzeug. chamäleon. textbild-kombinationen. Siegen 1991. – SCHLACKSTOFF. Materialversionen. Bln. 1991. – AUSFLOCKEN. ein abwasch. Bln. 1992. – Hans Hiob. Ein Auszug. Bln. 1994. – Lost in London. Klagenf. 1994. – Unsereins. Bln. 1994. – heimat ... abgang ... mehr geht nicht ... ansätze. Ffm. 1995. – Novembertrance. Texte 1983. Bln. 2006. – atem holen, immerhin ... TEXT EXTREM. Bln. 2007. – Im Durchgang. Absichten. Ffm. 2009. Hajo Steinert / Ingo Irsigler
Zeit kämpferischer, heldenhafter Selbstbehauptung (Heinrich der Löwe. Braunschw. 1923. Verratene Heimat. Ebd. 1932) u. verband damit in Geier um Marienburg (ebd. 1925) rassenideolog. Komponenten. Die Verherrlichung der Deutschordensritter als Sinnbild des nordischen Menschen führt hier zu einer »Lebensborn-ldylle« mit Rassezüchtung im Sinn des späteren NS-Staats. Dieser Roman, 1925 mit einer Startauflage von 100.000 erschienen, wurde von Himmler auf seiner Leseliste neben anderen Werken J.s sehr lobend erwähnt. Mit dem Roman Die Kinder Israels (Braunschw. 1927) bekannte sich der Autor als Antisemit. Für seine »Arbeiten im Dienste der rassischen Erneuerung« wurde J. 1940 die Goethe-Medaille verliehen. Weitere Werke: Firdusis Königsbuch. Hbg. 1922 (E.). – Robert der Teufel. Braunschw. 1924 (R.). – Die Insel Heldentum. Ebd. 1938 (R.). Literatur: Werner Hoffmann: ›Das Buch Treue‹. W. J.s Nibelungenroman. In: Joachim Heinzle (Hg.): Die Nibelungen. Wiesb. 2003, S. 511–521. – Jürgen Kreft: Theorie u. Praxis der intentionalist. Interpr.: Brecht, Lessing, Max Brod, W. J. Ffm. u. a. 2006. – Hyuk-Sook Kim: Das Ende des histor. Romans im Zeitalter seiner Verklärung. W. J. u. seine ›Heldenzeit‹-Trilogie. Ffm. u. a. 2008. Wolfgang Weismantel / Red.
Jansen, Werner, * 5.2.1890 Wülfrath, Janßen, Hinrich, * 17.3.1697 Eckwarden/ † 28.12.1943 Velden/Wörthersee. – Er- Butjadingen, † 19.7.1737 ebd. – Lyriker; zähler. Bauer. Nach seinem Studium in Berlin, Genf, Marburg u. Greifswald (Dr. phil. 1914, Absonderliche Charaktere bei Wilhelm Raabe; Dr. med. 1931) nahm J. als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil u. erhielt später eine Professur in Berlin. Mit seinen histor. Romanen, z.T. auch als Schulausgaben, erreichte er ein breites Publikum u. galt als einer der meistgelesenen völk. Autoren. In J.s erster Trilogie über die dt. »Heldenzeit« wurden in dem »Nibelungenroman« (Das Buch Treue. Hbg. 1916), im »Gudrunroman« (Das Buch der Liebe. Braunschw. 1918) u. im »Amelungenroman« (Das Buch der Leidenschaft. Ebd. 1920) die Sagenhelden als große Führergestalten gezeichnet. Nach diesem Prinzip verarbeitete J. auch in seiner zweiten Trilogie mittelalterl. Geschichte als
Als erster Sohn des Bauern Johann Hinrichs u. seiner Ehefrau Nanne wurde J. zunächst auf Schulen in Jever (1713) u. Quedlinburg (1716) geschickt u. von den Eltern für ein Studium bestimmt. Nach verheerenden Deichbrüchen in Butjadingen musste er gegen Ende 1717 die gelehrte Laufbahn abbrechen u. übernahm schließlich den elterl. Hof. Aus der 1724 mit Metta Behrens geschlossenen Ehe gingen sieben Kinder hervor. Beeinflusst von Gottsched, Opitz, Brockes u. Fleming, verfasste J. zahlreiche Gedichte. Ein 1730 entstandenes u. 1732 in der »Leipziger gelehrten Zeitung« abgedrucktes Ehrengedicht auf den dän. König Christian VI. u. d. T. Leid-Cypressen und Freuden-Psalmen verschaffte ihm Beachtung selbst von Brockes, der dem bäuerl. Dichter u. Autodidakten als
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dem »besten Land- und Feldpoeten« seinen Respekt bezeugte. Entdeckt wurde J. erst nach seinem Tod durch die Volksaufklärer, die ihn in den 1760er Jahren in der Öffentlichkeit als Beispiel dafür vorstellten, dass auch in den unteren Ständen die Kraft zum Selbstdenken zu finden ist. Neben zahlreichen Gelegenheitsgedichten schrieb J. Satiren, die originell seine soziale Situation reflektieren. Das dichterische Gesamtwerk zeugt von handwerkl. Können u. strahlt mit seinen besten Gedichten noch heute Kraft aus. Ausgaben: Hrn. Hof-Raht Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen, bis auf gegenwärtigen sechsten [...] Theil fortgesetzet, u., nebst einer demselben vorgedruckten Nachricht, sammt einigen Gedichten von dem im vorigem Jahre verstorbenen BauerPoeten H. Jansen. Hg. Johann Peter Kohl. Hbg. 1738. Nachdr. Mchn. 1980. – Eines niedersächs. Bauers, sämtl. Gedichte. Vorrede v. Johann Heinrich Pratje. Hg. Johann Heinrich Janßen. Stade 1768. Oldenb. 21864. Literatur: Emil Pleitner: H. J., der butjadinger Bauernpoet. Sein Leben u. Dichten; mit einer Ausw. seiner Dichtungen. Oldenb./Lpz. 1898. – Leif Ludwig Albertsen: Der poet. Bauer H. J. In: Oldenburger Jb. 65 (1966). – Ders.: H. J. In: NDB. – C. F. Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–1738). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels u. a. Wolfenb. 1983, S. 101. – Holger Böning u. Reinhart Siegert: Volksaufklärung. Biobibliogr. Hdb. [...]. Bd. 1, Stgt.-Bad Cannstatt 1990. – Ders.: Dichten als autobiogr. Erzählen. Der Butjadinger Bauerndichter H. J. (1697–1737). In: Reisen, erkunden, erzählen. Bilder aus der europ. Ethnologie u. Lit. Hg. Michael Nagel. FS Dieter Richter. Bremen 2004, S. 249–268. Holger Böning / Red.
Janssen, Horst, * 14.11.1929 Hamburg, † 31.8.1995 Hamburg. – Grafiker, Zeichner; Schriftsteller. J. wuchs als unehel. Kind in Oldenburg auf; seinen Vater, einen Handelsreisenden hat er nie kennen gelernt. 1941 wurde er als Schüler für die Nationalpolitische Erziehungsanstalt in Haselünne ausgewählt. Der dortige Kunsterzieher förderte sein bereits klar erkennbares künstlerisches Talent. 1946–1951 studierte J. an der Landeskunstschule Hamburg bei Alfred Mahlau in einer Klasse mit Vico von Bülow (Loriot) u. Peter Neugebauer.
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Seine vielseitigen Ausdrucksmöglichkeiten in den unterschiedlichsten Techniken u. die unverkennbaren Charakteristika seines Werks machten ihn bald zu einem der gefragtesten u. bekanntesten dt. Künstler – auch in den USA u. in der einstigen Sowjetunion, wo er in den 1980er Jahren ausstellte. Nach seinem Tod richtete die Hamburger Kunsthalle ein Janssen-Kabinett für Wechselausstellungen ein; 2000 wurde ein HorstJanssen-Museum in Oldenburg eröffnet, dessen Ehrenbürger J. seit 1992 war; 2008 erfolgte die Einweihung der Horst-JanssenBibliothek in Hamburg. Ab Mitte der 1960er Jahre trat J. auch zunehmend als Schriftsteller hervor. Fasziniert durch Autoren wie Lichtenberg u. Ernst Jünger, pflegte er eine in jeder Hinsicht eigenwillige u. subjektive Sprache, in der er sich über Biografisches, seine künstlerischen Auffassungen (Hokusai’s Spaziergang. Über das Zeichnen nach der Natur. Hbg. 1972), aber auch zu polit. Themen (Anmerkungen zum Grundgesetz. Gifkendorf 1981. Das Pfänderspiel. Ein tagespolitischer Seitensprung. Ebd. 1983) äußerte. J. scheut dabei nicht vor scharfer Polemik u. drast. Sprache zurück. Wie in seinem zeichnerischen Werk kommt er auch als Schriftsteller immer wieder zurück auf seine Grundthemen Liebe (Die Litze. Eine ziemlich lautlose Geschichte, oder: Die Zeit der Kinder. Hbg. 1984) u. Tod (Hommage à Tannewetzel. Neujahrsrede in St. Marien zu Lübeck. Hbg./Lübeck 1986). J. nutzt die verschiedensten Gattungen, wie der Untertitel der Sammlung Querbeet (Mchn. 1982) verdeutlicht: Aufsätze, Reden, Traktate, Pamphlete, Kurzgeschichten, Gedichte und Anzüglichkeiten. Seine Autobiografie breitete J. in zwei Bänden aus (Hinkepott. Gifkendorf 1987. Johannes. Ebd. 1989). Vielfach enthalten die Veröffentlichungen in Buchform auch Reproduktionen seiner Grafiken u. Zeichnungen, wobei J. oft Handschriftliches mit seinen Bildern kombiniert. Einige seiner rund 20.000 Briefe sind noch zu Lebzeiten u. aus dem Nachlass herausgegeben worden (Selbst: gewörtert. Hbg. 1994. Janssen an Ketterer. Mchn. 1995. Ach, Liebste, flieg mir nicht weg. Briefe an Gesche. Reinb. 2004). Sein Reisetagebuch Minusio (Bln. 2002) erschien unter J.s
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Motto: »Schreibe in der Zeit – dann liest du in der Not«. Weitere Werke: Mannheim. Festrede anläßlich des Schiller-Preises der Stadt Mannheim 1975. Hbg. 1975. – An u. für mich. Selbstisches, Briefliches, Poetisches, Hämisches, Deklamatorisches, Gesprochenes u. alles Gedruckte 1981–86. Mchn. 1986. – Mit Georg Christoph Lichtenberg. Gött. 1988. – Die Welt ein Kugelsieb. Einfälle, Einblicke, Launen, Maximen. Mchn. 1995. – Skandinav. Reise. Bln. 2001. – Summa summarum. Ein Lebenslesebuch. Reinb. 2006. Literatur: Stefan Blessin: H. J. Eine Biogr. Hbg. 1984. 61998. – Ders.: H. J. Leben u. Werk. Hbg. 1999. – Maria u. Eberhard Rüden (Hg.): An u. für ihn. H. J. zum Siebzigsten. Hbg. 1999. – Joachim Fest: H. J. Selbstbildnis von fremder Hand. Bln. 2002. – Gerd Lindner (Hg.): ›Es sind nur Steigerungen‹. Bad Frankenhausen 2008. – Ewald Gäßler u. a.: ›schon wieder Perlen‹. Oldenb. 2008. – M. u. E. Rüden: Versuch einer Bibliogr. Gifkendorf 2008. Matthias Wörther / Günter Baumann
Janssen, Johannes, * 11.4.1829 Xanten, † 24.12.1891 Frankfurt/M.; Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Historiker.
Standpunkt aus, was ihm spätestens seit dem Erscheinen des dritten Bandes, der die Folgen der kirchlich-religiösen Umwälzung des 16. Jh. für die soziale u. polit. Einheit des Alten Reichs darstellte, heftigste Kritik von Seiten der protestantisch-preuß. Geschichtsschreibung eintrug. J. antwortete mit zwei Verteidigungsschriften (An meine Kritiker. Freib. i. Br. 1882. Zweites Wort an meine Kritiker. Ebd. 1883). Diese konfessionspolit. Polemik verhinderte die ernsthafte Auseinandersetzung mit einer methodisch u. inhaltlich neuartigen Darstellung, die im Unterschied zur vorherrschenden polit. Geschichtsschreibung eine Skizze der sozial-wirtschaftl. u. geistigkulturellen Situation des Alten Reichs im 16. Jh. gab. Sie verdankte den literar. Erfolg u. a. ihrer klaren u. lesbaren Präsentation, die dem im Kulturkampf geschärften kulturgeschichtl. Interesse des zeitgenöss. Publikums entgegenkam. J. veröffentlichte auch zahlreiche biogr. Darstellungen (u. a. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg. 2 Bde., Freib. i. Br. 1877. Schiller als Historiker. Ebd. 1863. 21879). Weitere Werke: Frankfurts Reichskorrespondenz, 2 Bde., Freib. i. Br. 1863. – Zur Genesis der ersten Theilung Polens. Ebd. 1865.
J., Sohn eines Korbmachers, brach eine Lehre als Kupferschmied (1843/44) ab u. studierte Literatur: Hubert Jedin: J. J. In: NDB (ältere seit 1849 in Münster, Leuven u. Bonn zu- Lit.). – Heribert Raab: J. J. und Bayern. In: FS Annächst Theologie, dann Geschichtswissen- dreas Kraus. Hg. Pankraz Fried u. Walter Ziegler. schaft. 1853 in Bonn promoviert, wurde er Kallmünz 1982, S. 381–409. – Bernhard Wilder1854 nach der Habilitation in Münster Pro- muth: J. J. Bautz (mit Lit.). – Heribert Smolinsky: Renaissance, Reformation u. das Menschenbild der fessor für Geschichte am Gymnasium in Moderne. Aspekte konservativer kath. GeschichtsFrankfurt/M. Dort fand er Anschluss an den bilder des 19. u. 20. Jh. In: Freiburger UniversiKreis um den ihm freundschaftlich verbun- tätsbl. 146 (1999), S. 123–134. – Goedeke Forts. denen Historiker Johann Friedrich Böhmer. Luise Schorn-Schütte / Red. Seinen kath. Glauben hat J. stets mit einer preußenfreundl. Haltung verbunden. Erst Janstein, Elisabeth (von), geb. E. Jenny der Ausbruch des Kulturkampfes veranlasste Janeczek, auch: el, eja, * 19.10.1893 Iglau/ ihn zum polit. Engagement für die Rechte des Mähren, † 31.12.1944 Winchcombe/EngKatholizismus. 1875 wurde er als Mitgl. des land. – Journalistin, Lyrikerin u. ErzähZentrums in das Preußische Abgeordnetenlerin. haus gewählt. Sein wissenschaftl. Ruf beruhte auf seiner J. stammte aus geadelter Offiziersfamilie u. achtbändigen Geschichte des deutschen Volkes seit war zunächst Telefonistin in Wien, wo sie Ausgang des Mittelalters (Freib. i. Br. 1876–94. nach 1918 dem Kreis um die ReformpädagoBde. 7 u. 8: Hg. Ludwig Frhr. von Pastor), gin Eugenie Schwarzwald angehörte u., von deren erste drei Bände 20 Auflagen bis 1917 Emil Lucka, Felix Braun u. Emil Alphons erlebten u. die ihn zum einflussreichsten Rheinhardt gefördert, Lyrik zu schreiben bekath. Historiker im Deutschen Reich werden gann. Gedichte erschienen u. a. 1918–1921 in ließ. J. schrieb von explizit konfessionellem den expressionistischen Zeitschriften »Die
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Aktion« u. »Der Friede«. In den 1920er Jahren war sie Gerichtsberichterstatterin des »Abend«, dann Mitarbeiterin der »Neuen Freien Presse«. Als deren Korrespondentin in Paris u. Brüssel (bis 1939) schrieb sie Artikel zu Politik, Gesellschaft u. Kultur. 1935/36 war J. Vizepräsidentin der Fédération Internationale des Journalistes. Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs flüchtete sie nach England, wo sie nach kurzer Internierung schwerkrank u. abgeschieden unweit Londons lebte. J.s schmales literar. Werk, darunter der Gedichtband Gebete um Wirklichkeit (Wien/ Lpz. 1919) u. die Prosaaufzeichnungen Die Kurve (Wien/Lpz./Prag 1920. Neudr. Nendeln 1973), steht im Umkreis des österr. Spätexpressionismus. Mit diesem teilt J.s Lyrik den oft pathetisch gesteigerten Ton u. die existenzielle Perspektive. In Metrum, Vers u. Strophik ist sie einfach, neigt zu »liedhaften Klängen« (Loerke). Einsamkeit u. Krankheit, Landschaft als Seelentrost, die Scheinhaftigkeit menschl. Existenz u. die Suche nach verbrüdernder Menschenliebe sind wiederkehrende Themen. Ein autobiogr. Roman blieb unveröffentlicht. J.s journalistisches u. literar. Werk ist heute weitgehend unbekannt. Weiteres Werk: Die Landung. Mchn. 1921 (L.). Literatur: Felix Braun: J. In: Wiener Ztg., 12.8.1956, Beilage S. 5. – Hans Heinz Hahnl: J. In: Ders.: Vergessene Literaten. Wien 1984, S. 187–190. – Jürgen Serke: J. In: Ders.: Böhm. Dörfer. Wien/Hbg. 1987, S. 411 f. – Ursula SeeberWeyrer: ›Obwohl ich immer Österreicherin sein werde ...‹. E. J. (1893–1944): Suchvorgänge für eine literar. Biogr. In: Charmian Brinson u. a. (Hg.): Keine Klage über England? Dt. u. österr. Exilerfahrungen in Großbritannien 1933–1945. Mchn. 1998, S. 137–156. – LöE. – Eckart Früh (Hg.): E. J. Spuren u. Überbleibsel – bio-bibliogr. Blätter. [Wien] 2002. Ursula Weyrer / Red.
Jaschke, Gerhard, * 7.4.1949 Wien. – Lyriker, Erzähler, Verfasser von Hörspielen; Zeichner. Nach dem Studium der Rechtswissenschaft u. Philosophie begann J. um 1970 Lyrik u. Kurzprosa zu veröffentlichen (u. a. in Anthologien: Kein schöner Land ... Salzb. 1981.
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Interaktion 2. Wien 1988. ROT-WEISS-BUCH. Graz/Wien 1988. (Un)verlangt eingesandt. Wien/Zürich 1988. Erleichterung beim Zungezeigen. Wien/Mchn. 1989) u. nahm an Ausstellungen teil, vorwiegend mit Zeichnungen, Collagen u. Scherenschnitten (auch Einzelpräsentationen). J. wurde 1986 Lehrbeauftragter an der Akademie der bildenden Künste in Wien, zunächst für Literaturgeschichte, dann für Literatur und Sprachkunst. Seit 1978 Mitgl. der Grazer Autorenversammlung, übernahm er 2006 deren Geschäftsführung gemeinsam mit Christine Huber. J. lebt in Wien u. in Niederösterreich. 1975 gründete J. gemeinsam mit Hermann Schürrer die Zeitschrift für Literatur u. Kunst »Freibord«, deren Herausgeber er bis heute ist, u. 1977 die Buchreihe »Edition Freibord«. Im selben Jahr erschien J.s erster Gedichtband windschiff einer ersten blindschrift (Wien). Seine Lyrik, die vom Anagramm über das Haiku bis zum Prosagedicht reicht, ist dem formalen Experiment verpflichtet. Mit den Bänden Das zweite Land (Wien 1987), alles in allem (Köln 1999) u. alles klar/natürlich (Baden bei Wien 2000) liegt eine repräsentative Auswahl von J.s lyr. Schaffen vor. Das Geschenk des Himmels (Wien 1982) vereinigt Prosatexte in realistisch-analyt. Schreibweise. Die Prosaminiaturen in Illusionsgebiet Nervenruh (Wien 1997) u. Endlich doch noch (Wien 2008) offenbaren das Labyrinthische von Sprache. stubenrein (Wien 1998) zeigt einmal mehr in einem Nebeneinander von Anagramm, Aphorismus, Prosaminiatur u. Gedicht J.s Spiel mit Wörtern, Redewendungen u. syntakt. Mustern. 1990 wurde J.s Theaterstück Immer am Anfang im Rahmen der Wiener Festwochen uraufgeführt. Für den ORF schrieb er Hörspiele wie Von Anfang zu Anfang (1999), Eins aus Unendlich (2001) u. Rockreisen (2003, jeweils in der Regie von Lucas Cejpek). Die von J. 1990 an der Universität Innsbruck gehaltenen Poetikvorlesungen erschienen u. d. T. von der täglichen umdichtung des lebens alleingelassener singvögel in geschlossenen literaturapotheken am offenen mehr (Innsbr. 1992). Eine Auswahl an Prosa, Lyrik, Visueller Poesie, Dramatischem u. Bildnerischem (Zeich-
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nungen, Scherenschnitte) bietet der Band Anfänge – Zustände (St. Pölten 2007). Nach mehreren Förderungspreisen u. Staatsstipendien erhielt J. 1993 den V.-O.Stomps-Preis der Stadt Mainz für eine kleinverlegerische Leistung. Weitere Werke: die windmühlen des hausverstands. Wien 1978. – Goethe darf kein Einakter bleiben (zus. mit Hermann Schürrer). Wien [1978]. – Ausgew. Gedichte 1971–1980. Wien 1981. – Fliegende Trümmer (mit Tone Fink). Wien 1984. – flugspuren/skulpturen. Siegen 1986. – Wiegen-, Hirten-, Splitter-, Spießerlieder. Wien 1988. – essensreste der letzten sternsegler. Siegen 1989. – ursachen rauschen. Mit einem Nachw. v. Karl Riha. Köln 1990. – Treues Steuer. Einwortdichtungen oder Endlich Arges gleich anders. Anagramme. Bln. 1992. – Von mir aus. Auf / Zeichnungen, Splitter, Skizzen, Schiefer, Striche. Wien 1993. – Schneeflocke, die Erde treffend (mit Pierre Garnier). Köln 1994. – der rede wert. Wien 1994. – Ernst Jandl zum Siebzigsten. Wien 1995. – blauer schocker. Wien 1995. – Albert Ehrenstein – Eine Collage (zus. mit Werner Herbst). Siegen 1996. – schlaue brocker. Wien 1996. – Bis hierher u. weiter. Beispiele aus fünfzig Veröffentlichungen. Wien 1999. – Vom Häkchen zum Haken. Literar. Duettduelle 1988–1998 (zus. mit W. Herbst). Wien 1999. – wortfest. Wien 2000. – Schlenzer. Texte. Wien 2000. – mehr denn je. Wien 2001. – Schöne Stunden. Ein literar. Duettduell mit Werner Herbst. Wien 2001. – Leuchtende Eingaben. Köln 2002. – nach wie vor. Wien 2002. – worttheater. Anagramme. Alpnach Dorf (Schweiz) 2002. – zu guter letzt. Wien 2002. – Roman ohne Ende. Wien 2002. – Wie noch nie. Köln 2003. – fieber=briefe. Wien 2003. – Knickerbocker im Kakao oder auch albatros & benzinger oder auch abschlagen-einlochen-auslippen. fremdsprache golf (zus. mit W. Herbst). Wien 2004. – Von der Umschrift des Bestehenden. Wien 2006. – Seltsam fruchtbar. Wien 2008. – Weltbude. Wien 2009. – Ausgew. Gedichte. Wien 2009. Literatur: Kurt Neumann: Vorw. in: G. J.: Ausgew. Gedichte, a. a. O. Werner Herbst † / Bruno Jahn
Jaspers, Karl, * 23.2.1883 Oldenburg, † 26.2.1969 Basel; Grabstätte: ebd., Hörnli-Friedhof. – Philosoph. J. studierte 1902–1909 Medizin u. habilitierte sich nach Assistenzjahren in einer psychiatr. Klinik mit der Allgemeinen Psychopathologie
(Bln. 1913. 91973). 1919 erschien die bereits von philosophischen Fragestellungen geprägte Psychologie der Weltanschauungen (Bln. 6 1990), deren großer Erfolg dazu beitrug, dass J. 1920 in Heidelberg auf einen philosophischen Lehrstuhl berufen wurde; prominenteste Schülerin J.’ wurde Hannah Arendt. Die dreibändige Philosophie (Bln. 1932. 41997) begründete seinen Ruf als Vertreter der Existenzphilosophie, deren zweiten Protagonisten man damals in Heidegger sah. Während des Nationalsozialismus lebte J. mit seiner jüd. Frau unter ständiger Bedrohung u. entging 1945 nur durch den Einmarsch der Amerikaner dem Transport in ein Konzentrationslager. Unmittelbar nach dem Krieg erschien mit dem Buch Zur Schuldfrage (Heidelb. 1946. Mchn. 1987) die erste einer Reihe von Publikationen, mit denen J. in den 1950er u. 1960er Jahren zu polit. u. zeitgeschichtl. Fragen Stellung bezog. 1948 nahm er einen Ruf nach Basel an, wo er bis zu seiner Emeritierung 1961 lehrte. J.’ Denken bewegt sich im Spannungsfeld von Vernunft und Existenz (Groningen 1935. Mchn. 41987) – so der programmat. Titel einer wichtigen Vorlesungsreihe. Fragestellungen Kierkegaards, Nietzsches, der metaphys. u. metaphysikkrit. Tradition (Kant, Max Weber) aufnehmend, entwarf er eine Philosophie, die als Weltorientierung, Existenzerhellung u. Metaphysik (so die Titel der drei Bücher seiner Philosophie) an die Freiheit des Menschen appelliert u. ihm seine Existenzmöglichkeiten bewusst machen will. In J.’ philosophischer Entwicklung lassen sich eine frühe u. eine späte Phase unterscheiden, die der unterschiedl. Akzentsetzung entsprechend als Existenz- bzw. Vernunftphilosophie bezeichnet werden. Existenz ist für J. ein Grundbegriff, der die Möglichkeit eines freien Ich-Selbst-Seins anzeigen soll. Sie ist nichts Allgemeines, nicht objektivierbar, sondern muss vom einzelnen konkret ergriffen werden. Sichtbar wird sie in Grenzsituationen wie Leiden, Schuld oder Sterben, in der Kommunikation mit anderen u. in der Erfahrung der Freiheit. Vom Existenzialismus Sartres unterscheidet sich J. fundamental, indem er Existenz immer an Transzendenz gebunden sieht. Als »denken-
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Weitere Werke: Die Idee der Universität. Bln. des Vergewissern eigentlichen Seins« ist die Philosophie über alle Gegenständlichkeit u. 1923. Nachdr. der 2. Aufl. v. 1946. Bln. 1980. – Die über die Verabsolutierung der Existenz hin- geistige Situation der Zeit. Bln. 1931. 9. Abdr. der 5. Aufl. v. 1932. Bln./New York 1999. – Descartes u. aus. die Philosophie. Bln. 1937. – Existenzphilosophie. Unter dem Eindruck der polit. Katastrophe Bln. 1938. 41974. – Vom Ursprung u. Ziel der Deutschlands entwickelte J. seit Mitte der Gesch. Zürich 1949. Mchn. 91988. – Einf. in die 1930er Jahre systematisch die Beziehungen Philosophie. Zürich 1950. Mchn. 232001. – Die zwischen Vernunft, Existenz, Kommunikati- Frage der Entmythologisierung (zus. mit Rudolf on u. polit. Freiheit, deren Zusammenhang Bultmann). Mchn. 1981. – Philosophische Auto2 durch die Lehre vom Umgreifenden (Perie- biogr. Mchn. 1984. – Briefwechsel: Hannah Arendt – 3 chontologie) gestiftet werden soll. Sie enthält K. J. Briefw. 1926–69. Mchn. 1993. Literatur: Bibliografie: Christian Rabanus: Prifür J. kein objektivierbares Wissen – u. ist – Weitere deshalb keine Ontologie –, sondern hat die märbibliogr. der Schr.en K. J.’. Tüb. 2000. Titel: Hans Saner: K. J. Reinb. 1970. 122005. – JeAufgabe, das umgreifende Sein in indirekter anne Hersch u. a. (Hg.): K. J. Philosoph, Arzt, polit. Mitteilung zu vergegenwärtigen. In der Denker. Mchn. 1986. – Yusuf Örnek: K. J. Freib. i. Schrift Von der Wahrheit (Mchn. 1947. 41991), Br. 1986. – Dietrich Harth (Hg.): K. J. Stgt. 1989. – J. dem einzigen erschienenen Band einer auf Hersch: K. J. Mchn. 21990. – Werner Schüssler: J. mehrere Bände angelegten Philosophischen Lo- zur Einf. Hbg. 1995. – Chris Thornhill: K. J.: Pogik, unterschied J. eine Pluralität von Weisen litics and Metaphysics. London 2002. – Suzanne des Umgreifenden, die durch die Vernunft Kirkbright: K. J. A Biography – Navigations in zusammengehalten werden. Vernunft ist Truth. New Haven 2004. – Kurt Salamun: K. J. 2., wesentlich auf die »Chiffren der Transzen- verb. u. erw. Aufl. Würzb. 2006. Matthias Jung / Stephanie Over denz« bezogen. In den Schriften Der philosophische Glaube (Zürich 1948. Mchn. 1985) u. Der philosophische Glaube angesichts der Offenba- Jaud, Tommy, * 16.7.1970 Schweinfurt/ rung (Mchn. 1962. 31984) entfaltete J. diesen Franken. – Verfasser von Romanen u. Gedanken u. grenzte Philosophie sowohl von Drehbüchern. Wissenschaft wie von Religion ab. Nach dem Zivildienst begann J. in Bamberg Der Gedanke einer universellen, vernünfdas Studium der Germanistik, das er jedoch tigen, alle dogmat. Festsetzungen verflüssi- abbrach. Bereits während des Studiums war genden Kommunikation inspirierte den er als freier Mitarbeiter für die »Harald polit. Denker wie den Philosophiehistoriker. Schmidt Show« tätig; danach war er HeadIn zahlreichen Publikationen (Die Atombombe writer für die Sat 1 »Wochenshow«, Creative und die Zukunft des Menschen. Mchn. 1958. Producer für Anke Engelkes »Ladykracher« 7 1983. Wohin treibt die Bundesrepublik? Mchn. u. Drehbuchautor der Fernsehserie »Liebes1966. 41988) versuchte J., diesen Grundge- leben«. danken politisch durch eine Kritik des TotaEntsprechend pointenreich, visuell geprägt litarismus u. restaurativer Tendenzen inner- u. primär auf Unterhaltung abzielend sind halb der bundesrepublikan. Gesellschaft zu seine Beststellerromane Vollidiot. Der Roman konkretisieren. Seine philosophiehistor. (Bln. 2004), Resturlaub. Das Zweitbuch (Ffm. Werke (Nietzsche. Bln. 1936. 41981. Schelling. 2006) u. Millionär. Der Roman (Mchn. 2007); Mchn. 1955. Nachdr. Mchn. 1986. Die großen letzterer stellt die Fortsetzung seines DebütPhilosophen. Mchn. 1957. 61997) zielen auf romans dar, der nach dem Drehbuch J.s vereine existenzielle Aneignung der Tradition, filmt worden ist (Vollidiot. BRD 2007). Alle die in eine »Weltphilosophie« mündet. drei Romane entwerfen egozentrierte MänJ. hat im polit. Diskurs der Nachkriegszeit nerwelten, die primär von erot. Phantasmen mit seinen populären u. philosophiehistor. u. stereotypen pubertären Verhaltensritualen Schriften außerordentl. Wirkung erzielt. In geprägt sind. So schildert Vollidiot die vergebl. der akadem. Philosophie blieb seine Bedeu- Bemühungen des 30-jährigen T-Punkt-Vertung bislang geringer. käufers Simon Peters, dem tristen Singlele-
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ben durch erot. Eskapaden zu entfliehen, was ihn zunehmend zum titelgebenden »Vollidioten« werden lässt. Während Vollidiot u. Millionär im Stil von Christian Krachts Faserland (Köln 1995) u. bes. von Benjamin von Stuckrad-Barres Soloalbum (Köln 1998) die »verspätete« Adoleszenz ihrer Helden thematisieren, beleuchtet das »Zweitbuch« Resturlaub das Leben des Bamberger Brauereiangestellten Peter »Pitschi« Greulich, der die ihm vorgezeichnete Bahn von berufl. Aufstieg u. Familiengründung verlässt u. nach Buenos Aires flieht. Dort versucht er, ein neues, (sexuell) exaltiertes Leben zu beginnen – allerdings wird die Reise schnell zu einem desillusionierenden Fiasko, u. schließlich kehrt er in sein altes, beschaul. Leben zurück. Die in J.s Romanen zur Schau gestellten Männlichkeitsklischees lassen die Texte als »Antwort auf Zillionen Frauenbücher« (Denis Scheck), genauer: als Pendant zur »neuen deutschen Frauenliteratur« (u. a. Hera Lind, Susanne Fröhlich oder Gaby Hauptmann) erscheinen. Was die Texte eint, ist die grundsätzl. Ambivalenzerfahrung ihrer Protagonisten: Der Wunsch nach stabilisierenden Lebensformen einerseits u. einem hedonistischen, erlebnis- bzw. konsumorientierten Leben andererseits stürzt die Figuren in Identitätskrisen, die häufig nur im Rückgriff auf bewährte Rollenmuster gelöst werden können. Ingo Irsigler
Jaun, Sam, * 30.9.1935 Wyssachen/Kt. Bern. – Kriminalautor, Dramatiker, Lyriker.
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des literar. Kriminalromans. Sozialkritische Elemente u. persönl. Probleme des Privatdetektivs Keller sind wichtiger als die geradlinige Aufklärung eines Falls. Keller ist Hauptfigur auch im Roman Die Brandnacht (Zürich 1986), der Korruption u. Sektentum in einer ländl. Region anprangert. 1991 wurde der Roman mit Bruno Ganz in der Hauptrolle verfilmt. In Fliegender Sommer (Muri bei Bern 2000) ermittelt Peter Keller im Auftrag eines hohen Militärs under cover in einem brisanten Fall. Schweizer Soldaten wird die Vergewaltigung eines Schulmädchens vorgeworfen. Während seiner Recherchen wird dem Bieler Privatdetektiv jedoch klar, dass es nicht um die Wahrheitsfindung geht, sondern dass er zum Spielball unterschiedl. Machtinteressen geworden ist. In Die Zeit hat kein Rad (Muri bei Bern 2004) bilden Kellers private Katastrophen die Folie für den Mord an seinem Patenkind. J., der in Bern u. Berlin lebt, erhielt 1982 Preis der deutschen Krimi-Autoren, 1987 den Friedrich-Glauser-Preis u. 2001 den Deutschen Krimipreis. Weitere Werke: Die Metamorphosen des Herrn Direktor Huber. Bern 1968 (D.). – Ach Auerbach (zus. mit Peter J. Betts). Bern 1972 (Spieltext). – Die weißen Zähne der Gemeinde. Texte 1961–71. Bern 1973. – Das neue Lust-, Schreck- u. Trauerspiel. Bern 1974 (D.). – Bier. Gümligen 1974 (D.). – Die Schweigeminute. DRS/SFB 1983 (Hörsp.). – Zwei zänk. alte Männer. 1985 (Hörsp.). – Die Eisprinzessin. SWF 1989 (Hörsp.). – Der Feierabendzeichner. Zürich 1992 (R.). – Paradiesgärtli. Urauff. Allmend Sigigen, Luzern 2001 (Kom.). – Tagpfauenauge. Muri bei Bern 2005 (E.). Guido Stefani / Elke Kasper
J., Sohn eines evang. Predigers, machte sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg. Er Jean Paul, eigentl. Johann Paul Friedrich studierte in Bern Altphilologie u. GermanisRichter, auch: J. P. F. Hasus, * 21.3.1763 tik u. arbeitete danach als Lehrer am Berner Wunsiedel, † 14.11.1825 Bayreuth; Abendgymnasium. Bis 1976 war er Sekretär Grabstätte: ebd., Alter Friedhof. – Satirifür kulturelle Fragen der Stadt Bern. Seit ker, Romancier, Philosoph, Publizist. 1978 ist er freischaffender Schriftsteller. In seinen Erzählungen Texte aus der Provinz Die enzyklopädische, aber widersprüchl. (Bern 1971) entwickelt J. Handlung aus Fülle von J. P.s Prosawerken: Romane, ErSprachspielerei. Der Erzählband Die Wirklich- zählungen, Idyllen, Satiren, Traumdichtunkeit des Chefbeamten (Bern 1977) befasst sich gen, ästhetische, philosophische u. pädagog. mit dem Konflikt zwischen bürgerl. Existenz Schriften, welche Teilhabe an allen damaliu. Selbstverwirklichung. Mit Der Weg zum gen geistigen Diskursen dokumentieren, aber Glasbrunnen (Mchn. 1983) fand J. zum Genre auch ideosynkratisch um Tod, Fortdauer da-
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nach u. Schreiben kreisen, erweisen ihn als Schriftsteller vor der Ausdifferenzierung einer autonomen Literatur in der Klassik u. Romantik. In der Selbstcharakterisierung seines Werks als »Dampfbad der Rührung« u. zugleich »Kühlbad der frostigen Satire« für den Leser (W I, 4, 348) bekennt er sich zum doppelten Ursprung der gesellschaftskrit. Aufklärung u. der die Innerlichkeit kultivierenden Empfindsamkeit, der sich auch im Wechsel der mikroskopischen Alltagsperspektive mit der teleskopischen u. metaphysischen, der satir. Vernichtung mit der erhabenen Verklärung zeigt. Trotz allen Verhaftetseins im Deutschland des Alten Reiches vor 1800, das er minutiös beschreibt, ist J. P. ein moderner Schriftsteller, der die Handlung bewusst durch Digressionen unterbricht, mit der Erzählfigur spielt u. die Autorfunktion in ein Netz von intertextuellen Verweisen auflöst. Das Material der polyhistorischen Exzerpte u. literar. Bausteine wird fast im Sinne eines modernen Hypertextes zu immer neuen Werken zusammengestellt. J. P. stammt von kleinbürgerl. Intellektuellen der provinziellen Markgrafschaft Bayreuth ab, von Pfarrern u. Lehrern, deren dürftige Existenz, aber literar. Interessen, er später in seinen idyllischen Texten (Leben des vergnügten Schulmeisterlein Maria Wutz in Auenthal. Erstmals in Die unsichtbare Loge. Bln. 1793. Leben des Quintus Fixlein. Bayreuth 1796. Der Jubelsenior. Lpz. 1797. Leben Fibels, des Verfassers der Bienrodschen Fibel. Nürnb. 1812) als »Vollglück in der Beschränkung« (W I, 5, 258 f.) mit großer Empathie beschrieb. Sein Vater, Johann Christian Richter (1727–1779), war bei J. P.s Geburt Tertius (dritter Lehrer) u. Organist in dem Fichtelgebirgsstädtchen Wunsiedel, trat aber zwei Jahre später eine Pfarrstelle in dem Dorf Joditz bei Hof an u. wechselte 1776 nach Schwarzenbach/Saale. Hier erlebte J. P. seine Kinderjahre, deren Armut, Enge u. Einfachheit er in der fragmentar. Selberlebensbeschreibung (1818/19) zur Idylle eines naturnahen Lebens verschönt. Sein pedantischer Vater, ein orthodoxer Lutheraner, der ihn anfangs allein unterrichtete, erzeugte in dem sensiblen Knaben Neurosen, die sich später als zwanghafte Stileigentümlichkeiten, literar. Narzissmus u. humoristi-
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sches Rebellionspotenzial äußerten. Die in Schwarzenbach einsetzende obsessive Lektüre entliehener Bücher aus allen Wissensgebieten führte zum lebenslangen Hang des Sammelns von Exzerpten u. deren witziger Übernahme ins Werk. Seine hauptsächlich autodidaktische Bildung wurde nur gelegentlich durch persönl. Anregung gefördert, in Leipzig durch den Philosophieprofessor E. Platner u. später durch den Kontakt mit J. G. Herder u. F. H. Jacobi. Der Tod des Vaters fast gleichzeitig mit dem Besuch des Gymnasiums in Hof 1779/80 bewirkte einschneidende Veränderungen, nämlich die bitterer Armut der Familie mit fünf unmündigen Söhnen, aber auch die Befreiung von der väterl. Autorität u. die Selbstverantwortlichkeit des Autors als ältesten Sohnes. Dieser begann in Hof mit den philosophischen Übungen im Denken (1780/ 81), dem empfindsamen Briefroman Abelard und Heloise in der Nachfolge Werthers u. Siegwarts (1781) u. der Satire Lob der Dummheit nach Erasmus (1781/82) (alle zu Lebzeiten unveröffentlicht) seine vielseitige literar. Tätigkeit. Als vierte typische Schreibweise kommen seit Ende der 1780er Jahre noch die empfindsamen Traumdichtungen hinzu, suggestive Visionen der glückl. Verschmelzung oder der gottfernen Vernichtung. Auf dem Gymnasium lernte J. P. wichtige Freunde kennen wie J. B. Hermann u. Chr. Otto, der ihn als ausgewählter erster Leser u. Kritiker sein Leben lang unterstützte. 1781–1784 studierte er aus Tradition u. Armut ohne großes Interesse Theologie in Leipzig, daneben auch Philosophie, bevor er in einem geborgten Mantel heimlich vor seinen Gläubigern nach Hof zu seiner Mutter fliehen musste. Seine Hoffnung, mit aufklärerischen Satiren gegen menschl. Dummheit u. Laster sowie gegen die Despotie in den Kleinstaaten in der Nachfolge von Swift, Pope, Young, Liscow u. Rabener das mangelnde Geld zu verdienen, schlug letztlich fehl. Von der Fülle der ausgearbeiteten Satiren konnten nur einige in zwei Satirensammlungen (Grönländische Prozesse. an. 2 Bde., Bln. 1783. Auswahl aus des Teufels Papieren. Pseud. J. P. F. Hasus. Gera 1789) u. in Zeitschriften erscheinen. Die zehnjährige in-
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tensive Arbeit in der »satirischen Essigfabrik« brachte ihm kaum literar. Aufmerksamkeit ein, da sich die Form der räsonnierenden Satire überlebt hatte, u. J. P. zudem gegen die aufklärerische Wirkungsabsicht einen schwer verständlichen, witzigen u. metaphernreichen Stil benutzte. Viele der ungedruckten Satiren (z.B. aus der Sammlung Abrakadabra oder die Baierische Kreuzerkomödie. 1789) übernahm er später als Extrablätter u. Nebentexte in seine erzählenden Werke, schrieb aber auch weiterhin vergleichbare gesellschaftskrit. Texte, die ihre Herkunft von der Aufklärung nicht verleugnen. Die frühen Satiren dokumentieren mit dem Thema der fremdgeleiteten seelenlosen Maschine die philosophische Krise, in die J. P. während des Studiums durch die Lektüre frz. Philosophie (neben Rousseau die der materialistischen u. atheistischen wie Descartes, Voltaire, Hélvetius u. La Mettrie) geriet u. die seinen bisherigen Leibniz’schen Optimismus u. heterodoxen Glauben in radikale Skepsis verwandelte. Die Lektüre Kants seit 1786 verschärfte zunächst diese Krise, doch die Kritik der praktischen Vernunft eröffnete mit den Postulaten Gott, Freiheit u. Unsterblichkeit die Möglichkeit der Philosophie des Gefühls u. des Glaubens, wie sie J. P.s Gewährsmann Jacobi entwarf. Zudem gab sie der Dichtung die neue Funktion die lebensnotwendigen Postulate anschaulich u. erstrebenswert zu machen (»es muß ein Gott, eine Tugend und eine Ewigkeit geben« W I, 1, 875). Diese, als »die einzige zweite Welt in der hiesigen« (W I, 5, 30), vertritt die religiöse Transzendenz als moralische Orientierung u. Erbauung. Kants krit. Erkenntnisse über Metaphysik u. Natur bleiben die Basis von J. P.s Überlegungen. Die Kritik Kants bzw. der Kantianer im Kampaner Tal oder über die Unsterblichkeit der Seele (Erfurt 1797) betrifft die Verabsolutierung der krit. Perspektive, die er von Jacobis unmittelbarer Gefühlsgewissheit aus als subjektiven Idealismus u. Nihilismus ansieht. Die Spuren der Krise sind im späteren Werk als Albtraum einer bloß mechan. Existenz u. einer nihilistischen Welt ohne Gott immer gegenwärtig, den J. P. durch den Erweis der Fortdauer eines individuellen Ich ausbalancieren will (vgl.
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sein letztes Werk, Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele, postum 1826). Die Tätigkeit J. P.s als Hauslehrer in Töpen 1787–1789 u. als Lehrer einer Privatschule in Schwarzenbach 1790–1794 erlaubte es ihm, seine pädagog. Interessen zu entwickeln, die sich auch in der Tendenz seiner Romane zur Erziehung niederschlugen. Zugleich bereitete sich der ihm schon lange empfohlene Übergang von der Satire zur erzählenden Prosa durch die kurzen Porträts der »Extreemen Charaktäre« Fälbel, Freudel u. Wutz vor. Die Abkehr von der aggressiven Satire zum empfindsamen u. humorvollen Roman führte J. P. selbst auf eine Vision am 15.11.1790 zurück, die durch mehrere Todesfälle (seines Bruders u. enger Freunde) ausgelöst wurde. »Wichtigster Abend meines Lebens: denn ich empfand den Gedanken des Todes, dass es schlechterdings kein Unterschied ist ob ich morgen oder in 30 Jahren sterbe, das alle Plane u. alles mir davon schwindet u. das ich die armen Menschen lieben sol, die so bald mit ihrem Bisgen Leben niedersinken.« (SW II, 6, 7 f.) Der erste Roman, dem J. P.s Vorbild K. Ph. Moritz zum Druck verhalf, ist die von Erziehungsfragen, gefühlvollen Naturbeschreibungen u. empfindsamen Liebesszenen geprägte Unsichtbare Loge (Bln 1793. Neuausg. mit Fassungen von Klaus Pauler. Mchn. 1981), bei der J. P. erstmals das Pseudonym Jean Paul nach Rousseau verwandte, das in der Folge seinen bürgerl. Namen verdrängte. Das Schwanken des Romans zwischen metaphys. Todeserlebnissen (s. den Untertitel Mumien) u. einer geheimen polit. Verschwörung gegen das feudale System verhinderte die Vollendung des Werks, das 1821 als »geborene Ruine« von J. P. nochmals herausgegeben wurde. 1792, noch vor dem Erscheinen des Fragments, begann dieser seinen zweiten Roman Hesperus 45, oder Hundsposttage (3 Heftlein, Bln. 1795), der ihm in ganz Deutschland die Aufmerksamkeit der Literaten u. die Verehrung von Leserinnen einbrachte u. als einziges Werk drei Auflagen erlebte. Die enge Verbindung von Satire, Humor, philosophischer Reflexion, erhabenem Schauer, empfindsamen Beschreibungen, bürgerl. Sittlichkeit u. revolutionären
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Tendenzen macht ihn zum typischsten Werk J. P.s u. zugleich zum erfolgreichen emotionalen Spiegelbild der Zeit. Der Hesperus ist keine Revolutionsdichtung, die zum polit. Umsturz aufruft, sondern führt letztlich zu einer reformierten Fürstenherrschaft durch einen bürgerlich erzogenen Nachfolger, wie es auch dem histor. Verlauf in Deutschland entsprach. Der revolutionäre Gehalt des Romans liegt in der Entwicklung u. Propagierung bürgerl. Werte, die auf den privaten Beziehungen der Familie, Freundschaft u. Liebe beruhen, aber in die polit. Sphäre ausstrahlen u. die egoistische, absolutistische Geheimpolitik dem Prinzip von Tugend u. Öffentlichkeit unterwerfen. Vorbereitet war die schwärmerische Seite des Romans, bes. die von den Leserinnen bevorzugten Liebesszenen, durch die »erotische Akademie«, einen gefühlsintensiven Freundschafts- u. Flirtzirkel junger Männer u. Frauen in Hof seit 1790, in dem der mittellose »Kandidat J. P.« die Sublimierung seiner Sexualität in empfindsamer Kommunikation u. literar. Verinnerlichung als Kompensation fehlender Praxis lernte. Sebastian Viktor, der Held des Hesperus, realisiert als Abbild des Autors, der schon aus finanziellen Gründen nicht heiraten konnte u. es nur zu zwei kurzfristigen Verlobungen brachte, ebenfalls eine platonische »Tutti- und Simultanliebe«, bevor der Weg zur idealisierten, adligen Klothilde frei wird. Der damals übliche schwärmerische Freundschaftskult hat hier u. in anderen Werken seine Spuren hinterlassen. Bevor J. P. schließlich der Einladung Charlotte von Kalbs nach Weimar folgte, um den öffentl. Ruhm zu genießen sowie die persönl. Bekanntschaft der wichtigsten dt. Literaten zu machen u. neue Lebenserfahrungen zu sammeln, schrieb er Jean Paul’s biographische Belustigungen unter der Hirnschale einer Riesin (Bln. 1796), eine fragmentar. Erzählung aus der Zeit der Französischen Revolution, u. den idyllischen Kurzroman Quintus Fixlein über einen schrulligen Lehrer, der durch unwahrscheinl. Zufälle eine Pfarrstelle u. eine adlige Frau bekommt. Dazu entstand sein zweites typisches Werk, der Eheroman Blumen- Frucht- u. Dornenstücke oder Ehestand, Tod u. Hochzeit des Armenadvokaten F.
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St. Siebenkäs, kurz Siebenkäs genannt (3 Bde., Bln 1796/7. Neuausg. mit Fassungen von K. Pauler. Mchn. 1991), der ausschließlich im kleinbürgerl. Millieu, bes. der Intellektuellen des »Reichsmarktflecken Kuhschnappel«, spielt. Die Zerrüttung der von Armut u. Misstrauen bedrohten Ehe zwischen den unverträgl. Partnern Siebenkäs u. Lenette u. ihre Auflösung durch den Scheintod des Mannes, der die Perspektive seiner zweiten Ehe eröffnet, wird in den Dornenstücken beschrieben; die Traumvisionen, die Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei, u. der Traum im Traum bilden die Blumenstücke. Der Siebenkäs stellt in seiner psycholog. u. soziolog. Darstellung der dt. Misere in der Provinz den Beginn einer wirklichkeitsbezogenen u. engagierten Literatur in Deutschland dar, welche den kom. Roman der Aufklärung fortsetzt u. dem Jungen Deutschland u. dem Realismus vorarbeitet. Beim Besuch in Weimar wurde J. P. vom dortigen Hof u. von allen geistigen Größen mit Interesse u. teilweise auch mit Begeisterung empfangen. Er wurde aber sofort in die Parteiungen hineingezogen u. von den Klassikern Goethe u. Schiller, die in den »Horen« gerade Bildung statt Revolution propagierten, eher kritisch beurteilt, während sich J. P. selbst zur antiklass. u. republikan. Partei Herders u. Wielands schlug. J. P.s Distanz zum Kunstprogramm der Klassik drückte sich in der Geschichte meiner zweiten Vorrede zum Quintus Fixlein (Bayreuth 1797) in der Polemik gegen den fiktiven Kunstrat Fraischdörfer aus, der die Wirklichkeit zu Gunsten der ästhetischen Wirkung u. den Gehalt der Dichtung zu Gunsten der Form aufgibt. Ähnlich sollen im Titan (4 Bde., Bln. 1800–1803), der seit 1792 unter dem Titel Das Genie als Künstlerroman geplant war, die geistigen u. sittl. Auswüchse der Zeit getroffen werden, v. a. in der Figur Roquairol die ästhetizistischen Tendenzen der Klassik u. Romantik. In diesem in Konkurrenz zu Goethes Wilhelm Meister geplanten Text steht J. P. dessen prakt. Kunstwollen recht nah, aber er ergänzt den Bildungsroman durch die polit. Dimension der Absolutismuskritik u. eines verborgenen Thronfolgers, der zum idealen Reformfürsten erzogen wird.
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J. P.s Übereinstimmung mit der Romantik ist v. a. in der zentralen Rolle der Fantasie zu spüren, wie sie in der Natürlichen Magie der Einbildungskraft als Beilage zum Quintus Fixlein beschrieben wird, u. ebenso in der Ähnlichkeit von J. P.s Humorbegriff mit der romant. Ironie. Trotzdem kritisiert er in der 2. Aufl. der Vorschule der Ästhetik (Bln. 1813. 1. Aufl. Hbg. 1804) ein Zerrbild der Romantiker, die »poetischen Nihilisten«, deren Kunst keine Grundlage hat. Die Dichtung soll sowohl der Realität als auch der Transzendenz Rechnung tragen. Die von Jacobi gestützte Kritik an Fichtes Idealismus in der Clavis fichteana, seu leibgeberiana (Erfurt 1800) trifft auch die solipsistischen Gefahren eines extremen Subjektivismus der Frühromantik. Mit dem Tod der Mutter 1797 erfolgt ein entscheidender Einschnitt in J. P. Lebensweise, denn er verlässt Hof auf der Suche nach einem anregenderen Wohnort u. einer Ehefrau (s. Jean Pauls Briefe und bevorstehender Lebenslauf. Gera/Lpz. 1797, worin J. P. schon sein zukünftiges fiktives Eheleben beschrieb). Die Stationen seines Wanderlebens sind Leipzig (1797/98), Weimar (1798–1800) u. Berlin (1800/1801), wobei er die Romantiker Novalis, Tieck, F. u. A. W. Schlegel u. die Philosophen Fichte, Schelling u. Schleiermacher kennen lernt. Über Meiningen (1801–1803) u. Coburg (1803/04) gelangt er nach seiner Heirat schließlich für den Rest seines Lebens nach Bayreuth, das ihm schon früher als die bessere Alternative zum heimatl. Hof erschien. Die »lange Treppe zum Ehebett« führte über die Liebeleien mit adligen Verehrerinnen wie Ch. von Kalb, E. von Berlepsch, der er sogar ein Eheversprechen gegeben hatte, u. K. von Feuchtersleben, mit der er verlobt war, schließlich zur bürgerl. Karoline Mayer. Das Hauptinteresse während dieser Jahre galt dem »General- und Kardinalroman« Titan, in dem J. P. wie in der Unsichtbaren Loge u. dem Hesperus Motive des Schauer- u. Geheimbundromans verwandte. In den höfischen u. intellektuellen Millieus seiner langen Reisezeit sammelte er konkrete Erfahrungen über das Hofleben, adlige Damen u. die aktuellen Trends der Klassik u. Romantik. Zugleich war er ein aufmerksamer Beobach-
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ter der Fortsetzung der Französischen Revolution, an welcher der Held des Romans teilnehmen möchte, so dass dieser auch ein Zeitroman ist, in dem sich J. P. mit seinen zerstörerischen Realitätserfahrungen auseinander setzt. Damit wird der »Büchervampyr« auch zu einer Art Gefühlsvampir, der seine vielfältigen Flirterfahrungen bes. mit Ch. von Kalb kaum verhüllt in die Handlung einbringt. Die Öffentlichkeit zeigte kaum Interesse an diesem Roman, obwohl J. P. seinen Kritikern nachgab, sich eines objektiven Erzählens befleißigte u. alle Abschweifungen in den Komischen Anhang zum Titan (2 Bde., Bln. 1800/1801) verbannte, der mit Des Luftschiffers Giannozzo Seebuch seine beste u. direkteste satir. Erzählung enthält. Danach schrieb J. P. die Flegeljahre (fragm. 4 Bde., 1804/1805), die eine Rückkehr ins kleinbürgerl. Milieu u. in die heimische Landschaft bedeuten. Hier kommt J. P. der Romantik am nächsten, parodiert aber deren Selbstreflexion der Literatur, indem die Hauptfiguren, die Zwillingsbrüder Walt u. Vult, einen J. P.schen Doppelroman mit dem Titel »Hoppelpoppel oder das Herz« schreiben. Ebenso wird die bodenlose romant. Fantasie in der Gestalt des weltfernen Dichters Walt kritisiert. Fast gleichzeitig entsteht die Vorschule der Ästhetik, in der J. P. als einziger Autor der Goethezeit seine ästhetische Position in Bezug auf alle wichtigen Schriftsteller seit der Aufklärung erläutert u. zgl. in den Kapiteln über den Witz u. Humor einen Schlüssel zu seinen eigenen Werken gibt. Ästhetische u. poetolog. Fragen hat J. P. außerdem in den oft mehrfachen Vorreden zu seinen größeren Werken erörtert, die mit der Autor- u. Erzählerrolle spielen. J. P. führte in Bayreuth mit seiner Ehefrau u. drei Kindern ein häusl. Leben, das ihn zum Ideal eines biedermeierl. Dichters machte, zumal der Autor nach 1809 in der Rollwenzelei, einem Gasthof im Grünen, einen eigenen Arbeitsplatz hatte, an dem er seine zahlreichen, auch ratsuchenden Verehrer empfing. Bayreuth verließ er nur noch zu einigen kurzen Reisen nach Süddeutschland, bei denen er 1817 in Heidelberg die Ehrendoktorwürde auf Vorschlag Hegels bekam. Nach der Desillusionierung der Romantik in den Fle-
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geljahren entstanden satir. Werke über Narren u. Käuze wie Des Feldpredigers Schmelzle Reise nach Flätz (Tüb. 1809) u. Dr. Katzenbergers Badereise (Heidelb. 1809), die idyllisierende Rekonstruktion des legendenhaften Lebens des Erfinders des ABC-Buches als Voraussetzung jeden Schreibens, Fibel (Nürnb. 1812). Aber er verfasste auch die pädagog. Abhandlung Levana oder Erziehlehre (Braunschw. 1807), die ihm viel Anerkennung einbrachte. Daneben schrieb er zahlreiche polit. Schriften, die seine Rolle als dichterisches Gewissen der Nation verstärkten, obwohl sie stärker metaphorisch u. dichterisch als konkret politisch sowie mehr kosmopolitisch als nationalistisch waren: Jean Paul’s Freiheits-Büchlein (Tüb. 1805) gegen die Zensur, Friedens-Predigt an Deutschland (Heidelb. 1808. Neudr. hg. Armin Schlechter. Heidelb. 2008) u. Dämmerungen für Deutschland (Tüb. 1809) zu Napoleon, Mars und Phöbus. Thronwechsel im Jahre 1814 (Tüb. 1814) u. Politische Fastenpredigten während Deutschlands Marterwoche (Stgt./Tüb. 1817) zu den Befreiungskriegen. Daneben verfasste J. P. zahlreiche publizistische Beiträge in verschiedenen Zeitschriften, nämlich wissenschaftl. Aufsätze, poetische Berachtungen wie Über das Immergrün unserer Gefühle u. Rezensionen. Gegen Ende seines Lebens erschien der seit 1806 geplante große Zeitroman Der Komet, oder Nikolaus Markgraf (fragm., 2 Bde., Bln. 1820–22), der selbstkritisch die dichterische Fantasie als illusionistisch entlarvte u. zugleich die Gesellschaft der Restaurationszeit kritisierte. J. P.s Zeitgenossen beklagten neben seinem Hang zur Satire u. Digression seine Unfähigkeit, eine Geschichte gut zu erzählen (F. Schlegel), sowie das »kunterbunte Durcheinanderwürfeln von Gegenständen, deren Beziehung etwas durchaus Subjektives ist« (Hegel). Tatsächlich erzählt er in seinen Werken keine lineare Geschichte, wenn auch die Forschungsmeinung falsch ist, dass die Handlung unwichtig sei, da sie meist viel genauer motiviert ist als bei anderen Autoren der Zeit. Nach dem Vorbild der engl. u. dt. Autoren des 18. Jh., Sterne, Fielding, Smollet, Wieland u. Hippel, spielt sich der Erzähler mit subjektiven Kommentaren u. witzigen Metaphern in den Vordergrund u. nimmt
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darüber hinaus als Figur »Jean Paul« an der Handlung teil. Der Erzähler thematisiert zudem seine Rolle, indem er bes. im Hesperus u. im Titan vom Empfang des nötigen Materials der Geschichte u. von seinem Tun berichtet. In der Selbstreflexion des Erzählers u. der Problematisierung der Handlungswiedergabe nähert sich J. P. dem Roman des 20. Jh. ebenso wie durch die Vermischung der Texte u. Überschreitung der Genres, die Vielfalt der Schreibweisen u. Stimmen u. das große Maß an Intertextualität. Als einziger Autor erfüllte er das radikale Projekt eines modernen, romant. Romans, wie es F. Schlegel im Verweis auf ihn im Gespräch über die Poesie skizzierte. Doch folgt daraus nicht ein souveräner »Generalautor« (Lindner) oder eine »Integrations-Instanz« (Wölfel), sondern eine eher gebrochene Erzählerfunktion, welche die einzelnen Handlungsmomente mit dem polyhistorischen, aber dekontextualisierten Wissen der zeitgenöss. Diskurse vermittelt oder auch nur nach einem aleatorischen Kombinationsprinzip abwechseln lässt. Damit wird in der Zeit ihres höchsten Ansehens sowohl die Autorrolle als auch die Subjektivität des Individuums zgl. demonstriert wie in Frage gestellt. Die lebenslang gesammelten Exzerpte u. die vielfältigen Bemühungen, diese durch Register verwendbar zu machen, sowie die Notizen für »Bausteine« der Handlung, für »Satiren« u. »Gedanken« zeigen die fakt. Abhängigkeit des Erzählers von der Lektüre u. dem Wissen der anderen sowie die Professionalität der Schriftstellers, der es als Erster notgedrungen gewagt hat, als freier Autor zu leben. Dabei darf nicht vergessen werden, dass er seit 1809 einen Ehrensold von einem Fürsten bezog. Modern ist J. P. auch im Hang zur Verschriftlichung des Lebens u. im Gebrauch des Mediums der Schrift, das an heutige Möglichkeiten des Computers erinnert. Seine Schreibweise führt kaum zu abgeschlossenen Werken, sondern schafft ein dynam. Ensemble, das von einem Netz aus wiederkehrenden Figuren, Motiven u. Bildern durchzogen ist. Das nicht realisierte späte Projekt des Papierdrachens sollte einen offenen Text vorstellen, an dem auch der Leser mitwirken könnte.
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J. P. ist ein Autor, der bis heute die Leser in begeisterte u. desinteressierte polarisiert. Erstere genossen die ozeanischen Gefühle der Natur- u. Liebesszenen oder den scharfen Witz u. die originellen Vergleiche u. Metaphern. Letztere fühlten sich von dem komplizierten Stil u. dem ständigen Wechsel der Perspektive überfordert. Deshalb war auch der Hesperus keine Massenlektüre, sondern nur die einer gebildeten Oberschicht. Später war J. P.s Ansehen weiterhin groß, seine Leserschaft aber geringer. Sein Einfluss machte sich bes. zwischen 1800 u. 1850 bei Schriftstellern geltend, am stärksten in Klingemanns Nachtwachen des Bonaventura 1805 u. bei E. T. A. Hoffmann. Die Romantiker Fouqué, Kerner u. Hauff übernahmen wie dieser das Doppelgängermotiv. Sein Stil u. seine polit. Tendenz waren Vorbild für Heine, Büchner u. die Jungdeutschen Börne u. Gutzkow, seine Themen für die Autoren des Biedermeier Waiblinger, Mörike u. Immermann. Die Realisten Stifter u. Keller wechseln nach einer subjektivierenden J. P.-Nachahmung zu einer objektivierenden GoetheNachfolge. Sein Humorbegriff wurde von dem Theoretiker Vischer u. den Romanciers Raabe u. Fontane fortgeführt. Einen Tiefpunkt erreichte das Ansehen J. P.s bei Nietzsche, der ihn 1879 ein »Verhängnis im Schlafrock« nannte, weil er offensichtlich das biedermeierl. Bild des Autors vor Augen hatte. Seine Wiederentdeckung im 20. Jh. ging von St. Georges Anthologie bildhafter Träume u. empfindsamer Landschafts- u. Seelengemälde aus. Nach Hofmannsthal u. Hesse finden sich in der zweiten Hälfte des 20. Jh. wieder viele Verehrer J. P.s unter Autoren wie A. Schmidt, P. Celan, G. Grass, F. R. Fries, G. de Bruyn u. H.-J. Ortheil. Nach den Biografien aus dem familiären Umkreis im 19. Jh. begann eine umfangreichere Forschung über J. P. erst in den zwanziger Jahren zusammen mit der Arbeit an der historisch-krit. Ausgabe E. Berends. Doch erst die Miller’sche Ausgabe seit 1959, bes. die parallele Taschenbuchausgabe 1975, führte in Verbindung mit dem verbreiteten Interesse an aufklärerischer u. engagierter Literatur zu einer kontinuierlichen u. spezialisierten wissenschaftl. Beschäftigung mit J. P.s Werk bis
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heute, die von einer breiteren Rezeption des Schriftstellers getragen ist (1950 wurde die J. P.-Gesellschaft neu gegründet, die seit 1966 ein Jahrbuch herausgibt). Die Erschließung des in der Preußischen Staatsbibliothek gesammelten Nachlasses u. die Arbeit der J. P. Forschungsstelle in Würzburg erlaubten die aktuelle Fortsetzung der Akademieausgabe mit Nachlassbänden u. Briefen an den Autor. Geplant sind auch neue Editionen der zentralen Texte J. P.s (Hesperus, Siebenkäs, Titan, Vorschule, Komet), mit denen unter modernen Gesichtspunkten der Edition ein Blick in seine produktive Werkstatt u. die Intertextualität seines dynam. Werks möglich wird. Weitere Werke: Gesamtausgaben: Sämmtl. Werke. Hg. Richard Otto Spazier u. Ernst Förster. 65 Bde., Bln. 1826–38 (Reimer’sche Ausg.). 33 Bde., 1840–42. 34 Bde., 31860–62. – Werke. 60 Tle., Bln. 1868–79 (Hempel’sche Ausg.). – Sämtl. Werke. Hist.-krit. Ausg. Hg. Preuß. (Dt.) Akademie der Wiss.en (zit. SW Abt., Bd., S.). Abt. 1: Zu Lebzeiten des Dichters ersch. Werke. 19 Bde., Weimar 1927–44. Abt. 2: Nachl. Bisher 8 Bde., Weimar 1928–36, 1996–2000. Abt. 3: Briefe. 9 Bde., Bln. 1956–64. Abt. 4: Briefe an J. P. Bisher 2 Bde., 1781–97. Neudr. Lpz. 1975 ff. – Werke [seit 1974: Sämtl. Werke]. Mchn. 1959–85 (Hanser-Ausg., zit. W). Abt. 1: E.en u. theoret. Werke. 6 Bde. Abt. 2: Jugendwerke u. Vermischte Schr.en. 4 Bde. – Briefe: Briefw. mit seinem Freunde Christian Otto. Hg. Ernst Förster. 4 Bde., Bln. 1829–33. Neudr. Bln./ New York 1978. – Denkwürdigkeiten aus dem Leben v. J. P. F. R. Hg. E. Förster. 4 Bde., Mchn. 1863. – Briefw. mit seiner Frau u. Christian Otto. Hg. Paul Nerrlich. Bln. 1902. – SW. Abt. 3. – Dorothea Berger: J. P. u. Frau v. Krüdener [...]. Wiesb. 1957. – J. P. u. Herder. Der Briefw. J. P. u. Karoline Richters mit Herder u. der Herderschen Familie 1785–1804. Hg. Paul Stapf. Bern/Mchn. 1959. – Weitere Werke: Palingenesien. Lpz./Gera 1798. – Das heiml. Klaglied der jetzigen Männer. Die wunderbare Gesellsch. in der Neujahrsnacht. Bremen 1801. – Ergänzungsblatt zur Levana. Braunschw. 1807. – Herbstblumine oder ges. Werckchen aus Ztschr.en. 3 Bde., Tüb. 1810–20. – Museum. Stgt./Tüb. 1814. – Über die dt. Doppelwörter. Eine grammat. Unters. Stgt./Tüb. 1820. – Kleine Bücherschau. Ges. Vorreden u. Rez.en. Breslau 1825. – Ideen-Gewimmel. Texte & Aufzeichnungen aus dem unveröffentlichten Nachl. Hg. Thomas Wirtz u. Kurt Wölfel. Mchn. 2000. Literatur: Bibliografien: Eduard Berend: J.-P: Bibliogr. Neubearb. u. erg. v. Johannes Krogoll.
123 Stgt. 1963. – Eike Fuhrmann: 1963–65. In: Jb. der J.-P.-Gesellsch. 1 (1966), S. 163–179. – Renate Merswald: 1966–69. In: ebd. 5 (1970), S. 185–219. – Sabine Müller: 1970–83. In: ebd. 19 (1984), S. 137–205. – Thomas Wirtz: 1984–91. In: ebd. 28 (1993), S. 175–234. – Forschungsberichte: E. Berend: Prolegomena zur hist.-krit. Gesamtausg. v. J. P.s Werken. Bln. 1927. – J. Krogoll: Probleme u. Problematik der J.-P.-Forsch. 1936–67. In: JbFDH (1968), S. 425–523. – Uwe Schweikert. J. P. Stgt. 1970. – Sammelbände: Festg. für E. Berend [...]. Hg. Hans Werner Seiffert u. Bernhard Zeller. Weimar 1959. – J. P. Hg. U. Schweikert. Darmst. 1974. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): J. P. Mchn. 1983. – Kurt Wölfel: J. P.-Studien, Ffm. 1989. – Götz Müller: Ges. Aufsätze. Hg. Wolfgang Riedel. Würzb. 1996. – Geneviève Espagne u. Christian Helmreich (Hg.): Schrift- u. Schreibspiele. J. P.s Arbeit am Text. Würzb. 2002. – Periodika: J.-P.-Jb. nur Bd. 1. Hg. E. Berend. Bln. 1925. – J.-P.-Bl. Hg. J.-P.-Gesellsch. 1–19 (1926–44). – Hesperus. Bl. der J.-P.-Gesellsch. 1–30 (1951–66). – Jb. der J.-P.-Gesellsch. Hg. K. Wölfel. Bayreuth (ab Bd. 2:) Mchn. 1966 ff. – Gesamtdarstellungen, Biografien: Richard Otto Spazier: J. P. F. R. in seinen letzten Tagen u. im Tode. Breslau 1826. – Ders.: J. P. F. R. Ein biogr. Commentar zu dessen Werken. 5 Bde., Lpz. 1833–40. – Paul Nerrlich: J. P. u. seine Zeitgenossen. Bln. 1876. – Ders.: J. P. Sein Leben u. seine Werke. Bln. 1889. – Walther Harich: J. P. Lpz. 1925. – Max Kommerell: J. P. Ffm. 1933. 51977. – E. Berend (Hg.): J. P.s Persönlichkeit in Ber.en der Zeitgenossen. Bln./DDR, Weimar 1956. Weimar 22001. – Friedhelm Kemp, Norbert Miller u. Georg Philipp: J. P. Werk, Leben, Wirkung. Mchn. 1963. – Günter de Bruyn: Das Leben des J. P. F. R. Halle 1975. Ffm. 1976. – U. Schweikert, Wilhelm Schmidt-Biggemann u. Gabriele Schweikert: J. P. Chronik. Daten zu Leben u. Werk. Mchn./Wien 1977. – Hanns-Joseph Ortheil: J. P. Reinb. 1984. – Alain Montandon: J. P. romancier. Adosa 1987. – K. Wölfel: J.-P.-Studien. Ffm. 1989. – Gert Ueding: J. P. Mchn. 1993. – Gustav Lohmann: J. P. Entwicklung zum Dichter. Würzb. 1999. – G. Espagne: Les années de voyage de J. P. Richter. Biogr. d’une fin de siècle en Allemagne. Paris 2002. – Das Frühwerk: Ferdinand Josef Schneider: J. P.s Jugend u. erstes Auftreten in der Lit. Bln. 1905. – W. Schmidt-Biggemann: Maschine u. Teufel. J. P.s Jugendsatiren nach ihrer Modellgesch. Freib. i. Br./Mchn. 1975. – Wulf Köpke: Erfolglosigkeit. Zum Frühwerk J. P.s. Mchn. 1977. – Engelhard Weigl: Aufklärung u. Skeptizismus. Untersuchungen zu J. P.s Frühwerk. Hildesh. 1980. – Philosophie, Theologie, Politik: Walther Rehm: J. P. – Dostojewski. Eine Studie zu dichter. Gestaltung des Unglaubens. Gött. 1962. –
Jean Paul Wolfgang Harich: J. P.s Kritik des philosoph. Egoismus. Ffm. 1968. – Dorothee Sölle: Transzendenz u. Weltveränderung bei J. P. In: Dies.: Realisation. Studien zum Verhältnis v. Theologie u. Dichtung nach der Aufklärung. Neuwied 1973, S. 168–280. – W. Harich: J. P.s Revolutionsdichtung Bln./DDR u. Reinb. 1974. – Ursula Naumann: Predigende Poesie. Zur Bedeutung v. Predigt, geistl. Rede u. Predigertum für das Werk J. P.s. Nürnb. 1976. – Heidemarie Bade: J. P.s polit. Schr.en. Tüb. 1974. – Wolfgang Proß: J. P.s geschichtl. Stellung. Tüb. 1975. – Peter Sprengel: Innerlichkeit. J. P. oder das Leiden an der Gesellsch. Mchn. 1977. – Albrecht Decke-Cornill: Vernichtung u. Selbstbehauptung. Eine Untersuchung zur Selbstbewußtseinsproblematik bei J. P. Würzb. 1987. – Hans Esselborn: Das Universum der Bilder. Die Naturwiss. in den Schr.en J. P.s. Tüb. 1989. – Elsbeth Dangel-Pelloquin: Eigensinnige Geschöpfe. Freib. i. Br. 1999. – Sabine Eickenrodt: Augenspiel. J. P.s opt. Metaphorik der Unsterblichkeit. Gött. 2006. – Paul Fleming: The Pleasures of Abandonment. Würzb. 2006. – Ästhetik, Erzählen: E. Berend: J. P.s Ästhetik. Bln. 1909. Neudr. Hildesh. 1978. – Günther Voigt: Die humorist. Figur bei J. P. Halle 1934. Mchn. 1969. – Wolfdietrich Rasch: Die Erzählweise J. P.s. Mchn. 1961. – J. Krogoll: Idylle u. Idyllik bei J. P. Diss. Hbg. 1968. – Heinrich Bosse: Theorie u. Praxis bei J. P. § 74 der Vorschule d. Ästhetik u. J. P.s erzähler. Technik, bes. im Titan. Bonn 1970. – Burkhardt Lindner: J. P.s scheiternde Aufklärung u. Autorrolle. Darmst. 1976. – Volker Ulrich Müller: Narrenfreiheit u. Selbstbehauptung. Spielräume des Humors im Werk J. P.s. Stgt. 1979. – RalphRainer Wuthenow: Im Buch die Bücher oder der Held als Leser. Ffm. 1980. – Götz Müller: J. P.s Ästhetik u. Naturphilosophie. Tüb. 1983. – Monika Schmitz-Emans: Schnupftuchsknoten oder Sternbild. J. P.s Ansätze zu einer Theorie der Sprache. Bonn 1986. – Götz Müller: J. P.s Exzerpte. Würzb. 1988. – Rüdiger Zymner: Manierismus. Paderb. u. a. 1995. – Andreas Erb: Schreib-Arbeit. J. P.s Erzählen als Inszenierung ›freier‹ Autorschaft. Wiesb. 1996. – Christian Helmreich: J. P. & le métier littéraire. Théorie et pratique du roman à la fin du XVIIIe siècle allemand. Tusson 1999. – Ralf Berhorst: Anamorphosen der Zeit. Tüb. 2002. – Wirkungen, Einflüsse: M. Kommerell: J. P.s Verhältnis zu Rousseau. Marburg 1924. Neudr. New York/ London 1969. – Paul Stapf: J. P. u. Stifter. Bln. 1939. Neudr. Nendeln 1967. – Peter Michelsen: Laurence Sterne u. der dt. Roman des 18. Jh. Gött. 1962. 21972. – K. Wölfel (Hg.): Slg. der zeitgenöss. Rez.en v. J. P.s Werken. 3 Bde., Mchn. 1978–83. – P. Sprengel (Hg.): J. P. im Urteil seiner Kritiker. Mchn. 1980. – Zu einzelnen Werken: Karl Freye: J. P.s Fle-
Jeep geljahre. Bln. 1907. Neudr. New York/London 1967. – Richard Rohde: J. P.s Titan. Bln. 1920. – Hans Bach: J. P.s Hesperus. Lpz. 1929. – Kurt Schreinert: J. P.s ›Siebenkäs‹. Weimar 1929. – Peter Horst Neumann: J. P.s Flegeljahre. Gött. 1966. – U. Schweikert: J. P.s ›Komet‹. Selbstparodie der Kunst. Stgt. 1971. – Dorothee Hedinger-Fröhner: J. P. Der utop. Gehalt des Hesperus. Bonn 1977. – Joachim Campe: Der programmat. Roman. Von Wielands ›Agathon‹ zu J. P.s ›Hesperus‹. Bonn 1979. – Harry Verschuren: J. P.s ›Hesperus‹ u. das zeitgenöss. Lesepublikum. Assen 1980. – Werner Zimmermann: J. P.s ›Siebenkäs‹. Frauenbild u. Geschlechterkonstellation. Freib. i. Br. 1982. – Carl Pietzcker: Einf. in die Psychoanalyse des literar. Kunstwerks am Beispiel v. J. P.s ›Rede des toten Christus‹. Würzb. 1983. – Julia Bobsin: Von der WertherKrise zur Lucinde-Liebe. Studien zur Liebessemantik in der dt. Erzählliteratur 1770–1800. Tüb. 1994. – Heike Döll: Rollenspiel u. Selbstinszenierung. Zur Modellfunktion des Theaters in J. P.s ›Titan‹ u. ›Komet‹. Ffm 1995. – Jochen Golz: Welt u. Gegen-Welt in J. P.s ›Titan‹. Stgt./Weimar 1996. Hans Esselborn
Jeep, Jepp, Johann(es), * um 1582 Dransfeld bei Göttingen, † 19.11.1644 Hanau. – Komponist u. Liederdichter.
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Neben ihrer deutl. Nähe zum Haßler’schen Lied ist das hervorstechendste Merkmal der J.schen Lieder die Einheit von Text u. Musik. Gründe dafür sind zum einen der schlichte u. volkstüml. Charakter der Textschöpfungen J.s sowie zum anderen dessen großes Geschick, diese wortgerecht (z.B. durch rhythmisch aufgelockerte Melodieführung) in Musik zu setzen. Obwohl J.s Liedsammlungen bereits zu seinen Lebzeiten zahlreiche Auflagen erfuhren u. von berühmteren Komponistenkollegen (Johann Hermann Schein, Johann Rosenmüller) durchaus geschätzt wurden, wirkten sie kaum über ihre Zeit hinaus. Weitere Werke: Geistl. Psalmen u. Kirchengesäng [...]. Nürnb. 1609. 1629. – Studentengärtleins ander Theil neuer lustiger weltl. Liedlein. Nürnb. 1614. 31622. – Andächtigs Bettbüchlein. Nürnb. 1631. Ausgabe: Studentengärtlein. Nürnb. 1613 f. Nachdr. Stgt. 1997. Literatur: Philipp Böhm: Christl. Leich-Predigt bey ansehnl. Leichlegung u. Begräbniß [...] v. J. Jeppen. Hanau 1645. – Robert Eitner: J. J. In: ADB. – Wilfried Brennecke: J. J. In: MGG. – Ders.: J. J. In: NDB. – J. J. 400-Jahrfeier, 1582–1982. Hg. Friedel Rehkop. Dransfeld 1982. – HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 1441 f. – Thomas Röder: J. J. In: MGG, 2. Aufl. (Pers.). – Bernhard Hemmerle: J. J. In: Bautz, Bd. 26 (2006), Sp. 727–731. Rainer Wolf / Red.
J. besuchte die Lateinschule in Göttingen, dann in Celle, wo er über vier Jahre Sängerknabe der Hofkapelle war. Wahrscheinlich bereits kurz nach 1600 gelangte er nach Nürnberg. Dort erschien 1605 sein komposiJehoschua. – Zwei jiddische Bearbeituntor. wie literar. Hauptwerk Studentengärtleins gen des biblischen Buches Josua, 15. u. 16. erster Theil neuer lustiger weltlicher Liedlein Jh. 7 ( 1626. Neuausg. Hg. Rudolf Gerber. 2 Tle., Wolfenb. 1958). 1611–1613 führten ihn Rei- Beide Werke gehören der erfolgreichsten sen nach Frankreich u. Italien. Zurückge- Gattung der altjidd. Erzählliteratur, der kehrt, erhielt er Ende 1613 eine Anstellung stroph. Bibeldichtung, an, deren Autoren ihals Kapellmeister, Organist u. Rentereibeam- rem Publikum die bibl. Erzählungen naheter am Hof der Grafen zu Hohenlohe in zubringen versuchten, indem sie sie mit talWeikersheim. Nach der Nördlinger Schlacht mudischen u. midraschischen (d.h. der jüd. (1634) verschlug es ihn nach Frankfurt/M., exegetischen u. paränetischen Literatur entdessen Rat ihn am 30.1.1637 als Organisten stammenden) Legenden ausschmückten u. an den Dom berief. 1640 jedoch verließ J., sich dabei der Formen u. Stilmittel der mhd. von den Arbeitsbedingungen enttäuscht, die Heldenepik bedienten. Stadt; seine letzte Anstellung als KapellDie ältere Bearbeitung, entstanden wohl im meister fand er schließlich im Jan. 1642 am 15. Jh., aufgezeichnet 1510/11 in Italien Hof des Grafen Johann Ernst in Hanau, wo er (heute: Parma, Biblioteca Palatina, Ms. Parm trotz seines luth. Glaubens bis zu seinem Tod 2513, fol. 129v-155r, unediert), umfasst 231 auch das Amt des Organisten an St. Marien Strophen. Sie beschränkt sich weitgehend auf innehatte. die Nacherzählung der bibl. Handlung; die
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wenigen Zusätze sind der traditionellen jüd. Exegese, meist Raschi, entnommen. Die Strophenform (vier paarweise gereimte Langzeilen mit Mittelzäsur) entspricht dem Hildebrandston der mhd. Dichtung. Das Epos ist offenbar zum Vortrag bestimmt gewesen; man findet mehrfach Anreden an ein Publikum. Der Autor ist, wie bei fast allen Werken dieser Gattung, nicht bekannt. Eine jüngere Bearbeitung von 340 Strophen wurde 1594 (wahrscheinlich als Nachdruck) bei lsaak ben Aaron Prostitz in Krakau gedruckt (Unikum, heute: Bodleiana Oxford). Sie enthält zahlreiche legendenhafte Erweiterungen der bibl. Handlung sowie Aktualisierungen u. Interpretationen des Autors. Die Strophenform (vier paarweise gereimte Langzeilen mit Binnenreim), im Vorwort als »Achtgesetz« bezeichnet, entspricht der Heunenweise der mhd. Dichtung. Als Autor kommt möglicherweise Jakob zu der Kannen in Frage, der 1564 in Mantua eine Bearbeitung des bibl. Buches Richter, ebenfalls im »Achtgesetz«, zum Druck gebracht hat. Das ältere Epos steht im Erzählstil, allerdings weniger in der literar. Qualität, dem Schmuelbuch nahe, das als der bedeutendste Vertreter dieser Gattung gilt. Die jüngere, zwar selbstständige, aber wohl nicht ohne Kenntnis der älteren entstandene Fassung gehorcht deutlich dem Zwang, durch Aufschwellung seine Vorgänger überbieten zu müssen – eine Erscheinung, die auch sonst in der späteren Phase der jidd. Bibeldichtung (im 16. u. 17. Jh.) bekannt ist.
Heimatstadt begann J. ein Jurastudium u. trat 1804 mit der gemeinsam mit seinem Vater verfassten volkshygien. Schrift Die KuhPockenimpfung u. einem Gelegenheitsgedicht Seiner Majestät Franz dem Zweiten an die Öffentlichkeit. Sein literar. Mentor wurde August Gottlieb Meißner, der in Prag Ästhetik u. klass. Literatur dozierte. Aus berufl. Gründen übersiedelte J. nach Wien, wo er Gesellschafter eines Handelshauses wurde; 1825 heiratete er Fanni Barach. Nebenbei entwickelte er eine rege Tätigkeit als Journalist; er verfasste mehrere hundert, nie gesammelt erschienene Beiträge für Wiener Zeitschriften u. Taschenbücher, aber auch für dt. Journale. Gemeinsam mit seinem Vetter, dem Brünner Arzt u. Lustspieldichter Alois Jeitteles, redigierte er »Siona, encyklopädisches Wochenblatt für Israeliten« (Wien 1819). Zählen seine Journalbeiträge durchaus zur kritisch-pamphletist. Broschüren- u. Zeitschriftenliteratur des österr. Vormärz, so erweist J. sich in seiner Kunstauffassung als konservativer Theoretiker der Restauration. Sein Hauptwerk Ästhetisches Lexikon. Ein alphabetisches Handbuch zur Theorie der Philosophie des Schönen und der schönen Künste (2 Bde., Wien 1835/36. Neudr. Hildesh./New York 1978) ist der Ästhetik der Aufklärung, insbes. Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste von 1774, verpflichtet u. legt an die gesamte goethezeitl. Literatur einen veralteten normativen Maßstab an. 1839 wurde J. das Ehrendoktorat der Universität Jena verliehen. Weitere Werke: Jonas J., der Heilkunde Doctor. Eine biogr. Skizze. Prag 1806. – Analecten, Arabesken u. Allegorien. Prag 1807. – Clio, eine Reihe welthistor. Scenen. Wien 1834. – Eine Reise nach Rom. Hg. August Lewald. Siegen/Wiesb. 1844.
Literatur: Maks Erik: Di geschichte fun der jid. literatur. Warschau 1928, S. 122–124, 211. – Maks Weinreich: Bilder fun der jid. literaturgesch. Wilna 1928, S. 126–130 (Abdr. v. 9 Str.n der Hs.). – Chava Turniansky: Schtei schirot epijot be-Jidisch al sefer Jehoschua (Zwei altjidd. Josua-Epen). In: Tarbiz 51 (1982), S. 589–632. – E. Timm: J. In: VL.
Literatur: Wurzbach. – Heinz Rieder: I. J. In: NDB. – Herbert Seidler: Österr. Vormärz u. Goethezeit. Wien 1982, passim. – Lex. dt.-jüd. Autoren.
Erika Timm
Cornelia Fischer
Jeitteles, Ignaz, * 6. (13.?) 9.1783 Prag. Jeitteles, Isaac Itzig, Pseud. u. späterer † 19.6.1843 Wien. – Publizist, Ästhetiker, bürgerl. Name Julius (Leopold Joseph) Erzähler. Seidlitz, * 3.9.1814 Prag, † 8.3.1857 Wien. – Journalist, Publizist u. Schriftsteller. J. stammte aus einer alten jüd. Familie; sein Vater Baruch war Talmudgelehrter u. medizinischer Fachschriftsteller in Prag. In seiner
Über J.’ Biografie ist nur wenig bekannt. Nicht zu verwechseln ist er mit dem Schrift-
Jelecky´
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steller Ignaz Jeitteles (1783–1843) u. dem Poesie und die Poeten in Österreich im Jahr 1836 Arzt Isaak Jeitteles (1799–1852), beide wie J. (Grimma 1837), einer subjektiv-krit. Bein Prag u. Wien tätig. Zudem erschien eine standsaufnahme der zeitgenöss. österr. LiteVielzahl seiner Veröffentlichungen unter dem ratur. Pseudonym Julius Seidlitz, welches der späLiteratur: Wurzbach 34. – Biogr. Lexikon zur tere Konvertit als bürgerl. Namen eintragen Gesch. der böhm. Länder. Bd. 4. Lfg. 1. Hg. Ferdiließ. Ursprünglich jüd. Herkunft, besuchte J. nand Seibt u. a. Mchn. 2003, S. 31 f. – Goedeke die Karls-Universität in Prag u. verdiente Forts. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Kathrin Klohs seinen Lebensunterhalt als Kaufmann u. Handelsdiener. Die strengen Zensurbestim- Jelecky´, Geletzky, Johann, † 28.12.1568. – mungen der Metternich-Ära zwangen ihn Theologe, Kirchenlieddichter. nach ersten journalistischen Erfolgen zur Flucht u. ins Exil nach Leipzig. Um 1840 J. wurde 1555 zum Priester der Brüderunität konnte er jedoch erneut publizistisch u. geweiht u. stand bis zu seinem Tod der schriftstellerisch in Österreich tätig werden. deutschsprachigen Brüdergemeine Fulnek/ In der Folge ließ er sich zunächst in Prag, Mähren vor. 1559 wurde er von Bischof Jodann in Wien nieder, heiratete u. trat zum hann Blahoslav als Dolmetscher zu den GeKatholizismus über, bevor er 1857 einer sprächen mit den deutschsprachigen Täufern in Eibenschitz u. Znaim hinzugezogen, die Lungentuberkulose erlag. Als Redakteur arbeitete J. u. a. für den den Anschluss an die Unität erwogen. J. war neben Michael Tham u. Peter Her»Österreichischen Correspondenten« in Olmütz, für das Magazin »Der Humorist« sowie bert Herausgeber der dritten Auflage des dt. für den »Wanderer« u. »Die Presse« in Wien. Brüdergesangbuchs Kirchengeseng darinnen die Darüber hinaus war er Gründer, Herausgeber Heubtartickel des Christlichen glaubens kurtz geu. Redakteur mehrerer Zeitungen u. Zeit- fasset u. ausgeleget sind (Ivancˇice 1566. Nürnbg. schriften, darunter der »Wiener Stadt- und 1580). Es enthielt insg. 343 Lieder, v. a. von Vorstadt-Zeitung« (Wien 1855 ff., ab 1865 Weiße, Herbert u. Luther, daneben 22 Lieder u. d. T. »Wiener Vorstadt-Zeitung« u. ab 1859 von J., fünf von Johann Jirek [Girk], vier von u. d. T. »Vorstadt-Zeitung«), des Periodikums Centurio Sirutschko u. sechs von Georg Vetter »Die neue Zeit. Central-Organ für Politik, (Strejc). Die vierte, erweiterte Auflage der Handel und Gewerbe« (Wien 1848, später Kirchengesänge (Kralitz 1606) bietet 23 Lieder u. d. T. »Central-Organ für Handel, Gewerbe von J. Noch heute gehören zum evang. Liedund Politik«, ab 1849 u. d. T. »Österreichische gut Nun rüste dich, o Christenheit (EKG 429) u. Handels- und Gewerbezeitung) u. der Wo- aus dem Brüdergesangbuch Singet frisch und wohlgemut sowie O wie sehr lieblich sind all deine chenschrift »Feierstunden« (Wien 1856). J.’ belletristisches Werk umfasst die Ro- Wohnung (urspr. tschechisch von J. Augusta). mane Böhmen vor vier hundert Jahren (3 Bde., J. lehnte sich gern an die bibl. Psalmen an u. Lpz. 1837), Der Astrolog (Lpz. 1839), Ein Mann übersetzte ältere tschech. Lieder in die leaus der Vorstadt (3 Bde., Wien 1852) u. Die bendige Sprache persönl. Frömmigkeit. Ausgabe: Wackernagel 4, Nr. 498–518, letzten Adepten (Pest/Wien 1855), ferner zwei Novellensammlungen (Novellen. Lpz. 1838. S. 349–365. Literatur: Wackernagel 1, S. 467–469. – l. u.: 1842. Neue Novellen. Wien 1845), polit. Broschüren u. ungedruckte Theaterstücke. Auch Johannes Geletzki. In: ADB. – Rudolf Wolkan: Das das Jugendbuch Der arme Heinrich. Ein Weih- dt. Kirchenlied der Böhm. Brüder im 16. Jh. Prag nachtsgeschenk für fleißige Kinder (Prag 1841), 1891. – Joseph Theodor Müller: Hymnolog. Hdb. zum Gesangbuch der Brüdergemeine. Herrnhut schließlich der detaillierte Reiseführer Wan1916. – Ders.: Gesch. der Böhm. Brüder. 3 Bde., derung durch Prag (Prag 1844. 1847) gehen auf Herrnhut 1922–31. – Klaus-Peter Möller: Oberihn zurück. Poetologische Aussagen, insbes. schles. Autoren 1450–1620. In: Oberschles. Dichter ein Plädoyer für eine genuine, der dt. Lite- u. Gelehrte vom Humanismus bis zum Barock. Hg. raturproduktion ebenbürtige österr. Dich- Gerhard Kosellek. Bielef. 2000, S. 487–547, hier tung, finden sich in den zwei Bänden Die S. 507. – Rudolf Rˇícˇan: Die Böhm. Brüder. Ur-
127 sprung u. Gesch. 2., überarb. Aufl. Basel 2007 (11961). Dietrich Meyer / Red.
Jelinek, Elfriede, * 20.10.1946 Mürzzuschlag/Steiermark. – Erzählerin, Dramatikerin, Lyrikerin, Hörspielautorin u. Übersetzerin. J. wuchs in Wien auf. Der Vater war Chemiker jüdisch-tschech. Herkunft; die Mutter, gelernte Buchhalterin, strebte eine Musikerkarriere für ihre Tochter an u. schickte sie in den kath. Kindergarten, später in die Klosterschule. Mit sechs Jahren begann J. den Klavierunterricht; Flöte, Geige u. Bratsche folgen. Von der Mutter bewacht, lernte sie erfolgreich u. bewarb sich mit 13 Jahren als jüngste Anwärterin am Wiener Konservatorium, das sie später mit der Organistenprüfung abschloss. Nach der Matura belegte sie Theaterwissenschaft, Kunst u. Musik, doch ein psych. Zusammenbruch, Panikattacken u. Klaustrophobie trieben sie in die Isolation. Ein Jahr zog sie sich zurück in das Haus der Eltern, erlebte die Hinfälligkeit des geistig verwirrten Vaters, der 1969 starb, u. erfuhr Familie als ein vertrautes u. zugleich bedrohl. Zusammengeschlossensein auf engstem Raum, als psych. Ausnahmezustand. J. begann zu schreiben. Erste Gedichte deuten die zentralen Themen ihres gesamten Werks an: Verdrängung, Brutalität u. Gefühllosigkeit durch gesellschaftl. u. familiäre Zwänge, die Unmöglichkeit von Liebe, die Sexualität nur als Geschlechterkampf kennt. Auch ihre Sprachhaltung – rhythmisch, analytisch, direkt – zeigt sich bereits (Lisas Schatten. Mchn./ Würzb. 1967). Schon in ihrem ersten »realistischen« Roman Die Liebhaberinnen (Reinb. 1975), mit dem sie ein erstes breites Lesepublikum fand, setzte sich J. mit der systemat. Zerstörung der weibl. Sexualität auseinander. Der Text karikiert die Struktur des Heimatromans u. führt das gesellschaftl. Bewusstsein zweier Fabrikarbeiterinnen auf dem Land vor, deren einzige soziale Chance der »Heiratsmarkt« ist. Auch in ihren ersten Stücken Was geschah, nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stützen der Gesellschaft (Urauff. Graz 1979. Hörsp. SDR 1979) oder Clara S. musikalische
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Tragödie (Urauff. Bonn 1982) thematisiert J. den weibl. Identitätsverlust, die (nicht realisierbare) Selbstverwirklichung von Frauen durch soziale Verhältnisse. Familiäre Gewalt u. sexuelle Erniedrigung hat auch der Roman Die Ausgesperrten (Reinb. 1980. Hörsp. SDR/ BR/RB 1978. Verfilmung 1980) zum Thema. Literarischer Hintergrund ist das Wien der 1950er Jahre. Eine Gruppe Jugendlicher versucht aus der als eng u. trist dargestellten Atmosphäre ihrer kleinbürgerl. Verhältnisse auszubrechen; sie planen eine vermeintlich revolutionäre Tat, die in einer Familientragödie endet. Unter dem Eindruck der terroristischen Ereignisse um das Jahr des »deutschen Herbstes« 1977 setzt sich J. hier mit dem Thema Anarchismus auseinander u. stellt anarchistische Gewalt zynisch als reinen Selbstzweck dar. Die Klavierspielerin (Reinb.1983) ist J.s persönlichster Roman; sie selbst bezeichnet ihn als »eingeschränkte Biografie«. Hier verarbeitet sie die Beziehung zu ihrer Mutter. Bis zu deren Tod im Jahr 2000 lebte J. mit ihr unter einem Dach. Seit 1974 zwar mit dem Informatiker Gottfried Hühnfeld, einst dem Kreis um R. W. Fassbinder angehörend, verheiratet, führte sie mit ihm zwischen München u. Wien eine »Fernbeziehung«. Der Roman, 2001 mit Isabelle Huppert in der Hauptrolle verfilmt (Regie: Michael Haneke), zeichnet auf schonungslose Weise eine neurot. Mutter-Tochter-Symbiose nach. Zu Höchstleistungen getrimmt – die Mutter hat sich für ihr Kind eine Pianistenkarriere zum Ziel gesetzt – scheitert die Tochter sowohl als Künstlerin als auch als Frau. Vom Leben isoliert, findet sie keine eigene sexuelle Identität; stattdessen wird sie zur Voyeurin, die Lust nur noch im Schmerz empfinden kann. Der Roman treibt den Muttermythos zynisch auf die Spitze, zeigt pervertierte Sexualität als verzweifelte Konsequenz familiärer Zwänge. Zugleich ist er eine sarkast. Abrechnung mit dem Mythos vom begnadeten Künstler. Mit diesem Roman wurde J. zur internat. anerkannten Erfolgsautorin. Die Presse feierte v. a. ihren scharfen sprachanalyt. Stil; die Medien bezeichnen sie aber auch als provozierende tabubrechende Feministin.
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Im Roman Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr (Reinb. 1985) widmet sich J. der »AlternativBewegung« der 1980er Jahre. In drei Handlungsebenen – ein arbeitsloser Holzknecht verlässt Frau u. Kinder, eine »Dichterin« besingt die Natur u. der Großpächter dieser Landschaft lädt zur Jagd, auf der irrtümlicherweise der Holzknecht erschossen wird – spielt die Geschichte erstmals in J.s ehemaliger Heimat. Krampen, der Ort ihrer Kindheit, bisher nur als Andeutung, wie etwa »dieses schöne Land« in J.s Texten erkenntlich, wird hier wie auch später in Die Kinder der Toten u. in Gier zum wichtigen Rahmen des Geschehens. Formal knüpft die Autorin mit diesem Roman an ihre experimentellen Anfänge an. Er folgt keiner linearen Handlung, entwirft vielmehr einen polyphonen Text, in dem Dinge, Stimmen, Figuren kommen u. gehen, oft einer musikal. Komposition gleich, assoziativ, bisweilen fast automatisiert. Die perfektionierte Kunstsprache J.s, Worthülsen, Phrasen u. Klischees zeigen den Bilderkitsch von Wald u. Wiese, die Verlogenheit von der unberührten Natur u. machen die Skepsis der Autorin auch gegenüber jenen Parolen vom »Waldsterben« u. »saurem Regen« offensichtlich. 1989 erschien Lust (Reinb.). Es ist ihr Aufsehen erregendster u. meistverkaufter Roman, ihre ganz persönl. Auseinandersetzung mit der feministischen Pornografiedebatte der 1980er Jahre. Schnell wurde das Buch von der Werbung als »weiblicher Porno« gehandelt u. ging damit an J.s Intention vorbei. Denn die hier dargestellte Geschichte thematisiert vielmehr die absolute Verfügbarkeit einer Frau in ihrer Ehe. Die weibl. Hauptfigur Gerti, von ihrem Mann willkürlich missbraucht, weiß sich vor dessen sexuellen Attacken nur durch Sucht u. Flucht zu entziehen, gerät schließlich in eine Affäre, in der sie wiederum nur benutzt wird. Gertis Sprache, Phrasen aus Regenbogenpresse u. Film, entlarvt ihre Unmündigkeit, zeigt sie als passives Objekt, als sprachlose Verliererin in einer von Männern dominierten Welt, eigenschaftslos u. abhängig. Lust ist ein Buch über Pornografie aus den verschiedensten Blickwinkeln, diskutiert juristische Aspekte ebenso wie die des Feminismus. Seine satir. Schärfe mischt
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sich hier ungewöhnlicherweise mit einer starken Symbolik. Der Romanessay Die Kinder der Toten (Reinb. 1995) beginnt als Horrorgeschichte. In der Urlaubsidylle eines österr. Touristenortes treiben drei Untote ihr Unwesen. Das Treiben entwickelt sich jedoch mehr u. mehr zu einem Totenlied über Geschichtsverdrängung u. -katastrophen. Es fällt die dichte filmische Erzählweise auf, Schnitte, Zeitlupen, schnelle Wechsel, Bilder, Gedankenfetzen überlagern sich u. reißen den Leser mit sich fort. Sprachmaterial aus Psychoanalyse, Werbung, Trivialliteratur u. Erotikindustrie wechseln sich ab mit Kalauern, TV-Show-Szenen u. Sprüchen aus der österr. Skiwelt. Eine syntakt. u. semant. Fülle, in der sich Ursache, Raum u. Zeit aufzulösen scheinen, ein rastloses Suchen u. Sammeln von Vergangenem, Vergessenem, in dem eines das andere zu verdrängen scheint. So ist der Text denn auch ein Buch über oder gegen »sprachliche Verdrängung«, entzündet an den hitzigen Debatten im Österreich der 1990er Jahre um den FPÖ-Chef Jörg Haider, den damaligen Artikeln der »Kronen Zeitung« u. J.s Kritik an dem verdrängten Nazi-Erbe ihres Landes. Gier. Ein Unterhaltungsroman (Reinb. 2000), der nicht unterhalten will, erzählt die Geschichte eines verheirateten Dorfpolizisten, der besessen ist von der Gier nach Frauen u. Besitz. Er verfolgt eine Pianistin, hat es aber nicht nur auf ihren Körper, sondern auch auf ihr Haus abgesehen. Er beginnt eine Affäre mit einer jungen Frau, weil sie »ungenutzte Räume in sich birgt«. Die Beschreibung weibl. Merkmale u. denen des Eigentums werden im Laufe des Romans austauschbar, der Unterschied zwischen Lustobjekt u. Lieferantin für Besitz ist nicht mehr auszumachen. Schließlich verschränken sich die drei Realitätsebenen, die der Ehefrau, der Pianistin u. der jungen Geliebten zusehends ineinander, bis der Gendarm seine Geliebte in dem Glauben tötet, sie könne sein Treiben gefährden. Zynisch zeigt der Roman die Kälte u. Brutalität, mit der materielle Ziele verfolgt werden, u. illustriert die Mechanismen von Gewinn u. Verlust der modernen Ökonomie. Auch mit Gier knüpft J. formal wieder an ihre Anfänge an, nimmt die Trivialform des
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Krimigenres aufs Korn u. führt es ad absurdum – ein formales Spiel, das sich durch J.s gesamtes Werk zieht. Ihren Roman Neid stellte J. 2007/08 kapitelweise ins Internet; in Buchform wird er nicht erscheinen. »Privatroman« nennt sie das 936 Seiten starke Projekt; »es ist da für jeden – und gleichzeitig weg, das gefällt mir« (Interview, FAZ, 17.4.2007). Privatheit in seiner öffentlichsten Form, ein literar. Text, frei von Verwertungszwängen, den der Leser öffnen oder schließen kann. Das Vorübergehende des Mediums Internet fasziniert die Schriftstellerin. Seit sie mit dem Computer arbeitet, hat J. dieses Vorläufige, Veränderbare, das uneingeschränkte Spiel mit Assoziationen inspiriert; das zeigt sich auch in Neid. Mit z.T. kühnen, bewusst absurden Wortassoziationen folgt sie der Geschichte der von ihrem Ehemann betrogenen Geigenlehrerin Brigitte, ihr »Rad des Erzählens« streift unzählige Fragen der Zeit. Mit Neid – dessen fünf Kapitel sie jeweils H. Boschs Gemälde Die sieben Todsünden voranstellt – thematisiert sie neben Lust u. Gier ein weiteres Todsündenthema. Gleich welchem Sujet u. welcher Frage sich J. literarisch stellt, ihr wichtigstes Anliegen ist die Auseinandersetzung mit Sprache. Sie ist ihr Handwerkszeug, ihr satir. Mittel. Mit ihr provoziert sie, mit ihrer genauen u. auf Sprache reduzierten Analyse vermittelt sie ihre Themen. Und immer ist ihre Auseinandersetzung mit Sprache zgl. eine Auseinandersetzung mit dem Trivialen, dessen Floskeln, Phrasen u. Schablonen. Der Einfluss von Roland Barthes’ Mythen des Alltags, das Buch, mit dem sich die Autorin schon früh beschäftigte, ist dabei in ihrem gesamten Werk allgegenwärtig. Akribisch u. analytisch spielt sie mit Sprachstereotypen, die sie seziert, verfremdet, übertreibt: Ihre geschliffenen Analysen psychologisieren nicht, sondern typisieren u. entlarven damit gesellschaftl. Verhältnisse. Wie ihr literar. Vorbild Ödön von Horváth zeigt sie das Leben in fremden Redewendungen u. Sentenzen; wie dessen Stücke will J. die Sprachlosigkeit entlarven, in der die Menschen einander ausgeliefert sind, ohne sich mitteilen zu können.
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Schon J.s erste Texte, von der experimentellen Literatur der Wiener Gruppe geprägt, montieren Sprachmaterial: skurrile Textmontagen, groteske Sprachbilder, Simulationen von Kinderreimen, Imitationen von Schlagern, wie etwa in dem Roman wir sind lockvögel baby! (Reinb. 1970), ein Roman, mit dem sie erstmals Beachtung fand (»erster Poproman deutscher Zunge«, Otto Breicha). Der Roman ist eine Parodie auf traditionelle Entwicklungsgeschichten. J. montiert das vorgegebene Vokabular aus Batman, JamesBond- u. Horrorfilm in die Struktur eines Heimatromans, an dessen »Ende« die Aufforderung an den Leser zur eigenen »Veränderung« steht. Auch im Roman Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft (Reinb. 1972), der zwar realistischere Züge hat, fügt J. in die Wirklichkeitsebene der Figur Michael Passagen aus Traum-, Wunsch- u. Medienwelt ein, zerstört damit die in Familienserien (»Flipper«) vorgegaukelte schöne Welt u. macht so falsche Glücksvorstellungen sichtbar. Auch J.s Theaterstücke sind bewusste Provokationen unserer üblichen Seh-, v. a. aber Sprachgewohnheiten. Auch ihre Sujets polarisieren u. spalten Zuschauer u. Presse in J.-Liebhaber und J.-Gegner. Das Stück Burgtheater. Posse mit Gesang (Urauff. Bonn 1985) hat, der Titel signalisiert es, das Wiener Burgtheater zum Hintergrund u. thematisiert den Opportunismus österr. Künstler im Nationalsozialismus. Die Hauptfiguren sind die »Stars« dieser Jahre: Attila, Paul u. Christiane Hörbiger u. Paula Wessely. Das allein schon hat Sprengkraft genug. Doch nicht die histor. Figuren stehen im Vordergrund, sondern das Stück macht auf possenhaft makabre Weise den nahtlosen Übergang vom Nazitheater zum österr. Vorzeigetheater der 1950er Jahre offensichtlich. Auch hier entlarvt J. Sprachmechanismen, indem sie zeigt, wie nahe sich die Sprache der Blut- u. Bodenzeit u. der Kitsch der Heimatfilmsprache sind. Diese Sprache »war mein Material, das ich zu einer Art Kunstsprache zusammengefügt habe«. Das Stück wurde von österr. Politikern, Künstlern u. Journalisten boykottiert u. erst 20 Jahre nach seiner dt. Uraufführung in Österreich (Graz) gezeigt.
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Das Stück Rastsstätte oder Sie machens Alle (Urauff. Hbg. 1995), von der Theaterzeitschrift »Theater heute« als beste Inszenierung von Frank Castorf im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg für 1995/96 geadelt, ist ein Satyrspiel, eine Sexverwechslungs- u. Partnertauschkomödie nach dem Modell von Così fan tutte, die eintaucht in die Welt der Kontaktanzeigen, Eroscenter, der Porno- u. Homevideos u. der Swingerparties. Zwei steiermärk. Hausfrauen sind auf der Suche nach »gutem Sex«, doch statt Lustgewinn einer befreiten Sexualität finden sie die Lust- u. Trostlosigkeit im Geschlechterverhältnis. Auch hier waren Publikums- u. Pressereaktion gespalten. Die Ermordung von vier Roma im burgenländ. Oberwart 1995 ist der polit. Hintergrund des Stücks Stecken Stab und Stangl. Eine Handarbeit (Urauff. Deutsches Schauspielhaus, Hbg. 1996). Die Medien erwähnten den Vorfall nur beiläufig. Für J. sind der Tod der Männer nicht nur Anlass, um an die Vernichtung von Roma u. Juden durch die Nationalsozialisten zu erinnern, sondern v. a. um sich über den Umgang der Presse damit auseinander zu setzen. Ein Stück über die österr. Medienlandschaft, insbes. über die einflussreiche »Kronen Zeitung«, zeigt es die Kontinuität verbrecherischen Denkens. Zwischen österr. Fremdenverkehr, Skibegeisterung u. Alltagswelt illustriert die Autorin diese Haltung mit Sprüchen, Redensarten, die »sich nirgends so gut zeigen lässt wie an der Verkommenheit der Sprache«. Auch mit diesem Stück brachte die Autorin naturgemäß ihr Land gegen sich auf. Das Stück Bambiland (Urauff. Burgtheater, Wien 2003) stellt die Ereignisse des Irakkriegs der eigenen Haltung, der Berichterstattung der Medien, v. a. aber den Grundlagen des westl. Bewusstseins gegenüber. Und auch hier provozierend, bösartig, polemisch, auf Sprache reduziert, »vielleicht das erste und das einzige sprachliche Ereignis des Krieges« (Alexander Kluy, FR, 2003). Auch Babel (Urauff. Burgtheater, Wien 2005) hat den Irakkrieg zum Thema, doch dieses Mal geht es um dessen Ursachen u. Konsequenzen. In drei Monologen setzt sich das Stück mit der Verflechtung von Gewalt, Sexualität u. Religion auseinander, verschränkt dabei
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Vergangenheit u. Gegenwart, mischt die Sprache der Medien mit Texten u. Haltungen aus Psychoanalyse u. Geschichtsphilosophie, setzt tagespolit. Ereignisse gegen antike Mythen u. sammelt so ein Spachbabel unseres Denkens. 2006 wurde J.s Stück Ulrike Maria Stuart am Hamburger Thalia-Theater uraufgeführt. Darin lässt die Autorin die RAF-Frauen Ulrike Meinhof u. Gudrun Ensslin als Schillers Maria Stuart u. Elisabeth I. auftreten. Zweifelnd die eine, eitel die andere, spuken sie als Un-Tote mit ihren Mitstreitern durch histor. Zeiten. Mit sarkast. Seitenhieben zerschlägt die Dramatikerin die Vorstellung, die Welt sei mit Idealen oder Ideologien, gleich welcher u. gleich in welchen Zeiten, zu verbessern, u. schon gar nicht mit Gewalt. 2007 berichtete der brit. Autor David R. L. Litchfield von einem schon längst verdrängten Vorfall auf dem burgenländ. Schloss Rechnitz 1945. Dort soll Gräfin Batthyany ein Fest gegeben haben, bei dem zu später Stunde die Gäste, darunter viele NS-Größen, aus einer Laune heraus 180 Juden zusammentrieben u. erschossen. Bei der Spurensuche sind die meisten Geladenen unauffindbar, der Vorfall fast vergessen. J.s Drama Rechnitz (Der Würgeengel) (Urauff. Kammerspiele, Mchn. 2008) macht aus dem Massaker einen beklemmenden danse macabre. Wie in Buñuels Würgeengel drängen mehr u. mehr Figuren, Augenzeugen, Boten in einen Raum, sie berichten, erzählen, verwickeln sich in Widersprüche. Das Gedränge wird dichter, die Männer u. Frauen faseln, reden, zerreden das Ungeheuerliche u. zeigen die Abgründe unseres Sprechens u. die Unmöglichkeit, das Geschehen in Worte zu fassen. J. ist auch als Übersetzerin tätig u. hat u. a. Werke von Georges Feydeau, Christopher Marlowe, Thomas Pynchon u. Oscar Wilde ins Deutsche übertragen. Für ihr Werk wurde J. vielfach ausgezeichnet. Sie erhielt die Roswitha-Gedenkmedaille der Stadt Bad Gandersheim (1978), den Georg-Büchner-Preis (1998), den FranzKafka-Literaturpreis (2004) u. bereits 1986 als erste Frau den Heinrich-Böll-Preis. Als ihr 2004 der Nobelpreis zuerkannt wurde »für den musikalischen Fluss von Stimmen und
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Gegenstimmen in Romanen und Dramen, die mit einzigartiger Leidenschaft die Absurdität und zwingende Macht der sozialen Klischees enthüllen« – so die Jury zu ihrer Entscheidung –, entbrannte in den Medien erneut eine leidenschaftl. Debatte. Ein Jahr später legte der 82-jährige Schriftsteller Knut Ahnlund seine Mitgliedschaft in der Schwedischen Akademie mit der Begründung nieder, der Preis an J. habe »die Auszeichnung auf unabsehbare Zeit zerstört«. Seit Beginn ihres Schreibens wurde J.s Werk von heftigen Kontroversen zwischen denen, die sich durch ihre Texte u. polit. Meinung provoziert fühlen – in ihrem Heimatland wird die Autorin seit über 30 Jahren als Nestbeschmutzerin, Pornografin u. Kommunistin geschmäht – u. jenen, die sie als Sprachkünstlerin feiern, geführt; keine andere deutschsprachige Autorin ist derart umstritten. Doch gleich wie, ihre ungeheure Bilderfantasie u. ihr dialektischer Sprachwitz, der immer den gesellschaftl. Punkt trifft, bleibt. Weitere Werke: Die endlose Unschuldigkeit. Prosa. Hörspiel. Essay. Schwifting 1978. – bukolit. hörroman. Mit Bildern v. Robert Zeppel-Sperl. Wien 1979. – ende. gedichte 1966–68. Mit fünf Zeichnungen v. Martha Jungwirth. Schwifting 1980. Neuaufl. Mchn. 2000. – Theaterstücke. Hg. u. mit einem Nachw. v. Ute Nyssen. Köln 1984. – Krankheit oder Moderne Frauen. Hg. u. Nachw. v. Regine Friedrich. Köln 1987. Urauff. Bonn 1987 (D.). – Wolken. Heim. Urauff. Bonn 1988. Gött. 1990. Neuausg. mit einer CD, gesprochen v. Barbara Nüsse. Gött. 1993 (D). – Malina. Ein Filmbuch. Nach dem Roman v. Ingeborg Bachmann. Ffm. 1991. – Totenauberg. Ein Stück. Reinb. 1991. Urauff. Wien 1992. – Theaterstücke. Nachw. v. U. Nyssen. Reinb. 1992. – Sturm u. Zwang. Schreiben als Geschlechterkampf (zus. mit Jutta Heinrich u. Adolf-Ernst Meyer). Hbg. 1995. – Ein Sportstück. Reinb. 1998. Urauff. Wien 1998. – er nicht als er. (zu, mit Robert Walser). Ein Stück. Ffm. 1998. – Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes. Reinb. 1999. – Das Lebewohl. 3 kleine Dramen. Bln. 2000. – In den Alpen. Drei Dramen. Bln. 2002. – Der Tod u. das Mädchen. Fünf Prinzessinnendramen. Bln. 2003. – Die Kontrakte des Kaufmanns. Rechnitz (Der Würgeengel). Über Tiere. Drei Theaterstücke. Reinb. 2009. Literatur: Margret Brügmann: Schonungsloses Mitleid. E. J.: Die Liebhaberinnen. In: Dies.: Ama-
zonen der Lit. Studien zur deutschsprachigen Frauenlit. der 70er Jahre. Amsterd. 1986, S. 146–172. – Gabriele Presber: E. J. ›... das Schlimme ist dieses männl. Wert- u. Normensystem, dem die Frau unterliegt ...‹. In: Dies.: Die Kunst ist weiblich. Gespräche. Mchn. 1988, S. 106–131. – Christa Gürtler (Hg.): Gegen den schönen Schein. Texte zu E. J. Ffm. 1990. – Kurt Bartsch (Hg.): E. J. Graz/Wien 1991. – Jutta Schlich: Phänomenologie der Wahrnehmung v. Lit. Am Beispiel v. E. J.s ›Lust‹ (1989). Tüb. 1994. – Marlies Janz: E. J. Stgt. 1995. – Daniela Bartens (Hg.): E. J. Die internat. Rezeption. Graz/Wien. – Yasmin Hoffmann: E. J. Sprach- u. Kulturkritik im Erzählwerk. Opladen 1999. – Pia Janke (Hg.): Die Nestbeschmutzerin. Jelinek & Österr. Salzb. 2002. – Antje Johanning: KörperStücke. Der Körper als Medium in den Theaterstücken E. J.s. Dresden 2004. – P. Janke: Literaturnobelpreis E. J. Wien 2005. – Artur Pelka: Körper(sub)versionen. Zum Körperdiskurs in Theatertexten v. E. J. u. Werner Schwab. Ffm. u. a. 2005. – Renata Cornejo: Das Dilemma des weibl. Ich. Untersuchungen zur Prosa der 1980er Jahre v. E. J., Anna Mitgutsch u. Elisabeth Reichart. Wien 2006. – Verena Mayer u. Roland Koberg: E. J. Ein Porträt. Reinb. 2006. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): E. J. Mchn. 32007 (Text + Kritik. H. 117). – Evelyn Annuß: E. J. Theater des Nachlebens. 2., durchges. u. erw. Aufl. Paderb. 2007. – Ulrike Haß, Hans Christian Kosler u. Annette Doll: E. J. In: KLG. – Matthias Piccolruaz Konzett u. Margarete Lamb-Faffelberger (Hg.): E. J. Writing Woman, Nation, and Identity. A Critical Anthology. Madison, NJ/Teaneck, NJ 2007. – Bärbel Lücke: J.s Gespenster. Grenzgänge zwischen Politik, Philosophie u. Poesie. Wien 2007. – Petra Meurer: Theatrale Räume. Theaterästhetische Entwürfe in Stücken v. Werner Schwab, E. J. u. Peter Handke. Bln. u. a. 2007. – Annika Nickenig: Diskurse der Gewalt: Spiegelung v. Machtstrukturen im Werk v. E. J. u. Assia Djerba. Marburg. 2007. – Myung Hwa Cho Sobotka: Auf der Suche nach dem weibl. Subjekt. Studien zu Ingeborg Bachmanns ›Malina‹, E. J.s ›Die Klavierspielerin‹ u. Yoko Tawadas ›Opium für Ovid‹. Heidelb. 2007. – B. Lücke: E. J. Eine Einf. in das Werk. Würzb. 2008. – Françoise Rétif u. Johann Sonnleitner (Hg.): E. J. Sprache, Geschlecht u. Herrschaft. Würzb. 2008. /
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Jellinek, Oskar, * 22.1.1886 Brünn/Mähren, † 12.10.1949 Los Angeles; Grabstätte: Hollywood, Friedhof. – Novellist.
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Einer dt.-jüd. Großbürgerfamilie entstammend, übersiedelte J., Sohn eines Textilkaufmanns, 1904 nach Wien, wo er Jura studierte u. nach der Promotion (1909) in den Gerichtsdienst trat. Seine Tätigkeit als Richter wurde vom Ersten Weltkrieg unterbrochen, an dem er als Artillerieoffizier teilnahm. Nachdem 1924 seine Novelle Der Bauernrichter (Lpz. 1925) preisgekrönt worden war (erster Preis eines Wettbewerbs des Verlags Velhagen & Klasing), entschloss er sich, Jelusich, Mirko, eigentl.: Vojmir Jelusic´, freier Schriftsteller zu werden. 1938 emi- * 12.12.1886 Semil, Gemeinde Podmokgrierte J. in die CˇSR, 1939 nach Paris. Nach litz/Nordböhmen, † 22.6.1969 Wien. – seiner Internierung gelang ihm 1940 die Erzähler, Dramatiker, Lyriker, TheaterFlucht in die USA. 1943 ließ er sich in Los kritiker. Angeles nieder; der dort begonnene Roman Zeitlebens empfand J. seine Herkunft – sein Das Dorf des 13. März blieb Fragment. Vater, ein Bahnbeamter, war Kroate, die J.s formstrenge Novellen in der Tradition Mutter Sudetendeutsche – als Benachteilider mähr. Dorfgeschichte (Ebner-Eschen- gung, die er durch schwärmerische Hinwenbach, Ferdinand von Saar) spielen meist im dung zum »Deutschtum« zu kompensieren mähr. Bauernmilieu u. bedienen sich realis- versuchte. Er studierte ab 1906 Philosophie in tischer Darstellungsmittel. Dramatische Vor- Wien; 1912 promovierte er bei Friedrich Jodl gänge, Mord, Gewalt, Leidenschaft u. Ver- mit einer Studie zur Rezeptionsgeschichte brechen führen in den Themenkreis des Ge- Stirners. Noch als Student wurde J. Mitgl. des richts. J. zeigt die Konflikte u. Gegensätze »Musketenkreises«, wo er u. a. Hohlbaum zwischen bäuerl. Lebensweise u. städt. Büro- kennen lernte, mit dem ihn bald enge kratie, zwischen traditionellem Aberglauben Freundschaft verband. Entscheidend für u. neuer Ungläubigkeit. Das Regionale wird seine weltanschaul. Entwicklung, insbes. durch psycholog. Darstellung zur Allge- rassistischen Überzeugungen, wurde die meingültigkeit erhoben. Bekanntschaft mit dem antisemitischen Weitere Werke: Das Burgtheater eines Zwan- Schriftsteller u. Philosophen Arthur Trezigjährigen. Wien 1907. – Die Mutter der Neun. bitsch. Bln./Wien/Lpz. 1926 (N.). – Der Sohn. Ebd. 1928 Ab 1923 war J. als Theaterkritiker bei der (E.). – Das ganze Dorf war in Aufruhr. Ebd. 1930 rechtsextremen »Deutsch-österreichischen (N.n). – Die Seherin v. Daroschitz. Ebd. 1933 (N.). – Tageszeitung« tätig u. wandte sich Ende der Die Geistes- u. Lebenstragödie der Enkel Goethes. 1920er Jahre dem Nationalsozialismus zu. Ein gesprochenes Buch. Zürich 1938. – Ges. No- Als Nachfolger Graedeners übernahm er den vellen. Mit einer Einf. v. Franz Karl Ginzkey. Wien Vorsitz des »Kampfbunds für deutsche Kul1950. – Gedichte u. kleine E.en. Mit einem Nachw. tur«; nach dessen Verbot 1933 setzte J. seine v. Richard Thieberger. Wien 1952. – Hankas Hochzeit. Hg. Wulf Kirsten. Bln./DDR 1980 (N.n u. Propagandatätigkeit für die NSDAP illegal E.en). – Raacher Silberfeier. Wien/Darmst. 1988 fort (u. a. Aufbau der NS-Tarnorganisation »Bund der deutschen Schriftsteller Öster(L.). Literatur: Margarete Stornigg: O. J. Leben u. reichs« 1936). Von seinem Posten als komWerk eines österr. Dichters. Diss. Wien 1956. – missarischer Leiter des Burgtheaters trat er Karel Krejcˇí: O. J. Leben u. Werk. Brno 1967. – Alma nach Differenzen mit Goebbels im Juli 1938 Nowotny: Die Novellen O. J.s. Diss. Wien 1972. – zurück, unterstützte jedoch das Regime puKarl-Markus Gauß: Dringl. Hinweis auf den mähr. blizistisch bis zum Schluss. Im Aug. 1945
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wurde er von den Sowjets verhaftet u. als Hochverräter angeklagt, 1946 jedoch freigesprochen. Das österr. Unterrichtsministerium setzte sein Gesamtwerk auf die »Liste der gesperrten Autoren und Bücher«, was eine gewisse Renaissance seiner Bücher in den 1950er u. 1960er Jahren nicht verhindern konnte. Als Autor der »Muskete« begann J. mit Lyrik u. kurzen Prosaskizzen; sein kriegsbejahendes Vaterunser 1914 (Bln. 1914) begleitete auf Feldpostkarten die Soldaten der Mittelmächte an die Front. Mit dem historischbiogr. Roman Caesar (Wien 1929) gelang J. der Durchbruch. Anknüpfend an die damalige Konjunktur dieses Genres, präsentiert er seine Vision der heroischen Führergestalt. In dialogischer Erzählsprache inszeniert J. die Vita des welthistor. Individuums als Weg zu überird. Größe. Ist Caesar noch vom Vorbild Mussolini inspiriert, so liefert die Romanbiografie Cromwell (Wien/Lpz. 1933) ein verstecktes Porträt Hitlers. Ihre Fortsetzung fand die polit. Indoktrination mittels histor. Analogien in der Trilogie Der Löwe (Wien/Lpz. 1936), Der Ritter (ebd. 1937) u. Der Soldat (ebd. 1939. U. d. T. Scharnhorst. Salzb. 1953), in der J. das »Dritte Reich« als Gipfelpunkt dt. Geschichte vorführt. Weitere Werke: Der gläserne Berg. Bln. 1917 (D.). – Don Juan. Wien 1931 (R.). – Hannibal. Wien 1934 (R.). – Der Traum vom Reich. Bln. 1941. Neuaufl. u. d. T. Prinz Eugen, der Feldherr Europas. Graz 1979 (R.). – Eherne Harfe. Balladen u. Gedichte. Wien 1941. – Samurai. Wien 1943 (Schausp.). – Bastion Europas. Wien/Lpz. 1944. Neuaufl. Wien 1951 (R.). – Talleyrand. Wien/Bln./ Stgt. 1954 (R.). Literatur: Johannes Sachslehner: Führerwort u. Führerblick. M. J. Königst./Ts. 1985. – Lex. ns. Dichter. – Christian v. Zimmerman: Biogr. Anthropologie. Menschenbilder in lebensgeschichtl. Darstellung (1830–1940). Bln./New York 2006, S. 507–509. Johannes Sachslehner / Red.
Jenaer Liederhandschrift. – Bedeutendste Sammlung von Sangspruchdichtern, mit Melodien. Die J. L. ist nach ihrem Aufbewahrungsort (Jena, Thüringische Universitäts- u. Landesbibliothek, Ms. El. f. 101) benannt. Sicher
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nachweisen lässt sie sich erstmals 1543/46 in Wittenberg als Bestandteil der Kurfürstlich Sächsischen Bibliothek, für die sie möglicherweise nicht lange zuvor erworben wurde. 1549 gelangte die Bibliothek nach Jena; ihren Transfer veranlasste Johann Friedrich der Großmütige von Sachsen, weil er infolge seiner Niederlage in der Schlacht bei Mühlberg 1547 das Herzogtum Sachsen-Wittenberg (u. damit zgl. die Kurwürde) verloren hatte. Im 18. Jh. beschäftigte sich, angeregt durch Bodmer u. Breitinger, der junge Jenaer Professor Basilius Christian Bernhard Wiedeburg intensiv mit der J. L. 1751 widmete er Breitinger ein Doppel seiner Abschrift der Texte; in der Ausführlichen Nachricht über alte dt. Handschriften in Jena (1754) legte er die erste eingehende Beschreibung mit Textproben vor. Aus Wiedeburgs Abschrift der J. L. druckte Christoph Heinrich Myller (Müller) in seiner Samlung deutscher Gedichte aus dem XII. XIII. und XIV. Iahrhundert zahlreiche Strophen ab (Bd. 2, 1784/85). Alle nicht in der Großen Heidelberger Liederhandschrift enthaltenen Texte u. sämtl. Melodien publizierte Friedrich Heinrich von der Hagen in seinen Minnesingern (1838). In der Liedforschung trägt die Handschrift die Sigle J. Zeit u. Ort der Entstehung sind in der J. L. nicht festgehalten. Der Schrift nach gehört ihr Grundstock noch ins erste Drittel des 14. Jh. (um 1330). Aus Besonderheiten der ostmitteldt. geprägten Schreibsprache folgert man, dass die Kopisten ostniederdt. Herkunft waren. Der Codex (noch 133 Blätter, dazu ein Fragment in Dillingen; Anfang u. Ende verloren, Lücken im Innern) übertrifft alle Handschriften dt. mittelalterl. Literatur durch sein Format (56 · 41 cm). Der geradezu verschwenderische Umgang mit dem kostbaren Pergament, die große kalligrafische Schrift der Haupthand, farbige, ornamentierte Initialen u. die sorgfältige Ausführung der Noten (Quadratnotation) einerseits, Berichtigungen in Texten u. Melodien sowie Ergänzungen auf dem Rand (bis etwa 1360) andererseits lassen auf einen vermögenden, an der Sache interessierten Auftraggeber schließen. Man hat an den in Wittenberg residierenden Herzog Rudolf I. von Sachsen (Regierungszeit 1324–1356) gedacht. Neuer-
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dings wird Graf Günther XXI. von Schwarzburg (1303–1349) in Betracht gezogen. Für ihn könnte die Haupthand der J. L. zumindest die großformatigen Abschriften des Artusromans Segremors u. des Parzival Wolframs von Eschenbach angefertigt haben, von denen Reste in Thüringer Archiven aufgefunden wurden. Die J. L. umfasst noch, teils fragmentarisch, drei Leichs sowie (einschließlich des Blattes in Dillingen) 930 Strophen in 102 Tönen. Die Hälfte der Töne u. mehr als zwei Drittel der Texte sind nur aus J bekannt. Mit der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) teilt J lediglich ein knappes Fünftel des Bestandes. C überliefert Spruchdichtung etwa im gleichen Umfang wie der Torso J, vorrangig jedoch Minnesang. In J hingegen dominiert – sieht man vom nachgetragenen Wizlav-Corpus ab – die Spruchdichtung; u. selbst Sangsprüche mit Minnethematik sind rar. Strophen in ein u. demselben Ton stehen beisammen, ebenso Töne ein u. desselben Autors (Ausnahme: Der Guter); der Beginn eines neuen Autorcorpus wird, anders als in C, durch die bloße Namensangabe markiert. Strophen, die Sänger in Tönen anderer gedichtet haben, sind dem Tonautor zugeordnet – eine Praxis, die bereits an die Kolmarer Liederhandschrift (etwa 1460) gemahnt. Allerdings trifft man im Repertoire der Meisterlieddichter nur wenige Töne aus J wieder. Bewahrt sind in der J. L. die Namen von 28 Tonautoren; drei Namen sind mit dem Corpusbeginn von Nr. 1, 11a (Fegfeuer), 27 (Frauenlob) verloren gegangen; das WizlavCorpus (Nr. 24) hat keine Überschrift. Über Auswahl- u. Anordnungsprinzip lässt sich nicht sicher urteilen. J begann auf dem verlorenen Bl. 1 mit dem Text einer geistl. Kontrafaktur zum Leich Walthers von der Vogelweide u. setzt wahrscheinlich einen Codex fort, der – genau wie der erste »liber mangnus cum notis« im Wittenberger Bücherverzeichnis von 1437 – mit Walthers Leich (unter Noten) endete. Vorausgesetzt, dieser Codex hatte einiges Volumen, wird er außer einem Walther-Corpus am ehesten ein Reinmar-von-Zweter-Corpus enthalten haben; zu denken ist ferner an weitere Dichter bis ins zweite Drittel des 13. Jh.; Lieder waren
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vielleicht stärker vertreten als in J. Hier überwiegen Sänger aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. u. der Wende zum 14. Jh. (noch jünger als Frauenlob [† 1318] ist evtl. Reinolt von der Lippe) u. Sänger aus dem nördl. u. mittleren Deutschland. Auf die Leichkontrafaktur folgen mit Stolle u. Bruder Wernher frühe Autoren, dann bis Nr. 23 v. a. Kleincorpora; durch ihren Umfang ragen Nr. 21 (Rumelant von Sachsen) u. Nr. 23 (Friedrich von Sonnenburg) hervor. Erst kurz vor oder um 1350 wurde das für J atypische Lied- u. Spruchœuvre Wizlavs (Nr. 24) angefügt. Die Gruppe Nr. 25–30a/b war vielleicht zunächst als eigenständige Sammlung konzipiert; sie setzt auf neuer Lage mit dem töne- u. strophenreichen Œuvre des Meißner ein u. bricht heute – nach Konrad von Würzburg, Frauenlob, Boppe, Hermann Damen – in dem vielstrophigen Wartburgkrieg-Komplex unter den Namen [Heinrich] von Ofterdingen u. Wolfram [von Eschenbach] ab. Wegen ihres Melodienreichtums nimmt die J. L. unter den ältesten Aufzeichnungen deutschsprachiger Lieddichtung mit Liniennotation einen herausragenden Platz ein; das Fehlen von Melodien in den MinnesängerSammlungen vermag sie freilich nicht wettzumachen. Mit Noten versehen sind zwei Leichs u. die erste Strophe von 89 Tönen (sechs Melodien sind verstümmelt, eine ist unvollständig eingetragen); drei Melodiestrophen gingen verloren, zehnmal blieben die Notensysteme leer. Die J. L. ist der eindrucksvollste u. am besten erhaltene Repräsentant einer speziellen Liedkodifizierungstradition, die sich im nördl. Deutschland seit etwa 1300 herausgebildet zu haben scheint, vielleicht im Umkreis der brandenburgischen Markgrafen, von denen Otto IV. mit dem Pfeil selbst als Minnesänger hervortrat. Direkt mit J vergleichbar sind Text- u. Melodienbestand dreier Sammlungsfragmente in Basel (Kelin, Boppe, Fegfeuer sowie Wartburgkrieg, mit Noten), Wolfenbüttel (Rumelant von Sachsen, Noten vorgesehen) u. Soest (Frauenlob). Durch Schreibsprache u. charakterist. Details der Einrichtung stehen mit dieser Tradition Bruchstücke in Münster (Walther u. Reinmar [von Zweter?], mit Noten), Berlin (Reinmar
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von Zweter, früher Bonn; Magdeburger Frühlingslied, mit Noten) u. Krakau (Minnelieder Walthers, ehemals Berlin) in Verbindung. Mutmaßlich gilt dies auch für die fünf im Wittenberger Verzeichnis von 1437 genannten, verschollenen »libri (magni) cum notis«. Die Vernachlässigung des Minnesangs in J ist wohl Ergebnis eines Wandels innerhalb dieser Tradition u. entspricht allenfalls teilweise einer Vorliebe der norddt. Dichter für die Spruchdichtung. Ausgaben (vollständige): Die J. L. [Lichtdr. in Originalgröße]. Vorbericht v. Karl Konrad Müller. Jena 1896. – Die J. L. I. Getreuer Abdr. des Textes [u. der Melodien]. Besorgt v. Georg Holz. II. Übertragung [der Melodien], Rhythmik u. Melodik. Bearb. v. Eduard Bernoulli u. Franz Saran. Lpz. 1901. – Die J. L. In Abb. hg. v. Helmut Tervooren u. Ulrich Müller. Göpp. 1972 (verkleinerte Schwarzweißreproduktion). – Digitalisate: http://mdz10. bib-bvb.de/~db/bsb00005819/images/index.html (Dillinger Bl., 2006); http://www3.thulb.uni-jena.de/liederhandschrift/ (2007). – Nachweise zur Sangspruchdichtung in der J. L. in: RSM 3–5. Bearb. v. Frieder Schanze u. Burghart Wachinger. Tüb. 1986–91. – Alle Sangspruchmelodien in: Spruchsang. Hg. Horst Brunner u. Karl-Günther Hartmann. Kassel u. a. (im Druck). Literatur: Karl Konrad Müller, a. a. O. – Georg Holz, Eduard Bernoulli u. Franz Saran, a. a. O. – Karl Bartsch: Untersuchungen zur J. L. Lpz. 1923. – Ewald Jammers: Untersuchungen über die Rhythmik u. Melodik der Melodien der J. L. In: Ztschr. für Musikwiss. 7 (1924/25), S. 265–304. – Gerhard Thiele: Ein ostdt. Artusroman des 13. Jh. In: ZfdA 77 (1940), S. 161–163. – Helmut Tervooren: Einzelstrophe oder Strophenbindung? Diss. Bonn 1967. – Erdmute Pickerodt-Uthleb: Die J. L. Metr. u. musikal. Untersuchungen. Göpp. 1975. – Horst Brunner: Die alten Meister. Mchn. 1975, bes. S. 199–261. – Burghart Wachinger: Der Anfang der J. L. In: ZfdA 110 (1981), S. 299–306. – Ders.: J. L. In: VL (Lit.). – H. Tervooren: Ein neuer Fund zu Reimar v. Zweter. In: ZfdPh 102 (1983), S. 377–391, bes. S. 387–389. – Franzjosef Pensel: Verz. der altdt. [...] Hss. in der Universitätsbibl. Jena. Bln. 1986, S. 307–324. – Thomas Klein: Zur Verbreitung mhd. Lyrik in Norddtschld. In: ZfdPh 106 (1987), S. 72–112, bes. S. 106–111. – B. Wachinger: Von der J. zur Weimarer Liederhs. In: FS Karl Stackmann. Gött. 1987, S. 193–207. – Elmar Mittler u. Wilfried Werner (Hg.): Codex Manesse. Heidelb. 21988, bes. D 3 (Lorenz Welker), G 12 (Lothar Voetz), mit 5 Farbabb.en. – Hans-Jochen
Jendryschik Schiewer: Beobachtungen zur Überlieferung des Artusromans im 13. u. 14. Jh. In: Volker Honemann u. Nigel F. Palmer (Hg.): Dt. Hss. 1100–1400. Tüb. 1988, S. 222–278, bes. S. 228–230. – RSM 1, Tüb. 1994, S. 59–318: Handschriftenverz. Bearb. v. Frieder Schanze u. Eva Klesatschke, hier S. 185 f. – Klaus Klein u. Helmut Lomnitzer: Ein wiederaufgefundenes Blatt aus dem ›Wartburgkrieg‹-Teil der J. L. In: PBB 117 (1995), S. 381–403. – L. Welker: J. L. In: MGG, Sachteil (Lit.). – B. Wachinger: Wizlav. In: VL. – Robert Lug: Drei Quadratnotationen in der J. L. In: Die Musikforsch. 53 (2000), S. 4–40. – Christoph März u. L. Welker: Überlegungen zur Funktion u. zu den musikal. Formungen der ›J. L.‹. In: Sangspruchdichtung. Hg. Dorothea Klein u. a. Tüb. 2007, S. 129–152 (s. auch Register S. 403). – Gisela Kornrumpf: Vom Codex Manesse zur Kolmarer Liederhs. I. Tüb. 2008, bes. S. 115 f., 126 f. (zus. mit B. Wachinger), 190 f., 193–195. – RSM 2, 1 u. 2. Bearb. v. Johannes Rettelbach. Tüb. 2009. – Jens Haustein u. Franz Körndle (Hg.): Die J. L. Bln./ New York (im Druck). Gisela Kornrumpf
Jendryschik, Manfred, * 28.1.1943 Dessau. – Erzähler, Lyriker, Essayist, Herausgeber. J., Sohn eines Ingenieurs, wurde siebzehnjährig Mitgl. des Dessauer Zirkels Schreibender Arbeiter. Nach dem Abitur war er als Buchhändler u. Transportarbeiter tätig. 1962–1967 studierte er Germanistik u. Kunstgeschichte in Rostock, arbeitete 1967–1976 als Lektor beim Mitteldeutschen Verlag in Halle u. lebte anschließend als frei schaffender Schriftsteller in der DDR. 1990–1996 war J. Kulturdezernent in Dessau. Seit 1996 ist er Mitgl. des dt. P.E.N.-Zentrums. J.s epigrammat. Prosagedichte widersetzen sich eindimensionaler Deutung u. geben einem reflektierenden Subjektivismus Raum. Von seiner Tendenz zur Verknappung zeugen auch die erzählerischen Miniaturen – Charakteristiken von Personen, Situationen u. Verhaltensweisen – des Bands Der feurige Gaukler auf dem Eis (Halle 1981). J. untersucht in seinen Texten die in der Gesellschaft gegebenen Freiräume für die Persönlichkeitsentfaltung des Individuums – Hauptthema auch in seinem Roman Johanna oder Die Wege des Dr. Kanuga (Halle 1972, Mchn. 1976). Als eine Parabel auf die Ereignisse rund um den
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Mauerfall ist der Roman Die Reise des Jona (Halle 1995) zu lesen, in dem J. die Geschichte des Propheten Jona erzählt, der von Gott in die Stadt Ninive gesandt wurde, um die Bewohner vor dem nahenden Untergang zu warnen u. sie zur Umkehr zu bewegen. Weitere Werke: Glas u. Ahorn. 28 Gesch.n. Rostock 1967. – Die Fackel u. der Bart. 33 Gesch.n. Ebd. 1971. – Lokaltermine. Notate zur zeitgenöss. Lyrik. Halle 1974. – Jo, mitten im Paradies. Rostock 1974 (E.en). – Aufstieg nach Verigovo. Erzählungen u. Tagebücher. Halle 1975. – Ein Sommer mit Wanda. Legenden v. der Liebe. Halle 1976. – Die Ebene. Halle u. Ffm. 1980 (L.). – Anna, das zweite Leben. Prosa u. a. Auskünfte. Halle 1983 (mit Bibliogr.). – Zwischen New York u. Honolulu. Briefe einer Reise. Halle 1986. – Straßentage. TagebuchSeiten. Lpz. 1991. – Sieben u. eine Todsünde. Passau 1998 (E.en). – Babylons Mauern. Passau 2002 (E.en). – Herausgeber: Bettina pflückt wilde Narzissen. Halle 1972 (Erzählanth.). – Alfons auf dem Dach u. a. Gesch.n. Halle 1982. – Unterwegs nach Eriwan. Reisen in die Sowjetunion 1918 bis 1934. Halle 1988. – Das Kind im Schrank u. a. Texte sachsen-anhalt. Autoren. Lpz. 1998. Literatur: Klaus Schuhmann: Die Kunst der Miniatur. In: SuF 38 (1986), S. 673–679. Alfred Strasser
Jenisch, Daniel, * 2.4.1762 Heiligenbeil/ Ostpreußen, † 9.2.1804 (?) Berlin. – Theologe, Popularphilosoph, Philologe, Historiker, Literaturkritiker, Epiker u. Lyriker. Nach seiner Gymnasialzeit studierte J. Theologie u. Philosophie (Magister) in Königsberg. Er hörte bei Kant u. war mit ihm u. Hamann vertraut. Im Mai 1786 zog er nach Berlin. Eine bald darauf in Braunschweig übernommene Hofmeisterstelle ermöglichte ihm eine kurze Hollandreise. 1788 in Berlin ordiniert, wurde J. dritter Prediger an der Marienkirche, 1792 vierter Diakon an St. Nicolai. Nach dem Tod Karl Philipp Moritz’ (1793), mit dem er befreundet war, übernahm er auch die Professuren der Altertümer an der Berliner Akademie der bildenden Künste, des Geschäftsstils an der Bauakademie u. der dt. Literatur am frz. Gymnasium zu Berlin. Am 25.5.1794 heiratete er Henriette Diterich, Tochter eines Oberkonsistorialrats u. Archi-
diakons an St. Marien. Ob er sich tatsächlich in einem Anfall von Schwermut am 9.2.1804 in die Spree gestürzt hat, bleibt Vermutung; an diesem Tag wurde er zuletzt gesehen. Es gab das Gerücht, er sei heimlich aus Berlin entwichen u. in ein Kloster gegangen. Noch 1806 glaubte ihn seine Frau unter den in Franken von den Franzosen festgenommenen Buchhändlern – aber der in Zeitungen erwähnte Jenisch aus Augsburg trug einen anderen Vornamen. Eintragungen in der Conduitenliste der Berliner Prediger für 1803 deuten auf eine psych. Erkrankung hin. Mehrfach hat sich J. über seine karge Besoldung beklagt. Sicher war der Wunsch, seine Lebensbedingungen zu verbessern, häufig das Motiv seiner ausgedehnten theolog., philolog., philosophischen u. histor. Schriftstellerei. J. hat Werke von James Harris, Thomas Campbell u. Jean-Jacques Barthélemy übersetzt. Er war mit Gedike u. Biester bekannt u. veröffentlichte in Berliner Zeitschriften der Spätaufklärung, aber auch im »Teutschen Merkur« u. im »Magazin zur Erfahrungsseelenkunde«. Sein Aufsatz Ueber Prose und Beredsamkeit der Deutschen (in: Berlinisches Archiv der Zeit und ihres Geschmacks, März/April 1795) provozierte Goethes übereilte Replik Literarischer Sansculottismus. J. schrieb die erste umfassende Interpretation über Wilhelm Meisters Lehrjahre u. verfasste eine Theorie der Lebensbeschreibung (Bln. 1802). In einigen Gedichten begrüßte er die Französische Revolution. Sein Preußenepos über Friedrich II., Borussias in 12 Gesängen (Bln. 1794), zog ihm den Spott der Weimarer u. der Romantiker zu, mit denen er sich satirisch in Diogenes Laterne (Lpz. 1799) anlegte. Weitere Werke: Ueber Grund u. Werth der Entdeckungen des Herrn Prof. Kant in der Metaphysik, Moral u. Aesthetik [...]. Bln. 1786. Neudr. Brüssel 1973. – Der allezeit-fertige Schriftsteller. Oder kurze, doch gründl. Anweisung, wie man [...] ein großer u. fruchtbarer Schriftsteller werden könne [...]. Bln. 1797. Neudr. Mchn. 1981. – Geist u. Charakter des 18. Jh., politisch, moralisch, ästhetisch u. wissenschaftlich betrachtet. 3 Tle., Bln. 1800/01. Literatur: Wolfgang Biesterfeld: Friedrich der Große als epischer Held: D. J.s ›Borussias‹ (1794).
137 In: Jürgen Ziechmann (Hg.): Friderician. Miniaturen 1. Bremen 1988, S. 171–180, 234. – Gerhard Sauder: Popularphilosophie u. Kant-Exegese: D. J. In: Christoph Jamme u. Gerhard Kurz (Hg.): Idealismus u. Aufklärung. Kontinuität u. Kritik der Aufklärung in Philosophie u. Poesie um 1800. Stgt. 1988, S. 162–178. – Iwan d’Aprile u. Conrad Wiedemann (Hg.): D. J. Kant-Exeget, Popularphilosoph u. Literat in Berlin. Laatzen 2003. – Hermann Patsch: D. J. In: Bautz 24 (mit Lit). Gerhard Sauder / Red.
Jenny, Zoë, * 16.3.1974 Basel. – Verfasserin von Romanen, Erzählungen u. Essays.
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geschichten, darunter Auf der Heimfahrt, für die J. 2002 den Zentralschweizer Publikumspreis für Literatur erhielt, das Kinderbuch Mittelpünktchens Reise um die Welt (Mchn. 2001), die Veröffentlichung einer Anthologie (2005), Essays u. Vorträge zur Poetik (in: Zukunft! Zukunft? Tübinger Poetik Vorlesung. Hg. Jürgen Wertheimer. Tüb. 2000, S. 85–93). J. verfasste auch das Drehbuch zu dem Kurzfilm In Nuce. Ein Filmpoem (1999), den sie mit ihrem Bruder Caspar Jenny für das ZDF u. 3sat realisierte. 2002 war sie Preisrichterin am Internationalen Filmfestival von Locarno. Literatur: Stephanie v. Selchow (Hg): Siehst
J., Tochter eines Verlegers, wuchs in Grie- den Horizont? Franka Potente, Z. J., Franziska van chenland u. in der Schweiz auf u. lebt seit Almsick, Melanie Rohde, Renate Schmidt u. v. a. über ihr Leben. Aarau/Ffm. 2002. – Bernhard Fetz: 2003 in England. 1997 erschien ihr Erstlingsroman u. Über- Was ist gegenwärtig an der gegenwärtig neuesten raschungserfolg Das Blütenstaubzimmer (Ffm.), Lit.? Ein Quellenstudium zur Bewusstseinslage am Beispiel v. Bettina Galvagni, Z. J., Juli Zeh, Martin für den sie das 3sat-Stipendium des IngeborgPrinz u. Thomas Raab. In: Friedbert Aspetsberger Bachmann-Wettbewerbs in Klagenfurt, den (Hg.): (Nichts) Neues. Trends u. Motive in der »aspekte«-Literaturpreis u. den Literaturför- (österr.) Gegenwartslit. Innsbr. 2003, S. 15–35. – derpreis der Jürgen-Ponto-Stiftung erhielt u. Elmar Krekeler: Z. J. In: LGL. der in 27 Sprachen übersetzt wurde. Der RoHania Siebenpfeiffer man erzählt die Geschichte von Jo, die sich, eben volljährig, auf die Fahrt zu ihrer seit zwölf Jahren von der Familie getrennt leJens, Ina, eigentl.: Claudia Werkmeisterbenden Mutter macht. Die Reise zur Mutter Cadisch, * 22.10.1880 Thusis, † 17.1.1945 wird als Reise in die eigene Kindheit u. das Valparaiso/Chile. – Erzählerin. eigene, erwachsene Ich erzählt, an deren Ende Jo, von ihrem Vater u. ihrer Mutter gleicher- Nach der Schulzeit in Thusis u. der Ausbilmaßen enttäuscht, allein bleibt. Das titelge- dung zur Primarlehrerin in Chur arbeitete J. bende Blütenstaubzimmer erscheint im Ro- an einer dt. Schule in Bulgarien u. lernte dort man als fantastisch-realer Todesort der Mut- ihren Mann, den Pädagogen Carl Werkmeister u. Wunschwelt der Tochter zugleich. ter, kennen. Mit ihm ging sie 1907 nach Mit dem Erfolg ihres Erstlingswerks wurde Chile, wo sie in Concepción u. ab 1916 in J. zusammen mit Judith Hermann, Julia Valparaiso an dt. Schulen unterrichtete. In Franck u. Juli Zeh zum so genannten »Fräu- sehnsüchtiger Erinnerung an ihre Heimat lein-Wunder« gezählt, einer heterogenen begann sie Kurzgeschichten zu schreiben, die Gruppe von jungen Autorinnen, die Ende der anhand von lebensvollen Figuren u. ein1990er Jahre mit überaus erfolgreichen Erst- prägsamen Ereignissen das Erlebnis der lingsromanen auf sich aufmerksam machten Kindheit in einem Bündner Bergtal darstellen u. von der Literaturkritik als Vertreterinnen u. die sie mit großem Erfolg veröffentlichte: einer neuen Form weibl. Schreibens gefeiert Maja (Basel 1926) u. Rosmarin (ebd. 1928). wurden. Blütenstaubzimmer vorausgegangen Künstlerisch u. von ihrer Authentizität her ist waren mehrere Kurzgeschichten u. das diesen Texten vor den Heidi-Erzählungen Kunstbuch Sperrzone (mit Fotoarbeiten von Spyris, mit welchen sie thematisch u. stofflich Angelo A. Lüthi. Basel 1998). Es folgten wei- sehr viel gemeinsam haben, unbedingt der tere Romane (Der Ruf des Muschelhorns. Ffm. Vorzug zu geben. Weniger geglückt erschei2000. Ein schnelles Leben. Bln. 2002. Das Portrait nen dagegen die Erzählungen, in denen J. (Ffm. 2007), mehrere Erzählungen u. Kurz- ihre Chileerfahrungen verarbeitet: Mirasol.
Jens
Ein deutscher Junge erlebt Chile (Stgt. 1935) oder Unter chilenischem Himmel (Basel 1941). Literatur: Max Ruh: I. J. In: Nachw. zu ›Maja‹ u. ›Rosmarin‹. Neuausg. in einem Bd., Thusis 1980, S. 262–264. Charles Linsmayer
Jens, Walter, auch: Walter Freiburger, Momos, * 8.3.1923 Hamburg. – Rhetor, Erzähler, Altphilologe, Literaturkritiker. J. studierte in Hamburg u. Freiburg i. Br. bei Bruno Snell u. Martin Heidegger, promovierte 1946, rückdatiert auf 1944, bei Karl Büchner in Freiburg über die Dialoge bei Sophokles u. habilitierte sich 1949 in Tübingen mit der Arbeit Tacitus und die Freiheit. 1950 gelang ihm der Durchbruch als Erzähler; im selben Jahr wurde er Mitgl. der Gruppe 47. 1951 heiratete J. Dr. Inge Puttfarcken. 1956–1962 war er außerplanmäßiger Prof. für Klassische Philologie, 1962/63 außerordentlicher u. 1963–1988 o. Prof. für Klassische Philologie u. Allgemeine Rhetorik in Tübingen, 1967–1988 Direktor des neu gegründeten Seminars für Allgemeine Rhetorik. 1976–1982 u. nach dem Tod Martin Gregor Dellins bis 1989 war J. Präsident des P.E.N.-Zentrums der BR Deutschland, 1989–1997 Präsident der Akademie der Künste zu Berlin, danach Ehrenpräsident u. 1990–1995 Vorsitzender der Martin-Niemöller-Stiftung. Die erzählerischen Anfänge von J. stehen im Zeichen von Kafka u. Orwells negativer Utopie 1984. Schon in der unter dem Pseudonym Walter Freiburger veröffentlichten Novelle Das weiße Taschentuch (Hbg. 1947. Stgt. 1989) verfasst der Protagonist O. eine postume Grabrede, nachdem man ihn für »voll gefängnisfähig« erklärt hat. In dem Roman Nein – Die Welt der Angeklagten (Hbg. 1950) wird die Hauptfigur Walter Sturm, ein 45-jähriger Historiker, der eine Studie über Nero verfasst hat, ohne erkennbaren Grund einem Richter vorgeführt, der ihm die Aufteilung der Welt in Angeklagte u. Richter erläutert. Der Roman spielt 22 Jahre nach einem Krieg, aus dem ein einziger totalitärer Weltstaat hervorgegangen ist. Sturm lernt das Innenleben u. die (psychischen) Foltermethoden dieses totalitären Überwachungs-
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staates kennen, dessen Ziel in einer völligen Uniformierung des Lebens besteht. Als Sturm das Angebot, die Funktion eines Richters zu übernehmen, ausschlägt, wird er erschossen. Der Roman endet mit der Schilderung des gleichförmigen Alltags eines Jedermann u. dem Satz: »Früher nannte man sie: die Menschen.« In den 1950er Jahren als Romancier, v. a. aber als Fernsehkritiker der »Zeit« unter dem Pseud. Momos bekannt geworden, suchte J. als Altphilologe die Bedeutung der antiken Göttermythen u. der neutestamentl. Gottesgeschichte durch Übersetzungen griech. Literatur (1959 Deutscher Jugendbuchpreis für Ilias und Odyssee. Ravensburg 1958) u. der Bibel (am anfang der stall, am ende der galgen, jesus von nazareth. Seine Geschichte nach Matthäus. Stgt. 1972. Das A und das O. Die Offenbarung des Johannes. Stgt. 1987. Die Zeit ist erfüllt. Die Stunde ist da. Das Markus-Evangelium. Stgt. 1990. Und ein Gebot ging aus. Das Lukas-Evangelium. Stgt. 1991. Am Anfang das Wort. Das Johannes-Evangelium. Stgt. 1993. Der Römerbrief. Stgt. 2000) neu zu erschließen, unter einer gegenläufigen Perspektive die Geschichte Jesu oder seines Weggefährten Judas (Der Fall Judas. Stgt. 1975) u. Pilatus (TV SWF 1994) zu würdigen. Von der Altphilologie her argumentierend, verdeutlicht sein Buch Statt einer Literaturgeschichte (Pfullingen 1957), dass die moderne Literatur entscheidend von der krit. Auseinandersetzung u. dem reflektierten Wiedergewinn antiker Bildvorstellungen geprägt ist. Auf das eigene literar. Werk übertragen wurde die Frage nach der Möglichkeit dichterischer Produktion in dem fiktiven Briefwechsel Herr Meister. Dialog über einen Roman (Mchn. 1963). Ein Dichter u. ein Literaturwissenschaftler besprechen darin ein scheiterndes Romanprojekt. Melancholie ist das Thema, eine Melancholie, die der Spannung zwischen Tradition u. Gegenwart entspringt u. das bevorzugte Genre »erdachte Monologe, imaginäre Gespräche« (so der Untertitel zu Der Teufel lebt nicht mehr, mein Herr. Stgt. 2001) bedingt. In den 1970er u. 1980er Jahren weitete J. dieses kulturkrit. Thema aus zu einem Dialog zwischen jüdisch-christl. Glauben u. Litera-
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tur (zus. mit Hans Küng: Dichtung und Religi- Euripides. Mchn. 1982. – Kanzel u. Katheder. on. Mchn. 1985. Theologie und Literatur. Mchn. Polit., literar. u. geistl. Reden. Mchn. 1984. – Ver1986. Hg. zus. mit Karl-Joseph Kuschel) so- gessene Gesichter. Mchn. 1985 (R.). – Die Friewie in den 1990er Jahren zur medizinischen densfrau. Nach der Lysistrate des Aristophanes. Mchn. 1986. – Aus gegebenem Anlaß. Texte einer Ethik (Menschenwürdig sterben. Ein Plädoyer für Dienstzeit. Bln. 1998. – Herausgeber: Kindlers Neues Selbstverantwortung. Mchn. 1995. Hg. zus. mit Literatur-Lexikon. Mchn. 21988–92. H. Küng. Erw. u. aktualisierte Neuausg. Literatur: W. J. Eine Einf. Mchn. 1965. – HerMchn. 2009). bert Kraft: Das literar. Werk v. W. J. Tüb. 1975. – Als Rhetor will J. Geist u. Gesellschaft Manfred Lauffs: W. J. Mchn. 1980. – Ulrich Berls: durch die Kunst des gesprochenen Worts W. J. als polit. Schriftsteller u. Rhetor. Tüb. 1984. – versöhnen (Eine deutsche Universität. 500 Jahre Walter Hinck: W. J. Mchn. 1993. – Dariusz MarciTübinger Gelehrtenrepublik. Mchn. 1977). Das niak: Die Diktion des poeta doctus. Münster 2000. Vorbild für das demokratische Engagement – Karl-Josef Kuschel: W. J. – Literat & Protestant. des in ganz Deutschland häufig u. gern ge- Düsseld. 2003. – Doris Rosenstein: W. J. In: LGL. – sehenen Gastredners ist Lessing, dem er den Daniel Tobias Seger: W. J. In: IGL. – Götz Aly: Was wusste W. J.? Wahrscheinlich geschah seine AufEssay Feldzüge des Redners (in: In Sachen Lessing. nahme in die NSDAP ohne eigene Kenntnis. ReStgt. 1983) widmete u. den er immer wieder konstruktion einer akadem. Jugend. In: Die Zeit, zum Ausgangspunkt seines »radikaldemo- 15.1.2004. – Tilman Jens: Demenz. Abschied v. kratischen« Bemühens nimmt. meinem Vater. Gütersloh 2009. Gemeinsame Projekte mit seiner Frau gelMaria Behre / Jürgen Egyptien ten der Spurensuche in der Familie Mann (Frau Thomas Mann. Das Leben der Katja Prings- Jensen, Wilhelm (Hermann), * 15.2.1837 heim. Reinb. 2003. Auf der Suche nach dem ver- Heiligenhafen/Holstein, † 24.11.1911 lorenen Sohn. Die Südamerika-Reise der Hedwig München; Grabstätte: Fraueninsel/ Pringsheim 1907/08. Reinb. 2006). In der Chiemsee. – Novellist, Romancier, LyriSpannung zwischen Ort der Handlung ist ker, Dramatiker; Redakteur. Deutschland. Reden in erinnerungsfeindlicher Zeit (Mchn. 1981) u. Macht der Erinnerung (Düsseld. Der unehel. Sohn des dän. Etatsrats, Kieler 1997) bzw. Vergangenheit – gegenwärtig (Stgt. Bürgermeisters u. späteren Sylter Landvogts 1994) steht J. auch biografisch, als 2003 seine Swenn Hans Jensen u. der Dienstmagd Engel (un)wissentlich-(un)willentl. NS-Mitglied- Dorothea Bahr wurde mit dem dritten Leschaft öffentlich wurde, nach dem NS-For- bensjahr von der ledigen Pauline Moldenhascher Götz Aly »eine Bagatelle, die der öf- wer adopiert. Er besuchte das Kieler Gymnafentlichen Erörterung nicht wert ist«. Tilman sium u. das Katharineum zu Lübeck, bevor er Jens hat die 2004 manifest gewordene De- ab 1856 in Kiel, Würzburg, Jena u. Breslau menz seines Vaters in den Zusammenhang Medizin, Philosophie u. Literatur studierte. mit der öffentl. Debatte um dessen NS-Mit- Schon früh verfolgte er seine literar. Interesgliedschaft gerückt u. als Ausdruck der Ver- sen u. Kontakte. 1860 promovierte er in drängungsreflexe der Vätergeneration ge- Breslau mit einer Arbeit zum Nibelungenlied zum Dr. phil. u. ging 1862 als Bewunderer deutet. In seinem moralisch umstrittenen Geibels zu diesem nach München. 1863 beBekenntnisbuch Demenz wird die für Aufklägegnete er auf der Fraueninsel im Chiemsee rung u. Demokratie einstehende Ikone J. deMarie Brühl, der kunstsinnigen, später als montiert. Malerin dilettierenden Tochter des Wiener Weitere Werke: Das Testament des Odysseus. Schriftstellers u. Journalisten Moriz Augustin Pfullingen 1957 (R.). – Die Götter sind sterblich. Brühl u. der kath. Novellistin Maria Theresia Pfullingen 1959 (Reiseber.). – Die Verschwörung. Grünwald 1969 (Fernsehsp.). – Antiquierte Antike? Brühl. J. folgte ihr nach Wien u. verkehrte im Perspektiven eines neuen Humanismus. Münster- Kreis um Laube. Nach der Hochzeit 1865 dorf 1971. – Fernsehen. Themen u. Tabus. Momos zogen sie nach Stuttgart. Dort begann u. a. die 1963–73. Mchn. 1973. – Republikan. Reden. Mchn. Lebensfreundschaft mit Raabe. Im Zuge 1976. – Der Untergang. Nach den Troerinnen des starken polit. Engagements für die dt. Eini-
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gung übernahm J. 1866 die Redaktion der kleindeutsch-oppositionellen »Schwäbischen Volkszeitung«. In Schleswig lernte J. 1867 Storm kennen, als dessen Schüler er sich fortan verstand. Die motivische u. kompositor. Orientierung an Storm begründete J.s Ruhm als Erzähler, beginnend mit den Novellen Magister Timotheus (Schleswig 1866), Westwardhome (Bln. 1866), Die braune Erica (Bln. 1868) u. der Erzählung Im Pfarrdorf (Bln. 1868). Schauplätze der norddt. Küstenlandschaft wechseln mit exot. Milieu (Unter heißerer Sonne. Braunschw. [1869]. Eddystone. Bln. 1872. Sonne und Schatten. 2 Bde., Bln. 1873). Den dauerhaftesten Erfolg hatte die Erzählung Karin von Schweden (Bln. 1872. 234. Tsd. 1957). Daneben pflegte J. die histor. Erzählung u. den histor. Roman (Minatka. 2 Bde., Braunschw. 1871). 1869–1872 leitete J. in Flensburg die Redaktion der deutschnationalen »Norddeutschen Zeitung«. Danach lebte das Paar in Kiel; dort entstand u. a. der religionsphilosophische, in der Französischen Revolution spielende Roman Nirwana. Drei Bücher aus der Geschichte Frankreichs (4 Bde., Breslau 1877. Lpz. 41912), dessen dezidiert atheistisch-pessimistische Haltung klerikale Anfeindung nach sich zog. Ähnliche Kontur zeigt der auf Norderney spielende Roman Runensteine (Lpz. 1888. 51911), in Freiburg i. Br. entstanden, wohin das Paar 1876 übergesiedelt war. Dort gewann J. den Maler Emil Lugo zum langjährigen Freund, mit dem er in den 1890er Jahren zahlreiche Reisen nach Italien unternahm. Eine bes. Liebe entwickelte J. in dieser Zeit für den Schwarzwald, den er u. a. mit Wilhelm Raabe durchwanderte u. dem er die ausführl. geografische, botan., zoolog. u. histor. Beschreibung Der Schwarzwald (2 Bde., Bln. 1890. 3., überarb. Aufl. 3 Bde., Lpz. 1901. Nachdr. Augsb. 1997) widmete. Ebenfalls eine Reminiszenz an seine Zeit in Freiburg ist sein histor. Roman aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges Um den Kaiserstuhl (2 Bde., Bln. 1878). Daneben schrieb J. auch humoristische Prosa in Dickens’scher Manier (Trimborn und Co. Bln. 1871). Die Publikation mehrerer Gedichtbände (sieben zwischen 1869 u. 1912) fand kaum Resonanz; seine Kriegslieder zum
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Deutsch-Französischen Krieg (Lieder aus dem Jahre 1870. Bln. 1870) erfuhren allerdings eine zweite, erweiterte Auflage (1872), obwohl J. eine eigene Kriegsteilnahme lediglich fingierte. Die patriotischen Lieder lösten eine Kontroverse über die Notwendigkeit authent. Dichtung aus. Ab 1888 lebte das Ehepaar in München u. bei Prien am Chiemsee. Unermüdlich, aber mit schwindendem Erfolg setzte J. seine erzählerische Produktion in verschiedenen Genres fort – von der weiterhin meist patriotisch getönten histor. Erzählung (Deutsche Männer. Geschichtlicher Roman aus dem Jahre 1800. Lpz. 1909) über die »Seegeschichte« bis zur »Heimatkunst« (Chiemgau-Novellen. Lpz. 1895. Luv und Lee. 2. Bde., Weimar 1897. Aus See und Sand. 2 Tle., Dresden/Lpz. 1897. Heimath. Ebd. 1901, 21906). Die Heirat der jüngsten Tochter J.s 1892 mit Ernst Prinz von Sachsen-Meiningen, dem Sohn des »Theaterherzogs«, brachte gesellschaftl. Aufstieg; auf der Meininger Bühne konnte J. dennoch nicht reüssieren – ebensowenig wie sonst als Dramatiker (Der Kampf für’s Reich. Freib. i. Br. 1884). Der engagierte Anhänger des Poetischen Realismus, der auf seinen »Meister« Storm in dessen späteren Jahren nicht ohne Einfluss blieb u. zeitweise auch Raabe auf den »rechten Weg« zurückzwingen wollte, verband pessimistische Weltsicht mit idealistischer Verklärung im ästhetischen Text u. blieb damit zunehmend hinter den Zeitströmungen zurück. Als national-patriotisch Gesinnter, der zgl. seine Stimme gegen den Antisemitismus seiner Zeit erhob (Die Juden von Cölln. Novelle aus dem deutschen Mittelalter. Flensburg 1869. Köln 2008), nahm J. ebenfalls eine Außenseiterposition ein. Die seit den späten 1880er Jahren verstärkte Kritik entzündete sich jedoch nicht daran, sondern man warf ihm oberflächlich-gefällige Vielschreiberei vor, Mangel an echter Empfindung, Beliebigkeit von Stoffen u. Lokalkolorit, Selbstplagiat. Aus seinem über 140 Bände umfassenden Werk hat v. a. die späte Pompeji-Erzählung Gradiva (Dresden/Lpz. 1903. Ffm. 2003) Bedeutung erlangt, da Freud 1907 an ihr die psychoanalyt. Traumdeutung exemplifizierte u. mit seiner Studie Der Wahn und
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die Träume in W. Jensens ›Gradiva‹ die erste psychoanalyt. Literaturinterpretation vorlegte, in der das Verhältnis von literar. Imagination, Archäologie u. Psychoanalyse wegbereitend bestimmt wird. Trotz vereinzelter Neuauflagen wirkten seine zahlreichen histor. Romane dagegen nicht nach, auch weil sie nicht als eigenständige Beiträge zum Genre wahrgenommen werden. Weitere Werke: Ausgaben: Briefw. Raabe/J. Hg. Else Hoppe. Freiburg i. Br. 1970 (W. Raabe: Sämtl. Werke. Erg.-Bd. 3). – Einzelausgaben: Gedichte. Stuttg. 1869. Bln. 21872. – Nordlicht. Bln. 1872 (N.n). – Nymphäa. Stgt. 1873. Lpz. 21881. – Aus wechselnden Tagen. Karlsr. 1878 (L.). – Nach Sonnenuntergang. Bln. 1879 (R.). – Das Pfarrhaus v. Ellernbrook. 2 Bde., Stgt. 1879. 21880/81 (R.). – Aus stiller Zeit. 4 Bde., Bln. 1881–85 (N.n). – Versunkene Welten. Histor. Roman. 2 Bde., Breslau 1882. 2 1886. – Vom röm. Reich dt. Nation. Roman aus dem 18. Jh. 3 Bde., Bln. 1882. Lpz. 21911. – Der Teufel in Schiltach. Bln. 1883 (R.). – Der Pfeifer v. Dusenbach. Eine romant. Erzählung. Lpz. 1884. 8 1918. – Aus den Tagen der Hansa. Freiburg i. Br. 1885. Lpz. 51930 (N.n). – Am Ausgang des Reiches. Lpz. 1886. Bln. 81927. – Die Heiligen v. Amoltern. Lpz. 1886 (N.). – Götz u. Gisela. Bln. 1886. – Diana Abnoba. Eine Schwarzwaldgesch. v. der Baar. 2 Bde., Lpz. 1890. – Die Kinder vom Oedacker. 2 Bde., Lpz. 1890. – In Zwing u. Bann. Dresden/Lpz. 1892. 8. Aufl. Bln o. J. [nach 1905] (R.). – Die Wunder v. Schloss Gottorp. Ein Gedächtnisblatt aus dem vorigen Jh. Weimar 1892. – Die Schatzsucher. Eine Begebenheit aus dem Jahr 1848. Lpz. 1892. – Hunnenblut. Eine Begebenheit aus dem alten Chiemgau. Lpz. 1892. 31943. – Übermächte. Bln. 1892 (N.n). – Auf der Feuerstätte. 3 Bde., Lpz. 1893 (R.). – Astaroth. Zwei Novellen aus dem dt. MA. Breslau 1893. – Auf der Ganerbenburg. Eine tragikom. Historie. Weimar 1896. – Der Hohenstaufer Ausgang. Dresden/Lpz. 1896. 31912. – Der Nachbar. Bln. 1897 (N.). – Um die Wende des Jahrhunderts. 1789–1806. Dresden/Lpz. 1899 (R.). – Die Rosen v. Hildesheim. Ein Roman aus der Stauferzeit. 2 Bde., Lpz. 1900. Bln. 51919. – Nachtu. Tagesspuk. Zwei Sommernovellen. Dresden/Lpz. 1900. – Durch den Schwarzwald. Lpz. 1900. 21903. – Die fränk. Leuchte. Dresden/Lpz. 1901. – Der Schleier der Maja. Lpz. 1902 (R.). – Brandenburgischer Pavillon hoch! Eine Gesch. aus Kurbrandenburgs Kolonialzeit. Lpz. 1902. – Mettengespinst. Bln. 1902. Mchn. 21903 (E.). – Mutterrecht. Im Talgang des Kaiserstuhls. Bln. 1903. Neuausg. Freib. i. Br. 1993 (N.). – Der Tag v. Stralsund. Ein
Jensen Bild aus der Hansezeit. Dresden/Lpz. 1903. – Vor drei Menschenaltern. Ein Roman aus dem holstein. Land. Dresden/Lpz. 1904. – Gäste auf Hohenaschau. Dresden 1904 (R.). – Vor der Elbmündung. Dresden 1905. 21907 (N.). – In majorem Dei gloriam. Ein Gedächtnisbuch aus dem 17. Jh. Dresden 1905. – Unter der Tarnkappe. Ein schleswig-holstein. Roman aus den Jahren 1848 bis 1850. 2 Bde., Dresden 1906. – König Friedrich. Ein geschichtl. Roman. 3 Bde., Bln. 1908. – Die Nachfahren. Ein geschichtl. Roman. Lpz. 1909. – Fremdlinge unter den Menschen. 2 Bde., Dresden/Lpz. 1911. – Auf dem Vestenstein. Histor. Roman. Lpz. 1912. 21926. Literatur: Karl Busse: W. J. In: Bl. für literar. Unterhaltung, 25.6.1895, S. 465–468. – Gustav Adolf Erdmann: W. J. Lpz. o. J. [1907]. – Wilhelm Arminius (d.i. Wilhelm Hermann Schultze): W. J. Lpz. 1908. – Alfred Biese: W. J. Ein Nachruf. In: Die Gartenlaube (1911), S. 1154 f. – Willy Rath: W. J. In: Konservative Monatsschr. (1911), S. 318–324. – Waldemar Barchfeld: W. J. als Lyriker. Münster 1913. – Ludwig Fulda: W. J. zum Gedächtnis. In: Wilhelm Raabe u. sein Lebenskreis. Hg. Heinrich Spiero. Bln.-Grunewald 1931, S. 170–175. – Wilhelm Fehse: Raabe u. J. Denkmal einer Lebensfreundschaft. Bln. 1940. – Eckhardt Meyer-Krentler: Stopfkuchen – Ein Doppelgänger. Wilhelm Raabe erzählt Theodor Storm. In: Jb. der RaabeGesellsch. 1987, S. 179–204. – Horst Denkler: Marie Jensen. Angaben zur Person einer schönen Unbekannten. In: Ders.: Neues über Wilhelm Raabe. Tüb. 1988, S. 43–47. – Ders.: Wilhelm Raabe. Tüb. 1989, S. 100–110. – Jeffrey L. Sammons: W. Raabe’s and W. J.’s Scandinavian Fictions. A Contrast in Nationalisms. In: Studies in German and Scandinavian literature after 1500. Hg. James A. Parente. Columbia 1993, S. 116–128. – Michael Rohrwasser, Gisela Steinlechner, Juliane Vogel u. Christiane Zintzen: Freuds pompejan. Muse. Beiträge zu W. J.s Novelle ›Gradiva‹. Wien 1996. – Uwe-Karsten Ketelsen: W. J. oder der Typus des Berufsschriftstellers in der zweiten Hälfte des 19. Jh. In: Jb. der Raabe-Gesellsch. 1996, S. 28–42. – Helmut Richter: Regionale Lit. u. nationaler Gehalt. Eine Stimme aus dem Süddeutschland des Jahres 1866 zur Lit. in der Mark Brandenburg. In: WB 44 (1998), S. 165–189. – Georg Leisten: Marmor u. Mnemosyne. Romant. Bildnisbegegnung u. animator. Erinnerung in W. J.s ›Gradiva‹. In: Jb. der RaabeGesellsch. 2002, S. 155–171. – Jörg Thunecke: ›Es sind nicht alle frei, die ihre Ketten spotten‹. Erwiderung auf Wilhelm Raabes Roman ›Der Hungerpastor‹ in W. J.s ›Die Juden von Cölln‹. In: RaabeRapporte 2002, S. 57–80. – Thorsten Fitzon: Pompejan. Schatten. Die Rezeption Pompejis in der Lit.
Jentzsch um 1900. In: ›Mehr Dionysos als Apoll‹. Antiklassizist. Antike-Rezeption um 1900. Hg. Achim Aurnhammer u. Thomas Pittrof. Ffm. 2002, S. 299–331. – Erella Brown: A Pompeiian Fancy under Jaffa’s Sea. Agnon’s ›Betrothed‹ and J.’s ›Gradiva‹. In: A Journal of Jewish Literary History 16 (2003), S. 245–270. – H. Denkler: Die Verwandlung des Marktgängigen ins Marktwidrige. Raabe schreibt J. um. In: Kunstautonomie u. literar. Markt. Konstellationen des poet. Realismus. Hg. Heinrich Detering u. Gerd Eversberg. Bln. 2003, S. 97–109. – Sigmund Freud: Der Wahn u. die Träume in W. J.s ›Gradiva‹ mit dem Text der Erzählung v. W. J. Hg. Bernd Urban u. Johannes Cremerius. Ffm. 32003. – Hans Krah: ›Hunnenblut‹. Die biologist. u. normalist. (Re-)Vitalisierung der Venusberggesch. in W. J.s spätrealist. Erzählung. In: Abweichende Lebensläufe, poet. Ordnungen. Hg. Thomas Betz. Bd. 1, Mchn. 2005, S. 381–411. – Michael Rohrwasser: Freud liest J.s. Phantasiestück ›Gradiva‹. In: Ders.: Freuds Lektüren. Gießen 2005, S. 163–228. – William Webster: Wars and Rumors of Wars. Questions of Authenticity in German Patriotic Poetry 1870–71. In: GLL 59 (2006), 390–404. Eckhardt Meyer-Krentler † / Thorsten Fitzon
Jentzsch, Bernd, * 27.1.1940 Plauen – Lyriker, Erzähler, Essayist, Kinderbuchautor, Herausgeber. J. studierte 1960–1965 Germanistik u. Kunstgeschichte in Leipzig u. Jena u. arbeitete anschließend bis 1974 als Lektor beim Berliner Verlag Neues Leben. 1976 kehrte er aus Protest gegen die Ausbürgerung Biermanns u. den Ausschluss Kunzes aus dem Schriftstellerverband von einer Reise in die Schweiz nicht mehr in die DDR zurück (Offener Brief an Erich Honecker. In: Der Bund, 24.11.1976). J. trat erstmals 1961 mit dem Gedichtband Alphabet des Morgens (Halle) an die Öffentlichkeit. Darin stellt er in einer durch Technik u. Wissenschaft geprägten Sprache die Alltagserfahrungen seiner noch im Krieg geborenen Generation dar u. versteht dies als Beitrag zum Aufbau des Sozialismus. In der Folge veröffentlichte er nur vereinzelt Gedichte in Anthologien u. verlegte sich auf die Herausgabe deutschsprachiger u. internat. Lyrik in der Monatsschrift »Poesiealbum«, die er 1967 gründete u. bis zu seiner Umsiedlung in die
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Schweiz betreute. Seit 2007 ist er wieder Herausgeber dieser Reihe, deren Erscheinen 1990 eingestellt worden war. 1992–1999 leitete J. das Deutsche Literaturinstitut Leipzig u. lehrte dort als Professor für Poetik. Er ist Mitgl. der Sächsischen Akademie der Künste. In der Gedichtsammlung Quartiermachen (Mchn. 1978) zeigt sich die Entwicklung J.s hin zu politisch unmittelbaren Aussagen, die zum ungewollten Abschied u. Neubeginn führen. In seinen im Grenzbereich zwischen Realität u. Fantastik angesiedelten Erzählungen u. Märchen, für die er in der DDR bekannt war, zeigt J. die Möglichkeit einer neuen Weltsicht durch die unbefangene Betrachtungsweise der Kinder. Als Bestandaufnahme seiner Schwierigkeiten bei der Literaturarbeit in der DDR u. im westl. Exil muss die Textsammlung Flöze. Schriften und Archive. 1954–1992 (Lpz. 1993) gelesen werden, in der J. präzise Erinnerungsarbeit jenseits ideolog. Bruchlinien leistet. Weitere Werke: Jungfer im Grünen. Rostock/ Mchn. 1973 (Gesch.n). – Der bitterböse König auf dem eiskalten Thron. Bln. 1975. – Ratsch u. ade! Sieben jugendfreie E.en. Mit einem ›Nach-Ratsch‹. Rostock 1975, Mchn. 1977. – Vorgestern hat unser Hahn gewalzert. Köln 1978 (Kinderbuch). – Prosa. Ffm. 1978. – Irrwisch. Ein Gedicht. Pfaffenweiler 1980. – Rudolf Leonhard, ›Gedichtträumer‹. Ein biogr. Essay. Mchn./Wien 1984. – Schreiben als strafbare Handlung. Fälle. Assenheim 1985. – Erot. Meer. Gedichte. Aschersleben 2007. – Zählung der wilden Hunde. Gedichte. Euskirchen 2007. – Baukasten für einen Partei-Apparat. Gedichte, Tagebuchverse, Blocksätze. Euskirchen 2007. – Bequem auf dem Schafott. Gedichte. Euskirchen 2008. – Das Gedicht als Gedächtnis des Volkes. Aspekte polit. Dichtung in der DDR. Euskirchen 2008. – Fleischexport oder die industrielle Auswechslung des Staatsviehs. Eine Groteske. Euskirchen 2008. – Die Erschöpfung. Euskirchen 2008 (E.). – Lieder, Texte u. Notate. Euskirchen 2009. – Hobelspäne. Kurzes u. Grobes. Euskirchen 2009. – Der Ursprung der Welt. Liebesgedichte. 1960–2008. Euskirchen 2009. – Das achte Weltwunder, das eigentlich das erste ist. Euskirchen 2009. – Kory Phäe. Eine liebe Gesch. Euskirchen 2009. – Herausgeber: Auswahl 66. Neue Lyrik – Neue Namen (zus. mit Klaus-Dieter Sommer). Bln./DDR 1966. Weitere Bde. 1968–74. – Ich nenn euch mein Problem. Gedichte der Nachgeborenen. Bln./DDR u. Wuppertal 1971. Alfred Strasser
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Jerschke, Oskar, * 17.7.1861 Lähn/Schlesien, † 24.8.1928 Berlin. – Dramatiker u. Lyriker.
eigenem Schauspiel Mein deutsches Vaterland (Mchn. 1916). Weitere Werke: Heimkehr (veröffentl. unter dem Pseud. Hans Volkmar, zus. mit Arno Holz). Bln. 1903. Urauff. Bln. 1903. Neuausg. u. d. T. Die Perle der Antillen. Bln. 1909. Urauff. Bln. 1910. – Frei! Eine Männerkomödie. Mchn. 1907. – Gaudeamus! Festsp. zur 350jährigen Jubelfeier der Univ. Jena. Bln. 1908. – Büxl. Dresden 1911 (Kom.).
J. wurde im niederschles. Pfarrhaus eines Onkels aufgezogen, bis er mit dem Vater, einem Festungsbaumeister, nach Straßburg übersiedelte. Dort u. in Berlin studierte er Rechtswissenschaften. In Berlin redigierte er Literatur: Peter Sprengel: Holz & Co. Die Zudie »Kyffhäuserzeitung«, das Organ der Vereine deutscher Studenten. Danach ließ er sich sammenarbeit v. Arno Holz mit Johannes Schlaf u. in Straßburg als Anwalt beim Landgericht O. J. oder: Die Grenzen der Freiheit. In: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): Arno Holz (Text + Kritik. H. nieder. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde er 121). Mchn 1994, S. 20–32. – Jens Stüben: O. J. u. aus dem Elsass ausgewiesen u. zog nach Ber- sein Festspiel aus dem Jahr der Breslauer Jahrhunlin. dertfeier (1913). In: Walter Engel u. Norbert J.s literar. Tätigkeit ging aus der Jugend- Honsza (Hg.): Kulturraum Schlesien: ein europ. freundschaft mit Arno Holz hervor. Er be- Phänomen. Wroclaw 2001, S. 141–158. – Ders.: teiligte sich als Lyriker an Wilhelm Arents ›Ich warte sehnsüchtig [...] auf den ›Stoff‹, den Du Anthologie Moderne Dichter-Charaktere (1884) mir schenken solltest‹. Arno Holz’ Produktionsgemeinschaft mit O. J. In: Bodo Plachta (Hg.): Literar. u. veröffentlichte gemeinsam mit Holz den Zusammenarbeit. Tüb. 2001, S. 197–215. Gedichtband Deutsche Weisen (Bln. 1884) mit Gerhard Schulz geselligen, naturschwärmerischen, aber auch einigen sozialkrit. sowie patriotischen GeJerusalem, Friederike Magdalene, * 4.4. dichten. Letztere gehörten »dem Gedanken 1750 Braunschweig, † 15.4.1836 Stift nach sämtlich Jerschke an und haben mir nur Wülfinghausen. – Lyrikerin. die Flüssigkeit ihrer äußeren Form zu danJ. war die jüngste Tochter von Johann Friedken« (Holz). J. u. Holz schrieben außerdem gemeinsam rich Wilhelm Jerusalem u. Martha Christina, eine Reihe von Dramen, von denen Traumulus geb. Pfeiffer, u. die Schwester Karl Wilhelm (Mchn. 1905. Urauff. Bln. 1904) das bekann- Jerusalems. Im Elternhaus, wo sie bis zum teste wurde (Spielfilm mit Emil Jannings Tod ihres Vaters 1789 lebte, traf sie eine Reihe 1935). Es ist die »tragische Komödie« eines berühmter Zeitgenossen – u. a. Lavater u. die weltblinden dt. Gymnasialprofessors, der in Braunschweig lebenden Bremer Beiträger; gerade den gutwilligsten seiner unruhigen Johann Georg Zimmermann u. Friedrich Leopold Graf zu Stolberg sandte sie ihre GeStudenten in den Tod treibt. Das Stück entdichte. J.s empfindsame Lyrik, zwischen 1780 hält einige die jugendl. Opposition gegen das u. 1787 gedruckt, steht der des Göttinger wilhelmin. Reich bezeichnende Züge, aber Hains in Form u. Inhalt nahe. Ihr Vorbild war seine Schwäche liegt in dem unbewältigten Hölty, dem sie neun Jahre nach seinem Tod Miteinander u. Gegeneinander von Protest u. die aus ihrem schmalen Werk herausragende Einverständnis. »Die Bibel, Homer und das Ode An Höltys Schatten (in: Musenalmanach deutsche Kommersbuch« bleiben sowohl die für 1785, S. 52–56. Hg. Voß u. Goeckingk) Stützen der Gesellschaft wie diejenigen des widmete. Diesem Gedicht in Duktus u. GesWeltbilds der Autoren, so dass statt der Tra- tus ähnlich sind die weiteren zwölf überliegik Melodramatik entsteht. Eine Mischung ferten Gedichte – bis auf zwei Übersetzungen von Zeitsatire, Sozialschwärmerei, Senti- aus dem Englischen (Ode an die Philosophie. In: mentalität, oft penetrantem Nationalismus u. [An den Frühling]. Selbstverlag o. O. u. J., der Selbstheroisierung bürgerl. Außenseiter S. 1–9. Grabschrift auf Mrs. Mason die zu Bristol prägt auch die anderen, z.T. technisch recht im Bade starb [...]. o. O. u. J.). J. schrieb ausversiert geschriebenen Stücke. Nationale Tendenzen zeigen sich noch stärker in J.s /
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nahmslos Gedichte auf Anlässe u. Jahreszeiten. Ab 1789 lebte J. als Stiftsdame im hannoverschen Stift Wülfinghausen. Sie gab nicht – wie oft angegeben – die nachgelassenen Schriften ihres Vaters heraus; dies tat ihre Schwester Philippine Charlotte Jerusalem. Der Verbleib von J.s Nachlass ist ungeklärt. Weitere Werke: Unter den Kürzeln Y., Ms. J., Msl. F. J., Jsm. Gedichte in den Musenalmanachen für 1783 u. 1787. Hg. Voß u. Goeckingk. Hbg. o. J. – Friedrich Matthisson (Hg.): Lyr. Anth. Bd. 14, Zürich 1806, S. 147–160. – Dt. National-Litteratur. Bd. 135, S. 296 f. Literatur: Carl Wilhelm Otto August v. Schindel: Die Dt. Schriftstellerinnen des 19. Jh. Tl. 1., Lpz. 1823, S. 236–238. Andrea Ehlert
Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm, * 22.11.1709 Osnabrück, † 2.9.1789 Braunschweig; Grabstätte: ebd., Klosterkirche Riddagshausen. – Lutherischer Theologe. J., Sohn eines Theologen, nahm 1727 das Theologiestudium in Leipzig auf, lernte durch Johann Gottlob Carpzov die Bibelkritik, durch Gottsched die Philosophie Wolffs kennen u. kehrte sich von der luth. Orthodoxie ab. 1731 legte er die Magisterprüfung an der Philosophischen Fakultät der Universität Wittenberg ab u. begab sich auf eine zweijährige Bildungsreise nach Holland zur Vertiefung seiner naturwissenschaftl. Kenntnisse. Dort erlebte er das Nebeneinander verschiedener christl. Denominationen in religiöser Toleranz. 1734–1737 war er Hofmeister in Göttingen u. unternahm danach eine Bildungsreise nach England (bis 1740), die ihm die Debatte um den Deismus erschloss. 1742 wurde er von Herzog Karl I. von Braunschweig zum Erzieher des Prinzen Karl Wilhelm Ferdinand u. zum Hofprediger in Wolfenbüttel berufen. Er war Mitbegründer des »Collegium Carolinum«, einer Anstalt, die einerseits zur Universität vorbereiten, andererseits für prakt. Berufe ausbilden sollte (als solche die Vorstufe der heutigen TU Braunschweig). 1745–1770 war J. Direktor dieses Instituts. 1752 erhielt er mit der Leitung des braunschweigischen Predigersemi-
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nars, die er bis zu seinem Tod innehatte, die Würde des Abts von Riddagshausen; 1771 wurde er zum Vizepräsidenten des Konsistoriums in Wolfenbüttel ernannt. Es gelang ihm, zwischen 1745 u. 1761 die als Bremer Beiträger bekannten Carl Christian Gärtner, Johann Arnold Ebert, Zachariä u. Conrad Arnold Schmid sowie 1767 Eschenburg an das Collegium Carolinum zu berufen. Leider lässt sich J.s Verhältnis zu Lessing nicht rekonstruieren. – J. erhielt 1748 die Ehrendoktorwürde von Helmstedt u. 1787 von Göttingen. J.s Bedeutung über Braunschweig hinaus liegt v. a. in seiner Mitgestaltung der frühen Aufklärungstheologie, z.B. durch seine 1745 in Braunschweig veröffentlichten Predigten, die ganz im Sinne der Rhetorik Gottscheds gearbeitet waren. In den Briefen über die Mosaische Religion (Braunschw. 1762) erklärt J. die Entstehung des Pentateuchs nicht mehr verbalinspiriert. Vielmehr sei Mose als Verfasser des Pentateuchs personalinspiriert u. bediene sich verschiedener Schriften; damit vertrat J. als einer der Ersten in Deutschland die Urkundenhypothese. Die Briefe blieben fragmentarisch wie sein 1768 begonnenes Hauptwerk Betrachtungen über die vornehmsten Wahrheiten der Religion (3 Bde., Braunschw. 1768, 1774 u. 1779. Auswahlausg. hg. Wolfgang Erich Müller. Hann. 1991). Im ersten Band der Betrachtungen erfasste J. im Sinn einer religionsphilosophischen Reflexion die Bedeutung Gottes für die Welt. Von Leibniz her lassen sich der hier verwendete Gottesbeweis e contingentia mundi, aber auch die verwendete Theodizee begreifen, während der Gedanke der Vervollkommnung der Welt u. des eth. Handelns eher auf Wolff verweist. In den beiden anderen Bänden hat J. eine entwicklungsgeschichtl. Sicht der Religion von ihrer ersten Äußerungsform bis zur Gegenwart entworfen; er erklärt die myth. Denkformen durch die Akkommodationstheorie (die Religion ist dem Verstehensmodus der vernehmenden Menschen angepasst). Diese Erkenntnis der Geschichtlichkeit des Denkens führte J. zu dem erstmals auf protestantischer Seite erwogenen Plan einer Dogmengeschichte.
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Literatur: Wolfgang Erich Müller: J. F. W. J. Es ging J. in den Betrachtungen nicht um die gelehrte Theologie, sondern um Religion, Bln./New York 1984 (mit Bibliogr.). – Ders.: Von d.h. für ihn, um gelebten Glauben, der dem der Eigenständigkeit der Neologie J. s. In: Neue Ztschr. für systemat. Theologie 26 (1984), Menschen das zu seiner Beruhigung notS. 289–309. – Isa Schikorsky: Gelehrsamkeit u. wendige Wissen um seinen Zustand nach Geselligkeit. Abt J. F. W. J. (1709–89) in seiner Zeit. dem Tod mitteilt. Eine solche Religion der Hg. Klaus Erich Pollmann. Braunschw. 1989 (Kat.). Simplizität ist weder zeremoniell noch spe- – Wolfdietrich v. Kloeden: J. F. W. J. In: Bautz (mit kulativ, sondern auf Tugend ausgerichtet. Lit.). – Andreas Urs Sommer: Neolog. GeschichtsDies impliziert eine erhebl. Kritik an der luth. philosophie. J. F. W. J.s ›Betrachtungen über die Orthodoxie. J. weist jegl. Trinitätstheologie vornehmsten Wahrheiten der Religion‹. In: Ztschr. zurück, wie auch die altkirchl. Symbole oder für neuere Theologiegesch. 9 (2002), S. 169–217. Wolfgang Erich Müller / Red. die Lehre von Christi Präexistenz. Diese Kritik beruht auf einer Verarbeitung des Deismus bei J., wie sie deutlich wird in der Ab- Jerusalem, Karl Wilhelm, * 21.3.1747 lehnung des literalen Schriftverständnisses u. Wolfenbüttel, † 30.10.1772 Wetzlar. – der die Simplizität der Religion zerstörenden Philosophischer Schriftsteller. Zusätze, in den Vorbehalten gegen die WunJ. ist als Urbild von Goethes Werther-Figur in der, in der Betonung der Akkommodation u. die Geschichte eingegangen. Als Sohn des der tätigen Nächstenliebe. Dieser EklektizisTheologen u. Hofpredigers Johann Friedrich mus aus Leibniz, Wolff u. dem Deismus Wilhelm Jerusalem wuchs er in höfisch-adlikennzeichnet alle Theologie, die – wie bei J., gen Kreisen in Braunschweig auf, besuchte August Wilhelm Friedrich Sack oder Spalding das Collegium Carolinum (Lehrer waren u. a. – zur Neologie gerechnet wird. Sie kritisiert Ebert, Gärtner u. Zachariä) u. studierte Jura die unverständlich gewordene Orthodoxie u. in Leipzig (Beginn der Freundschaft mit betont die Ethik. Da allein die Religion das Eschenburg, Begegnung mit Goethe), danach menschl. Leben fördert u. sie die Pflichten der in Göttingen. 1770 wurde J. Assessor bei der Liebe Gottes u. des Nächsten sowie die der Justizkanzlei in Wolfenbüttel; seine Beschäfeigenen Vervollkommnung sichert, muss sie tigung mit der Philosophie führte zum von allen Zusätzen gereinigt werden. Der ra- freundschaftl. Umgang mit Lessing. Im dikalen Kritik dieser theolog. Richtung steht Herbst 1771 erhielt er die Stelle eines Legajedoch ihr Bemühen gegenüber, angesichts tionssekretärs bei der Braunschweigischen des damaligen Nihilismus die Religion zu Vertretung am Reichskammergericht in erhalten. Wetzlar. Trotz Mitgliedschaft in einem roIm Auftrag der Herzoginwitwe Philippine mantisch-burschikosen Ritterorden, dem Charlotte verfasste J. seine sprach- u. litera- auch Goethe, Gotter u. Goue angehörten, turtheoret. Abhandlung Ueber die Teutsche wurde ihm Wetzlar bald zur »Seccopolis« (an Sprache und Litteratur (Bln. 1781. Neudr. Eschenburg, 18.7.1772), zur Leidensstätte. Er Braunschw. 1963). Mit dem Hinweis auf geriet gleich in Streitigkeiten mit seinem Dichter wie Haller, Klopstock, Wieland, Vorgesetzten Johann Jacob von Höfler u. Mendelssohn u. Lessing wies er darin die verfiel nach einer verzweifelten u. unerwiKritik zurück, die Friedrich II. von Preußen derten Liebe in Depression. Am 29.10.1772 in seiner Schrift De la littérature allemande erbat er sich Johann Christian Kestners Pis(1780) an der »halbbarbarischen« dt. Sprache tolen »zu einer vorhabenden Reise« u. erschoss sich in der Nacht. u. der dt. Dichtung geübt hatte. Kestners Bericht an Goethe Anfang Nov. Weitere Werke: Slg. einiger Predigten. 2 Bde., 1772 wirkte als erster Anstoß zu den Leiden des Braunschw. 1745 u. 1752. – Nachgelassene Schr.en. Hg. Philippine Charlotte Jerusalem. 2 Bde., jungen Werthers, die zwei Jahre später erschieBraunschw. 1792/93. – Schriften. Nachdr., mit ei- nen. Goethes Brief vom gleichen Monat an ner Einl. hg. v. Andreas Urs Sommer. 5 Bde., Hil- Kestner – »Gott weis die Einsamkeit hat sein Herz untergraben« – zeugt von wahrer Erdesh. u. a. 2007.
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schütterung; der spätere Passus in Dichtung und Wahrheit (3. Tl., 13. Buch) ist bemüht, den Fall J. im Sinne eines zeittyp. Melancholiefalls darzustellen. Direkte Anleihen für den Werther, die Goethe Kestners Bericht oder anderen Zeugnissen entnahm, sind der »Verdruss« am Hof u. die Todesumstände des Helden, wenngleich man Werther nur äußerlich peripher mit J. identifizieren darf. Entrüstet über die fiktive Darstellung seines Freundes, entschloss sich Lessing zur Herausgabe von J.s Philosophischen Aufsätzen (Braunschw. 1776. Neudr., hg. von Paul Beer, Bln. 1900). Trotz dieser Ehrenrettung kann man J. keinen bes. Platz in der Geschichte der Philosophie zuweisen; seine Aufsätze beschäftigen sich mit Fragen der Schulphilosophie (Determinismus, Ursprung der Sprache usw.). K. W. von Breidenbachs Berichtigung der Geschichte des jungen Werthers (anonym) u. S. v. Goues Drama Masuren (beide Ffm., Lpz. 1775) versuchen im Gegensatz zu Lessing eine Identifikation J.s mit Werther. Weitere Werke: Aufsätze u. Briefe. Hg. Heinrich Schneider. Heidelb. 1925. Literatur: Goethe u. Werther. Briefe Goethes, meistens aus seiner Jugendzeit. Hg. August Kestner. Stgt./Tüb. 1854. – Roger Paulin: Der Fall W. J. Zum Selbstmordproblem zwischen Aufklärung u. Empfindsamkeit. Gött. 1999 (mit Dokumentation). Roger Paulin
Jeschke, Wolfgang, * 19.11.1936 Tetschen (Deˇcˇin/CˇSR). – Herausgeber, Erzähler u. Romancier. J. verbrachte seine Jugend in Asperg bei Ludwigsburg. Nach der mittleren Reife, anschließender Lehrzeit u. Tätigkeit als Werkzeugmaschinenbauer erwarb er 1959 das Abitur u. studierte Germanistik, Anglistik u. Philosophie in München. Ab 1969 war er als Redakteur u. a. für Kindlers Literaturlexikon u. die Enzyklopädie Die Großen der Weltgeschichte tätig. Als freier Mitarbeiter gab er die Reihe Science Fiction für Kenner im Lichtenberg-Verlag heraus. Seit den ersten Prosaarbeiten konzentrierte J. sein schriftstellerisches Wirken ausschließlich auf die Science-Fiction-Literatur. Dem deutschsprachigen Zweig des Genres konnte
er auf zweierlei Weise bedeutende Impulse verleihen: Einerseits schrieb er kontinuierlich eigene Romane u. Erzählungen, mit denen er immer wieder Preise gewann; andererseits bemühte er sich, die Akzeptanz der Science-Fiction im Allgemeinen zu fördern, etwa indem er neue oder unbekannte Texte einschlägiger Autoren einer breiten Leserschaft bekannt machte. Das geeignete Medium für dieses Unternehmen fand J. 1973 in der Taschenbuchreihe »Heyne-Science-Fiction«, die er bis 2002 betreute. Seit 1970 hat J. außerdem über 100 Science-Fiction-Anthologien herausgegeben. Mit einem weiteren Projekt, den Science-Fiction-Jahrbüchern, die neben literar. Neuentdeckungen vornehmlich Essays u. Interviews enthalten, schuf J. eine wichtige Referenzquelle u. a. für die wissenschaftl. Erschließung des Genres. Am Beginn des eigenen Werks standen bei J. Erzählungen: 1957 erschien sein literar. Debüt Der Türmer, 1959 die wichtige Erzählung Die Anderen. Neben weiteren Erzählungen schrieb J. später auch Science-FictionHörspiele. Seinen ersten Roman Der letzte Tag der Schöpfung schloss er 1977 ab, veröffentlichte ihn jedoch erst 1981 (Mchn.). Das Werk, das heute als Klassiker der deutschsprachigen Science-Fiction gilt, destruiert die menschl. Sehnsucht nach einer Beherrschung der Zeit. Die im Roman entworfene Vergangenheit, eine vorgeschichtl. Welt vor über fünf Millionen Jahren, entpuppt sich für die Zeitreisenden als strukturelles Abbild der Gegenwart mit all ihren ideolog. Differenzen u. religiösen Hoffnungen. Das Menschenbild des Romans ist in hohem Maße skeptisch: Während die Zeitreisenden gegeneinander kämpfen, unterwerfen sie skrupellos ihre neue Umwelt. In der nachfolgenden Erzählung Osiris Land (Privatdruck 1982. Mchn. 1997) skizziert J. eine apokalypt. Zukunft, in der die Welt von atomaren u. biolog. Katastrophen verwüstet ist. In dem Roman Das Cusanus-Spiel oder ein abendländisches Kaleidoskop (Mchn. 2006) erweitert er die Grenzen der Science-Fiction-Literatur u. ergänzt sein erzählerisches Repertoire um Elemente des histor. Romans. Der Grundgedanke, dass sich die Welt mit jeder getroffenen Entscheidung vervielfältige, spiegelt sich formal in einer für
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das Buch charakterist. Wiederholungsstruktur. Einzelne Kapitel werden wortgetreu repetiert, wobei jeweils eine entscheidende Änderung eingefügt ist. Die Summe dieser Änderungen führt so die verschiedenen Möglichkeiten der Geschichte vor Augen. Seit 2007 gibt der Shayol-Verlag in loser Folge J.s Gesammelte Werke heraus. Die Bände sollen streng limitiert u. im Handel nicht erhältlich sein. Den Auftakt der Reihe bildet Der Zeiter, eine Sammlung der frühen Erzählungen bis 1961. J. wurde mehrfach mit dem Kurd-LaßwitzPreis ausgezeichnet, u. a. für seine Romane Der letzte Tag der Schöpfung, Midas (Mchn. 1985) u. Das Cusanus-Spiel sowie für einige seiner Erzählungen u. Kurzgeschichten. Weitere Werke: Science Fiction in Dtschld. In: Rolf-Dieter Kluge (Hg.): Aspekte der Science-Fiction in Ost u. West. Vortragsreihe des Slav. Seminars im Rahmen des Studium Generale der Univ. Tübingen. Tüb. 1985, S. 77–88. – An der Grenze. Mchn. 1989. – Meamones Auge. Mchn. 1994. – Marsfieber. Aufbruch zum rötl. Planeten (zus. mit Rainer Eisfeld). Mchn. 2003. – Herausgeber: Lexikon der Science-Fiction-Lit. 2 Bde., Mchn. 1980. Erw. u. aktualisierte Neuausg. in einem Bd. (zus. mit HansJoachim Alpers, Werner Fuchs u. Ronald M. Hahn). Mchn. 1988. Literatur: Gudrun Thiele: W. J.s Roman ›Der letzte Tag der Schöpfung‹: Über die Möglichkeiten der Science Fiction, die moderne Naturwiss. theologisch zu verarbeiten. In: Acta Germanica 18 (1985), S. 217–231. Alexander Schüller
Jhering, Herbert ! Ihering, Herbert Jirgal, Ernst, * 18.1.1905 Stockerau/Niederösterreich, † 17.8.1956 Wien. – Lyriker, Erzähler, Essayist. J. unterrichtete Deutsch u. Geschichte am Elitegymnasium »Schule am Turm« in Wiener Neustadt u. leitete nach 1945 das TivoliInternat in Wien. Pädagogisches Interesse, angeregt durch Ludwig Erik Tesar, verbindet sich mit psycholog. Handlungsführung in der Erzählung Erinnertes Jahr (Leoben 1947), J.s einziger größerer Veröffentlichung, auf die Kurzprosa u. Gedichtbände folgten. Am Wiederaufleben der Wiener Literatur nahm J. regen Anteil als
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Redakteur der Zeitschrift »Plan«. Persönlicher Umgang u. Korrespondenz machten ihn zu einer starken Anregerpersönlichkeit (v. a. für Eisenreich, Leitgeb, Schlorhaufer, Hermann Schreiber). Die essayistischen Arbeiten J.s erschienen noch vor 1938 in den von Nikolaus Hovorka u. Viktor Matejka herausgegebenen »Berichten zur Zeitgeschichte«. Sie brachten J.s Dissertation Die Wiederkehr des Weltkrieges in der Literatur (Wien 1931). J.s Hauptwerk ist seine in traditionellen u. modernen Formen vielgestaltige Lyrik, v. a. die Sammlung Schlichte Kreise (Wien 1955). – 1950 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Lyrik. Weitere Werke: Landschaften. Wien 1937 (L.). – Roggenprosa. Wien 1946. – Sonette an die Zeit. Wien 1946. – Tantalos. Wien/Leoben 1946 (Dramat. Gedicht). – Theseus. Innsbr. 1950 (E.). – Etüden. Innsbr. 1953 (L.). – Nomadenabend. Mit einem Vorw. v. Herbert Eisenreich. Mchn./Wien 1989 (Gedichtausw.) Literatur: Nikolaus Britz (Hg.): Der Dichter E. J. Wien 1965. – In memoriam E. J. In: Die Pestsäule, Okt./Nov. 1973. – Hermann Schreiber: E. J. (1905–1956). In: LuK 33 (1998), H. 323/324, S. 105–109. Hermann Schreiber / Red.
Jirgl, Reinhard, * 16.1.1953 Berlin/DDR. – Verfasser von Prosawerken. Nach der Kindheit bei den Großeltern in Salzwedel/Altmark kehrte J. 1964 nach Berlin zurück, machte dort eine Lehre als Elektromechaniker, studierte 1971–1975 Elektronik an der Humboldt-Universität u. arbeitete dann als Ingenieur an der Adlershofer Akademie der Wissenschaft der DDR, seit 1978 als Beleuchtungstechniker an der Berliner Volksbühne, wo er seinen Förderer Heiner Müller kennen lernte. Seit 1996 lebte J. als freier Schriftsteller in Berlin. Die sprachexperimentelle Radikalität der Texte eines ostdt. Einzelgängers, der sich in jegl. Hinsicht dem literar. Leben in der DDR entzog, geht auf die europ. Avantgarden zurück (Dada, Benn, Döblin); daneben spielen Autoren wie Jünger, Bataille, Carl Schmitt, Céline eine Rolle, was den Anschluss an die internat. Literaturgeschichte bei konservativmodernist. Anspruch signalisiert. Vor dem
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Hintergrund poststrukturalistischer Theorie (Foucault) ist J.s Prosa vergleichbar mit W. Hilbig, wenn auch einerseits expressiver, sinnlicher u. veristischer, andererseits konstruierter u. zersplitterter, damit auch weniger leicht zu lesen. Im Unterschied zu Hilbig wurde J. erst Anfang der 1990er Jahre bekannt. Die unveröffentlichte Prosa der 1980er Jahre opponierte gegen das »Irr-Wahna DeDeR« mit ästhetischen Mitteln. Als literar. Dissident war J. ein Vivisekteur von Sprachnormen durch eine eigensinnige, lautmalerisch begründete Typografie. Von daher handelt es sich eher um Prosamontagen ohne fortlaufende Handlung, um polyphone Partituren unterschiedl. Stimmen, die selten eindeutig identifizierbar sind. Gezeigt wird darin das »gleitende Ich« als Reflexionsinstanz, oft auch amoralisch u. kalt sezierend, wenn etwa die Perspektive eines Serienkillers eingenommen wird. Das unzeitgemäße Schreiben ist sperrig, kompromisslos u. kulturpessimistisch. Neben der nie selbstzweckhaften Zitattechnik benutzt J. zur literar. S(t)imulation von Mündlichkeit ein eigenes Notationssystem. Satzzeichen u. Ziffern sind die phys. Momente der Texte: Wundmale einer körperlich aufgefassten Sprache. Sie unterbrechen, stauen u. stören den konventionellen Zeichenfluss, irritieren Lesegewohnheiten u. erzeugen so einen aufgerauhten Rhythmus der Sprache als Gebärde, die im Schriftbild die Zerrüttung der Gewaltgeschichte anschaulich macht. J. lässt seine Figuren scheinbar frei assoziieren, um in den Stimmen die Narben, die Familie u. Geschichte hinterlassen, in einer Darstellung spüren zu lassen, die »unter die Oberfläche, unter die Grabplatten der Menschen und ihrer Beziehung« gelangen will: durch Wortmeldungen aus einem unbestimmten Stadtraum, in Collagen aus Traumsequenzen, Beobachtungen, Einbildungen, Kommentaren. Alle Figuren sind Fremde u. Unbehauste, die auf der Flucht an der Wirklichkeit zerschellen. Der erste veröffentlichte Text Mutter Vater Roman (Bln./Weimar 1990, verfasst 1980 bis 1985) wurde vom Aufbau-Verlag wegen nichtmarxistischer Geschichtsauffassung abgelehnt. Bereits hier artikuliert sich das zen-
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trale Thema, die Gewalt der Geschichte, u. bereits hier blendet J. das Leben seiner Figuren in die dt. Geschichte zurück: Diktatur u. Krieg, Verrat, Unterdrückung, Angst, Hass, Lust u. Gier treiben einen Weltkriegsdeserteur zum atemlosen Sprechen. Bis zum Quellenverzeichnis am Schluss (u. a. die Bibel, Thomas Müntzer, Sigmund Freud, Herbert Marcuse) präsentiert der Roman personale Erzählstimmen in der Nähe zum »nouveau roman«. Ohne Handlung werden Zeiten wie Personen in- u. übereinandergeblendet. Das Verfahren dieser Prosa konzentriert sich im Bild der Fliegen (Schwarm, Verkleben der Scheiben, Verwesung). Figuren dienen nicht der Identifikation, sondern sind Ursprung von Textmaschinen, in denen sich Denk- u. Gefühlsbewegungen abbilden. Die Trilogie Genealogie des Tötens (verfasst 1985–1988) wurde erst gedruckt, nachdem sich J. durchgesetzt hatte (Mchn./Wien 2002). Die sperrige 800 Seiten-Collage verfolgt die Gewaltgeschichte bis in die Antike zurück. Das Drama Klitaemnestra Hermafrodit & ›Mamma Pappa Tsombi‹ (1985) überträgt den unentrinnbaren Mythos in die Gegenwart des Horrorfilmkonsums. Im Rückgriff auf Euripides (Iphigenie in Aulis, Elektra) verkehrt J. wie H. Müller u. Stefan Schütz die Erbe-Ideologie der DDRLiteratur. Der zweite Teil MER – Insel der Ordnung (1988) zeigt verl. Orte u. gestrandete Figuren in Hiddensee (als Urlaubsinsel der DDR); der dritte Teil Kaffer. Nachrichten aus dem zerstörten=Leben (1987) bringt mit dem Gleichsetzungszeichen, das J. auf diese Weise ständig einsetzt, sein Thema auf den Punkt. Mit dem Roman Abschied von den Feinden (Mchn./Wien 1995) gelang J. der Durchbruch. Das Gewebe aus Stimmen verfolgt in der Geschichte zweier verfeindeter Brüder, die nach der Wende aufeinandertreffen, eine Familiengeschichte bis in die NS-Zeit zurück: die Die Söhne eines ehem. SS-Mannes in der DDR leben bei Pflegeeltern u. lieben dieselbe Frau, entscheiden sich aber jeweils für das entgegensetzte System, so dass sich in ihren Traumata die dt.-dt. Geschichte spiegelt. Auch im Roman Hundsnächte (Mchn./Wien 1997) ist Deutschland Thema der Erinnerungsfetzen. Ein Mann in einer Ruine im Niemandsland des ehem. Grenzstreifens –
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Lobte die Kritik den entdeckten ostdt. Auverbotene Zone u. Zeitstauraum – schreibt seine Geschichte auf, ein anderer will mit ei- tor zunächst fast einhellig, wurden die Urnem Bautrupp die Bauruinen abreißen. Mit teile nach der Atlantischen Mauer zwiespältidem Festhalten an einem überflüssigen Ort ger. Einerseits liege hier der Großstadtroman verhaken sich die Stimmen in der biogr. seiner Zeit vor, der Döblin auf dem Stand der Überkreuzung von Lebenswegen. Sie trans- Dinge einhole. Andererseits zeichnet sich ein portieren die Auflösung der DDR u. bleiben Überdruss an der negativen Anthropologie ihr dennoch verhaftet. Die atlantische Mauer. ab, die obsessiv das immergleiche Unheil in Roman (Mchn./Wien 2000) weitet den Blick archetypischen Handlungsmustern fixiere. J. erhielt 1990 den Anna-Seghers-Preis, auf die USA als Gegenentwurf, wo aber ähnl. 1993 den Alfred-Döblin-Preis, 1999 den JoGewaltverhältnisse wiederkehren. Eine junge Frau u. ein alternder Schriftsteller versuchen, seph-Breitbach-Preis, 2006 den Literaturpreis dort ihr Glück zu finden, entgehen dem der Freien Hansestadt Bremen. 2009 den »Deutschen« aber ebensowenig wie den Be- Lion-Feuchtwanger-Preis u. den Grimmelsschädigungen ihrer bürgerl. Familien. Von hausen-Preis. Weitere Werke: Uberich. Protokollkomödie in der Kritik wurde der Roman wegen dieser Verschiebung als Werk des Übergangs beur- den Tod. Ffm 1990. – Im offenen Meer. Schichtungsroman. Hbg. 1991. – Das obszöne Gebet. teilt. Der Roman Die Unvollendeten (Mchn./ Totenbuch. Ffm. 1993. – Gewitterlicht. Mit dem Wien 2003) erzählt von der Vertreibung Essay ›Das poet. Vermögen des alphanumer. Codes zweier Schwestern u. ihrer Mutter aus dem in der Prosa‹. Hann. 2002. – Land u. Beute. AufSudetenland 1945 u. vom Leben im Proviso- sätze aus den Jahren 1996 bis 2006. Mchn./Wien rium in Nachkriegsdeutschland, hier noch 2008. – Die Stille. Mchn. 2009 (R.). deutlicher mit autobiogr. Hintergrund, zuLiteratur: Uwe Pralle: Die Fliege u. die Spinne. mal der tödlich an Krebs erkrankte Erzähler R. J. im Gespräch mit Uwe Pralle. In: Schreibheft 54 der Gegenwart wie J. 1953 geboren wurde. In (2000), S. 109–113. – Michael Opitz: Texte gegen ihrer provisor. Heimat Birkheim (Altmark) ›verordneten Flachkopfoptimismus‹. Zur Poetolosind die Flüchtlinge nicht willkommen, son- gie R. J.s. In: Perspektivenwechsel. Zur Darstellung v. Zeitgesch. in der deutschsprachigen Gegendern der Behördenwillkür u. Feindseligkeit wartslit. Hg. Edgar Platen. Mchn. 2002, der Eingesessenen ausgeliefert. Zugleich ak- S. 161–176. – David Clarke u. Arne De Winde (Hg.): zeptieren sie nicht den Verlust ihrer Heimat, R. J. Perspektiven, Lesarten, Kontexte. Amsterd./ die im Gedächtnis eingegraben bleibt. Ein- New York 2007. – Erk Grimm: R. J. In: KLG. hellig lobte die Kritik den Roman, zumal sich Stefan Scherer das prekäre Thema nun geradezu volkstümlich, bewegend verständlich äußere. Die Großstadtprosa Abtrünnig. Roman aus der ner- Jobst, Herbert, * 30.7.1915 Neuwelzow/ vösen Zeit (Mchn./Wien 2005) dagegen radi- Lausitz, † 28.6.1990 Neustrelitz. – Erkalisiert die Darstellungsverfahren wieder u. zähler u. Filmautor. zeigt sich nun auch gegenüber dem globalen Von der Mutter unter sozialer Bedrängnis in Kapitalismus völlig desillusioniert. Erneut Radeberg ausgesetzt, wuchs J., dessen Vater wird eine Doppelbiografie von Ich-Suchern im Ersten Weltkrieg gefallen war, im Araus der DDR u. der BRD in den Jahren menhaus, in Heimen u. bei Pflegeeltern auf. 2000–2004 erzählt: Ein Journalist aus Ham- Er besuchte die Volksschule, lernte in Meißen burg folgt der verehrten Frau nach Berlin, Buchdrucker u. sah sich zu einem abenteuwährend ein früherer DDR-Grenzer in erl., armseligen Leben gezwungen. Er wurde Frankfurt/O. einer Frau aus der Ukraine zu Mitgl. der Sozialistischen Arbeiterjugend, einem neuen Leben verhelfen möchte. Wieder später des Kommunistischen Jugendverscheitern beide an ihrer Abhängigkeit u. am bands. 1932 ging er auf Wanderschaft, arLebensekel. Erkennbar nimmt der Anteil an beitete als Schiffsjunge u. wurde zum Aressayistischen Passagen nahe der krit. Theorie beitsdienst eingezogen, desertierte jedoch u. zu. durchzog als Landstreicher Österreich. Ab-
Jocham
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J. wurde 1958 mit dem Heinrich-Manngeschoben ins Deutsche Reich, lebte er von Gelegenheitsarbeiten, u. a. auf einer Kieler Preis u. 1965 mit dem Kunstpreis des BezirWerft. 1938 eingezogen, wurde er bald darauf kes Karl-Marx-Stadt ausgezeichnet. wegen »Wehrkraftzersetzung« im MilitärgeWeitere Werke: Der Fremde. 1961 (Film, fängnis Torgau inhaftiert, dann zur »Front- Drehb. gemeinsam mit Egon Günther, Regie: Jobewährung« entlassen. Nach Kriegsende u. hannes Arpe). – Das Puppenauge. In: Menschen im Rückkehr aus der sowjetischen Gefangen- Krieg. Bln./DDR 1975. – Tapetenwechsel. Ebd. schaft arbeitete er zuerst in Dresden als 1984 (E.en). Literatur: Werner Neubert: H. J. Der dramat. Nachtwächter, dann ab 1947 als Fördermann Lebensweg des Adam Probst. In: Ders.: Die Wandu. Hauer bei der Sowjetisch-Deutschen AG lung des Juvenal. Bln./DDR 1966. – Anita HeidenWismut – mehrfach als Aktivist ausgezeich- Berndt (Hg.): H. J. Neubrandenburg 1981. – Peter net –, nahm 1954/55 ein Studium an der Liebers: H. J. 70. In: Sonntag Nr. 30/1985. – SteBergakademie Freiberg auf u. begann mit phan Gruner: Im Streit um die Geschichte. Bln. ersten schriftstellerischen Arbeiten, teils ver- 1989. Rüdiger Bernhardt öffentlicht in der »Jungen Kunst« (H. 1, 1957). 1967 zog J. von Karl-Marx-Stadt nach Neustrelitz: »Die Übersiedlung in den Jocham, Magnus, auch: Johannes CleriAgrarbezirk Neubrandenburg hat mir ge- cus, * 23.3.1808 Rieder bei Immenstadt, holfen, meinen Gesichtskreis zu erweitern.« † 4.3.1893 Freising; Grabstätte: ebd., Von bes. Einfluss auf sein Schaffen war die Städtischer Friedhof. – Erzähler, Übersowjetische Literatur, bes. Gladkows Zement, setzer; Theologe. Makarenkos Der Weg ins Leben u. die Gedichte J., Sohn eines Bauern, besuchte das GymnaMajakowskis. 1956 lernte er die Lyrikerin sium in Kempten u. studierte in München ab Lisa Jobst (1920–2005) kennen, die er 1959 1827 Philosophie bei Thiersch, Görres u. heiratete; ihre gemeinsame Tochter Eva Jobst Schubert, 1828 Theologie u. a. bei Döllinger (geb. 1957) ist als freie Autorin tätig. u. Alois Buchner, der ihn mit der geistigen Großen Erfolg hatte J. 1957 mit dem ersten Welt Sailers bekannt machte. Nach der Band Der Findling (Bln./DDR) seiner RomanPriesterweihe 1831 arbeitete J. in der SeelTetralogie Der dramatische Lebensweg des Adam sorge im heimatl. Allgäu, bis er 1841 ein Probst, dem 1959 Der Zögling (ebd.) – beide Professorat für Moraltheologie in Freising auch als Fernsehfilme –, 1963 Der Vagabund erhielt; in dieser Position blieb er bis zur (ebd.) u. 1974 Der Glückssucher (ebd.) folgten. Pensionierung (1878). In dieser Tetralogie stellt J. unter anderem Neben moraltheolog. u. aszet. Fachschrifteigene Erlebnisse in ironisch-satir. Form vor. tum stammen von J. die Neubearbeitung von Die schlichte u. volkstüml. Art des Erzählens Schmids Biblischer Geschichte für Kinder (Mchn. ließ J.s Bücher in der DDR außergewöhnlich 1862) sowie Übersetzungen aus dem Grieerfolgreich werden, bes. für die Jugend der chischen (Macarius), Lateinischen (Ludwig 1960er u. 1970er Jahre. Diskussionen gab es Blosius), Spanischen (S. Theresia u. Johannes v. a. um den Band Der Vagabund, in dem die vom Kreuz) u. Französischen (Franz von Saliterar. Zentralfigur Adam Probst – oft ver- les), durch welche hochwertige geistl. Literaglichen mit Grimmelshausens Simplicissi- tur den dt. Lesern zugänglich gemacht u. mus – die Auseinandersetzung mit dem Fa- wichtige Teile der barocken Literatur aus der schismus führt u. J. auch dafür satir. Mittel Romania neu rezipiert wurden. Zu den weit verwendete, die manche Kritiker dem Ge- verbreiteten Volksbüchern gehören J.s Bavaria genstand für nicht angemessen hielten. Die Sancta. Leben der Heiligen und Seligen des BayerNaivität des Adam Probst ermöglichte es in- landes (2 Bde., Mchn. 1861/62. 31892) u. seine dessen, Macht u. Mächtige unterschiedl. Bearbeitung des Christkatholischen UnterrichtsPrägung zu entlarven. Als Romanzeitung Nr. buches von Goffine (Mchn. 1858. 21866). Als 211 (1967) erreichte der Findling ein Massen- Erzähler lieferte er zahlreiche Beiträge zum publikum. »Sulzbacher Kalender« u. publizierte Samm-
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lungen wie Katholische Parabeln und Erzählungen (Sulzbach 1852), Schildereien aus altfränkischen Häusern (Mainz 1854) u. Schildereien aus dem Pfarrerleben (ebd. 1856). Zeugnis für seine Zeit geben J.s biogr. Skizzen, v. a. über Alois Buchner (Augsb. 1870), u. seine postum erschienene Autobiografie Memoiren eines Obskuranten (Kempten 1896). Franz Seraph Mayr lobt mit Recht die »Natürlichkeit der Schreibart [J.s] und das Gewicht des Inhalts«, doch führt der Vorrang des seelsorgerischen Anliegens mitunter zu mangelnder Sorgfalt in der sprachl. Gestaltung. Literatur: Johannes Zinkl: M. J. Johannes Clericus. Freib. i. Br. 1950 (mit Bibliogr.). – Helmut Borok: ›Sein u. Leben für Gott in Christo‹. Begründung, Verfaßtheit u. Vollzug des christl. Lebens. Das organ. Moralprinzip des M. J. St. Ottilien 1993. Hans Pörnbacher / Red.
Jochmann, Carl Gustav, * 10.2.1789 Pernau/Livland, † 24.7.1830 Naumburg/Saale; Grabstätte: ebd., Städtischer Gottesacker, 1945 zerstört; Metallurne mit seinem Herzen im Dom zu Riga. – Politischer Publizist, Essayist, Kirchenhistoriker, Sprachkritiker. J., als russ. Untertan einer bürgerl. dt. Familie entstammend, studierte zwischen 1804 u. 1809/10 Jurisprudenz in Leipzig, Heidelberg u. Göttingen. Anschließend arbeitete er bis 1819 – mit Unterbrechung durch einen zweijährigen Aufenthalt in England u. Schottland, wohin er im Sommer 1812 vor der heranrückenden Armee Napoleons geflüchtet war – als angesehener Advokat in Riga. Die Erfahrung von polit. Freiheit u. Öffentlichkeit in England, die kulturelle Provinzialität des Baltikums, aber auch seine angegriffene Gesundheit waren Gründe dafür, dass J. 1819 die Advokatur aufgab u. sich nach Mittel- u. Westeuropa wandte. Bis zu seinem Tod lebte er, finanziell unabhängig, als freier Schriftsteller überwiegend in Karlsruhe, Baden-Baden u. Heidelberg. Auf Reisen in die Schweiz u. nach Paris schloss er Freundschaft mit den republikanisch gesinnten Emigranten Heinrich Zschokke u. Gustav von Schlabrendorf, die ihm wesentl. Anregungen zu seinen Schriften lieferten. J.
Jochmann
starb auf dem Weg zu Samuel Hahnemann, von dessen homöopathischer Methode er sich die Heilung seines Lungenleidens erhofft hatte. J., der zu Lebzeiten – aus Bescheidenheit oder Furcht vor der Zensur – nur anonym veröffentlichte, gehört entschieden in den Kreis der südwestdt. frühliberalen Opposition zur Zeit der Restauration in Deutschland. Welche Themen dieser »Selbstdenker« auch aufgriff, stets schrieb er als wertender, zukunftsorientierter Historiker für die Emanzipation bes. des Bürgertums von polit., geistigen, religiösen u. wissenschaftl. Autoritäten, Denkweisen oder Institutionen. Dafür stehen religionskrit. Arbeiten wie Die Hierarchie und ihre Bundesgenossen in Frankreich (Aarau 1823) u. Betrachtungen über den Protestantismus (Heidelb. 1826) sowie die Briefe eines Homöopathischgeheilten (Heidelb. 1829. Neudr. ebd. 1994), eine die Homöopathie gegen die Angriffe der Schulmedizin verteidigende Streitschrift. J. verband Ideen der Aufklärung mit der Erfahrung der Französischen Revolution u. forderte für Deutschland eine dem Stand der Geistesausbildung u. Zivilisation angemessene Gesellschafts- u. Staatsform: Kontrolle der Macht durch eine polit. Öffentlichkeit, Pressefreiheit, Rechtsstaatlichkeit u. Demokratie. England war ihm, wie der mit Weitblick geschriebene Essay Ueber die Oeffentlichkeit (erstmals in: Allgemeine politische Annalen, 1830) belegt, in vielem das Vorbild. Von J.s themat. Vielfalt, seiner stilistischen Eleganz u. Unabhängigkeit des Denkens zeugen bes. die von Zschokke aus dem Nachlass edierten dreibändigen Reliquien (Hechingen 1836–38), eine für die dt. Gattungstradition ungewöhnl. Sammlung von Essays, Glossen, Aphorismen, Denkwürdigkeiten u. Charakterskizzen zur Personen- u. Zeitgeschichte. Der geistesgeschichtl. Wert von J.s Schriften wurde in vollem Umfang erst im 20. Jh. erkannt. Werner Kraft u. Walter Benjamin, der ihn »einen der größten revolutionären Schriftsteller Deutschlands« nannte u. ihn an einer Stelle »zwischen der Aufklärung und dem jungen Marx« ansiedelte, hoben erstmals die überzeitl. Bedeutung der aus dem Gesamtwerk herausragenden sprachkrit. u.
Jöcher
literatursoziolog. Studie Ueber die Sprache (Heidelb. 1828. Neudr. Gött. 1968) hervor. J. sieht darin die zeitgenöss. öffentl. Sprache u. Kommunikation in Deutschland als hinter ihren Möglichkeiten zurückgeblieben u. begründet dieses Urteil mit dem bestehenden restriktiven gesellschaftspolit. Zustand. Das Vorherrschen der Poesie vor der Prosa begreift er als Kompensation eines Mangels an polit. Freiheit. Die Fülle der in dieser Schrift enthaltenen geistesgeschichtl. Bezüge ist umfänglich erarbeitet worden in der kommentierten Ausgabe der Gesammelten Schriften (Bd. 1. Hg. Peter König. Heidelb. 1998). J.s Forderung nach einer krit., vergleichenden sowie kommunikations- u. mediengeschichtl. basierten Sprachgeschichtsschreibung erweist sich als eine in der Linguistik inzwischen zwar erkannte, methodisch u. inhaltlich jedoch noch längst nicht bewältigte Aufgabe. Ausgaben: Die Rückschritte der Poesie u. a. Schr.en. Hg. Werner Kraft. Ffm. 1967. – Die unzeitige Wahrheit. Aphorismen, Glossen u. der Essay ›Über die Öffentlichkeit‹. Hg. Eberhard Haufe. Lpz./Weimar 1976. 21980 (auch Bln. 1981). 31990. – Die Rückschritte der Poesie. Hg. Ulrich Kronauer. Hbg. 1982. – Zur Naturgesch. des Adels. Hg. ders. Heidelb. 1982. – Polit. Sprachkritik. Aphorismen u. Glossen. Hg. Uwe Pörksen. Stgt. 1983. Literatur: Walter Benjamin: Die Rückschritte der Poesie. Von C. G. J. Einl. In: Ztschr. für Sozialforsch. 8, 1/2 (1939), S. 92–114 [u. ö.]. – Werner Kraft: C. G. J. u. sein Kreis. Mchn. 1972. – Uwe Pörksen: Plädoyer für polit. Kultur. Über C. G. J. In: Merkur 35 (1981), S. 198–204. – Markus Fauser: ›Rede, daß ich dich sehe‹. C. G. J. u. die Rhetorik im Vormärz. Hildesh. u. a. 1986. – Jürgen Schiewe: Sprache u. Öffentlichkeit. C. G. J. u. die polit. Sprachkritik der Spätaufklärung. Bln. 1989. – Ders.: Ein Weltbürger in den Fängen der Völkischen. Über die Rezeption der aufklärer. Sprachkritik C. G. J.s durch den Allgemeinen dt. Sprachverein. In: Muttersprache 102 (1992), S. 1–14. – Kenichi Mishima: ›Nicht alles Vergangene ist verloren‹. Walter Benjamin über C. G. J. In: Sprache, Lit. u. Kommunikation im kulturellen Wandel. FS Eijiro Iwasaki. Hg. Tozo Hajakawa u. a. Tokyo 1997, S. 575–597. – U. Pörksen: C. G. J. Ein Selbstdenker ohne Land, Namen u. Publikum u. ein früher Verteidiger der Homöopathie. In: J. G. Herder u. die deutschsprachige Lit. seiner Zeit in der balt. Region. Hg. Claus Altmann u. Armands
152 Gu¯tmannis. Riga 1997, S. 198–231. – Wolfgang Beutin: Aber wenn die Lüge herrscht, wie soll die Wahrheit nicht ein Aufruhr sein? Ein Versuch über C. G. J. In: Ders.: Die Revolution tritt in die Lit. Ffm. 1999, S. 59–77. – Ralph-Rainer Wuthenow: ›Deutsche Sprache – deutsche Wirklichkeit. Sprache u. Öffentlichkeit bei Carl Gustav Jochmann‹. In: ›Misère allemande‹. ›Deutsche Misere‹. Textes réunis par Lucien Calvié et François Genton à l’occasion du bicentenaire de la naissance de Heinrich Heine (1797–1856). Grenoble 1999, S. 47–56. – Ulrich Kronauer: ›Sie mißbrauchen das Vorrecht, das die Wirklichkeit besitzt, wahr zu sein ohne Wahrscheinlichkeit‹. C. G. J. u. das Missionswesen der Jesuiten in Frankreich. In: Lichtenberg-Jb. 2000, S. 66–81. – Markus Malo (2001): Sprachkritik u. (k)ein Ende (?). Zur Ausg. von J.s ›Gesammelten Schriften‹. In: Scientia Poetica 5 (2001), S. 122–42. – Michael Schwidtal u. A. Gu¯tmannis (Hg.): Das Baltikum im Spiegel der dt. Lit. Beiträge des Internat. Symposions in Riga vom 18. bis 21. Sept. 1996 zu den kulturellen Beziehungen zwischen Balten u. Deutschen. Heidelb. 2001. – J. Schiewe: C. G. J.s polit. Sprachkritik. In: Triangulum 13 (2008), S. 82–99. Jürgen Schiewe
Jöcher, Christian Gottlieb, * 20.7.1694 Leipzig, † 10.5.1758 Leipzig. – Historiker, Lexikograf. Der Sohn eines angesehenen Kaufmanns verbrachte zunächst zwei Gymnasialjahre in Gera, bevor er 1709 nach Zittau übersiedelte. Der dortige Rektor Gottfried Hoffmann vermittelte J. eine gründl. rhetorische Ausbildung u. verschaffte ihm ersten Zugang zur Gelehrsamkeitsgeschichte. 1712 nahm J. das Studium in Leipzig auf, das er 1714 mit dem Magistergrad abschloss. 1717 erhielt er einen Lehrauftrag an der Philosophischen Fakultät u. bekannte sich in seinen Vorlesungen zur Philosophie Christian Wolffs. 1730 erlangte er ein Ordinariat der Philosophie, zwei Jahre später, nach dem Tod Johann Burkhard Menckes, wurde er Geschichtsprofessor, 1735 Doktor der Theologie u. 1742 Universitätsbibliothekar. J. gab seit 1720 die deutschsprachigen Acta eruditorum (Lpz. Ab 1740 u. d. T. Zuverlässige Nachrichten von dem gegenwärtigen Zustande, Veränderung und Wachsthum der Wissenschaften) heraus u. unterstützte Mencke bei der Edition der lat. Acta eruditorum. Sein rhetorisches
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Talent stellte J. bei Begräbnissen vornehmer Leipziger unter Beweis (Trauer-Reden. Lpz. 1733). Mencke vertraute J. die Neuherausgabe seines 1715 erschienenen Gelehrtenlexikons an, das erstmals 1725 in einer wesentlich verbesserten Ausgabe erschien u. mit Adelungs u. Rotermunds Fortsetzung bis heute ein bedeutendes biogr. Nachschlagewerk geblieben ist (Allgemeines Gelehrtenlexikon. Lpz./Bremen 1750–97. Neudr. Hildesh. 1960/61). Die Antrittsrede De insigni studii historici nostra aetate 1xoch seu excellentia (Lpz. 1732) dokumentiert aufklärerischen Fortschrittsglauben; J. stellt die historiografischen Leistungen der Neueren weit über die ihrer Vorgänger. Er geht in Philosophia haeresium obex (Lpz. 1732) von der Harmonie zwischen Offenbarungs- u. Vernunftwahrheiten aus u. weist nach, dass der philosophischen Widerlegung u. der Disputation im Kampf gegen die Häresie eine wichtige Rolle zukommt. Literatur: Bibliogr. in: [Ulrich Christian Saalbach:] Memoria viri summe reverendi atque excellentissimi Christiani Gottlieb Joecheri [...]. Lpz. 1758. – J.s 60.000. Ein Mann. Eine Mission. Ein Lexikon [Ausstellungskat.]. Hg. Ulrich J. Schneider. Lpz. 2008. Hanspeter Marti
Joël, Franz, * 1.9.1508 Szöllös (Solosch/ Ungarn), † 20.10.1579 Greifswald. – Pharmazeutischer u. medizinischer Fachschriftsteller. J., Sohn eines Schmieds, wandte sich nach dem Besuch der Stadtschulen in Olmütz u. Wien der Arzneimittellehre u. Heilkunde zu; seit 1526 wurde er in Neustadt (bei Wien) zum Apotheker ausgebildet. Ab 1538 studierte er Medizin in Wittenberg u. Leipzig (kein Eintrag in den Matrikeln); danach war er für kurze Zeit Arzt in Berlin. 1543 wurde er von Herzog Albert von Mecklenburg als Hofapotheker nach Güstrow berufen; noch im selben Jahr ging er als Apotheker u. Stadtphysikus nach Stralsund. 1549 zog er wegen religiöser Auseinandersetzungen in der Folge des Interims nach Greifswald, gründete dort 1551 die Ratsapotheke u. erwarb 1555 an der Universität Rostock den Grad eines Lizentiaten der Medizin. Seit Aug.
Joël
1559 o. Prof. der Medizin an der Greifswalder Universität, wurde er 1567 u. 1576 deren Rektor. In den Thesen De morbis hyperphysicis et rebus magicis theseis (Rostock 1580. 21599) lehnte J. die chemiatr. Lehren des Paracelsus ab. Seine Bezichtigungen des Paracelsus an Nichtigkeit gleichgestellten Leonhard Thurneisser, sich gleich diesem eines Dämons bedient u. zudem den Teufel in einem Kristallglas besessen zu haben, übten auf ältere Biografien des Schweizers nachhaltigen Einfluss aus. In J.s von Matthäus Bacmeister, einem Enkel, 1616–1631 in sechs Bänden in Hamburg, Lüneburg u. dann Rostock herausgegebenen, wenig wirkmächtigen Opera medica (Amsterd. 2 1663. 31701) finden sich allerdings zahlreiche Angaben zur Bereitung chemiatr. Arzneimittel. Jegliche Verbindung der Chemiatrie mit magischen Vorstellungen lehnte der fromme Protestant aber entschieden ab. Literatur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Weitere Titel: Theodor Pyl: F. J. In: ADB. – W. Schönfeld: Franciscus J., ein Greifswalder Professor der Medizin, Stadtphysikus u. Apotheker, sein Leben u. seine Werke. In: Dermatolog. Wochenschr. 89 (1929), S. 1265–1275. – Ernst Jendreyczyk u. Peter Pooth: Aus der Gesch. der Stralsunder Apotheken. Mittenwald 1939, S. 28–32, 70 f. – Johannes Valentin: Die Entwicklung der Pharmazeut. Chemie an der Ernst-Moritz-Arndt-Univ. Greifswald. In: Pharmazie 12 (1957), S. 368–376. – Guido Jüttner: F. J. In: Dt. Apotheker-Biogr. Bd. 1, Stgt. 1975, S. 304 f. – Ferdinand Schmidt: F. J. In: Dt. Apotheker Ztg. 119 (1979), S. 2092 f. – Peter Morys: Medizin u. Pharmazie in der Kosmologie Leonhard Thurneissers. Husum 1982. – Gesch. der Medizin. Fakultät Greifswald. Gesch. der Medizin. Fakultät v. 1456 bis 1713 v. Christoph Helwig d.J. [...]. Hg. u. übers. v. Hans Georg Thümmel. Stgt. 2002 (Register). – Hans Reddemann: Berühmte u. bemerkenswerte Mediziner aus u. in Pommern. Schwerin 2003, S. 82, Register. – Dirk Alvermann u. Birgit Dahlenburg: Greifswalder Köpfe. Gelehrtenporträts u. Lebensbilder des 16.-18. Jh. aus der pommer. Landesuniversität. Rostock 2006, S. 108 f. – Maren Malcherek: Der Greifswalder F. J. u. seine ›Opera medica‹. In: Gesundheit im Buch. Gedruckte medizinhistor. Kostbarkeiten der Greifswalder Universitätsbibl. (15.-18. Jh.). Hg. Oliver Auge u. Maricarla Gadebusch Bondio. Greifsw. 2006, S. 81–85. Wolf-Dieter Müller-Jahncke / Red.
Jördens
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Jördens, Gustav, auch: G. Iden, A. Clau- Jördens, Karl Heinrich, * 24.4.1757 Fienren, * 12.8.1785 Berlin, † 1834. – Erzäh- städt bei Halle, † 6.12.1835 Lauban/Nieler. derschlesien. – Verfasser von pädagogischen Schriften u. Schulbüchern; LexikoNach einem juristischen Studium in Berlin u. graf. diversen staatl. Anstellungen in Görlitz u. Glogau war J., Sohn von Karl Heinrich Jördens, ab 1821 bis zu seinem Freitod in Dresden u. Leipzig als freier Schriftsteller ansässig. Bevorzugter Publikationsort für J.’ zahlreiche Erzählungen waren Unterhaltungsblätter, Zeitschriften u. Almanache wie die »Zeitung für die elegante Welt«, »Beckers Taschenbuch für das gesellige Vergnügen« oder »Gubitzens Gaben der Milde«. Der Texttyp der kurzen Erzählung überwiegt in J.’ Œuvre, doch schrieb er auch Romane (Der Adjunktus des Pfarrers von Friedau. Lpz. 1825. Das Labyrinth der Liebe. Lpz. 1825. Bella und Beata. Lpz. 1826). Teilweise veröffentlichte er unter dem Pseud. A. Clauren, um den Erfolg des wohl prominentesten zeitgenöss. Trivialautors Heinrich Clauren zu nutzen. Das Erzählgeschehen kreist meist um Liebeskonflikte, die als schicksalhaft empfunden werden u. tragisch enden oder nur mit großen Mühen zu lösen sind. Die zeitl. u. themat. Einbindung reicht von der Gegenwart über histor. Situationen bis zu Märchen u. Sagen. Neben Lyriksammlungen dt. Dichter (Alona. Lpz. 1825. Kora. Lpz. 1827) gab J. auch Lichtenbergs Ideen, Maximen und Einfälle (2 Bde., Lpz. 1827–30) heraus.
Weitere Werke (Erscheinungsort: alle Lpz.): Morgana. Erzählungen u. Mährchen. 2 Bde., 1820. – Die Vermählung. 1822. – Die Jahreszeiten der Ehe. 1822. – Sinnreiche u. unterhaltende Gesch.n aus Frater Joh. Paulis Schimpf u. Ernst. 1822. – Lanzelot vom See. Eine Rittergesch. [...]. 1822. – Irner, oder die Widersprüche der Liebe (nach Lord Byron). 1823. – Bunte Bilder. E.en u. Skizzen [...]. 2 Bde., 1823/24. – Lothario, oder die Brüder des Bundes zum Gemeinwohl (nach Nodier). 1824. – Amalfried der Thüringer. Histor. Novelle aus dem 6. Jh. 1828. Dominica Volkert
Nach dem Theologiestudium in Halle (1773–1776) war J., Sohn eines Schulrektors, zunächst als Hauslehrer in Berlin tätig, bevor er eine Karriere im Schuldienst begann. Zunächst Lehrer am Schindler’schen Waisenhaus (1778–1784), wurde er Subrektor an der Cöllnischen Schule in Berlin (bis 1790), später Inspektor u. Konrektor der Waisen- u. Schulanstalt in Bunzlau u. folgte um 1796 einem Ruf als Rektor an das Lyceum in Lauban. Dort war er bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand 1825 tätig. Zur zeitgenöss. Diskussion um Lehrpläne an höheren Schulen leistete J. einen maßgebl. Beitrag durch seine Schulausgaben antiker Schriftsteller mit ausführl. Wortregistern, Grammatik- u. Übersetzungsanmerkungen. Auch theoretisch äußerte er sich zu Übersetzungsfragen u. Lektüreauswahl für den Schulunterricht (Sollen auch teutsche Schriftsteller auf Schulen gelesen und erkläret werden? Lauban 1797. Etwas über die Verteutschung der alten klassischen Schriftsteller in Schulen [...]. Ebd. 1798). Im Mittelpunkt seiner Argumentation steht die Forderung nach selbstständigem Lesen der Schüler. Kommentierungen der Texte sollen zusätzl. Erklärungen des Lehrers weitgehend ersetzen. Am eigentl. Literaturbetrieb beteiligte J. sich v. a. mit der Herausgabe zahlreicher Gedicht- u. Erzählungssammlungen (Originaldialogen und Erzählungen der Teutschen. 2 Bde., Bln. 1789. Blumenlese teutscher Sinngedichte. 2 Bde., Bln. 1789–91. Berlinischer Musenalmanach für das Jahr 1701/92. Bln. 1791). Seine wichtigste Publikation ist das Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten (5 Bde. u. 1 Suppl.-Bd., Lpz. 1806–11. Neudr. Hildesh./New York 1970). In über 400 alphabetisch geordneten Artikeln zu Autoren der gesamten dt. Literaturgeschichte gibt J. nicht nur bio- u. bibliogr. Informationen, sondern äußert sich auch zum Stellenwert des jeweiligen Œuvres. Seine Beurteilungen gehen vom aufklärerischen Postulat »Nutzen und Unterhaltung« aus. Sie
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sind Beispiele für das etablierte Literaturverständnis des ausgehenden 18. Jh. Weitere Werke: Hierokles Schnurren nebst einem Anhange neuerer Schnurren für lustige Leser. Bln. 1789. – Denkwürdigkeiten, Charakterzüge u. Anekdoten aus dem Leben der vorzüglichsten dt. Dichter u. Prosaisten. Lpz. 1812. Literatur: Gottlieb Friedrich Otto: Lexikon der Oberlausizischen Schriftsteller u. Künstler. Bd. 2, 1802, S. 258 ff. – Heinrich Julius Kaemmel: K. H. J. In: ADB. – Dieter Martin: Barock um 1800. Bearb. u. Aneignung dt. Lit. des 17. Jh. v. 1770 bis 1830. Ffm. 2000 (Register). Dominica Volkert / Red.
Johannes Baptista. – Mittelalterliche deutsche Legende in verschiedenen Versu. Prosafassungen aus dem 12. bis 15. Jh.
Johann von Brabant
tung Johannes’. Auch in dieser Zeit genoss er große Verehrung, bes. in Frauenklöstern. Bisweilen stritten sich die Nonnen (etwa in St. Katharinental bei Diessenhofen u. im Klarissenkloster Nürnberg) um den Vorrang von J. B. oder Johannes Evangelista. In einer Handschrift aus dem Nürnberger Klarissenkloster ist eine Sammlung von J.-B.-Legenden, Predigten u. Wunderberichten enthalten. Der erste Text ist eine kommentierende Legende, während sich der zweite streng an die Berichte der Evangelien hält. Dieser Text diente als Quelle für das Nürnberger Prosalegendar Der Heiligen Leben. Die Handschrift berichtet auch von Reliquienwundern in einer Johanneskapelle in Altenberg bei Nürnberg, die dem Kloster gehörte. Eine umfangreiche alemann. Legende ist in einer aus Straßburg stammenden Berliner Handschrift zusammen mit einem ausführl. JohannesEvangelista-Leben erhalten. Wohl für die Lesung am Tag der Enthauptung des Täufers bestimmt sind vier in verschiedenen Kontexten überlieferte, bisher nicht untersuchte Berichte seines Martyriums.
Die Legende des außerordentlich populären Heiligen J. B. erfuhr zahlreiche mittelalterl. Bearbeitungen. Seine Vita gehörte, wie die der Apostel, zu denen sie häufig gestellt wurde, zum Grundbestand jedes Legendars. Bereits im 12. Jh. entstanden drei Versfassungen der Legende. Die älteste ist die 446 Verse umfassende Version der Frau Ava. Nur Ausgaben: Carl v. Kraus (Hg.): Dt. Gedichte des fragmentarisch erhalten (76 von insg. etwa 12. Jh. Halle 1894, S. 12–15, 101–111 (Baumgar200/250 Kurzversen) ist der sog. Baumgarten- tenberger J. B.), S. 15–23, 111–134 (Priester Adelberger Johannes Baptista, der wohl um 1140 im brecht). – Friedrich Maurer: Die religiösen Dichösterr. Kloster Baumgartenberg entstanden tungen des 11. u. 12. Jh. Bd. 2, Tüb. 1965, ist. Es handelt sich weniger um eine Legende S. 134–139 (Baumgartenberger J. B.), S. 332–341 (Priester Adelbrecht). als um den Versuch, anhand der Figur des Literatur: Maurer, a. a. O., S. 328–331 (zu Täufers theolog. Fragen zu behandeln. J. B. Priester Adelbrecht). – Karl-Ernst Geith: Baumwird als Bindeglied zwischen Altem u. Neugartenberger J. B. u. (Priester) Adelbrecht. In: VL u. em Bund gedeutet; er ist zgl. der letzte u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Werner Williamsgrößte Prophet des AT u. der erste, der das Krapp: J. B. In: VL. – Ders.: Die dt. u. niederländ. Gesetz Mose neu auslegt. Das Werk wird in Legendare des MA. Tüb. 1986 (Register; zu den der Kaiserchronik zitiert. Etwa um die gleiche Prosafassungen). Werner Williams-Krapp / Red. Zeit verfasste der wohl bair. Priester Adelbrecht eine Legende von J. B., von der nur 267 Johann aus dem Baumgarten ! JoVerse überliefert sind. Erhalten sind Berichte hann aus dem Virgiere über Jugend u. Tod des Täufers; Anfang u. Mittelteil sind verschollen. Im Wesentlichen Johann von Brabant, * 1252/53, † 1294. hält sich der Verfasser an die evang. Quellen, – Minnesänger. fügt aber auch Erbauliches hinzu. Das Werk war offenbar für Laien bestimmt. Der Dichter Johann I., seit 1268 Herzog von Brabant, war des Rolandsliedes hat Verse des Werks verar- durch seine Ehe mit Margaretha von Frankbeitet. reich eng mit dem frz. Königshof verbunden. Aus dem SpätMA stammen neben zahlrei- Im limburgischen Erbfolgekrieg (Schlacht bei chen Legendarfassungen drei selbstständige Worringen, 1288) konnte er seine Herrschaft Legenden u. vier Berichte über die Enthaup- nach Osten ausdehnen. J. war ein Förderer
Johannes von Buch
höf. Kultur u. starb 1294 an den Folgen einer Turnierverletzung. Die Große Heidelberger Liederhandschrift überliefert neun Minnelieder von J., sieben davon mit Refrain. J. orientierte sich an den romanischen Liedtypen Virelai, Ballete u. Zadjal. Die meist einfachen Lieder sind eher der Sangbarkeit als einer raffinierten Minnediskussion verpflichtet. J. schildert oft eine Zwangsminne, von deren Schmerz der Minnediener allein durch die Dame geheilt werden kann. Das Ich steht dabei in betont inferiorer Position, was iron. Verkehrung der realen Herrschaftshierarchie u. Fiktionalitätssignal zgl. ist. Eine Pastourelle, die einen Alba-Refrain zu »Harba lori fa« verballhornt, weicht spielerisch von der Gattungstypik ab. Die urspr. Sprache der Lieder ist umstritten. Einerseits weisen Reimgestalt u. Niederlandismen auf eine niederländ. Form, andererseits scheint J. im Zuge seiner Ostpolitik für ein Publikum im Maasgebiet gedichtet u. eine dort gebräuchl. niederländisch-dt. Mischsprache verwendet zu haben, was sich gut zur Minnedame »entzwischen mase un dem rine« (Lied 7) fügt. Ausgaben: Friedrich H. v. der Hagen: Minnesinger. Lpz. 1838. Neudr. Aalen 1963, Bd. 1, S. 115–117. – Jan Goossens u. Frank Willaert (Hg.): De liederen van Jan I. Diplomatische editie. In: Queeste 10 (2003), S. 115–126. Literatur: Paul B. Wessels: J. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – F. Willaert: Geben u. Nehmen. Das höf. Lied in den Niederlanden u. der dt. Minnesang. In: ABäG 47 (1997), S. 213–227. – J. Goossens: Zur Sprache der Lieder des brabant. Herzogs Johan I. in der Maness. Liederhs. In: Nine Miedema u. Rudolf Suntrup (Hg.): Lit. – Gesch. – Literaturgesch. Beiträge zur mediävist. Literaturwiss. Ffm./Bln. 2003, S. 237–248. Sandra Linden
Johannes von Buch, auch: Jan/Henning von Buk, Bok, Boek, * vor 1290, † nach 1356. – Rechtsgelehrter, Hofrichter u. Hauptmann im Dienst der Markgrafen von Brandenburg aus einer ritterbürtigen Familie der Altmark (Buch bei Tangermünde). J. ist der Verfasser der ältesten Glosse zum Sachsenspiegel u. des Richtsteig Landrechts. Er wurde 1305 an der Univ. Bologna immatri-
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kuliert. 1319–1356 ist er in zahlreichen brandenburgischen Urkunden im Umfeld bzw. im Dienst der Markgrafen als »consiliarius«, »secretarius« u. Hofrichter nachweisbar. 1333 trat er in den Dienst Markgraf Ludwigs I. von Brandenburg. 1336 ernannte ihn Kaiser Ludwig der Bayer zum Hauptmann der Mark. Beim Markgrafen hatte J. nicht nur wichtige Ämter inne, sondern er trat auch als wichtiger Kreditgeber in Erscheinung. In den 1340er Jahren scheint sich das Verhältnis zum Markgrafen abgekühlt zu haben. Ämter werden keine mehr genannt, u. bei Ludwig II. ist er nur noch um die Sicherstellung seiner finanziellen Forderungen bemüht. Nach 1356 ist J. nicht mehr urkundlich nachweisbar. Auf Anregung Herzog Ottos des Milden von Braunschweig (Glossenprolog) verfasste J. nach 1325 die Glosse zum Sachsenspiegel. Ein nur in sechs Handschriften überlieferter u. nach dem Richtsteig verfasster dt. u. lat. Versprolog erläutert die grundlegenden Ideen J.’ u. die Entstehungshintergründe. Glossiert wurden zunächst die Teile des Landrechts (bis Buch III, Art. 82 § 1), die in der Vorstellung J.’ direkt auf Karl den Großen zurückgingen. Auch von J. stammt eine erste Fortsetzung der Glossierung bis Art. 87. J.’ Anliegen bei der wissenschaftl. Glossierung dieses wichtigsten volkssprachigen Rechtstexts war es, einerseits das gelehrt-lat. röm. Recht in das volkssprachige Recht zu integrieren – so wurden u. a. das gesamte Corpus Juris Civilis u. das Corpus Juris Canonici nicht nur herangezogen, sondern über weite Strecken sogar wörtlich zitiert – u. andererseits das Recht zu harmonisieren u. zu aktualisieren. J.’ Glosse steht am Anfang der volkssprachigen Kommentartradition. Das Konzept war erfolgreich. Neben dem Sachsenspiegel u. dem Schwabenspiegel gehört J.s Glosse mit über 200 Hss./Fragm. u. zahlreichen Drucken (1474–1614) zu den erfolgreichsten u. wirkmächtigsten volkssprachigen Texten des MA überhaupt. Viele Rezipienten übernahmen zudem Inhalte u. Konzept für eigene Sachsenspiegel-Glossierungen (u. a. Petrinische Glosse, Nicolaus Wurm, Brand von Tzerstede, Dietrich von Bocksdorf), aber auch für neue Rechtsbücher wie das Clevische Stadtrecht, das
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Berliner Schöffenrecht u. die Neun Bücher Magdeburger Rechts. Inspiriert durch den Erfolg, verfasste J. um 1330 den Richtsteig Landrechts. Der ursprünglich als viertes Buch der Glosse konzipierte Richtsteig fasst alle Abschnitte des Sachsenspiegels zum Gerichtsverfahren zusammen u. erläutert in 50 Kapiteln den Rechtsgang, d. h. den sächs. Prozess vor dem Landgericht. Auch dieses ganz prakt. Handbuch zur Prozessführung war erfolgreich u. ist in 100 Handschriften/Fragmenten u. mindestens 11 Drucken (1474–1528), z.T. mit und z.T. ohne Glosse sowie Landrecht, überliefert. Ausgaben: Der Richtsteig Landrechts nebst Cautela u. Premis. Hg. Carl Gustav Homeyer. Bln. 1857. – Glossen zum Sachsenspiegel-Landrecht: Buch’sche Glosse. Hg. Frank-Michael Kaufmann. Hann. 2002 (maßgebl. Ausg. der ›Glosse‹). Literatur: Hans Schlosser: J. v. B. In: HRG. – Dietlinde Munzel: Richtsteig. In: HRG. – Ingeborg Buchholz-Johanek: J. v. B. In: LexMA. – Dies.: J. v. B. In: VL. – Ulrich-Dieter Oppitz: Rechtsbücher des dt. MA. 2 Bde., Köln/Wien 1990, bes. Bd. 1, S. 64 f. – F.-M. Kaufmann (s. o.; mit Nachweis der älteren Lit. u. aller Ausg.n). Jürgen Wolf
Johannes von Dambach, Tambach, de Tambaco, Argentinensis, * 1288, † 10.10. 1372. – Theologe. J.’ Herkunftsbezeichnung Dambach verweist auf das Elsass als seine Heimat. 1308 trat er in den Straßburger Konvent des Dominikanerordens ein, dem seit 1315 auch Johannes Tauler angehörte. Theologiestudien in Bologna u. J.’ Zeugenschaft 1327 im Inquisitionsverfahren gegen Meister Eckhart sind belegt. 1339, zur Zeit des päpstl. Interdikts gegen Ludwig den Bayern, ging J. mit seinen Ordensbrüdern nach Basel ins Exil. 1347 wurde er in Montpellier zum Magister der Theologie promoviert u. als erster Regens an das neu errichtete Generalstudium in Prag berufen. 1348 in kaiserl. Auftrag sowie 1350 hielt er sich an der päpstl. Kurie in Avignon auf. Die folgenden Jahre bis zu seinem Tod scheint er v. a. in Straßburg verbracht zu haben. In seiner frühesten erhaltenen Schrift Exhortatio ad Carolum IV. (1346–48) fordert J. den
Johannes von Dambach
Kaiser auf, sich beim Papst für die Aufhebung von Exkommunikationen u. Interdikten einzusetzen. Zwei größere theolog. Werke, De sensibilibus deliciis paradisi (vor 1350) u. De culpa et gratia (1357), handeln von der vollkommenen Befriedigung auch der Sinne im Jenseits u. von Problemen der Gnadenlehre. In kleineren theolog. u. kanonischen Traktaten (soweit datierbar 1360–65) äußert J. sich zur Ablasslehre u. zu Streitfragen um Armut u. Einkünfte der Dominikaner. Zu den belegbaren Werken gehört ferner eine Fastenpredigt. Die Überlieferung fast aller Schriften reicht bis in J.’ Lebenszeit zurück. J.’ Ruhm bis ins frühe 16. Jh. beruht auf seinem umfängl. Werk De consolatione theologiae. In der Nachfolge der Consolatio philosophiae des Boëthius († 524) personifiziert J. die Theologie; die mannigfachen Trostgründe für alle vorkommenden Fälle der Trauer u. des Missgeschicks tragen jedoch allegor. »puellae« vor, die von »milites« als den Stimmen der antiken u. christl. Autoren begleitet werden. Der stoische Grundzug in J.’ Denken über die Welt lässt ihn v. a. Seneca zitieren. Als systematisch aufgebautes, kompilatorisches Handbuch war J.’ Consolatio vollständig u. in Exzerpten handschriftlich u. im Druck in ganz Europa verbreitet u. beeinflusste nachhaltig die spätmittelalterl. Consolatorienliteratur, die bes. zur Zeit des großen Schismas blühte. Ausgaben: Exhortatio. Hg. Albert Auer. In: Histor. Jb. 46 (1926), S. 540–549. – Dt. Übers. v. Walter Hofmann. In: Wiss. Ztschr. der Karl-MarxUniv. Lpz., Gesellschafts- u. sprachwiss. Reihe 6 (1956/57), S. 392–396. Literatur: A. Auer: J. v. D. u. die Trostbücher vom 11. bis zum 16. Jh. Münster 1928. – Gabriel M. Löhr: Die Mendikantenarmut im Dominikanerorden im 14. Jh. In: Divus Thomas (Freib./Schweiz) 18 (1940), S. 385–427. – Peter v. Moos: Consolatio. 4 Bde., Mchn. 1971/72 (Register). – Thomas Kaeppeli: Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi 2. Rom 1975, S. 400–405. – Franz Josef Worstbrock: J. v. D. In: VL. – Robert William Shaffern: A New Canonistic Text on Indulgences: ›De quantitate indulgenciarum‹ of John of Dambach (1288–1372), O.P. In: Bulletin of Medieval Canon Law 21 (1991), S. 25–45. – Matthias Laarmann: J. v. D. In: LThK, 3. Aufl. – Piotr Smolin´ski: Préparation de l’édition critique de De consolatione theologiae
Johannes von Eich
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de Jean de Tambach. In: Acta Mediaevalia 12 (1999), S. 369–380. Sabine Schmolinsky
Johannes von Frankenstein. – Spätmittelalterlicher Verfasser des geistlichen Epos Der Kreuziger (Der krûzigêre), erste Hälfte des 14. Jh.
Johannes von Eich, Eych, * 1405/06 Eicha/Saale (?), † 1.1.1464 Eichstätt; Grabstätte: ebd., Klosterkirche St. Walburg. – Österreichischer Rat, Reformbischof, Frühhumanist.
Was man über J. weiß, berichtet sein einziges, 11.476 Verse umfassendes Werk, das eine einzige, in Wien um 1350 entstandene Handschrift überliefert. Nach den Angaben im Epilog stammte J. aus der Stadt Frankenstein in Schlesien u. war selbst ein »krûzigêre« (Kreuzträger), ein Angehöriger des Johanniterordens, der späteren Malteser. Durch die Verbindung der böhm. u. der österr. Ordensgemeinschaft kam er in die nordniederösterr. Kommende Mailberg, von wo ihn der Komtur nach Wien schickte. Dort übersetzte J. auf Bitten des Schaffers Seidel eine lat. Prosapassion ohne vorherige dichterische Erfahrung in dt. Verse. Zwar endet sein Werk mit der Angabe des Jahres 1300 als Entstehungsdatum; da aber der Epilog abrupt am Seitenende schließt, darf in den als verloren anzunehmenden Schlussversen die Fortführung der Jahreszahl mit Zehnern u. Einern vermutet werden. Die erst 1935 entdeckte lat. Quelle, ein nicht näher untersuchter Passionstraktat, wurde im MA wohl zu Unrecht dem in Prag u. Heidelberg wirkenden Theologen Matthäus von Krakau (um 1345–1410) zugeschrieben, u. so kann man aus sprachl. Gründen eine Entstehung von J.’ Werk spätestens in der ersten Hälfte des 14. Jh. annehmen. J. folgt bei der ihm nach eigenen Worten oft schwer fallenden Übersetzungstätigkeit ganz dem lat. Passionstraktat. Dieser behandelt die Leidensgeschichte nach den Evangelienberichten vom Aufbruch nach Bethanien u. der Einkehr bei Simon dem Aussätzigen bis zur Grablegung u. damit zeitlich vom Vortag des Palmsonntags bis zum Karfreitag. Aber nicht die Erzählung oder eine von dieser ausgehende Erweckung der compassio u. myst. Versenkung bestimmen den Inhalt, sondern rationale scholastisch-gelehrte Kommentierung des Geschehens u. Erklärungen der lat. Wortwahl. Nachgegangen wird etwa den Fragen, wieviele Sünden Judas beim Verrat beging, ob Christus wirklich Blut schwitzen konnte, woher Petrus das Schwert nahm oder
Nach dem Studium der Rechte in Wien u. Padua lehrte J. ab 1435 in Wien u. diente gleichzeitig den Herzögen Albrecht V. u. Albrecht Vl. von Österreich als Rat. Wohl vermittelt über sein Auftreten auf dem Basler Konzil 1434 u. 1438/39 u. über seine Kanzleitätigkeit konnte er Kontakt mit Enea Silvio Piccolomini knüpfen, der ab 1442 in der kaiserl. Kanzlei in Wien tätig war. 1445 wurde J. zum Bischof von Eichstätt gewählt, wo er sich bis zu seinem Tod um die Reform des Bistums bemühte. J. hinterließ ein umfangreiches lat. Briefwerk, das aus seiner Bischofszeit stammt u. sich vornehmlich mit den damals aktuellen Fragen der Kirchenreform u. der Seelsorge beschäftigt. Während des Studiums in Italien, v. a. aber durch Enea, lernte er die intellektuellen Bestrebungen des Humanismus kennen; als Humanist trat J. allerdings nur rezeptiv in Erscheinung. Bekannt ist er als Mentor des Eichstätter Humanistenkreises um Albrecht von Eyb u. Johannes Mendel wie als Adressat humanistischer Gedichte u. Briefe. Das berühmteste ihm gewidmete Werk ist wohl Eneas Brief De miseriis curialium (1444). Literatur: Franz Xaver Buchner: Johann III., der Reformator des Bistums. Eichstätt 1911. – Franz Machilek: Ein Eichstätter Inquisitionsverfahren aus dem Jahre 1460. In: Jb. für fränk. Landesforsch. 34/35 (1974/75), S. 417–446. – Ernst Reiter: Johann v. Eych. In: VL. – Monika FinkLang: Eichstätter Geistesleben im Zeitalter des Humanismus. In: Sammelbl. des Histor. Vereins Eichstätt 77/78 (1984/85), S. 30–45. – Heide Dorothea Riemann: Der Briefw. Bernhards v. Waging u. J.’ v. E. Diss. Köln 1985 (mit Textabdr.). – Paul Weinig: Aeneas Silvius Piccolominis ›De Curialium Miseriis‹ dt. Eine unbekannte Übers. aus dem 15. Jh. In: ZfdA 120 (1991), S. 73–82. Frank Fürbeth / Red.
Johannes von Freiberg
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ob vor Christus schon jemand von den Toten auferstand. Ebenso werden widersprüchl. Angaben der Evangelisten zu klären versucht. Obgleich die Schilderung der Leidensstunden Christi am Kreuz mit gefühlvoller Anteilnahme gelingt, zielt das Werk insg. eher auf theolog. Laienbildung. Sprachlich gehört J. noch der Tradition einer rhythmisch gekonnten, wenn auch formelhaften Verssprache an. Trotz der Entstehung seines Werks im bairisch-österr. Wien ist der Lautstand der reinen Reime ostmitteldt.-schlesisch; bair. Wortschatz dürfte auf das Konto der Handschrift gehen. Obgleich das mehr gelehrt als poetisch wirkende Epos weder Verbreitung fand noch Nachwirkungen zeitigte, steht es in Wien nicht isoliert. Dort ist in der ersten Hälfte des 14. Jh. – mit einer Sammelhandschrift geistl. Gedichte des 12. Jh., Heinrichs von Neustadt Von Gottes Zukunft u. der Geistlichen Gemahelschaft eines gewissen Konrad – lebhaftes Interesse an geistl. Dichtung bezeugt. Ausgabe: Der Kreuziger des J. v. F. Hg. Ferdinand Khull. Tüb. 1882. Nachdr. Hildesh. 2006. Literatur: Ferdinand Khull: Über die Sprache des J. v. F. In: 11. Jahresber. des Gymnasiums Graz. Graz 1880, S. 3–23. – S. M. Reinhildis Ferber, O. P.: Die Quelle des ›Creuziger‹ des J. v. F. Diss. Mchn. 1935. – Hedwig Heger: J. v. F. In: VL. Peter Wiesinger
Johannes von Freiberg. – Verfasser des spätmittelalterlichen Märe Das Rädlein aus der zweiten Hälfte des 13. Jh. Der Dichter ist nur durch eine Nennung in V. 1 der Kurzerzählung Das Rädlein bekannt u. bislang nicht mit Sicherheit historisch identifiziert worden. Sprache u. Reimtechnik lassen auf eine Herkunft aus dem östl. Mitteldeutschland schließen; die Dichtung dürfte in die 2. Hälfte des 13. Jh. zu datieren sein. Das Rädlein (524 Verse), in drei Handschriften (davon einmal fragmentarisch) überliefert, erzählt die Geschichte eines stadtbürgerl. Sekretärs (›Schreibers‹), der sich in der Tradition mittelalterl. höf. Kultur dem Minnedienst verschrieben hat, allerdings nicht dem Dienst an einer adligen Dame,
sondern an einer schönen Dienstmagd, die ihn beständig abweist. Eines Nachts findet er sie auf einer Küchenbank schlafend, deckt ihr Kleid auf u. malt ihr mit seinem rußbedeckten Finger ein kleines Rad auf den Bauch. Am nächsten Tag täuscht er vor, mit ihr den Beischlaf vollzogen zu haben u. vermag sie mit Hilfe des Rädleins davon zu überzeugen. Als sie Auskunft über den Hergang verlangt, gibt der Schreiber vor, es ihr nicht erklären, sondern nur erneut demonstrieren zu können. In dem Glauben, damit könne einer Entdeckung vorgebeugt werden, trägt das Mädchen selbst ihn abends leise auf dem Rücken ins Bett. Nach dem Liebesspiel ergeht sie sich in einer enthusiastischen, rhetorisch elaborierten Schilderung des soeben Erlebten u. veranlasst den Schreiber damit zur mehrmaligen Wiederholung des Liebesakts. Der Erzähler schließt mit der Aufforderung an die »schrîbære« (V. 502), sich an der Geschichte ein Beispiel zu nehmen u. die widerstrebenden Frauen richtig einzuschätzen, die sich letztlich besonders schnell verführen ließen. Eine Vorlage zum Rädlein ist unbekannt, evtl. handelt es sich um eine raffinierte Verkehrung des Motivs des auf den Bauch der Frau gemalten Keuschheitszeichens, das in der spätmittelalterl. Kleinepik ebenso internat. überliefert ist wie dasjenige der burlesken Vorbereitung der Liebesnacht (die Frau trägt den Liebhaber auf dem Rücken in ihr Bett). Nicht weniger kunstvoll mutet die als Eigenleistung von J. v. F. einzuschätzende Darstellung des Geschlechterverhältnisses an, das in ein komplexes Netz semiot. u. medialer Aspekte eingewoben ist u. insofern nicht allein aus kulturhistor. Sicht Interesse verdient, sondern auch wichtige poetolog. Implikationen birgt (listig-beherrschter Berufsschreiber vs. naiv-neugierige Magd; Relation von Schriftlichkeit u. »libido«, Zeichenkompetenz u. Begehren, Literarizität u. Körperlichkeit). Ausgaben: Friedrich Heinrich v. der Hagen (Hg): Gesammtabenteuer. 3 Bde., Stgt. 1850, Bd. 3, S. 111–124. – Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des MA. Märendichung. Ffm. 1996, S. 618–647 (mit nhd. Übers.; zit.). Literatur: Rolf Max Kully: J. v. F. In: VL. – K. Grubmüller (Hg.): Novellistik des MA. s.o.,
Johannes von Freiburg S. 1228–1236 (Überlieferung, Bibliogr., Komm.). – Judith Klinger: Aus der Haut gekritzelt. Zur sexuellen Poetik im ›Rädlein‹ des J. v. F. In: HansChristian Stillmark u. Brigitte Krüger (Hg.): ›Worüber man (noch) nicht reden kann, davon kann die Kunst ein Lied singen‹. FS Helmut John. Ffm. u. a. 2001, S. 211–227. – Mireille Schnyder: Schriftkunst u. Verführung. Zu J. v. F.: ›Das Rädlein‹. In: DVjs 80 (2006), S. 517–531; ähnlich unter dem Titel: Schreibmacht vs. Wortgewalt. Medien im Kampf der Geschlechter In: Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber u. Christopher Young (Hg.): Mittelalterl. Novellistik im europ. Kontext. Kulturwissenschaftl. Perspektiven. Bln. 2006, S. 108–121. Corinna Laude
Johannes von Freiburg, auch: J. Rumsik (Choriantus, Teutonicus), * um 1250 Haslach/Kinzigtal, † 10.3.1314 Freiburg i. Br.; Grabstätte: vermutlich ebd., Münster. – Lektor u. Kanonist. J. trat in Freiburg i. Br. dem Dominikanerorden bei. Im Konvent von Straßburg hat er im Rahmen seines Studiums der Theologie u. des kanonischen Rechts vor 1272 Ulrich Engelberti gehört; vielleicht hat er sich auch in Paris aufgehalten (vor 1277). Ab 1280 lehrte er im Freiburger Konvent, zu dessen Prior er um 1294 bestellt wurde. Als Lektor beschäftigte J. sich mit der Rechtsmaterie des »forum internum«, der Beichtpraxis, wie sie in der viel benützten, 1259 zum Lehrbuch des Dominikanerordens erklärten Summa de casibus paenitentiae (vor 1225 bis nach 1234) des span. Dominikaners Raymund de Peñafort dargestellt war. Solche Beicht- oder Bußsummen auf der Basis römisch-rechtl. Kasuistik dienten der theolog. u. rechtl. Ausbildung künftiger Beichtväter. J. verfasste zunächst ein alphabetisches Register zu der systematisch angelegten Summa Raymundi u. stellte Additiones zusammen. Daraus entstand als sein erstes eigenständiges Werk ein Libellus de questionibus casualibus (nach 1280), eine Sammlung in der Raymundina nicht oder unzureichend behandelter Fälle, die J. aus den Schriften zeitgenöss. Theologen, bes. seiner Ordensbrüder Thomas von Aquin u. Petrus von Tarantaise sowie Albertus Magnus u. seines Lehrers Ulrich von Straßburg, kompiliert hatte.
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Diese Vorarbeiten sind nur in wenigen Handschriften überliefert, denn J. übernahm sie großenteils wörtlich in sein Hauptwerk Summa Confessorum, das er bis 1298 vollendete. Im Rahmen der Konzeption Raymunds formte er dessen juristisch ausgerichtetes Handbuch durch die Aufnahme der »casus morales« der »doctores moderni« in eine Enzyklopädie praktischtheolog. Wissens um; seine Rolle als »relator« beschränkte ihn auf formelhafte Äußerungen. Die erste Abbreviatur seines Werks verfasste J. selbst (Manuale super Summam Confessorum) u. fügte ihr ein Confessionale seu Tractatus de instructione confessorum zur Anleitung weniger gelehrter Beichtväter bei. J.’ Summa ist in über 200 Handschriften sowie einigen Drucken erhalten u. wurde in den folgenden vier Jahrzehnten sechsmal lateinisch bearbeitet. Ihre vielfältige theolog. u. kanonistische Rezeption erweist sie als eines der einflussreichsten Handbücher des SpätMA. Die dt. Rechtssumme Bruder Bertholds OP (Hg. Georg Steer u. a. 8 Bde., Tüb. 1987–2006) begründete ihre nachhaltige volkssprachl. Wirkung. Literatur: Thomas Kaeppeli: Scriptores Ordinis Praedicatorum Medii Aevi 2. Rom 1975, S. 428–436. – Marlies Hamm u. Helgard Ulmschneider (Hg.): Die ›Rechtssumme‹ Bruder Bertholds. Untersuchungen 1. Tüb. 1980. – Leonard E. Boyle: The ›Summa confessorum‹ of John of Freiburg and the Popularization of the Moral Teaching of St. Thomas and Some of his Contemporaries. In: Ders.: Pastoral Care, Clerical Education and Canon Law, 1200–1400. London 1981, III. (S. 245–268, zuerst 1974). – M. Hamm: J. v. F. In: VL (Lit.). – Roland Böhm: J. v. F. In: BBKL. – Detlef Mauss: Johannes Friburgensis: Summa confessorum (1476). In: Gutenberg-Jb. 68 (1993), S. 62–65. – Christine Magin u. Falk Eisermann: Rechtsgesch. u. Überlieferungsgesch. am Beispiel dt. Rechtstexte des SpätMA. In: ZfdA 123 (1994), S. 274–300. – Thomas Zotz: J. v. F. In: LThK, 3. Aufl. – VL (Nachträge u. Korrekturen). Sabine Schmolinsky
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Johannes von Hildesheim, * zwischen 1310 u. 1320 Hildesheim, † 5.5.1375 Marienau. – Verfasser von Briefen u. einer Dreikönigslegende.
Johann von Konstanz
wurden (23.7.1164). Der Text ist in 46 Kapitel gegliedert u. verbindet die vielen im Lauf der Jahrhunderte entstandenen legendarischen Berichte über die drei Magi. J. erzählt von ihrer Heimkehr, ihrer Taufe durch den Apostel Thomas, ihrem Tod u. vom Schicksal ihrer Gebeine. Unter Benützung zeitgenöss. Pilger- u. Orientberichte stellt J. den Stoff in einen konkreten histor. u. geografischen Kontext. Der überaus beliebte Text wurde mindestens sechsmal in dt. Prosa übersetzt; die älteste Fassung entstand bereits 1389 im Auftrag von Elisabeth, Tochter Graf Eberhards III. von Katzenelnbogen. Diese rheinfränk. Übersetzung fand große Verbreitung im alemann./schwäb. Raum. Ähnlich erfolgreich war eine bairisch-österr. Fassung, die auch in Drucke des Legendars Der Heiligen Leben aufgenommen wurde. Die Historia wurde auch ins Niederländische, Französische u. Englische übersetzt. Goethe entdeckte den von ihm geschätzten Text 1818 in einer von ihm erworbenen Handschrift.
Die Stationen seines Lebens sind gut dokumentiert, v. a. durch eine Sammlung von über 100 von ihm verfasster Briefe. J. besuchte zunächst die Lateinschule, trat dann in den Karmeliterorden ein (Kloster Marienau) u. studierte ab etwa 1351 am Generalstudium des Ordens in Avignon. Nach einem Einsatz bei der Gründung des Konvents in Aachen lehrte J. 1358 in Paris u. kehrte 1361 als »baccalaureus« der Theologie zurück, um Prior u. Lektor des Kasseler Klosters zu werden. Es folgten Priorate in Straßburg u. Marienau, wo er starb. In dem 1475 verfassten Schriftstellerkatalog des Genter Karmeliten Arnold Bostius werden J. acht lat. Werke zugeschrieben, von denen nur noch vier erhalten sind. Zu diesen gehören seine Briefe, die wahrscheinlich alle nach 1350 entstanden. Es handelt sich um Ausgaben: Briefe: Rudolf Hendricks: A Register kulturhistor. Denkmäler von großer Bedeu- of the Letters and Papers of John of H. In: Carmelus tung, denn sie sind sowohl an die hohe 4 (1957), S. 116–235. – Dialogus: Daniel a Virgine Geistlichkeit (Papst Gregor XI., Bischöfe, Maria: Speculum Carmelitanum 1. Pars 2, AntOrdensobere usw.) als auch an weltl. Persön- werpen 1680, S. 145–159. – Historia: E. Köpke: J. v. lichkeiten (Kaiser Karl IV., Herzöge, Grafen H. In: Programm Brandenburg 1878. – Elisabeth usw.) gerichtet. Sie dokumentieren J.’ polit. Christern: Die Legende v. den hl. drei Königen. Engagement wie auch seine literar. Interessen Mchn. 1963 (Übers.). – Ausg.n der mittelalterl. dt. Übers.en der ›Historia‹ bei Worstbrock/Harris (Briefwechsel mit Johannes von Neumarkt). (s. u.). Die Briefe legen nahe, dass J. in Avignon mit Literatur: Hendricks, a. a. O. – Sylvia C. Harris: dem frühen ital. Humanismus in Berührung German Translations of the ›Historia trium regum‹ gekommen ist. Im Briefcorpus sind auch fünf by J. de H. In: MLR 53 (1958), S. 364–373. – Elisavon J. verfasste Gedichte enthalten. beth Christern: J. v. H., Florentius v. WevelinghoDas zweite Werk, der Dialogus inter directo- ven u. die Legende v. den Hl. Drei Königen. Köln rem et detractorem de ordine carmelitarum, sucht 1960. – Achim Masser: Bibel, Apokryphen u. Lein 16 dialogisch gestalteten Kapiteln die genden. Bln. 1969, S. 195–248. – Franz Josef Herkunft des Karmeliterordens aus der Worstbrock u. S. C. Harris: J. v. H. In: VL (Lit.). – Schule des Propheten Elias zu beweisen. Das Václav Bok: Eine ostmitteldt. Bearbeitung der Speculum fons vitae, sein drittes Werk, ist noch Dreikönigslegende des J. v. H. in der Hs. G 29 des Prager Domkapitels. In: Studien zur dt. Sprache u. nicht näher untersucht worden. Lit. Hbg. 2004, S. 178–210. J.’ berühmtestes Werk ist seine DreiköWerner Williams-Krapp / Red. nigslegende Historia trium regum, welche von dem 1364 zum Bischof von Münster geJohann von Konstanz. – Verfasser der weihten Florentinus von Wevelinghoven in um 1300 entstandenen Minnelehre. Auftrag gegeben wurde. Es liegt nahe, das Werk in Verbindung mit der 200-jährigen Den Namen des Dichters überliefert eine Wiederkehr des Tages zu sehen, an dem die Handschrift der Minnelehre aus dem 15. Jh. im Dreikönigsreliquien nach Köln überführt Epilog: »Joh’es von Kostentz«. Es handelt
Johann von Konstanz
sich mit zieml. Wahrscheinlichkeit um den zwischen 1281 u. 1312 in Zürich urkundenden Johannes von Konstanz, dessen Bruder Heinrich 1281 bis 1308 Propst des Augustinerchorherrenstifts auf dem Zürichberg war. Die Urkunden erwähnen J. unter anderem zusammen mit Angehörigen des sog. Manessekreises; sie geben keine Auskünfte über seinen Stand oder nähere Lebensumstände. Die lange geltende Auffassung, Heinzelin von Konstanz habe die Minnelehre verfasst, wird inzwischen von der Forschung abgelehnt. Bei dem wohl um 1300 im Großraum Zürich/Konstanz verfassten Gedicht handelt es sich um eine der frühesten dt. Minnereden größeren Umfangs. Mit anderen Minnereden ist es in vier Sammelhandschriften des 15. Jh. überliefert. Abgesehen von einem Fragment aus dem 14. Jh. findet sich die Minnelehre zuvor bereits am Ende der um 1300 entstandenen Weingartner Liederhandschrift (B), die damit das erste Beispiel einer engen Überlieferungsgemeinschaft von Minnelied u. Minnerede darstellt. Die Aufnahme des Gedichts in B spricht dafür, dass J. dem Kreis der Anreger u. Sammler der Handschrift nahe stand; in die gleiche Richtung weisen die Zürcher Urkunden, die den Namen belegen. 2550 Reimpaarverse enthalten im Rahmen einer exemplarischen Werbeerzählung eine umfangreiche Minnelehre: Der Ich-Erzähler hat der Minne abgeschworen, erblickt jedoch ein wunderschönes Mädchen, in das er sich verliebt. Liebeskummer zwingt ihn auf das Ruhelager, wo er beim Nachdenken über das Wesen der Minne einschläft. In einer Traumvision begegnet er dem nackten u. blinden Cupido; der gekrönte Knabe thront auf einer mit Edelsteinen geschmückten Säule an den entflammten Ufern eines Sees aus Blut. Flügel, Krone, Fackel, Speer, Säule, Nackt- u. Blindheit des Liebesgottes u. der Blutsee sind Zeichen u. Merkmale der Minne, die Cupido dem Liebenden ausdeutet. Höhepunkt der Traumhandlung ist der prachtvolle Auftritt der Liebesgöttin (Venus/Frau Minne), die den Liebenden mit einem Pfeil im Herzen verwundet. Auf seine Bitte, ihm zu seiner Geliebten zu verhelfen, erteilt die Minne ihm eine zweifache Lehre: Er soll der Angebeteten Minnebriefe schreiben u. unbeirrbar um sie
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werben, eine Lehre, die er nach dem Erwachen sogleich in die Tat umsetzt. Dabei greift die Minne, die er nun im Herzen trägt, immer wieder ratend u. belehrend in das Minnegeschehen ein. Im Verlauf eines regen Briefwechsels gesteht das zunächst abweisende Mädchen dem Werbenden ein Stelldichein in einem Kräutergarten zu. Die Minnebeteuerung des Verliebten führt zur Frage des Mädchens, was denn Minne sei – worauf er sie über das Wesen der Minne belehrt. Nach erneutem briefl. Bitten des Liebenden gewährt die Schöne ihm ein weiteres Treffen, diesmal nachts in ihrer Kammer. Dort bricht er eingedenk der Ermahnung der Minne, weniger zaghaft als im Garten vorzugehen, wo er nicht einmal einen Kuss erlangen konnte, das anfangs gegebene Versprechen, von ihr nur das zu verlangen, was sie ihm mit Anstand zugestehen könne. Seine Beharrlichkeit führt ihn schließlich ans Ziel seiner Wünsche, der Minnewunde wird geheilt. Nach der Beteuerung des Mannes, dem Mädchen treu zu sein u. das Liebesglück geheim zu halten, trennen sich die Liebenden aus Angst vor Entdeckung; der Mann eilt zur Minne, um ihr für ihre Lehre zu danken, die zu seinem Minneglück geführt hat. Eine bestimmte Vorlage für die Minnelehre konnte nicht ausgemacht werden. J. scheint über ein breites literar. Wissen verfügt zu haben: Die Mehrzahl der Motive u. Handlungsmuster haben Parallelen in der vorangehenden oder zeitgenöss. dt., lat. u. frz. Literatur. Zahlreiche Anspielungen erweisen J. als Kenner des hoch- u. späthöf. dt. Romans. Auffallend sind die vielen lat. Textstellen (v. a. Inschriften u. Lehrsprüche), die jeweils, teilweise recht frei, ins Deutsche übersetzt werden. Sie sprechen dafür, dass der Autor die Bildung eines Klerikers genossen hatte. Bei der Gestaltung der Liebesbriefe u. der Personenbeschreibungen greift J. vielleicht unmittelbar auf lat. Muster zurück. Er scheint lat. Briefsteller u. Mythografen (vgl. die Beschreibung u. Deutung Cupidos) gekannt zu haben. Züge der Werbehandlung u. der Minnekonzeption gehen wohl auf lat. Liebeslehren zurück (den Facetus moribus et vita u. Ovid).
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Johann von Morsheim
Die Werbeerzählung mit allegorisch-lehr- Johann von Morsheim, Morschheim, hafter Einleitung mutet im Vergleich mit Morszheim, † 25.1.1516 Worms. – Verfasspäteren Minnelehren fast wie ein »gefälliges ser einer allegorisch-satirischen ReimHandbuch der Verführungskunst« (Glier paardichtung u. Übersetzer einer Chro1971) an; sie steht am Anfang einer langen nik. Gattungstradition. Die Nachwirkung der Minnelehre selbst Der Sohn einer pfälz. Niederadelsfamilie bleibt trotz der relativ breiten Überlieferung studierte 1471–1474 an den Universitäten beschränkt. Viele Einzelzüge, die sich in Basel u. Heidelberg (1474 Magister artium). späteren Werken finden, lassen sich durch Einige Jahre später ist er als Amtmann u. allg. zeitgenöss. literar. Tendenzen u. in der Hofmeister Pfalzgraf Johanns I. von Simmern Gattung angelegte Möglichkeiten erklären. bezeugt. 1485 wechselte er in den Dienst Die stärkste Wirkung scheinen die Briefe ge- Kurfürst Philipps von der Pfalz, für den er in habt zu haben. So sind Teile aus der Minne- den folgenden Jahren in verschiedenen Ämlehre in einen um 1350 in Konstanz verfassten tern tätig war. Nach dem Ausscheiden aus Liebesbriefsteller übernommen, der auch dem Fürstendienst wurde er 1512 zum Bürinsg. in Komposition u. Stil von J. beeinflusst germeister von Oppenheim, 1514 zum Asscheint; der – parodierte – Liebesbriefwechsel sessor am Reichskammergericht zu Worms u. die Traumerscheinung der Frau Venus in ernannt. Wittenwilers Ring könnten auf die Minnelehre Der knapp 1000 Verse umfassende Spiegel zurückgehen. des Regiments, den M. 1497 verfasste, schildert Ausgaben: Die Minnelehre. Hg. Frederic Elmore in allegor. Einkleidung die Herrschaft von Sweet. Paris 1934. – Codex Dresden M 68. Bearb. v. Untreue u. Intrigantentum in der Welt u. Paula Hefti. Bern/Mchn. 1980, S. 223–298 (Nr. 18). zeichnet ein satirisch-pessimistisches Bild des – Die Minnelehre des J. v. K. Nach der Weingartner zeitgenöss. Hoflebens. Am Ende mahnt J. v. Liederhs. Unter Berücksichtigung der übrigen M., der neben der Anregung durch literar. Überlieferung hg. v. Dietrich Huschenbett. Wiesb. Quellen (u. a. Konrad von Ammenhausen u. 2002. Literatur: Käthe Mertens: Die Konstanzer Sebastian Brant) vermutlich eigene bittere Minnelehre. Bln. 1935. – Walter Blank: Die dt. Erfahrungen im Hofdienst einfließen ließ, Minneallegorie. Stgt. 1970, S. 94 f. u. 110 f. – In- die Fürsten zu gerechter Regierung. geborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971, hier Außer dieser Reimpaardichtung, die lange S. 84–94, 237. – Ronald Michael Schmidt: Studien als einziges Werk J.s v. M. galt, schuf er zur dt. Minnerede. Göpp. 1982, hier S. 77–101 während seines Aufenthalts am frz. Königs(dazu die Rezension v. Ingeborg Glier in: Germahof, an den er den pfälz. Kurprinzen Ludwig nistik 24, 1983, S. 85 f.). – I. Glier: J. v. K. In: VL. – 1502–1504 begleitete, die Übersetzung einer Jörn Bockmann u. Judith Klinger: Höf. Liebeskunst als Minnerhetorik: Die Konstanzer ›Minnelehre‹. frz. Chronik über Herkunft u. Geschichte der In: Das Mittelalter 3 (1998), S. 107–126. – Susanne Könige von Frankreich. Das Prosawerk reicht Brügel: Minnereden als Reflexionsmedium. Zur von der Entstehung der Welt bis zu den Taten narrativen Struktur der ›Minnelehre‹ J.s v. K. In: des frz. Gastgebers Ludwig XII. u. war zur Ludger Lieb u. Otto Neudeck (Hg.): Triviale Minne? Unterrichtung des Kurprinzen gedacht. Als Konventionalität u. Trivialisierung in spätmit- Vorlage diente J. v. M. eine Ausgabe der ab telalterl. Minnereden. Bln./New York 2006, 1490 weit verbreiteten Chroniques abrégées des S. 201–223. Claudia Händl rois de France. Während die Chronik nur in einer einzigen Handschrift überliefert ist, erlebte der Spiegel, den J. v. M. 1515 in Oppenheim drucken ließ, bis 1617 unter wechselnden Titeln sieben weitere Auflagen (VD 16, M 6389–6393). Ausgaben: Karl Goedeke (Hg.): Spiegel des Regiments v. J. v. M. Stgt. 1856. – Heinz Zirnbauer
Johann von Neumarkt (Hg.): Faks. d. Ausg. Erfurt 1516, mit Versnachdichtung u. Komm. Speyer 1966. Literatur: Kurt Baumann: J. v. M. In: Ders. (Hg.): Pfälzer Lebensbilder. Bd. 2, Speyer 1970, S. 51–80 (mit Verz. der älteren Lit.). – Manfred Lemmer: J. v. Morschheim. In: VL. – Martina Backes: J. v. M. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – Dies.: Das literar. Leben am kurpfälz. Hof zu Heidelberg im 15. Jh. Tüb. 1992 (zur Entdeckung der Chronik, Abdruck der Vorrede). Martina Backes
Johann von Neumarkt, auch: Johannes Noviforensis (de Novo foro), Jan ze Strˇ edy, * um 1315/20 Neumarkt/Schlesien, † 24.12.1380 Olmütz; Grabstätte: Leitomischl, Kloster der Augustinereremiten. – Hofkanzler u. Übersetzer. J. stammte aus einer wohlhabenden Patrizierfamilie. Er erhielt eine sorgfältige Ausbildung, zu der Einzelheiten nicht bekannt sind. Die behauptete Identität J.s mit Johann von Hohenmauth (de Altamuta) ist nicht beweisbar, so dass alle diesbezügl. Daten für seine Jugendgeschichte entfallen. Jedenfalls war J. als Landschreiber des Herzogs Nikolaus von Münsterberg u. als Schreiber in der Breslauer Kanzlei König Johanns von Böhmen († 1346) tätig. Seit 1347 ist er als Notar im Dienst König Karls IV. nachweisbar; 1352 wurde er Pronotar, 1353 Hofkanzler u. hatte das Amt des Kanzleivorstands (mit einer Unterbrechung 1364/65) bis 1374 inne. Die Verwaltungslaufbahn wurde begleitet von einer kirchl. Karriere: J. versammelte zunächst zahlreiche Pfründen in Schlesien u. Böhmen; 1352 wurde er zum Bischof von Naumburg ernannt, konnte aber das Amt nicht antreten; 1353 übernahm er das von Karl IV. gestiftete Bistum Leitomischl/Böhmen, 1364 den Bischofsstuhl von Olmütz; 1380 wurde er zum Bischof von Breslau gewählt, starb aber noch vor dem Amtsantritt. J. zählte zu den führenden Figuren des »Prager Frühhumanismus« im Kreis um Karl IV. (Burdach; Gesamtbild revisionsbedürftig). Die Rückwendung auf die Antike wurde entscheidend angeregt durch persönl. Kontakte zu ital. Humanistenkreisen. Der von altröm. Patriotismus erfüllte u. redebegabte Cola di Rienzo, der 1347 in Rom die Macht
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ergriffen, einschneidende soziale Reformen durchgesetzt u. dann überraschend sein Amt niedergelegt hatte, reiste 1350 zu Karl nach Prag, um ihn für seine polit. Ideen zu gewinnen. An J. richtete er ein Bittschreiben um Fürsprache beim Kaiser u. erhielt als Antwort die Empfehlung, er möge sich dem kaiserl. Willen beugen (1350). Cola konnte bei dem skept. Realpolitiker Karl kein Gehör finden u. wurde auf Burg Raudnitz inhaftiert. Von dort schrieb er J. einen Klagebrief u. bat um eine literar. Trostepistel (1351). 1350/51 setzte auch Petrarcas Korrespondenz mit Karl u. Mitgliedern des böhm. Hofs ein. Zu einer ersten Begegnung kam es 1354 in Mantua auf Karls Italienreise, an der auch J. teilnahm (Kaiserkrönung in Rom 1355). 1356 war Petrarca in diplomatischer Mission in Prag u. traf dort wieder mit J. zusammen. Ein weiteres Treffen mit Karl u. dem Kanzler ist auf deren zweiter Italienreise 1368 in Udine bezeugt. Der Briefwechsel zwischen Petrarca u. J. bleibt indes völlig unpolitisch u. erschöpft sich in rhetorisch stilisiertem Wettloben. J. setzte in der kaiserl. Kanzlei eine Reform des Lateins durch, die selbst von Petrarca gelobt wurde. Er veranlasste Sammlungen von Musterbriefen u. -urkunden (die Summa Cancellarii, seit 1354 mehrfach redigiert; die Cancellaria Johannis Noviforensis), die weithin auf die Kanzleisprache stilbildend wirkten u. in spätere Formelbücher aufgenommen wurden. Andere lat. Werke sind verschollen oder nicht sicher zuschreibbar. Auch J.s dt. Schrifttum wurde von Karl IV. angeregt. In dessen Auftrag entstand (wohl zwischen 1357 u. 1363) eine Übersetzung der ps.-augustin. Schrift Soliloquia animae ad Deum u. d. T. Buch der Liebkosungen. Die ihrer Hinfälligkeit wie ihrer Würde bewusste Seele ringt hier um die Erkenntnis u. Erfahrung Gottes u. um das Geschenk seiner Gnade. Die Übersetzung dieser artistisch geformten lat. Prosa mit ihren klangvollen Wiederholungen u. einprägsamen Antithesen, mit ihrem rhythm. Satzfluss, leistete einen bahnbrechenden Beitrag zur Ausbildung einer dt. Kunstprosa. Von seinem Aufenthalt in Italien 1368/69 brachte J. eine Fassung der sog. Hieronymusbriefe, einer Fälschung des 12. oder 13. Jh.,
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nach Hause. Die Hieronymusverehrung war in Italien z.B. von dem Kirchenrechtler Johannes Andreae bes. gefördert worden; J. gab dem Kult dieses Schutzheiligen des Humanismus in Böhmen einen wichtigen Anstoß. Er widmete eine Redaktion (keine eigenständige Bearbeitung) des lat. Werks dem Kaiser. Ein erster, dem Eusebius zugeschriebener Brief enthält eine Würdigung u. einen Bericht vom Tod des Heiligen. Der zweite, der Autorität des Augustinus unterschobene Brief schildert eine Jenseitsvision, in welcher Hieronymus neben Johannes dem Täufer u. den Propheten erscheint. Der dritte, angeblich von Cyrillus verfasste Brief referiert die Wunder. Eine dt. Übersetzung des Werks erstellte J. gegen 1377. Sie wurde zwar auch dem lateinkundigen Karl gewidmet, war aber v. a. für die Damen des Hofes, voran die Gönnerin Markgräfin Elisabeth von Mähren, bestimmt. Die Schrift fand bes. in Frauenklöstern weite Verbreitung u. erreichte noch den Buchdruck. Die Übersetzung eines dritten Werks, des Stimulus amoris des Jakobus von Mailand, der Wege der Vereinigung der Seele mit Jesus beschreibt, ist J. nicht sicher zuzuweisen, da der Text nur anonym überliefert ist. Wenn er von J. stammt, ist er gegen Ende seines Lebens entstanden. Er scheint nicht abgeschlossen u. fand nicht die Verbreitung von J.s übrigen dt. Schriften. Ein umfangreiches Corpus von dt. Privatgebeten enthält Auszüge aus den Schriften J.s u. Übersetzungen von Texten kirchlich anerkannter Theologen wie Ambrosius, Augustinus, Anselm von Canterbury u. anderer. Die Zuweisung an J. ist z.T. fragwürdig. Neben den zahlreichen lat. Briefen sind fünf dt. u. zwei lat.-dt. erhalten. Hier erscheint auch die lat. Übersetzung eines sonst nicht überlieferten Spruchs von Frauenlob. J. besaß eine reiche Privatbibliothek., die zum Beispiel Vergils Bucolica in einer von Petrarca besorgten Handschrift u. Dantes Comedia enthielt. Er gab auch Handschriften in Auftrag u. ließ besonders drei, einen Liber viaticus (um 1360), ein Missale (nach 1364) u. einen verschollenen Liber pontificalis, mit kostbarem Initialen- u. Miniaturenschmuck ausstatten.
Johann von Neumarkt
J.s authent. Schrifttum u. seine Ausstrahlung sind im Umkreis der Prager Wissenschafts- u. Hofkultur nicht mit Schärfe abzugrenzen. Wie weit er an Schriften u. Gesetzeswerken des Kaisers mitgewirkt hat, bleibt unsicher. Seine Bedeutung ist unumstritten, »eine umfassende Würdigung seiner Leistungen [...] fehlt jedoch« (Höver). Die Rezeption des dt. Werks ist vielfältig. Die Liebkosungen wurden von Johannes von Tepl im Ackermann u. von Michel Beheim verarbeitet. Der Hieronymus wirkte wahrscheinlich auf Martin von Amberg u. die Legendensammlung Der Heiligen Leben. Ein Dreifaltigkeitsgebet erscheint ebenfalls bei Beheim. J.s Bedeutung für die Entwicklung der nhd. Schriftsprache wurde von Burdach u. seiner Schule herausgearbeitet. Neuere Darstellungen sind hier skeptisch, schätzen die prägende Wirkung der Prager Kanzlei geringer ein u. rücken die Sprachentwicklung in weitere Zusammenhänge. Ausgaben: Deutsche Werke: Buch der Liebkosungen. Hieronymus-Briefe. Stachel der Liebe. Gebete. Hg. Joseph Klapper. Bln. 1930–39. – Lateinische Werke: Summa Cancellarii. Hg. Ferdinand Tadra. Prag 1895. – Cancellaria. Hg. ders. In: Archiv für österr. Gesch. 68 (1886), S. 1–157. – Briefe, nur z.T. ediert (s. Höver). Literatur: Konrad Burdach: Vom MA zur Reformation. Bln. 1893. – Paul Joachimsen: Vom MA zur Reformation. In: Histor. Vjs. 20 (1920/21), S. 426–470. – Joseph Klapper: J. v. N. Lpz. 1964. – Eduard Winter: Frühhumanismus. Bln. 1964. – Herbert Thoma: John of N. and Heinrich Frauenlob. In: FS Frederic Norman. London 1965, S. 247–254. – Johanna Schreiber: Devotio moderna in Böhmen. In: Bohemia 6 (1965), S. 93–122. – Hans Rupprich: Die dt. Lit. vom SpätMA bis zum Barock. Tl. 1, Mchn. 1970, S. 385–393. – Ernst Schwarz: J. v. N. In: Karl Bosl (Hg.): Lebensbilder zur Gesch. der Böhm. Länder. Bd. 1, Mchn./Wien 1974, S. 27–47. – Hans J. Rieckenberg: Zur Herkunft des J. v. N., Kanzler Karls IV. In: Dt. Archiv für Erforschung des MA 31 (1975), S. 555–569. – Peter Ochsenbein: Die dt. Privatgebete J.s v. N. In: ABäG 12 (1977), S. 145–164. – Winfried Baumann: Die Lit. des MA in Böhmen. Mchn./Wien 1978, S. 189–194 – Josef Bujnoch: J. v. N. als Briefschreiber. In: Ferdinand Seibt (Hg.): Karl IV. u. sein Kreis. Mchn./Wien 1978, S. 67–76. – Helmut Henne: Literar. Prosa im 14. Jh. – Stilübung u. Kunst-
Johann II.
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Stück. In: ZfdPh 98 (1978), S. 321–336. – Peter Wiesinger: Das Verhältnis des Prager Kreises um Karl IV. zur nhd. Schriftsprache. In: Hans Patze (Hg.): Kaiser Karl IV. Gött. 1978, S. 847–863. – P. Ochsenbein: Eine bisher unbekannte böhm. Hs. mit Gebeten J.s v. N. In: ZfdPh 98 (1979), S. 85–107. – Burghart Wachinger: Michel Beheim. Prosaquellen – Liedvortrag – Buchüberlieferung. In: Volker Honemann u. a. (Hg.): Poesie u. Gebrauchslit. im dt. MA. Würzb. 1979, S. 37–74. – Erika Bauer: Die sog. ›Hieronymus-Briefe‹ u. ihre volkssprachl. Überlieferung. In: Jan de Grauwe (Hg.): Historia et spiritualitas cartusiensus. Destelbergen 1983, S. 21–33. – Werner Höver: J. v. N. In: VL (Lit., auch in tschech. Sprache) u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Erika Bauer: De morte Hieronymi. J. v. N. u. die ›Hieronymus-Briefe‹. In: Zeit, Tod u. Ewigkeit in der Renaissance-Lit. 1 (Analecta Cartusiana 117). Salzb. 1987, S. 28–49. – P. Ochsenbein: J. v. N. als geistl. Schriftsteller. In: Wolfram-Studien 13 (1994), S. 67–80. – Benedikt Konrad Vollmann: J. v. N.: Lat. u. dt. Stil. In: Mediävist. Komparatistik. FS Franz Josef Worstbrock zum 60. Geburtstag. Hg. Wolfgang Harms u. a. Stgt./Lpz. 1997, S. 151–162. – Ugo Dotti: Petrarch in Bohemia: Culture and Civil Life in the Correspondence between Petrarch and J. v. N. In: Petrarch and his Readers in the Renaissance. Hg. Karl A. E. Enenkel u. Jan Papy. Leiden 2006, S. 73–87. Christoph Huber
Johann II., Pfalzgraf bei Rhein, Herzog in Bayern, Graf zu Sponheim, * 20.3.1492 Simmern, † 18.5.1557 ebd. – Übersetzer von frz. Prosaromanen, Verfasser einer Minneallegorie, Chronik u. Perspektivenlehre. J. wurde 1509 Nachfolger seines Vaters Johann I. (pfälz. Linie der Wittelsbacher) u. Pfalzgraf von Simmern-Sponheim im Hunsrück. Als Herrscher war er sehr beliebt, als Präsident des Reichskammergerichts u. kaiserl. Statthalter erwarb er hohes Ansehen. Er sicherte seinem Haus 1559 durch seinen zum Calvinismus übergetretenen Sohn Friedrich (III., der Weise) die pfälzische Kurwürde. J. blieb katholisch, pflegte aber geistigen Austausch mit Lutheranern u. Calvinisten. Verwandtschaftliche Beziehungen bestanden zum lothring. Herzoghof, einer traditionsreichen Pflegestätte frz. Literatur. Als Anhänger des Humanismus förderte J. Kunst u. Wissenschaft u. war selbst künstlerisch tätig.
Als Büchersammler mit Kontakten zur Universität Heidelberg befasste er sich mit mathemat., jurist., histor. u. geografischen Studien, lieferte Angaben über den Hunsrück u. zur pfälz. Geschichte für Sebastian Münsters Cosmographei (Ausg. Basel 1561) u. verfasste die handschriftlich überlieferte Reimchronik Successio der bayer.-pfälz. Herrscher (456–1156). Als Illustrator steuerte er die Ansicht von Simmern in der Cosmographei bei. Wahrscheinlich stammen auch die mit »HH« (Herzog Hans) sign. Holzschnitte der sog. Simmerner Drucke von ihm. J. hatte im Simmerner Schloss eine Hofdruckerei eingerichtet. Geleitet wurde sie von J.s Kanzler u. Sekretär Hieronymus Rodler aus Bamberg, der 1527 das kaiserl. Druckprivileg erhalten hatte. Rodler hat zwischen 1530 u. 1535 zwölf typografisch kunstvolle, reich illustrierte Drucke hergestellt: Georg Rüxners Turnierbuch (1530, 1532, 1533), die Kreuznacher Howegerichts ordnung (1530), die Kriegs Ordnung (1533 oder 1535; unsichere Zuschreibung an Michael Ott von Echterdingen u. Jacob Preuss), die gereimten Minnereden Das Weltlich Clösterlein (unsichere Zuschreibung an Ulrich Hutten), Eyns bulers Traum (beide 1533 od. 1535) u. die Gerichts Ordnung der Fürmünder Hertzog Wolffgangs Pfaltzgrauen (1536). Für die übrigen Drucke konnte aufgrund von Akrosticha, historisch-genealog. Anspielungen u. Quellenbefunden J.s Autorschaft nachgewiesen werden: Die Kunst des Messens (1531) führt in die Zentralprojektion ein. Die Minnerede Spruch von der Buolschafft (1533 oder 1535) verhandelt die Untreue vor Venus’ Gericht u. propagiert ritterlich-adlige Tugenden. Aus dem Französischen übertrug J. zwei Prosaromane aus dem Kreis der Chansons de geste u. der Karlsepen. Vorlage für Fierrabras (1533) war Jean Bagnyons Fierabras (Genf 1478) u. für die Haymonskinder (1535) war es ein anonymer Druck von Les quatre filz aymon (Lyon 1493, 1495 oder Paris 1521). Fierrabras verarbeitete Josef Kuppelwieser zum Libretto für Schuberts gleichnamige Oper (1823), während Stoff und Motiv der Haimonsbrüder, insbes. die Reinoldgestalt, seit der Romantik (Tieck, Eichendorff, F. Schlegel) immer wieder literarisch bearbeitet wurden.
167 Ausgaben: Kunst des Messens. Hg. Trude Aldrian. Nachdr. Graz 1970. – J. Fierrabras. Hg. Werner Wunderlich. Tüb. 1992. – J. Die Haymonskinder. Hg. W. Wunderlich. Tüb. 1997. – Eyn schön nützlich büchlin vnd vnderweisung der kunst des Messens. In: Bibl. der Kunstlit. Bd. 1: Renaissance u. Barock. Hg. Thomas Cramer u. Christian Klemm. Ffm. 1995, S. 88–116 (mit Komm. S. 685–691). Literatur: Elisabeth Bonnemann: Die Presse des Hieronymus Rodler in Simmern. Lpz. 1938. – Georg R. Spohn: J. In: NDB. – Werner Wunderlich: J. Autor u. Gelehrter auf dem Fürstenthron. In: Euph. 85 (1991), S. 1–37. – Ders.: Anonymität – Akrostichon – Autorschaft. J. II. v. Simmern. In: Felix Philipp Ingold u. W. Wunderlich (Hg.): Fragen nach dem Autor. Konstanz 1992, S. 73–88. – Beate Weifenbach: Die Haimonskinder in der Fassung der Aarauer Hs. v. 1531 u. des Simmerner Drucks v. 1535. Ein Beitr. zur Überlieferung frz. Erzählstoffe in der dt. Lit. des MA u. der frühen Neuzeit. 2 Bde., Ffm. 1999. – Jacob Klingner: Minnereden im Druck. Studien zur Gattungsgesch. im Zeitalter des Medienwechsels. Diss. masch. FU Bln. 2004. Werner Wunderlich
Johannes von Saaz ! Johannes von Tepl Johann von Soest, auch: J. Steinwert von S., * um 1448 Unna, † 2.5.1506 Frankfurt/ M. – Sänger, Arzt, Verfasser von deutschen u. lateinischen Schriften. Der Sohn des Steinmetzen Rotcher Grummelkut u. der Wendel Husselyn aus Werl war um 1457 Chorschüler in Soest u. um 1460 Sängerknabe am Hof des Herzogs von Cleve. In den Niederlanden lernte er die engl. u. burgundische Musik kennen. Seit 1469 war J. an der Kasseler, ab 1472 an der Heidelberger Hofkantorei tätig, wo ihm als Sängermeister zgl. die Ausbildung der Kapellknaben oblag. Er nahm teil an den Festivitäten unter Friedrich I. u. Philipp dem Aufrichtigen, hatte wohl Kontakte zum Heidelberger Humanistenkreis, wurde Haus- u. Grundbesitzer u. heiratete zweimal. 1476 begann J. in Heidelberg mit dem Medizinstudium; 1490 urkundet er mit dem Doktortitel. Als Stadtarzt wirkte er 1495–1499 in Worms, 1499 in Oppenheim u. seit 1500 in Frankfurt/M. Hof u. Stadt, aber auch Universität u. Kirche haben Leben u. Werk des J. geprägt –
Johann von Soest
Institutionen, die zgl. seine literar. Kommunikationskreise umschreiben. Die literar. Tätigkeit, in der Autobiografie nicht einmal erwähnt, konnte freilich nicht weit wirken, da alle Schriften nur in jeweils einer (autografen) Handschrift überliefert sind. Die Kinder von Limburg (um 1480. Hg. Manfred Klett. Wien 1975) – mit dem Dedikationsbild des sog. Hausbuchmeisters – rücken als Übertragung des mittelniederländ. Versromans Heinric en Margriete van Limborch (um 1300) in die Nachbarschaft von Ogier von Dänemark, Malagis u. Reinolt von Montelban: Bearbeitungen von Chanson-de-geste-Stoffen, die in diesen Jahren u. für dieselben Hofkreise gleichfalls aus dem Mittelniederländischen übersetzt wurden. Bei den Kindern von Limburg handelt es sich aber eher um den gemischten Typ eines erbaul. Minne- u. Abenteuerromans mit dem Schema von Trennung u. Wiedervereinigung u. einer weitgespannten Geografie. Zu den Themen Liebe u. Glaubenskrieg treten hier – in der Handschrift sogar optisch hervorgehoben – Belehrungen über adligritterl. Verhalten u. rechtes Regieren. Damit nähert sich der Roman einem Fürstenspiegel in der Art von J.s lat. Libellus salutis von 1494. In einer anderen Schrift wird dem Wormser Stadtrat in dt. Reimpaarversen mit lat. Kommentar vorgeführt, Wy men wol ein statt regyrn sol (1495) – so auch im Spruchgedicht zu lob und eer der Statt Franckfortt (1501). Dy gemeyn bicht (1483) ist ein systematisch aufgefächerter Beichtspiegel. Nicht zuletzt als Spiegel ist die Autobiografie (ca. 1504/05. Hg. J. C. von Fichard. In: Frankfurter Archiv für ältere deutsche Literatur und Geschichte 1, 1811, S. 84–139) gemeint. Die Jugendjahre werden als »confessio« eines ausschweifenden Lebens gestaltet, die der Jugend zur Abschreckung dienen u. das Wirken der göttl. Gnade am Beispiel der eigenen Biografie aufzeigen soll. Mit J.s Gedichten auf die meisten Sonn- u. Festtage des Kirchenjahres (1502/03. Hg. A. Wiegand: Die Hs. Nr. 166 des Freiherrl. von Fichardschen Familienarchivs. Marburg 1922, S. 46–95) wird erstmals in der dt. Literatur ein lyr. Perikopenzyklus greifbar, der sonst erst nach der Reformation zu einer beliebten Gattung geistl. Dichtung wurde.
Johannes von Tepl Literatur: Gesa Bonath u. Horst Brunner: Zu J. v. S. Bearb. des Romans ›Kinder v. Limburg‹ (1480). In: Wolfgang Harms u. L. Peter Johnson (Hg.): Dt. Lit. des späten MA. Bln. 1975, S. 129–152. – Helmut Birkhan: Die Entstehung des Limburg-Romanes des J. v. S. u. seine Aktualität. In: Rudolf Schützeichel (Hg.): Studien zur dt. Lit. des MA. Bonn 1979, S. 666–686. – G. Bonath: J. v. S. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Heinz-Dieter Heimann: Wy men wol eyn statt regyrn sol. Didakt. Lit. u. berufl. Schreiben des J. v. S., gen. Steinwert. Soest 1986. – Meinolf Schumacher: Ein ›Geistliches Jahr‹ um 1500. Die Sonn- u. Festtagsgedichte des J. v. S. In: ZfdA 122 (1993), S. 425–452. – Rita Schlusemann: Zur Rezeption des ›Limborch‹Romans bei J. v. S. In: ABäG 47 (1997), S. 175–196. – Markus Stock: Selbstentwurf u. Referenz in der Autobiogr. J. v. S. In: Elizabeth Andersen u. a. (Hg.): Texttyp u. Textproduktion in der dt. Lit. des MA. Bln. 2005, S. 267–283. Hilkert Weddige / Meinolf Schumacher
Johannes von Tepl, auch: J. von Saaz, J. Henslini de Sitbor, * vermutlich um 1350 Tepl, † vor April 1415 Prag. – Verfasser des Ackermann aus Böhmen (1400/1401). In Urkunden tritt J., Sohn des im westböhm. Sˇitborˇ tätigen Pfarrers Henslin, vor 1378 als Notar in Saaz u. spätestens 1383 als Leiter der dortigen Lateinschule in Erscheinung. In diesen Ämtern wirkte er bis zum Jahr 1411, in dem er, mittlerweile offensichtlich zu Ansehen u. Besitz gekommen, das Amt des Stadtschreibers in der Prager Neustadt übernahm. Für das Jahr 1413 wird eine Krankheit gemeldet; vor April 1415 scheint er verstorben zu sein. Der Berufsweg des J. lässt auf ein Studium schließen (vielleicht in Prag oder Paris). Greifbar wird seine Tätigkeit in mehreren von ihm angelegten Stadt- u. Formelbüchern sowie in dem Hieronymus-Offizium, das er 1404 für die St. Niklas Kirche in Eger stiftete. Als höherer städt. Verwaltungsbeamter agierte er im Schnittpunkt von klerikalen u. laikalen Institutionen, christl. u. jüd. Kultur, dt. u. tschech. Sprache. Er war geschult im Umgang mit pragmat. Kanzleischriftlichkeit u. vertraut mit den Standardwerken der Grammatik, Dialektik u. Rhetorik. Die lat. Dichtungen allerdings, von denen in einem Schreiben an den jüd. Jugendfreund in Prag,
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Petrus Rothers, die Rede ist, sind nicht erhalten. Das einzige überlieferte literar. Werk ist das, das dieses Schreiben begleitet: der Ackermann (A.), ein Streitgespräch zwischen Mensch u. Tod aus Anlass des Todes der Margaretha am 1.8.1400 (terminus post quem der Entstehung). Dass sich in diesem Ereignis ein tatsächl. Trauerfall spiegle, ist historisch eher unwahrscheinlich. Urkundlich belegt als Frau des J. ist nicht Margaretha, sondern Clara. Sie aber überlebte ihren Mann zusammen mit mehreren ehel. Kindern, die 1415 bereits erwachsen waren. Bei Margaretha könnte es sich so um eine allgemeine Perle (»margarita«) der Frauen handeln ähnlich wie Petrarcas Laura. Dann wäre es auch weniger überraschend, dass das, was der lat. Brief über den dt. Text sagt, nicht von persönl. Betroffenheit zeugt. Die Charakterisierung ist eine rhetorische. Genannt werden Formen der Stoffbearbeitung u. der Satzkonstruktion, Figuren des Worts, des Satzes u. des Sinns – in spielerischem Ton: Satzteile eilen, Scherze spielen, Arenga stichelt, Ironie lächelt. Sichtbar wird die Meisterschaft eines Autors, der Standardelemente der Redekunst zu scheinbar selbstständigen Wesenheiten stilisiert. Selbst als Kunstbrief entworfen u. in eine Sammlung von Briefmustern aufgenommen, führt das Begleitschreiben weniger zum Text hin als rhetor. Meisterschaft vor. Es verhüllt mehr, als dass es enthüllt. Es weckt die Neugier auf den Text: Alle »Spitzen der Rhetorik, die in dieser ungelenken Sprache möglich sind«, könne »der aufmerksame Hörer herausfinden«. In der Tat enthält der als »libellus ackerman« bezeichnete Text fast alle der erwähnten rhetor. Figuren. Auch steht er in der Tradition der Kanzleien, die in Böhmen im Gefolge Johanns von Neumarkt, Kanzler Karls IV., dem rhythm. Satzschluss neues Gewicht beimaß. J. kannte die deutschsprachigen Prosagebete u. die Prosaübersetzungen des Neumarkters. Das Buch der Liebkosung, eine Übersetzung der ps.-augustinischen Soliloquiae animae ad deum, lieferte ihm prägnante Formulierungen. Begegnet ist er vielleicht auch dem in schwerfälligem Nominalstil gehaltenen lat. Streitgespräch zwischen Mensch u. Welt, Cogor adversum te, das
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im frühen 15. Jh. in der kgl. Kanzlei in Prag mehrfach abgeschrieben wurde. Im A. allerdings dient die rhetor. Artifizialität weniger dem Schmuck als dem Affekt, weniger dem Selbstlauf der Form als dem Prozess der Dynamisierung. Im Mit- u. Gegeneinander des Dialogs entfaltet sich eine Rhetorik des eigensinnig funktionalisierten, im Blick auf das »unausweichliche Geschick des Todes« aufgeladenen Arguments. In 32 Wechselreden stehen sich Witwer u. Tod gegenüber: der eine, der sich metaphorisch als Ackermann der Feder, also als Schreiber bestimmt, im Gestus verzweifelter Klage u. wütender Anklage, der andere, der sich als Herrscher der Erde definiert, im Gestus gespielter Unwissenheit u. belehrender Überlegenheit. Das Hin u. Her zwischen ansatzweiser Verständigung u. schroffer Opposition wird erst im 33. Kapitel in einem göttl. Urteil aufgehoben. Mit dem abschließenden Gebet fügt sich der Trauernde ins Unabänderliche. Die argumentative Dynamik des Textes ergibt sich nicht zuletzt aus der souveränen Kombination verschiedener Traditionen. Als allgemeine Modelle für eine dialogische Schicksalsbewältigung klingen v. a. drei Texte an. Die nach originalen Seneca-Sätzen zusammengestellte Schrift De remediis fortuitorum lieferte im Gegenüber von knapp konstatierten Unglücksfällen (darunter auch der Verlust der Ehefrau) u. stoisch-allgemeinen Trostsentenzen Bausteine, die sich für die Argumentation des Todes verwenden ließen. Das bibl. Buch Hiob vermittelte, an welche Grenzen der innerweltl. Trost stößt u. welche Bedeutung dem direkten Gottesbezug zukommt. Die Consolatio philosophiae des Boethius (die J. nachweislich mit seinen Schülern las) führte vor, wie ein Verzweifelter Trost in Kosmologie u. Ontologie findet. Auch für den Gesprächspartner, an dem sich das verzweifelte Ich im A. abarbeitet, gab es Modelle. Der Tod begegnet als personifizierte Figur bereits in mittellat. Streitgesprächen, z.B. im Dialogus mortis cum homine aus dem 12. u. im Tractatus de crudelitate mortis aus dem 14. Jh., den J. in einer Sammelhandschrift besaß. Doch passte er alle Anleihen bei der Tradition der argumentativen Strategie der beiden Gesprächspartner an.
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Den stoischen Gedanken der Naturgesetzlichkeit des Todes machte er zu einem Argument des Todes, das nicht durchschlägt. Den aus der Contemptus-mundi-Tradition stammenden Aspekt der Vergänglichkeit u. Nichtigkeit des menschl. Daseins verengte er auf das Problem der Rastlosigkeit des Menschen. Subjektivierungen u. Dekontextualisierungen vorhandener Aussagen tragen dazu bei, jene innere Dynamik der A.-Prosa zu erzeugen, die schon in den ersten Reden sichtbar wird. Der Kläger scheint mit dem juristischen Gestus des Zeterschreiens einen Mord- u. Raubprozess einzuleiten, doch der Gestus hat Zitatcharakter, die Anklage ist ungeordnet u. muss erst in den folgenden Reden um die entscheidenden Fakten ergänzt werden. Ein Begreifen des Todes scheint erst dort in Gang zu kommen, wo der Ackermann sich auf die Rationalisierungsversuche des Gegners einlässt. Er bringt den Tod dazu, sich selbst zu definieren, u. drängt ihn sogar in die Rolle des Ratgebers u. Trösters. Doch im Widerstand gegen den stoischen, auf Kontrolle u. Eindämmung der Affekte zielenden Trost findet er zgl. die Möglichkeit, sein Recht auf Trauer zu begründen u. in der Erinnerung die verlorene Geliebte lebendig bewahrt zu sehen. Das letzte Drittel des Dialogs zeigt einen Distanz- u. gleichzeitigen Horizontgewinn. Die Perspektive richtet sich auf das Allgemeine u. die Zukunft. Doch ein Einschwenken auf die Position des Todes ist damit nicht verbunden. Mit seiner emphat. Huldigung des Menschen (Kap. 25) wendet sich der Ackermann explizit gegen den paradiesischen Ursprung des Todes u. implizit wohl gegen die Sterblichkeit schlechthin. Er will den Tod des Selbstwiderspruchs überführen u. für alle Zeit in der Hölle schmoren sehen (Kap. 31) – dieser rhetor. Übersprung reagiert auf eine Position, die ihrerseits subjektive Züge trägt. Der Tod spricht sich zwar an zentraler Stelle alle Substantialität ab u. weist darauf hin, er sei »nichts« u. »doch etwas« (Kap. 16). Doch eben dieses Etwas-Sein zeigt sich im Dialog nicht nur als Moment des Übergangs zwischen Sein u. Nicht-Sein, sondern als argumentative Macht. Der Tod gewinnt ein paradoxes Profil dadurch, dass er
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sich gleichzeitig aufzuheben u. zu begründen hat. Ihm werden Eigenständigkeit u. Eigenwilligkeit zugebilligt, was wiederum deshalb möglich ist, weil Argumente, die den Trauerschmerz im Blick auf die christl. Heilsgeschichte aufheben würden, weitgehend vermieden sind. Der Tod rechtfertigt sich primär im stoischen Sinne als »lex humana« – u. erweist sich eben damit als geeigneter dialektischer Gegenpart eines Subjekts, das sich wehrt gegen das scheinbar Unabänderliche u. Anspruch erhebt auf ein dauerhaftes innerweltl. Glück u. eine emphatisch verteidigte Daseinsfülle. Korrigiert wird im göttl. Urteil weniger dieser Anspruch an u. für sich als seine Verselbstständigung gegenüber dem ihn ermöglichenden metaphys. Horizont. Auch das abschließende hymn. Gebet nimmt weder das Recht auf Trauer noch die Vorstellung menschl. Würde u. kosm. Erneuerung zurück. Es gibt vielmehr dem Erfahrungsprozess des Textes sein Ziel. Dialogisch ist der A. also in mehrfacher Weise: im Hinblick auf die Traditionen, die anzitiert u. aufgegriffen, verbunden u. verwandelt werden, u. im Hinblick auf die Divergenzen u. Konvergenzen zwischen den einzelnen Sprechern. Intertextuell oszilliert die Prosa zwischen verschiedenen moralphilosophischen u. -theolog. Diskursen, intratextuell aber zwischen Andersheit u. NichtAndersheit im Verhältnis der Figuren, zwischen Anerkennung des erfahrenen Verlustes u. Nicht-Anerkennung der imaginierten Verlustursache seitens des menschl. Ich. Damit rückt der A. ab von der schemat., zielorientierten Einseitigkeit zeitgenöss. Streit- u. Lehrgespräche u. nähert sich Ideen, die in Briefen, Dialogen u. Traktaten des ital. Renaissancehumanismus eine zentrale Rolle spielten: Würde u. Freiheit des Menschen, Recht auf Trauer, Glücksanspruch, anthropolog. Funktion von Rhetorik. Im deutschsprachigen Raum fand der A. im 15./16. Jh. breite Resonanz. Abgeschrieben u. gedruckt nicht selten zu Zeiten regionaler Pestwellen, diente er der Lebensbewältigung mit Hilfe von Literatur. Er wurde rezipiert in monastischen wie humanistischen Kreisen u. reizte zu Ausbeutung, Ausgestaltung u. Übersetzung (ins Tschechische u. Lateini-
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sche). Die prägnanten Definitionen des Todes fanden in Predigten u. Moralitäten Eingang – wo allerdings das gedanklich Kühne hinter Lebenspragmatik u. Memento mori zurücktritt. Erst in der Moderne wurde die dialektisch inszenierte »ars vivendi« der böhm. Prosa zu einem Muster für die Sinnsuche des modernen Individuums, zu einem existenziellen Modell für die Überwindung von Verlust u. Trauer. Im Gefolge des Ersten Weltkriegs erreichte der A., als Roman auserzählt, für Bühne u. Rundfunk bearbeitet, in Anthologien aufgenommen, ungewöhnl. Breitenwirkung. Nun erst eigentlich zum Ackermann aus Böhmen geworden, diente er als Identifikationstext der Sudetendeutschen u. zur Begründung kultureller Kontinuität aus dem Geist der Geopolitik. Ausgaben: Die ›A.‹-Handschriften E (clm 27063) u. H (cgm 579). Hg. Werner Schröder. 2 Bde., Wiesb. 1987. – J. de T.: Epistola cum Libello ackerman u. Das büchlein ackerman. Hg. Karl Bertau. 2 Bde., Bln./New York 1994. – J. v. T.: Der Ackermann. Hg. Christian Kiening. Stgt. 2000. Literatur: Ernst Schwarz (Hg.): Der A. a. B. des J. v. T. u. seine Zeit. Darmst. 1968. – Gerhard Hahn: J. v. T. In: VL. – Nigel F. Palmer: ›Antiquitus depingebatur‹. The Roman Pictures of Death and Misfortune in the A. a. B. and Tkadlecˇek, and in the Writings of the English Classicizing Friars. In: DVjs 57 (1983), S. 171–239. – Samuel P. Jaffe: Die Konzipierung der Ackermanndichtung im Prager Metropolitankapitel Codex O.LXX. In: FS Hans-Gert Roloff. Bern/Ffm. 1983, S. 46–63. – G. Hahn: Der A. a. B. des J. v. T. Darmst. 1984. – S. P. Jaffe: Prehumanistic Humanism in the ›A. a. B.‹. In: Storio della Storiographia 9 (1986), S. 16–45. – Christoph Huber: Die Aufnahme u. Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mhd. Dichtungen. Mchn. 1988, S. 314–362. – N. F. Palmer: Der Autor u. seine Geliebte. Literar. Fiktion u. Autobiogr. im ›A. a. B.‹ des J. v. T. In: Elizabeth Andersen u. a. (Hg.): Autor u. Autorschaft im MA. Tüb. 1998, S. 299–322. – Christian Kiening: Schwierige Modernität. Der ›A.‹ des J. v. T. u. die Ambiguität histor. Wandels. Tüb. 1998. – Ders.: Schicksalsdichtung. Der böhm. ›A.‹ in der Moderne. In: Germanoslavica 6 (1999), S. 1–30. – Bernd-Ulrich Hergemöller: Cogor adversum te. Drei Studien zum literarisch-theolog. Profil Karls IV. u. seiner Kanzlei. Warendorf 1999. – Albrecht Hausmann: Der ›A.‹ des J. v. T. u. die Prager Juden um 1400. In: PBB 125 (2003), S. 292–323. – John M. Clifton-Everest: Zum Got-
Johan ûz dem Virgiere
171 tesurteil u. Schlußgebet im ›A. a. B.‹. In: Nikolaus Henkel u. a. (Hg.): Dialoge. Tüb. 2003, S. 279–298. – Hildegund Gehrke: Die Begriffe ›Mittelalter‹, ›Humanismus‹ u. ›Renaissance‹ in den Interpr.en des ›A. a. B.‹. Göpp. 2004. – Albrecht Dröse: Der ›A.‹ als Widerstreit: Ein Lektüreversuch anhand einer Theoriefigur v. Jean-François Lyotard. In: ZfG 16 (2006), S. 26–42. – Agáta Dinzl-Rybarová: Der ›A. a. B.‹ u. der alttschech. ›Tkadlecˇek‹. Göpp. 2006. – Sabine Häußermann: Frühe Inkunabelillustration u. Medienwandel. Die Bilderzyklen der Bamberger Pfisterdrucke. Diss. Augsb. 2006. Christian Kiening
Johan ûz dem Virgiere, Johann aus dem Baumgarten. – Liebes- u. Abenteuerroman in Versen des 14./15. Jh. J. û. d. V. ist ein anonymer mhd. Liebes- u. Abenteuerroman, der zwischen der zweiten Hälfte des 14. u. der Mitte des 15. Jh. entstanden sein dürfte u. rund 3100 Verse umfasst. Im Zentrum steht die »enfance« des Helden. Nach einem Prolog, in dem auf die Niederschrift der »abenture« aufgrund einer – verlorengegangenen – »flemschen« Vorlage verwiesen wird (V. 1–40), wird erzählt, wie der röm. »keiser« Sigemunt in seinem Baumgarten einen ausgesetzten Knaben findet, der offenkundig aus frz. Adel stammt. Sigemunt, dessen Gemahlin zu dieser Zeit mit einer Tochter namens Clarisse niederkommt, lässt das Findelkind als seinen Sohn ausgeben u. auf den Namen »Johan uz dem virgiere« (»Johann aus dem Baumgarten«) taufen. Als die Kinder herangewachsen sind, wird durch einen unglückl. Zufall öffentlich bekannt, dass Johann ein Findling ist. Daraufhin will der Jüngling seinen Vater ausfindig machen u. sich im Kampf gegen »heiden« u. »risen« bewähren, doch muss er wegen seiner Jugend noch ein Jahr warten. Währenddessen wird der Kaiser von einem riesigen Heidenkönig zur Verteidigung von Glauben u. Krone herausgefordert. Obwohl Sigemunt dem Sieger über den Herausforderer Tochter u. Reich verspricht, ist nur der junge Johann bereit, den Kampf zu wagen, u. nachdem er zum Ritter geschlagen worden ist, gelingt es ihm, den König der Heiden zu besiegen. Doch der Kaiser versagt dem unstandesgemäßen »fundeling«, angestachelt
von seinem Ratgeber Gaveron, den versprochenen Lohn. Seine Tochter Clarisse, die von Johann ein Kind erwartet, rät diesem zur Flucht. Nach vier Jahren des Umherirrens trifft der junge Ritter im Kampf auf den in der Verbannung lebenden Grafen Ruprecht von Artois. Wie sich herausstellt, hat Johann seinen Vater vor sich, während seine Mutter die Schwester des Königs von Frankreich ist. So begibt Johann sich in den Dienst der frz. Krone. Durch seine Erfolge im Kampf erreicht er nicht nur die Aussöhnung des Königs mit seinen wahren Eltern, die endlich heiraten dürfen, sondern erhält als Lohn zudem die frz. Krone. Damit ist die Ebenbürtigkeit des einstigen Findlings mit Clarisse vollends hergestellt, u. Kaiser Sigemunt löst nun sein Versprechen ein: Johann erhält seine Geliebte zur Frau u. erlangt die Nachfolge auch im Kaiserreich. Der kurze Versroman ist aus so gängigen Erzählschemata u. Erzählmotiven wie dem der Vatersuche aufgebaut u. weist stilistisch in die Nähe der sog. Spielmannsepen. Die Figurenkonstellation ist durch die Polarisierung zwischen den beiden Parteien des Kaisers u. Johanns gekennzeichnet. Johann erhält sein Profil dabei v. a. durch den Einsatz für Kaiser u. Reich gegen die Heiden. Der Kaiser hingegen entspricht dem Typus des schwachen Herrschers u. ist durch Unzuverlässigkeit geprägt, wodurch er sich zgl. negativ vom König von Frankreich abhebt. Solche Kontrastierungen gehören zu den darstellungstechn. Charakteristika des Romans, ebenso wie die Technik der Retardation. Mit hoher Wahrscheinlichkeit sind sie auf den Verfasser des J. û. d. V. selbst zurückzuführen u. nicht schon auf dessen verlorene mittelniederländ. Vorlage von frühestens wohl ca. 1335. Diese Annahme resultiert aus dem Vergleich des J. û. d. V. mit einer weiteren Bearbeitung des verlorenen mittelniederländ. Textes, dem niederländ. Prosaroman Joncker Jan wt den Vergiere aus der Zeit von vor 1516, der sich in einem Amsterdamer Druck H. J. Mullers aus dem letzten Viertel des 16. Jh. (vielleicht um 1590) erhalten hat. Im Gegensatz zum gedruckten niederländ. Prosaroman ist J. û. d. V. unikal überliefert. Die einzige Handschrift des spätmhd. Versro-
Johann von Würzburg
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mans ist südrheinfränk. Herkunft u. datiert wahrscheinlich aus der Mitte des 15. Jh. Ausgaben: J. û. d. v. Eine spätmhd. Ritterdichtung nach fläm. Quelle nebst dem Faksimileabdr. des fläm. Volksbuches ›Joncker Jan wt den Vergiere‹. Hg. u. eingel. v. Robert Priebsch. Heidelb. 1931. – Manfred Günter Scholz: ›Johann aus dem Baumgarten‹ u. ›Joncker Jan wt den vergiere‹. In: Walter Haug u. Burhart Wachinger (Hg.): Positionen des Romans im späten MA. Tüb. 1991, S. 168–232 [Transkription des Amsterdamer Druckes des ›Joncker Jan wt den vergiere‹]. Literatur: Hartmut Beckers: Johann aus dem Virgiere. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Scholz, a. a. O., S. 146–167. – Johannes Janota: Orientierung durch volkssprachige Schriftlichkeit (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 3,1). Tüb. 2004, S. 211 f., 217 f. Uta Goerlitz
Johann von Würzburg. – Autor des 1314 vollendeten Versromans Wilhelm von Österreich. Informationen über Person u. Leben J.s liefern allein die Selbstnennungen in seinem Roman. Deren wichtigste lautet: »Johannes der tugend schribaer / haizz ich, geborn uz Francken« (V. 13.228 f.). J. gilt allgemein als der eigentl. Autor des Wilhelm von Österreich (WvÖ), obwohl im Roman (zumindest in einem Teil der Überlieferung) auch ein Dieprecht als Erzähler angesprochen wird, der in den Versen 13.249–13.280 mit Lob bedacht u. dann nicht weiter erwähnt wird. (Der Anteil dieses Dieprecht am Roman ist ungeklärt: zeitweiliger Co-Autor, Stoff-Vermittler, Autor-Fiktion?) Für seine Dichtung scheint J. zunächst adlige Gönner/Auftraggeber gefunden zu haben; denn der Text hebt zwei Familien preisend hervor: die Herzöge von Österreich u. die Grafen von HohenbergHaigerloch. Dieses Nebeneinander ist auffallend; es erklärt sich am ehesten durch Gönnerwechsel/Gönnerverlust. Für ein letztlich problemat. Gönnerverhältnis scheint jedenfalls der Epilog zu sprechen, in dem J. klagt, dass er den verdienten Lohn nicht erhalten habe. Doch das Werk, dem die Mäzene untreu wurden, hatte beachtl. Erfolg. Neun vollständige u. sechs fragmentarisch erhaltene Handschriften bezeugen dies ebenso wie eine
mehrfach gedruckte Prosaauflösung aus dem 15. Jh. u. die Aufnahme des Heldenpaares Wilhelm u. Aglye in den Freskenzyklus von Schloss Runkelstein. Der etwa 19.600 Verse umfassende WvÖ ist nach Auskunft seines Prologs eine Geschichte von »tugende, aventur, minne« (V. 134) – Werte, die der Roman anhand des Lebensweges seines Helden, eines (fiktiven) österr. Herzogssohns, diskutiert. In einer knappen Vorgeschichte wird berichtet, wie der kinderlose Herzog von Österreich zusammen mit dem gleichfalls kinderlosen Heidenkönig Agrant am Grab des hl. Johannes Nachkommenschaft erbittet. Die Gebete werden erhört: Am selben Tag wird Leopold ein Sohn (Wilhelm) u. Agrant eine Tochter (Aglye) geboren. Die Liebe zu Aglye entwickelt sich bald zur beherrschenden Macht in Wilhelms Leben, da Frau Minne seinem Herzen schon im Kindesalter Aglyes Bild einprägt. Von Sehnsucht nach »sinem bilde« getrieben, verlässt Wilhelm heimlich Österreich u. gelangt schließlich unter falschem Namen an Agrants Hof. Er verbringt mit der Königstochter eine glückl. Zeit in zärtl. Kinderminne. Die Heranwachsenden werden jedoch von Agrant getrennt u. bleiben nur durch Briefe in Kontakt. Wilhelm besteht nach der Trennung von der Geliebten zahlreiche, teils als Allegorien gestaltete, Abenteuer, wobei die Vereinigung mit Aglye stets sein Ziel bleibt. Er gerät in immer ausweglosere Situationen u. entgeht, am Tiefpunkt seines Weges, einer Hinrichtung als Verbrecher nur unter der Bedingung, dass er die Heidenkönigin Crispin von einem teufl. Feind befreit. Dies gelingt ihm, u. zum Dank arrangiert Crispin listenreich die Vermählung der Liebenden. Der getäuschte Agrant bietet ein gewaltiges Heidenheer auf, um seine Ehre wiederherzustellen. Wilhelm, unterstützt von der Gesamtheit der christl. Ritter, behält die Oberhand; die Heiden lassen sich taufen. Dennoch ist das Glück der Liebenden nur von kurzer Dauer. Ohne auf die Einwände seiner Frau zu achten, begibt sich Wilhelm auf die Jagd nach einem wunderbaren Einhorn u. wird dabei hinterhältig ermordet. Aglye bricht tot über seiner Leiche zusammen. Das Ende des Romans greift die in der (pseudohistorischen) Vorgeschichte
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Johannes Werner von Zimmern
aufgeworfene Erbfolgeproblematik wieder nem Wünschen, seinem Wollen. Wilhelm auf, indem berichtet wird, wie der kleine sucht in der Außenwelt die Bestätigung seiSohn des Paares, Friedrich, in Österreich die ner selbst, sucht die Entsprechung zu seinen Huldigung der »lantherren« entgegen- inneren Bildern; er tut dies ohne Rücksicht – u. letztlich ohne Erfolg. Zwar findet er zum nimmt. Eine unmittelbare Quelle für den Roman subjektiven Bild der Geliebten die objektive ist nicht bekannt u. auch kaum vorauszuset- Entsprechung in Aglye, doch ist er auch nach zen. J. ist, wie schon die Inhaltsangabe deut- der Vereinigung mit ihr nicht am Ziel, sonlich macht, ein sehr belesener Autor, der die dern bleibt weiterhin ein Suchender. Seine ältere, aber auch die zeitgenöss. Literatur Unruhe treibt ihn schließlich dazu, wiederkennt u. sich von ihr anregen lässt; er selbst um die Entsprechung zu einem Bild, zu seiverweist auf Wolfram von Eschenbach, Gott- ner Vorstellung von einem Einhorn, durch fried von Straßburg u. Rudolf von Ems als eine Begegnung mit dem »wirklichen« Tier Vorbilder. Dabei ist J. keineswegs ein bloßer zu suchen. Der Versuch schlägt fehl; er beNachahmer; seine Selbstcharakteristik als gegnet nicht dem Einhorn, sondern dem »stupfelman« (V. 1497), als Ährenleser auf Tod. Man kann Wilhelms Bemühen um eine abgeerntetem Feld, erweist sich bei näherem Hinsehen als geistreiches Spiel mit der Tra- Korrelation von Innen- u. Außenwelt als dition. Im Kontext einer allg. Neubewertung Selbstvergewisserung, schließlich als Suche der nachklass. Romane u. ihrer Ästhetik ha- nach »Identität« verstehen. Ob man deren ben denn auch Forschungen gerade der letz- Erfolg überhaupt bezweifelt oder aber konten beiden Jahrzehnte deutlich gemacht, statiert, dass »das Ich nur im Tod gefunden wieviel innovatives Potential der WvÖ ent- werden« kann (Schneider) – interessant ist, hält. Es ist der Roman eines höchst reflek- dass u. wie das Problem in der ersten Hälfte tierten Autors, der die Fiktionalität seiner des 14. Jh. angegangen werden konnte. Geschichte stets bewusst hält – nicht zuletzt, Ausgabe: J.s v. W. ›W. v. Ö.‹. Hg. Ernst Regel. indem er eine differenzierte u. omnipräsente Dublin/Zürich 1906. Neudr. 1970. Erzählerfigur schafft. Literatur: Ingeborg Glier: J. v. W. In: VL u. VL WvÖ ist ein vielschichtiger Roman; man (Nachträge u. Korrekturen). – Manfred Günther kann den Akzent auf die Diskussion verant- Scholz: Zum Verhältnis v. Mäzen, Autor u. Publiwortungsvoller dynast. Herrschaftsführung kum. WvÖ – ›Rappoltsteiner Parzifal‹ – Michel legen, wobei die zeitgenöss. Rezipienten ak- Behaim. Darmst. 1987. – Albrecht Juergens: WvÖ. tuelle histor. Konstellationen assoziieren J.s v. W. ›Historia Poetica‹. Ffm. 1990. – Klaus Ridder: Mhd. Minne- u. Aventiureromane. Fiktion, konnten. Man kann den Text aber auch lesen Gesch. u. literar. Tradition im späthöf. Roman: als Geschichte einer außergewöhnl. Liebe, ›Reinfried von Braunschweig‹, WvÖ, ›Friedrich von wobei in den langen, mit dem Handlungs- Schwaben‹. Bln. 1998. – Cora Dietl: Minnerede, geschehen nur lose verbundenen, Briefen der Roman u. historia. Der WvÖ J.s v. W. Tüb. 1999. – Liebenden das Thema Minne hochrhetorisch Armin Schulz: Poetik des Hybriden. Schema, Vaabgehandelt wird. Da beide Aspekte, Herr- riation u. intertextuelle Kombinatorik in der Minschaft u. Minne, im Roman eng miteinander ne- u. Aventiureepik. Bln. 2000. – Almut Schneiverknüpft sind, kann man in ihm auch die der: Chiffren des Selbst. Narrative Spiegelungen Diskussion über das Verhältnis von persönl. der Identitätsproblematik in J.s v. W. WvÖ u. Glücksstreben u. gesellschaftl. Anforderun- Heinrichs von Neustadt ›Apollonius von Tyrland‹. Gött. 2004. Gisela Vollmann-Profe gen sehen. Die damit implizierte Spannung wird jedoch nicht wie im klass. Artusroman in einer, wenn auch fragilen, Harmonie auf- Johannes Werner von Zimmern ! gelöst. Dies hat seinen Grund in J.s Konzep- Zimmern, Johannes Werner von tion der Heldenfigur; er entwirft einen Menschen, dem die Gesellschaft per se nichts bedeutet, weil sein Handeln ganz von innen bestimmt ist: von seinen Vorstellungen, sei-
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Johann, A. E., eigentl.: Alfred Ernst Johann Wollschläger, * 3.9.1901 Bromberg (heute Bydgoszcz/Polen), † 8.10.1996 Oerrel/Lüneburger Heide. – Reiseschriftsteller, Romancier.
174 eines Dorfes. Mchn. 1980. Augsb. 1999. – Das Haus am Huronensee. Mchn. 1981. 31990. – Evas Wildnis. Eine kanad. Liebeslegende. Bayreuth 1984. Augsb. 2007. – Südwest. Ein afrikan. Traum. Mchn./Bln. 1985. Matthias Wörther / Red.
J. entstammte einer westpreuß. Bauern- u. Handwerkerfamilie. Nach dem Studium der Johannimloh, Norbert, * 21.1.1930 Verl/ Theologie, Soziologie u. Geografie in Berlin, Westfalen. – Verfasser von Lyrik, Prosa u. einer Banklehre u. Tätigkeit in der Verwal- Hörspielen. tung eines Maschinenbaukonzerns wanderte er nach Kanada aus. Mit Reiseberichten hatte Der Sohn eines Maurers war nach Abschluss er schnell Erfolg. J. wurde zunächst Sonder- des Studiums in Münster (Germanistik, berichterstatter für den Ullstein Verlag u. Kunstgeschichte, Altphilologie) zunächst lebte seit 1937 als freier Schriftsteller. Eine Studienrat. Später lehrte er an der Universität ausgedehnte Reisetätigkeit (u. a. in die Münster (Schwerpunkt Niederdeutsche Literatur). 1965–1989 war er Literaturredakteur UdSSR, nach China, Indonesien, Japan, Ausder Zeitschrift »Westfalenspiegel« (Münster). tralien u. Afrika) lieferte das Material für Mit seinem ersten Gedichtband En Hanvöll seine zahlreichen Reisebeschreibungen (u. a. Rägen (Emsdetten 1963), geschrieben in der Groß ist Afrika. Bln. 1939. Große Weltreise mit A. Mundart seines Geburtsorts, erschloss J. der E. Johann. Ein Führer zu den Ländern und Völkern niederdt. Poesie eine neue Dimension: In dieser Erde. Gütersloh 1955. Wo ich die Erde am Duktus, Metaphorik u. Thematik fern aller schönsten fand. Ebd. 1960. Amerika ist eine Reise Heimattümelei u. Brauchtumspflege, leistet wert. Ebd. 1967). er eine krit. Auseinandersetzung mit VerNeben den Reisebeschreibungen bilden gangenheit u. Gegenwart. Nach Erscheinen Liebes-, Abenteuer- u. Schicksalsromane, oft des Buchs (1963 mit dem Klaus-Groth-Preis mit zeitgeschichtl. Hintergrund u. in fernen ausgezeichnet) nannte Ernst Meister den Ländern spielend, den zweiten Schwerpunkt Autor »den jungen Lorca Westfalens«. Blieb von J.s Werk. J. thematisiert die Erschüttedie Rezeption der niederdt. Hörspiele auf rungen u. Umwälzungen des 20. Jh. etwa in Westfalen u. Norddeutschland beschränkt, so der großangelegten, chronikartigen »Radfand der Band Appelbaumchaussee. Geschichten macher-Trilogie« Im Strom (Gütersloh 1968. vom Großundstarkwerden (Zürich 1983) große In der Trilogie erschienen: Augsb. 2006), Das Beachtung u. Anerkennung. In diesem autoAhornblatt (ebd. 1969) u. Aus dem Dornbusch biogr. getönten Roman zeichnet J. eine (Mchn./Gütersloh 1972). Daneben war J. als Kindheit in bäuerlich-proletar. kath. UmgeÜbersetzer aus dem Englischen tätig u. verbung in den 1930er u. 1940er Jahren. Unöffentlichte eine Vielzahl von Zeitungs- u. sentimentales Erzählen, exakte DetailbeobZeitschriftenartikeln. 1989 erschienen seine achtung, landschaftl. Kolorit u. der mit Ironie Erinnerungen Dies wilde Jahrhundert (Mchn./ durchsetzte Ernst machen Appelbaumchaussee Wien). J.s Werk, das hohe Auflagen erreichte, zu einem Stück Regionalliteratur im Sinne weist ihn als einen der erfolgreichsten dt. Robert Walsers oder Annette von DrosteReise- u. Unterhaltungsschriftsteller nach Hülshoffs. Während der unterhaltsame Ro1945 aus. man Roggenkämper macht Geschichten (Zürich Weitere Werke: Irland, Heimat der Regenbo1996) mit trockenem Humor vom Leben eines gen. Irland, Insel am Rande der Welt. Gütersloh skurrilen Westfalen erzählt, ist Die zweite Ju6 1953. Mchn. 1984. 1994. – Weiße Sonne. Ein Roman aus der Wirklichkeit v. heute. Gütersloh 1955. dith (Zürich 2000) ein Prosatriptychon aus der – Sohn der Sterne u. Ströme. Ebd. 1955. – Der Wind Täuferzeit in Münster. der Freiheit. Ebd. 1967. Augsb. 2000. – Menschen an meinen Wegen. Aus einem Leben auf Reisen. Gütersloh u. a. 1973. – Am Ende ein Anfang. Mchn. 1978. Ffm. 1992. – Die Leute v. Babentin. Roman
Weitere Werke: Wir haben seit langem abnehmenden Mond. Darmst. 1969 (L.). – Regenbogen über der Appelbaumchaussee. Ffm. 2006 (Erz. u. L., mit einem Nachw. des Autors über Leben u.
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Werk). – Hörspiele: Künink un Duahlen un Weind. Köln 1964. – Airport Mönsterland. Köln 1971. – Sülverhochtied in’n Roggenslag. Hbg. 1984. – Ähr dat et tolate ist. Köln 1988.
1965 (R.). – Lutherstadt Wittenberg zwischen gestern u. morgen. Ebd. 1967. – Flug nach Zypern. Ebd. 1969 (R.). – Der große wunderbare Fisch. Ebd. 1973 (12 E.en u. ein R.).
Literatur: Jürgen Hein: Zu neuen Gedichten v. N. J. u. Siegfried Dellemeier. In: Jb. der AugustinWibbelt-Gesellsch. 1 (1984/85), S. 57–66. – Westf. Autorenlex. 4. – J. Hein: ›Tüschen Hiemel un Ärdn‹, keine Idyllen! Notizen zu niederdt. Gedichten v. N. J. In: Jb. der Augustin-Wibbelt-Gesellsch. 20 (2004), S. 47–55. Jürgen P. Wallmann
Literatur: Heinz Kruschel: J., E.-C. B. L. In: Magdeburger biogr. Lexikon. Hg. Guido Heinrich u. Gunter Schandera. Magdeb. 2002, S. 332 f. – Mirco Grusche: ›Seit ich den Staub dieser miesen kleinen Stadt abgestreift habe, bin ich ein anderer Mensch geworden‹. Zum 25. Todestag der Halberstädter Schriftstellerin C. J. In: Zwischen Harz u. Bruch 3 (2006), H. 43, S. 46 ff. Helmut Blazek / Red.
Johannsen, (Elsa-)Christa (Betti Luise), * 17.11.1914 Halberstadt, † 10.4.1981 Johansen, Hanna, auch: H. Muschg, Magdeburg. – Verfasserin von Erzählun* 17.6.1939 Bremen. – Erzählerin, Kingen, Romanen, Feuilletons u. Reportagen. derbuchautorin, Übersetzerin. J., Tochter eines Architekten, studierte Philosophie, unterstützte antifaschistische Gruppen u. promovierte in Berlin. Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeitete sie fünf Jahre lang als Dozentin an der Fachschule für Bauwesen in Blankenburg/Harz. Seit 1957 war J. Mitarbeiterin der »Neuen Zeit«. 1974 wurde sie mit dem Lion-Feuchtwanger-Preis ausgezeichnet. J., deren erklärtes Ziel es war, durch ihr Werk gegen das Verdrängen der histor. Ereignisse anzugehen, beschrieb in ihren Texten häufig Kindheits- u. Jugenderlebnisse u. stellte Schicksale jüd. Menschen während der Zeit des NS-Regimes dar. In Leibniz. Roman seines Lebens (Bln./DDR 1966) befasst sie sich mit dem Problem der Verantwortlichkeit des Forschers für die sich aus seiner Arbeit ergebenden gesellschaftl. Konsequenzen. Auch in Zeitverschiebungen (Bln./DDR 1979) steht diese Problematik im Zentrum. Der Text – eine Synthese aus Biografie, Reisebericht u. Essay – geht dem Leben u. Werk Einsteins nach u. untersucht die Frage nach der moralischer Verantwortung des Naturwissenschaftlers. J. arbeitete an Ernte und Saat. Kalender für die christliche Familie (1959–62) mit. Weitere Werke: Abschied vom Sommer. Bln. 1940 (R.). – Die unsichtbare Krone. Lpz. 1944 (R.). – An einen Jüngling im Felde. Drei Briefe. Lpz. 1944 (Feldpostausg.). – Asklepios u. seine Jünger. Bln./ DDR 1960 (R.). – Es kommt ein Stern gezogen. Ein Weihnachtsbuch. Ebd. 1961 (Mitarbeit). – Menschen u. Städte. Skizzen, Feuilletons, Reportagen. Ebd. 1962. – Im Schatten des Minotaurus. Ebd.
J. studierte Germanistik, Altphilologie u. Pädagogik an den Universitäten Marburg u. Göttingen. In Kriegs- u. Nachkriegsjahren wuchs sie mit ihrer Mutter, einer Schneidermeisterin im Theater, auf, so dass ihre Schulzeit auch von Theatererlebnissen geprägt war. 1967–1969 hielt sich J. in den USA auf, wo sie an der Kunst des Übersetzens Geschmack fand. Sie übersetzte die Bücher von Donald Barthelme, Grace Paley, Walker Percy, Alice u. Martin Provensen, Pierre LeTan (unter dem Namen H. Muschg) sowie Patricia MacLachlan (unter dem Namen H. Johansen). J.s Bücher wurden in fast zwanzig Sprachen übersetzt. Sie gehört – mit Gertrud Leutenegger, Verena Stefan, Maja Beutler, Margrit Baur, Margrit von Dach u. Erica Pedretti – zu den Autorinnen, die Mitte der 1970er Jahre in die bis dahin männlich dominierte Schweizer Literaturszene einbrachen u. die Entwicklung der Schweizer Literatur der 1970er u. 1980er Jahre wesentlich mitprägten. Auch wenn J. in ihren Romanen u. Erzählungen fast immer ein weibl. Ich ins Zentrum rückt u. aus einem traditionell weibl. Lebensbereich berichtet, ist ihr Schreiben nicht der feministischen Literatur zuzuordnen. Ihr immer wiederkehrendes Thema ist vielmehr die Brüchigkeit, Bodenlosigkeit u. kontinuierl. Veränderbarkeit der Wirklichkeit. Diese Grunderfahrung schlägt sich bei ihr auch in der Beziehung zwischen Frau u. Mann nieder. J. bezieht auch politisch
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u. kulturpolitisch geprägte Themen in ihr einmal elaboriertes Muster nicht mehr zu Schreiben ein. Den ersten Roman Die stehende imitieren u. nach immer neuer DarstelUhr (Mchn./Wien 1978) schrieb sie fast 40- lungstechnik zu suchen. J. ist korrespondierendes Mitgl. der Deutjährig, als Mutter zweier Söhne u. verheiratet mit dem Schriftsteller Adolf Muschg. Es ist schen Akademie für Sprache und Dichtung, ein surrealer Reisebericht, dessen Ich-Erzäh- Darmstadt, u. des P.E.N.-Zentrums der lerin mit dem Zug immer nach Osten u. Schweiz. Sie erhielt u. a. die Anerkennungsgleichzeitig unablässig hin u. her fährt. Ihre gabe der Stadt Zürich (1978), die Ehrengabe Reise bleibt ohne erkennbares Ziel u. erweist des Kantons Zürich (1980, 1997), den Mariesich am Ende als angsteinflößendes Experi- Luise-Kaschnitz-Preis (1986), den Conradment mit dem Leben. Grotesk u. zeitkritisch Ferdinand-Meyer-Preis (1987), den Premio ist J.s. zweiter Roman Trocadero (Mchn./Wien grafico (1990), den Schweizer Jugendbuch1980), in dessen Mittelpunkt die Vorberei- preis (1990), den Kinderbuchpreis des Lantung eines seltsamen Festessens für Teilneh- des Nordrhein-Westfalen (1991), den Preis mer einer Konferenz rückt. In gegenteiligem der Schweizerischen Schillerstiftung (1991, Tonfall gestaltet sich Die Analphabetin (Mchn./ 2002), den Österreichischen Kinder- und JuWien 1982), eine autobiogr. fundierte, aus gendbuchpreis (1993), den Preis des Landes der Sicht eines fünfjährigen Mädchens ge- Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbeschriebene, den Luftkrieg im Norddeutsch- werb (1993), den Phantastikpreis der Stadt land 1944 u. die Erfahrung der Angst evo- Wetzlar (1993) u. den Solothurner Literaturzierende Erzählung. In eine themat. Folge preis (2003). fügen sich die weiteren Prosawerke J.s ein, in Weitere Werke: Zurück nach Oraibi. Zürich denen die Befindlichkeit der Frau in der ge- 1986. – Über den Himmel. Märchen u. Klagen. genwärtigen Gesellschaft variantenreich ab- Mchn. 1993. – Kurnovelle. Mchn. 1994. – Halbe gewandelt, ihre Gefühlswelt mit der des Tage, ganze Jahre. Mchn. 1998. – Kinder- und JuMannes konfrontiert u. die Liebe als Medium gendbücher: Bruder Bär u. Schwester Bär. Zürich menschl. Annäherung u. Trennung heraus- 1983. – Felis, Felis. Eine Katergesch. Zürich 1987. – Die Gesch. von der kleinen Gans, die nicht schnell gehoben wird. Gemeint sind die Erzählungen genug war. Zürich 1989. – Dinosaurier gibt es Über den Wunsch, sich wohlzufühlen (Mchn./ nicht. Zürich 1992. – Ein Maulwurf kommt immer Wien 1985), Die Schöne am unteren Bildrand allein. Zürich 1994. – Die Hexe zieht den Schlafsack (Mchn./Wien 1990), die Romane Ein Mann vor enger. Zürich 1995. – Vom Hühnchen, das goldene der Tür (Mchn./Wien 1988), Universalgeschichte Eier legen wollte. Zürich 1998. – Die Hühneroper. der Monogamie (Mchn./Wien 1997) u. Lena Zürich 2004. – Ich bin hier bloß die Katze. Mchn. (Mchn./Wien 2002). Eine bes. Beachtung 2007. verdient unter diesen Werken Lena, ein RoLiteratur: Samuel Moser: H. J. In: KLG. – Eliman, in dem die Titelfigur, eine achtzigjäh- sabeth Stuck: H. J. Eine Studie zum erzähler. Werk rige, mit ihrer Vergangenheit konfrontierte 1978–1995. Bern 1997. – Marc Aeschbacher: Vom Frau, sich gezwungen sieht, ihrer Nichte die Stummsein zur Vielsprachigkeit. Vierzig Jahre Lit. verschwiegene Geschichte der eigenen Fami- aus der dt. Schweiz (1958–1998). 2., überarb. Aufl. Bern u. a. 1998. – Vesna Kondric Horvat: Der eigelie zu erzählen. An die rätselhafte Darstellung nen Utopie nachspüren. Zur Prosa der deutschweibl. Empfindsamkeit knüpft J. auch im sprachigen Autorinnen in der Schweiz zwischen Roman Der schwarze Schirm (Mchn. 2007) an, 1970 u. 1990, dargestellt am Werk Gertrud Leueiner Schilderung des Daseins zweier Frauen, teneggers u. H. J.s. Bern 2002. – Nicola Bardola: H. von denen die eine Mutter u. die andere J. In: LGL. Pia Reinacher / Zygmunt Mielczarek Tochter ist. Die Mutter sucht nach ihrer vor langer Zeit zur Adoption freigegebenen John, Eugenie ! Marlitt, Eugenie Tochter u. die Tochter nach ihrer Mutter. Zwar lassen sich in J.s Gesamtwerk sujetbezogene Analogien mühelos aufweisen, mit jedem neuen Text macht sich in ihrem Schreiben aber auch das Anliegen geltend, ein
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Johnson, Uwe, * 20.7.1934 Kammin/ Pommern, heute: Kamién Pomorski/Polen, † 23.2.1984 Sheerness-on-Sea/Kent (England). – Romancier. Die erste Lebenszeit verbrachte J. in Anklam; sein Vater Erich Johnson war Gutsinspektor, später Gütekontrolleur der Landwirtschaftskammer. Die beiden letzten Kriegsjahre besuchte J. eine nationalsozialistische »Deutsche Heimschule« in Köslin (Koscian). 1945 zog die Familie in das Dorf Recknitz in Mecklenburg. Der Vater starb, interniert, 1947 oder1948. »Eigentlich hätten wir nach 1945 alle still sein müssen.« Deutschland, das sei »ein Land mit einer Schande, die nicht vergeben werden kann. Das einzige, was ein Reden oder Schreiben über Berlin rechtfertigen könnte, das ist eben die Teilung, die Grenze, die Entfernung. Und dies, weil ich meine [...], daß diese Grenze in Deutschland vielleicht stellvertretend ist für den Unterschied in den beiden heute angebotenen Arten zu leben, und für die Dringlichkeit der Alternative [...]«. Der Roman Mutmaßungen über Jakob (Ffm. 1959) lag vor, ein zweiter, Das dritte Buch über Achim (Ffm. 1961), war im Begriff zu erscheinen, als J. sein Generalthema in einem Interview umriss – die Teilung, die Grenze, der Unterschied. Darauf kam es ihm an: Die Erfahrung DDR »sollte nicht verkleinert werden durch die Tricks der Erinnerung. [...] Was da an Biographie gestiftet wurde, war immerhin nicht alles notwendig zum Leben« (Versuch, eine Mentalität zu erklären. In: Ich bin Bürger der DDR und lebe in der Bundesrepublik. Hg. Barbara Grunert-Bronnen. Mchn. 1971). Nach dem Besuch der John-BrinckmanOberschule in Güstrow 1949–1952 studierte J. bis 1956 Germanistik in Rostock u. Leipzig. Als Diplomarbeit reichte J. Hans Mayer eine Untersuchung über Barlachs Roman Der gestohlene Mond ein. Nach einer Verleumdungskampagne gegen die christl. »Junge Gemeinde« war J. 1954 aus Protest aus dem Jugendverband FDJ ausgetreten; als Germanist konnte er seinem Berufswunsch, als Verlagslektor zu arbeiten, folglich nicht nachkommen. Er blieb ohne Anstellung u. hat, der Not gehorchend, Nei-
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gungen nachgebend, Herman Melvilles Roman Israel Potter. Seine fünfzig Jahre im Exil (Lpz. 1961) für die Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Leipzig übersetzt, das Nibelungenlied (Lpz. 1961) zusammen mit Manfred Bierwisch aus dem Mittelhochdeutschen übertragen u. zahlreiche Verlagsgutachten geschrieben (»Wo ist der Erzähler auffindbar?« Hg. Bernd Neumann. Ffm. 1992). J.s erster Roman Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953, in vierter Fassung um 1956 entstanden, erst postum veröffentlicht (Ffm. 1985), lag vier Verlagen in der DDR vor, aber auch Suhrkamp konnte sich nicht entschließen zu drucken. Mit Erscheinen der Mutmaßungen siedelte J. 1959 nach West-Berlin über. Hans Magnus Enzensberger nannte die Mutmaßungen im Gegensatz zum auf Katharsis u. den novellistisch unerhörten Fall zielenden Nachkriegsroman den »ersten deutschen Roman nach dem Krieg«. Er habe »den unschätzbaren Vorzug, weder hierher noch dorthin zu gehören«. Mit dem Schicksal des Eisenbahners Jakob Abs, der die Grenze zweimal überschreitet, am Ort seiner Herkunft konfliktfrei nicht leben kann, in Westdeutschland nicht leben mag, zurückgekehrt am Arbeitsplatz bei Nebel überfahren wird, mit der Geschichte des Hamburger Journalisten Karsch, der eine Biografie über den Radrennfahrer Achim T. aus Leipzig schreiben will (Das dritte Buch über Achim) u. mit der Geschichte einer Fluchthilfe, bei der »der junge Herr B.«, Bildreporter aus Nordwestdeutschland, für die Ostberliner Krankenschwester D. seine Existenz aufs Spiel setzt (Zwei Ansichten. Ffm. 1965), griff J. eminent polit. Fragen auf, indem er die Handlung jeweils an histor. Daten band: die Ungarn-Ereignisse vom Herbst 1956, den 17. Juni 1953 in der DDR, die Suez-Krise u. den Mauerbau vom 13. August 1961. Die Haussuchung, die Karschs Übersiedlung nach Italien zur Folge hat, findet in der »Spiegel«-Affäre ihre Parallele (Eine Reise wegwohin. In: Karsch und andere Prosa. Ffm. 1964). Erntete J. in der DDR anfangs dafür schroffe Polemik, so wurde ihm später vorgehalten, er gestalte Ereignisse »abseits und entgegen« ihrer »historischen Einbettung« (Anneliese Große), er komme nicht vom Kleinbürgertum los (Günter Har-
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tung), er verzichte auf Lösung der Konflikte, die doch offensichtlich zu J.s Lebzeiten nicht lösbar waren. J. wurde ein umständl., norddt. schwerblütiger, angestrengter Erzähler genannt, aber auch ein verkannter u. durch polit. Umstände verhinderter Humorist. Sein Stil wurde mit dem des »nouveau roman« verglichen; man sah in ihm einen Geistesverwandten von Autoren der Frühen Moderne wie Döblin, Faulkner u. Brecht, so traditioneller wie Raabe u. Reuter u. selbst so entlegener wie Johann Heinrich Voß u. Barlach. Satzkonstruktionen der Parataxe wie aus Bibel u. Märchen erkannte man, dem Kubismus analoge Verfahren wurden bemerkt. Seit seinem Erstling sprach man von »Mutmaßprosa«. Er habe die »Manieren des Erzählens« ändern, den allwissenden Erzähler abschaffen müssen, ließ J. verlauten. Dass der Leser dicht an die Seite der literar. Charaktere geholt wird, ohne dass ihm Mitleben suggeriert würde, dass dieser Autor also auf raunendes Imperfekt u. illusionistische Techniken verzichtete, war nur durch dauernden Perspektivenwechsel u. eine äußerste Genauigkeit erreichbar. Deshalb legte der ausgebildete Germanist J. so großen Wert auf die Feststellung, nicht Gesine Cresspahl schreibe in der Romantetralogie Jahrestage (Aug. 1967 bis Aug. 1968. Ffm. 1970–83) Tagebuch, sondern ein »Genosse Schriftsteller« verfasse es in ihrem Auftrag. In seinem Fall solle man statt von Erinnertem besser von Aufbewahrtem, Aufgehobenem sprechen. Die Überbelichtung der exakten techn. Beschreibungen, selbst wo Aufbau u. Abläufe bekannt sind (Organisation einer Post, Aufbau einer Gangschaltung, Vorteile einer Zielkamera, Funktionieren einer Signalanlage, Fälschung eines Personaldokuments) wurde als iron. Kontrast zu den Ungewissheiten in den Aussagen aus dem persönl. Bereich gewertet, die mutmaßende Vagheit als Entgegensetzung zu einer Auffassung interpretiert, die in jedem Menschen eine »restlos deutbare u. daher stets auswechselbare Größe« sieht. 1959–1974 lebte J. in West-Berlin, allerdings mit Unterbrechungen. 1962 hielt er sich als Stipendiat der Villa Massimo in Rom
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auf; die USA bereiste er 1961, 1965, 1966–1968. Die zweijährige Arbeit als Schulbuchlektor in New York ermöglichte es ihm, Studien für ein Vorhaben zu treiben, das sich als J.s Hauptwerk erweisen sollte: das Simultanepos mit dem Untertitel Aus dem Leben der Gesine Cresspahl. J. nutzte in den Jahrestagen seine bereits in früheren Werken vorgestellten Figuren für die Darstellung von Umbrüchen u. Neubewertungen von histor. Tragweite in Gneez, Jerichow u. Rande, fiktiven Orten im Klützer Winkel im nordwestl. Mecklenburg. Gesine Cresspahl lebt mit ihrer u. Jakob Abs’ Tochter Marie in New York, sie pflegt nachbarschaftl. Umgang mit jüd. Emigranten, bereitet sich auf eine Dienstreise in die CˇSSR für den 20.8.1968 vor u. unterrichtet ihre Tochter über mecklenburgische Verhältnisse. Zugleich ist sie, die tags an die Bürostunden in der Bank gebunden ist, durch Lektüre der »New York Times« mit dem Weltgeschehen – dem Vietnamkrieg, der Ermordung Robert Kennedys u. Martin Luther Kings, der Entwicklung in der CˇSSR – verbunden. J. ist vielfach geehrt worden: Lesung in der Gruppe 47 Nov. 1960 in Aschaffenburg; Fontane-Preis 1960, Prix Formentor 1962, Knight of Mark Twain 1967, Georg BüchnerPreis (1971), Raabe-Preis (1975), ThomasMann-Preis (1979), Literaturpreis der Stadt Köln 1983; Mitgl. der Westberliner Akademie der Künste 1969, der Akademie für Sprache und Dichtung Darmstadt 1977 (Austritt 1979). Er wurde von dem Schriftsteller Hermann Kesten u. dem Politiker Heinrich von Brentano angefeindet, als er zu bedenken gab, die DDR-Regierung habe mit dem Mauerbau »nicht die Absicht gehabt, unmoralisch zu handeln«, vielmehr befand sie sich »in der Notwehr«. »Ich meine nicht, daß die Aufgabe der Literatur wäre, die Geschichte mit Vorwürfen zu bedenken. [...] Es trifft zweifellos zu, daß ein Mensch, der in beiden Teilen Deutschlands zu Hause ist oder Kenntnisse hat, vor eine Wahl gestellt ist. Es ist aber genauso richtig, daß die westdeutsche Wirklichkeit im Vergleich zur ostdeutschen Wirklichkeit keine rechte Alternative darstellt, keine nationale. Eine vernünftige Entscheidung ist also nicht möglich.« Damit wies
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J., wie in Aufsätzen des Bands Berliner Sachen (Ffm. 1975) auch, auf den Zusammenhang von polit. Lage u. Poetologie hin. J. war, verfolgt man seine Interviews, den immergleichen Missverständnissen ausgesetzt. Der Etikettierungen überdrüssig, wollte er als Erzähler Geltung erlangen; ein Roman sei nichts als die Geschichte einer Person. Zunehmend bestand er darauf, sein Werk nicht auf Signalworte hin eingrenzen zu lassen. Geschichten dürften nicht auf den Zwischenfall reduziert werden. Und in der Tat wird anderes sichtbar, hat man das Thema dt.-dt. Fremdwerdens, das Vorgehen, nach dem die, wie J. sagte, Personen gleichberechtigt mit dem Autor reden, die Form des weitgreifenden fiktiven Tagebuchs u. den Schauplatz Mecklenburg erst einmal zur Kenntnis genommen. Indem J. eine dt. Region mit ihren sprachl., histor., ethn. (Reuters Läuschen u. Wossidlos Spruchgut) u. landschaftl. Eigenheiten einer krit. Inventur unterzog, thematisierte er den Provinzialismus u. machte ihn mit moralischem Rigorismus zu einem Gegenstand weltliterar. Bedeutung. Wollte man Entfremdung als allgemeinsten motivischen Nenner spätbürgerl. Literatur im 20. Jh. ansehen, so sind die dem Autor nahestehenden Personen zwar aus vertrauten Verhältnissen herausgerissen u. in ihrer vollen Entfaltung behindert, aber in gewissem Umfang sind sie frei von Identitätsverlust. Hieß es in den Mutmaßungen forsch: »Jedem sein eigener Blutkreislauf«, so nennt J. selbst in seiner letzten vollendeten Arbeit, Erinnerung (in: Werner Düttmann: Uwe Johnson zum Gedenken. Bln. 1985), noch ideal, was Karsch schon in Achim T. suchte: Der Architekt D. »war keinem ähnlich als sich selbst«. Ein anderes Kernmotiv ist das Thema aufeinander bezogener Leben, antithetisch zu Frischs Androgynen-Mythos akzentuiert: »[...] so leben miteinander, wie es aber nicht mehr möglich war«. Insofern sind alle Arbeiten immer auch Liebesgeschichten; »die gekränkte, die getäuschte, die verhinderte Liebschaft« bilde den jeweiligen Anlass, heißt es in Vorschläge zur Prüfung eines Romans (in: Romantheorie. Hg. Eberhard Lämmert. Köln 1975). Weiterhin zieht sich die Befreiung von
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Autoritäten, ein Streben nach Mündigkeit durch das Werk, u. Kurt Batt sieht in der Frage »Wohin soll ich denn gehen? ein übergeordnetes Thema« J.s. 1974 ließ sich J. auf der Themse-Insel Sheppey nieder, sicher auch eine Konsequenz aus seiner frühen Faszination für die engl. Sprache u. Literatur, der Versuch, eine neue Heimat zu finden, die sich auch in einigen Erzählungen niedergeschlagen hat (Insel-Geschichten. Hg. Eberhard Fahlke. Ffm. 1995). Die Wahl des Wohnsitzes zeigt J. aber auch als Menschen, den es immer weiter von Deutschland fort trieb, zu neutraleren Orten, von denen aus die Probleme der Zweistaatlichkeit einen geringeren Stellenwert erhielten: einen, mit Blick auf die Weltlage, angemesseneren. Abschiede, Abreise, Heimatverlust u. Flüchtlingsdasein, Fremdwerden können einen Punkt erreichen, von dem aus nur die Annäherung an den Tod übrigbleibt. Der Topos des Abscheidens gehört ins Zentrum dieses Werks: J. sah Literatur als den Ort, wo der Toten gedacht werden kann, Gesines Position der Jahrestage als die eines Menschen, der seiner Tochter erzählt »für wenn ich tot bin«. Begleitumstände des Sterbens u. der schriftstellerischen Existenz erörterte J. am Beispiel der verstorbenen Freundin Ingeborg Bachmann in der literar. Recherche Eine Reise nach Klagenfurt (Ffm. 1974) u. in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen (1979. Gedr. u. d. T. Begleitumstände. Ffm. 1980). Man hat J.s Genauigkeitsfanatismus als zeitgemäßen Ausdruck für die Wahrheitssuche angesehen: Er insistierte auf der Gültigkeit der Worte (Skizze eines Verunglückten. Ffm. 1981). Eine folgenreiche, wohl auch dem Alkoholabusus geschuldete Irritation, in der Privates u. Öffentliches zusammenfielen, löste eine »Schreibhemmung« aus. Nur mühsam vollendete J. den letzten Band seiner Tetralogie. Er kündigte noch eine »Familiengeschichte anderer Art, eine Art tabellarischen Lebenslauf der gesamten Familie Cresspahl seit 1888« mit dem Titel Heute Neunzig Jahr an; das Fragment erschien postum (Hg. Norbert Mecklenburg. Ffm. 1996). J. starb sehr einsam in seinem Haus; die Nachricht
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von seinem Tod verbreitete sich erst am 14.3.1984. Norbert Mecklenburg stellte nach Tonbandaufnahmen die nachgelassenen Erzählungen Versuch einen Vater zu finden. Marthas Ferien (Ffm. 1988) zusammen; nach einem Band mit gesammelten Interviews (»ich überlege mir die Geschichte ...« Hg. E. Fahlke. Ffm. 1988) erschienen eine Reihe von Briefbänden, die J. als partiell unerwartet heiteren Korrespondenten zeigen; die umfangreichsten Briefwechsel sind die mit seinem Verleger Siegfried Unseld (Hg. E. Fahlke u. Raimund Fellinger. Ffm. 1999) u. mit Max Frisch (Hg. E. Fahlke. Ffm. 1999). Weitere Werke: Der 5. Kanal. [Kritiken zum Fernsehen der DDR für den ›Tagesspiegel‹, 1964.] Hg. Raimund Fellinger. Ffm. 1987. – Kleines Adreßbuch für Jerichow u. New York. Ein Register (zus. mit Rolf Michaelis). Ffm. 1983. – Porträts u. Erinnerungen. Hg. Eberhard Fahlke. Ffm. 1988. – ›Entwöhnung von einem Arbeitsplatz‹. Klausuren u. Frühe Prosatexte. Hg. Bernd Neumann. Ffm. 1992. – Übersetzung: John Knowles: In diesem Land. Aus dem Amerikan. Ffm. 1963. – Herausgeber: Me-ti. Buch der Wendungen. Aus dem Nachl. Bert Brechts. Ffm. 1965. – Das neue Fenster. Lesebuch für Harcourt, Brace and World. New York 1967. – Max Frisch: Stich-Worte. Ffm. 1975. – Philipp O. Runge: Von dem Fischer un syner Fru. Ffm. 1976 (M.). – Margret Boveri: Verzweigungen. Mchn./ Zürich 1977 (Autobiogr.). – Briefe: Hannah Arendt/ U. J. Der Briefw. 1967–1975. Hg. E. Fahlke u. Thomas Wild. Ffm. 2004. – ›Leaving Leipsic next week‹. U. J. Briefe an Jochen Ziem. Hg. u. eingel. v. Erdmut Wizisla. Bln. 2002. – U. J./Fritz J. Raddatz: ›Liebes Fritzchen‹, ›Lieber Groß-Uwe‹. Der Briefw. Hg. E. Wizisla. Ffm. 2006. – U. J./Walter Kempowski: ›Kaum beweisbare Ähnlichkeiten‹. Der Briefw. Hg. E. Fahlke u. Gesine Treptow. Bln. 2006. – U. J., Anna Grass u. Günter Grass. Der Briefw. Hg. Arno Barnert. Ffm. 2007. Literatur: Bibliografie: N. Riedel: U.-J.-Bibliogr. 1959–1998. Stgt./Weimar 1999. – Weitere Titel: Anneliese Große: Zur Struktur des Menschenbildes in der westdt. ep. Lit. der Gegenwart. Bln. 1967, S. 285–293. – Reinhard Baumgart (Hg.): Über U. J. Ffm. 1970. – Peter Nöldechen: Kleines Bilderbuch v. Jerichow u. Umgebung. Ffm. 1970. – Heinz Ludwig Arnold: U. J. Mchn. 1980. Neufassung 2001 (Text + Kritik. H. 65/66). – Norbert Mecklenburg: Erzählte Provinz. Regionalismus u. Moderne im Roman. Königst./Taunus 1982. – Walter Schmitz: U. J. Mchn. 1984. – Rainer Gerlach u.
180 Matthias Richter (Hg.): U. J. Ffm. 1984 (mit Bibliogr.). – J.s Jahrestage. Hg. Michael Bengel. Ffm. 1985. – Jürg Burkhard: U. J.s Bild der DDR-Gesellsch. Bonn 1988. – Sigrun Storz-Sahl: Erinnerung u. Erfahrung. Geschichtsphilosophie [...] in U. J.s Jahrestagen. Ffm. 1988. – Internat. U.-J.-Forum. Beiträge zum Werkverständnis u. Materialien zur Rezeptionsgesch. Hg. Carsten Gansel u. Nicolai Riedel. Bern/Ffm. 1990 ff. – Raimund Fellinger (Hg.): Über U. J. Ffm. 1992. – Roland Berbig u. Erdmut Wizisla (Hg.): ›Wo ich her bin ...‹ U. J. in der D.D.R. Bln. 1993. – J.-Jahrbuch. Hg. Ulrich Fries u. Holger Helbig. Gött. 1994 ff. – Eberhard Fahlke: ›Die Katze Erinnerung‹. U. J. Eine Chronik in Briefen u. Bildern. Ffm. 1994. – Sven Hanuschek: U. J. Bln. 1994. – Bernd Neumann: U. J. Hbg. 1994. – Holger Helbig: Beschreibung einer Beschreibung. Untersuchungen zu U. J.s Roman ›Das dritte Buch über Achim‹. Gött. 1996. – Jürgen Grambow: U. J. Reinb. 1997. – H. Helbig, Klaus Kokol, Irmgard Müller u. a. (Hg.): J.s ›Jahrestage‹. Der Komm. Gött. 1999. – Michael Hofmann: U. J. Stgt. 2001. – R. Berbig u. a. (Hg.): U. J. Befreundungen. Gespräche, Dokumente, Ess.s. Bln./Zepernick 2002. – Katja Leuchtenberger: ›Wer erzählt, muß an alles denken‹. Erzählstrukturen u. Strategien der Leserlenkung in den frühen Romanen U. J.s. Gött. 2003. – Manfred Windfuhr: Erinnerung u. Avantgarde. Der Erzähler U. J. Heidelb. 2003. – Uwe Neumann (Hg.): J.-Jahre. Ffm. 2004. – Ulrich Fries u. a. (Hg.): So noch nicht gezeigt. U. J. zum Gedenken. Gött. 2006. Jürgen Grambow † / Sven Hanuschek
Joho, Wolfgang, * 6.3.1908 Karlsruhe, † 13.2.1991 Kleinmachnow. – Erzähler u. Literaturkritiker. J. studierte Medizin, Geschichte u. Staatswissenschaften u. promovierte in Heidelberg mit einer Arbeit über Wilhelm Weitling. 1929 trat er in die KPD ein. 1931–1937 arbeitete er als Journalist. 1937 wurde er wegen »Vorbereitung zum Hochverrat« zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt; der Haft folgten Berufsverbot u. schließlich der Kriegseinsatz in einer Strafdivision. 1947–1954 war J. Redakteur der kulturpolit. Wochenzeitschrift des Kulturbunds der DDR, »Sonntag«, 1960–1966 Chefredakteur der »Neuen Deutschen Literatur«. In der DDR erzielten seine Romane u. Erzählungen viele Auflagen, von der Literaturwissenschaft in Ost u. West wurden sie jedoch
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wenig beachtet. J. widmete sein umfangreiches Werk v. a. der Beschreibung bürgerl. Intellektueller u. Humanisten, die sich zu Antifaschisten u. Kommunisten entwickeln – etwa in der Familiengeschichte Der Weg aus der Einsamkeit (Bln./DDR 1953), die der Roman Die Wendemarke (ebd. 1957) weiterführte. Erst die polit. Entscheidung eröffnet J.s Protagonisten die Möglichkeit zu individueller Entfaltung. Sie bezahlen umgekehrt mit der Zerstörung ihrer Persönlichkeit, wenn sie sich, wie der Schriftsteller Franz Borg im Roman Es gibt kein Erbarmen (Bln./DDR 1962), vom Sozialismus abwenden. In der Erzählung Das Klassentreffen (Bln./Weimar 1968) offenbaren sich die scheinbar erfolgreichen ehem. Mitschüler aus der BR Deutschland ihrem Schulkameraden aus der DDR als Individuen, deren Lebensprogramm gescheitert ist, was sie durch Selbstbetrug, Selbstmitleid oder Zynismus zu überspielen suchen. Zwar setzte sich J. deutlich von einer propagandistischen Verurteilung bürgerl. Charaktere ab, doch an deren Stelle trat nicht, wie J. beabsichtigte, eine unvoreingenommene Darstellung individueller Haltungen, sondern deren psychologisierende Vereinnahmung als negative Zeugen für die Güte der DDR als wirkl. Menschengemeinschaft. Weitere Werke: Die Hirtenflöte. Bln./SBZ 1947 (E.). – Aller Gefangenschaft Ende. Lpz. 1949 (E.). – Die Verwandlungen des Doktor Brad. Bln./DDR 1949. Neuaufl. Bln./Weimar 1988 (E.). – Jeanne Peyrouton. Bln/DDR 1949. 151988 (R.). – Ein Dutzend u. zwei. Ebd. 1950 (R.). – Traum v. der Gerechtigkeit. Die Lebensgesch. des Handwerksgesellen, Rebellen u. Propheten Wilhelm Weitling. Ebd. 1956 (Biogr. E.). – Die Nacht der Erinnerung. Ebd. 1957 (E). – Der Aufstand der Träumer. Bln./ Weimar 1966 (Histor. R.). – Die Kastanie. Ebd. 1970 (R.). – Abschied v. Parler. Ebd. 1972 (E.). – Der Sohn. Ebd. 1974 (E.). Andrea Jäger
Johst, Hanns, * 8.7.1890 Seehausen bei Oschatz/Sachsen, † 23.11.1978 Ruhpolding/Obb. – Dramatiker, Erzähler, politischer Publizist; Literaturfunktionär. Der Sohn eines Volksschullehrers trat nach dem Besuch des Gymnasiums in Leipzig 1907 mit der Absicht einer späteren Missionarstätigkeit in die Bodelschwingh’schen Anstalten
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Bethel ein. Danach studierte er in Leipzig zunächst Medizin, anschließend in München, Wien u. Berlin Philologie u. Kunstwissenschaft. Nach ersten Kontakten mit dem Theater als Schauspieler meldete sich J. 1914 als Kriegsfreiwilliger. Ab 1918 lebte er als freier Schriftsteller in Oberallmannshausen am Starnberger See. Seit Anfang der 1920er Jahre orientierte sich J., der unter dem Eindruck der Kriegserfahrung zunächst pazifistische Tendenzen vertrat, politisch zunehmend nach rechts u. trat schließlich 1932 in die NSDAP ein. Im »Dritten Reich« avancierte J. zum hochgeehrten u. einflussreichen Staatsdichter. Er wurde 1933 für kurze Zeit Dramaturg am Schauspielhaus Berlin, später Präsident der Reichsschrifttumskammer u. der Deutschen Akademie der Dichtung (1935–1945) sowie der 1934 gegründeten »Union Nationaler Schriftsteller«. In diesen Funktionen war er wesentlich am Prozess der diktatorischen »Gleichschaltung« des literar. Lebens in Deutschland beteiligt. J. verstummte als Dramatiker nach 1933 u. beschränkte sich auf die Veröffentlichung propagandistischer Aufsätze, Reden u. Reiseberichte. Nach 1945 wurde er zunächst interniert u. 1949 mit zehnjähriger Berufsbeschränkung belegt. 1955 veröffentlichte er, von der Kritik weitgehend unbeachtet, sein letztes Werk. J., der als Dramatiker bekannt wurde, früh jedoch auch Lyrik schrieb, entwickelte sich von einem durch den Expressionismus beeinflussten Autor zum Hauptvertreter der nationalsozialistischen Literaturauffassung. J.s frühe Dramen spiegeln in wesentl. Punkten das Lebensgefühl der »expressionistischen Generation«. Er greift in ihnen die zentralen Themen der literar. Avantgarde der Weltkriegsperiode auf. Das erste Drama Die Stunde der Sterbenden (Lpz. 1914) zeichnet den Krieg als Menschheitstragödie, als ein »Martyrium«, das durch den Aufruf zu allg. Verbrüderung überwunden werden soll. Das »ekstatische Szenarium« Der junge Mensch (Mchn. 1916) zeigt in charakteristischer loser Reihung den Weg des zunächst gegen die Instanzen der Väterwelt rebellierenden, entindividualisierten Helden hin zur Einsicht in den Sinn eines solidar. Tätigwerdens in der
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Welt. Ebenso wie im Roman Der Anfang (Mchn. 1917) verband J. scharfe Kritik etwa am autoritären Schulwesen mit harmonistisch-christl. Tendenzen. Schon 1920 erkannte Herbert Ihering in J.s Werk eine nur oberflächl. Aufnahme expressionistischer Stilmittel, deren J. sich etwa in dem Drama Der Einsame (Mchn. 1917), das den Untergang Grabbes als notwendiges Schicksal des genialen Außenseiters emphatisch überhöht, bediente. Gegenläufige Entwürfe waren etwa die Bauernkomödie Stroh (Lpz. 1916), die, ausgehend vom traditionellen Motiv des betrogenen Betrügers, ihre Wirkung aus satir. Zuspitzung u. drast. Realistik der Situationsbeschreibung gewinnt, Tendenzen, die J.s Komödien u. Satiren der 1920er Jahre (Wechsler und Händler. Mchn. 1923. Die fröhliche Stadt. Mchn. 1925 Marmelade. Mchn. 1926) weiterführten. Bereits 1915 hatte J. seine Grundauffassung einer »organischen« Verknüpfung des Individuums mit einem mythisierten »Volksganzen« formuliert. Unter dem Eindruck der polit. Kämpfe nach dem Ersten Weltkrieg verstärkte sie sich in Richtung auf einen völk. Nationalismus u. führte zu einer dramat. Konzeption, die sich immer deutlicher von den Positionen der literar. Avantgarde entfernte. In seinem Aufsatz Ethos der Begrenzung (in: Wissen und Gewissen. Essen 1924) propagierte J. die starke Führerpersönlichkeit, die imstande sei, den »Geist« mit der als »roh glühendes Material« verstandenen »Masse« zu verbinden. Mit der Konzeption eines »heroisch-kultischen Theaters« forderte er in Absetzung von der aufklärerisch-klass. Tradition die Wiederbelebung eines »Mythos«, der sich in der affektiven Teilhabe der Zuschauer an der Bühnenaktion realisieren sollte. J. wurde so zum Begründer einer nationalsozialistischen Theaterauffassung, die in den »Thingspielen« u. Masseninszenierungen des »Dritten Reichs« zum Durchbruch gelangte. J.s Dramenproduktion während der Weimarer Republik zeigt diese Tendenz zunehmend. Im Luther-Drama Propheten (Mchn. 1923) findet sich eine mystisch-heroische Überhöhung des »Deutschtums« als Entgegensetzung von »deutschem und römischem
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Glauben« u. die Vision des großen Einzelnen als Retter aus gesellschaftl. Chaos. Am Beispiel der amerikan. Revolution gestaltete J. in Thomas Paine (Mchn. 1927) die Steigerung des Vaterlandsbegriffs u. die Propagierung einer präfaschistischen Kameradschaftsideologie. Paines faktisches Scheitern erscheint als schicksalhaft in den nationalen Entwicklungsgang eingelagert. Zum Prototyp des nationalsozialistischen Dramas wurde J.s Schlageter (geschrieben 1929–1932. Mchn. 1933), von den Nationalsozialisten als »stärkste dichterische Gestaltung der Gesinnung und Haltung unseres neuen Deutschland« gefeiert u. 1933 in über 1000 dt. Städten aufgeführt. In der Gestalt des 1923 wegen der Beteiligung an Sprengstoffattentaten gegen die Besatzungsmacht hingerichteten Freikorpsmannes Schlageter heroisierte J. einen zum Märtyrer stilisierten Vorkämpfer der NS-Bewegung, dessen Tod zum »Blutopfer« für das dt. Volk kultisch überhöht wurde. Schlageters pathet. Schlussaufruf »Deutschland!!! Erwache! Erflamme!!!« signalisiert J.s Bestreben, seine Dramatik ganz in den Dienst der NS-Agitation zu stellen. Sein Weg zum zentralen Agenten der NS-Literatur lässt sich auch an der lyr. u. – weniger auffällig – epischen Produktion beobachten. Weitere Werke: Wegwärts. Mchn. 1915 (L.). – Der Ausländer. Lpz. 1916 (Kom.). – Rolandsruf. Mchn. 1919 (L.). – Der Krieg. Mchn. 1920 (D.). – Mutter. Mchn. 1921 (L.). – Kreuzweg. Mchn. 1922 (R.). – Lieder der Sehnsucht. Mchn. 1924 (L.). – Wissen u. Gewissen. Essen 1924 (Ess.). – Der Herr Monsieur. Nach Holbergs ›Jean de France‹. Mchn. 1926 (Kom.). – Briefe u. Gedichte v. einer Reise durch Italien u. die Wüste. Chemnitz 1926. – So gehen sie hin. Mchn. 1930 (R.). – Ave Eva. Mchn. 1932 (E.). – Mutter ohne Tod. Die Begegnung. Mchn. 1933 (E.). – Standpunkt u. Fortschritt. Oldenb. 1933 (Ess.). – Maske u. Gesicht. Reise eines Nationalsozialisten v. Dtschld. nach Dtschld. Mchn. 1935. – Ruf des Reiches – Echo des Volkes. Eine Ostfahrt. Mchn. 1940. – Fritz Todt. Mchn. 1943 (Requiem). – Gesegnete Vergänglichkeit. Ffm. 1955 (R.). Literatur: Siegfried Casper: H. J. Mchn. 1940. – Uwe-K. Ketelsen: Heroisches Theater. Untersuchungen zur Dramentheorie des Dritten Reichs. Bonn 1968. – Horst Denkler: H. J. In: Wolfgang Rothe (Hg.): Expressionismus als Lit. Bern/Mchn.
183 1969, S. 547–559. – Helmut F. Pfanner: H. J. Vom Expressionismus zum NS. Den Haag 1970. – Günther Rühle: H. J. ›Schlageter‹. In: Zeit u. Theater 1933–45. Bd. 6, Ffm. 1974, S. 729–741 (Komm.). – Hans-Jörg Knobloch: Das Ende des Expressionismus. Von der Trag. zur Kom. Ffm. 1975. – Franz Norbert Mennemeier: Vom Expressionismus zum Faschismus. (H. J.). In: Modernes Dt. Drama. Kritiken u. Charakteristiken. Bd. 2. Mchn. 1975, S. 101–109. – Günter Hartung: Lit. u. Ästhetik des dt. Faschismus. Drei Studien. Köln 1983. – Walter Pache: H. J. Karriere eines dt. Dichters. Mchn. 1990. – Helmut F. Pfanner: H. J. In: DLB, Bd. 117, 1992, S. 246–252. – Lex. ns. Dichter. – Rolf Düsterberg: ›Gesegnete Vergänglichkeit‹. H. J.s literar. ›Vergangenheitsbewältigung‹. In: ZfDPh 120 (2001), H. 4, S. 590–611. – Stefan Neuhaus: ›Hier ist Vernichtung höhere Instanz!‹ Chauvinismus als Religionsersatz bei H. J. In: Ders.: Lit. u. nationale Einheit in Dtschld. Tüb. u. a. 2002, S. 200–206. – Anna Galecka: H. J. u. seine Vorstellung v. der ›Gemeinschaft‹ im Sinne seines ›Ethos der Begrenzung‹. In: Studia niemcoznawcze (2003), H. 26, S. 409–425. – R. Düsterberg: H. J. ›Der Barde der SS‹. Karrieren eines dt. Dichters. Paderb. u. a. 2004. – Ders.: ›Was ist ein Held? – ein vielfaches vom Mörder!!‹ Zur GrabbeRezeption bei H. J. In: ›... daß besagter Dietrich Grabbe ... von allen unseren dramat. Dichtern ... die meiste Verwandtschaft mit Shakespeare hat.‹ Bielef. 2005, S. [50]-61. – Gregor Streim: Erfahrung der anderen Moderne. Dt. Reiseber.e in den 30er Jahren. (H. J., Heinrich Hauser, Lothar-Günther Buchheim, Egon Vietta). In: Walter Fähnders u. a. (Hg.): Berlin, Paris, Moskau. Bielef. 2005, S. 135–152. Johannes G. Pankau / Red.
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kia schrieb. Nach einem Studium der Tiefenpsychologie in London u. Zürich kehrte J. 1950 anlässlich einer geplanten Verfilmung ihres Jugendbuchs Die Perlmutterfarbe (Bln. 1948. Ffm. 2004) nach Ost-Berlin zurück. Nach ihrer nur zwei Monate später erfolgten Ausweisung arbeitete sie bis 1965 in WestBerlin als Psychotherapeutin sowie journalistisch, u. a. für den Rundfunkrat des SFB. Seit 1965 lebte J. in Jerusalem u. setzte dort ihre therapeutische Tätigkeit fort. Weitere Werke: Das süße Abenteuer. Prag 1937. Wien 1946 (M.). – Die wirkl. Wunder des Basilius Knox. Prag 1938. Zürich/Wien 1946. Ffm. 1997. – Die verzeichneten Tiere. Bln. 1950. – Essenzen. Ffm. 1993. Erw. Ausg. Ffm. 1997 (Autobiogr.). – Die Reise nach London. Wiederbegegnungen. Ffm. 1999 (Autobiogr.). Literatur: LöE. – Rudolf Pesch: A. M. J. u. der ›Jossel Rackower‹ v. Zvi Kolitz. Trier 2005. – Elke Liebs: Wiederbegegnung oder die Farbe der Erinnerung. A. M. J. ›Die Perlmutterfarbe‹. In: Petra Josting u. Walter Fähnders (Hg.): Laboratorium Vielseitigkeit. Bielef. 2005, S. 468–482. – Nikola Herweg: Funktionszuschreibungen u. Funktionswandel bei Kinder- u. Jugendlit. am Beispiel des Kinderromans ›Die Perlmutterfarbe‹ v. A. M. J. In: Marion Gymnich u. Ansgar Nünning (Hg.): Funktionen v. Lit. Trier 2005, S. 201–213. – Dies.: Sechs Leben zwischen Wien u. Jerusalem. Zum Leben u. Werk der Schriftstellerin A. M. J. In: Exil 27 (2007), H. 1, S. 79–89. Mechthild Hellmig / Red.
Jokostra, Peter, eigentl.: Heinrich Knolle, * 5.5.1912 Dresden, † 21.1.2007 Berlin. – Lyriker, Romancier, Autobiograf, LiteraJokl, Anna Maria, * 23.1.1911 Wien, turkritiker. † 21.10.2001 Jerusalem. – Jugendbuchautorin, Journalistin, Psychotherapeutin. J., wend. Herkunft, studierte KunstgeNach dem Besuch der Realschule in Wien siedelte J., Tochter eines Kaufmanns u. einer Lehrerin, 1927 nach Berlin über u. besuchte 1929–1932 die Piscator-Schule. Gleichzeitig arbeitete sie für die »Vossische Zeitung«, den Deutschlandsender u. als Dramaturgin für die Ufa. 1933 musste J. nach Prag emigrieren. Dort schrieb sie für verschiedene Zeitungen u. war ab 1934 Mitgl. des von Franz Carl Weiskopf u. Wieland Herzfelde gegründeten Bert-Brecht-Clubs. 1939 emigrierte sie über Polen nach London, wo sie Stücke für die tschech. Theatergruppe Young Czechoslowa-
schichte, Germanistik u. Philosophie bei Horkheimer, Tillich u. Buber in Frankfurt/ M., München u. Berlin. 1933 zog er als Erbhofbauer nach Mecklenburg, bis die Nationalsozialisten ihn Ende 1941 enteigneten u. zur Wehrmacht einzogen. Nach Kriegsende trat J. aus Protest gegen den Faschismus in die KPD ein u. ging 1946 in die SBZ. Dort war er Lehrer, Kreisschulrat u. Verlagslektor. 1958 gelang ihm die Flucht in die BR Deutschland, wo er nach einer Tätigkeit als Lektor u. Redakteur in München (1960–1962)
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als freier Schriftsteller bei Linz am Rhein lebte. Vor dem Hintergrund der Landschaften Masurens u. Südfrankreichs schildert J. in autobiogr. Romanen Naturbeobachtungen u. Begegnungen. In einem Geflecht aus psycholog., traumdeuterischen u. sozialkrit. Reflexionen zeigt sich auch J.s Belesenheit. Seine bedeutendste schriftstellerische Arbeit ist die Beschreibung seiner Begegnung mit Bobrowski (bobrowski und andere. die chronik des peter jokostra. Wien 1967). In dieser Schilderung des literar. Dialogs mit dem Dichter von 1957 bis zu dessen Tod sind v. a. die Zitate aus dem persönl. Briefwechsel mit Bobrowski beeindruckend. Weitere Werke: Mag. Straße. Darmst. 1960 (L.). – Hinab zu den Sternen. Neuwied/Bln. 1961 (L.). – Die Zeit hat keine Ufer. Südfrz. Tgb. Mchn./Esslingen 1963. – Die gewendete Haut. Neue Gedichte. Hbg. 1967. – Als die Tuilerien brannten. Der Aufstand der Pariser Kommune 1871. Düsseld. 1970. – Das große Gelächter. Stgt. 1974 (E.). – Feuerzonen. Mchn. 1976 (L.). – Heimweh nach Masuren. Jugendjahre in Ostpreußen. Mchn./Esslingen 1982. Ffm. 1992. – Damals in Mecklenburg. Mchn. u. a. 1990 (R.). – Hommage. Andernach 2002. Literatur: Guntram Vesper: Berlins düsterster Bahnhof u. ein zum Tode verurteilter Platz. In: NDL 39 (1991), H. 10, S. 139–144. Maria Behre / Red.
Jonas, Anna, * 8.6.1944 Essen. – Übersetzerin, Verfasserin von Lyrik u. Prosaerzählungen. J., Tochter eines DGB-Funktionärs, verlor früh beide Eltern. Ab 1964 studierte sie zunächst Theaterwissenschaften u. Germanistik, später Politik. Ihre Biografie wie auch ihr Schreiben sind von polit. Engagement geprägt: Sie veröffentlichte erste Gedichte, engagierte sich für die SPD, war Assistentin im Deutschen Bundestag, promovierte mit einer Arbeit über die Industrialisierung in Spanien, schrieb gesellschaftspolit. Essays, war vorübergehend im Vorstand des Deutschen Schriftstellerverbands u. arbeitete für Amnesty International. J. wurde mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet. Ihre wichtigste Veröffentlichung ist der Gedichtband Nichts mehr an seinem Platz
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(Mchn. 1981). Identitäts- u. Beziehungsprobleme, Traum u. Wirklichkeit sind Themen, die J. oft lapidar assoziativ, manchmal als Versuchsanordnung logischer Gedanken- u. witziger Sprachspiele formuliert. Sie zitiert alltägl. Redensarten u. altbekannte literar. Überlieferungen wie Walthers von der Vogelweide Ich saz ûf eime steine, Goethes Über allen Gipfeln ist Ruh u. Eichendorffs Mondnacht. Das Frettchen (Mchn. 1985) ist eine polit. Biografie, für die gelten kann, was J. auch über sich sagt, dass sie »von der Politik zur Sprache und von der Sprache zur Dichtung gekommen« sei. Weitere Werke: Sophie u. a. Pausen. Bln. 1984 (L.). – Berlin u. zugenäht. Mchn. 1987 (Ess.). Literatur: Sibylle Cramer: A. J. In: KLG. – Petra Ernst: A. J. In: LGL. Reinhard Knodt / Red.
Jonas, Hans, * 10.5.1903 Mönchengladbach, † 5.2.1993 New Rochelle (New York, USA). – Philosoph u. Religionswissenschaftler. Der Sohn eines Textilfabrikanten beschäftigte sich schon als Schüler mit Philosophie (Kant) u. Judaismus (v. a. mit den Propheten). Früh wandte er sich gegen den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, in dem sein Vater Ortsvorsitzender war. Als Student schloss er sich einer Zionistenorganisation an. Nach dem Abitur in Mönchengladbach 1921 studierte J. in Freiburg i. Br. (bei Husserl), Berlin (u. a. bei Spranger, Wilamowitz, Eduard Meyer u. Werner Jäger) u. Marburg (bei Heidegger u. Bultmann), hörte in Berlin aber auch an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums. In Marburg begann eine intensive Freundschaft mit Hannah Arendt. 1928 promovierte er bei Heidegger u. Bultmann über den Begriff der Gnosis. 1930 erschien mit Augustin und das paulinische Freiheitsproblem (Gött. 2., neu bearb. u. erw. Aufl. Ebd. 1965) J.’ erstes Buch. 1933 emigrierte er nach Großbritannien u. ging 1935 nach Palästina. Er war 1938/39 Dozent an der hebräischen Universität in Jerusalem, schloss sich dann der brit. Nahostarmee an u. betrat 1945 mit den alliierten Truppen wieder dt. Boden. Seine Mutter war 1942 in Auschwitz ermordet worden.
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1946–1948 lehrte er in Jerusalem, nach der Teilnahme am Palästinakrieg 1949/50 an der McGill University, 1950–1954 an der Carleton University u. 1955–1976 an der New School for Social Research in New York. J. erhielt zahlreiche Auszeichnungen (1987 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels), darunter Ehrendoktorate. Drei eng verbundene Hauptkomplexe lassen sich in J.’ Werk ausmachen: Religionsphilosophie; Naturphilosophie u. darauf basierende Ethik der Verantwortung; Bioethik u. Ethik der Technik. Durch die »existenzialistische« Lesart der Gnosis u. die Hermeneutik der Heideggerschen »Daseinsanalyse« gelang J. eine Einordnung der Gnosis in den Gang des spätantiken Denkens u. der Freiheitsfrage nach Augustinus (Gnosis und spätantiker Geist. Tl. 1 mit Vorw. von Rudolf Bultmann. Gött. 1934. 4 1988. Tl. 2/1, ebd. 1954. 21966. Tl. 2/1–2, ebd. 1993). Das J.sche Seinsverständnis des Ausgesetztseins u. der Gefährdung alles Seienden, von seiner neuen Interpretation der Gnosis herrührend, wurde zur Basis einer gegen Empirismus u. Szientismus gerichteten Philosophie des Lebendigen (The Phenomenon of Life. Toward a Philosophical Biology. New York 1963. Chicago 21982. Dt. u. d. T. Organismus und Freiheit. Ansätze zu einer philosophischen Biologie. Gött 1973. U. d. T. Das Prinzip Leben. Ansätze [...]. Ffm./Lpz. 1994). Anliegen ist der sinnvolle Zusammenschluss von organischer Welt u. menschl. Selbsterfahrung. Der Natur eigne eine sich selbst bejahende Werthaftigkeit, die von der Wissenschaft bestritten werde, aber in ihrer Eigengesetzlichkeit als metaphys., ontolog., ökolog. u. eth. Richtmaß menschl. Handelns anerkannt werden müsse. In seinem Hauptwerk, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation (Ffm. 1979), das durch seine Dringlichkeit u. seine Auseinandersetzung mit Bloch Aufsehen erregte, fragt J. nach der Verantwortungsfähigkeit des Menschen u. entwirft eine Zukunftsethik, bei der die Frage nach potentiellen Schädigungen der Natur bei allen polit. Entscheidungen absolute Priorität vor »positiven Utopien« genießen muss. J. kennzeichnet diese Verantwortung als nicht ge-
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genseitig, da der Natur unbedingte Achtung zustehe. Auch hier argumentiert er vor einem jüdisch-theolog. Hintergrund: Die Existenz der Menschheit ist unbedingt geboten, weil das Paradies im Diesseits verheißen ist, so dass ihr Ende das Scheitern des göttl. Heilsplans bedeuten würde. J. überführt diese Fragen in Gottesbegriff nach Auschwitz. Eine jüdische Stimme (Ffm. 1987) wieder in ein theolog. Format; sie provozieren neues Nachdenken über die Allmacht Gottes. J.’ Werk ist in mehreren Hinsichten offen: die Gnosis-Untersuchung blieb unvollendet; The Phenomenon of Life, ein wesentl. Teil des Werks, repräsentiere nur »Facetten einer noch unfertigen Philosophie des Organismus und des Lebens«. Selbst Das Prinzip Verantwortung bezeichnet J. als »Hilfsmittel« auf dem Weg zu einer systemat. Pflichtenlehre. Die späteren Arbeiten entwickeln weitreichende, spekulative Fragerichtungen zur Kosmogonie u. zum göttl. Heilsplan als Ganzem. Auch kürzere Arbeiten belegen, dass es J. nicht um eine fertige Philosophie, sondern um den immer wieder neu zu leistenden Prozess des Denkens geht. Dementsprechend kennzeichnet seine Untersuchungen zwar keine unverkennbare, durchgehaltene Terminologie oder Sprache, dafür aber ein wechselnder Gebrauch alttestamentar., gnost. wie existenzialistischer Redeweisen. »Altfränkisch« nennt J. selbst diese Sprache, die Emphase u. Pathos hinter ihrer analyt. Strenge nicht versteckt. Weitere Werke: The Gnostic Religion. The Message of the Alien God and the Beginnings of Christianity. Boston 1958. 2., erw. u. überarb. Aufl. Boston 1963. Dt. u. d. T.: Gnosis. Die Botschaft des fremden Gottes. Hg. u. mit einem Nachw. v. Christian Wiese. Ffm./Lpz. 1999. – Zwischen Nichts u. Ewigkeit. Drei Aufsätze zur Lehre vom Menschen. Gött. 1963. 21987. – Philosophical Essays. From Ancient Creed to Technological Man. Englewood Cliffs 1974. Neuaufl. Chicago/London 1980. – On Faith, Reason and Responsibility. San Francisco 1978. Neuaufl. Claremont 1981. – Macht oder Ohnmacht der Subjektivität? Das Leib-SeeleProblem im Vorfeld des Prinzips Verantwortung. Ffm. 1981. 21987. – Was für morgen lebenswichtig ist. Unentdeckte Zukunftswerte (zus. mit Dietmar Mieth). Freib. i. Br. u. a. 1983. 41988. – Reflexionen finsterer Zeit (zus. mit Fritz Stern). Hrsg. Otfried
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Hofius. Tüb. 1984. – Technik, Medizin u. Ethik. Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Ffm. 1985. – Wiss. als persönl. Erlebnis. Gött. 1987. – Materie, Geist u. Schöpfung. Kosmolog. Befund u. kosmogon. Vermutung. Ffm. 1988. – Erkenntnis u. Verantwortung. Hg. Ingo Hermann. Gött. 1991. – Philosophische Untersuchungen u. metaphys. Vermutungen. Ffm 1992. – Dem bösen Ende näher. Gespräche über das Verhältnis des Menschen zur Natur. Hg. Wolfgang Schneider. Ffm. 1993. – Philosophie. Rückschau u. Vorschau am Ende des Jahrhunderts. Ffm. 1993. – Gedanken über Gott. Drei Versuche. Ffm. 1994. – Mortality and Morality. A Search for the Good after Auschwitz. Ed. and with an introduction by Lawrence Vogel. Evanston, Ill. 1996. – Erinnerungen. Nach Gesprächen mit Rachel Salamander. Hg. u. mit einem Nachw. v. C. Wiese. Ffm. 2003. Literatur: Barbara Aland (Hg.): Gnosis. FS H. J. Gött. 1978. – Stuart F. Spicker (Hg.): Organism, Medicine and Metaphysics. Essays in Honor of H. J. Dordrecht/Boston 1978. – Joan P. Culianu: Gnosticismo e pensiero moderno. H. J. Rom 1985. – Matthias Rath: Intuition u. Modell. H. J.’ ›Prinzip Verantwortung‹ u. die Frage nach einer Ethik für das wiss. Zeitalter. Ffm. u. a. 1988. – Erich Müller: Der Begriff der Verantwortung bei H. J. Ffm. 1988. – Ethik für die Zukunft. Im Diskurs mit H. J. Hg. Dietrich Böhler in Verbindung mit Ingrid Hoppe. Mchn. 1994. – Bernd Wille: Ontologie u. Ethik bei H. J. Dettelbach 1996. – Jörg Schubert: Das ›Prinzip Verantwortung‹ als verfassungsstaatl. Rechtsprinzip. Baden-Baden 1998. – Richard Wolin: Heidegger’s children. Hannah Arendt, Karl Löwith, H. J., and Herbert Marcuse. Princeton 2001. – Christian Wiese: H. J. ›Zusammen Philosoph u. Jude‹. Ffm. 2003. – Danielle Lories: Vie et liberté. Phénoménologie, nature et éthique chez H. J. Paris 2003. – Olivier Depré: H. J. (1903–1993). Paris 2003. – Nicola Russo: La biologia filosofica di H. J. Neapel 2004. – D. Böhler u. Jens Peter Brune (Hg.): Orientierung u. Verantwortung. Begegnungen u. Auseinandersetzungen mit H. J. Würzb. 2004. – Sebastian Poliwoda: Versorgung von Sein. Die philosoph. Grundlagen der Bioethik bei H. J. Hildesh. 2005. – Franz Josef Wetz: H. J. Einf. Wiesb. 2005. – Udo Lenzig: Das Wagnis der Freiheit. Der Freiheitsbegriff im philosoph. Werk v. H. J. aus theolog. Perspektive. Stgt. 2006. Reinhard Löw † / Christophe Fricker
Jonas, Justus, eigentl.: Jodocus Koch, * 5.6. 1493 Nordhausen, † 9.10.1555 Eisfeld; Grabstätte: ebd. – Jurist, evangelischer Theologe u. Reformator. Der Sohn des Ratsherrn Jonas Koch bezog 13jährig im Sommersemester 1506 die Universität Erfurt, an der er im Herbst 1507 das artistische Bakkalar- u. im Frühjahr 1510 das Magisterexamen ablegte. J. schloss sich dem Erfurter Humanistenkreis um Mutianus Rufus u. Eobanus Hessus an. Nach einem Jurastudium in Wittenberg (Sommer 1511 bis Frühjahr 1515, Bacc. iur. 1513), wo der berühmte Jurist Henning Göde lehrte, kehrte er im Frühjahr 1515 nach Erfurt zurück; dort wurde er am 16.8.1518 zum Lizentiaten beider Rechte promoviert. Schon zum Priester (um 1516) geweiht, erhielt er dort ein Kanonikat an St. Severi u. eine Professur für Kirchenrecht. Mit seinen Freunden schloss er sich immer mehr Erasmus an, den er 1519 auf einer im Auftrag Friedrichs des Weisen unternommenen Reise in Löwen auch persönlich kennen lernte u. der ihn veranlasste, sich der Theologie zuzuwenden (vgl. Kawerau II, S. 21 ff.). J., für das Sommersemester 1519 zum Rektor gewählt, wurde zu einer der treibenden Kräfte der Reform der Erfurter Universität im Sinne der humanistischen Ideale, begann bibl. Vorlesungen (Lob der Schriftlektüre in Praefatio in epistolas Divi Pauli Apostoli ad Corynthios [...]. Erfurt 1520) u. lernte Griechisch. Im April 1521 begleitete er Luther auf den Wormser Reichstag; endgültig wandte er sich erst in der Auseinandersetzung um den freien Willen 1525/27 von Erasmus ab. Im Juni 1521 ging J. als Propst des Allerheiligenstifts nach Wittenberg, weigerte sich aber, die zu seinen Pflichten gehörenden Vorlesungen über kanonisches Recht zu halten. Er wechselte bald in die Theologische Fakultät über. Im Sept. 1521 wurde er durch Andreas Karlstadt zum theolog. Lizentiaten promoviert, am 14.10.1521 erwarb er den Grad des Dr. theol. Der juristisch geschulte Mitarbeiter u. Freund Luthers gehörte zu den wichtigsten Organisatoren reformatorischen Kirchenwesens (Reform des Allerheiligenstifts; kursächs. Kirchenvisitationen seit 1528; refor-
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matorische Tätigkeit in Anhalt u. im Herzogtum Sachsen). Seinem energ. Einsatz als Reformator von Halle ab 1541 (Kirchenordnung 1543; 1544 offiziell Superintendent) machte der Schmalkaldische Krieg ein Ende. 1546 von Moritz von Sachsen ausgewiesen, wurde J. nach seiner Rückkehr im April 1548 nicht wieder in sein Amt eingesetzt. Von einem Steinleiden geschwächt, wirkte er als evang. Geistlicher in Coburg (1550–1552), Regensburg (Dez. 1552 bis Aug. 1553) u. Eisfeld. Theologisches u. literar. Wirken musste gegenüber der prakt. Tätigkeit zurückstehen. Der als einer der ersten evang. Geistlichen seit 1522 Verheiratete verteidigte die Priesterehe (Adversus Johannem Fabrum [...] pro coniugio sacerdotali. Wittenb. 1523); 1532–1534 polemisierte er gegen Witzel (Contra tres pagellas Agri[colae] Phagi Georgii Witzel. Wittenb. 1532). Polemik verbindet sich mit tröstl. Unterweisung in der dt. Schrift Wilch die rechte Kirche, und dagegen wilch die falsche Kirche ist (Wittenb. 1534). Von der Tätigkeit des geschätzten Predigers zeugen nur wenige Drucke. J. lieferte auch einzelne Beiträge zum geistl. Lied (Wo Gott der Herr nicht bei uns hält. 1524. Vgl. EKG 193). Vor allem aber übersetzte J. kongenial viele Werke der Reformation. Er verdeutschte u. a. Luthers De servo arbitrio (Das der freye Wille nichts sey. Wittenb. 1526) u. mit der Apologie (Wittenb. 1531) u. den Loci communes (Wittenb. 1536) zwei zentrale Schriften Melanchthons. Lateinisch erschien u. a. als Catechismus pro pueris et iuventute (Wittenb. 1543) der Brandenburgisch-Nürnbergische Katechismus (Wittenb. 1539). Ein bedeutendes Zeugnis seiner Persönlichkeit u. seines Wirkens ist mit seinem umfangreichen Briefwechsel (Hg. Gustav Kawerau. 2 Bde., Halle 1884/85. Nachdr. Hildesh. 1964) erhalten. J., der schon 1521 tief beeindruckt von Luthers »Bekenntnis« in Worms zum Chronisten wurde (Acta et res gestae D. Martini Lutheri in comitiis principum Wormatiae a. 1521. In: Luther WA, Bd. 7, S. 825 ff.), begleitete ihn auch auf dessen letzter Reise nach Eisleben u. wurde Zeuge seines Todes. Er hielt ihm die Leichenpredigt in Eisleben (Zwo tröstliche Predigt uber der Leich D. Doct. Martini Luther. Wit-
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tenb. 1546) u. verfasste einen häufig aufgelegten, schlichten u. eindringl. Bericht Vom christlichen abschied aus diesem tödlichen leben des ehrwirdigen Herrn D. Martini Lutheri (Wittenb. 1546. Nachdr. hg. v. Evang. Predigerseminar Wittenb. Stgt. 1996). Weitere Werke: Annotationes [...] in Acta Apostolorum. Nürnb. 1524. Internet-Ed.: Slg. Hardenberg (Ed. Wittenb. 1524 in: The Digital Library of Classic Protestant Texts: http://solomon.tcpt.alexanderstreet.com/). – Das siebend Capitel Danielis, von des Türcken Gottes lesterung und schreckl. morderey. Wittenb. 1529. – Zerbster Kirchenordnung (1538). In: Die Evang. Kirchenordnungen des 16. Jh. Hg. Emil Sehling. Bd. 2, Lpz. 1904, Nr. 110, S. 544–547. – Christl. u. kurzer Unterricht von vergebung der Sünden u. seligkeit. Wittenb. 1542. – Ein Sermon von der Historien Judas Ischarioth u. des Judas Kuß. Halle 1543. – Eyn fast tröstl. Predigt u. auslegung der Historien, von den wunderbaren XL. tagen, In Actis aposto: Cap. 1. Erfurt 1554. – Übersetzung: Ursprung des türckhischen Reychs, biß auff den yetzigen Soliman, durch D. Paulum Jouium [Paolo Giovio] [...]. Augsb. 1538. Ausgabe: Wackernagel 3, Nr. 62–65, S. 42–45. Literatur: Bibliografien: Walter Delius (1952), S. 129 ff. (vollst. Werkverz.). – Martin Ernest Lehmann (1963), S. 196 f. – VD 16. – Weitere Titel: Otto Clemen: Georg Witzel u. J. J. In: ARG 17 (1920), S. 132–152. – Paul Kalkoff: Der Wormser Reichstag v. 1521. Mchn./Bln. 1922, S. 320–337. – W. Delius: Ergänzungen zum Briefw. des J. J. In: ARG 31 (1934), S. 133–136; 42 (1951), S. 136–145. – Ders.: J. J. Bln. 1952. Gütersloh 1952 (ohne Anhang). – M. E. Lehmann: J. J. Minneapolis 1963. – Hdb. zum EKG I, 2 (1965), S. 310–314. II, 1 (1957), S. 37 f. – W. Delius: J. J. In: NDB. – Hans-Günter Leder: Luthers Beziehungen zu seinen Wittenberger Freunden. In: Leben u. Werk Martin Luthers v. 1526–46. Hg. Helmar Junghans. Bln. 1983. 21985, S. 433–435 (Bd. 2: Anm.). – Heinz Holeczek: Erasmus Deutsch. Bd. 1: Die volkssprachl. Rezeption des Erasmus v Rotterdam in der reformator. Öffentlichkeit 1519–1536. Stgt.-Bad Cannstatt 1983 (Register). – Erich Kleineidam: J. J. In: Contemporaries. – Ernst Koch: Handschriftl. Überlieferungen aus der Reformationszeit in der Stadtbibl. Dessau. In: ARG 78 (1987), S. 321–345 (Nachweise über Nachschr.en v. J.’ Schriftauslegungen). – H.-G. Leder: J. J. In: TRE (mit Lit.). – E. Kleineidam: Universitas Studii Erffordensis [...]. Tl. 2: Spätscholastik, Humanismus u. Reformation 1461–1521. Lpz. 21992, bes. S. 231–239, Register;
Jonas-Lichtenwallner Tl. 3: Die Zeit der Reformation u. Gegenreformation 1521–1632. Lpz. 1980 (Register). – Karin Grol: J. J. In: Bautz. – J. J., 1493–1555. Beiträge zur 500. Wiederkehr seines Geburtstages. Hg. Stadtarchiv Nordhausen. Nordhausen 1993. – Rainer Axmann: J. J. in Coburg (1550–1552). Zum 500. Geb. des Reformators. In: Jb. der Coburger Landesstiftung 38 (1993), S. 301–334. – Peter Freybe: Luther u. seine Freunde [...]. Wittenb. 1998. – Lebrecht Schilling: J. J. In: Komponisten u. Liederdichter des Evang. Gesangbuchs. Hg. Wolfgang Herbst. Gött. 2 2001, S. 169 f. – Olaf Kersten: Die Reformation in Eisfeld: Nikolaus Kindt (1490–1549) u. J. J. (1493–1555). In: Eisfeld in Gesch. u. Gegenwart [...]. Eisfeld 2002, S. 58–63. – Dieter Stievermann: Zum Sozialprofil der Erfurter Humanisten. In: Humanismus in Erfurt. Hg. Gerlinde Huber-Rebenich u. Walther Ludwig. Rudolstadt/Jena 2002, S. 33–53. – Melanchthons Briefw. Bd. 12. Bearb. v. Heinz Scheible. Stgt.-Bad Cannstatt 2005, S. 367–369 (Lit.). – Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 4, Lpz. 2006, S. 419 f. Ute Mennecke-Haustein / Red.
Jonas-Lichtenwallner, Johanna, * 5.9. 1914 Wien, † 12.6.2002 . – Verfasserin von Lyrik, Romanen, Feuilletons. Neben ihrem vielfältigen literar. Schaffen ist die Bedeutung J.s in ihrer regen kulturellen Öffentlichkeitsarbeit zu sehen (Leitung u. Gestaltung literar. Veranstaltungen u. Volkshochschulkurse). J., verheiratet mit dem Lyriker Karl Jonas, veröffentlichte ab 1933 in Anthologien u. Zeitschriften (u. a. in »Rundflug«, »Hausfrau und Mutter«, »HeimatlandSchrifttum aus Österreich«). 1965 erschien ihr erster Gedichtband Weg durch die Zeit (Wien; zum Teil vertont). Neben dem lyr. Hauptwerk, das J.s enge Natur- u. Menschenverbundenheit ausweist, widmete sich die Autorin der Erhaltung alten Volksguts (Mühlviertler Sagen. Krems/Wien 1971. Wiener Streiflichter. Ebd. 1973), der Herausgabe von Anthologien (österr. Frauenlyrik, Jungautoren) u. verfasste Kindergeschichten, Märchen, Schicksals-, Berg- u. Frauenromane. Weitere Werke: Das Osternachtwunder. Wien 1970 (R.). – Die Schuld der Lina Besenböck. Wien 1971 (R.). – Die Sanduhr. Wien/St. Pölten 1972 (L.). – Der Jäger v. Birkwald. Wildenwart 1974 (R.). – Staubkorn im Raum. Wien 1976 (L.). – Die unwahrscheinl. Dinge. Wien 1977 (Feuilletons, Ess.s,
188 Glossen). – Aphorismen. Wien 1985. – Irmengardis. St. Ottilien 1985 (R.). – Späte Lieder. Wien 1986. – Holländ. Skizzen. Wien 1988. – Meditationen u. Gedanken. Wien 1992 (L.). – Späte Elegien. Wien 1997. – Erfahrungen u. Ergebnisse. Wien 1998. – Herausgeberin: Mit Mystikern ins dritte Jahrtausend. Wien 1989. Literatur: Ein Leben für die Dichtung. FS zum 80. Geburtstag v. Frau Professor J. J.-L. Wien 1994. – Helga Helnwein (Hg.): In memoriam Prof. J. J.-L. Klagenf. 2006. Christine Schmidjell / Red.
Jonigk, Thomas, * 4.3.1966 Eckernförde. – Verfasser von Dramen, Kurzromanen, Hörspielen u. Libretti; Dramaturg. Der in sozial schwachen u. familiär-problemat. Verhältnissen aufgewachsene J. studierte an der Freien Universität Berlin Mediävistik, Neuere deutsche Literatur u. Theaterwissenschaft u. gründete 1992 zusammen mit dem Regisseur Stefan Bachmann die freie Berliner Schauspielgruppe »Theater Affekt«. Er arbeitete als Dramaturg an zahlreichen Theatern u. Opernhäusern, u. a. in Berlin, Bonn, Zürich u. Lyon, sowie als Chefdramaturg u. Regisseur am Schauspielhaus Wien (1997–1999). Seit Herbst 2006 ist J. in der Dramaturgie u. als Hausautor am Düsseldorfer Schauspielhaus tätig. Dort betreut er zudem als Leiter eines Autorenlabors junge Talente bei der Entwicklung eigener Stücke. Seine Werke wurden mehrfach ausgezeichnet; 1995 wählte ihn die Zeitschrift »Theater heute« zum Nachwuchsdramatiker des Jahres. J.s Dramen eröffnen mikrosoziolog. Räume, fokussieren Familien u. Rollen. Die Dramentrilogie Von blutroten Sonnen, die am Himmelszelt sinken (Urauff. Köln 1994), Du sollst mir Enkel schenken (Urauff. Bonn 1994) u. Rottweiler (Urauff. Wien 1994) entlarvt die ›Einheit Familie‹ als Brutstätte einer faschistoiden Haltung. In klarer Opposition zu den sexuellen, antiautoritären u. polit. Utopien der 68er-Generation entwirft J. determinist. Genealogien, in denen Gleiches Gleiches erzeugt. In Täter (Urauff. Hbg. 1999) wird der emotionale u. sexuelle Missbrauch an Kindern zum omnipräsenten Symptom einer kranken Gesellschaft. Mittels einer Verkeh-
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Literatur: Carola von Gradulewski: T. J. In: rung der Fürsorger- u. Opferrollen bringt J. innere Widersprüche zur Darstellung u. se- LGL. – Franz Wille: Vater Baggerführer, Mutter ziert in erschreckender Klarheit die Wahr- Putzfrau, beide Alkoholiker, Sohn schwul – u. doch nehmungsmanipulationen, welche die Täter kein Sozialdramatiker: T. J. In: Theater heute (1994), H. 11, S. 35–40. Raffaele Louis an den emotional abhängigen kindl. Opfern vornehmen, um sich ihrer Verantwortung zu entziehen u. den Loslösungsprozess zu verJonke, Gert (Friedrich), * 8.2.1946 Klahindern. Kontrastiv stellt er die Folgen der genfurt, † 4.1.2009 Wien; Grabstätte: missbrauchten Abhängigkeit wie Ekel, ebd., Zentralfriedhof (Ehrengrab). – LySelbstverachtung u. Suizidgedanken den Bariker, Dramatiker, Erzähler, Hörspielgatellisierungsversuchen, Schuldzuweisunautor. gen u. dem Rivalitätsdenken der Ehepartner entgegen. In den Stücken der letzten Jahre Nach dem Besuch des humanistischen Gymzeigt J. eine Affinität zu literar. Stoffen des nasiums in Klagenfurt besuchte J., unehel. 19. Jh. Während in dem ersten Roman Jupiter Sohn einer Pianistin – sein Vater war Inhaber (Salzb./Wien 1999; später auch Bühnenfas- einer Bauholzfirma, mit der er 1975 in Konsung, Urauff. Freib. i. Br. 2003) über Ele- kurs ging –, seit 1966 in Wien die »Schule für mente wie den integrierten Rollentext noch Film und Fernsehen und die Kunst der Indeutlich der Dramatiker spürbar gemacht szenierung« an der Akademie für Musik u. wird, hybridisiert u. parodiert sein zweiter darstellende Kunst u. wechselte nach zwei Roman Vierzig Tage (Graz/Wien 2006) die Jahren an die Universität, wo er u. a. Germaepischen Gattungen Märchen, Kriminalge- nistik, Geschichte, Philosophie u. Musikwisschichte u. Parabel. Wie in den Dramen wer- senschaft studierte. Er lebte als freier den realistisch-aufrüttelnde Passagen von Schriftsteller in Wien, Berlin (1971–1978) u. märchenhaft-idyllischen gebrochen. Hamburg (1981). J.s Stücke, die mit denen Werner Schwabs, Ausgehend von der Sprachskepsis experiElfriede Jelineks u. dem absurden Theater menteller Literatur u. beeinflusst von Techverglichen wurden, machen Themen, über niken u. Schreibweisen konkreter Poesie, die ein gesellschaftl. Konsens zu herrschen richtete J. diese Skepsis gegen die Gesellscheint, über artifizielle, unernste Sprach- schaft: In seiner ersten Publikation, dem spiele wie Alliterationen u. Binnenreime so- Geometrischen Heimatroman (Ffm. 1969. Salzb./ wie stichomyth. Dialoge wieder kontrovers. Wien 2004), wird eine Verbindung geschaffen Die Reaktionen auf die Verbindung des zwischen immanenter Sprachkritik u. inheiklen Themas Kindesmissbrauch mit haltsorientiertem Schreiben, um so zu einer sprachl. Mitteln der Groteske reichen von Analyse gesamtgesellschaftl. Zusammenhängroßem Zuspruch über Irritation u. Über- ge zu gelangen. Gegen das triviale Muster des forderung bis zu scharfer Kritik. Heimat- u. Dorfromans opponierend, lässt J. weitere Werke: Machtübernahme. WDR 1995 Sprach- u. Inhaltsebenen einander abwech(Hörsp.). – Vaterfrühling. WDR 1996 (Hörsp.). – seln, indem er eine angedeutete Handlung Triumph der Schauspielkunst. Dramolett zu durch Einschübe unterbricht. DokumentariTschechows ›Kirschgarten‹. Urauff. Bln. 2000. – sches Material (Hinweistafeln, VerhaltensDie Elixiere des Teufels. Theaterstück nach Moti- vorschriften etc.) – Sprachmaterial, mit dem ven von E.T.A. Hoffmann. Urauff. Gießen 2003. – die »Heimatbewohner« ständig konfrontiert Heliogabal. Libretto (Musik: Peter Vermeersch). werden u. das ihr Bewusstsein beherrscht, ihr Urauff. Duisburg-Nord 2003. – Ach! Urauff. Bln. Leben reglementiert – ist in den Ablauf der 2004. – Liebe Kannibalen Godard. Urauff. Luzern 2006. – Hörst Du mein heimliches Rufen. Urauff. Geschichte eingeschoben. In der Erzählung Schule der Geläufigkeit Ffm. 2006. – Diesseits. Urauff. Düsseld. 2007. – Theater eins. Mit einem Nachw. v. Ute Nyssen. (Ffm. 1977. Rev. Fassung. Salzb./Wien 1986. Ffm. 2006) ist J.s formal bestimmtes ästhetiGraz/Wien 2008. sches Prinzip stärker inhaltlich ausgerichtet – der Autor geht dabei nicht nur von der
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Sprache, sondern auch von realen Geschehnissen aus. J. greift das Motiv einer frühen Erzählung (Wiederholung eines Festes. In: Beginn einer Verzweiflung. Epilog. Salzb. 1970) auf: die Idee der Zusammenfügung von Erinnerung u. Gegenwart. Ein Sommerfest soll unter denselben Bedingungen wie ein Jahr zuvor wiederholt, die Zeit aufgehoben werden. Die Irritation geht auf den Erzähler selbst über – die Beziehung zwischen Fiktion u. Wirklichkeit wird zum Hauptthema der durch neue Geschichten immer wieder unterbrochenen Erzählung. Die Hauptfigur ist Komponist, u. auch der Titel Schule der Geläufigkeit verweist auf ein wesentl. Motiv, auf einen Motor J.scher Prosa: Musik als Metapher u. Konstruktionsschema. J. »komponiert« verzweigte Labyrinthe von Erzählungen. Verschachtelte Sätze u. drast., kom. Wortzusammensetzungen sind die Bauelemente, geprägt durch skurrilen Humor u. radikale Skepsis. Auch im Roman Der ferne Klang (Salzb. 1979. Salzb./Wien 2002) treten Figuren früherer Werke wieder auf, z.B. ein komponierender Erzähler, u. auch hier sieht sich der Leser mit J.s »Wort- und Erzählungsverschachtelungen« konfrontiert. Die Aufhebung von kategorialen Ordnungen wie Zeit, Raum, Logik, Realität u. Traum löst Irritation aus u. entwickelt zgl. den Sog in eine visionäre Welt. In der Erzählung Erwachen zum großen Schlafkrieg (Salzb./Wien 1982) fügen sich absurde, rätselhafte Szenen aneinander, deren Themen Scheitern, fortschreitender Verfall, kleine u. große Katastrophen sind. Gegenüber dem früheren beobachtenden Subjekt ist das Subjekt weder in der Wahrnehmung der Außenwelt noch in der Selbstwahrnehmung zu verorten; Gegenstand der Erzählung ist die Wahrnehmung selbst. Diese Selbstreferentialität erreicht J., indem er mit verschiedenen Musikmetaphern u. Kompositionstechniken operiert. Zu den von ihm mit Vorliebe verwendeten Oxymora gehören Adverb-Adjektiv-Verbindungen wie »eisig-siedend [...]«, Adjektiv-Substantiv-Verbindungen wie »traurige Heiterkeit« u. Nominalkomposita wie »Erinnerungszukunft« u. »Schattenschneefunkenflut«.
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Die »Theatersonate« Sanftwut oder Der Ohrenmaschinist (Salzb./Wien 1990) über den tauben Beethoven, der sich nach dem Abschluss der Großen Sonate für das Hammerklavier op. 106 selbst in die Sonate verwandelt, wurde 1990 in Graz, das auf Beethovens letzte Klaviersonate Bezug nehmende, an den zweiten Teil der Schule der Geläufigkeit anknüpfende Stück Opus 111 (Ffm. 1993. Als Hörspiel: ORF 1994) 1993 in Wien uraufgeführt. In Der Kopf des Georg Friedrich Händel (Salzb./Wien 1988) u. in der Novelle Geblendeter Augenblick. Anton Weberns Tod (in: Stoffgewitter. Anlässe, Auslassungen und Unerlässlichkeiten. Salzb./Wien 1996) geht es um die jeweils letzte Schaffensphase der Komponisten. Musikalische Kompositionsmittel prägen die Chorphantasie. Konzert für Dirigent auf der Suche nach dem Orchester (Graz/Wien 2003) u. Redner rund um die Uhr (Salzb./Wien 2003). Die Chorphantasie ist ein Stück in drei Sätzen, in dem ein Dirigent in Ermangelung eines Orchesters das Publikum dirigiert, das »einund aushorchend« musizieren soll, bevor sie – der Saal wird angesichts des Hochwassers von der Verwaltung geräumt – mit einer Flugmaschine nach Spitzbergen flüchten, um dort weiter ihrer Tätigkeit als »Schalldenker« u. »Horchmusiker« nachzugehen. Die Ernst Jandl gewidmete »Sprechsonate« Redner rund um die Uhr hat die Identitätsspaltung u. die Sehnsucht nach Wiedererlangung einer persönl. Einheit zum Thema: »Inzwischen habe ich es soweit gebracht, mein Nervensystem zu einem Musikinstrument, das sich in meinem Inneren befindet, umzubauen.« J. erhielt u. a. 1977 den (ersten) IngeborgBachmann-Preis, 1991 den Internationalen Bodensee-Kulturpreis, 1993 den AntonWildgans-Preis, 1997 den Erich-Fried-Preis, 1997 den Franz-Kafka-Literaturpreis, 1998 den Berliner Literaturpreis, 2002 den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur, 2003, 2006 u. 2008 den Nestroy-Theaterpreis (Bestes Stück), 2005 den Kleist-Preis u. 2006 den Arthur-Schnitzler-Preis. Weitere Werke: Glashausbesichtigung. Ffm. 1970 (P.). – damals vor graz. WDR 1970 (Hörsp.). – Musikgesch. Bln. 1970 (E.en). – Die Vermehrung der Leuchttürme. Ffm. 1971 (P.). – Die Schreibmaschinen. WDR/BR 1971. HR 1974 (Hörsp.). – Es
191 gibt Erzählungen, Erzählungen u. Erzählungen. WDR 1971 (Hörsp.). – Im Inland u. im Ausland auch. Prosa, Gedichte, Hörsp., Theaterstück. Ffm. 1974. – Klavierstück. WDR 1976 (Hörsp.). – Hörfunkenflug. WDR 1979 (Hörsp.). – Die erste Reise zum unerforschten Grund des stillen Horizonts. Von Glashäusern, Leuchttürmen, Windmaschinen u. a. Wahrzeichen der Gegend. Salzb./Wien 1980 (P.). – Materialien zu G. J.s Theatersonate ›Sanftwut oder Der Ohrenmaschinist‹. Hg. Heinz Hartwig. Graz 1990. – Quer durch das arkt. Eis des Papiers. In: Ilse Aichinger u. G. J.: Das Verhalten auf sinkenden Schiffen. Reden zum Erich-Fried-Preis 1997. Salzb./Wien 1997, S. 17–31. – Es singen die Steine. Ein Stück Naturtheater. Salzb./Wien 1998. – Himmelstraße – Erdbrustplatz oder Das System von Wien. Salzb./Wien 1999. – Insektarium. Salzb. 2001 (D.). – Strandkonzert mit Brandung. Georg Friedrich Händel, Anton Webern, Lorenzo da Ponte. Salzb. 2006. – Die versunkene Kathedrale u. anderes. Ffm. 2006 (D. u. P.). – Alle Stücke. Hg. Jochiam Lux. St. Pölten/Salzb. 2008. – Herausgeber: Weltbilder. 49 Beschreibungen (zus. mit Leo Navratil). Mchn. 1970. Literatur: Thomas Beckermann: Kalkül u. Melancholie oder Die Vorstellung u. die Wirklichkeit. Über G. J. In: Wie die Grazer auszogen, die Lit. zu erobern. Hg. Peter Laemmle u. Jörg Drews. 2., erg. u. erw. Aufl. Mchn. 1979, S. 209–227. – Johannes W. Vazulik: An Introduction to the Prose Narratives of G. J. In: Major Figures of Contemporary Austrian Literature. Hg. Donald G. Daviau. New York u. a. 1987, S. 293–311. – Robert HungerBühler u. Jo Schultheis (Hg.): Gegenwart der Erinnerung. Lesebuch zu einem Schauspiel nach G. J. Bonn 1988. – J. W. Vazulik: G. F. J. In: DLB 85 (1989), S. 224–232. – Herbert Gamper: Die Wörter u. das Schweigen. Zum Werk G. J.s. In: Die Zeit u. die Schrift. Österr. Lit. nach 1945. Hg. Karlheinz F. Auckenthaler. Szeged 1993, S. 159–172. – Andrea Kunne: Heimatromane postmodern. Zur Transformation einer Gattung am Beispiel v. Reinhard P. Gruber, G. J. u. Max Maetz. In: Heimat u. Heimatlit. in Vergangenheit u. Gegenwart. Hg. Hubert Orlowski. Poznan´ 1993, S. 101–115. – Ulrich Schönherr: Das unendl. Altern der Moderne. Untersuchungen zur Romantrilogie G. J.s. Wien 1994. – Daniela Bartens u. Paul Pechmann (Hg.): G. J. Graz/Wien 1996. – Klaus Amann (Hg.): Die Aufhebung der Schwerkraft. Zu G. J.s Poesie. Wien 1998. – Ulrich Greiner: G. J. In: LGL. – Linda C. DeMeritt: The Proliferation of Reality: Postmodernism in G. J.’s ›Geometrischer Heimatroman‹. In: Visions and Visionaries in Contemporary Austrian Literature and Film. Hg. Margarete Lamb-Faffel/
Jordan von Quedlinburg berger u. Pamela S. Saur. New York u. a. 2004, S. 115–129. – Wilhelm W. Hemecker: Anton Webers Tod. Eine Metabiogr. v. G. J. In: Spiegel oder Maske. Konstruktionen biogr. Wahrheit. Hg. Bernhard Fetz u. Hannes Schweiger (Profile; 13). Wien 2006, S. 160–174. – Marina Corrêa: Musikal. Formgebung in G. J.s Werk. Wien 2008. – Joachim Lux: ›Mein Reich ist in der Luft‹. Zu G. J. u. seinen Theaterstücken. In: G. J.: Alle Stücke, a. a. O., S. 711–748. – W. Martin Lüdke u. Axel Schmitt: G. F. J. In: KLG. Kristina Pfoser-Schewig / Bruno Jahn
Jonsohn, Matthias ! Thomas, Johann Jordan von Quedlinburg, * um 1300 Quedlinburg, † 1380 (1370?) Vienne. – Augustinertheologe. Neben Heinrich von Friemar gehört J. (oft mit dem Dominikaner Jordanus von Sachsen [† 1237] verwechselt) zu den herausragenden Gestalten des Augustinereremitenordens in Deutschland im SpätMA. In seiner Heimatstadt trat er früh in den Orden ein, studierte in Bologna u. Paris (1319–1322) u. erwarb den Grad eines Lektors. Neben administrativen Tätigkeiten im Orden wirkte er als Lektor an den Generalstudien in Erfurt (1327–1333) u. Magdeburg (1336–1338); als Provinzial der sächsisch-thüring. Ordensprovinz ist J. 1345–1351 bezeugt. Einen Großteil seines umfangreichen Schrifttums verfasste J. erst nach 1351. Abgesehen von einigen kleinen hagiografischen u. zwei exegetischen Schriften liegt das Hauptgewicht seiner literar. Produktion auf spirituellem u. homiletischem Schrifttum. Vor allem für den Orden wichtig (u. hauptsächlich im Ordenskreis rezipiert) war sein Liber Vitasfratrum, ein nach dem Muster der Vitaspatrum konzipiertes Werk, das die Grundlagen der Ordensspiritualität festhält, das klösterl. Leben der Zeit anschaulich u. lebendig darstellt u. gleichzeitig als eine Art Erklärung der Ordensregel einen beachtl. Beitrag zur späteren Entwicklung des Ordens liefert. Weit über die Ordensgrenzen hinaus in über 110 lat. Handschriften u. in mehrfach überlieferten hochdt., niederdt. u. niederländ. Übersetzungen wirkte dagegen das
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zweite spirituelle Hauptwerk J.s, Meditationes Critico della Filosofia Italiana 24 (2004), S. 37–52. – de passione Christi, das die Betrachtung des Jeremiah Hacket: The Reception of Meister EckLebens u. Leidens Christi in 65 »Artikeln« hart. Mysticism, Philosophy and Theology in Henry behandelt, die jeweils aus Gebeten, spiritu- of Friemar (the Elder) and Jordanus of Quedlinburg. In: Meister Eckhart in Erfurt. Hg. Andreas eller Auslegung des Stoffs u. Anweisungen Speer u. Lydia Wegener. Bln./New York 2005, zur Frömmigkeitsübung bestehen. Außer- S. 554–586. – Eric Leland Saak: High Way to dem sind von J. eine Gebetsammlung Viginti Heaven. The Augustinian Platform Between Requattuor gaudia gloriosissimae virginis Mariae (in form and Reformation, 1292–1524. Leiden u. a. mhd. Übertragung in einer Handschrift er- 2002. – Ders.: Pelagian/Anti-Pelagian Preaching. halten) u. zwei kleinere Traktate bekannt, die Predestination, Grace and Good Works in the Serteils selbstständig, teils in seinem Predigt- mons of J. of Quedlinburg OESA († 1380). In: Augustiniana 52 (2002), S. 311–334. werk integriert überliefert sind. Ulla Williams / Red. Die größte Popularität erreichten die umfangreichen Predigtsammlungen J.s. Sein Opus postillarum, aus 460 Predigten zu Sonn- Jordan, Wilhelm, * 8.2.1819 Insterburg/ u. Festtagen bestehend, wurde in niederdt. u. Ostpreußen, † 25.6.1904 Frankfurt/M.; niederländ. Übersetzung in über 25 Hand- Grabstätte: ebd., Hauptfriedhof. – Epiker schriften tradiert; im Oberdeutschen ist nur u. Epiktheoretiker, Übersetzer, Lyriker, ein Exzerpt erhalten. Zwei weitere Samm- Erzähler, Dramatiker. lungen ergänzen das gewaltige Predigtangebot J.s. Die einzelnen Texte sind (sicher nach Der Sohn eines Pfarrers studierte seit 1838 in dem Vorbild Heinrichs von Friemar) nach Königsberg Theologie, dann Philosophie als scholast. Muster gegliedert u. verwerten ne- Schüler von Karl Rosenkranz. Durch Lektüre ben bibl. u. Väterzitaten auch reichlich na- von Strauß u. Feuerbach eignete er sich ein turwissenschaftl. Kenntnisse. Mehrere Pre- extrem diesseitiges, fortschrittsgläubiges Weltbild an. Nach der Promotion zum Dr. digten weisen enge Verbindungen zur dt. phil. (1842) studierte J. in Berlin NaturMystik, bes. zu Meister Eckhart, auf. wissenschaften, publizierte populärwissenAusgaben: Liber Vitasfratrum: Hg. Rudolf Arbesschaftl. Brotarbeiten u. gab die Zeitschrift mann u. Winfried Hümpfner. New York 1943. – »Die begriffene Welt« (Lpz. 1845/46) heraus. Nhd. Auswahlübers. in: Cor unum. Mitt.en an die Als ostpreuß. u. dt. Patriot propagierte er wie dt. Augustinerfamilie. Bde. 10–20, Würzb. 1952–62. – Mittelniederdeutsche Predigten: Hg. Jo- sein Freund Gottschall in Gedichten, Lesunhannes Flensburg. Lund 1911 (Ausw.). – Mittelnie- gen u. Reden polit. Freiheit. In dem für diese derländische Predigten: Hg. Robrecht Lievens. Gent vormärzl. Phase repräsentativen Band Schaum 1958, S. 87–155. – J. v. Q.: Opus postillarum et (Lpz. 1846) verbinden sich spröde Gedansermonum de Evangeliis dominicalibus (De nati- kenlyrik u. antichristlich-liberale Rhetorik vitate domini ). Opus Ior (Sermones selecti di filia- mit geläufiger Verskunst. An Selbstbewussttione divina). Hg. Nadia Bray mit einer Einl. v. Loris sein fehlte es J. nie; er galt als publikumsSturlese. Hbg. 2008. süchtig u. eitel. Ende 1843 wegen seiner Literatur: Adolar Zumkeller: Hss. v. Werken Schriften aus Berlin ausgewiesen, gründete er der Autoren des Augustiner-Eremitenordens. bei Leipzig eine Familie, wurde aber bald Würzb. 1966, S. 285–319, 605–608. – Ders.: Jour- inhaftiert u. musste auch Sachsen verlassen. dain de Saxe ou de Quedlinburg. In: Dictionnaire Für die »Bremer Zeitung« berichtete er im de spiritualité 8, Sp. 1423–1430 (Werkübersicht). – März 1848 aus Paris. Seit April wieder in Ders.: J. v. Q. In: VL. – Konrad Kunze, Ulla WilBerlin, nahm J. mit seinen Reden die Liberaliams u. Philipp Kaiser: Information u. innere len für sich ein, so dass man ihn im Kreis Formung. Zur Rezeption der ›Vitaspatrum‹. In: Wissensorganisierende u. wissensvermittelnde Lit. Ober-Barnim in die Deutsche Nationalverim MA. Hg. Norbert Richard Wolf. Wiesb. 1987, sammlung wählte. Im Parlament der Paulskirche zählte J. zu S. 123–142. – N. Bray: Meister Eckhart e Dietrich di Freiberg nell’ ›Opus Ior‹ di Giordano di Quedlin- den markanten Persönlichkeiten. Der Kosburg [mit lat. Text des ›Sermo 81‹]. In: Giornale mopolitismus der Linken missfiel ihm bald.
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Zum erbkaiserl. Zentrum übergetreten, forderte er ein großdt. Reich unter preuß. Führung. Bekannt wurde seine »Polenrede« mit dem unverblümten Plädoyer gegen die Wiederherstellung Polens u. für einen »gesunden Volksegoismus«, Ausdruck seiner Auffassung vom naturgesetzl. Recht des Stärkeren in der Geschichte. Als Marinerat im Reichshandelsministerium wirkte J. für den Aufbau einer dt. Flotte. Nach deren Versteigerung 1849 bildete J.s Pension die Basis für seine weitere dichterische Tätigkeit. Ab 1867 lebte er als erfolgreicher Selbstverleger in Frankfurt/M. Die für J.s Denken repräsentativste Dichtung ist das episch-dramat. Mysterium Demiurgos (3 Tle., Lpz. 1852–54), das mit gnost. Ideengut die dialektische Notwendigkeit des Bösen dartun will. Seit Demiurgos ist bei J. der Einfluss Stirners – er tritt in einer Szene als »der Einzige« auf – nachweisbar. Das an Goethes Faust II angelehnte, sprachgewaltige Werk leidet unter Verworrenheit u. Stilmängeln. Schopenhauer störte freilich v. a. der im versöhnl. Schluss gipfelnde »verruchte Optimismus«. Das Doppelepos in versuchten Stabreimen Nibelunge (Sigfridsage. Ffm. 1868. 15 1913. Hildebrants Heimkehr. Ffm. 1874. 14 1924), J.s Hauptwerk, verquickt Motive des gesamten Sagenkreises. Als »deutscher Homer« wollte er das Rhapsodentum wiederbeleben, als er seit 1867 reisend den Deutschen Teile der entstehenden Dichtung vortrug. Durch nationalen Stoff – den Schluss bildet eine Apotheose der Hohenzollern – u. in Wechselwirkung mit dem Volk sollte sie zur Begründung eines »deutschen Glaubens« beitragen, in bewusster Abwehr christl. Einflüsse. Kerngedanken sind »Erberinnerung« u. »Zuchtwahl« als völkische bzw. sozialdarwinistische Prinzipien von J.s Chauvinismus. Wegen seiner mytholog. Verstiegenheit, neuzeitl. Gelehrsamkeit u. volkspädagog. Absichtlichkeit, bes. aber aufgrund der bürgerl. Moralvorstellungen u. Sentimentalität blieb das Werk, obwohl ein Modeerfolg beim Bildungsbürgertum des Kaiserreichs, ohne den unmittelbaren Eindruck des Vortrags steril. Ganz im Schatten der Epen u. der darum kreisenden theoret. Schriften (Epische Briefe. Ffm. 1876) stehen J.s virtuose Lyrik (Strophen
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und Stäbe. Ffm. 1871) u. die Dramen, von denen nur das graziöse Lustspiel Durchs Ohr (Ffm. 1870) Erfolg hatte. In lehrhaften Tendenzromanen (Die Sebalds. 2 Bde., Stgt. 1885) verkünden Idealtypen im Spannungsfeld konfessioneller Gegensätze den Weg zur Naturwissenschaft, zum »deutschen Glauben«. Den bleibendsten Wert haben wohl die J.s Sprachgefühl bezeugenden freien Übersetzungen der Edda (bis heute eine der besten), von Homer, Sophokles, Dante u. Shakespeare (bes. der Sonette). Später beschimpfte er die Naturalisten, die in ihm den unfruchtbaren Epigonen sahen, in dem Lyrikband Deutsche Hiebe (Ffm. 1891) als »Tempelschänder«. Trotz themat. Anklänge blieben auch Wagner u. Nietzsche dem »vormärzlichen Literaten« J. völlig fremd. Weitere Werke: Glocke u. Kanone. Königsb. 1841 (L.). – Ird. Phantasien. Ebd. 1842 (L.) – Ihr träumt! Lpz. 1845 (L.). – Das Interim. Ffm. 1855 (Prologszene). – Die Liebesleugner. Ffm. 1855 (D.). – Die Wittwe des Agis. Ffm. 1858 (D.). – Der ep. Vers der Germanen u. sein Stabreim. Ffm. 1867. – Das Kunstgesetz Homers u. die Rhapsodik. Ffm. 1869. – Die Zweideutigkeit der Copula bei Stuart Mill. Tüb. 1870 (Aufs.). – Arthur Arden. Ffm. 1872 (D.). – Andachten. Ffm. 1877 (L.). – Die Erfüllung des Christentums. Ffm. 1879. – Sein Zwillingsbruder. Ffm. 1883 (D.). – Tausch enttäuscht. Ffm. 1884 (D.). – Zwei Wiegen. Bln. 1887 (R.). – Feli Dora. Ffm. 1889 (Versnovelle). – Episteln u. Vorträge. Ffm. 1890. – Liebe, was du lieben darfst. Ffm. 1892 (D.). – Letzte Lieder. Ffm. 1892. – In Talar u. Harnisch. Ffm. 1899 (L.). – Max Stirner – Demiurgos. Ein Mysterium; sechstes Buch (1854). Hg. Kurt W. Fleming. Lpz. 1999. Literatur: Franz Mehring: Ein vormärzl. Literat. [1904] In: Ders.: Aufsätze zur dt. Lit. v. Klopstock bis Weerth. Bln. 1961, S. 390–394. – Heinrich Spiero: W. J. In: Ders.: Hermen. Hbg. 1906, S. 35–43. – Maurice R. v. Stern: W. J. Ffm. 1910. – W. J. Sechs Aufsätze [...]. Ffm. 1919. – Alfred Günther: W. J. als Freiheitssänger u. Politiker. Diss. Münster 1920. – Heinrich H. Houben: Verbotene Lit. v. der klass. Zeit bis zur Gegenwart. Bd. 2, Bremen 1928, S. 300–329. – Paul Scholz: W. J.s Reden in der Paulskirche. Königsb. 1930. – Franz Koch: W. J.s ›Demiurgos‹. In: Abh.en der Preuß. Akademie der Wiss.en. Philosoph.-histor. Klasse 1 (1942). – C. Russel Jensen: The ›Gnostic‹ Reconciliation of Antitheses in W. J.s Demiurgos. In: Germanic Notes 9 (1978), S. 8–11. – Georg Bollenbeck:
Jordanus von Wasserburg Sentimentale Konventionslyrik [...]. In W. J.s Gedicht ›Die welke Rose‹. In: Günter Häntzschel (Hg.): Gedichte u. Interpr.en 4. Stgt. 1983, S. 334–345. – Jürgen Kühnel: Der Hort, Held Siegfried u. die Hohenzollern. Zu W. J.s Epos ›Nibelunge‹. In: Die Rezeption des Nibelungenliedes. 3. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hg. Klaus Zatloukal. Wien 1995, S. 127–146. – René Simon Taube: Das Bild Max Stirners in der dt. Literatur um die Mitte des 19. Jh. [Diss. 1958] Lpz. 1999 (Stirneriana; 17). Gerhard Stumpf
Jordanus von Wasserburg, bürgerlich: Joseph Raisberger (Reisperger), getauft 14.6.1670 Wasserburg/Inn, † 16.5.1739 Rom. – Prediger aus dem Kapuzinerorden.
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ßerungen zum polit. u. gesellschaftl. Leben, zur Alltagskultur, zu Bräuchen im Jahreslauf, Mode, Tanz u. anderen Vergnügungen der Bevölkerung. Seine an volkstüml. Redeweise, Sprüchen, Wortspielen u. Metaphern reichen Predigten sind hervorragende Quellen für den Sprachgebrauch im Spätbarock. Ausgabe: Textauswahl in: Bayer. Bibl. [...]. Bd. 2. Hg. Hans Pörnbacher. Mchn. 1986, S. 484–487. Literatur: Franz Johann Hoedl: Das Kulturbild Altbayerns in den Predigten des P. J. v. W. Mchn. 1939. – Karl Böck: Das Bauernleben in den Werken bayer. Barockprediger. Mchn. 1953, S. 34–37, passim. – Kat. gedr. deutschsprachiger kath. Predigtslg.en. Hg. Werner Welzig. Bd. 1, Wien 1984, Nr. 288, 375; Bd. 2, Wien 1987, S. 675 f. – Gerhard Stalla: J. v. W. In: Das Bayer. Inn-Oberland 48 (1988), S. 53–59. – Urs Herzog: Geistl. Wohlredenheit. Die kath. Barockpredigt. Mchn. 1991 (Register). – Elfriede Moser-Rath: Dem Kirchenvolk die Leviten gelesen. Alltag im Spiegel süddt. Barockpredigten. Stgt. 1991 (Register). – Dies.: Kleine Schr.en zur populären Lit. des Barock. Gött. 1994 (Register). Elfriede Moser-Rath † / Red.
Der Sohn eines Maurermeisters wuchs im kleinstädt. Handwerkermilieu auf, besuchte vermutlich das Jesuitengymnasium in München u. trat am 9.10.1688 in das Rosenheimer Noviziatskloster der Kapuziner ein. Seine Tätigkeit als Kanzelredner nahm er nach Abschluss der Studien als Ordinari-Prediger in Landshut u. Braunau auf, doch wurde er häufig zu feierl. Anlässen in Kirchen u. Joris, David, * 1501/02 in Flandern, † 25.8. Klöster des altbayer. Raums, oft auch nach 1556 Basel. – Glasmaler, Täuferführer, München berufen. Von dieser Wirksamkeit, Spiritualist. die ihm hohe Ordensämter, zuletzt die Ernennung zum Generaldefinitor in Rom ein- Als Sohn eines Kaufmanns u. Rederijkers erbrachte, gelangte nur ein geringer Teil nach lernte J. das Glasmalerhandwerk u. ließ sich seinem plötzl. Tod zum Druck, so ein Band nach Reisen durch Frankreich u. England Gelegenheitspredigten u. d. T. Fluenta Jordanis 1524 in Delft nieder. 1528 trat er durch Stö[...] Jordanische Flüß und Ausgüß (Stadtamhof rung einer Prozession als Anhänger der re1742. 21745. Als Geist- lehr- und sittenvoller formatorischen Bewegung hervor u. wurde Prediger noch Augsb./Innsbr. 1763) u. ein aus Delft verbannt. 1534 schloss er sich dem zweiteiliger Band Sonn- u. Feiertagspredig- von Melchior Hoffman geprägten Täufertum ten mit demselben Obertitel (Stadtamhof an. In der Krise des melchiorit. Täufertums 1745). Zahlreiche unveröffentlichte Kanzel- nach dem Fall des Königreichs von Münster reden u. Traktate befinden sich in der Baye- fühlte sich J. aufgrund visionärer Erfahrungen zum endzeitl. Propheten bzw. »dritten rischen Staatsbibliothek in München. J. hatte es an den verschiedenen Orten sei- David« berufen u. sammelte seit 1536 Anner Tätigkeit mit einem gemischten Publi- hänger unter den Täufern in den Niederlankum, mit Bauern, Städtern, auch Angehöri- den u. Nordwestdeutschland. Nach der Hingen des Adels zu tun, auf deren unterschiedl. richtung zahlreicher Anhänger in Delft 1538/ Ansprüche er sich sprachlich u. inhaltlich 39 revidierte J. seine täuferischen Auffassuneinstellte. Er kam seinen Aufgaben als Ver- gen, rief zu äußerl. religiöser Konformität mittler der religiösen Lehre nach, bezog aber auf, stellte die täuferische Taufpraxis ein u. auch philosophische, histor. u. naturwissen- lehrte einen apokalypt. Spiritualismus. In schaftl. Erkenntnisse ein. Von bes. kulturge- Konkurrenz zu der täuferischen Sammschichtl. Interesse sind seine vielseitigen Äu- lungsbewegung um Menno Simons baute J.
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ein weit ausgedehntes geheimes Netzwerk J. and the brothers Weyer (Wier). In: Radikalität u. auf, das ihn finanziell unterstützte. Nach ei- Dissent im 16. Jh. [...]. Hg. Hans-Jürgen Goertz nem Aufenthalt in Antwerpen 1539–1543 u. a. Bln. 2002, S. 167–185. – Douglas H. Shantz: D. ließ er sich mit Familie u. Gefolge 1544 unter J., Pietist saint. The Appeal to J. in the Writings of C. Hoburg, G. Arnold and J. W. Petersen. In: dem Namen »Johann von Brügge« als KaufMennonite Quarterly Review 78 (2004), S. 415–432. mann u. Glaubensflüchtling in Basel nieder. Martin Rothkegel Dort erwarb er umfangreichen Grundbesitz u. verkehrte u. a. mit Sebastian Castellio. Erst nach J.s Tod wurden dessen Aktivitäten als Jorissen, Matthias, * 26.10.1739 Wesel/ Sektenoberhaupt den Basler Behörden beNiederrhein, † 3.4.1821 Den Haag. – kannt. Sein Leichnam wurde 1559 postum Psalmenübersetzer. verbrannt. Nach dem Ende des Zentrums in Basel bestanden regionale Netzwerke von Aus einer Kaufmannsfamilie stammend, stuAnhängern noch jahrzehntelang in den Nie- dierte J. in Duisburg u. Utrecht Theologie, derlanden u. bis weit ins 17. Jh. in Holstein. kehrte als Kandidat des Predigtamts in seine J.s zahlreiche Traktate, Lieder u. Sendbriefe Heimatstadt zurück u. wurde ganz unterin niederländ. Sprache dienten der Kommu- schiedlich beeinflusst von seinem Vetter, dem nikation innerhalb des davidjorist. Netz- Liederdichter Tersteegen, dem alchemistiwerks. Sie erschienen zwischen 1537 u. dem schen Geheimlehren nahestehenden Arzt SaBeginn des 17. Jh. in über 240 Drucken u. a. in muel Collenbusch, von Gedanken Lavaters u. Deventer, Rostock, Rotterdam u. Antwerpen Bengels. Am 28.2.1768 hielt J. in der Mau. spiegeln J.s ekstat. Erlebnisse u. die Be- tenakirche eine Predigt über Proverbia 3, 24, schäftigung mit dem Gedankengut M. Hoff- die sich gegen die Religionspolemik des Wemans u. Sebastian Francks wider. Zentrale selschen Regimentskommandeurs Friedrich Themen sind die geistl. Wiedergeburt, die Wilhelm von Gaudy richtete. Dieser setzte ein Überwindung der sexuellen Scham als Kanzelverbot gegen J. durch, der nach HolKennzeichen des »neuen Menschen« u. J.s land ging. Er wurde Prediger in Avezathen apokalypt. Sendung. Eine Nachwirkung fan- (1769–1779), Hasselt (bis 1782) u. schließden die Schriften J.s im Spiritualismus des 17. lich in der Niederländisch-Reformierten GeJh. und im frühen Pietismus, u. a. bei Anna meinde Den Haags (bis 1818). Die dort im Gottesdienst gesungenen Owena Hoyers, Christian Hoburg u. bes. Psalmen Lobwassers genügten modernen Gottfried Arnold. Ansprüchen nicht mehr, u. so veranstaltete J. Werke: The Radical Reformation Microfiche Project: Books by and about D. J. Zug 1977. – Een unter Verwendung aller holländ. u. dt. geestelijck liedt-boecxken. Faks. Amsterd. 1971. – Übertragungen eine Neue Bereimung der PsalThe Anabaptist writings of D. J., 1535–1543. men (Wesel 1798), die sich in den reformierten Gemeinden rasch verbreitete u. mehrere Übers. u. hg. v. Gary K. Waite. Waterloo 1994. Literatur: Bibliografien: Antonius van der Linde: Auflagen in holländ., u. dt. Sprache erlebte. D. J. Bibliografie. ’s-Gravenhage 1867. – Paul Val- Die dem Versmaß der alten frz. Psalmmelokemaa Blouw: Printers to the ›arch-heretic‹ D. J. In: dien Marots folgende Übertragung war nicht Quaerendo 21 (1991), S. 163–209. – Zu J.s hand- leicht zu singen. Diesem Mangel suchte J. in schriftl. Nachl. in der Universitätsbibl. Basel s. der vierten Auflage von 1806 (u. d. T. Die Bainton. – Weitere Titel: Roland H. Bainton: D. J. Psalmen Davids [...]) abzuhelfen. Sie wurde ins Lpz. 1937. – Eugénie Droz: Sur quelques traduc- Gesangbuch der Rheinlande der Elberfelder Retions françaises d’écrits de D. J. In: Het boek 37 formierten Gemeinde (1854) aufgenommen (1965), S. 152–162. – James M. Stayer: D. J. In: TRE. u. stand in Gebrauch bei den Krefelder Men– G. K. Waite: D. J. and Dutch Anabaptism 1524–1543. Waterloo 1990. – Ders.: An Artisan’s noniten. Eine Auswahl der Psalmen ging ein Worldview? D. J., Magic and the Cosmos. In: in das Schaffhausener Gesangbuch u. wurde auch Commoners and Community. Hg. Arnold Snyder. von anderen reformierten Gemeinden überKitchener 2002, S. 167–194. – Ders.: Radical reli- nommen. Besonders bekannt wurden Singt, gion and the medical profession. The spiritualist D. singt Jehova neue Lieder (Ps 98), Wie reizend schön,
Jud
Herr Zebaoth (Ps 84) u. Wohl dem, der Gott verehret (Ps 98). Literatur: Koch 6, S. 525–527. – Hans Jürgen Riekenberg: M. J. In: NDB. – Friedrich August Henn: M. J. Der dt. Psalmist in Leben u. Werk. Lpz. 1955. – Klaus Martin Sauer: M. J. In: Bautz. – Adam Weyer: Sei Stimm u. Saite Ihm geweiht. M. J., Psalmendichter – Theologe – Prediger. Neukirchen-Vluyn 1989. Heimo Reinitzer / Red.
Jud, Judä, Leo, * 1482 Guémar/Elsass, † 19.6.1542 Zürich. – Humanist u. Reformator. Nach dem Schulbesuch in Schlettstadt (mit Martin Bucer) immatrikulierte sich J. im Herbst 1499 in Basel unter dem Namen »Leo Keller von Basel« u. begann zgl. eine Lehre als Apotheker; im Wintersemester 1502/03 legte er in Freiburg i. Br. die Bakkalarprüfung ab (Einschreibung am 18.11.1502). Zurück in Basel, hörte er ab 1505 (mit Zwingli) bei Thomas Winterbach, der ihn für eine geistl. Laufbahn gewann. Dem stand aber J.s Abkunft von einem Priester entgegen. Bei einer Romreise 1507 empfing er päpstl. Dispens u. Priesterweihe. Von Ende 1507 bis 1512 war er Diakon von St. Theodor in Basel, setzte aber währenddessen sein Studium fort (Magister artium 1512). J. wurde danach Pfarrer in St. Hippolyte/Elsass, wo seine Mutter lebte. Seit 1519 als Nachfolger Zwinglis Leutpriester in Einsiedeln, arbeitete er mit dem Administrator u. einzig verbliebenen Konventualen Diebold von Geroldseck eng zusammen. In dieser Zeit begann J. seine reiche literar. Tätigkeit mit Übersetzungen humanistischer u. reformator. Werke. Im Febr. 1523 wurde J. auf Empfehlung Zwinglis in Zürich Pfarrer von St. Peter u. war dort als enger Mitreformer Zwinglis tätig, dessen theolog. Erbe er als Mitarbeiter Bullingers nach Zwinglis Tod 1528 verwaltete. Als Einsiedler Leutpriester 1519–1523 verbreitete J. wichtige Erasmusschriften in Deutsch: Ein fast nutzlich uslegung des ersten psalmen (Basel 1520; erster Aufruf zur Bibellesung), Ein nutzliche underwisung eines christenlichen fürsten (an Karl von Basel. Zürich 1521), Ein klag des Frydens (Zürich 1521), Enchiridion oder handtbüchlin eins waren chris-
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tenlichen und strytbarlichen lebens (Neubearb. von Johann Adelphus Mulings dt. Ausg. Basel 1521). Bis 1523 gab J. bei Froschauer in Zürich u. Grimm in Augsburg die Erasmusparaphrasen der Apostelbriefe in verschiedener Zusammensetzung heraus. Daneben edierte er in Zürich zwei Luthertexte. Als Übersetzer paraphrasierte er eher u. löste antikisierende Metaphern u. Begriffe für seine »lieben Leser« auf. In seinen beiden Jahrzehnten in Zürich hat J. neben etlichen homiletisch-katechetischen u. Kontroversschriften zum Altarsakrament aus seiner Tätigkeit in der »Prophezei« wichtige Kommentare Zwinglis zu bibl. Büchern des AT publiziert (z.B. Farrago annotationum in Genesim, ex ore Huldrychi Zuinglij [...]. Zürich 1527. Internet-Ed.: Slg. Hardenberg). Für seine pastorale Tätigkeit waren seine Katechismen bezeichnend: Diss sind die Zehen gebott (Zürich 1525; 1-Blatt-Folio-›Wandkatechismus‹), Catechismus (mit Vorrede Bullingers. Zürich 1534), Catechismus. Brevissima christianae religionis formula (Zürich 1539) u. andere. Mindestens sechs Ausgaben sind verdeutschte Kontroversschriften Zwinglis, so gegen Matthias Kretz, Emser u. Bugenhagen. Um 1525/26 geriet er mit Erasmus u. Luther wegen des Altarsakraments in Konflikt: Von dem Nachtmal Christi [...] Huldr. Zuinglis meinung (Zürich 1525), Des hochgelerten Erasmi von Roterdam, und Doctor Luthers maynung vom Nachtmal (Zürich 1526), Uf entdeckung Doctor Erasmi von Roterdam [...] antwurt und entschuldigung Leonis Jud (o. O. [Zürich] 1526). Nach Zwinglis Tod veröffentlichte J. vor allem dessen Kommentare zu einzelnen Büchern des AT. Er gab 1540 eine überarbeitete dt. Bibel bei Froschauer heraus; postum edierten Freunde seine neue lat. Version des AT. In seinem letzten Lebensjahr erschien noch seine dt. Gesamtausgabe der Erasmusparaphrasen des NT, zu denen er selbst den Kommentar zur Offenbarung des Johannes beisteuerte. Ausgaben: Wackernagel 3, Nr. 832–838, S. 722–730. – Katechismen. Bearb. v. Oskar Farner. Zürich 1955. – Vom Leiden, Sterben u. Auferstehen des Herrn. Bearb. v. O. Farner. Zürich 1955. – Erasmus v. Rotterdam: Ein Klag des Frydens. L. J.s
197 Übers. der ›Querela Pacis‹ v. 1521 zus. mit dem lat. Original. Hg. Alois M. Haas u. Urs Herzog. Zürich 1969. Literatur: Bibliografien: VD 16. – Wyss, 1976, S. 186–245. – Weitere Titel: Carl Pestalozzi: L. Judä [...]. Elberfeld 1860. – Edmund Camillo Rudolphi: Die Buchdrucker-Familie Froschauer in Zürich 1521–1595 [...]. Zürich 1869. Nachdr. Nieuwkoop 1963. – Georg v. Wyß: L. J. In: ADB. – Emil Egli: L. J. u. seine Propagandaschr.en. In: Zwingliana 2 (1907/08), S. 161–166, 198–208. – Paul Leemann van Elck: Die Offizin Froschauer [...]. Zürich 1940. – Leo Weisz: L. J. Ulrich Zwinglis Kampfgenosse. 1482–1542. Zürich 1942. – O. Farner: L. J., Zwinglis treuester Helfer. In: Zwingliana 10 (1955), S. 201–209. – Otto Herding: Die dt. Gestalt der Institutio Principis Christiani. In. Adel u. Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geb. [...]. Hg. Josef Fleckenstein. Freib. i. Br. u. a. 1968, S. 534–551. – Rudolf Pfister: L. J. In: NDB. – Irmgard Bezzel: L. J. (1482–1542) als Erasmusübersetzer [...]. In: DVjs 49 (1975), S. 628–644. – Karl-Heinz Wyss: L. J. Seine Entwicklung zum Reformator 1519–1523. Bern u. a. 1976. – Heinz Holeczek: Erasmus Deutsch. Bd. 1: Die volkssprachl. Rezeption des Erasmus v. Rotterdam in der reformator. Öffentlichkeit 1519–1536. Stgt.-Bad Cannstatt 1983, passim. – Peter G. Bietenholz: L. J. In: Contemporaries. – Lina Baillet: L. J. In: NDBA. – Traudel Himmighöfer: Die Zürcher Bibel bis zum Tode Zwinglis (1531). Darstellung u. Bibliogr. Mainz 1995. – Werner Raupp: L. J. In: Bautz. – Frans P. van Stam: L. J. als programmat. Interpret Calvins. In: Nederlands archief voor kerkgeschiedenis 79 (1999), S. 123–141. – Wilfried Kettler: Trewlich ins Teütsch gebracht. Lat.-dt. Übersetzungsschrifttum im Umkreis des schweizer. Humanismus. Bern u. a. 2002. Heinz Holeczek / Red.
Ältere Judith. – Frühmittelhochdeutsches geistliches Gedicht von 136 Versen, Anfang des 12. Jh. Der Verfasser der sog. Ä. J. ist unbekannt. Das Anfang des 12. Jh. entstandene Gedicht weist sprachlich ins Rheinfränkische; zusammen mit anderen geistl. Gedichten ist es in der Vorauer Sammelhandschrift aus dem letzten Viertel des 12. Jh. überliefert, die offensichtlich auf eine ältere Sammlung von Bibeldichtungen zurückgeht. Der apokryphe alttestamentl. Judithstoff wird liedhaft gestaltet; Abweichungen vom Bibeltext sprechen dafür, dass das Buch Ju-
Judith
dith nicht die unmittelbare Vorlage war. Überwiegend vierhebige Endreimverse geben die Geschichte gerafft u. komprimiert wieder. Der Dichter verändert viele Details u. gleicht das Personal z.T. an dt. Verhältnisse an; so kommen ein Burggraf u. ein Bischof vor. Man hat deshalb vermutet, der Judithstoff sei dem Dichter nur durch mündl. Vermittlung (z.B. aus Predigten) bekannt gewesen. Es bleibt jedoch zu bedenken, dass die nahezu balladenhafte Gestaltung des bibl. Stoffs eine gewisse Auswahl, Akzentuierung u. Umformung durch den Bearbeiter erforderte. Das Gedicht ist in 13 stroph. Abschnitte unterschiedl. Länge unterteilt. Nach einer Beschreibung des Wütens des Holofernes wird erzählt, wie der Feldherr siegessicher, um Gott zu schmähen, vor die seit einem Jahr belagerte Stadt Bathania (das bibl. Bethulia) zieht. Der Burggraf setzt der in Holofernes repräsentierten Macht des götzenhaften Königs Nabuchodonosor das Gottvertrauen der Bürger entgegen. Judith begibt sich ins feindl. Lager; Holofernes begehrt sie – von der Bibel abweichend – zur Frau. Beim Hochzeitsmahl gelingt es Judith, Holofernes u. seine Leute betrunken zu machen u. dem schlafenden Feldherrn das Schwert zu entwenden. Nach einem Gebet Judiths übermittelt ihr in der – wohl nachträglich hinzugefügten – Schlussstrophe eine Engelserscheinung den Auftrag Gottes, Holofernes zu töten u. das israelische Volk zu befreien. Die eigentl. Befreiungstat, auf die bereits am Ende der zweiten u. dritten Strophe vorausdeutend verwiesen wurde, wird nicht mehr erzählt. Der urspr. Schluss fehlt anscheinend. Fragmentarischer Überlieferungszustand u. formelhafte Elemente des Gedichts – wie Redeeinführungen, Begleitformeln, Wahrheitsbeteuerungen u. Wiederaufnahmen – könnten Ergebnis einer urspr. oder zeitweilig mündl. Weitergabe der Ä. J. sein. Die Zusammenfügung mit dem stofflich u. motivisch selbstständigen geistl. Gedicht Die drei Jünglinge im Feuerofen in der Handschrift gilt als späterer Eingriff. Der Kompilator wollte wohl den mit dem gleichnamigen König des Danielbuchs identifizierten Nabuchodonosor als Beispiel eines ungerechten Königs Salomo
Judith
gegenüberstellen, den das im gleichen Codex enthaltene Lob Salomons preist. Ausgaben: Albert Waag u. Werner Schröder (Hg.): Kleinere dt. Gedichte des 11. u. 12. Jh. Bd. 1, Tüb. 1972, S. 56–59, 63–67 (mit vollst. Bibliogr. bis 1970). Literatur: Werner Schröder: Die drei Jünglinge im Feuerofen. Die Ä. J. Überlieferung, Stoff, Form. Mainz 1976. – Ders.: Die Ä. J./Die drei Jünglinge im Feuerofen. In: VL. – Karl Konrad Pohlheim: Das frühmhd. Gedicht Von Gottes Gewalt. ›Drei Jünglinge im Feuerofen‹, ›Die Ä. J.‹. In: ›Der Buchstab tödt – der Geist macht lebendig‹. FS Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 1992, Bd. 1, S. 379–397. – Wiebke Freytag: Zur top. Verarbeitung v. Hrabans Allegorese in den ›Drei Jünglingen im Feuerofen‹ u. in der ›Ä. J.‹ oder: ›descriptio‹, ›epitheton‹, ›sermonicatio‹ u. andere Präsentationsformen fiktiver ›historia‹. In: Wolfram-Studien 16 (2000), S. 192–234. – Henrike Lähnemann: Hystoria Judith. Dt. Judithdichtungen vom 12. bis zum 16. Jh. Bln./New York 2006. Claudia Händl
Jüngere Judith. – Bearbeitung des biblischen Buches Judith, ca. 1140.
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vermitteln, u. er wendet sich gegen Neider u. Böswilige, die gute Lehre verachten. Dieser Opposition entsprechen verschiedene Haltungen zur christl. Heilsbotschaft, was sich wiederum im Gegensatz der Hauptfiguren konkretisiert. Judith, schwach u. schön zgl., erscheint als makellose Exempelfigur u. ausführendes Werkzeug des göttl. Plans, Nabuchodonosor als dessen Widersacher. Der Verfasser hält sich eng an die alttestamentl. Vorgabe, bezieht sie aber konsequent auf Christus als den eigentl. Regisseur der Heilsgeschichte. Verschiedenen Kürzungen (Hymnen, Gebete, Reden von Nebenfiguren) stehen vereinzelte Erweiterungen (geografische Situierung, Kriegshandlung) gegenüber. Im Ganzen ergibt sich ein relativ einheitl. Ton, der den Erzähler als autorativen Vermittler heilsgeschichtl. Wissens ausweist. Ausgaben: Die j. J. aus der Vorauer Hs. Hg. Hiltgunt Monecke. Tüb. 1964. – Die dt. Gedichte der Vorauer Hs. Faks.-Ausg. [...] unter Mitwirkung v. Karl Konrad Polheim. Graz 1958. Literatur: Werner Schröder: D. J. J. In: VL. – Walter Haug: Literaturtheorie im dt. MA. Darmst. 1985, S. 53–56. – Gisela Vollmann-Profe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen MA (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1,2). Ffm. 1986, S. 92 f. – Henrike Lähnemann: Hystoria Judith. Dt. Judithdichtungen vom 12. bis zum 16. Jh. Bln./New York 2006. Christian Kiening
Die Vorauer Sammelhandschrift (Stiftsbibliothek, 276) überliefert auf den Blättern 100va-108vb, an die Ältere Judith anschließend, eine davon unabhängige zweite Version des Judithstoffs (etwa 1820 Verse). Diese scheint mit den ihr vorausgehenden Gedichten (Summa theologiae, Lob Salomons, Drei Jünglinge im Feuerofen, Ältere Judith), die geschlossen aus einer mitteldt. Vorlage übernommen wur(Ostmitteldeutsche) Judith. – Paraphrase den, einen heilsgeschichtlich-historiografides biblischen Buches Judith von 1254. schen Block zu bilden, der in die von der Schöpfung bis zum jüngsten Gericht rei- Der Text, mit 2814 Versen die umfangchende Gesamtanlage der bairisch-österr. reichste mhd. Judithversion, gehört an den Handschrift integriert wurde. Beginn der Deutschordensdichtung. Das Ergibt sich die Nähe zu dem auf die J. J. Ideal des unbekannten Autors ist der weitfolgenden Alexander aus der Vorbildfunktion gehend wörtl. Anschluss an die Bibel. Nur der beiden etwa zeitgleich gedachten histor. dort, wo es um Kampf u. Macht geht, nimmt Figuren u. dem gemeinsamen geografischen er Ausschmückungen im Sinne einer höf. Horizont, dürfte das Nebeneinander der bei- Ritterwelt vor. Eigenständig sind die Rahden Judithfassungen auf Komplementarität menteile: Der Prolog verknüpft Inspiratizielen: liedhafte Kargheit des älteren Textes onsbitte u. Gottespreis mit Überlegungen auf der einen Seite, episierende Breite des zum Stellenwert der Schrift, der Epilog bietet jüngeren auf der andern. Ein Prolog akzen- symmetrisch dazu nach einer Einführung in tuiert die Dimension literar. Vermittlung: das allegor. Prinzip u. einer Anwendung auf Der Sprecher wendet sich an die »lîben lûte«, die Judith eine Reflexion über die Beziehung um ihnen »eine rede vil wunnesame« zu zwischen Schrift u. Rezipient u. schließt mit
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einem Gebet. Die Datierung auf das Jahr 1221 nach Jesu Passion macht den christolog. Bezug deutlich. Exkurse erläutern das Verfahren spiritueller Sinnherstellung, dem der »vrunt unde bruder«, um »rehte wisheit« u. bibl. Lehre zu erlangen, folgen soll. Sie scheinen jedoch in der vorliegenden Handschrift, dem Stuttgart-MergentheimerDeutschordens-Codex, zugunsten einer stärkeren Gewichtung der Erzählung gekürzt worden zu sein. Eine Prosaauflösung des Textes nahm der Ordensritter Jörg Stuler vor, der die J., mit der Hester verzahnt u. durch Register erschlossen, 1479 in sein Historienbuch integrierte. Ausgaben: J. Aus der Stuttgarter Hs. HB XIII 11. 2. Aufl. besorgt v. Hans-Georg Richert. Tüb. 1969. Literatur: Hans-Georg Richert: J. In: VL. – Manfred Caliebe: Hester. Ed. u. Komm. Marburg 1985. – Arno Mentzel-Reuters: Bibeldichtung u. Dt. Orden: Studien zur J. u. zu Heinrichs v. Hesler ›Apokalypse‹. In: Daphnis 26 (1997), S. 209–261. – Henrike Lähnemann: Hystoria Judith. Dt. Judithdichtungen vom 12. bis zum 16. Jh. Bln./New York 2006. Christian Kiening
Das Jüdel. – Marienlegende in Reimpaarversen, um 1200.
Jüdin und der Priester
Mitschülern, die ein vor einer Kapelle stehendes Marienbildnis verehren, die Bedeutung Marias kennen u. dient von da an selbst der Gottesmutter. Seine Verehrung für sie zeigt sich, als er Spinnweben u. Staub von dem Bildnis entfernt. Eines Tages erscheint dem Knaben, als er der Messe beiwohnt, bei der Wandlung das Jesuskind. Er entschließt sich daraufhin zum Empfang der Kommunion. Sein Vater u. seine Verwandten sind erbost u. wollen den Knaben, der sich nicht von seinen christl. Überzeugungen abbringen lässt, töten. Trotz des Zögerns des Vaters wird er in einen glühend heißen Backofen geworfen. Maria rettet ihn jedoch als Belohnung für seinen Dienst an ihr u. fordert ihn auf, sich taufen zu lassen. Auch der Vater u. andere Juden bekehren sich nun u. lassen sich taufen. Die Legende endet mit einer Aufforderung zum Mariendienst. Ein Zeugnis für das Weiterleben des Textes ist seine Benutzung als Vorlage für die Legende Der Judenknabe im Passional. Ausgaben: Karl A. Hahn (Hg.): Gedichte des 12. u. 13. Jh. Quedlinb./Lpz. 1840, S. 129–134, 147. – Heinrich Meyer-Benfey: Mhd. Übungsstücke. Bln. 2 1920, S. 84–96. Literatur: Eugen Wolter: Der Judenknabe. Halle 1879. – Theodor Pelizäus: Beiträge zur Gesch. der Legende vom Judenknaben. Diss. Halle 1914. – Gerhard Eis: Fragment eines frühmhd. Predigtwerkes. In: JEGPh 49 (1950), S. 549–556. – Hans Fromm: Mariendichtung. In: RL. – HansFriedrich Rosenfeld: D. J. In: VL. – Heike A. Burmeister: Der ›Judenknabe‹. Studien u. Texte zu einem mittelalterl. Marienmirakel in dt. Überlieferung. Göpp. 1998. – Cordula Hennig von Lange: [...] ›d. J.‹ – Judenfiguren in christl. Legenden. In: Ursula Schulze (Hg.): Juden in der dt. Lit. des MA. Tüb. 2002, S. 135–162. – John D. Martin: Representations of Jews in Late Medieval and Early Modern German Literature. Oxford 2004.
Die 458 Verse umfassende Legende gehört zu den ersten Marienmirakeln in dt. Sprache. Ihre Entstehung um 1200 ist u. a. aus grafischen Eigentümlichkeiten in den Vorlagen mehrerer erhaltener Fragmente (vollständig ist nur eine Handschrift) zu erschließen. Die Überlieferung weist auf bairisch-ostschwäb. Gebiet. Entstanden ist der Text wohl in Zusammenhang mit einer sich ausbreitenden Laienfrömmigkeit. Das J. fußt auf älteren lat. Vorlagen, worunter die bekannteste die Erzählung der LeElisabeth Wunderle / Red. gende bei Gregor von Tours (Gloria martyrum 1, 9) ist. Ein frühmhd. Prosafragment der Erzählung findet sich in einer alemann. Die Jüdin und der Priester. – MirakelHandschrift aus der Mitte des 12. Jh. Der erzählung, entstanden wohl im späten 14. Verfasser des J. ist nicht bekannt; die Gründe, oder frühen 15. Jh. im ostfränkischen die für eine Verfasserschaft Konrads von Raum. Heimesfurt herangezogen worden sind, haben sich als nicht beweiskräftig erwiesen. Der unikal überlieferte Text (260 Verse) erIm Mittelpunkt der Legende steht ein Ju- zählt – in Prolog u. Epilog verknüpft mit der denknabe. Dieser lernt von seinen christl. theolog. Frage, ob die Eucharistie auch durch
Jünger
einen in Sünde lebenden Priester ihre Heiligkeit behält – von einem Priester, der ein Verhältnis mit einer Jüdin hat. Als er einmal mit ihr am Sabbat schlafen will, gibt sie nur sehr widerwillig nach, rächt sich aber dann dafür, indem sie ihn zum Liebesakt in einer Nacht verführt, bevor er das Hochamt singen muss. Durch ein Wunder wird der Priester jedoch vor der Messe von allen Sünden rein gewaschen, anschließend werden sie wieder über ihn gegossen. Die Jüdin bekehrt sich daraufhin zum christl. Glauben; beide leben fortan ein tugendhaftes Leben. Die augustin. Lehre, dass die Heiligkeit der Eucharistie von den moralischen Qualitäten des Zelebranten unabhängig ist, wird in der Handlung freilich nur indirekt exemplifiziert. Eine Quelle wird wohl in einer der vielen noch nicht erfassten lat. Exempelsammlungen zu finden sein. Ausgaben: Rolf Max Kully u. Heinz Rupp (Hg.): Der münch mit dem genßlein. Stgt. 1972, S. 131–139. – Ursula Schmid (Hg.): Codex Karlsruhe 408. Bern 1974, S. 363–369. Literatur: R. M. Kully: D. J. u. d. P. In: WW 22 (1972), S. 133–142. – Ders.: D. J. u. d. P. In: VL. – Dieter R. Bauer, Martin Heinzelmann u. Klaus Herbers (Hg.): Mirakel im MA. Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen. Stgt. 2002. Werner Williams–Krapp / Red.
Jünger, Ernst, * 29.3.1895 Heidelberg, † 17.2.1998 Riedlingen/Oberschwaben; Grabstätte: Friedhof Wilflingen/Oberschwaben. – Autor von Kriegsbüchern u. Tagebüchern, Essayist, Erzähler, Reiseschriftsteller, Aphoristiker. J. wuchs in Hannover u. später in Rehburg in einem begüterten Elternhaus auf. Sein Vater war Chemiker u. Apotheker, der es im niedersächs. Kalibergbau zu einigem Wohlstand gebracht hatte u. das Leben eines vielfach interessierten Privatiers führte. Die Schulzeit verbrachte J. in verschiedenen Anstalten in Hannover u. Umgebung, da er ein notor. Träumer war u. immer nur mit Mühe versetzt werden konnte. Als passionierter Leser von Abenteuerbüchern versuchte er 1913, sich der schulischen »Presse« durch den Gang in die frz. Fremdenlegion zu entziehen, flüchtete nach Frankreich, trat in Verdun der Legion
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bei u. kam nach Algerien, wurde jedoch aufgrund einer rechtl. Intervention des Vaters nach wenigen Wochen wieder entlassen u. nach Deutschland zurückgeschickt (literar. Reflexion in Afrikanische Spiele. Hbg. 1936). Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs beendete das Schulelend: J. meldete sich am 4.8.1914 als Kriegsfreiwilliger, legte am 21. Aug. das Notabitur ab, rückte am 6. Okt. ein u. kam Anfang Jan. 1915 in der Nähe von Reims an die Front, ausgestattet mit Notizheften für tägl. Aufzeichnungen. Er stieg zum Leutnant auf, wurde vierzehnmal verwundet u. erhielt nach seiner letzten Verwundung im Aug. 1918 den höchsten preuß. Militärorden »Pour le Mérite«. Nach dem Krieg wurde J. in die reduzierte Reichswehr übernommen, absolvierte ein umfassendes privates Lektüreprogramm u. schrieb auf der Basis seiner Notizhefte sein erstes u. berühmtestes Buch In Stahlgewittern. Aus dem Tagebuch eines Stoßtruppführers (Hann. 1920), das in den folgenden Jahrzehnten vielfach aufgelegt u. mehrfach nach literar. wie ideolog. Gesichtspunkten überarbeitet wurde, zuletzt 1977. Es folgten der systematisch angelegte Essay Der Kampf als inneres Erlebnis (Bln. 1922.), der politisch eingefärbte Bericht Das Wäldchen 125. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen 1918 (Bln. 1925) sowie Feuer und Blut. Ein kleiner Ausschnitt aus einer großen Schlacht (Magdeb. 1925). 1923–1926 studierte J. Zoologie u. Philosophie in Leipzig u. Neapel. 1925 heiratete er Gretha von Jeinsen. Ab Mai 1926 lebte J. als Publizist u. Schriftsteller. 1927 übersiedelte er nach Berlin. Ab 1923, verstärkt ab 1925 trat J. in der »Standarte«, einer Beilage des »Stahlhelm«Bundes, u. in anderen konservativen Zeitschriften als Publizist in Erscheinung u. machte sich mit stilistisch geschliffenen u. politisch radikalen Artikeln zum Sprecher des »Neuen Nationalismus«, der die Erfahrungen der Front für die Neugestaltung Deutschlands als eines autoritären, sozialen u. technisch aufgerüsteten Staats nutzen wollte. Kontakte ergaben sich zu nationalsozialistischen Kreisen, briefliche zu Hitler, persönliche zu Goebbels, aber auch zu linken Autoren wie Brecht u. zu Nationalbolschewisten wie Ernst Niekisch. Freundschaftliche
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Beziehungen unterhielt er mit dem Staatsrechtler Carl Schmitt u. dem Historiker Valeriu Marcu sowie zu den Malern Rudolf Schlichter u. A. Paul Weber. Neben den nationalistischen Essays entstand das Abenteuerliche Herz (Bln. 1929), das mit dem Untertitel »Aufzeichnungen bei Tag und Nacht« in lockerer Folge biogr. Aufzeichnungen, histor. u. polit. Reflexionen sowie Traumnotate vereinigt u. das erste dichterische Werk J.s darstellt; es erschien 1938 in zweiter u. konzentrierterer Fassung. Um 1930 verschob sich die Richtung von J.s Veröffentlichungen von der nationalistisch agitierenden Begleitung zeitgenöss. Verhältnisse zu deren kulturtheoret. Reflexion in programmat. Absicht (Die totale Mobilmachung. Bln. 1931. Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt. Hbg. 1932. Blätter und Steine. Hbg. 1934.). Auch hier zeigen sich Affinitäten zu faschistischen Vorstellungen, nicht aber zum rassistischen u. verbrecherischen Denken des Nationalsozialismus. Der Kollaboration mit dem NS-Regime entzog sich J. durch eine Absage an die »gleichgeschaltete« Dichterakademie u. durch die Verlagerung seines Wohnsitzes von Berlin in die Provinz, zunächst nach Goslar (1933), dann nach Überlingen am Bodensee (1936). Mit der Erzählung Auf den Marmorklippen (Hbg. 1939), deren Publikation riskant war, legte J. ein Werk vor, das von vielen Zeitgenossen als ein Manifest des Protests gegen die destruktive Gewalt des NS-Regimes verstanden wurde. 1939 wurde J. als Hauptmann reaktiviert. Den Beginn des Zweiten Weltkriegs erlebte er an der Westfront; 1941–1944 gehörte er dem Stab des dt. Militärbefehlshabers in Paris an u. hatte Umgang mit Drieu La Rochelle, Paul Morand, Jean Cocteau u. anderen Intellektuellen der Kollaboration, doch auch mit Jean Paulhan u. Pablo Picasso. Nach dem Attentat vom 20. Juli 1944 wurde J. nach Deutschland zurückbeordert u. zum Ausscheiden aus der Wehrmacht veranlasst. Das Ende des Kriegs erlebte er bei seiner Familie in Kirchhorst bei Hannover, wohin er 1939 gezogen war. Aufgrund seiner Weigerung, Entnazifizierungsfragebögen der Alliierten zu beantworten, war J. 1945–1949 mit einem Publikationsverbot belegt, das nach der Übersiedlung in
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die frz. Besatzungszone aufgehoben wurde. Seit 1948 in Ravensburg ansässig, verlegte J. 1950 seinen Wohnsitz nach Wilflingen bei Sigmaringen, zunächst ins leer stehende Schloss der Grafen Stauffenberg, im Frühjahr 1951 in das davor liegende Forsthaus, die »Oberförsterei«, in der er bis zu seinem Tod lebte. Nach der Veröffentlichung der Kriegstagebücher (Strahlungen. Tüb. 1949) u. des utop. Romans Heliopolis. Rückblick auf eine Stadt (Tüb. 1949) unternahm J. zahlreiche Reisen nach Südeuropa, Süd- u. Ostasien u. Afrika, die er in Reisetagebüchern beschrieb. Die Erfahrungen der Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg gehen in christlich-existenzphilosophische, mytholog. u. geschichtsmorpholog. Weltanschauungsvorschläge ein. War früher Nietzsche der Gewährsmann, so wurden es nun Heidegger, Bachofen u. Spengler. Die Formen der späten Veröffentlichungen teilen sich wie die des früheren Werks in Tagebücher (Siebzig verweht I-V. Stgt. 1980–97), Essays (Der Waldgang. Ffm. 1951. An der Zeitmauer. Stgt. 1959. Der Weltstaat. Organismus und Organisation. Stgt. 1960.), Reisebücher, das entomolog. Buch Subtile Jagden (Stgt. 1967), das Drogenbuch Annäherungen. Drogen und Rausch (Stgt. 1970) u. Erzählungen (s. u.). J. starb am 17.2.1998 im Kreiskrankenhaus Riedlingen an den Folgen eines grippalen Infekts u. eines Magenleidens. Bei seiner Beerdigung wurde bekannt, dass er sich am 26.9.1996 katholisch hatte taufen lassen. Dies entsprach seinen umfassenden Ordnungs- u. Heilsvorstellungen u. seinem Vertrauen in Rituale. Die »Oberförsterei« bleibt mit Bibliothek, Käferkästen u. originaler Möblierung als Gedenkstätte erhalten. J.s umfangreicher Nachlass liegt im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Die Forschung ist nach dem Wegfall alter Vorbehalte u. Verdikte stark angestiegen, J. ist als einer der wichtigen Repräsentanten der literar. Moderne anerkannt. J.s durchweg in Prosa geschriebenes Werk ist dem Versuch gewidmet, den geschichtl. Kräften, von denen er sein Jahrhundert negativ bestimmt sieht, ästhetische Haltungen gegenüberzustellen, in die das Individuum sich distanzierend zurückziehen kann. So reaktiviert er gegen die Entfesselung moder-
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ner Technik u. die Vernichtung anonymisierter Menschenmassen in seinen Kriegsdokumentationen die spätromant. Perspektive des Dandy, der Schlachtfelder ungerührt betrachtet wie Gemälde. Der Nivellierung von polit. Ideologien, humanistischer Philosophie u. Ethik entspricht die Aufwertung ästhetischer Details wie der Geräusche von detonierenden Geschossen, der Färbung von Leichen oder der Berührungssensationen eines Kundschafters beim nächtl. Streifgang. Das höchste Interesse des Autors gilt nicht nur in Stahlgewittern dem Tod, der Devise folgend: »Jeder Genuß lebt durch den Geist. Und jedes Abenteuer durch die Nähe des Todes, den es umkreist.« Seine in ihren Tempi, den Attributen u. in der Komposition demonstrativ emotionsarm u. sachlich gehaltene Erzählweise symbolisiert eine Strategie heroischer Gelassenheit, wie er sie den militärischen Eliten zuschreibt. Der kalte Stil dient der Entlastung von der Überschwemmung durch den Schrecken. In seinem kulturtheoret. Hauptwerk Der Arbeiter entwirft J. die Vision eines modernen Heroismus, der der tödl. Herausforderung des techn. Zeitalters durch Anpassung u. Überbietung gewachsen ist; der Soldat des Ersten Weltkriegs erscheint als sein Vorläufer. In Analogie zu Maurice Maeterlincks Leben der Termiten (1930) zeigt J. den funktionierenden Einzelnen bei den typischen Leistungen des modernen Industriestaats – Erzeugung, Transport u. Verwaltung – als einen Kämpfer für »die große Raumgestaltung«. Seine Freiheit behält der Arbeiter, indem seine Bereitschaft zum Selbstopfer jede Anforderung übertrifft, die an ihn ergehen könnte. Das »Sein« dieser Arbeiter zum Tode bestimmt J. im Sinne einer Funktionselite, die er »Orden« nennt. In seiner autobiogr. u. zeitgeschichtl. Erzählung Auf den Marmorklippen konfrontiert J. ein philosophierendes u. botanisierendes Brüderpaar, dessen kontemplative Welt der Naturbetrachtung in der Prosa des magischen Realismus zur Darstellung kommt, mit den destruktiven Bestrebungen eines »Oberförsters«, der eine schwach gewordene bürgerl. Kulturlandschaft durch progressiven Terror vollends unterminiert u. am Schluss brand-
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schatzen lässt. Die Verwandlung der NSHerrschaft in eine mythologisch grundierte u. geschichtsmorphologisch gestaltete Szenerie konkurriert mit histor., gesellschaftstheoret. u. psycholog. Faschismus-Beschreibungen exilierter Autoren, indem sie anstelle von gesellschaftsgeschichtlich genauen Analysen auf mytholog. Muster u. ästhet. Wahrnehmungen setzt. Die Erzählung Gläserne Bienen (Stgt. 1957) ist eine Auseinandersetzung mit der die Natur verdrängenden techn. Zivilisation. In der Zwille (Stgt. 1973) verarbeitet J. seine Schulzeit, die ihn nach eigenen Worten mehr belastet hat als die Militärzeit. Der Roman Eumeswil (Stgt. 1977) ist eine erste Manifestation des »Histoire«-Bewusstseins, das eine Erschöpfung der geschichtswirksamen Ideen konstatiert u. die Welt in einer schwächl. Zivilisation versinken sieht. J.s Skepsis gegenüber Demokratie u. Pluralismus äußert sich hier nicht mehr aggressiv, sondern ironisch. Die Erzählung Aladins Problem (Stgt. 1983) thematisiert noch einmal die Möglichkeit der Überwindung des Nihilismus u. macht diese zur Aufgabe des Einzelnen; sie ist zgl. das beste Zeugnis jener »Ästhetik der Heiterkeit« (Detlev Schöttker), zu der J. in seinem Spätwerk fand. J.s Werk, dessen geschliffene u. apodiktisch zugespitzte Prosa anspringend u. aufreizend wirkt, hat v. a. aufgrund seiner Gegenstände sowie seiner weltanschaul. u. polit. Optionen skandalierend gewirkt. Im dt. Sprachbereich vertritt es einen mit dieser Konsequenz fast einzigartigen ästhetischen Immoralismus, dessen literar. Produktivität in der Erschließung von Stoffen (z.B. der Pflanzen- u. Insektenwelt) u. Themen (wie des Kriegs) liegt, zu denen der humanistische Realismus kaum Zugang hat. J. wurde in der BR Deutschland u. in Frankreich, wo sein Werk fast vollständig übersetzt ist, vielfach geehrt, darunter mit dem großen Bundesverdienstkreuz (1959), dem Prix Europe-Littérature der Fondation Internationale pour le Rayonnement des Arts et des Lettres (1981) u. – gegen heftigen Protest – mit dem Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/M. (1982). Als einer der wenigen deutschsprachigen Autoren des 20. Jh. wurde er 2008 mit seinen Schriften über den
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Ersten u. den Zweiten Weltkrieg in die Bi- Jünger, Friedrich Georg, * 1.9.1898 Hanbliothèque de la Pléiade aufgenommen. nover, † 20.7.1977 Überlingen/Bodensee. Weitere Werke: Werkausgaben: Werke. 10 Bde., Stgt. 1960–65. – Sämtl. Werke in 18 Bdn. u. 4 Suppl.-Bdn. Stgt. 1978–2003. – Einzeltitel: Der Friede. Ein Wort an die Jugend Europas u. an die Jugend der Welt. Hbg. 1945 u. ö. – Rivarol. Ffm. 1956. – Autor u. Autorschaft. Stgt. 1984. – Eine gefährl. Begegnung. Stgt. 1985 (E.). – Die Schere. Stgt. 1990. – Briefw. mit Carl Schmitt (Stgt. 1999), Gerhard Nebel (Stgt. 2003), Rudolf Schlichter (Stgt. 1997), Friedrich Hielscher (Stgt. 2005) u. a. – Polit. Publizistik. 1919 bis 1933. Hg., komm. u. mit einem Nachw. v. Sven Olaf Berggötz. Stgt. 2002. Literatur: Bibliografie: Horst Mühleisen: Bibliogr. der Werke E. J.s. Begr. v. Hans Peter des Coudres. Stgt. 1996. – Nicolai Riedel: E. J.-Bibliogr. Wiss. u. essayist. Beiträge zu seinem Werk (1928–2002). Stgt./Weimar 2003. – Gesamtdarstellungen und Biografien: Joseph Peter Stern: E. J. A writer of our time. Cambridge 1953. – Gerhard Loose: E. J. Gestalt u. Werk. Ffm. 1957. – Karl Otto Paetel: E. J. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1962. – Wolfgang Kaempfer: E. J. Stgt. 1981. – Heimo Schwilk (Hg.): E. J. Leben u. Werk in Bildern u. Texten. Stgt. 1988. – Martin Meyer: E. J. Mchn./Wien 1990. – Steffen Martus: E. J. Stgt./ Weimar 2001. – Helmuth Kiesel: E. J. Die Biogr. Mchn. 2007. – Heimo Schwilk: E. J. Ein Jahrhundertleben. Mchn. 2007. – Weitere Titel und Themen: Eugen Gottlob Winkler: E. J. u. das Unheil des Denkens. In: Ders.: Gestalten u. Probleme. Lpz. 1937. – Max Bense: Ptolemäer u. Mauretanier oder die theolog. Emigration der dt. Lit. Köln/Bln. 1950. – Rainer Gruenter: Formen des Dandyismus. Eine problemgeschichtl. Studie über E. J. In: Euph. N. F. 3 (1952), S. 170–201. – Hans Peter Schwarz: Der konservative Anarchist. Politik u. Zeitkritik bei E. J. Freib. i. Br. 1962. – Marcel Decombis: E. J. et la ›Konservative Revolution‹. Paris 1975. – Volker Katzmann: E. J.s ›Magischer Realismus‹. Hildesh. 1975. – Karl Heinz Bohrer: Die Ästhetik des Schreckens. Die pessimist. Romantik u. E. J.s Frühwerk. Mchn. 1978. – Peter Koslowski: Der Mythos der Moderne. Die dichter. Philosophie E. J.s. Mchn. 1991. – Friedrich Strack (Hg.): Titan Technik. E. u. Friedrich Georg J. über das techn. Zeitalter. Würzb. 2000. – Lutz Hagestedt (Hg.): E. J. Politik, Mythos, Kunst. Bln. 2004. – Daniel Morat: Von der Tat zur Gelassenheit. Konservatives Denken bei Martin Heidegger, E. u. Friedrich Georg J. 1920–1960. Gött. 2007. Gert Mattenklott / Red.
– Lyriker, Erzähler, Essayist. Als Sohn eines niedersächs. Chemikers u. Apothekenbesitzer wuchs J. in behütet bürgerl. Milieu auf. Freiwillig nahm er am Ersten Weltkrieg teil u. wurde 1917 in Langemarck/ Flandern schwer verwundet. Er studierte Jura in Leipzig u. wurde Assessor in Freiberg. 1926 zog er als freier Schriftsteller nach Berlin. Das ständige »geistige Zwiegespräch« mit dem dreieinhalb Jahre älteren Bruder Ernst bestimmte sein Leben; ernsthafte Berufspläne hat es nie gegeben. 1942 ließ sich J. zusammen mit seiner Frau Citta in Überlingen am Bodensee nieder, wo er, nur unterbrochen von einigen ausgedehnten Reisen, bis zu seinem Tod blieb. Seine Erinnerungen an die Kindheit u. die Jahre bis 1936 geben die beiden Bände Grüne Zweige (Mchn.1951) u. Spiegel der Jahre (Mchn. 1958) wieder. J.s Werk wurzelt in einer antidemokratischen Tradition des dt. Bürgertums, für welche das Trauma des Ersten Weltkriegs lebensbestimmend wird: Neben Ernst Jünger, Heidegger oder Carl Schmitt zählt er zu den Autoren der »Konservativen Revolution« Deutschlands. Die Moderne erlebte J. imperialistisch, grausam u. gnadenlos. In den 1920er Jahren schließt er sich dem »nationalbolschewistischen« Kreis um Niekisch an, in dessen Zeitschrift »Widerstand« seine ersten Essays u. polit. Glossen (Vom Geist des Krieges) erscheinen. J. propagiert einen radikalen Nationalismus, der sich, nach anfängl. Sympathie, bald auch im Widerspruch befindet zu den Nationalsozialisten. Die Zeitgenossen lasen J.s Gedicht Der Mohn (Bln. 1934) als Angriff auf den Nationalsozialismus, entsprungen freilich der elitär-ästhetischen, nicht moralisch-polit. Attitüde dessen, der alles »Niedrige« verachtet u. als »Kränkung« zurückweist. Im Band Gedichte (Bln. 1934) suchte er, im Gegenzug zum expressionistischen Pathos u. experimentellen Gedicht, in klassizistischer Manier die Strenge des antiken Versmaßes für die dt. Lyrik zurück zu gewinnen, inspiriert von u. geschult an Klopstocks Oden u. Hölderlins Elegien. Zeitlebens musste ihm die Beschwörung des
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Mythos Schutz bieten gegen den schmerzhaft Jünger, Johann Friedrich, * 15.2.1756 diagnostizierten Verfall der Moderne. In der (1759?) Leipzig, † 25.2.1797 Wien. – sog. Inneren Emigration mahnte J. (Griechi- Lustspieldichter, Romanschriftsteller, sche Götter, Apollon – Pan – Dionysos. Ffm. 1943) Übersetzer. zur Wahrung von Maß, Form, Rhythmus u. Muße, die allein die »Wildheit« bezähmen J. stammte aus einem kaufmänn. Elternhaus. könnten. Demgegenüber erscheint die Hy- Nach einer vierjährigen Handelslehre stupertrophie des prometheischen Menschen als dierte er Schulwissenschaften, dann die Urbild vergangenheitsvergessenen Lebens. Rechte in Leipzig. Zwar legte er 1780 eine Diese Dichotomie beherrscht auch das es- juristische Disputation mit Erfolg ab, übte sayistische Hauptwerk Die Perfektion der Tech- aber auch diesen Beruf nicht aus. Innerlich nik (begonnen 1939, erschienen Ffm. 1946), ziellos u. ohne Auskommen, unternahm er welches gegen die Zweckrationalität des schriftstellerische Versuche. Sein Erstling neuzeitl. Fortschrittsbewusstseins die Musi- Huldreich Wurmsamen von Wurmfeld, ein komikalität geformter Erinnerung setzt. Technik- scher Roman in der Tradition Sternes, wurde u. Kapitalismuskritik gehen in J.s Pessimis- 1781 von Dyk verlegt (2. u. 3 Tl. Lpz. 1782 u. mus Hand in Hand; der Ton wird nach dem 1787). Nach vorübergehender Anstellung als Prinzenerzieher war J. als freier Schriftsteller Zweiten Weltkrieg gelassener. Anfang der 1970er Jahre firmierte J. als tätig. Über den Verleger Göschen wurde er Mitbegründer der ökologisch ausgerichteten 1785 mit Schiller bekannt; trotz ihres nur Zeitschrift »Scheidewege«, ohne freilich bei kurzen Bestehens gab diese Freundschaft J. Umweltbewegung u. Grünen erkennbare einen entscheidenen Impuls. In den folgenWirkung zu hinterlassen. J.s umfangreiches den, schriftstellerisch ertragreichen Jahren episches Spätwerk zeichnet sich durch einen erwarb er sich bes. als Lustspieldichter einen nüchternen Erzählton u. fast kalte Abge- Namen. Auch auf anderen Gebieten der unterhalklärtheit aus. Weitere Werke: Werkausgabe: Erzählende tenden Literatur war J., der 1787 nach Wien Schr.en. 6 Bde., Stgt. 1978–81. – Autobiogr. übersiedelte, erfolgreich. So veröffentlichte er Schr.en. 2 Bde., Stgt. 1978–80. – Gedichte. 3 Bde., eine dt. Fassung der Lunes du Cousin Jacques Stgt. 1985–87. – Einzelwerke: Der Taurus. Hbg 1937 nach Beffroy de Reigny, einem literar. Journal (L.). – Der Missouri. Lpz. 1940 (L.). – Griech. My- mit Erzählungen, Anekdoten u. kleinen then. Ffm. 1947. – Orient u. Okzident. Hbg. 1948 Dichtungen (Vetter Jacobs Launen. 6 Bde., Lpz. (Ess.s). – Maschine u. Eigentum. Ffm. 1949. – 1786–92). Den Höhepunkt seiner Karriere Dalmatin. Nacht. Tüb. 1950 (E.en). – Rhythmus u. bildete 1789 die Anstellung als k. k. HofSprache im dt. Gedicht. Stgt. 1952. – Der erste theaterdichter am Burgtheater, damals NaGang. Mchn. 1954 (R.). – Zwei Schwestern. Mchn. 1956 (R.). – Heinrich March. Stgt. 1979 (R.). – Ho- tionaltheater. Nach seiner Entlassung 1794 mers Odyssee. Stgt. 1979 (Übers.). – Homers verfasste J. vermehrt Unterhaltungsromane (Wilhelmine. 2 Bde., Bln. 1795/96. Fritz, ein Odyssee. Stgt. 1981 (Übers.). Literatur: Albrecht Fabri: Krit. Briefe. In: Dt. komischer Roman. 4 Bde., Bln. 1796/97). WirtBeiträge 2 (1948), S. 353–368, 472–480, 566–576. – schaftlich bedrängt, durch eine AugenerUlrich Fröschle: F.G. J. (1898–1977). Komm. Verz. krankung beeinträchtigt, verfiel er zunehseiner Schr.en. Marbach 1998. – Ders.: F. G. J. u. der mend in schwere Depression u. starb mit 41 ›radikale Geist‹. Eine Fallstudie zum literar. Radi- Jahren am »Nervenfieber«. Aus dem Nachlass kalismus der Zwischenkriegszeit. Dresden 2007. – wurde das satirisch-zeitkrit. Feenmärchen Andreas Geyer: F. G. J. Werk u. Leben. Wien 2007. – Prinz Amaranth mit der großen Nase veröffentDaniel Morat: Von der Tat zur Gelassenheit. Konlicht, das Cazottes Patte du Chat verpflichtet ist servatives Denken bei Martin Heidegger, Ernst u. F. (Bln. 1799; Fragment). G. J. 1920–1960. Gött. 2007. Rainer Hank Geschätzt wurde J.s Geschick für bühnenwirksame Situationen u. den geschmeidigen Dialog. In seinen Lustspielen – leichte Liebesu. Gesellschaftskomödien – siegen Natür-
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lichkeit, Gefühl u. gesunder Verstand über dünkelhafte Anmaßung. Anerkennung verdient J. als Vermittler frz. u. engl. Autoren, die ihm in seinen Erzähl- u. Bühnenwerken zum Vorbild dienen, u. a. Marivaux, Destouches, Centlivre u. Vanbrugh. Häufig übersetzte er einbürgernd, indem er Schauplatz u. Handlung nach Deutschland verlegte, u. führte so neuartige Motive u. Darstellungsweisen in die deutschsprachige Literatur ein. Weitere Werke: Lustspiele. 5 Tle., Lpz. 1785–89. – Camille oder Briefe zweier Mädchen aus unserem Zeitalter (Übers. aus dem Franz., Original engl.). 4 Bde., Lpz. 1786/87 (R.). – Kom. Theater. 3 Bde., Lpz. 1792–95. – Der Melancholische. Frei nach dem Engl. 3 Bde., Bln./Lpz. 1795/96 (E.). – Theatral. Nachl. 2 Bde, Regensb. 1803/04. – Gedichte. Hg. v. Johann Georg Eck. Lpz. 1821. Literatur: Hermann Uhde: Selbstbiogr. Skizze des Dichters J. F. J. In: AfLg 6 (1877), S. 416–420. – Bernhard Wedekind: J., ein dt. Lustspieldichter. Lpz. 1921. – Roswitha Fischer: J. F. J. In: NDB. Dominica Volkert / Yong-Mi Quester
Jüngeres Hildebrandslied ! Hildebrandslied, Jüngeres Jünglinge im Feuerofen ! Drei Jünglinge im Feuerofen Juhre, Arnim, * 6.12.1925 Berlin. – Verfasser von Lyrik, Erzählungen, Dramen, Liedtexten u. Kalendergeschichten.
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J.s Werk ist tief geprägt von seinem christl. Glauben; in seinen Texten u. Gedichten übt er Zeit- u. Gesellschaftskritik unter dem Aspekt christl. Hoffnungen u. Verpflichtungen. Mit der zeitnahen Abwandlung der Psalmform hat er ein Ausdrucksmittel gefunden, in dem sich Klage u. Anklage mit vertrauender Gläubigkeit zur intensiven individuellen Aussage verdichten. Seine Gedichte reflektieren, oft in unmittelbarer Anlehnung an bibl. Verse, in dichter Sprache u. frei von Pathos Fragen u. Schwierigkeiten der modernen Welt, der Wohlstands- u. Leistungsgesellschaft (Wenn ich deine Stimme höre u. Wer hier untadelig lebt. In: Der Schatten über meiner Hand. Stgt. 1984). J. verfasst zudem Texte zu Liedern u. anderen Musikstücken. Mehrere Werke entstanden in Zusammenarbeit mit dem Komponisten Lothar Graap, darunter das »Opus für Orgel, Schlagzeug und Menschenstimmen zum Reichstagsbrand 1933« Eines Tages müssen wir die Wahrheit sagen, das Stimmen von Zeitzeugen aus der Frühphase der NaziHerrschaft zu Gehör bringt (Urauff. Hannover, EXPO, 2000). J. erhielt 1994 den Nikolaus-Lenau-Lyrikpreis. Auf seine Initiative hin stiftete die Evangelische Akademie Tutzing den MarieLuise-Kaschnitz-Preis, der seit 1984 alle zwei Jahre vergeben wird. Weitere Werke: Das Salz der Sanftmütigen. Stgt. 1962. 1989 (E.en). – Wir stehn auf dünner Erdenhaut. Hbg. 1979 (L.). – Frieden will geboren sein. Advents- u. Weihnachtsgedichte. Hann. 2001. – Die Ungeborenen schlagen Alarm. Mchn. 2003 (G.e, Psalmen u. Lieder). Literatur: Inka Bohl: Ein Polit-Krimi aus dem Dunkel der Gesch. Im Gespräch mit A. J. über sein Opus ›Eines Tages müssen wir die Wahrheit sagen‹. In: Der Literat 45 (2003), H. 5, S. 8–11. Leonore Schwartz / Christine Henschel
Nach dem Schulabschluss wurde J. zum Arbeitsdienst, dann zur Luftwaffe eingezogen. 1945 kehrte er aus brit. Kriegsgefangenschaft nach Berlin zurück u. lebte zunächst als Gelegenheitsarbeiter u. freier Schriftsteller im Westteil der Stadt. Nach 1969 arbeitete er als Verlagslektor u. Redakteur in Wuppertal, Saarbrücken u. Hamburg, wo er bis 1990 Kulturredakteur beim »Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt« war. Heute lebt er als Jung, (Jacob Friedrich) Alexander, * 28.3. freier Schriftsteller in Wuppertal. 1799 Rastenburg/Ostpreußen, † 20.8. Seit 1948 veröffentlicht J. Lyrik u. Prosa, 1884 Königsberg. – Publizist, Literaturzunächst v. a. in Zeitschriften, Anthologien u. historiker, Erzähler, Lyriker. im Rundfunk. Sein erster Gedichtband Die Hundeflöte (Bln. 1962) vermittelt die melan- J.s Leben u. Schaffen stand immer unter eicholisch-skept. Stimmung der Nachkriegs- nem schlechten Stern. Behindert durch ein jahre. Augenleiden u. häufige Krankheiten, konnte
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die Halbwaise erst mit zwölf Jahren öffentl. den Vorlesungen über die moderne Literatur der Schulen besuchen. Nach kurzer Tätigkeit als Deutschen (Danzig 1842), etwas Doppeltes zu Hauslehrer bestand J. 1827 das Abitur u. leisten, zgl. klassisch u. modern zu werden: immatrikulierte sich an der Berliner Univer- »Wir fordern Werke, die den früheren der sität, wo er u. a. Schleiermacher, Lachmann, Idee und der Form nach nichts nachgeben, Boeckh, Alexander von Humboldt u. Hegel und doch zugleich auf das wirkliche Leben hörte, der ihn stark beeinflusste. Das ange- selbst eingehen.« In den Schriften seit den strebte Predigeramt gab er bald wieder auf u. 1850er Jahren bekannte sich J. zu spätideazog nach Königsberg, wo er 1833 Karl Ro- listischen, ja myst. Positionen, die unter Absenkranz kennen lernte, mit dem ihn le- sage an den Materialismus u. Pessimismus benslange Freundschaft verband. Gemeinsam eine Harmonie des Lebens, Verschönung u. unternahmen sie eine Reise durch Deutsch- Verklärung durch die Kunst propagieren. land, die sie mit Tieck, den Grimms, Uhland, Weitere Werke: Briefe über die neueste Lit. Schelling, Baader, Görres, Varnhagen u. Bet- Hbg. 1837. – Charaktere, Charakteristiken u. vertina von Arnim zusammenbrachte. Rosen- mischte Schr.en. 2 Bde., Königsb. 1848. – Friedrich kranz war es auch, der sich in späteren Jahren Hölderlin u. seine Werke. Stgt. 1848. – Göthes verschiedentlich für den immer von Geldnö- Wanderjahre u. die wichtigsten Fragen des 19. Jh. ten geplagten Freund einsetzte. Nach der Mainz 1854. – Briefe über Gutzkow’s Ritter vom Geiste. Lpz. 1856. – Das Geheimniß der LebensPromotion zum Dr. phil. 1836 wurde J. kunst. 2 Tle., Lpz. 1858. – Rosmarin oder Die Mitgl. der Deutschen Gesellschaft in Königs- Schule des Lebens. 5 Tle., Lpz. 1862 (R.). – Darwin. berg u. erhielt eine Lehrstelle an der frz. hö- Ein kom.-trag. Roman in Briefen an einen Pessiheren Töchterschule. 1841–1845 redigierte er misten. 3 Bde., Jena 1873. das »Königsberger Literaturblatt«. Literatur: Friedrich Engels: A. J. Vorlesungen J.s literar. Tätigkeit ist von einer tiefen über die moderne Lit. der Deutschen. In: Dt. Jbb., Diskrepanz zwischen maßloser Selbstüber- Juli 1842. – Alexander Reifferscheid: A. J. In: ADB. schätzung u. faktischer Epigonalität geprägt. – Briefw. zwischen Karl Rosenkranz u. Varnhagen In rastloser Hektik produzierte er Romane, v. Ense. Hg. Arthur Warda. Königsb. 1926. – Fritz Gedichtsammlungen, literarhistor. u. -krit. Martini: A. J. In: NDB. Werner Jung Abhandlungen (über Goethe, Hölderlin u. Gutzkow) sowie sozial- u. zeitkrit. Arbeiten, Jung, C(arl) G(ustav), * 26.7.1875 Kesswil/ die häufig nicht einmal den Weg in DruckeBodensee, † 6.6.1961 Küsnacht; Grabreien fanden. Dem unnachsichtigen Kritiker stätte: ebd. – Begründer der analytischen Rosenkranz verdanken wir ein aufschlussreiPsychologie. ches Porträt des »Dr. exstaticus« J.: »Seine Gesinnung, sein Streben sind groß, edel, rein, J. wuchs als Sohn eines Theologen in Laufen idealisch, seine Schreibart im Einzelnen oft bei Schaffhausen, von 1879 an in Kleinhüvortrefflich; allein in der Composition [...] ningen bei Basel auf. Er wurde 1900 Assisgenügt er nicht eben so und ist ganz ohne tenzarzt, dann Oberarzt (1905–1909) an der Bewußtsein darüber, wo er nur reproducirt damals weltberühmten, der Psychoanalyse und nachahmt [...], weil es ihm immer zuerst offenstehenden Psychiatrischen Universitätsum den Styl und dann erst um die Sache zu klinik Burghölzli in Zürich unter Eugen thun ist« (an Varnhagen, 25.5.1851). Bleuler. J. bezog sich bereits von 1900 an, v. a. Wegbereitend für die Rezeption der Vor- 1902 in seiner Dissertation Zur Psychologie und märzliteratur waren J.s literarhistor. Ab- Pathologie sogenannter occulter Phänomene (Lpz.), handlungen, die sich insbes. für Gutzkow u. auf frühe Erkenntnisse von Freud, der zum Sealsfield engagieren u. einer Literatur der Schlüssel für Werk u. Entwicklung J.s wurde. Moderne das Wort reden, ohne dabei jedoch – J. korrespondierte von 1906 an mit Freud, ähnlich anderen Hegelianern wie Ruge, Ro- den er 1907 in Wien persönlich kennen lernsenkranz, Vischer – die Bedeutung Heines zu te. Jahrelang war er Bannerträger u. Kronerkennen. Aufgabe der Literatur nach dem prinz der internat. Psychoanalyse. 1913 kam »Ende der Kunstperiode« sei es, fordert J. in es zum Bruch zwischen ihm u. Freud. J. ver-
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fiel in diesem Zusammenhang einer längeren psychot. Reaktion, die ihm als »schöpferische Krankheit« (Henry F. Ellenberger) oder »Krise« (Caspar Toni Frey) half, innerhalb der Tiefenpsychologie seine eigene analyt. Psychologie zu schaffen: teils durch Umdeutung oder Erweiterung psychoanalyt. Begriffe (z.B. Libido), teils durch Einführung einer anderen Konzeption u. Terminologie. Erste grundlegende Werke waren Wandlungen und Symbole der Libido (Wien 1912. U. d. T. Symbole der Wandlung. Zürich 41952) u. Psychologische Typen (Zürich 1921). J. war hinfort der kreativste Gegenspieler Freuds u. gehörte internat. zu den führenden Psychiatern, Psychotherapeuten u. Religionspsychologen seiner Zeit. J. war Privatdozent an der Universität Zürich (1905–1913), 1933–1935 an der dortigen ETH (Titularprofessor 1935–1942), zuletzt Ordinarius in Basel (1943/44). Von 1909 an führte er eine eigene psychotherapeutische Praxis in Küsnacht. Studien-, Forschungs- u. Vortragsreisen führten ihn nach Paris (zu Pierre Janet), wiederholt in die USA (zusammen mit Freud u. Sándor Ferenczi 1909), zu den Pueblo-Indianern 1924/25, nach London, Nord- u. Ostafrika u. Indien. J.s schwer erfassbare, komplexe Denkform ähnelt einem zur Spiralform gedrehten Schachbrettmuster: Die weißen Felder werden von seiner klin., analyt. u. reichen menschl. Erfahrung u. Praxis, von fachpsychiatr., psychotherapeutischen Problemen u. Kenntnissen beherrscht; in den schwarzen regieren theologie- u. metaphysiknahe, spekulative, mystizist. u. okkultistische Gedankengänge u. Imaginationen. Die Felder überschneiden sich labyrinthisch. Viele, auch kontroverse Strömungen u. Traditionen laufen hier zusammen, was bes. auf manche religiöse, künstlerische u. esoterisch orientierte Naturen seit jeher faszinierend u. befruchtend, auf andere stark abstoßend, zumindest chaotisch u. widersprüchlich wirkte. Im Zentrum dieser grenzüberschreitenden, multidisziplinären Denkweise lässt sich geistesgeschichtlich eine Art neuplaton. Aristotelismus feststellen. Der platonische Anteil verdichtet sich v. a. im mehrschichtigen Grundbegriff des »Archetypus«; der etwas verborgenere aristotel. Anteil erscheint im anderen Kernbe-
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griff, der »Individuation«. Mit Hilfe beider Begriffe machte J. seine intensiven persönlich-privaten u. ärztl. Erfahrungen mit der unbewussten Tiefenschicht der Psyche für Wissenschaft u. Kultur fruchtbar. Vor allem die Einbeziehung der spätantik-hermet., gnost. u. insbes. alchemistischen Gedankenwelt war dabei für rational-wissenschaftl. Denken nur schwer nachvollziehbar. J. selbst sah in der alchemistischen Praxis u. Philosophie eine Entsprechung zu seiner Psychologie. Mit seinem erst spät gefundenen, antiken Grundbegriff des »Archetypus« (Urbild, Urmuster) stellte sich J. durchaus bewusst in die auch für die alchemistische Denkweise wichtige neuplaton. Denktradition. Er grenzte sich damit nicht zuletzt gegen die naturalistisch-positivist. Grundanschauung u. physikalist. Wissenschaftstheorie Freuds scharf u. sehr polemisch ab. Der Begriff gestattete ihm, seinem Suchen nach apriorischen, universellen Fundamenten allen menschl. Erlebens u. Verhaltens einen altehrwürdigen, auch im Englischen brauchbaren Namen zu geben. »Archetypen« sind für J. neben vielen anderen Urphänomenen die Mutter u. das Mütterliche, das Kind, der alte Weise, die unbewusste psych. Gegengeschlechtlichkeit (Anima/Animus), der Schatten (Chamisso), aber auch die »Individuation« (Selbstwerdung, Selbstverwirklichung). In diesem traditionsreichen Begriff tritt die von J. selbst erwähnte aristotel. Entelechie (Vollendung durch Erreichung des innewohnenden Ziels) klar zutage – verknüpft mit Schopenhauers principium individuationis, Freuds Ich-Synthese, Nietzsches Selbst u. Adlers holist. Finalität. Das Ziel, das in einem lebenslangen psych. Integrationsprozess – oder durch Psychotherapie im Sinne J.s – erreicht werden sollte, ist die einzigartige Ganzheit jeder Persönlichkeit, das Selbst oder die Synthese des Selbst als eine dem Ich übergeordnete, den Weltbezug tendenziell mitumfassende archetypische Gesamtstruktur. Neben oder in diesen platonisch-typisierenden u. aristotelisch-entelechialen Bezügen entwickelte J. – mit Bezug auch auf Heraklit – ein an Gegensätzen orientiertes Denken. Seine intensiv mit Analogien arbeitende Denk-
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form vermittelte auf der Basis seiner Archetypologie zwischen Praxisvorgängen u. alten Mythologien, zwischen Träumen u. Fantasien von Patienten u. den universellen Symbolen. Dafür hatte bereits Freud mit seiner Bezugnahme auf Sophokles’ König Oedipus 1900 den entscheidenden Anstoß gegeben. Aber J. dachte viel grundsätzlicher u. allgemeiner symbolistisch, wodurch er das Feld der mögl. Verbindungen von psychot. oder neurot., aber auch gesunden seel. Bildern mit der myth. Bildwelt ferner Zeiten u. fremder Kulturen stark erweiterte. Vorbedingung dafür war J.s heurist. Modell des alle Archetypen umfassenden »kollektiven Unbewussten«, das in der Nachfolge von platonischen, stoischen u. dt.-romant. Vorstellungen (Weltseele/Weltgeist) zu denken ist. Es ermöglichte ihm die synthetisierende Zusammenarbeit in anderen, weit auseinanderliegenden Bereichen (z.B. Parapsychologie u. Physik in Naturerklärung und Psyche. Zürich 1952) u. das verstehende Eingehen auf außereurop. Religionen oder auf die ihm selber urspr. fernliegende kath. Dogmatik (Antwort auf Hiob. Zürich 1952). Seine gelegentlich heftig anti- oder irrationalistische, scharf antiaufklärerische Einstellung u. sein paradoxaler Wahrheitsbegriff (»Ein Elefant ist wahr, weil er existiert«) erleichterten ihm äußerst kühne, alltags- u. geschichtsfern anmutende Kombinationen. Sie bildeten – zusammen mit seiner Hassliebe zu Freud u. seinen germanophilen, wagnerian. Vorlieben – den Hintergrund für seine jahrelange doppelzüngige Nähe zum HitlerRegime u. zu Aspekten der NS-Ideologie (z.B. zum Antisemitismus). Nicht von ungefähr war seine Lehre den Nationalsozialisten ausdrücklich sehr willkommen. 1945 schwenkte J. auf die These der Kollektivschuld u. Minderwertigkeit aller Deutschen ein. Dass die nachfolgende Generation zwischen 1960 u. 1990 z.T. über solche opportunistischen Schwankungen hinwegzugehen schien, zeigt sich nicht zuletzt an der Rezeption J.s in der New-Age-Bewegung u. ihrer betont antimodernist. »Gegenkultur«. Die Nähe J.s zur »Konservativen Revolution« zwischen 1918 u. 1932 (Armin Mohler) erhielt dadurch eine neuartige Bestätigung. J. selbst leistete – trotz
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selbstkrit. Momente – Tendenzen in seiner Anhängerschaft Vorschub, in der höchst privat-persönl. Individuation seiner Psyche eine allgemeingültige Grundlage für einen religionsartigen Heilsweg, einen Mythos u. eine religiöse Offenbarung zu sehen. Die heutigen Jungianer (engl. Jungians) haben sich z.T. von diesem idealisierenden Jung-»Fundamentalismus« (Thomas B. Kirsch) u. »Jung-Kult« (Richard Noll) entfernt. In Bezug auf diese nüchtern-krit. Denkweise ist die internat. tätige Anhängerschaft tief gespalten. Die Wirkungsgeschichte J.s lässt sich einerseits kaum von derjenigen Freuds, Adlers u. der allg. Tiefenpsychologie klar unterscheiden. Andererseits ist seine spezielle Wirkung außer in der Psychotherapie u. Psychologie (Typologie, Traumanalyse, Maltherapie) auch in der Märchen- u. Mythenforschung, der Esoterik, der Theologie u. der Literatur – z.B. bei Hermann Hesse – greifbar. Besonders bemerkenswert ist J.s Einfluss – nach u. neben Freud – auf den Surrealismus (z.B. Max Ernst) u. den abstrakten Expressionismus (z.B. Jackson Pollock). Begriffe wie »Intro-« u. »Extraversion« u. »archetypisch« sind, meist ungenau oder verfälscht, in den Wortschatz der allg. westeuropäisch-angelsächs. Bildung eingegangen. Ausgaben: Ges. Werke. 19 Bde., Zürich, später Olten 1958–83. – Erinnerungen, Träume, Gedanken. Hg. Aniela Jaffé. Zürich 1962. – C. G. J. u. a.: Der Mensch u. seine Symbole. Olten 1968. – Briefwechsel: Briefe. Hg. A. Jaffé. 3 Bde., Olten 1972. – Sigmund Freud – C. G. J. Briefw. Ffm. 1974. Literatur: Bibliografien: Joseph F. Vincie u. a.: C. G. J. and Analytical Psychology. New York 1977. – Lisa Ress: General Bibliography of C. G. J.’s Writings. Princeton 1979. – Weitere Titel: Jolande Jacobi: Die Psychologie v. C. G. J. Zürich 1940. Ffm. 1984 (mit Bibliogr.). Neuausg. 2002. – Aniela Jaffé (Hg.): C. G. J. Bild u. Wort. Olten 1977. – Paul J. Stern: C. G. J. Mchn. 1977 (mit Bibliogr.). – C. T. Frey-Wehrlin: Die Analyt. (Komplexe) Psychologie J.s. In: Die Psychologie des 20. Jh. Bd. 3, Zürich 1977, S. 694–774. – Peter Seidmann: Tiefenpsychologie. Ursprung u. Gesch. Stgt. 1982. – Gerhard Wehr: C. G. J. Mchn. 1985. 202003. – Henri F. Ellenberger: Die Entdeckung des Unbewußten. Zürich 1985. Neuausg. der 2. Aufl. 2005. – Tilman Evers: Mythos u. Emanzipation. Eine krit. Annäherung an C. G. J. Hbg. 1987. – Andrew Samuels: J.
209 u. seine Nachfolger. Neuere Entwicklungen der Analyt. Psychologie. Stgt. 1989. – Richard Noll: The J. Cult. Origins of a charismatic movement. New Jersey 1994. – Ders.: The Aryan Christ. The secret life of C. J. New York 1997. – Thomas Kirsch: The Jungians. A Comparative and Historical Perspective. London 2000. – Deirdre Bair: J. A Biography. Boston 2003. – Rainer Zuch: Die Surrealisten u. C. G. J. Weimar 2004. Peter Seidmann
Jung, Edgar J(ulius), * 6.3.1894 Ludwigshafen, † 30.6.1934 bei Oranienburg. – Politischer Schriftsteller. J., Sohn eines Lehrers u. Musikers, studierte Jura. Ab 1922 war er als Rechtsanwalt in Zweibrücken tätig. Seit 1919 Mitgl. der DVP (Pfalz), wurde er 1924 wegen seines Kampfes gegen den pfälz. Separatismus ausgewiesen. Bis zu seinem Tod lebte er als Rechtsanwalt in München. 1929/30 unterstützte er den von Gottfried R. Treviranus repräsentierten Flügel der DNVP, danach agitierte er parteiunabhängig in konservativ-nationalen Clubs, 1932 warb er für die Regierung Papen. J. verfasste fortan die meisten Reden des späteren Vizekanzlers unter Hitler. Wegen der ebenfalls von ihm geschriebenen Marburger Rede vom 17.6.1934, einer scharfen Kritik am Nationalsozialismus, wurde er verhaftet u., in vorgebl. Zusammenhang mit dem RöhmPutsch, erschossen. J. publizierte zwischen 1928 u. 1932 zahlreiche polit. Aufsätze, in denen er als von der Jugendbewegung u. der Erfahrung des Kriegs geprägter Ideologe gegen die Weimarer Republik kämpfte. Im bereits 1927 erschienenen Opus magnum Die Herrschaft der Minderwertigen. Ihr Zerfall und ihre Ablösung (maßgeblich die 2., erw. Aufl. mit dem Titelzusatz [...] durch ein Neues Reich. Bln. 1930. Struckum 3 1991 [Faks.-Ausg. der 2. Aufl.]) hatte J. die zentralen ideolog. Positionen der Konservativen Revolution in essayistischer, oftmals pointierter Form zusammengefasst. Vom Nationalsozialismus abweichende Akzentsetzungen verdankten sich u. a. den Einflüssen Oswald Spenglers, Robert Michels’ u. des Ökonomen Othmar Spann. J. propagierte den Kampf gegen Parteidemokratie, Kollektivismus u. Kapitalismus. Er verkündete die
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»Wiedergeburt deutscher Seele« in einer organisch u. ständisch gegliederten »Volksgemeinschaft«, wobei er weniger biologistischrassistisch als historisch argumentierte, u. postulierte eine transnationale europ. Wirtschaftsordnung. Werte wie »Blut und Heimat« band J. in ein metaphys. u. zgl. vitalistisches Weltanschauungskonzept ein, das punktuell als »faschistisch« verstanden werden konnte. Ab 1933 kritisierte J., der in jungkonservativen Kreisen seit Ende der 1920er Jahre großen Einfluss hatte, den Nationalsozialismus u. setzte auf eine Oppositionspolitik, die eine monarchische (jedoch nur vage umschriebene) Restauration unter Hindenburg anstrebte. Weitere Werke: Die geistige Krise des jungen Dtschld. Bln. 1926 (Rede). – Föderalismus als Weltanschauung. Mchn. 1931. – Herausgeber: Deutsche über Dtschld. Die Stimme des unbekannten Politikers. Mchn. 1932. – Sinndeutung der dt. Revolution. Oldenb. 1933. Lpz. 2007 (zus. mit anderen Schr.en; bearb. u. hg. v. Detlef Weigt). Literatur: Leopold Ziegler: E. J. J. Denkmal u. Vermächtnis. Wien u. a. 1955. – Friedrich Grass: E. J. J. In: Kurt Baumann (Hg.): Pfälzer Lebensbilder. Bd. 1, Speyer 1964., S. 320–348. – Karl Martin Graß: E. J. J. Papenkreis u. Röhmkrise 1933–34. Diss. Heidelb. 1966. – Bernhard Jenschke: Zur Kritik der konservativ-revolutionären Ideologie in der Weimarer Republik. Weltanschauung u. Politik bei E. J. J. Mchn. 1971. – K. M. Graß: E. J. J. In: NDB. – Edmund Forschbach: E. J. J. Ein konservativer Revolutionär. 30. Juni 1934. Pfullingen 1984. – Armin Mohler: Die konservative Revolution in Dtschld. 1918–32. Ein Hdb. 3., erw. Aufl. Darmst. 1989. – Gilbert Merlio: Révolution conservatrice et nationalsocialisme. Le cas d’E. J. J. In: Gilbert Krebs (Hg.): Weimar ou de la démocratie en Allemagne. Asnières 1994, S. 107–122. – Karlheinz Weißmann: E. J. J. Ein konservativer Revolutionär gegen Hitler. In: Schweizer Monatshefte 75 (1995), H. 4, S. 14–17. – Helmut Jahnke: E. J. J. Ein konservativer Revolutionär zwischen Tradition u. Moderne. Pfaffenweiler 1998. Wilhelm Haefs / Red.
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Jung, Franz (Josef Johannes Konrad), auch: F. Larsz, Johannes Reinelt, Joe Frank, Frank Ryberg, * 26.11.1888 Neiße/Oberschlesien, † 21.1.1963 Stuttgart; Grabstätte: Stuttgart-Degerloch, Neuer Friedhof. – Erzähler, Dramatiker, Reiseberichterstatter, Journalist. Aufgewachsen in einer gut situierten, mittelständ. Familie eines Neißer Uhrmachermeisters, lehnte sich J. schon früh gegen das Elternhaus u. die Provinzialität seiner Heimatstadt auf. 1907 begann er zu studieren, wechselte mehrfach Universität u. Studienfächer, verschuldete sich u. verkehrte in dubiosen Kreisen. Der Vater enterbte ihn. Halt fand er schließlich im Schreiben. 1911 war er nach München, 1913 nach Berlin gezogen. In beiden Städten fand er Freunde im Umfeld der expressionistischen Literaturszene. Er verkehrte u. a. mit Graf, Georg Schrimpf, Grosz u. Pfemfert. Die Psychoanalyse, wie sie Otto Groß vertrat, u. der Vitalismus Raoul H. Francés prägten ihn ebenso wie die anarchistischen Ideen Landauers u. Erich Mühsams. Seine frühen, expressionistischen Texte thematisieren den Geschlechterkampf, den Konflikt zwischen Mann u. Frau. Wenn es den Menschen gelänge, ihre »Erlebensfähigkeit« zu steigern u. damit ihre Beziehungen zueinander zu verändern, dann, so J., sei der Weg frei, die Gesellschaft zu einer glückl. Gemeinschaft umzugestalten. Mit diesem Thema, das er in seinen Romanen u. Erzählungen Das Trottelbuch (Lpz. 1912. 2004), Kameraden ...! (Heidelb. 1913), Sophie. Der Kreuzweg der Demut (Bln. 1915), Opferung (Bln. 1916), Saul (Bln. 1916) u. Der Sprung aus der Welt (Bln. 1918) mehrfach variierte, machte er sich als Schriftsteller einen Namen. Durch die Erfahrung von Krieg, Hunger u. Zerstörung wurde er radikaler u. begann sich politisch zu engagieren. Nach einer kurzen dadaistischen Zwischenphase, in der einer seiner besten Texte, Der Fall Gross. Novelle (in: Die Erde 2, Nr. 1, 1920, S. 29–43), entstand, schloss er sich 1918 der (räte-)kommunistischen Bewegung an, nahm an der dt. Revolution teil, kämpfte auf den Berliner Barrikaden u. gehörte zu den Gründungsmitgliedern der linksradikalen Kommunistischen
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Arbeiter-Partei Deutschlands (KAPD). Mehrfach inhaftiert, verfasste er in dieser Zeit viel diskutierte proletarisch-revolutionäre Romane u. Schauspiele, die den Kampf der Arbeiterklasse für eine bessere Welt unterstützen sollten, wie z.B. Proletarier u. Die rote Woche (beide Bln. 1921). In seinen theoret. Schriften Die Technik des Glücks. Psychologische Anleitung in vier Übungsfolgen (Bln. 1921) u. Mehr Tempo Mehr Glück Mehr Macht. Ein Taschenbuch für Jedermann (Bln. 1923) versuchte er, psychoanalyt., rätekommunistische u. vitalistische Gedanken miteinander zu verknüpfen. 1921 floh J. vor der dt. Justiz, die ihn wegen einer Schiffsentführung verfolgte, nach Russland. Dort beteiligte er sich am sozialistischen Aufbau. Als Funktionär der Internationalen Arbeiterhilfe (IAH) u. als Betriebsleiter einer Zündholz-, später einer Werkzeugfabrik lernte er den sozialistischen Alltag kennen. Dem dt. Publikum berichtete er von seinen Erlebnissen u. a. in An die Arbeitsfront nach Sowjetrußland (Bln. 1922) u. Das geistige Rußland von heute (Bln. 1924), die – gekonnt erzählt, sachlich u. parteilich zgl. – aus der Vielzahl der damaligen Russlandberichte herausragen. 1923 kehrte er enttäuscht nach Berlin zurück. Der Niedergang der revolutionären Bewegung in Deutschland u. sein persönl. Scheitern in Russland warfen J. in eine tiefe Krise. Er verabschiedete die Idee vom selbstoder klassenbewussten Menschen, der seine Zukunft frei bestimmen könne, u. zog sich auf einen neusachlich-techn. Standpunkt zurück. Bevor man sich wieder »Ideen« zuwenden könne, müsse man die Gesetze sozialer Bindungen viel genauer als bisher untersuchen. Ihm ging es darum, dieses Grundlagenwissen zu schaffen u. bes. auf der Bühne experimentell anzuwenden, getrieben von der Hoffnung, eine Sozialtechnik zum Wohl der Menschheit einsetzen zu können. Legende (Urauff. Bln. 1927) u. Heimweh (Urauff. Bln. 1928) fielen allerdings ebenso durch wie sein Roman Hausierer (Bln. 1931). Die Weltwirtschaftskrise, Hitlers Machtergreifung, das 1936 aufgezwungene Exil, die Verhaftung durch ungarische Faschisten 1944, die Auslieferung an den dt. Sicherheitsdienst, das Todesurteil, dem er sich
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durch Flucht entziehen konnte, die Inhaftierung im Konzentrationslager Bozen, die Übersiedlung in die USA 1948, die Unfähigkeit, in der Neuen Welt Fuß zu fassen, die Rückkehr Ende der 1950er Jahre in ein ihm fremdes Deutschland, persönl. Misserfolge u. Krankheiten – dieser Weg nach unten. Aufzeichnungen aus einer großen Zeit (Bln./Neuwied 1961. Lpz. 1991), den er in seiner von der Kritik als »große Selbstdarstellung« gewürdigten Autobiografie beschreibt, lehrte ihn, dass der Mensch als »Parasit« zu wirkl. Gesellschaftsbildung nicht fähig u. zum Untergang verurteilt sei. Man müsse es, meint J. in Anlehnung an Ernst Fuhrmann, den »magischen Kräften der Natur« überlassen, an Stelle des parasitären einen neuen Menschen zu schaffen, der in Harmonie mit der Natur lebt. Mit dem Bild vom Torpedokäfer (so sollte seine Autobiografie urspr. heißen), der – immer von neuem – auf ein Hindernis prallt, stürzt, sich zurückbewegt u. wieder startet, um es endlich zu überwinden, versinnbildlicht er das Schicksal von Linksintellektuellen im 20. Jh. Weitere Werke: Werkausgabe in 14 Bdn. Hbg. 1981–97. – Teilausgabe: Schr.en u. Briefe in 2 Bdn. Salzhausen 1981. – Einzeltitel: Joe Frank illustriert die Welt. Bln. 1921. – Die Kanaker. Wie lange noch? Bln. 1921 (D.). – Arbeitsfriede. Bln. 1922. – Annemarie. Bln. 1922 (D.). – Hunger an der Wolga. Bln. 1922 (Ber.). – Die Eroberung der Maschinen. Bln. 1923. – Die Gesch. einer Fabrik. Wien 1924 (Ber.). – Die Verzauberten. Aus dem Nachl. hg. v. Walter Fähnders. Bln. 2000 (E.). – Dagny. Hg. Andreas Hansen. Bln. 2006 (P.). Literatur: Bibliografie: Walter Fähnders: F.-J.Bibliogr. In: Wolfgang Rieger: Glückstechnik u. Lebensnot. Leben u. Werk F. J.s Freib. i. Br. 1987, S. 252–268. – Gesamtdarstellungen: Arnold Imhof: F. J. Leben, Werk, Wirkung. Bonn 1974. – Fritz Mierau: Leben u. Schr.en des F. J. Eine Chronik. In: Lutz Schulenburg (Hg.): Der Torpedokäfer. Hommage à F. J. Hbg. 1988, S. 133–186. – Weitere Titel: W. Fähnders u. Martin Rector: Linksradikalismus u. Lit. 2 Bde., Reinb. 1974. – Theo Meyer: Revolte u. Resignation. Eine Analyse v. F. J.s ›Torpedokäfer‹. In: JbDSG 23 (1979), S. 416–467. – Jennifer E. Michaels: F. J. Expressionist, Dadaist, Revolutionary and Outsider. New York u. a. 1989. – Bozena Choluj: Dt. Schriftsteller im Banne der Novemberrevolution 1918. Bernhard Kellermann, Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Erich Mühsam, F. J. /
Wiesb. 1991. – Ernst Schürer (Hg.): F. J. Leben u. Werk eines Rebellen. New York 1994. – HeidrunIris Hahnemann: Glühende, leuchtende Unglücke. Psychosoziale Existenz u. Geschlechterbeziehung in der Prosa v. Ernst Weiß, F. J. u. Anna Seghers. Diss. FU Bln. 1996. – Dossier F. J. In: Juni (1996), H. 24, S. 8–74. – Fritz Mierau: Das Verschwinden v. F. J. Stationen einer Biogr. Hbg. 1998. – W. Fähnders: F. J. (1888–1963). In: Dt. Dramatiker des 20. Jh. Hg. Alo Allkemper u. Norbert Otto Eke. Bln. 2000, S. 173–183. – Helga Karrenbrock: Der Sprung aus der Welt. Zu F. J.s expressionist. Prosa. In: W. Fähnders (Hg.): Expressionist. Prosa. Studienbuch 1. Bielef. 2001, S. 165–186. – W. Fähnders u. Andreas Hansen (Hg.): Vom Trottelbuch zum Torpedokäfer. F. J. in der Literaturkritik 1912–1963. Bielef. 2003. – Peter Jung: Emigrantenkind. Über meinen Vater F. J. In: SuF 56 (2004), H. 1, S. 115–128. – Albrecht Götz v. Olenhusen: Wahnsinn in den Zeiten des Krieges. Otto Gross, F. J. u. das Kriegsrecht. In: Ders. u. Gottfried Heuer (Hg.): Die Gesetze des Vaters. Marburg/Lahn 2005, S. 83–128. – Ders.: Schwätzer, Maulhelden u. Anarchistengesindel. Max Weber, F. J. u. der jurist. Beginn des Falles ›Otto Gross vs. Hans Gross‹. In: Gegner (2006), H. 18, S. 35–46. Wolfgang Rieger / Red.
Jung, Franz Wilhelm, * 3.12.1757 Hanau, † 25.8.1833 Mainz. – Lyriker, Übersetzer, Publizist. Als ältester Sohn eines landgräfl. Rentmeisters ging J. nach Medizinunterricht, Unterweisungen in Nationalökonomie u. autodidaktischen Studien 1780 als Hofmeister nach Holland. 1786 wurde er durch Vermittlung seines Onkels Jakob Wilhelm Kaempf Hofrat in Homburg; 1794 schied er aus den landgräfl. Diensten aus, um so seine Verbundenheit mit dem republikanisch gesinnten Kaempf zu bekunden, der von Friedrich V. entlassen worden war. 1798 wechselte J. nach Mainz, wo er für die frz. Besatzungsmacht Ämter versah. Angeblich aus Enttäuschung über Napoleons Herrschaft verließ J. 1802 oder 1804 die frz. Dienste. 1806 zog er sich nach Frankfurt/M. zurück; von 1814 bis zu seinem Tod lebte er, mit dem Landgrafen versöhnt, wieder in Mainz. Seit etwa 1782 publizierte J. Gedichte u. kleinere wissenschaftl. Abhandlungen, u. a. im »Teutschen Museum«, im »Teutschen
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Merkur« u. in der »Musikalischen Monatsschrift«. 1800 kam in Frankfurt/M. seine schon Ende der 1780er Jahre begonnene Übersetzung von Rousseaus Contrat social heraus, die er seinem Freund Isaak von Sinclair zur Korrektur vorgelegt hatte. Dieser hatte ihm geraten, »Revolutionsausdrücke« zu benutzen, um Rousseaus Nähe zur Französischen Revolution zu unterstreichen. In der Abhandlung Über das Übel auf Erden (Ffm. 1807) stellt J. die als notwendig erachteten Übel als Instrumente dar, derer sich die »Vorsehung« bediene, um die Perfektibilität jedes Einzelnen u. der gesamten Menschheit zu befördern. Seine dreibändige Übersetzung der Gedichte Ossians (Ffm. 1808), an der sein Freund Hölderlin Anteil hatte, u. eigene dramat. Gedichte weisen J. als typischen Vertreter des Ossian-Kults aus; so etwa Odmar (Mainz 1814), in dem ein aufgeklärter Monarch nach gewonnener Schlacht freiwillig auf den Thron verzichtet, um einem repräsentativen demokratischen System Platz zu machen. Weitere Werke: Erinnerungen an Johann Caspar Lavater. Ffm. 1812. – Klara, ein Gedicht. Ffm. 1814. – Ideen über Kirchen u. Kirchengebräuche. Bln. 1815. – Heinrich Frauenlob, ein Gedicht. Mainz 1819. Literatur: Werner Kirchner: F. W. J.s Exemplar des ›Hyperion‹. In: HölderlinJb 8 (1954), S. 79–92. – Gerhard Kurz: Die Freiheit u. das Übel auf Erden. F. W. J. [...]. In: Christoph Jamme u. Otto Pöggeler (Hg.): Mainz – ›Zentralort des Reiches‹. Stgt. 1986, S. 122–137. – Ursula Brauer: F. W. J. In: Bautz 27 (mit Lit.). – Wolf Gerhard Schmidt: ›Homer des Nordens‹ u. ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons ›Ossian‹ u. seine Rezeption in der deutschsprachigen Lit. 4 Bde., Bln./New York 2003/04 (Register). Heiner Boehncke / Red.
Jung, Junge, Jungius, Hermann, * 1608 (oder 1609) Brokreihe-Nord bei Hodorf/Holstein (?), † 7.6.1678 Monnikendam bei Amsterdam; Grabstätte: ebd., Groote Kerk. – Lutherischer Pastor, Didaktiker, frühpietistischer Chiliast. Der Bauernsohn immatrikulierte sich am 9.7.1628 an der Universität Rostock u. am 10.8.1629 unter dem Rektorat von Joachim Jungius am Hamburger Akademischen
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Gymnasium. Der Comenius-Verehrer Vincenz Fabricius rühmte J. 1633: »Iungi, summe meorum amiculorum!« Um 1638 studierte J. wieder in Rostock, v. a. bei dem Hebraisten Samuel Bohl. Johann Moller berichtet, J. sei ein sogar seinem Freund Comenius überlegener Didaktiker gewesen. Seit 1641 luth. Pastor im niederländ. Monnikendam, hielt er im Geist des Frühpietismus private Bibelstunden ab, was ihn 1678 in Briefkontakt mit Spener brachte. Gegen das orthodox-luth. Konsistorium in Amsterdam verteidigte er Friedrich Breckling, den er durch seinen anti-absolutistischen, pazifistischen u. sozialkrit. Fürstenspiegel für König Friedrich III. von Dänemark, Optima Politica. Divinis in literis lucide diffusa, hic breviter adumbrata (Amsterd. 1660), stark beeinflusste. J.s Schrift-Troost [...] tegen William Ames Verwerring en Verdoeming (Amsterd. 1661) behauptet den Vorrang des Bibelworts vor dem »inneren Licht« gegen den Quäker William Ames. Chiliastische Zukunftshoffnung vertritt J. in Hoffnung und Sinn von diesen letzten Zeiten (Anhang von: Friedrich Breckling: Christus Judex in et cum sanctis contra gentes [...]. o. O. 1663. 21666. 3 1697. – Ders.: Sechs geistreiche unterschiedliche Schrifften. Tl. 3. o. O. 1697). Weitere Werke: Scrutinium sensus scripturae sacrae ex accentibus [...]. Disp. secunda. Resp.: H. J. Rostock 1636. – Discursus philologicus de propria et primaeva terminorum suppositione in tribus linguis capitalibus circa interpretationem autorum [...]. Respp.: Johannes Michaelis u. H. J. Rostock 1638. – Regia redemtorum nutricatio, regentibus cum regendis aeque salutifera [...]. Amsterd. 1660. – Einfältig Gewissens Bedencken über das Flenßburg. Urtheil wieder M. Fridericum Brecklingium. In: Friedrich Breckling: Veritatis triumphus [...]. o. O. 1660, Bl. K 7b-K 9b. [verb. Aufl.] o. O. u. J., S. 188–190. – Dänsche gemeent-stichting in Amsterdam. 1664. – Jungii Onschuld [...]. Amsterd. 1669. – Dobbelde verantwording tegen dat Consistorium to Amsterdam [...]. Amsterd. 1669. – Leichengedicht auf Paulus Cordes in: Reimerus Ligarius: Exequiae Cordesianae. Den Haag/Amsterd. [1675], S. 31. Literatur: Philipp Jakob Spener: [Brief an J.]. Ffm. 13. [23.] 6. 1678. In: Ders.: Letzte theolog. Bedencken. Halle 1711. Nachdr. Hildesh. 1987, S. 261–264. – Johannes Moller: Cimbria literata.
213 Bd. 1, Kopenhagen 1744, S. 288 f.; Bd. 3, S. 75 f., 83, 85. – Reinhard Breymayer: Politik aus dem Geist der Bibel: Die wiederentdeckte ›Optima Politica‹ [...]. Ed. u. Bibliogr. In: Pietismus-Forsch.en. [...] Hg. Dietrich Blaufuß. Ffm. u. a. 1986, S. 385–513. – J. L. Klaufus: D[ominu]s. H. J. In: Documentatieblad Lutherse Kerkgeschiedenis 1 (1987), S. 38–41. – R. Breymayer: H. J. In: BLSHL, Bd. 9 (1991), S. 170–172. – Ders.: Ein vergessener Freund v. Comenius. In: Zwanzig Jahre Comeniusforsch. in Bochum. Hg. Klaus Schaller. St. Augustin 1990, S. 179–184. – Karl Hermann Junge: Pastor H. J. (1608–1678): Pastor der Lüb. Gemeinde in Holland u. fast vergessener Pietist. In: Norddt. Familienkunde 39 (1990), S. 40–42. – Paul Estié: Die Auseinandersetzung von Charias, Breckling, J. u. Gichtel in der luth. Gemeinde zu Kampen 1661–1668. In: PuN 16 (1990), S. 31–52. – R. Breymayer: H. J. In: Bautz. – Ders.: H. J. In: Biografisch Lexicon voor de Geschiedenis van het Nederlandse Protestantisme. Tl. 4, Kampen 1998, S. 239 f. Reinhard Breymayer / Red.
Jung, gen. Stilling, Johann Heinrich, * 12.9.1740 Grund/Rothaargebirge, † 2.4. 1817 Karlsruhe; Grabstätte: ebd. Hauptfriedhof. – Pietistischer Schriftsteller. In einem bedrückend ärmlichen, engen, ländl. Milieu geboren u. aufgewachsen, wo ihm durch glückl. Zufälle doch eine zumindest rudimentäre Bildung zuteil wurde, schlug sich J., dem zunächst kein Versuch des Ausbruchs aus diesem Milieu gelang, abwechselnd als Bauer, Grundschullehrer, Hauslehrer u. Kaufmannsgehilfe durch. Mittellos – seine ökonomischen Probleme sollten ihn jahrzehntelang verfolgen – studierte er 1770–1772 in Straßburg Medizin, wo er u. a. Goethe, Herder, Lenz u. Salzmann kennen lernte u. erstmals dem Denken seiner Zeit begegnete. Ab 1772 betätigte er sich als prakt. Arzt u. wurde insbes. durch seine Staroperationen, die er bis ins Alter fortsetzte, bekannt. Den ersten Teil seiner auf Anregung Goethes geschriebenen Lebensgeschichte veröffentlichte dieser ohne J.s Wissen: Henrich Stillings Jugend (Bln./Lpz. 1777), der er seinen Beinamen verdankte, fand eine breite, positive Rezeption. J. setzte die Lebensgeschichte bis ins Alter fort: Henrich Stillings Jünglings-Jahre (ebd. 1778), Henrich Stillings Wanderschaft (ebd. 1778), Henrich Stillings häusliches Leben (ebd.
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1789), Henrich Stillings Lehr-Jahre (ebd. 1804), Henrich Stillings Alter (Heidelb. 1817; unvollendet). 1778 wurde er an die Kameralschule in Kaiserslautern berufen, wo er über Landwirtschaft, Fabrikwesen u. Handelskunde dozieren sollte. Mit der Verlegung der Schule nach Heidelberg wurde er dort 1784 Professor; ab 1787 an der Universität Marburg tätig, kehrte er 1803 als Professor für Staatswissenschaften nach Heidelberg zurück. In dieser Phase setzte einerseits mit Der Geschichte des Herrn von Morgenthau (Bln./Lpz. 1779) seine Romanproduktion (1779–1796) ein; andererseits publizierte er eine Serie von Lehrbüchern (1779–1798), z.B. Versuch einer Grundlehre sämmtlicher Kameralwissenschaften (Lautern 1779) oder System der Staatswirthschaft (Marburg 1792). J. deckte das gesamte Fach ab, aber im Gefolge der Französischen Revolution verlor sich das studentische Interesse an seinen Lehrveranstaltungen. Nachdem er schon früh mit der Aufklärung in Gestalt von Nicolais Roman Sebaldus Nothanker (1773–76) gebrochen hatte (Die Schleuder eines Hirtenknaben. Ffm. 1775), dominierte seit etwa 1795 die religiöse Schriftstellerei. 1803 setzte der Kurfürst von Baden J. von der nunmehr ungeliebten Lehrtätigkeit frei, damit er sich der Erbauungsschriftstellerei widmen möge; 1806 übersiedelte J. nach Karlsruhe. Er starb als eine Autorität der neuen protestantischen Erweckungsbewegung. Wie Moritz’ Anton Reiser ist Stillings Lebensgeschichte die in der dritten Person erzählte Geschichte eines jungen, intelligenten, sich aus qualvollen sozialen Verhältnissen (mit selbstverständlich starker Religiosität) herausarbeitenden Aufsteigers, unter dessen Pseud. sich der Autor selbst verbirgt. Doch wo Moritz u. sein Held sich der dominanten Kultur der aufgeklärten Intellektuellen zu integrieren suchen u. Emanzipation u. Autonomie der Person anstreben, bleiben J. u. sein Held gegenüber dem Denk- u. Literatursystem der goethezeitl. Elite Außenseiter, die sich zunehmend politisch wie religiös mit konservativen Ideologemen identifizieren u. bewusst in der Heteronomie religiöser Unterwerfung verbleiben. Die positive Rezeption der Jugend durch Goethe u. Zeitgenossen basierte auf dem ethnolog. Interesse des
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18. Jh. am Fremden, auf der Aufwertung der Spezifität des Individuums, auf dem Sturmund-Drang-Wahrnehmungsraster der dem Buch zuschreibbaren »Ursprünglichkeit« u. »Natur«, u. sie verlor sich mit den zunehmend dogmatisierten Positionen in den späteren Bänden der Lebensgeschichte u. in den Romanen. Diese Entwicklung führte ebenso konsequent zur Entfremdung J.s u. Goethes (vgl. Dichtung und Wahrheit, v. a. 9. u. 16. Buch) wie zur Annäherung J.s u. Lavaters. Aus der Perspektive der dominanten Kultur erscheint J. als Autor für religiöse Kreise mit pietismusnahen Denkstrukturen. Schon in den Jünglings-Jahren überlagert sich der denk- wie sozialgeschichtlich interessanten Darstellung von J.s Leben u. den sozialen, ökonomischen, intellektuellen Strukturen, in denen es sich vollzieht, das epochentypische Modell einer »Entwicklung« des Subjekts, nur dass diese sich hier eben nicht aus dessen eigener Teleologie ereignet, sondern jedes Ereignis wird (wie schon Goethe kritisierte) als Produkt einer Fügung u. Führung durch die göttl. Vorsehung interpretiert, die einer Erziehung dient (theoretisch zusammengefasst im »Rückblick« am Ende der Lehr-Jahre): J. erwartet von Gott seine ökonomische Versorgung u. schreibt es ihm zu, wenn ihn Mitmenschen großzügig unterstützen; der Tod der ersten u. zweiten Frau wird nicht nur als Gottes Wille hingenommen, sondern gar als Freisetzung für eine neue Ehepartnerin gedeutet, die der nächsten Lebensphase angemessener wäre. Auch die Romane bedienen sich des goethezeitl. Erzählmodells der »Entwicklung«, das sie aber ideologisch abweichend mit der »Vorsehung« als entwicklungsleitender Instanz besetzen; ihre Helden werden gern ökonomisch für die dargestellte Gesellschaft tätig, wobei J. sein kameralistisches Wissen funktionalisiert. Besonderes Interesse verdient Das Heimweh (4 Bde., Marburg 1794–96. Neuausg. Dornach 1994), für das J. sich zwar auf Bunyan als Modell beruft, das aber, uneingestanden, nach dem spätaufklärerisch-goethezeitl. Erzählmodell der Geisterseher- u. Geheimbundromane funktioniert, wie es Schiller 1787, Meyern 1787, Grosse 1791, Tschink 1790 konstituiert ha-
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ben. Typischer goethezeitl. Erzählgegenstand ist auch hier der »Jüngling«, der aus der sozialen Herkunftsordnung austritt, auf Reisen zum Manne gebildet wird u. schließlich eine neue soziale u. familiäre Ordnung gründet; er wird insgeheim von einem positiven Geheimbund geleitet, der J.s Christentum repräsentiert u. dessen Kopf in Asien der Held schließlich wird, wobei am Ende kein Geringerer als der »Paraklet« erscheint. Verfolgt u. versucht wird der Held auf seinem Weg durch einen negativen Gegenbund, darunter Frau von Traun u. Fräulein Nischlin (Anagramme für »Natur« u. »sinnlich«), der die gehasste Aufklärung repräsentiert, der gegenüber sich J. – indem er ihre Modelle übernimmt, aber ideologisch neu besetzt – einerseits reaktiv verhält, die er andererseits zu überbieten sucht. In seiner Lebensgeschichte schließt sich J. dem reaktionären Abbé Barruel an, demzufolge die Revolution Ergebnis der Verschwörung eines aufklärerischen Geheimbunds ist; dieser Geheimbund hat nach J. die Absicht, Christentum durch Deismus, Monarchie durch Demokratie zu ersetzen. Dem intellektuellen Zwang des Aufklärungssystems konnte sich auch J. lange nicht entziehen: Er litt an dem seiner Ansicht nach schon aus Wolff resultierenden deistischen Determinismus, dem er sein Bedürfnis nach jederzeitigem göttl. Eingriff in die Welt konfrontierte. Aus Kants mit Verzögerung 1788 von J. rezipierter Critik der reinen Vernunft folgerte er nicht aus den Grenzen des menschl. Erkenntnisapparats auf die Unmöglichkeit metaphys. Aussagen, sondern, im Gegenteil, dass damit die Einwände der Vernunft gegen metaphys. Aussagen widerlegt seien. Auf diesem Kant-Verständnis basiert dann seine Theorie der Geister-Kunde (Nürnb. 1808. Neudr. mit einem Nachw. von Michael Titzmann. Hildesh. 1980), in der er nicht nur die Existenz einer Geisterwelt, sondern auch deren Erscheinen im Diesseits zu beweisen sucht, wobei er zirkulär die Wahrheit der Bibel, die er belegen will, immer schon voraussetzt u. jede noch so absurde Geistergeschichte, sofern ihr Garant christlich ist, für wahr hält; argumentativ nutzte er auch Mesmers »Magnetismus«. Auf die Kritik der Basler pro-
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testantischen Geistlichkeit reagierte er unwirsch mit der Apologie der Theorie der Geisterkunde (Nürnb. 1809). Mit diesem nur im Kontext des die Spätaufklärung begleitenden Okkultismus verständl. Opus verabschiedete sich J. definitiv von der Aufklärung, keineswegs aber von allen zeitgenöss. Denktendenzen, wie Arnims positive Rezension 1817 belegt. Weitere Werke: Theobald oder Die Schwärmer. Lpz. 1784. – Lehrbuch der Fabrikwiss. Nürnb. 1785. – Scenen aus dem Geisterreiche. 2 Bde., Ffm. 1800/01. – Gesch. unseres Herrn Jesu Christi. Nürnb. 1820. – Herausgeber: Der graue Mann. Eine Volksschr. 30 Bde., Nürnb. 1795–1816. – Tb. für Freunde des Christenthums. 12 Bde., Nürnb. 1805–16. – Werkausgaben: Sämmtl. Schr.en. 14 Bde., Stgt. 1835–38 (die ökonom. Schr.en fehlen). – Sämmtl. Werke. 12 Bde., Stgt. 1841/42 (die ökonom. Schr.en fehlen). – Lebensgesch. Vollst. Ausg. Hg. Gustav A. Benrath. Darmst. 1976. – Erzählungen. Siegen 2003. – Briefe: Wilhelm Kühlmann: Zwischen Aufklärung u. Erweckung. Die Korrespondenz zwischen Gottlieb Konrad Pfeffel u. J. H. J.-St. In: Lit. u. Kultur im dt. Südwesten zwischen Renaissance u. Aufklärung. Hg. W. Kühlmann. Amsterd. 1995, S. 445–475. – Briefe. Ausgew. u. hg. v. Gerhard Schwinge. Basel 2002. Literatur: Bibliografie, Forschungsbericht: Klaus Pfeiffer: J.-S.-Bibliogr. Siegen 1993. – Erich Mertens: J. H. Jung gen. S. Ein Forschungsber. In: Lit. in Westfalen 3 (1995), S. 263–279. – Weitere Titel: Max Geiger: Aufklärung u. Erweckung. Beiträge zur Erforsch. J. H. J.s u. der Erweckungstheologie. Zürich 1963 (mit Bibliogr.). – Gustav A. Benrath: J.s Tgb. v. 1803. In: Der Pietismus in Gestalten u. Wirkungen. FS Martin Schmidt. Hg. Heinrich Bornkamm. Bielef. 1975, S. 50–83. – Dieter Gutzen: J. H. J. In: Dt. Dichter des 18. Jh. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1977, S. 446–461. – Ulrich Stadler: Die theuren Dinge. Studien zu Bunyan, J. u. Novalis. Bern/Mchn. 1980. – Otto W. Hahn: J.-S. zwischen Pietismus u. Aufklärung. Sein Leben u. sein literar. Werk 1777 bis 1787. Ffm. u. a. 1988. – Gerhard Schwinge: J.-S. u. seine Beziehungen zur Basler Christentumsgesellsch. In: Theolog. Ztschr. 44 (1988), S. 32–53. – Reinhard Arhelger: J.-S. Genese seines Selbstbildes [...]. Ffm. u. a. 1990. – J.-S., Arzt, Kameralist, Schriftsteller zwischen Aufklärung u. Erweckung. Ausstellungskat. Karlsr. 1990. – Wolfgang Lück: J. S. [...]. Marburg 1990. – Blicke auf J.-S. FS Gerhard Menk. Hg. Michael Frost. Kreuztal 1991. – Hans-Günter Krüsselberg u. Wolfgang Lück (Hg.): J.-S.s Welt. Das Lebenswerk
Junghans eines Universalgelehrten in interdisziplinären Perspektiven. Krefeld 1992. – Peter Wörster (Hg.): Zwischen Straßburg u. Petersburg. Vorträge aus Anlaß des 250. Geburtstages v. J. J.-S. Siegen 1992. – G. Schwinge: J. S. als Erbauungsschrifttsteller der Erweckung [...]. Gött. 1994. – Leo Reidel: Goethes Anteil an J.-S.s ›Jugend‹. Neu hg. u. bearb. v. Erich Mertens. Siegen 1994. – Otto W. Hahn: J. H. J.-S. In: Gesch. der Seelsorge in Einzelporträts. Hg. Christian Möller. Gött. 1995, S. 237–356. – Martin Hirzel: Lebensgesch. als Verkündigung. J. H. J.-S., Ami Bost, Johann Arnold Kanne. Gött. 1998. – E. Mertens (Hg.): Auf den Spuren von J.-S. Freundesgabe für Alfred Klose zum 70. Geburtstag. Siegen 1998. – Michael Schippan: Zwei Romane J.-S.s. in Rußland. Siegen 2000. – Gustav Adolf Benrath: Die Freundschaft zwischen Goethe u. J.-S. In: Goethe u. der Pietismus. Hg. Hans-Georg Kemper u. Hans Schneider. Tüb. 2001, S. 157–170. – G. Schwinge: J.-S. u. seine Verleger. [...]. In: AGB 56 (2002), S. 109–124. – Ders.: J.-S.s Lektüre: Zur Rezeption v. Druckwerken des 17. bis 19. Jh [...]. In: PuN 28 (2002), S. 237–260. – Jacques Fabry: J. H. J.-S. (1740–1817). Esotérisme chrétien et prophétisme apocalyptique. Bern u. a. 2003. – Christian Drösch: J. H. J.-S.s Theorien u. Achim v. Arnims Novelle ›Die Majorats-Herren‹. In: Et. Germ. 58 (2003), H.1, S. 5–27. Michael Titzmann / Red.
Junghans, Sophie, auch: S. Schuhmann, * 3.12.1845 Kassel, † 16.9.1907 Hildburghausen. – Erzählerin, Lyrikerin. Kaum 19-jährig ging die kurhess. Hofratstochter für sieben Jahre als Lehrerin nach England; während dieser Zeit erschien ihr Erstlingswerk Gedichte (Kassel 1869) – auch in einer Prachtausgabe »mit Goldschnitt«. Seit 1871 wieder in Berlin, wurde sie 1876 durch den Roman Käthe. Geschichte eines modernen Mädchens (Lpz.) bekannt. Die Ehe mit dem Dozenten Josef Schuhmann in Rom wurde schon nach drei Jahren geschieden (1880); seitdem lebte sie nach weiterem Englandaufenthalt 1882/83 vorwiegend in Gotha. Sie versuchte sich in mehreren Gattungen – etwa dem Märchendrama in Der geraubte Schleier (Wiesb. 1910); einen Namen machte sie sich durch ihr Porträt des gesellschaftl. Treibens im ausgehenden 19. Jh. in Romanen u. Erzählungen, die unter trivialen Titeln aktuelle Frauenprobleme ansprechen, so die Novelle Unter der Ehrenpforte (Bln. 1889), die zwei-
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bändigen Romane Helldunkel (Stgt. 1895), Geschieden (Stgt. 1895), Um das Glück (Köln 1896) u. Junge Leiden (Braunschw. 1900). Eda Sagarra
Jungius, Joachim, * 1.11.1587 Lübeck, † 3.10.1657 Hamburg. – Philosoph u. Naturforscher. J. besuchte die Lübecker Katharinenschule, an der sein Vater Lehrer gewesen war, studierte 1606–1608 an der Universität Rostock, wechselte dann an die neu gegründete Universität Gießen u. wandte sich hier der Mathematik zu, in der er das Modell für Wissenschaft schlechthin erblickte. 1609 Mathematikprofessor in Gießen, erhielt er 1612 den Auftrag, mit dem Theologen Christoph Helvich ein Gutachten über die »Lehrkunst« Wolfgang Ratkes zu erstellen. J. verfiel dem Bann des umstrittenen Reformpädagogen, gab 1614 seine Professur auf u. folgte Ratke nach Augsburg. Ratkes Scheitern bewies ihm, dass eine wirkl. Wissenschaftsreform nicht über ein formales Lehrsystem, sondern vom sachl. Gehalt, d.h. von der Naturwissenschaft her, zu erfolgen habe. So schrieb er sich in Rostock 1616 noch einmal als Medizinstudent ein u. promovierte 1618 in Padua, wo ein methodologisch fortgeschrittener u. liberaler Aristotelismus blühte. Wieder in Rostock, gründete J. um 1622 die »Societas Ereunetica« oder »Forschungsgesellschaft«, die erste naturforschende Sozietät im nördl. Europa. Von ihrer kometenhaften Existenz zeugen Statuten, die, pointiert antischolastisch u. antimetaphysisch, einen neuen Weg zu sicherer Erkenntnis mit Hilfe von Mathematik u. Empirie verhießen. Von 1624 an war J. Mathematikprofessor in Rostock, trieb opt. Studien u. publizierte 1627 sein erstes selbstständiges Werk Geometria empirica und Reiß-Kunst (Hg. Bernd Elsner. Gött. 2004), an das sich später Studien zur Geometrie des griech. Mathematikers Apollonius von Perga anschlossen (s. Elsner, 1988). 1629 wurde er Rektor des Johanneums u. Professor für Logik u. Naturlehre am Akademischen Gymnasium in Hamburg. Noch in Rostock begann J. mit dem Entwurf zu einer allg. Reform der Wissenschaf-
ten. Sie sollte ihren Ausgang von der unmittelbaren Sinneswahrnehmung nehmen (»Der Verstand kann sich täuschen, die Sinne nicht«) u. nach dem Prinzip von Analyse u. Synthese, auf unterste, einfachste Erfahrungstatsachen aufbauend, zu einer streng empirisch beweisbaren Naturlehre u. schließlich zu einem hierarch. Gesamtsystem des Wissens fortschreiten. Die erforderl. Erfahrungstatsachen hoffte J. im Bereich des Stofflich-Chemischen auffinden zu können, u. zwar in den »hypostatischen Prinzipien«, experimentell nicht weiter zerlegbaren Grundbausteinen der stoffl. Natur. In dieser Absicht entstand 1629/30 sein – trotz zahlloser Revisionen unvollendetes – Hauptwerk (Doxoscopiae physicae minores. Hg. Martin Fogelius. Hbg. 1662. Hbg./Stockholm 2 1679. Praelectiones physicae. Hg. Christoph Meinel. Gött. 1982). Begleitend publizierte J. 1630–1642 kleinere Disputationsschriften zu methodolog. u. erkenntnistheoret. Fragen der Naturwissenschaft (Disputationes Hamburgenses. Hg. Clemens Müller-Glauser. Gött. 1988). »Doxoskopie«, Sichtung u. Widerlegung der herrschenden Meinungen, nannte er sein Vorgehen. Sein Ziel war eine tabula rasa des Intellekts, ohne die dieser die Sinneseindrücke nicht unverfälscht aufnehmen könne, wobei Naturordnung, Erkenntnisordnung u. didakt. Anordnung streng kongruent gedacht waren. J.’ Wissenschaftslehre basierte auf der Vorstellung, die Wirklichkeit bestehe aus Ordnungen steigender Komplexität, die sich analytisch in ihre Elemente, endlich in Letztbestandteile zerlegen ließen, aus denen dann synthetisch wieder höhere Ordnungen entstünden; so in Arithmetik u. Geometrie, so bei den chem. Elementen, in der Pflanzenmorphologie, bei der didakt. Präsentation des Lehrstoffs u. ebenso schließlich im Verhältnis philosophischer Aussagen zu den »protonoëmata«, den unauflösl. Grundbegriffen. Am Primat des Didaktischen sowie an seinem unbedingten sensorischen Empirizismus u. dem fehlenden Begriff von Experiment u. Naturgesetz im Galilei’schen Sinne musste dieser Ansatz scheitern. J. steht an der Schwelle zur modernen Naturwissenschaft, mit deren Resultaten, zumal
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in der Astronomie, er vertraut war. Er suchte aber einen eigenen Weg, der in der Nachfolge Francis Bacons bereits auf Robert Boyle verweist, doch stärker noch der Tradition aristotel. Naturlehre u. ihrer metaphys. Fragestellung verhaftet bleibt. Als Logiker fasst J. die Traditionen der aristotel. Schullogik noch einmal zusammen. Seine von der Schulbehörde in Auftrag gegebene monumentale Logica Hamburgensis (Hbg. 1638 u. ö. Lat./dt. hg. von Rudolf W. Meyer. Hbg. 1957. Frz. hg. von François Muller. Metz 1984) sprengte aber zgl. den Rahmen der traditionellen Logiklehrbücher, da eine Wissenschaftstheorie im Zentrum steht, die anstelle der empirisch leeren Begrifflichkeit der Prädikamente aus der Sinneserfahrung gewonnene Daten zur Begründung von Wahrheit heranzieht. Nicht ohne Absicht entstammen die Beispiele der Logica Hamburgensis immer wieder Geometrie, Botanik u. Materielehre. Wo strenger Beweis nicht möglich ist, suchte J., wohl im Anschluss an Nikolaus von Kues, eine Wahrscheinlichkeitslogik (»logica engistica«) zu formulieren. Zugleich markiert das philosophische Werk von J. die endgültige Entthronung der Metaphysik, die er, im Sinne seines mathemat. Methodenideals, nicht zu den eigentl. Wissenschaften zählte. Ihre Stelle nahm eine »Protonoetik« als neue, reflexive Grunddisziplin ein, mit deren Hilfe das Alphabet des Verstandes, eine endliche Menge nicht weiter auflösbarer Grundbegriffe (»protonoëmata«), gewonnen werden sollte, die dann eine wissenschaftl. Heuretik ermöglichen würden. An J.’ fragmentar. Protonoetik sollte später Leibniz anknüpfen. Seit 1635 warf die Hamburger Geistlichkeit J. vor, mit den Reformierten zu sympathisieren. 1637 kam es zu einem Eklat, als J. die Frage disputieren ließ, ob das neutestamentl. Griechisch »Barbarismen«, also zeitgebundene, nichtklass. Formen aufweise. Streitschriften wurden gewechselt, der Wittenberger Aristoteliker Johannes Scharff schaltete sich mit einer Polemik gegen die Logica Hamburgensis ein, bis schließlich J. das Rektorat der Lateinschule niederlegte, die Professur für Logik u. Naturlehre am Gymnasium aber
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behielt u. sich ganz seinen Forschungen widmete. Unermüdlich beobachtete, exzerpierte u. notierte er. Seine Zettelkästen quollen über, doch sein Programm einer Inventarisierung alles empir. Wissens kam nur langsam voran. Schließlich konnten seine Schüler trotz aller Bemühungen aus dem 330 Faszikel umfassenden Nachlass wenig mehr als bloße Materialsammlungen edieren, denen literar. Wirkung versagt blieb. J. steht am Übergang von der Schulphilosophie zur aufbrechenden Erfahrungswirklichkeit der Naturwissenschaften. Empirizist im Sinne Francis Bacons, war ihm der Zugang zur hypothetisch-deduktiven Methode eines Galilei oder zum Discours de la méthode eines Descartes verwehrt. Er hat die Krise der zeitgenöss. Naturphilosophie klar erkannt u. seine Aufgabe darin gesehen, diese Krise zu beschleunigen. Die gesamte Breite des empir. Materials sollte aufgeboten werden, um die Widersprüche der philosophischen Schulen aufzudecken u. Bausteine für eine neue, in der Erfahrung sich gründende Wissenschaft zu liefern. Sein handschriftl. Nachlass, der trotz großer Verluste noch immer etwa 45.000 Blatt zählt, umfasst Aufzeichnungen zur Philosophie, Logik, Mathematik, Optik, Astronomie, Botanik, Medizin, Geschichte, Geografie, Jurisprudenz. Bemerkenswert ist, dass literarisch-humanistisches Erbe u. Theologisches nahezu vollständig fehlen. Sieht man von einem schlichten, für den Schulgebrauch bestimmten u. anonym erschienenen Nomenclator Latino-Germanicus (Hbg. 1635 u. ö.) u. handschriftl. Versuchen zur dt. philosophisch-naturwissenschaftl. Terminologie ab, deutet nichts mehr auf die urspr. Verbindung zum Ratke’schen Programm einer muttersprachl. Reformdidaktik. Weitere Werke: Kurtzer Bericht v. der Didactica oder Lehrkunst Wolfgangi Ratichii (zus. mit Christoph Helvich). Ffm. 1613 u. ö. – Germania superior. Hg. Johannes Vagetius. Hbg. 1685. – Historia vermium. Hg. ders. Hbg. 1691. – Isagoge phytoscopica. Hg. ders. Hbg. [1679]. Coburg 21747. – Logicae Hamburgensis Additamenta. Hg. Wilhelm Risse. Gött. 1977. Literatur: Martin Vogelius: Historia vitae et mortis Joachimi Jungii. Straßb. 1658. – Gottschalk Eduard Guhrauer: J. J. u. sein Zeitalter. Stgt./Tüb.
Jungk 1850. – Robert C. B. Avé-Lallemant: Des Dr. J. J. aus Lübeck Briefw. mit seinen Schülern u. Freunden. Lübeck 1863. – Ders.: Das Leben des Dr. med. J. J. Breslau 1882. – Beiträge zur J.-Forsch. Hg. Adolf Meyer. Hbg. 1929. – Die Entfaltung der Wiss. [Hbg. 1957]. – Hans Kangro: J. J.’ Experimente u. Gedanken zur Begründung der Chemie als Wiss. Wiesb. 1968 (mit Bibliogr.). – Christoph Meinel: In physicis futurum saeculum respicio: J. J. u. die Naturwiss. Revolution des 17. Jh. Gött. 1984. – Ders.: Der handschriftl. Nachl. v. J. J. in der Staatsu. Universitätsbibl. Hamburg. Stgt. 1984. – Adolf Lumpe: J. J. In: BLSHL, Bd. 8 (1987), S. 187–191. – ›Apollonius Saxonicus‹. Die Restitution eines verlorenen Werkes des Apollonius v. Perga durch J. J., Woldeck Weland u. Johannes Müller. Hg. Bernd Elsner. Gött. 1988. – Aus dem literar. Nachl. v. J. J.: Ed. der Tragödie ›Lucretia‹ u. der Schul- u. Universitätsreden. Hg. Gaby Hübner. Gött. 1995. – C. Meinel: Enzyklopädie der Welt u. Verzettelung des Wissens: Aporien der Empirie bei J. J. In: Enzyklopädien der Frühen Neuzeit: Beiträge zu ihrer Erforsch. Hg. Franz M. Eybl, Wolfgang Harms, Hans-Henrik Krummacher u. Werner Welzig. Tüb. 1995, S. 162–187. – Europ. Sozietätsbewegung u. demokrat. Tradition. Die europ. Akademien der Frühen Neuzeit [...]. Hg. Klaus Garber u. a. 2 Bde., Tüb. 1996 (Register). – Ueberweg 4/2, S. 921–926 u. Register. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 815–825. – Der Briefw. des J. J. Hg. Martin Rothkegel. Gött. 2005. Christoph Meinel
Jungk, Peter Stephan, * 19.12.1952 Santa Monica/Kalifornien. – Erzähler u. Hörspielautor.
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gerät u. eine pikareske Irrfahrt von Italien bis zum Berg Ararat antritt. Die Unruhe der Stella Federspiel (Mchn. 1996) beschreibt ein krisenhaftes Jahr im Leben einer Karrierefrau, die nach dem Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft u. berufl. Scheitern ihren Lebensentwurf neu überdenken muss. Verhandelt werden auch generationelle Konflikte der Kinder von Holocaust-Überlebenden mit ihren Eltern. Das »Nirgendwo-Überall« der Diaspora bildet den Hintergrund für den Roman Die Erbschaft (Mchn. 1999). Ein nicht mehr junger, weltfremder Lyriker u. Übersetzer reist auf der Suche nach den Depots seines verstorbenen Onkels von Caracas über Miami nach Panama. Der biogr. Reportageroman Der König von Amerika (Stgt. 2001) schildert das Leben Walt Disneys aus der Perspektive des Zeichners Wilhelm Dantine. In dem autobiogr. Roman Die Reise über den Hudson (Stgt. 2005) setzt sich J. mit der Figur eines übermächtigen Vaters u. den Emanzipationsbemühungen eines Sohnes auseinander. Weitere Werke: Oktave. SDR 1979 (Hörsp.). – Suchkraft. WDR 1983 (Hörsp.). – Leo Perutz – Der Meister der Nacht. ZDF/ORF 1989 (Fernsehdokumentation). – Eugen Bavcar – Dunkles Licht. ZDF/ ORF 1992 (Fernsehdokumentation). – Vier Frauen. Portraits (zus. mit Lillian Birnbaum). Heidelb. 1994. – André Previn – Eine Brücke zwischen den Welten. Dor-Film 2007 (Fernsehdokumentation). – Herausgeber: Das Franz-Werfel-Buch. Ffm. 1986. Literatur: Willy Riemer: Deterministic Chaos and the Post-Modern Narrative. P. S. J.’s Tigor. Orbis Litterarum 50 (1995), H. 1, S. 11–25.
J., Sohn des Futurologen Robert Jungk, studierte 1974–1976 in Los Angeles am AmeriKristina Pfoser-Schewig / Nele Hoffmann can Film Institute. Er lebt als Schriftsteller, Übersetzer, Regisseur u. Publizist in Paris. Jungk, Robert, auch: Jean Pierhal, F. L., Die Amerikaeindrücke seiner Studienzeit * 11.5.1913 Berlin, † 14.7.1994 Salzburg. liegen den zwölf Erzählungen in Stechpal– Journalist, Publizist, Sachbuchautor. menwald (Ffm. 1978) zugrunde. Der autobiogr. Roman Rundgang (Ffm. 1981) befasst J. wuchs in Berlin als Sohn österr. Staatsbürsich mit der Suche nach der eigenen Her- ger jüd. Herkunft auf. Seine Eltern waren der kunft. Ruhelose Wanderungen durch Jerusa- Dramaturg, Schauspieler u. Regisseur Max lem u. eine Thoraschule sind Orte der Suche Jungk (eigentl. David Baum) u. die Schaunach jüd. Identität. Die materialreiche Bio- spielerin Elli Branden (eigentl. Sara Bravo). J. grafie Franz Werfel (Ffm. 1987) ist zgl. eine war Mitgl. der linken jüd. Jugendbewegung, subjektive Charakterstudie. Der Roman Tigor des Sozialistischen Schülerbunds u. der von (Ffm. 1991) erzählt von einem Mathematiker, Münzenberg geleiteten Internationalen Arder nach der wissenschaftl. Widerlegung sei- beiterhilfe. Nach Abitur, Assistenztätigkeit nes Hauptwerks in eine existenzielle Krise beim Film u. Beginn eines Philosophiestudi-
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ums sowie Kontakten zum Widerstandskreis um Harro Schulze-Boysen wurde er 1933 verhaftet u. musste nach seiner Befreiung durch Sven Schacht ins Exil gehen. Er studierte u. arbeitete beim Film u. als Journalist in Paris, Barcelona, illegal in Deutschland, in Prag, London u. seit 1939 in Zürich u. Bern. Trotz des Verbots durch die Schweizer Fremdenpolizei veröffentlichte er in verschiedenen Schweizer Zeitungen; bes. Beachtung fanden seine mit F. L. gezeichneten Artikel gegen das »Dritte Reich« in der »Weltwoche«. Nach dem Abschluss seines Studiums (Dr. phil. 1944 in Zürich) u. dem Ende des Kriegs berichtete J. als Korrespondent für verschiedene Zeitungen aus Deutschland, Frankreich, England, Italien u. den USA. Dort lernte er 1948 die aus Wien stammende jüd. Schauspielerin u. Choreografin Ruth Suschitzky kennen; sie heirateten im selben Jahr in Washington. 1952 wurde ihr Sohn Peter geboren u. das Buch, das J. berühmt machte, Die Zukunft hat schon begonnen. Amerikas Allmacht und Ohnmacht erschien in Bern. Seine Beschäftigung mit den Folgen der Atombombe u. den Perspektiven der Atomforschung schlug sich im Weiteren in den Büchern Heller als tausend Sonnen. Das Schicksal der Atomforscher (Bern 1956) u. Strahlen aus der Asche. Geschichte einer Wiedergeburt (Bern 1959) sowie in seinem Engagement in den Bewegungen gegen die Atomrüstung nieder. J. wurde nicht nur ein gefragter Redner bei deren Veranstaltungen, sondern 1960 – er war mit seiner Familie inzwischen nach Wien umgezogen – auch Vorsitzender der österr. Anti-Atombewegung. 1964 gründete er in Wien das »Institut für Zukunftsfragen« u. organisierte 1967 die erste Weltkonferenz für Zukunftsforschung in Oslo mit. Ab 1968 hielt er an der TU Berlin Vorlesungen zur Zukunftsforschung, zunächst als Gast-, seit 1970 als Honorarprofessor. Seine zahlreichen Bücher u. Zeitschriftenpublikationen beschäftigen sich außer mit Fragen der Futurologie (J. hat die Idee der »Zukunftswerkstätten« konzipiert u. realisiert) mit den Problemen internat. Forschung, Möglichkeiten des Entwurfs u. der Realisierung sozialer Modelle, mit der polizeistaatl. Gefahr im
Jungk
»Atomstaat« u. mit den gesellschaftl. Forderungen an den modernen Menschen. In den 1980er Jahren engagierte sich J. stark in der Friedensbewegung gegen die atomare Nachrüstung in Europa. Er eröffnete 1986 die Robert-Jungk-Stiftung »Internationale Bibliothek für Zukunftsfragen« in Salzburg, seinem Wohnsitz seit 1970, u. wurde am Ende des Jahres in Stockholm mit dem alternativen Nobelpreis (Kategorie »Ehrenpreis«) ausgezeichnet. 1992 trat J. als Kandidat der Partei »Grüne Alternative« bei der Wahl zum österr. Bundespräsidenten an. Nach einer schweren Erkrankung im Juni 1993 starb J. ein Jahr später. Er wurde auf dem Jüdischen Friedhof in Salzburg in einem Ehrengrab der Stadt beigesetzt. Der Erfolg J.s, der mit Egon Erwin Kisch bekannt u. mit Peter Weiss befreundet war, beruhte auf seiner Fähigkeit, schwierige gesellschaftl. Zusammenhänge u. naturwissenschaftlich-techn. Erkenntnisse auf sprachlich klare u. spannende Weise darzustellen, u. auf seinem bei aller Einsicht in drohende Gefahren optimistischen linken, aber niemals dogmat. Weltbild, das marxistische, anarchistische u. pazifistische Elemente einem sehr angelsächs. Common Sense unterordnete. Weitere Werke: Jean Pierhal (Pseud.:) Albert Schweitzer. Das Leben eines guten Menschen. Mchn. 1955. – Die große Maschine. Auf dem Weg in eine andere Welt. Bern/Mchn./Wien 1966. – Der Jahrtausendmensch. Bericht aus den Werkstätten der neuen Gesellsch. Mchn. 1973. – Der Atomstaat. Vom Fortschritt in die Unmenschlichkeit. Mchn. 1977. – Menschenbeben. Der Aufstand gegen das Unerträgliche. Mchn. 1983. – Und Wasser bricht den Stein. Streitbare Beiträge zu drängenden Fragen der Zeit. Freib. i. Br./Basel/Wien 1986. – Sternenhimmel statt Giftwolke oder den Frieden erfinden. Zürich 1987. – Projekt Ermutigung. Streitschr. wider die Resignation. Bln. 1988. – Dtschld. von außen. Beobachtungen eines illegalen Zeitzeugen. Mchn. 1990. – Zukunft zwischen Angst u. Hoffnung. Ein Plädoyer für die polit. Phantasie. Mchn. 1990. – Trotzdem. Mein Leben für die Zukunft. Autobiogr. Mchn. 1993. Literatur: Institut für Zukunftsstudien u. Technologiebewertung, Sekretariat für Zukunftsforsch., Internat. Bibl. für Zukunftsfragen (Hg.): Die Triebkraft Hoffnung. R. J. zu Ehren. Mit einer
Junker und der treue Heinrich ausführl. Bibliogr. seiner Veröffentlichungen. (ZukunftsStudien Bd. 7). Weinheim/Basel 1993. Thomas Rothschild / Robert Steinborn
Der Junker und der treue Heinrich. – Spätmittelalterliche Reimpaardichtung aus dem 14. Jh. (?).
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höf. Dichtung Voraussetzung für die Liebeserfüllung, hat somit seine Funktion als Bewährungsprobe verloren. Ausgaben: Der J. u. d. t. H. Hg. Karl Kinzel. Bln. 1880 (H). – Heinrichs Buch oder der J. u. d. t. H. Hg. Sebastian Englert. Dillingen 1892 (D). – Variable Verschriftlichung eines Märe. Hg. Werner Schröder. Stgt. 1996. Literatur: Albert Leitzmann: Zu v. der Hagens Gesamtabenteuer. In: PBB 48 (1924), S. 258–290, hier S. 278–289. – Stephen L. Wailes: An Analysis of ›Des wirtes Maere‹. In: Monatshefte 60 (1968), S.335–352. – Karl-Heinz Schirmer: Stil- u. Motivuntersuchungen zur mhd. Versnovelle. Tüb. 1969, S. 188–193. – Hanns Fischer: Studien zur dt. Märendichtung. Tüb. 21983 (Register). – Walter Johannes Schröder: Der J. u. d. t. H. In: VL. – HansJoachim Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mchn. 1985, S. 389–405. Elisabeth Wunderle / Red.
Die Erzählung, die wohl noch im 14. Jh. auf mittelfränk. Gebiet entstand, ist in zwei Handschriften aus der zweiten Hälfte des 15. Jh. (D u. H) überliefert, deren Fassungen in Umfang und inhaltl. Details beträchtlich variieren. Aus zwei Versen der Einleitung kann auf eine Prosavorlage geschlossen werden; ob die Erzählung von einer Frau geschrieben wurde (gemäß VV. 826–828 in H), ist unsicher. Der J. u. d. t. H. sprengt mit über 2000 Versen die Grenzen eines Märe u. nähert sich in ausführl. Schilderungen von ReiseerlebJunkmann, (Johann Bernhard) Wilhelm, nissen u. zum Teil märchenhaften Neben* 2.7.1811 Münster, † 3.11.1886 Breslau; handlungen dem Roman. Grabstätte: ebd., Friedhof St. Laurenzius. Wie für späthöf. Dichtung charakteristisch, – Lyriker, Publizist, Historiker. stehen sich ritterl. Werte, vertreten durch den Junker, u. bürgerl. Vorstellungen, vertreten J. entstammte einer westfäl. Handwerkerfadurch den treuen Diener Heinrich, gegen- milie. Seit 1829 studierte er Philologie u. über: Nach einer Zeit der Trauer um seine Geschichte in Bonn u. Münster. In seiner verstorbene Geliebte widmet sich der Junker Heimatstadt verkehrte er in dem literar. Zirwieder wie früher ganz den Turnieren. Als er kel um Elise Rüdiger u. im theologisch ausvon einem Turnier auf Zypern erfährt, ver- gerichteten Kreis des Philosophen Christoph kauft er den Rest seines Besitzes, um sich für Bernhard Schlüter. Hier begegnete J. der die Reise dorthin standesgemäß ausstatten zu Droste, mit der er bis zu ihrem Lebensende in können. Auf dem Weg gewährt er einem freundschaftl. Verbindung stand. 1834/35 Standesgenossen großzügig Unterstützung studierte er in Berlin, wurde dort als Burund verliert dabei alles bis auf zwei Pferde. schenschafter inhaftiert u. entging durch Angekommen, gibt er sogar einige der Ge- Gnadengesuch einer sechsjährigen Festungsschenke der zypr. Königstochter weg. Sein haft. Zurück in Münster, veröffentlichte J. ökonomisch denkender Diener Heinrich ver- eine Sammlung epigonaler, an Hölty u. sucht vergeblich, die scheinbare Verschwen- Klopstock orientierter Dichtungen u. d. T. dungssucht seines Herrn zu unterbinden. Am Elegische Gedichte (Münster 1836). Er lernte Schluss lösen sich die finanziellen Schwie- Schücking kennen u. beriet 1838 den von der rigkeiten dadurch, dass der Junker nach sei- Droste mit der Erstausgabe ihrer Gedichte benen drei Turniersiegen in Zypern nicht nur trauten Schlüter. 1844 studierte J. in Bonn u. die Königstochter zur Frau, sondern auch stand in enger Verbindung mit dem »Maiseine Schulden vom König bezahlt bekommt. käferbund« um Gottfried Kinkel, der J.s Die Minnehandlung ist in der Erzählung Bauernidylle Der Meyer. In Westfalen (in: ganz an den Rand gedrängt: Der Junker ge- Rheinisches Jahrbuch. Hg. Levin Schücking. langt vor dem Turnier mit Hilfe eines Zau- Köln 1846) mit einem Preis auszeichnete. bersteins, der es ihm ermöglicht, sich in einen Später hat J. sich nicht mehr literarisch Vogel zu verwandeln, zur Königstochter u. betätigt. Er promovierte 1847 u. widmete genießt deren Liebe. Der Turniersieg, in der sich publizistischen u. polit. Aufgaben.
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1849–1852 war er Abgeordneter in Frankfurt/M. u. Berlin. Als konservativer kath. Politiker widersetzte er sich preuß. Vorherrschaftstendenzen u. war erklärter Gegner der Sozialisten u. Liberalen. 1851 gab J. gemeinsam mit Schlüter das Geistliche Jahr der Droste heraus. 1855 erhielt er eine Professur an der Universität Breslau, wo er bis zu seinem Tod als Historiker lehrte. Weitere Werke: W. J. u. Bernhard Hüppe (Hg.): Spee’s Trutznachtigall. Münster 1841. – Gedichte. Zweite, sehr verm. Aufl. Münster 1844. Literatur: Heinrich Anton Josef Schulte: Levin Schücking u. W. J. als Lyriker. Diss. Münster 1916. – Josefine Nettesheim: W. J u. Annette v. DrosteHülshoff. Münster 1964. – Dies.: W. J. Dichter, Lehrer, Politiker, Historiker. 1811–86. Münster 1969. – Winfried Woesler: Der literarhistor. Hintergrund von zwei plattdt. Gedichten W.J.s. In: Augustin-Wibbelt-Gesellsch. Jb. 10 (1994), S. 19–37. – Westf. Autorenlex. 2. Martin Unkel / Red.
Justi, Carl (Nicolaus Heinrich), * 2.8.1832 Marburg, † 9.12.1912 Bonn; Grabstätte: Marburg, Hauptfriedhof. – Kunsthistoriker. J. war nicht nur einer der bedeutendsten Kunsthistoriker seiner Zeit, sondern auch ein Kunstschriftsteller von Rang. In großen Biografien kleidete er Person, Werk u. geistiges Ambiente in eine Form, die ihn als »Meister des modernen historischen Essays« (von Einem) ausweist. Gemäß der Familientradition studierte J. Theologie, wechselte dann aber zur Philosophie, promovierte 1859 in Marburg über Die ästhetischen Elemente der platonischen Philosophie u. erwarb gleichzeitig mit einer Antrittsvorlesung über Schopenhauer die Venia legendi. Mit Winckelmann. Sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen (Bd. 1, Lpz. 1866) entdeckte J. Winckelmann für die Kunstgeschichte neu. Das Kolorit der Schilderung Dresdens, die Porträts bekannter Zeitgenossen u. die Charakteristik des Rokoko, noch ehe sich die Kunstgeschichte diesem Stil zugewandt hatte, machten ihn sofort bekannt. 1867 erhielt er eine Professur in Marburg, ließ sich jedoch bald von den – zeitlebens ungeliebten – Lehrverpflichtungen beurlauben, um sich
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dem zweiten Winckelmann-Band (Winckelmann in Rom. Lpz. 1872) widmen zu können. 1871 wechselte J. nach Kiel, 1872 folgte der studierte Philosoph einem Ruf an das Bonner Kunsthistorische Institut. Auf Spanienreisen 1872–1886 reifte der Plan, sich eingehend mit Velázquez zu beschäftigen, in dem J. den Antipoden des von ihm wenig geschätzten Pathetikers Rubens sah. Auch Diego Velazquez und sein Jahrhundert (2 Bde., Bonn 1888) ist eine Wiederentdeckung. J. versucht, durch anschaul. Schilderung der Umgebung, v. a. aber durch Analyse der seelisch-charakterl. Züge des Künstlers zum Verständnis des Kunstwerks zu gelangen. »Held und Szene und: das Rätsel des Genies« (Waetzold) sind die Leitmotive des J.schen Werks. Erst nach Jahrzehnten der Beschäftigung mit Michelangelo entschloss sich J., seine Forschungen für eine Biografie fruchtbar zu machen, die dem Heroisch-Widerspruchsvollen, der »rätselhaft gemischten Menschennatur« nachgeht (Michelangelo. Beiträge zur Erklärung der Werke und des Menschen. Lpz. 1900. [...] Neue Beiträge. Bln. 1909). Noch deutlicher als in den früheren Werken J.s steht statt Gesetzmäßigkeiten der Kunstentwicklung oder zeitbedingter Formnotwendigkeiten die große Künstlerpersönlichkeit im Vordergrund. J. liebte es zu zitieren; typisch ist auch die Vorliebe für Episode u. signifikantes Detail. Manche Kapitel der Michelangelo-Analysen lassen sich auch als Folgen aphorist. Streiflichter lesen. In Aufsätzen behandelte J. verschiedenste Themen, v. a. die niederländ. Malerei, deren »plebejische« Variante des Bauerngenres er jedoch ebenso verschmähte wie den Impressionismus, dem er in dem anonym gedruckten Vortrag Aphorismus in der Kunst (1902) vorwarf, er müsse zur Auflösung der Malerei führen. J.s Werke verschafften ihm höchste Anerkennung – bis hin zu Kaiser Wilhelm II., der zu J.s Ärger versuchte, seine Kritik des Impressionismus »kunstpolitisch« zu verwerten. Später berief sich v. a. die »Wiener Schule« der Kunstgeschichte auf J.s Vorbild. Sein Schüler Aby Warburg dagegen entfremdete sich ihm bald.
Justi Weitere Werke: Murillo. Lpz 1892. – Miscellaneen aus 3 Jahrhunderten span. Kunstlebens. 2 Bde., Bln. 1908. – Briefe aus Italien. Hg. Heinrich Kayser. Bonn 1922. – Span. Reisebriefe. Hg. ders. Bonn 1923. Literatur: Wilhelm Waetzold: Dt. Kunsthistoriker. Bd. 2, Lpz. 1921. – Paul Clemen: C. J. Gedächtnisrede zur 100. Wiederkehr seines Geburtstages. Bonn 1933 (Lit.). – Ludwig Justi: C. J. In: Lebensbilder aus Kurhessen u. Waldeck 1 (1939), S. 147–160. – Herbert v. Einem: J. In: Arcadia 7 (1972), S. 216–230. – Wolfgang Frhr. v. Löhneysen: C. J. In: NDB. – Heinrich Dilly: Kunstgesch. als Institution. Ffm. 1979 (Lit.). – Harald Olbrich: Nachw. zur Neuausg. v. ›Diego Velazquez‹. Lpz. 1983, S. 419–441. – Goedeke Forts. – Johannes Rößler: Poetik der Kunstgesch. Zur ästhet. Begründung der dt. Kunstwiss. bei Anton Springer u. C. J. Bln. 2008. Ingeborg Dorchenas / Red.
Justi, Johann Heinrich Gottlob von (seit 1754), auch: Anaxagoras vom Occident, * 25.12.1720 Brücken/Thüringen, † 21.7. 1771 Küstrin. – Jurist, Kameralist, Historiker, Philosoph, Mineraloge; Herausgeber, Satiriker. Der Sohn eines kursächs. Akziseinspektors studierte Jura u. Kameralistik in Wittenberg, Jena u. Leipzig u. promovierte 1744. Er wurde in der preuß. Armee Regimentsquartiermeister, trat als Jurist in die Dienste der Herzogin von Sachsen-Eisenach u. wurde um 1750, in Verbindung mit dem Übertritt zum Katholizismus, als Professor der Kameralistik, später auch der Deutschen Beredsamkeit, an die neu gegründete Ritterakademie zu Wien berufen. J. arbeitete in der österr. Zensurhofkommission, befasste sich mit Bergbau u. Seidenraupenzucht u. wurde kaiserl. Finanz- u. Bergrat, erbat aber seinen Abschied nach Misserfolgen im Silberbergbau. 1755 wurde er Bergrat u. Oberpolizeikommissar in Göttingen, wo er außerdem an der Universität Staatsökonomie u. Naturgeschichte las. 1757 ging er in dän. Dienste, kehrte bald darauf nach Preußen zurück, wurde aber erst 1766 in Berlin zum kgl. Berghauptmann u. Direktor der Glas- u. Stahlfabriken ernannt. Der in Hinsicht auf Karriere u. persönl. Finanzen so opportunistische wie unvorsichtige, später erblindete, vereinsamte u. verbit-
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terte J. wurde der Veruntreuung angeklagt u. 1768 auf der Festung Küstrin eingekerkert, wo er starb. Der kameralistische Teil seines vielseitigen Werks war der wirkungsreichste. J.s Schriften Staatswirtschaft (2 Tle., Lpz. 1755. 21758. Neudr. Aalen 1963), Grundsätze der Policeywissenschaft (Gött. 1756. 31782. Neudr. Ruggell 1969. Zuletzt Düsseld. 1993), Grundveste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten (2 Bde., Königsb. 1760/61. Neudr. Aalen 1965) u. System des Finanzwesens (Halle 1766. Neudr. Aalen 1969. Zuletzt Dillenburg 1998) spielen für die Geschichte der Staats- u. Wirtschaftswissenschaft noch heute eine Rolle. J. gab die Zeitschriften »Ergetzungen der vernünftigen Seele aus der Sittenlehre und der Gelehrsamkeit überhaupt« (Lpz. 1745–49) u. »Göttingische PoliceyamtsNachrichten« (Gött. 1755–57) heraus; er schrieb die Satire Die Dichterinsel, nach ihren verschiedenen Landschaften unpartheyisch beschrieben (Lpz./Wittenb. 1744), Fabeln und Erzählungen (Köln 1759) u. den romanhaften Fürstenspiegel Die Wirkungen und Folgen sowohl der wahren, als der falschen Staatskunst in der Geschichte des Psammitichus Königes von Egypten (2 Tle., Ffm./Lpz. 1759/60). Ausgaben: Scherzhafte u. satyr. Schr.en. 3 Bde., Bln./Stettin/Lpz. 1760. Bln./Lpz. 21765. – Ges. chym. Schr.en. 3 Bde., Bln./Lpz. 1760–71. Bde. 1 u. 2, 21773/74. – Moral. u. philosoph. Schr.en. 3 Bde., Bln./Lpz. 1760/61. – Histor. u. jurist. Schr.en. 2 Bde., Ffm./Lpz. 1760/61. – Ökonom. Schr.en. 2 Bde., Bln. 1760/61. – Ges. polit. u. Finanzschr.en. 3 Tle., Kopenhagen 1761–64. Neudr. Aalen 1970. Literatur: Rolf Koch: J. H. G. v. J.s ›Dichterinsel‹ u. ihre Beziehungen zur Literaturkritik der Aufklärung. In: ZfdPh 91 (1972), S. 161–171. – Louis Frison: J. H. G. v. J. ou le despotisme éclairé à l’épreuve de la ›science‹ politique. In: RG 5 (1975), S. 60–88. – Uwe Wilhelm: Entwicklung u. Elemente liberalen Denkens bei J. H. G. v. J. In: Jb. der Hambach-Gesellsch. 3 (1990/91), S. 92–168. – Marcus Obert: Die naturrechtl. ›polit. Metaphysik‹ des J. H. G. v. J. Ffm. u. a. 1992. – Beatrice RöschWanner: J. H. G. v. J. als Literat. Ffm. u. a. 1993. – Wolfgang Biesterfeld: Vergessene Fabeldichter: J. H. G. v. J. (1720–1771). In: Ders.: Von Fabel bis Fantasy. Ges. Aufsätze u. Vorträge zur Erzählforsch., Jugendlit. u. Literaturdidaktik. Hbg. 1994, S. 12–17. Wolfgang Biesterfeld / Red.
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Justi, Karl Wilhelm, * 14.1.1767 Marburg, † 7.8.1846 Marburg. – Lutherischer Theologe u. Historiker; Lyriker.
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einen eigenen, der gerade einsetzenden krit. Quellenedition jedoch sich verweigernden Stil. Dies gilt auch für seine Elisabeth-Biografie, mit der die Elisabeth-Forschung einsetzte (Elisabeth, die Heilige. Zürich 1797. Erw. Marburg 1835). In der Übersetzung hebräischer Poesie (Blumen althebräischer Dichtkunst. 3 Bde., Gießen 1809. National-Gesänge der Hebräer. 3 Bde., Marburg 1803, 1816 u. Lpz. 1818. Sionitische Harfenklänge. Lpz. 1829) konnte er seine theolog., philolog. u. dichterischen Neigungen integrieren. Ihm wurde auch die Herausgabe der dritten Auflage (Lpz. 1825) von Herders Geist der Ebräischen Poesie anvertraut.
J., aus einer Theologenfamilie stammend, durchlief nach dem Studium in Marburg (1782 bis 1787) u. Jena (1787/88) die vierstufige Laufbahn eines Pfarrers: 1790 wurde er Subdiakon an der luth. Pfarrkirche in Marburg, 1801 Archidiakonus, 1802 Ekklesiastes u. Superintendent der luth. Gemeinden Oberhessens, 1814 Oberpfarrer, 1836 Oberkonsistorialrat. 1791 nutzte er die kurfürstl. Erlaubnis für Doktoren u. Magister, an der Universität zu lehren. Er begründete damit eine bis zu seinem Tod währende LehrtätigLiteratur: K. W. J. [Selbstbiogr.]. In: Friedrich keit (1793 Professor der Philosophie, 1822 der Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer Hess. GeTheologie). lehrten- u. Schriftsteller-Gesch. Bd. 18, Marburg Öffentliche Wirkung erzielte der nicht-or- 1819, S. 270–298. Bd. 19, Marburg 1831, thodoxe (neolog.) Lutheraner v. a. als Dichter S. 320–331. Zweiter Nachtr. v. K. W. J. Marburg u. Historiker. Der literar. Wandel allerdings 1842. – Wilhelm Schoof: Die dt. Dichtung in Heshatte trotz persönl. Beziehungen zu Roman- sen. Marburg 1911. – Ingeborg Schnack: K. W. J. tikern wie Brentano, Wilhelm Grimm u. In: Lebensbilder aus Kurhessen u. Waldeck Creuzer keinen Einfluss auf seine in Hessen 1830–1930. Hg. dies. Bd. 6, Marburg 1958, S. 136–176. – Horst Nieder: K. W. J. u. Clemens u. tonangebende u. in zahlreichen Zeitschriften Sophie Brentano: Vier unveröffentlichte Briefe. In: u. Anthologien vertretene Lyrik (Gedichte. JbFDH 1995, S. 74–89. 2 Ernst Weber Marburg 1808. Siegen 1810. Gedichte. Neue Sammlung. Marburg 1834. 21835). Sie blieb Hölty, Klopstock, Bürger u. Matthisson ver- Justinger, Konrad, † April 1438 Zürich. – pflichtet. J. war ein Nachkömmling der Auf- Spätmittelalterlicher Chronist. klärung auch in seinem Dichtungsverständ- Der vom Oberrhein (evtl. Rottweil, Badennis (»Meine Mußestunden waren den liebli- Württemberg) stammende J. lässt sich zwichen Spielen der Poesie geweiht.« In: Strieder schen 1390 u. 1431 in Bern nachweisen: zu18, S. 279). Seine polit. Ideen bewegten sich nächst als Notar u. Schreiber in der städt. in der Vorstellungswelt des Göttinger Hain Kanzlei; 1400 ist er das einzige Mal als (Teutonias Nacht und neuer Morgen. Marburg Stadtschreiber bezeugt. Ab 1432 ist er ur1813). kundlich in Zürich erwähnt. 1420 erhält er Die Vielzahl seiner histor. u. kunsthistor. als »weiland Stadtschreiber« von der RegieBeiträge erschien z.T. selbstständig (Amalie rung Berns den Auftrag, eine Chronik der Elisabeth. Gießen 1812. Die Kirche der heiligen Stadt zu schreiben. Die Arbeit setzt im Jahr Elisabeth [...]. Marburg 1824. Grundzüge einer 1152 ein, der Regierungszeit Kaiser FriedGeschichte der Universität zu Marburg. Ebd. richs I., die als die Vorphase zur Gründung 1827. Sophie [...] Herzogin von Brabant. Ebd. Berns 1191 dargestellt wird u. reicht bis zur 1838), z.T. in Zeitschriften, darunter in den Grundsteinlegung des Münsters 1421. Der von J. herausgegebenen, die hess. Ge- Band wurde 1430 auf Kosten der Staatskasse schichtsschreibung befördernden »Hessi- gebunden. Drei möglicherweise von diesem schen Denkwürdigkeiten« (5 Bde., Marburg Autograf stammende, rubrizierte Perga1799–1805) u. der »Vorzeit« (10 Bde., Mar- mentseiten existieren noch. Zudem sind fünf burg 1820–28 u. 1838). In der Verbindung vollständige Manuskripte überliefert. Eine von auf Quellen gestütztem histor. Bericht u. weitere Handschriftengruppe von elf Manulandschaftl. Stimmungsbildern entwickelte J. skripten, darunter vier aus dem 15. Jh., ent-
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halten einen kürzeren, vielfach textlich mit der amtl. Chronik übereinstimmenden Text zumeist als Zusatz zur Straßburger Chronik Jakob Twingers. Diese Kleine Berner Chronik (auch Anonymus oder Königshofen-Justinger) umfasst den Zeitraum 1191–1424. Die zeitl. Abfolge der Entstehung der Arbeiten ist umstritten. Wie Jakob Twinger u. andere hat J. möglicherweise gleichzeitig an verschiedenen Versionen gearbeitet. J. stützte sich auf die Chroniken – die im Jahrzeitbuch der Berner Stadtkirche überlieferte Cronica de Berno aus der Mitte des 14. Jh., einer Zürcher Chronik, die Chronik des Konstanzer Konzils sowie eine wohl zeitgenössische, literarisch hochstehende Darstellung der Schlacht von Laupen 1339 vermutlich von der Hand eines Mitgl. des Deutschen Ordens in Bern – sowie mündl. Überlieferung (»underwisung alter gelobsamer lüten«). Darüber hinaus benutzte er die im städt. Archiv liegenden Urkunden (»briefe so in der stat kisten ligent«) insbes. für Nachrichten, welche die Vergrößerung des Berner Territoriums durch Kauf, Pfandschaft oder Erbgang belegen. Literarisch bedeutsam ist zudem die Aufnahme von drei Ereignisliedern in den chronistischen Kontext, die er als Quellen u. Illustration zugleich nutzte. Ziel ist die Darstellung des Wegs Berns zur »fürstlichen Stadt« u. Beherrscherin der Landschaft seit ihrer Gründung. Dabei verfolgt J. deutlich
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eine moralisch-didaktische Absicht, die das ordnungspolit. Regelsystem der städt. Gemeinschaft betont. J.s Chronik wurde von Diebold Schilling 1483 in seine ebenfalls in obrigkeitl. Auftrag erstellte Chronik eingeschrieben u. fortgesetzt. Bendicht Tschachtlan u. Heinrich Dittlinger benutzten in ihrer 1471 abgeschlossenen Chronik für den familieninternen Gebrauch eine oder mehrere J.-Handschriften. Zusammen mit Königshofen bildet J.s Werk direkt oder indirekt die Basis sämtl. größerer kommunaler historiografischer Unternehmen in der Eidgenossenschaft u. der ihr benachbarten Gebiete im 15. Jh. Ausgaben: Die Berner-Chronik des K. J. Hg. Gottlieb Studer. Bern 1871 (im Anhang auch die ›Kleine Berner Chronik‹). Literatur: Gustav Tobler: Die Chronisten u. Geschichtsschreiber des alten Bern. Bern 1891. – Aimée Perrin: Verz. der handschriftl. Kopien v. K. J.s Berner Chronik. In: Berner Ztschr. für Gesch. u. Heimatkunde (1950), S. 204–229. – Hans Strahm: Der Chronist K. J. u. seine Berner Chronik v. 1420. Bern 1978. – Hans Füglister u. Christine Stöllinger: K. J. In: VL. – Klaus Kirchert: Städt. Geschichtsschreibung u. Schullit. Wiesb. 1993. – Urs Martin Zahnd: zu ewigen ziten angedenk ... In: Berns grosse Zeit. Bern 1999, S. 187–195. – Regula Schmid: Gesch. im Dienst der Stadt. Zürich 2008. Norbert H. Ott / Regula Schmid
K Kachold, Gabriele ! Stötzer, Gabriele
1910 war K. einer der meistgespielten Lustspielautoren dt. Sprache.
Kadelburg, Gustav, * 26.7.1851 Pest (heute zu Budapest), † 11.9.1925 Berlin; Grabstätte: Berlin-Stahnsdorf, Südwestkirchhof. – Schwankautor; Schauspieler, Regisseur.
Weitere Werke: Großstadtluft. Bln. 1891 (Schwank). – Die Orientreise. Bln. 1892 (Schwank). – Hans Huckebein. Bln. 1897 (Schwank). – Im Weißen Rößl. Bln. 1898 (Lustsp.; alle zus. mit Oskar Blumenthal). – Familie Schierke. Bln. 1902 (Schwank). – Dramat. Werke. 4 Bde., Bln. 1902.
Literatur: Karl Holl: Gesch. des dt. Lustspiels. K. ließ sich in Wien bei Alexander Strakosch Lpz. 1923. – Bernd Wilms: Der Schwank. Diss. Bln. u. Franz Deutschinger zum Schauspieler 1969. – Alain Michel: Der Militärschwank des kaiausbilden. Über Leipzig (1868) u. Halle serl. Dtschld. Stgt. 1982. – Bernhard Doppler: Das (1869–1871) kam er 1871 als Liebhaber u. Glück steht vor der Tür. Österreich im Berliner Bonvivant an das Wallner-Theater in Berlin. Schwank u. der Berliner Operette (›Im weißen Berlin wurde K.s künstlerische Heimat. Am Rößl‹). In: MAL 31 (1998), Nr. 1, S. 20–38. Stadttheater Wien (1878), wohin ihn Laube Alain Michel / Red. verpflichtet hatte, u. am Stadttheater Hamburg (1883) blieb er nur je eine Spielzeit. Kämpchen, Heinrich, * 23.5.1847 Alten1884–1894 gehörte er als Bonvivant u. Chadorf (heute zu Essen), † 6.3.1912 Linden rakterkomiker zum Ensemble des Deutschen (heute zu Bochum); Grabstätte: ebd., KaTheaters in Berlin. Danach machten ihn tholischer Friedhof. – Lyriker. Gastspiele landesweit bekannt. Die Genossenschaft Deutscher Bühnen-Angehöriger er- Als Sohn eines Bergmanns in der Region des nannte K. 1921 zum Ehrenmitglied. frühesten Ruhrkohlenbergbaus geboren, Neben seiner Tätigkeit als Schauspieler u. wurde K. selbst Bergmann u. erlebte so die Regisseur (seit 1875) schrieb K. zahlreiche durch die Liberalisierung des Bergbaus herSchwänke für die Berliner Privatbühnen. vorgerufene Proletarisierung der Knappen Nach dem ersten Erfolg mit Goldfische (zus. am eigenen Leibe mit. mit Franz von Schönthan. Bln. 1886) entK. blieb Junggeselle u. wohnte zeitlebens standen In Civil (Bln. 1897), Der Weg zur Hölle als »Kostgänger« bei einer Arbeiterfamilie. (Bln. 1905) u. Husarenfieber (zus. mit Richard Im Selbststudium eignete er sich die Werke Skowronnek. Bln. 1906). der Klassiker an; Vorbild für das eigene Werk Die Schwanksituationen in K.s Stücken wurde ihm aber v. a. die engagierte Vorberuhen auf Lüge u. Verstellung. In Das Bä- märzlyrik, politisch beeinflussten ihn die renfell (Bln. 1899) täuscht ein Fabrikant Schriften Lassalles. Ursprünglich aus der kaKrankheit vor, um die materiellen Interessen tholisch-sozialen Bewegung kommend, war seiner Erben zu erkennen u. dann mit einer er am großen Bergarbeiterstreik von 1889 an eigenen Heirat zu durchkreuzen. Komische führender Stelle beteiligt u. wurde auf die Überraschungseffekte, deren Anbahnung die »Schwarze Liste« der Grubeneigner gesetzt, Zuschauer, nicht aber die handelnden Perso- d.h. mit Berufsverbot belegt. Nach 1889 nen durchschauen, wurden durch K. zum wirkte er, zum Teil in Vorstandsfunktionen, festen Schwankstandard. Zwischen 1890 u. im neu gegründeten »Verband zur Wahrung
Kaempfer
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und Förderung der bergmännischen Interessen in Rheinland und Westfalen« (dem »Alten Verband«) mit. Die von K.s Freund Otto Hue geleitete Verbandszeitung brachte wöchentlich seine auf soziale Tagesereignisse eingehenden Gedichte. Im Vorwort zur ersten Sammelausgabe Aus Schacht und Hütte (Bochum 1898) legte er sein operatives Lyrikverständnis dar. Wie für die frühe Arbeiterdichtung typisch, schreibt er innerhalb der Medien der organisierten Arbeiterbewegung als Arbeiter für Arbeiter über Arbeiterprobleme. Daneben finden sich Gedichte, welche die Schwere u. Eigenart der Arbeit unter Tage gestalten. Die dritte Gruppe schließlich, Natur- u. Heimatgedichte, diente K. als Beschwörung einer seel. Zuflucht in der Zeit der Entfremdung (Helf). Aufgrund der auch hier spürbaren Vernachlässigung der Form zugunsten des Inhalts haben sie nicht den Rang des übrigen Werks: eines bleibenden sozialgeschichtl. Zeugnisses aus der großen Zeit der Arbeiterbewegung. Weitere Werke: Neue Lieder. Bochum 1904. – Was die Ruhr mir sang. Bochum 1909. – Aus der Tiefe. Gedichte u. Lieder eines Bergmanns. Hg. Wilhelm Helf. Bochum 1931. Neuausg. 1962. – Seid einig, seid einig – dann sind wir auch frei. Gedichte. Hg. Rolf-Peter Carl u. a. Oberhausen 1984. Lietratur: Rolf-Peter Carl: H. K. Bergarbeiter u. Arbeiterdichter. In: Lit. in Westf. Hg. Walter Gödden u. Winfried Woesler. Paderb. 1992, S. 89–104. – Wolfgang Wittkowski: H. K. u. die Tradition des Bergbauliedes. In: DU 46 (1994), S. 5–24. Volker Neuhaus / Red.
Kaempfer, Engelbert, * 16.9.1651 Lemgo, † 2.11.1716 Lieme bei Lemgo. – Arzt, Reisender. Als zweiter Sohn des Lemgoer Hauptpastors erhielt K. eine umfassende Ausbildung. Er besuchte zunächst die Akademischen Gymnasien in Lüneburg, Lübeck, Danzig u. Thorn. Nach einem Medizinstudium in Krakau u. Königsberg gelang es ihm, aufgrund seiner vielseitigen Kenntnisse u. Gewandtheit, eine Stellung als Sekretär bei der schwed. Persiengesandtschaft (1683–1685) zu erhalten, u. reiste von Stockholm über Mos-
kau u. Astrakan nach Isfahan. Dort blieb er zwanzig Monate. Seine intensiven sprachl. u. landeskundl. Studien wurden unterstützt durch den besten Persienkenner seiner Zeit, den frz. Kapuziner u. Dolmetscher des Shahs Raphael du Mans. In Isfahan trat K. in die Niederländisch-Ostindische Kompanie ein, war zunächst als Faktoreiarzt in Bandar Abbas (1685–1688) tätig u. reiste dann über Südindien nach Java. Dort bekam er den Auftrag, in Japan Pflanzen zu sammeln. Über Siam reiste K. nach Japan, wo er als Faktoreiarzt in Dejima arbeitete (1690–1692). 1693 kehrte er nach Europa zurück u. promovierte 1694 in Leiden mit der Dissertation Disputatio medica inauguralis exhibens decadem observationum exoticarum [...], die 1694 bei Elzevier veröffentlicht wurde. Nach seiner Rückkehr nach Lemgo war K. als Arzt, ab 1698 als lipp. Leibarzt tätig u. arbeitete an den mitgebrachten Manuskripten zum Zweck der Herausgabe. 1712 erschien in Lemgo als erstes Werk Amoenitatum exoticarum politico-physico-medicarum fasciculi V [...]; ein zweites, umfangreiches Werk »Heutiges Japan. Zu einer Zweifachen Hoff-reise durchgeschauet und beschrieben etc.« vollendete er nicht (bearb. Ausgabe durch Dohm, die das Japanbild Europas bis Siebold prägte). K sammelte auf seinen Reisen zahlreiche Realia (Bücher, Karten, Netsuke u.a.) u. fertigte umfangreiche, bis heute noch nicht kritisch edierte Notizen u. Zeichnungen über die unterschiedlichsten Themen u. Disziplinen der von ihm bereisten Länder an (z.B. Archäologie, Botanik, Natur- u. Kulturgeschichte, Sprachen, Landeskunde). Eher traditionell in den eigenen Heilmethoden (Säftelehre, Galen), war er aufgeschlossen für asiatische Medizin u. Pharmazie (Akupunktur, Moxibustion, Tee). Sein handschriftl. Nachlass befindet sich in der British Library, London, im Natural History Museum, London, u. in der Bodleian Library, Oxford; Teilnachlässe gibt es auch in der Lippischen Landesbibliothek, Detmold, der Universitätbibliothek Göttingen u. der Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel. K. prägte das Japanbild des 18. Jh. nachhaltig. Durch Übersetzungen ins Englische, Französische, Niederländische u. Russische
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wirkte er u. a. auf Autoren wie Voltaire, Lessing, Goldsmith, Wieland u. Goethe hinsichtlich der japanischen Staatsform u. hohen kulturellen Entwicklung. Die krit. Edition der Werke zeigt überdies einen außerordentlich vielseitigen Gelehrten, der eines der bedeutendsten Bindeglieder zwischen humanistisch geprägter Gelehrsamkeit u. moderner kultur- u. naturwiss. Forschung im Sinne Alexander von Humboldts darstellt. Für die Kenntnis der frühneuzeitl. Wissenschaftsentwicklung stellt sein Nachlass in Bezug auf Qualität u. Umfang eine einzigartige Quelle dar. Ausgaben: Heutiges Japan. Hg. Wolfgang Michel u. Barend J. Terwiel. Mchn. 2001 (Werke. Krit. Ausg. in Einzelbdn., 1). – Briefe 1683–1715. Hg. Detlef Haberland. Mchn. 2001 (Werke. Krit. Ausg. in Einzelbdn., 2). – Zeichnungen japan. Pflanzen. Hg. Brigitte Hoppe. Mchn. 2001 (Werke. Krit. Ausg. in Einzelbdn., 3). – E. K. in Siam. Hg. Barend J. Terwiel. Mchn. 2003 (Werke. Krit. Ausg. in Einzelbdn., 4). – Notitiae Malabaricae. Hg. Albertine Gaur. Mchn. 2003 (Werke. Krit. Ausg. in Einzelbdn., 5). – Rußlandtagebuch 1683. Hg. Michael Schippan. Mchn. 2003 (Werke. Krit. Ausg. in Einzelbdn., 6). – Phoenix Persicus. Die Gesch. der Dattelpalme. Einl., Übers. aus dem Lat. u. Bearb. v. Wolfgang Muntschick. Marburg 1987. – Flora Japonica (1712). Reprint des Originals u. Komm. v. Wolfgang Muntschick. Wiesb. 1983. – Gesch. u. Beschreibung v. Japan. Icones selectae plantarum, quas in Japonia collegit et delineavit E. K. Beiträge u. Komm. Hg. Deutsche Gesellsch. für Natur- u. Völkerkunde Ostasiens (OAG) Tokyo. 4 Bde., Bln. u. a. 1980. – Gesch. u. Beschreibung v. Japan. Aus den Originalhss. des Verfassers hg. v. Christian Wilhelm Dohm. Unveränd. Neudr. des 1777–1779 [...] erschienenen Originalwerks. Mit einer Einf. v. Hanno Beck. 2 Bde., Stgt. 1964. – Die Reisetagebücher E. K.s. Bearb. v. K. Meier-Lemgo. Wiesb. 1968. Literatur: E. K. zum 330. Geburtstag. Ges. Beiträge zur E.-K.-Forsch. u. zur Frühzeit der Asienforsch. in Europa. Hg. Hans Hüls u. Hans Hoppe. Lemgo 1982. – Detlef Haberland: Von Lemgo nach Japan. Das ungewöhnl. Leben des E. K. 1651 bis 1716. Bielef. 1990. – Ders. (Hg.): E. K. Werk u. Wirkung. Vorträge der Symposien in Lemgo (19.-22.9.1990) u. in Tokyo (15.– 18.12.1990). Stgt. 1993. – Ders.: Zwischen Wunderkammer u. Forschungsbericht – E. K.s Beitrag zum europ. Japanbild. In: Japan u. Europa 1543–1929. Hg. Doris Croissant u. Lothar Ledde-
Kaergel rose. Bln. 1993, S. 83–93. – Ders.: E. K. 1651–1716. A Biography. Transl. by Peter Hogg. London 1996. – Peter Kapitza: E. K. u. die europ. Aufklärung. Dem Andenken des Lemgoer Reisenden aus Anlaß seines 350. Geburtstages am 16. September 2001. Mchn. 2001. – E. K. (1651–1716) u. die kulturelle Begegnung zwischen Europa u. Asien. Hg. Sabine Klocke-Daffa u. a. Lemgo 2003. – Gerhard Bonn: E. K. (1651–1716). Der Reisende u. sein Einfluß auf die europ. Bewußtseinsbildung über Asien. Ffm. u. a. 2003. – E. K. (1651–1716) – Ein Gelehrtenwerk zwischen Tradition u. Innovation. Hg. D. Haberland. Wiesb. 2004. – D. Haberland: Die ›verlorene Handschrift‹ – Das Bild des bedeutenden nlat. Gelehrten E. K. im Licht zweier neuer Funde. In: Nlat. Jb. 8 (2006), S. 397–408. Detlef Haberland
Kaergel, Hans Christoph, * 6.2.1889 Striegau/Schlesien, † 9.5.1946 Breslau. – Erzähler, Dramatiker u. Herausgeber. Der Sohn eines Gymnasiallehrers war selbst zwölf Jahre Volksschullehrer in Weißwasser/ Oberlausitz, bevor er als Leiter des Bühnenvolksbunds nach Dresden kam. Dort u. ab 1936 in Hain/Riesengebirge lebte er als freier Schriftsteller. In der Reichsschrifttumskammer war er Landesleiter für Schlesien. Die schles. Heimat war für den sehr religiösen Autor Mittelpunkt seines Lebens, so z.B. in dem autobiografisch angelegten ersten Roman Des Heilands zweites Gesicht (Lpz. 1919). Die Erfahrungen während eines mehrmonatigen Amerikaaufenthalts 1925 verarbeitete K. in den Romanen Einer unter Millionen (Bln. 1936) u. Wolkenkratzer (Breslau 1926). Das Heimkehrermotiv gestaltete er religiös u. sozial als Suche u. Selbstfindung im Roman Volk ohne Heimat (Bln. 1927). Besonders erfolgreich war K. als Hörspielautor mit heimatverbundenen Naturmärchen u. Volksstücken in schles. Mundart, aber auch mit hochdt. Stücken. In seinem Lob der Scholle, Andreas Hollmann (Hörsp. 1935), u. mit einer HitlerBiografie für die dt. Jugend (Der Volkskanzler. Langensalza 1935) bekannte K. seine Nähe zum Nationalsozialismus. Weitere Werke: Schlesiens Heide u. Bergland. Breslau 1921. – Heinrich Budschigk. Jena 1925 (R.). – Ein Mann stellt sich dem Schicksal. Jena 1929 (R.). – Bauer unterm Hammer. Jena 1932 (D.). – Atem der Berge. Lpz. 1933 (R.). – Schaffendes Volk. Lpz.
Kaeser 1937 (E.). – Seele der Heimat. Jena 1939 (Ess.). – Himmelreich u. Heimaterde. Breslau 1942 (E.). – Herausgeber: Wir Schlesier, 8 Jahrgänge (1927–35). Literatur: Ernst Metelmann: K.-Bibliogr. In: Die Neue Lit. 40 (1939). – Franz Schade: H. C. K. In: Schles. Monatsh.e (1939). – Martina Biedenbach: H. C. K. In: Wulf Segebrecht (Hg.): Der Bamberger Dichterkreis. Ffm. u. a. 1987, S. 179–186. – Lex. ns. Dichter. – Wojciech Kunicki: ›Wer den Führer so liebt wie wir, der braucht vor keinem Wort Angst zu haben‹. Zur Funktion des polit. Tabus in H. C. K.s ›Schles. Dichtung der Gegenwart‹. In: Hartmut Eggert u. Janusz Golec (Hg.): Tabu u. Tabubruch. Stgt. u. a. 2002, S. 177–212.
228 Weitere Werke: Junker u. Spielgefährte. Zürich 1944 (R.). – På jakt efter Trojas gul. Stockholm 1945 (Biogr.). – Fesseln des Herzens. Zürich 1950 (R.). Literatur: Inger Lundmark: H. J. K. – eine Autorin im Exil in Schweden. Seminaraufsatz (mit ausführl. Bibliogr.). Dt. Institut, Stockholm 1971. – Helmut Müssener: Exil in Schweden. Politik u. kulturelle Emigration nach 1933. Mchn. 1974. Ilse Auer
Kästner, Abraham Gotthelf, * 27.9.1719 Leipzig, † 20.6.1800 Göttingen; Grabstätte: ebd., Bartholomäusfriedhof. – Wolfgang Weismantel / Red. Mathematiker; Epigrammatiker, Kritiker. Kaeser, Hildegard Johanna, geb. Zander, auch: Hill Hillevi, * 4.4.1904 Berlin, Als einziges Kind des Leipziger Juristen † 26.3.1965 Norviken/Stockholm. – Jour- Abraham Kästner genoss K. eine umfassende nalistin, Roman- u. Kinderbuchautorin, u. planmäßige Ausbildung durch PrivatlehVerfasserin von Biografien, Übersetzerin. rer, die, ganz von enzyklopäd. Zuschnitt, soK. arbeitete bis 1933 als Journalistin u. Herausgeberin der Zeitschriften »Der heitere Fridolin« u. »Tempo« beim Ullstein Verlag in Berlin. Von den NS-Rassengesetzen betroffen, emigrierte sie 1933 über Frankreich nach Dänemark. Von 1935 bis zu ihrem Freitod lebte sie in Schweden. Nach Kriegsende war sie aus Abneigung gegen das Land nicht mehr nach Deutschland zurückgekehrt. K. gehörte zu den bekanntesten Exilschriftstellern in Schweden. Sie veröffentlichte zehn Romane, die fast alle auch in Schweizer Verlagen erschienen. Zu ihren Hauptthemen gehören Emigrantenschicksale, wobei die Nationalität keine Rolle spielt. Ihre Romane, die zur gehobenen Unterhaltungsliteratur zählen, sind gefühlsbetont, aber auch spannend; die psycholog. Gestaltung ihrer Figuren ist authentisch. Hohe Auflagen erzielten ihre Biografien u. a. über Johann Heinrich Pestalozzi, Harriet Beecher-Stowe u. Helen Keller, die in der Reihe »Heldentaten« in Stockholm erschienen. Zwischen 1937 u. 1957 veröffentlichte K. in Schweden u. in der Schweiz neun Kinderbücher, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Außerdem übertrug sie zehn Romane der schwed. Autorin Dagmar Edquist ins Deutsche.
wohl Naturwissenschaften als auch alte u. neuere Sprachen umfasste. Seit dem zehnten Lebensjahr besuchte er die Vorlesungen seines Vaters; zwei Jahre später bereits wurde er an der Juristischen Fakultät der Leipziger Universität immatrikuliert. Im Anschluss an die Rechtswissenschaften (1737 Magister Artium) studierte K. Mathematik u. Philosophie, was ihn zu Professuren in Leipzig u. Göttingen befähigte. Andere Fachgebiete (Medizin, Botanik, Naturkunde) betrieb er aus Interesse. In diesem breit gefächerten Bildungsprogramm kamen die »schönen Wissenschaften« zunächst nur am Rande vor. Das änderte sich durch K.s Begegnung mit Gottsched, dessen berühmte Vorlesungen über Poesie u. Rhetorik er besuchte. Angezogen durch den Ruf des damals führenden dt. Literaturtheoretikers u. vertraut mit dessen Methode, die Prinzipien des Wolff’schen Rationalismus auch einer normativen Dichtungslehre zugrunde zu legen, intensivierte K. bald seine Kontakte zum Gottsched-Kreis, wurde Mitgl. der Vertrauten Rednergesellschaft sowie der Leipziger Deutschen Gesellschaft u. veröffentlichte in den von Gottsched herausgegebenen oder geförderten Zeitschriften (»Beyträge zur Critischen Historie der Deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit«, »Belustigungen des Verstandes und Witzes«) zahlreiche Artikel. In ihnen er-
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weist er sich als sprachlich gewandter, selbstbewusst auftretender Gottsched-Anhänger, der zwar unverkennbar auf dem Boden der Frühaufklärung steht, gleichwohl von Beginn an eigenständiges Urteil (z.B. Übersetzungstheorie) zeigt. Bereits im Reimstreit nahm K. eine eher vermittelnde Position ein, ebenso in der anschließenden Auseinandersetzung zwischen Gottsched, Bodmer u. Breitinger. Als einer der ersten Schüler Gottscheds äußerte er sich kritisch (Brief von Johann Georg Schultheß an Bodmer vom 27.9.1749) u. distanzierte sich noch in den 1740er Jahren deutlich von ihm, da eine Übereinstimmung in der Einschätzung Hallers, den K. sehr verehrte, nicht möglich schien. Trotz dieses Zerwürfnisses bemühte er sich zeitlebens um eine objektive Sicht Gottscheds, wie v. a. sein Nachruf auf den Lehrer (1767) erkennen lässt. Das Ende der ersten Phase seiner literar. Entwicklung markiert die Veröffentlichung der Vermischten Schriften (Altenburg 1755), die ihn bes. wegen der satir. Schärfe der hier abgedruckten Epigramme zu einer literar. Berühmtheit machte. 1756 erhielt K. einen Ruf nach Göttingen, wo er eine a. o. Professur für Mathematik übernahm u. 1763 auch Leiter der Sternwarte wurde. Hier lebte er bis zu seinem Tod als im In- u. Ausland anerkannte Autorität seines Fachs, das er in seinem ganzen Umfang in akadem. Vorlesungen, Lehrbüchern u. Einzeluntersuchungen bearbeitete. 1762–1792 leitete K. die nach dem Siebenjährigen Krieg wiederbelebte Göttinger Deutsche Gesellschaft u. versuchte, ihr durch eine Reform der Statuten (Ausweitung der Themenbereiche, Zugangsbeschränkung) zu mehr öffentl. Resonanz zu verhelfen. Trotz großen persönl. Engagements (Einige Vorlesungen. In der königlichen deutschen Gesellschaft zu Göttingen gehalten. 2 Bde., 1768 u. 1773) scheiterte er an mangelnder Unterstützung durch andere Mitglieder u. dem konservativen Zuschnitt des Unternehmens. K. selbst zeigte sich neuen literar. Entwicklungen gegenüber stets kritisch, aber insg. aufgeschlossen; als Einzigem der früheren Gottschedianer wurde ihm ein zeitgemäßes ästhetisches Urteil bescheinigt (Gotter an Boie,
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8.11.1769). Zu seinen Briefpartnern gehörten nicht nur die namhaftesten Naturwissenschaftler seiner Epoche, sondern auch zahlreiche Literaten (Gellert, Gotter, Nicolai, Raspe, Weisse); insbes. jüngeren Schriftstellern (Johann Elias Schlegel, Lessing, Thümmel, Hölty, Voß) galt er als Autorität in poetolog. Fragen. Boie u. Gotter unterstützte er 1770 bei der Herausgabe des »Göttinger Musenalmanachs«, Lichtenberg in seiner Auseinandersetzung mit Lavater u. Johann Georg Zimmermann (An Herrn Hofrath und Leibmedicus Zimmermann in Hannover. Altenburg o. J. [1780]). Trotz seines bis zu seinem Lebensende nie erlahmenden Interesses an allem Neuen galt sein literar. Geschmack seit den 1780er Jahren als veraltet, u. der noch 1773 als »classischer« dt. Schriftsteller Gerühmte wurde schließlich von den Romantikern, nicht zuletzt wegen seiner rigorosen Ablehnung der Französischen Revolution (Gedanken über das Unvermögen der Schriftsteller Empörungen zu bewirken. Gött. 1793), als atavistisch abgetan (Athenäum 2, 2, S. 335). K.s literar. Ruhm gründete sich v. a. auf sein epigrammat. Talent; daneben traten andere lyr. Formen (Elegie, poetische Epistel, Lehrgedicht) fast ganz zurück. Unter der Bezeichnung »witziger Epigrammatist« hat ihn denn auch die zeitgenöss. Kritik verbucht (Hannoverisches Magazin, 1768, S. 446) u. damit einem einseitigen literarhistor. Bild Vorschub geleistet, das erst in jüngster Zeit durch Rainer Baasner differenziert u. korrigiert wurde. In der Beschränkung auf den Epigrammatiker erfasst man zwar einen signifikanten Wesenszug K.s, aber nur den geringeren Teil seines literar. Wirkens. Nicht zu Unrecht freilich können K.s »Sinngedichte«, die er oft in Briefe einstreute oder handschriftlich weitergab u. die in Anthologien u. Musenalmanachen noch Jahrzehnte weiterlebten, als histor. Miniaturbibliothek des 18. Jh. gelten. Seine bissigen Kommentare, teils in der überalterten Form des Alexandrinerepigramms, aber stets dem Gebot der »brevitas« verpflichtet, betreffen v. a. literar. Themen; daneben finden sich Kommentare zu aktuellen Ereignissen u. Kritik an gesellschaftl. Missständen; seltener ist allg. Moralisieren
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gegen Charakterfehler u. Ständeübel. Zu sei- gramme. Chronologie u. Komm. Halle 1911. – nen besten Leistungen fand K. in der Perso- Wolfgang Schimpf: K.s Literaturkritik. Gött. 1990. nalsatire, wo er, anders als Lessing, den un- – Rainer Baasner: A. G. K. Aufklärer. Tüb. 1991. – verhüllten Angriff bevorzugte u. seine satir. Hans-Bernd Spies: Carl v. Dalberg, A. G. K. u. die Göttinger Akademie. In: Mitt.en des Vereins für die Attacken kaum einmal durch Verlagerung in Gesch. u. Altertumskunde v. Erfurt 61 (2000), eine fiktive Gegenwart zügelte. Die Tagesak- S. 75–83. – Ulrich Joost: ›Der Träume Zahl ist untualität ihrer Themen sicherte K.s Epigram- endlich‹. Naturwiss. Denken u. Poesie in der Götmen eine zunächst große Resonanz, bedingte tinger Aufklärung. In: Scientia poetica. Hg. Noraber zgl. das schnelle Verblassen ihrer Wir- bert Elsner. Gött. 2004, S. 135–161. kung. Wolfgang Schimpf Eng verwandt mit der epigrammat. Stilart der poetischen Kritik ist K.s Tätigkeit als Kästner, Erhart, * 13.3.1904 Augsburg, Rezensent. So verlagerte sich in der zweiten † 3.2.1974 Staufen. – Prosaautor, VerfasPhase seines Lebens seine literar. Beschäfti- ser von Reiseberichten; Bibliothekar. gung fast ganz von der poetischen Produktion auf die Kritik. Allein für die »Göttingi- Der Sohn eines Gymnasialprofessors studierschen Gelehrten Anzeigen« verfasste er seit te nach einer Buchhändlerlehre Philosophie 1756 rund 3500 Artikel, von denen etwa 550 u. Literaturgeschichte in Freiburg i. Br., Kiel literar. Texte betreffen. In ihnen zeigt sich K. u. Leipzig u. promovierte 1927 über Wahn und als enzyklopädisch gebildeter, im Urteil Wirklichkeit im Drama der Goethezeit (Lpz. überraschend maßvoll intonierender Kriti- 1929). Anschließend arbeitete K. an der Lanker. Neben der erwarteten rationalistischen desbibliothek Dresden. 1936/37 war er SeGrundhaltung überrascht seine Toleranz ge- kretär von Gerhart Hauptmann. 1940 melgenüber neuen literar. Strömungen (Emp- dete er sich freiwillig zum Wehrdienst, den er findsamkeit, Sturm und Drang), deren kul- in Griechenland verbrachte; 1945–1947 beturpatriotische Tendenzen ihm den Zugang fand er sich in Kriegsgefangenschaft in Ägypten. Anfang der 1950er Jahre lernte er zu ihm wesensfremden Ideen erleichterten. Als Verfasser gelehrter Prosa fehlte K. der den von ihm hoch verehrten Heidegger kensystemat. Zugriff, doch beziehen sich viele nen. 1950–1968 war K. Direktor der Herzog Texte auf sein lebenslanges Hauptanliegen August Bibliothek in Wolfenbüttel. Die auf eigenen Wunsch im militärischen als Aufklärer, dem schon seine Göttinger Auftrag für die dt. Soldaten geschriebenen Antrittsvorlesung (De eo quod studium matheseos facit ad virtutem. Oratio inauguralis. Gött. Reiseberichte Griechenland (Bln. 1942. Neudr. 1756) diente: den Nachweis struktureller u. d. T. Ölberge, Weinberge. Ffm. 1946) u. Kreta Verwandtschaft von Mathematik, Natur- u. (Bln. 1946) sind Versuche der Emigration in die griech. Kulturwelt. K. steigt aus Zeit u. Geisteswissenschaften. K. ist so insg. als »annähernd idealtypischer militärischer Gegenwart der BesatzungsRepräsentant universaler Aufklärung« (Baas- macht aus. Einige Textstellen aus Griechenland ner) einzuschätzen, für den ratio u. gezügel- sind im Sinne damaliger Deutschtumsideoter Affekt als Elemente idealer Lebensentfal- logie geschrieben. Im Zeltbuch von Tumilad tung in produktiver Wechselwirkung stehen. (Wiesb. 1949), K.s größtem Erfolg, beschreibt er die Kriegsgefangenschaft in der Wüste: Weitere Werke: Lobschr. auf den Herrn v. eine Beschwörung abendländ. Kultur. Wüste Leibnitz. Altenburg 1769. – Eine Recension mit wird zur Metapher faszinierender ZeitlosigErinnerungen. o. O. 1780. – Bemerkungen über den Vortrag gelehrter Kenntnisse in der dt. Sprache. keit u. Leere, die mit den Bildern der ImagiGött. 1787. – Ges. poet. u. prosaische schönwiss. nation gefüllt wird. In Aufstand der Dinge (Ffm. Werke. 4 Bde., Bln. 1841. – Briefe aus sechs Jahr- 1973) attackiert K. die Zerstörung der Nazehnten. 1745–1800. Hg. Carl Scherer. Bln. 1912. türlichkeit u. des Naturgemäßen. K. verstand sich als Bewahrer u. Mahner, Literatur: Bibliografie: Rudolf Eckart (Hg.): A. G. K.s Selbstbiogr. u. Verz. seiner Schr.en. Hann. o. J. skeptisch gegenüber den fragwürdigen Wer[1909]. – Weitere Titel: Carl Becker: A. G. K.s Epi- ten des Fortschritts; er schuf eine Form des
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meditativen, belehrend-erbaul. Essays u. Kästner, Erich, * 23.2.1899 Dresden, Reiseberichts. Sein Nachruhm verblasste in † 29.7.1974 München; Grabstätte: Münden 1970er Jahren. 2006 wurde er als »Dich- chen-Bogenhausen, St. Georgs-Friedhof. ter im Waffenrock« kritisiert, der die brutale – Lyriker, Roman- u. Kinderbuchautor. Realität des Kriegs verdrängt u. verschleiert habe zugunsten eines verqueren Griechen- K. stammt aus kleinbürgerl. Verhältnissen. landbildes u. einer Selbststilisierung als Hu- Sein Vater, ein Sattlermeister, war als Indusmanist. K. machte die Herzog August Bi- triearbeiter tätig. Dass K. in Wahrheit der bliothek zu einem internat. renommierten Sohn des jüd. Hausarztes der Familie gewesen sei, ist ein bislang durch nichts gesicherInstitut. tes Gerücht. Der Ehrgeiz der Mutter u. ihre Weitere Werke: Die Stundentrommel vom hl. Heimarbeit als Näherin u. Friseuse ermögBerg Athos. Ffm. 1956 (Reiseber.). – Offener Brief an die Königin v. Griechenland. Beschreibungen, lichten K. Schule u. Ausbildung. Er besuchte Bewunderungen. Ffm. 1973 (P.). – Über Bücher u. vier Jahre das Lehrerseminar in Dresden, Bibl.en. Dresden u. Wolfenbüttel. Ausgew. v. holte, nach dem Militärdienst 1917/18, das Wolfgang Milde u. Paul Raabe. Wolfenb. 1974. – Abitur nach, studierte in Leipzig, Rostock u. Der Hund in der Sonne u. a. Prosa. Aus dem Nachl. Berlin Germanistik, Geschichte, Philosophie hg. v. Heinrich Gremmels. Ffm. 1975. – Griech. u. Theaterwissenschaften u. promovierte Inseln. Hg. H. Gremmels. Ffm. 1975. – Briefe. Hg. 1925 mit einer Arbeit über Friedrich den Großen P. Raabe. Ffm. 1984. – Martin Heidegger – E. K. und die deutsche Literatur. Seine journalistische Briefw. 1953–74. Hg. Heinrich W. Petzet. Ffm. Laufbahn begann K. als Redakteur bei der 1986. – Was die Seele braucht – E. K. über Bücher u. Autoren. Hg. Julia Hiller v. Gaertringen u. Katrin »Neuen Leipziger Zeitung«. Nach seinem Nitzschke. Ffm. 1994. – Perseus-Auge Hellblau. E. Umzug nach Berlin arbeitete er als freier K. u. Gerhart Hauptmann. Briefe, Texte, Notizen. Mitarbeiter u. a. für die »Weltbühne« u. die Hg. J. Hiller v. Gaertringen. Bielef. 2004. – Man »Vossische Zeitung«. In rascher Folge publireist, um die Welt bewohnbar zu finden. Hg. Hel- zierte er in der Endphase der Weimarer Rewig Schmidt-Glintzer. Ffm. 2004. – Das Wort ist publik Gedichtbände, Kinderbücher u. den Schlüssel. E. K. u. Albrecht Fabri. Texte u. Briefe. Roman Fabian, die 1933 von den NationalsoHg. Christian Kugelmann. Warmbronn 2004. zialisten aus den Bibliotheken entfernt u. Literatur: Ralf Schnell: Lit. der Inneren Emi- verbrannt wurden. K., der sich zu diesem gration. 1933–45. Stgt. 1976. – Anita Kästner u. Zeitpunkt in der Schweiz aufhielt, kehrte Reingart Kästner (Hg.): E. K. Leben u. Werk in nach Deutschland zurück, weil er es als seine Daten u. Bildern. Ffm. 1980. – Paul Raabe (Hg.): Werkmanuskripte. Ausstellungskat. der Hzg. Au- Pflicht ansah, später Zeugnis von jenen Jahgust Bibl. Nr. 43. Wolfenb. 1984. – Julia Hiller v. ren zu geben, aber auch weil er – nicht zu Gaertringen: ›Meine Liebe zu Griechenland Unrecht – glaubte, dass seine Mutter auf ihn stammt aus dem Krieg‹. Studien zum literar. Werk angewiesen sei. E. K.s. Wiesb. 1994. – Günter Figal (Hg.): E. K. Zum Während des »Dritten Reichs« wurde K. 100. Geb. Die Wahrheit v. Orten u. Dingen. Freib. i. mehrmals verhört, aber nicht für längere Zeit Br. 2004. – Günter Gerstmann: ›Kunst auf die inhaftiert. Publizieren konnte er, da er als Waage des Liebesdienstes zu legen‹. E. K. zum 100. ›verbrannter‹ Autor nicht in die ReichsGeburtstag. Aus dem Antiquariat (2004), Nr. 1, schrifttumskammer aufgenommen wurde, S. 18–21. – Arn Strohmeyer: Dichter im Waffenrock. E. K. in Griechenland u. auf Kreta 1941 bis nur im Ausland, wo seine Gedichtbände u. 1945. Mähringen 2006. – J. Hiller v. Gaertringen: die neu entstehenden Unterhaltungsromane Diese Bibl. ist zu nichts verpflichtet außer zu sich guten Absatz fanden. Anfang 1943 wurde selbst. E. K. als Direktor der Herzog-August-Bibl. ihm auch die Publikation im Ausland unter1950–1968. Wiesb. 2009. Hendrik Markgraf sagt. Trotzdem hat K. während des »Dritten Reichs« unter Pseudonymen an Theatertexten mitgearbeitet u. 1941 – mit stillschweigender Billigung durch den Reichspropagandaminister Goebbels – das Drehbuch für den UFA-Jubiläumsfilm Münchhau-
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sen (Erstauff. März 1943) geschrieben. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs siedelte K. nach München über, wo er Feuilletonchef der von den Amerikanern herausgegebenen »Neuen Zeitung« wurde. Er gehörte zu den Begründern der Kabaretts »Die Schaubude« u. »Die kleine Freiheit«, für die er zahlreiche Texte verfasste, u. wurde 1951 zum Präsidenten des westdt. P.E.N.-Zentrums ernannt. K. bemühte sich intensiv um die Reorganisation des literar. Lebens der BR Deutschland. Ende der 1960er Jahre zog er sich völlig aus dem öffentl. Leben zurück. »Er ist ein Moralist. Er ist ein Rationalist. Er ist ein Urenkel der deutschen Aufklärung, spinnefeind der unechten ›Tiefe‹, die im Lande der Dichter und Denker nie aus der Mode kommt, Untertan und zugetan den unermeßlichen Forderungen: nach der Aufrichtigkeit des Empfindens, nach der Klarheit des Denkens und nach der Einfachheit in Wort und Satz.« So hat K. sich selbst 1949 vor dem dt. P.E.N.-Club charakterisiert. K.s menschenfreundl. Moralismus u. die Eingängigkeit seiner Verse ließen ihn zu einem der populärsten Autoren der späten Weimarer Republik werden. Kritiker monierten an K.s Gedichten allerdings, dass sie die angesprochenen Missstände verharmlosten u. statt der Auflehnung dagegen die Anpassung lehrten. Walter Benjamin schrieb 1931 in einer langen Rezension unter dem Titel Linke Melancholie, K.s Gedichte verwandelten die sozialen Gravamina in »Gegenstände der Zerstreuung, des Amüsements, die sich dem Konsum zuführen« ließen. Mit seiner polit. Haltung, die sich jeder Ideologie verweigerte u. allein auf gesunden Menschenverstand setzte, eckte K. in allen polit. Lagern an. K. hat, zumal in den Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre publizierten Gedichtbänden (Herz auf Taille. Lpz./Wien 1928. Lärm im Spiegel. Ebd. 1929. Ein Mann gibt Auskunft. Stgt./Bln. 1930. Gesang zwischen den Stühlen. Ebd. 1932), die Alltagswirklichkeit des »kleinen Mannes« zur Sprache gebracht. Soziale Spannungen u. wirtschaftl. Sorgen werden ebenso anschaulich wie anteilnehmend dargestellt. K. wollte »Gebrauchslyrik« schreiben, die bei der Bewältigung der alltägl. Probleme »seelisch verwendbar« sein sollte.
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Offen sprechen seine Gedichte auch über die erot. Wünsche u. Enttäuschungen der Menschen, insbes. der jungen weibl. Angestellten. Mit satir. Schärfe kritisierte K. Gleichgültigkeit, Passivität u. Resignation als Reaktionen auf die vermeintlich unabwendbare Misere. Mutig wandte er sich gegen den noch spürbaren Militarismus u. gegen den erstarkenden Nationalsozialismus. Der schmale, aber gehaltvolle Roman Fabian. Die Geschichte eines Moralisten (Stgt./Bln. 1931), der sich um die Figuren des arbeitslos gewordenen Germanisten Dr. Jakob Fabian u. seines in den Selbstmord getriebenen Freundes Labude dreht, sollte urspr. »Der Gang vor die Hunde« heißen. In 32 knappen Kapiteln, die etwas von der Pointiertheit der K.schen Gedichte haben, reflektiert er den ökonomischen Niedergang Deutschlands, den sittl. Verfall der Hauptstadt Berlin u. die ratlos machende polit. Radikalisierung der Jahre um 1930. Trotz der ausweglos scheinenden Situation wollte der Roman aber vor einem fatalistischen, alles gesellschaftl. u. polit. Bemühen im Keim erstickenden Pessimismus warnen. Die während des »Dritten Reichs« entstandenen, in einem Schweizer Verlag publizierten Romane Drei Männer im Schnee (Zürich 1934), Die verschwundene Miniatur (Zürich 1935) u. Georg und die Zwischenfälle (Zürich 1938; seit der 2. Aufl. u. d. T. Der kleine Grenzverkehr) verzichten auf alle gesellschafts- u. sozialkrit. Elemente; sie sind in einer entpolitisierten Wirklichkeit angesiedelt u. entwerfen teilweise klischeehafte Bilder einer idyllischen Welt, hinter der freilich soziale Nöte erkennbar bleiben. Die größten, auch internat. Erfolge konnte K. mit seinen Kinderbüchern feiern. Emil und die Detektive (Bln. 1928), Pünktchen und Anton (Bln. 1930), Das fliegende Klassenzimmer (Stgt. 1933) oder Das doppelte Lottchen (Zürich 1949) sind in gut 40 Ländern u. Sprachen erschienen. K.s kindl. Helden, als maßstabsetzende Vorbilder konzipiert, entwickeln u. verkörpern die für K. zentralen menschl. Tugenden: Aufrichtigkeit, Hilfsbereitschaft, Gerechtigkeit u. Nächstenliebe. Den urspr. geplanten großen Roman über die Zeit der NS-Diktatur hat K. in der Nachkriegszeit nicht geschrieben. Seine Ausein-
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andersetzung mit der Vergangenheit, seine Käufer, Hugo Ernst, * 13.2.1927 Witten/ Besorgnis angesichts der erneuten Militari- Ruhr. – Lyriker, Kritiker, Essayist, Litesierung, seine vehemente Forderung nach ratur- u. Kunstrezensent, Biograf u. Hereiner neuen verbindl. Moral finden sich ver- ausgeber. streut in einer Fülle von Essays, Reden, VorAufgewachsen als Sohn eines von den Natioträgen u. Zeitungsartikeln. Mit engagierten nalsozialisten verfolgten Arbeiters, war K. Liedern, Szenen u. Dialogen begleitete K. nach 1945 als kommunaler Verwaltungsanauch in den beiden von ihm mitbegründeten gestellter tätig. Nach dem Besuch des BiblioKabaretts die ersten Jahre der BR Deutschthekar-Lehrinstituts Köln (1954–1957) arbeiland. Hier knüpfte er am deutlichsten an die tete er als Diplom-Bibliothekar bis 1966 in satir. Schärfe u. den pädagog. Impuls der Bochum; danach war er zunächst HauptrefeVorkriegsarbeiten an. rent, 1977–87 Direktor der Stadtbibliothek Trotz der Popularität seiner Gedichte u. Gelsenkirchen. 1988 begründete er die »Geseiner Kinderbücher blieb K. ein von der sellschaft der Freunde« der Stadtbibliothek u. Kritik wenig geschätzter u. von der Litera- übernahm deren Vorsitz; zudem war er 1998 turwissenschaft wenig beachteter Autor, bis Gründer u. danach Vorsitzender der »Lisedie Ausgabe der Werke in neun kommen- lotte und Walter Rauner Stiftung zur Fördetierten Bänden (Mchn. 1998) u. das Erschei- rung der Lyrik in Nordrhein-Westfalen«. nen zweier Biografien die Vielschichtigkeit Auch betätigte er sich zeitweilig als Galerist von K.s Schaffen deutlicher werden ließen. in St. Jacobiparochie/Niederlande, wo er in Weitere Werke: Doktor E. K.s lyr. Hausapo- einem histor. Deichhaus bis 2001 Aussteltheke. Zürich 1936. (L.). – Der tägl. Kram. Chan- lungen präsentierte. sons. u. Prosa 1945–48. Zürich 1948. Mchn. 1989. – Schon in seinen Anfängen befasst sich K.s Kurz u. bündig. Epigramme. Wien 1948. Mchn. Werk – in seiner krit. Haltung an Brecht u. 1989. – Die Konferenz der Tiere. Zürich 1949. – Die Tucholsky geschult – mit polit. u. gesellkleine Freiheit. Chansons u. Prosa 1949–52. Zürich schaftl. Fragen seiner Zeit. Er griff mutig 1952. Mchn. 1989. – Die Schule der Diktatoren. viele Tabus der Nachkriegszeit u. des Kalten Zürich 1956 (D.). – Notabene 45. Ein Tgb. Zürich 1961. – Briefe: Mein liebes, gutes Muttchen Du. Kriegs auf (negative Seiten des WirtschaftsDein oller Junge. Hg. Luiselotte Enderle. Hbg. wunders, die NS-Vergangenheit, die Gefährdung durch den Atomkrieg, die Aufrüstung 1981. Literatur: Bibliografie: Uta Lämmerzahl-Bensel: oder den Koreakrieg) u. wandte sich gegen E. K. Eine Personalbibliogr. Gießen 1988. – Weitere Ausbeutung, Manipulation durch die Presse Titel: Renate Benson: E. K. Studien zu seinem u. Stagnation unter der Großen Koalition Werk. Bonn 1973. – Dirk Walter: Zeitkritik u. (1966–1969). Bezeichnend ist schon der Titel Idyllensehnsucht. E. K.s Frühwerk (1928–1933) als seines Lyrikerstlings: Wie kannst du ruhig Beispiel linksbürgerl. Lit. in der Weimarer Repu- schlafen? (Bochum 1958). Der gesellschaftblik. Heidelb. 1977. – Helmuth Kiesel: E. K. Mchn. skrit. Impetus – das Eintreten für mehr De1981. – Dieter Mank: E. K. im nationalsozialist. mokratie u. die Minderprivilegierten der ArDtschld. Ffm. 1981. – Petra Kirsch: E. K.s Kinder- beitswelt – bleibt auch in seiner folgenden bücher im geschichtl. Wandel. Diss. Mchn. 1986. – Lyrik, Aphoristik u. Kurzprosa bestimmend Helga Bemmann: E. K. Leben u. Werk. Ffm. 1994. – bzw. in seiner Titelwahl fühlbar: Im Namen Franz Josef Görtz u. Hans Sarkowicz: E. K. Eine des Volkes (Oberhausen 1972), Massenmenschen Biogr. Mchn. 1998. – Sven Hanuschek: Keiner blickt dir hinter das Gesicht. Das Leben E. K.s. Menschenmassen (Gelsenkirchen 1977), DemoMchn. 1999. – Stefan Neuhaus: Das verschwiegene kratie geteilt (Dortm. 1977). Der Käufer Report Werk. E. K.s Mitarbeit an Theaterstücken unter (1968) – ein als Leporello gefalteter Bogen aus Pseudonym. Würzb. 2000. – Klaus Doderer: E. K. Packpapier – versinnbildlicht seine Intention, Lebensphasen, polit. Engagement, literar. Wirken. Literatur zum Medium der sozial BenachteiWeinheim/Mchn. 2002. – Remo Hug: Gedichte ligten zu machen, u. entsprechend diesem zum Gebrauch. Die Lyrik E. K.s. Würzb. 2006. Programm gab er in den sechziger Jahren Rita Mielke / Red. Lesungen in Volksschulen, Büchereien,
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Kneipen u. sogar Kaufhäusern. 1968 gründete K. die »Literarische Werkstatt Gelsenkirchen«, in der er schreibenden Arbeitern, die keine Aufnahme in der von Max von der Grün geleiteten »Gruppe 61« fanden, ein Forum bot. Aus ihr ging später der »Werkkreis Literatur der Arbeitswelt« hervor, dessen Mitbegründer u. zeitweiliger Sprecher er war. Seismografisch beobachten u. begleiten K.s Gedichte die kulturellen, polit. u. sozialen Entwicklungen seiner Zeit in einem klaren pragmatischen (und z.T. polemisch zupackenden) Stil u. tasten dabei beharrlich nach einer authentischen eigenen Haltung zwischen den Sphären des Konkret-Politischen u. des Menschlich-Existenziellen bzw. Moralischen. In ihrer Neigung zu Verdichtung u. Pointierung nähert sich K.s Diktion immer wieder dem Haiku (Die Jäger sind unterwegs, 1995, besteht aus drei Haiku-Zyklen) als derjenigen Form, in der lakonisch u. mit äußerster Behutsamkeit das Eigene u. Verschwiegen-Geheimnisvolle der Dinge, von Menschen u. Landschaften zum Aufblitzen gebracht werden kann: »Dem Unscheinbaren / dem fast schon Vergessenen / die Stimme reichen.« Viele seiner Gedichtbände sind in Zusammenarbeit mit bildenden Künstlern entstanden, von diesen illustriert oder ihnen sogar gewidmet, als dem prominentesten HAP Grieshaber, aber auch mehrfach Heinz Stein, Arthur Cremer-acre u. Enric Rabasseda. K.s Lyrik wurde in 15 Sprachen übersetzt – u. einige seiner Lyrikbücher erschienen schon in ihrer Erstausgabe zweisprachig (etwa mit schwed. oder frz. Übersetzungen). Vor allem seit den 1990er Jahren bildet »Erinnerung« ein entscheidendes Schlüsselwort von K.s Werk. Sein autobiogr. Erzählgedicht Kartoffelkrautfeuer (1991) – das er im Untertitel ebenso ironisch wie faktisch zutreffend »ein Stück Heimatkunde« nennt – verarbeitet seine Kindheit u. Jugend, die drückende Arbeitslosigkeit Anfang der 1930er Jahre u. die Verfolgungen u. Inhaftierungen des Vaters durch die Nationalsozialisten. Aber über Persönliches oder jede konkrete polit. Stellungnahme hinaus (bzw. den früheren gesellschaftskrit. Impetus im-
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mer achtsamer u. selbstskeptischer zurücknehmend), verschreibt sich diese Alterslyrik dem Credo Ohne Erinnerung hat die Zeit kein Gesicht (Mchn./Wuppertal 1997) – so der Titel einer seiner Autoanthologien – u. damit der Wahrung einer Tradition humanitären Denkens, die K.s insbes. durch die Sprache an die Zukunft vermittelt sieht. Besondere Bedeutung hat K. jedoch als unermüdl. Förderer anderer Autoren erlangt – als Kritiker, Organisator von Tagungen u. Herausgeber von einer kaum mehr überschaubaren Zahl von Anthologien (bezeichnend sind hier vor allem diejenigen, deren Titel als Markenzeichen mit Sie schreiben ... beginnt: ... zwischen Moers und Hamm, ... zwischen Goch und Bonn, ... in Gelsenkirchen u. a.). K. hat damit entscheidend zur Durchsetzung der Arbeiterliteratur in den 1970er Jahren u. zur Belebung der Literaturszene im Ruhrgebiet beigetragen. Seinen lebenslangen Einsatz für andere dokumentieren in neuerer Zeit etwa die beiden Monografien über die in Wesel geborene Journalistin, Lyrikerin u. Kinderbuchautorin Otti Pfeiffer (1931–2001) oder ein Nachruf auf den krit. Filmemacher u. Schriftsteller Paul Karalus (1928–2000. Beide Düsseld. 2002). Der von K. herausgegebene Band Die Kinder von Buchenwald (2005) versammelt Texte u. Zeichnungen von 904 aus dem Konzentrationslager bei Kriegsende befreiten Kinder u. Jugendlichen. K. erhielt u. a. 1973 u. 1989 ein Arbeitsstipendium des Landes Nordrhein-Westfalen, 1980 die Adolf-Georg-Bartels-GedächtnisEhrung, 1988 den Mölle-Literaturpreis (Schweden), 1992 die Ehrendoktorwürde der Universität Bremen, 1999 den Kogge-Ehrenring der Stadt Minden u. 2002 den Literaturpreis Ruhrgebiet. Er ist seit 1969 Mitgl. des Verbands Deutscher Schriftsteller in der Gewerkschaft ver.di (früher IG Druck und Papier), seit 1974 des P.E.N.-Zentrums der BR Deutschland u. seit 1968 der Europäischen Autorenvereinigung »Die Kogge«. Weitere Werke: Und mittendrin ein Zeichen. Emsdetten 1963 (L.). – Spuren u. Linien. Emsdetten 1967. – Leute gibt’s bei uns Leute. Texte u. Aforismen. Leverkusen 1975. – Standortbestimmungen. Aforismen. Dortm. 1975. – Unaufhaltsam wieder Erde werden. Gelsenkirchen 1976. – Russ-
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235 landimpressionen. Leverkusen 1976 (Reiseschilderung). – Stationen. Ges. Texte 1947–77. Köln 1977. – Schreiben u. Schreiben lassen. Gedichte & Aforismen. Bad Cannstatt 1979. – So eine Welle lang. Australische Notizen. Gelsenkirchen 1979. – Autobiogr. Notizen. Hg. Carl Heinz Kurz. Bovenden 1980. – Der Holzschneider HAP Grieshaber. Hauzenberg 1980 (L.). – Letzte Bilder. In memoriam HAP Grieshaber. Gelsenkirchen 1982. – Über das gesunde Volksempfinden u. a. Anschläge. Neue Aforismen. Bovenden 1983. – Hugo Ernst Käufer. Neuss/Mchn. 1984. – Zeit-Gedichte. Mchn. 1984. – Die Worte die Bilder. Hauzenberg 1986. – Bei Licht besehen. Ausgew. Aforismen. Celle 1987. – Chopins Klavier. Gedichte. Stgt. 1989. – Wer nicht hören will muß sehen. HAP Grieshaber 1909–1981. Witten 1990. – Kartoffelkrautfeuer. Kindheit in Witten-Annen oder Ein Stück Heimatkunde. Witten 1991. – Ohne Erinnerung hat die Zeit kein Gesicht. Gedichte aus zwanzig Jahren. Wuppertal/Mchn. 1997. – Immer noch unterwegs. Bochum 1997. – LeseZeichen. Ausgew. Essays, Reden u. Rezensionen aus fünfzig Jahren (u. a. zu H. Heinrich Böll, Alfred Andersch, Gottfried Benn, Ernst Jandl, Hilde Domin, Karl Krolow, Paul Schallück, Max von der Grün, Irmgard Keun, Anna Seghers bis zu Paul Karalus, mit Überlegungen zum Verhältnis v. Lit. u. Gesellsch. bzw. v. ›Kunst, Literatur u. Technik‹). Mit einer Bibliogr. v. Klaus Scheibe. Düsseld. 2001. – Zwischenbericht oder Als die Worte das Laufen lernten. Gedichte. Aphorismen. Stücke. Essays. Reden (1997–2007). Düsseld. 2006. Literatur: O. Pfeiffer: Wir besuchen die Stadtbücherei Gelsenkirchen u. sprechen mit dem Direktor H. E. K. Interview. Bonn 1981. – Anstöße. H. E. K. zum 60. Geburtstag. Hg. Karl Taefler. Gelsenkirchen 1987. – H. E. K. Bibliothekar, Autor, Herausgeber. Auswahlbibliogr. 1950–86. Gelsenkirchen 1987. – H. E. K. Autor, Herausgeber, Bibliothekar, Galerist. Dokumentation u. Auswahlbibliogr. 1950 bis 1997. Gelsenkirchen 1997. – Westf. Autorenlex. 4. – Das Wesen des Schreibens heißt Überleben ... Über H. E. K. Beiträge zu einer Biogr. Hg. Sascha Kirchner. Düsseld. 2003. – Bochumer Bekannte 3: Silvia Cabello, Chris Hopkins, H. E. K., Rüdiger Künne, Daniel Nipshagen, Felix Oekentorp, Karsten Riedel u. Erwin Steden im Porträt. Bochum 2004. – Herbert Knorr: H. E. K. In: KLG. – H. E. K. 80: Dokumentation 2007. Bochum 2007. Erhard Schütz / Pia-Elisabeth Leuschner
Kaffka, Johann Christoph, eigentl.: J. C. Engelmann, * 1754 Regensburg, † 17.1. 1815 Riga. – Dramatiker. Nach dem Willen des Vaters, eines Konzertmeisters in Regensburg, sollte der Sohn im Anschluss an den Besuch des Gymnasiums Ordensgeistlicher werden, er verließ aber 1774 das Kloster u. wurde Schauspieler, Sänger, Dramatiker u. Komponist bei verschiedenen Theatergesellschaften, u. a. in Prag (1775), Nürnberg (1776), Berlin (1779), Brünn (1781), Breslau (1782), Riga (1789), Dresden (1795), Dessau (1797) u. St. Petersburg (1800). 1801 ließ er sich in Riga als Schauspieler nieder u. versuchte sich auch als Buchhändler, Leihbibliothekar u. Zeitschriftenherausgeber (»Nordisches Archiv«. Riga 1803–09). Er starb während einer Vorstellung auf der Bühne. K. schrieb Bühnenstücke u. Singspiele nach bewährten Mustern, verfasste einige Ritteru. Geheimbundromane (Ruinen der Vorzeit. 2 Bde., Breslau 1790), theoret. Schriften (Über den Werth der Theatralischen Rührung. Riga 1792), erotisch-satir. Erzählungen (Hogarthsche Studien für Unerfahrne, Lüsterne und Kenner. Riga 1805) u. eine Reisebeschreibung (Schilderungen von Deutschland [...]. Glatz 1798). In den Streit um Kotzebues Bericht über seine Verbannung nach Sibirien griff er mit zwei Schriften ein (Nöthige Erläuterungen zu der Schrift des Herrn von Kotzebue: das merkwürdigste Jahr meines Lebens. Lpz. 1802. Interessante Beiträge zu den nöthigen Erläuterungen [...]. Riga/ Lpz. 1803), in denen er dessen Unwahrheiten u. Übertreibungen akribisch nachging. Weitere Werke: Die Brüder des Bundes für Menschenglück. Lpz. 1796 (R.). – Die Tempelherren. Mannh. 1796 (D.). – Die Weisen v. Scheschian. Lpz. 1797 (R.). – Statist. Schilderungen vom gegenwärtigen Rußland [...]. Lpz. 1809. Literatur: Johann Friedrich v. Recke u. Karl Eduard Napiersky (Bearb.): Allg. Schriftsteller- u. Gelehrtenlexikon der Provinzen Livland, Esthland u. Kurland. Bd. 2, Mitau 1829, S. 408–412. – Richard Maria Werner (Hg.): Gallerie v. Teutschen Schauspielern u. Schauspielerinnen. Bln. 1910, S. 74–76. – Janis Torgans: J. C. K. u. das Rigaer Kulturleben seiner Zeit. In: Musica Baltica. Interregionale musikkulturelle Beziehungen im Ost-
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seeraum. Hg. Ekkehard Ochs, Nico Schüler u. Lutz Winkler. Sankt Augustin 1996, S. 183–189. Wolfgang Griep / Red.
Kafka, Eduard Michael, auch: Siegwin Freimuth, * 11.3.1868 Wien, † 3.8.1893 Brünn. – Essayist; Journalist, Redakteur. K. besuchte die Textilschule in Brünn u. studierte anschließend in Wien Staatswissenschaften, Kunstgeschichte u. Philosophie. Er gehörte zum Kreis Jung-Wien, war in Verbindung mit Bahr 1889/90 Begründer u. Redakteur der Monatsschrift »Moderne Dichtung« (ab dem 2. Jg. in Wien erschienen u. d. T. »Moderne Rundschau«) u. redigierte gemeinsam mit Leo Berg die Zeitschrift »Die Moderne« in Berlin. 1892 kehte er nach Brünn zurück. K. gehörte während seiner kurzen Laufbahn verschiedenen Geistesströmungen des 19. Jh. an: In seiner Studie Hans Kudlich und die österreichische Bauernbefreiung (Wien 1888) vertrat er die gesellschaftspolit. Umwälzungen der Revolution von 1848 u. setzte darin die Tradition des Liberalismus fort. Die Lösung der sozialen Frage dachte er sich ohne Einflussnahme des Staates. Als Weggefährte Bahrs war K. Kultur- u. Gesellschaftskritiker im Sinne des Naturalismus u. warnte vor einem »Kultus der Nerven«. Daneben ist er aber auch als Vorkämpfer des Impressionismus zu würdigen, der sich insbes. für das Werk Maeterlincks einsetzte. Weitere Werke: Wirtschaftsgeschichtl. Studien. Wien 1889. – Hieroglyphen. Moderne Märchen. Wien 1890. – Der Individualismus. Wien 1891. Literatur: ÖBL. – Heinz Rieder: E. M. K. In: NDB. Arnulf Knafl
Kafka, Franz, * 3.7.1883 Prag. † 3.6.1924 Kierling (heute zu Klosterneuburg), Niederösterreich; Grabstätte: Prag-Strasˇ nice, Neuer Jüdischer Friedhof. – Romancier u. Erzähler. K. wurde als ältestes von sechs Kindern – zwei Brüder starben früh, nur die Schwestern Elli, Valli u. Ottla blieben am Leben – der Familie des jüd. Galanteriewarenhändlers Hermann Kafka u. seiner Frau Julie geboren. Der Vater
war aus ärml. Verhältnissen aufgestiegen, um ökonomische u. nationale Assimilierung bemüht, ohne Verständnis für die Begabung des Kindes Franz, dessen Schreibversuche bis in die Knabenjahre zurückreichen. Die Mutter, dem Vater ergeben, entstammte einer angesehenen Kaufmannsfamilie. Ihren Bruder Alfred, Eisenbahndirektor in Madrid, betrachtete K. als »nächsten Verwandten«; ihr Stiefbruder Siegfried Löwy, Landarzt in Triesch, wurde zu seinem Lieblingsonkel. K.s Selbstgefühl war bestimmt durch den Gegensatz zu dem als übermächtig erfahrenen Vater: »du stark, groß, breit [...] ich an deiner Hand, ein kleines Gerippe [...]«. Der Brief an den Vater (1919), im Rückblick des 36-Jährigen verfasst, dem Vater freilich nicht zugeleitet, erzählt die nie bewältigte Geschichte von K.s Leiden in der Familie, die Rettungsversuche durch das Schreiben: nicht als Freiheit, sondern als »Ausweg«, wie der Affe Rotpeter im Bericht für eine Akademie konstatiert. Eng verbunden fühlte er sich seiner Schwester Ottla, die ihm 1916 einen Ausweg aus den Zwängen des Familienraums eröffnete, als sie ihm für einen Winter ein Schreibdomizil im Alchimistengäßchen auf dem Hradschin verschaffte. K. war ein guter Schüler; nach dem Abitur im Sommer 1901 begann er (nach einigem Schwanken) das Studium der Jurisprudenz an der Prager Universität. Er hörte auch germanistische Vorlesungen u. wurde mit der Prager Literaturszene – Hugo Salus, Friedrich Adler, Brod, Meyrink – bekannt; K. besuchte philosophische Zirkel u. literar. Salons. Am 23.10.1902 sprach Brod in der »Lese- und Redehalle«, einem Forum liberaler Studenten, über Schopenhauers Philosophie. Hier lernte K. ihn kennen, u. es entstand eine lebenslange Freundschaft. Brod ermutigte K. zum Schreiben, drängte ihn gegen seine Selbstzweifel zur Veröffentlichung u. vernichtete schließlich K.s Nachlass nicht, wie der testamentar. Wille nahelegte, sondern rettete ihn vor den Nationalsozialisten nach Jerusalem. K.s Lehrer während des Studiums waren u. a. der Nationalökonom Robert Zuckerkandl, der Handelsrechtler Otto Frankl u. vor allem der Strafrechtler Hans Groß, dessen Studien über die Psyche des Verbrechers, über
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Tatsachenerforschung u. Spurensicherung auf K.s Schreiben eingewirkt haben. Am 18.6.1906 wurde K. zum Dr. jur. promoviert. Zunächst trat er als Versicherungsjurist in die Assicurazioni Generali, dann in die ArbeiterUnfall-Versicherungs-Anstalt (1908) ein. Er bewährte sich als Beamter u. stieg zum Obersekretär auf, bis er, mit Fortschreiten der Tuberkulose, 1923 pensioniert wurde. K.s berufl. Aufgabe bestand darin, Ersatzforderungen der durch Arbeitsunfälle Geschädigten möglichst gering zu halten. Er kannte also die sozialen u. wirtschaftl. Verhältnisse im böhm. Industriegebiet sehr genau u. verfasste mehrere Schriften zur Unfallverhütung. K. hat zeitlebens unter seinem Beruf gelitten: der Fron der Tagesarbeit, die ihm Zeit u. Kraft für das nächtl. Schreiben nahm; den Zwängen der »verdammten Stadt« (an Hedwig Weiler, Anfang Sept. 1907), die ihn unglücklich machte u. doch nicht losließ. Leben u. Schreiben waren für K. auf verhängnisvolle Weise miteinander verknüpft. Es ist bedeutsam, dass K. gerade in dem Augenblick, als ihm (nach seinem eigenen Wort) mit dem Urteil (1912. In: Arkadia, 1913. Lpz. 1916) der »Durchbruch« zur Literatur gelang, jene Frau kennen lernte, um die er einen fünf Jahre währenden Kampf – Verlobung, Entlobung u. erneute Verlobung, Bruch – führen sollte: in dem verzweifelten Bewusstsein, ohne sie nicht leben u. in ihrer Nähe nicht schreiben zu können. Die vielen hundert Briefe, die er zwischen 1912 u. 1917 an die Berlinerin Felice Bauer richtete, sind Versuche, aus der schreibenden Distanz zu ihr jene Literatur zu erzeugen, die von der Einsamkeit, der Verlorenheit des Ich in einer von Schuld u. Bürokratie geprägten Welt zeugt. Es ist die Zeit, in der die im Urteil beschriebene Konstellation (der Sohn in Dreiecksbeziehung zu Vater, Geliebter u. zum Freund) lebensbegründende Kraft gewinnt: die Entscheidung dessen, der vom »Blutkreislauf der Familie« sich nicht zu lösen vermag, zwischen Ehe u. Schreib-Beruf, zwischen Leben u. Kunst; die Unvereinbarkeit der Verbindung mit der erfolgreichen Frau – Felice Bauer war Prokuristin in der Medienfirma Lindström AG – u. einem künstlerischen Freundeskreis, dem Brod,
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Werfel, Felix Weltsch, Oskar Baum, Otto Pick, Ernst Weiss u. andere angehörten. Das äußere Muster von K.s Leben ist unauffällig; nicht der größere Schmerz, nur die schärfere Aufmerksamkeit, die er ihm widmet, gibt seinem Leben, dem schrittweisen Aufzehren der Biografie durch das Schreiben, weltliterar. Gewicht: der Lebensgang als Gerichtsprozess, der Erwerb der Sprache als Verurteilung zur Delinquenz, der »verhörte Held« als Protagonist des Geschehens, das mit seiner Auslöschung endet. K. machte (meist mit Brod) Vergnügungsu. Bildungsreisen, soweit es der Zwang des Berufs erlaubte: nach Helgoland, Berlin, Venedig u. Verona, nach Lugano, Mailand u. Paris, nach Lübeck, Wien u. Meran. Zögernd löste K. sich aus dem Bannkreis der Familie: erst 1914 bezog er ein Zimmer außerhalb der elterl. Wohnung. In der Nacht zum 13.8.1917 erlitt K. einen Blutsturz, der die zum Tod führende Krankheit einleitete. Er konstatierte dieses Ereignis mit Besorgnis u. Erleichterung zugleich: als Möglichkeit, dem verhassten Beruf zu entgehen u. Zeit fürs Schreiben zu gewinnen. Bei einem Erholungsurlaub in Schelesen (nördlich von Prag) lernte K. Julie Wohryzek kennen, die Tochter eines Schusters u. Gemeindedieners an einer Prager Synagoge. Heiratspläne zerschlugen sich; im Frühjahr 1920 begegnete er der christl. Tschechin Milena Jesenská, Frau des Literaten Ernst Polak. Die Briefe an sie, die Übersetzerin seiner Texte ins Tschechische, sind Zeugnis einer leidenschaftl., Konflikte erzeugenden Liebe. Ihr als einziger gab K. seine Tagebücher u. den Brief an den Vater, sein Lebensresümee, zu lesen. Es ist bemerkt worden, dass K.s Beziehungen zu Frauen in einem komplizierten Verhältnis zu seinen Schaffensphasen u. den Zeiten tiefer Depression stehen. So entstanden Urteil u. Verwandlung (in: Die weißen Blätter, Okt. 1915. Lpz. 1916), Der Verschollene (1911–14. U. d. T. Amerika. Mchn. 1927) u. Process (1914/15. Bln. 1925) in der Zeit der wechselhaften Beziehung zu Felice Bauer; so erlebte K. die wichtige Schaffensphase im Alchimistengäßchen (1916/17), in der u. a. die Erzählungen des Landarzt-Bands (Mchn./Lpz. 1919) entstanden, während der Kämpfe um das Ver-
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hältnis zu Felice Bauer. Und im Zusammenhang einer krisenhaften Entfremdung von Milena Jesenská schrieb er nicht nur zahlreiche Erzählungen (Das Stadtwappen, Poseidon, Gemeinschaft), sondern, nach einem letzten Aufleben dieser Beziehung, Ein Hungerkünstler (in: Die Neue Rundschau, Okt. 1922) u. den Anfang des Schloss-Romans (1922. Mchn. 1926). Bedeutsam, aber doch schwer zu bestimmen ist K.s Verhältnis zum Judentum; er wusste sich der Religion seiner Väter fern, war aber zeit seines Lebens an Erscheinungen des Judentums interessiert: am jidd. Theater (Rede über die jiddische Sprache. 1912), an der Zionistenbewegung, an jüd. Brauchtum u. jüd. Sozialeinrichtungen, an der hebräischen Sprache, die er zu erlernen suchte. Spuren dieses Interesses in seinem Werk sind rar u. verschlüsselt. Andererseits finden sich Motive christl. Denkens in seinen Texten, die sich auf Schuld, Opfer u. Erlösung beziehen: »Ich bin nicht von der allerdings schon schwer sinkenden Hand des Christentums ins Leben geführt worden wie Kierkegaard und habe nicht den letzten Zipfel des davonfliegenden jüdischen Gebetmantels noch gefangen wie die Zionisten. Ich bin Ende oder Anfang«. Brod hat in mehreren Büchern eine theolog. Deutung von K.s Werk versucht. Die beiden wichtigsten Menschen während K.s letzter Lebensjahre waren der Medizinstudent Robert Klopstock u. die aus Polen stammende Dora Diamant, der er im Ostseebad Müritz begegnete. Mit ihr lebte er wenige glückl. Monate (Sept. 1923 bis März 1924) – vielleicht die glücklichsten seines Lebens – in Berlin, zum ersten Mal sich entschlossen von Prag lösend u. ein Konvolut von Texten, die er für überholt hielt, vernichtend. Um die Jahreswende verschlechterte sich K.s Zustand; er wurde in das Sanatorium Wiener Wald in Niederösterreich, dann, nach der Diagnostizierung der Kehlkopftuberkulose, in das Sanatorium Dr. Hoffmann in Kierling bei Klosterneuburg gebracht, wo er starb. K.s Schreiben ist auf doppelte Weise geprägt: auf der einen Seite durch das Bewusstsein, in einer langen kulturellen Tradition zu stehen u. deren Werten u. großen Namen verpflichtet zu sein – der junge K.
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unterliegt dem Einfluss Nietzsches; Goethe, Hebel u. Stifter sind ihm wichtige Autoren; er liest Strindberg u. Kierkegaard; Kleist, Grillparzer, Flaubert u. Dostojewskij nennt er seine »Blutsverwandten« (an Felice Bauer, 2.9.1913); er fühlt sich gedrängt, im literar. Schaffen das »Reine, Wahre, Unveränderliche« (25.9.1917) herauszuheben, ein »idealistisches Erbe« in sich wiederzufinden. Andererseits aber dominiert die Aufmerksamkeit auf das Dunkle, Körperstumme, das Schmutzige u. Tierische, das Unkanonische, das sich in K.s Neigung zum Varieté, zur Menagerie, dem Zirkus niederschlägt – 1911 erfolgt die Begegnung u. Freundschaft mit dem vom Vater vehement abgelehnten ostjüd. Schauspieler Jizchak Löwy. Dieser Widerspruch zeigt sich zum einen in K.s »Gier«, gedruckt zu werden (an Rowohlt, 14.8.1912), gleichzeitig aber dem Wunsch, alles Geschriebene zu vernichten; zum anderen aber in jenen Themen, die er immer wieder aufgreift. Sein Werk hat ja v. a. durch ein Thema Weltgeltung erlangt: die Darstellung der bürgerl. Familie in ihren Widersprüchen, der Gefühlsambivalenz von Hass u. Liebe, der mögl. Auswege aus ihren Zwängen, die sich in Beziehungen zu Freundesgestalten (wie im Urteil) u. geschwisterl. Figuren (wie in der Verwandlung) andeuten – freilich immer wieder bezogen auf die Vereinzelung des Subjekts in einer gefühllosen Welt, die im Zeichen des Unglücks des Junggesellen (einer der frühesten von K. veröffentlichten Texte. Zuerst in: Betrachtung. Lpz. 1913) u. seiner verschiedenen Spielarten (Blumfeld ein älterer Junggeselle. 1915. Ein Landarzt) steht. K.s Bild von der Familie, wie es seine Werke, vom Urteil über den Verschollenen bis zum Brief an den Vater – geradezu ein Musterbuch aller Aporien der bürgerl. Pädagogik u. Familienkonzeption – u. selbst das Schloss, entwerfen, ist zum Modell der von Zwängen beherrschten intimen Welt des kleinbürgerl. »Privaten« geworden, die der bürgerl. »Öffentlichkeit« entgegengesetzt bleibt u. das Adjektiv »kafkaesk« zur Kennzeichnung der Selbsterfahrung in einer labyrinthischen Moderne in alle Kultursprachen hat eindringen lassen. Mit diesem Begriff verbindet sich die Grunderfahrung der Fremdheit – einer
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Fremdheit, die im Laufe des 19. Jh. den europ. Leitbegriff der Subjektivität, wie er sich von Rousseau herschreibt, zu zersetzen begann. K.s Werk bringt zu literar. Ausdruck, was sich in der Geschichte der Selbsterfahrung des bürgerl. Menschen allmählich Geltung verschaffte: die Einsicht, dass die die Freiheit u. Gleichheit des Einzelnen garantierenden Gesetze sich zu Maschinen der Überwachung u. Bestrafung wandeln, die eben diesen Einzelnen einschränken, verletzen u. verstümmeln. Als Ort, an dem der Umschlag von Freiheit in Zwang vonstatten geht, erscheint K. das Institutionenfeld der Justiz, dessen Mechanismen sich auf Pädagogik, Psychiatrie u. Medizin übertragen. Niemand außer Kleist hat dies in so konsequenter Weise literarisch zu vergegenwärtigen gewusst wie der Jurist K.: u. zwar, indem er die Intimität der Familie durch das Modell eines Justizrituals – Verhör, Verurteilung u. Hinrichtung – mit der Sozietät verknüpft. Dieser Gedanke von der Gewalt der Rechtsordnung, die alles Leben überformt, hat K.s Schaffen immer wieder bestimmt: von der Beschreibung eines Kampfes (1904–06) über die Entlarvung eines Bauernfängers (1911/12), Das Urteil, In der Strafkolonie (Lpz. 1919), Vor dem Gesetz (in: Selbstwehr 9, 1915), Der Process, Der neue Advokat (1917) u. Ein Brudermord (1917. Beide zuerst in: Ein Landarzt) bis hin zu dem Text Zur Frage der Gesetze (1920). Familie, Rechtsordnung, Fremdheitserfahrung u. Gewalt sind die Motive, die zur beherrschenden Argumentationsfigur von K.s Texten zusammenwachsen. Canetti, der dies scharfsinnig erkannte, nennt K. »den größten Experten der Macht«. Urteil u. Strafkolonie sind dabei von bes. Bedeutung. Während das Strafritual der Rechtsfindung im ersten Text in seiner Wirkung auf das Verhältnis von Subjekt u. Familie dargestellt wird, deutet die Strafkolonie auf das Verhältnis von Individuum u. sozialer Autorität im Beispiel jener Maschine, die der Kommandant der Strafkolonie konstruiert hat – mit dem Ziel, die Schrift des Gesetzes dem Delinquenten in den Körper zu schreiben, eine Schrift, die nur diesem allein lesbar wird u. seine Individualität mit der Allgemeinheit des Gesetzes vermitteln soll:
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als Auslöschung u. Versöhnung zugleich. Der Vater im Urteil u. der Kommandant in der Strafkolonie erscheinen als Exponenten von Familien- u. Staatsgewalt, einander – u. dem Sohn u. Delinquenten – spiegelbildlich gegenübergestellt. K. selbst hat diese Konstellation auch experimentell zu erweitern gesucht, indem er mit seinem Verleger Kurt Wolff zwei Sammelbandprojekte bezüglich seiner großen Erzählungen der Frühzeit erörterte: Nach einem ersten Plan sollten Urteil, Heizer (Lpz. 1913) u. Verwandlung in einem Buch mit dem Titel Söhne vereinigt werden (an Wolff, 11.4.1913), nach einem späteren Urteil, Verwandlung u. In der Strafkolonie u. d. T. Strafen (an Wolff, 19.8.1916). Wenn so die Familie der Ort ist, an dem K. seine Identitätsfantasien des bürgerl. Subjekts ansiedelt, so sind es zwei Seitenthemen, die aus diesem Bild des Familienverbands herauswachsen: zum einen die Frage nach dem Leben in einer modernen Berufswelt, im Zeitalter der Bürokratie (Der Process), der Maschinen (In der Strafkolonie) u. der Medien (der Saal der Telefone im zweiten Kapitel des Verschollenen), die den »Menschenverkehr« regeln, ihn in Gestalt von Briefen, Telefonen, Telegrafen u. Parlografen inhumanisieren u. die Fremdheit zwischen die Menschen legen: »Die Menschheit [...] hat, um möglichst das Gespenstische zwischen den Menschen auszuschalten [...], die Eisenbahn, das Auto, den Aeroplan erfunden, aber es hilft nichts mehr, es sind offenbar Erfindungen, die schon im Absturz gemacht werden« (an Milena Jesenská, Ende März 1922); zum anderen aber, in Gegenüberstellung zu dieser Welt der Zwangsapparate, die Tierwelt, wie sie K.s Erzählungen u. Parabeln bevölkert. K.s Tierfiguren sind verwandelte Menschen auf der Flucht vor der Fremdheit einer ökonomischen Welt (Die Verwandlung) oder Tiere, die, auf der Flucht vor dem Verlust der Freiheit in der Menagerie, sich in Menschen verwandeln, um als »Künstler« im Varieté zu überleben (der Affe Rotpeter im Bericht für eine Akademie); Tiergesellschaften, der Menschenwelt entfremdet, wie sie die Forschungen eines Hundes schildern, u. solche, die scheinbar nach dem Modell der menschl. Gesellschaft sich organisieren, wie Josefine, die Sängerin oder das Volk
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der Mäuse (in: Prager Presse, April 1924); einzelne Tiere schließlich, wie das maulwurfartige Wesen im Bau, das sich gegen eine Welt feindl. Zeichen, das Rauschen einer unverstandenen Welt, in seiner Isolation zu behaupten sucht. K.s Tierdarstellungen sind in ihrer Funktion nicht leicht zu bestimmen. Zwar stehen sie in den literar. Traditionen der Fabel, der anthropomorphisierenden Allegorie u. der Parabel, aber in ihrem tiefsten Sinn erscheinen sie als Elemente einer wilden Gegenwelt des Menschlichen, die durch den Körper, seine Naturhaftigkeit, dessen stumme u. bewusstlose Unveräußerlichkeit geprägt sind. Vielleicht ist K.s Schreiben nur auf dem Hintergrund dieser zivilisationsgeschichtl. Differenz verständlich: dem Schriftverkehr auf der einen Seite, der in das Universum der Kultur u. ihrer sozialen Rituale u. Zeichenordnungen hineinführt u. dem menschl. Ich, gegen allen Verfall des Körpers, das Überleben sichert, wie es die Parabel Ein Traum (in: Ein Landarzt) als Ruhmesfantasie überliefert; u. dem wilden Naturkörper auf der anderen Seite, der in die Stummheit des Organismus zurückkehrt – wie Josefine. Diese Ambivalenz bestimmt auch K.s Vorstellungen vom Künstlertum. Anders als bei Thomas Mann oder Musil, deren Werke von einer kontinuierl. Auseinandersetzung mit Fragen der Kunst u. der Poetologie durchzogen sind, handeln K.s Texte von dubiosen Künstlerfiguren, deren Tätigkeit den Wert der europ. Kulturtradition nur zu unterlaufen scheint: vom Maler Titorelli aus dem Process, der in einer Atmosphäre der Bestechlichkeit einer beliebigen Reproduzierbarkeit der Kunstwerke sich verschreibt, von dem Trapezkünstler aus der Erzählung Erstes Leid (in: Ein Hungerkünstler. 1924), der in Bewegungslosigkeit verharrt, von dem Hungerkünstler, der an der Kunst des Selbstverzehrs zugrunde geht, von der Maus Josefine, deren Kunstübungen sich aller gängigen Wahrnehmung entziehen. Sie alle stehen zwischen den Welten der Schrift u. der sozialen Redeordnung auf der einen, der Welt des stummen tierischen Naturkörpers auf der anderen Seite u. werden in deren Verwerfungen zerrieben.
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Dieser Widerspruch von erlösendem Kunstbegriff der europ. Kulturtradition u. tiefer Verzweiflung über das Versagen des sinnstiftenden Verfahrens kultureller Zeichensetzung durchzieht K.s ganzes Werk. Sein Blick ist der des Wilden auf eine unverständl. Sozietät u. bestimmt auch K.s Verhältnis gegenüber dem eigenen Schaffen: Dem Wunsch, Texte von bleibendem Rang zu veröffentlichen, widerstrebt eine Tendenz, die Niederschriften der Nächte in ihrer Anonymität zu belassen, den namenlosen Schreibstrom der Manuskripte in den stummen Körper zurückzuleiten. K. hat Texte geschrieben, die diesen Vorgang der Verweigerung von Kommunikation bis in die letzten Konsequenzen ausdenken: Der Bau, Strafkolonie, Die Sorge des Hausvaters (in: Ein Landarzt). Die Chiffre »K.«, mit der K. die Protagonisten seiner Romane ausstattet, deutet genau auf dieses Niemandsland zwischen bedeutungslosem Namen u. stummem Körper. Formales Symptom solcher Fremdheitserfahrung, die ihren Standpunkt zwischen »einsinniger« Immanenz des Blicks u. entpersönlichender Distanz nicht zu finden vermag, sind die Perspektivierungsexperimente der K.schen Prosa: auf der einen Seite der beinahe mit der Sicht des Lesers verschmelzende Blick des Protagonisten »K.« in den Romanen, auf der anderen die berichtenden Perspektivfiguren des Forschers u. des Wissenschaftlers in den Forschungen eines Hundes, dem Dorfschullehrer u. dem Bau der Chinesischen Mauer. K.s drei Romane – Der Verschollene, Der Process, Das Schloss – wurden nie vollendet. Er fasste diese Romane als Dokumente seiner Unfähigkeit auf, die Lebensgeschichte des modernen Subjekts schreibend zu bewältigen; er erfuhr sie als »Niederungen«, denen er durch die Ausflucht in das Schreiben kurzer Texte, »in einem Zug niedergeschriebener« Novellen zu entkommen suchte. Es gehört zu dem mit K. gesetzten Paradox, dass gerade seine Romane, die er für missglückt hielt u. nicht vollendete, seinen Weltruhm begründeten, als Brod sie aus dem Nachlass veröffentlichte. Alle drei Romane können als Widerruf dessen angesehen werden, was der Bildungsroman des 19. u. noch des 20. Jh. postuliert hatte: die Erzählbarkeit
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der Geschichte eines frei sich entfaltenden Subjekts in einer durch Bildung, Ökonomie u. Politik gestalteten Gesellschaft. K.s Romane setzen zwar mit der traditionellen »Geburt des Helden« in die Familie u. die soziale Welt ein, aber sie lassen diesen hoffnungsvollen Anfang zerbröckeln. In K.s Romanentwurf Der Verschollene ist es das verführte Kind – die Urszene des Sündenfalls im Paradies hat, wie seine Aphorismen bezeugen. K. nachhaltig beschäftigt –, das von seinen Eltern verstoßen wird, in der Weite des amerikan. Kontinents seinen Weg als Schauspieler (ein zentrales Motiv des Bildungsromans seit Karl Philipp Moritz u. Goethe) sucht, im »Theater von Oklahama« seine Identität verliert u. zum »Verschollenen« wird. Im Process ist es dann der an seinem 30. Geburtstag in Haft genommene Junggeselle, der in der Maschinerie des Lebensprozesses schließlich den Tod in einer freiwillig auf sich genommenen Hinrichtung findet. Im Schloss ist es der exilierte Ehemann, der in der Fremde einen Beruf beansprucht u. selbstständig den Kampf gegen die übermächtige Bürokratie des Schlosses aufnimmt – einen Kampf mit offenem Ausgang. Es sind drei in drei Lebensaltern unternommene Versuche, den Zusammenhang eines Lebens aus dem Grundkonflikt von Heimat u. Fremde zu stiften. Für Karl, im Verschollenen, ist es die Vertreibung aus der Heimat in die Fremde; für Josef K., im Process, der Versuch, sich in der Fremdheit der Heimat einzurichten; für K., im Schloss, das Bemühen, sich die Fremde durch »Vermessung« – er ist Landvermesser von Beruf – anzueignen u. so die Fremde zur Heimat zu machen. Wenn die Romane K.s das Erzählmodell des Bildungsromans unterlaufen, so destruieren seine Erzählungen das traditionelle Modell der Novelle. Will der Bildungsroman aus dem Augenblick der Geburt des Subjekts ein Lebensganzes entwickeln, das sich organisch schließt, so sucht die Novelle in einem als Lebenskrise beleuchteten Augenblick das Ganze eines Lebens aufscheinen zu lassen. K.s Erzählungen sind subversive Proben aufs Exempel dieser Modelle, experimentelle Vergegenwärtigungen der Auslöschung des Subjekts im Spiel der anonymen Macht, wel-
Kafka
che die sozialen Ordnungen durchwirkt. Dies wird insbes. an jenen Erzählungen deutlich, die im Sammelband Ein Landarzt zu einer Sinnfigur vereinigt wurden. Eine erste Gruppe – Der Kübelreiter, Ein Brudermord u. Der Schlag ans Hoftor – greift verfremdend auf das Thema der Familie u. der durch sie bestimmten Selbsterfahrung zurück; eine zweite Gruppe – Auf der Galerie, Das nächste Dorf, Der Nachbar, Beim Bau der Chinesischen Mauer / Eine kaiserliche Botschaft u. Ein altes Blatt – entwickelt das Thema sozialer Ordnungen: von den Beziehungsschwierigkeiten in der modernen Großstadt bis hin zu exotischen u. barbarischen Gesellschaftsformationen, in denen der Begriff des Subjekts dem Phänomen der anonymen Masse weicht; eine dritte Gruppe – Schakale und Araber, Der neue Advokat, Eine Kreuzung, Ein Bericht für eine Akademie – spielt das Thema der Identität in die Tierwelt hinüber, als Frage nach der Beglaubigung des Subjekts aus dem animal. Körper; eine vierte Gruppe – Die Brücke, Der Jäger Gracchus, Ein Besuch im Bergwerk, Elf Söhne u. Die Sorge des Hausvaters – greift ein Thema auf, das dann noch die Schriften der letzten Jahre K.s mitbestimmen wird: die Frage nach der Rolle der Kunst im sozialen Gefüge. In den ersten Jahren der Krankheit bezieht K. zunehmend auch myth. Motive in seine Argumentation über menschl. Kommunikation u. ihre sozialen Folgen ein: Fragen nach der Wirkung der Kunst (Das Schweigen der Sirenen), Fragen nach dem Vergessen im Prozess der Zivilisation, nach dem Ermüden des »großen Subjekts«, seinem Verschwinden im stummen Felsgebirge (Prometheus), nach der Vergeblichkeit messender Zeichen in der Kultur (Poseidon). Eine letzte Steigerung u. Vollendung von K.s Schaffen bieten die späten, unvollendeten Erzählungen (die Tiernovellen Forschungen eines Hundes u. Der Bau) u. der – vom Autor noch auf dem Sterbebett im Druck überwachte – Sammelband Ein Hungerkünstler. Vier Geschichten (Bln. 1924). Hier rückt das Thema der Kunst in den Mittelpunkt, u. zwar in der für K. bedeutsamen Konstellation von tierischem Körper, dem gleichsam organischen Substrat allen Lebens u. allen Schöpfertums, u. von Menschen erzeugten Zeichen, die der
Kafka
Kommunikation u. dem Überleben des Subjekts in der Kultur dienen. Auf der einen Seite der fremde Blick des Tiers (Der Bau), der die Menschwelt nur im Bedrohlichen ihrer undefinierbaren Geräusche gewahrt, auf der anderen der fremde Blick des Künstlers (Der Hungerkünstler) in die Gesellschaft, dessen Äußerungen nicht verstanden werden. K.s Werk zeigt eine Nähe zu expressionistischer Dichtung: durch das Motiv des VaterSohn-Konflikts, durch den suggestiven Körpergestus u. durch den experimentellen Einsatz myth. Formeln (Ein Brudermord); einer schlüssigen Einordnung in zeitgenöss. Literaturströmungen widerstrebt es aber durch seine Eigenart. K.s Wirkung setzte, trotz der Bemühung des in der literar. Öffentlichkeit viel bekannteren Freundes Brod, nur zögernd ein u. wurde später überschattet durch die Verfemung jüd. u. »dekadenter« Autoren durch das NS-Regime. K.s Texte sind vor Beginn des »Dritten Reichs« zunächst von einer kleinen, eingeweihten Elite in Deutschland gelesen worden; dann in Frankreich (ab 1926), in England (ab 1928), in Italien u. in den USA; während des Kriegs u. danach schwoll die Rezeption lawinenhaft an. Das Werk K.s wurde zur Signatur der Epoche u. vielleicht des Jahrhunderts: »kafkaesk« als die Formel für eine Welt, deren Zeichen Unbehaustheit, existenzialistische Verlorenheit, Bürokratie u. Folter, Entmenschlichung u. Absurdität zu sein schienen. K.s Werk ist einer unübersehbaren Fülle von Deutungen aller nur denkbaren Ausrichtungen unterworfen worden: religiösen u. philosophischen, psycholog. u. biogr., soziolog. wie marxistischen, u. zeigt sich als ein Katalysator kultureller Selbsterfahrung u. Selbststilisierung zgl., die Tendenzen eines ganzen Zeitalters gleichnishaft zusammenfassend. Weitere Werke: Ausgaben: Tagebücher u. Briefe. Prag 1937. – Ges. Werke. Hg. M. Brod. Ffm. 1950–58. – Briefe an Milena. Hg. Willy Haas. Ffm. 1952. Erw. Neuausg. hg. v. Jürgen Born u. Michael Müller. Ffm. 1983. – Briefe an Felice u. a. Korrespondenz aus der Verlobungszeit. Hg. Erich Heller u. J. Born. Ffm. 1967. – Briefe an Ottla u. die Familie. Hg. Hartmut Binder u. Klaus Wagenbach. Ffm. 1974. – M. Brod/F. K.: Eine Freundschaft.
242 Briefw. Hg. Malcolm Pasley. Ffm. 1989. – Kritische Ausgabe: Schr.en, Tagebücher, Briefe. Hg. J. Born, Gerhard Neumann, M. Pasley u. Jost Schillemeit. [bisher ersch., alle Ffm.]: Das Schloß. Hg. M. Pasley. 1982. – Der Verschollene. Hg. J. Schillemeit. 1983. – Die Tagebücher. 1990. [erw. Komm. 2008]. – Der Proceß. Hg. M. Pasley. 1990. – Nachgelassene Schr.en u. Fragmente 1 u. 2. Hg. J. Schillemeit. 1992/93. – Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch u. G. Neumann. 1994. – Amtliche Schr.en. Hg. v. Klaus Hermsdorf u. Benno Wagner. 2004. – Briefe 1900–1912; 1913–1914; 1914–1917. Hg. v. H.-G. Koch. 3 Bde., 1999–2005. – Historisch-Kritische Ausgabe (mit Faksimiles): Hist.krit. Ausg. sämtl. Hss., Drucke u. Typoskripte. Hg. Roland Reuß u. Peter Staengle [bisher ersch., alle Basel/Ffm.]: Einl. 1995. – Drei Briefe an Milena Jesenská vom Sommer 1920. 1995. – Der Process. 1997. – Beschreibung eines Kampfes. Gegen zwölf Uhr [...]. 1999. – Oxforder Quarthefte 1 & 2. 2001. – Oxforder Quartheft 17 (Die Verwandlung). 2002. – Oxforder Oktavhefte 1 & 2. 2006. – Oxforder Oktavhefte 3 & 4. 2008. – Reprints: Betrachtung. Ffm. 1994. – Die Verwandlung. Basel/Ffm. 2002. – Der Landarzt. Basel/Ffm. 2006. – Der Prozeß. Basel/ Ffm. 2008. Literatur: Bibliografien: Rudolf Hemmerle: F. K. Bibliogr. Mchn. 1958. – Harry Järv: Die K.-Lit. Malmö/Lund 1961. – Ludwig Dietz: F. K. Die Veröffentlichungen zu seinen Lebzeiten (1908–24). Eine textkrit. u. komm. Bibliogr. Heidelb. 1982. – Maria Luise Caputo-Mayr: F. K. Internat. Bibliogr. der Primär- u. Sekundärlit. 2 Bde. in 3 Tln., Mchn. 2001. – Biografisches: Max Brod: F. K. Eine Biogr. Prag 1937. Ffm. 31954. – Klaus Wagenbach: F. K. Eine Biogr. seiner Jugend. Bern 1958. Neuausg. Bln. 2006. – Ders.: F. K. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1964. – M. Brod: Über F. K. Ffm. 1966. – Chris Bezzel: K.-Chronik. Mchn./ Wien 1975. – Joachim Unseld: F. K.: Ein Schriftstellerleben. Die Gesch. seiner Veröffentlichungen. Mchn./Wien 1982. – Roger Hermes u. a. (Hg.): F. K. Eine Chronik. Bln 1999. – Reiner Stach: K. Die Jahre der Entscheidungen. Ffm. 2002. – Peter André Alt: F. K. Der ewige Sohn. Eine Biogr. Mchn. 2005. – H.-G. Koch: ›Als K. mir entgegenkam.‹ Erinnerungen an F. K. Bln. 22005. – Oliver Jahraus: K.: Leben, Schreiben, Machtapparate. Ditzingen 2006. – R. Stach: K. Die Jahre der Erkenntnis. Ffm. 2008. – Bildbände: K. Wagenbach: F. K. Bilder aus seinem Leben. Bln. 32008. – Hartmut Binder: Mit K. in den Süden. Eine histor. Bilderreise in die Schweiz u. zu den oberital. Seen. Prag 2007. – Ders.: K.s Welt. Eine Lebenschronik in Bildern. Reinb. 2008. – Weitere Titel: Friedrich Beißner: Der
243 Erzähler F. K. Stgt. 1952. – Angel Flores u. Homer Swander (Hg.): F. K. Today. Madison 1958. – Wilhelm Emrich: F. K. Das Baugesetz seiner Dichtung. Bonn/Ffm. 1958. – Marthe Robert: K. Paris 1960. – Klaus Hermsdorf: K. Weltbild u. Roman. Bln./DDR 1961. – Theodor W. Adorno: Aufzeichnungen zu K. In: Ders.: Prismen. Kulturkritik u. Gesellsch. Mchn. 1963, S. 248–281. – Günter Anders: K. Pro u. Contra. Die Processunterlagen. Mchn. 1963. – Kurt Weinberg: K.s Dichtungen. Bern/Mchn. 1963. – Walter H. Sokel: F. K. Tragik u. Ironie. Mchn./Wien 1964. – Heinz Politzer: F. K., der Künstler. Ffm. 1965. – Elias Canetti: Der andere Process. K.s Briefe an Felice. Mchn. 1969. – Karl-Heinz Fingerhut: Die Funktion der Tierfiguren im Werke F. K.s. Bonn 1969. – Peter Ulrich Beicken: F. K. Eine krit. Einf. in die Forsch. Ffm. 1974. – Christoph Stölzl: K.s böses Böhmen. Zur Sozialgesch. eines Prager Juden. Mchn. 1975. – H. Binder: K.-Komm. zu sämtl. E.en. Mchn. 1975. – Ders.: K.-Komm. zu den Romanen, Rez.en, Aphorismen u. zum ›Brief an den Vater‹. Mchn. 1976. – Ders.: K. in neuer Sicht. Mimik, Gestik u. Personengefüge als Darstellungsform des Autobiographischen. Stgt. 1976. – Gilles Deleuze u. Felix Guattari: K., für eine kleine Lit. Ffm. 1976. – A. Flores (Hg.): The K.-Debate. New Perspectives for Our Time. New York 1977. – Jürgen Born (Hg.): F. K. Kritik u. Rezeption zu seinen Lebzeiten. Ffm. 1979. – H. Binder (Hg.): K.-Hdb. in 2 Bdn. Stgt. 1979. – Gerhard Kurz: Traum-Schrecken. K.s literar. Existenzanalyse. Stgt. 1980. – Hans Helmut Hiebel: Die Zeichen des Gesetzes. Mchn. 1983. – Susanne Kessler: K.: Poetik der sinnl. Welt. Stgt. 1983. – G. Kurz (Hg.): Der junge K. Ffm. 1984. – Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Was bleibt v. F. K.? Positionsbestimmung. K.-Symposion Wien 1983. Wien 1985. – Ulf Abraham: Der verhörte Held. Mchn. 1985. – M. Robert: Einsam wie F. K. Ffm. 1985. – Walter Müller-Seidel: Die Deportation des Menschen. K.s Erzählung ›In der Strafkolonie‹ im europ. Kontext. Stgt. 1986. – Karl Erich Grözinger u. a. (Hg.): F. K. u. das Judentum. Ffm. 1987. – Ritchie Robertson: K. Judentum, Gesellsch., Lit. Stgt. 1988. – Thomas Anz: F. K. Mchn. 1989. – Wolf Kittler u. Gerhard Neumann (Hg.): F. K. Schriftverkehr Freib. i. B. 1990. – Roland Reuß: Lesen, was gestrichen wurde. Für eine hist.-krit. K.-Ausg. In: F. K. Hist.-Krit. Ausg., Einl., a. a. O., S. 9–24. – Annette Schütterle: F. K.s Oktavhefte. Ein Schreibprozeß als ›System des Teilbaues‹. Freib. i. Br. 2002. – Marek Nekula: F. K.s Sprachen. ›... in einem Stockwerk des innern babylonischen Turmes ...‹. Tüb. 2003. – H. Binder: K.s ›Verwandlung‹. Basel/Ffm. 2004. – Elmar Locher u. a. (Hg.): F. K. Ein Landarzt. Interpr.en. Bozen u. a. 2004. – Manfred Engel u. Dieter Lamping (Hg.): F. K. u. die
Kagel Weltlit. Gött. 2006. – Guido Massino: K., Löwy u. das jidd. Theater. Basel/Ffm. 2007. – Bettina v. Jagow u. Oliver Jahraus (Hg.): K.-Hdb. Leben, Werk, Wirkung. Gött. 2008. – R. Reuß: Die Oxforder Oktavhefte 3 u. 4. Zur Einf. In: F. K.-Heft 6 (2008), S. 3–27. – Bernd Auerochs u. M. Engel (Hg.): K.Hdb. Leben, Werk, Wirkung. Stgt. 2009. – Internet: www.kafka.org. – www.textkritik.de/kafka. – www.franzkafka.de/franzkafka/home/. Gerhard Neumann / Roland Reuß
Kagel, Mauricio (Raúl), * 24.12.1931 Buenos Aires, † 18.9.2008 Köln. – Komponist, Dirigent, Librettist, Hörspielautor u. Regisseur. K. entstammte einer russ.-dt. Familie, die nach den Judenpogromen der 1920er Jahre von Russland nach Argentinien ausgewandert war. Er wuchs als Sohn eines Buchdruckers im Kreis von Emigranten (Schriftstellern, Architekten, Fotografen) auf u. erhielt ab dem siebten Lebensjahr Klavierunterricht; später lernte er auch Cello, Klarinette, Singen u. Dirigieren, erhielt jedoch nie systemat. Kompositionsunterricht. An der Universität von Buenos Aires studierte er Literaturwissenschaft, Philosophie u. Ethnologie. Neben Jorge Luis Borges u. Witold Gombrowicz, mit denen er in persönl. Kontakt stand, prägten ihn die Schriften Søren Kierkegaards u. Miguel Unamunos. Ab 1949 war K. als Interpret u. Organisator bei der Agrupación Nueva Música, 1955–1957 zunächst als Korrepetitor am Teatro Colón unter E. Kleiber, dann als Dirigent an der dortigen Kammeroper tätig. 1950 gehörte er zu den Gründern der Cinemathèque Argentine u. arbeitete von 1952 bis 1956 als Film- u. Fotografiekritiker für verschiedene Zeitschriften. 1957 kam er als Stipendiat des DAAD mit seiner Ehefrau, der Bildhauerin Ursula Burghardt, nach Köln. 1960–1966 nahm K. als Gastdozent an den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt teil, wurde 1967 Gastdozent an der Film- u. Fernsehakademie in Berlin, leitete 1969–1975 die Kölner Kurse für Neue Musik u. war 1974–1997 Professor für »Neues Musiktheater« an der Musikhochschule Köln. K.s künstlerische Tätigkeit war früh auf kombinator. Verfahren ausgerichtet; Colla-
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geprinzipien u. Improvisation kennzeichnen seine Werke. In Anagrama für vier Gesangssoli, Sprechchor u. Kammerensemble (1957/ 58) benutzte er das Palindrom »in girum imus nocte et consumimur igni« aus Dantes Divina Commedia zu Wortneubildungen in vier verschiedenen Sprachen. Um 1960 begründete K. mit dem »kammermusikalischen Theaterstück« Sur scène (Urauff. Bremen 1962) das »Instrumentale Theater«, wobei musikal. u. szen. Verläufe, Szene, Licht u. Bühnengestaltung in die Komposition einbezogen wurden. Nach etlichen Musiktheaterkompositionen wie Match (Urauff. Bln. 1965), Pas de cinq (Urauff. Mchn. 1966), Staatstheater (Urauff. Hbg. 1971), eine Persiflage des traditionellen Opernbetriebs, Mare Nostrum. Entdeckung, Befriedung und Konversion des Mittelmeerraumes durch einen Stamm aus Amazonien (Urauff. Bln. 1975), Dressur (Urauff. Metz 1977), Die Erschöpfung der Welt. Szenische Illusion in einem Aufzug (Urauff. Stgt. 1980), Aus Deutschland. Eine Liederoper (Urauff. Bln. 1981) u. Musik, für Tasteninstrumente und Orchester (Urauff. Köln 1988) arbeitete K. auch im Medium Film u. Hörspiel. 1970 hatte er die Kölner Kurse für Neue Musik unter das Motto »Musik als Hörspiel« gestellt, dem die Umkehrung »Hörspiel als Musik« entspricht. Seit (Hörspiel) Ein Aufnahmezustand (1. Dosis) von 1969 (2. u. 3. Dosis 1970) realisierte K. in regelmäßiger Folge experimentelle Hörspiele im WDR Köln, wobei er auf Text u. Geräusch ähnl. Verfahrensweisen anwandte wie bei der Komposition von Musik. Mit der fünfteiligen Sendefolge Das Handwerkszeug – Kleines Ohrganon des Hörspielmachens (1978) gab er Einblick in seine Rundfunkarbeit. Das Hörstück Der Tribun (1979), bei dem es um einen polit. Redner geht, der seinen öffentl. Auftritt simuliert, indem er sich die Begeisterung der Zuhörer u. die Klänge einer Militärkapelle vom Tonband zuspielt, ist eine Studie über die politisch-demagog. Rhetorik u. die Verführbarkeit der Masse, über den »Zusammenhang zwischen Wortschatz und präziser Ungenauigkeit«. Die »Radiophantasie« Rrrrrr..., ein Stück mit 41 musikal. Fragmenten, deren Überschriften allesamt mit dem Buchstaben R beginnen, dient im Hörspiel über eine Radiophantasie (1982) als Hintergrund-
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musik, womit jene Aufmerksamkeitsschwankungen thematisiert werden, die gewöhnlich beim Anhören von Musik auftreten. In ... nach einer Lektüre von Orwell (1984) komponierte K. eine »germanische Metasprache«, deren Wortstämme zwar noch zu erkennen sind, aber in ihrer neuen Zusammenziehung an das musikal. Variationsverfahren u. die parodierende Verzierungstechnik anknüpfen. In dem »epischen Hörspiel« Die Umkehrung Amerikas (1976) wird mit Hilfe der Verfremdung durch die Tonbandtechnik (Umkehrung des musikal. akust. Materials) ein Entfremdungsprozess von Ureinwohnern zu ihrer Sprache transportiert, d.h. Sprache als Mittel der Repression entlarvt. Zu den Hörspielen des Spätwerks zählen Playback Play. Neues von der Musikmesse. Radiophonische Komposition (1997) u. Erratische Blöcke. Radiostück aus akustischen Bildern (SWR/HR 2008). K. war immer sein eigener Librettist. Er schrieb die Texte seiner Vokal- u. Bühnenstücke selbst oder montierte sie aus vorgegebenem Material. Seit der Beethoven-Filmcollage Ludwig van. Ein Bericht (WDR 1969) verwendete er in zunehmendem Maße histor. Musik- u. Textmaterial u. verarbeitete u. verfremdete dieses beziehungsvoll. Gemäß seinem »universalen Musikbegriff« (Klüppelholz) produzierte K. viele seiner Stücke selbst als Film, u. a. Match (WDR/WDF 1967), Kantrimiusik. Pastorale in Bildern (SWF 1976), MM 51. Ein Stück Filmmusik für Klavier (DRS 1983), Mitternachtsstük (DRS 1988), Répertoire (ZDF 1990) u. Bestiarium (WDR 2000). K. erhielt u. a. 1965 den Preis der Koussevitzky Music Foundation, 1970 u. 1995 den Karl-Sczuka-Preis des Südwestfunks BadenBaden, 1980 den Hörspielpreis der Kriegsblinden, 1983 die Mozart-Medaille der Stadt Frankfurt, 1985 den Prix Italia, 1998 den Erasmuspreis der Niederlande, 1999 den Prix Maurice Ravel, 2000 den Ernst von Siemens Musikpreis u. 2002 den Großen Rheinischen Kunstpreis. Seit 1973 war er Mitgl. der Akademie der Künste, Berlin, seit 1985 Commandeur dans L’Ordre des Arts et des Lettres de la Republique Française. Weitere Werke: Hörspiele (Erstsendung beim WDR): Guten Morgen! Hörsp. aus Werbespots. 1971. – Cäcilia: Ausgeplündert. Ein Besuch bei der
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245 Heiligen. 1985. – Der mündl. Verrat. Ein Musikepos über den Teufel. 1987. Fassung in niederrhein. Mundart. 1993. – Nah u. Fern. Radiostück für Glocken u. Trompeten mit Hintergrund. 1994. – Schriften: Tamtam. Dialoge u. Monologe zur Musik. Hg. Felix Schmidt. Mchn./Zürich 1975. – Das Buch der Hörspiele. Hg. Klaus Schöning. Ffm. 1982. – Worte über Musik. Gespräche, Aufsätze, Reden, Hörspiele. Mchn. 1991. – Dialoge, Monologe. Hg. Werner Klüppelholz. Köln 2001. Literatur: Dieter Schnebel: M. K. Musik Theater Film. Köln 1970. – W. Klüppelholz: M. K. 1970–1980. Köln 1981. – K. Schöning (Hg.): Hörspielmacher. Autorenporträts u. Essays. Königst./ Ts. 1983. – W. Klüppelholz u. Lothar Prox (Hg.): M. K. Das film. Werk I. 1965–1985. Amsterd./Köln 1985. – Reinhard Döhl: Das Neue Hörspiel. Darmst. 1988, S. 77–90. – W. Klüppelholz (Hg.): K..../1991. Köln 1991 (mit Werkverz.). – M. K. Skizzen, Korrekturen, Partituren. Eine Ausstellung [...]. Konzipiert u. realisiert v. W. Klüppelholz. Köln 1991. – W. Klüppelholz: Sprache als Musik. Studien zur Vokalkomposition bei Karlheinz Stockhausen, Hans G Helms, M. K., Dieter Schnebel u. György Ligeti. 2., durchges. u. erw. Aufl. Saarbr. 1995, bes. S. 68–92. – Wieland Reich: M. K. Sankt-Bach-Passion. Kompositionstechnik u. didakt. Perspektiven. Saarbr. 1995. – Christiane Hillebrand: Film als totale Komposition. Analyse u. Vergleich der Filme M. K.s. Ffm. u. a. 1996. – LeseWelten. M. K. u. die Lit. Eine Ausstellung des Heinrich-Heine-Instituts [...] konzipiert u. realisiert v. W. Klüppelholz. Saarbr. 2002. – W. Klüppelholz: Über M. K. Saarbr. 2003. – Ders.: M. K. In: MGG. Personenteil. – Ulrich Tadday (Hg.): M. K. (Musik-Konzepte 124). Mchn. 2004. – Björn Heile: The Music of M. K. Aldershot 2006 (mit Werkverz.). – Matthias Rebstock: Komposition zwischen Musik u. Theater. Das instrumentale Theater v. M. K. zwischen 1959 u. 1965. Hofheim 2007. – W. Klüppelholz (Hg.): Vom instrumentalen zum imaginären Theater: Musikästhetische Wandlungen im Werk von M. K. 1. Internat. K.-Symposium an der Univ. Siegen, 28.-30.6.2007. Hofheim 2008. Thomas Becker / Bruno Jahn
Kahane, Arthur, * 2.5.1872 Wien, † 7.10. 1932 Berlin. – Lyriker, Erzähler, Übersetzer, Dramaturg, Essayist. Der vielseitig begabte, theaterbesessene K., Sohn eines Privatiers, verließ mit 19 Jahren die mosaische Glaubensgemeinschaft, studierte Literatur u. Philosophie, war Anarchist, attackierte die Machthaber u. enga-
gierte sich für künstlerisch-dramaturgischtheatral. Aufgaben auf den Spuren u. im Gefolge Max Reinhardts. Er begleitete dessen Berliner Karriere seit 1902. Mit der Übernahme des Deutschen Theaters durch Reinhardt wurde K. zum verantwortl. Chefdramaturgen dieses Hauses (1905–1923). Er war gleichzeitig Herausgeber der »Blätter des Deutschen Theaters« (zus. mit Felix Hollaender, 1.-3. Jg., Bln. 1911–14), der Monatsschrift »Das junge Deutschland«, des Organs des gleichnamigen Vereins (mit Versuchsbühne) zur Förderung junger Autoren (zus. mit Heinz Harald, 1.-3. Jg., Bln. 1918–20), schrieb das Drehbuch zu Die Insel der Seligen (1913) u. die Texte zu Eduard Künnekes Lieder des Pierrot op. 3. Die Rezeptions- u. Wirkungsgeschichte K.s ist eng mit der Berliner Theatergeschichte verknüpft. K. kommentierte die wichtigsten Uraufführungen (u. a. Arthur Honeggers Johanna auf dem Scheiterhaufen 1924 u. Theaterereignisse wie den Shakespeare-Zyklus Max Reinhardts 1913/14). Er präsentierte mit dem Tagebuch des Dramaturgen (Bln. 1928) Blitzlichter des Berliner Theateralltags, eine Geschichte der Berliner Theateroriginale in Anekdoten sowie die Genese u. Typologie der Theaterabläufe aus der Sicht des Dramaturgenberufs. Bis heute viel beachtet ist die Geschichte der Theaterfamilie Thimig mit der Mittelpunktsfigur Helene Thimig, der Frau von Max Reinhardt (Die Thimigs. Theater als Schicksal einer Familie. Bln. 1930). Die gegenüber diesen Theaterreports ambitioniert gemeinten fiktionalen Texte zeitigten dagegen weniger Wirkung: Humorvoll-gestrig bleibt K. in dem Roman Der Schauspieler (Konstanz 1924) mit gedruckter Widmung an Hermann Bahr, in dem die Schilderungen des Theaterbetriebs mehr überzeugen als die »Abenteuer« des Schauspielers. Ähnliche inhaltl. Bezüge zwischen typisch antibürgerl. Freiheitssuche u. Selbsterfahrung ohne formale Brillanz kennzeichnen die weiteren fiktionalen Texte: Die Romane Clemens und seine Mädchen (Bln. 1918) mit gedruckter Widmung an Hermann Bahr, Willkommen und Abschied (Bln. 1919) mit einem Männerschicksal, das »Frauenseele und Frauenverständnis« liebevoll umranken. Im dritten Roman Die Tarn-
Kahlau
kappe (Bln. 1920) benutzt K. ein Theaterrequisit als Leitmotiv. Weitere Werke: Lieder. Bln. 1910. – A. K. (Hg.): Novellen aus der Bibel. Mit 13 Lithographien v. Erich Büttner. Bln. 1917. – Die fromme Helene (zus. mit Friedrich Hollaender). Urauff. Bln. 1923 (Operette). – Theater. Aus dem Tagebuche eines Theatermannes. Bln. 1930 (Ess.). – Die Jahre 1905–24. In: Max Reinhardt. 25 Jahre Dt. Theater. Ein Tafelwerk. Hg. Hans Rothe. Mchn. 1930, S. 15–58. – Das Judenbuch. Bln. 1931 (Ess.). – 11 Handschriftendatensätze im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Briefe an Rudolf Alexander Schröder, Samuel Fischer, Harry Graf Kessler, Grete Wiesenthal, Armin Wegner u. a. Literatur: Lex. dt.-jüd. Autoren. Rudolf Denk
Kahlau, Heinz, * 6.2.1931 Drewitz/Potsdam. – Lyriker, Drehbuchautor, Verfasser von Büchern u. Stücken für Kinder, Übersetzer. Nach Gelegenheitsarbeiten, Tätigkeiten als Traktorist u. FDJ-Funktionär (ab 1948) war K. 1953–1956 »Meisterschüler« Brechts an der Akademie der Künste in Berlin. Seit 1956 als freischaffender Autor u. Übersetzer tätig, arbeitete er zudem notgedrungen für den DDRStaat, bis 1963 als Inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes. K., der sich für die PDS, dann für Die Linke engagierte, lebte bis 2006 in Berlin u. zog dann auf die Insel Usedom. Zu seinen Auszeichnungen zählen der Heinrich-Heine-Preis, die Erich-WeinertMedaille (beide 1963), der Lessingpreis 1972 u. der Johannes-R.-Becher-Preis 1981. K., der als seine Vorbilder Ringelnatz, Villon, Heine, Bellman, Sandburg, aber auch den »Volksmund« nennt, schreibt »volkstümliche Lyrik sozialistischer Prägung« (Mathilde Dau). 1956, auf dem II. Kongress junger Künstler in Chemnitz, verwahrte er sich öffentlich im Namen der um 1930 Geborenen gegen Gängelung. Nach Gedichten, die den Ton der Buckower Elegien Brechts aufnahmen, fand K. seinen eigenen »anscheinend einfachen« (K. im Gespräch mit M. Dau) Ton, seine Haltung, die »am Detail des Alltags die Richtigkeit gesellschaftlicher Prozesse erkunden und herzeigen« will. K. arbeitet didaktisch; seine Gelegenheits- u. Gebrauchslyrik (Der Fluß der
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Dinge. Bln./Weimar 1964. Flugbrett für Engel. Ebd. 1974. Fundsachen. Ebd. 1984), seine Liebesgedichte (Du. Ebd. 1971), Balladen (ebd. 1971, erw. u. d. T. Der besoffene Fluß. Ebd. 1991) u. Kinderbuchverse sind stärker von Erkenntnissen als von Empfindungen geprägt. Er bevorzugt die »Sicht von unten«, den lakon., spruchhaften Sprachgestus, der nicht unkritisch seine Zeit überprüft (Querholz. Bln. 1989). K. ist neben Eva Strittmatter der meistgelesene Lyriker der ehem. DDR, dessen Schaffen nach 1989 neben wenigen Einzelpublikationen v. a. retrospektive Würdigung erhält (Eines beliebigen Tages. Ebd. 1989. So oder so. Ebd. 1992. Sämtliche Gedichte und andere Werke. Ebd. 2005). Von bleibender Bedeutung sind K.s Nachdichtungen u. Übersetzungen aus dem Amerikanischen, Chinesischen, Französischen, Jiddischen, Lettischen, Russischen, Spanischen u. Ungarischen. Weitere Werke: Maisfibel. Bln./DDR 1960 (Chronik). – Lyrik: Hoffnung lebt in den Zweigen des Caiba. Bln./DDR 1954. – Probe. Ebd. 1956. – Mikroskop u. Leier. Mchn./Esslingen 1964. – Bögen. Ausgew. Gedichte 1950–80. Bln./DDR 1980. – Lob des Sisyphus. Lpz. 1982. – Daß es dich gibt macht mich heiter. Düsseld. 1982. – Kaspers Waage. Bln. 1992. – Zweisam. Bln. 1999. – Kinderbücher: Schaumköpfe. Bln./DDR 1972. – Der Rittersporn blüht blau. Ebd. 1972. – Wenn Karolin Geburtstag hat. Ebd. 1974. – Konrads Traktor. Lpz. 1974. – Das Eiszapfenherz. Bln./DDR 1975. – Der Früchtemann. Bln./DDR 1976. – Besuch bei Jancu. Ebd. 1983. – Hurra! Hurra! Hurra! Die Feuerwehr ist da! Halle 1988. Neuausg. Weinheim u. a. 2008. – Spieglein, Spieglein in der Hand ... Ein Mini-Benimmbuch für Pioniere. Bln./DDR 1988. – Die Häsin Paula. Bln./DDR 1989. – Fernseh- und Hörspiele, Theater und Filme: Poet der Brotlosen. Defa 1953. – Steinzeitballade. Defa 1961. – Und das am Sonntag. Defa 1962. – Auf der Sonnenseite (zus. mit Gisela Steineckert). Defa 1962. – Verliebt u. vorbestraft (zus. mit Erwin Stranka). Defa 1963. – Der Musterschüler. Urauff. Bln./DDR 1969. – Die nackte Wahrheit. Defa 1970. – Die kluge Susanne. Urauff. Bln./DDR 1973. – Das Durchgangszimmer. Urauff. Halle 1973 (Musical). – Galoschenoper. Urauff. Bln./DDR 1978. Literatur: Mathilde Dau: Interview mit H. K. In: WB 18 (1972), H. 5, S. 61–70. – M. u. Rudolf Dau: Wege zum Publikum. Zur Lyrik H. K.s. In: ebd., S. 71–91. – Jurek Becker: Nichtigkeiten. In:
247 Liebes- u. andere Erklärungen. Hg. Annie Voigtländer. Bln./Weimar 1972, S. 161–166. – Günther Deicke: Laudatio. Johannes-R.-Becher-Preis 1981 für H. K. In: NDL 29 (1981), H. 8, S. 165–170. – Hannes Schwenger: H. K. In: KLG. Konrad Franke / Günter Baumann
Kahlenberg, Hans von, auch: Eva H. von Montbart, eigentl.: Helene Keßler, * 23.2. 1870 Heiligenstadt/Thüringen, † 8.8. 1957 Baden-Baden. – Prosaautorin. K., Tochter des preuß. Offiziers Erich von Montbart, erhielt im Stift Koppel/Westfalen eine Mittelschulausbildung. 1888 absolvierte sie das Lehrerinnenexamen. 1908 heiratete sie den Forstmeister Wilhelm Keßler. K. thematisierte in ihren zahlreichen Romanen eine in allen Gesellschaftsschichten anzutreffende egoistisch-materialistische Lebensauffassung, die bedingt ist durch einen erbitterten Kampf ums Dasein. In ihren frühen Romanen schilderte sie das Elend im Arbeitermilieu (Ein Narr. Dresden/Lpz. 1895. Die Junge. Dresden 1896). K. richtete ihre Aufmerksamkeit auch auf die sich wandelnde Beziehung zwischen Mann u. Frau u. kritisierte die bürgerl. Sexualmoral. Dabei nähert sie sich der Darstellungsweise pikanter Literatur, z.B. in der Novelle Das Nixchen. Ein Beitrag zur Psychologie der höheren Töchter (Dresden 1899. 61905), die 1903 in Berlin konfisziert wurde. Weitere Werke: Die Familie v. Barchwitz. Bln. 1899 (R.). – Die Sombritzkys. Bln. 1899 (R.). – Eva Sehring. Gesch. einer Jugend. Bln. 1901. – Der Alte. Bln. 1901 (R.). – Ulrike Dhuym. Eine schöne Seele. Bln. 1902 (R.). – Die starke Frau v. Gernheim. Lpz. 1904. – Der Weg des Lebens. Bln. 1905 (Kultur-R.). – Der König. Bln. 1906 (R.). – Ediths Karriere. Bln. 1907 (R.). – Der liebe Gott. Eine Kindheitsgesch. Bln. 1908. – Der enigmat. Mann. Bln. 1909. – Ahasvera. Bln. 1910 (R.). – Der Kaiser. Bln. 1911 (Trag.). – Verliebte Gesch.n. Bln. 1912. – Sünde. Bln. 1912 (R.). – Die süßen Frauen v. Illenau. Bln. 1914 (R.). – Mutter! Zürich 1917. – Lisa Gorst. Bln. 1921 (R.). – Des Teufels Schachspiel. Bln. 1923 (R.). – Die andere Welt. Bln. 1928 (R.). – Die Witwe Scarron. Bln. 1934. Literatur: Gaby Pailer: ›Nixchen‹ u. ›Halbtier‹. Die Entmythisierung der Wasserfrau bei H. v. K. (= Helene v. Montbart) u. Helene Böhlau. In: Mari-
Kahlert anne Henn u. Britta Hufeisen (Hg.): Frauen – MitSprechen, MitSchreiben. Stgt. 1997, S. 256–273. Gisela Brinker-Gabler / Red.
Kahlert, (Karl) August (Timotheus), * 5.3. 1807 Breslau, † 29.3.1864 Breslau. – Musik- u. Literaturkritiker, Ästhetiker, Erzähler, Lyriker. Nach Studienanfang in Breslau bezog K., Sohn eines Privatlehrers u. späteren -gelehrten, 1827 die Berliner Universität, wo er die Vorlesungen Hegels, Gans’ u. Savignys besuchte. Zurückgekehrt nach Breslau, trat er 1829 eine juristische Laufbahn an, die er jedoch schon 1833 aus Gesundheitsgründen aufgeben musste. Danach widmete er sich ausschließlich seinen literar. wie krit. Neigungen. 1835 publizierte K. die von den Zeitgenossen viel beachtete Arbeit über Schlesiens Antheil an deutscher Poesie (Breslau). Nach der Promotion 1836 u. der anschließenden Habilitation wurde er a. o. Professor u. hielt bis 1846 philosophische u. literaturgeschichtl. Vorlesungen. Ein Rückenmarksleiden zwang ihn zum vorzeitigen Rückzug. Zusammengefasst hat K. seine ästhetischen sowie musik- u. literaturkrit. Ansichten in seinem weitgehend von Hegel geprägten System der Aesthetik (Lpz. 1846). Neben einer Vielzahl musik- u. literaturgeschichtl. Arbeiten, insbes. wieder über schles. Dichter des 17. u. 18. Jh., so die Monografie Angelus Silesius (Breslau 1853), schrieb K. eine Reihe von epigonalen literar. Werken (Erzählungen, Novellen, Lyrik). Weitere Werke: Ewald u. Bertha. Idyll. Epos in sechs Gesängen. Lpz. 1829. – Bl. aus der Brieftasche eines Musikers. Breslau 1832. – Novellen. Ebd. 1832. – Romanzen. Ebd. 1834. – De homoeoteleuti natura et indole. Diss. Ebd. 1836. – Breslau vor hundert Jahren. Auszüge aus einer handschriftl. Chronik. Ebd. 1840. Literatur: Karl Gabriel Nowack: Schles. Schriftstellerlexikon. H. 1, Breslau 1836. – Hermann Palm: K. A. T. K. In: ADB. – Maria Katarzyna Lasatowicz (Hg.): Literaturgeschichtl. Schlüsseltexte zur Formung schles. Identität. Kommentierte Studienausg. Bln. 2005 (darin: ›Schlesiens Antheil an dt. Poesie‹). Werner Jung / Red.
Kain
Kain, Franz, * 10.1.1922 Bad Goisern/ Oberösterreich; † 27.10.1997 Linz. – Romancier, Erzähler, Essayist, Journalist, Politiker.
248 nem Vorw. v. Klaus Amann). – Das Schützenmahl. Bln./Weimar 1986. – Der Schnee war warm u. sanft. Weitra/Linz 1989. – Im Brennnesseldickicht. Ebd. 1989. Literatur: Judith Gruber: F. K. Eine Monogr.
K., Sohn eines Bauarbeiters u. einer Köchin, Diss. Wien 1985. – Erik Adam: Gesch. mit Hilfe v. war nach dem Besuch der Volks- u. der Gesch.n beleuchten. Zu Leben u. Werk des Hauptschule in Bad Goisern Waldarbeiter. Schriftstellers F. K. In: ÖGL 32 (1988), H. 3/4, 1941 wurde er wegen illegaler antifaschisti- S. 162–173. – Porträt F. K. (Die Rampe. H.e für Lit. scher Betätigung verhaftet u. zu drei Jahren Sonderh.). Linz 1994. Erik Adam Zuchthaus verurteilt, 1942 in die Strafbrigade 999 versetzt. Nach amerikan. Kriegsgefangenschaft (1943–1946) trat er in die Kul- Kaiser, Friedrich (Anton), * 3.4.1814 Biturredaktion der »Neuen Zeit« in Linz ein, berach/Württemberg, † 6.11.1874 Wien. – wo er mit Arnolt Bronnen zusammenarbei- Bühnenautor. tete. 1953–1956 lebte er in Berlin. K., Sohn eines k. k. Leutnants, kam als Kind Nach Anfängen als Lyriker (u. a. vier So- nach Wien. Nach philosophsichen Studien an nettenkränze) wandte sich K. der erzählenden der dortigen Univ. war er bis 1838 Praktikant Prosa u. Essayistik zu. Hauptthema seiner beim Hofkriegsrat. K.s lebenslange BezieWerke ist die österr. Provinz mit ihren »art- hungen zum Wiener Theater begannen als eigenen Tücken« als Nähr- u. Resonanzboden Schauspieler u. Rezensent. Von Karl Carl zugrößerer sozialer u. polit. Zusammenhänge. erst 1840 als Theaterdichter engagiert, In einer rauhen, aber nicht aggressiven Spra- schrieb er nachweislich 162 Stücke, von deche erzählt K. als »zornig Liebender« aus ei- nen zumindest 150 in Wien aufgeführt wurner Perspektive, die sich dem »volkstümli- den u. 78 im Druck erschienen (37 in der chen Realismus« im Sinne Brechts verpflich- Reihe »Wiener Theater-Repertoir«); 31 sind tet weiß. K.s Stärke liegt in der Gestaltung verschollen oder nur fragmentarisch erhalder Schicksale der »kleinen Leute«. Einge- ten. Er stand sprachlich unter dem Einfluss woben in diese Zusammenhänge sind häufig Nestroys, mit dem er den Spielplan der Vorauch Naturbeschreibungen von spröder stadttheater in den 1840er u. 1850er Jahren Schönheit, fernab vermarktbarer Idyllisie- beherrschte. Bedeutung kommt ihm als Errung. K.s Werk hat in Österreich lange Zeit finder des »Lebens- oder Charakterbilds« zu, nicht die ihm gebührende Beachtung u. das mit der eher satirisch-witzigen Posse der Würdigung gefunden. Diese Situation hat Zeit rivalisieren sollte, indem es »Scherz« mit sich erst mit der Herausgabe seiner Bücher »Ernst« verband. Von konservativen Theadurch den Verlag Bibliothek der Provinz ge- terkritikern, die schon lange ein sentimenändert. tales, tendenzvoll-idealisierendes »wahres K. erhielt 1989 den Literaturpreis des Lan- Volksstück« verlangten, wurde es gegen des Oberösterreich. Nestroy ausgespielt. Dieser verspottete das Weitere Werke: Romeo u. Julia an der Bernauer erste Beispiel der neuen Gattung, Wer wird Straße. Bln./DDR 1955 (N.). – Der Föhn bricht ein. Amtmann? (Urauff. 1840. Wien 1842), im TaEbd. 1962. (R.). Neuaufl. Weitra 1995 (mit einem lisman als »traurige Posse«. Nachw. v. Friedbert Aspetsberger). – Das Ende der Konsequent freiheitlicher Gesinnung – er Ewigen Ruh. Bln./DDR 1959. (R.). Neuaufl. Wien redigierte 1846/47 die illustrierte satir. Voru. a. 1996. – Am Taubenmarkt. Damasus. Weitra/ märzzeitschrift »Der Kobold« (Nachdr. HilLinz 1991. Neuauf. u. d. T. Auf dem Taubenmarkt. desh. 1995) –, war K. 1848 aktiver RevoluDamasus. Weitra 2003 (R.). – In Grodek kam der Abendstern. Weitra/Linz 1993. – Erzählsammlungen: tionär. Er war es, der am 15. März mit dem Die Lawine. Bln./DDR 1959. Neuaufl. Weitra 1994. kaiserl. Manifest, das die neue Konstitution – Die Donau fließt vorbei. Wilhelmshaven 1969. verkündete, durch die Straßen Wiens ritt, u. Neuaufl. Weitra 1993. – Der Weg zum Ödensee. noch im Okt. nahm er im Akademikerkorps Bln./Weimar 1973. Neuaufl. Weitra 1996 (mit ei- an den Straßenkämpfen teil. K.s drei Erin-
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Kaiser
nerungsbände (Theater-Director Carl. Wien 1854. Friedrich Beckmann. Wien 1866. Unter fünfzehn Theater-Direktoren. Wien 1870) sind wertvoll für die Geschichte des Wiener Theaters. Sein Schaffen schlägt die Brücke zwischen der Lokalposse der 1840er Jahre u. dem neuen Volksstück der 1870er Jahre; Anzengruber berief sich ausdrücklich auf ihn.
Dt. Sprache in Raum u. Zeit. FS Peter Wiesinger. Hg. Peter Ernst. Wien 1998, S. 105–124. – Ders.: Ein kleines Dialektwörterbuch: zusammengestellt aus Belegen in den gedruckten Volksstücken F. K.s. In: Beharrsamkeit u. Wandel. FS Herbert Tatzreiter. Hg. Werner Bauer u. Hermann Scheuringer. Wien 1998, S. 179–204. – Goedeke Forts.
Weitere Werke: Theaterstücke: Geld! Urauff. 1841. Wien 1842. – Stadt u. Land. Urauff. 1844. Wien 1845. – Der Krämer u. sein Commis. Urauff. 1844. Wien 1845. – Sie ist verheirathet. Urauff. 1845. Wien 1846. – Der Rastelbinder. Urauff. 1843. Wien 1850. – Die Schule des Armen. Urauff. 1847. Wien 1850. – Eine Posse als Medizin. Urauff. 1849. Wien 1850. – Junker u. Knecht. Wien 1850. – Der Schneider als Naturdichter. Urauff. 1843. Wien 1851. – Verrechnet! Wien 1851. – Dienstbothenwirtschaft. Urauff. 1840. Wien 1852. – Doktor u. Friseur. Urauff. 1845. Wien 1853. – Der letzte Hanswurst. Wien 1853. – Palais u. Irrenhaus. Wien 1854. – Unrecht Gut! Wien 1855. – Die Frau Wirthin. Wien 1856. – Eine neue Welt. Wien 1860. – Neu-Jerusalem. Wien 1869. – Erinnerungen: 1848. Ein Wiener Volksdichter erlebt die Revolution. Hg. Franz Hadamowsky. Wien 1948. – Briefe: Briefe von u. an F. K. Hg. Jeanne Benay. Bern 1989.
Kaiser, Georg, * 25.11.1878 Magdeburg, † 4.6.1945 Monte Verità, Ascona/Schweiz; Grabstätte: Friedhof Morcote, Luganer See/Schweiz. – Dramatiker, Romancier, Lyriker, Essayist.
Literatur: Walter Pöll: Der Wiener Theaterdichter F. K. Diss. Wien. 1947. – Erich Joachim May: Wiener Volkskom. u. Vormärz. Bln. 1975, S. 192–213, 265–292. – W. E. Yates: An Object of Nestroy’s Satire: F. K. and the ›Lebensbild‹. In: Renaissance and Modern Studies 22 (1978), S. 45–62. – Jeanne Benay: Das Wiener Volkstheater als Intention u. Strategiedramaturgie. Ein Beispiel: F. K. u. seine frz. Vorlagen. In: Das österr. Volkstheater im europ. Zusammenhang 1830–1880. Hg. Jean-Marie Valentin. Bern 1988, S. 107–132. – Hugo Aust u. a.: Volksstück. Mchn. 1989, S. 182–188. – J. Benay: F. K.: Gesamtprimärbiliogr. seiner dramat. Produktion zwischen 1835–1874 (Nachl. 1875). Bern 1991. – Dies.: F. K. (1814–1874) et le théâtre populaire en Autriche au XIXe siècle. 2 Bde., Bern 1993. – J. Benay: Vom Domestiken zu den kleinen Leuten. Dienerrollen im ›Lebens- u. Charakterbild‹ F. K.s. In: Nestroyana 14 (1994), H.3/4, S. 67–80. – Volker Röhr: Der MagdalenaTypus im Wiener Volksstück K.scher Prägung. Diss. Univ. Mchn. 1994. – J. Benay: Volksästhetischer Historismus in der Spätdramatik F. K.s. In: Nestroyana 16 (1996), H.1/2, S. 52–65. – Richard Reutner: Dialekt u. Sprachspiel bei Nestroys Vorgängern u. Zeitgenossen: am Beispiel von Franz Xaver Gewey (1764–1819) u. F. K. (1814–1874). In:
W. Edgar Yates
In einem bürgerl. Elternhaus – der Vater Friedrich (* 1829) war angesehener Kaufmann, »ein ernster ruhiger gütiger Mann«, die um sechzehn Jahre jüngere Mutter Antonie »ein Mensch, der nur in Extremen da war, entweder in Tränen schwamm oder glückselig war« – wuchs K. als fünfter Sohn in Magdeburg auf, »ein nervöses Kind, das unter Zuckungen und Unruhe litt«. Mit der mittleren Reife verließ er die Klosterschule »Unserer Lieben Frauen« u. wurde Lehrling in einer Buchhandlung. Nach nur wenigen Wochen trat er in ein Geschäft für Export/ Import ein, brach dort die Lehre wiederum ab u. fuhr 1899 nach Buenos Aires, wo er eine Stelle als Kontorist bei der AEG fand. Im Herbst 1901 zwang ihn sein Gesundheitszustand aus Argentinien zurückzukehren. K. wurde in eine Nervenklinik eingewiesen u. verbrachte 1902 vier Monate im Sanatorium Haus Schönow in Berlin. In den Jahren danach war er abwechselnd Gast bei den Brüdern. Die Abhängigkeit von Eltern u. Brüdern stellte sein Selbstbewusstsein immer wieder in Frage. Bis auf Gelegenheitsdichtungen, die im engsten Familienkreis zu bes. Anlässen dargeboten wurden, sah K. sich von keinem Publikum gewürdigt. 1905 lernte er Margarethe Habenicht kennen, eine Magdeburgerin aus wohlhabendem Elternhaus. Die Briefe an sie 1906–1908 drücken K.s Hoffnungslosigkeit der Zukunft gegenüber aus: Er war überzeugt von seiner außerordentl. Begabung u. suchte nach einer Existenzgrundlage. Als er im Okt. 1908 Margarethe heiratete, ermöglichte die ansehnl. Mitgift K. nicht nur ein Haus in See-
Kaiser
heim/Bergstraße zu kaufen, sondern es auch luxuriös auszustatten mit einer Einrichtung aus den ersten Kaufhäusern Berlins. Die Mitgift war bei dieser anspruchsvollen Daseinsführung bald verbraucht, u. als 1912 die gemietete Villa in Weimar hinzukam, war der finanzielle Zusammenbruch vorprogrammiert. 1918 hatten die Schulden derart überhand genommen, dass das gesamte Eigentum in Seeheim u. Weimar konfisziert werden musste. Es dauerte lange, ehe ein Werk von K. veröffentlicht wurde. 1903–1906 waren neun Dramen entstanden, aber erst 1911 erschien ein erstes bei Fischer in Berlin. Danach entstanden in kurzer Reihenfolge König Hahnrei (1913), Der Kongress (1914) u. Die Bürger von Calais (1914), Großbürger Möller (1915) u. Europa (1915). Seit 1916 stand K. mit Gustav Landauer in einem Briefwechsel; ihm ist zu verdanken, dass Die Bürger von Calais im Jan. 1917 im Neuen Theater Frankfurt/M. zur Uraufführung kamen. Auguste Rodins Denkmal zur Erinnerung an die Belagerung von Calais während des Hundertjährigen Kriegs (1339–1453) diente K. zur Anregung: Wenn nicht sechs Bürger »barhäuptig und unbeschuht – mit dem Kittel des armen Sünders bekleidet und den Strick im Nacken!« den Schlüssel der Stadt Calais überreichen, droht der König von England Hafen u. Stadt zu zerstören. Der Hauptmann Duguesclins will die Stadt verteidigen, also kämpfen; sein Gegenspieler Eustache de Saint-Pierre jedoch Hafen u. Stadt vor der Zerstörung bewahren, indem er sich als Opfer zur Verfügung stellt u. weitere sechs Bürger seinem Beispiel folgen. Die Selbstaufgabe des Einzelnen zum Wohl der Gemeinschaft weist den Weg zum neuen Menschen: Es ist der Aufbruch zu einem pazifistischen u. humanistischen Zeitalter, eines der wichtigsten Themen des Expressionismus. Obwohl Die Bürger von Calais nicht durchgehend gelobt wurden, erzielte K. mit diesem modernen Drama den langersehnten Durchbruch. Im selben Jahr spielte man seine Werke auf den großen Bühnen Deutschlands: Die Sorina (Bln. 1917) im Berliner Lessing Theater, Von morgens bis mitternachts (Potsdam
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1916) u. Die Koralle (Bln. 1917) in den Münchner Kammerspielen, Die Versuchung (Bln. 1917) im Thalia-Theater Hamburg, Der Zentaur (Bln. 1916) im Frankfurter Schauspielhaus. 1918 sind acht weitere Uraufführungen zu verzeichnen, darunter die des wohl bedeutendsten Dramas Gas (Bln. 1918). In dem für den Expressionismus typischen Telegrammstil (obwohl hier moderat) setzt es sich mit den Problemen der modernen Industriegesellschaft auseinander. Die Figuren (Der Milliardärssohn, der Ingenieur, der Offizier, die schwarzen Herren, Arbeiter) sind Ideenträger, die dialektische Gegenüberstellung dieser Ideen eine K. eigene Form der Dramenkonstruktion. »Was ist Gas? Was sind hier Arbeiter? Mittel der Gegenwart, um ins Menschunendliche vorzudringen; aus diesen Figuren abzuleiten das Gleichnis, das beständig gültig ist; den Aufruf zu uns, der so am schärfsten laut werden kann« (in: Ein Dichtwerk in der Zeit. In: Werke, Bd. 4, S. 566). Im Juli 1919 verließ K. den S. Fischer Verlag u. wechselte zum Gustav Kiepenheuer Verlag (GKV), der sämtl. Verlagsrechte an seinem Werk übernahm. Er hatte Kiepenheuer 1915 in Weimar kennen gelernt, u. es verband sie bald eine tiefe Freundschaft. Kiepenheuer stand K. zur Seite, als das Chaos über ihn hereinbrach. Trotz hoher Einnahmen aus seinen Werken waren die Schulden nicht zu decken. 1920 wurde er in Berlin verhaftet u. wegen Unterschlagung u. Betrug in München vor Gericht gestellt. Der Prozess war eine Sensation in Deutschland, denn. K. war in kaum zwei Jahren berühmt u. zu einem der meistgespielten Dramatiker geworden. Am 15.2.1921 wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, jedoch am 16.4.1921 aus der Strafanstalt Stadelheim entlassen. Der GKV übernahm die Bürgschaft für alle Schulden. K. ließ sich mit der Familie in Grünheide/Mark in der Nähe Berlins nieder, da der GKV inzwischen nach Potsdam umgesiedelt war, ab 1928 dann in Berlin. In Grünheide begann K.s produktivste Schaffensperiode u. damit auch seine glücklichste Zeit. Seine Berlinaufenthalte dienten dazu, wichtige Kontakte zu knüpfen u. auf-
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rechtzuerhalten. Er verkehrte mit Weill u. wiederum sonnte sich in dem Glanz ihres Lenya, mit Brecht u. Fritz Stiedry. K. gehörte berühmten Gastes, von dem sie erwartete, zur kulturellen Szene – nicht nur Berlins, dass er jeden Sommer mehrere Wochen in sondern ganz Deutschlands. Er galt als der Männedorf verbrachte. K. starb im Alter von 67 Jahren an einer »geistigste« unter den Geistigen u. war einer der wichtigsten Repräsentanten nicht nur des Thrombose, kaum einen Monat nach KriegsExpressionismus sondern auch der Neuen ende. Seine Familie in Deutschland hatte er Sachlichkeit. Ende der zwanziger Jahre nie wieder gesehen. bahnte sich ein weiterer Zusammenbruch an. Weitere Werke: G. K. Werke. Hg. Walter HuDas gemietete Grundstück Waldeck 4 mit den der. Bln. 1970–72. – G. K. in Sachen G. K. – Briefe zwei Villen direkt am Peetzsee wurde 1927 1916–33. Hg. Gesa M. Valk. Lpz./Weimar 1989. käuflich erworben. Der GKV war kaum in der Literatur: Interpr.en zu G. K. Hg. Armin ArLage, den Lebensstil seines Starautors zu fi- nold. Stgt 1980. – G. K. Symposium. Hg. Holger nanzieren: Auto mit Chauffeur, Hauslehrer Pausch u. Ernest Reinhold. Bln./Darmst. 1980. – für die Kinder, diverse Dienstboten. Mehr als The Reception of G. K. (1915–45). New York/Ffm. einmal drohte dem gesamten Eigentum die 1984. – Ärztl. Gutachten, verfasst. v. Dr. Eugen Kahn, Teil der Prozessakte, Fotokopie im G. K. Zwangsversteigerung, bis es 1932 endgültig Archiv der Akademie der Künste, Berlin. – Carol verloren ging. Die Familie zog nach Karls- Anne Diethe: Aspects to distorted sexual attitudes horst, dann zurück nach Grünheide. in German expressionist drama. With particular Nach der Machtübernahme durch die Na- reference to Wedekind, Kokoschka and K. New tionalsozialisten wurden mehr als 75 Prozent York u. a. 1988. – Hans-Jörg Knobloch: Zur Datieder Kiepenheuer Verlagsproduktion verbo- rung der Komödien G. K.s. In: ZfdPh 109 (1990), ten, u. a. die Werke K.s. Völlig mittellos S. 217–238. – Audrone B. Willeke: G. K. and the konnte er nun keine der aufgelaufenen critics. A profile of expressionism’s leading playSchulden decken. Die Situation war derma- wright. Columbia, SC 1995. – Stephanie Pietsch: ßen hoffnungslos, dass er den Entschluss ›Noli me tangere‹. Liebe als Notwendigkeit u. Unmöglichkeit im Werk G. K.s. Bielef. 2001. – Marcus fasste, in die Schweiz zu gehen, wo er mit Sander: Strukturwandel in den Dramen G. K.s Verdienstmöglichkeiten rechnete. Seine Frau 1910–1945. Ffm. u. a. 2004. – Frank Krause (Hg.): Margarethe blieb zurück, ebenso die drei er- G. K. and modernity. Gött. 2005. Gesa M. Valk wachsenen Kinder. Offiziell folgte er sowohl einer Einladung des Schweizer Dramatikers Cäsar von Arx als auch einer weiteren von Kaiser, Ingeborg, * 7.8.1935 Neuburg/DoRichard Revy, dessen wohlhabende Schwienau. – Erzählerin, Lyrikerin, Hörspielgermutter Alma Staub-Terlinden ein Anweautorin. sen in Männedorf am Zürichsee besaß. Niemand durfte wissen, dass K. nicht allein K. war nach dem Abitur in Buchhandel u. in die Schweiz gekommen war, sondern in Behörde tätig. Nach ihrer Heirat ging sie Begleitung seiner heiml. Familie: Maria von 1960 nach Basel. K. war 1984/85 Hausautorin Mühlfeld, aus einer großbürgerl. jüd. Berli- am Stadttheater Chur. Sie schloss sich der ner Familie stammend u. seit 1920 bereits Gruppe Olten u. dem Netzwerk an. seine Geliebte, u. die 1927 geborene Tochter K. hinterfragt Rollenklischees in der moOlivia. Vor allen versteckt u. doch immer in dernen Gesellschaft, die Situation von Frauen seiner Nähe teilten sie die sieben Jahre Exil in Ehe, Familie u. Öffentlichkeit. Im Mittelmit ihm, zu dem der Schweizer Aufenthalt punkt ihres literar. Schaffens steht die Suche schließlich geworden war. In dieser Zeit war nach authent. weibl. Identität. K.s FrauenfiK. ungeheuer produktiv, aber die Werke guren verlieren sich in bürgerl. Überanpaswurden so wenig gespielt oder gedruckt, dass sung, vorgefertigten Rollen u. Beziehungser auf den Beistand u. die finanzielle Unter- mustern; sie finden zu sich selbst, nachdem stützung v. a. von Frau Staub angewiesen sie die vom Mann geformten »Steinbilder« war, die er in dem Glauben ließ, weltweit zertrümmert haben. Selbstverlust u. existenüber ungeheure Reichtümer zu verfügen. Sie zielle Einsamkeit werden in K.s Werk häufig
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über Kälte-, Eis- u. Steinmetaphern transportiert; ihre Frauenfiguren »erfrieren in Einsamkeit«. Im Roman Die Puppenfrau (Zürich 1982) trennt sich Pupa – sie ist 40, verheiratet mit einem erfolgreichen Physiker u. Mutter dreier Kinder – auf dem Weg zum Winterurlaub von der Familie, zieht sich in ein unbewohntes Haus zurück, wo sie sich mit ihrem erstickenden Eheschicksal auseinandersetzt u. den Ausbruch aus dem »Eisland« reflektiert. Dem Schicksal selbstloser Frauen, die als Anima u. inspirierende Musen zur »Schattenfigur am Wegrand der Genies« verkümmern, spürt sie in der Titelerzählung der Sammlung Ein Denkmal wird zertrümmert (Basel 1984) nach. Der Problematik weibl. Sensibilität u. weibl. Aktivismus stellt sich K. auch in ihren weiteren Werken – allen voran in Róza und die Wölfe. Biografische Recherchen zu Rosa Luxemburg (Basel 2002). K. erhielt u. a. 1983 den Deutschen Kurzgeschichtenpreis der Stadt Arnsberg, 1984 den 1. Preis der Gesellschaft Schweizer Dramatiker u. den Förderpreis des Bundesamtes für Kulturpflege Bern u. 2005 den Anerkennungspreis des Berner Lyrikwettbewerbs.. Weitere Werke: Staubsaugergesch.n. Zürich 1975. – Die Ermittlung über Bork. Aarau 1978 (P.). – Verlustanzeigen. Aarau 1982 (P.). – manchmal fahren züge. Gedichte. Zürich 1983 (L.). – Eulenweg. Notizen einer Hausautorin. Chur 1986. – Möblierte Zeit. Tgb. u. Erzählungen. Basel 1992. – heimliches laster. Episches Gedicht u. Lyrik. Bern 1992. – Regenbogenwahn. Novelle. Bern 1995. – Mord der Angst. Roman. Bern 1996. – Den Fluss überfliegen. Erzählung. Bern 1998. – zeittasten. Gedichte. Zelg-Wolfhalden. 2002. – galgenmut. Gedichte. Zürich 2007. – Alvas Gesichter. Roman. Riehen 2008. – matou. Gedichte. Riehen 2008. Pia Reinacher / Zygmunt Mielczarek
Rundfunk u. wechselte dann zum Feuilleton der »Süddeutschen Zeitung«, das er 1969–1977 zusammen mit Rudolf Goldschmit leitete u. mit dem er weiterhin verbunden ist. 1977–1996 lehrte er Musikgeschichte an der Staatlichen Hochschule für Musik u. Darstellende Kunst in Stuttgart. K. ist der wichtigste dt. Kritiker, der sich zgl. mit Literatur, Theater u. Musik befasst. Sein Schwerpunkt liegt unter einem emphat. Werkbegriff bei Oper u. Klaviermusik, der auch selbstständige Buchveröffentlichungen über Beethovens 32 Klaviersonaten und ihre Interpreten (Ffm. 1975) u. Große Pianisten in unserer Zeit (Mchn. 1965. Erw. Neuausg. 1989) gewidmet sind. K. scheut sich nicht, subjektive Eindrücke u. Urteile zu formulieren, u. wirkt durch Hörfunksendungen, Kolumnen, Rezensionen u. Hunderte von Vorträgen, v. a. im Münchner Gasteig, in hohem Maße meinungsbildend. Weitere Werke: Kleines Theatertagebuch. Reinb. 1965. – Hamlet heute. Ess.s u. Analysen. Ffm. 1965. – Erlebte Musik. Hbg. 1977. 2 Bde., Mchn. 1982. – Mein Name ist Sarastro. Die Gestalten in Mozarts Meisteropern v. Alfonso bis Zerlina. Mchn. 1984. – Wie ich sie sah u. wie sie waren. Zwölf kleine Porträts. Mchn. 1985. – Den Musen auf der Spur. Reiseber.e aus drei Jahrzehnten. Mchn. 1986. – Erlebte Lit. Vom ›Doktor Faustus‹ zum ›Fettfleck‹. Dt. Schriftsteller unserer Zeit. Mchn. 1988. – Leben mit Wagner. Mchn. 1990. – K.s Klassik. 100 Meisterwerke der Musik. Mchn. 1997. – Von Wagner bis Walser. Neues zu Lit. u. Musik. Mchn. 1999. – ›Ich bin der letzte der Mohikaner‹ (zus. mit Henriette Kaiser). Bln. 2008. Literatur: K.-Verz. Bibliogr. der Publikationen u. Sendungen v. J. K. Hg. Gesa Ansaar u. Gert Rabanus. Mchn. 2003. Stephan Speicher / Christophe Fricker
Kaiser, Joachim, * 18.12.1928 Milken/ Kaiser, Karl, * 1868 Straßburg, † unbeOstpreußen. – Literatur-, Theater- u. kannt. – Lyriker. Musikkritiker. K. studierte in Göttingen, Frankfurt/M. u. Tübingen, wo er 1958 über Grillparzers dramatischen Stil (Mchn. 1961) promovierte. Er war als Kritiker rasch erfolgreich. Schon erste Rezensionen brachten ihn mit Adorno, Andersch und H. W. Richter in Kontakt. K. war 1954–1958 Redakteur beim Hessischen
Als Sohn eines schwäb. Schlossers, der während des Deutsch-Französischen Kriegs 1871 Straßburg verlassen musste, ging K. in Zürich zur Schule u. erlernte dann in Stuttgart den Beruf des Klaviermechanikers, den er schließlich in München ausübte. Dort schloss er sich noch in der Zeit des Sozialistengesetzes, kaum 20-jährig, der Arbeiterbewegung
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an u. wurde zusammen mit Ernst Klaar der tragende Mitarbeiter des von Eduard Fuchs redigierten »Süddeutschen Postillon«, der profiliertesten literarisch-satir. Zeitschrift des linken Flügels der Sozialdemokratie. Seine letzten Gedichte auf die Pariser Commune datieren aus dem Jahr 1901; danach verliert sich seine Spur. K. war eine der herausragenden Begabungen der frühen sozialistischen Literatur in Deutschland. Die Gedichte u. Epigramme, die in der von ihm zusammen mit Fuchs u. Klaar 1894 in München zusammengestellten Anthologie Aus dem Klassenkampf. Soziale Gedichte (neu hg. u. eingeleitet von Klaus Völkerling. Bln./DDR 1978) enthalten sind, heben sich von dem vorherrschend allegor. u. abstrakt-idealist. Bekenntniston der zeitgenöss. sozialdemokrat. Lyrik ab durch eine Verbindung von intellektueller Schärfe u. sprachl. Witz, die politisch an Marx u. ästhetisch an Heine gemahnt. Weitere Werke: In: Stimmen der Freiheit. Blütenlese der hervorragendsten Schöpfungen unserer Arbeiter- u. Volksdichter. Hg. u. mit biogr. Notiz v. Konrad Beißwanger. Nürnb. 1899. – Die Pariser Kommune im dt. Gedicht. Hg. v. Bruno Kaiser. Bln/DDR 1958. Literatur: Ursula Münchow: Arbeiterbewegung u. Lit. Bln./Weimar 1981, S. 380–396. Martin Rector
Kaiser und Abt. – Nürnberger Fastnachtspiel des 15. Jh. Das aufgrund stilistischer (v. a. Stichreimtechnik) u. inhaltlicher Parallelen Hans Folz zuschreibbare Nürnberger Fastnachtspiel (269 Verse) ist nur in einer Augsburger Handschrift ohne Autornennung überliefert (terminus ante quem 1494). Dem Spiel liegt der ubiquitär verbreitete Erzähltypus zugrunde, in dem ein listiger Rätsellöser drei oder mehr schwierige Fragen auf paradoxschlagende Weise beantwortet. Dieser Typus wurde vor u. nach K. u. A. in zahlreichen Varianten u. von namhaften Autoren (dem Stricker, dem Verfasser des Ulenspiegel, Johannes Pauli, Hans Sachs) auch in der deutschsprachigen Literatur aufgegriffen, bis hin zum gleichnamigen, jedoch deutlich dif-
Kaiser und Abt
ferierenden Gedicht Gottfried August Bürgers. Bei K. u. A. handelt es sich im Vergleich mit den übrigen Versionen um eine eigenständige, evtl. auf zeitgenöss. polit. Verhältnisse anspielende Bearbeitung. Der Kaiser, der Raub u. Mord in seinem Reich zu unterbinden sucht, bittet zunächst drei hohe Adlige um Rat; diese verweisen ihn jedoch an den Abt, dessen bisherige schlechte Ratschläge an den Zuständen Schuld seien. Der Kaiser stellt ihn mit drei Fragen auf die Probe: Wieviel Wasser ist im Meer? Wer ist dem Glück am nächsten? Wieviel ist der Kaiser wert? Der Abt, der Bedenkzeit verlangt, sucht Hilfe beim Prior, der ihn wiederum an den für seine listige Klugheit bekannten Müller verweist. Dieser erklärt sich umgehend bereit, gegen reichl. Belohnung als Abt verkleidet vor den Kaiser zu treten u. die Fragen zu beantworten. Die erste Antwort lautet, dass drei Kufen, wären sie nur groß genug bemessen, alles Wasser im Meer aufnehmen könnten. Die Antwort auf die dritte Frage ist ebenso einfach: Der Müller schätzt den Wert des Kaisers auf höchstens 28 Pfennige (d.h. vier Groschen im Wert von sieben Pfennigen), da Christus selbst um nur dreißig Pfennige verraten wurde. Als Höhepunkt folgt schließlich die Antwort auf die zweite Frage, weil sich der Müller hier zu erkennen gibt: Er selbst sei der Glücklichste, da er plötzlich vom einfachen, ungelehrten Müller zum Abt geworden sei. Der Kaiser ist zufrieden u. bestätigt den Müller in seinem neuen Amt. Die Spielhandlung sieht insgesamt 13 unterschiedl. Sprecherrollen, mehrfache Ortswechsel u. den Einsatz verschiedener Requisiten vor. Damit steht K. u. A. in einer Reihe anderer, handlungs- u. intertextuell anspielungsreicher Fastnachtspiele des Hans Folz, die außerfastnächtl. literar. Traditionen aufgreifen u. diese in Spielform adaptieren (vgl. Salomon und Markolf). Die Einbindung des Spiels in die Fastnachtsgeselligkeit erfolgt über gattungstypische Elemente wie Ein- u. Ausschreierstrophen sowie eine Tanzeinlage der Bauernfiguren. Es muss jedoch offen bleiben, ob es sich bei K. u. A. aufgrund seiner komplexen Struktur tatsächlich um ein zur
Kaiser Lucius’ Tochter
Aufführung als Fastnachtspiel gedachtes Werk handelt. Ausgabe: Adelbert v. Keller: Fastnachtspiele aus dem fünfzehnten Jh. Tl. 1, Stgt. 1853, Nr. 22, S. 199–210. Literatur: Eckehard Catholy: Das Fastnachtspiel des SpätMA. Tüb. 1961, S. 151–156, 371. – Lutz Röhrich: E.en des späten MA u. ihr Weiterleben in Lit. u. Volksdichtung bis zur Gegenwart. Bd. 1, Bern/Mchn. 1962, S. 146–172, 180–188 (stoffgeschichtl. Parallelen, Lit.). – Johannes Janota: K. u. A. In: VL (Lit.). – Tomas Tomasek: Das dt. Rätsel im MA. Tüb. 1994, S. 93. – Eckehard Simon: Die Anfänge des weltl. Schauspiels 1370–1530. Tüb. 2003, S. 206–208, 232 (Lit.). Ulla Williams / Martin Przybilski
Kaiser Lucius’ Tochter. – Spätmittelalterliches Märe, erste Hälfte oder Mitte des 15. Jh. Die vermutlich in nur einer (nunmehr als verschollen geltenden) Hs. fragmentarisch überlieferte Kurzerzählung, von der 619 Verse erhalten sind, lässt sich evtl. dem ostschwäb. Berufsschreiber Matthias von Günzburg zuschreiben, der seine Initialen am Schluss nennt. Basis der Versnovelle ist das im SpätMA international verbreitete Motiv vom Fleischpfand, das auch noch Shakespeare für sein Drama Der Kaufmann von Venedig fruchtbar machte. Erzählt wird von einem Ritter am Hof des Kaisers Lucius (evtl. der Mitregent von Marc Aurel von 161 bis 169 n. Chr.), der sich in des Kaisers Tochter verliebt. Sie gestattet ihm zweimal, gegen die Zahlung von je 1000 Gulden die Nacht mit ihr zu verbringen, er jedoch schläft jedes Mal sofort ein. Um ein drittes Stelldichein zu finanzieren, leiht sich der Ritter bei einem reichen Stadtbürger weitere 1000 Gulden u. bietet als Pfand soviel von seinem eigenen Fleisch, wie die 1000 Gulden wiegen. Mit Hilfe eines naturkundigen Gelehrten ergründet er außerdem den Schlafzauber des Mädchens, das in seinem Bett ein einschläferndes »brieflin« (ein Stück Papier oder ein Kissen) aufbewahrt, u. gelangt in der dritten Nacht an sein Ziel, indem er das magische »brieflin« heimlich entfernt u. das Mädchen zunächst mit Gewalt zum Beischlaf zwingt. Nachdem – genderkli-
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scheegerecht – dann aber auch die Kaisertochter die Freuden des Liebesspiels kennen gelernt hat, verstreicht darüber der Rückzahlungstermin für die 1000 Gulden. Der Bürger, der sich auch durch das Angebot einer beliebig hohen Geldzahlung nicht vom Verzicht auf sein Pfand abbringen lässt, strengt einen Prozess an, in dem er das Herz des beklagten Ritters fordert. Vor dem Urteilsspruch erscheint die als Mann verkleidete Tochter des Kaisers als Rechtskundiger vor dem Richter u. erwirkt die Freilassung des Ritters mit dem Argument, dass nicht nur das geforderte Fleisch herausgeschnitten, sondern dabei auch Blut vergossen würde – u. dies in Zorn –, was nach geltendem Recht bedeute, dass der Blutvergießer das Gleiche erleiden müsse. Neben den spezif. gender-theoret. Aspekten (der anfänglich genarrte Liebhaber; das ›cross-dressing‹ u. klug-›männliche‹ Verhalten der incognito vor Gericht auftretenden Prinzessin etc.) weist diese Kurzerzählung insbes. eine Körperthematik auf, die eine eigenwillige Logik von Fleisch u. Blut entfaltet. Ausgaben: Hanns Fischer (Hg.): Die dt. Märendichtung des 15. Jh. Mchn. 1966, S. 71–88. – Klaus Grubmüller: ›K. L.’ T.‹. Zur Vorgesch. v. Shakespeares ›Kaufmann von Venedig‹. In: Lit. u. Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in die Gegenwart. Hg. Ulrich Mölk. Gött. 1996, S. 94–137, hier S. 106, 137 (Text nach Fischer, mit nhd. Übers.). Literatur: H. Fischer, a. a. O., S. 530–532. – Michael Curschmann: K. L. T. In: VL. – K. Grubmüller, a. a. O. – Ute v. Bloh: Die Sexualität, das Recht u. der Körper. Kontrollierte Anarchie in vier mittelalterl. Mären. In: Ulrike Gaebel u. Erika Kartschoke (Hg.): Böse Frauen – Gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten u. Bildern des MA u. der Frühen Neuzeit. Trier 2001, S. 75–88. – Bettina Bildhauer: If you prick us do we not bleed? Making the body in Mären. In: Mark Chinca, Timo Reuvekamp-Felber u. Christopher Young (Hg.): Mittelalterl. Novellistik im europ. Kontext. Kulturwis. Perspektiven. Bln. 2006, S. 148–169. Corinna Laude
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Kaiserchronik. – Anonyme Reimchronik (17.283 Verse); Regensburg, zweites Drittel des 12. Jh. Die wichtigen Fragen der genaueren Datierung (Beginn u. Abbruch des Werks) u. der Auftraggeberschaft sind ungelöst. Umstritten ist auch aufgrund einer mehrdeutigen Textstelle (VV. 10.619–10.627), ob das Werk einem einzigen Autor oder mehreren (unter der Leitung eines führenden Kopfes?) zuzuschreiben sei. Unbezweifelt ist aber klerikale Autorschaft. Die K. wurde noch im 12. Jh. sprachlich bearbeitet, im 13. mehrfach fortgesetzt u. rückte in der kompilatorischen Chronistik späterer Zeit selbst zum Rang eines Quellenwerks für volkstüml. Geschichtsvorstellungen auf. Deutsche Dichter bis hin zu Wolfram haben aus ihr geschöpft. Das Werk gibt sich im Prolog selbst den Titel »Cronica« u. bezeichnet als seinen Gegenstand die Geschichte des röm. Reichs, seiner Päpste u. seiner guten wie bösen Kaiser bis in die Gegenwart (VV. 15–26). Im Sinne der mittelalterl. Weltchronistik, die Geschichtsschreibung von der Erschaffung der Welt bis zur Gegenwart, gegliedert in die sechs Weltalter christlich-augustin. Lehre bzw. gemäß den vier Weltreichen der bibl. Danielsprophetie, bieten will, präsentiert die K. einen Ausschnitt dieses universalen Programms, der nur die zur Zeit des Chronisten noch andauernde Phase des röm. Reichs behandelt, die bei ihm nahezu deckungsgleich mit dem sechsten augustinischen Weltalter ist. Im Danielstraum u. in dessen Auslegung (Hieronymus) nimmt das röm. Reich die vierte Stelle ein u. endet mit der Herrschaft des Antichrist. Diese Einordnung ändert die K., indem sie dem röm. Reich die dritte Stelle im Weltreiche-Schema einräumt, während dem Reich des Antichrist die vierte u. letzte, erst in der Zukunft des Chronisten liegende zugewiesen wird. Nach einer summar. Darstellung der älteren röm. Geschichte gilt von Caesar an eine Gliederung nach den Regierungszeiten von 55 Kaisern bis zu Konrad III. (1137–1152). Mitten in dessen Regierungszeit bricht die K. mit der Schilderung der Kreuzzugspredigt Bernhards von Clairvaux vor Konrad (Weihnachten 1146) unvollendet
Kaiserchronik
ab. Die Päpste spielen – außer Silvester u. Leo bei Konstantin dem Großen u. Karl dem Großen an entscheidenden histor. Wendepunkten – als Handlungspartner der Kaiser keine bedeutende Rolle. Die K. ist weder päpstlich noch kaiserlich gesonnen, sondern hält an Idealvorstellungen von einem christlich-röm. Reich fest, wie es durch das noch nicht in unterschiedl. Rollenvorstellungen von Kaiser u. Papst gespaltene, einträchtige Zusammenwirken beider Mächte realisiert werde. Den durch Kaisernamen bezeichneten Geschichtsetappen des röm. Reichs werden synchronistisch Erzählstoffe zugeordnet, nicht selten so, dass sie nur in einem losen oder auch gar keinem handlungsmäßigen Zusammenhang mit den Taten des jeweiligen Kaisers stehen. Die Stoffe der Erzählungen stammen erst für die Zeit von Karl dem Großen an vorwiegend aus Quellen der lat. Historiografie. Für die frühere Zeit sind sie einem sehr weitgespannten Bereich durchaus unhistor., lat. Erzählquellen entnommen, zum größten Teil aus der christl. Legende, der freilich im mittelalterl. Verständnis histor. Quellenwert zukommt, u. der röm. Sage u. Lokalsage (Mirabilia Romae). Die Einarbeitung älterer dt. Dichtung lässt sich in größerem Umfang nur für einen Fall (Annolied) nachweisen, in einem weiteren ist sie sehr wahrscheinlich (Crescentia-Erzählung); dt. Heldensage (Dietrich/Theoderich von Bern, aber auch anderes) wird im Sinne klerikaler u. chronografischer Kritik über gelehrte Quellen rezipiert; wirksam ist jedoch auch die Kenntnis mündl. Tradition in der Volkssprache. Die chronolog. Reihung der Kaiserbiografien, als Kompositionsprinzip so unabgeschlossen wie die Geschichte selbst, wird formal nachdrücklich herausgearbeitet durch die formelhaft gleichförmige Einführung jedes neuen Herrschernamens u. durch die auf Jahr, Monat u. Tag genaue Angabe der Regierungsdauer beim Tod des Herrschers; Datierungen nach absoluten Jahreszahlen gibt es nicht. Damit ist das Gattungsmuster der mittelalterl. Chronik formal zitiert. Inhaltlich verfährt die K. jedoch erstaunlich freizügig u. unterschiedlich. Sie ändert die von der historiografischen Tradition einheit-
Kaiserchronik
lich vorgegebenen Nachrichten über die Regierungsdauer u. die chronolog. Folge der Herrscher, erfindet unhistor., legendäre Kaiser u. lässt historische fort. Griechenfeindlich unterdrückt sie die in der Historiografie des 12. Jh. verbreitete Vorstellung vom Übergang des röm. Kaisertums auf Byzanz u. von dort auf Karl den Großen u. die Franken zugunsten einer unmittelbaren Translatio von den Römern auf diese. Eigens für diese Idee konstruiert sie ein kaiserloses Interregnum vom 6. Jh. bis zu Karl dem Großen. Erst von seiner Zeit an stimmen die Angaben der K. im Ganzen mit denen der lat. Geschichtsschreibung überein. Die Gründe für diesen eigentüml. Umgang mit der Tradition sind im einzelnen ungeklärt. Vermutungen einer zahlensymbolisch begründeten Manipulation der Herrscherzahlen u. Regierungsjahre (Ohly, Urbanek) halten einer Detailanalyse nicht stand; auch wären so die chronolog. Umstellungen einzelner Kaisergeschichten nicht erklärbar. Auf alle Fälle wird aber deutlich, dass der Begriff der histor. Wahrheit für die volkssprachige K. grundlegend anders akzentuiert ist als in der lat. Historiografie. Der Wahrheitswert der Geschichte liegt für die K. über deren bloße Faktizität hinaus im moralisch Exemplarischen ihrer Geschichten nach christlich geistl. Verständnis. So betont es schon der Prolog (VV. 1–14, 27–42). In der Liebe Gottes beginnt der Autor das Werk. Er kontrastiert einem »vernünftigen« Publikum, dem das Anhören der Geschichten von vorbildl. Taten angenehm ist, ein törichtes, dem alle Weisheitslehre, die weltl. Ehre u. Seelenheil fördern könnte, lästig fällt. Als verbreitete Gewohnheit beklagt der Autor, wie oft man in seiner Zeit Lügengeschichten erfinde u. mit »scophelîchen« Worten ausgestalte. Der Terminus deutet auf spielmänn. Dichtung unterhaltenden Charakters, die auch sagenhaft geschichtl. Inhalts sein konnte. Solches Dichten stehe außerhalb der Gottesliebe, u. es sei zu fürchten, dass die Seelen seiner Dichter dereinst im Strafgericht brennen müssten. Auch bedeute es eine Irreführung der Jugend, die der Nachwelt derlei Lügengeschichten als Wahrheit überliefern werde, allen Verständigen zum Gräuel. Zum einen wird hier die
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Wahrheit geschichtl. »facta« der Lügenhaftigkeit bloß erfundener »ficta« gegenübergestellt, die den Wahrheitsgehalt des historisch Faktischen entbehren, wie er nur in der gelehrten Schriftüberlieferung als verbürgt erscheint. In diesem Sinne will die K. auch nicht als »Dichtung« verstanden werden, sondern als »Sachliteratur«. Zum andern u. zgl. werden die Verständigen u. die Törichten unter den Autoren u. Rezipienten einander entgegengestellt wie in den Geschichten der K. die guten u. bösen Herrscher. Auf die exemplarische Erkenntnis von Gut u. Böse in der geschichtl. Wirklichkeit kommt es letztlich an. Unter diesem Aspekt werden alle Geschichten in der K. ausgewählt u. erzählerisch strukturiert, u. dieser Sinn wird formal bei der formelhaften Angabe der Regierungsdauer am Ende einer jeden Kaisergeschichte mit einem unverschlüsselten Urteil über Gut u. Böse herausgearbeitet, das seine Bestätigung in der Schilderung der ehrenvollen oder schändl. Todesart des Herrschers findet. Über solch exemplarische Sinngebung der einzelnen Geschichten hinaus wurde dem Dichter der K. die bewusste, aber verschwiegene Gestaltung eines durchgängig oder teilweise geltenden typolog. Steigerungsverhältnisses zwischen den einzelnen Geschichten der K. unterstellt (Ohly). Bedingt vorbildl. Helden aus heidn. Zeit würden übertroffen von uneingeschränkt vollkommenen christl. Helden. Die größte Leistung des K.-Dichters bestehe in der bewussten Gestaltung nach diesem, der typolog. Bibeldeutung christl. Theologie entlehnten Prinzip, das Auswahl, Anordnung u. innere Strukturierung der Quellen maßgeblich lenke u. in dem Dichter einen schöpferischen Geist von hohem Rang erkennen lasse. Demgegenüber bleibt festzuhalten, dass ein derartiges typolog. Gestaltungsprinzip weder explizit nachweisbar noch implizit mit ausreichender Sicherheit fassbar ist. Auch hat sich am Beispiel der Lucretia-Erzählung in der K. zeigen lassen (Mohr), dass die typolog. Interpretation literaturgeschichtlich dort versagt, wo es darum geht, die Eigenart der Erzählkunst der K. zu erfassen u. ihren Stand im Rahmen der Entwicklung eines epischen
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Menschenbilds zu bestimmen, wie es zwischen den Stationen des archaischen Recken der mündlichkeitsnahen Heldenepik u. des höf. Minneritters im literarisch kultivierten Ritterroman des HochMA angesiedelt ist. Ausgaben: Der keiser u. der kunige buoch oder die sog. K. Hg. Hans Ferdinand Massmann. 3 Bde., Heidelb. 1848/49 u. 1854. – Die K. eines Regensburger Geistlichen. Hg. Edward Schröder. Bln. 1895. Neudr. Bln./Zürich 1964. Literatur: Ernst Friedrich Ohly: Sage u. Legende in der K. Münster 1940. Neudr. Darmst. 1968. – Wolfgang Mohr: Lucretia in der K. In: DVjs 26 (1952), S. 433–446. – Eberhard Nellmann: Die Reichsidee in dt. Dichtungen [...]. Bln. 1963, S. 82–163. – Ferdinand Urbanek: Herrscherzahl u. Regierungszeiten in der K. In: Euph. 66 (1972), S. 219–237. – Joachim Bumke: Mäzene im MA. Mchn. 1979, S. 78–85. – E. Nellmann: K. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Gisela VollmannProfe: Wiederbeginn volkssprachiger Schriftlichkeit im hohen MA (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn der Neuzeit. Bd. 1,2). Ffm. 1986, S. 109–113. – Karl Stackmann: Dietrich v. Bern in der K. Struktur als Anweisung zur Deutung. In: Idee, Gestalt, Geschichte. FS Klaus v. See. Hg. Gerd Wolfgang Weber. Odense 1988, S. 137–142. – Tibor Friedrich Pézsa: Studien zu Erzähltechnik u. Figurenzeichnung in der dt. ›K.‹. Ffm. u. a. 1993. – Kurt Gärtner: Die K. u. ihre Bearb.en. Editionsdesiderate der Versepik des 13. Jh. In: ›bickelwort‹ u. ›wildiu maere‹. FS E. Nellmann zum 65. Geburtstag. Hg. Dorothee Lindemann u. a. Göpp. 1995, S. 366–379. – Ernst Hellgardt: Dietrich v. Bern in der dt. K. Zur Begegnung mündl. u. schriftl. Traditionen. In: Dt. Lit. u. Sprache. FS Ursula Hennig zum 65. Geburtstag. Hg. Annegret Fiebig u. Hans-Jochen Schiewer. Bln. 1995, S. 93–110. – Roswitha Wisniewski: ›Pestis patriae‹. Die Ungarneinfälle in der K. In: ebd., S. 347–357. – Matías Martínez: Fortuna u. Providentia. Typen der Handlungsmotivation in der Faustinianerzählung der K. In: Formaler Mythos. Beiträge zu einer Theorie ästhet. Formen. Hg. M. Martínez. Paderb. Mchn. u. a. 1996, S. 83–100. – Claus Riesner: Der Dichter der ›K.‹, ein Rompilger ›sui generis‹. In: Studi germanici 35 (1997), S. 175–204. – Stephan Müller: Vom ›Annolied‹ zur ›K.‹. Zu Text- u. Forschungsgesch. einer verlorenen dt. Reimchronik. Heidelb. 1999. – Claudia Bornholdt: Tricked into the tower: the ›Crescentia‹-tower-episode of the K. as proto-Märe. In: JEGPh 99 (2000), S. 395–411. – Alexander Rubel: Caesar u. Karl der Große in der K. Typolog. Struktur u. die ›translatio imperii ad Francos‹. In: Antike u. Abendland 47 (2001),
Kalbeck S. 146–163. – Vera Milde: ›si entrunnen alle scentlîchen dannen‹. Christl.-jüd. Disput in der Silvesterlegende der K. In: Juden in der dt. Lit. des MA. Religiöse Konzepte – Feindbilder – Rechtfertigungen. Hg. Ursula Schulze. Tüb. 2002, S. 13–34. – Vickie L. Ziegler: Trial by fire in medieval German literature. Drawer Camden House 2004. – Graeme Dunphy: Die ›Wîlsælde‹-Disputation. Zur Auseinandersetzung mit der Astrologie in der K. In: ZfdPh 124 (2005), S. 1–22. – Christoph Fasbender: Der Erfurter Discissus der ›K.‹ (A). In: ZfdA 135 (2006), S. 435–448. Ernst Hellgardt
Kalbeck, (Julius) Max (Heinrich), auch: Jeremias Deutlich, * 4.1.1850 Breslau, † 4.5.1921 Wien. – Musikschriftsteller u. -kritiker, Lyriker, Librettist, Herausgeber u. Übersetzer. K., Sohn eines Ober-Postkommissärs u. einer Sängerin, erhielt früh Geigen- u. Gesangsunterricht. Nach abgebrochenem Jurastudium in Breslau u. München, während dessen er sich auch mit Geschichte, Literatur- u. Kunstgeschichte sowie mit Philosophie beschäftigte, besuchte er 1873/74 die Kgl. Musikschule in München u. substituierte als Geiger am dortigen Hoftheater. Paul Heyse, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband, führte ihn in die Dichtergesellschaft »Krokodile« ein. Nach der Rückkehr nach Breslau im Okt. 1874 war K. als Musik-, Kunst-, Theater- u. Literaturkritiker tätig, zunächst für die »Schlesische Zeitung«, ab 1879 für die »Breslauer Zeitung«, u. arbeitete zudem als Direktionsassistent am Schlesischen Museum. 1880 ging er nach Wien, wo er auf Vermittlung von E. Hanslick Musikreferent der »Wiener Allgemeinen Zeitung« wurde (ab Juli auch Feuilletonredakteur von deren »Wissenschaftlicher Beilage«). 1883–1890 war K., seit 1881 mit Julie Louise Lion, geb. Freund, der Tochter des Begründers der »Breslauer Morgenzeitung«, verheiratet, Musikreferent der »Neuen Freien Presse«, 1890–1895 der »Wiener MontagsRevue« u. danach des »Neuen Wiener Tagblatts«; ab 1886 betätigte er sich daneben als Burgtheaterkritiker. Unter seinem Pseud. trat K. ab 1870 mit Gedichten hervor, die den Einfluss seines Förderers Karl von Holtei sowie E. Geibels
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zeigen (u. a. Aus Natur und Leben. Breslau 1871. – Daniel Spitzer: Letzte Wiener Spaziergänge. Mit 2 1873). Mehrere Gedichte K.s wurden ver- einer Charakteristik seines Lebens u. seiner Schr.en. tont, u. a. von E. d’Albert, J. Brahms, I. Brüll, Wien 1894. – Johannes Brahms im Briefw. mit J. B. Gänsbacher u. R. Heuberger. Ab 1885 Heinrich u. Elisabet Herzogenberg. 2 Bde., Bln. 1907. 4., durchges. Aufl. Tutzing 1974. – Daniel übersetzte u. bearbeitete K. im Auftrag mehSpitzer: Ges. Schr.en. 3 Bde., Mchn./Lpz. 1912–14 rerer Verlage u. Bühnen Opern, u. a. von W. A. (zus. mit Otto Erich Deutsch). – Johannes Brahms: Mozart (Don Juan. Wien 1886. Neu bearb. Briefe an Joseph Viktor Widmann, Ellen u. FerdiLpz./Wien 1917. Die Hochzeit des Figaro. Lpz./ nand Vetter, Adolf Schubring. Bln. 1915. Nachdr. Wien [1906]), J. Massenet (Der Cid. Bln. 1887), Tutzing 1974. – Johannes Brahms. Briefe an P. J. G. Rossini, P. I. Tschaikowsky (Pique Dame. Simrock u. Fritz Simrock. 4 Bde., Bln. 1917–19. Hbg./Lpz. [1891]), G. Verdi (Falstaff. Milano Nachdr. Tutzing 1975. – Paul Heyse u. Gottfried u. a. 1893), B. Smetana (die Oper Prodaná ne- Keller im Briefw. Hbg./Braunschw./Bln. 1919. – veˇ sta trat erst in der Übersetzung K.s – Die Antike u. romant. Musen. Lpz./Wien 1920 (HorazÜbers.en). verkaufte Braut. Bln. [1892] – ihren Siegeszug Literatur: Michael Musgrave: Brahms u. K. über die dt. Bühnen an) u. G. Puccini. Er Eine mißverstandene Beziehung? In: Kongreßbeverfasste auch, z.T. zusammen mit anderen richt. Brahms-Kongreß. Wien 1983. Hg. Susanne Autoren, eigene Libretti, darunter Jakuba Antonicek u. Otto Biba. Tutzing 1988, S. 397–404. (zus. mit Gustav Davis. Lpz. 1894) für Johann – Sandra McColl: M. K. and Gustav Mahler. In: Strauß Sohn. 19th Century Music 20 (1996), H. 2, S. 167–184. – In seiner Wiener Zeit entwickelte sich K. zu Dies.: Karl Kraus and Music Criticism. The Case of einem der einflussreichsten Musikkritiker in M. K. In: The musical quarterly 82 (1998), H. 2, der Geisteshaltung des Liberalismus u. in S. 279–308. – Uwe Harten u. Salome Reiser: M. K. entschiedener Gegnerschaft der »Neudeut- In: MGG. – Goedeke Forts. – M. K. (1850–1921). schen Schule« um R. Wagner u. A. Bruckner. Wieden´czyk z Wroclawia. Sympozjum naukowe, Zum engsten Freundeskreis Brahms’ zäh- Wroclaw, 17.11.2001. Hg. Piotr Szalsza u. Romuald Kaczmarek. Dresden 2006. – M. K. zum 150. Gelend, schrieb er dessen Biografie (Johannes burtstag. Skizzen einer Persönlichkeit. Breslau, 4. Brahms. 4 Bde., Wien/Lpz., ab Bd. 2 Bln. Jänner 1850 – Wien, 4. Mai 1921. Symposion Wien, 1904–14. Ausg. letzter Hand, Bln. 1912–21. 21.-24. Mai 2000. Bericht. Hg. U. Harten. Tutzing Nachdr. Tutzing 1976), die dank ihres Mate- 2007. Bruno Jahn rialreichtums noch heute eine wichtige musikhistor. Quelle darstellt. K. machte sich auch durch die Herausgabe von Teilen des Kalchberg, Johann (Nepomuk) Ritter von, Briefswechsels Brahms’, der Feuilletons von * 15.3.1765 Pichl im Mürztal/Steiermark, Daniel Spitzer u. des Briefwechsels zwischen † 3.2.1827 Graz. – Lyriker, Dramatiker, P. Heyse u. G. Keller verdient. Novellist u. Historiker. /
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Weitere Werke: Neue Dichtungen. Breslau 1872. – Das Bühnenfestspiel zu Bayreuth. Eine krit. Studie. Breslau 1–21877. 3. Aufl. u. d. T. Richard Wagner’s Nibelungen. Breslau 1883. – Nächte. Lyrische Dichtungen. Hirschberg 1878. Bln. 21880. – Zur Dämmerzeit. Gedichte. Lpz. 1881. – Wiener Opernabende. Bln./Wien o. J. [1884]. Erw. Aufl. 1898 (ges. Kritiken). – (Jeremias Deutlich) Gereimtes u. Ungereimtes. Skizzen u. Epigramme. Bln. 1885. – Aus alter u. neuer Zeit. Ges. Gedichte. Bln. 1890. – Humoresken u. Phantasien. Wien 1896. – Opern-Abende. Beiträge zur Gesch. u. Kritik der Oper. 2 Bde., Bln. 1898. – Capricen. Skizzen u. Bilder. Wien/Lpz. 1905. – Herausgeber: Ein dt. Dichterbuch. Aus Originalbeiträgen dt. Dichter ges. u. hg. Stgt. o. J. [1874]. – Neue Beiträge zur Biogr. des Dichters Johann Christian Günther. Lpz. 1879.
K. wurde zunächst auf dem väterl. Schloss in Pichl (der Vater war landständ. Gutsbesitzer), später von einem Pfarrer in Hohenwang unterrichtet. Anschließend besuchte er das Seminar in Graz, wo er neben literar. auch histor. u. juristische Studien betrieb. 1785–1788 war er als Jurist in Graz tätig. 1791 u. erneut 1796 wurde er zum ständ. Ausschussrat gewählt; 1810 u. 1816 zum zweiten, 1817 zum ersten Verordneten des Ritterstands der Steiermark. Nach 1796 widmete er sich ganz polit. u. kulturpolit. Aufgaben in diversen Deputationen u. Kommissionen. Der standesbewusste Adlige zeigte bei seinen vielfältigen Aktivitäten ein derart starkes soziales
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Engagement, dass er von Erzhzg. Johann logisch zeitlebens an der mittleren Aufkläzum Mitcurator des Erziehungsinstituts rung einerseits, an Lessing u. Schiller ande»Joanneum« berufen wurde. K. war überdies rerseits orientiert blieb. K., von Karl August Mitbegründer des Steiermärkischen Lese- u. Böttiger noch 1817 anlässlich des Erscheinens Musikvereins u. gab eine Zeitlang die »Stei- der ersten Gesamtausgabe wegen seines Stils gelobt, der »geistreich und ungeschmückt, ermärkische Zeitschrift« mit heraus. Lange Jahre beschäftigte sich K. auch mit ohne aufgedunsenen Wortprunk, ohne mysder Geschichte der Steiermark. Seine bedeu- tische Süßigkeit« sei, war die führende Pertendsten territorialhistor. Publikationen sind sönlichkeit in der Literatur der Steiermark Ursprung und Verfassung der Stände Steiermarks u. zwischen Aufklärung u. Romantik. Er war Ursprung und Beschaffenheit der Urbarialabgaben seit 1793 Mitgl. der Deutschen Gesellschaft in in Innerösterreich (beide in: Historische Skizzen. Jena. Graz 1800). In die Literaturgeschichte ging K. Weitere Werke: Lyr. Gedichte. Graz 1788. – Die mit mehreren, den Einfluss von Goethes Götz Grafen v. Cilli. 2 Tle., Graz 1790–93 (Trauersp.). – von Berlichingen sowie von patriotischen Stü- Maria Theresia, ein dramat. Gedicht. Graz 1793. – cken der Münchner Aufklärer Babo u. Tör- Gedichte. Graz 1793. – Ges. Werke. 2 Bde., Graz ring verratenden histor. Dramen ein. Bekannt 1793. – Attila, König der Hunnen, dramat. Gedicht. wurde er mit dem auch empfindsame Züge Wien/Graz 1806. – Sämmtl. Werke. 9 Bde., Wien 1816/17. – Ges. Schr.en. Hg. Anton Schlossar. 4 enthaltenden Schauspiel Agnes, Gräfin von Bde., Wien 1878–80. Habsburg (Graz 1786. Später umgearbeitet in Literatur: Anton Schlossar: J. N. v. K. In: Wülfing von Stubenberg. Wien 1794). Den Mittheilungen des Histor. Vereins der Steiermark größten, lang anhaltenden Erfolg erzielte er 26 (1878), S. 3–57. – Josef Fleck: J. Ritter v. K. mit Die Ritterempörung. Eine wahre Begebenheit 1765–1827. Ein Lebensbild aus der Zeit der Aufder Vorzeit (Graz 1792). K. erreichte mit seinen klärung. Diss. Graz 1951. Wilhelm Haefs histor. Dramen Popularität u. Wertschätzung wie kaum ein zweiter österr. Dramatiker des ausgehenden 18. Jh. Darunter sind jene Kalckreuth, Wolf Graf von, * 9.6.1887 Schauspiele am bedeutendsten, in denen er Weimar, † 9.10.1906 Bad Cannstatt (heute sich als Anhänger der konfessionellen Tolezu Stuttgart). – Lyriker u. Übersetzer. ranzidee des Lessing’schen Nathan zu erkennen gibt: die in Jambenform gedichteten Der Sohn des Malers Leopold von Kalckreuth Dramen Die Tempelherren (Graz 1788) u. Die u. dessen Frau Berta Gräfin Yorck von Wardeutschen Ritter in Accon (Graz 1796). tenburg teilte mit seiner Generation das DéjàK. stand zeitweise unter dem Einfluss vu-Gefühl des Fin de siècle. Sein lyr. Werk ist Schillers, mit dem er korrespondierte u. der schmal u. in der kurzen Zeit zwischen seinem in der »Neuen Thalia« 1793 das Dramen- 17. u. 19. Lebensjahr entstanden. fragment Szenen aus dem Leben Kaiser Heinrichs In seinen formvollendeten Gedichten IV. abdruckte. Auf Schiller dürfte auch die suchte K., wie der junge Hofmannsthal, die Vorliebe für das Genre der Ballade zurück- Zwischentöne, die Augenblicke des Übergehen. Während die Balladen wie auch an- gangs zwischen Tag u. Nacht, Leben u. dere Gedichte u. Fabeln (überwiegend Klop- Traum zu evozieren, jene Momente des stock u. Gellert verpflichtet) wenig originell »müden Abendgrauens«, in denen die Gesind, kommt K. als Mitherausgeber des Mu- wissheit des Todes den Gehalt des verlösenalmanachs »Früchte vaterländischer Mu- schenden Lebens zuletzt am reinsten aufsen. Herausgegeben zum Besten der leiden- scheinen lässt. Seine ausgeprägte Vorliebe für den Menschheit« (2 Bde., Graz 1789/90) roman. Formen (Sonett, Stanze, Alexandrigrößere Bedeutung zu. Der Provinzialalma- ner), die er streng zu handhaben wusste u. nach zeigt K. als reformfreudigen, aber zgl. mit einer dichterischen Sprache verband, der katholisch-traditionsgebundenen Territo- es v. a. auf Wohlklang u. Gewähltheit des rialaufklärer, der dem Josephinismus verhal- Ausdrucks ankam, verdankte sich der Liebe ten-distanziert gegenüberstand u. der poeto- zur (zeitgenöss.) frz. Dichtung. Seine Über-
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setzungen von Verlaine u. Baudelaire (Les Fleurs du Mal), die fast zeitgleich mit denen Georges entstanden, sind von bleibendem Rang u. zeichnen sich durch formale Genauigkeit u. sprachl. Nähe zum Original aus. Die Erinnerung an K. wird nicht zuletzt durch Rilkes berühmtes Requiem wachgehalten, das dieser, erschüttert vom Freitod des vielversprechenden Dichters, im Nov. 1908 schrieb u. in dem es nicht frei von Vorwurf heißt: »Daß du zerstört hast. Daß man dies von dir / wird sagen müssen bis in alle Zeiten.« Weitere Werke: Gedichte u. Übertragungen. Hg. Hellmut Kruse. Heidelb. 1962. Literatur: Hellmut Kruse: W. G. v. K. Diss. Hbg. 1949. – Frauke Velden-Hohrath: W. G. v. K. Das lyr. Werk zwischen Todessehnsucht u. Kriegslust. Würzb. 1998. – Jutta Rosenkranz: Der Dichter W. v. K. 1887–1906. In: Castrum peregrini 48 (1999), S. 134–143. Peter König / Red.
Kaldenbach, Christoph, auch: Celadon, Lycon, Lykabas, * 11.8.1613 Schwiebus, † 16.7.1698 Tübingen. – Lyriker u. Komponist. K.s Vater, der als Tuchmacher zum Zunftmeister in Schwiebus aufstieg, war zeitweise auch kgl. Richter u. Bürgermeister der Stadt; sein Großvater mütterlicherseits war Ratsherr u. Syndikus in Liebenau. Die schul. Ausbildung übernahm zunächst der Vater, die Anfänge in der Musikerziehung ein Bruder der Mutter. Wegen der Kriegswirren schickten die Eltern den neunjährigen Sohn nach Frankfurt/O., anscheinend zu einem Verwandten, der wohl auch die weitere Ausbildung K.s überwachte. Neben der akadem. Vorbereitung auf das Universitätsstudium erhielt der musikalisch begabte Zögling Kompositionsunterricht. Im Frühjahr 1631 floh K. vor schwed. Truppen u. immatrikulierte sich am 1. Juli an der Universität Königsberg. Nun musste er seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten u. nahm eine Stelle als Hauslehrer östlich von Memel an. Nach der Wiederaufnahme des Studiums (1633) blieb K. auf Einkünfte durch Privatunterricht u. Auftragsdichtungen angewiesen. Seine Promotion zum Magister erfolgte spät
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(wahrscheinlich 1647, nach Arnoldts Universitätsgeschichte sogar erst 1655), als K. bereits fest im Beruf stand. Wie der Weg des befreundeten Dach führte K.s Werdegang über eine Königsberger Stadtschule zum Lehramt an der Universität. Der Berufung zum Konrektor an die Altstädtische Lateinschule 1639 folgte sechs Jahre später die Beförderung zum Prorektor; seit 1651 verwaltete er an der Königsberger Universität die Professur für Griechisch, offenbar ohne das Ordinariat zu erhalten. 1656 wurde K. Professor für Geschichte, Dichtung u. Beredsamkeit an der Universität Tübingen. In seiner Tübinger Zeit schloss er insg. vier Ehen. Drei Frauen verlor er durch den Tod; die vierte, die er als fast 70-Jähriger ehelichte, überlebte ihn. Aus zweiter Ehe stammte sein einziger Sohn, der 1683 u. 1687 an der Herausgabe von K.s Werken beteiligt war, aber schon 1692 starb. K. verdankt die entscheidenden künstlerischen Anregungen den Königsberger Dichtern um Roberthin, Albert u. Dach. Die gesellige Pflege von Musik u. Wortkunst, die dort betrieben wurde, entsprach K.s Neigungen als Sänger, als Verfasser weltl. u. religiöser Lyrik wie auch als Komponist von Liedtexten. Einige seiner Lieder wurden durch Alberts Arien (1638–54) bekannt, viele gab er – mit Noten versehen – selbst heraus, so die Deutsche Sappho (Königsb. 1651), die, für württembergische Schulen bearbeitet, noch einmal 1687 in Stuttgart erschien. Wie die übrigen Königsberger Dichter um die sog. Kürbishütte stand K. zunächst ganz unter Opitz’ Einfluss, doch war er in höherem Maße für die poetolog. Neuerungen empfänglich, die sich nach Opitz’ Tod durchsetzten. So greift er in der für den Tübinger Lehrbetrieb verfassten Poetice Germanica (Nürnb. 1674) wiederholt auf Buchner, Zesen, Schottelius, Tscherning u. Kindermann zurück, die den Daktylus benutzten u. auch metr. Mischformen gelten ließen. Zwar verwahrte er sich – wie andere Poetiker der Zeit – gegen den Missbrauch »so edler Kunst«, doch konzentrierte er seine dichtungstheoret. Anweisungen auf die im gesellschaftl. u. literar. Leben damals in Blüte stehende Kasualpoesie. Seine in lat. Sprache gehaltene Poetik blieb
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ohne größeren Einfluss, trug aber entscheidend dazu bei, die Königsberger Gelegenheitsdichtung im Südwesten bekannter zu machen. Der größte Teil von K.s poetischem Werk erschien in kasualen Einzeldrucken. Daneben legte er mehr als 20 Buchpublikationen vor, zumeist von ihm veranstaltete Sammelausgaben seiner Dichtungen. Seit der Wiederaufnahme seines Studiums entwickelte sich K. in Königsberg zu dem nach Dach produktivsten Gelegenheitsdichter; auch in Württemberg blieb er als Kasuallyriker gefragt. Dabei betätigte er sich nicht nur in dt. u. lat. Sprache, sondern verfasste auch Verse in griech. u. hebräischer Sprache sowie ein umfangreiches poln. Lobgedicht (Holdowna Klio. Königsb. 1641). K. besaß das ausgeprägte Selbstverständnis eines »poeta doctus«, der das eigene poetische Schaffen u. die akadem. Lehrtätigkeit zur Einheit zu bringen suchte. Seine Deutsche[n] Eclogen (Königsb. 1648) weisen ihn als Form bewussten, souverän über Traditionen u. Konventionen verfügenden gelehrten Dichter aus, die Deutschen Grab-Gedichte vom selben Jahr zeigen den Gelegenheitsdichter, der scheinbar mühelos, doch mit Feingefühl den Ansprüchen seiner Adressaten gerecht wird. Die umfangreiche Sammlung Deutsche Lieder und Getichte (Tüb. 1683), die seine Lyrik aus der Königsberger u. Tübinger Zeit enthält, lässt die beachtl. Spannweite seines Schaffens erkennen. Mehr als die meisten Opitz-Schüler verstand sich K. als Bewahrer der lat. Dichtungstradition (Lyricorum libri tres. Braunsberg 1651. InternetEd. in: CAMENA. Silvae Tubingenses. Tüb. 1667. Internet-Ed. in: CAMENA), die für ihn ebenbürtig neben seiner dt. Dichtung stand. Noch als Student versuchte sich K. erstmals an einer Tragödie für das Schultheater (Herkules am Wege der Tugend und Wollust. Königsb. 1635). Ein späterer Versuch, die dt. Bühne im Sinne von Opitz mit einer »Tragoedie« zu erneuern, blieb ohne Wirkung (Babylonischer Ofen. Königsb. 1646). Trotz fünfaktiger Aufteilung u. Verwendung des Alexandriners stand auch dieses Werk noch zu stark in der Tradition des protestantischen Schuldramas. Zudem entstanden im Zusammenhang mit seiner akadem. Lehrtätigkeit zwei Lehrbü-
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cher sowie zahlreiche Orationes u. von ihm präsidierte Dissertationes in lat. Sprache. Eine nachhaltige Wirkung war K. nicht beschieden. Zwar schätzte Gottsched ihn noch als Neulateiner neben Hutten u. Johannes Secundus u. erwähnte ihn neben Opitz, Fleming u. Tscherning als dt. »Meister in Oden«, doch war er als Dichter in der zweiten Hälfte des 18. Jh. nahezu vergessen. Am längsten überdauerte sein Rhetorik-Lehrbuch für württembergische Schulen, Compendium Rhetorices (Ffm. 1682), das bis 1765 mindestens fünf Auflagen erlebte u. – versehen mit »den nöthigen Zusätzen und Verbesserungen« – noch auf die Generation des jungen Schiller wirkte. Weitere Werke: Dissertatio Musica. 1664. – Gottselige Andachten. Tüb. 1668. – Parodiae in locos communes. Tüb. 1671. – In satyricos tres Latinorum. Tüb. 1688. – Der Glorwürdigste Daphnis. o. O. 1689. Ausgaben: Fischer/Tümpel 3, S. 144–150. – C. K. Ausw. aus dem Werk. Hg. Wilfried Barner. Tüb. 1977 (mit ausführl. Einl. u. Werkregister). Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 2, S. 2214–2257. – Axel E. Walter: Caldenbachiana in St. Petersburg. Ein Beitr. zur Bibliogr. des Königsberger Dichterkreises. In: Kulturgesch. Ostpreußens in der Frühen Neuzeit. Hg. Klaus Garber u. a. Tüb. 2001, S. 963–993. – Weitere Titel: Programmata funebria. Tüb. 1698. – Daniel Heinrich Arnoldt: Ausführl. u. mit Urkunden vers. Historie der Königsberg. Universität. Bd. 2. Königsberg 1746. Nachdr. Aalen 1994. – Kl.: C. K. In: ADB. – Peter Ukena: C. K. In: NDB. – Heiduk/ Neumeister, S. 388 f. – Reinhard Aulich: Von der ›Sorgfalt etwas gutes zu erfinden‹. C. K.s Verständnis vom Umgang mit dem Wort. Zur literarhistor. Einordnung eines wieder entdeckten Poeta doctus. In: Daphnis 22 (1993), S. 393–412. – Tadeusz Oracki: Krzysztof K. – poeta z Królewca (1613–1698). In: Królewiec a Polska. Praca zbiorowa pod redakcja Mariana Biskupa i Wojciecha Wrzesin´skiego. Olsztyn 1993, S. 89–98. – Wilfried Barner: Tübinger Poesie u. Eloquenz im 17. Jh.: C. K. In: Ders.: Pioniere, Schule, Pluralismus. Studien zu Gesch. u. Theorie der Literaturwiss. Tüb. 1997, S. 69–96. – George J. Buelow: K. In: New Grove. – Ulrike Aringer-Gran. C. K. In: MGG. 2. Aufl. (Pers.). – W. Barner: Barockrhetorik. Tüb. 2002, S. 425–447. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 959–964. Ulrich Maché / Axel E. Walter
Kaléko
Kaléko, Mascha, eigentl.: M. Aufen-Engel, * 7.6.1907 Schidlow/Galizien (Chrzanów/ Polen), † 21.1.1975 Zürich; Grabstätte: ebd. – Lyrikerin. Als Tochter russisch-jüd. Emigranten wuchs K. in kleinbürgerl. Verhältnissen auf. 1914 flüchtete die Familie nach Deutschland. Erste Stationen waren Frankfurt/M. u. Marburg; ab 1918 hatte sie ihren Wohnsitz in Berlin, damals ein Zentrum jüd. Lebens. Nach der mittleren Reife durchlief K. eine Lehre bei der Arbeiterfürsorge der jüd. Organisationen Deutschlands, daneben belegte sie Abendkurse in Philosophie u. Psychologie an der Humboldt-Universität. 1928 heiratete sie den Journalisten Dr. Saul Kaléko, Mitarbeiter der »Jüdischen Rundschau«. Ab 1929 erschienen erste Gedichte in der »Vossischen Zeitung«, dem »Berliner Tageblatt«, der »Welt am Montag« u. der »Weltbühne«. Ernst Rowohlt entdeckte sie u. verlegte 1933 ihr erstes Buch Das lyrische Stenogrammheft (Bln. Neuausg. Hbg. 1956. 312007), kurz darauf das Kleine Lesebuch für Große (Bln. 1935), eigenwilligironisch, schnoddrig-unsentimentale Momentaufnahmen aus dem Berliner Großstadtalltag. Man feierte K. im Romanischen Café, Treffpunkt der literar. Boheme. Klabund, Tucholsky, Ringelnatz, Thomas Mann u. Hesse rühmten den neuen Ton ihrer Zeitgedichte, gemischt aus Skepsis u. Trauer, Humor u. Wehmut. K.s Dichtungen hatten Erfolg, aber keine Wirkung mehr. 1935 verbrannten die Nationalsozialisten in Berlin ihre Bücher; 1938 floh K. mit ihrem zweiten Mann, dem chassid. Musiker u. Musikwissenschaftler Chemjo Vinaver, u. ihrem Sohn nach New York. Sie schrieb für die deutschsprachige Exilzeitschrift »Aufbau« u. verdiente ihren Lebensunterhalt als Werbetexterin. 1945 erschienen ihre Verse für Zeitgenossen (Cambridge/Mass., Hbg. 1958. 2007); 1960 emigrierte sie mit ihrer Familie nach Jerusalem, wo 1968 ihr Sohn u. fünf Jahre später ihr Mann starben. Im Heine-Gedenkjahr 1956 reiste sie zum ersten Mal wieder nach Europa; im Sommer 1974 unternahm sie ihre letzte Lesereise nach Deutschland u. in die ehem. Reichshauptstadt. Ihre Gedichtbände Verse in Dur und Moll
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(Olten 1967), Das himmelgraue Poesie-Album (Bln. 1968. Mchn. 1986. 61995), Hat alles seine zwei Schattenseiten (Düsseld. 1973) blieben zur Zeit ihres Erscheinens von Kritik u. Öffentlichkeit weithin unbeachtet. Die Erfahrungen des Exils bestimmen K.s Poesie nach 1938. In den späten Gedichten aus den New Yorker u. Jerusalemer Jahren leistet sie eine unbarmherzige Inventur ihres Lebens, ihres Heimwehs nach der verlorenen Heimat. Ihre Lyrik hat manches mit Kästner, Morgenstern u. Ringelnatz gemeinsam, ihr wirkl. Geistesverwandter aber blieb der »Flüchtling Heinrich Heine«. Sie ist seine legitime Erbin. Weitere Werke: In meinen Träumen läutet es Sturm. Gedichte u. Epigramme aus dem Nachl. Mchn. 1977. 1997. – Heute ist morgen schon gestern. Gedichte aus dem Nachl. Hg. u. eingel. v. Gisela Zoch-Westphal. Bln. 1980. Mchn. 1983. 5 1991. – Der Gott der kleinen Webefehler. Spaziergänge durch New Yorks Lower Eastside u. Greenwich-Village. Mit einem Nachw. v. Horst Krüger. Bln. 1981 (P.). – M. K. [Ausw. Dorothea Oehme]. Bln. 1990. – Die paar leuchtenden Jahre. Mit einem Ess. v. Horst Krüger. Hg. u. eingel. v. Gisela Zoch-Westphal. Mit der Biogr. ›Aus den sechs Leben der M. K.‹ v. G. Z.-W. Mchn. 2003. 7 2008. – Ich bin von anno dazumal. Chansons, Lieder, Gedichte. Mchn. 1987. – Mein Lied geht weiter. Hundert Gedichte. Hg. G. Zoch-Westphal. Mchn. 2007. – Liebesgedichte. Ausw. u. Nachw. v. Elke Heidenreich. Ffm./Lpz. 2007. Literatur: Irene Astrid Wellershoff: Vertreibung aus dem ›kleinen Glück‹. Das lyr. Werk v. M. K. Diss. Aachen 1982. – Gisela Zoch-Westphal: Aus den sechs Leben der M. K. Biogr. Skizzen, ein Tgb. u. Briefe. Bln. 1987. – Birgit Lermen: Dt. Dichterinnen jüd. Herkunft. M. K. – Hilde Domin. Aachen 1990. – Tanja Lange: Kulturkonflikte (über)leben. Die sprachl. u. literar. Strategien der jüd.-dt. Schriftstellerin M. K. In: Dies.: Lit. u. Kultur in Grenzräumen. Ffm. u. a. 2002, S. 111–124. – Andreas Nolte: ›Mir ist zuweilen so, als ob das Herz in mir zerbrach‹. Leben u. Werk M. K.s im Spiegel ihrer sprichwörtl. Dichtung. Ffm. u. a. 2003. – Karina Tippelskirch: Mimikry als Erfolgsrezept. M. K.s Exil im Exil. In: Helga Schreckenberger (Hg.): Ästhetiken des Exils. Amsterd. 2003, S 157–171. – Lex. dt.-jüd. Autoren. – Hans Richard Brittnacher: ›Auf meinem Herzen geh ich durch die Straßen‹. Die Berliner L. M. K.s. In: Matthias Harder u. Almut Hille (Hg.). ›Weltfabrik Berlin‹. Würzb. 2006, S. 115–128. – Nevana Hadjieva: Interkulturalität in
263 ›Lower Eastside‹ u. ›Greenwich Village‹ v. M. K.? In: Interkulturalität u. Nationalkultur in der deutschsprachigen Lit. Dresden 2006, S. 261–270. – Sonja Hilzinger: ›Heimat du, wievielte‹. Facetten eines Amerika-Bildes in der Lyrik v. Rose Ausländer u. M. K. In: Jochen Vogt u. Alexander Stephan (Hg.): Das Amerika der Autoren. Mchn. 2006, S. 149–167. – Andreas Nolte (Hg.): ›Ich stimme für Minetta Street‹. FS aus Anlass des 100. Geburtstags v. M. K. Burlington 2007. – Jutta Rosenkranz: M. K. Biogr. Mchn. 2007. – Anne-Gabriele Michaelis: Die Welt der Poesie für neugierige Leser. Bd. 2: Dt.-jüd. Dichterinnen: Rose Ausländer, Hilde Domin, M. K., Gertrud Kolmar, Else Lasker-Schüler, Nelly Sachs. Lpz. 2007. Beate Pinkerneil / Red.
Kalenter, Ossip, eigentl.: Johannes Burckhardt, * 15.11.1900 Dresden, † 14.1. 1976 Zürich. – Erzähler, Lyriker, Reiseschriftsteller.
Kalisch
Landschaften Italiens, die er in Werken wie Von irdischen Engeln und himmlischen Landschaften (Zürich 1955) oder Die Abetiner. Glück und Glanz einer kleinen Mittelmeerstadt (Zürich 1950. Ffm. 1959) sehr einfühlsam u. liebevoll charakterisierte. Weitere Werke: Das goldene Dresden. Eine Arabeske. Hann. 1922. – Das gereimte Jahr. Gedichte für Kinder. Zürich 1953. – Ein gelungener Abend. Komische Gesch.n. Zürich/Stgt. 1955. – Die Liebschaften der Colombina. Ebd. 1957. – Rendezvous um Mitternacht. Seltsame Liebesgesch.n. Ebd. 1958. – Von Genua bis Pisa. Bildbd. mit Karl Jud. Ebd. 1959 (Reisebuch). – Olivenland. Ital. Miniaturen. Ebd. 1960. – O. K. zum hundertsten Geburtstag: Der seriöse Spaziergänger. Arabesken. Vorw. v. Wulf Kirsten u. Nachw. v. Norbert Weiß. Dresden 2000 (Signum Sonderh.). Literatur: Hans Kühner: O. K. zum 60. Geburtstag. In: Dt. Rundschau 86 (1960), S. 1104–1106. Heiner Widdig / Red.
Nach dem Studium der Kunstgeschichte u. Germanistik in Heidelberg u. Leipzig war K. Kalisch, David, auch: D. J. Schalk, * 23.2. Mitarbeiter u. Korrespondent der »Frank1820 Breslau, † 21.8.1872 Berlin; Grabfurter Zeitung«, des »Berliner Tageblatts« u. stätte: ebd., Friedhof der St. Matthäi-Geder »Vossischen Zeitung«. Seine ersten Gemeinde. – Bühnenautor, Journalist. dichtbände wie Der seriöse Spaziergang (Dresden/Bln. 1920) oder Die Idyllen um Sylphe K. entstammte einem aufgeklärt-liberaler (Hann. 1922) waren stilistisch von einem ge- Tradition verpflichteten jüd. Elternhaus. Der mäßigten Expressionismus geprägt. frühe Tod des Vaters, eines Pelzhändlers, 1924–1934 lebte K. als freier Schriftsteller in führte zur Verarmung der Familie u. zwang Italien u. siedelte dann nach Prag über, wo er dem Gymnasiasten K. 1837 eine kaufmänn. journalistisch für das »Prager Tagblatt« tätig Lehre auf. Der sich anbahnenden Handelswar. 1939 musste er vor den Nationalsozia- karriere ging er aus dem Weg, als er sich 1844 listen in die Schweiz fliehen. K. war 1945 nach Paris wandte, dort in wechselnden Gründungsmitglied des Internationalen Stellungen sein Leben fristete u. BekanntSchutzverbandes deutschsprachiger Schrift- schaft (wohl weniger mit polit. Emigranten steller u. wurde 1957 zum Präsidenten des als) mit dem Boulevardtheater schloss. In P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren Berlin seit 1846, reüssierte K. 1847 schon mit im Ausland gewählt. seinem Possenerstling Ein Billet von Jenny Lind Nachdem K. bis Kriegsende hauptsächlich oder Das erste Debüt in Schöneberg (Bln. 1846), in den verschiedensten Bereichen als Journa- erzielte mit Einmalhunderttausend Thaler! list u. Übersetzer – u. a. von Prosper Mérimée (Urauff. 1847 am Königsstädtischen Theater. u. Evelyn Waugh – gearbeitet hatte, begann Bln. 1848) den endgültigen Durchbruch u. ab 1950 seine zweite schriftstellerische blieb in der Folge einer der meistgespielten Schaffensperiode. Charakteristisch für diese dt. Bühnenautoren. Zeit sind seine heiter poetischen ProsamiIm Berlin der 48er-Revolution erschien niaturen wie Soli für Füllfeder mit obligater Oboe die erste Nummer seines »Kladderadatsch« (Basel 1951). Weiterhin wurde K. bekannt (= Krach, Umsturz), des politisch-satir. »Ordurch seine Stadt- u. Reisebilder, gesehen mit gans für und von Bummler«, das – trotz anden Augen eines Flaneurs. Seine ausdrückl. fängl. behördl. Nachstellungen wegen der Vorliebe galt hierbei bes. den Menschen u. treffsicheren Satire gegen Militär, Obrigkeit,
Kalisch
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Geistlichen – als einziges Witzblatt dieser Art Couplets. 1858. 91861. – Einer v. unsere Leut’. auch nach 1848 noch Bestand hatte (bis 1944). Urauff. 1859. – Namenlos. 1864. – Krethi u. Plethi. Dem Redaktionskollegium gehörten neben Urauff. 1865. Hg. Heidrun Kerstein. Ffm. u. a. K., der Glossen, Parodien u. Travestien bei- 1989. – Haussegen, oder Berlin wird Weltstadt. Urauff. 1866. In: Lustige Werke, a. a. O. – Hunsteuerte, seine Vettern Ernst Dohm u. Rudolf derttausend Taler. Altberliner Possen 1849–51. Hg. Löwenstein sowie Wilhelm Scholz an, ohne Manfred Nobel. 2 Bde., 1988. dessen Illustrationen stehende Figuren K.s Literatur: Max Ring: D. K. Der Vater des wie Zwickauer, Karlchen Mießnick, Müller u. Kladderadatsch u. Begründer der Berliner Posse. Schultze kaum zu ihrer Popularität gelangt Bln. 1873. – Curt Meyer: Alt-Berliner Polit. Volkswären. theater (1848–50). Emsdetten 1951. – Erika Wi»Das Wetterleuchten der Ideen, / Der jun- scher: Das Wallner-Theater [...]. Das Berliner Logen Freiheit Fahnenwehen« (aus: Prolog zu kalpossen-Theater des Nachmärz. Diss. Mchn. Berlin bei Nacht. Bln. 1849), bis dahin wesentl. 1967. – Horst Denkler: Restauration u. Revolution. Momente von K.s politisch auf der Höhe der Mchn. 1973. – Volker Klotz: Bürgerl. Lachtheater. Zeit stehenden, anspielungsreichen Possen Mchn. 1980. – Hugo Aust u. a.: Volksstück. Mchn. 1989. – Orsolya Hanusz: Metamorphosen des Ge(oft nach frz. Urtext), fielen nach der misssprochenen. Sprachl. Signale einer Schicksalswende glückten Revolution dem Hinckeldey’schen in den Possen v. D. K. u. Johann Nepomuk Nestroy. Theaterzensurerlass von 1851 zum Opfer; In: Der Text als Begegnungsfeld zwischen Literakrit. Impulse lebten in K.s umgearbeiteten turwiss. u. Linguistik. Hg. Lajos Szalai. Szombzw. später entstehenden Stücken nur in bathely 2000, S. 247–256. – Urs Helmensdorfer: entschärfter Form fort, ja schienen sich in Berlin wird Weltstadt. D. K. – ein preuß. Nestroy? Politpossen wie Faust, der zu spät bekehrte De- Versuch einer Annäherung. In: Nestroyana 21 mokrat (Bln. 1853) ins Gegenteil zu verkehren (2001), H. 3/4, S. 132–149. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Arno Matschiner / Red. (»Habe nun, ach! Demokratie, / Wühlerei und Communismus [...]«). Nach der Schließung des Königsstädtischen Theaters (1851) wurde Kalisch, Ludwig, * 7.9.1814 PolnischK. Hausautor des späteren Wallner-Theaters Lissa/Posen, † 3.3.1882 Paris. – Journalist, u. feierte Erfolge mit Kleinbürgermisere u. Lyriker, Verfasser erzählender u. satirischließliches Glück im Winkel präsentieren- scher Schriften, Übersetzer. den Volksstücken wie Berlin, wie es weint und Seit 1835 studierte K., der aus einer jüd. Falacht (Nach O. F. Berg. Bln. 1858). Das soziale Weichbild der werdenden milie stammte, in Heidelberg u. München Weltstadt, die »feinen Leute und des Stra- Medizin. Eine Sammlung von Balladen, Ließengesindel, / Mit eenem Wort, den Berliner bes- u. Freiheitsgedichten veröffentlichte er Schwindel« (Prolog zur 100. Auff. des Ak- 1836 u. d. T. Barbiton oder Stunden der Muse tienbudikers, 1856), nahmen sich K.s Stücke (Heidelb.). 1838 ging er nach Bingen, 1840 zum Vorwurf. Tagesaktueller Zuschnitt nach Mainz, wo er sich als Schriftsteller u. insbes. der Couplets war dabei notwendige Privatlehrer niederließ u. eine rege publizisBedingung. Den »poetischen und bleibenden tische Tätigkeit entfaltete. 1843 wurde er Redakteur, 1844 auch Herausgeber der Wert« seiner Bemühung hat ihm schon KelMainzer Karnevalszeitung »Narrhalla«. Unler, gegen »die literarischen Schlafmützen« ter dem Schutz der Narrenkappe verspottete gerichtet, bescheinigt (Brief an Hettner, er in seinen Artikeln die reaktionären polit. 4.3.1851). Zustände u. setzte sich für bürgerl. Freiheiten Weitere Werke (Ort jeweils Bln.): Berliner auf ein. In Gießen wurde er nach sprach- u. liteWache. 1848. – Junger Zunder – Alter Plunder. raturwissenschaftl. Studien 1847 zum Dr. 1851. – Ein März-Gefangener (später: Er verlangt sein Alibi!). 1854. – Die Bummler von Berlin. 1854. phil. promoviert. 1848 gab er in Mainz die – Doctor Peschke oder: Kleine Herren. Urauff. Zeitung »Der Demokrat« heraus, die das 1857. In: Lustige Werke. 5 H.e, 1870. – Ein gebil- Sprachrohr des »Demokratischen Vereins« u. deter Hausknecht, oder Verfehlte Prüfungen. des Mainzer Arbeiterbildungsvereins war u. Urauff. 1858. In: ebd. – Berliner Leierkasten. die Interessen der »Besitzlosen« vertrat.
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Die 1840er Jahre waren die produktivste rich Heine. In: Das Neue Mainz. Wirtschaft, VerZeit im Leben K.s. Neben seiner redaktionel- kehr, Kultur (1972), H. 12, S. 2–4. – Josef Heinzellen Tätigkeit veröffentlichte er mehrere Bü- mann: L. K. In: NDB. – Julius H. Schoeps: An der cher mit Humoresken, Satiren u. Parodien, in Seite der Unterdrückten. L. K. [...]. In: Ders. u. Walter Grab (Hg.): Juden im Vormärz u. in der denen er sich über Kleinmut u. Lethargie des Revolution v. 1848. Stgt./Bonn 1983, S. 331–351. – »deutschen Michels« mokierte (Schlagschatten. Adolf Wild: Bingen aus der unromant. Sicht des 2 Mainz 1844. 1849. Das Buch der Narrheit. Schriftstellers L. K. In: Bingen u. die RheinromanMainz 1845. Lose Hefte. 2 Bde., Lpz. 1847). tik 22 (2002/03), S. 117–128. – Anton Maria Keim: Seine oft bissige polit. Polemik machte auch L. K. Karneval u. Revolution. Ingelheim 2003. – vor den bürgerl. Abgeordneten der Frank- Lex. dt.-jüd. Autoren. Peter Langemeyer / Red. furter Nationalversammlung nicht Halt, die eher bereit waren, mit der Reaktion als mit dem Proletariat gemeinsame Sache zu maKaltenboeck, Bodo, auch: Kaka, * 15.12. chen (Shrapnels. Ffm. 1849). – Nach der Nie1893 Stuttgart, † 5.11.1939 Wien. – Erderschlagung der Revolution – im Mai/Juni zähler, Essayist. 1849 war K. Mitgl. der provisorischen Regierung der Pfalz, 1851 wurde er in Abwe- Im dt. Kaiserreich aufgewachsen, diente K. im senheit zum Tod verurteilt – floh K. nach Ersten Weltkrieg als Kriegsfreiwilliger in der Paris. Über das Alltagsleben in der frz. österreichisch-ungarischen Armee u. wurde Hauptstadt u. in London veröffentlichte er mit der Goldenen Tapferkeitsmedaille aus1851 zwei Bände mit Reportagen, die ihn als gezeichnet. Nach dem Krieg schloss er sein sensiblen u. kritisch-engagierten Beobachter Studium in Graz ab u. lebte anschließend in lokaler u. nationaler Eigenarten zeigen (Paris Wien. Im Ständestaat wurde K. 1936/37 für und London. Ffm. Neuausg. u. d. T. Künstler, ein Jahr wegen illegaler nationalsozialistiQuäker, Demokraten. Impressionen aus Paris und scher Betätigung inhaftiert; einen Bericht von dieser Zeit gab er in Das törichte Auge. Die London. Hg. Therese Erler. Bln./DDR 1970). Im Pariser Exil arbeitete K. als Lehrer, Selbstgespräche eines Unentwegten (Wien/Lpz. Übersetzer u. Zeitungskorrespondent u. un- 1938). Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs terhielt Verbindungen zu dt. Emigranten wie rückte er als Kommandeur eines LandesMoses Hess. Über seine Besuche bei dem schützenbataillons ein; wenige Monate spätodkranken Heine berichtete er in der »Gar- ter erlag er einer Krankheit. K.s Eintreten für einen soldatischen tenlaube«. Hier schrieb er auch über Jacques Offenbach (beides erneut abgedruckt in: Pa- Deutschnationalismus spiegelt sich in polit. riser Leben. Bilder und Skizzen. Mainz 1880. Schriften wie in der 1924 unter dem Pseud. 2 1882), von dem er mehrere Operettentexte »Kaka« erschienenen Satire Lehrbuch der Demins Deutsche übersetzte. Einen Beitrag zur agogie, aber auch in literar. Arbeiten wie in der Kulturgeschichte des Ostjudentums stellen altertümelnden Erzählung Der Unfug inn der seine Kindheitserinnerungen (Bilder aus mei- Ortenau (Ein Buch unter Lachen unnd Weynen. ner Knabenzeit. Lpz. 1872) dar, die weniger Wien/Lpz. 1937). Der zwischen realistischer eine Autobiografie als eine Schilderung der Darstellung u. pathetisch-heroischer ÜberSitten u. Gebräuche in der jüd. Gemeinde höhung angesiedelte Kriegsroman Armee im seiner Vaterstadt sind. Mit diesem Buch plä- Schatten. Die Tragödie eines Reiches (Innsbr./ dierte K. zgl. für Toleranz gegenüber einer Wien/Mchn. 1932; bis 1942 mehrfach wieder aufgelegt u. dabei um eine mystisch-symboreligiösen u. ethn. Minderheit. Weitere Werke: Poetische E.en. Siegen/Wiesb. lische »Totenfeier« erweitert) zielt auf eine 1845. 21854. – Heitere Stunden. N.n u. E.en. 2 Bde., Ehrenrettung der k. k. Armee: Weil sie als Bln. 1872. – Streifzug durch die Narrhalla. Satiri- Vielvölkergemisch in ihrer Schlagkraft einsches, Lustiges u. Bedenkliches. Hg. Heinz Seydel. geschränkt gewesen sei, habe sie zu Unrecht Bln./DDR 1974. im Schatten des dt. Militärs gestanden. InLiteratur: Barbara Glauert: Paris: Avenue de dem K. das altösterr. Heer als »schönste Matignon Nr. 3. L. K.s Unterhaltungen mit Hein- Schöpfung deutschen Geistes« auffasst, gerät
Kaltenbrunner
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auch sein Roman zur Propaganda für die Kaltneker, Hans, * 2.2.1895 Temesvár/ großdt. Reichsideologie. Banat, † 29.9.1919 Gutenstein/NiederWeitere Werke: F. T. Vischer’s ›Auch einer‹, eine amplificatio der ›Aesthetik‹. Diss. Graz 1920. – Dtschld. – Österreich. Irrtum u. Richtung. Wien/ Lpz. 21934 (polit. Ess.). Ernst Fischer
Kaltenbrunner, Karl (Carl) Adam, * 30.12. 1804 Enns/Oberösterreich, † 6.1.1867 Wien; Grabstätte: ebd., Matzleinsdorfer katholischer Friedhof (jetzt: Waldmüllerpark). – Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Kritiker. Aus einer der ältesten Sensenschmiedefamilien des Kremstales stammend, besuchte K., dessen Vater das einträgl. Handwerk nur kurze Zeit ausübte u. dann ein Gasthaus übernahm, in Admont u. Linz die Schule u. trat 1823 in die Linzer Staatsbuchhaltung ein. 1842–1867 war er in der k. k. Hof- u. Staatsdruckerei in Wien tätig, ab 1859 als Vizedirektor dieses Instituts. K., der bereits während seiner Linzer Zeit Mittelpunkt des oberösterr. literar. Lebens war, insbes. als Theaterkritiker für das »Bürgerblatt«, widmete sich auch in Wien ganz der Dialektdichtung. Besonders bekannt wurde er mit den Gedichtbänden Obderennsische Lieder (Linz 1845), Alm und Zither (Wien 1846) u. Österreichische Feldlerchen (Nürnb. 1857), in denen es ihm gelingt, Ursprünglichkeit u. Kraft des Dialekts zu bewahren. Auch als Erzähler u. Dramatiker hatte er einigen Erfolg, etwa mit dem Volksstück Die drei Tannen, das 1862 am Carltheater uraufgeführt wurde. K. war Mitgl. der »Concordia«, des »Hesperus« u. der Ritterschaft »Grüne Insel«. Weitere Werke: Vaterländ. Dichtungen. Linz 1835 (L.). – Aus dem Traungau. Oberösterr. Dorf- u. Volksgesch.n. Wien 1863. Literatur: Joseph Wihan: K. A. K. als mundartl. Dichter. Linz 1904. – Hildegard Dunzinger: K. A. K. Diss. Wien 1949. – Goedeke Forts. Johannes Sachslehner / Red.
österreich. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker. Der Sohn eines österr. Offiziers wuchs in Wien auf. Als Gymnasiast gab er zusammen mit Flesch-Brunningen u. Paul Zsolnay eine literar. Zeitschrift heraus. 1912 erkrankte er an Tuberkulose; 1915 begegnete er Klabund im Sanatorium in Davos. Bis 1917 entstanden drei Erzählungen, zahlreiche Gedichte, darunter ein Sonettenzyklus für die Burgschauspielerin Else Wohlgemuth u. das Mysterium für Musik Die Heilige, das Hans Müller u. Erich Wolfgang Korngold zur Oper Das Wunder der Heliane (Mainz 1927) umarbeiteten. 1917 legte K. die erste juristische Staatsprüfung ab. 1918/19 verfasste er drei Dramen u. das Märchenspiel Schneewittchen. Sein postum erschienenes Werk enthält christl. Motive. Mit expressionistischem Pathos schrieb K. von Schuld u. Sühne, Leid u. Erlösung, ähnlich verzweifelt wie Trakl oder Albert Ehrenstein, v. a. in dem Drama Das Bergwerk (Wien 1921) zgl. engagiert wie ein österr. Ernst Toller. Weitere Werke: Dichtungen u. Dramen. Hg. Paul Zsolnay. Vorw. Felix Salten. Bln./Wien/Lpz. 1925. – Die drei Erzählungen. Ebd. 1929. – Gerichtet! Gerettet! Hg. Hellmuth Himmel. Graz/ Wien 1959. Literatur: Emmy Wohanka: H. K. Diss. Wien 1933. – Hellmuth Himmel: Die Problematik im Werk K.s u. ihr Ort in der österr. Lit. Diss. Graz 1951. – Nikolaus Britz: Der Expressionismus u. sein österr. Jünger H. K. Wien 1975. – Jaak de Vos: Gefangenschaft in den Dramen H. K.s. Diss. Gent 1981. – Norbert Frei: ›Wir sind nicht gut genug zueinander‹. Zum Werk von H. K. In: In: Klaus Amann u. Armin A. Wallas (Hg.): Expressionismus in Österr. Die Lit. u. die Künste. Wien/Köln/Weimar 1994, S. 499–514. – Jaak De Vos: ›Schwester der Welt!!!‹ Androgynie als ›coincidentia oppositorum‹ im ethisch-religiösen Spannungsfeld bei H. K. In: Hans Weichselbaum (Hg.): Androgynie u. Inzest in der Lit. um 1900. Salzb. u. a. 2005, S. 27–150. Wilfried Ihrig / Red.
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Kaminer, Wladimir, *19.7.1967 Moskau. – Verfasser essayistischer Kurzerzählungen.
Kaminski
chentl. Sendung beim RBB »radiomultikulti« sowie eine unregelmäßig gesendete Rubrik beim »ZDF-Morgenmagazin«. Sein erstes Theaterstück, Marina. Wiedersehen in der Russendisko, wurde im Januar 2003 vom »Jungen Theater« in Göttingen aufgeführt. Gemeinsam mit dem aus der Ukraine stammenden, in Berlin lebenden Musiker u. Performer Yuriy Gurzhy (RotFront, Shtetl Superstars) gründete K. die zweiwöchentlich stattfindende »Russendisko«, die zu einem Hype zeitgenöss. russ. Rockmusik in Berlin führte u. die Initiatoren wie das »Kaffee Burger« (dort seit 2000) weit über die Grenzen Berlins hinaus bekannt machte. Inzwischen gastiert K. sowohl als Autor als auch als DJ regelmäßig in allen größeren dt. Städten.
K. wuchs als Sohn jüd. Eltern in der Sowjetunion auf, lernte Toningenieur für Theater u. Rundfunk u. absolvierte Ende der 1980er Jahre ein Studium der Dramaturgie am Moskauer Theaterinstitut. Im Frühjahr 1990 emigrierte er in die DDR. Nach der Wiedervereinigung als so genannter Kontingentflüchtling anerkannt, erhielt K. 1991 ein unbefristetes Aufenthaltsrecht u. lebt seitdem mit seiner Frau u. seinen beiden Kindern in Berlin. 1998 veröffentlichte K. in der »taz« seine erste Kurzgeschichte, Wie die Russen Weihnachten feiern. Mit dem Erzählband RussendisWeitere Werke: Schönhauser Allee. Mchn. ko (Mchn. 2000) avancierte er 2000 zu einem 2001. – Militärmusik. Mchn. 2001. – Helden des der gefragtesten deutschsprachigen Jung- Alltags. Ein lichtbildgestützter Vortrag über die autoren. Seinen Erzählungen wurden in seltsamen Sitten der Nachkriegszeit (zus. mit Helmehr als 20 Sprachen übersetzt. Ungeachtet mut Höge). Mchn. 2002. – Die Reise nach Trulala. der bewussten Popularität seiner Texte dis- Mchn. 2002. – Mein dt. Dschungelbuch. Mchn. tanziert sich K. explizit von der neuen 2003. – Ich mache mir Sorgen, Mama. Mchn. 2004. deutschsprachigen Popliteratur, deren Ver- – Karaoke. Mchn. 2005. – Küche totalitär. Das tretern er Selbstbezüglichkeit vorwirft. Seine Kochbuch des Sozialismus (zus. mit Olga Kaminer). Mchn. 2006. – Ich bin kein Berliner. Ein ReiseKurzgeschichten über den Alltag osteuropäiführer für faule Touristen. Mchn. 2007. – Mein scher, meist russ. Emigranten in Berlin sind Leben im Schrebergarten. Mchn. 2007. – Salve bestimmt von einer iron. Mischung aus All- Papa! Mchn. 2008. – Es gab keinen Sex im Soziatagsbegebenheiten u. polit. Agitation u. lismus. Mchn. 2009. – Herausgeber: Frische Goldzeichnen sich stilistisch durch die Nähe zum jungs. Storys. Mchn. 2001. Situationismus aus. Dass K. hierbei v. a. von Literatur: Falko Hennig (Hg.): Volle Pulle Leseinen eigenen Erlebnissen ausgeht, verleiht ben. Zehn Jahre Reformbühne Heim & Welt. Mchn. seinen Erzählungen ihre Authentizität u. ih- 2005. – Irgendwann verschwindest Du. In: NZZ am ren Witz. In der Chronologie der Bücher Sonntag, 1.8.2004 (Interview v. Marina Rumwerden seine Geschichten zgl. zu einem mit janzewa). Hania Siebenpfeiffer dem Blick des Außenstehenden verfassten Langzeitdokument über die kulturelle Neu- Kaminski, André, eigentl. Andrzei Henrik bestimmung eines Landes u. lesen sich als K., * 19.5.1923 Genf, † 12.1.1991 Zürich. Chronik der dt. Alltagskultur seit der Wie- – Erzähler, Verfasser von Theater- u. dervereinigung. Fernsehstücken. Mit Ausnahme der Kolumne in der »Russki Nach dem Studium der Geschichte in Genf u. Berlin«, der Regionalausgabe einer russischZürich (Dr. phil.; Der Niedergang der städtischen dt. Wochenzeitung, schreibt K. ausschließlich Hoheitsrechte des Bischofs von Genf. Ambilly auf deutsch. Er ist langjähriges Mitgl. der 1947) wanderte K., Sohn eines Psychiaters, 1995 auf Initiative von Hans Duschke u. Bov 1945 als überzeugter Kommunist in das Land Bjerg gegründeten Berliner Lesebühne »Reseiner Vorfahren nach Polen aus. Er arbeitete formbühne Heim & Welt«, die seit 1999 jeden dort bis zu seiner Ausbürgerung 1968 für Sonntag in der »Tanzwirtschaft Kaffee BurRundfunk u. Fernsehen. In die Schweiz zuger« in Berlin/Mitte gastiert. Daneben hat K. mit »Russendisko unplugged« eine wö-
Kamossa
rückgekehrt, war er bis 1985 als Dramaturg u. Drehbuchautor für das Fernsehen tätig. K. war fasziniert von Menschen, deren Vitalität auch unter den widrigsten Umständen nicht zu besiegen ist. In dem Band Die Gärten des Mulay Abdallah. 9 wahre Geschichten aus Afrika (Ffm. 1983. 81995) porträtiert er Menschen, deren Lebenskunst den lebenshungrigen Westeuropäer, der sie beobachtet, in Staunen versetzt. In seinem äußerst erfolgreichen Roman Nächstes Jahr in Jerusalem (Ffm. 1986. 81987) sind es die Nachkommen zweier ostjüd. Familien, die auf ihren labyrinthischen Lebenswegen Schlauheit u. Ausdauer unter Beweis stellen u. die Fantasie ihres Enkels anregen, der als Erzähler deren Geschichte rekonstruiert. Kaum mehr angemessen ist K.s Fabulierkunst, seine Vorliebe für Pointen u. grelle Farben, den Schicksalen aus dem vom Krieg gezeichneten Polen der 1950er u. 1960er Jahre, die im Roman Kiebitz (Ffm. 1988) geschildert werden. Weitere Werke: Herzflattern. 9 wilde Gesch.n. Ffm. 1984. 81991. – Schalom allerseits. Tgb. einer Deutschlandreise. Ffm. 1987. 31987. – Flimmergesch.n. Ffm. 1990. – Adam, Eva u. die Dampfwalze. Bln. 1990. – Der Sieg über die Schwerkraft u. a. E.en. Ffm. 1990. – Kaminski erzählt. Ffm./Lpz. 1991 (enth. ›Die Gärten des Mulay Abdallah‹ u. ›Herzflattern‹). Literatur: Albrecht Classen: The Encounter with the Other World. A. K.’s Search for the Jewish Past. In: Carol Aisha Blackshire-Belay (Hg.): The Germanic Mosaic. Westport, CT 1994, S. 253–265. – Ders.: Große fremde Welt – Afrika literarisch verarbeitet. Dem Lachen zu trotz, wir verstehen uns nicht. In: Ernest W. B. Hess-Lüttich, Christoph Siegrist u. Stefan Bodo Würffel (Hg.): Fremdverstehen in Sprache, Lit. u. Medien. Ffm. 1996, S. 123–139. – Ders.: Die Überwindung der Schwerkraft. Begegnungen mit der Fremde im literar. Diskurs. A. K.s Kulturthesen. In: Romey Sabalius (Hg.): Neue Perspektiven zur deutschsprachigen Lit. der Schweiz. Amsterd. 1997, S. 167–185. Dominik Müller / Red.
Kamossa, Käthe, * 15.12.1911 Berlin, † 8.7.1989 Berlin; Grabstätte: ebd., Städtischer Friedhof Steglitz. – Lyrikerin. K. entstammte einer ostpreuß. Klavierbauerfamilie. Sie wuchs in Königsberg auf u. kam
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1925 nach Berlin. Nach dem Schulbesuch arbeitete sie kurzfristig als Kinderbetreuerin sowie in Buchhandlungen u. Verlagen. Sie trat in kleinen Rollen auf Berliner Bühnen auf, zuletzt 1969 in Ostrowskis Wölfe und Schafe. Gefördert durch den Lyriker Gustav Stolze schrieb K. seit Anfang der 1930er Jahre Gedichte, die zuerst im »Berliner Lokalanzeiger« erschienen. Der erste Lyrikband, Aufbruch, kam 1934 heraus (Bln.). 1942–1945 bedrohte sie ein schwebendes polit. Verfahren wegen pazifistischer Äußerungen. K. schrieb hauptsächlich religiös betonte Lyrik, die von Naturgefühl u. Musikalität bestimmt wird. Einige Gedichte wurden von Martin Grabert u. Prinz Louis Ferdinand von Preußen vertont. 1949 veröffentlichte sie ein Kinderbuch Kathrinchen (Bln. Neuaufl. u. d. T. Kathrinchens kleine Welt. Stgt. 1958). Als Stipendiatin der Berliner Akademie der Künste reiste sie zwischen 1967 u. 1976 dreimal zu Studienaufenthalten nach Olevano/Italien. Weitere Werke: Kleine Sinfonie. Prag 1942 (L.). – Lyr. Vesper. Prag 1943 (L.). – Stationen. Gedichte, Messe in A-Dur, Trag. Schausp. Bln. 1970. – Essays, Gedichte. Darmst. 1978. Detlef Krumme
Kamphausen, Felix, * 14.4.1944 Krefeld. – Erzähler, Lyriker; bildender Künstler. Nach der frühen Scheidung der Eltern lebte K. zunächst bei der berufstätigen Mutter, später bei einer Großmutter u. in Erziehungsheimen. 1959–1964 verbüßte er Jugendstrafen. Wegen gemeinschaftlich versuchten Mordes wurde K. 1970 in Düsseldorf festgenommen u. 1973 im sog. MinoucheProzess zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. 1974 brach er aus dem Gefängnis aus u. versuchte, die Öffentlichkeit auf seine angeblich ungerechte Bestrafung aufmerksam zu machen – eine Episode, die nach zwölf Tagen mit einer erneuten Festnahme endete u. in der Erzählung Der Sprung (Düsseld. 1979) beschrieben ist. In der Haft holte K. den Hauptschulabschluss nach. Nach seiner vorzeitigen Entlassung 1985, für die sich u. a. Heinrich Böll, Ingeborg Drewitz u. Luise Rinser eingesetzt hatten, lebt K. als Schriftsteller in Düsseldorf.
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Das biografisch motivierte Hauptthema seines literar. u. künstlerischen Werks ist das Häftlingsleben. In Erzählungen wie Transport (Krefeld 1978), in Gedichten u. in den autobiogr. Aufzeichnungen Zu früh zu spät. Aufzeichnungen aus dem Jugendstrafvollzug (Ffm 1981) schildert K. unter Verwendung des Gefängnisjargons in lakonisch knapper Alltagssprache das Haftleben. Seine Texte wenden sich gegen einen unwürdigen u. demoralisierenden Strafvollzug. K. ist einer der bekanntesten neueren Vertreter der zeitgenöss. dt. Gefangenenliteratur, die in den 1960er Jahren mit Henry Jäger einsetzte. K. organisierte auch literar. Aktivitäten von anderen Häftlingen durch die Herausgabe von Zeitschriften u. Anthologien u. durch die Gründung eines Verlags.
Kandinsky
2 Bde., Hbg. 1956 f. Anatolische Hirtenerzählungen. Hbg. 1960. Ffm. 1993), deren Leitbilder »Heldentum, Liebe und Treue, Wahrhaftigkeit und Edelmut, soziales Empfinden und Ergebenheit im Glauben an Allah und das Kismet« sind (Eckert). Weitere Werke: Der weiße Scheich. Wien 1957 (Jugendbuch). – Am alten Brunnen des Bedesten. Hbg. 1958. 1993 (E.). – Damals im Reiche der Osmanen. Gütersloh 1959 (Biogr. ihres Vaters). Literatur: Otto Eckert: K. In: Der Romanführer. Bd. 13, Stgt. 1964, S. 179–181. – Helga Moericke: Leben u. Werk der Märchenerzählerin E. S. v. K. 1878–1963. Als Ms. gedruckt. Aachen 1996. – Eva Chrambach: Die Märchenerzählerin E. S. v. K. u. ihr Schahin-Verlag. In: Aus dem Antiquariat (2002), H. 3, S. A141-A147. Winfried Hönes † / Red.
Weitere Werke: Gabriel. Krefeld 1979 (E.). – Die Psychiatrierung. Dortm. 1981 (E.en). – F. K. u. a. (Hg.): Aufbruch. Dortm. 1981 (Anth.). – Einen Baum umarmen. Briefe 1976–1991 (zus. mit Astrid Gehlhoff-Claes). Krefeld 1991.
Kandinsky, Wassily, * 5.12.1866 Moskau, † 13.12.1944 Neuilly-sur-Seine. – Maler, Grafiker, Kunsttheoretiker; Dramatiker, Lyriker.
Literatur: Raimund Hoghe: Wo es nichts zu weinen gibt. Ein Porträt des Lebenslänglichen F. K. In: Die Zeit, 10.1.1986. Matías Martínez
Zwischen 1896 u. 1901 absolvierte K. eine Ausbildung zum Maler u. Grafiker bei Anton Azˇbé u. Franz von Stuck in München. Seit 1908, in den Landschaftsbildern aus Murnau, wandelte sich seine folkloristisch inspirierte, symbolistisch stilisierte Malweise, die Elemente des frz. Spätimpressionismus integrierte, zu einer expressiven Malweise, deren fortschreitende Verselbstständigung von Farbe u. Form 1910 schließlich zur Loslösung vom Gegenstand im »Ersten abstrakten Aquarell« führte. K. u. Franz Marc traten 1909 aus der von K. gegründeten »Neuen Künstlervereinigung München« aus u. organisierten 1911 die für die Kunst der Moderne wegweisende Ausstellung der Künstlervereinigung »Der Blaue Reiter«. 1914–1921 lebte K. wieder in Moskau, wo er – insbes. ab 1918 – kulturpolitisch tätig war. Seit 1922 war er Lehrer am »Bauhaus« in Weimar u. ab 1925 in Dessau bis zur Schließung durch die Nationalsozialisten 1933. Unter dem Einfluss von Suprematismus u. Konstruktivismus veränderte sich sein Malstil von expressiver zu geometr. Abstraktion. Noch 1933 emigrierte K. nach Frankreich; seitdem traten amöboide, zoomorphe u. hieroglyph. Formen in seinen Bildern auf.
Kamphoevener, Elsa Sophia Baronin von, auch: Else Marquardsen-Kamphövener, * 14.6.1878 Hameln, † 4.8.1963 Traunstein/Obb. – Lektorin; Dramaturgin, Erzählerin. K. kam dreijährig in die Türkei, wo ihr Vater die Armee reformierte. Sie erhielt Privatunterricht, lernte neun Sprachen u. durchstreifte als Mann verkleidet die Türkei. Der berühmte Märchenerzähler Fehim Bey nahm sie in die Gilde der Märchenerzähler auf. Das Verbot, die 800 Jahre alten Märchen aufzuschreiben, durchbrach sie erst im hohen Alter, um dieses wertvolle Kulturgut zu erhalten. K. schrieb 20 Romane aus der arab. Welt, arbeitete 1921–1931, nach 40 Jahren in der Türkei, bei der Ufa-Tobis als Dramaturgin u. war als Übersetzerin u. Vortragskünstlerin (u. a. als »Kamerad Märchen« an der Front) tätig. Berühmt wurde sie durch die Veröffentlichung türk. Märchen, Legenden u. Erzählungen (An Nachtfeuern der Karawan-Serail.
Kanehl
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Die Innovation der abstrakten Malerei Julius Bissier, Joaquín Torres-García, Adolph fundierte K. in seiner programmat. Schrift Gottlieb, Mark Tobey. Gött. 1996. – Claudia Köhler Über das Geistige in der Kunst (Mchn. 1912. Rev. Emmert: Bühnenkompositionen u. Gedichte v. W. Neuaufl. Bern 2004; Vorw. u. Kommentar K. im Kontext eschatolog. Lehren seiner Zeit. 1896–1914. Ffm. u. a. 1998. – Elke Linda Buchholz: von Jelena Hahl-Koch, Einf. von Max Bill). Er W. K. Leben u. Werk. Köln 2000. – Barbara Makpropagiert die Befreiung der Kunst aus der kert-Riedel: W. K. über eigene Bilder. Zum ProAbbildungsfunktion der Wirklichkeit, die blem der Interpretation moderner Malerei. Weimar Vermittlung des »inneren Klangs« der ent- 2002. – Reinhard Zimmermann: Die Kunsttheorie pragmatisierten Dinge u. damit die Herauf- v. W. K. Bln. 2002. – Hajo Düchting: W. K. Mchn. kunft einer »Epoche des großen Geistigen«. u. a. 2008. – Helmut Friedel u. Evelyn Benesch Die Bühnenkomposition Der gelbe Klang (Hg.): W. K. Mchn. u. a. 2008. Armin Schulz / Red. bildete den konzeptionellen Zielpunkt des von K. u. Marc herausgegebenen Almanachs »Der Blaue Reiter« (Mchn. 1912. Mchn. 2004. Kanehl, Oskar, * 5.10.1888 Berlin, † 28.5. 2008, Faks. der Ausg. von 1912), der die Be1929 Berlin. – Lyriker, Publizist; Regisdingungen für eine mögl. Synthese der seur. Künste untersucht u. selbst antizipierend verwirklicht. Dieses Gesamtkunstwerk, dia- Nach dem Schulbesuch in Berlin studierte K., log- u. handlungslos, ist ganz auf die kon- Sohn eines Volksschullehrers, Deutsch, Engtrastiven Synästhesien von Musik, Tanz u. lisch, Französisch u. Philosophie. Sein in Farblicht abgestimmt. K.s rudimentäre u. Würzburg gescheitertes Promotionsvorhaben zgl. emphat. Verwendung von Sprache er- konnte er 1912 in Greifswald erfolgreich ablangte bestimmenden Einfluss auf Hugo Balls schließen (Der junge Goethe im Urteile des jungen Entwicklung des dadaistischen Lautgedichts Deutschland. Greifsw. 1913). Seit Aug. 1913 u. die Wortkunsttheorie des »Sturm«-Kreises gab K. den »Wiecker Boten« (verboten 1914) heraus, benannt nach dem nahe gelegenen um Herwarth Walden. Klänge (Mchn. 1913) ist ein Kompendium Fischerdorf, in dem er seit 1912 mit Freunden aus deskriptiv bis alogisch, assoziativen Ge- lebte. Das Engagement der frühexpressiodichten u. folkloristischen bis abstrakten nistischen Zeitschrift galt der studentischen Holzschnitten, die sich um eine latente Be- Jugend u. geistigen Revolte. Eigene Gedichte deutung zentrieren: Pilgerschaft zum Geis- u. publizistische Beiträge veröffentlichte er in tigen gegen die Anfechtungen des Materiel- Pfemferts »Aktion«. Das Kriegserlebnis an der Front radikalisierte K.s Gesellschaftskrilen. Weitere Werke: Punkt u. Linie zu Fläche. Bei- tik. Er war kurze Zeit Mitgl. der KPD, wich trag zur Analyse der maler. Elemente. Mchn. 1926. jedoch linkskommunistisch von der ParteiliBern 1964. 2006. – Über das Theater = Du théâtre. nie ab. Dann trat er für die »Allgemeine ArW. K. Hg. Jessica Boissel. Köln 1998. – Ges. Schr.en beiter-Union, Einheitsorganisation« (AAUE) 1889–1916. Farbensprache, Kompositionslehre u. später den »Spartakusbund Nr. 2« ein. Von u. a. unveröffentlichte Texte. Hg. Helmut Friedel. 1921 bis zu seinem Freitod war K. als RegisMit Ess.s v. Boris P. Chichlo. Mchn. u. a. 2007. seur bei den Berliner Rotter-Bühnen, einem Literatur: Will Grohmann: W. K. Leben u. Boulevardunternehmen, tätig. Mehrfach Werk. Köln 1958. 1981. – Richard Sheppard: K.’s musste er sich wegen seiner Texte vor Gericht Abstract Drame ›Der gelbe Klang‹. An Interpr. In: verantworten. Forum for Modern Language Studies 11 (1975), Nr. Durch seine antimilitaristische Lyrik Die 2, S. 165–176. – Ders.: K.’s ›Klänge‹. An InterpreSchande. Gedichte eines dienstpflichtigen Soldaten tation. In: GLL 33 (1980), Nr. 2, S. 135–146. – Peter aus der Mordsaison 1914–18 (Bln. 1922. LiechAnselm Riedl: W. K. Mit Selbstzeugnissen u. Bild10 dokumenten. Reinb. 1983. 2004. – Gisela Kleine: tenstein 1973. Mikrofiche Bln. 2006) sollte Gabriele Münter u. W. K. Biogr. eines Paares. Ffm./ »der ganze patriotische Himmel entgöttert Leipzig 1990. – Dörte Zbikowski: Geheimnisvolle werden, alle Rauschromantik zerfledert«. Die Zeichen. Fremde Schr.en in der Malerei des 20. Jh. vom Aktivismus geprägten Gedichte der Paul Gauguin, W. K., Paul Klee, Willi Baumeister, Verkündigung eines neuen Menschen aus der
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ersten Nachkriegszeit hatten einen unbestimmt utop. Gehalt, den K. später politisch konkretisierte. Seine Agitations- u. Kampfgedichte aus den Sammlungen Steh auf, Prolet! (Erfurt 1920. Erw. Aufl. Bln. 1922) u. Straße frei (Bln. 1928. Zuletzt Reutlingen 1981), die in der sozialistischen Bewegung populär blieben, setzten auf Eingängigkeit u. klare Antithesen. Mit satirisch-parodist. Mitteln attackierte er den polit. Gegner – bis hin zur KPD, der er ihre straffe Führung u. Moskauorientierung vorwarf (Völker hört die Zentrale). Mit der Enttäuschung seiner revolutionären Hoffnungen verstärkte sich das resignative Moment in K.s Lyrik. Literatur: Ernst Friedrich: O. K. Der proletar. Dichter. Bln. 1924. – Ian Wallace: The Life and Work of O. K. Diss. Oxford 1970. – Friedrich Albrecht: Dt. Schriftsteller in der Entscheidung. Bln./ Weimar 1970. – Lothar Peters: Literar. Intelligenz u. Klassenkampf. Die Aktion 1911–32. Köln 1972. – Walter Fähnders u. Martin Rector: Linksradikalismus u. Lit. Reinb. 1974. – Ute Druvins: O. K. Ein polit. Lyriker der expressionist. Generation. Bonn 1977. – Elke Ritter: Der ›Wiecker Bote‹. Zum publizist. u. lyr. Schaffen O. K.s im Spiegel seiner Entwicklungsbedingungen. Diss. Greifsw. 1982. – Walter Pallus: Revolutionserwartung u. literar. Wirkung: zu O. K.s literar. Strategie der 20er Jahre. In: Greifswalder germanist. Forsch.en 6 (1985), S. 93–100. – Angelika Janz: ›Mumiensprache der falschen Würde‹. Wie der Prinz Jussuf von Theben, der Wiecker Bote (mit seinem Herausgeber u. Elses Dichterzeitgenossen O. K.) u. Wolfgang Koeppen im literar. Greifswald 2002 zusammenfinden. In: Ulla Hahn u. Hajo Jahn (Hg.): In meinem Turm in den Wolken. Ein Else-Lasker-Schüler-Almanach. Wuppertal 2002, S. 145–152. Anneli Hartmann
Kanne, Johann Arnold, auch: Walther Bergius, Johannes Author, Anton von Preußen, * 28.(?), 31.(?) 5.1773 Detmold, † 17.12.1824 Erlangen. – Sprachforscher, Mythologe, Schriftsteller. Nach dem Studium der Philologie bei Heyne in Göttingen war K., Sohn eines Schuhmachermeisters, an verschiedenen Orten als Lehrer bzw. Privaterzieher tätig u. unternahm erste schriftstellerische Versuche in der Manier Jean Pauls. Materielle Not veranlasste ihn 1802, durch Konskription in den österr. Militärdienst einzutreten, aus dem er sich
Kanne
1805 loskaufte. In Würzburg u. Jena widmete er sich mythologisch-geschichtsphilosophischen Studien. Innerhalb eines Jahres verfasste er die Neue Darstellung der Mythologie der Griechen und Römer (Lpz. 1805) u. Erste Urkunden der Geschichte der Allgemeinen Mythologie – ein Werk, das die Leipziger Zensurbehörde wegen des Verdachts der Häresie nicht zur Veröffentlichtung freigeben wollte u. das erst durch Vermittlung Jean Pauls (der auch eine Vorrede dazu schrieb) 1808 in Bayreuth (Hof 2 1815) erscheinen konnte. Bereits 1806 ließ sich K. jedoch erneut vom Militär, diesmal dem preußischen, anwerben. Nach seiner Flucht aus frz. Gefangenschaft schloss er sich noch einmal dem österr. Heer an u. wurde auf Veranlassung Jean Pauls von Friedrich Heinrich Jacobi freigekauft, der ihm 1809 auch zu einer Anstellung als Professor für Geschichte am neu gegründeten, von Gotthilf Heinrich Schubert geleiteten Realinstitut in Nürnberg verhalf. Hier setzte K. seine sprach- u. mythenarchäolog. Untersuchungen fort (Pantheum der ältesten Naturphilosophie. Die Religion aller Völker. Tüb. 1811. System der indischen Mythe. Lpz. 1813), verfolgte aber auch wieder literar. Ambitionen (u. a. das Lustspiel Comedia humana oder Blepsidemus Hochzeit und Kindtaufe. Bayreuth 1811). 1818 wurde er als Professor für oriental. Literatur u. Sprachen nach Erlangen berufen. K. gehört zu den weniger bekannten Vertretern einer insbes. an Schelling u. Friedrich Schlegel anknüpfenden Geschichtsmetaphysik, die sich auf vergleichende Mythendeutung u. auf Spekulationen über symbolhafte bzw. sprachgenealogisch zu bestimmende Archetypen einer histor. Tiefenstruktur verlegte. Ähnliche Ansätze finden sich bei Creuzer, Görres u. Jacob Grimm. Um 1814 vollzog K. im Zeichen eines pietistischen Erweckungsglaubens einen radikalen Bruch mit seinem bisherigen philosophischen Schaffen. Der neu erwachte religiöse Enthusiasmus fand Ausdruck in Schriften wie Sammlung wahrer und erwecklicher Geschichten aus dem Reiche Christi und für dasselbe (Nürnb. 1815–22) oder Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen (2 Bde., Bam-
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berg/Lpz. 1816/17. Lpz. 21842. Forts. Ffm. 1824). Weitere Werke: Bl. v. Aleph bis Kuph. Lpz. 1801. – Kleine Handreise. Penig 1803. – Blepsidemus oder Nicolais literar. Liebesbrief. Lpz. 1803 (D.). – Über die Verwandtschaft der griech. u. teutschen Sprache. Lpz. 1804. – Gianetta, das Wundermädchen Roms. Bayreuth 1809. – Gesch. des Zwillings a pede. Nürnb. 1811. – Zwanzig krit. Paragraphen u. histor. Noten zum Text der Zeit. Lpz. 1814. – Sämundis Führungen. Ein Roman aus der Gesch. der freien Maurer im ersten Jh. Nürnb. 1816. – Worte der Warnung. Nürnb. 1817. – Bibl. Untersuchungen. Erlangen 1819 f. – Zwei Beiträge zur Gesch. der Finsternis in der Reformationszeit. Ffm. 1822. Literatur: Erich Neumann: J. A. K., ein vergessener Romantiker. Ein Beitr. zur Gesch. der myst. Sprachphilosophie. Diss. Erlangen 1927. Bln. 1928. – Dieter Schrey: Mythos u. Gesch. bei J. A. K. u. in der romant. Mythologie. Tüb. 1969. – Martin Hirzel: Lebensgesch. als Verkündigung. Johann Heinrich Jung-Stilling – Ami Bost – J. A. K. Gött. 1998. – Stefan Willer: Buchstäbl. Berührungen. Semiotisches Sprachdenken bei Jacob Grimm u. J. A. K. In: Dirk Jürgens (Hg.): Mutual exchanges. Ffm. u. a. 1999, S. 93–102. – Stefan Willer: ›übersetzt: ohne Ende‹. Zur Rhetorik der Etymologie bei J. A. K. In: Stephan Jaeger (Hg.): Das Denken der Sprache u. die Performanz des Literarischen um 1800. Würzb. 2000, S. 113–129. Jochen Fried / Red.
Kannegießer, Karl Friedrich Ludwig, * 9.5.1781 Wendemark/Altmark, † 14.9. 1861 Berlin. – Übersetzer, Literaturwissenschaftler, Dramatiker, Lyriker.
dichten (gesammelt Breslau 1835), von denen seine Deutung zur Harzreise im Winter (1820) beim Dichter selbst wohlwollende Aufnahme fand u. als frühes Beispiel der Goethe-Exegese bestehen blieb. 1810 gab er mit Johann Gustav Gottlieb Büsching drei Bände der Zeitschrift »Pantheon« heraus. K.s zahlreiche eigene Dichtungen jeder Gattung, v. a. Dramen (z.B. Adrast. In: Dramatische Spiele. Bln. 1810. Dorothea. 1829 aufgeführt. Isenbart. Bln. 1843. Iphigenia. Lpz. 1843) u. Gelegenheitslyrik, blieben ohne Wirkung. K.s Hauptbedeutung beruht auf seinen vielfältigen Aktivitäten als Vermittler fremdsprachiger Literatur; spätestens seit 1803 publizierte er Übersetzungen oder Nachdichtungen, wobei er sich die älteren Sprachstufen des Deutschen sowie das Griechische u. Lateinische, Englische, Dänische, Schwedische, Polnische, Provenzalische, Französische u. bes. das Italienische zu eigen machte. 1809–1821 erschien erstmals seine Übertragung von Dantes Göttlicher Komödie (Amsterd. bzw. Lpz.); 1827 folgten (in Zusammenarbeit mit Karl Witte) dessen Lyrische Gedichte u. 1845 die Prosaischen Schriften (beide Lpz.). K.s Andenken lebt daher v. a. in den Annalen der dt. Dante-Forschung. Weitere Werke: Märchen für Kinder. Breslau 1835. – Abriß der Gesch. der Philosophie. Lpz. 1837. – Abriß der Gesch. der dt. Lit. Bunzlau 1838. – Der dt. Redner. Lpz. 1845. – Übersetzungen: Beaumont u. Fletcher: Dramat. Werke. Bln. 1808. – Horaz: Oden. Prenzlau 1820. – Chaucer: Canterburische Erzählungen. Zwickau 1827. – Mickiewicz: Konrad Wallenrodt. Lpz. 1834. – Leopardi: Gesänge. Lpz. 1837. Literatur: Karl Gabriel Nowack: Schles. Schriftstellerlexikon. Breslau 1836. – Friedrich August Eckstein: K. In: Ersch/Gruber 2, 32. – Goedeke. – Hermann Palm: K. F. L. K. In: ADB. – Friedrich August Eckstein: Nomenclator philologorum. Lpz. 1871. – W. Theodor Elwert: K. F. L. K. In: NDB. Achim Hölter
K., Sohn eines Pfarrers, studierte in Halle Theologie u. Philosophie, wurde 1807 Lehrer in Berlin u. promovierte 1808 in Erlangen zum Dr. phil. 1811 wechselte er nach Prenzlau, 1822 nach Breslau. Dort wirkte er gleichzeitig als Gymnasialdirektor u. Universitätsdozent, bis er sich 1843 ins Privatleben nach Berlin zurückzog. K. repräsentiert Kant, Hermann, * 14.6.1926 Hamburg. – die praktisch-akadem. Seite der romant. LiErzähler u. Essayist. teraturwissenschaft mit dem Schwerpunkt einer Vergegenwärtigung des gesamteurop. K., Sohn eines Gärtners, wuchs in kleinbürLiteraturspektrums. gerlich-proletar. Milieu auf u. absolvierte K. verfasste Zeitschriftenbeiträge, wissen- eine Elektrikerlehre, ehe er kurz vor Kriegsschaftl. Aufsätze, philolog. Schulprogramme ende zur Wehrmacht einberufen wurde u. u. speziell Interpretationen zu Goethes Ge- nach wenigen Wochen in poln. Gefangen-
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schaft geriet. Er verbrachte vier Jahre im Arbeitslager Warschau u. wurde dort Gründungsmitgl. eines »antifaschistischen« Komitees u. Lehrer an einer Antifaschule. Nach der Entlassung 1949 entschied er sich für die SBZ/DDR u. wurde Mitgl. der SED. K. besuchte die Arbeiter-und-Bauern-Fakultät (ABF) in Greifswald, studierte in Berlin Germanistik u. wurde dort 1956 wissenschaftl. Assistent. Später war er Redakteur der vom Schriftstellerverband herausgegebenen Zeitschrift »Neue Deutsche Literatur« u. polit. Feuilletonist beim »Neuen Deutschland«. 1978 wurde er nach neunjähriger Vizepräsidentschaft zum Präsidenten des Schriftsteller-Verbands der DDR gewählt. Anfang 1990 musste er nach heftigen Protesten Ostberliner Autoren, die ihm v. a. seine Haltung beim Verbandsausschluss von neun Kollegen 1979 verübelten, zurücktreten. 1981–1990 war K. Abgeordneter der Volkskammer, 1986–1989 Mitgl. des ZK der SED; 1990 wurde er Mitgl. der PDS, später Die Linke. 1967 erhielt K. den Heinrich-Mann-Preis, 1973 den Nationalpreis I. Klasse der DDR, 1983 den Nationalpreis der DDR für Kunst u. Literatur u. 1986 den Orden der Völkerfreundschaft des Obersten Sowjet der UdSSR. 1992 wurde K.s Identität als engagierter Stasi-IM Martin aufgedeckt, die er selbst störrisch bestreitet. Über 2000 Seiten aussagekräftiger Akten aus einer fast 20-jährigen Zuarbeit bieten aber ein polit., literar. u. psycholog. Panorama, das ideolog. Fixierung u. machtpolit. Stringenz überdeutlich belegt. Vor diesem Hintergrund werden K.s immer auch autobiogr. Romane u. Erzählungen zunehmend kritisch gelesen, in ihrer literar. Bedeutung aber weiterhin weitgehend anerkannt. K. brachte einen iron. u. damit durchaus modernen Ton in die DDR-Literatur ein, der bereits in seinen ersten Erzählungen (Ein bißchen Südsee. Bln./DDR 1962) anklingt, in denen Kindheit, Kriegserlebnisse u. Alltagsszenen aus der DDR beobachtet u. witzig beschrieben werden. Der leichte u. verspielte Stil, der genau darin ein krit. Potenzial haben könnte, wird heutigen Lesern zum Ärgernis, wo er dazu dient, gegenläufiges Handeln des Autors zu entschuldigen.
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Berühmt wurde K. durch den Roman Die Aula (Bln./DDR 1965). Am Werdegang von Studenten des ABF-Jahrgangs 1949 schildert er die Heranbildung einer sozialistischen Intelligenz u. bekennt sich zur DDR-Gegenwart. Ereignisse auf den verschiedenen Zeitebenen sind in einer losen Folge von Episoden u. Figurenerinnerungen assoziativ verknüpft. Mit einer Fülle von schnurrigen Details u. skurrilen Einfällen ist das Buch außerordentlich unterhaltsam. Ideologische Prämissen der DDR bilden den unhinterfragten, meist nur impliziten Rahmen. Ein Grund für den Erfolg des Buchs in der DDR war, dass K. mit der Aula eine Art kollektiver Autobiografie gelang, die heute von histor. Interesse sein kann. K.s Erzähltalent beförderte wesentlich die internat. Wirkung der DDR-Literatur. Das Erscheinen des zweiten Romans (Das Impressum. Bln./DDR 1972) verzögerte sich aufgrund offizieller Vorbehalte, die anhand der nunmehr vorliegenden Stasi-Akten nachzuvollziehen sind, um mehrere Jahre. Der Roman schildert einen Arbeitstag im Leben eines Journalisten, der Minister werden soll, sich dagegen sträubt u. den Entscheidungsprozess zu Rückschau u. Selbstreflexion nutzt. Auch hier durchdringen Erinnerungen, Episoden u. Anekdoten die erzählzeitlich gegenwärtigen Ereignisse u. formieren sich beiläufig zur Lebensgeschichte eines Aufsteigers. Im Mittelpunkt steht die Selbstbefragung eines sozialistischen Intellektuellen, die mit einem klaren Bekenntnis zur Trennung von Hand- u. Kopfarbeit endet. Indem der Roman Erreichtes beschönigt, gewinnt er Züge eines Traktats. In Der Aufenthalt (Bln./DDR 1977) greift K. die Themen Krieg, Verantwortlichkeit u. Mitschuld auf. In der weitschweifigen Geschichte des Kriegsgefangenen Mark Niebuhr erkennt dieser – fälschlich von einer Polin des Mordes beschuldigt u. in der Haft mit Nationalsozialisten unterschiedlichster Provenienz konfrontiert –, dass auch er hätte schuldig werden können. Der Held ist am Ende einsichtig u. immun gegen künftigen Faschismus; der Roman entpuppt sich als sozialistische Version des tradierten Entwicklungsromans.
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Weitere Werke: In Stockholm. Bln./DDR 1971 In seiner Kurzprosa (Eine Übertretung. Bln./ DDR 1975. Der dritte Nagel. Ebd. 1981), v. a. (Texte zu einem Bildbd. v. Lothar Reher). – Die dem ungewohnt scharfzüngigen Bronzezeit Summe. Bln./DDR 1987 (E.). (ebd. 1986) erweist sich K. als versierter Rhe- 3 Literatur: Leonore Krenzlin: H. K. Bln./DDR 1988. – Die Akte Kant. IM ›Martin‹, die Stasi u. die toriker, dessen durchaus witzige Detailkritik Lit. in Ost u. West. Hg. Karl Corino. Reinb. 1995. – aber in systemtreuer Plauderei aufgeht. Seine Manfred Jäger u. Nicolai Riedel: H. K. In: KLG. – ziellose Eloquenz, die zu seiner kulturpolit. Marie-Hélène Quéval u. Isabelle Ruiz: Lectures Stringenz in Widersprucht steht, kommt d’une œuvre. ›Die Aula‹, H. K. Paris 1999. – Katrin auch in feuilletonistischen Äußerungen u. Hillgruber: H. K. In: LGL. Reden zur Geltung (Zu den Unterlagen. PubliHannes Krauss / Christophe Fricker zistik 1957–1980. Bln./Weimar 1981) u. wird seit 1989 als Feigheit u. Manierismus kriti- Kant, Immanuel, * 22.4.1724 Königsberg, siert. † 12.2.1804 Königsberg; Grabstätte: ebd., K.s Autobiografie Abspann. Erinnerung an Dom. – Philosoph. meine Gegenwart (Bln. 1991), begonnen noch zu DDR-Zeiten, wurde als leichtfertiges Als viertes von neun Kindern des RiemerWeißwaschen eines kontroversen Lebens meisters Johann Georg Kant besuchte K. verurteilt. Rahmen des stark autobiogr. ge- 1732–1740 das streng pietistische Gymnasifärbten Romans Kormoran (ebd. 1994) ist die um Fridericianum seiner Heimatstadt KöGeburtstagsfeier eines Autors; sie bietet An- nigsberg. 1740–1746 studierte er an der dortigen Universität. Besonderen Einfluss lass zu bitteren, polem. Stellungnahmen zur hatte der Professor der Logik u. Metaphysik, Zeitgeschichte, v. a. gegen die Aufarbeitung Martin Knutzen (1713–1751), der K.s lebgewaltsamer Aspekte der DDR-Geschichte. haftes Interesse an den Naturwissenschaften Der Roman Okarina (ebd. 2002) erzählt aufs weckte u. ihm Newtons Werke bekannt Neue, aber im gewohnten, unterhaltsamen, machte. wortverliebt indirekten Stil einen Lebenslauf 1746, nach dem Tod des Vaters (die Mutter von der Wehrmacht über das Hamburg der war bereits 1737 gestorben), schloss K. mit 1950er Jahre, die DDR bis in die Gegenwart. der Erstlingsschrift Gedanken von der wahren Die Begegnung mit einem Flöte spielenden Schätzung der lebendigen Kräfte (Königsb. 1746) Stalin wird zum ideologisch prägenden Er- sein Studium ab. Er versuchte hier zwischen lebnis eines Kriegsgefangenen; seine folgen- Descartes u. Leibniz hinsichtlich der Bestimde kulturpolit. Parteiarbeit u. Stasi-Mitarbeit mung des Kraftmaßes aus Masse u. Gewerden als histor. Unfall heruntergespielt. schwindigkeit zu vermitteln. Die Schrift Nach dem Mauerfall zieht sich der Protago- brachte ihm Lessings Spott ein: »Er schätzet nist nach Mecklenburg zurück, wo auch K. die lebendgen Kräfte, nur seine schätzt er heute lebt. Autobiografische u. fiktive Ele- nicht« (Sämtliche Schriften. Bd. 1, Stgt. 1886, mente durchdringen sich u. lassen Geschichte S. 41). im subtilen Sprachspiel aufgehen. K.s komK. begann eine etwa neunjährige Zeit als positor. Talent prägt auch den recht kurzen Hauslehrer (Hofmeister) bei verschiedenen Roman Kino (ebd. 2005), der trotz einer kon- Familien in Ostpreußen, wie damals bei unzentrierten Anlage (der Protagonist campiert bemittelten jungen Gelehrten üblich. 1754, in der Hamburger Innenstadt, um sich selbst nach Abschluss der ersten bedeutenden Abu. die Passanten zu studieren) anspielungs- handlung Allgemeine Naturgeschichte und Theoreich leitmotivisch u. sprachvirtuos ist. Nach rie des Himmels (Königsb./Lpz. 1755), kehrte K. dem Wegfall ideolog. Verpflichtungen klin- nach Königsberg zurück, wurde zum Magisgen diese als melanchol. Reminiszenzen in ter promoviert, habilitierte sich u. nahm eine postmoderner Beliebigkeit nach, auf deren thematisch überaus breite, erfolgreiche u. Basis sich in Zeiten globalisierungskrit. Un- auch einträgl., aber sehr zeitraubende (16 bis korrektheiten womöglich Deutungsansätze 26 Wochenstunden) Vorlesungstätigkeit auf. auch für K.s Werk vor 1989 ergeben könnten. Er las über Logik, Metaphysik, Moralphilo-
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sophie, Mathematik, Physik, Geografie, später auch über Anthropologie, Pädagogik, Naturrecht, natürl. Theologie, gelegentlich sogar über Festungsbau. Außer in der Geografie, die er als akadem. Lehrfach eingeführt hat, las er entsprechend dem damaligen obligator. Brauch anhand anerkannter Lehrbücher, freilich mit souveräner Freiheit u. in ständiger krit. Auseinandersetzung mit der Vorlage; er regte dadurch seine Hörer zu selbständigem Nachdenken u. krit. Distanz gegenüber allen Autoritäten an. Der vielseitig interessierte u. gebildete junge Gelehrte wurde als anregender Gesprächspartner auch in der Königsberger Gesellschaft geschätzt; er nahm an ihrem Leben gern Anteil u. hieß der »elegante Magister«. Hamann, mit dem K. eine nicht ungestörte freundschaftl. Beziehung (trotz stark divergierender Grundansichten) aufrecht erhielt, bedauerte brieflich, wohl übertreibend, K. werde »durch einen Strudel gesellschaftlicher Zerstreuungen fortgerissen« (an Johann Gotthelf Lindner, 1.2.1764). K.s ungesicherte wirtschaftl. Lage besserte sich erst 1770, als ihm die schon 1758 vergeblich erhoffte Professur für Logik u. Metaphysik übertragen wurde. Rufe nach Erlangen (1764) u. Jena (1770) hatte K. abgelehnt. Er folgte auch nicht einer ehrenvollen Berufung zu günstigen Bedingungen nach Halle (1778), trotz dringender Bitte des ihm gewogenen Kultusministers Karl Abraham von Zedlitz (dem K. 1781 die Kritik der reinen Vernunft widmete). Aus den Schriften der »Magisterzeit« sind Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes (Königsb. 1763), die weithin wirksamen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen (ebd. 1764), die Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik (ebd. 1766) über Swedenborg u. die lat. Inauguraldissertation (anlässlich der Übernahme des Ordinariats) De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (ebd. 1770) v. a. zu nennen. Nach 1770 verfiel der bis dahin so fruchtbare wissenschaftl. u. philosophische Autor in ein den Zeitgenossen unverständl. Schweigen; er arbeitete aber mit äußerster Anstrengung an der Auflösung der in der Inauguraldissertation behandelten
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Probleme des Verhältnisses von Anschauung u. Verstand, von Erfahrungs- u. Vernunfterkenntnis. 1781 legte er, inzwischen 57-jährig, die Ergebnisse in der Kritik der reinen Vernunft (Riga) vor, die er nach Vorarbeiten durch »mehr als zwölf Jahre [...] in etwa vier bis fünf Monaten« (an Garve, 7.8.1783. AA 10, Nr. 187. 2. Aufl. Nr. 205) niedergeschrieben hatte. Im folgenden Jahrzehnt kam es zur Veröffentlichung der weiteren Werke, die als Dokumente der krit. Philosophie Epoche gemacht haben: die Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können (Riga 1783), ein Versuch, die Lehre der Kritik der reinen Vernunft knapp u. fasslich darzustellen u. zgl. gegen Missverständnisse zu verteidigen; 1785 veröffentlichte K. die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Riga), 1786 die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (Riga) – genau 100 Jahre nach Newtons Philosophiae Naturalis Principia Mathematica u. in Anspielung auf deren Titel. 1787 kam die zweite, wesentlich veränderte Auflage der Kritik der reinen Vernunft (Riga) heraus, 1788 die Kritik der praktischen Vernunft, schon 1790 die Kritik der Urteilskraft (Bln./Libau). Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Königsb. 1793) verwickelte K. in einen ernsten Konflikt mit der preuß. Regierung unter Friedrich Wilhelm II. u. seinem Kultusminister von Wöllner. Durch Kabinettsordre vom 1.10.1794 wurde K. jede weitere Religionskritik verboten; bei »fortgesetzter Renitenz« wurden ihm »unangenehme Verfügungen« angedroht. K. fügte sich dem Verbot der Veröffentlichung (auf Dauer der Lebenszeit des Königs, wie er einschränkend interpretierte), ohne in der Sache etwas zu widerrufen oder zurückzunehmen. 1795 erschien die Schrift Zum ewigen Frieden (Königsb.) mit dem zukunftsweisenden Vorschlag eines Völkerbunds republikan. Staaten, der die Herrschaft des Rechts auch unter den Völkern befördern sollte, 1797 die Metaphysik der Sitten (ebd.) mit ihren beiden Teilen, den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre u. den Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre, 1798 der Streit der Fakultäten u. im selben Jahr die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (beide Königsb.). Im Juli 1796 stellte
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K. seine überaus erfolgreiche u. weit über die Philosophie hinaus wirksame Vorlesungstätigkeit ein; 1801 zog er sich aus den akadem. Ämtern zurück. Nach allmähl. Erschöpfung der geistigen u. (ohnehin stets zarten) körperl. Kräfte starb K. kurz vor seinem 80. Geburtstag. Die philosophische Entwicklung K.s kann man in zwei Perioden einteilen: die vorkritische (1746–1770) u. die kritische (1770–1804). Die erste Periode kann in zwei Phasen 1746–1756 u. 1756–1770 unterteilt werden. Die krit. Periode lässt sich ebenso in die Zeit der Entfaltung der krit. Transzendentalphilosophie u. die der Alterswerke (ab 1790) gliedern. Bis zur kosmolog. Abhandlung von 1755 (Allgemeine Naturgeschichte [...]) war K.s Interesse v. a. der philosophischen Durchdringung der am Modell Newtons orientierten Naturwissenschaften gewidmet. Sein Ruhm als Urheber der Revolution der Philosophie verdunkelt die Tatsache, dass ihm aufgrund seiner Schriften der vorkrit. Zeit auch in der Geschichte der Naturwissenschaften ein ehrenvoller Platz zusteht: Sein Versuch einer rein mechan. Erklärung der Entstehung des Universums u. des Sonnensystems wurde, lange Zeit nicht beachtet, im 19. Jh. unter dem – irreführenden – Namen »KantLaplacesche Theorie« eine Diskussionsgrundlage der Astronomie (Laplace hatte 1796, unabhängig von K., eine ähnl., aber in wichtigen Punkten abweichende Erklärung gegeben). K. war auch der Erste, der die Vermutung aussprach, die sog. »Nebelsterne« seien in Wahrheit entfernte Galaxien, die zusammen mit unserer Milchstraße ein möglicherweise bis ins Unendliche hierarchisch gegliedertes System von Sternensystemen bilden könnten. K.s These (1754), dass die Reibungseffekte der Gezeiten die Erdumdrehung allmählich verlangsamen müssten, ist ebenfalls erst nach einem Jahrhundert von Neuem aufgestellt worden (Robert Mayer, 1848; K. hatte den Effekt allerdings um den Faktor 100 zu hoch angesetzt). Auch mit der Hypothese, die Passat- u. Monsunwinde gingen auf die Erdumdrehung zurück (1756), betrat K. wissenschaftl. Neuland.
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In der zweiten Phase der vorkrit. Zeit (1756–1770) war K.s Interesse an den Naturwissenschaften noch lebhaft, aber in den Vordergrund trat allmählich die Auseinandersetzung mit der Leibniz-Wolffschen Schulphilosophie, die, bes. mit dem Konzept einer rationalen Metaphysik u. Moralphilosophie, die philosophische Diskussion in Deutschland noch beherrschte. Der Einzig mögliche Beweisgrund von 1763 verwirft drei der traditionellen Gottesbeweise, u. auch den vierten, den ontolog. Gottesbeweis, lehnte K. in der von Descartes vorgelegten Form ab, hielt ihn aber in einer anderen Version für stringent, oder, genauer, hielt es für möglich, dass aus der angegebenen Beweisidee ein schlüssiger Beweis entwickelt werde. Die Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral von 1764 (als Preisschrift der Kgl. Akademie der Wissenschaften in Berlin eingereicht, die den Preis an Moses Mendelssohn vergab, K. aber einen ehrenvollen zweiten Platz einräumte u. die Abhandlungen in einem Band veröffentlichte) ist noch von der begründeten Aussicht bestimmt, in der Metaphysik u. rationalen Theologie strikte Evidenz zu erreichen; hinsichtlich der Moralphilosophie lässt K. es aber offen, ob die Grundsätze der Moral aus dem Erkenntnisvermögen oder dem Gefühl zu gewinnen seien (im Gegensatz zu seiner späteren Vernunftethik). Unmittelbar an die Grenzen der krit. Philosophie führte dann die Inauguraldissertation von 1770 (De mundi sensibilis): Hier werden Anschauung u. Verstand als zwei voneinander unabhängige Quellen der Erkenntnis betrachtet; die Anschauung, deren subjektive Bedingungen Raum u. Zeit sind, liefert uns Erkenntnis von den Dingen als Erscheinungen; der Verstand vermittelt uns Erkenntnis von den Dingen, wie sie sind. Die Widersprüche der Metaphysik rühren aus einer Vermischung der reinen Verstandeserkenntnis mit sinnl. Anteilen her. Wie K. selbst brieflich (an Markus Herz, 1.5.1781. AA 10, Nr. 151. 2. Aufl. Nr. 164) sagt, ist die Kritik der reinen Vernunft aus weiteren Reflexionen auf die in der Dissertation von 1770 zuerst behandelten Probleme hervorgetreten.
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Die Grundfrage, die K. in der Kritik der reinen Vernunft beantworten will, ist die nach der Möglichkeit von Erkenntnis aus »reiner Vernunft«: Können wir durch bloßes Nachdenken, d.h. ohne uns auf Erfahrung u. damit zuletzt auf sinnl. Wahrnehmung zu stützen, etwas über die Elemente u. Strukturen der Wirklichkeit wissen? Es geht also um die Prüfung der Reichweite menschl. Vernunft, zgl. um die Grenzziehung zwischen dem Bereich, innerhalb dessen reine Vernunft zu objektiver Einsicht gelangen kann, ohne auf Wahrnehmung gestützt zu sein, u. jenem Bereich, in dem ihr solche Einsichten verschlossen sind. In diesem Zusammenhang spricht K. von der »kopernikanischen Revolution«, die er auch für die Metaphysik vorschlagen will: Das Beispiel der Logik u. Mathematik zeige, dass die Vernunft in den Gegenständen dieser Wissenschaften nur das wiederentdeckt, was sie, im Falle der Logik mit den korrekten Denkformen, im Falle der Geometrie durch Begriffsbildung u. Konstruktion im Anschauungsraum, implizit den Gegenständen schon eingeprägt habe. Das gelte auch für die Physik, denn auch in der Natur sieht »die Vernunft nur das ein, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt« (Kritik der reinen Vernunft, B XIII. AA 3, S. 10). Auch die Metaphysik, so K.s Programm, muss den Spuren der spontanen Tätigkeit der Vernunft nachgehen, wenn sie Wissenschaft werden will: »Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntniß müsse sich nach den Gegenständen richten; [...] man versuche es [...] einmal, ob wir nicht [...] damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntniß richten« (B XVI. AA 3, S. 11 f.). So habe auch Copernicus zur besseren Erklärung der Himmelsbewegungen die Annahme, die Gestirne drehten sich um uns, durch die Hypothese ersetzt, der Zuschauer drehe sich, während die Sterne ruhen. Copernicus hatte nun nicht behauptet, all e Bewegungen der Himmelskörper seien Scheinbewegungen. Ebensowenig will K. alle Eigenschaften der Gegenstände auf unsere Erkenntnisart zurückführen. Genau der Bereich des Inbegriffs solcher Eigenschaften, welche die Dinge, die wir erkennen, eben
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deshalb haben, weil sie unsere Erfahrungsgegenstände sind, ist das Gebiet, in dem wahre Aussagen über die Wirklichkeit möglich sind, die vor aller Erfahrung, d.h. a priori, gelten. Die erste Frage, die sich nach diesem neuen Programm einer wissenschaftl. Metaphysik stellt, ist die, wie man den Anteil feststellen kann, den unsere bes. Erkenntnisart zur Erfahrungswirklichkeit beisteuert. Hier wird das zentrale Lehrstück von den synthetischen Urteilen a priori bedeutsam. Die Strukturen unseres Erkenntnisvermögens sind uns offenbar nicht in innerer Wahrnehmung unmittelbar zugänglich. Wir können sie nur indirekt am Widerschein dieser Strukturen in den Eigenschaften der Gegenstände ablesen. Durchgehendes Merkmal solcher struktureller Eigenschaften ist ihre strikte Allgemeinheit u. Notwendigkeit. Erfahrungserkenntnis (die sich in Urteilen a posteriori ausspricht) kann niemals Sätze von strikter Allgemeingültigkeit u. Notwendigkeit liefern. Es gibt aber auch allgemeingültige u. notwendige Sätze, die nicht über die Struktur der Wirklichkeit informieren, sondern nur über logische Zusammenhänge zwischen benutzten sprachl. Ausdrücken. K. unterscheidet daher drei Gruppen von Erkenntnissen: 1. Erfahrungserkenntnisse (Beispiele: »Alkoholgenuß verringert die Fahrtüchtigkeit« oder »Gestern herrschte an der Nordseeküste Sturm«); 2. Erkenntnisse, die logische Beziehungen von Begriffen betreffen (Beispiele: »Rappen sind schwarze Pferde« oder »Wenn A Vater von B ist, dann ist B Sohn oder Tochter von A«); u. 3. die (eigentlich interessante u. problemat.) Gruppe von Erkenntnissen, die solche Eigenschaften von Gegenständen betreffen, die mit den formalen Bedingungen aller Erfahrung gesetzt sind (Beispiele: »Der Raum hat drei Dimensionen« oder »Jede Veränderung hat eine Ursache«). Zur Unterscheidung dieser Gruppen führt K. die Begriffspaare a priori – a posteriori u. analytisch – synthetisch ein. A priori ist erfahrungsunabhängige, a posteriori erfahrungsabhängige Erkenntnis. Analytisch heißen Urteile, die bloß erläutern, was in den verwendeten Begriffen schon implizit enthalten ist. Synthetische Urteile fügen et-
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was hinzu, das aus den bloßen Begriffen noch nicht folgt. Es ergibt sich sofort, dass analyt. Urteile a priori gültig sein müssen; dass es solche Urteile gibt, zeigen die Beispiele. Synthetische Urteile können a priori oder a posteriori sein. Synthetische Urteile a posteriori sind problemlos; ob es aber tatsächlich synthet. Urteile a priori gibt, ist eine (bis heute) umstrittene Frage. K. war entschieden der Meinung, es gebe sie: Klare Fälle sind für ihn die Urteile der Geometrie u. Arithmetik, aber auch die von ihm so genannten Grundsätze der »reinen Naturwissenschaft« wie das Trägheitsgesetz, das Prinzip der Erhaltung der Substanz (heute würde man vorziehen: der Energie) u. das Kausalprinzip. Grundfrage der Kritik der reinen Vernunft ist daher: »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« (B 19. AA 3, S. 39). K. legt zugrunde, »daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen, nämlich Si n nl ic h kei t und Ver st a nd , durch deren ersteren uns Gegenstände gege be n, durch den zweiten aber ged a c ht werden« (B 29. AA 3, S. 46). Jeder der beiden »Stämme« enthält apriorische Erkenntnisbedingungen: Im Bereich der Sinnlichkeit sind es die Anschauungsformen Raum u. Zeit; für den Verstand sind es die reinen (erfahrungsfreien) Verstandesbegriffe, die »Kategorien«. Den Beweis, dass Raum u. Zeit subjektive, aber für menschl. Erkennen notwendige Anschauungsformen sind, führt K. in der überaus kurzen Transzendentalen Ästhetik (AA 3, S. 49–73); er zeigt, dass Raum u. Zeit nicht durch Erfahrung gewonnen werden können, weil sie allen Wahrnehmungen als Ordnungssysteme schon immer zugrunde liegen. Die Geometrie ist die Strukturbeschreibung unserer Raumanschauung, die Arithmetik ist entsprechend in unserer Zeitanschauung fundiert (wie, bleibt bei K. eher dunkel). Der physikal. Raum u. alles, was sich in ihm abspielt, muss den Gesetzen der euklidischen Geometrie genügen, weil er für K. nur das intentionale Korrelat unserer subjektiven Raumanschauung ist. (Die Gleichsetzung von Anschauungsraum, geometr. Raum u. physi-
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kal. Raum ist eine der Schwächen der kantischen Theorie.) Auch dem Denken weist K. einen Grundbestand apriorischer Strukturen zu. Der Nachweis ist aber hier ungleich schwieriger als im Fall der Anschauungsformen Raum u. Zeit. Denn diese bestimmen jeden Erfahrungsgegenstand, aber nicht jede Erscheinung repräsentiert schon die reinen Verstandesbegriffe u. ihre Funktionen. Es bedarf daher eines neuen Ansatzes, den K. in der Transzendentalen Analytik (AA 3, S. 83–233) stufenweise durchführt. Er sieht sich vor die Frage gestellt, wie es dazu kommt, dass wir uns als ei n Subjekt in ei ne r Welt von Gegenständen u. Vorgängen erleben, obwohl die uns zunächst zugängl. Sinnesdaten eine räumlich u. zeitlich ausgebreitete unübersehbare Mannigfaltigkeit bilden. Wie wird aus dem »Gewühl von Empfindungen« e in e Natur? Und wie aus dem Chaos von wechselnden Bewusstseinsinhalten ei ne Person, ei n Subjekt? K.s Antwort: Dies ist die Leistung der einheitsstiftenden Funktion des Denkens. Nächster Schritt: Wo finde ich diese Einheitsfunktion des Denkens? K.s Antwort: In der Logik, deren Urteilsformen die verschiedenen Griffe ausdrücken, mit denen das Denken verschiedene Vorstellungen in einem Urteil vereinigt. Aus den zwölf Urteilsformen der herkömml. Logik (K. legt sich dieses System freilich für seine Zwecke etwas zurecht!) ergeben sich so die zwölf Kategorien, als »Begriffe von einem Gegenstand überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen als bestimmt angesehen wird« (B 128. AA 3, S. 106). So liefert die Urteilsform des bejahenden Urteils die Kategorie »Realität«, das kategor. Urteil der Form »S ist P« die Kategorie von »Substanz und Akzidenz«, das hypothet. Urteil »Wenn p dann q« die Kategorie der »Kausalität« usf. Aus den Empfindungsdaten erschafft die denkende Bearbeitung der Erscheinungen zunächst Gegenstände; die weitere Durchdringung der Erscheinungen führt zu komplexen Gruppen von Gegenständen, die in Prozesse eingebettet sind, u. schließlich zu einer von Naturgesetzen beherrschten einheitl. Erfahrungswelt.
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Woher können wir aber wissen, dass diese Kategorien keine »Hirngespinste« sind, sondern objektive Realität haben? Diese Frage beantwortet K. in dem schwierigsten Kapitel der Kritik der reinen Vernunft, der »Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe«. Die hierfür maßgebende Einsicht ist, dass alle meine Vorstellungen unter den Bedingungen der systemat. Einheit des Denkens stehen müssen, weil sie sonst nicht m ein e Vorstellungen sein könnten (B 138. AA 3, S. 112). Denn das »Ich d e nk e« muss alle meine Vorstellungen begleiten k ö nn en (B 131. AA 3, S. 108). Das Ich ist für K. keine Substanz mehr, wie noch für Descartes. Es ist nur der Beziehungspol für die einheitsstiftende Funktion des Denkens, ja es ist dieses Denken selbst. Die Einheit des Ich u. die Einheit der Welt sind für K. nur zwei Aspekte derselben Sache. Die Integration des Subjekts geschieht u. wird erhalten durch die Aufbauleistung einer gegliederten, aber bruchlos zusammenhängenden Welt der Erscheinungen. Damit ist die Grundfrage nach den synthet. Urteilen a priori u. ihrer Gültigkeitsbasis beantwortet: Es gibt sie, u. sie haben objektive Gültigkeit, weil sie sich auf die reinen Anschauungsformen Raum u. Zeit u. die reinen Verstandesbegriffe, die Kategorien, beziehen, die zusammen den Rahmen aller mögl. Erfahrung festlegen. Es gibt also allgemeingültige u. notwendige Aussagen über die Gegenstände der Wirklichkeit, die nicht erst durch Erfahrung beglaubigt werden müssen. Freilich gilt dies nur für den Bereich mögl. Erfahrung; über die Dinge, wie sie unabhängig von den Bedingungen mögl. Erfahrung sein mögen, können wir schlechterdings nichts wissen. Dies ist K.s – geniale – Synthese von Rationalismus u. Empirismus. Bloße Vernunft lehrt uns etwas über die Wirklichkeit, wie die Rationalisten behaupten, aber das gilt nur für Gegenstände mögl. Erfahrung. Tatsächlich ist, wie die Empiristen meinen, alle unsere Wirklichkeitserkenntnis an Erfahrung gebunden, aber nun nicht nur, wie David Hume wollte, an tatsächl. Erfahrung (impressions), sondern an mögl. Erfahrung. Darum kann z.B. das Kausalprinzip gegen Humes skept.
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Argumente als objektiv gültig erwiesen werden: Es gehört zu den Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung. Diese neue Metaphysik der Natur definiert die Grenzen mögl. Erfahrung u. damit den Bereich der objektiven Wissenschaft; die alte, nun nicht mehr haltbare Metaphysik kann dadurch charakterisiert werden, dass sie versuchte, diese menschl. Erkenntnis gezogenen Grenzen zu überschreiten. Der umfangreiche zweite Teil der Kritik der reinen Vernunft u. d. T. der Transzendentalen Dialektik ist dem Nachweis gewidmet, dass jede solche Grenzüberschreitung der Vernunft ins Unbedingte zu Leerlauf u. Selbstwidersprüchen führen muss. Die unaufhörl. Streitigkeiten über Endlichkeit oder Unendlichkeit der Welt nach Raum u. Zeit, die Existenz Gottes, die Unsterblichkeit der Seele, Freiheit oder Determinismus im menschl. Handeln – sie alle rühren daher, dass die Anschauungsformen u. Kategorien, die allein zur Ordnung des Erfahrungsstoffs taugen, auf Gegenstände angewendet werden, die prinzipiell nicht Erfahrungsgegenstände werden können. K.s Ethik ist das hervorragende Beispiel einer autonomen, d.h. von keiner anderen Autorität als der menschl. Vernunft abhängigen, u. deontologischen, d.h. moralische Gebote um ihrer selbst willen, nicht um anderer vorausgesetzter Zwecke willen, als verbindlich erklärenden Moralphilosophie. Sie ist außerdem, mit dem Zentralbegriff des »Kategorischen Imperativs«, wenn auch oft missverstanden, so wirkungsvoll geworden, dass die Nachzeichnung des kantischen Gedankengangs kurz sein kann. Nach K. unterwerfen wir Menschen unser Handeln gewissen Regeln. Von diesen Regeln sind nun die einen hypothetisch, die anderen kategorisch, d.h., die einen sind für uns nur dann verbindlich, wenn wir uns bestimmte Zwecke vorgesetzt haben, die anderen, die K. »kategorisch« nennt, erheben den Anspruch, unbedingt, also ohne Ansehen irgendeines bestimmten Zwecks, gültig zu sein. Beispiele für hypothet. Imperative: »Wenn Du glücklich leben willst, so achte auf Deine Gesundheit!« oder »Wenn Du Violinvirtuose werden willst, so übe fleißig!« Zwischen diesen bei-
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den besteht noch der Unterschied, dass nur wenige Leute Violinvirtuosen werden wollen, während jeder Mensch nach Glück strebt. Aber beiden gemeinsam ist, dass sie die gebotene Handlung nur als zu einem Zwecke gut empfehlen. Dagegen gebieten Forderungen wie »Lüge nicht!« oder »Halte Deine Versprechen!« ohne jeden Hinweis auf irgendeinen Zweck oder Erfolg; sie sind als kategor. Imperative bedingungslos gültig. Was macht nun solche Imperative für uns verbindlich? Bei den hypothet. Regeln ist es offensichtlich unser W un sc h , das angegebene Ziel zu erreichen, der uns verpflichtet, auch das Mittel zu wollen. Kategorische Imperative nehmen auf unsere Wünsche keine Rücksicht; darum muss ihre Verbindlichkeit in ihnen selbst liegen, u. K.s epochemachender Gedanke war, dass es die reine Allgemeinheit dieser Forderung selbst sein könnte, die uns zum Gehorsam ihnen gegenüber verpflichtet. Das Prinzip aller kategor. Imperative ist die bekannte Formulierung: »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die Du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde!« (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, S. 52. A.A. 4, S. 421). Damit ist etwas zunächst Einfaches gemeint: Wer sich überlegt, ob er lügen darf, muss sich sagen, dass, wenn alle lügen würden, das nicht nur nicht schön wäre (dies meint die sog. »Goldene Regel«), sondern dass dieser Zustand allg. Lügens nicht sinnvoll vorgestellt werden könnte. Die Lüge setzt voraus, dass sie geglaubt wird; aber gerade dies wäre ausgeschlossen, wenn jeder wüsste, dass ihm jeder andere nach Belieben die Unwahrheit sagt. Allgemein: Jede sittlich schlechte Handlung muss die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit aufheben. Der Mensch ist als Vernunftwesen frei, d.h., er muss sich die Gesetze seines Handelns selbst geben. Sich selbst aber ein Gesetz geben, das nicht als allg. Gesetz dienen kann, heißt, sich ein Gesetz geben, das kein Gesetz ist, u. das ist ein Widerspruch, unwürdig eines vernünftigen Wesens. So leitet K. aus der Tatsache, dass der Mensch ein Vernunftwesen ist, seine Verpflichtung ab, den kategor. Imperativ zu be-
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folgen. Damit hätten wir ein Kriterium des sittl. Werts von Handlungen, das selbst keine moralischen Begriffe voraussetzt. Denn es genügt ja der Begriff der Verallgemeinerungsfähigkeit einer Regel. Jedoch hat K. wohl die Tragweite seines Ansatzes überschätzt. Nur für das Beispiel der Lüge (das wohl deshalb so in den Vordergrund rückt) ist ein formaler innerer Widerspruch zwischen der Maxime u. ihrer Verallgemeinerung konstruierbar. Bei K.s anderen Beispielen, wie beim Verbot des Selbstmords u. bei der Pflicht, anderen zu helfen, liegt ein solcher formaler Widerspruch nicht vor. Jedoch hat K. ein wesentl. Teilgebiet moralischer Verpflichtung richtig gekennzeichnet: Für Mitglieder eines Gemeinwesens besteht die Notwendigkeit, Regeln für ihr Verhalten zu entwickeln, u. für den Einzelnen gilt die moralische Verpflichtung, die von der Gemeinschaft akzeptierten Regeln zu befolgen, solange nicht wichtigere moralische Gründe im Einzelfall dagegen sprechen. Die Kritik der reinen Vernunft hat für die kantische Ethik insofern die Basis geschaffen, als die Einschränkung unseres Wissens auf den Bereich mögl. Erfahrung die Möglichkeit offenlässt, unser Handeln als (in prakt. Absicht) frei anzusehen. Durch das »Faktum der Vernunft« (Kritik der praktischen Vernunft, S. 56. AA 5, S. 31), das Bewusstsein der Pflicht, wird die Freiheit, als Voraussetzung dieses Pflichtbewusstseins, für prakt. Zwecke gesichert. Als Vernunftwesen ist der Mensch frei u. autonom, als Naturwesen der lückenlosen Kausalität unterworfen. Freiheit, Unsterblichkeit u. die Existenz eines gerechten Gottes sind für K. »Postulate« eines moralischen Vernunftglaubens, die als Voraussetzungen der Realisierung des »höchsten Gutes«, nämlich des angemessenen Verhältnisses von moralischem Wert u. menschl. Glück, unabdingbare Forderungen der Vernunft darstellen. In diesem Sinne ist K.s berühmtes Diktum zu verstehen, dass er »das Wissen aufheben« mußte, »um zum Gl aub en Platz zu bekommen« (Kritik der reinen Vernunft, Vorrede B XXX. AA 3, S. 19). In einem solchen moralischen Vernunftglauben sieht K. auch den rationalen Kern der christl. Religion.
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Offenbar erst spät fühlte K. das Bedürfnis, theoretisch zwischen dem Reich der Natur u. dem der Freiheit zu vermitteln. Dies ist die bes. Aufgabe der Urteilskraft, die als drittes »oberes Erkenntnisvermögen« neben Verstand u. Vernunft treten soll. Sie ist, nach K., bes. zur Begründung des »Geschmacksurteils«, als ästhetische Urteilskraft, u. zur Begründung der Annahme von Naturzwecken, als teleolog. Urteilskraft, zu einer solchen Vermittlungstätigkeit berufen. Die »Schönheit« von Naturgegenständen u. Kunstwerken führt K. auf den besonderen, als lustvoll erlebten Zustand des Gefühls »des freien Spiels der Vorstellungskräfte [Sinnlichkeit und Verstand] an einer gegebenen Vorstellung zu einem Erkenntnisse überhaupt« (Kritik der Urteilskraft, S. 28. AA 5, S. 217) zurück. Damit wird das ästhetische Urteil subjektiviert, zgl. aber, wegen des bei allen Menschen ähnl. Ablaufs des Erkenntnisprozesses, als intersubjektiv gültig angesehen. Entsprechend erklärt K. auch die teleolog. Betrachtung der Natur unter Gesichtspunkten materialer Zweckmäßigkeit, wie sie sich v. a. bei Organismen nahelegt, als eine Leistung der reflektierenden Urteilskraft, die, in Analogie zur zielsetzenden Tätigkeit der menschl. Vernunft, Gesichtspunkte zur Beurteilung der inneren Zweckmäßigkeit organisierter Wesen entwickelt, wo die – im strikten Sinne allein wissenschaftliche – kausale Erklärung an ihre Grenzen stößt. K.s radikale Neubegründung einer wissenschaftl. Philosophie durch transzendentale Reflexion auf die Bedingungen mögl. Erkennens u. Handelns hat die Philosophie der Folgezeit bis heute tiefgreifend beeinflusst. Seine Fragestellungen bildeten weithin die Grundlage der Diskussion, auch wenn seine Lösungen modifiziert oder ganz aufgegeben wurden. Die Ethik des kategor. Imperativs hat in Deutschland weit über die gebildeten Schichten hinaus gewirkt, wobei die unbedingte Pflicht gegenüber dem Vernunftgesetz oft in Gehorsam gegenüber der Obrigkeit umgedeutet wurde. Weitere Werke: Ges. Schr.en [zitiert: AA], hg. v. der Preuß. Akademie der Wiss.en (später Akademie der Wiss.en der DDR, seit 1992 Berlin-
Kant Brandenburgische Akademie der Wiss.en). Bln. 1902 ff. (Bde. 1–9 Werke, Bde. 10–13 Briefe, Bde. 14–23 Handschriftl. Nachl., Bde. 24–29 – noch nicht vollständig – Vorlesungen, Bde. 30 ff. Kant-Index). Bde. 10–12, 21922. Bde. 1–9 auch als Studienausg. Bln. 1968. – Werke. Hg. Ernst Cassirer. 11 Bde., Bln. 1912–22. – Werke. Hg. Wilhelm Weischedel. 6 Bde., Wiesb. 1956–64. Paperbackausg. in 12 Bdn., Ffm. 1968. – Briefe v. u. an K. (Ausw.). Hg. Jürgen Zehbe. Gött. 1970/71. – Gute Einzelausg.n von verschiedenen Herausgebern in: Philosophische Bibl. Hbg. Literatur: Hilfsmittel: Kant-Studien. 1896 ff. (führen seit Bd. 60, 1969, eine fortlaufende Bibliogr. von Arbeiten über K.; von 1952 an nachgeholt). – Kantstudien-Ergänzungshefte. 1906 ff. – Rudolf Eisler: K.-Lexikon. Nachschlagewerk zu K.s sämtl. Schr.en, Briefen u. handschriftl. Nachl. Bln. 1930. Nachdr. Hildesh. 1961. – Andreas Roser u. Thomas Mohrs (Hg.): K.-Konkordanz. Zu den Werken I. K.s. 10 Bde., Hildesh./Zürich/New York 1992–95. – Gerd Irrlitz: K.-Hdb. Leben u. Werk. Stgt./Weimar 2002. – Georg Mohr, Jürgen Stolzenberg u. Marcus Willaschek: K.-Lexikon. 3 Bde., Bln./New York (in Vorb.). – Allgemein: Stephan Körner: K. Gött. 1967. – Friedrich Kaulbach: I. K. Bln. 1969. – Otfried Höffe: I. K. Mchn. 1983. 7., überarb. Aufl. 2007. – Jean Grondin: I. K. zur Einf. Hbg. 1994. 42007. – Reinhard Brandt u. Werner Stark (Hg.): Autographen, Dokumente u. Ber.e. Zu Ed., Amtsgeschäften u. Werk I. K.s. Hbg. 1994. – K. u. die Berliner Aufklärung. Akten des IX. Internat. K.-Kongresses, Berlin, 2000. Hg. Volker Gerhardt u. a. 5 Bde., Bln./ New York 2001. – V. Gerhardt: I. K. Vernunft u. Leben. Stgt. 2002. – Günther Lottes u. Uwe Steiner: I. K. German professor and world-philosopher. o. O. [Laatzen] 2007. – Constantin Rauer: Wahn u. Wahrheit. K.s Auseinandersetzung mit dem Irrationalen. Bln. 2007. – Biografien: Karl Vorländer: I. K.s Leben. Lpz. 1911. Hbg. 31974. – Kurt Stavenhagen: K. u. Königsberg. Gött. 1949. – Uwe Schultz: I. K. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1965. Überarb. u. erw. Neuausg. 2003. – Arsenij Gulyga: I. K. Ffm. 1981. Neuausg. Ffm. 2004. – Manfred Kühn: K. A Biography. Cambridge 2001. Dt. Übers. Mchn. 2003. – Steffen Dietzsch: I. K. Eine Biogr. Lpz. 2003. – Werkanalyse: Gerhard Krüger: Philosophie u. Moral in der Kantischen Ethik. Tüb. 1931. 21967. – Gottfried Martin: I. K. Ontologie u. Wissenschaftstheorie. Köln 1951. 41969. – Wolfgang Bartuschat: Zum systemat. Ort v. K.s Kritik der Urteilskraft. Ffm. 1972. – Gerold Prauss (Hg.): K. Zur Deutung seiner Theorie vom Erkennen u. Handeln. Köln 1973. – Lewis White Beck: K.s Kritik der prakt. Vernunft. Ein
Kant
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Komm. Mchn. 1974 (engl. 1960). – Dieter Henrich: Identität u. Objektivität. Eine Untersuchung über K.s transzendentale Deduktion. Heidelb. 1976. – Jens Kulenkampff: K.s Logik des ästhet. Urteils. Ffm. 1978. – Henry E. Allison: K.’s theory of freedom. Cambridge u. a. 1990. – Paul Guyer: K. and the experience of freedom. Essays on aesthetics and morality. Cambridge/New York 1993. – V. Gerhardt: I. K.s Entwurf ›Zum ewigen Frieden‹. Eine Theorie der Politik. Darmst. 1995. – Dieter Hüning u. Burkhard Tuschling: Recht, Staat u. Völkerrecht bei I. K. Marburger Tagung zu K.s ›Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre‹. Bln. 1998. – G. Mohr u. M. Willaschek (Hg.): I. K. Kritik der reinen Vernunft. Bln. 1998. – B. Sharon Byrd u. a. (Hg.): 200 Jahre K.s Metaphysik der Sitten / 200th anniversary of K.’s Metaphysics of morals. Bln. 1998. – Darius Koriako: K.s Philosophie der Mathematik. Grundlagen – Voraussetzungen – Probleme. Hbg. 1999. – Brigitte Falkenburg: K.s Kosmologie. Die wiss. Revolution der Naturphilosophie im 18. Jh. Ffm. 2000. – P. Guyer: Kant on freedom, law, and happiness. Cambridge 2000. – H. E. Allison: K.’s theory of taste. A reading of the Critique of aesthetic judgment. Cambridge 2001. – O. Höffe: ›Königliche Völker‹. Zu K.s kosmopolit. Rechts- u. Friedenstheorie. Ffm. 2001. – Ders.: I. K. Kritik der prakt. Vernunft. Bln. 2002. – Ders.: K.s Kritik der reinen Vernunft. Die Grundlegung der modernen Philosophie. Mchn. 2003. 2., durchges. Aufl. Mchn. 2004. – H. E. Allison: K.’s transcendental idealism. Rev. and enl. ed. New Haven/London 2004. – O. Höffe: I. K. Kritik der Urteilskraft. Bln. 2008. – Wirkungsgeschichte: Entstehung u. Aufstieg des Neukantianismus. Die dt. Universitätsphilosophie zwischen Idealismus u. Positivismus. Ffm. 1986. – George MacDonald Ross u. Tony McWalter (Hg.): K. and his influence. Bristol 1990. – Gerhard Schönrich u. Yasushi Kato (Hg.): K. in der Diskussion der Moderne. Ffm. 1996. – Alain Renaut: K. aujourd’hui. Paris 1997. – Dietmar H. Heidemann u. Kristina Engelhard (Hg.): Warum K. heute? Systemat. Bedeutung u. Rezeption seiner Philosophie in der Gegenwart. Bln./New York 2004. Günther Patzig / Red.
Kant, Uwe, * 18.5.1936 Hamburg. – Kinder- u. Jugendbuchautor. Nach dem Schulbesuch in Parchim/Mecklenburg studierte K., Bruder Hermann Kants, 1956–1961 Germanistik u. Geschichte in Rostock u. Ost-Berlin. 1961–1964 arbeitete er als Lehrer, anschließend drei Jahre als Lite-
raturredakteur. Seit 1967 lebt K. als freier Schriftsteller u. Journalist. An K.s erster Erzählung Das Klassenfest (Bln./DDR 1969, verfilmt 1971), welche die Auseinandersetzung u. Annäherung zwischen dem 15-jährigen Schüler Otto Hintz u. seinem jungen Lehrer Anton Nickel schildert, wurde v. a. die geschickte Verwendung des Stilmittels der Ironie gelobt – ein Novum für die Kinderliteratur der DDR. K.s Erfahrungen als Lehrer sind spürbar auch in den folgenden Erzählungen Die liebe lange Woche (Bln./DDR 1971) u. Der kleine Zauberer und die große Fünf (ebd. 1974, verfilmt 1977), während spätere Texte autobiogr. Elemente der Kriegszeit aufnehmen (z.B. Vor dem Frieden. Ebd. 1979). Immer wieder verweist K. seine jugendl. Leser auf den Prozess des Schreibens, auf die Schwierigkeit, Geschichten zu erzählen, wie in dem Bilderbuch Wie Janek eine Geschichte holen ging (ebd. 1980). Im Kinderbuch Heinrich verkauft Friedrich (Bln. 1993) wird der Junge mit der Arbeitslosigkeit u. der Verbitterung des Vaters konfrontiert. Heinrich will die prekäre finanzielle Situation mit dem Verkauf seines Wellensittichs verbessern. Durch ein Rollenspiel – der Vater mimt einen frz. Touristen u. potentiellen Käufer – initiiert K. einen Perspektivwechsel. Im Spiel gelingt es dem Vater, wieder mit seinem Jungen ins Gespräch zu kommen u. die schwierige familiäre Lage aus der Perspektive des Kindes zu betrachten. Der Roman Mit Dank zurück (Bln. 2000) erzählt die bizarre Geschichte des Schriftstellers Mungk, dessen Bücher von einem jugendl. Leser zurückgesandt werden. Tief verletzt macht sich Mungk auf den Weg, um den Abtrünnigen zur Rede zu stellen. Gleichzeitig ist diese Suche eine verwirrende Zeitreise in die eigene Vergangenheit. Als Resultat seiner DDR-Odyssee bringt Mungk den Stoff zum vorliegenden Roman mit. Weitere Werke: Roter Platz u. ringsherum. Bln./DDR 1977 (Reiseführer für Kinder). – Die Reise v. Neukuckow nach Nowosibirsk. Ebd. 1980 (E.). – Alfred u. die stärkste Urgroßmutter der Welt. Ebd. 1988. – Panne auf Poseidon Sieben. Ebd. 1989. – Wer hat den Bären gesehen? Bilder v. Gesa Denecke. Weinheim. 1995. – Weihnachtsgesch.n. Mit Bildern v. Rolf Bunse. Ravensburg 1999. – Die liebe lange Woche. Mit Illustrationen v. Rainer Sacher.
283 Bln. 2000. – Hörspiele: Die Nacht mit Mehlhose. 1972. – Fahrt mit Persigehl. 1985. – Der Mitnehmer. Ein Funkmonolog. 1986. Literatur: U. K. In: Meinetwegen Schmetterlinge. Gespräche mit Schriftstellern. Bln. 1973, S. 5–15. – Werner Schwitzke: U. K. – ein ›exemplarischer Fall‹ unserer Kinderlit.? In: Deutsch als Fremdsprache 22 (1985), Sonderh., S. 78–83. – Anneliese Löffler: Interview mit U. K. In: WB 32 (1986), H. 5, S. 783–796. – Dies.: Realitätsgewinn – Phantasie – Wortkunst. Zur Arbeit von U. K. In: ebd., S. 797–810. – Ulrich Kaufmann: U. K. In: Hans Jürgen Geerdts (Hg.): Lit. der DDR. Bd. 3, Bln./DDR 1987, S. 130–145. – Benno Pubanz: Eine Kleinstadt in Mecklenburg. Begegnungen mit U. K. In: ›Berührungen‹. Kinder- u. Jugendbuchthemen der Gegenwart. Hg. Hans Joachim Nauschütz u. Steffen Peltsch. Frankfurt/Oder 1997, S. 35–38. – Gotthard Lerchner: Zaubern als Sprachkunst. Sprachfunktion u. Sprachspiel in U. K.s Kinderbuch ›Der kleine Zauberer und die große 5‹. In: Ders.: Schr.en zum Stil. Hg. Irmhild Barz u. a. Lpz. 2002, S. 120–133. Karin Rother / Elke Kasper
Kantorowicz, Alfred, auch: Helmuth Campe, * 12.8.1899 Berlin, † 27.3.1979 Hamburg. – Germanist, Verfasser autobiografischer u. biografischer Schriften, Publizist. Der aus einem großbürgerlich-jüd. Elternhaus stammende K., Sohn eines Kaufmanns, nahm mit 17 Jahren freiwillig am Ersten Weltkrieg teil. Nach Jura- u. Literaturgeschichtsstudium war er von 1924 an zunächst Literaturkritiker der »Vossischen Zeitung«, Redakteur u. Theaterkritiker der »Neuen Badischen Landeszeitung« in Mannheim u. in der Nachfolge Kurt Tucholskys Pariser Kulturkorrespondent der »Vossischen Zeitung« sowie anderer Ullstein-Blätter. 1929 kehrte er nach Berlin zurück, wurde 1931 Mitgl. der KPD u. arbeitete seit Hitlers Machtergreifung im Untergrund, ehe er nach Paris ins Exil ging u. dort als ehrenamtl. Generalsekretär des »Schutzverbandes Deutscher Schriftsteller im Exil« tätig war. K. begründete die »Deutsche Freiheitsbibliothek«, die unter dem Präsidium von Romain Rolland, André Gide, Herbert George Wells u. Heinrich Mann im NS-Deutschland verbotene Bücher sammelte u. zugänglich machte. Am Spanischen Bürgerkrieg nahm K.
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vom Herbst 1936 an teil. Seine Erfahrungen resümierte er in seinem Spanischen Tagebuch (Bln. 1948). Als K. 1938 nach Frankreich zurückkehrte, wurde er im Lager Les Milles interniert. Seine 1941 geglückte Flucht in die USA hat Seghers in ihrem Roman Transit geschildert. K. selbst dokumentierte diesen Abschnitt seines Lebens distanziert in dem Buch Exil in Frankreich. Merkwürdigkeiten und Denkwürdigkeiten (Bremen 1971). Während seines amerikan. Exils arbeitete K. bei der CBS als Chef der Abteilung Auslandsnachrichten. Ende 1946 ging er nach Ost-Berlin u. wurde Herausgeber der Zeitschrift »Ost und West«, die 1949 vom Politbüro der SED verboten wurde. 1949 erhielt K. einen Ruf an die Humboldt-Universität u. wurde Direktor des germanistischen Instituts. Darüber hinaus leitete er das HeinrichMann-Archiv bei der Deutschen Akademie der Künste u. gab das Gesamtwerk seines Freunds u. Vorbilds im Aufbau-Verlag heraus. Kurz nachdem er sich geweigert hatte, eine SED-Resolution gegen den ungarischen Aufstand zu unterzeichnen, verließ er im Aug. 1957 die DDR u. suchte in Bayern polit. Asyl, das ihm zunächst versagt wurde, da er sich »nicht in einer besonderen Zwangslage« befunden u. der »Unmenschlichkeit Vorschub geleistet« habe. Seit 1965 bis zu seinem Tod lebte K. in Hamburg u. widmete sich publizistisch bes. der Erforschung der Exilliteratur. Sein literar. Werk bezieht seinen Rang aus der gewissenhaften u. schonungslosen Dokumentation seines Lebens, der »Illusionen, Irrtümer, Widersprüche, Einsichten und Voraussichten« (Deutsches Tagebuch. Mchn. 1960). Weitere Werke: In unserem Lager ist Dtschld. Reden u. Aufsätze. Paris 1936. Neu hg. v. Markus Berg. Rostock 2006. – Ost u. West. Beiträge zu kulturellen u. polit. Fragen der Zeit 1947–49. Nachdr. Königst./Taunus 1979. – Meine Kleider. Bln. 1957. Ffm. 1993. – Heinrich u. Thomas Mann. Die persönl., literar. u. weltanschaul. Beziehungen der Brüder. Bln./DDR 1956. – Dt. Schicksale. Wien/ Köln 1964. – Politik u. Lit. im Exil. Hbg. 1978. – Nachtbücher. Aufzeichnungen im frz. Exil 1935 bis 1939. Hg. Ursula Büttner u. Angelika Voss. Hbg. 1995. – A. K. 100. Texte, Zeugnisse, Dokumente, Briefe, Gedichte. Red. Klaus Täubert. In: Europäische Ideen (1999), H. 116 (Sonderh. zu A. K.).
Kantorowicz Lietratur: Sigrid Thielking: ›Etwas ist ausgeblieben, was alles ins Maß gerückt hätte‹. A. K. als Vermittler v. Exillit. nach 1945. In: Dieter Sevin (Hg.): Die Resonanz des Exils. Amsterd. 1992, S. 231–243. – Wolfgang Gruner: A. K. (1899–1979). Ein dt. Schicksal. Ausstellung der Staats- u. Universitätsbibl. Hamburg, 6.10.–20.11.1999. Hbg. 1999. – Klaus Körner: A. K. (1899–1979). Ein dt. Schicksal. In: Aus dem Antiquariat (1999), H. 12, S. A723–A728. – Klaus Täubert: A. K. In: Dt. Exillit. Bd. 3, Tl. 2, S. 184–212. – Wolfgang Gruner: A. K. Wanderer zwischen Ost u. West. In: Claus-Dieter Krohn u. Axel Schildt (Hg.): Zwischen den Stühlen. Hbg. 2002, S. 294–315. – Josie McLellan: The Politics of Communist Biography. A. K. and the Spanish Civil War. In: German history 22 (2004), S. 536–562. – Lex. dt.-jüd. Autoren. – Klaus Schilling: Chronist im Niemandsland. A. K.’ Haltung zum Judentum. In: Aschkenas 16 (2006), H. 1, S. 177–193. – W. Gruner: ›Ein Schicksal, das ich mit sehr vielen anderen geteilt habe‹. A. K. – sein Leben u. seine Zeit v. 1899 bis 1935. Kassel 2006. – Dirk Klose: ›Unser Sorgenkind ist uns ans Herz gewachsen‹. Vor 60 Jahren gründete A. K. die Ztschr. ›Ost u. West‹. In: Dtschld.-Archiv 40 (2007), S. 613–621. Jörg-Dieter Kogel / Red.
Kantorowicz, Ernst (Hartwig), * 3.5.1895 Posen, † 9.9.1963 Princeton/New Jersey; Grabstätte: ebd. – Historiker. K., Spross einer jüd. Fabrikantenfamilie, verdankte dem humanistischen Gymnasium seiner Vaterstadt die Grundlagen, die es ihm ermöglichten, der Humanist zu werden, als den ihn sein Leben u. sein Werk ausweisen. Nach Studienbeginn Kriegsfreiwilliger, nahm er noch 1919 als Freikorps-Soldat an den Kämpfen in Posen, Berlin u. München teil, um gleichzeitig das Studium der Nationalökonomie in München u. seit Herbst 1919 das der Kameralistik u. der Alten Geschichte in Heidelberg fortzusetzen. Hier wurde er 1922 über Das Wesen der muslimischen Handwerkerverbände promoviert u. hier fand er durch Friedrich Gundolf Zugang zum George-Kreis, bald auch zu George selbst. Als Frucht dieser Begegnung entstand die große Biografie Kaiser Friedrich der Zweite (Bln. 1927. Erg.-Bd. 1931. Neudr. Düsseld./Mchn. 1963), die schnell Berühmtheit erlangte, aufgrund der myth. Überhöhung der Gestalt des Staufers zur Verkörperung u. zum Sinnbild mit-
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telalterl. Herrschertums in der zeitgenöss. Geschichtswissenschaft aber auch heftig umstritten war. Seit 1930 als Honorarprofessor, seit 1932 als Ordinarius für Mittlere u. Neuere Geschichte an der Universität Frankfurt/M. entfaltete K. eine erfolgreiche Lehrtätigkeit. Er ließ sich aus Protest gegen die antisemitische Gesetzgebung des NS-Staats für das Sommersemester 1933 beurlauben u. nach kurzer Wiederaufnahme seiner Lehrtätigkeit im Wintersemester – mit einer Antrittsvorlesung über Das Geheime Deutschland – 1934 emeritieren; den von allen Beamten geforderten Eid auf Hitler hatte er verweigert. Als Mitarbeiter der »Monumenta Germaniae Historica« harrte K. bis 1938 in Berlin aus. In diesem Jahr verhalfen ihm Freunde zur Emigration, die ihn über Oxford in die USA führte. Nach Zwischenstation in Baltimore fand er 1939 an der Universität Berkeley eine neue Wirkungsstätte. K.s Weigerung, den antikommunistischen Loyalitätseid abzulegen, endete 1950 mit seiner Entlassung; seine Haltung in der Loyalty-Oath-Affair 1949/50 hat er in der Schrift The Fundamental Issue (San Francisco 1950) dokumentiert. Inzwischen auch in den USA als einer der führenden Mediävisten anerkannt, wurde er 1951 an das Institute for Advanced Study nach Princeton berufen. Hier veröffentlichte K. sein Hauptwerk The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology (Princeton, New Jersey 1957. Dt. u. d. T. Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters. Mchn. 1990), das das Königtum als Ganzes erfasst u. die Grenzen der histor. Disziplin überschreitet. Es macht seine Besonderheit aus, dass K. darin im Ausgriff auf Politik u. Recht, Theologie, Liturgie u. Kunst die Kräfte aufspürte, die das Königtum geformt haben, u. daraus eine Typologie des Königtums gewann, in der zgl. seine verschiedenen Entwicklungsstufen erkennbar werden. Es ist in der Sprache von K. der Weg vom »christ-centred kingship« zum »man-centred kingship« u. zgl. der Weg von der im König verkörperten Herrschaft zum Staat als Korporation – das Ganze in seiner subtilen Klarheit, jetzt ohne das Pathos des Friedrich-Buchs, auch sprachlich ein Meisterwerk.
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285 Weitere Werke: Laudes regiae. A Study in Liturgical Acclamations and Mediaeval Ruler Worship.With a Study of the Music of the Laudes and Musical Transcriptions. Berkeley 1946. – Selected Studies. Locust Valley, New York 1965 (mit vollst. Bibliogr.). Dt. Übers.: Götter in Uniform. Studien zur Entwicklung des abendländ. Königtums. Hg. Eckhart Grünewald u. Ulrich Raulff. Stgt. 1998. Literatur: Edgar Salin: E. K. In: HZ 199 (1964), S. 551–557. – Josef Fleckenstein: E. K. zum Gedächtnis. In: Frankfurter Universitätsreden 34 (1964), S. 11–27. – Friedrich Baethgen: E. K. In: Dt. Archiv für Erforsch. des MA 21 (1965), S. 1–17. – Ralph E. Giesey: E. H. K. In: Yearbook of the Leo Baeck Institute 30 (1985), S. 191–202. – Eckhart Grünewald: E. K. u. Stefan George. Wiesb. 1982. – Tumult. Schr.en zur Verkehrswiss. 16. E. H. K. Geschichtsschreiber. Wien 1991. – Alain Boureau: K. Gesch.n eines Historikers. Stgt. 1992. – Jerzy Strzelczyk (Hg.): E. K. (1895–1963). Soziales Milieu u. wiss. Relevanz. Poznán 1996. – Robert L. Benson u. Johannes Fried (Hg.): E. K. Erträge der Doppeltagung Institute for Advanced Study, Princeton, Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt. Stgt. 1997. – Wolfgang Ernst u. Cornelia Vismann (Hg.): Geschichtskörper. Zur Aktualität von E. H. K. Mchn. 1998. – Barbara Schlieben u. a. (Hg.): Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wiss. Gött. 2004. – Olaf B. Rader: E. H. K. In: Lutz Raphael (Hg.): Klassiker der Geschichtswiss. Bd. 2, Mchn. 2006, S. 7–26. Josef Fleckenstein † / Ernst Osterkamp
Kantorowicz, Gertrud, auch: Gert. Pauly, * 9.10.1876 Posen, 19./20. 4. 1945 Theresienstadt. – Kunsthistorikerin, Lyrikerin. K. entstammte ebenso wie ihr Cousin, der Historiker Ernst K., einer angesehenen u. wohlhabenden jüd. Fabrikantenfamilie. In Berlin, später auch in München, studierte sie seit 1898 Kunstgeschichte, Archäologie u. Philosophie u. wurde 1903 mit der Dissertation Über den Meister des Emmausbildes in San Salvatore zu Venedig (Neu-Ruppin 1904) an der Universität Zürich promoviert. In engstem Kontakt stand sie mit dem Malerehepaar Lepsius, mit Edith Landmann, Margarete Susmann u. vor allem mit Georg Simmel, dem Vater ihrer 1907 geborenen, unehel. Tochter »Angi«. Auf Simmels Anregung übersetzte sie Henri Bergsons L’évolution créatrice (Schöpferische Entwicklung. Jena 1912). Die Beziehung zu Rudolf Pannwitz erlebte Hö-
hen u. Tiefen. In Berlin teilte K. zeitweilig ihre Wohnung mit Stefan George, der sie »Huldin« oder »Poetessa« nannte, u. veröffentlichte unter dem selbstgewählten Pseudonym Gert. Pauly 1899 als einzige Frau in den »Blättern für die Kunst«. Die elf feierlichpreziösen Gedichte des Zyklus Einer Toten ... weisen deutl. George-Anklänge auf. Zu weiteren, von der Redaktion erwünschten Publikationen in Georges Zeitschrift kam es nicht. Im Ersten Weltkrieg arbeitete K. durchaus patriotisch gesinnt als Krankenschwester, u. a. seit 1916 in Konstantinopel. Nachdem Simmel 1918 gestorben war, gab sie seine Fragmente u. Aufsätze aus dem Nachlass heraus (Mchn. 1923). 1921 zog die Kennerin antiker Literatur nach Herrlingen bei Ulm, 1926 vorübergehend nach Heidelberg, u. widmete sich der nie ganz abgeschlossenen, lebensanschaul. Studie Vom Wesen der griechischen Kunst (Heidelb./Darmst. 1961. Mit Gedichtabdrucken u. einem verschiedentlich wieder aufgelegten Essay hg. v. Michael Landmann). Während der NS-Herrschaft half sie, vor allem in Berlin, vielen Verfolgten u. unternahm ausgedehnte Reisen, von denen sie jedoch stets nach Deutschland zurückkehrte. Nach einem gescheiterten Fluchtversuch 1942 nach Theresienstadt deportiert, starb K. dort 1945 an einer Hirnhautentzündung. Die schicksalsverarbeitenden Verse aus Theresienstadt erschienen 1948 in einem Privatdruck. Bisher sind K.s verstreute Korrespondenzen, so wie ihre großteils nur handschriftlich überlieferte Lyrik, lediglich im Einzelfall systematisch gewürdigt. Beachtenswert wäre etwa eine bedeutende Reihe von Michelangelo-Übersetzungen. Die krit. Edition des lyr. Werks steht vor dem Abschluss. Weitere Werke: Über den Märchenstil der Malerei u. die Sienes. Kunst des Quattrocento. In: Edith Landmann-Kalischer, Gertrud Kühl-Claasen u. G. K.: Beiträge zur Ästhetik u. Kunstgesch. Bln. 1910, S. 137–254. – Michelangelo Buonarroti: Gedichte. In: Der Obelisk. Literaturbeilage der Österr. Rundschau 19 (1923), H. 12, S. 1147 f. – Margarete Susman, Die Frauen der Romantik. In: Der Morgen 6 (1930), S. 207–209. – (Gert [!] Pauly:) Die Stimme
Kantzow spricht v. Karl Wolfskehl. In: Schweizer Annalen 36 (1936), S. 65 f. Literatur: Ludwig Curtius: In Memoriam Theresienstadt. In: Merkur 2 (1948), S. 474 f. (mit Gedichtabdrucken). – Barbara Paul: G. K. (1876–1945). Kunstgesch. als Lebensentwurf. In: Frauen in den Kulturwiss.en. Von Lou AndreasSalomé bis Hannah Arendt. Hg. Barbara Hahn. Mchn. 1994, S. 96–109. – Angela Rammstedt: ›Wir sind des Gottes der begraben stirbt ...‹. G. K. u. der nationalsozialist. Terror. In: Simmel-Newsletter 6 (1996), S. 135–177 (Wieder in: Montfort. Vjs. für Gesch. u. Gegenwart Vorarlbergs 49, 1997, S. 134–176). – Petra Zudrell (Hg.): Der abgerissene Dialog. Die intellektuelle Beziehung G. K. – Margarete Susman oder die Schweizer Grenze bei Hohenems als Endpunkt eines Fluchtversuchs. Innsbr./Wien 1999 (mit Gedichtabdrucken). – Jürgen Egyptien: Schwester, Huldin, Ritterin. Ida Coblenz, G. K. u. Edith Landmann. Jüdische Frauen im Dienste Stefan Georges. Castrum Peregrini 53 (2004), S. 73–119. – Robert E. Lerner: Poetry of G. K. Between ›Die Blätter für die Kunst‹ and Theresienstadt. In: George-Jb. 5 (2004/2005), S. 98–109 (mit Gedichtabdrucken). – Rüdiger Reitmeier: G. K. In: Prominente in Berlin-Westend u. ihre Gesch.n. Hg. Burkhardt Sonnenstuhl. Bln. 2007, S. 112–118. Philipp Redl
Kantzow, Thomas, um 1505 vermutlich Stralsund,† 25.9.1542 Stettin. – Geschichtsschreiber. K. bezog am 10.4.1526 als Stralsunder (»Sundensis«) die Universität Rostock u. erwarb vermutlich dort den später von ihm geführten Magistergrad. Bereits 1528 trat er als Sekretär in die Kanzlei der pommerschen Herzöge in Stettin ein. Nach der Erbteilung Pommerns 1532 wurde er Sekretär Herzog Philipps I. in Wolgast, der Residenz des westl. Landesteils. In dieser Stellung wirkte er an der Durchführung der Reformation in Pommern mit. Mit finanzieller Förderung des Herzogshauses nahm K. im Sommersemester 1538 in Wittenberg erneut ein Studium auf. 1542 erkrankt, kehrte er nach Pommern zurück. K.s historiografisch-literar. Nachruhm beruht auf seiner im Geist humanistischen Geschichtsinteresses geschriebenen Pommerschen Chronik, die in der Hauptsache in vier von ihm hergestellten Redaktionen vorliegt: in einer
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niederdt. Fassung von etwa 1536/37 (Hg. Wilhelm Böhmer. Stettin 1835), in der ersten hochdt. Chronik von etwa 1538/39 (Hg. Georg Gaebel. Stettin 1898), der zweiten hochdt. Chronik um 1539 (Hg. G. Gaebel. Stettin 1897) u. der dritten hochdt. Fassung: Pomerania. Ursprunck Altheit und Geschicht der Volker und lande Pomeren, Cassuben, Wenden, Stettin und Rhügenn (Hg. G. Gaebel. Stettin 1908). Auch diese letzte Redaktion darf seit 1973 im Wesentlichen als K.s eigene Arbeit gelten; der Textanteil seines Nachlasserben Nikolaus von Klempzen ist weitaus geringer als bis dahin vermutet. K., in dessen Lebenswerk der Übergang Norddeutschlands vom Niederdeutschen zum Hochdeutschen als Schriftsprache exemplarisch sichtbar wird, begründet die volkssprachl. Geschichtsschreibung Pommerns u. führt sie zu einer ersten Blüte. Viele pommersche Historiografen des 16. u. 17. Jh. stützen sich direkt oder indirekt auf K. Zwei Karten Pommerns in der Pomerania machen K. überdies zum frühesten uns bekannten Kartografen des Landes. Ausgaben: T. K.s Chronik v. Pommern in niederdt. Mundart, sammt einer Ausw. aus den übrigen ungedr. Schriften desselben [...] hg. u. mit Einl., Glossar u. einigen anderen Zugaben vers. durch Wilhelm Böhmer. Stettin 1835. Nachdr. Walluf 1973. Vaduz 1990. – Dass. hg. Georg Gaebel. Stettin 1929. – Dass. in poln. Übers.: Pomerania: kronika pomorska z XVI wieku. Hg. u. komm. v. Tadeusz Biaecki u. a. 2 Bde., Stettin 2005. Literatur: Fr. Groenwall: T. K. u. seine Pommersche Chronik. In: Balt. Studien 39 (1889), S. 257–354 (mit Teiled.). – Hermann Bollnow: Die pommerschen Herzöge u. die heim. Geschichtsschreibung. In: Balt. Studien N. F. 39 (1937), S. 1–35. – Wiktor Fenrych: Kroniki Jana Bugenhagena i Tomasza Kantzowa o dziejach Pomorza Zachodniego w latach 1370–1464. Studium z zakresu ideologii politycznej. Stettin 1965 (mit engl. Zusammenfassung). – Jürgen Petersohn: Die dritte hochdt. Fassung v. K.s Pommerscher Chronik. Identifikation eines verkannten Geschichtswerks. In: Balt. Studien N. F. 59 (1973), S. 27–41. – Roderich Schmidt: T. K. In: NDB. – Bogislav v. Archenholz: Bürger u. Patrizier. Ein Buch v. Menschen u. Städten des dt. Ostens. Erw. Ausg. Ffm./ Bln. 1992, S. 211 ff. – Herbert Blume: T. K.s Hochdeutsch. Zum Sprachstand der ersten hochdt. Fassung seiner ›Pommerschen Chronik‹. In: Pom-
287 mern in der Frühen Neuzeit. Lit. u. Kultur in Stadt u. Region. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer. Tüb. 1994, S. 171–185. – Ulf-Hermann Bader: Innerer Auftrag u. Erfüllung. Zur Funktion von T. K.s ›Chronik von Pommern in niederdt. Mundart‹. In: Die Funktion außer- u. innerliterar. Faktoren für die Entstehung dt. Lit. des MA u. der Frühen Neuzeit. Hg. Christa Baufeld. Göpp. 1994, S. 257–266. – Katarina Berger: Erzählungen u. Erzählstoffe in Pommern 1840 bis 1938. Münster u. a. 2001. – Jakob Liefer: Bellum Sundense. Der Sundische Krieg. Eine zweisprachige Ed. Hg., übers. u. komm. v. Matthias Kruske. Köln u. a. 2004, S. 155–158. Herbert Blume / Red.
Der Kanzler. – Oberdeutscher Lied- u. Sangspruchdichter des späteren 13. Jh. Der Name des Dichters kann ein Beiname sein, ist aber auch als Familienname häufig belegt. Mit keiner der urkundlich nachgewiesenen Personen lässt sich der K. jedoch sicher identifizieren. Der Sprache nach war er oberdt., vielleicht alemann. Herkunft; die Behauptung in der Literaturgeschichtsschreibung der Meistersinger, er sei ein Fischer aus der Steiermark gewesen (so zuerst in zwei um bzw. nach 1500 verfassten Liedern vom Rosengarten der Zwölf Meister u. vom »vrsprung des maystergesangs«), hat kaum einen wahren Kern. Nach Strophe XVI 6 zu schließen, führte der K. das Leben eines Fahrenden. Seine Schaffenszeit fällt wohl ins spätere 13. Jh. Den terminus ante quem gibt die Überlieferung in der Großen Heidelberger Liederhandschrift – hier beschließt das K.-Opus den zu Anfang des 14. Jh. beendeten Grundstock – u. auf dem Basler Fragment einer Pergamentrolle aus dem Ende des 13. Jh. Politische Situationen, auf die der K. in seinen Sprüchen anspielt, sind zeitlich nicht genauer zu fixieren. Das erhaltene Werk des K.s umfasst zwölf Lieder mit insg. 36 Strophen (IV–XV) u. vier Spruchtöne mit 41 oder 42 echten Strophen (I–III, XVI). Lied- u. Spruchdichtung sind also ungefähr gleichgewichtig vertreten. Das ist, seitdem Walther von der Vogelweide erstmals beide Genres verbunden hatte, recht selten der Fall, z.B. bei Konrad von Würzburg. Für die Geschichte der Differenzierung u. Ver-
Kanzler
mischung der Gattungen ist das Œuvre des K.s daher von bes. Interesse. Die Lieder stehen in der von Gottfried von Neifen geprägten artistischen Minnesangtradition u. lassen speziell den Einfluss Konrads von Würzburg erkennen. Sie sind durchweg dreistrophig, bevorzugen auftaktlose Verse u. zeichnen sich z.T. durch Refrain (VII, XI) oder bes. Reimschmuck aus (XIII, XIV). Das Motiv des persönl. Minnedienstes ist ausgespart. Nur in Lied IV spricht das Sänger-Ich in der Rolle des Minnenden von »der lieben frouwen mîn«. Sonst leitet ein ausgedehnter Natureingang den allg. Preis der »wîbe« ein: Sommers u. winters erscheinen sie als Inbegriff u. Quell der »fröide«; »wîp« wird vom K., ähnlich wie von Frauenlob, als »Wunne In Paradîse« gedeutet (VI). Ein Beispiel der Gattungsinterferenz bietet XIII: Als Sprachrohr der Freude etabliert, schlüpft der Liedsänger in die Rolle des rügenden Spruchdichters u. schließt an die Winterschelte eine vehemente Klage über die sich versagende »Milte« u. die Herrschaft der »Schande« an. Für seine Spruchdichtung verwendet der K. mit Vorliebe die ausladenderen Töne II u. XVI. Die Mehrzahl der Strophen hat er noch als in sich geschlossene Einheiten konzipiert; frühe Zeugnisse der Entwicklung zum mehrstrophigen Meisterlied sind der Trinitätspreis II 1–3 u. XVI 14–16 über die »schame«. Das Themenspektrum des K.s ist breit, das Repertoire seiner Stilmittel vielfältig. Religiöse Themen beanspruchen auffallend wenig Raum. Insgesamt dominiert die Herrenlehre. Seine Spruchdichter-Kompetenz demonstriert der K., indem er sich immer wieder gegenüber Rivalen abgrenzt: treulosen Ratgebern der Herren, »kunstlôsen« Sängerkollegen oder »gernden«, wie er sie in II 8 aufzählt. Ein Zeugnis bes. Gelehrsamkeit sind die Astronomie-Strophen II 10–11. Das Hauptthema seiner Lieder greift er in II 9 (u. evtl. II 12) auf. Im späten MA u. in der frühen Neuzeit lebte der Name des K.s dank seinen Spruchtönen weiter. Heinrich von Mügeln benützt in seiner kunstvollen lat. Ungarnchronik (etwa 1359) neben anderen Meistertönen Ton XVI »cancellarii rethoris«. Ins Repertoire der Meisterlieddichter hat Ton II als »Goldener
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Ton« Eingang gefunden (die Kolmarer Lieder- S. 153–168. – Jens Haustein: Gattungsinterferenz handschrift überliefert zwei Melodien dazu); in Sangspruch u. Minnelied des K.s. Ebd., er ist noch im 17. Jh. in Gebrauch. Mehrere S. 169–186. – RSM 2, 1 u. 2. Bearb. v. J. Rettelbach. Töne, die erstmals in Meisterliedersamm- Tüb. 2009. Gisela Kornrumpf lungen des 15./16. Jh. bezeugt sind, werden dort wohl zu Unrecht als Schöpfungen des K.s Kapielski, Thomas, *16.9.1951 Berlin. – ausgegeben. In Dichterkatalogen u. NamenAutor, Künstler, Musiker, Performer. listen hat der K. seit dem 15. Jh. einen festen Platz (öfter neben Frauenlob). Seit dem frü- K. ist in Berlin-Charlottenburg u. Berlinhen 16. Jh. rechnen die Meistersinger ihn zu Neukölln aufgewachsen u. studierte Geograden zwölf Begründern ihrer Kunst unter fie, Philosophie u. Musikwissenschaft an der Freien Universität. Ende der 1970er Jahre Kaiser Otto I. Ausgaben: Friedrich Heinrich v. der Hagen begann er mit seinen künstlerischen u. mu(Hg.): Minnesinger. 4 Tle., Lpz. 1838. Tl. 2, sikal. Experimenten: Fotografien, Collagen, S. 387–399. – KLD I, S. 185–217 (zitiert); wird er- Texte, Geräuschkompositionen, »Diashows« gänzt durch: Steinmann (s. Lit.). – Weitere Nach- – anarchisch-avantgardistische Versuchsreiweise, bes. zu den Meisterliedern in Tönen des K.s hen. Die erste literar. Veröffentlichung eru. in ihm zugeschriebenen Tönen, in: RSM (s. Lit.). schien 1984: Der bestwerliner Tunkfurm (Ei– Hinzu kommen u. a.: Geistl. Gesänge des dt. MA. genverlag). K. begann ein Theologiestudium, Melodien u. Texte handschriftl. Überlieferung bis machte sich in den 1980er Jahren in der um 1530. Hg. Max Lütolf u. a. Bd. 1 ff., Kassel u. a. Westberliner Künstlerbohème einen Namen 2003 ff., Nr. 95. 191. 372. 424. 700. – Spruchsang. u. schrieb Kolumnen für die »taz«, welche die Die Melodien der Sangspruchdichter des 12. bis 15. Jh. Hg. Horst Brunner u. Karl-Günther Hartmann. Zusammenarbeit mit ihm wegen der Bezeichnung einer Diskothek als »gaskammerKassel u. a. (im Druck). Literatur: Harald Krieger: Der K. Ein mhd. voll« 1988 beendete. Er veröffentlichte dann Spruch- u. Liederdichter um 1300. Diss. Bonn 1931. anekdotenhafte Betrachtungen über das All– Johannes Siebert: Die Astronomie in den Ge- tagsleben, u. a. Aqua Botulus (Bln. 1992), u. dichten des K.s u. Frauenlobs. I. In: ZfdA 75 (1938), schrieb für »Die Zeit«, die »Frankfurter AllS. 1–14; Ergänzung in ZfdA 83 (1951/52), S. 184 f. gemeine Zeitung« u. die »Frankfurter – Hugo Kuhn: Minnesangs Wende. Tüb. 1952. Rundschau«. Einer größeren Öffentlichkeit 2 1967. – KLD 2, S. 244–264 (Lit.). – Horst Brunner: bekannt wurde er durch seine »GottesbeweiDie alten Meister. Mchn. 1975. – Olive Sayce: The se«, Davor kommt noch (Bln. 1998) u. Danach Medieval German Lyric 1150–1300. Oxford 1982. – war schon (Bln. 1999). 2001 erschien sein Gisela Kornrumpf: Der K. In: VL (Lit.). – Frieder umfangreichstes u. dichtestes Buch SozialmaSchanze: Meisterl. Liedkunst zwischen Heinrich v. nierismus (Bln. Verb. u. erw. Neuausg. Ffm. Mügeln u. Hans Sachs. 2 Bde., Mchn. 1983/84. – H. Brunner u. Johannes Rettelbach: ›Der vrsprung des 2003). Tagebuchartig berichtet K. von den maystergesangs‹. In: ZfdA 114 (1985), S. 221–240. Jahren 1999 u. 2000. Anekdoten, Sprachwit– RSM 4. Bearb. v. F. Schanze u. Burghart Wa- zigkeiten u. Zotiges mischen sich mit Reflechinger. Tüb. 1988, S. 93, 149–168, 252 f. (Lit.). – xionen über das »richtige Leben« u. letzte Martin Steinmann: Das Basler Fragment einer Fragen. In seinem charakterist. Stil aus GeRolle mit mhd. Spruchdichtung. In: ZfdA 117 stelztheit, Schnoddrigkeit u. verbaler Vir(1988), S. 296–310. – J. Rettelbach: Variation – tuosität entwirft er sich selbst als Kunstfigur, Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den die medien-, zeit- u. sprachkritisch über das Tönen der Sangspruchdichter u. Meistersinger. Dasein philosophiert, das »politisch KorrekTüb. 1993. – Margreth Egidi: Höf. Liebe: Entwürfe te« verachtet, dem Bierkonsum zugeneigt ist der Sangspruchdichtung. Heidelb. 2002. – H. u. mit melanchol. Granteln (spaß)gesellBrunner: K. In: MGG, Personenteil. – Shao-Ji Yao: Der Exempelgebrauch in der Sangspruchdichtung. schaftl. Moden attackiert. K. schreibt iroWürzb. 2006. – J. Rettelbach: Minnelied u. Sang- nisch, bissig u. sinnierend über das Leben in spruch: Formale Differenzen u. Interferenzen bei Berlin-Lichtenrade mit Frau u. Sohn, über der Tonkonstitution im 13. Jh. In: Sangspruch- seine Zeit als Gastprofessor an der Hochdichtung. Hg. Dorothea Klein u. a. Tüb. 2007, schule für Bildende Künste in Braunschweig
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u. über seine (scheiternde) Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Preis-Wettbewerb in Klagenfurt. Die Weltgunst (Bln. 2004), in der er die Jahre 2002–2004 protokolliert (u. a. seine Scheidung), ist aphoristischer gehalten. Auch hier mischt sich Albernes mit Moralischem, trifft Gekalauertes auf philosophisch Raffiniertes. Wie K. seinen Texten Bilder u. Fotografien beifügt, so pflegt er in den »Hörbüchern« Abstehende Röhren (Ffm. 2002) u. Ringkompressor (Ffm. 2006) auch das akustischmusikal. Experiment mit seinen Texten. Er legt Wert auf seine Mitgliedschaft beim »Original Oberkreuzberger Nasenflötenorchester« u. stellt weiterhin seine Kunst-Objekte aus, u. a. »Emolumente – Sammler zeigen ihre Kapielskis« (2006). K.s literar. Wirken ist mit dem Westberliner »Kiez« verbunden; nach dem Verlust des Geheimtippstatus Ende der 1990er Jahre schätzte man ihn als »Kult-Autor«, dessen sprachmächtige »Protokollierung des Zeitgeistes und seines Wahns« (L. Jäger) mitunter als »barock« eingestuft wird. Wegen seiner Sprachkunst stellt man ihn auch in die Tradition Lichtenbergs u. Jean Pauls. Unter den zeitgenöss. Autoren ist K. in der Nähe von M. Goldt u. E. Henscheid anzusiedeln. K. erhielt 1999 den Sprengel-Preis für Bildende Kunst u. den Ben-Witter-Preis. Weitere Werke: Leid ›light‹. Bln. 1993. – Der Einzige u. sein Offenbarungseid. Verlust der Mittel. Bln. 1994. – Anblasen. Texte zur Kunst. Bln. 2006. – Mischwald. Ffm. 2009. – Ortskunde. Eine kleine Geosophie. Basel/Weil am Rhein 2009. Literatur: Franz Maria Sonner: T. K. In: LGL. Oliver Müller
Kapp, (Johann) Gottfried, * 27.3.1897 Mönchengladbach, † 21.11.1938 Frankfurt/M. – Verfasser von Lyrik, Romanen u. Kurzprosa. Nach der Volksschule besuchte K., Sohn eines Eisengießers u. einer Weberin, ein Lehrerseminar in Odenkirchen, danach in Linnich, von dem er jedoch 1916 wegen einer Ordnungswidrigkeit verwiesen wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg, an dem K. wegen Dienstunfähigkeit nicht teilgenommen hatte, lebte er zunächst in Lippstadt u. ab 1923 in Berlin,
wo er durch die Bekanntschaft des kath. Sozialpredigers Carl Sonnenschein in der Zeitschrift »Germania« eine Möglichkeit fand, Aufsätze u. kleinere Arbeiten zu veröffentlichen u. als freier Schriftsteller zu leben. Nach einem einjährigen Aufenthalt in Capri u. Italien ging er 1934 nach Kronberg/Taunus. Aufgrund seiner Kontakte zu Juden wurde er als Volksfeind eingestuft. 1938 erfolgte die Beschlagnahmung seiner beiden letzten Tagebücher aus den Jahren 1933–1938, in denen er sich gegen Völkerhass u. Nationalstolz gewandt hatte u. die somit Argumente für seine Verhaftung lieferten. Während eines Gestapo-Verhörs in Frankfurt/M. fand er den Tod. K.s erste Arbeiten thematisieren Stoffe der Bibel u. des AT. Nach anfängl. lyr. Versuchen entstanden 1915 das Drama Kain (Dülmen 1964) u. 1924 die Erzählung Melkisedek, die 1928 in der Reihe »Junge Deutsche« des Leipziger Reclam Verlags erschien (Neuaufl. Dülmen 1962). K. verband hier religiöse Themen u. bibl. Milieu mit Motiven des Orients. 1929 veröffentlichte wiederum der Reclam Verlag den Roman Das Loch im Wasser (Neuaufl. Dülmen 1961), der den Weg eines Arbeitersohns zum Architekten beschreibt u. die erste Umsetzung von K.s Idee des »ungeschichtlichen Helden« bedeutet, die in dem Roman Peter van Laac (Dülmen 1960; entstanden 1931), für den K. keinen Verleger fand, fortgesetzt wird. K. übernimmt die Struktur des Entwicklungsromans in der Nachfolge Goethes u. Stifters. Aktuelle polit. Aspekte werden nur nebensächlich behandelt, da Literatur »nicht vom sozialen und politischen Standpunkt beurteilt« u. geschrieben werden soll. Zudem fordert er statt objektiv-realistischer Erzählweise eine durch »Mitleiden, Gefühl und dichterische Phantasie« bestimmte Darstellung, die zur »Beseelung der Dinge« beitragen soll. Neben seiner entschiedenen Ablehnung des Expressionismus, den er der »Naturschändung und Formzertrümmerung« bezichtigte, wandte sich K. somit auch gegen die Strömungen der Arbeiterdichtung u. der Neuen Sachlichkeit. Der zeitgenöss. Moderne setzte er anachronistisch »Harmonie, die
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Normen der Natur« sowie »die Liebe als Erkenntnismittel« entgegen. Weitere Werke: Das Abendopfer. Bln./Zürich 1930. Neuaufl. Dülmen 1961 (N.). – Die Mutter vom Berge. Stgt. 1956 (E.). – Wandellose Götter (E.). – Tgb. aus Italien. Dülmen 1960. – Gedichte – Der starke Helmes (Singsp.). Dülmen 1961. – Briefe. Dülmen 1963. Literatur: Luise Kapp: ... in deinem Namen. Lebensbild des Dichters G. K. Dülmen 1960. – Walter Huder: Über G. K. Ein Beitr. zur Erkenntnis seines Werks. In: G. K.: Kain. Drama. Dülmen 1964. – Alfred Kantorowicz: Dt. Schicksale. Intellektuelle unter Hitler u. Stalin. Wien 1964. – Doris Sessinghaus-Reisch u. Hans Schürings (Bearb.): G. K. Schriftsteller der Unmittelbarkeit. Dokumentation zur Ausstellung des Stadtarchivs Mönchengladbach im Haus Zoar. Mönchengladbach 1992. – H. Schürings: Traum, Rausch u. Tod. G. K. u. das kath. Arbeitermilieu Mönchengladbachs. In: Juni (1993), H. 19, S. 142–155. – Alfred Kornemann: G. K. (1897–1938). In: Literaten u. Lit. aus Lippstadt. Lippstadt 1999, S. 93–106. – Hildegard Eilert u. Italo Michele Battafarano: ›O, dass die Welt man uns zur Heimat lasse‹. G. K.s Erzählslg. ›Wandellose Götter‹. In: GLL 53 (2000), H. 3, S. 325–339. – D. Sessinghaus-Reisch: Leben u. Werk des Mönchengladbacher Schriftstellers G. K. Mönchengladbach 2001. Sabina Becker / Red.
Kappacher, Walter, * 24.10.1938 Salzburg. – Prosa-, Hörspiel- u. Drehbuchautor. K. absolvierte eine KFZ-Mechanikerlehre, wurde 1960 Schauspielschüler in Gauting bei München u. arbeitete seit 1961 hauptsächlich in Reisebüros in Salzburg u. Berlin. Seit 1978 ist er als freier Schriftsteller tätig. K. lebt seit 1996 in Obertrum/Salzburg. 2003 begann er, in einer Bucht bei Mattsee beinahe täglich das Schilf zu fotografieren. Nach eher konventionell erzählten Geschichten zeigte K. im Roman Morgen (Salzb. 1975. Neuausg. Wien 1992) die souveräne Beherrschung von Erzähltechniken. Zeitliche Rückblenden u. abrupte Schnitte spiegeln die Gespaltenheit der Handelnden wider. Die Hauptfiguren der Romane, die meist Salzburg u. die Provinz zum Schauplatz haben, leiden unter den unbefriedigenden Lebens- u. Arbeitsverhältnissen, finden aber in ihrer Apathie meist erst nach alltägl. Katastrophen
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wie Kreislaufkollaps oder Autounfall die Energie zur Veränderung. Die Technik u. ihr Vernichtungspotential treten durch die emotionslose Nüchternheit u. Distanz des Erzählers in ihrer Bedrohlichkeit u. Faszination für die Figuren um so deutlicher hervor. Auch im Reisebericht über die Toskana Cerreto (Salzb. 1988) ist die Zerstörung der Landschaft durch Industrie u. Tourismus eines der Leitmotive, welche die subjektiven Erfahrungen überlagern. Auch in der Erzählung Rosina (Stgt. 1978. Verfilmung ORF/ZDF 1982, Regie: Heide Pils) geht es um eine ›déformation professionelle‹, dieses Mal – in 177 Textminiaturen – am Beispiel der Büroangestellten Rosina Gall. Die Utopie einer besseren Welt thematisiert der Roman Der lange Brief (Stgt. 1982. Überarb. Ausg. Wien 2007), in dem K. den Tagebuchnotizen Rofners, eines Angestellten in der Salzburger Niederlassung einer Pensionsversicherungsanstalt, der nur vage Vorstellungen davon hat, wie er seinem tristen Leben einen neuen Sinn geben könnte, die Aufzeichnungen des Aussteigers Simon entgegensetzt; darin wird von der Revolte der Bewohner Detroits berichtet, in der sie Zehntausende fabrikneuer Autos zerstören. Obgleich Simons Versuch, nach der Niederschlagung des Aufstands an den utop. Ort Moville in Australien zu gelangen u. dort die »erste Natur« des Menschen – als Alternative zur verwalteten Welt – zu finden, scheitert, identifiziert sich Rofner mit diesen Fiktionen u. kündigt sein Arbeitsverhältnis. Die Möglichkeit, sich einer Leidenschaft hinzugeben, einem Zauber zu erliegen, bietet die Motorradwelt in dem Roman Die Werkstatt (Salzb. 1975. Überarb. Fassung. Stgt. 1981). Ein eigenes Leben kann der um Selbstvergewisserung bemühte Protagonist auch in dem Einwicklungsroman Ein Amateur (Wien 1993) gestalten, in dem Simon, die Hauptfigur, als Mechaniker, Schauspielschüler u. Mitarbeiter in einem Reisebüro Stationen K.s auf dem Weg zum Schriftsteller durchläuft. Die frühere Begeisterung für den Motorsport wird in dem Roman Silberpfeile (Wien/Mchn. 2000) von einer krit. Geschichtsbetrachtung überlagert: Der Motorsportjournalist Mautner ist dabei, ein Buch über den Ingenieur Paul
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Kappeler
Windisch zu schreiben, der wesentlich zum den Großen Kunstpreis (Literatur) des Landes Erfolg der Auto Union in den 1930er Jahren Salzburg u. 2009 den Georg-Büchner-Preis; beigetragen hat, wird dabei aber auch mit seit 2005 ist er Mitgl. der Deutschen Akadedessen Mitwirkung an der Entwicklung der mie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. V2-Raketen im Zweiten Weltkrieg konfron- 2008 wurde K. von der Universität Salzburg die Ehrendoktorwürde verliehen tiert. Wie in Der lange Brief ist die Sehnsucht nach Weitere Werke: Nur fliegen ist schöner u. a. Menschen- u. Naturfreundschaft Thema des Gesch.n. Salzb. 1973. – Die ird. Liebe. Stgt. 1979 von Adalbert Stifter u. Jean Paul inspirierten (E.en). – Die Jahre vergehen. Zwei Drehbücher (zus. Romans Selina oder Das andere Leben (Wien mit Peter Keglevic). Salzb./Wien 1980. – Gipskopf. 2005), mit dem K. erstmalig breitere Leser- Graz 1984 (E.). – Touristomania oder Die Fiktion schichten erreichte. Das Buch handelt von vom aufrechten Gang. Wien 1990. – Aus dem Nachl. v. James Joyce. Ein Interview. Eggingen dem jungen Lehrer Stefan aus Salzburg, der 1991. – Wer zuerst lacht. Wien/Mchn. 1997 (E.en). sich eine Auszeit nimmt u. ein verfallendes – Hellseher sind oft Schwarzseher. Erinnerungen Bauernhaus in der Toskana bewohnt. Mit an Erwin Chargaff. Warmbronn 2007. – Hörspiele: dem in der Nähe seinen Lebensabend ver- Enfant terrible. HR 1979. – Die ird. u. die himml. bringenden Heinrich Seiffert, der ihm das Liebe. ORF 1981. – Bänder. ORF 1983. – Der Haus zur Verfügung stellt, sucht er das in- Heimkehrer. ORF 1984. – Filme: Der Zauberlehrtellektuelle Gespräch. Neben der toskan. ling (zus. mit P. Keglevic). ORF 1978. – Die Jahre Landschaft u. dem Alltag bilden die Sehn- vergehen (zus. mit P. Keglevic). ORF 1980. – Die sucht des Protagonisten nach einem »anderen kleinen Reisen des Herrn Aghios. Nach Italo Svevo. Leben«, das dieser sich mit Selina, der Nichte ORF 1981. – Der stille Ozean (zus. mit Gerhard Roth). ORF/ZDF 1983. – Unser Mann in Bangkok Seifferts, vorstellen kann, u. die Kunstwelt (zus. mit Andreas Gruber). ORF 1984. Italiens ein Bezugssystem des Romans. Literatur: ... und v. a.: keine Masche! W. K. Ab Mitte der 1990er Jahre beschäftigte sich zum 60. Geburtstag. Salz. Ztschr. für Lit. 24 (1998), K. zunehmend mit dem Werk Hugo von H. 93. – Norbert Schachtsiek-Freitag: W. K. In: Hofmannsthals, das ihn zu dem Capriccio KLG. – Anton Thuswaldner: W. K. In: LGL. – CorVorübergehende Abwesenheit (Privatdruck 2001) nelius Hell: Luftschmecken u. Nachdenken. W. K. anregte, einer Art Vorstudie zu Der Fliegenpa- zum 70. Geburtstag. In: LuK 43 (2008), H. 427/428, last (St. Pölten 2008). Ausgehend von dem S. 23–31. Johann Sonnleitner / Bruno Jahn verbürgten Aufenthalt Hofmannsthals, aus der Schweiz kommend, in Bad Fusch im Kappeler, Ernst, * 14.6.1911 Uster/Kt. Salzburger Pinzgau – einem SommerfriZürich, † 20.5.1987 Uitikon/Kt. Zürich. – schenort, den er von Aufenthalten mit seinen Lyriker, Erzähler, Verfasser von JugendEltern kennt – Anfang Aug. 1924, bevor er zu büchern u. Hörspielen. seiner Familie nach Bad Aussee weiterfuhr, wird in einem Spiel zwischen Realität u. K. war zunächst Primar- u. dann SekundarFiktion von einem alternden, sich als ge- lehrer in Andelfingen, Winterthur u. Zürich. scheitert empfindenden Künstler erzählt. In- 1965 gab er den Lehrerberuf auf u. lebte als nere Monologe sowie imaginierte Gespräche freier Schriftsteller u. Mitarbeiter von Ju– mit Carl Jacob Burckhardt, mit seiner Ehe- gendzeitschriften. K. debütierte mit dem frau Gerty, der Tochter Christiane, den ver- Gedichtband Versuchte Stufe (Zürich 1935), der storbenen Eltern – geben seinen Erinnerun- die Zustimmung Hesses fand, u. entwickelte gen u. Wünschen Ausdruck, legen aber auch seine konventionell gearbeitete, aber geseine emotionale Zerrüttung offen. danklich tiefgründige Lyrik in Bänden wie K. erhielt 1977 den Förderpreis zum Der Kreis (Zürich 1942), Am Rand der Nacht Österreichischen Staatspreis für Literatur, (Zürich 1947) u. Der Unruhpflug (Zürich 1961) 1984 den Rauriser Literaturpreis der Länder- konsequent weiter, wandte sich jedoch bank Wien, 1986 den Literaturpreis des Kul- gleichzeitig immer stärker auch dem sehr viel turkreises im Bundesverband der Deutschen volkstümlicheren zürichdeutschen MundartIndustrie, 2004 Hermann-Lenz-Preis, 2006 gedicht zu: Es Püscheli Chruut (Winterthur
Kapper
1943), A der Ärde (Zürich 1945), Wäägluegere (Zürich 1957). Seine eigentl. Lebensaufgabe fand K., als er sich als Berater u. Ansprechpartner ganz den Problemen junger Menschen zuwandte, was in Büchern wie Warum? Junge Menschenfragen (Solothurn 1967) oder Es schreit in mir. Briefdokumente junger Menschen (ebd. 1979) seinen Niederschlag fand. Seinen Lebensweg hat K. beschrieben in In Uster geboren (Zürich 1975) u. Probezeiten (Solothurn 1986). Charles Linsmayer
Kapper, Siegfried, urspr. Salomon Israel K., * 21.3.1821 Smíchov/Prag, † 7.6.1879 Pisa. – Übersetzer slawischer Poesie u. Verfasser von Gedichten, Prosa u. Reisebüchern. Vom Vater, der vor der Geburt des Sohnes fünfzehn Jahre lang u. a. als Lehrer an Gymnasien im Elsass, in Süddeutschland u. der Schweiz tätig war, erhielt K. in jungen Jahren Unterricht in der dt. Sprache; 1830–1836 besuchte er ein Gymnasium auf der Prager Kleinseite. Später fasste er die Erlebnisse seiner Jugendjahre in dem Prosatext Herzel und seine Freunde. Federzeichnungen aus dem böhmischen Schulleben (Lpz. 1853) zusammen. K.s Talent wurde von seinen Lehrern früh erkannt. Er übersetzte in dieser Zeit bereits Goethes Iphigenie in lat. Verse u. schrieb kleine Dramen, die allerdings nicht mehr erhalten sind. Die für die Zulassung zu einem Fachstudium obligatorischen philosophischen Studien absolvierte K. vom Herbst 1837 bis zum Sommer 1839 am Prager Klementinum, wo er Alfred Meißner u. Moritz Hartmann kennen lernte, die mit ihm das Interesse an der böhm. Geschichte u. die Begeisterung für die Dichtungen Nikolaus Lenaus u. des Jungen Deutschlands teilten. Der schon in der Prager Zeit ausgeprägte Anspruch, zwischen dt. u. slaw. Kultur zu vermitteln, manifestiert sich zunächst in Übersetzungen slowak. u. böhm. Volkslieder für die von Rudolf Glaser herausgegebene Zeitschrift »Ost und West«, die teilweise in die Ludwig August Frankl gewidmete Sammlung Slawische Melodien (Lpz. 1844) aufgenommen wurden. Entscheidend für K.s lebenslange Beschäftigung mit der
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Literatur u. Kultur der Slawen wurde indessen während seines Medizinstudiums in Wien (1841–1846) die Begegnung mit dem bekannten Sammler serb. Volkslieder, Vuk Stefanowic´ Karadzˇic´, dessen von Talvij (d. i. Therese Albertine Luise Robinson) ins Deutsche übertragene Sammlung Volkslieder der Serben (2 Tle., Halle 1825/26) auch von Goethe u. Jacob Grimm gerühmt wurde. Bis zur Promotion zum Dr. med. Ende 1846 – im Rigorosumszeugnis taucht erstmals statt der Vornamen Salomon Israel der Name Siegfried bzw. Segofredus auf – veröffentlichte K. in Paul Aloys Klars Jahrbuch »Libussa« zahlreiche Gedichte u. drei Erzählungen aus der Vorzeit des Prager Ghettos (Genenda. 1845. Die versunkene Synagoge. 1846. Glimmende Kohlen. 1849). Auch in der umfangreichen Erzählung Falk (Dessau 1853) stehen wie in den Ghettogeschichten Leopold Komperts, Salomon Kohns u. des etwas jüngeren Michael Klapp »Genrebilder aus dem Ghettoleben« (Donath) im Vordergrund. Besondere Aufmerksamkeit fand K.s in tschech. Sprache publizierte Gedichtsammlung Cˇeské listy (Prag 1846), in der das Dilemma von Assimilation u. Emanzipation einer ganzen Generation dt.-(österr.-) böhm. Autoren zur Sprache kommt. Die Sammlung gilt als wegweisendes Dokument der sog. tschecho-jüd. Bewegung, die von jüd. Seite von K. u. David Kuh, auf tschech. Seite von K.s langjährigem Freund Wenzel Nebesky´ vorangetrieben wurde. Die – allerdings hauptsächlich im Hinblick auf die Frage, ob »israelitische Autoren« überhaupt zur tschech. Nation gehörten u. tschechisch-national gesinnte Lyrik schreiben sollten – vernichtende Rezension der Gedichte durch den Nestor des tschech. Nationalismus, Karel Havlícˇek, machte die von K.s Prager Freundeskreis in Wien vorangetriebenen Bemühungen um eine tschechisch-jüd. Annäherung schnell zunichte. Seine freiheitlich-liberale Gesinnung u. Motivation zur Teilnahme an den revolutionären Aufständen in Wien 1848 hat K. in den Gedichten Befreite Lieder. Dem jungen Oestreich (Wien 1848) verarbeitet, die Anastasius Grün gewidmet sind u. sowohl mit ihrer teils satir. Schreibart als auch restaurationskrit. Stoßrichtung dezidiert an Grüns Gedichtsamm-
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lungen Der letzte Ritter (1830) u. Spaziergänge eines Wiener Poeten (1831) anknüpfen. Nach der gescheiterten Revolution führte K. ein unstetes Leben u. war Berichterstatter für verschiedene Zeitungen. Zwischen den zahlreichen Reisen durch Slawonien, Serbien, Bulgarien, der Wojwodina u. der Walachei (1850 u. 1851), durch Deutschland u. Italien (1852 u. 1853) versuchte er immer wieder, sich – in Wien u. Karlsbad – als Arzt niederzulassen. Das gelang ihm erst, als er nach der Hochzeit mit der Schwester Moritz Hartmanns (1854) nach Dobrˇ ísˇ übersiedelte u. dort eine Praxis eröffnete. Wenngleich K. den gesamten Balkan bereiste, so galt doch in den auf diese Reisen zurückgehenden Publikationen sein ethnografisches u. histor. Interesse bes. den Serben als Volksstamm. Dabei knüpfte er neben Darstellungen zur jüngsten Geschichte (Die serbische Bewegung in Südungarn. Ein Beitrag zur Geschichte der ungarischen Revolution. Bln. 1851) auch an seine früheren Übersetzungen u. die dort mit Verweis auf Goethe u. Talvij propagierte Bedeutung der Volkspoesie an. Sein Anliegen, mit der ins Deutsche übertragenen Sammlung Lazar der Serbencar. Nach serbischen Sagen und Heldengesängen (Wien 1851) die bereits von Karadzˇic´ gesammelten Lieder um die Schlacht von Kossovo (1389) u. den Untergang des großserb. Reiches zu einem Zyklus zu ordnen – für den K. auch die Vergleiche mit den großen griech. Epen nicht scheute – weist auf K.s Intention hin, die Idee der Volkseinheit an der ruhmreichen u. »freien« Vergangenheit zu schulen, was auch für seine späteren u. umfangreicheren Übertragungen gilt (Die Gesänge der Serben. 2 Tle., Lpz. 1852). Neben seiner Arztpraxis fand K. immer wieder Zeit, literar. Studien nachzugehen, gab das »Jahrbuch deutscher Belletristik« (1857/58) heraus u. hatte mit seinem aus der Perspektive des im Eisenbahnabteil sitzenden Betrachters geschriebenen Reisebuch Die böhmischen Bäder (Lpz. 1857), das in der Brockhaus-Reihe »Reisebibliothek für Eisenbahn und Dampfschiffe« erschien, Anteil an den auf den techn. Fortschritt reagierenden neuen Formen der Reiseliteratur. Nachdem sich K. zwischenzeitlich in Jungbunzlau als Arzt niedergelassen hatte
Kapper
(1860), kehrte er 1867 nach Prag zurück, wo er, gezeichnet von einem schweren Lungenleiden, nur noch wenig publizierte. Er erlag seiner Krankheit auf einer Reise durch Italien in Pisa. Schon gegen Ende des 19. Jh. lebte die von K. initiierte tschecho-jüd. Bewegung in Vereinsgründungen wieder auf. In Erinnerung an K. änderte der 1876 gegründete Verband der tschechischen jüdischen Akademiker seinen Namen in Akademischer Verband Kapper. Zwar wurde K.s Bedeutung als Vermittler der Kulturen in den Forschungen Donaths u. auch jüngeren Beiträgen gewürdigt, doch findet er in der tschech. Literaturgeschichte mehr Beachtung als in der deutschen. Bislang fehlt eine vollständige Übersicht seiner in Zeitschriften u. Zeitungen publizierten Beiträge. Weitere Weke: Südslav. Wanderungen im Sommer 1850. Lpz. 1851. – Christen u. Türken. Ein Skizzenbuch v. der Save bis zum eisernen Tore. 2 Bde., Lpz. 1854. – Vorleben eines Künstlers. Nach dessen Erinnerungen. Prag/Lpz. 1855. – Die Hss. v. Grünberg u. Königinhof. Altböhm. Poesien aus dem IX. bis XIII. Jh. Prag 1859. – Das Böhmerland. Wanderungen u. Ansichten (zus. mit Wilhelm Kandler). Prag 1865. – Prager Ghettosagen [ent. Genenda, Der seltsame Orach, Glimmende Kohlen]. Prag o. J. [1870]. Literatur: Oskar Donath: S. K. als Ghettodichter. In: Monatsschr. für Gesch. u. Wiss. des Judentums 56 (1912), S. 513–545. – Ders.: S. K. [mit Dokumentenanhang] In: Jb. der Gesellsch. für Gesch. der Juden in der Cˇechoslovak. Republik 6 (1934), S. 323–442. – Margarita Pazi: Jüd.-dt. Schriftsteller in Böhmen im 19. Jh. In: Gegenseitige Einflüsse dt. u. jüd. Kultur v. der Epoche der Aufklärung bis zur Weimarer Republik. Hg. Walter Grab. Tel Aviv 1982, S. 231–257. – Peter Demetz: Tschechen u. Juden: Der Fall S. K. (1821–1879). In: Allemands, Juifs et Tchèques a Prague. Ed. Maurice Godé, Jacques Le Rider u. Françoise Mayer. Montpellier 1996, S. 19–27. – Lex. dt.-jüd. Autoren. – Václav Maidl: Die Anfänge der jüd. Emanzipation in Böhmen in den 1840er Jahren. In: Juden zwischen Deutschen u. Tschechen. Sprachl. u. kulturelle Identitäten in Böhmen 1800–1945. Hg. Marek Nekula u. Walter Koschmal. Mchn. 2006, S. 1–18. Bernhard Walcher
Karasek
Karasek, Hellmuth, auch: Daniel Doppler, * 4. 1. 1934 Brünn/CˇSR. – Journalist, Kritiker; Erzähler, Dramatiker; Dramaturg, Theaterwissenschaftler.
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K. wuchs in Bielitz/Oberschlesien auf. 1944 floh seine Familie nach Bernburg/Saale. Nach dem Abitur 1952 übersiedelte K. in die BR Deutschland u. begann in Tübingen ein Studium der Germanistik, Anglistik u. Geschichte, das er 1958 mit der Promotion abschloss. 1960 startete K. seine journalistische Laufbahn bei der »Stuttgarter Zeitung«. In der Theatersaison 1965/66 arbeitete er als Chefdramaturg des Württembergischen Karasek, Horst, * 7.10.1939 Wien, † 25.11. Staatstheaters in Stuttgart. Zur gleichen Zeit 1995 Sainte Vertu/Frankreich. – Publierschienen seine Einführungen in das dra- zist, Erzähler. mat. Werk von Carl Sternheim (Velber 1965) u. K. verbrachte Kindheit u. Jugend in Stollberg Max Frisch (Velber 1966). Von der »Stuttgarter im Erzgebirge, Bernburg, Laichingen u. Zeitung« wechselte K. als Theaterkritiker u. schließlich in Würzburg, wo er mit KarlFeuilletonredakteur 1968 zur Wochenzei- Heinz Roth u. anderen die literar. Zeitschrift tung »Die Zeit« nach Hamburg. Ab 1974 ar- »Die Sonne« herausgab. Er studierte ohne beitete er beim Nachrichtenmagazin »Der Abschluss Psychologie, Germanistik u. SoSpiegel«; dort leitete er viele Jahre lang das ziologie in Würzburg, München u. FrankKulturressort. Ein Porträt dieser Ära lieferte furt/M. K. in dem kontrovers aufgenommenen RoK. war ein produktiver polit. Autor, der man Das Magazin (Reinb. 1998). Unter dem Vorfahren der 68er-Bewegung ausfindig Namen Daniel Doppler – Protagonist in Das machte u. sie in histor. Dokumentationen Magazin u. Alter Ego des Autors – hatte K. vorstellte. Dabei interessierte er sich für gebereits zwischen 1984 u. 1990 drei Boule- scheiterte, meist blutig niedergeschlagene vardkomödien veröffentlicht, darunter Die utop. Bewegungen wie die Münsteraner Wachtel (Urauff. Osnabr. 1985). Einen hohen Kommune der Wiedertäufer (Bln. 1977) Anfang Bekanntheitsgrad als Literaturkritiker er- des 16. u. die dt. anarchistische Bewegung in langte K. in den neunziger Jahren an der Seite Chicago am Ende des 19. Jh. (Haymarket! von Marcel Reich-Ranicki in der ZDF-Fern- 1975). Er war fasziniert von histor. Figuren, sehsendung »Das literarische Quartett«. Vor die Konfrontationen mit staatl. Macht geallem durch seine auto- u. generationenbiogr. sucht hatten u. hingerichtet worden waren. Bücher (u. a. Auf der Flucht. Erinnerungen. Bln. So untersuchte er den Aufstand eines Frank2004) machte er sich auch als Erzähler einen furter Lebkuchenbäckers kurz vor Beginn des Namen. All seinen Erzählwerken gemeinsam Dreißigjährigen Kriegs (Der Fedtmilch-Aufist der anekdot. Stil. Nach seinem Abschied stand. Bln. 1979), Prozess u. Hinrichtung des vom »Spiegel« gab K. 1997–2004 den Berli- gescheiterten Königsmörders Damiens 1757 ner »Tagesspiegel« mit heraus. Seit 1992 ist in Paris (Die Vierteilung. Bln. 1994) u. das Leer Honorarprofessor am Theaterwissen- ben Marinus’ van der Lubbe, der 1933 den schaftlichen Institut der Universität Ham- Reichstag angezündet hatte u. von den Naburg. Heute lebt K. mit seiner Familie in tionalsozialisten funktionalisiert worden sei Hamburg u. schreibt für verschiedene Ta- (Der Brandstifter. Lehr- und Wanderjahre des Maurergesellen Marinus van der Lubbe [...]. Bln. geszeitungen. Weitere Werke: Dtschld., deine Dichter. Die 1980). Diese Bücher changieren zwischen Federhalter der Nation. Hbg. 1970. – Bertolt parteilich-publizistischer Darstellung u. der Brecht. Der jüngste Fall eines Theaterklassikers. reinen Dokumentation. Nur im Fall von Die
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Stelzer (Ffm. 1990), einem Roman über das Leben zweier Brüder im Dreißigjährigen Krieg, eines Priesters u. eines Landsknechts, hat K. sich ausdrücklich für die Fiktion entschieden. K. hat stets auch aktuelle polit. Stoffe verhandelt, u. a. in einer Chronik des Widerstands gegen die Frankfurter Startbahn West (Das Dorf im Flörsheimer Wald. Darmst./Neuwied 1981). Die meiste Beachtung fanden jedoch seine autobiogr. Werke über den Verlauf seiner Krankheit: Mitte der 1970er Jahre wurde Niereninsuffizienz diagnostiziert. K. beschrieb detailliert die wachsende Behinderung durch die Krankheit (Blutwäsche. Chronik eines eingeschränkten Lebens. Darmst./Neuwied 1985) u. schließlich die letzten Monate, die er im Haus seiner Schwester in Frankreich verbringen konnte. Die überlebensnotwendige Bauchfelldialyse ließ ihm vier Stunden Zeit, sich außerhalb zu bewegen. Er beschreibt seine Touren auf dem Moped durch Yonne als kärgliche, glücklicherweise verbliebene Freiheit: Rasend das Herz. Chronik eines zu Ende gehenden Lebens (postum, Mchn. 1998). Weitere Werke: Wohnhaft im Westend (zus. mit Helga M. Novak). Neuwied/Bln. 1970. – Das Gasthaus Zum Faß ohne Boden. Hann. 1973. – Propaganda u. Tat. Ffm. 1975. – Belagerungszustand! Reformisten u. Radikale unter dem Sozialistengesetz 1878–1890. Bln. 1978. – Das Haus an der Grenze. Eine Fluchtgesch. Darmst./Neuwied 1987. Literatur: Italo Michele Battafarano: H. K.s histor. Roman ›Die Stelzer‹ (1990). Oder wie sich ›ein paar Kunstgriffe bei Grimmelshausen abschauen lassen‹, ohne daß die Literaturkritik es merkt. In: Simpliciana 14 (1992), S. 131–144. – Henning Burk: Der Schriftsteller u. der Tod. Erinnerungen an H. K. In: Listen, H. 44 (1996), S. 40 f. – Thomas Kraft: H. K. In: LGL. Sven Hanuschek
Karasholi, Adel, * 15. 10. 1936 Damaskus/ Syrien. – Lyriker, Übersetzer. K.s erste Gedichte entstanden in Damaskus, wo er eine Literaturzeitschrift gründete u. jüngstes Mitgl. des arab. Schriftstellerverbands war. Nach dessen Auflösung verließ K. Syrien 1959 u. ging über Beirut, München u. Berlin (West) nach Leipzig, wo er am »Johannes-R.-Becher«-Institut Literatur u.
Karasholi
Theaterwissenschaft studierte u. 1970 über die arab. Brecht-Rezeption promovierte. 1968–1993 war er Lektor an der Universität Leipzig. Seit 1993 ist K. als Lyriker u. Übersetzer aus dem Arabischen u. ins Arabische tätig. K.s literar. Beginn in Ostdeutschland fiel in die Zeit der ostdt. Lyrikwelle; 1968 erschienen seine Gedichte als dt. Nachdichtungen von Rainer Kirsch, Heinz Kahlau u. Klaus Steinhaußen (Wie Seide aus Damaskus. Berlin/ DDR). Ab 1978 veröffentlicht K. in dt. Sprache. Die frühe »operative Lyrik« setzte sich mit dem bestehenden Araberbild in (Ost-) Deutschland u. mit der eigenen syrisch-dt. Identität auseinander: Der Dichter ist Daheim in der Fremde (Lpz. 1984). Ab Mitte der 1980er Jahre zog er sich vom Ostdeutschen zurück u. wurde nach der Wiedervereinigung im gesamtdt. Literaturbetrieb anerkannt. Exilerfahrung u. Erinnerungen an die Heimatstadt Damaskus bleiben stets präsent u. verdichten sich zu Bildern (»Minze«, »Olivenbaum«), die in Art u. Gestaltung an die arab. Lyrik anknüpfen. Die Exotisierung als »orientalischer« Dichter weist K. zurück; der Lyriker geht eigene Wege entlang der dt. u. arab. Lyrik. Sein Gedichtband Also sprach Abdulla (Mchn. 1995) ist eine Zwiesprache mit dem Alter ego in der Tradition arab. Literatur, in der er über das Sein als Einheit im Ganzen reflektiert: »Dein Zuhause bist du allein.« K. erhielt 1985 den Kunstpreis der Stadt Leipzig, 1992 den Adelbert-von-ChamissoPreis. Weitere Werke: Umarmung der Meridiane. Halle/Lpz. 1978. 21981. – Wenn Damaskus nicht wäre. Mchn. 1992. – ›wo du warst u. wo du bist‹. Nachdichtungen arab. Gedichte des palästinens. Dichters Mahmoud Darwisch. Mchn. 2004. Literatur: Heinz Czechowski: Exotik ist nicht angesagt. Über A. K. Nachw. in: A. K.: Wenn Damaskus nicht wäre, a. a. O., S. 85–90. – Mustafa AlSlaiman: ›nimmt man das vaterland an seinen schuhsohlen mit?‹ anmerkungen zur interkulturellen lit. in dtschld. In: Aglaia Blioumi (Hg.): Migration u. Interkulturalität in neueren literar. Texten. Mchn. 2002, S. 136–146. – Uta Aifan: Araberbilder. Zum Werk dt.-arab. Grenzgängerautoren der Gegenwart. Aachen 2003. – Cornelia
Karl und Elegast Zetzsche: A. Suleiman K. In: LGL. – www. karasholi.com Karin E. Yes¸ ilada
Karl und Elegast. – Mitteldeutsche Erzählung im Umkreis der Chansons de geste, vermutlich 14. Jh.
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belesenen u. literarisch versierten mitteldt. Verfassers in den Blick genommen. Ein Zug zur Parodie heldenepischer Kampfesheroik (etwa bei dem dem Rolandslied entnommenen, aber von der Tages- zur Nachtverlängerung umfunktionierten göttl. Wunder) u. Anspielungen auf Elemente des Tagelieds geben dem Werk ein eigenes Gepräge u. sprechen für eine reflektierte, Vergnügliches mit Erbaulichem kombinierende Handhabung des (vermeintl.) »spielmännischen« Erzählstils.
Anders als die mittelniederländ. Zeugnisse (siehe Artikel Karlmeinet) ist der Text (1830 Verse) nur unikal u. mit Schreiberverderbnissen überliefert. Ob bzw. wie weit man, was die Entstehungszeit des Werks angeht, von Ausgaben: Josef Quint: Der mitteldt. K. u. E. der ins Jahr 1455 zu datierenden Handschrift nach der Zeitzer Hs. Bonn 1927. – Bernd Bastert, bis ins 14. Jh. zurückgehen kann bleibt Bart Besamuca u. Carla Dauven-van Knippenberg ebenso unklar wie der genauere Entste- (Hg. u. übers.): Karel ende Elegast u. K. u. E. hungsort. Ebenso lassen sich über die Vorlage Münster 2005. Literatur: Fedor Bech: Zur Sage v. ›K. u. E.‹. In: des mitteldt. Verfassers nur Hypothesen äußern. Der mittelniederländ. K. ende E. kommt Germania 9 (1864), S. 320–337 (mit Textauszug). – Paris: Histoire poétique de Charlemagne. zumindest in der erhaltenen Form (auch in Gaston Paris 21905, S. 315–322. – Marie Ramondt: K. ende der ripuar. Übertragung des Karlmeinet) als E. oorsprongelijk? Utrecht 1917. – Eckhard L. direkte Vorlage nicht in Frage, könnte aber Wilke: Der mitteldt. Elegast. Marburg 1969. – Paul auf einer älteren, mit dem mitteldt. Text ge- Aebischer: Textes norrois et littérature française du meinsamen mittelniederländ. Vorlage fußen. Moyen Age. Genf 1972. – Klaas Heeroma: De duitse Frankreich, das übl. Importland, überliefert en de nederlandse Elegast. In: Tijdschrift voor keine entsprechende Dichtung, nur Anspie- Nederlandse taal- en letterkunde 89 (1973), lungen in Chansons de geste u. in der Chro- S. 208–216. – Hartmut Beckers: K. u. E. In: VL. – nistik auf eine zumindest ähnl. Geschichte Herbert Kolb: Chanson de geste parodistisch: Der um Karl u. Basin, die, wohl auf einer wallon. mitteldt. ›K. u. E.‹. In: Wolfram-Studien 11 (1989), Quelle basierend, ebenfalls in der Karlamagnús S. 147–165. – Carla Dauven-van Knippenberg: Karel, Elegast en het mooiste Nederlandse riddersaga begegnet. Es ist also gegebenenfalls auch verhaal. Een pleidooi voor ms. Zeitz. Domherreneine flandrisch-wallon. Sage anzunehmen, bibl. Cod. 60 (olim XXXII). In: Joep Leerssen u. welche in der mittelniederländ. Literatur Marita Mathijsen (Hg.): Oerteksten. Amsterd. 2002, (bzw. der mitteldt. Version) u. in der frz. aber S. 95–109. – Siehe auch das Nachw. in der Ausg. v. jeweils eigene Varianten ausgebildet haben Bastert, Besamuca u. Dauven-van Knippenberg, dürfte. a. a. O., S. 197–212 (weitere Lit.). Edith Feistner Der mitteldt. Text enthält die in den Grundzügen mit dem mittelniederländ. K. u. Karl und Galie ! Karlmeinet E. parallele, Ernst u. Komik verbindende Geschichte von Karl dem Großen, der auf Karl der Große und die schottischen Befehl eines Engels nachts in ungewohnter Heiligen. – Klostergründungsgeschichte Diebesrolle den Hof verlassen muss, um – wie mit Legendenzügen u. Chanson-de-gestesich herausstellt – sein Leben zu retten. Denn Elementen aus der ersten Hälfte des Elegast, der gerechte Räuber, den er einst aus 14. Jh. geringem Anlass rigoros verbannte u. der sich zu ihm gesellt, ohne ihn zu erkennen, deckt Bei dem nach zwei Handschriften edierten, Karl den geplanten Mordanschlag Eckerichs aber durchaus häufiger überlieferten Text auf. (vgl. etwa zwei weitere, bislang unberückNeben der Vorlagenfrage, welche die For- sichtigte Zeugnisse in Augsburg: Stadtarchiv, schung lange beherrschte, haben jüngere Selekte u. Mischbestände/Chroniken Nr. 4d, Untersuchungen die variierende Ausgestal- fol. 167ra-234rb ; Reichsstadt/Chroniken Nr. tung der Geschichte durch den offensichtlich 54, unfoliiert) handelt es sich um eine 9912
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beschränkten handschriftl. Reimpaarverse umfassende mhd. Bearbei- Regensburg tung eines Ausschnitts aus dem Libellus de Zeugnisse dieser Prosafassung fehlt jedoch fundacione ecclesie Consecrati Petri Ratispone (Hg. ebenso wie eine Edition. Eine genauere litePádraig A. Breatnach. Mchn. 1977), die wohl raturwissenschaftl. Würdigung ist derzeit in zwischen 1300 u. 1350 in Regensburg ent- Planung. Welch eminente Bedeutung diese Fassung weit über das urspr. »irische« Interstanden ist. Der Text erzählt von den Gründungen esse hinaus für das städt. Selbstbewusstsein dreier Klöster: des Priorats Weihsanktpeter, in Regensburg wie auch für die Außenwahrdes Klosters St. Jakob (beide in Regensburg) nehmung Regensburgs hatte, zeichnet sich u. des Klosters St. Jakob in Würzburg. Dem überhaupt erst in jüngster Zeit ab, zumal seit ersten Teil mit der Legende von Weihsankt- eine vermeintl. Tischplatte von 1518 (heute: peter (Gründung 1089) kommt das Haupt- Germanisches Nationalmuseum Nürnberg) gewicht zu. Er stellt die anachronist., der mit Szenen von Karls Kampf um Regensburg Mehrung des eigenen Ruhms dienende als Tafelbild Albrecht Altdorfers identifiziert Rückbindung der Regensburger Ereignisse worden ist, das wohl im Auftrag des Rats der an Karl d. Gr. her u. berichtet über die durch Stadt entstand u. als Vorlage für ein weiteres Engelsvisionen gelenkten Christianisie- Rezeptionszeugnis in der bildenden Kunst rungsfeldzüge des Kaisers, der mit Hilfe eines diente, ein Steinrelief, das sich heute im weißen Reiters schließlich die Stadt erobert. Schlossmuseum Gotha befindet. Nachdem ihn ein Engel auf die Bedeutung Ausgabe: Frank Shaw: Karl der Große u. die der Iren (»Schotten«) für die Bekehrung schott. Heiligen. Bln. 1981. Deutschlands aufmerksam gemacht hat, Literatur: F. Shaw: Einl. zur Ed., S. XI–XCVIII, treffen irische Mönche auch in Regensburg mit Bibliogr. bis 1978. – Ders.: K. d. G. u. d. s. H. ein (u. a. der zwischen 1074 u. 1080 belegte In: VL. – Herbert Kolb: Der weiße Reiter. In: IASL Marian). Auf göttl. Weisung lassen sie sich 12 (1987), S. 26–56. – Helmut Flachenecker: dort nieder u. erbauen eine Kirche. Der von Schottenklöster. Irische Benediktinerkonvente im Karl geplanten Einweihung durch päpstl. hochmittelalterl. Dtschld. Paderb. u. a. 1995. – Peter Wolf: Bilder u. Vorstellungen vom MA. ReLegaten kommt jedoch Petrus zuvor, weiht gensburger Stadtchroniken der frühen Neuzeit. die Kirche selbst u. rückt sie so zusammen Tüb. 1999, S. 216–220. – Daniel Hess: Altdorfers mit dem Kloster in eine über alle ird. In- Weg zur Alexanderschlacht. Eine Neubewertung stanzen erhabene Beziehung zu Gott. Dem seiner ›Tischplatte‹ im German. Nationalmuseum. Preis der Iren dient auch die Gründungsge- In: Anzeiger des German. Nationalmuseums 2005, schichte von St. Jakob u. dem gleichnamigen S. 77–96. – F. Shaw: K. d. G. u. d. s. H. Die fiktive Kloster in Würzburg, das auf eine Erschei- Gründungslegende des Regensburger Schottennung des irischen Heiligen Kilian zurückge- klosters. In: Edith Feistner (Hg.): Das mittelalterl. Regensburg im Zentrum Europas. Regensb. 2006, führt wird. Die Bearbeitung hält sich teils eng an die S. 123–133. Edith Feistner lat. Vorlage, teils erweitert sie diese aber auch, etwa durch verstärkten Einsatz von direkter Karl der Kühne und die BurgunderRede u. konkretisierenden Beschreibungen. kriege. – Chroniken, Gedichte u. Lieder Wichtigere Zutaten sind die Verbindung zu den Ereignissen der Jahre 1474–1477. Karls mit Papst Leo III. oder die wunderbare Unterscheidung der Leichen christl. u. heidn. Die aggressive Expansionspolitik Herzog Krieger. Karls des Kühnen von Burgund, die mit seiDie Karlshandlung wurde später auch in nem Tod in der Schlacht von Nancy am Prosa verarbeitet (u. a. Salzburg: Stiftsbibl. St. 5.1.1477 endete, hat die Zeitgenossen stark Peter, Kodex b IV 31, fol. 156r-163r ; Drucke in beschäftigt u. insbes. im deutschsprachigen Nürnberg bei Fritz Creußner, Ende 15. Jh., u. Raum eine Fülle von Publizistik u. historiobei Johannes Stüchs, Anfang 16. Jh.); eine grafischer Verarbeitung ausgelöst. Die wichtigsten Texte sind Rückblickssystemat. Erfassung insbes. der über das MA auch hinausreichenden u. keineswegs auf dichtungen nach dem Tod des Herzogs, die
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1477 oder in den folgenden Jahren entstanden. Auf das große Interesse der Öffentlichkeit antwortete das neue Medium des Buchdrucks, indem in Straßburg 1477 allein vier Darstellungen erschienen. Die anonyme Burgundische Legende, eine Reimpaarchronik, erlebte zwei Nachdrucke u. wurde mehrfach in Handschriften abgeschrieben. Sie wurde benutzt von dem Straßburger Hans Erhart Tüsch für seine Burgundische Historie, ebenfalls eine Reimchronik. Von den beiden Straßburger Ausgaben dieses Werks ist eine mit Holzschnitten repräsentativ ausgestattet. Diese u. einen zusätzl. Holzschnitt weist die kürzere Reimchronik des Straßburger Klerikers Konrad Pfettisheim auf. Frühhumanistisches Gepräge trägt die lat. Prosa De proeliis et occasu ducis Burgundiae historia eines Nicolaus, den G. Himmelsbach jüngst ohne zureichende Gründe mit Nicolaus Salicetus identifizierte. Eine Reihe handschriftlich überlieferter, heuristisch noch kaum erschlossener kürzerer lat. Gedichte (z.B. von dem Schlettstadter Rektor Ludwig Dringenberg) widmete sich dem Tod des Herrschers. Eine rhetorisch stark stilisierte lat. Darstellung legte 1477 der Schweizer Frühhumanist Albrecht von Bonstetten vor. Sie existiert auch in dt. Fassung. Von dem ital. Humanisten Johannes Matthias Tiberinus (bzw. Tabarino) stammt ein Erzherzog Sigismund von Tirol gewidmetes Gedicht in Hexametern De bello, strage et obitu bellipotentis Caroli Burgundiae ducis, während das postum 1518 gedruckte Epos Liber Nancéidos über die Schlacht von Nancy von Pierre de Blarru erst um 1500 entstand. Mit der Verpfändung oberrheinischer Gebiete durch Erzherzog Sigismund von Tirol an den Burgunderherzog 1469 u. der Einsetzung des verhassten Peter von Hagenbach als Landvogt war man in Deutschland auf die burgundischen Großmachtbestrebungen aufmerksam geworden. Neben der sehr umfangreichen handschriftl. Breisacher Reimchronik (erst um 1480) beschäftigten sich zwei Lieder (von einem Judenfint wohl aus Speyer u. einer Krämersfrau) u. ein lat. Dialog des Humanisten Jakob Wimpfeling am Oberrhein mit dem Schicksal des 1474 in Breisach hingerichteten Hagenbach.
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Die lange Belagerung der Stadt Neuss 1474/75 durch Karl den Kühnen im Rahmen der Kölner Stiftsfehde schilderte der Neusser Notar Christian Wierstraet in einer umfangreichen Reimchronik, die wohl schon 1476 in Köln gedruckt wurde. Neben zwei deutschsprachigen Gedichten u. einem lat. Gedicht des Münsterschen Frühhumanisten Rudolf von Langen liegt in der von dem späteren Limburger Kleriker Johannes Gensbein zusammengetragenen Sammelhandschrift Berlin mgq 1803 ein aufschlussreiches zeitgeschichtl. Dossier zum Neusser Krieg u. zu Karl dem Kühnen vor. Neben Auszügen aus der Burgundischen Legende enthält es eine unedierte Beschreibung der Festlichkeiten in Trier 1473, bei denen Karl die Anwesenden durch seine ungeheure Prachtentfaltung beeindruckte, durch Gensbein selbst, ein unediertes Reimpaargedicht eines sonst nicht bekannten Bernhard Bleyßwyler über die Verteidigung von Neuss durch Hermann von Hessen 1474/75 u. ein unediertes Reimpaargedicht über die Beteiligung der Limburger an diesem Krieg. Auch in weiteren deutschsprachigen oder lat. Sammelhandschriften finden sich mehr oder minder umfangreiche Textzusammenstellungen (meist Prosaberichte u. Urkundenkopien) zu Karl dem Kühnen u. den Burgunderkriegen. Chronisten wie der Basler Kleriker Johannes Knebel oder der Erfurter Kleriker Konrad Stolle gewährten mitunter den Ereignissen viel Raum. Nach Hagenbachs Hinrichtung 1474 begannen die eigentl. Burgunderkriege zwischen Karl u. der Schweizer Eidgenossenschaft, die sich mit oberrheinischen Verbündeten zu einer anti-burgundischen Allianz, der Niederen Vereinigung, zusammengeschlossen hatte. Schweizer Liederdichter (Veit Weber, Mathis Zollner u. weitere) feierten die großen Schlachtensiege der Eidgenossen: 1474 Héricout, 1476 Grandson u. Murten, 1477 Nancy. Auf dem Gebiet der heutigen Schweiz 1477 u. später entstandene historiografische Werke, allen voran die handschriftlich weit verbreiteten Chroniken des Berners Diebold Schilling d.Ä., überlieferten nicht nur diese Lieder, sondern bestimmten mit ihren detailreichen Prosadarstellungen das eidgenöss. Geschichtsbild. Außer in Bern
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entstanden eigene Burgunderkriegschroni- Louis XI. Hg. Emile Picot u. Henri Stein. Bd. [1]-[2], ken, soweit bekannt, in Basel u. in Freiburg Paris 1923. – Cramer, Bde. 2 u. 3. Literatur: Iris u. Frieder Schanze: Karl der im Üechtland. Die Rolle der Burgunderkriege als epochales militärgeschichtl. Ereignis, ih- Kühne u. die Burgunderkriege. In: VL. – Claudius rer literarisch-historiografischen Wahrneh- Sieber-Lehmann: Spätmittelalterl. Nationalismus. mung u. ihrer gegenständl. Relikte (»Bur- Die Burgunderkriege am Oberrhein u. in der Eidgenossenschaft. Gött. 1995. – Gerrit Himmelsbach: gunderbeute« von Grandson) für die AusbilDie Renaissance des Krieges. Kriegsmonogr.en u. dung des eidgenöss. Selbstverständnisses darf das Bild des Krieges in der spätmittelalterl. Chronicht unterschätzt werden. Während des nistik am Beispiel der Burgunderkriege. Zürich Konflikts selbst unterrichteten u. beeinfluss- 1999. – F. Schanze: Überlieferungsformen polit. ten ausführl. Prosaberichte (Missiven), die Dichtungen im 15. u. 16. Jh. In: Schriftlichkeit u. von den städt. Nachrichtenzentren (außer- Lebenspraxis im MA. Erfassen, Bewahren, Veränhalb der Eidgenossenschaft v. a. Basel, Straß- dern. Hg. Hagen Keller u. a. Mchn. 1999, burg u. Köln) weitergesandt wurden, die be- S. 299–331 (grundlegend). – Karl der Kühne grenzte, aber durchlässige Öffentlichkeit der (1433–1477). Kunst, Krieg u. Hofkultur. Hg. Susan Marti, Till-Holger Borchert u. Gabriele Keck. Kanzleien. [Ausstellungskat.]. Stgt. 2008. – http://de. Karl der Kühne wird in diesen Texten fast wikisource.org/wiki/Burgunderkriege. Klaus Graf ausnahmslos negativ dargestellt, als grausamer Tyrann. Man dämonisierte ihn als »Türk im occident« (so ein Lied zum Neusser Krieg) Karlmeinet. – »Biografische« Karlskomoder sogar als Antichrist. Häufig wird die pilation, zwischen 1320 und 1350 entAlexander-Imitatio des Herrschers angespro- standen. chen u. dem Leitmotiv der literar. Gestaltungen, dem Hochmut Karls, untergeordnet. Das rund 36.000 Verse umfassende Werk mit Besondere Bedeutung kommt der Burgun- dem heute üblichen (wenngleich bloß für den derkriege-Publizistik für die Ausbildung ei- ersten Teil mit der sog. Mainetsage zutrefnes nationalen, auf die »teutsche nation« fenden) Titel K. ist als Ganzes nur in einer bezogenen Diskurses zu. Karl u. seine Trup- Kölner Handschrift des 15. Jh. erhalten. Es pen stehen für die treulosen u. falschen handelt sich um ein ripuar. Karlsleben, das »Welschen«. Als wichtige Trägergruppe die- der Kompilator aus urspr. eigenständigen ses auch in den amtl. Korrespondenzen stän- Dichtungen, zu einem geringeren Teil auch dig gegenwärtigen Diskurses lassen sich die aus von ihm selbst stammenden Partien zuurbanen Zentren ausmachen. Hier verband sammengestellt hat. Der im Prolog rätselartig sich die Furcht vor Karl, den man aufgrund verschlüsselte Name des Verfassers bleibt bis seines harten Vorgehens gegen Lüttich u. heute unbekannt. Als Entstehungsort ist AaDinant als Städtefeind sah, mit verbreiteter chen anzusehen. Die Entstehungszeit lässt Fürstenangst. Die Rolle des anti-welschen sich nur ungefähr, wohl auf die Jahre zwiAusgrenzungsdiskurses u. die Berufung auf schen 1320 u. 1350, eingrenzen. Der Karl und Galie genannte erste Teil (bis die dt. Nation erschöpfte sich nicht in der Funktion als Propaganda während des Kon- A 216,28; rd. 14.000 Verse) berichtet, wie flikts, mit der die dt. Reichsstände als Ver- (Karl)Meinet – d.h. der junge Karl der Große bündete gewonnen werden sollten. Über die – nach Pippins Tod mit einigen Begleitern vor – teilweise ja auch gedruckten – Rückblicks- den Usurpatoren Hoderich u. Hanfrat nach dichtungen fanden die nationalen Stereoty- Spanien fliehen muss, vom Sarazenenkönig pen u. der Stolz, die burgundische Bedro- Galafer aufgenommen wird u. die Liebe von dessen Tochter Galie gewinnt. Nachdem er hung besiegt zu haben, weite Verbreitung. Quellen: Gottlieb Friedrich Ochsenbein: Die bei den ersten Bewährungsproben als Ritter Urkunden der Belagerung u. Schlacht von Murten. maßgeblich zum Sieg über Bremunt, den Freib. 1876. – Basler Chroniken. Bd. 2, Lpz. 1880. Feind seines Gastgebers, beigetragen hat, Bd. 3, Lpz. 1887. Bd. 5, Lpz. 1895. – Recueil de gelingt es ihm mit Galafers Hilfe, sein Erbe Pièces Historiques Imprimées sous le Règne de zurückzuerobern u. Pippins Nachfolge an-
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zutreten. Die Eheschließung mit der bekehrten Galie rundet das Ende ab. Dieser Version der von Frankreich aus auch in Italien u. Spanien verbreiteten Geschichte liegt eine westripuar. Dichtung des frühen 13. Jh. zugrunde, die ihrerseits auf einer verlorenen frz. Chanson de geste aus dem Umkreis der sog. Enfances de Charlemagne basiert. Dort vermutlich schon vorhandene Höfisierungstendenzen sind in der ripuar. Dichtung weiter verstärkt u. führen so zu signifikanten Interferenzen zwischen christl. Heldenepik u. höf. Roman; Zitate von Minnesang-Topoi kommen hinzu. Außerhalb des K. ist die Dichtung nur splitterhaft durch Fragmente aus verschiedenen Handschriften erhalten, deren paläografischer Befund es erlaubt, sie als ältere, vor dem K. liegende Zeugnisse zu betrachten. Der Morant und Galie genannte zweite Teil (A 216,29–293,38; rund 5600 Verse) zeigt Karl in Konfrontation mit verleumderischen Höflingen, die seinen getreuen Bannerträger Morant unerlaubter Beziehungen zu Galie bezichtigen. Der Text ist auch außerhalb des K. in einer weiteren Handschrift (um 1410/ 20) vollständig tradiert, die ihrerseits aber vermutlich auf dem K. fußt. Daneben sind Fragmente erhalten, die Zeugnis einer älteren, eigenständigen ripuar. Version sein dürften. Wie bei dem (von einem anderen Verfasser stammenden) ripuar. Karl und Galie liegt eine frz. Vorlage zugrunde. Nach einem virtuos gestalteten Prolog wird erzählt, dass drei auf Umsturz bedachte Vasallen Karls Bannerführer Morant verleumden. Karl, um sein Ansehen wie um den Verlust der geliebten Frau besorgt, beruft ein Fürstengericht ein. Im gerichtl. Zweikampf kann Morant seine (u. Galies) Unschuld beweisen. Während er zur Versöhnung Galies Freundin Florette als Frau erhält, werden die Verräter hingerichtet. Die Geschichte mit dem typischen Chanson de geste-Motiv des Verrats kreist um den ausführlich entwickelten Rechtsgang mit umfangreichem fränkisch-dt. Wortschatz u. legt die Eigenständigkeit des ripuar. Verfassers nahe. Das Werk ist als Ausfluss der Popularität des kultisch verehrten Karl im rheinischen, germanisch-roman. Grenzgebiet anzusehen, wo sich die frz.
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Zentren Paris u. St. Denis mit den ripuar. Köln u. Aachen verbinden. So ist Morant und Galie wie auch das den Einfluss der höf. Dichtung aufnehmende Karl und Galie innerhalb der deutschsprachigen Literatur nur hier bezeugt. Die Mittelpartie (A 293,39–373,64; rund 5400 Verse) wurde unter Benutzung mehrerer, z.T. noch unbekannter chronikal. Quellen (u. a. des Speculum Historiale u. des dort vermittelten Pseudo-Turpin) vom Kompilator selbst verfasst. Dem eigenständigen Gliederungsprinzip entsprechend folgt auf Karls Erhebung zum König mit anschließenden Kämpfen (u. a. gegen die Sachsen u. Lombarden) die Kaiserkrönung mit einer zweiten Reihe von Kämpfen, nun gegen die Heiden im Hl. Land u. in Spanien. Zwischen diese beiden in steigerndem Parallelismus aneinander gefügten Reihungsgruppen tritt in zentraler Position die mit der Aegidius-Legende verbundene Aachener Gründungssage von Karls magischer Liebe zu einer toten Frau. In einem vierten Teil (A 374,1–394,49; 1350 Verse) werden die Spanienkriege durch die den Kaiser wieder als Einzelfigur profilierende Geschichte von Karl und Elegast unterbrochen, die Karl in ungewohnter Diebesrolle zeigt. Anders als die textgeschichtl. eigenständige mitteldt. Version der Geschichte (siehe Artikel Karl und Elegast) bildet dieser Teil des K. eine in der Hauptsache nur die Sprachform verändernde ripuar. Übertragung der gut überlieferten, um 1250 entstandenen mittelniederländ. Dichtung von Karel ende Elegast. Mit der Rolandslied-Bearbeitung im fünften Teil (A 394,50–533,12; rund 9200 Verse), schließt sich der Rahmen, denn der Kompilator leitet – den in dieser berühmten Chanson de geste geschilderten, krönenden u. zgl. verlustreichsten Sieg über die Heiden biografisch funktionalisierend – zu dem von ihm selbst stammenden Schlussabschnitt von Karls Lebensende über (A 533,13–540,49). Dieses Rolandslied stellt eine v. a. aus dem Werk des Pfaffen Konrad u. der jüngeren frz. Rolandslied-Tradition kombinierte Fassung dar, in die zudem die stoff- wie textgeschichtlich ungeklärte Episode um den küh-
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nen Babylonier Ospinel eingeschoben ist (A 408,60–425,20). Die ausführlicher gestalteten ersten Erfolge bei diesem erneuten Spanienfeldzug finden keine genauere Entsprechung in anderen erhaltenen Versionen. Obwohl anzunehmen ist, dass ein verlorenes niederrheinisches Rolandslied bereits weitgehend in dieser Form vorgelegen hat, sind hier zumindest redaktionelle Eingriffe des Kompilators nicht auszuschließen. In jedem Fall bietet sich diese Version des Rolandslieds, die (nicht zuletzt durch die Einbindung der jüngeren frz. Tradition) Karl in seinem Leid über den vom Verräter Wellis verschuldeten Tod seiner besten u. liebsten Vasallen stärker als anderswo profiliert, bes. für die Motivation von Karls Lebensende an. Der Kompilator kehrt bei seinem Schlussabschnitt wieder zum Speculum Historiale bzw. zum Pseudo-Turpin zurück, stellt aber das unverändert nachwirkende Leid als Ursache für die Krankheit des Kaisers heraus. Mit dem ans Ende gerückten Karlsporträt schließt das Werk. Der K. ist ein Zeugnis für die seit dem späteren 13. Jh. allg. Beliebtheit von Kompilationen. Er zeigt gegenüber anderen vergleichbaren Texten wie der Karlamagnús saga oder dem Charlemagne des Girart d’Amiens ein selbstständiges Gliederungsprinzip mit strukturierter Einarbeitung der chronikal. Tradition u. planvoller Anordnung der dichterischen Quellen, das Karl im Wechsel als Krieger, Heerführer u. Einzelfigur beleuchtet. Das Interesse an einem vielfältigen (durch die Verbindung unterschiedl. gattungsspezif. Brechungen hybrid wirkenden) Bild des Kaisers, dessen Größe selbst dort, wo er nicht souverän auftritt, unangetastet bleibt, ist im K. ausgeprägter als das Bedürfnis, eine eindeutige polit. Position zugunsten der mit Karl verbundenen »deutschen« oder »französischen« Ansprüche zu beziehen. Angesichts des von beiden Seiten, den Kaisern u. ebenso den frz. Königen, hofierten Entstehungsorts Aachen bzw. der polit. wie kulturellen Sonderstellung des niederrheinischen Raumes überhaupt kann dies kaum verwundern. Der K. bildet, wiewohl mehr als nur eine Sammelhandschrift, auch ein wichtiges Zeugnis für die ripuar. Literatur u. beleuchtet deren spezif. Vernetzung mit dem frz. sowie
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dem niederländ. Raum. Vor diesem Hintergrund findet der von der Forschung lange Zeit vernachlässigte K. neuerdings ein größeres Interesse nicht nur im Hinblick auf die im gesamten dt. Sprachraum verbreitete Rolandslied-Tradition, sondern auch auf jene vom K. bezeugten Werke, die sich innerhalb der dt. Literatur des MA charakteristisch mit der heute auf drei Nationalstaaten verteilten Kulturlandschaft des Rhein-Maas-Raumes verbinden. Ausgaben: Karlmeinet insg.: Hg. Adelbert v. Keller. Stgt. 1858. Neudr. Amsterd. 1971. – Komm. Ed. des Karl und Galie-Teils u. der Fragmente v. Dagmar Helm. Bln. 1986 (siehe auch dies.: Karl u. Galie. Karlmeinet, Tl. 1 [...]. Aus dem Mhd. übersetzt. Göpp. 1999). – Morant und Galie: Hg. Erich Kalisch. Bonn/Lpz. 1921. – Hg. Theodor Frings u. Elisabeth Linke. Bln. 1976 (hist.-krit. Ed.). – Zu Karl und Elegast siehe die synopt. Ed. der mittelniederländ. Textzeugen u. der Karlmeinet-Version v. Antonius Maria Duinhoven. Zwolle 1969 (siehe auch Bernd Bastert, Bart Besamuca u. Carla Dauven-van Knippenberg: ›Karel ende Elegast‹ u. ›Karl u. Elegast‹. Hg. u. übers. Münster 2005). Literatur: Bibliografie: Cola Minis: Bibliogr. zum K. Amsterd. 1971 (bis 1969). – Weitere Titel: Allgemein: Erik Rooth: Zur Sprache des K. Heidelb. 1976. – Hartmut Beckers: K.-Kompilation. In: VL. – B. Bastert: Heiliger, Hochzeiter, Heidenschlächter – die K.-Kompilation zwischen Oberdtschld. u. den Nideren Landen. In: Angelika Lehmann-Benz u. a. (Hg.): Schnittpunkte. Dt.-Niederländ. Literaturbeziehungen im späten MA. Münster 2003, S. 125–143. – Ders.: ›der Cristenheyt als nücz als kein czelffbott‹. In: Ders. (Hg.): Karl der Große in den europ. Lit.en des MA. Tüb. 2004, S. 127–148, bes. S. 140–143. – Ders.: K.-Kompilation. In: Helmut Tervooren (Hg.): ›Van der Masen tot op den Rijn‹. Ein Hdb. zur Gesch. der volkssprachl. mittelalterl. Lit. im Raum v. Rhein u. Maas. Bln. 2006, S. 101–104. – Zu Karl und Galie: Gertrud J. Zandt: Die Sprache v. ›K. u. G.‹ - eine Vorstudie. Assen 1973. – Hartmut Beckers: Die Liebesduettszene im Lichte eines neuen Handschriftenfundes. In: PBB (Halle) 100 (1979), S. 323–337. – Ders: Paläograph.kodikolog. u. sprachgeschichtl. Beobachtungen [...]. In: Volker Honemann u. Nigel F. Palmer (Hg.): Dt. Hss. 1100–1400. Tüb. 1988, S. 179–213. – Ders.: Ein neues ›K. u. G.‹-Bruchstück. In: ZfdPh 108 (1989), Sonderh., S. 131–155. – Ders: Der Aachener ›K. u. G.‹-Roman als Beispiel für die Sonderstellung der rhein. Karlsepik des 13. u. 14. Jh. In: Wolfram-Studien 11 (1989), S. 128–146. –
Karlstadt Ders.: Möglichkeiten u. Grenzen einer krit. Neuausg. v. ›K. u. G.‹ In: Anton Schwob (Hg.): Editionsber.e zur mittelalterl. dt. Lit. Göpp. 1994, S. 3–14. – Karl-Ernst Geith: Karl als Minneritter. Beobachtungen zu ›K. u. G.‹ In: Trude Ehlert (Hg.): FS Xenia v. Ertzdorff. Göpp. 1998, S. 63–82. – Heike Sievert: Karl u. Galie im Wechsel. In: Thomas Cramer u. a. (Hg.): Frauenlieder – Cantigas de amigo. [...]. Stgt. 2000, S. 151–161. – Dies.: Der fröhl. Text. Zur Erzählkonzeption von ›K. u. G.‹. In: Angelika Lehmann-Benz u. a. (Hg.): Schnittpunkte. Dt.-Niederländ. Literaturbeziehungen im späten MA. Münster 2003, S. 109–123. – Zu Morant und Galie: Cola Minis: Zur Sprache des Prozesses in ›M. u. G.‹. In: Gedenkschr. Ingerid Dal. Tüb. 1988, S. 75–85. – H. Beckers: Paläograph.-kodikolog. u. sprachgeschichtl. Beobachtungen zu den alten Pergamentbruchstücken v. ›K. u. G.‹ u. ›M. u. G.‹. In: V. Honemann u. N. F. Palmer (Hg.): Dt. Hss. 1100–1400. Tüb. 1988, S. 179–213. – Zu Karl und Elegast: Antonius Maria Duinhoven: Bijdragen tot reconstructie van de ›K. u. E.‹. Tl. 1, Assen 1975; Tl. 2, Groningen 1981. – G. J. Zandt: Zur Rekonstruktion des Originals v. ›K. u. E.‹ mit Hilfe der mittelfränk. Version K. In: Leuvense Bijdragen 79 (1981), S. 145–149. – Dies.: Enkele opmerkingen over de middelfrank. vertaling van ›K. u. E.‹. In: Tijdschrift voor Nederlandse taal- en letterkunde 97 (1981), S. 185–191. – Siehe auch die Literaturangaben im Artikel ›Karl und Elegast‹. – Zum Rolandslied: Udo v. der Burg: Konrads ›RL‹ u. das ›RL‹ des K. In: Rhein. Vierteljahresbl. 39 (1975), S. 321–341. – Rüdiger Zagolla: Der K. u. seine Fassung vom ›RL‹ des Pfaffen Konrad. Göpp. 1988. – Edith Feistner: Karl u. Karls Tod: Das ›RL‹ im Kontext des sog. K. In: Wolfram-Studien 11 (1989), S. 166–184. – G. J. Zandt: Bemerkungen zu einer Neuausg. einiger Abschnitte des ›RL‹ -Teils aus der K.-Kompilation. In: ABäG 30 (1990), S. 151–158. – Vickie L. Ziegler: Trial by Fire and Battle in Medieval German Literature. Rochester, NY 2004, S. 21–113. Edith Feistner
Karlstadt, Carlstadt, Andreas (Rudolf) von, eigentl.: A. R. Bodenstein, * um 1477 Karlstadt, † 24.12.1541 Basel. – Theologe, Reformator u. Schwärmer. Der Vater des Andreas Bodenstein war Kellermeister u. zeitweise auch Bürgermeister von Karlstadt. Andreas, der sich später »von Karlstadt« nannte, studierte 1499–1503 in Erfurt die Artes in der thomistischen Montanerburse. 1505 ging er mit dem Titel eines
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Baccalaureus biblicus an die neu gegründete Universität Wittenberg. Er trat ins Franziskanerkloster ein u. lehrte an der Artistenfakultät. Ab 1508 war K. Kanonikus im Allerheiligenstift u. wurde 1510 zum Priester geweiht. Kurz nach der Promotion zum Dr. theol. wurde er zum Archidiakon am Stift ernannt, womit eine theolog. Professur verbunden war. K. lehrte thomistische Scholastik. 1512 promovierte er Martin Luther zum Dr. theol. Nach kanonistischen Studien reiste K. 1515/16 nach Rom, wo er an der Sapienza in beiden Rechten promoviert wurde. Daraufhin bewarb er sich ohne Erfolg in Wittenberg um die Propstei am Stift, die mit einer kanonistischen Professur verbunden war. (Luther u. Spalatin favorisierten den von Erasmus umworbenen Justus Jonas.) Die von Luther in Wittenberg angeregten Augustinus-Studien bewirkten ab Frühjahr 1517 eine Art Bekehrung, die sich in Pro Divinae graciae defensione sowie S. Augustini de spiritu et litera niederschlug (erschienen sukzessiv Wittenb.: Grunenberg 1517–19). In der heftigen Luther-Kontroverse v. a. mit Eck u. im rasch eskalierenden Prozess gegen Luther erwies sich K. als zuverlässiger akadem. Kampfgenosse. Höhepunkt war sein wichtiger Part auf der Leipziger Disputation 1519. (Aus seinen Schriften sind zu nennen: Defensio adversus J. Eckii. 1518. Conclusiones contra J. Eccum. 1519. Ferner Epistola adversus Eckius argutatoris. Lpz.: Schumann 1519. Confutatio adversus defensivam epistolam J. Eckii. Wittenb.: Lotter 1520). Diese von K. sowohl theologisch als auch juristisch »maßvoll« (so Erasmus) geführten Kontroversen gerieten in eine neue polit. Dimension, als Eck auch K. auf der Bannandrohungsbulle gegen Luther (am 21.9.1520 in Meißen) eintrug. Der nun als häretisch qualifizierte K. brach radikal mit dem Papsttum. Während der krisenhaften Zuspitzung des Luther-Prozesses auf dem Wormser Reichstag war K. im Mai/Juni 1521 in Dänemark, um König Christian II. über die Kirchenreform zu beraten. Durch Luthers »Schutzhaft« auf der Wartburg gewann K. eine ungewöhnl. Rolle in Wittenberg: Er disputierte u. schrieb nicht nur über Reformen in Kultus u. Lehre, er setzte sich an ihre
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Spitze – bis hin zum aufsehenerregenden Bildersturm. Er traute Geistliche u. heiratete im Jan. 1522 die 16-jährige Anna von Mochau. Luther machte nach seiner Rückkehr den für den Kurfürsten unkontrollierbar gewordenen Reformprozess mit seinen »Invocavit-Predigten« teilweise rückgängig. K. wurde auf seine akadem. Tätigkeit beschränkt. Auf diese Ausgrenzung reagierte er mit dem Rückzug aus der Universität auf seine Pfründe Orlamünde, wo er schließlich als erwählter Pfarrer inmitten seiner Gemeinde die Hl. Schrift auslegte. K. bezeichnete sich in mehreren Schriften dieser Zeit als »ein newer Lay« (so in: Was gesagt ist: Sich gelassen [...] in hayliger schryfft begryffen vom April 1523). Die reformatorischen Werke K.s sind (entwickelt aus der Eck-Kontroverse 1518) anfänglich dem Papsttum u. dem Zeremonienunwesen gewidmet. Die »Wittenberger Bewegung« wurde bestimmt durch die Themen: Gelübde, Abendmahl unter beiderlei Gestalt, Ohrenbeichte, Abtuung der Bilder, Fürbitten Mariens. Daneben rückte, ausgehend vom Augustinus-Kommentar De spiritu et litera, mit der Autorität der Hl. Schrift der bibl. Kanon u. die Schriftauslegung in den Vordergrund. Seit Anfang der 1520er Jahre wurden die Sakramentslehre vom Abendmahl u. der Taufe mit weitgehenden Folgerungen für die Gestaltung der Messe sowie die Stellung des Pfarrers in der Gemeinde zu zentralen Themen seiner Werke. Die Zielrichtung seines Denkens geht auf die Autonomie der Gemeinde, was sich als eigentl. Gegensatz zu der Wittenberger u. anderen Reformbewegungen erweist. In seiner radikalen Schrift Ob man gemach faren, und des ergernüssen der schwachen verschonen soll (1524) schreibt er bekenntnishaft: »Ein ieglich gemein / sie sey klein oder groß / sol für sich sehen / das sie recht unnd wohl thu / unnd auff niemants warten.« Mit dem Hervortreten reformerischer Themen beginnt K. in Deutsch zu publizieren: erstmalig im April 1519 in Außlegung und Lewterung etzlicher heyligenn geschriften (Wittenb.: Lotter 1519), stärker ab Mitte 1520, regelmäßig ab 1521/22. K. wies zwar Luthers Verdikt, seine Lehren seien wie die Müntzers schwärmerisch u.
Karlstadt
aufrührerisch, heftig zurück; bei dem Jenenser Gespräch im Aug. 1524 kam es jedoch zu keinem Ausgleich. Darauf wurde K. aus seiner Gemeinde Orlamünde u. aus Kursachsen ausgewiesen. Auf seiner Reise durch Süddeutschland u. die Schweiz lernte er die Führer der oberdt. Reformbewegungen kennen u. gab v. a. in der Sakramentslehre den Zürcher u. Straßburger Reformatoren wichtige Anregungen. Er wirkte auch nachhaltig auf die dort entstehende Täuferbewegung ein. Wesentlicher Niederschlag sind die von Westerburg in Basel herausgegebenen sieben Schriften v. a. zum Altarssakrament (Ob man mit heyliger schrifft erweysen müge, das Christus mit leyb, blut und sele im sacrament sey. Dialogus Von dem grewlichen unnd abgöttischem mißbrauch des sacraments. Wieder die alte und neue papistische Messe. Aber auch: Was der Frey will vermöge. Alle: Basel: Thomas Wolff u. auch Cratander Okt./Nov. 1524. Zahlreiche Nachdrucke v. a. in Straßb.). Luther reagierte mit der wichtigen Schrift Wider die himmlischen Propheten von den Bildern und Sakrament (1524/25), die als Auftakt des Abendmahlsstreits gilt. Den Bauernkrieg erlebte K. in Rothenburg o. d. T., wo er mit Frau u. Kind Unterschlupf gefunden hatte. Seine eigenwillige Position brachte ihn zwischen alle Fronten. Nach dem katastrophalen Scheitern der Bauern drohte K. persönl. Verfolgung. In seiner hoffnungslosen Lage suchte er Asyl in Kursachsen. Er fand Aufnahme durch Luthers Fürsprache, nachdem er einen bedingten Widerruf geleistet hatte. Mit den 1525er Ereignissen brach vorerst jede gedruckte Verbreitung von Schriften K.s ab. Versuche, eine bäuerl. Existenz aufzubauen, scheiterten. Die gegensätzl. Auffassung in der Sakramentslehre ließ auf Dauer eine Versöhnung mit Luther nicht zu. Der drohenden Verfolgung entzog sich K. durch Flucht. Nachdem er in Holstein u. Friesland keine Chance sah, fand er schließlich im Süden durch die Vermittlung von Zwingli eine vorläufige Bleibe als Diakon am Zürcher Spital. Ab 1534 verbrachte er seine letzten Lebensjahre als Universitätsprofessor u. Prediger an St. Peter in Basel. In diesen Jahren sind noch einige wenige Schriften aus seiner Lehrtätigkeit hervorgegangen, namentlich die Axiomata disputationes (1534) u.
Karlweis
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die Loci communes s. scripturae (1540). K. starb Karlweis (Karlweiß), Carl, eigentl.: Karl an der Pest. Weiß, Weiss, * 23.11.1850 Wien, † 27.2. Ausgaben: Valentin Ernst Löscher: Vollst. Reformations-Acta. 3 Bde., Lpz. 1720–29. – Der authent. Text der Leipziger Disputation 1519. Hg. Otto Seitz. Bln. 1903. – ›Von Abtuhung der Bilder u. das keyn bedtler vnther den Christen seyn sollen‹. Wittenb. 1522. Bonn 1911. – ›De spiritu et litera‹. In: Ernst Kähler: K. u. Augustin. Der Kommentar des A. Bodenstein v. K. zu Augustins Schr. ›De spiritu et litera‹. Halle 1952 (darin auch K.s 152 Thesen vom 26.4.1517). – K.s Schr.en aus den Jahren 1523–25. Hg. Erich Hertzsch. 2 Bde., Halle 1956/57. – Ausw. an Texten in: Flugschr.en der frühen Reformationsbewegung (1518–1524). Hg. Adolf Laube u. a. 2 Bde., Bln./DDR 1983, u. in: Flugschr.en vom Bauernkrieg zum Täuferreich (1526–1535). Hg. A. Laube u. a. 2 Bde., Bln. 1992. Literatur: Bibliografie: Ernst Frey u. Hermann Barge: Verz. der gedr. Schr.en des A. Bodenstein v. K. In: Zentralblatt für das gesamte Bibliothekswesen 21 (1904), S. 153–179, 209–243, 305–331 (Sonderdr. durch Bob de Graaf. Nieuwkoop 1965). – Weitere Titel: Heinrich Heppe: A. R. Bodenstein. In: ADB. – C. F. Jäger: A. Bodenstein v. Carlstadt. Stgt. 1856. – H. Barge: A. Bodenstein v. K. 2 Bde., Lpz. 1905. – Karl Müller: Luther u. K. Tüb. 1907. – H. Barge: Frühprotestant. Gemeindechristentum in Wittenberg u. Orlamünde. 1909. – Erich Hertzsch: K. u. seine Bedeutung für das Luthertum. Gotha 1932. – Gerhard Fuchs: K.s radikalreformator. Wirken u. seine Stellung zwischen Müntzer u. Luther. In: Wiss. Ztschr. der MartinLuther-Univ. Halle-Wittenberg 3 (1953/54), S. 523–551. – Ronald J. Sider: A. Bodenstein v. K. Leiden 1974. – Ulrich Bubenheimer: Consonantia Theologiae et Jurisprudentiae. Tüb. 1977. – Calvin A. Pater: K. as the Father of the Baptist Movements. Toronto 1984. – Arnim Krause: A. Bodenstein v. K. Stgt. 1990. – Sigrid Looß: Desiderat der Forsch. zur Reformationsgesch.: eine Werkausgabe des A. Bodenstein aus Karlstadt (1486–1541). In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit [...]. Hg. Hans-Gert Roloff. 2 Tle., Amsterd./Atlanta 1997, Tl. 1, S. 553–566. – Querdenker der Reformation. A. Bodenstein v. K. u. seine frühe Wirkung. Hg. Ulrich Bubenheimer. Würzb. 2001. – Shinichi Kotabe: Laienbild A. Bodenstein v. K. 1516–1524. Mchn. 2005. Heinz Holeczek
1901 Wien; Grabstätte: ebd., Matzleinsdorfer Friedhof. – Dramatiker, Erzähler, Musiker. K. versuchte sich schon während seiner Schulzeit als Schauspieler u. Schauspieldirektor. 1838 wurde er Beamter der Staatseisenbahn, zunächst in Graz, ab 1879 in Wien; seit 1891 war er Oberinspektor der Südbahn. K. schrieb zunächst Feuilletons u. Erzählungen, die im typischen Wiener Lokalkolorit verfasst sind. Den Durchbruch als Dramatiker erzielte er erst mit dem satirisch angelegten »Wiener Schwank in vier Akten« Der kleine Mann (Urauff. 1894. Stgt. 1896), für den er 1896 den Raimund-Preis erhielt. Nach den früheren, eher erfolglosen »Volksstücken« Laufen lassen (1896; zus. mit Vincenz Chiavacci) u. Aus der Vorstadt (1893; zus. mit Hermann Bahr) schrieb K. nach dem Muster von Der kleine Mann eine Vielzahl von Komödien u. Lustspielen, die er als »Wiener Aristophanes« (Hermann Bahr) ohne Differenzierung »Volksstücke« nannte. Den Erfolg von Der kleine Mann konnte er nur mit Das grobe Hemd (Wien 1901, mit Umschlagzeichnungen von Emil Orlik) wiederholen. K.s dramaturgische Verfahren schließen an die Possen u. Satiren Johann Nepomuk Nestroys an, ohne dass K. Nestroys Wortwitz u. satir. Schärfe erreichte. Die versöhnl. Lösungen der gesellschaftl. Konflikte zeigen K. eher als Humoristen, weniger als Zeitdiagnostiker u. Satiriker. Seine Volksromane (u. a. Wiener Kinder. Stgt. 1897) u. Erzählungen (u. a. Adieu Papa. Wien 1898) wurden um 1900 breit rezipiert; heute sind sie weitgehend vergessen. K.s Mitgliedschaft in den wesentlichen literar. Gruppierungen der Wiener Klassik der Moderne zeigt hingegen sein Eingagement für eine Erneuerung des Wiener Vorstadttheaters, des Wiener Feuilletons (der »Neuen Freien Presse«) u. der Literatur (als Mitarbeiter der Zeitschrift »Gegen den Strom«). Die Auseinandersetzung mit Karl Kraus um K.s Komödie Der neue Simson (1902) zeigt, wie im Zentrum der literar. Moderne (etwa im Café Griensteidl) um neue Formen u. neue Ausdrucksmittel des Dramatischen gerungen wurde.
Karolo rege et Leone papa
305 Weitere Werke: Wiener Kinder. Stgt. 1887 (R.). – Das gemüthl. Wien (Gegen den Strom. Bd. 1. H. 5). Wien 1887. – Gesch.n aus Stadt u. Dorf. Stgt. 1889. – Ein Sohn seiner Zeit. Wien 1892 (D.). – Reich werden. Stgt. 1894 (R.). – Das liebe Ich. Bln. 1898 (D.). – Wenn es Euch gefällt. Wiener Revue. Zus. mit Hermann Bahr. Wien 1899. – Onkel Toni. Bln. 1900 (D.). – Martin’s Ehe. Novelle in Briefen. Wien 1901. – Wien, das bist du. Kleine E.en aus dem Nachl. Mit Begleitworten v. H. Bahr u. Vincenz Chiavacci. Stgt. 1903. Literatur: Annemarie Gruber: C. K. Diss. Wien 1949. – Katharina Drbohlav: C. K.’ dramat. Schr.en [...] u. seine Prosaschr.en. Diss. Wien 1950. – Marijan Bobinac: Für den kleinen Mann muss endlich etwas geschehen! Wien 1996. – Dies.: Der kleine Mann auf der Bühne. Aufsätze zum deutschsprachigen Volksstück im 20. Jh. Wroclaw 2005. /
Rudolf Denk
Karoch von Lichtenberg, Samuel, auch: Samuel ex monte rutilo, * 1440 Lichtenberg bei Darmstadt (?), † 1500 (?). – Frühhumanistischer Schriftsteller u. Lehrer.
den, Gedichte u. Erzählungen umfasst, versteht sich zwar als Verwirklichung u. Muster humanistischer Eloquenz, verwendet aber gleichzeitig mittelalterl. inhaltl. u. formale Traditionen. So verarbeitet sein 1485 in Köln geschriebenes Ad divam Barbaram dictamen zwei ältere Fassungen der Barbaralegende. Die Arenga de commendatione studii humanitatis (1470) ist nicht in antikem Versmaß abgefasst, sondern benutzt Rhythmik u. Reimform der Meistersangstrophe. Obwohl sich K., wie aus seinen Vorlesungsankündigungen zu ersehen ist, als einer der Vorreiter der Studia in Deutschland einschätzte, war es gerade seine Verwurzelung noch in nichthumanistischen Traditionen, die ihn seinen Nachfolgern suspekt erscheinen ließ: 1499 berichtet Heinrich Bebel, K. »ziehe noch durch Deutschland, voller Albernheiten, säe Barbarismen und lehre nichts anderes als nur ungebildete Rhythmen«. Literatur: Wilhelm Wattenbach: S. K. v. L., ein Heidelberger Humanist. In: Ztschr. für Gesch. des Oberrheins 28 (1876), S. 38–50. – Ders.: S. K. In: ADB. – Heinz Entner: Frühhumanismus u. Schultradition in Leben u. Werk des Wanderpoeten S. K. v. L. Bln. 1968. – Vera Sack: Ein Gedicht des Wanderpoeten S. K. v. L. zur Feier des Barbaratages in der Kölner Kartause. In: FS Otto Herding. Stgt. 1977, S. 188–216. – Franz Josef Worstbrock: Neue Schr.en u. Gedichte S. K.s v. L. Mit einer Werkbibliogr. In: ZfdA 112 (1983), S. 82–125. Abgedruckt in: Ders.: Ausgew. Schr.en. Hg. Susanne Köbele u. Andreas Kraß. Bd. 2, Stgt. 2005, S. 109–152. – Ders.: S. K. v. L. In: VL. Frank Fürbeth / Red.
K. führte ein unstetes Wanderleben, das gekennzeichnet war von immer wieder gescheiterten Versuchen, als Lehrer der humanistischen Fächer Fuß zu fassen. In Leipzig, wo er 1462 bis 1470 studierte, hatte er die Studia humanitatis im Kreis um Heinrich Stercker kennen gelernt. Nach einem ersten Italienaufenthalt tauchte er 1470/71 in Erfurt auf, ging aber schon 1472, nun als Magister, an die neu gegründete Universität Ingolstadt. Weitere Stationen waren u. a. Wien, Tübingen u. wieder Italien; es folgte um 1481/82 De Karolo rege et Leone papa. – Paneine kurze, aber fruchtbare Periode der Ruhe egyrische Hexameter-Dichtung auf Karl als Lehrer u. Erzieher in Biberach. Über Heiden Großen, um 800. delberg u. Erfurt kam er 1485 nach Köln, wo er das Studium des Zivilrechts aufnahm, aber Der in seiner Gattungszugehörigkeit u. nicht beendete. Nach einem Aufenthalt in Funktion (abhängig von der Einschätzung als Wien 1492 verliert sich seine Spur. fragmentar. Rest eines Epos oder als vollMit seinen grammatisch-rhetor. Lehr- ständig erhaltenes Zeugnis) lange umstritteschriften (u. a. einer Rhetorica subtilis, u. einer ne Text von 536 Hexametern ist – ohne InSinonima partium indeclinabilium sowie zwei cipit u. Explicit – einzig in einer St. Galler Brieflehren) wollte K. zu idealer lat. Schrift- Handschrift überliefert. Die früher u. a. Anlichkeit im Sinne des Humanismus anleiten, gilbert zugeschriebene Autorschaft ist noch verschmähte aber nicht den Verweis auf mit- ungeklärt; zuletzt wurde Einhard als mögl. telalterl. Autoritäten. Auch das umfangreiche Verfasser wieder zur Diskussion gestellt schriftstellerische Werk K.s, das Briefe, Re- (Schaller) bzw., ganz abweichend davon, ein
Karolo rege et Leone papa
irischer Verfasser angenommen (Brunhölzl). Für die Datierung bietet die zwischen 804 u. 814 entstandene, aus dem Karlsgedicht zitierende Ecloga Modoins einen ihrerseits nicht unbestrittenen terminus ante quem; die genaue zeitl. Situierung (zwischen 799 mit dem Besuch Leos III. bei Karl in Paderborn u. dem ersten Jahrzehnt des 9. Jh.) wie die Lokalisierung (Paderborn oder Aachen) hängen von der Beurteilung des Textes insg. ab. Mit bedeutenden literar. Anleihen aus der Vita des als Apostel Galliens verehrten Bischofs Martin von Tours (in der Versbearbeitung des Venantius Fortunatus) u. aus Vergils Aeneis sowie den Laudes Iustini des Corippus wird Karl, dem »rex« u. »Augustus«, ein breiter Panegyricus gewidmet, der in der bisher der Stadt Rom vorbehaltenen, nun in Karl personalisierten Metapher vom »caput orbis« (v. 92) gipfelt. Auf die Schilderung der emsigen Arbeiten zum Bau von Aachen (siehe Vergils Beschreibung Karthagos) als »Roma secunda« (v. 94) folgt anlässlich eines Jagdausflugs ein erneuter, auf Karls Frau u. Kinder ausgeweiteter Lobpreis. Nach einer Traumvision vom blutbesudelten Papst schickt Karl Boten nach Rom, wo Leo tatsächlich an Augen u. Zunge verstümmelt, aber wunderbar geheilt wird. Die Boten geleiten ihn nach Paderborn, u. der einen erneuten Feldzug gegen die Sachsen vorbereitende Karl empfängt ihn festlich. Entgegen dem von der Forschung dem Werk verliehenen Titel steht also eindeutig Karl im Zentrum. Die schon in der älteren Forschung übl. Ansicht vom fragmentar. Charakter des Textes führte Schaller weiter aus durch den Nachweis von Parallelen zwischen dem Exordium (vv. 1–13) u. der Einleitung zum dritten Buch von Venantius’ Vita Martini. Da sich auch das Ende in der überlieferten Form als intendierter Schluss bezweifeln lässt, könnte es sich um ein analog dem Vorbild des Venantius in vier Bücher gegliedertes, aber nur in seinem dritten Buch erhaltenes Epos gehandelt haben, das unter dem Eindruck der Kaiserkrönung im Umkreis des Aachener Hofs entstanden wäre. Die Annahme einer früheren Datierung um 799 hingegen verbindet sich mit der These von der Vollstän-
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digkeit des überlieferten Texts u. mit dessen Stellenwert als Zeugnis der Vorgeschichte der Kaiserkrönung im Sinne eines propäpstl. Plädoyers anlässlich der Paderborner Verhandlungen oder als im vorab für den dortigen Empfang verfasstes Doppelenkomion, was angesichts des so deutlich auf Karl liegenden Gewichts kaum überzeugt. Auch Ebenbauer, der die Entstehung nach den Paderborner Verhandlungen, aber vor der Krönung annimmt, spricht von einem im Rahmen eines repräsentativen Akts rezitierbaren Panegyricus u. veranschlagt so die buchepischen Erzählmerkmale ebenfalls geringer. Rezipiert wurde das Werk außer von Modoin auch von Ermoldus Nigellus in seinem – nach vier Büchern gegliederten – panegyr. Ludwigsepos (In honorem Hludovici). Später scheint es auf die Carlias des Ugolino Verino (entstanden 1465–1506) u. auf den während der Regierung des engl. Königs Karl I. tätigen Dichter Denham (Cooper’s Hill, entst. um 1641) gewirkt zu haben. – Die Geschichte von Karls Hilfe für den verstümmelten Leo war ansonsten in der lat. u. volkssprachl. Chronistik des MA in verschiedenen Varianten bekannt. Ausgabe: Franz Brunhölzl: De Karolo rege et Leone papa. Hg. u. übers. Paderb. 1999 (Beih. zum Bd. 36 der Studien u. Quellen zur westfäl. Gesch.). – Wilhelm Hentze [Hg.]: De Karolo rege et Leone papa. Der Ber. über die Zusammenkunft Karls des Großen mit Papst Leo III. in Paderborn 799 in einem Epos für Karl den Kaiser. Mit vollst. Farbreproduktion nach der Hs. der Zentralbibl. Zürich, Ms. C 78, u. Beiträgen v. Lutz E. Padberg, Johannes Schwind u. Hans-Walter Stork). Literatur: Helmut Beumann: Das Paderborner Epos u. die Kaiseridee Karls des Großen. In: Karolus Magnus et Leo papa. Ein Paderborner Epos v. J. 799. Paderb. 1966, S. 1–54. – Karl Hauck: Die Ausbreitung des Glaubens in Sachsen. In: Frühmittelalterl. Studien 4 (1970), S. 162–167. – Otto Zwierlein: Karolus Magnus – alter Aeneas. In: FS Karl Langosch. Darmst. 1973, S. 44–52. – Dieter Schaller: Das Aachener Epos für Karl den Kaiser. In: Frühmittelalterl. Studien 10 (1976), S. 134–168. – Ders.: Interpretationsprobleme im Aachener Karlsepos. In: Rhein. Vierteljahresbl. 41 (1977), S. 160–179. – Alfred Ebenbauer: Carmen Historicum I. Wien 1978, S. 34–90. – Roger P. H. Green: Modoin’s Eclogues and the ›Paderborn Epos‹. In:
Karsch
307 Mlat. Jb. 16 (1981), S. 43–53. – D. Schaller: D. K. r. e. L. p. In: VL. – Robert Cummings: Denham’s ›Cooper’s Hill‹ and ›Carolus Rex et Leo Papa‹. In: Philological Quarterly 64 (1985), S. 337–346. – Christine Ratkowitsch: Karolus Magnus – alter Aeneas, alter Martinus, alter Iustinus. Zu Intention u. Datierung des Aachener Karlsepos. Wien 1997. – Dies.: Karoli vestigia magna secutus. Die Rezeption des Aachener Karlsepos in der Carlias des Ugolino Verino. Wien 1999. – Dies.: Das Karlsbild in der lat. Großdichtung des MA. In: Bernd Bastert (Hg.): Karl d. Gr. in den europ. Lit.en des MA. Tüb. 2004, S. 1–16. – F. Brunhölzl: Über die Verse D. K. r. e. L. p. In: Hist. Jb. 120 (2000), S. 274–283. Edith Feistner
Karrillon, Adam, * 12.5.1853 Wald bei Michelbach/Odenwald, † 12.9.1938 Wiesbaden; Grabstätte: Weinheim/Bergstraße, Alter Friedhof. – Erzähler, Romancier, Reiseschriftsteller.
urg in Amerika. Das Ganze wird detailreich von einem ironisch-distanzierten, oft humoristischen Erzähler gestaltet. Die zeitgenöss. Kritik stellte K., der 1923 mit dem Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, neben Keller, Reuter, Raabe u. Rosegger. In seiner Odenwälder Heimat wird sein Andenken heute bes. gepflegt. Weitere Werke: Michael Hely. Der Dorfteufel. Weinheim 1900 (R.). – O domina mea. Bln. 1909 (R.). – Bauerngeselchtes. Bln. 1914 (N.n). – Adams Großvater. Bln. 1917 (E.en). – Am Stammtisch ›Zum faulen Hobel‹. Konstanz 1922 (E.en). – Viljo Ronimus. Das Schicksal eines Kassenarztes. Bln. 1925 (R.). – Unbekannte Kurzgesch.n u. Erzählungen. Tl. 1. Pfungstadt 1984. – Unbekannte Kurzgesch.n u. Erzählungen. Tl. 2: Derbe Neuigkeiten. Mit einem Vorw. u. einer Einf. in Leben u. Werk des Dichters v. Ralph Deschler. Mörlenbach 1990. – Aphorismen aus Werken v. A. K. Ausw. Heinz Triebel. Wald-Michelbach 2000. Literatur: Karl Esselborn (Hg.): A. K. Altes u. Neues über ihn u. v. ihm. Darmst. 1923. – Ralph Deschler: K. Biogr. Weinheim 1978. – Begleitheft zur Ausstellung. Wald-Michelbach 1988. Erwin Leibfried / Red.
Der Sohn eines Dorfschullehrers studierte Medizin u. lebte als Arzt überwiegend im Odenwald. Zur Unterbrechung des Arztalltags unternahm K., teils als Schiffsarzt, ausgedehnte Reisen, die er jeweils ausführlich beschrieb: Vorderer Orient (Eine moderne Karsch, Anna Louisa, geb. Dürbach, gen. Kreuzfahrt. Weinheim 1898), Kamerun (Im Karschin, * 1.12.1722 »Der Hammer« Lande unserer Urenkel. Ebd. 1909), Ostasien zwischen Züllichau u. Krossen/Nieder(Sechs Schwaben und ein halber. Eine Weltreise. schlesien, † 12.10.1791 Berlin; GrabstätBln. 1919), Ostsee (Meine Argonautenfahrt. Bln. te: ebd., Alter Sophienkirchhof. – Lyri1929). Diese letzte Reisebeschreibung enthält kerin. zgl. die Fortsetzung seiner Autobiografie, die K. mit Erlebnisse eines Erdenbummlers (Bln. Von der Mutter wurde K. wegen ihrer Häss1923) zunächst bis 1920 geführt hatte. lichkeit nicht geliebt; den liebenden Vater, K.s literar. Hauptwerk ist Die Mühle von einen Wirtshauspächter, verlor sie früh. Lesen Husterloh (Bln. 1908. Neudr. Pfungstadt u. schreiben lernte K. bei einem Großonkel in 1980), die Geschichte der Odenwälder Mül- Tirschtiegel/Posen, wurde aber als Zehnjählerfamilie Höhrle, die sich mit den Wand- rige von der wieder verheirateten Mutter zulungen der modernen, sich technisierenden rückgefordert u. diente als Magd u. ViehhirLebenswelt auseinanderzusetzen hat: Die tin. Mit 15 Jahren wurde sie an einen TuchWassermühle des alten Höhrle ist der Kon- weber verheiratet u. musste schwerste Arbeit kurrenz der Dampfmühle nicht mehr ge- leisten. Ein Rinderhirte vermittelte erste wachsen; hinzu kommt, dass die Müllerin auf heiml. Lektüre; es entstanden Geburtstags- u. großem Fuß lebt, mit dem Sohn Hans »Hö- Neujahrsständchen u. Trostgesänge. Nach heres« im Sinn hat. Dieser unterhält während elfjähriger Ehe ließ sich ihr Mann scheiden u. seines Studiums ein Verhältnis mit einer jagte die mit einem vierten Kind Schwangere Kommerzienratsgattin u. muss flüchten, als aus dem Haus. Wenige Monate später zwang der Skandal aufkommt. Die Mühle brennt vor die Mutter sie, den trunksüchtigen Schneider drohenden Zwangsversteigerung ab; der dergesellen Karsch zu ehelichen, dem K. ins alte Höhrle stirbt. Hans lebt später als Chir- poln. Fraustadt folgte, wo sie drei weitere
Karsch
Kinder gebar. Hier lernte sie, sich u. die Kinder von Gaben für Gelegenheitsverse zu ernähren. Lehrer u. Pfarrer wurden auf sie aufmerksam u. ermöglichten ihr 1755 die Übersiedlung ins preuß. Glogau. Im Siebenjährigen Krieg schrieb K. Gesänge auf die Siege Friedrichs des Großen, die, als Flugblätter gedruckt, ihren Ruhm nach Berlin trugen, wo Mendelssohn ihr ein »ungemeines Genie« bescheinigte. Gönner befreiten sie von dem gewalttätigen Karsch (er wurde eingezogen), u. ein Baron von Kottwitz brachte sie im Jan. 1761 nach Berlin. Hier wurde sie durch ihre Stegreiflieder die Sensation der Salons. Durch ernstere Dichtungen gewann sie auch Professoren u. Männer vom Fach zu Bewunderern, wie Sulzer u. Ramler, die ihr Talent zu verfeinern suchten. Gleim, der sie in Berlin besuchte u. zu dem sie eine unerwiderte Liebe hinriss, führte die »deutsche Sappho« seinen Domherren in Halberstadt vor, wo sie feierlich zur Dichterin gekrönt wurde. Anschließend wohnte sie ein Jahr, ebenso gefeiert u. reich beschenkt, im nahen Magdeburg u. knüpfte enge Beziehungen zum Hof der preuß. Königin, die vor den russ. Armeen dorthin geflohen war. Sie befreundete sich u. a. mit Herzog Ferdinand von Braunschweig u. dem regierenden Reichsgrafen Heinrich Ernst zu StolbergWernigerode, schrieb Kantaten für Prinzessin Amalie, die komponierende Schwester des Königs, unterhielt einen regen Briefwechsel mit führenden dt. Schriftstellern, u. Gleim sammelte ihre Gedichte für eine Pränumerationsausgabe. Von der Höhe dieses Glücks wurde der Sturz zurück ins Elend um so tiefer, als sie im Okt. 1762 nach Berlin zurückkehrte u. mit Elendsquartieren vorliebnehmen musste. Auf einer Audienz im Aug. 1763 versprach ihr der König ein Haus u. eine Jahrespension, doch hielt er sein Versprechen nicht. Das Urteil der Kritiker über die Auserlesenen Gedichte (Bln.: Winter 1764, recte 1763. Neudr. hg. von Alfred Anger. Stgt. 1966. Karben 1996) u. andere Veröffentlichungen fiel so niederschmetternd aus, dass es K. monatelang lähmte. Sie war immer unfähig gewesen, ihre hingeworfenen Improvisationen gründlich zu verbessern. Doch sie musste weiterdichten
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– aus innerem Bedürfnis wie auch aus äußeren Notwendigkeiten. Das Versemachen war ihr Broterwerb, ihre einzige Möglichkeit, zu existieren u. für den wachsenden Kreis der von ihr Abhängigen zu sorgen. So schrieb sie bis an ihr Lebensende Huldigungsgesänge auf Fürsten, Gelegenheitsdichtungen für Nachbarn u. trat bei Festen als poetische Unterhalterin auf. Daneben sang sie fast täglich ein Lied für sich selbst oder enge Freunde u. schrieb unzählige Briefe. Dass Friedrich Wilhelm II. K. 1789 ein Haus bauen ließ, brachte ihr keine finanzielle Erleichterung. – Das Leben K.s war reich an Freunden, ihr Alter tief überschattet durch Eifersucht u. Hass ihrer dichtenden Tochter Karoline von Klencke, die K. den Haushalt führte u. nach ihrem Tod ihre Gedichte auf Pränumeration herausgab (Bln. 1792. Titelaufl. 1797. Neudr. Karben 1996). Um die Leistung K.s gerecht zu würdigen, muss man zwischen Gelegenheits- u. Erlebnisdichtung im Goethe’schen Sinn u. Kunstprodukten unterscheiden. Zu den Letzteren gehört die Menge der Fabeln, Epigramme, Anakreontika, Idyllen u. Romanzen, die K. namentlich in den 1760er Jahren verfasste. Bei solchen Werken der feilenden Stilkunst versagte sie meistens. Doch schon aus vielen Huldigungsgedichten ist ihr eigener Ton herauszuhören, da sie die Fesseln der Gelehrsamkeit dieser Gattung durchbricht u. Freiräume für wahre Begeisterung u. persönl. Sympathie offenbleiben. Und wenn die Dichterin ihren natürl. Empfindungen freien Lauf lässt, wenn sie sich im verhaltenen Schmerz oder ausbrechenden Glücksgefühl an Gott wendet, wenn sie neue Freundschaften besingt oder sich dankbaren Herzens der Wohltäter ihrer Kindheit erinnert, dann wird sie zu einer der kühnsten Wortschöpferinnen (von Gerstenberg oder Herder öffentlich gepriesen, von Goethe hoch geschätzt) u. berührt noch heute unmittelbar. Namentlich in ihren Liebesgedichten u. -briefen an Gleim 1761/62 zeigen sich diese Unmittelbarkeit u. Wahrheit, die man bis 1770 wohl vergeblich in der dt. Literatur suchen wird. Darüber hinaus ist K. die beste dt. Briefschreiberin des 18. Jh.; in ihren Briefen spiegelt sich das reale
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Leben, v. a. auch der unteren Stände, wie in keinem anderen Briefwechsel der Zeit. Weitere Werke: 1753–91 erschienen zahlreiche Huldigungsdichtungen, Oden, Gelegenheitsgedichte usw. als Einzeldrucke. – Die Spazier-Gaenge v. Berlin. Bln. 1761. Neudr. hg. v. Oskar Rauthe. Bln. 1921. – Einige Oden über verschiedene hohe Gegenstände. Bln. 1764. – Kleinigkeiten. Bln. 1765. – Neue Gedichte. Mietau/Lpz. 1772. Neudr. Karben 1996. – Gedichte u. Lebenszeugnisse. Hg. Alfred Anger (nach Hss. u. Erstdrucken). Stgt. 1987. – ›Mein Bruder in Apoll‹. Briefw. zwischen A. L. K. u. J. W. L. Gleim. Bd. 1: Hg. Regina Nörtemann. Bd. 2: Hg. Ute Pott. Gött. 1996. – Die Sapph. Lieder. Hg. Regina Nörtemann. Gött. 2009. Literatur: Adolph Kohut: Die Dt. Sappho. Ihr Leben u. Dichten. Dresden/Lpz. 1887. – Elisabeth Hausmann: Friedrich des Großen Volksdichterin. Ein Leben in Briefen. Ffm. 1933. – Reinhard M. G. Nickisch: Die Frau als Briefschreiberin im Zeitalter der dt. Aufklärung. In: Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung. Bd. 2, Wolfenb. 1976, S. 29–65. – Helene M. Riley: Wölfin unter Schäfern. Die sozialkrit. Lyrik der A. L. K. In: Dies.: Die weibl. Muse. 6 Ess.s über künstlerisch schaffende Frauen der Goethezeit. Columbia 1986, S. 1–25. – A. L. K. (1722–1791). Von schles. Kunst u. Berliner ›Natur‹. Ergebnisse des Symposions zum 200. Todestag der Dichterin. Hg. Anke Bennholdt-Thomsen u. Anita Runge. Gött. 1992. – Uta Schaffers: ›Auf überlebtes Elend blick ich nieder‹. A. L. K. Literarisierung eines Lebens in Selbst- u. Fremdzeugnissen. Gött. 1997. – Ute Pott: Briefgespräche. Über den Briefw. zwischen A. L. K. u. J. W. L. Gleim. Anhang: Der Briefw. zwischen Gleim u. Caroline Luise v. Klencke. Gött. 1998. – Anne Kitsch: ›offt ergreiff ich um Beßer zu sein die Feder‹. Ästhet. Positionssuche in der Lyrik A. L. K.s. Mit (16) bislang unveröffentlichten Gedichten. Würzb. 2002. – Johannes Birgfeld: Patriot. Erregung als literar. Chance. Vom Einfluss der Gesch. auf das Verhältnis v. Gattung u. Geschlecht im 18. Jh. oder A. L. K. u. die Kriegslyrik. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 29 (2005), H. 2, S. 192–208. Alfred Anger
Karsthans. – Reformationsdialog. Der wohl früheste u. meistgelesene deutschsprachige Reformationsdialog erschien Anfang 1521 anonym in Straßburg u. wurde innerhalb weniger Monate neunmal nachgedruckt. Wer die Schrift verfasste, ist trotz intensiver Nachforschungen ungewiss. Inhaltlich u. stilistisch stellt sie eine Mischung von
Karsthans
Humanistensatire u. Reformationsdialog mit entsprechender Überlagerung der Sprach- u. Argumentationsebenen dar. So ist der erste Teil eine Satire auf Thomas Murner, der kurz zuvor mit einigen Streitschriften gegen Luther hervorgetreten war; erst im zweiten Teil bewegt sich die Auseinandersetzung auf allgemeinerer Ebene. Seinen Erfolg verdankte der Dialog v. a. der Titelfigur. Karsthans, urspr. ein Spottname für den mit der Feldhacke (= Karst) arbeitenden Bauern, wurde durch ihn zum Ehrentitel für den einfachen, unverbildeten u. wahrhaft gläubigen Christen, der die Lehren der Papstkirche als Lügengespinst entlarvt u. in Luther den Erneuerer des reinen Evangeliums begrüßt. Als Identifikationsangebot an den »gemeinen man« avancierte die Karsthansgestalt rasch zu einer Symbolfigur der Reformation, die speziell dort ins Feld geführt wurde, wo neben den religiösen auch soziale u. wirtschaftl. Anklagen gegen die Papstkirche laut wurden. Noch im selben Jahr erschien das Bucer zugeschriebene Gesprech Büchlin Neuw Karsthans, in dem Karsthans u. Franz von Sickingen u. a. das Problem eines gewaltsamen Vorgehens gegen die Kirche erörtern, sowie der in Hexametern verfasste lat. Dialog Karsthans und Kegelhans. Auch in zahlreichen anderen Flugschriften der frühen Reformationszeit wurde auf den K. Bezug genommen. Eine bes. Rolle spielte er in den Schriften des Wanderpredigers Johann Locher; der Freiburger Arzt Hans Maurer (auch: Murer; gen. Zündauf, gest. nach 1525) trat ab 1522 unter diesem Namen vorübergehend als Laienprediger auf. Ausgaben: K. (1521). Hg. Herbert Burckhardt. In: Flugschr.en aus den ersten Jahren der Reformation. Hg. Otto Clemen. Bd. 4, H. 1, Lpz. 1911. Nachdr. Nieuwkoop 1967, S. 75–133 (S. 1–74: Einl.). – K. In: Die Reformation im zeitgenöss. Dialog. 12 Texte aus den Jahren 1520 bis 1525. Hg. Werner Lenk. Bln. 1968, S. 67–90. – K. In: Die Wahrheit muß ans Licht! Dialoge aus der Zeit der Reformation. Hg. u. mit einer Einl. v. Rudolf Bentzinger. Lpz. 1982 (21988. Ffm 1983), S. 85–126 (Druckvorlage: Lenk 1968). – K. In: Dt. Lit. v. Luther bis Tucholsky. Bln. 2005 (CD-ROM). Literatur: Bibliografien: VD 16. – Hans-Joachim Köhler: Bibliogr. der Flugschr.en des 16. Jh. Tl. 1:
Karsunke Das frühe 16. Jh. Bd. 2, Tüb. 1992, Nr. 1974–1980. – Weitere Titel: Jakob Franck: K. In: ADB. – Paul Böckmann: Der gemeine Mann in den Flugschr.en der Reformation. In: DVjs 22 (1944), S. 186–230. – Barbara Könneker: Die dt. Lit. der Reformationszeit. Mchn. 1975, S. 100–109. – Josef Schmidt: Lestern, lesen u. lesen hören. Kommunikationsstudien zur Prosasatire der Reformationszeit. Bern/ Ffm. 1977, S. 133–172. – Robert W. Scribner: For the sake of simple folk. Popular propaganda for the German Reformation. Oxford 21994 (zuerst 1981). – Ninna Jørgensen: Bauer, Narr u. Pfaffe [...]. Leiden 1988. – Horst Langer: ›Karsthans‹. Wirkungsstrategie, Werkgestalt u. Rezeption eines Reformationsdialogs. In: ZfG N. F. 1 (1991), S. 28–36. Barbara Könneker / Red.
Karsunke, Yaak, * 4.6.1934 Berlin. – Dramatiker, Lyriker u. Romancier. K., Sohn eines Fabrikdirektors u. einer Verlagsprokuristin, wuchs im Berliner Stadtteil Pankow auf. 1949 siedelte er nach Friedenau über, wo er auf das Gymnasium ging u. 1953 das Abitur ablegte. Das anschließende Jurastudium brach er nach drei Semestern ab u. besuchte stattdessen 1955–1957 die MaxReinhardt-Schule für Schauspiel in Berlin. Danach arbeitete K. sieben Jahre als Hilfs- u. Gelegenheitsarbeiter. 1964 begann er, mittlerweile nach München übergesiedelt, mit schriftstellerischen Arbeiten. Als Mitbegründer der Zeitschrift »kürbiskern« war er 1965–1969 deren Chefredakteur u. Mitherausgeber. Seine ablehnende Haltung zum Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in die CˇSSR führte 1969 zum Bruch mit der Redaktion, die damals auf den DKP-Kurs eingeschwenkt war. Seit 1969 engagierte sich K. in der APO u. wurde zum Sprecher der (Ostermarsch-)»Kampagne für Demokratie und Abrüstung«. Sein später immer stärker werdendes Interesse am Medium Film entstand durch den freundschaftl. Kontakt mit R. W. Fassbinder, der ihn für drei seiner Filme auch als Schauspieler engagierte. 1976–1979 lehrte K. als Fachberater für »Drehbuch und Dramaturgie« an der Deutschen Film- u. Fernsehakademie; 1981–1999 hatte er eine Gastprofessur an der Hochschule der Künste in West-Berlin im Bereich »Schauspiel« inne. Als Schriftsteller wurde K.
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1990 mit dem Deutschen Krimipreis u. 2005 mit dem Erich-Fried-Preis ausgezeichnet. K.s schriftstellerisches Werk ist vielfältig. Bekannt wurde er zuerst v. a. durch lyr. u. dramat. Arbeiten didakt. u. agitatorischpolit. Charakters. Ausgangspunkt sind in den Gedichten meist Alltagserfahrungen; oft handelt es sich um Gegenentwürfe, z.B. zu Brechts Radwechsel. Ziel ist es, zum Denken u. Handeln anzuregen, polit. u. private Vorgänge zu analysieren (Klassenphotos. In: da zwischen. 35 Gedichte & ein Stück. Bln. 1979). K. bedient sich einer bewusst unkomplizierten, dabei keineswegs kunstlosen Sprache. Durch Collage u. Montage, durch Wortspiele u. Zeilenbrüche erreicht er eine Unterbrechung des Assoziationsflusses u. eine krit. Durchleuchtung traditioneller Motive u. Denkgewohnheiten. Für seine Dramen wählte K. histor. Stoffe: Bauernkrieg, Ruhrkampf, Michael Kohlhaas, Zolas Germinal (Urauff. Ffm. 1974). Es geht ihm um von der bürgerl. Geschichtsschreibung »unterschlagene« Abschnitte u. Personen. Mitunter verzichtet K. auf einen Helden; seine Figuren sind das Kollektiv: die namenlose Gruppe der Bauern oder die streikenden Arbeiter der Jahre 1919/20. Die Darstellung orientiert sich am Arbeiter- u. Politrevuetheater von Weimar, der Piscatorbühne der 1930er Jahre u. dem Theater Brechts. Als dramat. Mittel dienen Songs, Bänkellieder, Moritaten u. Zwischenkommentare, die Wissen vermitteln sollen. Der sprachl. Duktus ist leidenschaftlich u. doch präzise. Sein größter Erfolg, die Bauernoper, war eine Auftragsarbeit des Landestheaters Tübingen (Urauff. 1973. Bln. 1976). Der histor. Bilderbogen zeigt in locker geführten Szenen den Bauernkrieg im süddt. Raum. Der Prolog weist K. dabei als Skeptiker aus. Mit der Bauernoper stieß K. auf ambivalente Reaktionen. Während ihm die etablierte Kulturkritik trockenen Nachhilfeunterricht im Sinne eines Geschichtsseminars vorwarf, hielt die dogmat. Linke den Unterhaltungsaspekt für überflüssig u. schädlich. In Des Colhas’ letzte Nacht (Urauff. Bln. 1978) kritisiert K. die aktuelle Situation der BR Deutschland: die Rituale der Macht mit all ihren restaurativen Tendenzen. Er themati-
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Kasack
siert den Kampf des Einzelnen um Gerech- 1970 (Ballettlibr.). – Josef Bachmann. Sonny Listen. Versuche aus der Unterklasse auszusteigen. Bln. tigkeit. Sein literar. Schaffen während der siebziger 1973. – Bauernoper. Ruhrkampf-Revue. Mit einem und achtziger Jahre zeigte K. als einen un- Nachw.: Erfahrungen bei der alternativen Kulturarbeit. Urauff. Castrop-Rauxel 1975. Bln. 1976. – abhängigen Linken, als Skeptiker auch in den auf die gefahr hin. Bln. 1982 (L.). – Die Guillotine eigenen Reihen. Er galt als krit. Beobachter umkreisen (zus. mit Arwed D. Gorella). Bln. 1984. – restaurativer Entwicklungstendenzen in der Gespräch mit dem Stein. Bln. 1992 (L.). – Da zwiBundesrepublik, wobei er v. a. die Neue schen auf die Gefahr hin. Gedichte 1979 u. 1982. Rechte im Blick hat. Mchn. 2003. – Fernsehfilme: Bares Geld. WDR 1973. Mit seinem 1989 erschienenen, preisge- – Hier kein Ausgang – nur Übergang. ZDF 1977. – krönten Roman Toter Mann (Bln.) wandte sich Kinofilm: Bodenproben – Über den Umgang mit K. dem Genre der Kriminalliteratur zu. Der einem Gelände. Dokumentarfilm v. Riki Kalbe. Roman ist allerdings mehr als nur ein Krimi; Texte v. Y. K. 1987. Literatur: Harald Hartung: Y. K. / Kilroy & er ist ein Panoptikum der Stadt Berlin u. als solches illustriert er die spezif. Probleme, die andere / reden & ausreden. In: NR 81 (1970), H. 3, sich aus ihrer Lage zwischen West u. Ost er- S. 588–591. – Uta Rupprecht: Y. K. In: LGL. – Thomas Zabka: Parodie? Kontrafaktur? Travestie? geben. Dazu greift K. auf das für einen KriAnlehnung? Zur Klassifikation u. Interpr. v. Meminalroman ungewöhnl. Thema der kom- tatexten unter Berücksichtigung ihrer mehrfachen merziellen Fluchthilfe zurück. Durch eine Intertextualität. Überlegungen zu Gedichten von Liebesbeziehung mit Vera, die in den siebzi- u. nach Bertolt Brecht. In: DVjs 78 (2004), H. 2, ger Jahren aus der DDR geflohen war, sieht 313–352. Waltraud Müller / Alexander Schüller sich der Hörfunkredakteur Siegbert Volmar mit den kriminellen Folgen der Fluchthilfe Kasack, Hermann; * 24.7.1896 Potsdam, konfrontiert. Bei seinen Recherchen gerät er † 10.1.1966 Stuttgart; Grabstätte: ebd. in einen kaum noch kontrollierbaren Wust Waldfriedhof. – Romancier, Erzähler, Lyaus Prostitution, Erpressung u. Mord. Immer riker, Dramatiker, Essayist. mehr erweist sich dabei, dass der Kalte Krieg mit seinen negativen Folgen in den Biogra- Den Gymnasiumbesuch in Potsdam beendete fien der einzelnen Menschen nach wie vor der Arztsohn 1914 als Kriegsfreiwilliger mit präsent ist. Der Roman ist flott u. dennoch dem Notabitur. Aufgrund eines Herzfehlers eindringlich erzählt, wobei er an manchen wurde er jedoch im selben Jahr wieder aus dem Militärdienst entlassen. Bis 1920 stuStellen zu detailversessen ist. Der Gedichtband hand & fuß (Mchn. 2004) dierte er in Berlin u. München Germanistik u. besteht aus vier Teilen, die nochmals die ge- Philosophie. Eine Promotion über Hölderlins samte Bandbreite von K.s Themen umfassen. Lyrik schloss er nicht mehr ab, sondern trat Die Gedichte behandeln die Funktion der als Lektor in den Potsdamer Kiepenheuer Kunst wie auch die jüngere dt. Vergangen- Verlag ein, dessen Direktor er später wurde. heit, was für K. vor allem eine Auseinander- Aus seiner Studienzeit datierte u. a. seine setzung mit dem Kommunismus bedeutet. Freundschaft mit Loerke, für den er sich imSie beleuchten ebenso die Verleugnungsstra- mer wieder als Essayist u. Herausgeber eintegien histor. Schuld wie das Verhältnis von setzte. 1926 wurde K. für 15 Monate VerJung u. Alt. Im letzten Teil vergegenwärtigt lagsdirektor bei S. Fischer. Neben seinen K. antike u. bibl. Mythen, die er in einigen dichterischen Arbeiten verfasste er in diesen Fällen radikal umdeutet. Als verbindendes Jahren eine Vielzahl von Essays u. RezensioElement schwebt über allem das Thema der nen, v. a. jedoch gestaltete er im Berliner Befreiung von Fixierungen, die gerade die Rundfunk seit 1925 literar. Programme u. Kunst ihren Schöpfern u. Rezipienten er- wurde damit auch mit eigenen Hörspielen zu einem Pionier dieses Genres. Stimmen im möglicht. Weitere Werke: Kilroy & andere. Bln. 1967 (L.). Kampf (Berliner Rundfunk 1930. Neuaufnah– reden & ausreden. Bln. 1969 (L.). Beide zus. me NDR 1959 u. d. T. Ballwechsel) z.B. macht Neuausg. Mchn. 2000. – PIGasUS. Urauff. Bremen Gedanken zweier Tennisspieler hörbar. Be-
Kaschnitz
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sonders erfolgreich bei Kindern war eine Serie gengesetzt werden. Am Ende wird der phivon zehn Hörspielen mit der Figur Tull der losophiehaltige Roman utopisch, indem der Meisterspringer (Berliner Rundfunk 1932. Mo- Held mit seiner Chronik, eben diesem Roman, in das diesseitige Leben zurückkehrt u. tive daraus als Jugendbuch Lpz. 1935). K.s Ablehnung der Nationalsozialisten mit seinen Lehren aus dem Jenseits Erfolg führte schon 1933 zu einem Sendeverbot im hat. 1949 wurde das Werk, das auch zu einem Berliner Rundfunk, sodass seine Frau mit Libretto verarbeitet wurde (Bln./Ffm. 1955. ihrer Massagepraxis die Familie ernähren Urauff. Wiesb. 1955; Musik von Hans Vogt), musste. Nach Loerkes Tod 1941 übernahm K. mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet. dessen Lektoratsstelle beim S. Fischer u. späWeitere Werke: Die Insel. Bln. 1920 (L.). – Die teren Suhrkamp Verlag, den er in den Kriegs- trag. Sendung. Bln. 1920 (D.). – Der Webstuhl. Ffm. u. Nachkriegswirren zeitweilig leitete. 1949 1949 (E.). – Das große Netz. Ffm. 1952 (R.). – Fälschied er aus dem Verlag aus u. ging nach schungen. Ffm. 1953 (E.). – Mosaiksteine. Beiträge Stuttgart. Im literar. Leben der Nachkriegs- zu Lit. u. Kunst. Ffm. 1956. – Das Birkenwäldchen. zeit hatte K. eine exponierte Stellung inne; Ffm. 1996 (E.). – Dreizehn Wochen. Tage- u. Nachtblätter. Aufzeichnungen aus dem Jahre 1945 u. a. war er 1953–1963 Präsident der Deutüber das Kriegsende in Potsdam. Hg. Wolfgang schen Akademie für Sprache und Dichtung. Kasack. Bln. 1996. K.s Laufbahn als Lyriker begann während Literatur: Wolfgang Kasack (Zusammensteldes Studiums mit Veröffentlichungen in ex- lung): Leben u. Werk v. H. K. Ffm. 1966. – H. K. pressionistischen Zeitschriften. Sein erstes 1896–1966. Marbacher Magazin 2 (1976). – HerBuch, thematisch u. sprachlich durchaus mann Henne: Katharsis oder Spielerei? H. K. u. sein dieser Bewegung zugehörig, trägt den pro- Roman ›Die Stadt hinter dem Strom‹. In: LitJb 25 grammat. Titel Der Mensch. Verse (Mchn. (1984), S. 285–295. – Woo-Kyun Shin: Chinesisches 1918). Spätere Gedichte, gesammelt in Das in K.s Kunst? Diss. Düsseld. 1986. – Martina ewige Dasein (Bln./Ffm. 1943), spiegeln in ih- Fromhold: H. K. u. der Rundfunk der Weimarer rer Kultiviertheit u. formalen Schönheit Republik. Ein Beitr. zur Gesch. des Wechselvernichts von der Barbarei ihrer Zeit. K.s späte, hältnisses zwischen Lit. u. Rundfunk. Aachen 1990. – Heribert Besch: Dichtung zwischen Vision u. formal strenge Lyrik ist in dem Band WasserWirklichkeit. Eine Analyse des Werkes v. H. K. mit zeichen (Ffm. 1964) abgedruckt. Tagebuched. (1930–1943). St. Ingbert 1992. – Neben kürzerer erzählender Prosa verfasste Helmut John u. Lonny Neumann (Hg.): H. K. Leben der junge K. einige Dramen; von den ex- u. Werk. Symposion 1993 in Potsdam. Ffm. u. a. pressionistischen wurde nur Die Schwester 1994. – Gene O. Stimpson: Zwischen Mystik u. (Bln. 1920) aufgeführt (Heilbr. 1926). Recht Naturwiss.en. H. K.s Die Stadt hinter dem Strom erfolgreich war dagegen Vincent, ein Schau- im Lichte des neuen Paradigmas. Ffm. u. a. 1995. – spiel über die Beziehung zwischen Van Gogh Herbert Heckmann u. Bernhard Zeller (Hg.): H. K. u. Gauguin (Potsdam 1924. Urauff. Stgt. zu Ehren. Eine Präsidentschaft in schwerer Zeit. Gött. 1996. – H. K. u. der Rundfunk. Deutsches 1924). Rundfunkarchiv Ffm./Potsdam-Babelsberg 2004 K.s Hauptwerk ist der 1942–1946 ge(1 CD). Walter Olma schriebene Roman Die Stadt hinter dem Strom (Ffm. 1947), der zu einem der meistdiskutierten Werke der Nachkriegsliteratur wurde. Kaschnitz, Marie Luise, eigentl.: M. L. von Der Orientalist Dr. Robert Lindhoff, der Züge K.-Weinberg, geb. von Holzing-Berstett, seines Autors aufweist, wird in einer Rui* 31.1.1901 Karlsruhe, † 10.10.1974 Rom; nenstadt Chronist u. erkennt langsam, dass er Grabstätte: Bollschweil bei Freiburg i. Br. in einer Zwischenwelt lebt, in der sich die – Erzählerin, Lyrikerin, Hörspielautorin, Verstorbenen vor ihrem endgültigen AbsterEssayistin. ben aufhalten. In ihr spiegeln sich surrealistisch übersteigert Zustände der gegenwärti- K. entstammte einer alten Offiziersfamilie gen Lebenswirklichkeit, deren katastrophaler (der Vater Max Freiherr von H.-B. war preuß. Zustand abendländ. Denken zugeschrieben Generalmajor) u. verbrachte, als höhere wird. Ihm soll ostasiatische Weisheit entge- Tochter erzogen, Kindheit u. Jugend in dem
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militärisch u. höfisch geprägten Milieu von Berlin u. Potsdam (seit 1902). Nach dem Abitur absolvierte sie in Weimar eine Buchhändlerlehre u. arbeitete in einem Antiquariat in Rom. 1925 heiratete sie den Archäologen Guido von Kaschnitz-Weinberg (geb. 1890), mit dem sie abwechselnd in Rom, Königsberg, Marburg u. Frankfurt/M. lebte. Gemeinsame Reisen führten sie nach Italien, Jugoslawien, Ungarn, Griechenland, in die Türkei u. nach Nordafrika. Nach dem Tod ihres Mannes 1958 lebte K. in Frankfurt/M., Rom u. auf dem Familiengut in Bollschweil bei Freiburg i. Br., der »Herzkammer der Heimat«. Lesereisen wurden u. a. nach Südamerika u. in die USA unternommen. K. erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. 1955 den Georg-Büchner-Preis u. 1967 den Orden Pour le mérite. Im Sommersemester 1960 las sie als Gastdozentin auf dem Poetiklehrstuhl der Universität Frankfurt/M. über Gestalten europäischer Dichtung von Shakespeare bis Beckett (in: Zwischen Immer und Nie. Gestalten und Themen der Dichtung. Ffm. 1971). K.’ Werk umfasst Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten, Gedichte, Hörspiele u. autobiogr. Prosa. Trotz aller Vielfalt der Ausdrucksformen ist der Eindruck der Homogenität u. Geschlossenheit dieses Werks vorherrschend. Dazu trägt der durchgängig zu beobachtende lyr. Grundton bei, v. a. jedoch das in den verschiedenen Texten immer wieder neu variierte Grundthema – das Bekenntnis zum Menschen, zur Menschlichkeit u. Menschenliebe als Antwort auf die Gleichgültigkeit, Lieblosigkeit u. Grausamkeit, als Antwort darüber hinaus auf die Erfahrung der Endlichkeit des Lebens u. der Allgegenwart des Todes. Zwischen der fiktionalen u. der autobiogr. Prosa lässt sich oft keine klare Grenze ziehen. Sie werde wohl als »ewige Autobiographin« (in: Orte. Ffm. 1973) in die Literaturgeschichte eingehen, hat K. selbst einmal gemutmaßt. Ihre Tagebuchaufzeichnungen zielen auf das hinter dem Individuellen aufscheinende Exemplarische. Privates u. Öffentliches, Persönliches u. Allgemeines sind nicht losgelöst voneinander zu betrachten, doch erhielten sich bei K. gegenüber der Preisgabe des Privaten durchaus deutl. Reserven. Gleichzeitig bestand sie mit
Kaschnitz
zunehmendem Alter ausdrücklich auf der Pflicht zur »Zeitgenossenschaft«. Unpolitisch im Sinne eines idealistischen Beharrens auf der »reinen«, der Wahrheitssuche dienenden Kunst sind nur die frühen, unter den Bedingungen der Inneren Emigration entstandenen Arbeiten. K. begann mit zwei Romanen, Liebe beginnt (Bln. 1933. Ffm. 1984) u. dem auf Vergil zurückweisenden Dido-Roman Elissa (Bln. 1937. Ffm. 1984), beides psychologisch motivierte Liebesgeschichten, die Probleme der Weiblichkeit, der Partnerbeziehung u. das spätere Grundmotiv von Liebe u. Tod thematisieren. Es folgten die Nacherzählungen Griechische Mythen (Hbg. 1946), das Märchen Der alte Garten (aus dem Nachl. Düsseld. 1975), ein Essay über Eichendorffs Jugend (in: Florens. Aus dem Nachl. Düsseld. 1984) sowie eine Biografie des Malers Gustave Courbet (Baden-Baden 1949. Neuausg. u. d. T. Die Wahrheit, nicht der Traum. Ffm 1978), die K. rückblickend als »Überleitung« zu einer neuen Epoche ihres Schreibens bezeichnete. Die Courbet-Studie markiert die Bedeutsamkeit, die Kunstbetrachtungen im Gesamtwerk einnehmen (dazu umfassend Hahn 2001). In der Prosa lösten in der Folge Erzählung u. Kurzgeschichte den Roman ab. In der Lyrik traten freie, ungebundene Versformen an die Stelle der an klass. Maß (v. a. dem Sonett) orientierten Gedichte der Kriegsjahre. Hier wie dort arbeitete K. bevorzugt mit den Mitteln der Verknappung u. Aussparung. Neun Gedichtbände sind zu K.’ Lebzeiten publiziert worden, die ihre geistige Entwicklung spiegeln. So stehen die nach dem Krieg entstandenen Gedichte (Totentanz und Gedichte zur Zeit. Hbg. 1947. Zukunftsmusik. Hbg. 1950) ganz unter dem Eindruck der NullpunktZeit, zeugen dabei trotz Leid u. Erschütterung von dem Glauben an eine humane Zukunft der Menschen. Der Tod des Gatten erklärt die Dominanz von Trauer u. Schmerz in Dein Schweigen – meine Stimme (Hbg. 1962). In der späten, im Stil völlig schmucklosen, im Ton oft lakon. Lyrik tritt das radikale Bekenntnis zum Menschen als Zóon politicón, so der Titel eines Gedichtzyklus, in den Mittelpunkt.
Kaser
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In ihren Erzählungen u. Kurzgeschichten anne Büttrich u. Iris Schnebel-Kaschnitz. Mit eibevorzugte K. Stoffe mit einem klar umris- nem Nachw. v. Arnold Stadler. 2. Bde. Ffm 2000. – senen Handlungsgerüst, einem engen zeitl. Daneben zahlreiche Ausw.- u. TaschenbuchausgaRahmen u. einer begrenzten Zahl von Figu- ben. Literatur: Elsbet Linpinsel: K.-Bibliogr. Hbg./ ren. Häufig allerdings ist es, wie in Das dicke Kind (und andere Erzählungen. Krefeld 1951) Düsseld. 1971. – Elsbeth Pulver: M. L. K. Mchn. 1984. – Uwe Schweikert (Hg.): M. L. K. Ffm. 1984 oder An irgendeinem Tag (in: Ferngespräche. Ffm. (mit Texten von M. L. K., Lebens- u. Werkchronik 1966), nur ein einziges Ich, das sich mit sich sowie einer Bibliogr. v. C. Büttrich im Anhang). – selbst im Zwiegespräch befindet. Mit großer Petra Neumann: M. L. K. u. Bollschweil. Marbach/ Selbstverständlichkeit vollziehen sich in die- N. 1991. – Dagmar v. Gersdorff: M. L. K. Ffm.1992. sen Geschichten die Übergänge vom Alltäg- – Helga Vetter: Ichsuche. Tagebuchprosa von M. L. lichen zum Besonderen, vom Realen zu ei- K. Stgt. 1994. – Heidi Hahn: Ästhetische Erfahrung nem geheimnisvoll Irrealen, das hinter dem als Vergewisserung menschl. Existenz. Kunstbevordergründig Konkreten aufscheint u. das trachung im Werk von M. L. K. Würzb. 2001. – ›Ein Allgemeine wie das Individuelle einem al- Wörterbuch anlegen‹. M. L. K. zum 100. Geburtstag. Mit einem Ess. v. Ruth Klüger. Bearb. v. Brilenfalls ahnungsweise angedeuteten Höheren gitte Raitz. Marbach/N. 2001. – ›Für eine aufzuordnet. Die existenziellen, manchmal auch merksamere und nachdenklichere Welt‹. Beiträge die religiösen Fragen des Menschseins wer- zu M. L. K. Hg. Dirk Göttsche. Stgt. 2001. – Siegden in das alltägl. Milieu der Gegenwart linde Klettenhammer: ›Ich habe dann immer verhineingeholt u. an zeitgebundene Erfahrun- sucht, aus den alten Stoffen moderne Stücke zu gen geknüpft. In den zumeist handlungsrei- machen‹. Zu den Hörsp.en v. M. L. K. In: Brennerchen Hörspielen bediente K. sich dagegen Archiv 20 (2001), S. 151–162. – M. L. K. Eine senhäufig histor., auch bibl. oder antiker Stoffe sible Zeitgenossin. Hg. Jan Badewien u. Hansgeorg (Jasons letzte Nacht. BR 1965. Der Zöllner Mat- Schmidt-Bergmann. Karlsr. 2002. – Carola Hilmes. Die Orte der M. L. K. Zur autobiogr. Prosa des thäus. HR 1956. Beide in: Hörspiele. Ffm. Spätwerks. In: Sprache u. Lit. 34 (2003), 1962). S. 162–174. – Vivian Liska: Das Aktenkundige u. Zunehmend gewann die autobiogr. Prosa die Dichtung. Zu M. L. K.’ ›Zoon Politikon‹. In: ein eigenes Gewicht. Denn Texte u. Materia- Rechenschaften. Juristische u. literar. Diskurse in lien der insg. 26 Tagebücher, mit Unterbre- der Auseinandersetzung mit NS-Massenverbrechungen von 1936 bis 1966 geführt, gingen chen. Hg. Stephan Braese. Gött. 2004, S. 102–116. – ein u. a. in die Aufzeichnungen Engelsbrücke Uwe Schweikert: M. L. K., ›Beschreibung eines (Hbg. 1955). Die phantasmagor. Erzählung Dorfes‹ (1966). In: Meisterwerke deutschsprachiger Das Haus der Kindheit (Hbg. 1956) arbeitet in Autorinnen im 20. Jh. Hg. Claudia Benthien. Köln u. a. 2005, S. 201–216. seltsam verfremdeter Form frühe ErfahrunRita Mielke / Wilhelm Kühlmann gen auf. In den späten Aufzeichnungen löste sich K., wie in der Lyrik, immer stärker von Kaser, Norbert Conrad, * 19.4.1947 Briformalen Vorgaben, erschrieb sich eine eigexen/Südtirol, † 21.8.1978 Bruneck/Südtine, unverwechselbare Form (Steht noch dahin. rol; Grabstätte: ebd. – Verfasser von Lyrik, Ffm. 1970). Unverkennbar machen sich darin Kurzprosa u. politischen Texten. die Irritation, die Skepsis u. der entsprechend geschärfte Blick eines Ichs bemerkbar, das die K. wuchs in ärmlich-kleinbürgerl. VerhältWirklichkeit wie die eigene Identität zuneh- nissen in Bruneck auf, besuchte dort das Gymnasium u. trat 1968 in das Kapuzinermend in Frage stellt. Weitere Werke: Ges. Werke. Hg. Christian kloster ein, das er 1969 wieder verließ. Er Büttrich u. Norbert Miller. 7 Bde., Ffm. 1981–89. begann in Wien ein Kunstgeschichtestudium, Bd. 1: Frühe Prosa. 1981. Bd. 2: Autobiogr. Prosa kehrte 1971 nach Südtirol zurück u. arbeitete I.1981. Bd. 3: Autobiogr. Prosa II. 1982. Bd. 4: Die bis 1976 als Lehrer an Bergschulen, mit UnErzählungen. 1983. Bd. 5: Die Gedichte. 1985. terbrechung durch Klinikaufenthalte wegen Bd. 6: Die Hörsp.e. Die biogr. Studien. 1987. Bd. 7: seiner Alkoholprobleme. 1976 wurde K. Die essayist. Prosa. 1989. – Tagebücher aus den Jahren 1936–1966. Hg. Christian Büttrich, Mari-
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Kassner
Mitgl. der KP Italiens u. trat aus der kath. (1984), S. 56–63. – Margareth Kaufmann: K. Ein Leben in Texten. Diss. Salzb. 1988. – Josef HaslinKirche aus. Seit 1968 erschienen in Zeitschriften u. ger: Einer, der auszog, den Tiroler Adler zu rupfen. Anthologien Texte K.s, deren Hintergrund Zu Leben u. Werk v. N. C. K. (1947–1978). In: Ders.: Wozu brauchen wir Atlantis. Wien 1990, S. 93–104. stets die »autonome Provinz« Südtirol mit – Neuburger K.-Symposium 1991. Mit unbekannihren komplexen polit. u. kulturellen Pro- ten Briefen v. N. C. K. Hg. Eberhard Sauermann u. blemen bildet. Als Lyriker geht K. spontan Rolf Selbmann. Innsbr. 1993. – Christine Riccabovon der konkreten Wahrnehmung, vom per- na: Vom Mythos des Autors als Weltverbesserer. N. sönl. Erlebnis aus: Orts- u. Landschaftsbe- C. K. u. Nicolas Born. In: Mitt.en aus dem Brennerschreibungen, Wut u. Trauer über die dem Archiv 15 (1996), S. 44–60. – B. Sauer: N. C. K. Eine Tourismus preisgegebene Heimat, Jugender- Biogr. Innsbr. 1997. – Bettina Rabelhofer: ›es bockt innerungen, Liebe u. Religion, Einsamkeit u. mein herz‹. Zur Organsprache N. C. K.s. In: das Trinken sind wiederkehrende Sujets. K. Wernfried Hofmeister u. Bernd Steinbauer (Hg.): Durch aubenteuer muess man wagen vil. Innsbr. verwendet in seinen lakonisch knappen Ge1997, S. 363–374. – Fausto Cercignani (Hg.): Studia dichten sprachreflektierende Stilelemente austriaca 8 (2000). – B. Sauer: ›ich verfasse briefe die wie Kleinschreibung, eigenwillige Umlaut- sich blicken lassen koennen.‹ Zum Briefwerk v. n. c. u. »Und«-Stilisierung, arbeitet mit Klischees k. In: Werner M. Bauer (Hg.): ›Ich an Dich‹. Innsbr. u. Wortspielen, setzt Umgangssprache u. 2001, S. 265–278. – Georg Kierdorf-Traut: N. C. K. Mundart ein. Das satir. Element überwiegt. – Ernst Jandl. Eine Verwandtschaft. In: Der Schlern Von K.s Prosa sind die 1975–1977 in der 75 (2001) S. 324–327. – S. P. Scheichl: Übers.en als Zeitschrift »skolast« publizierten Porträts Fingerübungen – und wie man sie edieren sollte. v. a. Südtiroler Städte, Stadtstiche, am be- Am Beispiel N .C. K.s. In: Bodo Plachta u. Winfried kanntesten, von seinen polit. Texten die Woesler (Hg.): Edition u. Übers. Tüb. 2002, S. 195–205. Ursula Weyrer / Red. 1977–1978 in der Tageszeitung »Alto Adige« erschienenen krit. Glossen. In Südtirol war K. zu Lebzeiten wegen seines polem. Auftretens Kassner, Rudolf, * 11.9.1873 Großisoliert u. als literar. Begabung unerkannt. Pawlowitz/Mähren, † 1.4.1959 Sierre/ Mit der von Hans Haider herausgegebenen Wallis. – Essayist, Kulturphilosoph, postumen Textsammlung Eingeklemmt (Inns- Übersetzer. br. 1979), der ersten Buchveröffentlichung, setzte ein überregionales Interesse an K. ein. Das siebte von zehn Kindern eines Guts- u. Heute ist er Identifikationsfigur für die jün- Fabrikbesitzers, seit frühester Kindheit gelähmt, deutschsprachig in böhm. Umgebung geren krit. Südtiroler Autoren. Weitere Werke: Kalt in mir. Hg. Hans Haider. auf dem Land aufgewachsen, studierte in Wien 1981 (Briefe). – jetzt mueßte der kirschbaum Wien u. Berlin Geschichte, Philosophie u. bluehen. Hg. u. mit einem Nachw. v. H. Haider. Nationalökonomie u. promovierte 1896 in Zürich 1983 (Ausw.). – verrueckt will ich werden Wien (Der ewige Jude in der Dichtung; das einsein & bleiben. Bln. 1986 (Ausw.). – K. (1947–78). zige handschriftl. Exemplar der Dissertation Lesungen u. Vertonungen. Brenner-Archiv Innsbr. ist verschollen). Bereits mit seinem Erstling 1987 (Tonkassette). – Ges. Werke. Bd. 1: Gedichte. Die Mystik, die Künstler und das Leben (Lpz. Bd. 2: Prosa. Bd. 3: Briefe. Innsbr. 1988–91. – Lo- 1900. Überarb. u. d. T. Englische Dichter. 1920), kalteil für Maria-Theres. Nachw. H. Haider. Wien einem Essaybuch über die romant. Sprach- u. 1989. – Es bockt mein Herz. Überlebenstexte. Hg. Bildkultur Englands bis zu den PräraphaeliChristian Pixis. Lpz. 1993.– Das K.-Lesebuch. Eine ten, fand K. Aufmerksamkeit in den KünstAusw. aus Lyrtik, Prosa u. Briefen v. N. C. K. Hg. Hans Haider. Innsbr. 1993. – Birnbäume (zus. mit lerkreisen des Fin de siècle. Er provozierte Linda Wolfsgruber). Bozen 1993. – Herrgottswin- mit der These von der Gestaltlosigkeit der kel. Mchn. 2005 (L.). – Elementar. Ein Leben in modernen dt. Bildung, für die ihm die VerTexten u. Briefen. Hg. Raoul Schrott. Innsbr. 2007. massung großstädt. Kultur u. die Popularität Literatur: Sigurd Paul Scheichl: n. c. k. der Musik (Wagner) bezeichnend waren. K. (1947–78) [...]. In: ÖGL, H. 5 (1981), S. 288–304. – stellte dem die Hygiene der Fantasie engl. Benedikt Sauer: Bibliogr.: N. C. K. In: sturzflüge 8 Dichter gegenüber, deren magische Begeg-
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nung mit dem MA zur Wiedergeburt symbolischer Formen führte. Zum angesehenen Philosophen für die Künstler seiner Zeit wurde K., indem er deren Thema zu seinem eigenen machte: Wie nämlich die myth. Mächte des Irrationalen zur Sprache kommen könnten, ohne die menschl. Freiheit durch ihre Gewalt zu zerstören. Zwischen London, Paris, Wien u. Berlin unterwegs, wohnte K. seit 1900 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in München, schloss Freundschaft mit Eduard Graf von Keyserling u. lernte Wedekind u. die Boheme Münchens kennen, Houston Stewart Chamberlain (von dem er sich später abwandte) u. Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau. Mit Hofmannsthal war er seit 1902, mit Rilke seit 1907 freundschaftlich verbunden. Rilke, der ihm die 8. Duineser Elegie widmete, u. Hofmannsthal hielten K. zeitweise für den verständigsten Deuter der Gegenwart. In den Dialogen Melancholia. Eine Trilogie des Geistes (Bln. 1908. Erlenbach-Zürich 31953), dessen Stück Der Doppelgänger Rilke bes. liebte, umkreist K.s Denken erstmals die Einbildungskraft, von nun an ein immer wieder bedachtes Thema. In dem Band Von den Elementen der menschlichen Größe (Lpz. 1911) entwirft er eine Philosophie der Umkehr, in deren Mittelpunkt die künstlerische Einbildungskraft als Bedingung existenzieller Freiheit steht. Philosophische Paten sind Platon, dessen Gastmahl, Phaidros u. Phaidon K. neu übertrug (Jena 1908), u. Kierkegaard, den er seiner Generation nahebrachte. Zwischen 1908 u. 1938 – in K.s Selbstverständnis der zweiten von drei Epochen seiner schriftstellerischen Arbeit – entwarf er sein physiognom. Weltbild, das die Energien geistigen Lebens in ihrem Einwirken auf die materielle Welt in einer Ordnung – statt Systematik – von »Gesichtern« zu erfassen suchte (Zahl und Gesicht. Lpz. 1919. Wiesb. 3 1956. Neudr. mit einem Nachw. v. Ernst Zinn. Ffm. 1979). Auf die 1919 gestellte Frage »Wie ist das menschliche Gesicht zugleich Centrum und Peripherie jener unendlichen Formensprache, die uns die Natur bietet?« antworteten Die Grundlagen der Physiognomik (Lpz. 1922), Das physiognomische Weltbild (Mchn. 1930) u. die Physiognomik (Mchn.
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1932): philosophische Abhandlungen, physiognom. Erinnerungen an Zeitgenossen u. Prosavignetten über Gesichter aus Geschichte u. Gegenwart. Für die universalen Dimensionen seines physiognom. Weltbilds, auf dessen antipsycholog. Richtung (mit strikter Ablehnung z.B. der Psychoanalyse) K. großen Wert legte, war Einsteins Abhandlung Über die spezielle und allgemeine Relativitätstheorie (1917) von Bedeutung, wie in Anschauung und Beobachtung. Zur vierten Dimension (Bln. 1938. Umgearb. u. d. T. Die Geburt Christi. Zürich 1951) erkennbar ist, zgl. Abschluss dieser Produktionsphase. In der dritten u. letzten Periode seines Schaffens lebte K. zurückgezogen von den polit. Zeitereignissen, veröffentlichte gelegentlich Aufsätze in der »Europäischen Revue«, schrieb im Übrigen aber an seinen autobiogr. Büchern Das Buch der Erinnerung (Lpz. 1938), Zweite Fahrt (Lpz. 1946) u. Umgang der Jahre (Lpz. 1949). Die Auseinandersetzung mit seiner Zeit ist in diesen späten Schriften kritisch-distanziert, entbehrt jedoch einer eindeutigen politischideolog. Ausrichtung. Da K. sich einer zunehmend magisch-krypt. Sprache bedient, ist das Spätwerk z.T. schwer zugänglich. 1945 zog K. nach Sierre, wo er bis zu seinem Tod lebte. Im Mittelpunkt von K.s Denken, das in seiner Hauptschrift Zahl und Gesicht am bündigsten formuliert ist, steht die Kritik der Romantik, stellvertretend für die Moderne. Ihr hält er vor, das Absolute u. Indefinite durch Vorstellung u. Begriff des Unendlichen ersetzt u. damit der Gestalt- u. Maßlosigkeit der Gegenwart Vorschub geleistet zu haben. Das unendl. metaphorisierende Spiegelverhältnis von Leib u. Seele ersetzte er durch das »Drama der Gestalt zwischen Innen und Außen«, also durch eine innere Unendlichkeit von bewegl. Beziehungen, die an der absoluten Grenze des Nicht-Seins ihren Horizont finden. Mystik u. Mathematik gehen für ihn ein Bündnis mit Platons Ideenlehre ein, um die Umkehr aus der Welt tautolog. Denkens zu lehren. K.s zuerst vorwiegend ästhetisches, dann philosophisches, später religiöses Denken war in allen Stadien einflussreich auf Künstler u. Intellektuelle des 20. Jh., denen es eine
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Wahrnehmungswelt jenseits der populären polit. Ideologien erschloss. Das gilt nicht nur für die Freunde Hofmannsthal u. Rilke, Karl Wolfskehl, Max Picard u. Erich von Kahler; es betrifft auch einen weiteren Wirkungskreis, der Walter Benjamin u. Dolf Sternberger, den frühen Georg Lukács u. Georg Simmel einschließt. Zu K.s Einfluss trug sein Gebrauch unsystemat. Darstellungsformen wie des Dialogs, der philosophischen Erzählung, der Prosaskizze, des Aphorismus u. der Allegorie bei, die der Abneigung nach 1900 gegen die Schulphilosophie Rechnung trugen. Auch wenn der Name K.s in der breiteren Öffentlichkeit heute kaum bekannt ist, ist die Forschung zu seinem Werk in den letzten Jahren recht rege; im Mittelpunkt von neueren Untersuchungen steht oftmals seine Beziehung zu Rilke u. Hofmannsthal, in jüngerer Zeit aber auch das essayistische Werk. K. erhielt u. a. den Gottfried-Keller-Preis (1949) u. den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur (1953). Ausgaben: Sämtl. Werke in zehn Bdn. Hg. Ernst Zinn u. Klaus E. Bohnenkamp. Pfullingen 1969–91 (ohne Übers.en u. Briefe). – Freunde im Gespräch. Briefe u. Dokumente. Rainer Maria Rilke u. R. K. Hg. K. E. Bohnenkamp. Ffm. u. a. 1997. Literatur: Hans Paeschke: R. K. Pfullingen 1963. – Steve Rizza: R. K. u. Hugo v. Hofmannsthal: Criticism as Art. Ffm. u. a. 1997 (Diss. Univ. of Edinburgh 1995). – Gerhard Neumann u. Ulrich Ott (Hg.): R. K. Physiognomik als Wissensform. Freib. i. Br. 1999. – Daniel Hoffmann: ›Nein, nein, das soll nur nichts sein.‹ R. K.s geistiger Widerstand gegen das 20. Jh. In: Dt. Autoren des Ostens als Gegner u. Opfer des Nationalsozialismus. Hg. Frank-Lothar Kroll. Bln. 2000, S. 151–177. – Slawomir Les´ niak: Thomas Mann, Max Rychner, Hugo v. Hofmannsthal u. R. K. Eine Typologie essayist. Formen. Würzb. 2005. /
Gert Mattenklott / Red.
Kast, Peter, eigentl.: Carl Preißner, * 1.8. 1894 Elberfeld (heute zu Wuppertal), † 23.5.1959 Berlin/DDR. – Verfasser von Romanen, Erzählungen u. Reportagen. K., aus einer Arbeiterfamilie stammend, machte eine Lehre als Kunstschlosser. Als Matrose der kaiserl. Flotte wurde er gegen Kriegsende wegen »Insubordination« zu drei
Monaten Haft verurteilt. Er wurde Mitgl. des Spartakusbundes u. war als Delegierter im Arbeiter- u. Soldatenrat von Emden tätig. In die KPD trat er nach deren Gründungsparteitag ein. Seinen ersten literar. Erfolg erzielte K. 1928: Während der Reise zur ersten Internationalen Spartakiade in Moskau verfasste er Reiseskizzen, die in der »Roten Fahne« veröffentlicht wurden. Daraufhin wurde K. Redaktionsmitgl. des Blatts. Ende 1932 flüchtete er nach Prag, 1935 weiter nach Moskau. Ab 1936 kämpfte er bei den Internationalen Brigaden in Spanien. Nach der Internierung in Frankreich (1939–1941) gelang ihm die Flucht in die Schweiz. 1946 nach Berlin zurückgekehrt, war K. in der Kulturredaktion des »Vorwärts« tätig. Seit 1951 lebte er als freier Schriftsteller in Ost-Berlin. Charakteristisch für K.s Werk ist die starke autobiogr. Ausrichtung; so beschreibt K. in seinem Hauptwerk, dem Roman Das Geschenk (Bln./DDR 1954), spannend die selbst erlebte Flucht eines Spanienkämpfers aus dem von den Nationalsozialisten besetzten Frankreich in die Schweiz. K., der auch als Berater u. CoAutor der Jugendserie Das neue Abenteuer hervortrat, genoss in der DDR den Ruf eines erstrangigen Agitators u. Propagandisten. – 1958 erhielt er die Erich-Weinert-Medaille für sein Gesamtwerk, insbes. für die Schaffung einer neuen »sozialistischen Abenteuerliteratur«. Weitere Werke: Kampf an der Grenze. Moskau 1937 (E.). – Der Birnbaum. Ebd. 1939. Bln./SBZ 1948 (E.). – Irgendwo an der Grenze. Ebd. 1948 (E.). – Der Millionenschatz vom Müggelsee. Bln./DDR 1951 (R.). – Die Nacht im Grenzwald. Ebd. 1952 (E.). – Die entscheidende Nacht. Ebd. 1954 (E.). – Zwanzig Gewehre. Ebd. 1958 (E.en). – Erlebnisse auf weiter Fahrt. Ebd. 1963. – Herausgeber: Erich Weinert: Camaradas. Ein Spanienbuch. Ebd. 1956. Literatur: Reinhard Hillich: P. K. In: Simone Barck u. a. (Hg.): Lexikon sozialist. Lit. Ihre Gesch. in Dtschld. bis 1945. Stgt. 1994, S. 241 f. – Dirk Krüger: P. K. Schriftsteller, Journalist, Widerstandskämpfer. In: Gesch. im Wuppertal 11 (2002), S. 79–91. Helmut Blazek / Red.
Kastein
Kastein Josef, eigentl.: Julius Katzenstein, * 6.10.1890 Bremen, † 13.6.1946 Haifa; Grabstätte: Atlit bei Haifa, Khayat Beach. – Romancier, Erzähler, Lyriker, Historiker, Essayist.
318 tur der Gegenwart. Tel Aviv 1946. – Que es un judío. Caracas 1949. – Was es heißt, Jude zu sein. Eine Kindheit in Bremen. Hg. Jürgen Dierking u. Johann-Günther König. Bremen 2004. Literatur: Alfred Dreyer: J. K. (1890–1946). In: Bremisches Jb. (1980). – LBI Bulletin 60 (1981), 66 (1983), 71 (1985). – Lex. dt.-jüd. Autoren. – JohannGünther König: Melchior. Ein hanseat. Kaufmannsroman v. J. K. In: Thomas Elsmann (Hg.): Kaufmann & Contor in der deutschsprachigen Prosa seit 1750. Bremen 2006, S. 47–61.
K., Sohn eines jüd. Kaufmanns, wurde Jurist, promovierte 1917 in Greifswald zum Dr. jur. u. praktizierte in den folgenden Jahren in Bremen als Rechtsanwalt. 1927 ließ er sich in Ascona-Moscia als freier Schriftsteller nieder. Alfred Dreyer / Red. 1935 übersiedelte er als »Heimkehrer« nach Palästina. K.s geistige Entwicklung war früh geprägt Kater, Fritz, eigentl. Armin Petras, * 17.3. von intensiven Auseinandersetzungen mit 1964 Meschede/Ruhr. – Theaterautor, der Problematik jüd. Existenz. Die Begeg- Regisseur, Intendant. nung mit den Ideen des Zionismus u. seine K. wuchs in Ostberlin auf, wohin seine FaTeilnahme an der ersten Wanderfahrt jüd. milie 1969 übergesiedelt war, u. studierte Studenten nach Palästina wurden für ihn zu dort Regie an der Hochschule für SchauSchlüsselerlebnissen. Er veröffentlichte zu- spielkunst Ernst Busch. 1988 ging er in den nächst einen Gedichtband (Logos und Pan. Bln./ Westen u. inszenierte an west- u. ostdt. BühWien 1918), belletristische Novellen (Die nen. 1999 wurde er Schauspieldirektor in Brücke. Bln. 1922) u. Romane (Melchior. Bre- Kassel, 2002 fester Regisseur in Frankfurt, men 1927. 1997. Pik Adam. Bln. 1927), gele- 2006 Intendant des Gorki Theaters Berlin. gentlich jedoch auch Studien mit jüd. TheUnter dem Pseudonym Fritz K. schreibt er matik. – Ab 1930 wandte K. sich ausschließ- seit Anfang der neunziger Jahre Stücke. Es lich großen Themen der jüd. Geschichte zu: sind verschachtelte Werke, versetzt mit Zitader messian. Sehnsucht, dem Marranentum ten aus Popkultur u. Werbung, Film u. Liteu. der Heimatlosigkeit. Mit großangelegten ratur. Seine frühen Dramen sind nicht geMonografien (Sabbatai Zewi. Bln. 1930. Uriel schlossen, sondern eher heterogenes Spielda Costa. Bln. 1932. Süßkind von Trimberg. Je- material. Sie behandeln meistens die letzten rusalem 1934) gelang es ihm, sich in wenigen Jahre der DDR u. die Zeit der WiedervereiniJahren als jüd. Schriftsteller von Rang zu gung, stellen beispielhaft ostdt. Lebensläufe profilieren. Eine Geschichte der Juden (Bln. 1931) vor, oft als endlose monologisierende Versuwurde ein internat. Erfolg. K. unternahm che, sich einen neuen Platz in der Welt zu auch ausgedehnte Vortragsreisen durch Mit- schaffen, was meist misslingt, wie in Ejakulat tel- u. Südosteuropa u. setzte sich als über- aus Stacheldraht II (Urauff. Frankf./O. 1994). zeugter Zionist nachdrücklich für eine jüd. keiner weiß mehr 2 oder martin kippenberger ist Neuorientierung ein. Er schrieb auch in he- nicht tot (Urauff. Nordhausen 1998) erzählt bräischer Sprache. – Im nationalsozialisti- von Alt-68ern, die sich noch einmal auf die schen Deutschland waren K.s Bücher verbo- Suche nach den alten Idealen machen, Vineta ten. Mit seinem Wirken leistete K. einen (oderwassersucht) (Urauff. Lpz./Magdeb. 2001) wichtigen Beitrag zum Selbstverständnis der von einem Boxer, der, enttäuscht vom WesJuden auf dem Weg zu einem autonomen ten, in seine alte Heimat zurückkehrt. Ab Vineta wird K.s dramat. Form geschlossener u. Staat. stringenter, die Sprache knapper. In zeit zu Weitere Werke: Joodsche Problemen in het Heden. Arnhem 1933. – Juden in Dtschld. Wien lieben zeit zu sterben (Urauff. Hbg. 2002) ist das 1935. – Herodes. Wien 1936 (Monogr.). – Jerusa- Stück dreigeteilt: Im ersten, chorischen Teil lem. Gesch. eines Landes. Wien 1937. – Jeremias. erzählen DDR-Jugendliche von ihren SehnWien 1938 (Monogr.). – Eine palästinens. Novelle. süchten u. Ängsten, im zweiten, dialogischen Haifa 1942. – Wege u. Irrwege. Drei Ess.s zur Kul- Teil berichtet eine Familie in Ungarn Ende
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der 1980er Jahre von ihrem Leben, u. im letzten Prosateil beschreibt K. eine Paarbeziehung im Westen. Für dieses Stück erhielt K. den Mülheimer Dramatikerpreis; 2002 wurde er als »Dramatiker des Jahres« geehrt u. 2008 mit dem Else Lasker-Schüler-Preis ausgezeichnet. Weitere Werke: Krieg, böse III (Sarajevo). Urauff. Frankf./O. 1994. – Bloß weil dich irgend ein typ mit sperma bedeckte u. dich dann zurückwies oder meine kleine wolokolamsker chaussee 6. Urauff. Nordhausen 1996. – Nietzsche in Amerika. Urauff. Hbg. 2002. – Sterne über Mansfeld. Urauff. Lpz. 2003. – WE ARE CAMERA / jasonmaterial. Urauff. Hbg. 2003. – Mach die Augen zu u. fliege oder Krieg böse 5. Urauff. Bln. 2004. – (Unter dem Namen Armin Petras:) Alkestis. mon Amour. Urauff. Lpz. 2004. – 3 von 5 Millionen. Urauff. Bln. 2005. – Abalon, one nite in Bangkok. Urauff. Ffm. 2006. – (Unter dem Namen Armin Petras:) Mala Zementbaum (zus. mit Thomas Lawinky). Urauff. Bln. 2007. – Heaven (zu Tristan). Urauff. Ffm. 2007. Georg Patzer
Katharina von Alexandrien. – Mittelalterliche Legenden. K. war die nach Maria am stärksten verehrte Heilige des späten MA; sie gehörte mit Barbara, Dorothea u. Margareta zu den vier Hauptjungfrauen sowie zu den 14 Nothelfern. Ihre Legende folgt dem Muster der frühchristl. Jungfrauen-Passion, legt aber einen Schwerpunkt auf die gelehrte Bildung der Heiligen, was sie zur Patronin der Wissenschaften u. Hochschulen machte. Die Passio als Grundgerüst der Legende beschreibt K. als Tochter des ägypt. Königs Costus, die sich der von Kaiser Maxentius (306–312) geforderten Götzenanbetung widersetzt. Der erzürnte Kaiser veranlasst eine Disputation zwischen K. u. 50 heidn. Gelehrten, in der sie eindeutig siegt u. ihre Gegner zum Christentum bekehrt, worauf Maxentius diese töten lässt. Als K. gerädert werden soll, zerbricht das Rad durch die Hilfe Gottes. In Gefangenschaft bekehrt K. die Kaiserin sowie den Tribun Porphyrius u. sein Heer, die allesamt den Märtyrertod sterben. Schließlich wird K. enthauptet, aus ihren Wunden fließt Milch statt Blut, u. Engel bringen den Leichnam auf den Berg Sinai, wo später Jus-
Katharina von Alexandrien
tinian I. das berühmte Katharinenkloster gründet. Da K. nicht historisch belegt ist u. ihr Kult erst Jahrhunderte nach den in der Legende erzählten Ereignissen einsetzt, hat man vermutet, dass die Idealheilige frei erfunden u. mit zahlreichen hagiografischen Topoi eine exemplarische Legende konstruiert wurde. Die reiche lat. Tradition geht auf eine griech. Urfassung aus dem 6./7. Jh. zurück u. gelangt im 8./9. Jh. in den Westen. Die einflussreichste lat. Fassung u. Quelle weiterer Bearbeitungen, die sog. Vulgata, lässt sich mit ihren verschiedenen Redaktionen seit dem 11. Jh. nachweisen. Den Legendenstoff ausschmückend, entstanden weitere Texte, so etwa die Conversio, eine Vorgeschichte, die von K.s Bekehrung durch einen Einsiedler u. ihrer myst. Vermählung mit Christus, der der Schlafenden einen Ring ansteckt, berichtet. Noch früher setzt eine Erzählung von der wunderbaren Geburt K.s an, in der der Astrologe Alphoncius ihre Begnadung voraussagt. Zahlreiche Berichte über K.s postumes Wunderwirken, die Miracula, wurden der Passio angehängt. Frühe Impulse des Kults kommen von Süditalien nach Deutschland; über das Benediktinerkloster St-Trinité in Rouen, dessen Katharinenreliquien ab 1084 bezeugt sind, ist auch mit frz. Einflüssen zu rechnen. K.s Verehrung im dt. Sprachraum, vor allem in Westfalen u. Süddeutschland, spiegelt sich in der Vielzahl volkssprachl. Legenden, die seit dem 13. Jh. begegnen: Über 20 Vers- u. Prosaversionen sind im Rahmen von Legendaren, wo K. nie fehlen durfte, erhalten; darüber hinaus gibt es zahlreiche unabhängige Versionen. Das mitteldt. Passional (spätes 13. Jh.) bietet die älteste überlieferte Fassung. Sie ist direkt von der Legenda aurea abhängig u. beginnt die K.-Legende mit einer BaumAllegorie, gefolgt von einer Geschichte der Christenverfolgung unter Maxentius. Die Legende mit Mirakelanhang gehört zu den längsten des Legendars u. bildet oftmals den Abschluss der Sammlung. Eine weitere mitteldt., allerdings nur fragmentarisch erhaltene Version des 14. Jh. enthielt urspr. mindestens 3500 Verse u. wurde von einem Geistlichen für die nichtlateinkundigen
Katscher
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»ungelêrten lûte« verfasst. Im predigtartigen Nova legenda eines nicht näher zu identifizieProlog geht der Verfasser auf die sündhafte renden Frater Petrus. Neben den Legendaren Menschheit ein, die durch die Heiligen Hilfe war dies die einzige dt. K.-Legende, die geerfährt. Die Legende löst sich gelegentlich druckt wurde (J. Grüninger, Straßburg, von der lat. Vorlage u. bietet recht originelle 1500). Züge. Die übrigen, z.T. nur fragmentarisch Ausgaben der einzelnen Fassungen sind geüberlieferten Versversionen bieten kaum nannt bei Peter Assion: K. v. A. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Vgl. ergänzend: Simehr als Nacherzählungen der lat. Vorlage. Dieser Befund trifft umso mehr für die bylle Jefferis: Ein spätmittelalterl. Katharinenspiel Prosaversionen zu, die sich als Übersetzun- aus dem Cod. Ger. 4 der University of Pennsylvania. gen enger an der lat. Quelle orientieren. Die Göpp. 2007, S. 349ff. Literatur: Heinrich Bobbe: Mhd. K.-Legenden wohl populärste dt. K.-Legende des MA war die umfangreiche Version des im Nürnberger in Reimen. Eine Quellenuntersuchung. Bln. 1922. – P. Assion: Die Mirakel der Hl. K. v. A. Diss. Heidelb. Dominikanerkloster entstandenen Großle1969. – Werner Williams-Krapp: Die dt. u. niedergendars Der Heiligen Leben. In seiner urspr. länd. Legendare des MA. Tüb. 1986. – Annegret Form bietet der Text eine Jugendgeschichte, Helen Hilligus: Die Katharinenlegende v. Cledie Passion u. 27 postume Mirakel; in einer mence de Barking. Eine anglo-normann. Fassung späteren Redaktion wird eine ausführlichere aus dem 12. Jh. Tüb. 1996. – Jacqueline Jenkins u. Jugendgeschichte an die Stelle der älteren Katherine J. Lewis (Hg.): St Katherine of Alexangesetzt. Sie stammt von einem nicht näher zu dria. Texts and Contexts in Western Medieval identifizierenden franziskan. Meister Andre- Europe. Turnhout 2003. – Zur Stoffrezeption: Stefan as, der die Geschichte aus zwei »puecheren Tilg: Die Hl. Katharina v. Alexandria auf der Jesuder haydenischen maister« u. anderen Quel- itenbühne. Drei Innsbrucker Dramen aus den Jahren 1576, 1577 u. 1606. Tüb. 2005. len zusammengestellt haben soll. Die umWerner Williams-Krapp / Sandra Linden fangreichste dt. K.-Legende ist jedoch eine um 1450 entstandene Kompilation aus der Version des Heiligen Lebens u. einer weiteren Katscher, Hedwig, geb. Walter, auch: Vera Fassung, die zudem aus lat. Legenden Wander, Hella Kastner, Wanda Hoff, schöpft. Als Entstehungsort hat man das KaHedwig Krabner, * 25.4.1898 Wien, tharinenkloster in Nürnberg vermutet, was † 2.10.1988 London. – Lyrikerin. sich gut zum ausgeprägten Nürnberger K.Kult fügt, dem noch Hans Sachs 1518 mit K., Kaufmannstochter aus jüd. Familie, stueinem gereimten K.-Mirakel Rechnung trägt. dierte in Wien Physik u. Mathematik. Nach Oft wird die Legende zusammen mit anderen ihrer Promotion arbeitete sie als ArchivleiteTextsorten wie Lobreden oder Gebeten rin in einem bibliografischen Institut, anüberliefert, insbes. der Mirakelteil erfährt schließend im Generalsekretariat eines Ineine narrative Anreicherung auch aus mündl. dustrieunternehmens. In der Zeit der ArTraditionen, u. im 14. Jh. erschließt sich der beitslosigkeit (1930) ging sie mit ihrem Kult mit dem K.-Spiel auch die dramat. Gat- Mann, einem Chemiker, nach Moskau u. tung. Eine wohl im Südwesten entstandene 1934 nach Sizilien. 1938 emigrierte sie nach Fassung bietet sogar Berichte über das Leben England. 1953 kehrte sie nach Wien zurück u. der Sinai-Mönche. Die stofflich interessan- arbeitete bis etwa 1978 wieder im Archiv. teste Version ist aber eine in zwei fränk. K., die unter dem Eindruck von HofHandschriften überlieferte Legende, die das mannsthal u. Rilke zu schreiben begann, K.-Leben in die röm. Reichsgeschichte ein- veröffentlichte – geprägt von ihren Erfahbettet u. K.s Vater sogar von Konstantinus rungen der Emigration u. des Holocausts – abstammen lässt. Nach K.s Tod nimmt der 1964 einen ersten schmalen Band, FlutumVater selbst Rache an Maxentius u. fördert dunkelt. 1969 erschien Zwischen Herzschlag und das Christentum im ganzen Reich. Diese be- Staub u. 1977 Steinzeit (alle: Wien). Unter anmerkenswerte, in 24 Kapitel gegliederte Fas- derem in »Neues Österreich« u. »Literatur sung ist eine Übersetzung der fantasievollen und Kritik« vertreten, blieb sie zeitlebens
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eine Außenseiterin des Literaturbetriebs. Das Entzücken über »Farbenflor und Vogelruf« sei, wie sie betonte, untrennbar verbunden mit bleierner Angst vor den »Vernichtungsautomaten«. K.s Losung lautete, alles Überflüssige müsse aus dem Gedicht weichen, es habe letztlich so herb u. knapp dazustehen wie der Tod: »Ein Traumfragment / das Leben. / Der Tod / ein Bruchstück Wahrheit« (Der Befund. In: Versteckenspiel. Baden bei Wien 1982). Weiteres Werk: Kosmosrose. Baden bei Wien 1987. Literatur: Hans Heinz Hahnl: Gedichte gegen das Geschwätz der Welt. In: Arbeiter-Ztg., 11.7.1973. – Albert Janetschek: Über ›Versteckenspiel‹. In: Podium 51 (1984). – Gottfried W. Stix: Geheimnis der Zeit. In: Die Furche 36, 4.9.1987. – Hans Raimund: H. K. (1898–1988). In: LuK 33 (1998), H. 325/326, S. 103–108. – LöE. – Hans Raimund: ›Mit allem bin ich eines‹. Über H. K. In: Ders.: Das Raue in mir. St. Pölten 2001, S. 307–318. Gerhard Jaschke / Red.
Katz, Henry William, eigentl.: Herz Wolff K., * 31.12.1906 Rudky/Galizien, † 6.6. 1992 Deerfield Beach/Florida (USA). – Romanautor.
einer vergangenen Welt verschrobener Habsburgertreue, u. von seinen Kindheitserinnerungen an die leidvolle Existenz der Ostjuden kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs in der österreichisch-ungarischen Monarchie. Der zweite Teil der Fischmann-Saga erschien, obwohl dt. geschrieben, zunächst als engl. Übersetzung: Schloßgasse 21 (New York 1940. Dt. Ffm. 1986. Mchn. 2000). Er ist die Fortsetzung der Geschichte von Jossel u. Jakob Fischmann in einer dt. Kleinstadt zwischen 1917 u. 1933. Aus der Familiengeschichte wird ein Zeitbild: Gerade als die materielle Existenz der Fischmanns gesichert zu sein scheint, bereitet die nationalsozialistische Judenhetze allen Hoffnungen ein Ende. K. gelangte 1940 über Marseille u. Lissabon nach New York, wo er als Fabrikarbeiter begann u. zum Direktor aufstieg. Über diese Zeit schrieb er seine (unveröffentl.) Memoiren in dt. Sprache. Literatur: Hans J. Schütz: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Vergessene u. verkannte Autoren des 20. Jh. Mchn. 1988, S. 135–139. – Ena Pedersen: Writer on the run. German-Jewish Identity and the Experience of Exile in the Life and Work of H. W. K. Tüb. 2001. – Robert G. Weigel (Hg.): Vier große galiz. Erzähler im Exil. W. H. K., Soma Morgenstern, Manès Sperber u. Joseph Roth. Ffm. u. a. 2005. Klaus Hensel / Red.
Mit sieben Jahren flüchtete K. mit seinen jüd. Eltern aus der k. k. Monarchie nach Deutschland. Seine Kindheit verbrachte er in Thüringen. 1932 kam er als Reporter u. ReKatz, Leo, auch: Joel Ames, Franz Wich, dakteur zur liberalen Wochenzeitung »Welt Leo Weiss, Maus, * 22.1.1892 Unteram Montag« nach Berlin. Am 17.5.1933, eine Synoutz/Bukowina, † 9.8.1954 Wien. – Woche nach der Bücherverbrennung, ging K. Journalist, Verlagsmitarbeiter, Kinderals Jude u. demokratischer Journalist nach buchautor u. Romancier. Lyon ins Exil, wo er unter sehr schwierigen Bedingungen zu schreiben begann. 1937 zog Nach dem Besuch des Gymnasiums studierte er nach Paris. Anonym reichte er das Manu- K., Sohn eines Holzhändlers, in Wien Geskript des Romans Die Fischmanns (Amsterd. schichte u. Philosophie (1920 Dr. phil.). 1919 1938. Ffm. 1985. Mchn. 2000) zu einem trat er in die KPÖ ein. Nach dreijährigem Wettbewerb des exilierten Schutzverbandes USA-Aufenthalt lebte er ab 1925 als Journadt. Schriftsteller ein u. erhielt von der Jury, list u. freier Mitarbeiter sowjetischer Zeitder u. a. Heinrich Mann u. Anna Seghers an- schriften u. Zeitungen wieder in Wien. 1930 gehörten, den Heinrich-Heine-Preis zuge- siedelte er nach Berlin über, trat im selben sprochen. Jahr in die KPD ein u. wurde fester MitarDer Roman ist eine locker geknüpfte Folge beiter der »Roten Fahne«. 1933 emigrierte er von Geschichten, die sich um die Familie des nach Paris u. arbeitete 1936–1938 als WafErzählers Jakob Fischmann drehen. Unsenti- feneinkäufer der span. republikan. Regiemental u. voller Vitalität erzählt K. vom rung. Aufgrund dieser Tätigkeit von den frz. Schicksal dreier Generationen aus Galizien, Behörden des Landes verwiesen, lebte er ab
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1940 im Exil in Mexiko, wo er wesentl. Anteil am Aufbau der antifaschistischen Mexikoemigration u. der dt. KPD-Parteigruppe hatte, deren Vorstand er bis 1942 angehörte. K. war zudem Mitbegründer u. Mitarbeiter der 1942 in Mexiko gegründeten Zeitschrift »Freies Deutschland« sowie des im selben Jahr entstandenen Exilverlags El Libro Libre. 1949 kehrte K. nach Österreich zurück, wo er bis zu seinem Tod in Wien lebte. K.’ erstes u. bedeutendstes literar. Werk ist der 1944 im El Libro Libre Verlag erschienene Roman Totenjäger (Aachen 2005), in dem er die histor. Situation Europas in den Jahren 1941/ 42 sowie die Verwüstungen der Nationalsozialisten in der Bukowina u. das Schicksal der dort lebenden Juden darstellt. Nach dem Krieg wieder in Europa, schrieb er zunächst die beiden Kinderbücher Die Grenzbuben (Bln. 1951) u. Tamar. Erlebnisse aus den Tagen des Spartacus-Aufstandes (Bln. 1952), danach die histor. Romane Die Welt des Columbus (Bln. 1954) u. Der Schmied von Galiläa (Bln. 1955). Weiteres Werk: Brennende Dörfer. Wien 1993. Aachen 2006 (R.). Literatur: Wolfgang Kießling: Alemania Libre in Mexiko. Bln./DDR 1974. – Ders.: Exil in Lateinamerika. Ffm. 1981, S. 195 ff. – Ders.: L. K. Ein Kommunist im Zwiespalt. In: Annette Leo (Hg.): Helden, Täter u. Verräter. Bln. 1999, S. 93–108. – Markus G. Patka: Zu nahe der Sonne. Dt. Schriftsteller im Exil in Mexico. Bln. 1999. – Monika Spielmann: Aus den Augen des Kindes. Die Kinderperspektive in deutschsprachigen Romanen seit 1945. Diss. Innsbr. 2000. – LöE. – Konstantin Kaiser: Gefährte eines brennenden Jh. L. K. In: Ders.: Das unsichtbare Kind. Wien 2001, S. 118–122. – David Mayer: L. K. Viele Welten in einer Welt. In: Bernd Hausberger (Hg.): Globale Lebensläufe. Wien 2006, S. 233–256. Sabina Becker
Kauer, Walther, * 4.9.1935 Bern, † 27.4. 1987 Murten; Grabstätte: ebd. – Romancier u. Hörspielautor. Nach seiner Ausbildung an der Kunstgewerbeschule in Neuenburg u. am Heilpädagogischen Seminar in Aberdeen studierte K. kurzzeitig in Berlin u. war anschließend Journalist in der Schweiz. Sein erster literar. Erfolg war der Roman Schachteltraum (Bln./ DDR 1974. Zürich 1978. Basel 2008). Mit
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kompliziert »verschachtelter« Erzählstruktur wird die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg aus sozialkrit. Sicht beleuchtet. Der Roman Spätholz (Zürich/Köln 1976. Basel 2002) ist K.s stilistisch straffstes Werk: Ein alter Tessiner Bauer verteidigt den durch einen reichen Villenbesitzer gefährdeten Nussbaum, das Symbol heimatl. Traditionen u. intakter Natur. In den folgenden Romanen bleibt K. bei der Verknüpfung von individuellen Schicksalen mit gut recherchierten histor. Gegebenheiten. Die Tendenz zur klischeehaften Polarisierung der Figuren verstärkt sich aber, u. K.s Werk gerät so in die Nähe der Trivialliteratur, z.B. im Roman Abseitsfalle (Zürich/Köln 1977. Basel 2006). – K., der bei einem Motorradunfall ums Leben kam, erhielt u. a. den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung 1975. Weitere Werke: Brot u. Steine. 1980 (TVScript). – Tellereisen. Zürich 1979. Basel 2002 (R.). – Weckergerassel. Zürich 1981 (E.). – Schwelbrände. Ebd. 1983. Basel 2004 (R.). – Bittersalz. Ebd. 1984 (R). – Gastlosen. Münsigen/Bern 1986. Basel 2005 (R.). Literatur: Christoph Bircher: Der Erzähler W. K. Eine Gratwanderung in einer gastlosen Welt. Diss. Zürich 1989. – Elio Pellin: ›Mit dampfendem Leib‹. Sportl. Körper bei Ludwig Hohl, Annemarie Schwarzenbach, W. K. u. Lorenz Lotmar. Zürich 2008. Guido Stefani / Red.
Kaufmann, Christoph, * 14.8.1753 Winterthur, † 21.3.1795 Berthelsdorf bei Herrnhut. – »Apostel der Geniezeit«. Über die Kindheit u. Jugend des jüngsten von vier Söhnen eines wohlhabenden Gerbermeisters u. Ratsherrn in Winterthur ist kaum Verlässliches bekannt. K.s selbst verfasste Lebenszeugnisse sowie die davon abhängigen Darstellungen seiner Witwe (unveröffentlicht im Herrnhuter Nachlass) u. des Herrnhuter Pfarrers Loretz (in: Lausitzische Monatsschrift 2, Görlitz 1795, S. 25 f.) enthalten zahlreiche Unwahrheiten u. haben der Legendenbildung Vorschub geleistet. Nach einer 1767 in Bern begonnenen Apothekerlehre u. naturwissenschaftlich-medizinischen Wanderjahren kam K. 1774 nach Straßburg, wo er durch seine genialische Attitüde u.
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seine empfindsamen Wohltäterabsichten das Wohlwollen u. die Förderung von Iselin, Lavater u. Johann Georg Schlosser gewann. Neben den etwa gleichaltrigen Straßburgern Johann Ehrmann, Johann Schweighäuser u. Johann Friedrich Simon, mit denen er einen schwärmerischen »Bruderbund« gegründet hatte, gilt K. als Mitverfasser der 1775 in Basel erschienenen Philanthropischen Ansichten redlicher Jünglinge, ihren denkenden und fühlenden Mitmenschen zur Erwegung übergeben durch Isaak Iselin. Dieses Manifest einer naturverbundenen u. ganzheitl. Erziehung, die prakt. Wissen, körperl. Bildung u. moralische Erhebung integrieren sollte, veranlasste Basedow, die jungen Autoren zur Mitarbeit an seinem soeben gegründeten Dessauer Philanthropinum aufzufordern. Diesem Ruf folgten zunächst jedoch nur Schweighäuser u. Simon sowie der ebenfalls aus Straßburg kommende Johann Jakob Mochel, während K. mit dem ihm eng verbundenen Ehrmann im Herbst 1775 in seine Heimat zurückkehrte, um sich enger an die religiös gefärbte Schweizer Geniebewegung u. vor allem an Lavater anzuschließen. Dieser erkor K. zu seinem Lieblingsjünger u. widmete ihm im dritten Band seiner Physiognomischen Fragmente (Lpz. u. Winterthur 1777, S. 158–161) ein geradezu hymnisches, mit sechs Bildnissen versehenes Porträt, das ganz auf eine Bekräftigung von K.s Wahlspruch »Man kann, was man will; man will, was man kann« hinauslief. Im Nov. 1776 trat K. in die Leitung des Dessauer Philanthropinums ein u. erwirkte eine finanzielle Unterstützung durch den Anhalter Fürsten, schied jedoch schon im Febr. wegen interner Differenzen wieder aus. Um so nachhaltiger war die Wirkung jener legendären Reise, die der immer mehr Aufsehen erregende K. von Mitte 1776 bis Ende 1777 durch das literar. Deutschland unternahm. Indem er sich als Verkörperung des literarisch beschworenen, empfindsamschwärmerischen Kraft-Genies stilisierte u. als Apostel von Lavaters myst. Offenbarungsreligion gerierte, beeindruckte er Autoren wie Johann Martin Miller, Heinrich Leopold Wagner u. Maler Müller, Claudius u. Voß, zunächst auch Goethe, v. a. aber Herder u. Hamann; für Klingers Drama Wirrwarr
Kaufmann
fand er den folgenreichen Titel Sturm und Drang. Doch schon als 1776 in Frankfurt/M. u. Leipzig seine durchaus epigonale popularphilosophische Blütenlese Allerley gesammelt aus Reden und Handschriften großer und kleiner Männer, Herausgegeben von Einem Reisenden EUK (d.h. Ehrmann u. K.) erschien, zeigte sich, dass Skeptiker wie Wieland u. Merck Recht behielten u. man K.s Originalität überschätzt hatte. Als dieser zudem, geblendet durch seinen schnellen Ruhm, sich zu immer haltloseren Fantastereien über angebl. Taten u. Reisen verstieg, begann sich die öffentl. Meinung gegen ihn zu wenden. Zuerst parodierten Hottinger u. Johann Rudolf Sulzer seine Empfindungsschwärmerei in ihren Brelocken an’s Allerley der Groß- und Kleinmänner (Lpz. 1778), dann attackierte ihn auch Maler Müller, der ihn noch in seiner Situation aus Fausts Leben (Mannh. 1776) als »Gottesspürhund« dämonisiert hatte, in dem neuen Stück Fausts Leben dramatisiert (Mannh. 1778) als windigen Aufschneider; schließlich verhöhnten ihn sogar Lavater u. Klinger zusammen mit Jacob Sarasin in ihrer anonym erschienenen Satire Plimplamplasko, der hohe Geist, (heut Genie) (Basel 1780). Bald war auch Goethes auf seiner Schweizer Reise Ende 1779 niedergeschriebene Sottise in aller Munde: »Als Gottesspürhund hat er frei / Manch Schelmenstück getrieben / Die Gottesspur ist nun vorbei / Der Hund ist ihm geblieben.« Als die literar. Freunde ihn als Wirrkopf, Scharlatan oder Hochstapler fallen ließen (nur der schon verstörte Lenz suchte nun seinen Umgang), bemühte sich K. einige Jahre vergeblich, als einfacher Schweizer Bauer im Geist Rousseaus zu leben. Danach begann der 28-Jährige, ökonomisch u. psychisch gebrochen, sich ganz der Demutsreligion der Herrnhuter Brüdergemeine zuzuwenden. Den Anstoß gab ihm der mit Lavater bekannte schles. Frhr. Kurt von Haugwitz, der ihm bereits 1777 eine jährl. Rente ausgesetzt hatte u. der ihm nun mit der Auflage, einen Schlussstrich unter sein bisheriges Leben zu ziehen, sein kleines Gut Straduna bei Oppeln zur Verfügung stellte. Mitte 1781 siedelte K. mit seiner Familie dorthin um. Einige Monate bildete er sich in Breslau me-
Kaufmann
dizinisch fort, dann arbeitete er bis zu seinem Tod als Arzt in der Brüdergemeine, 1782 in Gnadenfeld u. Neusalz, seit 1786 in Herrnhut. K., aus dessen schillernder Gestalt manches vom modernen sektiererisch-lebensreformerischen Bohemien vorscheint u. der nicht nur an seinem geltungssüchtigen Dilettantismus, sondern auch an falschen Avancen vermeintl. Freunde gescheitert ist, hat auf die Literaturgeschichte nicht durch eigene Texte gewirkt, sondern dadurch, dass er eine kurze Zeit lang zu leben versuchte, was andere schrieben. Literatur: Johann Jakob Mochel: Reliquien verschiedener philosoph., pädagog., poet. u. a. Aufsätze. Ges. v. Johann Christian Schmohl. Halle 1780 (darin Briefe v. K.). – J. C. Schmohl: Urne J. J. Mochels ehem. Lehrers am Philanthropin zu Dessau. Lpz. 1780. – Jakob Minor: C. K. In: ADB. – Heinrich Düntzer: C. K., der Apostel der Geniezeit u. der Herrnhut. Arzt. Lpz. 1882. – Jakob Baechtold: Der Apostel der Geniezeit. In: AfLg (1887), S. 161–193. – Anonym: Einiges v. u. über den Apostel der Geniezeit C. K. v. Winterthur. In: Zürcher Tb. N. F. 14 (1891), S. 149–174 (mit Briefen v. K.). – Werner Milch: C. K. Frauenfeld/Lpz. 1932. – Franz Menges: C. K. In: NDB. – Stefan Lindinger: C. K. Bautz 17 (mit. Lit.). Martin Rector / Red.
Kaufmann, Herbert, * 24.8.1920 Köln, † 27.11.1976 Köln. – Journalist, Kinderu. Jugendbuchautor. Nach dem Abitur war K. zunächst in der Industrie beschäftigt. Lange Reisen u. Aufenthalte in Afrika seit etwa 1950 wurden zum Anlass seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Nach dem Studium der Völkerkunde, Geografie u. Soziologie (Promotion 1960) arbeitete K. als Auslandskorrespondent in Afrika. K. führte bereits in den 1950er Jahren ein wirklichkeitsgetreues Afrikabild in die bundesrepublikan. Kinder- u. Jugendliteratur ein. Afrikanische Geschichte, Kultur u. Mentalität werden in seinen Reiseberichten, Jugendromanen u. Sachbüchern nicht eurozentrisch, sondern mit dem Bemühen um Authentizität vermittelt. Den Nomadenstämmen in der Sahara u. den untergegangenen großen Reichen Westafrikas gehörte K.s bes. Interesse. In dem Liebesroman Roter
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Mond und heiße Zeit (Graz/Köln 1957) aus dem Lebenskreis der Tuareg schildert er mit Einfühlungsvermögen Sozialgefüge u. Ethik der Nomaden (Deutscher Jugendbuchpreis 1958). Ethnologisch exakt erarbeitet ist auch die Erzählung Des Königs Krokodil (Graz/Köln 1959) vom Untergang eines westafrikan. Königs. Weitere Werke: Afrika. Reise durch einen sich wandelnden Kontinent. Mchn. 1954. U. d. T. Rote Straßen – schwarze Menschen. Mchn. 1955 (Reiseber.). – Der verlorene Karawanenweg. Graz/Köln 1955. Neuausg. u. d. T. Die Hammelpiste. Ffm. 1957 (R.). – Der Teufel tanzt im Ju-Ju-Busch. Graz/ Köln 1956. Würzb. 1980 (R.). – Reiten durch Iforas. Mchn. 1958 (Reiseber.). – Pfeile u. Flöten. Graz/ Köln 1960 (R.). – Die Bedeutung des Jugendschrifttums. In: Das gute Jugendbuch 2 (1960), S. 17–24. – Afrikas Weg in die Gegenwart. Braunschw. 1963 (Sachbuch). – Tule Tiptops merkwürdige Reise. Graz/Köln 1977 (E.). Literatur: Martin Kleensang: H. K.s Schr.en unter dem Gesichtspunkt ›Afrika heute‹. In: Jugendschriftenwarte, H. 1 (1962), S. 1–4. H. 3 (1962), S. 17–19. Birgit Dankert
Kaufmann, Walter, * 19.1.1924 Berlin. – Erzähler, Reiseschriftsteller. K., Sohn einer jüd. Mutter, wurde 1926 von einem jüd. Ehepaar (1938 während des Novemberpogroms verhaftet, in Auschwitz ermordet) adoptiert. Er emigrierte 1939 nach Großbritannien, wurde interniert u. nach Australien deportiert. Dort arbeitete er in verschiedenen Berufen, war Soldat u. Seemann; nach Polen- u. UdSSR-Reisen übersiedelte er 1955 in die DDR u. lebt heute als freier Schriftsteller in Berlin. K.s Genres sind Romane, Erzählungen (insbes. Kurzgeschichten) u. Reportagen bzw. Reisebücher – häufig zuerst in engl. Sprache geschrieben. Er schrieb auch Kinderbücher (Stefan. Mosaik einer Kindheit. Bln./DDR 1966) sowie Fernsehspiele. In seinem Frühwerk (Voices in the Storm. Melbourne 1953. Dt.: Stimmen im Sturm. Bln./DDR 1977. Wohin der Mensch gehört. Ebd. 1957) erzählt er von Leiden u. Kämpfen im Deutschland der 1930er Jahre, im Roman Kreuzwege (ebd. 1961) die Liebesgeschichte der bürgerlich erzogenen Frau eines austral. Seemanns. Die Reportagen
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Begegnung mit Amerika heute (Rostock 1965), Kaufringer, Heinrich. – Autor von Mären Hoffnung unter Glas (ebd. 1966), Gerücht vom u. anderen kleineren ReimpaardichtunEnde der Welt (ebd. 1969) u. Unterwegs zu Angela gen, erste Hälfte des 15. Jh. (Bln./DDR 1973) handeln vom Leben in der US-amerikan. Gesellschaft. K. bezieht zu- K. ist nicht mit Sicherheit historisch identinehmend dokumentarisches Material mit fiziert worden. Sein Name ist am Ende eines ein, der dialogische Charakter der Texte ver- Teils seiner Werke genannt. In einer Verfasstärkt sich. In Wir lachen, weil wir weinen (Lpz. sersignatur nach Art Heinrichs des Teichners 1977) u. Irische Reise (Bln./DDR 1979) be- lautet dort der Schlussvers »also sprach schreibt K. kritisch den Polizei- u. Militär- Hainrich Kaufringer«. Der Autor gehört ins einsatz in Nordirland. Viermal bereiste er Is- Ostschwäbische um Augsburg u. Landsberg; rael (Drei Reisen ins gelobte Land. Lpz. 1980. 3., in diese Gegend weisen Sprache, Überliefeneu bearb. u. erw. Aufl. 1985 u. d. T. Reisen ins rung, Familienname (Herkunftsname nach gelobte Land). Prinzipiell billigt K. den Staat Kaufering bei Landsberg) u. ein redensartl. Israel, steht jedoch einer Politik, die aus- Wortspiel mit den Namen zweier kleiner schließlich militärische Lösungen sucht, ab- mittelschwäb. Orte (9,116 f.). lehnend gegenüber. Seit Beginn der achtziger Der Zeitraum seines Wirkens wird durch Jahre veröffentlicht er v. a. Erzählungen; auch zwei Daten eingegrenzt. Das Märe Bürgerhier spielen unterschiedl. Länder u. Konti- meister und Königssohn (Nr. 4) spielt in Erfurt, nente eine bedeutende Rolle, so etwa in Die wohin der Königssohn von Frankreich auf die Zeit berühren. Mosaik eines Lebens auf drei Konti- Universität geschickt wird; deren Gründung nenten (Bln. 1992), Ein jegliches hat seine Zeit. 1392 muss schon etwas zurückliegen. Die Wiederbegegnungen auf drei Kontinenten (Bln. andere Grenze, das Jahr 1464, wird durch die 1994) u. Im Schloß zu Mecklenburg und anderswo. Überlieferung gezogen. Stories von gestern und heute (Bln. 1997). K.s Werk ist im Wesentlichen in zwei K. erhielt zahlreiche Preise, darunter 1959 Handschriften erhalten, die keinen gemeinden Mary-Gilmore-Award Australien, 1961 u. samen Bestand haben, sondern einander er1965 den Fontane-Preis, 1967 den Heinrich- gänzen. Die ältere Handschrift (München, Mann-Preis u. 1993 den Literaturpreis Ruhr- Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 270), wohl gebiet. aus Augsburg oder Landsberg stammend, Weitere Werke: In Übersetzungen aus dem Engli- enthält als selbstständigen Schlussfaszikel, schen: Der Fluch v. Maralinga. Bln./DDR 1958 (E.n). dessen Niederschrift nach Auskunft der – Ruf der Inseln. Ebd. 1960 (E.en). – Feuer am Suvastrand. Ebd. 1961 (Südsee-Gesch.n). – Die Er- Nachschrift 1464 beendet wurde, eine geschaffung des Richard Hamilton. Stories. Rostock schlossene Autorsammlung von 17 Reim1964. – Unter dem wechselnden Mond. Ebd. 1968 paardichtungen. Der Faszikel ist kein Auto(E.en). – Am Kai der Hoffnung. Stories. Bln./DDR graf, bietet aber einen autornahen, guten 1974. – Deutsche Originalausgaben: Kauf mir doch ein Text; v. a. aber geht der Aufbau der SammKrokodil. Bln./DDR 1982 (Kinderbuch). – Flucht. lung wahrscheinlich auf K. selbst zurück. Die Halle 1984 (R.). – Tod in Fremantle. Ebd. 1987 Gruppe der 13 Mären wird durch geistl. (Reportage). – Steinwurf. Über eine Liebe in Stücke, zwei Erzählungen am Anfang u. zwei Dtschld. Bln. 1998 (R.). – Gelebtes Leben. Bln. 2000 (E.en). – Die Welt des Markus Epstein. Dresden Reden, die Versifizierungen geistl. Prosa sind, am Ende, eingerahmt u. im Innern durch ei2004 (E.en). Literatur: Jean Villain: Reise-, Zeit- u. Welt- gentüml. motivl. u. themat. Bezüge gegliebilder. In: NDL 30 (1982), H. 10, S. 155–167. – dert. In der jüngeren Handschrift (Berlin, Alexandra Ludewig: Der dt.-austral. Autor W. K. Mgf 564; 1472 in Augsburg geschrieben) sind Ein Sonderfall bikultureller Lit. Marburg 1996. verschiedenartige, insges. kürzere Stücke in Jochanan-C. Trilse-Finkelstein / Michaela Wirtz eine Teichnersammlung eingestreut: weitere Versifizierungen geistl. Prosa, bispelartige Erzählungen u. eine weltl. Rede, eine Schelte der weltzugewandten »Schälke und Lecker«.
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Ob der auf diese Weise räumlich u. zeitlich bestimmte Autor mit einem von zwei historisch bezeugten Landsberger Bürgern gleichen Namens, Vater u. Sohn, identisch ist, wird sich nicht abschließend entscheiden lassen. Der erstere, Kirchenpfleger an der Landsberger Pfarrkirche (urkundlich 1369 bis zu seinem Tod 1404), scheint zeitlich nur noch knapp in Frage zu kommen, der letztere, unbezeugt nach 1404, bleibt weitgehend im Dunkel. Der Dichter vertritt mehrfach den Standpunkt des Stadtbürgers; so beklagt er in Nr. 23 die aus Uneinigkeit der Bürger kommende Schwäche der Stadt gegenüber dem Hof u. lobt in Nr. 20 reichsstädt. Rechtsgepflogenheiten gegenüber (herzoglich-)bairischen (die auch in Landsberg gegolten haben müssen). Er zeigt vielfach Vertrautheit mit Rechts- u. Verwaltungsdingen, u. so möchte man ihn am ehesten in der reichsstädt. Bildungsschicht suchen. Dies um so mehr, als sich die nächstvergleichbaren Reimpaardichter, die Nürnberger Rosenplüt u. Folz – stadtbürgerl. Handwerker mit dem Ehrgeiz, zu Berufsliteraten aufzusteigen –, in ihrem Schaffen nach Themen u. gestalterischen Zielen u. Fähigkeiten deutlich von ihm unterscheiden. Wenn also das gesamte Werk u. somit auch die Erzählungen Stadtliteratur sind, so mag man doch angesichts der starken Traditionsgebundenheit der weltliterar. Stoffe (u. aufgrund der grundsätzl. Problematik der Kategorie des »Bürgerlichen« in SpätMA u. Früher Neuzeit) die zentrale Handlungsführung nicht direkt auf eine neue »bürgerl.« Ethik beziehen, in deren Rahmen etwa der Ehemann auf die Bestrafung des Ehebruchs verzichte, um Vorteile im Erwerbsleben zu erlangen, bzw. die Rache bes. rigid ausfalle aus »kleinbürgerlich« enger Sexualmoral. Vor allem im Variieren u. geschickten Auserzählen der alten Stoffe ergeben sich neue Akzente. Von den Mären ist nur eines, die frühe »Dorfgeschichte« Der verklagte Bauer (Nr. 3), nicht wesentlich erotisch; ferner sind alle schwankhaft außer der exemplarischen Suche nach dem glücklichen Ehepaar (Nr. 8) u. der vorzüglichen säkularisierten Legende Die unschuldige Mörderin (Nr. 14). Es überwiegen alle
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mögl. Spielarten erot. Überlistung. Ein neuer Akzent im oben genannten Sinn ist der, dass einige Male leichtgewichtige schwankhafte Verwicklungen ihre kom. Seite verlieren u. das Grausame, Makabre, der »untergründige Schrecken« beklemmend hervortreten, so bei der sorgfältig gefügten Rache des Ehemannes (Nr. 13; ähnlich Nr. 6, 8, 14; anders gewendet Nr. 11). Ein eigentüml. neues Erzählmoment ist auch die »weise Souveränität«, mit der der betrogene Ehemann öfter auf zerstörerische Rache verzichtet. Seine »weishait« ist komplex motiviert; im Zurückgegebenen Minnelohn (Nr. 5, zu vergleichen Nr. 4 u. 14, der alte einfache Typus in Nr. 6) ist die bloß symbolische Rache am Ende in der Freundschaft der ritterl. Gegenspieler begründet, u. es trifft hier wohl romanhafte Auflösung u. Erweiterung des Schwankschemas mit dem Bestreben zusammen, dessen einfache Rollencharaktere u. Sympathieverteilung narrativ differenzierter zu bestimmen. Ausgabe: Werke. Hg. Paul Sappler. Bd. 1: Text. Tüb. 1972. Bd. 2: Indices. Tüb. 1974. Literatur: Kurt Ruh: K.s Erzählung v. der ›Unschuldigen Mörderin‹. In: FS John Asher. Bln. 1981, S. 146–177. – Hanns Fischer: Studien zur dt. Märendichtung. Tüb. 21983, S. 148–152, 356–361 (Bibliogr.) u. ö. – Paul Sappler: H. K. In: VL. – HansJoachim Ziegeler: Erzählen im SpätMA. Mchn./ Zürich 1985, S. 306–310, 220–225 u. ö. – Marga Stede: Schreiben in der Krise. Die Texte des H. K. Trier 1993. – Udo Friedrich: Metaphorik des Spiels u. Reflexion des Erzählens bei H. K. In: IASL 21 (1996), S. 1–30. – Klaus Grubmüller (Hg.): Novellistik des MA. Märendichtung. Ffm. 1996, S. 1269–1300 (Überlieferung, Komm., Bibliogr.). – Ralf-Henning Steinmetz: H. K.s selbstbewußte Laienmoral. In: PBB 121 (1999), S. 47–74. – André Schnyder: Zum Komischen in den Mären H. K.s. In: Alexander Schwarz (Hg.): Bausteine zur Sprachgesch. der dt. Komik. Hildesh. u. a. 2000, S. 49–74. – Michaela Willers: H. K. als Märenautor. Das Œuvre des cgm 270. Bln. 2002. – K. Grubmüller: Die Ordnung, der Witz u. das Chaos. Eine Gesch. der europ. Novellistik im MA: Fabliau – Märe – Novelle. Tüb. 2006, S. 175–191. Paul Sappler / Corinna Laude
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Kaul, Friedrich Karl, * 21.2.1906 Posen, † 16.4.1981 Berlin/DDR. – Kriminalautor; Verfasser von Hör- u. Fernsehspielen u. Prozessberichten.
Kaus 1976. – Menschen vor Gericht. Ein Pitaval aus unseren Tagen. Bln. 1981. 41987. – Prozesse, die Geschichte machten. Dt. Pitaval v. 1887 bis 1933. Bln. 1988. – ›... ist zu exekutieren!‹ Ein Steckbrief der dt. Klassenjustiz. Bln. 2006. Literatur: Annette Rosskopf: F. K. K. Anwalt im geteilten Dtschld. (1906–1981). Bln. 2002. – Max Paul Friedman: The Cold War Politics of Exile, Return, and the Search for a usable Past in F. K. K.s ›Es wird Zeit, daß du nach Hause kommst‹. In: GLL 58 (2005), H. 3, S. 306–325. – Annette Weinke: ›Verteidigen tue ich schon recht gern ...‹. F. K. K. u. die westdt. NS-Prozesse der 1960er Jahre. In: Herbert Diercks (Red.): Schuldig. Hg. KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Bremen 2005, S. 44–57. Helmut Blazek / Red.
Der Sohn eines jüd. Kaufmanns studierte Jura in Berlin u. Heidelberg, promovierte 1931 u. trat im folgenden Jahr in die KPD ein. Nach dem Referendarexamen arbeitete er an der Juristischen Fakultät der Berliner Universität, 1931/32 in einem Anwaltsbüro in Berlin. Wegen seiner jüd. Herkunft wurde K. 1933 aus dem Justizdienst entlassen. Ab 1935 in den Konzentrationslagern Lichtenberg u. Dachau inhaftiert, gelang K. 1937 die Emigration über Kolumbien in die USA. Nach mehrjährigem Aufenthalt im Antinazi-Camp »Kennedy« kehrte K. 1946 nach Deutschland Kaus, Gina, eigentl.: G. Zirner-Kranz, zurück. Inzwischen der SED beigetreten, ar- verh. Kaus, auch: Andreas Eckbrecht, beitete er in den folgenden Jahren als Justitiar * 21.11.1894 Wien, † 23.12.1985 Los Anbeim Ostberliner Rundfunk, später bei der geles. – Erzählerin u. Drehbuchautorin. Deutschen Verwaltung für Volksbildung. K., K., Tochter eines Kaufmanns u. Geldverseit 1949 als Anwalt bei allen Gerichten in mittlers, war bis zu ihrer Emigration nach Ost- u. West-Berlin zugelassen, trat als Amerika 1939 eine erfolgreiche SchriftstelleHauptbevollmächtigter der KPD im Prozess rin. Schon ihr erstes Stück Diebe im Haus vor dem Bundesverfassungsgericht in Er- wurde 1919 in Wien uraufgeführt; für ihre scheinung (1954–1956) u. war Nebenklä- Erzählung Der Aufstieg (Mchn. 1920) erhielt ger im Frankfurter Auschwitz-Prozess sie den Theodor-Fontane-Preis. Zwischen (1964–1966). Er ist Träger des Nationalprei- Wien u. Berlin hin- u. herpendelnd, begann ses der DDR (1960 für die Fernsehgestaltung sie mit Erzählungen u. Kurzgeschichten u. a. des Pitaval der Weimarer Republik. 3 Bde., Bln./ für die »Vossische Zeitung« u. die Wiener DDR 1953, 1954, 1961). »Arbeiter-Zeitung«, bevor ihr mit dem UnAls sein literar. Vorbild bezeichnete K. Al- terhaltungsroman Die Überfahrt (Mchn. 1932) fred Döblin, als sein Anliegen, die »bürgerli- ein Bestseller gelang. Ihre Romane, v. a. Die che Klassenjustiz als Magd des staatsmono- Schwestern Kleh (Amsterd. 1933. Ffm./Bln. polistischen Kapitalismus zu entlarven«. Mit 1989) u. Der Teufel nebenan (Amsterd. 1940. der Darstellung authent. Kriminalfälle, wie Köln 1977. Ffm 1992. Als Teufel in Seide 1956 z.B. Mord im Grunewald (Bln./DDR 1953), ei- erfolgreich verfilmt), wurden in viele Spranem Roman über die Ermordung Rathenaus, chen übersetzt. In den Wiener Literatencafés wollte K. Formen polit. Herrschaft bewusst zu Hause, war sie befreundet mit Hermann machen. Broch, Franz Werfel, Franz Blei, Karl Kraus u. Weitere Werke: Ich fordere Freispruch. Bln./ Alfred Adler, dessen Studien zur IndividualDDR 1955 (R.). – Die Doppelschlinge. Ebd. 1956 u. Kinderpsychologie sie interessiert verfolgte (R.). – Der blaue Aktendeckel. Ebd. 1957 (R.). – Es u. die den Stil ihrer Charakterzeichnungen u. wird Zeit, daß du nach Hause kommst. Ebd. 1959 -analysen prägten. (R.). – Der Fall Eichmann. Ebd. 1963. – Vornehme Das dramat. Auf u. Ab des eigenen Lebens, Leute. Der Bonner Pitaval. Ebd. 1964. – Der Fall verwickelte Beziehungen u. erot. Abenteuer Herschel Grynszpan. Ebd. 1965. – Ich klage an. Ebd. u. Hbg. 1971 (Ber.e über westdt. Strafprozes- gaben Stoff für ihre Bücher. Deren Figuren se). – Nazimordaktion. Bln./DDR 1973. U. d. T. Die sind vielfach ehrgeizige, selbstbewusste u. Psychiatrie im Strudel der Euthanasie. Ffm. 1979. – überlegene Frauen, selten mit sich zufrieden Watergate: Ein Menetekel für die USA. Bln./DDR u. oft dadurch zum Scheitern verurteilt. Al-
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lesamt gehobene Unterhaltungsliteratur, Finnan (Hg.): Practicing Modernity. Würzb. 2006, zeigen K.’ Romane nicht zuletzt die gesell- S. 324–341. Jutta Freund / Red. schaftl. Vorurteile gegenüber einem emanzipierten Verständnis weibl. Erotik. Kaut, Ellis, eigentl. Elisabeth K., * 17.11. Während ihrer Zeit in Amerika, wo sie 1920 Stuttgart. – Kinderbuchautorin, Kontakte zu Brecht, Hanns Eisler, Fritz Bildhauerin u. Fotografin. Kortner u. Vicki Baum knüpfte u. als Drehbuchautorin erfolgreich war, erschien nur Nach einem zweijährigen Schauspielstudium noch ihre Biografie Und was für ein Leben (Hbg. erhielt K. ein Engagement am Residenzthea1979). Wie für viele Exilschriftsteller wurde ter in Wiesbaden. Anschließend kehrte sie auch für K. das Schreiben in der fremden nach München zurück u. arbeitete als SpreSprache zum Problem. Doch kehrte sie auch cherin in Unterhaltungs- u. Kindersendunnicht mehr in ihre ehem. Heimat zurück; das gen beim Rundfunk. Neunzehnjährig heiraLeben dort u. die dt. Literatur waren ihr tete sie den Münchner Journalisten Kurt Preis. 1940–1944 studierte sie in der Bildfremd geworden. hauerklasse der Münchner Akademie. Nach Weitere Werke: Der lächerl. Dritte. Wien 1927 1945 arbeitete K. als Bildhauerin, haupt(D.). – Die Verliebten. Bln. 1928. Oldenb. 1999 (R.). – Morgen um Neun. Bln. 1932 (R.). – Return to sächlich als Porträtistin. Ihre Bekanntschaft Reality. London 1935 (E.en). – Katharina die Große. mit Kurt Wilhelm, der die UnterhaltungsabAmsterd. 1935. Mchn. 2006 (Biogr.). – Luxus- teilung des BR leitete, ermöglichte ihr die dampfer. Roman einer Überfahrt. Amsterd. 1937. – Mitarbeit an Unterhaltungssendungen, HörDie Unwiderstehlichen. Kleine Prosa. Hg. u. mit spielen u. Kindersendungen. einem Nachw. v. Hartmut Vollmer. Oldenb. 2000. Die Geschichten vom Kater Musch, einem Literatur: Renate Wagner: Doppelleben zwi- sprechenden Kater, gehörten bis 1962 sieben schen Café u. Palais. In: Volksbl.-Magazin, Jahre lang zum Kinderprogramm des BR. Im 29.4.1988. – Sibylle Mulot-Déri: Gina, Almas Ge- selben Jahr begann die Erfolgsgeschichte des genstück. In: FAZ, 8.9.1989. – Dies.: Nachw. In: frechen, rothaarigen Kobolds Pumuckl, der Die Schwestern Kleh, a. a. O., S. 287–298. – Amelie bei Schreinermeister Eder am Leimtopf kleHeinrichsdorff: Nur eine Frau? Krit. Untersu- ben bleibt u. deshalb für ihn sichtbar wird. chungen zur literaturwiss. Vernachlässigung der Von Beginn an lieh Hans Clarin der PumucklExilschriftstellerinnen in Los Angeles: Ruth Berlau, Figur seine Stimme; seit 1977 sprach Gustl Marta Feuchtwanger, G. K. u. Victoria Wolff. Ann Bayerhammer den Schreinermeister Eder. Ab Arbor, Mich. 1999. – Ingrid Walter: Dem Verlorenen nachspüren. Autobiogr. Verarbeitung des Exils 1965 erschienen die Pumuckl-Bücher. Sie deutschsprachiger Schriftstellerinnen. Taunusstein wurden von Barbara von Johnson illustriert, 2000. – Margit Schreiner: Kleine Prosa u. Roman. während den Fernsehpumuckl K.s SchwieZur Wiederentdeckung v. G. K. In: LuK 35 (2000), gersohn Brian Bagnall zeichnete. 1982 erH. 349/350, S. 86–89. – Hartmut Vollmer: Vicki schien der erste Spielfilm Meister Eder und sein Baum u. G. K. Ein Porträt zweier Erfolgsschrift- Pumuckl, 1994 der zweite mit dem Titel Pustellerinnen der Zwischenkriegszeit. In: Bernhard muckl und der blaue Klabauter, 2003 Pumuckl und Fetz u. Hermann Schlösser (Hg.): Wien – Berlin. sein Zirkusabenteuer. Auch in den Filmen bleibt Wien 2001, S. 45–57. – Christa Gürtler: G. K. der Pumuckl eine Zeichentrickfigur, die in 1893–1985. In: Dies. u. Sigrid Schmid-Borten- eine reale Umgebung hineinkopiert wird. schlager: Erfolg u. Verfolgung. Österr. Schriftstel- 1982–1988 wurde die erste Staffel der Fernlerinnen 1918–1945. Salzb./Wien/Ffm. 2002, sehserie Meister Eder und sein Pumuckl ausgeS. 205–216. – Andrea Capovilla: Entwürfe weibl. strahlt, 1988/89 folgte die zweite. Die halbIdentität in der Moderne: Milena Jesenská, Vicki stündigen Folgen waren prominent besetzt; Baum, G. K., Alice Rühle-Gerstel. Studien zu Leben u. Werk. Oldenb. 2004. – Isabelle Terrein: G. K. die 1999 begonnene Fernsehserie Pumuckls Femme de lettres, égérie et émigrée. Une femme Abenteuer konnte an die früheren Erfolge dans le siècle. Univ. Lille 2005. – Luisa A. Soares: nicht anknüpfen. Aufsehen erregte 2007 ein Rechtsstreit Luisa Vicky Baum and G. K. Female Creativity on the Margins. In: Christiane Schönfeld u. Carmel zwischen K. u. der Illustratorin Barbara von
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Johnson. In einem »Malwettbewerb«, den die Kautsky, Karl, * 16.10.1854 Prag. † 17.10. Illustratorin unterstützte, sollte Pumuckl 1938 Amsterdam. – Sozialistischer Theoeine Freundin bekommen, wogegen sich K. retiker. vergeblich wehrte. Die vielfach ausgezeichnete Autorin (Bundesverdienstkreuz, Bayeri- Der Sohn des tschech. Theatermalers Johann scher Verdienstorden) sah ihr Urheberper- u. der dt. Schriftstellerin Minna Kautsky sönlichkeitsrecht gefährdet, gilt ihr doch die wurde zunächst geprägt durch das Studium Pumuckl-Figur als ureigenes Medium, Kin- der Darwinisten, insbes. Haeckels. 1875 derthemen u. -probleme anzusprechen. Der schloss er sich in Wien den Sozialdemokraten Bekanntheitsgrad des rothaarigen Kobolds ist an. Neben Studien in Wien (Jura, Geschichte, enorm. Neben Print- u. Audiomedien – ein Politische Ökonomie), die zu keinem AbMusical wurde am 21.10.2000 in München schluss führten, u. literar. Versuchen schrieb uraufgeführt – gibt es seit 2005 ein Pumuckl- K. unter verschiedenen Pseudonymen für die Museum in Ohlstadt; es existiert eine Pu- meisten sozialistischen Organe. 1880 stieß er mucklbriefmarke u. ein Pumucklbrunnen in zum Kreis um Karl Höchberg in Zürich, wo er Eduard Bernstein u. Friedrich Engels kennen München. Einen weiteren Erfolg verzeichnete K. mit lernte, dessen Privatsekretär er wurde. Nach der Figur des Schlupp vom grünen Stern (Mchn. Gründung der »Neuen Zeit« (1883) wurde K. 1974), einem Roboter mit Herstellungsfehler, ihr Redakteur u. einer der wichtigsten sozider mit der renommierten Augsburger Pup- aldemokratischen Publizisten. Zusammen penkiste verfilmt wurde. Zwischen 1970 und mit August Bebel, Engels u. Bernstein trat er 1980 fand die vielseitig begabte K. in der für die Durchsetzung des Marxismus u. die Fotografie ein neues Arbeitsfeld. Auch als Zurückdrängung des Lassalleanismus innerFotografin erhielt sie zahlreiche Würdigun- halb der SPD ein. Das manifestierte sich im Erfurter Programm von 1891, dessen theoret. gen. K. wurde u. a. 1955 mit dem Bayerischen Teil er, dessen pragmat. Teil Bernstein veHörspielpreis, 1984 mit dem Ernst-Hofe- fasste. Nach 1890 suchte K. das Erfurter Prorichter-Preis, 1992 mit dem Poetentaler u. 1999 mit dem Oberbayerischen Kulturpreis gramm sowohl gegen den Revisionismus Bernsteins als auch gegen den Aktivismus ausgezeichnet. Weitere Werke: Der Zauberknopf. Illustriert v. Rosa Luxemburgs zu verteidigen, verlor daBrian Bagnall. Mchn. 1970. – Der kluge Esel durch aber immer mehr an Rückhalt in der Theobald. Illustriert v. Brian Bagnall. Mchn. 1972. Partei. 1917 schloss er sich der USPD an, was – Flaps, der Fehlerflipps. Mchn. 1986. – Tore, zu seiner Entlassung als Redakteur der Treppen, Türme in München (zus. mit Kurt Preis). »Neuen Zeit« führte. K. wandte sich scharf Mchn. 1986. – Der Nymphenburger Park (zus. mit gegen Lenins Marxismus-Interpretation u. K. Preis). Mchn. 1987. – Gleich hinter München. die Oktoberrevolution (noch in: Der BolscheDas Land Ludwig Thomas. Mchn. 1997. – Island. wismus in der Sackgasse. Bln. 1930), was zum Eine Reise (zus. mit Erich Roßhaupter). Mchn. endgültigen Bruch mit Luxemburg führte, 1998. nachdem ihr Dissens bereits in der MassenLiteratur: Heidi Zimmer: Rebellisches Kind u. streikdebatte von 1905 deutlich geworden Pädagogin. ›Pumuckls Mutter‹ wird siebzig. In: Lit. in Bayern (1990), H. 20, S. 40–44. – Judith Ge- war (Der politische Massenstreik. Bln. 1914). rke-Reineke: Geklonte Medienhelden. Münster Nach der Revolution war K. einige Monate als 1995. – Dietmar Grieser: Pinocchio, Pumuckl u. Unterstaatssekretär im Auswärtigen Amt mit Peter Pan. Kinderbuchfiguren u. ihre Vorbilder. der Herausgabe der Deutschen Dokumente zum Ffm. 2003. Elke Kasper Kriegsausbruch (zus. mit Max Graf von Montgelas u. a. 4 Bde., Charlottenburg 1919) beauftragt, wobei er seine Auffassung von der Kriegsschuld der Mittelmächte zu erhärten suchte (Wie der Weltkrieg entstand. Bln. 1919). Sein theoriebildender Einfluss wurde jedoch
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immer geringer (Die proletarische Revolution Briefw. mit August Bebel u. K. K. [...]. Hg. Friedund ihr Programm. Bln. 1920). Nach der Verei- rich Adler. Wien 1954. – Friedrich Engels’ Briefw. nigung von SPD u. USPD ging K. 1924 nach mit K. K. Hg. B. Kautsky. Wien 1954. – August Wien zurück, wo er sich der Abfassung seiner Bebels Briefw. mit K. K. Hg. Karl Kautsky jr. Assen 1972. – Eduard Bernsteins Briefw. mit K. K. Materialistischen Geschichtsauffassung (2 Bde., (1895–1905). Hg. Till Schelz-Brandenburg. Ffm. Bln. 1927) widmete. Nach dem »Anschluss« 2003. – Herausgeber: Karl Marx: Zur Kritik der polit. Österreichs 1938 floh K. nach Prag, dann in Ökonomie. Stgt. 1897. – Ders.: Theorien über den die Niederlande. Seine Frau Luise wurde in Mehrwert. 3 Bde., Stgt. 1905–10. – August Bebel: Auschwitz ermordet. Aus meinem Leben. Bd. 3, Stgt. 1914. K.s Marxismus stellt unter den theoret. Literatur: Hans-Josef Steinberg: K. K. u. EduAnsätzen der Sozialdemokratie eine eigen- ard Bernstein. In: Dt. Historiker. Bd. 4. Hg. Hansständige Position dar, deren histor. Wirkung Ulrich Wehler. Stgt. 1972, S. 53–64. – Rainer freilich, gemessen an K.s Bekanntheit bei den Kraus: Die Imperialismusdebatte zwischen VladiZeitgenossen, gering blieb. Von Marx unter- mir I. Lenin u. K. K. Ffm. 1978. – Massimo L. schied sich K. durch die Annahme einer Na- Salvadori: Sozialismus u. Demokratie. K. K. 1880–1938. Stgt. 1982. – Ingrid Gilcher-Holtey: turnotwendigkeit der histor. Entwicklung Das Mandat des Intellektuellen. Bln. 1986. – zum Sozialismus, was die Marx’sche Idee ei- Georges Haupt: K. K. u. die Sozialdemokratie ner dialektischen Umwandlung von Natur- Südosteuropas. Ffm. 1986. – Werner Kowalski geschichte in Gesellschaftsgeschichte aufhob. (Hg.): K. K. Halle 1990. – Till Schelz-Brandenburg: Hier liegt auch die Wurzel des Konflikts mit Eduard Bernstein u. K. K. Köln 1992. Luxemburg, die glaubte, durch polit. HanMichael Behnen / Red. deln einen revolutionären Zustand erzeugen zu müssen. Gegen Bernstein hingegen ver- Kautsky, Minna, eigentl. Wilhelmine K., teidigte K. die Revolution als reale Utopie des geb. Jaich, auch: Eckert, Wilhelm Wiener, Marxismus. Doch musste er spätestens 1925 * 11.6.1837 Graz, † 21.12.1912 Friedenau einsehen, dass die Utopie für die SPD keine (heute zu Berlin). – Erzählerin, Dramatireale mehr war. Die Sicht der Menschheits- kerin; Schauspielerin. als Teil der Naturgeschichte hatte K. schon in seinen ersten Publikationen vertreten, von Vater (Anton Jaich) u. Mann (Johann Kautsky) den Darwinisten ebenso geprägt wie von der österr. Volkserzählerin des Sozialismus den Malthusianern (Überseeische Lebensmittel- waren Dekorationsmaler, letzterer seit 1864 konkurrenz. Lpz. 1881), so dass sein Werk am Wiener Burgtheater. K. debütierte 14als Versuch einer Vereinigung von Hae- jährig in Prag in Müllners Schuld. Sie kannte ckel’schem Darwinismus u. Marxismus zu aus eigener Erfahrung die Not des Theaterproletariats, welche ihre Romane Herrschen sehen ist. Weitere Werke: Der Einfluß der Volksver- oder Dienen (Lpz. 1881) u. Im Vaterhause (Hbg. mehrung auf den Fortschritt der Gesellsch. Wien 1904) sowie die krit. Schrift Das deutsche 1880. – Karl Marx’ ökonom. Lehren. Stgt. 1887. – Theater der Neuzeit (Stgt. 1884) thematisieren. Das Erfurter Programm in seinem grundsätzl. Teil Mit 16 Jahren heiratete sie u. war bis 1861 erläutert. Stgt. 1892. Neudr. Hann. 1964. – Der weiterhin als Schauspielerin in Olmütz u. Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung u. die Prag (Nationalbühne) tätig. Durch den EinSozialdemokratie. Stgt. 1893. – Die Vorläufer des fluss ihres ältesten Sohns Karl wurde sie zur neueren Sozialismus. 2 Bde., Stgt. 1894/95. Neudr. Chronistin des proletar. Lebens in Österreich; Bln. 1947. – Bernstein u. das sozialdemokrat. Pro- in den 1880er Jahren war sie die populärste gramm. Stgt. 1899. – Die soziale Revolution. Bln. sozialistische Belletristin. 1902. – Der Weg zur Macht. Bln. 1909. – Diktatur K.s Werke erschienen im Vorabdruck in der des Proletariats. Wien 1918. – Mein Verhältnis zur sozialistischen Tagespresse – »Neues Leben«, Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei. Bln. 1922. – Erinnerungen u. Erörterungen. Hg. Bene- »Die Neue Welt«, »Arbeiter-Kalender« – u. dikt Kautsky. ’s-Gravenhage 1960. – Briefwechsel: waren in Buchform in den ArbeiterbiblioRosa Luxemburg: Briefe an K. u. Luise Kautsky. theken erhältlich. Stefan vom Grillenhof (Lpz. Hg. Luise Kautsky. Bln. 1923. – Victor Adler: 1876), in Marx’ Urteil »die bemerkenswer-
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teste Erzählung der Gegenwart«, schildert Stefan Riesenfellner u. Ingrid Spörk (Hg.): M. K. den Preußisch-Österr. Krieg aus der Per- Beiträge zum literar. Werk. Wien 1996. – Lilo Wespektive der (anders als die Oberschicht) mo- ber: ›Fliegen und Zittern‹. Hysterie in Texten v. ralisch intakten Unterschichten. Die »Klas- Theodor Fontane, Hedwig Dohm, Gabriele Reuter u. M. K. Bielef. 1996. – Heidy Margrit Müller: Sosenfeinde« u. deren Welt werden – in für K. zialkritik u. Zukunftshoffnung: M. K. In: Karin charakteristischem szenisch gestaltetem Er- Tebben (Hg.): Deutschsprachige Schriftstellerinnen zählduktus – durchgehend schablonenhaft des Fin de siècle. Darmst. 1999, S. 197–215. – gezeichnet, im Gegensatz zu den menschlich Werner Michler: Zwischen M. K. u. Hermann Bahr: sympath. Proletariern. Engels, der ihr neben literar. Intelligenz u. österr. Arbeiterbewegung vor Marx, Bebel, Victor Adler, Wilhelm Lieb- Hainfeld (1889). In: Klaus Amann (Hg.): Literar. knecht u. Rosa Luxemburg freundschaftlich Leben in Österreich 1848–1890. Wien u. a. 2000, verbunden war, nahm K.s Darstellung unan- S. 94–137. Eda Sagarra / Red. gefochten ideeller Heldinnen wie Elsa im Salzbergarbeiterroman Die Alten und die Neuen Kayser, Philipp Christoph, * 10.3.1755 (2 Bde., Lpz. 1885) zum Anlass für grund- Frankfurt/M.† 23.12.1823 Zürich. – Lyrisätzl. krit. Reflexionen zum Verhältnis von ker, Komponist, Pianist u. Schriftsteller. Tendenz u. Realismus. In einem Alpental angesiedelt ist der Roman Victoria (Zürich Von seinem Vater, dem »Clavirmeister und 1890), in dem K., wie häufig, dem klein- Organist[en]« an der Frankfurter Katharinbürgerl. u. proletar. Milieu die Nebenhand- enkirche, späteren Konzertunternehmer, lung vorbehält, aber überzeugt mit der dif- zum Musiker ausgebildet, vervollständigte K. ferenzierten Schilderung des Niedergangs seine musikal. Studien nach kurzem Gymder kleinen Handwerker angesichts des vor- nasiumsbesuch in den Jahren 1770–1772 bei dringenden Kapitalismus. Die Entwicklung Georg Andreas Sorge in Lobenstein/Thürineines polit. Selbstbewusstseins der Frau, das gen. Ab 1772 knüpfte er in Frankfurt sie zur revolutionären Kämpferin werden freundschaftl. Kontakte zu Klinger, Goethe, lässt, ist ein konstantes Thema der »roten Miller, Schubart u. Lenz; als Musiker war er Marlitt«, so in Helene (Stgt. 1894) oder in Ein auch in der Gruppe der »Stürmer und DränMaifesttag (Hbg. 1907), einer ausschließlich ger« als deren jüngstes Mitgl. hoch willkommen. Goethe empfahl ihn 1775 an Joproletar. Milieudarstellung. hann Caspar Lavater nach Zürich, wo sich K. Ausgaben: Ges. E.en u. R.e. 2 Bde., Nürnb. 1914 als dessen Protégé als Musiklehrer, Pianist u. (mehr nicht ersch.). – Ausw. aus ihrem Werk. Hg. Hausfreund der Familie Schultheß etablierte. Cäcilie Friedrich. Bln./DDR 1965. In seinen Physiognomischen Fragmenten entwiLiteratur: Cäcilie Friedrich-Stratmann: Beiträge zur Entstehungsgesch. der sozialist. Lit. Diss. ckelte Lavater an K.s Gesichtszügen den ProHalle 1963 (mit ausführl. Bibliogr.). – Ingrid Cella: totyp eines »großen musikalischen Genies, Die Genossen nannten sie die ›rote Marlitt‹. M. K. das mächtige Kraft und große Kunstfertigkeit u. die Problematik des sozialen Romans, aufgezeigt mit feiner, inniger Zärtlichkeit verbindet [...] an: ›Die Alten u. die Neuen‹. In: ÖGL 25 (1981), und gewiß noch in der Musik werden kann – S. 16–29. – Cäcilia Friedrich: ›... ist der Held nicht was Goethe im Drama«. 1775 fand K. mit gar zu brav?‹ Friedrich Engels zum Tendenzbegriff dem emblemat. Brudernamen »a Pelicano« in M. K.s Roman ›Die Alten und die Neuen‹. In: Aufnahme in der Zürcher Freimaurerloge Thomas Höhle (Hg.): Äusserungen über Marx u. »Modestia cum Libertate«, deren Sekretarius Engels. Halle/Saale 1988, S. 66–71. – Ursula Mün- er wurde. Zwei seiner Logenreden wurden chow: Neue Wirklichkeitssicht u. polit. Praxis. So1780 in einem Baseler Druck von Neun Freyzialist. Lit. u. Arbeiterinnenbewegung. In: Gisela maurer-Reden, gehalten in der Sch[ottischen] Loge Brinker-Gabler (Hg.): Dt. Lit. v. Frauen. Bd. 2, zur Bescheidenheit, in Z[ürich] Im Jahr 4066 herMchn. 1988, S. 254–275. – Christa Pimingstorfer: Zwischen Beruf u. Liebe: M. K. u. Lou Andreas- ausgegeben; seine Protokolle des »MaurerSalomé im Vergleich. In: Theresia Klugsberger kongresses in Wilhelmsbad« (1782), in dem (Hg.): Schwierige Verhältnisse. Liebe u. Sexualität es um das »System der Strikten Observanz« in der Frauenlit. um 1900. Stgt. 1992, S. 43–56. – ging, sind erst 2003 veröffentlicht worden.
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1785 trat K. mit dem Verleger Johann Heinrich Füßli über die Drucklegung seines als Dialog verfassten musiktheoret. Unterrichtswerks (verschollen) in Verhandlungen. Die Lyrik u. Prosatexte des häufig von tiefen depressiven Verstimmungen gequälten K. entstanden in nur wenigen produktiven Jahren. Zudem verwendete er sich für die Edition der Flüchtigen Aufsäzze (Zürich 1776) seines Freundes Lenz. Seine ersten anakreont. u. im empfindsamen Stil verfassten Gedichte erschienen auf Empfehlung seiner Dichterfreunde 1775 in J. H. Voß’ »Göttinger Musenalmanach« u. in der »Deutschen Chronik« Schubarts. Im selben Jahr brachte er in Ulm sein Sendschreiben an die Grazien – et addressé an die H. H. Poeten von ganz Europa zu beliebiger Besorgung heraus. Dieser mit »Philippi Veri« gezeichnete Prosatext ist zusammen mit einigen Gedichten u. seinem emphat. Aufsatz in »12 Epochen« Empfindungen eines Jüngers in der Kunst vor Ritter Glucks Bildniße (in: Chr. M. Wieland, »Teutscher Merkur«, 3. Vierteljahr, 1776, S. 221 ff. u. 233–247) das umfangreichste Dokument seiner Identifikation mit dem »Sturm und Drang«. Von bes. Bedeutung blieb für K. die Bindung an Goethe. In dessen 1778 zu einem handschriftl. Notenbuch für die häusl. Musiziergepflogenheiten zusammengestellter Sammlung von 85 Liedern waren 71 Kompositionen aus K.s Feder (GSA 32/1477); ab 1779 entwickelte Goethe mit ihm ein neues Singspielkonzept. Seine für das Weimarer Liebhabertheater geschriebene, einaktige Schweizeroperette Jery und Bätely, deren Komposition in der kurzen vorgegebenen Zeit nicht gelang, war der Ausgangspunkt für einen ausführl. briefl. Austausch. Ab Dez. 1783 unternahm K. seine erste mehrmonatige Bildungsreise nach Italien u. legte für Goethe seine persönl. Eindrücke in ausführl. Collectaneen über italienisches Musikwesen (in: WA I, Bd. 34, S. 215–218) nieder. 1784–1788 arbeitete er an Goethes vieraktiger Komödie Scherz, List und Rache. Beide diskutierten über die Probleme einer an der ital. Opera buffa orientierten dt. Librettistik u. deren musikal. Umsetzung. 1787 bat Goethe den Freund zu sich nach Rom, um unter seiner Anleitung im Kreise seiner Künstlerkollegen weitere musikhistor. u.
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kirchenmusikal. Studien zu betreiben u. Scherz, List und Rache abzuschließen. Die Partiturfassungen wuchsen zu umfangreichen Konvoluten; zu einer Aufführung kam es zu beider Lebzeiten jedoch nicht. Die gemeinsamen Monate in Rom zeitigten auch die Bühnenmusiken zu Egmont u. die Römischen Nebenstunden, eine handschriftl. Musikalienliste mit angeschlossenen musiktheoret. Studien u. Aufzeichnungen, die K. der Malerin Angelica Kauffmann in Erinnerung an »glücklich in Rom erlebte Stunden« dedizierte. Als G. nach beider Rückkehr nach Weimar für seine weitere musikal. Arbeit am dortigen Hoftheater den umtriebigen Berliner Hofkapellmeister Johann Friedrich Reichardt in seine Nähe bat, endete seine Beziehung zu K. Der Freund, der in Weimar für eine Stellung vorgeschlagen war, kehrte nach Zürich zurück. Ein Versuch des Freundes Klinger, K. eine Karriere in Petersburg zu ermöglichen, blieb erfolglos. Beschrieben wird K. als ein in allen Wissenschaften bewanderter Polyhistor, der öffentlichkeitsscheu, umgeben von einer umfangreichen Bibliothek, das »einfachste und regelmäßigste Leben« in »pünktlichster Ordnung und Genauigkeit« geführt habe. Als »gelehrter Musiker« u. umfassend informierter Musiklehrer wurde er geschätzt, wiewohl er in »Abgeschiedenheit« zunehmend zu einem »edeln Sonderling« wurde, der in seinem 68. Lebensjahr starb. Im Archiv der Zürcher Freimaurerloge hat sich die während der rituellen Trauerloge am 24.2.1824 vom Ratsherrn u. Logenbruder Diethelm Lavater d.J. gelesene Trauerrede erhalten, ein 20-seitiges handschriftl. Dokument, in dem das Leben u. Wirken K.s eindrucksvoll zusammengefasst wird. Einen literar. Nachklang erfuhren die Lebensgeschicke K.s in der erstmals 1925 in Zürich erschienenen, mehrfach nachgedruckten Erzählung Bertha von Orellis: Die Tochter aus dem Schönenhof, in der K.s Wirken als Musiklehrer u. Freund der begabten Barbara (Bäbe) Gessner-Schultheß zu einer Romanze verklärt wird. Weitere Werke: Gedichtpublikationen in: Deutsche Chronik 1775, Göttinger Musenalmanach 1775, Teutscher Merkur 1776. – Vermischte
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333 Lieder mit Melodien aufs Klavier. Winterthur/Lpz. 1775. – Gesänge, mit Begleitung des Claviers. Lpz./ Winterthur 1777. – Handschriftl. Liederbuch aus Goethes Notensammlung. GSA 32/1477. – Johann Wolfgang Goethe/P. C. K.: Scherz, List u. Rache. Singspiel in vier Akten. Handschriften: Zentralbibl. Zürich, Besitz der Allg. Musikgesellsch., Sign.: AMG I, 700 & a-c. 4 Bde.; Klassik Stiftung Weimar, GSA: 3 Partituren u. 76 Stimmenauszüge in 8 Kästen des Bestandes ›Goethe. Notensammlung‹. Sign. GSA 32/125. Klavierauszug. Erstausg. hg. v. Hermann Dechant. Wien 1999. – Relation der Schweizer. Deputierten v. den Verhandlungen des General-Konvents zu Wilhelmsbad. (Handschr., Archiv der Loge ›Modestia cum Libertate‹, Zürich). Ber. über den Freimaurer-Konvent v. Wilhelmsbad 1782. Hg. u. eingel. v. Werner G. Zimmermann. Zürich 2003. Literatur: David Heß: Flüchtige Notitzen über P. C. K. Januar 1824. Handschr. Zentralbibl. Zürich, Handschriftenabt., F.-A. Hess 39.1. – Carl August Hugo Burkhardt: Goethe u. der Komponist P. C. K. Lpz. 1879. – O. Heuer: P. C. K., Goethe u. Klinger. In: Ber.e des Freien Dt. Hochstifts zu Frankfurt am Main. N. F. 7 (1891), S. 443–459. – Ders.: Barbara Schultheß u. P. C. K. In: ebd. 8 (1892), S. 294–303. – Paul Winter: Goethe erlebt Kirchenmusik in Italien. Zürich 1949. – Edgar Refardt: Der ›Goethe-Kayser‹. Zürich 1950. – Gabriele Busch-Salmen (Hg.): P. C. K. (1755–1823). Komponist, Schriftsteller, Pädagoge, Jugendfreund Goethes. Hildesh. 2007 (mit Ed. sämtl. Gedichte u. Aufsätze K.s, mit Nachweisen u. Varianten, S. 293–340). – Ulrike Leuschner: Der wahre P. K. u. die Lit. des ›Sturm und Drang‹, mit ungedruckten Gedichten u. Briefen aus dem Nachl. Ernst Schleiermacher. In: ebd., S. 139–194. – G. Busch-Salmen (Hg): Goethe Hdb. Suppl.e Bd. 1: Musik u. Tanz in den Bühnenwerken. Stgt. 2008, bes. S. 316–331. Gabriele Busch-Salmen
Kayser, Rudolf, auch: Anton Reiser, * 28.11.1889 Parchim/Mecklenburg, † 5.2.1964 New York. – Literaturkritiker, Essayist, Biograf. K., Sohn eines Kaufmanns, studierte in Berlin, München u. Würzburg Germanistik, Philosophie u. Kunstgeschichte u. promovierte 1914 mit einer Untersuchung über Arnims und Brentanos Stellung zur Bühne (Bln.). 1914–1917 war er als Lehrer in Berlin tätig. 1919 in den S. Fischer Verlag eingetreten, übernahm er 1922 die Redaktion der »Neuen
Rundschau«. Daneben war K. dramaturgischer Berater an der Berliner Volksbühne unter Piscator. Anfang 1933 musste er die Redaktionsleitung der »Neuen Rundschau« abgeben, da er nach Meinung S. Fischers den neuen polit. Herausforderungen nicht gewachsen war. K. emigrierte in die Niederlande, 1935 in die USA. Dort lehrte er u.a. am Hunter College sowie an der School for Social Research in New York; 1951–1957 hatte er eine Professur für dt. Sprache u. Literatur an der Brandeis University in Waltham/Mass. inne. K. veröffentlichte zunächst eigene Dichtungen sowie Essays u. Kritiken, in denen er die expressionistische Literaturbewegung kommentierte: 1911–1914 in der »Aktion«, später in »Der Neue Merkur«, »Zeit-Echo« u. anderen. Anfang der 1920er Jahre sammelte er die Lyrik jener Zeit (Verkündigung. Anthologie junger Lyrik. Mchn. 1921). In der Einleitung sowie mit seiner eigenen, als letzter Band der expressionistischen Buchreihe Der Jüngste Tag erschienenen myth. Dichtung Moses’ Tod. Legende (Mchn. 1921) propagierte er das Ende der Form- u. Wertezertrümmerung in der modernen Literatur. Der Essayband Zeit ohne Mythos (Bln. 1923. Neudr. Nendeln 1973) zeigte K. als »nachdenklichen, ungläubigen Denker« (Oskar Loerke), der sich in eine produktive Nietzsche-Nachfolge begeben hatte. In der lebendig geschriebenen Kleinen Philosophie der Dichtung (u. d. T. Dichterköpfe. Wien 1930) reicht die Galerie zukunftsweisender großer Denker u. Sprachschöpfer von Spinoza über Goethe, Hölderlin u. Nietzsche bis zu den formbewussten George, Hofmannsthal, Rilke, Borchardt u. den deutschsprachigen Epikern der Moderne. Bedeutung erlangte K. auch als biogr. Schriftsteller. Mit seinem Hauptwerk Stendhal oder Das Leben eines Egotisten (Bln. 1928. Neuausg. Ffm. 1982) – gelobt u. a. von Stefan Zweig, Kerr u. Heinrich Mann – legte er das überzeugende Beispiel einer biographie romanesque vor. K. hob den iron. u. skept. Realismus, die Lebensintelligenz u. individuelle Energie Stendhals hervor. Geschickt wahrte er die Balance zwischen literarisierten, mit psycholog. Gespür verfassten Passagen, der Rekonstruktion der äußeren Bio-
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grafie u. der unaufdringl. Werkanalyse. Von seinen weiteren Biografien seien die über Spinoza (Bildnis eines geistigen Helden. Wien 1932. Engl. New York 1946) im Spannungsfeld religiös-orthodoxer u. reformatorischkrit. Tendenzen sowie jene über Kant (Wien 1934) als »Baumeister« einer fortgeschrittenen, Vernunft u. Gefühl verbindenden Aufklärungsphilosophie genannt. K., seit Jahrzehnten in Deutschland vergessen, ist zu den großen dt. Essayisten u. biogr. Schriftstellern des 20. Jh. zu zählen. Weitere Werke: Das junge dt. Drama. Bln. 1924. – The Life and Time of Jehudah Halevi. New York 1949. – Claude-Henri Graf Saint-Simon, Fürst der Armen. Mchn. 1966. – The Saints of Qumrân. Stories and Essays on Jewish Themes. London/New York 1977. Literatur: Peter de Mendelssohn: S. Fischer u. sein Verlag. Ffm. 1970. – Thomas Hansen: R. K. In: Dt. Exillit. Bd. 2, Tl. 2, S. 421–432. – Wolfgang Kaelcke: R. K. In: Ders.: Parchimer Persönlichkeiten. Tl. 2, Parchim 1997, S. 40 f. – Claude Foucart: André Gide, R. K. et ›Die Neue Rundschau‹. In: Bulletin des Amis d’André Gide 31 (2003), H. 137, S. 67–79. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Wilhelm Haefs / Red.
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ein Fortschritt u. ein erster Erfolg war das Lustspiel Jan der Wunderbare (Bln. 1917), in dem eine der in Schlesien nicht seltenen Dorfapostel- u. Gottsuchergestalten von allen Fantastereien kuriert wird. Da dieses Stück auf vielen Bühnen nachgespielt wurde, blieb K. beim Lustspiel u. verfasste mit Der Brief (1925) eine Satire auf die in der Nachkriegszeit in die Welt der Künstler vordringenden Geschäftsleute. Von K.s zahlreichen Bearbeitungen u. Einrichtungen klass. Stücke für zeitgenöss. Bühnen sind die zu Goethes Götz von Berlichingen (1916) u. zu Shakespeares Cymbeline (1923) im Druck erschienen. Seine theoret. Überlegungen zur Schauspielkunst u. zur Bühne sammelte K. unter dem Titel Von Menschentum zu Menschentum (Bln. 1933) u. Wandlung und Sinn (Potsdam 1940). Weitere Werke: Besinnungen. Aus der äußeren u. inneren Welt. Aphorismen über Natur, Mensch u. Kunst. Bln. 1921. – Wege – ein Weg. Eine Ausw. aus Gedichten, Prosa u. Aphorismen. Bln. 1929. – Ausgabe: Ges. Schr.en in 3 Bdn. Bln. 1930. Literatur: Julius Bab: F. K. Bln. 1920. Hermann Schreiber / Red.
Kayssler, Friedrich, * 7.4.1874 Neurode/ Keckeis, Gustav, auch: Johannes Muron, Schlesien, † 24.4.1945 Klein-Machnow * 27.3.1884 Basel, † 10.3.1967 Basel. – bei Berlin. – Schauspieler, Dramatiker, Erzähler, Herausgeber, Verleger. Aphoristiker. K., Sohn eines Arztes, studierte Philosophie, ehe er, eben 20-jährig, für die Bühne entdeckt wurde u. als Charakterdarsteller, v. a. in reiferen Jahren, große Erfolge errang. Schon früh schrieb K. Aphorismen, gesammelt u. d. T. Schauspielernotizen (Bd. 1, Bln. 1910. Bd. 2, Bln. 1914), die unter Kundigen bald als Besonderheit erkannt u. nach 1933 als Zeugnisse seiner inneren Unabhängigkeit angesehen wurden. Sie bilden zusammen mit K.s gedankenreicher, aber auch oft schlicht liedhaften Lyrik den eigentl. Kern seines Werks u. verdienen auch heute noch Interesse. In einem frühen autobiogr. Text, Der Pan im Salon (Bln. 1907), versammelte K. Gedichte, kleine Prosastücke u. Szenen um ein imaginäres Ich. K.s erstes Bühnenstück war das Märchendrama Simplicius (Bln. 1905); es enthält Szenen aus seiner schles. Jugend. Dramaturgisch
Nach wirtschaftswissenschaftl., juristischen u. philologisch-literar. Studien wurde K. 1926 Leiter des Herder Verlags in Freiburg i. Br. 1935 übernahm er die Leitung des Benziger Verlags (Einsiedeln) u. baute ihn zu einem modernen belletristischen Verlag mit Sitz in Zürich aus. 1944–1948 gab er im Encyclios Verlag (Zürich) das siebenbändige Schweizer Lexikon, 1953/54 das zweibändige Lexikon der Frau heraus. Als Erzähler publizierte K. bis 1945 unter dem Namen Johannes Muron u. machte zunächst mit dem Roman Die spanische Insel (2 Bde., Bln. 1926 u. 1928. Neufassung Zürich 1961), einer sehr persönl. Deutung von Leben u. Taten Kolumbus’, u. mit den »Oasenbriefen« Himmel über wanderndem Sand (Mchn. 1931) von sich reden. Als Werk des antifaschistischen Widerstands wurde der Roman Das kleine Volk (Einsiedeln 1939) empfunden, das der Verteidigungsbe-
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reitschaft einer belg. Kathedralenstadt im Ersten Weltkrieg ein Denkmal setzt. Ein breit gefächertes Gemälde der bedrohten Schweiz zwischen 1933 u. 1945 liefert Die fremde Zeit (Zürich 1947), während Fedor (Zürich 1957), gepflegt u. stilsicher wie alle Texte K.’, das Schicksal eines apokryphen russ. Zaren aufrollt. Literatur: Bruno Mariacher (Hg.): ... Dichterisch wohnet der Mensch. Briefe, Erinnerungen u. Beiträge zum 70. Geburtstag v. G. K. Zürich 1954. Charles Linsmayer
Keckermann, Bartholomäus, * 1571/72 Danzig, † 25.7.1608 Danzig. – Reformierter Theologe u. Philosoph. K. entstammte einer Kaufmannsfamilie, die in den konfessionellen Konflikten Danzigs auf Seiten der Reformierten stand. Zum Studium wandte er sich nach dem damals vom Kryptocalvinismus beeinflussten Wittenberg (Immatrikulation 4.5.1590), dann nach Leipzig (Sommersemester 1592), schließlich nach Heidelberg (Immatrikulation 22.10.1592; Magister 27.2.1595). Danach wurde K. Lehrer am Heidelberger Pädagogium, 1597 auch am dortigen Collegium Sapientiae, u. bereitete junge Studenten auf den Besuch der Kollegien vor. Als Magister las er über Logik u. erhielt 1600 einen Lehrauftrag für hebräische Sprache. Privat behandelte er auch Themen der Dogmatik. Als Licentiatus theologiae (23.3.1602) folgte er einem Ruf an das berühmte u. viel besuchte Gymnasium seiner Heimatstadt. Gelegentlich hielt er hier wohl Predigten, lebte ansonsten aber als Konrektor zurückgezogen von äußeren Geschäften ganz seiner Wissenschaft. K.s Leistung ist zu verstehen im Problemkontext u. im Transformationsprozess der aristotel. Philosophie. Sein Interesse zielte v. a. auf die enzyklopäd. Ordnung des verfügbaren Wissens in der Symbiose von Theologie u. Philosophie. Religiös-katechetische u. kontroverstheolog. Momente traten ganz hinter dem Bemühen zurück, im Sinne einer methodologisch reflektierten »Neoscholastik« den gesamten Kreis der theoret. u. prakt. Philosophie in ein rational definiertes »System« zusammenzufassen. Ver-
knüpft wurde dabei die auf den Humanismus (Rudolf Agricola, Melanchthon) zurückgehende Technik der top. Wissenstheorie mit Anregungen des Paduaner Philosophen Giacomo Zabarella (1533–1589) u. des frz. Theoretikers Pierre de la Ramée (1515–1572). Auf Zabarella war K. von Freunden an der Universität Altdorf hingewiesen worden. K. drängte sich die Frage auf, wie ohne kanonische Textbindungen, also ohne ein Kommentationsverfahren älterer Art, das sich ausbreitende Feld des Wissens (»eruditio omnis divina et humana«) pädagogisch, methodisch u. analytisch aufzubereiten u. mittels subsumtionslogisch konzipierter Universalbegriffe bzw. axiomat. Leitsätze (»praecepta«) auf die jeweiligen Prinzipien der einzelnen Disziplinen zu beziehen war. Die Masse des noch nicht als Erkenntnis zu bewertenden Wissens, d.h. den Bereich aller mögl. Einzelphänomene (»cognitio singularium«), bezeichnete K. mit dem Begriff der »Historie«, die auf den Eingriff des systematisierenden Intellekts angewiesen ist. Den Rahmen für K.s enzyklopäd. Denken bot eine erweiterte Konzeption von »Philosophie«, die er final auf die »totius hominis perfectio« zugeordnet sah: als Grundlagenwissenschaft für alle Wissenschaften, als propädeut. Fach der akadem. Ausbildung u. als Prototyp von »Wissenschaft« überhaupt. Es war der Anspruch metaphys. Spekulation u. log. Rationalität, der für K. theoret. u. prakt. Disziplinen verklammerte. In der Verbindung method. Bewusstseins u. empir. Wissensakkumulation übte K. auf das enzyklopäd. Schrifttum der Folgezeit, bes. auf Johann Heinrich Alsted, einen bedeutenden Einfluss aus. Zu beachten sind weiterhin K.s bemerkenswerte u. zum Teil über die Orthodoxie hinausweisende theolog. Positionen (z.B. Verständnis der Theologie als prakt., d.h. operationaler Disziplin; Theorie der Trinität; Verselbstständigung der philosophischen Ethik) wie auch eine intensive Lehrtätigkeit auf dem Gebiet der »philosophia practica« (Ethik, Ökonomie, Politik). Sein als Systema systematum von Alsted herausgegebenes Gesamtwerk (2 Bde., Hanau 1613) bietet einen weit ausgreifenden Überblick über die Wissensbereiche u. das episte-
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molog. Verständnis seiner Zeit. Besondere Beachtung fand in neueren Forschungen (L. Danneberg) K.s Bedeutung für die systemat. Integration der neuzeitl. Hermeneutik in das aristotel. Wissenschaftssystem. Weitere Werke (Ort, wenn nicht anders angegeben: Hanau): Systema SS. Theologiae, tribus libris adornatum. 1603. 1607. – Praecognitorum Logicorum tractatus. 1606. – Systema Logicae, tribus libris. 1606. – Disputationes Philosophicae. Physicae Praesertim. 1606. – Contemplatio gemina, prior, ex generali Physica de loco: altera ex speciali, de terrae motu. 1607. – Gymnasium Logicum. id est de usu et exercitatione Logicae artis [...] libri 3. London 1606. Hanau 1608. – Systema ethicae tribus libris adornatum. 1607. 1619. London 1607. – Praecognita Philosophica. 1607 (darin: Brevis et simplex consideratio controversiae de pugna Philosophiae et Theologiae). – Systema disciplinae politicae. 1607 u. ö. – Disputationes Practicae, nempe Ethicae, Oeconomicae, Politicae. 1608. – Apparatus practicus. 1609. – Scientiae Metaphysicae compendiosum systema. 1609. – De natura et proprietatibus historiae Commentarius. 1610. –– Systema geographicum. 1611. – Opera Omnia. 2 Bde., Genf 1614. – Systema compendiosum totius mathematices [...]. 1617. – Edition: Brevis Commentatio nautica. Ed. Kazimiera Augustowska. Gdan´sk 1992. Literatur: Emil Menke-Glückert: Die Geschichtsschreibung der Reformation u. Gegenreformation. Bodin u. die Begründung der Geschichtsmethodologie durch B. K. Osterwieck 1912. Neudr. Lpz. 1971. – Paul Althaus: Die Prinzipien der dt. reformierten Dogmatik im Zeitalter der aristotel. Scholastik. Lpz. 1916. Neudr. Darmst. 1967. – Willem Hendrik van Zuylen: B. K. Sein Leben u. Wirken. Borna/Lpz. 1934. – Theodor Schieder: Briefl. Quellen zur polit. Geistesgesch. Westpreußens, 9 Briefe K.s. In: Altpreuß. Forsch.en 18 (1941), S. 262–275. – Otto Weber: Die Treue Gottes. Ges. Aufsätze. Neunkirchen 1968, S. 138–141. – Friedrich Goedeking: Die ›Politik‹ des Lambertus Danaeus, Johannes Althusius u. B. K. Eine Untersuchung der politisch-wiss. Lit. des Protestantismus zur Zeit des Frühabsolutismus. Diss. Heidelb. 1972. – Manfred Büttner: Die Geographia Generalis vor Varenius. Wiesb. 1973, S. 172–205. – Arno Seifert: Cognitio Historica. Die Gesch. als Namengeberin der frühneuzeitl. Empirie. Bln. 1976, bes. S. 96 ff. – Walter Sparn: Wiederkehr der Metaphysik. Die ontolog. Frage in der luth. Theologie des frühen 17. Jh. Stgt. 1976. – Joachim Staedtke: B. K. In: NDB (Lit.). – Wilhelm Kühlmann: Gelehrtenrepublik u. Fürstenstaat.
336 Tüb. 1982, passim. – Wilhelm Schmidt-Biggemann: Topica Universalis. Hbg. 1983, S. 89 ff. u. ö. – Ueberweg, Bd. 4/1 (2001), S. 407 f., 410–412. – Joseph S. Freedman: The Career and Writings of B. K. (d. 1609). In: Proceedings of the American Philosophical Society 141 (1997), S. 305–364, Bibliogr. S. 338–348. – Günter Frank: Die Vernunft des Gottesgedankens. Religionsphilosophische Studien zur frühen Neuzeit. Stgt.-Bad Cannstatt 2003, S. 175–220. – Lutz Danneberg: Kontroverstheologie, Schriftauslegung u. Logik als ›donum Dei‹. K. u. die Hermeneutik auf dem Weg in die Logik. In: Kulturgesch. Preußens kgl. poln. Anteils. Hg. Sabine Beckmann u. Klaus Garber. Tüb. 2005, S. 435–563 (grundlegend mit üppigen Literaturhinweisen u. Ausführungen zum intellektuellen Kontext). – Kees Meerhof: B. K. and the Anti-Ramist Tradition at Heidelberg. In: Späthumanismus u. reformierte Konfession. Hg. Christoph Strohm u. a. Tüb. 2006, S. 169–206. Wilhelm Kühlmann
Keerl, Johann Heinrich, * 4.2.1759 Heidenheim/Mittelfranken, † 22.1.1810 Ansbach. – Dramatiker, Lyriker, Übersetzer, Herausgeber. K., Sohn eines Klosterverwalters u. Kammerrats in Heidenheim, besuchte das Gymnasium in Ansbach, studierte in Erlangen die Rechte, wurde Hof- u. Regierungssekretär in Ansbach u. stieg 1795 zum Konsistorialassessor auf. Als die Markgrafschaft Ansbach 1806 zum Königreich Bayern kam, brachte er es bis zum Appellationsgerichtspräsidenten. K. heiratete am 9.5.1789 Anna Margarethe Messerer; seine Tochter Amalie, die spätere Frau des Archäologen Joseph Anselm Feuerbach, ist die Mutter des Malers Anselm Feuerbach. K. entfaltete neben seinen Amtspflichten eine rege schriftstellerische Tätigkeit. Vockes »Ansbachischer Geburts- und Todten-Almanach« verzeichnet allein zehn Werke von ihm. K. verfasste ein Trauerspiel u. zahlreiche Gelegenheitsgedichte, schrieb pädagog., juristische u. kulturgeschichtl. Schriften, übersetzte u. war Mitherausgeber der popularphilosophischen Zeitschriften »Fränkisches Archiv« u. »Anspachische Monathsschrift«. Seine Lieder und Gesänge [...] (Ansbach 1794) wurden mehrfach aufgelegt.
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K. gehört zum Kreis bayerischer Spätaufklärer; heute nahezu vergessen, war er weit über Ansbach hinaus eine bekannte u. geschätzte Persönlichkeit. Weitere Werke: Atabaliba oder der Sturz des Inka’s. Nürnb. 1788 (Trauersp.). – Fränk. Unterhaltungen zum Nutzen u. Vergnügen. 4 Bde., Schwabach 1790–94. – Empfindungen, Entschlüsse, u. Beschäftigungen gutgearteter Kinder. Ansbach 1794. – Houels Reisen durch Sicilien, Malta u. die Lipar. Inseln. 6 Tle., Gotha 1797–1809 (Übers.). – Gedichte. 2 Bde., Fürth 1802/03. – Siciliens vorzüglichste Münzen u. Steininschriften aus dem Alterthum. 2 Tle., Gotha 1802–05. Friedhelm Auhuber
Kegel, Max, * 6.1.1850 Dresden, † 10.8. 1902 München. – Lyriker, Satiriker, Journalist. K., unehel. Sohn einer Näherin, durchlief nach seiner Schulzeit eine Buchdruckerlehre u. bildete sich autodidaktisch in Volkswirtschaft u. Literatur weiter. 1869 trat er in die Sozialdemokratische Arbeiterpartei ein u. war, gefördert von August Otto-Walster, für die Arbeiterpresse (»Dresdner Volksbote«) tätig. Zwei Jahre später gründete er das sozialdemokratische Witzblatt »Der Nußknacker«, ein Beiblatt der »Chemnitzer Freien Presse«, deren Redaktion er 1873–1878 angehörte. Weitere Neugründungen von Presseorganen für die Arbeiterschaft ereilte immer wieder das Verbot, so auch 1881 »Hiddigeigei«, K.s satir. Beiblatt zur »Dresdner Abendzeitung«. Seit 1882, nach wiederholten Gefängnisstrafen in München ansässig, leitete er den »Süd-Deutschen Postillon« (bis 1888); danach war er Mitredakteur bei »Der wahre Jakob«. Beide satir. Blätter hatten einen größeren Abonnentenstamm als der »Kladderadatsch«. K.s schriftstellerisches Werk ist geprägt von seinen Erfahrungen in der sozialdemokratischen Pressearbeit. Neben dem Lustspiel Preßprozesse oder Die Tochter des Staatsanwalts (Zürich 1876) u. der Novelle Robert der Vereinsteufel (Mchn. 1883) verfasste er v. a. sozialkrit. Lyrik oft satir. Charakters, die er in den drei Bänden Freie Lieder (Chemnitz 1878), Sozialdemokratisches Liederbuch (Stgt. 1891) u. Gedichte (Stgt. 1893) zusammenfasste. 1889
würdigte er Ferdinand Lassalle in einer Gedenkschrift zu seinem 25jährigen Todestag (Stgt.). 1890 gab er die sozialkrit. Gedichtanthologie Lichtstrahlen der Poesie (Stgt.) heraus. Bekannt wurde K.s »Sozialistenmarsch« von 1891 zum Erfurter Parteitag; er löste Audorfs Arbeitermarseillaise ab. Ausgaben: M. K. Ausw. aus seinem Werk. Hg. Klaus Völkerling. Bln./DDR 1974. Literatur: Ursula Münchow: M. K. In: Dies.: Arbeiterbewegung u. Lit. 1860–1914. Bln./DDR 1981, S. 68–82. Günter Häntzschel
Kehlmann, Daniel, * 13.1.1975 München. – Erzähler, Essayist. Seit 1981 in Wien ansässig, studierte K., Sohn des Regisseurs Michael Kehlmann u. der Schauspielerin Dagmar Mettler, dort Philosophie u. Germanistik. Seine ersten beiden Romane, Beerholms Vorstellung (Wien/Mchn. 1997) u. Mahlers Zeit (Ffm. 1999), enthalten, ebenso wie die Erzählung Unter der Sonne (Wien/Mchn. 1998), formale Aspekte u. themat. Elemente, die auch in seinen späteren, erfolgreicheren Romanen eingesetzt werden. Dazu zählt neben dem Figurenrepertoire, das sich in einem akadem. Millieu situiert, etwa die Konstruktion einer Erzählsituation, die den Leser darüber im Unklaren lässt, ob er mit einem unzuverlässigen Erzähler oder einer fantastischen (erzählten) Welt konfrontiert ist. Auch im Roman Der fernste Ort (Ffm. 2001) bleibt lange unklar, ob der Erzähler deliriert (d.h. streckenweise unzuverlässig ist) oder ob die erzählte Welt von der bekannten Alltagswelt abweicht (d.h. fantastische Züge trägt). Die Protagonisten der frühen Romane sind Naturwissenschaftler (ein Mathematiker u. ein Physiker), die dem Topos des »mad scientist« nahe kommen; das Umfeld von Mahlers Zeit ist eine satir. Züge gewinnende universitäre Lebenswelt. Eine satir. Perspektive auf die Kunstgeschichte u. den Kunstbetrieb entwirft Ich und Kaminski (Ffm. 2003), K.s erster erfolgreicher Roman. Das Instrument des unzuverlässigen Erzählers wird auch hier eingesetzt; allerdings tariert K. die Darstellung des egoman. Erzählers, eines Kunsthistorikers, so aus, dass dem Leser früh die verzerrte Selbst- u. Weltwahrnehmung
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des Erzählers deutlich wird. Für den Maler Kaminiski, der dem Erzähler als Trittbrett für die eigene Karriere dienen soll, konstruiert K. eine Werkbiografie, die diesen in die reale Kunstgeschichte der Moderne einbettet; ein ähnl. Verfahren der Herstellung imaginärer Werke, das u. a. an Borges’ Pierre Ménard, autor del Quijote erinnert, findet sich auch in Unter der Sonne. Die Vermessung der Welt (Reinb. 2005), eine Doppelbiografie von Alexander von Humboldt u. Carl Friedrich Gauß in Romanform, war mit einer verkauften Auflage im deutlich siebenstelligen Bereich einer der großen Publikumserfolge der jüngeren dt. Literaturgeschichte, wurde in die meisten wichtigen Literatursprachen übersetzt u. stellte sich auch international als ein Verkaufserfolg dar. Eine der externen Erfolgsvoraussetzungen des Romans ist sicherlich in der Humboldt-Renaissance zu sehen, die im Sommer 2004 durch die Herausgabe des Kosmos von Hans Magnus Enzensberger eingeleitet wurde. In der Rezeption des histor. Romans, der zum Teil auch Züge eines Abenteuerromans trägt, wurde der Figur Humboldts häufig ein größeres Gewicht zuerkannt, gerade in seiner Verbindung mit Aimé Bonpland – ein ungleiches männl. Paar, das an Holmes u. Watson, Mason u. Dixon (in Pynchons gleichnamigen Roman) oder Ulises Lima u. Arturo Belano (in Bolaños Los detectives salvajes) erinnert. Die immer wieder hervorgehobene lakon. Ironie des Romans verdankt sich neben der Figurencharakterisierung v. a. dem genau kalkulierten Einsatz indirekter Rede des Erzählers. Der subtile Humor wird transportiert von einem ausgewogenen, von einfach strukturierten Sätzen getragenen Stil, der nicht moralisiert, häufig aber doch auf eine moralische, die »condicio humana« treffende Pointe zielt. Die im Band Wo ist Carlos Montúfar? Über Bücher (Reinb. 2005) gesammelten Essays u. Kritiken diskutieren die Poetik des Romans. Wichtige Problemfelder sind der moderne Roman als Medium der Ironie, die Erzählerhaltung im modernen Roman u. die mimet. Dimension der Literatur, die von K. mit Begriffen wie »Realismus«, »magischer Realismus« u. »Phantastik« angesprochen wird.
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Gerade das Verhältnis von Fiktivem, Faktischem u. Wahrscheinlichem spielt schon in den ersten Romanen K.s, in denen traumhafte u. halluzinator. Elemente prominent sind, eine wichtige Rolle. Eine ungebrochene Fabulierfreude kennzeichnet nämlich keineswegs nur den Autor K., sondern auch viele seiner Figuren, denen die konstruktive Kraft ihres (nicht als solchen durchschauten) Erzählens häufig zum solipsist. Verhängnis wird. Hervorzuheben sind zudem die Überlegungen zu der Zeichentrickserie The Simpsons, die skizzenhaft eine »doppelte Optik« des Kunstwerks entwerfen, das unterschiedl. Rezeptionsebenen aufweist u. derart eine hohe Popularität mit einem hohen Anspruch verbinden kann. In seinen krit. Urteilen über das Werk anderer Literaten bewegt sich K. in vorhersehbaren Bahnen; er orientiert sich weitgehend an hochkanonisierten Autoren, die ihm als Haltegriffe für die eigene Selbstverständigung zu dienen scheinen. Wie auch K.s Göttinger Poetikvorlesungen Diese sehr ernsten Scherze (Gött. 2007) deutlich machen, ist seine Prosa so sympathisch, weil sie Urbanität u. Weltläufigkeit ausstrahlt, eine Großzügigkeit u. Liberalität, die gelegentlich dazu neigt, sich etwas zu leicht mit den »idées reçues« abzufinden. In Ruhm. Ein Roman in neun Geschichten (Reinb. 2009) verknüpft K. neun Erzählungen, die sich auf z.T. abweichenden Fiktionsebenen ineinander spiegeln. Damit werden unterschiedl. Erzählebenen kurzgeschlossen (z.B. weiß eine Figur um ihre Fiktionalität u. von ihrem Autor, der sich selbst wiederum als fiktionale Figur herausstellt). Der souveräne Einsatz der narrativen Verschränkungen hat den Effekt, dass sich das literar. Werk auf sich selbst bezieht. Dieser Einsatz von Erzählmodellen der Selbstreferenz u. Rahmendurchbrechung rückt das Buch stellenweise in die Nähe von Formen ›romantischer‹ Ironie. Eine Verfilmung von Ich und Kaminski durch Wolfgang Becker ist angekündigt (Filmstart voraussichtlich 2010). K. war 2001 Gastdozent für Poetik an der Universität Mainz; im Wintersemester 2005/ 06 hatte er die Poetikdozentur an der FH Wiesbaden u. im Wintersemester 2006/07 die
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Poetikdozentur an der Universität Göttingen inne. Er erhielt u. a. 1998 den Förderpreis des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft, 2003 den Förderpreis des Österreichischen Bundeskanzleramtes, 2005 den Candide-Preis der Stadt Minden, 2006 den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung, den Heimitovon-Doderer-Preis u. den Kleist-Preis u. 2008 den Thomas-Mann-Preis (Lübeck). K. ist Mitgl. der Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Mainz, u. der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, Darmstadt. Weiteres Werk: Requiem für einen Hund. Ein Gespräch (zus. mit Sebastian Kleinschmidt). Bln. 2008. Literatur: Jakob Augstein: Der Handlungsreisende. In: Die Zeit, 24.11.2005. – Gustav Seibt: Eine Eule auf Panoramaflug. In: SZ, 15.12.2005. – Wolfgang Schneider: Der Kosmos des D. K. In: FAZ, 8.12.2006. – Alexander Honold: Ankunft in der Weltlit. Abenteuerliche Geschichtsreisen mit Ilja Trojanow u. D. K. In: NR (2007), H. 1, S. 82–104. – Olga Olivia Kasaty: Ein Gespräch mit D. K. In: Dies.: Entgrenzungen. Vierzehn Autorengespräche. Mchn. 2007, S. 169–195. – Marius Meller: Die Krawatte im Geiste. In: Merkur 61 (2007), H. 695, S. 248–252. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): D. K. (Text + Kritik. H. 177). Mchn. 2008. – Gunther Nickel (Hg.): D. K.s ›Die Vermessung der Welt‹. Materialien, Dokumente, Interpr.en. Reinb. 2008. – Henning Bobzin: D. K. In: KLG. Carlos Spoerhase
Keilson, Hans, auch: Alexander Kailand, Benjamin Cooper, * 12.12.1909 Bad Freienwalde. – Erzähler, Essayist, Lyriker. Der aus einer jüd. Familie stammende K. studierte Medizin u. Sport in Berlin. 1936 emigrierte er in die Niederlande, wo er sich während der Besetzung verborgen hielt u. als Arzt den Widerstand unterstützte. Vom Kriegsende bis 1979 leitete K. die Hilfsorganisation »Le Ezrad Ha Jeled« (für die Betreuung jüd. Waisenkinder). Nach mehrjähriger Tätigkeit als Kinderpsychiater an der Amsterdamer Klinik wirkte er als Psychoanalytiker in Bussum, wo er zahlreiche wissenschaftl. Schriften zu Problemen der Psychoanalyse verfasste (u. a. Sequentielle Traumatisierung bei Kindern. [...]. Stgt. 1979. Gießen 2005). 1986–1988 war K. Präsident des
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P.E.N.-Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland. 1933 erschien in Frankfurt/M. K.s autobiogr. Roman Das Leben geht weiter (Neuaufl. Ffm. 1984. 1995). Nach dem Krieg veröffentlichte er die Erzählung Komödie in Moll (Amsterd. 1948. Ffm. 1995), die in einer kühnen Gratwanderung zwischen Tragödie u. makabrer Komik Ereignisse aus antifaschistischem Widerstand u. Judenverfolgung schildert. Der bereits 1942 begonnene Roman Der Tod des Widersachers (Braunschw. 1959. Ffm. 1996), der in Deutschland zunächst nahezu unbeachtet blieb, fand in den USA große Zustimmung der literar. Kritik. Der fiktive Erlebnisbericht erzählt von der Hassliebe eines verfolgten Juden zu seinem »Widersacher«, dem faschistischen Diktator. Erst nach der Wiederveröffentlichung dieser Hauptwerke in den 1980er Jahren wurde K. auch in Deutschland als ein bedeutender Autor der dt.-jüd. Exilliteratur neu entdeckt. Nach zahlreichen essayistischen u. poetischen Beiträgen in Sammelwerken trat er mit dem Band Sprachwurzellos (Gießen 1987. 51998) auch als Lyriker hervor. Weitere Werke: Einer Träumenden. Poem. Gießen 1992. – Wohin die Sprache nicht reicht. Vorträge u. Essays aus den Jahren 1936–1996. Mit einem Nachw. v. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik. Gießen 1998. – Zerstörung u. Erinnerung. Gießen 1999. – Sieben Sterne. Reden, Gedichte u. eine Gesch. Mit einem Nachw. v. Gerhard Kurz. Gießen 2003. – Werke in zwei Bdn. Bd. 1: Romane u. Erzählungen. Bd. 2: Gedichte u. Essays. Hg. Heinrich Detering u. G. Kurz. Ffm. 2005. Literatur: Hans Kricheldorff: Metaphysik des Bösen. In: NDH 6 (1960). – Dierk Juelich (Hg.): Gesch. als Trauma. FS für H. K. Gießen 1997. – Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.): Vergegenwärtigungen des zerstörten jüd. Erbes. Franz-Rosenzweig-Gastvorlesungen Kassel 1987–1998. Kassel 1997. – Marianne Leuzinger-Bohleber u. W. Schmied-Kowarzik (Hg.): ›Gedenk u. vergiß – im Abschaum der Geschichte ...‹. H. K. zu Ehren. Tüb. 2001. – Roland Kaufhold: ›Das Leben geht weiter‹. H. K., ein jüd. Psychoanalytiker, Schriftsteller, Pädagoge u. Musiker. In: Ztschr. für psychoanalyt. Theorie u. Praxis 23 (2008), H. 1/2, S. 142–167. Heinrich Detering / Red.
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Keim, Franz, * 28.12.1840 Stadl-Paura/ Oberösterreich, † 26.6.1918 Brunn am Gebirge/Niederösterreich. – Dramatiker, Lyriker. Der Sohn eines Bahnhofswirts besuchte das Gymnasium in Kremsmünster u. studierte seit 1860 in Wien Jura, wechselte jedoch bald zu philologischen Studien u. hörte in Zürich u. a. bei F. Th. Vischer Vorlesungen, war aber aus finanziellen Gründen zum Abbruch des Studiums gezwungen. Nachdem K. verschiedene Berufe ausgeübt hatte (u. a. im Verwaltungsdienst in Triest, später als Hauslehrer u. Rechnungsbeamter), schloss er 1875 das Studium mit der Lehramtsprüfung ab. Bis zu seiner Pensionierung 1898 war er als Gymnasiallehrer in St. Pölten tätig; 1902–1913 lebte er als freier Autor in u. bei Wien, bevor er nach Brunn am Gebirge übersiedelte. Laubes Inszenierung der Sulamith (Wien 1875) verhalf K. 1876 zum Durchbruch als Dramatiker, der sich später in Anlehnung an Anzengruber u. Rosegger dem Volksstück mit Stoffen aus der Geschichte u. Sagenwelt der Wachau zuwandte (u. a. Die Spinnerin am Kreuz. Wien 1892). Der Gedichtzyklus Stefan Fadinger. Ein deutsches Bauernlied auf fliegenden Blättern (Wien 1885) beschreibt Situationen aus dem Bauernkrieg. Lieder aus der weiten Welt (Linz 1902) versammeln Balladen, Gelegenheitslyrik u. eine kleine Gruppe von oberösterr. Mundartliedern.
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dann als Theologieprofessor in Zürich u. seit 1873 in Gießen. Nach Forschungen zur schwäb. Reformationsgeschichte wandte er sich der Geschichte des Urchristentums u. bes. der Frage nach dem histor. Jesus zu, die zu seinem Lebensthema wurde. In Auseinandersetzung mit der Orthodoxie wie mit David Friedrich Strauß entwarf er in der Geschichte Jesu von Nazara (3 Bde., Zürich 1867–72) eine »menschliche Auffassung Jesu ohne Verzicht auf seine Hoheit«. Das Werk stellt nach dem Urteil Albert Schweitzers nicht nur eines der theologisch bedeutendsten »Leben Jesu« dar, sondern auch eine beachtliche künstlerische Leistung: »Schöneres und Tieferes hat niemand mehr über die Entwicklung Jesu geschrieben.« Die Kurzfassung Geschichte Jesu nach den Ergebnissen heutiger Wissenschaft für weitere Kreise übersichtlich erzählt (Zürich 1873. Bearbeitet 1875) erreichte breite Leserschichten; ihre literar. Wirkung reichte bis in die Konzeption von Wilhelm Raabes Roman Im alten Eisen. Weitere Werke: Die Reformation der Reichsstadt Ulm. Stgt. 1851. – Schwäb. Reformationsgesch. Tüb. 1855. – Der geschichtl. Christus. Zürich 1865 u. ö. – Eine Reihe v. Vorträgen. Zürich 1866. – Aus dem Urchristentum. Zürich 1878. – Rom u. das Christentum. Bln. 1881. Literatur: Albert Schweitzer: Gesch. der LebenJesu-Forschung. Tüb. 91984. – Eckhard Plümacher: K. T. K. In: Bautz. Heinrich Detering / Red.
Weitere Werke: Der Königsrichter. Lpz. 1879 (D.). – Aus dem Sturmgesang des Lebens. Ges. Dichtungen. Minden 1887. – Mephistopheles in Rom. Lpz. 1892 (D.). – Die Amelungen. Dresden 1904 (D.). – Ges. Werke. 5 Bde., Mchn. 1912 f.
Keiman, Christian, * 27.2.1607 Pankraz/ Böhmen, † 13.1.1662 Zittau; Grabstätte: ebd., St. Johanniskirche. – Pädagoge; Dramatiker u. Kirchenlieddichter.
Literatur: Zwei österr. Heimatdichter: F. K. u. Ottokar Kernstock. Ausw. mit Einl.en hg. v. Franz Wastian. Wien 1913. – Gerhard Ressel: F. K.s Leben u. Schaffen. Diss. Prag 1926. – Oskar Scholz: F. K. als Dramatiker. Diss. Wien 1928. – ÖBL. – Gerhard Winkler: F. K. In: NDB. – Goedeke Forts. Helmut Blazek / Hans Peter Buohler
Der Pfarrerssohn besuchte in Zittau, wohin sein Vater vor der Gegenreformation geflohen war, das Gymnasium. Seit 1627 studierte er in Wittenberg; dort förderten ihn der Klassische Philologe Erasmus Schmidt sowie Buchner, der die akadem. Rede veröffentlichte, die K. 1634 nach Erlangung des Magistergrads hielt (Oratio de exercitatione styli). 1634 berief die unter der Pest u. plündernden Soldaten leidende Stadt Zittau K. zum Konrektor ihres Gymnasiums; 1639 wurde er Rektor. Er wirkte erfolgreich für eine Reform des Gym-
Keim, (Karl) Theodor, * 17.12.1825 Stuttgart, † 17.11.1878 Gießen. – Theologe. Als Tübinger Student geprägt von der Theologie Baurs, wirkte K., Sohn eines Oberpräzeptors, 1856–1860 als Pfarrer in Esslingen,
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nasialunterrichts. 1651 wurde er zum Dichter – Theodor Gärtner (Hg.): Quellenbuch zur Gesch. des Gymnasiums in Zittau. Bd. 1, Lpz. 1905, gekrönt. K. verfasste vielbenutzte Schulbücher für S. 88–90. – Heiduk/Neumeister (Register). – WolfHerbst (Hg.): die Fächer Rhetorik, Logik u. Arithmetik. Die gang Dinglinger: C. K. In: Wolfgang Wer ist wer im Gesangbuch? Gött. 22001, S. 174 f. – griech. (Tabulae declinationum [...] apud Graecos. Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 973–978. Lpz. 1649. 31683) u. die lat. Grammatik Achim Aurnhammer (Enchiridion grammaticum latinum. Jena 1649) blieben – in den Redaktionen von Elias Weise Kein, Ernst (Aloysius), * 27.11.1928 Wien, (1666) u. Christian Weise (1681 u. ö.) – bis ins † 21.1.1985 Wien; Grabstätte: ebd., Ot18. Jh. Lehrbücher am Zittauer Gymnasium. takringer Friedhof. – Lyriker, Erzähler, Seine poetische Begabung nutzte K. in Feuilletonist, Hörspielautor. Merkversen zu pädagog. Zwecken. So verfasste er eine »Kleine Gedächtnüß-Bibel« K., Sohn eines Mechanikermeisters, war als Mnemosyne sacra (Görlitz 1656. Lpz. 21652) u. 16-Jähriger bei der Fliegerabwehr. Das Studie dreisprachige Sentenzensammlung Micae dium der Theaterwissenschaften, Publizistik evangelicae (Zittau 1655. Stettin 41687), die u. Psychologie in Wien beendete er kurz vor Hauptgedanken des NT je in einem griech., dem Abschluss. Er gehörte dem Kreis um die Zeitschrift »Neue Wege« (bis 1951) an u. lebte lat. u. dt. Epigramm resümiert. Für das Schultheater lieferte K. Spieltexte ab 1955 als freier Schriftsteller. Zusammen mit Artmann u. Rühm ist K. (Vier Schauspiele. Zittau 1657), häufig nach bibl. Stoffen. Dabei griff er auf Vorlagen zu- der Begründer einer neuen Wiener Dialektrück, die er übersetzte u. bearbeitete (Samuel dichtung. Seine scherzhaften Kurzgedichte nach Johann Förster, 1646; Susanna nach voll schwarzen Humors u. seine Glossen Frischlin, 1648), oder dichtete selbst (Junger (u. d. T. weana schbrüch, Herr Strudl u. Harbe Tobias. Freiberg 1641. Der neugebohrne Jesus, Sprüch in: Neue Kronen Zeitung. Weana den Hirten und Weisen offenbahret. Görlitz 1646. Schbrüch. Salzb. 1990) ließen K. als »Dichter Neudr. von Paul Markus in: Neues Lausitzi- ernster moderner Lyrik« (Okopenko) weitgesches Magazin 112, 1936, S. 21–75). In die hend in Vergessenheit geraten. Friedrich Stücke sind geistl. Lieder eingefügt. Die gro- Cerha vertonte u. d. T. Keintate (Urauff. 1983) ße Wertschätzung, die K. als Kirchenlied- Sprüche aus dem Wiener Panoptikum (Wien/ dichter (z.B. Freuet euch ihr Christen alle, Meinen Mchn. 1970) u. der Wiener Grottenbahn (ebd. Jesum laß ich nicht) bei den Zeitgenossen fand, 1972). K. erhielt 1958 u. 1976 den Österreichidauert bis heute fort. Weitere Werke: Historia Iohannis Baptistae schen Staatspreis, 1971 den Preis der Stadt heroico metro comprehensa. Wittenb. 1630. – Wien u. 1974 den Theodor-Körner-Preis. Rhetorica [...] versibus inclusa hexametris. [1639]. Lpz. 21659. – Compendium logices [1639]. Lpz. 2 1652. – Arithmetica practica. Görlitz 1639 (mit der Logik vereinigt zu: Paedia scholastica compendiosa. Görlitz 1648). – Rechen-Büchlein. Lpz. 1641. – Bearbeiter: Melchior Gerlach. Sententiarum sacrarum centuriae duae. Dresden 1635. – Johann Possel: Evangelia et Epistolae. Lpz. 1649. 1683. – Andreas Wittwer: Onomatographia consulum Zittanorum. Zittau 1656. – Gideon Hoffmann: WechselBüchlein. Zittau 1658. – Augustin Preis: Analysis evangeliorum. Zittau 1659. – (Gelegenheitsgedichte, Programme u. Reden in der Stadtbibl. Zittau). Literatur: Christian Weise: Memoria Christiani Keimani. Zittau 1689. – Heinrich Julius Kämmel: C. K. Programm Zittau 1856. – Ders.: C. K. In: ADB.
Weitere Werke: Alltagsgesch.n. Wien 1959. – Die Meute. Salzb. 1961 (E.en). – Die Verhinderung. Salzb. 1966 (R.). – Kein Buch. Bln. 1967. Wien 1998. – Ausflug zur Grenze. Wuppertal/Barmen 1970. – Wohnhaft in Wien. Wien/Mchn. 1976 (Skizzen). – Die kleinen Freuden der Wiener. Wien/Mchn. 1983. – Wirtshausgesch.n. Wien/Mchn. 1986. – Die dritte Art von Raserei. Visuelle Gedichte [mit einer Vorbemerkung von Andreas Okopenko]. In: protokolle (1988), H. 2, S. 42–69. – Kein Buch. Sprüche, Lieder u. Gesch.n. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. Maria Fialik. Wien 1998. Literatur: Andreas Okopenko: E. K.s hochsprachige Lyrik. In: Freibord, H. 57 (1987) S. 74–94 (mit bisher unveröffentl. Gedichten). – Gerhard
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Zeillinger: Ein Buch, das hält. Das ›Kein-Buch‹ v. E. A. K. In: LuK 34 (1999), H. 331/332, S. 81 ff. Martin Grill / Red.
Kelin. – Fahrender Sangspruchdichter des mittleren 13. Jh. Die Jenaer Liederhandschrift (J) überliefert an vierter Stelle, nach Stolle u. Bruder Wernher, unter »Meister kelyn« ein Corpus von 26 Strophen in drei Tönen mit den Melodien. Den Redaktoren von J galt K. als Erfinder der Töne, nicht unbedingt als Autor aller Strophen. Wenige Sprüche erlauben biogr. Schlüsse: III 8 ist ein Gruß aus der Ferne an den bedeutenden Ministerialen Volkmar II. von Kemnat in Schwaben (urkundlich 1230 bis mindestens 1276, evtl. 1282), dem der Dichter, der sich hier explizit zu den »gernden« zählt, bereits drei (verlorene) »lobeliet« gewidmet hatte (später gedenkt Rumelant von Schwaben Volkmars rühmend). III 6 u. III 10 sind während des Interregnums verfasst, vermutlich 1254 u. 1257 oder wenig später. Von den in II 3 u. III 4. 6. 8 erwähnten Personen- u. geografischen Namen weist keiner in nördl. Gegenden Deutschlands; die auffallende mitteldt. bzw. niederdt. Färbung anderer Strophen (bes. I 3. 5–8; III 1) kann schwerlich als Spur überarbeitender Tradierung gedeutet werden. Der Name »Ke(n)lin« ist im 13./14. Jh. im Südwesten des Reichs bezeugt. Das gleiche Corpus wie in J war in einer engverwandten mitteldt.-niederdt. Liederhandschrift von ca. 1350 mit Melodien enthalten (Reste in Basel; dort mit dem Anfang der Name verloren). Sonst ist nur der strophenreichste Ton III nachgewiesen: Im Marner-Corpus der Großen Heidelberger Liederhandschrift (C) stehen mit der zeitgenöss. Beischrift »ke¯li« vier Strophen (darunter III 11–13), im Bruchstück einer etwa gleichzeitigen Liederhandschrift in Maastricht namenlos III 3. 5, in der St. Katharinentaler Liedersammlung (zweites Viertel 15. Jh.) anonym ein Mariengebet, unter »Frauenlobs Hundweise« in der Kolmarer Liederhandschrift ein Marienlied mit Melodie sowie fünf Strophen (darunter III 5, die Fabel vom Hund am Wasser, aus der sich der Tonname erklärt)
sowie dasselbe Marienlied mit Melodie in der Donaueschinger Liederhandschrift. Den Nürnberger Meistersingern wurde der Ton im späten 16. Jh. als »Frauenlobs Hundsfüßweise« bekannt. Die Töne I u. II gehören nach Form u. Melodie zu den Kanzonen mit drittem Stollen (AAbA) – ein Bautyp, der von Sangspruchdichtern gegen die Mitte des 13. Jh. aus der Lieddichtung übernommen wurde. Der ambitionierte Ton III zeigt den von Walther von der Vogelweide in seinen Spruchtönen eingeführten, später kaum mehr verwendeten Bau AABB. Als Dichter der vier Strophen dieses Tons im Marner-Corpus C betrachtet die neuere Forschung einhellig den Marner. Strittig ist, wer den Ton geschaffen hat. Traut man der Zuweisung in J, wo im Gegensatz zu C das Tonautorprinzip herrscht, u. stammt überdies der Gönnergruß III 8 von K., so wird man K. für den Erfinder halten. (Der Marner ›kreuzt‹ in zwei Tönen, die er am häufigsten gebrauchte, die Bautypen AABB u. AAbA.) Die Beischrift »ke¯li« in C lässt sich dann als ergänzender Hinweis auf den Tonautor verstehen (analog der Beischrift »alt stolle« zum vorangehenden Strophenpaar des Marner in Stolles Alment). Die Strophen behandeln typische Themen der Fahrendendichtung. Geistliche Sprüche sind selten; der Ehrgeiz, sich durch Darbietung gelehrten Wissens zu profilieren, fehlt. Stark ausgeprägt ist die Rolle des mahnenden, moralisch belehrenden, scheltenden u. sich seiner »kunst« bewussten Ich. Die gottgefällige »milte« u. ihr Gegenteil werden unter verschiedensten Blickwinkeln besungen, die desolate Gegenwart an idealen früheren Zeiten gemessen. Ungewöhnlich ist der scharfe Tadel der Männer, die »die süezen wîp« verleumden, statt ihr Lob zu mehren (I 7). Genutzt wird u. a. die Fabel (III 5), die Rätselform (I 3. 9), der Dialog (III 3–4, Frau Ehre u. die Schande). Die Syntax ist klar; stilistisch am anspruchsvollsten sind die Strophen des Tons III. Ausgaben: Friedrich Heinrich v. der Hagen (Hg.): Minnesinger. 4 Tle., Lpz. 1838. Tl. 3, S. 20–25, 408; Tl. 4, S. 780–782. – Wangenheim (s. Lit.), zitiert; zu ergänzen: Tervooren/Bein (s. Lit.). – Weitere Nachweise, bes. zu den nicht in J überlie-
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343 ferten Strophen in Ton III, in: RSM 4 (s. Lit.). – Hinzu kommen: Geistl. Gesänge des dt. MA. Melodien u. Texte handschriftl. Überlieferung bis um 1530. Hg. Max Lütolf u. a. Bd. 2 ff., Kassel u. a. 2004 ff., Nr. 232. 498. 507. – Willms (s. Lit.). – Kornrumpf (s. Lit.). – Spruchsang. Die Melodien der Sangspruchdichter des 12. bis 15. Jh. Hg. Horst Brunner u. Karl-Günther Hartmann. Kassel u. a. (im Druck). Literatur: Wolfgang v. Wangenheim: Das Basler Fragment einer mitteldt.-niederdt. Liederhs. u. sein Spruchdichter-Repertoire (Kelin, Fegfeuer). Bern/Ffm. 1972; dazu Georg Objartel, in: ZfdPh 93 (1974), S. 464–469. Zu S. 41 f. (Volkmar v. Kemnat) ergänze: Alfred Schröder: Das Bistum Augsburg. Bd. 7, Augsb. 1906–10, S. 208–217, 263–278. – Horst Brunner: Die alten Meister. Mchn. 1975. – Helmut Lomnitzer: K. In: VL (Lit.). – Helmut Tervooren u. Thomas Bein: Ein neues Fragment zum Minnesang u. zur Sangspruchdichtung. In: ZfdPh 107 (1988), S. 1–26, bes. S. 7, 10, 18 f. – RSM 4. Bearb. v. Frieder Schanze u. Burghart Wachinger. Tüb. 1988, S. 169–175, 272 f. (Lit.); ergänze: RSM 1, Tüb. 1994, S. 25. – Stefan Hohmann: Friedenskonzepte. Köln 1992. – Johannes Rettelbach: Variation – Derivation – Imitation. Untersuchungen zu den Tönen der Sangspruchdichter u. Meistersinger. Tüb. 1993. – Tomas Tomasek: Das dt. Rätsel im MA. Tüb. 1994. – Jens Haustein: Marner-Studien. Tüb. 1995, bes. S. 39–41, 72–77, 169–171. – Michael Baldzuhn: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Tüb. 2002, S. 177–179. – H. Brunner: K. In: MGG, Personenteil. – Freimut Löser: Reich, Individuum, Religion: Daniel 2,31–45 in der Sangspruchdichtung. In: Eine Epoche im Umbruch. Hg. Christa Bertelsmeier-Kierst u. a. Tüb. 2003, S. 267–289. – Shao-Ji Yao: Der Exempelgebrauch in der Sangspruchdichtung. Würzb. 2006. – Eva Willms: Der Marner. Lieder u. Sangsprüche aus dem 13. Jh. u. ihr Weiterleben im Meistersang. Bln./New York 2008, bes. S. 28–30, 65–71, 157–166, 398 f. – RSM 2, 1 u. 2. Bearb. v. J. Rettelbach. Tüb. 2009. – Gisela Kornrumpf: Die St. Katharinentaler Liederslg. In: Dies.: Vom Codex Manesse zur Kolmarer Liederhs. II. Tüb. (im Druck). – J. Haustein u. Franz Körndle (Hg.): Die Jenaer Liederhs. Bln./New York (im Druck). Gisela Kornrumpf
Kellein, Sandra, 24.10.1958 Nürnberg. – Verfasserin von Theatertexten, Hörspielen u. Feuilletons. K. studierte Germanistik u. Psychologie in Hannover, bevor sie 1987 nach Berlin um-
siedelte, wo sie seitdem als freie Schriftstellerin lebt. Neben Romanen u. Erzählungen verfasst sie Theaterstücke u. Hörspiele. K. legt den themat. Schwerpunkt ihrer Prosa auf zwischenmenschl. Kommunikation, die durch Medien in jegl. Form beeinflusst ist. So behandeln ihre Texte unterschiedl. Wahrnehmungsweisen, die sich z.B. aus dem Fernsehen oder dem Radio generieren. Dabei weisen die innere Struktur sowie ihre Sprachwahl z.B. mit Ellipsen, doppelten Bedeutungsebenen u. Wortspielen, in das surrealistische Schreiben. Für die Autorin ist es ein Mittel, um v. a. die Kommunikationsprobleme ihrer Protagonisten zu versinnbildlichen. In den drei Erzählungen in Die Liebe im Ausland (Stgt. 1992) behandelt K. die Begegnung zwischen Menschen. Anhand von drei Lebensentwürfen führt sie dem Leser Sprachbarrieren u. die Suche nach einer gemeinsamen Sprache vor. So begegnen sich die Menschen in einer transsibir. Eisenbahn, im Bett u. durch eine Kontaktsendung im Fernsehen. Thematisch arbeiten die Texte auf die Ich-Erzählung Hochformat hin, mit dem K. 1993 den Ernst-Willner-Preis beim IngeborgBachmann-Preis gewann. 1995 erschien K.s. erster Roman Khaki und federn (Bln.), der während des Ersten Golfkriegs 1991 spielt. In diesem, in Cut upTechnik erzählten Text verbindet die Autorin Kriegsberichterstattung der Medien mit dem alltägl. Leben zweier Frauen in Berlin. In Gold oder Rabenschwarz (Bln. 1996) widmet sie sich dem Sujet von Fremd- u. Vertrautheit der Menschen nach der dt. Wiedervereinigung. Nach dem Mauerfall zieht die Ich-Erzählerin mit ihrer Freundin Magret von West- nach Ostberlin, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Das »Nicht-angekommen-sein« sowie die Suche nach einer Identität der Ostbürger werden hier aus der Sicht Westdeutscher in Ostdeutschland verkehrt. Der Roman ist als moderner Entwicklungsroman konzipiert, dessen Figurenzeichnung sich stark an den Frauen aus Khaki und federn anlehnt. 1998 erschien Die Erfindung von Amerika (Bln.), 14 voneinander unabhängige Erzählungen, die in verschiedenen Ländern angesiedelt sind. Der Titel verweist nicht auf individuelle Erfahrungen u. Assoziationen, die
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man mit dem Kontinent Amerika verbindet, sondern auf die Vorstellungen, die man sich davon macht: Man erfindet sich ein individuelles Amerika. Dabei vermischen sich in den Geschichten, die sich mit Zeit- u. Ortlosigkeit auseinander setzen, auf stilistisch gekonnte Weise Faktizität u. Fiktion. Von der Literaturkritik wird K. als eine der begabtesten Sprachkünstlerinnen unter den zeitgenöss. deutschsprachigen Autoren bezeichnet. Sie ist Mitgl. des Verbands Deutscher Schriftsteller. K. erhielt u. a. 1990 das Alfred-Döblin-Stipendium u. 2002 ein Stipendium der Stiftung Preußische Seehandlung. 1997 war sie »artist-in-residence« am College von Colorado (USA). Literatur: Charlotte Brombach: S. K.In: LGL. Ingo Langenbach
Keller, Gottfried, * 19.7.1819 Zürich, † 15.7.1890 Zürich; Grabstätte: ebd., Friedhof Sihlfeld. – Lyriker, Erzähler u. Romancier. K. wuchs mit seiner drei Jahre jüngeren Schwester Regula in bescheidenen Verhältnissen auf. Der frühe Tod (1824) des Vaters, eines angesehenen Drechslermeisters, u. der Verweis von der Schule im Alter von 15 Jahren drängten den jungen K. in ein – zwar begeistertes, aber zutiefst verunsichertes – Autodidaktentum. Er sah sich zum Maler berufen, u. unter großen finanziellen Opfern ermöglichte ihm die Mutter, 1840 zur Ausbildung in die Künstlerstadt München zu reisen. Der Aufenthalt war jedoch von materieller Not u. verzweifeltem künstlerischen Bemühen gezeichnet; 1842 kehrte K. niedergeschlagen nach Zürich zurück. Angeregt vom »Ruf der lebendigen Zeit«, einem radikalen Liberalismus, wandte sich K. im Kreis von August Follen, Herwegh, Hoffmann von Fallersleben u. Freiligrath schriftstellerischer Tätigkeit zu; 1846 erschien der Band Gedichte (Heidelb.). Mit K.s Liebe zu Henriette Keller begann eine lange Reihe durchweg unglückl. Liebschaften (Marie Melos, Luise Rieter, Johanna Kapp, Betty Tendering, Luise Scheidegger). 1848 erhielt K. ein Stipendium der Zürcher Regierung u. zog nach Heidelberg. Er hörte Henles Anthropolo-
gische Vorträge (verändert Braunschw. 1876/80) u. Literaturgeschichte bei Hettner, seinem späteren Freund u. Briefpartner. Entscheidend für sein zukünftiges Schaffen war die Begegnung mit Feuerbach. K. besuchte dessen Vorlesungen über das Wesen der Religion u. fasste ihre Wirkung zusammen: »Ich werde tabula rasa machen (oder es ist vielmehr schon geschehen) mit allen meinen bisherigen religiösen Vorstellungen, bis ich auf dem Feuerbachischen Niveau bin« (28.1.1849 an Baumgarten). Feuerbachs anthropolog. Materialismus, welcher der Natur den Geist austrieb, sie auf die Sinnlichkeit reduzierte u. dem Menschen die Unsterblichkeit absprach, ließ K. mit Folgeproblemen zurück, die Natur, Mensch u. Ethik betrafen. Wohl vor diesem Hintergrund sprach er mit dem Blick auf die Literatur der Klassik u. Romantik vom »riesenschnellen Verfall der alten Welt« (4.3.1851 an Hettner). Ein weiteres Stipendium ermöglichte K. 1850 die Reise nach Berlin. Die folgenden fünf Jahre waren die weitaus fruchtbarsten in K.s Leben. 1851 erschien der Band Neuere Gedichte (Braunschw.), 1853 entstand die erste Fassung des Apothekers von Chamouny. Das Hauptwerk dieser Jahre ist jedoch der Roman Der grüne Heinrich (4 Bde., Braunschw. 1854/ 55), dessen Entstehung sich über fünf qualvolle Jahre hinzog. Leichter gelangen die Erzählungen, die den ersten Band der Leute von Seldwyla (Braunschw. 1856) ausmachen. Das Drama Therese blieb Fragment; zeitlebens hoffte K., als Dramatiker hervorzutreten, musste sich aber damit begnügen, als »Shakespeare der Novelle« (Heyse) gefeiert zu werden. 1855 kehrte K. nach Zürich zurück u. war finanziell erneut von seiner Mutter abhängig. Ein Lichtblick dieser dichterisch eher unproduktiven Jahre war der Verkehr mit Friedrich Theodor Vischer, Gottfried Semper, Paul Heyse u. Richard Wagner. 1861 trat die große Wende ein: K. übernahm das Amt des ersten Staatsschreibers. Pflichterfüllt diente er der Öffentlichkeit 15 Jahre lang u. bemühte sich, seine Schuld gegenüber der Mutter († 1864) u. der Schwester, die ihm die Haushälterin ersetzte, abzutragen. 1870–1881 arbeitete er frühere Entwürfe aus. 1872 erschienen die
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Sieben Legenden, 1874 Die Leute von Seldwyla in vier Bänden u. 1877 Züricher Novellen (alle Stgt.). 1876 trat K. von seinem Amt zurück u. widmete sich der Neubearbeitung des Grünen Heinrich (Stgt. 1879/80). Schließlich folgten 1881 Das Sinngedicht, 1883 Gesammelte Gedichte u. 1886 der Roman Martin Salander (alle Bln.). Diese Jahre wurden bereichert durch den Briefwechsel mit Storm u. Heyse sowie die Freundschaft mit Böcklin. Nach 1882 verschlechterte sich K.s Gesundheitszustand zusehends; zwei Jahre nach seiner Schwester starb er. K. ist einer der wichtigsten Vertreter des bürgerl. Realismus. Der Einfluss der Romantiker weicht zunächst einem von Goethe inspirierten Weltbild, derjenige Jean Pauls besteht in gewandelter Form fort. Nach der Begegnung mit Feuerbach entwickelte K. ein bejahendes u. zgl. krit. Verständnis menschl. Existenz. Immer wieder kreisen K.s Werke um das Individuum innerhalb des gesellschaftl. Systems. Hauptthemen sind individual- u. sozialpsycholog. Prozesse, lebensbestimmende Faktoren wie Armut, Familienleben, Erziehung, Arbeit u. bes. die Frage, inwiefern sich individuelle Natur in das kulturelle Gefüge, die bürgerl. Ordnung einordnen kann oder soll. Im Sinne des poetischen Realismus besteht K. einerseits auf einer Kunst, die den zeitgenöss. Gegebenheiten entspricht, der »Dialektik der Kulturbewegung« Rechnung trägt, andererseits verteidigt er die »Reichsunmittelbarkeit der Poesie«. Aus der Spannung beider entsteht der spezif. Humor K.s. K.s Bekenntnis zu einer gesellschaftlich engagierten Kunst zeigt sich v. a. in seiner zugängl. Erzählweise. Einfache Formen – Dorfgeschichte, Märchen, Parabel – verbinden sich mit humoristisch gefärbter Erzählhaltung, die sich gerne der Umgangssprache, sprichwörtl. Wendungen u. leicht fassl. Symbolik u. Allegorik bedient. Sein Schaffen zeigt z.T. stark ausgeprägte didakt. Züge: »Liederliche« Subjektivisten entwickeln sich zu verantwortungsbewussten Bürgern. K. verwahrt sich jedoch gegen eine unreflektierte Idealisierung u. Idyllisierung. So schloss er etwa seine didaktisch angelegten Kalendergeschichten Der Wahltag u. Verschie-
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dene Freiheitskämpfer von seiner Werkausgabe von 1889 aus. Bis ins 20. Jh. wurde K.s Werk als intensivstes dichterisches Erfassen der Wirklichkeit gefeiert. Allerdings bemerkte bereits Storm, dass K.s Erzählweise etwas Befremdendes anhängt – »er hat keinen Glauben an das, was er vorträgt«. Er wies damit auf Spannungen hin, welche die K.-Forschung im 20. Jh. aufgriff. Die Problematik des tragisch gespaltenen Künstlers, dessen fast zwergenhafter Wuchs geradezu symbolisch für das Gefühl der Unzulänglichkeit steht, Triebhaftigkeit u. ödipale Verdrängung wurden in den Mittelpunkt gerückt, wobei sowohl dem psych. Schulderlebnis als auch dem materiellen Schuldverhältnis eine zentrale Rolle zukommt. In Hinsicht auf die Stilhaltung hat sich die Akzentuierung von K.s versöhnendem Humor eingebürgert, zgl. wurden die grotesken, skurrilen Züge u. K.s Misstrauen gegenüber der Literatur hervorgehoben. Diese Tendenzen dienten einem neuen Verständnis von K.s Kunst, die in ambivalenter Weise sich gesellschaftlich u. künstlerisch verpflichtet u. zgl. ironisch gebrochen von ihren Verbindlichkeiten distanziert. Der grüne Heinrich ist stark autobiografisch geprägt. Die zweite Fassung ist eine reine IchErzählung: Heinrich Lee verliert in jungen Jahren den Vater u. wächst in mütterl. Obhut auf. Seine Einbildungskraft kompensiert – v. a. nach dem Verweis von der Schule – die bedrückende Wirklichkeit. Während der ländl. Aufenthalte bei Verwandten entfaltet sich seine Liebe zu Anna u. Judith. Anna spricht den »besseren geistigeren Teil« an, während er in der älteren u. sexuell erfahrenen Judith leibhafter Wirklichkeit begegnet. Nach dem Tod der kränkl. Anna scheidet er auch von Judith, die nach Amerika auswandert. In München versucht er, als Kunstmaler Karriere zu machen. Aber seine Versuche sind einerseits in einem leblosen Detailrealismus befangen, andererseits sind sie bloß das »Herausspinnen einer fingierten, künstlichen, allegorischen Welt aus der Erfindungskraft«. Entmutigt beschließt Heinrich, in die Schweiz zurückzukehren. Unterwegs lernt er Dortchen Schönfund kennen, bringt es aber nicht über sich, ihr seine Liebe zu er-
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klären. Zu Hause angelangt, findet er die Mutter dem Sterben nahe. Er sucht seine Schuldgefühle abzutragen, indem er ein Amt übernimmt. Mit der aus Amerika zurückgekehrten Judith vereinigt ihn ein »Bund«, eine Art entsagender Liebe. So findet die zweite Fassung ihren versöhnlichen, wenngleich melanchol. Ausgang. – Die erste Fassung ist hauptsächlich als Er-Erzählung konzipiert u. fängt mit Heinrichs Reise nach München an. Die Münchner Episoden werden durch den langen Einschub seiner »Jugendgeschichte« (in Ich-Form) unterbrochen. Er kehrt desillusioniert in die Schweiz zurück. Die Mutter ist bei seiner Ankunft bereits tot. Von Schuldgefühlen heimgesucht, findet er keinen Willen zum Leben mehr; der Roman schließt mit seinem Tod. Verglichen mit der zweiten Fassung (vgl. die Paralleldarstellung auf http://www.gottfriedkeller.ch) ist die erste leidenschaftlicher u. farbenreicher. Die Angriffe auf Kirche, Schule u. Staat sind heftiger, die berühmte Badeszene bringt Judiths Sinnlichkeit stärker zur Geltung. Beiden Fassungen gemeinsam ist die Heinrichs Lebenserfahrung durchziehende Problematik des Verhältnisses zwischen Realität u. Einbildungskraft. Der zweiten Fassung kommt bes. Bedeutung zu, indem mit der durchgehaltenen Ich-Erzählung die Frage nach einer der sozialen u. psycholog. Erfahrung adäquaten Schreibweise grundsätzlich thematisiert wird. Eingefügte Parallelgeschichten u. allegor. Gestalten variieren Heinrichs Lebensweg, tragen bei gleichzeitiger Verdichtung der Motivverweise zu einem Abbau von Zielvorstellungen bei u. werfen die Frage nach einem realistischen Erzählen auf. Im Zyklus Die Leute von Seldwyla stehen Parabel, Märchen, Satire, realistische Erzählungen nebeneinander u. setzen sich mit gesellschaftl. Bedingungen u. Normen, mit moralischen u. eth. Werten auseinander. Seldwyla ist z.T. nach schweizerischen Urbildern modelliert, fungiert aber als utopisch konstruierter Schauplatz, auf dem der trag. oder kom. Konflikt gegensätzl. Kräfte ausgetragen wird. In Pankraz der Schmoller oder Frau Regel Amrain und ihr Jüngster stehen die Werte des bürgerl. verantwortungsvollen Lebens,
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persönl. Entsagung u. Einfügung in die kollektive Ordnung, in scharfem Gegensatz zum Seldwyler Ethos einer sorglosen Gemütlichkeit. Ebenso kontrastiert Die drei gerechten Kammacher, eine meisterhafte Mischung von Parabolik u. Groteske, das unmenschlich zielstrebige Arbeitsethos der drei Außenseiter mit der ebenso entwürdigenden frivolen Lebensweise der Seldwyler. Das Märchen Spiegel, das Kätzchen spricht von der Macht des Geldes. – K.s erzählerische Stellungnahme ist oft keineswegs eindeutig, sondern ambivalent. Pankraz zeigt zwar die Struktur der Besserungsnovelle, verschweigt aber nicht den seel. Preis der Selbstbezwingung: den Verlust persönl. Glückserfüllung. Unauflösbare Widersprüchlichkeit spiegelt sich v. a. in Romeo und Julia auf dem Dorfe. Die Dorfgeschichte, die das Shakespearesche Motiv »in neuem Gewande« verarbeitet, durchleuchtet den Konflikt zwischen Leidenschaft u. bürgerl. Ordnungsbedürfnis, der die Liebenden in den Tod treibt. In vielfachen Variationen durchziehen die Motive »wild« u. »ordentlich« die Erzählung. – Wie die Einleitung zum zweiten Band darlegt, ist sich K. als Erzähler in den 1870er Jahren durchaus bewusst, dass die prosaische Wirklichkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems keinen poetischen Nährboden gewährt; er sucht daher in »den guten alten Tagen« eine erzählerische »Nachernte« zu halten. Die nachfolgenden Geschichten feiern jedoch keineswegs eine heile Welt, sondern greifen gesellschaftskrit. Thematik auf. In Kleider machen Leute geht es um die Rolle des Scheins innerhalb der gesellschaftl. Wirklichkeit u. die Frage, inwiefern überhaupt noch von authent. Sein gesprochen werden kann. Der Schmied seines Glückes belustigt sich über die fehlschlagenden Berechnungen von John Kabys, wirft aber zgl. in der Figur Adam Litumleis ein krit. Licht auf die Gründerzeit. Die mißbrauchten Liebesbriefe rechnen satirisch mit einer vom Novellenfieber erfassten Kultur ab. Dietegen u. Das verlorene Lachen lassen die Kraft der Liebe über persönl. Zwist u. historisch-kulturelle Krisen siegen, sodass das düstere Weltbild des Seldwyla-Zyklus am Ende einer versöhnenden Perspektive weicht.
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Die Sieben Legenden waren z.T. bereits 1858 entworfen. Der Zyklus bekundet den Einfluss Feuerbachs: K. dichtet Kosegartens fromme Legenden (1804) in heiter parodistischer Weise um u. durchbricht ideolog. Denkmuster. Das Heilige wird humanisiert – die Mutter Gottes greift verständnisvoll in menschl. Wirren ein. In seiner poetischen Ausgelassenheit wendet sich der Zyklus gegen den »Terrorismus des äußerlich Zeitgemäßen« (19.5.1872 an Vischer). Beachtenswert ist v. a. das abschließende Tanzlegendchen. Der christl. Himmel wird vom fröhl. Treiben der heidn. Musen erfüllt, u. die Hl. Jungfrau will dafür sorgen, dass sie im Paradies bleiben können. Aber beim Gesang der Musen geraten die Himmlischen derart außer Rand u. Band, dass die »allerhöchste Trinität« die Musen für immer verbannt. Damit bricht die anvisierte Synthese von musischem Eros u. christl. Ordnung letztlich auseinander. Die Züricher Novellen bestehen aus fünf Novellen u. einer Rahmengeschichte, die nur die ersten drei Erzählungen umspannt. Hadlaub erzählt, wie die Manessische Liederhandschrift zustande kam, u. schildert die Liebe, die Hadlaub u. Fides über alle Klassenunterschiede hinweg zusammenführt. Der Akt sorgsamen Sammelns u. Bewahrens des Kulturguts sticht ab gegen die zerstörerischen geschichtl. Mächte, die im Hintergrund spürbar werden. Die Erzählung beeindruckt v. a. durch die subtil arrangierten Motive von Helle u. Dunkelheit, eine Metaphorik, die auch im Narr auf Manegg die Handlung symbolisch untermauert: Düstere Kräfte u. geschichtl. Wandel können das strahlende Licht der kulturellen Leistung nicht zerstören. Der Landvogt von Greifensee spricht in milder Resignation vom verpassten u. doch kostbaren individuellen Leben. Der Junggeselle Salomon Landolt vereint an einem Tag die fünf geliebten Frauen seines Lebens um sich; in sich geschlossene Kapitel bringen uns in bewegendem Detail die Frauengestalten näher. Wiederum durchziehen helle u. dunkle Motive die Erzählung u. spiegeln die Vergänglichkeit menschl. Existenz. – Die Rahmengeschichte ist didaktisch angelegt, stellt jedoch zgl. bildende Kräfte in Frage: Unter der Leitung des Oheims wird Jacques zwar von
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seiner Sucht, ein Original, der Ovid des 19. Jh. zu werden, geheilt, aber als Verwalter von Stipendien fördert er später v. a. künstlerische »Bescheidenheit«, d.h. Mittelmäßigkeit. Auch im Fähnlein der sieben Aufrechten ist der didakt. Einschlag nicht zu übersehen. Die Geschichte huldigt einem optimistischen Patriotismus, den K. später als bereits überholt empfand. Ursula nimmt abschließend die Motive von Hell u. Dunkel wieder auf: Die Kraft der Liebe u. der in Zwingli verkörperten Menschlichkeit siegt über die Dunkelheit religiöser Wirren u. persönl. Zwistes. Das Sinngedicht, ein höchst kunstvoller Novellenzyklus, geht auf erste Entwürfe in den frühen 1850er Jahren zurück. Reinhart, ein Naturforscher, reitet aus, um nach der Anleitung eines Logau-Epigramms eine Frau zu finden, die beim Küssen errötend lacht. Er begegnet der selbstsicheren Lucie u. die beiden finden zusammen, indem sie einander kontrastierende Liebesgeschichten erzählen u. deren Sinn z.T. gegenseitig kommentieren. Zum Schluss bewährt sich das Epigramm. Neuere Deutungen des Sinngedichts behandeln das Geschlechterverhältnis u. fragen, wie sich Naturwissenschaften (insbes. der Darwinismus) u. Literatur zueinander verhalten. K.s Gedichte (vgl. die Paralleldarstellung der Sammlungen 1846 u. 1883/89 auf http:// www.gottfriedkeller.ch) zeigen, dass sein lyr. Schaffen längst nicht an die Bedeutung der erzählerischen Prosa heranreicht, mit der es thematisch jedoch eng verbunden ist: Das Naturerlebnis u. das Bekenntnis zum Staat sind von zentraler Bedeutung. Zu den bekanntesten Gedichten, denen es aber zuweilen an lyr. Intensität, melod. Klang fehlt, zählen Abendlied an die Natur, Winternacht, Jugendgedenken, der Zyklus Lebendig begraben, Die Zeit geht nicht u. Abendlied. Martin Salander, K.s letztes Werk, orientiert sich an der Erzähltheorie Spielhagens u. greift einen aktuell-zeitkrit. Stoff auf, sodass der Zeitroman überraschend »logisch und modern« (12./16.8.1881 an Storm) ist. Salander, der als wohlhabender Mann aus Brasilien zurückkehrt, verliert sein ganzes Vermögen durch die Machenschaften des allegorisch benannten Louis Wohlwend. Salander wandert wieder aus u. gelangt zu neuem Vermö-
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gen. Aber das Glück bleibt aus: Die Ehen seiner zwei Töchter zerbrechen, die Schwiegersöhne werden als Betrüger inhaftiert, u. Salander verliert seinen eigenen sittl. Halt, indem er Wohlwends Schwägerin verfällt. Mit der Rückkehr des Sohnes Arnold verspricht sich das Dunkel zu lichten: K. plante einen zweiten Band, aber dieses positive Gegenstück blieb ungeschrieben. Lange schloss sich die Forschung der Meinung K.s an, sein letztes Werk sei »nicht schön« – in jüngerer Zeit bemüht man sich um eine Neubewertung des Romans als Text an der Schwelle zur literar. Moderne. Ausgaben: Ges. Werke, 10 Bde., Bln. 1889. – Sämtl. Werke. Hg. Jonas Fränkel u. Carl Helbling. 26 Bde., Erlenbach/Mchn. 1926/27 u. Bern/Lpz. 1931–49. – Sämtl. Werke u. ausgew. Briefe. Hg. Clemens Heselhaus. 3 Bde., Mchn. 1958. 41980. – Sämtl. Werke in sieben Bdn. Hg. Thomas Böning, Gerhard Kaiser u. Dominik Müller. Ffm. 1985–96. – Sämtl. Werke. Hist.-Krit. Ausg. Hg. Walter Morgenthaler. Basel/Ffm./Zürich 1996 ff. (CD-ROMs beiliegend. Website: http://www.gottfriedkeller.ch). – Briefe: Ges. Briefe. Hg. C. Helbling. 4 Bde., Bern 1950–54. – Der Briefw. zwischen G. K. u. Hermann Hettner. Hg. Jürgen Hahn. Bln./Weimar 1964. – Aus G. K.s glückl. Zeit. Der Dichter im Briefw. mit Marie u. Adolf Exner. Hg. Irmgard Smidt. Stäfa 1981. – Mein lieber Herr u. bester Freund. G. K. im Briefw. mit Wilhelm Petersen. Stäfa 1984. – Gefährdete Künstler. Der Briefw. zwischen G. K. u. Johann Salomon Hegi. Hg. Fridolin Stähli. Zürich/Mchn. 1985. – G. K. – Emil Kuh. Ein Briefw. Hg. I. Smidt u. Erwin Streitfeld. Stäfa 1988. – ›Du hast alles, was mir fehlt ...‹. G. K. im Briefw. mit Paul Heyse. Hg. F. Stähli. Stäfa 1990. – Theodor Storm – G. K. Briefw. Hg. Karl E. Laage. Bln. 1992. – Conrad Ferdinand Meyers Briefw. Hist.-krit. Ausg. Hg. Hans Zeller. Bern 1998 ff. (Bd. 1: C. F. Meyer. G. K. Briefe 1871–1889. Bearb. v. Basil Rogger u. a. Bern 1998). Literatur: Bibliografien, Hilfsmittel: Charles C. Zippermann: G. K. Bibliogr. 1844–1934. Zürich 1935. – Wolfgang Preisendanz: Die K.-Forsch. der Jahre 1939–57. In: GRM N. F. 39 (1958), S. 144–178. – U. Henry Gerlach: G. K. Bibliogr. Tüb. 2003. – Martin Müller: G. K. Personenlexikon zu seinem Leben u. Werk. Zürich 2007. – Gesamtdarstellungen: Hugo v. Hofmannsthal: Unterhaltungen über die Schr.en v. G. K. Düsseld. 1906. – G. K.s Leben, Briefe u. Tagebücher. Auf Grund der Biogr. Jakob Baechtolds dargestellt u. hg. v. Emil Ermatinger. 3 Bde., Stgt./Bln. 1915/16. Zürich
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1950 (als Tb.: 1990). – Walter Benjamin: G. K., zu Ehren einer krit. Gesamtausg. seiner Werke. In: Die literar. Welt, 5.8.1927 [u. ö.]. – Georg Lukács: G. K. Bln. 1946. – Fritz Martini: G. K. In: Ders.: Dt. Lit. im bürgerl. Realismus. Stgt. 1964. 41981, S. 557–610. – Hermann Boeschenstein: G. K. Stgt. 1969. 21977. – Adolf Muschg: G. K. Mchn. 1977. – W. Preisendanz: G. K. In: Dt. Dichter des 19. Jh. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1979, S. 508–531. – Gerhard Kaiser: G. K. Das gedichtete Leben. Ffm. 1981. – Bernd Neumann: G. K. Eine Einf. in sein Werk. Königst./Ts. 1982. – G. Kaiser: G. K. Eine Einf. Mchn./Zürich 1985. – Hans Wysling (Hg.): G. K. Elf Ess.s zu seinem Werk. Zürich 1990. – W. Morgenthaler (Hg.): G. K. Romane u. Erzählungen. Stgt. 2007. – Ulrich Kittstein: G. K. Stgt. 2008. – Einzelfragen: Emil Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Zürich 1939. 21953, S. 159–210. – Beda Allemann: G. K. u. das Skurrile. Eine Grenzbestimmung seines Humors. In: Jahresber. der G.K.-Gesellsch. 1959. Zürich 1960, S. 1–16. – W. Preisendanz: G. K. In: Ders.: Humor als dichter. Einbildungskraft. Mchn. 1963, S. 143–213. – Kaspar Theodor Locher: G. K. Der Weg zur Reife. Bern/ Mchn. 1969. – Klaus Jeziorkowski: Eine Art Statistik des poet. Stoffes. Zu einigen Themen G. K.s. In: DVjs 45 (1971), S. 547–566. – Gabriel Imboden: G. K.s Aesthetik auf der Grundlage der Entwicklung seiner Naturvorstellung. Ffm. 1975. – K. Jeziorkowski: Literarität u. Historismus. Beobachtungen zu ihrer Erscheinungsform im 19. Jh. am Beispiel G. K.s. Heidelb. 1979. – Peter Utz: Der Rest ist Bild. Allegorische Erzählschlüsse im Spätwerk G. K.s. In: Die Kunst zu enden. Hg. Jürgen Söring. Ffm. u. a. 1990, S. 65–77. – Katharina Grätz: Musealer Historismus. Die Gegenwart des Vergangenen bei Stifter, K. u. Raabe. Heidelb. 2006. – Philip Ajouri: Erzählen nach Darwin. Die Krise der Teleologie im literar. Realismus: Friedrich Theodor Vischer u. G. K. Bln./New York 2007. – Petra WeserBissé: Arbeitscredo u. Bürgersinn. Das Motiv der Lebensarbeit in Werken v. Gustav Freytag, Otto Ludwig, G. K. u. Theodor Storm. Würzb. 2007. – Ursula Amrein u. Regina Dieterle (Hg.): G. K. u. Theodor Fontane. Vom Realismus zur Moderne. Bln./New York 2008. – Einzelne Werke: Arthur Henkel: G. K.s ›Tanzlegendchen‹. In: GRM N. F. 6 (1956), S. 1–15. – Hans Richter: G. K.s frühe Novellen. Bln. 1960. 21966. – Maria Bindschedler: Vergangenheit u. Gegenwart in den Züricher Novellen. In: Jb. der G.-K.-Gesellsch. 1961, S. 3–20. – Karl Reichert: Die Entstehung der ›Sieben Legenden‹ v. G. K. In: Euph. 57 (1963), S. 97–131. – Ders.: Die Entstehung der Züricher Novellen v. G. K. In: ZfdPh 82 (1963), S. 471–500. – W. Preisendanz: G. K.s ›Sinngedicht‹. In: ebd., S. 129–151. –
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349 K. Reichert: G. K.s ›Sinngedicht‹ – Entstehung u. Struktur. In: GRM N. F. 14 (1964), S. 77–101. – Luzius Gessler: Lebendig begraben. Studien zur Lyrik des jungen G. K. Bern 1964. – Werner Kohlschmidt: Der Zeitgeist in G. K.s ›Martin Salander‹. In: Orbis litterarum 22 (1967), S. 93–100. – Hartmut Laufhütte: Wirklichkeit u. Kunst in G. K.s Roman ›Der grüne Heinrich‹. Bonn 1969. – Ernst May: G. K.s ›Sinngedicht‹. Eine Interpr. Bern/ Mchn. 1969. – Herbert Anton: Mytholog. Erotik in K.s ›Sieben Legenden‹ u. im ›Sinngedicht‹. Stgt. 1970. – Hans Wysling: Welt im Licht – Gedanken zu G. K.s Naturfrömmigkeit. In: G.-K.-Gesellsch. Jahresber. 1970. Zürich 1971, S. 1–20. – W. Preisendanz: K. – Der grüne Heinrich. In: Ders.: Wege des Realismus. Mchn. 1977, S. 127–180. – Gert Sautermeister: G. K.: ›Der grüne Heinrich‹. Gesellschaftsroman, Seelendrama, Romankunst. In: Romane u. E.en des Bürgerl. Realismus. Hg. Horst Denkler. Stgt. 1980, S. 80–123. – Dominik Müller: Wiederlesen u. Weiterschreiben. G. K.s Neugestaltung des ›Grünen Heinrich‹. Bern u. a. 1988. – Wolfgang Rohe: Roman aus Diskursen. G. K.: Der grüne Heinrich. Mchn. 1993. – U. Amrein: Augenkur u. Brautschau. Zur diskursiven Logik der Geschlechterdifferenz in G. K.s ›Sinngedicht‹. Bern u. a. 1994. – G. Kaiser: ›Marienfrau‹ u. verkehrte Männerwelt. G. K.s verkanntes Alterswerk ›Martin Salander‹. In: Der unzeitgemäße Held in der Weltlit. Hg. ders. Heidelb. 1998, S. 149–173. – Ders.: Experimentieren oder Erzählen? Zwei Kulturen in G. K.s ›Sinngedicht‹. In: JbDSG 45 (2001), S. 278–301. – Hans-Joachim Hahn u. Uwe Seja (Hg.): G. K., ›Die Leute von Seldwyla‹. Krit. Studien – Critical essays. Oxford u. a. 2007.
In seinen literar. Anfängen war K. sehr von seinem Freund Emil Barth beeinflusst, dessen Briefwechsel er edierte (Emil Barth: Briefe aus den Jahren 1939–1958. Wiesb. 1968), u. erhielt Anregungen von Bertram u. Carossa. Er begann mit romant. u. klassizist. Gedichten (Die schmale Furt. Hbg. 1938). Seinen unverwechselbaren Ton, sprachkritisch u. gedanklich klar, fand K. in den Gedichten des Bandes Die nackten Fenster (Wiesb. 1960). Als Vorbilder nannte er Kafka, Michaux u. den poln. Aphoristiker Stanislaw J. Lec. Sein letzter selbstständig veröffentlichter Gedichtband war Kauderwelsch (Wiesb. 1971). Weitere Werke: Der Schierlingsbecher. Düsseld. 1947 (L.). – Die wankende Stunde. Wiesb. 1958 (L.). – Panoptikum aus dem Augenwinkel. Wiesb. 1966 (Aphorismen). – Extrakt um 18 Uhr. Wiesb. 1975 (Werkausw.). Literatur: H. P. K., Hans Rudolf Hilty: Aber das Warten. In: Hilde Domin (Hg.): Doppelinterpr.en. Ffm. 1966, S. 215–220. – Spiegelungen 1961–74. In: H. P. K.: Extrakt um 18 Uhr, a. a. O., S. 173–206. – H. Domin: H. P. K.: Folge. In: Frankfurter Anthologie. Bd. 1. Hg. Marcel ReichRanicki. Ffm. 1976, S. 183 ff. – Dies.: Luftsegler der Sprache. Zum Tode v. H. P. K. In: Dies.: Ges. Ess.s. Mchn. u. a. 1992, S. 275 ff. – Friedemann Spicker: Der dt. Aphorismus im 20. Jh. Spiel, Bild, Erkenntnis. Tüb. 2004, S. 754–757. Winfried Hönes † / Red.
Keller, Heinrich, * 17.2.1771 Zürich, † 21.12.1832 Rom. – Klassizistischer Bildhauer; Lyriker, Verfasser von Schauspielen, Märchen u. Kunstberichten; Keller, Hans Peter, * 11.3.1915 RosellerÜbersetzer. heide bei Neuss, † 11.5.1989 Büttgen bei Neuss; Grabstätte: ebd., Friedhof. – Als Sohn des kunstsinnigen u. gebildeten Übersetzer, Lyriker, Essayist. Obersten Kaspar Keller u. einer Schwester Erika Swales / Philip Ajouri
K., Sohn eines Kaufmanns, floh vor den Nationalsozialisten nach Löwen, um Philosophie zu studieren, kehrte jedoch wegen angedrohter Repressalien gegen seine Familie zurück. Er studierte in Köln u. nahm 1939–1942 am Krieg teil. Nach 1945 hielt er Vorlesungen in der Schweiz, in Münster, Bonn u. Paris. Er war Lektor für Schweizer Verlage, lebte in Paris u. Palermo, auf Stromboli u. Helgoland. 1955–1983 unterrichtete er als Literaturlehrer an der Düsseldorfer Buchhändlerschule.
Johann Heinrich Füsslis genoss K. in seiner Jugend den Umgang mit der geistigen Elite seiner Vaterstadt. Nach einem abgebrochenen Jurastudium bildete er sich zum Bildhauer aus, daneben widmete er sich der Dichtkunst. Ein strenger Richter seiner dichterischen Versuche war sein Freund Jakob Horner. Um seine künstlerischen Fähigkeiten weiter auszubilden, begab sich K. 1794 nach Rom, wo er als Bildhauer bedeutende Werke schuf. 1798 heiratete er Clementina Tosetti, die ihm vier
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Söhne gebar. Eine schwere Krankheit zwang K. um 1805, den Bildhauerberuf aufzugeben. Er widmete sich nun ganz der literar. Arbeit. Bereits in Florenz war eine größere Zahl von Liebesgedichten entstanden, die er als Lieder der Liebe an Lila (ungedr.) zusammengefasst hatte. Einige Elegien, die laut Theodor Körner Goethe’sches Gepräge zeigen, wurden durch Horners Vermittlung 1798 in Schillers Musenalmanach abgedruckt. K. übersetzte ins Deutsche u. a. Calderóns El astrónomo fingido (ungedr.), des Grafen Verri Notti romane (Bln. 1805) u. ins Italienische Stolbergs Geschichte der Religion Jesu (Rom 1828). Als Dramatiker mit Neigung zur Romantik war K. bes. fruchtbar. 1808 erschienen bei Orell & Füssli Franzeska und Paolo (von Dante inspiriert) u. Ines del Castro; 1809 folgte das »feministische« Schauspiel Judith. 1811/ 12 entstanden K.s Vaterländische Schauspiele und Trauerspiele (Zürich 1813–16): Karl der Kühne, Hans Waldmann, Johanna I. u. andere. Für die »Jenaische allgemeine Literaturzeitung« lieferte K. 1809 Kunstnachrichten aus Rom. Auch widmete er sich der Altertumswissenschaft u. wurde 1810 Mitgl. der archäolog. Akademie in Rom. In diesen Jahren verfasste er zahlreiche Berichte antiquarischen Inhalts für dt. u. Schweizer Zeitschriften. Weitere Werke: K.s unveröffentl. Werke befinden sich in Zürich (Kunsthaus-Bibl.). Literatur: Bernhard Wyss: H. K. der Züricher Bildhauer u. Dichter. Frauenfeld 1891. – Schweizerisches Künstler-Lexikon. Bd. 2, Frauenfeld 1908. S. 157–159. – Thieme/Becker 20, S. 105–107. – Dieter Ulrich: H. K. In: Biogr. Lexikon der Schweizer Kunst. Hg. Schweizerisches Institut für Kunstwiss. Zürich u. Lausanne. Bd. 1, Zürich 1998, S. 566 f. Ingrid Sattel Bernardini
Keller, Paul, * 6.7.1873 Arnsdorf bei Schweidnitz/Schlesien, † 20.8.1932 Breslau. – Erzähler. K., Sohn eines Maurers u. späteren Schnittwarenhändlers, war Volksschullehrer in Jauer, Schweidnitz u. Breslau. 1908 schied er aus dem Schuldienst aus u. wurde freier Schriftsteller. 1908–1912 war er Herausgeber u. Redakteur der illustrierten Wochenschrift
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»Der Guckkasten«; 1912 gründete er die illustrierte Familienmonatsschrift »Die Bergstadt«, die er bis zu seinem Tod redigierte. K. unternahm – meist mit seinem Schriftstellerfreund Paul Barsch – ausgedehnte Reisen durch Europa u. Afrika. K. gehörte zu den erfolgreichsten Unterhaltungsschriftstellern in der ersten Hälfte des 20. Jh.; seine Bücher erreichten 1931 bereits eine Auflage von über fünf Mio. Seine Erstlingswerke standen der Heimatkunstbewegung nahe. Zu seinem Erfolgsrezept gehörte das strikte Vermeiden weltanschaul. oder polit. Stellungnahmen. Nicht zu übersehen sind K.s volkspädagog. Absichten: Er fasste das Thema »Heimat« im Sinn von Frieden u. Versöhnung zwischen Generationen u. gesellschaftl. Schichten. K.s umfangreiches Werk besteht aus Erzählungen u. Skizzen, in denen Einzelschicksale der unteren Mittelschicht Schlesiens lebhaft-sentimental erzählt – eine große Rolle spielt der schulische Bereich – u. Landschaften im Sinn »beseelter Natur« geschildert werden, deren Einfallsreichtum im Spätwerk jedoch zum Klischee erstarrt. Am bekanntesten wurden die Romane Waldwinter (Mchn. 1902. Würzb. 2000), Die Heimat (Mchn. 1903. Stegen 2003) u. vor allem Der Sohn der Hagar (Mchn. 1907), die trag. Geschichte eines unehel. Jungen, der zum Bettelmusikanten wird. Dem Schicksal der aussterbenden Wenden widmete K. den Roman Die alte Krone (Mchn. 1909). Ferien vom Ich (Breslau 1916. Würzb. 2000), einem humoristischen, mehrfach verfilmten Roman, liegt die Auffassung zugrunde, dass der durch die Zivilisation verdorbene Mensch nur in der Natur u. bei körperl. Arbeit zu christl. Sittlichkeit zurückfinde. Weitere Werke: Ausgabe: Werke. 14 Bde., Breslau 1922–25. – Einzeltitel: Gold u. Myrrhe. Paderb. 1898 (E.en u. Skizzen). – In deiner Kammer. Ebd. 1903 (E.en). – Die fünf Waldstädte. Bln. 1910 (E.en). – Die Insel der Einsamen. Breslau 1913. Stegen 2003 (R.). – Grünlein. Breslau 1915 (Kriegsgesch.). – Das kgl. Seminartheater u. a. E.en. Ebd. 1916. Stegen 2003. – Altenroda. Breslau 1921 (E.en.). – Die vier Einsiedler. Ebd. 1923 (R.). – Dorfjunge. Ebd. 1925 (E.). – Titus u. Timotheus u. der Esel Bileam. Ebd. 1927 (R.). – Drei Brüder su-
Kellermann
351 chen das Glück. Ebd. 1929 (R.). – Ulrichshof. Ebd. 1929 (R.). – Sein zweites Leben. Bln. 1934 (Liebesbriefe). Literatur: Hermann Wentzig: P. K. Leben u. Werk. Mchn. 1954. – Karlheinz Deschner: Kitsch, Konvention u. Kunst. Mchn. 1957. – Wilhelm Menzel: P. K. – dem großen dt. Volkserzähler zum hundertsten Geburtstage. In: Schlesien 18 (1973) S. 149–155. – Marianne Weil: Ferien vom Ich v. P. K. In: Wehrwolf u. Biene Maja. Der dt. Bücherschrank zwischen den Kriegen. Hg. dies. Bln. 1986, S. 179–202. – Alexander Honold: Die verwahrte u. die entsprungene Zeit. P. K.s ›Ferien vom Ich‹ u. die Zeitdarstellung im Werk Robert Musils. In: DVjs 67 (1993), H. 2, S. 302–321. – Heinke M. Kalinke: Berthold Auerbach u. P. K. Von der Wirklichkeitsverfehlung zur Wirklichkeitsflucht in der Heimatlit. In: Annemarie Röder u. Helmuth Fiedler (Bearb.): Weit in die Welt hinaus ... Histor. Beziehungen zwischen Südwestdtschld. u. Schlesien. Ausstellungskat. Stgt. 1998, S. 57–64. – Wolfgang Tschechne: Im Vorgarten des Paradieses. Leben u. Werk des Schriftstellers P. K. Würzb. 2007. Christian Schwarz / Red.
turkinder an den Zwängen der Zivilisation schildert. K.s Erbauungsschriften sind meist frei bearbeitete Übersetzungen, so Die Religion. Ein Gemälde in 6 Gesängen, frei nach Racine [...] (Mannh. 1822). Auch in seinen Dichtungen hielt K. sich eng an literar. oder histor. Vorbilder. Zweck seiner bedeutendsten Dichtung, des Trauerspiels Athenais (Mannh. 1827), das in geläufigen Jamben einen Stoff aus der byzantin. Geschichte behandelt, sei es, »zu zeigen wie unverläßig alles Erdenglück, und wie unvollkommen selbst die Tugend der Besten sey« (Vorbericht, S. V). Weitere Werke: Das hohe Lied, dramatisiert [...]. Mannh. 1814. – Notburga. Eine kreichgau. Legende in 6 Gesängen. Nach Wilhelmi. Mannh. 1823. – Koscziusko’s Todten-Feier bei den Gräbern der Könige v. Krakau. Heroisches Gemälde nach Lagarde. Heidelb. 1825. – Andachten der christl. Kirche auf alle Tage u. Feste des Jahres. Für Katholiken. Würzb. 1826. – Das Geständniß. Mannh. 1828 (Schausp.). – Agapetus. Ein kleines Gemälde [...] in 12 Gesängen. Heidelb. 1829. Ulrike Leuschner
Keller-Schleidheim, Keller-Schleitheim, Franz de Paula Ignaz Joseph Frhr. von, Kellermann, Bernhard, * 4.3.1879 Fürth, auch: Philaleth, Philocharis, * 5.12.1767 † 17.10.1951 Klein-Glienicke bei PotsWien, † 9.8.1844 Mannheim. – Dramati- dam. – Romancier, Reiseschriftsteller. ker, Publizist, Übersetzer. K., zunächst Sekretär des Fürsten Dietrichstein-Proskau, hatte seit 1805 ein Verwaltungsamt in Regensburg, dann (1808) in Mannheim u. ein Jahr später in Karlsruhe inne. 1815 wurde er Ministerialsekretär im badischen Innenministerium. Pensioniert als Ministerialrat, ließ er sich 1819 in Heidelberg, 1824 in Mannheim als Privatgelehrter nieder. Konservatismus, Kulturpessimismus u. Eskapismus prägen K.s Werk. Das zeigt sich ebenso in seinen Dichtungen wie in der Auswahl der von ihm übersetzten polit. u. religiösen Schriften. So übersetzte er Chateaubriands Pamphlet gegen Napoleon (Buonaparte und die Bourbonen, oder die Nothwendigkeit, sich wieder mit unsern rechtmäßigen Fürsten zu verbinden [...]. Dtschld., recte Karlsr. 1824); aus dem Werk Bernardin de Saint Pierres wählte er Idyllen (Arkadien. Mannh. 1830) u. den Roman Paul und Virginie (Mannh. 1829) aus, der das Scheitern der Liebe zweier Na-
K., Sohn eines Magistratsbeamten, studierte zunächst an der TH München, dann Germanistik u. schließlich Malerei u. war im Ersten Weltkrieg Kriegsberichterstatter des »Berliner Tageblatts.« Über seine ausgedehnten Weltreisen verfasste er impressionistische Reiseberichte. Die Preußische Akademie der Künste schloss ihn 1933 aus. Das Angebot, für den »Völkischen Beobachter« zu schreiben, lehnte er ab. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er in der SBZ Mitbegründer u. Vizepräsident des »Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands«. 1949 erhielt er einen Nationalpreis der DDR. K. begann, auf den Spuren Jacobsens u. Hamsuns, mit epigonalen neuromantischimpressionistischen, von ihm »lyrisch« genannten Romanen (Yester und Li. Lpz. 1904. Ingeborg. Bln. 1906. Der Tor. Bln. 1909. Das Meer. Bln. 1910. 1989). Begrenzte Eigenständigkeit zeigte erst Der Tunnel (Bln. 1913. Zahlreiche Neuaufl.n, zuletzt Ffm. 1995), ein in sechs Wochen niedergeschriebener utop.
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Roman, der Technikbegeisterung u. Massenrausch beim Bau eines Atlantiktunnels schildert u. zgl. die Mechanismen der amerikan. Wirtschaftsordnung darstellt. Das Buch wurde zum Welterfolg. Gesellschaftskritisch äußerte sich K. auch in Der 9. November (Bln. 1920. Neuausg. Bln./SBZ 1948. Mchn. 1980): Der Weltkriegs- u. Revolutionsroman wurde von den Nationalsozialisten verboten u. verbrannt. Im Roman Totentanz (Bln./SBZ 1948) beschrieb K., wie ein unpolit., »anständiger« Rechtsanwalt, »deutsch bis in die Knochen«, zum Mitläufer, zum Militaristen u. Karrieristen wird. – Für K. war der Schriftsteller »Lehrer [...], Erzieher, Prediger, Mahner und Warner, Tröster und Ermutiger«. Der pazifistisch-humanistisch geprägte Romancier K. wusste Impressionen, »Dichterisches« mit Informationen in meist unterhaltsamer Weise zu verbinden.
demiesessel zwischen die Stühle. Zur Rezeption B. K.s nach 1945. In: Mathias Iven (Hg.): Hoffnung u. Erinnerung. Bln. u. a. 1998, S. 74–93. – Günter Wirth: Ein Potsdamer Dreigestirn: Bruno Hans Bürgel, Hermann Kasack u. B. K. In: Ebd., S. 130–144. – Fritz Reinert: ›Was uns verbindet, ist das Leiden, das Erbe u. das Schicksal Dtschld.‹ Notizen zu zwei Potsdamer Schriftstellern (1945–1949). In: Dtschld.-Archiv 32 (1999), S. 604–613. – Barbara Ohm: B. K. Zum 50. Todestag des in Fürth geborenen Autors. In: Fürther Heimatblätter 51 (2001), S. 97–135. – Wilhelm Droste: B. K. u. sein Tunnel in die Zukunft. Die Welt im Netz der Vernetzung. In: László Tarnói u. Erno Kulcsár Szabó (Hg.): ›Das rechte Maß getroffen‹. Budapest 2004, S. 177–186. – Ulrich Kittstein: Der Erfinder als Messias u. das eiserne Gesetz der Arbeit. Zukunftsvisionen in den Science-FictionRomanen v. Hans Dominik u. B. K. In: Sprachkunst 36 (2005), H. 1, S. 127–145. – Uta Schaffers: Konstruktionen der Fremde. Erfahren, verschriftlicht u. erlesen am Beispiel Japan. Bln./New York 2006.
Weitere Werke: Die Stadt Anatol. Bln. 1932. 1994 (R.). – Jang-tsze-kiang. Bln. 1934 (E.). – Lied der Freundschaft. Bln. 1935 (R.). – Das blaue Band. Bln. 1938. 1993 (R.). – Georg Wendlandts Umkehr. Bln. 1941 (R.). – Wir kommen aus Sowjetrußland (zus. mit Ellen Kellermann). Bln./SBZ 1948 (Reportage). – Ausgew. Werke in Einzelausg.n, hg. im Auftrag der Dt. Akademie der Künste v. Ellen Kellermann u. Ulrich Dietzel. 8 Bde., Bln./DDR 1958–63. – Eine Nachlese 1906–51. Hg. HeinzDieter Tschörtner. Ebd. 1979.
Konrad Franke / Red.
Literatur: B. K. zum Gedenken. Aufsätze, Briefe, Reden 1945–51. Bln./DDR 1952 (mit Bibliogr. der Primär- u. Sekundärlit.). – Sigrid Anger: Vorläufiges Findbuch des literar. Nachlasses v. B. K. Ebd. 1960. – Christa Miloradovic-Weber: Der Erfinderroman 1850–1950. Zur literar. Verarbeitung der techn. Zivilisation – Konstituierung eines literar. Genres. Bern u. a. 1989. – Bozena Choluj: Dt. Schriftsteller im Banne der Novemberrevolution 1918. B. K., Lion Feuchtwanger, Ernst Toller, Erich Mühsam, Franz Jung. Wiesb. 1991. – Heinz Dieter Tschörtner: B. K. 1879–1951. Mit Bibliogr. In: Marginalien (1991), H. 123, S. 53–60. – Manfred Mümmler: B. K. Schriftsteller aus Berufung. In: Ders.: Dichter, Denker, Demokraten. Emskirchen 1991, S. 61–68. – Kai-Uwe Scholz: B. K. (1879–1951). Seine Beziehungen zu Werder/Havel u. Potsdam 1921–1951. Frankfurt/O. 1994. – Thomas Pekar: ›Augen-Blicke‹ in Japan. Schlüsselszenen der literar. Fremdbeschreibung bei Engelbert Kaempfer, B. K. u. Roland Barthes. In: Japanstudien 8 (1996), S. 17–30. – K.-U. Scholz: Vom Aka/
Kelling, Gerhard, * 14.1.1942 Bad Polzin. – Dramatiker, Hörspielautor, Übersetzer. Nach dem Abitur u. einer Ausbildung als Schauspieler am Mozarteum in Salzburg arbeitete K. als Regieassistent bei Peter Palitzsch u. Egon Monk. 1975–1977 war er Dramaturg an den Städtischen Bühnen Köln. Seit 1980 lebt er als freier Autor in Hamburg. 1969 veröffentlichte K. sein erstes Theaterstück, Arbeitgeber (Ffm.), eine Analyse polit. Vorgänge u. ein (pessimistischer) Befund über die Veränderbarkeit der Gesellschaft. Wie auch in seinen folgenden Stücken, Die Auseinandersetzung (Ffm. 1970) u. Die Massen von Hsunhi (Ffm. 1971), orientierte er sich dabei an der Technik des Lehrstücks. In dem Stationendrama Heinrich (Ffm. 1979), geschrieben unter dem Eindruck des »deutschen Herbsts« von 1977, u. der west-östl. Komödie Scheiden tut weh (Ffm. 1978) setzte er die differenzierte Bestandsaufnahme gesellschaftl. Entwicklungen fort. In seinen Hörspielen, Dialogen zumeist (Brandung. Ffm. 1982. Agenten. Ffm. 1983. Die Wasser des Mississippi. Ffm. 1987), u. dem Stück Agnes und Karl (Ffm. 1982) erprobte K. zur Analyse von Liebesbeziehungen eine ganz unpoetische Sprache. Seit 1972 schreibt er auch Kinderstücke wie
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Kellner
Der Bär geht auf den Försterball (Ffm. 1972; nach Kellner, Georg Christoph, * 11.6.1765 Motiven von Peter Hacks) u. ist Übersetzer Kassel, † September 1808 Kassel. – Pädavon Synge, lbsen u. Calderón. goge, Publizist, Romanautor. Zuletzt trat K. als Erzähler mit den RomaK., ältester Sohn des Kasseler Organisten Jonen Beckersons Buch (Ffm. 1999) u. Jahreswechsel hann Christoph Kellner, erlernte bei seinem (Ffm. 2004) hervor. Beckersons Buch inszeniert Vater das Klavierspiel. Nach dem Besuch des ein raffiniertes Spiel, das die Grenze zwischen Kasseler Collegium Illustre Carolinum stuEinbildung u. Tatsache, Wahn u. Normalität dierte er ab 1784 Theologie u. Philosophie in aufhebt. Der Roman erzählt aus der RetroRinteln u. verbrachte als 21-Jähriger ein vorspektive eines Insassen einer psych. Heilanwiegend literar. Studienjahr in Göttingen. stalt von seiner freiwilligen Subordination Nach dem Examen in Rinteln vermied er den unter eine anonym bleibende Instanz, der er Theologenberuf. K., der aus eigener Erfahden Namen ›Beckerson‹ gibt u. von der er rung Wissen als Selbstvergewisserung bekrypt. Botschaften empfängt. Als der Erzähgriff, gründete 1787 in Kassel eine freie ler bemerkt, dass seine Lenkung auf den Schule, die den Verdacht des Konsistoriums Mord an einem von ihm verehrten Schrifterweckte u. nach zwei Jahren geschlossen steller hinausläuft, entzieht er sich dem Aufwurde. Während dieser Zeit schrieb er den trag. Der Schriftsteller stirbt dennoch an dem Versuch zur Grundlegung einer subjectiven Tuvorbestimmten Tag, u. der Erzähler tötet gendlehre (Ffm. 1788) als ersten Ertrag seiner seinen mutmaßl. Auftraggeber bei einem philosophischen Studien sowie empfindsame konspirativen Treffen. Darauf wird ihm ein Romane (Familiengeschichte der Rosenbusche [...]. Manuskript (›Beckersons Buch‹) zugestellt, in 4 Tle., Lpz. 1789/90. Klingstein, eine Geschichte dem er seine eigene Geschichte als Mischung mit Scenen aus dem spanischen Succesionsskriege. aus Phantasma u. Hellsicht liest u. das er Breslau, Lpz. 1790. Charles Clairon. Rostock entsetzt vernichtet. Für den Protagonisten 1791). Seine schriftstellerische Laufbahn wie für den Leser verschwimmen die Absetzte K. als Hauslehrer in Mannheim fort u. grenzungen zwischen ›Beckersons Buch‹ u. machte sie endlich (1792) zur Grundlage seiK.s Beckersons Buch zunehmend. Bei allerlei ner Existenz. Seit 1792 erschienen im Anklängen an Grass’ Blechtrommel (der rück»Deutschen Magazin« (Hg. Christian Ulrich blickende Erzähler im Heim) u. Kafka (unDetlev von Eggers. Hbg. 1791–1803) 39 nagreifbare Befehlswelt) überzeugt K. mit einer mentlich ausgewiesene Beiträge K.s, die eine spannungsvollen komplexen Erzählform. vielseitige u. gründl. Beschäftigung mit geMit Jahreswechsel konnte K. an dieses Niveau sellschaftl., histor. u. – zunehmend unter nicht anknüpfen. Der in Ich-Form erzählte kantischem Einfluss – philosophischen TheRoman schildert in einem ›uferlosen (Selbstmen verraten. )Gespräch‹ das Jahr nach der Trennung von Getragen von aufklärerischem Impetus u. einem Partner. Der männl. Erzähler flieht aus klass. Bildungsidealen, schrieb K. philosoder persönl. Misere auf griech. Inseln u. verphische Abhandlungen in belletristischer sucht mit sich ins Reine zu kommen. Seine Form: so die Novelle Molly und Urania Ferienbekanntschaften setzt er unterschieds(Mannh. 1790), den Roman Charidion (2 Bde., los seinen larmoyanten u. teils ›küchenphiMannh. 1793) u., in stilistischer Anlehnung losophischen‹ Betrachtungen aus. an Helferich Peter Sturz u. Moritz, die histor. Weitere Werke (Ort jeweils Ffm.): Gernot T. Studien Die Edlen der Vorwelt (Hbg. 1793), 1970 (Hörsp.). – Klauswitz. 1972/73 (Hörsp.). – Athen, von seiner Gründung bis auf unsere Zeiten Gibt es die Liebe? Gibt es sie nicht? 1974 (Hörsp.). – Die Zurechnungsfähigkeit des Mörders Woyzeck. (Zürich 1797) u. Edle Griechen in den Revoluti1975 (Hörsp., D.). – LKW. 1975 (D.). – Die bitteren onszeiten des alten Syrakus (2 Bde., Elberfeld Zeiten des Wohlstands. 1977 (Hörsp.). – Die Insel 1800). des Königs Schlaf. 1981 (Kinderbuch). – Ringolf, 1794 kehrte K. auf der Flucht vor den in der weiße Ritter. 1989 (Kinderstück). Mannheim einrückenden Franzosen nach Annette Meyhöfer / Jürgen Egyptien Kassel zurück. Nach dem Tod des Vaters
Kelpius
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übernahm er 1803 dessen Stelle, heiratete im folgenden Jahr u. beschloss sein Leben als Organist an der luth. Kirche in Kassel. Weitere Werke: Etwas v. Tönen u. Tonarten. In: Carl Friedrich Cramer (Hg.): Magazin der Musik 2 (1786), S. 1185–1190. – Unterhaltung beym Klavier in Liedern u. Gesang [...]. Halle 1790. – Dialog einiger guten Zöglinge mit ihrem Lehrer über die Vorbereitung zu ihrer Confirmation. Breslau, Lpz. 1790. – Chines. Hieroglyphen. Mannh. 1791 (N.). – Horatia u. Viburnia. Dürckheim 1793 (D.). – Die schöne Unbekannte. Ein Gemälde häusl. Szenen u. ländl. Situationen. Zürich 1793 (D.). – Autobiogr. Skizze. In: Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer Hess. Gelehrten u. Schriftsteller Gesch. Bd. 11, Kassel 1797, S. 345–357. – Was nie Mode sein sollte. In: Journal des Luxus u. der Moden, Aug. 1804, S. 385 ff. Literatur: Steffen Stolz: G. C. K. Grundzüge seines Lebens u. Werks im Kontext der dt. Spätaufklärung. Mag.-Arbeit Kassel 1998. Ulrike Leuschner / Red.
Kelpius, Johannes, * 1673 bei Schäßburg/ Siebenbürgen (rumänisch: Sighis¸ oara), † 1708 Germantown/Pennsylvania. – Mystiker, religiöser Schriftsteller u. Lyriker. K. gilt heute als einer der ersten Verfasser religiöser Gesänge in Pennsylvanien; die Handschrift seiner mit Noten versehenen Texte ist die älteste ihrer Art. Den Zeitgenossen war er v. a. als Oberhaupt der Brüdergemeinde »Chapter of Perfection« am Wissahickon Creek (im heutigen Philadelphia) bekannt, die sich u. a. bemühte, durch Lehre u. vorbildliche christl. Lebensführung kulturbildend auf dt. Siedler u. Indianer in Ostpennsylvanien zu wirken. Nachdem K. mit zwölf Jahren seinen Vater verloren hatte, übernahmen drei Gönner die Erziehung des frühreifen Pfarrerssohns. Sie ermöglichten ihm ab Sommersemester 1687 ein Theologiestudium in Leipzig, ab 22.12.1687 in Tübingen u. ab 14.11.1688 in Altdorf, das K. dort 1689 mit dem Magistergrad abschloss. K.’ mystisch-religiöse Weltanschauung wurde durch rosenkreuzerische Geistesströmungen, das kabbalistische Werk Knorrs von Rosenroth u. die Schriften Speners geprägt.
Der Glaube an die für den Herbst 1694 prophezeite Wiederkunft Christi veranlasste K., sich 1693 etwa 40 Gleichgesinnten anzuschließen, die das Weltende in der Einsamkeit des amerikan. Urwalds erwarten wollten. Noch in Europa übernahm der 20-jährige K. die Leitung dieser Gemeinde, deren Führer u. geistiger Mittelpunkt er nach der Ankunft in Pennsylvanien (Sommer 1694) blieb. Bei den Siedlern Pennsylvaniens stand K. im Ruf eines Erleuchteten; die Erinnerung an ihn blieb bis ins 20. Jh. lebendig. K.’ hinterlassene Schriften sind leicht überschaubar. Ein lat. Tagebuch dokumentiert die Reise von London nach Virginia, Maryland u. Pennsylvanien. Deutsche, engl. u. lat. Briefe bieten Einblick in den psycholog. Hintergrund seines Einsiedlerdaseins. K.’ mystisch-pietistische Suche nach Gott findet Ausdruck in dem Traktat Kurtzer Begriff oder leichtes Mittel zu beten, oder mit Gott zu reden (Philadelphia 1756. Engl. u. d. T. A short [...] method of prayer. Philadelphia 1761 u. Germantown 1763): Der wahre Christ unterscheide sich von den anderen Gläubigen durch das »innere« Gebet, das »ohnabläsig« sei u. in dem sich die Seele ohne Worte u. Gedanken Gott hingebe; es führe zu einer Einswerdung mit Gott u. so bereits in dieser Welt zu einem Zustand der Vollendung. In K.’ religiöser Lyrik, die zwischen 1697 u. 1707 entstand, verschmelzen die Einflüsse des Hohenlieds u. der Jesusminne mit dem Gedankengut Speners zu einer stark persönlich gefärbten imitatio Christi: »Johann, ich sag dir frey [...] Du hängst schon an dem Creutz, Sieh zu, steig nicht Herab.« Als Vorlage für Melodien u. Versform benutzte K. Lieder aus Knorr von Rosenroths Neuem Helicon (1684) u. aus Gesangbüchern der Zeit. Während sein Traktat in pietistischen Kreisen der 13 Kolonien Verbreitung fand, erregte K.’ geistl. Lyrik, die nur in einer Handschrift des 18. Jh. überliefert ist, erst das Interesse amerikan. Historiker u. Musikologen des 19. u. 20. Jh. Weitere Werke: Theologiae naturalis seu metaphysicae metaphorosis [...]. Altdorf 1689. – Inquisitio, an ethicus ethnicus, aptus sit christianae juventutis hodegus? [...]. Respp.: Magister J. K. u. Balthasar Blos. Altdorf 1690. – Johannes Fabricius
Kelter
355 u. J. K.: Scylla theologica aliquot exemplis patrum et doctorum ecclesiae [...] ostensa [...]. Altdorf 1690. Ausgaben: The Diarium of Magister J. K. Hg. u. übers. v. Julius Friedrich Sachse. In: Pennsylvania: The German Influence in its Settlement and Development. Lancaster 1917 (mit acht Briefen v. K.). – Faks. der geistl. Lieder u. Kompositionen in: Church Music and Musical Life in Pennsylvania in the Eighteenth Century. Philadelphia 1926, Bd. 1, S. 19–165. – A method of prayer. Hg. E. Gordon Alderfer. New York 1951 (modernisierte Fassung mit Einl.). – A method of prayer. A mystical pamphlet from colonial America. Hg. Kirby Don Richards. Philadelphia 2006. Literatur: Bibliografie: Pyritz 2, S. 368. – Weitere Titel: Julius Friedrich Sachse: The German Pietists of Provincial Pennsylvania. Philadelphia 1895. – Karl Kurt Klein: Magister J. K. Transsylvanus. In: FS Friedrich Teutsch. Hermannstadt 1931, S. 57–77. – Andrew Steinmetz: K. In: The American-German Review 7 (1941), S. 7–12. – Ernest Lashlee: J. K. and his Woman in the Wilderness. In: FS Ernst Benz. Leiden 1967, S. 327–338. – Willard M. Martin: J. K. and Johann Gottfried Seelig, mystics and hymnists on the Wissahickon. Ann Arbor 1974. – Dictionary of American Biography 5, S. 312 f. – Cissy Scheerer: A historical sketch of J. K. and the hermits of the Wissahickon. Philadelphia 1979. – Hans-Günther Kessler: Ein Transsylvanier in Pennsylvanien. Magister J. K., der erste Siebenbürger Sachse in Nordamerika. Marburg 1999 (Mikrofiche). – Robert Stevenson: J. K. In: New Grove, 2. Aufl. – Claus Bernet: J. K. In: Bautz, Bd. 23 (2004), Sp. 778–786 (Lit.). Ulrich Maché / Red.
Kelter, Jochen, * 8.9.1946 Köln. – Schriftsteller, Essayist. K. studierte Literatur- u. Sprachwissenschaften in Köln, Aix-en-Provence u. Konstanz, war zeitweise im akadem. Bereich u. als Mitarbeiter des Süddeutschen Rundfunks Stuttgart tätig, ist seiner Berufung nach jedoch ein freiheitsliebender »freier Schriftsteller«. Ein Verfahren zur Überprüfung seiner Verfassungstreue aufgrund seiner Aktivitäten in der 68er-Studentenbewegung wurde zwar wieder eingestellt, dennoch zog es der Autor vor, 1969 seinen Wohnort zu wechseln: von der badischen Seite des Bodensees auf die schweizerische. K. lebt seither im thurgauischen Tägerwilen, mit Unterbrechung durch
Aufenthalte in Paris u. durch zahlreiche Auslandsreisen. Neben einer intensiven schriftstellerischen Arbeit engagiert er sich literaturpolitisch: Er ist Mitgl. der Verbände »Gruppe Olten« (Generalsekretär 1988–2001) u. »ProLitteris« (Präsident seit 2002), der Föderation der Europäischen Schriftstellerverbände (Präsident 1989–2003) u. des P.E.N.-Zentrum Deutschland. K.s Werk, das bereits mit einigen Literaturpreisen ausgezeichnet wurde, umfasst Lyrik, erzählende Prosa u. Essayistik. In den drei Jahrzehnten zwischen 1978 u. 2008 sind in dichter Folge nicht weniger als zwei Dutzend selbstständige Veröffentlichungen erschienen, auf welche die Feuilletons der Zeitungen stets positiv reagiert haben. Eine wissenschaftl. Auseinandersetzung mit K.s facettenreichem Opus in der Germanistik steht noch aus. Ein Grund dafür könnte darin bestehen, dass sich K.s scheinbar spielerischer Umgang mit Sprache u. polit. Realitäten, poetolog. Selbstreflexion, geografischen Exkursen, Ironie u. Sarkasmus nicht auf ein homogenes Bild reduzieren lässt. Der allseits interessierte Schriftsteller registriert u. rezipiert seine Umwelt mit haarfeiner Akkuratesse u. zwingt so zu Denkprozessen. Das gilt für die lyr. Texte in gleicher Weise wie für die narrativen Darbietungsformen. Dem Namen K. begegnet man ab Mitte der siebziger Jahre in Zeitschriften u. Anthologien. Bemerkenswert ist eines seiner ersten Gedichte mit dem Titel Gedicht in rot in der von Peter Engel herausgegeben Sammlung Ich bin vielleicht du (Rastatt 1975). Der gezielte Einsatz von Metaphern hat Signalwirkung u. gehört zum festen Bestandteil seiner Lyrik, die sich bislang nicht sinnvoll in eine Früh- u. eine Spätphase unterteilen lässt, wenngleich es themat. Akzentverschiebungen gibt u. aufgrund veränderter Wahrnehmungsperspektiven geben muss. K. debütierte mit dem Gedichtband Zwischenbericht (Zürich 1978), in dem er uns durch Städte u. Landschaften führt (Milano, Zürich, Vermont, Venedig, Paris), aber auch der Regisseur Pier Paolo Pasolini tritt plötzlich auf. K.s Texte leben vielfach aus szen. Momentaufnahmen u. einer wohlkomponierten Bildlichkeit, die Fotou. Filmcharakter hat. Ein Jahr später folgte
Kemnat
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eine zweite Auswahl früher Gedichte, in der Schüler Monteverdis. Die komplexe Handdie visuelle Komponente ebenfalls eine tra- lung reicht vom Barock bis zu den Balkangende Rolle spielt (Land der Träume. Freib. i. kriegen der 1990er Jahre. Als Dramatiker Br. 1979). In weiteren acht umfangreicheren versucht sich K. in der grotesk-kom. Farce In Gedichtsammlungen, die zwischen 1982 u. der besten aller Welten (Eggingen 1991), die in 2006 in verschiedenen Verlagen erschienen, einer Bahnhofswirtschaft spielt u. in der führt K. den Leser in seinen poetischen Kos- Hölderlin als toter Dichter figuriert. K. hat mos ein: »Ich bin kein Jünger der blauen sich in den vergangen Jahren auch immer Blume«, heißt es in dem Gedicht Abstecher, u. wieder als umsichtiger Anthologist erwiesen. auch der Bodensee wird keinesfalls zu ei- Die Vertrautheit mit den von ihm ausgener bukolisch-arkad. Region verklärt. Die wählten Texten anderer Autoren trägt zum Fluchtbewegungen des Autors aus der nicht Verständnis der eigenen literar. Produktion mehr heilen Welt manifestieren sich immer bei u. erlaubt die Konstruktion von Koordiwieder in Gedichten, die um urbanes Leben u. naten, in denen K.s Werke angesiedelt sind. histor. Stätten kreisen: Versailles, Piran, PaWeitere Werke: Unsichtbar ins taube Ohr. Geris, Delphi, Riga, Bruxelles, Helsinki, Mont- dichte. Zürich 1982. – Laura. Ein Zyklus. Zürich réal, New York etc. Themen sind aber auch 1984. – Nachrichten aus dem Inneren der Welt. Globalisierung, Angst, Melancholie u. Tod. Gedichte 1982–1986. Zürich 1986. – Derfrangers Bei sorgfältiger Lektüre werden zeilenweise Zeit. Erzählungen. Zürich 1988. – Ein Ort unterm Umrisse von K.s jeweiliger psych. Befind- Himmel. Texte aus Alemannien. Eggingen 1989. – Achtundsechzig folgende. Aufsätze, Glossen, Eslichkeit evident. says. Eggingen 1991. – Verteidigung der Wörter. Ein erster Band mit Prosatexten erschien Gedichte 1986–1989. Bern 1992. – Meinetwegen 1984 (Der Sprung aus dem Kopf. Weingarten): K. wolgabreit. Gedichte 1989–1993. Bern 1994. – Aber unternimmt eine kartografische wie menta- wenigstens Wasser. Eggingen 1998. – Andern Orts. litätsspezif. Vermessung seiner Wahlheimat Postkarten 1995–1997. Frauenfeld 1998. – Die kaBodenseeregion. Beachtung verdient der liforn. Sängerin. Erzählungen. Zürich 1999. – Der kleine Essay über den Schriftstellerkollegen innerte Blick. Gedichte 1993–1996. Stgt. 2000. – So Bernd Jentzsch, der aus der DDR in die ist dann Tag. Gedichte 1997–2000. Stgt. 2001. – Schweiz übergesiedelt war. 1986 folgen 35 Verweilen in der Welt. Gedichte. Tüb. 2006. – Ein Glossen, in denen sich K. als Meister einer Vorort zur Welt. Essays u. Texte aus der Schweiz. Frauenfeld 2007. – Ein Ort unterm Himmel. Leben komprimierten, sachl. Sprache erweist (Finsüber die Grenzen. Essays u. Texte. Frauenfeld tere Wolken, Vaterland. Die deutsche Provinzpresse 2008. – Herausgaben: Mein Land ist eine feste Burg. greift ein. Weingarten/Konstanz). In der Er- Neue Texte zur Lage in der BRD. Rastatt 1976. – zählung Die steinerne Insel. Antworten aus New Lit. im alemann. Raum. Regionalismus u. Dialekt York (Zürich 1985) führt uns der Autor nach u. (zus. mit Peter Salomon). Freib. i. Br. 1978. – durch New York: Der kurze Text ist überaus Konstanzer Trichter. Lesebuch einer Region. Kondetailreich, enthält amerikanischsprachige stanz 1983. – Kultur am Ende? Kultur in der ProZitate u. schafft dadurch eine authent. At- vinz. 11 Momentaufnahmen Weingarten 1985. – mosphäre, liest sich passagenweise wie Uwe Die Ohnmacht der Gefühle. Heimat zwischen Johnsons Jahrestage. Zwischen 1988 u. 2007 Wunsch u. Wirklichkeit. Weingarten 1986. – Ich bin nur in Wörtern. Johannes Poethen zum 60. erweiterte K. sein literarisch-essayistisches Geburtstag (zus. mit Jürgen P. Wallmann). WarmTerrain um sieben Bücher, von denen das bronn 1988. – Bodensee-Lesebuch. 18 Autoren schmalste (Steinbruch Reise. Ein europäischer stellen sich vor. Karlsr. 1990. – Bodenseegesch.n Jahreslauf. Frauenfeld 1996), ein poetisches (zus. mit Hermann Kinder). Tüb. 2009. Tagebuch, Einblicke in biogr. Kontexte erNicolai Riedel laubt. K.s bislang einziger Roman Hall oder Die Erfindung der Fremde (Tüb. 2005) erzählt Kemnat, Matthias Widman von ! Matdie Geschichte der venezian. Tonsetzerin u. thias Widman von Kemnat Musikantin Mariana Caldi, der unehel. Tochter eines Poeten u. Librettisten. Ihre musikal. Ausbildung erhält sie von einem
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Kemp, Friedhelm, auch: Friedrich Umbran, * 11.12.1914 Köln. – Lyriker, Essayist, Kritiker, Herausgeber u. Übersetzer.
Kempe
2002) dokumentieren sein literaturwissenschaftlich-gattungstheoret. Interesse. K. erhielt u. a. 1963 den Übersetzerpreis der Deutschen Akademie für Sprache u. Dichtung, 1998 den Joseph-Breitbach-Preis u. 2007 – gemeinsam mit Yves Bonnefoy – den Horst-Bienek-Preis für Lyrik.
K. wuchs in Aachen u. Frankfurt/M. auf. Nach dem Studium der Romanistik u. Germanistik in Frankfurt/M. u. München promovierte er Weitere Werke: Dichtung als Sprache. Wand1939 mit einer Arbeit über Baudelaire und das lungen der modernen Poesie. Mchn. 1965. – Kunst Christentum (Marburg 1939). Er lebt seit 1945 u. Vergnügen des Übersetzens. Pfullingen 1965. – in München. 1948 wurde K. literar. Lektor im Goethe. West-Östl. Divan. Das Ereignis einer Andortigen Kösel Verlag. Seit 1952 war er Mit- eignung. Darmst. 1983. – ›... das Ohr, das spricht‹. arbeiter in der Literarischen Abteilung des Spaziergänge eines Lesers u. Übersetzers. Mchn. Bayerischen Rundfunks, die er 1975–1979 1989. – Herausgeber: Jean Paul. Werk, Leben, Wirkung, Texte (zus. mit Norbert Miller u. Georg leitete. Als Kritiker, Herausgeber, Literarhistoriker Philipp). Mchn. 1963. Literatur: F. K. Bibliogr. 1939–1984. Bearb. v. u. Übersetzer war K. in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg einer der wichtigsten Margot Pehle. Marbach 1984. – F. K. In: Akzente 31, H. 6 (1984). – F. K. Bibliogr. 1984–1994. Bearb. Vermittler zwischen der dt. u. der frz. Litev. M. Pehle. Marbach 1994. – ›Kränzewinder, Vorratur geworden, u. a. durch Übersetzungen hangraffer, Kräuterzerstoßer u. Bratenwender‹. F. von Gérard de Nerval, Charles Baudelaire, K. zum 85. Geburtstag. Mchn. 1999. Maurice Scève, Jean Cocteau, Marcel JouhanDetlef Krumme / Torsten Voß deau, Saint-John Perse, Raymond Radiguet u. Yves Bonnefoy. Die zwölfteilige Buchreihe Contemporains (Mchn.), die er 1968–1970 Kempe, Martin, * 3.6.1637 Königsberg, herausgab, war ein Markstein für die Rezep- † 31.7.1683 Königsberg. – Dichter u. tion der modernen frz. Literatur in Deutsch- Historiograf. land. Seit 1945 veröffentlicht K. sporadisch Der Sohn eines Kantors besuchte die Löbeeigene Gedichte (zuletzt die 2004 erschienene nicht-Schule in Königsberg u. das Danziger Sammlung Einmal für immer. Waakirchen), Gymnasium, studierte seit 1660 in Wittentrat aber v. a. als Herausgeber u. Übersetzer berg u. Helmstedt u. erwarb 1664 den Makanonischer Werke der frz. u. bisweilen auch gistergrad u. die kaiserl. Dichterwürde in engl. Literatur hervor. Besonders hervorzu- Jena. Ab 1666 Mitgl. der Philosophischen heben ist die gemeinsam mit Claude Pichois Fakultät der Universität Königsberg, wurde besorgte achtbändige Baudelaire-Ausgabe er dort nach einer Reise durch Dänemark, (Mchn. ab 1977) u. die dreibändige Ausgabe England u. Holland brandenburgischer Hofder Werke des Romantikers Gérard de Nerval historiograf. Als einziger Dichter war der (Mchn. 1986–89). Im Bereich der dt. Literatur 1677 geadelte K. Mitgl. der Fruchtbringenzeichnete er verantwortlich für die 1956 er- den Gesellschaft, des Pegnesischen Blumenschienenen Dichtungen und Schriften Theodor ordens, der Deutschgesinneten GenossenDäublers, auch der Gedichte von Konrad schaft u. des Elbschwanenordens. K. unterWeiß (1961) u. ist Mitherausgeber der Werke hielt Verbindungen zu den maßgebl. Autoren Clemens Brentanos (1963–1972). Gemeinsam in Thüringen, Sachsen, Nürnberg, Hamburg, mit Werner von Koppenfels, Hartmut Köhler Wolfenbüttel, Amsterdam, Lübeck u. Kou. a. organisierte K. eine umfangreiche chro- penhagen u. beteiligte sich seit seiner Studinologisch u. zweisprachig angelegte Antho- enzeit mit Gedichtbeiträgen an zahlreichen logie der frz. Lyrik von Villon bis in die Ge- Hochzeits- u. Trauerschriften. genwart (Mchn. 1990) u. war beteiligt an der In drei Sammlungen – Poetische LustGedanvierbändigen Anthologie Englische und ameri- ken in Madrigalen und einem anmuthigen Spatkanische Dichtung (Mchn. 2000). Veröffentli- ziergang (Jena 1665), Damons Sonderbahres Lobchungen wie Das europäische Sonett (Gött. und Ehren-Liderbuch Von weitberühmten Poeten in
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Teutschland (veröffentlicht als Teil der Balthis. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2258–2268. – DBA. – Lübeck 1674. Bremen 21677. 31680. 41689) u. Andreas Herz: M. K. (1637–1683) aus Königsberg. Poetischen Erquickstunden (o. O. u. J.) – stellte K. Addenda u. Corrigenda zum Verz. seiner Schr.en. schäferl. u. weltl. Gedichte, Madrigale, So- In: WBN 21 (1994), S. 21–26. – Die Fruchtbringende Gesellsch. unter Herzog August von Sachsennette, Gesprächspiele u. Gedichte auf verWeißenfels. Die preuß. Mitglieder M. K. (der Erschiedene Autoren u. ihre Werke sowie Gele- korne) u. Gottfried Zahmel (der Ronde). Hg. Martin genheitsgedichte für Mitglieder des Hauses Bircher u. Andreas Herz. Tüb. 1997 (mit Werkverz. Brandenburg zusammen. Geistliche Betrach- v. A. Herz, S. 51–132). – Anthony J. Harper: Neutungen in Versen nach Texten von François de meister was not the first. Some thoughts on M. K.’s Sales bietet Geistliches Je länger je lieber / Oder ›Unvorgreiffliches Bedencken‹ of 1681. In: ›Vir inMancherley Nützliche Betrachtungen / in Zwölff genio mirandus‹. Studies presented to John L. Flood. Hg. William J. Jones u. a. 2 Bde., Göpp. gebundenen Reden (Königsb. 1675). Seit seiner Studienzeit beschäftigte sich K. 2003, Bd. 1, S. 371–385. – Werner Braun: Thöne u. mit Geschichte u. Theorie der Dichtkunst. Melodeyen, Arien u. Canzonetten. Zur Musik des dt. Barockliedes. Tüb. 2004 (Register). – Flood, 1664 veröffentlichte er ein reich annotiertes Poets Laureate, Bd. 2, S. 980–984. – Jürgensen, Gedicht aus 860 Alexandrinern über den Ur- S. 272–279. Renate Jürgensen sprung der Poesie Neu-grünender Palm-Zweig Der Teutschen Helden-Sprache und Poeterey; 1667 verfasste er die ausführl. Anmerkungen zu Kempff, Diana, * 11.6.1945 Thurnau/ Neumarks Poetischen Tafeln oder Gründlichen Oberfranken, † 14.11.2005 Berlin; GrabAnweisung zur teutschen Verskunst (Neudr. hg. stätte: Schloss Wernstein/Oberfranken, Joachim Dyck. 1971). Eine Auftragsarbeit für privater Waldfriedhof der Freiherrn von den Großen Kurfürsten, das Drama Der Künßberg. – Erzählerin, Lyrikerin, VerBrandenburgische Adler, blieb ungedruckt. legerin. Weitere Werke: Dissertatio de statu Armeniae ecclesiastico & politico tam pristino. Jena 1665. – Commentarius philologico-poëticus in tabellas Neumarckii concinnatus. Jena 1665. – Opus polyhistoricum. Königsb. 1665. 21677. Ffm. 1680. – Salanische Musen-Lust (zus. mit Johann Jacob Löwe). Jena 1665. – Thema philologicum de cruce. Königsb. 1666. – Ergötzl. FrühlingsFreude in einem Pastorell. Königsb. 1667 (verschollen). – Ruhm u. Eigenthum der teutschen Poesie. Jena 1668. – Von der Arth u. Eigenschafft der itzigen Zeit, wie sie [ ...] gegen die löbl. Dichtkunst gesinnet ist. Königsb. 1668. – Poesis triumphans Oder Sieges Pracht der Dichtkunst. Königsb. 1676. – Unvorgreiffl. Bedencken über die Schrifften der bekantesten Poeten hochdt. Sprache. Königsb. 1681. – Zahlreiche Gelegenheitsschriften. – Übersetzungen: Lope de Vega: Die Geschichte vom gezwungnen Freund. Printzen Turbino (verschollen). – Charismatum Sacrorum trias. Sive bibliotheca Anglorum Theologica. Königsb. 1677. Darin Schr.en von Thomas Goodwin, Joseph Hall u. Charles Richardson. – Briefe: German. Nationalmuseum Nürnberg; Landesbibl. Dresden. Literatur: Johann Herdegen: Historische Nachricht von deß löbl. Hirten- u. Blumen-Ordens an der Pegnitz Anfang u. Fortgang [...]. Nürnb. 1744, S. 288-330, 854-855. – Goedeke, Bd. 3, S. 272 f., Nr. 15. – Heiduk/Neumeister, S. 59, 390.
Die jüngste Tochter des Pianisten Wilhelm Kempff debütierte, von der Literaturkritik weitgehend unbeachtet, mit dem an die Haiku-Tradition anknüpfenden Gedichtband Vor allem das Unnützliche (Esslingen 1975), ehe ihr mit dem Roman Fettfleck (Salzb./Wien 1979) der Durchbruch gelang. Fettfleck thematisiert in Form eines Gedankenprotokolls eine traumat. Kindheitserfahrung der Autorin, eine durch innersekretor. Störungen hervorgerufene Fettleibigkeit, auf die Familie u. Mitmenschen mit Unsicherheit, zuweilen sogar mit Ablehnung u. Schikane reagieren. Das Mädchen substituiert seine unerfüllte Sehnsucht nach Geborgenheit durch den Rückzug in die Innerlichkeit. Aus regressiven Gedankenspielen entwickelt sich allmählich der Wunsch, die Literatur zum Medium der Vermittlung zwischen Innen- u. Außenwelt werden zu lassen. Der Roman ist ungeachtet seiner autobiogr. Grundierung keineswegs der Bruch der Autorin mit ihrem philiströsdekadenten Elternhaus, als welcher er von der Kritik mitunter wahrgenommen wurde. Vielmehr zeigen sich in ihm Ansätze dessen, was sich zu einer themat. Konstante im Werk
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K.s auswachsen sollte: die Darstellung existenzieller Grenzsituationen u. der Versuch ihrer Überwindung im künstlerischen Prozess. Auch in K.s zweitem Prosastück Hinter der Grenze (Salzb./Wien 1980) steht ein namenloses Mädchen im Mittelpunkt. Noch benommen von der Betäubungsspritze des Zahnarztes, stürzt es während eines Zoobesuchs über einen Gehegezaun u. taucht als »Aha« in eine Fantasiewelt ein, aus der es erst am Ende des Romans wieder entlassen wird. Bis dahin rettet es an der Seite von Fabelwesen das Reich der Fantasie vor dem Untergang. Der Roman, der die Tradition von Werken wie Lewis Carrolls Alice’s Adventures in Wonderland fortschreibt, verdichtet den Gegensatz von empir. u. imaginierter Wirklichkeit zur Allegorie. Trägt die Realität als Sphäre des Zwanges u. der Not Züge des Inhumanen, so gestaltet sich die Fantasie zu einem Reich unbedingter Freiheit u. Autonomie. In den Prosaskizzen des Bandes Der vorsichtige Zusammenbruch (Salzb./Wien 1983) erfahren die Themen »Angst«, »Verlassenheit«, »Verzweiflung« u. »Ausgrenzung« eine radikale Zuspitzung. Aus der Erkenntnis der eigenen Dissoziation heraus entwirft das erzählende Ich Visionen der Paralyse menschl. Gemeinschaft u. beschreibt die Geschichte der Beziehungen zwischen Mann u. Frau als ewige Wiederkehr der gleichen Spiele von Demütigung, Gewalt u. Vernichtung. Die 52 Texte des Bandes verstehen sich als Dokumente eines radikal gelebten Solipsismus, den das Ich durch seine Hinwendung an ein fiktives Du bisweilen zwar zu überwinden sucht, der aber zgl. jeden Gedanken, im Nicht-Ich potentiell Erlösung finden zu können, entschieden negiert. Letztere findet das Ich allein in der Kunst. Sie fungiert als Gegenentwurf zu der kalten u. gewalttätigen Wirklichkeit, lässt als solcher jedoch die Kluft, die zwischen dem denkenden Subjekt u. der Objektwelt liegt, um so tiefer erfahrbar werden. In den Gedichten von Herzzeit (Salzb./Wien 1983) entwirft K. in einer hermetischen u. an Mythologemen reichen Sprache Bilder der Vereinsamung u. einer Isolation, die unüberwindbar erscheint angesichts der Gefahr der völligen Vernichtung, die eine unvor-
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sichtige Öffnung zum Du zeitigen könnte. Die Gedichte sind der verzweifelte Versuch, dem Schweigen der Welt Sprache abzutrotzen, dort noch Worte zu finden, wo Sprechen längst unmöglich geworden zu sein scheint. Mit Der Wanderer (Salzb./Wien 1985) legte K. nach längerer Zeit wieder einen Prosatext größeren Umfangs vor. Der Titel u. die Genrebezeichnung »Fantasie« verstehen sich als Allusion auf die sog. Wanderer-Fantasie Franz Schuberts u. stimmen den Leser auf das Geflecht musikal. Motive ein, das den Text durchwirkt. In der am Rande auftauchenden Figur eines Musikers, der an der Dominanz seines künstlerischen Übervaters zu zerbrechen droht, konvergieren autobiogr. Erfahrungen der Autorin. Thematisch knüpft Der Wanderer an die Erzählung Hinter der Grenze an. Auf der Grenze zwischen Traum u. Wirklichkeit entfaltet sich vor den Augen des namenlosen Wanderers eine Landschaft, in der sich Archaisches (Chronos, Sisyphus u. Gäa) mit Wunderbarem (Einhorn) verbindet u. Widersprüchliches in der Koinzidenz begegnet: Zugleich Wüste u. Park, trägt Vineta – so nennt K. diese Landschaft in Anlehnung an die sagenhafte Ostseestadt – sowohl Züge des prähistor. Chaos als auch der fruchtbaren Erneuerung. Der Vorgang des Wanderns gerät damit zu einer existenziellen Grenzerfahrung. Mit Der Wanderer schienen sich K.s Möglichkeiten eines metaphor. Schreibens erschöpft zu haben. Die Abstände, in denen sie neue Produktionen vorlegte, vergrößerten sich in zunehmendem Maße. 1989 veröffentlichte die inzwischen mit dem KleistPreis ausgezeichnete Autorin Das blaue Tor (Salzb./Wien), 1995 Die fünfte Jahreszeit (Salzb./Wien). Die sprachl. Virtuosität, mit der sie darin ihre stets gleichen Themen u. Konstellationen zur Darstellung bringt, vermag freilich kaum über das grundsätzlich Fragwürdige hinwegzutäuschen. Indem eine zwanghafte Fixierung zum Movens für die künstlerische Betätigung gemacht wird, kann sie nur noch hilflos vervielfachen, wodurch sie letztlich konditioniert ist. Das bis zur Sinnverweigerung getriebene hermetische Schreiben erscheint mehr u. mehr als der verzweifelte Befreiungsschlag eines zutiefst
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verletzten Menschen, der den Obsessionen seiner Herkunft nicht entkommen kann, aber auch an die Grenzen ihrer ästhetischen Bewältigung gelangt ist. K.s Rückzug in eine Tätigkeit als Verlegerin, die sie bis zu ihrem Tod ausübte – der von ihr 2000 gegründete »Gemini Verlag« förderte v. a. Autoren jenseits des Mainstreams – war insofern nur folgerichtig. Weitere Werke: Der Traum vom Glück. Zusammengestellt von D. K. Mchn. 1971. – Notizen zu einer Rede. In: Kleist-Jb. (1987), S. 23 f. Literatur: Joachim Kaiser: Rede auf die KleistPreis-Trägerin D. K. In: Kleist-Jb. (1987), S. 15–22. – Ralf Georg Czapla: D. K. In: KLG. – Petra Ernst: D. K. In: LGL. Ralf Georg Czapla
Kempker, Birgit, * 28.5.1956 Wuppertal. – Dozentin für Wort u. Bild, Verfasserin von Romanen, Essays, Hörstücken u. Prosagedichten. K. studierte Kunst u. Literatur in Zürich u. lebt seit 1990 in Basel. Sie ist dort Dozentin für Wort u. Bild an der Hochschule für Gestaltung u. beteiligt sich an gattungsüberschreitenden Kunst- u. Literaturprojekten. In ihren Romanen u. Prosagedichten beschreibt sie die Sexualität als männl. »Ausrottungstraum« zur Eroberung, Zerteilung u. Verschlingung des Partners, als männl. Verteilungskampf um den weibl. Leib. K.s literar. Vaterfiguren sind grausam u. sadistisch, sie ›kolonisieren‹ den weibl. Körper. In ihren frühen Prosaarbeiten Der Paralleltäter (Zürich 1986) u. Rock me Rose (Zürich 1988) ist K.s Poetologie bereits voll entfaltet: Sie bevorzugt assoziativ verschlungene Sprachspiele, die auf lineare narrative Strukturen verzichten. In ihrem juristisch umkämpften u. seit 2000 verbotenen Prosa-Poem Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag (Graz/Wien 1998) hat K. ihr produktionsästhetisches Bekenntnis formuliert: »Ich bin zu semantisch«. Diese Sentenz verweist auf das sprachempfindl. Text-Begehren der Dichterin, das sich am assoziativen Spiel mit Wörtern, ihren Oberflächen- u. Tiefenstrukturen, verborgenen Nebenbedeutungen, heiml. Subtexten u. »semantischen Verrutschun-
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gen« entzündet. In den 200 Textsequenzen des Prosa-Poems wird durch die litaneiartige Repetition der Periode »Als ich das erste Mal mit einem Jungen im Bett lag / war es Cornelius Busch« die Motorik des Textes bestimmt. Der Name des jugendl. Liebhabers fungiert als poesie-generierendes Signalwort, das eine Kaskade von Wortspielen in Gang setzt. »Das ist das Gefährliche in der Liebe wie in der Sprache«, so K. auch in einem Essay des Bandes Liebe Kunst (Graz/Wien 1997), »das Ausrutschen, wie glitschig zu kitschig, die Verschiebung, das Hinübergleiten, Hinfallen und Danebengreifen, das Versprechen, die Verlagerung von Verlangen und das Verlangen nach Verlagerung, Verwandlung also in allen Stufen und Graden ...«. Das Prosabuch Mike und Jane (Graz/Wien 2001) lässt sich als furioser Versuch über die Aporien u. Abgründe einer Sprache der Liebe lesen. »Mike« u. »Jane« sind hier zwei in Liebeskämpfe verstrickte Modellfiguren, die füreinander nur Lüge u. Verrat, Demütigungen u. Enttäuschungen bereit halten. In 99 Textsequenzen, die in ihren ersten drei Sätzen jeweils völlig identisch sind, wird das Desaster der Liebe in serieller Manier durchgespielt. In der radikalen Litanei Sehnsucht im Hyperbett. Ein transverfickter Diskurs (Graz/ Wien 2008) vermischen sich ketzerische Heiligenlegenden, Gebetsfragmente, Gewalt- u. Penetrationsfantasien zu einem schrillen Sprachspiel. Weitere Werke: In der Allee 1. Schnee in der Allee. Zürich 1986 (Pr.). – In der Allee 2. Auch Frieda war jung. Zürich 1986 (Pr.). – Dein Fleisch ist mein Wort. Reinb. 1992 (Pr.). – Ich will ein Buch mit dir. Kein Fleisch. Weil am Rhein/Basel 1997 (Pr., Hörstück). – Anleitung fürs Blut/Ich ist ein Zoo. Basel 1997 (2 Hörstücke). – Übung im Ertrinken/Iwan steht auf. Basel 1999 (2 Hörstücke). – Die Wurzel des freien Radicalen ist Herz/Ich sag so viel Kafka wie ich will. Basel/Weil am Rhein/Wien 2001 (2 Hörstücke). – Meine armen Lieblinge. Altes Ego adieu. Graz/Wien 2003 (Pr.). – Scham/Shame. Eine Kollaboration. Dt./Amerikan. (zus. mit Robert Kelly). Wien/Basel/Weil am Rhein 2004. – James M. Barrie: Peter Pan. Nachersetzt v. B. K. Basel/Weil am Rhein 2007 (Übers.). – Repère. Sound, Film u. Ess. mit Anatol Kempker. Basel 2009. Literatur: Wolfram Groddeck: Intertextuelle Jagdszenen. Eine Lektüre v. B. K.s ›Dein Fleisch ist
361 mein Wort‹. In: Sprache im techn. Zeitalter 31 (1993), H. 127, S. 284–295. – Silvia Henke: B. K. Die Gewalt des Privaten. In: Schnittpunkte. Parallelen. Literatur u. Literaturwiss. im ›Schreibraum Basel‹. Hg. Urs Allemann u. W. Groddeck. Basel/Köln 1995, S. 219–241. Michael Braun
Kempner, Friederike, * 25.6.1836 Opatow/Posen, † 23.2.1901 Gut Friederikenhof bei Reichthal/Schlesien. – Lyrikerin, Dramatikerin, Erzählerin, Philanthropin.
Kempowski sämtl. Gedichte. Hg. Peter Horst Neumann. Mchn. 1964. – Dichterleben, Himmelsgabe. Sämtl. Gedichte. Hg. Nick Barkow u. Peter Hacks. Bln. 1989. – Gedichte. Mchn. 1995. – Gedichte. Bln. 2004. Literatur: Ernst Heimeran: Unfreiwilliger Humor. Mchn. 1935. – Peter Haida: F. K. In: NDB. – Rudolf Krämer-Badoni: Das Glück ist nicht geheuer. In: Frankfurter Anth. Gedichte u. Interpr.en. Hg. Marcel Reich-Ranicki. Bd. 3, Ffm. 1978, S. 108 ff. – Werner Kraft: Die Verblendung (zu einem Vers von F. K.: ›Von den Sternen fiel ich nieder ...‹). In: Ders.: Goethe: wiederholte Spiegelungen aus fünf Jahrzehnten. Mchn. 1986, S. 166–168. – Gerhard Pachnicke: F. K.s Autobiogr. vom Jahre 1884. Aus dem Nachl. Brümmer der Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz. In: Jb. der Schles. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 30 (1989), S. 141–171. – Margret Galler: F. K.: ein Artikel u. seine Folgen. In: Vita pro litteris. FS Anna Stroka. Hg. Eugeniusz Tomiczek. Warszawa u. a. 1993, S. 37–47. – Jochen Hofbauer: Die schles. Nachtigall: zu Leben u. Werk von F. K. In: Schlesien 38 (1993), H. 1, S. 18–33. – Christian Höpfner: ›Jener Lieder süße Worte‹. F. K.s Heine-Gedichte. In: Heine-Jb. 36 (1997), S. 153–167. – S. R. Lenz: Schwanengesänge von unnachahml. Komik: zur Lyrik der F. K. In: Krit. Ausg. 6 (2002), H. 1, S. 23–25. – Florian Krobb: F. K. (1836–1904). ›Drei Schlagworte‹ (1880). In: Poetry project. Irish Germanists interpret German verse. Hg. ders. Oxford u. a. 2003, S. 103–107. – Christian Gottfried Daniel Nees v. Esenbeck: Ausgew. Briefw. mit Schriftstellern u. Verlegern (Johann Friedrich v. Cotta, Johann Georg v. Cotta, Therese Huber, Ernst Otto Lindner, F. K.). Bearb. Johanna Bohley. Stgt. 2003. – Goedeke Forts. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Eda Sagarra
Nachdem sie sich schon in der Armen- u. Krankenfürsorge engagiert hatte, verfasste die 20-jährige Tochter eines Pächters u. Rittergutsbesitzers eine Denkschrift über die Notwendigkeit einer gesetzlichen Einführung von Leichenhäusern (Breslau/Lpz. 61867), um der Bestattung Scheintoter abzuhelfen; 1869 begann ihre Aktion zur Reform des Gefängniswesens (Gegen die Einzelhaft. Breslau. Bln. 2 1885). Mit ihren sozialreformerischen Aktivitäten verband sie eine vielseitige schöngeistige schriftstellerische Tätigkeit, zunächst als Autorin von Novellen (Lpz. 1861) u. histor. Trauerspielen wie Berenice (Breslau 1860) u. Rudolph II. oder der Majestätsbrief (Lpz. 1867. 21896) sowie von popularphilosophischen Anthologien. Die Zeitgenossen u. auch die Nachwelt schätzten K., die auch als markante Persönlichkeit bekannt war, nicht zuletzt als Klassikerin des unfreiwilligen Humors. Die Gedichte (Lpz. 1873. 81903) des »schlesischen Schwans« sind ein eigentüml. Gemisch von Kempowski, Walter, * 29.4.1929 Rostock, gereimter Stellungnahme zu aktuellen Er† 5.10.2007 Rotenburg/Wümme. – Ereignissen u. Themen, sentimental, patriozähler; Hörspiel- u. Kinderbuchautor. tisch, zuweilen auch sozialpolitisch kritisch. Ihre Verse, am hohen Ton der nachklass. Der Sohn einer Rostocker Reederfamilie beepigonalen Lyrik ausgerichtet, sind jedoch suchte bis 1945 das Realgymnasium. Wegen gedanklich u. gestalterisch dem eigenen An- »politischer Unzuverlässigkeit« wurde K. eispruch nicht gewachsen u. wimmeln gerade- ner Strafeinheit der Hitlerjugend zugewiezu von Verstößen gegen die Logik. Der ritu- sen. Ende des Kriegs war er Flakhelfer. 1946 elle Vortrag von Gedichten K.s (übrigens begann er eine Lehre als Druckereikaufmann; Tante von Jakob van Hoddis wie von Alfred danach arbeitete er in einer Arbeitskompanie Kerr) diente bei geselligen Anlässen unver- der US-Armee in Wiesbaden. In die SBZ zubrüchlich zur allg. Erheiterung; noch heute rückgekehrt, wurde er von einem sowjetisind Anthologien von parodistischen Texten schen Militärtribunal aus polit. Gründen zu ohne sie nicht zu denken. 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt (1956 Ausgaben: F. K., der schles. Schwan. Hg. Ger- Amnestierung). K. holte das Abitur nach u. hart H. Mostar. Heidenheim 1953. 61974. – Die studierte an der Pädagogischen Hochschule
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in Göttingen. Bis 1980 übte er seinen Beruf als Volksschullehrer in der niedersächs. Provinz aus. Von 1980 bis zur Pensionierung 1991 war K. für Lehraufträge an die Universität Oldenburg abgeordnet. Er war Gastdozent an den Universitäten Essen, Mainz u. Hamburg sowie in den USA. Daneben veranstaltete er zahlreiche Lesungen u. Literaturseminare in seinem Haus in Nartum bei Bremen. In den letzten Jahren seines Lebens zog sich K. zunehmend aus der Öffentlichkeit zurück, während umgekehrt die öffentl. Anerkennung wuchs, z.B. mit einer großen Ausstellung an der Berliner Akademie der Künste 2007. Im selben Jahr starb K. an den Folgen einer Krebserkrankung. K. schrieb bereits als Schüler u. Häftling, fand aber erst durch eigene biogr. Erfahrungen wie Jugend, Krieg u. Haft zu seinen Themen. Die Zeit in Bautzen versuchte er bereits seit 1957 erzählerisch detailliert zu rekonstruieren. Dabei durchlief das Manuskript zahlreiche Überarbeitungen von einer parabolischen, an Kafka orientierten Urfassung bis zur letzten Version, die 1969 als Im Block erschien. (Hbg. Überarb. Aufl. Mchn. 1987). Der trotz guter Kritiken (Förderpreis des Lessing-Preises der Freien u. Hansestadt Hamburg 1969) seinerzeit kaum rezipierte Bericht über K.s Zuchthauszeit zeigt stilistische Qualitäten, die seine nachfolgenden Romane berühmt u. K. zu einem der erfolgreichsten Schriftsteller in Deutschland gemacht haben: Aus der Perspektive des erlebenden Ich werden ohne Rückschau u. Synthese die Fakten der privaten Alltagsgeschichte kommentarlos berichtet. K. verzichtet auf jegl. Einordnung seines dargestellten Lebens in übergeordnete histor., polit. oder psycholog. Sinnzusammenhänge. Er protokolliert die vergangenen Ereignisse in voneinander unabhängigen, knappen Sequenzen u. löst so die eigene Biografie in heterogene Realitätspartikel auf. K. wertet das unmittelbar Erlebte gegenüber der offiziellen, scheinbar objektiveren Geschichtsschreibung auf. Der folgende Roman Tadellöser & Wolff (Mchn. 1971) ist das erste Buch u. Zentrum der insg. sechs Bände umfassenden »Deutschen Chronik«, in der die Geschichte zweier
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bürgerl. Familien zwischen 1900 u. 1963 dargestellt wird. Mit diesem Großprojekt schließt K. inhaltlich an ältere Romanzyklen, z.B. von Honoré de Balzac, Emile Zola u. John Galsworthy, aber auch an Thomas Manns Buddenbrooks an. Das Erzählverfahren ist dezidiert modern gehalten. Mit Tadellöser & Wolff inszeniert K. erzählerisch den selbst erlebten Alltag von 1938 bis 1945, gestützt u. a. auf Zeugenberichte, Briefe u. Tonbandaufzeichnungen der Verwandtschaft. Seine präzise, iron. Wiedergabe vergangener Redeweisen – wie Umgangssprache, Schlager, Werbung, Familienkalauer u. Klassikerzitate – macht die Mentalität u. Bewusstseinslage des dt. Bürgertums transparent. Am Paradigma der eigenen Familie führt K. eine bürgerl. Ideologie vor, die gegenüber dem Nationalsozialismus politisch blind u. naiv bleibt; daneben zeigt er den Evasionscharakter von Bildung u. den Rückzug ins Private. Die Deutung der präsentierten Zeit- u. Sozialgeschichte bleibt dem Leser überlassen. Diese Schreibweise führte bei einem Teil des Publikums zu einer identifikatorischen Rezeption, die sich auf das Skurrile u. Idyllisierende der Romane konzentrierte u. die histor. Abgründe ausblendete – eine Tendenz, die Eberhard Fechners populäre ZDF-Verfilmungen von Tadellöser & Wolff (1975) u. Ein Kapitel für sich (1979) noch verstärkten. Ein Teil der Kritik warf K. daher Verharmlosung des Faschismus durch gewollte erzählerische Naivität vor. Dabei sollte die Erzählposition nach K.s Absicht, ähnlich wie in Günter Grass’ Blechtrommel, gerade den Blick des Lesers für das Abgründige eines scheinbar harmlosen Alltags schärfen. Infolge der Popularität u. Zugänglichkeit seiner Romane galt K. bis in die 1990er Jahre vielfach als »Erfolgsschriftsteller« an der Grenze zur Trivialität. Dass seine raffinierte Montagetechnik u. das detailgesättigte Erzählen an Autoren wie William Faulkner, James Joyce, John Dos Passos u. Arno Schmidt geschult waren, entging Publikum u. Kritik. Zudem galt seine krit. Haltung gegenüber der DDR in den 1970er u. 1980er Jahren im westdt. Literaturbetrieb als inopportun. Diese verbitterte K. bis zuletzt, trotz der wachsenden
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Anerkennung seit Erscheinen des EcholotZyklus. Im Vorfeld gründete K. 1980 das »Archiv der unpublizierten Autobiographien« (seit 2006 in der Akademie der Künste, Berlin). Es enthält Briefe, Erinnerungen, Tagebücher, Reiseberichte bis hin zu ganzen Lebenschroniken. Die Fülle der Sammlung umfasst über 7200 Positionen – ein Spiegelbild des Alltagslebens vom 18. Jh. bis zur Gegenwart. Ergänzt u. erweitert wird dieser Quellenbestand durch ein ca. 300.000 Bilder umfassendes Fotoarchiv. Aus diesem Material schuf K. sein Opus magnum, Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch. Er versammelt in den Echolot-Bänden die autobiogr. Zeugnisse unbekannter, aber auch bekannter Personen. Die ersten 4 Bde. (Mchn. 1993) umfassen den Zeitraum vom 1.1.1943 bis zum 28.2.1943. Es folgten Echolot. Fuga furiosa über den Zeitraum vom 12.1. bis 12.2.1945 (4 Bde., Mchn. 1999), schließlich die beiden Einzelbände Echolot. Barbarossa ’41 (Mchn. 2002) u. Echolot. Abgesang ’45 (Mchn. 2005), zeitgleich mit Letzterem u. d. T. Culpa (Mchn. 2005) K.s Tagebuchaufzeichnungen zur Entstehung des ersten Zyklus. Das Echolot folgt einem bes. Muster. Jedes Kapitel stellt einen in sich abgeschlossenen Tag dar, jeder Band einen zumeist geschlossenen Zeitraum, der zentrale Punkte des Zweiten Weltkriegs umfasst (z.B. Angriff auf die Sowjetunion, Niederlage bei Stalingrad, Kriegsende). Die Tage enthalten Texte von Intellektuellen, Politikern, Künstlern, unmittelbar am Kriegsgeschehen beteiligten Menschen, Berichte aus dem Warschauer Ghetto oder Konzentrationslagern. Ergänzt werden die Texte durch Miszellen wie beispielsweise Schlagertexten, Übersetzungshilfen, Gedichten, Motti. K. montiert aus dem heterogenen Material einen polyphonen Chor, arrangiert einzelne Stimmen, lässt sie sich dialogisch verstärken, antworten, widersprechen, setzt einzelne Akzente oder arbeitet mit Leitmotiven. Die subjektiven Quellen werden in ihrer Zusammenstellung, Auswahl u. Kürzung, Präzisierung u. Weitläufigkeit zur literar. Collage. Zahlreiche Fotografien begleiten die Texte. So enthält Abgesang ’45 ausschließlich Foto-
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grafien der gefangenen, hingerichteten oder getöteten Führungselite des »Dritten Reichs« – bis hin zur Röntgenaufnahme von »Hitlers« Schädel, symbolisch das Schlussbild des Echolots. Die Fotos verstärken u. konturieren, untermalen oder kontrastieren die schriftl. Aussagen. Auf die Frage nach dem »Warum« seiner Arbeit antwortet K. in Culpa: »[...] um die Quellen zu sichern und verfügbar zu machen, um der Gerechtigkeit willen, um der gestalterischen Herausforderung willen. Wegen der Tränen« – »Wenn die Welt noch Augen hat, zu sehen, wird sie in diesem Werk eine der größten Leistungen der Literatur unseres Jahrhunderts erblicken«, schrieb Frank Schirrmacher nach Erscheinen des ersten Zyklus in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Das Echolot verhalf K. zur lang ersehnten öffentl. Anerkennung. Neben u. nach dem Echolot veröffentlichte K. weitere Erzählungen u. Romane, die wieder konventioneller erzählen. Exemplarisch genannt sei der Roman Hundstage (Mchn./ Hbg. 1988), eine raffinierte Selbstreflexion des eigenen Schreibens. Bei der Kritik stießen diese Texte, zu denen auch mehrere überarbeitete Tagebuchbände zählen, meist auf deutlich weniger Gegenliebe als der Großzyklus, obwohl sie literarisch nicht weniger ambitioniert sind. Diese Texte, zu denen u. a. Mark und Bein (Mchn. 1992), Weltschmerz. Kinderszenen fast zu ernst (Bln. 1995), Heile Welt (Mchn. 1998) u. Letzte Grüße (Mchn. 2003) gehören, sind wiederum stark autobiografisch gefärbt. Sie stehen unter dem gemeinsamen Arbeitstitel Zweite Chronik, mit dem K. die Kontinuität zu seinem früheren Projekt betont, zu dem er so einen bewusst subjektiven Kontrapunkt setzt. Die Methoden des Befragens, Archivierens, Zitierens u. der Montage ziehen sich auch durch K.s weitere nicht-fiktionale Werke, die als Seitenstücke zu den Großprojekten gelten können. Dokumentationen wie Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten (Mchn. 1973) u. Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit (Mchn. 1974) berühren thematisch das Korpus der Chronik, während Der rote Hahn. Dresden 1945 (Mchn. 2001) auf Auszügen aus dem Echolot-Material basiert,
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die aber neu zusammengestellt u. um zusätzl. Quellen erweitert sind. Kontrovers diskutiert wurde Bloomsday ’97 (Mchn. 1997), ein Protokoll des TV-Programms am 93. Jahrestag der Handlung von Ulysses, das einerseits die Trivialität des Unterhaltungsmediums aufzeigt, andererseits ein veritables Epochenporträt in der Tradition von Joyce’ Roman liefert. Wenig bekannt ist dagegen K.s pädagog. Engagement. Neben einer eigenen Fibel (Braunschw. 1980) veröffentlichte er Traktate zur Grundschulerziehung u. sammelte Erzählungen seiner eigenen Schüler, die er in Sammelbänden veröffentlichte. K.s Texte u. Hörspiele wurden mit vielen Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem Wilhelm-Raabe-Preis (1972), dem Hörspielpreis der Kriegsblinden (1981), dem Uwe-JohnsonPreis (1995) u. dem Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck (2005). Dazu kommen das Große Bundesverdienstkreuz (1996) sowie Ehrendoktorate der Universität Rostock (2002) u. des Juniata College in Huntington, Pennsylvania (2004). 2007 wurde K. zum Ehrenmitgl. der Hamburger Akademie der Freien Künste gewählt. Eine intensivere Auseinandersetzung mit K. in der Forschung erfolgt erst seit den 1990er Jahren. Auch hier markiert das Echolot die Zäsur. In den letzten Jahren nennen v. a. jüngere Autoren K. als Einfluss, u. a. Rainald Goetz, Max Goldt, Gerhard Henschel u. Benjamin von Stuckrad-Barre, in dessen Literatursendung im Sender MTV K. eigene Lesetipps präsentierte. Gerade zur Pop-Literatur der Jahrtausendwende ergeben sich Affinitäten, etwa in der Darstellung der Gesellschaft durch ihren Alltag u. dem großen Reichtum an kulturellen Details abseits des Kanons. Weitere Werke: Chronik des dt. Bürgertums: Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie. Mchn. 1972. – Der Hahn im Nacken. Mini-Gesch.n. Hbg. 1973. – Die Harzreise erläutert. Mchn. 1974. – Ein Kapitel für sich. Mchn. 1975. – Alle unter einem Hut. Alltags-Miniminigesch.n. Bayreuth 1976. – Wer will unter die Soldaten? Mchn. 1976. – Aus großer Zeit. Hbg. 1978. – Schnoor, Bremen zwischen Stavendamm u. Balge. Bremen 1978. – Unser Herr Böckelmann. Hbg. 1979 (Kinderbuch). – Haben Sie davon gewußt? Dt. Antworten. Hbg.
364 1979. – Schöne Aussicht. Hbg. 1981. – Beethovens Fünfte u. Moin Vaddr läbt. Hbg. 1982 (Buchkassette der Hörsp.e). – Führungen. Ein dt. Denkmal. 1982 (Hörsp.). – Herrn Böckelmanns schönste Tafelgesch.n. Nach dem ABC geordnet. Hbg. 1983. – Unser Herr Böckelmann. Sein Lebenslauf. Aufgezeichnet u. illustriert v. Prof. Jeremias Deutelmoser. Hbg. 1984. – Herzlich willkommen. Hbg. 1984 (R.). – Alles umsonst. 1984 (Hsp.). – Haumiblau. 208 Pfenniggesch.n für Kinder. Mchn. 1986. – Der Landkreis Verden. Ein Porträt. Verden 1987. – Lesenlernen – trotz aller Methoden. Ein Exkurs über Fibeln. Braunschw. 1987. – Sirius. Eine Art Tgb. Mchn. 1990. – Mein Rostock. Ffm./Bln. 1994. – Der arme König v. Opplawur. Ein Märchen. Mchn. 1994. – Alkor. Tgb. 1989. Mchn. 2001. – Das 1. Album. 1981–1986. Ffm./Basel 2004. – Hamit. Tgb. 1990. Mchn. 2006. – Alles umsonst. Mchn 2006 (R.). – Uwe Johnson/W. K. ›Kaum beweisbare Ähnlichkeiten‹. Der Briefw. Hg. Eberhard Fahlke u. Gesine Treptow. Bln. 2006. – Somnia. Tgb. 1991. Mchn. 2008. – Langmut. Mchn. 2009 (L.). – Herausgeber: Mein Lesebuch. Ffm. 1980. – Irene Zacharias: Meine sieben Kinder u. der Lauf der Welt. Hbg. 1986. – Helmut Fuchs: Wer spricht v. Siegen? Der Ber. über unfreiwillige Jahre in Rußland. Hbg./ Mchn. 1986. – Ray Matheny: Die Feuerreiter. Gefangen in fliegenden Festungen. Mchn. 1988. – Ein Knie geht einsam durch die Welt. Mein liebstes Morgenstern-Gedicht. Mchn. 1989. Literatur: Wolfgang Preisendanz: Zum Vorrang des Komischen bei der Darstellung v. Geschichtserfahrung in dt. Romanen unserer Zeit. In: Das Komische. Hg. ders. u. Rainer Waring (Poetik u. Hermeneutik; 7). Mchn. 1976, S. 153–164. – Norbert Mecklenburg: Faschismus u. Alltag in dt. Gegenwartsprosa. K. u. andere. In: Hans Wagener (Hg.): Gegenwartslit. u. Drittes Reich. Stgt. 1977, S. 11–32. – Manfred Dierks: W. K. Mchn. 1984. – André Fischer: Inszenierte Naivität. Zur ästhet. Simulation v. Gesch. bei Günter Grass, Albert Drach u. W. K. Mchn. 1992. – Frank Schirrmacher: In der Nacht des Jahrhunderts. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.11.1993. – Hans-Werner Eroms: Zum Zeitstil der vierziger Jahre in W. K.s ›Echolot‹. In: Ulla Fix u. Gotthard Lerchner (Hg.): Stil u. Stilwandel. Bernhard Sowinski zum 65. Geburtstag gewidmet. Ffm. u. a. 1996, S. 95–109. – Christopher Riley: W. K.s ›Dt. Chronik‹. Ffm. 1997. – Volker Ladenthin (Hg.): Die Sprache der Gesch. Beiträge zum Werk W. K.s. Eitorf 2000. – Dirk Hempel: W. K. Eine bürgerl. Biogr. Bln. 2004. – Carla A. Damiano: W. K.’s ›Das Echolot‹. Sifting and Exposing the Evidence via Montage. Heidelb. 2005. – Dies., Jörg Drews u. Doris Plöschberger
365 (Hg.): ›Was das nun wieder soll?‹. Von ›Im Block‹ bis ›Letzte Grüße‹. Zu Werk u. Leben W. K.s. Gött. 2005. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): W. K. Mchn. 2006 (Text + Kritik. H. 169). – D. Hempel: W. K.s Lebensläufe. Mchn. 2008. – Volker Hage: W. K. Bücher u. Begegnungen. Mchn. 2009. – Gerhard Henschel: Da mal nachhaken: Näheres über W. K. Mchn. 2009. André Fischer / Stefan Höppner / Nadine Ihle
Kepler, Johannes, * 27.12.1571 Weil der Stadt, † 15.11.1630 Regensburg. – Kaiserlicher Mathematiker, Astronom. K., der wegen seiner schwachen körperl. Konstitution einen geistl. Beruf ergreifen sollte, besuchte nach der Lateinschule in Leonberg u. bestandenem Landesexamen in Stuttgart (1583) die Klosterschule zu Adelberg (1584–1586) sowie das höhere Klosterseminar zu Maulbronn (1586–1589). 1589 trat er als herzogl. Stipendiat in das Tübinger Stift ein, um an der Universität Theologie zu studieren (Magister artium 1591). Besonders widmete er sich den mathemat. Disziplinen einschließlich der Astronomie. Auf Anraten seines Lehrers Michael Mästlin ging K. noch vor Studienabschluss als Ethik- u. Mathematiklehrer an die Grazer protestantische Landschaftsschule. Er wurde am 28.9.1598 im Zuge der Gegenreformation vertrieben u. floh nach Ungarn. Nach der ihm als Einzigem erlaubten Rückkehr lebte er so isoliert, dass er Anfang 1600 für fünf Monate auf Einladung Tycho Brahes nach Prag ging u. sich erstmals vergeblich um eine Anstellung an der Universität Tübingen bemühte. Im Aug. 1600 wurde auch K., der sich weigerte zu konvertieren, aus Graz ausgewiesen. Er ging wieder zu Brahe nach Prag u. wurde nach dessen Tod Ende 1601 als Nachfolger des mit ihm verfeindeten Nicolaus Raimarus Bär kaiserl. Hofmathematiker mit der Aufgabe, den Nachlass Brahes auszuwerten (für die 1627 gedruckten Tabulae Rudolphinae). Er behielt die Stelle auch unter den Kaisern Matthias u. Ferdinand II. Da unter beiden keine Präsenzpflicht am Hof bestand, konnte K. 1611/ 12 an die wiederzugelassene protestantische Landschaftsschule in Linz gehen. Die Unruhen um den Anspruch auf den Kaiserthron u. das Ausbleiben seines Gehalts veranlassten
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ihn, die konfessionelle Toleranz des Hofs mit der protestantischen Enklave zu vertauschen. Hier geriet er allerdings rasch mit dem Oberpfarrer Daniel Hitzler in Konflikt, der ihn wegen der Weigerung, die Konkordienformel zu unterzeichnen, exkommunizierte. K. weigerte sich, die Allgegenwart des Fleisches Christi anzuerkennen. Da er auf diesem Standpunkt beharrte, bestätigte auch das Stuttgarter Konsistorium den Kirchenbann u. machte ihn 1619 sogar im ganzen Land bekannt, so dass eine Rückkehr nach Württemberg unmöglich wurde. K. hielt sich hier nur im Okt. 1617 sowie zwischen Sept. 1620 u. Nov. 1621 auf, um seine Mutter in einem Hexenprozess zu verteidigen. Nach der Thronbesteigung Ferdinands entging K. nur wegen seiner Vorrechte als Hofbeamter dem Reformationspatent von 1625, das auch in Linz alle Protestanten des Landes verwies. Seine Bibliothek wurde versiegelt; ihm wurde jedoch erlaubt, den mit hohen Kosten vorbereiteten Druck der Rudolphinischen Tafeln fertigzustellen. Als die Bauernaufstände Mitte 1626 auch Linz einschlossen u. die Druckerei mit den bereits ausgedruckten Tafeln zerstört wurde, ließ sich K. zu ihrer Fertigstellung mit kaiserl. Erlaubnis in Ulm nieder. Anschließend suchte er in Frankfurt/M., Ulm, Regensburg, Linz u. Prag nach einer neuen Anstellung – ohne Erfolg, da er weder bereit war zu konvertieren, noch die Konkordienformel zu unterzeichnen. So ließ er sich im April 1628 als Astrologe in die Dienste Wallensteins übernehmen, der sich verpflichtete, die inzwischen beträchtl. Rückstände des kaiserl. Gehalts als Hofmathematiker auszugleichen. Im Aug. siedelte K. in das Wallenstein gerade übertragene u. damals protestantische niederschles. Teilherzogtum Saga über. Er erhielt zwar erstmals das vereinbarte Jahresgehalt (1000 Gulden), doch führte die von Wallenstein auch hier betriebene Rekatholisierung wieder zur gesellschaftl. Isolation K.s. Auch konnte der Herzog die alten Gehaltsrückstände nicht ausgleichen; eine als Ersatz angebotene Professur in Rostock lehnte K. ab. Als er von der Absetzung Wallensteins erfuhr, machte er sich am 8.10.1630 wieder auf den Weg nach Regensburg, um vor
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dem Reichstag das rückständige Gehalt vom Kaiser einzufordern. Kurz nach der Ankunft erkrankte er tödlich. K. war ein streitbarer Christ, der fast starrsinnig für seine Überzeugungen eintrat. Der – trotz »kryptocalvinistischer« Neigungen – überzeugte Lutheraner fühlte sich stets als Mitgl. der einen »katholischen« Kirche. Seinem Bemühen um ein überkonfessionelles Christentum entsprangen zahlreiche theolog. Schriften. Zum Teil Apologien von K.s Standpunkt in der Abendmahlsfrage, machten sie wegen der Publizität dem Stuttgarter Konsistorium ein Einlenken unmöglich, zumal sich K. mit der Verteidigung des heliozentr. Weltsystems des Copernicus gegen scheinbar anderslautende Bibelstellen, durch die er zum (naturwissenschaftl.) Vorkämpfer u. Wegbereiter der historisch-krit. Methode der Bibelexegese wurde, gegen die Theologen aller Konfessionen stellte. Doch obwohl K. sein Examen nicht abgeschlossen hatte u. man ihn in Tübingen nicht als Lehrer haben wollte, sah er sich in konsequenter Weiterführung der natürl. Theologie seiner Tübinger Lehrer fast missionarisch dazu beauftragt, Gott durch das Nachdenken u. Darlegen seiner Schöpfung zu feiern. Er suchte die a priori gegebene Ordnung der Schöpfung als des »körperlichen Abbilds Gottes«, in dem alles verklammert ist durch die Dreiheit Gott/Welt/Mensch – Urbild/Abbild/Ebenbild u. die symbolische Abbildung des dreieinigen Gottes im heliozentr. Kosmos, in dem der Vater das Zentrum der Sonne bilde, der Sohn die Begrenzungskugel u. der Hl. Geist sich über den Zwischenraum ergieße. Für den Neuplatoniker K. ist die Ordnung als »Kosmos« notwendig mathematisch. Aus der selbst Gott vorgegebenen Mathematik müssten sich deshalb auch die Ordnungsprinzipien u. damit die empirisch nicht zu erbringenden Beweise für die copernican. Anordnung im Kosmos ergeben. Diesem Ziel glaubte sich K. bereits in seinem Erstling Mysterium cosmographicum (1596) nahe: Die neben der den Kosmos abschließenden Kugel vollkommensten geometr. Körper, die fünf regulären Polyeder, bestimmten, ineinandergeschachtelt, durch
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ihre In- u. Umkreise, zwischen die die Planetensphären eingebettet seien, nicht nur die Anzahl der Planeten in der copernican. Anordnung, sondern mit verblüffender Genauigkeit auch deren Abstände von der Sonne, wie sie sich aus copernican. Werken ergaben. Aus der mit den Abständen langsamer werdenden Bahngeschwindigkeit der Planeten schloss K. auf ein zentrales Bewegungszentrum, auf die Sonne als rotierenden natürl. »Motor«; sprach er hier noch von der »anima motrix« (bewegenden Seele) der Sonne, so wird hieraus nach 1600 eine »körperliche« Kraft der Sonne, der im Anschluss an William Gilbert magnetische Wirkung auf andere Weltkörper zugeschrieben wird. Dabei kommt es durch die Rotation des Sonnenkörpers mit seinen »Magnetfibern« zu einer kreisförmigen Mitführung. Dagegen bewirkten die Planeten selbst Verringerung u. Vergrößerung ihres Abstands von der Sonne u. damit ihre exzentr. Bahn, aus der die unterschiedl. Bahngeschwindigkeit im vom Bewegungszentrum entfernteren Aphel (langsamer) u. im Perihel folge. Damit war die von Ptolemaios zur Wiedergabe der Phänomene eingeführte ungleichförmige Ausgleichsbewegung erstmals »physikalisch« begründet. Copernicus hatte sie noch als Verstoß gegen die alten Prinzipien der Astronomie aufgefasst, wonach sämtl. (Teil-)Bewegungen am Himmel gleichförmig u. kreisförmig erfolgen müssen. Auch die Kreisförmigkeit der Bewegung(skomponent)en musste K. bald aufgeben. In dem Bestreben, das »mysterium cosmographicum« durch die besseren Beobachtungsdaten Brahes zu bestätigen u. die Harmonie in den Bewegungsverhältnissen aufzufinden, bemühte er sich in Prag insbes. um die Berechnung der Tiefenbewegungen der Planeten, die bis dahin Astronomen nie interessiert hatten, u. ihre empir. Bestätigung. Nach vielen Irrwegen erkannte er die Ellipse mit der Sonne in einem der Brennpunkte als einzig mögl. Bahnform, die der Physik u. den Phänomenen entsprach. Die Bahngeschwindigkeit wird durch das zweite Kepler’sche Gesetz der Planetenbewegung beschrieben, demzufolge die Verbindungslinie zwischen Planet u. Sonne in gleichen Zeiten gleiche
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Flächen bestreicht. Astronomia nova [...] seu physica coelestis nannte K. deshalb stolz das Werk, in dem er anhand der Marsbahn diese »Neue, [erstmals] ursächliche Astronomie oder Himmelsphysik« (entstanden bis 1605. Ersch. 1609) darlegt. Auf der Suche nach der richtigen Bahnform hatte K. Zweifel an der Exaktheit der Brahe’schen Daten beseitigen müssen durch die Untersuchung der Geradlinigkeit der Lichtausbreitung (camera obscura, Spiegellehre) u. der physiolog. Optik des Sehvorgangs (Umkehrung des Bildes), dargelegt 1604 in Astronomiae pars optica. In der Dioptrice (1611) behandelt K. speziell die Brechung in Linsen u. liefert die Optik des von Galilei in die Astronomie eingeführten Fernrohrs nach, wobei er gleichzeitig das Prinzip des sog. Kepler’schen Fernrohrs ableitet. Aufgrund dieser opt. Erkenntnisse war K. sofort von der Richtigkeit der Fernrohrbeobachtungen Galileis überzeugt, obgleich er weder ein Fernrohr besaß noch aufgrund eines Augenfehlers solche Beobachtungen hätte selbst anstellen können. Seine Spekulationen (Mondbewohner) legte er in der »Unterhaltung mit dem Sternenboten« (Dissertatio cum nuntio sidereo. 1610) dar, als den er die galileische »Sternbotschaft« umdeutete. Besonders seine neue mathemat. Astrophysik hatte zur Folge, dass sich K. auch um eine Reform der Astrologie bemühte, für die er lediglich die Aspektenlehre anerkannte, u. zwar auf der Basis der »harmonischen« Unterteilung eines Kreises durch die Ecken einbeschriebener konstruierbarer (»wißbarer«, »rationaler«) Polygone. Er nannte das Verfahren »Geometria figurata«, die so entstehenden harmon. Verhältnisse »kosmosbildend«. Damit konnte er erstmals innerhalb der Musiktheorie, die ihm als Ausdruck mathemat. Harmonie Grundlagenwissenschaft war, konsonante u. dissonante Intervalle theoretisch voneinander unterscheiden. Ansatzweise ging K. zwar auch schon in den dt. Prognostika u. Kalendern, deren Erstellung zu seinen Aufgaben als Landschaftsmathematiker in Graz u. Linz gehörte, auf seine neuen Ideen ein, doch widmete er ihnen in der Auseinandersetzung mit Gegnern u. Befürwortern der judicar. Astrologie auch
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mehrere lat. u. dt. Abhandlungen, darunter De fundamentis astrologiae certioribus (1601), Antwort auff D. Helisaei Röslini Discurs ( 1609) u. Tertius interveniens (1610). Am Ziel seiner Bemühungen sah sich K., als es ihm gelungen war, zwischen den extremen Bahngeschwindigkeiten je zweier benachbarter Planeten ebenfalls »kosmosbildende« harmon. Verhältnisse aufzuweisen u. damit die schon von Platon angegangene Forderung zu erfüllen. Auf dem Weg dorthin entdeckte er 1618 als Nebenprodukt das im dritten Kepler’schen Gesetz ausgedrückte Abstand-/ Umlaufverhältnis je zweier Planeten. K.s Harmonice mundi (1619) enthält daneben die Musiktheorie u. die Anwendung der Harmonielehre auf alle mögl. Bereiche bis hin zum Strafrecht u. stellt den Höhepunkt des theoret. Schaffens K.s dar, während die Tabulae Rudolphinae den Höhepunkt der praxisbezogenen Werke K.s bilden, der fast hundert Jahre die Grundlage der Berechnung von Planetenörtern war. Erwähnung verdienen noch das umfassende Lehrbuch Epitome astronomiae Copernicanae (1618–21), die ansatzweise infinitesimale Berechnung von Rotationskörpern in seiner Fassrechnung Messekunst Archimedis (1616. Zuerst lat. 1615) sowie sein Chilias logarithmorum (1624/25) u. nicht zuletzt die erst im 19. Jh. herausgebrachte wissenschaftstheoret. Abhandlung zur Verteidigung Tycho Brahes gegen Raimarus Bär von 1600 (Apologia Tychonis contra Ursum). Ausgaben: Ges. Werke. Hg. Max Caspar u. a. Mchn. 1937 ff. (auf 20 Bde. geplant; kurz vor dem Abschluss). – Übersetzungen: Traum vom Mond. Lpz. 1898. – Weltgeheimnis. Augsb. 1923. Mchn./Bln. 1929. – Neue Astronomie. Mchn./Bln. 1929 u. ö. Neuausg. v. Fritz Krafft. Wiesb. 2006. – J. K. in seinen Briefen. Hg. M. Caspar u. Walther v. Dyck. 2 Bde., Mchn./Bln. 1930. – Weltharmonik. Mchn./ Bln. 1939. Neudr. Darmst. 1969. – F. Krafft: J. K. – Was die Welt im Innersten zusammenhält. Antworten aus Schr.en v. J. K. (Mysterium cosmographicum, Tertius interveniens, Harmonice mundi). Wiesb. 2006. Literatur: Bibliografie: Max Caspar: Bibliographia Kepleriana. Mchn. 1936. 2. Aufl. besorgt v. Martha List. Mchn. 1968. Erg.-Bd. besorgt v. Jürgen Hamel. Mchn. 1998. – Weitere Titel: M. Caspar: J. K. Stgt. 1948. – Walther Gerlach u. M. List: J. K. Leben u. Werk. Mchn. 1966. – Dies.: J. K. Dokumente zu
Keppler Lebenszeit u. Lebenswerk. Mchn. 1971. – Internat. K.-Symposium Weil der Stadt 1971. Hg. F. Krafft, Karl Meyer u. Bernhard Sticker. Hildesh. 1973. – K. Four Hundred Years: Proceedings of Conferences held in Honour of J. K. Oxford 1975 (mit Forts. der Bibliogr. bis 1975). – Jürgen Hübner: Die Theologie J. K.s zwischen Orthodoxie u. Naturwiss. Tüb. 1975. – Berthold Sutter: J. K. u. Graz. Graz 1975. – K.-Symposium zu J. K.s 350. Todestag ’80 Linz. Hg. Rudolf Haase. Linz 1982. – Das K.-Museum Weil der Stadt 1982. Ein Führer. Hg. v. der K.-Gesellsch. Weil der Stadt 1982. – Bruce Stephenson: K.’s Physical Astronomy. Bln. 1987. – F. Krafft: J. K. In: TRE (Bibliogr.). – Mechthild Lemcke: J. P. Reinb. 1995. – Volker Bialas: J. K. Mchn. 2004. Fritz Krafft
Keppler, Johann Joseph Friedrich von, * 1760 Stralsund, † unbekannt (1823 angeblich noch am Leben). – Romanautor, Epiker.
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lation 31.5.1466), das dort abgelegte Baccalaureats- (25.5.1467) bzw. Magisterexamen (9.4.1470). Anschließend wirkte K. in der Domschule zu Münster im engsten Umkreis Rudolfs von Langen, der zu den namhaften Repräsentanten des westfäl. Frühhumanismus zählt. Mit seinem 1485 in Münster erschienenen Drama Codrus (nach einem missliebigen Dichter bei Vergil) legte der mittlerweile als »Gymnasiarch« u. »praeclarus homo« bezeichnete Autor ein noch in Prosa verfasstes Spiel vor, das zwischen dem Komödienschema des Terenz u. den humanistischen Schülergesprächen vermittelt. Wahrscheinlich im Blick auf die anstehende Reorganisation der Münsterschen Domschule werden – wie in Wimpfelings Stylpho (1480) – neue u. alte Bildung, mittelalterl. u. humanistischer Gebrauch des Lateinischen gegenübergestellt. Abwechselnde Dialoge u. Monologe geben Einblick in den zeitgenöss. Lehrbetrieb. Diesem Lehrbetrieb diente auch ein Werk mit dialogisch gefassten Elementen der Grammatik (Regule Remigij emendate correcteque In primum scholarium fundamentum. Münster 1486; Faks. Genf 1968).
K., über dessen Leben nichts bekannt ist, war einer der wichtigsten Autoren im Wien des Josephinismus. Gemäß seinem eigenen Programm (Kritische Untersuchungen über die Ursache und Wirkung des Lächerlichen. Cilli 1792) stellte er seine kom. Erzählungen (Der KapoAusgabe: Codrus. Hg. Lothar Mundt. Bln. 1969 trock. Wien 1782. Die schöne Beata, oder Der (Lit.). Kapaun. Lpz./Wien 1790), die sich durch diLiteratur: Christel Meier: J. K. In: VL Dt. Hum. gressive Struktur in der Art Sternes ausWilhelm Kühlmann zeichnen, in den Dienst des satir. Kampfs für die josephin. Aufklärung. In dem »Scherzgedicht« Der Aufstand der Dummheit zu Wien Kerenstein-Ballade. – Ballade, vermut(Wien 1781), einem kom. Epos im Gefolge lich spätmittelalterlich. von Popes Dunciad, erscheint Joseph II. als Inkarnation der letztlich siegreichen Weis- Ihren Namen hat die siebenstrophige Ballade von dem in Strophe VI, Vers 7 genannten heit. Herrn »von kerenstain«, hinter dem eine Weitere Werke: Adelstern, oder: Ehrgeiz u. histor. Figur vermutet wird. Verschiedentlich Vorurteil für seine Familie. Wien 1781. – Der Fasan. wurde angenommen, dass die Melodie eines Ffm./Lpz. 1785. aus dem 16. Jh. stammenden, in den ersten Literatur: Werner M. Bauer: Fiktion u. Polemik. Studien zum Roman der österr. Aufklärung. zwei Zeilen übereinstimmenden Lieds urspr. Wien 1978. – Ders.: Beobachtungen zum kom. zur K. gehört habe. Die »tag weys« überschriebene Ballade Epos in der österr. Lit. des 18. u. 19. Jh. In: Zeman enthält viele Elemente des Tagelieds. Ein 3, S. 465–497. Wynfrid Kriegleder Ritter lässt der Tochter des Herrn von Kerenstein durch einen Boten Grüße übermitKerckmeister, Johannes, * um 1450 teln; diese bestellt den Ritter zu einer Linde Münster, † um 1500 Münster. – Dramavor dem Burgtor u. verbringt die Nacht mit tiker. ihm. Am Morgen bekennt sie ihren AbNur wenige Daten in K.s Werdegang sind schiedsschmerz. Der Ritter tröstet sie u. erbekannt: das Studium in Köln (Immatriku- läutert ihr wohl einen Fluchtplan (Textver-
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derbnis). Nach dem Weckruf des Wächters bemerkt der Herr von Kerenstein das Verschwinden seiner Tochter. Vorwürfe wegen Bestechlichkeit weist der Wächter unter Hinweis auf die Macht der Liebe zurück. Das Alter der Ballade ist umstritten. Überliefert ist sie nur im Augsburger Liederbuch von 1454. Motive, Stil u. Form sind ähnlich im frühen Minnesang, bes. beim Kürenberger, anzutreffen u. haben deshalb die Vermutung aufkommen lassen, dass es sich um ein schon im 12. Jh. entstandenes Lied handle. Spätere Zusätze sind jedenfalls die nach den Strophen II, III u. VI anzutreffenden Zeilen, die sich einer Einordnung in das Strophenschema widersetzen. Zu erwägen ist aber, ob hier nicht ein spätmittelalterl. Lied entweder aus einem alten Tageliedkern entstanden ist oder beliebte ältere Motive u. Formen aufgenommen hat. Dies würde die Annahme einer sonst nicht fassbaren »ritterlichen Balladenkunst« (Wehrli) überflüssig machen. Zudem spricht die Überlieferung im Augsburger Liederbuch, dessen nachweisbare Vorlagen frühestens im 14. Jh. anzusiedeln sind, für eine spätere Entstehung. Die Ballade wäre dann einer Reihe thematisch verwandter volkstüml. Balladen aus dem SpätMA zuzuordnen. Ausgaben: Ludwig Uhland: Schr.en zur Gesch. der Dichtung u. Sage. Bd. 4, Stgt. 1869, S. 86–88. – John Meier (Hg.): Dt. Volkslieder mit ihren Melodien 1. Lpz. 1935, S. 173–179. – Klaus Jürgen Seidel: Der Cgm 379 der Bayer. Staatsbibl. u. das Augsburger Liederbuch v. 1454. Diss. Mchn. 1972, S. 700–720. Literatur: Walter de Gruyter: Das dt. Tagelied. Lpz. 1887, S. 72. – Max Ittenbach: Der frühe dt. Minnesang. Halle 1939, S. 50–59. – Max Wehrli: Dt. Lyrik des MA. Zürich 1955, S. 44–49, 522, 569. – Paul Sappler: K. In: VL. – Johannes Rettelbach: Lied u. Liederbuch im spätmittelalterl. Augsburg. In: Literar. Leben in Augsburg während des 15. Jh. Hg. Johannes Janota u. Werner Williams-Krapp. Tüb. 1995, S. 283. Elisabeth Wunderle
Kerényi, Karl, Károly, * 19.1.1897 Temesvár, † 14.4.1973 Zürich; Grabstätte: Ascona. – Klassischer Philologe u. Religionswissenschaftler. Nach Studien der Klassische Philologie in Budapest u. Greifswald habilitierte sich K.,
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Sohn eines Postbeamten, 1927 in Budapest über Die griechisch-orientalische Romanliteratur in religionsgeschichtlicher Beleuchtung (Heidelb. 1927). Er verband darin eine traditionelle philolog. Herkunftsfrage – hier gestellt für den durch Nietzsches Freund Erwin Rohde grundlegend dargestellten griech. Liebesroman – mit religionshistor. Deutung, indem er in den Romanen zahlreiche Beziehungen zu den antiken Mysterienritualen aufwies, die er vorsichtig auf eine genet. Verwandtschaft hin deutete. Die Beschäftigung insbes. mit griech. Religion u. Mythologie – auch nach der Berufung auf ein altertumswissenschaftl. Ordinariat in Pécs (1934) u. Szeged (1941) behielt K. die Dozentur für Geschichte der antiken Religion in Budapest bei – brachte ihn 1929 in Griechenland mit dem Klassischen Philologen Walter F. Otto zusammen. Ohne dass K. je Ottos Schüler gewesen wäre, verband sie eine gemeinsame Grundauffassung von antiker Religion als dem Zentrum antiker Kultur, als einer Lebenswirklichkeit u. Seinsform, die ergriffen nachfühlend, nicht rational analysierend verstanden werden müsse. Dies brachte beide zur Ablehnung sowohl der insbes. in Deutschland gepflegten altertumswissenschaftlich-philolog. Religionsforschung wie der evolutionistischen Religionswissenschaft ihrer Zeit; über Otto führten Kontakte zur Frankfurter Ethnologie um Leo Frobenius. Zum erstenmal ließ sich diese neue Haltung der »existentiellen Philologie« in der Essaysammlung Apollon. Studien über antike Religion und Humanität (Wien 1937), v. a. aber im urspr. in Italienisch erschienenen Buch Die antike Religion. Eine Grundlegung (Amsterd. 1940. Neufassung u. d. T. Die Religion der Griechen und Römer. Darmst. 1963) fassen: Hier wird nicht nur die Mythologie als Teil der Religion begriffen u. mit der Darstellung der Religion zgl. eine Grundlegung der antiken Kulturgeschichte intendiert, hier wird auch an die Stelle des histor. Entwicklungsbegriffs die Suche nach nicht reduzierbaren Grundformen gesetzt, in deren Entfaltung sich die Geschichte der Religionen abspielt. Diese Suche nach den konstanten, jeden Wandel überdauernden Grundformen
Kerényi
(»Stil«, »Morphologie«) stellt K.s Arbeit in die Nähe der Religionsphänomenologie. Wichtiger aber für die Entwicklung seiner mytholog. Studien war, dass er C. G. Jung 1939 die Untersuchungen Zum UrkindMythologem u. Kore. Zum Mythologem vom göttlichen Mädchen (in: Paideuma 1, 1938/39, S. 241–278, 341–380) zusandte: Aus Jungs psycholog. Kommentar dazu erwuchsen gemeinsame Schriften (vereinigt u. d. T. Einführung in das Wesen der Mythologie. Gottkindmythos, eleusinische Mysterien. Zürich 1942. Erw. Neuaufl. u. d. T. Das göttliche Kind. Düsseld. 2006). K. beteiligte sich regelmäßig an den Eranos-Tagungen in Ascona u. arbeitete nach seiner Umsiedlung aus Ungarn 1943 nach Ascona am neu gegründeten C.-G.-JungInstitut in Zürich mit; auch der Wahl in die erneuerte Ungarische Akademie der Wissenschaften 1947 (unter kommunistischer Herrschaft annulliert, 1989 rehabilitiert) u. dem Angebot eines Lehrstuhls in Budapest zog K. die Arbeit im Kreis Jungs vor. Die Archetypenlehre schien K. von psycholog. Seite einen Schlüssel zum tieferen Verständnis der Gestalten der griech. Mythologie zu geben – die Bilder des vom Psychologen analysierten Individualtraums u. die des antiken Mythos verhielten sich analog, als jeweils überindividuelle, unmittelbar wirkende Gestaltungen von Grundformen menschl. Daseins. K.s Spätwerk kennzeichnet eine sachte Rückkehr zu den Ansichten vor der Zeit mit Jung: Griechische Gottheiten wie Demeter u. Kore (Eleusis. Archetypal Image of Mother and Daughter. Revidiert Princeton 1967. 1991) u. Dionysos (Mchn./Wien 1976. Stgt. 1994) werden wieder stärker als historisch einmalige Urbilder von Grundgegebenheiten menschl. Daseins verstanden. K.s Bedeutung liegt jedoch nicht in der religionswissenschaftl. Theoriebildung, wie er auch keine Schule innerhalb der Fachwissenschaft begründet hat, deren Fachjargon er bewusst nicht verwendete, oft auf Kosten einer präzisen Begrifflichkeit. Wichtiger war K. als der erzählende Vermittler der antiken myth. Stoffe; in der Nacherzählung findet die Mythologie »ihr ursprüngliches Medium«. Seine Mythologie der Griechen, welche Die Götterund Menschheitsgeschichten (Zürich 1951) u. Die
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Heroengeschichten (ebd. 1958) deutend nacherzählt, sollte die Mythen nicht nur an den Laien, sondern bes. »den kommenden Dichtern« (so die Widmung des zweiten Bands) vermitteln. Dieses Anliegen ließ ihn auch den Kontakt mit Schriftstellern suchen. Insbesondere mit Thomas Mann verband ihn seit dem 1934 einsetzenden Briefwechsel – als Reaktion K.s auf den ersten Band des JosephRomans – ein enger, wenn auch einseitiger Gedankenaustausch. Dagegen freilich, dass er »Manns Sachverständiger in Angelegenheiten des Mythos« gewesen sei, verwahrte sich K. Umgekehrt konnte Mann sich K.s an die klassische Antike gebundenen u. von den Anschauungen der Goethezeit mitbestimmten Mythosbegriff nie völlig zu eigen machen. Einfluss auf das dt. Geistesleben suchte K. auch durch seine Essays zu nehmen im Sinne eines traditionellen Humanismus, der die antiken Wurzeln der europ. Kultur nicht nur im allg. Bewusstsein halten, sondern das, was er als Zentrum der antiken Kultur ansah – Mythologie u. Religion –, wieder wirksam machen wollte: In der »Begegnung der eigenen Existenz mit der Antike«, so hatte er in der Einleitung zu Niobe (Zürich 1949) formuliert, falle »mit dem Erschließen historischer Quellen das Sicherschließen von Quellen im Menschen selbst zusammen«. Dieses humanistische Programm fand in der Orientierungskrise der 1950er u. 1960er Jahre fern der fachwissenschaftl. Entwicklungen ein großes Echo, von dem 1971 auch die Verleihung der Goldenen Medaille der HumboldtGesellschaft zeugte. Weitere Werke: Töchter der Sonne. Betrachtungen über griech. Gottheiten. Zürich 1944. Stgt. 1997. – Prometheus. Das griech. Mythologem v. der menschl. Existenz. Zürich 1946. Erw. u. d. T. Prometheus. Die menschl. Existenz in griech. Deutung. Reinb. 1959. Engl.: Prometheus. Archetypal Image of Human Existence. New York 1963. 1997. – Der göttl. Arzt. Studien über Asklepios u. seine Kultstätten. Basel 1948. Engl.: Asklepios. Archetypal Image of the Physician’s Existence. New York 1959. – Zeus u. Hera. Urbild des Vaters, des Gatten u. der Frau. Leiden 1972. Engl.: Zeus and Hera. Archetypal Image of Father, Husband, and Wife. London 1976. – Briefwechsel: Thomas Mann – K. K. Gespräch in Briefen. Zürich 1960. – Ausgaben:
371 Werke in Einzelausg.n. Mchn. 1966 ff. Stgt. 1994 ff. Literatur: Aldo Magris: Carlo K. e la ricerca fenomenologica della religione. Mailand 1975 (mit Bibliogr. S. 331–338). – Hellmut Sichtermann: K. K. Mit einem Anhang: Ein Gästebuch aus Palestrina. In: Arcadia 11 (1976), S. 150–177. – Walter Burkert: Griech. Mythologie u. die Geistesgesch. der Moderne. In: Les études classiques aux XIXe et XXe siècles. Genf 1980, bes. S. 187–193. – Johannes Kleinstück: K.’s Humanistic Approach to Ancient Religion. In: Edgar C. Polomé (Hg.): Essays in Memory of K. K. Washington 1984, S. 66–74. – Nicola Cusumano: Mito, mitologema e mitologia in K. K. In: Quaderni dell’Istituto di storia Antica. Università degli Studi di Palermo 1 (1984), S. 65–85. – Horst Fassel: K. K. u. Thomas Mann. Ein Dialog über Kunst u. Mythos. In: Gesch., Gegenwart u. Kultur der Donauschwaben (1996), H. 7, S. 60–68. – Hans-Jürgen Heinrichs: Töchter der Sonne. K. K. u. die Mythologie. In: Merkur 51 (1997), H. 8, S. 734–740. – Volker Losemann: Die ›Krise der Alten Welt‹ u. der Gegenwart. Franz Altheim u. K. K. im Dialog. In: Imperium Romanum (1998), S. 492–518. – H.-J. Heinrichs: Expeditionen ins innere Ausland. Freud, Morgenthaler, Lévi-Strauss, K. Das Unbewußte im modernen Denken. Gießen 2005. – Renate Schlesier u. Roberto Sanchiño Martínez (Hg.): Neuhumanismus u. Anthropologie des griech. Mythos. K. K. im europ. Kontext des 20. Jh. Locarno 2006. Fritz Graf / Red.
Kermani, Navid, * 27.11.1967 Siegen. – Islamwissenschaftler, Publizist, Prosaschriftsteller, Kinderbuchautor, Theaterregisseur. Der Sohn iranischer Eltern studierte nach der Schulzeit in Siegen 1988–1998 Orientalistik, Philosophie u. Theaterwissenschaft in Köln u. war in dieser Zeit auch journalistisch, als Dramaturg am Theater an der Ruhr in Mülheim (1994/95) u. am Schauspielhaus Frankfurt/M. (1998/99) sowie als Leiter eines internat. Sprach- u. Kulturzentrums in Isfahan (1994–1997) tätig. Seine gedruckte Magisterarbeit beschäftigte sich mit dem wegen seiner Kritik an der traditionellen Hermeneutik des Korans verketzerten Literaturwissenschaftler Nasr Hamid Abu-Zayd (Offenbarung als Kommunikation. Ffm. 1996), von dem K. auch ein Werk herausgab (Islam und Politik. Kritik des religiösen Diskurses. Ffm 1996) u.
Kermani
dessen Lebenserinnerungen er aufzeichnete (Ein Leben mit dem Islam. Freib. i. Br. 1999. 2 2002). Die Dissertation Gott ist schön. Das ästhetische Erleben des Koran (Mchn. 1999. 32007), das Berichte über die ästhetische Rezeption des Korans als Teil des kulturellen Gedächtnisses der arab. Welt behandelt, fand eine weit über das Fachpublikum hinausgehende Aufnahme, ebenso wie K.s jüngstes religionswissenschaftl. Werk Der Schrecken Gottes. Attar, Hiob und die metaphysische Revolte (Mchn. 2005), das ein ins Extreme gesteigertes Hadern mit Gott wegen des Leidens in der Welt als eine jüdisch-islamische Tradition der Frömmigkeit beschreibt. Aus den Reportagen über den Iran, die K. als Autor der »FAZ« 1995–2000 verfasste, ging das Buch Iran. Die Revolution der Kinder (Mchn. 2001. 22005) hervor, das die Demokratiebewegung des Landes mit skept. Sympathie begleitet. 2000–2003 war er Long Term Fellow am Wissenschaftskolleg in Berlin u. akadem. Leiter des Arbeitskreises Moderne und Islam; seitdem ist er als freier Schriftsteller tätig. 2005 debütierte K. am Schauspielhaus Köln als Regisseur von Hosea nach Texten der Bibel u. aus Hebbels Judith. 2006 habilitierte er sich in Bonn im Fach Orientalistik. Seit seinem Ausscheiden bei der »FAZ« 2000 ist K. für zahlreiche andere führende Blätter u. Periodika des dt. Sprachraums tätig. Seine neueren Reportagen versammelt Schöner neuer Orient. Berichte von Städten und Kriegen (Mchn. 2003. 22003). Die prononcierten Beiträge zur Islamdebatte seit dem 11.9.2001 finden sich in Strategie der Eskalation. Der Nahe Osten und die Politik des Westens (Gött. 2005). K. setzt stereotypen Abwertungen des Islam dessen kulturelle u. histor. Vielfalt entgegen, bestreitet die Ableitung polit. u. sozialer Missstände in muslimischen Ländern aus der Religion, ficht für eine aktive nicht-militärische Förderung der Demokratie in diesen Staaten, betont das moderne, westl. Element im islamistischen Terrorismus (Dynamit des Geistes. Martyrium, Islam und Nihilismus. Gött. 2002. 32006) u. plädiert für ein auf Bürgerrechten statt auf dem Christentum basierendes Verständnis von Europa, das auch Migranten einbeziehen kann (Nach Eu-
Kern
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ropa. Rede zum 50. Jahrestag der Wiedereröffnung Kern, Elfriede, * 20.7.1950 Bruck a. d. des Burgtheaters Wien. Zürich 2005). Mur/Steiermark. – Verfasserin von RoDie bes. Stellung als dt. Muslim iranischer manen u. Erzählungen. Abstammung, die Verwurzelung im multikulturellen Kölner Stadtteil Eigelstein u. das K. absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Interesse des Religionswissenschaftlers an Volksschullehrerin, dann zur Bibliothekarin existenziellen Fragen prägen auch K.s. belle- u. arbeitete an der Österreichischen Natiotristisches Werk. Das Buch der von Neil Young nalbibliothek in Wien, bevor sie 1983 nach Getöteten (Zürich 2002. 22002) findet ein myst. Linz zog. Trotz Auszeichnungen u. StipenMoment in der Musik des kanad. Gitarristen. dien (u. a. seit 1997 mehrfach das ÖsterreiDie in Köln angesiedelten Vierzig Leben (ebd. chische Staatsstipendium für Literatur, 2002 2004), »vierzig Heiligenviten«, »ein Kate- Literaturpreis des Landes Steiermark) hat die chismus unserer Zeit« (so der Klappentext), seit 1988 als freiberufl. Schriftstellerin lebeziehen ihren Reiz aus dem Spannungsver- bende K. bei Literaturkritik u. -wissenschaft hältnis zwischen dem oft skurrilen Inhalt u. bis heute wenig Beachtung gefunden. K.s Romane u. Erzählungen gleichen Exden Titeln der Einzeltexte wie Von der Liebe u. Von der Hoffnung. Die düsteren erot. Vignetten perimentieranordnungen. Es dominieren des Bandes Du sollst (ebd. 2005. 22005), der Außenseiterfiguren, die vielfach mit geauch für die Bühne bearbeitet wurde, sind heimnisvollen, alptraumartig-unheiml. oder jeweils mit einem Gebot des Dekalogs über- grotestk-abnormen Szenerien u. Ereignissen schrieben. In dem Roman Kurzmitteilung (Zü- konfrontiert werden. Irritierenderweise akrich 2007) wird ein iranischstämmiger zeptieren sie diese jedoch scheinbar als Eventmanager durch den Tod einer flüchti- selbstverständlich. Unabhängig davon, ob die gen Bekannten aus den gewohnten Bahnen Handlung in einem realistischen Setting oder geworfen u. landet schließlich bei einer aber in einer atavistisch-myth. Welt angesieamerikan. Sekte. K.s Kinderbuch Ayda, Bär delt ist, sind die jugendlichen ebenso wie die und Hase (Wien 2006) ist eine Liebeserklärung erwachsenen, überwiegend weibl. Figuren an Köln-Eigelstein u. ermutigt Kinder zu zumeist sozial u. auch emotional isoliert. Aufgrund ihres eingeschränkt wirkenden Selbstvertrauen u. Toleranz. Verdienste erwarb sich K. auch durch die Wahrnehmungshorizontes scheint sie dies Vermittlung dissidenter iranischer Intellek- jedoch kaum zu stören. Ebenso wenig werden tueller an ein dt. Publikum (Huschang Gol- sie aus Erfahrung klug. Sie sind vielmehr schiri: Prinz Ehtedschab. Roman. Mchn. 2001, immer wieder bereit, sich in gefährl. SituaNachw.; Mehdi Bazargan: Und Jesus ist sein tionen zu begeben oder Andere für das eigene Prophet. Der Koran und die Christen. Mchn. 2006, Überleben zu opfern. Dies gilt für Geschwisterpaare – z.B. die Brüder im Debütroman Hg., Vorw.). K. wurde mehrfach mit Preisen u. Stipen- Etüde für Adele und einen Hund (Salzb./Wien dien geehrt. Seit 2006 ist er Mitgl. der Deut- 1996) – ebenso wie etwa für die beiden Zirschen Islamkonferenz, seit 2007 der Deut- kusartisten, die in der Erzählung Ruth schläft schen Akademie für Sprache und Dichtung u. (in: Tabula rasa. Vier Erzählungen. Salzb./Wien seit 2008 Permanent Fellow am Haus der 2003) von einer Falle in die nächste geraten. Kulturen der Welt in Berlin sowie Mitgl. des Die Protagonistinnen sind einerseits stärker Wissenschaftlichen Beirats des Potsdamer Reagierende bzw. Gejagte als Agierende, insofern ihr Handeln von einzelnen rätselhafEinsteinforums. Weiteres Werk: Wer ist wir? Dtschld. u. seine ten Gegenständen (in der Erzählung Aufbrechen in: Tabula rasa), Wundern wie etwa einer Muslime. Mchn. 2008. Volker Hartmann nicht tödl. Kopfwunde (Kopfstücke. Roman. Salzb./Wien 1997) oder der Begegnung mit magischen Praktiken oder archaischen Opferritualen (Schwarze Lämmer. Roman. Salzb./ Wien 2001) ausgelöst wird. Andererseits
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Kerndl
konzentriert sich das Erzählen weniger auf Romanwerk der E. K. In: Sprachkunst 34 (2003), H. eindeutige Täter-Opfer-Verhältnisse als auf 1, S. 71–86. Andrea Geier Situationen, die aus Opfern (ungewollt) Mittäter werden lassen, oder auf ein Überleben Kerndl, Rainer, * 27.11.1928 Bad Frangegen alle Wahrscheinlichkeit: In der Erzäh- kenhausen/Thüringen. – Dramatiker, Erlung Schwarze Lämmer rächt sich ein Junge an zähler u. Theaterkritiker. seiner Schwester Ada, verrät seine zeitweiligen Mitgefangenen u. erkennt dabei nicht, Der Angestelltensohn lebte mit seiner Famidass er sich dadurch nur einen Aufschub, lie zwischen 1943 u. 1945 im besetzten Polen nicht aber Rettung vor einer kannibalisti- u. wurde dort zum Arbeits- bzw. Kriegsdienst eingezogen. Nach Entlassung aus der Gefanschen Opferung erkaufen kann. Die Leser haben in den meisten Werken K.s genschaft war er zunächst Volontär, dann einen Informationsvorsprung, da sich für sie Redakteur der Saalfelder Kreiszeitung sowie ein (drohendes) Unheil abzeichnet, das den hauptamtl. FDJ-Sekretär der Internatsoberschule Wickersdorf. Protagonisten verborgen bleibt. Im Zentrum K. debütierte mit Jugendbüchern, Erzähsteht jeweils nicht deren Erkenntnisprozess – lungen u. Hörspielen, bevor 1961 sein erstes weshalb das Erzählen konsequenterweise Drama uraufgeführt wurde: Schatten eines jegl. Introspektion der Figuren ausspart –, Mädchens. Es zeigt, wie der Mord an einer sondern eine Aktivierung der Leser durch Irjungen Polin den Ingenieur Karl Heilmann ritation. Dies vermittelt in erster Linie ein zwingt, nach Kriegsende die eigene Schuld Einfühlung verhindernder, extrem nüchteraufzuarbeiten. Seit 1963 schrieb K. Theaterner, lakon. u. distanziert-beschreibender Er- kritiken für die Zeitschrift »Neues Deutschzählton. K.s Werk bewegt sich mit den immer land«. 1965 erhielt er den Lessing-Preis, 1972 wiederkehrenden Themen von Machtstruk- den Goethe-Preis der Stadt Berlin u. den Naturen, Ausbeutungs- u. Abhängigkeitsver- tionalpreis III. Klasse. Als 1984 sein Drama hältnissen in zwischenmenschl. Beziehungen Der Georgsberg über die »Devisensucht« des im weiteren Umfeld einer literar. Gesell- DDR-Regimes nach drei Aufführungen abschaftskritik. Dies wird teilweise in der For- gesetzt wurde, musste der damalige Vizeschung mit dem Hinweis auf die Fantastik präsident des Schriftstellerverbands seine des Erzählens u. das Vordringen in »Grenz- Rezensententätigkeit aufgeben. K. verstand bereiche« (Tanzer, S. 307) anders gesehen. sich primär als »Publizist[] des Theaters«, Aufgrund seiner artifiziellen, sehr ostentati- wollte auf der Bühne »Fragen der Öffentven Rätselhaftigkeit scheint das Werk alle- lichkeit« in ihren Auswirkungen auf den gorische sowie psychoanalytisch inspirierte Alltag zeigen (WB 22, 1976, H. 4, S. 73). Im Lesarten geradezu herauszufordern. Dass Zentrum stehen daher sowohl marxistische atavistisch-myth. Szenerien jedoch »auch als Lesarten weltpolit. Ereignisse – OffiziersaufParodie auf die Esoterik-Welle« verstanden stand vom 20. Juli 1944 (Doppeltes Spiel. 1968), werden können (Schütte, S. 82), weist ebenso Pinochet-Diktatur (Nacht mit Kompromissen. wie die intertextuellen Verfahren darauf hin, 1976) – als auch die Kritik am sozialistischen dass solchen Lektüren durchaus Widerstand Dogmatismus (Ein Plädoyer für die Suchenden. 1966). K.s bedeutendstes Drama, Die seltsame entgegensetzt wird. Weitere Werke: Geständert. Erzählungen. Reise des Alois Fingerlein (1967), weist über Stationentechnik u. Parabelmodell AnnäheSteyr 1994. – Fore! Erzählungen. Linz 1995. rungen an Brechts episches Theater auf. In Literatur: Ulrike Tanzer: Distanziertes Grauen. Vergleichende Aspekte im Schreiben Marlen der Tradition ›sozialistischer Riesen‹ (Moritz Haushofers u. E. K.s. In: ›Eine geheime Schrift aus Tassow, Marski) erlebt der naive Protagonist diesem Splitterwerk enträtseln ...‹. Marlen Haus- die NS-Zeit in Polen, gerät daraufhin in den hofers Werk im Kontext. Hg. Anke Bosse u. Cle- Palästina-Konflikt, bevor er – im Sinne der mens Ruthner. Tüb./Basel 2000, S. 297–310. – Uwe ›Ankunftsliteratur‹ weise geworden – nach Schütte: Unausschöpfbare Vieldeutigkeit. Zum Ostdeutschland zurückkehrt. Während K.
Kerndörffer
zunächst didaktisierend schrieb, distanzierte er sich in den 1970er Jahren von der Tendenzliteratur. Insgesamt fand seine Dramatik nur wenig Bühnenresonanz. Nach dem Georgsberg-Skandal konzentrierte sich K. auf Kinderbücher mit polit. Hintergrund (Die Steine der Schahnas. Bln. 1986) u. Abenteuerromane (Ein heimatloser Typ. Halle/Lpz. 1990). Weitere Werke: ... u. keiner bleibt zurück. Bln./DDR 1953 (E.). – Ein Wiedersehen. Bln./DDR 1956 (E.). – Stücke. Bln./DDR 1972 (darin u. a.: Seine Kinder. Ich bin einem Mädchen begegnet. Wann kommt Ehrlicher?). – Eine undurchsichtige Affaire. Halle/Lpz. 1981 (R.). – Stücke. Bln./DDR 1983 (darin u. a.: Jarash, ein Tag im September. Der vierzehnte Sommer). – Landschaft meiner Kindheit. Häuser am Kyffhäuser. In: Das Magazin 36/1 (1989), S. 27–31. Literatur: Hermann Kähler: Stücke eines Jahrzehnts. In: R. K.: Stücke (1972), a. a. O., S. 351–361. – Erika Stephan: Vorstellungen v. unserem Leben. Zur Entwicklung des Dramatikers R. K. In: WB 22 (1976), H. 4, S. 82–101. – Siegfried Schiller: 50. Geburtstag des DDR-Dramatikers u. Theaterkritikers R. K. In: Bibliogr. Kalenderbl. der Berliner Stadtbibl. 20/11 (1978), S. 60–68 (darin: Verz. v. Primär- u. Sekundärlit.). – Gottfried Fischborn: R. K. In: Lit. der Deutschen Demokratischen Republik. Hg. Autorenkollektiv unter Leitung v. Hans Jürgen Geerdts. Bd. 2, Bln./DDR 1979, S. 174–185. – Michael Lee Burwell: ›Theater der Zeit‹ as a Mirror of GDR Drama, with a Focus on Baierl, K., Braun, and Müller. Diss. Univ. of Minnesota 1980. – Christoph Funke: Nachw. In: R. K.: Stücke (1983), a. a. O., S. 242–248. – Karl-Wilhelm Schmidt: Zur Dramaturgie in der DDR v. 1969 bis 1989. In: Dramaturgie in der DDR (1945–1990). Hg. Helmut Kreuzer u. K.-W. S. Bd. 2, Heidelb. 1998, S. 593–626. – Wolf Gerhard Schmidt: Zwischen Antimoderne u. Postmoderne. Das dt. Drama u. Theater der Nachkriegszeit im internat. Kontext. Stgt./Weimar 2009. Wolf Gerhard Schmidt
Kerndörffer, Heinrich August, * 16.12. 1769 Leipzig, † 23.9.1846 Reudnitz (heute zu Leipzig). – Romancier. Wahrscheinlich entstammte K. einer Leipziger Pastorenfamilie. Nach dem Philosophiestudium in Leipzig war er dort Universitätsdozent u. Privatgelehrter. 1805 trat K. der Leipziger Freimaurerloge »Apollo« bei, deren Meister vom Stuhl er einige Jahre war u. für
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die er ein Handbuch für Freimaurer (Lpz. 1806) verfasste. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde K. als Verfasser zahlreicher Trivialromane bekannt, die Erfolgsautoren wie Lafontaine, Vulpius oder Karl Gottlob Cramer nachahmten u. deren Verfasser von der Kritik wenig schmeichelhaft als »schreibseliger, größtentheils seichter Autor« bezeichnet wurde (NND 24, 1846, S. 1094, Nr. 1388). K. ließ kein erfolgversprechendes Sujet des zeitgenöss. Trivialromans aus. Sein Repertoire reichte vom Familienroman über den polit. Abenteuerroman bis zum Genre der Ritter-, Räuber- u. Bundesromane. Dabei waren seine Romane Kolportage u. Abklatsch berühmterer Schriftstellerkollegen, zu dürftig in literar. Erfindungsgabe u. sprachl. Gestaltungskraft, als dass K. über den Rang des Epigonen hinauswachsen konnte. Weitere Werke: Romane: Leben, Meynungen u. Schicksale Sebaldus Göz, eines Kosmopoliten. Lpz. 1795. – Lorenzo, der kluge Mann im Walde, oder das Banditenmädchen. 4 Tle., Lpz. 1801–03. – Die Unsichtbaren, oder die Abentheuer in den Ruinen v. St. Elmo. Lpz. 1807. – Die Ahnfrau. 3 Tle., Lpz. 1820/21. – Die Geheimnisse des Ahnen-Saales. Lpz. 1829. Literatur: Hartmut Weidemeier: H. A. K. Untersuchungen zum Trivialroman der Goethezeit. Diss. Bonn 1967. – Reinhart Meyer-Kalkus: Heinrich v. Kleist u. H. A. K. Zur Poetik v. Vorlesen u. Deklamation. In: Kleist-Jb. 2001, S. 55–88. Walter Weber / Red.
Kerner, (Johann) Georg, * 9.4.1770 Ludwigsburg, † 7.4.1812 Hamburg. – Politischer Journalist. Wie bei vielen seiner polit. Mitstreiter, die in Deutschland für die Ziele der Französischen Revolution eintraten, waren auch K.s Leben u. Werk lange Zeit vergessen. Erst 1978 erinnerte eine Auswahlausgabe wieder an den »bis heute faszinierenden Vertreter einer vergessenen demokratischen Gegenkultur« (Hellmut G. Haasis). K.s revolutionäre Begeisterung manifestierte sich schon zu Ende seiner Ausbildung an der Stuttgarter Hohen Karlsschule, die der Sohn einer württembergischen Honoratiorenfamilie seit 1779 besuchte. Nach der Pro-
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Kerner
motion zum Dr. med. gelangte er Ende 1791 Kerner, Justinus (Andreas Christian), über Straßburg, wo er Sekretär des dortigen * 18.9.1786 Ludwigsburg, † 21.2.1862 Jakobinerclubs wurde, nach Paris. Während Weinsberg; Grabstätte: ebd., Alter Friedder Jakobinerherrschaft geriet K. durch seine hof. – Lyriker, Erzähler; Parapsychologe, Parteinahme für die Gironde im Frühjahr Arzt. 1794 selbst auf die Haftliste. Er entkam in die Schweiz, wo er seine Arbeit im Dienst der K. war das sechste u. jüngste Kind eines Revolution jedoch fortsetzte. Als Agent der Oberamtmanns u. Regierungsrats; unter seiRepublik knüpfte er Kontakte zu süddt. De- nen Vorfahren befanden sich zahlreiche Mitmokraten u. sammelte Informationen über glieder der württembergischen »Ehrbarkeit«, die dortige polit. Lage. Als sein Freund Karl jener im Herzogtum Württemberg führenFriedrich Reinhard 1795 frz. Gesandter bei den Gruppe von Beamten u. Pfarrersfamilien. den Hansestädten wurde, reiste K. als dessen K.s Kindheit in Maulbronn u. Ludwigsburg, Privatsekretär mit. Seine polit. Erfahrungen, wo er die Lateinschule besuchte u. eine die K. in Paris u. fortan auf seinen Reisen im kaufmänn. Lehre absolvierte, ist anschaulich Auftrag Reinhards sammelte, beschrieb er in u. humorvoll geschildert in seiner AutobioArtikeln für mehrere fortschrittl. dt. Zeit- grafie Bilderbuch aus meiner Knabenzeit. Erinneschriften. Er kritisierte darin sowohl die rungen aus den Jahren 1786 bis 1804 (Braunschw. Terreur wie auch später den Verrat der re- 1849). Ermutigt durch seinen Lehrer Karl publikan. Idee unter Napoleon. Die Grün- Philipp Conz, der ihn in die dt. Literatur dung einer »Philanthropischen Gesellschaft« (Schiller, Klopstock, Hölderlin u. andere) in Hamburg 1797 zeigt, dass K. trotz dieser eingeführt hatte, studierte K. 1804–1808 Enttäuschung an der Utopie einer demokra- Medizin an der Universität Tübingen (Protischen Gesellschaft festhielt. Erst die Allein- motion über die Funktion der Gehörorgane), herrschaft u. Machtpolitik Napoleons ließen widmete sich aber daneben in einem Kreis K. resignieren. 1801 schied er aus frz. Diens- romantisch empfindender Freunde – Uhland, ten aus. Zwar schrieb er gelegentlich noch Karl Mayer, Heinrich Köstlin, Varnhagen von über polit. u. soziale Fragen u. gab ein schnell Ense (1808) – der lyr. Dichtung, ab 1806 stark verbotenes antinapoleonisches Journal (»Der beeinflusst von der Volksliederanthologie Des Nordstern«, 1802) heraus, doch widmete er Knaben Wunderhorn. Von Jan. bis März 1807 sich bis zu seinem Tod v. a. seiner Arbeit als unterhielt der Tübinger Romantikerkreis eine eigene Zeitschrift, das handschriftlich Armenarzt in Hamburg. Weitere Werke: Briefe über Frankreich, die ausliegende »Sonntagsblatt für gebildete Niederlande u. Teutschland. 3 Tle., Altona 1797/98 Stände« (erst 1961 in Marbach gedr. Hg. (anonym). – Reise über den Sund. Tüb. 1803 (an- Bernhard Zeller). K. veröffentlichte erstmals onym). – Hedwig Voegt (Hg.): G. K. Jakobiner u. Gedichte 1807/08 in Leo von Seckendorffs Armenarzt. Reisebriefe, Berichte, Lebenszeugnisse. »Musenalmanachen« u. in Arnims »Zeitung Bln./DDR 1978. für Einsiedler«. Eine einjährige Bildungsreise Literatur: Adolf Wohlwill: G. K. Hbg./Lpz. führte ihn im Frühjahr 1809 nach Hamburg, 1886. – Hellmut G. Haasis: Gebt der Freiheit Flü- wo ihm sein Bruder Georg als Spitalleiter gel. 2 Bde., Reinb. 1988, passim. – Hans-Werner Gelegenheit zu medizinischer Praxis bot, wo Engels: Republikaner ohne Republik. G. K.s ›Reier mit Rosa Maria Varnhagen u. Amalie sen‹ 1796–1801. In: Europ. Reiselit. im 18. u. Frühen 19. Jh. Hg. Wolfgang Griep u. Hans-Wolf Schoppe verkehrte u. von wo aus er Fouqué u. Jäger. Heidelb. 1990. – Andreas Fritz: G. K. Fürs- Chamisso in Berlin besuchte; im Herbst reiste tenfeind u. Menschenfreund. Ludwigsburg 42003. er zur Fortsetzung seines Praktikums nach Christoph Weiß / Red. Wien, wo er Umgang mit Friedrich u. Dorothea Schlegel hatte u. Beethoven kennen lernte. Die auf der Reise an Uhland u. andere Freunde geschriebenen Briefe vereinigte K. zu einer originellen szen. Collage: Reiseschatten. Von dem Schattenspieler Luchs (Heidelb.
Kerner
1811), »dieses launig schöne, fantastisch spielende Buch, in dem alle romantischen Blitze spielen und alle romantischen Schatten so reich und mit so traumhafter Selbstverständlichkeit nebeneinander wohnen« (Hermann Hesse, 1913). Ab Herbst 1810 wirkte K. als prakt. Arzt in kleinen württembergischen Orten: Dürrmenz, Wildbad (1811), Welzheim (1812), Gaildorf (1815) u. schließlich Weinsberg (ab Jan. 1819). Daneben pflegte er, auch nach seiner Heirat mit Friederike Ehmann im Febr. 1813 u. der Geburt von drei Kindern (1813 Rosa Maria, 1817 Theobald, 1822 Emma), die Dichtung weiter u. unterhielt eine ausgedehnte Korrespondenz. In Zusammenarbeit mit Uhland u. Schwab erstellte er zwei Sammelwerke, den Poetischen Almanach für das Jahr 1812 (Heidelb. Hg. J. K.) u. den Deutschen Dichterwald (Tüb. 1813. Hg. J. K., Fouqué u. Uhland), in denen neben den schwäb. Romantikern auch Gedichte von Hebel, Fouqué, Chamisso, Varnhagen, Eichendorff u. anderen erschienen. K.s gesammelte Lyrik wurde erstmals von Cotta 1826 gedruckt. Seine Gedichte (41854) sind volksliedhaft getönt u. charakterisiert durch schwärmerische, oft schwermütige Haltung, myst. u. okkulte Tendenzen neben schlichter Frömmigkeit, bisweilen auch frisch-humorvolle romant. Stimmungen; seine Balladen neigen zum Schauerlichen. Neben einer Menge formal nachlässiger Gebilde stehen einige geniale Schöpfungen: Wanderlied, Der Wanderer in der Sägmühle, An das Trinkglas eines verstorbenen Freundes, Der reichste Fürst. Die späten Sammlungen (Der letzte Blüthenstrauß. Cotta 1852. Winterblüthen. Cotta 1859) bringen formal u. thematisch nichts Neues. Eine Kuriosität sind die postum (Stgt. 1890) erschienenen Klecksographien, ausgemalte u. dichterisch kommentierte Tintenkleckse des seit 1851 zunehmend erblindenden Autors. Während der württembergischen Verfassungskämpfe, in die er mit einigen Aufsätzen eingriff, stand K. wie sein Bruder Karl, der höhere Staatsämter innehatte, auf der Seite eines fortschrittl. Konstitutionalismus; später zog er sich auf eine politikfeindl. Innerlichkeit zurück. Er verfasste einige lokalgeschichtl. Studien (über Wildbad 1813, den
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Welzheimer Wald 1816, Weinsberg 1822 u. andere) u. machte sich einen Namen durch einige medizinische Untersuchungen über die Vergiftung durch verdorbene geräucherte Würste (1820, 1822); 1831 publizierte er zwei Sendschreiben in Betreff der uns drohenden Cholera (Heilbr.). K.s okkulte Neigungen, sein Interesse an den »Nachtseiten der Natur« wie tierischem Magnetismus, Somnambulismus, Siderismus, Hellsehen, all den Phänomenen, »durch die der Mensch dem Geist der Natur, einem Allgemeinleben, dem Leben der Geister und Gestirne, näher kommt« (programmat. Brief an Uhland, 26.11.1812), wurden zuerst publik durch seine in Cottas »Morgenblatt« 1816 veröffentlichte Erzählung Die Heimatlosen. Später versuchte er, die Existenz eines magnetischen Fluidums u. einer Geisterwelt durch eine Reihe von okkultistischen Schriften u. zwei Periodica (»Blätter aus Prevorst«. Karlsr. 1831–39. »Magikon«. Stgt. 1840–53) wissenschaftlich zu beweisen. Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben der Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere (Tüb. 1829) löste in Deutschland eine erregte Debatte aus. K.s 1822 in Weinsberg nahe der Burgruine Weibertreu erbautes Haus, in das er auch psychisch kranke Menschen während ihrer Behandlung aufnahm, wurde dank des Freundschaftsbedürfnisses u. der Ausstrahlung des Hausherrn zu einer Stätte beispielloser Gastfreundschaft u. zu einem der geistigen Zentren Württembergs. Die Namen vieler prominenter Besucher u. zahlreiche vergnügl. Anekdoten sind festgehalten von K.s Sohn Theobald in dem Buch Das Kernerhaus und seine Gäste (Stgt. 1897. Heilbr. 81987). K.s geistiges u. materielles Erbe wird gepflegt vom Justinus-Kerner-Verein in Weinsberg, der auch das K.-Museum in dem ehem. Wohnhaus des Autors verwaltet; das Hauptorgan der K.-Forschung sind die »Suevica. Beiträge zur schwäbischen Literatur- und Geistesgeschichte« (Weinsberg, später Stgt. 1981 ff.). K. hat in verschiedenen Bereichen Spuren hinterlassen, in Dichtung, Parapsychologie u. Medizin, als Heimatkundler u. Denkmalschützer (ihm ist die Rettung der Burgruine Weinsberg zu verdanken). Viele seiner Ge-
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dichte wurden vertont, vonSchumann, Kreutzer, Silcher u. anderen Komponisten. Eine Rebsorte ist nach ihm benannt. Während die biogr. u. literaturwiss. Forschung etwas stagniert u. wohl erst wieder in Schwung geraten wird, wenn der im Marbacher Archiv lagernde umfangreiche Briefwechsel K.s durch Transkription zugänglich gemacht wird, hat der Okkultist (Parapsychologe) u. Arzt in den letzten Jahrzehnten großes Forschungsinteresse erregt u. – neben einer ganzen Reihe von Artikeln – zu einigen umfassenden, grundsätzl. Auseinandersetzungen geführt. Weitere Werke: K.s Werke. Ausw. in sechs Tln. Hg. Raimund Pissin. Bln. u. a. 1914. – Ausgew. Werke. Hg. Gunter Grimm. Stgt. 1981. – Briefe: J. K.s Briefw. mit seinen Freunden. Hg. Theobald Kerner. 2 Bde., Stgt. 1897. – J. K. u. sein Münchener Freundeskreis. Eine Slg. v. Briefen. Hg. Franz Pocci. Lpz. 1928. – Andrea Fix-Berger (Hg.): J. K., Nur wenn man v. Geistern spricht. Briefe u. Klecksographien. Stgt. 1986 (S. 153–220: Briefw. K.s mit Adalbert v. Bayern). Literatur: Heinz-Otto Burger: Schwäb. Romantik. Stgt. 1928. – Heinrich Straumann: J. K. u. der Okkultismus in der dt. Romantik. Horgen-Zürich/Lpz. 1928. – Hartmut Fröschle: J. K. u. Ludwig Uhland. Gesch. einer Dichterfreundschaft. Göpp. 1972. – Friedrich Pfäfflin u. Reinhard Tgahrt (Bearb.): J. K. Dichter u. Arzt. Marbach 1986. – Otto-Joachim Grüsser: J. K. 1786–1862. Arzt – Poet – Geisterseher. Bln. 1987. – J. K. Jubiläumsbd. zum 200. Geburtstag. Hg. Heinz Schott. Weinsberg 1990. – Bettina Gruber: Die Seherin v. Prevorst. Romantischer Okkultismus als Religion, Wiss. u. Lit. Paderb. u. a. 2000. – Wouter J. Hanegraaf: Versuch über Friederike Hauffe. Zum Verhältnis zwischen Lebensgesch. u. Mythos der ›Seherin von Prevorst‹ (I). In: Suevica 8 (2000), S. 17–45. Teil II, ebd. 9 (2001/2002), S. 233–276. – Hundert Jahre im Geiste K.s. J.-K.-Verein 1905–2005. Weinsberg 2005. Hartmut Fröschle
Kernstock, Ottokar, * 25.7.1848 Marburg/ Drau, † 5.11.1928 Festenburg/Steiermark; Grabstätte: ebd. – Lyriker; Autor historisch-biografischer Essays u. religiöser Streitschriften. Wie von ihm selbst hervorgehoben, entstammte K. einer altdt. Familie aus Steyr; der Vater arbeitete in der Finanzverwaltung.
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1867 trat K. in das Augustinerchorherrenstift Vorau ein, wo er Bibliothek u. Archiv reorganisierte; ab 1889 war er Pfarrer in der Festenburg. – Angeregt durch die Archivarbeit schrieb K. dem Mittelhochdeutschen nachempfundene Minnelyrik, veröffentlicht seit 1878 in den Münchner »Fliegenden Blättern«. Erst 1901 erschien seine Gedichtsammlung Aus dem Zwingergärtlein (Mchn.). Kaisertreue u. Patriotismus führten ihn zu Kriegshetzerei u. Heldenverklärung im Ersten Weltkrieg; mit seiner Deutschtümelei war er einer der unwissentl. Wegbereiter des Nationalsozialismus. Am bekanntesten wurde er als Verfasser der Österreichischen Volkshymne (1930–1938 offizielle Staatshymne). Weitere Werke: Unter der Linde. Mchn. 1905. – Turmschwalben. Mchn. 1908. – Aus der Festenburg. Ges. Aufsätze u. Gelegenheitsgedichte. Graz 1911. – Tageweisen. Mchn. 1912. – Schwertlilien aus dem Zwingergärtlein. Graz 1915. – Steirischer Waffensegen (zus. mit Peter Rosegger). Graz 1916. – Gedichte. Hg. u. eingel. v. Rainer Rudolf. Graz 1968. Literatur: Charlotte Grollegg-Edler: O. K. – ein ›polit. Dichter‹? In: ÖGL 30 (1986), S. 139–149. – Dies.: Die wehrhaft Nachtigall. O. K. (1848–1928). Eine Studie zu Leben, Werk u. Wirkung. Graz 2006. H. Wolf Käfer / Red.
Kerr, Alfred, eigentlich: A. Kempner, * 25.12.1867 Breslau, † 12.10.1948 Hamburg. – Theaterkritiker, Essayist, Schriftsteller. K. stammte aus einer jüd. Familie. Sein Vater war Weinhändler. Schon früh fühlte er sich zum Schriftsteller berufen. Er studierte Philosophie u. Germanistik, von 1887 an in Berlin, wo er 1894 bei Erich Schmidt über Brentano promovierte (Godwi. Ein Kapitel deutscher Romantik. Bln. 1898). K. schrieb von 1900 an Kritiken für die Zeitung »Der Tag« u. war bis 1930 der einflussreichste Kritiker Berlins. In diese Zeit fielen die erste Begegnung mit dem verehrten Gerhart Hauptmann u. publizistische Fehden u. a. mit Karl Kraus. K. erschrieb sich anfangs sein Einkommen durch Schilderungen aus dem Berliner Alltag, die durch den spött. Ton u. die pointierte Personencharakterisierung schon den späteren Theaterkritiker aufscheinen lassen (Wo
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liegt Berlin? Briefe aus der Reichshauptstadt 1895–1919. Hg. Günther Rühle. Bln. 1997). Ab 1909 führte er den Namen Kerr. 1912–1915 war er Herausgeber der Zeitschrift »Pan«. 1917 erschien sein erster Gedichtband Die Harfe (Bln.) u. die erste Reihe der Gesammelten Schriften mit fünf Bänden Die Welt im Drama (Bln.). 1919–1933 war K. Theaterkritiker am »Berliner Tageblatt«. Er warnte in mehreren Zeitungsartikeln vor den Nationalsozialisten u. einem neuen Krieg. 1933 floh er über Prag, Wien u. Zürich nach Paris. 1936–1948 lebte K. mit seiner Familie unter ärml. Bedingungen in London, schrieb polit. Kommentare für die BBC u. wurde 1933 Präsident des dt. P.E.N.-Clubs in London. Im Exil schrieb er auch die autobiogr. Erzählung Der Dichter und die Meerschweinchen (Ffm. 2004). Ende Sept. 1948 flog er nach Hamburg, erlitt während einer Theateraufführung einen Schlaganfall u. bereitete mit einer Überdosis Veronal seinem Leben ein Ende. K.s Kritiken waren Tagesereignisse in Berlin, sein Name auch im Ausland ein Begriff. Sein Wirken fiel in eine Blütezeit des Theaters u. des Dramas: Das Publikum verlangte nach Belehrung. Das Neue an K. war die Selbstinszenierung, der auf Friedrich Schlegel, Novalis u. Wilde zurückgehende Anspruch, Kritik sei Kunst: »Produktive Kritik ist solche, die ein Kunstwerk in der Kritik schafft« (in: Schauspielkunst. Bln. 1904. Ess.). Grundlage der Wertung sind für K. Erleben, »Liebe und Haß« u. Willkür, gepaart mit Sachlichkeit: »In dem criticus lebt ein exaktester Anatom. Kein bloßer Impressionist.« Anders als sein Konkurrent Herbert Ihering zeigte K. nicht literar. Strömungen auf, sondern die jeweilige Eigenart des Dichters. Sein Ausdrucksziel heißt Verknappung. Sprachmischung (z.B. Verwendung von Dialektismen u. Fremdwörtern) ist sein Stilmittel. Charakteristisch sind der hämmernde Rhythmus, pointierte Hauptsätze u. eine Neigung zu Neologismen. K.s essayistische Prosa nimmt Elemente des Expressionismus bereits vor der Jahrhundertwende vorweg. Bis 1918 förderte K., ganz Fortschrittsoptimist, die moderne Literatur, danach hatte er mit ihr Schwierigkeiten. Die Theatermacher
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Brahm, Leopold Jeßner, mit Abstrichen auch Piscator, waren seine Favoriten. Distanz bewahrte er gegenüber Max Reinhardt. Er erkannte Brechts Begabung, unterschätzte jedoch dessen Werk. K.s Daseinslust u. Erlebnishunger zeigen sich v. a. in seinen Reiseberichten; denn er war nicht nur Kritiker. In den Reisefeuilletons (Die Welt im Licht. Bln. 1920) kommt der Beobachter der Schönheiten dieser Welt zum Zuge, der freilich auch die Schattenseiten sieht, sie sarkastisch knapp streift. Die leichte Hand des Erzählers verrät den Einfluss Heines. K.s Prosaskizzen sind genaue Beobachtungen des Alltags. Seine in der Tradition Buschs stehende Lyrik schlägt liebenswürdige u. spött. Töne zgl. an. Der engagierte Republikaner K. wandelt sich gegen Ende der Weimarer Republik zusehends auch zum polit. Autor. Er rechnet in Die Diktatur des Hausknechts (Brüssel 1934. Hbg. 1981) mit Hitler u. den Mitläufern ab, bricht mit Gerhart Hauptmann. K. hat den Beruf des Kritikers von akadem. Ballast befreit u. aufgewertet. Für heutige Verhältnisse waren seine Kritiken political incorrect. Er hatte Bewunderer, doch auch Gegner, die ihn schon zu seiner Berliner Zeit als eitel u. subjektiv, unsachlich u. ungerecht kritisierten. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sein Ruhm bereits verblasst, u. die alten Vorwürfe tauchten nun in der wissenschaftl. Rezeption erneut auf, später auch vereinzelt in der Kritik. In den 1960er Jahren berief sich der Kritiker Hellmuth Karasek auf ihn. Der Kritiker Marcel Reich-Ranicki nennt ihn als einen seiner Lehrmeister. Dennoch blieb K. ohne Schüler u. Nachfolger. Seine krit. Sicht auf Brecht begünstigte eine positive Rezeption. Durch die von Hermann Haarmann u. Günther Rühle herausgegebene neue Werkausgabe kam es ab den 1990er Jahren zu einer Kerr-Renaissance. Weitere Werke: Werke in Einzelbdn.: Bd. 1,1: Erlebtes. Dt. Landschaften, Menschen u. Städte. Hg. Günther Rühle. Bln. 1989. – Bd. 1,2: Erlebtes. Reisen in die Welt. Hg. H. Haarmann. Bln. 1989. – Bd. 2: Liebes Dtschld. Gedichte. Hg. T. Koebner. Bln. 1991. – Bd. 3: Essays. Theater, Film. Hg. H. Haarmann u. Klaus Siebenhaar. Bln. 1991. – Bd. 4: Jahrmarkt des Hierseins. Porträts. Hg. H. Haar-
379 mann. Ffm. 2007. – Bd. 7,1: Ich sage, was zu sagen ist. Theaterkritiken 1893–1919. Hg. G. Rühle. Ffm. 1998. – Bd. 7,2: So liegt der Fall. Theaterkritiken 1919–1933 u. im Exil. Hg. G. Rühle. Ffm. 2001. – Herr Sudermann. Der D..Di..Dichter. Bln. 1903 (Ess.). – Schauspielkunst. Bln. 1904 (Ess.). – Das neue Drama. Bln. 1905 (Ess.). – New York u. London. Bln. 1923 (Reiseber.). – O Spanien! Bln. 1924 (Reiseber.). – Caprichos. Bln. 1926 (L.). – Es sei wie es wolle, es war doch so schön! Bln. 1928 (Reiseber.). – Die Allgier trieb nach Algier. Bln. 1929 (Reiseber.). – Die Welt im Drama. Hg. Gerhard F. Hering. Köln/Bln. 1954. 21964 (Ausw.). – Theaterkritiken. Hg. Jürgen Behrens. Stgt. 1971 (Ausw.). – Ich kam nach England. Hg. Walter Huder u. Thomas Koebner. Bln. 1979 (Tgb.). – Mit Schleuder u. Harfe. Theaterskizzen aus drei Jahrzehnten. Bln. 1981. – Lesebuch zu Leben u. Werk. Hg. Hermann Haarmann, Klaus Siebenhaar u. Thomas Wölk. Bln. 1987. – Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin? Briefe eines europ. Flaneurs 1895–1900. Hg. G. Rühle. Bln. 1999. – Der Dichter u. die Meerschweinchen. Clemens Tecks letztes Experiment. Hg. G. Rühle. Ffm. 2004. Literatur: Joseph Chapiro (Hg.): Für A. K. Ein Buch der Freundschaft. Bln. 1928. – Herbert Kirnig: A. K. – Alfred Polgar. Ein Vergleich. Diss. Wien 1950. – Walter Schwarzlose: Methoden der dt. Theaterkritik. Diss. Münster 1951. – Maria Theresia Körner: Zwei Formen des Wertens. Die Theaterkritiken Theodor Fontanes u. A. K.s. Diss. Bonn 1952. – Hans-Dieter Roos: Der Theaterkritiker A. K. Mchn. 1959. – Joachim Biener: A. K. u. Herbert Ihering. Diss. 2 Bde., Bln. 1973. – Rüdiger Steinlein: Theaterkrit. Rezeption des expressionist. Dramas. Kronberg/Taunus 1974. – Traute Schöllmann: Ein Weg zur literar. Selbstverwirklichung. A. K. Mchn. 1977. – Hubertus Schneider: A. K. als Theaterkritiker. 2 Bde., Rheinfelden 1984. – Isabella Herskovics: A. K. als Kritiker des Berliner Tagblatts, 1919–1933. Bln. 1990 (Diss). – Marcel Reich-Ranicki: A. K. – Der kämpfende Ästhet. In: Ders.: Anwälte der Lit. Mchn. 1996. – Lex. dt.-jüd. Autoren. Hendrik Markgraf
Kerr, Judith, * 14.6.1923 Berlin. – Kinderu. Jugendbuchautorin; Illustratorin. Die Tochter der Komponistin Julia Kerr (geb. Weismann) u. des Schriftstellers u. Publizisten Alfred Kerr emigrierte mit ihrer Familie bereits 1933 aus Deutschland. Nach Aufenthalten in der Schweiz u. in Frankreich gelangten sie nach England, wo K. nach dem
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Zweiten Weltkrieg ein Stipendium für die Central School of Arts and Crafts in London erhielt. Die Malerin u. Textildesignerin wurde 1953 von der BBC als Lektorin u. Redakteurin beschäftigt. Seit Ende der 1960er Jahre erwarb sich K. ein internat. Renommee als Kinderbuchautorin u. Illustratorin mit The Tiger Who Came to Tea (London 1968. Dt. Ravensburg 1979 u. ö.) u. mit den beliebten Fortsetzungsgeschichten für Kinder im Vorschulalter über die Abenteuer des Katers Mog (Mog the Forgetful Cat. London 1970. Dt. Ravensburg 1977 u. ö.), die mit dem Tod des Katers enden (Goodbye Mog. London 2003). Mit dem Jugendbuch When Hitler Stole Pink Rabbit (London 1971. Dt. u. d. T. Als Hitler das rosa Kaninchen stahl. Ravensburg 1973 u. ö.) gab K. der Jugendliteratur entscheidende Impulse: Antisemitismus, Emigration, Exil u. Krieg waren bis dahin nicht ihre Themen. Der autobiogr. Roman, der 1974 mit dem Deutschen Jugendbuch-Preis ausgezeichnet wurde, ist mittlerweile ein Standardwerk im Deutschunterricht der Sekundarstufe I. Aus der Sicht der 10-jährigen Anna erzählt K. von der überstürzten Flucht 1933 aus Berlin u. dem strapaziösen Exilleben in den Gastländern. Stereotypen über das Ausland überkreuzen sich mit zumeist positiven persönl. Erfahrungen, die Anna u. ihr Bruder im Exil machen, wodurch, trotz des ernsten Themas, Komik u. Distanz erzeugt werden. Den Geschwistern gelingt durch die als genuin kindlich dargestellten interkulturellen u. transkulturellen Kompetenzen die Integration u. die Sozialisation in der Fremde – im Unterschied zu der bedrückenden Erfahrung der Heimatlosigkeit, unter der ihre Eltern leiden. Diesen Exilroman, der von Kritik u. Publikum begeistert aufgenommen wurde, setzte K. mit den Werken The Other Way Round (London 1975. Dt. u. d. T. Warten bis der Frieden kommt. Ravensburg 1975 u. ö.) u. A Small Person Far Away (London 1978. Dt. u. d. T. Eine Art Familientreffen. Ravensburg 1979 u. ö.) fort. Der Titel Warten bis der Frieden kommt (u. d. T. Bombs on Aunt Dainty. London 2002), der von dem gefahrvollen u. entbehrungsreichen Londoner Alltag der Exilanten während der Luftschlacht um England erzählt, behandelt
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in Problemstellung u. Inhalt ebenso die der Exil u. Verfolgung im Leben der Töchter (II). Jugendliteratur bisher fremden Themen wie Wuppertal 2007. Yvonne-Patricia Alefeld Krieg, Emigrantenschicksale u. Holocaust in Verbindung mit ihren traditionellen Stoffen Kerschbaumer, Marie-Thérèse, * 31.8. wie Schwierigkeiten in der Adoleszenzphase 1936 Garches bei Paris. – Verfasserin von u. die erste Liebe der Protagonistin. Im abEssays, Lyrik, Romanen; Übersetzerin. schließenden Teil der Trilogie Eine Art Familientreffen kehrt Anna aus London, wo sie Nach den ersten drei Lebensjahren in Costa mittlerweile verheiratet ist u. in gesicherten Rica (österr. Mutter, kuban. Vater) wuchs K., finanziellen Verhältnissen lebt, nach Berlin deren Mutter vom Nationalsozialismus verzurück. Ihre Mutter hat einen Suizidversuch folgt wurde, bei den Großeltern in Tirol auf. unternommen, da sie von dem Seitensprung Nach einer kaufmänn. Lehre u. Aufenthalten ihres Lebensgefährten erfahren hat. Annas in England u. Italien lebt K. seit 1957 in Wien Vater hatte nach einem Schlaganfall neun (1963–1973 Studium der Romanistik u. GerJahre zuvor den Freitod gewählt. Die hier manistik, Promotion 1973; 1971 Heirat mit behandelten persönl. u. familiären Krisen dem Maler Helmut Kurz-Goldenstein, der sind Spiegel der sozialen u. polit. Konflikte, 2004 starb). K. gehört zu den profiliertesten Autorindie in diesem Werk, das im Jahr 1956 spielt, mit der Suezkrise u. dem Einmarsch sowje- nen Österreichs, die sich engagiert-forttischer Panzer in Ungarn benannt werden. Im schrittl. Inhalten mit formalästhetischen ExUnterschied zu den ersten beiden Teilen der perimenten anzunähern versuchen. K.s WerTrilogie verzichtet der Roman auf iron. Ak- ke spiegeln den Kampf gegen jede Form von zente u. auf komische Brüche erzielende Ef- Unterdrückung. Ihr Leben ist geprägt von fekte. Die zuweilen klischeehaft u. trivial kreativem Eintreten für Antifaschismus, wirkende Handlung wird häufig unterbro- Frieden u. soziale Gerechtigkeit. Ebenso geht chen durch innere Monologe u. Retrospekti- K. der Frage nach einer weibl. Identität im ven, die ganz auf das subjektive Erleben u. historisch-polit. Kontext des 20. Jh. nach. Als Lektorin in Bukarest veröffentlichte K. Empfinden Annas zielen. Ihre Geschichte entpuppt sich als die der Identitätssuche ei- ihren ersten Band Gedichte (Bukarest 1970); ner jungen Frau, die schließlich das uner- 1976 folgte der Roman Der Schwimmer hoffte Mutterglück aus einer Reihe unlösbar (Salzb.). Mit Der weibliche Name des Widerstands scheinender Krisen befreit u. das Ende ihrer (Olten/Freib. i. Br. 1980, Bln./Weimar 1986. Kindheit markiert. Somit gipfelt das Neuausg. Klagenf. u. a. 2005. Verfilmung von Schlussstück der Romantrilogie in der ge- Susanne Zanke. ORF 1981) legte sie eine Dolungenen Ausbildung eines spezifisch weibl. kumentation antifaschistischen Widerstands Geschlechtscharakters, der Geborgenheit u. von Frauen in einer konzentrierten, reflekSchutz gegen eine aus den Fugen geratene tierenden Prosa vor. Im »Familienroman« Welt in Ehemann u. Kind findet. Damit Schwestern (Olten/Freib. i. Br. 1982. Neuausg. werden die emanzipator. Anregungen, die Klagenf. u. a. 2007) erweitert K. die zeitgevon den ersten beiden Teilen der Romantri- schichtl. Ebene um eine explizit weibliche, logie ausgehen, revidiert. In seiner pädago- indem sie die Geschichte des weibl. Ich im gischen u. moralischen Zielsetzung ist Eine österr. Bürgertum in ihren politisch-ökonom. Art Familientreffen den Idealen der traditio- Zusammenhängen von der Jahrhundertwende bis zur Gegenwart rekonstruiert. Mit dem nellen Mädchenliteratur zuzurechnen. Gedichtband Neun Canti auf die irdische Liebe Literatur: Michael Kerr: As Far as I Remember. (Klagenf./Salzb. 1989, mit Illustrationen von London 2006. – Henrike Walter: ›Es war ja auch viel schwieriger für sie‹. Mutter u. Tochter in J. K.s Helmut Kurz-Goldenstein) gibt K. ein neuerl. ›Anna‹-Trilogie. In: Inge Hansen-Schaberg, Maria Zeugnis ihrer Sprachkunst. 2003 gab K. den Band Arkadien / Apologie Kublitz-Kramer, Ortrun Niethammer u. Renate Wall (Hg.): ›Das Politische wird persönlich‹ – Fa- (Wien) heraus; im selben Jahr erschien der miliengesch.(n). Erfahrungen u. Verarbeitung v. Prosaband Orfeo. Bilder Träume (Klagenf. u. a.),
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2005 der Essayband Calypso. Über Welt, Kunst, 2002. – H. Höller: Das Werk v. M.-T. K. Klagenf. Literatur (ebd.), der sich als Plädoyer für die u. a. 2007. Christine Schmidjell / Julia Danielczyk Aufgabe jegl. Literatur liest, nämlich die krit. Bezugnahme auf die Gegenwart unter Berufung auf eine geistesgeschichtl. Tradition. Kersten, Kurt, auch: Georg Forster, * 19.4. »Die Massen erkennen nicht, wer ihre Feinde 1891 Welheiden bei Kassel, † 18.5.1962 sind«. Zuletzt erschien von K. der Lyrikband New York. – Verfasser von Monografien, Wasser und Wind. Gedichte 1988–2005 (ebd. Publizist. 2006). K., Sohn eines Gutsbesitzers, studierte GerK. zeichnete sich auch als Übersetzerin v. a. manistik u. Geschichte in München u. Berlin aus dem Rumänischen u. Spanischen aus; so u. promovierte mit einer Arbeit über Voltaires übersetzte sie u. a. Paul Gomas Romane OstiHenriade in der deutschen Kritik vor Lessing (Bln. nato (1971) u. Die Tür (Ffm. 1972) sowie Vin1914). 1915 zum Kriegsdienst eingezogen, tila Ivanceanus u. Peter Croys »Bestiarium« kehrte er unmittelbar nach der NovemberreDer Vultcaloborg und die schöne Belleponge (Ffm./ volution nach Berlin zurück, wo er bis 1934 Bln./Wien 1973). als freier Schriftsteller lebte. Er gehörte den 1989–1995 war K. Vizepräsidentin der IG Kreisen um die expressionistische Zeitschrift Autoren. 2005 gab sie die umstrittene An»Die Aktion« u. den Malik-Verlag an u. arthologie österr. Literatur nach 1945, Landverbeitete für die »Rote Fahne«, war Mitgl. des messung, mit heraus. Bundes proletarisch-revolutionärer SchriftK. erhielt 1981 den Österreichischen Försteller sowie enger Freund u. Mitarbeiter derungspreis zum Staatspreis, 1985 den Willi Münzenbergs. 1934 floh K. vor den Meersburger Droste-Preis, 1995 den Preis der Nationalsozialisten über Zürich nach Prag u. Stadt Wien für Literatur u. 1995 den Roseg1937 nach Paris, wo er in der Volksfront-Begerpreis des Landes Steiermark für österreiwegung mitarbeitete u. für Exilzeitschriften chische Literatur. Seit 2002 befindet sich K.s wie die »Internationale Literatur« u. »Das literar. Archiv in der HandschriftensammWort« schrieb. 1940 glückte ihm die Flucht lung der Wienbibliothek im Rathaus. nach Casablanca, von dort nach Martinique u. Weitere Werke: Werkausg. in 13 Bdn. Klagenf. 1946 nach New York. Dort blieb er bis zu 2007. – Für mich hat Lesen etwas mit Fließen zu seinem Tod Mitarbeiter der Exilzeitschrift tun ... Wien 1989 (Ess.s). – Die Fremde. Erstes Buch. Klagenf./Salzb. 1992. – Ausfahrt. Zweites »Aufbau«, veröffentlichte in zahlreichen weBuch. Klagenf./Salzb. 1994. – bilder immermehr. stdt. u. internat. Zeitungen u. Zeitschriften u. gedichte (1964–1987). Salzb./Wien 1997. Neuausg. arbeitete für den WDR. Ursprünglich vom Klagenf. u. a. 2007. – Fern. Drittes Buch. Klagenf. Expressionismus beeinflusst, wurde K. ab u. a. 2000. – Versuchung. Klagenf. u. a. 2002. – 1920 ein sozialistisch engagierter Autor. In Neun Elegien. Klagenf. u. a. 2004. – Hörspiele: Kin- seinen großen Monografien Ein europäischer derkriegen. 1979. – Zigeuner. 1981. Revolutionär: Georg Forster 1754–1794 (Bln. Literatur: Hilde Schmölzer: Frau sein & 1921), Fridericus Rex und die Krise des Absolutisschreiben. Wien 1982, S. 91–97. – Hans Höller: mus (Bln. 1922) u. Bismarck und seine Zeit (Bln. ›Wer spricht hier eigentlich, das Opfer, eine Lei- 1930) erweist er sich als Meister der histor. densgenossin oder ein weibl. Autor?‹ [...]. In: Biografie. Frauenlit. Autorinnen. Perspektiven. Konzepte. Hg. Manfred Jurgensen. Mchn. 1985, S. 142–153. – Sigrid Schmid-Bortenschlager: Die Vermittlung zwischen gestern u. heute, der Heldin u. uns [...]. In: ebd., S. 153–157. – W. Bryan Kirby: ›... dein und mein Gedächtnis ein Weltall‹. A metahistorical avenue into M.-T. K.’s literary world of women. New York u. a. 2000. – Barbara Müller: Gegen den Strich. Erzählen nach Auschwitz. Dipl.-Arb. Wien
Weitere Werke: Die dt. Revolution. Bln. 1923. – Peter der Große. Vom Wesen u. den Ursachen histor. Größe. Amsterd. 1935. – Unter Freiheitsfahnen. Dt. Freiwillige in der Gesch. Straßb. 1938. Literatur: Dieter Schiller: K. K. als Historiker u. Publizist in den Jahren des Exils 1933 bis 1940. In: Hélène Roussel u. Lutz Winckler (Hg.): Dt. Exilpresse u. Frankreich. Bern u. a. 1992, S. 227–236. – Helmut Peitsch: Vom Aktivismus zum Antitotalitarismus. K. K.s Biogr.n Georg Forsters u. das
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Problem der Identifikation. In: Georg-Forster-Studien 7 (2002), S. 21–59. – Dieter Schiller: ›Propaganda als Waffe‹. K. K. u. Willi Münzenberg. Bln. 2007. Ilse Auer / Red.
Kersten, Paul, * 23.6.1943 Brakel bei Höxter. – Lyriker, Erzähler u. Literaturredakteur. K. wuchs in Holzminden/Weser auf u. begann nach dem Abitur 1963 ein Studium der Germanistik u. Philosophie in Hamburg. Er promovierte 1970 mit einer Arbeit über Nelly Sachs u. wirkte anschließend als Lehrbeauftragter am Literaturwissenschaftlichen Seminar der Universität Hamburg. Seit 1973 ist er Literaturredakteur beim NDR, für den er das »Bücherjournal« betreut u. »P. K.s Bücherrubrik« schreibt. Zwar debütierte K. zunächst als Lyriker (Steinlaub. Bad Driburg 1963) u. legte in größeren Abständen drei weitere Gedichtbände vor; für sein zentrales literar. Thema, das Sterben, wählte er jedoch später v. a. die Form der Erzählung. In seiner ersten Prosaveröffentlichung Der alltägliche Tod meines Vaters (Köln 1978) protokolliert K. minutiös den langsamen Krebstod des Vaters. Die Trauerarbeit ruft Kindheitserinnerungen wach, die K. im Band Die toten Schwestern (Köln 1982. Düsseld. 2007) formuliert. Durch seine detailbesessenen Schilderungen des Sterbens u. der Vergänglichkeit bringt K. die Grausamkeit der Wirklichkeit zum Vorschein. K. schreibt im Grenzbereich zwischen Autobiografie u. Fiktion gegen die Kindheit als den Beginn der Vergänglichkeit an. Weitere Werke: Absprung. Köln 1979 (R.). – Die Blume ist ängstlich. Gedichte für ein Kind. Hbg. 1980. – Der Riese. Hbg. 1981 (E.) – Die Verwechslung der Jahreszeiten. Hbg. 1983 (L.). – Briefe eines Menschenfressers. Köln 1987 (R.). – Abschied v. einer Tochter. Hbg. 1990 (R.). – Die Helligkeit der Träume. Hbg. 1992 (R.). – So viele Wunden in der Luft. Mchn. 2000 (L.). Literatur: Rainer Zimmer: P. K. In: KLG. – Thomas Kraft: P. K. In: LGL. Gerhard Bolaender / Günter Baumann
Kessel, Martin, * 14.4.1901 Plauen/Vogtland, † 14.4.1990 Berlin. – Erzähler, Essayist, Lyriker. Nach dem Ersten Weltkrieg studierte K. in Berlin, München u. Frankfurt Germanistik, Philosophie, Musik- u. Kunstwissenschaft. 1923 promovierte er mit einer Arbeit über Thomas Manns Novellentechnik. Danach ließ er sich als freier Schriftsteller in Berlin nieder, der seinem Empfinden nach bewegtesten Stadt, um dort, inspiriert von seinem literar. Lehrmeister Tristram Shandy, einen Sinn für Ruhe gegenüber der Zeit zu finden u. dennoch nicht in Alltäglichkeit zu erstarren. Seine zweite wichtige literar. Kraftquelle waren Die toten Seelen Gogols. Sarkastisch liefert K. poetische u. novellistische Beiträge zur Physiognomik Berlins. Illusionslos durchläuft er sein Territorium u. schildert, wie die Menschen von ihren Wünschen in die Irre geführt u. vom Schicksal widerlegt werden. Die Eskapaden der vom Lebenshunger erfassten Menschen in den Novellen des Bands Betriebsamkeit (Ffm. 1926) zeigen sie als Opfer ihrer fixen Ideen. K.s bedeutendster Roman ist Herrn Brechers Fiasko (Stgt. 1932. Mchn. 2002), die ernüchternde Auslotung des »Tümpels«, in den ein Angestellter gerät, der sich seinen von Ironie durchsetzten Individualismus nicht austreiben lassen will. Brechers weibl. Gegenstück ist die Titelheldin des Romans Lydia Faude (Neuwied/Bln. 1965. Mchn. 2003), die ihre unzeitgemäße Lebenslust u. romant. Liebhabereien dem verknöcherten Zweckoptimismus ihrer auf Geld erpichten Umwelt entgegenzusetzen versucht. Zwischen den beiden groß angelegten Romanen verfasste K. den Künstlerroman Die Schwester des Don Quichote (Braunschw. 1938. Mchn. 2004), in dem die klass. Erzählstrukturen der Novellen von E. T. A. Hoffmann u. Theodor Fontane zu unerwartet modernem u. eigenwillig skurrilem Ausdruck gelangen. Dass die Geschichte im »Dritten Reich« entstanden ist, merkt man ihr nicht an, sie ist kein schlitzohrig verstelltes Dokument der »inneren Emigration«, sondern ein stolzes Bekenntnis zur Autonomie der Kunst. K.s Ironie u. romantisierender Weltsinn bestimmen auch die Eigenheit sei-
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ner brillant geschriebenen literar. Essays sowie seiner »ironischen Miniaturen« u. erkenntniskrit. Aphorismen. Seine leichtfüßiggeistvolle, immer streng durchgeformte Lyrik folgt vorzugsweise Morgensterns Leitsatz: »Wer fragt, der ist gerichtet, hier wird nicht kommentiert, hier wird an sich gedichtet.« K. wurde u. a. mit der Kleist-Preis-Ehrung (1926), dem Büchner-Preis (1954) u. dem Berliner Fontane-Preis (1961) ausgezeichnet. Weitere Werke: Gebändigte Kurven. Gedichte. Ffm. 1925. – Ess.s u. Miniaturen. Stgt./Hbg. 1947. – Ges. Gedichte. Hbg. 1951. – In Wirklichkeit aber ... Satiren, Glossen, kleine Prosa. Bln. 1955. – Gegengabe. Aphorist. Kompendium für hellere Köpfe. Darmst./Bln./Neuwied 1959. – Kopf u. Herz. Sprüche im Widerstreit. Neuwied/Bln. 1963. – Alles lebt nur wenn es leuchtet. Neue Gedichte. Mainz 1971. – Ehrfurcht u. Gelächter. Literar. Ess.s. Mainz 1974. Literatur: Wilfried F. Schoeller: Der Elan eines Dichters auf verlorenem Posten. In: Literaturmagazin (1987), Nr. 20, S. 168–179. – Norbert Miller: Nachr. auf M. K. In: Jb. der Akademie der Wiss.en u. der Lit. 41 (1990), S. 93–96. – Bernhard Spies: Die Angestellten, die Großstadt u. einige ›Interna des Bewusstseins‹. M. K.s Roman ›Herrn Brechers Fiasko‹. In: Sabina Becker u. Christoph Weiß (Hg.): Neue Sachlichkeit im Roman. Stgt. 1995, S. 235–254. – Wolf Peter Schnetz: Wer war ... M. K. Ein Jahrhundertgenie im Schatten der Weltlit. In: Der Literat 43 (2001), S. 11 f. – Katrin Hillgruber: Bestiarium der Angestellten. M. K.s Berlin- u. Büroroman ›Herrn Brechers Fiasko‹ wiedergelesen. In: NDL 49 (2001), H. 4, S. 131–136. – Claudia Stockinger u. Stefan Scherer (Hg.): M. K. (1901–1990). Bielef. 2004 (mit Bibliogr. S. 337–349). Klaus Völker / Red.
Kesser, Hermann, eigentl.: H. Kaeser, * 4.8.1880 München, † 5.4.1952 Basel. – Erzähler, Dramatiker, Essayist. Der Sohn eines Kunsthändlers studierte zunächst Ingenieurwesen, später Kunstgeschichte u. Psychologie in München u. Zürich, promovierte 1903 in Zürich zum Dr. phil. (Der associative Faktor im ästhetischen Eindruck), unterrichtete Musikgeschichte u. Ästhetik am Zürcher Konservatorium, ging jedoch bald zum Journalismus über u. wurde zu einem der kompetentesten Interpreten schweizerischer Themen in der dt. Presse. Als
Kesser
Schriftsteller debütierte er mit den beiden Erzählungen Lukas Langkofler u. Das Verbrechen der Elise Geitler (Ffm. 1912). Vor allem Lukas Langkofler, eine intensive, leidenschaftl. Schilderung der Pariser Bartholomäusnacht von 1572, zeugte erstmals für K.s Begabung, spektakuläre, außergewöhnl. Ereignisse packend in Sprache zu bannen. Einen Höhepunkt erfuhr diese »dynamische Epik« in K.s berühmtester Erzählung, Die Peitsche (Ffm. 1917. Frauenfeld 1919. Ffm. 1926), mit der er, obwohl in histor. Gewand, direkt auf die bevorstehende dt. Revolution verwies. Maro, ein Wagenlenker, schlägt in einer unerhört expressiven, spannungsgeladenen Szene dem röm. Kaiser die Peitsche ins Gesicht u. gibt damit das Signal zum Aufstand der Massen. Ebenso prophetisch-visionär mutet der Roman Die Stunde des Martin Jochner (entstanden 1914. Erstdr. Lpz. 1917. Bln. 21930) an, die Beschreibung der hekt. Atmosphäre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, seismografisch genau aufgezeichnet von einem Journalisten, dem der Krieg unausweichlich erscheint. 1919 glaubte K. noch, »am neuen Anfang der Menschheit« teilzuhaben, dann aber wandte er sich immer stärker einer sozial engagierten, pragmat. Tendenz zu (vgl. die Erzählungen Straßenmann u. Schwester. Beide Ffm. 1926) u. empfand den Expressionismus bereits 1930 als »flammenden Kurzschluß, hergestellt von den Ereignissen«. Auch als Dramatiker nahm K. in Stücken wie Die Brüder (Bln. 1921) oder Rotation (Wien 1931) aus dezidiert linker Position heraus zu sozialen Problemen Stellung. 1933 verließ er Deutschland, wo er nach 1920 gelebt hatte, u. siedelte ganz in die Schweiz über, deren Bürger er 1934 wurde. Während des Zweiten Weltkriegs lebte K., literarisch ohne Fortüne, in den USA. In seinen letzten Lebensjahren versuchte er von der Schweiz aus vergeblich ein Comeback in die Wege zu leiten. Weitere Werke: Vom Chaos zur Gestaltung. Ffm. 1925 (Ess. u. L.). – Musik in der Pension. Bln. 1928 (R.). – Talleyrand u. Napoleon. Zürich 1938 (D.). – Das Verbrechen der Elise Geitler u. a. E.en. Hg. Bernd Jentzsch. Nachw. v. Thomas B. Schumann. Olten 1981. Literatur: Franz Hammer: H. K. In: H. K: Die Stunde des Martin Jochner. Bln./DDR 1975,
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ner brillant geschriebenen literar. Essays sowie seiner »ironischen Miniaturen« u. erkenntniskrit. Aphorismen. Seine leichtfüßiggeistvolle, immer streng durchgeformte Lyrik folgt vorzugsweise Morgensterns Leitsatz: »Wer fragt, der ist gerichtet, hier wird nicht kommentiert, hier wird an sich gedichtet.« K. wurde u. a. mit der Kleist-Preis-Ehrung (1926), dem Büchner-Preis (1954) u. dem Berliner Fontane-Preis (1961) ausgezeichnet. Weitere Werke: Gebändigte Kurven. Gedichte. Ffm. 1925. – Ess.s u. Miniaturen. Stgt./Hbg. 1947. – Ges. Gedichte. Hbg. 1951. – In Wirklichkeit aber ... Satiren, Glossen, kleine Prosa. Bln. 1955. – Gegengabe. Aphorist. Kompendium für hellere Köpfe. Darmst./Bln./Neuwied 1959. – Kopf u. Herz. Sprüche im Widerstreit. Neuwied/Bln. 1963. – Alles lebt nur wenn es leuchtet. Neue Gedichte. Mainz 1971. – Ehrfurcht u. Gelächter. Literar. Ess.s. Mainz 1974. Literatur: Wilfried F. Schoeller: Der Elan eines Dichters auf verlorenem Posten. In: Literaturmagazin (1987), Nr. 20, S. 168–179. – Norbert Miller: Nachr. auf M. K. In: Jb. der Akademie der Wiss.en u. der Lit. 41 (1990), S. 93–96. – Bernhard Spies: Die Angestellten, die Großstadt u. einige ›Interna des Bewusstseins‹. M. K.s Roman ›Herrn Brechers Fiasko‹. In: Sabina Becker u. Christoph Weiß (Hg.): Neue Sachlichkeit im Roman. Stgt. 1995, S. 235–254. – Wolf Peter Schnetz: Wer war ... M. K. Ein Jahrhundertgenie im Schatten der Weltlit. In: Der Literat 43 (2001), S. 11 f. – Katrin Hillgruber: Bestiarium der Angestellten. M. K.s Berlin- u. Büroroman ›Herrn Brechers Fiasko‹ wiedergelesen. In: NDL 49 (2001), H. 4, S. 131–136. – Claudia Stockinger u. Stefan Scherer (Hg.): M. K. (1901–1990). Bielef. 2004 (mit Bibliogr. S. 337–349). Klaus Völker / Red.
Kesser, Hermann, eigentl.: H. Kaeser, * 4.8.1880 München, † 5.4.1952 Basel. – Erzähler, Dramatiker, Essayist. Der Sohn eines Kunsthändlers studierte zunächst Ingenieurwesen, später Kunstgeschichte u. Psychologie in München u. Zürich, promovierte 1903 in Zürich zum Dr. phil. (Der associative Faktor im ästhetischen Eindruck), unterrichtete Musikgeschichte u. Ästhetik am Zürcher Konservatorium, ging jedoch bald zum Journalismus über u. wurde zu einem der kompetentesten Interpreten schweizerischer Themen in der dt. Presse. Als
Kesser
Schriftsteller debütierte er mit den beiden Erzählungen Lukas Langkofler u. Das Verbrechen der Elise Geitler (Ffm. 1912). Vor allem Lukas Langkofler, eine intensive, leidenschaftl. Schilderung der Pariser Bartholomäusnacht von 1572, zeugte erstmals für K.s Begabung, spektakuläre, außergewöhnl. Ereignisse packend in Sprache zu bannen. Einen Höhepunkt erfuhr diese »dynamische Epik« in K.s berühmtester Erzählung, Die Peitsche (Ffm. 1917. Frauenfeld 1919. Ffm. 1926), mit der er, obwohl in histor. Gewand, direkt auf die bevorstehende dt. Revolution verwies. Maro, ein Wagenlenker, schlägt in einer unerhört expressiven, spannungsgeladenen Szene dem röm. Kaiser die Peitsche ins Gesicht u. gibt damit das Signal zum Aufstand der Massen. Ebenso prophetisch-visionär mutet der Roman Die Stunde des Martin Jochner (entstanden 1914. Erstdr. Lpz. 1917. Bln. 21930) an, die Beschreibung der hekt. Atmosphäre vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, seismografisch genau aufgezeichnet von einem Journalisten, dem der Krieg unausweichlich erscheint. 1919 glaubte K. noch, »am neuen Anfang der Menschheit« teilzuhaben, dann aber wandte er sich immer stärker einer sozial engagierten, pragmat. Tendenz zu (vgl. die Erzählungen Straßenmann u. Schwester. Beide Ffm. 1926) u. empfand den Expressionismus bereits 1930 als »flammenden Kurzschluß, hergestellt von den Ereignissen«. Auch als Dramatiker nahm K. in Stücken wie Die Brüder (Bln. 1921) oder Rotation (Wien 1931) aus dezidiert linker Position heraus zu sozialen Problemen Stellung. 1933 verließ er Deutschland, wo er nach 1920 gelebt hatte, u. siedelte ganz in die Schweiz über, deren Bürger er 1934 wurde. Während des Zweiten Weltkriegs lebte K., literarisch ohne Fortüne, in den USA. In seinen letzten Lebensjahren versuchte er von der Schweiz aus vergeblich ein Comeback in die Wege zu leiten. Weitere Werke: Vom Chaos zur Gestaltung. Ffm. 1925 (Ess. u. L.). – Musik in der Pension. Bln. 1928 (R.). – Talleyrand u. Napoleon. Zürich 1938 (D.). – Das Verbrechen der Elise Geitler u. a. E.en. Hg. Bernd Jentzsch. Nachw. v. Thomas B. Schumann. Olten 1981. Literatur: Franz Hammer: H. K. In: H. K: Die Stunde des Martin Jochner. Bln./DDR 1975,
Kessler S. 441–468. – Thomas B. Schumann: H. K. In: Ders.: Plädoyers gegen das Vergessen. Bln. 1979, S. 33 ff. – Hans J. Schütz: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Vergessene u. verkannte Autoren des 20. Jh. Mchn. 1988, S. 139–144. – Johannes F. Evelein: H. K. In: Dt. Exillit. Bd. 3, Tl. 1, S. 300–312. Charles Linsmayer / Red.
Kessler, Harry Graf, * 23.5.1868 Paris, † 30.11.1937 Lyon; Grabstätte: Paris, Père Lachaise. – Verfasser biografischer u. autobiografischer Schriften, Publizist, Politiker, Diplomat u. Kunstvermittler. An ein Studium der Jurisprudenz u. Kunstgeschichte in Bonn u. Leipzig schlossen sich mehrere ausgedehnte Reisen an, darunter 1896 nach Mexiko. Die Erlebnisse verarbeitete K., Sohn eines Bankiers, in den 1898 erschienenen Notizen über Mexico. 1895 begann seine Tätigkeit für die Zeitschrift »PAN« u. damit die Begegnung mit Impressionismus u. Jugendstil, die beide für die Kunstauffassung K.s bestimmend wurden, die er aber auch immer wieder kritisch reflektiert hat. Als ehrenamtl. Direktor des »Großherzoglichen Museums für Kunst und Kunstgewerbe« in Weimar war K. bestrebt, beide Richtungen durch zahlreiche Ausstellungen in Deutschland durchzusetzen. Seine Reformbemühungen stießen auf erhebl. Widerstand, u. so gab die Ausstellung von Aktzeichnungen Rodins, die das Schamgefühl des Großherzogs wie der Hofkamarilla verletzte, den Anlass zu einem inszenierten Skandal, der zum Rücktritt K.s von seinem Direktorenamt führte. Dennoch setzte sich K. weiterhin publizistisch u. verlegerisch für die neue Kunst ein. 1908 erschien die im Rahmen ausgreifender, aber nie monografisch zusammengefasster Kunststudien entstandene Vorrede zu dem Bildband Impressionisten, die ausführlich auch auf das »Problematische am Impressionismus« eingeht, das K. vor allem in der »übergroßen Kompliziertheit« sieht; dieser müsse man – ohne die Ideen u. Ziele des Impressionismus zu verleugnen – eine neue Art von unakadem. Klassizismus entgegensetzen. Emphatisch begrüßte K. daher Gerhart Hauptmanns Griechischen Frühling (1908), in dem dem widersprüchlich-verwickelten Ver-
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hältnis von menschl. Kultur u. Natur die paradiesisch-antike, harmon. Einheit einer Naturgesellschaft entgegengestellt ist. In ähnl. Weise beurteilte er den »Griechen« Maillol, den er noch über Rodin stellte: Seine Plastiken, denen über lange Zeit erarbeitete, hochkomplizierte Gedanken zugrunde lägen, seien in denkbar einfachen, »naturhaften«, immer mehr reduzierten Formen ausgeführt. Mit Maillol’schen Holzschnitten wurde dann auch das wohl bedeutendste Werk der 1913 von K. gegründeten u. geleiteten CranachPresse illustriert: Vergils Eclogen (1926/27). Nach seiner Teilnahme am Ersten Weltkrieg wechselte K. im Sept. 1916 in die neutrale Schweiz u. organisierte dort die dt. Kulturpropaganda. Nach dem Waffenstillstand war er Mitte Nov. bis Mitte Dez. 1918 Botschafter in Polen. Anschließend engagierte sich K. zunehmend für die dt. Außenu. Sozialpolitik. Als Publizist setzte er sich für die Weimarer Staatsverfassung wie für den sozialen Ausgleich ein, als Verfasser der Richtlinien für einen wahren Völkerbund (1920) u. als Teilnehmer an der Weltwirtschaftskonferenz von Genua (1922) sowie der Völkerbundsversammlung in Genf (1924) trug er zur polit. Annäherung Deutschlands an die Siegermächte bei. Im Nov. 1924 kandidierte er erfolglos für ein Reichstagsmandat der Deutschen Demokratischen Partei. Persönliche Bekanntschaft wie polit. Tätigkeit führten K. immer wieder in die Nähe Walther Rathenaus. Nach dessen Ermordung verfasste K. eine bald in mehrere Sprachen übersetzte Biografie Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk (Bln. 1928), die Rathenau v. a. in seinen Widersprüchen darstellt: in seiner persönl. Einsamkeit u. dem Leiden daran; im als unvereinbar empfundenen Nebeneinander von analyt. Verstand u. assoziativer Fantasie; in der Kritik am Kapitalismus u. der führenden Rolle innerhalb der dt. Wirtschaft; oder in der Erfüllungspolitik u. im Kosmopolitismus des überzeugten Preußen. K.s Biografie, die eher referierend gehalten ist u. selten wertet (getadelt werden die stilistischen Übertreibungen Rathenaus, positiv gewürdigt wird seine Bedeutung für die Organisierung der Kriegswirtschaft), ist bei allen persönl. u. polit. Differenzen von
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einer Seelenverwandtschaft getragen, die auf (Hg.): H. G. K.: Ein Wegbereiter der Moderne. der Prägung durch die frz. Aufklärung Freib. i. Br. 1997. – Carina Schäfer: Maurice Denis gründet u. in der Verbindung von Geist u. Tat et le comte K. (1902–1913). Ffm. u. a. 1997. – Tadie vornehmste Form menschl. Lebens sieht. mara Barzantny: H. G. K. u. das Theater. Autor, Mäzen, Initiator 1900–1933. Köln u. a. 2002. – Das Während einer Reise nach Paris im März Buch als Kunstwerk. Die Cranach Presse des Grafen 1933 wurde K. vor einer Rückkehr nach H. K. Hg. John Dieter Brinks. Laubach/Bln. 2003. – Deutschland gewarnt. Bis zu seinem Tod Laird McLeod Easton: Der Rote Graf. H. G. K. u. lebte er zunächst auf Mallorca, dann in seine Zeit. Stgt. 2005 (zuerst amerikan. Ann Arbor Frankreich. Auf Mallorca schrieb er seine 1993). Jens Haustein / Angela Reinthal Memoiren, wovon jedoch nur der erste Band vollendet wurde: 1935 erschien Gesichter und Kessler, Keslerus, Johannes, auch: A(i)heZeiten (Bln.; Schüler- u. Studentenjahre). Sein narius, * um 1502/1503 St. Gallen, † 7.3. bedeutendstes Werk ist sein 57 Jahre lang 1574 St. Gallen. – Chronist, Reformator. geführtes Tagebuch, das er 1880 in England begann u. das bis zwei Monate vor seinem Der Klosterschüler begann 1521 theolog. Tod reicht. 1961 erschien eine Auswahl der Studien bei Erasmus von Rotterdam in Basel. Tagebücher nach 1918. Die Aufzeichnungen Am 18.3.1522 ließ sich K. in Wittenberg imder Jahre 1902 bis 1914, die lange als ver- matrikulieren, um sich ein Urteil über Luschollen galten, wurden 1983 wiederentdeckt thers Lehre zu bilden. Von Luther u. Melanu. vervollständigen den Nachlass im DLA. chthon beeinflusst, kehrte er Ende 1523 als Seit 2004 erscheint die neunbändige Ge- Anhänger der Reformation in seine Heimat samtausgabe der Tagebücher, die das Leben zurück. K. verzichtete auf die Priesterweihe u. ereines Mannes vor Augen stellt, der wie kaum lernte ein Handwerk, da es in St. Gallen noch ein zweiter am Schnittpunkt von alt-monarkeine Wirkungsmöglichkeiten für evang. chischer u. neu-demokratischer Welt, von Geistliche gab. Er verfasste in den Jahren Politik u. Kunst, von Kunstkritik u. Kunstseiner Tätigkeit als Sattler sein Hauptwerk produktion stand. Sabbata, eine 1866–1868 erstmals gedruckte Ausgaben: Tagebücher. 1918–37. Hg. Wolfgang Chronik über Anfänge u. Entwicklung der Pfeiffer-Belli. Ffm. 1961. 1982. – Hugo von HofReformation in St. Gallen u. der Schweiz mannsthal – H. G. K. Briefw. 1898–1929. Hg. Hilde 1519–1539. Das »an den fyrtagen und fyrBurger. Ffm. 1968. – Eberhard von Bodenhausen – H. G. K. Briefw. 1894–1918. Ausgew. u. hg. v. abendstunden« niedergeschriebene (daher Hans-Ulrich Simon. Marbach 1978. – Ges. Schr.en. der Titel), reformationsgeschichtlich bedeutHg. Cornelia Blasberg u. Gerhard Schuster. 3 Bde., same Werk erhält durch Passagen, in denen K. Ffm. 1988 (Bibliogr. in Bd. 2, S. 302–335). – Das von eigenen Erlebnissen berichtet, seinen bes. Tgb. 1880–1937. Hg. Roland S. Kamzelak u. Ulrich Wert. Zu den bekanntesten u. schönsten Ott. 9 Bde. u. 2 CD-ROM. Stgt. 2004 ff. Szenen gehören K.s Begegnung als junger Literatur: Renate Müller-Krumbach: H. G. K. Student mit Luther in Jena u. die Beobachu. die Cranach-Presse in Weimar. Hbg. 1969. – tung eines Kometen im Sommer 1531. Wolfdietrich Rasch: H. G. K. als Schriftsteller. Die Wie die Sabbata zeigen, blieb K. am kirchl. frühen Schr.en zur Kunst u. Lit. In: FS Bernhard Leben der Stadt beteiligt. Bereits 1524 hielt er Zeller. Stgt. 1984, S. 315–337. – Gerhard Schuster in Zunftstuben öffentl. Bibelauslegungen ab. u. Margot Pehle (Hg.): H. G. K. Tgb. eines Welt- Nach 1537 gab er das Sattlerhandwerk endmannes. Eine Ausstellung des DLA Marbach 1988 gültig auf u. übernahm die Leitung der La(Kat.: Übersicht über die bisher erschienenen teinschule von St. Gallen. Eng mit dem St. Briefausg.n, S. 512). – Dagmar Lohmann-Hinrichs: Galler Bürgermeister Vadian befreundet, unÄsthetizismus u. Politik. H. G. K. u. seine Tagebücher in der Zeit der Weimarer Republik. Ffm. terstützte K. dessen Eintreten für die Reforu. a. 1994. – Peter Grupp: H. G. K. 1868–1937. Eine mation. So fertigte er ein Gutachten über Biogr. Mchn. 1995. – Burkhard Stenzel: H. G. K. Schwenckfeld an. Nach Vadians Tod (1551) Ein Leben zwischen Kultur u. Politik. Weimar u. a. verfasste K. dessen Biografie (Erstdruck 1865) 1995.– Gerhard Neumann u. Günter Schnitzler u. ordnete gemeinsam mit seinem Sohn Josua
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die der Stadt vermachte Bibliothek des Hu- Kesten, Hermann, * 28.1.1900 Podwol/ omanisten. czyska/Galizien, † 3.5.1996 Riehen bei Seit der Neukonstituierung des ostschwei- Basel; Grabstätte: Basel, Israelitischer zerischen Synodalverbands 1544 war K. als Friedhof, Theodor-Herzl-Straße. – Erdessen Schreiber tätig. Im »Memorialbüch- zähler, Dramatiker, Lyriker, Essayist. lein« zeichnete er die Beschlüsse u. Protokolle K., Sohn eines Kaufmanns, studierte nach der Synodaltagungen 1552–1573 auf. 1571 dem Abitur am Humanistisch Königlich Alwählte man ihn zum Vorsteher der Synode, ten Gymnasium in Nürnberg 1919–1923 nachdem er zuvor den Vorsitz der evang. Volkswirtschaft u. Jura in Erlangen, anKirche St. Gallens übernommen hatte. Durch schließend Germanistik, Geschichte u. Phisein langjähriges Wirken für die neue Konlosophie in Frankfurt/M. Nach dem Abbruch fession, das ihn in hohem Alter bis an die des Studiums arbeitete er vorübergehend im Spitze der evang. Kirche der Ostschweiz Trödelladen seiner Mutter, ehe er 1927 führte, gilt K. neben Vadian als der bedeuCheflektor des Kiepenheuer Verlags in Berlin tendste Reformator St. Gallens. wurde u. in Verbindung zu Autoren wie Ausgaben: Bibliotheca Sangallensis Ioachimum Bertolt Brecht, Erich Kästner, Joseph Roth, Vadianum prudentissimum consulem alloquitur Anna Seghers u. Ernst Toller trat. Seine Ver(1531). Erstdr. in: Melchior Goldast: Alemannicaöffentlichungen in namhaften polit. u. kulrum rerum scriptores [...]. Bd. 3, Ffm. 1606, S. 215–224. Neuausg. mit Einl. u. dt. Übers. v. turellen Organen wie »Die Weltbühne«, Ernst Gerhard Rüsch in: Vadian-Studien 12 (1985), »Frankfurter Zeitung«, »Literarische Welt« S. 13–62. – Sabbata mit kleineren Schr.en u. Brie- u. »Berliner Tagblatt« machten ihn zu einem fen. Hg. Emil Egli u. a. St. Gallen 1902 (mit sämtl. bekannten Publizisten. Darüber hinaus proerwähnten Schr.en, Gelegenheitsgedichten, K.s filierte er sich als Übersetzer zeitgenöss. frz. Briefw. sowie einer Inhaltsangabe der Abhandlung Literatur (u. a. Julian Green: Leviathan. 1930. ›Wie man machen solle Quadranten oder Circkel‹). Jules Romain: Der Kapitalist. 1931. Jean Gi– Aus J. K.s Sabbata. Hg. Wilhelm Ehrenzeller. 2 raudoux: Die Abenteuer des Jérome Bardini. Bde., St. Gallen 1945 (nhd. Wiedergabe wichtiger 1932). 1933 emigrierte K. nach Frankreich u. Textpartien). lebte fortan in Paris. In Amsterdam überLiteratur: Ernst Götzinger: J. K. In: ADB. – nahm er die Leitung der dt. Abteilung des Johann Jakob Bernet: J. K. St. Gallen 1826 (Biogr.). Verlags Allert de Lange u. publizierte in – Gerold Meyer v. Knonau: Eine schweizer. Hauschronik der Reformationszeit. In: Sybels Histor. Konkurrenz, aber auch in Kooperation mit Ztschr. 24 (1870), S. 43–93. – Traugott Schieß: J. K.s Querido die Werke dt. Exilautoren. Nach der Sabbata. In: Schr.en des Vereins für Reformations- frz. Kriegserklärung wurde K. in Frankreich gesch. 28 (1910). Lpz. 1911, S. 1–113 (neben Biogr. zeitweilig interniert, konnte aber 1940 von vollst. Inhaltsangabe der ›Sabbata‹ mit Auszügen u. Paris nach New York emigrieren, wo er bis Komm.). – Ingeborg Wissmann: Die St. Galler Re- 1949 blieb u. sich für die Rettung vieler formationschronik des J. K. [...]. Diss. Tüb. 1971. – Emigranten aus Europa einsetzte. 1953 zog Quellen zur Gesch. der Täufer in der Schweiz. Hg. er nach Rom, 1977 nach Basel, wo er bis zu Heinold Fast. Bd. 2, Zürich 1973, S. 590–638 seinem Tod lebte. (Täufer betreffende Auszüge aus den ›Sabbata‹ mit K., dessen Werk Romane, Erzählungen, Komm.). – Otto Erich Strasser: J. K. In: NDB. – Dramen, Lyrik, Essays u. Editionen umfasst, Erich Wenneker: J. K. In: Bautz. – Willi Alter: Die gehörte in der Spätphase der Weimarer ReBer.e v. Peter Harer u. J. K. vom Bauernkrieg 1525. Speyer 1995 (mit Textauszügen aus den ›Sabbata‹). publik zu den Hauptvertretern der Neuen – Barbara Henze: J. K. In: LThK, 3. Aufl. – Rudolf Sachlichkeit. Unsentimental konzentriert er Gamper: Repräsentative Chronikreinschr.en in der sich auf die dargestellten Schicksale seiner Reformationszeit. In: Aegidius Tschudi u. seine Gestalten, die sich mit ihrer Zeit auseinanZeit. Hg. Katharina Koller-Weiss u. Christian Sie- dersetzen, u. steht mit seiner aufklärerischen ber. Basel 2002, S. 269–286. – Ders., Urs Leo Gan- Moral u. satir. Grundhaltung Autoren wie tenbein u. Frank Jehle: J. K. Chronist der Refor- Erich Kästner nahe. In seinen historischmation. St. Gallen 2003. Jörg Köhler / Red. biogr. Romanen der Exilzeit verfolgte er
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ähnliche zeitkrit. Ziele wie Lion Feuchtwanger u. Heinrich Mann, während seine Nachkriegsproduktionen mit ihrer krit. u. oft deliziös-erot. Komponente die Tendenzen der westdt. Literatur der späten 1950er u. der 1960er Jahre aufnehmen. K.s Hauptthema ist das Aufeinandertreffen von moralischer Vernunft u. bürgerl. Ideologie, von Machtgier u. Irrationalismus. Er ist ein leidenschaftl. Verfechter der Freiheit des Individuums. Im Frühwerk geht es um die Zwänge der Familie, des Staats u. der Konvention. Charakteristisch sind hier die enorme Stofffülle u. der parataktisch ausufernde Stil. In der Exilzeit stehen das Bemühen des Einzelnen um einen Freiraum ethischen Handelns u. der Kampf gegen polit. Zwänge im Vordergrund; im Spätwerk setzt er sich mit dem Suizid als Form autonomen Handelns auseinander. In seinem kurzen Erstlingsroman Josef sucht die Freiheit (Potsdam 1927. Neuaufl. Gött. 1999) befreit sich ein 13-Jähriger von seiner lasterhaften Familie. In der Fortsetzung, dem bitter-iron. Roman Ein ausschweifender Mensch (Bln. 1929), unter dem Motto »Die Freiheit ist ein bürgerliches Vorurteil« (Lenin), sucht der nun 20-jährige Josef, nach Heinrich Mann ein »pessimistischer ›Taugenichts‹«, vergeblich die Freiheit in der Auflehnung gegen die bürgerl. Gesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg. In dem ersten im Exil veröffentlichten Roman Der Gerechte (Amsterd. 1934) tritt parabelhaft ein Vater auf, der wohlmeinend-naiv, in einer modernen Version des König-LearThemas, 1933 sein Eigentum zu Lebzeiten an seine Kinder verteilt. Parallel zum Untergang dieser Familie wird anhand einer anderen der Aufstieg des Nationalsozialismus exemplifiziert. Im Exil entstanden zudem zwei umfangreiche histor. Romane um Spaniens Aufstieg zur Weltmacht, in denen K. Geist u. Macht, Freiheitsstreben u. Diktatur kontrastiert u. so die Entwicklung der folgenden Jahre vorwegnimmt: Ferdinand und Isabella (Amsterd. 1936. In 2 Bdn. u. d. T. Um die Krone. Der Mohr von Kastilien. Mchn. 1952. Sieg der Dämonen. Ferdinand und Isabella. Mchn. 1953. Zürich 2006) u. König Philipp der Zweite (Amsterd. 1938. U. d. T. Ich der König. Mchn. 1950).
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Die Auseinandersetzung mit dem »Dritten Reich« ist Thema des heiteren Romans Die fremden Götter (Amsterd. 1949). Das erot. Thema seiner Casanova-Biografie (Mchn. 1952) kehrt in moderner Fassung in dem Roman über einen erfolgreichen Verführer, Ein Sohn des Glücks (Mchn. 1955), wieder. K.s frühere Gestalt des Moralisten, der in der Praxis keiner ist, wird hier weiter ausgestaltet. In den Romanen u. Erzählungen der folgenden Jahre zeigt sich K. weiterhin als Zeitkritiker, oft aber mit Handlungen, die durch erot. u. kriminalistische Elemente nicht weit vom Kolportagehaften entfernt sind. Besonders deutlich tritt die satir. Komponente in dem Roman Die Zeit der Narren (Mchn. 1966) hervor, in dem K. die Zeit von 1949 bis 1965 in der Bundesrepublik anhand der Karrieren von drei Schulfreunden als Vertretern repräsentativer Gesinnungen behandelt. Einen wichtigen Teil des Nachkriegsœuvres bilden die Essays in Sammlungen wie Meine Freunde, die Poeten (Wien 1953. Neuaufl. Zürich 2006) u. Revolutionäre mit Geduld (Percha 1973), in denen K. Schriftstellerkollegen porträtiert u. persönl. Erinnerungen festhält. Hinzu kommt seine umfangreiche Tätigkeit als Herausgeber der Werke anderer Autoren u. von Anthologien der Weltliteratur (u. a. Lessing, Dichter der Romantik, Heine, J. Roth, Schickele, Exilautoren). K. wurde mit zahlreichen Preisen u. Auszeichnungen geehrt, u. a. 1974 mit dem Georg-Büchner-Preis, 1977 mit dem NellySachs-Kulturpreis, 1978 u. 1982 mit Ehrenpromotionen der Universität ErlangenNürnberg u. der FU Berlin. Von seinen Schriftstellerkollegen wurde er den größten dt. Romanciers an die Seite gestellt, von der Literaturkritik nach 1945 allerdings wenig gewürdigt. Weitere Werke: Ausgabe: Ausgew. Werke in 20 Einzelbdn. Ffm./Bln. 1980–84. – Lyrik: Ich bin, der ich bin. Mchn./Zürich 1974. – Dramen: Maud liebt Beide. Bln. 1928. – Admet. Bln. 1928. – Babel oder Der Weg zur Macht. Bln. 1929. – Wohnungsnot oder Die hl. Familie. Bln. 1929. – Einer sagt die Wahrheit. Bln. 1930. – Wunder in Amerika (zus.
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mit Ernst Toller). Bln. 1930. – Romane: Glückl. Menschen. Bln. 1931. – Der Scharlatan. Bln. 1932. – Die Kinder v. Gernika. Amsterd. 1939. – The Twins of Nuremberg. New York 1946 (Dt. u. d. T. Die Zwillinge v. Nürnberg. Amsterd. 1947. Neuaufl. Nürnb. 2003). – Die Abenteuer eines Moralisten. Wien 1961. Neuaufl. Zürich 2007. – Ein Mann v. sechzig Jahren. Mchn. 1972. – Franz Schoenberner/ H.K.: Briefw. im Exil 1933–1945. Hg. Frank Berninger. Gött. 2008. Literatur: Cornelius Schnauber: H. K. Zuerst der Mensch, dann die Gesellsch. In: Hans Wagener (Hg.): Zeitkrit. Romane des 20. Jh. Die Gesellsch. in der Kritik der dt. Lit. Stgt. 1975, S. 146–166. – Andreas Winkler: H. K. im Exil (1933–40). Sein polit. u. künstler. Selbstverständnis u. seine Tätigkeit als Lektor in der dt. Abt. des Allert de LangeVerlages. Hbg. 1977. – Horst Bienek (Hg.): Hommage à H. K. Zum 80. Geburtstag. Ffm. 1980. – Manès Sperber: H. K. In: Ders.: Geteilte Einsamkeit. Wien 1985, S. 243–272. – Viviane Besson: La tradition de L’ironie littéraire – son rôle de critique politique e sociale chez un écrivain de l’exil. H. K. 2 Bde., Bordeaux 1989. – H. Wagener: Mit Vernunft u. Humanität. H. K.s sachl. Denkspiele in seinen ›Josef‹-Romanen. In: Sabina Becker u. Christoph Weiss (Hg.): Neue Sachlichkeit im Roman. Neue Interpr.en zum Roman der Weimarer Republik. Stgt./Weimar 1995, S. 49–68. – Wolfgang Buhl u. Ulf v. Dewitz (Hg.): ›Ich hatte Glück mit Menschen‹. Zum 100. Geburtstag des Dichters H. K. Texte v. ihm u. über ihn. Nürnb. 2000. – U. v. Dewitz u. Manfred Schreiner (Hg.): Lust auf H. K. Blind date mit einem Weltbürger. Mchn. 2000. – Walter Fähnders u. Hendrik Weber (Hg.): Dichter – Literat – Emigrant. Über H. K. Mit einer K.-Bibliogr. Bielef. 2005. Hans Wagener / Ralf Georg Czapla
Kettenbach, Hans Werner, * 20.4.1928 Bendorf/Rhein. – Journalist, Drehbuchautor, Kriminal- u. Romanschriftsteller. Nach dem Abitur 1947 studierte K. in München, Bonn u. Hamburg Zeitungs- u. Theaterwissenschaften. Als sein Vater 1953 starb, unterbrach er das Studium u. übernahm dessen Anzeigenvertretung. 1954–1956 war K. Stenograf u. Hilfsredakteur beim »Kicker« u. lektorierte Hör- u. Fernsehspiele beim WDR in Köln. 1958 begann er das Studium der Osteurop., Mittleren u. Neueren Geschichte u. Philosophie u. promovierte 1964 mit der Arbeit Lenins Theorie des Imperialismus
(Köln 1965). Seitdem war er als Redakteur für den »Kölner Stadtanzeiger« tätig; 1968 wurde er Korrespondent u. Leiter des Bonner Büros. Neun Jahre später ging er im Auftrag der Zeitung für ein Jahr nach New York. Nach seiner Rückkehr übernahm K. die Leitung des Ressorts Politik u. war 1988–1992 stellvertretender Chefredakteur. K.s schriftstellerische Tätigkeit begann etwa in der Zeit seines Aufenthalts in New York. Für ein Preisausschreiben verfasste er 1977, angeblich innerhalb von drei Wochen, seinen ersten Kriminalroman Grand mit Vieren (Bergisch Gladbach). Mit dem Manuskript gewann er den Jerry-Cotton-Preis. Für den Roman Schmatz oder die Sackgasse (Zürich) erhielt K. 1987 den Deutschen Krimi-Preis (2. Platz). Neben seiner journalistischen Arbeit schrieb er mehrere Hörspiele u. Drehbücher (u. a. sechs Drehbücher für die erfolgreiche Kommissar Klefisch-Reihe mit Willy Millowitsch). Fünf seiner bislang vierzehn Romane wurden – mit allerdings mäßigem Erfolg – verfilmt. K gehört zu den großen Routiniers des dt. Kriminalromans; er ist ein Meister der Suspense im Sinne Patricia Highsmiths. Vielleicht wird er deswegen von der dt. Literaturwissenschaft bis heute gemieden. Seine Romane jedenfalls lesen sich leicht, sind hochspannend u. zeugen von einer großen Beobachtungsgabe u. Erfindungslust. Die Sprache ist meist schlicht u. klar u. tritt ganz in den Dienst entweder der Figurenrede oder der erzählten Geschichten. Diese Geschichten, so unterschiedlich sie im Einzelnen sein mögen, sind allesamt Erkundungen an der nicht mehr trennscharf wahrnehmbaren Grenze zwischen Wirklichem u. Möglichem. Schon in seinem frühen Roman Glatteis (Bergisch Gladbach 1983) verführt die akrib. Rekonstruktion eines von niemandem für möglich gehaltenen Verbrechens den Bauarbeiter Jupp Scholten dazu, dieses Verbrechen tatsächlich an seiner eigenen Frau zu begehen. Wie hier der Umschlag zwischen kriminalistischer Aufklärung u. krimineller Tat geschieht, wie beides lange voneinander geschieden bleibt u. zuletzt ineinandergreift – das gehört zu den Höhepunkten in K.s Werk. Ein weiterer dieser Höhepunkte ist der
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Roman Die Schatzgräber (Zürich 1998). Auch hier geht es um die allmähl. Machtentfaltung einer Geschichte im Bewusstsein eines einzelnen Menschen: Maria Mendel will herausfinden, ob es stimmt, was ihr Onkel Leo in seinen Erzählungen immer zur Realität erklärt: dass nämlich ihr Großvater u. ihr Großonkel 1928 gemeinsam einen Geldtransporter überfallen u. die gestohlenen Geldtruhen unter einem Pflaumenbaum vergraben hätten. Maria beginnt, im Gespräch mit ihrem Onkel u. in Zeitungsarchiven jedes Detail dieser Geschichte zu überprüfen u. begibt sich schließlich sogar selbst auf die Suche nach dem Pflaumenbaum. Die Besessenheit, die sie dabei entwickelt, spiegelt sich wider im einzigartigen monologischen Sog, den K.s Prosa im Laufe des Romans entfaltet. Das Buch ist eine großartige Parabel auf die sinnstiftende, die wirklichkeitstiftende Macht von Geschichten; es unterschlägt allerdings auch nicht die Gefahren, die dort lauern, wo das Mögliche vom Wirklichen nicht mehr klar zu unterscheiden ist, wo also Fiktion Wirklichkeit wird u. Wirklichkeit Fiktion. Diese Gefahren spielen – als Vorurteile – eine herausragende Rolle v. a. in K.s satir. Romanen Davids Rache (Zürich 1994) u. Kleinstadtaffäre (Zürich 2004). Weitere Werke: Der lange Marsch der Bundesrepublik. Aufgaben u. Chancen der inneren Reformen. Düsseld./Wien 1971 (Sachbuch). – Der Pascha. Wien/Hbg. 1979 (R). – Hinter dem Horizont. Ebd. 1979 (R.). – Minnie oder ein Fall v. Geringfügigkeit. Zürich 1984 (R.). – Sterbetage. Ebd. 1986 (R.). – Kommissar Klefisch. Ein Fall für Onkel. In informierten Kreisen. Hbg./Köln 1999 (Drehbücher). – Torschluß. WDR 1987. Bln. 2002 (1 CD; Hörsp). – Die Konkurrentin. Zürich 2002 (R.). – Zu Gast bei Dr. Buzzard. Zürich 2006 (R.). – Das starke Geschlecht. Zürich 2009 (R.). Marco Schüller
Kettenbach, Heinrich von, * Kettenbach/ Oberpfalz oder Taunus, † ca. 1524/25. – Franziskaner, Verfasser reformatorischer Flugschriften. Über K.s Herkunft u. Bildungsgang ist nichts bekannt. Hinweise in seinen Werken lassen eine ritterl. Abstammung vermuten. 1507/08 ist er als Franziskaner im Kloster Kaysersberg (Oberelsass) nachweisbar, 1508–1510 in
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Mainz als Magister juvenum u. Legens, als Prädikator 1510–1516 in Heilbronn, dann wieder in Mainz (1516–1519), 1519/20 in Freiburg i. Br. u. als Nachfolger Eberlins von Günzburg in Ulm (1520–1522), wo er seit 1521 im Franziskanerkloster evang. Predigten hielt. Sein religiöser Hauptgegner war Peter Nestler (»Pater Hutz«). Im Juli 1522 floh K. aus Ulm. Über sein weiteres Leben u. sein Lebensende gibt es keine zuverlässigen Nachrichten. Überliefert sind neun dt. Flugschriften aus den Jahren 1522 u. 1523, die großen Anklang beim Publikum fanden, von den Führern der Reformation allerdings weitgehend unbeachtet blieben. K.s Schriften erlebten mehrere Neuauflagen u. Nachdrucke u. wurden z.T. ins Niederdeutsche übersetzt. Sie greifen die kath. Kirche u. den dt. Adel an. K. schreckte auch vor der Schmähung des Kaisers nicht zurück (Eyn new Apologia und verantwortung Martini luthers wyder der Papistten Mortgeschray [...]. Augsb. 1523 u. a. Ausg.n). Eine 1525 unter seinem Namen gedruckte Predigt ist vermutlich nur eine Kompilation von K.s Gedankengut (Clemen, S. 235). K.s Flugschriften wenden sich gegen die Unfehlbarkeit des Papstes, Fasten, Werkgerechtigkeit, Wallfahrten, Privilegien der Geistlichen usw. u. verteidigen Luther. K. beweist polit. Umsicht. Durch die evang. Lehre sollen auch soziale Missstände beseitigt werden. Formal verwendet er Predigt, Dialog, Vergleich u. Apologie. Sein Stil ist leicht verständlich, reich an Redewendungen u. Vergleichen, manchmal derb. Er wendet sich an das Volk (Eyn gesprech [...] mit aim frömen altmüterlin von Ulm [...]. Nürnb. 1523 u. a. Ausg.n) wie an den Adel (Vergleychung des allerheyligisten herren, und vatter des Bapsts, gegen [...] Jesus. Wittenb. 1523 u. a. Ausg.n), den er mit flammenden Worten zum Widerstand gegen die röm. Kirche aufruft. Ausgaben: Die Schr.en H.s v. K. Hg. Otto Clemen. In: Flugschr.en aus den ersten Jahren der Reformation. Hg. ders. Bd. 2, H. 1, Lpz. 1907. Nachdr. Nieuwkoop 1967, S. 1–244. – Ein Gespräch mit einem frommen Altmütterlein (1523). In: Flugschr.en der frühen Reformationsbewegung (1518–1524). Hg. Adolf Laube u. a. Bd. 1, Bln. 1983, S. 201–217. – Apologie u. Verantwortung Martin
Kettner Luthers wider der Papisten Mordgeschrei (1523). In: ebd., S. 575–589. – Klage an den Adel des Reiches (1523). In: ebd., Bd. 2, S. 815–819. – Eine Practica (1523). In: ebd., S. 820–829. Literatur: Bibliografien: Martin v. Hase: Bibliogr. der Erfurter Drucke v. 1501–1550. In: AGB 8 (1967), Sp. 655–1096. – VD 16. – Hans-Joachim Köhler: Bibliogr. der Flugschr.en des 16. Jh. Tl. 1: Das frühe 16. Jh. Bd. 2, Tüb. 1992, Nr. 2008–2041. – Weitere Titel: Jakob Franck: H. v. K. In: ADB. – Ludwig Keller: Aus den Anfangsjahren der Reformation. In: Monatsh.e der Comenius-Gesellsch. 8 (1899), S. 176–185. – Karl Schottenloher: Der Münchner Buchdrucker Hans Schobser 1500–1530. Mchn. 1925, S. 109–142. – Paul Kalkoff: Die Prädikanten Johann Rot-Locher, Eberlin u. K. In: ARG 25 (1928), S. 128–150. – Hans Volz: H. v. K. In: NDB (unter Heinrich v. K.). – Friedrich Zoepfl: H. v. K. In: LThK, 2. Aufl. – Reinhold Brandl: Eberlin v. Günzburg u. H. v. K. Ein Vergleich. Univ. Wien 1983. – Geoffrey Dipple: ›Woe unto you, stomachpreachers and cheesebeggars, hypocrites!‹ Antifraternalism and Reformation anticlericalism. Diss. Queen’s University 1991. – Heiko Wulfert: H. K. In: Bautz. Susanne Kunisch / Red.
Kettner, Fritz. – Ältester in Nürnberg nachgewiesener Meisterlieddichter, um 1400. Der Name K. ist 1392, 1397 u. 1430 im Nürnberger Losungsbuch (Steuerlisten) eingetragen, 1408 im Harnischbuch (K. hatte aufgrund seines Einkommens einen Harnisch zu stellen); auf 1411 ist ein Eintrag ins Bürgerbuch datiert, der die Berufsbezeichnungen »soldner« u. »diener« enthält, was auf einen städt. Bediensteten schließen lässt. Möglicherweise handelt es sich allerdings bei den beiden späten Einträgen um einen zweiten Namensträger. Von K. sind sieben meisterl. Töne überliefert: Frauenton, Hoher Ton, Osterweise, Paratreihen, Prophetentanz, Schlüsselweise, Verkürzter Ton. Die Osterweise erscheint unter dem Namen Frauenlobs Verhohlener Ton auch in der Kolmarer Liederhandschrift. Hoher u. Verkürzter Ton sind erst im 16. Jh. belegt u. vermutlich unterschoben. In der Schlüsselweise preist K. Maria, die den von 23 Altvätern u. Propheten vorbereiteten Schlüssel (zum Paradies) verfertigt habe (im Text signiert: »Ketener«), ein weiteres
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Lied in diesem Ton rühmt anaphorisch die Macht u. Liebe des trinitar. Gottes. Im Prophetentanz werden 24 Altväter aufgezählt, die Christus bei der Himmelfahrt mit ins Paradies nahm (ebenfalls signiert). Auch in den beiden Liedern der Osterweise dominiert das Reihungsprinzip: 72 Marienattributionen zählt das eine Lied auf, das andere exemplifiziert des Ostergeschehens an den »bispeln« von Phönix, Pelikan, Adler, Strauß u. Löwe. Im Paratreihen notierte schließlich Hans Sachs in seine früheste Handschrift ein Weihnachtslied u. eine auf Maria gedeutete Sommerallegorese, ohne sie K. ausdrücklich zuzuweisen, ebenso im Frauenton ein Lob des Gesangs unter Rekurs auf dessen alttestamentl. Wurzeln u. mit Verweis auf die Passion Christi. Wie einige zeitgenöss. Liederdichter signierte K. zwei Texte, das lässt alle weiteren in der Zuschreibung als nicht gänzlich gesichert erscheinen, selbst wo Thematik, Stil u. Überlieferungssituation für ihn als Autor sprechen. Besonders unsicher ist die Zuschreibung der drei letztgenannten Lieder. K. wurde im 15.-17. Jh. als einer der Begründer des Nürnberger Meistergesangs verehrt. Zeugnis seiner Verehrung im 15. Jh. ist ein fingierter Rätselstreit mit dem Marner (RSM 3, 1Frau/26/11); Sachs zählt ihn unter die zwölf Begründer des Nürnberger Meistergesangs (RSM 9, 2S/187). In der Namensform Kothner ging er in Wagners Meistersinger ein. Ausgaben: Bartsch: Meisterlieder der Kolmarer Handschrift. Stgt. 1862, S. 200–202. – Cramer 2, S. 112–131 u. 4, S. 53–61. Literatur: Irene Stahl: Die Meistersinger von Nürnberg. Archival. Studien. Nürnb. 1982, S. 207 f. – Dieter Merzbacher: F. K. In: VL. – Frieder Schanze: Meisterl. Liedkunst zwischen Heinrich v. Mügeln u. Hans Sachs. Zürich/Mchn. 1983/84, Bd. 1, S. 286–295. – RSM 4, S. 176–179. – J. Rettelbach: Der Einzug der Meistersinger in die Oper. In: Dorothea Klein u. a. (Hg.): Vom MA zur Neuzeit. FS Horst Brunner. Wiesb. 2000, S. 615–632. – RSM 2/1, S. 105 f. Johannes Rettelbach
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Keun, Irmgard, * 6.2.1910 Berlin, † 5.5. 1982 Köln; Grabstätte: ebd., Melatenfriedhof. – Romanautorin. Die Tochter eines Fabrikanten arbeitete nach dem Besuch einer Mädchenschule einige Jahre als Stenotypistin, ließ sich dann zur Schauspielerin ausbilden u. erhielt Engagements an mehreren dt. Theatern. 1932 heiratete sie den fast 30 Jahre älteren Schriftsteller u. Regisseur Johannes Tralow, von dem sie 1937 geschieden wurde. Entscheidend für ihre schriftstellerische Karriere war ihre Begegnung mit Alfred Döblin, der ihr Ausdruckstalent erkannte. Döblins Ermutigung zum Schreiben war der unmittelbare Impuls für K.s ersten Roman Gilgi – eine von uns (Bln. 1931), der innerhalb kurzer Zeit eine Auflage von mehr als 30.000 Exemplaren erreichte. Nicht weniger erfolgreich war K.s zweites Buch Das kunstseidene Mädchen (Bln. 1932). Beide Romane wurden 1933 von den Nationalsozialisten als »Asphaltliteratur mit antideutscher Tendenz« auf die Schwarze Liste gesetzt. 1935 verließ K. Deutschland, lernte 1936 in Belgien Joseph Roth kennen u. reiste mit ihm bis zu ihrer Trennung im Frühjahr 1938 nach Frankreich, in die USA, nach Polen u. in Roths galiz. Heimat Lemberg. Mit gefälschten Papieren kehrte K. 1940, nachdem sie in den Niederlanden vom Einmarsch der dt. Truppen überrascht worden war, nach Deutschland zurück. Dass sie dort unentdeckt bis zum Kriegsende leben konnte, verdankte sie der Falschmeldung von ihrem Selbstmord, die 1940 durch die Presse gegangen war. K. schrieb auch im Nachkriegsdeutschland weiter, konnte jedoch an ihre einstigen Erfolge nicht mehr anknüpfen u. geriet in Vergessenheit. Eine wiederholt angekündigte Autobiografie wurde, auch in ihrem Nachlass, nicht gefunden. K.s Romane beschreiben einen weiten histor. Bogen – vom Ende des Kaiserreichs (Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften. Amsterd. 1936) über die Endphase der Weimarer Republik (Gilgi – eine von uns. Das kunstseidene Mädchen), die Zeit des Nationalsozialismus (Nach Mitternacht. Amsterd. 1937) u. des Exils (Kind aller Länder. Amsterd.
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1938) bis zur Nachkriegszeit (Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen. Düsseld. 1950). Es sind gesellschaftskrit., neusachl. Tendenzen verpflichtete Zeitromane, die diese Abschnitte der dt. Geschichte, ihre polit. u. sozialen (Miss-)Verhältnisse, in konkreten Lebensgeschichten, im Alltag des kleinen Mannes (ein Kind, eine Stenotypistin, eine kleine Angestellte) sinnfällig werden lassen. Dabei geht es nicht um Gesamtschau oder -deutung, auch nicht um differenzierte Analyse der polit. u. gesellschaftl. Strukturen hinter der Alltagswirklichkeit. K.s Intention richtet sich vielmehr darauf, aus dem subjektiven u. eingeschränkten Blickwinkel der jeweiligen Hauptfigur u. in einer Vielzahl von Begebenheiten die Deutsche Wirklichkeit (Klaus Mann, 1937) konkret werden zu lassen. Die naive Hellsichtigkeit u. ungefilterte Beobachtungsschärfe von K.s Ich-Erzählern sowie deren Schlagfertigkeit u. Witz bestimmen den erzählerischen Modus der Romane, die sprachlich u. stilistisch den Gestus eines assoziativen Drauflosredens nachahmen u. durch die Diskrepanz zwischen den oftmals erschütternden sozialen Fakten u. der kunstvoll hergestellten Naivität der Figuren immer wieder eine satir. Qualität erlangen. Der filmischen Schnitttechnik entlehnt ist das Nebeneinander unverbundener Episoden u. Szenen, die in ihrer Disparität einen Eindruck von den Dissonanzen der jeweiligen Zeit vermitteln. In der suggestiv-unvermittelten Wiedergabe von Erfahrungen, Denk- u. Sprechweisen, die ein hohes Maß an Repräsentativität haben, liegt die dokumentar. Bedeutung von K.s Romanen. Der plakative Titel des ersten Romans, Gilgi – eine von uns, offeriert explizit die breit angelegte Identifikationsmöglichkeit mit der jungen Heldin. In der Tat ist die Lebensgeschichte Gilgis – wie später auch die des kunstseidenen Mädchens Doris – typisch: Gilgi lässt sich von den trügerischen Leinwandleitbildern verleiten, hält Schönheit u. Tüchtigkeit für den Schlüssel zur großen, weiten Welt, organisiert mit sachl. Kalkül ihr Leben, ihre Gefühle, ihren gesellschaftl. Aufstieg – u. scheitert am Ende kläglich. In den Exilromanen rückt die polit. Lebenswirklichkeit zunehmend in den Mittel-
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punkt. So entlarvt die junge Sanna Moder Keyserling, Eduard Graf von, * 18.5.1855 (Nach Mitternacht) auf ihre verzweifelt-komi- Schloss Paddern bei Hasenpoth (Aizpute) sche Art die uniformierte Männerherrlichkeit in Kurland, † 28.9.1918 München. – Eru. die menschl. Erbärmlichkeit im Alltag des zähler, Dramatiker, Essayist. »Dritten Reichs«. Die zehnjährige Kully (Kind aller Länder) schildert mit kindlich-unsenti- Aus dem urspr. westfäl., 1492 im Gefolge des mentaler Direktheit das Leben ihrer Familie Deutschen Ordens nach Kurland gelangten unter den Bedingungen des Exils, ohne Pass, Geschlecht der Keyserling sind viele nammit ständig wechselnden Aufenthalten u. der hafte Persönlichkeiten hervorgegangen: OfAngst als tägl. Begleiter. Die Figur von Kullys fiziere, Diplomaten u. Staatsmänner, auch Vater, einem bei den Nationalsozialisten un- Gelehrte u. Förderer der Künste. K. wuchs auf erwünschten Schriftsteller, trägt Züge Joseph in der patriarchal. Adelsgesellschaft der elterl. Güter als drittletztes von zwölf GeRoths. Die im Exil entstandenen, in Deutschland schwistern; er besuchte die Schule in Haweitgehend unbekannten Romane K.s trugen senpoth u. das dt. Gymnasium in Goldingen maßgeblich bei zu der spektakulären Wie- (Kuldiga). Aus dem 1874 begonnenen Studiderentdeckung der Autorin Anfang der um der Jurisprudenz, Philosophie u. Kunst1980er Jahre, der sie selbst eher skeptisch geschichte in Dorpat wurde er 1877 »hergegenüberstand. Insbesondere Nach Mitter- ausgerissen wegen einer Lappalie – einer Innacht gilt heute – wie schon zur Zeit seines korrektheit« (so K.s Neffe Otto von Taube) u. Erscheinens in der Exilpresse – als einer der verfiel der gesellschaftl. Ächtung seiner Kasgroßen Romane über den Alltag im NS- te. Über weitere Studienjahre in Wien (vor Deutschland. Er wurde 1981 mit K. in einer 1890) ist wenig bekannt: Im Umgang mit Nebenrolle verfilmt. Alle Bücher K.s wurden Anzengruber hat er wohl die jungen Wiener inzwischen mehrfach neu aufgelegt; die sozialistischen Kreise berührt. Seine naturalistisch getönten ersten beiden Romane sind Forschung ist beträchtlich angewachsen. Weitere Werke: Bilder u. Gedichte aus der Resultate dieser Lehrjahre: Fräulein Rosa Herz. Emigration. Köln 1947. – Wenn wir alle gut wären. Eine Kleinstadtliebe (Dresden/Lpz. 1887) u. Die Kleine Begebenheiten, Erinnerungen u. Gesch.n. dritte Stiege (Lpz. o. J. [1892]. Neudr. Heidelb. Düsseld. 1954. Köln 1983. – Blühende Neurosen. 1985; Nachw. von Fritz Martini) – der erste Flimmerkisten-Blüten. Düsseld. 1962. – Ich lebe in ein krit. Spiegel kleinstädt. Enge, der zweite einem wilden Wirbel. Briefe an Arnold Strauss ein Wiener Sittenbild. 1933–47. Hg. Gabriele Kreis u. Majory S. Strauss. Bis 1895 verwaltete K. – gesellschaftlich Düsseld. 1988. isoliert – die mütterl. Güter Paddern u. TelLiteratur: Hermann Kesten: Meine Freunde – sen. Nach dem Tod der Mutter Ende 1894 u. die Poeten. Mchn. 1959, S. 423–434. – Irene Lorider Übergabe der Güter an die beiden Majosika: Frauendarstellungen bei I. K. u. Anna Segratsherren zog er mit den ebenfalls unverhers. Ffm. 1985. – Christa Jordan: Die Angestellten in der Erzählprosa am Ende der Weimarer Repu- heirateten u. literarisch tätigen Schwestern blik. Ffm. 1988. – Ingrid Marchlewitz: I. K. Leben Henriette u. Elise im Nov. 1895 nach Münu. Werk. Würzb. 1999. – Hiltrud Häntzschel: I. K. chen. Als Folge einer Syphilisinfektion brach Reinb. 2001. – Stefanie Arend (Hg.): I. K. 1905/ 1897 das Rückenmarksleiden aus, das schon 2005. Deutungen u. Dokumente. Bielef. 2005. – den 45-Jährigen zum »alten Keyserling« Gesche Blume: I. K. Schreiben im Spiel der Mo- machte u. ihn 1908 erblinden ließ; die späderne. Dresden 2005. Rita Mielke / Red. teren Werke hat er seinen Schwestern diktiert – »in seiner Blindheit voll Gesicht« (Kassner). Von Ende März 1899 bis 1900 bereiste er mit den Schwestern Italien: mit längeren Aufenthalten in Venedig, Florenz, Siena, Rom u. Neapel. Nach dem Tod von Henriette (1908) u. Elise (1915) zog eine dritte Schwester, Hedwig, zu ihm u. übernahm in diesen letz-
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ten Jahren zunehmender Vereinsamung die Pflege des Bettlägerigen. K.s Stammtisch war ein Mittelpunkt der Schwabinger Boheme. Hier trafen sich Halbe, Wedekind, Corinth, Kassner, Korfiz Holm, Kubin, Hermann Uhde-Bernays, Peter Altenberg u. andere – nachmittags im Café Stephanie, abends im Weinlokal Torggelstube, im Hoftheaterrestaurant am Max-JosephPlatz oder bei Kathi Kobus im »Simplicissimus«. Ein wahres Bild von K.s »phantastischer Häßlichkeit« (Halbe) gibt Corinths Porträt von 1901. Nie zeigte K., wie sehr er litt. »Der Todkranke spielte mit Laune und Grazie jahrelang den Unpässlichen« (Franz Blei). Sein treffsicherer, auch boshafter Witz war legendär u. bewährte sich in Wortgefechten mit Wedekind, der 1902 im Kabarett »Die Elf Scharfrichter« die Hauptrolle in K.s verschollenem Einakter Die schwarze Flasche spielte. Als Kurländer blieb K. zeitlebens russ. Staatsbürger; der Krieg schnitt ihn 1914 von den Einkünften aus seiner Heimat ab u. stürzte ihn in wirtschaftl. Not. Bis zuletzt besuchten ihn, neben den Freunden Halbe u. Kassner, die Fürstin Marie von Thurn und Taxis-Hohenlohe (sie hat K.s Erzählung Schwüle Tage ins Französische übertragen) u. die Baronin Marie von der Osten-Sacken, die später – mit seiner Schwester Hedwig – nach K.s letztem Willen seinen Nachlass vernichten half. Lange nach den beiden frühen Romanen u. erst, nachdem er sich um 1900 in vier bühnenfernen Dramen versucht hatte, fand K. den unverwechselbaren Ton seiner »Schlossgeschichten«, die wie seine Dramen alle bei S. Fischer erschienen sind. Am Anfang stand Beate und Mareile. Eine Schloßgeschichte (Bln. 1903), auf den ersten Blick eine konventionelle Dreiecksaffäre in märk. Junkerkreisen: ein nicht mehr junger Graf zwischen seiner »weißen«, entsinnlichten Frau Beate u. der »roten«, so kultivierten wie leidenschaftlichen, zur gefeierten Sängerin avancierten Inspektorstochter Mareile. Der Ausbruchsversuch des Grafen aus der Dämmerungswelt des Schlosses scheitert im Moment mögl. Gelingens an einer Duellverwundung, die ihn in den scheinbar »hübschen, glatten, tiefen Hafen« seiner Ehe zurückholt; dass dieser
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Hafen »gut ausgebaggert« sei, »man sieht bis auf den Grund«, dessen ist sich der Leser am Ende nicht mehr so sicher. Motive u. Konstellationen dieser ersten »Schlossgeschichte« werden in fast allen folgenden Erzählungen u. kurzen Romanen abgewandelt, artistisch vervollkommnet, im Blick auf die dargestellte Gesellschaftsschicht kritisch zugespitzt: in den Novellensammlungen Schwüle Tage (Bln. 1906) u. Bunte Herzen (Bln. 1909), in Romanen wie Dumala (Bln. 1908), Wellen (Bln. 1911. Neuausg. Ffm. 1971; Nachw. von Peter Härtling) u. Fürstinnen (Bln. 1917. Neuausg. 1989; Nachw. von Richard Brinkmann). Die Harmonie in der so betitelten Novelle (aus: Schwüle Tage. Einzelausg. Bln. 1914) kulminiert im Selbstmord einer hochmütig-todessüchtigen Schlossherrin; sie geht ins Wasser u. bannt ihren Mann nur um so mehr in den Kreis eines Lebens, in dem er sich gefangen fühlte wie in einem »Glasladen«: »Alles hatte hier Nerven, alle Menschen, alle Möbel, alle Blumen.« Zwar wird »das Erotische [...] zur treibenden Kraft des gesellschaftlichen Lebens« (so K. in dem Essay Über die Liebe. In: Neue Rundschau 18, 1907), aber die Liebesverstrickungen im Roman Abendliche Häuser (Bln. 1914) enden im Tod der männl. Erben dieser »abendlichen« Schlossgesellschaft u. im Absterben der Töchter in Resignation. Nur die alten Herrschaften richten sich – zynische Parodoxie – in selbstgenügsamer »Behaglichkeit« ein. K. diagnostizierte die Welt des versinkenden kurländ. u. darüber hinaus preuß. Adels vor 1914 in »traumhaft schönen« Bildern von streng ritualisierter Künstlichkeit als eine Sphäre vollkommener Lebensferne. Der enge Bezirk ostelb. Landsitze dient einem immer gleichen Kreis zgl. lebensgieriger u. lebensunfähiger Akteure als Bühne für ein Spiel, dem sich noch der verzweifeltste, immer vergebl. Ausbruchsversuch als Arabeske einfügt. Einer Gesellschaft, welche die »Todesmöglichkeit als Dekoration« genießt, setzt der Hauslehrer Aristides Dorn in der Erzählung Am Südhang (Bln. o. J. [1916]. Neuausg. Stgt. 1963 u. ö.) den Selbstmord entgegen, um seiner vergebl. Liebe im Tod so etwas wie Wirklichkeit zu geben, denn »wirklich zu sein, das ist die Leidenschaft unseres Lebens«
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(Über die Liebe). Der Einwand, K.s Weltaus- 1974. – Rudolf Steinhilber: E. v. K. Sprachskepsis u. schnitt sei zu eng (Blei: »der nur auf einer Zeitkritik in seinem Werk. Darmst. 1977. – Richard Saite konzertierende Keyserling«), trifft den A. Koc: The German Gesellschaftsroman at the turn Dichter kaum, da gerade die Verengung sei- of the century. A comparison of the works of Theodor Fontane and E. v. K. Bern/Ffm. 1982. – ner Welt, der Verlust ihrer Wirklichkeit, sein Wolfdietrich Rasch: Décadence-Motive in E. v. K.s Thema ist. K.s Ironie ist »angstgeschärft« Romanen u. E.en. In: Jb. Int. Germ. 15 (1983), H. 1, (Gruenter) u. öffnet, wo nicht den Akteuren, S. 8–37. – Irmelin Schwalb: E. v. K. Konstanten u. so doch den Lesern die Augen über die Zu- Varianten in seinem erzähler. Werk ab 1903. Ffm. kunftslosigkeit einer Gesellschaft, die nach u. a. 1993. – Angela Sendlinger: Lebenspathos u. der Devise »Aussterben ist vornehm« zu »le- Décadence um 1900. Studien zur Dialektik der ben« sucht (so Onkel Thilo in der Novelle Décadence u. der Lebensphilosophie am Beispiel E. Harmonie, der Wert darauf legt, der letzte v. K.s u. Georg Simmels. Ffm. u. a. 1994. – Hannelore Gutmann: Die erzählte Welt E. v. K.s. UnReichsgraf zu Elmt zu bleiben). K.s Geselltersuchung zum iron. Erzählverfahren. Ffm. u. a. schaftskritik ist ohne »soziale Attitüde« 1995. – Antonie Alm-Lequeux: E. v. K. u. der Krieg. (Thomas Mann in seinem Nekrolog) u. des- Diss. Ann Arbor, Mich. 1998. – Ulrike Peter: Das halb um so eindringlicher – radikaler als die Frauenbild im späten Erzählwerk E. v. K.s. DarFontanes. Genau benannte Sinneseindrücke, stellung an ausgew. Erzählungen u. Romanen. EsFarben v. a., aber auch Gerüche u. Klänge, die sen 1999. – Jin Ho Hong: Das naturalistischÜbergänge u. Gegensätze von Hell u. Dunkel, szientist. Literaturkonzept u. die Schloßgesch.n E. Innen u. Außen, Natur u. Gesellschaft ge- v. K.s. Würzb. 2006. – Michael Schwidtal u. a. (Hg.): winnen bei K. jenseits aller Oberflächenreize Baltisches Welterlebnis. Die kulturgeschichtl. Bedeutung v. Alexander, E. u. Hermann Graf K. Beieine krit. Funktion u. darüber hinaus – als träge eines internat. Symposions in Tartu vom 19. Schicksalssignale – symbolische Qualität. bis 21. Sept. 2003. Heidelb. 2007. Sein symbolischer u. zgl. iron. ImpressionisJochen Meyer / Red. mus gibt ihm einen Platz zwischen Fontane u. Mann, im europ. Kontext neben Turgenjew, Tschechow u. Bang. Keyserling, Hermann Graf von, * 20.7. Weitere Werke: Teilausgaben: Ges. E.en. Hg. Ernst Heilborn. 4 Bde., Bln. 1922. Davon Titelaufl.n in 2 Bdn.: Balt. Romane. Romane der Dämmerung. Bln. o. J. [1933]. – Schwüle Tage u. a. E.en. Hg. Otto v. Taube. Zürich 1954. – Abendl. Häuser. Ausgew. E.en. Hg. Wulf Kirsten. Bln./DDR 1970. – Werke. Hg. Rainer Gruenter. Ffm. 1973. – Ausgew. Werke. Hg. W. Kirsten. 2 Bde., Bln. 1998. – Im stillen Winkel. E.en. Nachw. v. Tilman Krause. Zür. 2006. – Feiertagsgesch.n. E.en u. Betrachtungen. Hg. Klaus Gräbner. Gött. 2008. – Einzelwerke, Erstausgaben: Ein Frühlingsopfer. Bln. 1900 (D.). – Der dumme Hans. Bln. 1901 (Trauersp.). – Peter Hawel. Bln. 1904 (D.). – Benignens Erlebnis. Bln. 1906 (D.). – Im stillen Winkel. Bln. o. J. [1918] (E.en). – Feiertagskinder. Bln. 1919 (R.). Literatur: Richard Brinkmann: E. v. K.: ›Beate u. Mareile‹. Die Objektivierung des Subjektiven. In: Ders.: Wirklichkeit u. Illusion. Tüb. 1957. 3 1977, S. 216–290. – Benno v. Wiese: E. v. K. Am Südhang. In: Ders.: Die dt. Novelle v. Goethe bis Kafka. Bd. 2, Düsseld. 1962, S. 280–298. – Hans Baumann: E. v. K.s E.en. Eine Interpr. des Romans ›Abendl. Häuser‹. Zürich 1967. – A. Wayne Wonderley (Hg.): E. v. K. A Symposium. Lexington
1880 Könno/Livland, † 26.4.1946 Innsbruck. – Kultur- u. Geschichtsphilosoph; Essayist. K.s balt. Herkunft, v. a. seine frühe Naturverbundenheit, beeinflusste entscheidend sein literar. u. philosophisches Schaffen. »Humanistisch, human und bewusst europäisch«, vielsprachig u. weltoffen erzogen, begann der Neffe zweiten Grades Eduard von Keyserlings 1897 in Genf Chemie u. Zoologie zu studieren. In Wien promovierte K. 1902 in Geologie. Hier wurde der Geschichts- u. Kulturphilosoph Houston Stewart Chamberlain sein wichtigster Förderer. Chamberlains Arbeiten beeindruckten K. wohl weniger in ihrem rassenpsycholog. Chauvinismus als vielmehr in ihrem groß angelegten histor. Entwurf kosmopolitischer Ausprägung. Seine Bestrebungen galten einem ähnl. Unternehmen: Das Gefüge der Welt (Mchn. 1906. Ffm. 1990) zu erforschen. Nach 1912, geprägt durch die vielseitigen Erfahrungen seiner einjährigen Weltreise
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(1911/12), von der das Reisetagebuch eines Philosophen (2 Bde., Darmst. 1919) berichtet, entwickelte K. jene metaphys. »Philosophie des Sinns«, die später durch die »Schule der Weisheit« – 1920 von K. gegründet u. gefördert vom Großherzog von Hessen in Darmstadt – bekannt wurde. K.s Verfolgung durch die Nationalsozialisten beendete deren Arbeit. Intuitive Wirklichkeitssicht u. introspektive Selbstanalyse, beruhend auf einem bei K. nie geklärten Polaritätsprinzip, waren method. Eckpfeiler einer Schöpferischen Erkenntnis (Darmst. 1922), einer prakt. Philosophie, die aus dem bewussten Erleben u. Empfinden zu gewinnen ist. Hierzu zählte auch seine Auffassung von der Philosophie als Kunst (Darmst. 1920), die als übersinnliches, meditatives u. zgl. lebendiges Verhältnis zur Wirklichkeit eine individuelle u. gesellschaftl. »Erneuerung vom Geiste her« bewirken sollte. Auf ein »höheres Erkenntnisstadium« zielte die Synthese aus östl. »Seinskultur« u. westl. »Könnenskultur«, die er in dem ind. Dichter u. Philosophen Rabindranath Tagore verkörpert sah. Die Verwirklichung des schöpferischen Sinns, des »Ursprungs« (vgl. Das Buch vom Ursprung. Baden-Baden 1947) sowie die Erforschung des Geistigen u. Seelischen als nichthintergehbare Einheit gelten als grundlegende Motive seiner Anthropologie u. Bewusstseinsphilosophie, die in den 1920er Jahren, trotz ablehnender Kritiken, breiten Zuspruch fand.
durch die Zeit. 1944 begonnen. 3 Bde., Innsbr. 1948–63.
Weitere Werke: Unsterblichkeit. Mchn. 1907. 1920. – Prolegomena zur Naturphilosophie. Mchn. 1910. – Deutschlands wahre polit. Mission. Darmst. 1919. – Was uns not tut, was ich will. Ebd. 1919. – Der Weg zur Vollendung. Mitt.en der Gesellsch. für Freie Philosophie. Ebd. 1920–29. – Politik, Wirtschaft, Weisheit. Ebd. 1922. – Die neuentstehende Welt. Ebd. 1926. – Menschen als Sinnbilder. Ebd. 1926. – Wiedergeburt. Ebd. 1927. – Das Spektrum Europas. Heidelb. 1928. – America Set Free. New York/London 1929. – Amerika, der Aufgang einer neuen Welt. Stgt. 1931. – Südamerikan. Meditationen. Stgt. 1932. 21960. – Das Buch vom persönl. Leben. Stgt. 1936. – Kritik des Denkens. 1937 geschrieben. Stgt. 1948. – Betrachtung der Stille u. Besinnlichkeit. Jena 1941. – Reise
Rolf Schütte / Red.
Literatur: Das Buch der Keyserlinge. Einl. Otto v. Taube. Bln. 1937. – Hugo Dyserinck: Graf H. K. u. Frankreich. Bonn 1970. – Gesellsch. Hess. Literaturfreunde (Hg.): Sinnsuche oder Psychoanalyse. Briefw. Graf H. K. – Oskar A. H. Schmitz aus den Tagen der ›Schule der Weisheit‹. Darmst. 1970. – Barbara Garthe: Über Leben u. Werk des Grafen H. K. Diss. Erlangen/Nürnb. 1976. – Anne Marie Bouisson-Maas: H. K. et l’Inde. Paris 1978. – Rolf Kühn: Atmosphäre u. Lebensform. Die kulturpolit. u. traditionshermeneut. Bedeutung Frankreichs bei Graf H. K. In: Romanist. Ztschr. für Literaturgesch. (1990), H. 1/2, S. 141–154. – Ute Gahlings: Sinn u. Ursprung. Untersuchungen zum philosoph. Weg H. Graf K.s. Sankt Augustin 1992. – Karin Schmidt: Das Südamerikabild als personenbezogenes, europ. u. interkontinentales Phänomen. Imagolog. Untersuchung zu Graf H. K.s ›Südamerikan. Meditationen‹. Ffm. u. a. 1993. – U. Gahlings: H. Graf K. Ein Lebensbild. Darmst. 1996. – Frank Neuland: Sinn u. Ausdruck – Geist u. Bewegung. Aspekte einer transkulturellen Bewegungsforschung. Salzhausen 2000. – U. Gahlings: ›An mir haben die Nazis beinahe ganze Arbeit geleistet‹. Über den Umgang der Nationalsozialisten mit H. Graf K. In: Frank-Lothar Kroll (Hg.): Dt. Autoren des Ostens als Gegner u. Opfer des Nationalsozialismus. Bln. 2000, S. 47–74. – Dies. u. Klaus Jork (Hg.): H. Graf K. u. Asien. Biebelsheim 2001. – Slawomir Lesniak: Graf H. K. u. Europa. In: GLL 58 (2005), H. 3, S. 293–305. – Ders.: Graf H. K. u. Hans Magnus Enzensbergers ›Ach Europa‹. Zwei Europavisionen. In: Holger Böning (Hg.): Danzig u. der Ostseeraum. Bremen 2005, S. 229–240. – Michael Schwidtal u. Jaan Undusk (Hg.): Balt. Welterlebnis. Die kulturgeschichtl. Bedeutung v. Alexander, Eduard u. H. Graf K. Heidelb. 2007.
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Keyßler, Johann Georg, * 13.4.1693 Thurnau/Oberfranken, † 21.6.1743 Gut Stintenburg am Schaalsee; Grabstätte: Lassahn, Dorfkirche. – Altertumskundler u. Reiseschriftsteller. K., Sohn eines Hofrats der Herrschaft Thurnau, studierte nach dem Besuch der Lateinschule seines Geburtsorts u. des Gymnasiums Casimirianum in Coburg seit dem 29.4.1711 in Halle/Saale Rechtswissenschaft u. german. Altertumskunde. Seit 1716 diente er der Familie von Bernstorff auf deren Stammgut
Khevenhüller-Frankenburg
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Gartow/Wendland als Hauslehrer, Bibliothe- Khevenhüller-Frankenburg, Franz kar u. Gutsverwalter. Christoph Graf von, * 21.2.1588 LandsAußer durch altertumskundl. Abhandlun- kron/Kärnten, † 13.6.1650 Baden bei gen (Antiquitates selectae septentrionales et celti- Wien. – Diplomat u. Historiograf. cae. Hann. 1720) wurde der umfassend gebildete K., der Mitgl. der Londoner Royal K. wuchs am Hof Erzherzog Ferdinands in Society war, v. a. durch den Bericht über eine Villach auf; sein Vater Bartholomäus 1729–1731 durchgeführte Kavalierstour der Khevenhüller-Frankenburg war in der beiden Grafen von Bernstorff bekannt: Neu- Kärntner Landesverwaltung tätig. Nach dem este Reisen durch Teutschland, Böhmen, Ungarn, Studium in Padua (1607) u. Kavaliersreisen die Schweitz, Italien und Lothringen (2 Bde., nach Frankreich, in die Niederlande u. nach Hann. 1740/41. 31776. Bis 1797 viele Teil- England (bis 1609) öffnete die Konversion ausgaben u. Bearbeitungen. Engl. u. holländ. zum kath. Glauben (1612/14) den Weg zu Übersetzungen). Die in Briefform verfasste einer glänzenden Karriere in kaiserl. Diensu. polyhistorisch-enzyklopädisch angelegte ten. 1617–1631 war K. kaiserl. Gesandter am Reisebeschreibung begründete K.s Ruf als span. Hof in Madrid. Als Diplomat hatte er musterbildender Reiseschriftsteller der dt. maßgebl. Anteil an der Beendigung des UsFrühaufklärung. Durch Verknüpfung von kokenkriegs (1615–1617) u. an der Festigung detailreicher Nachrichtenfülle u. kritisch- der Beziehungen zwischen den österr. u. räsonierender Beobachtung schuf er ein viel span. Habsburgern. Während des Dreißigbenutztes Kompendium insbes. für Italien- jährigen Kriegs war K. – seit 1621 Geheimer reisende. In Darstellungsweise u. Urteilsbil- Rat, 1623 Ritter vom Orden des Goldenen dung beeinflusste er die landeskundl. Itali- Vlieses u. 1631 Obersthofmeister – in diplomatischen Missionen im Reich u. in Frankenliteratur bis ins späte 18. Jh. Ausgaben: Neueste Reisen durch Dtschld., reich tätig. In der Historiografiegeschichte hat K. als Böhmen [...]. Hg. Gottfried Schütze. Hann. 1751. In: Wolfgang Amadeus Mozart. Leben u. Werk. Hg. Verfasser der Annales Ferdinandei seinen Platz Rudolph Angermüller. Bln. 2005, Abt.: Zeitdoku- (9 Bde., Regensb. 1640–46. 12 Tle., Lpz. mente (CD-ROM. Volltext u. Faks.). – Travels 21721–26), einer auf umfangreichem Quelthrough Germany [...]. 4 Bde., London 1756/57 lenmaterial basierenden Biografie Ferdi(u. a. Ed.). Internet-Ed. in: Eighteenth Century nands II. Das annalistisch, im Stil antiker Collections Online. Gesta aufgebaute Werk gilt noch heute, obLiteratur: Gottfried Schütze: Vorrede v. dem wohl eher Apologie u. gelegentlich Panegyrik Leben des Verfassers. In: J. G. K.: Neueste Reisen. des Hauses Habsburg, als Hauptquelle zur Hann. 31776, S. III-XXXVI. – Friedrich Ratzel: J. G. K. In: ADB. – Aage Friis: Die Bernstorffs. Bd. 1, Geschichte des Dreißigjährigen Kriegs – nicht Lpz. 1905, S. 22–49. – Ludwig Schudt: Italienreisen nur, weil es viel sonst verlorenes Material im 17. u. 18. Jh. Wien/Mchn. 1959, S. 69–71. – überliefert, sondern auch durch die Person Gerhard Körner: J. G. K. In: Hannoversches des Autors, der als wohlinformierter BeWendland 3 (1972), S. 7–19. – Klaus Beyrer: Die richterstatter gelten kann. Neben TagebuchPostkutschenreise. Tüb. 1985, S. 168–175. – Uli aufzeichnungen dienten K. private u. amtliKutter: Reisen, Reisehandbücher, Wiss. Materiali- che Korrespondenzen u. Flugschriften als en zur Reisekultur im 18. Jh. [...]. Neuried 1996. – Grundlage seiner monumentalen Arbeit, die Winfried Siebers: J. G. K. u. die Reisebeschreibung 1721–1726 in Prachtbänden noch einmal der Frühaufklärung. Würzb. 2004. aufgelegt wurde – nun literar. Zeugnis der Winfried Siebers / Red. unter Karl VI. neu belebten Kaiseridee. Ausgabe: Des Grafen F. C. K. Ferdinandeische Jbb. in einen pragmat. Auszug gebracht u. berichtigt v. Justus Friedrich Runde. 4 Bde., Lpz. 1778–81. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Heinz Schulz: Der Gesandte des 16./17. Jh. Diss.
397 Erlangen 1949. – Anna Coreth: Österr. Geschichtsschreibung in der Barockzeit (1620–1740). Wien 1950, S. 70, 73, 75. – Kurt Peball: Untersuchungen der Quellenlage der ›Annales Ferdinandei 1588–1637‹ des Grafen F. C. K.-F. Diss. Graz 1953. – Ders.: Zur Quellenlage der ›Annales Ferdinandei‹ des Grafen F. C. K.-F. In: Mitt.en des Österr. Staatsarchivs 9 (1956), S. 1–22. – Ders.: F. C. K.-F. In: NDB. – Alf Gerd Fantur: Die Diplomatie des F. C. K. als kaiserl. Gesandter in Madrid 1617–1629 bei der Verheiratung der Infantin Maria v. Spanien [...] Phil. Diss. Wien 1975. – Karl Dinklage: Kärnten um 1620. Die Bilder der Khevenhüller-Chronik. Wien 1980. – DBA. Bernd Roeck / Red.
Khuen, Kuen, Johannes, * 1606 Moosach bei München, † 14.11.1675 München. – Katholischer Theologe, geistlicher Lieddichter u. Komponist. Der aus einer bayerischen Bauernfamilie stammende K. besuchte wohl erst eine Dorfschule, dann seit Herbst 1622 das Jesuitengymnasium in München. Dort erhielt er auch eine fundierte musikal. Ausbildung. Die Mitgliedschaft in der Marianischen Kongregation prägte seine gegenreformatorische Frömmigkeit. Nach dem Studium der Theologie (1627–1629) empfing er Ende 1630 die Priesterweihe. 1631 wurde er Hauskaplan der Gräflich-Wartenbergschen Kapelle im Krottental, für deren Patrozinien – »Jährlich solemniter celebriert« – er den Liedzyklus Vexillum patientiae oder Creutz Fahnen (Mchn. 1635) schrieb. 1634 erhielt er noch das Benefizium »Trium Regum« an der Pfarrkirche St. Peter in München, so dass ein bescheidenes Einkommen gesichert war. K. war Mitgl. der von Jacob Balde gegründeten ›Congregatio Macilentorum‹. Die tiefe Freundschaft, die ihn mit Balde verband, war von nachhaltigem Einfluss auf sein eigenes Schaffen u. fand Ausdruck in den gereimten Übersetzungen von dessen Agathyrsus (Mchn. 1647) u. den Chorea mortualis als Todten Dantz (Mchn. 1649. Neudr. 1653 u. 1729). Durch Balde lernte K. auch andere Dichter u. Dramatiker des Jesuitenordens kennen, so den Übersetzer von Jakob Bidermanns Drama Cenodoxus, Joachim Meichel. K. bevorzugt für seine Dichtung den Zyklus, in dem bestimmte Themen im Mittel-
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punkt stehen. Sein erstes u. auch bedeutendstes Werk ist das der Kurfürstin Maria Anna gewidmete Epithalamium Marianum oder Tafel Music, deß himmlischen Frawenzimmers, mit newen geistlichen Gesänglein gezieret (Mchn. 1638. 51659). Es handelt sich um Marienloblieder von innigem Ausdruck, die immer wieder auf die Brautsymbolik des Hohenlieds zurückgreifen. Der formalen Struktur des Werks liegt die Zahlensymbolik – insbes. der Zahl Zwölf – zugrunde. In der Auflage von 1644 sind es jeweils acht Zyklen von je zwölf Liedern mit je zwölf Strophen. Seelische Zustandsbilder von ergreifender Intensität entwirft K. unter Verzicht auf epische Strukturelemente in den Bußzyklen Cor contritum et humiliatum, Engelfrewd oder Bußseufftzer, zwölff zerknirschter Hertzen (Mchn. 1640) u. Mausoleum Salomonis. Der Potentaten Grabschrifft, Urlaub und Abschidt (Mchn. 1641. 2 1665). K. griff auch die damals beliebte bukol. Dichtung in der Form der geistl. Schäferei auf. Hierhin gehören die drei Zyklen: Tabernacula pastorum. Die geistliche Schäfferey (Mchn. 1650), Munera pastorum. Hirten-Ambt, und anweisung der geistlichen Schäfferey getrewlich vorzustehn (Mchn. 1651) u. Gaudia pastorum, Schäffer Frewd (Mchn. 1655). Im Mittelpunkt stehen die Liebe des guten Hirten zu seiner Herde sowie theolog. Überlegungen über die Bedeutung des Hirtenamts der Kirche. Auch Klagen über die Leiden des geknechteten dt. Volks finden sich. Mit der Wahl des Schäferkostüms entsprach K. dem Geschmack der Zeit, ohne die Mentalität der europ. Bukolik zu teilen. Praktischen Bedürfnissen der Andachtsliteratur dient K.s Desiderium collium aeternorum. Engel-Post. Auß dem Himmlischen Jerusalem herab (Mchn. 1669). Das Werk enthält gelungene Übersetzungen von Psalmen, Cantica, Hymnen u. Sequenzen. Es ist nicht leicht, K.s Dichtung zu würdigen. Ihn im Vergleich zu Friedrich Spee, der auf ihn vermutlich Einfluss ausgeübt hat, als manieristisch einzustufen, ist zu simpel. Immerhin fanden seine Lieder Eingang in die bekannten kath. Gesangbücher – etwa in David Gregor Corners Geistliche Nachtigall (Wien 1649). Nachgeahmt wurde er von dem Jesuiten Albert Curtz (Harpffen Davids), von
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Prokop von Templin, Abraham a Sancta Cla- Bernhard Genz: J. K. Eine Untersuchung zur süddt. ra, Laurentius von Schnüffis, dem Passauer geistl. Lieddichtung im 17. Jh. Diss. Köln 1957. – Domorganisten Georg Kopp u. Angelus Sile- Günther Müller: Gesch. des dt. Liedes. Mchn. 1925. sius. Brentano setzte ihm mit zwei Liedern in Nachdr. Darmst. 1959, S. 112–115. – Adalbert Elschenbroich. J. K. In: NDB. – Siegfried GmeinwieDes Knaben Wunderhorn ein Denkmal. ser: J. K. In: Bautz. – Ders. (August Scharnagl): J. K. Als Musiker fand K. schnell zu einem aus- In: MGG, 2. Aufl. (Pers.). – Traute Maass Marshall drucksvollen, gelegentlich dramatisch er- u. Stephan Hörner. J. K. In: New Grove, 2. Aufl. – scheinenden Stil. Seine Melodien sind bis- Werner Braun: Thöne u. Melodeyen, Arien u. weilen kühn u. seine Verse immer formvoll- Canzonetten. Zur Musik des dt. Barockliedes. Tüb. endet unter strenger Berücksichtigung von 2004, S. 234–241. – Klaus Haller: A delightful Reim u. Metrum. Im mehrstimmigen Satz pleasure garden full of flowers. Two German songs behandelt er v. a. die Bässe geschickt u. le- in honour of Saint Birgitta from the first half of the bendig. In seinen zweistimmigen Weih- 17th century. In: Birgittiana 20 (2005), S. 273–282. Franz Günter Sieveke / Red. nachtsliedern weiß er Koloratur u. Echo wirkungsvoll einzusetzen. K. spielte eine bemerkenswerte Rolle bei der Adaption des Khunrath, Heinrich, auch: Ricenus Thraneuen ital. Sologesangs mit Instrumentalbe- sibulus, * 1560 Leipzig, † vermutlich 1605 gleitung (Basso continuo), so dass man ihn an ungesichertem Ort (Leipzig? Dreszum wichtigsten Vertreter der Münchner den?). – Theoalchemischer FachschriftMonodisten erklärte. steller. Weitere Werke: Convivium Marianum. Freudenfest deß himml. Frawenzimmers [...]. Mchn. 1637. – Florilegium Marianum. Der brinnendt Dornbusch [...]. Mchn. 1638. – Florilegium Marianum des geistl. Frawenzimmers Lustgarten drinn die verliebte Gespons jhrem Bräutigam Iesu Christo [...] auffwartet. Mchn. 1638. o. J. [1640]. – Paradisus Adami secundi [...] Mchn. 1660. – Aquila grandis medullam cedri de Libano transportans in terram Chanaan [...]. Mchn. 1665. – Fuga triumphans de medio Babylonis. Heylsame Weltflucht [...]. Mchn. 1674. – Universae carnis threnodia. Schwanen-Gesang, deß allgemainen Undergangs deß gantzen menschl. Geschlechts. Mchn. 1674. Ausgaben: Epithalamium Marianum oder Tafel Music [...]. Mchn. 1638. Internet-Ed.: Bayer. Staatsbibl. – Ausgew. Texte u. Melodien. Hg. Rupert Hirschenauer u. Hans Graßl. Mchn. u. a. 1961. – Textausw. in: Bayer. Bibl. [...]. Bd. 2. Hg. Hans Pörnbacher. Mchn. 1986, S. 204–222. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: G. Westermayer: J. K., ein Zeit- u. Kunstgenosse Spees. In: Histor. polit. Bl. für das kath. Dtschld. 74 (1874), S. 1–16. – Wilhelm Bäumker: Das kath. dt. Kirchenlied in seinen Singweisen [...]. 4 Bde., Freib. i. Br. 1883–1911. Nachdr. Hildesh. 1997. – Berta Antonia Wallner: J. K. u. die Altmünchener Monodisten. In: Ztschr. für Musikwiss. 2 (1919/20), S. 445–447. – Otto Ursprung: Der Weg v. den Gelegenheitsgesängen u. dem Chorlied über die Frühmonodisten zum neueren dt. Lied. In: Archiv für Musikwiss. 6 (1924), S. 305. – Curt v. Faber du Faur: J. K. In: PMLA 64 (1949), S. 746–770. –
K. lebte nach seiner Promotion zum Dr. med. (Basel 1588) zunächst im näheren Umkreis des böhm. Magnaten Wilhelm von Rosenberg (1591), dann hauptsächlich in Nord- u. Mitteldeutschland, etwa in Magdeburg (1598), Berlin (1601), Magdeburg (1603) u. Gera (1604). Er schloss Bekanntschaft mit John Dee (Bremen 1589) u. Johann Grasse (Hamburg 1596), tauschte Briefe mit Johann Arndt u. zählte Graf Albrecht VII. von SchwarzburgRudolstadt zu seiner Klientel. Sein Bruder Konrad verfasste die Medulla destillatoria (Schleswig 1594 u. ö.). Außer Doktorthesen (De signatura rerum. Basel 1588) u. einem Traktat Von [...] Curation Tartari (Hg. Johann Thurnmüntzer. Hof 1611) hinterließ K. zahlreiche Alchemica. Seine heute bekannteste Schrift ist das Amphitheatrum sapientiae aeternae solius verae, ein zunächst in Kleinfassung (o. O. [Hbg.] 1595), dann postum in einer Vollfassung (Hg. Erasmus Wolfart. Hanau 1609) erschienenes u. mit intrikaten Bildern (Zeichner: Jan Vredeman de Vries; Stecher: Paul van der Doort) ausgestattetes Werk. Ein frühes Zeugnis der vom Wasserstein der Weisen (1619) u. Werken Johann Philipp Maullius’, Georg von Wellings oder Friedrich Christoph Oetingers repräsentierten alchemotheosophischen Literatur, wird das Amphitheatrum maßgeblich von
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dem theoalchem. Grundgedanken geprägt, dass in der alchem. Universalarznei (Lapis philosophorum) eine symbolische Kontrafaktur u. ein natürlich-leibl. Ebenbild der übernatürlich-geistigen Universalarznei (Jesus Christus) zu erblicken sei. In einem Kupfer, das ›Oratorium‹ u. ›Laboratorium‹ eines Alchemikers zeigt, fand K.s chym. Christentum seinen wohl sinnfälligsten Ausdruck. Der singuläre Charakter des Amphitheatrum beruht auf einer entschiedenen Vermischung heterogener Elemente, die K. aus der »Biblia«, »Alchymia« u. »Kabala« (Johann Pistorius: Artis cabalisticae scriptorum tomus 1.1587), ferner aus der »Magia«, »Medicina« u. »Historia« schöpfte. Aus K.s assoziativen Verknüpfungen unterschiedlichsten Vorstellungsguts ergeben sich janushaft-opake, sowohl in supranatural-religiöse als auch natural-alchem. Bereiche führende Text- u. Bildsequenzen, die heterodoxen Frommen zur Erbauung wie allegoresefähigen Alchemikern zur Unterrichtung dienen konnten. Ausweislich einer »Censura« der Pariser Universitätstheologen (1625) erregte das Amphitheatrum internat. Aufsehen. Im Unterschied zu den anderen Werken K.s, die bis in das 18. Jh. manche Nachdrucke erlebten, erschien das Amphitheatrum allerdings nur noch in einer Titelausgabe (Ffm. 1653). Zumal ein Kommentar zu vier Amphitheatrum-Bildern von Johann Arndt kursierte, blieb es jedoch unter alchemisierenden Pietisten, Theosophen, natur-myst. Paracelsus- u. Böhme-Anhängern des 17. u. 18. Jh. eine wertgeschätzte Schrift. Zwar wurde auch K. von Aufklärern als ein wider die »gesunde Vernunft« handelnder »philosophischer Unhold« gebrandmarkt (Adelung); gleichwohl fand das Amphitheatrum im Zuge des Wiederauflebens der »Geheimwissenschaften« in Frankreich um 1900 manchen neorosenkreuzerisch-hermet. Kommentator (Eliphas Lévi, Stanislaus de Guaita, Papus, Marc Haven) u. Übersetzer (Émile Grillot de Givry: Amphithéâtre de l’éternelle sapience. Paris 1900. Mailand 1975. 1990). Unter Esoterikern des 20. Jh. genießt es als eines der bedeutendsten Werke der theosophisch-alchem. Literatur einen autoritativen Rang. – K. figuriert in Umberto Ecos
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Il pendolo di Foucault (Mailand 1988. Dt. Mchn. 1989) u. in Walter Ummingers Briefroman Das Winterkönigreich (Stgt. 1994). Weitere Werke: Confessio de chao physicochemicorum catholico. Magdeb. 1596. – Von hylealischen [...] Chaos. Magdeb. 1597 (darin auch ›Warnungs-Vermahnung‹, eine von M. Maier lat. bearb. Schr. u. d. T. Examen fucorum pseudo-chymicorum. Ffm. 1617). – Symbolum physicochymicum. o. O. 1598. Dt. Hbg. 1598. – Ber. vom philosoph. Athanor. Magdeb. 1599. – Magnesia catholica philosophorum. Magdeb. 1599. – De igne magorum philosophorum. Straßb. 1608. Ausgaben: Vom hyleal. [...] Chaos. Ffm. 1708. Nachdr. mit einer Einf. v. Elmar R. Gruber. Graz 1990. – Amphitheatrum sapientiae aeternae. Tl. 1: Faks. der Ausg. 1595 u. 1609. Hg. Carlos Gilly. Tl. 2: Das ›Amphitheatrum‹ in einer dt. Übers. des 18. Jh. Hg. Anja Hallacker u. Hans-Peter Neumann. Stgt.-Bad Cannstatt (in Vorb.; mit Werkverz.). Literatur: Johann Christoph Adelung: Gesch. der menschl. Narrheit. Tl. 5, Lpz. 1787, S. 91–105. – Albert Ladenburg: H. K. In: ADB. – John Ferguson: Bibliotheca Chemica. Bd. 1, Glasgow 1906, S. 462–464. – Amphithéâtre de la sagesse éternelle (Bildwiedergaben; mit Komm.en v. Papus u. Marc Haven). Paris 1906. Lyon 1946. Ital. Rom 1973. – Denis Duveen: Notes on some alchemical books. In: The Library. Serie V. Bd. 1 (1947), S. 56–61. – Ders.: Bibliotheca Alchemica et Chemica. London 1949, S. 319–321. – Claude K. Deischer u. Joseph L. Rabinowitz: The Owl of H. K. – Its Origin and Significance. In: Chymia 3 (1950), S. 243–250. – Robert J. W. Evans: Rudolf II. and his World. Oxford 1973, S. 213–215. – Hans Kangro: J. K. In: DSB. – The Amphitheatre Engravings of H. K. Engl. v. Patricia Tahil (mit Komm.en v. Johann Arndt, Stanislaus de Guaita, J. B. Craven). Edinburgh 1981. – Jacques van Lennep: Alchimie. Brüssel 1984, S. 168–171. – Gershom Scholem: Alchemie u. Kabbala (11977). In: Ders.: Judaica 4. Ffm. 1984, S. 19–128, hier S. 113–115. – Carlos Gilly: Johann Valentin Andreae. Amsterd. 1986, S. 32–40. – Bibliotheca Palatina (Ausstellungskat.). Hg. Elmar Mittler. Heidelb. 1986, S. 346 f. (J. Telle) – Stanislas Klossowski de Rola: The Golden Game. Alchemical Engravings of the Seventeenth Century. London 1988, S. 29–44. – Umberto Eco: Lo strano caso della Hanau 1609. In: L’Esopo 40 (1988), S. 9–12, 17–36 (auch: Paris 1990). – Hubert Dethier: Giulio-Cesare Vanini et l’Amphithéatrum de H. K. In: Tijdschrift voor de studie van de Verlichting en van het vrije denken 18 (1990), S. 263–298. – Ralf Töllner: Der unendl. Komm. Untersuchungen zu vier ausgew. Kupferstichen aus H. K.s ›Amphitheatrum Sapien-
Kiaulehn tiae Aeternae Solius Verae‹ (Hanau 1609). Ammersbek 1991. – Alchemie. Lexikon einer hermet. Wiss. Hg. Claus Priesner u. Karin Figala. Mchn. 1998, S. 194–196 (J. Telle). – Urszula Szulakowska: The alchemy of light. Leiden 2000, S. 79–152. – Magia, alchimia, scienzia dal ‘400 al ‘700. L’influsso di Ermete Trismegisto. Hg. C. Gilly u. Cis van Heertum. Florenz 2002, S. 325–340 (C. Gilly). – Jaumann Hdb. – Peter Forshaw: Ora et Labora. Alchemy. Magic and Cabala in H. K.s ›Amphitheatrum Sapientiae Aeternae‹ (1609). Diss. phil. University of London 2004 (ungedruckt). – Dictionary of Gnosis and Western Esotericism. Hg. Wouter J. Hanegraaff. Bd. 2, Leiden 2005, S. 662 f. (J. Telle). – Peter Forshaw: ›Alchemy in the Amphitheatre‹. Some Considerations of the Alchemical Content of the Engravings in H. K.’s ›Amphitheatre of Eternal Wisdom‹ (1609). In: Art & Alchemy. Hg. Jacob Wamberg. Kopenhagen 2006, S. 195–220. – Curious knowledge and wonder-working wisdom in the occult works of H. K. In: Curiosity and Wonder from the Renaissance to the Enlightenment. Hg. Robert J. W. Evans u. Alexander Marr. Aldershot 2006, S. 107–129. – Der Alchemist Conrad K. Hg. Hans Gerhard Lenz. Elberfeld 2006 (mit Abdr. v. Briefen). – P. J. Forshaw: Subliming Spirits. Physical-Chemistry and Theo-Alchemy in the Works of H. K. (1560–1605). In: Mystical Metal of Gold. Essays on Alchemy and Renaissance Culture. Ed. by Stanton J. Linden. New York 2007, S. 255–275. – Didier Kahn: Alchimie et Paracelsisme en France a la fin de la Renaissance (1567–1625). Genf 2007, S. 568–593. Joachim Telle
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sernen Engel – Geburt, Geschichte und Macht der Maschinen von der Antike bis zur Goethezeit. Bln. 1935). Nach 1945 trat K. an verschiedenen Münchner Bühnen auf u. wirkte in zahlreichen Filmen mit. In den 1950er u. 1960er Jahren knüpfte er an seine journalistische Arbeit an u. machte sich als Theaterkritiker u. leitender Redakteur des »Münchner Merkur« einen Namen. Über sein 1958 erschienenes Buch Berlin – Schicksal einer Weltstadt (Mchn. 1997), eine Geschichte Berlins 1871–1933, die neben histor. Fakten reich an Anekdoten ist, schrieb K.: »Ich wollte ein großes, schönes Karussell des Berliner Lebens machen, eines von der unvergeßlichen Art unserer Kinderzeit.« Weitere Werke: Lesebuch für Lächler. Neue Plaudereien u. die Meinungen u. Ansichten des Herrn Lehnau enthaltend. Bln. 1938. – Feuerwerk bei Tage. Hbg. 1948. – Rüdesheimer Fragmente. Rüdesheim 1949. Bln. 1961. – Oberbayr. Bilderbuch. Mchn. 1955. – Der richtige Berliner. Mchn. 1965. – Mein Freund der Verleger – Ernst Rowohlt u. seine Zeit. Reinb. 1967 (P.). – Berlin – Lob der stillen Stadt. Feuilletons. Bln. 1989. 1998. Literatur: Gwendolyn v. Ambesser: Schaubudenzauber – Gesch. u. Gesch.n eines legendären Kabaretts. Lich 2006. Sabine Geese / Red.
Kiburger, Elogius, auch: Eloy, Loy, Login, erstmals erw. 1446, † 18.7.1506 Bern. – Kiaulehn, Walt(h)er, auch: Lehnau, * 4.7. Verfasser einer legendenhaften Chronik u. 1900 Berlin, † 7.12.1968 München; einer Pestschrift. Grabstätte: ebd., Nordfriedhof. – JourAb 1446 war K. Pfarrer von Einigen, nalist, Kulturkritiker. K., gelernter Elektromonteur u. bis 1924 Elektromeister bei Osram in Berlin, begann seine journalistische Arbeit als Gerichtsberichterstatter beim »Berliner Tageblatt«; 1930 wechselte er in die Feuilletonredaktion der »BZ am Mittag«, in der er bis 1933 seine oft witzigen, pointierten Skizzen aktueller Ereignisse in Kultur, Politik u. Gesellschaft veröffentlichte. 1933 erhielt K. Berufsverbot u. a. wegen seines ersten Essaybands Lehnaus Trostfibel und Gelächterbuch (Bln. 1932). Während des Kriegs arbeitete K. als Nachrichtenoffizier, Kunstmaler u. Sprecher der UfaWochenschau. Den kulturkrit. Essayismus gab er im »Dritten Reich« nicht auf (Die ei-
1456–1503 als Pfarrer von Worb und ab 1478 zusätzlich als Kaplan in Münsingen (Kanton Bern). In allen drei Fällen gehörte das Patronatsrecht den Herren von Bubenberg, die K. zeitlebens begünstigten. Ab 1488 war K. Chorherr am St. Vinzenzstift in Bern. Als Pfarrer von Einigen verfasste er nach 1464 die Stretlinger Chronik zu Ehren der Herren von Bubenberg, die er über ihre Herrschaftsvorgänger, die Herren von Strättlingen, auf einen röm. König im 2. Jh. n. Chr. zurückführt. Um seinem Kirchlein die Anziehungskraft eines Wallfahrtsortes zu verleihen, sammelte K. Wunderberichte und Legenden, die er mit angebl. Besitzungen und Privilegien verband. Ganze Passagen übernahm K. wörtlich aus
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Caesarius von Heisterbachs Dialogus miraculorum. In seinem Regimen pestilentiale, entstanden um 1480, nimmt K. Bezug auf die Berner Pestepidemie von 1439. Der erste Teil behandelt Vorbeugung, der zweite Behandlung der Krankheit. Auch dieses Werk stellt eine Kompilation dar. Beide Werke sind in einer Handschrift überliefert (Staatsarchiv Bern, Cod. B III 40). Seit der Edition durch Baechtold wird der Stretlinger Chronik jegl. Historizität abgesprochen. Indessen bietet das »Phantasiegeranke K.s« (Feller/Bonjour) Einblick in die spätmittelalterl. Frömmigkeit u. Vorstellungswelt. Ausgaben: Die Stretlinger Chronik. Hg. Jacob Baechtold. Frauenfeld 1877. – Das Regimen pestilentiale aus der Strättlinger Chronik. Hg. Peter Lerch. Bern 1949. Literatur: Richard Feller u. Edgar Bonjour: Geschichtsschreibung der Schweiz. Basel/Stgt. 1962, Bd. 1, S. 33 f. – Guy P. Marchal: E. K. In: VL. Rainer Hugener
Kien, Peter, * 1.1.1919 Warnsdorf/Böhmen, † Oktober 1944 Auschwitz (ermordet). – Maler; Lyriker, Dramatiker u. Librettist.
In Übersetzung wurde auch K.s antifaschistische Allegorie Die Puppen (1942; D.) inszeniert, die Geschichte eines Tyrannenmordes, während die Legende Der König von Atlantis (1943; D.), zu der Viktor Ullmann die Musik schrieb, verboten u. erst 1975 in Amsterdam uraufgeführt wurde. In dieser Oper kann der Tod die Verbrechen eines kriegslüsternen Königs nicht mehr ertragen u. streikt; durch eine Pest kommt es zum Chaos, das der Tod erst nach der Selbstaufgabe des Tyrannen beendet. K. begleitete freiwillig seine Frau Ilse u. die Eltern nach Auschwitz. Von seinen Werken, die sich in Privatbesitz oder in den Gedenkstätten Terezín u. Giv’at Chaim befinden, wurde nur weniges in Anthologien u. Dokumentationen veröffentlicht. Weitere Werke: Ungedruckte Dramen: Die großen Fünf. – Sabbatai Zwi. – An der Grenze. – Der böse Traum (alle um 1943). – P. K. Bilder u. Gedichte 1933–1944. Mit einem Vorw. v. Arnosˇt Lustig u. Nachw. v. Jürgen Serke u. Jürgen Kaumkötter. Bln. 2008. Literatur: H. G. Adler: Theresienstadt 1941–45. Tüb. 21960. – Ludvík E. Václavek: Dt. Lyrik im Ghetto Theresienstadt 1941–45. In: WB 28 (1982), Nr. 5, S. 21–24. – Jürgen Serke: Böhmische Dörfer. Wien/Hbg. 1987, S. 447–450. – Karl Braun: P. K. oder Ästhetik als Widerstand. In: Theresienstädter Studien u. Dokumente 2 (1995), S. 155–174. – Ders.: P. K. – Annäherung an Leben u. Werk. In: Hans-Günter Klein (Hg.): ›... Es wird der Tod zum Dichter‹. Hbg. 1995, S. 39–58. – Petra Kiener: P. K. nicht vergessen! Zum Gedächtnis eines, der nicht entkam. In: Peter-Weiss-Jb. 5 (1996), S. 19–36. – Michael Dörffel: Der Künstler P. K. (1919–1944). In: Peter-Weiss-Jb. 15 (2006), S. 19–41. – J. Serke: P. oder Petr K.? Wem gehört der Maler u. Dichter aus Warnsdorf ? In: Marek Nekula u. Walter Koschmal (Hg.): Juden zwischen Deutschen u. Tschechen. Mchn. 2006, S. 273–288. Dieter Sudhoff † / Red.
Der Sohn eines jüd. Fabrikanten besuchte die Realschule in Brünn u. ging 1936 nach Prag zu Willi Nowak an die Kunstakademie. Hier befreundete er sich mit Peter Weiss. Sein Talent als Maler u. Dichter zeigte sich früh. Die Vorkriegslyrik steht unter dem Einfluss Heines u. Morgensterns, findet in der Zivilisationskritik aber eigenen Ausdruck. Nach der Okkupation der CˇSR musste K. sein Studium abbrechen. 1941 gehörte er zu dem Zwangskommando, das in Theresienstadt das Ghetto einrichtete. Er wurde Zeichner in der techn. Abteilung. Neben Plänen u. Plakaten sind Porträts u. Skizzen aus dem Lageralltag (Texte und Zeichnungen aus Theresienstadt. Hg. Bernd Polster. Bln. 1989) Kiene, Christoph Friedrich, * 12.3.1655 erhalten. 1942 entstand der Lyrikzyklus Die Lübeck, † nach 1721. – Jurist u. Lyriker. Peststadt, der in der tschech. Übersetzung u. in der Vertonung von Gideon Klein aufgeführt K. studierte nach seiner Lübecker Gymnasiwurde: düstere Todesvisionen, in denen sich alzeit ab 1675 in Rostock u. ab 1677 Leipzig die grauenhafte Realität metaphorisch auflöst Politik u. Jura. Nach ausgedehnten Reisen in u. sich die Verurteilung der Barbarei ebenso Deutschland, in die Niederlande, nach Spaausspricht wie der Glaube an die Humanität. nien, Frankreich u. England ließ er sich in
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Lübeck als Anwalt nieder; 1693 wurde er Justizrat in Mecklenburg-Schwerin. Seine bekannteste Veröffentlichung, Poetische Nebenstunden (Ffm./Lpz. 1680. 21681), ist Herzog August von Sachsen, dem Oberhaupt der Fruchtbringenden Gesellschaft, gewidmet u. enthält vier Bücher geistl. u. weltl. Gedichte, sog. Elegien, Sonette u. Grabschriften. Acht poetische Heldenbriefe folgen nlat. u. ital. Vorlagen (z.B. Eva an Adam im Paradies, Joseph an Potiphars Gemahlin oder – der einzige Briefwechsel – Candaulens Gemahlin an Gyges u. umgekehrt). Gerühmtes Vorbild ist Hoffmannswaldau. K.s in der Vorrede geäußerte Befürchtung, dass »die Redensart« seiner Gedichte als »nicht nett und eigentlich genug« empfunden werden könne, besteht vielfach zu Recht. Weitere Werke: Rostockische Feuers-Brunst, auf der Rostockischen hohen Schul öffentlich bethränt. Rostock 1677. 31710. – Poema sacrum, sive de credendorum liber primus. Lübeck 1703 (liber secundus ebd. 1710). Literatur: Carl Schröder: Mecklenburg u. die Mecklenburger in der schönen Lit. Bln. 1909, S. 52–55. – Heinrich Dörrie: Der heroische Brief. Bln. 1968, S. 188 f., 310 f. – Heiduk/Neumeister, S. 60, 196, 390 f. – DBA. Ingeborg Springer-Strand / Red.
Kieseritzky, Ingomar von, * 21.2.1944 Dresden. – Roman- u. Hörspielautor. Nach dem Schulbesuch in Stadthagen, Freiburg, Königsfeld u. Langeoog war K. Requisiteur am Goetheanum Dornach u. Buchhändler in Berlin u. Göttingen. Seit 1971 lebt er als freier Schriftsteller in Berlin. K. debütierte als Autor experimenteller Prosatexte, die einer avantgardistischen Ästhetik verpflichtet waren. Die Handlungshintergründe der Romane sind nur vage skizziert u. haben den Charakter von Laboratoriumswirklichkeiten. Sie sind häufig auf Dialoge zugespitzt u. entwerfen Gegenwelten, die aus den seinerzeit aktuellen Wissenschaften der Kybernetik, Linguistik u. Sozialisationstheorie entwickelt sind. Diese szientifischen u. rationalistischen Ansätze werden mit esoter. Konzeptionen, zunächst v. a. die Anthroposophie, verbunden. Die fiktionalen
Welten weichen von realistischen Weltmodellen ab u. konfrontieren die Helden mit Ordnungsschemata, auf die diese mit überschießender Sinnproduktion antworten. Aufgrund der Besonderheit der entworfenen fiktionalen Welten verhalten sich die Figuren nicht psychologisch konventionell; bezogen auf den narrativen Hintergrund ist ihr Verhalten jedoch konsequent. Ihre Reflexions- u. Handlungsmöglichkeiten einer absurden Welt gegenüber werden durchgespielt u. reflektiert. Das Verhalten der Figuren in der jeweiligen Modellwelt ist vom Willen zum System geprägt u. problematisiert herkömml. Verhaltensmuster ebenso wie die zu Dogmen erstarrten wissenschaftl. Grundlagen. Die Romane sind seit den Anfängen im Weltaufbau zunehmend komplexer u. realistischer geworden. Aus dieser Diskrepanz von Wirklichkeit u. Modellwelt entstehen Effekte, die K. den Ruf eines Meisters der Groteske u. des humoristischen Erzählens eingetragen haben. Die Mittelpunktfiguren sind schwache, negative Helden, Künstler in kunstfremden Bereichen. Kelp (Das Buch der Desaster. Stgt. 1988) ist ein Sammler von Katastrophen; Ziel seiner Sammeltätigkeit ist es, nicht mehr überrascht werden zu können. Der eskapistische Goff (Der Frauenplan. Etüden für Männer. Stgt. 1991) beginnt Frauen zu sammeln. Die jeweiligen Heldenfiguren erleben problemat. Zustände; sie unterliegen der Trägheit, sind den unterschiedlichsten Obsessionen verfallen. Die Romane sind mehrfach verschachtelt u. aufwändig konstruiert. Sie machen die Distanz zwischen Erzähltem u. Erzählen reflexiv verfügbar. Neben den großen Romanen hat K. kontinuierlich ein umfangreiches Werk von über fünfzig, zum großen Teil nicht im Druck verfügbaren Hörspielen erarbeitet. K. erhielt u. a. 1970 den Förderpreis für Literatur des Großen Kunstpreises des Landes Niedersachsen, 1989 den Literaturpreis der Freien Hansestadt Bremen, 1996 den Hörspielpreis der Kriegsblinden, 1997 den Alfred-Döblin-Preis, 1999 den Kasseler Literaturpreis für Grotesken Humor u. 2006 ein Alfred-Döblin-Stipendium.
403 Weitere Werke: Ossip u. Sobolev oder Die Melancholie. Neuwied/Bln. 1968 (R.). – Tief oben. Neuwied/Bln. 1970 (R.). – das eine wie das andere. Neuwied/Bln. 1971 (R.). – Liebes-Paare. Expertengespräche. Darmst./Neuwied 1973 (Hörsp.e). – Trägheit oder Szenen aus der vita activa. Stgt. 1978 (R.). – Die ungeheuerl. Ohrfeige oder Szenen aus der Gesch. der Vernunft. Stgt. 1981 (R.). – Obsession. Ein Liebesfall. Stgt. 1984 (R.). – Tristan u. Isolde im Wald v. Morois oder Der zerstreute Diskurs (zus. mit Karin Bellingkrodt). Graz 1987 (Dialoge). – Anatomie für Künstler. Stgt. 1988 (R.). – Nach Musil. Denkformen (zus. mit Claudio Magris u. Julian Schutting). Hg. Lukas Cejpek. Wien 1992. – Der Sinnstift. Stgt. 1993 (Hörsp.e). – Die Lit. u. das Komische. Bamberger Vorlesungen. Bamberg 1993. – Unter Tanten u. a. Stilleben. Stgt. 1996 (R.). – Kleiner Reiseführer ins Nichts. Stgt. 1999. – Da kann man nichts machen. Mchn. 2001 (R.). Literatur: Stephanie Laube: Unterhaltung in Hörsp. u. Feature. I. v. K. u. Walter Filz. Marburg 1997. – Eva-Maria Fahmüller: Postmoderne Veränderungen. Zur dt. Erzählkunst um 1990. Mchn. 1999. – Lutz Hagestedt: I. v. K. In: LGL. – Heinrich Vormweg, Werner Jung u. Thomas Thelen: I. v. K. In: KLG. Hans-Edwin Friedrich
Kießling, Franz, * 10.1.1918 Znaim, † 20.2.1979 Korneuburg; Grabstätte: Wien, Zentralfriedhof. – Lyriker.
Kinau Weitere Werke: Lob einer Stunde. Gedichte u. Gedanken. Aus dem Nachl. hg. v. Leopold Wech. St. Pölten 1986. Literatur: Albert Janetschek: Erinnerung an den Lyriker K. In: Niederösterr. Nachrichten, 28.2.1979. – Robert Danek: In memoriam F. K. In: Podium (1995), H. 98, S. 54 f. Gerhard Jaschke / Red.
Kilian, Susanne, geb. Welk, * 2.8.1940 Berlin. – Kinder- u. Jugendbuchautorin. Nach dem Abitur ging die Tochter eines Bankkaufmanns verschiedenen Beschäftigungen nach. Seit 1970 schreibt sie v. a. für Kinder u. Jugendliche. K. gehörte zu den Autorinnen, die zu Beginn der 1970er Jahre mit realistischen Schilderungen des Kinderalltags die sozial engagierte deutschsprachige Kinder- u. Jugendliteratur erneuerten. In ihren krit. Texten im Nein-Buch für Kinder (Weinheim 1972. 1984. Mit Illustrationen von Günther Stiller) greift sie Positionen der antiautoritären Kinder- u. Jugendliteratur auf u. klagt kinderfeindl. Lebensbedingungen an. Mit viel Sympathie für Kinder schildert sie deren Ängste u. Generationskonflikte in den Erzählungen Na und? (Weinheim 1972) u. Nur ’ne Fünf (ebd. 1974). In der Ich-Erzählung eines zehnjährigen Jungen, O. K. (ebd. 1984), wird die Wirklichkeit der BR Deutschland im kindl. Bewusstsein reflektiert. Den schwierigen Umgang mit dem plötzl. Tod der geliebten Mutter behandelt die Erzählung Die Mondmutter (Würzb. 1989).
K., Sohn eines Bahnkondukteurs, besuchte die Schule in Wien, wo er 1938 als Finanzbeamter in den Staatsdienst eintrat. Wegen eines Lungenleidens nahm er am Krieg nicht teil. 1951 wurde er Beamter im Unterrichtsministerium. Weitere Werke: Kaugummi-Gustav & AutoBereits seine ersten Gedichte verrieten die maten-Susi. Weinheim 1970 (E.). – Von Igor, dem ihm eigene mahnende Kraft. Die Kritik zollte schreckl. Kind. Ebd. 1972 (E.). – Große Ferien (zus. K. Beifall, sah in ihm gar einen jungen Klas- mit Werner Kilian). Ravensburg 1975 (R.). – Lenasiker. 1948 erschien sein erster Lyrikband Das kind. Weinheim 1980 (E.). – Kinderkram. Ebd. 1987 (E.). – Hans möchte stark sein, stark wie Tarungefragte Herz (Wien/Zürich), 1955 Seht wie ihr zan (zus. mit Stefan Rogal). Lpz. 2007. lebt (Wien/Mchn./Basel). Die existenzielle Not Birgit Dankert / Harald Jakobs der Nachkriegsjahre prägte K.s Natur-, Liebes- u. Zeitgedichte. »Die Welt hat mein Gesicht / und weint in meine Hände« heißt es in Kinau, Rudolf, * 23.3.1887 Finkenwerder einem davon. Bewundert wurden die Form- (heute zu Hamburg), † 19.11.1975 Finstrenge, Abgeklärtheit u. meditative Kraft kenwerder. – Erzähler. seiner – rund 150 – Gedichte. Viele davon Als Sohn eines Hochseefischers fuhr K. nach wurden vertont. dem Besuch der Volksschule ebenfalls zur See. Im Ersten Weltkrieg kämpfte er in Frankreich u. diente als Marinesoldat. Da-
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nach arbeitete er mehr als 20 Jahre als Ange- Hbg. 2003. – Dat lütte Rudl-Kinau-Book. Tohoopstellter in der Hamburger Fischauktionshalle. stellt van U. un H. Kinau. Hbg. 2007. Literatur: Gabriele Gebauer u. Michael TöteNachdem sein Bruder Johann Kinau, der unter dem Pseud. Gorch Fock in den 1920er berg: Ideolog. Werte u. Rezeption der Werke R. K.s. u. 1930er Jahren zum Bestsellerautor wurde, In: Niederdt. Wort 14 (1974), S. 105–130. – Reinim Ersten Weltkrieg gefallen war, trat K. mit hard Goltz: ›Seuk di wat ut‹ u. ›For jeeden wat‹. Überlegungen zum Erfolg R. K.s. In: Niederdt. Jb. ersten plattdt. Gedichten zu seiner Erinne114 (1991), S. 63–88. – Ders.: Der Gott der Heimat, rung an die Öffentlichkeit. Anders als Gorch der beste Kamerad u. der geschaßte GewerkschafFock, der hochdeutsch schrieb u. vor allem als ter. Die Schriftsteller Johann, R. u. Jakob K. in der völkisch-nationaler Dichter rezipiert wurde, Nazi-Zeit. In: Kay Dohnke u. a. (Hg.): Niederdt. bediente sich K. nahezu ausschließlich des im Nationalsozialismus. Hildesh. u. a. 1994, Niederdeutschen, was die Rezeption seiner S. 342–386. – Ders.: ›... is allens rundüm Musik‹. R. Werke, die thematisch denen des Bruders K. als Lyriker. In: Friedrich W. Michelsen (Hg.): Dat ähneln, einschränkte. 1917 erschienen u. d. T. ’s ditmal allens, wat ik weten do, op’n anner Mal Steernkiekers (Hbg.) patriotische Kriegserzäh- mehr. Hbg. 2004, S. 246–266. Jörg Schilling / Red. lungen. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs beschreibt K. in der Erzählung Thees Bott dat Woterküken (Hbg. 1919) den Kind, (Johann) Friedrich, auch: Oscar, wechselvollen Lebensweg eines Seefischers. * 4.3.1768 Leipzig, † 25.6.1843 Dresden. Dieser Text spielt wie der Roman Lanterne – Lyriker, Dramatiker, Opernlibrettist, (Hbg. 1920) u. die Mehrzahl seiner übrigen Erzähler; Redakteur u. Herausgeber. Werke im Fischermilieu seines Heimatorts Finkenwerder, das K. zu einer Idylle verklärt K. wuchs in einer angesehenen Juristenfamiu. dessen Bewohner im Kampf mit Schicksals- lie heran. Nach dem häusl. Privatunterricht u. Naturgewalten zu »heldischen« Figuren wurde er 1782–1786 Zögling der Thomaswerden. Die Bedrohung der althergebrachten schule. Anschließend studierte er Jura an der Lebensformen auf dieser Elbhalbinsel the- Leipziger Universität. Nach dem Doktorexmatisiert K. in fast allen Romanen, kürzeren amen trat er 1790 in Delitzsch eine VolonErzählungen u. Hörspielen. tärsstelle im Justizamt an. In Dresden ließ Nach 1933 passte sich K. weitgehend der sich K. 1793 als Rechtsanwalt nieder. Im selherrschenden Ideologie an u. wandte sich in ben Jahr veröffentlichte er anonym eine den folgenden Jahren v. a. humorvoller Sammlung von Gedichten, dramat. Bildern u. plattdt. Kurzprosa zu. 1962 erhielt er den Prosaerzählungen u. d. T. Lenardos SchwaermeFritz-Reuter-Preis der Freiherr-vom-Stein- reyen (2 Bde., Lpz. 1793/94). Die Sammlung Stiftung in Hamburg. Seine zahlreichen Bü- war nach dem Muster beliebter Autoren wie cher erreichten auch nach dem Krieg hohe Ossian, Miller u. Matthisson verfasst u. beAuflagen; sie wenden sich an ein literarisch scherte K. seinen ersten Publikumserfolg. anspruchsloses Publikum, das niederdt. Prosa 1794 heiratete er seine Braut Wilhelmine, die in erster Linie als triviale Unterhaltungslite- bereits 1795 starb. 1796 ging er mit Friederatur betrachtet. rike Ihle eine zweite Ehe ein. Erst 1801 trat K. mit der Novelle Carlo Weitere Werke: Blinkfüer. Helle un düstere Biller. Hbg. 1918. – Dörte Jessen. Een Book van (Züllichau) wieder an die Öffentlichkeit. Ihr Leew un Leben. Hbg. 1925. – Mit eegen Oogen. folgten 1802 die Sammlung Dramatische GeBiller ut mien Leben. Hbg. 1957. – Nix för ungood. mälde (ebd.) im Stil Kotzebues u. Ifflands soDie besten Gesch.n ut sien Beuker ›Bi uns an’n wie der dreibändige Roman Natalia (ebd. Diek‹, ›Seelüd bi Hus‹ un ›Langs de Küst‹. Hbg. 1802–04) in der empfindungsschwärmenden 1994. – Wat löppt uns Tied. Hbg. 1996. – Hest di Manier Lafontaines. Durch seinen lokalen dacht ... Hbg. 1999. – Upwussen an de Elv. HochDichterruhm bestätigt, wandte sich K. der u. plattdt. Gesch.n (zus. mit Johann u. Jakob Kinau). Zusamengestellt v. Ulli u. Hinnik Kinau. Salonerzählung u. Gedichtproduktion zu u. verfasste bis 1832 mehrere hundert Beiträge für die verschiedensten Publikationsorgane.
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1814 wurde er Mitgl. im »Dichter-Thee«, aus 7 Bde., Lpz. 1806–10 (E.en). – Gedichte. Lpz. 1808. dem der »Dresdener Liederkreis«, der wich- – Roswitha. 4 Bde., Lpz. 1811–16 (E.en). – Das tigste literarisch-gesellschaftl. Verein Dres- Gespenst. Dresden 1814 (E.en). – Die Harfe. 8 Bde., dens, hervorging. 1815–1832 wurde ihm die Lpz. 1815–19. – Der Weinberg an der Elbe. Lpz. 1817 (D.). – Gedichte. 5 Bde., Lpz. 1817–25. – Redaktion von »W. G. Beckers Taschenbuch Lindenblüten. 4 Bde., Lpz. 1818 f. (E.en). – Erzähzum geselligen Vergnügen« (Lpz.) übertra- lungen u. kleine Romane. 5 Bde., Lpz. 1820–27. – gen. Dort erschien 1819 sein Schauspiel Das Theaterschr.en. 4 Bde., Lpz. 1821–27. – Schön Ella. Nachtlager von Granada, das Braun von Braun- Lpz. 1825 (D.). – Sagen, Erzählungen u. Novellen. 2 thal zum Libretto der gleichnamigen Oper Bde., Lpz. 1829. – Herausgeber: Die Muse. Lpz. von Konradin Kreutzer umarbeitete (Wien 1821 f. (Monatsschr.). 1834). Nach dem Erfolg des Dramas Van Literatur: Goedeke 9, S. 243–274. – Hermann Dyck’s Landleben (Lpz. 1816), in dem er das Anders Krüger: Pseudoromantik. F. K. u. der romant. Modethema des Malerhelden auf- Dresdener Liederkreis. Lpz. 1904. – Felix Hasselnahm, legte K. seine Anwaltspraxis nieder u. berg: Der Freischütz. F. K.s Operndichtung u. ihre wurde 1817 zusammen mit Theodor Hell Quellen. Bln. 1921. – Johann Robert DoeringManteuffel: Dresden u. sein Geistesleben im VorHerausgeber der Dresdner »Abend-Zeitung«. märz. Diss. Lpz./Dresden 1935. – Marianna BoryAus der Zusammenarbeit mit Carl Maria siak: F. K. als Modedichter. In: Germanica Wrativon Weber, der 1817 Musikdirektor an der dt. slaviensia 27 (1976), S. 117–126. – Joachim Reiber: Oper in Dresden wurde, entstand Der Frei- Bewahrung u. Bewährung. Das Libretto zu Carl schütz, später Inbegriff der dt. romant. Oper. Maria von Webers ›Freischütz‹ im literar. Horizont Den Stoff u. alle zentralen Motive (Freiku- seiner Zeit. Mchn. 1990. – Ulrich Weisstein: Carl geln, Gestalt des schwarzen Jägers) fand K. in Maria v. Weber’s ›Der Freischütz‹: ›Nummernoper‹ der Freischütz-Novelle aus dem Gespensterbuch or ›Gesamtkunstwerk‹? In: Gerald Chapple (Hg.): (1810) seines Jugendfreunds August Apel, die The Romantic tradition. German literature and music in the nineteenth century. Lanham, Md. u. a. er u. a. durch die Einfügung eines glückl. 1992, S. 281–307. – Robert Braunmüller: Geweihte Schlusses in eine publikumswirksame dra- Rosen u. eine Kugel des Teufels: die paradoxe mat. Form brachte. Trotz der durch Weber Realität des ›Freischütz‹. In: Erika Fischer-Lichte vermittelten Ernennung K.s zum Hofrat 1818 (Hg.): Arbeitsfelder der Theaterwiss. Tüb. 1994, trat bald nach der triumphalen Uraufführung S. 159–168. – Hermann F. Weiss: ›Ich war nie der des Freischütz am 18.6.1821 in Berlin eine Knopf an Fortuna’s Hute‹. Unbekannte DokuEntfremdung zwischen beiden ein, da sich K. mente zur Beziehung zwischen Carl Maria v. Weber als Schöpfer des Librettos nicht entsprechend u. F. K. In: Weber-Studien, in Verbindung mit der am Erfolg beteiligt fühlte. Seine verletzte Carl-Maria-von-Weber-Gesamtausg. Bd. 3, Mainz u. a. 1996, S. 72–81. – Lutz Walther: Apel, K., Eitelkeit war auch der Antrieb für das im Wilson: Aspekte des Freischützstoffes. In: Forum Alter verfasste »Selbstpantheon« Der Frei- Modernes Theater 12 (1997), S. 91–99. schütz [...]. Ausgabe letzter Hand (Lpz. 1843). K.s Martin Huber / Red. Ruhm verblasste trotz anhaltender literar. Produktion mehr u. mehr; 1826 trat er aus der Redaktion der »Abend-Zeitung« aus u. Kinder, Hermann, * 18.5.1944 Thorn war 1827 Mitbegründer der »Dresdner Mor- (Torun´). – Erzähler u. Essayist; Hochgen-Zeitung«, die bereits eineinhalb Jahre schulwissenschaftler. später ihr Erscheinen wieder einstellen musste. 1832 zog sich K. völlig aus dem lite- Aufgewachsen als Sohn eines evang. Theologen in der Nähe von Ulm sowie in Münster/ rar. Leben zurück. Westfalen, machte K. 1964 in einem hess. Weitere Werke: Makaria, Atalante u. Kassandra Internat sein Abitur u. studierte danach (zus. mit Lafontaine). Züllichau/Freistadt 1803 (E.en). – Das Schloß Aklam. Lpz. 1803 (Dramat. Kunstgeschichte sowie Deutsche u. NiederGedicht). – Leben u. Liebe Ryno’s u. seiner ländische Philologie in Münster, Amsterdam Schwester Minona. 2 Bde., Züllichau/Freistadt u. Konstanz, wo er 1972 mit einer Arbeit über 1804/05 (R.). – Malven. 2 Bde., ebd. 1805 f. (E.en). – den poetischen Realismus promovierte (Poesie Wilhelm der Eroberer. Lpz. 1806 (D.). – Tulpen. als Synthese. Ausbreitung eines deutschen Realis-
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mus-Verständnisses in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Ffm. 1973). Im selben Jahr wurde er Wissenschaftlicher Assistent, 1974 Akademischer Rat für Germanistik u. Literatursoziologie an der Universität Konstanz. In seinem Romanerstling Der Schleiftrog (Zürich 1977) verarbeitet K. eigene lebensgeschichtl. Erfahrungen in der Form eines »negativen Bildungsromans«, greift gleichzeitig aber weit über den autobiogr. Horizont hinaus u. versucht nicht weniger als eine Analyse der Ursache des Scheiterns der Emanzipations- u. Politikkonzepte der 68erGeneration. Festgemacht wird diese Thematik an der Lebensgeschichte Brunos, eines jungen Germanistikdoktoranden, der von einem Dauerkonflikt zwischen »linken« Emanzipationsidealen u. den Sozialisationsmustern seines protestantisch-bürgerl. Elternhauses regelrecht zerrieben wird u. der auch in seiner Ehe mit einer aktiven Gewerkschaftlerin keine gemeinsame Identität entwickeln kann. Traditionelle Erzählmuster werden hier mit grotesken Stilelementen, subtilen Montagetechniken u. einer Ironisierung der Gattungsbezüge zu einem ebenso amüsanten wie semantisch komplexen Lamento über die Desillusionierungen einer ganzen Generation verbunden. Seine unverwechselbar eigenständige literar. Qualität erhält K.s Erzähldebüt aus seinem plast. Sprachstil, dem rasanten Erzähltempo u. seinem galligen Humor. K.s Erfahrungen im Universitätsbetrieb grundieren seinen zweiten Roman Vom Schweinemut der Zeit (Zürich 1980), in dem ein junger Kunsthistoriker u. Nachwuchswissenschaftler trotz aller Anpassungsleistungen am Ende in die Arbeitslosigkeit abstürzt. Auch hier geht es nur vordergründig um Wissenschaftssatire u. eine Ironisierung des Genres »Campusroman«, um universitäre Profilierungszwänge u. verinnerlichte Abhängigkeiten. Im Kern stellt sich die Frage, wie die Aufbruchseuphorie der 68er-Bewegung in den »Schweinemut« der 1970er Jahre münden konnte: in Verzagtheiten, Versagergefühle u. Depressionen. K. gibt keine schlüssigen Antworten, vermittelt aber sehr wohl Perspektiven, die den Leser auf die Spur adäquater Antworten bringen können. In ei-
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ner Konstanzer Rede zu Poetikfragen (Von den Bildern im Kopf, in: Der Mensch, ich Arsch. Drei Prosastücke. Zürich 1983) artikuliert K. seine Position: »Meine Literatur sagt nicht: So ist es, sondern sie sagt: So sieht es einer, und sie fragt: Ist das richtig? Sokratisch also, amüsant, aber gar nicht so lustig.« Wie wenig K. für die autobiogr. oder postmoderne Literatur zu vereinnahmen ist, zeigte schon seine virtuose Paraphrasierung einer Kafka-Parabel Du musst nur die Laufrichtung ändern von 1978 (in: Du mußt nur die Laufrichtung ändern. Fünf Prosastücke. Zürich 1978), welche die Chancenlosigkeit der Flucht vor inneren Zwängen ironisch ins Bild setzt, zeigt v. a. aber der von der Kritik als Höhepunkt seines bisherigen literar. Schaffens gerühmte Roman Ins Auge. Des Starstechers H. C. Hirschberg Geschichten aus dem Inneren des Hurrikans (Zürich 1987). In kaleidoskopartig wechselnden Bildern, in der iron. Verfremdung unterschiedlichster Erzählmodelle u. mit einem abgründig schwarzen Humor reflektiert er hier die Konsequenzen eines Rationalismus, der aufs Instrumentelle u. Technologische verkürzt wird, einer Aufklärungshaltung, die zur negativen Utopie, zu einem Wahn- u. Zwangssystem entartet. 1986 nahm K. zwei Lehraufträge an den Universitäten Klagenfurt bzw. Shanghai an. Sein Aufenthalt in China erweist sich als autobiogr. Kern des grotesk-komischen Reiseberichts Kina-Kina (Zürich 1988. Neuaufl. Erw. um ein Nachw. von K. Lengwil 1999). Wie hier das europ. Selbstverständnis einer wohlstandsgeschützten Individualität als globaler Anachronismus entlarvt wird, wie hier eine insgeheim schon brüchige akadem. Identität durch eine Kette kleiner Alltagskatastrophen, als Folge kultureller Verwerfungen, zerbröselt u. zerfällt, wird virtuos in Szene gesetzt. Ein ähnliches, wenn auch thematisch u. kompositionell völlig anders ausgerichtetes Glanzstück seines Erzählens legte K. 2000 mit der schmalen Erzählung Himmelhohes Krähengeschrei. Kammerprosa (Lengwil 2000) vor. Eine Wanderung auf dem Jakobsweg, auf der der Ich-Erzähler – zutiefst getroffen vom sinnlosen Unfalltod seiner Geliebten – eine Selbstheilung versucht, missrät von Anfang an zu einer verstörenden Begeg-
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nung mit dem Leid der Welt. Bestechend Erzählung. Bordenau/Venezia 2001. – Herausgeber: wirkt hier, wie K. Erzählgegenwart u. Histo- Bürgers Liebe. Ffm. 1981. Neuausg. Gött. 1999. – rienbilder, ein unangestrengt luftiges Erzäh- Die klass. Sau. Hdb. der lit. Hocherotik. Zürich len mit einer bildstarken Sprache zu einem 1986. Literatur: Klaus Modick: Schritte vom Weg. ergreifenden Lamento über die abgründige Bosheit des Menschen u. die Vergeblichkeit Laudatio auf H. K. In: Ders.: Milder Rausch. Ess.s u. Portraits. Ffm. 1999, S. 146–156. – Thomas Kraft: aller Glückserwartungen verbindet. H. K. In: LGL. – Ulrich Schmidt u. Jens Dirkens: H. In den Vordergrund seiner jüngsten Er- K. In: KLG. – Christof Hamann: Am Ende v. Lezählwerke treten, auch hier lebensgeschicht- bensläufen. Raum-Zeit-Konstellationen bei H. K. lich grundiert, die Themen Alter u. Tod. u. Sabine Peters: In: Peter-Weiss-Jb. 15 (2006), Schon in einer Erzählung von 1997 (Um Leben S. 137–152. – Christof Hamann u. Siegmund Kound Tod. Hbg.) schildert K. mit minutiöser pitzki (Hg.): H. K. Eggingen 2008. Genauigkeit u. grotesker Überzeichnung das Ronald Schneider langsame Sterben einer 81-jährigen Frau. Erzählt wird dies aus der Perspektive des Sohnes, der selbst schon an der Schwelle des Kindermann, Balthasar, auch: Kurandor, Alters steht u. im körperl. u. geistigen Ver- C. de Z., * 10.4.1636 Zittau, † 12.2.1706 fallsprozess seiner Mutter das Angstbild sei- Magdeburg. – Schulmann, luth. Theoloner eigenen Zukunft erblickt. Gerade diese ge, Übersetzer, Lyriker u. Dichtungsperspektiv. Brechung gibt der Erzählung ihre theoretiker. literar. Dichte. Mit Mein Melaten (Ffm. 2006) hat K. einen Roman über das Altern vorge- K., Sohn des Zittauer Brauers Barthold K., legt, von der Kritik sofort als einer der be- besuchte, nach Unterricht durch Privatlehrer, merkenswerten Romane zu einem der großen das städt. Gymnasium, wo v. a. Elias Weise, Themen der Gegenwartsliteratur gewürdigt. der Vater des berühmten Christian Weise Wie der Autor hier seinem traurig-komischen (1642–1708), zu seinen Lehrern gehörte. AnHelden kein Missgeschick, kein Leiden u. fang Juli 1654 immatrikulierte sich K. an der keine Peinlichkeit erspart, die den alternden Universität Wittenberg, wo er Ende April Mann in einer auf Dynamik u. Jugendlichkeit 1657 für eine Exercitatio philologica den Mafixierten Gesellschaft erwarten, rundet sich gistergrad erlangte, um sich anschließend zu einer melanchol. Alterselegie von sarkast. dem Studium der Theologie (v. a. bei AbraWitz u. bitterer Ironie, aber auch von großer ham Calov) zu widmen. Obgleich Augustus Buchner damals noch in Wittenberg lehrte, Lebensweisheit. K. erhielt u. a 1981 den Bodensee-Litera- war für K. das persönl. u. literar. Vorbild Joturpreis, 1996 den Alemannischen Literatur- hann Rists entscheidender. Während er auf preis u. 1998 den Literaturpreis der Landes- der Suche nach einer festen Pfarrstelle in schlecht bezahlter Stellung an der Salhauptstadt Stuttgart. Weitere Werke: Lauter Lieben nach Mitter- der’schen Schule in Brandenburg/Havel als nacht. Gedichte. Memmingen 1980. – Der helle Konrektor (Okt. 1659 bis 1664) u. anschlieWahn. Roman oder Mythoscopia Romantica. Zü- ßend als Rektor (bis 1667) tätig war, entfalrich 1981. – Winter am See. Gedichte. Bergen 1987. tete er eine ungewöhnlich fruchtbare literar. – Fremd. Daheim. Hiesige Texte. Eggingen 1988. – Tätigkeit. Die Böhmischen Schwestern. Zürich 1990 (R.). – Rist versprach sich so Bedeutendes von K., Der Mythos v. der Gruppe 47. Eggingen 1991. – der während seiner Studienzeit lat. u. dt. Alma. Phantasien zur Zeit. Kriminalnovelle. Zürich Gedichte verfasst hatte, dass er den unbe1994. – Von gleicher Hand. Aufsätze. Ess.s zur kannten Poeten 1657 zum Dichter krönte Gegenwartslit. u. etwas Poetik. Eggingen 1995. – Nachts mit Filzstift u. Tinte. Eggingen 1998. – (vgl. Noack, S. 272) u. ihn als »Kurandor« in ›Gefallen aus dem Konsens der Moderne‹. Rede, den Elbschwanenorden aufnahm. Doch ergehalten anläßlich der Verleihung des Stuttgarter füllte K. die Erwartungen des väterl. Gönners Literaturpreises 1999. In: Allmende 19 (1999), Nr. nur bedingt: Zehn Jahre später stellte er das 60/61, S. 186–190. – Die Forell’sche Erkrankung. Schreiben fast ganz ein.
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In seinen Publikationen passte sich K. geschickt neuen literar. u. gesellschaftl. Bedürfnissen an. So ist seine berühmt gewordene Anweisung zur »Wohlredenheit«, Der deutsche Redner (Frankf./O. 1660. Nachdr. Kronberg/Taunus 1974), ein gelungener Versuch, Johann Matthäus Meyfarts Teutsche Rhetorica (Coburg 1634. Nachdr. Tüb. 1977) durch ein zeitgemäßeres Werk zu ersetzen. In knapper, leicht verständl. Sprache legte K. die Grundprinzipien des mündl. u. schriftl. Vertrags dar u. ließ Musterbeispiele zeitgenöss. Eloquenz folgen. Zwei stark erweiterte Ausgaben erschienen 1662 u. 1665 in Wittenberg (Neudr. der Ausg. von 1665 bei Haupt 1981). Als der Verleger 1671 eine weitere Revision »nach heutigem Hoff-Stylo« anstrebte, überließ K. die Bearbeitung Christian Henel; später modernisierte Kaspar Stieler das Werk (Wittenb. 1680. Lpz. 1688). Eine zweite Marktlücke füllte Der deutsche Poet (Wittenb. 1664. Nachdr. Hildesh. 1973). K. hatte klar erkannt, dass die Prosodien von Zesen, Harsdörffer u. Schottelius den neueren Publikumswünschen nach Anweisungen für Casualcarmina nicht mehr genügten. Mit seinen Anleitungen für Gedichte »auf Hochzeiten / Kindtauffen / Gebuhrts- und Nahmens-Tagen / Begräbnisse / Empfah- und Glückwünschungen / u.s.f.« wurde sein Deutscher Poet zum Vorläufer der praxisnahen Anwendungspoetiken von Joachim Statius, Samuel Wahll u. Johann Hübner. K. selbst überschätzte seine dichterische Begabung nicht u. nahm nur wenige eigene Gedichte in seine Poetik auf. Seine Beispiele entnahm er v. a. den Werken von Opitz, Fleming, Tscherning u. Dach. Eine Vielzahl eigener Gelegenheitsgedichte, geistl. Sonette, Andachtslieder u. schäferl. Liebesgedichte ließ er in lockerer Ordnung im Buch der Redlichen (Küstrin 1663 u. 1664) erscheinen, eingebettet in die Reisegespräche Kurandors u. zweier Freunde. Als »Kurandor« führte K. sich selbst gern in seine Prosaschriften ein. Mit ihrer stark didakt. u. satir. Tendenz stehen diese Werke unter dem Einfluss von Moscheroschs Gesichten u. Rists Monatsgesprächen. Auch wirken in ihnen die Teufelsliteratur u. das frauenfeindl. Schrifttum des 16. u. 17. Jh. nach.
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Mit Leidenschaft geißelte K. Auswüchse des Studentenlebens: in Der christliche Studente! (Wittenb. 1660) sind es Trink- u. Raufsucht, Zweikampf u. Tabaksgenuss, in Kurandors Schoristen-Teuffel (Jena 1661) die im Pennalismus verankerte Dienstabhängigkeit u. Misshandlung jüngerer Studenten durch ältere. Seine demütigenden Erfahrungen als Lehrer u. seine krit. Haltung gegenüber den großen Heerführern der Weltgeschichte von Alexander bis Wallenstein finden ihren Niederschlag in dem 1666 entstandenen, aber erst 1673 in Wittenberg veröffentlichten Band Kurandors von Sittau neue Gesichter. Der wohl bereits 1658 entstandene Roman Kurandors Unglückselige Nisette (Frankf./O. 1660), konzipiert in der Nachfolge von Barclays Argenis, erregte wenig Aufsehen u. blieb für die Entwicklung des dt. Romans ohne Bedeutung. Vergeblich versuchte K. mit diesem Werk wie auch mit dem zum Namenstag des Kaisers verfassten Huldigungsgedicht Unterthänigster Käyser-Apffel (Frankf./O. 1660, an K.s ›Unglückseliger Nisette‹), Leopold I. als Mäzen zu gewinnen. Nach seiner Bestallung als Diakon an der Johanneskirche (Okt. 1667) u. Pastor an St. Ulrich u. Levin (Nov. 1672) in Magdeburg betätigte sich K. kaum noch literarisch. Eine Ausnahme bildet das unter dem Pseud. C. de Z. [= Curandor de Zittau] erschienene satir. Gedicht auf die Annexion Straßburgs durch Ludwig XIV., Der politische Schwanen- oder vielmehr Hahnen-Gesang, das ist [...] StaatsGespräch (Hennenfeld 1682). In Morhofs Unterricht wird K. wegen seiner musterhaft pointierten Gedichtschlüsse zitiert; Neumeister lobt ihn als einen Dichter, der »von einem Orpheus unterwiesen« zu sein scheint. Für Gottsched jedoch ist K. nur noch eine Quelle, aus der er Simon Dach zitiert. Weitere Werke: Lob-Gesang des Zerbster Biers [...]. Wittenb. 1658 u. ö. – Der Jungfrauen A. B. C. [...]. Wittenb. 1661. – Die böse Sieben [...]. Wittenb. (auch Zeitz) 1662. – Der vom Weibe überteuffelte Teuffel [...]. o. O. u. J. [1662 u. ö.] (Übers. v. N. Machiavellis ›Belfagor‹). – C. Salustii Crispi Römische Geschicht-Beschreibung [...]. Wittenb. 1662 (Übers.). – Warhafftiger Traum u. träumende Warheit [...]. o. O. u. J. [1664]. – Kurandors Trutz
409 Mahometh, oder Türcken-Lieder [...]. Bln. 1664. – Wollüstige u. verstandlose Jugend eines reuigen Studenten [...]. o. O. 1664. Ausgaben: Fischer/Tümpel 4, S. 186–193. – Der dt. Redner (Wittenb. 1665). Text u. Untersuchung v. Heimo Haupt. 2 Bde., Ffm. u. a. 1981. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2309–2325. – Frank-Rutger Hausmann: Bibliogr. der dt. Übers.en aus dem Italienischen v. den Anfängen bis 1730. Tüb. 1992, Bd. I/1, Nr. 0615, 0617, S. 704 f. – VD 17. – Weitere Titel: SethHeinrich Calvisius: Die Herrligkeit derer in denen Augen der Welt geringen Lehrer u. Prediger [...] bey [...] Leichbestattung [...] Hrn. M. B. K.s [...]. Magdeb. 1706. – Franz Muncker: B. K. In: ADB. – Waldemar Kawerau: B. K. Ein Kulturbild aus dem 17. Jh. In: Geschichtsbl. für Stadt u. Land Magdeburg 27 (1892), S. 131–239. – Kat. der fürstl. Stolberg-Stolberg’schen Leichenpredigten-Slg. Bd. 2, Lpz. 1928, S. 473, Nr. 14319 (Trostschreiben) u. 14498 (Leichenpredigt). – Peter Ukena: B. K. In: NDB. – Heiduk/Neumeister, S. 60, 196, 391, Register. – HKJL. Von 1570 bis 1750, Sp. 1473–1475. – Walter E. Schäfer: Moral u. Satire. Konturen oberrhein. Lit. des 17. Jh. Tüb. 1992 (Register). – Lothar Noack: B. K. In: Noack/Splett, Mark Brandenburg 1640–1713, S. 272–285. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 994–997. Ulrich Maché / Red.
Kindleben, Kindlebn, Christian Wilhelm, auch: Michael Brephobius, * 4.10.1748 Berlin, † vermutlich 1785 Dresden oder Leipzig. – Verfasser von Gedichten u. Erzählungen; Übersetzer, Publizist u. Herausgeber. Der Sohn eines Handwerkers suchte nach dem Theologiestudium in Halle jahrelang sein Auskommen als Hofmeister u. Landpfarrer. 1778 arbeitete er kurze Zeit als Gehilfe Basedows an dessen Philanthropinum in Dessau. Nach der Promotion 1779 in Wittenberg wollte er sich an der Universität Halle als Dozent niederlassen. Aufgrund seines Lebenswandels schon früher aus mehreren Stellungen entlassen, wurde K. 1781 auch aus Halle ausgewiesen. In seinen letzten Lebensjahren schlug er sich als Schriftsteller in Berlin, Leipzig u. Dresden durch. K. schaltete sich in zahlreiche literar. Auseinandersetzungen seiner Zeit ein. So bewies er in der Schrift Über die Non-Existenz des Teufels (Bln. 1776) in gut aufklärerischer Tradition,
Kindleben
dass hinter den neutestamentl. Teufeln lediglich histor. Gestalten stünden. Dieses Bekenntnis zum Rationalismus widerrief er drei Jahre später, als er in Der Teufeleien des 18. Jahrhunderts letzter Act (Lpz. 1779) gegen die Aufklärung polemisierte u. sich in der Frage nach dem Teufel auf einen orthodoxen Standpunkt zurückzog. Offenbar richtete sich der beruflich erfolglose K. jeweils nach den Meinungen derjenigen Gruppe, von der er sich Protektion erhoffte. Er war ein Vielschreiber, der Modegattungen aufgriff wie auch anerkannte Werke nachzuahmen suchte, ohne deren Qualität auch nur annähernd zu erreichen. In seinen meist autobiogr. Romanen widmete sich K. weitschweifig u. deutlich erot. Themen, was zu seinem Ruf als Lüstling u. Sittenverderber beigetragen haben mag. Als Lyriker sah er sich in der Tradition Gellerts u. verarbeitete Anregungen der Anakreontik u. Empfindsamkeit (Vermischte Gedichte. Bln./Lpz. 1779). Seine geistl. Gedichte verherrlichen Schicksalsergebenheit u. Sanftmut (Geistliche Gedichte und Lieder. o. O. [Halle?] 1781). Nur zwei seiner Werke überlebten K.: Die Studentenlieder u. das Studenten-Lexicon (beide Halle 1781) erfuhren im 19. u. 20. Jh. Neuauflagen. Wegen des als anstößig empfundenen Inhalts 1781 konfisziert, gilt das Studenten-Lexicon (zuletzt Mchn. 1971) heute als eine der frühesten Zusammenstellungen studentischer Redewendungen. Die Studentenlieder bringen eine ansehnl. Sammlung von Trink-, Kommers-, Trost- u. Abschiedsliedern verschiedener Verfasser, darunter das bekannte Gaudeamus igitur. Weitere Werke: Die allerneueste dt. Orthographie des 18. Jh. Ffm., Lpz. 1779. – Leben u. Abentheuer des Küsters zu Kummersdorf Willibald Schluterius. Halle 1779 (R.). – Ueber den Ursprung der Perücken. Bln. 1779. – Matthias Lukretius, sonst Votius gen.; oder Gesch. eines verunglückten u. metamorphisierten Kandidaten. 2 Tle., Halle 1780. – Emanuel Hartensteins eines peregrinierenden Weltbürgers Reise v. Berlin über Rostock nach Dresden. Halle 1780. – Florido oder Gesch. eines unglückl. Philosophen. Halle 1781 (R.). – Moralische Fragmente zur Kenntniß des Menschen, in Briefen. o. O. 1782. – Zeitverkürzende Unterhaltungen aus Joseph II. [...] Leben, o. O.
Kinkel 1782. – Der gehörnte Siegfried, ein Volksroman. 2 Tle., o. O. 1783. Literatur: Franz Muncker: C. W. K. In: ADB. – Gustav Roskoff: Gesch. des Teufels. Bd. 2, Lpz. 1869, S. 506–510, 521 f. – Konrad Burdach: Studentensprache u. Studentenlied. Halle 1894, S. 17–36. – Kosch. Isabel Grübel
Kinkel, (Johann) Gottfried, * 11.8.1815 Oberkassel (heute zu Bonn), † 13.11.1882 Unterstraß bei Zürich; Grabstätte: Zürich-Sihlfeld. – Verfasser von Versepen, Gedichten u. Erzählungen; Kunsthistoriker; Politiker.
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dem Spandauer Zuchthaus. Seine Familie übersiedelte mit ihm nach London, wo er als Dozent wirkte u. das Emigrantenblatt »Hermann« gründete. K.s polit. Aktivitäten in London sowie seine Amerikareise, auf der er für eine Revolutionsanleihe warb, lösten heftige Polemiken u. a. von Karl Marx aus. 1866 erhielt K. eine Professur am Zürcher Polytechnikum. Er widmete sich wieder der Kunstgeschichte in zahlreichen Veröffentlichungen, deren beste er gemeinsam mit alten aus der Bonner Zeit im Mosaik zur Kunstgeschichte (Bln. 1875) sammelte. Das dichterische Schaffen in Zürich trat hinter die wissenschaftl. Arbeiten zurück. Die literar. Bedeutung K.s wird heute in seinen Kunstkritiken u. einigen der Novellen gesehen; seine sozialpolit. Vorstellungen werden neu diskutiert. Der Nachlass befindet sich in der Bonner Universitätsbibliothek.
Der Sohn eines protestantischen Pfarrers hielt seit 1837 in Bonn Vorlesungen zur Kirchengeschichte u. Predigten (Köln 1842). Hinzu kamen Erfolge als Lyriker. 1843 heiratete K. die geschiedene Katholikin Johanna Mathieux, mit der er 1840 den bis 1847 besteWeitere Werke: Die Ahr. Bonn 1846. Neudr. henden Dichterbund »Maikäfer« gegründet Köln 1999. – Nimrod. Hann. 1857 (Trauersp.). – hatte. Die hier entstandenen Dichtungen sind Gedichte. Stgt. 1868. – Der Grobschmied v. Antdie bekanntesten des Ehepaars u. der sog. werpen. Stgt. 1872 (Versepos). – Tanagra. BraunBonner Spätromantik. Zu nennen sind K.s schw. 1883 (Versepos). – Selbstbiogr. 1838–1848. Gedichte (Stgt. 1843), das hieraus separat ver- Hg. Richard Sander. Bonn 1931. – G. K. Dichter u. Demokrat. Hg. Hermann Rösch. Königswinter öffentlichte Versepos Otto der Schütz (Stgt. 2006 (Werkausw. mit Einl.). – Liebe treue Johanna! 1846, mehr als 80 Auflagen) sowie beider Er- Liebster Gottit! Der Briefw. zwischen G. u. Johanna zählungen (Stgt. 1849). Die Absicht, sich mit K. 1840–1858. Bearb. v. Monica Klaus. 3 Bde., der Tragödie König Lothar von Lotharingen Bonn 2008. – Herausgeber: Maikäfer-Ztg. Bonn (Bonn 1842) als Dramatiker zu etablieren, 1840–47. Neudr. 4 Bde., Bonn 1982–85. schlug fehl. Zur Existenzsicherung war K. auf Literatur: Wolfgang Beyrodt: G. K. als KunstLiteratur- u. Kunstkritiken angewiesen, die historiker. Darstellung u. Briefw. Bonn 1979. – überwiegend anonym in der Augsburger Klaus Schmidt: Gerechtigkeit – das Brot des Vol»Allgemeinen Zeitung« erschienen. Unter- kes: Johanna u. G. K. Stgt. 1996. – Ulrike Brandtstützt von Jacob Burckhardt, verfasste K. die Schwarze: Nachl. G. u. J. K. Findbuch. Bonn 2001. – einzige Lieferung seiner Geschichte der bilden- Goedeke Forts. – Gertrud Wegener: Literar. Leben den Künste bei den christlichen Völkern (Bonn in Köln 1750–1850. 2. Tl. 1815–1840. Köln 2005, S. 247–254, 293–297. – Monica Klaus: Johanna 1845), aufgrund der er 1846 zum a. o. Prof. Kinkel. Romantik u. Revolution. Köln u. a. 2008. ernannt wurde. Wolfgang Beyrodt Für die demokratische Bewegung 1848 agitierte K. als Redner u. Journalist in der von ihm herausgegebenen demokratischen Kinkel, (Maria) Johanna, geb. Mockel, »Bonner Zeitung« (1848–50. Seit 1849 »Neue * 8.7.1810 Bonn, † 15.11.1858 London. – Bonner Zeitung«). In die preuß. Zweite Erzählerin u. Musikerin. Kammer gewählt, nahm er nach deren Auflösung am badischen Aufstand teil; er wurde Die Tochter eines Gymnasiallehrers heiratete festgenommen u. zu lebenslanger Haft ver- 1832 in erster Ehe den Kaufmann Johann urteilt. Das öffentl. Interesse an K.s Schicksal Anton Mathieux (Trennung 1833, Scheidung erreichte seinen Höhepunkt nach der von 1840). Franz Anton Ries, schon Beethovens Carl Schurz initiierten Flucht (7.11.1850) aus erster Lehrer, bildete K. zu einer angesehenen
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Pianistin, Komponistin u. Dirigentin aus; sie Sagarra: J. K. Hans Ibeles in London. Ein Familigab u. a. Bettine von Arnims Kindern Musik- enbild aus dem Flüchtlingsleben (1860). In: Lexiunterricht. 1843 heiratete sie Gottfried Kin- kon deutschsprachiger Epik u. Dramatik v. Autokel, mit dem sie 1840 den »Maikäferbund« rinnen (1730–1900). Hg. Gudrun Loster-Schneider u. Gaby Pailer. Tüb. 2006, S. 243 f. – Monica Klaus: gegründet hatte. K. unterstützte die literar. J. K. Romantik u. Revolution. Köln u. a. 2008. (Erzählungen. Stgt. 1849) wie die polit. AktiEda Sagarra vitäten ihres Mannes, leitete während seiner Haft die »Neue Bonner Zeitung« u. war maßgeblich an seiner Befreiung beteiligt. Im Kinkel, Tanja, * 27.9.1969 Bamberg. – Londoner Exil ernährte sie die Familie durch Romanautorin. Gesangs- u. Klavierunterricht mit u. nahm viele dt. Flüchtlinge bei sich auf, darunter K.s Grundschule in Bamberg lag in unmitihre spätere Freundin Malwida von Meysen- telbarer Nähe zu histor. Bauten, was ihrer bug. K.s 8 Briefe an eine Freundin über Clavier- eigenen Einschätzung nach neben der LekUnterricht (Stgt. 1852) wurden immer wieder türe von histor. Romanen (Karl May) mitbeaufgelegt; die im British Museum geschrie- stimmend für ihr Interesse an Geschichte u. bene Geschichte der Musik blieb unvollendet. am Geschichtenerzählen war. Im Alter von Von ihren Liedern wurde in der engl. Über- acht Jahren verfasste sie erste Erzählungen u. setzung The soldier’s song zu einem beliebten Gedichte. Neben dem Besuch des humanistiviktorian. Gesang. Imponierend in ihrer sta- schen Kaiser-Heinrich-Gymnasiums in Bamtuesken Hässlichkeit, neigte diese kluge, un- berg u. einigen Auslandsaufenthalten (Japan, gewöhnlich charakterstarke Frau gelegent- Großbritannien, USA) schrieb sie Texte, von lich zu sentimentaler Selbstdramatisierung, denen 1987 Schritte in der Nacht im Rahmen die sie zum Spottbild mancher Zeitgenossen eines Jugendliteraturwettbewerbs ausge(so Karl Marx, Alexander Herzen, Georg zeichnet wurde. Nach dem Abitur studierte Weerth) machte. Fünf Tage nach Vollendung K. in München Germanistik sowie Theater- u. ihres zweibändigen Schlüsselromans Hans Kommunikationswissenschaften, schloss das Ibeles in London. Ein Familienbild aus dem Studium 1994 mit einer Magisterarbeit über Flüchtlingsleben (Stgt. 1860. Neudr. hg. von Effi-Briest-Verfilmungen ab u. promovierte Ulrike Helmer. Ffm. 1991) stürzte sie (sich?) 1997 mit einer Arbeit über die histor. Romaaus dem Fenster. Ihr polit. Drama Der letzte ne von Lion Feuchtwanger. Noch während des Studiums erschien ihr Salzblock blieb ungedruckt. Erfolgreich waren ihre Lieder für kleine Kinder (Bonn 1849. Engl. Romanerstling Wahnsinn, der das Herz zerfrißt (Mchn. 1990) über Lieben u. Leiden des engl. London 1852). Weitere Werke: Liebe treue Johanna! Liebster Romantikers Lord Byron. K. erhielt verschieGottit! Der Briefw. zwischen Gottfried u. J. K. dene Stipendien, darunter an der Hochschule 1840–1858. Bearb. v. Monica Klaus. 3 Bde., Bonn für Film und Fernsehen in München, in der Casa Baldi in Olevano bei Rom u. in der Villa 2008. Literatur: Ruth-Ellen Boetcher Joeres: The Aurora (Kalifornien). Fast im Jahresrhythmus Triumph of the Woman: J. K.’s ›Hans Ibeles in veröffentlichte sie von da an einen neuen London‹ (1860). In: Euph. 70 (1976), S. 187–197. – Roman; die dt. Gesamtauflage ihrer Werke Malwida v. Meysenbug: Briefe an J. u. Gottfried K. liegt bei mehr als 3,5 Millionen; einige von 1849–1885. Hg. Stephania Rossi u. Yoko Kikuchi. ihnen (Die Puppenspieler. Mchn. 1993. MondBonn 1983. – Rosemary Ashton: Little Germany. laub. Mchn 1995. Venuswurf. Mchn. 2006) sind Exile and asylum in Victorian England. London in bis zu sieben Sprachen übersetzt. 1992 1986. – Helen Chambers: J. K.’s Novel ›Hans Ibeles wurde K. mit dem Bayerischen Förderpreis in London‹. In: Exilanten u. a. Deutsche in Fontanes London. Hg. Peter Alt u. Rudolf Muhs. Stgt. für junge Schriftstellerinnen u. Schriftsteller, 1996, S. 159–173. – Clara G. Ervedosa: J. K. 2000 mit dem Kulturpreis der oberfränk. (1810–1858). In: Vom Salon bis zur Barrikade. Wirtschaft ausgezeichnet. Seit 1992 ist sie Frauen der Heine-Zeit. Hg. Irina Hundt. Stgt./ Mitgl. des von ihr mitgegründeten u. von Weimar 2002, S. 323–336. – Goedeke Forts. – Eda ihrem Vater geleiteten gemeinnützigen Ver-
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eins »Brot und Bücher«, der sich der Erhö- K. Mertens im Gespräch mit T. K. über den neuen hung von Bildungschancen für Kinder der Roman Venuswurf. In: LiB 22 (2006) 85, S. 22–25. Friederike Reents »Dritten Welt« verschrieben hat. K. war kurzzeitig im Beirat des Bertelsmann Buchclubs tätig. Sie ist Kuratoriumsmitgl. des InKippenberg, Anton (Hermann Friedrich), ternationalen Künstlerhauses Villa Concordia * 22.5.1874 Bremen, † 21.9.1950 Luzern; in Bamberg u. seit 2007 Mitgl. des P.E.N.Grabstätte: Marburg, Hauptfriedhof. – Zentrums. Verleger u. Sammler. K. verlagert die Handlung ihrer akribisch recherchierten Folgeromane nach dem Erst- K. wuchs in Bremen auf, wo sein Vater ein ling immer weiter zurück in die Vergangen- Lehrerinnenseminar gegründet hatte u. bis heit: Die Löwin von Aquitanien (Mchn. 1991) zu seinem frühen Tod 1889 leitete. Über die spielt im MA, Die Puppenspieler im Augsburg Entscheidung, mit der Obersekundareife das der Fugger im ausgehenden 15. Jh., Mondlaub Gymnasium zu verlassen u. eine Buchhändin Andalusien zum Ende der Maurenherr- lerlehre zu beginnen, berichtet K. in seinen schaft 1492, Die Schatten von La Rochelle (Mchn. Erinnerungen Aus den Lehr- und Wanderjahren 1996) im Frankreich Richelieus im frühen 17. eines Verlegers (in: Reden und Schriften. Wiesb. Jh. u. Die Söhne der Wölfin (Mchn. 2000) zur 1952). Nach dem Militärdienst trat er 1896 in Zeit der Gründung Roms, im 7. Jh. v. Chr. den wissenschaftl. Verlag von Wilhelm EnMit Unter dem Zwillingsstern (Mchn. 1998) gelmann in Leipzig ein, in dem er zuletzt wagt sich K. erstmals ins 20. Jh. u. erzählt die Prokurist war. Nebenberuflich konnte K. in Geschichte des fiktiven, platonisch verbun- Leipzig ohne Abitur studieren u. unter bedenen Freundespaares Carla u. Robert aus stimmten Voraussetzungen (die Arbeit dem Theatermilieu, geprägt vom Aufstieg in musste höchsten Anforderungen genügen) der Münchner, dann Berliner Bohème der den Doktortitel erwerben: 1901 promovierte zwanziger Jahre, der durch die Herrschaft der er bei Albert Köster über Die Sage vom Herzog Nationalsozialisten u. Carlas Gang ins Exil von Luxemburg (Lpz. Neudr. Wiesb. 1970). Bei unterbrochen wird. In die Gegenwart führt einer Tagung der Goethe-Gesellschaft in der Roman Götterdämmerung (Ffm. 2003). Der Weimar, deren Präsident er 1938–1950 reich ausgeschmückte Handlungsbogen um- war, begegnete er Katharina von Düring spannt die Gefahren der Gentechnologie (1876–1947) aus Hamburg, die in Leipzig eizwischen Wissenschaft, Politik u. Industrie. gene Studien betrieb; sie heirateten 1905. 2006 kehrt K. in vergangene Stoffe u. Zeiten Zu diesem Zeitpunkt war K. von seinem zurück u. lässt den Leser in Venuswurf (Mchn.) Landsmann Alfred Walter Heymel die Leierneut in die röm. Antike eintauchen; erzählt tung des Leipziger Insel Verlags angetragen wird die Geschichte der zwergwüchsigen worden. Dieser schöngeistige u. bibliophil Sklavin Andromeda, verstrickt in den der neuen Buchkunst verpflichtete Verlag – Machtkampf der Großen u. Mächtigen. urspr. neben der 1899 von Heymel, Rudolf Weitere Werke: Die Reise mit meiner Schwes- Alexander Schröder u. Otto Julius Bierbaum ter. 1990 (Drehb.). – Naemi, Ester, Raquel u. Ja’ala. gegründeten Zeitschrift »Die Insel« konziVäter, Töchter, Machtmenschen u. Judentum bei piert – hatte die drei Jahrgänge der Zeitschrift Lion Feuchtwanger. Bonn 1998 (Diss.). – Die Prin- überlebt, war aber in eine wirtschaftl. Krise zen u. der Drache. Stgt. u. a. 1997 (Kinderbuch). – geraten. Aus dieser konnte ihn K., zuerst geDer König der Narren. Mchn 2003 (Jugendbuch). – meinsam mit Carl Ernst Poeschel, seit 1906 Säulen der Ewigkeit. Mchn. 2008 (R). allein, zu der bedeutenden Stellung führen, Literatur: ›Auch historische Romane sind po- die er schon wenige Jahre darauf einnahm. K. litisch‹. Kathrin Mertens sprach in München mit erweiterte das Verlagsprogramm über die der sehr erfolgreichen Schriftstellerin T. K. In: LiB zeitgenöss. Dichtung hinaus – Hofmannsthal 20 (2004) 75, S.42–44. – ›Ein bittersüßes Ende ist realistischer als ein unumschränktes Happy-End‹. u. Rilke waren Autoren der Zeitschrift gewesen –, indem er Goethe ins Zentrum rückte. Neben die Weiterführung der Luxus-Ausgabe
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(Johann Wolfgang Goethe. Sämtliche Werke. 16 Bde., 1905–17) stellte K. den »wohlfeilen «, nicht ohne Kritik aufgenommenen »VolksGoethe« (Goethes Werke in 6 Bänden. 1909) – von Erich Schmidt im Auftrag der GoetheGesellschaft herausgegeben – u. weitere Goethe-Einzelausgaben. Mit seinen Klassiker-Dünndruckausgaben setzte K. neue Maßstäbe für Edition u. Buchgestalt. 1912 begründete er die »Insel-Bücherei«, die jungen Menschen Zugang zur Literatur erschloss u. dauernden Erfolg hatte. Für den Verlag war zudem die wachsende Goethe-Sammlung K.s eine Quelle der Anregung: 1913 erschien der erste Katalog der Sammlung Kippenberg. Während des Ersten Weltkriegs gab K. als Hauptmann d. R. in Gent die »Kriegszeitung der 4. Armee« heraus. Hier erschloss sich ihm die fläm. Literatur, die er in den Verlag aufnahm u. teilweise selbst übersetzte. In dieser Zeit leitete Katharina Kippenberg als Prokuristin den Insel Verlag, für den sie längst die Aufgaben einer Lektorin innehatte. Eine erste Darstellung von Lebensgang u. Werk K.s bietet Die Anrede, die Katharina Kippenberg an den Anfang der Festschrift zu seinem 50. Geburtstag stellte: Navigare necesse est (1924). Der reich ausgestattete Band enthält eine Beschreibung seiner GoetheSammlung. Diese wuchs in den folgenden Jahren neben dem Hauptgeschäft so stattlich heran, dass im Januar 1938 ein Museumsanbau am K.schen Haus eingeweiht werden konnte. Zum 65. Geburtstag wurde ihm die Bibliographie Kippenberg gewidmet, die 189 Titel umfasst, von den ersten Artikeln in der »Weser-Zeitung« (1893) bis zu dem Bändchen Benno Papentrigk’s Schüttelreime (1937). Damals waren die guten Jahre bereits vergangen. Stefan Zweig hatte seinem Verleger nach dem Reichstagsbrand gesagt, dass es nun bald vorbei sein werde mit seinen Büchern in Deutschland, worauf K. erstaunt gefragt habe: »Wer sollte Ihre Bücher verbieten? Sie haben doch nie ein Wort gegen Deutschland geschrieben oder sich in Politik eingemengt.« Tatsächlich erschien 1934 eine Neuausgabe von Zweigs Marie Antoinette, doch ging damit die bereits 1906 geknüpfte Verbindung zu Ende. K. konnte den Insel Verlag
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vor ernsten Zugeständnissen zwar bewahren, doch nicht vor der Zerstörung des Verlagshauses im Dez. 1943. Die Arbeit wurde im Privathaus K.s fortgesetzt, bis auch dieses im Febr. 1945 völlig niederbrannte. K. hatte seine Sammlungen bald nach Kriegsausbruch ausgelagert. Nach dem Ende des Kriegs wurden sie aus den Bergungsorten in Sachsen u. Thüringen von den abziehenden Amerikanern zum Central Art Collecting Point nach Marburg gebracht, wohin K. mit seiner Familie folgte. Der Insel Verlag erhielt in Wiesbaden im Sept. 1945 eine Lizenz, im März 1946 auch in Leipzig; K. war bestrebt, die Zusammenarbeit zu erhalten. Er empfand die Marburger Zeit als Exil, doch waren es tätige Jahre. So konnte die »Sammlung Kippenberg« im Goethejahr 1949 in einer Reihe von Ausstellungen gezeigt werden. Der Verleger wünschte ihre Rückkehr nach Leipzig; erst spät fiel die Entscheidung für Düsseldorf (Goethe-Museum. Anton-und-Katharina-Kippenberg-Stiftung). Katharina Kippenberg vollendete in Marburg ihr Buch über Rilkes Duineser Elegien und Sonette an Orpheus (1946); ihr Tod überschattete K.s letzte Lebenszeit. Zu ihrem Gedächtnis eröffnete er 1947 die Rilke-Ausstellung in Marburg, die auf dem Bestand der eigenen Rilke-Sammlung basierte. Die Handschriften u. Bücher aus diesem Privatarchiv konnte später das Deutsche Literaturarchiv in Marbach erwerben. Weitere Werke: Kat. der Slg. K. 3 Bde., Lpz. 1928. – Jb. der Slg. K. 10 Bde., Lpz. 1921–35. – Gesch.n aus einer alten Hansestadt. Lpz. 1933. – Becher u. die Insel. Lpz. 1981 (Briefw. mit A. u. Katharina K.). – Rainer Maria Rilke: Briefw. mit A. K. 1906 bis 1926. Hg. Ingeborg Schnack u. Renate Scharffenberg. 2 Bde., Ffm./Lpz. 1995. – Katharina Kippenberg: Kleine Schr.en. Wiesb. 1948 (mit Bibliogr.). – Rainer Maria Rilke – Katharina Kippenberg. Briefw. Wiesb. 1954. Literatur: Die Insel. Marbach 1965 (Ausstellungskat.). – Ingeborg Schnack: A. K. Dichter u. Verleger. In: Börsenblatt (Ausg. Ffm.) 33 (1966), S. 829–839. – Friedrich Michael: A. K. Buchhändler u. Sammler. Düsseld. 1967. – Hanns Meyer: K. In: Bremische Biogr. 1912–62. Bremen 1969. – Heinz Sarkowski (Hg.): Der Insel-Verlag. Eine Bibliogr. 1899–1969. Ffm. u. a. 1970. Überarb. u. erg. Aufl. Ffm. 1999. – ›Einen Einzigen verehren‹. Goethe im
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Leben u. Werk A. K.s. Hg. vom Goethe-Museum. Düsseld. 1990. – Susanne Buchinger: ›Wie sehr das bezaubernde Goethe-Stück mir das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt, brauche ich nicht zu sagen [...].‹ Das Thema Autografensammeln als besondere Facette der Autor-Verleger-Beziehung zwischen Stefan Zweig u. A. K. In: Philobiblon 38 (1994), H. 3, S. 233–252. – Gerhard u. Margarete Jonas: A. K. (1874–1950) u. die Insel-Bücherei. Oldenb. 1995. – Siegfried Unseld: A. K.: ›Den Besten unserer Zeit genugthun‹. Ffm. 1995. – Werner Marx: Die Villa K. in Gohlis. Lpz. 2001. – Renate Frohne: Rilkes Briefw. mit seinem Verleger A. K. v. 1906 bis 1926. In: Ufita (2002), H. 1, S. 119–133. – Sabine Knopf: ›Habent sua fata autographa‹. Über die Schicksale der Leipziger Slg.en. Rudolf Brockhaus u. A. K. In: Librarium 47 (2004), H. 3 u. Index, S. 149–176. – S. Buchinger: ›Alles daran zu setzen, dass Goethes Werk zum Volke spricht‹. Goethepflege im Spiegel des Briefw. zwischen Ernst Beutler u. A. K. In: JdFDH (2007), S. 305–370. Renate Scharffenberg / Red.
Kipphardt, Heinar, eigentl.: Heinrich Mauritius K., * 8.3.1922 Heidersdorf/ Schlesien, † 18.11.1982 München; Grabstätte: Reichenkirchen, Gemeindefriedhof. – Dramatiker, Romancier, Erzähler, Lyriker, Fernsehspielautor. Die leidvolle Geschichte seiner Familie im »Dritten Reich«, die Erfahrung des Kriegs u. die Verdrängung dieser Zeit im Nachkriegsdeutschland, der Versuch, dieses dunkle Kapitel dt. Geschichte zu verstehen u. durchschaubar zu machen, prägen das gesamte künstlerische Werk K.s. Er selbst verstand sich als polit. Autor u. als Marxist im Sinne einer Philosophie, die ihre Praxis noch sucht. »Die Vergangenheit wird erst ruhen, wenn sie wirklich Vergangenheit geworden ist. Zur Stunde ist sie das nicht. Weder theoretisch noch praktisch. Wir werten unsere Vergangenheit wie eine unerklärliche Krankheit [...]. Aber ihre Ursachen sind untersuchbar, die Krankheit ist abwendbar, die Wiederholung vermeidbar, hier und an anderen Plätzen der Erde« (Theaterstücke. Bd. 1, Köln 1978, S. 355). Als einziger Sohn eines Zahnarztes wuchs K. in der schles. Kleinstadt Gnadenfrei (heute Pilawa Górna) auf. 1933 wurde sein Vater als Sozialdemokrat verhaftet, im Konzentrati/
onslager Dürrgoy bei Breslau interniert u. später bis 1937 in Buchenwald gefangen gehalten. Die Familie war über Nacht ihrer bürgerl. Existenz beraubt. Nach der Entlassung des Vaters zog die Familie nach Krefeld, wo K. Anfang 1940 ein gutes Abitur machte. Er begann 1941 in Bonn (später in Köln u. Düsseldorf) Medizin zu studieren, aber schon ein Jahr später wurde er zum Kriegsdienst an der Ostfront in Russland eingezogen. 1942 heiratete er seine erste Frau Lore Hannen. Kurz vor Kriegsende desertierte K. u. versteckte sich im Siegerland; nach der Kapitulation schloss er das Studium mit dem Staatsexamen ab u. arbeitete zunächst in Krefeld, später bis 1949 in der psychiatr. Klinik Düsseldorf-Grafenberg. Während dieser Zeit entstanden die ersten schriftstellerischen Arbeiten. Seine Auffassung, dass der Schriftsteller aktiv an der Veränderung der gesellschaftl. Verhältnisse mitarbeiten solle, u. die Enttäuschung über die restaurativen Tendenzen im westl. Teil Deutschlands führten 1949 zu dem Entschluss, nach Ost-Berlin zu gehen. K. war zunächst Assistenzarzt an der psychiatr. Abteilung der Charité, wurde jedoch bereits 1950 Mitarbeiter, später Chefdramaturg unter der Intendanz Wolfgang Langhoffs am renommierten Deutschen Theater. Neben der dramaturgischen Arbeit entstanden die ersten Stücke, so das satir. Lustspiel Shakespeare dringend gesucht (Bln./DDR 1954), in dem sich K. mit der DDR-Kulturpolitik u. der Situation an den Theatern kritisch auseinandersetzt. Aufgrund der zunehmenden kulturpolit. Repressionen nach dem Ungarnaufstand 1956 u. der Weigerung, öffentl. Selbstkritik zu üben, sah K. für sich keine Möglichkeit mehr, in der DDR zu arbeiten, u. ging zunächst 1959 an das Düsseldorfer Schauspielhaus, 1961 als Lektor nach München. 1963 zog er mit seiner zweiten Frau Pia Pavel zusammen. Das Jahr 1964 brachte mit der Fernsehbearbeitung des Oppenheimer-Stoffs, den folgenden Uraufführungen gleichzeitig in Berlin u. München u. den ebenfalls im Fernsehen gezeigten Stücken Der Hund des Generals (Ffm. 1963) u. Die Geschichte von Joel Brand (Ffm. 1965) den endgültigen literar. Durchbruch u.
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weltweite Anerkennung. Die Qualität der Arbeiten wurde im selben Jahr mit der Verleihung einiger Preise, u. a. des GerhartHauptmann-Preises, gewürdigt. Ende der 1960er Jahre erreichte die Politisierung des Theaters den Höhepunkt u. K. konnte als Chefdramaturg an den Münchner Kammerspielen die Aufführungen der ersten Stücke von Kroetz durchsetzen. Dass regionale Politiker unter einem Vorwand K.s Vertrag 1971 nicht verlängerten, führte zu einem der größten Theaterskandale der Bundesrepublik. Neben Weiss u. Hochhuth gilt K. als führender Vertreter des dt. Dokumentartheaters. Das erste Dokumentarspiel K.s, Der Hund des Generals, ist wie Oppenheimer ein Prozessstück, gibt allerdings eine fiktive Begebenheit wieder. Ein General rechtfertigt sich 17 Jahre nach Kriegsende gegenüber dem Vorwurf, er habe 1943 aus Wut über die Erschießung seines Hundes 60 Soldaten sinnlos in den Tod geschickt, mit dem Hinweis auf einen von oben erlassenen Einsatzbefehl. Einflüsse Brechts u. der Piscator-Bühne der 1920er Jahre sind spürbar. K. stellt das Theater in den Dienst der polit. Aufklärung. In dem Stück In der Sache J. Robert Oppenheimer (Ffm. 1964. 2005, mit einem Kommentar von Ana Kugli) macht K. umgekehrt die persönl. Motive eines Einzelnen zum Gegenstand einer Untersuchung durch den Staat. Grundlage ist das Protokoll der Vernehmung des »Vaters der Atombombe« 1954 durch den Sicherheitsausschuss der US-Atomenergiekommission (veröff. Cambridge u. a. 1971). Im Vordergrund stehen die polit. Wandlung des Intellektuellen, die daraus resultierende Verfolgung u. Gesinnungsschnüffelei u. die Verantwortung des Wissenschaftlers für das Vernichtungspotential Atombombe. Es geht K. um das Verhältnis von Moral u. Macht, um die Behauptung von der wertfreien Wissenschaft, die er ebenso wie die Autonomie der Kunst entschieden ablehnt. Das Stück ist also nicht nur die dramat. Nacherzählung eines histor. Falls, sondern ein Modell für autoritäre Tendenzen in Demokratien; Oppenheimers berühmtester Satz im Stück lautet: »Es gibt Leute, die bereit sind, die Freiheit zu schützen, bis nichts mehr von ihr übrig ist.«
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Im Roman März (Mchn. 1976) erzählt K. multiperspektivisch die Lebensgeschichte des schizophrenen Dichters Alexander März, montiert aus einer Fülle von Quellen. Am wichtigsten sind Erzählungen, Gedichte, Briefe, Aufsätze von März selbst, sowie Tagebuchnotizen u. Berichte seines Psychiaters Kofler. Darüber hinaus kommen alle Personen zu Wort, die in Zusammenhang mit ihm standen, die Eltern, seine Schwester, die Ärzte u. Pfleger, Patientinnen u. Patienten, Arbeitskollegen – u. immer wieder eingestreute Dokumente, Gesetzestexte, ein Exkurs zur Situation der Psychiatrie in der BR Deutschland mit dem bitteren Fazit, ein heute geborenes Kind habe »eine mehrfach größere Chance, in eine Heilanstalt zu kommen als auf eine Universität«. März ist kein Psychiatrieroman: Indem K. exakt Zustände der Psychiatrie schildert, beschreibt er einen Staat im Staate; Kofler pointiert: »Eine Gesellschaft, die massenhaft psychisches Elend produziert, muß bekämpft werden.« K. hat der Künstler-Figur März einen klaren, aber spezifisch schizophrenen Blick auf ›die Gesellschaft‹ gegeben, indem er echte Krankengeschichten (v. a. die des Dichters Ernst Herbeck) einarbeitete. Der Stoff hat den ausgebildeten Psychiater K. über Jahre beschäftigt; außer März-Gedichten (in Angelsbrucker Notizen. Mchn. 1977) veröffentlichte er 1980 das Schauspiel März, ein Künstlerleben, in dem er radikalere inhaltl. Akzente setzt u. den neueren Erkenntnissen der Anti-Psychiatrie Rechnung trägt – erst jetzt kann März von Selbsthilfe als einem Weg der Rettung sprechen. In seinem letzten Stück Bruder Eichmann (Reinb. 1983) hat K. noch einmal umfangreiches Quellenmaterial benutzt: die 3000 Seiten Protokolle der Eichmann-Verhöre 1960/ 61 im israelischen Gefängnis. Der Titel spielt auf den Archetyp aller Mörder an, auf Kain. K. war nicht an einem biogr. Stück über Eichmann gelegen, er wollte die »EichmannHaltung« schildern: »Das Monster, es scheint, ist der gewöhnliche funktionale Mensch, der jede Maschine ölt und stark im Zunehmen begriffen ist.« Diese Haltung wird diagnostiziert in schlaglichtartigen Szenen, in denen auf »Ähnlichkeiten« in einzelnen
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Aspekten verwiesen wird: ein amerikan. Walter Karbach: Mit Vernunft zu rasen: H. K. Bomberpilot im Vietnamkrieg, ein Human- Studien zu seiner Ästhetik u. zu seinem veröffentgenetiker, ein Türkenwitze erzählender lichten u. nachgelassenen Werk. Oberwesel/Rh. Conferencier, Menschen verachtende Verhör- 1989. – Thomas Lindner: Die Modellierung des Faktischen. H. K.s ›Bruder Eichmann‹ im Kontext methoden heutiger Polizisten u. ähnliche. seines dokumentar. Theaters. Ffm. u. a. 1990. – Durch diese Analogisierungen erhält das Uwe Naumann u. M. Töteberg: In der Sache H. K. Stück seine Brisanz. Die bequeme Dämoni- Marbach 1992. – Sven Hanuschek: ›Ich nenne das sierung Eichmanns u. des Nationalsozialis- Wahrheitsfindung‹. H. K.s Dramen u. ein Konzept mus wird verhindert, Eichmanns Haltung als des Dokumentartheaters als Historiographie. Bie»bürgerliche Haltung schlechthin« vorge- lef. 1993. – Ders.: H. K. Bln. 1996. – Ders.: H. K.s führt: »Da nahezu überall Lohnarbeit ist, ist Bibl. Ein Verz. Bielef. 1997. – Tilman Fischer: nahezu überall Eichmann. Das kann ein ›Gesund ist, wer andere zermalmt‹. H. K.s ›März‹ im Kontext der Antipsychiatrie-Debatte. Bielef. schmerzhafter Beweis sein, wenn ich es be1999. Michael Böhm / Sven Hanuschek weisen kann.« Bruder Eichmann ist ein vielfach gebrochenes Denkspiel auf der dokumentarischen Grundlage des Verhörs, geeignet, Kirch, Gottfried, * 18.12.1639 Guben, auch bei seinen Kritikern tiefe Irritation über † 25.7.1710 Berlin. – Astronom, Kalendas Funktionieren der westl. Gesellschaften derschriftsteller. hervorzurufen. K., Sohn des Schneiders Michael Kirch, Weitere Werke: Ges. Werke in Einzelausgaben. Hg. Uwe Naumann unter Mitarb. v. Pia Kipphardt. machte sich nach dem Studium – in Jena bei 10 Bde., Reinb. 1986–90. – Der Aufstieg des Alois dem Polyhistor u. Mathematikprofessor ErPiontek. Farce. Bln./DDR 1956. – Die Ganoven- hard Weigel u. in Danzig bei dem angesehefresse. Mchn. 1964. Neuausg. Reinb. 1966 (E.). – nen Astronomen Johannes Hevelius – als Die Soldaten. Nach J. M. R. Lenz. Ffm. 1968. – Himmelsbeobachter u. Kalenderschriftsteller Stücke 1. Ffm. 1973. – Stücke 2. Ffm. 1974. – Engel in Guben, Lobenstein, Coburg u. Leipzig eider Psychiatrie. Gedichte (mit Holzschnitten v. nen Namen. Seine Ephemeriden für die Jahre HAP Grieshaber). Düsseld. 1976. – Der Mann des 1681–1702 (auf der Grundlage von Keplers Tages u. a. E.en. Mchn. 1977. Neuausg. Reinb. Rudolphinischen Tafeln) verschafften ihm bei 1981. – Theaterstücke. Bd. 1, Köln 1978. Neuausg. Fachkollegen Respekt. K.s erster Kalender Reinb. 1982. Bd. 2, Köln 1981. – Zwei Filmkomöerschien 1667 in Jena u. Helmstedt. Seit 1685 dien. Die Stühle des Herrn Szmil. Die Nacht, in der der Chef geschlachtet wurde. Königstein/Ts. 1979. war Nürnberg der Druckort für K.s Kalen– Traumprotokolle. Mchn. 1981. Neuausg. Reinb. derproduktion, die nach seinem Tod von 1986. – Schreibt die Wahrheit. Ess.s, Briefe Ent- seiner zweiten Frau, die seit 1692 seine Mitwürfe 1949–64. Reinb. 1989. – Ruckediguh, Blut arbeiterin war, u. seinem Sohn Christfried ist im Schuh. Ess.s, Briefe, Entwürfe 1964–82. fortgesetzt wurde. K. beobachtete FinsterReinb. 1989. – Herausgeber: Aus Liebe zu Dtschld. nisse, Planetenkonjunktionen, SonnenfleSatiren auf Franz Josef Strauß. Mchn. 1980. – Vom cken, veränderl. Sterne sowie den Merkurdt. Herbst zum bleichen dt. Winter. Ein Lesebuch durchgang 1707 u. suchte systematisch nach zum Modell Dtschld. Mchn./Königstein 1981. – Kometen. Briefe: HAP Grieshaber/H.K.: Das Einhorn kommt Den Zeitgenossen galt K. als Entdecker des gerne bei Nacht. Briefw. Hg. Sven Hanuschek. Kometen vom Nov. 1680, dessen BeobachMchn. 2002. – Peter Hacks/H.K.: Du tust mir tungen zur Lösung des Problems der Bahnwirklich fehlen. Der Briefw. Hg. Uwe Naumann. berechnung durch Dörffel, Halley u. Newton Bln. 2004. beitrugen. K.s eigene Beobachtungen erLiteratur: Bibliografie: Heinrich Peters u. Mischienen z.T. in den Philosophical Transactions, chael Töteberg: H. K. In: KLG. – Weitere Titel: Ferden Acta Eruditorum u. den Miscellanea Berolidinand van Ingen: H. K.: In der Sache J. Robert Oppenheimer. Ffm. 1978. – Lotte Bartelheimer u. nensia. K. war eines der ersten Mitglieder der 1700 Maximilian Nutz: Materialien H. K. ›In der Sache [...]‹ Stgt. 1981. – Adolf Stock: H. K. Mit Selbst- gegründeten Berliner Sozietät der Wissenzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1987. – schaften, für deren Haupteinnahmequelle,
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den amtl. Kalender, er bis zu seinem Tod wiss.en, Technik u. Medizin N.S. 2 (1994), verantwortlich war. Sein Sohn Christfried S. 217–228. – Detlef Döring: Der Briefw. zwischen übernahm 1716 die väterl. Stelle an der Ber- G. K. u. Adam A. Kochanski 1680–1694. Ein Beitr. zur Astronomiegesch. in Leipzig u. zu den dt.-poln. liner Akademie. Wissenschaftsbeziehungen. Bln. 1997 (mit Ed. u. Wegen seiner dt. Flugschriften (1676 bis Nachlassverz.). – Ders.: Die Beziehung zwischen 1681) verdient es K., in der Geschichte des dt. Erhard Weigel u. G. K. In: Erhard Weigel, 1625 bis Lehrgesprächs neben Erasmus Francisci ge- 1699. Barocker Erzvater der dt. Frühaufklärung. nannt zu werden. Diese Gattung eignete sich Hg. Reinhard E. Schielicke u. a. Thun/Ffm. 1999, dazu, interessierte Laien, die zum traditio- S. 105–122. – Ders.: Neue Erkenntnisse zur Biogr. nellen Käuferpublikum von Kalendern u. v. G. K. In: 300 Jahre Astronomie in Berlin u. Kometenflugschriften gehörten, mit den Potsdam [...]. Hg. Wolfgang R. Dick u. a. Thun/ Problemen der modernen Naturwissenschaf- Ffm. 2000, S. 71–85. Barbara Mahlmann-Bauer / Red. ten bekannt zu machen, ihren Aberglauben zu bekämpfen u. sie durch physiko-theolog. Argumente zum selbstständigen Studium der Kirchbach, Wolfgang, * 18.9.1857 LonNatur zu motivieren. don, † 8.9.1906 Bad Nauheim. – Erzähler, Weitere Werke: Neues u. gewisses Wunder am Himmel [...]. Diesem ist beygefüget eine richtige Beschreibung der auch in Dtschld. sichtbarn Sonnenfinsternis [...]. St. Annaberg 1676. – Neue Himmels-Ztg., [...] v. den zweyen neuen grossen im 1680. Jahr erschienenen Cometen [...] Nürnb. 1681. – Annus I. ephemeridum motuum coelestium ad annum [...] 1681 [...]. Cui accessit catalogus novus stellarum australium clariss. Edmundi Halleii [...]. Lpz. 1681. – Nürnbergischer Gerichts-Calender. Nürnb. 1683 (Einblattdruck). Internet-Ed.: VD 17. Ausgaben: Briefe von G. W. v. Leibniz an den Astronomen der ›Societät der Wissenschaften‹ G. K. aus den Jahren 1702–1707. Bln. 1900. – KlausDieter Herbst: Astronomie um 1700. Kommentierte Ed. des Briefes v. G. K. an Olaus Römer v. 25. Okt. 1703. Thun/Ffm. 1999. – Kurtzer Bericht, v. einem neuen Cometen, welcher itzt im Julio, des Jahrs Christi 1683. [...] zu sehen ist [...]. Lpz. 1683. Nachdr. Genschmar 2004. – Die Korrespondenz des Astronomen u. Kalendermachers G. K. (1639–1710). Hg. K.-D. Herbst. 3 Bde., Jena 2006. – Christen-, Juden- u. Türken-Kalender: für das Jahr 1667. Nachdr. hg. v. K.-D. Herbst. Jena 2008. – Internet-Ed. diverser Texte in der Reihe ›Digitalisierte Akademieschriften‹ der Berlin-Brandenburg. Akad. der Wiss.en (http://bibliothek.bbaw.de/). Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Philipp Carl: Repertorium der Cometen-Astronomie. Mchn. u. a. 1864, S. 79, 81, 84. – Adolf v. Harnack: Gesch. der Kgl. Preuß. Akademie der Wiss.en zu Berlin. Bd. 1, Bln. 1900, S. 114 f. Bd. 3 (Hg. Otto Köhnke), Bln. 1900, S. 344, 346. – Lettie S. Multhauf: K. In: DSB. – Dietrich Wattenberg: G. K. In: NDB. – K.-D. Herbst: Zum Briefw. zwischen G. K. u. Gottfried Wilhelm Leibniz. In: NTM. Internat. Ztschr. für Gesch. u. Ethik der Natur-
Dramatiker, Lyriker, Essayist. Der in Dresden aufgewachsene Sohn eines Kunstmalers studierte in Leipzig Philosophie u. Geschichte, zog 1878 nach München u. gehörte dort zum Kreis um Conrad, aus dem 1885 die frühnaturalistische Zeitschrift »Die Gesellschaft« hervorging. K. war freilich nie radikaler »Zolaist«; bereits in seinem Romanerstling Salvator Rosa (Lpz. 1880) kritisierte er einen dem Naturalismus inhärenten Kulturpessimismus. Seine Auseinandersetzung mit dem Naturalismus als Kunst- u. Lebensart führte er im Roman Der Weltfahrer (Dresden 1891) fort. 1888 ging K. als Redakteur u. Theaterkritiker nach Dresden, 1897 nach Berlin. Dort engagierte sich der begeisterte Radfahrer für die Wandervogel- u. Volksbildungsbewegung u. gehörte dem Friedrichshagener Dichterkreis um Bruno Wille u. Wilhelm Bölsche an, mit denen er 1900 den freidenkerisch-lebensreformerische Ziele verfolgenden »Giordano Bruno-Bund für einheitliche Weltanschauung« gründete. In den letzten Jahren Hegelianer u. zgl. JesusForscher, starb K. plötzlich inmitten großer Pläne. Dem poetischen Realismus verbunden, suchte K. das moderne Leben u. gerade naturwissenschaftl. Probleme sinnbildhaft darzustellen. Aufsehen erregten sein Novellenzyklus Kinder des Reiches (Lpz. 1883), der im Reichstag als gemeingefährlich denunziert wurde u. ihm das Etikett »Naturalist« eintrug, u. der Arbeitslosen-Roman Das Leben auf
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der Walze (Bln. 1892). Einer Reihe von Gedankendramen blieb der Erfolg versagt. Mangelnde Selbstkritik ließ den in allen Künsten vielseitig begabten u. interessierten K., einen eher rezeptiven Kopf, als Dichter scheitern. Geniales wechselte mit Schrulligem. Aufsätze, Übersetzungen u. seine Korrespondenz verraten hohe ästhetische Bildung, aber auch ein unruhiges Schwanken zwischen idealistischer Tradition u. Moderne. Weitere Werke: Kosmopolit. Originale. Lpz. 1878 (D.). – Märchen. Dresden 1878. – Salvator Rosa. Lpz. 1880 (R.). – Ausgew. Gedichte. Lpz. 1883. – Ein Lebensbuch. Mchn. 1886 (Aufsätze). – Waiblinger. Mchn. 1886 (D.). – Was kann die Dichtung für die moderne Welt noch bedeuten? Bln. 1888. – Die letzten Menschen. Dresden 1890 (D.). – Des Sonnenreichs Untergang. Dresden 1894 (D.). – Gordon Pascha. Dresden 1895 (D.). – Was lehrte Jesus? Bln. 1897 (Übers., Abh.). – Die Lieder vom Zweirad. Bln. 1900 (L.). – Friedrich Schiller, der Realist u. Realpolitiker. Schmargendorf 1905 (Aufsätze). – Der Leiermann v. Berlin. Dresden 1906 (R.). – W. K. in seiner Zeit. Briefw. u. Ess.s aus dem Nachl. Hg. Marie L. Becker u. Karl v. Levetzow. Mchn. 1910. Literatur: Adalbert v. Hanstein: Das jüngste Dtschld. Lpz. 1900. – Werner F. Striedieck: W. K. u. die Jüngstdeutschen. In: GR 22 (1947), S. 42–54. – Cornelius Ludwig: Der Maler in der Revolte. W. K.s ›Salvator Rosa‹ zwischen Kunsterneuerung u. Lebensreform. In: Salvator Rosa in Dtschld. Studien zu seiner Rezeption in Kunst, Lit. u. Musik. Hg. Achim Aurnhammer, Günter Schnitzler u. Mario Zanucchi. Freib. i. Br. u. a. 2008, S. 357–383. Gerhard Stumpf
Kircher, Chirchero, Kinherus, Athanasius, auch: Salvator Imbroll, * 2.5.1602 Geisa/ Rhön, † 27.11.1680 Rom. – Jesuit, Theologe, Mathematiker, Physiker, Orientalist, Ägyptologe, Polyhistor. K. erhielt von seinem Vater, einem Theologen u. ehemaligen fuldaischen Amtmann von Halstein u. Geisa, eine fundierte Grundausbildung auf vielen Wissensgebieten. Ab 1612 besuchte er das Jesuitengymnasium zu Fulda u. lernte zudem von einem Rabbiner Hebräisch. Seine weitere Schulausbildung absolvierte er in Mainz. 1618 trat er in Paderborn in den Jesuitenorden ein. Nach zweijährigem
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Noviziat begann er dort seine dreijährige philosophische Ausbildung, die er aber wegen der durch den Dreißigjährigen Krieg bedingten Schließung des Kollegs (1621/22) in Köln beendete. Danach wurde er Lehrer für Griechisch am Koblenzer Jesuitengymnasium, im folgenden Jahr für die Humaniora in Heiligenstadt. Wegen seiner physikal. Kenntnisse wurde er an die Aschaffenburger Residenz des Kurfürsten von Mainz berufen, um diesen selbst in der Mechanik zu unterweisen. Daneben befasste er sich mit kartografischen Vermessungen. 1625 nahm er seine theolog. Studien in Mainz auf u. lehrte dort gleichzeitig Griechisch. Nach der Priesterweihe 1628 absolvierte er sein drittes Probejahr in Speyer. 1629 wurde er nach Würzburg als Professor für Hebräisch, Syrisch, Ethik u. Mathematik berufen. Zwei Jahre später floh K. vor den Schweden nach Avignon. Gefördert durch den provenzal. Senator Nikolaus Peiresc, der ihn auch mit Gassendi, bekannt machte, erforschte er die Hieroglyphen. Peiresc verdankte K. es auch, dass seine Berufung als Hofmathematiker nach Wien 1633 rückgängig gemacht wurde u. er auf Befehl Papst Urbans VIII. eine Professur für Mathematik, Physik u. Orientalistik am Collegium Romanum erhielt. K. erlangte rasch internat. Berühmtheit. In seiner themat. Vielfalt charakterisiert sein umfängl. Briefwechsel nicht nur die polyhistorische Bildung K.s, sondern er umreißt auch die Breite des damaligen Wissenschaftsbetriebs. Er schrieb nicht nur an Päpste, Kaiser, Kardinäle u. Fürsten, sondern wer in der gelehrten Welt Rang u. Namen hatte, ist in dieser Korrespondenz, die keine konfessionellen Scheuklappen trägt, zu finden. Nach acht Jahren wurde K. von seiner Lehrtätigkeit entbunden u. konnte sich nun ausschließlich seiner Forschung u. dem Ausbau des »Museum Kircherianum« widmen. Den Grundstein hierfür bildete die Sammlung ethnolog. u. antiker Funde, die der Römer Alfonso Donnino dem Collegium vermacht hatte. Doch K. erweiterte sie aus den ihm gemachten Schenkungen bes. von Missionspatres sowie durch seine von ihm selbst für Experimentierzwecke gebauten Instrumente u. andere techn. Erfindungen. Die von
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ihm veranstalteten Führungen wurden schon bald die Attraktion für jeden gebildeten Romreisenden. 1870 wurde die Sammlung vom ital. Staat übernommen u. 1915 auf andere röm. Museen aufgeteilt. Auch das umfangreiche u. vielthematige Œuvre zeugt von K.s universaler Bildung. Dabei verbinden seine Untersuchungen die eigenen Entdeckungen u. Theorien mit der Vermittlung u. Diskussion der Lehrmeinungen seiner Zeit. Hinzu kommt die Bemühung um klare u. eindeutige Terminologie sowie um Didaktik u. Methodik der Wissensvermittlung für den gelehrten Unterricht, die sich auch in Tabellen u. grafischen Darstellungen niederschlägt u. zu hohen Auflagenzahlen führte. Das Streben nach Breite des Wissens entspricht dem barocken Wissenschaftsideal, wie es auch von Kepler, Alsted, Descartes, Newton, Leibniz u. anderen vertreten wurde: Alle Einzelwissenschaften stellte man sich hierarchisch miteinander verbunden in einem geordneten System vor, durch welches die Erkenntnis des Einzelnen seine Bedeutung gewinnt – K.s Wahlspruch »In uno omnia« entsprechend. Dieses Wissenschaftsverständnis erklärt K.s intensives Studium so verschiedener Wissenschaften wie Theologie, Philosophie, Urgeschichte, oriental. Sprachen, Mathematik, Physik (hier bes. Optik, Akustik u. Magnetismus), Musiktheorie, Geografie (unter bes. Berücksichtigung der Hydrografie, Ozeanografie mit kartografischer Darstellung der Meeresströmungen u. Vulkanologie), Geologie, Astronomie u. Medizin. Dabei spielt v. a. die Mathematik – K. schuf eine der ältesten Rechenmaschinen – eine grundlegende Rolle für die anderen Wissenschaften, da die numer. Erfassbarkeit die Richtigkeit der Erkenntnis garantiert. Bereits in Würzburg verfasste K. die Ars Magnesia. Hoc est Disquisitio Bipartita empeirica seu experimentalis, Physico-Mathematica De Natura, Viribus. Et Prodigiosis Effectibus Magnetis (Würzb. 1631). Der Titel verweist bereits auf die von ihm mit Vorliebe angewandte Methode empir. u. experimentellen Vorgehens. Im Magnetismus glaubte K. das Grundprinzip der Schöpfung erkannt zu haben: den Dualismus (Sympathie u. Antipathie), der die
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elektr. Kraft erzeugt, ja alles Leben in der Natur bestimmt, regelt u. lenkt. Fortgeführt hat K. diese Gedanken in Magnes Sive De Arte Magnetica Opus Tripartitum (Rom 1641. 1654. Köln 1643. Neudr. hg. Anton F. E. Sommer. Tl. 1, Wien 2004) u. Magneticum Naturae Regnum (Rom 1667. Amsterd. 1667 u. ö.). Besonders das erstgenannte Werk demonstriert K.s Methode der Verknüpfung von Spekulation u. empirisch begründeter Erkenntnis. Ausgehend von dem Gedanken, dass Gott der zentrale Magnet aller Dinge sei, wird die Wirkung des Magnetismus in allen Bereichen der Natur, der Medizin, der Musik, ja selbst in der Liebe gezeigt. Die in der gesamten Natur herrschende magnetische Bipolarität wird auch in der Optik in der Zusammengehörigkeit von Licht u. Schatten »nachgewiesen« – so in der Ars Magna Lucis et Umbrae (Rom 1646. Amsterd. 1671). Optische Phänomene wie Lichtbrechung u. Spiegelung werden dem Polaritätsprinzip zugeordnet, aber auch die Farben- u. Strahlungslehre sowie Gesetze der Astronomie. Wichtig ist K. das Experiment, was auch zu einer Vervollkommnung der Laterna magica führte. Darüber hinaus versucht er eine Verbindung von Optik u. Akustik. Bipolarität herrscht für K. auch in der Musik als Spannungsverhältnis von Konsonanz u. Dissonanz. Erst die Beziehung beider zueinander erzeugt die Schönheit musikal. Harmonie: Musurgia Universalis Sive Ars Magna Consoni et Dissoni (Rom 1650. Neudr. Hildesh. 1970. Reprint 1988. Dt.: Philosophischer Extract [...] auß A. K.s Musurgia v. Andreas Hirsch. Schwäbisch-Hall 1662. – Zusammenfassung des 9. Buchs in Phonurgia Nova. Kempten 1673. Neudr. New York 1966. Übers. durch Agatho Carione [Pseud. für Tobias Nisslen] u. d. T. Neue Hall- und Tonkunst oder mechanische Geheim-Verbindung der Natur und Kunst [...]. Ellwangen 1684. Neudr. Hann. 1983). Als mathemat. Disziplin ordnet sich die Musik unproblematisch in das Wissenschaftssystem ein u. repräsentiert die Schöpfung als Weltenorgel, auf der Gott die Harmonie spielt. Neben allg. Musiktheorie u. Kompositionslehre befasst sich K. mit einzelnen Instrumenten u. ihrer Konstruktion, mit der Beziehung von Musik u. Affekten sowie mit der
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Anwendung der Musik in der Medizin. Auch interessante Beobachtungen zu Akustik u. Phonologie enthält dieses Werk. Als Experimentator entwickelte K. auch eine Komponiermaschine, die nach Auskunft Kaiser Leopold I. – ein eifriger Komponist weltl. u. geistl. Musik – auch funktioniert haben soll. Als sein Hauptwerk zur Orientalistik gilt der Oedipus Aegyptiacus. Hoc est Universalis Hieroglyphicae Veterum Doctrinae [...] Instauratio (Rom 1652–54). Als Summe 20-jähriger Forschung dient es der Einführung in Wissenschaft, Kultur, Kunst, Sprache u. Religion der Ägypter. Bis heute ist das Werk eine Fundgrube zur Kabbalistik u. zu anderen Geheimwissenschaften. Im 17. Jh. war es eine wichtige Stoffquelle – so für Philipp von Zesens Assenat. K.s Bemühungen um die Entzifferung der Hieroglyphen haben heute keine Bedeutung mehr, wohl aber seine Lehrschriften zur kopt. Sprache, darunter Lingua Aegyptiaca restituta [...] (Rom 1643). Sein geozentr. Weltbild legt K. in seinem Itinerarium Exstaticum quo Mundi [...] siderumque [...] natura, vires, proprietates, singulorumque compositio et structura [...] explorata (Rom 1656. Würzb. 1660. 1761. Tyrnau 1729. Kaschau 1752) dar. Es richtet sich mit theolog. u. scheinbar naturwissenschaftl. Argumentation gegen »Häretiker« wie Galilei, Copernicus u. Kepler. Als Strukturelement wählte K. einen Traum, in dem er von einem Engel durch das Universum zu jedem der Planeten geführt wird (deren System übrigens Grundlage der Musica mundana ist). Geografische Werke wie der Mundus Subterraneus (Amsterd. 1678), der Versuch einer physikal. Beschreibung der Erde, ihrer Struktur u. ihrer Kruste (angeregt durch den Besuch des Vesuv-Kraters) sowie der Erklärung der Gezeiten durch das Zusammenwirken der Weltmeere mit einem unterird. Ozean, oder China Monumentis [...] Illustrata (Amsterd. 1667. Neudr. Ffm. 1966. Faks.Neudr. Katmandu 1979. Engl. Übers. v. Charles D. van Tuyl. Muskogee. Oklahoma 1988), ein auf Berichten jesuitischer Chinamissionare basierendes Werk, trugen zu K.s Bekanntheit entscheidend bei. Interessant ist die Kombination von exaktem Wissen, das sich auch in der Kartografie Chinas nieder-
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schlägt, mit bibl. Personen. So werden die Chinesen als Nachkommen Hams, des zweiten Sohnes von Noah, u. ihre Schrift als Weiterentwicklung der Hieroglyphen angesehen. In seinem Scrutinium Physico-Medicum Contagiosae Luis (Rom 1658. Lpz. 1659. 1671. Graz 1740. Anon. dt. Übers.: Natürliche und medicinalische Durchgründung der [...] Pestilenz. Augsb. 1680) kann K. Herkunft u. Ursachen der Pest durch das contagium animatum aufklären u. sich dabei auf mikroskopische Beobachtungen seiner Blutuntersuchung berufen, die die Erkenntnis der Mikroorganismen ermöglichten. Aus dieser Erkenntnis entwickelte er auch Vorschläge zur Bekämpfung der Seuche, wie sie erst später von Kaiserin Maria Theresia – vermutlich ohne Kenntnis von A. K. – angeordnet wurden (z.B. Quarantäne etc.). Besonders nachhaltigen Einfluss gewann K. auf seine Zeitgenossen aber durch die Ars Magna Sciendi, In XII Libros Digesta, Qua nova & Universali Methodo [...] de omni re proposita [...] disputari, omniumque summaria quaedam cognitio comparari potest (Amsterd. 1669). Die von Raymundus Lullus entwickelte kombinator. Methode, die zur Findung gültiger Syllogismen führen u. der Bekehrung der Sarazenen dienen sollte, ließ sich auch zur Verknüpfung aller wissenschaftl. Disziplinen u. zur Klassifizierung ihrer Erkenntnisse benutzen. K. bemühte sich um Eindeutigkeit des Systems u. um Anwendung auf alle zu seiner Zeit bekannten Wissenschaften – einschließlich Politik, Rhetorik u. Kunst. Auch sein Lehrbuch zur Geheimschrift Polygraphia Nova Et Universalis (Rom 1673) basiert auf der Kombinatorik. Leibniz setzte sich in seiner Dissertatio combinatoria mit der Ars Magna auseinander, u. Quirinus Kuhlmann entwickelte aus diesem System seine kombinator. Poetik. Selbst eine Schrift wie Harsdörffers Fünffacher Denckring der Teutschen Sprache rekurriert auf K.s Kombinatorik. Da das Dichtungsideal im 17. Jh. das des poeta doctus war, verwundert es nicht, dass Dichter dieses Zeitalters sich von dem Polyhistor K. beeinflussen ließen (u. a. Zesen u. Harsdörffer) oder sogar die persönl. Bekanntschaft mit diesem Gelehrten suchten, darunter Vondel, Gryphius, Aßmann von Abschatz, Sigmund von Birken –
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zu schweigen von den zeitgenöss. jesuitischen Dichtern. Goethe kommt v. a. im histor. Teil seiner Farbenlehre auf K. zu sprechen; Umberto Eco setzte ihm ein Denkmal in seinem Bestseller Das Foucaultsche Pendel. Weitere Werke: Selbstbiogr. des Pater A. K. Dt. v. N. Seng. Fulda 1901. – Opera omnia. Bd. 44: Corpus epistolarum Athansii Kircheri. Tl. 1. Hg. Olaf Hein u. Helmut Kastl. Wiesb./Rom 1976. – Specula Melitensis. In: Caspar Schott: Technica Curiosa. Faks.-Neudr. Hildesh. 1977. Literatur: Bibliografien und Forschungsberichte: Backer/Sommervogel 4, Sp. 1046–1077. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 3, S. 2326–2350. – John E. Fletcher: A brief Survey of unpublished Correspondence of A. K. In: Manuskripta 13 (1969), S. 150–160. – Ders.: A. K. and the Distribution of his Books. In: The Library V. 23 (1969), S. 108–117. – Weitere Titel: Karl Brischar: P. A. K. Würzb. 1877. – E. de Ruggiero: Catalogo del Museo Kircheriano. Rom 1878. – Joseph Gutmann: A. K. u. das Schöpfungs- u. Entwicklungsproblem. Diss. Würzb. 1938. – H. B. Torrey: A. K. and the Progress of Medicine. In: Osiris 5 (1938), S. 246–275. – Paul Friedländer: A. K. u. Leibniz. Ein Beitr. zur Gesch. der Polyhistorie im XVII. Jh. In: Atti della Pontifica Accademia Romana di Archeologia 3, 13 (1941), S. 10–17. – Lynn Thorndike: The Underground World of K. and Becher. In: Dies.: A history of magic and experimental Science. Bd. 7, New York 1958, Kap. 20. – John E. Fletcher: Medical Men and Medicine in the Correspondence of A. K. In: Janus 56 (1969), S. 259–272. – Ulf Scharlau: A. K. als Musikschriftsteller. Ein Beitr. zur Musikanschauung des Barock. Phil. Diss. Ffm. 1969. – J. E. Fletcher: Astronomy in the Life and Correspondence of A. K. In: Isis 61 (1970), S. 52–67. – Conor Reilly: A. K. S. J. Master of a hundred Arts 1602–1680. Wiesb./Rom 1974. – Gerald Gillespie: Primal Utterance. Observations on Kuhlmann’s Letters to K. in View of Leibniz’ Theories. In: FS Wolfgang Fleischhauer. Köln 1978, S. 27–46. – Joscelyn Godwin: A. K. A Renaissance Man and the Quest for Lost Knowledge. London 1979. – Universale Bildung im Barock: Der Gelehrte A. K. Eine Ausstellung der Stadt Rastatt [...]. Hg. v. der Stadt Rastatt unter Mitarb. v. Reinhard Dieterle u. a. Rastatt 1981. – Othmar Wesely: Zur Deutung des Titelkupfers v. A. K.s Musurgia Universalis (Rom 1659). In: Röm. Histor. Mitt.en 23 (1981), S. 384–405. – Valerio Rivosecchi: Esotismo in Roma Barocca. Studi sul Padre K. Rom 1982. – Gerhard F. Strasser: ›Spectaculum Vesuvii‹. Zu zwei neuentdeckten Hss. v. A. K. mit seinen Illustrationsvorlagen. In: Theatrum Europaeum. Mchn. 1982, S. 363–384. – Luigi
Kircher Belloni: A. K. u. seine Mikroskopie, die Animalcula u. die Pestwürmer. In: Medizinhistor. Journal 20 (1985), S. 58–65. – Roberto P. Ciardi u. Lucia Tongiorgi Tomasi: La ›scienza‹ illustrata: osservazioni sui frontispizi delle opere di A. K. e di Galileo Galilei. In: Annali dell’Istituto storico italo-germanico di Trento 11 (1985), S. 69–78. – Enciclopedismo in Roma barocca: A. K. e il Museo del Collegio Romano tra Wunderkammer e museo scientifico. Hg. Maristella Casciato. Venedig 1986. – A. K. u. seine Beziehungen zum gelehrten Europa seiner Zeit. Hg. J. E. Fletcher. Wiesb. 1988. – Marion Leathers Kuntz: Guillaume Postel and the Syriac Gospels of A. K. In: Renaissance Quarterly 40 (1987), S. 465–484. – Thomas Leinkauf: A. K. u. Aristoteles. Ein Beispiel für das Fortleben aristotel. Denkens in fremden Kontexten. In: Aristotelismus u. Renaissance. Hg. Eckhard Kessler u. a. Wiesb. 1988, S. 193–216. – A. K. An Exhibition of his works in the Harold B. Lee Library Collections at Brigham Young University. Hg. Brian L. Merill. Provo 1989. – Enrichetta Leospo: A. K. u. das Museo Kircheriano. In: Europa u. der Orient. 800–1900. Hg. Gereon Sievernich u. Hendrik Budde. Bln. 1989, 58–71. – Barbara Bauer: Copernican. Astronomie und cusan. Kosmologie in A. K. ›Iter exstaticum‹. In: Astronomie u. Astrologie in der Frühen Neuzeit [...]. Hg. Stephan Füssel. Nürnb. 1990, S. 69–107. – Eric Chafe: Aspects of durus/mollis shift and the two-system framework of Monteverdi’s musik. In: Schütz-Jb. 12 (1990), S. 171–206. – Olaf Hein: Die Drucker u. Verleger der Werke des Polyhistors A. K. [...]. Köln/Weimar/Wien 1993. – T. Leinkauf: Mundus combinatus. Studien zur Struktur der barocken Universalwiss. am Beispiel A. K.s SJ. Bln. 1993. – G. F. Strasser: Science and pseudoscience. A. K.s ›Mundus Subterraneus‹ and his ›Scrutinium [...] Pestis‹. In: Knowledge, science and literature in the early modern Germany. Hg. Gerhild Scholz Williams u. Stephan K. Schindler. Chapel Hill u. a. 1996, S. 219–240. – O. Hein u. Rolf Mader: Ein bisher unbekanntes Autograph v. A. K. S. J. In: WBN 26 (1999), S. 119–130. – Helmut Lahrkamp: Der Polyhistor A. K. u. seine münster. Korrespondenzpartner. In: Westfalen. H.e für Gesch., Kunst u. Volkskunde 77 (1999), S. 380–390. – G. F. Strasser: Das Sprachdenken A. K.s. In: The language of Adam. Die Sprache Adams. Hg. Allison P. Coudert. Wiesb. 1999, S. 151–169. – Franz Daxecker: Der Jesuit A. K. u. sein Organum mathematicum. In: Gesnerus 57 (2000), S. 77–83. – Hans Holländer: Spielformen der Mathesis universalis. In: ebd., S. 325–345. – Ingrid D. Rowland: The ecstatic journey. A. K. in Baroque Rome. With an introduction by F. Sherwood Rowland. [...]. Chicago 2000. – Daniel Stolzenberg: The Egyptian
Kirchgässner doctrine of truth and superstition: A. K. and the hieroglyphic doctrine. In: Antike Weisheit u. kulturelle Praxis. [...] Hg. Anne-Carlott-Trepp u. Hartmut Lehmann. Gött. 2001, S. 145–164. – Magie des Wissens. A. K. 1602–1680 [...]. Hg. Horst Beinlich, Christoph Daxelmüller u. a. Dettelbach 2002. – Spurensuche. Wege zu A. K. Hg. H. Beinlich, Hans Joachim Vollrath u. Klaus Wittstadt. Dettelbach 2002. – Olaf Breidbach: Zur Repräsentation des Wissens bei A. K. In: Kunstkammer – Laboratorium – Bühne [...]. Hg. Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. Jan Ladzardzig. Bln. u. a. 2003, S. 282–302. – Marta Baldwin: Pious ambition: Natural Philosophy and the Jesuit Quest for the Patronage of Printed Books in the Seventeenth Century. In: ebd., S. 285–329. – Michael Heinemann: A. K.s Idee einer universalen Kirchenmusik. In: Vom rechten Thon der Orgeln u. a. Instrumente. FS Christian Ahrens [...]. Hg. Birgit Abels. Bad Köstritz 2003, S. 246–254. – A. K. The last man who knew everything. Hg. P. Findlen. New York u. a. 2004. – Reinhard Glasemann: Die katoptr. Wunderwaffe. Zur Vorgesch. des Spiegelteleskops. In: Scientiae et artes [...]. Hg. Barbara MahlmannBauer. Wiesb. 2004, S. 369–397. – G. F. Strasser: ›Magia naturalis‹ in der Kryptographie, oder ›Wie man über 100. oder 1000. Meilen einem etwas entdecken soll‹. In: Ebd., S. 693–700. – Berthold Jäger: A. K. (1602–1680). Jesuit u. Universalgelehrter. Symposium u. Ausstellung in Fulda. In: Fuldaer Geschichtsbl. 80 (2004), S. 173–210. – Noel Golvers: Two overlooked Letters of Ferdinand Verbiest to A. K. How a missionary Project was shaped, and K.’s books were received in mid-17th century Spain an Portugal. In: Humanistica Lovaniensia 54 (2005), S. 267–284. – G. F. Strasser: Ansteckungstheorieen der Pest in der Frühen Neuzeit am Beispiel v. Girolamo Fracastoro u. A. K. In: Gotts verhengnis u seine straffe. [...] Wiesb. 2005, S. 69–76. – Felicia Engelmann: Sphärenharmonie u. Mikrokosmos. Das polit. Denken des A. K. (1602–1680). Köln 2006. – M. Heinemann: A. K. u. die Folgen. Zum Konzept einer musikal. Universalsprache. In: Maschinen u. Mechnismen in der Musik. [...]. Hg. Boje E. Hans Schmuhl u. Ute Omonsky. Augsb. 2006, S. 49–64. – Angela MayerDeutsch: Das ideale ›Museum Kircherianum‹ u. die ›Exercitia spiritualia‹ des Hl. Ignatius v. Loyola. In: Instrumente in Kunst u. Wiss. Zur Architektonik kultureller Grenzen im 17. Jh. Hg. Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. Jan Lazardzig. Bln. u. a. 2006, S. 256–276. – Conny Restle: Organologie. Die Kunde v. den Musikinstrumenten im 17. Jh. In: ebd., S. 277–289. – Harald Siebert: Die große kosmolog. Kontroverse. Rekonstruktionsversuche anhand des Itinerarium exstaticum v. A.
422 K. SJ (1602–1680). Stgt. 2006. – Mark A. Waddell: The world, as it might be. Iconography and probabilism in the ›Mundus subterraneus‹ of A. K. In: Centaurus 48 (2006), S. 3–22. – Melanie Wald: ›Sic ludit in orbe terrarum aeterna Dei sapientia‹ – Harmonie als Utopie. Untersuchungen zur Musurgia universalis v. A. K. Diss. Zürich 2006. Franz Günter Sieveke
Kirchgässner, Alfons, auch: Gaston Richolet, * 3.4.1909 Wiesbaden, † 29.11. 1993 Frankfurt/M.. – Jugendbuchautor, Reiseschriftsteller, katholischer Theologe. Nach der Priesterweihe am 8.12.1932 in Limburg war K. 1933–1935 in Elz/Lahn u. anschließend bis 1938 am Dom in Frankfurt/ M. als Kaplan tätig. Regimekritische Artikel in der »Katholischen Kirchenzeitung« (Ffm.) u. sein Engagement in der Jugendseelsorge hatten ihn seit 1935 in das Visier der Gestapo geraten lassen. Im Nov. 1938 wurde er zum ersten Mal, 1941 ein weiteres Mal verhaftet. Von März bis Sept. 1939 lebte K. im Oratorium Leipzig; danach als Kaplan an St. Leonhard in Frankfurt/M. 1942 promovierte er in Freiburg bei dem Neutestamentler Alfred Wikenhauser mit einer Dissertation zum Thema Der Christ und die Sünde bei Paulus. 1943–1945 wirkte K. als Jugendpfarrer u. Präses der Kolpingfamilie in Frankfurt, 1945–1950 dort als Pfarrer an Allerheiligen u. 1950–1956 an St. Bernhard. Während dieser Zeit gründete er die Pfarrei St. Michael, die er 1954–1972 leitete u. in deren Seelsorge er nach seiner vorzeitigen Versetzung in den Ruhestand bis 1984 als Subsidiar tätig blieb. Zudem war K. lange Jahre kirchl. Beauftragter beim Hessischen Rundfunk u. in der Ausbildung von Kirchenmusikern an der Hochschule für Musik Frankfurt/M. tätig. Durch seine Initiative entstand 1956 in Frankfurt das Oratorium des hl. Philipp Neri. Am 8.5.1992 wurde er als kath. Widerstandskämpfer von der Stadt Frankfurt mit der Johanna-Kirchner-Medaille ausgezeichnet. Überregionale Bekanntheit erlangte K. durch Kreuz über Mexiko. Erlebnisse und Taten des Miguel Torquemada (Freib. i. Br. 1949), einen im Mexiko des Jahres 1926 spielenden, parabol. Abenteuerroman auf das »Dritte
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Reich«, an dem er seit 1942 gearbeitet hatte. Folge. Ffm. 1961. – Auf der Waage des Glaubens. Der Roman, der zunächst wegen seines polit. Über Liturgie, Hl. Schrift, christl. Leben. Ffm. Gehalts die Zensur der frz. u. wegen der 1962. – Kostümprobe mit einem Hl. Variationen Schilderung der Kirchenverfolgung in Mexi- über ein geistl. Thema. Würzb. 1963 (Kurzprosa). – Gottes Geist in der Liturgie. Aschaffenburg 1964. – ko unter Calles die Zensur der amerikan. BeIndizien. Geistl. Glossen. Fünfte Folge. Ffm. 1966. satzungsbehörde (mögl. Gefährdung der bi- – Unmündige Christen? Enzyklika ›Humanae vilateralen Beziehungen der USA zu Mexiko) tae‹. Gehorsamspflicht oder Gewissensentscheinicht passierte, erlebte bis 1966 13 Auflagen dung? Antworten auf Fragen der verantworteten u. gehörte nicht zuletzt auf Grund seines di- Elternschaft. Limburg 1968. – Welt als Symbol. dakt. Anspruchs zu den erfolgreichsten kath. Würzb. 1968. – Schwierigkeiten mit der Kirche. Jugendbüchern der frühen Nachkriegszeit. Frage an die kommende Synode. Limburg 1969. – Sein Wissen über Mexiko, das er selbst erst in Diagonalen. Ffm. 1970. – Interkommunion in Diskussion u. Praxis. Eine Dokumentation (zus. den 1960er Jahren im bischöfl. Missionsaufmit Horst Bühler). Düsseld. 1971. – Gespräche mit trag besuchte, bezog K. aus der Reiseliteratur. einem Zweifler. Ffm 1974. – Der Hl. u. die Nonne. Seine persönl. Erlebnisse stellte er in Im ka- Spiel mit einem Goethe-Text. Würzb. 1975. tholischen Kontinent. Notizen einer Reise durch Literatur: Hans Mann: Eine Jugend unter Lateinamerika (Ffm. 1963) u. in Städte – Inseln – Despoten. Erinnerungen u. Betrachtungen. MünsKontinente. Reisetagebücher 1931–1963 (Ffm. ter 32005, S. 71–73. 1964) sowohl aus pastoraler als auch aus soRalf Georg Czapla / Franca Victoria Schankweiler zioökonomischer Perspektive dar. Als Theologe galt K.s Wirken v. a. der Liturgie, für Kirchhof, Hans Wilhelm, * um 1525, deren praxisgerechte Erneuerung er ebenso † 30.9.1605 Burg Spangenberg bei Kassel. wie für die Missionsarbeit ethnolog. Er- – Verfasser unterhaltender u. erbaulicher, kenntnisse fruchtbar zu machen suchte. In historischer u. militärischer Schriften. Die mächtigen Zeichen. Ursprünge, Formen und Als Sohn des hessisch-landgräflichen OberGesetze des Kultes (Freib. i. Br. 1959. Neuaufl. forstmeisters Peter K. erhielt K. eine solide u. d. T. Geschichte der Kulte und Riten. Erftstadt Schulausbildung auf der Hohen Schule zu 2005) ordnet er christl. Kulte u. Riten in den Kassel (1539) u. in Eschwege (1540), ließ sich Horizont des myth. Denkens der archaischen dann aber als Landsknecht anwerben. In den Zeit ein u. stellt anhand von Beispielen aus Jahren 1543–1554 war er an Kriegszügen in entfernten Kulturkreisen Analogien kultiDeutschland u. Frankreich beteiligt, zumeist scher Phänomene fest. Konform zu den Beim Dienst des Landgrafen Philipp von Hesschlüssen des Zweiten Vatikanischen Konzils, sen. Im Herbst 1554 nahm er seinen Ababer z.T. auch in krit. Distanz zu ihnen suchte schied, studierte in Marburg (kein Eintrag in K. die Ökumene in der Kirche zu verwirkli- der Matrikel) u. übernahm – seit 1561 in chen. Neben Karl Lehmann u. Walter Kasper Kassel ansässig – diplomatische u. Verwalgehörte er zu den prominentesten Beiträgern tungsaufgaben im Auftrag des Kasseler Hofs. der programmat. Schrift Christen wollen das 1584 wurde K. das Burggrafenamt auf Burg eine Abendmahl (Mainz 1971). Spangenberg übertragen, das er bis zu seinem Weitere Werke: Der heilige Martin u. der Tod innehatte. Bettler. In: Robert Huber (Hg.): Hallo wir leben. K. verfasste eine Reihe von Gebrauchs- u. Ungedruckte Prosa junger rhein. Dichter. Koblenz Gelegenheitsschriften. Sein Hauptwerk ist 1931, S. 13–29 (E.). – Geistl. Glossen. Ffm. 1953. – die umfangreiche Erzählsammlung WendunDas unaufhörl. Gespräch. Aus einem geistl. Tgb. muth (Buch 1, Ffm. 1563. 41581 mit 76 Ffm. 1954. – Kleine Jakobsleiter. Geistl. Glossen. Holzschnitten von Jost Amman u. Virgil Solis. Zweite Folge. Ffm. 1955. – Offene Fenster. Geistl. 6 1602; Buch 2–5, Ffm. 1602; Buch 6–7, Ffm. Glossen. Dritte Folge. Ffm. 1957. – Geistl. Wörterbüchlein. Ffm. 1958. – Hl. Zeichen der Kirche. 1603). Das Werk dient dazu, »wie sein, des Aschaffenburg 1959. – Unser Gottesdienst. Über- buchs namm und titul außweiset, den legungen u. Anregungen. Ein Werkbuch. Freib. i. schwer- und unmuth zu wenden, vertreiben Br. 1960. – Kalenderblätter. Geistl. Glossen. Vierte und frölichkeit zu erwecken«. Als »erget-
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zung« u. Belehrung erhoffendes Publikum v. funffzig Hauptpuncten ›christl. Lehre‹, nach K.s kommen die adligen u. bürgerl. Eliten im Angaben eine Antwort auf verächtl. Kritik am Umfeld landesfürstl. u. bürgerl. Höfe oder ›Wendunmuth‹; eine v. Landgraf Wilhelm zu Hesreichsunmittelbarer Städte in Frage. Ihnen sen in Auftrag gegebene Histori vom verlorenen Sohn u. 18 weitere ›Comedien‹.) will K. durch geistreiche Bemerkungen u. Ausgaben: Wendunmuth. Bde. 1–4 (= Buch Erzählungen eine gesittete Unterhaltung 1–7). Bd. 5 (Beilagen des Hg.). Hg. Hermann bieten, die auf »schambare wort und reden« Österley. Tüb. 1869. Nachdr. Hildesh. 1980. – Miverzichtet. litaris disciplina (Ffm. 1602). Krit. Ausg. Hg. Bodo Der Wendunmuth ist als Übersetzung der Gotzkowsky. Stgt. 1976. – Kleine Schr.en. Krit. Facetiae Heinrich Bebels (Straßb. 1508) kon- Ausg. [...]. Hg. B. Gotzkowsky. Stgt. 1981. zipiert, die aber ergänzt werden durch zahlLiteratur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – B. reiche weitere Erzählungen aus der literar. Gotzkowsky: ›Volksbücher‹ [...]. Bibliogr. der dt. Tradition, persönl. Erfahrungen, Berichte Drucke. Tl. 1: Drucke des 15. u. 16. Jh. Baden-Bavon bemerkenswerten Ereignissen, darüber den 1991, S. 513–516; Tl. 2: Drucke des 17. Jh. hinaus auch eine Fülle histor. Informationen Baden-Baden 1994, S. 157–160. – Weitere Titel: H. Österley: H. W. K. In: ADB. – E. Wenzel: Die aus Antike u. Gegenwart, ausführl. Berichte Burggrafen auf Schloß Spangenberg, insbes. H. W. von Ereignissen der aktuellen polit. u. vor K. u. seine Werke. In: Hessenland 35 (1921), allem kirchenpolit. Auseinandersetzungen, S. 161–164, 177–180. – B. Gotzkowsky: H. W. K.s Beschreibungen kath. Bräuche für ein Publi- ›Wendunmuth‹. Ein Beitr. zur dt. Volkskunde. kum, dem sie inzwischen fremd geworden Diss. Rice Univ. Houston (Texas) 1966. – Ders.: H. sind, u. ähnliches. So stellt sich das Werk als W. K. In: NDB. – John E. P. Mullally: The popes of Enzyklopädie unterschiedlichster Wissens- the ›Wendunmuth‹ as figures of legend. Diss. Univ. bereiche dar, die auch dem »gemein man, so of Calefornia 1979. – Martin Ehrenfeuchter: Asdie großen historicos und chronica nicht ge- pekte des zeitgenöss. Zauberglaubens in Dichtungen des 16. Jh. Ffm. 1996. – Claudia Bolsinger: Das lesen, noch zuwegen bringen kann«, Gele›Decameron‹ in Dtschld. Wege der Literaturrezepgenheit bieten soll, sich »mit diesen particu- tion im 15. u. 16. Jh. Ffm. u. a. 1998. – Peter lar und special historie [zu] behelfen« u. Strohschneider: Heilswunder u. fauler Zauber. »nothwendige exempel [daraus zu] nem- Repräsentationen religiöser Praxis in frühmodermen«, so v. a. die Geschichte der antiken Kö- nen Schwankerzählungen. In: Beiträge zur Gesch. nige, der Herrscher des MA u. der Päpste in der dt. Sprache u. Lit. 129 (2007), S. 438–468. Werner Röcke / Red. Verbund mit allen antikath. Skandalgeschichten, die zum ideolog. Rüstzeug des gebildeten Protestanten gehörten. Bemer- Kirchhoff, Bodo, * 6.7.1948 Hamburg. – kenswert sind auch die ausführl., erstaunlich Erzähler, Dramatiker u. Drehbuchautor. unpolem. Berichte von wichtigen polit. Er- K. wuchs als Sohn eines aus Hannover stameignissen der jüngsten Vergangenheit, etwa menden Fabrikanten für medizinische Geräte der Werbung Papst Pius IV. um die Teilnah- u. einer in Wien geborenen Schauspielerin im me der dt. Reichsfürsten am tridentin. Konzil Südbadischen auf u. machte in der Interoder der Herrschaft der Täufer in Münster. natsschule Schloss Gaienhofen am Bodensee Weitere Werke: Wahrhafftige [...] beschrei- das Abitur. Nach zwei Jahren bei der Bunbung, der vielfaltigen [...] gefurten Kriegen, u. deswehr u. einem Aufenthalt in den USA Geschichten: des [...] Fürsten [...] Philipsen des nahm er in Frankfurt/M., wo er bis heute Eltern [...] Landgraven zu Hessen [...]. Marburg lebt, ein Pädagogikstudium auf. 1978 pro1567. – Epicedion. Lob und Klag Schrifften, von movierte er mit einer Arbeit über die Schrifdem christlichen, gottseligen leben unnd sterben ten des frz. Psychoanalytikers Jacques Lacan. [...] Frawen Sabinen [...]. Marburg 1581. – Von dem christl. Heurath u. Vermahlschafft, des wohlge- Seit Ende der 1970er Jahre erhält K. mit bornen [...] Herrn Ludwigen, Grauen zu Nassaw Theaterstücken, Erzähltexten, Essays u. Re[...] mit [...] Frewlein Anna Maria [...] zu Hessen portagen, von denen eine Reihe in der Zeit[...]. Schmalkaden 1589. – (Nicht nachgewiesen: schrift »TransAtlantik« erschienen, teils ›ein sehr groß Buch, Schatztruhen, intituliert [...]‹ wohlwollende, teils ablehnende Aufmerk-
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samkeit. Speziell in seinen frühen Arbeiten für das Theater erkannten Rezensenten themat. u. stilistische Verwandtschaft mit den Werken Thomas Bernhards u. Botho Strauß’, was K. mitunter den Vorwurf des Epigonentums eintrug. K.s Werken liegt die Auseinandersetzung mit den Theorien Lacans zugrunde, etwa in dem poetolog. Essay Body-Building – Versuch über den Mangel (in: Kursbuch 52. Bln. 1978). Kennzeichnend sind Darstellungen u. regelrechte Demonstrationen gestörter Intersubjektivität, ergänzt durch Figuren narzisstischer Selbstvergewisserung. Besonders irritierend wirkt dabei die Aussparung jegl. Brechung oder Relativierung: Sinnentleerte Beliebigkeit menschl. Verständigung u. Vergeblichkeit von Selbstreflexion werden bis in banalste Einzelheiten registriert, durch tradierte Motive u. Verfahren poetisch aufbereitet u. gelegentlich mit einem Hang zu pornografischer Exhibition dargeboten. Die Mexikanische Novelle (Ffm. 1984) enthält darüber hinaus eine innerhalb des Gesamtwerks außergewöhnl. Zuspitzung: Der Erzähler findet, indem er sich zum Schluss in die Abgeschiedenheit einer Gefängniszelle u. damit in sein »Schicksal« fügt, durch die sexuelle Vereinigung mit seinem Zellengenossen die Spur einer eigenen, als Glück empfundenen Identität u. gleitet »in ein anderes Leben«. Von dieser Grenzüberschreitung aus lässt sich die Novelle als – fragwürdiges – Modell der Befreiung von Fremdbestimmung durch Regression in die Sprachlosigkeit verstehen. Große Beachtung fand K. mit seinem Roman Infanta (Ffm. 1990), der nicht zuletzt durch massive Verlagswerbung zum Bestseller wurde u. der mit der Erzählung vom Zustandekommen des Romans im Roman auch eine neue Erzählweise, einen traditionellen Erzähler im Wechsel verschiedener Perspektiven, in K.s Werk einführt. In seinen Frankfurter Poetikvorlesungen Legenden um den eigenen Körper (Ffm. 1995) fundiert K. sein Schreiben im Drang, von eigener Sexualität, eigenen Mängeln u. Abgründen zu berichten, als »Abtasten des Körpers« u. »Legendenbildung um den eigenen Körper«. Auch der die Vorlesungen beschließende Monolog Der Ansager einer Stripteasenummer gibt nicht auf (Ffm.
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1994) ist versprachlichte Form der Intention des Autors, »sich selbst« u. seine Nacktheit zu zeigen. Das Spiel mit autobiogr. Elementen treibt auch K.s enthusiastisch rezensierter Roman Parlando (Ffm. 2001), der auf eine Internatskulisse u. Reiseerlebnisse zurückgreift. Die Hauptfigur Karl Faller erzählt seine Geschichte der Staatsanwältin, bevor er zu einer Reise um die Welt aufbricht, einmal mehr den Spuren u. Geliebten des Vaters hinterherreisend. Die vom Protagonisten vorangetriebene ausufernde Erzählung rund um familiäre Traumata sowie Schuldfragen bezüglich mehrerer Todesfälle kommt als dialektische Selbstentblößung u. -vergewisserung über die Person des Erzählers nicht hinaus. Mit seinem Schundroman (Ffm. 2002), der aufgrund der Schilderung eines Mordes an einem berühmten dt. Literaturkritiker Beachtung fand, lieferte K. eine mehrschichtige Satire auf den Literaturbetrieb, dessen Teil er als erfolgreicher Autor u. etwa auch als Drehbuchautor für dt. Fernsehkrimis (»Tatort«, »Die Kommissarin«, 1997–2004), ist. Weitere Werke: Ohne Eifer, ohne Zorn. Ffm. 1979 (N.). – Das Kind oder Die Vernichtung v. Neuseeland. Ffm. 1979 (D.). – Die Einsamkeit der Haut. Ffm. 1981 (P.). – Wer sich liebt. Ffm. 1981 (D.). – Glücklich ist, wer vergißt. Ffm. 1982 (Schausp./Hörsp.). – Zwiefalten. Ffm. 1983 (R.). – Dame u. Schwein. Ffm. 1985 (Gesch.n). – Ferne Frauen. Ffm. 1987 (P.). – Der Sandmann. Ffm. 1992 (R.). – Gegen die Laufrichtung. Ffm. 1993 (N.). – Herrenmenschlichkeit. Ffm. 1994 (Tgb.). – Die Weihnachtsfrau. Ffm. 1997 (P.). – Katastrophen mit Seeblick. Ffm. 1998 (Gesch.n). – Manila (zus. mit Romuald Karmakar). Ffm. 2000 (Filmbuch). – Mein letzter Film. Ffm. 2002 (Filmbuch). – Wo das Meer beginnt. Ffm. 2004 (R.). – Der Sommer nach dem Jahrhundertsommer. Ffm. 2005 (P.). – Die kleine Garbo. Ffm. 2006 (R.). – Der Prinzipal. Ffm. 2007 (N.). – Eros und Asche. Ffm. 2007 (R.). Literatur: Siegfried Steinmann: Sprache, Handlung, Wirklichkeit im dt. Gegenwartsdrama. Studien zu Thomas Bernhard, Botho Strauß, B. K. Ffm. 1985. – Hubert Winkels: Text-Manie. B. K.s knifflige Prosa. In: Ders.: Einschnitte. Zur Lit. der 80er Jahre. Köln 1988, S. 98–111. – Claude Fourcart: Körper und Lit. – B. K. In: Horst A. Glaser (Hg.): Dt. Lit. zwischen 1945 u. 1995. Eine Sozialgesch. Bern/Stgt./Wien 1997, S. 666–669. – Sabine Wilke: Ambigous embodiment. Construction and destruction of bodies in modern German literature
Kirchmair and culture. Heidelb. 2000. – Raliza Ivanova: Der Ausstieg aus der heterosexuellen Matrix – ein neuer kultureller Mythos? In: Pavel Petkov (Hg.): Mythos – Geschlechterbeziehungen – Lit. Sofia 2000, S. 255–262. – Nicole Masanek: Männl. u. weibl. Schreiben? Zur Konstruktion u. Subversion in der Lit. Würzb. 2005. – Steffen u. Mirjam Schneider: Zerstörung des Selbst, Erwartung des Anderen: Opferfiguren in den imaginären Orientreisen ›Der Sandmann‹ v. B. K. u. ›1979‹ v. Christian Kracht. In: Rüdiger Görner u. Nima Mina (Hg.): ›Wenn die Rosenhimmel tanzen‹. Oriental. Motivik in der deutschsprachigen Lit. des 19. u. 20. Jh. Mchn. 2006, S. 213–242. Volker Busch / Stefan Alker
Kirchmair, Kirchmayr, Georg, * 1480 Ragen bei Bruneck, † 1554 Neustift bei Brixen. – Tirolischer Geschichtsschreiber.
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Hälfte des 16. Jh. sind seine Aufzeichnungen – Augenzeugenberichte eines interessierten Zeitgenossen, der, zunächst der Reformation zuneigend, später zum Verfechter der alten Ordnung wurde – eine bedeutende histor. Quelle. Ausgabe: G. K.s Denkwürdigkeiten seiner Zeit 1519 bis 1553. Hg. Theodor Georg v. Karajan. In: Fontes Rerum Austriacarum. 1. Abt.: Scriptores. Bd. 1, Wien 1855. Nachdr. Graz 1969, S. 417–534. Literatur: Heinrich von Zeißberg: G. K. In: ADB. – P. Archangelus Simeoner: Der Tiroler G. K. v. Ragen als Chronist Kaiser Maximilians I. In: Programm des öffentl. Privat-Obergymnasiums der Franciscaner. Bozen 1886/87, S. 3–32. – Rudolf Burgarell: G. K’s Denkwürdigkeiten seiner Zeit v. 1519–1553. Diss. Wien 1941. – Anselm Sparber: Das Chorherrenstift Neustift in seiner geschichtl. Entwicklung. Brixen 1953. – Martin Peintner: Kloster Neustift. Das Augustiner-Chorherrenstift u. die Buchmalerei. Bozen 1996. Helgard Ulmschneider / Red.
Aus einer angesehenen Familie von Maiern des Augustiner-Chorherrenstifts Neustift in Ragen stammend, wurde K. zunächst in der Klosterschule Neustift, dann wohl in Brixen in einer Vorbereitungsschule für den tiroliKirchner, Caspar, * 31.12.1592 Bunzlau, schen Adel erzogen. Seit 1508 »Hof- und † 16.6.1627 Liegnitz; Grabstätte: PfarrGerichtsschreiber« in Neustift, erscheint er kirche Bunzlau. – Jurist, Kaiserlicher Rat; 1517 als Ökonomieverwalter des Klosters in Lyriker. Bruneck u. wird im selben Jahr von Propst Christoph Niedermayr als Amtmann u. Hof- K. gehörte zu dem Gönner- u. Freundeskreis richter berufen. In den Wirren des Bauern- Martin Opitz’. K.s Mutter war die Schwester kriegs 1525 gelang es K. durch kluges Tak- von Sebastian Opitz, dem Vater des Dichters. tieren, die Schätze des Klosters, voran die Bei Christoph Opitz, dem Onkel, u. bei dessen Urbarbücher, vor den Aufständischen zu ret- Nachfolger im Rektorat der Bunzlauer Schuten. In den folgenden Jahren widmete er sich le, Valentin Senftleben, erhielt K. seinen ersin seiner Freizeit der Ordnung des Stiftsar- ten Unterricht. 18-jährig kam er nach Breslau chivs, v. a. der Sammlung der Klosterurkun- u. fand wie später Opitz rasch Zugang zu den den sowie ihrer Dokumentation in einem großen Geschlechtern der Cunrad, Hoeckelsvoluminösen zweibändigen Kopialbuch. hoven, Rindfleisch, Henel usw. Die gleichDie archival. Tätigkeit dürfte K. angeregt zeitige Einschreibung an der Universität haben, sich aktiv der Geschichtsschreibung Frankfurt/O. (als ›depositus‹) dürfte wie zuzuwenden. Bereits 1519 hatte er, primär zu häufig nur rechtl. Bedeutung gehabt haben. seiner »gedachtnuss«, mit der Niederschrift Tatsächlich absolvierte K. seine Studien wie der Denkwürdigkeiten seiner Zeit begonnen, die viele Schlesier im Südwesten; 1615 ging er die Epoche vom ersten Auftreten Maximi- für zwei Jahre nach Straßburg. In Basel wurde lians I. in den Niederlanden 1477 über die er am 5.4.1617 im Auftrag Kaiser Matthias’ Reformation u. den Tiroler Bauernkrieg bis durch Johann Jakob Grasser zum Dichter gezum Ende des Jahres 1553 umfassen. Zu Be- krönt (Krönungsdiplom bei Flood, S. 999). In ginn oft chronologisch fehlerhaft, behandelte Leiden ließ er sich (als »Germanus Silesius«) er – mit deutl. Vorliebe für das Kriegswesen – am 30.6.1617 als Theologiestudent einalle bedeutenderen europ. Ereignisse im schreiben u. huldigte der Koryphäe der junZeitalter Maximilians u. Karls V. Speziell für gen Dichter, Daniel Heinsius. Auch nach die Geschichte des Landes Tirol in der ersten Frankreich u. England reiste K., bevor der
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Aufstieg in der Heimat begann: 1618 Lehrer Kirchner, Kirschnerus, Hermann (Herolsin Bunzlau, 1622 Bibliothekar des Fürsten feldianus), * 11.11.1562 Hersfeld, † 26.3. Georg Rudolf von Liegnitz, 1625 Reise zum 1620 Burgbreitungen (heute: Breitungen Kaiserhof in Wien u. Ernennung zum Kai- a. d. Werra, bei Schmalkalden). – Jurist u. serlichen Rat. Viel zu früh starb der hoff- Theoretiker der Politik, Historiker, Rhenungerweckende Dichter, der viel für Opitz toriker u. Kasualpoet. tat. Zincgref vereinigte neun dt. Gedichte von ihm im Anhang zu Opitz’ Teutschen Poemata Der Sohn des Ratsherrn Joachim K. studierte (Straßb. 1624); die lateinischen sind bis heute nach dem Besuch der Stiftsschule in Hersfeld zerstreut. Opitz selbst schrieb 1635 die Bio- die Humaniora u. Geschichte in Kopenhagen, seit 1585 in Rostock, wo der Historiker Nagrafie des Freundes. than Chytraeus sein Lehrer war, u. seit ca. Literatur: Nikolaus Henel: Silesia togata. Hs. 1588 in Marburg/Lahn; dort erwarb sich der UB Wroclaw (R 570). – Johann Heinrich Cunrad: Silesia togata, sive Silesiorum doctrina et virtutibus junge Jurist in den frühen 1590er Jahren in clarissimorum elogia [...]. Hg. Caspar Theophil dem formellen Amt eines Universitätspoeten Schindler. Liegnitz 1706, S. 150. – Ernst Höpfner: (eines »akademischen Gelegenheitsdichters«: Straßburg u. Martin Opitz. In: Beiträge zur dt. Bauer 2000) frühes Ansehen (einige KasualPhilologie. Julius Zacher dargebracht als Festgabe texte in der Universitätsbibliothek Marburg). [...]. Halle/Saale 1880, S. 293–302. – Ewald Wer- Seine Dissertation De transactionibus verteinicke: Chronik der Stadt Bunzlau [...]. Bunzlau digte er 1592 unter dem Präsidium des Rhe1884, S. 317 f. – Briefe G. M. Lingelsheims, M. torikers u. Juristen Hieronymus Treutler. Berneggers u. ihrer Freunde. Nach Hss. [...] hg. u. Nachdem er im März 1594 Extraordinarius erl. v. Alexander Reifferscheid. Heilbronn 1889, Nr. 481, S. 545–550 (Abdr. der K.-Biogr. v. Opitz u. für Poesie u. Geschichte geworden war (1603 eines Briefes K.s an Opitz). – Max Rubensohn: erhielt er die ordentl. Professur), begleitete er Studien zu Martin Opitz (zuerst in: Euph. 2, 1895, die hess. Delegation zum Reichstag in ReS. 57–99 u. 6, 1899, S. 24–67, 221–271). Mit einem gensburg, wo er selbst am 5.8.1594 mit Urwiss.-histor. Nachw. hg. v. Robert Seidel. Heidelb. kunde Kaiser Rudolfs II. zum Poeta laureatus 2005 (Register). – Martin Opitz: Ges. Werke. Hg. Caesareus ernannt wurde. Die DichterkröGeorge Schulz-Behrend. Bd. 1, Stgt. 1968, nung hatte um diese Zeit häufig die Funktion S. 133–135, Register. – Edward Bialek u. Wojciech einer akadem. (Ehren)Promotion in den DisMrozowicz: Bildungsreisen der Schlesier in die ziplinen Rhetorik bzw. Poesie. 1607 oder Niederlande im Spiegel der Stammbucheintragungen. In: Neerlandica Wratislaviensia 3 (1986), 1608 wurde ihm auch die Professur für RheS. 199–217. – Die Dt. Akademie des 17. Jh. torik übertragen, die er mit einer kulturgeFruchtbringende Gesellschaft [...]. Reihe I, Abt. A, schichtl. Vorlesung über die Redekunst der Bd. 1–2 (1617–1629). Hg. Klaus Conermann. Tüb. alten Deutschen antrat (De eloquentia veterum 1992–98 (Register). – Erich Trunz: Dt. Lit. zwi- Germanorum). Er wurde Nachfolger von Herschen Späthumanismus u. Barock. Acht Studien. mann Nigidius, der ins luth. Gießen abwanMchn. 1995 (Register). – E. Bialek u. W. Mrozo- derte u. von dem er zgl. das Amt des Uniwicz: Über den Bunzlauer Dichter C. K. u. sein versitätssyndikus übernahm. 1599 hatte er, Stammbuch. In: Orbis linguarum 6 (1997), gefördert durch den maßgebl. Marburger S. 297–302. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 998–1000. – E. Bialek u. W. Mrozowicz: ›Poeta Juristen Hermann Vultejus, den Dr. jur. erlaureatus caesareus‹ aus Bunzlau u. Liegnitz. C. K. worben, lehrte aber niemals an der Juristiu. sein Stammbuch. In: Literar. Liegnitz. Hg. E. schen Fakultät. Bialek u. H. Unverricht. Dresden/Wroclaw 2008, Sein historisch-polit. Hauptwerk ist das S. 41–52. Klaus Garber / Red. Buch über den Legatus (1604), ein systemat. Lehrbuch über das Recht u. das Tätigkeitsprofil des mehr oder weniger höf. Gesandten u. Diplomaten in Geschichte u. Gegenwart, eines der drei Werke K.s zum Öffentlichen Recht in Verbindung mit der neu entstehenden Politikwissenschaft im Reich (dazu bes. /
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Scattola 2003). Zugleich dokumentiert der ausdrückl. Hinweis auf die Vergil-Interpretation als Ausgangspunkt (»cum Vergilianas legationes explicarem«) die enge Verbindung der Rechtslehre des Ius publicum u. der Prudentia politica mit den Humaniora, zumal der Rhetorik, ein für den Typus des gelehrten Politicus des Späthumanismus auch in Italien, Frankreich, England oder den Niederlanden beliebtes Rollenkonzept, das auch dem Diplomaten empfohlen wurde. Und so sind es auch die noch vor 1600 erschienenen aktuellen Beiträge zum Thema von Albericus Gentilis (Oxford), La Mothe Le Vayer (Paris) oder Ottaviano Maggi (Venedig), an die K. anschloss. Darunter war auch der Legatus des Piemonteser Diplomaten Charles Paschal/Paschalius (auch: Carlo Pasquale), der 1581 den ersten gänzlich polit. Tacitus-Kommentar publizierte u. zusammen mit Marc-Antoine Muret (1526–1585) u. Lipsius zu den ersten Vertretern des polit. Tacitismus zählte. Noch deutlicher wird dieses Rollenprofil in dem Band mit 36 akadem. Orationes, dessen Auflagen zwischen 1599 u. 1621 erschienen. K. ließ dafür seine Schüler vor der Marburger Universitätsöffentlichkeit Reden zu Themen aus dem sozialen u. historisch-polit. Bereich vortragen u. »in utramque partem« (nach beiden Seiten, in beide Richtungen), d. h. mit den Argumenten Für u. Wider, verteidigen: ob bei gerichtl. Strafen auf den adligen Stand des Delinquenten Rücksicht genommen werden müsse oder nicht; ob man die Peregrinatio academica beibehalten solle; ob man die Ermordung Caesars rechtfertigen könne; ob die Wahl- oder die Erbmonarchie vorzuziehen sei, usw. (Referat bei Klein 1977, S. 186 ff.). Vor allem in diesen Reden dokumentiert sich das späthumanistische Ideal einer Verbindung von Altertumskunde (engl. ›Antiquarianism‹), Rhetorik u. Jurisprudenz in der politisch-juristischen Praxis. Im Übrigen bezeugen diese Arbeiten wie alle Schriften K.s, der darin aber keine Ausnahme ist, die enge Beziehung zwischen der akadem. Lehre u. der gelehrten Diskussion, u. die Frage drängt sich auf, ob nicht die ominöse ›Einheit von Forschung und Lehre‹ in der alteurop. Universität vor Humboldt viel eher zu Hause war, als man das von der Universität
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seither behaupten kann, für die man diese stolze Formel gefunden hat; man muss dabei nur die im Vergleich der Epochen sehr unterschiedl. Inhalte der Begriffe ›Forschung‹ u. ›Lehre‹ in Rechnung stellen. Mehrere Themen dieser Reden sind schließlich in das politikwiss. Hauptwerk K.s eingegangen, die ebenfalls in zahlreichen, immer wieder erweiterten Aufl. gedruckte Respublica (zuerst 1608), eine Sammlung von Disputationen, Reden, Corollaria u. Exkursen über die zahllosen Deutungsprobleme, Fehlurteile u. Sachfragen, die die Theorie des Staates, der Regierungsformen, der menschl. Gesellungsformen u. Sozialgebilde (societas populi) sowie deren Strukturen, Zwecke, Krisen, Bestandssicherung u. Legitimität betreffen. Es nahm seinen Ausgang bei der extensiven Diskussion, die Jean Bodins Traktat De la République von 1576 auch in Deutschland ausgelöst hatte (vgl. das ausführl. Referat der Respublica bei Klein 1977, S. 194 ff.). Erst 1605 heiratete K. Sophie Lauterbach aus Herrenbreitungen bei Schmalkalden, u. bereits im Jahre 1614 musste er, offenbar wegen des Ausbruchs einer depressiven Erkrankung, die Universität verlassen. Anfang Mai völlig unerwartet aus der Stadt verschwunden, wurde er wenig später in Homburg an der Ohm, südöstlich von Marburg, entdeckt, von wo er sich in den Heimatort seiner Frau in Sicherheit brachte. Dort starb K. sechs Jahre später im Haus seiner Schwiegereltern »an der Melancholey« (Jöcher 1750), einer Neigung oder Krankheit, die von mehreren Gelehrten dieser Epoche überliefert wird. Der Hofprediger Johann Keßler nannte in seiner Leichenpredigt (Druck Erfurt 1620) »Haupt-Blödigkeit« als Todesursache. Weitere Werke: Elegia de vita et morte [...]. Marburg 1590 (Epicedium auf den Tod der Landgräfin von Hessen). – Hg.: Sapientia Salomonis dramate comicotragico descripta, olim a Xysto Betuleio (d. i. Sixt Birck), nunc aucta et exornata, aspersis Frischliniani Gastrodis nonnullis salibus. Marburg 1591. Nürnb. 1597. – De transactionibus disputatio. In: Hieronymus Treutler: Selectae Disputationes ad Ius Civile. Bd. 1, Marburg 21594. – Anagrammatismorum illustrium centuria. Ffm. 1594 (Anagramme auf den Kaiser). – Theses poli-
429 ticae de prudentia mixta. Marburg 1595. – Pro disciplina poetica oratio [...] sub auspicio poeticae professionis publice recitata. Marburg 1595 (Antrittsvorlesung v. 1594, enthält auch den Text des Diploms der Regensburger Dichterkrönung). – Coriolanus. Tragico-Comoedia. Marburg 1599. 1609. – Orationes de gravissimis aliquot cum juridicis tum politicis quaestionibus in utramque partem discussis. Ffm. 1599. Erw. Marburg 1608. – De studio historico (Antrittsvorlesung 1603). In: Orationes. Bd. 2, Aufl. 1614, S. 104–130. – Legatus. Cunctis tum in juris prudentiae politicarumque artium studiis, tum in reipublicae administratione versantibus. Lich 1604. Verb. u. erw. Aufl. Marburg 1610, in 2 Bdn. mit verändertem Titel 1614. – De ducibus, principibus, comitibus, ac equitibus mobilibus Germaniae: sexcentis ab hinc annis in Academiis publice magistris, licentiatis ac doctoribus promotis. Nec non de Germanorum nativa eloquentia orationes. Quibus duae aliae de historiarum et poetices studiis adjuncta. Marburg 1608. 1609. – De eloquentia veterum Germanorum (Antrittsvorlesung 1608). In: Orationes. Bd. 2, Aufl. 1614, S. 86–104. – Respublica. Methodicae disputationis acie tum veterum tum recentiorum politicorum opinionibus candide et probe excussis. Marburg 1608. Erw. 1609. 31614. 1634. – Superioris aevi imperatorum, regum, electorum, ducum ac principum, heroum curricula [...] comprehensa et collecta. 3 Bde., Marburg 1609, 1610, 1618 (Bd. 3: Hg. Balthasar Exner). – Diss. de militia rebusque gestis [...] Johannis Ziscae equitis Bohemi. Johann Dionysius Mraz (Resp.). Marburg 1609. – Synopsis philosophiae practicae. Winand Velbruck (Resp.). Marburg 1609. – Diss. generalem theoriam politicam sistens. Heinrich von Stange (Resp.). Marburg 1610. – Oratio de fatalibus Academiarum dissipationibus ac ruinis. Marburg 1610. – Problema nobile: utrum homini nobili genere nato marti potius quam arti studendum, potiusque castra militaria quam literaria sequenda sint? Johann Ernst v. Borstell (Resp.). Marburg 1610. Literatur: Zedler. – Jöcher. – DBA – Friedrich Wilhelm Strieder: Grundlage zu einer Hess. Gelehrten- u. Schriftsteller-Gesch. Bd. 7, Kassel 1787, S. 114–122. – R. Kempe: Der erste Hersfelder Dichter. Zum 400. Geb. v. H. K. am 11. Nov. In: Mein Heimatland 20 (1962/63), S. 48 ff. – Horst Dreitzel: Protestantischer Aristotelismus u. absoluter Staat. Die ›Politica‹ des Henning Arnisaeus. Wiesb. 1970. – Thomas Klein: Recht u. Staat im Urteil mitteldt. Juristen des späten 16. Jh. In: FS Walter Schlesinger. Bd. 1, Köln 1973, S. 427 ff. – Ders.: ›Conservatio Reipublicae per bonam educationem‹. Leben u. Werk H. K.s (1562–1620). In:
Kirchweih von Affalterbach Academia Marburgensis. Beiträge zur Gesch. der Philipps-Universität Marburg. Bd. 1. Hg. Walter Heinemeyer u. a. Marburg 1977, S. 181–230 (die grundlegende Studie, mit Porträtstich neben S. 192). – Gisela Wirth: Die Entwicklung der Alten Gesch. an der Philipps-Universität Marburg. Marburg 1977 (bes. zu K.s Antrittsrede ›De studio historico‹). – Michael Stolleis: Gesch. des öffentl. Rechts in Dtschld. Bd. 1, Mchn. 1988, S. 120 f. – Barbara Bauer: H. K. In: Melanchthon u. die Marburger Professoren (1527–1627). Hg. dies. Bd. 1, 2., erw. Aufl. Marburg 2000, S. 178–185. – Merio Scattola: Dalla virtù alla scienza. La fondazione e la trasformazione della disciplina politica nell’età moderna. Milano 2003, S. 141 f., Bibliogr. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 1000–1005. Herbert Jaumann
Kirchweih von Affalterbach, auch »Schlacht im Wald« genannt, 19.6.1502. Ein am 19.6.1502 zwischen Markgraf Kasimir von Ansbach-Kulmbach u. der Stadt Nürnberg stattfindendes Gefecht, das reichen Niederschlag u. a. in Reimreden, Liedern u. Chronistik fand. Die bereits Generationen zurückliegenden Spannungen zwischen Nürnberg u. der Markgrafschaft AnsbachKulmbach erlebten zu Beginn des 16. Jh. mit der K. v. A. ihren Höhepunkt. Den Auslöser bildete das umstrittene Patronatsrecht über eine Kapelle im heute nicht mehr bestehenden Weiler Affalterbach, südöstlich von Nürnberg. Am Tag des Kirchweihfestes forderte Markgraf Kasimir die Nürnberger Truppen nicht wie erwartet bei Affalterbach heraus, sondern unweit der Reichsstadt selbst u. fügte trotz hoher eigener Verluste den ausfallenden Nürnbergern eine Niederlage zu. In den Wochen darauf entstanden sieben, stark polemisierende Lieder mit detaillierten Schilderungen zum Schlachtverlauf, deren Verfasser bis auf den »gut gesell« Peter Hasenstaud unbekannt sind. Vier Lieder, in denen teilweise die Niederlage geleugnet wird, ergreifen die Nürnberger Partei, drei Lieder die markgräfliche. Dort werden die »Feigheit« des Nürnberger Feldhauptmanns Ulman Stromer u. die rachsüchtige Erschlagung markgräfl. Gefangener betont. In der Forschung wurde oft angemerkt, allerdings nicht deutlich herausgearbeitet, dass die Lieder in
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engen Zusammenhang mit der Publizistik rung. Obgleich die jüngere Geschichtsschreizum Gefecht bei Pillenreuth von 1450 stän- bung die Schlacht bekannt machte, fand sie den, in dem Kasimirs Großvater, Markgraf kaum Einlass in das dichterische Schaffen zur Albrecht Achilles, eine ehrenrührige Nieder- Geschichte Nürnbergs u. Markgraf Kasimirs lage durch die Nürnberger hinnehmen im 19. u. 20. Jh. Allein Theo von Paschwitz erwähnt die K. v. A. im Vorwort seines 1910 musste. Etliche Verfasser der Lieder nahmen ver- erschienenen histor. Romans Markgraf Kasimir mutlich persönlich am Schlachtgeschehen (Regensb). teil, jedoch bisher sind nur zwei SchilderunEdierte Quellen: Andreas F. Oefele (Hg.): Chigen von Beteiligten der K. v. A. namentlich liani Leibii. In: Beyträge zur Gesch. u. Lit. 7 (1806), verbürgt. Einerseits berichtet der bekannte S. 535–560, bes. 539–541. – Rudolf E. Stierlin u. Abenteurer Götz von Berlichingen, der in Johann R. Wyß (Hg.): Valerius Anselm’s, genannt markgräfl. Diensten stand, in seiner Auto- Rüd, Berner-Chronik. Bd. 3, Bern 1827, biografie eingehend über das Schlachtge- S. 201–202. – Friedrich W. G. Gf. v. BerlichingenRossach (Hg.): Gesch. des Ritters Götz v. Berlicschehen. Andererseits drückt der Nürnberger hingen. Lpz. 1861, S. 27–31. – Rochus v. Liliencron Humanist Willibald Pirckheimer in Briefen (Hg.): Die histor. Volkslieder der Deutschen. Bd. 2, an die Freunde Anton Kreß u. Conrad Celtis Lpz. 1866, S. 463–489. – Die Chroniken dt. Städte seinen Missmut gegenüber Kritikern aus den vom 14. bis 16. Jh. Bd. 11/5, Nürnb./Lpz. 1874, eigenen Reihen aus. Ihm wurden Feigheit u. S. 653 f. – Rudolf G. Stillfried: Kloster Heilsbronn. militärische Unfähigkeit von etlichen Rats- Bln. 1877, S. 245–250 (Chronik des S. Bamberger). mitgliedern angelastet. In seiner Autobio- – Georg Frhr. v. Kreß: Acht Briefe Willibald Pirkgrafie geht Pirckheimer nur allg. auf Vor- heimers. In: Mittheilungen des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 1 (1879), S. 67–90, Nr. VII. – würfe des städt. Rats ein. In den folgenden Jahrzehnten fand die K. v. Karl Rück (Hg.): Willibald Pirckheimers Schweizerkrieg. Mchn. 1895, S. 144 f. (Autobiogr. W. PirA. einen festen Platz in der regionalen u. ckheimers). – Johannes Müllner: Die Annalen der überregionalen Chronistik, motiviert durch Reichsstadt Nürnberg. Bd. 3, Nürnb. 2003, lokalen Patriotismus, die Teilnahme land- S. 221–226. fremder Söldner an der Schlacht u. persönl. Literatur: Adolf Haase: Die Schlacht bei Differenzen mit der Stadt Nürnberg. Dazu Nürnberg. Greifsw. 1887. – Reinhard Seyboth: Die zählen die Darstellungen des Berner Chro- Markgraftümer Ansbach u. Kulmbach. Gött. 1985. nisten Valerius Anshelm, des Sebastian – Hermann Dallhammer: Gefallen 1502 bei AffalFranck, der den Markgrafen verbundenen terbach. In: Ansbach gestern u. heute 47 (1990), Geistlichen Kilian Leib u. Sebaldus Bamber- S. 1135–1144. – Sonja Kerth: ›Der landsfrid ist ger sowie der Nürnberger Chronisten Anton zerbrochen‹. Das Bild des Krieges in den polit. ErKreuzer, Heinrich Deichsler u. Pangraz eignisdichtungen des 13. bis 16. Jh. Wiesb. 1997. – Bernhaupt. Ausführlicher als die Vorgänger Michael Diefenbacher u. Rudolf2 Endres (Hg.): Stadtlexikon Nürnberg. Nürnb. 2000. – Frieder u. auf intensivem Quellenstudium aufbauSchanze: K. v. A. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). end, schildert der Nürnberger Ratsschreiber Mario Müller Johannes Müllner in seinen 1623 fertig gestellten Annalen die K. v. A.; etwa zur gleichen Zeit beschrieb der Nürnberger Wirt u. Wein- Kirsch, Hans-Christian ! Hetmann, Freschenk, Wolf Neubauer d.J., in seiner illus- derik trierten Chronik die K. v. A. Trotz reicher Überlieferung u. großer Kirsch, Rainer, * 17.7.1934 Döbeln/SachQuellenvielfalt blieb die Forschung zur K. v. sen. – Lyriker, Essayist, Dramatiker, A. bemerkenswert monoton. Dem literar. Übersetzer. Widerhall wurde allenfalls Aufmerksamkeit gewidmet, um den Schlachtverlauf zu re- K. wird zur so genannten »Sächsischen konstruieren. Keine oder nur wenig Neugier Dichterschule« gezählt. Mit den Vertretern weckten Totengedenken, Rezeptionsge- der Gruppe teilt er generationsspezif. Erfahschichte, bildliche u. gegenständl. Überliefe- rungen mit dem Literatursystem der DDR,
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eine Präferenz für die bewahrende Variation tradierter lyr. Formen, eine breite Auffächerung des Werks in verschiedenste Gattungen u. Textformen sowie ein Netzwerk an intertextuellen Bezügen; hierunter fallen auch K.s essayistische Kurzporträts, u. a. von K. Mickel, A. Endler, S. Kirsch u. R. Leising (Ordnung im Spiegel. Lpz. 1985). K. studierte Geschichte u. Philosophie in Halle u. Jena. Nach dem XX. Parteitag der KPdSU wurde er im Zusammenhang mit der Kampagne gegen die philosophischen Anschauungen Blochs 1957 relegiert, aus der Partei ausgeschlossen u. zur Bewährung mehrere Jahre in die Produktion geschickt (Druckerei, Chemiewerk, LPG). In dieser Zeit entstanden Gedichte u. Kinderlieder sowie Auftragsarbeiten. 1960 heiratete K. die Lyrikerin Sarah Kirsch; die Ehe dauerte bis 1968. K. wurde einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, als er auf der von S. Hermlin veranlassten Akademie-Lesung 1962 Gedichte vortragen konnte. Das Gedicht Meinen Freunden, den alten Genossen (in: R. K. u. Sarah Kirsch: Gespräch mit dem Saurier. Bln. 1965) wurde in der folgenden Debatte zum Negativbeispiel der von der offiziösen Kritik heftig attackierten »kritischen Lyrik« (Biermann, Braun, Jentzsch u. andere): »Denn es träumt sich leicht von Glückssemestern / Aber Glück ist schwer in diesem Land. / Anders lieben müssen wir als gestern / Und mit schärferem Verstand. // Und die Träume ganz beim Namen nennen; / Und die ganze Last der Wahrheit kennen.« 1960–1963 arbeitete K. als freier Schriftsteller. Zusammen mit S. Kirsch studierte er 1963–1965 am Literaturinstitut »Johannes R. Becher« in Leipzig; das Abschlussdiplom wurde ihm jedoch verweigert. 1965 wurde er wieder in die SED aufgenommen. Ab 1965 lebte K. als freier Schriftsteller in Halle. Als Folge der kulturpolit. Verhärtung nach 1965 konnte der Lyriker K. bis zu Beginn der 1970er Jahre nur als Nachdichter z.T. lange tabuisierter sowjetischer Autoren wirken. Die Übersetzungsarbeit wird von reflektierenden Essays u. Fallanalysen begleitet, wobei K. den Stellenwert rhythm. Verfahren betont (Das Wort und seine Strahlung. Bln. 1976). 1968 u. 1969 reiste er nach Georgien u. arbeitete dort an Überset-
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zungsprojekten, z.T. mit A. Endler u. E. Erb. Auch nach den kulturpolit. Lockerungen des 8. Parteitags der SED 1971 blieb K.s parodistische Variation des Fauststoffs, Heinrich Schlaghands Höllenfahrt, ungespielt. Das Stück wurde zum Anlass für K.s erneuten Ausschluss aus der SED. Erst 1980 (nach Veröffentlichung des Sammelbands Auszog das Fürchten zu lernen. Reinb. 1978) konnte sein zweiter Gedichtband Ausflug machen in Rostock erscheinen. K. bedient sich souverän der traditionellen literar. Formen, schlägt dialektische Volten, bei denen auch satirischaphorist. Mittel ihren Platz finden: Sensualismus u. Aufklärung, Utopie im Bloch’schen Sinn u. ein Dokumentarismus, der die Widersprüchlichkeit des sozialistischen Wegs exponiert. Selbstgefälligkeit, Spießertum, Opportunismus, die Hypothek des Sozialismus aus der Zeit des »Großmörders« Stalin, fordern K.s heftigen Widerspruch heraus. Im März 1990 wurde K. Vorsitzender des Schriftstellerverbands der DDR, der 1991 aufgelöst wurde. Nach dem Fall der Mauer schreibe er mit »mehr Gelächter gegenüber den Weltläufen und mit mehr liebevollem Ingrimm« (Die Talare der Gottesgelehrten. Halle 1999). Zeitdiagnose, Ironie u. Formstrenge finden einen Höhepunkt im Gedichtband Petrarca hat Malven im Garten und beschweigt die Welträtsel (Witzwort 2002). Weitere Werke: Werke. 4 Bde., Bln. 2004. – Bekanntschaft mit uns selbst. Gedichte junger Menschen. Hg. Gerhard Wolf. Halle 1961. – Kopien nach Originalen. 3 Porträts & 1 Reportage. Lpz. 1974. Veränderte Aufl. 1978. – Die Perlen der grünen Nixe. Bln./DDR 1975 (M.). – Sauna oder Die fernherwirkende Trübung. Rostock 1975 (E.en). – Reglindis. Lieder. Bln./DDR 1978. – Amt des Dichters. Aufsätze, Rezensionen, Ess.s. 1964–1978. Rostock 1979. – Kunst in der Mark Brandenburg. Rostock 1988. – Anna Katarina oder Die Nacht am Moorbusch nebst einem tiefgründigen Gespräch. Ebd. 1991. – Herausgeber: Peter Hacks: Verehrter Kollege. Briefe an Schriftsteller. Bln. 2006. – Übersetzungen, Nachdichtungen. Sergej Jessenin: Gedichte. Nachdichtung mit anderen. Hg. Fritz Mierau. Lpz. 1965. 3., erw. Aufl. 1975. – Anna Achmatowa: Ein nie dagewesener Held (zus. mit Sarah Kirsch). Hg. Edel Mirowa-Florin. Bln. 1967. – Georgische Poesie aus acht Jahrhunderten (zus. mit Adolf Endler). Ebd. 1971. – Molière: Die Schule der Frauen. Ebd.
Kirsch 1971. – Wladimir Majakowski: Schwitzbad. Ebd. 1973. – Ossip Mandelstam: Der Hufeisenfinder. Nachdichtung mit anderen. Hg. F. Mierau. Lpz. 1975. – Wladimir Majakowski: Die Wanze. Bln. 1977. – Alexander Block: Ausgew. Werke in 3 Bdn. Nachdichtung mit anderen. Hg. F. Mierau. Ebd. 1978. – Anna Achmatowa: Poem ohne Held. Nachdichtung mit anderen. Lpz. 1979. – Marina Zwetajewa: Maßlos in einer Welt nach Maß. Nachdichtung mit anderen. Bln. 1980. – Francesco Petrarca: Poesiealbum 178. Nachdichtung mit anderen. Ebd. 1982. – Maxim Gorki: Fünf Dramen. Lpz. 1989. Literatur: Hans-Michael Bock u. Manfred Behn: R. K. [Werkverz. u. Sekundärlit.]. In: KLG. – M. Behn u. Andreas Oettel: R. K. In: KLG. – GerritJan Berendse: Die ›Sächsische Dichterschule‹. Lyrik in der DDR der sechziger u. siebziger Jahre. Ffm. 1990. – Konrad Franke: R. K. In: LGL. Manfred Behn-Liebherz / Stefan Wieczorek
Kirsch, Sarah, geb. Ingrid Hella Irmelinde Bernstein, * 16.4.1935 Limlingerode/ Südharz. – Lyrikerin, Prosaautorin. K., Tochter eines Fernmeldemechanikers, verbrachte Kindheit u. Jugend in Halberstadt. Nach dem Abitur begann sie eine Forstarbeiterlehre, arbeitete in einer Zuckerfabrik u. studierte 1954–1958 Biologie in Halle mit dem Abschluss als Diplom-Biologin. 1960 heiratete K. den Schriftsteller Rainer Kirsch. 1963 erhielt sie ein Stipendium zu zweijährigem Studium am Literaturinstitut »Johannes R. Becher«, der »Dichterschule« der DDR, u. wurde 1965 freie Schriftstellerin. K. war Mitgl. des Schriftstellerverbands der DDR, dessen Vorstand sie 1973 angehörte. Seit 1960 veröffentlichte K. lyr. Texte in Zeitschriften u. Anthologien unter dem Pseudonym Sarah. Nach dem zusammen mit Rainer Kirsch verfassten Kinderhörspiel Die betrunkene Sonne (1962) gab sie zusammen mit ihrem Mann u. Thomas Billhardt die Bildreportage Berlin-Sonnenseite über das »Deutschlandtreffen der Jugend in der Hauptstadt der DDR« (Bln./DDR 1964) heraus. Das erste lyr. Gemeinschaftswerk war das (zusammen mit R. K. verfasste) Buch Gespräch mit dem Saurier (Bln./DDR 1965). Seit ihrer Scheidung von R. K. (1968) lebte K. in Ost-Berlin u. arbeitete als Journalistin, Hörfunkmitarbeiterin, Kinder-
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buchautorin u. als Übersetzerin v. a. russ. Lyrik u. bulgar. Kinderbücher. Als Mitunterzeichnerin des Protestbriefs gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns wurde sie 1976 aus der SED u. dem Schriftstellerverband ausgeschlossen. Danach setzte ein allg. »Exodus« (Wolfgang Emmerich) von Schriftstellern aus der DDR ein. Neben Thomas Brasch, Hans Joachim Schädlich, Rainer Kunze, Jürgen Fuchs u. anderen verließ auch K. mit ihrem Sohn Moritz (geb. 1969, Vater: Karl Mickel) die DDR u. zog 1977 nach West-Berlin, 1981 nach Bothel (Kr. Rothenburg/Wümme). Seit 1983 lebt sie in Tielenhemme (SchleswigHolstein). In ihren Anfängen war K. von den Übersetzungen Erich Arendts aus der lateinamerikan. u. span. Dichtung beeinflusst. Ausländische Vorbilder waren Rafael Alberti, Ezra Pound, William Carlos Williams, Pablo Neruda, später Gerard Manley Hopkins, deutschsprachige Adalbert Stifter, Else Lasker-Schüler, Ingeborg Bachmann, Günter Eich, Johannes Bobrowski u. Paul Celan. K.s Ruhm als bedeutendste dt. Lyrikerin der Gegenwart gründete sich auf die Bände Landaufenthalt (Bln./DDR 1967, Ebenhausen 1969), Zaubersprüche (Bln./DDR 1973, Ebenhausen 1974) u. Rückenwind (Bln./DDR 1976, Ebenhausen 1977). Schon in der frühen Lyrik dominiert das Thema Natur u. ihre Verführungsgewalt; daneben begegnen Reflexionen u. Empfindungen über Liebe u. Trennung, unter Rückgriff auf Märchen- u. MythenMotive. Politische Themen treten dagegen bewusst zurück, auch als Ausdruck einer Provokation des DDR-Regimes, dessen Literaturkonzeption die Abbildung gesellschaftl. Verhältnisse im Sinn des Sozialistischen Realismus forderte. K.s Naturgedichte verherrlichen kein »einfaches Leben«, wie es frühere Lyriker immer wieder getan haben. Hinter ihren scheinbar schlichten ländl. Bildern verbirgt sich Hintersinniges, angesiedelt zwischen Geheimnis u. Bedrohtheit, zwischen Realität u. Mythos. Natur erscheint nicht als »bukolische Sendung« (Peter von Matt), vielmehr als magisch durchleuchtete u. über die vordergründige Faktizität hinausgehende Dimension. Hinter der scheinbaren Sanftheit lauert die grausame Gleichgültig-
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keit einer nach dem Prinzip des Werdens u. Vergehens organisierten Seinsordnung. In der modernen Variante von Stifters »sanftem Gesetz« weiß die Dichterin um die Anfälligkeit idyllischer Konstrukte: »Schwarzes Wissen beugt mir den Hals« (»Ferne« aus: Erlkönigs Tochter. Stgt. 1992). Zur Naturlyrik rechnen auch Reisegedichte, die in den Gedichtbänden nach dem Verlassen der DDR einen beträchtl. Umfang einnehmen. Auf den ersten Blick sind es nur kleine Impressionen, Momentaufnahmen, fotografierte Schnappschüsse. Auf den zweiten Blick enthüllen die Miniaturbilder mehr: Es sind keine objektiven Beschreibungen im Sinne der altmodischen »malenden Poesie«, eher Einverwandlungen des Geschauten ins betrachtende u. reflektierende Ich, Vexierspiele, unauslotbare Kombinationen aus Witz u. Kalkül, aus Metaphern u. Imaginationen. Gegenüber den langzeiligen u. zum Teil gereimten Versen der frühen Lyrikbände sind die reimlosen freirhythm. Gedichte der späteren Zeit von lakon. Kürze u. geradezu epigrammat. Struktur. K.s Sprache verbindet »bewußt realitätsnahe Elemente gesprochener Sprache mit Stilfiguren der barocken Rede und dem Ton einfacher Formen der Poesie« (Wolfgang Frühwald, Laudatio 2003). Ihre Synthese aus Modernismen u. Archaismen, ihr spielerisch-iron. Mix aus Umgangsu. Hochsprache, Schnodder-Jargon, altertümelnden Wörtern (»Nebul«, »Insul«, »Beispül«, »itzt«, »malet«, »kömmt«), engl. Sprachbrocken, Idiomen u. Neologismen relativiert den unterschwellig mythisch-archaisierenden Duktus. Auch die (manchmal etwas aufgesetzt wirkenden) umgangssprachlich flapsigen Kürzel wie »son« für »so ein«, »wien« für »wie ein«, »aufm« für »auf dem« oder »ne« für »ein«, »ruff« für »herauf« u. die humorvollen, skurrilen u. zuweilen spött. Formulierungen sind Bausteine einer distanziert-privatist. Dichterinszenierung. Neben dem lyr. Werk liegt ein im Umfang ebenbürtiges Prosawerk vor, das von konventionellen Kurznovellen über prosagedichtähnl. Texte, farbige Beschreibungen, persönl. Reflexionen über Erlebtes u. Gelesenes u. Reisenotizen bis zu Tagebuchauf-
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zeichnungen (Spreu. Gött. 1991. Islandhoch. Gött. 2002) u. autobiogr. Berichten (Kuckuckslichtnelken. Gött. 2006) reicht. Auch hier findet sich die knappe, mehr andeutende als ausführende Diktion, die K. als Meisterin enigmat. Miniatur erweist, auch wenn sich im Lauf der Jahre manieristische, fast schrullige Stilmerkmale verstärkt haben (Regenkatze. Mchn. 2007). Aber das gehört zu ihrem Nonkonformismus. K. ist auch als Zeichnerin u. Malerin hervorgetreten (Beim Malen bin ich weggetreten. Stgt./Mchn. 2000). 1978 wurde K. Mitgl. des P.E.N.-Zentrums der BR Deutschland u. erhielt ein Stipendium für die Villa Massimo in Rom. 1996 übernahm sie die Brüder-Grimm-Professur an der Gesamthochschule Kassel u. war 1996/97 Gastdozentin an der Universität Frankfurt/ Main. Für ihr umfangreiches lyr. Werk wurde sie mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, darunter 1996 dem Georg-BüchnerPreis, 1997 dem Annette-von-Droste-Hülshoff-Preis u. 2005 dem Jean-Paul-Preis. 2006 wurde ihr vom Ministerpräsidenten des Landes Schleswig-Holstein der Titel Professorin verliehen. Weitere Werke: Gedichte. Lpz. 1967, Ebenhausen 1969 (L). – Die Pantherfrau. Fünf unfrisierte E.en aus dem Kassetten-Recorder. Bln./DDR u. Weimar 1973, Ebenhausen 1975 (P). – Es war dieser merkwürdige Sommer. Gedichte. Bln. 1974. – Caroline im Wassertropfen. Bln./DDR u. Dortm. 1975 (Kinderbuch, illustriert von Erdmut Oelschläger). – Wiepersdorf. Ebenhausen 1977 (L). – Wintergedichte. Poet. Wandzeitung. Ebd. 1978 (L). – Katzenkopfpflaster. Ausgew. Gedichte. Mchn. 1978 (L). – Erklärung einiger Dinge. Gespräch mit Schülern. Ebenhausen 1978. – Drachensteigen. Ebd. 1979 (L.). – Blitz aus heiterem Himmel. In: Geschlechtertausch. Drei E.en (zus. mit Irmtraud Morgner u. Christa Wolf). Darmst. 1980 (P). – La Pagerie. Stgt. 1980 (P). – Erdreich. Stgt. 1982 (L.). – Katzenleben. Stgt. 1984 (L.). – Landwege. Eine Ausw. 1980–85. Stgt. 1985. – Irrstern. Stgt. 1986 (P.). – Allerlei-Rauh. Eine Chronik. Stgt. 1988 (P). – Schneewärme. Stgt. 1989 (L.). – Schwingrasen. Stgt.1991 (P). – Das simple Leben. Stgt. 1994 (P., L). – Bodenlos. Stgt. 1996 (L). – Gesamtausg. in 5 Bdn. Stgt. 1999. – Schwanenliebe. Stgt./Mchn. 2001 (L). – Tatarenhochzeit. Stgt./Mchn. 2003 (P). – Kommt der Schnee im Sturm geflogen. Stgt./Mchn. 2005 (P).
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Literatur: Manfred Behn-Liebherz: S. K. In: Heinz Puknus (Hg.): Neue Lit. der Frauen. Deutschsprachige Autorinnen der Gegenwart. Mchn. 1980, S. 158–165. – Heinrich Mohr: Die Lust ›Ich‹ zu sagen. Versuch über die Lyrik der S. K. In: Lyrik – v. allen Seiten. Ffm. 1981. – Wolfgang Wittkowski: S. K. In: Klaus Weissenberger (Hg.): Die dt. Lyrik 1945–1975. Düsseld. 1981, S. 366–372. – Margaret Stoljar: Das Ende der Utopie: Kunert u. K. als Modelle einer neuen Exillit. In: David Roberts (Hg.): Tendenzwenden. Ffm. 1984, S. 163–182. – Silvia Volckmann: Zeit der Kirschen? Das Naturbild in der dt. Gegenwartslyrik: Jürgen Becker, S. K., Wolf Biermann, Hans Magnus Enzensberger. Königst./Taunus 1984. – Jürgen Egyptien: Schweigesprache u. Schneewehpoem. Zum lyr. Werk v. Erika Burkart u. S. K. In: Dieter Breuer (Hg.): Dt. Lyrik nach 1945. Ffm. 1988, S. 321–353. – Hans Wagener: S. K. Bln. 1989. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): S. K. Mchn. 1989 (Text + Kritik. H. 101). – Barbara Mabee: Die Poetik v. S. K. Erinnerungsarbeit u. Geschichtsbewußtsein. Amsterd. 1989. – Christine Cosentino: ›Ein Spiegel mit mir darin‹. S. K.s Lyrik. Tüb. u. a. 1990. – Wolfgang Frühwald: S. K. In: Gunter E. Grimm/ Frank Rainer Max (Hg.): Dt. Dichter. Bd. 8, Stgt. 1990. 21994, S. 550–557. – Gerhard Wolf: Ausschweifungen u. Verwünschungen. Zu Motiven bei S. K. In: Ders.: Sprachblätter, Wortwechsel. Lpz. 1992, S. 79–103. – B. Mabee: Gesch., Erinnerung u. Zeit. S. K.s Lyrik. In: Ute Brandes (Hg.): Zwischen gestern u. morgen. Bln. u. a. 1992, S. 221–236. – Alo Allkemper: S. K. In: Hartmut Steinecke (Hg.): Dt. Dichter des 20. Jh. Bln. 1994, S. 830–843. – Klaus Manger: S. K. ›Wiepersdorf‹. In: Holger Helbig (Hg.): Hermenautik – Hermeneutik. Würzb. 1996, S. 334–354. – Dorothea v. Törne: Weibl. Noah u. Meeresbraut. Wasser- u. Flutbilder bei S. K. In: NDL 45 (1997), H. 1, S. 66–76. – Goedele Proesmans: Viel Spreu wenig Weizen. Versuch einer Poetologie der S. K. anhand v. fünf Prosabänden. Ffm. u. a. 2000. – Wolfgang Bunzel: ›... dankbar daß ich entkam‹. S. K.s Autorexistenz im Spannungsfeld v. DDR-Bezug u. ›Exil‹-Erfahrung. In: Germanist. Mitt.en 2003, Nr. 57, S. 7–27. – W. Bunzel: Das erschriebene Ich. Autorschafts- u. Subjektivitätskonstruktion bei S. K. In: Jb. Int. Germ. 35 (2003), H. 2, S. 119–134. Gunter E. Grimm
Kirschweng, Johannes, * 19.12.1900 Wadgassen/Saar, † 22.8.1951 Saarlouis; Grabstätte: Wadgassen, Abteifriedhof. – Erzähler. »Schreiben«, so notierte der aus einer Glasmacherfamilie stammende kath. Priester K. 1933 in einem Brief an das bischöfl. Generalvikariat, »ist nun einmal meine Begabung, die ich auszunutzen verpflichtet bin und aus der allein für mich sich ein erfülltes Leben gestalten läßt«. Fünf Jahre zuvor hatte K., der nach seiner Ausbildung am Priesterseminar in Trier (1918–1924) zunächst als Kaplan in Bernkastel (1924 bis 1926) u. Neuenahr (1926–1933) tätig war, mit der Novelle Der Überfall der Jahrhunderte (Mchn. 1928) seine erste Arbeit vorgelegt u. dafür von der Kritik Anerkennung erfahren. In den folgenden Jahren machte der aus einer Arbeiterfamilie stammende Geistliche als Literaturkritiker führender kath. Zeitschriften (»Hochland«, »Literarischer Handweiser«) auf sich aufmerksam. Seine literar. Kenntnisse vertiefte er durch Studien an den Universitäten Bonn u. Freiburg i. Br. Nach der Beurlaubung vom Priesteramt (1933) engagierte sich K. für die Wiedereingliederung des Saargebiets in das Deutsche Reich. Seine betont nationalistischen Arbeiten dieser Jahre, insbes. die Erzählung Der Widerstand beginnt (Saarlouis 1934) u. der Roman Das wachsende Reich (Bonn 1935), stehen in der Tradition der kath.-abendländ. Reichsideologie, greifen aber auch Ideologeme völkischnationaler Literatur auf. Nach der Wiedereingliederung der Saar (1935) fand K. rasch zu den Grundthemen seines literar. Schaffens, der Verständigung zwischen Deutschen u. Franzosen (so in dem Roman Feldwache der Liebe. Saarlautern 1936) zurück. Seine folgenden Arbeiten, die Erzählung Die Fahrt der Treuen (Freib. i. Br. 1938) u. der Roman Der Neffe des Marschalls (Mchn. 1939), dokumentieren die zunehmende Distanz des Autors gegenüber dem NS-Regime. Nach dem Krieg wandte sich K. gegen jedes »Wiederaufflackern« nationalistischer Strömungen. Die Bekenntnisschrift Bewahrtes und Verheißendes (Saarlouis 1946), in der K. aus europ. Überzeugung für die »freie Eingliederung« des
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Saarlands »in ein abendländisches Ganzes« eintrat, trug ihm den Vorwurf des Opportunismus ein. In seinem letzten Roman Der Schäferkarren (Saarlouis 1948), der wiederum in der vertrauten Landschaft des saarländisch-lothring. Grenzraums spielt, verzichtet er auf jede polit. Stellungnahme u. verweist auf die Verantwortung des einzelnen. »Wer da ist, muß versuchen gut zu sein. Das ist alles.« Weitere Werke: Aufgehellte Nacht. Freib. i. Br. 1931 (E.). – Zwischen Welt u. Wäldern. Saarbr. 1933 (E.). – Odilio u. die Geheimnisse. Freib. i. Br. 1937 (E.). – Das Tor der Freude. Bonn 1940 (R.). – Trost der Dinge. Freib. i. Br. 1940 (E.). – Das unverzagte Herz. Kolmar 1944 (E.). – Der Kathedralenläufer. Kolmar 1944 (E.). – Abendstern überm Land. Saarlouis 1948 (L.). – Der Mönch des Soldatenkönigs. Saarlouis 1948 (E.). – Gesamtausg. in 11 Bdn. Saarbr. 1974 ff. Literatur: Wolfgang Haberl: J. K. – Eine Monogr. Diss. Innsbr. 1965. – Franz-Josef Reichert: J. K. Ein Saarländ. Schicksal. In: Festg. zum 20. Todestag. Merchweiler 1971, S. 13–28. – Peter Neumann (Hg.): J. K. – Bilder u. Dokumente. Saarbr. 1980. – Inge Meidinger-Geise: J. K. In: Saarländ. Lebensbilder. Bd. 1, Saarbr. 1982, S. 211–232. – Frank Steinmeyer: ›Weil über allem Elend dieser Zeit die Heimat steht‹. Lit. u. Politik im Werk v. J. K. Diss. St. Ingbert 1990. – Zum Andenken an J. K. Saarländ. Autor u. Heimatschriftsteller aus Wadgassen. Wadgassen-Schaffhausen 1991. – Günter Scholdt: Zwei literar. Prediger. Gustav Regler u. J. K. In: Börsenblatt 164 (1997), H. 45, S. 68–71. – Patrik H. Feltes: Der Raum, den Begrenzung schafft. Grenze u. Strategien ihrer Überwindung dargestellt an ausgew. Werken des saarländ. Schriftstellers J. K. In: Pierre Béhar (Hg.): Frontières, transferts, échanges transfrontaliers et interculturels. Bern u. a. 2005, S. 207–227. Frank Steinmeyer / Red.
Kirst, Hans Hellmut, * 15.12.1914 Osterode/Ostpreußen, † 23.2.1989 Bremen. – Unterhaltungsschriftsteller, Journalist u. Filmkritiker. Der Sohn eines Landpolizisten arbeitete nach der mittleren Reife 1932 in der Rendantur des Ritterguts Mühlen, ehe er 1933 in die Reichswehr eintrat u. Berufssoldat wurde. Er war NS-Führungsoffizier, zuletzt Chef der Stabsbatterie der Kriegsschule. Nach Kriegs-
Kirst
ende verbrachte er neun Monate im amerikan. Internierungslager Garmisch. Danach schlug sich K. als Gärtner, Straßen- u. Landarbeiter sowie als Gemeindeschreiber durch, bis er 1947 Filmkritiker in der Feuilletonredaktion des »Münchner Mittag«, dem späteren »Münchner Merkur«, wurde. Berühmtheit erlangte K. mit dem ersten Band der Trilogie 08/15. Die abenteuerliche Revolte des Gefreiten Asch (Mchn. 1954. Klagenf. 1994). Diese realistische Kolportagegeschichte aus dem Kasernenhofleben u. dem Krieg traf die Stimmung einer ganzen Generation, der K. eine »verlorengegangene Identität« (Hans Schwab-Felisch in: Puknus, 1979) anbot. Nach eigenem Bekenntnis richtete sich die Trilogie gegen »das Grundübel der Macht in unrechten Händen«. Nach einem Drehbuch von Ernst von Salomon u. in der Regie von Paul May wurde die Verfilmung des 08/15-Romans auch im Kino ein Erfolg. Die späteren Romane Fabrik der Offiziere (Mchn. 1960), Die Nacht der Generale (Mchn. 1962) u. Held im Turm (Mchn. 1970) handeln ebenfalls von Krieg u. Überleben u. diskutieren die Frage, wie es möglich war, dass die Deutschen von den Nationalsozialisten verführt werden konnten. Daneben publizierte K. eine Reihe ostpreuß. Heimatromane wie Gott schläft in Masuren (Mchn. 1956) u. Die Wölfe (Mchn. 1967) sowie zahlreiche kriminalistische Zeitromane, die meist im Münchner Milieu spielen u. sich als Sittenspiegel der bundesdt. Wohlstandsgesellschaft verstehen. Weitere Werke: Wir nannten ihn Galgenstrick. Mchn. 1950. – Sagten Sie Gerechtigkeit, Captain? Mchn. 1952. – Aufruhr in der kleinen Stadt. Mchn. 1953. – Kameraden. Mchn. 1961. – Aufstand der Soldaten. Mchn. 1965. Klagenf. 1998. – Kein Vaterland. Mchn. 1968. – Alles hat seinen Preis. Hbg. 1974. – Der unheiml. Freund. Mchn. 1979. – Geld, Geld, Geld. Mchn. 1982. – Blitzmädel. Mchn. 1984. 6 1991. – Stunde der Totengräber. Mchn. 1988. 1991. – Menetekel ’39. Mchn. 1989. – Die Ermordung des Rittmeisters. Mchn. 1992. Literatur: Kurt Desch (Hg.): Die Desch-Insel. Sonderausg. zum 50. Geburtstag v. H. H. K. Wien 1964. – Heinz Puknus (Hg.): H. H. K. Der Autor u. sein Werk. Information. Zeugnis. Kritik. Mchn. 1979. – Krzysztof A. Kuczyn´ski: Zwischen Kaserne u. Wolfsschanze. H. H. K. Annäherung an einen
Kirsten
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Soldatenautor. In: Norbert Honsza (Hg.): Literar. Streifzüge. Wroclaw 1994, S. 63–68. – Michael Kumpfmüller: Ein Krieg für alle u. keinen. H. H. K.: ›08/15‹ (1954/55). In: Hans Wagener (Hg.): Von Böll bis Buchheim. Dt. Kriegsprosa nach 1945. Amsterd./Atlanta, GA 1997, S. 249–264. – Hans Däumling: Max Tau u. H. H. K. In: Detlef Haberland (Hg.): ›Ein symbol. Leben‹. Heidelb. 2000, S. 165–176. Jörg-Dieter Kogel / Red. /
Kirsten, Wulf, * 21.6.1934 Klipphausen/ Kreis Meißen. – Lyriker, Erzähler, Herausgeber. Der Sohn eines Steinmetzen arbeitete nach Abschluss der Oberschule in Meißen u. einer kaufmänn. Lehre als Bauarbeiter u. als Buchhalter in einer Konsumgenossenschaft, erwarb 1960 an der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Leipzig das Abitur u. studierte dort bis 1964 Germanistik u. Russistik. Nach vorübergehender Tätigkeit als Lehrer arbeitete er 1965–1987 als Lektor im Aufbau-Verlag in Weimar. Während seines Studiums am Leipziger Literaturinstitut 1969/70 lernte er mit Heinz Czechowski u. Georg Maurer zwei der führenden Persönlichkeiten des DDR-Literaturbetriebs kennen. Seit 1987 lebt K. als freier Schriftsteller in Weimar. Seit 1964 veröffentlichte K. Gedichte in Zeitschriften u. Anthologien. Im Nachwort seiner ersten größeren Gedichtsammlung satzanfang (Bln./Weimar 1970) legt er sein Programm einer »sozialen Naturbetrachtung« dar, die ungeachtet ihrer Traditionsbindung die soziale Wirklichkeit nicht ignoriere, sondern in einer zwar poetischen, aber nicht verklärenden Sprache zur Darstellung bringe. Dieses Konzept hat K. in den Folgebänden weiterentwickelt u. modifiziert. Zunehmend wichtiger wird für ihn dabei der Bezug zur Landschaft, die er als die vom Menschen bearbeitete u. veränderte Natur versteht, weshalb ihn die DDR-Literaturkritik, allen voran Adolf Endler, zusammen mit Johannes Bobrowski, Kito Lorenc u. Heinz Czechowski als »Landschafter« kategorisierte. Manifestiert sich der Blick auf die Landschaft zunächst noch als Fortschrittsglaube, Vertrauen auf die Technisierung u. Bewunderung der menschl. Leistung, so weicht er in
den späten 1970er Jahren einer krit. Perspektive. In Gedichtbänden wie der bleibaum (Bln./Weimar 1977) u. die erde bei Meißen (Lpz. 1986, Ffm. 1987) thematisiert K. mit höchster sprachl. u. bildl. Prägnanz auch die Irrationalität u. Irreversibilität menschl. Eingriffe in die Natur, deren Zerstörung er als Konsequenz der insg. auf Verlust u. Vergessen angelegten menschl. Zivilisationsweise begreift. Landstriche, Personen u. Ereignisse treten in den Blick, die durch die Selektionsmechanismen des kollektiven Gedächtnisses marginalisiert, verdrängt u. vergessen wurden. All dies geschieht in einer Diktion, in der sich Hochsprache mit meißn. Mundart u. der restringierten Redeweise der Bauern u. dörfl. Handwerker mischt. In seinen Prosatexten variiert K. die Themen seiner Lyrik. In Die Schlacht bei Kesselsdorf – ein Bericht. Kleewunsch – ein Kleinstadtbild (Bln./Weimar 1984) etwa lässt er die lokalstolze, weltlose Kleinstadt zum Symbol dt. Enge, auch der Gegenwart werden, in Winterfreuden (Warmbronn 1987) erzählt er Begebenheiten aus der Nachkriegszeit, in Die Prinzessinnen im Krautgarten (Zürich 2000) in loser Chronologie Episoden aus den Jahren seiner Kindheit. Als Herausgeber bemüht sich K. im Rahmen der von ihm mitbegründeten Reihen »Thüringen-Bibliothek« u. »Edition Muschelkalk« einerseits um die Wahrung des Andenkens verfolgter, verfemter oder vergessener Kollegen etwa des Expressionismus (A. Rudolf Leinert, Jakob van Hoddis), andererseits um die Förderung etablierter wie junger Autorinnen u. Autoren aus Thüringen. K. gehörte als Autor, Herausgeber, Entdecker u. Förderer vieler Begabungen zu den profiliertesten Persönlichkeiten der DDR-Literatur u. behauptete seinen Status auch nach der Wiedervereinigung. Er wurde mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet, u. a. 1985 mit dem Johannes-R.-Becher-Preis, 1987 mit dem Peter-Huchel-Preis, 1989 mit dem Heinrich-Mann-Preis u. 1999 mit dem Horst-Bienek-Preis. 2002 erhielt er den Schiller-Ring der Deutschen Schillerstiftung, 2003 die Ehrendoktorwürde der Universität Jena.
Kisch
437 Weitere Werke: Lyrik: Gesamtausgabe: erdlebenbilder. Gedichte aus fünfzig Jahren. 1954–2004. Zürich 2004. – Weitere Titel: Gedichte. Bln./DDR 1968. – Ziegelbrennersprache. Darmst. 1975. – der landgänger. Düsseld./Krefeld 1976. – Veilchenzeit. Leonberg 1989. – Stimmenschotter. Zürich 1993. – Wettersturz. Zürich 1999. – Zwischen Standort u. Blickfeld. Warmbronn 2001. – Prosa: Textur. Reden u. Aufsätze. Zürich 1998. – Der Berg über der Stadt. Zwischen Goethe u. Buchenwald (zus. mit Harald Wenzel-Orf). Zürich 2003. – Steinmetzgarten. Das Uhrmacherhaus. Warmbronn 2004 (E.). – Herausgeber: Don Juan überm Sund (zus. mit Wolfgang Trampe). Bln./ Weimar 1975 (Anth.). – Vor meinen Augen, hinter sieben Bergen (zus. mit Ulrich Berkes). Ebd. 1977 (Anth.). – Veränderte Landschaft. Lpz. 1979 (Anth.). – Deutschsprachige E.en 1900–45 (zus. mit Konrad Paul). 3 Bde., Bln./Weimar 1981. – Das Rendezvous im Zoo (zus. mit K. Paul). Bln./Weimar 1984. – Liebesgesch.n (zus. mit K. Paul). Stgt. 1986 (Anth.). – Die eigene Stimme (zus. mit Ursula Heukenkamp u. Heinz Kahlau). Bln./Weimar 1988 (Anth.). – Eintragung ins Grundbuch. Thüringen im Gedicht. Rudolstadt/Jena 1996. – Der aussätzige Mai. Der Expressionist A. Rudolf Leinert (zus. mit Peter Salomon). Eggingen 1999. – Wandern über dem Abgrund. Jakob van Hoddis nachgegangen. Bucha 1999. – Stimmen aus Buchenwald. Ein Lesebuch (zus. mit Holm Kirsten). Gött. 2002 (Anth.). – Umkränzt von grünen Hügeln ... Thüringen im Gedicht. Jena 2004 (Anth.). Literatur: Volker Ebersbach: ›Der Mensch in allem deutlich‹. Landschaftsbezogene sozialist. Gegenwartskunde der DDR. In: WB 19 (1973), H. 11, S. 83–112. – Heinz Czechowski: Annäherung an W. K. In: SuF 41 (1989), S. 1044–1053. – YorkGothart Mix: W. K. In: LGL. – Harro Zimmermann: W. K. In: KLG. – Anke Degenkolb: ›anzuschreiben gegen das schäbige vergessen‹. Erinnern u. Gedächtnis in W. K.s Lyrik. Bln. 2004. – Gerhard R. Kaiser (Hg.): Landschaft als literar. Text. Der Dichter W. K. Jena 2004. – Sebastian Kiefer: W. K. u. die Urbanität. In: ndl 52 (2004), H. 556, S. 61–72. – Christoohe Fricker: Horch auf die vernarbte Erde. Zu einigen Gedichten v. W. K. In: Castrum Peregrini 55 (2006), H. 273, S. 36–44. Ralf Georg Czapla
Kisch, Egon Erwin, auch: Innozenz Scheerwink, Mathias Brunhauser, * 29.4. 1885 Prag, † 31.3.1948 Prag; Grabstätte: ebd., Krematoriumsfriedhof Strasˇ nice. – Journalist u. Schriftsteller. K., Sohn eines deutschsprachigen jüd. Tuchhändlers, studierte 1903/04 Ingenieurwissenschaften an der Deutschen TH in Prag, dann Geschichte u. Philosophie an der dortigen Universität u. besuchte 1904/05 die Journalistenschule Richard Wredes in Berlin. 1905 trat er als Volontär beim »Prager Tagblatt« ein; ein Jahr später wurde er Lokalreporter bei dem dt.-bürgerl. Blatt »Bohemia«, wo der junge Journalist durch kriminalistische Reportagen erste Erfolge feierte. K. hatte enge Kontakte zu deutschsprachigen Autoren wie Leppin, Rilke, Brod u. Kafka, aber auch zu tschech. Schriftstellern, z.B. Jaroslav Hasˇ ek. In ausgedehnten Streifzügen durch die Prager Unterwelt entdeckte K. seine Heimatstadt neu. Die gewaltige Resonanz seiner Berichte führte zur Herausgabe einer ersten Sammlung von Reportagen u. d. T. Aus Prager Gassen und Nächten (Prag 1912). K.s Wandlung zu einem auch in polit. Zusammenhängen denkenden Journalisten – inzwischen für das »Berliner Tageblatt« tätig – vollzog sich 1913 mit seiner Aufdeckung der Spionageaffäre Oberst Redl (Der Fall des Generalstabschefs Redl. Bln. 1924), an deren Beispiel er den unaufhaltsamen Verfall der k. k. Monarchie demonstrierte. Zu Beginn des Ersten Weltkriegs Korporal der österreichisch-ungarischen Armee in Serbien, wurde K. im März 1915 verwundet (Soldat im Prager Korps. Lpz./Prag 1922. Neuaufl. u. d. T. ›Schreib das auf, Kisch!‹ Das Kriegstagebuch. Bln. 1930) u. kam nach anderthalbjährigem Etappendienst (u. a. in Gyula u. Ors¸ ova) ins Kriegspressequartier nach Wien. Hier beteiligte er sich Ende Jan. 1918 an der Gründung des illegalen »Arbeiter und Soldatenrats«; im Herbst 1918 war er Mitbegründer der »Föderation Revolutionärer Sozialisten, Internationale« sowie erster Kommandant der Wiener Roten Garde. Bereits im Frühjahr 1919 zog er sich von der Roten Garde zurück u. trat in die Redaktion der Wiener Tageszeitung
Kisch
»Der Neue Tag« ein, blieb aber Mitgl. der KP (Deutsch-)Österreichs. Für kurze Zeit inhaftiert u. dann in die CˇSR abgeschoben, kam K. 1921 nach Berlin u. etablierte sich dort als einer der herausragenden Publizisten des sozialistischen Lagers. Er schrieb u. a. für den »Berliner BörsenCourier«, das »Tagebuch«, die »Weltbühne« u. die »Rote Fahne«. 1924 wurde er Mitgl. des Schutzverbands der deutschen Schriftsteller u. 1925 der KPD. 1927–29 war er Redakteur der »Neuen Bücherschau« u. 1928 Mitbegründer des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, dessen Leitung er seit 1932 angehörte. Berlin war auch der Ausgangspunkt für seine großen Reisen durch Europa u. Afrika (1922–1924), die Sowjetunion (1925/26) u. die USA (illegal 1928/29); 1932 begab er sich nach China. Zusehends fand K. in seinen Reisereportagen zu jener literar. Form, die auf die Analyse sozialer u. polit. Zusammenhänge zielte; scheinbar abseitige, alltägl. Themen werden zu Paradigmen umfassender Entwicklungsvorgänge. Ausgehend von dem Band Der rasende Reporter (Bln. 1924), verfeinerte er die dialektische Präzision seiner Reportagen in Zaren, Popen, Bolschewiken (Bln. 1927), aber auch in Asien gründlich verändert (Bln. 1932), China geheim (Bln. 1933) u. Paradies Amerika (Bln. 1930). 1933 wurde K. von den Nationalsozialisten gefangen gesetzt, auf Intervention der tschech. Regierung jedoch wieder frei gelassen. Einem kurzen Aufenthalt in Prag, wo er mit Bruno Frei die Zeitschrift »Der GegenAngriff« gründete, folgten neuerl. Reisen durch Europa u. 1934 zum Antifaschistischen Kongress nach Melbourne (vgl. die spektakuläre Landung in Australien. Amsterd. 1937). 1937/38 nahm er am Spanischen Bürgerkrieg teil; 1939 emigrierte er von Frankreich aus in die USA, im Herbst 1940 weiter nach Mexiko, wo er Mitarbeiter der Zeitschrift »Freies Deutschland« wurde. In seinem Erinnerungsbuch Marktplatz der Sensationen (Mexiko 1942) gedachte er noch einmal seiner Kindheit u. Jugend in Prag, wohin er 1946 zurückkehrte. In seinem Bemühen um eine lebendige u. pointierte Reportage, um Realismus u. ungeschminkte Wahrheit hat K. die Entwick-
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lung dieses Genres maßgeblich beeinflusst. Er war der Ansicht, Reportagen müssten nicht nur informieren, sondern auch unterhalten. Als Vertreter der Neuen Sachlichkeit formulierte er als deren Programm: »Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts fantasievoller als die Sachlichkeit und nichts Sensationelleres gibt es auf der Welt als die Zeit, in der man lebt.« Später sprach K. von der Reportage als Kunstform und Kampfform (in: Mitteilungen der Deutschen FreiheitsBibliothek, Nr. 4, 27.6.1935, S. 2 f.). Weitere Werke: Ges. Werke in Einzelausg.n. Hg. Bodo Uhse u. Gisela Kisch, ab Bd. 8 fortgeführt v. Fritz Hofmann u. Josef Polácˇek. 10 Bde., Bln./ DDR 1960–86. – Vom Blütenzweig der Jugend. Dresden 1905 (L.). – Der freche Franz u. a. Gesch.n. Bln. 1906. – Der Mädchenhirt. Bln. 1914 (R.). – Die gestohlene Stadt. Eine Komödie. Bln. 1922. – Reportagen: Prager Kinder. Prag 1913. – Die Abenteuer in Prag. Wien/Prag/Lpz. 1920. – Hetzjagd durch die Zeit. Bln. 1926. – Kriminalistisches Reisebuch. Bln. 1927. – Wagnisse in alter Welt. Bln. 1927. – Prager Pitaval. Bln. 1931. – Gesch.n aus sieben Ghettos. Amsterd. 1934. – Abenteuer in fünf Kontinenten. Paris 1935. – Soldaten am Meeresstrand. Barcelona 1938. – Entdeckungen in Mexiko. Mexiko 1945. – Karl Marx in Karlsbad. Bln./DDR 1953. – Die schönsten Gesch.n u. Reportagen. Hg. u. mit einem Nachw. v. Ilija Trojanow. Bln. 2008. – Herausgeber: Klass. Journalismus. Die Meisterwerke der Ztg. Bln. 1923. Bln./Weimar 1974, Mchn. 1974. Bln./DDR 1982. – Max Hoelz: Briefe aus dem Zuchthaus. Bln. 1927. – Briefe: Briefe an den Bruder Paul u. an die Mutter 1905–1936. Hg. u. mit einem Nachw. v. Josef Polácˇek unter Mitarbeit v. Fritz Hofmann. Bln./Weimar 1978. – Briefe an Jarmila. Hg. u. mit einem Vorw. vers. v. Klaus Haupt. Bln. 1998. Literatur: Emil Utitz: E. E. K. – der klass. Journalist. Bln./DDR 1957. – Dieter Schlenstedt: Die Reportage bei E. E. K. Ebd. 1959. – Christian Ernst Siegel: E. E. K. Reportage u. polit. Journalismus. Bremen 1973. – Johann Kronberger: E. E. K. Seine polit. u. publizist. Entwicklung [...]. Diss. Wien 1979. – Erdmute Prokosch: E. E. K. Reporter einer rasenden Zeit. Bonn 1985. – Klaus Haupt u. Harald Wessel: K. war hier. Reportagen über den ›Rasenden Reporter‹ Bln./DDR 1985. – Fritz Hofmann (Hg.): Servus, Kisch! Erinnerungen, Rezensionen, Anekdoten. Bln./Weimar 1985. – D. Schlenstedt: E. E. K. Leben u. Werk. Bln./DDR 1985. – F. Hofmann: E. E. K. Der rasende Reporter. Bln. 1988. – Marcus G. Patka: E. E. K. Stationen im
Kistner
439 Leben eines streitbaren Autors. Wien/Köln/Weimar 1997. – Ders. (Hg.): Der rasende Reporter E. E. K. Eine Biogr. in Bildern. Bln. 1998. – Karin Ceballos Betancur: E. E. K. in Mexiko. Die Reportage als Literaturform im Exil. Ffm. 2000. – Thorsten Unger: Erlebnisfähigkeit, unbefangene Zeugenschaft u. literar. Anspruch. Zum Reportagekonzept v. E. E. K. u. seiner Durchführung in ›Paradies Amerika‹. In: Lit. u. Journalismus. Theorie, Kontexte, Fallstudien. Hg. Bernd Blöbaum u. Stefan Neuhaus. Wiesb. 2003, S. 173–194. – Oliver Ruf: K.s Frustrativ. Bussolen, Hochöfen u. tätowierte Körper – neusachl. Schreibstrategien im ›Rasenden Reporter‹. In: Jb. zur Kultur u. Lit. der Weimarer Republik 10 (2005/2006) S. 73–99. – Lex. dt.-jüd. Autoren. – Christophe Dumas: E. E. K. en Union Soviétique. Voyage dans une ›Asie profondément transformée‹? In: Austriaca 31 (2006), H. 62, S. 171–186. – Stephan Porombka: E. E. K. In: 1933: Verbrannte Bücher – Verbannte Autoren. Hg. HansHerbert Wintgens u. Gerard Oppermann. Hildesh. 2006, S. 117–136. – K. Haupt: E. E. K. (1885–1948). Der Rasende Reporter aus dem Prager ›Haus zu den zwei goldenen Bären‹. Teetz/Bln. 2008. Johannes Sachslehner / Bruno Jahn
Kistener, Kunz, * 14. Jh., Straßburg. – Verfasser einer Verserzählung.
schichte hat K. so die erste Probe des stellvertretenden Zweikampfs durch ein Legendenmotiv ersetzt; die Namenlosigkeit der Hauptprotagonisten betont deren Exempelhaftigkeit. Die Jakobsbrüder sind das wichtigste selbstständige literar. Zeugnis der spätmittelalterl. dt. Jacobusverehrung. Sie fanden noch ein Jahrhundert nach ihrer Entstehung Leser im Straßburger Bürgertum, wie eine Sammelhandschrift aus der ersten Hälfte des 15. Jh. bezeugt; nur sie überliefert die Erzählung vollständig. Eine Rezeption der Versfassung belegen auch die sog. Frankfurter Fragmente (um 1400) in rheinfränk. Dialekt sowie die Bearbeitung Pamphilus Gengenbachs (Druck Basel um 1516). Zwei Prosaauflösungen des 15. Jh. sind in Legenden- u. Exempelsammlungen aus Straßburger Nonnenklöstern erhalten. Ausgaben: Die Jakobsbrüder v. K. K. Hg. Karl Euling. Breslau 1899. – Richard Wülcker: Zu K. K. In: Germania 17 (1872), S. 55–61 (Frankfurter Fragmente). – Karl Goedeke: Pamphilus Gengenbach. Hann. 1856. Neudr. Amsterd. 1966, S. 231–261. Literatur: Ingo Reiffenstein: Zur Prosaauflösung v. K. K.s Jakobsbrüdern. In: Strukturen u. Interpr.en. Studien zur dt. Philologie. FS Blanka Horacek. Hg. Alfred Ebenbauer u. a. Wien/Stgt. 1974, S. 279–296. – Ders.: K. K. In: VL (Lit.). – Edith Feistner: Die Freundschaftserzählungen vom Typ ›Amicus u. Amelius‹. In: FS Herbert Kolb. Hg. Klaus Matzel u. Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 1989, S. 97–130. – Bernhard Graf: Oberdt. Jakobslit. Eine Studie über den Jakobuskult in Bayern, Österr. u. Südtirol. Mchn. 1991. – Werner Williams-Krapp: ›Di grôsten zeichen di kein heilige getun mac di tut dirre heilige‹. Zu den dt. Jakobslegenden. In: Der Jakobuskult in Süddtschld. Kultgesch. in regionaler u. europ. Perspektive. Hg. Klaus Herbers u. Dieter R. Bauer. Tüb. 1995, S. 233–248. – Vicente Almazán: Die elsäss. Jakobslit. des MA. In: ebd., S. 273–276. – VL (Nachträge u. Korrekturen). – http://www.handschriftencensus.de/werke/703.
»Kuonze Kistener« nennt sich der Dichter der Mitte des 14. Jh. in Straßburg entstandenen Jakobsbrüder (V. 9 u. ö.). Er wird identifiziert mit einem »winrüffer« u. »winmesser«, der 1355 u. 1372 bezeugt ist u. zu den Meistern u. Geschworenen seiner Zunft gehörte. K.s Thema ist die »trüwe« (V. 3, VV. 1176 bis 1190), sein Stoff, den er in Paarreimen »ze tütsche hat gebraht« (V. 1194), die lateinisch u. volkssprachlich weit verbreitete Geschichte von Amicus u. Amelius, verbunden mit einem der meistüberlieferten Jakobswunder, der Erweckung eines Pilgers vom Tode: Der Sohn eines bayerischen Grafen Adam, der auf der Wallfahrt nach Santiago de Compostela stirbt, wird von seinem schwäb. Freund zum Grab des Heiligen mitgenommen; dort wird Sabine Schmolinsky er wiedererweckt. Als später der »bruoder« vom Aussatz befallen ist, tötet der junge Graf Kistner, Nikolaus ! Cisner, Nikolaus seinen Sohn u. heilt mit dessen Blut seinen Freund. Durch ein zweites Wunder lebt auch das Kind weiter, u. alle wenden sich dem Klosterleben zu. Im Rahmen der zweiteiligsymmetr. Struktur der Freundschaftsge-
Kittner
Kittner, Alfred, * 24.11.1906 Czernowitz (Cˇernovcy)/Bukowina, † 14.8.1991 Düsseldorf. – Lyriker, Übersetzer, Literaturkritiker.
440 u. Helmut Kusdat (Hg.): An der Zeiten Ränder. Wien 2002, S. 313–324. – Natalia Shchyhlevska: Deutschsprachige Autoren aus der Bukowina. Ffm. u. a. 2004. – Elisabeth Axmann: Fünf Dichter aus der Bukowina. Alfred Margul-Sperber, Rose Ausländer, Moses Rosenkranz, A. K., Paul Celan. Aachen 2007. Walther Kummerow † /Red.
K., Sohn eines jüd. Beamten, lebte bis 1942 in Czernowitz als Feuilletonredakteur im Kreis der Bukowiner Dichter, zu dem u. a. Rose Ausländer, Paul Celan u. Alfred Margul Kittner, Dietrich, * 30.5.1935 Oels/SchleSperber gehörten. 1938 konnte er hier noch sien. – Prosaautor; Kabarettist. den ersten Gedichtband Der Wolkenreiter veröffentlichen, dessen Titelgleichnis die Unbe- K., Sohn eines Zahnarztes, studierte in Göttingen Jura u. Geschichte u. gründete 1960 haustheit der folgenden Jahre vorwegnimmt das Göttinger Studenten- u. Dilettanten-Kau. K.s Erkenntnis der polit. Lage zeigt. barett »Die Leid-Artikler«. 1961 wechselte er 1942–1944 wurde K. im Konzentrationslager nach Hannover u. leitete bis 1966 das am Bug gefangengehalten; danach war er in gleichnamige Berufskabarett. Er gründete Bukarest bis 1958 als Bibliotheksdirektor u. mehrere feste Spielstätten für polit. Kabarett: bis zu seiner Übersiedlung in die BR club voltaire 1968, Theater an der Bult (tab) Deutschland 1980 als anerkannter Übersetzer 1975, Theater am Küchengarten (tak) 1987 tätig. In Bukarest erschienen die Gedicht(bis 2006). K. ist seit 1998 Mitherausgeber der bände Hungermarsch und Stacheldraht (1956; Zweiwochenzeitschrift »Ossietzky«. mit der Reimchronik eines Deportierten), FlaK. ist einer der profiliertesten deutschschenpost (1970) u. Gedichte (1973). sprachigen Solokabarettisten, der das Bild des Schon der junge K. war ein poeta doctus. Genres entscheidend geprägt hat. Mit seinen Sein Œuvre gründet sich auf die Erfahrungen 30 selbst geschriebenen Programmen u. mehr der Romantiker, Georg Trakls, Franz Kafkas als 7000 Live-Auftritten in mehr als 40 Jahren u. anderer. K. findet in der strengen Form wie Bühnenpräsenz erreichte er gut drei Millioim Inhalt eine zeitlos gültige sprachl. Vernen Menschen direkt. Politisch kompromisskörperung für sein Thema: die Würde des los, begleitet er das Zeitgeschehen als ein Menschen im Grauen der Welt. Noch in exAktionskünstler, dem es im Dialog mit seitremen Erfahrungen gelingt ihm die genaue nem Publikum gelingt, über die Aktualität Beobachtung, das alte unverbrauchte Bild u. der Ereignisse hinaus Strukturen sichtbar zu die einfache Sprache, die den Schrecken die- machen u., wo nötig, anzuprangern. Orienses Jahrhunderts die illusionslose Hoffnung tiert an seinem großen Vorbild Eulenspiegel auf die Überlebenskraft des Menschen ent- verhöhnt er die Mächtigen, indem er sie gegensetzt. wörtlich nimmt. Die beständige Kritik am Weitere Werke: Schattenschrift. Gedichte. Kapitalismus u. dessen soziokulturellem Nachw. v. Peter Motzan. Aachen 1988. 21994. – System wird sprachlich präzise, satirisch Erinnerungen 1906–1991. Hg. Edith Silbermann scharf, aber auch ironisch gebrochen vorgeNachw. v. Theo Buck. Aachen 1996. – Der Woltragen. K.s eigene innere Logik verweist auf kenreiter. Gedichte 1925–1945. Hg. u. mit einem die unerbittl. Genauigkeit des Gesagten in Nachw. v. E. Silbermann u. Amy Colin. Aachen 2004. – Wahrheitsspiel. Gedichte 1945–1991. Hg. seiner satir. Spiegelung, weil Denken u. LaE. Silbermann. Aachen 2005. – Briefe mit Rose chen eine Einheit bilden sollen, die der polit. Ausländer. Hg. Helmut Braun. Aachen 2006. – Aufklärung dient. Kabarett wird so zum Herausgeber: Versunkene Dichtung der Bukowina. Sprachrohr der Unterdrückten, subtil u. diEine Anth. deutschsprachiger Lyrik (zus. mit Amy rekt zugleich. Colin). Mchn. 1994. Literatur: Helga Abret: Begegnungen mit A. K. In: Südostdt. Vierteljahresbl. 36 (1987), S. 18–25. – Walter Engel: Behaust nur im Wort. Der Bukowiner Dichter A. K. (1906–1991). In: Cécile Cordon
Weitere Werke: Bornierte Gesellsch. Ges. K.Texte. Bd. 1: Fischerhude 1968. Hann. 41983. Bd. 2: Dollar geht’s nimmer. Fischerhude 1975 u. 1978. Bd. 3: Krisenstab frei. Ebd. 1969. Hann. 1980. – K.s log. Garten. Bln./DDR 1977. 21979. –
441 Wie ein Gesetz entsteht. Fischerhude 1979. – Vor Jahren noch ein Mensch. Hann. 1984. – Vorsicht, bissiger Mund! Hann. 1985. 21987; Bln./DDR 1985 2 1987. – Einst noch Mensch. Moskau 1988 (russ.). – Gags u. Crime. Hann. 1989. – Kein Grund zur Beruhigung. Hann. 1990. – Jaaa! Dtschld. balla balla! Bln. 1992. – Aus meinem Kriegstgb. Beobachtungen zum Balkankrieg. Essen 1999. 3., vervollständigte Aufl. Hann. 2006. – Kleine Morde, große Morde, dt. Morde. Lübeck 1999. – MORDs-GAUDI. Zwischen Zwerchfell u. Gänsehaut. Das große K.Lesebuch. Köln 2004. Literatur: Michael Skasa: 25 Jahre kämpfender Kabarettist. BR, 24.3.1985. – Erhard Jöst: Ein proletar. Kabarettist. In: Kürbiskern (1985), H. 2, S. 128–143. – Jaap Verkannt: Immer nur ›das Scherfste‹. In: die horen 49 (2004), H. 216, S. 236 f. Berbeli Wanning
Klaar Literatur: Harald Hartung: Die Glaskugel, in der es schneit. In: NR 87 (1976), S. 483–487. – Walter Hinck: Kleine Poetik des Tagtraums. Zu K. K.’ Gedicht ›An die Dichter‹ In: Ders. (Hg.): Gedichte u. Interpr.en 6. Stgt. 1982, S. 412–419. – Kurt Rothmann: K. K. In: Ders.: Deutschsprachige Schriftsteller seit 1945 in Einzeldarstellungen. Stgt. 1985. – Gabriele Wohmann: Herzpoker. In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Frankfurter Anthologie 18. Ffm. 1995, S. 229–232. – James Rolleston: Modernism and Metamorphosis. In: Studies in Twentieth-Century Literature 21 (1997), S. 111–122. – Elisabeth Borchers: Das Licht von Baschkirien. In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Frankfurter Anthologie 21. Ffm. 1998, S. 215 ff. – Thomas Kraft: K. K. In: LGL. – Helmut J. Schneider: Zu K. K.’ ›Aufklärungsstunde‹. In: Hiltrud Gnüg (Hg.): Liebesgedichte der Gegenwart. Stgt. 2003, S. 88–94. Bernadette Ott / Tim Lörke
Kiwus, Karin, * 9.11.1942 Berlin. – Lyrikerin. Klaar, Ernst, * 25.12.1861 Chemnitz, † 13.10.1920 Dresden. – Lyriker, PubliNach einem Studium der Publizistik, Gerzist, Erzähler. manistik u. Politologie in Berlin arbeitete K. 1971–1973 als wissenschaftl. Assistentin an der Akademie der Künste in Berlin, 1973–1975 als Lektorin des Suhrkamp Verlags. 1975 wurde sie Sekretärin der Abteilung Literatur an der Akademie der Künste in Berlin. Von beiden Seiten der Gegenwart (Ffm. 1976) – K.’ erster Gedichtband – fand ungewöhnlich große Beachtung in der Literaturkritik. K.’ Notate aus der Erfahrungswelt des Alltags, die dennoch zgl. Kritik u. Utopie formulieren, treffen beispielhaft den Tonfall einer Neuen Subjektivität, deren Herkunft aus der 68er-Bewegung deutlich ist. »Sorgfältig durchdacht und spontan« (Übung einer freien Malerei), in der Balance zufälligen, subjektiven Erlebens u. bewusster Stilisierung, inszeniert K. das »quasi-autobiographische Rollengedicht« (Harald Hartung), das in seiner Blickrichtung der Frau auf den Mann – etwa in Im ersten Licht oder in Aufklärungsstunde – pointiert-witzig Konventionen zur Schau u. in Frage stellt. Weitere Erkundungen des Ich nehmen die vier Lyrikbände vor, die K. seither vorgelegt hat: Angenommen später (Ffm. 1979), Zweifelhafter Morgen (Lpz. 1987), Das chinesische Examen (Ffm. 1992) u. Nach dem Leben (Ffm. 2006).
Der Sohn eines Webers ging nach Volksschule u. Schriftsetzerlehre in Chemnitz 1881 auf Wanderschaft im In- u. Ausland, bevor er sich 1884 endgültig in Dresden niederließ, wo er sich, noch während des Sozialistengesetzes, der Sozialdemokratie anschloss u. in ihren Blättern erste literar. Versuche veröffentlichte. 1888 gab er den erlernten Beruf endgültig auf u. arbeitete als freier Publizist u. Schriftsteller für das sozialdemokratische Feuilleton, zunächst neben Karl Kaiser u. Eduard Fuchs als wichtigster Autor des radikalen »Süddeutschen Postillon«, seit 1910 im eher reformistischen »Wahren Jakob«. K.s originäre dichterisch-literar. Produktivität, sein plebejisch-rebellischer Blick auf den Ausbeutungsalltag, sein Hass auf Militarismus u. Kolonialismus zehrten noch in den 1890er Jahren von der Kampfstimmung der Jahre unter dem Sozialistengesetz (Aus dem Klassenkampf. Soziale Gedichte. Hg. Eduard Fuchs, Karl Kaiser u. E. K. Mchn. 1894. Neu hg. u. eingeleitet von Klaus Völkerling. Bln./ DDR 1978). Je mehr sich aber die Partei nach der Jahrhundertwende etablieren konnte, desto zwiespältiger wurde sein Verhältnis zu ihr. Einerseits begegnete er ihrem staatstragenden Attentismus mit Parolen der sponta-
Klabund
nen Gewalt (Knute und Bombe. Lieder und Gesänge für ein freies Rußland. Mchn. 1905), andererseits stimmte er bei Kriegsbeginn ihrer »Burgfriedenspolitik« zu, von der er sich dann 1916 mit Friedensappellen wieder distanzierte, ohne sich der innerparteil. Opposition zu nähern. Weitere Werke: Der erste Mai im Bilde. Dresden 1891. – Der Naz’l. Ein Bild aus dem Klassenkampf. In: Süddt. Postillon, Jg. 18, 1894 (E.). – Worte der Weihe. Prologe der Arbeitervereine u. Feste. Mchn. 1905. Literatur: Ursula Münchow: Arbeiterbewegung u. Lit. Bln./Weimar 1981, S. 380–396. Martin Rector
Klabund, eigentl.: Alfred Henschke, * 4.11.1890 Crossen/Oder, † 14.8.1928 Davos. – Erzähler, Lyriker, Dramatiker. K. war einer der populärsten u. produktivsten Autoren der Weimarer Republik; er galt als wichtiger Expressionist der Prosa, als dramat. Vielschreiber, als begabter Caféhauslyriker u. als einflussreicher Nachdichter asiatischer Literatur. In Nachrufen rühmte man ihn als einen Dichter der ›Jazzzeit‹. K.s Leben schien geprägt von rastloser, teils modischer Produktivität u. von seiner Krankheit. 1912 war die Tuberkulose erkannt worden. Immer wieder musste er sich aus München u. Berlin zu Kuren in die Schweiz (Davos, Locarno, Arosa) zurückziehen. K. begann als Schüler mit literar. Arbeiten, die er früh schon Gottfried Benn zeigte. Er nahm 1909 in München ein Studium auf, welches ihn zur Übernahme der väterl. Apotheke befähigen sollte, doch bald standen literar. Interessen im Vordergrund. Er bekam Kontakte zur Schwabinger Literaturszene, bes. zum Kreis um Arthur Kutscher. Mit arrivierten Autoren wie Frank Wedekind, Max Halbe, Erich Mühsam oder Richard Dehmel hielt er ebenso Kontakt wie mit den Literaten der eigenen Generation: Emmy Hennings, Richard Huelsenbeck, Johannes R. Becher, Hanns Johst, Erwin Piscator u.a.m. Seit 1911 schrieb K. Beiträge für literar. Zeitschriften (zunächst in Wilhelm Schäfers »Die Rheinlande«, im »Simplicisimus«, in der »Neuen Rundschau«, im »Brenner«). Um 1920 war er
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in nahezu sämtl. relevanten literar. Zeitschriften mit Gedichten, Erzählungen oder Essays vertreten. 1912 erschien ein erster Prosaband Celestina (Crossen); 1913 gelang der literar. Durchbruch mit dem zwischen Boheme u. Expressionismus angesiedelten Lyrikband Morgenrot! Klabund! Die Tage dämmern! (Mchn.). Seine Verse wie etwa die Beiträge im Organ der Münchner Boheme-Literaten (»Revolution«) provozierten, u. K.s Gedichte in Alfred Kerrs »Pan« wurden vor Gericht verhandelt. Nachhaltig beeinflusst wurde K. durch die Begegnung mit asiatischer Kunst (Ausstellung in München, 1909) u. durch die Madame Butterfly von Puccini (Mchn. 1910). Seit 1913 schrieb er japanisierende Gedichte (Die Geisha O-sen. Mchn. 1918). Zwischen 1916 u. 1921 publizierte er in rascher Folge Nachdichtungen chines. u. pers. Dichtung (Li-tai-pe. Lpz. 1916. Das Sinngedicht des persischen Zeltmachers. Mchn. 1916/17. Der Feueranbeter. Mchn. 1919. Das Blumenschiff. Bln. 1921). Diese Bücher machten K. auch jenseits des dt. Sprachraums bekannt; Li-tai-pe war das Kultbuch einer Generation. Künstlerisch gestaltete Sonderu. Privatausgaben, ungezählte Vertonungen der Nachdichtungen zeugen von einer wahren K.-Mode. Der Kriegsausbruch euphorisierte auch K., der Bohemeverse in Soldatenlieder (Dachau 1914) umschrieb, die auf Feldpostkarten verteilt wurden. Gemeinsam mit Wedekind u. Becher organisierte er einen vaterländ. Rezitationsabend; die drei 1914 aufgeführten, ungedruckten Einakter Kleines Kaliber verhöhnten die Kriegsgegner. Nach dem ersten Kriegsjahr zeigte sich K. ernüchtert. Die Nachdichtungen chines. Kriegslieder Dumpfe Trommel und berauchtes Gong (Lpz. 1915), die Erzählungen Der Marketenderwagen (Bln. 1916) oder der Roman des Soldaten Moreau (Bln. 1916) zeichnen ein ambivalentes Bild zwischen Heroismus u. Kriegsgrausamkeit, aber sie zeigen noch keine eindeutig pazifistische Haltung. Bekenntnisse zu einem Pazifismus formulierte K. erst seit 1916 aus der Schweiz (Offener Brief an Kaiser Wilhelm II.. In: NZZ, 1917. Bußpredigt. In: Die weissen Blätter, 1918. Irene oder die Gesinnung. Bln. 1918). In den dramat. Szenen Das Erwachen (in: Der
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Kläber
Revolutionär 2, 1920) verbindet sich das pa- sich auch mit dem Film. Er schrieb die Zwitriotische Volk mit den kriegsmüden Solda- schentitel zu Hans Neumanns Shakespeareten gegen die militärische Führung. Nach Verfilmung (Wie ich den Sommernachtstraum im dem Krieg suchte K. unter dem Einfluss von Film sehe. Bln. 1925) u. plante den Roman Hermann Hesse neue Wege in östl. Spiritua- Rasputin (Wien 1929) zunächst als Filmskript. Erfolgreich war K. ferner mit den eigenlität; er bezeichnete sich als Taoist (LaotseÜbertragung Mensch/ werde wesentlich! Bln. willig-prägnanten literaturgeschichtl. Essays 1920. Dreiklang. Bln. 1919). Gleichzeitig Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde (Lpz. musste K. seine frühere Kriegsbegeisterung 1920) u. Geschichte der Weltliteratur in einer gegen Angriffe von Franz Pfemfert in der Stunde (Lpz. 1922). »Aktion« u. von Ludwig Rubiner im »ZeitWeitere Werke: Werkausgabe: Werke in acht Echo« verteidigen. Bdn. Hg. Christian v. Zimmermann. Heidelb/Bln. Frühe Aufmerksamkeit erregte K. mit sei- 1998–2003. – Einzelwerke: Der Andere. Drei Szenen. ner expressionistischen Prosa, bes. mit den Mchn. 1913 (D.). – Der Wüstling. Ein Schäferspiel. kurzen fiktionalbiogr. Romanen Moreau, Mo- Mchn. 1914 (D.). – K.s Karussell. Bln. 1914 (E.). – hammed (Bln. 1917), Pjotr (Bln. 1923), Störte- Kleines Bilderbuch vom Krieg. Mchn. 1914 (L.). – Dragoner u. Husaren. Mchn. 1916 (L.). – Die kleibecker (1926) oder dem Eulenspiegelroman nen Verse für Irene. Davos 1918 (L.). – Der TotenBracke (Bln. 1918). Diese Texte zeigen gräber. Kiel 1919 (D.). – Der himml. Vagant. Mchn. traumwandlerische Einzelgänger, asoziale 1919 (L.). – Die gefiederte Welt. Dresden 1919 (L.). – Genies, die in ihrer Amoralität zugleich Montezuma. Dresden 1919 (L.). – Hört! Hört! Märtyrer u. Tyrannen, Wohltäter u. Gewalt- Mannheim 1919 (L.). – Tgb. im Gefängnis. 1919 täter sein können. In dem späteren histor. (A.). – Hannibals Brautfahrt. Bln. 1920 (D.). – Die Roman Borgia (Wien 1928) liefert K. erotisch- Nachtwandler. Bln. 1920 (D.). – Marietta. Hann. gewalttätige Szenen im Bestsellerformat. In 1920 (E.). – Der Neger. Dresden 1920 (L.). – Kleines mehreren Romanen ist auch die Krankheit K.-Buch. Lpz. 1921 (E. u. L.). – Heiligenlegenden. ein Thema; die expressive Sprachgebung Lpz. 1921 (E.). – Kunterbuntergang des Abendlandes. Grotesken. Mchn. 1922 (E.). – Der letzte Kaiser. verbindet sich mit den fiebrigen Fantasien Bln. 1923 (E.). – Das lasterhafte Leben des weiland der Helden (Franziskus. Bln. 1921. Spuk. Bln. weltbekannten Erzzauberers Christoph Wagner. 1922. Roman eines jungen Mannes. Nachgelas- Bln. 1925 (D.). – Die Silberfüchsin. In: Sport im sen, Wien 1930). In einer frühen Erzählung Bild 31 (1925) (E.). – Lesebuch. Bln. 1926 (E. u. L.). – Die Krankheit (Bln. 1916) lieferte K. ein gro- Ode an Zeesen. 1926 (L.). – Das Kirschblütenfest. teskes Porträt des Davoser Kurlebens. Spiel nach dem Japan. Bln. 1927 (D.). K. schrieb zahlreiche Lyrikbände, die den Literatur: Sandor L. Gilman: Form u. FunktiCharakter spontaner u. ›schneller‹ Verse ha- on. Eine strukturelle Untersuchung der Romane ben sollten (Die Himmelsleiter. Bln. 1916. Der K.s. Wiesb. 1971. – Guido v. Kaulla: Brennendes Leierkastemann. Bln. 1917. Das heisse Herz. Bln. Herz K. Zürich/Stgt. 1971. – Paul Raabe: K. in 1922. Gedichte. Bln. 1926. Die Harfenjule. Bln. Davos. Zürich 1990. – Matthias Wegner: K. u. Ca1927). Viele seiner Texte kamen auf Kaba- rola Neher. Bln. 1996. – Kurt Wafner: Ich bin K. Macht Gebrauch davon! Ffm. 2003. – C. v. Zimrettbühnen wie dem »Schall und Rauch« zum mermann: K. Ein Dichter der Jazz-Zeit u. seine Vortrag. K. beherrschte ein breites lyr. Re- Rezeption fernöstl. Lit.en. In: Dt.-chines. Literagister. Die Sonette auf den Tod seiner ersten turbeziehungen. Hg. Wei Maoping u. Wilhelm Frau Brunhilde Heberle (Irene) gehören zu Kühlmann. Shanghai 2005, S. 100–143. den eindrücklichsten Trauerdichtungen dt. Christian von Zimmermann Sprache (Die Sonette auf Irene. Bln. 1920). Unter zahlreichen Bühnenwerken war K. Kläber, Kurt, auch: K. Held, * 4.11.1897 vor allem mit seiner Bearbeitung eines chines. Jena, † 9.12.1959 Sorengo bei Lugano. – Stückes, Der Kreidekreis (Bln. 1925), u. der Lyriker, Erzähler, Jugendbuchautor. Komödie XYZ (Lpz. 1928) erfolgreich. Als Haitang im Kreidekreis standen u. a. Elisa- K., Sohn eines Werkmeisters, durchlief eine beth Bergner, Erika Mann u. K.s zweite Frau Schlosserlehre u. war Soldat im Ersten WeltCarola Neher auf der Bühne. K. beschäftigte krieg. Als Mitgl. des Spartakusbunds, später
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der KPD, beteiligte er sich an der Novem- rau u. a. 1997. – Erich Eberts: ›... die einzige berrevolution, ging 1923 für ein Jahr nach Wahrheit ist unsere Phantasie‹. K. K. (Kurt Held) – Amerika, wurde dann Redakteur u. Leiter der vergessener denn je? In: Fundevogel (1997), H. 125, Arbeiterhochschule in Bochum. 1924 heira- S. 25–38. – Harald Heydrich: ›Leute für Svendborg keilen‹. Bertolt Brecht u. K. K. In: Palmbaum 6 tete er die Schriftstellerin Lisa Tetzner. K. war (1998), H. 1, S. 6–12. – Erich Eberts: K. K. – der Gründungsmitgl. des Bundes proletarisch- Arbeiterdichter unter dem Pseud. Kurt Held. In: revolutionärer Schriftsteller u. zeitweilig Re- Volker Otto (Hg.): Erwachsenenbildung u. Emidakteur u. Mitherausgeber der »Linkskurve«. gration. Bonn 1999, S. 87–94. – Denise M. Doyle: 1930 besuchte er die Sowjetunion. Er war mit From fairy tales to exile literature. Lisa Tetzner and Brecht, Johannes R. Becher, Feuchtwanger, K. K. Juvenile literature in collaboration during Leonhard Frank u. anderen Schriftstellern their years in exile. Diss. Detroit 2005; Ann Arbor befreundet. 1933 kam er kurz in Haft; seine 2006 (Mikrofiche-Ausg.). Karl W. Bauer / Red. Bücher wurden verboten. Über die Tschechoslowakei floh er in die Schweiz u. lebte dort bis zu seinem Tod. Seit 1948 war er Klähr, Klär, Karl Gottfried, auch: Karl Fero, * 12.5.1777 (oder 1773) Dresden, Schweizer Staatsbürger. K.s erste pazifistisch-expressionistische † 16.5.1842 Meißen. – Lustspieldichter. Gedichte (Neue Saat. Bln. 1919) wurden ab- Am 1.8.1793 trat K. nach autodidaktischer gelöst durch zeitbezogene proletarisch-revo- Ausbildung als Porzellanmaler in die Meißlutionäre Prosa u. Lyrik (Barrikaden an der Ruhr ner Porzellanmanufaktur ein u. arbeitete dort u. Empörer! Empor! Beide Bln. 1925), die v. a. bis zu seiner Pensionierung am 1.5.1828. den Arbeiterkampf an der Ruhr thematisier- Zum Gründungsjubiläum seiner Firma verten, an dem der Verfasser z.T. selbst beteiligt fasste er das offizielle Festgedicht Die Weihe war. Nach Distanzierung von der Politik der des Danks [...] (Meißen 1810). Komintern u. der KPD (1938) verfasste K. Das Schauspiel Die Friedensfeyer (ebd. 1809) unter dem Pseud. Kurt Held eine Reihe von war das erste von 17 im Druck nachweisbaren sozialkrit. Jugendbüchern, die große Popu- Stücken K.s, die meist sowohl in Sammel- als larität erreichten. Das bekannteste ist der auch in Einzelausgaben erschienen. In Die Roman Die Rote Zora und ihre Bande (Aarau Lotterielisten (in: Dramatische Ephemeren. Ebd. 1941. Rheda-Wiedenbrück 2008). Es wurde 1810. 1811) spielt K. auf sein Pseud. Fero an. 1979 verfilmt u. als 13-teilige Serie von der Unter diesem Namen agiert dort ein entlauARD ausgestrahlt. fener Student, der als Lotteriegewinner in der Weitere Werke: Passagiere der III. Klasse. Bln. Verkleidung eines holländ. Leutnants die ge1927 (R.). – Die Toten v. Pabjanice. Moskau 1936 wünschte Braut heimführt. (E.en). – Unter Pseudonym: Der Trommler v. Faido. 2 K.s Lustspiele sind konventionell gebaute Bde., Aarau 1947. 1949. 41990 (E.). – Giuseppe u. Gebrauchsstücke, meist mit kleinen MusikMaria. 4 Bde., Aarau 1955/56. Düsseld. 2006 (E.en). einlagen. Die gattungstypischen RollenfiguLiteratur: Lisa Tetzner: Das war Kurt Held. ren bleiben blass u. ohne Einfluss auf die Aarau 1961. – Helga Gallas: Marxist. Literatur- Entwicklung der meist von Verwechslungstheorie. Kontroversen im Bund proletarisch-revo- u. Verkleidungsintrigen bestimmten Handlutionärer Schriftsteller. Neuwied/Bln. 1971. – Gelung. Kleinbürgerliche Abenteuer- u. rald Stieg u. Bernd Witte: Abriß einer Gesch. der dt. Wunschfantasien, mangelnde SprachgestalArbeiterlit. Stgt. 1973. – Walter Fähnders: Proletarisch-revolutionäre Lit. der Weimarer Republik. tung u. oberflächlich-optimistische GesellStgt. 1977. – Stephanie Jentgens: Eine Robin Hood schaftsauffassung weisen K.s Werk der Trider Kinderwelt. K. H.s ›Die rote Zora und ihre vialliteratur zu. Bande‹. In: Bettina Hurrelmann (Hg.): Klassiker der Kinder- u. Jugendlit. Ffm. 1997, S. 502–519. – Susanne Koppe: K. K. – Kurt Held: Biogr. der Widersprüche? Zum 100. Geburtstag des Autors der ›Roten Zora‹. Hg. vom Schweizer. Jugendbuch-Institut als Kat. zur gleichnamigen Ausstellung. Aa-
Weitere Werke: Der Patriot oder die Ungewisse Hochzeit. Meißen 1814. Auch in: Dt. Schaubühne. Bd. 26, Augsb./Lpz. [1814–18]. – Blüthen der Natur. Meißen 1815 (L.; enthält auch die Posse ›Die Pfirschen‹). – Neue Theatersp.e. Ebd. 1817. – Der Alchymist. Ebd. 1819 (D.). – Zwei neue Lustsp.e:
445 Von Sieben die Häßlichste. Wachtmantel u. Schlafrock. Ebd. 1834. Ulrike Leuschner
Die Klage ! Nibelungenlied Klages, Ludwig, auch: Edward Gleska, Dr. Erwin Axel, * 10.12.1872 Hannover, † 29.7.1956 Kilchberg bei Zürich. – Philosoph, Psychologe, Grafologe, Lyriker. In seiner Hannoveraner Schulzeit begann K. 1885 eine Freundschaft mit Theodor Lessing, die 1899 zerbrach; beide teilten die Begeisterung für den Dichter Wilhelm Jordan u. unternahmen eigene lyr. Versuche. Die Jünglingszeit beschreibt K. als Phase intensiven Erlebens in einer Traumwelt, als andauernden Rauschzustand. Im Winter 1891/92 nahm er in Leipzig ein Studium der Chemie auf, das er 1893 in München fortsetzte. In die Münchner Studienjahre fiel nicht nur die folgenreiche Begegnung mit Stefan George, sondern auch eine schwere u. lang anhaltende Orientierungskrise: An die Stelle des path. Erlebens war eine Neigung zum Grübeln u. Analysieren getreten, K. wirkte auf seine Umgebung unzufrieden u. zerrissen. 1900 schloss er das Studium mit der Promotion ab (Versuch zur Synthese des Menthons); das eigentl. Interesse dieser Jahre galt jedoch mehr der Dichtung, Grafologie u. Philosophie. Zu diesen Themen veröffentlichte K. seit 1894 in Zeitschriften u. Zeitungen; daneben erschienen Gedichte in Georges »Blättern für die Kunst« (1894–1903). Nach 1900 bemühte sich K. in verschiedenen Anläufen, seine Weltanschauung zu formulieren u. ein eindeutiges Selbstverständnis als Autor zu gewinnen. Das Resultat sind einerseits der Abschied vom Dichtertum u. andererseits eine Vielzahl wissenschaftl. Untersuchungen auf den Gebieten Grafologie, Charakterkunde, Ausdruckspsychologie, später auch Philosophie. Grafologische Auftragsarbeiten bildeten neben Vorträgen auch eine gewisse wirtschaftl. Basis für den Privatgelehrten, der sich nahezu durchgehend in Distanz zur Universität hielt. Zu den Hörern des von K. um 1905 gegründeten »Psychodiagnostischen Seminars« gehörten u. a. Norbert von Hellingrath, Karl Jaspers, Walter
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F. Otto u. Heinrich Wölfflin. K.s in diesem Zusammenhang ausgearbeitete allg. Ausdruckswissenschaft (Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Lpz. 1913. 41923 u. d. T. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck. Bonn 101982) fand starken Widerhall u. a. bei Carl Jakob Burckhardt, Hermann Hesse u. Alfred Kubin (vgl. Der Briefwechsel zwischen Alfred Kubin und L. K. In: JbDSG 44, 1999, S. 49–95.). Eine große Leidenschaft für Franziska zu Reventlow bewegte K. in den Jahren 1901/02; er unterstützte sie maßgeblich bei ihrem ersten Roman (Ellen Olestjerne. Mchn. 1902). Ihr 1913 erschienenes Buch Herrn Dames Aufzeichnungen gilt als Schlüsselroman, in dem die wichtigsten Personen der Schwabinger Szene (George, K., Alfred Schuler, Karl Wolfskehl) auftreten. Das komplizierte Verhältnis zu Franziska stürzte K. auf Dauer in tiefe Verzweiflung, die erst durch seinen Rückzug u. den Entschluss zur Arbeit überwunden wurde. 1902 erschien als ein erstes auffälliges Ergebnis seiner Selbstverständigungsbemühungen in Georges Hausverlag Georg Bondi das 78-seitige Büchlein Stefan George (Bln. 1902. Neu hg. v. Michael Großheim. Bonn 2008). George ist genau genommen für K. allerdings nur ein Exempel; worauf es ihm eigentlich ankommt, sind Gesetze, »welche jenseits der Persönlichkeit eines noch so bedeutenden Dichters walten«. Im GeorgeBuch finden sich alle zentralen Motive der späteren Werke von K.: Kulturkritik des abendländ. »Zweckwahns« (der Fixierung auf Zukunft, Willen, Herrschaft), philosophischer Anti-Reduktionismus, »Wirklichkeit der Bilder« etc. Zugleich ist es ein Dokument seines frühen Denkens, das sich in der »Kosmischen Runde« entfaltete. »Kosmik« ist die trotzige Umkehrung einer naiven, selbstgefällig gewordenen Anthropozentrik; das bleibt eine aktuelle Herausforderung. Im neuheidnisch orientierten kosm. Denken wird aber auch eine Kritik an Judentum u. Christentum als Tat- u. Willensreligionen (»Jahwismus«) entworfen, die K. später (1940) zu einer antisemitischen Verschwörungstheorie ausbaut.
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1904 kam es zum Bruch mit George. Der vier Jahre jüngere K. suchte sich dem Einfluss Georges zu entziehen u. entwickelte einen eigenen Geltungsanspruch, der ihn auf einen unabhängigen geistigen Weg führte (außeruniversitäre Wissenschaft). Daneben spielten auch ästhetische, wirkungspolit. u. kulturelle Differenzen eine Rolle. 1913 erschien mit Mensch und Erde ein ökolog. Manifest, dessen Warnungen vor Umweltzerstörung seiner Zeit weit voraus waren. 1914 war K. frei von Kriegsbegeisterung, ein Jahr später verlegte er seinen Wohnsitz von München in die Schweiz nach Kilchberg. In seiner Schrift Vom kosmogonischen Eros (1922) entwickelte er seine Theorie vom »Eros der Ferne«, die z.B. Walter Benjamin bei der Entwicklung seines »Aura«-Begriffs anregte. Das 1500 Seiten umfassende philosophische Hauptwerk Der Geist als Widersacher der Seele (3 Bde., Lpz. 1929–32. Bonn 61981) vereinigt phänomenolog. (»erscheinungswissenschaftliche«) mit kulturkrit. Motiven. Es ist ein Versuch, vor dem Hintergrund des naturwissenschaftl. Reduktionismus die von Dichtern wie Novalis, Eichendorff oder Lenau beschworene vollere Realität menschl. Erlebens auch wissenschaftlich zu rehabilitieren. K. ist einer jener Autoren, die nach Nietzsche das »Leben« zum »Zentralbegriff« (G. Simmel) ihres Denkens machen. In Anknüpfung an den vorsokrat. Hylozoismus geht K. von einer Alllebendigkeit aus, der sich der Mensch als Träger des Geistes entfremdet. Der »Geist« reduziert, fixiert, manipuliert. Er verwandelt die atmosphärisch geladenen vielsagenden Eindrücke (»Bilder«) in isolierte, wenn nötig auf künstl. Weise in direkte Nähe gebrachte Gegenstände (»Dinge«), an denen nur das Zählbare, Messbare u. Wägbare als wirklich gilt. K. plädiert dagegen für die Würde des Erlebbaren: »Als was wir sie schauen, das tun wir den Dingen an.« Angesichts der Bedrohung des Lebens versteht K. sich als »Kassandra«; seine Bestimmung sei es, »dem Leben ein Monument zu errichten«. Seit den 1920er Jahren bildete sich nach u. nach etwas, das man einen »Klages-Kreis« nennen könnte. Zu dieser Gruppe, die verglichen mit dem George-Kreis lockerer verbunden war, gehörten z.B. Werner Deubel,
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Christoph Bernoulli, Hans Prinzhorn, Julius Deussen, Hans Eggert Schröder, Hans Kern, Martin Ninck, Erwin Ackerknecht u. Rudolf Ibel. Zu seinem 60. Geburtstag 1932 wurde K. durch die Verleihung der Goethe-Medaille geehrt, u. Prinzhorn stellte eine Festschrift zusammen. Nach 1933 versuchten Schüler von K., in Deutschland geistigen Einfluss zu gewinnen, während auf der anderen Seite in Gestalt von Alfred Rosenberg u. Alfred Baeumler gefährl. Gegner auftraten. K.’ fundamentale Kritik des Willens u. der Technisierung war in einem modernen Machtstaat, in dem der »Triumph des Willens« gefeiert u. ein hochtechnisierter Krieg vorbereitet wurde, nicht zu gebrauchen. Auf der anderen Seite äußert K. in seiner Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen Buch Alfred Schuler: Fragmente und Vorträge aus dem Nachlass (Lpz. 1940) antisemitische Vorbehalte gegenüber Wolfskehl; dieser Text weist auch Züge von Paranoia auf. Sieben Jahre nach seinem Tod 1956 wurde in Marbach die Klages-Gesellschaft gegründet, die seitdem das Jahrbuch »Hestia« herausgibt. Weitere Werke: Sämtl. Werke in 10 Bdn. mit Suppl.-Bd. Bonn 1964 ff. – Einzeltitel: Prinzipien der Charakterologie. Lpz. 1910. 31921. Rev. u. d. T. Die Grundlagen der Charakterkunde. Bonn 141969. – Handschrift u. Charakter. Lpz. 1917. Bonn 29 1989. – Die psycholog. Errungenschaften Nietzsches. Lpz. 1926. Bonn 51989. – Rhythmen u. Runen. Nachl. Hg. v. ihm selbst. Lpz. 1944 (dichter. Jugendwerke). Literatur: Hans Prinzhorn (Hg.): Die Wiss. am Scheidewege v. Leben u. Geist. FS L. K. zum 60. Geburtstag. Lpz. 1932. – Hans Kasdorff: L. K. – Werk u. Wirkung. Einf. u. komm. Bibliogr. 2 Bde., Bonn 1969. – L. K. 1872–1956. Ausstellungskat. Bearb. v. Hans Eggert Schröder. Marbach 1972 – H. E. Schröder: L. K. Die Gesch. seines Lebens. Bonn 1972 (= Suppl. der Werk-Ausg.). – H. Kasdorff.: L. K. im Widerstreit der Meinungen. Eine Wirkungsgesch. 1895–1975. Bonn 1978. – Michael Großheim: L. K. u. die Phänomenologie. Bln. 1994. – Richard Faber: Männerrunde mit Gräfin. Die ›Kosmiker‹ Derleth, George, K., Schuler, Wolfskehl u. Franziska zu Reventlow. Ffm. u. a. 1994. – Michael Pauen: Dithyrambiker des Untergangs. Gnostizismus in Ästhetik u. Philosophie der Moderne. Bln. 1994. – Franz Tenigl: L. K. Vorträge u. Aufsätze zu seiner Philosophie u. Seelenkunde. Bonn 1997. – Heinz Peter Preußer: Ein Neuro-
447 mantiker als Ästhetizist. Über den Dichter L. K. In: Romantik u. Ästhetizismus. FS Paul Gerhard Klussmann. Hg. Bettina Gruber u. Gerhard Plumpe. Würzb. 1999, S. 125–163. – M. Großheim (Hg.): Perspektiven der Lebensphilosophie. Bonn 1999. – Thomas Behnke: Naturhermeneutik u. physiognom. Weltbild. Regensb. 1999. – Elke-Vera Kotowski: Feindl. Dioskuren. Theodor Lessing u. L. K. Bln. 2000. – Tobias Schneider: Ideolog. Grabenkämpfe. Der Philosoph L. K. u. der Nationalsozialismus 1933–1938. In: Vierteljahrshefte für Zeitgesch. 49 (2001), S. 275–294. – Reinhard Falter: L. K. Lebensphilosophie als Zivilisationskritik. Mchn. 2003. – Baal Müller: Kosmik. Prozeßontologie u. temporale Poetik bei L. K. u. Alfred Schuler. Mchn. 2007. Michael Großheim
Klaj, Johann, * um 1616 Meißen, † 16.2. 1656 Kitzingen. – Lyriker, Dramatiker, evangelischer Pastor. Nach dem Besuch der Schule in Meißen u. den ersten akadem. Studien in Leipzig ging K. 1634 nach Wittenberg, wo er Theologie studierte u. die Vorlesungen Augustus Buchners besuchte, der als Prof. für Rhetorik u. Poesie das Regelwerk des Opitz vertrat. 1643 zog K. nach Nürnberg, wo er zunächst als Hauslehrer tätig war. Dilherr förderte ihn; sein wichtigster literar. Mentor aber wurde Georg Philipp Harsdörffer, der 1644 mit K. die Dichtersozietät des »Hirten- und Blumenordens an der Pegnitz« gründete, der sog. Pegnitz-Schäfer (vgl. Pegnesisches Schäfergedicht [...] von Strefon und Clajus. Nürnb. 1644. Fortsetzung der Pegnitz-Schäferey [...] durch Floridan und Klajus. Nürnb. 1645). Im folgenden Jahr wurde er von Philipp von Zesen in dessen »Teutschgesinnte Gesellschaft« aufgenommen (unter dem Gesellschaftsnamen »Der Fremde«). Um 1644 war er, wahrscheinlich von Zesen, in Wittenberg zum Poeta laureatus gekrönt worden. K. war das eigentliche sprachschöpferische Talent der PegnitzSchäfer; das Dreigestirn K., Harsdörffer (Strefon), Birken (Floridan) leitete eine fruchtbare Periode manieristisch-barocken Dichtens in der Reichsstadt ein, mit weitreichendem Einfluss auf die deutschsprachige Versdichtung des Jahrhunderts. K.s Sprachgenie u. seine Virtuosität trugen entscheidend zum Ruhm der ›Nürnberger Manier‹
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bei; seine Freude am Klang setzte Harsdörffers (u. Schottelius’) Theorie der Klangmalerei überzeugend in die Praxis um. 1647 erhielt K. eine Anstellung an der Lateinschule bei St. Sebald in Nürnberg, einer sog. Trivialschule für den Elementarunterricht in den Artes, ehe er 1651 die Pfarrstelle in Kitzingen übernahm. Durch Verwendung von anapästischen u. daktyl. Versen ist K. (wie Zesen) für die Popularisierung von metr. Mischformen eingetreten u. hat damit die wichtigste prosod. Neuerung nach Opitz, zu der Buchner den Grund gelegt hatte, kräftig gefördert. Seine Spezialität waren lautnachahmende Verbformen in Verbindung mit dem Binnenreim. K.s Eigenart drückt sich am deutlichsten in der neuen rhetorisch-poetischen Gattung der sog. Redeoratorien (Nürnb. 1644–50) aus, die er selber in der Kirche zur Aufführung brachte: Aufferstehung Jesu Christi, Höllen- und Himmelfahrt Jesu Christi, Herodes der Kindermörder, Der Leidende Christus sowie Engel- und DrachenStreit. Mit Instrumenten u. Chören arbeitete er in Freudengedichte der seligmachenden Geburt Jesu Christi zu Ehren gesungen (Nürnb. 1650); programmatisch ist die Lobrede der Teutschen Poeterey (ebd. 1645). Zu den Nürnberger Friedensverhandlungen von 1649/50 verfasste K. Schwedisches Fried- und Freudenmahl (ebd. 1649), Geburtstag deß Friedens (ebd. 1650) u. Irene (ebd. 1650, der Titel nach dem griech. Wort für ›Frieden‹). Weitere Werke: Augusti Buchneri Joas. Wittenb. 1642 (dt. Übers. eines lat. Gedichts von Buchner). – Weyhnacht-Liedt. Nürnb. 1644. – AndachtsLieder. Ebd. 1646. – Weihnacht Gedichte. Ebd. 1648. – Das gantze Leben Jesu Christi. Ebd. 1648. – Trauerrede über das Leiden seines Erlösers. Ebd. 1650. Ausgaben: Redeoratorien u. ›Lobrede der Teutschen Poeterey‹. Hg. Conrad Wiedemann. Tüb. 1965. – Pegnes. Schäfergedicht 1644–45. Hg. Klaus Garber. Ebd. 1966. – Friedensdichtungen u. kleinere poet. Schr.en. Hg. Conrad Wiedemann. Ebd. 1968. – J. K.s Weihnachtsdichtung. Hg. M. Keller. Bln. 1971. Literatur: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 2351–2372. – Albin Franz: J. K. Ein Beitr. zur Literaturgesch. des 17. Jh. Marburg 1908. Nachdr. New York 1968. – Hans Recknagel: J. K., der Heiligen Schrift beflissener u. gekrönter Poet. In:
Klaproth Mitt.en des Vereins für Gesch. der Stadt Nürnberg 53 (1965), S. 386–396. – Conrad Wiedemann: J. K. u. seine Redeoratorien. Nürnb. 1966. – Elisabeth Görlich: Die geistl. Spiele des J. K. Diss. (masch.) Wien 1967. – Vereni Fässler: Hell-Dunkel in der barocken Dichtung. Studien zum Hell-Dunkel bei J. Klay, Andreas Gryphius u. Catharina Regina v. Greiffenberg. Bern 1971. – Hans P. Braendlin: Individuation u. Vierzahl im ›Pegnesischen Schäfergedicht‹ von Harsdörffer u. K. In: Europ. Tradition u. dt. Literaturbarock. Hg. Gerhart Hoffmeister. Bern/Mchn. 1973, S. 329–349. – Robert R. Heitner: J. K.s Popularization of neo-latin Drama. In: Daphnis 6 (1977), S. 313–325. – L. Elmore: J. K.s Last Known Work. In: MLN 93 (1978), S. 361–373. – Harold Jantz: A recovered work by J. K. In: Chloe 3 (1984), S. 101–114. – Ferdinand van Ingen: J. K.s ›Lob der Teutschen Poeterey‹. In: FS George Schulz-Behrend. Amsterd. 1990 (Chloe 9). – Renate Jürgensen: Utile cum dulci: Die Blütezeit des Pegnesischen Blumenordens in Nürnberg 1644 bis 1744. Wiesb. 1994, passim. – Europ. Sozietätsbewegung u. demokrat. Tradition. Die europ. Akademien der Frühen Neuzeit [...]. Hg. Klaus Garber u. a. 2 Bde., Tüb. 1996 (Register). – Ernst Rohmer: Geistl. Lieder bei K. In: Morgen-Glantz 14 (2004), S. 139–157. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 1005–1008. – Wilhelm Kühlmann: Balde, K. u. die Nürnberger Pegnitzschäfer [...]. In: Jacob Balde im kulturellen Kontext seiner Epoche. Hg. Thorsten Burkard. Regensb. 2006, S. 93–113. Ferdinand van Ingen / Herbert Jaumann
Klaproth, Heinrich Julius, auch: Louis d’Or, Wilhelm Lauterbach, * 11.10.1783 Berlin, † 28.8.1835 Paris. – Orientalist u. Forschungsreisender. K. begann im 14. Lebensjahr gegen den Widerstand seines Vaters, Martin Heinrich Klaproth, mit dem Selbststudium des Chinesischen. Auch ein vom Vater verordneter Aufenthalt an der Universität Halle brachte K. nicht davon ab, seine philolog. Studien fortzuführen. 1804 wurde er auf Empfehlung Jan Potockis Adjunkt bei der kaiserl. Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg. 1805 wurde er der China-Gesandtschaft des Grafen Golovkin zugewiesen. Trotz deren Scheitern (in Ulan Bator) erlernte er eine Reihe von innerasiat. Sprachen u. legte umfangreiche Vokabulare an. 1807 geadelt u. zum a. o. Mitgl. der kaiserl. Akademie der Wissenschaften ernannt, leitete K. eine Ex-
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pedition in den Kaukasus u. nach Georgien, die er 1809 erfolgreich abschloss; zur Sichtung des Materials hielt er sich seit 1811 in Berlin auf. 1814 bemühte er sich bei Napoleon auf Elba um eine Anstellung in Frankreich, was die polit. Ereignisse vereitelten. Auf Intervention Wilhelm von Humboldts wurde für K. eine Professur für oriental. Sprachen an der Berliner Universität eingerichtet – ohne akadem. Pflichten, so dass er weiterhin in Paris leben konnte. 1823 erschien hier sein Hauptwerk Asia Polyglotta (21831) mit Sprachatlas, das den Wissensstand seiner Zeit zum ersten Mal zusammenfasst. Von unerschöpfl. Arbeitskraft erfüllt, reichten K.s Interessen vom Kaukasus über den asiatischen Teil des russ. Reiches, die Mongolei bis China, Japan u. Korea, wobei er nicht allein die Sprachen dieser Länder erforschte, sondern auch deren Geografie, Ethnologie u. Geschichte in seine Untersuchungen einbezog. Bedeutende Leistungen hat K. bes. bei der Erforschung der innerasiat. Sprachen u. deren Klassifizierung erbracht. Mit Recht gilt er als Mitbegründer einer neuzeitl., ganz Asien umfassenden Orientalistik. Weitere Werke: Reise in den Kaukasus u. nach Georgien unternommen in den Jahren 1807 u. 1808, mit Anhang Kaukas. Sprachen. 2 Bde., Halle/ Bln. 1812–14. – Mémoires relatifs à l’Asie, contenant des recherches historiques, géographiques et philologiques sur les peuples de l’Orient. 3 Bde., Paris 1824. – Briefe u. Dokumente. Hg. Hartmut Walravens. Wiesb. 1999. Literatur: Ernest Augustin Xavier Clerc de Landresse: Catalogue des livres imprimés, des manuscrits et des ouvrages chinois, tartares, japonais, etc. composant la bibliothèque de feu M. Klaproth. Paris 1839. – Henri Cordier: Un orientaliste allemand: J. K. In: Comptes rendus. Ac. des Inscriptions & Belles-Lettres. Paris 1917, S. 297–308. – Gert Naundorf: H. J. K. In: NDB. – H. Walravens: J. K. Leben u. Werk. Wiesb. 1999. Roland Pietsch / Red.
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Klee, Paul, * 18.12.1879 Münchenbuchsee/ Kt. Bern, † 29.6.1940 Muralto bei Locarno. – Maler, Zeichner, Radierer, Grafiker; Lyriker. K., Sohn eines aus Deutschland stammenden Vaters u. einer schweizerischen Mutter, wuchs in Bern auf u. tendierte zunächst als begabter Violinist wie seine Eltern zum Musikerberuf. Dass er auch literarisch begabt war, zeigte unverkennbar bereits die – v. a. gegen den konservativen Deutschlehrer Otto von Greyerz gerichtete – Kommerszeitung »Die Wanze« (vollständig abgedruckt in: Schriften. Hg. Christian Geelhaar. Köln 1976), die er 1898, aus Anlass der Matura am Berner Literargymnasium, zusammen mit Hans Bloesch u. René Thiessing verfasste. Zu K.s hauptsächl. Anliegen wurde aber schon bald die bildende Kunst, zu welcher er sich ab Okt. 1898 bei Heinrich Knirr in München u. ab 1900 als Schüler Franz von Stucks an der dortigen Akademie professionell ausbilden ließ. 1902–1906 lebte er wieder in Bern, wo er nebenamtlich als Musikreferent für das »Berner Fremdenblatt« arbeitete. Auch nach der Heirat mit der Pianistin Lily Stumpf u. nach der Übersiedlung nach München war K. trotz des sich anbahnenden Ruhms als Maler weiterhin auch journalistisch tätig u. belieferte die Berner Zeitschrift »Die Alpen« regelmäßig mit fundierten Beiträgen über das Münchner Kunstgeschehen. Nach 1912 stellte K. seine Rezensententätigkeit ein u. beschränkte seine schriftl. Veröffentlichungen auf wenige Aufsätze, mit welchen er seine spezif. künstlerischen Anliegen verdeutlichte u. die heute alle in den Schriften gesammelt vorliegen: Schöpferische Konfession (1920), Wege des Naturstudiums (1923), Wassily Kandinsky (1926), Emil Nolde (1927) u. Exakte Versuche im Bereiche der Kunst (1928). Direkter als in diesen theoret. schriftstellerischen Zeugnissen äußern sich K.s literar., ja dichterische Fähigkeiten in der engen, fast unlösbaren Verbindung, die Wort u. Bild bisweilen in seinem künstlerischen Werk eingehen. Vor allem seine Bildtitel, die er in freier Assoziation vor dem fertigen Werk zu erfinden pflegte u. wo »die Magie des Wortes die der Linie und Farbe intim begleitet« (Carola Giedion-Wel-
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cker), wirken oftmals wie Zeilen von verlorenen lyr. Gedichten. Erst als Carola GiedionWelcker die schönsten davon in ihrer Anthologie der Abseitigen (Zürich 1946) abdruckte, wurde bekannt, dass K. auch eigentliche Gedichte geschrieben hatte: Liebeslyrik, Nonsens-Verse Morgenstern’scher Art, abstrakte Kontemplationen zu künstlerischen Fragen. Die Texte gehen zuweilen sehr frei mit der dichterischen Form um, verraten aber eine eigenwillige, stark am Bildhaften orientierte Sprachbegabung. Als imponierende Belege für K.s Affinität zur Literatur u. zum geschriebenen Wort können auch die Tagebücher, die er 1898–1918 führte (hg. Felix Klee. Köln 1957. Neuausg. Stgt. 1988. Vollst. überarb. Neuausg. Köln 2007) sowie die Briefe an die Familie (hg. F. Klee. 2 Bde., Köln 1979) angesehen werden, welche die Entwicklung seines Denkens, die Entstehung seines künstlerischen Werks sowie seinen Weg vom gefeierten Avantgardisten zum verfemten Vertreter der »entarteten Kunst« bis in die letzten Schweizer Jahre hinein auf sehr persönl. u. oftmals brillant formulierte Weise dokumentieren. Weitere Werke: Pädagog. Skizzenbuch. Mchn. 1925. 21968. Neuausg. Bln. 2003. – Über die moderne Kunst. Bern 1945. – Gedichte. Hg. Felix Klee. Zürich 1960. Erw. Ausg. 1980. 22005. Literatur: Carola Giedion-Welcker: P. K. in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Reinb. 1961. 17 1995. – Dies.: P. K.s Verbindung zur Poesie. In: Dies.: Schr.en 1926–71. Köln 1973, S. 355–380. – Roman Jakobson: Der Maler P. K. als Dichter. In: Ders.: Hölderlin, K., Brecht. Zur Wortkunst dreier Gedichte. Ffm. 1976. – Otto Karl Werckmeister: Versuche über P. K. Ffm. 1981. – Jürgen Glaesemer (Bearb.): P. K. Leben u. Werk. Hg. P.-K.-Stiftung. Stgt. 1987. 2001. – Wolfgang Kersten: P. K., Übermut. Allegorie der künstler. Existenz. Ffm. 1990. – Marianne Vogel: Zwischen Wort u. Bild. Das schriftl. Werk P. K.s u. die Rolle der Sprache in seinem Denken u. in seiner Kunst. Mchn. 1992. – Richard Hoppe-Sailer: P. K. Ad parnassum. Eine Kunst-Monogr. Ffm./Lpz. 1993. – Du. Das Kulturmagazin: P. K. Der Künstler u. die Sammlerin 60 (2000), H. 2. – Matthias Bunge: Zwischen Intuition u. Ratio. Pole des bildner. Denkens bei Kandinsky, K. u. Beuys. Stgt. 1996. – Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern (Hg.): Catalogue raisonné. P. K. Werkverz. in 9 Bdn. Bern 1998–2004. – Christian Rümelin: P. K. Leben u. Werk. Mchn. 2004. – Ste-
Kleeberg fan Tolksdorf: Der Klang der Dinge. P. K. – ein Leben. Freib. i. Br. 2004. – Johann Konrad Eberlein: ›Angelus Novus.‹ P. K.s Bild u. Walter Benjamins Deutung. Freib. i. Br. 2006. – Hans Suter: P. K. u. seine Krankheit. Vom Schicksal geschlagen, vom Leiden gezeichnet – und dennoch! Bern 2006. – Bernhard Marx: Balancieren im Zwischen. Zwischenreiche bei P. K. Würzb. 2007. – Ursula Frauchiger: Robert Walser zu Gast bei P. K. Bern 2007. – Klaus Albrecht Schröder u. Susanne Berchtold (Hg.): P. K. – FormenSpiele. Ostfildern 2008. – Perdita Rösch: Die Hermeneutik des Boten. Der Engel als Denkfigur bei P. K. u. Rainer Maria Rilke. Paderb. 2008. Charles Linsmayer / Red.
Kleeberg, Michael, * 24.8.1959 Stuttgart. – Romancier, Erzähler, Essayist, Übersetzer. K., Sohn eines EDV-Organisators, zog mit seiner Familie mehrfach im süddt. Raum um, ehe er ab 1969 das Gymnasium in Böblingen besuchte; das Abitur bestand er in Hamburg, wo die Familie seit 1975 wohnte. Er studierte dort Politikwissenschaft, Geschichte u. Visuelle Kommunikation. 1983 ging er nach Rom. Dort verfasste er Erzählungen, die von Hemingway beeinflusst waren: Böblinger Brezeln (Mchn. 1984). Nach Aufenthalten in Berlin u. Amsterdam zog K. 1986 nach Paris – 1987–1993 Mitinhaber einer Werbeagentur u. bis 1996 in der Werbebranche arbeitend. Dem zunächst als Roman, dann in der Taschenbuchausgabe als Erzählung bezeichneten Text Der saubere Tod (Mchn. 1987. Tb. Mchn. 2005), der von spätadoleszenten Selbstkonzepten im damaligen Milieu von Berlin-Kreuzberg handelt, folgte der von der Kritik stark beachtete Roman Proteus der Pilger (Halle 1993. Tb. Mchn. 2003). Wie seine histor. Vorlage, Christoph Martin Wielands Peregrinus Proteus, den er souverän aktualisiert, ist der Text ein virtuoses Spiel mit dem dt. Entwicklungsroman, zgl. eine von ebenso geschmeidiger wie kräftiger Sprache geprägte iron. Milieu- u. Mentalitätsstudie der 1970er/ 1980er Jahre. Nach der Novelle Barfuß (Köln 1995), einer streng gebauten Studie zum taedium vitae des westl. Menschen – der verheiratete Mitinhaber einer Werbeagentur gerät aus gelangweilter Neugier unversehens in eine sadomasochistische, homosexuelle
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Hörigkeit –, erhielt K. 1996 den Anna Seghers-Preis. Auf einen Band mit weltläufigen Erzählungen, Der Kommunist vom Montmartre und andere Geschichten (Köln 1997), folgte der Roman Ein Garten im Norden (Bln. 1998. Tb. Mchn. 2001). Er ist nicht nur bei der Kritik ein Erfolg. Gepriesen als der »Roman der Berliner Republik« (Tilman Krause) u. als der »schönste deutsche Roman der letzten Jahre« (Matthias Greffrath), vereint er die bisherigen Stränge von K.s Schreiben, die Rolle sexueller Leidenschaft u. Obsession, sowie intensive zeitgenöss. Mentalitätsbeobachtung nun mit einer histor. Tiefendimension, die ihn zu einem substantiellen Werk literar. Reflexion dt. Geschichte nicht nur des 20. Jh. werden lassen. Thematisch nicht ohne Blick auf Thomas Manns Doktor Faustus, in Sprache u. programmat. Reflexivität v. a. zur Bedeutung Frankreichs im dt. ›Seelenhaushalt‹ in der Tradition Heinrich Manns stehend, ist Ein Garten im Norden sowohl Darstellung der unmittelbaren Situation in den Jahren nach 1989 als auch ein utopisch-alternativgeschichtl. Modell dt. Geschichte im 20. Jh.: 1995 kehrt der Protagonist Albert Klein nach zwölf Jahren in Paris nach Deutschland zurück. Von dort reist er nach Prag u. erhält von einem Antiquar ein leeres Buch. Was er dort hineinschreibt, wird am Ende Wirklichkeit geworden sein. Er erfindet einen Bankier gleichen Namens, der mitten im Berlin der zwanziger Jahre einen Park als Ort internat. Verständigung geschaffen hat. Dieser Traum einer besseren, ›französischen‹ Geschichte Deutschlands wird durch die Dazwischenkunft der Nationalsozialisten zerstört. Die bekannte Geschichte nimmt ihren Lauf. Zugleich nimmt dadurch aber die unmittelbare Gegenwart wiederum eine Wende, die erneut die utop. Chance eines kosmopolitischeren Deutschland verheißt. Anspielungsreich, mit breitem Wissenshorizont, raffiniert gebaut u. dennoch unterhaltsam, zeigt der Roman K.s Sprach-, Form- u. Bildungsbewusstsein. 2000 erhielt er den Lion-Feuchtwanger-Preis für darin gezeigte »Zivilcourage, Humor, Grazie, Helligkeit, Höflichkeit des Herzens« (Laudatio von Tilman Krause).
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Nach längerem Aufenthalt im Burgund kühler Beobachtung, aber zgl. mit großer übersiedelte K. 1999 nach Berlin, wo er seit- Empathie erfasst, erscheint dieses Leben her lebt. Begleitet von zahlreichen Kritiken u. kaum weniger sensibel u. differenziert als das Aufsätzen zur aktuellen kulturellen wie polit. intellektueller Protagonisten. Von der Kritik Lage, erschien der histor. Roman Der König von z.T. enthusiastisch aufgenommen (»ein einKorsika (Stgt. 2001). Er erzählt die wechsel- zigartiges Buch, ein grandioser Roman«, Pehafte Geschichte des westfäl. Abenteurers ter Körte) stellt er einen einstweiligen HöheBaron Neuhoff, der 1736–1743 nominell punkt in K.s literar. Schaffen dar. Er sumKönig von Korsika war. Im Reisetagebuch aus miert in variierenden Aufnahmen Elemente dem Libanon, Das Tier, das weint (Mchn. 2004), des bisherigen Werks, so die phantasmat. destilliert K. aus minutiöser Fremd- u. Euphorie der Gottgleichheit, die Suche nach Selbstbeobachtung ein Movens seines Grenzsituationen im Sexuellen, v. a. aber die Schreibens: »Aber das soll so nicht sein!« In Beobachtungsschärfe gegenüber der zeitgeunentwegter Bewegung zwischen gegenwär- nöss. Gesellschaft u. deren Reflexion aus der tiger Wahrnehmung, gemachten Erfahrun- Perspektive eines historisch gebildeten Begen u. eingesammeltem Wissen entsteht ein wusstseins. komplexes Bild der dortigen Kultur, des BeLiteratur: Holger Schlodder: M. K. In: KLG. – trachters u. der Poetik seines Schreibens zu- Thomas Kraft: M. K. In: LGL. – Andreas Böhn: gleich. Das Tagebuch zeigt K. als bildungs- Memory, Musealization and Alternative History in bewussten, sensiblen u. hoch reflexiven Au- M. K.’s Novel ›Ein Garten im Norden‹ and Wolftor, der sich vor entschiedener Stellungnah- gang Becker’s Film ›Good Bye, Lenin!‹ In: Memory Traces. 1989 and the Question of German Cultural me nicht scheut. Identity. Hg. Silke Arnold-di Simine. Oxford u. a. Nach einer Reihe von Übersetzungen, u. a. 2005, S. 245–260. – Branka Schaller-Fornoff: Noaus dem Angloamerikanischen u. Französi- velle u. Erregung. Zur Neuperspektivierung der schen, erschien 2007 der Roman Karlmann Gattung am Beispiel v. M. K.s ›Barfuß‹. Hildesh. (Mchn.). In der Konzeption als erster Teil ei- u. a. 2008. – Erhard Schütz: Der kontaminierte Tagner Folge lehnt er sich an John Updikes Rab- traum. Alternativgesch. u. Geschichtsalternative. bit-Tetralogie an. In Rhythmik u. Dynamik In: Keiner kommt davon. Zeitgesch. in der Lit. nach der Syntax, aber auch in der Verknüpfung 1945. Hg. ders. u. Wolfgang Hardtwig. Gött. 2008, gedankl. Ebenen zeigt er sich produktiv ge- S. 47–73 (zu ›Ein garten im Norden‹). – B. Schallerprägt von K.s Übersetzung von Marcel Proust Fornoff: Fragmentierung des Pop in M. K.s ›Karl(Combray. Mchn. 2002. Eine Liebe Swanns. mann‹. Zwei Phänomene in prekärer Wechselwirkung. In: Pop u. Männlichkeit. Hg. Katja Kauer. Mchn. 2004). Sujet u. Erzählverfahren sind Bln. 2009, S. 105–118. Erhard Schütz indes originär: In zwischen Er, Du, Ich changierender Erzählperspektive wird von je einem Tag der Jahre 1985 bis 1989 aus dem Klein, Anton von, * 12.6.1746 Molsheim/ Leben von Karlmann (»Charly«) Renn erzählt, Elsass, † 5.12.1810 Mannheim. – Dramaeinem betont mittleren Helden: Strahlende tiker, Theaterkritiker, Sprachforscher. Hochzeit, Arbeit als Geschäftsführer eines Autohauses, außerehel. sexuelle Erprobung Der Sohn eines Bäckermeisters besuchte das im Extremen, das Parkett der feinen Ham- Jesuitenkolleg seiner Heimatstadt, wo er kurz burger Gesellschaft, Zerbrechen der Ehe, vor dessen Aufhebung 1765 den MagisterFlucht nach Frankreich. In fünf Stationen grad erwarb. Den Eintritt in den Jesuitenorentfaltet K. furios ein gesellschaftliches wie den verhinderte 1773 dessen Auflösung. 1774 mentales Panorama der bundesrepublikan. wurde K. in Mannheim Professor der schönen 1980er Jahre. Vor allem jedoch lotet er das in Künste, nachdem er zuvor in Mainz u. seinen Konditionierungen u. Konventionen, Mannheim als Lehrer tätig gewesen war. Als existenziellen Tiefen u. Untiefen exemplari- Protegé des Kurfürsten Karl Theodor plante sche Leben eines durchschnittlichen jungen K. zielstrebig seine Karriere (1777 Comes Mannes aus, dem die metaphys. Tröstungen Palatinus, 1790 erbl. Adel). Durch seine inder Kunst nicht zur Verfügung stehen. In tensive publizistische Tätigkeit stieg er zur
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Zentralfigur der pfälz. Aufklärung auf. K. Gotthardt: Nationaloper versus dramma per muwar Sekretär der Kurpfälzischen Deutschen sica? Das Singspiel ›Günther von Schwarzburg‹. In: Gesellschaft, zeitweilig Dramaturg des Laurenz Lütteken (Hg.): Metastasio im Dtschld. der Mannheimer Nationaltheaters u. gab zahl- Aufklärung. Tüb. 2002, S. 125–139. – Wilhelm Kreutz: Aufklärung in der Kurpfalz. Beiträge zu reiche Zeitschriften, Lesebücher sowie Institutionen, Sozietäten u. Personen. UbstadtSammlungen antiker u. neuerer Autoren Weiher 2008 (passim). – Hermann Wiegand: A. v. heraus. K. In: Mannheimer Geschichtsbl. 16 (2008), Vom frz. klassizistischen Drama u. der ital. S. 34–51. Albert Meier / Red. Oper geprägt, hatte K. seine größten Erfolge mit dem vaterländ. Singspiel Günther von Klein, Eduard, * 25.7.1923 Wien, † 2.1. Schwarzburg (Mannh. 1777. Komm. Ausg. 1999 Berlin; Grabstätte: ebd., ZentralMchn. 2002) u. der Sammlung Leben und friedhof Friedrichsfelde. – Erzähler, VerBildnisse der Grosen Deutschen (5 Bde., ebd. fasser von Abenteuerbüchern; Übersetzer. 1785–1805). Die meisten poetischen Werke K.s erfuhren scharfe Kritik, insbes. sein K. entstammte einer wohlhabenden jüd. Hauptwerk Athenor (Ffm./Lpz. 1802), ein Kaufmannsfamilie. Er war als kaufmänn. Epos in der Art von Wielands Oberon. Litera- Angestellter tätig. 1938 emigrierte er in die turgeschichtlich interessant ist K. als scharfer CˇSR, 1939 weiter nach Chile, wo er 1943 in Kritiker von Lessings Emilia Galotti u. als die KP eintrat. 1953 kehrte er nach Europa Verteidiger der traditionellen heroisch-klas- zurück u. ließ sich in Ost-Berlin nieder. In der DDR wurde er mit verschiedenen Literatursizistischen Tragödie. Weitere Werke: Jacob der jüngste unter den preisen ausgezeichnet. 1991 trat er dem Versieben Macchabäischen Helden. Mannh. 1769 band Deutscher Schriftsteller bei. In seinen fast ausnahmslos in Südamerika (Trauersp.). – Das Triumphirende Christenthum im Grosmogol. Kaiserthume. Ebd. 1770 (Trauer- angesiedelten Abenteuerromanen – erschiesp.). – Tod der Dido. Aus dem Italienischen des nen in der Reihe »Spannend erzählt« im Metastasio. Ebd. 1779. – Kaiser Rudolf v. Habs- Verlag Neues Leben – tritt das individuelle burg. Ebd. 1787 (Trauersp.). – Dt. Provinzialwör- Erleben des Helden in den Hintergrund zuterbuch. Ffm./Lpz. 1792. – Gedichte. o. O. 1793. – gunsten durch soziale Konflikte hervorgeruDramaturg. Schr.en. Ffm./Lpz. 1809. fener gesellschaftl. Vorgänge, die für K. die Literatur: Litterär. Leben des [...] A. v. K. echten Abenteuer sind. Großes Interesse erWiesb. 1818. – Karl Krükl: Leben u. Werke des el- weckte nach seinem Erscheinen der Roman säss. Schriftstellers A. v. K. Straßb. 1901 (mit ausAlchimisten (Bln./DDR 1967), der sich mit führl. Bibliogr.). – Jean-Marie Valentin: Tragédie Problemen sozialistischer Produktion aushéroïque – Tragédie bourgeoise. A. v. K. et sa critique de Lessing. In: Germanistik aus interkultu- einandersetzt. reller Perspektive. FS Gonthier-Louis Fink. Straßb. 1988, S. 77–92. – Jean-Marie Valentin: Tragédie héroique, tragédie bourgeoise: A. v. K. (1746–1810) et sa critique de Lessing. In: Adrien Finck (Hg.): Germanistik aus interkultureller Perspektive: en hommage à Gonthier-Louis Fink. Strasbourg 1988, S. 77–92. – Jean-Marie Valentin: Hommage à Richard Thieberger. Paris 1989, S. 401–418. – Jost Hermand: Die erste dt. Nationaloper. ›Günther von Schwarzburg‹ (1777) v. A. K. u. Ignaz Holzbauer. In: Ders. (Hg.): Revolutio Germanica. Ffm. 2002, S. 159–171. – Albert Meier: Die Interessantheit der Könige: der Streit um ›Emilia Galotti‹ zwischen A. v. K., Johann Friedrich Schink u. Cornelius Hermann v. Ayrenhoff. In: Wolfram Mauser (Hg.): Streitkultur. Strategien des Überzeugens im Werk Lessings. Tüb. 1993, S. 363–372. – Susanne Schaal-
Weitere Werke (Erscheinungsort: bis 1989 alle Bln./DDR): Señor Contreras u. die Gerechtigkeit. 1954. – Goldtransport. 1957. – Der Feuerberg. 1957. – Der Indianer. 1958. 121987. – Die Flucht. 1958. – El Quisco. 1962 (R.). – Die Straße nach San Carlos. 1965. – Sprengstoff für Santa Inés. 1968. – Salz der Gerechtigkeit. 1970. – Nächstes Jahr in Jerusalem. 1976. – Land der Kälte. 1977. – Die Smaragdmine. 1979. – Die Last der Berge. 1982. – Anschluß 8 – streng geheim. 1988. – Der Garten der Inkas. Bln. 1990. – Die Spur des Jaguars. Staßfurt 1997. Literatur: Thomas Eberlein: Abenteuerlit. in der literar. Kommunikation. Zu Wirkungspotenzen u. gesellschaftl. Vermittlungsweisen v. Aben-
453 teuerlit. der DDR am Beispiel der Werke v. E. K. Magdeb. 1990. Alfred Strasser
Klein, Georg, * 29.3.1953 Augsburg. – Verfasser von Romanen u. Feuilletons. Nach dem Studium der Germanistik, Geschichte u. Soziologie in Augsburg u. München war K. als Sprachlehrer u. Ghostwriter tätig, bis er nach zwanzigjährigem Schreiben 1998 als neue Stimme der dt. Literatur entdeckt wurde. Er lebt zusammen mit der Autorin Katrin de Vries in Ostfriesland. Die Satz für Satz gespannte Prosa K.s betreibt Vertrauenserzeugung bei unheiml. Fremdheit der erzählten Welten. In einer kunstvoll durchgearbeiteten, dabei aber höchst konkreten, d.h. dezidiert nicht-symbolischen Sprache erfindet sie künstl. Räume, die stets die bekannte soziale u. ästhetisch vermittelte Gegenwart durchscheinen lassen. Wie diese Technik funktioniert, macht das Kunstwort Libidissi – Titel des ersten Romans (Bln. 1998), den K. jahrelang in seiner Schublade liegen hatte – deutlich. In der Klangwirkung durch hohe Vokale u. scharfe Konsonanten verstärkt, eröffnet dieser Name der orientalisch anmutenden Zukunftsstadt bestimmte Assoziationen zwischen Libido u. Filmtiteln der Populärkultur (Octopussy, Ödipussi), ohne dass damit seine spezif. Fremdartigkeit schwindet. Dieser verstörenden Unverständlichkeit bei anheimelnder Vertrautheit entspricht die Gestaltung des Titelblatts von Anke Feuchtenberger: Der amöbenartige Zellkörper erscheint wie ein Stadtplan, seine Linien u. Bahnen wirken wie Straßen u. Flüsse, in der organischen Gewebestruktur aber auch bedrohlich wie ein »Alien«. Der undurchsichtigen Geografie von Libidissi entspricht die Rätselhaftigkeit einer atmosphärisch dichten Prosa, die formbewusst mit dem Agentenroman als populärem Genre spielt, für das K.s literarisch-krit. Beiträge ein Faible zeigen. In die Handlung einer unbestimmten Zukunft werden ScienceFiction-Elemente integriert, die durch den »altertümelnd« hohen Ton (»unser gutes altes Deutsch«) paradoxerweise wiederum Rückbezüge auf die NS-Vergangenheit eröffnen: bis zum unausgesprochen bleibenden
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»deutsche[n] Grußwort« »Heil« zum Schluss, auf das der Roman mit der Reihe seiner anachronistisch klingenden Kapitelüberschriften vorbereitet (»Hohn«, »Gewogenheit«, »Besinnung«, «Beherztheit«, »Vorsehung«, »Frohsinn«, »Gemütlichkeit«, »Andächtigkeit« u. a.). Detailfreudig u. mit großer Lust an bizarren Erfindungen aus Versatzstücken der bekannten Welt wird erzählt, wie ein altgedienter Spion von zwei Verfolgern abgelöst werden soll. Im Gang durch die labyrinthische Stadt, die als organisches Wesen wie der eigentl. Agent des Romans erscheint, delektiert sich diese Prosa am Spiel mit Mythen u. Mustern der Populär- u. Hochkultur (Pynchon, Kafka), rückgekoppelt auch an den zeitgenöss. Literaturbetrieb, wenn im »Naked Truth Club« zwei »performance«Autoren (ähnlich T. Meinecke u. R. Goetz) als skurrile Gestalten verulkt werden. Der Stilisierungswille hat K. den Vorwurf des Manierierten eingetragen. Er behagt einer von der sprachl. Potenz eingenommenen Kritik nicht, weil die Rätsel unauflösbar bleiben. Der Leser kann die Zumutung des Nicht-Identischen lustvoll erfahren, sich aber auch darüber ärgern, dass er vom Sog einer libidinösen Sprachenergie zwischen Provokation (NSTon) u. höhn. Ironie permanent ›geleimt‹ wird, wiewohl sich sein Bedürfnis nach spannender Unterhaltung erfüllt. Der zweite Roman Barbar Rosa. Eine Detektivgeschichte (Bln. 2001) spielt im Berlin der Gegenwart auf die Kyffhäuser-Sage vom Kaiser Barbarossa an. Hier soll der Ich-Erzähler Mühler, der an Ausschlag u. Impotenz leidet, einen rätselhaften Auftrag erfüllen. Neben erneuten Anspielungen auf die schwarze Romantik (E. T. A. Hoffmann, Jean Paul, Schauerroman) schlägt auch hier die anachronist. Diktion durch, die K. seinen Genrespielen wie Patina auflegt. Seine Texte bewegen sich stets am Indifferenzpunkt zwischen der ironisch beschreibenden Klarheit im konkreten Detail u. völliger Unklarheit in Bedrohungsszenarien, bei denen die Ich-Erzähler nie wissen, was ihnen widerfährt. Die drei Kapitelüberschriften der zwölf Erzählungen Anrufung des Blinden Fisches (Bln. 1999), die zum Teil bereits vor Libidissi entstanden, benennen die Gelenkstellen dieser
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K. erhielt 1999 den Brüder-Grimm-Preis u. sprachl. Effekte: »Membran«, »Schnittstelle«, »Geschlecht« sind die porösen Filter, an 2000 den Ingeborg-Bachmann-Preis. denen Informationen u. Fiktionen zusamWeitere Werke: Die Sonne scheint uns. Reinb. menkommen. Schrift, Bilder, Computer, 2004 (R.). – Schlimme schlimme Medien. Köln 2007 Aufzeichnungsgeräte dienen der Decodie- (CD). rung von Botschaften aus den RückkoppeLiteratur: Stefan Willer: Rohrpostsendungen. lungen zwischen Mensch u. Maschine. An Zeichen u. Medien in der Prosa G. K.s. In: WB 48 den Figuren – Werbetexter, omnipotente (2002), H. 1, S. 113–126. – Ulrich Rüdenauer: G. K. Chefs, Rohbilddeuter, drogensüchtige Ver- In. LGL. Stefan Scherer käufer – werden Themen des Informationszeitalters in teils bizarrer Komik entfaltet. Klein, Johann (Baptist) August, * 13.2. Meist steht ein gehandicapter u. gejagter 1778 Koblenz, † 15.4.1831 Koblenz. – Mann unter Druck, so dass sich in der drast. Verfasser von Reisehandbüchern. Körperlichkeit das zentrale Thema ›Männlichkeit‹ anzeigt. Mit Ausnahme des leichter Ab 1807 Lehrer am Kreuznacher Gymnasium, u. humoristischer erzählten Romans Sünde wurde der 1810 zum Professor für MatheGüte Blitz (Reinb. 2007), der die dämoni- matik u. Naturwissenschaften ernannte K. schen Heilkräfte des Blitzes in einer Ärzte- 1819 nach Koblenz berufen. Ab 1826 war er geschichte in Ostdeutschland der wissen- am dortigen Gymnasium Professor für Geschaftl. Medizin entgegensetzt, stehen die schichte. 1827 wurde er wegen »Ungehordurchweg selbstsicherer gestalteten Frauen- sams, Widersetzlichkeit und grober Fahrläsfiguren eher am Rande. In den Erzählungen sigkeit« seines Amtes enthoben, später rehaVon den Deutschen (Reinb. 2002) wird die pre- bilitiert, in Koblenz aber nicht wieder in den käre Vergangenheit als Thema u. poetisches Dienst aufgenommen. 1828 erschien K.s Rheinreise von Mainz bis Programm bereits durch das Motto von Jean Köln. Historisch, malerisch bearbeitet (Koblenz. Paul angeschlagen: »Nazionalkarakter ist Frz. 1829). Als Handbuch für Schnellreisende Manier«. »Riesen«, »Recken«, »Wichte« laumarkiert es den Beginn der rheinischen Perten die Kapitelüberschriften, die auf ein Volk sonendampfschifffahrt. 1829 ließ K. einen verweisen, das in Mythen u. im Unheil seiner ergänzten Auszug der Rheinreise folgen (KoGeschichte verfangen ist. K.s Prosatexte sind blenz, historisch-topographisch mit Benutzung uratmosphär. Studien über Innenverhältnisse kundlicher Nachrichten. Koblenz) u. 1831 Das dt. Männlichkeit. Progressive u. regressive Moselthal zwischen Koblenz und Zell mit Städten, Züge dieser hochartifiziellen Sprache im Ortschaften, Ritterburgen (Ebd. 2. Tl. verfasst Spiel mit trivialen Genres machen Mentalivon Christian von Stramberg). täten ihrer Zeit spürbar, in ihrer genuin liteK.s Rheinreise wurde die Grundlage für die rar. Verfasstheit aber zgl. unheimlich undurchschaubar: Die durchgehaltene Ambiva- von Karl Baedeker ab 1832 verlegten Reiselenz lässt jeden Anspruch auf allegor. Ent- handbücher. Weitere Werke: Ueber die altröm. Confluentes schlüsselung scheitern. u. ihre nächste Umgebung am Rheine u. an der Die Kritik zeigte sich beeindruckt von der Mosel. Koblenz 1826/27. – Denkbl. für meine ganz eigenen sprachl. Energie, die auch das Freunde. Ebd. 1832 (postum). Schäbige, Widerwärtige u. Ekelige nicht Literatur: Goedeke 13, S. 581–583. scheut, z.T. aber auch enerviert, weil nie Alex W. Hinrichsen wirklich klar werde, um was es hinter den effektbewussten Oberflächen dieser surrealen Heidelberger LiederhandSzenarien wirklich geht, wie also auch die Kleine schrift ! Heidelberger Liederhandanstößigen Züge dieser Prosa aufzufassen schrift, Kleine seien: als reaktionäre Affirmation (des Nationalsozialismus u. von Männlichkeit) oder doch eher als »boshaftes« Spiel mit der Virulenz solcher Motive im Gegenwartsdiskurs.
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Kleineidam
Der kleine Renner, 14. Jh. – Spätmittel- Kleineidam, Horst, * 23.6.1932 Gebalterliche Ständelehre. hardsdorf (Gibultow/Polen). – Dramatiker u. Erzähler. Die spätmittelalterl. anonyme Ständelehre u. Zeitklage in 437 Reimpaarversen beschreibt die Laster verschiedener Personengruppen, die als »vorspil« des Antichrist gedeutet werden (Vers 392). Der Titel der cleyne Renner, der in Rubrik u. gereimter Überschrift in der einzigen Handschrift (Staatsbibliothek Bamberg, cod. ms. lit. 177, 1480) angegeben ist, weist als Vorbild auf den Renner Hugos von Trimberg, mit dem der Text einige Verse (meist Freidankzitate) u. den allgemeinen Klagegestus teilt. Genauer als in das 14. Jh. lässt sich der Text, dessen Rompolemik topisch ist, nicht datieren; die Erwähnung von Erfurt, Weißensee u. Mühlhausen weist auf eine Entstehung in Thüringen. Das Werk gibt sich als abendl. Besinnung über die Irrungen der Zeit, die es nicht mehr erlaubten, Kleriker u. Laien zu unterscheiden. Die in den Rubriken gegebenen 14 Stände bilden dann aber keine klare Reihe, sondern wechseln zwischen mehreren hierarch. Beschreibungsmustern. Den Anfang macht der Papst, wobei die Schuld für die Ablasspolitik auf die Prälaten geschoben wird. Getadelt werden dann drei weltl. Großgruppen (Amtleute, junge Leute, gemeines Volk), drei geistl. (Prälaten, Mönche, Schüler) u. fünf weltl. Stände (Ritter – mit Parallelen zum Ritterspiegel von Johannes Rothe –, Richter, Handwerker, Knechte u. Mägde, Bauern) u. schließlich zwei Lebensformen (Eheleute, Witwen). Der Text schließt nach der Interpretation dieser Verirrungen als Vorzeichen des Gerichts mit einem Gebet um Vergebung an Maria u. die Trinität.
Ausgabe: Wolfgang Bührer: Der k. R. Untersuchungen zur spätmittelalterl. Ständesatire. In: 105. Ber. des Histor. Vereins für die Pflege der Gesch. des ehem. Fürstbistums Bamberg, 1969, S. 1–201. Literatur: Günter Schweikle: Der k. R. In: VL. Henrike Lähnemann
K. absolvierte den typischen Bildungsgang eines »schreibenden Arbeiters«: Einer Zimmermannslehre folgte die Tätigkeit als Bergu. Bauarbeiter (1951–1958 in der BR Deutschland) u., nach seiner Rückkehr in die DDR, neben der Arbeit im erlernten Beruf das Studium am Literaturinstitut in Leipzig. Seit 1985 war er Künstlerischer Leiter beim Bezirksliteraturzentrum Dresden (»Club für Dich«). K.s Brigadestück Millionenschmidt (in: Theater der Zeit, 1963, H. 12; Beilage), 1962 als erstes Drama eines Arbeiters in Leipzig uraufgeführt, kontrastiert schematisch sozialistische Arbeitsmoral mit Geldgier u. Schlamperei in schlaglichtartigen Kurzszenen. Einen histor. Stoff verarbeitete K. in dem zum 450. Jahrestag des dt. Bauernkriegs geschriebenen Festspiel Hinter dem Regenbogen (Urauff. Dresden 1975. Abgedr. in: 1525. Dramen zum deutschen Bauernkrieg. Hg. Walter Dietze. Bln./Weimar 1975). Das turbulente Stück handelt von der »Erringung und Festigung der revolutionären Macht und vom Aufbau einer menschlichen Gesellschaft« (Kleineidam). Der autobiogr. Roman Westland-Story (Halle/Lpz. 1983) erzählt vom illegalen Überschreiten der grünen Grenze u. der reuevollen Rückkehr aus der Welt des Konsums, der Unmenschlichkeit u. des kalten Kriegs. Weitere Werke: Die Offensive. Szenen für Agitprop. Lpz. 1959. – Von Riesen u. Menschen. In: Forum 21, 1967 (D.). – Polterabend. In: Theater der Zeit (1973), H. 12 (D.). – Karaseck. Urauff. 1977 (D.). – Siegfried, der Drachentöter. Urauff. Rathen 1989 (D.). – Einakter (alle drei uraufgef. 1970): Barfuß nach Langenhanshagen. In: NDL (1967), H. 7. – Der verlorene Sohn. 1969. – Susanne oder Ein Stern erster Größe. 1970. – Sonnenuntergänge im Saron. Golf. Dresden [1999] (N.). Rita Seuß / Red.
Kleinfercher
Kleinfercher, Johann, auch: Fercher von Steinwand, * 22.3.1828 Steinwand bei Stall im Mölltal/Kärnten, † 7.3.1902 Wien; Grabstätte: ebd., Zentralfriedhof. – Lyriker, Dramatiker u. Literaturkritiker.
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den Materialismus sowie die Vertreter des Jungen Wien. Heute gelten seine Werke weitestgehend als epigonal u. wenig innovativ. K.s Nachlass liegt in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien u. im Fercher von SteinwandMuseum in Stall, wo sich auch ein Porträt des Dichters befindet.
Als unehel. Sohn einer Dienstmagd u. eines verarmten Bauern geboren, erhielt K. entgegen den Konventionen eine fundierte SchulWeitere Werke: Gräfin Seelenbrand. Hbg. 1874 bildung in Klagenfurt. 1849 verließ er zu- (L.). – Johannisfeuer. Wien 1898 (L.). – Sämtl. sammen mit seinem Jugendfreund Alois Eg- Werke. Hg. Josef Fachbach von Lohnbach. 3 Bde., ger die Kärntner Heimat, um in Görz die Wien 1903 (enthält u. a. Drahomira [D.], JugendPrüfungen abzulegen. Nach einem kurzen blüten [G.], Der Geisterzögling [Ep.], Der ThronAufenthalt an der Universität Graz 1849/50, wechsel [D.], Ein Prometheus [D.], Berengar [D.], der ihm erstmals Einsichten in den philoso- Kryptofloren). – Briefe. Hg. Josef Fachbach v. Lohnbach. Wien 1905. – Gedichte, Aphorismen, phischen Idealismus Hegels, Fichtes u. kosm. Chöre. Basel 1985. – Werke. Winterbach Schellings erlaubte, begab sich K. nach Wien. 1998. – Briefw. Hg. Philipp Kleinfercher. Dürnau Zwei Jahre später erkrankte er an Typhus; 2004. nur die Fürsorge einer Arztfamilie ließ ihn Literatur: Ernst Winkler: F. v. S. im Leben u. in genesen. Im Herbst 1858 bereiste K. der Dichtung. Klagenf. 1928. – Erich Nußbaumer: Deutschland. Zur vollständigen Wiederher- J. K. In: NDB. – Friedrich Zauner: F. v. S. Ein Fastellung seiner Gesundheit zog er 1862 nach ckelträger des Geistes 1828–1902. Dornach 1989. – Perchtoldsdorf bei Wien. Hier verfasste K. Fritz U. Krause: Christian Dietrich Grabbe – ein sein einziges zu Lebzeiten veröffentlichtes Prometheus der dt. Lit. Über J. F. v. S.s Werk. In: Ich aber wanderte u. wanderte – Es blieb die Sonne Drama Dankmar (Wien 1867), eine histor. hinter mir zurück. Hg. Friedrich Bratvogel. DetTragödie in Blankversen um den ehrgeizigen mold 2001, S. 147–157. Silka Pfahler Halbbruder Ottos des Großen, in Wien uraufgeführt u. ausgezeichnet mit dem Literaturpreis des österr. Reichsrats. 1879 zog es K. Kleinschmidt, Karl, * 22.2.1913 Ybbs, abermals nach Wien; er veröffentlichte die an † 19.11.1984 Linz; Grabstätte: ebd., St.romantisch-geistige Traditionen anknüpfen- Barbara-Friedhof. – Lyriker, Essayist, de Gedichtsammlung Deutsche Klänge aus Übersetzer. Österreich (Wien 1881). Eine schwere HerzK. lebte seit früher Kindheit in Linz. Diese erkrankung bewirkte eine erneute VerStadt wurde nach Studien der Kunstgeschlechterung seines instabilen gesundheitl. schichte in Wien sowie Privatstudien der Zustands. Im Sommer 1901 besuchte K. Germanistik, Philosophie u. asiat. Literaturen erstmals wieder Kärnten, kehrte jedoch nach sein berufl. Wirkungsort. 1952–1974 war er wenigen Wochen nach Wien zurück, wo er städt. Literaturreferent; als Herausgeber des kurz darauf starb. »Literarischen Jahrbuchs« u. der Lyrik- u. K. pflegte intensiven Kontakt u. a. zu Mat- Prosareihe der Stadt Linz förderte er jahrthias Lexer, dem Anatomen Josef Hyrtl, der zehntelang den literar. Nachwuchs. Seinen ihn auch finanziell unterstützte, sowie zu Lebensabend verbrachte K. im Mühlviertel, seinen Dichterfreunden der »Norischen das ihm als naturhafte Lebenslandschaft Schule« Robert Hamerling, Adolf Pichler, wichtig wurde. Friedrich Marx u. Ernst Rauscher. Er prägte International bekannt wurde K. mit seiner die Weltanschauung seines Bewunderers Ru- dt. Haiku-Dichtung, die auch in japanische dolf Steiner. Seine eigenen Vorstellungen des Anthologien Eingang fand. Strenge u. freie Deutschen Idealismus vertrat K. in seinen Nachbildungen des japanischen Modells Werken; er bekämpfte als Programmatiker enthalten seine Haiku-Bändchen Der schmale des konservativen Dichterkreises »Iduna« Weg (Linz 1953) u. Tau auf Gräsern (Wien
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1960). Gedankliche Präzision u. geschliffene sprachl. Form verbinden sich auch in seinen Aphorismen u. kulturhistor. Essays. Von der Sammlung von Nachdichtungen kosmischmyth. Erzählungen u. Betrachtungen des pers. Dichters Behram Cheir, Der andere Tierkreis, wurde der erste Teil in bibliophiler Ausstattung 1978 (Bad Goisern) veröffentlicht. In K.s von philosophischer Meditation u. konkreter Naturanschauung geprägtem Wortkunstwerk vereinigt sich abendländ. Tradition mit asiat. Form- u. Gedankenwelt. Weitere Werke: Die Hohe Stunde. Gedichte. Brünn 1941. – Europ. Volkslieder. Chorsätze v. Robert Schollum. Wien 1960. – Michelangelo, Sonette, Übertragungen. Bremen 1964. – Europ. Städte: Impressionen [...]. Bad Goisern 1967. – Neue Übertragung v. Sonetten William Shakespeares. In: Oberösterr. 30 (1980), H. 4. Dazu: LuK 19 (1984), H. 189/190, S. 500–513. – Beiträge in: Hachiro Sakanishi u. a. (Hg.): Anth. der dt. Haiku. Hokkaido o. J. – Beiträge im Lit.-Jb. der Stadt Linz 1940–72. 1980. Literatur: Manfred Egger: K. K. Eine Monogr. Diss. Innsbr. 1984 (mit Bibliogr.). Johann Lachinger
Kleist, Ewald Christian von, * 7.(?)3.1715 Zeblin/Pommern, † 24.8.1759 Frankfurt/ O.; Grabstätte: ebd., »Park« (ehemaliger Friedhof der Gubener Vorstadt). – Lyriker, Epiker. Der äußere Lebensgang dieses Dichters einer neuen Zeit ist (trotz mancher Umwege) ebenso selbstverständlich aus seiner Herkunft aus altem, allmählich verarmendem märk. u. pommerischen Adel abzuleiten, wie Tatsache u. Gestalt seines Dichtens sich daraus gerade nicht erklären lassen. Nicht erst seit dem »Soldatenkönig«, der in Preußen den Konflikt zwischen absolutistischem Herrscher u. feudalem Adel durch den Dienst nicht am Hof, sondern im Offizierskorps löste, hatten die Namen seiner Vorfahren Kleist u. Manteuffel in der preuß. Armee einen guten Klang. So nimmt es auch nicht Wunder, dass K. dort vergleichsweise schnelle Karriere machte. Er wuchs als drittes von sechs Kindern Joachim Ewald († 1738) u. Maria Juliane von Kleists (geb. von Manteuffel; † 1719) auf – bis
1724 auf dem Lande: eine Idylle, in die sich später sehnsuchtsvoll-verklärend zurückzuträumen charakteristisch für seine Dichtung werden sollte. Dann wurde er zur Jesuitenschule im poln. Valcz (Arnskrone, DeutschKrone) geschickt, hernach zusammen mit seinem Bruder Franz Kasimir am 15.9.1729 auf dem Gymnasium im noch poln. Danzig immatrikuliert. 1731 bezog er die Universität Königsberg, um Jura zu studieren: Man plante also, ihn auf eine höhere Verwaltungslaufbahn möglichst gut u. ohne religiöse Rücksichten vorzubereiten, denn die Aufsicht über die Güter sollte in die Hände des älteren (einzigen) Bruders gelegt werden. K. hörte in Königsberg bis 1735 auch Philosophie u. Mathematik (u. zur Unterhaltung auch Theologie), lernte neuere Sprachen u. las die Klassiker der Antike. Die Mittellosigkeit der Familie offenbar ließ indessen alle Hoffnungen auf eine Zivillaufbahn zerrinnen. Rascheres Fortkommen scheint er sich im dän. Militärdienst ausgerechnet zu haben, wo ihm ein angeheirateter Onkel, General Friedrich Wolldemar von Fölckersam, seit 1736 mehrfach die Türen öffnete. 1740, nach Friedrichs II. Thronbesteigung, wurde der in zwei Jahren zum Seconde-Lieutenant aufgestiegene K. (wie alle anderen im Ausland lebenden Preußen) vom König in die Heimat zurückgerufen – Friedrich brauchte Offiziere für die neu aufgestellten Regimenter – u. schon bald »in der prächtigen Wüste von Potsdam« zum Premier-Lieutenant befördert. Im Todesjahr des Vaters hatte K. auf Besuch bei einer entfernten Verwandten in Westpreußen, Freifrau von der Goltz, deren Tochter Wilhelmine lieben, später auch kennen gelernt u. sich mit ihr versprochen. Die Verlobung wurde infolge einer Intrige ihres Bruders gelöst, worunter K. lebenslang gelitten hat. Es war aber unabsehbar, wann der mittellose Leutnant (die Erbteilung brachte ihm eben 2200 Taler) angesichts der erbärmlich schlechten Besoldung der preuß. Offiziere je seine Braut standesgemäß hätte ernähren können; auch die Goltzens hatten sich vergebens um eine »Zivilbedienung« für den Bräutigam bemüht.
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Was K. sonst von der Welt gesehen hat, brachte sein Beruf mit: Dänemark als Fähnrich, Sachsen, Schlesien u. Böhmen als Offizier in den Kriegen Friedrichs II., als Werbeoffizier dann die Pfalz (Speyer) u. die Schweiz 1752/53 mit ihren Dichtern u. vor allem ihren Naturschönheiten. Auch fast alle seine Freunde lernte K. durch den Dienst kennen: nach Berlin abkommandiert, Nicolai, Ramler u. Sulzer, im Krieg dann 1757 in Leipzig den gerade stellungslosen Lessing. Seine ganz in zeitgemäßer Empfindsamkeit kultivierte Freundschaft mit dem tantigen, vier Jahre jüngeren »Vater Gleim« kam – so will es die von diesem selbst produzierte Legende – 1743 zustande, als Gleim, seinerzeit Stabssekretär in Potsdam, dem infolge einer Duellwunde bettlägerigen K. eines seiner Gedichte vortrug: Der verständl. Lachanfall führte zu einer Blutung der Wunde, welche die Heilung beschleunigte. Vielleicht wäre der zu Depressionen neigende, auch oft hypochondr. K. wie seine stumpfsinnigen Offizierskameraden in der Potsdamer Garnison moralisch u. intellektuell verkümmert, hätte er nicht Gleims Bekanntschaft gemacht, die seine Dichtung aufs Äußerste inspirieren sollte. Der anakreont. Tändelei Gleims hat er gleichwohl nicht allzu lange angehangen. Seine Poesie ist zudem oft schwermütig – frühes Beispiel einer Weltschmerzdichtung. An seinem bekanntesten Werk, dem Frühling, hat K. jahrelang gearbeitet u. gefeilt. Ursprünglich sollte es ein umfassendes Poem Landlust werden, aus dem er dann unter dem Eindruck der ersten Veröffentlichung von Klopstocks Messias (1749) den Frühling als ein erstes Fragment des Ganzen herausbrachte. Dieser Spaziergang durch die Natur entstand 1746–1749 (erschienen: Bln. 1749 u. ö.); 1756 dann eine letzte, nicht zu ihrem Nachteil um rund 20 Prozent gekürzte Fassung, deren auftaktige Hexameter zumal durch die metr. Feile sehr gewonnen haben. Zwar unter dem literar. Einfluss von Hallers Alpen (1732), Brockes’ Irdischem Vergnügen in Gott (1721–48) u. bes. deren unmittelbarem Vorläufer, Thomsons Seasons (1726–30), ist K. doch mit gewaltigen Schritten aus der noch ganz kalkuliert wirkungsästhetisch bestimmten Lehrdichtung der frühen Aufklärungspoetik
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herausgetreten (ohne sie ganz zu verlassen) in ein empfindsames, vom Dichter empfundenes Erleben – im Sinne Schillers vollkommen »sentimentalisch«. Im Unterschied zu den literar. Vorbildern wird bei K. Landschaft u. Natur zum Zustand der Seele u. zum Arsenal ihrer Heilmittel vor allem. Aber auch das Handwerk der Dichtung hat er bereichert, bewiesen zumal, dass das Deutsche als poetische Sprache geschmeidig genug war, mit anderen Kultursprachen mitzuhalten. Viel Kleines entstand in Nebenstunden: Lied, Epigramm, Fabel, Ode, Lehrgedicht, auch entwurfsweise erbaul. Kurzprosa. Die Prosatragödie Seneca (1757/58 entstanden) fand Schiller etwa »dürftig, langweilig, mager und bis zum Unerträglichen frostig« (Über naive und sentimentalische Dichtung). Das ist nicht zuviel gesagt. Auch die bemerkenswerten Versuche, den Reim klass. Odenmaßen nutzbar zu machen, wurden alsbald obsolet, als Klopstock seine Vorherrschaft brach. Hingegen das Heldengedicht in fünffüßigen Jamben über zwei Makedonier, die ihre Heimat retten, Cißides und Paches in drey Gesängen vom Verfasser des Frühlings (Bln. 1759), half, den Blankvers in Deutschland zu verbreiten – die Ernte dieser Saat aber sollte dem Anreger dieses Gedichts, Lessing, vorbehalten bleiben. Dennoch ist K. zwar ein Erster, aber über das 18. Jh. hinaus nicht der schneisenschlagende Poet gewesen, für den ihn manche gern halten wollten; selbst der Frühling blieb doch eigentlich folgenlos. Ein Teil von K.s Berühmtheit ist nicht zuletzt den Umständen seines Todes zuzuschreiben, die den Nachgeborenen die Einheit von Leben u. Poesie herzustellen schienen – da doch die gleichzeitigen Dichter Wasser tranken u. Wein sangen, Gleim etwa, der ohnehin selten Pulver gerochen hatte, zehn Jahre aus dem Dienst geschieden war, als er die Preußischen Kriegslieder in den Feldzügen 1756 und 1757 von einem Grenadier schrieb. K. dagegen, der immer ein abgesagter Gegner des lebensfernen Berufspoeten (meint damals: Hofdichters oder Literaturprofessors) war, hatte zwar den Zweiten Schlesischen u. die ersten Feldzüge des Siebenjährigen Kriegs heil überstanden, starb aber als Major u. nicht lange nach Abfassung seines ex
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eventu visionären Cißides und Paches an den Violence, culture and identity. Essays on German Folgen seiner in der Schlacht bei Kunersdorf and Austrian literature, politics and society. Hg. empfangenen schweren Verwundungen – er Helen Chambers. Oxford u. a. 2006, S. 225–240. – hatte sich vorschriftswidrig, den Lange- M. Kagel: ›Wie ein Strom, im frühen Lentz, [...] so rauscht die wilde Schaar Athens daher‹. Kriegsermarck-Mythos vorwegnehmend, an die Spitfahrung u. Katastrophenmetaphorik in E. C. v. K.s ze seines Bataillons gestellt. Dieser Tatsache ›Cißides und Paches‹. In: Das Erdbeben v. Lissabon u. seiner vornehmen Persönlichkeit verdankt u. der Katastrophendiskurs im 18. Jh. Hg. Gerhard er neben einem frühen Gedenkstein am Grab Lauer u. a. Gött. 2008, S. 466–481. auch literar. Ehrungen: Abbt lobte ihn im Tod Ulrich Joost / Red. fürs Vaterland (1761); Lessing, der ihn schon zu Lebzeiten ungenannt als Empfänger der Kleist, Franz (Alexander) von, * 24.12. Briefe die neueste Litteratur betreffend imaginiert 1769 Potsdam, † 8.8.1797 Ringwalde. – hatte, lieh in der Minna von Barnhelm seinem Vielseitiger Schriftsteller (als Offizier, DiTellheim mehrere schöne, verbürgte Charak- plomat, Gutsherr). terzüge K.s (z.B. die verweigerte Annahme der Schuldzahlung); Schiller schließlich in- K. trat im März 1784 als Fähnrich in die Arszenierte die Bestattung Max Piccolominis in mee ein, deren Halberstädter Garnison nicht Wallensteins Tod nach diesem rührenden Vor- zuletzt durch Johann Ludwig Gleim ein geistiges Zentrum bildete, nahm 1790 als bild. Weitere Werke: Gedichte v. dem Verf. des Seconde-Lieutenant seinen Abschied u. wurFrühlings. Bln. 1756. – Neue Gedichte v. dem Verf. de 1791 unter Herzberg blutjung Legationsrat im Außenministerium, engagierte sich des Frühlings. Bln. 1758 (darin auch ›Seneca‹). Ausgaben: Werke. Hg. August Sauer. 3 Bde., jedoch dienstlich kaum. Nach vorteilhafter Bln. o. J. [1881/82]. Nachdr. Bern 1968 (Bde. 2 u. 3.: Heirat schied er 1792 aus dem Dienst aus. Briefe v. u. an K.). – Sämtl. Werke. Hg. Jürgen 1793 erwarb er das Gut Falkenhagen der Stenzel. Stgt. 1971. 1988 (Lit., S. 265–268). – Ci- Mutter seiner Frau, Albertine Jungk (gest. ßides u. Paches, in drey Gesängen. Hg. Martin Ka- 1855), verkaufte es 1797 u. kaufte stattdessen gel. Hann.-Laatzen 2006. – Internet-Ed. zahlreicher von Alexander von Humboldt dessen Gut Werke v. u. über K. in: Dt. Lit. des 18. Jh. Online. Ringwalde. Unmittelbar nach K.s frühem Literatur: Goedeke, Bd. 4/1 (31916), S. 79–81. Tod (Angaben über die Ursache sind wider– Hans Christoph Buch: Dulce et decorum est pro sprüchlich) erschien der erste Band einer patria mori. Über E. C. v. K. In: Begegnungen, Anthologie Vermischte Schriften (Bln. 1797), der Konfrontationen. Berliner Autoren über histor. einen Eindruck vom Charakter seiner vielSchriftsteller ihrer Stadt. Hg. Ulrich Janetzki. Ffm. seitigen Schriftstellerei vermittelt. K.s zahlu. a. 1987, S. 11–25. – Barbara Bauer: E. C. v. K., der reiche Werke sind in oft einander überDichter des ›Frühlings‹, ein klass. Nationalautor? In: Pommern in der Frühen Neuzeit [...]. Hg. schneidenden Einzel- u. Sammelausgaben Wilhelm Kühlmann u. a. Tüb. 1994, S. 621–647. – gedruckt u. von der Kritik durchaus wahrgeDavid L. Paisey: Krünitz, die Karschin, E. v. K. Die nommen worden; eine Auswahl gelangte Gesch. einer Vorderseite u. zweier Rückseiten. In: auch in die Sammlung Die Lieblingsdichter der Librarium 42 (1999), S. 194–206. – H. C. Buch: Deutschen (Bd. 9, Köln 1800). Gefilde voller Lust. In: Frankfurter Anth. 22 (1999), Das vielgestaltige Œuvre umfasst Gedichte, S. 31–35. – Anke-Marie Lohmeier: ›Arte aut Marte‹. auch Sonette u. Oden; im Vordergrund steÜber E. v. K., Dichter u. Soldat. In: Lit. u. Kultur hen eine strophische, nach Gesängen unterdes Rokoko. Hg. Matthias Luserke. Gött. 2001, gliederte Lehrdichtung über das Glück der S. 121–133. – Silvia Bonacchi: E. C. v. K. u. J. M. R. Liebe u. der Ehe, ferner Dramen u. ErzähLenz im Kontext der Rokokolyrik. In: ebd., lungen. Hochgespannter Ton der Lob- u. S. 177–195. – Michael Gratzke: ›Wer kann mit Blut und Feu’r die Worte färben?‹. Natur, Gewalt u. die Preisschriften kennzeichnet auf weite StreErfindung v. Männlichkeit bei E. v. K. In: Beiträge cken nicht nur seine Prosa (Rede auf Herzzur Kleist-Forsch. 15 (2001), S. 163–211. – M. berg, ein K.s Vater gewidmeter Panegyricus Gratzke: Fire and blood. Modernization, indivi- Über die eigenthümlichen Vollkommenheiten des duation and violence in German war literature. In: Preußischen Heeres), sondern auch eine gleich-
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falls strophisch gegliederte, gereimte Früh- antiroyalistische, aber keineswegs antifrz. schrift, Denkmal deutscher Dichter. In drei Ge- Kritik des Ancien régime. Dieser Teil ist besängen (zuerst erschienen in der »Deutschen deutsam für die polit. Situation, in der MoMonatsschrift«, 1791; auch in die Vermischten zarts letzte Oper, La clemenza di Tito, ihre UrSchriften, 1797, aufgenommen), eine Ge- aufführung erlebte. schichte der dt. Literatur, die bei Ulrich BoWeitere Werke: Ueber die eigenthüml. Vollner, also im 14. Jh., einsetzt (Karl der Große kommenheiten des Preuß. Heeres. Bln. 1791. – Das wird programmatisch vorangestellt). Die Glück der Liebe. Bln. 1793. – Zamori u. Midora, Kenntnisse, die K. hier an den Tag legt, aber oder die Philosophie der Liebe. Bln. 1793. – Das auch seine vielen gut gewählten lat. (zumeist Glück der Ehe. Bln. 1796. – Fantasien auf einer Horaz-)Motti u. Devisen verbieten es, K. als Reise nach Prag. Hg. Anke Tanzer. Heilbr. 1996. Literatur: Friedrich de la Motte-Fouqué: Die bloßen Dilettanten einzustufen. Eine Schulu. Universitätsbildung K.s ist nicht nach- drei Kleiste. In: Ztg. für die elegante Welt, Nr. 245–253, 2.-28.12.1821. – Hermann F. Weiss: weisbar; seine literar. Bildung hat er vielFunde u. Studien zu Heinrich v. Kleist. Tüb. 1984. leicht im Umkreis Gleims erworben. – Hans Joachim Kreutzer: Hat K. Mozart gesehen? Geschichtlicher Abstand lenkt die Auf- In: Mozart-Jb. (1989/90), S. 141–148. – Anke Tanmerksamkeit auf andere Werke K.s. Sein ers- zer: ›Mein theurer zweiter Kleist‹. F. A. v. K. Leben tes Drama, Graf Peter der Däne. Ein historisches u. Werk (mit Bibliogr. der Drucke u. der Hss.). OlGemählde (Bln. 1791), von K. selbst auf »Ja- denb. 1998. Hans Joachim Kreutzer nuar 1790« datiert, spielt um u. bei Breslau, unter dt. u. »pohlnischer« Ritterschaft, wobei Kleist, (Bernd) Heinrich (Wilhelm) von, die Rolle des Schurken einem Deutschen zu* 18.10.1777 Frankfurt/O., † 21.11.1811 fällt. Es verbindet Ritterdrama, Familien- u. zwischen Berlin u. Potsdam, am heutigen Liebestragödie. Zwar obsiegt mit Graf Peter Kleinen Wannsee; dort auch bestattet; das Gute, doch bricht dieser vergiftet zuGedenkstein unweit dieses nicht mehr sammen – ein Schluss in gänzl. Ausweglogenau lokalisierbaren Orts. – Dramatiker, sigkeit, wie ein Jahrzehnt später in der Familie Erzähler, Publizist. Schroffenstein des jüngeren Verwandten Heinrich von Kleist. Qualitativ beachtenswert, K. entstammte einer altpommerschen Famiauch im Vergleich mit Grillparzer, ist K.s lie wend. Herkunft. Die in mehrere Linien Sappho (Bln. 1793), aus der Heinrich von verzweigte Familie (K. gehörte dem Haus AltKleist in seinem Aufsatz, den sichern Weg des Schmenzin aus der Linie Damen-Muttrin an) Glücks zu finden palimpsestartige Zitate ge- war im 18. Jh. in den meisten preuß. Prowonnen hat. Einem Anhang Über dramatische vinzen ansässig u. in erster Linie, aber nicht Dichtkunst (S. 157–191) gebührt Aufmerk- ausschließlich, im Militär vertreten. Nach samkeit vor dem Hintergrund der dramen- Leistung wie Selbstverständnis rechnete sie theoret. Diskussion der Zeit; K. erweist sich gleichsam zur Substanz des preuß. Staates. als fachlich versierter Kenner von Drama u. Auch zu K.s Lebenszeit hatten zahlreiche Schauspielkunst. Namensträger hohe u. höchste Positionen Rätsel umgeben K.s 1792 ohne Namens- inne, in erster Linie als Heerführer. Die Fanennung u. im Ausland (Dresden u. Leipzig) milie hatte bereits vor K. zwei Dichter auferschienene Fantasien auf einer Reise nach Prag, zuweisen: Ewald von Kleist, dessen Tod als in ihrer ersten Hälfte Reisebriefe, die Land- Offizier (Schlacht von Kunersdorf) im Anschaft, Parks, Gewerbe, Bevölkerung schil- denken der Nachlebenden den Zwiespalt dern u. vermutlich als Vorzeichnungen zu zweier Existenzformen versöhnte, der für K. Heinrich von Kleists Briefen von der Würz- lebenslang bestehen blieb, u. Franz Alexanburger Reise gedient haben. Dies könnte aber der von Kleist, dessen Lebensweg den K.s in auch diplomatische Camouflage sein für die manchem vorzeichnet. – K.s Traum, mit seizweite Hälfte, eine Schilderung der böhm. ner Tragödie Robert Guiskard »zu so vielen Königskrönung Kaiser Leopold II., eine an- Kränzen noch einen auf unsere Familie tiklerikale u. – unter Aussparung Preußens – herabzuringen« (an Ulrike von Kleist,
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5.10.1803), bringt sein Bewusstsein zum Ausdruck, einer großen Tradition, die niemals eine bloß private war, mit seiner Existenz verpflichtet zu sein. In den geschichtl. Vorgaben seiner Familie hat K. sich, in Bindung wie Abstoßung, zeitlebens bewegt. – »Familie« als individuelle Konstellation hat er nur in fragmentar. Form erlebt. K. wurde geboren als Sohn Joachim Friedrichs von Kleist, (damals) Kapitän im Regiment Herzog Leopold von Braunschweig, als drittes von fünf Kindern aus zweiter Ehe; aus erster Ehe stammten zwei Töchter, darunter Ulrike, K.s wichtigste familiäre Bezugsperson. K. erhielt häusl. Privatunterricht. Seit seinen Kindertagen bleiben Bemerkungen, er sei impulsiv bis unstet gewesen, konstant. Der Vater starb 1788 als Major, die Pensionsbitte der Witwe wurde abgeschlagen, lange Jahre half K.s Schwester Ulrike. K. wurde, zehnjährig, nach Berlin in hugenott. Erziehung gegeben, über deren Form u. Gehalt so gut wie nichts bekannt ist. Nach vier Jahren, mit der Konfirmation (20.6.1792), kam der 15-Jährige zum Militär, ins Regiment Garde. Nach dem Tod der Mutter (3.2.1793) machte er den Rheinfeldzug mit, auch in ernsthaften Gefechten. Im Sommer 1795 kehrte das Regiment nach Potsdam zurück. Nach knapp vier Jahren, die letzten beiden als Seconde-Lieutenant, erbat K. seinen Abschied, um studieren zu können. Er erhielt ihn am 4.4.1799. Dieser Entschluss war kein Durchbruch zu einem bestimmten Lebensziel. K. hat immer wieder nach Anstellungen in staatl. Sphäre gesucht. – Spurenhafte Hinweise lassen darauf schließen, dass er als Soldat bereits geschrieben hat, wahrscheinlich Gedichte. Das früheste Datum (1792) nennt K. selbst, als er 1808 im »Phöbus« eines dieser Gedichte (Der höhere Frieden) veröffentlichte. Den Charakter dieser Dichtung könnte das handschriftlich erhaltene Gedicht Nicht aus des Herzens bloßem Wunsche veranschaulichen. An der lyr. Sprache der Epoche hat K. im Übrigen keinen prägenden Anteil. K. hatte nacheinander gleichsam zwei verschiedene Lebensläufe, zunächst den eines Offiziers, dann, nach einer Phase der Orientierungssuche, ein Schriftstellerleben, das al-
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lein von Möglichkeiten u. Notwendigkeiten der Produktion bestimmt war. Er hat selten in amtl. u. geschäftl. Beziehungen gestanden, so dass nur wenige dokumentarisch gesicherte Daten über ihn existieren. Über sich selbst hat K. sich kaum je im Zusammenhang geäußert. Äußerungen von Zeitgenossen, die sein Dichtertum einbezögen, gibt es so gut wie keine. Die vielfach zufälligen Aussagen über ihn gewannen später, als sein Ruhm entstand, verzerrte Dimensionen. Hinzu kommt, dass K.s Briefe für seine Charakteristik nur auf Umwegen deutbar sind. Sie bestehen überwiegend in schriftstellerischen Situations- u. Rollenprojektionen für den Schreiber u. die Adressaten u. müssen zum guten Teil als literar. Texte gewürdigt werden. Unter dem von ihm selbst formulierten Vorzeichen der exzentr. Bahn eines Kometen durchlebte K. ein zweieinhalbjähriges Wechselspiel von Selbststabilisierungen u. Fluchtversuchen. Ausgangsbasis war seine Idee eines »Lebensplanes«, im Grunde ein Verfahren immerwährender, zweckfreier Selbstbildung. Fachlich dachte K. an Mathematik, Philosophie u. Physik, zusammengefasst von ihm »höhere Theologie« genannt. Unter dem Druck familiärer Erwartungen nahm er ein Rechtsstudium in Frankfurt/O. auf. Denkformen u. Schreibweisen, die sein dichterisches Verfahren entscheidend prägten, hat er möglicherweise daraus bewahrt. Im zweiten Semester verlobte sich K. mit Wilhelmine von Zenge, Tochter des Garnisonschefs, nachmals Ehefrau des Philosophen Wilhelm Traugott Krug, in Königsberg der Nachfolger Kants. Die warmherzige, aufrichtige junge Frau ist im – rein literarischen – Spiegel der Briefe K.s, in denen ihr beständig abstrakte Rollen vorgezeichnet werden, nicht wiederzuerkennen. – Nach drei Semestern schuf sich K. ein Moratorium in Gestalt seiner geheimnisvollen Würzburger Reise, für deren Zweck er in Briefen so viele verschiedene Fährten gelegt hat, dass dieser auf Dauer verborgen blieb; eine Selbsterprobung auf Eignung zum Schriftsteller war zumindest mit im Spiel. – Die Beamtenlaufbahn empfand K. als Bedrohung u. wich vor ihr zunächst durch eine Reise in Begleitung seiner Schwester Ulrike
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über Dresden nach Paris aus. Vor die Notwendigkeit gestellt, sich aus bestehenden Verhältnissen mit Gründen lösen zu können, hatte er zuvor eine Lebenskrise als Erschütterung durch die krit. Philosophie Kants formuliert. Themen wie Erkenntnis u. ihre Bedingungen, Naturrecht u. Vertrag, Eigentum u. Bürgerrechte, Krieg u. Frieden haben K. fundamental bewegt, aber ein Philosoph im method. Sinne war er nicht. Die Darstellung solcher Probleme war ihm nur in Form von Vorgängen oder Fällen, die er szenisch wie erzählerisch gestaltete, möglich. Zweimal hat er in seiner (»vordichterischen«) Frühzeit seine Suche an krisenhaften Lebensschwellen in großen Aufsätzen gleichsam festgeschrieben: 1799 in dem Aufsatz, den sichern Weg des Glücks zu finden, u. 1801 in der Geschichte meiner Seele (verloren); hiervon zu unterscheiden ist ein sog. Ideenmagazin, das keinen Werkcharakter trug. K.s Briefe aus Paris bilden nicht nur einen Beitrag zur ausgedehnten dt. Parisliteratur, sie sind v. a. für die gesellschaftl. Aspekte seiner eigenen Dichtung hochwichtig: In Paris meinte K. einen katastrophischen, nahezu endzeitl. Zustand gesellschaftl. Entwicklung wahrzunehmen, allen philosophischen Entwürfen als reale Verneinung entgegengesetzt. Der Ursprung seiner Dichtung liegt in der Entdeckung seines ureigensten Talents, Grundprobleme von Zeit u. Gesellschaft in konzentriertester dramat. Konstellation darzustellen; sie muss K. in ihrer Plötzlichkeit selbst überrascht haben. Er hat das in dem Bild einer Wiedergeburt, im Sinne des pietistischen Erweckungserlebnisses, gefasst u. das Datum als seinen zweiten, wahren Geburtstag verstanden: »Ja, mein Geburtstag ist heute [...]« (an die Braut, 10.10.1800). Auf der Rückreise trennten sich in Frankfurt/M. die Geschwister, u. K. ging nach Basel, Bern u. Thun. Die zwölfeinhalb Jahre nach seiner Lösung aus der militärischen Laufbahn hat K. überaus unstet verbracht, nur zehn Jahre als Schriftsteller. Wie er unter solchen Lebensumständen seine literar. Studien, die ausgebreitet u. zgl. fachmännisch waren, betrieben hat, entzieht sich der Vorstellung. Es gibt keine Hinweise auf die Art, wie K. seine
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Kenntnisse erworben, fixiert u. aufbewahrt haben könnte. Nachweise über Bibliotheksbesuche existieren, kaum über Bücherbesitz; ein Nachlass ist nicht erhalten. Was K. in Händen hielt, hat er vor seinem Tod vernichtet. Nur selten hatte er einen festen Wohnsitz: April 1799 bis Juli 1800 als Student in Frankfurt/O., von Nov. 1800 bis März 1801 in Berlin, wo er an Sitzungen im Manufaktur-Departement teilnahm. Zweimal hielt sich K. als freier Schriftsteller für längere Zeit an festem Ort auf: in Dresden von Aug. 1807 bis April 1809 u. in Berlin ab Febr. 1810. Zwischen diesen an sich schon unzusammenhängenden Stationen unternahm er immer wieder Reisen der allerverschiedensten Art (zusammengerechnet machen sie die Hälfte der gesamten Zeitspanne aus): Herbst 1800 die sog. Würzburger Reise, Frühjahr bis Herbst 1801 die Parisreise, Dez. 1801 bis Okt. 1802 Basel, Bern, Thun. November u. Dez. 1802 hielt sich K. in Weimar auf, Jan. u. Febr. 1803 in Oßmannstedt, März bis Juli in Leipzig u. Dresden. Es folgte eine zweite Schweizer Reise, die auch über die Alpen führte. Im Okt. kam K. nach Genf u. ging dann erneut nach Paris. Nach einem fehlgeschlagenen Versuch, sich der frz. Invasionsarmee anzuschließen, wurde er im Dez. vom preuß. Gesandten zur Abreise gezwungen, traf aber erst Juni 1804 in Berlin ein. Zuvor war er (unter dem Vorwand einer Erkrankung?) in Mainz geblieben u. aus unbekannten Gründen mehrfach nach Paris gependelt. Im Jan. 1805 wurde er regulär im Finanzministerium angestellt u. wechselte im Mai nach Königsberg, wo er als Diätar bei der Kriegs- u. Domänenkammer arbeitete. Zeitweilig war er jedoch beurlaubt, im Aug. 1806 gab er die Stellung auf. Im Jan. 1807 wanderte er von Königsberg nach Berlin, wurde (vielleicht nicht ohne Grund) verhaftet u. nach dem Fort de Joux bei Pontarlier verbracht. Seine Dresdner Schriftstellerexistenz 1807/08 vertauschte K. im Sommer 1809 für fast neun Monate mit einer in Einzelheiten nicht kenntl. polit. (Kurier?-) Tätigkeit in Böhmen u. Österreich, aber auch im Westen (z.B. Frankfurt/M.). Dieses Leben von beispielloser Unrast hat Halt u. Form in einem dichterischen Werk von einzigartiger Strenge gefunden.
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K.s erlernter Beruf, der des Soldaten, hat seine Dichtung bis tief in Bildlichkeit u. szenisch-motivische Konstellationen entscheidend bestimmt: K. wurde rein thematisch der Kriegs- u. Militärdichter par excellence der Deutschen. Philologische Archäologie der Zitat- u. Lektürespuren in K.s Texten lässt ausgebreitete Lektüre seit früher Jugend erschließen. Schlüsselerlebnisse in seiner Entwicklung bot Wieland-Lektüre, die ihm zentrale Elemente einer christlich getönten, aufklärerischen Vervollkommnungslehre vermittelte. Auch in seiner Dichtung verwandte K. immer wieder erlernte christl. Themen wie Formen. Intensives Interesse an bildender Kunst bewirkte, dass seine Dichtung auf weite Strecken vorgeformt ist von Gestalten u. Situationen, die er in ausgedehnten Museumsstudien in großer Zahl gespeichert haben muss. Musikausübung ist nur für die Militärzeit wirklich belegt. K.s Instrument war die Klarinette; diese erfordert indes eine gewisse Kontinuität beim Üben. Er erwähnt mit Joseph Beer einen Virtuosen von europ. Rang als ihm persönlich bekannt; auch eine Begegnung mit dem berühmten Flötisten Friedrich Ludwig Dülon, der 1788 Hölderlin unterrichtet hatte, ist belegt. K. nahm gegenüber seinen nachmals zu Bedeutung gelangten Jugendfreunden (vornehmlich Otto August Rühle von Lilienstern u. Ernst von Pfuel) in briefl. Formulierung gern eine Führungsrolle ein. Gesprächspartner von Autorität besaß er in Frauen, die deutlich älter waren als er selbst: Adolphine von Werdeck, Marie von Kleist, geb. von Gualtieri, v. a. aber seine Halbschwester Ulrike. Ihnen gegenüber offenbarte er sich am unverstelltesten. K. ist praktisch vaterlos aufgewachsen, hat weite Teile der Kindheit in der Fremde der Armee verbracht. Die übermäßige Macht der Vater- u. Herrschergestalten in seiner Dichtung lässt auf Erlebnisdefizite schließen. Über seine Mutter ist so gut wie nichts bekannt. In K.s Dichtung gibt es einerseits zauberhafte Mädchengestalten, daneben alters- u. geschlechtslose Herrscherinnen u. Priesterinnen, zum Frauenbild der romant. Generation leistete K. jedoch im Grunde keinen Beitrag.
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Auf verschiedene Weise sind die Dramen K.s zu je zweien entstanden u. als Kunstwerke in solchen Konstellationen aufeinander bezogen. Die Erzählungen K.s haben ihren geschichtlich-biografischen Ort an bes. Entwicklungsstationen seiner Dramatik, letztlich in solchen des Scheiterns. – Auch wenn für die Mehrheit der Dramen Anregungen in Literatur, Kunst u. Geschichte existieren, besteht doch prinzipiell ein Hiatus zwischen benennbarem Substrat u. ausgeführtem Werk, so dass nicht an eine »Quelle« zu denken ist, aus der das Werk hervorgegangen wäre. Durchweg war eine Konstellation, ein Konflikt in Recht, Geschichte, Politik, Gesellschaft oder überhaupt die bes. künstlerische Aufgabe als solche die primäre Veranlassung, zu der K. den Stoff dann hinzugefunden hat. Ausgreifender noch als in den Dramen hat K. in seinen Erzählungen Zeit u. Handlung verfremdend in weite Ferne »verlegt« (eine bezeichnende Wendung im Untertitel der Marquise von O...) u. ist mit größter Sorgfalt jedem Anschein realistischer Darstellungsabsichten aus dem Wege gegangen. Die auf diese Weise thematisierten Probleme sind solche aus K.s eigener Zeit u. Welt. Die Familie Schroffenstein u. Robert Guiskard hat K. selbst nebeneinander gestellt u. dabei die Problematik innergesellschaftl. Entwicklung mit der einer Herrschaftsform, die in eine Krise gerät, konfrontiert: »[...] was ist der Staat? Oder: was ist das Eigentum?«, lauten die exemplarischen Fragen eines gedachten Examens in K.s Essay Über die allmählige Verfertigung der Gedanken beim Reden (nicht datiert, um 1805?). Hier sind in Abbreviatur die Problemkerne dieser beiden frühesten Tragödien K.s angegeben. Seine Dichtung erwächst aus einem tiefgreifenden Krisenbewusstsein in Bezug auf Gesellschaft u. Staat. Die Familie ist schon in K.s erster Tragödie eine gesellschaftl. Formation, geschichtlich gewachsen u. durch Eigentum, Erbe u. Vertrag definiert. »Familie« bleibt eines der Urthemen K.s. Ein zweites, der Herrschaftsvertrag, ist im Guiskard angesprochen. Aus der Reibung solcher Themen im geschichtl. Ablauf, d.h. durch Verlust von Frieden u. Harmonie u. der Utopie ihrer Wiedergewinnung, entsteht die aggressive
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Schärfe der dramat. Konflikte K.s, Kehrseite einer unstillbaren Sehnsucht nach Frieden. Wenn das Guiskard-Drama K. letztlich erfolglos in Atem hielt, mag dabei mitgespielt haben, dass die Analogie zu dem zeitgeschichtl. Paradigma Napoleon (der histor. Guiskard war gleichfalls Usurpator u. legaler Herrscher in einem) überdeutlich war u. sich überdies im Lauf der Zeit wandelte: K. begann die Arbeit etwa Mai 1802 in Thun u. brach sie Nov. 1803 durch Zerstörung eines Manuskripts (»durchlesen, verworfen, und verbrannt«) zunächst ab. Der Appellcharakter dieses hochdramat. Gestus gegenüber dem familialen Über-Ich in Gestalt der Halbschwester Ulrike ist eindeutig. 1807/08 rekonstruierte oder überarbeitete K. das Stück u. druckte den Anfang im »Phöbus«; wie weit es je ausgeführt wurde, bleibt ungewiss. Der Bau der ersten Dramen K.s verrät sorgfältiges Studium der attischen Tragödie, insbes. des analyt. Prinzips. Im Beginn der Schroffensteiner sind sämtl. Voraussetzungen der Katastrophe bereits vorhanden. Alle aktiven Handlungsimpulse gehen von der Gestalt des »Rächers« Rupert aus, der (wie nach seinem Muster die K.schen Gestalten Michael Kohlhaas u. der Cheruskerfürst Hermann) eine durch ein ungeheuerl. Verbrechen gestörte natürl., urspr. Ordnung wiederherstellen will, indem er mit gleicher Radikalität den Verursacher vernichtet. Zerstört werden aber die Träger des Erbes, die nächste Generation. Die Kinder, Ottokar u. Agnes, vereinen sich in einer gegenläufigen Handlung: Dem Paar gelingt in der »Natur« (Einsamkeit, Hochgebirgsszenerie als Ort der Idylle, der Utopie; die menschl. Behausung ist der Ort des Irrtums u. Unrechts) die Aufklärung der Irrtümer, denen die Väter erlegen sind, jedoch zu spät. In dem (erotischen) Schutzraum einer Höhle bringt irrtümlich jeder der Väter sein eigenes Kind um. Die Schlussszene absoluter Hoffnungslosigkeit kommentiert der wahnsinnig gewordene Bastard mit dem Bild des hinter dem Menschen liegenden Paradieses (»s’ist inwendig / Verriegelt« VV. 2630 f.), das zentral in dem Essay Über das Marionettentheater wiederkehrt. – Die Tragödie, urspr. mit span. Namen, hat K. für den Druck in ein dt. MA verlegt, das wie alle
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Landschaften, Länder u. Zeiten bei K. weder Atmosphäre noch Kolorit aufweist. – Die Spielorte der K.schen Dichtungen lassen sich zumeist als Innenräume verstehen, oftmals nahezu in den Maßen u. Begrenzungen von Bühnenräumen, mit Auf- u. Abtritten, Gängen, nicht zuletzt mit entsprechender Gestik der redenden Personen. K.s Robert Guiskard besitzt in Umrissen gleichsam eine Vorzeichnung in Gestalt einer Abhandlung von Karl Wilhelm Ferdinand von Funck in Schillers »Horen« (1797). Der Herrscher, dessen Legitimation auf seiner Persönlichkeit beruht, aber wegen der zugrunde liegenden Usurpation zgl. in Zweifel steht, ist bei Einsetzen der Handlung bereits an der Pest erkrankt, die – wie im Sophokleischen König Ödipus – im Volk wütet. Den Weg nach vorn, ins belagerte Byzanz, weist eine trügerische Wahrsagung. Da in den erhaltenen 524 Anfangsversen das Gegenspiel noch nicht klar hervortritt (der kriegerische Gegner? Guiskards eigenes »Haus«, d.h. die konkurrierenden Prinzen? Etwa die Krankheit in Guiskard selbst?), ist nicht auszumachen, worin das Problem bestand, das K. mit diesem Drama zu lösen nicht gelang. Dass ein Herrscher durch die Art seines eigenen Untergangs Staat u. Volk radikal in Frage stellen kann, zeigt auch Penthesilea. Vermutlich hat deren noch radikalere »Erfindung« K.s Interesse am Guiskard später zurücktreten lassen. Die Möglichkeiten des komischen Dramas im klassisch-romant. Zeitalter erprobte K. mit dem Zerbrochnen Krug u. mit Amphitryon, indem er den vollen Gattungsspielraum auf auseinander strebenden Wegen, zwischen Geschichte u. Mythos, ausmaß. Beide Werke sind Gegenstücke unter dem Aspekt einer vorausgesetzten Totalität. – In einer für den Druck wieder gestrichenen Vorrede zum Krug beruft sich K. auf einen Kupferstich von Le Veau nach einem Gemälde von Philibert Debucourt, dessen Personal u. Aufbau er mit Hilfe des Sophokleischen Ödipus entscheidend umdeutet: Der Stich zeigt durchaus keinen schuldigen Richter, hingegen eine verführte Unschuld nebst dazugehörigem jugendl. Täter; am Arm trägt das Mädchen einen schlichten Krug, der, da zerschlagen,
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erot. Symbolik besitzt. K. hat seine Fabel somit weitgehend erfunden. Mit dem dargestellten Bauernmilieu zitiert er zgl. eine ältere Kunstwelt, die hinter der des frz. Bildes liegt: das niederländ. Bauerngenre des 17. Jh. In Verssprache u. Handlungsstruktur der großen Tragödie bildet diese Motivwelt ein höchst spannungsreiches Gefüge, außerdem wird die zeitgenöss. Rechtsproblematik, ohne direkte Zielsetzung, aufgerufen. Mit dem teilweise tatsächlich komischen Personal kontrastiert die ernsthafte Mädchengestalt Eves, die in mehreren Richtungen Krisen von Vertrauen u. Erkenntnis durchlebt. In dieser Form, dazu ohne Szenengliederung, für die Vortragsart der »kostümierte[n] Deklamatoren« (C. Jagemann) entschieden zu lang, gelangte das (1805 bereits abgeschlossene) Werk am 2.3.1808 am Weimarer Hoftheater zur Uraufführung, zum Überfluss im Anschluss an eine Operette, die auf ein in Berlin lange schon abgespieltes Stück Kotzebues (!) zurückging. Im Druck vereinfachte K. 1811 das Drama, indem er es zugunsten der Gattungsreinheit kürzte. Damit hat er selbst der Auffassung vorgearbeitet, es handle sich um ein Lustspiel. Die geopferten etwa 480 Verse, in einem Anhang als »Variant« abgedruckt, lassen erkennen, dass der Zerbrochne Krug urspr. eine »dark comedy« war, bei der es auf Weite u. Stärke der Spannung zwischen komisch u. tragisch ankam. In beiden Fassungen nimmt der Prozess um den Krug für die schuldige Hauptgestalt – lustspielwidrig – kein gutes Ende: Adam wird nicht wieder integriert, er ist auch nicht einmal reuig. Amphitryon rief bei der Kritik der Zeit Bewunderung hervor, gespielt wurde das Drama nicht. Ähnlich wie bei Penthesilea scheint der Schwierigkeitsgrad als hoch empfunden worden zu sein. K. hat durch den Untertitel Ein Lustspiel nach Moliere die Erwartungen des Publikums ironisch desavouiert: Er hat dem im genaueren Sinne höf. Text Molières schwere u. dunkle Farben hinzugefügt, ihn stofflich privatisiert u. individualisiert. K.s Leistung beruht im Kern auf der Erfindung einer neuen Alkmene-Gestalt: jung, eben verheiratet, Mädchen u. Frau in einem, vollkommen autonom in sich ruhend (am besten kenntlich in der von K. erfundenen Szene II,
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5). Der Raum, den diese Gestalt bei K. beansprucht, geht insbes. dem leicht ironisierten Jupiter verloren. Das Spiel auf der Götter- u. Heroenebene verselbstständigt sich derart, dass Leser u. Zuschauer zwischen dieser u. der unwiderstehlich komischen Dienersphäre hin- u. hergeworfen werden. Kein K.sches Stück weist eine so gewaltige Amplitude von hoch u. niedrig, tragisch u. komisch auf, mit seinem Schluss verharrt es unentschieden zwischen solchen Orientierungsmarken. – Der Amphitryon löste bereits im Sommer 1807 das für K. künstlerisch u., darauf beruhend, auch menschlich zerstörerische Fehlverständnis Goethes gegenüber seiner Kunst aus. Goethe unterstellte K. hier, ähnlich ein halbes Jahr später bei Penthesilea, die Absicht zur Vereinigung von Antike u. Moderne. Doch K., ruhelos experimentierend, hat nie eine Nachfolge, eine Wiederbelebung der Antike gesucht. Seine Alkmene ist eine Gestalt seines eigenen Zeitalters u. gleichwohl wiederum keine romant. Frauengestalt. Eine Verbindung zwischen Penthesilea (entstanden 1806/07) u. Käthchen von Heilbronn (entstanden 1807/08) hat K. selbst hergestellt, über die beiden Hauptpersonen (»das + und – der Algebra [...], [...] Ein und dasselbe Wesen, nur unter entgegengesetzten Beziehungen gedacht«; an Heinrich Joseph von Collin, 8.12.1808). Nimmt man diese Dramen als bildhafte Vergegenwärtigungen der beiden literar. Hauptorientierungsmarken der Zeit, Antike u. mittelalterlich-ritterl. Romantik, dann zeichnet sich der Gesamtgedanke einer »klassisch-romantischen Phantasmagorie«, wie Goethe den Helena-Akt seines Faust benannte, ab, jedoch in zwei voneinander unabhängigen Kunstwerken. Widersprüchliche Zusammenhänge zwischen polaren Gegensätzen solcher Art mögen die ansonsten schwer begreifliche wechselseitige Anziehung zwischen Adam Müller u. K. bestimmt haben. Die entlegene Variante der Überlieferung, dass die Amazone den Griechenhelden tötet, gewinnt Leben einzig unter Rahmenbedingungen der Erfindung, die von K. selbst stammen. Die ganz im Vordergrund stehende Welt von Heer, Krieg, Staat u. Geschichte hat er entscheidend verfremdet u. verrätselt durch Verlagerung auf das Thema Weiblich-
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keit. Die Irritation erfasst Bühnenhelden wie Publikum gleichermaßen u. macht das Geschehen, in immer wieder neuer Aktualität auflebend, nur unter enormer Anstrengung lesbar. Penthesilea, in deren Betroffenheit über Achill Ehrgeiz u. Liebe ununterscheidbar sind, verfehlt Achill von Anbeginn. Als ihre Staatsgründungserzählung im 14./15. Auftritt abläuft, ist für sie das Spiel schon verloren. Achill verliert das seine anschließend, indem er Penthesileas Suche nach ihm unter umgekehrtem Vorzeichen, also als bewusste Täuschung, nachvollzieht: Während Penthesilea sich dem ihr von ihrer Mutter verheißenen Achill in Bildern der Jagd nähert, unternimmt Achill den gleichen Versuch in der Form wehrloser Hingabe. K. vertauscht die im Abendland literarisch vorformulierten Geschlechterrollen, mit dem Ergebnis, dass kein Rollenspiel mehr gelingt. Penthesilea betreibt die Verfolgung Achills wörtlich, dabei Tiefenschichten des Eros freilegend, die künstlerischer Gestaltung auf der Bühne heute vielleicht eher zugänglich sind als wissenschaftl. Erklärung. Penthesilea erlebt ihre Anagnorisis am Ende (24. Auftritt) wie ein Auftauchen aus dem Wahnsinn: Sie vollzieht eine Selbstbestrafung in der Form des willentl. Liebestodes. – Kompromissloser noch als in den Schroffensteinern tritt K.s Grundauffassung zutage, dass die Gegenwart eine Umkehrung aller natürl. Verhältnisse ist: Die lebende Generation wird erschlagen von Recht u. Satzung einer Staatsform, die seit fernster Vorzeit auf Eroberung, Raub, Vergewaltigung u. Rache beruht. Die Dekadenztheorie der Geschichte, die von Montesquieu stammt u. von Burke fortentwickelt wurde, ist für K. grundsätzlich bestimmend. Der Dramatiker K. nähert sich der Ästhetik der Frühromantik nirgends stärker als in der Oberflächenstruktur des Käthchen von Heilbronn: Alle Regularitäten sind absichtlich gestört, Vers u. Prosa wechseln ohne Rücksicht auf Aktgliederung in schöner Willkür, die äußere Gliederung übergreift den dramat. Aufbau. Die absolute Hingabe einer halbkindl. Frauengestalt steht in krassem Gegensatz zu der Motivwelt der Ritterromantik. Das Doppeltraum-Thema weist auf den Mythos vom urspr. vollständigen Menschen zu-
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rück, den Platon im Gastmahl entwickelt. – K. hat beklagt, der Kunstgestalt des KäthchenDramas durch Konzessionen geschadet zu haben, die er vielleicht zu korrigieren beabsichtigte (an Marie von Kleist, Sommer 1811). Da diese nicht gut seine ureigensten, wiederkehrenden Themen betreffen können, bliebe dafür am ehesten die dem Zeitgeschmack entsprechende Einkleidung im Stile des Ritterdramas. Auch Die Hermannsschlacht u. Prinz Friedrich von Homburg sind gegensätzlich-zusammenhängende Pendants. Entstanden zwischen Mitte 1808 u. Frühjahr 1810, sind sie K.s letztes Wort zum Drama, die Bühnenbearbeitung des Zerbrochnen Krugs nicht gerechnet. – Die vordergründig wirkungssichere, aber vielfältig missdeutete Hermannsschlacht weicht diametral von dem Suche- u. Frageschema der früheren Dramen ab. Erstmals wird hier eine Konstellation schrittweise aufgebaut: ein militärischer Befreiungsschlag auf der Grundlage einer ad hoc gebildeten militärischen Koalition, zgl. mit der Andeutung ihrer anschließenden Umwandlung in ein polit. Bündnis. Fraglos hat dieses Werk K.s Aufnahme in den nationalliterar. Kanon bewirkt. Das Drama ist wie eine Waffe in einer erhofften, mit einem solchen Werk herbeizuführenden polit. Situation geschrieben. Jede Übertragung auf scheinbar analoge, jüngere Situationen enthält zwangsläufig Verfälschung: K. kannte den modernen Begriff von Nation noch nicht, sein Germanien beruhte auf kulturellen u. geschichtl. Faktoren. Die Maßlosigkeit der Rachehandlung Hermanns ist ein Zurückschlagen, ein chiliastischer Kampf mit dem Bösen. Die Gefahr, dass die Rache den Rächer selbst zerstört, wird deutlich herausgestellt. – In das Jahr 1809 fallen sorgfältig gefeilte polit. Agitationsgesänge (strenggenommen sind das keine Gedichte), die mit der Zweckbestimmung der Hermannsschlacht die gleiche Tendenz besitzen. Der äußere Handlungsrahmen des Homburg-Schauspiels ist ähnlich: erfolgreicher militärischer Abwehrkampf gegen Eroberer, das dramat. Interesse aber in der Hauptsache gerichtet auf den Geist eines Gemeinwesens, das von innen heraus u. auch für die Zukunft
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Überlebenskraft aufbringt. K. variiert eine bekannte vaterländ. Lesebuchgeschichte, deren Tenor Friedrich der Große in seinen Mémoires pour servir à l’histoire de la Maison de Brandebourg (1751) in dem Sinne vorformuliert hatte, dass die Herrscher-Vaterfigur des Großen Kurfürsten einen Fehler des jungen Feldherrn aus überlegener Weisheit verzeiht. K. deutet dies im Sinne der preuß. Reformzeit um: Der Fehler bleibt bestehen, doch ein lebendiges Gemeinwesen beruht auf Initiative wie Verantwortung des Einzelnen, dessen selbstständiges Handeln erfordert Freiraum, auch für nicht absolut normgerechte Individuen. In diesem Sinne lernt bei K. insbes. der Herrscher selbst. Der Text des Dramas steckt voller Anspielungen auf Denkschriften u. Eingaben der jüngeren Prinzen u. der Militärreformer nach der Niederlage von 1806. Es wird damit zu einem Plädoyer, das mit einer Widmung an die Prinzessin Marianne aus dem Hause Hessen-Homburg die politisch denkbar geeignetste Vermittlerin gefunden hätte. Dass die Dedikation je hätte stattfinden können, ist ausgeschlossen. Die Botschaft des Homburg bleibt ästhetisch in der Schwebe: Von der Eingangsszene, in der eine Utopie – als Traum – Bestandteil eines Spiels ist, verläuft eine eigentüml. Kreisbewegung zu der Schlussszene, in der das Erträumte erneut (nur) in einer Pantomime Gestalt gewinnt. K.s erste erzählerische Versuche sind Die Marquise von O... u. Das Erdbeben in Chili (entstanden 1805/06). Die Marquise steht strukturell dem Drama nahe, vom Sujet her wäre sie selbst für K.sche Unbefangenheit vom Theater ausgeschlossen: Eine junge Witwe fällt in die Hände marodierender Soldateska u. wird während einer Bewusstlosigkeit von dem Offizier, der sie gerettet hat, vergewaltigt. Die Familie verstößt die Schwangere, die, von den Zusammenhängen nichts ahnend, den Vater ihres Kindes mittels Zeitungsanzeige sucht. Der Text setzt sich aus einer Vielzahl erzählter Szenen, mit Dialog u. Begleitgestik u. sorgfältig markierter Bewegungsregie, zusammen. Episch berichtende Übergänge verbinden diese Szenen. – K.s räumlich-zeitl. Distanzierungstechnik lässt im Erdbeben mehrere gewichtige Themenkreise miteinander verschmelzen: die Ver-
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nichtung der Kinder durch die Instanz der Familie, ein Gesellschaftskonflikt (von der Art des Hofmeisters von Lenz), das Theodizeeproblem der Aufklärungsphilosophie, radikale Infragestellung eines religiös bzw. kirchlich sanktionierten Staats u. anderes mehr. Auf relativ begrenztem Raum überschreitet K., der wahrscheinlich unfreiwillig die Metamorphose von der Bühnen- in die erzählende Gattung vollzogen hat, in seiner Erzählkunst bei Weitem die Möglichkeiten der Bühnenkunst. Seit der Uraufführung des Käthchen im März 1810 in Wien blieb der Dramatiker K. ohne öffentl. Echo. Zum zweiten Mal, jetzt ernstlich in einer Notlage, wandte er sich der Erzählkunst zu. Im Sommer 1810 arbeitete er Michael Kohlhaas, seine gewaltigste Prosadichtung, aus. Das 1808 im »Phöbus« erschienene Fragment, etwa ein Viertel des Ganzen, zeigte das Aufbegehren eines, dem der Zugang zu einem Rechtsverfahren verweigert wird. In der Vervollständigung von 1810 traten hinzu: Kohlhaas’ Schuldigwerden durch eigene Gewalttaten, sein Zermürbtwerden in der Länge u. Vergeblichkeit des Prozessverlaufs, der zweite Staat u. dazu die Reichsgewalt. Der Schluss, der in Gestalt einer ehrenhaften Hinrichtung gerechte Strafe u. öffentl. Rechtfertigung ineinander verschränkt, fängt die gegenläufigen Motivierungsstränge in einem Paradox auf: Kohlhaas verfocht exemplarisch ein Bürgerrecht, das Recht, Eigentum zu erwerben, konkret im Rahmen seines Gewerbes, aber als die Obrigkeit sich seinem Appell entzog, sicherte er es sich selbst. Im Gewande der Lutherzeit kommen damit Fragen der zeitgenöss. Reformdiskussion zur Sprache. – Michael Kohlhaas wurde publiziert in einem Band Erzählungen (1810), der ferner Das Erdbeben in Chili, 1807 im »Morgenblatt«, u. Die Marquise von O...., 1808 im »Phöbus« erschienen, enthielt. Die »Berliner Abendblätter«, die K. am 1.10.1810 eröffnete, waren sein dritter Versuch auf dem Gebiet des Journalismus, eindeutig der professionellste im gegenwärtigen Sinn. Vorangegangen war 1808/09, zusammen mit Adam Müller, die Kunstzeitschrift »Phöbus«, die an der Last trug, dass die
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Herausgeber die Bedeutung, die ihre Funktion vorausgesetzt hätte, durch eigene Erstveröffentlichungen allererst gewinnen mussten. – 1809 in Prag stand K. knapp vor der Realisierung des Plans, eine Zeitschrift »Germania« mit der Aufgabe der ideolog. Vorbereitung antinapoleon. Erhebung herauszugeben; die erhaltenen Texte zeigen eine virtuose Vielfalt von Genres des polit. Journalismus. – Die »Abendblätter«, die dem modernen Begriff von Tageszeitung nahekommen, sind eine faszinierende, obschon geschichtlich unzeitige Erscheinung. K. als Redakteur kombinierte Information, Diskussion, Erziehung, Unterhaltung. Er bot öffentl., unparteiische Diskussion von (Reform-)Maßnahmen der Regierung auch mit oppositionellen Stimmen, hier der konservativen, altständ. Adelspartei, konzentriert um die Deutsche Tischgesellschaft (K. gehörte ihr, wie seit 1968 nachgewiesen, nicht an; der Zusatz »christlich-« ist eine Camouflage durch einen borussophilen Romantikforscher um 1900). K. belebte das Blatt durch Berichte über spektakuläre Tagesereignisse, nicht zuletzt Kriminalfälle. Zitate aus ausländ., namentlich frz. Zeitungen, die der Leser als tendenziös entzifferte, informierten über die polit. u. militärische Lage in Europa. Indem die Regierung Mitteilungen der Polizei unterband, traf sie die »Abendblätter« entscheidend, nämlich in ihrem Unterhaltungswert (in einem Zeitalter ohne einen Begriff von unabhängiger Presse war das nicht »Zensur« zu nennen). Dem begrenzten Raum u. zunehmend dem Zwang zur Eigenproduktion verdanken Kostbarkeiten des K.schen Œuvres ihre Entstehung: virtuose Anekdoten als vaterländ. Identifikationsentwürfe, einige hochstilisierte Essays zur Ästhetik – K. zeigt sonst keine Neigung zur schriftl. Fixierung ästhetischer Reflexion. Allem voran steht Über das Marionettentheater (12. bis 15.12.1810), ein Essay, der eine prinzipiell unendl. Vielzahl von Deutungen zulässt. Gerade weil er kein aufzulösendes Rätsel enthält, ist er ein Paralleltext (kein anwendbarer Schlüssel) zu K.s »späten« Werken mit ihrer das Gleichgewicht widersprüchl. Wertungen auskostenden Lust
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an der Kompliziertheit u. Unentwirrbarkeit der Welt wie der Texte. Im Sommer 1811 war K. mit sich u. seinen Manuskripten ganz allein. Erstmals ließ er sich auf die Gattung Roman ein. Das Manuskript, fertig oder nicht, hat er im Nov. wahrscheinlich vernichtet. Damit ist der zweite Band seiner Erzählungen, begonnen Herbst 1810, gedruckt Mai 1811, das zufällige Schlusswort seiner Dichtung. Das Bettelweib von Locarno u. Die Heilige Cäcilie waren für die »Abendblätter«, Die Verlobung in St. Domingo für den »Freimüthigen«, Der Findling u. Der Zweikampf für diesen Band entstanden. Das detektivisch zu lösende Rätsel tritt in diesen Erzählungen zurück. Wahr u. Falsch, antagonistische Ursachen, Gut u. Böse, Schuld u. Strafe bleiben in gleichgewichtiger Schwebe; die Rätselhaftigkeit der Welt wird zur Unerklärbarkeit. Im literar. Leben seiner Zeit hat K. eine untergeordnete Rolle gespielt. Sein Werk war auf dem Buchmarkt, auf der Bühne u. in der literar. Kritik nur wenig präsent. K.s Ruhmesgeschichte setzte erst ein mit der Nachlassausgabe Tiecks (Heinrich von Kleists hinterlassene Schriften. Bln. 1821; u. a. mit Hermannsschlacht u. Homburg) bzw. mit dessen erster Gesamtausgabe (Heinrich von Kleists gesammelte Schriften. 3 Bde., Bln. 1826). K.s erste, zgl. konsequenteste Tragödie, Die Familie Schroffenstein (Bern/Zürich 1803), war anonym erschienen; ihre angemessene Würdigung steht auch heute noch aus. K.s erstes mit Verfassername gedrucktes Drama, Amphitryon (Dresden 1807), gelangte nicht auf die Bühne, Penthesilea (Tüb. 1808) galt noch um die Jahrhundertwende als Wagnis von extremer Schwierigkeit. Im Herbst 1810 kam Das Käthchen von Heilbronn (Bln.) heraus, schließlich im Frühjahr 1811 Der zerbrochne Krug (Bln.). Mit den polit. Dramen, Hermannsschlacht u. Homburg, aber fehlte für das Urteil der Zeitgenossen praktisch das Zentrum der K.schen Dichtung. Noch weit geringer war das Echo der Aufführungen: Die Schroffensteiner, 1804 im entlegenen Graz, blieben praktisch wirkungslos. Der zerbrochne Krug geriet in der Uraufführung nicht. Der Misserfolg traf K. tief. Für Zeitgenossen wie Nachwelt bot er Anlass zur Le-
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gendenbildung. – Das Käthchen von Heilbronn machte K. zum Opfer des populären Romantizismus des 19. Jh. Den Zeitgenossen, etwa gar Goethe, mangelndes Verständnis für die ungeheuerl. Wagnisse der Penthesilea vorzuwerfen, wäre absurd. Der Abstand der Anforderungen zum Üblichen ist in einigen Fällen unüberwindbar. Hermannsschlacht u. Homburg sind, aus unterschiedlichsten Gründen, bis heute auch für große Künstler extreme Herausforderungen geblieben. Die beiden Sammelbände der Erzählungen sicherten K. ganz am Ende seines Lebens die Achtung einiger Kenner. Das literar. Gespräch der Zeit reagierte kaum darauf. Kein irgend erwähnenswerter dt. Dichter hat in vergleichbarem Maß außerhalb des Tagesgesprächs seiner Zeit gelebt u. geschrieben. K.s Tod ist mit dem Begriff »Selbstmord« nicht erfasst. Die Tötung Henriette Vogels, Frau des Rendanten Friedrich Ludwig Vogel (K.s persönl. Beziehung zu ihr wird als schwärmerisch religiös geschildert), war nach den Begriffen der Zeit ein Mord, die Selbsttötung eine Konsequenz von unerhörter, aber doch selbstverständl. Sachlichkeit. K.s Tod war auch eine Hinrichtung, Selbstbestrafung – alle Todesarten in K.s Dichtungen sind Konsequenzen rechtl. Charakters aus vorangegangenen Taten. Nicht ohne Bedeutung auch der Ort: auf einer leichten Anhöhe, nahe der Brücke, die den heutigen Kleinen u. Großen Wannsee trennt, in Sichtweite der großen Heerstraße zwischen dem militärischen u. dem polit. Zentrum des Staats, zum immerwährenden Gedenken für alle, zum fortdauernden Vorwurf aber an das Königshaus. Das hat man dort gewusst u. verstanden; die Prinzessin Marianne deutete es am 8.1.1833 in ihrem Tagebuch an. Der komplizierte, verstörende Vorgang warf tiefe Schatten auf K.s ganze Wirkungsgeschichte. Der Vorwurf, eine der reichsten Begabungen der dt. Dichtung sei an Gleichgültigkeit u. Unverstand der Öffentlichkeit, der Kritik, der Obrigkeit zugrundegegangen, ist Bestandteil des Kleist-Mythos geworden u. hat 1912 zur Gründung des Kleist-Preises geführt (1932 eingestellt, 1985 wiederbegründet).
Kleist Weitere Werke: Kritische Ausgaben: Werke. Im Verein mit Georg Minde-Pouet u. Reinhold Steig hg. v. Erich Schmidt. 5 Bde., Lpz./Wien 1905 (einzige Ausg. mit durchgehender krit. Rechtfertigung u. erläut. Anmerkungen). Neu durchges. u. erw. 2. Aufl. v. Georg Minde-Pouet. Lpz. 1936 (Briefe in den Bdn. 1 u. 2 in originaler Schreibweise), App. u. Komm. nicht erschienen. – Sämtl. Werke. Brandenburger Ausgabe. Hg. Roland Reuß u. a. Ffm. 1988 ff., 18 Bde., weitere angekündigt. Bislang ohne Komm. – Studienausgaben: Sämtl. Werke u. Briefe. Hg. Helmut Sembdner. 2 Bde., Mchn. 1952. 9 1993. – Sämtl. Werke u. Briefe in 4 Bdn. Hg. IlseMarie Barth u. a. Ffm. 1986–97. – Einzelausgaben: Die Familie Ghonorez. Mit einer Nachbildung der Hs. hg. v. Paul Hoffmann. Bln. 1927. – Der zerbrochene [!] Krug. Eine Nachbildung der Hs. Hg. P. Hoffmann. Weimar 1941. – Berliner Abendbl. Nachw. u. Quellenregister v. H. Sembdner. Darmst. 1959. – Phöbus. Ein Journal für die Kunst. Hg. H. v. K. u. Adam H. Müller. Nachw. u. Komm. v. H. Sembdner. Darmst. 1961. Literatur: Bibliografien: Helmut Sembdner: K.Bibliogr. 1803–62. K.s Schr.en in frühen Drucken u. Erstveröffentlichungen. Stgt. 1966. – Die posthumen Erst- u. Wiederabdr.e der Werke u. Briefe K.s. In: Klaus Kanzog: Ed. u. Engagement. 150 Jahre Editionsgesch. der Werke u. Briefe K.s. Bln./ New York 1979. Bd. 2, S. 251–357. – Günther Emig (Hg.): H. v. K. Bibliogr. I: Bis 1990. Heilbr. 2007. – Biografien: Otto Brahm: Das Leben H.s v. K. Bln. 1884. 41911 (erste u. bisher letzte Biografie mit eigenständiger krit. Nutzung der Quellen). – Gleichfalls von schriftsteller. Rang die Biografien v. Joachim Maass (zuerst 1957), Jens Bisky u. Gerhard Schulz (beide 2007). – Rudolf Loch: K. Eine Biogr. Gött. 2003. – Dokumente: H. Sembdner (Hg.): H. v. K.s Lebensspuren. Mchn. 71996 (zuerst 1957). – Ders. (Hg.): H. v. K.s Nachruhm. Mchn. 31997 (zuerst 1957). – Bücher, Abhandlungen, Essays: Thomas Mann: K.s ›Amphitryon‹. Eine Wiedereroberung. In: Ges. Werke in 13 Bdn. Bd. 9: Reden u. Aufsätze 1. Ffm. 21974, S. 187–228 (zuerst 1927). – Wolfgang v. Einsiedel: Die dramat. Charaktergestaltung bei H. v. K., bes. in seiner ›Penthesilea‹. Bln. 1931. – Clemens Lugowski: Wirklichkeit u. Dichtung. Untersuchungen zur Wirklichkeitsauffassung H. v. K.s. Ffm. 1936. – Roger Ayrault: H. v. K. Paris 1934. Edition définitive 1966. – Emil Staiger: K.s ›Bettelweib v. Locarno‹. Zum Problem des dramat. Stils. In: Meisterwerke dt. Sprache. Zürich 41961, S. 100–117 (zuerst 1942). – Wolfgang Schadewaldt: Der ›Zerbrochene [!] Krug‹ v. H. v. K. u. Sophokles’ ›König Ödipus‹. In: Hellas u. Hesperien. Bd. 2, Zürich/Stgt. 21970, S. 333–340 (zuerst 1957). –
Klemm Walter Müller-Seidel: Versehen u. Erkennen. Köln/ Graz 21967 (zuerst 1961). – Richard Samuel: K.s ›Hermannsschlacht‹ u. der Frhr. vom Stein. In: JbDSG 5 (1961), S. 64–101. – Hans Joachim Kreutzer: Die dichter. Entwicklung H.s v. K. Untersuchungen zu seinen Briefen u. zu Chronologie u. Aufbau seiner Werke. Bln. 1968. – Jochen Schmidt: H. v. K. Studien zu seiner poet. Verfahrensweise. Tüb. 1974. – H. Sembdner: In Sachen K. Mchn. 2 1984 (zuerst 1974). – Wolfgang Binder: Iron. Idealismus. K.s unwillige Zeitgenossenschaft. In: Aufschlüsse. Zürich/Mchn. 1976, S. 311–329. – Rudolf Vierhaus: H. v. K. u. die Krise des preuß. Staates um 1800. In: K. Jb. (1980), S. 9–33. – H. J. Kreutzer: Über Gesellsch. u. Gesch. im Werk H.s v. K. In: ebd., S. 34–72. – Richard Samuel u. Hilda Brown: K.’s Lost Year and the Quest for Robert Guiskard. Leamington Spa 1981. – Hans-Jürgen Schrader: Widerrufene Rollenentwürfe in K.s Briefen an die Braut. In: K. Jb. (1983), S. 122–179. – Hermann F. Weiss: Funde u. Studien zu H. v. K. Tüb. 1984. – Kolloquium ›K.-Inszenierungen auf dem modernen Theater‹. In: K. Jb. (1984), S. 55–146. – Kolloquium ›Recht u. Dichtung‹. In: ebd. (1985), S. 7–127. – Internat. K.-Kolloquium Berlin 1986. In: ebd. (1987. 1988/89). – H. J. Kreutzer: K.s polit. Dramen. In: Oxford German Studies 20/21 (1991/92), S. 69–84. – Ruth Klüger: Freiheit, die ich meine: Fremdherrschaft in K.s ›Hermannsschlacht‹ u. ›Verlobung in St. Domingo‹. In: Katastrophen. Gött. 1994, S. 133–62 (zuerst engl. 1977). – Anthony Stephens: Der Opfergedanke bei H. v. K. In: Kriegsfall – Rechtsfall – Sündenfall. Hg. Gerhard Neumann. Freib. i. Br. 1994, S. 193–248. – Seán Allan: The Plays of H. v. K. Cambridge 1996. – Heinz Schott: Erotik u. Sexualität im Mesmerismus: Anmerkungen zum ›Käthchen von Heilbronn‹. In: Erotik u. Sexualität im Werk H. v. K.s. Heilbronner K.-Kolloquien 2. Hg. G. Emig. Heilbr. 2000, S. 152–174. – S. Allan: The Stories of H. v. K. Rochester, NY u. a. 2001. – Rüdiger Görner: ›Der einsame Mittelpunkt im einsamen Kreis‹. Über K.s Ästhetik. In: Beiträge zur K.Forsch. 2001, S. 11–25. – Horst Häker: Überwiegend K. Heilbr. 2003. – Christine Künzel: Vergewaltigungslektüren. Zur Codierung sexueller Gewalt in Lit. u. Recht. Ffm. 2003. – Klaus Peter: Ikarus in Preußen. Heidelb. 2007. – H. J. Kreutzer: Paradoxe Zeitgenossenschaft: K. in seiner Epoche. In: Publications of The English Goethe Society 78 (2009), H. 1, S. 3–10. – Wirkung: H. Sembdner (Hg.): Der K.-Preis 1912–32. Eine Dokumentation. Bln. 1968. – Peter Goldammer (Hg.): Schriftsteller über K. Bln./Weimar 1976. – K. Kanzog u. H. J. Kreutzer (Hg.): Werke K.s auf dem modernen Musiktheater. Bln. 1977. – K. Kanzog (Hg.): Erzählstrukturen –
470 Filmstrukturen. Erzählungen H. v. K.s u. ihre film. Realisation. Bln. 1981. – H. J. Kreutzer: Der K.Preis 1912 – 1932 – 1985. Rede zu seiner Wiederbegründung. In: K. Jb. (1986), S. 11–18. – K. Kanzog: Vom rechten zum linken Mythos. In: H. v. K. Studien zu Werk u. Wirkung. Hg. Dirk Grathoff. Opladen 1988, S. 312–328. – H. J. Kreutzer: ›... der erste nationalsozialistische Dichter der Vergangenheit ...‹. Georg Minde-Pouets Krisenbericht v. 1936. In: K. Jb. (1992) S. 187–192. – Kai-Uwe Scholz: Georg Minde-Pouet u. die K.-Gesellschaft 1934–45. In: Beiträge zur K.-Forsch. 1996, S. 86–99. Hans Joachim Kreutzer
Klemm, Christian Gottlob (oder Gottlieb), * 12.11.1736 Schwarzenberg/Erzgebirge, † 26.1.1802 Wien. – Dramatiker u. Herausgeber von Wochenschriften. Der Sohn eines Sattlermeisters studierte 1752–1757 in Leipzig Theologie u. Jura, in Jena Mathematik. 1757–1759 war K. in Frankfurt/M. als Sprachlehrer tätig. 1759 kam er nach Wien. Hier arbeitete er bis 1762 als Korrektor für den Verleger Johann Thomas von Trattner, dann vorübergehend als freier Schriftsteller. 1766 wurde er Theatersekretär am Wiener Kärntnertortheater, um 1770 – nach seiner Konversion zum Katholizismus – Sekretär u. Bibliothekar des Fürsten Khevenhüller-Metsch, 1771 Lehrer. K.s literar. Wirken beschränkt sich im Wesentlichen auf die 1760er u. frühen 1770er Jahre. Als Mitgl. der von Sonnenfels dominierten Wiener Deutschen Gesellschaft (1761 gegründet), die versuchte, Gottscheds Reformen auf Österreich zu übertragen, gründete K. 1762 die erste Wiener Wochenschrift »Die Welt« (1763/64). Neben allgemein-aufklärerischen Intentionen (Sitten- u. Sprachverbesserung) galt K.s bes. Interesse der Theaterreform. Er vertrat hierbei eine sowohl auf Johann Elias Schlegels Gedanken über den Nationalgeschmack als auch auf Mösers Harlekin, oder Vertheidigung des Groteske-Komischen (1761) basierende gemäßigte Linie u. versuchte, das Stegreiftheater durch behutsame Reformen der Aufklärung dienstbar zu machen u. die kom. Figur des Hanswurst zu retten. Das brachte ihn u. seinen Freund Franz von Heufeld allmählich in Gegensatz zu Sonnenfels; Höhepunkt dieses sog. Wiener Hans-
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wurststreits war die Aufführung von K.s Lustspiel Der auf den Parnaß versetzte grüne Hut (Wien 1767), in dem er nicht nur seine Thesen von der Bühne herab verkündete, sondern überdies auch Sonnenfels in der Gestalt eines pedantischen Gelehrten dem Spott preisgab. In vielen weiteren Lustspielen (z.B. Die Heurath wider die Mode. Wien 1767) versuchte er, seine Theorie in die Praxis umzusetzen. Weitere Werke: Wochenschriften: Der Österr. Patriot. Wien 1764/65. – Wiener Allerlei. 1774/75. Literatur: Rudolf Patek: C. G. K. (1736–1802). Diss. Wien 1932. – Hilde Haider-Pregler: Des sittl. Bürgers Abendschule. Bildungsanspruch u. Bildungsauftrag des Berufstheaters im 18. Jh. Wien 1980. Wynfrid Kriegleder
Klemm, Wilhelm, auch: Felix Brazil, * 15.5.1881 Leipzig, † 23.1.1968 Wiesbaden; Grabstätte: ebd., Südfriedhof. – Lyriker.
Klemperer
einfachung u. Lakonie u. gab der metaphor. Präzision den Vorrang vor dem Pathos. Seine Sprache vermittelt weniger einen naiv-sinnl. denn einen abstrakten Eindruck u. bleibt in ihrer Begrifflichkeit eher spröde. In seinen späten Versen näherte sich K. dem Surrealismus. Nachdem er bis 1922 acht Gedichtbände veröffentlicht hatte u. als Lyriker anerkannt war, zog sich K. aus dem literar. Leben zurück. Zwar schrieb er weiterhin Gedichte, doch erst 1961 gestattete er eine unveränderte Neuauflage des Gedichtbands Aufforderung (Bln. 1917) im Limes Verlag (Mchn.) mit einem Nachwort von Kurt Pinthus; 1964 ließ er den Gedichtband Geflammte Ränder erscheinen (Darmst.). Vermutlich waren es nicht nur private Gründe, die K. den Weg in die Öffentlichkeit unmöglich machten, sondern auch die lang nachwirkenden Traumata der Kriegserlebnisse. Hanns-Josef Ortheil machte sich um seine Wiederentdeckung verdient.
K., der in der kultivierten Atmosphäre des Weitere Werke: Verse u. Bilder. Bln. 1916. – Elternhauses früh mit künstlerischen Versu- Entfaltung. Ffm. 1919. – Ergriffenheit. Mchn. chen begonnen hatte, studierte Medizin u. 1919. – Traumschutt. Hann. 1920. – Verzauberte war an verschiedenen Kliniken tätig. 1909 Ziele. Bln. 1921. – Die Satanspuppe. Verse v. Felix übernahm er die väterl. Firma u. heiratete Brazil. Hann. 1922. – Ich lag in fremder Stube. Ges. 1912 Erna Kröner, die Tochter des Verlegers Gedichte. Hg. u. mit einem Nachw. v. Hanns-Josef Ortheil. Mchn. 1981. – Dreizehn Autorenporträts. Alfred Kröner. 1914–1918 war K. Oberarzt an Von Guillaume Apollinaire bis Kurt Schwitters. Hg. der Westfront. 1921 wurde er geschäftsfüh- Karl Riha. Köln 1995. – Bewegung. Zehn Originalrender Gesellschafter des Kröner Verlags. Grafiken v. Peter Rensch. Bln. 1999. 1937 musste er aus dem Verlag ausscheiden u. Literatur: Hanns-Josef Ortheil: W. K. Ein Lywurde aus der Reichsschrifttumskammer riker der ›Menschheitsdämmerung‹. Stgt. 1979. – ausgeschlossen. 1943 wurden alle Betriebe Hans J. Schütz: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gezerstört; der Verlag wurde 1945 nach Wies- wesen‹. Vergessene u. verkannte Autoren des 20. Jh. baden überführt, wo K. bis zu seinem Tod Mchn. 1988, S. 145–149. – Volker Dahm: Ein Kampf um Familienerbe u. Lebenswerk. Otto W. K. lebte. Bekannt wurde K. mit Anti-Kriegsgedich- u. die Reichsschrifttumskammer, 1937–1939. In: ten, die seit Okt. 1914 in der »Aktion« er- Börsenblatt (1997), H. 3, S. B152-B159. – Jan Volker schienen. Sie lesen sich wie Dokumente eines Röhnert: Magische Flucht am Rand des Expressionismus. Zum spurenlosen Œuvre W. K.s. In: Berichterstatters, der die entsetzl. Ereignisse Akzente 53 (2006), H. 2, S. 157–172 (mit 7 Gemit Distanz zu schildern weiß. Unter diesen dichten v. K.). Hans J. Schütz † / Red. Kriegsgedichten aus dem Feld (Gloria. Mchn. 1915) war auch das berühmt gewordene Gedicht Schlacht an der Marne: »Mein Herz ist so Klemperer, Victor, * 9.10.1881 Landsgroß wie Deutschland und Frankreich zuberg/Warthe, † 11.2.1960 Dresden; Grabsammen. / Durchbohrt von allen Geschossen stätte: ebd. – Romanist. der Welt.« Unter den Lyrikern des Expressionismus Als neuntes Kind eines Reformrabbiners kam nimmt K. eine Sonderstellung ein. Von An- K., Vetter des Dirigenten Otto Klemperer, mit fang an strebte er nach Konzentration, Ver- der Familie über Bromberg nach Berlin, wo er
Klemperer
das Französische u. das Friedrich-Werdersche Gymnasium besuchte. Nach dem Abitur am Landsberger Gymnasium studierte er in München bei Franz Munker u. in Genf bei Bernard Bouvier u. nutzte einen Aufenthalt in Paris zum Studium des frz. Theaters. In Berlin hörte er vier Semester bei dem Germanisten Erich Schmidt u. dem Romanisten Adolf Tobler. Nach der Heirat mit der Malerin u. Pianistin Eva Schlemmer (1906) betätigte er sich journalistisch u. hielt Vorträge über deutsche u. Weltliteratur, nachdem er eigene literar. Versuche aufgegeben hatte. Seine ihn finanziell unterstützenden Brüder drängten ihn, die akadem. Laufbahn einzuschlagen. Er studierte erneut in München u. fand in Karl Vossler den verehrten Lehrer, der ihn in die geistesgeschichtlich orientierte Literaturgeschichte einführte. Nach der Promotion über Friedrich Spielhagen bei Munker 1913 wurde er durch Vosslers Vermittlung dt. Lektor in Neapel, wo er Benedetto Croce kennen lernte. 1915 habilitierte er sich bei Vossler über Montesquieu u. meldete sich freiwillig als Soldat. Nach dem Krieg wurde er Privatdozent in München u. 1920 o. Prof. an der TH Dresden. Neben kleineren Arbeiten über romanistische Themen verfasste er eine Geschichte der französischen Literatur (Bd. 5, Tle. 1–3, Lpz. 1925–31), Die moderne französische Lyrik von 1870 bis zur Gegenwart (Lpz. 1929. Erw. Bln./DDR 1957) u. die Monografie Pierre Corneille (Mchn. 1933). Wegen seiner jüd. Herkunft aus dem Lehramt ausgeschlossen u. an der Fortsetzung seiner Arbeit zur frz. Aufklärung gehindert, wandte er sich zur Autobiografie, dem zweibändigen Curriculum vitae. Erinnerungen eines Philologen. 1881–1918 (Bln. 1989. Neuausg. hg. Walter Nowojski. Bln. 1996). Über seine leidvollen Erlebnisse 1933–1945 geben die Tagebücher Auskunft, die bei ihrer Veröffentlichung 1995 als ein Zeugnis vom Alltag der Unterdrückung unter dem NSRegime vielfaches Echo gefunden haben. Nach der Flucht aus dem bombenzerstörten Dresden u. der Rückkehr im Juni 1945 engagierte sich K. für einen antifaschistischen demokratischen Neuaufbau u. nahm seine Vortrags- u. Lehrtätigkeit wieder auf, im
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Kulturbund, der Volkshochschule, an den Universitäten von Greifswald, Halle u. Berlin. Sein innerer Widerstand gegen die Diktatur sollte sich in der Kritik der Sprache des »Dritten Reiches« bekunden; LTI. Notizbuch eines Philologen (Bln. 1947) gehörte zu den ersten Publikationen aus authent. Erfahrung jüngster Vergangenheit. Über den Wandel seiner Auffassungen geben die von ihm ausgewählten Arbeiten Auskunft, die er in dem Buch Vor 33 – nach 45 (Bln./DDR 1953) gesammelt hat, sowie die zwei letzten Bände der Tagebuchnotizen. 1959 zwang ihn ein Herzleiden, die bis dahin durchgehaltene Lehrtätigkeit aufzugeben. Ein Bildband von 1999 illustriert zahlreiche Etappen seines Lebens. Nach der Veröffentlichung der Tagebücher geriet K.s Name in die Debatte um den dt. u. jüd. Widerstand. K. erhielt postum 1960 den F.-C.- Weiskopf Preis der Akademie der Künste zu Berlin u. 1995 den Geschwister-Scholl-Preis. Weitere Werke: Berliner Gelehrtenköpfe. Potsdam 1910. – Romanische Sonderart. Geistesgeschichtl. Studien. Mchn. 1926. – Idealistische Literaturgesch. Bielef./Lpz. 1929. – Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Bd. 1: Tagebücher 1933–1941. Bd. 2: Tagebücher 1942–1945. Hg. Walter Nowojski. Unter Mitarb. v. Hadwig Klemperer. Bln. 1995. – Und so ist alles schwankend. Tagebücher Juni bis Dez. 1945. Hg. Günter Jäckel. Unter Mitarb. v. H. Klemperer. Bln. 1995. – Leben sammeln, nicht fragen wozu u. warum. Bd. 1: Tagebücher 1918–1924. Bd. 2: Tagebücher 1925–1932. Hg. W. Nowojski. Unter Mitarb. v. Christian Löser. Bln. 1996. – So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Bd. 1: Tagebücher 1945–1949. Bd. 2: Tagebücher 1950–1959. Hg. W. Nowojski. Unter Mitarb. v. C. Löser. Bln. 1999. Literatur: Bibliografie: Horst Kunze: V. K. Verz. seiner Veröffentlichungen. In: Im Dienste der Sprache. FS V. K. Hg. Horst Heintze u. Erwin Silzer. Halle/S. 1958, S. 1–40. – Weitere Titel: V. K. zum Gedenken. Von seinen Freunden u. ihm selbst. Zusammengestellt v. Fritz Zschech. Rudolstadt o. J. [1961]. – Utz Maas: ›Als der Geist der Gemeinschaft eine Sprache fand‹. Sprache im Nationalsozialismus. Versuch einer histor. Argumentationsanalyse. Opladen 1984 (mit themat. Bibliogr.). – Walter Nowojski: Nachw. zu V. K.: Curriculum vitae, a. a. O., 1989, S. 713–722. – Benedikt Faber: ›Leben wie im Unterstand‹. V. K.s dt.-jüd. Existenz im
473 Nationalsozialismus im Spiegel biogr. Selbstzeugnisse. Vaasa 2005. Horst Heintze
Klencke, Caroline Luise von, geb. Karsch, gesch. Hempel, * 21.6.1750 Fraustadt/ Posen, † 21.9.1802 Berlin. – Schriftstellerin.
Klencke
Herzog Ferdinand zu Braunschweig und Lüneburg (Bln. 1786). Ferner veröffentlichte sie Erziehungsschriften sowie Aufsätze u. Gedichte in verschiedenen Zeitschriften u. Almanachen. Unterstützt durch Johann Georg Krünitz, besorgte K. die für die Rezeption von Biografie u. Werk ihrer Mutter folgenreiche Ausgabe: Anna Louisa Karsch, Gedichte. Nach der Dichterin Tode nebst ihrem Lebenslauff herausgegeben von ihrer Tochter C. C. [sic] v: Kl: geb: Karschin (Bln. 1792. Nachdr. Karben 1996). Die wiederum von ihrer Tochter Helmina von Chézy herausgebrachte Sammlung Leben und romantische Dichtungen der Tochter der Karschin. Als Denkmal kindlicher Liebe herausgegeben von Helmina (Ffm. 1805) enthält neben Tagebuchaufzeichnungen auch den Roman August und Julie.
K. war eines von sieben Kindern der Dichterin Anna Louisa Karsch, das erste aus deren zweiter Ehe mit dem Schneider Karsch. Aufgewachsen in ärml. Verhältnissen in Fraustadt u. Glogau, kam K. mit ihrer Mutter 1761 durch Vermittlung reicher Gönner nach Berlin u. besuchte mit Unterstützung von Freunden der Mutter die Hecker’sche Realschule. 1770–1781 war sie mit ihrem Onkel Ernst Wilhelm Hempel, dem Halbbruder ihrer Mutter, verheiratet. Von den vier Kindern Weitere Werke: Aspasia. In: Litterar. Pantheon. aus dieser unglückl. Verbindung erreichte Frankfurt/O. 1794. – [Johann Wilhelm Ludwig eines das Erwachsenenalter. Aus der kurzen Gleim u. Klamer Eberhard Karl Schmidt (Hg.):] Ehe (1782/83) mit dem jungen Friedrich Karl Blumen auf’s Grab v. Frau C. L. v. Klenke, geb. von Klencke stammt Wilhelmine Christiane Karschin. Aus ihren eigenen u. ihrer Freunde Gevon Klencke, die spätere Schriftstellerin Hel- dichten. Halberstadt 1802. Literatur: Ute Pott: Berlin – Halberstadt – mina von Chézy. K. lebte in Abhängigkeit von ihrer Mutter u. führte ihr den Haushalt; das Berlin. Anna Louisa Karsch u. C. L. v. K. als Autorinnen im Briefw. mit Johann Wilhelm Ludwig Zusammenleben war oft von massiven KonGleim. In: Anna Louisa Karsch (1722–1791). Von flikten geprägt. Nach dem Tod von Anna schles. Kunst u. Berliner ›Natur‹. Ergebnisse des Louisa Karsch 1791 galt K.s Aufmerksamkeit Symposions zum 200. Todestag der Dichterin. Hg. der Versorgung ihrer Tochter. Mit dem Anke Bennholdt-Thomsen u. Anita Runge. Gött. Halberstädter Domsekretär u. Dichter Johann 1992, S. 94–109. – Dies.: Briefgespräche. Über den Wilhelm Ludwig Gleim u. seinem Kreis stand Briefw. zwischen Anna Louisa Karsch u. Johann sie bis zuletzt in briefl. Verbindung. Zu- Wilhelm Ludwig Gleim. Mit einem Anhang bislang ungedruckter Briefe aus der Korrespondenz zwirückgezogen starb sie. Erste Verse von K. sind seit dem Ende der schen Gleim u. C. L. v. K. Gött. 1998. – Anne Fleig: 1760er Jahre überliefert (adressiert an Gleim); Handlungs-Spiel-Räume. Dramen von Autorinnen im Theater des ausgehenden 18. Jh. Würzb. 1999. die erste eigenständige Publikation ist das Ute Pott Theaterstück Der ehrliche Schweitzer (Bln. 1776), das in Berlin zahlreiche Aufführungen erfuhr u. ihr Bekanntheit als Autorin verKlencke, Philipp Friedrich Hermann, schaffte. In dem aufklärerischen Stück um auch: Ewald v. Kalenberg, Hermann v. den inhaftierten Soldaten George Bern lässt Maltitz, Worosdar, Paul v. Möckern, F. v. K. in der Figur seiner Geliebten Louise Wallmoden, K. L. Hencke, * 16.1.1813 Marchand eine selbstbewusste Frauengestalt Hannover, † 11.10.1881 Hannover. – auftreten. 1777 veröffentlichte sie das VorArzt, Naturforscher, Verfasser popularspiel Die Grazien (Bln.). In den 1780er Jahren medizinischer Schriften, Lyriker, Novelversuchte K., sich auch als Lyrikerin zu etalist, Romanautor, Dramatiker, politischer blieren, etwa mit der Herausgabe der Gedichte Publizist. (Bln. 1788; enthält anakreont. Gedichte, Episteln u. Epigramme) oder durch Blatt- Der Lehrersohn besuchte die Chirurgenschudrucke wie Über den Tod des Königs. An den le in Hannover, arbeitete als Militär- u.
Klencke
Wundarzt in Minden u. Hannover u. lebte 1837–1855 in Braunschweig als Arzt (Dr. med. Gießen 1843, ohne Universitätsstudium), Naturforscher u. freier Schriftsteller. K. war Mitgl. diverser naturwissenschaftl. Sozietäten (u. a. der Leopoldina), stand im Kontakt mit A. von Humboldt, C. G. Carus u. L. Oken u. trat als Vortragender (Über die Struktur der Retina) u. amtl. Berichterstatter der 19. Versammlung dt. Naturforscher u. Ärzte in Braunschweig 1841 hervor. Er war Mitbegründer u. Herausgeber der »Allgemeinen Zeitung für Militärärzte« (Braunschw. 1842–48), in der er medizinische Rezensionen, Spezialuntersuchungen u. Reformvorschläge publizierte, hielt popularmedizinische Vorträge u. wirkte sozialreformerisch im Braunschweiger Bürger- u. Humanitätsverein. Er stand in Verbindung mit Schriftstellern des Jungen Deutschland u. des Vormärz (Laube, Gutzkow, Detmold, Dingelstedt) u. Braunschweiger Literaten (Karl Schiller, Karl Köchy, Familie Huch), richtete polit. Appelle an Friedrich Wilhelm IV. von Preußen u. begrüßte in engagierter Flugblattlyrik die 1848er-Revolution (z.B. Deutsches National-Fahnenlied, Braunschweigisches Bürgerlied, Frühlingslied der Deutschen im März 1848, Für die Armen!). In weiterer Revolutionslyrik, jeweils ereignisaktuell, betrauerte er Niederlagen (Totenfeier. Zum Andenken der zu Berlin im März 1848 gefallenen Kämpfer für Bürgerfreiheit, Für Robert Blum. Totenamt), bilanzierte u. feierte er polit. Errungenschaften (Die deutschen Grundrechte am 18. Januar 1849, Der 18. März 1849 als Jahrestag der deutschen Volkserhebung. Rückblick – Umschau – Gebet) u. geißelte in dem Versdrama Der politische Teufel in Deutschland (Lpz. 1849) satirisch-allegorisch das Scheitern der Revolution. Weiterhin rastlos produktiv, veröffentlichte K. in den Braunschweiger Jahren nicht nur medizinische Abhandlungen (über Militärchirurgie, Entzündungskrankheiten, Experimentalphysiologie, Mikroskopie, Zahnbehandlung, Lebertran als Heilmittel u.a.m.), Handbücher u. Leitfäden für Ärzte u. medizinische Laien, popularphilosophisch-antimaterialistische Briefe an Gebildete aller Stände (Lpz. 1854), Sonntagsbriefe eines Naturforschers an seine religiöse Freundin (Lpz. 1855), sondern
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v. a. zugleich ein thematisch beachtenswertes Romanwerk: sowohl »sociale Romane« im Geiste des Jungen Deutschland (Das deutsche Gespenst. 3 Bde., Lpz. 1846. Die deutschen Pharisäer. 3 Bde., Lpz. 1847) als auch »culturhistorisch«-biogr. Romane über epochenparadigmat. Geistesgrößen seit der Aufklärung: Lessing (5 Bde., Lpz. 1850), Alexander von Humboldt (Lpz. 1851. Lpz./Bln. 71875), den Beireis-Roman Der Adept von Helmstedt (4 Bde., Lpz. 1851), Herder (4 Bde., Lpz. 1852), Anna Louise Karschin (3 Bde., Cöthen 1853), den Knigge-Roman Aus einer alten Kiste (Lpz. 1853), Graf Stolberg (2 Bde., Breslau 1855), Gleim (3 Bde., Cöthen 1855), den CollegiumCarolinum- u. Abt-Jerusalem-Roman Der Parnass zu Braunschweig (3 Bde., Cöthen 1854). Nach Ablehnung seiner Bewerbung um den Physiologie-Lehrstuhl am Anatomischchirurgischen Institut rächte sich K. durch anonym publizierte Selbstbekenntnisse oder Vierzig Jahre aus dem Leben eines oft genannten Arztes (3 Bde., Lpz. 1854) am Braunschweiger Honoratiorentum. Daher u. wegen hochstaplerischer Titelanmaßung 1855 polizeilich ausgewiesen, kehrte er nach Hannover zurück, wo er seinem sozialkritisch-humanitären, volksaufklärerischen Doppelengagement als Arzt u. Romanautor bis zu seinem Tod 1881 (durch Gehirnschlag) unermüdlich verpflichtet blieb. Auch hier entstanden, neben zahlreichen Arbeiten über Nahrungsmittelu. Getränkeverfälschung, Heilung des Stotterns, Kosmetik, prakt. Gesundheitslehre, die gesellschaftl. Rolle der Frau, Diätetik der Seele u.a.m. wiederum zeitkritisch-aktuelle »soziale Romane« wie Die Ritter der Industrie (6 Bde., Lpz. 1858), Die Leute der Amtsstube (3 Bde., Lpz. 1858), Die Männer vom Leder (6 Bde., Lpz. 1862), Die Elenden und Armen diesseits des Rheins (4 Bde., Lpz. 1864), Aschenliesel oder des Weibes Beruf (3 Bde., Lpz. 1870) u. weiterhin zgl. aufklärerisch-histor. Romanwerke wie Der Herzog an der Leine (6 Bde., Bln. 1860/61), Swammerdam oder die Offenbarung der Natur (3 Bde., Lpz./Jena 1860), Lucas Cranach (3 Bde., Bln. 1860), Luther und Lucas Cranach (4 Bde., Bln. 1861), Leibniz und die beiden Kurfürstinnen (3 Bde., Bln. 1863) u. Der Braunschweig’sche Hof und Abt Jerusalem (3 Bde., Lpz. 1863). Das germanistisch fast unbekannte (umfängliche)
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literar. Œuvre dieses Vor- u. Nachmärzautors, v. a. sein thematisch weitgespanntes u. zeitgeschichtlich-politisch brisantes Romanwerk, ist literatur- u. kulturwissenschaftl. Forschungsdesiderat. Weitere Werke: Blumenknospen. Hann. 1834 (G.e). – Novellenstraße. 2 Bde., Lpz. 1837. – Die alte Jungfer. Braunschw. 1938 (Lustsp.). – Das Buch vom Tode. Halle 1840. – Grundriß der Anthropologie. Lpz. 1841. – Offenes Schreiben an S. Majestät den König v. Preußen. Lpz. 1842. – Die neunzehnte Versammlg. dt. Naturforscher u. Aerzte zu Braunschweig im Sept. 1841 u. deren Charaktere, Situationen u. Forschungen. Ein humorist. Album [...]. Lpz. 1842. – Amtl. Ber. über die 19. Versammlg. dt. Naturforscher u. Aerzte [...]. Braunschw. 1842. – Die Könisgsbraut. 2 Bde., Braunschw. 1846 (R.). – Ges. Gedichte. Lpz. 1847. – Gedichte. Braunschw. 1848. – Eine dt. Familie. 3 Bde., Lpz. 1849 (R.). – Ges. Novellen. 4 Bde., Lpz. 1849. – An Seine Majestät den König v. Preußen. Eine öffentl. Stimme des christl. u. wiss. Bewußtseins über Lebensrecht u. Volksfreiheit im Staate. Lpz. 1849. – Naturbilder aus dem Leben der Menschheit. In Briefen an A. v. Humboldt. Lpz. 1850. – Taschenlexikon der Therapie für prakt. Ärzte. [Lpz. 1852]. – Die Naturwiss.en der letzten 50 Jahre u. ihr Einfluß auf das Menschenleben. In Briefen an Gebildete aller Stände. Lpz. 1854. – Die Schöpfungstage. Ein Naturgemälde. Lpz. 1854. – Katharine. Erinnerungen aus meinem Tgb. 2 Bde., Lpz. 1854. – Nachlese in u. außer mir. Aus den Papieren des Verf.s der Selbstbekenntnisse. 4 Bde., Lpz. 1856. – Die Nahrungsmittelfrage in Dtschld. Lpz. 1856. – Suppl.e zu Jean Paul. 3 Bde., Lpz. 1859. – Die menschl. Leidenschaften. Lpz. 1860. – Die Herren vom Kleeblatt. 6 Bde., Lpz. 1860 (soz. R.). – Die Bauleute zu Köln oder dt. Kunst u. Zunft. 2 Bde., Lpz. 1863. – Altadlige Haus-, Hof- u. Familiengesch.n. 3 Abt., 12 Bde., Bln. 1865/66 (R.e). – Dt. Schützen, Turner u. Liederbrüder. 4 Bde., Jena 1867 (zeitgeschichtl. R.). – Des Adlers Aufflug. 4 Bde., Lpz. 1867 (zeitgeschichtl. R.). – Aus Hannovers Gegenwart. Lpz. 1868 (polit. N.). – Die Politik des Herzens oder die Annektierten. 3 Bde., Lpz. 1870 (polit. R.). – Die gebildete Hausfrau als wirtschaftl. Einkäuferin u. Verwalterin nach den Grundsätzen der Naturkunde, Gesundheitslehre, Ökononmie u. guten Sitte. Lpz. 1870. 2., verm. Aufl. 1872. – Das kranke Kind. Lpz. 1972. – Das Weib als Gattin. Lpz. 1872. – Diätetik der Seele. Lpz. 1873. Literatur: A. Heß: H. K. In: ADB. – Rudolf Eckart: Lexikon der Niedersächs. Schriftsteller [...]. Osterwieck 1891, S. 103. – Franz Brümmer: Lexikon der dt. Dichter u. Prosaisten des 19. Jh. Lpz.
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1896, Bd. 2, S. 298 f. – Paul Zimmermann: H. K. In: Braunschweig. Magazin 37 (1931), S. 65–78. – Hannelore Hirsch: H. P. F. K. 1813–1881. Zwischen Romantik u. Experimentalpathologie. Zürich 1964. – Hans Hoffmann: P. F. H. K. (1813–1881). Hann. 1971 (mit Werkverz.). – E. Rohse: Abt Jerusalem als literar. Figur. Darstellung u. Bild J. F. W. Jerusalems in histor. Romanen H. K.s u. Wilhelm Raabes. In: Abt Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789). Hg. Klaus Erich Pollmann. Braunschw. 1991, S. 127–171. – Ders.: Literar. ›Märzerrungenschaften‹. Die Revolution von 1848 in Werken Braunschweiger Schriftsteller. In: Lit. in Braunschweig zwischen Vormärz u. Gründerzeit. Hg. Herbert Blume u. E. Rohse. Braunschw. 1993, S. 55–110, bes. 67–71 u. 100–102. – Hans-Ulrich Ludewig: Der Dichter als Historiker. H. K.s Romane als Quellen zur braunschweig. Gesch. In: ebd., S. 133–153. – Eberhard Rohse: P. F. H. K. In: Braunschweigisches Biogr. Lexikon. 19. u. 20. Jh. Hg. Horst-Rüdiger Jarck u. Günter Scheel. Hann. 1996, S. 320. – Ders.: ›Frankfurt nicht Betlehem‹. Paulskirchenparlament u. 48er Revolution im Spiegel literar. Texte. In: Sprache des dt. Parlamentarismus. Hg. Armin Burkhardt u. Kornelia Pape. Wiesb. 2000, S. 40–67, bes. 43 f., 52 u. 64 f. Eberhard Rohse
Klenze, (Franz) Leo(pold Karl) von (seit 1833), * 28.2.1784 Bokela bei Schladen/ Harz, † 27.1.1864 München; Grabstätte: ebd., Alter Südlicher Friedhof. – Architekt, Maler, Archäologe, Architekturtheoretiker. Der Beamtensohn K. studierte 1800–1803 in Berlin zunächst Jura, dann Archäologie (bei Alois Hirt) u. Architektur (bei David u. Friedrich Gilly). Das Architekturstudium setzte er für drei Jahre in Paris fort (bei Durand, Percier u. Fontaine) u. schloss daran eine halbjährige Italienreise an. 1808–1813 war K. Hofbaumeister von König Jérôme in Kassel (Theater Schloss Wilhelmshöhe). Während des Wiener Kongresses legte er ein Projekt für ein Denkmal des Weltfriedens vor (publiziert Wien 1814). Entscheidend für seine Laufbahn wurde die Begegnung mit Kronprinz Ludwig von Bayern (ab 1825 König Ludwig I.) 1814 in München. Ludwig berief K. 1816 als Privatarchitekt u. Kunstagent u. ernannte ihn dann zum Oberbaurat, 1820 zum Hofbauintendanten, 1825 zum
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kgl. Baurat u. Vorstand der Obersten Baube- Walter Kruft: Gesch. der Architekturtheorie. Mchn. 1985. 21986, S. 348–350. – Jörg Traeger. Der Weg hörde. nach Walhalla. Regensb. 1987. 21991. – Adrian v. K. setzte für Ludwig I. die von Karl v. Fischer begonnene Stadterweiterung Mün- Buttlar: L v. K. Mchn. 1999. – L. v. K. Architekt zwischen Kunst u. Hof 1784–1864. Hg. Winfried chens (»Maxvorstadt«) fort u. führte dabei Nerdinger. Mchn. 2000 (Ausstellungskat.). – Hazahlreiche klassizistische Bauten aus, die der rold Hammer-Schenk: L. v. K.s Entwürfe für ein Stadt den Beinamen »Isar-Athen« gaben Denkmal des Weltfriedens – ›Eines Künstlers (Max-Josephs-Platz, Odeonsplatz, Ludwig- Traum‹ (1814). In: Ars et scriptura. FS Rudolf straße, Königsplatz). Neben anderen Aufträ- Preimesberger zum 65. Geburtstag. Hg. Hannah gen Ludwigs (v. a. Walhalla bei Donaustauf, Baader u. a. Bln. 2001, S. 157–174. Befreiungshalle bei Kehlheim) entwarf K. Jörg Martin Merz Projekte für Athen u. London. Ab 1839 entstand nach seinen Entwürfen die Neue Eremitage in St. Petersburg. Reisen führten ihn Klepper, Jochen, eigentl.: Joachim Wilregelmäßig nach Italien, einmal nach Grie- helm Georg K., * 22.3.1903 Beuthen, chenland (1834) u. später gelegentlich nach † 11.12.1942 Berlin; Grabstätte: BerlinFrankreich. Neben seinen sehr zahlreichen Nikolassee. – Lyriker, Romanautor. Zeichnungen u. Aquarellen schuf K. seit den 1820er Jahren ein mindestens 78 Gemälde Im Pfarrhaus aufgewachsen, begann K. 1922 umfassendes malerisches Œuvre, meist ein Theologiestudium in Erlangen, das nie zum Abschluss kam. 1927 wurde er RedakLandschaften mit klass. Architekturen. Aus den 1820er Jahren stammen K.s wich- teur beim Evangelischen Presseverband in tigste Publikationen. Vorwiegend archäolog. Breslau, 1931 erhielt er eine Stelle beim BerInteressen verfolgte er in Der Tempel des olym- liner Rundfunk; schon im Juni 1933 aber pischen Jupiter von Agrigent (1821; publiziert wurde er als »nicht genehm« entlassen, da er Mchn. 1824) u. in Versuch einer Wiederherstel- 1931 die Jüdin Johanna Stein (1890–1942) lung des toskanischen Tempels (Mchn. 1822). geheiratet hatte. Diese Verbindung war auch Seine Position als Architekt kommt in der der Grund für seine Entlassung bei Ullstein Schrift Anweisung zur Architektur des christlichen (1935), die Aufhebung der nach 1933 für liCultus (Mchn. 1822/24. Nachdr. Nördlingen terar. Publikationen unerlässl. Mitgliedschaft 1990) zum Ausdruck, die mit der zeitgenöss. in der Reichsschrifttumskammer (1937) u. die Diskussion um die christl. Basilika in Zu- als Schmach empfundene Entfernung aus der sammenhang steht. K. sah in der Architektur Armee (1941) wegen »jüdischer Versippung«. der griech. Antike das feste Prinzip, das Vor- Im Dez. 1942 schied K. gemeinsam mit seiner bild schlechthin für die von einem Bauwerk von der Deportation bedrohten Frau u. deren zu fordernde Schönheit. K. wandte sich damit Tochter Renate freiwillig aus dem Leben. K.s erster literar. Erfolg nach einigen Gegegen die Gotik-Diskussion. dichten u. einem nie publizierten Modero1830–50 publizierte K. ausgewählte Entwürfe u. Darstellungen seiner Bauten man, Die große Direktrice, kam mit dem Kahn (Nachdr. Worms 1983). Weitere Schriften u. der fröhlichen Leute (Stgt. 1933. 2003). Von ein Teil des umfangreichen Briefwechsels 1933 an arbeitete er an Der Vater (Stgt. Neu8 (Staatsbibliothek München, Klenzeana) sind ausg. Mchn. 1977. 1995), der Lebensgeauf CD-ROM publiziert (Ausstellungskatalog schichte Friedrich Wilhelms I. Der Roman 2000). Der Briefwechsel mit Ludwig I. wird erschien im Febr. 1937 unmittelbar vor K.s zur Zeit ediert (Tl. 1, Bd. 1–3. Hg. v. Hubert Ausschluss aus der Reichsschrifttumskammer. Nur aufgrund des Missverständnisses in Glaser. Mchn. 2004). Literatur: Oswald Hederer: L. v. K. Mchn. nationalsozialistischen Kreisen, hier sei das 1964. 21981. – Norbert Lieb u. Florian Hufnagel: L. Führerprinzip verherrlicht, konnte eine Sonv. K. Gemälde u. Zeichnungen. Mchn. 1979. – Ein dergenehmigung für den Druck des Werks griech. Traum. L. v. K. Der Archäologe. Hg. Peter erwirkt werden, das rasch einen spektakuläFrese. Mchn. 1985/86 (Ausstellungskat.). – Hanno- ren Siegeszug antrat.
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Wenngleich K. über Jahre hin Quellenstudien trieb u. minutiös Leben u. Werk des Königs in Preußen von der Übernahme der Herrschaft bis zum qualvollen Sterben schildert, sollte Der Vater kein historischer, sondern ein christl. Roman werden. In einer gleichnamigen Abhandlung (1940) verlangt K. von christl. Dichtung, dass sie selbst zur Botschaft von der guten Botschaft zu werden habe, u. sieht es demzufolge als Aufgabe des christl. Autors an, im menschl. Leben das Handeln des deus absconditus aufzuzeigen. Diese Forderung führt K. zur Lebensbeschreibung solcher Personen, durch die »Gottes Führung« sichtbar wird. Das schriftgemäße Leben Friedrich Wilhelms stellt K. als Voraussetzung dafür dar, dass dem König die Schöpfung seiner Welt (Preußens) aus dem Chaos des märk. Sandes gelang. Des Königs »Führung« durch Gott wird so – aus menschl. Sicht – imitatio göttl. Vorbilds. K.s Vater versteht auch das Verhältnis zu seinem Sohn in Analogie zum Verhältnis Gottes zu Christus; deshalb gibt ihm die Darstellung einer Pietà des schmerzenreichen Vaters die Kraft, das Leben seines Sohns nach Verrat u. Flucht unter das Gebot der Gnade, nicht der Rache zu stellen. Das Handeln des Königs als Abbild göttl. Handelns – in diesem Konzept liegen Stärken, aber wohl auch Schwächen des Romans, der in der sinnstiftenden Überhöhung Friedrich Wilhelms bis an die Grenzen des Zumutbaren geht (so, wenn er am Ende die Seinen zu Brot u. Wein zusammenruft). Ein das Programm des histor. als des christl. Romans fortsetzendes Buch über Luther u. das erste dt. Pfarrhaus in Wittenberg, das den Titel Das ewige Haus tragen sollte, gelangte nicht über einen ersten Teil, Die Flucht der Katharina von Bora (Hg. Karl Pagel. Stgt. 1951. 2000), hinaus. K. ist der bedeutendste Kirchenlieddichter des 20. Jh. (Kyrie. Bln. 1939. 191992). In reformatorischer Tradition gehen seine Lieder vom Bibelwort aus u. legen es in einem Gotteslob aus, das auf die Zuversicht gegründet ist, alle menschlich-zeitl. Anstrengung u. Sorge werde in Gottes Ruhe u. Ewigkeit aufgehoben sein. Die erst nach dem Krieg publizierten Tagebücher (Unter dem Schatten dei-
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ner Flügel. Hg. Hildegard Klepper. Stgt. 1956. Gießen 1997) offenbaren, in welchem Maße bei K. literar. Programm u. private Haltung übereinstimmen, etwa wenn sie seine theologisch begründete Ablehnung jegl. Aktivismus deutlich werden lassen oder seinen Glauben an eine gottgewollte, in den Hohenzollern geschichtlich vollendete Obrigkeit. Die über alle Verluste, Demütigungen u. schonungslos eingestandenen Schwächen hinausreichende Zuversicht, dass alles »bei Gott steht«, u. die lutherisch geprägte Freude an allem Schönen als Geschenk Gottes machen die Tagebücher zu einer großen christl. Konfession der dt. Literatur. Weitere Werke: Nachspiel. E.en, Aufsätze, Gedichte. Witten 1960. – Gast u. Fremdling. Briefe an Freunde. Hg. Eva Juliane Meschke. Witten/Bln. 1960. – Ziel der Zeit. Die ges. Gedichte. Witten/Bln. 1962. 51993. – Briefw. 1925–42. Hg. Ernst G. Riemschneider. Stgt. 1973. – Herausgeber: Der Soldatenkönig u. die Stillen im Lande. Bln. 1938. 2 1957. 31962. – In tormentis pinxit. Stgt. 1938. 2 1959. Literatur: Kurt Ihlenfeld: Freundschaft mit J. K. Witten/Bln. 1958. – Rita Thalmann: J. K. Ein Leben zwischen Idyllen u. Katastrophen. Mchn. 1977. 21992. – Gérard Imhoff: J. K. Contribution à l’étude de l’Emigration intérieure. Bern/Ffm. 1982. – Lothar Bluhm: Das Tgb. zum Dritten Reich. Zeugnisse der Inneren Emigration v. J. K. bis Ernst Jünger. Bonn 1991. – Oliver Kohler (Hg.): In deines Herzens offene Wunde. In Erinnerung an J. K. (1903–1942). Hünfelden-Gnadenthal 1992. – Detlev Block: Dass ich ihn leidend lobe. J. K. – Leben u. Werk. Lahr 1992. 31994. – K. Ihlenfeld: Das wirkende Wort. Annäherungen an prominente Protestanten v. Martin Luther bis J. K. Lahr 1994. – Ursula Büttner u. Martin Greschat: Die verlassenen Kinder der Kirche. Der Umgang mit Christen jüd. Herkunft im ›Dritten Reich‹. Gött. 1998. – Martin Johannes Wecht: J. K. – ein christl. Schriftsteller im jüd. Schicksal. Düsseld. 1998. – Siret Rutiku: Über das Verhältnis des Dichterischen zum Religiösen am Beispiel der Lyrik J. K.s. Tartu 2000. – L. Bluhm (Hg.): Spurensuche: Alfred Döblin – Ernst Wiechert – Johannes Urzidil – J. K. Dt.-poln.-tschech. Begegnungen mit einer vergessenen Klassik der Moderne. Hbg. 2000. – Reinhard Deichgräber: Der Tag ist nicht mehr fern. Betrachtungen zu Liedern v. J. K. Gött. 2002. – Heinz Grosch: Nach J. K. fragen. Bilder – Dokumente – Biographisches. Stgt. 2003. – Oliver Kohler: Wir werden sein wie die Träumenden. J. K. Eine Spurensuche. Neukirchen-
Klesch Vluyn 2003. – Wolfgang Böllmann: ›Wenn ich dir begegnet wäre ...‹. Dietrich Bonhoeffer u. J. K. im Gespräch. Lpz. 2005. Jens Haustein / Red.
Klesch, Christoph, * 16.10.1632 Iglo (Neudorf/Zips, heute: Spisˇ ská Nová Ves/ Slowakei), † 21.2.1706 Erfurt. – Prediger, Lyriker u. geistlicher Schriftsteller.
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nahme war, bezeugt sein für Zesen verfasster Dank-Geruch (Jena 1678), in dem er sich selbst als »Elends-Gast in Jena« bezeichnet. Weitere Werke: Aller Christen, absonderlich Lehrer, Lebenskrone. Leutschau 1661. – Redlicher u. redender Reise-Gefährte eines aus Ungarn Vertriebenen [...]. Jena 1675. – Der mit dem göttl. Kleinod heilsamer Elends-Klauen gezierte evang. Prediger [...]. Jena 1679. – Succincta papisticae in XIII. scepusiacis Hungariae oppidis anno [...] 1674 institutae deformationis enarratio [...]. Jena 1679. Internet-Ed.: VD 17. – Icon angelici ecclesiastici [...]. Jena 1680. – Des Heinrich Rudolf von der Sachsen, eines neu-aufgeworfenen Prophetens, so genannte Wunder-Kugel, wormit [...] dem künftigen Jahr hundert der Anfang [...] der 1000. glückseeligen Regierungs-Jahre unsers Heylands [...] bestimmet [...] werden [...]. Erfurt 1698. – Poetica palma sub palma seu manuductio ad palmeti poetici delicias [...]. o. O. [Erfurt] 1700. – Neue Ehrenpforte [...]. Erfurt 1705. Ausgabe: Fischer/Tümpel 4, S. 377 f.
K. verlor schon mit knapp fünf Jahren seinen Vater, den Ratsherrn u. Bergrichter Christoph Klesch. Er ging anfangs in Neudorf zur Schule; dann reiste der 15-jährige über Krakau, Posen, Frankfurt/O., Leipzig, Wittenberg u. Dresden nach Breslau, wo er schließlich 1648 das Gymnasium Magdalenaeum besuchte. Am 5.6.1647 nahm er an der Universität Wittenberg das Studium der Philosophie u. Theologie auf. 1654 wurde K. Diakon in Filckau (Ungarn), 1656 Pfarrer in Matthiasdorf u. 1661 Pastor u. SchulinspekLiteratur: Bibliografien: Bibliographia Kleschitor in Georgenberg; 1674 vertrieben, floh er nach Wittenberg. Dort erwarb er am ana. [...]. Hg. Karl F. Otto u. Jonathan P. Clark. Columbia, SC 1996. – VD 17. – Weitere Titel: Daniel 15.10.1674 (a. St.) die Magisterwürde u. ging Roxer: Vertex gloriosus viri [...] Christophori Kledann als Prediger u. Schriftsteller nach Jena. schii [...] cum in hac Alma Leucorea magisterii Ab 1680 war er Prediger in Denstedt/Thü- lauream caperet, die XV. Octob. styl. Jul. [...]. Witringen; 1684 wurde er Diakon, im folgenden tenb. 1674 (Ed.: VD 17). – Johann Caspar Wetzel: Jahr Pastor an der Kaufmannskirche St. Gre- Histor. Lebens-Beschreibung der berühmtesten gorius in Erfurt. Sein Freund Kaspar Stieler Lieder-Dichter. Bd. 4, Herrnstadt 1728. – Zedler. – verfasste auf den Antritt der Diakonatstelle in Jöcher, 3. Erg.-Bd., Delmenhorst 1810. – Hans Erfurt das Gedicht Aufrichtiger Segen (Jena Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 3. Hbg. 1857, S. 620. – Heiduk/ 1684. Internet-Ed.: VD 17). Zeitgenossen schätzten den Schüler Hoff- Neumeister, S. 61, 197, 393. – Kosch. – DBA. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 1010–1013. – Pfarmannswaldaus als Meister der Wort- u. rerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 4, Lpz. Reimkunst. Seine dt. u. lat., teilweise ge- 2006, S. 577 f. Gabriele Henkel / Red. meinschaftlich mit seinem älteren Bruder, dem Prediger u. Dichter Daniel Klesch von Iglo, verfassten Schriften zeigen eine prägKlesch, Daniel, ab 1652: D. K. von Iglo, nante Ausdrucksweise. Neben Predigten u. * 22.2.1624 Iglo (Neudorf/Zips, heute: Streitschriften schrieb K. GelegenheitsgeSpisˇ ská Nová Ves/Slowakei), † 1697 Berdichte, so ein Epikedeion zum Tod des dreilin. – Lutherischer Theologe, Lyriker, jährigen Sohns seines Bruders (Nach dem [...] Apokalyptiker. Joseph Daniel Klesch [...] 1677 [...] zu Oedenburg in Nieder-Ungarn im Elend gestorben [...]. Jena Als Zipser Sachse gehörte K., Sohn des Rats1678). Am 4.5.1676 wurde K. von Philipp von herrn u. Bergrichters Christoph Klesch, einer Zesen zum Dichter gekrönt u. als der »Dich- traditionell luth. Minderheit an u. wurde tende« in die Deutschgesinnte Genossen- bereits als Kind zum Geistlichen bestimmt. schaft aufgenommen. Er erhielt, weil er Ab 6.5.1644 studierte er Philosophie in Wit»kurtz, doch Kunstgemäß verblühmt« dich- tenberg u. ab 7. Okt. desselben Jahres in tete, den Zunftspruch »zwar kurtz / doch Straßburg. Zu Ostern 1649 wurde er in Witkünstlich«. Wie glücklich K. über diese Auf- tenberg zum Magister promoviert u. zum
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Dichter gekrönt. 1652 erwarb er Adelsprädikat u. Wappenbrief. 1649–1659 war er Konrektor am Gymnasium in Ödenburg (Sopron), bevor er die ersehnte Pfarrstelle zunächst in Güns (Koszeg) erhielt (vgl. dazu die Carmina gratulatoria pro felicissimo officii ecclesiastici successu ad quod [...] ab evangelica communitate [...] civitatis Günziniensis Inf. Hung. legitime vocatus est [...] D. K. [...]. Jena 1659. Internet-Ed.: VD 17). In die Zips zurückgekehrt, stieg er bald zum Senior der Pfarrerbruderschaft der 24 Königlichen Städte auf. In der Folge der Vesselényischen Verschwörung wurde die gesamte evang. Geistlichkeit u. Lehrerschaft Ungarns der Rebellion gegen das Kaiserhaus bezichtigt u. 1674 zur Wahl zwischen Amtsverzicht, Exil u. Konversion zum Katholizismus gezwungen. K. wurde bereits im Dez. 1673 verhaftet u. sieben Monate in Festungshaft gehalten, bevor er 1674, wie zuvor sein Bruder Christoph, ins Exil nach Deutschland ging. Im Sommer 1675 wurde er gratis an der Universität Leipzig immatrikuliert, wo er am 4. Aug. die theolog. Bakkalarprüfung ablegte. 1676 gelangte er als Stadtschulrektor in Jena wieder in ein Amt. 1682 zum Professor am Gymnasium in Weißenfels berufen, wurde K. 1683 Superintendent in Heldrungen (vgl. Digitus dei ac ductus quem [...] Johannes Adolphus Dux Saxoniae [...] porrexit [...] M. Danieli Kleschio [...]. Weißenfels 1683, u. Kaspar von Stieler: Wiederkehrender Ehrenstand [...] D. Kleschens [...]. Jena 1683. Internet-Ed.: VD 17). Durch eine gegenwartsbezogene Auslegung der Apokalypse des Johannes u. heftige Angriffe auf die luth. Geistlichkeit geriet er 1686 ins schwärmerische Abseits u. musste sein Amt niederlegen. K. schrieb v. a. Predigten, Lieder u. zahlreiche Gelegenheitsschriften, in denen er dem Ideal des gelehrten Dichters nachstrebte. Seine theolog. Traktate zur Apokalypse blieben ohne erkennbare Wirkung. Mit seinem Bruder Christoph trat er gelegentlich als Sprecher der ungarischen Exulanten in Erscheinung. Er gehörte seit 1676 als »der Huldende« (zusammen mit seinem Bruder Christoph: »der Dichtende«) der Deutschgesinnten Genossenschaft Zesens (vgl. Zesen: Der Rosen- u. Lilien-Krantz [...]. Hbg. 1676. Internet-Ed.: VD 17), als »der Kräftigste« der
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Fruchtbringenden Gesellschaft u. als »der Kriechende« der Fruchtbringenden JesusGesellschaft Ahasver Fritschs an. Weitere Werke: In Augustanae Confessionis articuli primi partem priorem, quae agit de deo uno et trino, in se considerato, disputatio XXIII. ex Becano, et contra eundem [...]. Praes.: Jacob Martini. Wittenb. 1648. – Disputatio anaskeuastike¯ [griech.] de usu et applicatione terminorum metaphysicorum ad res mysticas seu theologicas [...] liberioris exercitij gratia proposita. Praes.: Johannes Scharf. Wittenb. 1649. – Exul erat Jesus, comites nos exulis hujus esse decet, cuius nos quoque membra sumus [...]. Wittenb. 1675. Internet-Ed.: VD 17. – Apostolica status ratio [...]. Das ist: Geistlich-apostolischer Staatist [...]. Hbg. 1675. – Biga anagrammatum extemporanea [...]. Stettin 1675. – Christiana status ratio [...]; das ist: Geistchristl. Staatist. Hbg. 1676. – Homagium sacrum [...]. Hbg. 1676. – Die höchst-preiß-würdigste sionische Rosen-Gesellschafft, oder [...] so genante geist- u. christ-gesinte Genossenschafft [...]. Jena 1679. – Treuhertzige Wächter-Stimm [...]. o. O. [Jena] 1679. – Baculus exilii. Der Elend-Stab [...]. In einer [...] Gast-Predigt zu Amsterdam [...] vorgetragen [...]. Amsterd. 1682. – Bestia bicornis, apocalytice detecta [...]. Das ist: Das zweygehörnte Thier [...]. Merseburg 1686. – Undeutsch aufgegebenes u. nun deutsch aufgelöstes Räthsel v. der Drachen-Sprache. o. O. [Halle] 1691. Internet-Ed.: VD 17. – Wieder-Hall u. Gegenschall einer bekanten Offenbahrungs-Stimme [...]. o. O. 1692. Ausgabe: Fischer/Tümpel 4, S. 368–370. Literatur: Bibliografien: VD 17. – Bibliographia Kleschiana [...]. Hg. Karl F. Otto u. Jonathan P. Clark. Columbia, SC 1996. – Weitere Titel: David Czvittinger: Specimen Hungariae literatae. Ffm./ Lpz. 1711, S. 206–219. – Johann Samuel Klein: Nachrichten v. den Lebensumständen u. Schr.en evang. Prediger in allen Gemeinen des Königreichs Ungarn. Bd. 1, Lpz./Ofen 1789, S. 157–170. – Heinrich Joh. Scheuffler: Der Zug der österr. Geistlichen nach u. aus Sachsen (4. Forts.). In: Jb. der Gesellsch. für die Gesch. des Protestantismus in Österreich 9 (1888), S. 84. – DBA. – Die Dt. Akademie des 17. Jh. Fruchtbringende Gesellschaft [...]. Reihe I, Abt. C, Halle. Hg. Martin Bircher. Tüb. 1991 (Register). – Karl F. Otto: D. K. u. die Deutschgesinneten. In: Brückenschläge. Eine barocke Festgabe für Ferdinand van Ingen. Hg. Martin Bircher u. Guillaume van Gemert. Amsterd. u. a. 1995, S. 233–243. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2,
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Kletke, (Gustav) Hermann, * 14.3.1813 Breslau, † 2.5.1886 Berlin. – Lyriker, ErJochen Bepler / Red. zähler, Publizist.
S. 1013–1018. – Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 4, Lpz. 2006, S. 578.
Klesel, Abraham, * 7.11.1635 Fraustadt, † 13.4.1702 Jauer. – Evangelischer Theologe u. geistlicher Dichter. Der Sohn eines Predigers besuchte die Schule in Fraustadt u. das Elisabeth-Gymnasium in Breslau. Er studierte zunächst Rechtswissenschaft, dann Theologie in Königsberg (kein Eintrag in der Matrikel). 1660 wurde K. Pfarrer in Ulbersdorf bei Fraustadt, 1670 in Zedlitz bei Wohlau, 1674 in Dribitz bei Glogau u. 1680 schließlich Oberpfarrer in Jauer. K. dichtete auf alle Sonn- u. Feiertage geistl. Lieder: Vergiß mein nicht, oder Jesus-süsse Andachten (Lissa 1675). Das Breslauer Gesangbuch enthält K.s Osterlied Jesus ist erstanden, freu’ dich, Osterherz, u. in den Berliner Liederschatz von Elsner wurde sein Palmsonntagslied Seele mach dich heilig (Variante: eilig) auf, Jesum zu begleiten aufgenommen. Weitere Werke: Dem ewigen Erbarmer gewiedmete Andachten [...]. o. O. 1680. – Dehmütiger Fuß-Fall, vor dem Throne der Barmhertzigkeit Gottes [...]. Liegnitz 1680. – Theolog. Urtheil [...], was von den [...] Cometen, so sich bey zu endnahendem 1680. u. ein getretenem 1681sten Jahre, an dem Himmel weit u. breit sehen lassen [...] Christu. frömlich zu achten [...]. Jauer/Breslau 1682. – Etliche Türcken u. Buß Gebethe [...]. Liegnitz 1683. – Statua eugnomosynes apostolico-epistolica: Das ist, apostol- u. epistol. Lehr-Seule, oder, frömml. Andachten [...]. Jauer 1685. – Unsterbl. Gedächtnüß der Sterblichen; oder zwey Hundert Grab Schrifften [...]. Breslau/Lauban 1691. – Unvermutheter u. entsetzl. Durchzug eines grossen Heeres ungemeiner Heuschrecken [...] in unserer Gegend Jaurischen Fürstenthums [...]. Görlitz 1693. – Der Liebes-Schlag von liebster Hand [...]. Jauer 1696 (Leichenpredigt für Christina Böhmer). Ausgabe: Fischer/Tümpel 5, S. 449–452. Literatur: Bibliografie: VD 17. – Weitere Titel: Koch 4, S. 34. – l. u.: A. K. In: ADB. – Heiduk/ Neumeister, S. 25, 156, 312 f. – Kosch. – DBA. – Susanne Siebert: A. K. In: Bautz. Astrid Kube / Red.
K., Sohn eines Justizkommissionsrats, studierte zunächst Jura in Breslau, dann Literaturgeschichte in Jena, wo er zum Dr. phil. promovierte. Schon als Student veröffentlichte er Feuilletons in Breslauer, Leipziger u. Wiener Zeitungen u. Zeitschriften. 1837, nach dem Erscheinen seiner Gedichte (Breslau 1836), verkehrte er in Wien mit Lenau, lebte dann aber bis zu seinem Tod in Berlin, wo er durch Hitzigs Vermittlung Mitgl. der literar. »Montags-Gesellschaft« wurde. Ludwig Rellstab öffnete ihm den Weg zum Feuilleton der »Vossischen Zeitung«, für die K. Kunstkritiken schrieb, bis er 1849 Redakteur des polit. Teils u. 1867 dessen Chefredakteur wurde. Er leitete seitdem auch die »Sonntagsbeilage zur Vossischen Zeitung« bis zu seiner Pensionierung 1885. Neben seiner journalistischen Tätigkeit veröffentlichte K. kontinuierlich Gedichte, von denen 1852, 1873, 1875 u. 1881 Ausgaben erschienen. Bekannt wurde er weiterhin durch seine Kinder- u. Jugendschriften: Neben seinem Deutschen Kinderschatz in Liedern (Bln. 1839), den Liedern aus dem Kinderleben (Bln. 1842) u. den Kinderliedern (Bln. 1846) verfasste er zahlreiche Märchenbücher (u. a. Der gestiefelte Kater. Bln. 1839. Der Großmutter Abenderzählungen. Bln. 1841. Liedermärchen. Bln. 1843), Sagen (Das Buch vom Rübezahl. Breslau 1852) u. Schriften wie Spinnstube (Bln. 1842) u. Das goldene Buch (Breslau 1850). Das unterhaltsame, lebendige, teils geistreich-witzig, teils besinnlich anmutende belletristische Werk K.s war in seiner Zeit beliebt, wegen mangelnder Innovation bald danach vergessen. Die von ihm herausgegebenen Lyrikanthologien erreichten teilweise hohe Auflagen. Weitere Werke: Der neue Kinderfreund. 2 Bde., Bln. 1845. – Dt. Kindermärchen. Bln. 1849. – Reisebilder. 2 Bde., Bln. 1854/55. – Märchen vom Kamin. Bln. 1873. Literatur: Ludwig Fränkel: H. K. In: ADB 51. – Herbert Sommerfeld: Theodor Fontane u. H. K. In: Ztschr. des Vereins für die Gesch. Berlins 57 (1940),
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481 S. 107–114. – Hubert Göbels: H. K. In: LKJL. – Horst Fassel: H. K. In: Bautz. – Goedeke Forts. Günter Häntzschel / Red.
Klettenberg, Susanna Katharina von, * 19.12.1723 Frankfurt/M., † 13.12.1774 Frankfurt/M. – Protestantische Mystikerin.
ich immer wieder zu meiner edlen Freundin von Klettenberg zurück«). Unter dem Titel Bekenntnisse einer schönen Seele (in: Wilhelm Meisters Lehrjahre. 6. Buch) rekonstruierte Goethe Kindheit, Jugend u. K.s bes. Art der Frömmigkeit. Die Konflikte, die sich für die dem Geistigen zugewandte Frau in der Epoche des Rokoko ergaben, blieben dem Dichter allerdings verschlossen.
Was sie dachte, legte K. vor allem in Briefen Weitere Werke: Die schöne Seele. Bekenntnisdar; von ihrer Korrespondenz sind nur se, Schr.en u. Briefe der S. K. v. K. Hg. Heinrich Bruchteile erhalten. Wichtigste Briefpartner Funck. Lpz. 1912. waren Carl von Moser, die Theologen SebasLiteratur: Johann Martin Lappenberg: Relitian Friedrich Trescho, Lavater sowie die quien der Fräulein v. K. nebst Erläuterungen zu Herrnhutischen Brüder Neißer. Zusammen den Bekenntnissen einer Schönen Seele. Hbg. 1849. mit ihren Liedern u. ihrer mit Moser u. ihrer – Hermann Dechent: Goethes Schöne Seele S. K. v. Schwester Maria Magdalena von Klettenberg K. Gotha 1896. – Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Bd. 1. Mchn. 1969 verfassten Schrift über die Freundschaft (Neue (Register). – Barbara Becker-Cantarino: Der lange Lieder. Ffm. 1754) geben die wenigen erhal- Weg zur Mündigkeit. Frau u. Lit. in Dtschld. tenen Zeugnisse das Bild einer ungewöhnl. (1500–1800). Stgt. 1987. – Dies.: Die Bekenntnisse Person. Sie hatte sich mit ihrer Frömmigkeit einer schönen Seele: Zur Ausgrenzung u. Vereinnicht aus der Gesellschaft heraus, sondern nahmung des Weiblichen in der patriarchalen geradezu in sie hinein begeben. Der radikale Utopie v. Wilhelm Meisters Lehrjahren. In: WolfPietismus – dieser Richtung wandte sie sich gang Wittkowski (Hg.): Verantwortung u. Utopie. zu – war in Deutschland Ausdruck sozialer Tüb. 1988. – Werner Kraft: S. v. K. u. ihre Gedichte Unruhe. Die kirchentreue Protestantin hatte [1972]. Wieder in ders.: Herz u. Geist. Wien 1989, 1747 ihren eigenständigen Weg begonnen; S. 157–170. – Ulrike Prokop: Die Illusion vom Großen Paar. Lebensentwürfe im dt. Bildungsbürum 1765 stand sie den Herrnhutern nahe; gertum um 1730–70. Ffm. 1990. – Paul Raabe Ende 1769 begann sie mit alchemistischen (Hg.): Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe Experimenten u. wandte sich der Naturmys- u. die Stillen im Lande (Ausstellungskat.). Halle tik zu; 1772–1774 stand sie wie Lavater dem 1999. – Burkhard Dohm: Radikalpietistin u. Frankfurter Sturm und Drang nahe. ›schöne Seele‹. S. K. v. K. In: Hans-Georg Kemper K.s Familie zählte zum gehobenen Bür- (Hg.): Goethe u. der Pietismus. Tüb. 2001, gertum. 1747 löste K. ihre Verlobung, um S. 111–134. Ulrike Prokop / Red. ihrer inneren Stimme zu folgen. Sie wies das bürgerl. Frauenleben zurück u. heiratete nie. Kling, Thomas, * 5.6.1957 Bingen, † 1.4. Ihr Gottesglaube befreite sich von allem 2005 Monschau. – Lyriker. Dogmatismus (»Ich bin ein Christlicher FreyGeist. Alles Formenwesen, alles gemodelte, In Bingen geboren u. in Düsseldorf aufgeist verschwunden – meine Brüder-schafft sind wachsen, wurde K. früh im Rheinland u. in alle Menschen«, Brief an Moser, 21.1.1774). Wien mit Gedichtvorträgen bekannt, die auf Sie fasste das Göttliche als sinnl. Erleben der die perfomative Dimension seiner Lyrik aufGottesnähe u. verlieh dem in ihren Liedern merksam machten. Schon in den ersten GeAusdruck. dichtbänden – darunter erprobung herzstärkenK. beeinflusste das Weltbild des jungen der mittel (Düsseld. 1986), geschmacksverstärker Goethe, indem sie ihn mit naturmyst. (Ffm. 1989), brennstabm (Ffm. 1991) u. Schriften bekannt machte. Goethe beschrieb nacht.sicht.gerät (Ffm. 1993) – waren Hauptihren Umgang in Dichtung und Wahrheit (8. züge der Dichtkunst K.s deutlich ausgeprägt: Buch; 15. Buch: »von so vielfachen Zer- Das Deformieren u. Dissoziieren der Sprache, streuungen, die doch meist zu ernsten, ja re- u. a. durch Abweichung von der herkömml. ligiösen Betrachtungen Anlass gaben, kehrte Orthografie; das Forcieren einer Stilmi-
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schung von Hoch- u. Umgangssprache, von gewähltem u. schnoddrigem Ausdruck; das Operieren an der Grenze von Mündlichkeit u. Schriftlichkeit. Seit 1994 wohnte K. auf der ehem. Raketenstation Hombroich bei Neuss. Der Gedichtband morsch (Ffm. 1996), der von Teilen der Literaturkritik enthusiastisch aufgenommen wurde, ist in mehrere assoziativ verbundene Gedichtgruppen unterteilt u. enthält neben Großstadtdichtung, die durch die Verwendung von slang u. »o-ton« (Manhatten Mundraum) den polylingualen Charakter New Yorks in der Tradition García Lorcas evoziert, auch Gedichte von einer hohen sprach-bildl. Stringenz. In poetolog. Gedichten wie gewebeprobe entwickelte K. eine evokative, bildmächtige, fast überbordende Metaphorik, die Bildfelder wie Natur u. Schrift in fest verknüpften u. dynamisch interagierenden Bildkonstellationen verdichtete. Das Arrangement von Gedichten in losen Zyklen wird in dem Gedichtband Fernhandel (Köln 1999) fortgesetzt, der das bereits in morsch benutzte Verfahren der lyr. Bildbeschreibung – ob als Gemäldegedicht oder Beschreibung einer Fotografie – konsequent weiterentwickelt. In diesem Kontext bemüht sich K. darum, filmische Darstellungsinstrumente – wie Montage- u. Schnitttechniken – als lyr. Konstruktionsmittel zu nutzen. Die in den Gedichtbänden Fernhandel u. Sondagen (Köln 2002) spürbaren literar. Traditionsbezüge, die von der lat. Antike bis zur klass. Moderne reichen, werden von K. in historisch-poetolog. Notizen (Itinerar. Ffm. 1997) u. umfassenderen Studien (Botenstoffe. Köln 2001) ausgearbeitet. K.s persönl. Kanon wird in der Gedichtanthologie Sprachspeicher (Köln 2001) präsentiert. Der Dichter wird von K. als performer, als »Histrione« bestimmt, der Gedichte als »Textpartituren« versteht, die er in Sprachaufführungen zur Geltung bringt. Im Anschluss an Konzeptionen der deutschsprachigen Avantgarden (u. a. Hugo Ball, Walter Serner) wird das Augenmerk auf die phonet. Materialität u. den inszenator. Charakter der Lyrik gerichtet. Wie K. in dem Band Auswertung der Flugdaten (Köln 2005) in Auseinandersetzung mit Borchardt, George, Benn u. Pound deutlich machte, ist der Dichter ein
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»Natur-Geräuscherzeuger und Soundspezialist«; bei der damit angesprochenen »forcierte(n) Mündlichkeit« (Hermann Korte) der Lyrik K.s handelt es sich, wie sich auch an Aufnahmen seiner Gedichtvorträge nachvollziehen lässt, allerdings um eine hochartifizielle Oralität, die gerade nicht auf einen vorschriftl. Zustand verweisen soll: K. grenzt sich deutlich von Einfühlungs- u. Ausdruckspoetiken ab, die es auf die Erkundung oder Vermittlung einer intimen vorschriftl. Authentizität abgesehen haben (Itinerar). Das Gedicht ist für K. vielmehr ein lyr. »TastApparat«, dessen »ungesicherte« Suchbewegung auch im Gedicht selbst ausgestellt wird (Botenstoffe). Die schriftl. Suchbewegung wird in dem Gedichtband Sondagen auch durch ein Bildfeld aufgerufen, das bereits in morsch als Palimpsestmetaphorik auftrat u. in Sondagen als archäologisch-archival. Metaphorik reinterpretiert wird: das »tektonische« Bildfeld der Schichtung. Dieses Bildfeld verweist auch auf K.s komplexe Poetik der Erinnerung, die sich in Gedichtzyklen wie Der Erste Weltkrieg (Fernhandel) ausprägt u. in Auseinandersetzung mit dem Borchardt’schen Projekt »Vorzeitbelebung« (Auswertung der Flugdaten) näher erläutert wird. Nach K.s frühem Tod haben Marcel Beyer u. Christian Döring eine chronologisch geordnete Ausgabe seiner Gesammelten Gedichte. 1981–2005 (Köln 2006) herausgegeben. Weitere Werke: der zustand vor dem untergang. 35 Gedichte. Düsseld. 1977. – wände machn. Gedichte. Mit Aquarellen v. Ute Langanky. Münster 1994. – wolkenstein. Mobilisierun’. Ein Monolog. 10 Linolschnitte v. U. Langanky. Münster 1997. – GELÄNDE camouflage. Gedicht. Fotografien v. U. Langanky. Münster 1998. – Catull: Das Haar der Berenice. Gedichte / Carmina. Bildfolge: U. Langanky. Ostfildern 1997. Literatur: Erk Grimm: Das Gedicht nach dem Gedicht. Über die Lesbarkeit der jüngsten Lyrik. In: Deutschsprachige Gegenwartslit. Wider ihre Verächter. Hg. Christian Döring. Ffm. 1995, S. 287–311. – Die Bibl., die brennt. Gedenkblätter: für T. K. In: Schreibheft (2005), H. 65, S. 147–178, 191–205. – Hubert Winkels: Der Stimmen Ordnung. Über T. K. Köln 2005. – Karen Leeder: ›spritzende brocken: der erinnerung/versteht sich‹: T. K.’s Poetry of Memory. In: Forum for Modern Language Studies 41 (2005), H. 2, S. 174–186. –
483 Hermann Korte: T. K. In: KLG. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): T. K (Text + Kritik. H. 147). Mchn. 2000 (mit Bibliogr.). – E. Grimm: T. K. In: Deutschsprachige Lyriker des 20. Jh. Hg. Ursula Heukenkamp u. Peter Geist. Bln. 2007, S. 686–695. Carlos Spoerhase
Klingemann, (Ernst) August (Friedrich), * 31.8.1777 Braunschweig, † 25.1.1831 Braunschweig; Grabstätte: ebd., Magnifriedhof. – Dramatiker, Theaterleiter, Erzähler, Essayist. K. ist ein typischer Repräsentant des Übergangs von Klassik u. Romantik. Der Sohn eines zum Registrator beim Collegium Medicum aufgestiegenen Kopisten u. einer aus der Musikerfamilie Weinholtz stammenden Mutter besuchte das Braunschweiger Katharineum, ab 1795 – als Mitschüler des Mathematikers Gauß – das Collegium Carolinum. Schon als Gymnasiast verfasste K. – wohl unter dem freigeistigen Einfluss seines Onkels Johann Heinrich Campe – Dramen im Zeitgeschmack. Dem Ritterstück Wildgraf Eckart von der Wölpe (anonym, Braunschw. 1795. Lpz. 21836), das eine mittelalterl. Legende nach dem Vorbild von Goethes Götz aufgreift, folgte das Trauerspiel Die Maske (Braunschw. 1797). Die Dramatisierung eines Bruderzwists u. eines Thronstreits im Stil des Sturm und Drang wurde auf Goethes Anordnung vom Weimarer Hoftheater aufgeführt (1797 in Rudolstadt). Als K. 1798–1801 Jura in Jena studierte, kam er mit dem Kreis der Frühromantiker um die Brüder Schlegel, Fichte u. Schelling in Kontakt; zgl. beeindruckte ihn aber das klassisch-pathet. Theater Weimarer Prägung. Die zweifache ästhetische Orientierung verrät sein Selbstgefühl: Ein Karaktergemälde in fünf Aufzügen (Braunschw. 1800), das den Weg eines schwachen Verführers in den Selbstmord nachzeichnet. Die Zeitschrift »Memnon« (Lpz. 1800), die K. zusammen mit seinem Schulfreund August Winkelmann u. Clemens Brentano nach dem Muster von Schlegels »Athenäum« herausgab, konnte weder die Sympathien der Klassiker-Partei noch die der Romantischen Schule gewinnen u. gelangte nicht über des »Ersten Bandes erstes Stück« hinaus. Der Ti-
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telheld seines Malerromans Romano (2 Bde., Braunschw. 1800/01), ein Parallelunternehmen zu Brentanos Godwi, folgt zwar in seiner ästhetischen Umorientierung von Italien nach Deutschland (Dürer, Hans Sachs), vom Sensualismus zum Katholizismus u. von der Kunst zur Natur dem Muster des romant. Bildungsromans, reflektiert aber auch schon das eigene Problem einer epigonalen Fragmentästhetik (»ein Meister in der Kunst des Amalgamierens«). Ein umfangreicher lyr. Anhang des Romans, der auch Liedkompositionen enthält u. in der Einleitung Goethes Wilhelm Meister huldigt, zeigt K.s klassizistische Vorliebe für regulierte Strophenformen. 1801 kehrte K. als Rechtskandidat ohne Examen zurück nach Braunschweig. Trotz seiner regelmäßigen Beiträge für die »Zeitung für die elegante Welt« u. dramentheoret. Programme (Über Schillers Tragödie: Die Jungfrau von Orleans. Lpz. 1802. Neudr. Hann. 1997) scheiterte K.s Plan, als freier Schriftsteller zu leben, mit dem frühen Tod seiner ersten Ehefrau Sophie Schröder. Die äußeren Verhältnisse besserten sich erst 1806, als K., von dem Dramatiker Leisewitz gefördert, das Amt seines verstorbenen Vaters als Registrator beim Obersanitätskollegium erlangte. Die Krisenzeit reflektiert K. sowohl in dem Künstlerroman Albano der Lautenspieler (2 Bde., Lpz. 1802) als auch in den Nachtwachen (Penig 1805. Seit Lindau u. a. 1877 zahlreiche Neuaufl.n u. Übers.en), die unter dem Pseudonym »Bonaventura« erschienen. Die Autorschaft war lange umstritten, seit Rudolf Haym in der Romantischen Schule auf die stilistische Nähe zu Arnim, Brentano u. E. T. A. Hoffmann hingewiesen hatte. In der Folgezeit wurden noch Schelling (von Hubert Beckers), Friedrich Gottlob Wetzel (von Franz Schultz), Johann Benjamin Erhard (von Wolfgang Pross) u. Ignaz Ferdinand Arnold (von Franz Heiduk) als mutmaßl. Verfasser ins Gespräch gebracht, bevor Jost Schillemeit u. Horst Fleig sich für K. als Autor aussprachen. Diese Zuschreibung wurde durch die von Ruth Haag in der Amsterdamer Universitätsbibliothek aufgespürten Briefe glänzend bestätigt. Denn dort findet sich in einer eigenhändig von K. ergänzten Werkliste der Zusatz: »Nachtwachen von Bonaventura,
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1804«. Auch wenn die lange unklare Verfasserfrage zum großen Nachruhm der Nachtwachen beigetragen hat, zählt der Text in seiner arabeskenhaften u. innovativen Erzählweise sicherlich zu den »geistreichsten Produktionen der Romantik« (R. Haym). Der Ich-Erzähler Kreuzgang, Nachtwächter u. satir. Poet, entwirft in 16 Nachtwachen Vexierbilder der dunklen Seiten der Welt, des »allgemeinen Irrenhauses«. Kreuzgangs groteske »Vorliebe für die Tollheit« nimmt im Laufe des Romans derart zu, dass der Realitätsgehalt der eigenen Vorgeschichte strittig bleibt, die er am Grab seines unverwesten Vaters, eines Alchemisten, erfährt. Das analyt. Erzählen, die selbstiron. Intertextualität (»ich habe Kants Nase, Göthens Augen, Lessings Stirn, Schillers Mund und den Hintern berühmter Männer«) u. das groteske Spiel mit romant. Themen u. Motiven wirken in der Übererfüllung fast schon wie eine Überwindung der Nachromantik. Den Höhe- u. Endpunkt von K.s Romanschaffen flankiert das poetolog. Drama Freimüthigkeiten (Abdera [d.i. Lüneburg] 1804), welches im Stil von Tiecks selbstreflexivem Theater die prosaische Aufklärungsdramatik eines Kotzebue satirisch aufs Korn nimmt. Nachdem K. in zweiter Ehe 1810 die Schauspielerin Elise Anschütz geheiratet hatte u. Leiter der Walther’schen Schauspieltruppe geworden war, verlagerte sich sein Interesse immer mehr auf das Theater. Den ersten durchschlagenden Erfolg brachte ein Columbus-Drama (Tüb. 1808), das 1808/09 in Berlin, Wien, Stuttgart u. anderen dt. Städten aufgeführt wurde. Die zahlreichen Dramen, die in kurzer Zeit folgten, wie Heinrich der Löwe (in: Theater. Bd. 1. Neu hg. von Eberhard Rohse. Brauschw. 1996), Ferdinand Cortez, oder die Eroberung von Mexiko (Braunschw. 1817 u. ö.), Das Vehmgericht (in: Theater. Bd. 3) u. Moses. Ein dramatisches Gedicht (Helmstedt 1812. Wieder in: Dramatische Werke. Bd. 7, u. ö.), wurden als »Dichtungsbehelfe zur Verwirklichung der Kulturaufgabe des Theaters« abgetan (Burath, S. 108). Erst in neuerer Zeit wird K.s intertextuelle Dramatik weniger kritisch bewertet, die gezielt an die Werke der dt. Klassik anknüpft. So verfasste er neben Bearbeitungen wie Hamlet, »nach Goe-
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thes Andeutungen« im Wilhelm Meister »und A. W. Schlegels Übersetzung für die Bühne bearbeitet« (Lpz./Altenburg 1815), das Trauerspiel Heinrich von Wolfenschießen (Lpz. 1806. o. O. 1807. Auch in: Theater 1, Lpz. 1816) als »historisches Seitenstück zu Schillers Wilhelm Tell«; sein Martin Luther (1808) folgt Zacharias Werners Weihe der Kraft, u. sein Lustspiel Die Witwe von Ephesus (Wien 1818) sucht Lessing zu vollenden. Als Höhepunkt von K.s Collagetechnik gilt sein Faust. Ein Trauerspiel in fünf Acten (Lpz./Altenburg 1815. Nachdr. hg. von Norbert Oellers u. Saskia Schottelius. Stgt./Zürich 1991. Lpz. 1996). K. präsentiert Faust als Erfinder des Buchdrucks wie des Schwarzpulvers, synthetisiert die Stofftradition u. bereichert sie um bühnenwirksame Effekte, die dem Drama einen großen Theatererfolg brachten. Die spektakuläre Dramentechnik verspottete Friedrich von Sallet 1831 in der Satire Zubereitung des Klingemann’schen Faust, eine Hexenscene (in: Sämtliche Schriften. Bd. 4, 1847, S. 6–13). K.s theatergeschichtl. Verdienst ist es, mit Unterstützung eines vom Hof begünstigten Aktienvereins das »Braunschweiger Nationaltheater« gegründet zu haben. Es wurde am 28.5.1818 mit einem selbstverfassten Prolog u. Schillers Braut von Messina eröffnet. K., der bereits 1816 eine »Kunstschule für Schauspieler« eingerichtet hatte, suchte mit seinen Vorlesungen für Schauspieler (Helmstedt 1818) den künstlerischen Rang der Braunschweiger Bühne aufzuwerten. Auf Reisen in Deutschland warb er neue Kräfte für Braunschweig u. informierte sich über den auswärtigen Bühnengeschmack. Seine an Schiller orientierten dramenästhetischen Reflexionen, verbunden mit autobiogr. Reiseskizzen, finden sich gesammelt in Kunst und Literatur. Blätter aus meinem Reisetagebuch (3 Bde., Braunschw. 1819–28). Als das Theater 1826 aus finanziellen Gründen geschlossen werden musste, wurde es kurz darauf von Herzog Karl als Hoftheater wiedereröffnet. K., der wieder als Direktor eingesetzt wurde u. diese Position mit kurzen Unterbrechungen bis zu seinem Tod behielt, musste nun größere ästhetische Kompromisse eingehen. Er verfasste kaum noch eigene Dramen (Ahasver. Braunschw. 1827), u. das klass. Sprechdrama
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musste sich die Bühne zunehmend mit populären Rührstücken u. Opern teilen. Umso mehr Respekt verdient K.s Erstaufführung von Goethes Faust am 19.1.1829. Seine Bearbeitung u. Inszenierung wurde als »bühnenkünstlerische Großtat« (Burath) gefeiert, von Goethe anerkannt u. auch der Weimarer Faust-Aufführung im Aug. 1830 zu Grunde gelegt. Weitere Werke: Einzelausgaben: Die Asseburg. Histor.-romant. Gemählde. 2 Bde., Braunschw. 1796/97 (D.; anonym). – Die Ruinen im Schwarzwalde. 2 Bde., ebd. 1798/99 (R.; anonym). – Was für Grundsätze müssen eine Theaterdirection bei der Ausw. der aufzuführenden Stücke leiten? Lpz. 1802. – Der Schweitzerbund. 2 Bde., Lpz. 1804/05 (D.). – Der Lazzarone oder Der Bettler v. Neapel. Ein romant. Schauspiel in 5 Akten. In: Neueste dt. Schaubühne 3, Bd. 5 (1805). Auch: Hbg. 1805. 2 1814 (D.). – Don Quixote u. Sancho Panza oder: Die Hochzeit des Camacho. Lpz. 1815 (D.). – Dt. Treue. Helmstedt 1816 (D.). – Die Grube zur Dorothea. Helmstedt 1817 (D.). – Sammelausgaben: Theater. 3 Bde., Tüb. 1808–20. – Dramat. Werke. 2 Bde., Braunschw. 1817. – Dramat. Werke. 8 Bde., Wien 1818–21. – Melpomene. Braunschw. 1830 (enthält die Dramen ›Die Braut v. Kynast‹ u. ›Bianca di Sepolcro‹). Literatur: Heinrich Kopp: Die Bühnenleitung A. K.s in Braunschweig. Lpz. 1901. – Valentin Hauck: A. K. als Dramatiker. Diss. Würzb. 1926. – Hans Jenker: A. K.s Anschauungen über die Funktionen des Theaters. Bln. 1929. – Hugo Burath: A. K. u. die dt. Romantik. Breslau 1948. – Jost Schillemeit: Bonaventura. Der Verf. der ›Nachtwachen‹. Mchn. 1973. – Horst Fleig: Literar. Vampirismus. K.s ›Nachtwachen v. Bonaventura‹. Tüb. 1985. – Ruth Haag: Noch einmal: Der Verfasser der ›Nachtwachen v. Bonaventura‹. In: Euph. 81 (1987), S. 286–297. – Joseph Kiermeier-Debre: ›Der Tieck des Tiecks‹: A. K.s ›Freimüthigkeiten‹. In: Ders.: Eine Komödie u. auch keine. Stgt. 1989, S. 162–177. – Kathy A. Brzovic´ : Bonaventura’s ›Nachtwachen‹. A Satirical Novel. New York u. a. 1990. – Paul C. W. Davies: Music in the ›Nachtwachen‹. New York u. a. 1991. – Helmut Barak: Immer, immer nach West! Armands ›Amerika‹ u. K.s ›Columbus‹. In: Lit. in Bayern (1993), H. 31, S. 34–37. – Jerry Eugene Neeb-Crippen: Bürgerl. Lustspiel u. Ritterroman. Zur Unterhaltungslit. im ausgehenden 18. Jh., unter bes. Berücksichtigung der frühen Werke E. A. K.s. Urbana, IL 1994. – Kenneth M. Ralston: The Captured Horizon. Heidegger and the ›Nachtwachen v. Bonaventura‹.
Klinger Tüb. 1994. – Jean-Marie Winkler: Transferts et adaptations du mythe d’Œdipe. L’›Œdipe‹ de Voltaire et ›Oedipus und Jokasta‹ d’A. K. In: Chroniques allemandes 3 (1994), H. 1, S. 113–132. – Ina Braeuer-Ewers: Züge des Grotesken in den Nachtwachen v. Bonaventura. Paderb. u. a. 1995. – Thomas Böning: Widersprüche. Zu den ›Nachtwachen v. Bonaventura‹ u. zur Theoriedebatte. Freib. i. Br. 1996. – Linde Katritzky: A Guide to Bonaventura’s ›Nightwatches‹. New York u. a. 1999. – Nicola Kaminski: Kreuz-Gänge. Romanexperimente der dt. Romantik. Paderb. u. a. 2001. – Barbara Arnold: Lexikographische Studien zu A. K. In: Words, Texts, Images. Hg. Katrin Kohl u. a. Oxford 2002, S. 25–39. – Elena Agazzi: Il ›Faust‹ di A. K. Un testo drammaturgico dimenticato. In: Il mito nel teatro tedesco. Studi in onore di Maria Fancelli. Hg. Hermann Dorowin u. a. Perugia 2004, S. 145–161. – Luciano Zagari: Der Sprung über den eigenen Schatten. Die ›Nachtwachen‹ v. Bonaventura als poetolog. Oxymoron. In: Ders.: Sistemi dell’immaginario nell’età di Goethe. Pisa 2004, S. 291–307. – Hans Feger: Das Groteske in Bonaventuras ›Nachtwachen‹. In: Athenäum 17 (2007), S. 51–77. – Steffen Dietzsch: K.s ›Faust‹ (1811). In: ebd., S. 193–212. Achim Aurnhammer
Klinger, Friedrich Maximilian, * 17.2. 1752 Frankfurt/M., † 25.2.1831 Tartu/ Estland; Grabstätte: St. Petersburg, Alter Smolensker Lutherischer Friedhof. – Dramatiker, Romancier. K. war das zweite Kind des Bauernsohns Johannes Klinger aus dem Odenwald, der sich in Frankfurt/M. als Konstabler bei der städt. Artillerie hatte anwerben lassen. Nach dem Tod des Vaters (1760) musste die 32-jährige Witwe Cornelia Margareta Dorothea, geb. Fuchs, als Krämerin u. Wäscherin den Sohn u. die beiden Töchter ernähren. K. fühlte früh den Druck der Armut, konnte aber das Gymnasium besuchen u. mit der finanziellen Hilfe des jungen Goethe 1774 in Gießen ein Jurastudium beginnen. Vor allem aber interessierte er sich für die antike u. zeitgenöss. Literatur, für Shakespeare u. Petrarca. 1775 brachte er bei Friedrich Weygand in Leipzig, dessen Verlag sich schon als Haus der Geniebewegung etabliert hatte, das Ritterdrama Otto u. das Trauerspiel Das leidende Weib als Dramen in der »Goetheschen/Lenzischen Manier« heraus. Dabei ließ es der Verleger
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dahingestellt sein, ob die Leser »sich nun den Verfasser als einen muthigen Jüngling denken, der mit verhängten Zügeln dahin schießt oder als einen Mann, der aus Vorsatz romantisiren wollte« (in: Frankfurter Gelehrte Anzeigen, 1775). Im Sommer 1775 schrieb K. für das von Friedrich Ludwig Schröder u. Sophie Charlotte Ackermann veranstaltete »Hamburger Preisausschreiben« Die Zwillinge (in: Schröders Hamburgisches Theater. Bd. 1, 1776, S. 1–88). Nach dem Erfolg dieses Stücks, das mit dem Preis ausgezeichnet wurde, u. mit dem raschen Erscheinen der weiteren Werke Die neue Arria (Bln. 1776), den an verschiedenen Stellen gedruckten Scenen aus Pyrrhus Leben und Tod (1776–79) u. Simsone Grisaldo (Bln. 1776) entschloss sich K. im Juni 1776, die Universität zu verlassen. Er reiste zunächst zu Goethe nach Weimar, um durch dessen Vermittlung eine Anstellung zu erhalten. K., dem die Natur »eine große, schlanke, wohlgebaute Gestalt und eine regelmäßige Gesichtsbildung gegeben« hatte (Dichtung und Wahrheit, 12. Buch), richtete seine Hoffnungen v. a. auf eine militärische Karriere. Nach dem bis heute ungeklärten Bruch mit Goethe ging K. mit dem Manuskript seines neuen Stücks Sturm und Drang (Bln. 1776) als Dramaturg zur Truppe Abel Seylers. Auf den Reisen mit Seyler zwischen Okt. 1776 u. Febr. 1778 traf er Lessing in Wolfenbüttel u. befreundete sich in Düsseldorf mit den Jacobis u. mit Heinse. In dieser Zeit entstanden die Farce Der verbannte Göttersohn (Gotha 1777; Fragment), Stilpo und seine Kinder. Ein Trauerspiel, fürs Theater geschrieben (erst 1780 in Basel gedruckt), sowie die ersten beiden Bände des Romans Orpheus (insg. 5 Bde., Genf, recte Basel 1778–80), der ein Produkt seiner Geldnot war. Enttäuscht vom Leben als Theaterdichter, machte sich K. auf die Reise nach Zürich zu seinem Jugendfreund Philipp Christoph Kayser. Unterwegs besuchte er in Emmendingen Johann Georg Schlosser, der K. als Leutnant in das Freikorps des Chevalier de Wolter vermittelte. Von Sommer 1778 bis Frühling 1779 zog K. während des Bayerischen Erbfolgekriegs durch Böhmen u. fand sich nach dessen Ende 27-jährig verabschie-
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det u. ohne Lebensunterhalt. So kehrte er zur Schriftstellerei zurück, aber diesmal mit einem tiefen Sinn für Selbstironie, weit entfernt von der Schwärmerei der Jugendwerke. 1779 entstanden die Komödien Prinz SeidenWurm (Genf, recte Basel 1780) u. Der Derwisch (Ormus, recte Basel, Prag 1780). Im selben Jahr vollendete er den Roman Orpheus u. dessen Pendant, Prinz Formosos Fiedelbogen und der Prinzeßin Sanaclara Geige (2 Bde., Genf, recte Basel 1780). Im Sommer 1780 wohnte K. in Pratteln in der Schweiz u. verfasste mit Lavater u. Jacob Sarasin die Satire Plimplamplasko, der hohe Geist, heut Genie (Basel 1780. Neudr. hg. von Peter Pfaff. Heidelb. 1966) auf den »Genieapostel« Christoph Kaufmann, der K.s urspr. Der Wirrwarr betiteltes Stück in Sturm und Drang umgetauft hatte. Durch seine, über die Angriffe auf Kaufmann hinausreichende, grundlegende Abrechnung mit dem Genie-Ideal markiert der Roman eine wichtige Zäsur in K.s Werk. Wieder durch Schlossers Vermittlung wurde K. 1780 zunächst als Vorleser, dann als Ordonnanzoffizier u. Leutnant im Marinebataillon beim russ. Thronfolger Großfürst Paul in Petersburg eingestellt, mit dem er zwischen Sept. 1781 u. Dez. 1782 eine Europareise unternahm. In Wien traf er Schröder wieder, der die noch im Manuskript befindl. Komödie Die falschen Spieler (Wien 1782) am Hoftheater aufführte. In Paris beendete K. sein Drama Elfride (Basel 1783). Wieder in Petersburg, machte er Militärkarriere u. heiratete 1788 die Russin Elisabeta Alexandrowna. Das Ehepaar hatte drei Kinder, von denen nur der Sohn Alexander die Kindheit überlebte; 1812 fiel er in der Schlacht bei Borodino. 1801 wurde K. Generalmajor u. Leiter des Kadettenkorps. Auch diente er beim Ministerium für Volksbildung u. im Rat verschiedener Lehranstalten. Ab 1803 war er Kurator des Schulbezirks u. der Universität Dorpat in Estland, bis er 1816 im Zuge der beginnenden Restauration seines Amtes enthoben wurde. In der Folge zog er sich aus dem öffentl. Leben zurück. In Russland war K. zum dienstbeflissenen Offizier u. Beamten geworden; die Schriftstellerei war für ihn Zeitvertreib, brachte aber auch »Beweise meines moralischen Daseyns«
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(6.8.1810). Zu den schon genannten Schauspielen kamen in den 1780er Jahren noch drei Historien, zwei Komödien u. eine Gruppe von fünf Antikendramen, darunter zwei Medeastücke, von denen die Medea auf dem Kaukasos (Lpz. 1791) mit ihrer skept. Anthropologie einen deutl. Gegenentwurf zu Goethes Iphigenie darstellt. Die Entstehung des Romans Die Geschichte vom Goldenen Hahn (Gotha 1785) geht wohl auf Aug. 1783 zurück. Zunehmend beschäftigte sich K. in seinen Werken mit den Widersprüchen von Macht u. Moral, von despotischer Herrschaft u. aufklärerischen Reformbemühungen, z.T. mit deutl. Bezug zu russ. Verhältnissen (Der Günstling. In: Theater. Riga 1787. Oriantes. Ffm./Lpz. 1790). Anfang 1790 begann er eine Revision seines Romans Orpheus, der 1791 u. d. T. Bambino’s sentimentalisch-politische, comisch-tragische Geschichte (Petersburg/Lpz.) erschien. Im selben Jahr teilte K. seinem Jugendfreund Ernst Schleiermacher mit, dass er ein Manuskript abgeschickt hatte: »Darinnen wirst du nebst einem tiefen Zwek, alles finden, was ich über Wissenschaft, Menschen, Glük, Moral, Religion, Gott und Welt denke« (24.3.1791). Dieses Werk, Fausts Leben, Thaten und Höllenfahrt in fünf Büchern (Petersburg/ Lpz. 1791), ist das erste eines geplanten Zyklus von zehn Romanen, von denen acht u. ein Teil vom zehnten erschienen sind. Der neunte, urspr. als autobiogr. Rechenschaftsbericht geplant, blieb wohl aus polit. Rücksichten ungeschrieben. Die unvollendete »Dekade« stellt den Versuch des weit gereisten u. belesenen Skeptikers K. dar, das Spektrum der europ. Aufklärung aus persönl. Sicht zusammenzufassen. In den Betrachtungen und Gedanken über verschiedene Gegenstände der Welt und der Literatur (Bde. 1 u. 2, Köln 1803. Bd. 3, Petersburg 1805) setzt K. seinen Epochenkommentar noch einmal mit äußerster Schärfe fort, wobei der im Romanzyklus unternommene Versuch einer umfassenden Integration von Widersprüchen nun einer disparaten Abfolge von Aphorismen, kleinen Essays u. kurzen Dialogen weicht. In formaler wie inhaltl. Hinsicht sucht der krit. Autor so bis zuletzt nach neuen u. eigenständigen Lösungen.
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K. führte einen umfangreichen Briefwechsel mit seinem Jugendfreund Schleiermacher, mit Goethe, mit dem die alte Freundschaft 1811 wieder aufgenommen wurde, u. mit vielen, die ihn in Petersburg u. Dorpat besuchten, darunter Caroline von Egloffstein, Fanny Tarnow, Seume, Arndt u. Wilhelm von Wolzogen. Weitere Werke: Werkausgaben: Theater. 4 Bde., Riga 1786/87. – K.s neues Theater. 2 Bde., Petersburg/Lpz. 1790. – Ausw. aus K.s dramat. Werken. 2 Bde., Lpz. 1794. – K.s Werke. 12 Bde., Königsb. 1809–16 (Ausg. letzter Hand). Neuausg. Lpz. 1832. – Sämmtl. philosoph. Romane. 12 Bde., o. O. [Wien] 1810. – K.s Werke. Hist.-krit. Gesamtausg. Hg. Sander L. Gilman u. a. 24 Bde., Tüb. 1978 ff. – Briefe: Briefbuch zu F. M. K. Sein Leben u. Werk. Hg. Max Rieger. Darmst. 1896. – Einzeltitel: Oriantes. Ffm./Lpz. 1790 (Trauersp.). – Medea in Korinth u. Medea auf dem Kaukasus. Zwey Trauersp.e. Petersburg/Lpz. 1791. – Gesch. Raphaels de Aquillas [...]. Lpz. 1793. – Reisen vor der Sündfluth. Bagdad, recte Riga 1795. – Der Faust der Morgenlaender [...]. Ebd. 1797. – Der Schwur. Riga 1797 (Lustsp.). – Sahir, Eva’s Erstgeborener im Paradiese. Ein Beytrag zur Gesch. der Europ. Kultur u. Humanität. Tiflis, recte Riga 1798. – Gesch. eines Teutschen der neuesten Zeit. Lpz. 1798. Literatur: Biografisches und zum Gesamtwerk: Max Rieger: K. in der Sturm- u. Drangperiode. Darmst. 1880 (im Anhang Briefe K.s). – Ders.: K. Sein Leben u. Werk. 2 Bde., Darmst. 1896. – Olga Smoljan: K. Leben u. Werk. Übers. v. Ernst Moritz Arndt. Weimar 1962. – Christoph Hering: K. Der Weltmann als Dichter. Bln. 1966. – Fritz Osterwalder: Die Überwindung des Sturm u. Drang im Werk F. M. K.s. Bln. 1979. – Gert Ueding: Ein verbannter Göttersohn [...]. In: Ders.: Die anderen Klassiker. Mchn. 1986, S. 59–77. – Fritz Martini: F. M. K. In: Ders.: Vom Sturm u. Drang zur Gegenwart. Ffm. 1990, S. 9–33. – Harro Segeberg: F. M. K. Ein Beitr. zur Gesch. der Gegen-Klassik. In: Klassik u. Anti-Klassik [...]. Würzb. 2001, S. 279–293. – Zu den Dramen: Kurt May: K.s Sturm u. Drang. In: DVjs 11 (1933), S. 398–407. – Hans M. Wolff: Der Rousseaugehalt in K.s Drama ›Das leidende Weib‹. In: JEGPh (1940), S. 355–375. – Ders.: Fatalism in K.’s ›Zwillinge‹. In: GR 25 (1940), S.181–190. – Ansgar Hillach: K.s ›Sturm u. Drang‹ im Lichte eines frühen, unveröffentlichten Briefes. In: JbFDH (1968), S. 22–35. – Edward P. Harris: ›Der Tyrann v. Syrakus‹. An Unknown Early Version of F. M. K.s ›Damocles‹. In Archiv 210 (1973), H. 2, S. 241–296. – Karl S. Guthke: Lektion
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489 Dt. Lit. im früheren Preußen u. im Baltikum. Hg. Peter Zimmermann. Dresden/Norderstedt 2001, S. 57–63. – Irina Lagoutina: On the crossroad of cultures. F. M. K.s ›Faust‹ and the genre structure of Russian religious prose. In: Les lumières européennes dans leurs relations avec les autres grandes cultures et religions. Hg. Florence Lotterie. Paris 2002, S. 271–279. – Giulia Cantarutti: ›Da nichts diese Fragen beantwortet als unsere moral. Kraft‹. ›Der Weltmann u. der Dichter‹ di K. In: Cultura tedesca (2002), Nr. 19, S. 9–46. – T. Salumets: Ein ›etablierter Außenseiter‹. F. M. K. u. die ›Gesch. eines Teutschen der neusten Zeit‹. In: Euph. 96 (2002), S. 421–435. – Einflüsse: Erich Schmidt: Lenz u. K. Bln. 1878. – Friedrich A. Wyneken: Rousseaus Einfluß auf K. Berkeley 1912. – Sander L. Gilman u. E. P. Harris: K.’s Wieland: In: MLN 99 (1984), H. 3, 589–606. Edward P. Harris / Anna Poeplau
Klinger, Kurt, * 11.7.1928 Linz, † 23.4. 2003 Wien. – Lyriker, Dramatiker, Übersetzer, Essayist. Nach der Matura arbeitete K. als Handelsangestellter; ab 1953 studierte er Germanistik u. Theaterwissenschaften in Wien. Bekannt wurde er 1954 durch die Linzer Uraufführung seines Schauspiels Odysseus muß wieder reisen (abgedr. im Sammelband Schauplätze. Wien 1971). Von 1955 an war K. Dramaturg u. a. in Linz, Düsseldorf, Hannover, Zürich u. Graz. 1978 ließ er sich als freier Schriftsteller u. Publizist in Wien nieder. 1979–1990 war er Chefredakteur der Zeitschrift »Literatur und Kritik« u. Vizepräsident der Österreichischen Gesellschaft für Literatur. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er vorwiegend in Rom. Schon der Titel von K.s publikumswirksamem Odyssee-Stück ist symptomatisch für eine Autorschaft, die geschichtsbedingte Erfahrungen der Unbehaustheit u. Verstörung im Rückgriff auf den antiken Mythos gern zum Spiegel einer überzeitl. condition humaine stilisiert: Homers Held ist bei K. verfremdet zur Figur des haltlosen Kriegsverlierers, dem noch die Aussicht auf Heimkehr am Ende verloren geht. Hier u. großenteils in den späteren, minder erfolgreichen Dramen K.s bricht sich freilich gerade der gegenwartskrit. Elan am illusionslosen Entwurf existenzieller Konstanten.
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K. ist letzten Endes ein Dramatiker der Nachkriegszeit geblieben. Seine Stücke konnten sich nicht im Repertoire der dt. Bühnen halten u. sind inzwischen in Vergessenheit geraten. Nach etlichen Hörspielen (u. a. Der Mann, der in mir lebt. 1971) u. einigen wenigen Fernseharbeiten (u. a. Der Tag der Tauben. 1970) stellte er zu Beginn der achtziger Jahre sein dramat. Schaffen ein u. konzentrierte sich fortan auf seine Arbeit als Lyriker – für die er 1984 den Georg-Trakl-Preis erhielt –, Essayist u. Literaturvermittler. Sein erzählerisches Werk – zu nennen ist hier v. a. Die vierte Wand (Wien/Hbg. 1967), eine umfangreiche Sammlung von im Schauspieler- u. Theatermilieu angesiedelten Novellen u. Erzählungen – blieb fragmentarisch u. fand kaum Beachtung. In seiner lyr. Produktion, die bis an sein Lebensende nicht abriss, kann er als Vertreter einer gemäßigten Moderne gelten. Während seine frühen Gedichte teils klassizistische, teils expressionistische Züge tragen – eine repräsentative Nachlese bietet der Band Das Kirschenfest (Baden 1984) –, gelangte K. in späteren Jahren zu einer diskursiv-weiträumigen lyr. Schreibweise, in der sich Melancholie u. Resignation ebenso artikulieren können wie die radikale Negation der bestehenden sozialen Verhältnisse, in der die Erfahrungen von Krieg und Gewaltherrschaft sowie Augenblicke zeitenthobener Schönheit thematisiert werden u. in der die Sehnsucht nach einer humanen Ordnung ebenso präsent ist wie ein unverkennbar anarchisches Element. Eine bes. Stellung in K.s lyr. Topografie kommt Rom zu. Diesem Ort der Epiphanie, der Entäußerung, der Ekstase hat K. auch mehrere Prosastücke gewidmet, wie sie bereits in dem Band Studien im Süden (Linz 1965) enthalten sind u. später, ergänzt um Kindheitserinnerungen, in den Prosaband Erinnerung an Gärten (Salzb. 1989) Eingang fanden. K. trat auch als Bearbeiter klass. Stücke (u. a. von Sophokles, Shakespeare, Gozzi, Strindberg) u. als Übersetzer des avantgardistischen Dramatikers Fernando Arrabal (Der Architekt und der Kaiser von Assyrien, Der Garten der Lüste) hervor.
Klinger Weitere Werke: Harmonie aus Blut. Wien 1951 (L.). – Auf der Erde zu Gast. Linz 1956 (L.). – Garn des Schicksals. Graz 1957 (L. u. P.). – Entwurf einer Festung. Wien/Mchn. 1970 (L.). – Konfrontationen. Wien 1973. (Ess.s). – Auf dem Limes. Salzb. 1980 (L.). – Theater u. Tabus. Ess.s, Ber.e, Reden. Eisenstadt/Wien 1984. – Zeitsprung. Salzb. 1987 (L.). – Auf den zweiten Blick. Wiederbegegnungen mit Meisterwerken der Lit. Wien 1994 (Ess.s). – Das blühende Schiff. Wien 1998 (L.). – Die Ungnade der Geburt. Lit. als Schicksal. Mchn. 1999 (Ess.s). Literatur: Hans Vogelsang: Modernes Welt- u. Zeittheater. In: Ders.: Österr. Dramatiker des 20. Jh. Wien 1963, S. 185–204. – Karl Müller: Muß Odysseus wieder reisen? Heimatlosigkeit u. Heimat. In: Lit. der Nachkriegszeit u. der fünfziger Jahre in Österr. Wien 1984, S. 270–289. – Helga Perz (Red.): Porträt K. K. Linz 1999. – Joseph P. Strelka: K. K. als Lyriker. In: Ders.: Vergessene u. verkannte österr. Autoren. Tüb. 2008, S. 175–186. Martin Loew-Cadonna / Christian Teissl
Klinger, Max, * 18.2.1857 Leipzig, † 4.7. 1920 Großjena bei Naumburg; Grabstätte: ebd. – Maler, Radierer, Bildhauer; Kunsttheoretiker. Nach dem Studium in Karlsruhe u. Berlin (1874–76) begründete Klinger seinen Ruhm zunächst mit seinen techn. Mittel virtuos kombinierenden Radierungen. Während der achtziger Jahre, die er in verschiedenen europ. Metropolen verbrachte, entstanden mehrere grafische Zyklen, die teils soziale u. gesellschaftl., teils myth. u. fantastische Themen u. Stoffe in naturalistischer Formensprache präsentierten. Die erzählerische Struktur dieser Grafikzyklen hat K. schon früh den Beinamen eines »Poeten« eingetragen (Georg Brandes, 1882, Ferdinand Avenarius, 1917). Er verarbeitete Anregungen, die er u. a. aus der Lektüre Schopenhauers, Darwins u. E. T. A. Hoffmanns, aber auch Zolas u. der Brüder Goncourt bezogen hatte. Als künstlerische Vorbilder sind so verschiedene Figuren wie Arnold Böcklin u. Adolf Menzel zu nennen. Der Auftrag zur dekorativen Gestaltung eines großbürgerl. Berliner Wohnhauses (Villa Albers) zog seit 1883 die verstärkte Hinwendung zu Malerei u. Bildhauerei nach sich. Daraus entwickelte sich die theoret. Konzeption eines raumkünstlerischen Ge-
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samtkunstwerks, über die K.s einzige kunsttheoret. Schrift Malerei und Zeichnung (Lpz. 1891. 31899) Rechenschaft ablegt. Ansätze zur Verwirklichung dieser Idee bildeten drei Monumentalgemälde (Das Urteil des Paris. 1885/87. Die Kreuzigung Christi. 1891. Christus im Olymp. 1897) u. die Großplastik Beethoven, eine symbolisch u. motivisch aufgeladene Personifikation des künstlerischen Genies. Seit 1893 war K. in Leipzig ansässig, wo er 1897 zum Professor an der Akademie der graphischen Künste ernannt wurde. Er unterhielt Kontakte zu Berliner u. Hamburger Schriftstellerkreisen; der seinerzeit berühmte Lyriker Richard Dehmel widmete K. seinen Gedichtband Lebensblätter (1895). Als korrespondierendes Mitgl. verkehrte K. mit der 1897 gegründeten Wiener »Secession«, die 1902 seinen Beethoven in einem eigens dafür entworfenen Raum ausstellte. Es folgten zahlreiche Ehrungen u. wichtige Aufträge, wie etwa ein Denkmal für den mit K. bekannten Komponisten Johannes Brahms (1909) u. ein Wandgemälde für die Aula der Universität Leipzig (Die Blüte Griechenlands. 1909; Kriegsverlust). Denkmäler für Richard Wagner, Friedrich Nietzsche u. Franz Liszt blieben Entwurf. Weitere Werke: Briefe aus den Jahren 1874–1919. Hg. Hans Wolfgang Singer. Lpz. 1924. – M. K. – Gedanken u. Bilder aus der Werkstatt des werdenden Meisters. Hg. Hildegard Heyne. Lpz. 1925. – Briefwechsel: M. K. – Carl Schirren 1910–1920. Mit einem Ess. v. H.-G. Pfeifer. Hg. Carl Schirren. Hbg. 1988. – Mir tanzt Florenz auch im Kopfe rum. Die Villa Romana in den Briefen v. M. K. an den Verleger Georg Hirzel. Hg. u. eingel. v. Angela Windholz. Mchn. u. a. 2005. Literatur: Ausstellungskat.e Lpz. 1970, Bielef. 1976, Hildesh. 1984, Mchn. 1996, Weimar 2004, Karlsr. 2007. – Christian Drude: Historismus als Montage. Kombinationsverfahren im graph. Werk M. K.s. Mainz 2005. – Pavla Langer, Zita Á. Pataki u. Thomas Pöpper (Hg.): M. K. Wege zur Neubewertung. Lpz. 2008 (m. Bibliogr.). Björn Spiekermann
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Klippel, Christian, auch Kristian K., * 4.4. Klipstein, Editha, geb. Blaß, * 13.11.1880 1955 Wittlich . – Verfasser von Romanen Kiel, † 27.5.1953 Laubach/Oberhessen. – u. Kinderbüchern. Essayistin, Erzählerin. Nach dem Beginn des Studiums der Philoso- Als Tochter des Altphilologen Friedrich Wilphie in Heidelberg u. seiner Bundeswehrzeit helm Blaß wuchs K. in Halle auf u. unterwurde K. durch seinen Roman 456 und der Rest nahm in ihrer Jugend ausgedehnte Reisen von heute (Mchn. 1979) bekannt, den er in durch Europa. 1905–1914 ließ sie sich zur Paris in kurzer Zeit geschrieben hatte. Der Malerin ausbilden u. heiratete 1909 den MaTitel bezieht sich auf die 15 Monate Wehr- ler Felix Klipstein. K. gehörte zum Freundienst, die man damals ableisten musste: 456 deskreis um Rilke; ihr Domizil auf dem Tage. Eindringlich, manchmal pathetisch u. Ramsberg bei Laubach war der Mittelpunkt den Gang der Handlung oft durch Reflektio- zahlreicher Künstler. Deutlich von Flaubert nen unterbrechend, schildert K., wie sein u. Proust beeinflusst, fand K. erst spät zu ihProtagonist Stefan Hofmann, zunächst über- rem literar. Stil. Mit dem Roman Anna Linde zeugter Zeitsoldat, durch die bes. Erlebnisse (Hbg. 1935) greift sie die Tradition des gezum polit. Pazifisten wird. 456 und der Rest von sellschaftl. Entwicklungs- u. Bildungsromans heute ist der erste Bundeswehrroman der BR auf u. gestaltet den Lebensweg einer jungen Deutschland. Zwischen 1979 u. 1987 in acht Frau um die Jahrhundertwende. Auch in ihAuflagen mit einer Gesamtauflage von rem zweiten Roman Der Zuschauer (Hbg. 1942) 19.000 Exemplaren gedruckt, wurde er v. a. verbindet sie die Gesellschaftsstudie mit einer von Wehrpflichtigen gelesen u. als Plädoyer psychologisch durchdachten Figurenfühfür eine Kriegsdienstverweigerung verstan- rung. Lassen sich in ihren Erzählwerken nur den. Zur Verbreitung trug sicher auch bei, gelegentlich autobiogr. Hintergründe erkendass der Roman einen Skandal auslöste, weil nen, so beruht die Essaysammlung Gestern K. die realen Namen einiger Vorgesetzten und Heute (Schloss Laupheim 1948) ausverwendet hatte, was nach einer Klage ab der drücklich auf persönl. Erinnerungen. K. rezweiten Auflage geändert wurde. Danach flektiert darin gesellschaftl. u. histor. Entlebte K. zunächst zurückgezogen auf Korsika wicklungen aus dem Blickwinkel der eigenen u. schrieb einen Roman, der in der Pariser Zeitgenossenschaft. U-Bahn spielte. 1985 verfasste er den »ersten Weitere Werke: Sturm am Abend. Hbg. 1938 deutschen Poproman« (Kleeberg), der aller- (N.). – Die Bekanntschaft mit dem Tode. Hbg. 1947 dings erst 1999 erschien, ein Roman über die (R). – Das Hotel in Kastilien. Ffm. 1951 (N.). Italienreise zweier dt. Punks: Barfuß nach PaLiteratur: Benno Reifenberg: E. K. In: Die Gelermo (Heidelb). Erst 1989 konnte K., der genwart 8 (1953), Nr. 183, S. 366. – Karl-Otto Unkurze Zeit evang. Theologie in Rom studiert ruh (Bearb.): E. K. Bildnis einer Schriftstellerin. Hg. hatte u. als Werbetexter in Hamburg arbei- Heimatkundl. Arbeitskreis Laubach. Laubach 1997. tete, wieder publizieren. Mit Sven Böttcher – Nikola Herweg: E. K. – ein Leben. Fernwald 2002. – Rolf Haaser: E. K. u. Rainer Maria Rilke im schrieb er die Krimis Störmer im Dreck (Hbg. Sommer 1915. Fernwald 2007. Andrea Stoll / Red. 1989), zwei Jahre später Mord zwischen den Zeilen (Zürich). 1995 erschien der Erzählungsband Welch ein Tag (Düsseld.) als Wer- Klischnig, Klischnige, Karl Friedrich, auch: bung für die Brauerei Diebels, 2000 das Kin- Karlo Josko, * 16.2.1766 Berlin, † um 1825. – Verfasser diverser Schriften im derbuch Schiff in der Wüste (Bln./Mchn.). Literatur: Gerhard Tomkowitz: Von Uffzen u. Oberlollis. In: Stern 7/1980, S. 206–208.
Umkreis von Karl Philipp Moritz; Übersetzer.
Georg Patzer
K. war Schüler u. Mitarbeiter von Moritz, in dessen Haus er 1783–1786 wohnte. Später war er Sekretär beim kgl. Kommerz-Kollegium in Berlin. Von histor. Interesse ist seine »Fortsetzung« des Anton Reiser (Erinnerungen
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aus den zehn letzten Lebensjahren meines Freundes Anton Reiser. Als ein Beitrag zur Lebensgeschichte des Herrn Hofrath Moritz. Bln. 1794. Nachdr. ebd. 1993 u. Anhang zu K. P. Moritz: Anton Reiser. Hg. K. Erwentraut u. B. Erenz. Düsseld. 1993), in der er chronikartig Moritz’ Biografie weitererzählt, ohne den literar. Rang des Vorbilds zu erreichen. Dieser »fünfte Teil« des Anton Reiser ist dennoch eine wichtige Quelle für Moritz’ Biografie ab 1780 (mit Bibliografie). K. war nach eigenen Angaben Beiträger zu Moritz’ Zeitschrift »Denkwürdigkeiten«, Mitautor an dessen Fragmenten aus dem Tagebuche eines Geistersehers (Bln. 1787) u. Andreas Hartknopfs Predigerjahren (Bln. 1790) u. Übersetzer der von Moritz aus dem Englischen herausgegebenen Romane Anna St. Ives (5 Bde., Bln. 1792–94) u. Vancenza (Bln. 1793). In der Schriftensammlung Blumen und Blüthen (Bln. 1794) nennt er die unter Moritz’ Namen erschienenen Passagen u. erlaubt sich, sein »Eigenthum zurück zu nehmen«. K. war Herausgeber von Moritz’ Schriftensammlung Launen und Phantasien (Bln. 1796). Weitere Werke: Minneglück u. Weiberlist. Bln. 1789. – Gedankenspäne, mitunter manch Paradoxon. Aus der Brieftasche eines v. der Span. Inquisition Verurtheilten. Bln. 1795. – Fritz Wanderers Lebensreise. Bln. 1795. – Die himmelblaue Mappe. Bln. 1796. – [K.s Erinnerungen] in: Karl Philipp Moritz: Anton Reiser. Hg. Kirsten Erwentraut u. Heide Hollmer. Düsseld. 1996. Literatur: Ralph Rainer Wuthenow: Nachgetragener Lebenslauf. Zu K. F. K.s Fortsetzung des ›Anton Reiser‹. In: K. F. K.: Mein Freund Anton Reiser. Aus dem Leben des Karl Philipp Moritz. Hg. u. mit Anmerkungen vers. v. Heide Hollmer u. Kirsten Erwentraut. Bln. 1993, S. 269–281. Raimund Bezold / Red.
Klöden, Karl Friedrich von, * 21.5.1786 Berlin, † 9.1.1856 Berlin. – Verfasser von Lebenserinnerungen u. populärwissenschaftlichen Schriften. K. stammte aus alter brandenburgischer Adelsfamilie. Der Vater hatte jedoch den Adelstitel abgelegt u. diente als ArtillerieUnteroffizier im preuß. Heer; später hatte er, zunehmend dem Trunk verfallen, kleine Stellen in der Steuerverwaltung inne. Die
deklassierte Stellung des Vaters u. drückende Armut prägten K.s Jugend. Trotz auffallender Begabung blieb ihm der Weg zu höherer Bildung verschlossen. 15-jährig kam er bei seinem Onkel, einem Berliner Goldschmied, in die Lehre: ein fünfjähriges Martyrium mit permanenten Demütigungen u. 13-stündigem Arbeitstag. Unter diesen bedrückenden Bedingungen widmete sich K. einem umfassenden Selbststudium u. vervollkommnete seine Fähigkeiten im Zeichnen u. Gravieren. Die Arbeit für einen Landkartenverlag (seit 1811) brachte ihn mit Gelehrten wie Niebuhr u. Friedrich August Wolf in Kontakt. Zugleich erteilte er Unterricht an der von Johann Ernst Plamann geleiteten Schule, die den Prinzipien Pestalozzis folgte u. in hohem Ansehen stand. Um sich auch formell zu qualifizieren, legte K. 1814 als fast 28-jähriger Familienvater die Abiturprüfung ab u. begann ein Studium. Schon 1817 zum Direktor des neu gegründeten Lehrerseminars in Potsdam berufen, leitete er seit 1827 die Berliner Gewerbeschule. Von 1825 an hielt er regelmäßig populärwissenschaftl. Vorlesungen über Themen der Physik, der Astronomie u. der Geografie. K.s zahlreiche Auszeichnungen krönte 1853 die Erlaubnis des Königs, den Adelstitel wieder zu führen. K.s Veröffentlichungen behandeln v. a. Gegenstände aus der Geografie, der Astronomie u. Mineralogie, später zunehmend Themen aus der Geschichte Brandenburgs u. Berlins. Sein Hauptwerk ist Die Mark Brandenburg unter Kaiser Karl IV. bis zu ihrem ersten Hohenzollerschen Regenten, oder: Die Quitzows und ihre Zeit (4 Bde., Bln. 1836/37). K. bemühte sich hier um solide histor. Fundierung u. zgl. um eine farbige u. lesbare Darstellung. Dies trug ihm gelegentlich den Vorwurf einer romanhaften Popularisierung ein. Die dauerhafteste literar. Leistung K.s sind seine Jugend-Erinnerungen (Lpz. 1874; postum), ein wichtiges kulturgeschichtl. Dokument, das die Entwicklung Preußens in den bewegten Jahrzehnten zwischen Friedrich dem Großen u. Friedrich Wilhelm IV. spiegelt. K. schildert darüber hinaus die eigene erstaunl. Erfolgsgeschichte, ohne eitler Selbstverklärung zu verfallen. Ihm ist bewusst, dass der soziale Aufstieg die Person in
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ihrem Identitätsgefühl verunsichern kann: »Es ist unter solchen Umständen nicht leicht, die Einheit des Lebens und des Bewußtseins als einen ununterbrochenen Faden fortzuspinnen und sich nicht selber im steten Gedränge der neuen Verhältnisse zu verlieren.« Weitere Werke: Grundlinien zu einer neuen Theorie der Erdgestaltung. Bln. 1824. – Beiträge zur mineralog. u. geognost. Kenntniß der Mark Brandenburg. 2 Bde., Bln. 1828–37. – Über die Entstehung, das Alter, u. die früheste Gesch. der Städte Berlin u. Kölln. Bln. 1839. – Lebens- u. Regierungsgesch. Friedrich Wilhelms des Dritten, Königs v. Preussen. Bln. 1840. – Über die Stellung des Kaufmanns während des MA, bes. im nordöstl. Dtschld. 4 Tle., Bln. 1841–44. – Diplomat. Gesch. des Markgrafen Waldemar v. Brandenburg. 4 Bde., Bln. 1844–46. – Der Sternenhimmel. Weimar 1848. – Gesch. einer Altmärk. Familie im Lauf der Zeiten bis zur Gegenwart. Bln. 1854. – Andreas Schlüter. Bln. 1855. Literatur: Miroslaw Ossowski: Das Bild Preußens in den Jugenderinnerungen K. F. K.s. In: Rocznik Naukowo-dydaktyczny. Filologia german´ska 3/55 (1983), S. 79–105. – Werner Lemm: K. F. (v.) K. In: Pädagogen in Berlin. Ausw. v. Biogr.n zwischen Aufklärung u. Gegenwart. Hg. Benno Schmoldt in Zusammenarbeit mit Michael-Søren Schuppan. Baltmannsweiler 1991, S. 49–68. – Birgit Ehlen: Der Alltag der ›kleinen Leute‹ im Spiegel der Selbstzeugnisse v. K. F. K. u. Philipp Moritz. Mag.Arb. Hbg. 2001. Jürgen Jacobs / Red.
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v. a. aufgrund seiner nicht selten humoristischen Mundartgedichte zu beträchtl. Popularität (vgl. die Auswahlbände Gedichte in steirischer Mundart. Graz/Wien/Lpz. 1924. Neue Gedichte in steirischer Mundart. Ebd. 1935. Gesamtausg. u. d. T. Joahrlauf. Ebd. 1937. 31954. Neuaufl. Graz 1974. 32000). Bereits als Student mit deutschnationalem Gedankengut bekannt geworden, schloss sich K., der auch als Erzähler hervortrat (Steirisches Bilderbuch. Graz/Wien/Lpz. 1930), im Alter der NSDAP an u. forderte durch Aufrufe in der Presse u. in Flugblättern die Bauern zum »Ja« bei der Volksabstimmung vom 10.4.1938 auf. Einzelblätter aus Joahrlauf wurden steir. Soldaten ins Feld geschickt (Sonderausgabe u. d. T. Dahoam. Graz 1942. 1994). – 1939 erhielt K. den Mozart-Preis. Weitere Werke: Gedichte. Graz/Wien/Lpz. 1924. 2., verm. Aufl. 1931. – Aus alter Zeit. Steir. Gesch.n. Ebd. 1933. – Ges. Werke. 5 Bde., ebd. 1936/37. – Bergbauern. Jena 1938 (Ess.). – Um den Zigöllerkogel. Weststeir. Gesch.n. Wien 1940. – Steir. Roas. Wien 1960 (L.). – Werke. Hg. Wilhelm Danhofer. 3 Bde., Graz 1967. 1994 Literatur: Herbert Blatnik u. Walter Kienreich: H. K. u. seine Zeit. Eibiswald 1994. Johannes Sachslehner / Red.
Klopstock, Friedrich Gottlieb, * 2.7.1724 Quedlinburg, † 14.3.1803 Hamburg; Kloepfer, Hans, * 18.8.1867 Eibiswald/ Grabstätte: Hamburg-Ottensen. – Epiker, Steiermark, † 27.6.1944 Köflach/Steier- Lyriker, Dramatiker u. Literaturtheoretimark. – Lyriker, Erzähler; Heimatkund- ker. ler. K., Arzt wie sein Vater, lebte ab 1894 im weststeir. Köflach. Bei der landeskundl. Erforschung jener Gegend galt sein bes. Interesse dem Leben der bäuerl. Bevölkerung, aber auch den Arbeitern der Braunkohlegruben. Im Essayband Vom Kainachboden (Graz 1912. 3., vermehrte Aufl. Graz/Wien/Lpz. 1924) demonstrierte K. seine Verbundenheit mit Land u. Leuten, ohne jedoch die sozialen Probleme mit der nötigen Schärfe zu erfassen. Mit seinem »zweiten Buch der Heimat«, Aus dem Sulmtale (Graz/Wien/Lpz. 1922), näherte auch er sich jener damals gängigen Verklärung des »bodentreuen« u. »wurzelstarken« Bauerntums. K. gelangte in seiner Heimat
K. war das älteste von 17 Kindern. Seine Mutter Anna Maria, geb. Schmidt, lebte von 1703 bis 1773. Sein Vater, Gottlieb Heinrich Klopstock (1698–1756), war in Quedlinburg seit 1736 Stiftsadvokat u. fürstlich-mansfeldischer Kommissionsrat. Vier Jahre zuvor hatte er versucht, durch Pacht des Guts Friedeburg/Saale eine selbstständige wirtschaftl. Existenz aufzubauen, u. war dabei gescheitert. Der junge K. verlebte seine Kindheit auf diesem Gut. Zunächst wurde er von Hauslehrern unterrichtet. Von 1736 an besuchte er das Gymnasium Quedlinburg, 1739–1745 die Fürstenschule Pforta. Er erhielt dort eine gründl. humanistische Ausbildung u. beschäftigte sich intensiv mit Bibelexegese,
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griech. u. lat. Dichtern u. Historikern. Von 1745 an studierte er in Jena Theologie u. Philosophie. Im Juni 1746 wechselte er nach Leipzig, das er 1748 verließ, um in der Familie von Verwandten in Langensalza eine Hofmeisterstelle zu übernehmen. In die Kusine Maria Sofia Schmidt verliebte er sich ohne Glück – sie war die »Fanny« seiner Oden. Als er im Juli 1750 nach Zürich aufbrach, um einer Einladung Bodmers zu folgen, war er schon berühmt: In Leipzig hatte er die Bekanntschaft mehrerer literarisch ambitionierter Studenten, der sog. Bremer Beiträger, gemacht. In ihrer Zeitschrift »Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes« veröffentlichten sie 1748 die ersten drei Gesänge des Messias. Als Bodmer feststellen musste, dass K. keineswegs der von ihm erwartete fromme Messias-Dichter sei, der sein Epos in Zürich fortsetzen sollte, entstanden persönl. Verstimmungen. K. hielt sich lieber bei den literarisch interessierten jungen Zürchern auf als bei dem mäzenat. Patriarchen. Im Febr. 1751 reiste er nach Dänemark; bereits im Aug. 1750 hatte ihn die Nachricht von Johann Hartwig Ernst von Bernstorff erreicht, Friedrich V. von Dänemark habe ihm eine jährl. Pension (400, später 600 Taler) ausgesetzt mit der einzigen Verpflichtung, den Messias zu vollenden. Auf der Durchreise machte K. in Hamburg die Bekanntschaft der Kaufmannstochter Margareta (Meta) Moller (* 1728), die er als »Cidli« in seinen Gedichten besang. Sie war eine glühende Verehrerin seiner Dichtung. Nachdem K. in Dänemark Fuß gefasst hatte, heiratete er am 10.6.1754 die geliebte Frau. Sie starb bei der Totgeburt eines Kindes am 28.11.1758. Abgesehen von einigen Reisen u. einem längeren Aufenthalt 1762–1764 in Deutschland lebte K. bis 1770 in Dänemark. In Kopenhagen fand er einen literarisch u. politisch engagierten Freundeskreis, zu dem Johann Andreas Cramer, Gerstenberg, Helferich Peter Sturz, die Grafen Stolberg u. Basedow zählten. Als K.s Gönner u. Freund Bernstorff im Herbst 1770 durch Christian VII. seiner Ämter enthoben wurde u. nach Hamburg zog, begleitete ihn K. u. blieb bis zu seinem Tod dieser Stadt treu.
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Im Herbst 1774 erreichte ihn das Angebot des Markgrafen Karl Friedrich von Baden, mit dem Titel eines Hofrats in Karlsruhe von einer fürstl. Pension zu leben. K. nahm an u. reiste im Sept. 1774 nach Karlsruhe. Intrigen einiger Höflinge verbitterten ihm allerdings bald das Leben, so dass er im März 1775 wieder nach Hamburg zurückkehrte. Auf der Hinreise hatte er seine Göttinger Verehrergemeinde, die Mitglieder des Hainbunds, u. in Frankfurt/M. Goethe besucht. In Hamburg wurde K. der geistige u. gesellige Mittelpunkt eines großen Freundeszirkels, zu dem Claudius, Voß, Gerstenberg u. die Grafen Stolberg gehörten. Für die Besucher der Stadt war es geradezu Pflicht, den berühmten Dichter zu sehen u. zu sprechen. Wegen seines schon vor dem Sturm auf die Bastille erwiesenen »Civismus« ernannte ihn die frz. Republik am 26.8.1792 zum Ehrenbürger. Bereits 1776 war K. zu einer Nichte seiner verstorbenen Frau, der verwitweten Johanna Elisabeth von Winthem (1747–1821) gezogen. Er heiratete sie 1791. Die Ehe blieb kinderlos. Als K. 1803 starb u. am 22. März in Ottensen neben seiner ersten Frau beigesetzt wurde, erwiesen ihm Zehntausende von Bürgern Hamburgs die letzte Ehre. In Arno Schmidts »Dialog« KLOPSTOCK oder verkenne Dich selbst heißt es: »Im Bewußtsein unserer Gebildeten ist ›Klopstocks=Messias‹ ein solches versteinert=untrennbares Begriffspaar geworden, wie etwa ›Darwin ? : DermitdemAffen‹.« K. war für die literar. u. religiöse Öffentlichkeit seit 1750 zunächst u. ohne Einschränkung der Sänger des Messias. Mit der Veröffentlichung der drei ersten Gesänge hatte er seinen Ruhm begründet – im dt. Sprachraum wurde geradezu ungeduldig die Vollendung seines Epos erwartet. In seiner Abschiedsrede über die epische Poesie nahm sich K. noch in Pforta vor, den Ruhm des Vaterlands zu mehren. Zu einem Epos inspirierte ihn die gründl. Lektüre von John Miltons Paradise Lost. Aber erst 1772 hatte er den »Hauptzweck« seines Lebens vollendet. Für die Gesamtausgaben von 1781 u. 1798 nahm er sich das Werk erneut vor u. verbesserte den Text. Die 20 Gesänge enthalten nahezu 20.000 Verse. Erzählt wird die
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Leidensgeschichte Christi vom Einzug in Jerusalem bis zur Himmelfahrt. Dabei ist der Messias der »Mittler« zwischen dem Vatergott u. der durch Sünde gefallenen Menschheit. Selbst die Teufel können, wenn sie wie Abbadona Reue zeigen, erlöst werden. Den Berichten der Evangelien über die Passion folgt der Messias vom fünften Gesang an genauer, aber das Christusbild K.s entspricht weder dem der Schrift noch dem der luth. Christologie. K. versucht eine Psychologisierung u. Vergöttlichung der Passion. Seine Hexameter u. Stilmittel (komplizierter Satzbau mit vielen Einschüben u. der Nachstellung von Subjekt oder Objekt, Wortwiederholungen, gehäufte Vergleiche, Partizipialkonstruktionen, zahlreiche Genitivmetaphern u. absolute Komparative) sollen die Seele des Lesers in Bewegung versetzen. Um Geschehnisse in ihrer Wirkung mehrfach darstellen zu können, werden zahlreiche Zeugen – bis hin zu Gestorbenen u. Ungeborenen – fingiert. Die Betrachtung des Geschehens hat oft Vorrang vor dem knapp erzählten Geschehen selbst. Gerhard Kaiser hat gezeigt, dass etwa das Auferstehungsgeschehen in einem Nebensatz von neun Versen erzählt wird, während sich der Hauptsatz von drei Versen mit den Empfindungen der Zuschauer beschäftigt, die ihrerseits in 14 Versen mit den Gefühlen der Auferstehenden am Jüngsten Tag verglichen werden. »650 vorhergehende Verse beschreiben die Erwartungsstimmung vor der Auferstehung bei den versammelten Zeugen, 200 folgende Verse die Gefühlswirkung des Ereignisses« (S. 241). Die oft mehrfache Spiegelung der erzählten Begebenheiten führt zu einem Polyperspektivismus der Darstellung, der analog zu K.s Sprache die Überanstrengung u. Übersteigerung der poetischen Fiktion verrät. Viele Zeitgenossen haben schon an der Unanschaulichkeit des Messias Anstoß genommen. Die Dimensionen von Raum u. Zeit werden im Sinne der damaligen Naturwissenschaft abstrakt dargestellt – die Orientierung am kopernikan. Weltbild führt zu räuml. Unanschaulichkeit u. Unendlichkeit. August Wilhelm Schlegel hat bemerkt, dass in das Weltsystem des Messias das Chaos eingedrungen sei; es herrsche darin »Formlo-
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sigkeit des Himmels wie der Hölle«. Der Messias demonstriert, wohin eine poetische Konstruktion führt, die Zeit u. Raum aufheben muss, um das nicht Darstellbare, die Ewigkeit u. Allmacht Gottes, zu versinnlichen. »Beim Versuch, die Menschenwelt zu sprengen und in die Welt Gottes vorzudringen, muß Klopstock in einer grenzenlosen Unendlichkeit landen, die sich in einer abstrakten Innerlichkeit spiegelt« (Kaiser, S. 258). K.s Messiade war sowohl in der künstlerischen Anlage u. Gestaltung als auch in der Wirkung ambivalent. Das Überwiegen der betrachtenden über die traditionell epischen Passagen legte es den religiös orientierten Lesern nahe, das Werk als Erbauungsbuch zu verstehen. An kaum einem anderen Werk aus der Mitte des 18. Jh. lässt sich präziser der Wandel verschiedener Lesereinstellungen studieren. Den modernen Viellesern war der Messias ein Kunstgebilde wie andere auch, das oft nicht einmal vollständig gelesen wurde. Für die Frommen eignete sich das Epos zu einer erbaul. Wiederholungslektüre. Die scharfe Kritik der Gottschedianer war vorauszusehen. Orthodoxe Theologen nahmen die eigenwillige Christologie K.s u. weniger bedeutende Häresien aufs Korn. Es musste beide ablehnenden Parteien stören, dass der Messias geradezu ein buchhändlerischer Erfolg war. Richard Alewyn hat in einer Studie über K.s Leser dargelegt, dass mit drei großen Lesergruppen gerechnet werden muss. Das traditionale bürgerl. Publikum, die Gelehrten u. der Adel nahmen von K.s Werk kaum Notiz. Seinen Erfolg verdankte die Messiade einem neuen Publikum, das sich im Wesentlichen aus den literarisch Desinteressierten, die nur Erbauungsliteratur schätzten, aus den Frauen u. jungen Leuten zusammensetzte. Mit K.s Messias u. Oden verbindet sich eine bislang in den deutschsprachigen Ländern unbekannte Kultur des öffentl. Vortrags der Dichtungen. Sie wirkten in dieser Form gemeinschaftsbildend. Von Schubart sind mehrere Berichte über seine Klopstock-Deklamationen überliefert. Die Wirkung des Vortrags auf die Zuhörer war K. selbst außerordentlich wichtig. So bildete sich für einige Jahrzehnte v. a. unter der Ju-
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gend eine »Klopstock-Gemeinde«. Es genügte, den Namen des Dichters auszusprechen, um einer starken Sympathetik sicher zu sein (Gewitterszene im Werther). Von bes. Bedeutung für die ungewöhnl. Rezeption eines so schwierigen Werks waren die lesenden Frauen. Nach K.s Auffassung waren sie bes. zum »Verstehen« befähigt. Schließlich übte die Messiade auf die Unbelesenen eine nachhaltige Wirkung aus: Durch ihre Lektüre des Epos als Erbauungsbuch wurden sie oft als Leser für weltl. Literatur gewonnen. Die Schweiz u. Schwaben wurden durch K.s Werk gleichsam literarisiert. Die Wertschätzung, die der Messiade von Literaturkritikern zuteil wurde, äußerte sich in kühnen Vergleichen u. Formulierungen unüberbietbaren Lobes. Georg Friedrich Meier wagte schon 1749 die Prophezeiung, der Messias werde einmal »unmittelbar« nach der Ilias u. Aeneis genannt werden. Gerstenberg war 1769 überzeugt, dass sich »alle Nationen der Christenheit und alle künftigen Weltalter« dies Werk aneignen würden, das dann Eschenburg 1790 als »die klassische Epopee unserer Nation« bezeichnete. Lessing u. Goethe erkannten in K. das »große Genie«. Von Herder stammt eine der treffendsten Charakteristiken. In Klopstock mit Homer verglichen in der zweiten Sammlung von Fragmenten Über die neuere deutsche Literatur (1767) verteidigte er die Unsinnlichkeit der Messiade: Die »gleichsam unsichtbar in die Seele« gemalten Bilder seien vielleicht »unsrer gei st ige n Zeit« gemäßer; vielleicht übertreffe das »M o ra li sc he « in K. sogar »al le s sc h ön e S in n li ch e in Homer«. Schiller verstand den Messias-Dichter als »musikalischen Dichter«, der die Einbildungskraft auf kein bestimmtes Objekt beschränke – seine Sphäre sei immer das Ideenreich. Seit 1800 überwogen die respektvollen Lobeserhebungen. Aber gelesen wurde der Messias kaum noch; er repräsentierte für die jüngeren Generationen das »Empfindungssystem der Vergangenheit« (Carlsson, S. 38 ff., 42 f., 47, 49). In Tiecks Todesjahr 1853 erschien ein Aufsatz von Johann Leonhard Hoffmann: Wie kommt es, daß Klopstocks Messias hochgeschätzt und doch nicht gelesen wird? Tieck konnte sich mit der Messiade trotz
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fünffacher Lektüre nicht befreunden; vieles sei gegen die Bibel u. man finde wenig Poesie. Der letzte, 20. Gesang sei vollends »tönende Wortdichterei«, das ganze Gedicht »die Leere selbst«. Zu dieser vernichtenden Kritik passt das Bekenntnis des Teufels in Grabbes Komödie Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung, K.s Messias sei sein »altes unfehlbares Schlafmittelchen« (1, 4). K. hat seinen frühen Ruhm als MessiasSänger nicht allein für sich genutzt. 1768 entwickelte er einen Plan Zur Unterstützung der Wissenschaften in Deutschland, der zur Förderung der Künste u. Wissenschaften durch Kaiser Joseph aufrief. Die Gelehrten u. Schriftsteller Deutschlands hätten von Seiten der Fürsten keine Unterstützung zu erwarten. Der Kaiser werde, so hoffte er, die »Ehre der vaterländischen Wissenschaften an sein Zeitalter mit Blumenketten« fesseln. Im Einzelnen schlug der Plan vor, die nationale Geschichtsschreibung zu fördern, eine kaiserl. Druckerei zu errichten, von der die »besten Werke Deutschlands« zum Vorteil ihrer Autoren gedruckt werden sollten. Ferner wurde die Gründung eines subventionierten Nationaltheaters u. eines »Singhauses« für die musikal. Darbietung dt. Dichtungen vorgeschlagen. Auszeichnungen oder Pensionen für Dichter u. Gelehrte seien so zu bemessen, dass sich die Sorge ums tägl. Brot erübrige. Nur in einem Bereich hatte der Plan Chancen der Realisierung: in der Förderung der nationalen Geschichtsschreibung. Insgesamt ist er gescheitert. Der Plan hatte die Überschrift Fragment aus einem Geschichtsschreiber des neunzehnten Jahrhunderts – aus der fiktiven Distanz des folgenden Jahrhunderts wollte K. die Realisierung des »Wiener Plans« als Faktum erscheinen lassen, als wären durch den Kaiser die Wissenschaften in Deutschland »zu einer Höhe« gebracht worden, »welche von der Geschichte als Epoke wird bemerkt werden«. Wie beim »Wiener Plan« verbarg sich K. bei der Deutschen Gelehrtenrepublik als Autor hinter einer fingierten Herausgeberschaft: »Auf Befehl der Aldermänner durch Salogast und Wlemar. Herausgegeben von Klopstock.« Mehrere Abschnitte waren zuvor schon durch Vorabdrucke bekannt geworden. Um so ge-
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spannter war das literar. Deutschland auf K.s zweites großes Werk – es erschien 1774, ein Jahr nach dem letzten Band des Messias, als »Erster Theil«; ein zweiter ist nicht gefolgt. Das Buch ist aus verschiedenartigen Elementen zusammengesetzt; auf die knappe »Einrichtung der Republik« folgen »die Gesetze« u., als »historischer« Teil, die »Geschichte des letzten Landtages« in zwölf Tagungen der »Landgemeinde«. Die Stillage wechselt häufig; es finden sich Passagen eines »erhabenen Lakonismus« neben satir. Sentenzen; Ironie u. Humor fehlen ebensowenig wie Archaismen, Fragmente, histor. Begebenheiten, Übersetzungen alter Sprachdenkmäler, epische Abschnitte. Der fiktionale Rahmen schwankt zwischen Vergangenheit u. Gegenwart. Zu dem Sentenzen-Ton, der auf ausführlich begründende Argumentation verzichtet, passt K.s Prosa-Ideal der »Kürze«, der »Karglautigkeit«, des Weglassens. In der Fiktion der Gelehrtenrepublik griff K. auf eine Tradition zurück, die von ital. Humanisten begründet u. im 18. Jh. in Europa erneut diskutiert wurde. Ging es doch nicht zuletzt um den Anspruch der »nobilitas litteraria«, mit der »nobilitas generis« gleichgestellt zu werden. Auch K. verstand die Gelehrtenrepublik im Verhältnis zum absolutistischen Staat als gleichrangig. Doch gilt selbst im Gelehrtenstaat das aristokratische Prinzip – je nach Grad der intellektuellen Leistung wird eine Position erworben. An der Spitze der »Zünfte« stehen »Aldermänner« als Elite; das Volk hat einen niedrigeren Status in einem ausschließlich gelehrten Leistungssystem. Der verachtete (gelehrte) Pöbel hat keine Stimme auf dem Landtag. Alle Nachahmung führt zur Knechtschaft; wer selbst denkt u. nur selten nachahmt, gilt als »Freier«. Der Entdecker oder Erfinder ist ein »Edler«. Die Betonung der Originalität u. die häufigen Wendungen gegen »Nachahmungssucht«, »unvaterländische Sclaven«, »Nachleser und Stoppelsammler« erlauben es, die Gelehrtenrepublik als eine anarch. Poetik für »Originalgenies« zu lesen. Entdeckung, Erfindung neuer u. würdiger Gegenstände, deren Mitteilung durch Bücher u. Lehre gehören zu den Grundsätzen der Republik. Der »Gute Rath der Aldermänner«, aber auch der
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histor. Teil des Werks enthalten Hinweise für junge Dichter u. zur Poetik (Handlung, Leidenschaft, Darstellung). Der Vorschlag einer Poetik, deren Regeln sich auf Erfahrung gründen, wird unterbreitet. So ist es nicht verwunderlich, wenn Friedrich Leopold Stolberg am 17.5.1774 an Voß schrieb, das Werk K.s sei ein »göttliches Buch, voll Tiefsinns, voll Scharfsinns, voll Genies, voll Salzes«. Goethe nannte die Gelehrtenrepublik die »Einzige Poetik aller Zeiten und Völker« (an Gottlieb Friedrich Ernst Schönborn, 10.6.1774), während Herders Urteil die Gegensätze hervorhob – es sei »das größte und kleinste, übertrieben männlichste und k in dis ch st e Buch«, das er je gesehen habe. Garve kritisierte den forcierten Nationalismus, den »übel verstandenen Patriotismus«, der darin herrsche. Die Verehrer K.s waren von dem Werk enttäuscht, ja bestürzt, wie Goethe in Dichtung und Wahrheit (3, 12) berichtet. Aber der Ruhm K.s habe noch nicht einmal ein »Murren, kaum ein leises Murmeln« entstehen lassen. Die intensive Diskussion über das als hermetisch geltende Werk konzentrierte sich auf einen kleinen Kreis. Da der zweite Teil der Gelehrtenrepublik nicht erschien, war sie nach einigen Jahren vergessen. Seinen neu geschaffenen Typ eines vaterländ. Dramas nannte K. »Bardiet«, das er nach »barditus« (Tacitus) bildete. »Bardengesang« – so die Übersetzung – heißen Gedichte, die sich mit Geschichte verbinden; der »Bardiet« soll »die Charaktere und die vornehmsten Teile des Plans aus der Geschichte unsrer Vorfahren« nehmen, seine selteneren Erdichtungen genau auf die Sitten der gewählten Zeit beziehen u. nie ohne Gesang sein (Anmerkung zu Hermanns Schlacht). Der »Bardiet« besteht aus Prosadialogen, freirhythm. Chorpartien u. Gesängen. Er verzichtet auf eine Akteinteilung, wahrt aber die Einheit von Ort, Zeit u. Handlung. Das Kampfgeschehen wird nicht vorgeführt, jedoch in den Bardengesängen wiedergegeben. Die Barden selbst sind wichtige Träger der Handlung u. stehen sozial auf derselben Stufe wie die Fürsten. K. hat drei »Bardiete« für die Schaubühne geschaffen, in welchen der Sieg des Cherus-
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kerfürsten Hermann über die von Varus geführten Römer, die Niederlage Hermanns im Kampf gegen Germanicus u. sein Tod durch die verbündeten Stammesfürsten dargestellt werden: Hermanns Schlacht (1769), Hermann und die Fürsten (1784), Hermanns Tod (1787). Mit der Wahl Hermanns rief K. dem dt. Publikum eine seiner bedeutendsten patriotischen Symbolfiguren ins Gedächtnis. Gelegentlich gewinnt Hermann sogar die Züge eines profanen Heilands der Deutschen in einer Phase wachsenden Nationalbewusstseins nach 1760. Allerdings bleibt der Held in den »Bardieten« im Wesentlichen passiv – er reagiert eher, als dass er agieren würde. Im Hinblick auf die Bibeldramen sind die »Bardiete« ebenfalls als Dokumente einer Auflösung histor. Berichte in empfindsame Subjektivität verstanden worden (Kaiser). Dem wird entgegengehalten, dass es der Bezug auf die polit. Gegenwart war, der die zeitgenöss. Rezeption bestimmte. Wenn sich die german. Völker durch Tyrannenhass u. Freiheitsliebe zum Befreiungskampf gegen die röm. Welteroberer drängen ließen, so konnte diese Haltung als Kritik an der Realität der Gegenwart verstanden werden. In der Verletzung der natürl. Weltordnung, wie sie die Germanen verstanden, zu der wesentlich die »heilige Freiheit« gehörte, war absolutistische Willkür bis hin zum Verstoß gegen das Naturrecht zu erkennen. Sein erstes bibl. Trauerspiel veröffentlichte K. 1757: Der Tod Adams. Es folgten 1764 Salomo u. 1772 David. Wie in den vaterländ. Dramen macht sich der Lyriker bemerkbar, indem er die Handlung weitgehend zurücknimmt, die »Bewegung« des Stücks auf Gedanken u. Empfindungen beschränkt. Weder die vaterländ. noch die bibl. Trauerspiele erlebten die Aufführung. Der Tod Adams weicht von traditionellen Formen des Trauerspiels ab – weder die Bukolik noch eine der Spielarten des Bibeldramas seien in diesem »Schäfertrauerspiel« (Mendelssohn) intendiert. Das Erkennen u. Erleiden des Todes, die Ausschließlichkeit, mit der die »Empfindung des Todes« die drei »Handlungen« durchdringt, bewirken eine Zerstörung jeder Idyllik u. schaffen eine neue, völlig aus Empfindungen lebende dra-
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matisch-trag. Figuration. Adams urspr. Erfahrung, dass er nicht »entschlummern«, sondern als Erstling der gefallenen Menschheit »des Todes sterben müsse«, lässt sich nicht durch äußere Ereignisspannung, sondern nur in »Thaten der Seele«, in Form intensivierender Wiederholung u. in Varianten des Grundthemas evozieren. Im »Fühlen« wird der Tod als Folge des Falls der Menschen verstanden. K. hat mit diesem Stück ein wichtiges Paradigma für empfindsame u. Sturm-und-Drang-Literatur geschaffen. Bevor sich K. mit seinen Oden u. Elegien auch als Lyriker einen Namen machte, veröffentlichte er 1758 Geistliche Lieder. Er wollte dazu beitragen, den protestantischen Gemeindegesang zu erneuern u. mit den behutsam eingesetzten Tönen der moralischen Empfindsamkeit neuerem Fühlen näherzubringen. Er wünschte die Wiederaufnahme des Wechselgesangs zwischen Chor u. Gemeinde u. forderte die Integration von Instrumentalmusik im Gottesdienst. In der 1767 entstandenen Ode Die Chöre evoziert er das Idealbild eines neuen Gottesdienstes mit musikal. Abwechslung – auf Rührung hin müssen Dichter u. Komponist arbeiten. Wenn auch die Geistlichen Lieder u. die Veränderten Lieder nicht auf Dauer im protestantischen Gesangbuch lebendig bleiben konnten, so wirken sie doch mit Gellert zusammen im Sinne einer Erneuerung des Kirchenlieds. K. hat durch die Bekanntschaft mit Gerstenberg im Sommer 1765 in Kopenhagen seine Liebe zur Musik entdeckt. Er suchte die Zusammenarbeit mit Komponisten u. verehrte die Musik Händels (vgl. die Ode Wir und Sie. 1776). Er schätzte Carl Philipp Emanuel Bach außerordentlich (vgl. die Ode Klage. 1772). Bach hat mehrere Oden K.s vertont (z.B. das Vaterlandslied. 1770). Mit Gluck stand K. in briefl. Verbindung. K. begann seine lyr. Produktion im Frühjahr 1747. Er entwickelte die Ode als seine wichtigste Ausdrucksform in Übereinstimmung mit der zeitgenöss. Lyriktheorie, aber auch in strenger Beachtung der traditionellen Regeln. Daneben entstanden bald freiere Varianten der Ode u. Elegien. K. hat auch Epigramme u. Spruchlyrik geschrieben. In vielen Bereichen hat er sich von den Normen der
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Tradition entfernt. Er vermeidet alternierende Metren u. verzichtet meist auf Reim u. Schemata der Liedtradition. Er entwickelt eigene Formen der reimlosen Strophe u. strebt rhythm. Variabilität der Verssprache an. Die Orientierung an den antiken Metren u. am Hexameter bleibt sein Korrektiv, selbst wenn er freie Rhythmen, eigene Odenformen u. originelle Strophen erfindet. K. hat sich zunächst mit der Rokokolyrik u. der Horaz-Rezeption der Jahrhundertmitte auseinander gesetzt. Durch seine emotionale Wirkungsästhetik entfernt er sich jedoch bald von den Vorbildern. In seiner mittleren Periode entstehen die großen Hymnen, darunter Dem Allgegenwärtigen (1758) u. Die Frühlingsfeier (1759). Bis hin zu den Hymnen von 1764 entfaltet sich K.s lyr. Kunst in Annäherung an Form u. Sprache der Psalmen, aber auch in der Verarbeitung moderner naturwissenschaftl. Einsichten (z.B. der Astronomie). K. hat seinen Bürgersinn nicht verleugnet; in der Revolutionszeit schrieb er Oden mit geschichtsphilosophischen Perspektiven. In Die Etats Généraux begrüßte er die polit. Bewegungen in Frankreich schon 1788. Mit der Metaphorik der Morgendämmerung, der Sonne u. des Lichts zeigte er, dass Aufklärung u. Revolution zur Vereinigung gekommen seien. 1790 feierte K. in der Ode Sie und nicht wir in »mächtigen Dithyramben« den Beschluss der frz. Nationalversammlung, keinen Eroberungskrieg mehr zu führen. Um so bitterer war nach der Absage an diesen Grundsatz K.s Enttäuschung; in Oden wie Mein Irrtum (1793) verabschiedet K. den »goldnen Traum« der Revolution. In keiner Gattung hat K. so intensiv gewirkt wie in seiner Lyrik. Der Hainbund, Goethe, Hölderlin, Stefan George, Rilke u. Johannes Bobrowski sind Stationen einer aneignenden Auseinandersetzung mit seinem Werk. Mit einem von Breitinger eingeführten Begriff ist K.s Schreibweise »herzrührend« genannt worden (Karl Ludwig Schneider). Sofern damit keine Vorstellungen verbunden werden, die K. aus der Perspektive einer »Erlebnisdichtung« verstehen wollen, ist die Charakteristik zutreffend. Sie integriert K. nur bedingt in die empfindsame Tendenz. Gewiss müssen K.s »herzrührende Schreib-
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art« u. seine Wirkungsästhetik im Horizont einer Emotionalisierung der Kunsttheorie seit Dubos gedeutet werden. Doch sind Verbindungen zur Frühform der moralischen Empfindsamkeit, der »Zärtlichkeit«, nur in den Jahren 1755–1760 nachzuweisen. Diese verleiht den älteren Zentralbegriffen der emotionalen Theorie eine aktuelle u. sozialgeschichtlich in den Freundeskreisen praktisch gewordene Bedeutung. Die »moralische Schönheit« als Endzweck der Dichtung hat nicht allein ihre Funktion in der Aktivierung der Seele. Sie will zu allg. »Menschlichkeit«, zu Würde u. Selbstachtung führen. Im Gegensatz zur Wirkungsästhetik der Empfindsamkeit, die eine Aktivierung der Empfindungen ohne moralische Wirkungsabsicht nicht kennt, lässt sich in K.s theoret. Äußerungen seit 1758 eine Tendenz zur Abstraktion von »Inhalten« u. zur Autonomie erkennen. Die darstellungsästhetischen u. technisch-metr. Einsichten konzentrieren sich häufig schon auf Fragen des »Ausdrucks« u. der »Darstellung«, der 1779 ein eigener Aufsatz gewidmet wurde. Vor dem Hintergrund der rhetorischen Tradition des »movere« erhebt K. »Bewegung« als »Bewegung der Worte« zum Zentralbegriff seiner Darstellungs-Poetik. Unter Verzicht auf die poetische Bild-Tradition u. in der Entwicklung einer unsinnl. Sinnlichkeit der musikalisch-rhythm. Sprachbewegung entfaltet K. aus der poetischen Praxis heraus eine geradezu moderne Ästhetik. Doch gibt es durchaus Unterschiede in der Radikalität u. Innovationskraft zwischen seinen theoret. Schriften. Die technisch-metrischen (v. a. Vom deutschen Hexameter. 1779) gehen weiter als diejenigen über Gegenstände u. Darstellung oder die rein gegenstandsästhetischen Schriften. »Seele« u. »Empfindung« beziehen sich tendenziell eher auf den »Tanz« der Silben als auf empfindsame Affekte. »Denn als erhaben bestimmt K. eben dasjenige, was am mei st en bewegt« (Winfried Menninghaus). In seinen letzten Lebensjahren widmete sich K. immer intensiver der Untersuchung u. Pflege der dt. Sprache. In der Deutschen Gelehrtenrepublik waren bereits Fragmente Aus einer neuen deutschen Grammatik u. danach, neben elf weiteren Fragmenten Ueber Sprache
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und Dichtkunst (Hbg. 1779/80), Grammatische Gespräche (Altona 1794) erschienen. Nach Vorliegen des entsprechenden Bandes der Hamburger Ausgabe wird erst die Bedeutung dieser von der Forschung kaum beachteten Schriften zu erkennen sein. K. kritisierte Adelungs Normierungsversuche des Sprachgebrauchs. Katrin Kohl versteht K.s ›Grammatik‹ als »kontroverse, dialogische Stillehre« (123) in humanistischer Tradition. K. verstand sein Dichtertum nicht nur als hl. Aufgabe u. religiöse Berufung, sondern er verlieh dem Dichter eine bis dahin in der dt. Literatur nicht bekannte hohe Stellung. Seine Selbst-Berufung zum »Messias«-Sänger erhob ihn selbst; das Pathos der religiösen Dichtung u. des »Erhabenen« teilte sich auch dem Ansehen der Person mit. Goethe hat bereits in Dichtung und Wahrheit festgestellt, mit K. beginne das »Sich-Gewahrwerden« des dichterischen Genies (10. Buch). Dieser Vorgang im Autorselbstverständnis lässt sich nicht von K.s gesellschaftl. u. materieller Existenz trennen. Die finanzielle Misere des Vaters hatte sich als Warnbild in K.s Gedächtnis eingegraben. Er entwickelte eine ungewöhnl. Geschäftstüchtigkeit im Umgang mit seinen Verlegern, denen er auf dem Gipfel seines Ruhms Spitzenhonorare abhandelte, u. in der Beteiligung an einem Textilunternehmen. Mit den Pensionen des dän. Königs u. des Markgrafen von Baden im Hintergrund konnte K. sein Ziel verfolgen, als Dichter materiell unabhängig zu leben u. zu arbeiten. Zumindest »ideell« brach er mit der Tradition höf. Mäzenatentums. K. entwickelte schon im Zusammenhang mit der Veröffentlichung der ersten Gesänge seines Messias Selbstverlagspläne u. warb überall in Deutschland um »Commissionäre« u. »Collecteure« unter Freunden u. Bekannten. Die Kopenhagener Selbstverlagsausgabe von 1755, deren Druckkosten der König von Dänemark übernahm, erbrachte bei 350 verkauften Exemplaren einen Erlös von 700 Reichstalern. Für die »Deutsche Gelehrtenrepublik« entwarf er ein später noch mehrfach u. erfolgreich praktiziertes Subskriptionsmodell. Damit konnte er den Buchhandel wie den Raub- u. Nachdruck umgehen u. die Interessenten
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durch Vorbestellung u. Selbstverlag unmittelbar erreichen. So vielfältige Bemühungen verschafften K. Unabhängigkeit u. das einem »heiligen Dichter« gemäße Auskommen. Was K. für den »Göttinger Hain« bedeutete, ist in der Literaturgeschichte schon am Ende des 18. Jh. bemerkt worden – vgl. das ›Bundesbuch‹ Für Klopstock (1773) im Hamburger K.-Nachlass! Goethes Bild von K. ist neuerdings mehrfach untersucht worden. Die K.-Rezeption bei Friedrich Schiller, Friedrich Hölderlin, Friedrich Nietzsche, Bertolt Brecht, Johannes Bobrowski, Peter Rühmkorf, Karl Mickel u. Arno Schmidt u. vielen anderen hat Katrin Kohl im Überblick dargestellt. Die wissenschaftl. Diskussion um profilierte Zugänge stagniert gegenwärtig. In den späten 1990er Jahren hatten v. a. Winfried Menninghaus u. Ulrich Schödlbauer eine Position der ästhetischen Innovation vertreten, während Kevin Hilliard u. Katrin Kohl den Dichter als den Anwalt einer rhetorischen Dichtungsauffassung im Gegensatz zur aristotel. Mimesis-Lehre sehen. Das Interesse am Revolutionsfreund K., das in den 1970er u. 1980er Jahren dominierte, ist erlahmt. Die Frage nach dem ›Autor‹ ist auch an K.s Werk gestellt worden – Klaus Hurlebusch hat ihn unter die Wegbereiter eines ›autozentrischen‹ Schreibens gezählt. Einen Gesamtüberblick über K.s Werk wird erst die fertiggestellte Hamburger Ausgabe ermöglichen. Weitere Werke: Werke. 12 Bde., Lpz. 1798–1817 (Ausg. letzter Hand). – Sämmtl. Werke. 18 Bde. u. Suppl.-Bd., Lpz. 1823–30. – Historischkritische Ausgaben: Werke. Hg. Robert Boxberger. 3 Bde. in 6 Tln., Bln. 1879. – Werke. Hg. Richard Hamel. 4 Tle., Bln./Stgt. 1884. – Werke u. Briefe. Hist.-krit. Ausg. Hg. Horst Gronemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Hurlebusch u. Rose-Maria Hurlebusch †. Bln./New York 1974 ff. (= Hamburger K.-Ausg.). – Teilausgabe: Werke. Hg. Karl August Schleiden. 2 Bde., Mchn. 41984. – Briefe: Briefe v. u. an K. Ein Beitr. zur Literaturgesch. seiner Zeit. Hg. Johannes Martin Lappenberg. Braunschw. 1867. – Meta Klopstock geb. Moller. Briefw. mit K., ihren Verwandten u. Freunden. Hg. Hermann Tiemann. 3 Bde., Hbg. 1956. – Briefw. zwischen K. u. den Grafen Christian u. Friedrich Leopold zu Stolberg. Hg. Jürgen Behrens. Mit einem Anhang: Briefw.
501 zwischen K. u. Herder. Hg. Sabine Jodeleit. Neumünster 1964. – Einzelwerke: Der Messias (Gesang I–III). In: Neue Beyträge zum Vergnügen des Verstandes u. Witzes 4, 4./5. Stück, Bremen/Lpz. 1748 (Ep.). – Der Messias. 4 Bde., Halle 1751–73 (Ep.). – Der Tod Adams. Kopenhagen/Lpz. 1757 (Trauersp.). – Geistl. Lieder. 1. Tl., ebd. 1758. – Salomo. Magdeb. 1764 (Trauersp.). – Geistl. Lieder. 2. Tl., Kopenhagen/Lpz. 1769. – Hermanns Schlacht. Hbg./Bremen 1769 (D.). – Oden u. Elegien. Darmst. 1771. – Oden. Hbg. 1771. – David. Hbg. 1772 (Trauersp.). – Die dt. Gelehrtenrepublik [...]. 1. Tl., Hbg. 1774. – Ueber Sprache u. Dichtkunst. Fragmente. Hbg. 1779. – Ueber Sprache u. Dichtkunst. Fragmente. 1. Forts., Hbg. 1779. – Ueber Sprache u. Dichtkunst. Fragmente. 2. Forts. Hbg. 1780. – Hermann u. die Fürsten. Hbg. 1784 (D.). – Hermanns Tod. Hbg. 1787 (D.). – Grammat. Gespräche. Altona 1794. – Epigramme. Ges. u. erläutert v. Christian Friedrich Rudolph Vetterlein. Lpz. 1830. – Oden. Hg. Franz Muncker u. Jaro Pawel. 2 Bde., Stgt. 1889. – Der Messias. Gesang I-III. Text des Erstdrucks v. 1748. Studienausg. Hg. E. HöpkerHerberg. Stgt. 2000. Literatur: Bibliografie: Gerhard Burkhardt u. Heinz Nicolai: K.-Bibliogr. Redaktion Helmut Riege. Bln./New York 1975 (= Hamburger K.Ausg., Addenda I). – Christiane Boghardt, Martin Boghardt u. Rainer Schmidt: Die zeitgenöss. Drucke v. K.s Werken. Eine deskriptive Bibliogr. 2 Bde., Bln./New York 1981 (= Hamburger K.-Ausg., Addenda III/1–2). – K. an der Grenze der Epochen. Hg. Kevin Hilliard u. Katrin Kohl. Mit K.-Bibliogr. 1972–1992 v. Helmut Riege. Bln./New York 1995, S. 247–424. – Gesamtdarstellungen: Franz Muncker: K. Gesch. seines Lebens u. seiner Schr.en. Stgt. 1888. – Jean Murat: K. Les thèmes principaux de son œuvre. Paris 1959. – Gerhard Kaiser: K. Religion u. Dichtung. Gütersloh 1963. – Helmut Pape: K.s Autorenhonorare u. Selbstverlagsgewinne. Ffm. 1969. – Hans-Henrik Krummacher: F. G. K. In: Dt. Dichter des 18. Jh. Hg. Benno v. Wiese. Bln. 1977, S. 190–209. – F. G. K. Hg. Heinz Ludwig Arnold. Mchn. 1981 (Text + Kritik. Sonderbd.). – K. Kohl: F. G. K. Stgt./Weimar 2000. – Klaus Hurlebusch: F. G. K. Mit einem Nachw. v. Helmut Schmidt. Hbg. 2003. – Wirkungen: Anni Carlsson: K.s ›Messias‹ u. die dt. Kritik. In. Dies.: Die dt. Buchkritik v. der Reformation bis zur Gegenwart. Bern/Mchn. 1969, S. 30–50. – Richard Alewyn: K.s Leser. In: FS Rainer Gruenter. Hg. Bernhard Fabian. Heidelb. 1978, S. 100–121. – Hans-Georg Werner (Hg.): F. G. K. Werk u. Wirkung. Bln. 1978. – Achim Hölter: Ludwig Tiecks K.-Bild u. seine ›Kritik der Messiade‹. Ed. u. Komm. 2 Tle. In:
Klopstock JbFDH (1986), S. 187–215; (1987), S. 194–227. – Meredith Lee: Displacing authority: Goethe’s poetic reception of K. Heidelb. 1999. – K. Hurlebusch: K. u. Goethe oder die ›Erweckung des Genies‹. Eine Revision ihres geistigen Verhältnisses. Halle 2000. – Hans Wolf Jäger: K. – Goethe: Faszination u. iron. Distanz. In: Ders.: Vergnügen u. Engagement. Ein gutes Dutzend Miszellen. Bremen 2001, S. 141–168. – Petra Dollinger: Meta Moller u. der K.-Kult im 18. Jh. In: Lit. in Wiss. u. Unterricht 37 (2004), S. 3–25. – Paul Kahl: Das Bundesbuch des Göttinger Hains. Ed. – Histor. Untersuchung – Komm. Tüb. 2006. – Gattungen und einzelne Werke: Ernst Kaußmann: Der Stil der Oden K.s. Diss. Lpz. 1931. – Irmgard Böger: Bewegung als formendes Gesetz in K.s Oden. Bln. 1939. – Reinhold Grimm: Marginalien zu K.s ›Messias‹. In: GRM N. F. 11 (1961), S. 274–295. – Ingrid Strohschneider-Kohrs: K.s Drama ›Der Tod Adams‹. Zum Problem der poet. Form in empfindsamer Zeit. In: DVjs 39 (1965), S. 165–206. – Heinz Schlaffer: Das Schäfertrauersp. K.s Drama ›Der Tod Adams‹ u. die Probleme einer Mischform im 18. Jh. In: Jb. der Jean-Paul-Gesellsch. 1 (1966), S. 112–149. – Karl Richter: Lit. u. Naturwiss. Eine Studie zur Lyrik der Aufklärung. Mchn. 1972. – Hans-Heinrich Hellmuth: Metr. Erfindung u. metr. Theorie bei K. Mchn. 1973. – K. M. Kohl: Rhetoric, the Bible, and the origins of free verse. The early ›hymns‹ of F. G. K. Bln./New York 1990. – Ulrich Schödlbauer: Entwurf der Lyrik. Bln. 1994. – Dagmar Hebeisen: Die ›Cidli-Oden‹. Zu K.s Lyrik um 1750. Ffm. u. a. 1998. – Hermann Stauffer: Lyr. Wettstreit der Europäer. Antike u. Moderne in K.s Odendichtung. In: Interdisziplinarität u. Internationalität. Wege u. Formen der Rezeption der frz. u. der brit. Aufklärung in Dtschld. u. Rußland im 18. Jh. Hg. Heinz Duchhardt u. Claus Scherf. Mainz 2004, S. 187–208. – Sprache: Renate Baudusch-Walker: K. als Sprachwissenschaftler u. Orthographiereformer. Bln. 1958. – Karl Ludwig Schneider: K. u. die Erneuerung der dt. Dichtersprache im 18. Jh. Heidelb. 1960. – Stefan Elit: Die beste aller mögl. Sprachen der Poesie: K.s wettstreitende Übersetzungen lat. u. griech. Lit. St. Augustin 2002. – Ästhetik und Poetik: Karl August Schleiden: K.s Dichtungstheorie als Beitr. zur Gesch. der dt. Poetik. Saarbr. 1954. – Wilhelm Große: Studien zu K.s Poetik. Mchn. 1977. – K. Hilliard: Philosophy, letters, and the fine arts in K.’s thought. London 1987. – Winfried Menninghaus: K.s Poetik der schnellen ›Bewegung‹. In: Ders. (Hg.): F. G. K. Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoret. Schr.en. Ffm. 1989, S. 259–361. – Ders.: Dichtung als Tanz. Zu K.s ›Poetik‹ der Wortbewegung. In: Comparatio (1991), S. 129–150. – Claudia Albert:
Klopstock Dichten u. Schlittschuhlaufen. Eine poetolog. Betrachtung von K.s Eislaufoden. In: Lessing Yearbook 26 (1994), S. 81–92. – Das Erhabene in der Dichtung. K. u. die Folgen. Vortragstexte des Kolloquiums F. G. K., Quedlinburg. Halle u. a. 1997. – Hildegard Benning: Rhetorische Ästhetik. Die poetolog. Konzeption K.s im Kontext der Dichtungstheorie des 18. Jh. Stgt. 1997. – H. Pape: K. Die ›Sprache des Herzens‹ neu entdeckt. Die Befreiung des Lesers aus seiner emotionalen Unmündigkeit. Idee u. Wirklichkeit dichter. Existenz um 1750. Ffm. u. a. 1998. – Monika Nenon: The psychology of the sublime. On the function of poetry in K.’s aesthetic essays. In: Seminar 34 (1998), S. 110–120. – Eric Schwab: Enthusiasm. A study in the pathology of Enlightenment. Kant and K. Ann Arbor, Mich. 2000. – K. Hurlebusch: K., Hamann u. Herder als Wegbereiter autozentr. Schreibens. Ein philolog. Beitr. zur Charakterisierung der literar. Moderne. Tüb. 2001. – Mark Emanuel Amtstätter: Beseelte Töne. Die Sprache des Körpers u. der Dichtung in K.s Eislaufoden. Tüb. 2005. – K. u. die Musik. Hg. Peter Wollny. Beeskow 2005. – Religion und Dichtung: Hans-Ulrich Rülke: Gottesbild u. Poetik bei K. Konstanz 1991. – Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literar. Modell bei Pyra, K. u. Wieland. Tüb. 1997. – Bernadette Malinowski: ›Das Heilige sei mein Wort‹. Paradigmen prophet. Dichtung v. K. bis Whitmann. Würzb. 2002. – Geschichte: Harro Zimmermann: Freiheit u. Gesch. F. G. K. als histor. Dichter u. Denker. Heidelb. 1987. Gerhard Sauder
Klopstock, Meta ! Moller, Meta Klosener, Fritsche ! Closener, Fritsche Kloster der Minne. – Großform der Minnerede, vermutlich im 14. Jh. in Süddeutschland entstanden. Ein Ich-Erzähler stößt im Wald auf eine Dame, die ihm den Weg zum Kloster der Minne zeigt. Hier leben unzählige adlige Männer u. Frauen als Liebespaare zusammen. Begleitet von einer Bewohnerin des Klosters besichtigt der Erzähler ausführlich das Klostergebäude, beobachtet Tänze u. ein Turnier der Klostergemeinschaft. Zwischen den beiden bahnt sich im Gespräch eine Liebesbeziehung an, die aber unausgesprochen bleibt. Nach der Rückkehr in die ›normale‹ Welt sehnt sich der Erzähler nach einer endgülti-
502
gen Aufnahme in das Kloster. Das Ende ist offen. Das K. d. M. ist der Erzählstruktur u. dem Inhalt nach eine typische Minnerede, doch ist sie mit 1890 Versen ungewöhnlich lang. Drei Handschriften des 15. Jh. überliefern sie (zuerst 1433). Anregungen könnte dem anonymen Verfasser Kloster Ettal geliefert haben, das Kaiser Ludwig der Bayer 1330 gründete u. für Mönche wie ritterl. Ehepaare bestimmte. Die Vorstellung, dass vorbildl. Liebende eine Art Ordensgemeinschaft bilden, ist in der Literatur des MA aber auch sonst verbreitet. Anlage u. Organisation des Klosters legen die Auffassung nahe, dass es sich hier um eine sakralisierte ›Anderwelt‹ im Sinne einer metaphys. Parallelwelt handle: Im Kloster leben Männer u. Frauen, die der Erzähler aus der ›normalen‹ Welt kennt; das Kloster ist so groß wie die ganze Erde; es ist rund u. hat zwölf Tore, deren Umgebung jeweils einem Monat entspricht (Analogien zum himml. Jerusalem sowie zu Minnepalästen in lat. u. frz. Literatur); einige Ritter haben traditionelle Klosterämter (Abt, Prior usw.) inne, doch hierarch. Strukturen sind nur schwach ausgebildet; die typischen Feinde der Minne (Klaffer, Prahler, Treulose) sind gefangen gesetzt. Im Unterschied zu anderen allegor. Minnereden der Zeit kommt das K. d. M. ohne Personifikation aus. Das Kloster gilt zwar als Reich der Frau Minne, doch an der Stelle, an welcher der Erzähler – wie auch der Leser – ihr Auftreten erwartet, wird auf die Anwesenheit der Minne in den Minnegesprächen u. im höf. Verhalten der Liebenden verwiesen (eine Art geistl. Minneschau). Ausgaben: Das K. d. M. Hg. Maria Schierling. Göpp. 1980, S. 5–71. Literatur: Walter Blank: Die dt. Minneallegorie. Stgt. 1970, S. 165–172, 214 f. u. ö. – Ingeborg Glier: Artes amandi. Mchn. 1971, S. 178–184 u. ö. – Schierling, a. a. O., S. 73–169. – I. Glier: K. d. M. In: VL. – Wolfgang Achnitz: ›De monte feneris agitur hic‹. Liebe als symbol. Code u. als Affekt im Kloster der Minne. In: Die Burg im Minnesang u. als Allegorie im dt. MA. Hg. Ricarda Bauschke. Bern u. a. 2006, S. 161–186. – Jacob Klingner u. Ludger Lieb:
Klosterneuburger Osterspiel
503 Hdb. Minnereden (mit Auswahledition). Berlin/ New York (erscheint vorauss. 2009), Nr. B439. Ingeborg Glier / Ludger Lieb
Klosterneuburger Evangelienwerk ! Österreichischer Bibelübersetzer Klosterneuburger Osterspiel. – Lateinisches Osterspiel vom Anfang des 13. Jh. Unter der Rubrik Ordo Paschalis sind rund 220 Verse mit Neumen für die Melodien u. mit Spielanweisungen am Schluss der Sammelhandschrift ms. CCI 574 (Miscellanea) der Klosterneuburger Stiftsbibliothek überliefert. In dem von zwei Schreibern geschriebenen Text wiederholt der zweite 55 Verse u. Antiphonen (V. 148–201) aus dem Passus des ersten. Daraufhin wird die ungewöhnl. Szenenreihenfolge problematisiert u. von den Herausgebern z.T. verändert. Die Entstehung des Spiels in dem Augustinerchorherrenstift Klosterneuburg ist von W. Lipphardt u. F. Maschek in Frage gestellt worden, obwohl es sehr gut zu der vom 12. bis zum 16. Jh. bestehenden Osterfeiertradition des Klosters passt. Allerdings erscheint es als eine wesentl. Weiterentwicklung der dort benutzten Feiertypen. Die Aufführung ist in einem Kirchenraum zu denken. Dass der Text nur für Kleriker verständlich war, entspricht der Messliturgie. Durch die Ausstattung der Figuren mit Requisiten u. durch die Körpersprache erhält die Verständnisvermittlung eine zusätzl. Dimension. Am Schluss wird die Gemeinde durch eine dt. Strophe Christ ist erstanden in die Aufführung mit einbezogen. Die Zahl der Spieler dürfte neben den Hauptfiguren (Christus, drei Marien, Maria Magdalena, Petrus u. Johannes, Engel am Grab, Teufel, Pilatus, ein Spezereienhändler) mehr als 20 betragen haben für die Apostel, die Soldaten des Pilatus, Juden u. Seelen in der Hölle. Sie konnten sich aus den Klosterangehörigen rekrutieren. An sieben Orten (»loca«) mit dem Grab im Zentrum wurden neun Szenen aufgeführt von der Aufstellung der Grabwache nach der Kreuzigung u. Grablegung Christi bis zur Beglaubigung der Auferstehung vor der Gemeinde u. deren Einstimmen in die Osterfreude. 1. Wächter-
szene: Einsetzen einer Wache am Grab Christi; 2. Auferstehungsszene; 3. Salbenkaufszene: drei Marien kaufen Spezereien, um den Leichnam Christi zu salben; 4. Visitatio-Szene: Besuch der Marien am Grab, wo ein Engel die Auferstehung verkündet; 5. zweite Wächterszene: Bestechung der Wächter, um einen Diebstahl des Leichnams zu behaupten; 6. Jüngerlaufszene: Petrus u. Johannes eilen zum Grab; 7. Hortulanusszene: Begegnung Maria Magdalenas mit dem Auferstandenen, den sie für einen Gärtner hält; 8. Descensusszene: Höllenfahrt Christi zur Befreiung der gefangenen Seelen; 9. Wendung an die Gemeinde: Die überzeugten Apostel u. die Frauen zeigen die Grabtücher als Zeichen der Auferstehung. Mit diesen Szenen veranschaulicht das K. O. den entscheidenden Schritt von der liturgisch gebundenen Osterfeier zum selbstständigen theatralen Spiel, u. zwar zum ersten Mal im dt. Kulturbereich. Die Feier umfasst im umfangreichsten dreiszenigen Typ Visitatio, Jüngerlauf u. Hortulanusszene; neu sind im Spiel die Wächterszenen, das Auftreten eines specionarius, die Auferstehung u. die Höllenfahrt. Sie gehen über die Motive der kanonischen Evangelien imaginierend hinaus. Der Decensus beruht auf dem apokryphen Nicodemus-Evangelium u. ist durch das Glaubensbekenntnis dogmatisch gedeckt. Soldaten u. Grabwächter kommen ebenfalls im Nicodemus-Evangelium vor. Die Neuerungen sind unterschiedlich gestaltet. Während die Verhandlung zwischen Pilatus, den Soldaten u. den Hohenpriestern der Juden sich dialogisch u. in chorischen Gesängen vollzieht, wird die Auferstehung durch einen Engelsgesang vorgeführt u. später im Wächterbericht reflektiert. Auch der Salbenkauf bei dem »specionarius« bleibt sakral verhalten, verbal wenig ausgeprägt. Hier liegen die Ansatzstellen für eine weitere theatrale Ausgestaltung. Dass die Auferstehung Christi nicht nur verkündigt wird, sondern dass ihr eine eigene Szene gewidmet ist, erscheint als wichtigste Neuerung. Ob sie pantomimisch vorgeführt wurde, wie Linke annimmt, bleibt unsicher. In den Spielanweisungen taucht Jesus als Person erst in der Hortulanusszene auf (Jesus
Klotz
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in specie Christi neben Jesus quasi in specie hortulani) u. im Descensus (Jesus veniens ad portas inferni). Als »rex gloriae« (König der Ehren) u. »dominus fortis« (starker Herr) zerbricht er die Pforten der Hölle u. befreit die Gefangenen. Der Teufel spricht nur einen fragenden Satz »Quis est iste rex gloriae?« (Wer ist der König der Ehren?), während der Auferstandene seine Macht demonstriert. Durch die Visualisierung Christi rückt das Spiel von der Liturgie ab u. bestätigt den Osterglauben auf eine neue Weise. Das K. O. stellt die virtuelle Anschlussstelle für die weitere Spieltradition u. deren Transposition in die Volkssprache dar. Ausgaben: Hermann Pfeiffer: Klosterneuburger Osterfeier u. Osterspiel. In: Jb. des Stiftes Klosterneuburg 1 (1908), S. 3–56 (Text u. vollst. Faks.). – Karl Young: The Drama of the Medieval Church. Bd. 1, Oxford 1933. 41967, S. 421–429. – Eduard Hartl: Das Drama des MA, Osterspiele. Lpz. 1937. Darmst. 21964, S. 21–44 (mit Änderung der Szenenreihenfolge). – Karl Langosch: Geistl. Spiele. Darmst. 1957. 21961, S. 106–125 (mit dt. Übers.). – Walther Lipphardt: Lat. Osterfeiern u. Osterspiele. Bd. 5, Bln./New York 1976, S. 1703–1711, Nr. 829. Literatur: Franz Maschek: Salzburg – die wahre Heimat des Klosterneuburger Osterspiels. In: Unsere Heimat. Monatsbl. des Vereins für Landeskunde, Niederösterreich u. Wien 27 (1956), S. 53–57. – Helmut de Boor: Die Textgesch. der lat. Osterfeiern. Tüb. 1967. – Bernhard Bischoff: Anmerkungen zum K. O. In: Carmina Burana. Bd. 1,3, Heidelb. 1970, S. 146–148. – W. Lipphardt: Studien. zur Musikpflege in den mittelalterl. Augustiner-Chorherrenstiften des dt. Sprachgebietes. In: Jb. des Stiftes Klosterneuburg N. F. 7 (1971), S. 23 f. – David Brett-Evans: Von Hrotsvit bis Folz u. Gengenbach. Bd. 1: Von der liturg. Feier zum volkssprachl. Spiel. Bln. 1975, S. 65–69. – William L. Smoldon: The Music of the Medieval Church Dramas. London 1980, S. 325–330. – Hansjürgen Linke: K. O. In: VL (Lit.). – Christoph Petersen: Ritual u. Theater. Meßallegorese, Osterfeier u. Osterspiel im MA. Tüb. 2004, S. 184–187. Ursula Schulze
Klotz, Christian Adolph, * 13.11.1738 Bischofswerda/Lausitz, † 31.12.1771 Halle. – Philologe, Dichter, Kritiker. Der Sohn eines Superintendenten besuchte die Fürstenschule in Meißen, bevor Friedrich
Christian Baumeister, Rektor des Gymnasiums in Görlitz, K.’ »Genie« u. Lateinbegabung entdeckte u. förderte. Seit 1758 studierte er an der Universität Leipzig Griechisch, Latein u. Philosophie. Bereits während seines Studiums verfasste er weit über 150 Rezensionen für die Acta Eruditorum u. machte sich einen Namen, indem er mit seinem Antiburmannus (Jena 1761) in den holländ. Philologenstreit zwischen Pieter Burmann d.J. u. Christoph Saxe eingriff. Burmanns polem. Antiklotzius (Amsterd. 1762) wertete den jungen Kritiker noch auf. Als die Universitätsleitung K.’ geschliffene satir. Schrift Mores eruditorum (Altenburg 1760. Dt. Bln. 1761) verbot, welche die akadem. Welt Leipzigs verspottete, trug sie unfreiwillig zum Ruhm des polarisierenden Gelehrten bei. Eine Krankheit unterbrach K.’ akadem. Karriere, die er nach der Genesung 1760 in Jena fortsetzte. Auch hier kultivierte er ein Nebeneinander von Philologie u. Poesie. Als führendes Mitgl. der lat. Societät in Jena wurde ihm 1761 von der Philosophischen Fakultät der Universität Wittenberg das Magisterdiplom u. der Dichterlorbeer zuerkannt. Eine Rede über Horaz, die das ›geborene Dichtergenie‹ lobte, trug ihm die ›venia legendi‹ ein. K.’ eigene horatian. Poesien (Carminum liber unus. Lpz. 1759. Altenburg 21766) fanden breite Anerkennung wegen ihres eleganten lat. Stils. 1762 wurde K. als a. o. Prof. der Philosophie nach Göttingen berufen. Seine Vorlesungen über Homer (Epistolae Homericae. Altenburg 1764) u. Horaz (Vindiciae Q. Horatii Flacci. Bremen 1764. Neuaufl. u. d. T. Lectiones Venusinae. Lpz. 1771) fanden regen Beifall. Auch wenn K. mit den Göttinger Gelehrten Johann David Michaelis, Gottfried Less u. Johann Christoph Gatterer in freundschaftl. Kontakt stand, folgte er bereits 1765 dem Ruf auf einen Lehrstuhl für Philosophie u. Beredsamkeit an die Universität Halle. Durch die von ihm herausgegebenen Zeitschriften »Acta litteraria« (1764–72), »Neue Hallische gelehrte Zeitungen« (1766–71) u. »Deutsche Bibliothek der schönen Wissenschaften« (1767–71) gewann er großen Einfluss auf das literar. Leben. Vor allem bei der akadem. Jugend u. jungen Rokokodichtern fand K.’
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Klügel
genieästhetischer Sensualismus Anhänger, tenburg 1766), noch seine eigenen eleganten welche den nüchternen Aufklärungsrationa- Dichtungen u. beißenden Kritiken sind bis lismus ablehnten. Die »Deutsche Bibliothek heute angemessen gewürdigt. K.’ Literaturder schönen Wissenschaften« richtete sich in politik, seine Aufwertung des Dichtergenies Stil, Duktus u. ästhetisierender Darstellung u. freimütigen Witzes machen ihn nicht nur gezielt gegen Friedrich Nicolais aufkläreri- zu einem bedeutenden Repräsentanten des sche »Allgemeine Deutsche Bibliothek«, an libertinen Rokoko, sondern auch zu einem der K. zuvor mitgearbeitet hatte. Die Kon- Wegbereiter der Genieästhetik des Sturm und troverse entbrannte zum heftigen Parteien- u. Drang. Richtungsstreit, aus dem K. u. seine Schüler Weitere Werke: Genius Saeculi. Altenburg (u. a. Johann Georg Jacobi, Gottlob Benedikt 1760. – Elegiae. Jena 1762. – Ridicula litteraria. Schirach, Johann Georg Meusel, Justus Rie- Altenburg 1762. 21774. – Opuscula varii argumendel) als Verlierer hervorgingen. Zudem dis- ti. Altenburg 1765 (Reden). – Carmina omnia. Altanzierte sich die Partei der gefühlsästheti- tenburg 1766. – Opuscula nummaria. Halle 1772. – schen Opposition von ihrem Wortführer bald Opuscula philologica et oratoria. Hg. Karl Ehregott Mangelsdorf. Halle 1772. – Satyren. Lpz. 1775. nach dessen plötzlichem Tod. Literatur: Carl Renatus Hausen: Leben u. Anlass für K.’ Niedergang waren v. a. seine Charakter des Herrn C. A. Klotzens. Halle 1772. – angreifbaren numismatischen (Beytrag zur Anton v. Hagen (Hg.): Briefe dt. Gelehrten an K. 2 Geschichte des Geschmacks aus Münzen. Alten- Tle., Halle 1773. – Friedrich Carl Gottlob Hirsching burg 1767) u. antiquarischen Studien (Über (Hg.): Historisch-litterar. Hdb. berühmter u. das Studium des Alterthums. Halle 1766). Auf K.’ denkwürdiger Personen, welche in dem 18. JahrSchrift Über den Nutzen und Gebrauch der alten hunderte gestorben sind. Bd. 3. Lpz. 1797, geschnittenen Steine (Altenburg 1768), die ge- S. 283–299. – Conrad Bursian: C. A. K. In: ADB. – gen den Laokoon polemisierte, erwiderte Les- Jaumann Hdb. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, sing mit seinen Briefen antiquarischen Inhalts S. 1019–1022. – Pawel Zarychta: ›Spott u. Tadel‹. (Bln. 1769), in denen er K. »zusammenge- Lessings rhetor. Strategien im antiquar. Streit. Ffm. stoppelte Gelehrsamkeit, Alltagswitz und u. a. 2007. Achim Aurnhammer Schulblümchen« vorhielt, wobei in seinen Schriften »das liebe Ich [...] in allen Zeilen bis Klügel, Georg Simon, * 19.8.1739 Hamzum Ekel« herrsche. Es bedurfte kaum ähnl. burg, † 4.8.1812 Halle. – Mathematiker, Vorwürfe Herders in den Kritischen Wäldern Enzyklopädist. (1769), dass aus dem »Halleschen Literaturpapst« u. scharfen Kritiker ein Opfer Lessings Der Sohn eines Maklers studierte in Göttinwurde. K.’ Ansehen in der Gelehrtenrepublik gen 1760–1765 zunächst Theologie, doch blieb über den Tod hinaus beschädigt. Sogar wandte er sich, v. a. unter Kästners Einfluss die Forschung warf ihm charakterl. Mängel u. (bei ihm lernte er Lichtenberg kennen, mit ein schlechtes akadem. Berufsethos vor. Erich dem er auch späterhin in Verbindung stand), Schmidt verstieg sich zu dem zyn. Satz, K. sei der ohnehin schon früher intensiv betriebemit 32 Jahren »im blühenden Mannesalter nen Mathematik zu. Nach kurzem publiziskaum zu früh« gestorben. tischen Intermezzo als Redakteur des »HanLängst verdiente K., dem Vergessen ent- noverischen Magazins« wurde er als Profesrissen u. in seiner histor. Bedeutung rehabi- sor der Mathematik 1767 nach Helmstedt, litiert zu werden. Weder seine vielfältigen 1788 nach Halle berufen. Editionen, welche neben der Antike u. ÜberK. war nicht so sehr Entdecker als vielmehr setzungen aus modernen europ. Sprachen Popularisator u. Verbreiter positiver Kennt(Alexander Pope: Versuch am Menschen. Aus nisse, ganz in der Tradition seines bekanntedem Engl. übers. von Johann Jakob Harder. ren Vorgängers auf dem Hallischen PhilosoHg. v. K. Halle 1772) das lat. MA u. die Re- phielehrstuhl, Christian Wolff. Seine Optik (2 naissance einschlossen (M. Hieronymi Vidae de Bde., Lpz. 1775) ist mehr als die bloße arte poetica libri tres. Commentarium de poetae vita Übertragung von Priestleys Werk, da er et carminibus add. Christ. Adolphus Klotzius. Al- reichlich eigene Gedanken einstreute. Sein
Klüger
Mathematisches Wörterbuch (3 Bde., Lpz. 1803–08) bestätigt seinen Ruf als hervorragender Mathematiker. Vor allem aber seine Encyklopädie oder zusammenhängender Vortrag der gemeinnützigsten Kenntnisse (3 Bde., Bln. 1782–84 u. ö.) erfreute sich weitester Verbreitung, wurde viermal, von ihm bearbeitet, aufgelegt, nachgeahmt u. auch unrechtmäßig nachgedruckt. Sie ist einer der letzten Versuche eines einzelnen Gelehrten, das gesamte Wissen des Zeitalters zusammenzufassen, u. ist, da klein genug zugeschnitten, im Unterschied zu den megalomanen enzyklopäd. Versuchen eines Johann Georg Krünitz oder Samuel Ersch u. Johann Gottfried Gruber, nicht auf halber Strecke stehengeblieben. Über allem stand ihm das Ziel, in klarem Stil u. ohne Weitschweifigkeiten »eine wohlthätige Aufklärung befördern, Schwärmerey und Beleidigung der Vernunft vermindern« zu helfen (Vorrede der 4. Auflage). Literatur: Hans Schröder: Lexikon der Hamburg. Schriftsteller. Bd. 4, Hbg. 1866, S. 65–73. – Manfred Durner: G. S. K. als Rezensent v. Schellings ›Ideen zu einer Philosophie der Natur‹ (1797). In: Archiv für Gesch. der Philosophie 81 (1999), S. 78–94. Ulrich Joost / Red.
Klüger, Ruth, * 30.10.1931 Wien. – Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin. K., Tochter eines Frauen- u. Kinderarztes, erlebte den Antisemitismus in Wien u. wurde 1942 gemeinsam mit ihrer Mutter deportiert; sie überlebten das Familienlager Theresienstadt, das Frauenlager Auschwitz-Birkenau u. das Arbeitslager Christianstadt. Im Febr. 1945 gelang ihnen die Flucht. Nach Notabitur in Straubing nahm K. 1947 das Studium der Philosophie u. Geschichte an der Hochschule Regensburg auf, ging im selben Jahr in die USA, studierte in New York Bibliothekswissenschaften u. schloss das Studium 1952 mit dem Master of Arts ab. 1955 heiratete sie den Historiker Werner Angress. Nach der Scheidung 1962 studierte sie Germanistik in Berkeley und promovierte 1967 zum Ph.D. (The Early German Epigram. A Study in Baroque Poetry. Lexington 1971. 1982). Mit Unterbrechung durch ein Ordinariat
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1980–1986 an der Princeton University war K. Professorin an der University of California in Irvine u. 1988–1990 Direktorin des kaliforn. Studienzentrums in Göttingen, wo sie seit 1988 als Gastprofessorin an der Universität tätig ist. Sie trat auch als Lessing- und Kleist-Forscherin hervor u. war Herausgeberin der amerikan. Fachzeitschrift »German Quarterly«. Im Sommer 1945 wurden zwei Strophen ihrer beiden Auschwitz-Gedichte, Auschwitz u. Der Kamin, in einer Zeitung gedruckt. Gedichte rezitieren u. schreiben, gehört zum Leitmotiv in ihrer Autobiografie weiter leben. Eine Jugend (Gött. 1992). Ihre Gedichte sind Signaturen des Unaussprechlichen im Sinne des Weiterlebens durch Weiterschreiben. Gedichte sind für sie »eine bestimmte Art von Kritik am Leben und können [...] beim Verstehen helfen«. K.s Gedichtinterpretationen in der Frankfurter Anthologie (Gemalte Fensterscheiben. Über Lyrik. Gött. 2007, aus den Jahren 1994–2006) sind kulturkrit. Betrachtungen über Ausgrenzung. K.s Überleben unter Frauen angesichts mangelnder Sozialisierung in den »Perversitäten der Geschlechterrollen« schärft die Sensibilität für Frauen als ›Menschen minderer Art‹ u. komplementär einen Spürsinn für deren literar. Kompetenz, von Catharina Regina von Greiffenberg bis Sarah Kirsch. Ihre Autobiografie weiter leben gliedert K. unter der Frage »Wie soll man denn leben, um das Leben zu verdienen?« nach fünf Lebensstationen: I. in »Sand« der Antisemitismus in Wien, der Selbsthass der Juden u. ihr Versuch, die nationalsozialistische Verfolgung angesichts histor. Pogrome zu relativieren; II. in »Mit einem Jahreszeitlicht für den Vater«, den Auschwitz-Gedichten sowie in »Jom Kippur« die fatale Verbundenheit der Lebenden mit den Toten; III. in »Die Unerlösten« die Flucht als Grauzone zwischen freier Entscheidung u. willkürlich-zufälliger Gunst der Stunde; IV. in »Jessica lässt sich scheiden« die Heimatlosigkeit in New York; V. in »Aussageverweigerung« die Kritik an Holocaust-Bewältigungsversuchen. Durch die Zeiten überwindende Montage eigener Gedichte weist sie Widersprüchlichkeit in Lebenserfahrungen auf u. dekonstruiert
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Klünner
Weitere Werke: Frauen lesen anders. Ess.s. Begriffe wie »Wiedergutmachung«. Im zweiten Teil der Autobiografie, unterwegs ver- Mchn. 1996. – Katastrophen. Über dt. Lit. Mchn. loren. Erinnerungen (Wien 2008), intensiviert K. 1997. Erw. Neuausg. Gött. 2009. Literatur: Jennifer L. Taylor: Writing as reihre Sensibilität u. Empörung angesichts von Diskriminierungen gegenüber Juden, wobei venge. Jewish German identity in post-Holocaust sie sie mit denen gegenüber Frauen u. Aus- German literary works. Reading survivor authors Jurek Becker, Edgar Hilsenrath and R. K. Ann Arländern sowie auch Älteren verbindet, nicht bor, MI, 1998. – LöE. – Cornelia Zetzsche: R. K. In: ohne sich selbst zu fragen, warum sie solche LGL. – Pascale R. Bos: German-Jewish literature in »oft durcheinanderbringe«, wo sie doch den the wake of the Holocaust. Grete Weil, R. K., and Begriff »Kritik« als Unterscheidung ihr the politics of address. New York/Basingstoke, Hauptschreibmotiv nennt. Schonungslos ge- Hampshire 2005. – Owen Evans: Mapping the genüber anderen wie auch sich selbst weist sie contours of oppression. Subjectivity, truth and ficsubtile Ressentiments im akadem. Milieu tion in recent German autobiographical treatments amerikan., aber auch dt. u. österr. Universi- of totalitarism. Amsterd./Atlanta, GA 2006. – Katäten nach, in dem sie sich immer neu als rolin Machtans: Zwischen Wiss. u. autobiogr. ProGermanistikprofessorin behaupten musste, jekt: Saul Friedländer u. R. K. Tüb. 2009. Maria Behre zwischen Verzweiflung u. Zivilcourage. In ihren Berichte u. Analysen abschließenden eigenen u. zitierten Gedichten u. Versen ste- Klünner, Lothar, auch: Leo Kettler, * 3.4. hen Alptraum u. Augenblicksannahme ne- 1922 Berlin. – Lyriker, Übersetzer, Esbeneinander. Nur in der Wirklichkeit der sayist. Poesie, nicht der Prosa, lässt sich nach K. mit Der Sohn eines Oberregierungsrats bestand Rilke im Gedichtvers als »Sternbild unsrer 1940 das Abitur, leistete Arbeits- u. drei Jahre Stimme« »das alte Schlimme« gerecht be- Kriegsdienst u. studierte evang. Theologie u. nennen. Kunstgeschichte. Er lebt seit 1949 als freier K.s analyt. Kraft zeigt sich in von Simone Schriftsteller in Berlin. 1949/50 arbeitete er Weil u. Hannah Arendt her entwickelten beim sog. Malerkabarett »Badewanne« mit. Thesen: »Vielleicht wissen Frauen mehr über Lyrische u. essayistische Texte veröffentlichte das Gute als Männer, die es so gern triviali- er in verschiedenen Zeitschriften (»Athena«, sieren. [...] Vielleicht wissen Frauen mehr »Meta«). Er gab Lyrikanthologien u. Henssels über das Böse als Männer, die es so gerne immerwährenden deutschen Kalauer-Kalender dämonisieren.« Die Autorin als Ich-Erzähle- (Bln. 1971; Pseud. Leo Kettler) heraus. K. rin fordert die Leserschaft dialogisch zur schreibt Funkessays zu philosophischen u. Auseinandersetzung auf; ihre Erzählform literar. Themen u. über bildende Kunst u. gewinnt gegenüber den im Werk themati- übersetzt neuere u. ältere frz. Poesie (u. a. sierten Schreibmodellen von Primo Levi u. Dupin, Éluard, Char, Apollinaire) sowie Peter Weiss einen Eigenwert. Ihre Provokati- Künstlerbiografien (Chagall, Ensor). Er ist on – »Deutschen fällt zu den Opfern nichts beeinflusst vom frz. Surrealismus u. insbes. ein« – wirkt weiter. Zurechtweisend u. her- später von seinem Freund René Char. In seiausfordernd klingen K.s Essays, die »Weiter- nen Gedichten äußert sich ein Lebensgefühl, Lebens-Lust« als »Widerspruchsgeist« ent- »das, fernab jeder Doktrin und eher anarchifalten (H. Detering). Diskussionen auslösend schen Ursprungs, sich befreit [...] vom Moist K.s Verdikt, streng zwischen Erfundenem nopol der Logik und des bewußten Kalküls« u. Überliefertem, Literatur u. Historiografie (Klünner). Anlässlich des 60. Geburtstags des unterscheiden zu wollen (Gelesene Wirklichkeit. Malers Walter Stöhrer (1937–2000) erschien Fakten und Fiktionen in der Literatur. Gött. das gemeinsame Künstlerbuch Stumme Muse 2006). submarin (Bln. 1997) mit Liebesgedichten K.s Im Mai 2009 wurde K. erste Gastprofesso- aus den vergangenen 50 Jahren. K. verfasste rin des Marcel Reich-Ranicki-Lehrstuhls für über 450 Rundfunksendungen. Deutsche Literatur an der Universität Tel Aviv.
Kluge
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Weitere Werke: Gläserne Ufer. Wuppertal 1957 (L.). – Wagnis u. Passion. Pfullingen 1960 (L.). – Windbrüche. Bln. 1976 (L.). – Gegenspur. Bln. 1977 (L.). – Befragte Lichtungen. Waldbrunn 1985 (L.). – Abfuhr u. sieben Ermittlungen zur Poetik. Bln. 1985 (P.). – Warum nicht Ithaka? Aachen 1992 (L.). – Diese Nacht aus deinem Fleisch. Bln. 2000 (L.). – Magnetfeld. Bln. 2001 (L.). – Nachtseite. Bln. 2002 (L.). – Die Suche nach dem Wasser. Bln. 2004 (L.). – Geerdet. Bln. 2006 (L.). – Vergeude dich, Dunkel, ans Lied. Bln. 2007. – Herausgeber: Speichen. Jb. für Dichtung. Bln. 1968–71. – Johannes Hübner, Gedenkbuch 1921–77. 2 Bde., Bln. 1983. Literatur: Mitlesebuch 69. Bln. 2005. Paul Stänner / Günter Baumann
Kluge, Alexander, * 14.2.1932 Halberstadt. – Prosaautor, Filmregisseur und Fernsehproduzent. Nach dem Abitur in Berlin studierte der Arztsohn in Freiburg, Marburg u. Frankfurt/ M. Jura, Geschichte u. Kirchenmusik u. promovierte 1956 zum Dr. jur. (Die UniversitätsSelbstverwaltung. Ffm. 1958). Er arbeitete im Grenzgebiet von Kultur- u. Rechtspolitik (Kulturpolitik und Ausgabenkontrolle. Zus. mit Hellmuth Becker. Ffm. 1961), engagierte sich als Sprecher der sog. Oberhausener Gruppe für die Erneuerung des dt. Films u. lehrte ab 1962 zeitweise als Dozent an der Hochschule für Gestaltung in Ulm (Institut für Filmgestaltung), ab 1973 als Honorarprofessor an der Universität Frankfurt. Gleichzeitig war er mit eigenen Buch- u. Filmprojekten befasst. Seit der Publikation des Prosabands Lebensläufe (Stgt. 1962) u. dem Erfolg des ersten, thematisch damit verbundenen Spielfilms Abschied von gestern (nach der Erzählung Anita G.) (1965/66) arbeitete K. kontinuierlich, bei immer engerer Verknüpfung der jeweiligen Projekte, in beiden Medien – u. wurde in beiden Bereichen mit wichtigen Preisen bedacht, u. a. mit dem Goldenen Löwen der Internationalen Filmfestspiele von Venedig 1968, dem Kleist-Preis 1985, dem BüchnerPreis 2003 u. dem Ehrenpreis beim dt. Filmpreis 2008. Ab Mitte der 1980er Jahre wandte er sich zunehmend vom Film- zum Fernsehgeschäft u. drehte im Rahmen einer eigens gegründeten Produktionsfirma (dtcp) experimentell-informative Kulturmagazine (u. a.
»Prime Time – Spätausgabe«, »10 vor 11« u. »News & Stories«). K.s vielseitige Arbeitsweise bewegt sich im Spannungsfeld von rationaler Wahrnehmung u. einem »Antirealismus der Gefühle«; sie zielt auf die authent. Vermittlung von Erfahrungen u. das Erzählbarhalten von Erinnerung. K.s erstes Buch nutzt die bürokratische Gebrauchsform des »Lebenslaufs« parodistisch (Justizsprache, Militärjargon) u. zgl. ideologiekritisch, um die Beschädigung der Opfer des Nationalsozialismus wie die Entmenschlichung der Täter aufzudecken. Schlachtbeschreibung (Olten/Freib. i. Br. 1964. Zwei Neufassungen) versucht den »Untergang der sechsten Armee« in Stalingrad als »organisatorischen Aufbau eines Unglücks«, d.h. als Zusammenwirken vielfältiger Absichten, Aktionen u. Umstände zum schlimmstmögl. Resultat – u. damit als Umkehrung des optimistisch-liberalen Gesellschaftsmodells – transparent zu machen. Formal geschieht das als Collage von authent. oder fingierten Dokumenten (Nachrichten, Kriegstagebuch usw.) mit fiktiven Partien, wobei weder eine klare strukturelle Ordnung, ein »roter Erzählfaden«, zu erkennen noch eine eindeutige Abgrenzung von Fakten u. Fiktionen zu treffen ist. Diese Schreibweise wie auch sein – stark von Adorno geprägtes – Gesellschaftsbild radikalisierte K. in der Folge. Die »Katastrophen« unseres Alltags sind ähnlich komplex wie die historischen u. vom Alltagsbewusstsein ebenso schwer zu erfassen. Zusätzlich wirken die Medien u. Strukturen unserer Öffentlichkeit erkenntnisverhindernd, als »Verblendungszusammenhang« (Horkheimer/Adorno). Um das Wechselspiel von objektiven Prozessen u. subjektiven Intentionen u. Wünschen zu erfassen, sind eine analytisch differenzierende Gesellschaftstheorie u. eine ebenso vielschichtige wie offene Erzählprosa nötig. Als Theoretiker versuchte sich K., gemeinsam mit dem ebenfalls der Kritischen Theorie verbundenen Soziologen Oskar Negt, in Öffentlichkeit und Erfahrung (Ffm. 1972), Geschichte und Eigensinn (Ffm. 1981) u. Maßverhältnisse des Politischen (Ffm. 1992). Als Erzähler entwickelte er in Lernprozesse mit tödlichem Ausgang (Ffm. 1973) über Neue Geschichten
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(Ffm. 1977) bis zu Die Lücke, die der Teufel läßt (Ffm. 2003) u. Tür an Tür mit einem anderen Leben. 350 neue Geschichten (Ffm. 2006) weitmaschige, »gitterartige« Konstruktionen, die eine Fülle von thematisch u. formal disparaten »Geschichten« in sich aufnehmen: klass. Exempelgeschichten, Lebensläufe, aber auch dokumentarische, pseudodokumentarische u. imaginäre Erzählsplitter aller Art, immer häufiger auch Bildmaterial. Hin u. wieder formieren sich diese »Gitter« zu relativ zusammenhängenden, in sich wieder kaleidoskopartig aufgesplitterten Erzählungen mit autobiogr. Gehalt (Der Luftangriff auf Halberstadt am 8.4.1945) – oder etwa zu einer Science-Fiction-Saga, die von Stalingrad direkt in die Galaxis führt. K. löst in solchen »Geschichten ohne Oberbegriff« die Kategorie des literar. Werks gleich doppelt auf. Er zerlegt den Erzähltext einerseits in ein »Trümmerfeld« (Hans Magnus Enzensberger) von narrativen Bruchstücken. Andererseits überführt er ihn in einen filmisch-literar. Schaffensprozess, in dem ein Buch Themen des vorherigen aufnimmt, ein Film vom Textbuch gleichen Titels nicht nur dokumentiert, sondern ergänzt u. theoretisch reflektiert wird. Das gilt insbes. für K.s Filme bzw. Bücher Die Patriotin (1979), Die Macht der Gefühle (1982. Ffm. 1984) u. Der Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit (Ffm. 1985). Am deutlichsten zeigt sich K.s Verfahren der Wiederaufnahme, Be- u. Überarbeitung in der zweibändigen Chronik der Gefühle (Ffm. 2000; Bd. 1: Basisgeschichten, Bd. 2: Lebensläufe), einer etwa 2000 Seiten umfassenden Sammlung bereits publizierter, überarbeiteter u. neu geschriebener, z.T. mit Bildmaterial unterlegter Texte, die ein öffentl. Interesse an K. als literar. Autor neu entfachte. K. fügt hier sein literar. Gesamtwerk zu einem großen Text zusammen u. unterstreicht dergestalt die Kontinuität u. Homogenität seines Schaffens bei aller Heterogenität u. unübersehbaren Fülle der bewusst subjektiv ausgewählten Materialgrundlage. Umgekehrt verweist der Vorgang der Reorganisation, Revision u. Transformation bereits gestalteter Erinnerungen auf die Vorläufigkeit des Zugriffs u. den fragmentar.
Kluge
Charakter der Chronik. Die Gleichzeitigkeit von Abläufen, die Inhalte verfestigen u. solchen, die sie auflösen, erhellt ein wissenssoziolog. Zugang. Die teils um die Suggestion von Authentizität bemühte, teils iron. Verwobenheit von Text- u. Bildmaterial inspiriert(e) aufgrund ihres Irritationspotentials gegenüber habitueller Medienwahrnehmung nicht nur zeitgenöss. Autoren wie W. G. Sebald, sie geht zudem fruchtbar in eine Diskussion ein, die einen krit. Blick auf Bilder u. ihren Wahrheitswert wirft. Den Wahrheitsanspruch von Dokument u. Geschichtsschreibung ebenso in Frage stellend wie die Möglichkeit naiv-fiktiven Erzählens, unterläuft K. die entsprechenden Voreinstellungen seiner Leser stets aufs Neue u. fordert sie zu einer aktiven, »mitproduzierenden« Lektüre heraus. Weitere Werke: ›Ich schulde der Welt einen Toten‹. Gespräche [mit Heiner Müller]. Hbg. 1995. – Die Wächter des Sarkophags. 10 Jahre Tschernobyl. Hbg. 1996. – In Gefahr u. größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Texte zu Kino, Film, Politik. Hg. Christian Schulte. Bln. 1999. – Die Kunst, Unterschiede zu machen. Ffm. 2003. – Fontane – Kleist – Dtschld. – Büchner. Zur Grammatik der Zeit. Bln. 2004. – Der unterschätzte Mensch. Gemeinsame Philosophie in zwei Bdn. [Bd. 1: Suchbegriffe / Öffentlichkeit u. Erfahrung / Maßverhältnisse des Politischen. Bd. 2: Gesch. u. Eigensinn] (zus. mit Oskar Negt). Ffm. 2001. – Gesch.n vom Kino. Ffm. 2006. Literatur: Rainer Lewandowski: A. K. Mchn. 1980. – Ders: Die Filme v. A. K. Hildesh. 1980. – Michael Kötz u. Petra Höhne: Sinnlichkeit des Zusammenhangs. Zur Filmarbeit v. A. K. Köln 1981. – Thomas Böhm-Christl (Hg.): A. K. Ffm. 1983. – Heinz Ludwig Arnold: A. K. Mchn. 1985 (Text + Kritik. Sonderbd.) – Helmut Heißenbüttel: Rede auf A. K. zur Verleihung des Kleist-Preises. In: Kleist-Jb. (1986), S. 19–24. – Stefanie Carp: Kriegsgesch.n. Zum Werk A. K.s. Mchn. 1987. – Ulrike Bosse: Formen literar. Darstellung v. Gesch. Ffm. 1989. – Volker Petersen: Fabula non docet. Untersuchungen zum Funktionswandel erzählender Lit. Bern u. a. 1994. – Werner Barg: Erzählkino u. Autorenfilm. Zur Theorie u. Praxis film. Erzählens bei A. K. u. Edgar Reitz. Mchn. 1996. – Peter C. Lutze: A. K. The last Modernist. Detroit 1998. – Rainer Stollmann: A. K. zur Einf. Hbg. 1998. 22008. – Christian Schulte (Hg.): Die Schrift an der Wand. A. K. Rohstoffe u. Materialien. Osnabr. 2000. –
Kluge Matthias Uecker: Anti-Fernsehen? A. K.s Fernsehproduktionen. Marburg 2000. – Corinna Mieth: Das Utopische in Lit. u. Philosophie. Zur Ästhetik Heiner Müllers u. A. K.s. Tüb. u. a. 2003. – C. Schulte u. Rainer Stollmann (Hg.): Der Maulwurf kennt kein System. Beiträge zur gemeinsamen Philosophie v. Oskar Negt u. A. K. Bielef. 2005. – Andreas Sombroek: Eine Poetik des Dazwischen. Zur Intermedialität u. Intertextualität bei A. K. Bielef. 2005. – Hyun Soon Cheon: Intermedialität v. Text u. Bild bei A. K. Zur Korrespondenz v. Früher Neuzeit u. Moderne. Würzb. 2007. – Klemens Gruber (Hg.): Die Bauweise v. Paradiesen. Wien u. a. 2007. – C. Schulte, Hanno Beth u. Kai Precht: A. K. In: KLG. – Thomas v. Steinaecker: Literar. Foto-Texte. Zur Funktion der Fotografien in den Texten Rolf Dieter Brinkmanns, A. K.s u. W.G. Sebalds. Bielef. 2007. Jochen Vogt / Raffaele Louis
Kluge, Kurt, * 29.4.1886 Leipzig, † 26.7. 1940 Fort Eben Emaël bei Lüttich. Grabstätte: Friedhof Berlin-Nikolassee. – Erzähler.
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wurde von der nationalsozialistischen Kritik sehr gelobt. Friedrich Joachim Kortüm, aus einem großen Hamburger Handelshaus stammend u. als Kapitän weitgereist, lässt sich auf einer jener Passhöhen des Thüringer Waldes nieder, »um die herum alles grün wogt und der Frieden unendlich scheint«. Als Gastwirt des Schottenhauses empfängt Kortüm, ein kauziger Idealist u. Weltverbesserer, seine Gäste u. bemüht sich, »gejagte Menschen ruhen zu lassen: streift euer Ameisentum ab [...] und begreift das deutsche Inwendige«. K. wollte »dem Schönen eine Gasse schlagen durch die Wirklichkeit«. In mehr als einer Viertelmillion Exemplaren verbreitet, ist Der Herr Kortüm bis heute das bekannteste Werk K.s geblieben, trotz anderer gelungener Romane u. Erzählungen, die K.s inniges Verhältnis zur bildenden Kunst (Die gefälschte Göttin. Stgt. 1935. 1950; N.n) u. zur Musik (Die Zaubergeige. Stgt. 1940. 1976) erschließen, während seine Bühnenwerke nur wenig Erfolg hatten (Die Ausgrabung der Venus. Bln. 1934; Kom.). Der späten Erzählung Nocturno (Stgt. 1939) um die sog. Dunkelgräfin von Hildburghausen hat K. einen kurzen Lebensbericht beigegeben. Briefe K.s wurden u. d. T. Lebendiger Brunnen (Hg. Carla Kluge u. Martin Wackernagel. Stgt. 1952) gesammelt. Sein Nachlass befindet sich in Berlin-Nikolassee.
K. war der Sohn eines Organisten. Zum Schreiben kam er erst nach Jahren an der Kunstakademie Leipzig u. der Ausbildung als Erzgießer. Im Ersten Weltkrieg wurde er bei Becelaere in Belgien schwer verwundet. 1921 an die Hochschule für freie u. angewandte Kunst in Berlin berufen, entfaltete K. eine fruchtbare Tätigkeit als Lehrer, Restaurator u. Fachschriftsteller (Die antiken Goldbronzen. Ausgaben: Werke. Stgt. 1948. Zusammen mit Karl Lehmann-Hartleben. 3 Literatur: Rainer Drewes: Der Zwischen-ZeiBde., Bln. 1927). len-Widerstand des Herrn Kortüm. In: Der Literat Musisch vielfältig u. hochbegabt, konkre- 28 (1986), S. 123 ff. – Eckhard Heftrich: Das dt. tisierte sich K.s Verhältnis zur Kunst durch Inwendige. Über K. K.s ›Der Herr Kortüm‹ (1938). den Umgang mit den Erzgesteinen, deren In: Marcel Reich-Ranicki (Hg.): Romane v. gestern – histor. u. techn. Erscheinungsformen er gut heute gelesen. Bd. 3: 1933–1945. Ffm. 1990, kannte. Der erste Roman Der Glockengießer S. 171–178. – R. Drewes: Die Ambivalenz nichtfaschist. Lit. im Dritten Reich – am Beispiel K. K.s. Christoph Mahr (Stgt. 1934), geschrieben vor Ffm. 1991. – Hartmut Coch: K. K. (1886–1940) u. autobiogr. Hintergrund, ist ein geschlosse- sein Medaillenwerk. In: Gesellsch. für Thüringer nes, in K.s Entwicklung unentbehrl. Werk, Münz- u. Medaillenkunde 17 (2006/07), S. 9–55. aus dem wesentl. Elemente in den aus fünf Hermann Schreiber / Red. Büchern bestehenden Roman Der Herr Kortüm (Stgt. 1938. 1986) eingingen. Unter diesem Knapp, Albert, * 25.7.1798 Tübingen, Titel wurden auf annähernd 800 Seiten frü† 18.6.1864 Stuttgart. – Lyriker u. Hymhere Werke um- u. zusammengeschrieben. nologe. Wilhelm Raabe u. Jean Paul waren K.s Vorbilder. Der Sohn eines Hofgerichtsadvokaten bezog Das breit u. unterhaltsam in vielen ab- 1814 das Seminar Maulbronn, 1816 das Tüwechslungsreichen Szenen erzählte Werk binger Stift. 1820 war K. als Vikar in Feuer-
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bach (heute zu Stuttgart), anschließend in Gaisburg tätig. In dieser Zeit vollzog sich seine Hinwendung zum Pietismus; er vernichtete seine bisherigen, jetzt weltl. Eitelkeit zugerechneten Dichtungen u. betrachtete Goethe als der Hölle verfallen. Seit 1825 versah K. Pfarrstellen in Sulz, Kirchheim/ Teck u. Stuttgart, wo er – ab 1845 Stadtpfarrer an St. Leonhard – den Ruf eines hervorragenden Kanzelredners genoss. Der Schwerpunkt von K.s Schaffen liegt im Bereich des Kirchenlieds. Mit seinen feierl., im eindringl. Eingehen auf Glaubenssätze auf eine Vertiefung der Frömmigkeit abzielenden Christlichen Gedichten (2 Bde., Basel 1829) trat er als Begründer des neueren geistl. Liedes hervor. Seine sakrale Dichtung fand in zahlreiche Gesangsbücher Eingang; weltl. Lyrik K.s, oft mit vaterländ. Ton, bevorzugt die Romanzenform. Auch als Herausgeber u. Bearbeiter geistl. Dichtung Gottfried Arnolds u. Zinzendorfs tätig, fasste er seine hymnolog. Forschungen zu dem weit verbreiteten Evangelischen Liederschatz für Kirche und Haus (2 Bde., Stgt. 1837. 41891) zusammen, wobei K. die Vorlagen oft variierte. Weitere Werke: Christoterpe. Ein Tb. für christl. Leser. 21 Bde., Tüb., ab 1843: Heidelb. 1833–53. – Hohenstaufen. Stgt./Tüb. 1839 (L.). – Herbstblüthen. Stgt. 1859 (L.). – Ges. prosaische Schr.en. 2 Bde., Stgt. 1870–75. Literatur: Martin Knapp: A. K. als Dichter u. Schriftsteller. Tüb. 1912. – Goedeke 13. – Gerhard Schäfer: A. K. In: NDB. – Ulrich Parent: A. K.s ›Evang. Liederschatz‹ v. 1837. Ffm. 1987. – Michael Klein: A. K. – Dichter-Pfarrer in Kirchheim unter Teck v. 1831 bis 1836 – u. seine heutige Bedeutung. In: Kirchheim unter Teck. Schr.en des Stadtarchivs 30 (2003), S. 179–194. Helmut Blazek / Red.
Knapp, Radek, * 3.8.1964 Warschau. – Erzähler. K., der bei seinen Großeltern in Polen aufwuchs, kam als Zwölfjähriger zu seinen Eltern nach Wien u. lernte dort deutsch. Nach der Matura begann er ein Philosophiestudium u. arbeitete in verschiedenen Gelegenheitsjobs, bis ihm sein Erstlingsband Franio (Wien 1994) mit grotesken Erzählungen überraschenden Erfolg u. den »aspekte«-Li-
Knapp
teraturpreis 1994 einbrachte. 2000 war er Stadtschreiber in Schwaz. Nach Erscheinen seines ersten Romans, Herrn Kukas Empfehlungen (Mchn./Zürich 1999. Verfilmung 2008), erhielt er 2001 den Adelbert-vonChamisso-Förderpreis. K. lebt als freier Schriftsteller in Wien. Im Erzählungsband Franio, der in ländlichabgeschiedenem Ambiente in Polen spielt, treten skurrile u. groteske Figuren auf, die aus dem traditionellen Rahmen herausfallen u. die festen Dorfstrukturen samt ihrem Beziehungsgefüge durcheinanderbringen. Vor allem der Titelheld Franio, der seinem Wesen nach eigentlich ein Antiheld ist, hat in der zentralen Erzählung diese Funktion des Außenseiters u. Störenfrieds. Der Herumtreiber, das schwarze Schaf der Familie, kehrt nach zwanzig Jahren auf den Hof des Bruders zurück, mit Strohhut, langen ungekämmten Haaren, kurzen Hosen u. Turnschuhen: zwei Welten prallen aufeinander. Seine Fantasieu. Lügengeschichten bringen das Dorf in Aufregung, bis er auf mysteriöse Art wieder aus der festgefügten Welt entschwindet. Waldemar, der Held des Schelmenromans Herrn Kukas Empfehlungen, der dem Autor in Erfahrungen u. Verhalten ähnlich ist, begibt sich, ausgestattet kaum mit Geld, aber dafür mit zwielichtigen Ratschlägen von Herrn Kukas, auf die Reise von Polen nach Wien, wo er sich mit Witz u. Pfiffigkeit durchschlägt, mit für ihn ungewohnten Situationen auseinandersetzt u. aus der Außenperspektive »den Westen« analysiert. In K.s drittem Werk Papiertiger. Eine Geschichte in fünf Episoden (Mchn./Zürich 2003) steht wieder ein Orientierungsuchender im Mittelpunkt, Walerian Gugania, der viele autobiogr. Züge des Autors trägt. Auch präsentiert K. wieder einen Antihelden, der nach einer Periode des ziellosen Suchens u. Experimentierens, der Ausflüchte in eine Fantasiewelt u. in Lügengeschichten, durch den literar. Erfolg seines Werks Papiertiger unerwartete Anerkennung findet. Die neue Scheinwelt des Ruhms bedeutet für Walerian jedoch den Abstieg in eine entfremdete Welt, aus der die Rückblende in die Vergangenheit als Kind eine gewisse Zuflucht bietet.
Knappe
Alle Werke K.s zeigen den Autor als sprachlich brillanten Erzähler, der Außenseiterpostionen einnimmt, die Alltagswelt in ihrer Scheinhaftigkeit entlarvt u. sich in Fantasiegeschichten eigene Welten aufbaut. In immer neuen Anekdoten entfaltet er mit intensiver Beobachtungsgabe seinen Sinn für Witz u. Komik, sein satir. Talent u. seine Ironie im Umgang mit der Alltagswirklichkeit. Er baut sich eine Gegenwelt der Imagination auf, in der er allein zu Hause ist. Weitere Werke: Lit. & Wein (zus. mit Franzobel u. Margit Hahn). Ffm. 2001. – Miss Polonia 2002 – ein sexist. Ber. In: Feuer, Lebenslust! Erzählungen dt. Einwanderer. Stgt. 2003, S. 37–56. – Gebrauchsanweisung für Polen. Mchn./Zürich 2005. Irmgard Ackermann
Knappe, Joachim, * 16.3.1929 Zeitz, † 3.11.1994 Schleusingen. – Erzähler.
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Hauptfigur Max Runewski die Schwere u. Hoffnungslosigkeit der Nachkriegszeit ungeschminkt erleben. Trotz Vorwürfen der Literaturkritik, die Entwicklung Runewskis dauere zu lange, ging K. seinen literar. Weg weiter. 1975 erschien Frauen ohne Männer (Halle), gedacht als Fortsetzung u. zgl. Neuansatz zu Die Birke da oben: Schicksalsschläge bleiben auch unter veränderten Bedingungen nicht aus. K.s Roman erzählt u. a. von den Frauen, die nach dem Krieg Aufgaben der Männer übernehmen mussten. Die Trilogie wurde mit Abschied von Maria (Halle 1980) abgeschlossen. Dabei ging die innere Zusammengehörigkeit der Bände zunehmend verloren: K.s Figurenensembles wurden immer weniger differenziert. Auch die anfangs wirkungsvolle lakon. Art des Erzählens erhielt mehr u. mehr vereinfachend platten Charakter. K. erhielt 1966 u. 1971 den Kunstpreis des FDGB, 1976 den Max-Reger-Kunstpreis u. 1979 die Verdienstmedaille der DDR.
K., Sohn eines Ingenieurs, war in verschiedenen Berufen (u. a. Lehre als Elektroinstallateur, Verkäufer) tätig. Nach längerer Weitere Werke: Stine Gruber. Erzählung. In: Krankheit (1951–1956) studierte er am Leip- NDL 3 (1955), H. 11, S. 73–80. – Das Glockenhaus. ziger Institut für Literatur (1956–1959); Tä- Halle 1976. – Das wirkl. Blau. In: NDL 32 (1984), H. tigkeiten als Redakteur einer Betriebszeitung 2, S. 17–26. Literatur: Eberhard Panitz: Abschied v. der (1959–1961) u. kulturpolit. Arbeit in Eisenhüttenstadt (1961–1965) folgten. K. lebte Verzweiflung. J. K.: ›Die Birke da oben‹. In: NDL 35 zuletzt in seinem »Glockenhaus«, einem (1987), H. 1, S. 126 ff. Rüdiger Bernhardt ehem. Gemeindedienerhaus in Silbach (Gemeinde Nahetal-Waldau)/Thüringen. Knauss, Sibylle, * 5.7.1944 Unna. – RoK. begann mit mehreren Veröffentlichunmanautorin. gen in der Zeitschrift »Junge Kunst«. Darunter befanden sich die kulturpolitisch be- K. studierte in München u. Heidelberg Germerkenswerten Beiträge Aufbruch (H. 2, 1959) manistik, Anglistik u. evang. Theologie u. u. Mitten unter uns (H. 4, 1959). Sein erster legte 1970 das Staatsexamen ab. Mit UnterRoman Bittere Wurzeln (Weimar 1961) war brechungen, u. a. durch einen längeren Aufdem antifaschistischen Kampf gewidmet, enthalt in Japan, unterrichtete sie bis 1986 im besaß jedoch wenig Originalität u. literar. gymnasialen Schuldienst, danach in der LehQualität. Der 1965 erschienene Roman Mein rerfortbildung. Von Jan. bis März 1991 war namenloses Land. Zwölf Kapitel einer Jugend im sie Writer-in-Residence an der University of Dickicht der Jahrhundertmitte (Halle) steht in der Warwick in Coventry (England). Seit 1992 Reihe der zu jener Zeit in der DDR wirksa- lehrt sie als Professorin für Text u. Dramamen Entwicklungsromane u. fand breite Zu- turgie an der Filmakademie Baden-Würtstimmung. 1970 erschien der erste Band der temberg in Ludwigsburg. Romantrilogie Die Birke da oben u. d. T. Aufstieg Zunächst hat K. zwei Möglichkeiten des der Toten (Halle) – verfilmt 1978/79 für das Schreibens erprobt: die fiktive RekonstruktiFernsehen –, die dem Schicksal einer Arbei- on einer histor. Figur unter Benutzung histerfamilie in der DDR nachging. Im Unter- tor. Quellen (Romanbiografien) oder das Erschied zu Versuchen ähnl. Art ließ K. seine zählen von bürgerl. Familiengeschichten, oft
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über zwei oder drei Generationen hinweg. Am wichtigsten sind ihr dabei die Verhältnisse zwischen den Geschlechtern u. die ›condition féminine‹. In dem Roman Das Herrenzimmer (Hbg. 1983) porträtiert K. aus der Sicht des Enkels Victor die Geschichte einer großbürgerl. Industriellenfamilie. Am Tag des Begräbnisses seines Vaters Carl sucht Victor in der Gründerzeitvilla des Großvaters nach den Ursprüngen der patriarchal. Prägung, der Leiden u. Verwundungen in der Familie. Im Jagdzimmer hat sich der Großvater erschossen – Jäger u. Opfer zugleich. Der Roman kulminiert in der Entfaltung des Jagdmotivs. In Erlkönigs Töchter (Hbg. 1985) erzählt eine nicht ganz überzeugend gestaltete Ich-Erzählerin wieder von drei Generationen: Mutter, Tochter u. Enkelin sind auf den Mann u. Vater fixiert – abwesend übt er noch Macht aus u. ist der Märchenkönig ihrer Fantasien. Die Darstellung der sozialen Ebenen u. die Evokation des Atmosphärischen sind gelungen. Der Roman Ungebetene Gäste (Hbg. 1991) handelt von Eltern u. Kindern u. wie diese sich quasi als Eindringlinge in die Liebesgeschichte der Eltern zwängen. Der Roman greift in die Diskussion ein, die im Herbst 1990 um den § 218 geführt wurde. Lisa, eine 40-jährige geschiedene Frau, entschließt sich – anscheinend gegen alle Vernunft – den Termin der Abtreibung eines Kindes von ihrem Liebhaber Julius verstreichen zu lassen. Es ist die Geschichte einer akzeptierten Schwangerschaft u. weibl. Auflehnung gegen männl. Zweckrationalität. Die Frau wird zum Opfer ihrer eigenen Glücksvorstellung. Der Roman Die Nacht mit Paul (Mchn. 1996) wird in der ersten Person erzählt. Die Erinnerung an die 1950er u. 1960er Jahre, an die Lebenslüge der Mütter erscheint als ›Giftschrank‹. Dem im Krieg vermissten Vater verdankt die Ich-Erzählerin nicht ihr Leben – ihr Vater ist der Kellner Paul, der erste Nachkriegsehemann der Mutter. Er prägt auch das Leben der Tochter, mit dem sie eine leidenschaftl. Nacht verbringt (der reißerische Titel stammt vom Verlag!). Die als schmerzhaft empfundene Abwesenheit der Väter im u. nach dem Krieg, das komplizierte Lebensgeflecht von Frauen, die soziale Um-
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welt aus weibl. Perspektive, Szenen aus dem Uni-Alltag von 1968 vermitteln zeitgeschichtl. Atmosphäre. Debütiert hat K. mit dem Roman Ach Elise oder Lieben ist ein einsames Geschäft (Hbg. 1981). Er ist der ungeliebten u. ausgebeuteten Geliebten Hebbels, Elise Lensing, gewidmet. Aus Tagebuchnotizen Hebbels u. Briefen von Elise entsteht die Romanfiktion eines Lebens, das sich an einen undankbaren Mann verschwendet. Für ihren von der Kritik hochgelobten Erstling erhielt K. 1982 den Preis der Neuen Literarischen Gesellschaft Hamburg e.V. Nach der Reihe von Familiengeschichten knüpfte K. mit ihrem biogr. Roman Charlotte Corday (Hbg. 1988) an das Verfahren an, das sie in ihrem ersten Werk erfolgreich erprobt hatte. Aus den Quellen über die Mörderin Marats wird ihr Leben erzählt – mit Hilfe von Träumen, literar. Reminiszenzen aus Märtyrerdramen Corneilles (eines Vorfahren der Protagonistin) u. der Gestalt des Malers Jean Jacques Hauer, der die zum Tod Verurteilte porträtiert, fingiert ein auktorialer Erzähler die Biografie dieser »Männin« (Jean Paul) der Revolutionszeit. Die Auswirkungen von Schauplätzen u. des geschichtl. Horizonts faszinieren die Erzählerin. So wählt sie für den Roman Die Missionarin (Hbg. 1997) erstmals einen exotischen Ort, die kleine Insel Ponape in der Südsee – einst unter dt. Kolonialherrschaft. Die Protagonistin Lina, eine Fabrikantentochter aus dem Sauerland, wird 1908, vom Fernweh getrieben, Missionarin. Mit Beamten, Offizieren u. Missionaren soll sie versuchen, die »lieben Braunen« zu disziplinieren u. zu christianisieren. 1911 kommt es zum historisch belegten Aufstand gegen die Kolonialherrschaft. Lisa lässt sich im Busch mit den Eingeborenen ein u. entdeckt in der anderen Welt sich selbst. Erneut geht es um das weibl. Aufbegehren in einer patriarchal. Männerwelt. Lisa heiratet einen der Missionare u. gewinnt ihn für die Absage an die koloniale Tradition. Die Vielfalt der Erzählperspektiven, die kulturellen Vergleiche, die gut recherchierte Phase der dt. Kolonialgeschichte führen zu keinem Exotismus, wohl aber zu einem erstaunl. Kolorit. Evas Cousine (Mchn. 2000) war bisher das erfolgreichste Buch von
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K. Natürlich hängt dies mit dem Hautgout des Stoffes zusammen: Die damals 75-jährige Gertraud Weisker hat ihr ausführlich über das halbe Jahr erzählt, das sie als Gesellschafterin u. Cousine Eva Brauns 1944 auf dem Obersalzberg verbracht hat. Mit Hitler hat seine Geliebte nur noch telefonischen Kontakt. Die Ich-Erzählerin nutzt die Fakten u. ist um Distanz bemüht – so kann Eva Braun aus nächster Nähe u. durchaus nicht unkritisch mit ihrer glasierten Oberfläche porträtiert werden. Diskurse über Schüchternheit, Macht u. Tyrannenschlösser in den Bergen werden eingeschoben. Der Schauplatz als Zentrum der Macht spielt eine große Rolle. Die Verwendung der Zeitebenen u. die Anspielung auf Zeitgeschichtliches 1944/45 überzeugen ebenso wie die Integration des authent. Materials. K. ist keine ›Feministin‹, aber sie nimmt sich der Sache der Frauen leidenschaftlich an – ob in gegenwärtigen oder vergangenen Zeiten. Das Thema der Hexenverfolgungen musste sie affizieren. In dem Roman Füße im Feuer (Hbg. 2003) führt sie die Leser in den äußersten Südwesten Frankreichs, nach St. Pée, wo im Nov. 1609 die letzte von 57 Frauen u. Männern auf dem Scheiterhaufen lebendig verbrannt wurde. Im Gegensatz zu den bisherigen Romanen konzentriert sich K. hier nicht auf eine Frau; der Protagonist ist zum erstenmal ein Mann, Pierre de Lancre, Abkömmling der noblesse de robe, Parlamentsrat in Bordeaux, promovierter Jurist u. Schriftsteller. Er will sich als »Sachverständiger fürs Unerhörte« profilieren. Vier Monate lang hat er Hexen aufgespürt u. sie verhört. In vier großen Kapiteln (Hexenjagd I-IV) wird davon erzählt. Der zuständige Bischof u. sein Leibarzt, Martin Lallemand, sind Gegner der Hexenverfolgung. Auch de Lancres einzige Tochter setzt ihm auf ihre Weise Widerstand entgegen: Sie hält einen Fuß ins Feuer, um am eigenen Leib zu erfahren, was ihr Vater den Frauen u. Männern antut. Als die letzten fünf Hexen verbrannt werden sollen, wird dies von den Männern der Dörfer, zurückgekehrten Walfängern, fast vereitelt: Der Hexenrichter flieht, der Arzt Lallemand endet schließlich todkrank in Köln. Wieder ist die stoffl. Dichte dank histor. Re-
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cherchen, der Kenntnis der Lokalitäten u. der geschichtl. Details bewundernswert. Mit Die Marquise de Sade. Roman einer Ehe (Hbg. 2006) kehrt K.erneut in das vorrevolutionäre Frankreich zurück. Renée-Pélagie de Montreuil wird 1763 einundzwanzigjährig mit dem Marquis de Sade verheiratet. Schon bald weiß sie, dass die Exzesse ihres Mannes das übliche Maß eines adligen Roués bei Weitem übertreffen. Wie kann sie diesem »Sisyphos des Sex« fast ein Leben lang treu bleiben? Sie wandelt sich zur selbstständigen Frau, die sich auch gegen ihre Mutter, die ihn schließlich gerichtlich verfolgen lässt, zur Wehr setzt. Mit Unterbrechungen verbringt de Sade 25 Jahre in Gefängnissen u. Irrenhäusern – zuletzt, bis zur Revolution – 14 Jahre in der Bastille. Es sind ihre besten Jahre. Er schreibt dort seine Romane u. zärtl. Briefe an seine Frau. Warum sie sich erst nach seiner Befreiung von ihm scheiden lässt, bleibt offen. Die zugängl. Briefe u. Dokumente hat K. verarbeitet. Der häufige Perspektivenwechsel fördert die Distanz. Detaillierte Porträts der beteiligten Personen schaffen ein Panorama der gesellschaftl. Verhältnisse im Ancien Régime. Das Aussparen erweist sich bei diesem Sujet als große Kunst. Man fragt sich dennoch, wie diese Frau dem »Troubadour und Triebtäter in einem« verfallen konnte. In die Anfänge des Menschen, ins Tertiär u. quartäre Eiszeitalter, führt der Roman Eden (Hbg. 2009). Es ist das gewagteste Werk von K. bisher: Sie will den Homo erectus u. sein schwieriges, keineswegs paradiesisches Leben zum Sprechen bringen. Sie schildert ihn als Gegenstand der Forschungen des britischkenian. Paläontologenpaars Louis u. Mary Leakey, die in Ostafrika wichtige Funde machten, welche die Existenz des Homo habilis u. seine Arbeit mit Steinwerkzeug belegen. Statt Überschriften stehen Jahreszahlen über den sieben Kapiteln, die von den Lebensu. Forschererfahrungen des weltberühmten Paares erzählen. Das Wesentliche beruht auf Informationen, die K. von den Kindern u. Weggenossen erhielt. Was in den zwischengeschalteten Kapiteln vom Lebenskampf der Hominiden erzählt wird, beruht auf den Erkenntnissen, die von den Paläontologen zusammengetragen wurden. Die Leser erfahren
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– mit einem hier mehr denn je nötigen Anteil Lebach 1990. – Bärbel Götz: Konturen eines Frauan erzählerischer Fiktion u. Spekulation –, enlebens. S. K.’ Roman ›Ach Elise oder Lieben ist wie sich diese frühen Menschen von Früchten ein einsames Geschäft‹. In: Verschwiegenes Ich. u. Wurzeln, aber auch von erlegten Tieren Vom Un-Ausdrücklichen in autobiogr. Texten. Hg. dies. Pfaffenweiler 1993, S. 41–58. – Spiegel-Geernähren, vom Schlafen auf Bäumen, von der spräch: ›Lesen muß ein Laster sein‹. Die SchriftSozialstruktur der kleinen Horden, rudi- stellerin u. Dozentin S. K. über das Schreiben v. mentärer Sprache, elementarer Sexualität al- Drehbüchern, die Kunst des Erzählens u. das Anler mit allen, von Klimaschwankungen, den sehen der dt. Lit. in der Welt. In: Der Spiegel 52 Folgen von Bränden durch Blitzschlag. Der (1998), Nr. 30, S. 154–156. – Helga Abret: Im Fortschritt, den Erfindungen wie der Faust- ›Zwielicht v. Distanz u. Nähe‹. Zu S. K.’ Roman keil oder die Lanze mit sich bringen, wird ›Charlotte Corday‹ (1988). In: Zwischen Distanz u. nachvollziehbar. Den Lebensbedingungen Nähe. Eine Autorinnengeneration in den 80er Jahder Frauen, ihren Schwangerschaften u. der ren. Hg. dies. u. Ilse Nagelschmidt. Bern u. a. 1998, Mühe der Kinderaufzucht gilt bes. Auf- S. 209–234. – Simplice Agossavi: Fremdhermeneutik in der zeitgenöss. dt. Lit. An Beispielen v. merksamkeit. Im letzten Kapitel stirbt Mary Uwe Timm, Gerhard Polt, Urs Widmer, S. K., Leakey einen langsamen Tod u. sieht noch Wolfgang Lange u. Hans Christoph Buch. St. Ingeinmal Szenen ihres Ehe- u. Forscherlebens u. bert 2003, S. 109–138 (zu ›Die Missionarin‹). – S. K. die Entedeckung der Hominiden-Fossilien an Kunstpreis des Saarlandes. Lit. 2006. Hg. Regiesich vorüberziehen. rung des Saarlandes. Saarbr. 2007. Aus Vorlesungen ist die Schule des Erzählens Gerhard Sauder – ein Leitfaden (Ffm. 1995; mit neuem Untertitel Ein Leitfaden für Roman- und DrehbuchauKnaust, Heinrich, * 1524 Hamburg, † ca. toren überarb. Neuausg. Bln. 2006) hervorge1580 Erfurt. – Jurist, Dramatiker u. gangen. Mit leichter Hand werden GrundÜbersetzer. prinzipien des Erzählens – Behandlung von Zeit, Raffung, Dehnung, Leser u. Zuschauer – K., Sohn des wohlhabenden Goldschmieds erläutert. Vom Spielfilm ist die Rede, als sei es Cord Knaust, der eifrig für die Reformation ein Epos, u. von Erzählungen, als seien es wirkte, besuchte zunächst das Hamburger Filme. Was in vergleichbaren Einführungen Johanneum. Seit dem Sommersemester 1537 selten auftaucht – Stoffsuche, Schauplätze als studierte er in Wittenberg, wo er sich v. a. Handlungselemente, Charaktere u. Dialoge, Melanchthon anschloss. Um 1540 wurde er die Handlungskonstruktion u. die Komposi- als Rektor an das Cöllnische Gymnasium nach tion der Erzählung –, ist hier mit vielen Bei- Berlin berufen u. am 15.9.1541 in Wittenberg spielen aus Literatur u. Film zu finden. Les- zum Magister artium promoviert. 1543 bar u. spannend zu schreiben ist für K. kein übernahm er das Rektorat in Stendal u. heiMerkmal von Trivialität. Sie konstruiert in ratete 1544 die Tochter Christoph Pfundihren neueren Romanen die Handlung noch steins, des Leibarztes von Kurfürst Joachim II. exakter als früher u. setzt noch bewusster von Brandenburg. Er muss sich dann dem Schnitte u. Perspektivwechsel. Das Andeuten Studium der Jurisprudenz zugewandt haben ist bei ihr eine bes. Kunstform. Sie ist risiko- (um 1546 in Marburg). 1548 arbeitete K. als freudig u. wagt mit jedem Buch etwas Neues Advokat am Berliner Kammergericht; im – unter den dt. Autorinnen gilt sie derzeit als folgenden Jahr ist er in Mecklenburg nachweisbar, 1550 in Demmin, 1552 in Hamburg, die beste Porträtistin. Evas Cousine wurde in acht Sprachen über- dann in Lübeck u. als Syndicus beim Erzbisetzt u. von der »New York Times« unter die schof von Bremen, Christoph von Braun»notable books of the year« 2002 gewählt. schweig. Seit 1557 lebte er in Erfurt u. wurde 2006 wurde K. mit dem Kunstpreis des dort am 15. Febr. dieses Jahres Kanonikus u. im Wintersemester 1559/60 als »Eximius dns Saarlandes für Literatur ausgezeichnet. Literatur: Wolfgang Schmitt: Drei mal zwei Henricus Knaust Rostockensis iurium licenAutoren. Im Gespräch mit: S. K., L. Harig, R. Bi- tiatus et ecclesiae beatae Mariae virginis chelberger, D. Quiring, N. Graf. R. Manderscheid. Erphordensis canonicus« in die Matrikel der
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Universität aufgenommen (Lizentiat der Rechte nennt er sich ab 1558, Doktor beider Rechte ab 1564; eine juristische Doktorpromotion durch eine Universitätsfakultät ist indes nicht belegt). 1560 wird K. Scholastiker an der Marienkirche; 1565 krönte ihn der Magdeburger Domprobst Wilhelm Böcklin zum Dichter. K.s erstes Drama Tragedia von verordnung der Stende (Wittenb. 1539) folgte einer Schrift Melanchthons mit dem Gedanken: Jeder verstehe seinen Beruf als Berufung. 1541 wurde ein traditionelles Weihnachtsspiel K.s in Neukölln aufgeführt u. gedruckt. Sein lat. Agapetus scholasticus praedo factus et conversus: Comoedia de recta institutione (Straßb. 1562. Köln 1600) spielt im Gegensatz zu anderen Schülerspielen in der ersten nachchristl. Zeit. Der Apostel Johannes bringt den durch Wohlleben u. Mord herabgesunkenen Agapetus zu Reue u. Umkehr. Pecuparunpius, seu potius, paupertas laeta. Drama comicum (o. O. 1574) behandelt die durch die Übersetzung von Waldis popularisierte Aesopische Fabel von dem singenden Schuhmacher, den der Nachbar durch ein großes Geldgeschenk zum Schweigen u. ins Unglück bringt. K. schrieb auch eine Dido. Tragoedia, de fuga et hospitio Aeneae Troiani (Ffm. 1566) u. lat. Gedichte, fertigte zahlreiche Übersetzungen an (u. a. von Schriften Lucians, Prudentius’ u. Melanchthons) u. verfasste religiöse u. juristische Abhandlungen. Besonders erfolgreich war das Fewrzeugk gerichtlicher Ordnung und Hendel [...] durch H.en K., der Rechten Licentiaten (Erfurt 1558), ein tabellarisch angelegtes Lehrbuch des Prozessrechts, das mit leicht veränderten Titeln noch häufig aufgelegt wurde. Weitere Werke: Comoedia latina de sacrificio Abrahae [...]. Wittenb. 1539 (verloren). – In geometriam et sphaeram isagogica introductio [...]. Bln. 1541. – Von geringem herkomen, schentlichem leben, schmelichem ende des Turckischen, schentlichen Abgots Machomets [...]. Bln. 1542 (u. a. Ausg.n). – Concordiae laus [...]. Lübeck 1553. – Sterbens Kunst. Disputatio u. Gesprech, zwischen einem krancken Menschen, u. dem Versucher [...]. Lpz. 1561 u. ö. – Hoffarbe u. Kleidung Christi. Dialogus. Vom Creutz, leiden u. widerwertigkeyt, der rechten, wahren Christen [...]. Durch Herrn H.en K.en Doctor. Ffm. 1564. – Lingua. Ars loquendi et tacendi [...] Ffm. 1566. – Senectutis en-
516 comion [...]. Ffm. 1567 (teilweise Übers. v. Lodovico Ricchieris ›Antiquarum lectionum commentarii‹. Venedig 1516). – De ludo. Repetitio ex fontibus iuris [...]. Erfurt 1574. – Gassenhawer, Reuter u. Bergliedlin [...]. Ffm. 1571. Ausgaben: Wackernagel 4, Nr. 1145–1172, S. 773–787. – Ein seer schön und nützlich Spiel, von der liebl. Geburt unsers Herren Jesu Christi [...]. (Bln. 1541). Hg. Gottlieb Friedländer. Bln. 1862. – Dass.: In: Drei märk. Weihnachtsspiele des 16. Jh. Hg. Johannes Bolte. Bln. 1926, S. 31–80. – Fünff Bücher. Von der [...] wunderbaren Kunst, Bier zu brawen [...]. Erfurt 1575. Internet-Ed.: Staats- und Universitätsbibl. Dresden. – Dass. Erfurt 1614. Nachdr. o. O. 1973. – Historie, van den Oorspronck: Geslacht, Geboorte, Opvoedinge, en Leere des grooten valschen Propheets Mahomets [...]. Amsterd. 1927 (holländ. Übers. der ›Mahometischen Genealogia‹ o. O. 1596). Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 4. Hbg. 1858–66, S. 84–99 (mit Werkverz.). – Jakob Franck: H. K. In: ADB. – Hermann Michel: H. K. Ein Beitrag zur Gesch. des geistigen Lebens in Deutschland um die Mitte des 16. Jh. Bln. 1903. – Christiane Ahrens: H. K. In: NDB. – W. F. Michael: Das dt. Drama der Reformationszeit. Bern u. a. 1984, bes. S. 62–68. – HKJL. Vom Beginn des Buchdrucks bis 1570, bes. S. 1079–1083. – Irmgard Wilhelm-Schaffer: H. K. In: Bautz, Bd. 4 (1992), Sp. 120–122. – Melanchthons Briefwechsel. Bd. 12. Bearb. v. Heinz Scheible. Stgt.-Bad Cannstatt 2005, S. 428 f. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 1022–1027. – Reinhold F. Glei: Didos Hofnarr. Zum Personal v. K.s ›Dido‹-Tragödie. In: Das lat. Drama der Frühen Neuzeit [...]. Hg. ders. u. Robert Seidel. Tüb. 2008, S. 133–154. Wolfgang F. Michael † / Reimund B. Sdzuj
Knauth, Joachim, * 5.1.1931 Halle/Saale. – Dramatiker, Hörspiel- u. Filmautor, Essayist. Der Ingenieursohn studierte 1950/51 Jura, 1951–1955 Germanistik in Leipzig. Anschließend arbeitete er als Dramaturg in Meißen u. Berlin (Deutsches Theater). Seit 1962 lebt K., der 1956–1958 Meisterschüler an der Akademie der Künste der DDR war, als freier Schriftsteller in (Ost-)Berlin. Nach einigen Geschichtskomödien, die wie die »Historien« von Peter Hacks das Thema ›Restauration/Revolution‹ behandeln (u. a.
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Heinrich VIII.. 1955. Der Tambour und sein Herr Knebel, Karl Ludwig von, * 30.11.1744 König. 1957. Badenweiler Abgesang. 1960), ent- Schloss Wallerstein bei Nördlingen, stand 1961 das Lustspiel Die Kampagne – lite- † 23.2.1834 Jena; Grabstätte: ebd., Alter rarhistorisch das bedeutendste Werk des Au- Friedhof. – Lyriker, Übersetzer. tors. K. karikiert am Beispiel der DDRSchuhmode polit. Opportunismus u. ver- Nach einer gründl. humanistischen Schulwendet gekonnt Techniken des epischen bildung begann K. auf Wunsch seines Vaters, Theaters (Wilder/Brecht). In den folgenden eines oettingen-wallersteinschen Kanzlers, Jahren verfasste er weitere Geschichtsdramen 1764 ein Jurastudium in Halle, das er aber (u. a. Aretino. 1973. Die Mainzer Freiheit. 1987), bald aufgab. 1765 trat er ins Regiment des Märchenspiele in der Tradition von Tieck u. Prinzen von Preußen in Potsdam ein. WähJewgeni Schwarz (u. a. Der Prinz von Portugal. rend des achtjährigen Dienstes hatte er in 1972. Bellebelle. 1976) sowie Dramenbearbei- Berlin Umgang mit Nicolai u. Ramler; er tungen – 1964 Die Soldaten (Lenz), 1969 Miles übersetzte Werke röm. Klassiker u. untergloriosus (Plautus), 1975 Lysistrata (Aristopha- nahm auch eigene poetische Versuche, von denen einige im »Göttinger Musenalmanes). Im Zentrum der späten Stücke stehen (eine nach« 1770 gedruckt wurden. 1773 quittierte erneute Parallele zu Hacks) der Kunst- bzw. K. den Dienst u. reiste nach Weimar, um den Genderdiskurs. Das performative Element von ihm verehrten Wieland kennen zu ler(Lied, Pantomime, Maskenspiel) gewinnt da- nen. Die Herzogin Anna Amalia stellte ihn als bei eine dem Dialog gleichberechtigte Funk- Erzieher des Prinzen Konstantin ein. Wähtion. Wie K. schon früh beklagt (Pro domo, aber rend K. vom Dez. 1774 bis 1780 diesen Dienst nicht nur. In: Theater der Zeit 16, 1961, Nr. 5, ausübte, lebte er mit seinem Zögling auch in S. 5 f.), werden seine Stücke trotz innovativer Tiefurt, wo er die ersten Anlagen für den berühmten Park schuf. Aspekte bis heute kaum aufgeführt. Ende 1774 begleitete K. die Prinzen Karl K. erhielt 1990 den Hörspiel-Sonderpreis für Der Nibelungen Not, 1992 den Internatio- August u. Konstantin nach Paris. Während nalen Hörspielpreis »terre-des-hommes« für ihres Aufenthalts in Frankfurt besuchte K. Goethe u. stellte ihn am 12.12.1774 den Gottes Stimme. Weitere Werke: Wer die Wahl hat. Komödie. Prinzen vor, die ihn nach Weimar einluden. Bln./DDR [1958]. – Stücke. Bln./DDR 1973. – Vier K. hat schließlich Goethe dazu bewogen, dem Theatermärchen u. ein Essay. Bln./DDR 1981. – Ich von ihm in Götter, Helden und Wieland vermöchte schreien. Hörsp. In: R 34. Traumreise spotteten Dichter einen freundl. Brief zu (1991), S. 111–132 (Erstsendung: Berliner Rund- schreiben, so dass Goethes Reise nach Weimar funk, 25.1.1990). 1775 nichts mehr im Weg stand. K. war einer Literatur: Jochen Ziller: Zwischenbescheid der ersten engen Freunde Goethes in Weimar, über J. K. In: J. K.: Stücke (1973), S. 281–298. – der »Urfreund«, wie Goethe selbst ihn Christoph Trilse: J. K. In: Lit. der Dt. Demokrat. nannte. Bei der Uraufführung der ProsaRepublik. Hg. Hans Jürgen Geerdts u. a. Bd. 2, Bln./ Iphigenie am 6.4.1779 spielte er den Thoas. – DDR 1979, S. 186–199. – Dieter Kranz: Nachbe1798 heiratete K. die Weimarer Kammersänmerkung. In: J. K.: Vier Theatermärchen, a. a. O., S. 185–190. – Wolf Gerhard Schmidt: Zwischen gerin Luise Rudorff, zog mit ihr nach IlAntimoderne u. Postmoderne. Das dt. Drama u. menau u. 1805 nach Jena, wo er bis zu seinem Theater der Nachkriegszeit im internat. Kontext. Tod blieb. Stgt./Weimar 2009. K.s Gedichte, die er v. a. zum »Tiefurter Wolf Gerhard Schmidt Journal« beisteuerte, begeisterten die Zeitgenossen, z.B. Herder, an dessen »Adrastea« K. mitarbeitete. Vor allem trat er jedoch durch Übersetzungen hervor; seine Übertragung der Elegien des Properz (entstanden 1788–90. Teildr. in: Horen, 1796. Ausg. Lpz. 1798) fand große Anerkennung; in hohem
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Alter übersetzte er noch Alfieris Drama Saul (aufgeführt 1811 in Weimar. Ausg. Ilmenau 1829) u. Die Natur der Dinge des Lukrez (Lpz. 1821). Weitere Werke: Slg. kleiner Gedichte. Lpz. 1815. – Literar. Nachl. u. Briefw. Hg. Karl August Varnhagen v. Ense u. Theodor Mundt. Lpz. 1840. – Briefw. zwischen Goethe u. K. (1774–1832). Hg. Gottschalk Eduard Guhrauer. Lpz. 1851. Literatur: Hellmuth Frhr. v. Maltzahn: K. L. v. K., Goethes Freund. Jena 1929. – Regine Otto: K. L. v. K. Diss. Jena 1968. – Dies.: Briefe des Urfreundes. In: Goethe yearbook 7 (1994), S. 170–176. – Jochen Klauß: Carl L. v. K., Goethes ›Urfreund‹: zum 250. Geburtstag. In: Palmbaum 2 (1994), S. 56–72. – R. Otto: Reichweite u. Grenzen v. Studienausg.n autobiogr. Schr.en u. Briefe am Beispiel K. L. v. K. In: Jochen Golz (Hg.): Ed. v. autobiogr. Schr.en u. Zeugnissen zur Biogr. Tüb. 1995, S. 197–204. – R. Otto u. Christa Rudnik: K. L. v. K. – Goethes ›alter Weimarischer Urfreund‹. Seine Persönlichkeit u. sein literar. Nachl. In: Jochen Golz (Hg.): Das Goethe- u. Schiller-Archiv. Weimar 1996, S. 293–320. – R. Otto: K. L. v. K. In: Goethe-Hdb. Bd. 4/1. Hg. Hans-Dietrich Dahnke u. R. Otto. Stgt./Weimar 1998, S. 613–616. Walter Hettche / Red.
Knef, Hildegard (Frieda Albertine), * 28.12.1925 Ulm, † 1.2.2002 Berlin. – Schauspielerin, Sängerin, Autorin u. Malerin. K., Tochter eines früh verstorbenen Kaufmanns u. Prokuristen, begann nach dem Besuch der Schule eine Ausbildung als Zeichnerin in der Trickfilmabteilung der UFAFilmstudios in Berlin u. erhielt ab 1943 eine Ausbildung zur Schauspielerin. 1946 spielte sie in Wolfgang Staudtes Film Die Mörder sind unter uns mit, der sie auch international bekannt machte. Ab 1963 schrieb K. dt. Texte zu amerikan. Schlagern u. eigene Chansontexte. Oft bemüht frivol, ironisierte K. darin ihr Image als Sünderin – so der Titel eines ihrer Filme (1951). 1968 wurde »the greatest singer in the world without a voice« (Ella Fitzgerald) zur »besten deutschsprachigen Sängerin« gewählt. 1970 löste sie mit dem Roman Der geschenkte Gaul (Wien. Neuausg. Hbg. 2008) über ihr Leben u. Überleben nach dem Zweiten Weltkrieg eine Flut von Schauspielermemoiren aus. Charakteristisch sind ihr
eigenwilliger Stil u. ihre schonungslos offene Selbstdarstellung. Weitere Werke: Ich brauch Tapetenwechsel. Chansons, Lyrik. Wien 1972. – Das Urteil oder Der Gegenmensch. Wien 1975. Hbg. 2008 (R.). – Nichts als Neugier. Interviews zu Fragen der Parapsychologie. Mchn. 1978. – So nicht. Hbg. 1982. Hbg. 2008 (R.). – Romy. Betrachtung eines Lebens. Hbg. 1983. Hbg. 2007. Literatur: Axel Andree (Hg.): H. K. O-Töne: Für mich soll’s rote Rosen regnen. Bln. 1995. – Ders.: Die K. Mchn. 2000. – Roman Kuhn u. Marieke Schroeder (Hg.): H. K. Mehr als eine Frau. Mchn. 2003. – Paul v. Schell: Hilde. Meine Liebeserklärung an H. K. Bln. 2003. – Christian Schröder: H. K. Mir sollten sämtl. Wunder begegnen. Biogr. Mit einem Vorw. v. Roger Willemsen. Bln. 2004. 22005. – Daniela Sannwald, Kristina Jaspers u. Peter Mänz (Hg.): H. K. Eine Künstlerin aus Dtschld. Bln. 2005. – Jürgen Trimborn: H. K. Das Glück kennt nur Minuten. Die Biogr. Mchn. 2005. – Corinna Weidner (Hg.): H. K. Fotografien v. Rico Puhlmann. Bln. 2005. – Brigitte Ebersbach (Hg.): Engel u. Sünderinnen. Idole der 50er Jahre. Maria Callas, H. K., Françoise Sagan u. a. Bln. 2006. – Daniela Sannwald: ›Eine Liebesgesch.‹. Carl Zuckmayer u. H. K. In: Carl Zuckmayer, Alexander Lernet-Holenia: Briefw. u. a. Beiträge zur Zuckmayer-Forsch. Gött. 2006 (Zuckmayer-Jb.; Bd. 8), S. 451–460. – Eberhard Weißbarth: H. K. Zwischen gestern u. heute. Weitra 2008. Klaus-Peter Walter / Red.
Kneip, Jakob, * 24.4.1881 Morshausen/ Hunsrück, † 14.2.1958 NettersheimPesch bei Mechernich/Eifel; Grabstätte: Pesch, Gemeindefriedhof. – Lyriker, Erzähler, Essayist. Der Bauernsohn schrieb sich nach dem Abitur am Koblenzer Kaiserin-Augusta-Gymnasium (1902) im Seminarium Clementinum in Trier ein, um dem Wunsch seiner Eltern u. der Empfehlung des Dorfpfarrers folgend kath. Priester zu werden, ehe er sich in Bonn, London (1902/1903 u. 1906) u. Paris (1904) zunächst dem Studium der Klassischen Philologie u. der Geschichte, später der Germanistik u. der neueren Sprachen widmete, was zum Bruch mit dem Elternhaus führte. In Bonn schloss er sich der von dem Literaturwissenschaftler Oskar Walzel protegierten »Akademischen Vereinigung zur Förderung von Kunst und Litteratur« an, in der er im
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Winter 1903 den Philologiestudenten u. Vorsitzenden der Vereinigung, Wilhelm Vershofen (1878–1960), sowie den Studenten der Zahnmedizin, Josef Winckler (1881–1966), kennen lernte. Gemeinsam mit ihnen gab er den Detlev von Liliencron gewidmeten Gedichtband Wir drei! (Bonn 1904) heraus. 1912 gründeten sie den »Bund der Werkleute auf Haus Nyland«, der sein literarisch-ästhet. Programm einer neuen Sachlichkeit, die sich mit den Problemen der Industrialisierung in Deutschland weniger gegenwartsbezogenennaturalistisch als zukunftsorientiert u. in Anlehnung an Vorbilder wie Walt Whitman u. Richard Dehmel optimistisch auseinandersetzte, v. a. in der Vierteljahreszeitschrift »Quadriga« (1912–14; später »Nyland«, 1918–20) propagierte. K.s darin veröffentlichte Beiträge lassen bereits jene themat. Linien erkennen, die unbeschadet von allen Strömungen des Zeitgeists für sein späteres Werk bestimmend bleiben sollten: der Hunsrück als geografische Heimat, die bäuerl. Herkunft u. die Religiosität kath. Prägung. Der Nyland-Kreis verhalf dem zurückgezogen lebenden K. zu wichtigen Kontakten mit Malern (Franz M. Jansen) u. Schriftstellerkollegen (Gerrit Engelke, Heinrich Lersch). Wie Lersch überhöhte K. den Ersten Weltkrieg, den er als Kriegsfreiwilliger nur wenige Monate, aber ohne Fronteinsatz kennen lernte, in einer mit bibl. Reminiszenzen gesättigten Sprache zum sozialen u. religiösen Gemeinschaftserlebnis, das Volk u. Gott einander näher bringe, verkannte damit nicht nur dessen ökonomische u. techn. Bedingtheit, sondern legte fatalerweise auch jene Spur, die seine Texte nach 1933 anschlussfähig an die völk. Literatur erscheinen ließen. Als K. sich mit Vershofen überwarf, verließ er gemeinsam mit Lersch die Vereinigung. Bis 1929 unterrichtete er an Gymnasien in Limburg (1909), Bad Ems (1910), Wiesbaden (1911), Diez (1912) u. Köln, ehe er nach längerer Krankheit in den Ruhestand versetzt wurde u. den ungeliebten Lehrerberuf gegen den eines freien, wenn auch mäßig erfolgreichen Schriftstellers eintauschte. 1925 regte er die erste rheinische Dichtertagung an; im Folgejahr gründete er zusammen mit Alfons
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Paquet u. anderen den »Bund Rheinischer Dichter«. 1946 wurde K. Präsident des von ihm mitbegründeten »Rheinischen Kulturinstituts« in Koblenz, das den kulturellen Dialog u. Austausch mit den Nachbarländern voranzutreiben sucht. Die Verankerung in Heimat u. Glauben kennzeichnet K.s Epik ebenso wie seine Lyrik. Vertonungen durch Joseph Haas, Paul Hindemith u. Jean Sibelius machen einige seiner Gedichte prominent. Anthologien wie Bekenntnis (Jena 1912) u. Bauernbrot (Lpz. 1934) dokumentieren seine Verbundenheit mit der Landbevölkerung – in der autobiogr. Notiz Spiegelbild im Traum (»Rheinischer Merkur«, 1946) ist von den »Brüdern auf der Scholle« die Rede – u. ihrer Umwelt, die er als »gottdurchwaltet« sieht u. teils hymnisch feiert, teils in einfacher u. bildkräftiger Sprache schildert. Die Kontrastierung von Stadt u. Land, in der sich zgl. die Opposition von Gut u. Böse widerspiegelt, hat dazu geführt, dass K. vielfach als Heimatdichter galt. Die Landschaft zwischen Rhein u. Mosel ist für ihn jedoch nicht nur Erinnerungslandschaft, sondern auch der Ort realistischer Betrachtungsweisen menschlicher, insbes. bäuerl. Existenz. Das erzählerische Werk zentriert sich um die v. a. im ersten Teil autobiogr. grundierte Romantrilogie Porta nigra oder die Berufung des Martin Krimkorn (Lpz. 1932), Feuer vom Himmel (Lpz. 1936) u. Der Apostel (Mchn. 1955), die von der von inneren Kämpfen begleiteten Entwicklung u. dem priesterl. Engagement – auch gegen die Nationalsozialisten – eines Hunsrücker Gastwirtssohns erzählt. Der Priesterroman »unserer Zeit« weist nicht nur die typischen Merkmale einer Heimatliteratur auf, sondern gibt auch Auskunft über das poetische Selbstverständnis K.s, der sich nie als Schriftsteller oder Literat empfand, sondern als Dichter, als ein in Gottes Auftrag wirkender Prophet, Seher, Mahner u. Richter, der in seiner Zeit Zeugnis u. Urteil über seine Zeit ablegt. Als K.s lebendigstes Werk gilt der »fröhliche Roman« Hampit der Jäger (Bln. 1927), der die Abenteuer eines ländl., die Natur liebenden u. gesellschaftl. Normen verachtenden genialischen Menschen schildert u. ein naturmystisch akzentuiertes, rheinisches Ge-
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genstück zu Wincklers Der tolle Bomberg dar- Knigge, Adolph (Friedrich Ludwig), Frhr. stellt. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwarf von, * 16.10.1752 Bredenbeck bei HanK. in den 17 Geschichten des Bandes Das Licht nover, † 6.5.1796 Bremen; Grabstätte: in der Finsternis (Köln 1949) Visionen u. ebd., Dom. – Autor popularphilosophiGleichnisse, u. a. auch Unterredungen Christi scher Schriften, Erzähler, Dramatiker, mit Stalin u. Oswald Spenglers mit Hitler. Vor Übersetzer. allem aus kath. Verantwortung trat er schließlich für eine Versöhnung mit Frank- Nach der für Adlige im 18. Jh. üblichen Erreich ein (An Frankreich. Köln 1922. Die geistige ziehung durch Hofmeister studierte K. 1769–1772 zunächst Jura in Göttingen, ehe er Aufgabe am Rhein. Mainz 1948). 1772 eine Anstellung als Hofjunker u. AsWeitere Werke: Barmherzigkeit. Mönchensessor der Kriegs- u. Domänenkasse in Kassel Gladbach/Bln. 1918 (L.). – Auswahl. MönchenGladbach 1926. – Hunsrückweihnacht. Köln 1934 fand. 1777 wurde er weimarischer Kammer(E.). – Ein dt. Testament. Stimmen der Toten. Köln herr. Seine Tätigkeit für den Illuminatenor1934. – Das Reich Christi. Köln 1935. – Der Dichter, den (1780–1784) u. sein Eintreten für die der im Herzen dt. Volkstums u. im Reiche Christi Verwirklichung der Menschenrechte ließen wurzelt. Amorbach 1935. – Fülle des Lebens. den in unsicheren wirtschaftl. Verhältnissen Verserzählungen u. Gedichte. Lpz. 1935. – Frau lebenden Kleinadligen bei seinen aristokraRegine. Lpz. 1942 (R.). – Botschaft an die Jugend. tischen Gönnern ins Zwielicht geraten, führManifest. Düsseld. 1946. – Ges. Gedichte. Köln ten schließlich zum Verlust des geringen 1953. – Weltentscheidung des Geistes am Rhein. Vermögens u. nötigten K. auch in seinem Köln 1953 (Ess.). – Johanna. Eine Tochter unserer Zeit. Köln 1954 (E.). – Der neue Morgen. Mchn. äußeren Lebensstil zur Anpassung an bür1958. – Gedichte u. E.en. Eine Ausw. Nachw. v. gerl. Lebensformen. Erst wenige Jahre vor seinem Tod erhielt der inzwischen schwerStephan Berning. Trier 1981. Literatur: Heinrich Saedler: J. K. Eine Einf. u. kranke K. 1790 mit der Stelle als OberAusw. Mönchen-Gladbach 1924. – Martin Rocken- hauptmann u. Scholarch von Bremen die bach: J. K. Ein Hinweis. Würzb. 1924. – Paul Staf- Möglichkeit zu einem von äußeren Sorgen fel: Die Verslegenden J. K.s. Ihr religiöser Gehalt u. freien Leben. ihr Verhältnis zur Gattung der Legende. Diss. Bonn Sowohl der ständige Zwang zur Rechtfer1948. – Karl Rauch: Das rhein. Element. J. K. u. tigung gegenüber den Verdächtigungen u. Josef Winckler. In: Dt. Rundschau 82 (1956), Verleumdungen seiner Kritiker wie auch sein S. 643–647. – Joachim Dollwet: Verz. des Nachlasses J. K. Koblenz 1982. – Hajo Knebel: J. K. Glaube an die Realisierbarkeit der in der 1881–1958. Koblenz 1982. – J. Dollwet (Hg.): J. K. Aufklärungsphilosophie aufgehobenen GeAspekte seines Lebens. Eine Ausstellung der Lan- sellschaftsutopie veranlassten K. zum Verfasdesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz in der Ge- sen einiger philosophischer Abhandlungen, meinde Nettersheim. Begleitheft. Koblenz 1984. – die ihn durch Einfachheit des Stils, Prägnanz Wolfgang Delseit: J. K. (1881–1958). In: Bernd der Darstellung u. Logizität der ArgumentaKortländer (Hg.): Lit. von nebenan 1900–1945. 60 tion gleichermaßen als wichtigen WegbereiPortraits v. Autoren aus dem Gebiet des heutigen ter der Aufklärung in Deutschland erscheinen Nordrhein-Westfalen. Bielef. 1995, S. 186–193. – lassen. Spuren von Hobbes’ Philosophie lasGertrude Cepl-Kaufmann: Der Bund rhein. Dichter sen sich in seinen Werken nachweisen. Die 1926–1933. Paderb. u. a. 2003. Bekenntnisse Rousseaus übersetzte er ins Christian Schwarz / Ralf Georg Czapla Deutsche (1786–1790), u. auf der Basis von Rousseaus Contrat social entwickelte er ein Allgemeines Sistem für das Volk zur Grundlage aller Erkenntnisse für Menschen aus allen Nationen, Ständen und Religionen (Nicosia, recte Hanau 1778). Sehr früh hat er auch Elemente der engl. empir. Philosophie des 18. Jh. nach Deutschland vermittelt u. nach dem Vorbild der Moralischen Wochenschriften eine eigene
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Form prakt. Moralphilosophie entwickelt. So schrieb er u. a. Sechs Predigten gegen Despotismus, Dummheit, Aberglauben, Ungerechtigkeit, Untreue und Müßiggang (Ffm. 1783) u. glaubte, durch sie diese Laster zgl. entlarven u. unschädlich machen zu können. Seine in dem Essay Über Schriftsteller und Schriftstellerey (Hann. 1793) dargelegte Überzeugung, ein Schriftsteller sei ein Mann, der »Gutes, Nützliches, Belehrendes, Tröstendes, Aufmunterndes, zur Beförderung der Tugend, Weisheit und Heiterkeit« schreibe, zeigt zgl. den Anspruch u. die Grenze von K.s schriftstellerischer Tätigkeit. So ist der Schriftsteller einerseits Anwalt einer prakt. Philosophie des sozialen Handelns: Das berühmte Buch Über den Umgang mit Menschen (Hann. 1788) – eines der wenigen, die im 18. Jh. aus dem Deutschen in andere Sprachen (Englisch, Niederländisch u. andere) übersetzt worden sind – ist in diesem Sinne prakt. Gesellschaftslehre u. nicht, wie es heute meist verstanden wird, ein Regelwerk über förml. Verhalten. Aber auch die schönliterar. Werke K.s, die Romane u. Theaterstücke, sind in ihrem Kern nichts anderes als um die Demonstrationshandlung erweiterte bzw. aufgeblähte moralisch-polit. Erörterungen. Das zeigen nicht nur die so handlungsarmen, immer wieder in Reflexionen über Politik, Moral u. Aufklärung ausufernden polit. Romane wie Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien (Gött. 1790/91) oder Politisches Glaubensbekenntnis von Joseph Wurmbrand (Hann. 1792), sondern in anderer Form auch scheinbar absichtslose, nur unterhaltende Werke wie Die Reise nach Braunschweig (Hann. 1792) u. Das Zauberschloß oder Geschichte des Grafen Tunger (Hann. 1791). Während sich der Noldmann literarisch an Montesquieus Lettres Persanes orientiert, indem die Kritik einheim. Zustände in ein fremdes Land verlegt wird, ist das literar. Muster für die letztgenannten Werke der empfindsame engl. Roman Richardsons u. Fieldings. Der Noldmann schildert zwar, wie sich im fiktiven Staat Abyssinien die Dinge auf eine Revolution zubewegen, die Revolution selbst aber findet wie in vielen Schriften K.s gar nicht statt: Während nämlich der Negus als Repräsentant der alten Ordnung
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stirbt u. die korrupten Mitglieder der Hofclique ins Ausland fliehen, taucht ein edler Prinz auf, dem es gelingt, durch Integrität u. Autorität den Ausbruch der Anarchie zu verhindern. Das Volk verzichtet auf die Revolution, die absolutistische Regierungsform wird durch die konstitutionelle Monarchie ersetzt. Im Wurmbrand gar formulierte der von seinen Zeitgenossen als »Erzschalk« (Kotzebue) u. gefährl. Jakobiner verrufene K.: »Wir haben in Deutschland keine Revolution weder zu befürchten noch zu wünschen Ursache, wenn nur die verschiedenen Regierungen, statt die Aufklärung zu hindern, mit ihr Hand in Hand fortrücken und die Mittel, Ordnung zu erhalten mit der Stimme des Zeitalters in ein richtiges Verhältnis setzen.« »So lange es eine Chimäre bleibt«, schrieb K. in der Geschichte des armen Herrn von Mildenberg (Hann. 1789), »das goldene Zeitalter, die allgemeine Freiheit und Gleichheit unter den Menschen herbeizuführen«, so lange sei es notwendig, an den gegebenen gesellschaftl. Verhältnissen festzuhalten u. diese nur nach vernünftigen Gesichtspunkten zu organisieren. Deshalb erschienen ihm aufgeklärte Despoten wie Peter der Große, Friedrich II. oder Joseph II. als Garanten dafür, dass »allen gewaltsamen Revolutionen vorgebeugt werden könne« (Wurmbrand). Deshalb aber formulieren die positiven Gestalten K.s auch immer wieder melancholisch Einsichten über den Zustand der Welt u. die Möglichkeit des Menschen, diesen zu verändern, die man nicht als Resignation oder gar Fatalismus missverstehen sollte. »Ich werde täglich inniger überzeugt, dass nur der ein wahrhaft weiser, guter, nützlicher, glücklicher und großer Mann ist, der nicht mehr und nicht weniger thut noch thun will, als was er, nach den Umständen jedesmal thun darf, soll, kann und muß« (Geschichte des Grafen Tunger). Aus dieser pragmat. Lebenshaltung heraus entstanden die späten Romane K.s, die statt des programmat. Gegenentwurfs zur bestehenden Wirklichkeit diese selbst realistisch beschreiben, indem sie die Eitelkeit der Menschen mild-ironisch, humorvoll oder satirisch stilisieren. Es entstand der Roman Die Reise nach Braunschweig, der ein wirkl. Ereignis, die Ballonfahrt Blanchards in Braun-
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schweig im Jahr 1788, zum Anlass nimmt, Knittel, John, eigentl.: Hermann Emanuüber den Zweck dieser »Luft-Spazierfahrt« el, * 24.3.1891 Dharwar/Indien, † 26.4. kritisch nachzudenken u. zgl. die gemütl. 1970 Maienfeld/Kt. Graubünden. – RoBeschränktheit der Menschen zu schildern, manautor. die zu diesem Ereignis nach Braunschweig reisten. Es entstand aber auch die satir. Reise Der Sohn eines Basler Missionars verbrachte nach Fritzlar im Sommer 1794 (o. O. u. J. [1795]), seine früheste Kindheit in Indien. Mit fünf die anhand von Lavaters Reise nach Kopen- Jahren kam er nach Basel, wo er die Volkshagen seine Eitelkeit parodiert u. sich mit der schule, das Gymnasium bzw. eine Handelsschule besuchte, ehe er schließlich eine Willkür seiner Lehre auseinand setzt. kaufmänn. Lehre begann. 1910 folgte er einer Weitere Werke: Der Roman meines Lebens. Geliebten nach England u. brachte sich in Riga 1781 u. ö. – Gesch. Peter Clausens. Riga/Ffm. 1783–85 (Übers.en ins Polnische, Französische, London in verschiedenen Metiers durch (bei Englische u. Niederländische). – Ges. polit. u. pro- Banken, in der Filmindustrie, als Bootsversaische kleinere Schr.en. Ffm. 1784. – Die Verir- leiher), bis er 1922, inzwischen mit der Engrungen des Philosophen, oder Gesch. Ludwigs v. länderin Frances White verheiratet, Teilhaber Seelbergs. Ffm. 1787. – Philo’s endl. Antwort auf eines Theaters wurde. 1919 hatte er in Lonverschiedene Anforderungen u. Fragen, meine don seinen ersten Roman publiziert: The Verbindung mit dem Orden der Illuminaten be- Travels of Aaron West (dt. Basel 1921: Die Reisen treffend. Hann. 1788. – Über den Zustand des gedes Aaron West), die Story vom Aussteiger, der selligen Lebens in den vereinigten Niederlanden. auf einer Südseeinsel auf ein reines, natürl. Hann. 1790. – Erläuterungen über die Rechte des Menschen. Für die Deutschen. Lpz. 1792. – Gesch. Mädchen stößt, das ihm die ganze Zivilisatides Amtsraths Guthmann. Hann. 1794. – Schr.en. on als Weg in die Irre erscheinen lässt. 1924 Hann. 1804–06. Neudr. Nendeln/New York kam der Liebesroman A Traveller in the Night 1974 ff. (bisher nicht vollst.). – A. v. K. / Friedrich (dt. Zürich 1926: Der Weg durch die Nacht) Nicolai. Briefw. 1779–1795. Mit einer Ausw. u. heraus, u. dann folgte, fast immer zuerst auf dem Verz. der Rezensionen K.s in der ›Allgemeinen Englisch, Titel um Titel: leicht lesbare, deutschen Bibliothek‹. Hg. Mechthild Rabe u. Paul spannend geschriebene Romane, die MenRaabe. Gött. 2004. schen in Extremsituationen vorführen u. ein Literatur: Pierre A. Bois: A. Frhr. v. K. Weltbild propagieren, das Abenteuerlichkeit (1752–1790). De la ›nouvelle réligion‹ aux Droits de mit dem Engagement für mehr Gerechtigkeit L’Homme. L’itineraire politique d’un aristocrate alleman franc-maçon à la fin du dix-huitième siècle. verknüpft, ohne die geltenden Hierarchien Wiesb. 1991. – Anke Bethmann u. Gerhard Don- wirklich in Frage zu stellen. Bestsellererfolge gowski: A. Frhr. K. an der Schwelle zur Moderne. ermöglichten K. bald die seiner Romanwelt Ein Beitr. zur polit. Ideengesch. der dt. Spätauf- adäquate internat. Lebensweise. Ständig auf klärung. Hann. 1994. – A. Frhr. K. Hg. Heinz Reisen, hatte er seine regelmäßigen StützLudwig Arnold. Mchn. 1995 (Text + Kritik. H. 130). punkte in London, im ägypt. Aïn Shems, in – Wirkungen u. Wertungen. A. Frhr. K. im Urteil Portugal, am Genfer See u. in Maienfeld, wo der Nachwelt (1796–1994). Eine Dokumenten- er vom Beginn des Zweiten Weltkriegs bis zu sammlung. Hg. Michael Schlott u. Carsten Behle. seinem Tod lebte. Als die GeneralversammGött. 1998. – Zwischen Weltklugheit u. Moral. Der lung 1945 des Schweizerischen SchriftstelAufklärer A. Frhr. K. Hg. Martin Rector. Gött. 1999. – ›... in mein Vaterland zurückgekehrt‹. A. lervereins SSV gewisse Mitglieder auf Antrag Frhr K. in Hannover 1787–1790. Hg. Paul Raabe. von Adolf Saager danach überprüfte, ob sie Gött. 2002. – Ingo Hermann: K. Die Biogr. Bln. sich während der NS-Zeit in einem »gegen 2007. Gerd Müller den Bestand unserer Demokratie gerichteten Sinne« verhalten hätten, geriet auch K. auf die Liste der zu Befragenden. Er beantwortete den Fragebogen persönlich u. durch einen Rechtsanwalt, trat dann aber mit Schreiben vom 17.11.1945, ohne den Entscheid der Generalversammlung abzuwarten, aus dem
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Verein aus, weil er »den Vorgang als einen Amadeus (Bln. 1939) setzt Therese Etienne in Anfall gegen die geistige Freiheit und Würde einer nächsten Generation fort: Amadeus, eines schöpferischen Künstlers« betrachtete. Frucht des sündigen Verhältnisses, ist IngeTatsächlich war K. bis Anfang 1943 Mitgl. des nieur geworden u. verficht K.s Lieblingsidee nazifreundl. Europäischen Schriftsteller-Ver- eines geeinten, aus Afrika u. Europa bestebands ESV gewesen u. hatte sich häufig im henden »Atlantropas«. Dieser Pläne wegen Deutschen Reich aufgehalten. Das ihn in der verzichtet er auf seine geliebte Pauline u. Schweiz diskriminierende Interview mit dem treibt sie so in die Arme des Beamten Elfenau, »Parteigenossen Wilhelm Backhaus« in der einer grotesken Verkörperung helvet. Spie»Karlsbader Tageszeitung« vom 23.5.1944, ßertums. Als sie Amadeus wieder begegnet, wo sich K. als enthusiastischer Hitler-Freund triumphieren zuletzt Idealismus u. selbstlose zu erkennen gibt u. das in der »Schweizer Liebe über Opportunismus u. Konvention. K., der – v. a. auch im angelsächs. Bereich – Illustrierten« vom 13.7.1944 als »Gespräch mit Wilhelm Backhaus, dem Lieblingspia- zu den meistgelesenen Unterhaltungsautonisten des deutschen Reichskanzlers« kol- ren seiner Generation gehörte, war in seinen portiert wurde, scheint allerdings eine Fäl- gut gemachten, oft auch reißerischen Romaschung gewesen zu sein. Auch hatte K. im nen weder gegen den Kitsch gefeit noch jeMai 1943 zusammen mit seiner Tochter Jo- derzeit fähig u. willens, gefährl. zeitbedingte seph Goebbels in dessen Haus am Bogensee in Tendenzen wie das »Vivere pericolosamente« Lanke persönlich aufgesucht, um – vergeblich oder den Blut- u. Bodenkult zu vermeiden. – für Willi Graf, Alexander Schmorell u. Kurt Vor allem in den Büchern mit exotischen Huber, die als Mitglieder der »Weissen Rose« Schauplätzen wird allerdings auch immer hingerichtet werden sollten u. die zum wieder ein gewisses aufklärerisches, auf ToFreundeskreis der Studentin Margarete leranz u. Völkerversöhnung ausgerichtetes Moment bedeutsam. – 1987–1991 gab der Knittel gehörten, um Gnade zu bitten. Die Beschäftigung mit Ägypten u. Nord- Engelhorn Verlag (Stgt.) K.s Werke in 6 Bdn. afrika hat K. am erfolgreichsten umgesetzt in in Einzelausgaben heraus. dem Roman Abd-el-Kader (Bln. 1931), einer Literatur: Elisabeth Knöll: J. K. Diss. Wien u. d. T. Protektorat (Zürich 1935) auch als 1950. – Carl Jakob Burckhardt: Zu J. K.s 70. GeDrama berühmt gewordenen, leidenschaft- burtstag. Zürich 1961. – Reto Carisch: Der Rolich-sentimentalen Auseinandersetzung mit mancier J. K. Diss. Freib./Üechtland 1972. – Notker dem Kolonialismus, sowie in dem Roman El Hammerstein: J. K. u. der Nationalsozialismus. In Hakim (Bln. 1936), der Geschichte eines ägypt. FAZ, 5.8.2006. Charles Linsmayer Arztes, der sein Volk aus jahrhundertelanger Lethargie zu nationalem Selbstbewusstsein Knittel, Knitl, Kaspar, * 6.2.1644 Glatz, aufrütteln will. K. schuf aber auch Werke † 11.12.1702 Telcz/Ungarn. – Jesuit; Prespezifisch schweizerischer Prägung, die aldiger, Mathematiker, Philosoph u. Polylerdings ihrer krit. Beiklänge wegen den histor. Unwillen seiner Landsleute erregten. Im Roman Therese Etienne (Zürich 1927) geht es um K. wurde 16-jährig in den Jesuitenorden die mit Vater- bzw. Gattenmord endende aufgenommen. Nach seinen Studien lehrte er Liebe eines jungen Bergbauern zur wesent- ab 1672 an der Prager Universität v. a. Malich jüngeren zweiten Frau seines Vaters u. thematik u. Philosophie, verfasste Einfühum die Frage nach der Effizienz strafender rungen in die aristotel. Naturphilosophie u. Gerechtigkeit. Auch Via Mala (Bln. 1934. Zu- Dialektik u. machte sich auch als Prediger letzt Stgt. 1985) stellt in aller Drastik u. einen Namen. Nach einer Tätigkeit als HofAusführlichkeit die Geschichte eines Vater- kaplan des kaiserl. Gesandten in Holland u. mords dar. Er bleibt unbestraft, weil der als Prokurator seiner Ordensprovinz am Richter, hin- u. hergerissen zwischen Pflicht Wiener Hof wurde K. zum Rektor des Kollegs u. Liebe, den Mantel des Schweigens über das in Krummau, später der Prager Universität entsetzl. Geschehen breitet. Der Roman berufen.
Knobelsdorff
Bekannt wurde K. durch seine Einführung in die lullistische Kombinatorik, die Via regia ad omnes scientias et artes (Prag 1682 u. ö., zuletzt Augsb. 1774). Darin bemühte er sich um eine Vereinfachung der Methode Athanasius Kirchers u. um ihre brauchbare Anwendung in verschiedenen Wissenschaftsbereichen. Weitere Werke: Cosmographia elementaris [...]. Prag 1673. Nürnb. 21674. – Aristoteles curiosus ac utilis [...]. Prag 1682. – Conciones dominicales academicae [...]. 2 Tle., Prag 1687/88 u. ö. – Conciones academicae in praecipua totius anni festa. Prag 1707 u. ö. Ausgabe: Cosmographia elementaris (Nürnb. 1674). In: Nicolò Galli: Discorso sopra l’inondazione del Tevere nell’alma città di Roma (Rom 1609). Florenz 2004 (CD-ROM). Literatur: Bibliografien: Franz Martin Pelzel: Böhm., mähr. u. schles. Gelehrte u. Schriftsteller aus dem Orden der Jesuiten. Prag 1786, S. 98 f. – Backer/Sommervogel 4, Sp. 1132–1134. – Weitere Titel: Jakob Friedrich Reimmann: Versuch einer Einl. in die historiam literariam. Bd. 3, Halle 1709–13, S. 177 f. – Ramón Cenal: La combinatoria de Sebastian Izquierdo. Madrid 1974, S. 17. – Eberhard Knobloch: K. K. In: NDB. – Cesare Vasoli: Il Gesuita K. K. e la sua ›Via regia‹. In: Nouvelles de la république des lettres, H. 2 (1985), S. 149–165. – Ueberweg, Bd. 4/1 (2001), S. 251–255, Register. Franz Günter Sieveke / Red.
Knobelsdorff, Eustachius (gräzisiert: Eustathius) von, * 1519 Heilsberg/Preußen, † 11.6.1571 Breslau. – Neulateinischer Lyriker. K. gehört zu einem urspr. meißnischen, nachmals in Preußen bedeutenden Adelsgeschlecht. Sein Vater Georg war Bürgermeister der ermländ. Residenzstadt Heilsberg. Seinen durch humanistische Interessen bestimmten Schul- u. Studienweg (1533 Kulm, Sommersemester 1536 Frankfurt/O., dort 1537 Bacc. art., Sommersemester 1538 Wittenberg, Leipzig, Frühjahr 1540 Löwen, Ende 1541 Paris, Frühjahr 1543 Orléans) absolvierte K. mit der Billigung u. dem Geld des Ermländer Bischofs Johannes Dantiscus. 1544 wurde er Sekretär des Domkapitels in Frauenburg u. 1546 Domherr, 1552 Domkustos, im folgenden Jahr Priester u. Generaloffizier u. 1556 Domherr in Breslau, 1559 Kanzler des Bres-
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lauer Kapitels u. 1565 Domdechant, schließlich Generaloffizial. Trotz Sympathien für die Position Melanchthons blieb er, irenisch gesinnt, beim kath. Glauben, beeinflusst v. a. von Dantiscus, der sein gegen Luther gerichtetes Carmen paraeneticum dem Studenten K. (»Alliopagus«) gewidmet hat. Das schmale poetische Œuvre bezeugt K.s Tendenz, mit dem Blick auf die Antike die Glaubenskämpfe seiner Zeit zu relativieren. In seiner De bello turcico elegia (Wittenb. 1539) lässt er den poln. König die europ. Fürsten zur Abwehr der Türkengefahr aufrufen. Christliche u. antik-mytholog. Gestalten erscheinen poetisch dicht kombiniert in K.s einzigem wichtigeren Werk Lutetiae Parisiorum descriptio, elegiaco carmine (Paris 1543). Diese dem Genus des Städtelobs nur z.T. verpflichtete Beschreibung von Paris fand den Beifall des Kardinals Du Bellay. Sie rühmt Paris bes. als Ort der gelehrten Studien; daneben bezieht sie Ereignisse der frz. Geschichte (Jeanne d’Arc) ein. Sebastian Münster benutzte sie für seine Cosmographia. Weitere Werke: Lovanii descriptio, elegiaco carmine. Löwen 1542. – Reverendissimi [...] Joannis Dantisci epicedium. Danzig 1548. – Divi Poloniae regis Sigismundi I. epicaedion. Krakau 1548. – Ecclesia catholica afflicta [...]. Dillingen 1557. Ausgaben: Jeanne d’Arc ou la Vierge de Lorraine: Fragment d’un poème d’Eustathe de K. Prussien. Trad. [...] par l’abbé Valentin Dufour. Orléans 1879. – Lutetiae descriptio. Trad. et prés. par Odette Sauvage. Grenoble 1978. – Carmina latina. Hg. Jerzy Starnawski (= Corpus antiquissimorum poetarum Poloniae latinorum usque ad Joannem Cochanovium, Vol. 8). Krakau 1995. Literatur: Franz Buchholz: Die Lehr- u. Wanderjahre des ermländ. Domkustos E. v. K. In: Ztschr. für die Gesch. u. Altertumskunde Ermlands 22 (1926), S. 61–134, 177–255. – Ders.: E. v. K. als Schüler in Kulm [...]. In: ebd. 23 (1929), S. 804–820. – Ellinger 2, S. 303–306. – Ernst Manfred Wermter: E. v. K., Statthalter v. Ermland 1558–1564 [...]. In: Ztschr. für die Gesch. u. Altertumskunde Ermlands 29 (1956), S. 93–111. – Buchholz: E. v. K. In: Altpr. Biogr. 1. – Premier livre des procurateurs de la nation germanique de l’ancienne Université d’Orléans 1444–1546. Seconde partie: biographies des étudiants. Vol. 2 (1516–1546). Leiden 1980, S. 504. – Hans Reuther: K. In: NDB. – J. Starnawski: E. v. K. (1519–1571). Ein lat. Dichter der Renaissance. In: Daphnis 23
525 (1994), S. 431–449. – Melanchthons Briefw. Bd. 12. Bearb. v. Heinz Scheible. Stgt.-Bad Cannstatt 2005, S. 430 f. Hartmut Kugler / Red.
Knobloch prit fort‹. In: Roland Krebs (Hg.): Recherches nouvelles sur l’Aufklärung. Reims 1987, S. 43–59. Jean Mondot
Knoblauch zu Hatzbach, Karl von, Knobloch, Heinz, * 3.3.1926 Dresden, * 3.11.1756 Dillenburg, † 6.9.1794 Bern- † 24.7.2003 . – Erzähler u. Feuilletonist. burg. – Publizist Trotz Neigung zu Mathematik u. Philosophie studierte K. Jura in Gießen (1775) u. Göttingen (1776–1778). Dann wurde er in Dillenburg Justiz- u. zuletzt auch Bergrat. Zugleich verfasste er eine Vielzahl von selbstständigen Schriften u. Zeitschriftenartikeln, die bisher, z.T. wegen ihrer Anonymität, nicht gebührend gewürdigt worden sind. In Schriften wie Skeptische Abhandlungen über wichtige Gegenstände der menschlichen Erkenntnis (o. O. 1790), Antithaumaturgie oder die Bezweiflung der Wunder (Loretto, recte Bln. 1790), Die Nachtwachen des Einsiedlers zu Athos (Nürnb. 1790), Taschenbuch für Aufklärer und Nicht-Aufklärer auf das Jahr 1791 (Bln. 1790), Politisch-philosophische Gespräche (Bln. 1792) kritisierte K. scharf Religion u. polit. Meinungen seiner Zeit. Seine philosophischen Betrachtungen sind repräsentativ für die dt. Spätaufklärung u. ihre Anlehnung an die frz. Lumières. K. übersetzte auszugsweise Holbachs, Helvétius’ u. Diderots Werke. Sein Weltbild weist schon auf das des Vormärz hin. Nicht zufällig wurden einige seiner Schriften von Edgar Bauer 1846/47 neu herausgegeben. K. schrieb Beiträge für die Zeitschriften Wielands, Lichtenbergs, Johann August Eberhards, Archenholtz’ u. August Hennings’, bes. aber für die des schwäb. Publizisten Wekhrlin; sie waren nicht nur philosophisch-polit., sondern auch dichterischen Inhalts. K., der im Briefwechsel mit dem Freimaurer Jacob Mauvillon stand, war seit seiner Göttinger Zeit selbst Freimaurer u. in den späten 1780er Jahren Mitgl. der Deutschen Union Bahrdts. Weitere Werke: Über Feerey. Bln. 1791. – Briefe: In: Mauvillons Briefw. [...]. Hg. Friedrich Mauvillon. Dtschld. [Braunschw.] 1801, S. 190–230. Literatur: Von Knoblauch zu Hatzbach: K. v. K. auf H. In: ADB. – Jean Mondot: Carl v. K. zu H. ou les audaces religieuses et philosophiques d’un ›es-
K., Sohn eines Reproduktionsfotografen, begann 1942 in Berlin eine Lehre als Verlagskaufmann. 1943 zum Kriegsdienst eingezogen, desertierte er bereits 1944 u. geriet in Gefangenschaft (USA, England). Ab 1948 wieder in Berlin, arbeitete er u. a. als Journalist u. wurde 1953 Redakteur der Ostberliner »Wochenpost«, für deren Feuilleton er bis 1991 regelmäßig schrieb. Ein JournalistikFernstudium in Leipzig schloss K. 1960 als Diplomjournalist ab. In dieser Zeit erschienen auch erste literar. Arbeiten – v. a. Feuilletons. In der Studie Vom Wesen des Feuilletons (Halle 1962) definiert er dieses als Verbindung von literar. Journalismus in der Tradition des Vormärz u. des frz. »poème en prose« u. leitet daraus eine neue Form des krit. Lokalfeuilletons ab, das er in der Nachfolge von Victor Auburtin u. Alfred Polgar als eigenes poetisches Genre handhabt. Das Feuilleton war auch Gegenstand von fachwissenschaftl. Seminaren u. Vorlesungen, die K. in Leipzig hielt. Sein wichtigster Themenkomplex ist Berlin: Die von ihm herausgegebenen Anthologien Allerlei Spielraum (Bln./DDR 1973) u. Der Berliner zweifelt immer (ebd. 1970, Bln. 1981) vereinigen Feuilletons über Berlin von 1848 bis zur Gegenwart. Mit Berliner Fenster (Halle/Lpz. 1981) u. Stadtmitte umsteigen (Bln./ DDR 1982. U. d. T. Angehaltener Bahnhof. Bln. 1984) wird K. in der Nachfolge Franz Hessels zum »Spaziergänger durch Berlin«. In der BR Deutschland wurde K. vor allem durch Herr Moses in Berlin: Auf den Spuren eines Menschenfreundes (Bln./DDR 1979. U.d.T. Herr Moses in Berlin. Ein Menschenfreund in Preußen. Bln. 1982. Neuausg. 2002) bekannt – eine populärwissenschaftl. u. kulturhistor. Darstellung des jüd. Aufklärers u. Philosophen Mendelssohn. K. erhielt u. a. 1965 den Heinrich-HeinePreis, 1986 den Nationalpreis der DDR u. 1995 den Moses Mendelssohn-Preis. 1990 war er vorübergehend Präsident des P.E.N.-
Knodt
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Zentrums der Wende-DDR. Nach der Wie- Knodt, Reinhard, * 13.10.1951 Dinkelsdervereinigung schrieb K. für die Zeitschrift bühl. – Essayist, Erzähler. »Ossietzky«. 1999 erschien seine »autobiographische Trilogie« Mit beiden Augen (Ffm). K. studierte nach einer Musikausbildung Einblicke in K.s Privatleben während der Philosophie, Politik u. Literaturwissenschaft letzten Lebensjahre gibt sein Schriftwechsel in Heidelberg, Erlangen u. Dublin. Nach der mit Rolf Pfeiffer, seinem ehem. Kollegen bei Promotion 1983 lehrte er an verschiedenen dt. u. ausländ. Universitäten, u. a. in Bayder »Wochenpost«. reuth, Erlangen-Nürnberg u. Berlin. Weitere Werke: Pardon für Bütten. Bln./DDR Der literar. Produktion widmet sich K. seit 1965 (E.). – Man sieht sich um u. fragt. Ebd. 1973 einem Stipendienaufenthalt in Irland (R.). – Meine liebste Mathilde. Ebd. 1985. U. d. T. Meine liebe Mathilde. Das unauffällige Leben der (1978–1980). Er schreibt v. a. KurzgeschichMathilde Jacob. Bln. 1986. (R.). – Berliner Grab- ten u. Erzählungen, deren bekannteste Das steine. Bln./DDR 1987, Bln. 1988. – Im Lustgarten. Haus ist (Ffm. 1987). In seiner von der PostHalle/Lpz. 1989. Neuausg. Bln. 2001. – Feuilleton- moderne geprägten Prosa geht K. von realissammlungen: Mir gegenüber (zus. mit Reiner Kun- tischen Alltagsszenarien aus, die häufig iroze). Halle 1960. – Stäubchen aufwirbeln. Halle nisch gebrochen werden. Besonders seine 1974. – Zur Feier des Alltags. Bln./DDR 1986. frühen Erzählungen verbinden über die ihLiteratur: Monika Fehlberg: Zur Theorie des nen zugrunde liegenden lebensphilosophiGenres Feuilleton unter bes. Berücksichtigung der Medienspezifika des Rundfunks. Lpz. 1973. – Mi- schen Fragen literar. u. philosophische Prochael Franz: Plädoyer für ein Genre. [...]. In: WB 22 bleme. Im Nürnberger Raum engagiert K. (1976), S. 83–95. – Ders.: Interview mit H. K. In: sich für die Vermittlung von Literatur u. bilebd., S. 67–82. – Nancy A. Lauckner: H. K.’s Herr dender Kunst. Moses in Berlin. An innovative reclamation of the Seit seiner Promotion mit der Dissertation Jewish component of the GDR cultural heritage. In: Friedrich Nietzsche – Die ewige Wiederkehr des Proceedings of the International Symposium on the Leidens (Bonn 1987), in der K. zu Problemen German Democratic Republic 7 (1981), S. 127–137. der Rationalitätskritik, der Ästhetisierung – Hermann Kähler: Freundin u. Mitarbeiterin. H. der Politik u. der Selbstverwirklichung des K: Meine liebste Mathilde. In: Siegfried Rönisch (Hg.): DDR-Lit. im Gespräch. Bd. 3, Bln 1986, Individuums über das Leiden Stellung beS. 173–178. – Jürgen Borchert: ›Alte Fotografen‹ zieht, steht die philosophische Essayistik im oder Die hohe Schule des Feuilletons. Bemerkun- Mittelpunkt seines Schaffen. Einen themat. gen zu H. K. In: Positionen. Wortmeldungen zur Schwerpunkt bildet dabei das Verhältnis von DDR-Lit. 2 (1986), S. 152–160. – Stephan Heerich: Kunst, Natur u. Technik, mit dem sich auch Durch das Labyrinth abseitiger Genauigkeiten. H. die Aufsätze in Ästhetische Korrespondenzen K.s Feuilletons. Perspektiven der ›Kleinen Form‹ in (Stgt. 1994) zum »Denken im technischen der Lit. der DDR. In: Le texte et l’ideé 5 (1990), Raum« beschäftigen. Ausgehend von einer S. 255–272. – Jürgen Reifarth u. Gunter Reus: ›Mich aber mag das Gesetz recht eigentlich nicht‹. Analyse der ästhetischen Wahrnehmung erPublizistische Opposition gegen den SED-Staat in örtert K. darin die Technisierung der Natur u. den Feuilletons von H. K. In: Publizistik 47 (2002), die Naturalisierung der Technik am Beispiel H. 1, S. 1–20. – Günter Hartung: Streit um ein verschiedener Räume wie etwa Wildparks, Mendelssohn-Buch. In: Ders.: Juden u. dt. Lit. Lpz. Alpendörfern u. Einkaufszentren. 2006, S. 27–59. – Christiane Reichart-Burikukuye: Für seine philosophischen u. literar. Ar›Lauter Ausgrabungen‹. Erinnerung u. Gegen-Er- beiten erhielt K. verschiedene Preise, daruninnerung im archäolog. Schreiben in H. K.s Herr ter den Friedrich-Baur-Preis für Literatur Moses in Berlin. In: Carsten Gansel (Hg.): Ge(2007). dächtnis u. Lit. in den ›geschlossenen Gesellschaften‹ des Real-Sozialismus zwischen 1945 u. 1989. Gött. 2007, S. 187–206. Sabina Becker
Weitere Werke: Die Pilzmaschine. Gesch.n u. Bilder. Nürnb. 1977 (P.). – Gott, Liebe oder die Reinhaltung der Luft. Hersbruck 1983 (P.). – Zwei Sprachen – Zwei Städte. Dichter aus Glasgow u. Nürnberg schreiben = Two tongues – two towns. Hg. zus. mit Jack Withers. Ffm. 1988 (P.). – Aber so
527 kommen Sie doch mit hinunter zum Fluß ... Skizzen einer minimalist. Reise. Mit Fotos v. Jürgen Schabel. Nürnb. 1998 (P.). Friedhelm Sikora / Stephan Ditschke
Knoop, Gerhard Ouckama, auch: Gerhard Ouckama, * 9.6.1861 Bremen, † 7.9.1913 Innsbruck. – Romanschriftsteller.
Knorr
einflusste Zivilisationskritik stellt K. ein vages Ideal archaisch-patriarchal. Landlebens. Weitere Werke: Die erlösende Wahrheit. Mchn. 1899 (R.). – Das Element. Bln. 1901 (R.). – Outsider. Dresden 1901 (N.). – Hermann Osleb. Bln. 1904 (R.). – Nadeshda Bachini. Bln. 1906 (R.). – Der Gelüste Ketten. Bln. 1907 (N.). – Aus den Papieren des Freiherrn v. Skarpl. Bln. 1909 (E., Ess.). – Verfalltag. Bln. 1911 (R.). – Die Hochmögenden. Bln. 1912 (R.). – Unter König Max. Bln. 1913 (R.). – Gedichte. Lpz. 1914. – 5 Märchen. Wien o. J.
Der Spross einer hanseatischen Kaufmannsfamilie studierte Chemie u. arbeitete ab 1885 als Chemiker in einer Kattunfabrik bei MosLiteratur: Ingeborg Repis: G. O. K. Versuch kau. Zurückgezogen lebend u. abhängig von einer Monogr. Diss. Mchn. 1950. – Monika Großreicheren Verwandten – eine in K.s Romanen pietsch u. Fernanda Silva-Brummel: ›Die Dekahäufig wiederkehrende Figurenkonstellation denten‹ (1898) v. G. O. K. In: Dekadenz in Dtschld. –, begann er 1893 zu schreiben. Sein erster Hg. Dieter Kafitz. Ffm. 1987, S. 143–157. Bernadette Ott / Red. Roman Die Karburg. Fremde Erlebnisse, eigene Betrachtungen. Aus einem Tagebuche erschien 1897 in München. Ab 1911 lebte K. als freier Knorr, Josephine Freiherrin von, * 16.4. Schriftsteller in München, nahm an den 1827 Wien, † 31.5.1908 Schloss Stiebar/ Donnerstagstreffen bei Wolfskehl teil u. hatte Niederösterreich. – Verfasserin deutschKontakte u. a. zu Rilke, Thomas Mann u. Ri- u. französischsprachiger Dichtungen. carda Huch. Er blieb jedoch eine Randfigur des gesellschaftlich-literar. Lebens, nicht zu- Die älteste Tochter des Staatsrats Ernst Knorr letzt aufgrund seines menschenscheuen genoss in ihrer Jugend eine für damalige Charakters. K.s jung verstorbener Tochter Zeiten ungewöhnlich gute Erziehung. Nach Wera widmete Rilke als »Grab-Mal« die So- dem frühen Tod ihres Vaters, später auch ihrer Mutter u. ihres Stiefvaters, verfasste K. nette an Orpheus. Realitätsfern u. als Außenseiter – in einer 1847 ihre erste Dichtung Irene, die 1858 »Mischung aus Theaterwelt und Abstrakti- (Wien) als Manuskript veröffentlicht wurde. on«, wie der Erzähler K. über seine Figur Sie rezipierte darin die Erzählungen eines Sebald Soeker vermerkt (Die Grenzen. 2 Bde., ihrer großen dichterischen Vorbilder, Lord Lpz. 1903, 1905) – leben zumeist auch die Byron. Mit ihm beschäftigte sie sich immer Helden u. Heldinnen von K.s Romanen. Ge- wieder, übersetzte 1900 schließlich Manfred sellschaft u. Wirklichkeit werden von ihm als (Halle/Saale) ins Deutsche. K. lebte v. a. in ein ins Groteske u. Irreale übersteigertes Wien u. auf dem Landsitz ihrer Familie, Panoptikum schematisierter Typen u. von Schloss Stiebar in Niederösterreich, der eine ihnen repräsentierter Weltentwürfe gezeich- umfangreiche Bibliothek beherbergte. Zeit net. Vom »Skeptizismus einer die bürgerli- ihres Lebens unternahm sie zahlreiche Reisen chen Grundlagen unterwühlenden Ichkritik« durch Europa; ab 1876 verbrachte sie jedes spricht Richard Schaukal in einer zeitgenöss. Jahr einige Monate in Paris. Religion u. Kritik (u. d. T. Prinz Hamlets Briefe in: Die Ge- Glaube waren von zentraler Bedeutung in K.s genwart, 39. Jg., Bd. 77, Nr. 13, 1910, S. 251). Leben u. Dichtung; seit 1878 war sie EhrenProgrammatisch stehen dafür Titel wie Die stiftsdame des Damenstifts in Brünn. K. beherrschte fließend Französisch, ItaDekadenten. Psychologischer Roman (Mchn. 1898), Prinz Hamlets Briefe (Bln. 1909) oder Das lienisch, Englisch u. Latein. Nach diversen A und das O (Mchn. 1915). Die Ich-Schwäche deutschsprachigen Dichtungen publizierte der Figuren schlägt immer wieder um in sie 1903 die Gedichtsammlung Pensées du soir Allmachtsfantasien; gegen seine romantisch (Paris) in frz. Sprache. Sie erschien erst 1906 gefärbte, von Schopenhauer u. Nietzsche be- als Abendgedanken (Wien) in dt. Übersetzung. Wie wichtig die zweite Heimat Frankreich für K. war, zeigen die Auszeichnungen, die ihr
Knorr-Anders
von Seiten des frz. Staates zuteil wurden: 1894 erhielt sie vom frz. Unterrichtsministerium die Palmes d’Officier de l’Académie, 1902 wurde sie Officier de l’instruction publique. K. war mit einigen bedeutenden Dichtern ihrer Zeit befreundet, so etwa mit Franz Grillparzer, Ferdinand von Saar u. Marie von Ebner-Eschenbach, die ein Vorwort zu K.s Gedichtsammlung Aus späten Tagen (Stgt. 1897) verfasste. Weitere Werke: Die heilige Odilia. Episches Gedicht. Regensb. 1863. – Gedichte. Wien 1872. – Neue Gedichte. Wien 1874. – Sommerblumen u. Herbstblätter. Gedichte. Wien 1885. Literatur: Joseph Kehrein: Biogr.-literar. Lexikon der kath. dt. Dichter, Volks- u. Jugendschriftsteller im 19. Jh. Zürich/Stgt./Würzb. 1868. Bd. 1, S. 200. – Pataky. – Heinz Voss u. Bruno Vogler (Hg.): Literar. Silhouetten. Dt. Dichter u. Denker u. ihre Werke. Lpz. 21907, S. 148 ff. – Wilhelm Kosch: Das kath. Deutschland. Augsburg 1939. Bd. 2, Sp. 2216. – Goedeke Forts. Lea Marquart
Knorr-Anders, Esther, * 9.3.1931 Königsberg/Ostpreußen. – Romanautorin, Journalistin. Nach K.’ Übersiedlung aus der DDR u. ihren Versuchen, sich mit Hilfe verschiedener Tätigkeiten eine Existenz im Westen aufzubauen, entstanden Mitte der 1960er Jahre erste literar. Arbeiten. Existenzielle Fragen ihres jüd. Schicksals markieren dabei einen Schwerpunkt ihres Werks. In dem Roman Kossmann (Regensb. 1967) verfolgt K. den Lebenslauf u. die psych. Disposition der gleichnamigen Hauptfigur, der als jugendl. NS-Täter an der Ermordung zahlreicher Juden beteiligt war. Der detaillierte Blick des Romans für die Banalität des Grauens kennzeichnet K.’ erzählerische Perspektive. Die gesellschaftskrit. Intention zeigt sich auch in ihrer Reportage über zwei Schwestern, die aus der DDR in den Westen übersiedeln. Der Roman Die Packesel (Freib. i. Br. 1969) wendet sich jenen Menschen zu, die im Schatten des Wirtschaftswunders an ihren Zukunftsängsten zerbrechen. Für ihr literar. Schaffen erhielt K. mehrere Auszeichnungen. Weitere Werke: Ausgabe: Die Falle. Frau Models Haus am Wasser. Das Kakteenhaus. Slg. Mchn.
528 1978. – Einzeltitel: Die Falle. Ein Dokumentarber. Regensb. 1966. – Blauer Vogel Bar. Wien/Hbg. 1970 (P.). – Der Gesang der Kinder im Feuerofen. Stierstadt 1972 (P.). – Örtel u. Aderkind. Dortm. 1973 (P.). – Das Kakteenhaus. Psychogramme. Leverkusen 1975. – Frau Models Haus am Wasser. Leverkusen 1976 (N.). – Jakob u. Darja. Leverkusen 1977 (R.). – Die Nebel des Eros. Liebespaare der Kulturgesch. Wiesb. 2003. – Halb zog sie ihn, halb sank er hin. Mythen aus der Kulturgesch. Wiesb. 2004. – Süchtig nach Schönheit. Meine Reisen in die Kulturgesch. Wiesb. 2006. Andrea Stoll / Red.
Knorr von Rosenroth, Christian, auch: Peganius, Rautner. * 15. oder 16.7.1636 Altraudten bei Wohlau/Schlesien, † 4.5. 1689 Gut Großalbersdorf bei Sulzbach/ Oberpfalz; Grabstätte: Gotteskapelle südöstlich von Sulzbach. – Übersetzer, Herausgeber, Dichter, Gelehrter. Der Pfarrerssohn besuchte die Lateinschule in Fraustadt u. verbrachte Studienjahre in Frankfurt/O. (1651), Stettin (1652) u. Leipzig (ab 1655; Magister 1660). Nach vermutl. Aufenthalt in Wittenberg führte ihn eine Bildungsreise von Leipzig nach Frankreich, Holland u. England (1663–1666). Seit 1668 diente er Pfalzgraf Christian August im Herzogtum Pfalz-Sulzbach als Hofrat, spätestens seit 1687 als Kanzleidirektor, u. übte maßgebl. Einfluss darauf aus, dass die kleine Residenzstadt Sulzbach eine Pflegestätte hermetisch-kabbalistischer Traditionen bildete, den Schauplatz einer ungewöhnlich irenischphilosemitischen, tolerant-liberalen Religionspolitik darbot u. sich zu einem bedeutenden Druckort für hebräische Schriften entwickelte. K. wurde 1655 in Zesens »Deutschgesinnte Genossenschaft« aufgenommen u. 1677 in den erbl. Freiherrenstand erhoben. Zu seinen engeren Freunden gehörten Johann Jakob Schütz u. Franciscus Mercurius van Helmont; mit Leibniz wurde er persönlich bekannt. Zu seinen Briefpartnern zählten der Theologe Gottlieb Spitzel u. der Orientalist Christoph Wagenseil, engl. Quäker (George Keith, Benjamin Furley), John Locke, Edward u. Anne Conway u. Angehörige der »Royal Society« (Henry Oldenburg, William Brouncker, Robert Boyle). Der Bekanntschaft mit Meir Stern (Amsterdam) u.
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John Lightfoot (Cambridge) verdankte K. manche Kenntnisse über jüdisch-myst. Literatur; maßgeblich beeinflusste ihn der Cambridger Platoniker Henry More. K. übersetzte die Magia naturalis von Giambattista della Porta (Sulzbach/Nürnb. 1680 u. ö.), die Pseudodoxia epidemica von Thomas Browne (Ffm./Lpz. 1680) u. den paracelsistischen Ortus medicinae von Johannes Baptista van Helmont, dem Vater seines Freundes Franciscus Mercurius van Helmont (Aufgang der Artzney-Kunst. Sulzbach 1683. Nachdr. mit Beitr. v. Walter Pagel, Nachw. u. Werkverz. von Friedhelm Kemp. Mchn. 1971). Zu diesen bedeutenderen Zeugnissen dt. Wissenschaftsprosa des Barock gesellen sich alchem. Werke in Gestalt einer Übersetzung des Enchiridion physicae restitutae von Jean d’Espagnet u. einer Aesch Mezareph-Ausgabe. Hinzu kommt eine Reihe religiös-theolog. Schriften, die eine gemeinsam mit Franciscus Mercurius van Helmont geschaffene Übersetzung der Consolatio philosophiae des Boethius (Christlich-Vernunfft-gemesser Trost und Unterricht. Sulzbach 1667. Lüneb. 1697), eine im Anschluss an die Clavis apocalyptica von Joseph Mede entstandene Erklärung über die Gesichter der Offenbarung S. Johannis (o. O. 1670. Amsterd. 1671) u. eine Harmonia Evangeliorum einbegreift (Ffm. 1672. Halle 1699; mit Vorw. von August Hermann Francke). Geleitet von der Vorstellung, dass »jüdischer und christlicher Glaube in ihrem esoterischen Kern identisch seien« (Ernst Benz), auch beflügelt von iren. Gesinnung u. der Hoffnung auf eine Überwindung der konfessionellen Gegensätze, schuf K. die Kabbala denudata (Bd. 1, Sulzbach 1677. Bd. 2, Ffm. 1684. Nachdr. Hildesh./New York 1974. 1998), ein Kompendium, das Teile des Sohar u. andere Schriften der jüd. Mystik erstmals in lat. Übersetzung bekannt machte. Das naturkundl. u. religiös-theolog. Streben K.s schlug sich auch in Dichtungen nieder. Seine alchem. Neigungen gelangten in einem »chymischen Pracht-Spiel« zum Ausdruck, das anlässlich der dritten Vermählung Kaiser Leopolds I. entstanden ist (Conjugium Phoebi & Palladis. oder Die / durch Phoebi und Palladis Vermählung / erfundene Fortpflantzung des Goldes. Sulzbach 1677). Seine auf protes-
Knorr von Rosenroth
tantischem Boden erwachsene »Erkäntniß der wahren Glückseligkeit« fand Niederschlag in einer Sammlung »geistlicher SittenLieder« (Neuer Helicon mit seinen Neun Musen. Nürnb. 1684. Titelausg.n Nürnb. 1694 u. 1699), dazu auch in einem »geistlichen LustSpiel« (Von der Vermählung Christi mit der Seele. Handschriftlich u. d. T. Almelic und Fadil), mit dem K. darauf zielte, »die menschliche Seele [...] gleichsam singend und spielend auf den Weg ihrer wahren Glückseligkeit zu leiten«. K.s Nachruhm beruht hauptsächlich auf der Kabbala denudata, einem publizistischen Höhepunkt der »christlichen Kabbala«. Sie erlangte im hebräischunkundigen Publikum den Rang eines Standardwerks der jüd. Mystik, auf dem nicht zuletzt Angehörige des hermet. Ordens »Golden Dawn« ihre Ausgaben gründeten (Samuel Liddell MacGregor Mathers: Kabbalah unveiled. London 1887 u. ö. Sapere Aude [William Wynn Westcott]: Aesch Mezareph [London 1714]. London 1894 u. ö.). Zum anderen war einigen vornehmlich in pietistische Gesangbücher gelangten Liedern K.s eine zähe Beharrungskraft beschieden. Insbesondere hielt das vielerorts tradierte u. bis heute im Kirchengesang gebräuchl. Lied Morgen-Andacht (»Morgen-Glantz der Ewigkeit / Licht vom unerschöpften Lichte«) die Erinnerung an den vielseitigen Dichter u. Gelehrten wach. Weitere Werke: De antiquis Romanorum numismatibus consecrationem illustrantibus. Diss. Lpz. 1660. – Praefatio ad lectorem. In: Franciscus Mercurius van Helmont: Alphabeti verè naturalis Hebraici [...] delineatio. Sulzbach 1667. Dt. ebd. 1667. – Observationes in Tractatum Dr. J. Locke de Intellectu. 1680 (handschriftlich). – Historiae Evangelicae initium. o. O. u. J. – Herausgeber: Abraham Benedikt Rautner (d. i. A. B. Knorr v. Rosenroth, der Vater K.s): Anführung zur Teutschen Stats-Kunst. Sulzbach 1672. – Liber Sohar. Ebd. 1684. – Novum [...] Testamentum Syriace. Ebd. 1684. – Schriftlicher Nachlaß und Briefwechsel: HerzogAugust-Bibl. Wolfenbüttel; Staats- u. Stadtbibl. Augsburg; Bodleian Library Oxford. Ausgaben: Schreiben an seine älteste Fräulein Tochter. In: Fortgesetzte Slg. v. Alten u. Neuen Theolog. Sachen auf das Jahr 1738, S. 413–423. – Fischer/Tümpel 5, Nr. 351–565. – Arnold Fuchs (Hg.): Aus dem ›Itinerarium‹ des C. K. v. R. In: Geschichts-Bl. für Stadt u. Land Magdeburg 49/50
Knutzen (1914/15), S. 184–194. – Aureus [...] ramus. Sulzbach 1678. In: Carl Eugen Paulig (s. u.) 1919, S. 210–215 (dt. Glückwunschgedicht auf die Geburt des nachmaligen Kaisers Joseph I.). – A. Fuchs: Aus dem Itinerarium des C. K. v. R. In: Ztschr. des Vereins für Hamburg. Gesch. 24 (1921), S. 87–139. – ›Nachgesetzte Reime‹ zum Tode v. A. H. Buchwälder. Breslau 1685. Hg. Italo Michele Battafarano. In: C. K. v. R. Sulzbach-Rosenberg 1989, S. 120–122. – Conjugium Phoebis & Palladis. Hg. I. M. Battafarano. Bern. 2000. – Proben der geistl. Lieddichtung im ›Helicon‹ bieten zahlreiche Anthologien zur dt. Barocklit. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 2373–2384. – Weitere Titel: Arnold Fuchs: C. K. v. R. In: ZKG 35 (1914), S. 548–583 (mit Werkverz.). – Ders.: Die Quellen zu der geistl. Liederdichtung des C. K. v. R. In: Monatsschr. für Gottesdienst u. kirchl. Kunst 20 (1915), S. 185–190, 228–230. – Carl Eugen Paulig: C. K. v. R. In: Correspondenzblatt des Vereins für Gesch. der evang. Kirche Schlesiens, Bd. 16, H. 1 (1918), S. 100–171. Bd. 16, H. 2 (1919), S. 177–242. Bd. 18, H. 1 (1925), S. 163–172. Bd. 18, H. 2 (1926), S. 334–366. – Gerhard (Gershom) Scholem: Bibliographia Kabbalistica. Lpz. 1927, Nr. 668. – Kurt Salecker: C. K. v. R. Lpz. 1931. – Ernst Benz: Die christl. Kabbala. Zürich 1958, S. 18–25. – Konrad Ameln: C. K. v. R. In: MGG. – Hans Graßl: Aufbruch zur Romantik. Mchn. 1968. – Friedhelm Kemp: Kabbala denudata. In: Kindler. – Horst Meyer: John Locke u. C. K. v. R. In: WBN 2 (1975), S. 123. – Adalbert Elschenbroich: C. K. v. R. In: NDB. – G. Scholem: Alchemie u. Kabbala (1977). In: Ders.: Judaica 4. Ffm. 1984, S. 19–128, bes. S. 79–104. – Manfred Finke: Toleranz u. ›diskrete‹ Frömmigkeit nach 1650. Pfalzgraf Christian August v. Sulzbach u. Ernst v. Hessen-Rheinfels. In: Frömmigkeit in der frühen Neuzeit (Chloe, Bd. 2). Hg. Dieter Breuer. Amsterd. 1984, S. 193–212, bes. S. 206–209. – Bernhard Gajek: ›Morgenglanz der Ewigkeit‹. Über Gotteserfahrung im Zeugnis der Dichtung. In: Träume, Visionen, Offenbarung. Hg. Wolfram Böhme. Karlsr. 1984, S. 60–82. – Ruth FritzeEggimann: ›Morgenglanz der Ewigkeit‹. In: Jb. für Schles. Kirchengesch. N. F. 65 (1986), S. 84–90. – Klaus Jaitner: Der Pfalz-Sulzbacher Hof in der europ. Ideengesch. des 17. Jh. In: Wolfenbütteler Beiträge 8 (1988), S. 273–404. – C. K. v. R. Dichter u. Gelehrter am Sulzbacher Musenhof. Hg. vom Literaturarchiv u. der Stadt Sulzbach-Rosenberg. Sulzbach-Rosenberg 1989 (mit Werkverz.). – Morgen-Glantz. Ztschr. der C. K. v. R.-Gesellsch. 1 (1991) ff. – Karl Dienst: C. K. v. R. In: Bautz. – Volker Wappmann: Durchbruch zur Toleranz. Die
530 Religionspolitik des Pfalzgrafen Christian August v. Sulzbach-Rosenberg. Neustadt/Aisch 1995. – Alchemie. Lexikon einer hermet. Wiss. Hg. Claus Priesner u. Karin Figala. Mchn. 1998, S. 189f. (K. Figala u. C. Priesner). – M. Finke: Sulzbach im 17. Jh. Zur Kulturgesch. einer süddt. Residenz. Regensb. 1998. – Johannes Wallmann: C. K. v. R. In: RGG, 4, Aufl. – Jaumann Hdb. – Dictionary of Gnosis and Western Esotericism. Hg. Wouter J. Hanegraaff. Bd. 2, Leiden 2005, S. 670 f. (A. B. Kilcher). – Volker Wappmann: Vom Monolog zum Dialog. Der Sulzbacher Pietismus u. das Judentum. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Hg. Udo Sträter. Tüb. 2005, S. 287–295. – Rosmarie Zeller: Wiss. u. Chiliasmus [...] bei C. K. v. R. [...]. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tüb. 2006, S. 291–307. Joachim Telle
Knutzen, Matthias, * 1646 Oldenswort, Eiderstedt in Schleswig, Todesjahr und ort unbekannt. – Verfasser religions- u. obrigkeitskritischer Pamphlete. Der Vater K.s war Organist an der St. Pankratius-Kirche in Oldenswort in Schleswig, wo K. die Lateinschule besuchte. Sein Rektor, Zacharias Fabricius, sandte ihn nach dem Tod seiner Eltern nach Königsberg, wo ein älterer Bruder, Johann Knutzen, ein bekannter Organist war. 1664 als »minorennis« (i. e. noch Schüler) an der Universität immatrikuliert, studierte K. einige Jahre Theologie. 1668 wurde er an der Universität Kopenhagen immatrikuliert u. setzte das Studium der Theologie ohne Abschluss fort. In Kopenhagen gab er eine jetzt verschollene erbaul. Schrift (Thränen Christi, mit Thränen in dem Thränental der Welt betrachtet) heraus. Um 1670 kehrte er in seine Heimat zurück, wo er ohne Erfolg um eine Pfarrstelle bemühte, sich dabei fälschlicherweise als »licentiatus theologiae« präsentierend. Nach einer Tätigkeit als Hauslehrer in Kurland begann er ein Wanderleben, das ihn zunächst in einige Städte in Holstein führte. 1673 kam er mittellos zu dem späteren Hofprediger in Kopenhagen, Johannes Lassenius (1636–1692), damals Probst in der Grafschaft Rantzau, dem er mit einem Anagramm huldigte, u. brachte sich den Winter über als Dorfschullehrer durch. Laut einer Aufzeichnung von Lassenius hat K.
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die Gegend verlassen mit den Worten, er hat, lässt sich nicht mit Sicherheit ermitteln. »wolte einen Lärm anrichten, davon die Noch zu seiner Jugend gab es aber in Eiderstedt eine Menge von oppositionellen Geisgantze Welt solte zu sagen wissen«. Anfang Sept. 1674 traf K. in Jena ein, wo er tern, darunter Anhängern des holländ. Täuseine drei, wahrscheinlich nur handschriftl. fers David Joris (1501–1556), die ihn vielPamphlete (einen fingierten Brief in lat. leicht zu einigen seiner späteren Gedanken Sprache, Amicus, Amicis, Amica, u. die beiden hätten anregen können. Dialoge Ein Gespräch zwischen einem LateiniLiteratur: Werner Pfoh: M. K. Ein dt. Atheist u. schen Gastgeber/ und drey ungleichen Religions- revolutionärer Demokrat des 17. Jh. Bln./DDR Gästen, gehalten in Altona nicht weit von Hamburg 1965. – Dieter Lohmeier: M. K. In: BLSHL, Bd. 4, u. Gesprech Zwischen einem Feld-Prediger Nah- S. 128 f. – Winfried Schröder: Ursprünge des mens D. Heinrich Brummer/ und einem Lateini- Atheismus. Stgt.-Bad Canstatt 1998, S. 420 f. – Jens schen Muster-Schreiber) verbreitete u. in denen Glebe-Møller: M. K. – den første sønderjydske atheist. In: Kirkehistoriske Samlinger 2001, er auch von seinen angeblich vielen AnhänS. 119–130. – Ders.: Vi fornægter Gud og foragter gern, »den Gewissenern« (Conscientiarii), øvrigheden. Kopenhagen 2004. Jens Glebe-Møller schrieb. Der Inhalt der drei Pamphlete lässt sich kurz so zusammenfassen, dass die Bibel voll von Widersprüchen u. Lügen sei, dass Kobell, Franz (Xaver Wolfgang) Ritter weder Gott noch der Teufel existiere, dass von, * 19.7.1803 München, † 11.11.1882 man weder kirchl. noch weltl. Obrigkeit München; Grabstätte: ebd., Alter Südlibrauche, u. dass man sich nur auf Wissen u. cher Friedhof. – Lyriker, Dramatiker, ErGewissen (conscientia) verlassen solle. Was zähler; Mineraloge. das Gewissen – »nicht das Gewissen einer Person, sondern der vielen« – fordert, ist: K., der einer alteingesessenen bayerischen »neminem laedere, honeste vivere, et suum Beamtenfamilie entstammte, durchlief eine cuique tribuere«. Wer mit seiner naturgege- steile akadem. Karriere. Nach einjährigem benen Vernunft das eingesehen hat, dem ist Studium der Mineralogie an der Universität weder Gott noch Priester oder Obrigkeit von Landshut wurde er Adjunkt bei der mineraNöten. Oder wie K. die »Religions-Gäste« zu log. Staatssammlung in München, 1825 a. o., dem Gastwirt sagen lässt: »Das ist eine feine 1834 o. Professor. Als Mineraloge machte er Religion, welcher gewiss Arme und Reiche, sich mit Lehrbüchern, Bestimmungstafeln u. Gelehrte und Ungelehrte, Beifall geben der Entdeckung neuer Gesteinsarten einen müssen, und wir auch mit ihnen«. Der Namen; daneben gelangen ihm u. a. Entde»Lärm« in Jena wurde in der Tat groß, u. der ckungen auf dem Feld der Fotografie (unabJenenser Theologieprofessor Johannes Mu- hängig von Daguerre). sæus (1613–1681) gab im folgenden Jahr eine Durch die Freundschaft zum bayerischen Widerlegung von K.s Schriften heraus. In der Königs- u. Herzogshaus, deren Vorlieben für zweiten Auflage seiner Widerlegung (1675) Brauchtumspflege u. Jagdromantik er teilte, wurden auch K.s drei Pamphlete gedruckt. In geriet K. bald in die Rolle des »Hoftirolers«. der Folgezeit schrieb u. a. Pierre Bayle einen In der Selbstdarstellung als volksnaher Jäger Artikel über K. in seiner Dictionnaire; der statt als bürgerl. Intellektueller, der er war, Amicus-Brief wurde ins Französische über- ging auch K.s Wirkung als Dichter auf. Sein setzt. Auch der bekannte Freidenker Johann unkompliziertes u. unterhaltsames Wesen Christian Edelmann (1698–1767) veröffent- machte ihn zum geschätzten Mitgl. in einlichte (1740) nochmals die drei Pamphlete, u. flussreichen Zirkeln der Münchner Oberso lebte der Ruhm des atheistischen Schles- schicht; so gehörte er etwa den berühmten wigers K. weiter bis auf den heutigen Tag, Symposien Max’ II. ebenso an wie den mehr obwohl er selber kurz nach seinem Auftreten an einen »Stammtisch« gemahnenden »Ritin Jena spurlos verschwand. tern« der Tafelrunde um Herzog Max. Woher K., ein Repräsentant der radikalen In zahllosen Gelegenheitsgedichten, zuFrühaufklärung, seine Inspiration gefunden meist mit Illustrationen Poccis in den »Flie-
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genden Blättern« erschienen, verfocht K. die zu den Mitgliedern des Dichterkreises unter bäuerl. Idylle des Alpenlandes, biedermeierl. Max II. Der Kontakt zu Scheffel u. zu DölZufriedenheit u. eine sich naiv gebende, be- linger kam durch ihren Mann August von dingungslose Treue zum Königshaus. Schon Eisenhart (Heirat 1857) zustande; während in Triphylin (Mchn. 1839) signalisierte K.s dessen Tätigkeit als Kabinettssekretär LudVerwendung unterschiedl. Dialekte, dass er wigs II. wohnte die Familie in der Residenz. die Mundart als Kunstform, nicht als bäur. Hier entstand der Plan zu K.s Hauptwerk oder fehlerhafte Sprachverwendung ansah. Unter den ersten vier Königen Bayerns (2 Bde., Altbekannte u. abgegriffene Poesiethemen Mchn. 1894), das v. a. das gesellschaftl. Leben, konnten so in sprachlich verfremdeter Form weniger polit. Ereignisse, gewandt u. mit neu präsentiert werden – hochgeschätzt von anekdot. Charme darstellt – eine immer noch den Zeitgenossen als bodenständige Ausprä- fesselnde u. sehr persönl. Quelle für das Biegung des literar. Realismus. Darüber hinaus dermeier u. die Zeit Ludwigs II. Andere litemachte K. das v. a. durch österr. Dialektdich- rar. Arbeiten K.s, Kulturbilder, Novellen, ter in Mode gekommene »Schnaderhüpferl« biogr. Skizzen, sind dagegen heute weitgeoder »Gstanzl«, eine pointierte Kurzversgat- hend vergessen. tung mit urspr. ex-tempore-Reim, literaturWeitere Werke: Nordseebilder. Norden 1881. – fähig. Spätestens mit der Aufnahme in Heyses Franz v. Kobell. Mchn. 1884. – Ignaz v. Döllinger. Neues Münchner Dichterbuch (1882) wurde K.s Mchn. 1891. – Marie Alphonse. Mchn. 1894 (E.). – Dialektpoesie reif für die Literaturgeschichte. Münchner Porträts. Mchn. 1897. – Farben u. Feste. Volksstücke in oberbayerischer Mundart Mchn. 1900. – Joseph Victor v. Scheffel. Schwetentstanden seit 1847; K.s Singstücke wurden zingen 1901. Literatur: Kurt Wilhelm: L. v. K. u. die Könige (in der Vertonung Ignaz Lachners) am Bayerns. Mchn. 1900. – Käte Lorenzen: L. v. EiMünchner Hoftheater aufgeführt. Mit Wildsenhart. In: NDB. – Ludwig Schrott: Biedermeier in anger (Stgt. 1859), anekdotisch verbrämten München. Mchn. 1963. Hans Pörnbacher Jagderzählungen, gelang ihm die »Bibel der Jäger«. Von seinen kurzen u. kurzweiligen Dialekterzählungen ist nur Die G’schicht von’ Kober, Coberus, Tobias, * 15.5.1570 GörBrandner-Kasper (in: Fliegende Blätter, 1871), litz, † 16.11.1625 Görlitz. – Arzt u. spätdie Erzählung vom bauernschlauen u. erhumanistischer Dramatiker. folgreichen Betrug am »Boanlkramer«, weithin bekannt dank der Theaterbearbeitung Der Sohn eines Arztes nahm Anfang Okt. Kurt Wilhelms. 1588 das Philosophie- u. Medizinstudium in Ausgabe: Ausgew. Werke. Hg. Günter Goepfert. Helmstedt auf, wo er 1590 in die Medizinische Fakultät aufgenommen u. im folgenden Mchn. 1972 (mit Werkverz.). Literatur: Aloys Dreyer: F. v. K. In: Oberbayer. Jahr eingeschrieben wurde. Im Sommer 1593 Archiv 52 (1904), S. 1–132. – Karl Pörnbacher: F. ging K. nach Leipzig (nach einer EinschreiRitter v. K. In: NDB. – Franz Strunz: Ein Gedenk- bung 1590 ohne Eidesleistung). Nach Helmblatt auf F. v. K. In: Lit. in Bayern (2001), Nr. 64, stedt zurückgekehrt, erwarb er am S. 48–57. – Goedeke Forts. Rolf Selbmann / Red. 14.11.1595 mit Theses de paralysi (Praes: Jakob Horst) die medizinische Doktorwürde. Noch als Medizinstudent wurde er (vor dem Kobell, (Franziska Maria) Louise (Karoline) 6.9.1593) zum Dichter gekrönt. K. nahm von, verh. von Eisenhart, * 13.12.1827 dann als Feldarzt in der kaiserl. Armee in München, † 28.12.1901 München; GrabUngarn am »Langen Türkenkrieg« teil. Nach stätte: ebd., Alter Südlicher Friedhof. – dem Frieden von Zsitva-Torok Ende 1606 Erzählerin. ging er als Kreisarzt nach Löwenberg. Als Begünstigt durch ihr Elternhaus, wuchs die paracels. Arzt war K. eng mit Jacob Böhme Tochter Franz von Kobells schon früh in das befreundet (vgl. Böhmes Sendbriefe Nr. gesellschaftl. u. künstlerische Leben Mün- 61–64 an K. in: Böhme: Sämtl. Schriften. Neu chens hinein; so hatte sie enge Verbindungen hg. v. Will-Erich Peuckert. Bd. 9, Stgt. 1956,
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S. 231–248). Kurz nach Böhmes Tod verfasste S. 65, 68 f., 82. – Estermann/Bürger, Tl. 1, S. 718. – K. einen Umständlichen Bericht [...] von der Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 1031–1033. Robert J. Alexander / Reimund B. Sdzuj Kranckheit, Absterben u. Begräbniß des sel. Autoris Theosophi (datiert 21.11.1624. In: Böhme, a. a. O., Bd. 10, Stgt.-Bad Cannstatt 1988, Koberstein, August (Karl), * 10.1.1797 S. 40–49). Rügenwalde/Pommern, † 8.3.1870 KöIn K.s Dichtungen bleibt Rom das große sen/Saale; Grabstätte: Schulpforta, FriedVorbild u. die Quelle der Inspiration. Der hof. – Germanist. Studentenzeit entstammen nlat. Dramen wie die Komödie Hospitia sive, Kakokerdophagos Der Sohn eines Lehrers u. Pfarrers besuchte (Helmst. 1594) u. die Trauerspiele Troja tra- 1809–1811 als Externer das Stolper Cadetgoedia ex libro sec. Aeneidos Virgilianae (Lpz. teninstitut, von 1812 an das Berliner Fried1593), Ludi funebres sive Palinurus (Lpz. 1593) u. rich-Wilhelm-Gymnasium. 1816–1819 hörte Anchises exul tragoedia ex III. libro Aeneidos Vir- K. in Berlin neben Mathematik vornehmlich gilianae (Görlitz 1594). Noch interessanter philolog., archäolog., philosophische u. gesind zwei Türkendramen, die eine bunte schichtl. Vorlesungen bei Friedrich August Mischung dt. Dialekte bieten: Sol Marcus Wolf, August Boeckh, Solger u. Hegel. 1820 Curtius sive philopatris (Lpz. 1595) u. Mars sive trat er in die Königliche Landesschule zu Zedlicus (Liegnitz 1596. Dt. Liegnitz 1607 Pforta ein, der er für 1850 Jahre angehörte. u. d. T. Idea militis vere christiani. Tragoedia [...]. Zunächst noch Adjunkt, avancierte K. zum Wiedergabe bei Scheibelauer). Der patriotisch Professor, 1855 zum Rektoratsverweser. Er gesinnte Dichter bringt aktuelle Themen auf unterrichtete Mathematik u. Geschichte, v. a. die Bühne u. lässt die vorbildl. Hauptperso- aber Französisch u. Deutsch; hier vermochte nen stoisch-christl. Tugenden verkörpern, er allmählich unter dem Rektorat David Ilum die Jugend zur Verteidigung des be- gens eine Aufwertung der dt. Studien gedrohten Abendlands zu ermuntern. genüber den noch alles dominierenden klass. Weitere Werke: Theses de calido innato et Sprachen durchzusetzen. Bekannt geworden ist K. als Germanist. spiritibus. Praes.: Johannes Werner. Helmst. 1590. – Disputatio medica de variolis et morbillis. Praes.: Schon früh mit der entstehenden dt. PhiloJohann Böckel. Helmst. 1591. – Wratislavia sive logie – Karl Lachmann, Jacob u. Wilhelm Budorgis, celebris elysiorum metropolis descripta. Grimm – verbunden, betätigte sich K. als Lpz. 1593. – De lacte et pultibus, quibus infantes forschender Schulmann. K.s germanistisches passim sustentantur tractatus [...]. Görlitz 1593. – Erstlingswerk handelte Ueber die wahrscheinliHistorica descriptio rerum, circa Budam metropochen Alter des Gedichts vom Wartburger Kriege lin regni Ungariae, mense octobri, anno 1598 gestarum [...]. Lpz. 1599. – Observationum castrensi- (Naumburg 1823); weitere Studien im Rahum et ungaricarum decas prima. Austriaca [...] de- men der damals beliebten Schulprogramme cas secunda. Silesiaca. [... decas tertia. Suevica]. folgten: Ueber die Sprache des Oesterreichischen Frankf. 1606 (zus. u. d. T.: Observationum me- Dichters Peter Suchenwirt (Programme Schulpdicarum castrensium hungaricarum decades tres. forta 1828 u. 1852. Naumburg 1829 u. 1852), Helmst. 1685). Ueber die Betonung mehrsilbiger Wörter in SuLiteratur: Bibliografien: VD 16. – VD 17. – Wei- chenwirts Versen (Programm Pforta 1843). Datere Titel: Hermann Palm: Die älteste Probe schles. neben traten Reden auf Hans Sachs, KlopVolksdialekts im Drama. In: Schles. Provinzbl. N. F. stock u. Goethe, Vermischte Aufsätze zur Litera6 (1867), S. 7–13. – Wilhelm Scherer: T. K. In: ADB. turgeschichte und Aesthetik (Lpz. 1858) – in de– Curt Pietsch: T. K.s Leben u. Werke. Ein Beitr. zur nen sich K. als Preußen-Verehrer zu erkennen Gesch. des Späthumanismus in Schlesien. Görlitz gab –, eine erfolgreiche Laut- und Flexionslehre 1934. – Günther Scheibelauer: Das dramat. Werk des T. K. [...]. 2 Bde., Diss. Wien 1970. – Ernst- der mittelhochdeutschen und neuhochdeutschen Heinz Lemper: Jakob Böhme. Leben u. Werk. Bln. Sprache in ihren Grundzügen (Halle 1862), die 1976, bes. S. 86–116. – Ueberweg, Bd. 4/1 (2001), Edition Heinrich von Kleists Briefe an seine Schwester Ulrike (Bln. 1860) sowie die Überarbeitungen des Deutschen Lesebuchs von Nico-
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laus Bach (Lpz. 31849) u. der Entwicklung der deutschen Poesie Johann Wilhelm Loebells (Bd. 3, Braunschw. 1865). Berühmt geworden ist K. durch seinen Grundriß der Geschichte der deutschen Nationalliteratur (Lpz. 1827), der verschiedene Auflagen (51872/73, besorgt von Karl Bartsch) u. damit erhebl. Erweiterungen erlebte, in deren Folge aus dem urspr. für schul. Zwecke gedachten Leitfaden ein oft benutztes germanistisches Handbuch wurde. K. schloss an die literarhistor. (klassifizierende) Tradition an u. versuchte, einen möglichst gedrängten, gleichwohl alles Wichtige berücksichtigenden Überblick zu geben. Dabei stand weniger die Entwicklung eines durchgängigen Sinnzusammenhangs im Vordergrund – wie etwa zur selben Zeit bei Gervinus –, sondern die Präsentation der äußeren Daten. In der zeitgenöss. Diskussion ist K.s Literaturgeschichte daher insbes. von Philologen immer als gelungene Darstellung der »äußeren Geschichte« der dt. Literatur gefeiert worden. Durch seine lange Zeit als mustergültig angesehene Literaturgeschichte hat K. noch auf Generationen von Germanisten u. durch seine Tätigkeit an der Eliteschule zu Pforta auf zahlreiche Schüler – u. a. Nietzsche – Einfluss genommen. Literatur: Erich Schmidt: A. K. In: ADB. – Jürgen Fohrmann: Das Projekt der dt. Literaturgesch. Entstehung u. Scheitern einer nationalen Poesiegeschichtsschreibung zwischen Humanismus u. Dt. Kaiserreich Stgt. 1989. – Gesa Singer: A. K. In: IGL. Jürgen Fohrmann
Koch, Erduin (oder Erdmann) Julius, auch: Johann Agricola, * 13.6.1764 Loburg bei Magdeburg, † 21.12.1834 Kreuzburg/ Oberschlesien. – Literaturhistoriker.
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Amtsentlassung, 1815 zur Einweisung in das Landeskrankenhaus in Kreuzburg. Mit dem Grundriss einer Geschichte der Sprache und Literatur der Deutschen (2 Bde., Bln. 1795–98. Auch u. d. T. – in manchen Ausgaben auch Reihentitel – Compendium der Deutschen Literatur-Geschichte) schloss K. 1798 sein literaturgeschichtlich-bibliografisches Hauptwerk (1. Aufl. von Bd. 1 u. d. T. Compendium [...]. Bln. 1790) ab, das mit seinem gattungsgeschichtl. Überblick bis zum Erscheinen von Goedekes Grundriß ein Standardwerk zur älteren dt. Literatur blieb. In Beiträgen zu seinem Literarischen Magazin für Buchhändler und Schriftsteller (Bln. 1792/93) u. insbes. in der Broschüre Ueber Deutsche Sprache und Literatur (Bln. 1793) konzipierte K. für die von ihm gegründete »Gesellschaft der Deutschen Sprach- und Literatur-Forscher« das Programm einer wissenschaftl. dt. Philologie, das die Germanistik des 19. Jh. methodologisch vorwegnahm. Über Wackenroder, dessen Begeisterung für die Literatur des MA K. geweckt u. den er für die Mitarbeit am Grundriss gewonnen hatte, wirkte er indirekt auf Tieck, ferner auf Brentano u. Arnim ein. Weitere Werke: Über den Köhlerglauben, oder Beweiß, daß D. M. Luthers Glaube der wahre Köhlerglaube sei. Bln. 1789. – Hodegetik für das Univ.-Studium. Bln. 1792. Literatur: Paul Raabe: E. J. K.s Pläne zur Erforschung der dt. Sprache u. Lit. In: Ulrich Fülleborn (Hg.): FS Adolf Beck. Heidelb. 1979, S. 142–157. – Uwe Meves: Zur Rezeption der altdt. Lit. In: Peter Wapnewski (Hg.): MA-Rezeption. Stgt. 1986, S. 473–497. – Franz Heiduk (Hg.): Oberschles. Literatur-Lexikon. Bd. 1, Bln. 1990. – Thomas Bein: Mittelalterl. dt. Lit. in den ersten Literaturgesch.n (E. J. K, 1790, K. Rosenkranz, 1830). Betrachtungen zur Ordnung v. Kultur in Vergangenheit u. Gegenwart. In: Frank Fürbeth (Hg.): Zur Gesch. u. Problematik der Nationalphilologien in Europa. Tüb. 1999, S. 51–66.
Nach der Schulausbildung u. a. bei Christoph Heinrich Müller in Berlin studierte der PreDirk Kemper / Red. digerssohn Theologie u. Klassische Philologie bei Friedrich August Wolf in Halle, kehrte 1786 als Lehrer der antiken Literatur an das Koch, Ernst (Wilhelm August Peter), auch: aufklärerische Pädagogium der Realschule Leonhard Emil Hubert, Eduard Helmer, nach Berlin zurück u. hatte ab 1790 Predi- * 3.6.1808 Singlis/Niederhessen, † 24.11. gerstellen in Stralau u. Berlin inne. Zuneh- 1858 Luxemburg. – Lyriker, Erzähler. mender Alkoholismus führte 1810 zur Der Sohn eines Friedensrichters u. späteren Regierungsrats trat nach Studium (1829 Dr.
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jur. in Marburg) u. Aufgabe der akadem. Laufbahn (1830 während der Berliner polit. Unruhen) in den hess. Staatsdienst ein. Zeugnis von seiner liberalen Gesinnung legten die pseudonym in der Beilage des »Verfassungsfreundes« publizierten Vigilien ab, deren humoristisch vorgetragene Kritik der herrschenden Zustände auf Dingelstedts Kosmopolitischen Nachtwächter (1841) vorauswies. Aus dem Briefwechsel mit der Verlobten ging K.s Hauptwerk hervor, Prinz Rosa-Stramin (pseudonym; Kassel 1834. Neudr. Marburg 1966. Zuletzt Marburg 2008), ein Jean Paul u. der Romantik verpflichtetes Gattungs- u. Stilkonglomerat, natur- u. gefühlsinnig, antiphiliströs u. fragmentarisch-offen. Als Protegé des reaktionären Innenministers in Misskredit geraten, bat K. um Versetzung; die Verlobung ging darüber in die Brüche. Als Zuflucht blieb endlich nur die Fremdenlegion, von deren Drangsal (beschrieben in Aus dem Leben eines bösen Jungen. In: Erzählungen. Kassel 1847) ihn erst 1837 der Typhus befreite. Der Rückkehr in die Heimat folgte 1839 die in den Staatsdienst; seit 1850 lehrte K. Deutsch in Straßburg. Ausgaben: Ges. Schr.en. 2 Bde., Kassel 1873. Literatur: Otto Fuhr: Die Lyrik E. K.s. Diss. Gött. 1924. – Hermann Froeb: E. K.s ›Prinz RosaStramin‹. Marburg 1925. – Leopold Hoffmann: Der letzte Romantiker u. die Härten der Existenz. Leben u. Werke des Dichters E. K. Luxemburg 1959. – Paul Noesen: Ein Dichter-Triptychon. Ebd. 1960. – Ludwig Denecke: ›Das Fähnlein der sieben Aufrechten‹ u. E. K.s ›Prinz Rosa-Stramin‹. In: WW 39 (1989), S. 372–374. Arno Matschiner
Koch, Joseph Anton, * 27.7.1768 Obergiblen/Tirol, † 12.1.1839 Rom; Grabstätte: ebd., katholischer deutscher Friedhof beim Vatikan. – Landschafts- u. Historienmaler, Radierer; Verfasser kunsttheoretischer u. satirischer Schriften. Der als Erfinder der Heroischen Landschaft u. (neben Blake) als bedeutendster Illustrator der Göttlichen Komödie gerühmte K. entstammte einer armen Tiroler Häuslerfamilie u. verdankte seine geistige u. künstlerische Ausbildung der Förderung einflussreicher Persönlichkeiten. Rom wurde zu seiner
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Wahlheimat, wo er im freundschaftl. Verkehr mit den hervorragendsten ultramontanen Künstlern, Dichtern u. Gelehrten die sein Schaffen prägenden Einflüsse aufnahm u. wo er ein ital. Bauernmädchen ehelichte. Folgenreich für seine Kunstauffassung sollte auch sein Umgang mit dem Künstlerkreis um Friedrich Schlegel werden, als er sich 1812–1815 in Wien aufhielt. K.s überragendes urwüchsiges poetisches Talent befähigte ihn, das Prinzip des ut pictura poesis in seinen bildkünstlerischen Werken, seinen großartigen Landschaften mit myth. oder bibl. Staffage umzusetzen. Nach seiner Meinung durfte der literar. Stoff allerdings nur einen Anstoß zur Erkenntnis des Wesentlichen in der Malerei bilden. Die Dichtkunst war für den Illustrator Homers, Aischylos’, Ossians, Shakespeares u. Wielands die Mutter aller Künste; ohne sie »müssen sich die andern zum Naturalismus wenden, oder Künste des Bedürfnisses, das heißt Handwerk werden«. Seine Kunstauffassung, sein Urteil über alte u. neue Kunst u. über die die Kunstpraxis prägenden histor. Verhältnisse formulierte er in seinen Schriften. Am bekanntesten wurde die Moderne Kunstchronik oder die Rumfordische Suppe (Karlsr. 1834), eine scharfe Satire gegen den von Gewinnsucht u. Kunstfeindlichkeit geprägten Zeitgeist. Weitere Werke: Tgb. einer Ferienreise. 1791. Hg. Theodor Musper. In: Jb. Preuß. Kunstslg.en 56/3 (1935), S. 167–193. – Unveröffentl. Manuskripte in Karlsruher Privatbesitz. Literatur: David Friedrich Strauß: J. K.’s Gedanken über ältere u. neuere Malerei. In: Ders.: Kleine Schr.en biogr., literar- u. kunstgeschichtl. Inhalts. Lpz. 1862, S. 303–332. – Otto R. v. Lutterotti: J. A. K. Wien/Mchn. 1985. – K. e Dante. Milano 1988 (Kat.). – Christian v. Holst: J. A. K. 1768–1839. Ansichten der Natur. Stgt. 1989 (Kat.). – Gisela Zimmermann: Die Hochgebirgslandschaft im 18. u. frühen 19. Jh. J. A. K.s Alpenlandschaften u. die Alpen in der zeitgenöss. Dichtung u. Lit. Diss. Gießen 1997. – Barbara Hofmann: J. A. K. Das Tgb. einer Ferienreise an den Bodensee v. 1791. Eine Studie zu Inhalt u. Form des maler. Reiseber.s im ausgehenden 18. Jh. Ffm u. a. 2004. Ingrid Sattel Bernardini / Red.
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Koch, Jurij, * 15.9.1936 Horka bei Kamenz/Oberlausitz. – Erzähler, Dramatiker, Publizist.
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Spielfilmen nach K.s Szenarien (Tanz auf der Kippe. DEFA 1991). Daneben verfasste K. zahlreiche Kinderbücher, namentlich Abenteuer- u. Kriminalerzählungen, ferner Kurzprosa, Hörspiele, Essays u. Reportagen (u. a. Jubel und Schmerz der Mandelkrähe. Bautzen 1992), dazu regelmäßig Stücke mit zeitkritisch-satir. Hintergrund für das Laien- u. Berufstheater (zuletzt Der goldene Finger. Urauff. Bautzen 2006). Nach einer Schreibpause seit Mitte der 1990er Jahre signalisierte die histor. Erzählung Na kóncu dnja (2008. Dt. Am Ende des Tages. Bautzen 2009) einen Neubeginn in der Prosa. K.s Texte wurden in rund zehn Sprachen übersetzt. H. erhielt u. a. 1974 den C´isˇ inski-Preis, 1983 den Carl-Blechen-Preis der Stadt Cottbus u. 1992 den Literaturpreis Umwelt des Landes Nordrhein-Westfalen.
Der Sohn eines sorb. Steinbrucharbeiters besuchte – nach der Grundschule in Crostwitz (kath. Oberlausitz) – Gymnasien in Varnsdorf (Nordböhmen), Bautzen u. Cottbus. Er studierte Journalistik (1956–1960) sowie postgradual Theaterwissenschaft (1961–1966), jeweils in Leipzig. Danach arbeitete er als Rundfunk-, später auch als Fernsehjournalist für verschiedene Anstalten (DDR-Rundfunk, RBB, MDR); daneben erprobte er sich in mehreren literar. Genres. Seit 1976 lebt er als freiberufl. Schriftsteller u. Publizist in Cottbus. K. schreibt u. veröffentlicht in sorb. u. in dt. Sprache. K. bewegt zentral die Bewahrung ethischer Grundwerte innerhalb einer zunehmend Weitere Werke: Zˇidowka Hana [Jüdin Hana]. globalisierten Welt. In seinem ersten Roman, Bautzen 1963 (E.). – Nadrózˇny koncert [Straßender in beiden Arbeitssprachen zgl. erschien konzert]. Bautzen 1965 (L:). – Puc´owanje k ranju (Rosamarja. Dt. Halle/Saale. Sorb. Bautzen [Reportagen]. Bautzen 1969 (Reportagen). – Golo u. 1975), schildert er moralische Konflikte sorb. Logo. Kriminalerzählung für Kinder. Ffm. 1993. – und dt. Bewohner im Lausitzer Braunkoh- Jakub u. das Katzensilber. Bautzen 2001 (Jugendlenrevier. Das Ringen des kleinen sorb. Volks roman). Literatur: Gottfried Fischborn: Die Rettung um nationale Existenz erörterte K. in der Folgezeit im Kontext seines Engagements für des Krosno. In: NDL 32 (1984), H. 2, S. 54–63. – die Erhaltung der natürl. Umwelt. Die Frage Renate Drenkow: ›Sprechen und auf der Stelle verstanden werden!‹ In: WB 33 (1987) H. 11, nach dem Verhältnis von materiellem GeS. 1820–1834. – Claudia Schicker: Das deutschwinn (z.B. durch Kohleförderung oder fossile sprachige Prosaschaffen v. J. K. Diss. Halle-WitEnergieerzeugung) u. geistig-kulturellem tenberg 1987. – Reiner Neubert/Günter Lange: J. K. Verlust stellte er in der späten DDR öffent- In: KJL. – Dietrich Scholze: Die Rezeption sorb. lich, was zu polit. Maßregelung führte (z.B. Romane v. 1945 bis zur Gegenwart: In: Dt. Beiträge nach einem Redebeitrag beim X. Schriftstel- zum 14. Internat. Slavistenkongress. Mchn. 2008. lerkongress 1987 in Berlin-Ost). Literarisch Hajo Steinert / Dietrich Scholze Niederschlag fand diese Wertorientierung in dem Drama Landvermesser (Urauff. Halle Koch, Konrad ! Wimpina, Konrad 1977), dem Erzählungsband Der einsame Nepomuk (Halle/Lpz. 1980) u. der viel beachteten Koch, Roland, * 2.11.1959 Hagen/WestfaLiebesnovelle Der Kirschbaum (ebd. 1984). In len. – Verfasser von Romanen, ErzählunK.s Hauptwerk Landung der Träume (ebd. gen u. Gedichten. 1982), einem umgekehrten Entwicklungsroman, zieht der Ich-Erzähler eine krit. Zwi- K., Sohn eines Exportkaufmanns u. einer schenbilanz des Lebens im Sozialismus, die Fremdsprachenkorrespondentin, studierte den Abschied von sozialen Illusionen ein- Literaturwissenschaften u. Philosophie in schließt. Der Jugendroman Augenoperation Siegen u. Houston/Texas u. promovierte mit (Bln. 1988. U.d.T. Schattenrisse. Stgt. 1990) der Arbeit Die Verbildlichung des Glücks. Unterbehandelt das Thema Wahrheit oder Lüge am suchungen zum Werk Heimito von Doderers (Tüb. Beispiel krimineller Müllentsorgung. Daraus 1989). Seit Ende der achtziger Jahre lebt er als entstand der gelungenste von mehreren freier Autor in Köln. Er war als Gastprofessor
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Weiteres Werk: Herausgeber: Der wilde Osten. am Literaturinstitut in Leipzig (1998/99 u. 2001) u. als Lehrbeauftragter für kreatives Neueste dt. Lit. Ffm. 2002 (Anth.). Literatur: Roman Luckscheiter: R. K. In: KLG. Schreiben an der Universität Hildesheim – Andreas Wirthensohn: R. K. In: LGL. (2004) tätig. Friederike Reents Seit 1989 veröffentlicht K. Kurzgeschichten u. Gedichte in verschiedenen Zeitschriften. Mit Auszügen aus seinem Erstlingsroman Die tägliche Eroberung (Köln 1991), der von einem Koch, Rosalie, * 1.3.1811 Haynau/Schlesien, † 26.8.1880 Jauer. – Jugendschriftsexsüchtigen, scheinbar emotionslosen Ichstellerin u. Erzieherin. Erzähler handelt, konnte er beim IngeborgBachmann-Wettbewerb 1991 in Klagenfurt Als Tochter eines Steuerbeamten erhielt K. weder Jury noch Publikum überzeugen. Die die Erziehung einer »höheren Tochter«. Ab Kritik nahm den Roman gespalten auf; gelobt 1850 stand sie einer Erziehungs- u. Unterwurde ein »nüchterner, fast stoischer Er- richtsanstalt in Jauer vor. Durch die Bezählton« sowie die »kühl inszenierte Kon- kanntschaft mit Agnes Franz wurde K. zu struktion« (Volker Hage), getadelt die buch- ihrer schriftstellerischen Tätigkeit angeregt. K. richtete ihr umfangreiches Schrifttum halterische Gefühlsarmut u. die »in Wortschablonen gestanzte Verständigungstext- (Erzählungen, Märchen, Gedichte, Lieder) an Prosa« (Wolfgang Höbel). Wandlungsfähig die »Kinder« u. an die »Jugend«, v. a. aber zeigte sich K. in seinem Erzählungsband Helle wandte sie sich an Mädchen. Ihre ErzählunNächte (Köln 1995), in dem der Ich-Erzähler gen (einige davon mit Illustrationen von Zwischen- u. Außermenschliches (Magisches) Hosemann) repräsentieren den biedermeierin suggestiven, kafkaesk bemühten Meta- lich-idyll. Typ der zeitgenöss. Mädchenlitemorphosen schildert. Um die Diskrepanz ratur. K. folgte dem überkommenen Rollenzwischen Wunschvorstellung u. Realität geht bild vom lebensklugen, liebevollen, fleißies in dem Roman Das braune Mädchen (Köln gen, frommen u. demütigen Mädchen. Ent1998), bei dem die mignonhafte, verstörte sprechend der von der zeitgenöss. PhilosoTitelheldin, die etwa zehnjährige Giulia, das phie geprägten Vorstellung vom pflanzenLandleben eines jungen Ehepaars durchein- haften Wesen weibl. Seins betitelte sie bes. die anderbringt, um alle drei schließlich in einem für Mädchen bestimmten Sammlungen mit allseits, jedoch allzu glückselig-trivialen Blumennamen. Die von K. geschilderte Welt ist stark von Ende zu vereinen. Von dem Versuch, eine Ehe religiösen Momenten (teils mit pietistischen richtig, also auch dauerhaft glücklich zu leAnklängen) geprägt. Ländliche Zurückgezoben oder daran zu scheitern, erzählt aus der genheit u. das Streben nach den Tugenden Doppelperspektive der Protagonisten der des Gottvertrauens u. Gehorsams, der ZuRoman Paare (Köln 2000). Auch K.s vierter friedenheit, Geduld u. Demut werden den Roman Ins leise Zimmer (Köln 2003) handelt Lastern Hochmut, Dünkel, Stolz u. Leichtvon der so genannten »mid-life-crisis« im sinn, jeweils als Inbegriff eines Verfallenseins Akademikermilieu. Der Protagonist, Dozent an die Welt verstanden, gegenübergestellt. an einem Literaturinstitut, ist nicht nur zerDie Idealisierung von Armut u. die Darstelrissen zwischen Wohn- u. Arbeitsort (Amslung von Reichtum als Belohnung für tuterdam u. Leipzig), sondern auch zwischen gendhaftes Verhalten zeugen vom Festhalten zwei Frauen, der künstlerisch-unangepassten am tradierten Wertesystem (vgl. Dahrendorf). Studentin u. seiner nüchternen u. lebenskluWeitere Werke: Maiblumen. E.en u. N.n für die gen Ehefrau u. Mutter seiner Tochter. weibl. Jugend. Bln. 1849. – Gedenke mein! E.en. u. K. erhielt 1992 das Rolf-Dieter-Brinkmann- N.n für die weibl. Jugend. Bln. 1853. – Weltleben Stipendium der Stadt Köln u. 1995 den Bet- oder die Begüterten – Gottes Haushalter auf Erden. tina-von-Arnim-Preis; 2003 war er »Metro- Breslau 1854. polenschreiber« in Paris u. Stadtschreiber in Literatur: Malte Dahrendorf: R. K. In: LKJL. – Minden. Dagmar Grenz: Mädchenlit. Von den moral.-be-
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lehrenden Schr.en im 18. Jh. bis zur Herausbildung der Backfischlit. im 19. Jh. Stgt. 1981. Susanne Barth
Koch, Werner, * 4.8.1926 Mülheim/Ruhr, † 30.3.1992 Köln. – Erzähler, Romancier, Essayist, Filmautor.
Thema geblieben, dem er sich auch als Anthologist zugewandt hat (Vom Tod. Ein Lesebuch für jedermann. Ffm. 1991). Ist die Erzählung Intensivstation (1983) eine diesseitige Variante des Themas, hat K. in Altes Kloster (E., Ffm. 1990) ein Zwischenreich entworfen, das der Lakonik und dem Absurdismus Becketts verpflichtet ist – die wenigen Bewohner des Klosters belauern sich gegenseitig und machen sich diese Station zur Hölle, aus der sie nach und nach mit ungewissem Ausgang verschwinden.
Nach Abitur, Studium (Geschichte, Germanistik, Philosophie) u. Staatsexamen wandte sich der Pastorensohn dem Journalismus zu. Er begann 1948 als Feuilletonredakteur der »Rheinischen Zeitung«, sammelte als DraWeitere Werke: Sondern erlöse uns v. dem maturg u. Regisseur bei den Bühnen der Übel. Köln/Olten 1955 (R.). – Der Prozeß Jesu. Stadt Köln seit 1954 Erfahrungen u. über- Versuch eines Tatsachenberichts. Köln/Bln. 1966 nahm 1961 die Leitung des ersten dt. Fern- (Ess.). – Kant vor der Kamera. Referenzen u. Pamsehmagazins, »Spektrum«, beim WDR. Seit phlete. Mainz 1980. – Autor u. Publikum. Tgb. ei1965 war er dort Leiter der Programmgruppe ner Lesereise. Mainz 1986. – Dt. Schicksale. Die Gesch. v. Arthuro Kirchheimer, v. Fred Smetacek u. Kultur u. verantwortl. Redakteur für Gev. Rabbi Aharon Shear-Yashuv. Eine Dokumentaschichte/Zeitgeschichte. Im Auftrag des tion. Ffm./Lpz. 1992. – Lawrence v. Arabien. Leben Fernsehens produzierte er etwa 80 Kultur- u. u. Werk. Ffm./Lpz. 1995. – Herausgeber: Zum ProDokumentarfilme, darunter viele über den zeß Jesu. Versuch histor. Konstruktion. Weiden Nahen Osten. 1967 (Ess.). – Selbstanzeige. Gespräche mit Mit seinen unprätentiösen, sprachlich ex- Schriftstellern. Ffm. 1971. – Übersetzer: Robert akten Werken hielt K. sich von modischen Payne: Der große Charlie. Eine Biogr. des Clowns Tendenzen in der Literatur fern. Seine Vor- (zus. mit Jakob Moneta). Mit einem Nachw. v. W. K. liebe für religionsgeschichtl. Stoffe schlägt Ffm. 1979. Literatur: Günther Neske (Hg.): Gedanken zu sich in Werken wie Pilatus. Erinnerungen (Düsseld. 1959), Der Prozeß der Jeanne d’Arc ›See-Leben I‹ v. Eduard Stäuble, W. K. u. Heinrich (Ffm. 1963) oder Diesseits von Golgatha (Ffm. Böll. Pfullingen 1972. – Hartmut Griesmayr: ›SeeLeben I‹. In: Das Fernsehspiel im ZDF, H. 8 (1975), 1986) nieder. Schon im vielfach übersetzten, S. 25–28. – Fred Silbermann: W. K.: ›Diesseits v. 1964 in Frankreich als bester ausländ. Roman Golgatha‹. In: NDH 33 (1986), S. 380 f. – Heinrich preisgekrönten Pilatus tritt die histor. Di- Vormweg: Schreiben ist Notwehr [Nachruf]. In: SZ, mension gegenüber der quälenden Innen- 2.4.1992. – Lutz Hagestedt: W. K. In: KLG. – Petra schau eines einsam verlöschenden Lebens in Ernst: W. K. In: LGL. den Hintergrund. In K.s erfolgreichstem RoFriedhelm Sikora / Sven Hanuschek man, der See-Leben-Trilogie (See-Leben I. Pfullingen 1971. Wechseljahre oder See-Leben II. Koch-Grünberg, Theodor, eigentl.: T. Ffm. 1975. Jenseits des Sees. Ffm. 1979), wird Koch, * 9.4.1872 Grünberg, † 8.10.1924 anhand einer Fabel, die Alltägliches mit Vista Alegre/Brasilien. – Ethnologe. Fantastischem mischt, die Frage nach dem »richtigen« Leben aufgeworfen, in dem Ethik Der Sohn eines evang. Pfarrers war nach dem u. Hedonismus ihren gleichberechtigten Studium der Klassischen Philologie (1896) Platz haben. Erst nachdem der Held im See zunächst als Gymnasiallehrer tätig. 1899/ ertrunken ist, lernt er, dass die Bilanz immer 1900 nahm er an einer Forschungsreise nach negativ u. die Frage nach ihr immer uner- Zentralbrasilien teil, deren Ergebnisse er heblich ist – eine Erfahrung, die die Lebenden 1900 noch als Theodor Koch der Fachwelt verändern könnte. vorlegte. In späteren Veröffentlichungen Der imaginäre Zwischenraum von Leben fügte er seinem Familiennamen die Bezeichund Tod, das Montaigne’sche Leben als Ster- nung seines oberhess. Heimatorts hinzu. K. ben lernen, ist nach Jenseits des Sees K.s großes studierte daraufhin an der Universität
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Würzburg, wo er 1902 in Ethnologie promovierte. 1903–1905 u. 1911–1913 führte er weitere Forschungsreisen in Nordwestbrasilien durch, deren ethnologisch, linguistisch u. geografisch bedeutsame Erkenntnisse er in zahlreichen Werken veröffentlichte. 1913 zum a. o. Prof. an der Universität Freiburg i. Br. ernannt (Habilitation 1909), übernahm er 1915 die Leitung des Stuttgarter LindenMuseums. Während seiner vierten Brasilienreise erlag er 1924 einer schweren Malaria. K. schrieb, um Vorurteile zu beseitigen u. Verständnis für fremde Kulturen zu wecken. Davon zeugen u. a. populäre Ausgaben seiner Hauptwerke in Form spannender Reiseschilderungen (Zwei Jahre bei den Indianern. Bln. 1916–28. Graz 21967. Vom Roroima zum Orinoco. Bln. 1916–28), die von ihm herausgegebene Sammlung indigener Erzählungen Indianermärchen aus Südamerika (Jena 1920) u. das umfangreiche Tagebuch seiner ersten Brasilienreise Die Xingu-Expedition (1898–1900). Ein Forschungstagebuch (Hg. Michael Kraus. Köln u. a. 2004). Literatur: Michael Kraus: ›... und wann ich endlich weiterkomme, das wissen die Götter ...‹ – T. K.-G. u. die Erforschung des oberen Rio Negro. In: Amazonas-Indianer. LebensRäume. LebensRituale. LebensRechte. Hg. Doris Kurella u. Dietmar Neitzke. Bln. 2002, S. 113–128. – Ders.: Von der Theorie zum Indianer. Forschungserfahrungen bei T. K.-G. In: Deutsche am Amazonas: Forscher oder Abenteurer? Expeditionen in Brasilien 1800–1914. Begleitbuch zur Ausstellung im Ethnolog. Museum, Berlin-Dahlem. Hg. Staatl. Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz. Bln. u. a. 2002, S. 86–105. – Cristina Alberts-Franco: K.-G. u. sein Meisterwerk ›Vom Roiroima zum Orinoco‹. In: Martius-Staden-Jb. 54 (2007), S. 241–253. Iris Gareis
Kochen, Albrecht Heinrich Matthias, * 25.3.1776 Kiel, † 21.6.1847 Flensburg. – Erbauungsschriftsteller. Nach seiner Gymnasialzeit in Schulpforta (1792–1796) studierte K. zunächst Jura, dann Theologie an den Universitäten Kiel, Leipzig u. Jena (1797–1800). 1801 zum Doktor der Philosophie promoviert u. 1802 im selben Fach habilitiert, zog K. Anstellungen als Diakon (Glückstadt 1802–1806) u. Haupt-
pastor (Wilster/Holstein 1806–1816) einer Universitätslaufbahn vor. 1816 wechselte er als Hauptpastor an die dt. Petrikirche in Kopenhagen; dort erwarb er die Doktorwürde der Theologie (1820). Schließlich avancierte K. zum lübeckischen Konsistorialrat, oldenburgischen Hofprediger u. Superintendenten von Eutin (1824). Auf eigene Bitte 1839 pensioniert, lebte K. bis zu seinem Tod bei seinem Schwiegersohn Christian August Valentiner in Flensburg. K. entfaltete eine umfangreiche Tätigkeit als Erbauungsschriftsteller, Pastoraltheologe u. Religionsphilosoph. Seine Predigtsammlungen (z.B. Festpredigten, Casual- und kleine Amtsreden. Kopenhagen 1817) u. patriarchal. Paränesen (z.B. Archiv für die moralische und religiöse Bildung des weiblichen Geschlechts. Jena 1800) atmen ebenso den Geist rationalistischer Theologie wie seine Abhandlungen zu Fragen des kirchl. Lebens (z.B. Ueber das Beichtgeld. In: Löffler’s Magazin 5, 2, 1811). Als aufgeklärter Rationalist äußerte sich K. ferner zu aktuellen Themen der Religionsphilosophie (Versuch zu einer neuen Theorie der Religionsphilosophie [...]. Germanien, recte Lpz. 1797). Diese Einstellung verhalf ihm auch zur Publikation einiger Gedichte in Schillers »Musenalmanach für das Jahr 1799«. Literatur: Carsten Erich Carstens: A. H. M. K. In: ADB. Gerda Riedl
Köberle, (Johann) Georg, auch: Georg Isigat, * 21.3.1819 Nonnenhorn/Bodensee, † 7.6.1898 Dresden. – Dramatiker u. Verfasser von theaterkrit u. antiklerikalen Schriften. Der Sohn eines Landwirts wuchs in einem kath. geprägten Umfeld auf u. sollte nach dem Willen des Vaters dessen Berufsweg einschlagen. Doch nach dem Besuch des Gymnasiums St. Stephan in Augsburg ging K. 1838 durch die Vermittlung eines Bekannten an das von den Jesuiten geleitete Collegium Germanicum in Rom, das er aber schon nach drei Monaten vor seinem endgültigen Eintritt in den Orden verließ. Angewidert von der jesuitischen Ordenspolitik u. den Strukturen der röm.-kath. Kirche insgesamt, begab er sich zum Studium der Geschichte u. Ju-
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risprudenz nach München u. Leipzig (1839–1845), wo er sich zunächst als Verfasser mehrerer Dramen hervortat (Der letzte Agilofinge. Trauerspiel in 5 Aufzügen. 1842. Die Prätendenten. Trauerspiel in 5 Aufzügen. 1843. Beide ungedr.). Seine in den »Grenzboten« (1845) vorabgedruckten, breit rezipierten Aufzeichnungen eines Jesuitenzöglings im deutschen Colleg zu Rom (Lpz. 1846) wurden in zahlreiche europ. Sprachen übersetzt u. erschienen noch im selben Jahr mit einem Anhang u. in erweiterter Fassung unter dem Titel Beleuchtung der Quelle aller ultramontanen Umtriebe und ihrer drohenden Eingriffe in die Wohlfahrt und Rechte des deutschen Volkes. Ein offener Zuruf an das biedre, erwachende Vaterland (Lpz. 1846). K.s Erinnerungen an die Zeit in Rom sind Teil eines breiten anti-röm. Schrifttums v. a. der 1840er Jahre. Die gerade auch von liberalen Autoren in zahlreichen Publikationen begrüßte Reformpolitik der ersten Regierungsjahre Papst Pius’ IX. (seit 1846) fand in K.s folgenden Schriften nur geringe Würdigung. In seiner Darstellung Warum reformirt Papst Pius IX.? und Wie weit kann, wie weit wird er gehen? Eine reguläre Beleuchtung der europäischen Staatenpolitik mit vorzüglicher Berücksichtigung der deutschen Zustände (Lpz. 1847) attestiert er dem Papst zwar eine positive Rolle bei der Reform der innerkirchl. Verwaltung, doch sieht er in ihm letztlich wie in Leo XII. einen »Hauptagenten der europäischen Reaction« (Rom unter den letzten drei Päpsten und die zweite Reformation in Deutschland. 2 Bde., Lpz. 1846). In der Revolution von 1848 stand K. auf der Seite der Radikalen u. ging v. a. mit den Ereignissen in Berlin u. Friedrich Wilhelm IV. scharf ins Gericht (Der Volkstribun. Kritische Beleuchtung der Umwälzung und Neugestaltung Europa’s. Mit vorzüglicher Bezugnahme auf Deutschland. Lpz. 1848). Danach trat er aber kaum noch als polit. Schriftsteller in Erscheinung, sondern widmete sich seiner Leidenschaft für das Theater. Er leitete u. a. das Theater in Heidelberg (1853–1856) u. war danach – allerdings immer nur für kurze Zeit – an den Häusern in Frankfurt, München u. Stuttgart tätig. Daneben schrieb er weiterhin wohlwollend aufgenommene Dramen (Die Medicäer. Drama in 5 Acten. Mannh. 1849. Max Emanuels Brautfahrt. Schauspiel in 5 Aufzügen.
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Ms. 1870. Gedr. in Dramatische Werke. Bd. 1, Stgt. 1873), deren »trockene Emphase« u. belehrender Charakter aber auch vielfach kritisiert wurden. Nach der Verkündigung des Unfehlbarkeitsdogmas durch Papst Pius IX. (1870) griff K. noch einmal seine in den Aufzeichnungen eines Jesuitenzöglings vorgebrachten Kritikpunkte am Jesuitenorden auf u. machte dessen wachsenden Einfluss seit seiner Wiederzulassung durch Pius VII. (1814) für die Entscheidungen Roms verantwortlich (Deutsche Antwort auf wälsche Projekte. Ein nach authentischen Quellen entworfenes Promemoria über das germanische Problem und über das, was noch zu thun erübrigt. Stgt. 1870. 3., vervollst. u. komm. Aufl. ebd. 1870. Letztere auch u. d. T. Enthüllungen über die Palastrevolution im Vatikan und den Feldzugsplan der Jesuiten gegen Deutschlands Neugestaltung). Zwei Jahre später löste K. eine langjährige publizistische Auseinandersetzung mit seiner zentralen Schrift für eine radikale Reform des Theaters aus (Die Theaterkrisis im neuen deutschen Reich. Stgt. 1872), in der er nicht nur die Unfähigkeit vieler – namentlich genannter – Intendanten, das Repertoire u. die Ensembles der dt. Bühnen scharf kritisierte, sondern auch die ästhetischen Vor- u. Fehlurteile der Theaterkritiker monierte u. Vorschläge für eine Verbesserung der Zustände vorbrachte. Vom badischen Großherzog wurde K. unmittelbar nach der Publikation im Okt. 1872 an die Spitze des Hoftheaters in Karlsruhe berufen, wo er sich aber vermutlich aufgrund der vielen Feinde, die er sich gemacht hatte, nicht durchsetzen konnte u. schon im April 1873 die Stelle aufgab (Meine Erlebnisse als Hoftheater-Director. Lpz. 1874). K.s Bemühungen, an anderen Bühnen (seit 1879 Wien, seit 1897 Dresden) seine Reformvorstellungen umzusetzen, scheiterten. Ebenso erfuhren seine Publikationen dieser Zeit (Der Verfall der deutschen Schaubühne und die Bewältigung der TheaterCalamität. Dramaturgische Gänge. Lpz. 1880. Das Drangsal der deutschen Schaubühne. Dresden/Lpz. 1890) von der Kritik (u. a. durch den wirkmächtigen Paul Lindau) vernichtende Besprechungen. Deren nachhaltige Wirkung ist kaum zu überschätzen; sie überdeckte bisher einen unverstellten Blick auf K.s – bei
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aller Polemik in seinen Schriften – kontinuierl. Bemühungen um das Theater im Nachmärz u. in der Gründerzeit. Weitere Werke: Der neue Thurm zu Babel oder Ahasver u. seine Gesellen. 2 Bde., Lpz. 1847. – Alles um ein Nichts. 3 Bde., Lpz. 1871 (R.). – Dramat. Werke. 2 Bde., Stgt. 1873. – Brennende Theaterfragen. Eine Denkschr. für alle kunstfreundl. Patrioten. Wien 1887. Literatur: Hermann Arthur Lier: J. G. K. In: ADB – Goedeke Forts. Bernhard Walcher
Köchlin, Michael, latinisiert: M. Coccinius, * 1478 Tübingen, † nach 1512 (Modena?). – Humanist u. Historiker.
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dienenden Reichsgeschichtsschreibung. Gedruckt wurde nach K.s Rückkehr nur das vierte Buch über den Venetianerkrieg Maximilians I. (Straßb. 1512). Das Gesamtwerk wurde erst im 19. Jh. in der Österreichischen Nationalbibliothek wiederentdeckt. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: Albert Krieger: Über die Bedeutung des 4. Buches v. Coccinius’ Schr. ›De bellis Italicis‹ für die Gesch. Kaiser Maximilians des I. [...]. Karlsr. 1886. – Paul Joachimsen: Geschichtsauffassung u. Geschichtsschreibung in Dtschld. unter dem Einfluß des Humanismus. Tl. 1, Lpz./Bln. 1910. Nachdr. Aalen 1968. – Heinrich Grimm: M. K. In: NDB (Lit.). – Hermann Wiesflecker: Kaiser Maximilian I. [...]. 5 Bde., Mchn. 1971–86, Bd. 5 (Register). – Hans Rupprich: Die dt. Lit. vom späten MA bis zum Barock. Neubearb. v. Hedwig Heger. Tl. 1, Mchn. 2 1994 (Register). – Dieter Mertens: M. K. In: VL Dt. Hum. (Lit.). Heinz Wittenbrink / Red.
K. nahm am 12.3.1490 das Studium in Tübingen auf, wo er am 4.10.1491 die Bakkalaru. am 6.8.1494 die Magisterprüfung ablegte. Zu seinen Lehrern zählte Johannes Nauclerus. Seine Universitätsausbildung verlief in Köhler, Barbara, * 11.4.1959 Burgstädt. – traditionellen Bahnen, bis er sich als Schüler, Lyrikerin, Künstlerin (Textinstallatiospäter als Freund Heinrich Bebel anschloss. nen), Übersetzerin. Bereits mit 16 Jahren wird K. als Lehrer an der Tübinger Knabenschule genannt. Im Som- Aufgewachsen im sächs. Penig, arbeitete K. mersemester 1500 setzte er sein Studium in nach dem Abitur mit Berufsausbildung Wien fort u. kehrte gegen Ende 1502 nach (Facharbeiterin für textile FlächenherstelTübingen zurück, wo er als Magister regens lung) als Altenpflegerin u. als Beleuchteam Kontubernium u. 1505 als Dekan der Ar- rin am Schauspielhaus Karl-Marx-Stadt. tistenfakultät tätig war. 1985–1988 studierte sie am Literaturinstitut Drei in einem Band erschienene, Reuchlin »Johannes R. Becher« in Leipzig u. war u. anderen Humanisten gewidmete Schriften 1988–1990 als wissenschaftl. Mitarbeiterin (Opusculum [...]. De imperij a Graecis ad Germanos am Bezirksliteraturzentrum Karl-Marx-Stadt translatione [...]. Apologiae duae eiusdem Coccinii. tätig. Seit dem Jahr 1991, in dem ihr erster Straßb. 1506. Mikrofiche-Ausg. Mchn 1990 Gedichtband Deutsches Roulette (Ffm.) er[Bibliotheca Palatina E 412–413]) zeigen K. schien, ist K. freischaffend. als patriotischen Historiker in der Nachfolge Deutsches Roulette versammelt in fünf AbWimpfelings u. zgl. als humanistischen Pu- teilungen Gedichte u. kurze Prosatexte aus blizisten, der, wenn auch sehr vorsichtig, den Jahren 1984–1989. Beherrschend ist eine bereits einzelne satir. Mittel der späteren Metaphorik der Grenze, die sowohl räumlich Dunkelmänner-Kontroverse benutzt. (Elb – Alb) als auch zeitlich fixiert wird (News). K. wurde dann, weiterhin von Bebel ge- Grenzüberschreitungen sind in Annäherung fördert, Kanzler des kaiserl. Statthalters Veit an das eigene Ich von zerstörerischer Kraft von Fürst in Modena. In Italien entstanden (Elektra. Spiegelungen. III), können aber auch vier Bücher De rebus gestis in Italia. Das rasch Glück suggerieren, etwa wenn ein »himmel geschriebene u. von K. Bebel zur Überarbei- ist und der soll reichen für zwei – « (Verkomtung empfohlene Werk über die zeitgenöss. menes Liebesgedicht). Abgesehen von wenigen Auseinandersetzungen in Norditalien trug traditionellen Formen (Sonett, Rondel), doihm bei Freunden den Titel eines Livius minieren in den häufig interpunktionsarmen Germaniens ein. Er gilt als bemerkenswert u. in Kleinschreibung gehaltenen Gedichten unabhängig von der dem Lob Maximilians freie Verse. Dieses Stilprinzip verfestigt sich
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im zweiten Gedichtband Blue Box (Ffm. 1995). Schrift aneignen kann (Stimmen / ZwischenDer assoziationsreiche Titel (von Ludwig raum). K. erhielt für ihre künstlerische Tätigkeit, Wittgensteins The Blue Book, als Motto zitiert, bis zur Black Box) wird im programmat. Ge- die Übersetzungen ebenso (Gertrude Stein: dicht wiederaufgenommen, in dem das Ich zeit zum essen. Basel u. a. 2001; Tender buttons / eingedenk des »Trauerrands der Liebe« sei- Zarte knöpft. Ffm. 2004; Samuel Beckett: Trönen »ZwischenRaum« behauptet: »laß mich tentöne. Mirlitonnades. Ffm. 2005) wie die ›Bebleiben: es« (Blue Box). Sowohl mit technizis- schreibung‹ einer Fensterscheibe im Düsseltischem Vokabular (Interface) als auch unter dorfer Landtag u. die Herausgabe einer AnRückgriff auf literar. Zitate (Die Reise / Syn- thologie anlässlich der Gartenschau ›EUROchronisation B) werden die (grammat.) Kate- GA 2002plus‹ (Rosa Immergruen. Ein Florilegigorien ›Ich‹, ›Du‹ und ›Wir‹ umspielt: Die um. Zus. mit Barbara Bongartz u. Suse durch zahlreiche Enjambements verstärkte Wiegand) einschließt, 1999 den LiteraturMehrdeutigkeit der Semantik ist nur dann preis Ruhrgebiet, 2003 den Samuel-Bogumilfixierbar, wenn die sprachl. Möglichkeiten Linde-Preis u. 2007 den Spycher: Literaturpreis Leuk. Im selben Jahr erschien – nach gegeben sind (Selbander). Nachdem K. mit den Förderpreisen etwa mehr als zehnjähriger Entstehungszeit u. eider Jürgen-Ponto-Stiftung (1990) u. des ner Teilveröffentlichung im Jahr 2000 (in: to Leonce-und-Lena-Preises (1991) ausgezeich- change the subject) – der Gedichtband Nienet worden war, wurde sie 1995, inzwischen mands Frau (Ffm. 2007, mit CD/DVD, Luzern 2007). In 24 blockgesetzten ›Gesängen‹ in in Duisburg wohnhaft, Stadtschreiberin in nichtproportionaler Schrift werden zentrale Rheinsberg. Der schmale Band In Front der See Figuren u. Ereignisse der Odyssee hinter(Bln. o. J.), Resultat dieser Tätigkeit, versamfragt: »Sage mir muse wer Es ist was Er wer melt den Gedichtzyklus Rheinsberger Tristien, Homer & warum ist Es wichtig« (01 Muse : die Rede Schwere Sprache (die vom Thema Polytroph). ›Deutsche Befindlichkeit‹ ausgeht) sowie drei Weiteres Werk: À la recherche de la révolution weitere Gedichte. Fünf ›Portugiesische Brieperdu. In: Ypsilon H. 10 (1991), S. 5 f. fe‹ erschienen 1998 in dem Künstlerbuch cor Literatur: Anthonya Visser: Gespräch mit B. K. responde (Bln./Düsseld.), das K. gemeinsam In: Dt. Bücher 22 (1992), S. 81–95. – Birgit Dahlke: mit Ueli Michel (Fotos) verantwortet; ein Papierboot. Autorinnen aus der DDR – inoffiziell Vortext verknüpft die Stadt- u. Landimpres- publiziert. Würzb. 1997 (mit Interview). – Georgisionen K.s (mit Übersetzungen ins Portugie- na Paul u. Helmut Schmitz (Hg.): Entgegenkomsische von Maria Teresa Dias Furtado) zeit- men. Dialouges with B. K. Amsterd./Atlanta 2000 geschichtlich u. literarisch-mythologisch. (mit Interview). – Helmut Schmitz: B. K. In: KLG. – Eine Sammlung ihrer Kooperationen mit B. Dahlke: B. K. In: Ursula Heukenkamp u. Peter anderen Künstlern veröffentlichte K. 1999 Geist (Hg.): Deutschsprachige Lyriker des 20. Jh. Bln. 2007, S. 704–710. – Mirjam Bitter: sprache unter dem Titel Wittgensteins Nichte. Die macht geschlecht. Zu Lyrik u. Essayistik v. B. K. »Vermischten Schriften. Mixed Media« bie- Bln. 2007 (mit Interview). Lars Korten ten insbes. Textinstallationen sowie Katalogu. Redebeiträge zu Kunstausstellungen. Wiederum sprachkritisch wird der Zusam- Köhler, Erich, * 28.12.1928 Karlovy Vary ˇ menhang ontischer u. grammatikal. Bestim- (Karlsbad, CSR), † 16.7.2003 Alt-Zauche/ Spreewald; Grabstätte: ebd. – Erzähler, mungen vor Augen geführt: »›Sie‹ als freies Essayist, Dramatiker. Morphem ist ein polymorphes, eine Vielgestalt: sie, die eine; sie, die anderen; Sie, die/ K., Sohn eines Porzellanschleifers u. einer der andere, die anderen.« (Stimmen / Anti- Buntdruckerin, wuchs im Egerland auf, ging chambre) Eine Möglichkeit zur Überwindung nach Abbruch mehrerer Lehren 1946 in die derartiger Festlegungen wird in Odysseus’ SBZ u. war in verschiedenen landwirtschaftNamenlosigkeit gesehen (Die dritte Person), die lichen u. Industriebetrieben tätig. 1949/50 sich ›Niemands Frau‹ als »Untote« in der hielt er sich in der Bundesrepublik u. den
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Niederlanden auf. 1950 in die DDR zurück- über sie an, z.B. im Zusammenhang mit der gekehrt, arbeitete er 1950–1954 unter Tage von Ulrich Plenzdorf u. anderen geplanten im Uranerzbergbau der Wismut AG in Mari- Anthologie Berliner Geschichten. Nach dem enberg u. Oberschlema, studierte 1954/55 an Bekanntwerden dieser Verwicklungen wurde der Arbeiter-und-Bauern-Fakultät in Leipzig K. 2002 gegen seinen Protest aus dem dt. u. war anschließend in Marnitz/Mecklenburg P.E.N. ausgeschlossen; Grundlage des Bewieder in der Landwirtschaft tätig. schlusses bildete Martin Weskotts Bericht 1958–1961 studierte er am Literaturinstitut Hinter den Aktenbergen. Schriftsteller und Staatsin Leipzig. Von 1963 bis zu seinem Tod lebte sicherheit am Beispiel Erich Köhler (Catlenburg K. meist als freier Schriftsteller im branden- 2002). Bis zu seinem Tod bemühte sich K. burgischen Alt-Zauche, arbeitete in den spä- vergebens um Rehabilitierung. ten 1960er u. in den 1980er Jahren jedoch Weitere Werke: Die Teufelsmühle. Bln./DDR zwischenzeitlich als angestellter Autor in 1958. 21959 (E.). – Nils Harland. Rostock 1968. Betrieben. Bis zur Wende setzte er sich für die 51987 (E.en). – Die Lampe. Urauff. 1970 (D.). – Der 6 generelle Abschaffung des freien Schriftstel- Schlangenkönig. Bln./DDR 1975. 1986 (Kinderbuch). – Hinter den Bergen. Rostock 1976. 41985. lers u. die vertragl. Bindung von DDR-Autoren an DDR-Betriebe ein (Nichts gegen Homer. Ffm. 1978 (R.). – Das kleine Gespenst. Urauff. 1977 (Kinderdrama). – Blasmagorien. Bln. 1996 (KurzRostock 1986). gesch.n). Konrad Franke / Red. K. begann mit konventionell erzählten Geschichten, die vom Zweiten Weltkrieg, von Tierliebe, von der »sozialistischen UmgestalKöhler, Ludwig, * 6.3.1819 Meiningen, tung« der Landwirtschaft der DDR berichten † 4.8.1862 Hildburghausen. – Lyriker, 2 (Das Pferd und sein Herr. Bln./DDR 1956. 1958. Verfasser von Romanen u. BurschenSchatzsucher. Rostock 1964). Dann wandte er schafter. sich dem fantastisch-moralischen, dabei zuweilen satir. Erzählen in gleichnishaften Während des Studiums der schönen WissenFormen zu. Seine märchenhaft-realen Helden schaften in Leipzig u. Jena (ab 1840) veröfwerden von einem bewusstseinsfördernden fentlichte K. kleine literar. Arbeiten u. BeiGebilde befallen (Der Krott oder Das Ding un- träge in verschiedenen Zeitschriften, war beterm Hut. Rostock 1976. 21980. Bln./West geisterter Burschenschafter u. zusammen mit 1976), sie reisen um die Welt (Reise um die Erde Wilhelm Wolfsohn u. Max Müller auch Mitgl. in acht Tagen. Bln./DDR 1979. 31985. Bln./ des von Fontane als »Herwegh-Club« beWest 1979), sie sehen sich auf eine Glücksin- zeichneten Leipziger Dichtervereins. In seisel verschlagen (Kiplag-Geschichten. Bln./DDR nem ersten Band Gedichte (Meiningen 1840) 1980. 31988) oder bauen für Kinder einen finden sich noch weitgehend spätromant. Berg (Hartmut und Joana oder Geschenk für Kin- Themen u. Motive. Von polit. Freiheitspathos geprägt ist indessen K.s allegor. Gedicht Der der. Rostock 1980. 21982. Ffm. 1981). K. verstand sich als proletarisch-revolutio- Neue Ahasver (Jena 1841), in dem die myth. nären Schriftsteller neuer Art u. wollte nach Figur des ewigen Juden in der Welt umherirrt eigener Aussage schreibend helfen, die Praxis u. wegen eines von Christus ausgesprochenen des Umgangs mit eth. Problemen zu verbes- Fluchs nicht sterben kann, bis die Freiheit auf sern. Als literar. Vorbilder nannte er Poe, Erden verwirklicht ist. Aus polit. Gründen Fallada, Marchwitza, Goethe u. Babel. K. er- musste K. 1843 Leipzig verlassen; er ging zur hielt u. a. 1977 den Heinrich-Mann-Preis u. Fortsetzung seiner Studien zunächst nach 1991 die Ehrengabe der Deutschen Schiller- München u. kehrte im folgenden Jahr als Redakteur des von Ludwig Storch herausgestiftung Weimar. K., seit 1959 Mitgl. der SED, arbeitete seit gebenen »Thüringer Boten« (ab 1844 »Deutden 1970er Jahren als IM für die Staatssi- scher Volksbote«) nach Meiningen zurück. cherheit der DDR (Deckname »Heinrich«). In Seine Erfahrungen als Burschenschafter verdieser Rolle beobachtete er systemkrit. arbeitete K. in dem Roman Akademische Welt. Schriftstellerkollegen u. fertigte Gutachten Roman aus dem deutschen Burschenleben (Lpz.
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1843), mit dem er gleichzeitig aus der In- Frühling zum Herbst. Lpz. 1856. – Gesch.n aus nenperspektive seiner Jenaer Verbindung aller Welt. Lpz. 1858. Literatur: Franz Brümmer: Dt. Dichterlexikon. heraus die histor. Wegmarken der Geschichte der Burschenschaften rekapituliert. In dieser Bd. 1. – Georg Heer: Gesch. der dt. Burschenschaft. Zeit beschäftigte er sich auch mit der Ge- Bd. 2: Die Demagogenzeit. Von den Karlsbader schichte der Reformation u. ihren promi- Beschlüssen bis zum Frankfurter Wachensturm (1820–1833). Heidelb. 1927. – Werner Wunderlich: nenten Protagonisten. Wie viele seiner ZeitDie Spur des Bundschuhs. Der dt. Bauernkrieg in genossen betonte K. die Ähnlichkeiten der der Lit. 1476–1976. Stgt. 1978. – Elisabeth Heinreligiösen u. auch polit. Umbruchszeit des 16. ritz: Volksschriftsteller L. K. (1819–1862). In: Jh. mit seinem eigenen Jahrhundert. Vor Südthüringer Forsch.en 16 (1981), S. 7–42 (Lit.). – diesem Horizont sind auch die histor. Ro- Hans-Joachim Kertscher: Das Bild Thomas Müntmane Thomas Münzer und seine Zeitgenossen (2 zers in den Müntzer-Romanen v. Theodor Mundt Bde., Lpz. 1845) u. Jürgen Wullenweber. Histo- u. L. K. In: Wiss. Ztschr. der Martin-Luther-Univ. rischer Roman in sieben Büchern (3 Bde., Lpz. Halle-Wittenberg. Sprachwiss. Reihe 39 (1990), H. 1856) zu verstehen. In seinem Müntzer-Ro- 2, S. 17–25. Bernhard Walcher man hält sich K. zwar in Anlehnung an Wilhelm Zimmermanns monumentale DarstelKöhlmeier, Michael (Johannes Maria), lung Allgemeine Geschichte des großen Bauern- auch: Moritz Bosch, * 15.10.1949 Hard/ krieges (1841–43) weitgehend an die histor. Vorarlberg. – Romancier, Theater-, HörAbläufe, weist aber auch immer wieder ex- spiel- u. Drehbuchautor. kursartig auf die Nähe von Müntzers Lehren zur zeitgenöss. kommunistisch-sozialist. K. studierte 1970–1976 Germanistik u. PoliPhilosophie hin. Aufgrund radikaler Artikel tikwissenschaft in Marburg, 1977–1980 Mafür den »Deutschen Volksboten« wurde die- thematik u. Philosophie in Gießen u. war ser verboten u. K. selbst zu einer vierwöchi- dann für den ORF tätig. Seit 1981 ist er mit gen Gefängnisstrafe verurteilt. Seine neue der Schriftstellerin Monika Helfer verheiraStelle als Mitarbeiter für Meyers Konversati- tet; seit 1985 lebt er als freier Schriftsteller in onslexikon in Hildburghausen trat K. wohl Hohenems u. Wien. K., der in den 1970er Jahren durch zahl1845 an, blieb aber seiner radikalen Gesinreiche Hörspielproduktionen bekannt wurde, nung treu, was zahlreiche Gedichte seiner 1846 erschienen Sammlung polit. Lyrik (Freie schildert in seinem ersten Roman Der Peverl Lieder. Jena 1846. 2., verb. Aufl. ebd. 1849) Toni und seine abenteuerliche Reise durch meinen belegen; sie bedienen sich hauptsächlich ei- Kopf (Hbg. 1982) eine grotesk-surreale Bilner sakralen Sprache u. Rhetorik u. schöpfen derwelt in der Tradition der fantastischen ihr Bildrepertoire aus der polit. Um- bzw. Literatur. Im Roman Moderne Zeiten (Mchn./ Neudeutung christl. Geschichte u. Schlüssel- Zürich 1984) bildet die Landschaft zwischen Bodensee u. Arlberg – insbes. K.s Wohnort begriffe. Bis zu seinem frühen Tod publizierte K. Hohenems – die Kulisse für assoziativ vernur noch wenig. Die in dieser Zeit entstan- knüpfte Szenenfolgen. Realen Begebenheiten denen Dramen (König Mammon. 1860. Un- wendet er sich zu mit den Romanen Die Figur. gedr. Bühnenmanuskr. Die Dithmarsen. Histo- Die Geschichte von Gaetano Bresci, Königsmörder risches Volksdrama in 5 Aufzügen. Hildburg- (Mchn./Zürich 1986) u. dem erfolgreichen hausen 1862) fanden ebenso wie seine übri- Spielplatz der Helden (Mchn./Zürich 1988), der gen Werke in der Literaturwissenschaft bis- Geschichte der Grönlanddurchquerung dreier Südtiroler. Wie in Spielplatz der Helden wird her kaum Beachtung. die erzählte Geschichte im umfangreichen Weitere Werke: Norwegen 1814. Historischromant. Gemälde. Lpz. 1843. – Fürstenschloß u. Roman Die Musterschüler (Mchn./Zürich 1989), Bauernhütte. Novelle aus dem Thüringer Walde. der von einem Fall kollektiver Selbstjustiz in Bln. 1844. – Johann Huß u. seine Zeit. Historisch- einem kath. Internat berichtet, durch das romant. Zeitgemälde. 3 Bde., Lpz. 1846. – Der Gegeneinander verschiedener Sichtweisen Prinz aus dem Morgenlande. Bln. 1848. – Vom fragwürdig. Dominant wird die Reflexion des
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Erzählens in der Erzählung Sunrise (Innsbr. 1994), wo dessen Funktionen an der Schnittstelle von Leben u. Tod verortet werden. Von der Kraft des (mündl.) Erzählens zeugt auch K.s umfassende Auseinandersetzung mit antiken Stoffen. Dazu gehören sowohl seine Teile der Odyssee neu erzählenden Romane Telemach (Mchn./Zürich 1995) u. Kalypso (Mchn./Zürich 1997) als auch seine zunächst als frei gesprochene Nacherzählungen im Rundfunk ausgestrahlten u. dann in Buchform in bisher vier Bänden publizierten Sammlungen von Sagen des klass. Altertums (1996–1999). Eine ähnl. Entstehungsgeschichte mit dem Medienwechsel von der Rundfunksendung zum Text u. ähnl. Verfahren mit dem Stoff weisen K.s Nach- bzw. Neuerzählungen Die Nibelungen neu erzählt (Mchn./Zürich 1999) u. seine »Geschichten von der Bibel« (bisher 3 Bde., 2000–2003) auf. Eine weitere Gruppe innerhalb von K.s umfangreichem Prosawerk bilden autobiogr. geprägte Texte. Der Roman Bleib über Nacht (Mchn./Zürich 1993) erzählt eine von Krieg, Konventionen u. Kommunikationsschwächen durchsetzte Liebesgeschichte, der Roman Geh mit mir (Mchn./Zürich 2000) beschäftigt sich mit Familie u. Kindheit des Erzählers u. der aus vielen Erzählungen montierte Roman von Montag bis Freitag (Wien/ Ffm. 2004) spannt einen Bogen von Kindheitserzählungen zum aktuellen persönl. Umfeld des Erzählenden. Nach mehreren kurzen u. thematisch vielfältigen Erzählformen (Calling. Wien/Mchn. 1998. Der Tag, an dem Emilio Zanetti berühmt war. Wien/Ffm. 2002. Nachts um eins am Telefon. Wien 2005. Der Spielverderber Mozarts. Wien 2006) legte K. seinen vielfach als Opus magnum bezeichneten, hoch gelobten, aber auch kontrovers u. ablehnend besprochenen Roman Abendland (Mchn. 2007) vor. Das umfangreiche, narrativ u. thematisch weit ausholende Werk durchmisst in privaten Erzählungen die Geschichte des 20. Jh. Hier verbindet K. die aus seinen frühen Werken bekannte Frage nach der Erklärbarkeit menschl. Handelns mit der Schilderung von Familienverhältnissen u. dem generationenübergreifenden Erzählen. In der Geschichte des
Köhlmeier
betagten Mathematikers Jakob Candoris u. des Schriftstellers Sebastian Lukasser sind Entwicklungs-, Gesellschafts- u. Generationenroman verbunden. So kontrovers wie der Roman Abendland wird auch K.s gesamte schriftstellerische Leistung im Spannungsfeld von Vertrauen auf das persönl. Erzählen einerseits u. Konvention bzw. Weitschweifigkeit andererseits beurteilt. In der Literaturwissenschaft spiegelt sich das Gegeneinander von Breitenwirkung u. nur bedingter Etabliertheit K.s im Vorhandensein zahlreicher Diplom- bzw. Magisterarbeiten bei vergleichsweise geringer Beschäftigung etablierter Wissenschaftler. K. erhielt zahlreiche Literaturpreise, u. a. 1983 den Rauriser Literaturpreis (gemeinsam mit Martin R. Dean), 1988 den Johann-PeterHebel-Preis, 1993 den Manès-Sperber-Preis u. 1996 den Anton-Wildgans-Preis. Weitere Werke: Like Bob Dylan. Drei im Café spielen. Das Anhörungsverfahren. Bregenz 1975 (Stücke). – Bregenzer Badebuch. Bregenz 1983. – Im Süden der Vernunft. Hard 1991 (Ess.). – Wie das Schwein zu Tanze ging. Mchn. 1991 (Fabel). – Marile u. der Bär. Weitra [1992] (Kinderbuch). – Meine Mann-Männchen. Eine blaukrause Gesch. Weitra [1992] (Kinderbuch). – Der Narrenkarren. Nach Lope de Vega ›Die Irren von Valencia‹. Bregenz 1994 (D.). – Die Leute von Lech. Innsbr. 1994. – March Movie (zus. mit Peter Klein). Wien 1995 (Hörsp.e). – Ballade v. der sexuellen Abhängigkeit. Innsbr. 1996. Auch u. d. T.: Trilogie der sexuellen Abhängigkeit. Mchn./Zürich 1997. – M. K.s Sagen des klass. Altertums. Mchn./Zürich 1996. – Die Welt der Mongolen. Wien/Mchn. 1997 (Libr.). – Dein Zimmer für mich allein. Wien/Mchn. 1997 (E.). – Der Unfisch. Wien/Mchn. 1997 (Filmerzählung). – M. K.s neue Sagen des klass. Altertums v. Eos bis Aeneas. Mchn./Zürich 1997. – Bevor Max kam. Mchn./Zürich 1998 (R.). – M. K.s neue Sagen des klass. Altertums v. Amor u. Psyche bis Poseidon. Mchn. 1998. – Der traurige Blick in die Weite. Gesch.n v. Heimatlosen. Wien/Mchn. 1999. – Tantalos oder Der Fluch der bösen Tat. Horn 1999. – Das große Sagenbuch des klass. Altertums. Mchn./ Zürich 1999. – Gesch.n v. der Bibel. Von der Erschaffung der Welt bis Josef in Ägypten. Mchn./ Zürich 2000. – Scheffknecht u. Breuss – ein Vorarlberger Familienroman fürs Theater. Hohenems 2000. – Der Menschensohn. Die Gesch. vom Leiden Jesu. Mchn./Zürich 2001. – Moses. Gesch.n v. der Bibel. Mchn./Zürich 2001. – Brief aus Ulan-Bator.
Koeler St. Pölten/Wien/Linz 2002. – Vom Mann, der Heimweh hatte. Wien 2002 (E.en). – Gesch.n v. der Bibel. Von der Erschaffung der Welt bis Moses. Mchn./Zürich 2003. – Shakespeare erzählt. Mchn./ Zürich 2004. – Idylle mit ertrinkendem Hund. Wien 2008. Literatur: Wolfgang Bunzel: M. K. In: KLG. – Christoph König: Schreibnormen u. Region. Über Romane v. M. K. u. Joseph Zoderer. In: Discorso fizionale e realtà storica. Hg. Hans-Georg Gruning, Danielle Levy-Mongelli u. Graciela Ricci-Della Grisa. Ancona 1992, S. 217–231. – Karl-Heinz Stanzel: Zeitgenöss. Adaptionen der ›Odyssee‹ bei Inge Merkel, M. K. u. Botho Strauß. In: Heinz Hofmann (Hg.): Antike Mythen in der europ. Tradition. Tüb. 1999, S. 69–89. – Günther A. Höfler u. Robert Vellusig (Hg.): M. K. Graz/Wien 2001. – Karlheinz Töchterle: Narrat et omnis amans. Liebe, Tod u. Erzählen im Mythos M. K.s. In: Mythen in nachmyth. Zeit. Hg. Bernd Seidensticker u. Martin Vöhler. Bln. 2002, S. 211–225. – James P. Martin: The crisis of cultural knowledge in M. K.’s ›Telemach‹, Christoph Ransmayr’s ›Morbus Kitahara‹ and W. G. Sebald’s ›Die Ringe des Saturn‹. Diss., Washington, D.C. 2004. Bernhard Fetz / Stefan Alker
Koeler, Köler, Coler(us), Christoph, * 1.12. 1602 Bunzlau, † 19.4.1658 Breslau. – Gymnasialprofessor, Bibliothekar; Lyriker. Nach dem Besuch der Bunzlauer Schule u. des Elisabeth-Gymnasiums in Breslau brach K. 1624 zum Jurastudium nach Straßburg auf. Nach dem Untergang Heidelbergs war diese Stadt unter dem Patronat Berneggers das Zentrum der modernen dt. Literatur; hier gab Zincgref 1624 die Opitz’schen Gedichte heraus. Die Freunde – Gruter an der Spitze – stellten K. neben Opitz. Gleichwohl zerschlugen sich alle Pläne, zwei Sammlungen der lat. u. der dt. Gedichte des jugendl. Dichters zu veranstalten. 1629 kehrte K. in das von der Gegenreformation umgepflügte Schlesien zurück, schlug sich mit Hauslehrerstellen durch, übersetzte fleißig – u. a. die lat. Version von Grotius’ Über die Wahrheit der Christlichen Religion (1631) u. das Glückwunschgedicht von Opitz für den poln. König Vladislav IV. (1637) –, versuchte sich an (unpublizierten) Biografien u. verdingte sich mit ungezählten Gele-
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genheitsgedichten. Seit 1634 Professor für Poesie u. Philologie am Elisabeth-Gymnasium in Breslau, wurde er 1637 Konrektor (neben dem Rektor Elias Major) u. Professor für Geschichte u. Beredsamkeit; 1639 vertraute man ihm die Bibliothekarsstelle in der Maria-Magdalenen-Kirche an. Die berühmte Bibliothek, die später mit der Rhediger’schen den Fundus der Breslauer Stadtbibliothek bildete, erlebte unter K. ihre Sternstunde. K. war ein vielbeschäftigter Verfasser von Schulactus u. ein gefragter Redner; mit seiner Trauerrede auf Opitz im Elisabeth-Gymnasium, der wichtigsten Quelle zur Biografie des Dichters, zgl. ein kulturpolit. Manifest ersten Ranges, ging er in die dt. Literaturgeschichte ein. Weitere Werke: Laudatio honori & memoria v. cl. Martini Opitii (1639). Lpz. 1665. Wiederholt gedr.; dt. zuerst in: K. G. Lindner: Umständl. Nachricht v. [...] Martin Opitz [...]. Bd. 1, Hirschberg 1740. – Oratio auspicalis, cum Habita solemni Panegyri Bibliotheca Maria-Magdalenaea Libris auctior et Cultu ornatior [...] 1644. Breslau 1646. 2 1699. – Ausgaben: Hippe (s. u.), S. 91–206. – Gedichte v. C. K., mitgeteilt v. Max Rubensohn. In: Euph. 1 (1894), S. 293 - 305. – G. Kozielek: Aus dem handschriftl. Nachl. C. K.s. In: Euph. 52 (1958), S. 303–311. – Marian Szyrocki u. D. Weyen: Ungedr. Gedichte v. C. K. In: Germanica Wratislaviensia 40 (1980), S. 181–194. – (Eine Slg. der nlat. Gedichte fehlt.) – Briefe: Alexander Reifferscheid: Quellen zur Gesch. des geistigen Lebens in Dtschld. während des 17. Jh. Bd. 1, Lpz. 1889. – Nachlass: Universitätsbibl. Wroclaw (vgl. Friedrich Pfeiffer: Über den Nachl. des Christoph Colerus. In: Schles. Provinzialbl. N. F. 3 (1864), S. 30–33). – Staatsbibl. Berlin. – Stiftung Preuß. Kulturbesitz. /
Literatur: J. Fechner: Fama posthuma C. C. Breslau 1658. – Max Rubensohn: Studien zu Martin Opitz (zuerst in: Euph. 2, 1895, S. 57–99; 6, 1899, S. 24–67, 221–271). Mit einem wiss.-hist. Nachw. hg. v. Robert Seidel. Heidelb. 2005 (Register). – Max Hippe: C. K. Breslau 1902 (mit Verz. v. Einzeldrucken dt. Gedichte). – G. Kozielek: Die Lyrik des Opitzschülers C. K. In: Germanica Wratislaviensia 3 (1959), S. 157–173. – Heiduk/Neumeister, S. 314. – C. Gellinek: Wettlauf um die Wahrheit der christl. Religion, Martin Opitz u. C. K. als Vermittler zweier Schr.en des Hugo Grotius. In: Simpliciana 2 (1980), S. 71–89. – Kosch. – David C. Halsted: Poetry and politics in the Silesian baroque neo-Stoicism in the Work of Chr. C. and his
Koelreuter
547 circle. Wiesb. 1996. – Klaus Garber: Hdb. des personalen Gelegenheitsschr. in europ. Bibl. u. Archiven. Bd. 17: Stadtbibl. Breslau: St. Maria Magdalena. 2005, S. 17–26 (mit Nachweis des zeitgenöss. Schrifttums v. u. über C.). – Ders.: Das alte Buch im alten Europa. Mchn. 2007, S. 334 ff. – Stefan Kiedron´ : ›Niederländ.‹ Erfindung in der Fürstl. Residenzstadt Brieg. C. C. als Vermittler der niederländ. Ideen in Schlesien. In: Dziedzictwo reformacji w ksiestwie legnicko-brzeskim – Das Erbe der Reformation in den Fürstentümern Liegnitz u. Brieg. Hg. Jan Harasimowicz u. Aleksandra Lipinska. Legnica 2007, S. 211–225. – Ders.: Christian Hofman v. Hofmanswaldau u. seine ›niederländ.‹ Welt. Wroclaw/Dresden 2007, S. 122–131, Register. Klaus Garber
So traditionell Aufbau u. Inhalt, so modern die durch das Medium des Drucks erleichterte Form mit einem vorgeschalteten Register, Seitenüberschriften u. Kopfzeilen mit Angaben zu Kaisern, Päpsten u. Erzbischöfen, so dass sie mit Blick auf ihren Gebrauchswert wie ein histor. Nachschlagewerk verwendet werden konnte. Die Chronik hatte keine direkten Nachfolger für die Stadtgeschichte Köln, wurde aber in unterschiedl. Chroniken des rheinischen. u. niederländ. Raums des 16. Jh. verarbeitet u. zum Teil explizit in Auszügen zitiert.
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Koelhoffsche Chronik, De cronica von der hilliger stat van Coellen, 1499. – Kölner Stadtchronik.
Ausgabe: Die Chroniken der niederrhein. Städte. Cöln, Bd. 13 u. 14. In: Die Chroniken der dt. Städte vom 14. bis ins 16. Jh. Lpz. 1876. Neudr. Gött. 1968. Literatur: Hartmut Beckers: K. C. In: VL. – Spätmittelalterl. städt. Geschichtsschreibung in Köln u. im Reich. Die ›K.‹ C. u. ihr histor. Umfeld. Hg. Georg Mölich, Uwe Nedermeyer u. Wolfgang Schmitz. Köln 2001. – W. Schmitz: 500 Jahre Buchtradition in Köln. Von der K. C. bis zu den Neuen Medien. Köln 1999. Gudrun Gleba
Die Chronik wurde nach dem Kölner Drucker Johann Koelhoff benannt. Ihr Verfasser, vermutlich ein Geistlicher, ist bis heute unbekannt. Sie umfasst 355 beidseitig bedruckte Blätter sowie zahlreiche Holzschnitte u. gilt als erstes Druckerzeugnis einer kompletten Koelreuter, Joseph Gottlieb, * 27.4.1733 Kölner Stadtgeschichte. In einer geringen Sulz/Neckar, † 11.11.1806 Karlsruhe. – Auflagenhöhe von geschätzt 250 Exemplaren Botaniker. erschienen, bedeutete ihre Herstellung ein unternehmerisches Risiko u. wurde für K., Sohn eines Apothekers, studierte ab 1748 Koelhoff ein Verlustgeschäft. in Tübingen, Straßburg u. wieder in TübinDie Weltgeschichte einerseits u. die Ge- gen, wo er 1755 in Medizin promovierte (De schichte von Kirche u. Reich andererseits Insectis Coleopteris). 1756–1761 war er Adjunkt bilden den großen Rahmen, in den die an der Akademie der Wissenschaften in PeStadtgeschichte Kölns unter Betonung ihrer tersburg. Als diese einen Preis für den expevorgeblich seit alters zugestandenen städt. rimentellen Nachweis der Sexualität der Freiheit u. unter bes. Berücksichtigung ihrer Pflanzen aussetzte, begann K. 1759 mit Basjüngsten Vergangenheit des 15. Jh. einge- tardisierungsversuchen, die er in Berlin, ordnet wird. In Anlehnung an den traditio- Leipzig (1761), Sulz u. Calw (1762) fortsetzte. nellen Aufbau von Papst- u. Kaiserchroniken 1763 wurde er Professor für Naturgeschichte im Ablauf von sechs Weltaltern wollte ihr u. Direktor der Hofgärten in Karlsruhe. Als es Verfasser »die treflichste und mirklichste ge- Schwierigkeiten mit dem Gartenpersonal schicht van duitschen lande schriven«, u. gab, wurde K. 1786 entlassen. Er verbrachte zwar dezidiert für gebildete Laien. Die Kom- seine letzten Jahre ohne Anerkennung u. pilation universaler, regionaler u. städt. Ge- Unterstützung. schichte unter Berücksichtigung unterK.s Hauptwerk waren die Vorläufigen Nachschiedl. Quellen als legitimierende Zeugen richten von einigen das Geschlecht der Pflanzen für dasselbe Ereignis stützte sich für die betreffenden Versuchen [...] 1, 2 und 3 (Lpz. Kölner Geschichte für das 13. Jh. stark auf die 1761–66. Neudr. Lpz. 1893). Darin erbrachte Reimchronik Gottfried Hagens u. für das 15. er den vorläufigen Beweis für die Sexualität Jh. auf die Agrippina des Heinrich van Beeck. der Pflanzen. Dies gelang ihm auf dem Weg
Koelsch
der Pflanzenbastardisierung, die er als erster mit einer großen Anzahl von Experimenten wissenschaftlich betrieb. Bahnbrechend wirkte K.s Schrift auch durch die exakte Beschreibung der Insektentätigkeit bei der Pflanzenbefruchtung. Er richtete durch seine Bastardisierungsversuche das Interesse der Forscher auf das Studium von Pflanzenhybriden u. ebnete so den Forschungen von Mendel, Sprengel u. Darwin den Weg. Weiteres Werk: Das entdeckte Geheimniss der Kryptogamie. Karlsr. 1777. Literatur: Julius Behrens: J. G. K. In: Verhandlungen des Naturwiss. Vereins Karlsruhe 11 (1895), S. 268–320. – Herbert Fuller Roberts: Plant Hybridization before Mendel. Princeton 1929. Neudr. New York 1965. – Peter Hartwig Graepel: Carl Friedrich Gärtner (1772–1850). Diss. Marburg 1978, S. 198–212. Änne Bäumer
Koelsch, Adolf, * 7.7.1879 Buch am Ahorn/Baden, † 3.2.1948 Rüschlikon/Zürich. – Biologe; Essayist, Erzähler u. Maler. Der Pfarrerssohn kam nach dem Biologiestudium 1904 aus Würzburg nach Zürich u. wurde nach dem Ersten Weltkrieg als Kolumnist der »Neuen Zürcher Zeitung« u. als Verfasser von Büchern wie Die Verwandlungen des Lebens (Zürich 1919), Kreatur. Erlebnisse und Gesichte (Ffm. 1922), Der singende Flügel (Zürich 1924) oder Greif nur hinein (Rüschlikon 1946) zu einem viel gelesenen essayistisch-literar. Deuter u. Interpreten der Natur u. Pflanzenwelt. Auch in seinen erzählerischen Texten steht das Naturerlebnis im Vordergrund. Der Roman Der Mann im Mond (Lpz. 1924) stellt eine Liebesgeschichte zwischen einem naturhaften Mädchen u. einem zivilisationsmüden »Aussteiger« in eine unberührte ostdt. Landschaft. Die Erzählung Longin und Dore (Zürich 1925) behandelt in leicht stilisierter Manier den Fall einer vermeintl. Geschwisterliebe. Sehr erfolgreich war K. mit der Biografie romancée des Äthernarkose-Erfinders William T. Morton, Narkose (Rüschlikon 1938), während der weitgefächerte Künstleru. Liebesroman Es ist sehr weit zum Paradies (ebd. 1944) mit einprägsamen Naturschilderungen u. der Darstellung einer fein emp-
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fundenen Altersbeziehung als sein literar. Vermächtnis angesehen werden kann. K., der hervorragend aquarellierte u. die letzten Jahrzehnte seines Lebens beobachtend u. schreibend in einem einsamen Haus am Rande einer unberührten Hochebene verbrachte, geriet nach seinem Tod fast völlig in Vergessenheit. Weitere Werke: Geliebtes Leben. Zürich 1935 (R.). – Der Herr der Welt inkognito. Rüschlikon 1947 (Naturbilder). – Hundeballade. Erlebnisse u. Gesichte. Ebd. 1951. Literatur: Kathi Zollinger-Streiff: 1879–1948. [Gockhausen] 1993.
A.
K.
Charles Linsmayer / Red.
Kölwel, Gottfried, * 16.10.1889 Beratzhausen/Oberpfalz, † 21.3.1958 München. – Lyriker, Erzähler, Dramatiker. Der Sohn eines Kaufmanns u. Färbermeisters besuchte 1902–1907 die Lehrerbildungsanstalt in Amberg. Seit 1912 war er in München als Volksschullehrer, seit 1926 als freier Schriftsteller tätig. Nach ersten Gedichtveröffentlichungen in der Zeitschrift »Charon« u. dem ersten Gedichtband Im Frührot (Bln./ Lpz. 1910) wurde K. von Buber gefördert u. mit den Gedichten Gesänge gegen den Tod (Lpz. 1914) bekannt. Auch in den beiden folgenden Sammlungen zeigte sich K. als Autor eines gemäßigten Expressionismus. Die Erzählungen in Bertolzhausen (Trier 1925) markieren gegenüber der 1913–1920 überwiegend in Zeitschriften wie »Die Aktion« u. »Wieland« publizierten, drastischeren Prosa eine Neuorientierung zugunsten einer konservativ vereinfachten Sprachhaltung. Die volkstüml. u. humorvollen Geschichten aus dem bäuerl. u. kleinstädt. Leben wurden in Volk auf alter Erde (Mchn. 1929) u. Der Bayernspiegel (2 Bde., Wien 1940) fortgeführt. Erfolgreich waren die zu einem Jahreskreis gestalteten Kindheitserinnerungen »von goldenen und grauen Zeiten, von bunten Tieren, von seltsamen Menschen und Ereignissen«, Das Jahr der Kindheit (Bln. 1935. U. d. T. Das glückselige Jahr. Wien 1941). Landschaft, Heimatbezogenheit, Kindheit u. die Darstellung von Lebensschicksalen (häufig sozialer Außenseiter) sind die im ge-
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samten Werk immer wieder behandelten Themen. Zentrale Orientierungsgröße ist dabei die Natur in ihren Verwandlungen. Weitere Werke: Die frühe Landschaft. Gedichte u. Skizzen. Mchn. 1917. – Erhebung. Neue Gedichte. Mchn. 1918. – Der vertriebene Pan. Die Gesch. einer großen Liebe. Stgt. 1930. Neubearb. u. d. T. Franz Sebas. Bln. 1940 (E.). – Franziska Zachez. Jena 1934 (D.). – Der Hoimann. Bln. 1934 (D.). – Musikantenkomödie. Bln. 1935 (D.). – Irdische Fülle. Bln. 1937 (L.). – Der geheimnisvolle Wald. Bln. 1938 (R.). – Die schöne Welt. Erlebnisse u. Gestalten. Wien 1942 (E.en). – Der verborgene Krug. Wien 1944. U. d. T. Aufstand des Herzens. Speyer 1952 ( R.). – Münchner Elegien u. a. Gesänge. Bln. 1947 (L.). – Gedichte. Mchn. 1950. – Das Himmelsgericht. Merkwürdige Ereignisse. Wien 1951 (E.en). – Prosa. Dramen. Verse. 3 Bde., Mchn. 1962–64. Literatur: G. K. zum 70. Geburtstag. Hg. Kuratorium zur Pflege des dichter. Werkes v. G. K. [Mchn. 1959]. – Ingrid Girlinger: G. K. Studien zu seinem erzähler. u. dramat. Werk. Ffm. u. a. 1991. – Hartmut Binder: ›Jugend ist natürlich immer schön ...‹. Kafka als literar. Ratgeber. In: Ders. (Hg.): Prager Profile. Vergessene Autoren im Schatten Kafkas. Bln. 1991, S. 17–93, hier S. 33–44. – 1945 ... und jetzt auch wieder Bücher! Lit. in München nach Kriegsende u. Kulturpolitik der Amerikaner. Heinrich F. S. Bachmair, Johannes R. Becher, Hans Brandenburg, G. K., Walter Kolbenhoff, Johannes Tralow, Grete Weil. Hg. Pasinger Fabrik, Kultur- und Bürgerzentrum. Mchn. 1995. – Eberhard Dünninger: G. K. u. Georg Britting. Expressionismus u. Regionalität in ihren E.en. In: Ders.: Oberpfalz u. Regensb. Regensb. 1998, S. 171–181. – Joachim Pöppl: G. K. Ein Schriftsteller zwischen Beratzhausen u. München. Hemau 2002. Thomas Betz / Red.
Koenig, Alma Johanna, auch: Johannes Herdan, verh. Freifrau von Ehrenfels, * 18.8.1887 Prag, † 1942 (ermordet; wahrscheinlich Ghetto Minsk). – Erzählerin u. Lyrikerin. K. stammte aus wohlhabender jüd. Familie. Sie lebte von 1888 an in Wien, wo sie histor. u. literar. Bildung im Selbststudium erwarb. Zu ihrem Freundeskreis zählten Alfred Grünewald, Felix Braun u. Emil Lucka, seit 1933 auch Oskar Jan Tauschinski. 1921 heiratete sie den Geschäftsmann Bernhard von Ehrenfels u. begleitete ihn 1925–1930 nach
Koenig
Algier. Die für K. emotionell u. finanziell ruinöse Ehe wurde 1936 geschieden. Von 1938 an wurde sie verfolgt u. lebte unter unwürdigen Bedingungen. Am 27.5.1942 wurde K. aus Wien deportiert u. ist seitdem verschollen. Leidenschaft, Erotik u. leidende Liebe, oft in historisch-mytholog. Gewand dargestellt u. in sensuell geladener, expressiver Sprache vorgetragen, sind K.s Generalthemen. Nach ersten neoromant. Gedichten u. Erzählungen unter Pseud. in Zeitschriften erschien u. d. T. Die Windsbraut (Zürich/Lpz./Wien 1918) formstrenge Liebes- u. Landschaftslyrik; antikisierende Liebesgedichte folgten (Die Lieder der Fausta. Wien 1922). Als Erzählerin debütierte K. mit der Hundenovelle Schibes (Wien/ Lpz./Prag 1920. Neuaufl. u. d. T. Schibes und andere Tiergeschichten. Wien 1957. Neuaufl. wieder u. d. T. Schibes. Wien/Mchn. 1991); bekannt wurde sie mit historisch-psycholog. Romanen: Der heilige Palast (Wien 1922) erzählt das Leben der byzantin. Kaiserin Theodora. Für den im Saga-Stil gehaltenen Wikingerroman Die Geschichte von Half dem Weibe (Wien 1924) erhielt K. 1925 den Preis der Stadt Wien. Für das Jugendbuch Gudrun. Stolz und Treue (Stgt. 1928. Neuaufl.n bis 1973) bearbeitete sie das mittelalterl. Kudrunlied in archaisierender Prosa. International erfolgreich war der autobiogr. Gesellschaftsroman Leidenschaft in Algier (Wien 1932. 21955). Ihr Hauptwerk vollendete K. 1941/42: Der jugendliche Gott (Wien 1947. Zahlreiche Neuaufl.n) beschreibt den Werdegang des röm. Kaisers Nero vom intelligenten, einsamen Kind zum Muttermörder u. Despoten. Seit 1957 erinnert der Koenig-Preis an die heute nahezu Vergessene. Weitere Werke: Liebesgedichte. Wien 1930. – Sonette für Jan. Wien 1946 (L.). – Sahara. Graz 1951 (Reisenovellen u. -ess.s). – Gute Liebe – Böse Liebe. Graz 1960 (Ausw.). – Schicksale in Bilderschr. Wien 1967 (histor. Ess.s). – Vor dem Spiegel. Graz 1978 (lyr. Autobiogr.). Literatur: Franziska Raynaud: K. Leben u. Dichten einer Wienerin. In: Bulletin des Leo Baeck Instituts 64 (1983), S. 29–54. – Edmund Rosner: Miedzy erosem a caritas. Zycie i tworczosc K. (Zwischen Eros u. Caritas. Leben u. Werk K.s). Katowice 1987 (mit Bibliogr.). – Arnd Bohm: Gender
König
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and history in the works of A. J. K. In: Frauen: MitSprechen, MitSchreiben. Hg. Marianne Henn u. Britta Hufeisen. Stgt. 1997, S. 455–467. – Eckart Früh (Hg.): A. J. K. Spuren u. Überbleibsel. Biobibliogr. Bl. aus dem Tagblatt-Archiv. Wien 1997, H. 4. – Stefan H. Kaszynski: Chiffrierter Widerstand oder Innere Emigration. Zu A. K.s Roman ›Der jugendl. Gott‹. In: Lit. der ›Inneren Emigration‹ aus Österr. Hg. Johann Holzner u. Karl Müller. Wien 1998, S. 141–155. – Ellen Johanna Löffler: Weiblichkeitsentwürfe in Leben u. Werk der Wiener Autorin A. J. K. Frauen- u. Selbstbildnis einer leidenschaftl. Intellektuellen. Diss. Graz 2000. – Christa Gürtler: A. J. K. 1887–1942? In: Erfolg u. Verfolgung. Österr. Schriftstellerinnen 1918–1945. Hg. dies. u. Sigrid Schmid-Bortenschlager. Salzb./Wien/Ffm. 2002, S. 99–108. – Daniela Hempen: Und alles lauschte dem Liede Horands: Kunst u. Humanität in A. J. K.s ›Gudrun‹. In: Neoph. 86 (2002), H. 2, S. 273–285. – Gabriele Bensberg: A. J. K. u. die Psychoanalyse. Die androgynen Frauen in dem Wikingerroman ›Die Gesch. v. Half dem Weibe‹ als Repräsentantinnen eines ›Männlichkeitskomplexes‹? In: Böhmen als ein kulturelles Zentrum dt. Lit. Hg. Petra Hörner. Ffm. u. a. 2004, S. 191–218. – Evelyne Polt-Heinzl: ›Brennende Sehnsucht dir ins Blut‹. A. J. K. (1887–1942). In: Dies.: Zeitlos. Wien 2005, S. 98–119. – Dies.: Ein Fürst u. ein Herr der Welt. Zwei histor. Romane v. Erika Mitterer u. A. J. K. In: Dichtung im Schatten der großen Krisen. Hg. Martin Petrowsky. Wien 2006, S. 151–179. Ursula Weyrer / Red.
König, Barbara, * 9.10.1925 Reichenberg/ Böhmen. – Verfasserin von Prosa, Hör- u. Fernsehspielen. Nach dem Abitur wurde K. wegen ihrer Bekanntschaft mit einem ukrain. Arzt von der Gestapo ein halbes Jahr in »Schutzhaft« genommen. Bald nach Kriegsende floh sie über die Grenze nach Bayern u. begann journalistisch zu arbeiten, zuerst für die »Deutsche Nachrichtenagentur« (DENA), dann für die »Neue Zeitung«, bis sie 1950/51 Zeitungswissenschaft u. Creative Writing in den USA studierte. Anschließend redigierte sie bis 1953 die Zeitschrift »Kontakt«. K. veröffentlicht in großen Abständen Werke, die sie als eine genaue Beobachterin ausweisen. Mit lebhafter persönl. Anteilnahme schildert sie vermeintl. Nebensächlichkeiten des Alltags u. wendet sich psycholog.
Problemen zu. Die Identitätsproblematik ist Thema des Romans Die Personenperson (Mchn. 1965. 2003). Durch Rückblenden in Vergangenheit u. Vorvergangenheit spaltet K. eine Person in mehrere Personen auf u. lässt diese einander begegnen. Der Roman Der Beschenkte (Mchn. 1980) schildert das Schicksal eines Mannes, der als junger Soldat durch das Opfer eines Militärgeistlichen mit dem Leben davonkam. Ihn bedrängt die Frage, wie er sein geschenktes Leben genutzt hat. Auch mit ihren Hörspielen war K. erfolgreich. Ich und Ihr, die ich mal war (SFB 1975) wurde in mehrere Sprachen übertragen. Durch die Vermittlung des SuhrkampLektors Friedrich Podszus wurde K. zur Zusammenkunft der Gruppe 47 am 11.5.1950 im Kloster Inzigkofen eingeladen u. lernte dort Hans Werner Richter kennen. Auch wenn K. nur noch an zwei weiteren Gruppentreffen teilnahm, verband sie doch eine enge Freundschaft mit Richter, von der sie nach dessen Tod in ihrem Erinnerungsbuch Hans Werner Richter. Notizen einer Freundschaft (Mn. 1997) Zeugnis ablegte. Die Berichte über die Gruppe 47 nehmen darin nur einen kleinen Raum ein, während ihre Tagebucheinträge die Entstehung von Richters Büchern Die Flucht nach Abanon u. Das Etablissement der Schmetterlinge genau dokumentieren. Vor allem aber liefert sie ein Porträt des Privatmanns Richter, der sie häufig in ihrem Domizil in Diessen am Ammersee besuchte. K. wurde vielfach ausgezeichnet u. ist Mitgl. mehrerer Akademien. Weitere Werke: Kies. Mchn. 1961 (R.). – Spielerei bei Tage. Mchn. 1969 (E.). – Schöner Tag, dieser 13. Ein Liebesroman. Mchn. 1975. 1999. – Die Wichtigkeit, ein Fremder zu sein. Der Schriftsteller u. die Distanz. Wiesb. 1979. Neuausg. Bamberg 2001 (Ess.). – Übergänge. Weilheim 1982 (Ausw.). – Ich bin ganz Ohr. Nachw. v. Bernd Goldmann. Mainz 1985 (Hörsp.e). Literatur: Bruna Morelli: B. K., Poetessa del Privato e dell’ Interioritá. Diss. Bologna 1980. – Heinz Friedrich: Versuch, eine Personenperson zu beschreiben. B. K. zum Siebzigsten. In: Jb. der Bayer. Akademie der Schönen Künste. Schaftlach. 1996, S. 418–422. – Michael Krüger: Über B. K. In: ders.: Vorw.e, Zwischenbemerkungen, Nachrufe.
König
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König, Eva (Catharina), geb. Hahn, * 22.3. 1736 Heidelberg, † 10.1.1778 BraunBernd Goldmann / Jürgen Egyptien schweig. – Briefpartnerin Lessings.
Mchn. 2003, S.152–156. – Hedi Rehn: B. K. In: LGL – Gerhard Bolaender: B. K. In: KLG.
König, Eberhard, * 18.6.1871 Grünberg/ Niederschlesien, † 26.12.1949 Berlin. – Dramatiker u. Erzähler. Der Sohn eines Farbenfabrikanten studierte Philologie u. Kunstgeschichte in Göttingen u. Berlin, brach seine Studien jedoch ab, als das 1897 entstandene Renaissance-Trauerspiel Filippo Lippi allg. Zustimmung fand (1899 von S. Fischer verlegt). Er arbeitete als Dramaturg in Berlin, bis er sich in Frohnau/Mark als freier Autor niederließ. Politisch konservativ u. an der Tradition des Idealismus festhaltend, wurde er v. a. als Dramatiker bekannt, der bevorzugt Stoffe aus der dt. u. antiken Geschichte u. Sagenwelt aufgriff. Die in dem Kriminalstück Meister Josef (Bln. 1906) versuchte Hinwendung zu aktuelleren Gegenständen blieb ohne größere Resonanz, wie in der Folge die meisten Dramen K.s. Durch betont vaterländ. Gesinnung u. eine Affinität zur Heimatdichtung setzte er sich dem Verdacht aus, dem völk. Dunstkreis zuzugehören (Goethe-Medaille 1937). – K. schuf neben Erzählungen u. (Künstler-)Novellen v. a. Märchenlegenden, so Die Legende vom verzauberten König (Stgt. 1925), die in altertümelnder Verssprache die innere Wandlung eines Tatmenschen zu einem demütig sich Gott Unterordnenden darstellt u. sich als Kritik an Nietzsche verstehen lässt. Weitere Werke: Gevatter Tod. Ein Märchen v. der Menschheit. Bln. 1900 (D.). – König Saul. Bln. 1903 (Trauersp.). – Klytaimnestra. Jena 1903 (Trag.). – Frühlingsregen. Jena 1905 (Schelmensp.). – Wielant der Schmied. Dramat. Heldengedicht. Bln. 1906. – Das Volk steht auf! Erzählung aus dem Frühjahrsfeldzug 1813. Lpz. 1913. – Dietrich v. Bern. 3 Bde., Lpz. 1917–22 (D.). – E. K. (Mithg.): German. Götter- u. Heldensagen. Lpz. 1930.
Die Kaufmannstochter heiratete mit 20 Jahren den Hamburger Seidenhändler Engelbert König. Von sieben Kindern der ersten Ehe blieben ihr vier. 1769 verwitwet, befasste sich K. mit dem Verkauf der bedeutenden Seidenu. Tapetenfabriken in Wien, um die Zukunft der Kinder zu sichern. Seit 1769 war Lessing mit der Familie König bekannt; 1771 verlobte er sich mit K. Erst sechs Jahre später konnte geheiratet werden. Höfische Verpflichtungen u. notorische Unterbezahlung schränkten Lessings Unabhängigkeit ein; K.s Geschäfte hielten sie in Wien fest; die Hochzeit fand am 8.10.1776 statt. Der Geburt u. dem Tod des Sohnes Traugott am 25.12.1777 folgte K.s Tod im Kindbett. Der Briefwechsel der Jahre 1770–1776 ist ein bedeutendes Dokument frühaufklärerischen Geistes. Die Liebenden schrieben in der älteren Tradition der Aufklärung, die weibl. Witz, Tatkraft, Realismus u. Mut zu schätzen vermochte. Vor dem Hintergrund empfindsamer Schreibweisen u. Persönlichkeitsmuster ist der Briefwechsel später als »kühl« missverstanden worden – was nur die Macht der neuen Formeln der »romantischen Liebe« verdeutlicht. Literatur: Günter u. Ursula Schulz (Hg.): Meine liebste Madam. Gotthold Ephraim Lessings Briefw. mit E. K. 1770–76. Mchn. 1979. – Dieter Hildebrandt: Lessing. Biogr. einer Emanzipation. Mchn. 1979. – Briefe aus der Brautzeit 1770–1776. Hg. Wolfgang Albrecht. Weimar 2000. – Petra Oelker: ›Ich küsse Sie tausendmal‹. Das Leben der E. L. Bln. 2005. Ulrike Prokop / Red.
König, Ewald August, auch: Eduard Grün, E(rnst) Kaiser, E. E. Königs, Dr. C. Reinfels, Dr. Rheinfels, * 22.8.1833 Barmen (heute zu Wuppertal), † 9.3.1888 Köln. – Literatur: Anna Haberkalt: E. K.s dichter. Werk. Diss. Wien 1938. – Helmut Rosenfeld: E. K. Erzähler. In: AGB 11 (1970).
Helmut Blazek
K. war ein beliebter Autor von Kolportageromanen, Kriminal- u. Soldatengeschichten. Den früh zum Halbwaisen Gewordenen brachte sein Vater, ein Kaufmann, nach Köln, wo K. das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium besuchte. Zur Finanzierung eines Medizin-
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studiums reichten die väterl. Mittel nicht aus. Erzähl- u. Lebensfreude. In seiner EigenNach dem Dienst in der preuß. Armee wurde schaft als Hofkaplan des frz. Gesandten in gelangte K. nach Wien K. Geschäftsführer in Elberfeld (1859); 1860 Solothurn heiratete er u. begann seine schriftstellerische (1715–1717) u. beschrieb auch diese Reise in Tätigkeit. Seine Humoresken wurden schnell barocker Fülle u. mit »oft rührender Naivibeliebt; bald konnte er den kaufmänn. Beruf tät« (Bächtold). Ende des 19. Jh. sind Auszüge aufgeben u. sich ganz der Schriftstellerei aus den Reiseberichten des Minoriten durch widmen. Nach elf in Neuwied verbrachten Jakob Bächtold zum ersten Mal im Druck herausgegeben worden. Jahren kehrte K. 1882 nach Köln zurück. K.s erste Werke sind kom. Behandlungen Weitere Werke: Von urspr. über 40 handihm vertrauter Lebensbereiche (Humoristische schriftl. Quartbdn. sind 25 Bde. erhalten (ZentralBilder aus dem Kaufmannsleben. Mülheim 1864. bibl. Solothurn). Bei der Infanterie. Heitere Manövergeschichte. Literatur: Jacob Bächtold: Der Minorit G. K. v. Düsseld. 1865). Später konzentrierte er sich Solothurn u. seine Reisebeschreibungen [...]. Soloauf den Kriminalroman: Dunkle Wege (4 Bde., thurn 1874 (darin Auszüge aus der Italienreise). – Jena 1880), Va Banque! (2 Tle., Jena 1885), Ders. (Hg.): Des Minoriten G. K. v. Solothurn WieOhne Gewissen (Lpz. 1896). In Schuldig? (4 Bde., ner-Reise. In: Urkundio 2 (1875), S. 49–104 (Separatdr.). – Friedrich Ratzel: J. G. K. In: ADB. – Der Jena 1878) u. Wegen Mangels an Beweisen (3 Franziskusorden. In: Helvetia Sacra. Abt. V, Bd. 1, Bde., Bln. 1886) spielt die detektivische Auf- Bern 1978, S. 180, 278 f. – Urban Fink: G. K. In: klärung von Straftaten eine wesentl. Rolle. HLS. Barbara Schnetzler / Red. K.s zahlreiche Werke befriedigten das Bedürfnis der Leser nach spannender Unterhaltung auf gewandte u. geistreiche Weise. König, Heinrich (Joseph), * 19.3.1790 Heute gilt er u. a. als erfolgreicher Vorläufer Fulda, † 23.9.1869 Wiesbaden. – Erzähder Kriminalliteratur. Weitere Werke: Platzpatronen. Elberfeld 1866 (humorist. E.en). – Dämon Gold. Jena 1871 (R.). – Pistole u. Feder od.: Ein Kampf auf Tod u. Leben. 2 Bde., Köln 1874 (R.). – Alle Schuld rächt sich. Bln. 1885 (R.). Literatur: Hans-Otto Hügel: Untersuchungsrichter, Diebsfänger, Detektive. Theorie u. Gesch. der dt. Detektiverzählung im 19. Jh. Stgt. 1978. – Goedeke Forts. Virginia L. Lewis
König, (Johann) Georg, * 27.4.1664 Solothurn, † 21.4.1736 Solothurn. – Franziskaner, Reiseschriftsteller. K. entstammte einer alteingesessenen Bürgerfamilie in Solothurn. Ein Vetter war der berühmte Orgelbauer Caspar König. Nach abgelegter Profess 1683 setzte K. seine Studien in den Klöstern Überlingen u. Konstanz fort, empfing 1688 die Priesterweihe u. lebte u. lehrte dann in verschiedenen Klöstern, auch in Werthenstein, Thann im Elsass, Arles u. Gray. Beinahe zwei Jahre (1695–1697) hielt er sich in Italien, v. a. in Assisi, auf u. berichtete darüber ausführlich u. anschaulich in einem frischen Ton aus oft naiv anmutender
ler, Dramatiker, Kultur- u. Literaturhistoriker.
K. wuchs, da sein Vater, ein Soldat gewordener Bauernsohn, bei der frz. Belagerung von Mainz 1792 starb, als Halbwaise auf; er besuchte das Gymnasium, danach das ehem. Jesuiten-Lyceum in Fulda. Nach Hilfsschreibertätigkeit beim Stadtmagistrat wurde er 1813 Distriktskontrolleur für das Amt Burghaun, 1816 Regierungssekretär der Finanzen u. kam als solcher 1819 nach Hanau. Religionskritische Aufsätze trugen dem Katholiken 1831 die Exkommunikation ein. In seiner Denkschrift Leibwacht und Verfassungwacht (Hanau 1831) schlug er die Bildung einer Volksmiliz zum Schutz der hess. Verfassung vor. Mehrmals zum Landtagsabgeordneten gewählt, erlebte er zweimal die Auflösung der Ständeversammlung durch die Regierung. 1839 gegen seinen Willen als Obergerichtssekretär nach Fulda versetzt, ließ er sich 1847 pensionieren, war aber weiter politisch tätig; seit 1860 lebte er in Wiesbaden. K. debütierte mit wenig bedeutenden lyr. u. dramat. Versuchen. Seit seiner Hanauer Zeit stand er mit Wortführern des »Jungen
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Deutschland« in Verbindung u. veröffent- auch bisweilen allzu gefüllt mit histor. u. lichte in ihren Zeitschriften, so in Mundts sittengeschichtl. Details. »Freihafen«, in Lewalds, später Kühnes »EuWeitere Werke: Wyatt. Reutlingen/Lpz. 1818 ropa«, in Laubes »Zeitung für die elegante (Trauersp.). – Ottos Brautfahrt. Elberfeld 1826 (D.). Welt« u. in Gutzkows »Deutscher Revue«, – Die Wallfahrt. Eine Novelle. Ffm. 1829. – Ro»Telegraph« u. »Literaturblatt zum Phönix«. senkranz eines Katholiken. Ffm. 1829. – Die BußAuch zu Varnhagen, Wienbarg, Grabbe, fahrt. Lpz. 1836 (Trauersp.). – Dt. Leben in dt. Bechstein u. Dingelstedt knüpften sich Novellen. 3 Bde., Lpz. 1842–44. – Eine Fahrt nach Ostende. Ffm. 1845. – Denkwürdigkeiten des Gefreundschaftl. Beziehungen. nerals Eickemeyer. Ffm. 1845. – Stationen. Ffm. In größeren Arbeiten pflegte K. den histor. 1846. – Spiel u. Liebe. Lpz. 1849 (N.). – Ges. Roman nach dem Vorbild Scotts, weshalb ihm Schr.en. 20 Bde., Lpz. 1854–68. – Täuschungen. gelegentlich der Ehrenname eines »hessi- Eine histor. Novelle. Ffm. 1857. – Marianne oder schen Scott« zuteil wurde. Am Anfang stand um Liebe leiden. Ffm. 1858 (R.). – Schillerfeier. eine Historie aus der piemontes. Revolution: Fest-Toast. Ffm. 1859. – Dt. Familien. 2 Bde., Die hohe Braut (Lpz. 1839), wonach Richard Wiesb. 1862. – Was ist die Wahrheit v. Jesu? Lpz. Wagner für Johann Friedrich Kittls Oper 1867. – Eine Pyrmonter Nachkur. Lpz. 1869. – Bianca und Giuseppe oder die Franzosen vor Nizza Ausgew. Romane. 15 Bde., Lpz. 1875. Literatur: Heinrich Hubert Houben: Jungdt. (1848) ein Libretto schuf. 1836 folgten die tendenziösen antikirchl. Waldenser (2 Bde., Sturm u. Drang. Lpz. 1911, S. 468–480. – Karl Lpz.), 1839 der auf längeren Shakespeare- Glossy (Hg.): Literar. Geheimber.e aus dem Vormärz (Separatabdr. aus dem Jb. der GrillparzerStudien aufbauende Roman Williams Dichten Gesellsch. 21–23). Wien 1912. Nachdr. Hildesh. und Trachten (2 Bde., Hanau, später Lpz. [1975]. – Hans Halbeisen: H. J. K., Ein Beitr. zur 2 1850). Später interessierte K. vor allem die Gesch. des dt. Romans im 19. Jh. Diss. Münster Epoche der Französischen Revolution u. Na- 1915. – Günther Hohmann: H. K., Leben u. Werk poleons, mit der sich die Romane Die Clubisten des Fuldaer Schriftstellers. Fulda 1965 (Bibliogr.). – in Mainz (3 Bde., Lpz. 1847), König Jerômes Rolf Vogel: Das erzähler. Schaffen H. J. K.s. Diss. Carneval (3 Bde., Lpz. 1855) u. Von Saalfeld bis Halle 1965 (ungedr.). Hans-Wolf Jäger Aspern (3 Bde., Wiesb. 1864) beschäftigten. Überdies hat er sich mit dieser Zeit auch in König, Johann Ulrich, * 9.10.1688 Esslinhistor. Studien auseinander gesetzt, so in der gen, † 14.3.1744 Dresden. – Hofdichter, Forster-Biografie Haus und Welt (2 Bde., Librettist, Übersetzer u. Herausgeber. Braunschw. 1852. U. d. T. Georg Forster. Ebd. 1858). Nachdem K., das sechste Kind des Pfarrers Von K.s histor. u. literaturhistor. Arbeiten Albrecht Adam K., das Gymnasium in Stuttsind seine Literarischen Bilder aus Rußland gart besucht hatte, studierte er seit dem (Stgt., Tüb. 1837) zu nennen, sodann die 8.12.1704 in Tübingen Philosophie u. Theoaufschlussreichen autobiogr. Schriften Aus logie, seit 1706 als Stipendiat; am 29.4.1707 dem Leben (Stgt. 1840), Auch eine Jugend (Lpz. erwarb er dort den Grad eines Bakkalaureus. 1852) u. Ein Stilleben (Lpz. 1861). Danach suchte er am Wolfenbütteler Hof u. in K., der eine halbe Generation älter war als Hamburg vergeblich eine Anstellung. Als die Literaten des »Jungen Deutschland«, Hofmeister eines Grafen reiste er nach Brawurde ihnen gleichwohl zugerechnet wegen bant u. Flandern. Ende 1710 kehrte er nach seiner liberalen Haltung, der Ablehnung je- Hamburg zurück, wo er Förderung durch der staatl. oder kirchl. Bevormundung u. namhafte Gönner erfuhr. K. übernahm eine seines Bekenntnisses zu einer tendenziös leitende Stelle am dortigen Opernhaus. Zueingreifenden Literatur, auch im historisch- sammen mit seinen Freunden Barthold novellistischen Genre. Allerdings fehlen li- Heinrich Brockes u. Michael Richey gehörte bertine Züge, was die Auffassung von Liebe, er zu den Initiatoren der 1715 gegründeten Ehe u. weibl. Emanzipation betrifft. K.s frühe Teutsch-übenden Gesellschaft. 1716 verließ Romane sind spannend, die späteren ach- er die Hansestadt, um seine Dienste in Leiptenswerte kulturdidakt. Leistungen, wenn zig, Dresden u. 1718 in Weißenfels anzubie-
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ten. 1720 wurde er zum Geheimsekretär u. Hofdichter Augusts des Starken in Dresden ernannt. Nach Johann von Bessers Tod (1729) betraute man K. mit dem Amt eines Hofrats u. Zeremonienmeisters. 1728 erfolgte die Aufnahme in die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften. Der Hamburgischen Patriotischen Gesellschaft trat er 1731 bei. 1735 nach Dresden zurückgekehrt, wurde K. 1740 vom sächs. König nobilitiert. Als Autor, Bearbeiter u. Übersetzer von mehr als einem Dutzend von moraldidakt. Intentionen geleiteten Operntexten u. Oratorien orientierte sich K. zumeist an konventionellen ital. Vorlagen, aber auch an Bressand, Feind, Hunold u. Postel. Für die Musik seiner beim zeitgenöss. Publikum beliebten pompösen Aufführungen sorgten Komponisten wie Carl Heinrich Graun, Reinhard Keiser, Georg Caspar Schürmann u. Telemann. Hatte K. schon in seiner Hamburger Zeit zahlreiche bestellte Casualcarmina verfasst (Theatralische, geistliche, vermischte u. galante Gedichte. Hbg./Lpz. 1713), so nahm die Produktion von Gelegenheitsdichtungen zu Hoffeierlichkeiten während der Dresdner Periode noch zu. Das sächs. Herrscherhaus wurde u. a. in dem prunkhaften Heldengedicht August im Lager (Dresden 1731), veranlasst durch ein gigantisches Manöver, glorifiziert. Zu den Verdiensten K.s zählt sein Bemühen um eine Erneuerung des dt. Lustspiels. Mit der musikal. Komödie Der gedultige Sokrates (Hbg. 1721) u. den satir. Stücken Die verkehrte Welt (Hbg. 1725) u. Der Dreßdner Frauen Schlendrian (o. O. 1725) gelang es ihm, deutschsprachige Lustspiele auf die Hofbühne zu bringen. Er setzte sich für die Pflege der dt. Sprache u. Dichtung sowie deren gesellschaftl. Anerkennung ein. In seiner Abhandlung zur Metrik, der Untersuchung von der Beschaffenheit der einsylbigen Wörter in der teutschen Dicht-Kunst (in: Des Herrn von Besser Schrifften. Hg. J. U. K. Tl. 2, Lpz. 1732, S. 833–901), wandte sich K. gegen die von Opitz aufgestellte Regel, nach der eine Häufung monosilbiger Wörter in der Lyrik vermieden werden sollte. Ausgehend von dem durch Thomasius in Deutschland eingeführten Begriff des guten Geschmacks,
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entwarf K. in seiner Untersuchung von dem guten Geschmack in der Dicht- und Rede-Kunst (in: Des Freyherrn von Canitz Gedichte. Hg. J. U. K. Lpz./ Bln. 1727, S. 227–322) eine Ästhetik des rational erlernbaren Geschmacks, die sich an frz. Theoretiker, namentlich Boileau, anlehnte. Als Herausgeber der Werke seiner Lehrmeister Canitz u. Besser – beide Ausgaben mit Biografien versehen – hatte K. maßgebl. Anteil an der Verbreitung von deren Schriften. Überblickt man das Œuvre K.s, wird eine Entwicklung deutlich, die unter wachsender Einwirkung des frz. Klassizismus Boileau’scher Prägung eine zunehmende Distanzierung vom anfängl. Marinismus u. den Versuch einer Abkehr vom barocken Schwulststil zeigt. Als entschiedener Gegner Gottscheds stand der Hofdichter mit seinen literaturästhetischen Anschauungen Bodmer u. Breitinger nahe. Auch die Postulierung von Natürlichkeit, Klarheit u. Einfachheit der Poesie weist K. als frühen Vertreter der dt. Aufklärung aus. Doch blieb sein Schaffen, das sich inhaltlich u. formal nie von den barocken Vorbildern emanzipieren konnte u. dem altgewohnten Publikumsgeschmack Rechnung trug, hinter den theoret. Einsichten weitgehend zurück. So wirkte das wenig originelle Werk schon zu Lebzeiten K.s antiquiert. Weitere Werke: L’inganno fedele [...]. Hbg. 1714 (Schäfersp.). – Rhea Sylvia. Lpz. 1714. Hbg. 1720 (Singsp.). – Fredegunda. Hbg. 1715 (Musikal. Schausp.). – Die röm. Großmuht, oder Calpurnia [...]. Hbg. 1716 (Libretto; Übers. v. Grazio Bracciolis ›Calfurnia‹. Venedig 1713). – Der königl. Prophete David [...]. Ffm. 1718 (Oratorium). – Heinrich der Vogler [...] Tl. 1, Braunschw. 1718. Hbg. 1719 (Singsp.). – Die getreue Alceste. Braunschw. 1719 (Oper). – Regulus. Ein Trauersp. aus dem Frz. des Herrn Pradon übers. o. O. u. J. [1725]. – Sancio. Hbg. 1727 (Singsp.). – Des Herrn v. K.s Gedichte [...]. Hg. Johann Christoph Rost. Dresden 1745. Ausgabe: Neukirch, Tl. 7, passim. Literatur: Bibliografien: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 2385–2406. – Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Kat. der Textbücher (1678–1748). Hg. Hans Joachim Marx u. Dorothea Schröder. Laaber 1995. – Alberto Martino: Die ital. Lit. im dt. Sprachraum [...]. Amsterd./Atlanta 1994 (Register). – Weitere Titel: Hans Schröder: Lexikon der ham-
König im Bad
555 burg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 4, Hbg. 1858–66, S. 121–126. – Erich Schmidt: J. U. K. In: ADB. – Max Clemens Rosenmüller: J. U. v. K. [...]. Diss. Lpz. 1896. – Max Zobel v. Zabeltitz: Die Ästhetik des [...] J. U. K. In: Dresdner Geschichtsbl. 30 (1922), S. 13–16. – Frels, S. 167. – Angelo George de Capua: J. U. K. In: NDB. – Gordon W. Marigold: Zu einigen Gelegenheitsdichtungen v. J. U. v. K. In: WBN 8 (1981), S. 246–250. – C. F. Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–1738). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels u. a. Wolfenb. 1983, S. 102. – Kerstin Heldt: Der vollkommene Regent. Studien zur panegyr. Casuallyrik am Beispiel des Dresdner Hofes Augusts des Starken. Tüb. 1997. – D. Schröder: Zeitgesch. auf der Opernbühne. Barockes Musiktheater in Hamburg im Dienst von Politik u. Diplomatie (1690–1745). Gött. 1998, passim. – Steffen Voss (Hellmuth Christian Wolff): J. U. K. In: MGG, 2. Aufl. (Pers.) (Lit.). – Detlef Döring: Die Gesch. der Dt. Gesellsch. in Leipzig [...]. Tüb. 2002 (Register). – Irmgard Scheitler: Deutschsprachige Oratorienlibretti v. den Anfängen bis 1730. Paderb. u. a. 2005, passim. – Herbert Schneider: Philippe Quinaults ›Alceste ou Le triomphe d’Alcide‹ in drei dt. Adaptionen v. Johann Wolfgang Franck (1680), v. J. U. K. (Braunschw. 1719 u. Hbg. 1719) u. in einer Übers. zur Musik Lullys (Hbg. 1696). Eine librettist. Studie. In: Barock. Gesch., Lit., Kunst. Dt.-poln. Kulturkontakte im 16.-18. Jh. Warschau/Osnabr. 2006, S. 131–173. – Italo Michele Battafarano: Dell’arte di tradur poesia [...]. Bern u. a. 2006 (Register). Peter Heßelmann / Red.
König, Theodor, * 4.3.1824 Krummendorf/Schlesien, † 23.5.1869 Brieg/Schlesien. – Erzähler, Redakteur. K., Sohn eines Oberförsters, besuchte in Breslau das Gymnasium u. arbeitete danach als Hauslehrer. 1848 engagierte er sich als Volksredner, wurde verfolgt u. ging ins Ausland. Er war als Erzieher u. Lehrer beim russ. Generalkonsul von Kotzebue in Bukarest tätig, den er auch auf Reisen in die Türkei u. nach Deutschland begleitete. Anfang der 1850er Jahre kehrte K. nach Schlesien zurück. 1866 ließ er sich in Löwen/Krs. Brieg nieder; dort war er 1867–1868 Redakteur des »Oderblatts. Volkszeitung für Stadt und Land«. K. bearbeitete insbes. Stoffe aus der Kirchen- u. Reformationsgeschichte. In den breit angelegten kulturhistor. Romanen Luther und
seine Zeit (4 Bde., Lpz. 1859), Calvin (3 Tle., Lpz. 1861) u. Ulrich Zwingli (3 Tle., Lpz. 1862) entwarf er ein Panorama der Zeit. Weitere Werke: Lebens- u. Reisebilder aus Ost u. West. Breslau 1852. Moderner Jesuitismus. 2 Tle., Lpz. 1852 (R.). Anton Gregor. 2 Tle., Lpz. 1853 (E.). Der moderne Falstaff. Lpz. 1854. Aus der Gegenwart. 2 Tle., Lpz. 1855 (R.). Paul Werner. Ein Daguerrotyp. 2 Tle., Lpz. 1858. Eine catilinar. Existenz. 2 Bde., Breslau 1865 (R.). Waller u. Sohn. Breslau 1867 (R.). Literatur: Heinrich Kurz: Gesch. der neuesten dt. Lit. Lpz. 1881, S. 674. Kosch 9. Goedeke Forts. Katharina Grätz
König im Bad. – Mirakelerzählung des 13. Jh. Die im späten 13. Jh. im bairisch-österr. Raum anonym entstandene, früher dem Stricker zugeschriebene Reimpaarerzählung, die in 18 Handschriften, drei Fragmenten u. drei Drucken des SpätMA mit variierendem Versbestand (310–366 Verse) bezeugt ist, behandelt den weltweit verbreiteten Erzählstoff vom stolzen u. gedemütigten Herrscher. Wie zahlreiche andere Varianten der christlichabendländ. Tradition exemplifiziert der K. i. B. den Magnificat-Vers »Deposuit potentes de sede et exaltavit humiles« (Lk 1, 52): Ein mächtiger König, der niemanden über sich duldet, hört in der Vesper die Lesung dieser Bibelstelle. Empört lässt er die Stelle aus der Bibel tilgen u. verbietet ihre Nennung. Als er kurz danach im Badehaus weilt, nimmt ein Engel seine Gestalt an; er selbst wird nackt auf die Straße geworfen. Die Versuche des Königs, seine Identität nachzuweisen, bleiben erfolglos. Weder sein engster Ratgeber noch die Königin erkennen ihn. Er wird als Narr verspottet, bis der Engel den Gedemütigten in ein Gemach führt u. ihm den wahren Sachverhalt erklärt. Der König bereut seinen Hochmut, wird rehabilitiert u. berichtet öffentlich von seinem Erlebnis. Die mhd. Erzählung, die auf Bearbeitungen des Stoffs in der lat. Exempelliteratur der Zeit fußt, diente als Grundlage späterer dt. Fassungen. Von Hans Rosenplüt stammt eine kürzende Bearbeitung des K. i. B.; außerdem fand die Geschichte Eingang in Sebastian
König vom Odenwald
Brants Drama Tugent Spyl. – Stofflich eng verwandt sind Herrands von Wildonie Erzählung Der nackte Kaiser u. ein Meisterlied in Klingsors »Schwarzem Ton«, das vom König Nebukadnezar handelt. Ausgaben: Hermann-Josef Müller: Überlieferungs- u. Wirkungsgesch. der Pseudo-Strickerschen Erzählung ›Der K. i. B.‹. Untersuchungen u. Texte. Bln. 1983. Literatur: Michael Curschmann: Zur literarhistor. Stellung Herrands v. Wildonie. In: DVjs 40 (1960), S. 56–79, bes. S. 59–66. – Müller, a. a. O. – M. Curschmann: D. K. i. B. In: VL. – Dieter R. Bauer, Martin Heinzelmann u. Klaus Herbers (Hg.): Mirakel im MA. Konzeptionen, Erscheinungsformen, Deutungen. Stgt. 2002. Ulla Williams / Red.
König vom Odenwald, auch: Kuenig vom Otenwald. – Verfasser von Reimreden des 14. Jh. Bei dem pseudonymisch in Erscheinung tretenden Autor handelt es sich höchstwahrscheinlich um Johann II. von Erbach aus dem Geschlecht der Schenken u. späteren Reichsgrafen, die in Worms, Speyer, Mainz u. Würzburg Kleriker, Pröpste sowie nicht wenige Bischöfe stellten. Er entstammte einer auf Mehrung von Ansehen u. Stellung mittels Repräsentation bedachten, weitverzweigten Familie (Steiger 2007). Johann II. (* um 1300, † 1385 oder 1386) aus der MichelstadtFürstenauer Linie der Erbacher, Domherr zu Mainz u. Würzburg – vornehmlich in Mittelfranken, aber auch im Raum Darmstadt, ist seine Existenz urkundlich vielfach belegt – kam früh in Berührung mit Michael de Leone (= Michael vom Löwenhof; † 1355), Auftraggeber u. Redaktor der Würzburger Liederhandschrift, der seinen Nachfahren die Handschrift als Hausbuch hinterließ. Hier sind neben Minneliedern Walthers von der Vogelweide u. Reinmars von Hagenau, neben Frauenlobs Marienleich, Konrads von Würzburg Das Turnier von Nantes auch die meisten Gedichte des Königs vom Odenwald (KvO) überliefert. 1328 scheint Michael in Würzburg als curie advocatus auf. Seine Bekanntschaft mit Johann(es) geht zurück auf ihre gemeinsame Studienzeit in Italien: Beide sind in den Bologneser Universitätsmatrikeln verzeichnet,
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»Johannes pincerna de Erpach« für 1323, ein Jahr vor Michael. Die persönl. Nähe des »Johan de Erpach ecclesie Herbipolensis canonico« (23.11.1332) respektive des »Joh. Pincerna archidiacono« (22.2.1347) zu »magister Michahel, clericus Herbipolensis curie advocatus«, der alsbald Protonotar (Kanzleileiter) des Bischofs Otto (II.) von Wolfskeel wird, u. die Einbindung des Erbachers in dieses gesellschaftl. Umfeld erschließen die Verbindung zum Werk des KvO. Wiewohl das Œuvre des KvO mit einer einzigen Ausnahme (Vom mangelnden Hausrat) vollständig im berühmten Hausbuch des Michael de Leone (München, Universitätsbibliothek, 28 Cod. ms. 731) enthalten ist, nahm die Forschung lange Zeit kaum Notiz vom KvO. Auch die erste Gesamtausgabe durch Edward Schröder (Archiv für Hessische Geschichte und Altertumskunde, N. F. 3, 1904, S. 1–92; zunächst ohne den Hausrat, den er 1934 folgen ließ, ebd., N. F. 18, 1934, S. 327–334) änderte daran nichts. Zwar hat sich die Heimatforschung auf die vermeintlich naheliegende Kontraktion von »(Bad) König« u. »Odenwald« – nomen est omen – gestürzt (A. Kruhm in: Der Odenwald 2, 1955, H. 3, 89 f.; auch G. Wiesenthal, ebd., 12, 1965, S. 114 f.), doch erst das Interesse an didakt. bzw. satir. Dichtung der Zeit sowie an den mittelalterl. Realien verschafften dem KvO literaturwiss. Zuwendung (M. Curschmann u. I. Glier, Hg.: Dt. Dichtung des MA, Bd. 3, 1981, S. 548–556 u. 707 f.) u. in der Folge auch eine gewisse Wertschätzung. Die heute maßgebl. Ausgabe (R. Olt 1988; zit.) bietet neben einer Übertragung ins Nhd. eine weitgehende Klärung der Verfasserfrage sowie die Enträtselung des Pseudonyms: Beim KvO handelt es sich weder um einen »Pfeifer- oder Spielmannskönig«, auch nicht um den »obersten der Spielleute im Odenwald« (K. Bartsch, in: ADB, Bd. 24, S. 146 f.) u. ebensowenig um einen »Koch oder Küchenmeister« (magister coquinae) des Bischofs, für den ihn Schröder halten wollte, weil er im KvO auch den Verfasser des »Bu8 ch von gu8 ter spîse« (28 Cod. ms. 731, Bl. 156r bis 165v) sah. Olt weist zudem auf intertextuelle Bezüge des KvO zu Walthers Mädchenlied Unter den Linden hin u. sieht stoffl. Vorbilder
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König Rother
im Helmbrecht Werners des Gärtners, bei Pfeiffer. Würzb. 1971, S. 87–111. – Gisela Kornrumpf: Der KvO. In: VL. – R. Olt: Die Gedichte des Freidank u. Neidhart. Die Gedichte des KvO sind eine Fundgrube KvO. In: Beiträge zur Erforsch. des Odenwaldes u. zeitgenöss. Sitten, Gebräuche, Moden u. seiner Randlandschaften. Bd. 4. Hg. Winfried Wackerfuß. Breuberg-Neustadt 1986, S. 1–110. – Ders. anderer kulturhistor. Erscheinungen. Der (s. unter Ausgabe), S. 11–32 u. bibliogr. Angaben – Autor steht der konventionellen Liebes- u. Uli Steiger: Die Schenken u. Herren v. Erbach Frühlingslyrik hochhöfischer ritterl. Idealität (1165/70 bis 1422). Heidelb. 2007. Reinhard Olt fern. Stattdessen holt er bisweilen ungewohnte Töne aus seiner »Künste Lade« hervor u. charakterisiert sein Schaffen folgenKönig Rother. – Anonymes hochmitteldermaßen (I, 1–9): »Manch einer preist seines alterliches Brautwerbungsepos des 12. Jh. Herzens Liebste « [...] »Man läutet alten Frauen, wenn sie gestorben sind« [...], »Man Die Geschichte des Königs, der zu Bari »bi sollte für die guten Kühe eifrig und schön deme westeren mere« residiert, ist nahezu läuten«. Oder er räsonniert über den nahen- vollständig in einer Einzelhandschrift des den Frühling, den Vogelsang, um dann ausgehenden 12. oder frühen 13. Jh. (Heipointiert das Thema seiner Kunst zu nennen: delb., Universitätsbibl., Cpg 390), daneben in »Der Gesang taugte aber gar nichts, wäre da vier Fragmenten des 13./14. Jh. überliefert. nicht das Gackern der Hühner!« (II, 49 f.) So Sie dürfte im dritten Viertel des 12. Jh. ententstehen Lobpreisungen auf Kuh u. Milch, standen sein, vielleicht im Rheinland, doch auf Henne u. Ei. Er singt das Hohelied auf die weist die Schreibsprache auch niederfränk. u. Gans, den nutzbaren Vogel, auf Schaf u. oberdt. Elemente auf. Eine Parallele besitzt Schwein, er schildert die Hatz auf das Huhn der erste Teil der Geschichte in der als Epiu. benennt die vielfachen Einsatzmöglich- sode der altnord. Thidrekssaga überlieferten keiten von Stroh sowie die Zubereitung Osantrixsaga, ohne dass daraus aber zwingend schmackhafter Speisen; allein zwanzig Arten zu schließen wäre, auch der K. R. müsse eine von Eierspeisen lässt er Revue passieren. Der urspr. einteilige Vorstufe besessen haben. Die Handlung des Textes basiert auf dem KvO führt zehn Gründe an, einen Bart zu tragen oder sich in der (gemischtgeschlechtl.) Muster der gefährl. Brautwerbung, das sich Badstube zu vergnügen. Doch nicht allein in der Folgezeit für die mhd. Erzählliteratur vom Nutzen der Haustiere kündet der KvO, als ausgesprochen produktiv erweisen wird. sondern er wettert auch über Missbräuche im Es besteht aus drei Komponenten: (1) Der Fehdewesen, wundert sich über neue Moden Beste u. die Schönste gehören zusammen; (2) von Bekleidung, Haar- u. Barttracht, Hygiene ihre Verbindung gehorcht der Regel mehr u. Bad, klagt über die Laster Betrug u. Täu- oder weniger radikaler Exogamie u. ist (3) schung u. übt generell Kritik an den gesell- nicht problemlos zu verwirklichen. Der Vater schaftl. Zuständen sowie dem Verfall der gu- will seine Tochter in der Regel nicht hergeben u. provoziert damit den Werber zu Aktionen ten Sitten. Der Dichter signierte 12 seiner 13 Reimre- der List, Verstellung oder Entführung, bei den mit »Kunig vom Otenwalde« (»Daz tiht denen erfahrene Ratgeber u. Helfer eine der kunig vom Otenwalde« IV, 52) oder nur wichtige Rolle spielen können. So auch im K. »der Kunig«. Er griff für die Literatur des dt. R. Zunächst werden Boten übers Meer geSpätMA höchst ungewöhnl. Themen auf, schickt nach Konstantinopel, um König welche uns Heutigen einen erhellenden u. Konstantin um die Hand seiner Tochter zu bisweilen belustigenden Einblick in den bitten. Obschon prachtvoll auftretend, werden sie abgewiesen u. ins Gefängnis geworspätmittelalterl. Alltag gewähren. Ausgabe: KvO. Gedichte. Mhd.-Nhd. Mit einer fen. Nach einem Jahr zieht Rother selbst »in Einl. zur Klärung der Verfasserfrage. Hg. u. über- recken wise« aus, begleitet nur von wenigen tragen v. Reinhard Olt. Heidelb. 1988. Genossen, darunter den Riesen Asprian u. Literatur: Gerlinde Lamping: Michael de Leo- Witolt. Er tritt unter dem Namen Dietrich an ne. In: Fränk. Lebensbilder. Bd. 4. Hg. Gerhard Konstantins Hof auf, sich dabei als von Ro-
König Rother
ther Vertriebener ausgebend. Durch Freigebigkeit erwirbt er sich die Gunst des Volkes, durch die Gewalttätigkeit seiner Riesen die Furcht des Hofes, der zu bedauern beginnt, dass Rothers Werbungsgesuch vorschnell abgelehnt wurde. In einer Kemenatenszene enthüllt Dietrich/Rother der Königstochter seine Identität. Nachdem er den Heidenkönig Ymelot, der Konstantins Reich angreift, gefangengenommen hat, nutzt er die Gelegenheit, mit ihr zu fliehen u. nach Bari zurückzukehren. Doch er ist noch nicht am Ziel. Da es einem von Konstantin beauftragten Spielmann gelingt, die Braut seinerseits zu entführen, muss Rother ein zweites Mal nach Konstantinopel ziehen (diesmal mit Heeresmacht). Gerade noch kann er verhindern, dass der Heide Ymelot die griech. Königstochter seinem Sohn vermählt. Mit Hilfe früher gewonnener Freunde vernichtet er das heidn. Heer u. bekommt nunmehr vom Vater freiwillig die (bereits auf der ersten Überfahrt schwanger gewordene) Tochter. Sie gebiert Pippin, den Vater Karls des Großen. Nach über 20-jähriger Herrschaft ziehen sich Rother u. seine Gattin ins Kloster zurück; Pippin, schließlich Karl übernehmen die Herrschaft. Das Brautwerbungsmuster wird in einem doppelten Durchgang, in Relation u. Kontrast zweier Fahrten profiliert. Das ermöglicht es, Verhaltensweisen von List u. Macht als aufeinander angewiesen zu zeigen: Rothers anfängl. Freigebigkeit bringt nicht nur momentan eine Steigerung des Ansehens, sondern später auch die Rettung aus Gefahr – der zuvor beschenkte Graf Arnold wird ihm zu Hilfe eilen u. das siegbringende Eingreifen der Riesen einleiten. Doch ermöglicht die Doppelung auch eine Heraushebung der Prinzipien des Erzählens. Das wird sichtbar z.B., wenn Rother bei seiner zweiten Ankunft in Konstantinopel, als Pilger verkleidet, sich von einem ihm begegnenden Ritter den Stand der Dinge erzählen lässt – vorgeblich, um selbst bei Hof Neuigkeiten bieten zu können: ein raffiniertes Spiel mit der Beziehung von Handlung u. Erzählung. Auf diese Weise werden die Bestandteile des Schemas ›doppelsinnig‹. Es ergibt sich eine Spannung von kausaler u. finaler Logik.
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Pathosformeln erhalten Inszenierungscharakter. Wenn eingangs der Herrscher beim Aufbruch der Boten am Meeresstrand gezeigt wird, wie er drei Leiche auf seiner Harfe spielt, ist dies nicht nur ein starkes Bild, zgl. geht es um das Zeichen, das später bei der Wiederbegegnung mit den Boten eine Rolle spielen wird. Wenn Rother am Hof Konstantins als Dietrich auftritt, ist dies nicht nur eine listige Strategie, denn zgl. vollzieht sich ein beständiges Kippen zwischen Präsenz u. Absenz, das eine neue literar. Komplexität mit sich bringt. Auch die Erkennungsszene zwischen Rother u. der Königstochter bei einer rituellen Schuhanprobe in der Kemenate zeigt treffende u. für Räumlichkeit sensible Darstellungskunst. Die Riesenszenen beweisen Sinn für Humor (Witolt beißt in seine Stange). Die literar. Entfaltung des Schemas verbindet sich mit einer historischen. Indem im zweiten Teil die urspr. Opposition zwischen Rother u. Konstantin in eine Opposition zwischen diesen u. dem Heiden Ymelot umgewandelt wird, deutet sich eine utop. Einheit von westl. u. östl. Reich an, die über die Bezugnahme auf die Karlsgenealogie auch für ein »deutsches« Imperium gültig ist. Wird Rother nach der ersten Rückkehr aus Konstantinopel einmal, im Kontext eines Zuges ins Rheinland, »keyser« genannt (V. 3107), erscheint er gegen Ende als eigentl. Ahnherr des westl. Abendlands. Er hält bereits Reichstag in Aachen. Er verteilt Länder, die erst von Karl dem röm.-dt. Imperium eingegliedert wurden (Sachsen, Spanien). Und er begünstigt dabei Geschlechter, die wiederum im 12. Jh. Bezugsgrößen für das Publikum darstellten. Die Tengelinger erhalten in Gestalt Wolfrats Österreich, Böhmen u. Polen als Lehen. Dass die Nachfahren der Tengelinger allerdings in der zweiten Häfte des 12. Jh., in der das Epos entstand, den alten Geschlechtsnamen nicht mehr führten, mag darauf verweisen, dass hier eine Vergangenheit entworfen wird, die noch aktuell, aber auch schon abgeschlossen war. So wie Rother sowohl Vorfahr wie Vorgänger ist, so bietet das erzählte Geschehen sowohl eine ›Vorgeschichte‹ wie eine ›Frühgeschichte‹. Der Text
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Königin vom Brennenden See
verlagert die Anfänge der karoling. Dynastie zählen im ›K. R.‹. In: L. Lieb u. Stephan Müller in eine genealogisch präzise, aber historisch (Hg.): Situationen des Erzählens. Bln. 2002, unpräzise Vorzeit u. führt wiederum diese S. 167–190. – Christian Kiening: Arbeit am Muster. Verlagerung als Fluchtpunkt einer mythisie- In: Ders.: Zwischen Körper u. Schrift. Texte vor dem Zeitalter der Lit. Ffm. 2003, S. 130–156, renden narrativen Vergegenwärtigung vor. 353–362. – Lorenz Deutsch: Die Einf. der Schr. als Dadurch, dass sich im Laufe des Epos genea- Literarisierungsschwelle. Kritik eines mediävist. log., territoriale u. heilsgeschichtl. Aspekte Forschungsfaszinosums am Beispiel des ›K. R.‹. In: konkretisieren, erhält auch die Doppelung Poetica 35 (2003), S. 69–90. – Hubertus Fischer: der Handlung eine spezif. Perspektive. Gewalt u. ihre Alternativen. Erzähltes polit. HanSichtbar wird eine Welt im Übergang zur deln im ›K. R.‹. In: Günther Mensching (Hg.): Ge›Geschichte‹, eine Welt, in der sich polit. Ra- walt u. ihre Legitimation im MA. Würzb. 2003, tionalität, diplomatische Raffinesse u. insze- S. 204–234. – Stephan Fuchs-Jolie: Gewalt, Text, nator. Kalkül durchsetzen, zugleich aber die Ritual. Performativität u. Literarizität im ›K. R.‹. In: PBB 127 (2005), S. 183–207. – Miriam RiekenBedingungen der Inszenierung des Archaiberg: Literale Gefühle. Studien zur Emotionalität schen zum Vorschein bringen. Das mag er- in erzählender Lit. des 12. u. 13. Jh. Ffm. u. a. 2006. klären, warum die Romantik am K. R. GeChristian Kiening fallen fand: Ludwig Tieck machte sich eine Abschrift der Heidelberger Handschrift u. Die Königin vom Brennenden See. – versuchte sich an einer Übersetzung (Altdeut- Späthöfischer Roman, entstanden nach sche Epische Gedichte 1: König Rother. Hg. Uwe der zweiten Hälfte des 14. Jh. u. vor 1474, Meves. Göpp. 1979). der Datierung des einzigen Textzeugen Ausgabe: K. R. Mhd. Text u. nhd. Übers. v. Peter K. Stein. Hg. Ingrid Bennewitz. Stgt. 2000. Literatur: Hans Szklenar: Studien zum Bild des Orients in vorhöf. dt. Epen. Gött. 1966, S. 113–150. – Uwe Meves: Studien zu K. R., Hzg. Ernst u. Grauer Rock (Orendel). Ffm. 1976. – Ferdinand Urbanek: Kaiser, Grafen u. Mäzene im K. R. Bln. 1976. – Dagmar Neuendorff: Studien zur Entwicklung der Herrscherdarstellung in der deutschsprachigen Lit. des 9.-12. Jh. Stockholm 1982. – Thomas Klein: Zur Thridrekssaga I. Vilcina saga u. K. R. In: Heinrich Beck (Hg.): Arbeiten zur Skandinavistik. Ffm./Bern/New York 1985, S. 487–512. – H. Szklenar: K. R. In: VL. – Walter Haug: Struktur, Gewalt u. Begierde. In: FS Klaus v. See. Odense 1988, S. 143–157. – P. K. Stein: Beobachtungen u. Überlegungen zum ›K. R.‹. In: FS Ingo Reiffenstein. Göpp. 1988, S. 309–338. – Christa Ortmann u. Hedda Ragotzky: Brautwerbungsschema, Reichsherrschaft u. stauf. Politik. Zur polit. Bezeichnungsfähigkeit literar. Strukturmuster am Beispiel des ›K. R.‹. In: ZfdPh 112 (1993), S. 321–343. – Rita Zimmermann: Herrschaft u. Ehe. Die Logik der Brautwerbung im ›K. R.‹. Ffm. u. a. 1993. – Monika Schulz: [...]. Bemerkungen zur Kemenatenszene im ›K. R.‹. In: Beate Kellner, Ludger Lieb u. Peter Strohschneider (Hg.): Literar. Kommunikation u. soziale Interaktion. Ffm. u. a. 2001, S. 73–88. – Markus Stock: Kombinationssinn. Narrative Strukturexperimente im ›Straßburger Alexander‹, im ›Herzog Ernst B‹ u. im ›K. R.‹. Tüb. 2002. – Sylvia Schmitz: [...]. Er-
(Augsburg, SB u. StB, 28 cod. 170). Die Sammelhandschrift legt ebenso wie die Reime eine Abfassung im ostschwäb. Raum nahe. In knapp 3000 Versen erzählt der Text von der Liebe des frz. Königssohnes Hans zu einer Fee u. orientiert sich dabei strukturell an dem im SpätMA beliebten Erzählmuster von der gestörten Mahrtenehe. H. verirrt sich auf einer Jagd u. findet in einer fremden Burg gastl. Aufnahme. Deren schöne Herrin bietet ihm die Heirat an unter der Bedingung, dass er sie niemals so verletzen dürfe, dass sie blute. Nach zehn glückl. Ehejahren sticht sich die Frau bei einer zärtl. Umarmung an einer Nadel u. muss H. verlassen. Mit den beiden Söhnen zieht sie sich in das geheimnisvolle Land vom Brennenden See zurück, während H. nach Paris heimkehrt. Aus Kummer begibt er sich jedoch bald auf die langwierige Suche nach ihr, wobei er alle Hindernisse mühelos überwindet. Als seine Frau auf Drängen ihrer Untertanen erneut heiraten soll, rettet er sie, indem er inkognito beim Turnier den Sieg erringt. Der Schluss berichtet von der Herrschaft des wiedervereinten Paares, der Belohnung eines treuen Dieners u. dem Schicksal der Söhne.
Königsdorf
Der Erzählstil ist einfach u. wohl nicht nur wegen der vielen verderbten Stellen nicht frei von Brüchen. Eine Problematisierung der Differenz von höf. Sphäre u. Anderswelt findet nicht statt. Die Fee u. ihr Reich erscheinen weitgehend entmythifiziert, u. so dient das Spiel mit den traditionellen Erzählmustern lediglich der Charakterisierung der höf. Liebe des Protagonisten. Ausgabe: Paul Sappler: Die K. v. B. S. In: Wolfram-Studien 4 (1977), S. 173–270. Literatur: P. Sappler: Die K. v. B. S. In: VL. – Armin Schulz: Spaltungsphantasmen. Erzählen v. der ›gestörten Mahrtenehe‹. In: Wolfram-Studien 18 (2004), S. 233–262. Martina Backes
Königsdorf, Helga, * 13.7.1938 Gera. – Erzählerin. K. stammt aus einer Familie thüring. Schieferbergbauern, studierte Mathematik u. Physik in Jena u. Berlin u. wurde 1974 zur Professorin für Mathematik an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin berufen. Seit 1990 ist sie als freischaffende Schriftstellerin tätig. K.s Debüt Meine ungehörigen Träume (Bln./ Weimar 1978) spiegelt den Utopieverlust der DDR-Literatur in den sechziger u. siebziger Jahren. Der umfassende Selbstverwirklichungsanspruch, den die Frauengestalten Christa Wolfs, Irmtraud Morgners u. Brigitte Reimanns bis in die siebziger Jahre hinein aufrechterhalten, macht in K.s Erzählungen der sachl. Lagebesprechung u. nüchternen Bilanz privater Verluste an Geborgenheit u. Mitmenschlichkeit Platz. Die Texte, in denen v. a. Frauen Selbstauskunft geben, spiegeln eine Gesellschaft, in der die Frauen in den Arbeitsalltag integriert sind, ohne zu neuen Formen des Lebens, Erlebens u. Zusammenlebens mit dem anderen Geschlecht gefunden zu haben. Die humoristischen u. satir., gelegentlich auch märchenhaften Elemente ihres Erzählens verstärken sich in Der Lauf der Dinge (Bln./ Weimar 1982. U. d. T. Mit Klischmann im Regen. Darmst. 1983) u. Lichtverhältnisse (Bln./ Weimar 1988. U. d. T. Die geschlossenen Türen am Abend. Ffm. 1989). Das Realitätsprinzip wird außer Kraft gesetzt, um den Blick auf
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das Verdrängte u. Vergessene lenken zu können. Beispielhaft ist die Erzählung Reise im Winter (in: Lichtverhältnisse), die den Abschied von der sozialistischen Utopie ins Bild einer Reise fasst, in deren Verlauf ein als weibl. Passagier verkleideter Engel verschwindet. Im Mittelpunkt ihrer Darstellung der sozialistischen Arbeitswelt steht das »Institut für Zahlographie«, Schauplatz satirisch krit. Erzählungen, die nach der Glaubwürdigkeit gesellschaftl. Handelns fragen. Höhepunkt ihrer Auseinandersetzung mit wissenschaftseth. Fragen ist die autobiogr. gefärbte Erzählung Respektloser Umgang (Bln./Weimar u. Darmst. 1986. U. d. T. Fission. Evanston/Chicago 2000). Im erfundenen Gespräch mit der Kernphysikerin Lise Meitner, die mit Otto Hahn das Uran spaltete, erörtert K.s von schwerer Krankheit gezeichnete Erzählerin Fragen der moralischen Verantwortung der Naturwissenschaften für die Zukunft der Menschheit. Nach dem Zusammenbruch der DDR drängt sich das Thema des Biografie- u. Geschichtsbruchs vor. Im Schwankungsfeld zwischen augenblicksverhafteter Mündlichkeit u. beherrschter Schriftlichkeit erörtert K. den Abschied von der DDR u. den Prozess der Vereinigung in Gesprächen mit Landsleuten (Adieu DDR. Protokolle eines Abschieds. Reinb. 1990. Unterwegs nach Deutschland. Über die Schwierigkeit, ein Volk zu sein: Protokolle eines Aufbruchs. Reinb. 1995), in einer Collage von Briefen, Gedichten u. Kommentaren (1989 oder Ein Moment der Schönheit. Bln./Weimar 1990), in Essays, Reden u. Aufsätzen (Aus dem Dilemma eine Chance machen. Reden und Aufsätze. Ffm 1991. Über die unverzügliche Rettung der Welt. Bln. 1994) u. in dem Roman Im Schatten des Regenbogens (Bln. 1993). Den suchenden Übergang in die neuen gesellschaftl. Verhältnisse u. die Rückwendung auf die eigene Befindlichkeit spiegeln der Roman Die Entsorgung der Großmutter (Bln. 1997) über den Verfall familiärer Bindungen in Zeiten von Arbeitslosigkeit u. Sozialabbau u. ihre Erinnerungen Landschaft in wechselndem Licht (Bln. 2003). Von der Kindheit u. Jugend in Kriegs- u. Besatzungszeit u. die 1953 u. 1961 vereitelten polit. Wandel- u. Fluchtmöglichkeiten schlägt K. einen erzäh-
Königsmarck
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lerischen Bogen zum Aufstieg des Mädchens aus großbürgerl. Haus in Schule, Universität u. Akademie, der vergebl. Suche nach privatem Glück u. dem Weg in die Literatur. Gleichzeitig stellt sich die schwere Krankheit ein, die ihr Leben in den immer neuen Aufschub des Endes verwandelt, den die Schlussszene darstellt. – K. erhielt 1985 den Heinrich-Mann-Preis. Weitere Werke: Ungelegener Befund. Bln./ Weimar 1982 (essayist. Belletristik). – Hochzeitstag in Pizunda. Bln./Weimar 1986. U. d. T. Bolero. Rom 1989 (E.en). – Lichtverhältnisse. Bln./Weimar 1988 (Gesch.n). – Die geschlossenen Türen am Abend. Ffm. 1989 (E.en). – Gleich neben Afrika. Reinb. 1992 (E.). – Dtschld. um die Jahrhundertwende. Darstellung v. 1890 bis zum Ersten Weltkrieg (zus. mit Max Mittler u. Bruno Weber). Zürich 1990. – 50 Jahre DDR. Der Alltag der DDR, erzählt in Fotografien aus dem Archiv des ADN (zus. mit Walter Heilig u. Gunther Drommer). Bln. 1999. – Landschaft in wechselndem Licht. Bln. 2005 (Erinnerungen u. Gedichte). Literatur: Martin Kane: Socialism and literary imagination. Essays on German Writers. New York 1991. – Jeanette Clausen u. Sara Friedrichsmeyer: Feminist Studies in German Literature and Culture. Lincoln 1991. – Robert v. Hallberg u. Kenneth J. Northcott: Literary intellectuals and the dissolution of the state. Professionalism and conformism in the GDR. Chicago 1996. – Günter Gaus: Zur Person: Jurek Becker, Daniela Dahn, Walter Jens, Hermann Kant, H. K., Christa Wolf. Bln. 1998. – Eva Kaufmann: Aussichtsreiche Randfiguren. Neubrandenburg 2000. – Helen Bridge: Womens Writing and historiography in GDR. Oxford/New York 2002. – Julia Petzl: Realism and reality in Helga Schubert, H. K. and Monika Maron. Ffm. 2003. – Cheryl Dueck: Rifts in time and in the self. The female subject in two generations of East German women writers. Amsterd. 2004. – Barbara Lersch-Schumacher: H. K. In: KLG. Sibylle Cramer
Königsmarck, Maria Aurora Gräfin, * 28.4.1662 Schloss Agathenburg bei Stade, † 16.2.1728 Quedlinburg; Grabstätte: ebd., Stiftskirche. – Librettistin, Lyrikerin. Die gebürtige Schwedin wurde privat unterrichtet u. lebte nach dem Tod ihres Vaters seit Ende 1673 mit Mutter u. Schwester in Hamburg, wo sie nach 1678 im Mittelpunkt
künstlerischen u. gesellschaftl. Lebens stand. Die Familie siedelte 1680 nach Stockholm über. Nach dem Tod ihrer Mutter kehrte K. 1692 nach Hamburg zurück, reiste 1694 mehrfach an den Dresdner Hof u. war Ende 1694 bis Frühjahr 1696 die Mätresse Augusts des Starken. 1698 wurde sie Koadjutorin u. 1700 Pröpstin des brandenburgischen Stifts Quedlinburg, das sie 1703–1718 stellvertretend leitete. K. schrieb den Text zu Johann Wolfgang Francks Oper Die drey Töchter Cecrops (Hbg. 1680. Internet-Ed.: HAB. Neudr. in: Die Hamburger Oper. Hg. Reinhart Meyer. Bd. 1, Mchn. 1980, S. 125–170) u. verfasste geistl. u. galante Gedichte. Sie war mit Reinhard Keiser u. Mattheson befreundet. Benjamin Friedrich von Reichenbach veröffentlichte anlässlich ihres Geburtstags ein Gedicht (Poeme heroique sur le jour de naissance de [...] Madame M. A. K. [...]. Quedlinb. um 1700. Internet-Ed.: VD 17), Georg Christian Lehms widmete ihr Teutschlands galante Poetinnen (Ffm. 1715). Weitere Werke: Gedichte: Lehms a. a. O. Anhang, S. 113–122. – Christian Friedrich Weichmann: Poesie der Nieder-Sachsen. Bd. 1, Hbg. 1721, S. 221. – Per Hanselli: Samlade Vitterhetsarbeten af Svenska författere från Stjernhjelm till Dalin. Bd. 8, Uppsala 1867, S. 33 f., 37–42, 61–65, 71–89. Literatur: Bibliografie: Die Hamburger Gänsemarkt-Oper. Kat. der Textbücher (1678–1748). Hg. Hans Joachim Marx u. Dorothea Schröder. Laaber 1995. – Weitere Titel: Friedrich Cramer: Biogr. Nachrichten v. der Gräfin M. A. K. Quedlinb./Lpz. 1833. – Ders.: Denkwürdigkeiten der Gräfin M. A. K. u. der K.schen Familie. 2 Bde., Lpz. 1836 (Werke: Bd. 2, S. 91–102). – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 4, Hbg. 1858–66, S. 127–129. – Birger Mörner: M. A. K. En Kronika. Stockholm 1914. Dt. Mchn. 1922. – Hermann Lorenz: M. A. Gräfin K. In: Mitteldt. Lebensbilder 5 (1930), S. 18–36. – Karlheinz Blaschke: A. v. K. In: NDB. – C. F. Weichmanns Poesie der Nieder-Sachsen (1721–1738). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels u. a. Wolfenb. 1983, S. 103. – J. M. Woods: Nord. Weyrauch: the religious lyrics of A. v. K. and her circle. In: Daphnis 17 (1988), S. 267–326 (mit Texted. der gleichnamigen Gedichtslg.). – Dies.: A. v. K.; epitome of a ›Galante Poetin‹. In: ebd., S. 457–465. – Solveig Olsen: A. v. K.’s Singsp. ›Die drey Töchter Cecrops‹. In: ebd., S. 467–480. – Ulrich Seelbach: M. A. v.
Königsteiner Liederbuch
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K.’s Stanzen über ihren Bruder Philipp Christoph. In: Daphnis 20 (1991), S. 403–422. – Stephan Kraft: Galante Passagen im höf. Barockroman. A. v. K. als Beiträgerin zur ›Römischen Octavia‹ Hzg. Anton Ulrichs. In: Daphnis 28 (1999), S. 323–345. – KlausPeter Koch: A. v. K. u. Reinhard Keiser: Zur Musikausübung in adligen Kreisen. In: Jb. Ständige Konferenz mitteldt. Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt u. Thüringen 1 (2000), S. 74–82. – Estermann/Bürger, Tl. 2, S. 855–860. – Sylvia Krauss-Meyl: ›Die berühmteste Frau zweier Jahrhunderte‹. M. A. Gräfin v. K. Regensb. 2002. – D. Schröder: Die schöne Gräfin K. Wienhausen 2003. – Beate-Christine Fiedler: M. A. v. K. als gefeierte Barockdichterin. In: Quedlinburger Annalen 8 (2005), S. 54–70. – Linda Maria Koldau: Frauen, Musik, Kultur: Ein Hdb. zum dt. Sprachgebiet der frühen Neuzeit. Köln u. a. 2005 (Register). – DietzRu¨ diger Moser: A. v. K. u. die Musik ihrer Zeit am Kaiserl. Freien Weltl. Stift Quedlinburg. In: Musikgesch. im Zeichen der Reformation [...]. Hg. Peter Wollny. Beeskow 2006, S. 81–93. Jürgen Rathje / Red.
Königsteiner Liederbuch. – Spätmittelalterliche Sammlung von Liedern, aus der Gegend von Königstein/Taunus, 1471/72. Unter den Sammlungen, welche die nichtmeisterl. weltl. Lyrik der zweiten Hälfte des 15. Jh. überliefern u. deren Bild in Ausgaben u. literarhistor. Behandlung prägen, ist das K. L. eine der späteren u. die umfangreichste. Die Handschrift (ein Schreiber, rheinfränkisch) ist Teil des Konvoluts Berlin Mgq 719 u. umfasst 169 Liedaufzeichnungen; die Papierzeichen deuten auf eine Entstehungszeit um 1471/72. Das Profil der Sammlung wird durch anonyme Liebeslieder vom Typus des Gesellschaftslieds bestimmt, Rollenlyrik mit Liebesklage, Preis der Geliebten, werbender Liebesversicherung u. Warnung vor Schwätzern u. Verleumdern. Die Topik nimmt reduzierend Minnesangtraditionen auf, die in diesem Zusammenhang gefühlvoller, privater u. künstlerisch weniger anspruchsvoll wirken. Das Zurücktreten von parodistischen Schelt- u. Absageliedern u. Derbheiten, die im Augsburger Liederbuch von 1454 u. im Lochamer-Liederbuch eine wichtige Rolle spielen, erzeugt den Eindruck des Feinen u. gesellschaftlich Akzeptierten. Daneben sind zu
nennen Taglieder u. Zeitklagen sowie einige Lieder in überkommenen Tönen, v. a. im Hofton Reinmars von Brennenberg, des Brembergers – ein Paar balladesker Rollenlieder scheint der Schlüssel zur BrembergerSage zu sein. Der sonstige Inhalt der Handschrift verweist auf die literar. Interessen der Familie der Grafen von Eppstein-Königstein, u. die einzige eindeutig identifizierte Person unter den wenigen in Liednachschriften Genannten, Graf Heinrich von Württemberg. Er war seit 1469 mit der Familie verschwägert (weiteren Identifizierungsansätzen müsste noch nachgegangen werden). Dies deutet auf eine adlige Liebhaberschicht, die die Lieder in Gebrauch hatte u. sammelte, wohl ohne viel poetische Eigenleistung. Spuren des Gebrauchs in der Vorstufe, die in Einzelblättern u. kleinen Heftchen bestand, sind für das K. L. charakterist. Devisen, monogrammartige Abkürzungen, Zeichnungen von Kronen u. Blumen sowie Spruchbänder am Liedende, die der Schreiber der erhaltenen Sammlung dorthin übernommen hat. Die bei vier Liedern stehenden einstimmigen Melodieaufzeichnungen sind die ältesten Beispiele der dt. Lautentabulatur, einer Notationsweise, als deren Erfinder der Nürnberger Orgelmeister Konrad Paumann gilt. Es ergeben sich so – wie auch schon durch Überlieferungsparallelen – Bezüge zu musikalisch noch bedeutsameren Nürnberger Sammlungen, dem Lochamer- u. dem SchedelLiederbuch, die allerdings weniger in adlige Kreise als in die städt. Bildungsschicht gehören. Ausgabe: Paul Sappler: Das K. L. Mchn. 1970 (mit Untersuchungen u. Lit.). Literatur: A. H. Touber: Dt. Strophenformen des MA. Stgt. 1975, S. 40–43. – Christoph Petzsch: Zur Vorgesch. der Stammbücher. Nachschr.en u. Namen im K. L. In: Archiv 222 (1985), S. 273–292. – RSM. Paul Sappler / Red.
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Köpf, Gerhard, * 19.9.1948 Pfronten/Allgäu. – Romancier, Erzähler, Essayist, Hörspielautor, Dramatiker, Literaturwissenschaftler, Herausgeber. K., Sohn eines Landbriefträgers, wuchs im Allgäu auf. Sein Studium der Germanistik in München schloss er 1974 mit der Promotion ab. Anschließend lehrte er an verschiedenen Universitäten. 1984–2003 war K. Professor für Gegenwartsliteratur u. Angewandte Literaturwissenschaft an der Universität Duisburg u. nahm im Auftrag des Goethe-Instituts zahlreiche Gastprofessuren im Ausland wahr. Ab 2000 wandte er sich verstärkt medizinischen Themen zu u. wurde u. a. Gastprofessor an der Psychiatrischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München u. externer Dozent am Lehrstuhl für Psychiatrie der TU München mit dem Schwerpunkt Psychopathologie in Sprache u. Literatur. K. lebt in München. In dem Roman Eulensehen (Mchn. 1989) sagt der Papagei Orinoco, Erzählen allein genüge nicht: »Worauf es ankommt ist das Wiedererzählen.« In K.s Romanen u. Erzählungen erzeugen Geschichten neue Geschichten, vermischen sich Fiktion u. Fakten, Träume, alte Fabeln u. Märchen mit Zitaten u. Motiven aus der Weltliteratur zu einem eigenen Erzählkosmos. Jean Paul, Wilhelm Raabe, Jorge Luis Borges, Stefan Grabin´ski u. a. verpflichtet, tritt der Literaturwissenschaftler u. Schriftsteller K. für die Zusammengehörigkeit von Lesen u. Schreiben, Rezeption u. literar. Umsetzung ein. Jeder Roman sollte, so betont er in seinen Essays, nichts weniger als die Poetik seiner selbst sein. In K.s Roman Die Strecke (Ffm. 1985. Frei verfilmt u. d. T. Wallers letzter Gang. 1988. Urauff. 1989) erzählt der Streckenwärter Aggwyler, der seine Bahnstrecke ein letztes Mal abgeht, einem imaginären Revisor an seiner Seite die Geschichte des Landstrichs u. seiner Bewohner sowie sein eigenes Leben. Sein Erzählen wird zum Akt des Widerstands gegen die Stilllegung der Strecke u. zeigt die Kluft auf, die zwischen der Poesie u. der Gesellschaft besteht: Aggwylers Strecke entsteht beim Gehen u. ist nicht (mehr) jene, die
Köpf
stillgelegt werden soll; seine Welt entsteht beim Erzählen. »Ich erschaffe die Welt in verkleinertem Maßstab im Rhythmus des vertrackten Abstandes zwischen den Schwellen.« K. richtet sich damit gegen die Prinzipien des vorgebl. Realismus. »Statt die Welt abzubilden [...], muß der Erzähler sein Ich, seine Welt und die Zeiten [...] kraft poetischer Vorstellung und Phantasie überhaupt neu [...] schaffen« (Komm, stirb mit mir ein Stück. In: Literaturmagazin 19, 1987). Vergangenheit, Gegenwart u. Zukunft wachsen in K.s Romanen zur »Vergegenkunft«, einer von Günter Grass geprägten vierten Zeitform zusammen. In ihr wird nicht erzählt, wie es ist oder war, sondern, wie es hätte sein können. Gemeinsam mit den Romanen Innerfern (Ffm. 1983) u. Die Erbengemeinschaft (Ffm. 1987) bilden Die Strecke u. Eulensehen eine Tetralogie: In ihr entfaltet K. die Chronik des Ortes Thulsern, das sich in der Nähe von K.s Geburtsort Pfronten denken lässt u. wie Faulkners Jefferson oder Marquez’ Macondo nur auf einer literar. Landkarte zu finden ist. Jeder der Romane enthält Hinweise auf die vorausgegangenen; bereits vorgestellte Personen tauchen wieder auf. Oft gibt es mehrere Erzähler; sie sind zgl. Beobachter, Kommentatoren u. Protagonisten. Im Roman Die Erbengemeinschaft berichtet der Erzähler von seiner Rückkehr in seine Heimat Thulsern. Er verfolgt die Chronik seiner Familie über fünf Generationen zurück u. stellt sie in einer Reihe von Moritatentafeln vor. Seine Schilderungen beruhen auf Hunderten von Bildern, die eingekerbt sind in die Haut eines alten brasilian. Kürbisses. »Die Kalebasse ist das Weltgedächtnis, in dem nichts verlorengeht, sie ist die Haut, in die sich jeder Schmerz ritzt, jedes dumme kurze Glück und jede Katastrophe von lächerlicher Grausamkeit.« In einem immerwährenden Kalender, der nach Monaten u. Sternzeichen gegliedert ist, hält der Postbote von Thulsern in Eulensehen seine Gedanken, die Erinnerung an weit Zurückliegendes u. die Auseinandersetzung mit den Geschehnissen des Tages fest. Eulensehen wird Ausgangspunkt für die nachfolgenden Werke: In der Novelle Borges
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gibt es nicht (Ffm. 1991), im Jugendroman Bluff oder das Kreuz des Südens (Weinheim 1991), im Roman Piranesis Traum (Hbg./Zürich 1992) u. in der Erzählung Papas Koffer (Hbg. 1993) variiert K. Themen u. Motive u. führt sie weiter aus. Ein einfacherer, in geringerem Maße von Metaphern u. barocker Sprachfülle geprägter Erzählstil kennzeichnet K.s neuere Prosa. Der Roman Käuze in Pfeffer und Salz (Tüb. 2008) u. die Novelle Ein alter Herr (Tüb. 2006) schildern die seltsamen Rituale emeritierter Professoren, welche ihre vornehmen Existenzen gegenüber den Zumutungen der Massengesellschaft bzw. gegenüber den Krankheitserscheinungen der Altersdemenz zu erhalten suchen. K., Mitgl. des P.E.N.-Zentrums Deutschland u. der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, erhielt zahlreiche Stipendien u. Auszeichnungen, darunter 1990 den Wihelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig; Poetikprofessuren nahm er an den Universitäten Bamberg (1993) u. Tübingen (1999) wahr. Weitere Werke: Schwellengang u. a. Prosa. Weingarten 1984. – Vom Schmutz u. vom Nest. Aufsätze aus zehn Jahren. Ffm. 1991. – Der Weg nach Eden. Roman. Mchn./Zürich 1994. – Ezra & Luis oder die Erstbesteigung des Ulmer Münsters. Ein Spiel sowie essayist. Kletterhilfen zu Pound & Trenker. Hg. Christine Karafiat u. Fabian Kametz. Innsbr./Eggingen 1994 (Theaterst., Urauff. Brixen 1994. Hörsp., Urauff. SWF 1994). – Der Kühlmonarch. Eine Selberlebensbeschreibung. Austin, Texas 1995. – Nurmi oder die Reise zu den Forellen. Eine Erzählung. Mchn. 1996. – Vor-Bilder. Tübinger Poetik-Vorlesungen. Tüb. 1999. – Astrain. Das Alzheimer Sprach-Training. Zum sprachl. Umgang mit Demenz-Patienten. Oberhausen 2001. – Psychiatrie in der Lit. (zus. mit Volker Faust). Wiesb. 2003. – Die Vorzüge der Windhunde. Ess.s gegen das Vergessen. Tüb. 2004. – ICD-10 literarisch. Ein Lesebuch für die Psychiatrie (zus. mit Hans-Jürgen Möller). Wiesb. 2006. – Herausgeber: Rezeptionspragmatik. Zur Praxis des Lesens. Mchn. 1981. – Ein Schriftsteller schreibt ein Buch über einen Schriftsteller, der zwei Bücher über zwei Schriftsteller schreibt ... Dichter über Dichter u. Dichtung. Ffm. 1984. – Das Buch der Drachen. Die schönsten Drachengesch.n für Kinder u. Erwachsene. Ffm. 1987. – Hund u. Katz u. Maus, Schnecke, Butt u. Ratte. Günter Grass zum sechzigsten Geburtstag. Ffm. 1987. – Erzählen, Erinnern. Dt.
564 Prosa der Gegenwart. Interpr.en (zus. mit Herbert Kaiser). Ffm. 1992. – Mitt.en über Max. Marginalien zu W. G. Sebald. Oberhausen 1998. – Gregor v. Rezzori: Blumen im Schnee. Porträtstudien zu einer Autobiogr., die ich nie schreiben werde. Versuch der Erzählweise eines gleicherweise nie geschriebenen Bildungsromans. Bln. 2007. Literatur: Jürgen Egyptien: Scheherazade, ewiger Umgang u. Klandestinität. Anmerkungen zur poet. Praxis u. zu den Erzähltheorien v. HannsJosef Ortheil, G. K. u. Gert Neumann. In: Vom gegenwärtigen Zustand der dt. Lit. Mchn. 1992 (Text + Kritik. H. 113), S. 10–18. – Franz Loquai (Hg.): ›Der blaue Weg des Möglichen‹. Materialien zum Werk G. K.s. Bamberg 1993. – Ders. (Hg.): G. K. Eggingen 1993. – Edgar Platen: Erzählen als Widerstand. Zu G. K.s Roman ›Die Strecke‹ im erzähler. Umfeld der 80er Jahre. Ffm. 1994. – Herbert Kaiser: G. K. In: KLG. – Wolfgang-Michael Böttcher: ›Auftritt der Tod im Wirbel der Konfetti‹. Erzählen zwischen Erfinden u. Verschwinden in G. K.s Frühwerk. Ffm. 2000. – Corinna Schlicht u. Heinz Schumacher (Hg.): Feder, Katheder u. Stethoskop. Von der Lit. zur Psychiatrie. FS G. K. zum 60. Geburtstag. Ffm. 2008. Ingrid Heinrich-Jost / Robert Steinborn
Köpken, Friedrich von (seit 1786), * 9.12. 1737 Magdeburg, † 4.10.1811 Magdeburg. – Lyriker, Übersetzer u. Publizist. Seine entscheidende geistige Prägung erhielt K., Sohn eines Magdeburger Kanonikus, als Schüler des Klosters Berge (1752–1756), wo sein Interesse v. a. für dt. u. frz. Literatur geweckt wurde. Während seines Jurastudiums in Halle (1756–1759) bildete er sich literarisch umfassend weiter. In seine Vaterstadt zurückgekehrt, wurde er 1761 Advokat, später auch Syndikus. Seine Liebe zu den schönen Wissenschaften u. Künsten ließ ihn 1760 gemeinsam mit Gleichgesinnten (u. a. August Friedrich Wilhelm Sack) den Gelehrten Club (später Mittwochsgesellschaft, ab 1775 Litterarische Gesellschaft) gründen, der bald eine zentrale Stellung im geistigen Leben Magdeburgs einnahm u. der K. als Spiritus rector immer verbunden blieb. K. trat schriftstellerisch ab 1760 zunächst mit Rezensionen (u. a. zu Ramlers Geistlichen Kantaten) sowie mit kleineren poetischen u. prosaischen Stücken, meist Übersetzungen, in Johann Samuel Patzkes Wochenschrift
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»Der Greis« hervor. Seine Gedichte, eher zum Koeppel, Matthias, * 22.8.1937 Hamburg. persönl. Vergnügen geschrieben, hielt K. – Lyriker, Maler. lange nicht für wert, gedruckt zu werden, so Aufgewachsen in Berlin, studierte K. dass sie bis in die 1780er Jahre nur vereinzelt 1955–1961 dort Malerei an der Hochschule in Zeitschriften u. Musenalmanachen erfür Bildende Künste. 1973 begründete er mit schienen. Erst ab 1792 veröffentlichte er Johannes Grützke u. a. die Künstlergruppe mehrere lyr. Sammlungen, z.T. allerdings »Schule der neuen Prächtigkeit«. 1981–2003 nur für Freunde bestimmt. Neben dem war er Professor für Freies Malen u. Zeichnen Klopstock gewidmeten Hymnus auf Gott an der Technischen Universität Berlin. (1788), einem zwischen Kantate u. Drama Wie in seinen hyperrealistischen Gemälden angesiedelten Singstück, das K. als sein u. Grafiken verbindet K. auch in seinen GeHauptwerk ansah, umfassen sie geistl. Lieder, dichten, die 1972 einsetzen, FormbeherrGedichte in anakreont. Tradition, poetische schung mit aggressiv-iron. Gegenwartskritik, Episteln u. Skolien (Magdeb. 1792. Erw. Aufl. häufig in parodistischen Travestien traditio1805) betitelte Tischlieder. neller Vorbilder, v. a. der Romantik u. des Leichtigkeit u. Eleganz in Sprache u. Vers Biedermeier. Wohl in Anlehnung an H. C. waren für K. die dichterischen Ideale – Vor- Artmann oder Ernst Jandl u. im iron. Rückbilder sah er in Horaz, in der frz. Poesie, in griff auf das Frühneuhochdeutsch des Hans Hagedorn, Gleim, Gotter, Uz u. Wieland, zu Sachs u. oberdt. Dialekte erfand K. die dessen »Teutschem Merkur« er 1787–1797 Kunstsprache »Starckdeutsch«, deren phoBeiträge lieferte. Für das Magdeburger net. u. morpholog. Verfremdung er als satir. Theater übersetzte u. bearbeitete K. einige Protest gegen »das überall verbreitete Mitfrz. Komödien. Erwähnenswert unter seinen telschwachhochdeutsche« bestimmt. Die Abhandlungen ist der Versuch über die Manier zuletzt in Starckdeutsch. Oine Orrswuhl dörr unserer bekannteren Dichter (in: Deutsche Mo- schtahurckösten Gedeuchten (Bln. 1983. 31987) natsschrift, H. 6, 1796), ein subjektiver gesammelten u. von K. selbst illustrierten Überblick über die dt. Literatur des 18. Jh., in Texte behandeln banale Alltagserfahrungen dem sich K. als Anhänger der Dichtung alten von »Hullöndischen Tumautn« bis zum Stils zeigt u. den literar. Erneuerungen der »Krautzzwurrtraitzul« u. polit. Schlagworte vergangenen Jahrzehnte überwiegend ableh- (»Ümmpörijalüstn« gegen »Zauzjarlüstn«) sowie Lieblingsthemen der dt. Lyrik wie den nend begegnet. Weitere Werke: Hymnus auf Gott, nebst an- »Wunnewunnemorrnatt Moyen«. dern vermischten Gedichten. Abdrücke für Freunde. Magdeb. 1792. – Episteln; zum Anhange vermischte Gedichte. Abdrücke für Freunde. Ebd. 1801. – Hymnus auf Gott, musikal. Gedicht, nebst einigen geistl. Liedern. Ebd. 1804. – Herausgeber: Skolien für den litterar. Club in Magdeburg. Ebd. 1798. – Autobiografie: Meine Lebensgesch. [...] (1794). In: Familien-Nachrichten für die Nachkommen A. H. Franckes, Stück 6. Halle 1916, S. 1–63.
Weitere Werke: Starckdeutsch 1. Gedichte. Bln. 1975 u. ö. – Starckdeutsch II. Gedichte. Bln. 1982. – Selbstauslöser. Fotografien. Bln. 1984. – K.s Tierleben in Starckdeutsch. Bln. 1991. – Starckdeutsch. Eine Ausw. der stärksten Gedichte. Bln. 1993. – Jenseits v. Duden. Ein interaktives Wörterbuch der neuschwachhochdt. Sprache. Fuldatal 2003. – Ausstellungskat.e, Illustrationen v. Werken Luigi Malerbas. Heinrich Detering / Sven Hanuschek
Literatur: Jördens 6 (1811), S. 757–768. – Franz Muncker: F. v. K. In: ADB. – Ders.: Aus F. v. K.s Autobiogr. In: Im neuen Reich 11, 2 (1881), S. 562–567. – Waldemar Kawerau: Aus Magdeburgs Vergangenheit. Halle 1886, S. 31–38 u. passim. – Heiko Borchardt: F. v. K. In: Magdeburger Biogr. Lexikon. 19. u. 20. Jh. Hg. Guido Heinrich u. Gunter Schandera. Magdeb. 2002, S. 370 f.
Köppen, Edlef, auch: Joachim Felde, * 1.3. 1893 Genthin/Mark Brandenburg, † 21.2. 1939 Gießen. – Erzähler.
Helmut Riege / Red.
Nach dem Besuch des Gymnasiums in Potsdam studierte K., Sohn eines Arztes, Philologie, Philosophie u. Kunstgeschichte in Kiel u. München u. meldete sich 1914 freiwillig zum Kriegsdienst. Er erlitt eine schwere
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Lungenverletzung. 1918 verweigerte er den ausg. des Romans: Kronberg/Taunus 1976. Dienst u. wurde in eine Irrenanstalt nach Reinb. 1979). Mainz eingeliefert. 1919 setzte er sein StudiWeitere Werke: Die Historie v. ein trocken um in Berlin u. München fort, ging 1921 als Schiffsfahrt. Potsdam 1924 ( E.). – Vier Mauern u. Lektor zum Verlag Gustav Kiepenheuer in ein Dach. Bln. 1934 (R.). – Aufzeichnungen. Ein Potsdam, wurde 1925 Mitarbeiter der literar. Lesebuch. Anhang zu Leben u. Werk. Ausgew. u. Abteilung der »Funkstunde« am Berliner hg. v. Jutta Vinzent. Wilhelmshorst 2006. Literatur: Michael Gollbach: Die Wiederkehr Rundfunk. Deren Leitung übernahm er 1932, des Weltkriegs in der Lit. Zu den Frontromanen der wurde jedoch 1933 von den Nationalsoziaspäten 20er Jahre. Kronberg/Taunus 1978. – listen fristlos entlassen. Eckardt Momber: s’ist Krieg! s’ist Krieg! Versuch Sein Hauptwerk, der Anti-Kriegsroman zur Lit. über den Krieg. 1914–33. Bln. 1981. – Hans Heeresbericht (Bln. 1930. 2005), wurde 1935 J. Schütz: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. verboten, der Autor mit Publikationsverbot Vergessene u. verkannte Autoren des 20. Jh. Mchn. belegt. K., der als Dramaturg einer Filmge- 1988, S. 149–153. – Jutta Vinzent: E. K. – Schriftsellschaft unter schwierigen Umständen leb- steller zwischen den Fronten. Ein literaturhistor. te, starb an den Spätfolgen seiner Kriegsver- Beitrag zu Expressionismus, neuer Sachlichkeit u. innerer Emigration. Mit Edition, Werk- u. Nachletzung. laßverz. Mchn. 1997. – Roman Schafnitzel: Die In der Flut der um 1930 erscheinenden vergessene Collage des Ersten Weltkrieges. E. K.: »Kriegsromane« blieb die Verbreitung des ›Heeresbericht‹ (1930). In: Thomas F. Schneider u. literarisch anspruchsvollen Romans Heeresbe- Hans Wagener (Hg.): Von Richthofen bis Remarricht gering, obgleich die Kritik das Buch be- que. Amsterd. 2003, S. 319–343. – Siegmund Kogeistert aufnahm (Benn, Pinthus, Toller, Tu- pitzki u. Peter Salomon: ›Einen Tag lang nicht töcholsky). K.s Protagonist, der 21-jährige Stu- ten‹. Der Dichter E. K. (1893–1939). Ein Porträt. dent Reisiger, kommt im Okt. 1914 als Frei- Eggingen 2004. Hans J. Schütz † / Red. williger an die Front. Die allg. Kriegsbegeisterung hat auch ihn erfasst, wird aber bald Köppen, Karl Friedrich, * 26.4.1808 Ritdurch die Realität an der Front korrigiert. tergut Nieder-Görne bei Arneburg, Reisiger findet zunächst keine Möglichkeit, † 19.7.1863 Berlin. – Lehrer, Verfasser von sich aus dem Teufelskreis von Befehl u. Ge- historischen u. philosophischen Schrifhorsam zu befreien. Als er erklärt, dass er den ten. Krieg für »das größte aller Verbrechen« hält, Der aus einer alten Pfarrersfamilie stamwird er in ein Irrenhaus gesperrt. mende K. besuchte das Gymnasium in StenBei der Gestaltung des komplizierten u. dal u. das Klostergymnasium in Magdeburg widersprüchl. Lernprozesses seines Helden (1822–1827). Während des Theologiestudibediente sich K. neuartiger literar. Mittel, die ums in Berlin (1827–1831), wo seit 1828 auch sein Buch zum »avanciertesten Kriegsroman Bruno Bauer immatrikuliert war, stand er der Weimarer Republik« (Herbert Borne- den Junghegelianern nahe u. konnte die busch) machen. Er unterbricht den Erzähl- Auseinandersetzungen um die Hegel’sche verlauf, indem er Dokumente einfügt: offi- Philosophie verfolgen. Auf die zunehmende zielle Verfügungen, Kaiserreden, Heeresbe- Hegel-Kritik reagierte K. später in einer Rerichte, Presseverlautbarungen usw. Diese plik auf Karl Ernst Schubarths Schrift Über die Technik der Montage liefert eine zweite Unvereinbarkeit der Hegelschen Philosophie mit Ebene, sie zeigt den Krieg als gesellschaftl. dem obersten Lebens- und Entwicklungsprinzip des Phänomen. Die subjektive Perspektive des Preußischen Staates (Breslau 1839), die Ende Helden wird unterlaufen, bestätigt oder er- desselben Jahres im »Telegraph für Deutschweitert, seine Erfahrung konterkariert oder land« erschien (Über Schubarths Unvereinbarkeit ergänzt. Unkommentiert in den narrativen der Hegelschen Lehre mit dem Preußischen Staate, Kontext gestellt, exemplifizieren sie den Wi- 1839, S. 441–463). dersinn des Kriegs u. die bewusste Verfälschung der Wahrheit (kommentierte Neu-
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Nach seinem Studium trat K. 1833 eine Stelle als Hilfslehrer (1835 wurde er zum ordentl. Oberlehrer befördert) an einer Realschule in Berlin an, wo er engen Kontakt mit Karl Marx pflegte u. Mitgl. des sog. Doctorclubs wurde. Zwei Jahre später erschien seine erste Schrift Literarische Einleitung in die Nordische Mythologie (Bln. 1837), die neben einer systemat. Übersicht über Stoff u. Geschichte der nord. Mythologie einen deutl. religionskrit. Impetus aufweist. Die Hoffnungen vieler Liberaler in den 1840er Jahren, die angemahnten Veränderungen im Staat gemeinsam mit den preuß. Machthabern zu erreichen, finden in K.s Arbeit Friedrich der Große und seine Widersacher. Eine Jubelschrift (Lpz. 1840) ihren Ausdruck, die er anlässlich der einhundertjährigen Thronbesteigung Friedrichs II. publizierte u. K. Marx widmete. Mit der Charakterisierung Friedrichs II. als »freieste[n] Diener des Weltgeistes« u. der Forderung nach Weiterentwicklung (preußisch-)aufklärerischer Errungenschaften fand K.s Jubelschrift bes. bei den Junghegelianern große Resonanz. Als einer der Ersten aus dem Berliner Kreis schrieb K. Artikel für die von Ruge u. Echtermeyer herausgegebenen »Hallischen Jahrbücher« bzw. »Deutschen Jahrbücher« bis zu deren Verbot 1843 (Die Berliner Historiker, 1841 [darin über Leopold v. Ranke, Friedrich v. Raumer u. seinen Lehrer Peter Feddersen Stuhr]; Dr. Heinrich Leos Lehrbuch der Universalgeschichte, 1842) u. für die liberale »Rheinische Zeitung« (Leos Geschichte der Revolution, 1842). Da K. im Hauptberuf weiterhin als Lehrer seinen Unterhalt verdiente (seit Sept. 1840 an der Dorotheenstädtischen Realschule u. von 1853 bis zu seinem Tod am Friedrich-Gymnasium), geriet er durch seine Teilnahme an der sog. Welcker-Serenade – anlässlich des Aufenthalts von Theodor Welcker in Berlin – im Sept. 1841 in Konflikt mit den Regierungsbehörden, die fortan K.s Publikationen kritisch beäugten. Dennoch veröffentlichte K. weiterhin Artikel in einschlägigen Zeitschriften wie »Wigands Vierteljahresschrift« u. den »Norddeutschen Blättern« (jeweils 1844 u. 1845). Mit ihrer Kultur- u. Zivilisationskritik, aber auch der Kritik am Sozialismus weisen bes. K.s unter Kürzeln (»H. L.
Köppen
K.«, »H. L. Köppen«, »K.« u. »von Köppen«) publizierte Beiträge für die »Norddeutschen Blätter« auf den Einfluss Bruno Bauers hin, der ebenfalls zahlreiche Artikel in dieser Zeitschrift veröffentlichte. Einen deutl. Wandel seiner Auffassungen markieren die Übersetzungen aus dem Französischen (François Villegardelle: Geschichte der sozialen Ideen vor der französischen Revolution oder: Die alten Denker und Philosophen, die Vorläufer der neueren Sozialisten. Nebst Beweisstellen. Bln. 1846. Louis Blanc: Geschichte der französischen Revolution. Zus. mit Ludwig Buhl. Bd. 1, Bln. 1847), die nicht nur K.s gesteigertes Interesse an der sozialen Frage erkennen lassen, sondern darüber hinaus seine Kritik an frühsozialistischen Autoren zurücknehmen. An der Revolution selbst hat K. wohl nicht aktiv teilgenommen, wurde aber im Mai 1849 wegen seiner Mitgliedschaft im Zwölferausschuss der Berliner Demokratischen Partei für kurze Zeit inhaftiert. Dennoch konnte er seinem Lehrerberuf weiter nachgehen u. beschäftigte sich nebenher mit Studien zum Buddhismus (Die Religion des Buddha. 2 Bde. [Bd. 1: Die Religion des Buddha und ihre Entstehung. Bd. 2: Die Lamaische Hierarchie und Kirche], Bln. 1857–59). Im Kontext verschiedener Forschungen zum Junghegelianismus wurden K.s Schriften immer wieder behandelt, doch erst mit der Werkauswahl von H. Pepperle (2003) sind zumindest die wichtigsten Publikationen wieder greifbar u. durch den Kommentar auch die Namensänderungen für die Artikel in den »Norddeutschen Blättern« sowie die Übersetzungen aus dem Französischen geklärt (Pepperle, S. 69 ff.). Weitere Werke: Der dt. Michel. Erl. v. einem seiner Freunde u. Leidensgenossen. Lpz. 1843 (anonym ersch.). –1813. Aufrichtige Gesch. des Befreiungsjahres. Bln. 1863 (anonym ersch.). – Die Religion des Buddha. 2 Bde., Bln. 1857–59. 21906. Neudr. Osnabr. 1975. – Ausgew. Schr.en in zwei Bdn. Mit einer biogr. u. werkanalyt. Einl. hg. v. Heinz Pepperle. Bln. 2003 (mit einer Übersicht der unselbstständig publizierten Schr.en). Literatur: Helmut Hirsch: K. F. K. Der intimste Berliner Freund Marxens. In: Ders.: Denker u. Kämpfer. Ges. Beiträge zur Gesch. des Arbeiterbewegung. Ffm. 1955, S. 19–81. – Wolfgang Eßbach: Die Junghegelianer. Soziologie einer Intellektuel-
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lengruppe. Mchn. 1988. – H. Pepperle: Einl. In: K. F. K: Ausgew. Schr.en, a. a. O., S. 11–123. Bernhard Walcher
Koeppen, Wolfgang, eigentl.: Wolfgang Arthur Reinhold Köppen, * 23.6.1906 Greifswald, † 15.3.1996 München. – Erzähler, Essayist. K., uneheliches Kind einer Näherin u. eines Arztes, lebte seit 1908 mit seiner Mutter zunächst in Thorn/Ostpreußen, dann in Ortelsburg, wo er auf das Realprogymnasium ging. 1919 kehrte er mit seiner Mutter nach Greifswald zurück, besuchte die Mittelschule, die er abbrach, arbeitete in einer Buchhandlung, als Volontär am Stadttheater u. fuhr als Hilfskoch zur See. 1923/24 hatte er kleinere Engagements am Fürstlichen Theater in Putbus (Rügen) u. in Wismar; 1926/27 war er als Dramaturg u. Regieassistent am Würzburger Stadttheater tätig. Anschließend ging er nach Berlin, wo er in Verbindung mit dem dramaturgischen Kollektiv der PiscatorBühne stand. 1931 wurde K. von Herbert Ihering als Feuilletonredakteur zum »Börsencourier« geholt, für den er bis Dez. 1933 mehr als 200 Theater-, Film- u. Literaturkritiken sowie Reportagen, kürzere Prosaskizzen u. Essays schrieb. 1933 hatte er engeren Kontakt zu Erika u. Klaus Mann u. zum Kabarett ›Die Pfeffermühle‹, für deren Programm er u. a. ein parodistisches Lied auf die Psychoanalyse verfasste. K., Mitgl. des »Reichsverbands deutscher Schriftsteller« (Reichsschrifttumskammer), ging Ende 1934, nach Erscheinen seines Romans Eine unglückliche Liebe, in die Niederlande (ins »freiwillige« Exil) u. hielt sich in Scheveningen u. vor allem in Den Haag auf. Im Nov. 1938 nach Deutschland zurückgekehrt, lebte er zunächst in Berlin u. schrieb Drehbücher für die Filmgesellschaften UFA u. Bavaria. 1944 zog er zunächst nach München, dann nach Feldafing am Starnberger See. Nach Kriegsende ging er mit seiner Freundin Marion Ulrich, die er 1948 heiratete, nach München; dort lebte er, mit Unterbrechung durch längere Reisen durch Europa u. die USA, bis zu seinem Tod.
Bereits der Erstlingsroman Eine unglückliche Liebe (Bln. 1934, im Verlag von Bruno Cassirer) entfaltet Themen, die für das gesamte Werk K.s charakteristisch sind: den KünstlerBürger-Gegensatz, das Identitätsproblem, den Konflikt zwischen Sinnlichkeit u. Vernunft, Reisen als grenzüberschreitende Selbsterfahrung. Der Roman handelt, um 1933 spielend, von der körperlich schmerzhaft unerfüllt bleibenden Liebe eines 27-Jährigen, ebenso bürgerlich wie melancholischromantisch gezeichneten Philologiestudenten aus Berlin – ein verfremdetes Selbstporträt des Autors – zu einer jungen, in Zürich auftretenden Varietédarstellerin (literar. Bild der Schauspielerin Sibylle Schloß, mit der K. befreundet war). Der Roman, noch in der Tradition der literar. Moderne, ist geprägt von anachron. Erzähleinheiten mit Gegenwartsschilderungen, Fantasien des Protagonisten u. Reminiszenzen in Rückblenden. Die Prosa ist stark rhythmisiert, die Sprache teils rhapsodisch u. assoziativ mit langen Satzperioden. Die forcierte Metaphorisierung wirkt als ein Nachklang des von K. intensiv rezipierten Expressionismus nach. Der Nationalsozialismus bedeutete für den jungen Autor einen Rückschlag im Bemühen, die literar. Avantgarde, für die er sich noch nach der »Machtergreifung« durch die Nationalsozialisten 1933 in Zeitungsartikeln eingesetzt hatte, fortzuschreiben. Mit seinem zweiten Roman Die Mauer schwankt (Bln. 1935. Titelaufl. Bln. 1939 u. d. T: ›Die Pflicht‹. 1. Neuausg. Ffm. 1983) kam K., trotz deutl. Anspielungen auf den nationalsozialistischen Terror im ersten Teil, auch konventionellen Lesererwartungen entgegen. Der zwischen Heimatroman u. camouflierter Kritik am Nationalsozialismus (am Beispiel eines totalitären Staates auf dem Balkan) changierende Roman zeigt die fortschreitende Auflösung u. den Zusammenbruch einer überkommenen, den Pflicht-Begriff absolut setzenden Ordnungswelt – gemeint ist das dt. Kaiserreich zwischen 1913 u. 1918 – in der Figur des von Zweifeln geplagten, konservativen Baumeisters Johannes von Süde. Nach dem Krieg publizierte K. zunächst nur einige Prosatexte. Für kurze Zeit war er als Redakteur für den kleinen Münchner
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Verlag von Herbert Kluger tätig, für den er Emile Zolas Roman Germinal edierte u., ohne seinen Namen anzuführen, das Manuskript der Autobiografie eines Münchner Briefmarkenhändlers, des Juden Jakob Littner, redigierte u. stark überarbeitete (Erschienen u. d. T. Aufzeichnungen aus einem Erdloch. Mchn. 1948. Nachdr. Bln. 1985. Neuausg. unter dem Namen K.s. Ffm. 1992. Mit einem Nachw. von Alfred Estermann. Ffm. 2002). In der Originalvorlage (Jakob Littner: Mein Weg durch die Nacht. Mit Anmerkungen zu W. K.s Textadaption. Hg. Roland Ulrich u. Reinhard Zachau. Bln. 2002) schildert Littner seine erfolgreiche Flucht vor den Nationalsozialisten u. der drohenden Deportation. 1951 schrieb K. – wie stets in wenigen Wochen – als ersten Teil einer Trilogie, die seinen literar. Ruhm begründete, den Roman Tauben im Gras (Stgt. 1951). Mosaiksteinartig wird in über 90 kurzen Abschnitten u. mehr als einem Dutzend Handlungssträngen das Leben von rund 30 Personen an einem Februartag des Jahres 1951 in München erzählt. Entworfen wird ein differenziertes Tableau der restaurativen bundesrepublikan. Nachkriegsgesellschaft; gezeigt werden die polit., gesellschaftl. u. kulturellen Widersprüche der Zeit. Erzählform u. Stil sind an den experimentellen Roman (Joyce, Dos Passos, Döblin) mit seinen Wirkungen der Simultaneität angelehnt; charakteristisch sind, wie in den späteren Romanen ebenfalls, innerer Monolog, Filmschnitttechnik, Montage von Sprachjargon, Liedtiteln, Reklamesprüchen, literar. Zitaten u. Anspielungen oder Zitate aus Sage u. Märchen, v. a. aber aus der Bibel u. den Mythologien. 1953 folgte der in Bonn angesiedelte Roman Das Treibhaus (Stgt.) über einen nach dem Krieg aus dem brit. Exil zurückgekehrten Intellektuellen, Dichter, Übersetzer u. sozialdemokratischen Bundestagsabgeordneten: Keetenheuve, aus dessen Perspektive der Roman in nahezu durchgängigem inneren Monolog erzählt ist, erkennt resignierend u. am Ende den Freitod wählend den »Sieg« der Restauration u. das Scheitern der Etablierung einer neuen, offenen polit. Kultur – im Mittelpunkt steht das polit. Beispiel der Wiederaufrüstungsdebatte – sowie seine eigene
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fortgesetzte Exil- u. Außenseiterposition in der Politik u. in der Liebe. In der Radikalität der Gesellschaftskritik markiert Der Tod in Rom (Stgt. 1954) den Höhepunkt der Trilogie. Es handelt sich um eine der frühesten, entschieden krit. literar. Verarbeitungen des Faschismus in (West-) Deutschland, seiner Vergangenheit u. seiner drohenden Wiederkehr. Dies wird vorgeführt am Beispiel des nach dem Krieg im Nahen Osten untergetauchten u. als Waffenhändler auftretenden ehem. SS-Generals Judejahn, der in Rom mit der Familie seines opportunistischen Schwagers Friedrich Wilhelm Pfaffrath zusammentrifft. Kontrapunktisch sind Judejahns gewalttätige Fantasien u. sexuelle Obsessionen, die in einer Orgie der Gewalt kulminieren, sowie die musikal. Ambitionen des homosexuellen Neffen Siegfried Pfaffrath, der die Uraufführung seiner ersten avantgardistischen Symphonie erwartet, aufeinander bezogen. Es verbinden sich Elemente des satirisch-grotesken, mit Mitteln der Kolportage verfahrenden Gesellschaftsromans in der Tradition von Heinrich Manns Der Untertan u. des Künstlerromans in Anlehnung an Thomas Manns Tod in Venedig. Der Roman ist eine sozialpsycholog. Faschismuskritik u. stellt den Zusammenhang von perverser Sexualität u. Gewalttätigkeit des »autoritären Charakters« dar. Alle drei Romane (von der Literaturkritik teils zustimmend besprochen, v. a. Tauben im Gras, teils heftig angegriffen) waren aufgrund der formalen u. inhaltl. Kühnheiten in einem noch von konservativen Traditionen bestimmten literar. Feld der frühen Adenauerzeit zwar nicht unmittelbar erfolgreich, erreichten aber, aufgrund der heftigen Reaktionen in der literar. Öffentlichkeit, jeweils in kurzer Zeit Nachauflagen. Ab Mitte der 1950er Jahre verlegte sich K., gefördert u. a. von Alfred Andersch, auf das Schreiben von Reiseessays, die im Auftrag des Süddeutschen Rundfunks entstanden u. vorübergehend ökonomische Unabhängigkeit sicherten. K. wollte in einer unmittelbareren Form, die zgl. alle Darstellungsfreiheiten bot, sich seiner selbst u. der Welt vergewissern. Die Publikationen der Reiseessays (größtenteils gesammelt in den Bänden Empfindsame
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Reisen. Nach Rußland und anderswohin. Stgt. 1958. Amerikafahrt. Stgt. 1959. Reisen nach Frankreich. Stgt. 1961) markieren eine bes. produktive Phase im Werk K.s; die Texte, der Romanprosa strukturell durchaus ähnlich, erneuern u. variieren die klass. Tradition des literarisch stilisierten Reiseberichts. In ihnen werden weniger Schauplätze beschrieben u. Topografien gezeichnet (K., der Flaneur, reist, »nicht um anzukommen«); vielmehr werden in sehr subjektiver Färbung auch persönl. Bedrängnisse u. Leiden wie Angst, Einsamkeit u. Tod in Träumen u. realen Erfahrungen auf die scheinbar schönen Bilder projiziert, um sie zu zerstören. Mit dem virtuosen, aus einem größeren autobiogr. Konvolut von Prosaskizzen zusammengefügten Text Jugend (Ffm. 1976) erreichte der bis dahin im Schatten der bekannten dt. Nachkriegsautoren stehende K., nachhaltig gefördert von Marcel Reich-Ranicki u. dem Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld, den Durchbruch in der literar. Öffentlichkeit. Jugend ist, obschon autobiogr. inspiriert, phantasmagor. Dichtung über eine »erlittene« Jugend. Das Erzähler-Ich imaginiert in 54 nicht chronologisch angeordneten kurzen u. kürzeren, stilistisch uneinheitl., eine Rondoform bildenden Abschnitten die Stationen einer Jugend zwischen etwa 1908 u. 1924. Es fiktionalisiert die reale Geschichte wie die subjektiven Erlebnisse u. schafft ein bzw. mehrere (aufgespaltene) Erzählsubjekte. Die metaphern- u. bilderreiche Sprache stellt, verstärkt durch vielfache Anspielungen u. Zitate, eine Hommage an den Expressionismus dar. Das Erzähler-Ich, »von Anbeginn verurteilt« u. traumatisiert durch Bilder des Schreckens u. des Todes, gegen die es anschreibt, erinnert die schmerzl. Auseinandersetzung mit der Mutter auf dem Hintergrund gelegentlich blasphemisch dargestellter bibl. Geschichte u. Heilsgeschichte. Es zeigt die Entstehung des Syndroms quälender Leiblichkeit u. Sexualität u. exponierten Außenseitertums zwischen allen Klassen, die negativ determinierende Sozialisation des unehel. Kindes in der Familie der Großmutter u. angsterfüllten Mutter sowie in den Gewalt repräsentierenden gesellschaftl. In-
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stitutionen von der Schule bis zum Militär: »Jugend ist die Klage um das sowohl gesellschaftlich zerstörte Leben, als auch um das in der ästhetischen Existenz immer schon verlorene, eingebettet in die Klage um das verlorene Paradies« (Martin Hielscher). Der 1981 erschienene Band Die elenden Skribenten (Ffm.) sowie die Bände fünf u. sechs der Gesammelten Werke in sechs Bänden (Hg. Marcel Reich-Ranicki in Zusammenarbeit mit Dagmar von Briel u. Hans-Ulrich Treichel. Ffm. 1986) ermöglichten erstmals einen Überblick über die lange Zeit unterschätzte Publizistik, Kurzessayistik u. Literaturkritik seit Anfang der 1930er Jahre. Porträts von Schriftstellern, subjektive literaturkrit. Texte, Berichte u. Essays lassen das dichterische Selbstverständnis K.s vor allem in den Bildern verzweifelter Außenseitergenies wie Büchner u. Grabbe deutlich hervorscheinen. Während in der literar. Öffentlichkeit das Bild eines schreibgehemmten Außenseiters des Literaturbetriebs gezeichnet u. rezipiert wurde (das durch Äußerungen des Autors gestützt zu werden schien), war K. – wie auch der an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald verwahrte Nachlass des Autors zeigt (W.-K.Archiv) – ein überaus produktiver Autor literar. Kleinformen, der allerdings immer weniger fähig und/oder willens war, die große abgeschlossene Form des Romans zu liefern; ein wichtiger Grund dafür war, wie erst postum deutlich wurde, die schwierige Beziehung zu seiner über lange Jahre kranken Frau. K.s Werke sind existenzielle, individualistische u. sich jeder ideolog. Vereinnahmung verweigernde, von der subjektiven Erfahrung der Vaterlosigkeit (»ein Emigrant bei meiner Geburt«), des wilhelmin. Gewaltsystems, von Krieg u. Novemberrevolution, von der Großstadt Berlin in der Weimarer Republik u. schließlich vom Faschismus geprägte Versuche zur Identitätsfindung. Die Rollenwechsel des sich in allen Werken hinter fingierten Ichs verbergenden Dichters verweisen auf die Identitätsproblematik des vorgeblich »heiteren Melancholikers« (so K.s Selbstcharakteristik). Sie lassen die Schwäche vor dem Leben als Kehrseite einer durch u. durch literar.
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Existenz (»Ich lebe in einem Roman«) erkennen, für die Schreiben Handeln ist. Der Prosa K.s eignet eine spezif. Wahrheit jenseits der realen Geschichte u. Politik; sie thematisiert ihre Form, Sprache u. Subjektivität stets mit. Im ständigen Aufbau von Sinnbezügen u. deren Zerstörung sowie im »mythischen Blick«, der zgl. die Gefährdungen myth. Denkens offenlegt, spiegelt sie die Erfahrungskrise des Subjekts in der Moderne. Gekennzeichnet von einem Referenzsystem aus Literatur u. mytholog. Zitaten, bedeutet K.s Prosa – oft als manieristisch missverstanden – fortwährende Selbstreflexion, auch Reflexion des Schreibens. K., dem das Schreiben zum Akt fortgesetzter ästhetischer Opposition gegen alle Ordnungssysteme wurde, hat damit wesentl. Anteil am Diskurs über die »Romankrise« seit der Jahrhundertwende. K. erhielt zahlreiche Literaturpreise u. Auszeichnungen: 1962 den Georg-BüchnerPreis, 1965 den (Großen) Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, 1967 den Immermann-Preis der Stadt Düsseldorf, den Andreas-Gryphius-Preis 1971, 1982 den Kulturellen Ehrenpreis der Landeshauptstadt München, 1984 den Arno Schmidt Preis, 1986 den Pommerschen Kulturpreis u. 1987 den Franz Nabl-Preis der Stadt Graz; 1974/75 war er erster Stadtschreiber von Bergen-Enkheim. 1990 wurde ihm die Ehrendoktorwürde der Universität Greifswald u. 1994 die Ehrenbürgerwürde seiner Heimatstadt verliehen. Weitere Werke: Werke in 16 Bdn. Hg. HansUlrich Treichel u. a. Ffm. 2006 ff. – New York. Stgt. 1961 (mit autobiogr. Nachw.). – New York. Mchn./ Ahrbeck 1961. – Romanisches Café. Erzählende Prosa. Ffm. 1972. – Morgenrot. Ffm. 1987 (P.). – Angst. Erzählende Prosa. Ffm. 1987. – Von dem Machandelboom. Ein Märchen v. Philipp Otto Runge. Mit einer Nacherzählung u. einem Nachw. v. W. K. Ffm. 1987. – Es war einmal in Masuren. Ffm. 1991 (P.). – Ich bin gern in Venedig warum. Ffm. 1994 (P.). – ›Einer der schreibt‹. Gespräche u. Interviews. Hg. H.-U. Treichel. Ffm. 1995. – Ich ging Eulenspiegels Wege. Ein Lesebuch. Hg. Dagmar v. Briel. Fm. 1996. – Auf dem Phantasieroß. Prosa. Aus dem Nachl. Hg. Alfred Estermann. Ffm. 2000. – Die Jawang-Gesellschaft [1937]. Ein Roman. Mit einem Nachw. v. A. Estermann. Ffm.
Koeppen 2001. – Übers Jahr vielleicht wieder in Venedig. Phantasien über eine Traumstadt. Hg. A. Estermann. Ffm. 2006 (P.). – Briefe: ›Ich bitte um ein Wort‹. Der Briefw. W. K. mit Siegfried Unseld. Hg. A. Estermann u. Wolfgang Schopf. Ffm. 2006. – ›... trotz allem, so wie du bist‹. W. u. Marion K. Briefe. Hg. Anja Ebner. Ffm. 2008. Literatur: Heinz Ludwig Arnold (Hg.): W. K. Mchn. 1972 (Text + Kritik. H. 34). – Dietrich Erlach: W. K. als zeitkrit. Erzähler. Uppsala 1973. – Manfred Koch: W. K. Lit. zwischen Nonkonformismus u. Resignation. Stgt. 1973. – Ulrich Greiner (Hg.): Über W. K. Ffm. 1976. – Jean-Paul Mauranges: W. K. Littérature sans frontières. Bern/ Ffm. 1978. – Gerhard vom Hofe u. Peter Pfaff: Das Elend des Polyphem. Zum Thema der Subjektivität bei Thomas Bernhard, Peter Handke, W. K. u. Botho Strauß. Königst./Ts. 1980. – Hartmut Buchholz: Eine eigene Wahrheit. Über W. K.s Romantrilogie. Ffm./Bern 1982. – Stanley Craven: W. K. A Study in Modernist Alienation. Stgt. 1982. – Thomas Richner: ›Der Tod in Rom‹. Eine existentialpsycholog. Analyse v. W. K.s Roman. Zürich/Mchn. 1982. – Alfred Estermann: W. K. Begleith. zur Ausstellung der Stadt- u. Universitätsbibl. Ffm. 1982. – Richard Landen Gunn: Art and Politics in W. K.s Postwar Trilogy. Ffm. u. a. 1983. – Carol Hanbidge: The Transformation of Failure. A Critical Analysis of Character Presentation in the Novels of W. K. Bern u. a. 1983. – Dietmar Voss: Wahrheit u. Erfahrung im ästhet. Diskurs. Studien zu Hegel, Benjamin, K. Ffm./Bern 1983. – Hans Ulrich Treichel: Fragment ohne Ende. Eine Studie über W. K. Heidelb. 1984. – Bernhard Uske: Gesch. u. ästhet. Verhalten. Das Werk W. K.s. Ffm. u. a. 1984. – KarlHeinz Götze: W. K. ›Das Treibhaus‹. Mchn. 1985. – Eckart Oehlenschläger (Hg.): W. K. Ffm. 1987 (mit Bibliogr. v. A. Estermann). – Hermann Schlösser: Reiseform des Geschriebenen. Selbsterfahrung u. Weltdarstellung in Reisebüchern W. K.s, Rolf Dieter Brinkmanns u. Hubert Fichtes. Wien 1987. – Martin Hielscher: W. K. Mchn. 1988. – Ders.: Zitierte Moderne. Poet. Erfahrung u. Reflexion in W. K.s Nachkriegsromanen u. in ›Jugend‹. Heidelb. 1988. – David Basker: Chaos, Control and Consistency. The Narrative Vision of W. K. Bern u. a. 1993. – Andrea Beu: W. K. ›Jugend‹. Beiträge zu einer Poetik der offenen Biogr. Essen 1994. – Bernhard Fetz: Vertauschte Köpfe. Studien zu W. K.s erzählender Prosa. Wien 1994. – Dagmar v. Briel: W. K. als Essayist. Selbstverständnis u. essayist. Praxis. Mainz 1996. – Marcel Reich-Ranicki: W. K. Aufsätze u. Reden. Zürich 1996. – Josef Quack: W. K. Erzähler der Zeit. Würzb. 1997. – W. K.: Mein Ziel war die Ziellosigkeit. Hg. Gunnar
Koerber Müller-Waldeck u. Michael Gratz. Hbg. 1998. – Stefan Eggert: W. K. Bln. 1998. – Christoph Haas: W. K. Eine Lektüre. Würzb. 1998. – Otto Lorenz: Die Öffentlichkeit der Lit. Fallstudien zu Publikationskontexten u. Publikationsstrategien: W. K. – Peter Handke – Horst-Eberhard Richter. Tüb. 1998. – Jörg Döring: ›... ich stellte mich unter, ich machte mich klein ...‹. W. K. 1933–1948. Ffm./Basel 2001. Ffm. 2003. – Matthias Kußmann: Auf der Suche nach dem verlorenen Ich. W. K.s Spätwerk. Würzb. 2001. – Simon Ward: Negotiating Positions. Literature, Identity and Social Critique in the Works of W. K. Amsterd./New York 2001. – Jb. der Internat. Wolfgang-Koeppen-Gesellschaft. Mchn. bzw. (ab Jg. 3) Tüb. bzw. (ab Jg. 4) Hbg. 2001 ff. – Tilmann Ochs: Kulturkritik im Werk W. K.s. Münster 2004. – Hilda Schauer: Denkformen u. Wertesysteme in W. K.s Nachkriegstrilogie. Wien 2004. – Walter Erhart (Hg.): W. K. u. Alfred Döblin: Topographien der literar. Moderne. Mchn. 2005. – S. Eggert: ›Abfahrbereit‹: W. K.s Orte. Topographie seines Lebens u. Schreibens. Bln. 2006. – Günter u. Hiltrud Häntzschel: W. K. Ffm. 2006. – Dies.: ›Ich wurde eine Romanfigur‹. W. K. 1906–1996. Ffm. 2006. – G. Häntzschel, Ulrike Leuschner u. Roland Ulrich (Hg.): W. K. 1906–1996. Mchn. 2006. (treibhaus. Jb. für die Lit. der fünfziger Jahre; 2). – Iris Denneler: Verschwiegene Verlautbarungen. Überlegungen zur Poetik W. K.s. Mchn. 2007. – Ansgar Warner: ›Kampf gegen Gespenster‹. Die Radio-Ess.s W. K.s u. Arno Schmidts im Nachtprogramm des Süddeutschen Rundfunks als krit. Gedächtnismedium. Bielef. 2007. – Lada Bormotov: Eine Annährung an die Wahrheit: Intertextualität in W. K.s Roman ›Der Tod in Rom‹. Ffm. u. a. 2008. – Jürgen Egyptien (Hg.): W. K. Darmst. 2009. Wilhelm Haefs
Koerber, Lenka von, eigentl.: Helene Irmgard Louise von der Leyen, * 16.3. 1888 Niedeck (Kreis Strasburg/Westpreußen), † 21.7.1958 Leipzig. – Journalistin, Erzählerin, Jugendbuchautorin. Die Tochter eines Rittergutsbesitzers studierte kurze Zeit Malerei in Berlin (1911) u. lebte danach bis 1914 in London; ab 1920 war sie journalistisch tätig. 1925–1933 arbeitete K. als Sozialarbeiterin in Gefangenenanstalten u. war eine der ersten Jugendschöffinnen in Deutschland. Unter den Nationalsozialisten erhielt sie Berufsverbot. Nach dem Krieg lebte sie in Leipzig u. beteiligte sich am Aufbau der DDR.
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K. setzte sich frühzeitig für die Interessen der Arbeiterbewegung ein, v. a. durch ihren Kampf gegen das bürgerl. Strafrecht. Ihre Reportagen Meine Erlebnisse unter Strafgefangenen (Stgt. 1928) u. Menschen im Zuchthaus (Ffm. 1930) fanden großen Widerhall. Das Reisebuch Sowjetrußland kämpft gegen das Verbrechen (Reinb. 1933), in dem K. Eindrücke von ihrer Russlandreise zusammenfasste, konnte 1933 noch kurz vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten erscheinen, bevor alle ihre Bücher eingezogen wurden. Nach dem Krieg versuchte sie v. a. die Jugend neu zu orientieren u. verfasste Bücher über die gefährdete Nachkriegsjugend sowie zur kulturellen Neubesinnung, darunter Verirrte Jugend (Bln. 1952) u. Wir singen Bach (Bln. 1954). K. war mit Käthe Kollwitz befreundet. Weitere Werke: Agnes geht den schmalen Weg. Schwerin 1956 (E.). – Erlebtes mit Käthe Kollwitz. Bln. 1957 (Autobiogr.). Literatur: Irma Hildebrandt: Provokationen zum Tee. 18 Leipziger Frauenporträts. Mchn. 1998. Christian Schwarz / Red.
Körber, Lilli, auch: Agnes Muth, Sylvia Brocek, * 25.2.1897 Moskau, † 11.10.1982 New York. – Romanschriftstellerin. Ihre frühe Jugend verbrachte die Tochter einer Polin u. eines österr. Kaufmanns in Moskau; 1915 emigrierte die Familie über Berlin in die Schweiz. Ab 1917 studierte K. in Wien Literaturgeschichte u. beendete 1923 ihr Studium in Frankfurt/M. mit einer Promotion über die Lyrik Franz Werfels. Anschließend kehrte sie nach Wien zurück, musste jedoch erneut 1938 emigrieren, erst nach Frankreich, 1941 nach New York, wo sie lange als Krankenschwester arbeitete. Die Biografie K.s trägt viel zur Motivation u. Erklärung ihrer Bücher bei. 1932 erschien bei Rowohlt der Reportageroman Eine Frau erlebt den roten Alltag (Bln.), der einen Aufenthalt der Autorin als Fabrikarbeiterin in der Sowjetunion dokumentiert u. sie sofort berühmt machte. In ihrem nächsten aufsehenerregenden Buch Eine Jüdin erlebt das neue Deutschland (Wien 1934. Neuausg. u. d. T. Die Ehe der Ruth Gompertz. Mannh. 1984) lässt sie den Leser die Auswirkungen des nationalso-
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zialistischen Terrors auf eine jüd. Schauspielerin miterleben, deren Verzweiflung sie schließlich in den Freitod treibt. Ein dokumentar. u. humanitäres Interesse dominiert in K.s Schriften; literar. Gegenwelten werden nicht kontemplativ entworfen, sondern Erzählrahmen u. literar. Figuren reflektieren sensibel u. ohne Pathos polit. Ereignisse u. historisch exakt erfassbare Wirklichkeit. Weitere Werke: Sato-San, ein japan. Held. Wien 1936 (R.). – Begegnungen im Fernen Osten. Budapest 1936. London 1937. – Ein Amerikaner entdeckt Rußland. New York 1942. Literatur: Ute Lemke: L. K. Von Moskau nach Wien. Eine österr. Autorin in den Wirren der Zeit (1915–1938). Siegen 1999. – LöE. – Sigrid SchmidBortenschlager: L. K. 1897–1982. In: Dies. u. Christa Gürtler: Erfolg u. Verfolgung. österr. Schriftstellerinnen 1918–1945. Salzb./Wien/Ffm. 2002, S. 247–255. Dorothea Bolte / Red.
Körner, Koerner, Christian Gottfried, * 2.7. 1756 Leipzig, † 13.5.1832 Berlin; Grabstätte: Wöbbelin/Mecklenburg. – Verfasser ästhetischer, literaturkritischer u. politischer Schriften. Der Sohn des Leipziger Theologieprofessors u. Predigers der Thomasgemeinde Johann Gottfried Körner (1726–1785) besuchte nach der Nicolai- u. Thomasschule in Leipzig die Fürstenschule in Grimma, bevor er 1772–1776 in Leipzig Philologie u. Philosophie (bei Platner u. Garve) sowie Jura u. Nationalökonomie, Mathematik u. Technologie studierte. 1776–1778 zum Studium in Göttingen, promovierte K. 1778 in Leipzig zum Magister artium u. 1779 zum Dr. jur. Nach der juristischen Habilitation hielt er Vorlesungen über Naturrecht, polit. Ökonomie u. Technologie; 1781 wurde er Konsistorialadvokat u. 1783 Oberkonsistorialrat. Gemeinsam mit seiner Braut Anna Maria Jacobine Stock, seiner späteren Schwägerin Dora u. deren Verehrer Ludwig Ferdinand Huber bildete man einen literar. Zirkel, der sich der gegen die Leipziger Gottschedschule gerichteten Modeliteratur widmete. Im Mai 1784 wurde Kontakt zu dem in Mannheim mit poetischen u. finanziellen Problemen ringenden Schiller hergestellt, der sich vom
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17.4.1785 an in Leipzig bei K. aufhielt. Von März 1785 bis 1787 war K. Gesellschafter des Göschen-Verlags, welchem er Schillers Werke zum Druck empfahl. Im Sept. siedelte Schiller mit den seit dem 7.8.1785 Vermählten nach Dresden um, wo u. a. das aus K.s profunden Kenntnissen der europ. okkulten Bewegung schöpfende Romanfragment Der Geisterseher entstand. K.s Haus galt als Treffpunkt der geistigen Welt Sachsens, in dem seit den 1790er Jahren Goethe u. Wilhelm von Humboldt verkehrten u. wo später Oehlenschläger u. Kleist lasen. Dort regelmäßig stattfindende Veranstaltungen zogen die Brüder Schlegel, Tieck, Novalis, Tischbein, Kügelgen u. die Komponisten Naumann u. Hiller an. Ab 1790 als Kurfürstlich Sächsischer Appellationsrat über ein gesichertes Auskommen verfügend, trat K. wie sein berühmter Dichtersohn Theodor für die Interessen Preußens ein u. wurde nach dem Herbstfeldzug 1813 zum Gouvernementsrat in Dresden ernannt. Aufgrund der Restituierung Friedrich Augusts III. verließ K. Sachsen u. wechselte auf Vermittlung Humboldts ins preuß. Bildungsministerium nach Berlin. Selbst Mitgl. der Zelter’schen Singakademie, berief K. 1820 den seit 1818 die Jüngere Liedertafel leitenden Joseph Klein, für den er 1805 das Libretto des Oratoriums David (1830 uraufgeführt) verfasst hatte, zum Professor für Komposition an die neu gegründete Schule für Kirchenmusik sowie zum Universitätsmusikdirektor. Zweifellos stand K.s schriftstellerische Tätigkeit hinter seiner Beamtenkarriere zurück, doch erregten seine auf Schillers Anregungen zurückgehenden u. überwiegend in dessen Zeitschrift »Thalia« u. in den »Horen« erschienenen Aufsätze u. Kritiken das Interesse der lesenden Welt. Sein erster publizierter Aufsatz Über die Freiheit des Dichters bei der Wahl seines Stoffs (in: Thalia, 1789) verteidigt Schillers Gedicht Die Götter Griechenlands gegen Friedrich Leopold von Stolbergs auf Häresie zielende Kritik. In seinem 1795 in den »Horen« erschienenen Aufsatz Über die Charakterdarstellung in der Musik, einem der bedeutendsten Beiträge zur Musikästhetik der Weimarer Klassik, erfährt Mozarts Instru-
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mentalmusik eine erste Würdigung als absolute Musik. Hier wie in dem Pendant Über die Bedeutung des Tanzes (in: Phöbus, 1808) entwickelt K. als ästhetisches Wirkungsphänomen den Begriff des »freien Schwebens des Körpers«, der den zentralen Terminus der antigraven Eigenschaft in Kleists berühmtem, zwei Jahre später verfassten Marionettenaufsatz vorwegnimmt. Seine frühen Aufsätze sammelte K. u. gab sie, um neue vermehrt, als Ästhetische Ansichten (Lpz. 1808) bei Göschen heraus. Der 1807 verfasste, in dieser Sammlung erstveröffentlichte Aufsatz Über das Lustspiel unterscheidet Tragödie u. Komödie hinsichtlich des ihnen inhärenten heroischen oder kindl. Charakters u. betont die inhaltl. Gestaltungskomponente gegenüber stofflich formalen Kriterien: »Nicht der Gegenstand, sondern die Behandlung« entscheidet über die Gattungszugehörigkeit. Diesen Standpunkt erläutert K. auch in seinem 1812 in Schlegels »Deutschem Museum« erschienenen Aufsatz Über die Deutsche Litteratur. 1812 begann er mit der bereits kurze Zeit nach Schillers Tod geplanten Gesamtausgabe von dessen Werken (Schillers Werke. 20 Bde., Stgt. 1812–18). Sein 1811 Goethe zur ersten Einsicht geschicktes biogr. Vorwort Nachrichten zu Schillers Leben (Bd. 1, S. I–LVIII) bietet die erste verlässl. Biografie seines Freundes. Von literaturwissenschaftl. Bedeutung ist auch die mit einer Biografie eingeleitete Edition des lyr. Vermächtnisses seines Sohnes (Leyer und Schwerd. Bln. 1814), dessen Poetischen Nachlaß (2 Bde., Lpz. 1814/15) K. später folgen ließ. Der literaturhistorisch bedeutende Briefwechsel zwischen Schiller und Koerner (Hg. Ludwig Geiger. 4 Bde., Stgt. 1893) gibt nicht nur wichtige Aufschlüsse über Schillers Werk, sondern auch über dessen Lebensumstände. Berühmt wurden aus dieser Korrespondenz die im Winter 1792/93 gewechselten sog. Kallias-Briefe, die einzigen Textdokumente für eine 1792 von Schiller geplante Schrift Kallias, oder über die Schönheit. Von K. wiederholt zum Studium der Philosophie Immanuel Kants angeregt, kritisierte Schiller die in der Kritik der Urteilskraft (1790) entfaltete Ästhetik mit dem Versuch einer aprior. Bestimmung des Schönen: »Schönheit ist also nichts
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anders als Freiheit in der Erscheinung« (8.2.1793). Dagegen machte K. geltend: »Dein Prinzip der Schönheit ist bloß subjektiv; es beruht auf der Autonomie, welche zu der gegebenen Erscheinung hinzugedacht wird« (15.2.1793). Da Schiller trotz wiederholter Versuche gegen diesen Einwand einen von der Empirie unabhängigen Schönheitsbegriff nicht zu konstituieren vermochte, blieb sein Kallias-Dialog unvollendet. Weitere Werke: Versuche über Gegenstände der innern Staatsverwaltung [...] – Dtschld.s Hoffnungen. Lpz. 1813. – Für dt. Frauen. Bln./Stettin 1824. – K.’s des Älteren Schr.en. Hg. Carl Barth. Nürnb. 1859. – C. G. K.s Ges. Schr.en. Hg. Adolph Stern. Lpz. 1881. Literatur: Fritz Jonas: K. Biogr. Nachrichten über ihn u. sein Haus. Bln. 1882. – Heinrich Pröhle: Abh.en über Goethe Schiller Bürger u. einige ihrer Freunde. Potsdam 1889. – T. C. van Stockum: K. als Berater Schillers. In: Neoph. 39 (1955), S. 103–114. – Wolfgang Seifert: C. G. K. Ein Musikästhetiker der Dt. Klassik. Regensb. 1960. – Johannes Mittenzwei: Schillers ›musikal.‹ Briefw. mit K. In: Ders.: Das Musikalische in der Lit. Halle 1962. – Joseph P. Bauke: K. Portrait of a Literary Man. Diss. Columbia Univ. 1963. – Ders: K. u. F. Schlegel. Ein unbekannter Komm. zu Schlegels Frühschr. In: Schiller-Jb. 7 (1963), S. 15–43. – Werner Kohlschmidt: ›Geist, geistreich‹. Zu Schillers u. K.s Auseinandersetzung über Geist u. Kritik. In: Ders.: Dichter, Tradition u. Zeitgeist. Bern/Mchn. 1965, S. 78–82. – J. P. Bauke: Der Heiland aus Paris. Ein unveröffentl. Briefw. zwischen K., Karl Graf Schönburg-Glauchau u. J. C. Lavater. In: SchillerJb. 10 (1966), S. 11–57. – Albert James Camigliano: F. Schiller and K. A Critical Relationship. Stgt. 1976. – Peter Weber: Die Freundschaft zwischen Schiller u. K. [...]. In: Impulse 5 (1982), S. 149–171. – Rüdiger Görner: Charakter u. Grazie. Einflüsse C. G. K.s auf Kleists ›Marionettentheater‹? In: LitJb (1983), S. 77–88. – Christiane Krautscheid: Gesetze der Kunst u. der Menschheit. C. G. K.s Beitr. zur Ästhetik der Goethe-Zeit. Bln. 1998. – Christine Theml: Wem der große Wurf gelungen. Aus dem Briefw. Friedrich Schillers u. C. G. K.s in Schillers Jenaer Zeit (1789–1799). Jena 2001. Andreas Meier / Red.
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Körner, (Karl) Theodor, * 23.9.1791 Dresden, † 26.8.1813 Rosenberg bei Gadebusch/Mecklenburg; Grabstätte: Wöbbelin/Mecklenburg. – Lyriker, Dramatiker. Als Sohn des Oberappellationsrats Christian Gottfried Körner (1756–1831) wuchs K. in der künstlerisch u. literarisch geprägten Atmosphäre des Elternhauses auf. Nach Privatunterricht u. Besuch der Kreuzschule in Dresden wählte er 1808 das Studium auf der Bergakademie in Freiberg. Seine anfängl. Begeisterung für die prakt. Arbeit des Bergbaus wandelte sich in ein Interesse an den Hilfswissenschaften Mineralogie, Mathematik u. Chemie. Von seiner früh erwachten Neigung zur Dichtung zeugte die mit Unterstützung des Vaters erschienene Gedichtsammlung Knospen (Lpz. 1810). Ab Aug. 1810 studierte K. in Leipzig Naturwissenschaften, Philosophie u. Geschichte. Er war in zahlreiche burschenschaftl. Händel verwickelt u. floh infolge eines Duells im März 1811 nach Berlin, um sich der Strafe zu entziehen. Dort hörte er Vorlesungen bei Fichte, Schleiermacher u. Niebuhr, sang in der Zelter’schen Singakademie u. schloss sich der Turnbewegung Jahns an. Im Sommer 1811 erging der Relegationsbescheid der Universität Leipzig, der aufgrund gegenseitiger Vereinbarungen in fast allen norddt. Universitäten, u. a. in Berlin, galt. Auf Wunsch des Vaters, der ihm stets engster Vertrauter u. Ratgeber blieb, ging K. daraufhin nach Wien, um seine geschichtl. Studien fortzusetzen. Er verkehrte in den Häusern der väterl. Freunde Wilhelm von Humboldt u. Friedrich Schlegel, besuchte die literar. Zirkel Karoline Pichlers u. Henriette von Pereiras u. lernte die reiche Theaterszene Wiens kennen. In rascher Folge verfasste K. Libretti für Opern u. Singspiele (u. a. Die Bergknappen, Der Kampf mit dem Drachen, Das Fischermädchen), fünf Lustspiele (u. a. Die Braut, Der grüne Domino, Der Nachtwächter) u. sechs Trauerspiele (u. a. Toni, Die Sühne, Zriny, Hedwig, Rosamunde). Die gemeinsame Uraufführung der Einakter Die Braut u. Der grüne Domino am 17.1.1812 brachte ihm erste Anerkennung, beispielsweise von Goethe, der beide Stücke in Weimar inszenierte. Im Mai 1812 verlobte sich K. mit der Hofschauspie-
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lerin Antonie Adamberger (1790–1867). Dem Bühnenerfolg v. a. des Dramas Zriny verdankte er im Jan. 1813 die Anstellung als k. u. k. Hoftheaterdichter am Hofburgtheater. Doch schon im März 1813 verließ K. Wien, um dem Aufruf des preuß. Königs zum Kampf gegen die frz. Besetzung zu folgen u. sich in Breslau dem Lützow’schen Freikorps anzuschließen. In diesen Monaten entstanden Gedichte u. Kriegslieder, die in Abschriften kursierten u. im Nov. 1813, von W. Kunze gesammelt, unter dem Titel Zwölf freie deutsche Gedichte erschienen. Bei einem Gefecht in Kitzen (in der Nähe von Leipzig) im Juni 1813 schwer am Kopf verletzt, nahm K. erst Anfang August wieder seinen Platz als Adjutant Lützows ein. Am 26.8.1813 wurde er während eines Überfalls auf einen frz. Munitions- u. Lebensmitteltransport bei Rosenberg (zwischen Gadebusch u. Schwerin) unter nicht ganz geklärten Umständen tödlich verwundet. K. trat zunächst als Lyriker in die Öffentlichkeit. Seine Jugendgedichte schildern Naturerfahrungen u. Liebessehnsucht, aber auch religiöse Gedanken in unselbstständigen Bildern. In den Wiener Jahren wandte sich K. dem Drama zu. Die in Alexandrinern verfassten Lustspiele Die Braut, Der grüne Domino u. Der Vetter aus Bremen sind spielbare, konventionelle Stücke, die an die Verwechslungskomödien Kotzebues erinnern. Der Erzählung Heinrich von Kleists Die Verlobung in St. Domingo nahm K. in seiner Dramatisierung (Toni) jegl. Komplexität u. Tiefe, indem er den Krieg zwischen Schwarzen u. Weißen moralisch durchsichtig gestaltet u. glücklich enden lässt. Die Trauerspiele lassen den Einfluss Schillers erkennen u. behandeln vorrangig eth. Konflikte, wobei sich Gut u. Böse strikt gegenüberstehen. Nur in seinem vorletzten Drama stellte K. die Hauptfigur Rosamunde, die schuldlos schuldig wird, als leicht gemischten Charakter dar. Sein erfolgreichstes Stück Zriny, das den Opfertod des ungarischen Feldherrn im Kampf gegen den türk. Eroberer Soliman thematisiert, spiegelt die antinapoleon. Stimmung der Zeit. Mit seinen Kriegsliedern wandte sich K. vor allem an Personen mit bürgerl. Erziehung, die allein um der Wiederherstellung der Le-
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benswelt ihres Standes willen für den Krieg suchung zum Bild des Krieges bei dt. Romantikern eintraten. Es sind Gelegenheitsgedichte, in u. ›Freiheitssängern‹. Freiburg/Schweiz 1989. – denen er seine Erlebnisse u. Stimmungen als Ernst Weber: Lyrik der Befreiungskriege Lützow’scher Jäger unmittelbar ausdrückte. (1812–1815). Gesellschaftspolit. Meinungs- u. Willensbildung durch Lit. Stgt. 1991. – Wolfgang Die pathet. Symbolik ersetzt die Geliebte Struck: Konfigurationen der Vergangenheit. Dt. durch das Vaterland, dem man sich ganz Geschichtsdramen im Zeitalter der Restauration. hingibt, u. beschreibt den Kampf in erot. Tüb. 1997. – René Schilling: Die soziale KonMetaphern (Aufruf, Reiterlied, Schwertlied). Der struktion heroischer Männlichkeit im 19. Jh.: das häufig angesprochene Rollenwechsel vom Beispiel T. K. In: Landsknechte, Soldatenfrauen u. Sänger zum Krieger (Zueignung, Der preußische Nationalkrieger. Militär, Krieg u. GeschlechterGrenzadler, Mißmuth) bietet v. a. der akade- ordnung im histor. Wandel. Hg. Karen Hagemann misch gebildeten Schicht der Freiwilligen u. Ralf Pröve. Ffm. 1998, S. 121–144. – E. Weber: eine Identifikationsmöglichkeit. Diese biogr. Der Krieg u. die Poeten. T. K.s Kriegsdichtung u. ihre Rezeption im Kontext des reformpolit. BelliAuthentizität, die Übereinstimmung von Lezismus der Befreiungskriegslyrik. In: Die Wiederben u. Werk, ist Hauptgrund für die außer- geburt des Krieges aus dem Geist der Revolution. gewöhnl. Wirkung der Lieder, die K.s Vater Hg. Johannes Kunisch u. Herfried Münkler. Bln. ein Jahr nach dessen Tod zusammen mit 1999, S. 285–325. – Bernd Leistner: Weitschweififrüheren, thematisch ähnl. Gedichten unter ges zu T. K.s Gedicht ›Aufruf‹. In: Ders.: Von dem Titel Leyer und Schwerdt (Bln.) heraus- Goethe bis Mörike. Erkelenz 2001, S. 61–90. – Erbrachte. Die Sammlung erfuhr allein bis 1834 hard Jöst: ›Weint nicht um mich, beneidet mir sieben u. danach zahlreiche weitere Auflagen. mein Glück!‹ Die Erinnerung an T. K. u. der StelIm Unterschied zu Ernst Moritz Arndts Ver- lenwert seiner Lyrik. In: ÖGL 46 (2002) 4/5, S. 295–308. – Roman Luckscheiter: T. K.s Zrínyisen haben diejenigen K.s wenig mit dem Drama u. die Faszination v. Tod u. Niederlage. In: »reformpolitischen Bellizismus der Befrei- Militia et Litterae. Die beiden Niklaus Zrínyi u. ungskriegslyrik« gemeinsam. Die Kriegsagi- Europa. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Gábor Tüskés. tation der Lyrik K.s »ist aufgrund ihres In- Tüb. 2009. Detlef Haberland / Barbara Gribnitz group-Charakters anational und obrigkeitsbezogen«; ihr fehlt die »antiabsolutistische Ausrichtung« (E. Weber). Mit der nach K.s Körner, Wolfgang, * 26.10.1937 Breslau. – Tod einsetzenden Literarisierung seiner den Erzähler, Romancier, Essayist, HörspielRegeln romant. Poetik entsprechenden autor u. Übersetzer. Kriegslyrik ging eine Glorifizierung u. Heroisierung des für sein Vaterland »zu früh« K. besuchte in der DDR das Gymnasium. Mit gefallenen Dichters einher. Nach dem Ersten den Eltern floh er in die Bundesrepublik Weltkrieg verringerte sich das Interesse an K. Deutschland u. kam 1952 nach Dortmund, stark. Seine Rezeption stand auch nach 1945 wo er noch heute lebt. K. war als Sachbearim Wechselverhältnis mit jener der Befrei- beiter im Sozialamt, als Geschäftsführer der ungslyrik. Während man K. in der BR Volkshochschule u. schließlich im Kulturamt Deutschland lange Zeit hauptsächlich als tätig; seit 1980 arbeitet er als freier Autor. Er Verharmloser des Krieges mit poetischen war jahrelang Mitgl. der Gruppe 61. K.s Werk ist sehr vielgestaltig, was die Mitteln sah, wurde er in der DDR zu einem Wahl der Themen u. Stilrichtungen betrifft. Vorläufer demokratischer Ideen stilisiert. Neben Romanen stehen Erzählungen, ReiseAusgaben: Sämmtl. Werke. Hg. Karl Streckfuß. u. Kinderbücher sowie Hörspiele; daneben Bln. 1834. – Sämtl. Werke. Hg. Hermann Fischer. 4 Bde., Stgt. 1880–84. – Werke. Hg. Hans Zimmer. 2 gab K. Anthologien mit skandinav. Kinder- u. Bde., Lpz 1893. 21916. – Briefw. mit den Seinen. Märchengeschichten heraus u. verfasste parodistisch-satir. Ratgeberliteratur. Hg. Augusta Weldler-Steinberg. Lpz. 1910. In seinen frühen Texten verarbeitet K. Literatur: Günter Adam: Die vaterländ. Lyrik zur Zeit der Befreiungskriege. Studie zur Ten- persönliche, anfangs v. a. berufl. Erfahrundenzdichtung. Diss. Marburg 1962. – Albert Port- gen, wobei exakte psycholog. Charakterisiemann-Tinguely: Romantik u. Krieg. Eine Unter- rung u. Gesellschaftskritik mit der Lust am
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Literatur: Ursula Kirchhoff: W. K. In: InforFabulieren abwechseln. Sein Roman Versetzung (Recklinghausen 1966. Leverkusen 1976) mationen zur Sprache u. Literaturdidaktik 31 wurde als »erster deutscher Roman der mo- (1981), S. 113–129. – Inge Meidinger-Geise: W. K. dernen Verwaltungswelt« bezeichnet. Hagen, In: KLG. – Petra Ernst: W. K. In: LGL. Helmut Blazek / Christine Henschel die Hauptfigur, setzt sich aus sozialem Engagement über den Dienstweg hinweg; am Ende scheitert er an etablierten hierarch. Körner, Wolfgang Hermann, * 30.6.1941 Strukturen. Sprachkritische Züge weist der Sindelfingen/Württemberg. – Erzähler, Roman Nowack (Düsseld. 1969. Köln 1977) Romancier u. Hörspielautor. auf, der in rasch aufeinanderfolgenden Handlungssequenzen die Geschichte eines K. studierte nach dem Abitur Bauwesen in sich der Leistungsgesellschaft verweigernden München u. Berlin, brach das Studium nach Fotografen erzählt u. schonungslos die In- dem Vordiplom 1967 ab u. lebte 1973–1978 humanität offenlegt, die sich in den Phrasen in Ägypten. Er arbeitet als freischaffender der Werbesprache, der Arbeitswelt u. Politik Schriftsteller in Berlin. nur unzulänglich versteckt. Zivilisationsüberdruss, die Hypothek des Nachdem K. in den 1970er Jahren v. a. die »Dritten Reiches«, die »schrankenlosen VerGeschichte seiner Jugend u. die Themen brechen« der Vergangenheit u. Gegenwart, Flucht, Entwurzelung u. Neuanfang litera- Weltuntergangsfantasien, Gefahren u. Chanrisch gestaltete (Der Weg nach Drüben. Reck- cen der zunehmenden Technisierung sind linghausen 1976, übers. ins Amerikanische u. Probleme, die K. seit dem Geschichtenband Dänische. Und jetzt die Freiheit. Recklinghau- mit dem iron. Titel Normalfälle (Neuwied/Bln. sen 1977, übers. ins Dänische u. Schwedi- 1967) thematisiert. Leitbilder waren etwa sche), legte er 1984 mit Kandinsky oder Ein Nikolaus von Kues u. sein Prinzip des »Zulanger warmer Sommer (Mchn.) einen Roman sammenfalls der Gegensätze« (Coincidentia vor, der realistische u. fantastische Erzähl- oppositorum) sowie – nicht explizit – Charles weisen gekonnt miteinander verbindet. Der Percy Snow mit seinen Thesen zur ÜberwinTitelheld Kandinsky, ein Graupapagei, be- dung der Kluft zwischen den »zwei Kulturichtet von seinen Erfahrungen mit den allzu ren« Wissenschaft u. Literatur. »verkopften«, dabei doch launischen u. Im Roman Katt im Glück (Darmst./Neuwied wankelmütigen Menschen u. beschließt am 1967) stellt K. den Typ des Aussteigers dar, Ende, in seine Heimat Afrika zurückzukeh- der sich dem Druck der Leistungsgesellschaft ren. Die Welt erscheint hier als »wunderbares entzieht – ein Weg vieler seiner ProtagonisChaos« (Körner), in dem jedes Wesen seinem ten: Vom technikkrit. Aussteiger Katt zum Gesetz zufolge handeln muss. Seit Mitte der Totalverweigerer Flaig in der Erzählung Der 1980er Jahre hat K. zahlreiche satir. Ratgeber Eremit (Ffm. 1985) ist es nur ein Schritt. In u. Essays verfasst, die z.T. mehrfach aufge- den Erzählungen Die Nilfahrt (Ffm. 1984), Der legt, von der Kritik jedoch kaum wahrge- Eremit u. Das Weinschiff (Ffm. 1987) kombinommen wurden. Zuletzt hat er zwei Roma- niert K. literar. u. wissenschaftl. Rede, um zu ne der ital. Autorin Franca Permezza über- einer Synthese von naturwissenschaftlichsetzt. techn. u. künstlerisch-geisteswissenschaftl. Weitere Werke: Ich gehe nach München. Ra- Intelligenz zu gelangen, wobei die Kritik am vensburg 1977. 1979 (R.). – Im Westen zuhause. elektronischen Zeitalter überwiegt. Recklinghausen 1978 (R.). – Willkommen in der K.s Werke intendieren die Aufhebung der Wirklichkeit. 12 Erzählungen. Mchn. 1987. – Der sozialen Gegensätze: Der Debütroman einzig wahre Karriere-Ratgeber. Über Leichen zum Krautgärten (Neuwied/Bln. 1970) stellt sich die Erfolg. Reinb. 1988. 1992. – K.s endgültige Gesch. Aufgabe, »Schranken niederzureißen, mit der Deutschen. Von der Völkerwanderung bis alten Kategorien aufzuräumen«. Die Ägyptiheute. Düsseld. u. a. 1994. 2., aktualisierte Aufl. schen Träume (Bln. 1980) sprechen von einer 1996 (satir. Ess.s). utop. Weltordnung, in der »alle Menschen dieser Erde bescheiden, glücklich, gleichbe-
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rechtigt« leben könnten. K. hat diese Prosa – durchaus sendungsbewusst – im Untertitel als Tractatus logico-philosophicus Germanicus bezeichnet. Ägypten bleibt auch in seinem Spätwerk – Der Emigrant (Ffm. 2006), Stiller Ausweg Nil (Ffm. 2007) – ein Sehnsuchts- u. Zufluchtsraum. Jeder dieser Texte ist zgl. ein Traktat über Deutschland, ein »kleines Wort am Rande der Welt« (Die deutschen Träume. Trier 1990). Gemeinsam ist ihnen, dass sie, indem sie Realität konzipieren, nicht abbildend, sondern schöpferisch tätig sind: »Wer formuliert, entwirft und setzt in die Welt.« Weitere Werke: Die Verschwörung v. Berburg. Neuwied/Bln. 1971 (Kriminalroman). – Die frz. Träume. Trier 1992. – Die griech. Träume. Trier 1993. – Krebs. Bln. 1995. – Die luxemburg. Träume. Esch-sur-Sûre 1995. – Der Nichtstuer. Blieskastel 1997. – Die span. Träume. Trier 1997. – Der Ägyptenreisende. Ffm. 1999. – Fronäcker. Ffm. 2000. – Sommerhofen. Ffm. 2001. – Fatimas Atem. Ffm. 2002. – Die Fremde. Ffm. 2004. – Liebermanns Mythen. Ffm. 2008. – Hörspiele: Spiegelbild. 1970. – Fünfsatzspiel. 1971. – Dokumentation. 1971. – Ich will den Fischen vom Wasser erzählen. Wiesb. 1980. SWF 1980. Lutz Hagestedt
Körte, (Friedrich Heinrich) Wilhelm, * 24.3.1776 Aschersleben, † 28.1.1846 Halberstadt. – Literarhistoriker. K.s wissenschaftl. Wirken ist eng an das Lebenswerk Gleims, der sein Großonkel war, gebunden. Nach einem Jurastudium in Halle (1796–1799) widmete er sich ganz seinen literar. Interessen, promovierte zum Dr. phil. u. nahm sich seit dem Tod Gleims dessen Nachlasses an. Als Verwalter u. Herausgeber eines für das literar. Leben des 18. Jh. unschätzbaren handschriftl. Materials hat er bedeutenden Anteil an der Aufdeckung der vielfachen Literaturbeziehungen des Dichters, Kunstförderers u. Mäzens Gleim. K.s erste Edition galt Gleims Freund Ewald Christian von Kleist. Die Sämmtlichen Werke nebst des Dichters Leben aus seinen Briefen an Gleim (2 Bde., Bln. 1803) lassen philologisch zwar zu wünschen übrig, finden indes wegen der darin mitgeteilten u. seitdem verloren gegangenen handschriftl. Quellen weiterhin Beachtung. Dasselbe gilt in stärkerem Maß für K.s Gleim-Editionen. Seine Publikationen
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»aus Gleims literarischem Nachlasse« von 1804 (Briefe der Schweitzer, Bodmer, Sulzer, Gessner. Zürich), von 1805/06 (Briefe Teutscher Gelehrter. 3 Bde., ebd.) u. von 1810 (Gleims Fabeln und Erzählungen. Halberst.) münden ein in die immer noch grundlegende Ausgabe der Sämmtlichen Werke (7 Bde., 1 Suppl.-Bd., Halberst. 1811–13 u. 1841. Neudr. Hildesh. 1971. Mikrofiche Mchn. 1990–94). K.s Stärke lag in dieser archival. Editionsarbeit; seine Werke von 1820 (Das Leben L. N. M. Carnot [...]. Lpz.) u. 1833 (Leben und Studien F. A. Wolfs. 2 Bde., Essen) zeugen davon ebenso wie seine kulturhistorisch interessante Sammlung Die Sprichwörter und sprichwörtlichen Redensarten der Deutschen (Lpz. 1837 u. ö. Neudr. Hildesh./New York 1974. Zuletzt Hildesh. 2005). Wo er sich hingegen in literar. Fehden zu Wort meldete, wie 1806 (Kritik der Ehre, Sittlichkeit und des Rechts in F. H. Jacobi’s Schrift: Was gebieten Ehre, Sittlichkeit und Recht in Absicht vertraulicher Briefe. Zürich) oder 1808 (J. H. Voss: ein pragmatisches Gegenwort. Halberst.), blieb er ohne Widerhall. Zu einiger Verwirrung in der Lessing-Philologie hat allerdings sein letztes Werk (Albrecht Thaer, sein Leben und Wirken als Arzt und Landwirth. Lpz. 1839. Neudr. Wiesb. 1967. Zuletzt Hann. 1975) beigetragen: Anhand von Archivmaterial glaubte K. belegen zu können, dass mindestens die ersten 53 Paragraphen von Lessings Erziehung des Menschengeschlechts tatsächlich von Thaer stammten – eine Behauptung, die erst in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts stringent zurückgewiesen werden konnte. Als Philologe u. Herausgeber hat K. so Spuren hinterlassen, die in der literaturwissenschaftl. Forschung noch nicht ganz verwischt sind. Weitere Werke: Kleiner Katechismus der Lehre vom Büchernachdruck. Halberst. 1818. – Dr. M. Luther, nicht Lutheraner, noch weniger Päpstlicher, sondern wahrhaft evang. Katholik. Potsdam 1818. – Consilia Scholastica. F. A. Wolfs Ideen über Erziehung, Schule u. Univ. Quedlinb./Lpz. 1835. Literatur: Jürgen Stenzel (Hg.): E. C. v. Kleist: Sämtl. Werke. Anhang. Stgt. 1971 (zur Kleist-Ed.). – Alfred Anger (Hg.): J. W. L. Gleim, ›Versuch in Scherzhaften Liedern‹ u. ›Lieder‹. Nach den Erstausg.n v. 1744/45 u. 1749 mit den Körteschen
579 Fassungen im Anhang. Tüb. 1964 (zur Gleim-Ed.). – Heinrich Schneider: Lessings letzte Prosaschr. In: Ders.: Lessing. Zwölf biogr. Studien. Salzb. 1950, S. 222 ff. (zu Thaer/Lessing). – Der Freundschaftstempel im Gleimhaus zu Halberstadt. Bearb. Horst Scholke. Halberst. 2000, S. 128 f. – Gerlinde Wappler: Biograph u. Nachlaßverwalter W. K. In: Dies.: Menschen um Gleim. Bd. 1, Oschersleben 1998, S. 87–94. Klaus Bohnen / Red.
Koester, Johann (Hans) Andreas Friederich, * 16.8.1818 Kritzow bei Wismar, † 6.9.1900 Ludwigslust/Mecklenburg. – Dramatiker, Landwirt, Politiker.
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sammlungen u. biblisch-epische Dichtungen. 1867–1873 vertrat K. als Abgeordneter der Konservativen den Kreis Cottbus-Spremberg im Reichstag. Danach wandte er sich auf seinem Landgut Schlichow bei Cottbus wieder der Landwirtschaft zu. 1890 ging er nach Neuzelle, 1895 nach Ludwigslust, wo er bis zu seinem Tod lebte. Besonders mit seinem dramat. Werk entsprach K. dem zeitgenöss. Geschmack, konnte sich aber trotz zeitweiliger Bühnenresonanz kaum im Repertoire halten u. geriet bald in Vergessenheit. Weitere Werke: Schausp.e. Lpz. 1842. – Vaterländ. Schausp.e. Bln. 1851. – Lieben u. Leiden. Bln. 1862. – Erlebnisse u. Gestaltungen. Bln. 1872. – Hiob. Bielef./Lpz. 1885.
Der Sohn eines Gutspächters entstammte eiLiteratur: Heinrich Kurz: Gesch. der neuesten ner seit 1720 in u. um Wismar ansässigen Familie, studierte nach dem Besuch des dt. Lit. v. 1830 bis auf die Gegenwart. Lpz. 1881, Gymnasiums in Parchim u. Stralsund seit S. 561–563. – Franz Brümmer: Hans Köster. In: BJ 1834 in Berlin, Bonn u. München Philosophie 5 (1903), S. 262. – Carl Schröder: Mecklenburg u. die Mecklenburger in der schönen Lit. Bln. 1909, u. schloss das Studium mit der Promotion ab. S. 281–282, 343, 387–393. – Kosch 9. – Goedeke Es folgten mehrjährige Reisen, die ihn u. a. Forts. Gesa von Essen für längere Zeit nach Italien u. Frankreich führten, bevor er nach seiner Rückkehr das Rittergut Neu Temmen in der Uckermark Kösting, Karl (Wilhelm Heinrich Anton), erwarb. Die in dieser Zeit verfassten Dramen auch: Ernst Scherz, * 3.2.1842 Wiesba(z.B. Alcibiades. Bln. 1839. Polo und Francesca. den, † 17.12.1907 Dresden. – Dramatiker 1842. Heinrich der Vierte von Deutschland. Lpz. u. Epiker. 1844. Ulrich von Hutten. Breslau 1846. Luther. Breslau 1847) wurden zwar von der Kritik Materielle Not zwang den Sohn eines früh zunächst positiv aufgenommen, fanden aber verstorbenen Hoflakaien zu Abbruch des keinen Zugang zur Bühne, so dass K. sich von Gymnasiums, Schreibarbeit bei Gericht u. der literar. Beschäftigung weitgehend zu- Tuchhändlerlehre. Heimlich korrespondierte rückzog. 1843 heiratete er die bekannte Sän- der theaterbegeisterte Autodidakt u. Shakegerin Luise Schlegel, die 1847–1862 an der speare-Verehrer mit Friedrich Theodor ViHofoper in Berlin engagiert war u. die er auf scher, der die eingesandten Manuskripte ihren großen Gastspielreisen begleitete. Eduard Mörike empfahl. Eingeführt in Seit 1861 bewirtschaftete K. das Rittergut Stuttgarter Kunstkreise u. bald gefördert Bagenz bei Spremberg, wurde im selben Jahr durch die lebenslange Gönnerin Natalie von Mitgl. des Berliner gesellig-literar. Vereins Harder, veröffentlichte K. in rascher Folge die »Tunnel über der Spree« (Tunnelname: Dramen Columbus (Wiesb. 1863. Mikrofiche Schlegel, Aug. Wilh.) u. nahm – mit nunmehr Ffm. 1995), Zwei Könige (Wiesb. 1863) u. größerem Erfolg – seine schriftstellerische Shakespeare, ein Winternachtstraum (Wiesb. Tätigkeit wieder auf: Es entstanden v. a. die 1864). Ab Mitte der 1860er Jahre konzenhistor. Dramen Hermann, der Cherusker (Bln. trierte er sich zunehmend auf histor. u. na1861) u. Der Tod des Großen Kurfürsten (Weimar turwissenschaftl. Studien; er mied die Ge1865), patriotische Lieder in König Wilhelm sellschaft, brach mit Freunden u. lebte im und sein Heer (Bln. 1868) u. in Kaiser und Reich Bewusstsein dichterischer Sendung u. Le(Bln. 1872), aber auch Lustspiele wie Liebe im bensbestimmung. Eine geschichtsteleolog. Mai (Weimar 1866) u. Die Maler von Florenz Heptalogie zum romanisch-german. Gegen(Muskau 1876) sowie kleinere Novellen- satz von Hermann dem Cherusker bis Kaiser
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Wilhelm blieb skizzenhaft (vgl. Hermann der Befreier. Wiesb. 1873). Ein zweites Großprojekt, die epische u. dramat. Zusammenschau der Menschheits- u. Kulturentwicklung, versuchte K. im fünfbändigen Epos Der Weg nach Eden (Lpz. 1884) sowie in einem Dramenzyklus u. a. über Moses, Jesus u. Columbus zu realisieren (vgl. Moses und Thermutis oder Das gelobte Land. Lpz. 1894). K. starb an einem Herzleiden. Werke: Ausgew. Werke. Hg. Friedrich Kummer. 3 Bde., Dresden 1907. 1909. Literatur: Franz Brümmer: Deutsches DichterLexikon. Bd.1, Eichstätt/Stgt. 1876. – Friedrich Kummer: K. K.: ein Lebensbild [Biografie]. In: K. K.: Ausgew. Werke, a. a. O., Bd. 3. – Goedeke Forts. Kathrin Klohs
Koestler, Arthur, auch: A. Costler, * 5.9. 1905 Budapest, † 3.3.1983 London. – Publizist, Essayist, Romancier. Der Sohn einer österreichisch-ungarischen jüd. Kaufmannsfamilie wuchs zweisprachig erst in Budapest, dann in Wien auf. Als Student der Ingenieurwissenschaft wurde er 1924 mit 19 Jahren Vorsitzender der zionistischen Burschenschaften in Österreich. Er brach das Studium ab, um 1926 als Verfechter eines westlich orientierten Zionismus nach Palästina zu gehen. Der Versuch, in einer Kollektivsiedlung heimisch zu werden, scheiterte. Nach verschiedenen Gelegenheitsarbeiten konnte K. 1927 als Auslandskorrespondent für Ullstein in Jerusalem Fuß fassen. Im Auftrag des Verlags arbeitete er ab 1929 in Paris u. Berlin, zuletzt als wissenschaftl. Redakteur. 1931 wandte sich K. dem Marxismus zu u. trat in die KPD ein. 1932/33 unternahm er eine ausgedehnte Reise durch die UdSSR. Die folgenden Jahre des beginnenden Exils verbrachte er in Paris u. Zürich. Im Auftrag der Komintern erkundete K., ausgestattet mit den Presseausweisen einer ungarischen Zeitung u. des liberalen engl. »News Chronicle«, die Lage im Spanischen Bürgerkrieg. 1937 verhaftet, wurde er auf brit. Intervention hin nach vier Monaten wieder freigelassen. 1938 brach K. endgültig mit der Kommunistischen Partei. Er lebte in Paris, wurde zeitweilig interniert, trat in die
frz. Fremdenlegion ein u. konnte 1940 vor der Gestapo nach London entkommen. Nach freiwilligem Dienst in der brit. Armee wurde er Kriegsberichterstatter. Weiteren Reisejahren mit Auslandsaufenthalten in Palästina, wo er 1945 in Kontakt zum militanten Irgun von Menachem Begin, dem späteren israelischen Ministerpräsidenten, trat, Frankreich u. in den USA folgte 1952 der Entschluss, in London sesshaft zu werden. Seit 1940 schrieb K. nur noch englisch. Aufsehen erregte K. mit seinem Schwarzbuch über Spanien Menschenopfer unerhört (Paris 1937) u. dem Tagebuch aus der Todeszelle in Sevilla Ein spanisches Testament (Zürich 1938. 2005). Drei Romane über die Ethik der Revolution setzen sich mit dem Stalinismus auseinander. Der Spartakus-Roman The Gladiators (London 1939. Dt.: Die Gladiatoren. Hbg. 1948) führt das Umschlagen der Utopie in die Katastrophe vor. Darkness at noon (London 1940. 1994. Dt.: Sonnenfinsternis. Zürich 1946. Hbg. 2005) gibt Einblick in das Denken eines bolschewistischen Revolutionärs der alten Garde. Rubaschow sucht nach seiner Verhaftung den Fehler in der revolutionären Logik. Die von ihm gehorsam ausgeführten Taten belasten ihn nun. Er beginnt an dem bisher für unwiderlegbar gehaltenen Grundsatz, dass der Zweck die Mittel u. auch alle Opfer rechtfertige, zu zweifeln. Dennoch bekennt er im inszenierten Tribunal nie begangene Verbrechen gegen die Partei, um ihr einen letzten Dienst zu erweisen. Der Roman Arrival and Departure (London 1943. Dt.: Ein Mann springt in die Tiefe. Zürich 1945) lotet tiefenpsychologisch frühkindl. Verstrickungen in Verrat, Schuld u. Strafbedürfnis als Antrieb zu polit. Handeln aus. Nach dieser Trilogie, die K.s Emanzipation vom Kommunismus zum Thema hatte, realisierte er mit Thieves in the Night (London 1946. Dt.: Diebe in der Nacht. Wien 1946. Ffm./ Bln. 1990) einen Romanplan, den er bereits in den 1920er Jahren in Palästina gefasst hatte. Seine Erfahrungen mit dem Leben in einem Kibbuz verlegte er in fiktionaler Form in die Jahre 1937–1939 u. schilderte auf dem Hintergrund des sich verschärfenden jüdischarab. Konflikts das Schicksal einer jüd. Sied-
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lung. K.s wiedererwachtes Interesse an der ›jüd. Frage‹ ist auch als Reaktion auf den Holocaust zu verstehen. In Thieves in the Night knüpfte K. an seine zionistische Position der 1920er Jahre an, als er Mitarbeiter von Jabotinsky war. Er vertrat die Ansicht, dass nur die Errichtung eines jüd. Nationalstaats dazu führen könne, dass die habitualisierten Deformationen, die durch die Jahrhunderte lange Existenz im Ghetto entstanden waren, überwunden werden könnten. Als Träger dieser Idee fungieren in Thieves in the Night u. in dem nach der israelischen Staatsgründung erschienenen Essayband Promise and Fulfilment. Palestine 1917–49 (London 1949) die ›neuen Hebräer‹, die den Neuanfang der jüd. Existenz durch ihre Entscheidung für das Hebräische dokumentieren. Im Kalten Krieg wurde K. zum erbitterten Antikommunisten, der den Westen zum ideolog. Kreuzzug gegen den in seinen Augen übermächtigen Osten aufrufen wollte, so auf dem »Kongress für kulturelle Freiheit«, Berlin 1950, u. in dem Roman The Age of Longing (London 1951. Dt.: Gottes Thron steht leer. Ffm. 1951). In den 1950er Jahren ergänzte K. seine autobiogr. Schriften Ein spanisches Testament u. Scum of the Earth (London 1941) um die Bände Arrow in the Blue (London 1951. Dt.: Der Pfeil ins Blaue. Wien 1953) u. Invisible Writing (London 1954. Dt.: Die Geheimschrift. Wien 1955). Sie geben eine Chronik seines Lebenswegs bis 1940 u. lassen die Radikalität der jeweiligen Neuanfänge erkennen. Politischer Scharfsinn u. psychoanalyt. Wissen fließen in dem schonungslosen, zeitgeschichtlich aufschlussreichen Bericht zusammen. Seit 1955 trat K. fast nur noch mit Themen aus der Anthropologie, Biologie, Psychologie u. Physik hervor. Die größte öffentl. Wirkung erzielte K. in den 1940er Jahren, v. a. mit dem in mehr als 30 Sprachen übersetzten u. vielfach neu aufgelegten Roman Sonnenfinsternis. Die in ihm entwickelte sog. »Rubaschow-Theorie der Geständnisse« fand in der Diskussion über die Moskauer Schauprozesse große Beachtung. Der Roman trug zur Niederlage der kommunistischen Partei Frankreichs, damals stärkste Partei, bei der Volksabstimmung über die Verfassung 1946 bei. Auch literarisch
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überragt dieses Werk die anderen Romane, in denen die Vermittlung zwischen Erfindung, Geschichte, autobiogr. Aufarbeitung u. polit. Diskurs nicht immer geglückt ist. Die Fixierung auf den Gott, der keiner war (The God, that failed: Six Studies in Communism. Hg. Richard Crossmann. London 1950. Dt.: Konstanz 1959. Zürich 2005) brachte ihm den Vorwurf ein, vom Stalinismus u. dessen rigidem Denken nicht loszukommen. Mit seinen naturwissenschaftl. Arbeiten gelang es K. wiederum, produktiv Anstoß zu erregen u. Anstöße zu geben. Er wurde für sein Werk mit mehreren Preisen u. 1968 mit der Ehrendoktorwürde der Queen’s University, Kanada, ausgezeichnet. Weitere Werke: (alle Werke unter Pseud.): Encyclopedia of Sexual Knowledge. London 1934–38. – The Yogi and the Commissar. London 1945. Dt.: Der Yogi u. der Kommissar. Esslingen 1950. Ffm. 1974. – Twilight Bar. London 1945 (D.). – The Trail of the Dinosaur. London 1955 (Ess.). – The Sleepwalkers. London 1959. Dt.: Die Nachtwandler. Bern 1959. – The Lotus and the Robot. London 1960. Dt.: Von Heiligen u. Automaten. Bern 1961 (Ess.). – Suicide of a Nation? London 1963. – The Act of Creation. London 1964. Dt.: Der göttl. Funke. Bern 1966 (Ess.). – Diesseits v. Gut u. Böse. Bern 1965 (Ess.). – The Ghost in the Machine. London 1967. Dt.: Das Gespenst in der Maschine. Wien 1968. – Ges. autobiogr. Schr.en. 2 Bde., Wien 1970/ 71. – The Case of the Midwife Toad. London 1971. Dt.: Der Krötenküsser. Der Fall des Biologen Paul Kammerer. Wien 1972. – The Roots of Coincidence. London 1972. Dt.: Die Wurzeln des Zufalls. Ffm. 1974. 1995. – The Call-Girls. A tragi-comedy. London 1972. Dt.: Die Herren Call-Girls. Mchn. 1975. – The Heel of Achilles. Essays 1968–73. London 1974. – The thirteenth tribe. London 1976. Dt. Der dreizehnte Stamm. Wien u. a. 1977. – Janus, a Summing Up. New York 1978. Dt.: Der Mensch – Irrläufer der Evolution. Bern 1978. Ffm. 1993. – Als Zeuge der Zeit. Bern 1982. Ffm. 2005 (Ausw. aus den autobiogr. Schr.en). – Stranger on the Square (zus. mit Cynthia Koestler). London 1984. Dt.: Auf fremden Plätzen. Wien 1984. – Das rote Jahrzehnt. Wien/Zürich 1991 (Autobiogr.). Literatur: Hans Paeschke: Chronik eines intellektuellen Revolutionärs. In: Monat 11 (1955). – John Atkins: A. K. London 1956. – Peter Alfred Huber: A. K.s Werk in literar. Sicht. Diss. Zürich 1962. – Alfred Kantorowicz: Abschied v. A. K. In: A. K.: Dt. Schicksale. Wien 1964. – J. Colder: Chronicle of Conscience. A Study of George Orwell and A.
Köstlin K. London 1968. – Sidney A. Pearson: A. K. Boston 1978. – Rud Merrill u. Thomas Frazier: A. K. An International Bibliography. Ann Arbor 1979. – Hilde Spiel: Das Kerzenlicht der Wahrheit. A. K. mit siebzig. In: Dies.: In meinem Garten schlendernd. Mchn. 1981. – Iain Hamilton: A. K. London 1982. – George Mikes: A. K. London 1983. – Thomas Koebner: A. K.s Abkehr vom Stalinismus. In: Exilforsch. Bd. 1, Mchn. 1983. – Norbert Schaffeld: Die Darstellung des nationalsozialist. Dtschld. im engl. Roman. Ffm. 1987. – Frank Day: A. K. A Guide to Research. New York. 1987. – Roland Quilliot: A. K. De la désillusion tragique au rêve d’une nouvelle synthèse. Paris 1990. – Andrea Tyndall: The personal becomes political. A. K., 1940–1950. Ann Arbor 1992. – Constant Vecht: A. K. Amsterd. 1992. – Karlheinz F. Auckenthaler: ›Gegen die Cholera gibt es keine Neutralitat‹. A. K. – ein Leben für eine freie u. bessere Welt. In: K. F. A., Hans H. Rudnick u. Klaus Weissenberger (Hg.): Ein Leben für Dichtung u. Freiheit. Tüb. 1997, S. 305–321. – David Cesarani: A. K. The homeless Mind. London u. a. 1998. – Jürgen Egyptien: Alter Jude oder neuer Hebräer? A. K. u. sein Beitr. zur jüd. Identität. In: Jüd. Echo 47 (1998) S.264–272. – Catherine Stodolsky: Emigrationsalltag im 15. Arrondissement. Walter Benjamin, A. K., Lisa Fittko. In: Anne Saint Sauveur-Henn (Hg.): Fluchtziel Paris. Bln. 2002, S. 73–80. – Harold Bloom (Hg.): A. K.’s ›Darkness at noon‹. Philadelphia 2004. – Christian Buckard: A. K. Ein extremes Leben. 1905–1983. Mchn. 2004. – Stuart Knee: A. K. (1905–1983). In: Alba Amoia u. Bettina L. Knapp (Hg.): Multicultural Writers since 1945: An A-to-Z Guide. Westport 2004, S. 293–298. – Elke Schubert: ›Der Renaissancemensch‹. Neues über A. K. In: Neue Gesellsch./FH 51 (2004), H. 9, S. 56–59. – Michel Laval: L’ homme sans concessions. A. K. et son siecle. Paris 2005. – Joseph P. Strelka: A. K. Autor – Kämpfer – Visionär. Tüb. 2006. – Klaus Weissenberger: Das Spannungsfeld autobiogr. Erinnerungskunst bei Manès Sperber, A. K. u. Jakov Lind. In: Jörg Thunecke (Hg.): Echo des Exils. Wuppertal 2006, S. 155–168. – J. Egyptien: A. K. In: MLdjL. Anneli Hartmann / Jürgen Egyptien
Köstlin, Christian Reinhold Karl, auch: C. Reinhold, * 29.7.1813 Tübingen, † 14.9. 1856 ebd.. – Jurist. K. studierte entgegen seinen frühen musischen Neigungen Jura in Tübingen, Heidelberg u. Berlin. Seine dichterische Laufbahn begann er mit Gedichten (in »Cottas Morgenblatt« ab 1829) u. mehreren Komödien
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(1833–1836), die allerdings wie sein gesamtes dramat. Schaffen ungedruckt blieben. Seit 1836 Rechtsanwalt, schlug er bald die akadem. Laufbahn ein u. wurde 1841 a. o., 1851 o. Prof. für Kriminalrecht in Tübingen. Als Strafrechtler versuchte er die konsequente Umsetzung von Hegels Rechtsphilosophie (Die Lehre von Mord und Todtschlag. Tl. 1, Stgt. 1838. Neue Revision der Grundbegriffe des Criminalrechts. Tüb. 1845. Der Wendepunkt des deutschen Strafverfahrens im 19. Jahrhundert. Tüb. 1849), seine nach streng philosophischen Grundsätzen verfassten juristischen Arbeiten fanden jedoch wenig Resonanz. In seinen z.T. satir. oder grotesk-komischen Novellen u. Erzählungen (u. a. Gesammelte Novellen und Erzählungen, 3 Bde., Bremen 1847) machen sich Einflüsse E. T. A. Hoffmanns u. Jean Pauls bemerkbar, er schrieb allerdings auch biedermeierlich-sentimentale Gesellschaftsnovellen, die v. a. in Zeitschriften erschienen. In den anonym veröffentlichten Denkwürdigkeiten eines deutschen Hausknechts, wie er solche im Jahre des Heils 1848 selbst in Flachsenfingen niederschrieb (Tüb. 1850) rechnete er mit der 48er-Revolution ab. Einige seiner Gedichte (Stgt. 1853) wurden u. a. von seiner Frau Josephine Lang u. von Johannes Brahms vertont. Weitere Werke: Zwei Erzählungen. Stgt. 1837. – Die Söhne des Dogen (Schausp., Urauff. Stgt. 1838, ungedr.) – Die Mathildenhöhle. Stgt. 1839 (N.). – Wilhelm der erste König v. Wirtemberg u. die Entwicklung der wirtemberg. Verfassung vor u. unter seiner Regierung. Stgt. 1839. – Die Perduellio unter den Röm. Königen. Tüb. 1841. – Dt. Lied vom März 1848. Tüb. 1848. – Das Geschwornengericht. Tüb. 1849. – Die Geschworenengerichte. Lpz. 1851. – Auerswald u. Lichnowsky. Ein Zeitbild. Tüb. 1853. – System des dt. Strafrechts. Tüb. 1855. – Abhandlungen aus dem Strafrecht. Tüb. 1858. – Gesch. des dt. Strafrechts im Umriß. Tüb. 1859. Literatur: Wolfgang Naucke: R. K. In: NDB 12, S. 408 f. – Sharon Krebs: Eine oberbayer. Idylle ...: Josephine Lang u. C. R. K. in Kreuth u. am Tegernsee. In: Lit. in Bayern (2003), H. 72, S. 42–45, 58–65. – Goedeke Forts. Peter-Henning Haischer
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Koffka, Friedrich, auch: Sincerus, Florin, * 22.4.1888 Berlin, † 5.11.1951 London. – Dramatiker, Hörspielautor. Nach dem Jurastudium wurde K., Sohn eines Juristen, Amtsgerichtsrat u. arbeitete bis 1933 als Richter am Kammergericht in Berlin. Ersten schriftstellerischen Erfolg erlangte er mit dem expressionistischen Drama Kain (Bln. 1917), das 1918 von der Reinhardt’schen Versuchsbühne »Das junge Deutschland« in Berlin uraufgeführt wurde. 1938 emigrierte K. nach London, wo er als Mitarbeiter u. Sprecher der BBC tätig war. Gleichzeitig schloss er sich der von Kurt Hiller u. anderen gegründeten »Gruppe Unabhängiger Deutscher Autoren« an u. war leitendes Mitgl. des »Club 1943«, einer Gegenorganisation zum kommunistisch orientierten »Freien Deutschen Kulturbund«. Neben seiner Mitarbeit am Feuilletonteil des deutschsprachigen Organs »Die Zeitung« verfasste K. im Exil hauptsächlich Hörspiele wie Goethe in England (1949) oder Onkel Toby (1950). Weitere Werke: Kaiser Wilhelm II.: Zum zwanzigjährigen Regierungsjubiläum. Charlottenburg 1908 (Ess.). – Herr Oluf. Bln. 1919 (D.). – Briefe nach Elinor Gardens. London 1943 – Pamela. 1950 (Hörsp.). – Wellington. 1951 (Hörsp.). Heiner Widdig
Kofler, Gerhard, * 11.2.1949 Bozen/Südtirol, † 2.11.2005 Wien. – Lyriker, Essayist u. Kulturpublizist. K. wuchs in Brixen auf, studierte in Innsbruck u. Salzburg Germanistik u. Romanistik; ab 1978 lebte er als Kulturredakteur des Österreichischen Rundfunks u. verschiedener Zeitungen in Wien. Er war mehrfach Generalsekretär der Grazer Autorenversammlung sowie Mitgl. der Südtiroler Autorenvereinigung. K.s frühe Lyrik wird der Norbert C. Kaser verpflichteten Generation jüngerer krit. Südtiroler Autoren zugerechnet. In seinen epigrammatisch kurzen, einfach gebauten Gedichten (Südtiroler Extravaganzen. Wien 1981. Neue Südtiroler Extravaganzen. Wien/Bozen 1984) arbeitet K. mit experimentellen Formelementen wie Zitat u. dem gezielten Einsatz von Hochdeutsch, Südtiroler Mund-
art u. Italienisch. Im Mittelpunkt von seinen oft humorvollen Wahrnehmungen, Kindheitserinnerungen u. poetischen Notaten steht zunächst die »autonome Provinz« Südtirol mit ihren polit., ethn. u. kulturellen Problemen. Seit 1986 verfasste K. seine Gedichte v. a. auf Italienisch, der dem Wiener Lebensumfeld entgegengesetzten Literatursprache, u. erarbeitete anschließend eine (eigenständige) deutschsprachige Fassung. Die Rezeption des zweisprachig Aufgewachsenen ist von den Kernfragen der Mehrsprachigkeit u. bikulturellen Herkunft geprägt. Mit seinen Hauptwerken, den umfangreichen lyr. Kompendien Poesie di mare e terra / Poesie von Meer und Erde (Klagenf. 2000) u. Poesie di mare, terra e cielo / Poesie von Meer, Erde und Himmel (Klagenf. 2003) verschiebt sich K.s Themenschwerpunkt von Kindheit u. Herkunft zur poetischen Auseinandersetzung mit anderen Ländern u. schließlich seiner Wahlheimat Wien, was sich bes. im postum veröffentlichten Prosaband Taccuino su Nuova York a distanza / Notizbuch über New York aus der Entfernung (Klagenf. 2007) zeigt. K. übertrug u. a. H. C. Artmann, Gerald Bisinger, Ernst Jandl u. Friederike Mayröcker ins Italienische. K. erhielt mehrere Stipendien u. Preise, u. a. den Förderungspreis zum Österreichischen Staatspreis (1997). Seine Gedichte wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Weitere Werke: Die Rückseite der Geographie. Wien/Bozen 1988 (L.). – Mexcaltitán. Gedichte in Spanisch u. Deutsch. Wien 1989. – Piccole tazze / Kleine Tassen. Poesie in Grecia / Gedichte in Griechenland. Wien 1992. – Intermezzo a Vienna. Wien 1993 (L.). – Poesie da calendario / Am Rand der Tage. Innsbr. 1996. – Il posto esposto / Der ausgesetzte Platz. Innsbr. 1997. – L’orologica dei versi / Die Uhrwerkslogik der Verse. Innsbr. 1999 (L.). – Soliloquio d’autunno / Selbstgespräch im Herbst. Gedichte in Italienisch u. Deutsch. Innsbr. 2005. – Taccuino delle ninfee / Tgb. der Wasserrosen. Kurzprosa in Italienisch u. Deutsch. Klagenf. 2005. – Trilogia nuova antica / Trilogie neu antik. Gedichte in Italienisch u. Deutsch. Klagenf. 2006. – Mitherausgeber: Kultur u. Nachbarschaft. Kontakte, Konflikte, Vergleich. Klagenf. 2001. – Europa erlesen. Südtirol. Klagenf. 2005. Literatur: Sieglinde Klettenhammer: ›Der Gemeinplatz ausgewalzt zur Heimat‹. Motiv u. The-
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ma ›Heimat‹ in der Lyrik Norbert C. Kasers u. G. K.s. In: Mitt.en aus dem Brenner-Archiv 9 (1990), S. 64–80. – Sigurd Paul Scheichl: Poesie der Mehrsprachigkeit. G. K.s ital.-dt. Doppelgedichte. In: Carleton Germanic papers 25 (1997), S. 91–103. – Sabine Gruber: G. K. 1949–2005. In: Podium 13 (2006), H. 140, S. 167–169. Ursula Weyrer / Stefan Alker
Kofler, Werner, * 23.7.1947 Villach. – Verfasser von Prosa u. Hörspielen. Nach dem Abbruch einer Lehrerausbildung reiste K., Sohn eines Kaufmanns, jahrelang durch Europa u. war in verschiedenen Berufen tätig. Seit 1968 arbeitet er als freier Schriftsteller; seit 1970 lebt er in Wien. 1969 wurde K.s erstes Hörspiel Stimmen im ORF gesendet. 1975 erschien Guggile: vom Bravsein und vom Schweinigeln. Eine Materialsammlung aus der Provinz (Bln. Neuausg. Wien 1991. 21995. Wien/Ffm. 2004), K.s erste größere Prosaarbeit, die das Aufwachsen im Kärnten der 1950er Jahre zum Thema hat (»alle personen, orte und begebenheiten sind wahrheitsgemäß ›erstunken und erlogen‹«). 1978 wurde K. mit dem Förderungspreis zum österreichischen Staatspreis für seinen Roman Ida H. Eine Krankengeschichte (Bln. 1978. Wien 1991. Wien/Mchn. 2000) ausgezeichnet. Während K.s frühe – v. a. lyrische – Veröffentlichungen von »dunkler«, poetischer Sprache getragen sind, zeigen die späteren Arbeiten eine geänderte Literaturauffassung. Die Texte entziehen sich der eindeutigen Zuordnung zu einer Gattung. Angelehnt an experimentelle Formen, wendet K. die Technik der Collage u. Montage an: Erzählpassagen wechseln ab mit Zeitungsausschnitten, Tonbandprotokollen u. Gedichten. Gegenstand seiner Texte sind die gesellschaftl. Wirklichkeit u. die eigene Lebenswelt – mit dem Anspruch, dass sich »mit literarischen Mitteln etwas in Erfahrung bringen läßt«. Dokumentiert werden die Degradierungsrituale u. Anpassungsmechanismen, denen das Individuum ausgeliefert ist, die Bedrohlichkeit familiärer oder bürokratischer Ordnungen. In Prosawerken wie Amok und Harmonie (Bln. 1985) konzentriert sich K. auf die Ba-
nalitäten u. Ungeheuerlichkeiten des Alltags, die er – stilistisch angelehnt an die furiosen Schimpflitaneien Bernhards – der Lächerlichkeit preisgeben will. Eine Entfaltung der wichtigen Motivkomplexe K.s findet sich in den vom Autor als Triologie begriffenen Prosabüchern Am Schreibtisch. Alpensagen/Reisebilder/Racheakte Reinb. 1988), Hotel Mordschein. Drei Prosastücke (Reinb. 1989). u. Der Hirt auf dem Felsen (Reinb. 1991). Zum literar. Programm K.s, der vom »Schreiben [als] Bergwandern im Kopf« u. vom Schriftsteller als dem »Wirklichkeitsparodisten aus der Realitätsferne« spricht, gehört im Wesentlichen, den Text zwischen Realität u. Fiktion, zwischen Authentischem u. »unfrei erfundenen« Szenen oszillieren zu lassen: »Kunst muß die Wirklichkeit zerstören, so ist es, die Wirklichkeit zerstören statt sich ihr unterzuwerfen, auch was das Schreiben anlangt [...]. Immer wieder sage ich: Komm her, du Wirklichkeit, jetzt wird abgerechnet [...] und doch: Sie macht um so unverfrorener weiter ...« (Am Schreibtisch). Neben dem Autobiografischen, bes. der Existenz als Schriftsteller, nehmen in K.s Büchern Themen wie Umweltzerstörung u. instrumentalisierter Umgang mit der Geschichte einen zentralen Stellenwert ein, verbunden mit der Kritik an den Medien, insbes. am Boulevardjournalismus, u. den Bedürfnissen einer Seitenblickegesellschaft. K. erhielt u. a. 1976 den Theodor-KörnerPreis, 1983 den Prix Futura Berlin, 1990 den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, 1991 den Literaturpreis der Stadt Wien, 1996 das Arno-Schmidt-Stipendium u. 2001 den Peter-Rosegger-Literaturpreis des Landes Steiermark. Weitere Werke: örtl. verhältnisse. Bln. 1973 (L. u. P.). – Analo. Das große kleine Comix-Buch (zus. mit Friedrich Aigner). Wien/Mchn. 1973. – Aus der Wildnis. Zwei Fragmente. Bln. 1980. Erw. Ausg. mit dem Untertitel: Verstreute Prosa. Wien/Mchn. 1998. – Oliver. ORF/HR 1980 (Hörsp.). – ZELLARZBERG. Ein Exzeß. Bühnenstück, Mchn. 1982. Urauff. Villach 1984. – Konkurrenz. Wien/Bln. 1984. Taschenbuchausg. mit dem Untertitel: Szenen aus dem Salzkammergut. Reinb. 1990. Neuausg. Wien 1996 (R.). – Der Erlöser. Eine Simulation (zus. mit Antonio Fian). HR/ORF 1989
585 (Hörsp.). – Was geschah mit der Königin der Nacht? ORF/SFR/WDR 1992 (Hörsp.). – Im Museum. 1993 (Drehb.). – Herbst, Freiheit. Ein Nachtstück. Reinb. 1994. – Wie ich Roberto Cazzola in Triest plötzlich u. grundlos drei Ohrfeigen versetzte. Versprengte Texte. Mit einem Nachw. v. Klaus Amann. Wien 1994. – Biohotel, Pastorale. ORF/RB 1994 (Hörsp.). – Lombroso in Leibnitz oder Der afrikan. Bruder (zus. mit A. Fian). HR/ORF 1994 (Hörsp.). – Dopo Bernhard. Wie ich dem Übersetzer Reitani aus Bari den Unterschied zwischen Mordschein u. Mondschein beibrachte. Ein Schurkenstreich [Text dt. und ital. Übers. v. Anna Santini]. Köln 1996. – Üble Nachrede – Furcht u. Unruhe. Reinb. 1997. – Blöde Kaffern, dunkler Erdteil. Drei Hörsp.e (zus. mit Antonio Fian). Wien 1999. – Manker. Invention. Wien/Mchn. 1999. – Zerstörung der Schneiderpuppe. Eine Festschrift. Köln 1999. – Mutmaßungen über die Königin der Nacht [Text dt., ital. u. slowen.; Übers. v. A. Santini, Zdenka Hafner-Cˇelan u. Fabjan Hafner]. Nachw. v. Klaus Amann. Klagenf. 2000. – Tanzcafé Treblinka. Geschlossene Vorstellung. Sprechstück mit Musik. Wien/Ffm. 2001. – Auf der Strecke. ORF/NDR 2003 (Hörsp.). – Kalte Herberge. Bruchstück. Wien/Ffm. 2004. – Triptychon. Am Schreibtisch / Hotel Mordschein / Der Hirt auf dem Felsen. Wien 2005. – In meinem Gefängnis bin ich selbst der Direktor. Lesebuch. Hg. u. mit einem Nachw. vers. v. K. Amann. Klagenf. 2007. Literatur: Franz Haas: Bücher aus dem Hinterhalt. Die literar. Sabotageakte des W. K. In: MAL 24 (1991), Nr. 3/4, S. 183–202. – Arne Rußegger: ›Der, der ich sein könnte, winkt traurig dem, der ich bin ...‹. Ein Porträt des österr. Schriftstellers W. K. In: ide. Informationen zur Deutschdidaktik N. F. 17 (1993) H. 2, S. 61–71. – Wendelin SchmidtDengler: W. K. In: Jenseits des Diskurses. Lit. u. Sprache in der Postmoderne. Hg. Albert Berger u. Gerda Elisabeth Moser. Wien 1994, S. 295–307. – Bernhard Fetz: Stimmen hören. Zu W. K.s Triptychon ›Am Schreibtisch‹, ›Hotel Mordschein‹, ›Der Hirt auf dem Felsen‹. In: Strukturen erzählen. Die Moderne der Texte. Hg. Herbert J. Wimmer. Wien 1996, S. 133–151. – Gerhard Moser: ›Schreiben ist Bergwandern im Kopf‹. Versuch über W. K. In: LuK 33 (1998), H. 321/322, S. 32–39. – Klaus Amann (Hg.): W. K. Texte u. Materialien. Wien 2000. – Ders.: Zeichen u. Bedeutung. Betriebsbesichtigung bei W. K. In: Die Lebenden u. die Toten. Beiträge zur österr. Gegenwartslit. Hg. Markus Knöfler u. a. Budapest 2000, S. 121–134. – Edit Király: ›Bergwandern im Kopf‹. Die Metaphern des Schreibens bei W. K. In: ebd., S. 111–120. – Bernard Banoun: W. K., ein Kampf der Stimmen. In: Aug’ um Ohr.
Kogon Medienkämpfe in der österr. Lit. des 20. Jh. Hg. ders. u. a. Bln. 2002, S. 189–199. – Ders.: ›Flûte double de la nuit‹. ›La flûte enchantée‹ dans l’œuvre de W. K. In: Recherches sur le monde germanique (2003), S. 299–310. – Anton Thuswaldner: W. K. In: LGL. – Marina Corrêa: Polyphonien in W. K.s ›Der Hirt auf dem Felsen‹. Wien 2004. – Ingo Käthner: W. K. In: KLG. – Klaus Kastberger: W. K.s Schurkenstreiche. In: Ders.: Vom Eigensinn des Schreibens. Produktionsweisen moderner österr. Lit. Wien 2007, S. 282–307. Kristina Pfoser-Schewig / Bruno Jahn
Kogon, Eugen, * 2.2.1903 München, † 24.12.1987 Falkenstein. – Politischer Publizist. Der aus einem streng kath. Elternhaus stammende K. promovierte nach dem Studium der Nationalökonomie u. Soziologie in München, Florenz u. Wien über den Korporativstaat des Faschismus (Wien 1927). Anschließend Redakteur in Wien, gehörte er zum Kreis um den Ständestaattheoretiker Othmar Spann. 1935 übernahm K. die Vermögensverwaltung des Hauses Sachsen-Coburg-Gotha u. kam in Deutschland zweimal wegen antinationalsozialistischer Agitation in Haft. Nach der Annektierung Österreichs wurde er im Konzentrationslager Buchenwald interniert, wo er der illegalen Lagerleitung angehörte. Unmittelbar nach der Befreiung am 12.4.1945 schrieb er für die amerikan. »Psychological Warfare Division« u. in Zusammenarbeit mit anderen Buchenwald-Häftlingen einen Bericht über das Konzentrationslager Buchenwald, der die Grundlage für sein immer wieder aufgelegtes Buch Der SS-Staat. Das System der deutschen Konzentrationslager (Ffm. 1946. Frechen 2000) bildet. Waren die ersten Ausgaben der »Frankfurter Hefte«, die K. seit April 1946 (bis 1984) zusammen mit Walter Dirks herausgab, von der Beschäftigung mit der »konsequenten Inhumanität« des Nationalsozialismus geprägt, so widmete sich K. später dem Aufbau des demokratischen Staats, den er sich föderalistisch u. sozialistisch wünschte. 1948 begann K.s publizistisches Engagement für ein vereintes Europa u. gegen die Remilitarisierung der Bundesrepublik.
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Gemäß seiner Forderung, dass Widerstand in der Normalität beginnen müsse, verstand K. die »Frankfurter Hefte« als krit. Alternative zum ›restaurativen‹ Denken. In seinen Artikeln, später auch in Rundfunkkommentaren u. als Moderator des Fernsehmagazins »Panorama«, nahm K. zu gesellschaftspolit. Problemen Stellung. Er setzte sich schon früh für die gewerkschaftl. Mitbestimmung ein, begrüßte die Ostpolitik Willy Brandts u. unterstützte die Friedensbewegung. 1951–1968 war K. Professor für Politische Wissenschaften an der TH Darmstadt. Weitere Werke: Die unvollendete Erneuerung. Dtschld. im Kräftefeld 1945–63. Ffm. 1964 (Aufsätze). – Lenin. Mchn. 1971 (Ess.). – Cäsar. Mchn. 1972 (Ess.). – Die Stunde der Ingenieure. Düsseld. 1976. – E. K. – ein polit. Publizist in Hessen. Ffm. 1982. – Ges. Schr.en. Hg. Michael Kogon u. Gottfried Erb. 8 Bde., Weinh. 1995–98. – Mitherausgeber: Nationalsozialistische Massentötungen durch Giftgas. Ffm.1983. Literatur: Walter Jens u. a. (Hg.): Plädoyers für die Humanität zum Gedenken an E. K. Mchn. 1988. – Ernst Otto Czempiel u. a.: E. K. ist ein Jahr tot. In: Die Neue Gesellsch./FH 35 (1988), S. 1088–1112. – Klaus Körner: E. K. als Verleger. In: Aus dem Antiquariat (1994), S. A281-A293. – Wolfgang Sofsky: Analyse des Schreckens. E. K.s ›Der SS-Staat‹ u. die Perspektiven der KZ-Forsch. Wiesb. 1995. – Franz H. Schrage: Weimar – Buchenwald. Spuren nationalsozialist. Vernichtungsgewalt in Werken v. Ernst Wiechert, E. K., Jorge Semprun. Düsseld. 1999. – Joseph Rovan: Erinnerung an E. K. u. die Frankfurter Hefte. In: Neue Gesellsch./FH 51 (2004), H. 9, S. 71 ff. – Gottfried Erb: E. K., der freiheitl, Sozialist. In: Antonia Grunenberg (Hg.): Einsprüche. Hbg. 2004, S. 143–155. – E. K. Ein Leben für Humanismus, Freiheit u. Demokratie. Hg. Hess. Landeszentrale für Polit. Bildung. Wiesb. 2006. – Heiner Ludwig: Polit. Spiritualität statt kath. Fundamentalismus. In: Neue Gesellsch./FH 54 (2007), H. 12, S. 10–14. Hans Sarkowicz / Red.
Kohl, Johann Georg, * 28.4.1808 Bremen, † 28.10.1878 Bremen. – Schriftsteller, Geograf, Historiker. Der Sohn eines Weinhändlers studierte in Göttingen, Heidelberg u. München Jura ohne Abschluss u. war seit 1830 als Hauslehrer tätig, zunächst in Kurland bei dt.-balt. Adelsfamilien, anschließend in St. Petersburg im
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Hause Stroganov. Er begleitete die Familie auf ausgedehnten Reisen im Zarenreich. In St. Petersburg fand er auch die Förderung Karl Ernst von Baers. 1838 nach Deutschland zurückgekehrt, ließ er sich in Dresden nieder, wo er u. a. mit dem Übersetzer Wolf Graf von Baudissin Umgang pflegte. Er wurde Mitarbeiter an Cottas »Morgenblatt« u. der Augsburger »Allgemeinen Zeitung« u. veröffentlichte die ersten seiner viel gelesenen u. übersetzten Reisebeschreibungen: Die deutsch-russischen Ostseeprovinzen (2 Bde., Dresden/Lpz. 1841) u. Reisen im Inneren von Rußland und Polen (3 Bde., ebd. 1841). Nach weiteren Reisen folgten u. a. die Bücher Reisen in Irland (2 Bde., ebd. 1843), Land und Leute der britischen Inseln (3 Bde., ebd. 1844), Alpenreisen (Lpz. 1849) u. Reise nach Istrien, Dalmatien und Montenegro (Dresden 1851). K.s wissenschaftl. Hauptwerk Der Verkehr und die Ansiedelungen der Menschen in ihrer Abhängigkeit von der Gestalt der Erdoberfläche (Dresden/Lpz. 1841. 21850) gilt als Gründungsurkunde der modernen Verkehrs- u. Siedlungsgeografie. Am Beispiel der Stadt Moskau legte er eine mathematisch formulierte Theorie zur kugelförmigen Entwicklung von Städten vor u. sagte Wolkenkratzer u. unterird. Einkaufszentren voraus. Ähnlich grundlegend für die theoret. Geografie wurde auch sein Alterswerk Die geographische Lage der Hauptstädte Europas (Lpz. 1874). Gefördert von Alexander von Humboldt u. Carl Ritter, der ihn vergeblich für den geografischen Lehrstuhl an der Universität Graz zu gewinnen suchte, bemühte sich K., die Geschichte der amerikan. Halbkontinente durch eine Sammlung von Nachzeichnungen histor. Karten zu dokumentieren. Er widmete diesem »Codex Americanus Geographicus« mehrere Studienaufenthalte in den großen Kartensammlungen in Berlin, Paris, Oxford u. London. 1854 reiste er in die USA, wo er vom Kongress den Auftrag erhielt, für den U. S. Coast Survey die Geschichte der Entdeckung der West-, Süd- u. Ostküste aus den kartografischen u. sonstigen Quellen zu erarbeiten. Daraus erwuchs bis 1858 die heute in der Library of Congress (Washington, D. C.) verwahrte Kohl Collection von fast 1000 kommentierten Nachzeichnungen von Kar-
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ten des 15. bis 19. Jh. In Washington u. Har- Kohl, Johann Peter, * 10.3.1698 Kiel, vard erwarb sich K. die Freundschaft vieler † 9.10.1778 Altona (heute zu Hamburg). – Literaten (u. a. Henry W. Longfellow, Ralph Evangelischer Theologe, Polyhistor u. W. Emerson, Washington Irving) u. Gelehrter Übersetzer. (u. a. George Bancroft, Charles Deane, Louis Agassiz). K.s Buch Reisen in Canada und durch K. studierte ab April 1716 in Kiel u. ab Aug. die Staaten von New-York und Pennsylvanien 1720 in Rostock, wo er am 21.6.1721 als (Stgt. 1856) wird noch immer für sprachge- Philosophie- u. Theologiestudent De hodierna schichtl. Studien zum Pennsylvania Dutch sentiendi circa sacra libertate in Germania (Praes.: Andreas Berg) disputierte, ein Exercitium acaherangezogen. 1858 kehrte K. nach Bremen zurück, wo er demicum, in dem er sich vehement gegen den die Leitung der Stadtbibliothek übernahm. freidenkerischen Religionsindifferentismus Er veröffentlichte neben lokal- u. kulturge- aussprach. 1725 wurde er Professor der Kirschichtl. Essays Kitschi-Gami (Bremen 1859. chengeschichte u. der schönen WissenschafNeudr. Graz 1970. Engl. Ausg. London 1860. ten an der Kaiserlichen Akademie der WisAmerikan. Übers. von Lascelles Wraxall. St. senschaften in St. Petersburg. Als er 1728 auf Paul, Minnesota 1985), eine bis heute ge- eigenen Wunsch entlassen wurde, erhielt er schätzte Darstellung zu Leben u. Kultur der auf Lebenszeit eine Pension von 200 Rubeln Ojibwa-Indianer am Oberen See, ferner eine von der russ. Regierung u. lebte fortan als populäre Geschichte der Entdeckung Amerika’s Privatgelehrter in Hamburg. Er heiratete (Bremen 1861), die – nicht romantisierend u. 1750 Dorothea Elisabeth Pitschmann u. sienicht europazentriert – auch die negativen delte mit ihr 1768 nach Altona über. Im selAuswirkungen auf die amerikan. Völker her- ben Jahr schenkte K. der dortigen Gelehrvorhebt. Einer Geschichte des Golfstroms (Bre- tenschule Christianeum seine wertvolle, 18 men 1868) folgte 1869 eine umfassende His- Handschriften u. 466 Bücher umfassende Bitory of the Discovery of the East coast of North bliothek. K.s schriftstellerische Tätigkeit erstreckte America, particularly the coast of Maine, from the sich auf Geschichte, Theologie u. LiteraturNorthmen in 1900 to the charter of Gilbert in 1578 (Portland, Maine). Für diese Studie verlieh geschichte. Besondere Verdienste erwarb er das Bowdoin College (Brunswick, Maine) K. sich auf dem Gebiet der frühen slaw. Ge1869 die Ehrendoktorwürde, mit der ihn im schichte u. Literaturgeschichte mit seiner Inselben Jahr auch die Universität Königsberg troductio in historiam et rem literariam Slavorum imprimis sacram (Hbg. 1729), zumal durch die auszeichnete. Weitere Werke: Reisen durch das weite Land. Berücksichtigung der Sammlung slawisch Nordwestdt. Skizzen 1864. Hg. Geert Demarest. überlieferter Texte Ephraims des Syrers. Im Sinne der Frühaufklärung machte er einer Stgt./Wien 1990. Literatur: Hans-Albrecht Koch u. Margrit B. breiteren (nicht nur gelehrten) Öffentlichkeit Krewson (Hg.): Progress of Discovery. J. G. K. Graz Pierre Desmaizeaux’ Vie de Monsieur Bayle (in: 1993. – The Articulate Traveler. J. G. K. Chronicler Pierre Bayle: Dictionnaire historique et critique. of the American Continents. Ed. by M. B. Krewson Bd. 1, Amsterd./Leiden 41730, S. XVII–CVIII) u. a. Washington, D. C. 1993. – Silke Regin: J. G. K. zugänglich: Das Leben des weltberühmten Herrn Ethnographische Sprachreflexion im 19. Jh. Siegen Peter Bayle (Hbg. 1731). 2001. – Goedeke Forts. – Thomas Elsmann: FlotK. übernahm für das Jahr 1731 die Redaktenpropaganda 1848. J. G. K.s ›Für eine deutsche tion der wöchentlich zweimal in Hamburg Flotte‹. In: Dt. Schiffahrtsarchiv (DAS) 29 (2006), erscheinenden »Niedersächsischen NachrichS. 307–316. Hans-Albrecht Koch ten von Gelehrten neuen Sachen« u. trat selbst als Herausgeber dreier period. gelehrter Schriften hervor, in denen er auch zahlreiche eigene Aufsätze – meist in dt. Sprache – veröffentlichte, hauptsächlich über Fragen der klass. u. neueren Literaturgeschichte.
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Mattheson u. Johann Matthias Dreyer waren Nachdr. hg. v. Jürgen Stenzel. Mchn. 1980) Mitarbeiter seiner »Hamburgischen Berichte dt. Literaturgeschichte gemacht, ebenso wie von neuen Gelehrten Sachen aus einer [...] Brockes, Johann Albert Fabricius u. Michael Correspondentz mit den berühmt- u. gelehr- Richey, vormals Mitglieder der Teutschtesten Männern in Deutschland, Schweden übenden Gesellschaft, u. Michael Christoph und Dänemark [...]« (1732–1757). In drei Brandenburg, der wie sie zur Zeit dieser K.Bänden erschien die »Hamburgische ver- Editionen der ersten Patriotischen Gesellmischte Bibliothek, worin zur Aufnahme der schaft angehörte. K., hochgeachtet im literar. Leben seines Wissenschaften, Künste und Sprachen allerhand neue Entdeckungen und Gedanken [...] Kreises u. als Gelehrter seiner Zeit internamitgetheilet werden« (1743–1745), und in tional bekannt, ist heute fast vergessen. der gleichen Form publizierte K. auch den Weitere Werke: Ecclesia graeca lutheranizans, »Gesammelten Briefwechsel der Gelehrten, sive exercitatio de consensu et dissensu orientalis die zum Wachsthum der Wissenschaften, in- graecae, speciatim russicae, et occidentalis luthersonderheit der gelehrten Geschichte, nebst anae ecclesiae, in dogmatibus [...]. Lübeck 1723. – der sowohl geistlichen als weltlichen Ausle- Theologiae gentilis cimbricae purioris specimen I. gungskunst [...] in eine sogenannte corres- seu dissertatio academica [...]. Kiel 1723. – Hg.: Daniel Georg Morhof: De legendis, imitandis et pondirende Gesellschaft zusammengetreten« excerpendis auctoribus, libellus posthumus [...]. (1750–1752). Hbg. 1731. – Das, durch eine neue wichtige K. führte ein bescheidenes, überaus fleißi- Schrifterklärung erneuerte traurige Andenken des ges Gelehrtenleben. Er war liebenswürdig im Lisbonnischen Erdbebens [...]. Hbg. 1764. Umgang u. verfügte über ein umfangreiches Literatur: Bibliografie: Meusel 7, S. 234–240 Bezugsnetz, von dem schon seine ausge- (vollst. Werkverz.). – Weitere Titel: Paul Christian dehnte Korrespondenz zeugt. Als Integrati- Henrici: De bibliotheca gymnasii Altonani narratio. onsfigur literar. Lebens erscheint K. in den Altona 1772. – Hans Schröder: Lexikon der hamvon ihm besorgten Editionen. Dem jung burg. Schriftsteller bis zur Gegenwart. Bd. 4, Hbg. verstorbenen Johann Bernhard Brockes zu 1858–66, S. 136–145. – Richard Hoche: J. P. K. In: Ehren stellte er 55 Epicedien zusammen u. ADB. – C. F. Weichmanns Poesie der Nieder-Sachgab sie, dem Vater Barthold Heinrich Brockes sen (1721–1738). Nachweise u. Register. Hg. Christoph Perels, Jürgen Rathje u. Jürgen Stenzel. gewidmet, als Ueber den Sarg eines Tugend-beWolfenb. 1983, bes. S. 104–106. – Jouko Martikaigabten Jünglings ausgestreuete Cypressen (Hbg. nen: Wittenberg, Moskau, Rom: J. P. K.s These von 1732. Internet-Ed.: HAB) heraus. Unter den der ökumenischen Nähe der Orthodoxen Kirche Autoren finden sich Georg Behrmann u. zum Luthertum. In: Jb. der Gesellsch. für NieLudwig Friedrich Hudemann, Hermann Sa- dersächs. Kirchengesch. 89 (1991), S. 229–235. – muel Reimarus u. Johann Christian Wolf, die Eckhard Krüger: J. P. K. In: BLSHL, Bd. 10 (1994), Gymnasiasten u. späteren Professoren Paul S. 220–223. Jürgen Rathje / Red. Schaffshausen u. Johann Dietrich Winckler, aber auch der mecklenburgische Prediger Kohlbrenner, Johann Franz Seraph von Gottfried Lohmann, dessen aus dem Franzö(geadelt 1778), * 17.10.1728 Traunstein/ sischen (Jean Puget de La Serre: Les douces Oberbayern, † 4.6.1783 München. – KaPensées de la Mort. Rouen 1644) in gebundene tholischer Aufklärer, Publizist. Sprache übertragene Süsse Todes-Gedancken (Hbg. 1732) K. ebenfalls ediert hatte. Andere Als Sohn eines Salinenarbeiters in ärml. VerDichter des Epicedienbands, Hagedorn, Jo- hältnissen aufgewachsen, war K. seit 1754 als hann Christoph Krüsike, Jacob Friedrich Amtsschreiber u. Kanzlist bei der kurfürstl. Lamprecht, Johann Joachim Neudorf, Tobias Hofkammer in München tätig, führte als LeHeinrich Schubart, Telemann, Matthäus Ar- gationssekretär mehrfach Verhandlungen im nold Wilckens u. Albrecht Jacob Zell, haben Salinen- u. Forstwesen u. wirkte an der Ausals Autoren der Poesie der Nieder-Sachsen arbeitung einer neuen Mautordnung mit, zu (Bde. 1–3: Hg. Christian Friedrich Weich- der er auch die Geographische Mauth-Charte von mann. Bde. 4–6: Hg. J. P. K. Hbg. 1721–1738. Baiern (Augsb. 1764) entwarf. 1766 übernahm
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Literatur: Lorenz Westenrieder: Leben des J. F. er auf eigene Rechnung die Herausgabe des »Churbaierischen Intelligenz-Blatts«, zu- S. Edlen v. K. Mchn. 1783. – Georg Westermayer: F. nächst noch unter enger Aufsicht der Hof- S. K. In: ADB. – Josef Stark: F. S. K. als Herausgeber kammer, seit 1768 als selbstständiger Editor. des ›Münchener Intelligenzblattes‹. Diss. Mchn. 1929. – Hermann Ühlein-Sari: ›Der heilige Gesang In dieser Zeitschrift, die in einer Auflage von zum Gottesdienste in der röm.-kath. Kirche‹. In: mehreren hundert Stück auch an die Büro- ›Der große Sänger David – euer Muster‹. Studien zu kratie verteilt wurde, versuchte K., staatl. den ersten diözesanen Gesang- u. Gebetbüchern Reformprojekte publizistisch zu begleiten. der kath. Aufklärung. Hg. Franz Kohlschein u. Neben landesherrl. Verordnungen, Aufstel- Kurt Küppers. Münster 1993, S. 282–321. – Claudia lungen von Marktpreisen sowie Anzeigen von Oelwein: F. v. K. (1728–1783). Traunstein 1996. – Gütern u. Liegenschaften veröffentlichte er Manfred Knedlik. J. F. S. v. K. In: Bautz 27 (2007), längere Abhandlungen zu Fragen der Schul- Sp. 766–770 (Lit.). Manfred Knedlik u. Lehrerbildung, des Gesundheitswesens, der Staatsökonomie u. der Landwirtschaft. In Kohler, Josef, * 9.3.1849 Offenburg, † 3.8. 16 Nummern erschienen die Materialien für die 1919 Berlin. – Universaljurist. Sittenlehre, Litteratur, Landwirthschaft, zur Kenntniß der Producte, und für die Geschichte alt- K., das sechste u. jüngste Kind eines Volksund neuer Zeiten (Mchn. 1773) mit pädagog., schullehrers, wirkte nach dem Studium der literar. u. histor. Aufsätzen sowie agrarrefor- Jurisprudenz an den Universitäten Freiburg i. merischen Artikeln, die auf eine bessere Br. u. Heidelberg u. nach glänzenden StaatsNutzung landwirtschaftl. Flächen abzielten. examina fünf Jahre als Anwaltsvertreter, Aus dem Bestreben heraus, der »reinen Amtsrichter u. schließlich Kreisgerichtsrat in Muttersprache« in der röm.-kath. Kirche zu Mannheim, bis er 1878 aufgrund seines fungrößerer Geltung zu verhelfen, gab er eine damentalen Werks Deutsches Patentrecht Sammlung deutschsprachiger Kirchenlieder (Mannh. 1878. Neudr. Aalen 1984) ohne Ha(Der heilige Gesang zum Gottesdienste. Landshut bilitation Ordinarius in Würzburg, 1888 in 1777. Bis 1830 mindestens 30 Auflagen u. Berlin wurde. Bearbeitungen. Faks.-Ausg. Landshut 2003) K., eine der berühmtesten u. international in Druck, die schon bald nach der Erstaus- bekanntesten dt. Juristen- u. Gelehrtenpergabe in den meisten süddt. Bistümern in sönlichkeiten seiner Zeit, war auf fast allen Gebrauch war. In Würdigung seiner Ver- Gebieten des Rechts tätig, bahnbrechend im dienste wurde er in die Akademie von Ro- Patent- u. Urheberrecht, führend in der vereto aufgenommen u. 1773 durch Kurfürst Rechtsvergleichung, zielweisend in der UniMax III. Joseph zum Wirklichen Hofkam- versalrechtsgeschichte u. anregend in vermer-, Maut- u. Kommerzienrat ernannt. Als schiedenen Rechtsdisziplinen. Mit rund 2500 Ergänzung zum »Intelligenz-Blatt« brachte Veröffentlichungen, darunter über 100 BüK., der sich in seinen Werken als gemäßigter chern u. selbstständigen Schriften, hat er ein Aufklärer zu erkennen gibt, die Materialien kaum überschaubares Werk hinterlassen. zur Geschichte des Vaterlandes (Mchn. 1782) Seine bleibende wissenschaftl. Leistung, die heraus, die u. a. eine geografisch-statist. Be- für die rechtl. Bewertung des techn. u. schreibung des Kurfürstentums Bayern lie- künstlerischen, v. a. literar. Schaffens von fern. größter Tragweite war, bestand in der VerWeitere Werke: Der bair. u. pfälz. Landmann tiefung der Einsicht, dass durch die geistige in der verbessernden Landwirthschaft. Mchn. 1769. Schöpfung des Menschen Güter hervorge– Materialien zum Dienste des Landmannes, zur bracht werden, für welche die in einer ErfinAusbreitung nützl. Kenntnisse, zur Litteratur, Sit- dung oder in einem Ton- oder Schriftwerk tenlehre u. guten Geschmack. 16 Tle. [Beilage zum verkörperte Idee, das Immaterielle, nicht der ›Intelligenz-Blatt‹], Mchn. 1774. – Beiträge zur sie verkörpernde Gegenstand, das Materielle, Landwirthschaft u. Statistik in Baiern. Ein hinterwesentlich sei, u. dass diese Idee nicht wenilassenes Werk. Mchn. 1783. ger als eine wertvolle Sache den bes. Schutz des Rechts verdiene.
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Für die Literatur ist K. aber nicht nur durch Ernst Heymann u. a.: J. K. zum Gedächtnis. Reden. Bücher wie Das literarische und artistische Bln. 1920. – Albert Osterrieth: J. K. Ein Lebensbild. Kunstwerk und sein Autorschutz [...] (Mannh. Bln. 1920. – Ernst Rosenfeld: J. K. In: Jb. der Dt. 1892), Urheberrecht an Schriftwerken und Ver- Shakespeare-Gesellsch. 56 (1920), S. 113. – Hugo Daffner: J. K. In: Jb. der dt. Dante-Gesellsch. 6 lagsrecht (Stgt. 1907) oder Kunstwerkrecht (Stgt. (1921), S. 75. – Adalbert Erler: J. K. In: HRG. – 1908) von Bedeutung, sondern auch durch Klaus Luig: J. K. In: NDB. – Günter Spendel: J. K. seine poetischen Versuche, wenngleich diese Bild eines Universaljuristen. Heidelb. 1983. – Inkeinen höheren künstlerischen Rang bean- geborg Malek-Kohler: Im Windschatten des Dritspruchen können. Zu erwähnen sind hier ten Reiches. Freib. i. Br. 1986. – Johann Adrian zwei kleine Bände, Lyrische Gedichte (Mannh. (Hg.): J. K. u. der Schutz des geistigen Eigentums in 1892) u. Neue Dichtungen (Mannh. 1895), bes. Europa. Bln. 1996. Günter Spendel / Red. aber seine freien Nachdichtungen von Dantes Göttlicher Komödie (3 Bde., Köln 1901–03) u. Kohlhaase, Wolfgang, * 13.3.1931 Berlin. Aus Petrarcas Sonettenschatz (2 Bde., Bln. 1902/ – Drehbuch-, Hörspiel- u. Fernsehspiel03), schließlich seine Übertragung von autor, Erzähler; Regisseur. Shakespeares König Richard II. (Bln. 1918). Aufsehen erregte seinerzeit sein 1895 ins Aufgewachsen als einziges Kind eines Russische übersetztes Buch Shakespeare vor Schlossers in Berlin-Adlershof, volontierte K. dem Forum der Jurisprudenz (Würzb. 1883. Bln. nach dem Mittelschulabschluss 1947 beim 2 1919. Neudr. Aalen 1980), das sowohl einen Jugendjournal »Start«. Anschließend war er Beitrag zur Universalrechtsgeschichte liefern Kulturredakteur bei der FDJ-Zeitung »Junge als auch das Verständnis für ästhetische Pro- Welt« u. 1950–1952 Dramaturgieassistent bleme fördern sollte. K. hat damit als Erster bei der DEFA. Seither arbeitet K. freischafgefordert, grundlegende Einsichten in das fend als Drehbuchautor u. Schriftsteller. Recht u. gültige Aussagen über das Recht Mehrere seiner Drehbücher erhielten nationale u. internat. Auszeichnungen. K. ist mit auch in der Dichtung zu suchen. Weitere Werke: Das Autorrecht. Jena 1880. – der Tänzerin u. Choreografin Emöke PöstRecht als Kulturerscheinung. Würzb. 1885. – Das ényi verheiratet u. lebt in Berlin. Recht als das Lebenselement der Völker. Würzb. Erste Filmszenarien widmete K. aktuellen 1887. – Studien aus dem Strafrecht. Mannh. 1890. – Kinder- u. Jugendthemen. Anerkennung Ges. Beiträge zum Zivilprozeß. Bln. 1894. Neudr. fanden die mit Gerhard Klein gedrehten Aalen 1969. Zuletzt Aalen 1980. – Der Ursprung »Berlin-Filme« Alarm im Zirkus (Koautor Hans der Melusinensage. Lpz. 1895. – Das Strafrecht der Kubisch. Bln./DDR 1954. Urauff. 1954), Eine Ital. Statuten vom 12.-16. Jh. Mannh. 1897. – Hdb. Berliner Romanze (Koautor G. Klein. Bln./DDR des Dt. Patentrechts in rechtsvergleichender Darstellung. Mannh. 1900. – Einf. in die Rechtswiss. 1956. Urauff. 1956) u. Berlin – Ecke Schönhauser Lpz. 1902. 61929. – Vom Lebenspfad. Mannh. 1902. (Urauff. 1957), die im Stil des ital. Neorea– Verbrecher-Typen in Shakespeares Dramen. Bln. lismus Lebensgefühle u. Alltagsprobleme von o. J. [1903]. – Aus Kultur u. Leben. Bln. 1904. – Die Jugendlichen im Nachkriegs-Berlin zur Patentgesetze aller Völker (zus. mit Maximilian Sprache bringen. Die unpathet. VergegenMintz). 2 Bde., Bln. 1907–12. – Aus vier Weltteilen. wärtigung nationalsozialistischer KriegsverReisebilder. Bln. o. J. [1908]. – Lehrbuch der gangenheit bildete seit den 1960er Jahren ein Rechtsphilosophie. Bln. 1909. 31923. – Recht u. weiteres Grundthema. Trotz kulturpolit. Persönlichkeit in der Kultur der Gegenwart. Stgt. Kontroversen überzeugten der mit Konrad 1914. Neudr. Aalen 1980. Zuletzt Aalen 1984. – Wolf konzipierte Film Ich war neunzehn Internat. Strafrecht. Stgt. 1917. – Grundlagen des (Urauff. 1968), der Radiodialog Die GrünsteinVölkerrechts. Stgt. 1918. Variante (Urauff. 1976. Film: Urauff. 1984) u. Literatur: Bibliografie: Arthur Kohler: J. K. – die Filmnovelle Der Aufenthalt (nach Hermann Bibliogr. Basel 1931. Neudr. Aalen 1984. – Weitere Titel: Fritz Berolzheimer: J. K., Bausteine zu einem Kant. Urauff. 1983) durch ihre neue Erzählliterar. Charakterbild. In: Juristisches Literatur- u. Sehweise. Als Erzähler anekdotisch-alltägl. Vorfälle blatt (1907), Sp. 97. – Paul Krückmann: J. K. In: Ztschr. für dt. Zivilprozeß 48 (1920), S. 309 ff. – u. schicksalhafter Ereignisse, in denen sich
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Individual- u. Zeitgeschichte wechselseitig 1997 (Fernsehsp., Drehb.). – Baby. Urauff. 2002 beleuchten, trat K. ab 1968 mit seiner in (Drehb. zus. mit David Hamblyn). – Whisky mit verschiedenen Zeitschriften veröffentlichten Wodka. Urauff. 2009 (Drehb.). Literatur: Hans Richter: Gespräch mit W. K. Prosa hervor (1977 gesammelt erschienen in In: SuF 31 (1979), S. 977–990. – Peter Gugisch: W. Silvester mit Balzac und andere Erzählungen. Bln./ DDR. Gekürzte Ausg. Neuwied 1979. Vollst. K. In: Hans Jürgen Geerdts (Hg.): Lit. der DDR. Bd. 3, Bln./DDR 1987. – Dorothea Neukirchen: Ausg. Bln. 2006). Von unnachgiebigen DDR vor Ort. W. K. als Drehbuchautor. WDR 1989 Selbstverwirklichungsversuchen einer Schla- (Filmporträt). – Erzählen für den Film. Gespräch gersängerin in den Grenzen sozialistischer mit W. K. In: NDL 49 (2001), H. 536, S. 5–20. – Alltäglichkeit handelt K.s erfolgreicher Ge- Mein Leben. Bln./Potsdam 2006 (DVD, Regie: Lutz genwartsfilm Solo Sunny (Urauff. 1980). Wie Pehnert). Michael Irmscher / Robert Steinborn in diesem so gelang K. mit der im Genre der Gaunerkomödie eingefangenen SituationsKokoschka, Oskar, * 1.3.1886 Pöchlarn/ schilderung des Jahres 1946 in der dt.-dt. Donau, † 22.2.1980 Montreux. – Maler, Kinoproduktion Der Bruch (Bergisch Gladbach Grafiker; Dramatiker, Erzähler. 1989. Urauff. 1989; Film-R.) die Neugestaltung seines Berlin-Themas als ein an zumeist K. zählt zu den herausragenden Doppelbejuvenilen Lebenslagen gewonnenes Erkun- gabungen des 20. Jh; als Maler internat. anden von Daseinsformen in je konkreten Um- erkannt, hat er auch der literar. Entwicklung bruchzeiten. Regie führte K. bei der Verfil- wichtige Anstöße gegeben. Der Sohn eines mung seiner Erzählung Inge, April und Mai Goldschmieds besuchte 1904–1909 die Wie(zus. mit Gabriele Denecke. TV-Urauff. 1996) ner Kunstgewerbeschule; 1907–1909 war er u. der Fernsehdokumentation Mein Leben ist so Mitarbeiter der »Wiener Werkstätte« u. des sündhaft lang. Victor Klemperer – ein Chronist des Kabaretts »Fledermaus«. Von Adolf Loos geJahrhunderts (zus. mit Ulrich Kasten. TV- fördert, trat er 1908 auf der »Kunstschau« in Urauff. 1999). Mit seinen Drehbüchern zu Die Wien als Maler hervor u. erregte mit seiner Stille nach dem Schuss (Urauff. 2000), der den avantgardistischen Bildsprache großes AufLebensweg einer in der DDR untergetauchten sehen. 1910/11 hielt sich K. als Mitarbeiter RAF-Terroristin bis zur Wende nachzeichnet, des »Sturm« in Berlin auf; nach seiner u. vor allem für die leichthin erzählte Tragi- Rückkehr nach Wien war er 1911–1914 mit komödie Sommer vorm Balkon (Bln. 2005. Alma Mahler liiert. Als Kriegsfreiwilliger Urauff. 2005) über die Lebenslagen zweier wurde K. 1915 schwer verwundet; nach seiFreundinnen im Berliner Stadtteil Prenzlauer ner Genesung war er 1919–1924 als Professor Berg konnte K. an den Erfolg von Solo Sunny an der Dresdner Akademie der Bildenden Künste tätig. Nach ausgedehnten Reisen lebte anknüpfen. Weitere Werke: Die Störenfriede (zus. mit K. 1933 wieder in Wien; 1934 ging er aus Werner Kubsch). Bln./DDR 1953. Urauff. 1953 polit. Gründen nach Prag, ehe er 1938 mit (Film-E.). – Der Fall Gleiwitz (zus. mit G. Rücker). seiner späteren Frau Olda Paldovská in das Urauff. 1961 (Drehb.). – Josef u. alle seine Brüder Exil nach London flüchtete. Seit 1953 lebte K. (zus. mit Karl Georg Egel). Urauff. 1962 (Fernseh- in Villeneuve am Genfer See. Er begründete u. sp.). – Berlin um die Ecke. 1965. Urauff. 1987 leitete (bis 1962) die »Schule des Sehens« in (Drehb.). – Fragen an ein Foto. Urauff. 1969 (Hörsp. Salzburg. In: NDL, H. 1, 1970). – Fisch zu viert (zus. mit Rita Im Jahr 1908, das K.s Durchbruch als bilZimmer). Urauff. 1969/70 (Hörsp., Fernsehsp., D.) dender Künstler markiert, erschien auch sei– Der nackte Mann auf dem Sportplatz. 1973. ne erste literar. Arbeit, die noch weitgehend Urauff. 1974 (Drehb.). – Ein Trompeter kommt. vom Jugendstil geprägte Versdichtung Die Urauff. 1970. In: Hörspiele 11 (1972). Als Fernsehsp. Urauff. 1977. – Mama, ich lebe. Urauff. 1977 träumenden Knaben (mit acht farbigen Zeich(Drehb.). – Die Zeit die bleibt. Ein Film über Kon- nungen. Wien 1908. Faks.-Neudr. 1968). In rad Wolf. Urauff. 1985 (Drehb., Regie-Assistenz). – den folgenden Jahren entstanden vier DraBegräbnis einer Gräfin. Urauff. 1992 (Fernsehsp., men, mit denen K. zum Wegbereiter des exDrehb.). – Der Hauptmann v. Köpenick. Urauff. pressionistischen Theaters wurde: Das 1909
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in Wien uraufgeführte Drama Mörder Hoffnung der Frauen (Erstdr. in: Der Sturm, 1910. Weitere Fassungen 1913 u. 1916. Vertonung durch Paul Hindemith 1921) u. die Elemente des absurden Theaters vorwegnehmende »Komödie für Automaten« Sphinx und Strohmann (Urauff. Wien 1909 u. d. T. Eine Groteske. Später umgearb. u. erw. u. d. T. Hiob) exponieren bereits K.s zentrales Thema, den unaufhebbaren Antagonismus der Geschlechter; das 1911 entstandene Stück Der brennende Dornbusch (Erstdr. 1913 u. d. T. Schauspiel. Urauff. 1917 Dresden) u. Orpheus und Eurydike (entstanden 1915. Urauff. Ffm. 1921), in dessen mytholog. Gestalten sich Alma Mahler u. K. spiegeln, schließen hier an. Kennzeichen dieser Theaterversuche sind die Aufhebung kausaler Handlungsabläufe, eine pathetischekstat. Sprache u. eine der Idee eines synästhetischen Gesamtkunstwerks verhaftete szen. Gestaltung, die neben grellen Farb- u. Lichteffekten auch Elemente des Tanzes u. der Gebärdensprache miteinbezieht. Nach seiner Ablösung vom Expressionismus schrieb K. vorwiegend – meist autobiografische – Erzählprosa, in der sich, locker u. oft episodenartig komponiert, nüchtern-realistische, mit reflexiven Passagen durchsetzte Schreibweisen mit einer z.T. ins Halluzinatorische gesteigerten Poetisierung verbinden. Einige der leitmotivisch miteinander verknüpften Geschichten haben in K.s Autobiografie Mein Leben (Vorw. u. dokumentar. Mitarb. von Remigius Netzer. Mchn. 1971) Eingang gefunden, so dass auch hier, im freien Umgang mit den Fakten, Realität u. subjektive Wahrheit des »Erlebnisses« ineinanderfließen. Ein im Prager Exil entworfenes historisierendes Drama Comenius (für den Erstdr. 1973 überarb.; Fernsehfassung 1974) reflektiert die aktuellen polit. Verhältnisse der Hitlerzeit u. fasst in der Zurückweisung aller die Freiheit des Individuums einengenden Ideologien u. einem kompromisslosen Pazifismus wichtige Momente von K.s Weltauffassung zusammen. Weitere Werke: Ausgaben: Dramen u. Bilder. Mit einer Einl. v. Paul Stefan. Lpz. 1913. – Allos Makar. In: Zeit-Echo, H. 20 (1915), S. 300 f. (Gedichte, mit 5 Lithogr.n). – Vier Dramen. Bln. 1919. – Schr.en 1907–55. Zusammengestellt u. mit Er-
592 läuterungen u. bibliogr. Angaben hg. v. Hans Maria Wingler. Mchn. 1956. – Das schriftl. Werk. Hg. Heinz Spielmann. 4 Bde., Hbg. 1973–76. – Einzeltitel: Der brennende Dornbusch. Mörder Hoffnung der Frauen. Lpz. 1917 (= Der jüngste Tag 41). – Der weiße Tiertöter. Forts. der träumenden Knaben. In: Kunstblatt 2 (1918), S.367–370. Wien 1920 (Die Gefährten 10). Neudr. Nendeln 1973. Weitere Ausg.n u. d. T. Der gefesselte Columbus. Bln. 1916 (mit 12 Lithogr.n). – Ann Eliza Reed. Hbg. 1952 (E. u. Lithogr.). – Spur im Treibsand. Gesch.n. Zürich 1956. – Briefe. Hg. Olda Kokoschka u. H. Spielmann. 4 Bde., Düsseld. 1984–88. Literatur: Otto Kamm: O. K. u. das Theater. Diss. Wien 1958. – Hans Schwerte: Anfang des expressionist. Dramas: O. K. In: ZfdPh 83 (1964), S. 171–191. – Horst Denkler: Über O. K.s Dramen. In: Jb. der Evang. Akademie Tutzing 15 (1965/66), S. 288–306. – Ders.: Die Druckfassungen der Dramen O. K.s. Ein Beitr. zur philolog. Erschließung der expressionist. Dramatik. In: DVjS 40 (1966), S. 90–108. – Josef Paul Hodin: O. K. Sein Leben. Seine Zeit. Bln./Mainz 1968. – Regina Brandt: Figurationen u. Kompositionen in den Dramen O. K.s. Diss. Mchn. 1968. – Lia Secci: Die lyr. Dichtungen O. K.s. In: JbDSG 12 (1968), S. 457–492. – Gerhard Johann Lischka: O. K.: Maler u. Dichter. Eine literar.-ästhet. Untersuchung zu seiner Doppelbegabung. Bern/Ffm. 1972. – Alfred Reisinger: K.s Dichtungen nach dem Expressionismus. Wien 1978. – Henry I. Schvey: O. K. the Painter as Playwright. Detroit 1982. – Georg Jäger: K.s ›Mörder Hoffnung der Frauen‹. Die Geburt des Theaters der Grausamkeit aus dem Geist der Wiener Jahrhundertwende. In: GRM N. F., Bd. 32 (1982), H. 2, S. 215–233. – Werner J. Schweiger: Der junge K. Leben u. Werk 1904–14. Wien 1983. – Ders.: O. K. ›Der Sturm‹. Die Berliner Jahre 1910–16. Eine Dokumentation. Wien 1986. – Frank Whitford: O. K.: A Life. London 1986. – O. K. Symposion. Hg. Hochschule für angewandte Kunst in Wien u. a. Salzb./Wien 1986. – Gerlind Frink: ›Mörder, Hoffnung der Frauen‹. Zur Geschlechterbeziehung in K.s Einakter. In: TheaterZeitSchrift (1989), H. 4, S. 5–18. – Jörg v. Brincken: Verbale u. non-verbale Gestaltung in vorexpressionist. Dramatik. August Stramms Dramen im Vergleich mit O. K.s Frühwerken. Ffm. u. a. 1997. – Andreas Anglet: Das frühexpressionist. ›Gesamtkunstwerk‹ als Traumspiel bei K., Pappenheim u. Schönberg: In: Arcadia 37 (2002), H. 2, S. 269–288. – Heinz Spielmann: O. K. Leben u. Werk. Köln 2003. Ernst Fischer / Ralf Georg Bogner
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Kolb, Annette, eigentl.: Anna Mathilde K., * 3.2.1870 München, † 3.12.1967 München; Grabstätte: ebd., Bogenhausener Friedhof. – Erzählerin u. Essayistin. Die Herkunft K.s ist bestimmend für ihren Lebensweg u. für ihre schriftstellerische Arbeit. Ihre Mutter war die schon als 18-Jährige preisgekrönte Pariser Konzertpianistin Sophie, geb. Danvin, ihr Vater der bayerische Gartenarchitekt Max Kolb, 1860 Leiter der Botanischen Gärten in München, der später zum kgl. Gartenbauinspektor ernannt wurde. Die persönlichkeitsbildenden Faktoren in K.s Kindheit u. Jugend sind auf der einen Seite ein eigenwilliges, stark musisch ausgeprägtes Familienleben (K. war selbst eine begabte Pianistin) u. auch Familienbewusstsein, das gesellschaftl. Leben im Hause Kolb, konzentriert um die Mutter u. ihren frz. Salon, in dem zahlreiche Künstler der Zeit, v. a. der Kreis um Richard Wagner, aber auch die frz. Diplomatie (Camille Barrère) eine große Rolle spielten, u. schließlich die schon dem Untergang entgegengehende Münchner Hofgesellschaft. Von der anderen Seite trübt ein dunkler Schatten von Anfang an (im Geburtsjahr K.s brach der dt.-frz. Krieg aus) K.s Leben: die tiefe Kluft zwischen Frankreich u. Deutschland, denen sie sich gleichermaßen zugehörig fühlte. 1899 trat sie erstmals mit Kurzen Aufsätzen (Mchn.) an die Öffentlichkeit u. brachte von da an bis in ihr hohes Alter die Fragen ihrer Zeit, ihre Begegnungen mit Künstlern u. Staatsmännern, ihr polit. Engagement für ein friedl. Europa, ihre musikal. Kenntnisse u. ihr persönl. Leben in ihr schriftstellerisches Werk ein, v. a. in dt., aber auch in frz. Sprache abgefasst. Im Ersten Weltkrieg engagierte sich K. zum Verdruss beider Lager als entschiedene Pazifistin, geriet deshalb politisch in Frankreich wie in Deutschland ins Zwielicht u. emigrierte in die Schweiz. (Briefe einer DeutschFranzösin. Bln. 1916. Frz. 1917). Hier gewann die Freundschaft mit dem gleichgesinnten René Schickele, Redakteur der »Weißen Blätter«, mehr u. mehr an Gewicht. 1919 kehrte sie nach Deutschland zurück, lebte überwiegend in Badenweiler u. nahm mit
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Reisen quer durch Europa, mit Künstlerbegegnungen, Theater- u. Festspielbesuchen, in polit. Missionen u. Vermittlungsaufgaben aktiv am Leben ihrer Zeit teil. (So zeichnete sie Thomas Mann in Doktor Faustus in der Figur der Jeannette Scheurl nach). Der literar. Niederschlag findet sich in einigen Essaybänden, in zahlreichen Zeitungsaufsätzen u. in Übersetzungen: Die Last (Zürich 1918), Zarastro. Westliche Tage (Bln. 1921. Mchn. 2002), Wera Njedin. Erzählungen und Skizzen (Bln. 1924), Kleine Fanfare (Bln. 1930; Ess.s), Beschwerdebuch (Bln. 1932; Ess.s). Schon 1933 musste sie über die Schweiz nach Paris, 1940 nach New York fliehen. Zeugnis von dieser Flucht legte sie in einem dichten Bericht (Memento. Ffm. 1960) ab. Nach 1945 lebte sie in Paris u. München; in zwei Essaybänden sammelte sie Altes u. Neues: Blätter in den Wind (Ffm. 1954) u. Zeitbilder (Ffm. 1964). Am bekanntesten geblieben sind ihre drei Romane: Das Exemplar (Bln. 1913), Daphne Herbst (Bln. 1928. Ffm. 1997) u. Die Schaukel. Eine Jugend in München (Bln. 1934. Mchn. 2008). Alle drei tragen autobiogr. Züge, u. insbes. Das Exemplar zeugt im Inhalt, in der Personengestaltung wie im Sprachstil von unbekümmerter Begabung u. dem Mut des Andersdenkens. »Das Exemplar« ist der ironisch-zärtl. Beiname, den die kluge u. zgl. träumerische Mariclée einem Engländer in hoher polit. Stellung gegeben hat, mit dem sie eine nicht mehr mögl. Liebesromanze zu leben versuchte. Der Roman wurde mit dem Fontane-Preis ausgezeichnet u. von Rainer Maria Rilke u. Franz Blei hochgeschätzt. In Daphne Herbst zeigt K. ihre Begabung für satir. Witz, mit dem sie die Münchner Gesellschaft charakterisiert. Die Schaukel schildert die Familiengeschichte der Lautenschlags (Kolbs) als wechselvolles Auf u. Ab zwischen Lebensfreude u. beklemmender Lebensangst im Wissen um einen gesellschaftl. Umbruch kurz vor 1914. K.s schriftstellerische Arbeiten, insbes. die Romane, sind auf einen leisen Trauerton gestimmt, getragen von dem Wissen, dass Literatur an polit. Entscheidungen nichts ändert, dass vielleicht all ihre Arbeiten nur wie »Blätter in den Wind« geworfen waren. K. wurde im
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Alter für ihre engagierte Haltung u. ihr Kolb, Peter, * 10.10.1675 Dörflas bei schriftstellerisches Lebenswerk hoch geehrt. Marktredwitz, † 31.12.1726 Neustadt/ Sie erhielt mehrere Auszeichnungen u. wurde Aisch. – Pädagoge, Ethnologe u. Reise1949 Mitgl. der Akademie der Wissenschaft schriftsteller. und der Literatur zu Mainz, 1950 der BayeNach dem Besuch der Schulen in Marktredrischen Akademie der Schönen Künste. witz, Wunsiedel (ab 1688) u. Nürnberg (ab Weitere Werke: Sieben Studien. Mchn. 1906. – 1694) u. dem Studium der Theologie, PhiloWege u. Umwege. Lpz. 1914. – Versuch über Briand. Bln. 1929. – Mozart. Wien 1937. Ffm. 1991 sophie, Mathematik u. Physik in Halle (Im(Biogr.). – Festspieltage in Salzburg u. Abschied v. matrikulation 7.7.1700), das er 1701 mit eiÖsterr. Amsterd. 1938. – Franz Schubert. Sein Le- ner Dissertatio physico-astronomica inaug. de naben. Stockholm 1941 (Biogr.). – König Ludwig II. v. tura cometarum (Praes.: Johann Sperlette) abBayern u. Richard Wagner. Amsterd. 1947 (Biogr.). schloss, war K. seit 1703 Sekretär bei Baron F. – 1907–1964. Zeitbilder. Ffm. 1964. – Die Romane von Krosigk, einem ehem. preuß. Gesandten. (Das Exemplar – Daphne Herbst – Die Schaukel). In seinem Auftrag reiste K. im Dez. 1704 von Sonderausg. Bln. 1968. – A. K./René Schickele. Amsterdam aus zum Kap der Guten HoffBriefe im Exil 1933–1940. In Zusammenarbeit mit Heidemarie Gruppe hg. v. Hans Bender. Mainz nung, um naturwiss. u. landeskundl. Forschung zu betreiben. Nach dem Tod seines 1987. Literatur: Doris Rauenhorst: A. K. Ihr Leben u. Gönners (1707) war er Sekretär der Hollänihr Werk. Freib. i. Br. 1969. – Richard Lemp: A. K. dischen Ostindien-Kompagnie, bis er aus Leben u. Werk einer Europäerin. Mainz 1970 (mit Gesundheitsgründen 1713 nach Europa zuvollst. Bibliogr.). – Elazar Benyoetz: A. K. u. Israel. rückkehrte. 1718 berief ihn Markgraf Georg Heidelb. 1970. – Sigrid Bauschinger: Kultur gegen Wilhelm von Ansbach-Bayreuth zum Rektor Barbarei. A. K. im frz. u. amerikan. Exil. In: Dies. u. der Lateinschule in Neustadt/Aisch. Susan Cocalis (Hg.): Wider den Faschismus. Tüb. K.s Hauptwerk (Caput bonae spei hodiernum, u. a. 1993, S. 103–122. – Dies. (Hg.): Ich habe etwas das ist: Vollständige Beschreibung des africanischen zu sagen. A. K. (1870–1967). Mchn. 1993. – AnneMarie Saint-Gille: Les idées politiques d’A. K. Vorgebürges der Guten Hofnung [...]. Nürnb. (1870–1967). La France, l’Allemagne et l’Europe. 1719), ein in Briefform verfasster ReisebeBern u. a. 1993. – Jutta Kayser: Tochter zweier Va- richt, enthält neben Beschreibungen der terländer – Tochter der Kirche. Zum Leben u. Geografie, Fauna u. Flora der Kaplandschaft Denken v. A. K. In: Communio 24 (1995), Beobachtungen zur Verwaltung u. zum LeS. 259–274. – Andrea Fenchel: Weibl. Adoleszenz bensstil der weißen Siedler. Seine auf funzwischen Rebellion u. Anpassung in der Prosa v. A. dierter Kenntnis basierende Schilderung der K. Ffm. [masch.] 1997. – Eberhard Görner: Thomas zu seiner Zeit noch kaum von den Weißen Mann, A. K., Walther Rathenau. Drei Schriftsteller – eine Freundschaft. Bad Freienwalde 1998. – S. beeinträchtigten Kultur der Khoikhoi macht Bauschinger: A. K. Modern bis in die Fingerspit- diese Arbeit zu einer bedeutenden Quelle zen. In: Rudi Schweikert (Hg.): Korrespondenzen. ethnolog. u. histor. Forschung. Sie wurde ins St. Ingbert 1999, S. 603–614. – Charlotte Marlo Holländische (Naaukeurige en uitvoerige besWerner: A. K. Eine literar. Stimme Europas. Kö- chryving van de kaap de Goede Hoop [...]. Amsnigst./Taunus 2000. – Armin Strohmeyr: A. K. terd. 1727), Englische (The present state of the Dichterin zwischen den Völkern. Mchn. 2002. – Cape of Good Hope [...]. Übers. v. Guido Medley. Ahmet Arslan: A. K. In: Das Exil vor dem Exil. London 1731) u. Französische (Description du Marburg 2004, S. 152–166. – S. Bauschinger: A. K. Cap de Bonne-Espérance [...]. Übers. v. Jean In: Britta Jürgs (Hg.): EigenSinn. Lpz. 2004, S. 107–118. – Isabelle Stauffer: Florale Feminität? Bertrand. 3 Bde., Amsterd. 1741) übersetzt. Natur, Ironie u. Geschlechterperformativität bei A. Rousseau zitierte das Werk mehrmals in DisK. In: Catrin Gersdorf u. Sylvia Mayer (Hg.): Natur cours sur l’origine et les fondements de l’inégalité – Kultur – Text. Heidelb. 2005, S. 207–228. – Jür- parmi les hommes (1755). Trotz einiger ungen Schwalm: ›Ich mußte es auf meine Weise sa- haltbarer Annahmen K.s über Kulturelegen‹. A. K. (1870–1967). Leben u. Werk. Bad mente der Khoikhoi wird K.s Schrift aus Schwartau 2006. Hiltrud Häntzschel / Red. ethnolog. Sicht noch heute positiv beurteilt.
595 Weitere Werke: P. K.s Reisen zum Vorgebirge der Guten Hoffnung. Hg. Paul Germann. Lpz. 1922. 21926. – Caput bonae spei hodiernum. Lebensbeschreibung der Hottentotten. Mit einer Einl. über P. K. v. Hermann Braun. Marktredwitz 1975. – Unter Hottentotten. 1705–1713. Die Aufzeichnungen v. P. K. Hg. Werner Jopp. Tüb./Basel 1979. Literatur: Georg Christoph Oertel: De vita fatis ac meritis M. Petri Kolbii [...]. Nürnb. 1758. – Friedrich Ratzel: P. K. In: ADB. – Georg Mairoser: Gesch. der Expedition P. K.s nach dem Kap der guten Hoffnung 1705. Seine kleineren schriftsteller. Arbeiten. [Tl. 1], Nürnb. 1901. – Ders.: P. K.s ›Caput bonae spei hodiernum‹. [Tl. 2], Nürnb. 1902. – Paul Germann: P. K.s Leben u. seine Bedeutung für die Völkerkunde. In: Ders. (Hg.): P. K.s Reisen [...]. a. a. O. – Hermann Braun: Der Afrikaforscher P. K. Marktredwitz 1975. – Otto Friedrich Raum: P. K. In: Dictionary of South African Biography. Bd. 3, Kapstadt 1977, S. 474–476. – August Wolfschmidt: Magister P. K.: Ein Forscher u. Lehrer aus Franken. Neustadt/Aisch 1978. – DBA. – BBHS. – Johannes W. Raum: Reflections on rereading P. K. with regard to the cultural heritage of the Khoisan. In: Kronos 24 (1997), S. 30–45. – Ders.: P. K. In: Hauptwerke der Ethnologie. Hg. Christian F. Feest u. Karl-Heinz Kohl. Stgt. 2001, S. 192–196. Otto Friedrich Raum / Red.
Kolb, Richard, * 29.6.1891 Bamberg, † 1945 Bad Reichenhall. – Hörspieltheoretiker, Rundfunkintendant. K. diente im Ersten Weltkrieg als Hauptmann. 1923 nahm er am Marsch der Nationalsozialisten auf die Münchner Feldherrnhalle teil. Seit 1924 Rundfunkkritiker, wurde er 1930 Schriftleiter der »Bayerischen RadioZeitung«. Im Okt. 1932 berief man K. zum Sendeleiter der »Berliner Funkstunde«, nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten zu ihrem Intendanten. Im April 1933 nach München versetzt, verlor er aufgrund seiner Zugehörigkeit zum StrasserFlügel der NSDAP Ende 1933 seinen Intendantenposten. Seit 1938 war er a. o. Prof. für Wehrwissenschaft in Jena. 1945 nahm sich K. das Leben. K. entwickelte in seinem 1930 als Artikelfolge u. 1932 als Buch erschienenen Horoskop des Hörspiels (Bln.) eine der folgenreichsten dt. Hörspieltheorien. Suggestion u. Verinnerlichung sind für K. Grundbedingungen der
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Hörspielkunst im Gegensatz zum Schauspiel. Die »entkörperte Stimme« des Sprechers soll vom Hörer als »Stimme des eigenen Ichs« wahrgenommen werden. Im Ausdruck raumu. zeitloser seel. Urkräfte könne das Hörspiel das romant. Kunstideal erfüllen. Während sich noch in der Nachkriegszeit ein großer Teil der Hörspielproduktion auf K.s Theorie stützte, kritisierte Helmut Heißenbüttel 1968 auf der Internationalen Hörspieltagung in Frankfurt/M. den restaurativen Kunstbegriff K.s (in: Neues Hörspiel. Hg. Klaus Schöning. Ffm. 1970). Er forderte dagegen für das »Neue Hörspiel« die Ablösung des imaginativen Sprachgebrauchs durch ein Spiel mit der Materialität von Sprache. Weitere Werke: R. K. u. Heinrich Siekmeier (Hg.): Rundfunk u. Film im Dienste nationaler Kultur. Düsseld. o. J. [1934]. Theresia Wittenbrink
Kolb, Ulrike, * 14.7.1942 Saarbrücken. – Verfasserin von Romanen, Erzählungen u. Hörspielen, Journalistin. Nach dem Besuch eines Internats im Schwarzwald u. der Werkkunstschule Saarbrücken betrieb K. Fremdsprachenstudien in England, Paris u. Berlin, bevor sie Pädagogik studierte u. in einem Jugendfreizeitheim in Berlin-Kreuzberg arbeitete. Seit Anfang der 1970er Jahre lebt sie in Frankfurt/M., wo sie zunächst in verschiedenen pädagog. Berufen, seit 1979 als Journalistin u. seit 1984 als Schriftstellerin tätig ist. K.s Schreiben beschäftigt sich zentral mit der Vergegenwärtigung von Erinnerung, wobei sie individuelle Lebensentwürfe u. -geschichten mit denen der erinnerten Gesellschaft verbindet. Dabei spielt sie in verschiedenen Erzähltexten geradezu prototypische retrospektive Erzählkonstellationen durch. K.s Erzählung Die Rabe (Münster 1984) entwirft aus dem konkreten Trauma einer komplex erzählten schwierigen Lebensgeschichte eine Befragung der Kindheit der weibl. Hauptfigur. Ambivalent erscheint auch die Protagonistin des Romans Idas Idee (Münster 1985): Die Kaufhausangestellte legt bewusst u. planmäßig Gewicht zu, was als alternativer Lebensentwurf zugleich Erfolg u. Erniedrigung mit sich bringt, wobei die
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sanfte Ironie des Textes die hintergründig mentcharakter haben, sind Konstanten in K.s naive Hauptfigur u. die groteske Konsumwelt Werk. trifft. Ein schwieriges Frauenschicksal bietet Weitere Werke: Herausgeberin: Salto Vitale. auch der Roman Schönes Leben (Köln 1990), der Frauen in Alternativ-Projekten (zus. mit Jutta in zahlreichen Erzählfragmenten die Ge- Stössinger). Ffm. 1981. – Die Versuchung des schichte der verwitweten Lily im nach dem Normalen. Autoren stellen sich ihrer Gesch. DülZweiten Weltkrieg besetzten Saarland schil- men 1986. Literatur: Burghard Damerau: Muttersöhne. dert. Die zergliederte Erzählweise wurde Die Konstruktion einer Art von Männern bei U. K. überwiegend kritisiert. Ersten größeren Erfolg hatte K. mit der In: Lit. für Leser 24 (2001), H. 3, S. 179–191. – Britta Herrmann: Töchter des Ödipus. Zur Gesch. Erzählung Eine Liebe zu ihrer Zeit (Reinb. eines Erzählmusters in der deutschsprachigen Lit. 1995), in der sich nach einem zufälligen des 20. Jh. Tüb. 2001, S. 216–226. – Jörg Magenau: Treffen zweier Journalisten 1989 nahe dem Der Körper als Schnittfläche. Bemerkungen zur Lit. eben zugängl. Brandenburger Tor eine Lie- der neuesten ›Neuen Innerlichkeit‹: Texte v. Reto besgeschichte auf Zeit u. Distanz entwickelt, Hänny, U. K., Ulrike Draesner, Durs Grünbein, wobei in die Schilderung des Ich-Erzählers Thomas Hettche, Marcel Beyer u. Michael Kleeberg. Anton die Briefe Merets eingeschoben wer- In: Andreas Erb (Hg.): Baustelle Gegenwartslit. Die den u. wie oft bei K. eine zweiseitige Schil- neunziger Jahre. Opladen 1998, S. 107–121. – Petra derung einer Liebesbeziehung entsteht. Noch Günther: U. K. In: KLG. – Thomas Kraft: U. K. In: markanter ist die Erzählkonstruktion im Ro- LGL. Stefan Alker man ohne Held (Stgt. 1996), dessen Anfangskapitel K. den Preis des Landes Kärnten beim Kolbe, Uwe, * 17.10.1957 Berlin/DDR. – Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1995 einLyriker. trug. Die Geschichte einer zerrütteten Ehe u. eines despotischen Familienvaters wird von Nach Abitur, Gelegenheitsarbeiten u. Dienst diesem selbst in angebl. »postmortaler All- bei der Nationalen Volksarmee (1976) stuwissenheit« erzählt, was die erinnerten Be- dierte K., Sohn eines Binnenschiffers, 1981 in ziehungszusammenhänge nicht weniger einem Sonderkurs am Literaturinstitut »Jofragwürdig macht. Andeutungen eines in- hannes-R.-Becher« in Leipzig. Seine unangezestuösen Verhältnisses verbinden den Text passten Gedichte (seit 1976) lösten ein Pumit K.s Roman Frühstück mit Max (Stgt. 2000). blikationsverbot in der DDR aus (1982–1985). In einem Kaffeehaus in New York treffen Er gab im Selbstverlag die inoffizielle Osteinander Max u. Nelly, die im Berlin der berliner Literaturzeitschrift »Mikado« 1970er Jahre in einer Wohngemeinschaft als (1983–1987) mit heraus. 1987 ging er nach Teil einer Patchwork-Familie ein Eltern- Hamburg, kehrte nach der WiedervereiniKind-artiges Verhältnis verband. Die im Ge- gung nach Berlin zurück, leitete 1997–2003 spräch erinnerten Ereignisse, die auch Le- das Studio Literatur und Theater der Unibenskonzepte u. Gesellschaftsgeschichte der versität Tübingen u. lebt seither wieder in 1970er reflektieren, werden zunächst aus Berlin. Nellys, dann aus Max’ Sicht erzählt. Ein UnFrüh von Franz Fühmann entdeckt u. gefall, der den männl. Protagonisten ins Koma fördert (»ecce poeta«), gehörte K. zur verunversetzt, ist Anlass einer ähnlichen, allerdings sicherten Generation jener DDR-Dichter, die einseitigen Erinnerungsbewegung im Roman sich stilistisch noch an Expressionismus u. Diese eine Nacht (Stgt. 2003). Vera versucht, klass. Moderne orientieren, aber thematisch ihren komatösen Ex-Geliebten durch Erzäh- neue Wege »des Lösens vom Muster, des lungen aus der gemeinsamen Vergangenheit Übergangs« erproben. K.s erste Gedichtbänzurück ins Leben zu rufen. Sich mehrfach de Hineingeboren. Gedichte 1975–1979 (Bln./ kreuzende Lebenswege, die dadurch ange- Weimar 1980, Ffm. 1982), Abschiede und andere stoßene Erinnerung u. die Erzählkonstruk- Liebesgedichte (Bln./Weimar 1981, Ffm. 1983) tionen, die wie die geschilderten Familien- u. u. Bornholm II (Bln./Weimar 1986, Ffm. 1987) Beziehungsmodelle repräsentativen Experi- bilden ein Triptychon lyr. Systemkritik. Im
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Titel des ersten Bandes wird eine Distanzierung von dem ummauerten Land signalisiert, das K. weder Heimat noch Alternativen bieten konnte: »Ich finde mich in die Welt / Wie sie nicht ist / Mit Gesang // Ich rufe nicht / Ich folge nicht / Protest ist keines meiner Worte // Ich kenne mich und weiß / Um die Verbote / Daß mir keins gilt« (Daß ich so bin). Gedichttitel wie Schwärze, Wir leben mit Rissen u. Ungleichheit der Chancen weisen auf die Probleme der Literatur in der Diktatur hin; der 1981 veröffentlichte Verstext »Kern meines Romans« wurde, als Akrostichon entschlüsselt (»Euch mächtige Greise zerfetze die tägliche Revolution«), zum Grund für ein mehrjähriges Lesungs- u. Publikationsverbot. Der Band Vaterlandkanal. Ein Fahrtenbuch (Ffm. 1990) markiert einen weiteren Übergang. Geschrieben aus der Perspektive des untergegangenen Staates, protokollieren K.s Gedichte wie ein »Fahrtenbuch« den Abschied seiner Generation von der DDR u. reflektieren zgl. – von Hölderlin über Heine bis Brecht – die gebrochene Tradition der vaterländ. Gesänge. Dominierend ist, etwa in den Berlin-Gedichten, das Thema des »Zwiedeutschland«. Es geht um die Identitätssuche eines dt. Dichters, der sein altes Land verloren, eine neue Heimat (noch) nicht gefunden hat u. sich bestenfalls als einen »Renegaten« bezeichnen kann. Mit dieser Bezeichnung bringt K. (in dem Essayband Renegatentermine. 30 Versuche, die eigene Erfahrung zu behaupten. Ffm. 1998) die Erfahrungen der »von ihr gehaßten Zeugen und Feinde« der Diktatur auf den Punkt. Zugleich macht sich K., als er nach der Wende erfuhr, dass er seit 1983 von der Staatssicherheit, u. a. von seinem Autorenkollegen Sascha Anderson u. von seinem eigenen Vater (Die Situation. Eine Geschichte vom Prenzlauer Berg. Gött. 1994), bespitzelt wurde, an die Demontage des selbstgeprägten Mythos vom »Ibykos im Prenzlauer Berg« u. geht auch kritisch mit seinen früheren »schöpferischen Illusionen« (P. Böthig) ins Gericht. In dem myth. Ort Vineta des gleichnamigen Gedichtbandes (Ffm. 1998) verwandelt K. diese Verlusterfahrungen in Bilder eines untergegangenen Geschichtsbewusstseins.
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Neben den politisch-vaterländ. Gedichten spielt das Liebesgedicht eine führende Rolle in K.s Lyrik. Schon die Gedichte des Bandes Abschiede sprechen von unerfüllten, Fremdheit statt Nähe herstellenden Begegnungen, von Trennungen u. Enttäuschungen. Sie schöpfen auf virtuose Weise das traditionelle Formenspektrum von Vagantenlied, Romantik u. Hymnik aus u. knüpfen an die »profane Linie« der Liebesliteratur an, in der Satire u. Sarkasmus ebenso statthaft sind wie die Vermischung der Stilebenen, heitere u. frivole Zwischentöne, intertextuelle Referenzen. So ist das Gedicht Landpartie mit E. F., das mit einem amüsierten Musenanruf endet, die Kontrafaktur eines der berühmtesten Liebesgedichte von Erich Fried (»Was es ist«). Die Liebesgedichte in dem Band Nicht wirklich platonisch (Ffm. 1994) suchen nach einer Sprache der Liebe, die »nicht mehr / Ersatz« ist für »Gesehenes«, »Gefühltes«. Im literar. Selbstverständnis K.s hat sich nach 1989/90 eine Wandlung vom monologischen »Histrionen« der DDR, in der es keine Sprache »jenseits des Vokabulars der Macht und Anpassung« gab (Mikado oder Der Kaiser ist nackt. Selbstverlegte Literatur aus der DDR. Hg. zus. mit Lothar Trolle u. Bernd Wagner. Darmst. 1988), zum »Zeitgenossen, Wahlbürger, Teilnehmer am aktuellen Gespräch« vollzogen. In dem Lyrikband ortvoll (Aschersleben 2005) ist diese krit. Zeitgenossenschaft v. a. inspiriert von ost- u. mitteleurop. Städten. In K.s Gedichten seit 1990 nimmt das Pathos ab, die Ironie, der Reichtum an Formen u. Sprechweisen, bisweilen auch der Grad an Komplexität nehmen zu. Wichtiger als »trunkne Poesie« u. »gebrochene« Romantik wird für K. eine gestische, »körperliche« Sprache (in den Gedichten: Komm wir sind Vögel, Komm gehn wir u. a.). Seine Bilder u. Wortfügungen scheuen nicht Sarkasmen, Grotesken, karnevaleske Gesten; sie bekunden die Freude am Ausbrechen aus Konventionen (»ab in die Herrlichkeit Nacht«). Dennoch stehen die Gedichte in Spannung zum Experiment, überlassen sich dem »Gesang unter dem Text« (Mallarmé), um dann wieder keck in einen lyr. Parlandoton zurückzuspringen. »Mein Weg ist Klang, Sang, / knappe Fügung, Bruch und stummes /
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Hohlwegzeichen, spielerischer / Wörtleinwimpel reich Gefilde, Schein / von Fernen auf dem Glücks- / Betonhof« heißt es in Bornholm II. Zu K.s wichtigsten Auszeichnungen zählen der Friedrich-Hölderlin-Preis (Tübingen, 1993) u. der Preis der Literaturhäuser (2006). Weitere Werke: Rede an Franz Fühmanns Grab. In: Franz Fühmann: Die Schatten. Mit den Gedenkreden v. Christa Wolf u. U. K. Hbg. 1986, S. 233–238. – Die Farben des Wassers. Gedichte. Ffm. 2001. – Diese Frau. Liebesgedichte. Mit Holzschnitten v. Hans Scheib u. einer Nachbemerkung des Autors. Ffm./Lpz. 2007. – Heiml. Feste. Gedichte. Ffm. 2008. Literatur: Ursula Heukenkamp: Das Ungenügen an der Idylle. In: SuF 33 (1981), H. 5, S. 1120–1130. – Franz Fühmann: Anläßlich der Gedichte U. K.s. In: Ders.: Essays, Gespräche, Aufsätze 1964–1981. Rostock 1983, S. 423–428. – Christine Cosentino: ›Aber die Sprache. Warum spreche ich?‹ Zur ›Metasprache‹ u. Sprachhinterfragung in der Lyrik U. K.s. In: GDR Monitor (1987/88), H. 18, S. 71–85. – Uwe Wittstock: U. K. In: Ders.: Von der Stalinallee zum Prenzlauer Berg. Mchn./Zürich 1989, S. 270–282. – Michael Meinicke: ›Junge Autoren‹ in der DDR 1975–1980. Hbg. 2 1991. – Anthonya Visser: Blumen ins Eis. Lyrische u. literaturkrit. Innovationen in der DDR. Amsterd./Atlanta 1994. – Robert v. Hallberg: U. K. In: Ders. (Hg.): Literary intellectuals and the dissolution of the state. Professionalism and conformity in the GDR. Chicago/London 1996, S. 249–256. – Peter Böthig: Grammatik einer Landschaft. Lit. aus der DDR in den 80er Jahren. Bln. 1997. – Jürgen Krätzer: ›... dort, wo / wir entlebt wurden, / aber das lüsterne Leben führten‹. Begegnungen mit einem dt. Dichter: U. K. [...]. In: die horen 43 (1998), H. 192, S. 153–170. – ›Vielleicht ist das Gedicht ein Moment der Aufmerksamkeit ...‹. Ein Gespräch mit U. K. In: die horen 46 (2001), H. 201, S. 73–104. – Michael Braun: U. K. In: U. Heukenkamp u. Peter Geist (Hg.): Deutschsprachige Lyriker des 20. Jh. Bln. 2006, S. 696–703. Alexander von Bormann / Michael U. Braun
Kolbenheyer, Erwin Guido, * 30.12.1878 Budapest, † 12.4.1962 München; Grabstätte: Geretsried, Waldfriedhof. – Erzähler, Dramatiker, Lyriker, Essayist, Kulturphilosoph. Der Sohn des karpatendt. Architekten Franz Kolbenheyer u. seiner sudetendt. Frau Amalie
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Hein studierte nach dem Besuch des Gymnasiums in Eger ab 1900 Zoologie, Philosophie u. Psychologie in Wien, wo er 1904 über Die sensorielle Theorie der optischen Raumempfindung promovierte. Der unerwartete Erfolg seines Spinoza-Romans Amor Dei (Mchn. 1908. Überarb. Fassung 1937) bewog den bereits 1903 mit der Tragödie Giordano Bruno (zweite Fassung 1929 u. d. T. Heroische Leidenschaften) hervorgetretenen K., auf eine Universitätslaufbahn zu verzichten u. ein Leben als freier Schriftsteller in Tübingen (seit 1919) u. München (seit 1932) zu führen. 1926 wurde er Mitgl. der Sektion Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, die er 1931 aus Protest gegen die zunehmende Politisierung u. Ideologisierung verließ, ehe er 1933 in sie zurückkehrte. Mit seiner Deutung der Mystik als eines Erwachens des dt. Selbstbewusstseins, das in der Reformation als der Lösung des dt. Geistes vom mediterranen Denken seine vorläufige Vollendung finde, sowie der Verwandtschaft seiner Philosophie zu biologistischen Konzeptionen zeigte sich K. nicht nur anschlussfähig an die völk. Literaturbewegung, sondern wurde, auch wenn er gelegentlich in Konflikt mit den Nationalsozialisten geriet, zu einem ihrer Exponenten. Hofiert von völkisch-antisemit. Publizisten u. Germanisten wie Wilhelm Stapel (u. a. in: Deutsches Volkstum 1927, 1932, 1944) oder Franz Koch (u. a. in: Dichtung und Volkstum 1938, 1939, 1941), erhielt der sprachlich-stilistisch u. erzähltechnisch mitunter brilliante Autor in der Weimarer Republik u. im »Dritten Reich« zahlreiche Auszeichnungen, darunter 1926 den Adalbert-Stifter-Preis, 1929 den Tschechischen Staatspreis für schöne Literatur, 1936 den Dichterpreis der Stadt Mchn., 1937 den Goethe-Preis der Stadt Frankfurt/M., 1938 den Adlerschild des Deutschen Reiches, 1941 den Kant-Preis, 1942 den Paracelsus-Preis (vom Gauleiter verdoppelter Preis für die Romantrilogie Paracelsus) u. 1944 den Grillparzer-Preis der Stadt Wien. 1948 wurde K. wegen eines Durchhalteartikels im »Völkischen Beobachter« u. seiner Gedichte auf Hitler als »belastet« eingestuft u. mit einem fünfjährigen Schreibverbot belegt, das in einem Berufungsverfahren 1950,
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in dem das Gericht lediglich eine Mitläuferschaft feststellte, jedoch ebenso aufgehoben wurde wie das Verbot für einzelne Texte. Versuche seiner Freunde, den im »Dritten Reich« am häufigsten dekorierten Dichter (vgl. Helga Strallhofer-Mitterbauer: NS-Literaturpreise für österreichische Autoren. Eine Dokumentation. Wien/Köln/Weimar 1994, S. 68–70. Eva Dambacher: Literatur- und Kulturpreise 1859–1949. Eine Dokumentation. Marbach 1996) von der NS-Gefolgschaft freizusprechen, gelangen nicht nur nicht, sondern K. wurden zudem Verbindungen zu rechtsgerichteten Kreisen nachgesagt. Auch seine 1957/58 erschienene dreibändige Autobiografie Sebastian Karst über sein Leben und seine Zeit (Mchn.) lässt eine deutl. Distanznahme des Autors gegenüber dem Nationalsozialismus vermissen. 1958 erhielt K. den Sudentendeutschen Kulturpreis. K.s Werk umfasst sowohl epische als auch dramat. Texte, hinter denen das lyr. Werk (Lyrisches Brevier. Mchn. 1928. Vox humana. Mchn. 1940) zurücksteht. Dem im archaisierenden Chronikstil erzählten Roman Meister Joachim Pausewang (Mchn. 1910) aus der Zeit Jacob Böhmes folgte K.s großangelegtes, völkisch-mystizist. Hauptwerk, die Romantrilogie Paracelsus (Die Kindheit des Paracelsus. Mchn. 1917. Das Gestirn des Paracelsus. Mchn. 1922. Das dritte Reich des Paracelsus. Mchn. 1925). Dieser Entwurf des faustischen Menschen »deutscher Art« basiert auf einer biologistischen Geschichtskonzeption, wie sie K. in Die Bauhütte (Mchn. 1925. Erw. Neuausg. 1940) theoretisch begründete. Hauptgedanke dieses »metaphysischen Naturalismus« ist die Annahme einer »plasmatischen Kapazität« des dt. Volks, die sich gegen die »plasmatisch vergreisten« u. »artfremden« Zivilisationen des Westens durchsetzen werde. Die zeitgenöss. Krise wird von K. dabei als »Anpassungskrise« des Volks in einer sog. »Schwellenzeit« interpretiert. Der Nationalsozialismus ließ sich in diesem Weltbild nur allzu leicht als der längst ersehnte »artumfassende Neubau« des »Volkskörpers« einordnen. In »Schwellenzeiten« führen auch K.s Dramen Giordano Bruno u. Gregor und Heinrich (Mchn. 1934), in denen der Kampf gegen den universalen Machtanspruch der
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röm. Papstkirche im Mittelpunkt steht. Von K.s zahlreichen Reden gewann der 1932 an dt. Hochschulen gehaltene Vortrag Unser Befreiungskampf und die deutsche Dichtkunst (Mchn. 1932) bes. Bedeutung. Große Resonanz u. Zustimmung fand sein histor. Roman Das gottgelobte Herz (Mchn. 1938), der als Lebensgeschichte der Nonne Margarete Eberin die europ. Geschichte als steten Kampf der nordisch-german. Seele gegen den rationalen mediterranen Geist deutet. Weitere Werke: Gesamtausg. der Werke letzter Hand. 18 Bde. in zwei Abt.en. Nürnb. 1956–78. – Weitere Werke: Montsalvasch. Mchn. 1912 (R.). – Das Lächeln der Penaten. Mchn. 1927 (R.). – Die Brücke. Mchn. 1929 (D.). – Jagt ihn – ein Mensch! Mchn. 1931 (D.). – Reps, die Persönlichkeit. Mchn. 1932 (R.). – Dt. Bekenntnis. Unser Leben. Dichtungen für Sprechchöre. Mchn. 1933. – Die volksbiolog. Grundlagen der Freiheitsbewegung. Mchn. 1933. – Menschen u. Götter. Dramat. Tetralogie. Prag 1944. Literatur: Periodika: Der Bauhüttenbrief. Ztschr. für die Freunde der Dichtung u. der Gedankenwelt E. G. K.s. 1 ff. (1955 ff.). – Der Zuruf. Österr. K.-Gesellsch. 1 ff. (1963/64 ff.). – Monografien: Conrad Wandrey: K. Der Dichter u. Philosoph. Mchn. 1934. – Erich Mühle: Der menschl. Staat als Problem der vergleichenden Biologie. Beitr. zur organism. Staatsauffassung im Anschluss an E. G. K. Lpz. 1937. – Franz Koch: K. Gött. 1953. – Ernst Frank: Jahre des Glücks, Jahre des Leids. Eine K.Biogr. Velbert/Kettwig 1969. – Eberhard Knobloch: Die Wortwahl in der archaisierenden chronikal. Erzählung. Meinhold, Raabe, Storm, Wille, K. Göpp. 1971. – Robert König: Der metaphys. Naturalismus E. G. K.s. Nürnb. 1971 (mit Bibliogr.). – Frank Westenfelder: Genese, Problematik u. Wirkung nationalsozialist. Lit. am Beispiel des histor. Romans zwischen 1890 u. 1945. Ffm u. a. 1989. – Werner Mittenzwei: Der Untergang einer Akademie oder die Mentalität des ewigen Deutschen. Der Einfluss der nationalkonservativen Dichter an der Preußischen Akademie der Künste 1918 bis 1947. Bln./Weimar 1992. – Kai-Uwe Scholz: Prominente Schriftsteller des Dritten Reichs u. ihre ›Zweite Schuld‹. Eine vergleichende Untersuchung von Nachkriegspublikationen der Autoren E. G. K., Hans Friedrich Blunck u. Hans Grimm. Diss. FU Bln. 1993. – Wolfgang Höppner: Franz Koch, E. G. K. u. das Organische Weltbild in der Dichtung. In: ZfG N. F. 9 (1999), S. 318–328. – Hans-Edwin Friedrich: Deformierte Lebensbilder. Erzählmodelle der Nachkriegsautobiogr. (1945–1960). Tüb.
Kolbenhoff 2000. – Leigh Clemons: Gewalt, Gott, Natur, Volk. The performance of Nazi ideology in K.s ›Gregor u. Heinrich‹. In: Hellmut Hal Rennert (Hg.): Essays on twentieth-century German drama and theater. An American reception 1977–1999. New York u. a. 2004, S. 176–186. Johannes Sachslehner / Ralf Georg Czapla
Kolbenhoff, Walter, eigentl.: W. Hoffmann, * 20.5.1908 Berlin, † 29.1.1993 Germering bei München. – Romanautor, Verfasser von Hörspielen, Journalist u. Übersetzer. K. stammte aus einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie. Nach Volksschule, Ausbildung zum Chemigraf u. mehrjähriger Wanderschaft durch Europa, Kleinasien u. Nordafrika wurde er in Berlin Mitgl. der KPD u. des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Journalistische Arbeiten verfasste er u. a. für das KPD-Organ »Die Rote Fahne«. Er emigrierte 1933 über Amsterdam nach Kopenhagen. Dort begegnete er Wilhelm Reich, dessen Schrift Der sexuelle Kampf der Jugend K. begeistert hatte. Auf Drängen Reichs schrieb er den Roman Untermenschen (Kopenhagen 1933. Bln. 1979), eine Schilderung des sozialen u. psych. Elends am Ende der Weimarer Republik. Ratlos reagiert der Ich-Erzähler, einer der Deklassierten, auf das Versagen der Arbeiterparteien vor dem Erstarken des Nationalsozialismus u. vereinsamt. Die Veröffentlichung führte zu K.s Ausschluss aus der Kommunistischen Partei. Nach der Besetzung Dänemarks wurde er Wehrmachtssoldat, 1944 in Italien gefangen genommen u. in den USA interniert. Im Internierungslager lernte er Alfred Andersch u. Hans Werner Richter kennen u. schrieb den Roman Von unserem Fleisch und Blut (Stockholm/Mchn. 1947. Ffm. 1978). Ein junger Nazi, Mitgl. der Organisation »Werwolf«, findet bei Kriegsende aus seinen faschistischen Wahnvorstellungen nicht heraus. Er irrt nachts allein durch die Ruinen der von den Amerikanern kontrollierten Stadt, versagt sich Angst u. Sehnsucht nach Geborgenheit, wird ausgestoßen u. tötet, wer sich seinem Hass in den Weg stellt. Andere Figuren, Ausgebombte u. Kriegsheimkehrer,
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Entmutigte u. Hoffende, wollen leben. Die Szenenfolge ist gekonnt in Dialoge u. Reflexionen aufgelöst. Sie vermittelt ein emotional beeindruckendes u. zeitgenaues Bild der seel. Zerstörungen u. ideolog. Verwirrungen der Deutschen bei Kriegsende. Nach seiner Rückkehr arbeitete K. in München als Redakteur, Reporter u. Übersetzer für »Die Neue Zeitung« u. die Zeitschrift »Der Ruf. Unabhängige Blätter für die jüngere Generation«, deren Programm eines »sozialistischen Humanismus« er teilte. Er war Mitbegründer der Gruppe 47. Sanktionen der amerikan. Militärbehörde gegen die »Neue Zeitung« u. den »Ruf« führten zum Ausscheiden K.s. Im Roman Heimkehr in die Fremde (Mchn. 1949. Ffm. 1988) beschreibt der Ich-Erzähler, ein Schriftsteller, die Verlierer u. Gewinner der frühen Nachkriegszeit, den Hunger u. die Not der Armen, den Egoismus u. die Gier der Schieber u. Opportunisten. Motive sind wiederum Einsamkeit u. Vereinzelung der Menschen. Der Roman endet mit dem Glück eines Ehepaars, das nach dem Krieg wieder zusammen findet; die Restauration der alten Klassenverhältnisse u. der Verlust einer kämpferischen Perspektive sind jedoch unübersehbar. Die Gründung der BR Deutschland u. die sozialpartnerschaftl. Einbindung der Arbeiterbewegung bestimmten fortan K.s. Leben u. Schreiben. Größere öffentl. Anerkennung blieb ihm nach 1950 versagt. Er suchte sein Auskommen als freier Mitarbeiter für Presse u. Funk, Verfasser von Hörspielen, Auftragsarbeiten u. Übersetzungen. Im Roman Das Wochenende. Ein Report (Freib. i. Br. 1970) erzählt K. von zwei jungen Bauarbeitern, die sich den Angeboten der Konsumgesellschaft trotz mancher Zweifel nicht entziehen können. 1984 erschien K.s autobiogr. Bericht Schellingstraße 48. Erfahrungen mit Deutschland (Ffm. 1984. Mchn. 2008), ein zeithistor. Dokument seines Lebens vom Ende der Weimarer Republik bis in die Jahre seiner Mitarbeit an der »Neuen Zeitung«. Die Schellingstraße 48, K.s erste Wohnung in München, war Anlaufstelle u. Herberge zahlreicher Autoren u. Freunde; eine bes. enge Freundschaft verband ihn mit Günter Eich.
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K. erhielt 1953 den Hörspiel-Förderpreis des Bayerischen Rundfunks, 1985 den TukanPreis u. 1990 den Günter-Eich-Preis. Weitere Werke: Moderne Ballader. Kopenhagen 1936 (L.). – Unsere schönen Träume. 1951 (Hörsp.). – Am Ende der Straße. 1951 (Hörsp.). – Der arme Mann v. Gorgonzola. 1952 (Hörsp.). – Der Briefträger geht vorbei. 1953. U. d. T. Der Briefträger ging vorbei. 1961 (Hörsp.). – Zwanzig Paar Seidenstrümpfe. 1953 (Hörsp.). – Die Entscheidung. 1959 (Hörsp.). – Die Kopfjäger. Mchn. 1960 (R.). – Wahre Gesch.n. 1961 (Hörsp.). – Die Blumen v. Hiroshima. 1963 (Hörsp.). – Bornhofer. 1963 (Hörsp.). – Bilder aus einem Panoptikum. Grotesken u. Gesch.n. Hg. Gerhard Hay. Ffm. 1988 (E.). Literatur: Gabriele Schultheiß: Die Muse als Trümmerfrau. Untersuchung zur Trümmerlit. am Beispiel W. K.s. Diss. Ffm. 1982. – Marita Müller: Kontinuität engagierter Lit. vor u. nach 1945. Zum Werk W. K.s. In: Nachkriegslit. in Westdtschld. Bd. 2. Hg. Jost Hermand, Helmut Peitsch u. Klaus R. Scherpe. Bln. 1984, S. 41–51. – Hans SchwabFelisch: Vor u. nach ’45. Zwei Zeitgenossenschaften: W. K. u. Dieter Wellershoff. In: Merkur 39 (1985), H. 5, S. 430–434. – Hans Werner Richter: Aus den Anfängen der Gruppe 47. Günter Eich u. W. K. In: liberal 27 (1985), H. 4, S. 27–40. – Gespräch mit W. K. Zum 80. Geburtstag am 20. Mai 1988. In: europäische ideen (1988), H. 66, S. 1 ff. – Volker Wehdeking: Anfänge westdt. Nachkriegslit. Aachen 1989. – Ders. u. Günter Blamberger: Erzähllit. der frühen Nachkriegszeit (1945–1952). Mchn. 1990. – Werner Brand: Der Schriftsteller als Anwalt der Armen u. Unterdrückten. Zu Leben u. Werk W. K.s. Ffm. u. a. 1991. – H. Peitsch: Vom ›Realismus‹ eines Kriegsromans – ›unmittelbar‹, ›magisch‹ oder ›tendenziös‹? W. K.: ›Von unserem Fleisch und Blut‹ (1947). In: Von Böll bis Buchheim: Dt. Kriegsprosa nach 1945. Hg. Hans Wagener. Amsterd./Atlanta, GA 1997, S. 63–90. – Gerhard Hay: W. K. In: LGL. – Harro Zimmermann: W. K. In: KLG. Agnes Hüfner
Kolde, Colde, Coelde, Dietrich, auch: D. von Münster, D. von Osnabrück, * um 1435 Münster, † 1515 Löwen; Grabstätte: ebd., Franziskanerkirche. – Prediger u. geistlicher Schriftsteller aus dem Franziskanerorden. K. stammte aus einer, wahrscheinlich begüterten, Bürgerfamilie, trat in Osnabrück in den Augustinerorden ein, studierte in Köln u. trat zwischen 1483 u. 1486, am Niederrhein
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bereits ein bekannter Prediger, zu den Franziskanern strenger Observanz über. Er stieg in der Kölner Ordensprovinz zum Guardian verschiedener Konvente u. zum Definitor auf. Lange andauernde Verehrung, wenn auch nicht den zur noch im 20. Jh. vergeblich betriebenen Seligsprechung erforderl. »cultus non interruptus«, verdankte er seinem aufopferungsvollen Wirken während der 1489 bis 1493 in Brüssel wütenden Pestepidemie. Humanisten wie Rudolf von Langen, Trithemius u. Erasmus galt K. als vorbildl. Geistlicher u. Prediger. Von K.s Predigttätigkeit hat sich wenig erhalten. Sein geistl. Lied Och edel ziele mercke, als Gespräch zwischen der minnenden Seele, dem Bräutigam Christus u. einem Beichtiger angelegt, findet sich bis heute vielfach in Anthologien niederländ. Lyrik. K.s Der Kerstenen Spiegel [zuerst Köln um 1480] ist mit wenigstens 45 Auflagen eine der bis Mitte des 16. Jh. meistgedruckten Schriften des niederländisch-niederdt. Sprachraums. Die Schrift soll dem Laien alles zur Erlangung der Seligkeit nötige Wissen vermitteln u. enthält, eingerahmt von einem erläuterten Glaubensbekenntnis und einer »Sterbekunst«, v. a. einen ausführl. Katechismus. Sie verdankt ihren immensen Erfolg wohl der Ausrichtung auf die Glaubenspraxis. In spätere Auflagen wurden kleinere erbaul. Schriften K.s, aber auch anderer Verfasser, inkorporiert. Ausgaben: Christoph Moufang: Kath. Katechismen des 16. Jh. in dt. Sprache. Bd. 1, Mainz 1881 (hochdt. Übers.). – Jérôme Goyens: Un héros du Vieux-Bruxelles. Le Bienheureux Thiérri Coelde. Mechelen 1929 (kleinere Erbauungsschr.en). – Clemens Drees: Der Christenspiegel des D. K. v. Münster. 1954 (krit. Ausg.). – Kurt Ruh (Hg.): Franziskan. Schrifttum. Bd. 2, Mchn. 1985 (S. 166–179: Kollatie über Apok 3/15). Literatur: Bibliografie: Bio-Bibliographia Franciscana Neerlandica. Saeculi XVI, II, Nieuwkoop 1970, Nr. 281–307. Ante Saeculum XVI, I, Nieuwkoop 1974, S. 197–248. II, Nr. 1–21. III, S. 7–40. – Weitere Titel: Heinrich Hoffmann v. Fallersleben: De liederen van broeder Dirck van Munster. In: De Dietsche Warande III (Amsterd. 1857), S. 252–261. – Karl Zuhorn: Neue Beiträge zur Lebensgesch. D. K.s. In: Franziskan. Studien 28 (1941), S. 107–116, 163–194. – Albert Groeteken: Der älteste gedr. dt.
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Katechismus u. die niederdt. Volksbücher des seligen D. K. In: Franziskan. Studien 37 (1955), S. 53–74, 189–217, 388–410. – Benjamin de Troeyer: D. K. In: VL (Lit., weitere Ausg.n) u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Ders.: D. v. Münster. In: Franziskan. Studien 65 (1983), S. 156–204. – Bernd-Ulrich Hergemöller: D. K.s ›Verclaringhe van den stummen sunden‹ und ›Een prophetye gepreect by broeder Dierick van Munster‹. In: Ellen Widder, Mark Mersiowsky u. Peter Johanek (Hg.): Vestigia monasteriensia. Bielef. 1995, S. 73–99. Heinz Wittenbrink / Red.
Koldewey, Robert (Johann), * 20.9.1855 Blankenburg/Harz, † 4.2.1925 Berlin. – Archäologe u. Bauforscher. Wie für seinen Onkel Karl Koldewey, Leiter der ersten dt. Polarexpedition, wurde für K. aus der Faszination durch unbekannte Welten ein Lebensberuf. Nach dem Studium Architekt bei der Stadt Hamburg, verlegte er sich ab 1882 professionell aufs Ausgraben. Neben Projekten in Kleinasien, Unteritalien u. auch schon Mesopotamien stand als Krönung seiner archäolog. Tätigkeit die im Auftrag der dt. Orient-Gesellschaft u. der kgl. preuß. Museen 1899 begonnene Freilegung Babylons (der 1917 die brit. Eroberung Bagdads ein abruptes Ende setzte). K., der so dem Geschichtsbild über diesen Teil des Vorderen Orients ein konkretes Relief gab, gelang mit Das wieder erstehende Babylon (Lpz. 1913. 41925. Neuausg. von Barthel Hrouda. Mchn. 1990), seinem reich illustrierten, streckenweise spannend zu lesenden Erfahrungsbericht, eine in der Klarheit der Vergegenwärtigung kaum nachgebende Darstellung. Weitere Werke: Das Ischtartor in Babylon. Lpz. 1918. – Die Königsburgen v. Babylon. Hg. Friedrich Wetzel. Lpz. 1931. Literatur: Walter Andrae: Babylon. Die versunkene Weltstadt u. ihr Ausgräber R. K. Bln. 1952. – Olof Pedersén: Archive u. Bibl.en in Babylon. Die Tontafeln der Grabung R. K.s 1899–1917. Saarbr. 2005. Arno Matschiner / Red.
Kolisch, Si(e)gmund, * 21.9.1816 Koritschan (Süd-Mähren), † 28.12.1886 Göding (Mähren) . – Feuilletonist, Journalist, Erzähler u. Dramatiker. Der Sohn des jüd. Kaufmanns Moses Kolisch besuchte in Wien die israelitische Gemeindeschule (1831–33) u. studierte an der Universität Wien Klassische Philologie, Kunstgeschichte, Geschichte u. Philosophie. Seit 1837 literarisch tätig, veröffentlichte er Erzählungen, Gedichte u. Kritiken (häufig in der »Wiener Zeitschrift«) u. verkehrte mit freiheitlich gesinnten Autoren wie Eduard Bauernfeld, Moritz Hartmann u. Hieronymus Lorm. Vor 1848 entstanden Kleine Romane aus Wien (6 Erzählungen, Lpz. 1848) u. zwei Dramen: Der Bauer (Trauersp., ungedr.), Die Fürsten (Trauersp., ungedr.). Nach einer Italienreise (1847) nahm K. 1848 an den revolutionären Wirren in Wien aktiv teil u. vertrat als Leitartikler eine entschieden demokratische Position. Der Gedichtband Todtenfeier in Österreich (Brünn 1848), die populärwissenschaftl. Schrift Anfangsgründe der Freiheit (Brünn 1848) u. der Tendenzroman Ludwig Kossuth und Clemens Metternich (3 Bde., Lpz. 1850) reflektieren die Zeitereignisse. Als Mitherausgeber des revolutionären Blatts »Der Radikale« geriet K. nach Einnahme der Stadt durch die kaiserl. Truppen in Lebensgefahr u. floh über Breslau nach Leipzig, wo er mit Gesinnungsgenossen (Franck, Gritzner, Engländer) die Zeitschrift »Wiener Boten« redigierte. Vom Wiener Kriegsgericht zum Tod verurteilt, wurde K. aus Leipzig ausgewiesen u. gelangte über Jena u. Weimar 1850 nach Paris, wo er als Feuilletonist für frz. u. dt. Zeitungen tätig war (bes. »Neue Freie Presse«). Seine »Pariser Schilderungen« Auf dem Vulkan (Stgt. 1868) spiegeln die polit. u. gesellschaftl. Verhältnisse Frankreichs. 1854–57 reiste K. über Avignon, Marseille durch Italien u. Spanien. Erst 1867 konnte er nach Wien zurückkehren, wo er im selben Jahr heiratete u. erneut als Dramatiker in Erscheinung trat: Die Probe des Don Juan (Schausp., Wien 1869), Der Herr Major (Lustsp., ungedr.), Die Christin (Trauersp., Wien 1875). 1872 zog sich K. nach Göding zurück.
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603 Weitere Werke: Marie Antoinette. Mirabeau. Robespierre. Wien 1880.
Benedetto Croce: Ästhetik als Wiss. vom Ausdruck. Tüb. 1930. Carsten Zelle
Literatur: Oskar Donath: S. K. Leben u. Wirken. In: Jahresber. der dt. Landes-Oberrealschule in Göding. Göding 1911/12, S. 5–72. – Goedeke Forts.
Kolleritsch, Alfred, * 16.2.1931 Brunnsee/ Anna Poeplau Steiermark. – Erzähler, Lyriker, Herausgeber.
Koller, Joseph Benedikt (von ?), * 26.8. 1767 Binsdorf/Württemberg, † 4.9.1817 Stuttgart. – Dramatiker. Nach Privaterziehung in Lindau, Schul(1782) u. Gymnasiumsbesuch (1783–1787) in Augsburg sowie Philosophie- u. Jurastudium (Abhandlung über die Priesterehe. Straßb. 1793) in Freiburg i. Br. (seit 1788) wurde K. 1794 Hofmeister im Dienst des Reichskammergerichtsassessors Egyd Joseph Karl Frhr. von Fahnenberg in Wetzlar. Durch dessen Aufstieg zum österr. Gesandten am Immerwährenden Reichstag kam K. 1795 nach Regensburg, wo er am 14.1.1802 zum Kanzlisten, später zum k. k. Legationssekretär ernannt wurde. Neben Gedichten u. Aufsätzen sowie einer Anzahl von Possen, Lustspielen u. anderen dramat. Werken (»dramatischen Gemählden«) im Geschmack seiner Zeit, die trotz eines erweiterten Literaturbegriffs in den Philologien heute allesamt vergessen sind, ist K. der älteste Versuch einer Ästhetikgeschichte zu verdanken, die seinem Gönner gewidmet ist: Entwurf zur Geschichte und Literatur der Aesthetik, von Baumgarten bis auf die neueste Zeit (Regensb. 1799). K. veröffentlichte unter dem Kurznamen J. Koller, was zu Verwechslungen mit Joseph Benedikt Maria Koller geführt hat. Weitere Werke: Die Wette. Augsb. 1791 (Schausp.). – Verbrechen aus Liebe. Basel 1793 (D.). – Obrist Steinau. Basel 1794 (häusl. Lustsp.). – Konvenienz u. Pflicht. Regensb. 1796 (D.). – Erzeugnisse aus dem Gebiete des Wahren u. Schönen. Regensb. 1798. – Konrad, Hzg. v. Zäringen. Regensb. 1800 (vaterländ. Schausp.). – Donaureise v. Regensb. bis Wien. Regensb. 1802. – Aphorismen für Schauspieler u. Freunde der dramat. Kunst. Regensb. 1804. Neudr. Mchn. 1920. Ausw. Bayreuth 1996. – Schauspiele. Lpz. 1810. Literatur: Hamberger/Meusel 4, 10, 11, 18, 23. – Johann Jacob Gradmann: Das gelehrte Schwaben. Ravensburg 1802. – Jöcher/Adelung, Erg.-Bd. 7. –
K. gewann als Autor, Herausgeber u. Initiator literar. Lebens Bedeutung für die österr. Gegenwartsliteratur. 1958 gehörte er zu den Gründern des Grazer »Forum Stadtpark« (»Grazer Gruppe«), dem avantgardistischen Gegenpol zum offiziellen Kulturbetrieb im restaurativen Klima Nachkriegsösterreichs. Als literar. Plattform der Gruppe gründete K. 1960 die »manuskripte«, die sich unter seiner Leitung zu einer der meistbeachteten deutschsprachigen Literaturzeitschriften entwickelten. K. wuchs als Sohn eines Forstverwalters in der Nähe eines steir. Schlosses auf, absolvierte die Mittelschule in einem Grazer Internat u. studierte Geschichte, Germanistik u. Philosophie (Promotion 1964 über Heidegger). 1958–1993 war er in Graz als Gymnasiallehrer tätig. Mit eigenen Buchpublikationen trat K. relativ spät an die Öffentlichkeit. 1972 erschien sein erstes Prosawerk Die Pfirsichtöter. Seismographischer Roman (Salzb. Neuausg. Graz 1991). K.s Prosatexte lesen sich wie eine – philosophisch geprägte – Annäherung an die Welt der eigenen Kindheit u. Jugend. In den Pfirsichtötern werden Bildsegmente u. Gestalten des vertrauten Erfahrungsraums als Spielmaterial für ein sprachkrit. Experiment benutzt, das auf die Demontage überlieferter Erzählklischees zielt. Die Bewohner eines Schlosses, die sich als Herrschende u. Beherrschte, Philosophen u. Ausgestoßene in starrer Hierarchie gegenüberstehen, werden als Akteure in ein aus der Abstraktion gewonnenes Wirklichkeitsmodell eingesetzt. Es entwickelt sich eine Abfolge surrealer, ritualhafter Szenerien von seltsam suggestiver Bedeutungsschwere. In seinem zweiten Roman Die grüne Seite (Salzb. 1974. Neuausg. Graz/Wien 2001) schildert K. – formal nunmehr im Rahmen geläufiger Erzählverfahren – über drei Generationen einer Familie hinweg das Ringen
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der Söhne um das eigene Wahrnehmen der Dinge gegen die Beeinflussungsversuche ihrer Väter. Der Roman wurde 1981 von Georg Lhotsky für das Fernsehen verfilmt. Einem Zurückweichen vor der Kraft der Kindheitsbilder mag der Umstand zuzuschreiben sein, dass K. in der Folge vorwiegend als Lyriker hervortrat. Für seine erste größere Gedichtsammlung Einübung in das Vermeidbare (Salzb./Wien 1978) wurde er mit dem Petrarca-Preis geehrt. K.s Gedichte entstammen einer ebenso skeptischen wie offenen Beobachtungshaltung, fern lyr. Emphase oder bloß sprachl. Originalität. Oftmals sind sie an ein »Du« gerichtet, das wie der Leser zum Teilhaber an überraschenden Wahrnehmungsabläufen wird. Der Roman Allemann (Salzb./Wien 1989) knüpft an K.s Grundmotiv der Selbstbehauptung an, wiederum in Nähe zu autobiogr. Erfahrungen: Ein Internatszögling, der dem vom totalitären Staat vorgegebenen soldatischen Ideal nicht entsprechen kann, gewinnt die Kraft zum Überleben durch die Nähe zweier Opfer des Systems, einer poln. Zwangsarbeiterin u. eines sexueller Abnormitäten beschuldigten Erziehers. Wie in keinem anderen Werk K.s tritt hier seine gegen das Fortwirken faschistischer Verhaltens- u. Denkweisen gerichtete Wirkungsabsicht zutage. Nach Allemann veröffentlichte K. lediglich eine längere Prosaarbeit, die Erzählung Der letzte Österreicher (Salzb./Wien 1995), eine diskrete, ebenso widerborstige wie liebevolle Hommage an den Grazer Maler Wolfgang Schaukal, einen Sohn des aus Mähren stammenden, mit Hofmannsthal eng befreundeten Wiener Schriftstellers Richard von Schaukal. Das Buch wurde von der Kritik durchwegs positiv aufgenommen u. wenige Jahre nach seinem Erscheinen, ohne Beteiligung des Autors, für die Bühne adaptiert (Urauff. Graz 1998). Zur selben Zeit legte K. mit Die geretteten Köche. Ein Lust-Spiel (Salzb./ Wien 1997) seine erste u. bislang einzige größere dramat. Arbeit vor, die sowohl in der Figurenkonstellation als auch in den zentralen Motiven zurückverweist auf seinen Debütroman Die Pfirsichtöter. Wenngleich vornehmlich als Lesedrama nach dem Muster der
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platonischen Dialoge konzipiert, erwies sich dieses Stück dennoch als bühnenwirksam – Ulrich Weinzierl bezeichnete es nach der Uraufführung beim »steirischen herbst ’98« als »kluge Konversationskomödie«. Nichtsdestoweniger blieb ihm ein Platz im Repertoire deutschsprachiger Bühnen versagt. K. widmete sich seither einerseits der Fortführung seiner Zeitschrift »manuskripte«, andererseits seiner Arbeit als Lyriker. Der Band Gegenwege (Salzb./Wien 1991) bildet den Auftakt zu seinem lyr. Alterswerk, das seither kontinuierlich gewachsen ist u. weiterwächst. Dabei gelangte K. zu einer Vertiefung u. Radikalisierung seines Ansatzes einer Poesie des Unbestimmten. Neben ahnungsvoll verfremdeten Alltagsszenen u. durch sprach- u. wahrnehmungsskept. Reflexion vielfach gebrochenen kargen Landschaftsbildern stehen immer wieder Verlustanzeigen, Nachrufe u. sehr persönl. Retrospektiven. »Trennung, Abschied, Tod strukturieren die Welt seines Gedichts«, schrieb Richard Reichensperger nach dem Erscheinen des Bandes In den Tälern der Welt (Salzb./Wien 1999). Erst in seinen beiden jüngsten Gedichtsammlungen Befreiung des Empfindens (Graz/Wien 2004) u. Tröstliche Parallelen (Graz/Wien 2006) – die Titel sind durchaus programmatisch zu verstehen – erreichte K., bei aller Skepsis u. Verhaltenheit des Ausdrucks, eine neue Unmittelbarkeit, eine neue Einfachheit u. gesteigerte Transparenz des lyr. Ausdrucks. Trotz seines umfangreichen u. mehrfach ausgezeichneten lyr. Werks figuriert K. in der öffentl. Wahrnehmung nach wie vor fast ausschließlich als Herausgeber der »manuskripte«, als Förderer des literar. Nachwuchses u. als langjähriger Weggefährte von Größen wie Peter Handke (der Briefwechsel zwischen K. u. Handke erschien 2008 u. d. T. Schönheit ist die erste Bürgerpflicht. Salzb./Wien), Wolfgang Bauer u. Elfriede Jelinek. Letztere sagte 1997 in einer Laudatio über K.: »... dieser Schriftsteller zwingt uns garantiert zu nichts, er zeigt uns nur alles. Und dann zieht er sich sehr leise wieder zurück, damit wir es selbst in Ruhe anschauen können.« K.s Rolle im Literaturbetrieb war keineswegs immer unumstritten. Kritiker fanden sich allenthalben, zunächst, in den sechziger
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u. siebziger Jahren, v. a. in konservativen u. dem Geschichtsbild des Romans ›Allemann‹ v. A. K. rechts gerichteten Kreisen, denen die Zeit- In: Die Zeit u. die Schrift. Österr. Lit. nach 1945. schrift »manuskripte« ein Dorn im Auge war, Hg. Karlheinz F. Auckenthaler. Szeged 1993, später allerdings auch unter jungen Autoren, S. 329–335. – Stephanie Bopp: Die gefährdete Autonomie des Individuums in A. K.s Roman ›Alledie sich von K. missverstanden fühlten oder mann‹. Diplomarb. Ffm. 2000. – Riccarda Novello: aber an seiner (vermeintl.) Machtstellung ›Die Pfirsichtöter‹ di A. K. Tra autobiografia e forAnstoß nahmen. So sind um die Jahrtau- malizzazione letteraria. In: Studia austriaca 8 sendwende mit Walter Gronds Der Soldat und (2000), S. 209–229. – Juliane Vogel: Auch eine das Schöne (1998) u. Manfred Rumpls Murphys Lehre vom Schweren. A. K.s geolog. Prosa In: wesGesetz (2003) zwei Schlüsselromane erschie- pennest (2000), Nr. 118, S. 34–38. – Manfred Mixnen, in denen K. wenig schmeichelhaft por- ner: A. K. In: KLG. – Gerhard Fuchs: A. K. In: LGL. – Barbara Lafond: Die literar. Gestaltung der Ertraitiert ist. Eine Sammlung von Glossen, Aufsätzen u. innerungsarbeit u. Vergangenheitsbewältigung in Österr. nach 1945, am Beispiel v. A. K.s Roman Reden, die über das dichterische Selbstver›Allemann‹. In: Revue d’Allemagne et des pays de ständnis wie auch über den geistigen u. polit. langue allemande 37 (2005), Nr. 2, S. 151–165. – Standort K.s einigen Aufschluss geben, wur- Jean-Pierre Chassagne: Le mensonge nationalden 2001 u. d. T. Marginalien und Widersprüche socialiste travesti en vérité dans ›Allemann‹ d’A. K. (Hg., kommentiert u. mit einem Nachw. v. In: Le texte et l’ideé 22 (2007), S. 87–107. Kurt Bartsch. Graz/Wien) publiziert, ein reVolker Schindler / Christian Teissl präsentativer Querschnitt durch sein lyr. Werk im selben Jahr u. d. T. Die Verschwörung Kollisch, Margarete, geb. Moller, * 9.12. der Wörter (Salzb./Wien/Ffm.). Bereits drei- 1893 Wien, † 11.10.1979 New York. – zehn Jahre zuvor stellte Peter Handke eine Lyrikerin. Auswahl von K.s Gedichten zusammen (Gedichte. Ffm. 1988), die sich als Einstieg in K. zählt zu den österr. Exilautorinnen, die trotz beträchtl. Ansehens in den USA im dessen Denken u. Schreiben empfiehlt. K. erhielt 1976 den Literaturpreis des Lan- deutschsprachigen Raum weitgehend unbedes Steiermark, 1981 den »manuskripte«- kannt blieben. Bereits vor der Emigration Preis, 1987 den Georg-Trakl-Preis für Lyrik, 1939 veröffentlichte die Philologin (Germa1994 den Österreichischen Staatspreis für nistik u. Anglistik), die als Lehrerin u. JourKulturpublizistik, 1997 den Peter-Rosegger- nalistin tätig war, erste Texte in österr. ZeiLiteraturpreis des Landes Steiermark u. 2005 tungen u. Zeitschriften (u. a. in »Die Bühne«, »Der Tag«). Ab 1939 in New York, verdiente den Horst-Bienek-Preis für Lyrik. Weitere Werke: erinnerter zorn. Graz 1972 (L.). K. ihren Lebensunterhalt vorrangig als Heil– Im Vorfeld der Augen. Salzb./Wien 1982 (L.). – masseurin u. Therapeutin. Literarischen AnAbsturz ins Glück. Salzb./Wien 1983 (L.). – Ge- schluss fand sie im österr. Exilkreis um Mimi spräche im Heilbad. Verstreutes, Gesammeltes. Grossberg. Ihre Gedichte erschienen in ExilSalzb./Wien 1985. – Augenlust. Salzb./Wien 1986 Anthologien (Kleinkunst aus Amerika. Wien (L.). – Über das Kindsein. Salzb./Wien 1991. – 1964. Reisegepäck Sprache. Deutschschreibende Hemler der Vogel. Mit Zeichnungen v. Hartmut Schriftstellerinnen in den USA 1938–1978. Mchn. Urban. Graz/Wien 1992 (Kinderbuch). – Zwei 1979). K.s Lyrik entstand aus der tiefen VerWege, mehr nicht. Salzb./Wien 1993 (L.). – Die bundenheit mit ihrer sprachl. u. geistigen Summe der Tage. Mit einem Nachw. v. Arnold Heimat. In ihren spätromant. Stimmungs- u. Stadler. Salzb. 2001. Sinngedichten sind Einflüsse von Hesse u. Literatur: Urs Widmer: Ferne Vergangenheit Rilke spürbar (Wege und Einkehr. Wien 1960). oder ferne Zukunft? Über die Romane v. A. K. In: Der postum erschienene Band Rückblendung Wie die Grazer auszogen, die Lit. zu erobern. Hg. Peter Laemmle u. Jörg Drews. 2., erg. u. erw. Aufl. (Wien 1981) weist K. durch die lyr. AufarMchn. 1979, S. 71–77. – Kurt Bartsch u. Gerhard beitung von Erinnerungen an die ehemalige Melzer (Hg.): A. K. Graz/Wien 1991 (darin: Franz Heimat als Exilautorin aus, die im tradiWeinzettl: Bibliogr. A. K., S. 181–198). – Zoltán tionsgebundenen Schreiben existenziellen Szendi: Konfrontation mit der Vergangenheit. Zu Halt erlangt.
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Weitere Werke: Unverlorene Zeit. Ausgew. Gedichte u. Betrachtungen. Wien 1971. Literatur: Gert Niers: Frauen schreiben im Exil. Zum Werk der nach Amerika emigrierten Lyrikerinnen M. K., Ilse Blumenthal-Weiss, Vera Lachmann. Ffm. u. a. 1988, S. 9–60. – LöE. Christine Schmidjell / Red.
Kolmar, Gertrud, eigentl.: G. Chodziesner, auch: Helen Lodgers, * 10.12.1894 Berlin, † 1943 (?) vermutlich in Auschwitz ermordet. – Lyrikerin, Dramatikerin, Erzählerin. Die Tochter eines bekannten Strafverteidigers, dessen Vorfahren aus der poln. Grenzstadt Chodziesen (dt. Name: Kolmar) stammten, wuchs in dem künstlerisch aufgeschlossenen Milieu einer jüd. Großbürgerfamilie in Berlin auf. Ihre Sprachbegabung (Französisch, Englisch, Russisch, Hebräisch) zeigte sich schon früh; sie erwarb ein Diplom als Sprachlehrerin für Englisch u. Französisch u. arbeitete als Dolmetscherin u. Erzieherin; u. a. betreute sie zwei taubstumme Kinder. Eine unglückl. Liebe mit einem Offizier endete mit der Abtreibung eines Kindes. Seit 1928 widmete sie sich in einem »Einsiedlerleben« der Pflege ihrer Eltern in der idyllischen Villa in Finkenkrug, nahe Spandau. Nach dem Tod ihrer Mutter 1930 führte sie ihrem Vater »die Wirtschaft«. Das ländl. Finkenkrug prägte nachhaltig die Naturlyrik K.s (Bild der Rose. Ein Beet Sonette nach dem Rosenkatalog einer Pflanzenhandlung). Sie nahm am literar. Leben rege Anteil, bekannte sich zu Rilke, Werfel, Leconte de Lisle u. Valéry als literar. Vorbildern (Brief an Walter Benjamin vom 5.11.1934), schloss sich aber nie literar. Zirkeln u. Bewegungen an. Während ihre drei Geschwister nach 1933 vor dem Naziregime ins Ausland flohen, lehnte K. eine Emigration um des Vaters willen ab. 1938 erfolgte der Zwangsverkauf des Familienbesitzes; 1941 wurde K. zu Zwangsarbeit verpflichtet, bevor ihr achtzigjähriger Vater nach Theresienstadt deportiert wurde, wo er 1943 starb. Am 2.3.1943 wurde K. in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt. Kein späteres Lebenszeugnis ist überliefert.
K.s erste Dichtung, der lyr. Zyklus Napoleon und Marie (1917), behandelt die Liebe zwischen dem Kaiser der Franzosen u. Maria Walewska. Die Kombination des pathetisch übersteigerten Liebesmotivs mit dem eng an historiografischen Werken angelehnten epigonalen Napoleon-Kult gelangt in der Verabsolutierung des Eros u. der Personalisierung der Metaphorik über Zeittypisches hinaus. In den Gedichten (Bln. 1917) ist K.s Individualstil bereits ausgeprägt: Mädchen- u. Frauenrollen werden in romantisierenden Liedstrophen (Kinderreihen) besungen, in denen das Volkstümliche bisweilen dämonischen Charakter gewinnt. Trotz der wenigen Veröffentlichungen u. Zurückgezogenheit war K. in der literar. Öffentlichkeit bekannt u. hatte prominente Fürsprecher. So erschienen dank der Vermittlung ihres Cousins Walter Benjamin Gedichte in der »Literarischen Welt« (1928), der »Neuen Schweizer Rundschau« (1929) u. im »Insel-Almanach auf das Jahr 1930«; auch Elisabeth Langgässer warb ausdrücklich für K.s »Naturmagie«. Ina Seidel setzte sich für den Druck des »Preußischen Wappenbuchs« (Preußische Wappen (Bln. 1934) ein, eine moderne Version mittelalterl. Heroldsdichtung, inspiriert von Kaffeesammelmarken mit den Wappen preuß. Städte. Die repräsentativen Wappenmotive, häufig Tiere u. Pflanzen, werden in einer archaisch-magischen Sprache existenziell gedeutet, radikal naturalisiert u. remythisiert. K.s Wappenbuch richtet sich implizit gegen die seinerzeit populäre nationalistische Pseudoheraldik. Der polit. Gehalt von K.s Dichtungen blieb lange verkannt. Doch reflektieren sowohl der Roman Eine Mutter (entstanden 1930; Mchn. 1965. U. d. T. Eine jüdische Mutter. Mchn. 1978. U. d. T. Die jüdische Mutter. Gött. 1999. Ffm. 2003), die Geschichte einer destruktiven Mutter-TochterBeziehung, als auch der Zyklus Das Wort der Stummen (entstanden 1933), welcher das Leiden Inhaftierter gestaltet (An die Gefangenen, Der Mißhandelte), die jüd. Identität u. protestieren gegen die antisemitische Propaganda. Politisch deuten lassen sich auch die beiden Dichtungen aus dem Jahre 1934, in denen K. ihre eigene Sicht der Französischen Revolution poetisierte: Robespierre wird in dem
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gleichnamigen Zyklus histor. Balladen von expressiver Drastik ebenso sakralisiert wie in dem tragischen Ende des Schauspiels Cécile Renault, in dem der »reine« Robespierre eine Begnadigung verweigert, um nicht vergottet zu werden (»Nun bin ich allein. Allein ... Nun habe ich alles zum Opfer gebracht. Auch mein Andenken bei der Nachwelt.«). Bereits zwischen 1927 u. 1932 entstanden drei große Gedichtzyklen (Mein Kind, Weibliches Bildnis, Tierträume). Gerade die Tierträume bezeugen K.s empathet. Begabung, der niederen Kreatur zu einer eigenen Stimme zu verhelfen u. sich mit ihr zu verbünden. Eine Auswahl aus diesen Zyklen bietet die Sammlung Die Frau und die Tiere (Bln. 1938), die unter K.s offiziellem Namen »Chodziesner« mit Unterstützung des Jüdischen Kulturbundes noch veröffentlicht werden konnte, aber bereits nach dem Novemberpogrom eingestampft wurde. Schon 1937 hatte K. die Autorschaft eines kleinen lyr. »Reisetagebuchs« als Übersetzung einer ausländ. Verfasserin getarnt (Sieben Gedichte aus »German Sea« von Helen Lodgers), das eine schwärmerische Liebesbeziehung mythisiert u. exotisch stilisiert. Ob das Drama Nacht (entstanden 1938), das den röm. Kaiser Tiberius im Exil darstellt, zeitgeschichtlich zu verstehen ist, ist umstritten. Im Unterschied zu der Erzählung Susanna (entstanden 1939/40), in der K. vielleicht die Dichterin Else Lasker-Schüler porträtierte (These von Dagmar Lorenz), sind die späten Gedichte in hebräischer Sprache nicht erhalten. Zu K.s Lebzeiten ist nur ein kleiner Teil des Werks im Druck erschienen. Dass viele Manuskripte gerettet wurden, ist neben Hilde Benjamin v. a. K.s Schwager Peter Wenzel zu verdanken. Er gewann Hermann Kasack als Herausgeber einer ersten Publikation nach dem Zweiten Weltkrieg (Welten. Bln. 1947) u. einer ersten Werkausgabe (Das lyrische Werk. Heidelb./Darmst. 1955), welche die Grundlage der erweiterten Ausgaben von Friedhelm Kemp (Das lyrische Werk. Mchn. 21960) u. Hilde Wenzel (Weibliches Bildnis. Mchn. 1987) bildete. Bis heute gründet K.s Ruhm auf der Lyrik, die unterschiedl. Traditionen wie Romantik, Realismus u. naturmagischen Expressionismus verarbeitet, die subjektive
Kolmar
Naturmagie aber in traditionelle Strophenformen zwängt u. in Zyklen integriert. Jacob Picard, Karl Krolow u. Wolfdietrich Schnurre ehrten K. essayistisch, in lyr. Hommagen bewahrten ihr Andenken Nelly Sachs (Die Hellsichtige. G. C.), Johannes Bobrowski (Gertrud Kolmar) u. Uwe Berger (Gertrud Kolmar). Gerlind Reinshagen vergegenwärtigt die Dichterin in einem fiktiven Monolog (Die Frau und die Stadt. Eine Nacht im Leben der Gertrud Kolmar. Ffm. 2007). Die lange biografisch ausgerichtete Forschung betonte v. a. die Aspekte Außenseitertum, Judentum u. Feminismus, weniger die form- u. literaturgeschichtl. Bezüge in K.s Werk. Im Schatten der Lyrik stehen K.s Erzählungen, die in ihrem Nebeneinander von Wortmagie u. Sachlichkeit starke Brüche aufweisen, sowie ihre Dramen. Erst im Jahr 2000 wurde die »dramatische Legende« Nacht im Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt. Weitere Werke: Ausgaben: Das lyr. Werk. Hg. Regina Nörtemann. 3 Bde., Gött. 2003. – Die Dramen. Hg. R. Nörtemann. Gött. 2005. – Briefe: Briefe. Hg. Johanna Woltmann. Gött. 1997. – Briefe an die Schwester Hilde (1938–1943). Hg. u. mit einem Nachw. v. Johanna Zeitler. Mchn. 1970. – Einzeltitel: Susanna. Hg. Thomas Sparr. Ffm. 1993 (E.). Literatur: Marion Brandt: Schweigen ist ein Ort der Antwort. Eine Analyse des Gedichtzyklus ›Das Wort der Stummen‹ von G. K. Bln. 1993. – Beatrice Eichmann-Leutenegger: G. K. Leben u. Werk in Texten u. Bildern. Ffm. 1993. – Johanna Woltmann (Bearb.): G. K. 1894–1943. Ausstellungskat. Marbach/N. 1993. 31997. – Monika Shafi: G. K. Eine Einf. in das Werk. Bamberg 1995. – J. Woltmann: G. K. Leben u. Werk. Gött. 1995. Erw. Ffm. 2001. – Karin Lorenz-Lindemann (Hg.): Widerstehen im Wort. Studien zu den Dichtungen G. K.s. Gött. 1996. – Heidy Margrit Müller (Hg.): Klangkristalle – Rubinene Lieder. Studien zur Lyrik G. K.s. Bern 1996. – Barbara C. Frantz: G. K.s prose. New York u. a. 1997. – Sigrid Bauschinger: Vindication through suffering: G. K.s cycle of poems ›Robespierre‹. In: Dagmar C. G. Lorenz u. Renate S. Posthofen (Hg.): Transforming the center, eroding the margins. Columbia, SC. 1998, S. 44–61. – Gudrun Jäger: G. K. Publikations- u. Rezeptionsgesch. Ffm./New York 1998. – Chryssoula Kambas (Hg.): Lyr. Bildnisse. Beiträge zu Dichtung u. Biogr. v. G. K. Bielef. 1998. – Kathy Zarnegin: Tierische Träume. Lektüre zu G. K.s Gedichtband ›Die Frau und die Tiere‹. Tüb. 1998. – Flavia Arzeni (Hg.):
Kolmarer Liederhandschrift G. K., la straniera. Rom 1999. – Ludwig Völker: Formstrukturen als Sinnstrukturen. Der Zyklus als poet. Form im Werk G. K.s. In: Jacques Lajarrige (Hg.): Vom Gedicht zum Zyklus, vom Zyklus zum Werk. Innsbr. 2000, S. 98–121. – Annegret Schumann: ›Bilderrätsel‹ statt Heimatlyrik. Bild u. Identität in G. K.s Gedichtsammlung ›Das Preußische Wappenbuch‹. Mchn. 2002. – Barbara Dicks: Ich bin nur ein Ackerstrauß u. Bettina v. Jagow u. Lara Weber: Zerbrechl. Welten. Religiöse Symbolik im Gedichtzyklus ›Welten‹: eine intertextuelle Lektüre. In: WW 56 (2006), S. 51–72. – Silke Nowak: Sprechende Bilder. Zur Lyrik u. Poetik G. K.s. Gött. 2007. – Dieter Kühn: G. K. Leben u. Werk, Zeit u. Tod. Ffm. 2008. Achim Aurnhammer
Kolmarer Liederhandschrift, um 1460. – Umfangreichste Sammlung von Meisterliedern des 14./15. Jh., mit Melodien. Die K. L. (München, Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 4997) führt ihren Namen nach dem früheren Aufbewahrungsort seit 1546. In diesem Jahr hat Georg Wickram den Codex in Schlettstadt erworben, um in Colmar eine geistl. Meistersingergesellschaft zu gründen, u. kurz darauf die erste Schule gehalten. Die Meistersinger des 16. Jh. haben die K. L. als das große »Buch von Mainz«, als Dokument der Begründung ihrer löbl. Kunst durch zwölf Meister unter Kaiser Otto I. u. Papst Leo verehrt. Der Codex wurde ausgeliehen u. abgeschrieben, Adam Puschman u. andere pilgerten seinetwegen nach Colmar. Im 17. Jh. geriet er anscheinend in Vergessenheit, bis er 1789 auf der Zunftstube der Colmarer Schuster wiederentdeckt wurde. Bald nach den ersten Veröffentlichungen über den Fund (1790, 1792) galt die Handschrift als verschollen oder unzugänglich. Aus dem Nachlass eines Colmarer Buchhändlers gelangte sie nach Basel u. wurde 1857 nach München verkauft. 1862 publizierte Karl Bartsch die erste grundlegende Beschreibung u. eine reiche Auswahl von Texten. In der Liedforschung trägt die Handschrift die Sigle k (K) oder t. Die Geschichte der K. L. vor 1546 ist ungeklärt. Um 1484/90 diente sie als Vorlage für Teile der Donaueschinger Liederhandschrift (jetzt Karlsruhe, Badische Landesbibliothek; mit Melodien), die vermutlich für das Zister-
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zienserinnenkloster Wonnental (auf dem rechten Ufer des Rheins gegenüber Schlettstadt) angefertigt wurde. Wann u. woher die K. L. nach Schlettstadt kam, bleibt offen. Ein sekundärer, schwer datierbarer, aber jedenfalls spätestens bald nach Wickrams Kauf angebrachter Eintrag behauptet, das Buch habe Jahrhunderte in Mainz (»me[n]cz«) in der Dombibliothek gelegen. Die abenteuerl. Zeitangabe verrät Abhängigkeit von der Ursprungssage des Meistergesangs. Die Ortsangabe mag jedoch zutreffen: Die K. L. braucht nicht unbedingt in Mainz entstanden zu sein, aber sie hat sich vielleicht seit etwa 1500 oder früher dort befunden u. war damals bereits weiteren Meistersingerkreisen bekannt. Sie könnte also durchaus mit dem »Buch von Mainz« der zuerst durch ein Lied des frühen 16. Jh. bezeugten Ursprungssage identisch sein. Der Codex (29,5 · 20 cm, 856 Blätter) beeindruckt allein schon durch die umfangsbedingte quaderförmige Gestalt. Er wird seit 1983 aufgrund der Wasserzeichen der verwendeten Papiere in die Jahre um 1460 datiert. Die Papieranalyse erlaubt zgl. einen Einblick in die etappenweise Entstehung der Sammlung, deren älteste Schicht weniger als die Hälfte des endgültigen Bestands umfasst. Zwei anonym bleibende Schreiber waren an der Herstellung beteiligt (A, B). Der Hauptverantwortliche (A) hat u. a. ein Marienlied »in dem vnherkanten tone magistri scilicet scriptoris huius libri« aufgezeichnet u. dürfte demnach der archivalisch bislang nicht fassbare Nestler von Speyer sein, den die Meistersinger des 16. Jh. regelmäßig als Erfinder des »Unerkannten Tons« nennen. Die Schreibsprache ist (süd)rheinfränkisch, doch macht sich der Einfluss von Vorlagen unterschiedlichster Provenienz bemerkbar. Eine eingehende Untersuchung steht noch aus; daher lassen sich Versuche einer genaueren Lokalisierung vorläufig nicht durch sprachl. Argumente absichern. Am häufigsten erwogen worden ist eine Entstehung der K. L. in Mainz – im Hinblick auf die erwähnte Notiz in der Handschrift u. auf die führende Rolle, die Frauenlob († 1318 in Mainz) darin zukommt. Mit anderen Gründen wurde 1983 für Speyerer Herkunft plädiert. Die These
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erhielt wenig später eine Stütze durch die Entdeckung, dass eine große Sammlung naturwissenschaftlich-medizin. Inhalts, die um 1460 in Speyer oder der weiteren Umgebung entstanden sein dürfte u. sich um 1500 im Besitz eines Speyerer Domherrn befand, von den Schreibern der K. L. herrührt; die Hauptverantwortung lag hier bei B. Beide Schreiber erweist die Sammlung als ausgebildete Wundärzte (dem Duktus nach zu schließen, war B vermutlich zgl. ein Berufsschreiber). Demzufolge wird A (Nestler) die K. L. aus eigenem Antrieb oder auf Bitten anderer Kenner der meisterl. Liedkunst, jedenfalls nicht als reines Auftragswerk in Angriff genommen haben. In der K. L. sind aus zahlreichen verschiedenartigen Quellen rund 940 Lieder u. vielstrophige Gedichte (insg. fast 4400 Strophen) in 107 Tönen, ferner fünf geistl. Leichs zusammengetragen (am Schluss gingen sechs Lieder Suchensinns verloren). Die Lieder sind nach Tönen, die Töne nach Tonautoren geordnet, u. die Eingangsstrophe fast jeden Tons sowie die Leichs sind mit Noten versehen. Die sonst erhaltenen vorreformator. Meisterliedersammlungen (ab etwa 1425) – durchweg mit bescheidenerem Umfang – weisen allenfalls Ansätze zu einer Gruppenbildung nach Tönen u. Tonautoren auf u. bieten nie Melodien. Vom Einrichtungstyp her am nächsten verwandt ist die Jenaer Liederhandschrift; eine direkte Beziehung besteht jedoch nicht. Die K. L. überliefert hauptsächlich Meisterlieder in Tönen, die – nicht immer zu Recht – als Schöpfungen von Spruchdichtern des 13. u. frühen 14. Jh. galten. Sie spiegelt damit eine am Rhein anscheinend bes. ausgeprägte Tendenz, neue Lieder nur noch in Tönen alter Meister zu dichten, wogegen Hans Folz (aus Worms) sich in seinen sog. Reformliedern wendet. Das Programm der Redaktoren der K. L. u. vielleicht schon einer ihrer Vorlagen war es offenbar, die berühmtesten alten Meister in einem Buch zu versammeln. Die Chronologie ist für die Reihenfolge nicht maßgebend. Am Anfang stehen die tönereichsten Autoren u. diejenigen, deren Töne am häufigsten bei den »Nachsängern« Verwendung gefunden hatten:
Kolmarer Liederhandschrift
Frauenlob, Regenbogen, der Marner, Konrad von Würzburg, Boppe; Frauenlob- u. Regenbogen-Corpus zusammen machen nahezu die Hälfte des Bandes aus. In der Schlusspartie sind u. a. die Teilnehmer am Wartburgkrieg – Walther von der Vogelweide, Wolfram von Eschenbach usw. – fast vollzählig vertreten. Die Mehrzahl der jüngeren Tonerfinder – darunter Heinrich von Mügeln, der Mönch von Salzburg u. Muskatblut (erste Hälfte des 15. Jh.) – kam erst bei der allmähl. Erweiterung des Kernbestands hinzu. Nach u. nach fanden auch mehr Liedtypen Aufnahme, die in der Praxis der zeitgenöss. Meister keine Rolle mehr spielten. Eine ganze Abteilung von Prunkformen verschiedener Autoren (Leichs, Reihen usw.) wurde schließlich in das Frauenlob-Corpus, zwischen seinen Marienleich u. die Spruchtöne, eingeschoben. Das Textcorpus der K. L. umspannt rund zweieinhalb Jahrhunderte u. ist reich an Unica. Die zeitl. Schichtung lässt sich nur in groben Umrissen rekonstruieren, weil fast nie zwischen Dichtungen der Tonerfinder u. solchen der »Nachsänger« unterschieden u. kaum je ein Nachsänger namentlich genannt wird. Etwa ein Achtel des Bestands kann man – z.T. aufgrund der Parallelüberlieferung in der Großen Heidelberger Liederhandschrift – mit Sicherheit der Zeit von 1200 bis 1350 zuweisen. Das Gros der Texte ist wohl nach der Mitte des 14. Jh. gedichtet, als das mehrstrophige Meisterlied den Sangspruch endgültig abgelöst hatte. Dem neuen Usus gemäß sind alte Einzelstrophen zu Liedern ergänzt oder gebündelt tradiert worden. Das Spektrum der Liedthemen ist relativ breit. Höchsten Rang hat, wie die Eröffnung der K. L. mit Frauenlobs Marienleich u. die – durch Nachträge verunklärte – Ordnung der Lieder innerhalb der Toncorpora zeigen, die geistl. Thematik (Lob Marias u. der Trinität, gelehrte Spekulation über Gottes Sein vor der Schöpfung u. ä., seltener bibl. Erzählungen u. Katechetisches); sie nimmt auch am meisten Raum ein. Weitere Schwerpunkte der Sammlung bilden Kunstthematik u. allg. gehaltener Frauenpreis. Politisch-aktuelle Texte, wie sie Spruchdichter des 13. Jh., aber auch Heinrich von Mügeln u. Muskatblut – u. zur Zeit der Entstehung der Handschrift
Kolping
Michel Beheim – verfassten, sind kaum vertreten. Möglicherweise haben die Redaktoren der K. L. Auswahltendenzen ihrer Vorlagen noch verstärkt. Neben der Jenaer Liederhandschrift stellt die K. L. die wichtigste Quelle von Melodien dt. Lieddichtung des 13. u. 14. Jh. – aufgezeichnet freilich in Fassungen des 15. Jh. – dar. Vielfach bietet sie das einzige oder das älteste Zeugnis. Für die Geschichte der frühen Meisterlieddichtung seit dem 14. Jh. hat die K. L. als Sammelbecken vieler verlorener Überlieferungen größte Bedeutung. Gerade ihrer Einzigartigkeit wegen vermittelt sie aber von der Situation dieses Strangs der volkssprachl. Lieddichtung um die Mitte des 15. Jh. ein Bild, das dringend der Ergänzung durch die bescheideneren Sammlungen u. die Autorhandschriften bedarf. Ausgaben: Meisterlieder der K. Hs. Hg. Karl Bartsch. Stgt. 1862 (Ausw., 187 Nrn.). – Die Sangesweisen der Colmarer Hs. u. die Liederhs. Donaueschingen. Hg. Paul Runge. Lpz. 1896. – Durward Saline Poynter: The Poetics of the Early Meistersänger as Reflected in the K. Hs. (Cgm 4997). Diss. Los Angeles 1965. – Die K. L. In Abb. hg. v. Ulrich Müller, Franz Viktor Spechtler u. Horst Brunner. 2 Bde., Göpp. 1976 (vollst., leicht verkleinerte Schwarzweißreproduktion). – Nachweise zu den einzelnen Liedern in: RSM 3–5. Bearb. v. Frieder Schanze u. Burghart Wachinger. Tüb. 1986–91. – Erst- oder Neuausgaben u. a. in: UlrikeMarianne Schulz: Liebe, Ehe u. Sexualität im vorreformator. Meistersang. Göpp. 1995. – Sangsprüche in Tönen Frauenlobs. Supplement zur Göttinger Frauenlob-Ausg. Hg. Jens Haustein u. Karl Stackmann. 2 Tle., Gött. 2000. – Baldzuhn 2002 (s. Lit.). – Geistl. Gesänge des dt. MA. Melodien u. Texte handschriftl. Überlieferung bis um 1530. Hg. Max Lütolf u. a. Bd. 1 ff., Kassel u. a. 2003 ff. – Eva Willms: Der Marner. Lieder u. Sangsprüche aus dem 13. Jh. u. ihr Weiterleben im Meistersang. Bln./New York 2008. – Spruchsang. Die Melodien der Sangspruchdichter des 12. bis 15. Jh. Hg. H. Brunner u. Karl-Günther Hartmann. Kassel u. a. (im Druck). Literatur: Karl Bartsch, a. a. O. – Karl Stackmann (Hg.): Die kleineren Dichtungen Heinrichs v. Mügeln. 1. Abt., 1. Teilbd., Bln. 1959, S. LXV–XCV. – Heinrich Husmann: Aufbau u. Entstehung des cgm 4997 (K. L.). In: DVjs 34 (1960), S. 189–243. – Horst Brunner: Die alten Meister. Mchn. 1975. –
610 Christoph Petzsch: Die K. L. Entstehung u. Gesch. Mchn. 1978. – Georg Steer: Donaueschinger Liederhs. In: VL. – K. Stackmann u. Karl Bertau (Hg.): Frauenlob (Heinrich v. Meissen). Tl. 1, Gött. 1981, S. 102–112. – Frieder Schanze: Meisterl. Liedkunst zwischen Heinrich v. Mügeln u. Hans Sachs. 2 Bde., Mchn. 1983/84. – Burghart Wachinger: K. L. In: VL (Lit.). – H. Brunner u. Johannes Rettelbach: ›Der vrsprung des maystersangs‹. Eine Schulkunst aus dem frühen 16. Jh. u. die K. L. In: ZdfA 114 (1985), S. 221–240. – F. Schanze: Meisterliederhss. In: VL. – Walter Röll: Meisterl. Liedkunst. In: ZfdPh 106 (1987), S. 131–135. – Bernhard Schnell: Medizin u. Lieddichtung. Zur medizin. Sammelhs. Salzburg M III 3 u. zur K. L. In: Archiv 230 (1993), S. 261–278. – RSM 1, Tüb. 1994, S. 59–318: Handschriftenverz. Bearb. v. F. Schanze u. Eva Klesatschke, hier S. 205–209. – Karin Schneider: Die dt. Hss. der Bayer. Staatsbibl. München. Die mittelalterl. Hss. aus Cgm 4001–5247. Wiesb. 1996, S. 423–444. – Lorenz Welker: K. L. In: MGG, Sachteil. – Michael Baldzuhn: Blattverluste im Suchensinn-Corpus der ›K. L.‹. In: ZfdPh 119 (2000), S. 427–433. – Ders.: Vom Sangspruch zum Meisterlied. Untersuchungen zu einem literar. Traditionszusammenhang auf der Grundlage der K. L. Tüb. 2002. – Gisela Kornrumpf: Vom Codex Manesse zur K. L. I. Tüb. 2008, bes. S. 257–274 (Lit.). – RSM 2, 1 u. 2. Bearb. v. J. Rettelbach. Tüb. 2009. Gisela Kornrumpf
Kolping, Adolf, * 8.12.1813 Kerpen/ Rheinland, † 4.12.1865 Köln; Grabstätte: ebd., Minoritenkirche. – Sozialreformer (»Gesellenvater«) u. religiöser Volksschriftsteller. Der Sohn eines Schäfers u. Kleinbauern wechselte nach abgeschlossener Schusterlehre, die ihm bedrückende Einblicke in die sittl. u. geistige Not des Gesellenstandes vermittelte, 24-jährig auf die Tertia des Marzellengymnasiums in Köln (1841 Abitur). Nach dem Studium der Philosophie u. Theologie in München, Bonn u. Köln wurde er 1845 zum Priester geweiht. Seine erste Anstellung erhielt K. an der St. Laurentius-Kirche in Elberfeld, wo er im Mai 1847 Präses des ersten, 1846 vom Elberfelder Volksschullehrer Johann Georg Breuer gegründeten Gesellenvereins wurde. Nach seiner Berufung 1849 als Domvikar nach Köln, der bereits am 6. Mai desselben Jahres die Gründung des Kölner Gesellenvereins folgte, trieb der fortan uner-
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Kolroß
müdlich werbende, reisende u. organisieren- genwartskrit. Idealbild eines weisen, ehrde K. die schon von Breuer angestoßene würdigen alten Arztes, der die seel. u. soziale Umwandlung des Gesellenvereins vom Not der Zeitgenossen heilt, indem er sie zum Zweck- zum Angebotsverein durch Ankauf kath. Glauben zurückführt, während der oder Neubau von Versammlungsstätten (Ge- Landbote Stephan den schlichten Sinn des sellenhäuser) mit Bildungs- u. Erholungs- einfachen Volkes verkörpert. Wenn K.s Ermöglichkeiten sowie von Hospizen für wan- zählungen indes nicht nur von der Landbedernde Gesellen so erfolgreich voran, dass der völkerung, sondern auch einem städt. PubliVerein im Todesjahr K.s 24.600 Mitglieder in kum gelesen u. noch Anfang des vergangenen 418 Ortsvereinen (einschließlich Österreich- Jahrhunderts mehrfach neu aufgelegt wurden, so ist dies eine Bestätigung der Wertung Ungarns) zählte. Dem Grundsatz des Sozialreformers: Heinrich Keiters, K. sei »schlicht, ohne ein»Wenn das Volk kirchlicher werden soll, muß fältig zu sein, volkstümlich, ohne ins Platte die Kirche volkstümlicher werden« folgte zu verfallen; tief, ohne das Verständnis des auch der stets unter Zeitnot schreibende Pu- Volkes zu übersteigen; gemütvoll, ohne weiblizist, Volkserzähler u. Volkspädagoge K. Als nerlich zu werden«. – Gegenstand romanHerausgeber u. Redakteur der Jahrgänge 10 hafter Darstellungen im 20. Jh. wurde K. bei (1850) bis 13 (1853) des »Katholischen Michel Becker (Der Trommler Gottes. Paderb. Volkskalenders« sowie des 1854 von ihm ge- 1934. 61965) u. Wilhelm Hünermann (Der gründeten »Kalenders für das katholische Gesellenvater. Freib. i. Br. 1949). Volk« (13 Jahrgänge bis 1866, Auflagenhöhe Ausgaben: Ein kath. Volksbuch für die Großen 1862: 14.000) schrieb K. vor allem für u. über u. für die Kleinen. Slg. v. Erzählungen u. AufsätBauern u. Handwerker mehr als 40 Erzäh- zen. 2 Bde. Soest 1853–55. – Erzählungen. 5 Bde., lungen mit häufig starker Gefühlsbetonung, Osnabr. 1862–94. – Ausgew. Volkserzählungen. 7 milieusicher, wenngleich typisierend ge- Bde., Regensb. 1896 ff. (einzelne Bde. mit minzeichnetem Personal, aus dem Erleben ge- destens 12 Aufl.n). – Erzählungen. Hg. Laurenz Kiesgen. 4 Bde., Köln o. J. [1914–19]. – A. K.schöpfter Handlungsführung u. lehrhaftSchr.en. Kölner Ausg. Hg. Michael Hanke u. a. prakt. Nutzanwendung. Wo K. erbaulich sein Bisher 11 Bde., Köln 1975 ff. will, ist er doch nicht bloß rührend; Not, Literatur: Michael Schmolcke: A. K. als PubliVerschulden, häusliches, häufig durch die zist. Münster 1966. – Victor Conzemius: A. K. In: Ehemänner herbeigeführtes Unglück u. frü- Rhein. Lebensbilder 3 (1968), S. 221–233. – Ders.: her Tod sind überall gegenwärtig; jeder, A. K. In: TRE. – Bernd Kettern: A. K. In: BBKL nicht nur der gläubige Katholik, soll Gott (Lit.). – Christian Feldmann: A. K. Ein Leben der auch im Unglück suchen, sich von seinem Solidarität. Vollst. überarb. Neuausg. Freib. i. Br. Starrsinn bekehren u. der heilenden Kraft des 2008. Thomas Pittrof Gebets u. der Sakramente vertrauen. Halt u. Geborgenheit bietet zwar die Familie, doch ist sie selbst gefährdet; v. a. die Schwächsten, Kolroß, Johannes, auch: Rhodonthracius, die kranken Kinder u. verhärmten Mütter, Carbinorosa, * um 1490 Kirchhofen bei bedürfen des Schutzes. Staufen/Breisgau oder Hochdorf bei LuErzählendes u. Belehrendes spielt eine zern, † 1558/60 Basel. – Orthograf, Drawichtige Rolle ebenfalls in den 1854 von K. matiker u. Kirchenlieddichter. begründeten »Rheinischen Volksblättern für Haus, Familie und Handwerk«, die unter Ab August 1503 studierte K. in Freiburg i. seiner Herausgeberschaft wöchentlich bis zu Br.; sonst ist über seine Ausbildung nichts 6200 Abonnenten erreichten. In der Gestalt bekannt. Wahrscheinlich aus religiösen des Doktor Fliederstrauch, dem er zwischen Gründen ging er ins protestantische Basel, wo 1854 u. 1859 insg. 73, zu zwölf größeren er seit 1529 an der Barfüßerschule lehrte, die Fortsetzungsreihen zusammengeschlossene in diesem Jahr als erste Lateinschule überEinheiten aus Dialog, Erzählung, Erörterung haupt in eine dt. Knabenvolksschule umgeu. Betrachtung widmete, schuf K. das ge- wandelt wurde.
Komareck
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Ausgaben: Enchiridion (1530). In: Johannes In Zusammenhang mit dem Lese- u. Schreibunterricht entstand sein Encheridion. Müller: Quellenschr.en u. Gesch. des deutschDas ist, hantbüchlin teütscher Orthographi sprachl. Unterrichtes bis zur Mitte des 16. Jh. (Nürnb. 1529. Basel 1530. Zürich 1564); Gotha 1882. Nachdr. Hildesh. 1969, S. 64–91, 414–416. – Eyn schön spil von fünfflerley begleichwohl ist es nicht für den Anfängertrachtnussen den menschen zur Buß reytzende. In: unterricht bestimmt. Es gehört zu den frühen Schweizer Schausp.e des 16. Jh. Hg. Jakob Bächdt. Orthografien, die der v. a. seit dem Spät- told. Bd. 1, Zürich 1890, S. 51–100. – Von fünferlei MA immer hinderlicher gewordenen Inkon- Betrachtnis. In: Dt. Lit. v. Luther bis Tucholsky. gruenz von geschriebener u. gesprochener Bln. 2005 (CD-ROM). Sprache entgegenwirken sollten, u. war u. a. Literatur: Bibliografie: VD 16. – Weitere Titel: als Hilfsmittel für die Lektüre der deutsch- Karl Goedeke: Every-Man, Homulus u. Hekastus. sprachigen Bibel gedacht. Seine vier Teile Hann. 1865, S. 77–86. – Jakob Bächtold: Gesch. der behandeln Buchstabenlehre, Doppelkonso- dt. Lit. in der Schweiz. Frauenfeld 1892, nanten u. -vokale, Kürzungszeichen u. kon- S. 299–301. – J. W. Hess: J. K., erster Lehrer an der ventionelle Abkürzungen ganzer Wörter, dt. Knabenschule zu Barfüßern in Basel. In: Schweizer pädagog. Ztschr. 7 (1897), S. 306–315. – Gebrauch der Majuskeln. M. H. Jellinek: Gesch. der nhd. Grammatik. Bd. 1, Zusammen mit Birck u. Boltz bestimmte K. Heidelb. 1913, S. 53 f.; Bd. 2, 1914, S. 49–51. – W. das Basler Theaterleben der ersten Hälfte des Brändly: Woher stammt J. K.? In: Zwingliana 8 16. Jh. Seine Schauspiele weisen die lehrhafte, (1948), S. 365–367. – Marcus Jenny: Christoffel volkserzieherische Intention der meisten Re- Wyßgerber alias Christophorus Alutarius. In: Basformationsdramen auf. Das bekannteste, Eyn ler Ztschr. für Gesch. u. Altertumskunde 49 (1950), schön spil von fünfferley betrachtnussen den men- S. 53–80. – E. Läuchli: Fünferlei Betrachtnisse v. J. schen zur Buss reytzende (Basel 1532. Augsb. K., ein Basler Drama des 16. Jh. In: Basler Stadt1533. 1535. Wien 1535), vereinigt zwei reli- buch 1960, S. 158–176. – M. Jenny: Gesch. des giös-didakt. Typen: den Jedermannn-Stoff u. deutschschweizer. Gesangbuches im 16. Jh. Basel Motive der Parabel vom verlorenen Sohn. 1962. – Adalbert Elschenbroich: J. K. In: NDB. – Wolfgang F. Michael: Das dt. Drama der ReforEinem Totentanz-Szenarium (Tod u. Teufel, mationszeit. Bln. 1984, S. 224–226. – Christa ProTodsünden, vergnügungssüchtige Jugend u. watke: Auf rechte weis teutsch lesen u. schreiben mahnende Instanzen der geistl. u. weltl. Au- lernen. Zum Anteil der Grammatiker des 16. Jh. an toritäten samt himml. Sphäre) steht eine der Herausbildung nationaler Normen in der dt. Gruppe von Prodigusszenen (Reue u. Bekeh- Literatursprache. In: Wiss. Ztschr. der W.-P.-Univ. rung des Jünglings) gegenüber. Eigenwillig Rostock, Gesellschaftswiss. Reihe 35, H. 8 (1986), ist die Gliederung durch vierstimmige, in S. 41–46. – Karl Dienst: J. K. In: Bautz. – Sigrid sapph. Oden gehaltene Chöre. In ihrem Painter: The school masters as a source for the Reimsystem – Binnenreim u. Dreireim – pronunciation of Early New High German. In: On werden sie kennzeichnend für K. Eine Neu- germanic linguistics. Issues and methods. Hg. Irmengard Rauch u. a. Bln. 1992, S. 233–244. – Detlef bearbeitung erlebte das Stück 1934 durch Roth: J. K. In: HLS. Ingeborg Dorchenas / Red. Cäsar von Arx. Auch auf dem Gebiet des evang. Kirchenlieds hat K. sich hervorgetan. Am bekanntesKomareck, Komarek, Johann Nepomuk, ten sind wohl das Morgenlied Ich dank dir lie* 1757 Prag, † nicht vor 1821 Pilsen. – ber Herre aus dem Zürcher Gesangbuch, So Gott Schauspieler u. Dramatiker. zum Haus nicht gibt sein Gunst (1525) im Zwickauer Gesangbuch, der Gsang umb friden – Der aus Böhmen stammende K. schloss sich eine Bearbeitung von Luthers Verleih uns 1779 in Prag der von Brunian’schen Truppe Frieden gnädiglich – u. das kirchenpolit. Lied an u. wechselte nach zwei Jahren 1781 zum vom Concilio (vor 1553). später von ihm verspotteten Prinzipal Peter Ob die Tragedi wider die Abgottery (1535) al- Ilgener. Mit ihm spielte er in Erfurt u. lein aus K.’ Feder stammt oder ein Gemein- Naumburg. Nach einem Engagement bei der schaftswerk von K., Birck u. Christoffel Schönemann’schen Kindertruppe 1783 in Wyßgerber ist, ist ungesichert. Wittenberg findet man ihn zunächst 1785 in
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Kommerell
Altenburg u. später bis 1789 in Dresden bei alles gut. Pilsen/Klattau/Lpz. 1793. – Schausp.e. Joseph Seconda. Vermutlich mit der Fall- Bd. 1, Lpz. 1793. – Die Dorfparade. Eine ländl. er’schen Truppe kam K. dann nach Eger u. Oper [...]. Pilsen 1797. Literatur: Ernst Kraus: J. N. K. In: Bohemia, Pilsen, wo er 1793 die Tochter seines Verle28.12.1888, Beilage Nr. 359. gers Joseph Johann Morgensäuler heiratete. Andreas Meier In Pilsen erschienen 1797 seine letzten bekannten Werke. Nach 1821 fehlen jegl. HinKommerell, Max, * 25.2.1902 Münsingen weise auf K. bei Ulm, † 25.7.1944 Marburg; GrabstätSeine vorwiegend der heimatl. Geschichte te: ebd., Hauptfriedhof. – Essayist, Lyrientlehnten Stoffe weisen K. als einen der ker, Erzähler, Dramatiker, Übersetzer. ersten böhm. Nationalautoren aus. Vor Schillers Wallenstein dramatisierte er das Die frühe Orientierung an der Reformpädgleiche Thema in seinem vaterländ. Trauer- agogik Gustav Wynekens u. Hans Blühers u. spiel Albrecht Waldstein, Herzog von Friedland literar. Anlehnung an Carl Spitteler gab der (Pilsen 1789. 21792). Auf Ereignisse des Arztsohn während des Studiums in TübinDreißigjährigen Kriegs in Böhmen greift gen, bei Friedrich Gundolf in Heidelberg u. auch das Nationalschauspiel Graf von Thurn von 1921 an in Marburg zugunsten der Lek(Lpz. 1792) zurück, in dessen Vorrede K. sich türe Hölderlins u. Georges auf. Zu diesem antiaufklärerisch gebärdet u. heftig gegen die trat er von 1921 an in ein Schüler- u. JünFranzösische Revolution polemisiert. Böh- gerverhältnis; im Kreis um den Marburger mischer Geschichte sind das den Libussa- Vertrauten Georges, den Historiker Friedrich Stoff dramatisierende Nationalschauspiel Wolters, fand K. bis zum Abschluss seines Przémisl (Pilsen/Lpz. 1793) u. das Trauerspiel Studiums mit einer Jean-Paul-Dissertation Krock (Pilsen 1793. Auch: Deutsche Schau- Bildungsgemeinschaft u. leidenschaftliche bühne, 1793) verpflichtet, wie er auch sein Freundschaft. Zwischen 1924 u. 1928 teilte er auf Benedicte Nauberts Roman Hermann von mit dem geliebten Freund Johann Anton das Unna (1788) zurückgehendes histor. Schau- Wanderleben Georges. Nach dem Bruch mit spiel Ida, oder das Vehmgericht (Pilsen/Lpz. George 1930, dessen Machtanspruch er sich 1792) auf böhm. Schauplätze verlegt. Sein entzog, dem Eintritt ins Berufsleben durch Trauerspiel mit Chören Maria von Montalban, eine germanistische Habilitation in Frankoder Lanassa’s zweiter Theil (Lpz. 1792) basiert furt/M. 1930 (über die Stabkunst des deutschen auf Plümickes Trauerspiel Lanassa (1789). Das Heldenliedes, betreut vom Schweizer Altgerseinem Schwiegervater gewidmete Schauspiel manisten Andreas Heusler), dem Freitod JoDr. Faust von Mainz (Lpz. 1794) geht wie hann Antons 1931 – seinem Gedenken ist Klingers Faust-Roman historisch unkorrekt Michelangelo. Dichtungen und leichte Lieder (Ffm. von der Identität Fausts mit dem Mainzer 1931) gewidmet – u. der Verheiratung ließ sich K. in Frankfurt/M. nieder. An die Stelle Buchdrucker Fust aus. Obgleich K. in der Vorrede zum Graf von Georges trat als literar. Vorbild Hugo von Thurn von einem glückl. Erfolg der Ida Hofmannsthal; neue Freundschaften entspricht, ist außer für den Waldstein, der am standen mit Karl Schlechta u. Karl Reinhardt, 10.4.1791 in Pilsen aufgeführt wurde, u. die Herbert von Buttlar, Hofmannsthals Tochter in Peter von Winters Vertonung als Oper ge- Christiane u. ihrem Mann Heinrich Zimmer, gebene Marie von Montalban (Urauff. Mchn. Ernst Robert Curtius, Rudolf Alexander 1800) eine Wirkung seines Werks nicht Schröder u. Hans-Georg Gadamer, der 1941 die Bekanntschaft mit Heidegger vermittelte. nachweisbar. Infolge der Berufung nach Marburg im selWeitere Werke: Kleiner Beitr. zur teutschen Bühne [...]. 1. Bd., Pilsen u. a. 1791 (darin: Der ben Jahr erweiterte sich der Freundeskreis schwache Mann [...]; Inkle u. Yariko; Die Ankunft. um Rudolf Bultmann u. Werner Krauss. NeEin Vorsp. [...]; Etwas v. Peter Ilgeners Direkzion. ben zahlreichen philolog. Essays über SchilEin Kap., das [...] ein Spiegel für manchen Direk- lers Dramatik, Goethes Gedichte u. seinen teur ist). – Die Versöhnung, oder: Die Liebe macht Faust II, Lessings Dramaturgie, Hölderlin u.
Kommerell
Rilke entstanden Versbände, Übertragungen aus Calderón, Szenisches u. Erzählprosa. K.s Werk ist durch die wissenschaftl. u. literar. Doppelbegabung des Autors geprägt. Die Entwicklung beider Anlagen stand über acht Jahre lang unter dem Einfluss Georges, der K.s Studien über Jean Paul, über Goethe u. Hölderlin u. seine weltliterar. Bildung anregte u. betreute u. seinen pointiert ausgrenzenden Formgebrauch u. die erhöhende Sprachgebärde bestimmte. Sowohl wissenschaftlich als auch literarisch jedoch emanzipierte sich K. allmählich von Georges Vorbild. Stand K.s Studie Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik (Bln. 1928. 21942) noch in der Nachfolge der Heroenmonografien à la Gundolf – sie erschien innerhalb der Geschichtlichen Reihe der Werke aus dem Kreis der »Blätter für die Kunst« –, so vollzog sich später eine auch methodolog. Trennung vom George-Kreis, die sich bereits in K.s Jean-Paul (Ffm. 1933. 51977) abzeichnet. Die Essaysammlung Geist und Buchstabe der Dichtung. Goethe, Kleist, Hölderlin (Ffm. 1940. Erw. 2 1942. Erw. 31944. 51962) steht im Zeichen weltanschaul. Enthaltsamkeit u. hat im »unbefangenen Befragen des Gegenstandes« ihre methodolog. Maxime. Zu K.s Schülern zählen Günter Schulz, Dorothea Hölscher-Lohmeyer u. vor allem Arthur Henkel. Dichterisch entzog sich K. der Poetik Georges bereits vor dem Bruch durch die ihm eigene Lust am individuellen Augenblick, der sich restaurativen Arrangements nicht fügen will. Von den Leichten Liedern an bevorzugte K. das zufällig aufgelesene Bild, die anmutige Freiheit der Assoziation, unpreziöse Reime. Im gleichen Maß entfernte er sich vom Kulturkonservatismus des »Kreises« zugunsten einer Modernität, die er auf den Spuren Jean Pauls entdeckte, dessen »›ausländischen‹ Blick auf die Erdendinge« er beschrieb. Statt des hohen Tons bevorzugte K. im Dichterischen Tagebuch (Ffm. 1935) u. später einen persönlich intimen, mit dem er die Spanne zwischen dem Erhabenen u. der innersubjektiv erfahrenen Wirklichkeit als »Weltalter des Abschieds« ausmaß. Die eigene Zeit deutete er im Spätwerk mit Hofmannsthals Begriff der Verwandlung, als deren labiles Innehalten er das ernste Gedicht u. die parodistisch heite-
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ren Kasperlespiele für große Leute (Krefeld 1948) verstand: »Wo der siegende Wille versagt, wird oft der Puls der großen Rätsel hörbar«. Weitere Werke: Gespräche aus der Zeit der dt. Wiedergeburt. Bln. 1928. – Das letzte Lied. Ffm. 1933. – Mein Anteil. Bln. 1938 (L.). – Die Lebenszeiten. Bln. 1941. – Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern. Bln. 1941. 61979. – Gedanken über Gedichte. Ffm. 1943. 31968. – Mit gleichsam chines. Pinsel. Ffm. 1944. 21946 (L.). – Beiträge zu einem dt. Calderón. 2 Bde., Ffm. 1946. – Die Gefangenen. Trauersp. in 5 Akten. Ffm. 1948. – Briefe u. Aufzeichnungen 1919–44. Aus dem Nachl. hg. v. Inge Jens. Olten 1967. – Dame Dichterin u. a. Ess.s. Mchn. 1967. – Ess.s, Notizen, Poetische Fragmente. Olten 1969. – Gedichte, Gespräche, Übertragungen. Mit einem einführenden Ess. v. Helmut Heißenbüttel. Olten 1973. Literatur: Bibliografien in: M. K.: Briefe u. Aufzeichnungen 1919–44, a. a. O. – Marbacher Magazin 34, 1985 (mit einem Beitr. v. Joachim Storck über M. K.). – Alexander Müller: Forschungsbibliogr. zu M. K. In: M. K. Gött. 2003, S. 91–402 (dazu: Rez. v. Ernst Osterkamp, in: Götting. gelehrte Anzeigen 257, 2005, H. 1/2, S. 115–131). – Weitere Titel: Walter Benjamin: Wider ein Meisterwerk. In: Die Literar. Welt 6 (1930), 33–34, S. 9–11. Auch in: Ders.: Schr.en. Hg. Rolf Tiedemann. Bd. 3, Ffm. 1974, S. 252–259. – Ders.: Der eingetunkte Zauberstab: zu M. K.s ›Jean Paul‹. In: Frankfurter Ztg., 29.3.1934 (unter dem Pseud. K. A. Stempflinger). Auch in: Ders.: Schr.en, Bd. 3, a. a. O., S. 409–427. – Hans Egon Holthusen: M. K. u. die dt. Klassik. In: Ders.: Das Schöne u. das Wahre. Mchn. 1958, S. 38–182. – Arthur Henkel: Nachw. zu: M. K.: Dame Dichterin u. a. Ess.s, a. a. O., S. 240–253. – René Wellek: M. K. as Critic of Literature. In: Teilnahme u. Spiegelung. FS Horst Rüdiger. In Zusammenarb. mit Dieter Gutzen hg. v. Beda Allemann u. Erwin Koppen. Bln./New York 1975, S. 485–498. – Heinz Schlaffer: Die Methode v. M. K.s ›Jean Paul‹. Mit drei Exkursen zu gegenwärtigen Interpretationsmethoden. In: Jb. der Jean-Paul-Gesellsch. 14 (1979), S. 22–50. – Dorothea Hölscher-Lohmeyer: Das moderne Ich. Eine Analyse des Romans v. M. K. ›Der Lampenschirm aus den drei Taschentüchern‹. In: JbDSG 24 (1980), S. 399–418. – Dies.: M. K., der Lehrer. In: JbDSG 29 (1985), S. 558–571 – Gert Mattenklott: M. K. Versuch eines Porträts. In: Merkur 40 (1986), H. 7, S. 541–554. – Joachim W. Storck u. G. Mattenklott: Über M. K. 2 Vorträge. Marburg 1986. – M. K. Spurensuche. Hg. Blanche Kommerell. Mit einem Beitr. v. G. Mattenklott. Gießen 1993. – Claudia Albert: Umrisse eines ›deutschen Calderón‹. M. K.s
Kompert
615 Beitr. im Kontext der Rezeptionsgesch. In: JbDSG 38 (1994), S. 364–378. – Klaus Weimar: Sozialverhalten in literaturwiss. Texten: M. K.s ›Der Dichter als Führer in der dt. Klassik‹ als Beispiel. In: Darstellungsformen der Wiss.en im Kontrast. Hg. Lutz Danneberg u. a. Tüb. 1998, S. 493–508. – Walter Busch: Zum Konzept der Sprachgebärde im Werk M. K.s. In: Geste u. Gebärde. Hg. Isolde Schiffermüller. Innsbr. 2001, S. 103–134. – Karl Robert Mandelkow: Verweigerte Anpassung. Konstanten u. Wandlungen des Klassik-Bildes im literaturwiss. Werk M. K.s. In: Ders.: Ges. Aufsätze u. Vorträge zur Klassik- u. Romantikrezeption in Dtschld. Ffm. u. a. 2001, S. 303–314. – Eva Geulen: Wiederholte Spiegelungen. Formgesch. u. Moderne bei K. u. Preisendanz. In: DVjs 76 (2002), S. 271–284. – Walter Müller-Seidel: Schiller im Verständnis M. K.s. Nachtrag zum Thema ›Klassiker in finsteren Zeiten‹. In: Prägnanter Moment. Studien zur dt. Lit. der Aufklärung u. Klassik. FS Hans-Jürgen Schings. Hg. Peter-André Alt u. a. Würzb. 2002, S. 275–308. – Maurizio Pirro: ›Die entzauberte Tradition‹. M. K. e il modello ermeneutico Georgiano. In: Studi germanici N. S. 40 (2002), H. 1, S. 67–99. – M. K. Leben, Werk, Aktualität. Hg. W. Busch u. a. Gött. 2003. – Kai Köhler: M. K. In: Germanistik u. Kunstwiss.en im ›Dritten Reich‹. Hg. Kai Köhler u. a. Mchn. 2005, S. 399–433. – Matthias Weichelt: Ergänzung u. Distanz. M. K. u. das Phänomen George. In: Wissenschaftler im George-Kreis. Die Welt des Dichters u. der Beruf der Wiss. Hg. Bernhard Böschenstein u. a. Bln./New York 2005, S. 137–158. – Ders.: Gewaltsame Horizontbildungen. M. K.s lyriktheoret. Ansatz u. die Krisen der Moderne. Heidelb. 2006. Gert Mattenklott / Mario Zanucchi
Kompert, Leopold, * 15.5.1822 Münchengrätz (Mnichovo Hradisˇ teˇ/Böhmen), † 23.11.1886 Wien. – Erzähler, Publizist. Als Sohn eines jüd. Wollhändlers besuchte K. das Piaristengymnasium in Jungbunzlau (Mladá Boleslav) u. studierte ab 1838 an der Universität Prag Philosophie. Aufgrund finanzieller Probleme des Vaters musste er jedoch das Studium aufgeben; in der Folge war er in Wien, dann in Ungarn als Hofmeister tätig, u. a. 1843–1847 als Erzieher der Kinder des Grafen Gyulá Andrássy. 1847 kehrte K. nach dem Tod seiner Mutter nach Wien zurück; ein hier begonnenes Medizinstudium brach er 1848 zugunsten einer Tätigkeit als Feuilletonredakteur des »Österreichischen
Lloyd« ab. 1852 nahm er neuerlich eine Stelle als Erzieher an, diesmal bei dem RothschildProkuristen Goldschmidt. 1857 erlangte er durch seine Heirat mit der Tochter des ehem. Vorstands der jüd. Gemeinde in Prest finanzielle Unabhängigkeit. Nach 1857 widmete er sich v. a. seiner literar. Arbeit u. histor. bzw. ästhetischen Studien; daneben trat er als Präsident der Schulsektion im Vorstand der Wiener Israelitischen Gemeinde u. als Landesschulrat für Niederösterreich (ab 1876) energisch für die kulturellen Belange der österr. Juden ein. Seine ersten literar. Arbeiten veröffentlichte K. in der »Pannonia«, dem Beiblatt der »Preßburger Zeitung«, u. in Ludwig August Frankls »Sonntagsblättern«. In der geistigen Tradition des Josephinismus stehend, schilderte er in beinahe allen seinen Werken die Welt des böhm. Ghettos, die er in seiner Kindheit u. Jugend selbst erlebt hatte. Beträchtlichen Erfolg errang K. bereits mit Aus dem Ghetto (Lpz. 1848), einer Sammlung von fünf Erzählungen, in denen er einfühlsam u. mit ungewöhnl. Realistik das Leben der jüd. Bevölkerung darstellt. Als Schöpfer der gattungsgeschichtlich bedeutenden jüd. »Problemnovelle« – die über ein bloßes Genrebild hinausgeht – profilierte sich K. auch in seinen nächsten Werken, so in Neue Geschichten aus dem Ghetto (2 Bde., Bln. 1855). In dem umfangreichen Roman Zwischen Ruinen (3 Bde., Bln. 1875) plädierte er für die Integration von Juden durch Mischehen; in der Assimilation seines Volkes sah er den Weg zur nationalen Größe Deutschlands; außerliterarisch äußerte er sich nicht zu polit. Fragen. Eben diese Tendenz in K.s Werken bewirkte, dass sie weitgehend verdrängt u. vergessen wurden. In den Ghettogeschichten, die alle auf Hochdeutsch verfasst sind, spielt K. mit den verschiedenen Sprachregistern, die seine Figuren je nach Kontext verwenden. 1883 erschien seine letzte Sammlung von Erzählungen, die Verstreuten Geschichten, deren Hauptgegenstand erstmals nicht mehr das Leben böhm. Juden ist. Zu den engsten Freunden K.s zählten neben Frankl auch Laube, Kürnberger, Saar u. Emil Kuh; bes. Einfluss nahm er mit seinem
Koneffke
Schaffen auf Franzos. K. war Mitgl. der Schriftstellervereinigung »Concordia«. Weitere Werke: Böhm. Juden. Wien 1851 (E.en). – Am Pflug. 2 Bde., Bln. 1855 (R.). – Gesch.n einer Gasse. 2 Bde., Bln. 1865. – Franzi u. Heini. Wien 1881 (E.). – Sämtl. Werke. Hg. Stefan Hock. 10 Bde., Lpz. 1906. – Ghetto-Gesch.n. Hg. Burkhard Bittrich. Bln. 1988. – Der Dorfgeher. Gesch.n aus dem Ghetto. Hg. Florian Krobb. Gött. 1997. Literatur: Encyclopaedia Judaica. Das Judentum in Gesch. u. Gegenwart. Hg. Jakob Klatzkin. Bd. 10, Bln. o. J., Sp. 240 f. – Paul Amann: L. K.s literar. Anfänge. Prag 1907. – ÖBL. – Wilma A. Iggers: L. K., Romancier of the Bohemian Ghetto. In: MAL 6 (1973), S. 117–138. – Joseph P. Strelka: L. K. – Erzähler des jüd. Ghetto. In: Die österr. Lit. Ihr Profil im 19. Jh. (1830–1880). Hg. Herbert Zeman. Graz 1982, S. 431–438. – Thomas Winkelbauer: L. K. u. die böhm. Landjuden. In: Conditio Judaica. Hg. Hans Otto Horch u. Horst Denkler. Tl. 2, Tüb. 1989, S. 190–217. – F. Krobb: ›Durch heutige Sprache und Kunstform wieder beleben ...‹. Expressions of Jewish Identity in German Literature around 1848: Salomon Kohn, Hermann Schiff, L. K. In: GLL 49 (1996), S. 159–170. – Ders.: Between Exile and Assimilation: language and Identity in German-Jewish Texts around 1848. In: Exiles and Migrants: Crossing Thresholds in European Culture and Society. Hg. Anthony Coulson. Brighton 1997, S. 43–54. – Anne Fuchs: Mimicry u. Assimilation: L. K.s Ghettogesch.n in postkolonialer Perspektive. In: Das schwierige 19. Jh. HG. Jürgen Barkhoff, Gilbert Carr u. Roger Paulin. Tüb. 2000, S. 497–508. Johannes Sachslehner / Lea Marquart
Koneffke, Jan, * 19.11.1960 Darmstadt. – Lyriker, Roman- u. Kinderbuchautor; Publizist. K., der in Darmstadt, Neu Isenburg bei Frankfurt u. Braunschweig aufwuchs, studierte 1981–1987 an der FU Berlin Germanistik u. Philosophie. Mit einem Villa-Massimo-Stipendium (1995) zog er nach Rom u. blieb dort bis 2003. 2001 trat er eine Gastprofessur für Poetik an der Universität Bamberg an. Heute hält sich der Schriftsteller, Publizist u. Mitherausgeber (2004–2007) u. Redakteur der Zeitschrift »Wespennest« vorwiegend in Wien u. Bukarest auf. In seinem Erzähldebüt Vor der Premiere (Ffm. 1988), einer modernen Parabel auf Rollen- u. Identitätsproblematik, teilt ein
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Regisseur seinem Schauspieler die Rolle des buckligen Hofnarren zu. Die zunächst von Misstrauen u. Versagensängsten gekennzeichnete Rollenadaption verwandelt sich in bereitwillige Identifikation, als sich der Buckel physiognomisch niederschlägt. Im Oxymoron der »vollendeten Krankheit« deutet sich der schmale Grat zwischen patholog. Selbstaufgabe u. bewundernswerter Schauspielkunst an. K.s Gedichtband Gelbes Dienstrad wie es hoch durch die Luft schoß (Ffm. 1989) versammelt frühe Lyrik u. spielt wie viele Gedichte in Was rauchte ich Schwaden zum Mond (Köln 2001) mit der Spannung zwischen Luftraum u. Erdenwelt, Tagseite u. nächtl. Traumreich. Teils romantisierend, teils artistisch-leicht bildet K. reimlose, mit Vorliebe über Enjambements verknüpfte Verse. Die Ambivalenz des Titels Bergers Fall (Ffm.) ist Programm der 1991 erschienenen Krimiparodie: Dadurch dass sich das mysteriöse Verschwinden eines Mannes nicht aufklären lässt, gerät der letzte Fall des Polizisten Berger zu einer Geschichte über den ›Fall‹, den berufl., sozialen u. psych. Abstieg der Polizistenfigur. In Paul Schatz im Uhrenkasten (Köln 2000) reicht die erzählte Zeit von der Weimarer Republik über den Nationalsozialismus bis in die Nachwendezeit. Der halbjüd. Junge Paul Schatz vergöttert seinen Großvater Haueisen, der, obwohl er Hitler verabscheut, die Ehe von Pauls Eltern aus antisemitischer Gesinnung ablehnt. Der analyt. Roman deckt erst am Ende auf, dass Haueisen den Tod der Mutter verschuldete. Während der Großteil der Kritik hinter dem märchenhaften Ton Zeitgeschichte erblickte u. diese prekäre Verbindung deshalb als geglückt aufnahm, sahen andere darin eine Verharmlosung der nationalsozialistischen Geschehnisse. Eine Liebe am Tiber (Köln 2004) knüpft an erzähltechn. Elemente des Vorgängerromans an u. erzählt aus der Perspektive eines Archäologie betreibenden Sohnes, dessen Mutter sich umbringt, eine tragikom. Familiengeschichte. Auch hier enthüllt sich über das Aufdecken eines Kriegsverbrechens des Vaters erst am Ende des Romans ein entscheidendes Motiv. Mit der Haupthandlung verwebt K. weitere Erzählstränge, z.B. den poli-
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Ko(e)nemann von Jerxheim
tisch motivierten eines unrechtmäßig als Ko(e)nemann von Jerxheim, * um 1240, Terrorist verfolgten anarchistischen Studen- † kurz vor 30.7.1316 Goslar (?). – Verfasten. Abschiedsnovelle (Köln 2006) erzählt eine ser mittelniederdt. geistlicher DichtunLiebes- u. Trennungsgeschichte zwischen ei- gen. ner Dolmetscherin u. einem Anwalt: Claires K. entstammte wahrscheinlich dem Ministeanfängl. Leichtigkeit u. Spontaneität, von der rialengeschlecht von Jerxheim, das im nordsich der sachl. Jurist mitreißen lässt, wird im östl. Harzvorland ansässig war. Seine geistl. Erzählfortgang auf Ruhelosigkeit, SprungLaufbahn war vom engen Bezug zu dem behaftigkeit u. Fluchtverhalten durchscheinend deutenden Domstift St. Simon u. Judas in gemacht. Je mehr sie sich zurückzieht, umso Goslar geprägt: Er hatte nacheinander die obsessiver wird seine Liebe zu ihr. K. stellt Stiftspfarreien in Dingelstedt am Huy u. an Johannes das Ideal der Furchtlosigkeit vor St. Thomas in Goslar (1275–1285) inne, Abschied u. Tod gegenüber, indem er ihn das wurde Domherr in Goslar, Vizedominus berühmte, in Rom befindl. etrusk. Liebespaar (1291) u. Dechant (1292–1300), ehe er sich als auf einem Sarkophag betrachten lässt. »scholmestere« am Domstift (1306/07–1315) Eine zentrale Rolle in K.s Werk spielen wieder mehr seiner literar. Arbeit widmete. Tod, Erotik, Zeit, Fragen der Identität u. Um 1270/75 verfasste K. den Kaland, ein Generationskonflikte. Häufig sind in Prosa u. gereimtes Regelbuch (1423 Verse) für den Lyrik Wendungen vom Lustig-Leichten ins Gebrauch der Kalandsbruderschaft in EilenErnsthaft-Existenzielle zu beobachten. Fan- stedt. In diesen Vereinigungen, die seit dem tasie ist in K.s Dichtung Ausdruck von Le- 13. Jh. in Nord- u. Mitteldeutschland verbensgefährdung ebenso wie Überlebensstra- breitet waren, suchten geistl. u. – hier zuerst tegie (Arnold). Während die Kritiker in Bezug belegt – weltl. Männer Freundschaft u. Beiauf K.s Themenwahl geteilter Meinung sind, stand für ein christl. Leben. Aufgrund des herrscht Einigkeit im Lob des klaren, ebenso Statutenbuchs u. einer Predigtsammlung der komplexen wie fantasievoll-lebendigen Stils Bruderschaft legt K. im ersten Teil Entstedes Autors. hung, Zweck u. Gemeinschaftsformen dar; K. erhielt nebst zahlreichen Stipendien u. a. die eschatolog. Überlegungen des zweiten 1987 den Leonce-und-Lena-Preis für Lyrik, Teils ermahnen zur Ausdauer im Kaland. K. 1990 den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt schrieb in der literar. Mischsprache Ostfalens; Homburg u. 2005 den Offenbacher Litera- allerdings überwogen die niederdt. Merkturpreis. male bereits die mitteldt., wie die Abschrift Weitere Werke: Schreiben, Erinnern, Erfinden. seines Werks noch aus dem 13. Jh. zeigt. Sie In: Ulrich Janetzki u. Wolfgang Rath (Hg.): Ten- gehörte dem Eilenstedter, später dem Haldenz Freisprache. Texte zu einer Poetik der acht- berstädter Kaland; dem Oscherslebener entziger Jahre. Ffm. 1992, S. 89–92. – Halt! Paradie- stammen einige Fragmente. 1466 verfasste sischer Sektor! Gedichte u. ein Notizbuch! Mit Johann Stegeler von Osterwieck eine nieÜbers.en v. Paolo Scotini u. sechs Bildern v. Cécile derdt. Nachdichtung; im 17. Jh. benötigte Hummel. Rom 1995. – Gulliver in Bulgarien. Heidelb. 1999 (P.-Miniaturen). – Nick mit den ste- man eine hochdt. Fassung. Beide Bearbeichenden Augen. Mchn. 2004 (Kinderbuch). – Die tungen sind ebenfalls nur im nordöstl. Schönheit des Vergängl. Erinnerung u. ästhet. Er- Harzvorland überliefert. In zwei Doppelblättern aus dem frühen 14. fahrung bei Eduard Mörike. Ffm. u. a. 2004. – Die Schlittenfahrt (zus. mit Jacky Gleich). Weinheim/ Jh. haben sich Bruchstücke aus dem alttestaBasel 2005 (Kinderbuch). – Eine nie vergessene mentl. Teil einer urspr. vollständigen ReimGesch. Köln 2008 (R.). – Die Sache mit Zwille. bibel erhalten, die K. in Anlehnung an die Mchn./Wien 2008 (Jugendbuch). Historia scholastica des Petrus Comestor verLiteratur: Auskünfte von u. über J. K. Hg. fasste. Ferner ist ein Schiedsspruch K.s in eiMonica Fröhlich u. Wulf Segebrecht. Bamberg ner rechtl. Auseinandersetzung des Domka2001. – Sven Robert Arnold: J. K. In: KLG. – Tho- pitels überliefert. Sein umfänglichstes, am mas Kraft: J. K. In: LGL. Raffaele Louis 24.2.1304 in Goslar vollendetes Werk Sunte
Kongehl
Marien wortegarde (Wurzgarten; 6586 Verse) tradiert nur eine niederdt. Sammelhandschrift aus der Mitte des 15. Jh. Der »unghelarde« (V. 6560) findet darin die Heilsgeschichte vergegenwärtigt: Nach dem Sündenfall rechten die vier Töchter Gottes (Wahrheit, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Friede) um die Strafe des Menschen, die Christus auf sich nimmt. Seine Menschwerdung u. Passion verbinden sich mit Marienlob u. Marienklage. Ausgabe: Die Dichtungen K.s. Hg. Ludwig Wolff. Neumünster 1953. Literatur: Eduard Johann Mäder: Der Streit der ›Töchter Gottes‹. Bern/Ffm. 1971, S. 58–66. – Hans Jürgen Rieckenberg: Zur Biogr. des Dichters K. v. J. In: AKG 61 (1979), S. 452–456. – Hartmut Beckers: K. In: VL (Lit.). – Ulrich Mattejiet: K. In: LexMA. – Thomas Frank: Kalandsbruderschaften. In: LThK, 3. Aufl. (Lit.). – Maik Lehmberg: K. In: Braunschweigisches Biogr. Lexikon. 8. bis 18. Jh. Hg. v. Horst-Rüdiger Jarck. Braunschw. 2006, S. 407 (Lit.). – http://www.handschriftencensus.de/werke/ 1965 u. 500. Sabine Schmolinsky
Kongehl, Michael, * 19.3.1646 Creuzburg/ Ostpreußen, † 1.11.1710 Königsberg. – Lyriker, Dramatiker, Epiker. Der Sohn eines Mälzenbrauers studierte nach Schulbesuch in Creuzburg u. Königsberg seit 1661 Theologie u. Jura in Jena u. hielt sich Anfang der siebziger Jahre drei Jahre in Nürnberg auf. 1671 krönte ihn Georg Neumark zum Dichter; 1673 wurde er als »Prutenio« in den Pegnesischen Blumenorden aufgenommen. Seit 1683 war er Sekretär der brandenburgischen Kanzlei in Königsberg. 1696 zum Ratsherrn aufgestiegen, wurde er kurz vor seinem Tod 1710 Bürgermeister auf dem Kneiphof. Mit vielen Dichtern aus dem Baltikum u. Nürnberg stand K. in freundschaftl. Verbindung. K. verfasste etwa 750 Gedichte – darunter zahlreiche Hochzeits- u. Trauergedichte zum Lobpreis »Vieler / theils Lorbeer-Bekröhnten / theils anderwerts Lorbeer- u. Lobwürdigen Häubter« – u. über 500 dt. Epigramme. Nur ein Bruchteil seiner in einem gewandten rhetorischen Stil geschriebenen Gedichte wurde in seine Sammlungen aufgenommen.
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Weite Verbreitung bes. in pietistischen Gesangbüchern fanden einige der geistl. Lieder K.s, am bekanntesten blieb So bleibt dennoch ein gut Gewissen, das schönste Kleinod von der Welt. 1675/76 wurden von K. in Nürnb. mindestens acht kleinere Schriften gedruckt, neben drei schäferl. Gelegenheitsgedichten u. dem Heldenroman Surbosia (1676) zwei Novellen gegen den Krieg, Die vom Himmel herab gestürmte Himmel-Stürmer (1675) u. Das von dem ungerathenen Sausewind versuchte und verfluchte Kriegs-Leben (1675), u. eine Trilogie über Geburt, Passion u. Auferstehung Jesu in Form dreier Hirtengedichte. Nach der Rückkehr nach Königsberg wandte sich K. auch dem Drama zu. Weitere Werke: Gedichtsammlungen: Belustigung bey der Unlust. Königsb. 1683. – Jmmergrünender Cypressen-Hayn. Ebd. 1694. – Lustquartier, neben dem Cypressen-Hayn. Ebd. 1694. – Siegprangender Lorbeerhayn. Ebd. 1700. – Eines vortreffl. Poeten Geist- u. weltl. Gedichte. o. O. 1715 (anonym). – Dramen: Misch-Spiel Die vom Tod erweckte Phönizia. Königsb. 1682 (nach Boccacio). – Der Unschuldig-beschuldigten Jnnocentien Unschuld u. das Lustspiel Der Verkehrte u. Wiederbekehrte Prinz Tugendhold. Ebd. 1691. – Die Unvergleichlich-schöne Princeßin Andromeda. Ebd. 1695. – Handschriften und Briefe: German. Nationalmuseum Nürnberg. Literatur: Bibliografien: Goedeke 3, S. 225, 274, 519. – Fischer/Tümpel 2, S. 132. – Heiduk/Neumeister, S. 61 f., 394. – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 2407–2414. – Weitere Titel: Johann Herdegen: Histor. Nachricht von deß löbl. Hirten- u. BlumenOrdens an der Pegnitz Anfang u. Fortgang [...]. Nürnb. 1744, S. 438-444. – Ludwig v. Baczko: Versuch einer Gesch. der Dichtkunst in Preußen. Königsb. 1824, S. 159–160. – H. Heincke: M. K. In: Altpr. Biogr., Bd. 1, S. 354. – Ders.: M. K. Leben u. Werk eines ostpreuß. Dichters der Barockzeit. Königsb. 1939 (nicht nachweisbar). – DBA. – Andreas Keller: Das Gesamtwerk des Königsbergers M. K. In: Editionsdesiderate zur Frühen Neuzeit. Hg. Hans-Gert Roloff. Amsterd./Atlanta, GA 1997, S. 271–281. – Ders.: M. K. (1646–1710): durchwandert ihn/ gewiß! Ihr werdet anders werden ... Transitorische Textkonstitution u. persuasive Adressatenlenkung auf der Basis rhetor. Geneseprinzipien im Gesamtwerk des Pegnitzschäfers in Preußen. Bln. 2004. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 1035–1038. – Jürgensen, S. 440–446. Renate Jürgensen
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Koninc Ermenrîkes Dôt, eigentl.: Van Dirick van dem Berne. – Mittelniederdeutsche Volksballade des 16. Jh. Das Lied besteht aus 24 Strophen im Hildebrandston. Es ist ohne Melodie u. stark zersungen überliefert: separat (A) als Fliegendes Blatt (wohl Lübeck: Johann Balhorn d.Ä., um 1540) mit Holzschnitt, u. (B) in Joseph L. de Boucks Liederbuch-Fragment zusammen mit einem historisch-polit. Lied, Van Juncker Baltzer; in Joseph L. de Boucks Liederbuchfragment, vermutlich um 1595 bei Johann Balhorn d.J. Dietrich von Bern will den König von »Armentriken« (Ermenrich als Ländername) wegen seiner Grausamkeit (?) aus dem Frankenreich vertreiben. Hildebrand warnt. Von der Zinne herab rät Hildebrands Frau, »Koeninck Bloedelinck«, den erst zwölfjährigen, riesengroßen Sohn einer Witwe, mitzunehmen. Die zwölf Herren kleiden sich wie zum Tanz. Unterwegs passieren sie den »nyen« Galgen, den Ermenrich schon für sie hat errichten lassen. In »Freysack« verwehrt ihnen der treue Torhüter Reinholt von Meilan den Zutritt. Ermenrich lässt sie jedoch vor. Der letzte Dietrichmann verschließt das Tor, damit keiner entkomme. Dann treten sie im Reigen vor Ermenrich u. fragen nach dem Galgen. Als Ermenrich schweigt, enthauptet Dietrich ihn. Alle auf der Burg außer Reinholt werden erschlagen. Blödelinck wird vermisst, doch auf die Klage Dietrichs meldet er sich gesund aus einem Keller zurück. Er prahlt, alle 350 Mann Ermenrichs verwundet zu haben. Dietrich u. seine Gesellen bestehen also ein gefährliches u. am Ende lustiges Abenteuer: ein Episodenlied im balladesken Stil. Szenisch-bildhafte Eindrücke, Versatzstücke aus der Heldenepik, werden lose aneinandergereiht; einzig der Überraschungscoup mit dem nicht mehr trag. Ausgang interessiert. Die heroische Tradition hat ihre Verbindlichkeit verloren u. ist verfügbar geworden. Wo u. wann das zuerst geschah, liegt im Dunkeln. Das Jüngere Hildebrandslied mag den Anstoß gegeben haben. Dänische Kämpeviser bieten Berührungspunkte. Das Lied hat jedenfalls teil an jenem Austauschprozess zwischen
Koninc Ermenrîkes Dôt
nord. u. oberdt. Heldendichtung, in welchem die niederdt. Literatur die Mittlerrolle spielte. Als stoffgeschichtl. Superstrat tritt – schon den Namen nach – die Anbindung an die histor. Dietrichepik zutage. Dietrichs Klage um Blödelinck erinnert an jene um die toten Etzelsöhne in der Rabenschlacht. Bindeglied ist v. a. Ermenrich als Gegenspieler, doch von Dietrichs Exil u. Heimkehr ist nicht die Rede. Als eigentl. Substrat zeichnen sich vielmehr die Harlungen- u. die Svanhildsage ab: »Freysack« klingt nach Friesach, aber die Heldensage kennt nur Breisach als Sitz der Harlungen. Der »neue« Galgen spielt auf den älteren für die Harlungen an, deren Tod jetzt Dietrich an Stelle Eckarts an Ermenrich zu rächen scheint. Der Rachezug für die beiden Harlungen hat sich womöglich mit dem der beiden Svanhild-Brüder vermischt, von dem u. a. das nord. Hamdirlied erzählt. Hamdir u. Sörli können Ermenrich an Händen u. Füßen verstümmeln, aber nicht enthaupten. Dazu fehlt ihnen der hunn. Halbbruder. Auch Blödelinck fehlt im entscheidenden Augenblick, ohne aber noch ein unentbehrl. Helfer zu sein. So überlebt in Gestalt der Ballade eine Sage, die erste Konturen bei Jordanes im 6. Jh. gewann. Ausgaben: Ermenrichs Tod. In: Dt. Volkslieder. Bd. 1: Balladen. Erster Tl. Hg. John Meier. Bln./ Lpz. 1935, Nr. 2, S. 21–27. – [ohne Titel]. In: Epochen der dt. Lyrik. Hg. Walther Killy. Bd. 3: Gedichte 1500–1600 [...]. Hg. Klaus Düwel. Mchn. 1978, S. 181–184 (mit Übers.). – Hilkert Weddige: K. E. D. Die niederdt. Flugschr. ›Van Dirick van dem Berne‹ u. ›Van Juncker Baltzer‹. Überlieferung, Komm., Interpr. Tüb. 1995 (Lit.). Literatur: Helmut de Boor: Das niederdt. Lied von ›K. E. d.‹ (zuerst 1922). In: Ders.: Kleine Schr.en. Bd. 2. Hg. Roswitha Wisniewski u. Herbert Kolb. Bln. 1966, S. 42–57. – Walther Kienast: Hamdismal u. ›K. E. d.‹. In: ZfdA 63 (1926), S. 49–80. – Hans Fromm: Das Heldenzeitlied des dt. HochMA. In: Neuphilolog. Mitt.en 62 (1961), S. 94–118. – Ernst Erich Metzner: Zur frühesten Gesch. der europ. Balladendichtung [...]. Ffm. 1972. – Walter Haug: ›E. d.‹ In: VL (Lit.). – Claudia Händl: K. E. d. nella tradizione eroica germanica. In: Annali. Sezione Germanica N. S. 4 (1994), S. 97–124. Hilkert Weddige / Red.
Konjetzky
Konjetzky, Klaus, * 2.5.1943 Wien. – Lyriker, Prosaist, Literaturkritiker. K. lebt seit 1949 in München; die Familie musste infolge der Kriegswirren Österreich verlassen. Seit dem Studium der Geschichte, Philosophie u. Germanistik (bis 1971) arbeitet er als freier Autor, Lektor u. Redakteur. Er ist Mitbegründer der »Wortgruppe München links« (1972) u. war Mitherausgeber verschiedener Zeitschriften, u. a. des »kürbiskern«. Durch seine offenen Literaturkonzepte geriet K. zunehmend in ideolog. Konflikte mit dem von der DKP abhängigen Verlag der Zeitschrift, deren Einstellung (1987) er zum Anlass nahm, seine Einlassung auf das Umfeld der DKP rückblickend als Missverständnis u. Illusion zu bezeichnen. In seinen Texten stellt K. eigene Erinnerungen dem histor. Kontext gegenüber, »die eigenen kleinen Kopf-Bilder und das große Geschichts- und Menschenbild [...]«. »Erinnerungsfähigkeit«, so K., »konstituiert Literatur. [...] Literatur stellt Identität her. [...] Identität mit den Brüchen, den Widersprüchen« (Literatur macht heimisch in der Welt. In: kürbiskern, 1987, H. 2, S. 10–23). Weitere Werke: Grenzlandschaft. o. O. 1966 (L.). – Perlo peis ist eine isländ. Blume. Mchn. 1971 (E.en). – Für wen schreibt der eigentlich? (zus. mit Manfred Bosch). Mchn. 1973 (Dokumentation). – Poem vom grünen Eck. Mchn. 1975. – Was interessiert mich Goethes Geliebte? Tendenziöse Gedanken u. Gespräche über Lit. u. Wirklichkeit. Mchn. 1977. – Die Hebriden. Mchn. 1979 (L.). – Hauskonzert in h. Ffm. 1980 (Theaterstück). – Am anderen Ende des Tages. Mchn. 1981 (R.). – Die Lesereise. Leonberg 1987. Gerhard Lampe
Pfaffe Konrad, zweite Hälfte des 12. Jh. – Verfasser des deutschen Rolandsliedes. K. nennt sich im Epilog des dt. Rolandsliedes »phaffe«, d. i. niederer Geistlicher mit auch außerkirchl. Aufgaben. Es war offenbar für den Welfenhof (in Regensburg? in Braunschweig?) tätig u. übersetzte im Auftrag des Herzogs Heinrich u. dessen Gemahlin die altfrz. Chanson de Roland in dt. Reimpaarverse. Diese Auskunft des Epilogs ist jedoch so vieldeutig, dass es lange als unentscheidbar galt, ob Heinrich der Stolze (1126–1138),
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Heinrich Jasomirgott (1143–1156) oder Heinrich der Löwe (1155–1180) gemeint sei. Heute gelten Heinrich der Löwe u. seine Gemahlin Mathilde, Tochter des engl. Königs Heinrichs II. u. der Eleonore von Aquitanien, als Auftraggeber. Man nimmt an, dass die im Epilog gefeierte außergewöhnl. Bußleistung des Herzogs auf dessen Pilgerfahrt ins Hl. Land zu beziehen ist u. datiert das dt. Rolandslied auf die Zeit um 1172. Die vom Herzogspaar vermittelte altfrz. Vorlage ist mit keiner der überlieferten Versionen der Chanson de Roland identisch, am nächsten steht ihr die Oxforder Handschrift. Ungeklärt ist, woher K. die Vorgeschichte (Entrée d’Espagne) bezogen hat. Entweder sind hier nicht mehr greifbare mündl. Traditionen eingeflossen oder die dem dt. Bearbeiter vorliegende altfrz. Version enthielt bereits eine entsprechende Erweiterung. Die altfrz. Chanson de Roland ist wohl um 1100 entstanden. Sie behandelt den histor. Spanienfeldzug Karls des Großen von 778 u. verklärt den verlustreichen Überfall auf das heimkehrende Heer in den Pyrenäen (vgl. Einhards Vita Karoli Magni): Karl der Große hat sieben Jahre lang in Spanien Krieg geführt. Da erklärt der Heidenkönig Marsilies in trüger. Absicht, sich ergeben zu wollen. Karl berät sich mit seinen Vasallen u. folgt dem Vorschlag seines Vasallen Roland, dessen Stiefvater Ganelon als Unterhändler einzusetzen. Dieser muss um sein Leben fürchten u. sagt Roland Fehde an für den Fall, dass er unversehrt zurückkehrt. Ein Waffenstillstand wird vereinbart u. die Franken ziehen ab. Ganelon aber hat sich mit den Heiden verbündet u. ein Komplott geschmiedet. Marsilies überfällt Roland, der mit Olivier u. einer kleinen Christenschar die span. Mark sichern soll u. sich stolz weigert, das kaiserl. Heer durch ein Hornsignal zurückzurufen. Erst als die Christen aufgerieben sind, sendet er das Signal aus u. stirbt als letzter. Karl kehrt um, beklagt die Toten u. vernichtet die fliehenden Heiden. Marsilies ruft Baligant, das Oberhaupt aller heidn. Reiche, zu Hilfe. In einer grausamen Racheschlacht siegt der christl. Kaiser über das unermessl. Heer der Heiden. Nach der Rückkehr hält Karl in Aachen Gericht. Ganelon beruft sich auf sein Fehde-
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Konrad
Ausgaben: Rolandslied. Vollfaks. des Codex Parecht, deshalb muss ein Gottesurteil entscheiden. Ganelon unterliegt u. wird zum latinus Germanicus 112. Einf. Wilfried Werner u. Heinz Zirnbauer. Wiesb. 1970. – Rolandslied. Hg. Tod durch Vierteilung verurteilt. Der dt. Bearbeiter musste die altfrz. Chan- Carl Wesle. Bonn 1928. 3., durchges. Aufl. besorgt v. Peter Wapnewski. Tüb. 1985. – Das Rolandslied son de Roland nicht nur in seine eigene Sprache des P. K. Mhd./Nhd. Hg., übers. u. komm. v. Dieter übertragen (über eine lat. Zwischenfassung), Kartschoke. Stgt. 1993. Durchges. Ausg. 1996 (Lit.). sondern er musste sie auch einem veränderLiteratur: Eberhard Nellmann: P. K. In: VL. – ten gesellschaftl. Kontext u. den polit. Inter- Jeffrey Ashcroft: Magister Conradus Presbyter: P. essen seiner Auftraggeber anpassen, die be- K. at the Court of Henry the Lion. In: D. S. Brewer stimmt waren durch die 1165 in der Kano- (ed.): Literary Aspects of Courtly Culture. Camnisation kulminierende Karlsverehrung, die bridge, U. K. 1994, S. 301–308. – ›Chanson de Roseit der Jahrhundertmitte auch die dt. Länder land‹ u. ›Rolandslied‹. Actes du Colloque du Centre überziehende Kreuzzugsbewegung u. durch d’Etudes Médiévales de l’Université de Picardie Jules Verne 11 et 12 janvier 1996. Greifsw. 1997. – den imperialen Anspruch Heinrichs des LöBarbara Gutfleisch-Ziche: Zur Überlieferung des wen. Die Geschichte des Verrats, die Frage dt. ›Rolandliedes‹. Datierung u. Lokalisierung der nach Recht u. Unrecht Ganelons, nach der Hss. nach ihren paläograf. u. schreibsprachl. EiRolle des Kaisers u. der Funktion seiner Va- genschaften. In: ZfdA 125 (1996), S.142–186. – sallen waren nicht ohne weiteres in die ver- Eckart Conrad Lutz: Zur Synthese klerikaler trauten Vorstellungen der Verhältnisse im Denkformen u. laikaler Interessen in der höf. Lit. Reich zu transferieren. Deshalb bemühte sich Die Bearbeitung einer Chanson v. Karl u. Roland K. um eine geistl. Interpretation des Gesche- durch den P. K. u. das Helmarshauser Evangeliar. hens u. formte die altfrz. Chanson de Roland in In: Pfaffen u. Laien – ein mittelalterl. Antagonismus? Hg. E. C. Lutz u. Ernst Tremp. Tüb. 1999, ein dt. Kreuzzugsepos um. Stilgeschichtl. S. 57–76. – Bernd Bastert: ›Wie er das gotes rîche steht das dt. Rolandslied noch ganz im Banne gewan ...‹. Das ›Rolandslied‹ des Klerikers K. u. der der älteren geistl. Dichtung des 12. Jh. Be- Hof Heinrichs des Löwen. In: Courtly literature and sonders auffällig sind die Anklänge an die dt. clerical literature. Hg. Christoph Huber u. Henrike Kaiserchronik, als deren (Mit)Verfasser K. lange Lähnemann. Tüb. 2002, S.195–210. – D. Kartschoke: Dt. Lit. am Hof Heinrichs des Löwen? In: angesehen wurde. Das dt. Rolandslied hat bald nach seiner Heinrich der Löwe. Herrschaft u. Repräsentation. Entstehung weite Verbreitung gefunden, wie Hg. Johannes Fried u. Otto Gerhard Oexle. Ostfildern 2003, S.83–134. Dieter Kartschoke die für die dt. Literatur dieser Zeit ungewöhnlich reiche Überlieferung ausweist. Außer der einzigen (fast) vollständigen Heidel- Priester Konrad. – Kompilator einer berger Handschrift (P) sind fünf größere und deutschen Musterpredigtsammlung von kleinere Fragmente erhalten, die alle noch Predigten des 12. u. 13. Jh. dem 12. Jh. angehören. Seinen Siegeszug trat In der lat. Vorrede der Wiener Handschrift das Rolandslied jedoch erst in der moderni- cod. 2684* (W1) aus dem dritten Viertel des sierenden Bearbeitung durch den Stricker aus 13. Jh.s beschreibt ein Cu8 nradus presbiter die dem zweiten Jahrzehnt des 13. Jh. an. In Funktion seines Predigtbuchs als Predigthildieser Form gehörte es zu den meistgelesenen fe. Die These der früheren Forschung, in P. K. dt. Dichtungen des MA. Literarische Nach- einen der beiden Augustiner Chorherren nawirkungen zeigen sich vor allem im Willehalm mens Konrad am Hof der Fürstbischöfe von Wolframs von Eschenbach, der direkt an das Brixen in der zweiten Hälfte des 12. Jh. zu Geschehen im Rolandslied anschließt u. wie- sehen, beruht auf der Annahme, dass die derholt seinen Wortlaut zitiert. Aus späterer Vorlage der Handschrift noch im 12. Jh. entZeit ist die niederdt. Kompilation von Karls- standen sei. Sprachl. u. inhaltl. Indizien geschichten im sog. Karlmeinet zu nennen, die weisen auf eine Entstehung der Sammlung als fünften Teil die Geschichte von Karls im Südosten des dt. Sprachraums. Da jedoch Spanienfeldzug enthält u. streckenweise er- nur 15 der 167 Musterpredigten P. K.s über kennbar auf das Rolandslied zurückgeht. Parallelüberlieferungen in Sammlungen u.
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Fragmenten aus der Zeit um 1200 verfügen, Vorlagen sind für keine der Predigten nachist die Annahme einer frühen Entstehung des zuweisen. Dagegen zieht die Sammlung dt.sprachige Quellen heran, deren ÜberliefePredigtbuchs in Tirol nicht zwingend. Die im Predigtbuch des Priesters Konrad über- rung bis in die zweite Hälfte des 12. Jh. zulieferten Predigten werden zum Corpus der rückreicht, u. übernimmt aus diesen komca. 870 Einzelpredigten umfassenden frühen plette Predigttexte. Das Predigtbuch ist durch dt. Predigt (produktive Phase ca. 1170–1230) Parallelüberlieferungen einzelner Predigten gerechnet. Die Predigten sind nach dem Kir- mit zahlreichen anderen Sammlungen u. chenjahr geordnet, beginnend mit dem Fragmenten der Frühen dt. Predigt verWeihnachtsfest. In die Predigten des Tem- knüpft, die untereinander ebenfalls Überlieporale sind – typisch für diese für die Hand ferungsgemeinschaften aufweisen. 55 Predes Seelsorgers gedachten Musterpredigt- digten (davon 21 bei P. K.) finden sich in sammlungen – blockweise Heiligenpredigten mindestens zwei dieser Sammlungen oder u. Predigten des Commune Sanctorum ein- Fragmente, so dass man von einem »Übergefügt. Zusätzlich finden sich im Predigtbuch lieferungskomplex P. K.« sprechen kann, zu jedoch auch zahlreiche Predigten des Sanc- dem die Rothsche Sammlung, Hoffmanns Bruchtorale u. des Commune im Anschluss an die stücke, die Haller Bruchstücke, die Proveiser Bruchstücke, Strauchs altdeutsche Predigten aus Predigten des Temporale. Zur Anlage der Sammlung gehört es, für Cgm 4880, die Basler Predigten, die Hoffmannsche jeden Predigtanlass nach Möglichkeit mehr Sammlung, die Oberaltaicher Sammlung u. die als eine Predigt zur Verfügung zu stellen. Für Tiroler Predigten zu zählen sind. Die Überliedie Sonntagspredigten bedeutet dies, dass es ferung von Strauchs altdt. Predigten zusammen zumeist eine Epistel- u. eine Evangeliums- u. a. mit Marquards von Lindau Dekalogtraktat predigt gibt. Die systemat. Verwendung der u. Exzerpten aus Heinrich Seuses Büchlein der Epistel ist ein Charakteristikum, das für die ewigen Weisheit in dem Münchner Codex Cgm frühe dt. Predigt ungewöhnlich ist. Inhaltlich 4880 v. J. 1451 belegt den Funktionswechsel nehmen Epistel- u. Evangelienpredigt meist früher dt. Predigten von der Musterpredigt aufeinander Bezug. Parallel zur Anlage der zur Privatlektüre u. zeigt, dass Predigten aus Sonntagspredigten bietet P. K. auch bei den dem »Überlieferungskomplex P. K.« noch im Fest- u. Heiligenpredigten neben dem Evan- 15. Jh. als Erbauungsliteratur dienten. geliumstext bzw. der Heiligenlegende eine Ausgabe: Anton E. Schönbach (Hg.): Altdt. Prezusätzl. Predigt, die den Text der Lectio aus digten. Bd. 3., Graz 1891. Nachdr. Darmst. 1964. der Tagesliturgie behandelt. Manchmal geht Literatur: Volker Mertens: Das Predigtbuch der Kompilator bei weiteren Predigten zu des P.s K. Überlieferung, Gestalt, Gehalt u. Texte, einem Anlass aber auch assoziativ vor: In Mchn. 1971. – Ders.: P. K. In: VL. – Karin Morvay u. mehreren Fällen wählt er zu einem in der Dagmar Grube: Bibliogr. der dt. Predigt des MA. Liturgie erwähnten Wort eine entsprechende Veröffentlichte Predigten. Mchn. 1974, S. 18–21, alttestamentl. Passage als Predigttext aus. Sigle T 25. – Regina D. Schiewer: Die dt. Predigt um 1200. Ein Hdb. Bln. 2008. Regina D. Schiewer Hierin unterscheidet sich das Predigtbuch deutlich von anderen frühen dt. Predigtsammlungen. Ebenfalls ungewöhnlich sind Konrad von Ammenhausen, * etwa wortwörtl. Übernahmen ganzer Passagen aus 1280/90, † etwa Mitte des 14. Jh. – Vereiner in eine andere Predigt der Sammlung. fasser eines Schachbuchs. Diese Technik ist im Predigtbuch wiederholt zu beobachten. Die längste u. im SpätMA beliebteste VersHinsichtlich ihrer katechetischen Inhalte bearbeitung des Schachbuchs von Jacobus de unterscheiden sich die Predigten P. K.s nicht Cessolis wurde 1337 von einem Autor vollvon dem, was die Frühe dt. Predigt bietet: endet, der sich nur versteckt im SchlussGrundlegende Kenntnisse bibl. Kerntexte u. akrostichon seines Werks zu erkennen gibt basale Glaubensinhalte werden hier einem (VV. 19.233–19.336): »Cuonrat von AmmenLaienpublikum vermittelt. Unmittelbare lat. husen«, Mönch u. Leutpriester in Stein am
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Rhein. 1324, 1328 u. 1335 ist dort im Benediktinerkloster St. Georgen ein Konventuale aus Ammenhausen (südöstlich von Stein) belegt. K. bezeichnet sich als »niht gar alt« (V. 14.052, 14.588) zur Zeit seiner Arbeit u. spielt mehrfach auf Reisen an (Chur, Konstanz, Frankreich, Provence); häufiger bezieht er sich auf Schwaben. K.s Schachzabelbuch gilt als die älteste sicher datierbare, deutschsprachige Fassung des lat. Prosatraktats Liber de moribus hominum et de officiis nobilium sive de ludo scaccorum, den der oberital. Dominikaner Jacobus de Cessolis (bezeugt 1317–1322 im Konvent zu Genua) aufgrund seiner Predigten über die im Schachspiel enthaltenen Bedeutungen verfasst hatte. In der Form einer Allegorie werden alle Schachfiguren, ihre Züge u. das Schachbrett (»zabel« = lat. »tabula«) beschrieben, in Hinsicht auf ihre Funktionen in der Gesellschaft ausgelegt u. mit Exempeln illustriert. Der Nutzen des Spiels erwächst aus der Lehre über die weltl. Stände u. ihre Pflichten; Schachallegorien gehören zu der v. a. im SpätMA sehr verbreiteten didakt. Literatur u. sind bis gegen Ende des 15. Jh. zahlreich überliefert. K.s alemann. Bearbeitung in Paarreimen (19.336 Verse) erweitert die lat. Vorlage beträchtlich. In einer eigenen Vorrede vor Jacobus’ Prolog bezeichnet er als intendiertes Publikum »tugenthafte«, die – unabhängig von ihrem Stand – »zuht und êre« in seinem volkssprachl. Werk besser als in dt. »üpig maere« erfahren könnten (VV. 115–117, 144–160, 180–191). In den vier Teilen des Traktats handelt er, mit unermüdlich wiederholtem Bezug auf seine Quelle, von der Erfindung des Spiels, den Adligen in Gestalt der großen u. den »gemeinen« Handwerksleuten als den kleinen Steinen sowie vom Schachbrett u. den Zügen der Figuren. Ein oriental. Philosoph erdachte das Spiel, um den tyrannischen König Evilmoradach zu bessern, Müßiggang zu verhindern u. die menschl. Neugier auf Unbekanntes zu befriedigen. König u. Königin, die »alten« als Richter (mlat. »alphilus«, heute Läufer), die Ritter (heute Springer) u. die Rochen als Landvögte (mlat. »roccus«, heute Turm) werden nach ihrem Aussehen beschrieben u.
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die von ihnen geforderten Eigenschaften dargelegt. Wie Jacobus befürwortet K. das Erbkönigtum; über seine Vorlage hinaus erfasst er die Geistlichkeit im Rahmen des kanonischen Rechts (VV. 4350–4377) u. in einer Klage über die allgegenwärtige Habgier (VV. 4708–4739). Die »venden« (mlat. »pedes«, heute Bauern) bedeuten die mittelalterl. Berufe, die – durch Attribute bezeichnet – zu mehreren in einer Figur vereinigt sein können: 1. Bauer; 2. Schmied, Maurer u. Zimmermann (einschließlich der Seeleute); 3. Weber, Färber, Tuchscherer, Schneider, Bartscherer, Metzger, Gerber, Schuster, Kürschner, Hutmacher, Sattler u. Schreiber (einschließlich der Jäger); 4. Kaufmann u. Geldwechsler; 5. Arzt u. Apotheker; 6. Schank- u. Gastwirt; 7. Stadtwächter, Gemeinde- u. Zollbeamter; 8. Verschwender, Spieler, Bote (einschließlich Kundschafter). Den bei Jacobus fehlenden Müller möchte K. in einem Nachtrag als einen zweiten »venden« verstanden wissen (VV. 18.997–19.162). Die Vielfalt seiner auch historisch aufschlussreichen Darstellung nützt K. insbes. zur Ständekritik; sachkundig prangert er berufsspezif. Laster u. Betrügereien an. Im letzten Teil der Dichtung erscheint das Schachbrett als Bild der Stadt Babylon oder eines Königreichs oder der ganzen Welt; Stellung u. Züge der Figuren werden als Beziehungen u. Handlungsweisen der Stände interpretiert. Durch die Fülle des gegenüber seiner Quelle u. den anderen dt. Versbearbeitungen (Heinrich von Beringen; Pfarrer zu dem Hechte, mitteldt. 1355; Stephan von Dorpat, mittelniederdt. vor 1375) vermehrt kompilierten Wissens, z.B. durch Einbezug des Corpus iuris canonici als Quelle, durch die Spannweite seines Werks von zeitgeschichtl. Anspielungen bis zu – ebenfalls reichlich vermehrten – Exempelerzählungen aus antiken u. patrist. Autoren wurde K.s Version lehrhafter Gebrauchstext für ein breit intendiertes, tatsächlich v. a. adliges u. patrizischstadtbürgerl. Laienpublikum. Ihre Beliebtheit bezeugt die erhaltene Überlieferung des 14. u. 15. Jh. in 22 meist südschwäbischnordschweizerischen u. elsäss. Handschriften u. Fragmenten; teils stammen sie aus der
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Werkstatt Diebold Laubers in Hagenau. Ein Volker Honemann (Hg.): Chess and Allegory in the Drittel von ihnen ist – teils sehr qualitätsvoll Middle Ages. A collection of Essays [...]. Stockholm – illuminiert: Der traditionelle Grundzyklus 2005, S. 57–97, bes. S. 87–93. – Pamela Kalning: der Repräsentationsbilder der Stände wird oft Der Ritter auf dem Schachbrett. Ritterl. Tugenden im Schachzabelbuch K.s v. A. In: ebd., S. 173–215. erweitert u. ausdifferenziert, indem typisierte – O. Plessow: Mittelalterl. Schachzabelbücher zwiBerufsbilder oder auch Ereignisbilder als schen Spielsymbolik u. Wertevermittlung. Der Miniaturen zu Exempeln auftreten. Zudem Schachtraktat des Jacobus de Cessolis im Kontext sind viele, z.T. illustrierte Inkunabeln erhal- seiner spätmittelalterl. Rezeption [...]. Münster ten. 2007. – http://www.handschriftencensus.de/ In dem 1432 entstandenen Guldîn spil be- werke/820. Sabine Schmolinsky nutzte Meister Ingold für das Schachspiel auch K.s Fassung des Traktats. Johannes von Konrad von Fußesbrunnen,* um 1160. Morschheim dürfte sie bei der Abfassung – Verfasser des mittelhochdeutschen seines Spiegel des Regiments 1497 vorgelegen Reimpaarepos Die Kindheit Jesu. haben. 1507 erschien in Konstanz Jakob Mennels/Manlius’ Kurzfassung von K.s Werk K. war Angehöriger eines edelfreien Geim Druck; zwei andere Ausgaben folgten schlechts, benannt nach dem niederösterr. 1520 u. 1536. K.s Einfluss erstreckte sich Ort Fußesbrunn (heute Feuersbrunn bei vielleicht auf weitere Texte, aber Ähnlich- Krems). Sein zwischen 1195 u. 1220 entstankeiten u. gemeinsame Quellen der didakt. u. denes Werk demonstriert die Beherrschung ständekrit. Literatur lassen einzelne Rezepti- des Erzählstils u. des Formelrepertoires der höf. Epik; außerdem war K. mit dem Lateionsvorgänge schwer erkennen. Ausgaben: Das Schachzabelbuch Kunrats v. A. nischen u. der frz. Hofsprache gut vertraut. Hg. Ferdinand Vetter. Frauenfeld 1887–92 (außer- Die Zahl der ganz oder teilweise erhaltenen dem Jacobus de Cessolis u. Mennel/Manlius). – Das Handschriften (12), die Einarbeitung in PasSchachzabelbuch. Die Illustrationen der Stuttgarter sional u. in Philipps des Kartäusers MarienleHs. Hg. Carmen Bosch-Schairer. Göpp. 1981 ben, eine Umsetzung in lat. Prosa sowie die (Faks.). – K. v. A. Das Schachzabelbuch. Farbmi- lobende Erwähnung durch Rudolf von Ems krofiche-Ed. der Hs. Hamburg, Staats- u. Univer- bezeugen durchgehende Bekanntheit u. sitätsbibl., Cod. 91b in scrinio. Literar- u. kunst- Wertschätzung bis ins 14. Jh. Wichtig ist der histor. Einf. v. Karin Lerchner. Mchn. 2000. Befund, dass das umfangreiche Fragment L Literatur: Heinz-Jürgen Kliewer: Die mittel- einen Teil des berühmten St. Galler Codex alterl. Schachallegorie [...]. Gießen 1966. – Norbert 857 aus dem zweiten Viertel des 13. Jh. bilH. Ott: K. v. A. In: NDB. – Burkhard Malich: Der dete. Die Handschrift enthält neben K. v. F. Arzt in der Darstellung des K. v. A. In: Wolfram Wolframs von Eschenbach Parzival u. WilleKaiser u. Arina Völker (Hg.): Ethik in der Gesch. v. halm, das Nibelungenlied u. Karl den Großen des Medizin u. Naturwiss.en. Halle/S. 1985, S. 46–53. – Gerard F. Schmidt: K. v. A. In: VL u. VL (Nachträge Stricker. Man sieht hier die Kindheit Jesu in u. Korrekturen). – Karl-S. Kramer: Bauern, Hand- repräsentativ-höf. Umgebung eine Generatiwerker u. Bürger im Schachzabelbuch. Mittelalterl. on nach ihrer Entstehung. Diese Zuordnung Ständegliederung nach Jacobus de Cessolis. Mchn./ ist durchaus passend, da es sich um die höfiBln. 1995. – Wolfgang Dittmann: Zur Erfindung sierende Bearbeitung einer lat. geistl. Prosades Schachspiels im ›Schachzabelbuch‹: Die er- quelle durch einen ritterl. Laiendichter hanzählte Primär-Rezeption bei K. v. A. In: Harald delt. Haferland u. Michael Mecklenburg (Hg.): ErzähNach dem Prolog soll das Werk auch ein lungen in Erzählungen. Phänomene der Narration Zeugnis tätiger Reue über eigene weltl. Juin MA u. Früher Neuzeit. Mchn. 1996, S. 303–326. genddichtung sein. Da sonst von dieser nichts – Karin Lerchner: Wissenssystem u. Gesellschaftsethik im ›Schachzabelbuch‹ K.s v. A.: Zum Ver- bekannt ist, muss die Frage mögl. Topik offen ständnis der ›artes mechanicae‹ in Text u. Bild. In: bleiben. Forschungshypothesen, die das verJOWG 11 (1999), S. 333–349. – Oliver Plessow: lorene Jugendwerk mit dem Nibelungenlied Kulturelle Angleichung u. Werteuniversalismus in identifizieren (Hansen 1987), sind nicht den Schachzabelbüchern des MA. In: Olle Ferm u. haltbar.
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Das von Prolog u. Epilog eingerahmte Epos wahrscheinlich zu machen ist – an die Kinderzählt in 3027 paarweise gereimten Versen heit das Epos von Tod u. Himmelfahrt Maridas Leben der Jungfrau Maria von ihrer Ver- ens des eine knappe Generation jüngeren mählung mit Joseph bis zur Rückkehr aus Konrad von Heimesfurt anschloss. Auch in Ägypten. Auf der Flucht wird die Hl. Familie der Prosaparaphrase des um 1330 »für die von einem Straßenräuber gefangen, der sie ungelehrten Laien« abgefassten Klosterneuaber unter dem Eindruck von Kind u. Mutter burger Evangelienwerks, wo die Dichtung in in sein Haus lädt, sie bewirtet u. beherbergt. eine Perikopenglosse eingearbeitet ist, ist sie Auf dem Rückweg ins Hl. Land sind die drei Bestandteil eines evangelisch-mariolog. Zynoch einmal seine Gäste. Ein höfisch-zere- klus in deutl. Nähe zu gottesdienstl. Auslemonielles Festmahl mit Nachtlager u. Weg- gung. geleit am kommenden Morgen stellt den Ausgaben: Die Kindheit Jesu. Krit. Ausg. v. Hans Höhepunkt des Ganzen dar. Der bekehrte Fromm u. Klaus Grubmüller. Bln./New York 1973. Räuber ist der gute Schächer des Evangeli- – Die Kindheit Jesu. Ausgew. Abb.en zur gesamten ums. Den Schluss bilden Wundertaten des handschriftl. Überlieferung. Hg. dies.n, Kurt Christuskindes, das in Nazareth die Schule Gärtner u. Konrad Kunze. Göpp. 1977. Literatur: Achim Masser: Bibel- u. Legendenbesucht, u. a. die Auferweckung eines Schulkameraden, die Belebung von Tonvögeln u. epik des dt. MA. Bln. 1976, S. 95–98. – H. Fromm: die Zurechtweisung eines groben Schulmeis- K. v. F. In: VL. – Joachim Bumke: Gesch. der dt. Lit. im hohen MA. Mchn. 1990, S. 380–383. – Rolf ters. Bräuer (Hg.): Dichtung des europ. MA. Ein Führer Die Hauptquelle ist ein frühchristl. apo- durch die erzählende Lit. Mchn. 1991, S. 433–439. kryphes Evangelium, der sog. Ps.-Matthaeus. – L. Peter Johnson: Die höf. Lit. der Blütezeit In ihm versuchte der unbekannte Verfasser (Gesch. der dt. Lit. v. den Anfängen bis zum Beginn das Schweigen der kanonischen Evangelien der Neuzeit. Bd. 2,1), Tüb. 1999, S. 424–428. über die Kindheit Jesu mit legendarischHans Fromm † / Heiko Hartmann genrehaften Geschichten zu kompensieren u. zgl. die Jungfräulichkeit Mariens durch die Konrad von Haimburg, auch: Konrad Konkretheit eines epischen Berichts zu bevon Gaming, Conradus Gemnicensis, zeugen. Eine zweite Vorlage ist möglicher† 17.8.1360 Gaming. – Verfasser mittelweise die anonyme Vita beatae virginis Mariae et lateinischer geistlicher Lyrik. Salvatoris rhythmica (um 1200). Die literar. Stellung ist durch den erzähle- Der Heimatort des niederösterr. Kartäusers, rischen Rang des Werks u. die Singularität Haimburg (Hainburg) bei Pressburg, kann der Thematik in seiner Zeit kennzeichnend. nur aus seinem Beinamen erschlossen werEs ist das einzige bekannte geistl. Epos in der den; das Geburtsjahr ist unbekannt. Erstmals »klassischen« Generation Hartmanns, Wolf- ist er als Vikar von Mauerbach nachweisbar, rams u. des Nibelungenlieds. Den frühen 1342–1345 als Prior von Seitz. 1350–1354 u. Hartmann hat man als stilistisches Vorbild von 1358 bis zu seinem Tod war er Prior von ansehen wollen. Auch wenn sich die Annah- Gaming. In der Kartause Smichov bei Prag me nicht sichern lässt, ist damit doch auf eine hielt er sich wahrscheinlich 1345–1350 auf; individuelle Formung der Aussage, auf eine dort stand er mit Ernst von Pardubitz in kunstvolle Eleganz u. metr. Sensibilität in der Verbindung, dem Prager Erzbischof u. Kindheit Jesu verwiesen. Die theolog. Ausbeute Kanzler Kaiser Karls IV. 1343 hatten Karl u. bleibt gering, aber durch Thematik u. Wort- Ernst ein Kollegium am Veitsdom zur Beleschatz ist die Dichtung eingebunden in die bung der Marienverehrung gestiftet u. beFolge der mhd. epischen Darstellungen des auftragten K., für den tägl. Chordienst ein Christus- u. Marienlebens vom 12. bis ins 14. Lectionarium mariale zusammenzustellen, das Jh., mit denen sie auch z.T. in den Hand- dieser 1350 abschloss. Es enthält für jeden schriften zusammen überliefert ist. Das wür- Tag neun »Lesungen«, Marientexte aus Pade sogar auch für die »höfische« Handschrift tristik u. mittelalterl. Theologie. K. erarbeiL (s. o.) zutreffen, wenn sich dort – wie es sehr tete daraus 1356 eine Kurzfassung für Mein-
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Ausgabe: K.s v. H. u. seiner Nachahmer, Alberts hard von Neuhaus, den Bischof von Trient; u. d. T. Matutinale, Laus Mariae bzw. Ad laudem v. Prag u. Ulrichs v. Wessobrunn, Reimgebete u. Virginis war sie weit verbreitet (ungedr.; ein Leselieder. Hg. Guido M. Dreves. Lpz. 1888. Neudr. Beispiel aus über 60 erhaltenen Handschrif- Ffm. 1961, S. 5–102. Literatur: Fritz Wagner: Zur Dichtkunst des K. ten ist beschrieben unter www.textmanu scripts.com/manuscript_description.php?id= v. H. In: Mlat. Jb. 8 (1973), S. 233–244. – Franz Josef Worstbrock: K. v. H. In: VL (Lit., bes. zur 2924&%20cat=all&). Form, zu Überlieferung u. Übers.en). – Joseph Ähnlich große Wirkung hatten K.s geistl. Szövérffy: Marian. Motivik der Hymnen. Leiden Lieder. Die »pia carmina«, die z.T. das Vor- 1985, S. 293–308. – Fritz Peter Knapp: Die Lit. des bild des Zisterziensers Christan von Lilien- SpätMA in den Ländern Österr. [...]. Halbbd. 1. feld erkennen lassen, waren nicht für die Li- Graz 1999, S. 172–184, 515 (mit Übers. des turgie, sondern für die private Andacht be- ›Hortulus‹). – www.chartreux.org (u. a. zu den stimmt. Unmittelbar erkennbar ist dies bei Kartausen Smichov u. Gaming). Anette Syndikus der ersten Gruppe, 59 Heiligenliedern. Handlungselemente, die u. a. auf die Legenda Konrad von Haslau. – Verfasser eines aurea zurückgehen, dienen der Veranschaulimittelhochdeutschen Lehrgedichts, Ende chung eines gottergebenen Lebens. Die des 13. Jh. Grußform u. die durchgehende Anrede an den Heiligen vergegenwärtigen seine vor- Dass das anonym überlieferte, 1264 Reimbildhaften Tugenden; Hoffnung auf ewigen paarverse umfassende Gedicht Der Jüngling Lohn steht hinter der abschließenden Bitte von K. stammt, weiß man nur aus einer Anum Beistand u. Fürsprache bei Gott. Auch in spielung im sog. Seifried Helbling (II, 440 ff). der Auswahl wird die Bevorzugung persönl. Aus ihr kann für den Jüngling eine Abfassung Formen der Frömmigkeit deutlich: Volks- in den 80er Jahren des 13. Jh. angenommen tümliche Heilige wie Anna, Elisabeth, Ursula werden, was auch durch die schon freiere oder Nothelfer stehen neben Kirchenvätern. Metrik u. die reinen Reime bestätigt wird. K. Die elf Mariengedichte K.s sind ebenfalls wird dort als Landsmann bezeichnet, was auf »Leselieder«; v. a. in der ungewöhnl. Fülle Herkunft aus Niederösterreich, vielleicht aus preisender Namen, Attribute u. Sinnbilder Haslau/Leitha, hindeutet. Dazu passt auch aus der mariolog. Tradition zeigt sich das für der Dialekt des Werks. Aus dem Jüngling meditative geistl. Lyrik charakterist. Streben selbst kann man wohl schließen, dass K. nach Verinnerlichung. Die unbefleckte Emp- Fahrender war u. verschiedentlich die Auffängnis z.B. wird immer wieder typologisch gaben eines Erziehers übernahm. aufgefasst: Im Hortulus etwa ist Maria zuIn seiner Erziehungslehre wendet K. sich nächst mit dem Paradiesgarten, dann mit der v. a. an Jünglinge adliger Herkunft u. verBraut des Hohenliedes gleichgesetzt. Dem sucht ihnen in sehr lebendiger, manchmal vielfältigen Wechsel zwischen präfigurativen etwas derber Sprache unter Einbeziehung Bildern u. dem Gemeinten entspricht der mannigfacher Vergleiche u. Rätsel die hohe formale Anspruch: Jedes der fünf alle- Grundbegriffe richtigen Benehmens beizugor. Lieder ist u. a. durch Akrosticha u. jeweils bringen. Sein Hauptaugenmerk gilt dabei unterschiedl. Reim- u. Strophenbindung zunächst äußeren Dingen wie der richtigen ausgezeichnet. Ähnliche Formentfaltung Kleidung u. Haartracht oder der Tischzucht. bieten die vier Glossenlieder, die u. a. Magni- Auch innere Werte wie Bewahrung vor der ficat u. Ave Maria kommentierend umschrei- schädl. Kraft der Lüge u. rechter Gebrauch ben. – Die Mariengrüße Crinale u. Anulus von Besitz werden angesprochen. Dazwiwurden von Heinrich Laufenberg, Sebastian schen finden sich immer wieder Passagen mit Brant u. a. in die Volkssprache übertragen; allg. Aussagen, etwa zu der nachteiligen das bestätigt die Bedeutung K.s für die Vermischung adliger u. bäuerl. Zucht und Frömmigkeitsgeschichte im SpätMA. den schädl. Folgen falscher Erziehung. K. reiht seine verschiedenen Lehren lose aneinander, ohne dass eine Gliederung erkennbar
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wäre. Verbindendes Element ist das Motiv der Pfennigbuße (vieleicht der Disciplina clericalis des Petrus Alphonsi entnommen): Nach jeder Lehre verlangt K. von dem Jüngling, der sie nicht befolgt, einen Pfennig. Bei schwereren Vergehen wird die Buße erhöht, bei ganz verabscheuungswürdigen Vergehen verzichtet er auf die Buße. Bei einem Vergleich mit Vorgängern, z.B. dem Winsbecke, fällt das fast völlige Fehlen höf. Elemente auf. Möglich ist, dass sich K. nur an den niederen Adel wandte. Große Verbreitung erreichte das Werk – vielleicht wegen des dialektalen Einschlags – nicht. Ausgaben: Der Jüngling. Hg. Walter Tauber. Tüb. 1984. – Erwin Heidt: K. v. H.: ›Der Jüngling‹. Übers., Komm., Interpr. Wiesb. 2000. Literatur: Helmut de Boor: Die dt. Lit. im späten MA. Tl. 1, Mchn. 31973, S. 391–393. – HansFriedrich Rosenfeld: K. v. H. In: VL. – Wernfried Hofmeister: Der ›Jüngling‹ K.s v. H. Versuch einer Neubewertung. In: Sprachkunst 15 (1984), S. 1–13. – Helga Schüppert: Spätmittelalterl. Didaktik als Quelle für adeliges Alltagsleben? In: Adelige Sachkultur des SpätMA. Wien 1982, S. 215–257. Elisabeth Wunderle / Red.
Konrad von Heimesfurt. – Verfasser der geistlichen Versepen Unser vrouwen hinvart (H.) u. Diu urstende (U.) aus dem Anfang des 13. Jh. K. nennt seinen Namen im Prolog der H. (V. 20 f.), wo er sich als »armer phaffe« bezeichnet, u. im Akrostichon der U. Im Dichterverzeichnis des nach 1230 entstandenen Alexander Rudolfs von Ems (VV. 3189–3191) wird er gleich nach Gottfried von Straßburg angeführt. Ein mit dem Autor gleichnamiger Ministeriale K. v. H. (heute Hainsfarth bei Oettingen im Ries) erscheint 1198–1212 in vier Urkunden des Bischofs Hartwig von Eichstätt (1196–1223); er dürfte vermutlich mit dem Verfasser identisch sein. Aus der Selbstbezeichnung »phaffe« in der H. wäre demnach nicht zu schließen, dass K. dem geistl. Stand angehörte, sondern dass er ein geistlich gebildeter Laie war. Die H. war wohl das frühere Werk, auf das er sich in einer Auseinandersetzung mit seinen Kritikern im Prolog der U. (VV. 19 ff.) bezieht.
Da K. die Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen u. von den höf. Klassikern nachweislich nur die Werke Hartmanns von Aue, einschließlich des Iwein (um 1205), kannte u. da sich seine literar. Technik in den von diesen beiden Autoren vorgezeichneten Bahnen bewegt, hat er seine beiden Werke wohl noch im ersten Jahrzehnt des 13. Jh. verfasst. Die H. ist in vier Handschriften u. sechs Fragmenten überliefert, die U. nur in einer Handschrift u. mehreren Exzerpten, die rund ein Drittel des Werks umfassen, in den Handschriften der Weltchronik Heinrichs von München. Über die Prosaauflösungen der Weltchronik in den Historienbibeln hat die U. dann bis in die Frühdruckzeit indirekt gewirkt. Zitate u. deutlich feststellbare Anleihen aus K.s Werken zeugen von einem beachtl. Einfluss auf spätere geistl. Dichtungen. Die H. hat v. a. auf den Heiligen Georg Reinbots von Dürne (nach 1231), die U. auf Christi Hort Gundackers von Judenburg (Ende 13. Jh.) gewirkt. Wie die Kindheit Jesu gehen auch H. u. U. auf bekannte neutestamentl. Apokryphen zurück. K. will diese bisher nur in lat. Sprache verbreiteten Stoffe einem volkssprachl. Publikum vermitteln (H., VV. 67–71; U., VV. 44–47). Das tut er mit den neuen Möglichkeiten der höf. Vers- u. Erzähltechnik. Auch höf. Verhalten weiß er zu gestalten; in den Beratungsszenen der U. erscheinen die Hauptpersonen als Muster höf. Bildung in einem weltlich-vornehmen Milieu. Außer seinen Hauptquellen benutzte er Antiphonen, Responsorien u. Lesungen aus der Liturgie der Kirchenfeste, an denen die in seinen Werken dargestellten Ereignisse gefeiert werden. Die Kenntnis der zahlreichen Bibelstellen in beiden Werken könnte ausnahmslos liturgisch vermittelt sein. Dass er das in den Eichstätter Osterfeiern bes. gut bezeugte »Canticum triumphale« Cum rex gloriae Christus benutzte (U., VV. 1698–1702), darf als Hinweis auf seinen Wirkungsort gesehen werden. Die H. (1209 Verse) ist eine sehr freie Bearbeitung des Transitus Mariae des Ps.-Melito, der bekanntesten abendländ. Legende vom Tod u. der Himmelfahrt Marias. In der H. wird erzählt, wie Maria in Gegenwart der auf
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wunderbare Weise nach Jerusalem zurück- Registern). – ›Diu urstende‹. Hg. Kurt Gärtner u. geführten Apostel stirbt u. von ihnen im Tal Werner J. Hoffmann. Studienausg. Tüb. 1991. Literatur: Werner Fechter: K. v. H. In: VL. – W. Josaphat begraben wird. Nach drei Tagen wird sie von Christus auferweckt u. fährt vor J. Hoffmann: K. v. H. Untersuchungen zu Quellen, den Augen der Apostel zum Himmel. Tho- Überlieferung u. Wirkung seiner beiden Werke mas, der auch hier eine Sonderrolle spielt, ›Unser vrouwen hinvart‹ u. ›Diu urstende‹. Diss. Trier 1987. – Ders.: K. v. H. Untersuchungen zu kommt zu spät; doch unterwegs erscheint Quellen, Überlieferung u. Wirkung seiner beiden ihm Maria u. überlässt ihm ihren Gürtel, mit Werke ›Unser vrouwen hinvart‹ u.›Urstende‹. dem er dann beweisen kann, dass auch er Wiesb. 2000. Kurt Gärtner Zeuge ihrer Auferstehung war. Die U. (2162 Verse) hat als Rahmen das aus den Evangelien u. der Apostelgeschichte beKonrad von Landeck, Landegg, auch: kannte Passions-, Oster- u. Pfingstgeschehen. Schenk K. v. L., urkundlich 1271–1306. – In diesen passt K. eine souveräne Bearbeitung Schweizer Minnesänger. seiner Hauptquelle ein, des Evangelium Nicodemi, das im MA fast kanonische Bedeutung Der Sänger gehört dem Thurgauer Geschlecht erlangt hatte. Es berichtet vom Prozess Jesu derer von Landeck in der ehem. Grafschaft vor Pilatus, von der Auferstehung Jesu u. der Toggenburg an. Die Herren von Landeck Befreiung des von den Juden eingekerkerten waren Ministeriale der Grafen von ToggenJoseph von Arimathia durch den Auferstan- burg u. hatten seit der zweiten Hälfte des 12. denen, von Zeugenaussagen über die Him- Jh. das erbl. Schenkenamt des Stifts von St. melfahrt u. schließlich von dem Zeugnis der Gallen inne. Von den beiden in Frage komSöhne Simeons (vgl. Lk 2, 25) über Jesu menden Namensträgern hält man aufgrund Höllenfahrt, das Zerbrechen der Höllentore, einer Anspielung auf die Belagerung Wiens die Befreiung Adams, der Patriarchen, Pro- von 1276 durch König Rudolf I. von Habspheten u. übrigen Gefangenen aus der Gewalt burg in Lied 5 den älteren Konrad für den Satans. Im Descensus-Bericht der Simeon- Dichter. Er ist zwischen 1271 u. 1306 in söhne Karinus u. Leoncius ist die Erzählung zahlreichen Urkunden bezeugt. Bei dem von Adams Sohn Seth über seine Reise zum 1313–1347 urkundenden Konrad handelt es Paradies (U., VV. 1868–2020) gegenüber der sich um seinen Sohn. Die Große Heidelberger Liederhandschrift (C) Hauptquelle stark erweitert. Verhörszenen u. Prozessverfahren prägen K.s Darstellung u. überliefert unter dem Namen 22 Minnelieerweisen ihn als Kenner der Gerichtspraxis u. der, die K. als einen Kenner hoch- u. späthöf. Minnesangkunst ausweisen, von denen er Rechtssprache seiner Zeit. Die Werke K.s wurden nach dem Zeugnis Formeln und Motive z.T. wörtlich überRudolfs von Ems von den dichtenden Zeit- nimmt. Besonders deutlich sind die Anklänge genossen hoch geschätzt. Die moderne For- an die späten schwäb. Dichter Gottfried von schung allerdings hat wegen ihres langwäh- Neifen u. Ulrich von Winterstetten. Die renden Desinteresses an der geistl. Literatur meisten Lieder sind fünfstrophig; 13 u. 16 des MA den literar. Rang von H. u. U. bis vor haben je drei, 7, 9, 10 u. 18 je vier Strophen. kurzem kaum gesehen. Der für die Überlie- K.s Repertoire prägen stollig gebaute Stroferung der mhd. Sprache u. Literatur zentrale phen unterschiedl. Länge mit z.T. kunstvoller St. Galler Codex 857, der die besten Text- Reimgestaltung (u. a. Binnenreim, grammat. zeugen von Wolframs Parzival u. Willehalm u. Reim). Lied 2 hat Refrain. K. verwendet durchgängig Natureingang des Nibelungenlieds vereinigt, enthielt vermutlich als letztes Werk die H. Sie bildete als traditionelle Folie für das Befinden des zusammen mit der Kindheit Jesu den erst in Sängers: Winterklage in 1, 5, 6, 9, 13, 14, 16, 17, 20, 21 u. 22, Maien- bzw. Sommerpreis in der Neuzeit herausgetrennten Schlussteil. Ausgaben: ›Unser vrouwen hinvart‹ u. ›Diu den übrigen Liedern. Auch thematisch steht urstende‹. Hg. Kurt Gärtner u. Werner J. Hoff- er mit seinen Minneklagen u. Frauenpreismann. Tüb. 1989 (mit ausführl. Einl., Bibliogr. u. liedern in der Tradition hohen Sangs; die seit
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Neidhart übl. neuen Liedtypen im »genre objectif« nimmt er – anders als sein Vorbild Neifen – nicht auf. Er bedient sich rhetorischer Mittel wie Anaphern, Alliterationen, rhetorischer Fragen, Apostrophen – im Anschluss an Winterstetten häufig an ein implizites Publikum – u. der »figura etymologica«, verzichtet jedoch weitgehend auf Bilder (Ausnahmen: 9 u. 10). Ausgaben: Die Schweizer Minnesänger. Nach der Ausg. v. Karl Bartsch neu bearb. u. hg. v. Max Schiendorfer. Bd. 1: Texte. Tüb. 1990, S. 162–199. Literatur: Friedrich Grimme: Die Schweizer Minnesänger. In: Germania 35 (1890), S. 302–339, hier S. 326 f. – Joachim Kirchner: Herr K. der schenk v. L. ein epigone des Minnesangs. Diss. Greifsw. 1912. – Viola Bolduan: Minne zwischen Ideal u. Wirklichkeit. Studien zum späten Schweizer Minnesang. Ffm. 1982, v. a. S. 59–82, 163–171. – Günther Schweikle: Schenk K. v. L. In: VL. Claudia Händl / Red.
Konrad von Megenberg, de Monte Puellarum, * um 1309 Mäbenberg bei Abenberg/Mittelfranken (heute Georgensgmünd), † (14.4.?) 1374 Regensburg; Grabstätte: ebd., Niedermünster. – Verfasser bedeutender theologischer, staats- u. kirchenpolitischer, hagiografischer, moralphilosophischer u. naturkundlicher Schriften. Ab 1322/23 (nicht schon 1316) kam K. nach Erfurt u. trat in die Artistenfakultät ein; er wechselte vor 1334 zum Artesstudium an die Universität Paris, wo er den Magistergrad erwarb u. als Lektor im Zisterzienserkolleg St. Bernhard wirkte. Er profilierte sich zwar in der engl. »Universitätsnation«, der kleinsten in Paris, was ihm aber Zwistigkeiten (wie den Ausschluss von Vorlesungen u. Prüfungen) eintrug u. seine Akzeptanz in der Universität schmälerte, so dass ihm in Paris eine Karriere versagt blieb. 1342–1348 war K. Rektor der Wiener Stephansschule, aus der später als Stiftung Herzog Rudolfs IV. die Universität hervorging. Als solcher leitete er das gesamte Schulwesen in Wien. Zuletzt u. am längsten wirkte K. in Regensburg, wohin er 1348 übersiedelte, weil ihm ein Traum die Heilung von einer Lähmung durch Fürbitte des hl. Erhard verhei-
ßen hatte. Nach neuen Quellenfunden war K. dort in heftige Konflikte des Domkapitels einbezogen u. hatte insbes. den mächtigen Domherrn Dietrich von Au zum Gegner. Mindestens sechsmal (erstmals schon früher als 1337 von Paris aus) reiste er an die Kurie nach Avignon, u. a. im Auftrag der Stadt Regensburg (1357) u. des Kaisers (1361), häufiger aber als bislang bekannt auch in eigener Sache als »Pfründenjäger«. Schon 1357 (nicht 1359) wurde er trotz massiver Widerstände zum Dompfarrer von St. Ulrich ernannt, ein Amt, in dem er mehrfach gegen die Bettelorden vorging. Er resignierte im April 1361 (nicht erst 1363) u. lebte bis zu seinem Tod als einfacher Domherr im Ernvelser Haus, trat nach neuen Quellenfunden aber noch mehrfach z.B. als Schlichter in Rechtsstreiten in Erscheinung, so 1368 u. 1370, auch noch im Todesjahr 1374, als ihn Papst Gregor XI. in zwei Rechtsverfahren zum Exekutor bestellte. K. war einer der literarisch produktivsten Kleriker des 14. Jh.; von ihm stammen rund zwei Dutzend Schriften. Verschollen sind – mit Ausnahme der Vita S. Erhardi (um 1364/ 65) – die meisten hagiografischen (über Dominikus, Matthaeus oder eine FranziskusVision) u. einige der theolog. u. philosophischen Schriften. Zwei Handschriften überliefern sein noch unediertes theolog. Hauptwerk, den Commentarius de laudibus B. V. Mariae (nach 1364), eine den Traktat contra Walter Burleigh. In K.s frühester kirchenpolit. Schrift, dem Planctus ecclesiae in Germaniam (1337/38) in leon. Hexametern, widmet er sich dem Verhältnis von Sacerdotium u. Imperium u. ergreift Partei für Ludwig den Baiern, für den er beim Papst Verständnis zu wecken sucht. Weiter schrieb er kirchenpolit. Traktate gegen Ockham (1354) u. gegen die neuen Bettelorden (Lacrima ecclesiae, 1364). Die breiteste Wirkung im lat. Werk K.s erzielte der Pfarrgrenzen-Traktat De limitibus parochiarum civitatis Ratisbonensis (1373). Weitere Werke erweisen K. als Kirchenrechtler. Immer stärker erkennt die Forschung die Yconomica (1348/ 52), neben der Monastica (= Speculum felicitatis humanae, 1348) das moralphilosophische Hauptwerk K.s, als sehr bedeutende Schrift. In dieser drei Bücher umfassenden Enzyklo-
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pädie behandelt K. »Hauswesen« u. Hierarchien im Bürgertum, am Fürsten- u. Kaiserhof, in Kirche u. Kurie. Breite Wirkung erzielten zwei dt. naturwissenschaftl. Schriften: Die deutsche Sphaera (zehn Handschriften u. vier Drucke) ist eine kompetente Bearbeitung der Sphaera Mundi des Johannes von Sacrobosco in vier »haubtstuk«. Darin unterrichtet K. unter anderem über das aristotelisch-ptolemäische Weltbild u. die Beschaffenheit von Himmel u. Erde (1), über Äquator, Tierkreis, Meridian, Horizont u. Polarkreis (2), behandelt Auf- u. Untergang der Gestirne aus der Sicht der Poeten u. Astronomen, Tages- u. Nachtdauer, Erd- u. Klimazonen (3), zuletzt die Himmelsmechanik sowie Sonnen- u. Mondfinsternis (4). In der Paarreim-Vorrede empfiehlt er, sein der Wahrheit verpflichtetes Lehrbuch gegenüber Riesen- u. Reckensagen zu bevorzugen. In über 100 Handschriften u. acht Drucken (1475–1540) ist das mit zahlreichen Allegorien ausgestattete, umfangreiche Buch von den natürlichen Dingen (so der Titel in den Handschriften) überliefert. Diese Bearbeitung des Liber de natura rerum des Thomas von Cantimpré (um 1240) für ein Laienpublikum ist in acht Hauptstücken seinshierarchisch strukturiert u. handelt vom Menschen (1), den Himmeln u. den sieben Planeten (2), den Tieren (Vierfüßer, Vögel, »merwunder«, Fische, Schlangen, Insekten/Gewürm; 3), von Bäumen u. Sträuchern (4), Kräutern (5), Edelsteinen (6) u. Metallen (Von dem gesmaid; 7), schließlich von Wunderbrunnen u. Wundermenschen (8). In der um 1348–1350 entstandenen ersten Redaktion A sind diese Hauptteile von einem gereimten Prolog u. Epilog umrahmt, die in der späteren Redaktion B fehlen: Hier wird der Text durch eine Widmung an Herzog Rudolf IV. von Habsburg, eine dt. Fassung des Symbolum Quicunque, einen Engel-Passus u. den Traktat von der sel eingeleitet. Redaktion B wurde wohl kaum von K. selbst, sondern (1359?) von einem traditionalistisch denkenden Anonymus angefertigt, der konsequent u. systematisch jede Erinnerung an den wahren Verfasser des Buchs im Text tilgte. Zahlreiche Schreiber rezipierten beide Fassungen ihrerseits produktiv, so etwa Konrad Bollstätter oder im
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Jahr 1406 Dietrich von Tuchern, der im Cgm. 1116 aus Konrads Werk ein Buch der eygenkeit der dinge machte. Während neuere Forschungen K.s Quellen immer besser erschließen, ist die Wirkungsgeschichte des Natur-Kompendiums, das als wichtiges Werk auf dem Weg zur Herausbildung einer eigenständigen dt. Fachprosa gilt, noch weithin unerforscht. Ausgaben: Buch der Natur. Hg. Franz Pfeiffer. Stgt. 1861. Neued. hg. v. Robert Luff u. Georg Steer: Bd. 2: Krit. Text nach den Hss. Tüb. 2003. – Planctus ecclesiae in Germaniam. Hg. Richard Scholz. Mchn. 1941. – Von der Sel. Eine Übertragung aus dem Liber de proprietatibus rerum des Bartholomäus Anglicus. Hg. G. Steer. Mchn. 1966. – Ökonomik. Hg. Sabine Krüger. 3 Bde., Stgt. 1973–84. – Die Dt. Sphaera. Hg. Francis B. Brévart. Tüb. 1980. – Monastik. Hg. S. Krüger. Stgt. 1992. – Historia S. Erhardi. Hg. Roman Hankeln. Ottawa 2000. Literatur: Helmut Ibach: Leben u. Schr.en des K. v. M. Bln. 1938. – Sabine Krüger: K. v. M. In: Gerhard Pfeiffer (Hg.): Fränk. Lebensbilder. Bd. 2, Würzb. 1968, S. 83–103. – G. Steer: K. v. M. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – Traude-Marie Nischik: Das volkssprachl. Naturbuch im späten MA. Sachkunde u. Dinginterpr. bei Jacob v. Maerlant u. K. v. M. Tüb. 1986. – Walter Buckl: M. aus zweiter Hand. Überlieferungsgeschichtl. Studien zur Redaktion B des ›Buchs v. den natürl. Dingen‹. Hildesh. u. a. 1993. – Ders.: M. am Fürstenhof. Das ›Buch der eygenkeit der dinge‹ des Dietrich v. Tuchern. In: Christa Baufeld (Hg.): Die Funktion inner- u. außerliterar. Faktoren für die Entstehung dt. Lit. des MA u. der Frühen Neuzeit. Göpp. 1994, S. 155–173. – Ders.: ›Dannoch waer dâ zweivel‹. Das ›Buch v. den natürl. Dingen‹ des K. v. M. In: Ders.: Das 14. Jh. Krisenzeit. Regensb. 1995, S. 109–132. – William J. Courtenay: Conrad of M. – The Parisian Years. In: Vivarium 35 (1997), S. 102–124. – Gisela Drossbach: Die ›Yconomica‹ des K. v. M. Das ›Haus‹ als Norm für polit. u. soziale Strukturen. Köln u. a. 1997. – G. Steer: Das ›Buch v. den natürl. Dingen‹ K.s v. M. – ein ›Buch der Natur‹? In: Christel Meier (Hg.): Die Enzyklopädie im Wandel vom HochMA bis zur Frühen Neuzeit. Mchn. 2002, S. 181–188. – Ulrike Spyra: Das ›Buch der Natur‹ K.s v. M. Die illustrierten Hss. u. Inkunabeln. Köln/Weimar/Wien 2005. – K. v. M. (1309–1374) u. sein Werk. Das Wissen der Zeit. Hg. Claudia Märtl, G. Drossbach u. Martin Kintzinger. Mchn. 2006 (mit Lit., S. XI–XXIII). Walter Buckl
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Konrad von Mure, * um 1210 Muri (Aargau, Schweiz), † 30.3.1281; Grabstätte: Zürich, Marienkapelle des Großmünsters. – Mittellateinischer Schriftsteller, Geistlicher, Jurist u. Lehrer. K. v. M. gehört zu der großen Gruppe der Intellektuellen des MA, die in ihrem näheren Wirkungsbereich ausgesprochen einflussreich gewesen sind, jedoch keine internat. Geltung erreicht haben. Seine erste Ausbildung erhielt er wohl in der Lateinschule des Benediktinerklosters Muri; um 1230/35 trat er in das Zürcher Großmünster ein, studierte dann Artes u. Recht in Italien (Bologna?) u. wohl auch in Paris, bevor er in Zürich als Priester wirkte. 1243 war K. als Magister, 1244–1271 als Leiter der Stiftsschule am Zürcher Großmünster tätig, wo er ab 1246 als Kanoniker, ab 1259 zudem als Kantor bezeugt ist. Daneben wirkte er als Jurist u. Notar für das Stift. Seine Promotion im Kirchenrecht (»doctor decretorum«) ist freilich erst spät u. unsicher belegt. In freundschaftl. Verhältnis stand K. zu Rudolf von Habsburg, dem späteren dt. König, bei dessen Tochter Guta er Pate war. K.s lehrhaft-literar. Œuvre ist – typisch für den Gelehrten des MA – lat. abgefasst; die überwiegende Zweckbestimmung der Werke für den Schulunterricht bedingte vielfach die Versform. Bei aller Freiheit gegenüber der Sprache ist K. bewusster Stilist mit Hang zum Artifiziellen. – Enzyklopädischen Charakter hat der Grammatik u. Sachwissen vermittelnde Novus Grecismus, eine enzyklopädisch erweiternde Bearbeitung des Grecismus (um 1200) Eberhards von Béthune. Breit überliefert ist, bis in den Buchdruck, der Fabularius, ein alphabetisch angelegtes Handbuch u. a. zur Poetik, Literaturgeschichte (Dichterbiografien) u. Mythologie. In den Schulbetrieb gehört ferner eine Brieflehre (Summa de arte prosandi). An angehende Kleriker wendet sich der Libellus de sacramentis, ein Leitfaden zur Verwaltung der Sakramente. Im Zusammenhang der Übernahme des Kantorenamts am Zürcher Großmünster verzeichnete K. im Liber ordinarius die gesamte Liturgie des Großmünsters. Politisch-panegyrischen Charakter haben die Commendaticia auf die Königswahl
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u. -krönung Rudolfs von Habsburg (1273) u. ein Epos auf dessen Sieg gegen Ottokar von Böhmen 1278 (beide Werke nur in Bruchstücken erhalten). Der Epilog des Fabularius (1273) nennt eine Reihe von verlorenen oder nur fragmentarisch erhaltenen Verstexten, so eine Romdichtung, zwei Legenden, einen Marienpreis u. ein Gedicht zur Erklärung der Namen von Schweizer Flüssen u. Bergen. Der von Orbán herausgegebene Libellus de naturis animalium (s. Lit.), ein Tierbuch mit geistlichmoralischen Auslegungen auf der Grundlage von Isidors von Sevilla Etymologiae (mit bemerkenswerten Exkursen zur Pergament- u. Farbenherstellung u. zur Buchmalerei) ist K. fälschlich zugewiesen worden. Ausgaben: Clipearius Teutonicorum. Hg. Paul Ganz (s. u.), S. 174–185. – Summa de arte prosandi. Hg. Walter Kronbichler. Zürich 1968. – ›Commendaticia‹ u. ›De victoria regis Rudolfi‹. Hg. Erich Kleinschmidt, 1974 (s. u.), S. 301–312, 316–319. – Der Liber Ordinarius des K. v. M. Hg. Heidi Leuppi. Freiburg/Schweiz 1995. – Fabularius. Hg. Tom van de Loo. Turnhout 2006. – Novus Grecismus. Hg. Alexandru Nicolae Cizek (im Druck). – Die übrigen Werke sind nicht ediert. Literatur: Paul Ganz: Gesch. der herald. Kunst in der Schweiz im 12. u. 13. Jh. Frauenfeld 1899. – Erich Kleinschmidt: Herrscherdarstellung. Bern/ Mchn. 1974, bes. S. 291–319 (mit Angaben zur älteren Lit.). – Ders.: K. v. M. In: VL u. VL (Nachträge u. Korrekturen). – De naturis animalium. Hg. Árpád Peter Orbán. Heidelb. 1989. – Alexandru Nicolae Cizek: Die Schulenzyklopädie ›Novus graecismus‹ K.s v. M. Prolegomena zu einer künftigen Ausg. des Lehrgedichts. In: Frühmittelalterl. Studien 34 (2002), S. 236–258. – Christel Meier: Enzyklopäd. Ordo u. sozialer Gebrauchsraum. Modelle der Funktionalität einer universalen Literaturform. In: Die Enzyklopädie im Wandel vom MA bis zur frühen Neuzeit. Hg. dies., Stefan Schuler u. Marcus Heckenkamp. Mchn. 2002, S. 511–532. – Martina Wehrli-Johns: Studium u. Seelsorge im Predigerkloster. In: Bettelorden, Bruderschaften u. Beginen in Zürich. Stadtkultur u. Seelenheil im MA. Hg. Barbara Helbig, Magdalen Bless-Grabher u. Ines Buhofer. Zürich 2002, S. 106–119. – Michael Peter Bachmann u. Stefan Weber: Conrad v. M. Dichtung u. Gelehrsamkeit im mittelalterl. Zürich. In: Mlat. Jb. 37 (2002), S. 416–418. – Barbara Braune-Krickau u. Barbara Vanotti: Jerusalem in Zürich. Die mittelalterl. Palmprozession nach dem ›Liber ordinarius‹ K.s v. M. (1260). In: ›Turicensia Latina‹. Lat. Texte zur
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Gesch. Zürichs aus Altertum, MA u. Neuzeit. Hg. Peter Stotz u. David Vitali. Zürich 2003, S. 73–84. – Sara Passi: Corrado di M. nella Zurigo del Duecento. In: Quaderni Medievali 53 (2003), S. 214–246. – Anne-Marie Turcan-Verkerk: Le ›prosimetrum‹ des ›artes dictaminis‹ médiévales (XIIe–XIIIe s.). In: Archivum Latinitatis Medii Aevi 61 (2003), S. 111–174. – T. van de Loo, a. a. O., S. I–XCVI (gegenwärtig umfassendste Darstellung). Nikolaus Henkel
Konrad von Stoffeln, um 1300. – Verfasser des späthöfischen Versromans Gauriel von Muntabel. Bei dem »meister Kuonrât von Stoffel«, der sich selbst im Epilog des Romans um den Artusritter Gauriel als »werder vrîer man« bezeichnet (VV. 5666–5670), dürfte es sich um einen Vertreter der Freiherrn von Stöffeln handeln, die ihren Stammsitz im 13. Jh. in Gönningen (bei Reutlingen) auf der schwäb. Alb hatten. Sein wohl um 1300 in Schwaben entstandenes Werk beschließt die Reihe der etwa sechzehn seit 1180 entstandenen Artusromane in Reimpaarversen und ist in vier Handschriften überliefert (davon eine Kurzfassung). Der zweiteilige Aufbau der Erzählung lässt sich (auch aufgrund der Doppelungen u. Symmetrien in den Binnenstrukturen) mit dem vorangegangener Gattungsvertreter vergleichen; die Handlungsführung ist wie stets im Artusroman auf den Protagonisten abgestellt. Gauriel ist der Geliebte einer Fee, mit der er zurückgezogen in Muntabel lebt. Da er auf einer Ausfahrt das Schweigegebot seiner Herrin verletzt, ist diese gezwungen, sich in ihr Reich Fluratrone zurückzuziehen. Die dort herrschenden Götter u. Göttinnen der Minne stellen ihrem Geliebten eine Aufgabe, die es ihm ermöglicht, ihre Gunst zurückzugewinnen. Der durch Zauber äußerlich verunstaltete Held soll die drei besten Ritter des Artushofes gefangennehmen u. in das Feenreich bringen. Gemeinsam mit einem Bock, den er aufgezogen hat, besiegt Gauriel den ganzen Mai hindurch alle Artusritter, die gegen ihn antreten. Während des Zweikampfs mit Iwein wird dessen Löwe vom Bock getötet; Iwein erschlägt aus Zorn darüber den Bock. Den abschließenden Kampf
mit Artus lehnt Gauriel ab, da er sich nicht für würdig hält, den König zu besiegen. Er ergibt sich, u. es kommt so zur Versöhnung mit der Hofgesellschaft – allerdings verlangt Ginover als Entschädigung für verlorengegangene Freude, dass Gauriel ein Jahr lang Abenteuer für den Artushof bestreitet. Nachdem er dies versprochen hat, reitet er zunächst gemeinsam mit seinen Gefangenen nach Fluratrone u. besiegt dort zwei Drachen sowie zwei Riesen. Den anschließenden Kampf gegen ein Heer von Einwohnern lässt die Fee beenden. Die Ritter werden als Gäste empfangen, gebadet u. eingekleidet; Gauriel erhält sein früheres Aussehen zurück. Mit dem Segen u. unter der Aufsicht der Götter u. Göttinnen der Minne findet die Hochzeit statt, u. Gauriel erhält die Erlaubnis, für genau ein Jahr an den Artushof zurückzukehren, um sein Versprechen zu halten. Nach der Abreise aus Fluratrone befreien die Artusritter zunächst den König von Schoiadis aus der Gewalt eines Heidenkönigs. Bei einem Zwischenaufenthalt am Artushof wird der Protagonist nun wegen seiner Schönheit bestaunt. Das folgende Fest verlassen Gauriel, Erec u. ein Ritter namens Pliamin, um die Tochter des Grafen von Asterian aus den Händen des Entführers Jorant zu befreien. Gauriel gelingt es, den Sumpf im »versprochenen walt« zu durchreiten, der dessen Burg umgibt, u. die Tochter an den Artushof zu führen. Auf dem Weg dorthin begegnen die Ritter noch einer Meerfee, die sich gegen den König Geltipand zur Wehr setzt. Mit Unterstützung der Artusritter kann Gauriel den Eindringling in einer Massenschlacht abwehren u. so Recht u. Frieden wiederherstellen. Als am Artushof Vorbereitungen für ein Fest getroffen werden, will Gauriel aufbrechen, um nicht wie Iwein seinen Termin zu versäumen. In diesem Moment trifft jedoch die Fee selbst mit ihrem Gefolge aus Fabelwesen u. Meerwundern am Artushof ein, u. es findet das obligator. Abschlussfest statt. Gauriel u. seine Gemahlin kehren in das nicht länger unzugängl. Feenreich zurück, wo beide angesehen u. in Freude leben. Der Autor kennt auch altfrz. Lais (Lanval, Graelent), überblickt aber v. a. souverän die mhd. höf. Dichtung u. insbes. die Gattungs-
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geschichte des Artusromans von Hartmann von Aue bis zum Pleier. Und er versieht sein Werk mit zahlreichen intertextuellen Verweisen, wenn etwa Gauriel auf die Protagonisten früherer Romane trifft, Erec ihn vor dem »verligen« warnt, oder Iwein seinen Löwen verliert. Der Held vermeidet so, deren Versäumnisse zu wiederholen. Dem Publikum, dem das Wiedererkennen solcher Szenen intellektuelles Vergnügen bereitet haben dürfte, wird auf diese Weise, wie es schon der Prolog thematisiert, sowohl höf. Tugendlehre als auch ein Stück Literaturgeschichte geboten. Ausgaben: Der Ritter mit dem Bock. K.s v. S. ›Gauriel v. Muntabel‹. Neu hg., eingel. u. komm. v. Wolfgang Achnitz. Tüb. 1997 (mit Bibliogr.). – Gauriel v. Muntabel. Transl. and ed. by Siegfried Christoph. Cambridge 2007. Literatur: Christoph Cormeau: K. v. S. In: VL. – Matthias Meyer: Intertextuality in the later thirteenth century: ›Wigamur‹, ›Gauriel‹, ›Lohengrin‹ and the fragments of Arthurian romances. In: The Arthur of the Germans. Ed. by W. H. Jackson and S. A. Ranawake. Cambridge 2000, S. 98–114. – Peter Kern: Traditionsbildung u. Spiel mit der Tradition. Zur Gattungsgesch. des dt. Artusromans. In: König Artus lebt! Eine Ringvorlesung des Mittelalterzentrums der Universität Bonn. Hg. Stefan Zimmer. Heidelb. 2006, S. 117–143. Wolfgang Achnitz
Konrad von Waldhausen, * um 1325 Waldhausen bei Grein (oder in der Nähe), † 8.12.1369 Prag. – Reformprediger. Anfang der 1340er Jahre trat K. in das Waldhausener Augustinerchorherrenstift ein; wohl 1349 wurde er zum Priester geweiht. Wahrscheinlich hat er auch ein Universitätsstudium absolviert. In den 1350er Jahren entwickelte sich K. vor allem in Wien zu einem bedeutenden Volksprediger, der mit scharfen Worten das allzu weltl. Leben des Klerus u. die verbreitete Simonie anprangerte. Besonders getroffen fühlten sich die Mendikantenorden, v. a. die Dominikaner u. die Augustinereremiten. Während einer Predigtreise 1363 nach Prag wurde Kaiser Karl IV. auf K. aufmerksam u. bemühte sich, ihn nach Böhmen zu holen. Im selben Jahr erhielt K. eine Pfarrei in Leitmeritz. Seine größte Wirkung
erzielte er durch seine Predigttätigkeit in Prag, wo er solche Popularität erreichte, dass er auf einem Platz außerhalb der Kirche predigen musste; Karls Ehefrau u. sogar Juden sollen ihm zugehört haben. Hier gingen die Attackierten jedoch zum massiven Gegenangriff über, was z.T. zu handgreifl. Auseinandersetzungen auf offener Straße führte. Überdies beschuldigten ihn die Mendikanten der Verbreitung häret. Gedankenguts, was zunächst – v. a. aufgrund von K.s hohem Ansehen – ohne nennenswerte Folgen blieb. In den nächsten Jahren predigte er auch in der Erzdiözese Salzburg. Der Streit mit den Mendikanten verschärfte sich schließlich so, dass 1368 ein Häresieprozess gegen ihn in Gang gebracht wurde. K. starb vor Prozessende. Zusammen mit seinem Freund Jan Milícˇ von Kremsier wird K. als Vorläufer der hussitischen Bewegung gesehen. Neben Briefen, theolog. u. apologetischen Schriften sind v. a. seine lat. Predigtsammlungen bekannt, die sowohl seine tatsächl. Predigtweise spiegeln, als auch als Musterpredigten wiederum die homiletische Praxis beeinflussten. Nachschriften von seinen Ansprachen gibt es jedoch nicht. Die für Studenten der Prager Universität verfassten 73 scholastisch geprägten Sermones fanden große Verbreitung u. wurden von Hus für seine Postilla (1407/08) ausgiebig verwertet. K.s Werk ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, noch unediert u. nur ansatzweise ausgewertet. Literatur: Karl F. Richter: K. Waldhauser. In: Lebensbilder zur Gesch. der böhm. Länder 3 (1978), S. 159–174. – Winfried Baumann: Die Lit. des MA in Böhmen. Mchn./Wien 1978. – Ders.: K. Waldhauser – ein dt. Prediger im Prag Karls IV. In: FS Nicola R. Pribic´. Neuried 1983, S. 465–471. – Eduard Winter: Das Ketzerland Böhmen: Vorläufer K. Waldhäuser (um 1325–1369), Bahnbrecher Militsch v. Kremsier (um 1325–1374), Erfüller Jan Hus (um 1371–1415). In: Ders.: Ketzerschicksale. Bln. 1983, S. 38–76. – Franz Machilek: K. v. W. In: VL. – Ulrich Seelbach: ›... die werdent ouch Helmbrehtel!‹ Zu den Prager u. Wiener ›Helmbrechten‹ im SpätMA. In: PBB 109 (1987), S. 252–273. – Harald Berger: Albertus de Saxonia († 1390), Conrad de W. († 1369) u. Ganderus recte Sanderus de Meppen († 1401/06). Eine Begegnung in Prag im Jahr 1364. In: MIÖG 106 (1998), S. 31–51. Werner Williams-Krapp / Red.
Konrad von Würzburg
Konrad von Würzburg, * um 1235 Würzburg, † 31.8. (?) 1287 Basel; Grabstätte: ebd., Maria-Magdalenen-Kapelle (abgegangen) des Münsters. – Autor mittelhochdeutscher Lied-, Lob- u. Erzähldichtungen. K.s Geburtsheimat ergibt sich v. a. aus seinem Namen. In Franken gedichtet wurde von seinen Werken, soweit sie lokalisierbar sind, anscheinend nur die Erzählung Der Schwanritter, die wohl 1257/58 im Auftrag Graf Ludwigs III. von Rieneck entstand. Anschließend ging K. vermutlich an den Niederrhein, wo er 1257 oder 1258 durch Vermittlung oder im Auftrag der Grafen von Kleve Das Turnier von Nantes, ein Lobgedicht auf den dt. König Richard von Cornwall, etwas später wahrscheinlich auch den kleinen Roman Engelhard schuf. Seine weiteren Gönner fand K. dann seit den 1260er Jahren am Oberrhein. Für den Straßburger Dompropst Berthold von Tiersberg dichtete er zwischen 1261 u. 1277 die Erzählung Heinrich von Kempten; nähere Beziehungen zum Straßburger Bischof (1273–1299) Konrad III. von Lichtenberg, den K. in einer Spruchstrophe rühmt, können angenommen werden. In Basel hatte K. sich wohl in den 1260er Jahren niedergelassen. Er besaß dort ein Haus in der vornehmen Spiegelgasse (der heutigen Augustinergasse); verheiratet war er mit einer Berchta, er hatte zwei Töchter. K.s Basler Gönner gehörten ebenfalls zur Führungsschicht. Auftraggeber der Legende Silvester war der Domherr Liutold von Roeteln; hinter der Legende Alexius standen die beiden Burger, d.h. Angehörige ratsfähiger Familien, Johannes von Bermeswil u. Heinrich Isenlin, die Legende Pantaleon veranlasste der einflussreiche Johannes von Arguel. Der Roman Partonopier und Meliur (vermutlich 1277) verdankt seine Entstehung hauptsächlich dem Ritter Peter Schaler, einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des damaligen Basel, daneben den Burgern Heinrich Merschant u. Arnold Fuchs. Mäzen des unvollendeten Romans Trojanerkrieg schließlich war der Domkantor Dietrich an dem Orte (de Fine). K., der nichtadliger Herkunft war – die Quellen nennen ihn »magister« oder »meis-
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ter«, nicht »her« –, verfügte über eine beträchtl. Kenntnis der lat. Sprache u. Literatur; Französisch scheint er erst spät, durch die Arbeit an Partonopier und Meliur, gelernt zu haben. Als sein großes Vorbild erwähnt er mehrfach Gottfried von Straßburg. Er selbst wird von zeitgenöss. u. nachgeborenen Dichterkollegen wie Hermann Damen, Rumelant von Sachsen, Boppe, Frauenlob, Hugo von Trimberg u. Heinrich von Mügeln gerühmt; die Meistersinger des 15.-18. Jh. verehrten ihn als einen der Zwölf alten Meister, der legendären Begründer der Kunst des Meistergesangs. K.s umfangreiches Œuvre umfasst zahlreiche Dichtungen in singbaren Strophen u. in Reimpaarversen. Zu den gesungenen Dichtungen – die Melodien sind allerdings lediglich zu vier Spruchtönen (Nr. 18, 25, 31, 32) erhalten – gehören die Leichs, die Minnelieder, die Sangsprüche u. das allegor. Gedicht Die Klage der Kunst. K.s religiöser Leich preist in virtuoser geblümter Rede Gott, Maria, v. a. aber Christus; der Minneleich klagt über die Miserabilität der Gegenwart, in der die Minne nichts mehr gilt, Amor u. Venus werden aufgefordert, diesen Zustand zu ändern, am Schluss erscheint das Bild künftigen fröhl. Tanzes. Hauptmerkmal der 23 Minnelieder ist extreme Schematisierung. Es finden sich Sommer-, Winter- u. Tagelieder, fast alle sind dreistrophig, die Strophenformen weisen meist einen dritten Stollen auf, auffallend ist der Reichtum an Reimen. Die Lieder sind ohne Bezug zu der Minnedienstrealität, sie preisen, vielfach lehrhaft, die Frauen u. die Minne im Allgemeinen. Am nächsten stehen K.s Minnesang Gottfried von Neifen u. Ulrich von Winterstetten, gewirkt hat er v. a. auf den Kanzler. Die 51 als echt geltenden Sangspruchstrophen K.s sind in sieben Tönen, durchweg mit drittem Stollen, abgefasst. Geistliche Themen sind weit in der Minderzahl, sonst befassen sich die Strophen mit Kunst, mit Frauenliebe, v. a. aber mit Herrenlehre; zwei Lobsprüche auf Bischof Konrad von Straßburg u. König Rudolf von Habsburg stehen vereinzelt. Aussagen über K.s Lebensrealität lassen sich so gut wie nicht erkennen. Die Klage der Kunst, vielleicht ein Frühwerk, besteht aus 32 achtzeiligen Stro-
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phen. Der Gedanke, die Freigebigkeit werde in der Gegenwart nur den Kunstlosen zuteil, wird in Form einer Personifikationsallegorie ausgeführt. Die in der Literaturgeschichte der Folgezeit wichtige Form der Allegorie ist bei K. damit erstmals als selbstständiges Gedicht ausgeführt. K.s im MA berühmtestes u. verbreitetstes Reimpaargedicht war Die goldene Schmiede, ein Marienpreisgedicht, in dem Marias Wesenheit, ihr Rang u. ihre heilsgeschichtl. Bedeutung durch eine Fülle kunstvoll formulierter u. virtuos gereimter Bilder herausgehoben werden. Im Prolog formuliert der Dichter den Wunsch, der Gottesmutter in der Schmiede seines Herzens ein Gedicht aus Gold zu schmelzen u. darin klaren Sinn aus Karfunkel zu fassen, zgl. aber seine Unfähigkeit: denn Marias Lob sei unauskündbar. K.s Dichtung hat vielfach auf andere Autoren, etwa Frauenlob, Eberhard von Sax u. Hermann von Sachsenheim, gewirkt. Stilistisch ganz andersartig sind die drei Verslegenden K.s, Silvester, Alexius u. Pantaleon. Sie sind nach lat. Vorlagen schlicht gereimt, ihre relative Kürze u. Einfachheit unterscheidet sie deutlich von der romanhaften Legendenepik des 13. Jh. in der Art von Rudolfs von Ems Barlaam und Josaphat u. Reinbots von Durne Der heilige Georg; sie entspricht indes durchaus der Art, in der man in der Zeit nach K. Legenden auf deutsch zu gestalten suchte. Für sich steht in K.s Werk das Propagandagedicht Das Turnier von Nantes, das in der polit. Situation von 1257/58 für den nur teilweise anerkannten dt. König Richard von Cornwall zu werben suchte. Die Dichtung entwirft ein Gegenbild zur tatsächl. Situation der Zeit: Um König Richard, der nicht nur freigebig, sondern auch tapfer u. im Waffenhandwerk bestens geübt ist, scharen sich die dt. Fürsten in vorbildl. Einigkeit; dadurch gelingt es ihnen, die welschen Gegner niederzukämpfen u. dem dt. Namen zu Ruhm zu verhelfen. K.s vier Verserzählungen sind typologisch ganz unterschiedlich. Der Schwanritter sucht durch die Erzählung eines mehrfach, in Deutschland zuerst von Wolfram von Eschenbach am Schluss seines Parzival be-
Konrad von Würzburg
handelten Stoffs den Glanz adliger Geschlechter – Brabant, Geldern, Kleve, Rieneck-Loon – zu erhöhen. Der Welt Lohn zeigt, wie der Ritter Wirnt von Grafenberg durch die Konfrontation mit der Frau Welt, die ihm zunächst ihre glanzvolle Vorder-, dann aber ihre grauenvolle Rückseite zeigt, zur richtigen Erkenntnis geführt wird: Er verzichtet auf weltl. Leben u. geht auf Kreuzfahrt. Den verbreiteten Stoff der »Geschichte vom gegessenen Herzen« nimmt Das Herzmaere auf: Der Ehemann einer Dame lässt ihr das Herz ihres Geliebten, das dieser ihr nach seinem Tod zusenden lässt, als köstl. Speise vorsetzen; als sie erfährt, was sie gegessen hat, stirbt sie ihm an gebrochenem Herzen nach. Die anekdotenhafte Erzählung Heinrich von Kempten fordert die Ritter auf, durch Tapferkeit u. Furchtlosigkeit dem Vorbild des Helden zu folgen. Heinrichs reaktionsschnelle Kühnheit bewährt sich zweimal, beim erstenmal rettet sie ihm das eigene Leben, beim zweitenmal das Leben Kaiser Ottos. Auch hier griff K. einen Stoff auf, der schon vor ihm, bei Gottfried von Viterbo, belegt ist. Thema von K.s frühestem Roman Engelhard ist die Treue. Der Wert höchster Treue wird an einer Neufassung der Freundschaftslegende von Amicus u. Amelius exemplifiziert u. der als treulos geltenden Gegenwart entgegengesetzt. Die Freunde, deren Verbundenheit sich aufs Höchste bewährt u. ihr gottgesegnetes Glück herbeiführt, heißen bei K. Engelhard u. Dietrich von Brabant, die Handlung ist an den dän. Hof König Fruotes verlegt; die Darstellung der Liebesgeschichte zwischen Engelhard u. der Königstochter Engeltrud steht unter dem Einfluss des Tristan Gottfrieds von Straßburg. Der Roman Partonopier und Meliur greift den nach 1150 entstandenen frz. Roman Partonopeus von Blois auf, den ein unbekannter Autor zur Verherrlichung des Hauses Blois-Champagne verfasst hatte. Stofflich handelt es sich um eine Mixtur. Elemente der Antikenromane, der Matière de Bretagne, der Chansons de geste u. von Feenmärchen werden miteinander verbunden. Partonopier von Blois gewinnt die Gunst der byzantin. Reichserbin Meliur, verliert sie dann durch eigene Schuld wieder u. erringt sie schließlich durch ritterl.
Konrad
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Literatur: Horst Brunner: K. v. W. In: VL. – Taten endgültig. An Nebenfiguren hebt K. über die Vorlage hinaus hervor, dass der Rüdiger Brandt: K. v. W. Darmst. 1987. – Hartmut Aufstieg nichtadlig Geborener in die adlige Kokott: K. v. W. Ein Autor zwischen Auftrag u. Welt zu nichts Gutem führen kann – eine Autonomie. Stgt. 1989. – H. Brunner (Hg.): K. v. W. Seine Zeit, sein Werk, seine Wirkung. Marbach/ Sicht, die in Einklang stehen dürfte mit der Neckar 1989 (JOWG 5). – Ders. (Hg.): Die dt. Trovon K.s Basler Auftraggeber. jalit. des MA u. der Frühen Neuzeit. Wiesb. 1990. – K.s größtes Werk ist der von ihm unvoll- Elisabeth Lienert: Gesch. u. Erzählen. Studien zu endet hinterlassene Trojanerkrieg. Der weit- K.s v. W. ›Trojanerkrieg‹. Wiesb. 1996. – Klaus verbreitete riesige Torso sucht die Fülle der Ridder: Mhd. Minne- u. Aventiureromane. Bln. mit dem Trojanischen Krieg zusammenhän- 1998. – R. Brandt: Lit. zu K. v. W. 1987–1996. In: genden Geschichten in größten Dimensionen Archiv für das Studium der neueren Sprachen u. neu u. zusammenhängend zu erzählen. Dabei Lit. 151 (1999) S. 344–369. – Ders.: K. v. W. Kleinere epische Werke. Bln. 2000. – Armin Schulz: bemüht sich K. um größte Objektivität, er Poetik des Hybriden. Bln. 2000. Horst Brunner verschmäht es, wie sonst im MA meist üblich, für Griechen oder Trojaner Partei zu ergreifen. Quellen sind die Estoire de Troie des Benoît Konrad, Marcel, * 6.5.1954 Luzern. – Erde Sainte-Maure u. die wichtigsten Trojatexte zähler. der röm. Literatur (Ovid, Statius, Ilias latina, Aus dem Heraufbeschwören dunkler Kindvielleicht auch Dares u. Dictys). heitserinnerungen bezieht der zum Lehrer K. ist der profilierteste u. erfolgreichste dt. ausgebildete K. die wilden Energien seines Autor der zweiten Hälfte des 13. Jh. An Viel- Erzählens, das sich, nach des Autors eigenen seitigkeit kommt ihm im dt. MA kein anderer Angaben, vom Verzicht auf die Eingriffe des Dichter gleich. Dabei bleibt er teilweise au- ordnenden Verstandes den Schlüssel zur ßerhalb etablierter Formtypen, in der Regel Wahrheit erhofft. In seinem Erstlingsroman greift er jedoch traditionelle Gattungen auf. Stoppelfelder (Zürich 1983) zieht ein zum Tode Allerdings zeigen K.s Beiträge zu den vor- verurteilter Sittlichkeitsverbrecher Bilanz handenen Gattungen fast durchweg ein ho- seines trostlosen Lebens. Der Erinnerungshes Maß an eigener Prägung. In der Vielfalt strom umkreist die Gestalt des brutalen Vader von K. gepflegten Formtypen drückt sich ters, das Hereinbrechen der Sexualität u. die wohl mehr als in einzelnen inhaltl. Zügen die Träume von einer besseren Welt. Der Protfür diesen Berufsdichter weithin entschei- agonist von Erzählzeit. Ein Zustand (Zürich dende Besonderheit der städt. Situation aus: 1984) erfährt sich demgegenüber nicht als Hier fand er viele Menschen mit vielerlei li- Opfer, da er im Rückblick auf sein Leben als terar. Wünschen auf engem Raum als Gönner Bauernknecht alle Verwundungen unter dem u. Auftraggeber vor. Als Stilist gehört K. zu Panzer seiner Abgebrühtheit zu verstecken den größten Virtuosen, die die dt. Literatur- sucht. Wie die Gewalt von einer Generation geschichte kennt. Jacob Grimm, der ihn ge- zur nächsten weitergegeben wird, zeigt auch legentlich mit Ovid verglich, sagte über ihn, der monumentale Roman In meinem Rücken er sei »vielleicht unsrer Sprache am meisten hängt das Vatertier – vor meinen Füßen liegt das Muttertier (Zürich 1988), in dem K. das proMeister gewesen«. Ausgaben: Kleinere Dichtungen. Hg. Edward blemat. Faszinosum der früheren Texte, die Schröder. 3 Bde., Bln. 1924–26 u. ö. – ›Heinrich v. Schilderung der dumpfen Atmosphäre einer Kempten‹, ›Der Welt Lohn‹, ›Das Herzmaere‹. Hg. aus allen histor. Bezügen herausgehobenen u. übers. v. Heinz Rölleke. Stgt. 1968. – Die goldene Bauernwelt, einer gegenständlicheren SchilSchmiede. Hg. ders. Gött. 1926 u. ö. – Die Legen- derung der nun städt. Schauplätze opfert. den. Hg. Paul Gereke. 3 Bde., Halle/Saale 1923–27. – Pantaleon. Hg. u. übers. v. Thomas Neukirchen. Bln. 2008. – Engelhard. Hg. P. Gereke u. Ingo Reiffenstein. Tüb. 31982. – Partonopier u. Meliur. Hg. Karl Bartsch. Wien 1871. – Der Trojan. Krieg. Hg. Adelbert v. Keller. Stgt. 1858.
Dominik Müller
Konstanzer Liebesbriefe
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Konsalik, Heinz G(ünther), eigentl.: Heinz Günther, auch: Jens Bekker, Stefan Doerner, Günther Hein, Benno von Marroth, Boris Nikolai, Henry Pahlen, * 28.5. 1921 Köln, † 2.10.1999 Salzburg. – Romanautor.
H. G. K. Mit einer Bibliogr. der deutschsprachigen Veröffentlichungen des Autors v. 1943–1996. Würzb. 1999. – Wlodzimierz Bialik: Die gewöhnl. Trivialität. Zu Sekundär-Botschaften u. zur Ideologie der En-passant-Aussagen in H. G. K.s später Romanproduktion. Ffm. 2005. Matthias Harder /
K., der seine Biografie häufig ausschmückte u. zum Mythos stilisierte, versuchte bereits Konstanzer Liebesbriefe. – Liebesbriefzu Beginn der 1940er Jahre mit einigen hesteller, um 1350. roischen Dramen sowie theatertheoret. Texten im nationalsozialistischen Literaturbe- Die in einer Donaueschinger Handschrift trieb zu reüssieren. Nach dem Zweiten aufgezeichneten 23 Liebesbriefe in vierhebiWeltkrieg, den er als Kriegsberichterstatter in gen Reimpaaren sind von einem unbekannFrankreich u. in der Sowjetunion erlebt ha- ten, vermutlich geistl. Autor verfasst. Die ben will, arbeitete er zunächst als Dramaturg, Sprache weist nach Konstanz oder UmgeJournalist, Lektor u. Redakteur. Ab 1951 bung. Die Sammlung setzt – nach Blattverlust – mit einem Brieffragment ein; das in lebte er als freier Schriftsteller. Der literar. Durchbruch gelang K. 1956 mit XXIII referierte »prohemio« mit Wirkungsdem Roman Der Arzt von Stalingrad (Mchn. absicht ist nicht erhalten: Der Dichter will im Verfilmt 1958). Seither veröffentlichte er in Dienst der Minne einen Rosenkranz flechten, schneller Folge eine Vielzahl von Romanen, aus dem ein Liebender sich bei Bedarf bediedie ihn zum meistgelesenen u. kommerziell nen könne. I–VII bieten Musterbriefe für die Zeit der erfolgreichsten Schriftsteller der bundesdt. Nachkriegsliteratur werden ließen. Insge- Annäherung u. Werbung (Ihr-Anrede); die samt schrieb er über 160 Romane, die in rund übrigen Briefe (mit Du-Anrede) beziehen sich 30 Sprachen übersetzt wurden u. bislang eine auf einen bereits vertrauteren Umgang mit Gesamtauflage von über 85 Mio. Exemplaren der Geliebten. Die zwischen 20 u. 158 Verse erreichten. Zu den bekanntesten Titeln ge- umfassenden, teilweise mit lat. Zitaten verhören Liebesnächte in der Taiga (Mchn. 1966), sehenen Briefe (I, X u. XI fragmentarisch) erHeiß wie der Steppenwind (Bayreuth 1971), Die fassen typische Situationen im LiebesverVerdammten der Taiga (ebd. 1974), Sie waren hältnis. Die K. L. stehen in der lat. Tradition der Zehn (Mchn. 1979), Die strahlenden Hände »ars dictaminis« u. gehören zu den ältesten (Bayreuth 1984), Das Bernsteinzimmer (ebd. dt. gereimten Liebesbriefstellern. Der Ver1988) u. Der schwarze Mandarin (ebd. 1994). fasser kannte u. a. den Frauendienst Ulrichs K.s Bücher bestehen aus einer Mischung von Elementen des Russland-, Kriegs-, Lie- von Lichtenstein; aus der Minnelehre Johanns bes-, Abenteuer-, Arzt- u. Zeitromans. Sie von Konstanz lassen sich gelegentlich wörtl. werden gemeinhin der so genannten Unter- Übernahmen feststellen. Auf zeitgenöss. u. spätere Literatur haben die K. L. offensichthaltungsliteratur zugerechnet u. verdanken lich nicht gewirkt. ihre Popularität nicht zuletzt einer optimalen Ausgabe: Joseph v. Laßberg (Hg.): Lieder Saal. medienübergreifenden Verwertung (IllusBd. 1. Privatdr. o. O. 1820 u. St. Gallen 1848. triertenabdrucke, BuchgemeinschaftsausgaNeudr. 1968, S. 5–114. ben, Verfilmungen). Die Forschung sieht in Literatur: Albert Ritter: Altschwäb. Liebesihnen »inferior works«, deren Botschaft briefe. Graz 1897. – Ernst Meyer: Die gereimten ausgesprochen nationalistisch-konservative Liebesbriefe des dt. MA. Marburg 1899. – Anton Züge trägt. Henrich: Zu den gereimten Dresdener LiebesbrieLiteratur: Alexander U. Martens: H. G. K. Portrait eines Bestseller-Autors. Mchn. 1991. – Matthias Harder: Erfahrung Krieg. Zur Darstellung des Zweiten Weltkrieges in den Romanen von
fen. In: PBB 37 (1912), S. 552–555. – Ernstpeter Ruhe: De Amasio ad Amasiam. Mchn. 1975. – Walter Blank: K. L. In: VL. – Jürgen Schulz-Grobert: Dt. Liebesbriefe in spätmittelalterl. Hss. Un-
Konstanzer Weltchronik
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tersuchungen zur Überlieferung einer anonymen Kleinform der Reimpaardichtung. Tüb. 1993.
Textzeuge der ›K. W.‹. In: ZfDA 137 (2008), S. 89–96. Gudrun Gleba
Claudia Händl
Kopenhagener Weltgerichtsspiel, aufKonstanzer Weltchronik. – Anonyme gezeichnet im 2. Viertel des 15. Jh. – Geistliches Spiel. Prosachronik vom Ende des 14. Jh. Der namentlich unbekannte, aber sicherlich geistl. Verfasser hatte folgende, in den einleitenden Worten explizit geäußerte Absicht: die Geschichte der Welt von ihrem Beginn bis in seine eigene Lebenszeit am Ende des 14. Jh. in aller Kürze – insbes. für die Zeit vor Christi ist dies die Begründung für knappste Ausführungen – in ihren wichtigsten Ereignissen u. für jedermann verständlich, also in dt. Sprache, darzustellen. Er folgte dabei in z.T. wörtlich zitierten Abschnitten den lat. Quellen des Martinus minorita, Martinus Oppaviensis, Gottfried von Viterbo, Bartholoseus Luccensis u. Heinrich Truchsess von Diessenhofen. Das insg. sehr lückenhafte u. ohne inneren Zusammenhang präsentierte Datenu. Faktengerüst orientiert sich an den Herrschaftsjahren von Kaisern u. Päpsten. Erst für das 14. Jh. finden sich zu einigen Ereignissen wie den Geißlerzügen von 1349 u. dem – möglicherweise selbst erlebten – Erdbeben von 1356 etwas individuellere, wenn auch stets sehr knappe, narrative Passagen. Die Welt dieser fragmentar. Chronik ist auf das dt. Reich, mit bes. Beachtung des Konstanzer Raums, beschränkt; unter dem Namen der Kaiser u. Päpste ragen die der salischen Herrscher sowie der Friedrichs II. heraus. Darüber hinaus zeigt die Liste der seit Christi Geburt genannten illustren Personen, welche Namen der einfachen Leser- bzw. Zuhörerschaft ins Gedächtnis gebrannt werden sollten: die Kirchenväter, Benedikt von Nursia, Columban, Dominikus u. Franziskus, Elisabeth von Thüringen, Albertus Magnus u. Thomas von Aquin. Ausgabe: Eine K. W. aus dem Ende des 14. Jh. Hg. Theodor v. Kern. In: Ztschr. der Gesellsch. für Beförderung der Geschichts-, Alterthums- u. Volkskunde v. Freiburg, dem Breisgau u. den angrenzenden Landschaften 1 (1869), S. 179–235 (mit einleitendem Komm.). Literatur: Birgit Studt: K. W. In: VL (Nachträge u. Korrekturen). – Renate Schipke: Ein neuer
Der anonym überlieferte Text in niederalemann. Mundart (nach hochalemann. Vorlage) besteht aus 997 Reimpaarversen mit kurzen Sprecheranweisungen in Prosa. Als Schreiber nennt sich Johannes Schudi(n) aus Grüningen im Kanton Zürich. Der Titel bezieht sich auf den derzeitigen Aufbewahrungsort der Handschrift (Königliche Bibliothek Kopenhagen, Ms Thott 112 48). Das durchgehend mit aquarellierten Federzeichnungen illustrierte Werk wurde auf der Basis eines Aufführungstextes als Leseexemplar zu Erbauungs- u. Belehrungszwecken angefertigt. Das K. W. ist ein Traditionszeuge der miteinander verwandten Weltgerichtsspiele des 15./16. Jh., die nach Inhalt, szen. Disposition, Personal, religiös-theolog. Konzeption u. Textbestand auf einen Prototypus zurückzuführen sind. Es enthält die konstituierenden Handlungselemente der auf bibl. Grundlage (Mt 25, 31–46) dramatisierten universalen Eschatologie. Nach der Voraussage des Jüngsten Gerichts durch die alttestamentl. Propheten Johel u. Sophonias u. die Kirchenlehrer Gregorius (mit Zitaten von Job u. Salomon) u. Jeronimus (Erklärung der fünfzehn Vorzeichen des Gerichts) wird die Menschheit von vier Engeln zur Auferstehung geweckt. Christus tritt als Weltenrichter auf, veranlasst die Scheidung der Guten u. Bösen, verkündet u. begründet das Erlösungsurteil über die Guten u. schildert im Dialog mit einem der Erlösten die Freuden des ewigen Lebens. Zum Gericht über die Bösen beruft er Maria u. die zwölf Apostel zu Beisitzern. Nach der Verkündung des Verdammungsurteils u. der Ablehnung der fünfmaligen Bitte um Strafminderung durch die Bösen folgen die Urteilsbegründung u. die Auslieferung der Verdammten an den Höllenherrscher Lucifer. Der Klagerede eines Verdammten schließt sich die von Christus strikt zurückgewiesene Fürbitte Marias u. Johannes’ des Täufers an. Zum Strafvollzug
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übergibt Christus die Verdammten endgültig Nicht-Deesis im K. W.? – Und was damit zusamden Teufeln, worauf Lucifer in einer Ant- menhängt. In: ABäG 38/39 (1994), S. 93–104. – wortrede die Argumente der göttl. Urteils- Dieter Trauden: Gnade vor Recht? Untersuchunbegründung aufnimmt u. die Höllenstrafen gen zu den deutschsprachigen Weltgerichtsspielen des MA. Amsterd./Atlanta 2000, S. 38–44. beschreibt. Nach zwei Klage- u. Fluchreden Elke Ukena-Best eines Verdammten u. der Abführung der Bösen durch die Teufel wird die Hölle von Christus für die Ewigkeit verschlossen. Das Kopernikus, Nikolaus ! Copernikus, Spiel endet mit den Lobpreisungen Christi Nikolaus durch die zwölf Apostel u. einer von Erlösungsfreude u. ewiger Seligkeit kündenden Kopetzky, Steffen, * 26.1.1971 PfaffenhoSchlussrede Christi. fen/Ilm. – Verfasser von Romanen, ReiseMit der krassen Demonstration des unerprosa, Hörspielen, Radiofeatures u. bittl. Gotteszorns, der Wirkungslosigkeit der Theaterstücken; Kolumnist. Fürbitte Marias u. Johannes’, der Verzweiflung der Verdammten u. des teufl. Triumphs Nach dem abgebrochenen Studium der Phiwird an die Eigenverantwortung der Men- losophie u. Romanistik in München, Paris u. schen für ihr jenseitiges Schicksal appelliert, Berlin ist K. seit Anfang der 1990er Jahre als da sie die Entscheidung zwischen Heil oder freier Schriftsteller tätig. Zentrales Thema seiner Romane ist die Verdammnis, die mit dem ird. Tod irreversibel wird, zu Lebzeiten selbst treffen. Angst u. Spannung von Ordnung u. Zerfall, Kontrolle Schrecken, die mit der Vergegenwärtigung u. Flucht, systemat. Beschreibung u. offener der heilsgeschichtl. Zukunft in der unmit- Lücke, zwischen Erwartung u. zufälligem telbaren Gegenwart der Rezipienten evoziert Ereignis: sei es durch »Einbruch« der Wirkwerden, sollen die Einsicht in die eigene lichkeit in Form eines Steins in die Welt des Sündhaftigkeit mit der Folge von Reue u. Philosophiestudenten Krampas im Roman Buße erwirken. Zugleich bietet das Spiel sei- (Einbruch und Wahn. Bln. 1998), sei es durch nem Publikum vermittels seiner differen- Verselbstständigung des Anekdotischen in zierten Darlegung der Tugenden der Ge- der Abhandlung philosophischer Grundsatzrechten (Werke der Barmherzigkeit, Befol- fragen im Roman (Eine uneigentliche Reise. gung des Dekalogs, Ertragen von Leid u. a.) u. Handenzyklopädie der Grundprobleme Europas. der Todsünden der Bösen konkrete heilsdi- Bln. 1997), sei es durch die Begegnungen des Schlafwagenschaffners Leo Pardell (Grand dakt. Unterweisung. Ausgaben: Das K. W. Hg. Hans Blosen u. Ole Tour oder die Nacht der großen Complication. Ffm. Lauridsen. Heidelb. 1988. – H. Blosen: Illustratio- 2002). Stets wird ein hehrer Anspruch durch nerne i et kobenhavnsk manuskript af det sen- die Listen des Alltags unterwandert. So wie middelalderlige tyske dommedagsspil. In: Convi- sich die Gleise, die von den europ. Bahnhöfen vium, Kopenhagen 1976, S. 108–133. – Die dt. ausgehen, auf der Landkarte verzweigen, Weltgerichtspiele des späten MA. Synopt. Gesamt- wuchert in Grand Tour das Personal zu einem ausg. Hg. Hansjürgen Linke. 3 Bde., Tüb./Basel teils paranoiden Netz der Begegnungen (das 2002. Pynchon durchblicken lässt), gespiegelt im Lietratur: Rolf Bergmann: Kat. der deutsch- Labyrinth des Lokals »Gran’ Tour« in Paris, sprachigen geistl. Spiele u. Marienklagen des MA. das wiederum die Diplomarbeit Pardells über Mchn. 1986, Nr. 73. – Bernd Neumann: Geistl. Piranesi verkörpert. Der Roman erzählt die Schauspiel im Zeugnis der Zeit. Zur Aufführung letzten acht Monate vor der Jahrtausendmittelalterl. religiöser Dramen im dt. Sprachgebiet. wende, gebannt vom prophezeiten Kollaps Bd. 2, Mchn. 1987, Nr. 3635. – H. Blosen u. O. Lauridsen: Komm. zum K. W. Heidelb. 1988. – H. der Computersysteme, in Abschnitten mit Blosen: Die fünfzehn Vorzeichen des Jüngsten Ge- minutengenauen Fahrplandaten. Der apokarichts im K. W. u. im Berliner Weltgerichtsspiel. In: lypt. Panik steht die Solidität der Uhr »Ziffer FS Karl Stackmann. Hg. Wolfgang Dinkelacker u. a. à Grande Complication 1924« entgegen. Ihre Gött. 1990, S. 206–231. – H. Blosen: Deesis oder Mechanik ist einmalig, weil sie die Jahrtau-
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sendwende einkalkuliert, die in dieser Kopisch, August, * 26.5.1799 Breslau, »Nacht der großen Complication« dann auch † 6.2.1853 Berlin; Grabstätte: ebd., Dreitadellos funktioniert. Dieser unscheinbarste faltigkeitsfriedhof. – Lyriker, Dramatiker, aller Übergänge als Fluchtpunkt des Romans Erzähler, Kunsthistoriker, Übersetzer; findet auf kaum mehr als drei Zeilen statt. Maler. In der typischen Verbindung von Raffinement u. unverhüllt Autobiografischem Der aus einer großbürgerlich-patriz. Kaufschweifen K.s postmoderne Texte zwischen mannsfamilie stammende K. verließ das unOrten, Genres u. Darstellungsweisen umher. ter Mansos Leitung stehende Breslauer MagIm parodistischen Spiel mit dem alteurop. dalenen-Gymnasium vorzeitig, um an den Essayismus repräsentieren die Kapitelüber- Kunstakademien in Prag (1815–1817), Wien schriften des Erstlings zentrale Themen u. (1818/19) u. Dresden (1821–1824) Malerei zu Verfahren: »Die Abschweifung«, »Die Unge- studieren. Am stark klassizistisch geprägten wißheit«, »Die Verführung«, »Die Unei- Akademiebetrieb fand er wenig Gefallen, gentlichkeit«, »Die Langeweile«, »Das Ver- öffnete sich aber, vorab unter dem Einfluss sprechen«, »Der Zusammenhang«. Titel wie der Volkslieder u. Sagenstoffe sammelnden Motti markieren Ansprüche, die stets aufs Freunde Vuk Stephanowitsch, Joseph MeiGanze gehen, ihren enzyklopäd. Impuls im nert u. Ludwig Tieck, der Romantik. Obwohl »uneigentlichen« Reden über die höchsten die Familie ihn zur Malerei oder zu einem Fragen zwischen Europa u. Abendland, aber bürgerl. Beruf drängte, neigte der vielseitig auch altklug u. mit Sinn für das Inszenierte Begabte, der zwischen bildender Kunst, Lirelativieren. Ordnungen (der Zeit in Fahr- teratur u. Wissenschaft schwankte, nach dem plänen u. Streckennetzen) verlieren sich in frühen Tod des Vaters (1819) zunehmend zur einem reisenden Welttheater auf Schienen, Dichtung. Es entstanden poetische Versuche das den Lebensweg seiner Figuren aber nicht in der Nachfolge Ossians, Klopstocks u. mehr bahnt. Die Kritik bemängelte den hy- Schillers. Eine unglückl. Liebe sowie eine ihn pertrophen Anspruch des zweiten u. dritten beim Malen behindernde Handverletzung, Romans; Konstruktionsmängel u. sprachl. die sich der sportlich Aktive beim SchlittFehler beeinträchtigten das Lesevergnügen. schuhlaufen zugezogen hatte, wurden zum Diese enttäuschten Urteile erfolgten aber vor willkommenen Vorwand für einen längeren dem Hintergrund der goutierten Schelmerei Genesungsaufenthalt in Italien (1824–1829). Dort fesselte ihn, nach einem Jahr in Rom, des Erstlings. K. erhielt 1997 den Preis des Landes Kärn- nicht so sehr das antike Erbe als vielmehr die ten beim Klagenfurter Bachmann-Wettbe- südital. Mentalität, in der er als »Don Auwerb u. 1999 den Else-Lasker-Schüler-Preis gusto Prussiano« ganz aufging. Die Malerei gab er zwar nicht vollständig auf, haupt(Stückepreis). Weitere Werke: Lost/Found. Mchn. 2005. – sächlich bearbeitete u. übersetzte K. aber Marokko. Tgb. einer Reise. Mchn. 2006. – Der neapolitan. Komödien des Camerano u. wurde mit dem anonymen Volksgut des Sületzte Dieb. Mchn. 2008 (R.). Literatur: Claude D. Conter: Europa kontrol- dens vertraut, wovon die Agrumi. Volksthümliliert! Verschwörungsphantasien, Globalisierung u. che Poesien aus allen Mundarten Italiens, gesamFluchtwege in S. K.s Europa-Roman ›Grand Tour melt und übersetzt (Bln. 1837) Zeugnis ablegen. oder die Nacht der großen Complication‹. In: Eu- Zudem betätigte er sich als Experte bei ropa in den europ. Lit.en der Gegenwart. Hg. Wulf Kunstkäufen für dt. Besucher u. als Cicerone Segebrecht u. a. Ffm. u. a. 2003, S. 61–81. – Herin Neapel, z.B. für den späteren preuß. König mann Wallmann: S. K. In: LGL. Stefan Scherer Friedrich Wilhelm IV., der ihn nach 1840 an den Hof in Berlin rufen sollte. Sein reges Mitteilungsbedürfnis äußerte sich in zahlreichen Briefen wie jenem an die geliebte Mutter über die Besteigung des Ätna während der Sizilienreise 1827 (Besteigung des
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Aetna. Ein Brief. Breslau 1832). Die Begegnung mit Platen im selben Jahr gab den Anstoß zu K.s intensiver Hinwendung zur Antike, die ihren Ausdruck in einem Odenaustausch zwischen den beiden fand. Der anfangs enthusiastischen Freundschaft im Zeichen der unbestrittenen Mentorschaft Platens folgten bald Abkühlung u. Trennung. 1829 nach Breslau zurückgekehrt, nahm K. aktiv am künstlerischen Leben des »Breslauer Künstlervereins« um Eichendorff, Freytag, Holtei u. Hoffmann von Fallersleben teil, wie er auch in der Berliner Abendgesellschaft als überaus geschätzter Rezitator u. Gelegenheitsdichter glänzte. Von Friedrich Wilhelm IV., dem er nicht nur während der 1848erRevolution in kritikloser Loyalität anhing, erhielt er eine Jahrespension. K. war im Hofmarschallamt als Kunstexperte tätig, wobei das Auftragswerk Geschichte der königlichen Schlösser und Gärten zu Potsdam von der Zeit ihrer Gründung bis zum Jahre 1852 (Bln. 1854) entstand, nach dessen Vollendung er, erst seit drei Jahren mit Marie von Sellin verheiratet, an einem Schlaganfall starb. Um die zwei Pole von K.s Werk, Antikerezeption u. Volksdichtung, bewegt sich bes. seine Lyrik, die neben zur Formvirtuosität gesteigerten Oden, Festgesängen u. Gelegenheitsgedichten v. a. an überlieferte Sagen, Märchen u. Schwänke anknüpfende Gedichte enthält. K.s Allerlei Geister (Bln. 1848), Balladen von kleinen Naturwesen, Kobolden, Elfen u. Zwergen, sprechen unmittelbar an, sind aber oft nicht so schlicht wie sie scheinen, sondern das Ergebnis elaborierender Kunstbemühung. Die Heinzelmännchen zu Köln, die K.s Namen noch heute im literar. Bewusstsein bewahren (zahlreiche Nachdrucke, u. a. Köln 2007. Zürich 2007. Bonn 2009; auch eine Reihe von Vertonungen), die von Loewe vertonte nordische Sage Nöck oder das in Rom entstandene Trinklied Noah etwa sind gekennzeichnet durch ihre Nähe zur Musik, das Melodische u. Lautmalerische ihrer Sprache. K.s Tendenz zur Kleinform, die keine umfangreicheren vollendeten Dichtungen entstehen ließ, ist v. a. bestimmt durch seinen sprunghaften Geist allseitiger Auffassungsbereitschaft, der eine inhaltl. u. formale Geschlossenheit seines Œuvres ver-
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hinderte. Wie in seiner Malerei blieb vieles skizzenhaftes Fragment, so ein Normannenepos oder eine Sammlung sizilian. Sagen u. Legenden. K. ist denn auch keine dramat. Natur, wie eine nicht bühnenreife, in sechsfüßigen Jamben vorgenommene Dramatisierung des zweiten Teils der Nibelungen u. d. T. Chrimhild (Bln. 1856) u. das im Morgenland spielende Trauerspiel Walid (Bln. 1856) verraten. Seine Prosaschriften sind durchwegs Reflexe seines Aufenthalts in Süditalien, so die Novelle Ein Carnevalsfest auf Ischia (Bln. 1856), die alle Kahlköpfigen der Insel versammelt u. in der Folge zur Heirat des reichen Don Antonio mit der schönen Witwe Donna Theresa führt. Die mit dem Landschaftsmaler Ernst Fries gemachte Entdeckung der blauen Grotte auf der Insel Capri (Bln. 1838. Neudr. Bln. 1997) wandelt die sehnsuchtsvolle romant. Suche nach der blauen Wunderblume zu einem erfolgreichen Schwimmunternehmen um, das einer antiken Grotte gilt, die, ihres Geheimnisses entkleidet, zur Touristenattraktion wird. Diese detailgenaue Abenteuerschilderung verweist symbolisch auf K.s literaturhistor. Ort: den eines Autors, der sich mit eigenem, meist schalkhaftem Ton als Spätromantiker artikuliert u. doch dabei seinen klassizistischen Hintergrund ebensowenig verleugnet wie seine Voranleihen beim poetischen Realismus. Weitere Werke: Gedichte. Bln. 1836. – Die göttl. Komödie des Dante Alighieri. Metr. Übers. nebst beigedrucktem Originaltexte mit Erläuterungen, Abh.en u. Register. Bln. 1842. – Genaue Feststellung des jeweiligen Aufenthaltes Friedrich II. an jedem Tage seiner Regierung. Bln. 1852. – Ges. Werke in 5 Bdn. Hg. Carl Boetticher. Bln. 1856. – Breslauer Kunst- u. Geistesleben vor 100 Jahren. Ungedr. Briefe v. u. an A. K. Mitgeteilt v. Ernst Scheyer. In: Schles. Ztg., 26.6. u. 1.7.1930. Literatur: Paul Bornefeld: A. K. Sein Leben u. seine Werke mit einer Quellenuntersuchung zu seiner Sagendichtung. Diss. Münster 1912. – E. Scheyer: A. K. In: Schles. Lebensbilder. Bd. 4. Hg. Friedrich Andreae u. a. Breslau 1931, S. 310–324. – Ders.: Zu Briefen v. u. an A. K. Aus seiner Kunstakademiezeit 1814–24. In: Aurora 27 (1967), S. 53–77. – Klaus Günther Just: A. K. In: Schlesien 12 (1967), S. 17–30. – Ders.: K. als Dichter. In: ebd., S. 87–102. – Marianne Rumpf: Wie war zu Cölln es
Koplowitz doch vordem mit Heinzelmännchen so bequem. In: Fabula 17 (1976), S. 45–76. – Siegfried Haertel: A. K. Maler u. Dichter. Bonn 1976. – Peter Bumm: August Graf v. Platen. Paderb. u. a. 1996, S. 469–473 u. ö. (Register). Markus Zenker † / Red.
Koplowitz, Jan, auch: Gulliver, * 1.12. 1909 Kudowa/Schlesien, † 19.9.2001 Berlin. – Verfasser von Romanen, Reportagen u. Jugendbüchern. K.’ Biografie u. Werk sind bestimmt von seinem Engagement für den Sozialismus. Der Sohn eines jüd. Hotelbesitzers arbeitete als Lehrer, Buchhändler u. Redakteur der Arbeiterpresse. Ab 1929 war er Mitgl. der KPD u. des Bundes proletarisch-revolutionärer Schriftsteller u. schrieb polit. Revuen für Agit-Prop-Truppen, als deren Darsteller u. Leiter er auch arbeitete. 1933 floh er nach Verhaftung u. Folterung in die CˇSR, lebte dort illegal bis 1939 u. emigrierte dann über Polen u. Schweden nach England, wo er als Metallarbeiter u. Gewerkschaftsfunktionär tätig war. 1947 kehrte er nach Deutschland (Ost) zurück, arbeitete in der Maxhütte (Unterwellenborn/Kreis Saalfeld) u. für den Rundfunk u. war Vorsitzender der »Kommission für kulturelle Massenarbeit der DDR«, Direktor der Berliner Konzert- u. Gastspieldirektion, schließlich freier Schriftsteller. Das »Arbeiterlesebuch« Unser Kumpel Max der Riese (Bln./DDR 1954) basiert auf K.’ Erfahrungen in der Maxhütte u. ist »eine im Sinn von Egon Erwin Kisch in viele Splitter explodierte ›offene Reportage‹« (Koplowitz). Diese Form greift er häufig auf, z.B. in die taktstraße (ebd. 1968). Höhepunkt des erzählerischen Werks ist der breit angelegte »Roman einer Familie« Bohemia – Mein Schicksal (Halle 1979), in dem er die Geschichte jüd. Hotelbesitzer in einem »Weltkurort« an der dt.-tschech. Grenze schildert. Der Roman, als Gegensatz zum amerikan. »Holocaust«-Melodram konzipiert, will »den Aufbruch aus dem Ghetto zum Fortschritt« darstellen. In den Erzählungen aus Karfunkel und der Taschendieb (Halle/Lpz. 1988) geht es K. darum, in Personenporträts Lebensgeschichte vor
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dem Vergessen zu bewahren. Die Titelgeschichte handelt von Kazimir Karfunkel, der starke autobiogr. Züge trägt, u. Maurice Orent, einem Taschendieb, der von Karfunkel politisiert wird u. der ihm aus Dankbarkeit sein Leben opfert. Das Brot der fremden Länder (1989) versammelt Erzählungen u. Lebenserinnerungen aus den Jahren 1938–1945. Deutlich wird auch in diesen Erzählungen eine stark autobiogr. Anbindung, die den Übergang zwischen Lebensbericht u. Fiktion fließend macht. Wichtiges Spätwerk ist K.s Autobiografie mit dem zyn. Titel Bestattungskosten (Bln. 1994). Hier finden sich nach der Rekonstruktion der Familiengeschichte Reflexionen über die zentralen Themen von K.s Leben wie Faschismus, Judentum, sein Verhältnis zur DDR, unter deren »Niedergang« K. sehr gelitten hat. Quälendes Hauptanliegen dieser Autobiografie ist K.s Rechtfertigung seiner Tätigkeit für das Ministerium für Staatssicherheit der DDR. Diesen »Zwiespalt des Gewissens« zu erklären, unternimmt K. eine schwierige Gratwanderung zwischen der Überzeugung, das »Richtige« getan zu haben, Schuldgefühlen u. Verharmlosung seiner Spitzeltätigkeit unter dem Decknamen »Pollack«. Druckmittel des Ministeriums für Staatssicherheit war K.s in der Türkei inhaftierter Sohn Danny, für dessen Hafterleichterung K. Devisen benötigte. Auf die empörten Anfeindungen seiner bespitzelten Kollegen, die in »jüdischer Denunziantenarsch« (Joachim Seyppel) gipfeln, konterte K. mit dem Vorwurf des Antisemitismus. K. erhielt u. a. 1977 den Heinrich-Mann- u. 1980 den Lion-Feuchtwanger-Preis. Weitere Werke: Es geht nicht ohne Liebe. Bln./ DDR 1956 (R.). – Glück auf, Piddl. Ebd. 1960 (Jugendroman). – Das Geschäft blüht. Ebd. 1961 (R.). – Herzstation. Ebd. 1963 (R.). – Gesch.n aus dem Ölpapier. Halle 1972 (E.). – Die Sumpfhühner. Ebd. 1977 (R.). – Der unglückselige Blaukünstler. Halle 1986 (R.). – Drehbücher: Jacke wie Hose. DEFA 1952/ 53. – Koffer mit Dynamit [Dt. Version]. DEFA 1963. – Es geht nicht ohne Liebe (zus. mit Lothar Höricke). DFF 1963. – Hotel Polan u. seine Gäste (zus. mit Günther Rücker). DDR-FS 1980–82. Literatur: Christel Berger: Interview mit J. K. In: WB 29 (1983), H. 1, S. 86–100. – Dies.: ›Helfen, damit es am Schluß stimmt‹. Über J. K. In: ebd.,
643 S. 101–114. – Thorsten Hinz: Das Gästehaus an der böhm. Grenze. Der schles. Jude J. K. In: Kulturpolit. Korrespondenz (1995), Sonderdienst 63, S. 33–34. – Max Klein: J. K. 1. Dez. 1909 bis 19. Sept. 2001. In: Utopie kreativ, (2001), H. 134, S. 1126–1131. – Gabriele Eckart: The GDR and Anti-Semitism. A Comparison of J. K.’ Novel ›Bohemia, mein Schicksal‹ (1979) and Horst Seemann’s Film ›Hotel Polan und seine Gäste‹ (1981). In: Schofar 26 (2008), H. 3, S. 68–86. Karin Rother / Elke Kasper
Kopp, Josef Vital, * 1.11.1906 Beromünster, † 22.9.1966 Luzern. – Romanautor, Essayist, Theologe.
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Weise dem Wissen um den Tod gegenüberstellt. Seit 1959 befasste sich K. intensiv mit Leben u. Werk des kirchl. Dissidenten Teilhard de Chardin, was deutlich auf seine letzten Romane abfärbte, die das Priestertum zum Thema haben. Die Tochter Sions (Luzern 1966. Lpz. 1969) stellt die Erfahrungen eines unbotmäßigen Klerikers dar, während der erst postum erschienene Roman Der Forstmeister (Luzern 1967) den Sieg eines Reformers über die Verkrustungen eines Funktionärssystems darstellt, das unverkennbar Ähnlichkeit mit der kath. Hierarchie aufweist. Dieser Roman wirkt außerordentlich hermetisch u. komplex u. wurde von der Kritik wohl darum bis heute noch nicht in seiner wahren Bedeutung anerkannt.
Der Sohn des Gemeindeammanns von Beromünster verbrachte Kindheit u. Schulzeit, wie er in dem autobiogr. Roman Der sechste Tag (Einsiedeln 1961) anschaulich darstellt, in Weitere Werke: J. V. K. Erbe u. Aufbruch. Ein der fast noch mittelalterlich anmutenden Lesebuch. Hg. Joseph Bättig u. Klaus v. Matt. LuAtmosphäre dieses Landstädtchens. Nach zern 2006. – Nachl. J. V. K. Ergänzt mit Texten u. theolog. Studien in Innsbruck u. Solothurn Dokumenten aus dem Besitz v. Pia Beck-Kopp u. wurde er 1931 zum kath. Priester geweiht, Peter u. Beatrice v. Matt-Albrecht. Geordnet v. war jedoch nur kurze Zeit in Luzern als sozial Klaus v. Matt. Stans 2006. Literatur: Karl Fehr: J. V. K. Ein Dichter- u. engagierter Jugendseelsorger tätig, ehe er ab 1935 ein Zweitstudium in Klassischer Philo- Priesterleben im Bannkreis moderner Welt- u. Gottesschau. Luzern 1968 (mit Bibliogr.). – Joseph logie aufnahm, das er nach Studien in FreiBättig: J. V. K. (1906–1966). Ungeladene Gäste. In: burg i. Br., Berlin u. Heidelberg 1939 mit Ders. u. Stephan Leimgruber (Hg.): Grenzfall Lit. einer Dissertation über frühgriech. Lyrik ab- Die Sinnfrage in der modernen Lit. der vierspraschloss. Bereits seit 1938 war er Lehrer am chigen Schweiz. Freib. 1993, S. 191–208. – Albert Gymnasium von Willisau, wo er bis 1945, als Gasser: Prophet im Aufbruch der Kirche – J. V. K. er für weitere 17 Jahre in gleicher Funktion (1906–1966). In: Rudolf Zinnhobler (Hg.): Kirche an die Kantonsschule Luzern wechselte, Re- in bewegter Zeit. Graz 1994, S. 125–140. – Joseph Bättig: Meinrad Inglin (1893–1971), J. V. K. ligion u. klass. Sprachen unterrichtete. K.s literar. Werke bis 1958 sind vom hu- (1906–1966). Tradition u. Aufbruch im Spanmanistischen Bildungserlebnis geprägt u. nungsfeld zweier Wegbereiter der literar. Frühmoderne in der Zentralschweiz. Luzern 1999. – tendieren dazu, antike Gestalten u. deren Pirmin Meier: Eine späte Studie v. J. V. K. In: Nova Verhaltensweise als für die Gegenwart mo- Acta Paracelsica 18 (2004), S. 117–143. dellhaft darzustellen: so der Platon verCharles Linsmayer / Red. pflichtete Roman Sokrates träumt (Einsiedeln 1946), der Roman Brutus (ebd. 1950) u. der Koppel-Ellfeld, Franz, * 7.12.1838 Eltantike Liebesroman Die schöne Damaris (ebd. ville/Rhein, † 16.1.1920 Dresden. – Büh1954). Erst im Roman Die Launen des Pegasus nenautor, Erzähler, Redakteur. (ebd. 1958), einer Auseinandersetzung mit dem Problem des künstlerischen Schaffens, Nach dem Studium der Geschichte u. Philowandte sich K. in Thematik u. Schauplatz der sophie in Tübingen, Leipzig u. Heidelberg unmittelbaren Gegenwart zu. Zur vollen erhielt K. 1871 eine Privatdozentur für KulHöhe seines literar. Könnens fand er dann turgeschichte an der TH Dresden. Seit 1876 aber erst in Der sechste Tag (Zürich 1961. Lu- a. o. Professor, wechselte er 1877 als Feuillezern 2007), einer Romanbiografie, die das tonredakteur zu den »Dresdner Nachrichten« Erlebnis der Kindheit auf erschütternde u. wurde 1890 Hofdramaturg in Dresden.
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Nach Anfängen mit Gedichten u. der Behandlung ernsterer Stoffe in Roman (Zwei Brüder Jesu. Stgt./Lpz. 1867) u. Tragödie (Spartakus. Wien 1876) wandte sich K. der Schulhumoreske (Ein Don-Juan-Examen. Lpz. 1881), dann dem Lustspiel zu. Durch die Zusammenarbeit mit Franz von Schönthan wurde er zu einem der erfolgreichen Vertreter des frz. Vorbilder rezipierenden u. sozial entschärfenden Unterhaltungstheaters der Gründerzeit. Als bes. zugkräftig erwiesen sich die histor. Stoffe ins Familiäre wendenden Lustspiele Komtesse Guckerl (1895. Bln. 1902), Renaissance (Bln. 1897) u. Die gold’ne Eva (1896. Bln. 1902). Seinen Beitrag zur vaterländ. Stimmung im Kaiserreich leistete K. mit Albrecht der Beherzte (Lpz. 1889) u. dem Festspiel Die Feuertaufe (Breslau 1893). Weitere Werke: Gorilla oder Chimpanse. Dresden 1877 (Schwank). – Marguerite. Dresden 1887 (D.). – Florio u. Flavio. Ein Schelmenstück u. Liebesspiel (zus. mit Schönthan). Bln. 1902. Literatur: Renate Werner: Gesellsch. der Krokodile. In: Wulf Wülfing u. a. (Hg.): Hdb. literarisch-kultureller Vereine, Gruppen u. Bünde 1825–1933. Stgt. 1998, S. 155–161. Christian Schwarz / Red.
Kopsch, Barbara Helena, geb. Lang (Lange), getauft 13. 9. 1656? Nürnberg?, † nach 1705. – Übersetzerin, Dichterin. Die Herkunft von K. ist noch nicht eindeutig geklärt. Auf den Namen Barbara Helena Lang wurde 1656 in Nürnberg oder im Territorium der Reichsstadt Nürnberg eine Tochter des Handelsmanns Georg Lang u. von dessen Frau Margaretha getauft. K. war eine Doppelbegabung: Nürnberg erlaubte es ihr, sich in Sprachen (Deutsch, Französisch, Latein), in den Wortkünsten (Dichten, Übersetzen) u. zugleich in den bildenden Künsten (Malen, Kupferstechen, Wachsbossieren, Schnitzen in Alabaster u. Elfenbein) zu üben. Verbürgt ist die Förderung ihrer Talente, seit sie unter dem Namen »Erone« (»Die [von Jesus] Geliebte«) Mitgl. des Pegnesischen Blumenordens war. Ihre Aufnahme erfolgte 1679 auf Veranlassung des Ordenspräses Sigmund von Birken. Ein Freund u. Förderer war der Pegnitzschäfer Magnus Daniel Omeis
(1646–1708), Professor für Rhetorik, Moral u. Poesie an der Universität Altdorf. 1686 heiratete die »gelehrte Nürnbergerin« (Von Poeten, so zugleich Mahler gewesen. In: [Theodor Krause:] Vergnügung müßiger Stunden, Tl. 16, Lpz. 1720, S. 322) Nicolaus Kopsch, der ein Handelsunternehmen mit Sitz in Berlin u. Amsterdam besaß. Auf den 28.6.1686 ist ein Hochzeitsgedicht ausgestellt (Der Erone Myrten-Krone. Nürnb. 1686), das der Ordenspräses, Martin Limburger, im Namen der übrigen Mitglieder verfasste. Nach ihrer Heirat lebte K. in Berlin, zeitweilig auch in Amsterdam. Auf den Tod von Louise Dorothee Sophie von Hessen-Kassel, geb. Prinzessin von Brandenburg (1680–1705), verfasste sie ein Trauergedicht (Die Betrachtung des die Sterblichkeit vernichtenden Geistes. Cölln an der Spree [1705]), das sie nach Nürnberg sandte. Danach verstummen die Quellen. Im Archiv des Pegnesischen Blumenordens haben sich keine Autografen oder Artefakte von ihr erhalten. Zwischen 1680 und 1685 beteiligte sich K. mit fünf Hochzeits- u. vier Trauergedichten an Sammelschriften, die von Mitgliedern des Pegnesischen Blumenordens herausgegeben wurden. Mit ihrem metaphernreichen Stil folgte sie dem von den Mitgenossen vorgegebenen Dichtungsideal. K. gehört zu den ersten Frauen im dt. Kulturraum, die mittels gedruckter Übersetzungen in die Öffentlichkeit wirkten. Dabei konnte sie an die Pionierarbeit anschließen, die Margareta Maria Bouwinghausen von Wallmerode (1629-nach 1679) auf diesem Gebiet geleistet hat. Sicherlich nicht zufällig war K. die erste dt. Übersetzerin, die als Vorlage das Werk einer ausländ. Autorin gewählt hat. Mit ihren Übersetzungen führte sie punktuell die Arbeit von Georg Philipp Harsdörffer, Mitstifter u. 1644–1658 erster Präses des Blumenordens, weiter. Auch dieser hatte sich um die Verbreitung stoischer Ideale u. die Integration von Frauen in die Konversationsgeselligkeit nach romanischen Vorbildern bemüht. 1684 veröffentlichte K. den philosophischen Ratgeber Vernünfftige GemüthsBeruhigung oder kurze Lehr-Sätze, wie die Begierden bey allen Begebenheiten vernünftig und wol zu regieren, und die wahre Zufriedenheit zu befördern (Nürnb.). Der noch nicht identifizierte Autor
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des Werks, wohl ein Engländer, war ein Ver- Kordon, Klaus, * 21.9.1943 Berlin. – Kintreter des Neostoizismus. Mit ihrer zweiten der- u. Jugendbuchautor. Übersetzung huldigte K. dem Genie von K., dessen Vater im Zweiten Weltkrieg fiel, Madeleine de Scudéry. Sie übersetzte (leicht wuchs im Osten Berlins auf. Nach dem Tod gekürzt u. etwas hölzern) den ersten Konder Mutter 1956 lebte er in Heimen, machte versationenband (Conversations sur divers sujets. sein Abitur in Abendkursen u. absolvierte ein 2 Bde., Paris 1680) der Französin, der ein Fernstudium der Volkswirtschaft. 1972 weweiteres Mal (nun sehr elegant) von Chrisgen versuchter »Republikflucht« verurteilt, tiane Mariane von Ziegler (1695–1760) einwurde er nach einjähriger Haft von der BR gedeutscht wurde. K. vermehrte die Klugen Deutschland freigekauft. Seit 1980 arbeitet er Unterredungen der in Frankreich berühmten als freier Autor. Mademoiselle de Scudery, worinnen uber unterDas Werk K.s umfasst Jugendromane, reaschiedliche Sachen sehr nachdenkliche Gedanken, listische u. fantastische Kindergeschichten, und lehrrichtige Gespräche enthalten (2 Tle., Erzählungen, Texte für das Erstlesealter, Nürnb. 1685), wie schon die Vernünfftige GeBilderbuchtexte u. Gedichte. Der JugendromüthsBeruhigung, um von ihr entworfene u. man Ein Trümmersommer (Weinheim 1982) u. gestochene Kupferstichillustrationen u. um die Trilogie Brüder wie Freunde (ebd. 1978), Gedichte, die ebenfalls von ihrer Hand Tage wie Jahre (enthalten in Frank guck in die stammen. Mit ihrer zweiten Übersetzung Luft. Ebd. 1986) u. Einer wie Frank (ebd. 1982) rückte sie einen neuen Typus von Autorin (die schildern K.s Nachkriegskindheit u. -jugend universell gebildete Berufsschriftstellerin), in Ost-Berlin. Seine Heimatstadt Berlin ist für einen bestimmten Beziehungstypus (die auf K. der Ort schlechthin, um über dt. GeBildung u. Feingefühl basierende egalitäre schichte nachzudenken. Sein zeitgeschichtl. Geschlechterbeziehung) u. höfisch geprägte Interesse kommt ebenfalls in dem JugendroUmgangsformen ins Blickfeld der literar. man Die roten Matrosen oder Ein vergessener Öffentlichkeit. Winter (ebd. 1984) zum Ausdruck, der die Weitere Werke: Offt wird ein zartes Reis dem Ereignisse 1918/19 in Berlin aus sozialistiVater-Ort entzücket. In: Die betrübte Pegnesis, den schem Blickwinkel aufbereitet. In diesen Leben, Kunst- u. Tugend-Wandel des seelig-edlen Floridans, H. Sigm. v. Birken [...] zur schuldigen Kontext lässt sich auch 1848. Die Geschichte von Nach-Ehre, fürstellend [...]. Nürnb. 1684, S. 74–77. Jette und Frieder (ebd. 1997) einordnen, in der – Hertz-sehnl. Vatter-Letze [...] [Trauergedicht auf dt. Geschichte aus der Perspektive zweier den kleinen Sohn des Nürnberger Bürgers Wolf- junger Liebenden erzählt wird. Die Fortsetgang Leitner]. [Nürnb.] 1685. – Es ist nicht meine zung der Familiensaga mit dem Titel Fünf Schuld, daß ich so lang geschwiegen [...] [v. K. in Finger hat die Hand (ebd. 2006) beginnt im Jahr Elfenbeinblätter geschnitztes Gedicht für Magnus 1870 u. setzt sich kritisch mit dem DeutschDaniel Omeis]. In: Amarantes [Pseud. für Johann Französischen Krieg auseinander. In die KaHerdegen]: Histor. Nachricht v. deß löbl. Hirten- u. tegorie »Zeitgeschichte« gehört auch K.s auBlumen-Ordens [...] Anfang u. Fortgang [...]. tobiogr. Roman Krokodil im Nacken (ebd. Nürnb. 1744, S. 493–495. – Für weitere Gedichte s. 2002). Manne Lenz, der nach einem missdas Werkverz. in: Jürgensen, S. 241, 529, 532, glückten Fluchtversuch ein Jahr in Stasi-Ge535–538. fängnissen verbringt, erzählt in ReminiszenLiteratur: Sabine Koloch: Madeleine de Scudéry in Dtschld. Zur Genese eines literar. Selbst- zen seine Kindheit u. Jugend in der DDR. Den bewußtseins bürgerl. Autorinnen. In: Gender Stu- Deutschen Jugendliteraturpreis (1995) erhielt dies in den roman. Lit.en: Revisionen, Subversio- K. für seine Kästner-Biografie Die Zeit ist kanen. Hg. Renate Kroll u. Margarete Zimmermann. putt (ebd. 1994). Auch hier bleibt K. seinem 2 Bde., Ffm. 1999, Bd. 1, S. 232–240. – Dies.: Bil- literar. Prinzip treu, Leben u. Werk des Audung, Macht, Kommunikation: Frauen im Kultur- tors mit der histor. Situation zu einer Einheit prozeß der Frühen Neuzeit (darin der Abschnitt zu verknüpfen. ›Frankophile Übersetzerinnen u. Autorinnen‹) (in Ein weiteres bevorzugtes Thema K.s sind Vorb.). Sabine Koloch die Lebensverhältnisse von Kindern u. Ju-
Koreff
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gendlichen in der sog. Dritten Welt, die K. 71, S. 54–57. – Malte Dahrendorf: K. K. In: KLG. – von zahlreichen ausgedehnten Reisen kennt. Franz-Josef Payrhuber: K. K. In: KJL (Bibliogr. bis Sein Erstlingsroman Tadaki (Hbg. 1977. Tb. 2001). – Barbara Gelberg (Hg.): Werkstattbuch K. K. Ravensburg 1982. Überarb. u. d. T. Der Weg Weinheim 2003. – Christoph Schmitz: K. K. In: LGL. Birgit Dankert / Elke Kasper nach Bandung. Hbg. 1989) spielt in Indonesien. Die Jugendromane Monsun oder Der weiße Tiger (Weinheim 1980) u. Wie Spucke im Sand Koreff, David Ferdinand (nach der Taufe (ebd. 1987) untersuchen die Verhältnisse in 1816: Johannes Ferdinand), auch: AnIndien auf Humanität u. Zukunftsmöglichthropos, * 1.2.1783 Breslau, † 15.5.1851 keiten. Der 13-jährige elternlose Assad ist der Paris; Grabstätte: ebd., Père-Lachaise. – Protagonist aus Der Piratensohn (ebd. 2007). Lyriker, Librettist, Essayist; Arzt. Das reiche Handelsschiff seines Onkels, des Diamantenhändlers Saadi, wird von Piraten K., Sohn eines angesehenen jüd. Arztes, gekapert. Nach dem Freitod des Onkels be- widmete sich seit 1802 dem Studium der ginnt für Assad als Adoptivsohn des Piraten- Medizin, zunächst in Halle, dann in Berlin. Dort fand er Zugang zu der von der romant. kapitäns ein neues abenteuerl. Leben. Mehrfach hat K. die Realität der BR Bewegung inspirierten Salongeselligkeit; seit Deutschland kritisch dargestellt, u. a. in der 1803 gehörte er dem »Nordsternbund« an u. Familiengeschichte Schwarzer Riese. 5. Stock lieferte 1805/06 unter dem Pseud. Anthropos (ebd. 1979. Tb. Ravensburg 1984). Die Beiträge zu den von Varnhagen u. Chamisso Sammlung von Erzählungen u. Nacherzäh- herausgegebenen »Musenalmanachen« des lungen Die 1002. Nacht und der Tag danach Kreises. Erst ein Jahrzehnt später legte er ein (Würzb. 1985) zeigt K.s Interesse an der fan- Bändchen Lyrische Gedichte (Paris 1815) vor. tastischen u. märchenhaften Literatur. Er er- Nach der Promotion 1804 betrieb er bis 1811 hielt u. a. 1982 den Friedrich-Gerstäcker- eine ärztl. Praxis in Paris; auf seine »ganz Preis, 1985 den Zürcher Kinderbuchpreis »La neuen Ansichten über das Lebensprinzip« vache qui lit«, 1999 den Großen Preis der wies Frau von Staël, die wie die Brüder Deutschen Akademie für Kinder- und Ju- Schlegel zu seinem Kreis zählte, in ihrem gendliteratur u. 2003 erneut den Deutschen Buch De l’Allemagne hin. K. übte seinen Beruf aus, ohne sich um völlige theoret. DurchJugendliteraturpreis. dringung zu bemühen, in oft spektakulär Weitere Werke: Möllmannstraße 48. Stgt. erfolgreichen Kuren als magnetischer Arzt in 1978. Tb. Ravensburg 1983 (E.). – Die Einbahnstraße. Stgt. 1979. Tb. Ravensburg 1987 (R.). – Die der Nachfolge Mesmers. Nachdem er 1805 Wartehalle. Würzb. 1983 (R.). – Zugvögel oder Ir- das Erbe seines Vaters angetreten hatte, gendwo im Norden. Stgt. 1983 (R.). – Die Reise zur praktizierte er nur noch ohne Honorar. Nach Wunderinsel. Weinheim 1983. Tb. 1988 (R.). – Reisen in Italien u. der Schweiz 1811–1813 – Hände hoch, Tschibaba! Bln. 1985. Tb. Reinb. 1988 als Arzt u. Vertrauter der Marquise Delphine (E.). – Der Ritter im Sack. Bln. 1988 (E.). – Der de Custine – fand er sich Ende 1813 zum Käpt’n aus dem 13. Stock. Hbg. 1988 (R.). – Die Kongress in Wien ein; doch die Hoffnung, Flaschenpost. Ravensburg 1988 (R.). – Ein richtiger seine Kontakte zu den Gegnern Napoleons Indianer. Bln. 1989 (E.). – Bei uns in Charlotten- könnten ihn für eine Staatsstellung empfehburg. Bln. 1992 (E.). – Murras Rache. Reinb. 1997 len, erfüllte sich erst, als Caroline von Hum(E.). – Paula Kussmaul lässt nicht locker. Weinheim boldt 1815 den preuß. Kanzler Hardenberg 2001 (R.). – Jinbal v. den Inseln. Weinheim 2006 auf ihn aufmerksam machen ließ. (M.). In einer trotz des zunehmenden AntisemiLiteratur: Karl-Heinz Klimmer: An die Vertismus glänzenden Karriere wurde K. 1816 hältnisse – über den Schriftsteller K. K. In: Jugegen den Widerstand der Fakultät zum gendmagazin, H. 2 (1984), S. 68–75. – Heidi Strobel: Ich will Anstöße geben. Gespräch mit K. K. In: Professor der Medizin an der Universität DU 52 (1999), Sonderh., S. 39–48. – Claudia Berlin ernannt; seit 1818 war er Geheimer Krauthausen: Kriegsende u. Nachkriegszeit. K. K. Oberregierungsrat in der Staatskanzlei. An Der erste Frühling. In: Gesch. lernen 12 (1999) H. der Gründung der Universität Bonn hatte er
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Kormart
Literatur: Karl August Varnhagen v. Ense: maßgebl. Anteil; er vermittelte die Berufung August Wilhelm Schlegels. In der Berliner Biogr. Porträts. Lpz. 1871, S. 1–58. – Franz BrümGesellschaft machte der Leibarzt u. Günstling mer: Dt. Dichter-Lexikon. Bd. 1, Eichstätt/Stgt. des Kanzlers den Magnetismus zur medizi- 1876, S. 464. – Marietta Martin: Un Aventurier intellectuel sous la Restauration et la Monarchie de nischen Mode. Freilich sollte sich gerade Juillet. Le Docteur K. Paris 1925. – Friedrich v. Friederike Hähnel, die »magnetische Hellse- Oppeln-Bronikowski: D. F. K. Serapionsbruder, herin« (Varnhagen) u. Mätresse des Kanzlers, Magnetiseur, Geheimrat u. Dichter. Bln. 1927. – W. mit K.s Feinden zu seinem Sturz verbünden. Haberling: J. F. K. In: Biogr. Lexikon der hervorRahel Varnhagen freilich bewahrte dem ragenden Ärzte aller Zeiten u. Völker. Hg. August Freund K. ebenso die Treue wie E. T. A. Hirsch. Bd. 3, Bln./Wien 21931, S. 587. – Fritz Hoffmann, der ihn in den Serapions-Brüdern als Ernst: Ess.s. Bd. 2, Zürich 1946, S. 228–236. – Inden »unruhigen, unsteten«, aber glänzend geborg Köhler: Ein Wegbereiter Hoffmanns in begabten Vinzenz porträtiert hatte. K.s letz- Frankreich: Der Doktor K. In: Mitt.en der E. T. A. ten Erfolg in Berlin hatte eine Aufsatzreihe Hoffmann-Gesellsch. e. V., Bamberg (1980), H. 26, S. 69–72. – Réne-Marc Pille: Sechs ungedr. Briefe über Spontinis Oper Olympia in der »VossiK.s an Chamisso. In: ZfG 8 (1987), S. 171–178. schen Zeitung« von 1821 vorbereitet; nach Walter Schmitz / Lea Marquart der Uraufführung seiner eigenen Oper Aucassin und Nicolette oder die Liebe aus der guten alten Zeit (gedr. in: Berlinischer TaschenkaKormart, Kornmart, Cormart, Christoph, lender 1820, S. 221–298. 1821, S. 131–190; * 22.7.1644 Leipzig, † 18.(?)2.1701 Dresvertont von Georg Abraham Schneider) ging den; Grabstätte: ebd.. Friedhof der Soer 1822 – offiziell als wissenschaftl. Berichtphienkirche. – Jurist u. Übersetzer. erstatter – nach Paris; es war K.s »Tragik, daß er, der daheim als ›Jude‹ angegriffen worden Das sechste Kind des Leipziger Zeitungswar, jetzt in Paris als ›Preuße‹ Mißgunst er- schreibers u. »Universitätsverwandten« Gefuhr« (Oppeln-Bronikowski). Zwar schätzten org Kornmarth (ab 1633: Kormart) wurde von ihn Heine, dessen Arzt K. lange war, wie einem Hauslehrer unterrichtet u. erhielt Benjamin Constant, u. in den Abendgesell- dann vermutlich an der namhaften Nikolaischaften um Stendhal, Merimée u. Musset schule eine lutherisch-humanistische Erziewar er gern gesehen; die erste wirkungsreiche hung. Am 30.5.1660 trat K. (nach einer pro frz. Gesamtausgabe der Werke Hoffmanns forma Einschreibung in Leipzig im Sommer wurde von K. inspiriert. Doch ein Skandal- 1649) sein Universitätsstudium in Wittenprozess nach der Heilung der Lady Hamilton berg an. Nach drei Jahren kehrte er in die hatte 1837 sein ärztl. Ansehen erschüttert, Heimatstadt zurück, hörte Vorlesungen von das durch einen weiteren Prozess (1847) ge- Jakob Thomasius, Friedrich Rappolt, Quirin gen die Erben der Marie Duplessis – Vorbild Schacher u. anderen (Bakkalaureats- u. Mavon Dumas’ Kameliendame – fast völlig ver- gisterprüfung am 26.1.1665) u. lernte Französisch, Holländisch u. gegen Ende des Jahrnichtet wurde. Weitere Werke: Dissertatio de venenorum ac- zehnts auch Italienisch, wohl mit der Absicht, tione in organismum animalium. Heidelb. 1803. – das väterl. Zeitungsgeschäft zu übernehmen. Albii Tibulli carmina libri tres. Cum libro quarto Selbst Mitgl. einer studentischen SchauSulpiciae et aliorum. Übers. v. D. F. K. Paris 1810. – spielertruppe, konnte K. seine SprachkenntRéflexion sur la nouvelle machine à plonger, ap- nisse vertiefen u. gleichzeitig seine Leidenpellée Triton, inventée par M. Frédéric Drieberg. schaft für das Theater befriedigen, indem er Paris 1811. – Don Tacagno. Kom. Singspiel. Musik Märtyrer- u. Tyrannenstücke in die Mutterv. Friedrich v. Drieberg. Urauff. 1812. Paris 1819. – sprache übertrug u. dem damaligen dt. GeDer Einzug des Kaisers. Wien 1814. – De regionibus Italiae aeri pernicioso contaminatis. Bln. 1817. Dt. schmack anpasste. Unter Hervorhebung des in: Magazin für die gesamte Heilkunde 9 (1921). – Politischen u. des Theatralischen gewann er Über die Erscheinungen des Lebens u. über die für die dt. Bühne so große europ. Erfolge wie Gesetze, nach denen es im menschl. Organismus Corneilles Polyeuctus (Lpz./Halle 1669. Nachsich offenbart. Bln. 1820. dr. hg. u. eingel. v. R. J. Alexander. Bern/Ffm.
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1987) u. Héraclius (Dresden 1675), Joost van Jüdin oder verliebte und abgefallene Josebeth (Ffm. den Vondels Maria Stuart (Halle/S. 1672) u. 1680) u. eine fünfbändige Übersetzung nach auch Thomas Corneilles beliebtes Lustspiel einer holländ. Fassung von La Calprenèdes Timocrate (Der unbekannte Liebhaber oder beliebte heroisch-galantem Roman Statira oder CassanFeind Timocrates in einem Freuden-Spiele mit vie- dra (Lpz. 1685–88. 21689–1707) veröffentliler kurtzweiligen Ergetzligkeit von den lustigen chen lassen. Pickelhering angefüllet und vorgestellet [...]. Lpz. Weitere Werke: Diss. politica [...] de Constan1681. Dresden 1683), das er aber anonym tino Magno [...] in exemplum boni principis [...]. Praes.: Magister C. K. Lpz. 1665. – Übers.: Pieter publizieren ließ. Außer diesen sowohl auf der Schul- als (Johan?) de la Court: Consideratien van Staat. Oder auch auf der Wanderbühne aufgeführten Be- polit. Wag Schale [...]. Lpz./Halle 1669. – Abbrege arbeitungen – Maria Stuart wirkte stark auf des memoires illustres, contenant les plus remarquables affaires d’estat enrichi, d’un sommaire des Johannes Riemer – schrieb bzw. übersetzte Essais de Montaigne. Dresden 1689. K., der 1670 seine Jurastudien in Straßburg Literatur: Bibliografien: Bibliogr. dt. Übers.en wohl wegen des Todes des Vaters abbrechen aus dem Frz. [...]. Bearb. Hans Fromm. 6 Bde., musste, auch staatswissenschaftl. u. juristi- Baden-Baden 1950–53. Nachdr. Nendeln 1981 sche Traktate. Durch den Beistand eines (Register). – Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, Freundes, des Hof- u. Justitienrats Gabriel S. 2415–2424. – VD 17. – Weitere Titel: Jean-François Gottlieb Voigt, konnte er sich als »vornehmer Payen: Coup d’œil re´ trospectif sur la vente Bignon. Advokat« in Dresden niederlassen. Seit Lan- De C. K. et son analyse des Essais de Montaigne. gem hatte er gute Beziehungen zu hochan- Paris 1849. – Wilhelm Hermann Johannes: C. K. als gesehenen Mitgliedern des Beamtenadels wie Übersetzer frz. u. holländ. Dramen. Diss. Bln. 1892. Wolfgang Siegfried von Lüttichau u. Karl von – P. H. Powell: C. K.’s adaptations of P. Corneilles Friesen unterhalten u. in seinen Werken für ›Polyeucte‹ and ›Heraclius‹ and their relation to the contemporary German drama of the 17th century. die Mitwirkung dieses alteingesessenen Adels MA Thesis. Cardiff 1936. – Abram Friesen: Das an der Ausübung der polit. Macht plädiert. Theater K.s u. Schochs [...]. Diss. Mainz 1958. – Doch nahm er sein Jurastudium wieder auf u. Ferdinand van Ingen: Die Übers. als Rezeptionswurde im März 1678 an der Universität Jena dokument: Vondel in Dtschld., Gryphius in Holmit einer Inauguraldissertation De iure consi- land. In: Michigan Germanic Studies 4 (1978), liorum (Praes.: Johann Volkmar Bechmann) S. 131–164. – Robert J. Alexander: Anonym ersch. zum Doktor beider Rechte promoviert (vgl. Werke v. C. K. In: WBN 6 (1979), S. 340 f. – Klaus dazu die Einladungsschrift mit Biogr. K.s: Reichelt: Barockdrama u. Absolutismus. Ffm./Bern J. V. Bechmann D. Antecessor, et Facultatis Juridi- 1981, S. 66–118. – DBA. – R. J. Alexander: C. K.’s cae in Academia Salana h. t. IIX. Decanus [...]. Timocrates. A German baroque comedy rediscovered. In: WBN 20 (1993), S. 33 f. – John Alexander: Jena 1678. Internet-Ed.: VD 17). Er heiratete The language of the Pickelhering. A German adu. erhielt dabei die Schenke »Zum Weißen aptation (1683) of Thomas Corneille’s ›Timocrate‹. Einhorn« sowie ein Mietshaus in der Stadt- In: GRM 52 (2001), S. 463–476. mitte. Obwohl er dann seine Laufbahn erRobert J. Alexander / Red. heblich beeinträchtigte, weil er ein paar Jahre nach der Eheschließung die Interessen der Korn, Christoph Heinrich, * 14.1.1726 Malz- u. Bierbrauer der Stadt Dresden gegen Tübingen, † 25.9.1783 Stuttgart. – Verdie illegale Einfuhr von Bier durch den Adel fasser von Romanen, zeitgeschichtlichen vertrat, durfte er dem neuen Kurfürsten Jou. reformkatholischen Schriften. hann Georg IV. sein letztes Werk Tractatus juridicus de jure consiliorum (Dresden 1693) K., der in Tübingen Jura studierte, 1747 in widmen u. persönlich überreichen. Inzwi- holländ. Kriegsdienste trat u. sich um 1759 in schen hatte K. eine kleine Gedichtsammlung Stuttgart niederließ, lebte in seinen Ulmer u. d. T. Entwurff etzlicher Sonnetten und Epi- (1769–1776) u. späten Stuttgarter Jahren von grammaten (o. O. 1684) sowie den sechsmal einer stets um Aktualität u. Aufklärung begedruckten, anonym herausgegebenen Lie- mühten Schriftstellerei. Er begann mit fikbesroman Die zum Christenthum neubekehrte tionaler Prosa, wandte sich aber bald dem
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zeitgeschichtl. Bericht u. der polit. Publizis- o. O. [Ulm?] 1782. Biographie eines Mönchs, o. O. tik zu. Mit seinen Erzählungen (Versuch in [Ulm?] 1782). rührenden Erzählungen. Stgt. 1770. 21772, auch Literatur: Albrecht Weyermann: Neue histor.einzeln erschienen. Die Abendlust im Prater zu biogr.-artist. Nachrichten v. Gelehrten u. Künstlern Wien. Ffm., Lpz. 1774 [Ulm 1773]) bewies er aus Ulm. Ulm 1829. – Ernst Weber u. Christine Gespür für die Tendenz zum Kurzroman als Mithal: Dt. Originalromane zwischen 1680 u. empfindsamer Seelenstudie oder novellis- 1780. Eine Bibliogr. [...]. Bln. 1983. – Wolfgang Martens: Zum Marinelli-Typus vor Lessing. In: tisch geschürzter Geschichte. Seine stilistisch Richard Fisher (Hg.): Ethik u. Ästhetik. Ffm. 1995, gelungenen Romane eines moralisierenden S. 69–79. – Wolfram Malte Fues: Fiktionalität im Pragmatismus, die fast alle Albrecht Friedrich Übergang. J. M. v. Loens ›Redlicher Mann am Hofe‹ Bartholomäi in Ulm verlegte (K. wohnte u. C. H. K.s ›Tugendhafte und redliche Frau am 1769–1773 bei ihm), sind als in Handlung Hofe‹. In: Simpliciana 20 (1998), S. 211–227. umgesetzte Tugendlehre aufschlussreich für Ernst Weber bürgerl. Lebensideale wie für unbewusste Beziehungsängste des bürgerl. Mannes (Die Korn, Karl, * 20.5.1908 Wiesbaden, † 10.8. Ausländer in der Schweiz. Ulm 1770. Die tu- 1991 Bad Homburg. – Journalist, Essaygendhafte und redliche Frau am Hofe. Ffm., Lpz. ist, Biograf. 1770 [Ulm 1769]). Mit Canut der Grosse (Ulm Nach dem Studium u. a. bei Paul Tillich, Karl 1771) versuchte K. – wie gleichzeitig Albrecht Mannheim, Max Scheler u. einem Lektorat in von Haller – den polit. Staatsroman wieder zu Toulouse arbeitete der Lehrersohn K. als Rebeleben. dakteur 1934–1937 beim »Berliner TageK.s zeitgeschichtl. Arbeiten bestehen zum blatt«, dann bei der »Neuen Rundschau«. einen aus sog. Totengesprächen, die zeitge- Seine Mitarbeit bei der Renommierzeitung schichtl. Ereignisse wie das Verbot des Jesui- der Nationalsozialisten »Das Reich« endete tenordens (Gespräche im Reiche der Todten zwi- 1940 nach sechs Monaten mit seiner Entlasschen Benedikt dem XIV. und Klemens dem XIV. sung, dem Schreibverbot u. der Einberufung o. O. [Ulm?] 1776) oder das Treiben des zum Kriegsdienst. 1949–1973 baute er als Wunderheilers Johann Joseph Gaßner (Ge- einer der Herausgeber der »Frankfurter Allspräche im Reiche der Lebendigen zwischen [...] ei- gemeinen Zeitung« deren Feuilletonredaktinem katholischen Pfarrer und dem Herrn Redlich. on auf. Als Literaturkritiker setzte er sich für o. O. [Ulm?] 1775) erörtern, zum andern aus die Gruppe 47, v. a. auch für Böll, ein. Als Fortsetzungsserien, bei denen es sich um eine Schriftsteller reflektierte K. exemplarische geschickte, jedoch von krit. Reflexion unbe- Lebensläufe: seinen eigenen bis 1940 in Lange rührte Zusammenstellung von Zeitungsmel- Lehrzeit. Ein deutsches Leben (Ffm. 1975), den dungen aus der Staats-, Kriegs- u. Hofge- eines für ihn beispielhaften Publizisten in schichte handelt (Geschichte des gegenwärtigen Zola in seiner Zeit (Ffm. 1980). Sprachkritik als Krieges zwischen Rußland, Polen und der Ottoma- Gesellschaftskritik betrieb er in dem Klassinischen Pforte. Ffm., Lpz. [Ulm] 1771–75. Ge- ker Sprache in der verwalteten Welt (Ffm. 1958). schichte der Kriege in und ausser Europa. 29 Tle., Weitere Werke: In der Stille. Gedanken u. BeNürnb. 1776–84. Kurzgefaßte Geschichte des trachtungen. Bln. 1944. – Die Rheingauer Jahre. Englisch-Französisch-Spanischen Krieges [...] in Bln. 1946. Ffm. 1986. 21993. – Die verlorene ReNordamerika. Salzb. 1780). Wie alle seine volution 1848. Bln. 1948. – Der gezähmte Mensch. Werke erschienen auch jene Schriften K.s Moralistische Gedanken. Düsseld. 1949. – Faust ging nach Amerika. Freib. i. Br. 1958. – Über Land anonym, die sich, ähnlich denen von Riesbeck u. Meer. Journal aus drei Jahrzehnten. Ffm. 1977. – oder Pezzl, kritisch mit dem Mönchswesen u. Rheinische Profile. Stefan George, Alfons Paquet, den Grenzen zwischen geistl. u. weltl. Macht Elisabeth Langgässer. Pfullingen 1988. auseinander setzen, gedacht als politischLiteratur: Marcus M. Payk: Der ›Amerikapublizistisches Plädoyer für die Reformen komplex‹. ›Massendemokratie‹ u. Kulturkritik am Josephs II. (Das Grab der Bettelmönche. o. O. Beispiel v. K. K. u. dem Feuilleton der ›Frankfurter [Ulm?] 1781. Magazin für Mönche und Nonnen, Allgemeinen Zeitung‹ in den fünfziger Jahren. In:
Korn Arnd Bauerkämper u. a. (Hg.): Demokratiewunder. Gött. 2005, S. 190–217. – Ders.: Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik. K. K. u. Peter de Mendelssohn. Mchn. 2008. Walther Kummerow † / Red.
Korn, Renke, * 14.12.1938 Unna. – Dramatiker, Hör- u. Fernsehspielautor. Der Sohn eines Studienrats studierte Germanistik, Geschichte u. Philosophie (1963 Staatsexamen) u. war danach als Hilfsarbeiter, Lehrer, Dreher, Regieassistent u. Regisseur tätig. Seit 1963 lebt er in (West-)Berlin als freier Schriftsteller u. arbeitet v. a. für das Fernsehen. K. gehört zu den Gründern des Verbands Deutscher Drehbuchautoren u. initiierte 1986 das Berliner Festival »Woche des Hörspiels«. 1993–1995 war er Leiter der Berliner Hörspieltage. K. gehört zu jener Gruppe von Bühnenautoren, die die Forderungen der Studentenbewegung nach einer aufklärenden, gesellschaftsverändernden Literatur in den 1970er Jahren in Form eines neuen Volksstücktypus realisierte. Themen sind Anpassungszwang (Verteidigung eines Totengräbers. WDR 1966. Hörsp.), Vergangenheitsbewältigung (Die Überlebenden. Urauff. Gött. 1967. Schausp.), individuelles polit. Handeln (Das Attentat auf das Pferd des Brasilianers Joao Candia Bertoza. NDR 1971. Hörsp.; als Schausp. Urauff. Aachen 1973), Gastarbeiterproblematik (Die Reise des Engin Özkartal von Nevsehir nach Herne und zurück. Urauff. Tüb. 1975. Schausp., Fernsehsp.), Jugendarbeitslosigkeit (Tilt. ZDF 1979. Fernsehsp.) u. die Partnerschaft in der »Konkurrenzgesellschaft«, in seiner bekanntesten Szenenfolge Partner (Urauff. Dortm. 1971. Gedr. Zürich 1971). K. verdeutlicht, wie alle Gesellschaftsbereiche von Arbeit geprägt sind. Zur Darstellung verwendet er Mittel des Hörspiels wie die Rückblende, die strenge Einheit von Ort-Raum-Zeit, Elemente des absurden Theaters, der Gerichtsverhandlung u. der Episodenreihung. Mit Der Architekt der Sonnenstadt (ZDF 1979. Fernsehsp.) begann K.s Regiearbeit für das Fernsehen u. seine – oft durchaus optimistische – Beschäftigung mit dem Konflikt zwi-
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schen Handlungsmöglichkeit u. Resignation, Agitation u. Kompromissbereitschaft, die sich etwa in Die Rückkehr der Träume (ZDF 1983. Fernsehsp.) fortsetzt. Das O-Ton Hörstück Wenn wir an lauen Sommerabenden alle gemeinsam im Hof gesessen haben, war es schön (RB 1986) beschäftigt sich mit den trügerischen Versprechungen des Lebens als Aussteiger in Deutschland; Sunrise-Club (WDR 1992. Hörsp.) verlegt dieselbe Thematik in die Tropen. K. vertritt in seinen Werken u. außerliterar. Äußerungen emphatisch die gesellschaftl. Relevanz medialer Darstellungen u. hält an einem integrativen, progressiven Gesellschaftsbegriff fest. In Zuhaus unter Fremden (SFB 1980. Fernsehsp.) behandelt er eindringlich u. auf weiterhin anregende Weise die Liebe eines dt. Jungen zu einer türk. Gastarbeitertochter. Die von den ARD-Sendern gehaltene Balance zwischen Publikumsnähe u. Bildungsauftrag ermöglicht es K., in seinen Hörspielen brisante u. aktuelle Themen aufzugreifen, darunter der Umgang mit Behinderten (Der Kämpfer. Zusammen mit Bernd Hollmach. RB 1988), Rechtsradikalismus (Feme. NDR/RIAS 1986) u. Rassismus (Nigger. WDR 1991) sowie Karrierefragen nach der Wiedervereinigung (Unter Wasser sehe ich aus wie ein Hai. WDR 1993). Weitere Werke: Theater: Flucht nach HinterWiesenthal. Urauff. Dortm. 1971. – Kollegen. Urauff. Braunschw. 1973. – Filme: Der Alte. ZDF 1975. – Die neue Armut der Familie S. ZDF 1978. – Hörspiele bzw. O-Ton-Hörstücke: Picknick. WDR 1969. – Vorstellungen während der Frühstückspause. WDR 1971. – Es mußte sein, Elke, das war ja nicht mehr auszuhalten. WDR 1974. – Geh nach Dtschld. SFB/BR 1977. – Gedämpft. HR/BR/SFB 1978. – Der gute Mensch v. Kreuzberg oder ich will kein Hausbesitzer sein (zus. mit Christoph Teubel). RIAS 1983. – Das kalte Büffet der Perlons. RIAS/RB 1984. – Der Hausmann. RIAS/RB 1985. – Letzte Botschaft aus Lagos. WDR/HR 1986. – Ihr Bild stand noch viele Jahre zwischen den Bildern der anderen Kinder. SFB 1997. Literatur: Gerd Jäger: Arbeitswelt auf dem Theater. In: Theater Heute (1975), H. 4, S. 32. – Christoph Müller: Wirklichkeitsimitation? Die Reise des Engin Özkartal ... In: ebd. (1975), H. 8, S. 48. – Hannes Schwenger: R. K. In: KLG. Christian Schwarz / Christophe Fricker
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Kornfeld, Paul, * 11.12.1889 Prag, † 25.4. (oder Januar) 1942 Lódz´ (Konzentrationslager). – Dramatiker, Erzähler, Essayist. /
Wie viele seiner Prager Dichterkollegen zog es auch K., Sohn eines wohlhabenden jüd. Unternehmers, schon bald nach Deutschland: 1914 übersiedelte er nach Frankfurt/M., 1916 heiratete er die Schauspielerin Fritta Brod. Nach einer Tätigkeit als Dramaturg in Darmstadt ging er 1928 nach Berlin u. schrieb dort Aufsätze u. Kritiken für »Das TageBuch«. 1932 kehrte er nach Prag zurück. Hier wurde er 1941 von den Nationalsozialisten gefasst u. ins Konzentrationslager nach Lódz´ deportiert, wo er ums Leben kam. Mit der Tragödie Die Verführung (Bln. 1916. Urauff. Ffm. 1917), einem Aufschrei gegen den Zeitgeist, wurde K., Zeitgenosse von Max Brod u. Kafka, Klassenkamerad von Ernst Deutsch, Willy Haas u. Werfel, mit einem Schlag berühmt u. zu einem der wegweisenden Dramatiker des Expressionismus: Bitterlich, der in seinen Weltschmerz verliebte Held der Tragödie, opponiert mit dem Mord an einem Spießbürger gegen die »Menschen ohne Seele«. Charakter u. Seele, Wirklichkeit u. Wahrheit werden in K.s Essay Der beseelte und der psychologische Mensch (in: Das junge Deutschland. Jg. 1, Nr. 1, 1918), einer für den Expressionismus programmat. Schrift, zu fundamentalen Gegensätzen erklärt, die Psychologie wird als nichtssagend u. oberflächlich verworfen. Zudem enthält dieser Essay Ansätze zu einer antinaturalistischen, nichtmimetischen, auf Überhöhung u. Stilisierung beruhenden Schauspielkunst. Nach dem wenig erfolgreichen Mysterienspiel Himmel und Hölle (Bln. 1919. Urauff. Bln. 1920) wandte sich K. vom expressionistischen Drama ab. In den 1920er Jahren schrieb K. Komödien. Den Idealen von Revolution, Weltverbesserung u. Menschheitserlösung erteilte er in Der ewige Traum (Bln. 1922. Urauff. Ffm. 1922. Bergisch Gladbach 1990) u. in Palme oder Der Gekränkte (ersch. u. uraufg. Bln. 1924) eine spött. Absage. Ist in dieser in der Tradition Molières stehenden Charakterkomödie ein hypochondr. Narr u. Misanthrop porträtiert, /
so machte sich K. in Kilian oder Die gelbe Rose (Bln. 1926. Urauff. Ffm. 1926) über philosophisches Geschwätz u. hochtrabende Phrasen als Mode der Salons lustig. K.s letztes dramat. Werk ist die Tragödie Jud Süß (ersch. u. uraufg. Bln. 1930): In der Geschichte vom Aufstieg eines Außenseiters interessiert K. das Wechselspiel von polit. Macht u. moralischer Korruption, von Vernunft u. Verblendung, dem Kalkül des Karrieristen u. der Hysterie der Massen. Erst postum erschien K.s einziger Roman Blanche oder Das Atelier im Garten (Hbg. 1957. Mchn. 2000), entstanden 1930–1941. In nuancierten Charakter- u. Stimmungsbildern wird der Zusammenhang von Liebe, Traum u. Tod eingekreist, wird das Bild einer brüchigen u. bedrohten Welt gezeichnet. Der Roman – »Zeugnis eines gelassenen, feinfühligen Stils« (Peter Härtling) – gilt heute als K.s bedeutendstes Werk. Weitere Werke: Legende. Bln. 1917. Mchn. 2001 (E.). – Die Begegnung. In: Dt. Dichter aus Prag. Lpz. 1919 (E.). – Sakuntala. Bln. 1925 (D.). – Smither kauft Europa. Bln. 1929 (Kom.). – Revolution mit Flötenmusik u. a. krit. Prosa. Hg. Manon Maren-Grisebach. Heidelb. 1977. Literatur: Manon Maren-Grisebach: Weltanschauung u. Kunstform im Frühwerk P. K.s. Diss. Hbg. 1960. – Dies.: P. K. In: Wolfgang Rothe (Hg.): Expressionismus als Lit. Bern/Mchn. 1969. – Margarita Pazi: P. K. (1889–1942). In: Dies.: Fünf Autoren des Prager Kreises. Ffm. u. a. 1978, S. 210–255. – Dies.: Zu P. K.s Leben u. Werk. Tagebücher aus seiner Frankfurter Zeit 1914–1921. In: JbDSG 27 (1983), S. 59–85. – Jürgen Serke: Böhm. Dörfer. Wien/Hbg. 1987. – Siegfried Lenz: Weltflucht mit Komfort. Hinweis auf P. K. In: Ders.: Über das Gedächtnis. Hbg. 1992, S. 160–165. – Stephen Shearier: P. K. In: DLB 118 (1992), S. 145–151. – M. Pazi: P. K. Tagebücher v. 1905 bis 1921. In: Donald G. Daviau (Hg.): Österr. Tagebuchschriftsteller. Wien 1994, S. 191–236. – Wilhelm Haumann: P. K. Leben – Werk – Wirkung. Würzb. 1995. – Hans-Joachim Weitz (Hg.): Drei jüd. Dramen. Mit Dokumenten zur Rezeption. Gött. 1995. – Sandra Nuy: P. K.: Jud Süß. Studie zu einer dramat. Bearb. des ›Jud Süß‹-Stoffes. Anif/ Salzb. 1995. – Markus Weber: Expressionismus u. Neue Sachlichkeit. P. K.s literar. Werk. Ffm. u. a. 1997. – Klaus Schöffling (Hg.): P. K. Leben u. Werk. Ffm. 1999. – Bozena Choluj: P. K. Ein dt. Expressionist aus Böhmen. In: Frank-Lothar Kroll (Hg.): /
Kornfeld Böhmen. Bln. 2000, S. 57–67. – Galili Shahar: Lion Feuchtwanger u. P. K. Kapital, Judentum, Konspirationen. In: Ders.: Theatrum judaicum. Bielef. 2007, S. 72–79. Wolfgang Seibel / Red.
652 395. – Horst Meyer: T. K., ein Osnabrücker Barockdichter in Zesens ›Deutschgesinneter Genossenschaft‹. In: Osnabrücker Mitt.en 88 (1982), S. 130–156. – Flood, Poets Laureate, Bd. 2, S. 1038–1041. Jutta Sandstede / Red.
Kornfeld, Theodor, * 15.1.1636 Herford, † 15.3.1698 Holte/Osnabrück. – Evange- Kornmann, Heinrich, * 1579 Kirchhain/ lischer Theologe, Schulmann, Lyriker u. Hessen, † 1627 ebd.– GebrauchsschriftDichtungstheoretiker. steller u. Polyhistor. K. studierte ab April 1658 Theologie in Rostock, Rinteln (1661), Gießen (1664) u. ab 15.7.1665 in Jena, wo er im Sept. dieses Jahres als Autor u. Respondent eine Disputatio theologica positivo polemica (Psychiama pneumatikon [griech.], a deo trin-uno per logon hypostatikon [griech.] revelatum [...]. Praes.: Johann Ernst Gerhard) bestritt u. 1667 (1665?) auch zum Dichter gekrönt worden sein dürfte. 1667 zog er nach Osnabrück; hier war er bis kurz vor seinem Tod Konrektor des Ratsgymnasiums. Im Juni 1686 wurde er Miterzschreinhalter der Deutschgesinnten Genossenschaft. K.s für Autodidakten geschriebene, an Balthasar Kindermann angelehnte Selbst-lehrende alt-neue Poesie oder Vers-Kunst der edlen Teutschen-Helden-Sprache (Bremen 1685 u. 1686) vermischt »Virtuosentum mit rationalistischer Nüchternheit nicht gerade glücklich« (Markwardt). Vor allem seine darin wieder abgedruckten religiösen Figurengedichte (z.B. Apfel, Ei, Leuchter, Sanduhr, Herz, Becher, Kreuz) wurden als »Torheiten« kritisiert. »Denn entweder passen sie nicht recht zu den Gegenständen, oder sie ergeben sich überhaupt nicht ohne Verrenkung von Wort und Vers« (Neumeister). Weitere Werke: Geistliches Verlöbniß [...]. Gießen 1664. – Pericopae evangelicae tripartitae [...]. Hbg. 1675. – Programmatum [...] decuria prima, carminum v. miscellaneorum sexta, in qua saltem ostenduntur materiae sacrae [...]. Osnabr. 1691. – Decuria secunda, carminum v. miscellaneorum septima, qua ostenduntur materiae mixtae [...]. Osnabr. 1691. Literatur: Bibliografie: Dünnhaupt 2. Aufl. Bd. 4, S. 2425–2428. – Weitere Titel: Johann Christoph Strodtmann: Historie des Schulwesens u. der Akademie zu Osnabrück [...]. Hg. Johann Karl Bertram Struve. Osnabr. 1869, S. 31. – Bruno Markwardt: Gesch. der dt. Poetik. Bd. 1, Bln. 3 1964, S. 227. – Heiduk/Neumeister, S. 62, 198,
Der Sohn des Reitz Kornmann, des Bürgermeisters von Kirchhain/Hessen, studierte nach dem Besuch des Marburger Pädagogiums (1592) zeitweise (immatrikuliert 28.1.1600) in Heidelberg. Die Bildunterschrift eines späteren Porträts (in Marburg erhalten) lässt ihn den Titel eines Dr. utr. jur. tragen, den er in Rom erworben habe. Diese – durchaus problematische – Angabe würde eine Konversion des Protestanten zur kath. Kirche voraussetzen, worauf allerdings auch seine spätere Tätigkeit als Mainzer Rat zu Heiligenstadt u. Amtskeller zu Neustadt (bei Marburg) hindeutet. 1609 heiratete er Sibylla, geb. Leutenrad. In der Vorrede zu De Miraculis Mortuorum verweist K. auf seine »peregrinationes in Germania, apud Italos, apud Gallos, & apud Iberos«. Diese Reisen müssen v. a. seit 1607 stattgefunden haben, als K. seine Heimatstadt verließ, die damals calvinistisch wurde. Durch einen Brief an De Thou ist ein Aufenthalt in Paris belegt (1608/09). K. gehört zu den biografisch eher obskuren, literarisch aber höchst produktiven u. dazu äußerst wirkmächtigen Kompilatoren, Wissensvermittlern u. Gebrauchsschriftstellern des 17. Jh., dem Typus nach vergleichbar mit Autoren vom Schlage eines Caspar Ens, Johannes Prätorius, Martin Zeiller, Erasmus Francisci oder Eberhard Werner Happel. K.s berühmtestes Standardwerk Mons Veneris, Fraw Veneris Berg / Das ist / Wunderbare vnd eigentliche Beschreibung der alten Haydnischen vnd Newen Scribenten Meynung / von der Göttin Venere [...] (Ffm.1614. Neudr. Ffm. 1978), Arsenal für viele Exempelsammlungen, selbstverständlich auch von Grimmelshausen für seine Vorstellung von den Elementargeistern zitiert, überlieferte unter manchem literar. oder vorliterar. Traditionsgut (Merlin u. der
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Artuskreis, Ritter von Stauffenberg, Melusinefiguren) auch die Tannhäusergeschichte an die Romantiker (Wunderhorn, Brentano, Brüder Grimm). Das Werk erwies sich als willkommener stoffl. Fundus diverser Schauergeschichten des späten 17. bis 19. Jh. Auch die von Eichendorff u. anderen aufgegriffene Vorstellung vom unheiml. Italien war letzthin durch K. geprägt. Weitere Werke (Titel stark gekürzt): Sibylla Trygandriana seu de Virginitate statu. Ffm. 1610. Unter anderem Titel: Jena 1621. Ffm. 1631 (weitere Drucke bis ins 18. Jh.). – Lineae Amoris. Ffm. 1610. – Tractatus de annulo triplici. Ebd. 1610. – Roma communis nostra patria. Ebd. 1610. – De miraculis mortuorum [...] in quo mirabilia ex exempla mortuorum [...] collecta habentur, quaestiones naturales, Physicae, Medicinae, Theologiae et Juridicae traduntur et artificiose pertractantur. Ebd. 1610. – Templum naturae historicum. Darmst. 1611. – De miraculis vivorum. Ffm. 1614. – Responsum juris: ob und wie die Juden unter christl. Obrigkeit zu dulden. Marburg 1622. – Werkausgaben: Opera curiosa in tractatus quattuor distributa. Ffm. 1614. – Opera curiosa in tractatus sex distributa. Ebd. 1616. Literatur: Walter Pabst: Venus u. die mißverstandene Dido. Hbg. 1955. – Werner Welzig: K.s Mons Veneris. In: ZfdPh 81 (1962), S. 218–224. – Matthias Gorzolka: H. K. (1579–1627). Materialien zu einer Biobibliogr. In: Jb. f. Volkskunde N. F. 17 (1994), S. 209–218 (mit Werkverz.). – Michael Mühlenhort: ›Von einem Nymphenbronnen im Hessenlandt‹. Der Beitrag hess. Gelehrter zur Magie- u. Hexereidiskussion um 1600. In: MarburgBilder. Bd. 1. Hg. Jörg Jochen Berns. Marburg 1995, S. 207–240. – Klaus Haberkamm: K.s collectanea Mons Veneris (1614) u. De Miracvlis Mortvorum (1610). Kurioses v. stoffgeschichtl. u. hermeneut. Relevanz. In: Simpliciana. Schr.en der Grimmelshausen-Gesellsch. 21 (1999), S. 161–176. – Wilhelm Kühlmann: Eine Lebensspur H. K.s. Sein Brief an Jacques August de Thou. In: Daphnis 34 (2005), S. 369–372. Wilhelm Kühlmann
Korrodi, Eduard, * 20.11.1885 Zürich, † 4.9.1955 Zürich. – Literaturkritiker u. Essayist. Der Sohn eines Lehrers u. einer Innerschweizer Bauerntochter verbrachte seine Jugend in Zürich u. im Internat des Kollegiums »Maria Hilf« in Schwyz, wo er 1905 die Reifeprüfung ablegte. Schon als Germanistikstudent in
Korrodi
Zürich u. Berlin arbeitete er für kath. Zeitschriften als literar. Rezensent. Nach der Promotion bei Adolf Frey in Zürich (Stilstudien zu C. F. Meyers Novellen. Lpz. 1912) war K. in St. Gallen u. Zürich als Lehrer tätig. Obwohl seine Habilitationspläne am Widerstand Emil Ermatingers gescheitert waren, wurde er 1914 in Konkurrenz zu Robert Faesi u. Konrad Falke zum Nachfolger Fritz Martis als Feuilletonredakteur der »Neuen Zürcher Zeitung« gewählt u. blieb bis 1950 in dieser Stellung. Während des Ersten Weltkriegs unterstützte K., der im Grunde zeitlebens Freys helvetozentr., an Keller u. Meyer orientiertem Ästhetizismus verpflichtet blieb, zwar auch die nach Zürich emigrierten dt. Autoren, engagierte sich aber als Kritiker u. Herausgeber (Schweizerische Bibliothek des Rascher Verlags, Zürich. 15 Bde., für Soldaten gedacht) v. a. für seine Schweizer Landsleute. Mit seinen Schweizerischen Literaturbriefen (Frauenfeld 1918) redete er dann unversehens einer Öffnung der schweizerischen Literatur das Wort u. forderte dazu auf, der »Weltänderung« gerecht zu werden u. den durch Keller-Nachfolge u. Heimatkunst geprägten »Seldwylergeist« aufzugeben, um Anschluss an die dt. Entwicklung zu finden. Wie sich bald herausstellte, orientierte er sich dabei jedoch einseitig an jenen Autoren, die klassisch-romant. Tendenzen weiterführten, während er in der Verurteilung expressionistischer bzw. gesellschaftskrit. Ansätze durchaus mit Ermatinger einigging. Das führte zu Auseinandersetzungen mit Jakob Bührer, Zollinger u. Walter Muschg, die dem wechselweise in vielen Gremien einflussreichen »Literaturpapst« jedoch nichts anhaben konnten. Fatalerweise stand der innerlich zutiefst unsichere K. ausgerechnet auch zu jenen dt. Dichtern, die seinen ästhetischen Vorstellungen am besten entsprachen, in einem zwiespältigen Verhältnis. Hermann Hesse verärgerte er 1920 durch die vorlaute Bekanntgabe des ihm von der Zeitungsmitarbeit bekannten Demian-Pseudonyms Sinclair u. 1936 durch den Einsatz gegen die Übersiedlung des S. Fischer Verlags nach Zürich. Thomas Mann wiederum brachte er am 26.1.1936
Korsch
durch seinen gegen das literar. Exil gerichteten Artikel Literatur im Emigrantenspiegel dazu, sich endgültig der Emigration zuzurechnen (siehe Manns Offenen Brief an Eduard Korrodi in der »Neuen Zürcher Zeitung« vom 3.2.1936). K., der einen wendigen, zumeist leicht iron. Stil schrieb, spielte für die Deutschschweizer Literatur 35 Jahre lang auf vielfach problemat. Weise das »literarische Bundesgericht« (Frisch), geriet jedoch nach seinem Tod rasch in Vergessenheit. Weitere Werke: (zus. mit Robert Faesi). Das poet. Zürich. Miniaturen aus dem 18. Jh. Zürich 1913. – Schweizerdichtung der Gegenwart. Zürich 1919. – Geisteserbe der Schweiz. Erlenbach/Zürich 1929. 21943 (Anth.). – Erlebte Lit. Olten 1952 (Ess.s). – Aufsätze zur Schweizer Lit. Hg. Heinz Weder. Bern 1962. – Gesamtverz. NZZ-FeuilletonBeiträge 1914–1950. Hg. Helen Münch-Küng. Berikon 1995. – Ausgew. Feuilletons. Hg. H. MünchKüng. Bern u. a. 1995. Literatur: Freundesgabe an E. K. Zürich 1945. – Traugott Vogel: ›... zu tadeln, wo man lieben möchte‹. Der Kritiker E. K. In: Leben u. Schreiben. Achtzig reiche magere Jahre. Zürich 1975, S. 58–79. – Erwin Jaeckle: E. K. In: Niemandsland der 30er Jahre. Meine Erinnerungen 1933–42. Zürich 1979. – Helen Münch-Küng: Der Literaturkritiker E. K. Diss. Bern 1989. – Werner Morlang: Krokodilowskj u. Wasserglas. E. K. im Spiegel v. Robert Walsers Mikrographie. In: Cecil A. M. Noble (Hg.): Gedankenspaziergänge mit Robert Walser. Bern u. a. 2002, S. 49–58. Charles Linsmayer / Red.
Korsch, Karl, * 15.8.1886 Tostedt/Lüneburger Heide, † 21.10.1961 Belmont/ Mass. – Philosoph. Der Sohn eines Amtsgerichtssekretärs wuchs in Meiningen auf; nach der juristischen Promotion in Jena 1910 wurde K. 1912 Mitgl. der SPD, Frontoffizier im Ersten Weltkrieg, 1919 Mitgl. der Sozialisierungs-Kommission, 1919 der USPD, 1920 der KPD (Ausschluss 1926). 1923 war er Justizminister der SPD-KPDKoalition in Thüringen, 1924–1928 Mitgl. des Reichstags; 1933 emigrierte er über Dänemark u. London in die USA. K. entwickelte sich vom Anhänger des Bernstein-Flügels in der SPD u. Mitgl. der engl. Fabian Society zu einem Theoretiker der Weltrevolution auf syndikalistischer Basis.
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Gemeinsam mit dem gleichzeitig erschienenen Buch Geschichte und Klassenbewußtsein von Georg Lukács unterzog K.s Marxismus und Philosophie (Lpz. 1923. Erw. Ffm. 1966) die Geschichte des Marxismus einer grundlegenden Rekonstruktion. K. entdeckte in der Theorie des histor. u. dialektischen Materialismus einen unaufhebbaren Widerspruch. Sie sei zwar Ausdruck revolutionären Bewusstseins, aber nicht das der revolutionären Klasse, also des Proletariats. Denn zwischen dem histor. Begriff des Proletariats als Klasse u. dem Proletariat als dialektischem Begriff von Individuen klaffe nicht, wie bisher angenommen, eine zufällige, sondern eine method. Lücke. Das hatte noch Lenin als Schwäche negiert, K. bestimmte diese Lücke als die revolutionäre Potentialität des Marxismus. Ausgehend von Marx’ berühmtem Satz »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern«, fiel für K. auch der Historische Materialismus unter das Verdikt, Philosophie zu sein, also Ideologie. Entsprechend verstand er Marx’ Kritik der politischen Ökonomie nicht – wie Karl Kautsky, Rosa Luxemburg u. Lenin – als ein wirtschaftswissenschaftl. Lehrgebäude, sondern als Kritik aller Ökonomie. K. bestimmte den Begriff des »Fetischismus der Warenwelt« im ersten Band des Kapitals als zentrale Kategorie marxistischer Dialektik. Mit ihr habe Marx, im Anschluss an seine hegelianischen Vorstellungen der Entfremdung in den Pariser Manuskripten, die Verdinglichung des Bewusstseins (so auch bei Lukács) im Kapitalismus beschreiben können. Für K. ist die Marx’sche Dialektik nur dem »Inhalt nach Ökonomie, der Form nach aber eine Gesellschaftswissenschaft, die es ermöglichen soll, hinter einem menschlichen Gewirr von ›ideologischen‹ Verkleidungen den versteckten realen Sachverhalt ›naturwissenschaftlich treu zu konstatieren‹«. Nach K. ist Marxismus also eine Methode zur Erlangung objektiven Bewusstseins – etwa im Sinne des mit K. befreundeten Wiener Logikers Otto Neurath –, nicht aber dieses Bewusstsein schon selbst. Allerdings, so fügte K. an, ist die Marx’sche Methode »nach der
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formellen Seite bis heute noch sehr wenig entwickelt« (Karl Marx. London 1938. Erw. Ffm. 1967). Erst Mitte der 1960er Jahre wurde bekannt, welchen großen Einfluss K. vor allem zwischen 1933 u. 1939 auf Brecht ausgeübt hatte, auf dessen Ausformulierung des »Verfremdungseffekts« er entscheidend einwirkte. Allerdings sollte K. im Marxismus schließlich überhaupt kein historisch anwendbares Aussagesystem mehr sehen, während der Pragmatiker Brecht (Korsch: »der Hofdichter der russischen Revolution«) gerade das Fehlen von Handlungsperspektiven in K.s Theorie monierte: »Mein Lehrer dient der Sache der Freiheit. Er hat sich selber ziemlich frei gemacht von allerlei unangenehmen Aufgaben«. Über die vorübergehende Wiederentdeckung des Marxismus in den 1960er Jahren hinaus haben die von K. in der Zeit der Weimarer Republik entwickelten Modelle von Betriebsräteschulungen das Arbeiterbildungsprogramm Oskar Negts u. auch die Neokapitalismustheorie André Gorz’ geprägt. Ausgaben: Die materialist. Geschichtsauffassung [1929] u. a. Schr.en. Ffm. 1971. – Polit. Texte. Ffm. 1974. Wiener Neustadt 1989. – Gesamtausg. Ffm. 1980–2001 (bisher Bde. 1, 2, 3, 5, 7, 8, 9 erschienen). – Briefwechsel in: Claudio Pozzoli (Hg.): Marxist. Revolutionstheorien. Jb. Arbeiterbewegung 2 (1974), S. 117 ff. Literatur: Claudio Pozzoli (Hg.): Über K. K. Jb. Arbeiterbewegung 1 (1973) (mit Bibliogr.). – Michael Buckmiller (Hg.): Zur Aktualität v. K. K. Ffm. 1981. – Otto Langels: Die ultralinke Opposition der KPD [...]. Ffm. 1984. – Hans-Jürgen Kornder: Konterrevolution u. Faschismus [...] im Werk v. K. K. Ffm. 1987. – Seung-Hoe Koo: K. K. u. die Historisierung des Marxismus. Diss. TH Darmst. 1992. – David Craven: Meyer Schapiro, K. K. and the emergence of critical theory. In: Oxford Art journal 17 (1994), H. 1, S. 42–54. – Michael Buckmiller: ›Lehrer sind Sie lebenslang ...‹. Erläuterungen zur Ed. der K. K. Gesamtausg. In: Jb. für Soziologiegesch. 4 (1995), S. 345–353. – Dietmar Lieser: K. K. Marxismus u. Philosophie (1923). In: Die neue Gesellsch./FH 42 (1995), H. 6, S. 518–523. – Meike G. Werner: ›Fabian touch‹: Die ›Klicke‹ um K. K. u. der Versuch einer polit. Geselligkeit in der ›Sommerakademie‹, 1912–1914. Eine Skizze. In: Jürgen Oelkers (Hg.): Die Leidenschaft der Aufklärung.
Korschunow Weinheim u. a. 1999, S. 263–283. – Robert Steigerwald: The Radical Voluntarism of K. K. In: Nature, Society, and Thought 14 (2001), H. 3, S. 337–345. – M. Buckmiller: Erkenntnis u. umwälzende Praxis. K. K. zwischen materialist. Dialektik u. Neopositivismus. In: Tim Darmstädter (Mitarbeit): Philosophie u. Empirie. Ffm. 2001, S. 167–193. – Werner Jung: ›Why I am a Marxist‹. K. K. u. der Marxismus als Philosophie. In: Reiner Wild (Hg.): Dennoch leben sie. Mchn. 2003, S. 211–219. – Mario Keßler: Polit. Denker u. revolutionärer Akteur. K. K. In: Mario Hesselbarth (Hg.): Gelebte Ideen. Jena 2006, S. 268–277. – Verhältnis zu Brecht: Wolfdietrich Rasch: Bertolt Brechts marxist. Lehrer. In: Merkur 10 (1963), S. 988–1003. – K. K. – Lehrer Bertolt Brechts. alternative 41 (1965). – Herbert Claas: Die polit. Ästhetik Bertolt Brechts [...]. Ffm. 1977, S. 45 ff. – Klaus-Detlef Müller: Brechts Me-ti u. die Auseinandersetzung mit dem Lehrer K. K. In: Brecht-Jb. (1977), S. 9–29. – Werner Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht [...]. 2. Bde., Bln./DDR 1986, passim. – Christian Schacherreiter: Bertolt Brecht u. K. K. Untersuchungen zur Subjekt-Objekt-Dialektik in realist. Lit. u. marxist. Philosophie. In: Sprachkunst 19 (1988), H. 1, S. 59–78. Johannes Schulz / Red.
Korschunow, Irina, geb. Masterow, * 31.12.1925 Stendal. – Kinderbuchautorin, Schriftstellerin. K. stammt aus einer dt.-russ. Familie. Nach Abitur, Studienjahren u. verschiedenen Tätigkeiten schreibt sie seit Mitte der 1950er Jahre Beiträge für die Presse, Bilderbuchtexte wie Der bunte Hund, das schwarze Schaf und der Angsthase (illustriert von Gerhard Oberländer. Mchn. 1958) u. Kinderbücher. Dabei beschrieb sie v. a. Umwelterfahrungen von Voru. Grundschulkindern, so in der Sammlung Niki aus dem 10. Stock (Stgt. 1973). Fantastische Gestalten wie in den Wawuschel-Büchern (Stgt. 1968–73. 1982) erleben als Alter ego der Kinder heitere u. ernste Episoden. Eine Auswahl ihrer Kinder- u. Jugendbücher, darunter Der Findefuchs (Mchn. 1982) oder Die Sache mit Christoph (Würzb. 1978), haben einen festen Platz in der Schullektüre. Viele ihrer Kinderbücher sind in andere Medien übernommen worden. K. verfasste selbst Drehbücher zu Fernsehfilmen. In ihren Romanen macht sich K. auf die Suche nach den Spuren weibl. Lebensträume.
Kortner
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Die Frage »War das mein Leben?« veranlasst – Das Luftkind. Hbg. 2002. – Das große Wawudie Protagonistin im ersten Roman Glück hat schel-Buch. Mchn. 2007. – Jussuf will ein Tiger seinen Preis (Hbg. 1983) zur Rekonstruktion sein. Weinheim 2008. – Langsamer Abschied. Hbg. der Familiengeschichte aus weibl. Perspekti- 2009 (R.). – Drehbücher: Der Führerschein. ARD 1978. – Der Urlaub. ARD 1980. – Hanna. ZDF 1980. ve. Deutlich wird, dass die Frauen einen ho– Wie es geschah. ARD 1983. – Der Hochzeitstag. hen »Preis« zahlen, geht doch der männl. ARD 1985. – Michas Flucht. ARD 1988. Erfolg einher mit dem Verzicht auf ihr Literatur: Mechthild Borries: I. K. Mchn. 1988. selbstbestimmtes Leben. Dieser Befund ver- – Maria Friedrich: I. K. In: KJL. – Tilmann Krause: harrt aber nicht in Larmoyanz, sondern der Laudatio auf I. K. Trägerin des ersten Hertha-KöSchicksalsbegriff des typischen Frauenro- nig-Literaturpreises 2004. In: Lit. in Westfalen 8 mans wird kritisch hinterfragt. Die Norm zu (2006), S. 453–459. – Ralf Caspary: I. K. In: KLG. sprengen, wird zu einem obsessiven Thema, Birgit Dankert / Elke Kasper das in Das Spiegelbild (Hbg. 1992) in einem eindringl. Dialog mit Annette von DrosteKortner, Fritz, eigentl.: Nathan Kohn, Hülshoff vorgeführt wird. Dabei ist die Re* 12.5.1892 Wien, † 22.7.1970 München. flexion über männl. Verhalten ebenfalls prä– Schauspieler, Regisseur; Dramatiker, sent, denn über Frauenschicksale nachzuDrehbuchautor. denken, bedeutet für K. auch immer »nachdenken über Gewalt« (Der Eulenruf. Hbg. K., Spross einer jüd. Wiener Juweliersfamilie, 1985). Männer sind dabei aber oft zu holz- besuchte die k. k. Akademie für Musik und schnittartig die Dirigenten einer schlechten darstellende Kunst. Sein Lehrer Ferdinand Gesellschaft (Ebbe und Flut. Hbg. 1995. Von Gregori nahm ihn 1910 als Anfänger mit ans Juni zu Juni. Hbg. 1999). Eine ganz andere Großherzogliche Hof- u. Nationaltheater Einstellung zu Männern erscheint in K.s Ju- Mannheim. Der junge Hofschauspieler setzte gendbüchern. Sebastian (Ein Anruf von Sebas- sich bald nach Berlin ab, wo er zwei Jahre tian. Würzb. 1981) ermutigt seine Freundin zum Ensemble Max Reinhardts gehörte. Sein Sabine, sich eigene Lebensinhalte jenseits ih- Durchbruch erfolgte 1913 unter Berthold rer jungen Beziehung zu sichern. Für Sabine Viertels Regie an der Wiener Volksbühne. ist der Prozess der Selbstfindung ein Letzte Station seiner »Lehrjahre« waren schmerzlicher. Doch an den negativen Bei- 1918/19 Erich Ziegels Hamburger Kammerspielen von Sebastians u. der eigenen Mutter spiele. In Berlin, wo K. ab Herbst 1919 lebte, wird vorgeführt, dass bedingungslose Liebe u. aufopfernde Pflichterfüllung selbstver- wurde er in Inszenierungen Leopold Jessners schuldet in Abhängigkeit münden. Ein wei- u. Erich Engels zum Prototyp des expressioteres Thema in den Büchern K.s bildet das nistischen u. republikan. Schauspielers, des»Dritte Reich«. Ausgehend von einer trag. sen formende Sprachkraft u. schöpferische Liebesbeziehung, klagt der Jugendroman Er Ausdrucksfantasie auf der Bühne u. im Film hieß Jan (Zürich 1979) die Unmenschlichkeit schon den künftigen Regisseur ahnen ließen. des Nationalsozialismus an. K. schreibt heute Im Regisseur K. wiederum steckte auch ein geheimer Dramatiker, u. als das Exil (er nur noch selten für Kinder u. Jugendliche. K. erhielt den Tukan-Preis (1977), den emigrierte 1933 nach London u. lebte Zürcher Kinderbuchpreis (1979), die Silberne 1937–1947 in den USA) ihn zwang, eine neue Feder (1980), den Wilhelm Hauff-Preis Sprache zu lernen, ohne dass er sich als (1981), die Roswitha-Medaille (1987) u. den Schauspieler genügend entfalten konnte, schlug sich das, was ihn sprachlich erregte u. Hertha-König-Literaturpreis (2004). bedrängte, in schriftstellerischer Betätigung Weitere Werke: Das Rehkitz auf dem Bauernhof. Oldenb. 1962. – Der Stern, der Berg u. die als Stückeschreiber (Another Sun. Zus. mit große Stadt. Mchn. 1967. – Wenn ein Unugunu Dorothy Thompson. Urauff. New York 1940. kommt. Ffm 1976. – Hanno malt sich einen Dra- Somewhere in France. Zus. mit Carl Zuckmayer. chen. Mchn. 1978. – Kleiner Pelz. Zürich 1984. – Urauff. Washington 1941) u. Drehbuchautor Malenka. Hbg. 1987. – Fallschirmseide. Hbg. 1990. (Der Ruf. Urauff. Bln. 1949) nieder.
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Kortum
1949 inszenierte K. an den Münchner S. 251–261. – Julia Bernhard: Die Kortner-HoferKammerspielen seine noch in Amerika ge- Künstler-GmbH. F. K. (1892–1970) u. Johanna schriebene Komödie Donauwellen, ein galliges, Hofer (1896–1988). Bln. 2003. – Christoph Seifein der Tradition von Nestroy u. Karl Kraus ner: Die Autobiogr. v. Curt Goetz, Valérie v. Martens u. F. K. Ein Vergleich im Hinblick auf das sich bewegendes Volksstück über den OpVerhältnis der Exilierten zu Dtschld. In: Exilforsch. portunismus u. Alltagsfaschismus der »klei- 23 (2005), S. 114–127. – K. Völker: F. K.: ›Jude u. nen« Nazis. Als Regisseur setzte K. dem in Rebell gegen das privilegierte Konventionelle‹. Bln. Deutschland nach 1945 noch lange prakti- 2007. – Richard D. Critchfield: From Shakespeare zierten Staatstheaterklassizismus u. dem to Frisch. The provocative F. K. Heidelb. 2008. wirklichkeitsfernen »Stil«-Theater der Klaus Völker / Red. 1950er Jahre einen widerspruchsvollen, die bitteren Lebenswahrheiten betonenden Realismus entgegen. Seine Aufführungen lösten Kortum, Karl Arnold, * 5.7.1745 Müloft Theaterskandale aus, u. sein Stück Die heim/Ruhr, † 15.8.1824 Bochum; GrabSendung der Lysistrata (Mchn. 1961) rief einen stätte: ebd., Alter Friedhof. – Arzt, NaFernsehskandal hervor, weil hier zu deutlich turforscher, Polyhistor, Lyriker, Satiriker. gegen die Wiederbewaffnung der BR Nach dem Besuch der Volksschule in MülDeutschland Stellung bezogen wurde. In seinem Schauspiel Die Zwiesprache heim u. des Archigymnasiums in Dortmund (Mchn. 1964) wird das zwangsläufige Schei- studierte der Apothekersohn 1763–1766 in tern einer nach außen vorbildl. Ehe gezeigt, Duisburg Medizin. K. praktizierte zunächst die den unerwartet sie bedrängenden Schat- in Duisburg u. Mülheim u. ließ sich 1770 in ten einer persönlich u. politisch nicht bewäl- Bochum als Arzt nieder. 1792–1807 übte er tigten Vergangenheit nicht standzuhalten zusätzlich das Amt eines Bergarztes aus. vermag. Wenn auch die dramat. Kraft u. Friedrich Wilhelm III. verlieh ihm 1816 den psychologisierende Logik seiner Stücke un- Titel eines königl. preuß. Hofrats. K.s thematisch heterogenes Gesamtwerk terschätzt wird, die Einwände gegen die Kolportagehaftigkeit ihrer szen. Konstrukti- lässt die Tätigkeit eines Polyhistors erkennen. on sind berechtigt. In seiner Autobiografie Der ungemein produktive Autor, der auch in Aller Tage Abend (Mchn. 1959. Bln. 2005) er- Zeitschriften zahlreiche Aufsätze ganz unweist sich K. dagegen als ein sprachlich fes- terschiedl. Inhalts publizierte, verfasste u. a. selnder Erzähler u. scharfsichtiger Zeitzeuge, Monografien wie Grundsätze zur Bienenzucht dessen Gedanken u. Leidenschaften Gericht (Wesel/Lpz. 1776), Anfangsgründe der Entziffeüber den Zustand der Welt halten, wobei er rungskunst deutscher Zifferschriften (Duisburg ein verständnisvoller Anwalt der Menschen 1782), Über die Unschädlichkeit der Kirchhöfe und der Begräbnisse in Städten und Dörfern (Osnabr. bleibt. Weitere Werke: Letzten Endes. Fragmente. 1801) u. Der Kaffee und seine Stellvertreter (Elberfeld 1809). Darüber hinaus bekunden paMchn. 1971. – Theaterstücke. Köln 1981. Literatur: Claus Landsittel (Hg.): K. anekdo- läozoolog. Untersuchungen (Das in der Lippe tisch. Mchn. 1967. – Matthias Brand: F. K. in der gefundene Urushorn und der Zahn des Abulabaz. Weimarer Republik. Rheinfelden 1981. – Klaus Hagen 1813) u. archäolog. Studien (BeschreiVölker: F. K. – Schauspieler u. Regisseur. Bln. 1987. bung einer neuentdeckten alten germanischen – Ivan Nagel: F. K., Peter Zadek, Peter Stein. Mchn. Grabstätte. Dortm. 1804) die vielseitigen In1989. – Peter Schütze: F. K. Reinb. 1994. – Jens teressen eines Historikers u. Naturforschers, Malte Fischer: Der Unbeschwichtigte. F. K. Ein der Anhänger der Alchemie war (Verteidiget die Porträt. In: Merkur 48 (1994), H. 8, S. 682–693. – Alchimie gegen die Einwürfe einiger neuen SchriftMarijan Bobinac: Überlebensstrategien. Zum steller. Duisburg 1789). Der Arzt u. rührige österr. Volksstück der Nachkriegszeit. Ulrich Becher, F. K. u. Arnolt Bronnen. In: Zagreber ger- Publizist widmete sich in populär geschriemanist. Beiträge 9 (2000), S. 45–65. – Robert benen Abhandlungen der medizinischen Shandley: F. K.’s Last Illusion. In: Leslie Morris u. Volksaufklärung. Als versierter MedizinhisJack Zipes (Hg.): Unlikely History. New York 2002, toriker veröffentlichte K. die großangelegte
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Skizze einer Zeit- und Literärgeschichte der Arznei- tungen. Johann Peter Hasenclever schuf mehrere Bilder zur Jobsiade, u. Wilhelm Busch kunst [...] (Lpz. o. J. [1808]). Einen festen Platz in der Literaturge- illustrierte die Lebensbeschreibung (Bilder zur schichte erwarb sich K. als Verfasser komisch- Jobsiade. 1872). Opern von Albert Barkhausen satir. Poesie. Zu den kleineren Arbeiten ge- (1936) u. Joseph Haas (1944) sowie weitere hören Scherzgedichte, Rätselreime, humorige Vertonungen verdanken K. ihren Stoff. Elegien, Märchen u. kuriose Anekdoten. Ein Weitere Werke: Der Märtyrer der Mode. Wesel zeit- u. gesellschaftssatir. Grundton kenn- 1778 (Satire). – Anweisung, wie man sich vor alle zeichnet auch alle größeren, metrisch einfach ansteckende Krankheiten verwahren könne. Wesel/ strukturierten Dichtungen. Hauptwerk K.s Lpz. 1779. – Die mag. Laterne. 3 Bde., Wesel ist das 1784 erstmals erschienene grotesk- 1784–87 (L.). – Adams Hochzeitsfeier. Wesel 1788 komische Heldengedicht Leben, Meynungen (Kom. Gedicht). – Einfälle in frohen jugendl. Stunden. Essen 1803. – Kurze aber getreue Erzähund Thaten von Hieronimus Jobs dem Kandidaten lung der [...] Gesch. einer Somnambüle, gen. Elsabe (Münster/Hamm 1784. Neudr. hg. von Schlunz. Hamm 1819. – Des Jobsiadendichters C. Burkhard Moennighoff. Stgt. 1986. Zuletzt A. K. Lebensgesch. v. ihm selbst erzählt u. hg. v. Essen 2007. Mikrofiche Wildberg 1989/90). Karl Deicke. Dortm. 1910. Eine um zwei Teile erweiterte Ausgabe folgte Literatur: Margret Axer: K. A. K.: Die Jobsiade. 1799 u. d. T. Die Jobsiade (Dortm. Neudr. hg. Gattung, Stoff u. Form. Diss. Bonn 1950. – Karl von Curt Noch. Lpz. 1956). Das überaus er- Wiechert: Wie aus K.s Jobsiade eine Buschiade folgreiche Werk steht in der Tradition komi- wurde. In: Wilhelm-Busch-Jb. 34 (1968), S. 29–40. scher Heldenepen; K. konnte an Satiren von – Heinz Hohensee: C. A. K. Mülheim 1974. – Klaus Tassoni, Boileau, Swift u. Pope anknüpfen. Schaller: Dr. med. C. A. K. u. seine Jobsiade. BoAnregungen erhielt er zudem durch Zacha- chum 1989. – Dr. med. C. A. K. (1745–1824). Arzt – riaes Der Renommiste (1744), Nicolais Das Leben Volksaufklärer – Alchemist – Dichter. Hg. v. Institut für Gesch. der Medizin der Ruhr-Univ. Bound die Meinungen des Herrn Magisters Sebaldus chum. Bochum 1991 (Ausstellungskat.). – Einem Nothanker (1773/76) u. Schwagers Leben und Revierbürger zum 250. Geburtstag. C. A. K. Schicksale des Martin Dickius (1775/76). Bei der 1745–1824. Arzt, Forscher, Literat. Bottrop/Essen parodistischen Nachbildung des heroischen 1995. – ›... dir zum weitern Nachdenken‹. C. A. K. Stils berief sich K. auf die variierten freien zum 250. Geburtstag. Hg. Klaus Schaller. Essen Knittelverse des Hans Sachs. Durch die 1996. – K. Schaller: ›Die Sache endlich auf’s Reine Nichtbeachtung metr. Regelzwänge u. die bringen‹. C. A. K. in Ztschr.en seiner Zeit. Eine Freiheiten des Reims gelingt es ihm scheinbar Dokumentation. Essen 1996. – Klaus Schaller: Bomühelos, die witzig-groteske Wirkung seiner chum feiert seinen ›größten Sohn‹. Das K.-Jubieigenwillig-skurrilen Verse zu erzielen. Auch läum 1995/96. In: Lit. in Westfalen 4 (1998), S. 327–331. Peter Heßelmann Satzbau u. Sprache, die den Eindruck der Unbeholfenheit erwecken, tragen neben den von K. selbst hergestellten Holzschnitten zur Kosegarten, Christian, * 1770 GrevesKomik des volkstüml. Textes bei. Parodierte mühlen/Mecklenburg, † 21.4.1821 HamK. einerseits die metr. u. sprachl. Regelverburg. – Jurist u. Gelegenheitsdichter. stöße der Sturm-und-Drang-Dichtung, so karikierte er mit dem Lebenslauf des Hiero- K., Sohn eines Predigers, studierte zunächst nimus Jobs andererseits ebenso treffsicher die Theologie in Hamburg u. lebte dann dort als Anfänge des dt. Bildungsromans. Mit der Hauslehrer. 1794 veröffentlichte er einige Biografie seines verbummelten, dumm- Gedichte in einer Sammlung, die Werke von dreisten Theologiekandidaten u. den genre- ihm u. von Johann Dietrich Hartmann enthaften Milieuschilderungen zielte K. in satir. hielt. 1799 erschien sein einziges größeres Weise auf Spießertum, zeitgenöss. Mode- dichterisches Werk, Memnons Bildsäule, in erscheinungen u. nichtsnutziges Studenten- Briefen an Ida, das seinem Stiefbruder Ludwig dasein. gewidmet ist. K. dankt diesem dafür, dass er Das während des 19. Jh. weitverbreitete ihn in die »Vorhallen der Wissenschaft« geErfolgsbuch inspirierte Künstler zu Bearbei- führt u. ihn zur Dichtung angeleitet habe. In
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15 Briefen behandelt der Autor dann neben »Memnons Bildsäule« verschiedene Themen, darunter die »Religion«, den »Glauben«, das »Genialische« oder den »Zweck der Frauen«. K. schrieb im Lauf seines Lebens immer wieder Gelegenheitsgedichte, die teilweise in Zeitschriften veröffentlicht wurden. 1800 ging er nach Leipzig, um dort Jura zu studieren. Er kehrte nach Hamburg zurück, promovierte u. wurde Anwalt. In der Folge erschienen zahlreiche juristische Schriften, die sich immer wieder mit dem Rechtssystem Hamburgs beschäftigten. Weitere Werke: Kritik der Humanität. Lpz. 1796. – Was soll der Fürst seyn? Was kann der Fürst seyn? Hbg. 1797. – Der Schattenkönig. Lpz. 1800. – Der Freystaat. Hbg. 1809. – Vorschläge für die Rechtspflege in Hamburg. Hbg. 1813. – Ansichten für den dt. Staatenbund. Hbg. 1816. – Grundzüge für ein Appellations-Gericht der vier freien Städte Dtschlds. Hbg. 1817. – Grundzüge unseres Zeitalters in Dtschld. o. O. 1819. Literatur: Hamberger/Meusel, 1803, Bd. 10, S. 127 f. – Hans Schröder: Lexikon der hamburg. Schriftsteller. Hbg. 1866, Bd. 4, S. 151 f. Lea Marquart
Kosegarten, Gotthard Ludwig, auch: Ludwig Theob(o)ul, * 1.2.1758 Grevesmühlen, † 26.10.1818 Greifswald; Grabstätte: Altenkirchen auf Rügen, Kirchenfriedhof. – Lyriker, Idyllendichter, Übersetzer. Der Sohn eines luth. Pastors erlernte die klass. Sprachen im Hausunterricht, studierte in Greifswald Theologie (1775–1777), betätigte sich als Hauslehrer (1777–1785), war Rektor der Stadtschule in Wolgast (1785 bis 1792), Pastor zu Altenkirchen (1792–1808) u. wurde Professor der Geschichte (1808) u. der Theologie (1817) an der Universität Greifswald, wo er auch mehrfach Dekan u. Rektor war. Schon früh trat K. erfolgreich mit Gedichten hervor (Melancholien. Stralsund 1777), die auf empfindsame Weise Liebeserfahrungen wiedergeben, unter Klopstocks Einfluss religiösen Gefühlen Ausdruck verleihen oder auch seelenvoll naturverbunden wirken sollen. Bis 1800 folgten weitere Gedichtbände, Predigten, autobiogr. gefärbte Briefromane (Ewalds Rosenmonde. Bln. 1791. Hainings Briefe
Kosegarten
an Emma. 2 Bde., Lpz. 1791) sowie Beiträge zu Schillers »Musenalmanach« u. den »Horen«. Von K.s zahlreichen Übersetzungen dieser Zeit sind Clarissa (8 Bde., Lpz., 1790–93) u. Brittisches Odeon, oder Denkwürdigkeiten aus dem Leben und den Schriften der neuesten brittischen Dichter (2 Bde., Bln. 1800) hervorzuheben. Zwischen 1800 u. 1803 erschienen als »Romantische Dichtungen« drei Romane, welche die »Liebe der Natur« (Ida von Pleßen. 2 Bde., Dresden 1800), die »Liebe der Gottheit« (Bianca del Giglio. 2 Bde., Dresden 1801) u. die »Liebe des Vaterlandes« (Adele Cameron. 2 Bde., Dresden 1803) vermitteln sollten. Während diese nach Richardsons Muster mit dem Thema der verfolgten Unschuld verfahren, nähert sich K. mit Ida von Pleßen der transdualist. Liebesauffassung von Friedrich Schlegels Lucinde (1799). K.s größter schriftstellerischer Erfolg war Jucunde. Eine ländliche Dichtung in fünf Eklogen (Bln. 1803), die bis 1843 sechs Auflagen erfuhr. In der Nachfolge von Voßens Luise (1783/84) bietet Jucunde ein bukolisch-idyll. Bild von K.s Wirkungskreis auf Wittow/Rügen, wobei Beschreibungen (Hünengrab, Arkona, Uferpredigt) der Erzählung Lokalkolorit verleihen. Die Handlung der 1804 erschienenen Inselfahrt (Bln.), nach ähnl. Muster verfertigt, spielt auf Hiddensee. K.s Hang zum Wunderbaren u. Mystischen, der schon in den »Romantischen Dichtungen« zu bemerken ist, zeigt sich bes. in den Legenden (2 Bde., Bln. 1804), die Gottfried Keller als Vorlage für seine Sieben Legenden (1872) dienten. Die Kriegsunruhen ließen K. 1808 Altenkirchen verlassen u. die Geschichtsprofessur in Greifswald antreten. Am Anfang dieser letzten Schaffensperiode stand Die Rede am Napoleonstage des Jahres 1809 (Greifsw. 1809), in der Napoleon zwar hohes Lob erntet, die aber auch hohe Friedenserwartungen in ihn setzt. In seinen Vaterländischen Gesängen (Greifsw. 1813) befürwortet K. aufgrund christl. Ethik eine Haltung der Mäßigung, Achtung u. Toleranz dem Feind gegenüber. Seine Autobiografie Geschichte seines fünfzigsten Lebensjahres erschien 1816 (Lpz.) als Verteidigungsschrift gegen die Anklage des Verrats am Vaterland u. betont K.s tolerante Grundsätze: Er werde
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den »dummen Götzen Teutschtum« (S. 181) Coblenz, Karl-Ewald Tietz, Gerd-Helge Vogel, Minicht anbeten; ihm stehe »das Menschen- chael Lissok u. Regina Hartmann in: Pommern in thum [...] höher als das Volksthum« (S. 183). der Frühen Neuzeit. Lit. u. Kultur in Stadt u. ReDie drei letztgenannten Werke wurden beim gion. Hg. Wilhelm Kühlmann u. Horst Langer. Tüb. 1994, S. 449–599. – Regina Hartmann: Wartburgfest 1817 verbrannt. Gegen Ende Denkmale der Vorzeit: zur Herder-Rezeption im seines Lebens wandte sich K. mit einer Schaffen von L. T. K. In: Euph. 92 (1998), H. 3, Übersetzung von Mme. Guyons Les torrents S. 273–291. – Morten Solvik: Lieder im geselligen (Die Ströme. Stralsund 1817) noch einmal der Spiel: Schuberts K.-Zyklus v. 1815 entschlüsselt. Mystik zu. In: Österr. Musikztschr. 53 (1998), H. 1, S. 31–39. – Mit Herder, Wilhelm von Humboldt u. Lewis M. Holmes: K. The turbulent life & times of a Schleiermacher befreundet, unterhielt K. Northern German poet. New York u. a. 2004. – auch Beziehungen zu Goethe u. Schiller, die Ders.: K.’s cultural legacy. Aesthetics, religion, litallerdings neben anderen prominenten Zeit- erature, art, and music. New York u. a. 2005. – Dirk Alvermann: Arndt u. K. – zwei rüg. Dichter zwigenossen (Tieck, Friedrich Schlegel) scharfe schen Gott, Napoleon u. Nation. In: Ernst Moritz Kritik an seinem Werk übten – mit einiger Arndt (1769–1860). Dt. Nationalismus – Europa – Berechtigung, denn K.s dichterische Sprache transatlant. Perspektiven. Hg. Walter Erhart u. wirkt weitgehend klischeehaft u. wird zu- Arne Koch. Tüb. 2007, S. 77–95. meist von konventionellen Formulierungen Manfred Heiderich / Red. geprägt. Nach seinem Tod nahm sein Ruf zwar schnell ab, aber sein Werk wurde bis Kossak, (Karl Ludwig) Ernst, * 4.8.1814 Ende des 19. Jh. mehrmals in Auswahl neu Marienwerder, † 3.1.1880 Berlin. – aufgelegt. Sieben seiner Gedichte blieben Feuilletonist, Reiseschriftsteller. durch Schuberts Vertonungen bekannt. Weitere Werke: Ausgabe: Hier ist gut sein. Aus Nach dem Abitur in Danzig studierte der den Uferpredigten L. G. K.s. Komm. u. eingel. v. Sohn eines preuß. Regierungsbeamten in Katharina Coblenz. Bln. 1991. – Weitere Titel: Ge- Berlin Philologie, Geschichte u. Musik. Seit sänge. Stralsund 1776. – Poesien. 3 Bde., Lpz. 1838 gab er Klavierunterricht u. lieferte krit. 1798–1802. – Die Jungfrau v. Nikomedia. Bln. Beiträge für Musikzeitschriften. In den füh1808. – Die Lieder Luthers. Greifsw. 1818. – Dich- renden Blättern erschienen seit 1846 Feuilletungen. 12 Bde., Greifsw. 1824–27 (Bd. 12: Biogr. tons von K., der im Nachmärz zunächst K.s v. seinem Sohn Johann Gottfried Ludwig Ko- die »Berliner Feuerspritze« redigierte u. segarten). – Uferpredigten u. hymnolog. Aufsätze. 1854–1867 die Wochenzeitung »Berliner Hg. Gottlieb Christian Mohnike. Stralsund 1831. – Montagspost« leitete u. großenteils selbst Reden u. kleine prosaische Schr.en. Hg. ders. 3 Bde., ebd. 1831/32. – Kürschners Dt. Nationallit. schrieb. Von den Zeitgenossen als »Schöpfer des 135 (1893) (enthält ›Jucunde‹ u. kleinere Schr.en). Berliner Feuilletons« gefeiert, verstand es K., Literatur: Adolf Häckermann: G. L. K. In: ADB. – H. Franck: G. L. K. Ein Lebensbild. Halle 1887. – mit leichter Feder, humoristischem GrundBruno Markwardt: Greifswälder Dozenten als ton, aber auch krit. Gemeinsinn dem Berliner Dichter. Zur Würdigung E. M. Arndts u. G. L. K.s. Leben der Jahrhundertmitte literar. Dauer zu In: FS zur 500-Jahrfeier der Univ. Greifswald. verleihen (u. a. Berlin und die Berliner. Bln. Greifsw. 1956, S. 227–260. – Friedrich Schlegel: 1851. Berliner Silhouetten. Bln. 1859). Von seiKrit. Studienausg. Bd. 2: Charakteristiken u. Kri- ner ausgedehnten Reisetätigkeit – durch tiken 1. Hg. Hans Eichner. Paderb./Mchn./Wien Deutschland, nach Italien, Frankreich, in die 1967, S. 24 f. – Manfred W. Heiderich: The German Schweiz – geben K.s Reiseschilderungen Novel of 1800. Bern 1982, S. 234–239. – Gerhard Zeugnis (Pariser Stereoskopen. Bln. 1855. Kosellek: L. G. K.s Romanze v. der schönen PolenSchweizerfahrten. Lpz. 1858. Bade-Bilder. Bln. königin. In: Ders.: Reformen, Revolutionen u. Reisen. Dt. Polenlit. im 18. u. 19. Jh. Wroclaw 1990, 1858), in denen satir. Seitenhiebe auf die S. 66–78. – Gerd Dönni: Der Teufel bei L. T. K. u. in kom. Begleiterscheinungen des aufkommenG. Kellers ›Sieben Legenden‹. In: Sprachkunst 22 den Massentourismus nicht fehlen. 43-jährig (1991), H. 1, S. 61–70. – Aufsätze zu K.s Leben u. erlitt K. einen Schlaganfall; er blieb körperWerk v. Eberhard Rohse, Klaus Manger, Katharina lich gelähmt. /
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Kottanner
Weitere Werke: Aus dem Papierkorbe eines Journalisten. Ges. Aufsätze. Bln. 1852. Neuausg. Bln. 1976. – Aus dem Wanderbuche eines literar. Handwerksburschen. Bln. 1856. – Berliner Federzeichnungen. 6 Bde., Bln. 1859–65. – Reisehumoresken. 2 Bde., Bln. 1862.
dem Schweizerwald. Zürich 1997. – Mord genehmigt. Ein Zürcher Krimi. Zürich 1999. – (Jani Remettre:) Merde. Gedichte einer merkwürdigen Liebe. Zürich 2003. – Judas in Jeans. Gesch. eines Schattenwerfers. Zürich 2005. Guido Stefani / Red.
Literatur: Ursula Ellermann: E. K. Eine Darstellung seines Lebens u. seiner krit. Arbeit. Diss. Münster 1947. – Heinz Knobloch: Blättchen für E. K. In: Ders.: Berliner Fenster. Bln./DDR 1981. – Brigitte v. Schönfels: Das ›Erlebte ist immer das Selbsterlebte‹. Das Reisefeuilleton in dt. Ztg.en zwischen der Revolution v. 1848 u. der Reichseinigung Bremen 2005. Arno Matschiner / Red.
Kottanner, Kottaner, Quottaner, Helene, * um 1400 Ödenburg, † nach 1470 Wien. – Verfasserin einer Denkschrift über den ungarischen Kronraub.
Koster, Dora, auch: Oiseau bleu, Platonia Mars, J(e)ani Remettre, Isa Syltjé, * 5.6. 1939 St. Gallen. – Lyrikerin, Erzählerin; Malerin. K., dt.-jüd. Herkunft, lebt heute in Zürich. Ihre erste, autobiogr. Buchveröffentlichung Nichts geht mehr (Zürich 1980) ist eine schonungslose Lebensbilanz. Dabei steht die Spannung zwischen poetischer Empfindsamkeit u. den harschen Lebensumständen im Vordergrund, reflektiert werden aber auch deren gesellschaftl. Bedingungen. Der Politkrimi Mücken im Paradies (Zürich 1981) kritisiert das starre Rollenschema von Mann u. Frau. Im Gedichtband Zeitblut (Zürich 1987), für den K. den Zürcher Literaturpreis 1987 erhielt, gibt die Autorin ihrer Hoffnung auf weibliche Selbstbestimmung Ausdruck. Bekannt ist K., die Scheinheiligkeit u. Verlogenheit mit ihrem Werk entlarven will, auch als »gefürchtete Frauenrechtlerin, die die Anliegen der Frau vehement vertritt und öffentlich fordert« (Koster). – 1986 erhielt sie den Helgoländer Preis. Gedichte von K. wurden 1986 von Martin Derung vertont. Weitere Werke: Sanft u. gefährlich. Bern 1981 (L.). – Winkender Mond wir kommen. Zürich 1982 (L.). – Geteert u. gefedert. Kiel 1983 (P.). – Nur ein Sprung in die Welt. Mchn. 1984 (L.). – Schattenviolette. Mchn. 1984 (L.). – Blautraum. Ein realist. Märchen. Mchn. 1985. 1992. – Orchideen u. darnach. Zürich 1988 (L.). – Die kleine Schweizerin. Zürich 1990. – Lila Leichen u. a. Nettigkeiten. Zürich 1993. – Tanz der Soliden. Briefe. Hg. Stefan Howald. Zürich 1994. – Abschied v. den Tigerfinken. Elf Gesch.n u. ein Vorw. Zürich 1996. – Der Himmel ist kein Warenhaus. Gesch.n u. Briefe aus
Aus westungarischem Kleinadel stammend, ist K., die in zweiter Ehe mit dem Wiener Bürger Hans K. verheiratet war, von 1432 an bis zu ihrem Tod in Wien nachweisbar. Ab 1436 war sie als engste Vertraute im Dienst der Herzogin Elisabeth, Gemahlin Herzog Albrechts V. von Österreich. Auf deren Geheiß hin unternahm sie nach dem plötzl. Tod Albrechts (1439) in einer Februarnacht 1440 den Raub der ungarischen Krone aus den Verliesen der Plintenburg u. machte so die Krönung des gerade geborenen Ladislaus Posthumus zum ungarischen König möglich. Die Denkwürdigkeiten schildern die Ereignisse der Jahre 1439/40; sie wurden wohl nach dem Tod Elisabeths (1442) als Chronik der umstrittenen dramat. Umstände um 1450 in Wien für Ladislaus aufgeschrieben, ob von K. selbst oder nach ihrem Diktat, ist bislang umstritten. Im ersten Teil des Textes steht K. als Augenzeugin der Ereignisse um die Krone (Einsiegelung, Prüfung, Raub) im Mittelpunkt des Geschehens. Das enge Vertrauensverhältnis zur Königin u. die daraus erwachsenden Befugnisse machen K. zur Gestalterin des Schicksals des ungarischen Königshauses. Ab dem Zeitpunkt der Geburt des Thronfolgers rücken der Prinz u. die Streitigkeiten um die Herrschaft in den Mittelpunkt der Erzählung, die im Sommer 1440 unvermittelt abbricht. In Literatur u. Forschung wird auf die Denkwürdigkeiten nahezu ausschließlich in Zusammenhang mit dem Kronraub verwiesen; eine Würdigung dieses ältesten deutschsprachigen Frauenmemoires aus der Perspektive des »life writing« (Autobiografie/ Selbstzeugnisse) steht noch aus. Ausgaben: [Stephan Ladislaus Endlicher (Hg.)]: Aus den Denkwürdigkeiten der H. Kottannerin
Kottenrodt 1439. 1440. Lpz. 1846. – Karl Mollay (Hg.): Die Denkwürdigkeiten der H. Kottanerin (1439–1440). Wien 1971. Literatur: Gustav Freytag: Bilder aus der dt. Vergangenheit. Lpz. 1866, S. 852–877. – Karl Uhlirz: Gesch. der Stadt Wien. Hg. vom Alterthumsvereine zu Wien. Bd. II/1, Wien 1900, S. 74–77. – Winfried Stelzer: H. K. In: VL. – Harald Tersch: Österr. Selbstzeugnisse des SpätMA u. der Frühen Neuzeit (1400–1650). Wien/ Köln/ Weimar 1998, S. 39–51. – Katherine R. Goodman: Weibl. Autobiogr.n. In: Hiltrud Gnüg u. Renate Möhrmann (Hg.): Frauen Lit. Gesch. Schreibende Frauen vom MA bis zur Gegenwart, Stgt./Weimar 1999, S. 166–176. – Barbara Schmid: Raumkonzepte u. Inszenierung v. Räumen in H. K.s Ber. v. der Geburt u. Krönung des Königs Ladislaus Posthumus (1440–1457). In: Ursula Kundert u. a. (Hg.): Ausmessen – Darstellen – Inszenieren. Raumkonzepte u. die Wiedergabe v. Räumen in MA u. früher Neuzeit. Zürich 2007, S. 113–138. Astrid Breith
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Neuausg. mit dem Untertitel Roman vom Freiheitskampf der Niederlande gegen Spanien. Bodman/Bodensee 1975) u. Der Mann von Bern. Hans Ludwig von Erlach – ein Leben für die Freiheit (Burg Stettenfels b. Heilbronn 1958). In dem histor. Roman Eine Burg im Osten (Stgt. 1925) werden Aufstieg u. Niedergang des Deutschen Ordens beschrieben u. Fragen einer Ostpolitik im völkisch-nationalistischen Sinn behandelt. Weitere Werke: Der Schwedenleutnant. Bln. 1905 (E.). – Kleine Leute. Gesch.n aus der Heimat. Bln. 1906 (E.en). – Die Fahrt zu den Ameisleuten. Mainz 1913 (Jugendbuch). – Der v. Bismarck. Mainz 1914 (E. über einen Vorfahren Bismarcks im MA). – Dt. Führer u. Meister. Ffm. 1937. Literatur: Wolfgang Wippermann: Gesch. u. Ideologie im histor. Roman des Dritten Reiches. In: Horst Denkler u. Karl Prümm (Hg.): Die dt. Lit. im Dritten Reich [...]. Stgt. 1976, S. 183–206. Christian Schwarz / Red.
Kottenrodt, Wilhelm, auch: W. KotzdeKottenrodt, * 1.3.1878 Gohlitz/Havel, Kotzebue, August (Friedrich) von (russi† 4.9.1948 Ebnet bei Freib. i. Br. – Er- scher Dienstadel 1785), * 3.5.1761 Weizähler, Lyriker, Schul- u. Jugendbuch- mar, † 23.3.1819 Mannheim; Grabstätte: autor, Biograf. ebd., Hauptfriedhof. – Dramatiker u. Journalist. K. studierte 1893–1899 Pädagogik in Berlin, schied nach achtjähriger Tätigkeit 1907 aus gesundheitl. Gründen aus dem Schuldienst aus u. lebte ab 1908 als freier Schriftsteller. Frühzeitig mit der Jugendbewegung verbunden, wurde er Mitbegründer des Artamanen-Bunds, »der als direkter Vorläufer der NSDAP gelten kann« (Wippermann). K.s literar. Werk ist der historisierenden Heimatkunst zuzuordnen. Er begann mit histor. Erzählungen, Kinderbüchern, teils balladesker Lyrik (Horst und Heide. Bln. 1905) u. Dichtungen aus dem german. Sagenkreis. Schriften vor dem Ersten Weltkrieg zeigen bereits seine Wendung zur völk. Programmatik (Der Feind im Land. Lpz. 1911. Und deutsch sei die Erde. Mainz 1912), die K. auch in Geschichtsbüchern für den Unterricht vertrat. Gleichzeitig verfasste er künstlerisch wenig bedeutsame Romane wie Wilhelm Droemers Siegesgang (Bln. 1913) u. Romane nach histor. Stoffen wie Wolfram (Stgt. 1920) über den Sängerkrieg, Wilhelmus von Nassauen. Ein Mann und ein Volk (Stgt. 1933. 41944.
K. entstammte einer angesehenen weimarischen Kaufmanns- u. Ratsfamilie. Nach dem Besuch des von Musäus, K.s Onkel, geleiteten Gymnasiums in Weimar studierte er ab 1777 Jura in Jena u. Duisburg, schrieb nebenher Dramen, Romane u. Gedichte, beteiligte sich an studentischen Liebhabertheatern u. gründete in Jena einen Dichterclub. 1781–1790 hatte er hohe Ämter in Petersburg u. Estland inne. Gleichzeitig leitete er in Reval ein Liebhabertheater, für das er eine Reihe eigener Schauspiele schrieb, unter ihnen das Rührstück Menschenhass und Reue (Bln. 1789), mit dem K. seinen Ruf als populärster Dramatiker seiner Zeit begründete. Nach dem Tod seiner ersten Frau, einer estländ. Adligen, reiste K. 1790 zunächst nach Mainz, Mannheim u. Paris. Im selben Jahr schrieb er das obszöne Pasquill Doctor Bahrdt mit der eisernen Stirn, oder die deutsche Union gegen Zimmermann. Ein Schauspiel [...] von Knigge (o. O. 1790. Neudr. Lpz. 1907). Mit dieser Schrift bezog er Position in einer lite-
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rar. Fehde zwischen Johann Georg Zimmermann u. Carl Friedrich Bahrdt, deren Tragweite ihm kaum bewusst gewesen sein mag. Die Invektiven gegen Campe, Boie, Lichtenberg, Nicolai, Knigge u. andere provozierten einen Skandal, der eine der Ursachen dafür war, dass K.s dramat. Werk trotz seiner großen Popularität von der zeitgenöss. Kritik nicht nur mit Geringschätzung, sondern auch mit dem Vorwurf der Unmoralität bedacht wurde. 1792 kehrte K. nach Russland zurück u. ging 1798 als Theaterdichter nach Wien, 1800 wieder nach Russland, wo er unter dem Verdacht, Jakobiner zu sein, verhaftet u. nach Sibirien verbannt wurde (Das merkwürdigste Jahr meines Lebens. 2 Bde., Bln. 1801). Durch Paul I. begnadigt, wurde er nach vier Monaten wieder freigelassen u. zum Direktor des Deutschen Hofschauspiels in Petersburg ernannt. 1801, nach der Ermordung des Zaren, ließ sich K. in Weimar nieder. Dort kam es zum Konflikt mit Goethe, der das Lustspiel Die deutschen Kleinstädter (Lpz. 1803) inszenieren wollte. Da K. sich weigerte, iron. Anspielungen auf die Frühromantiker, v. a. auf die Brüder Schlegel, gegen die er bereits 1799 das Pamphlet Der hyperboreeische Esel oder Die heutige Bildung [...] (Lpz. 1799. Neudr. ebd. 1907) veröffentlicht hatte, zu streichen, unterblieb die Aufführung schließlich. Als es wegen einer von K. geplanten Ehrungsfeier für Schiller, mit der er Goethe u. die Schlegels kompromittieren wollte, zum Skandal kam, reiste K. erneut nach Paris. Ab 1803 gab er gemeinsam mit Garlieb Merkel von Berlin aus die gegen Goethe u. die Schlegels gerichtete Zeitschrift »Der Freimüthige« (Bln. 1803–06) heraus, kündigte aber seine Mitarbeit nach Streitigkeiten mit Merkel schon bald auf. Nach Napoleons Sieg 1806 floh K. nach Estland, von wo aus er die antinapoleonischen Zeitschriften »Die Biene« (Königsb. 1808/09) u. »Die Grille« (Königsb. 1811/12) herausgab. 1813, nach der Niederlage Napoleons, wurde K. zum Generalkonsul in Preußen ernannt, zog nach Königsberg, übernahm die Leitung des Theaters u. schrieb eine Geschichte des Deutschen Reiches von dessen Ursprunge bis zu dessen Untergange (Lpz. 1814/15).
Kotzebue
1817 kehrte er noch einmal nach Weimar zurück u. gründete das »Litterarische Wochenblatt« (Weimar 1818/19), in dem er v. a. gegen die polit. Ziele der studentischen Turnerbünde u. Burschenschaften, gegen Demokratie u. Pressefreiheit polemisierte; auf dem Wartburgfest im Okt. 1817 wurden daher auch Schriften K.s, der zudem noch im Verdacht stand, ein Spion des Zaren zu sein, verbrannt. Seine Ermordung durch den Jenaer Burschenschafter Karl Ludwig Sand gab Anlass für die Karlsbader Beschlüsse. K., der mehr als 230 Stücke, daneben zahlreiche Romane, Prosastücke, Reisebeschreibungen, autobiogr. u. histor. Schriften u. Aufsätze verfasste, war der in Europa am meisten gespielte Dramatiker des 19. Jh. Die Ursachen für K.s Publikumserfolg dürften in seiner – bereits von Goethe anerkannten – Beherrschung bühnenwirksamer Mittel, in der geschickten Handlungsführung u. der Wahl populärer Stoffe liegen. In Abgrenzung von Schiller, Goethe u. anderen sprach sich K. für das Theater als Ort nicht der Erziehung, sondern der Unterhaltung aus (z.B. in Fragmente über Recensenten-Unfug – Eine Beylage in der Jenaer Literatur-Zeitung. Lpz. 1797). Das immer gleiche Grundschema seiner Lust- u. Trauerspiele, Possen, Rühr- u. Familienstücke, nach dem die den Ausgangspunkt für den dramat. Konflikt bildende gestörte Ordnung über Verwicklungen u. parallel gestaltete Nebenhandlungen in einem idealen, stadt-, gesellschafts- oder europafernen Freiraum wiederhergestellt u. in einem rührseligen Schlusstableau sinnfällig gemacht wird, bot dem Publikum bürgerl. Illusionstheater u. veranlasste K.s zahlreiche Kritiker, ihn als trivial zu verurteilen. K.s kaum noch gespielte Stücke sind zunehmend zum Gegenstand sozialgeschichtlich orientierter Trivialliteraturforschung geworden. Ausgaben: Theater. Mit biogr. Nachrichten. 40 Bde., Wien/Lpz. 1840/41. – Ausgew. prosaische Schr.en. 45 Bde., Wien 1842/43. – Schauspiele. Hg. u. komm. v. Jürg Mathes. Mit einer Einf. v. Benno v. Wiese. Ffm. 1972. – Gedanken über das Partikelchen ›Man‹. Mchn. 1986. – Der Briefw. zwischen A. v. K. u. Carl August Böttiger. Hg. Bernd Maurach. Bern u. a. 1987. – Demetrius Iwannowitsch, Zaar v. Moscau. Ein russ. Original-Trauersp. in fünf
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Aufzügen. Erl. u. Nachw. besorgt v. Gerhard Giesemann. Fernwald 1994. – Vom Adel. Überarb. u. neu hg. v. Hermann v. Salza u. Lichtenau. Wiesb. 1999.
Bühnenpraxis während Goethes Leitung des Weimarer Hoftheaters. Sinzig 2006.
Literatur: Goedeke 5, 7, 15, 17. – Karl-Heinz Klingenberg: Iffland u. K. als Dramatiker. Weimar 1962. – Walter Hinck: Das dt. Lustsp. des 17. u. 18. Jh. Stgt. 1965. – Horst Albert Glaser: Das bürgerl. Rührstück. Stgt. 1969. – Frithjof Stock: K. im literar. Leben der Goethezeit. Düsseld. 1971. – Peter Brückner: ›... bewahre uns Gott in Dtschld. vor irgendeiner Revolution!‹ Die Ermordung des Staatsrats v. K. durch den Studenten Sand. Bln. 1975. – Doris Maurer: A. v. K. Ursachen seines Erfolges. Bonn 1979. – Peter Kaeding: A. v. K. Auch ein dt. Dichterleben. Bln. 1985. – Ruprecht Wimmer: Vehikel des Zufalls oder des Schicksals erkorenes Werkzeug. Zur Dramatik A. v. K.s. In: Inevitabilis vis fatorum. Hg. Roger Bauer u. a. Bern u. a. 1990, S. 236–248. – Oscar Mandel: A. v. K. The comedy, the man. University Park u. a. 1990. – Mechthild Keller: ›Agent des Zaren‹. In: West-östl. Spiegelungen. Russen u. Rußland aus dt. Sicht. 19. Jh.: Von der Jahrhundertwende bis zur Reichsgründung (1800 - 1871). Hg. dies. Mchn. 1992, S. 119–150. – Simone Winko: Negativkanonisierung. A. v. K. in der Literaturgesch. des 19. Jh. In: Kanon – Macht – Kultur. Hg. Renate v. Heydebrand. Stgt. 1998, S. 341–364. – Bärbel Fritz: K. in Wien. Eine Erfolgsgesch. mit Hindernissen. In: Theaterinstitution u. Kulturtransfer. Bd. 2, Tbg. 1998, S. 135–153. – Kati Röttger: Aufklärung u. Orientalismus. Das ›andere‹ bürgerl. Theater des A. v. K. In: Das Theater des Anderen. Hg. Christopher Balme. Tüb. u. a. 2001, S. 95–120. – Armin Gebhardt: A. v. K. Theatergenie zur Goethezeit. Marbach 2003. – Ruth Eitan: Das Leiden des Schriftstellers: Ludwig Börne u. A. v. K. In: Ludwig Börne. Hg. Frank Stern. Bln. 2003, S. 192–201. – Jörg F. Meyer: Verehrt. Verdammt. Vergessen: A. v. K. Werk u. Wirkung. Ffm. 2005. – Dieter Martin: Über den Umgang mit Menschenfeinden. Zu A. v. K.s ›Menschenhaß und Reue‹ u. Friedrich Schillers ›Der versöhnte Menschenfeind‹. In: Ungesellige Geselligkeit. Hg. Andrea Heinz. Heidelb. 2005, S. 165–176. – Teresina Zemella: I fantasmi di K. In: Il teatro della paura. Scenari gotici del Romanticismo europeo. Hg. Diego Saglia. Rom 2005, S. 33–46. – Carlotta Farese: ›Rule, K., then, and Britannia rule!‹. Considerazioni sulla ricezione dell’opera di A. v. K. in Inghilterra fra sette e ottocento. In: Il teatro della paura, S. 47–59. – Axel Schröter: Musik zu den Schauspielen A. v. K.s. Zur
Koziol, Andreas, * 8.1.1957 Suhl/Thüringen. – Lyriker u. Prosaautor.
Sabine Lorenz / Mario Zanucchi
Nach Militärdienst u. abgebrochenem Theologiestudium übte K., Sohn eines Ingenieurs, der vorübergehend auch Offizier bei der Staatssicherheit der DDR war, bis zu den polit. Veränderungen 1989/90 in der DDR unterschiedl. Berufe aus (»Lebenslauf«. Ein Poem. Bln. 1999.). Als Mitherausgeber inoffizieller Literaturzeitschriften (poststrukturalistisch beeinflusste »ariadnefabrik«, »Verwendung«) gehörte er zu den Protagonisten der Ostberliner Kunstszene Prenzlauer Berg (Bestiarium Literaricum. Übermalungen C. M. P. Schleime. Bln. 1991) u. war 1990 Mitgründer des »Druckhaus Galrev«. Nach Veröffentlichungen in Zeitschriften, Anthologien u. Autorenbüchern wurde die von 1984 bis 1988 entstandene Lyrik in Gerhard Wolfs »Außer der Reihe« publiziert (mehr über rauten und türme. Bln./Weimar 1991). K.s experimentelle Texte zeichnen sich durch assoziative Anspielungen aus. Die im Zentrum seines Werks stehende Sprachreflexion wird mit Zeitkritik verbunden, gerade im (literar-)histor. Kontext der DDR u. des heutigen Deutschland (sammlung. Bln. 1996.). K. lebt als Autor, Übersetzer u. Herausgeber in Berlin. Weitere Werke: rumor. Gedichte. Dresden 1990. – Ein Buch der Schlafwandlungen. Lpz. 1997. – Frühjahre. Eine Verserzählung. Bln. 2001. – Sieben Gedichte. Mchn. 2004. – Anpassungen. Vierundfünfzig multiple Redensarten. Bln. 2004. – Herausgeber: Abriß der Ariadnefabrik (zus mit Rainer Schedlinski). Bln.1990. Literatur: Peter Böthig u. Klaus Michael (Hg.): MachtSpiele. Lit. u. Staatssicherheit im Fokus Prenzlauer Berg. Lpz. 1993. – Kristin Schulz: A. K. oder Die Gabe der zugespitzten Zunge. In: Roland Berbig u. a. (Hg.): Zersammelt. Die inoffizielle Literaturszene der DDR nach 1990. Eine Bestandsaufnahme. Bln. 2000, S. 71–80. Christoph Willmitzer
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Kracauer, Siegfried, eigentl.: S. Krakauer, auch: Ginster, raca; * 8.2.1889 Frankfurt/ M., † 26.11.1966 New York. – Essayist, Erzähler, Film- u. Kulturtheoretiker, Geschichtsphilosoph. Der Sohn einer kleinbürgerl. jüd. Familie besuchte das namhafte Reform-Realgymnasium Philanthropin der Israelitischen Gemeinde in Frankfurt/M. Das Studium der Ingenieurwissenschaften schloss er 1914 mit der Promotion ab; er arbeitete vor dem Ersten Weltkrieg und währenddessen als Architekt in Frankfurt u. Osnabrück u. betrieb zgl. philosophisch-kulturkrit. Studien. Ab 1920 arbeitete K. als freier Mitarbeiter u. 1921–29 als Feuilletonredakteur der »Frankfurter Zeitung« (»FZ«), 1930–33 als deren kulturpolit. Korrespondent in Berlin. Die frühen Schriften variierten K.s zentrales Thema noch konservativ-idealistisch; er untersuchte Momente der »transzendentalen Obdachlosigkeit« in den technisch-funktional gewordenen Gesellschaftsprozessen der Neuzeit u. maß deren Sinnverlust, verstanden als Realitätsverlust, am »sinnüberwölbten Kosmos« des MA. Beeinflusst von Max Scheler schrieb K. die (erst 2004 veröffentlichte) Erzählung Die Gnade. 1920 widmete er seinem Lehrer u. Freund Georg Simmel eine Monografie. 1922 veröffentlichte er die an Husserl orientierte erkenntnistheoret. Untersuchung Soziologie als Wissenschaft (Dresden). K. stand dem Kreis um den liberalen Rabbiner Nobel in Frankfurt nahe, distanzierte sich jedoch scharf von den einflussreichen religiösen bzw. esoter. Erneuerungsbewegungen der frühen 1920er Jahre. 1923 kam es in der lebenslangen, für K. enttäuschenden Beziehung zu Adorno zu einem ersten tiefgreifenden Bruch. Um 1925 intensivierte K. sein Studium des Marxismus, beschäftigte sich mit den Phänomenen der Massenkultur u. griff Anregungen von Bloch, Benjamin u. Leo Löwenthal auf. Dies führte ihn zu einer Neuorientierung, zu einem wachsenden Interesse am Konkreten, an den unscheinbaren Phänomenen des sozialen Alltags. War das Buch Der Detektivroman (1925. Erstveröffentlichung Ffm. 1971) noch ange-
Kracauer
legt als »Metaphysik«, als geschichtsphilosophische Allegorie anhand der Topoi dieses populären literar. Genres, so bezeugen K.s autobiogr. Romane Ginster (an. ersch. Bln. 1928) u. Georg (1934. Erstveröffentlichung Ffm. 1973), die wirkungsmächtige soziolog. Studie Die Angestellten (Ffm. 1930), zahlreiche Essays u. philosophische Miniaturen (»Denkbilder« im Sinne Benjamins) seine materialistischen Zeitdiagnosen u. sein erfahrendes Denken. Mit diesen Arbeiten u. den Essays u. Kritiken in der »FZ« ist er neben Benjamin der bedeutendste Analytiker der populären Medien u. Genres der 1920er Jahre u. frühen 1930er Jahre, v. a. des Films. 1933 floh K. mit seiner Frau Lili nach Paris. Während der folgenden acht Jahre entstanden im Exil der Roman Georg u. die »Gesellschaftsbiographie« Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (Amsterd. 1937). Obwohl die frz. Übersetzung von Ginster (ein Roman über einen Antihelden im Ersten Weltkrieg, über den Joseph Roth schrieb: »Ginster im Krieg, das ist: Chaplin im Warenhaus«) K. Ansehen in Frankreich verschaffte, blieb seiner literar. Arbeit im Exil der finanzielle Erfolg versagt. Georg war ein Schlüsselroman über K.s Arbeit bei der »FZ« u. die ideolog. Brüche während der Weimarer Republik. 1941 gelangten K. u. seine Frau, vermittelt über Löwenthal u. Adorno, nach New York u. erhielten 1946 die amerikan. Staatsbürgerschaft. K. arbeitete, finanziert über immer neu zu beantragende Stipendien, in der Film Library des Museum of Modern Art als Filmhistoriker, z.B. über totalitäre Filmpropaganda, u. veröffentlichte From Caligari to Hitler (Princeton 1947), eine Studie über Mentalitätstypen, über sozialpsycholog. Dispositionen, die den Sieg des Nationalsozialismus begünstigten, gespiegelt im dt. Film der Weimarer Republik. Diese »Prophetie nach rückwärts«, die 1958 in einer verstümmelten Übersetzung deutsch erschien, beeinflusste nicht nur anhaltend die Debatten um Filmkritik u. Filmgeschichte in der BR Deutschland, K.s Buch zeigte auch die ›Goldenen‹ Weimarer Jahre als Mythos: Deutschland habe nach Weimar nur verwirklicht, »was seine Filme von Anbeginn hatten erahnen lassen«. In den berühmten Schlusssätzen
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Weitere Werke: Werkausgaben: Schr.en. Hg. K. resümiert K., die im Film »beschworenen Gestalten« seien aus der Leinwand heraus ins Witte. 7 Bde., Ffm. 1971–79, 1990 (Ausg. abgeLeben getreten: »Homunculus ging leibhaftig brochen). – Werke in neun Bdn. Hg. Inka Mülderumher. Selbstherrliche Caligaris schwangen Bach u. Ingrid Belke. Ffm. 2004 ff. – Einzelwerke: Die Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin, sich zu Hexenmeistern über ungezählte Potsdam u. einigen Städten der Mark vom 17. Jh. Cesares auf und erteilten ihnen Mordbefehle. bis zum Beginn des 19. Jh. Worms 1915. – PropaTobsüchtige Mabuses begingen straflos grau- ganda and the Nazi War Film. New York 1942. – sige Verbrechen, und wahnsinnige Despoten The Conquest of Europe on the Screen. The Nazi erdachten unerhörte Folterungen.« (Von Ca- Newsreel 1939–40. Washington 1943. – Satellite ligari bis Hitler. Ein Beitrag zur Geschichte des Mentality (zus. mit Paul L. Berkman). New York deutschen Films. Hbg. 1958, S. 180 f.) Die erste 1956. – Über die Freundschaft. Ffm. 1971 (Ess.s). – vollständige dt. Ausgabe erschien erst 1979 Kino, Essays, Studien, Glossen zum Film. Hg. Karsten Witte. Ffm. 1974. – Briefe: Leo Löwenthal – (Ffm.). S. K.: In steter Freundschaft. Briefw. 1921–1966. Theory of Film. The Redemption of Physical Hg. Peter-Erwin Jansen. Springe 2003. – Theodor Reality (New York 1960. Dt. Ffm. 1964) zeigte W. Adorno, S. K.: ›Der Riß der Welt geht auch Film als eine Kunst, die sich von den anderen durch mich‹. Briefw. 1923–1966. Hg. Wolfgang Künsten dadurch unterschied, dass sie – wie Schopf. Ffm. 2008. auch die Fotografie – die »einzige Kunst« sei, Literatur: Bibliografie: Thomas Y. Levin: S. K. »die ihr Rohmaterial mehr oder weniger in- Eine Bibliogr. seiner Schr.en. Marbach 1989. – takt läßt«; Filme scheinen K. zufolge »um so Studien, Einführungen: Theodor W. Adorno: Der filmischer zu sein, je weniger sie sich direkt wunderl. Realist. In: Ders.: Noten zur Lit. 3. Ffm. auf inwendiges Leben, Ideologien und geis- 1966. – Heinz Ludwig Arnold (Hg.): S. K. Mchn. 1980. (Text + Kritik. H. 68). – Inka Mülder: S. K. tige Belange richten« (Theorie des Films. Die Grenzgänger zwischen Theorie u. Lit. Seine frühen Errettung der äußeren Wirklichkeit. Ffm. 1985, Schr.en 1913–33. Stgt. 1985. – Ingrid Belke u. Irina S. 13). Das Werk wurde zwar wegen seiner Renz: S. K. 1889–1966. Marbach 1988. – Michael normativen Ästhetik kritisiert, es leitete aber Kessler u. T. Y. Levin: S. K. Neue Interpr.en. Tüb. zgl. die Auseinandersetzung mit K.s Schriften 1990. – Dagmar Barnouw: Critical Realism. Histoin der BR Deutschland ein. In deren Folge ry, Photography and the World of S. K. Baltimore/ veröffentlichte K. 1963 Das Ornament der Masse London 1994. – Gertrud Koch: K. zur Einf. Hbg. (Ffm.), eine Sammlung seiner besten kultur- 1996. – Heide Schlüpmann: Ein Detektiv des Kinos. Studien zu S. K.s Filmtheorie. Ffm. 1998. – Momkrit. Essays aus den 1920er Jahren, u. Straßen me Brodersen: S. K. Reinb. 2001. – Helmut Stalder: in Berlin und anderswo (Ffm. 1964), eine S. K. Das journalist. Werk in der ›Frankfurter ZeiSammlung literar. Miniaturen aus den Jahren tung‹ 1921–1933. Würzb. 2003. – Christoph Brecht 1925–33. K. hinterließ sein letztes Werk, u. Ines Steiner: Im Reich der Schatten. S. K.s ›From History. The Last Things before the Last (New Caligari to Hitler‹. Marbach 2004. – Christine York 1969), als Fragment. Er erkennt hier in Holste (Hg.): S. K.s Blick. Anstöße zur Ethnograder Geschichtsschreibung ein »Vorraum«- phie des Städtischen. Bln. 2006. Claudia Lenssen / Sven Hanuschek Genre, das sich mit den ›vorletzten‹ Fragen befasst u. narrative Erklärungen bieten muss statt abstrahierend-erkenntnistheoretischer. In der wechselseitigen Durchdringung von Kracht, Christian, * 29.12.1966 Gstaad. – Makro- u. Mikrogeschichte u. wiederum dem Prosaautor, Essayist, Journalist, DramatiTopos der »Errettung der äußeren Wirklich- ker. keit« thematisiert K. die Parallelen von His- Als Sohn des Generalbevollmächtigten im toriografie zu den anderen Medien des Vor- Verlag Axel Springer wuchs K. im gehobenen raums, Fotografie u. Film. Ihre Qualitäten Bürgertum auf. Nach dem Besuch von Eliteliegen nicht in Letztbegründungen, sondern internaten wie Schloss Salem arbeitete er als in ihrer »Akkuratesse im Approximativen« Journalist u. a. für den »Spiegel« u. die Life(Geschichte. Vor den letzten Dingen. Dt. von K. style-Zeitschrift »Tempo«; er gab die ZeitWitte. Ffm. 1971, S. 242). schrift »DER FREUND« (Hbg. 2004–2006)
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heraus u. schrieb als Kolumnist der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Besondere Beachtung fand er mit seinem Romandebüt Faserland (Köln 1995) u. dessen Nachfolger 1979 (Köln 2001). K.s Erstling beschreibt die Deutschlandreise eines reichen jungen Mannes. Getrieben von seiner Sehnsucht nach Zuwendung, zieht er von Sylt aus nach Süden, ohne mit seinem hedonistischen Nomadentum an ein Ziel zu gelangen. Seinen »Freunden« ist der Erzähler entfremdet. Alkohol- u. Drogenexzesse wechseln mit polem. Ausfällen gegen Hippies, Rentner, Taxifahrer u. »SPD-Nazis«. Die innere Leere reflektiert der Erzähler kaum; sie zeigt sich nur in Rückblenden auf Episoden einer vermeintlich glückl. Kindheit, die aber ebenfalls jeweils in einer Katastrophe enden. Zudem verdrängt der Erzähler die eigene Homosexualität. Als schließlich sein Schulfreund Rollo vor dem Suizid steht, wendet er sich hilflos ab u. flüchtet mit dessen Auto in die Schweiz – für ihn kein eigenständiges Land, sondern »Teil Deutschlands, in dem alles nicht so schlimm« sei. Hier entwirft er die Utopie, mit Isabella Rosselini u. gemeinsamen Kindern in den Schweizer Bergen zu leben u. ihnen von Deutschland zu erzählen. Nach einer ergebnislosen Suche nach dem Grab Thomas Manns lässt er sich in die Mitte des Zürcher Sees rudern. Sein Selbstmord wird angedeutet, aber nicht erzählt. Von der Literaturkritik fast einhellig abgelehnt, galt Faserland später als »Gründungsdokument« (Moritz Baßler) der Popliteratur der 1990er Jahre. Vor allem die demonstrative Verwendung von Markennamen u. die aggressive, elitäre Wendung des Erzählers gegen eine empfundene kulturelle Dominanz der 68er wurde von Autoren wie Florian Illies oder Benjamin von StuckradBarre als befreiend empfunden. Trotz der scheinbaren Naivität des Erzählers erweist sich der Text als raffinierte Konstruktion mit dichten intertextuellen Bezügen, u. a. zu Thomas Mann, Camus, Fitzgerald, Beckett, Salinger u. Bret Easton Ellis’ Zeitroman American Psycho. Daneben bezieht sich K. auf die klassisch-modernen Figuren der Dandys u. der Flaneurs. Die vermeintl. Affirmation der alltägl. Markenwelt, der simulierte
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mündl. Sprachduktus des Erzählers u. der enge Bezug auf die dt. Gesellschaft der 1990er Jahre suggerieren ein großes Maß an Authentizität u. führten zur enthusiast. Rezeption bei der »Generation Golf« (Illies). Zunächst nahm K. die Rolle als Galionsfigur der Popliteratur scheinbar an; u. a. gab er die maßgebl. Anthologie Mesopotamia. Ernste Geschichten am Ende des Jahrtausends (Stgt. 1999) heraus u. beteiligte sich am von Joachim Bessing edierten Projekt Tristesse Royale. Das popkulturelle Quintett (Bln. 1999). K.s zweiter Roman, 1979, markiert eine teilweise Abkehr von diesem Weg. Er wurde deshalb häufig als Abschluss dieser Phase der Popliteratur rezipiert. Die Jahreszahl spielt auf die islamische Revolution im Iran an; der Ich-Erzähler reist mit seinem Geliebten Christopher in das vorrevolutionäre Teheran. Dort besuchen sie dekadente Partys, auf denen Endzeitstimmung herrscht. Nach dem Einbruch der Revolution stirbt der verletzte Christopher in einem Armenhospital. Der Erzähler tritt auf der Suche nach Erkenntnis eine Reise in den Himalaja an, wo er von chines. Truppen gefangen genommen wird. Der letzte Teil des Romans schildert das brutale Leben in einem chines. Gefangenenlager. Wieder verbergen sich hinter einem scheinbar naiven Erzählertext subtile literar. Anspielungen, u. a. auf die Orientliteratur des 19. u. 20. Jh., z.B. auf Flaubert, Heinrich Harrer oder Paul Bowles. Gleichzeitig lässt sich der Text als Umkehrung eines Bildungsromans lesen, der mit der geistigen Selbstauslöschung des Erzählers endet. Das Erscheinen des Buches unmittelbar nach dem 11.9.2001 sorgte für eine verstärkte Rezeption. 2003 wurde eine Bühnenfassung in Bochum uraufgeführt. Ein weiterer Strang im Œuvre K.s sind Reiseberichte. Für die »Welt am Sonntag« lieferte K., der lange in Bangkok u. Katmandu lebte, Reportagen aus Asien, die gesammelt in Der gelbe Bleistift (Köln 2000) erschienen. Trotz K.s Schweizer Staatsbürgerschaft u. der exot. Orte bleibt Deutschland meist der eigentl. Bezugshorizont. Wie andere Autoren seiner Generation inszeniert K. seine öffentl. Person gezielt. In Interviews legt er sich selten fest u. schottet
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seine private Identität ab. Selbst polit. Kom- für Kathmandu u. Nepal (zus. mit Eckhart Nickel). plexe wie die Regierungsform Nordkoreas Mchn./Zürich 2009. Literatur: Fabian Lettow: Der postmoderne werden nach ästhetischen Kriterien beurteilt; dazu kommt die Lust an der kalkulierten Dandy – die Figur C. K. zwischen ästhet. SelbststiProvokation, wenn sich K. für Mesopotamia lisierung u. aufklärer. Sendungsbewusstsein. In: mit einer Kalaschnikow fotografieren lässt Selbstpoetik 1800–2000. Ich-Identität als literar. Zeichenrecycling. Hg. Ralph Köhnen. Ffm. u. a. oder in der Erzählung Der Gesang des Zauberers 2001, S. 285–305. – Moritz Baßler: Der dt. Popim selben Band aus der Perspektive eines Sa- Roman. Die neuen Archivisten. Mchn. 2002. – Anke rin-Terroristen erzählt. Gelegentlich werden S. Biendarra: Der Erzähler als ›popmoderner FlaK. Flirts mit den Ideen der Neuen Rechten neur‹ in C. K.s ›Faserland‹. In: GLL 55 (2002), H. 2, vorgeworfen. S. 164–179. – Katharina Rutschky: Wertherzeit. Aufsehen erregte K. zuletzt mit seinem Der Poproman – Merkmale eines unerkannten dritten Roman Ich werde hier sein im Sonnen- Genres. In: Merkur 57 (2003), S. 106–117. – Clauschein und im Schatten (Köln 2008). Keimzelle dia Breger: Pop-Identitäten 2001. Thomas Meider Handlung ist die Annahme, dass Lenin neckes ›Hellblau‹ u. C. K.s ›1979‹. In: Gegenwartslit. 2 (2003), H. 2, S. 197–225. – Leander die kommunistische Revolution nicht in Scholz: Ein postmoderner Bildungsroman. C. K.s Russland, sondern in der Schweiz durchge- ›1979‹. In: ebd. 3 (2004), 200–224. – Richard führt habe, die sich nun im sechsundneun- Langston: Escape from Germany. Disappearing zigsten Jahr eines Krieges gegen die faschis- Bodies and Postmodern Space in C. K.’s Prose. In: tischen Mächte Deutschland u. England be- GQ 79 (2005), S. 50–70. – Steffen u. Mirjam finde. Wie in den anderen Romanen steht ein Schneider: Zerstörung des Selbst, Erwartung des Reisender im Vordergrund, ein afrikan. Offi- Anderen: Opferfiguren in den imaginären Orientzier der Schweizer Armee, der einen zwie- reisen ›Der Sandmann‹ v. Bodo Kirchhoff u. ›1979‹ lichtigen Oberst namens Brazhinsky verhaf- v. C. K. In: ›Wenn die Rosenhimmel tanzen‹. Oriental. Motivik in der deutschsprachigen Lit. des 19. ten soll. Aus der Hauptstadt Neu-Bern führt u. 20. Jh. Hg. Rüdiger Görner u. Nima Mina. Mchn. sein Weg in das Innere des Schreckhornmas- 2006, S. 213–242. – Johannes Birgfeld: C. K. als sivs, in dem sich eine wahrhaft kommunisti- Modellfall einer Reiselit. des globalisierten Zeitalsche Utopie gebildet zu haben scheint, die ters. In: Akten des XI. Internat. Germanistenkonaber durch militärische Angriffe genau in gresses Paris 2005. Hg. v. Jean-Marie Valentin unter diesem Augenblick zerstört wird. In lakoni- Mitarbeit v. Elisabeth Rothmund. Bd. 9, Bern u. a. scher, geschliffener Sprache beschreibt K. 2007, S. 405–411. – Contemporary German Fiction. eine desolate, absurde, von Verrohung u. Writing in the Berlin Republic. Ed. by Stuart Tabrutaler Gewalt geprägte Welt, die sich im berner u. a. Cambridge 2007. – Dietmar Dath: Ein schöner Albtraum ist sich selbst genug. In: FrankZustand der Auflösung befindet. K. spielt mit furter Allgemeine Zeitung, 15.10.2008. Versatzstücken der kontrafakt. GeschichtserStefan Höppner zählung u. der utop. Literatur, ohne dass es ihm auf deren parabol. Funktion ankäme. Die Kritik reagierte vielfach mit einer Mischung Kräftner, Hertha, * 26.4.1928 Wien, aus Abscheu u. Faszination, wobei dem Text † 13.11.1951 Wien. – Lyrikerin u. Erzähzumeist eine hohe sprachl. Qualität attestiert, lerin. ihm aber auch die Ästhetisierung oder gar K. besuchte in Mattersburg/Burgenland das Verkitschung des Kriegsgeschehens vorgeRealgymnasium. Der gewaltsame Tod des worfen wurde. Vaters im Sept. 1945, die letzten Kriegstage u. Weitere Werke: Ferien für immer. Die angedie Besatzungszeit erschütterten die sensible nehmsten Orte der Welt (zus. mit Erhart Nickel). Jugendliche schwer. Nach der Matura überKöln 1998. – Die totale Erinnerung. Vorw. In: Eva Munz u. Lukas Nikol: Die totale Erinnerung. Kim- siedelte sie zum Studium der Germanistik u. Jong Ils Nordkorea. Bln. 2006. – New Wave. Ein Anglistik nach Wien; 1949 begann sie dort Kompendium 1999–2006. Mit einem Vorw. v. mit der Arbeit an einer Dissertation zum Volker Weidermann. Köln 2006. – Metan (zus. mit Thema »Die Stilprinzipien des Surrealismus, Ingo Niermann). Bln. 2007. – Gebrauchsanweisung nachgewiesen an Franz Kafka«. Angeregt von
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dem Logotherapeuten Viktor E. Frankl, in dessen Schülerkreis sie verkehrte, beschäftigte sie sich zu dieser Zeit aber zunehmend mit Psychologie, Philosophie u. Soziologie. Die Freundschaft zu einem jungen Bibliothekar, den sie »Anatol« nennt, blieb bis zu ihrem Freitod u. trotz zahlreicher Krisen aufrecht u. fand ihren Niederschlag in zahlreichen Texten. Beeindruckt von Trakl, Rilke u. Georg Heym, schrieb K. mit 18 Jahren ihre ersten Gedichte; zu ihrer ersten Veröffentlichung kam es im Herbst 1948 in der von Hermann Hakel herausgegebenen Zeitschrift »Lynkeus«, die für den damaligen literar. Nachwuchs Österreichs von enormer Bedeutung war. Wenig später fand sie auch in dem Kritiker u. Schriftsteller Hans Weigel einen wichtigen, entschiedenen Förderer. Eine Reise nach Norwegen 1949 u. ein längerer Parisaufenthalt 1950 waren einschneidende Erlebnisse. Für ihr Pariser Tagebuch erhielt K. 1951 den Prosapreis der Wiener Kulturzeitschrift »Neue Wege«. Ihre letzten beiden Lebensjahre waren von großer Produktivität gekennzeichnet. So entstanden neben etlichen Gedichten auch der tagebuchartige Prosazyklus Beschwörung eines Engels sowie zahlreiche Notizen zu einem Roman in IchForm. K. neigt zu einer stark bildhaften, teils narrativen, teils performativen Sprachverwendung, immer wieder aber auch zur Sprachskepsis. Sie steht damit in der Tradition einer »psychogrammatischen« Literatur, die von der expressionistischen bis zur experimentellen österr. Dichtung der 1960er Jahre reicht. Die Auflösung des Ich in konstant bleibenden sprachl. Bildern des Traums, des Todes, der Liebe u. der Fremdheit überschattet die Wirklichkeit der äußeren Welt. Die erste Buchausgabe von K.s Texten (Warum hier? Warum heute? Graz 1963) blieb weitgehend ohne Echo. Erst im Zuge von Neuauflagen 1977 (Eisenstadt) u. 1981 (Darmst./Neuwied) setzte eine allmähl. Wiederentdeckung ein. In den letzten 15 Jahren erfuhr K.s Werk, insbes. ihre Lyrik, eine deutl. Aufwertung durch Kritik u. Literaturwissenschaft, wobei sich zwei stark divergierende Lesarten herausgebildet u. etabliert
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haben: die eine, ältere, die auf G. Bisinger zurückgeht, fasst sämtl. Gedichte, Briefe, Tagebücher u. Fragmente der Autorin zu einem großen »Lebensroman« zusammen; die andere, jüngere, verwahrt sich gegen eine derartige Engführung von literar. Produktion u. Biografie wie auch gegen jede überzogene Psychologisierung u. sieht in K. vielmehr eine früh verstummte, exemplarische Stimme ihrer Generation, die nach epigonalen Anfängen binnen kürzester Zeit ein erstaunlich hohes Maß an ästhetischer Eigenständigkeit erlangt hat. Einzelne ihrer Gedichte (z.B. ihre Litaneien) u. Kurzprosastücke (z.B. Der Kopf von 1949) gehören inzwischen unbestritten zum Kanon der österr. Nachkriegsliteratur. K.s Leben u. ihr früher Tod wurden mehrfach Gegenstand künstlerischer u. literar. Gestaltung. Zu nennen sind hier v. a. Jürg Amanns Bühnenmonolog Weil immer das Meer vor der Liebe ist u. das Prosabuch Die Hügel nach der Flut der österr. Autorin Dine Petrik aus dem Jahr 1997. Im selben Jahr erschien unter dem Titel Kühle Sterne (Hg. Gerhard Altmann u. Max Blaeulich. Klagenf./Salzb.) die bislang letzte große, einigermaßen um Vollständigkeit bemühte Edition von K.s Dichtungen u. Briefen (als Tb. Ffm. 2001). Ausgaben: Das Werk. Gedichte. Skizzen. Tagebücher. Ausgew. v. Otto Breicha u. Andreas Okopenko. Mit Bibliogr. Eisenstadt 1977. – Das blaue Licht. Lyrik u. Prosa. Hg. O. Breicha u. A. Okopenko. Mit einem Nachw. v. Peter Härtling. Darmst./Neuwied 1981. Literatur: Paul Hühnerfeld H. K. In: Ders.: Zu Unrecht vergessen. Hbg. 1957, S. 337–340. – Otto Breicha u. Andreas Okopenko: H. K. In: Wort in der Zeit 8 (1962), S. 15–18. – Sabine Grossi: Die psychogrammat. Struktur der Dichtung H. K.s. Diss. Salzb. 1973. – Hans J. Schütz: ›Ein dt. Dichter bin ich einst gewesen‹. Vergessene u. verkannte Autoren des 20. Jh. Mchn. 1988, S. 153–158. – Gerhard Altmann: H. K. Diss. Wien 1990. – Ders.: Es ist eine Seereise bis zu dir ... H. K.s ›Lebens-Werk‹. In: ÖGL 39 (1995), H. 4/5, S. 228–242. – Evelyn Polt-Heinzl: H. K. (1928–1951). In: LuK 36 (2001), H. 359/360, S. 101–110. – Helga Strommer: H. K.s ›Litaneien‹. Struktur, Thematik, Sprache. Eisenstadt 2003. – Martin A. Hainz: Zwischentöne – zwei leise Poesien. [Über H. K. u. Rose Ausländer]. In: Studia austriaca XI (2003), S. 9–27. – E. Polt-Heinzl (Hg.): ›Zum Dichten gehört Beschränkung‹. H. K. – ein
Kräftner literar. Kosmos im Kontext der frühen Nachkriegszeit. Wien 2004. – Veronika Leskovar: Die fabelhafte Welt der H. K. Eine narratolog. Analyse der literar. Prosatexte der Autorin. Wien 2005. – Clemens K. Stepina (Hg.): ›Alles ist in mir‹. Notate
670 zu H. K. Wien 2007. – G. Altmann: H. K. Leben u. Werk. Oberwart 2007. – Katharina Tiwald (Hg.): Berührungen. H. K. zum 80. Geburtstag. Oberwart 2008. Bernhard Fetz / Christian Teissl