Merle Hummrich Jugend und Raum
Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 38 Herausgegeben vom Zentrum für Schul- ...
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Merle Hummrich Jugend und Raum
Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 38 Herausgegeben vom Zentrum für Schul- und Bildungsforschung (ZSB) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Merle Hummrich
Jugend und Raum Exklusive Zugehörigkeitsordnungen in Familie und Schule
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17946-9
Inhalt
1. 1.1 1.2 2. 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 3. 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.3
4. 4.1
4.1.1 4.1.2
Einleitung ................................................................................................................ 7 Fragestellung, Gegenstand und Operationalisierung – oder: warum eine Studie zu Jugend und Raum in exklusiver Schulkulturen? ............................... 8 Aufbau der Arbeit ................................................................................................... 12 Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Raum .............................................. 15 Soziale Ordnung als räumliche Ordnung (Simmel und Lefèbvre) ......................... 16 Handlungstheoretische Bestimmungen von Raum (von Bourdieu zu Honneth) .................................................................................... 20 Raum als Anordnung von Lagerungen (Foucault und Löw) .................................. 26 Dezentrierung der räumlichen Struktur (Lacan, Deleuze/Guattari) ....................... 34 Erste Zwischenbilanz zum relationalen Raumbegriff............................................. 42 Raumvorstellungen im Prozess des Aufwachsens ............................................. 51 Raumanalysen zwischen Territorialisierung und Biografisierung ......................... 53 Raum als Ort des Aufwachsens .............................................................................. 53 Raum als Weg ......................................................................................................... 56 Raum als Handlungs- und Sozialraum ................................................................... 58 Analysen von Prozessen des Aufwachsens und ihre relationalen Raumbezüge ....................................................................................... 61 Dynamischer Raumbegriff und Analyse pädagogischer Prozesse ......................... 62 Jugend zwischen Familie und Schule: Exemplarische Diskussion raumanalytischer Forschungsdesiderate in der Schulkulturanalyse ..................... 69 Zweite Zwischenbilanz und Entwurf eines heuristischen Raummodells ............................................................. 79 Jugend und Raum: eine Re-Analyse exklusiver Bildungsprozesse zwischen Familie und Schule................................................. 87 Raum unter exklusiven Bedingungen untersuchen: Exklusive Bildungsräume in der Spannung von Jugend, Familie und Schule ................................................................................................. 88 Gegenstand, Fragestellung und Ziele der Studie zum Zusammenhang von Jugend und Raum .................................................................. 88 Methodisches Vorgehen: Materialerhebung, Samplebildung und Auswertung mit qualitativer Mehrebenenanalyse ........................................... 91
5
4.2 4.2.1 4.2.2 4.2.3 4.3. 4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.4 4.4.1 4.4.2 4.4.3 4.4.4 5. 5.1 5.2 5.2.1 5.2.2 5.3 5.4
Wie man in die Schule kommt. Kontrastierende Entwürfe zur Aufnahme an exklusiven Schulen .................................................................. 103 Die Schule als Tor zur Welt: Respekt, Leistung und Disziplin im exklusiven Raum des Martin-Luther-Gymnasiums .......................................... 103 Die Schule als Schutz- und Schonraum: Aufrichtigkeit, Zivilcourage und Widerständigkeit im exklusiven Raum der Anna-Seghers-Schule ................. 120 Kontrastierung der schulkulturellen Entwürfe ..................................................... 138 Das Zusammenspiel von Familie, Schule und Biografie am Martin-Luther-Gymnasium ............................................................................. 143 Marcus Johannsons Anpassung als Bearbeitung der familialen Paradoxie.............................................................................................................. 143 Antonia Schuster im Kampf um Zugehörigkeit und Anerkennung ....................... 155 Kontrastierung der Fälle am Martin-Luther-Gymnasium.................................... 167 Das Zusammenspiel von Familie, Schule und Biografie an der Anna-Seghers-Schule ................................................................................ 170 Anna Wegemanns Transition des familialen und schulischen Schonraums .......................................................................................................... 170 Lena Fried zwischen familialer Ausgrenzung und schulischer Vereinnahmung ..................................................................................................... 180 Erik Wagner: personale Missachtung versus utopischer Möglichkeitskonstruktion im Cyberpunk .............................................................. 192 Kontrastierung der Fälle an der Anna-Seghers-Schule ....................................... 209 Theoretisierende Kontrastierung: Wege zu einer raumtheoretischfundierten Analyse von Jugend .................... 215 Der Beitrag der raumanalytischen Betrachtung exklusiver Zugehörigkeitsordnungen zur Analyse sozialer Ungleichheit.............................. 216 Zugehörigkeitsordnungen in schulischen und familialen Handlungsräumen ................................................................................................. 223 Zugehörigkeit zum Handlungsraum Schule .......................................................... 224 Zugehörigkeit zum Handlungsraum Familie ........................................................ 242 Die Zugehörigkeit Jugendlicher zum exklusiven Bildungssegment zwischen Anerkennung und Fremdheit: eine Bilanzierung .................................. 259 Raum und Jugend: eine zusammenfassende Betrachtung .................................... 278
Literatur ............................................................................................................................ 291
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1. Einleitung
Der 16jährige Marcus weiß, was er will. Schon von Kindesbeinen an hat er sich für Geschichte interessiert und jede von seinen Eltern gebotene Möglichkeit genutzt, sich umfassend zu bilden. Selbstverständlich belegt er im Gymnasium Latein und Griechisch. Und auch, wenn er als Kind aufgrund seiner Intelligenz und Leistungsorientierung selbst am Elitegymnasium der Stadt als Streber galt, in Bezug auf Hintergrundwissen macht ihm so leicht keiner etwas vor. Und falls es doch einmal zu einer Zwei auf dem Zeugnis kommen sollte, unterstützen ihn Eltern und Lehrer gleichermaßen, damit er diese Scharte baldmöglichst wieder auswetzen kann. Als FAZ-Abonnent bildet er sich gerne selbst und unbeeinflusst von seiner allzu links-kritischen Mutter eine Meinung. Erik geht zur Schule, weil man eben zur Schule gehen muss. Vielleicht auch, weil er dem Vater nicht so viele Sorgen machen will. Der ist am Auszug der Mutter fast zerbrochen. Als Maler, der mittlerweile schon recht betagt ist, gelingt es ihm kaum die Muße zu finden, den Lebensunterhalt für seine Familie sicherzustellen. In der Schule ist auch Herr Christian, der mit Erik manchmal redet. Er ist da so ziemlich der Einzige, der ihn so halbwegs akzeptiert wie er ist. Auch wenn er von Animées, Mangas und Cyberpunk keine Ahnung hat und sich – wie die anderen Erwachsenen – einfach nicht reindenken kann in eine Welt, in der es einfach nur Gut und Böse gibt. Aber dafür hat Erik ja seine Internet-Community.
Die beiden Jugendlichen, von denen hier die Rede ist, gehen auf programmatisch konträre Schulen, die jeweils einen Eckpol der gegenwärtigen Diskussion um Bildung in Deutschland markieren. Die eine ist ein altehrwürdiges traditionsreiches Gymnasium mit elitärem Bildungsanspruch und starker Disziplinorientierung, das auf eine über dreihundertjährige Tradition zurückblickt und sich mit der „Produktion“ exzellenten akademischen und wissenschaftlichen Nachwuchses rühmt. Bei der anderen Schule handelt es sich um eine überregional bekannte reformorientierte Gesamtschule, die umfassend auf Erziehung (im Sinne von „Herzensbildung“) ausgerichtet ist und damit auch jenen Chancen verspricht, die in einer durch Leistung bestimmten Selektion das Nachsehen haben. Dennoch ist diese Schule, die oftmals mit skandinavischen Schulen verglichen wird, in der deutschen Bildungslandschaft exklusiv, denn sie muss sich – ebenso wie das leistungsorientierte Gymnasium – ihre Schülerinnen und Schüler1 auswählen: von den 300 Bewerbungen in jedem Jahr werden 100 angenommen. Das bedeutet auch, dass die Eltern und Schülerinnen und Schüler, die diese Schulen anwählen, bestimmte Absichten mit ihrer Wahl verbinden. Man könnte auch sagen: sie platzieren sich vor dem Hintergrund der Annahmen und Assoziationen, die in Bezug auf diese Schulen wirksam werden und mit einer bestimmten Haltung zu den Schulen. Diese Platzierungsleistung scheint dabei eine komplexe Angelegenheit, denn sie ist ja nicht nur beeinflusst von dem, was die Schule sich für die Schülerinnen und Schüler vorstellt, sondern auch davon, was die Eltern und ihre Kinder mit dem jeweiligen Bildungsort verbinden. Mit dieser Komplexität befasst sich der vorliegende Band aus der raumanalytischen Perspektive.
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Der Hinweis zum vergeschlechtlichten Sprachgebrauch soll auch am Beginn dieser Arbeit nicht fehlen. Ich habe mich hier dazu entschieden die beiden Formen wenn möglich auszuschreiben und dort, wo dies meines Erachtens die Lesbarkeit beeinträchtigt, die männliche Schreibweise zu verwenden.
7 M. Hummrich, Jugend und Raum, DOI 10.1007/978-3-531-93224-8_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
1.1 Fragestellung, Gegenstand und Operationalisierung. Oder: warum eine Studie zu Jugend und Raum in exklusiven Schulkulturen? Die vorliegende Studie geht der Frage nach, welche Bedeutung Raum in der Jugendphase hat und wie Raum in pädagogischen Prozessen unter Bedingungen der Exklusivität wirksam wird. Der Zugang über Raum impliziert dabei, wie im Folgenden entfaltet wird, die Möglichkeit, das interdependente Zusammenwirken der unterschiedlichen Ebenen sozialer Wirklichkeit (Individuum, Interaktion, Institution/Milieu usw.) in den Blick zu bekommen und die hierin wirksam werdenden Strukturen sozialer Ungleichheit analytisch fassen zu können. Insofern geht diese Arbeit noch einen Schritt über die Analyse sozialer Ungleichheit hinaus, indem eine zentrale analytische Dimension von Bildung thematisiert wird, die gerade für die Zugänglichkeit zum Bildungssystem eine besondere Rolle spielt. Die Vielgestaltigkeit von Raum und Räumen ist in diesem Zusammenhang erst wenig untersucht, auch wenn der Begriff aus dem Gebrauch wissenschaftlicher Rede kaum wegzudenken ist. Eine kulturwissenschaftliche Unterfütterung des Begriffs steht jedoch in derartigen Bezugnahmen aus und ein grundlegendes Konzept, das systematisch zwischen Struktur und Handlung vermittelt, findet in Untersuchungen zur Jugendphase kaum Eingang. Im sozialpädagogischen Diskurs sind zwar die Fundamente zum raumanalytischen Vorgehen gelegt, wenn der Sozialraum analysiert wird (Kessl/Reutlinger/Maurer/Frey 2005, Kessl/Reutlinger 2007) oder von der Territorialisierung des Sozialen (Kessl/Otto 2007) gesprochen wird. Findet hier eine Diskussion der materialen Basis von Raum statt und eine Hinwendung zu den Handlungsbedingungen im sozialen Raum, so dominiert in frühen Studien zur Aneignung von Raum ein Raumbegriff, der Raum territorial begrenzt sieht. In den Ausführungen zur Entwicklung kindlicher Raumvorstellungen (Piaget/Inhelder 1999) oder zum kindlichen Lebensraum (Muchow/Muchow 1998, Zeiher/Zeiher 1994) erscheint Raum vor allem als Ort, der im Laufe der kindlichen Entwicklung zunehmend reflektiert und beherrscht wird. Hier geht es immer darum, dass Menschen im Raum handeln, aber nicht darum, dass Raum auch handelnd hervorgebracht wird. Bereits diese kurze Skizze macht deutlich, dass unterschiedliche Vorstellungen von Raum herrschen: zum Einen wird Raum als Behälter oder Container verstanden, in dem Handeln stattfindet (Löw 2001) und der Handeln zugleich territorial begrenzt. Zum anderen wird auf die Handlungsdimension Bezug genommen, die Raum als relationales Handlungsgefüge versteht; als Anordnungsstruktur, die Handeln zugleich bedingt und ermöglicht. Auf letzteres Verständnis von Raum bezieht sich diese Arbeit und folgt damit einem Diskurs, der sich im Rahmen des „spatial turn“ der Kulturwissenschaften in den letzten Jahren zunehmend ausdifferenziert hat (Löw 2001, Schroer 2006, Bourdieu 1999, 2006a, Bourdieu/Passeron 1973, als Überblick: Bachmann-Medick 2007, Döring/Thiemann 2008, Dünne/Günzel 2006). Ziel ist es, den Raumbegriff für die Analyse der Jugendphase im Verhältnis von Familie und Schule zu systematisieren und ein tragfähiges Konzept für eine kulturanalytische Raumanalyse zu schaffen, das den Zusammenhang von Jugend und Zugehörigkeit zwischen Familie und Schule rekonstruktiv zugänglich macht. Um dies zu leisten, fragt die vorliegende Studie nach den Teilhabemöglichkeiten Jugendlicher an exklusiven Bildungsprozessen. Die Bezugnahme auf Exklusiviät erfolgt ausgehend von der Annahme, dass das Bildungssystem im Allgemeinen und die Schule im Besonderen von ihrer Funktionsbe8
stimmung exklusiv ist, da Selektion zu ihren wesentlichen Aufgaben gehört (Fend 1980). Bourdieu erklärt, warum es hier zu Kämpfen um die symbolische Ordnung kommt: Ihm zufolge geht es in als meritokratisch ausgewiesenen Bildungssystemen immer darum, dass Bildungsprozesse möglichst exzellent bewältigt werden. Mit dem Anspruch auf Exzellenz sind Vorstellungen von der Vollendung des Menschen verbunden (Bourdieu 2006b, S. 63). Gegen die Orientierung an der Auslese der Besten steht der Anspruch auf Allgemeinbildung (Ecarius/Wigger 2006). Der hier markierte Widerspruch macht es möglich, über die Frage nach den Bedingungen der Auslese nachzudenken: wer wird bei der Bildung systematisch privilegiert, wer bleibt unterprivilegiert? Diese Frage scheint nun zunächst ein ‚alter Hut’ und lässt Zweifel aufkommen, ob die Frage nach Raum in Bildungsprozessen nicht alter Wein in neuen Schläuchen sei. Sowohl in der quantitativ orientierten Bildungsforschung (Baumert u.a. 2003, Baumert/Stanat/Watermann 2006, Solga/Wagner 2004a), als auch in der qualitativen (Brendel 1998, Kramer 2002, Hummrich 2009) sind in den letzten Jahren zahlreiche Werke zur sozialen Ungleichheit erschienen. Doch folgen die Betrachtungen des Zusammenspiels unterschiedlicher Ebenen in den erstgenannten Studien einer quantitativen Logik, die das systematische Zusammenspiel unterschiedlicher Ebenen sozialer Wirklichkeit und der hierin wirksamen Bedeutung pädagogischer Prozesse für die Reproduktion sozialer Ungleichheit, kaum in den Blick zu bekommen vermag. Denn wenn zum Beispiel die PISA-Studie die individuelle Wirksamkeit sehr hoch aggregierter Faktoren wie Klasse, Ethnizität und Geschlecht zugrunde legt, so wird nicht darauf eingegangen, dass etwa die Bedeutsamkeit von Geschlecht z.B. individuell und familial eine andere ist als die gesellschaftliche, auch wenn strukturelle Unterschiedlichkeiten die individuelle Biografie rahmen (vgl.Hummrich/Kramer 2011). Zugleich gilt es, erziehungswissenschaftlich zu untersuchen, wie pädagogische Arrangements interaktiv ausgestaltet werden und welche Bedeutung sie für individuelle Transformationschancen haben. Dabei wird davon ausgegangen, dass diese Interaktionen wiederum eingelagert sind in institutionelle und milieuspezifische Rahmungen und diesen wiederum regionale und schließlich gesellschaftliche Rahmenbedingungen zugrunde liegen. Diese Verwobenheit in Bezug auf die Institution, das Milieu, die Interaktion und das Individuum ist bislang erst wenig beforscht. Die entstehenden Handlungsräume und Möglichkeitsräume lassen Annahmen darüber zu, dass die Aneignung von Bildungskapital mit Blick auf die Ausformung von Exzellenz auch strategische Platzierung im selektiven Bildungssystem erfordert. Um die hier entstehenden Interdependenzen und die komplexe Verwobenheit unterschiedlicher Möglichkeitsräume in den Blick zu nehmen, ist es notwendig, eine Perspektive zu entfalten, welche das Zusammenspiel von Struktur und Akteur verbindend betrachtet. Dies soll hier unter Bezugnahme auf die Raumperspektive geschehen. „Die Raumperspektive bietet […] die Möglichkeit, das inkommensurable Nebeneinander des Alltagslebens, das Ineinanderwirken von Strukturen und individuellen Entscheidungen, das bisher eher getrennt voneinander betrachtet wurde, nun in der Zusammenschau zu analysieren.“ (Bachmann-Medick 2007, S. 304).
Die Überwindung der bislang eher impliziten Rede von Raum und Hinwendung zur Explikation räumlicher Anordnungsstrukturen ist schließlich mit Blick auf die vorliegende Themenstellung aus drei Gründen interessant:
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(1) Mit der Raumperspektive werden Fragen nach sozialer Ungleichheit fokussiert, die lange Zeit zwar in der Metaphorik des Räumlichen Niederschlag fanden, jedoch in ihrem Wechselspiel bislang nicht eingehend ausgeleuchtet wurden. Wenn etwa von Bildungsaufund -absteigern die Rede ist, von unterer, mittlerer und oberer Dienst-, Bildungs- und Leistungsklasse, so liegt eine implizit räumliche Semantik zugrunde, die auch in die vornehmlich auf Zeit ausgerichteten Betrachtungen qualitativer Studien der letzten Jahre einfließt (vgl. Marotzki 1991, Krüger/Marotzki 1996, 2006, Borst 2006, DGfE 2002). Es fehlt bislang jedoch an Explikationen zur räumlichen Strukturiertheit von Bildungsprozessen, welche die Dynamik des Raumes und seine soziale Bedingtheit (Ecarius/Löw 1997) in den Blick nehmen und die Bedingungen von Inklusion und Exklusion2, Anerkennung und Missachtung sowie Nähe und Distanz in unterschiedlichen Handlungsräumen untersuchen. Die vorliegende Arbeit setzt bei diesem Desiderat an und zielt dabei auf eine Bearbeitung der „Raumvergessenheit“ sozial- und kulturwissenschaftlicher Studien (Schroer 2006, Löw 2001). (2) Damit können jene erziehungswissenschaftlich geprägten Raumvorstellungen überwunden werden, die die alleinige Bedeutung des Ortes in den Vordergrund stellen. In der Erziehungswissenschaft standen lange Zeit Raum-Modelle im Vordergrund, die die Entwicklung des räumlichen Vorstellungsvermögens in den Blick nahmen oder die Bedeutung der Umgebung für Entwicklung und Sozialisation betrachteten (Muchow 1935, Zeiher/Zeiher 1994, Piaget/Inhelder 1975). Dies ist nicht das zentrale Anliegen der vorliegenden Studie. Es geht jedoch auch nicht darum, die ortsbezogenen Konzepte, die sich der Handlungsdimension von Raum aus architekturanalytischer Perspektive (vgl. Böhme 2009) nähern, zu hinterfragen, denn diese bezieht ebenfalls die Handlungsdimension mit ein (Rieger-Ladich/Ricken 2009). Vielmehr sollen vereinseitigende Konzepte, die Raum nur als Behälter oder Umgebung verstehen, überwunden werden und die Herstellungsbedingungen relationaler Anordnungsstrukturen, wie sie handelnd entstehen, in den Blick genommen werden – im Sinne einer Rekonstruktion von Handlungsbedingungen im dynamischen Raum (dazu: Bachmann-Medick 2007, Löw 2001). (3) Die raumanalytische Betrachtungsweise eignet sich – dies dürfte anhand der obigen Ausführung bereits deutlich geworden sein – für die Analyse der Interdependenzen unterschiedlicher, aber ineinander verschachtelter Ebenen sozialer Wirklichkeit (vgl. Bachmann-Medick 2007). Dies wird unter anderem in Löws (2001) raumsoziologischer Studie deutlich, wenn sie die Bedeutung räumlicher (An-) Ordnungen vor dem Hintergrund unterschiedlich hoch aggregierter Handlungszusammenhänge beleuchtet: dem Bezug auf den eigenen Körper, den Bildungs- und Sozialisationsprozessen und schließlich den virtuellen und globalen Zusammenhängen. Analysen, die einen dynamischen Raumbezug herstellen, vermögen darum, soziale Ungleichheit nicht nur aus der Perspektive hoch aggregierter Faktoren, wie Klasse, Ethnizität und Geschlecht in den Blick zu nehmen , sondern ihre Eingebundenheit in jeweilige Handlungszusammenhänge und die Entfaltungsmöglichkeiten spezifischer Möglichkeitsräume zu betrachten. Die vorliegende Arbeit zielt damit auf einen Beitrag zur raumtheoretischen Betrachtung schulischer Platzierungsprozeduren und kann somit als Ausdifferenzierung der Theo2
Inklusion und Exklusion werden hier nicht in der dominanten systemtheoretischen Verwendung benutzt, sondern in Anknüpfung an die Simmelsche Tradition von Einschluss und Ausschluss (Simmel 1992). Näheres dazu in Kap. 2.1.2.
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rie sozialer Ungleichheit unter Bezugnahme auf eine raumanalytische Betrachtung exklusiver Schulkulturen3 betrachtet werden. Zugleich stellt sie sich die Aufgabe, Raumtheorie für die Erforschung des Zusammenhangs von Schule, Familie und Jugend nutzbar zu machen. Nicht die These der „sozialen Vererbung“ von Bildungschancen – wie sie etwa in den Studien aus dem PISA-Zusammenhang (Deutsches PISA-Konsortium 2001, Prenzel u.a. 2003) oder in den Erhebungen des statistischen Bundesamtes (2004) aufscheint – ist dabei die Ausgangsbasis, sondern die Annahme subjektiver Handlungsoptionen unter spezifischen Möglichkeitsbedingungen. Nun stellt sich die Frage, wie dieses Ziel und der damit verbundene Gegenstandsbereich der raumanalytischen Betrachtung exklusiver Bildungsprozesse operationalisiert werden kann. In der vorliegenden Arbeit soll das geschehen, indem exklusive Schulen betrachtet werden, die jeweils Ansprüche an Exzellenz formulieren und Versprechen exklusiver Bildungszugänge beinhalten. Unter den Bedingungen der Anforderung der Qualifikation durch Leistung und der Erziehung zur Autonomieentwicklung (als den beiden grundlegenden Strukturmerkmalen schulischen Handelns, Oevermann 2001) formen sie unterschiedliche Profile aus, mit denen sie sich mehr oder weniger stark auf einen der beiden Aspekte beziehen. In der einen Schulkultur geht es vorrangig um die exzellente Qualifizierung und die Dimension der Leistung steht im Vordergrund. Der Erziehungsgedanke ist damit durch die Leistung geprägt, oder anders: die Erziehung zur Leistung und Einordnung in die Selektivität einer an Exzellenz orientierten Schule wird als persönlichkeitsbildend betrachtet. Komplementär dazu ermöglicht in der anderen Schule die Erziehung und Persönlichkeitsbildung durch die Schule erst die Orientierung an Leistungsfähigkeit. Der Schwerpunkt liegt auf besonderen Erziehungsarrangements, die eine Integration in das Bildungssystem ermöglichen. Unterschiedliche Milieus beziehen sich nun jeweils unterschiedlich auf diese beiden Dimensionen und umgekehrt beinhalten beide Schulen einen differenten Aufforderungscharakter an die Familien. Unter Bedingungen der Exklusivität von Schulkultur ist dabei dieser Aufforderungscharakter gesteigert. Gleichzeitig positionieren die Eltern ihr Kind vor dem Hintergrund spezifischer Erwartungen an seine Entwicklung und platzieren sich damit auch selbst als Repräsentantinnen und Repräsentanten bestimmter Milieus. Man kann die hier angesprochene Kontrastivität unter Bezugnahme auf die öffentliche Diskussion um Leistung und Erziehung deutlich machen: In seinem Buch „Lob der Disziplin“ (Bueb 2006) prangert der Autor die Disziplinlosigkeit der Jugend als Ursache für die Bildungskatastrophe an. Dieser gilt es durch Eltern und sich als Erzieher verstehende Lehrer entgegenzuwirken. Mangelnde Leistungsfähigkeit scheint in diesem Zusammenhang immer auch ein Ausdruck einer falschen und zu disziplinierenden Haltung, was im Umkehrschluss bedeutet, dass die richtige – die disziplinierte – Haltung (Bueb weist mehrfach darauf hin) auch zu einer Steigerung der Leistungsfähigkeit führt. Mit der hier repräsentierten Haltung zeugt Buebs Entwurf von einem symbolischen Kampf um günstige Ausgangsbedingungen für den zukünftigen Lebensweg der Disziplinierten und Angepassten. Die Botschaft: Wer lernt sich unterzuordnen, bestehende Ordnungsstrukturen anzuerkennen, wird exzellente Leistungen erbringen, wird untermauert durch zahlreiche Beispiele. Schule wird hier als Machtbehälter im Sinne Giddens konzipiert, wobei davon ausgegangen wird, 3
Eine detaillierte Ausdifferenzierung erfolgt auch noch einmal in Kap. 4.1.1, wo sich gegenstandsbezogen vor dem Hintergrund der heuristischen Grundlegung und mit Blick auf den empirischen Teil mit Fragestellung und Zielen auseinandergesetzt wird.
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dass es einen steuerbaren In- und Output gibt – je nach Beschaffenheit der erzieherischen Umgebung (vgl. Löw 2001). In völligem Kontrast dazu würde ein schulkultureller Entwurf wie etwa der von Summerhill stehen (vgl. Kamp 2006), der auf die Selbstregierung der Kinder setzt und in dem über bestimmte Haltungen, das Interesse an Bildung geweckt werden soll. Hier wird auf die Entfaltung der Autonomie als Voraussetzung der Ermöglichung von Leistungsfähigkeit gesetzt. Das implizite hier zugrunde liegende Raummodell suggeriert damit Offenheit. Jedoch ist auch diese Schule exklusiv, nicht nur, weil die Schulgelder die Teilhabe für ökonomisch schwache Familien verhindern, sondern auch, weil es bei der Aufnahme neuer Schülerinnen und Schüler darum geht, dass sie zu der Schule passen (Zellinger 1996). So werden Kinder mit einem zu hohen Maß an Pflichtschulerfahrung ebensowenig aufgenommen, wie sogenannte Problemschüler (ebd.). Bereits diese knappe Skizze zeigt: es handelt sich um zwei konträre schulkulturelle Entwürfe, die jeweils für bestimmte Haltungen, die in je spezifischen Milieus repräsentiert sind, stehen. Beide Schulen lassen die Kontrastivität distinktiver Habitusformationen hervortreten, die jeweils einen Pol des Kampfes um den Erhalt der symbolischen Ordnung insgesamt repräsentieren. Insofern handelt es sich um exklusive Schulen, die Zugehörigkeit in bestimmter Weise bestimmen und sich damit von einem einheitsschulischen Entwurf distanzieren. Diese Kontrastivität von Zugehörigkeitsordnungen im Feld exklusiver Schulkulturen soll in der vorliegenden Arbeit näher bestimmt werden. Über die Rekonstruktion des Feldes exklusiver Schulkulturen sollen damit allgemeine Bedingungen sozialer Ungleichheit rekonstruierbar werden. Dabei wird raumanalytisch vorgegangen, so dass der Zusammenhang von Jugend und Raum herausgearbeitet werden kann.
1.2 Zum Aufbau der Arbeit Im Zentrum der Studie steht die raumanalytische Betrachtung von jugendlichen Zugehörigkeitsordnungen in ihrem Verhältnis zu familialen und schulischen Erfahrungsfeldern. Der empirischen Analyse von Jugend und Raum geht eine grundlagentheoretische Auseinandersetzung und eine Auseinandersetzung mit der Gegenstandsbestimmung und den Zielen der Studie voraus. Somit beginnt die Arbeit nach diesem Kapitel mit der Formulierung eines heuristischen Bezugsrahmens, in dem die raumtheoretische Perspektive erläutert und die Grundzüge eines dynamischen Raumbegriffs herausgearbeitet werden (Kap. 2). Im Mittelpunkt steht dabei die Entwicklung eines Raummodells, das Struktur und Handeln systematisch vermittelt. Das hier abstrahierte raumanalytische Modell kann dadurch charakterisiert werden, dass es auf einem relationalen Raumbegriff basiert, der sich im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion aufspannt. Im dritten Kapitel geht es dann um Bezugnahmen auf Jugend und Raum. Zunächst erfolgt eine Systematisierung der raumtheoretischen Konzepte, wie sie für Prozesse des Aufwachsens verwendet werden, und ihre Einordnung vor dem Hintergrund des relationalen Raumbegriffs. Hieran schließt sich eine Auseinandersetzung mit Studien an, die Bezüge zu den in Kapitel 2 vorgestellten Theoriemodellen enthalten. Diese Bezüge enthalten nur selten Hinweise auf Raum als zentrale Analysekategorie, dennoch geht es in ihnen vornehmlich um Anordnungs- und Lagerungsbeziehungen. Dies wird ausdifferenziert an der dieser Arbeit zugrunde liegenden zentralen Bezugsstudie „Jugend zwi12
schen Familie und Schule“ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009), die kulturanalytisch vorgeht, dabei aber in Bezug auf die systematische Bestimmung von Raum eine Leerstelle lässt. Das dritte Kapitel schließt mit einer Weiterentwicklung des im zweiten Kapitel angedachten raumanalytischen Modells für Prozesse des Aufwachsens. Dieses raumanalytische Modell besitzt für die vorliegende Arbeit einen heuristischen Stellenwert. Das vierte und umfangreichste Kapitel der Arbeit nimmt den Entstehungszusammenhang der Arbeit – das DFG-Projekt „Pädagogische Generationsbeziehungen in Familie und Schule“, das 2009 mit der Projektveröffentlichung abgeschlossen wurde (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009) – auf. Diese Studie bietet die Chance, zwei exponierte und gleichwohl im Feld exklusiver Schulkulturen maximal kontrastierende Schulen in den Blick zu nehmen und mit einer Materialfülle zu arbeiten, die in einer Einzelstudie wohl nicht erhebbar gewesen wäre. Um die somit eingeleitete Re-Analyse des Datenmaterials vornehmen zu können, muss zunächst eine Neubeschreibung des Gegenstands vorgenommen werden, der die raumanalytischen Bezüge systematisch in den Blick nimmt. Dabei steht das Konzept der qualitativen Mehrebenenanalyse (Helsper/Hummrich/Kramer 2010, Hummrich/Kramer 2011) im Mittelpunkt, das eine gegenstandsbezogene Vermittlung von Struktur- und Handlung vornimmt. Einer allgemeinen Bestimmung dieses Konzepts folgt eine Konkretisierung am Forschungsgegenstand. Im zweiten Teil des vierten Kapitels geht es schließlich um eine Rekonstruktion der schulkulturellen Zugehörigkeitsordnungen und die familiale und individuelle Bezugnahme darauf. Zuerst werden die unterschiedlichen schulkulturellen Entwürfe von Bildungsräumen kontrastiert und hinsichtlich der unterschiedlichen (An-) Ordnungsstrukturen analysiert. Danach werden die unterschiedlichen institutionellen und familialen Interaktionsstrukturen und die biografischen Erfahrungen der Schülerinnen und Schüler systematisch rekonstruiert. Die Wahl zweier sehr besonderter Schulen (einmal auf der Ebene der Leistung, zum Anderen auf der Ebene der reformpädagogischen Gesinnung) bietet nun eine besondere Chance, denn hier liegt die Vermutung nahe, dass gerade die Unterschiedlichkeit der räumlichen (An-) Ordnungsstrukturen auch sehr unterschiedlich verarbeitet wird und dass Selektion und soziale Ungleichheit in beiden Schulen eine unterschiedliche Rolle spielen. Diese Vermutung kann wiederum dadurch begründet werden, dass die jeweilige Schulkultur, von der die Frage nach der Auswahl der Schülerpopulation ein Teil ist, unterschiedliche ‚symbolische Ordnungen’ beinhaltet, zu denen sich Schülerinnen/Schüler und ihre Familien wiederum in differenten Passungsverhältnissen positionieren (Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001, Kramer 2002, Böhme 2000). Die Theoretisierung (Kap. 5) widmet sich den kontrastierenden Varianten des Prozessierens von Exzellenz im schulkulturellen Raum und nimmt dabei die Prozessvariablen noch einmal in den Blick. Ziel ist es, aus der raumanalytischen Perspektive auf Jugend Ableitungen zur Bedeutung von Raum in der Erziehungswissenschaft herauszuarbeiten. Der erkenntnistheoretische Mehrwert dieser Arbeit wird somit abschließend gebündelt und es werden Wege einer raumtheoretischen Betrachtung von Prozessen des Aufwachsens aufgezeigt. Die Einleitung soll hier nicht beendet werden, ohne dass ich jenen, die engagiert in die Diskussionen um die der Publikation zugrunde liegende Habilitationsschrift involviert waren, danke: Hier ist zunächst der DFG-Projektzusammenhang „Pädagogische Generationsbeziehungen in Familie und Schule“ zu nennen. Danke an Werner Helsper, Susann Busse, 13
Rolf-Torsten Kramer sowie unseren studentischen Hilfskräften Ilja Döbber, Anja Gibson, Sascha Richter und Carolin Ziems für die unterstützende und konstruktive Zusammenarbeit. Werner Helsper danke ich für seine Unterstützung und die Möglichkeit, meine Ideen mit ihm und in seinem Kolloquium zu diskutieren. Für die weiterführenden Möglichkeiten Ideen, zentrale Texte und Interpretationsmaterial zu diskutieren bedanke ich mich bei: Heinz-Herrmann Krüger, Franz Hamburger, Jeanette Böhme, Georg Breidenstein, Jürgen Budde, Frauke Choi, Gunther Graßhoff, Cathleen Grunert, Walburga Hoff, Reinhard Hörster, Till-Sebastian Idel, Fritz-Ulrich Kolbe, Katharina Kunze, Gudrun Meister, Sandra Rademacher, Sabine Sandring, Eva Stauf, Bernhard Stelmaszyk, Sven Thiersch, Christiane Thompson, Heiner Ullrich, Anne Wihstutz, Maren Zschach.
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2. Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf Raum
„Ein Raum ist immer schon ein Raum in Räumen, doch die Orientierung in diesem Räumen ist nur möglich aus jeweils einem Raum heraus. Das ist die Bedingung dafür, zum einen jede Unterscheidung als Grenze zu denken und im Hinblick auf ihre beiden Seiten beobachten zu können, dabei zum anderen jedoch nie übersehen zu können, dass man diese Beobachtung nur vornehmen kann, wenn man (ein Bewusstsein, eine Kommunikation, ein Organismus) seinerseits eine Unterscheidung trifft, einen Raum abgrenzt und besetzt. Auch die Beobachtung einer Vielfalt von Perspektiven ist nur aus einer Perspektive möglich“ (Baecker 2005, S. 81.f.).
Das Thema Raum hat in den letzten Jahren Konjunktur erfahren. Der sogenannte „spatial turn“ (Bachmann-Medick 2007, Dünne/Günzel 2006, Döring/Thiemann 2008) brachte eine Vielzahl räumlicher Analysen hervor und rief Re-Analysen raumtheoretischer Konzepte auf den Plan. Diesen liegen unterschiedliche Bezugslinien zugrunde: auf der einen Seite wird Raum lokalisierend, das heißt als Behälter oder Container bestimmt. Dieser Raumbegriff, der auf den Grundlagen der Euklidik4 beruht (Löw 2001, Schroer 2008a), fokussiert Raum als konkreten Ort (z.B. Berger/Luckmann 1987) oder als Territorium mit festen Grenzen, innerhalb derer Handeln hervorgebracht wird (z.B. Luhmann 1997). Derartige Raumvorstellungen finden sich in Interpretationen, die Raum als äußere Struktur des Handelns erachten (Giddens 1988). Raum wird als Behälter gedacht, der Menschen überdauert und es wird absolutistisch zwischen Körper und Raum getrennt (Löw 2001). Die hier aufgegriffenen Denktraditionen beziehen sich auf Kopernikus, Galilei und Newton (ebd., S. 17). Damit verbindet sich die Konsequenz, dass soziale, politische und ökonomische Räume zusammenfallen und Räume an jeweils territorialen Grenzen enden (vgl. Schroer 2008a). Dies zieht Probleme räumlichen Denkens und Handelns nach sich, die in einer zweiten Bezugslinie offenkundig werden. Denn mit den Vorstellungen von Vernetzung und weltumspannender Technologisierung gingen immer wieder Vorstellungen vom „Verschwinden des Raumes“ einher. Und diese Denklinie ist nicht etwa erst mit der Entstehung des Internets hervorgebracht worden, sondern findet sich bereits in frühen Abhandlungen zur Beschleunigung von Transport- und Kommunikationswegen – erstmals etwa bei Samuel Morse, der die Erfindung der Telegrafie 1837 die Möglichkeit sah, dass die gesamte USA in eine neighborhood verwandelt werde. Heinrich Heine äußerte sich modernitätskritisch zum Eisenbahnbau als „Tötung“ der Räume (Schroer 2008a, S. 127). Auch McLuhan (1964) sprach angesichts der Verbreitung elektronischer Medien von einer „Implosion des Raumes“. So wird deutlich, dass unter Modernisierungsbedingungen immer wieder auch die Frage nach den Existenzbedingungen (territorialer) Räume gestellt werden kann – eine 4 Der Begriff der Euklidik geht dabei auf einen Raumbegriff zurück, der im 3. Jahrhundert v. Chr. entstanden ist. ‚Ort‘ und ‚Raum‘ werden als konträre Alternativen entworfen. Euklid rekurrierte dabei auf die Annahme von Platon, dass die Gesetze der Geometrie an einem konkreten Ort veranschaulicht werden, aber immer ein ideales Gebilde zeigen. Hierauf entwarf er seine Axiomatik, die nicht empirisch begründet oder aus anderen Gesetzen ableitbar ist und besagt, dass sich zwei Parallelen nicht schneiden können. Dieser Raumentwurf bezieht sich auf die Fläche oder Ebene und ermöglicht erst das ‚Denken’ von Raum als unendlich (Günzel 2005), allerdings als unendliche Fläche, die der Vermessbarkeit zugänglich gemacht wird und der Erdvermessung dient (ebd.).
15 M. Hummrich, Jugend und Raum, DOI 10.1007/978-3-531-93224-8_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Tradition, die etwa Heitmeyer (1996) mit der „Zerstückelung des Raumes“ oder Flusser (2006) mit der These vom „Verschwinden der Ferne“ fortsetzt (vgl. Ahrens 2001). Eine alternative Bezugslinie hingegen lässt sich im Anschluss an Konzepte nachvollziehen, die gerade unter Verweis auf die räumlichen Implikationen des Netzwerkgedankens (Castells 2004) immer wieder die handelnde Hervorbringung von Raum in den Blick nehmen. Hier sind raumtheoretische Traditionen zu benennen, die auf die Theorien von Leibniz und Einstein zurückgehen (vgl. Löw 2001), auf die sich auch Norbert Elias (1994) beruft, wenn er Raum als das Resultat von Abstandsbestimmungen auffasst. Während Zeit durch die Konstruktion von Maßstäben (die Uhr) bestimmt ist und mit zum Strukturierungselement menschlichen Handelns wird, ist Raum durch Syntheseleistungen bestimmt: im Raum geben die positionalen Beziehungen untereinander die Struktur. Raum ist somit – wie Zeit – handelnd hervorgebracht und kann zugleich dynamisch gefasst werden, denn Räume verändern sich prozessual. Postmoderne Theoretiker gehen in Anschluss an die relationale Bestimmung von Raum so weit zu sagen, dass Raum Zeit als zentrale Bezugsgröße menschlichen Handelns und seiner theoretischen Abstraktion abgelöst hat (Foucault 2006, auch: Waldenfels 2001, Augé 1994). Foucaults Betrachtung steht dabei paradigmatisch für eine Orientierung, die Raum von der örtlichen Bestimmtheit ablöst. Die vorliegende Studie folgt nun dieser Argumentationslinie, die ein relationales Verständnis von Raum in den Mittelpunkt rückt (Löw 2001, Schoer 2008a). Raum ist damit Ausdruck sozialer Beziehungen, Ort hingegen vielmehr als Ausdrucksgestalt dieser Beziehungen zu verstehen (vgl. Boudieu 1991a, 1999, Oevermann 1995). Raum wird dabei handlungsstrukturierende Kraft zugeschrieben (Lefèbvre 2006, 2008, Schroer 2006, Löw 2001) und endet nicht an territorialen Grenzen von Orten, sondern kann bestimmt werden als „relationale Ordnung körperlicher Objekte“ (Läpple 1991). Diese relationale Raumvorstellung ermöglicht es, die interaktiv an Orten hervorgebrachte Handlungspraxis zu betrachten (Reckwitz 2004), die bestimmte Praktiken ermöglicht, andere ausschließt und umgekehrt kann Praxis selbst als verräumlicht und verräumlichend begriffen werden (vgl. Reckwitz 2006, S. 715). Hieran anschlussfähig ist auch das oben benannte einleitende Zitat von Dirk Baecker (2005). Er verweist mit seiner Beschreibung vom „Raum in Räumen“ auf die Eingebettetheit räumlichen Handelns durch wechselseitig wirksam werdende Bedingungsgefüge, die selbst wieder räumlich gedacht werden müssen. Diese komplexe Vorstellung soll im Folgenden an unterschiedlichen theoretischen Bezügen verdeutlicht werden, welche den Raum, den Ort und die Beziehungen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen analysieren. Im Vordergrund der Darstellung steht vor allem die theoretische Entwicklung der Sicht auf soziale Räume.
2.1 Soziale Ordnung als räumliche Ordnung (Simmel und Lefèbvre) Die Bezugnahme auf Raum als soziales Konstrukt geht wesentlich auf Emile Durkheim (1969, zit. n. Dünne 2006a, S. 289) zurück, der bereits 1897 proklamiert, dass nicht Raum die soziale Ordnung bedinge, sondern dass Raum erst Strukturen sichtbar macht. In diese Tradition stellt sich auch Georg Simmel. Er bezeichnet er Raum als „an sich wirkungslose Form“ (Simmel 1992, S. 687), welche die „conditio sine qua non“ des gesellschaftlichen Handelns sei. Damit scheint er zunächst – ähnlich wie Giddens und andere in der Tradition 16
des absolutistischen Denkens stehende Theoretikerinnen und Theoretiker – dem euklidischen Denken verhaftet (vgl. Löw 2001, S. 61). Doch erteilt er der Vorstellung vorgängig existierender Räume eine klare Absage, indem er das Kausalitätsverhältnis zwischen Territorium und sozialer Form umkehrt (Dünne 2006a, S. 290). „Wenn man von den Beziehungen zwischen Raumgestaltungen und sozialen Vorgängen spricht, so pflegt es sich um die Wirkungen zu handeln, die von der Weite oder Enge des Gebietes, der Zerrissenheit oder Arrondierung der Grenzen, dem Flächen- oder Gebirgscharakter des Territoriums auf die Form und das Leben der gesellschaftlichen Gruppe ausgehen. Der Gegenstand der nachfolgenden Untersuchungen ist, umgekehrt, die Einwirkung, die die räumlichen Bestimmtheiten einer Gruppe durch ihre sozialen Gestaltungen und Energien erfahren“ (Simmel 2006, S. 304).
So führt Simmel aus, dass die Gebietshoheit immer bloß eine Abstraktion der Personenherrschaft sei, ein Staat also immer die Funktion habe, Personen zu beherrschen und nicht ein Gebiet (ebd., S. 305). Zugleich münden die unterschiedlichen Formen der Herrschaft in einen räumlichen Ausdruck: etwa die Benennung einer Hauptstadt als Ort des Herrschens. Dabei ist die Lokalisierung der Herrschaft jedoch relativ: „In der Art, wie der Raum zusammengefaßt oder verteilt wird, wie sich Raumpunkte fixieren oder sich verschieben, gerinnen gleichsam die soziologischen Beziehungsformen der Herrschaft zu anschaulichen Gestaltungen“ (ebd., S. 307). Der Ort ist damit Ausdrucksgestalt bestimmter Herrschaftsformen, bzw. gesellschaftlicher Abstraktionen, die sich bis auf die Handlungsebene nachvollziehen lassen – etwa anhand der örtlichen Umgebung (der Häuser), der religiösen Gemeinschaften, Bildungsinstitutionen oder auch Familien. Wurde Raum oben als „an sich wirkungslose“ Form bezeichnet, so wird hier deutlich, dass diese Form doch wesentlich durch ihren Inhalt bestimmt ist: die in ihr wirkenden Akteure. Inhalt und Form sind also aufeinander bezogen. Das heißt: Akteure gestalten den Raum und Raum wirkt umgekehrt auch auf die Akteure. Diese Haltung findet sich auch bei Maurice Halbwachs: „Eine Gruppe, die in einem bestimmten räumlichen Bereich lebt, formt ihn nach ihrem eigenen Bild um; gleichzeitig aber beugt sie sich denjenigen materiellen Dingen, die ihr Widerstand leisten (…). Der Ort hat das Gepräge der Gruppe erhalten und umgekehrt“ (Halbwachs 2008, S. 230).
Doch zurück zu Simmel: An seinen Ausführungen lässt sich nachvollziehen, wie sich Vorstellungen von Herrschaft und sozialen Normen räumlich niederschlagen und welche (normativen) Vorstellungen mit dem Agieren im Raum verbunden sind. Dies zeigt sich unter anderem sehr deutlich im ‚Exkurs über den Fremden’. Hier führt Simmel aus, dass derjenige, der als fremd wahrgenommen wird, zugleich nicht-zugehörig ist und durch seine Anwesenheit dennoch Teil einer Gruppe oder Gemeinschaft. Über die Ebenen gesellschaftlicher Wirklichkeit hinweg zeigt Simmel dabei, dass Personen, die als fremd wahrgenommen werden, zugleich zu einer Gemeinschaft oder Gruppe gehören, weil sie auf die gleichen Regeln bezogen werden, aber den Regeln gegenüber auch fremd bleiben, da sie der Heimatund Normverbundenheit der Einheimischen gegenüberstehen (Simmel 1992, S. 766). Simmel macht deutlich, wie räumliches Handeln prozessiert wird und der Fremde durch das spannungsreiche Wechselspiel von „Ferne und Nähe, Gleichgültigkeit und Engagiertheit“ (ebd.) zwischen engagierte Objektivität und distanzierende Entfremdung gestellt wird. Wenn Simmel dies für den Fremden als „Wanderer, der nicht heute kommt und morgen geht, sondern […] der heute kommt und morgen bleibt“ (ebd.) durchbuchstabiert, ist es naheliegend dies zunächst auf den Kontext von Migration zu beziehen (Hambur17
ger/Badawia/Hummrich 2005, Hummrich 2006a), bei der räumliche und territoriale Mobilität in eins fallen. Jedoch impliziert der Umgang mit Fremdheit auch eine Darstellung allgemeiner Prinzipien des Handelns im sozialen Raum, indem Simmel Nähe und Distanz sowie Inklusion und Exklusion am Beispiel des Fremden als räumliche Prozessvariablen aufstellt und exemplarisch durchspielt. Selbstverständlich ist der Löw-Einwand, Simmel selbst bleibe dem euklidischen Denken verhaftet nicht unberechtigt (Löw 2001, S. 61). Gerade am Exkurs über den Fremden wird deutlich, dass die Bezugnahme auf Raum nach wie vor sehr material gedacht ist. Der Fremde wird ja als Wanderer konzipiert, „der heute kommt und morgen bleibt“. Gemeint ist damit der (Zu-) Wanderer aus einem anderen Gebiet, der durch Einheimische zwar geduldet wird, aber dennoch Ausgrenzung erfährt, indem ihm etwa durch unterschiedliche Rechtsnormen ständig die Vorläufigkeit bzw. Begrenztheit seiner Zugehörigkeit bewusst gemacht wird. Jedoch liegt der besondere Erkenntnisgewinn in Bezug auf räumliches Handeln gerade in der Frage danach, wie Räume eröffnet und hergestellt werden und welche Ein- und Ausgrenzungsmechanismen hier wirksam werden. So bedeutet etwa die Bindung an ein Konzept des Territorialen, an dem Simmel Raumpraktiken deutlich macht, gerade nicht die Formung des Menschen durch den Raum, sondern indem Simmel unterschiedliche räumliche Praktiken darstellt, verweist er wiederum auf die Konstruiertheit des Raumes durch den Menschen. Hierin sind spätere Konzepte der sozialen Bedingtheit von Raum und seiner Relationalität bereits angelegt. Dies lässt sich über die Prozessvariablen Nähe und Distanz nachvollziehen, die Raum konstituieren. Gerade durch sie scheint hier bereits die Bezugnahme auf die Positionalität im Raum als relationale Angeordnetheit zu anderen Körpern im Raum auf. Das heißt: auch wenn Raum nicht territorial oder euklidisch gedacht wird, liegen räumlichem Denken und Handeln immer auch Vorstellungen von (An-) Ordnungsstrukturen (Löw 2001) zugrunde, welche spezifische Möglichkeiten und Barrieren beinhalten, an Räumen teilzuhaben. Gleichermaßen eröffnet die Lektüre von Simmel die Möglichkeit, Inklusion und Exklusion5 und (Ein-) Bindung und Ent5 Inklusion und Exklusion ist ein Begriffspaar, das lange Zeit in der Systemtheorie sehr prominent verwendet wurde (Farzin 2008, Stichweh 2005, Luhmann 1995, Bude 2008). Hier können unterschiedliche Bezugslinien aufgemacht werden: Erstens geht es darum, zwischen psychischen und sozialen Systemen zu unterscheiden. Dabei beanspruchen einerseits die Teilsysteme der Gesellschaft bestimmte Inklusionsmodi, die jedoch nie die ganze Person beanspruchen; andererseits werden durch zunehmende funktionale Differenzierung Anforderungen an die Exklusionsindividualität gestellt, i.e. das Individuum kann nicht mehr durch Inklusion in die Gesellschaft definiert werden, sondern durch Exklusion, d.h. durch die Reflexion des eigenen Handelns auf die Gesellschaft (vgl. Luhmann 1989, Farzin 2008). In seinem späteren kommunikationsorientierten Konzept blendet Luhmann zweitens Exklusion schließlich aus. Es geht vielmehr um Inklusion in die Gesellschaft, die bis in die 1990er Jahre ohne Gegenbegriff bleibt, da zum Beispiel abweichendes Verhalten nicht mehr der Grund für Ausschluss ist, sondern für Sonderbehandlung. (Luhmann 1995). Drittens: Der fortschreitenden Inklusion moderner Gesellschaften steht jedoch ab Mitte der 1990er Jahre die Wahrnehmung von Exklusion, etwa in den brasilianischen Favelas entgegen (Farzin 2008, S. 54). Damit verbunden ist jedoch auch eine Revision der eigenen theoretischen Vorannahmen, dass eben Vollinklusion selbst in modernen Gesellschaften nicht möglich ist. Jedoch ist damit auch die Gefahr verbunden, Exklusion als etwas Außergesellschaftliches auszuweisen, auch wenn extreme Soziallagen nicht nur das Resultat, sondern auch Bestandteil jeder inklusiven Gesellschaftsordnung sind (Farzin 2008, S. 63). In seiner letzten Weiterentwicklung des Begriffspaares Inklusion/Exklusion wird nun eine Beschreibung von Inklusion vorgenommen, die die Teilnahmebedingungen an der Gesellschaft markiert: „Mit den Modi der Inklusion beschreibt die Gesellschaft das, was sie als Teilnahmebedingung setzt bzw. als Teilnahmechance in Aussicht stellt. Exklusion ist das, was unmarkiert bleibt, wenn diese Bedingungen bzw. Chancen markiert werden“ (Luhmann 1995, S. 262). Zugleich wird Exkusion zur Inklusion, wenn Personen sich für die Ablehnung des Systems entscheiden und damit aber das System für sie von höchster Relevanz ist (Farzin 2008, S. 97). Wir haben also in der Luhmannschen Theorie eine sukzessive Annährung an das Begriffspaar Inklusion/Exklusion, das jedoch nach wie vor sehr auf die Vermittlung zwischen sozialem System und Individuum bezogen ist. Den unterschiedlichen
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fremdung als räumliche Prozessvariablen zu denken. Denn ganz grundlegend geht es in Simmels Raummodell um die Möglichkeit von Teilhabe, die hier mit Inklusion beschrieben werden kann, versus der Möglichkeit von Ausschluss. Im Prozess vollzogen werden Teilhabe und Ausschluss nun nicht nur durch Nähe und Distanz, sondern auch durch Bindung und Entfremdung – als interaktive Herstellung von Einbezogenheit wirksam. Hier erweist sich eine Perspektive auf Raum als anschlussfähig, die sich vom euklidischen und dichotomen Raumdenken verabschiedet und auf den 1974 von Henri Lefèbvre publizierten Text „Le Production de l’Espace“ (Die Produktion des Raumes) zurückgeht. Lefèbvre geht wie Simmel davon aus, dass Raum ein soziales Produkt ist. Er geht jedoch auch einen Schritt weiter, indem er aus dem binären Schema von physischem und sozialem Raum ausbricht und die (1) räumliche Praxis, (2) die Repräsentationen von Raum und (3) den Raum der Repräsentationen unterscheidet (vgl. Lefèbvre 2006, Schroer 2008a). „a) Die räumliche Praxis [pratique spatiale]: Sie umfasst die Produktion und Reproduktion, spezielle Orte und Gesamträume, die jeder sozialen Formation eigen sind, und sichert die Kontinuität in einem relativen Zusammenhalt. Dieser Zusammenhalt impliziert in Bezug auf den sozialen Raum und Bezug jedes Mitglieds dieser Gesellschaft zu seinem Raum sowohl eine gewisse Kompetenz als auch eine bestimmte Performanz. b) Die Raumrepräsentationen [représentations des l’espace]: Sie sind mit den Produktionsverhältnissen verbunden, mit der ‚Ordnung’, die sie durchsetzen und folglich auch mit Kenntnissen, Zeichen, Codes und ‚frontalen’ Beziehungen. c) Die Repräsentationsräume [espaces de représentation]: Sie weisen (ob kodiert oder nicht) komplexe Symbolisierungen auf, sind mit der verborgenen und unterirdischen Seite des sozialen Lebens, aber auch mit der Kunst verbunden, die man möglicherweise nicht als Raumcode, sondern als Code der Repräsentationsräume auffassen kann.“ (Lefèbvre 2006, S. 333)
Bei der räumlichen Praxis (a) handelt es sich also um erlebten, wahrgenommenen und benutzten Raum, den die Akteure in ihrem Alltag produzieren und reproduzieren. Die Repräsentationen von Raum (b) drücken sich im Wissen, in Zeichen und Codes aus. Dies ist der Raum der Technokraten, Stadtplaner und Wissenschaftler, ebenso wie der Raum der Raummodelle und -konzepte, die auf Praxis einwirken (vgl. Schroer 2008a, S. 138). Der Raum der Repräsentation (c) ist der imaginierte Raum der Bilder und Symbole, in den auch Modelle und Vorstellung von Raum eingehen können, die widerständig und alternativ sind. Alle drei Modelle spielen dialektisch zusammen. Raum ist bei Lefèbvre sowohl ein mentales und physisches als auch ein symbolisches Produkt, in dem sich das gesellschaftliche Leben abspielt und das gleichzeitig Produkt gesellschaftlicher Prozesse ist (ebd., Dünne 2006a, S. 297). Dabei sind das Wahrgenommene (die räumliche Praxis), das Konzipierte (die Raumrepräsentationen) und das Gelebte (die imaginierten Repräsentationsräume) in ihrer Relationierung zueinander, das Ergebnis spezifischer historisch-kultureller Prozesse, in denen jeweils unterschiedliche Vorstellungen von Raum produziert werden (Lefèbvre 2006, S. 338). Lefèbvre ist also zwar dem physischen Raum sehr verbunden und lehnt die Ausformungen des Begriffspaares ist jedoch gemeinsam, dass das Individuum im sozialen System handelt, das soziale System bleibt jedoch statisch – wie ein Behälterraum, der das Handeln umgibt. Von einer solchen Sichtweise wird sich hier distanziert. Zum einen deshalb, weil das soziale System und das Individuum nicht direkt miteinander in Kontakt treten, sondern vielmehr die Struktur als durch unterschiedliche Aggregierungsebenen des Sozialen mehrfach gebrochen gesehen wird. Zum anderen, weil das soziale System nicht nur einfache Umgebung des Handelns ist, sondern weil handelnd unterschiedliche Modi der Teilhabemöglichkeiten (als Inklusion) und der Teilnahmeverwehrung (als Exklusion) hervorgebracht werden. Nicht das System schließt das Individuum aus, sondern die wechselseitig aufeinander bezogenen Bedingungsgefüge sozialen Handelns evozieren unterschiedliche Modi der Teilhabe, die wiederum handelnd bearbeitet, transformiert oder auch reproduziert werden.
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Vorstellung einer rein sozialen Konstruktion ab. Er dient jedoch in dieser Arbeit auf dem Weg der sozialen Bestimmung von Raum als wichtiger Repräsentant der Konstruktion von Raum durch soziale Praxis. Nach Jörg Dünne (2006a) ist dabei interessant, dass sich die von Lefèbvre ins Feld geführte Trias in doppelter Weise begreifen lässt. Wird sie auf den Anspruch dialektischen Ineinanderwirkens bezogen (Lefèbvre 2006, S. 336), so lässt sich hier das Modell von These (das Wahrgenommene, die räumliche Praxis), Antithese (das Konzipierte, die Raumrepräsentationen) und Synthese (das Gelebte, die Repräsentationsräume) ableiten (2006a, S. 298). Zugleich besitzt das Modell eine semiotische Basis. Dabei entspricht die Ebene der räumlichen Praxis der materiellen Seite des Zeichens, die Ebene der Raumrepräsentation der Bedeutungsseite (das gedanklich auf den Begriff gebrachte) und die Ebene der Repräsentationsräume der Räumlichkeit von Repräsentation selbst, in denen schließlich doch die materiellen Raumpraktiken und die Raumkonzepte, die nicht immer in Einklang zu bringen sind, aufeinander bezogen werden. Hier schlägt nun Schroer (2008b) ein mikronanalytisches Vorgehen vor, indem nach der Herstellung der Räume durch Akteure und ihre Aktivitäten, sich im Raum zu positionieren, gefragt wird. Mit Simmel und Lefèbvre wird deutlich: Raum ist nicht vorgängig, sondern sozial hergestellt und sowohl Gegenstand menschlicher Praxis als auch Ordnungsstruktur des menschlichen Zusammenlebens und darüber hinaus Ausdrucksgestalt der Imaginationen des Sozialen und ihrer Symbolisierung. Hiermit kommen nun Dimensionierungen in den Blick, die Raum ins Verhältnis setzen zu den Vorstellungen, wie ein Raum ideal konstituiert sein soll, welche Ordnungsstrukturen ihm innewohnen und wie sich diese Ordnungsstrukturen handelnd materialisieren. Darauf komme ich im Kapitel zur Dezentrierung des räumlichen Handelns (2.4) noch einmal zurück.
2.2 Handlungstheoretische Bestimmungen von Raum (von Bourdieu zu Honneth) Eine Durchsetzung eines relationalen Raumverständnisses kommt mit dem poststrukturalistischen Denken voll zum Tragen. Dabei kann Pierre Bourdieus raumtheoretisches Konzept durchaus in einem poststrukturalistischen Verständnis rezipiert werden, da Bourdieu den französischen Strukturalismus einer komplexen Revision unterzieht (Beressem 2005, Schroer 2008b). Bourdieu setzt sich mit der raumzeitlichen Struktur von Machtverhältnissen auseinander. Im Zentrum seiner Betrachtungen geht es um die Verbindung räumlicher und sozialer Strukturen (Bourdieu 1991a) und der darin eingelagerten Handlungsmöglichkeiten der Akteure. Zentral ist dabei die Überwindung der Dichotomie von Individuum und Gesellschaft und damit die Vorstellung von rein gesellschaftlichen und rein individuellen Bereichen. Bourdieus Untersuchungsgegenstand ist folglich nicht das Individuum oder die Gesellschaft, sondern das Soziale, das sich als objektivierte Geschichte in Gestalt von Institutionen oder als leibhaftig gewordene Geschichte (als Habitus) präsentiert. Dabei dient das (räumliche) Modell des Feldes dazu, Positionen in ihrer Relationalität anzuzeigen. Gesellschaft wird als sozialer Raum beschrieben, der durch verschiedene (relativ autonome) Felder konstituiert ist (Jurt 2004, S. 211). Der physische Raum spielt in diesem Zusammenhang insofern eine Rolle, als dessen Aneignung immer auch schon als Ausdrucksgestalt der Positionierung im sozialen Raum verstanden werden kann. Darum sind, wenn es um die
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Verteilungskämpfe innerhalb der Gesellschaft geht, die Bewegungen im virtuellen, sozialen Raum für Bourdieu zentral. Nach Bourdieus Auffassung hat man es: „zu jedem Zeitpunkt jeder Gesellschaft [...] also mit einem Ensemble von sozialen Positionen zu tun, das über eine Relation, eine Homologie, mit einem selber wiederum relational bestimmten Ensemble von Tätigkeiten [...] oder Gütern [...] verbunden ist. Diese möglicherweise ziemlich abstrakt und dunkel klingende Formulierung enthält die erste Bedingung für eine adäquate Interpretation der Analyse des Verhältnissen zwischen sozialen Positionen (relationaler Begriff), den Dispositionen (oder dem Habitus) und der Position, die jemand bezieht, der ‚Wahl’, die die sozialen Akteure in unterschiedlichen Praxisbereichen treffen, beim Essen, beim Sport, bei der Musik oder in der Politik usw.“ (Bourdieu 2006b, S. 356, Hervorhebungen im Original).
Hier lässt sich nachvollziehen, dass bei Bourdieu der Akteur eine tatsächlich aktive Stellung hat, auch wenn dies in Bezug auf die subjektiven Transformationsmöglichkeiten in Bezug auf die Wahl der sozialen Position von geringer Reichweite ist. Raum ist bei Bourdieu als Ensemble einander als äußerlich gegenübertretender Positionen bestimmt, die einander mehr oder minder nah bzw. entfernt sind und auch dadurch bestimmt sind, dass sie in bestimmter Anordnung zueinander stehen, das heißt übergeordnet, untergeordnet oder zwischen Positionen eingeordnet sind (ebd. S. 358). Die Auseinandersetzung mit sozialem Raum ist Kernbestandteil der „Feinen Unterschiede“ (Bourdieu 1999), in denen Bourdieu die Distinktionsprinzipien des ökonomischen, des kulturellen, des sozialen und des symbolischen Kapitals als Strukturelemente des Sozialen geltend macht. Das symbolische Kapital kann dabei als die Kapitalsorte beschrieben werden, die durch die Anerkennung angeeignet wird, welche durch die Verfügungsgewalt über eine der anderen Kapitalsorten erworben wird. Dabei ist die Hierarchie der Kapitalsorten von Feld zu Feld verschieden, mit anderen Worten: es herrscht in jedem Feld innerhalb der Gesellschaft eine unterschiedliche Hierarchie der Kapitalsorten und das ökonomische Kapital alleine vermag die Ordnungsstrukturen nicht zu beschreiben (Jurt 2004, S. 212). Um Macht zu erlangen, entwickeln sich im sozialen Raum schließlich symbolische Kämpfe, mit dem Ziel, die Dominanz der jeweiligen „Kapitalsortenmischung“ (Stelmaszyk 2002, S. 9) durchzusetzen. Diese Kämpfe haben ein zweifaches Ziel: Distinktion – durch die Verteidigung oder Absicherung der Positionen im sozialen Feld – und Machtsteigerung – durch Akkumulation. Über den Raum der Dispositionen (des Habitus) können soziale Positionen ausgemacht werden. Diesem Raum – dem Habitus – entspricht eine klassenspezifische Geschmacks-Kultur. Der Habitus als Strukturelement des Raumes dient also der Absicherung von räumlicher Homologie – das heißt: der Eindeutigkeit in der Positionierung der (An-) Ordnungsstrukturen. Nicht nur material, also im Lebensstil, schlagen sich die habituellen Unterschiede nieder, sondern auch in den unterschiedlichen Praktiken, Besitztümern, Meinungsäußerungen: „Sobald sie [die Praktiken, Besitztümer und Meinungsäußerungen, M.H.] mit Hilfe der entsprechenden sozialen Wahrnehmungskategorien, Wahrnehmungs- und Gliederungsprinzipien wahrgenommen werden, [werden sie, M.H.] zu symbolischen Unterscheidungen und [bilden] eine regelrechte Sprache“ (Bourdieu, 2006a, S. 360).
In einem Raum zu existieren heißt damit gleichzeitig, zu dem Raum dazu zu gehören und sich zu unterscheiden – als Akteur gehört man zu einer Klasse (nicht im marxschen Sinne, sondern zu einer spezifischen Homologiekonstruktion von Kapitalsorten, die jedoch virtuell ist, ebd., S. 365) und ist damit in der Distributionsstruktur der verschiedenen Kapitalsorten angeordnet, deren Erhalt oder Gewinn in symbolischen Kämpfen ausgehandelt wird. Dabei 21
gilt die Aufteilung des Geschmacks und der Zugangsberechtigungen als quasi-natürlich: Zugang zu Bildung wird an der Leistungsfähigkeit und der Annahme einer Begabung gemessen (Bourdieu 2001), die soziale Welt zweigeschlechtlich und geschlechtshierarchisch aufgeteilt (Bourdieu, 2000, 2006b). Mit Rückgriff auf Husserl zeigt Bourdieu hier, dass die Annahme von „natürlichen Einstellungen“ oder doxischen Erfahrungen auf einer Übereinstimmung der objektiven und der kognitiven Strukturen aufruht, die den gesellschaftlichen Hierarchien den Eindruck der Legitimität vermitteln – etwa der Einteilung der Geschlechter, der Einteilung häuslicher Zuständigkeitsbereiche nach Geschlecht usw. (Bourdieu 2006b, S. 20). Gerade an Bourdieus Ausführungen zur „männlichen Herrschaft“, die er am Beispiel der von ihm untersuchten kabylischen Gesellschaft untermauert, wird dabei seine mehrdimensionale Sicht auf räumliche Ordnungsstrukturen durch die zweigeschlechtliche Einteilung der Welt deutlich. So zeigt er etwa, dass die männliche Arbeit oft mit Prestige belegt ist, während weibliche Arbeit eher gering geschätzt wird. Über Arbeit findet nun aber auch Vergesellschaftung statt, die in einem System der Zweigeschlechtlichkeit Männer zu Herrschern und Frauen zu Beherrschten macht. So wird schließlich um biologisch (oder besser gesagt: anatomisch) unterschiedliche Körper ein System homologer Gegensätze wirksam, das die bestehenden Herrschaftsverhältnisse festigt – angefangen von der legitimen Sicht auf Körpersprache über häusliche Räume und Tätigkeiten (Handwerken und Kochen) bis hin zu männlichen und weiblichen Berufen, die mehr oder weniger gesellschaftliches Ansehen genießen, oder aber der unterschiedlichen Bewertung von Berufen in Abhängigkeit davon ob der/die sie Ausübende männlich oder weiblich ist (ebd., S. 63). Es ist dieses Zusammenspiel zwischen den persönlichen Prägungen des Akteurs/der Akteurin und den Strukturen des sozialen Raumes (Jurt 2004, S. 204), das in Bezug auf jede Dimension sozialer Ungleichheit wirksam wird. Es geht Bourdieu also gerade nicht um die Bestimmung des physischen Raumes als realem Raum, während das Soziale seine Abstraktion darstellt (Schroer 2008a). Es geht Bourdieu vielmehr um einen „Raum von Beziehungen“, der „ebenso wirklich wie der geographische [ist, M.H.], worin Stellenwechsel, und Ortsveränderungen nur um den Preis von Arbeit, Anstrengungen und vor allem Zeit zu haben sind (dem Aufsteiger sieht man seine Kletterei an)“ (Bourdieu 1985). Das bedeutet, dass sich das Soziale im Physischen niederschlägt, sich in die soziale Realität einschreibt und dann als quasinatürlich wahrgenommen wird. Nach Bourdieu werden dem physischen Raum also Eigenschaften zugeschrieben, die auf den sozialen Raum übertragen werden und sich darin äußern, dass soziale Mobilität und soziale Veränderungen nur langsam vollzogen werden können (vgl. Schroer 2008a). Hiermit wendet sich Bourdieu implizit gegen wissenssoziologische Modelle, die Raum mit konkreten Orten gleichsetzen oder ihn ontologisieren (z.B. Berger/Luckmann 1987, Giddens 1988). Ähnlich argumentiert auch Oevermann, indem er den Begriff der „PraxisRäumlichkeit“ (Oevermann 1995, S. 52) einführt. „Eine nicht-reduzierbare, eigenlogische soziale Zeitlichkeit und Räumlichkeit liegt erst vor, wenn auch die wissensmäßig repräsentierte Zeitlichkeit und Räumlichkeit nicht mehr in der physikalischen, sondern in einer sozialen Zeitlichkeit und Räumlichkeit kategorial konstituiert ist. Genau das aber liegt in den bisherigen – letztlich wissenssozologisch verkürzten – Theorien sozialer Räumlichkeit und Zeitlichkeit m.E. nicht vor. Demgegenüber haben wir im Konzept der Sequenziertheit von Praxisformen und ihrer Rahmung durch Prozeduren der Eröffnung und Beschließung grundsätzlich eine solche eigenlogische Kategorisierung einer spezifisch sozialen inneren Struktur von Räumlichkeit und Zeitlichkeit vor uns. Gegenstand wissensmäßiger Repräsentanzen von Praxiszeit und Praxisräumlichkeit kann nicht mehr physikali-
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sche Ausdehnung sein, sondern muss in der sequenziellen Struktur konkreter Praxis bestehen.“ (ebd., S. 53).
Dabei begreift Oevermann soziale Zeit als sozialräumliche Verschachtelung von zwei Oppositionen: erstens, derjenigen, in der Gegenwart und Vergangenheit bzw. Zukunft einander polar gegenüberstehen und das Gehäuse bilden für die Unmittelbarkeit und Vermitteltheit von Hier und Jetzt der Lebenspraxis und der hypothetisch konstruierten Welt (den Zukunftsentwürfen und Vergangenheitsbewältigungen) (ebd., S. 57). Zweitens bilden Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nicht nur im Hier und Jetzt eine Einheit, sondern es handelt sich hierbei auch um Momente, die nach- oder hintereinander in Zeit und Raum geordnet sind und in denen jede erinnerte Praxis die Einheit in sich getragen hat bzw. jede zukünftige Praxis diese Einheit (Synthesis) in sich tragen wird (ebd., S. 59). Auch wenn Oevermann sich anderenorts dezidiert gegen machttheoretische Modelle wendet, die die Handlungsstruktur lediglich aus gesellschaftlichen Strukturanalysen ableiten (vgl. Oevermann 1996a) und er – im Gegensatz zu Bourdieu – in seiner Argumentationslogik weniger die gesellschaftlichen Strukturen als das epistemische Subjekt im Blick hat (Liebau 1987), zeigt sich gerade in der gemeinsamen Kritik an wissenssoziologischen Modellen, die wie hier Raum und Ort gleichsetzen, doch eine bemerkenswerte Ähnlichkeit, in der Raum beiderseits als handelnd hervorgebracht gesehen wird. Zugleich schlägt Oevermann mit Bezug auf die Sequenzialität eine Möglichkeit der Raumanalyse vor, die zugleich die hierarchische Verschachtelung von Räumen im Blick hat6 (vgl. Kap. 4.1). Bis hierhin können wir festhalten: Die bislang vorgestellten Konzepte von Raum drehen sich um ein Raumverständnis, das sich sukzessive von einer Behälterraumvorstellung bzw. einem euklidischen Raumbegriff verabschiedet. Dabei lassen sich nicht nur die Vorstellungen von Bourdieu oder Oevermann, sondern auch die von Lefèbvre und Simmel auf ein nicht-euklidisches Raumkonzept beziehen, wenn man die handelnde Hervorbringung von Raum als sozialräumliche Situierung dessen sieht, was an Handlungsmöglichkeiten eröffnet und beschlossen wird. Hiermit liegen Möglichkeiten einer handlungstheoretischen Grundlegung von Raum vor, die Mead (1978) bereits hinsichtlich der Einlagerung des Handelns in höhersymbolische Ordnungen ausformuliert. „Die Grenzen sozialer Organisationen sind in der Lernfähigkeit von Individuen zu suchen, die Perspektive von anderen zu übernehmen, sich an ihre Stelle zu versetzen. (…) Das Prinzip ist evident: das Individuum übernimmt eine bestimmte Perspektive von anderen, sofern es fähig ist, ihre Einstellungen einzunehmen oder sich auf ihren Standpunkt zu stellen. Während jedoch das Prinzip zu den Gemeinplätzen der Sozialwissenschaften gehört, sind seine Implikationen von außerordentlicher Tragweite – wenn man die Objektivität von Perspektiven akzeptiert und dabei bedenkt, daß andere mit Geist begabte Individuen diese Perspektiven konstituieren, daß es hier keine von Geist abgetrennte Natur gibt. Diese soziale Perspektive existiert in der Erfahrung des Individuums, insofern sie verstehbar ist; und gerade ihre Verstehbarkeit ist die Bedingung dafür, daß das Individuum die Perspektive von anderen – insbesondere seiner Gruppe – übernehmen kann.“ (Mead 1978, S. 156).
Hiermit verweist Mead auf eine Wechselwirkung von Person und Gruppe, die für das hier angelegte Verständnis von Raum einen hohen Stellenwert hat. Zum einen versteht sich räumliches Handeln hier als soziale Praxis, zum Anderen ist damit eine Auseinanderset6
Protokolle sozialer Lebenspraxis werden in diesem Zusammenhang – und diese Feststellung ist nicht unerheblich für die vorliegende Arbeit – als „Verräumlichung“ verstanden (Oevermann 2008a), die die Flüchtigkeit des Vollzugs der Lebenspraxis nicht mehr in sich trägt. Zeit wird dabei diachron gedacht, Raum synchron als momentane Ausdrucksgestalt der menschlichen Praxis, die wesentlich durch die Positionalität bestimmt ist (ebd., S. 29).
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zung mit der symbolischen Ordnung angelegt, die jedoch individuell nachvollzogen werden muss und selbst wiederum handelnd hervorgebracht worden ist. In diese Wechselseitigkeit von höhersymbolischer Ordnung und individueller Handlung – so ist hier zu schließen – spielen sozial hervorgebrachte Teilhabemöglichkeiten hinein, denn Perspektivübernahme erfolgt vor allem dann, wenn ein Individuum fähig ist, andere Einstellungen anzunehmen, also: Passungsverhältnisse herzustellen, sich zu positionieren und Regeln sozialer Gruppen zu befolgen. Diese Teilhabechancen, die dennoch wandelbar sind, da mit Oevermann räumliches Handeln auch als sequenzielles Handeln verstanden werden muss und somit an jeder Sequenzstelle Transformationsmöglichkeiten bestehen, sind damit nicht nur von individuellen Orientierungen gerahmt, sondern auch von den sozial hervorgebrachten Zugangsbedingungen, die selbst zwar Gegenstand der Transformation sein können, jedoch auch überindividuell wirksam werden können. Teilhabe ist somit nicht nur eine Kosten-NutzenEntscheidung des/der Einzelnen, sondern auch in hohem Maße mit den Ermöglichungsstrukturen verbunden, die handelnd hervorgebracht werden. Wir bekommen hier einen ersten Vorgeschmack auf einen dynamischen Raumbegriff, bei dem Inklusion und Exklusion in ein Spannungsfeld von Reproduktion und Transformation eingelagert sind. Denn die räumliche Ordnung wird hergestellt, indem zeitlich (also in Prozessen des Aushandelns, des Platzierens und Anordnens) agiert wird. Damit gerät sozusagen automatisch die Zeitlichkeit des Räumlichen in den Blick, denn die topologische Erschließung der sozialen Herstellung von Lage- und Nähebeziehungen erfolgt in bestimmten Zeithorizonten. Diese Zeithorizonte sind markiert durch Transformation und Reproduktion. Umgekehrt beansprucht das Zeitliche auch räumliche Ausdehnung – z.B. in Interaktionen, in denen die symbolische Ordnung thematisch wird. Hier kann über die Beanspruchung von (Zeit-) Räumlichkeit auf die Ordnung geschlossen werden, wie sie sich in Transformations- und Reproduktionsbedingungen niederschlägt. In der vorliegenden Studie – soviel sei hier vorweggenommen – geht es jedoch vor allem darum, die Teilhabebedingungen in den Blick zu nehmen und dabei zunächst den engen Fokus von Inklusion und Exklusion nicht zu hintergehen. Denn um das Wechselspiel von Räumlichkeit und Zeitlichkeit bestimmen zu können, wäre es nötig, beides zueinander zu vermitteln. Dies soll jedoch in der vorliegenden Arbeit nicht zentral thematisch sein. Vielmehr geht es darum, die soziale Herstellung von Raum in den Blick zu nehmen. Besonders die hier vorgestellten handlungstheoretischen Fokussierungen verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass räumliches Handeln in der Spannung von Inklusion und Exklusion (vgl. 2.1) immer intersubjektiv hervorgebracht und ausgehandelt ist. Die Intersubjektivität hat dabei in den Ansätzen von Bourdieu, Oevermann und Mead einen unterschiedlich hohen Stellenwert. So wird etwa Bourdieu weniger als Theoretiker der Intersubjektivität verstanden, auch wenn die in die Habitusentwürfe eingelagerten Symbolsysteme intersubjektiv verbindlich sind (Honneth 1999, S. 180). Zugleich werden mit dem Habituskonzept, das ja unter anderem auch auf Fragen des gesellschaftlichen „Wertes“ von Akteuren Bezug nimmt, Bezüge zu Relationierungen und Abgrenzungen eröffnet, die sich über „Distinktion“ vollziehen. Die Sinnebene, die hier thematisch wird, nimmt nicht direkt Bezug auf Interaktionen, legt aber zugrunde, dass Passungsverhältnisse sozial hergestellt werden. Die interaktiven Aushandlungsprozesse sind hingegen eher Gegenstand der Oevermannschen und Meadschen Bezüge. Die Handlungsdimension des Räumlichen benötigt durch die unterschiedlichen Ebenen, die hier angesprochen wurden, eine theoretische 24
„Klammer“, mit der die Logik intersubjektiver Aushandlungen aufgegriffen wird. Diese Klammer lässt sich heuristisch über die Anerkennungstheorie von Axel Honneth bestimmen, denn sie geht über die zum Teil recht funktional wirkenden Bestimmungen von Nähe/Distanz, Inklusion/Exklusion hinaus. Mit der Anerkennungstheorie lässt sich nämlich ein Spannungsfeld von Anerkennung und Missachtung bestimmen, in dem sich Distinktion und Teilhabemöglichkeiten vollziehen und differenziert nachvollzogen werden können7. Dabei lassen sich, ausgehend vom Anerkennungsmodell von Axel Honneth (1994), selbstverständlich auch Bezüge zu weiteren Prozessvariablen räumlichen Handelns eröffnen. Doch soll an dieser Stelle nur eine kurze Skizze der zentralen Anerkennungsdimensionen erfolgen, um das Verhältnis von Anerkennung und Missachtung als Prozessvariable deutlich zu machen. Honneth fasst Anerkennung als dialektisches Verhältnis von Anerkennung und Missachtung. Dabei wird Anerkennung auf unterschiedlichen Sinnebenen sozialer Wirklichkeit hervorgebracht und tritt in unterschiedlichen Handlungszusammenhängen verschiedenartig auf. Prädestiniert für nahe, diffuse und damit familiale und freundschaftliche Beziehungen ist die emotionale Anerkennung, die emotionale Zuwendung, Liebe und Freundschaft verheißt. Sie ermöglicht dabei gleichzeitig Selbstvertrauen und Bildsamkeit (Honneth 1994, 2003a), bedroht jedoch in ihrer negativen Variante der emotionalen Missachtung die leibliche Integrität und das Selbstvertrauen, wenn Personen nicht in ihren emotionalen Bedürfnissen geachtet werden. Moralische und individuelle Anerkennung sind nach Honneth eher im außerfamilialen Bereich zu verorten. Moralische Anerkennung spannt sich dabei auf zwischen kognitiver Achtung des Menschen als Teil des Gemeinwesens (Honneth 1994, S. 174) und die Selbstachtung bedrohenden Formen der Entrechtung 7 Die Theoriebezüge von Honneth, Oevermann und Bourdieu sollen hier nicht eklektizistisch in eins gesetzt werden. Nach wie vor erfolgt die Orientierung zentral an der Fragestellung der Perspektive auf Raum. Hierüber lassen sich Gemeinsamkeiten feststellen, welche die Bezugnahmemöglichkeiten auf ein dynamisches Raumkonzept erweitern und ausdifferenzieren. So wurde bereits vorher auf die Unterschiede von Bourdieu und Oevermann hingewiesen, die sich zwar beide auf den genetischen Strukturalismus berufen (Liebau 1987, Reckwitz 2000), die sich jedoch grundlegend darin unterscheiden, dass Bourdieu sein Konzept machttheoretisch anbindet – etwa indem er die auf Ko-Konstruktion der Wissenschaft bei der Generierung von Strukturen verweist – während Oevermann die generativen Regeln von Strukturen untersucht, „die als solche Eigenschaften der Realität selbst sind“ (Liebau 1987, S. 50). Hiermit ist auf unterschiedliche Denktraditionen verwiesen – in Frankreich ist Wissenschaft politisch überformt, in Deutschland geht es um Wesensanalyse, „Bourdieu argumentiert in der Kantischen, Oevermann in der Hegelschen Tradition“ (ebd.). Und weiter: während Oevermann die Möglichkeit von Vernunft voraussetzt, bettet Bourdieu diese Möglichkeit sozial-historisch ein (ebd., S. 51). Andererseits – und darauf bezieht sich wiederum Honneths Kritik an Bourdieu (Honneth 1999) – fokussiert Bourdieu mit dem Habituskonzept auf Nutzen- und Gewinnorientierung. Hier liegt, so Honneth (und auch Joas 1997), ein utilitaristisches Modell sozialen Handelns vor, in dem Werte und Regeln eine nachrangige Bedeutung haben. Dabei seien Regeln – und darin stimmen Honneth und Oevermann überein – Universalien sozialen Handelns, die unhintergehbar sind. Ohne Regeln wie Intersubjektivität und Reziprozität sei soziales Handeln überhaupt nicht erst vorstellbar (Honneth 1994, Oevermann 2002). Gleichzeitig gibt es Wertsysteme, auf deren Grundlage individuelle Anerkennung und schließlich soziale Platzierung erfolgt (vgl. Honneth 1994, S. 203). Es würde an dieser Stelle zu weit führen, die unterschiedlichen Konzepte jeweils gegeneinander zu diskutieren. Mir geht es an dieser Stelle vor allem darum, unterschiedliche Raumbezüge einer strukturalistischen Perspektive aufzuzeigen und dabei die verschiedenen Theorien in dem, was sie jeweils zu einer Analyse von Raum in der Jugendphase beitragen, komplementär aufeinander zu beziehen. Ebenso wie also an späterer Stelle empirisches Material im Sinne einer Mehrebenenanalyse aufeinander bezogen wird (vgl. Kapt. 4.1), sollen hier Theorien vorgestellt werden, die aus unterschiedlichen Perspektiven einen Beitrag zur Analyse von Raum leisten. Dabei zählt in der hier vorgestellten Perspektive der Handlungsbezug der vorgestellten Theorien. Raum entsteht in Beziehungen und Beziehungen bringen Raum hervor. Diese Grundorientierung eint die in diesem Teilkapitel vorgestellten Theoriebezüge, auch wenn sie sich hinsichtlich des Aggregierungsniveaus, das sie mit ihrer jeweiligen Theorie im Kern bedienen, unterscheiden.
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und Ausschließung (ebd. S. 177). Hier wird eine normative Perspektive eingenommen und die Frage nach dem Selbstverständnis bzw. dem Verstehen einer Person als Trägerin oder Träger von Rechten gestellt. Während es also hier um Anerkennung der Person als gleich geht, wird in der Dimension der individuellen Anerkennung nach der Besonderung in Sinne der individuellen Wertschätzung gefragt (ebd., S. 196). Auch diese Dimension bezieht sich primär auf die Thematisierung der gesellschaftlichen Integration, denn es geht hier um den individuellen Beitrag des Einzelnen zur Leistungsgesellschaft – also ganz allgemein auch darum, welche Platzierung eine Person innerhalb einer Gesellschaft einnimmt. Mit dieser kurzen Skizze der Dreiteilung intersubjektiver Anerkennungsbeziehungen wurden einerseits Verbindungen zur Prozessvariablen Nähe und Distanz hergestellt. Andererseits wurde auf die Spannung von Einheit und Differenz verwiesen, die sich besonders in den Dimensionen der moralischen und der individuellen Anerkennung finden lässt. Damit findet sich in der Anerkennungstheorie eine produktive Fortsetzung und Ausdifferenzierung der sehr holzschnittartigen Bestimmungen von Inklusion und Exklusion und ihrer Ausdifferenzierung in die Spannungsverhältnisse von Nähe und Distanz sowie Bindung und Entfremdung (vgl. 2.1). Zugleich eröffnet gerade die Frage der individuellen Anerkennung in ihrem Zusammenspiel mit den anderen beiden Anerkennungsformen als Bedingung und Vorraussetzung der individuellen Wertschätzung einen Ausblick auf höher aggregierte Sinnebenen sozialen Handelns. Nicht nur die individuellen und interaktiven Handlungsbezüge, sondern auch die insbesondere durch Bourdieu fokussierten institutionellen und milieuspezifischen Orientierungsmuster und Habitusformationen haben eine hohe Bedeutsamkeit für Verortungsprozesse im Raum. Raum stellt sich hier als ‚Möglichkeitsraum‘ sozialen Handelns dar, der durch das interdependente Zusammenspiel von Struktur und Handeln je spezifisch ausgestaltet wird. Hiermit werden wiederum Nähen zu den im folgenden Abschnitt diskutierten Anordnungs- und Lagerungsstrukturen deutlich, denn mit der Thematisierung von individueller Anerkennung als Wertschätzung (oder Missachtung) der individuellen Leistungsfähigkeit sind Habitusformationen verbunden, die sich auch als Anordnung in einem relationalen Raumgefüge verstehen lassen. Dies soll nun mit Bezug auf die Theorien von Foucault und Löw erklärt werden.
2.3 Raum als Anordnungs- und Lagerungsverhältnis (Foucault und Löw) Die Ermöglichung oder der Ausschluss in Bezug auf Teilhabe an sozialen Räumen muss nun gerade vor dem Hintergrund zunehmender Dynamisierung und Dezentrierung des Raumes gedacht werden. Ist unter postmodernen Bedingungen überhaupt noch von Ordnung zu sprechen oder besteht Raum letztlich vor allem situativ und damit vor allem interaktiv? In diesem Fall müssten im Folgenden Konzepte diskutiert werden, welche die Möglichkeit der Abwesenheit von Ordnung mitdenken und zugleich zu gesellschaftlichen Artefakten in Beziehung gesetzt werden, die die Möglichkeit der Abwesenheit von Ordnung bearbeiten, indem sie sie als anders oder fremd charakterisieren. Hier ist die Forschung zu Fremdheit anschlussfähig, die sich besonders mit dem Kampf um Zugehörigkeit und Anerkennung auseinandersetzt (z.B. Mecheril/Hoffarth 2006). Denn – um es mit Simmel (1992) auszudrücken: der Fremde als Symbolisierung des Anderen bestätigt die Ordnungsvorstel-
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lungen von Gesellschaften und Gruppen gerade darüber, dass er Teil der Gruppe ist, aber nicht dazu gehört (ebd., S. 769). An diesen Gedanken ist auch die Abhandlung „Von anderen Räumen“ von Michel Foucault (2006) anschlussfähig. Foucault befasst sich allgemein mit räumlichen Ordnungsstrukturen und den in sie eingelagerten hierarchischen Anordnungsverhältnissen, wenn er sich mit Gefängnissen, Kliniken und Anstalten auseinandersetzt. Sein Text über die Heterotopien kann in diesem Zusammenhang sozusagen als Klammer verstanden werden, die sich um seine anderen Auseinandersetzungen schließt, in denen es um sozial ausgrenzende Räume geht bzw. um Räume, in denen das, was gesellschaftlich abgespalten werden soll, gelagert wird, das wiederum gleichsam als Spiegel der Ordnungsstrukturen dient. Im Zentrum Foucaults Werk steht die Analyse der sozialen Wissensordnung (Dünne 2006a). Dies ist auch im Text „Von anderen Räumen“ aus dem Jahr 1967 der Fall (Foucault 2006). Der Zusammenhang von Wissen und Macht, also die Frage danach „wie dieses Wissen (räumlich) an die institutionellen Formen, an die gesellschaftlichen und politischen Formen gebunden ist“ (Foucault 2005a, S. 69) und die Frage nach den diskursiven Regeln, die diskursive Ereignisse und Differenzsysteme begründen (Angermüller 2004), bilden auch hier den Bezugspunkt der Analyse. Dabei kann mit Reckwitz (2000) eine handlungstheoretische Brücke zu Foucault geschlagen werden. Reckwitz unterscheidet in seinem Werk „Die Transformation der Kulturtheorien“ den frühen und den späten Foucault (ebd. S. 277). Mit Bezug auf den späten Foucault, der nach Reckwitz deutliche Nähen zu Bourdieus kulturanalytischem Denken aufweist, arbeitet er heraus, dass soziale Praktiken, die auch als räumliche Praktiken verstanden werden können, „als regelmäßige körperliche Hervorbringung (verstanden werden, M.H.), die notwendigerweise von jeweils spezifischen Mustern der Selbst- und Fremdinterpretation der Akteure begleitet werden kann. Diese Interpretationen ergeben sich wiederum auf der Grundlage von übersubjektiv existierenden, aber subjektiv inkorporierten Wissenscodes, die nun ähnlich einem System von Deutungsschemata erscheinen, welche in den routinisierten Sinnzuschreibungen der Handelnden verarbeitet werden“ (ebd., S. 307).
Der Logik seines analytischen Vorgehens folgend und damit zunächst historisch-analytisch vorgehend, gibt Foucault dabei zunächst einen Abriss über unterschiedliche Phasen räumlichen Denkens und ihre verschiedenen Heterotopien. Dabei sind Heterotopien für ihn „andere Orte“ oder auch: Gegenorte zu den realen Orten. Im Unterschied zu Utopien, welche Orte ohne realen Ort darstellen (ebd., S. 320) sind Heterotopien „tatsächlich verwirklichte Utopien, in denen die realen Orte all die anderen realen Orte, die man in der Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“ (ebd.). Jedes Zeitalter bringt dabei eigene Heterotopien vor, die Rückschlüsse auf den Zusammenhang von sozialer Ordnung und Raum erlauben. Foucault bezeichnet dabei das Mittelalter als „Raum der Verortung“ (ebd., S. 317), in dem die Ordnung durch die Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanem strukturiert wurde, die göttliche Ordnung also dem drohenden Chaos entgegengesetzt wurde. Foucault stellt als entscheidend für Raum im Mittelalter heraus, dass die Orte hierarchisch geordnet waren: es gab zuallererst heilige und profane Orte, denen jeweils geschützte und schutzlose, städtische und ländliche Orte zugeordnet waren. Entscheidend war dabei, dass sich die Dinge an Orten in Ruhezustand befanden, an einem ihnen zugeordneten natürlichen Platz (vgl. auch Dünne 2006a, Schroer 2008b). 27
Mit Galileo Galilei entstand dann der „Raum der Ausdehnung“ (Foucault 2006, S. 318). Mit der Geometrisierung des Raumes allgemein setzt sich die Konzeption eines absoluten Raums durch, in dem Verortung nicht mehr durch Transzendenzbezug gedacht wird, sondern durch den Bezug zum Behälter-Raum. Dieser besitzt nach Foucault keine typische Heterotopie, weil es nicht möglich ist, sich das Außen eines Raumes vorzustellen, der „das Andere“ restlos ausschließt (ebd.)8. Diese Sicht auf Raum setzt zugleich die klassischaufklärerische Vernunft absolut9. Der Ort eines Dings ist damit nicht mehr auf einem göttlich vorherbestimmten Platz, sondern nur noch ein Punkt auf seiner Bahn. Ruhe bedeutet nur noch unendlich verlangsamte Bewegung (ebd.). Während im Mittelalter die Lokalisierung die Raumvorstellung dominierte, in der Neuzeit die Ausdehnung, tritt heute die Lage an diese Stelle. Sie wird „bestimmt durch Nachbarschaftsbeziehungen zwischen Punkten oder Elementen, die man formal als mathematische Reihen, Bäume oder Gitter beschreiben kann“ (ebd.). Es geht nun nicht nur um den Raum, den Menschen einnehmen, sondern auch um ihre Anordnung zueinander und „die Form der Speicherung, der Zirkulation, des Auffindens und der Klassifikation“ (ebd.), die relational eingesetzt werden, um bestimmte Ziele zu erreichen. In seinen unterschiedlichen diskursanalytischen Studien stellt Foucault immer wieder unter Beweis, dass die Raumanordnungen verschiedene Ebenen der sozialen Wirklichkeit umfassen: die individuelle Ebene in der Disziplinierung des Körpers und der inkorporierten Machtverhältnisse und die Ebene von Institution und Gesellschaft, die die Körper in ein Verhältnis zur symbolischen Ordnungen setzen. Für die Heterotopien, also die Gegenorte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich lokalisieren lassen, ist die Erfahrung des Spiegelns das verbindende Kennzeichen. Hier macht Foucault unter anderem auf die Bedeutsamkeit derjenigen Räume aufmerksam, die für Körper geschaffen werden, welche die Machtstrukturen nicht inkorporiert haben – dies sind in der Moderne Kranke, Straffällige, Behinderte und Tote. Diese Räume bezeichnet Foucault als Heterotopien – Orte, die in Abgrenzung zu gesellschaftlichen Normalvorstellungen errichtet werden und gleichsam als Mahnmal der Exklusion stehen. Orte also, „in denen die realen Orte, all die anderen realen Orte, die man in einer Kultur finden kann, zugleich repräsentiert, in Frage gestellt und ins Gegenteil verkehrt werden“ (Foucault 2006, S. 320). Als erstes Beispiel nennt Foucault den Spiegel: „Der Spiegel ist eine Utopie, weil er ein Ort ohne Ort ist. Im Spiegel sehe ich mich dort, wo ich nicht bin, in einem irrealen Raum, der virtuell hinter der Oberfläche des Spiegels liegt. [...] Aber zugleich handelt es sich um eine Heterotopie, insofern der Spiegel wirklich existiert und gewissermaßen eine Rückwirkung auf den Ort ausübt, an dem ich mich befinde. Durch den Spiegel entdecke ich, dass ich nicht an dem Ort bin, an dem ich bin, da ich mich dort drüben sehe. Durch den Blick, der gleichsam tief aus dem virtuellen Raum hinter dem Spiegel zu mir dringt, kehre ich zu mir selbst zurück, richte meinen Blick wieder auf mich selbst und sehe mich nun wieder dort, wo ich bin. Der Spiegel funktioniert als Heterotopie, weil er den Ort, an dem ich bin, während ich mich im Spiegel betrachte, absolut real in Verbindung mit dem gesamten umgebenden Raum und zugleich irreal wiedergibt, weil dieser Ort nur über den virtuellen Punkt jenseits des Spiegels wahrgenommen werden kann“ (Foucault 2006, S. 321).
8 Hier liegt eine Anschlussmöglichkeit einer Erklärung der systemtheoretischen Sichtweise auf Raum vor: wenn Gesellschaft als geschlossener Raum gedacht wird, ist Exklusion kaum möglich. Dies bestätigt auch Dünne (2006a, S. 296), der darauf hinweist, dass Luhmann besonders in seinen frühen Werken auf die Annahme der sozialen Konstituiertheit von Raum verzichtet, ebenso wie Schroer (2006), der darauf hinweist, dass Raum im Konzept von Niklas Luhmann nur noch eine Bedeutung als ‚Interaktionssubstrat‘ zukommt. Die Systemtheorie blickt damit auf Raum als geometrisch bestimmbaren Ort. 9 Eine Haltung, die etwa Adorno und Horkheimer (1988) kritisch hinterfragen.
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Mit dieser Beschreibung knüpft Foucault an ein Beispiel Lacans an, der mit dem Spiegeln den Unterschied zwischen den Ebenen des Imaginären, des Symbolischen und des Realen deutlich macht: durch eine Spiegelung erhält man nie mehr als eine Näherung – im Spiegel erscheint also die Imagination dessen, was symbolisch beschrieben werden kann, was aber das Reale nicht als das und an dem Ort existent erscheinen lässt, wo es sich tatsächlich befindet (Lacan 2006, S. 216). Foucault leitet mit dieser Beschreibung sechs Grundsätze ein, die für Heterotopien kennzeichnend sind und damit auch Grundlage der Analyse von Heterotopien – einer Heterotopologie – sein sollen. 1.
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Jede Gesellschaft bringt spezifische Heterotopien hervor. Hierbei handelt es sich um andersartige Räume, die zugleich in mythischem und realem Gegensatz zu dem Raum, in dem wir leben, stehen. Foucault unterscheidet Abweichungsheterotopien und Krisenheterotopien. Letztere beherrschen vor allem ‚primitive Gesellschaften‘ und sind heute im Verschwinden begriffen. Dies sind Orte, die Menschen vorbehalten sind, welche sich gegenüber dem Normalzustand der Gesellschaft im Krisenzustand befinden – Foucault nennt als typische Beispiele Orte, die Heranwachsenden, Frauen im Kindbett oder Greisen vorbehalten waren. Sie ragen in Form der militärisch organisierten Gymnasien für junge Männer oder Hochzeitsreisen für junge Frauen bis in das 19./20. Jahrhundert hinein – als (Gegen-) Orte, an denen auch die Entdeckung der jugendlichen Sexualität stattfand (ebd., S. 322). Heute werden allerdings die Krisenheterotopien eher durch Abweichungsheterotopien abgelöst: „Orte, an denen man Menschen unterbringt, deren Verhalten vom Durchschnitt oder von der geforderten Norm abweicht“ (ebd.). Hier nennt Foucault Gefängnisse, Sanatorien und psychiatrische Anstalten als Beispiele. Eine Heterotopie hat eine jeweils spezifische, genau festgelegte Funktionsweise in jeder Gesellschaft. Diese Funktionsweise der Heterotopie kann unterschiedlich sein, „je nach Synchronie der Kultur, in der sie sich befindet“ (ebd.). Hier nennt Foucault den Friedhof, der gleichermaßen eine Heterotopie darstellt und mit Orten der Stadt, der Region, des Dorfes, in Verbindung steht, weil jede Familie Angehörige auf dem Friedhof liegen hat. Zugleich hat der Friedhof beträchtliche Veränderungen erfahren: während er bis in das 18. Jahrhundert hinein noch mitten im Ort lag und es unter den Gräbern eine ausgeprägte Hierarchie gab, erhielt Mitte des 19. Jahrhunderts „jeder ein Anrecht auf eine eigene kleine Kiste für seine ganz persönliche Zersetzung“ – Foucault nennt dies die „Individualisierung des Todes“ (ebd., S. 323) und die Friedhöfe wurden allmählich aus der Stadt ausgelagert. Damit sind sie nicht in die Gemeinden integriert, sondern zu einer anderen Stadt geworden. Heterotopien vermögen mehrere reale Räume, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben, miteinander in Verbindung zu bringen. Während etwa das Theater (auf dem Rechteck der Bühne) mehrere Orte nacheinander zur Darstellung bringt, die einander fremd sind, werden Gärten als symbolisches Abbild paradiesischer Vollkommenheit geschaffen (ebd., S. 324). Eine Heterotopie steht auch in Verbindung mit einer Heterochronie – einem zeitlichen Bruch. In Heterotopien befinden sich Menschen, die radikal mit der Zeit realer Orte gebrochen haben. So steht der Friedhof gleichsam für einen radikalen Bruch mit der (Lebens-) Zeit, wobei der Mensch beginnt sich aufzulösen und zu verschwinden. Heut29
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zutage sind Heterotopien und Heterochronien komplex organisiert. Foucault benennt hier Museen und Bibliotheken, in denen die Zeit unablässig „aufgestapelt“ wird (ebd., S. 325). Andererseits gibt es Heterotopien, die mit flüchtigen, vergänglichen Aspekten der Zeit verbunden sind: so sind zum Beispiel Feste und Jahrmärkte, aber auch Feriendörfer vollkommen verzeitlichte Heterotopien, weil sie vollständig auf die zeitliche Befristung ausgerichtet sind. Heterotopien sind nach außen gleichzeitig abgeschlossen und offen. Man wird dazu gezwungen sich an heterotope Orte zu (Bsp. Gefängnis oder Kaserne) begeben oder man muss Eingangs- oder Reinigungsrituale absolvieren (Bsp. Hammam oder skandinavische Sauna). Heterotopien üben gegenüber dem restlichen Raum eine Funktion aus, die sich zwischen den Extrempolen bewegen: einen illusionären Ort zu schaffen, der die Gesellschaft als noch größere Illusion entlarvt oder einen Raum zu schaffen, in dem der verwirrenden Unordnung unseres Raumes eine vollkommene Ordnung gegenübergestellt wird (S. 326). Als Beispiel für erstere nennt Foucault Freudenhäuser, als Bespiel für letztere nennt er Jesuitenkolonien, in denen das Leben rund um die Uhr kasernenartig geregelt war.
Heterotopische Beschreibungen sind damit ein Analyseinstrument, mit denen sich Platzierungen in allen Kulturen beschreiben lassen (ebd., S. 321), denn indem sie zeigen, was als nicht normal angesehen wird, geben sie in der Kontrastierung zugleich die Vorstellungen von Normalität preis. Als umgrenzter und nach innen offener Raum (vgl. dazu auch Foucaults plastische Darstellungen von Gefängnissen der vergangenen Jahrhunderte, Foucault 1994) bietet die Heterotopie die Möglichkeit, die hierin liegenden ineinander verschachtelten Beziehungen und Netzwerke zu analysieren (Hörster 1997, S. 112). Heterotopien verweisen damit auf das Platzierungs- und Lagerungsverhalten in einer Gesellschaft, denn sie üben eine illusorische Funktion für die übrige Gesellschaft aus, weil sie durch die Kennzeichnung, Lagerung und Anordnung von Körpern ordnende Funktion haben – nicht nur im Sinne von Abschreckung, sondern auch als Spiegelbild und gesellschaftliche Ausdrucksgestalt. Foucaults Vorgehen zielt hier also auf eine Annäherung an die gesellschaftlichen Strukturen über ein „inneres Außen“ (Reuter 2002, S. 199). Er verknüpft, etwa in seinen Analysen zu „Überwachen und Strafen“ (Foucault 1994), zur Ordnung der Dinge (Foucault 1996) und auch in seinen posthum erschienenen Vorlesungen zu den „Anormalen“ (2003) stets die Bedeutsamkeit der Orte und der in ihnen eingelagerten Anordnungsstrukturen zu den Machtstrukturen in der Gesellschaft und den Konsequenzen, die dies für die Gestaltungsmöglichkeiten in Institutionen und der Individuen hat. Indem er eine Analogie der Geburt der modernen Human- und Sozialwissenschaften und der Geburt des modernen Subjekts eröffnet, lokalisiert er den „Menschen inmitten des Geflechts diskursiver und handlungstheoretischer Praktiken und Verfahrensweisen, die aus dem wissenschaftlichen Kanon hervorgehen und bezeichnet ihn als Materie, an der die Arbeit der Subjektivierung ansetzt. Sein Subjekt ist nicht der ‚Homo Faber’ der Neuzeit, der gestalterisch und produktiv seine Umwelt ‚im Griff hat’. Vielmehr erfährt es durch die Thematisierung und Entdeckung in der Wissenschaft eine zunehmende ‚Objektivierung’, aber auch ‚diskursive Zerstreuung’ im Bedingungsverhältnis von Wissen und Macht. Foucault sieht das Subjekt als Gegenstand einer binär codierten Wissensmacht. Diese entbindet Unterscheidungen des ‚gut/schlecht’ oder ‚gesund/krank’ vom individuellen Empfinden und erklärt sie zur Angelegenheit der öffentlichen Verwaltung und institutionellen Reglemen-
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tierung. Die Ordnung der Gesellschaft in normkonforme und deviante Subjekte setzt Foucault mit der Ordnung des Wissens und damit auch der Ordnung der Macht analog“ (Reuter 2002, S. 200).
Hier lässt sich nun behaupten, dass in dieser Betrachtung bereits mehrebenenanalytische Überlegungen angelegt sind: Raum ist nicht einfach nur der umgebende Raum, der Sinn vorstrukturiert, sondern die gesellschaftliche Struktur wird auf jeder räumlichen Ebene – auch in den Körpern – prozessiert (Foucault 2006). Damit wird deutlich, dass sich das Handeln, auch widerständiges Handeln, nicht außerhalb der symbolischen Ordnung der Gesellschaft vollziehen kann, es kann diese aber verändern (Löw 2001, S. 150) – und zwar in dem Maße, wie Lagerungs- und Anordnungsprinzipien verändert werden. Wenn damit der Handlungsspielraum eines autonomen Subjekts minimiert wird, so liegt das daran, dass das Subjekt bei Foucault selbst Gegenstand der Diskurse wird (dazu auch: Reckwitz 2004). Viele Arbeiten, die sich mit Foucault auseinandersetzen, stellen heraus, dass es unmöglich ist in Foucaults Werk eine einheitliche Vorstellung von Begriffen zu finden (vgl. Ruoff 2007). So nimmt Foucault auf unterschiedliche Dimensionen im Raum Bezug, wie etwa die Bedeutung der Sprache, der Macht, aber auch des Ortes (ebd., S. 169). Die Frage des Ortes ist nun in Bezug auf Raumfragen besonders interessant, da räumliches Handeln ja an Orten hervorgebracht wird. Bei Foucault ist der Ort als eine Lokalisierung räumlichen Handelns zu verstehen, der zugleich eine Ausdrucksgestalt jeweils wirksam werdender Machtbalancen ist. Orte beinhalten zugleich immer schon Platzierungen und Syntheseleistungen (Löw 2001), die Situationen kanalisieren, Handlungen aufgrund von Normalitäts- und Angemessenheitserwartungen wahrscheinlich bzw. unwahrscheinlich werden lassen (Schroer 2008a, S. 141, Löw 2007, S. 81). Damit liegt ein dynamischer Raumbegriff zugrunde, der Raum als offen für Transformationen auffasst. Die Individuen gelten somit nicht als ‚Opfer’ der Räume, sondern vermögen aktiv gestaltend in die Raumstruktur einzugreifen (auch: Schroer 2008b, S. 139). Raum erscheint in dieser Betrachtungsweise als ein „Ensemble von Relationen“ (Foucault 1991, zit. n. Löw 2001), der an Orten strukturiert und besetzt wird. Hieraus folgert Schroer (2008b), dass nun die entscheidende Frage raumanalytischen Vorgehens die ist, welche der im Raum verteilten Elemente man wie miteinander in Beziehung setzt (ebd., S. 148). Beziehungen gehen dem räumlichen Handeln also nicht voraus, sondern werden aktiv hergestellt, in einem als Konfiguration oder Netzwerk vorgestellten Raum. Die somit entstehende Ordnungsstruktur ist letztlich eine vorübergehende (ebd.). An diese Relationalität knüpft nun Martina Löw (2001) mit ihrer Raumsoziologie an. Sie bestimmt Raum als „relationalen (An-) Ordnung sozialer Güter oder Menschen (Lebewesen) an Orten“ (ebd., z.B. S. 224). Diese Sichtweise ermöglicht die Untersuchung des Wirksamwerdens von Verteilungsprinzipien auf mehreren Ebenen und in ihrer Interdependenz. Löw geht in ihrer Bestimmung eines soziologischen Raumbegriffs auf unterschiedliche räumliche Dimensionen ein. Wie Schroer (2006) analysiert auch sie globale und städtische Raume und geht dabei unter Anderem auf die Frage nach Raum in Bildungs- und Sozialisationsprozessen ein (Löw 2001). Mit den Vorstellungen von Globalisierung und der Frage nach virtuellen Räumen schafft sie Verbindung zu Vorstellungen Raum als „fließendem Netzwerk“ (Castells 2004), das zwar lokal und material gebunden ist, jedoch transnationale Wirkungskreise ziehen kann. So sind die damit hergestellten Raumbezüge nicht etwa fragmentarisch, sondern es handelt sich um Verflechtungszusammenhänge, die örtlich hergestellt werden, aber auch mehr oder weniger flüchtig sein können. Gleichzeitig – und das ist das Interessante an der Einbezie31
hung der Analyse von Globalisierungseffekten – ist Raum in den Vorstellungen der Menschen auch etwas Homogenes (etwa eine Nation, ein Land, eine Stadt, eine Institution) und Vergesellschaftungsprozesse finden nach wie vor mit Bezug auf eine euklidisch bestimmte Raumvorstellung statt. Und weil diese Gleichzeitigkeit besteht, bedarf es im handelnden Umgang mit Raum zweier Leistungen: dem Spacing und der Syntheseleistung (Löw 2001, S. 158). Dabei meint Spacing die Positionierung von Gütern und Menschen im Raum, wie auch die Bewegung zur nächsten Platzierung. Die Syntheseleistung besteht darin, Objekte und Menschen zu Räumen zu verknüpfen – etwa über Wahrnehmungs-, Vorstellungs- oder Erinnerungsleistungen. „Ganz gleich welchen Ausschnitt sozialer Realität man wählt, internationale, nationale, städtische oder alltagsweltliche Konstitutionen von Räumen, immer trifft man auf mehrdimensionale räumliche Gefüge, die nur erklärt werden können, wenn die Konstitution von Räumen über (institutionalisierte) Verknüpfungen in Handlungsprozessen erklärt wird und nicht Räume dem Handeln vorgängig konzipiert werden“ (Löw 2001, S. 113).
Die Verknüpfungsleistung wird dabei handelnd erbracht und geht mit Platzierung einher. Diese kann entweder selbst vorgenommen werden, oder fremdbestimmt angeordnet werden. Damit ist wiederum bereits auf die Strukturierung durch den Handlungsvollzug angespielt. Das Räumliche ist damit Teil des Gesellschaftlichen – es bildet sozusagen die gesellschaftliche Strukturiertheit ab. Wenn es, wie Löw ausführt (ebd. S. 169), wohl angemessen ist, einen Nachbarn im Wohnzimmer zu empfangen, nicht aber im Schlafzimmer, so verweist die Konstitution der Räume auf institutionalisierte Handlungsroutinen, die ein bestimmtes Verhalten erwartbar und angemessen erscheinen lassen, ein anderes wieder nicht. Dieses wird dann negativen Sanktionen unterworfen. Ein anderes Beispiel, das der Frage zum Bildungsraum hier schon etwas vorgreift, wäre die Frage nach der Wahl der Schule, die Eltern für ihre Kinder treffen. Diese Wahl kann als Platzierung im Feld der Bildung verstanden werden, der eine Syntheseleistung vorausgeht: die Familien assoziieren, dass an bestimmten Schulen spezifische Haltungen repräsentiert sind, die passförmig zu ihren Bildungsaspirationen sind. Mit ihrem Konzept von Raum relationiert Löw nun Handlungsräume auf unterschiedlichen Ebenen. Die internationalen Handlungsräume, die Nation als Handlungsraum, die Stadt, die Institution, ja selbst der Körper ist eine Dimension (die kleinste) der Raumkonstruktion. Mit der Vorstellung des Körpers in Zusammenhang mit einem relationalen Raumbegriff distanziert sich Löw nicht nur von der Annahme rein materieller Beschaffenheit, sondern auch von der ausschließlichen Vorstellung des Körpers als diskursive Praxis (Butler 1991). Körper sind zwar eingebunden in gesellschaftliche Vorstellungen von ihrer Beschaffenheit und den damit verbundenen Eigenschaften, sie sind jedoch auch materiell (leiblich) (Löw 2001, S. 126 ff.) und die gesellschaftliche Perspektive auf den Körper materialisiert sich wiederum nicht nur in Sichtweisen auf den Körper und seine Beschaffenheit (dem Schönheitsideal zum Beispiel), sondern auch in der Platzierung der Körper – etwa im häuslichen Bereich. Löw bringt damit die Handlungsdimension in die sehr abstrakte Denkweise von Foucault hinein. Sie grenzt sich in diesem Zusammenhang von Bourdieu ab, der zwar wie sie als zentrales Thema die handelnde Strukturierung von Raum hat, doch ihrer Meinung nach die Bedeutung des Ortes als physischen Raum unterbelichtet (Löw 2001, S. 203). Dies sieht sie wiederum bei Foucault deutlicher ausformuliert, der Raum als „Ensemble von Relationen“ kennzeichnet, in dem soziales Handeln stattfindet, das selbst jedoch 32
auch wieder konstitutiv für die Entstehung von Räumen ist. Foucault mache dabei, so Löw, die Akteursperspektive, die bei Bourdieu noch allzu deutlich hindurchscheine (Löw 2001, S. 183), weniger zentral und hebe hingegen den Ort als zentrale Raumdimension hervor. Damit kommt Löw zu ihrer Definition von Raum als „Anordnungsstruktur von Menschen und Dingen/Lebewesen an Orten“ (ebd.): Orte gelten somit als Möglichkeitsraum für soziales Handeln. Der Ort als „Ziel und Resultat der Platzierung“ (ebd., S. 273) verleiht damit der physischen Existenz von Raum eine neue Bedeutung. Sieht Löw (2001) die Trennlinie zwischen Bourdieu und Foucault vor allem in der Subjektbezogenheit bzw. Akteurszentriertheit, die Foucault überwindet, so lassen sich mit Reckwitz (2000) die Ansätze von Bourdieu und Foucault konstruktiv verbinden, indem der Ort als Möglichkeitsraum bestimmt wird, der wiederum eine bestimmte Perspektive auf Handeln impliziert. Um die Verbindung von Bourdieu und Foucault darzustllen, unterscheidet Reckwitz zwischen dem Frühwerk und dem Spätwerk Foucaults. Dabei sitzt Foucault in seinem frühen Werk unter strenger Abkehr von mentalistischen und subjekttheoretischen Positionierungen einer „illusion of autonomous discourse“ (Dreyfus/Rabinow 1994) auf, die sich allein darin äußert, dass Praktiken analysiert werden sollen, die in beobachtbaren Verhaltensregelmäßigkeiten und der ihnen zugrunde liegenden Wissensregelmäßigkeit ruhen (Reckwitz 2000, S. 285). In seinem Spätwerk hingegen distanziert sich Foucault vom Antimentalismus, auch wenn die subjekttheoretische Perspektive nicht der Ausgangspunkt seiner Analysen ist. Vielmehr geht es „dem späten Foucault“ (Reckwitz 2000, S. 304ff.) darum, die Interdependenzen zwischen übersubjektiven Wissensordnungen und deren Modellen der Wirklichkeit und des Selbst zu finden. Foucault versteht „soziale Praktiken am Ende als regelmäßige körperliche Hervorbringung, die notwendigerweise von jeweils spezifischen Mustern der Selbst- und Fremdinterpretation der Akteure begleitet werden kann. Diese Interpretationen ergeben sich wiederum auf der Grundlage von übersubjektiv existierenden, aber subjektiv inkorporierten Wissenscodes, die nun ähnlich einem System von Deutungsschemata erscheinen, welche in den routinisierten Sinnzuschreibungen der Handelnden verarbeitet werden“ (ebd., S. 308).
Mit dieser Positionierung ist Foucault schließlich nahe am Habituskonzept Bourdieus und dessen Definition von Habitus als „System der organischen oder mentalen Dispositionen und der unbewußten Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata“ (ebd., S. 323). Der Habitus ist somit zugleich im einzelnen Akteur verankert, und eine dem Akteur vorrausgehende Wissensstruktur. Hiermit legt Bourdieu, wie Foucault auch, das Subjekt als dezentriert an und immer schon in soziale Handlungszusammenhänge eingebunden, die es bewusst nicht durchdringen kann. In dieser Nähe der Werke von Bourdieu und Foucault liegt nun auch ein zentraler Ansatzpunkt der vorliegenden Arbeit. Es geht dabei um die Annahme, dass Handeln positional bestimmt ist – also von der Perspektive des/der Handelnden aus und auf diese Perspektive bezogen ist: Das Subjekt und seine Repräsentationen scheinen nicht mehr als „Nullpunkt der symbolischen Ordnung“ (Reckwitz 2000, S. 349). Nur so ist es möglich, zu einen dynamischen Begriff von Raum zu kommen, ohne dem Missverständnis aufzusitzen, beim Referenzpunkt „Ort“ kehre man doch wieder zum euklidischen Raumbegriff zurück. Denn, das zeigen sowohl die Analysen von Foucault, als auch jene von Löw: Anordnungsstrukturen müssen mehr oder weniger flexibel gedacht werden. Dies ist ein entscheidender Hinweis für die Analyse räumlicher Strukturen. Denn damit werden nicht nur die Inklusionsund Exklusionsbedingungen wandelbar, sondern es muss auch gefragt werden, an welchen 33
Stellen sozialer Praxis Wandel eintritt und ob er eintritt, um Exklusionsbedingungen aufrecht zu erhalten (im Sinne des Wandels des Geschmacks, was Bourdieu (1999) eindrücklich schildert, um Distinktion aufrecht zu erhalten) oder neue Inklusionsbedingungen zu schaffen. Damit ist ein Ausblick auf das Verhältnis von Transformation und Reproduktion gelegt, das situativ – das heißt: sofern sie in dieser Arbeit thematisch wird – berücksichtigt werden muss. Dabei muss es – auch hier verweist Reckwitz (2000) auf eine Übereinstimmung zwischen Bourdieu und Foucault – deutlich gemacht werden, dass einzeln hervorgebrachte Akte immer in spezifische Wissensordnungen bzw. Habitusformationen eingebettet sind, dass Wissenscodes und Habitusformationen inkorporiert sind und damit nicht bewusst repräsentiert sind (vielmehr geht es um motivationales Wissen/Know-How), dass diese Wissenscodes/Habitusformationen überindividuell wirksam werden und in je spezifische Differenzsysteme eingebunden sind (ebd., S. 357 ff.). Mit diesen Übereinstimmungen ist nun auf die Möglichkeit verwiesen, sich raumanalytisch auf die Konzepte von Bourdieu und Foucault zu beziehen. Dazu bietet sich in Bezug auf Bourdieu die Analyse der Bezugsmilieus und der ihnen innewohnenden Anerkennungsstrukturen an. Mit Bezug auf Foucault die heterotopologische Beschreibung institutionalisierter Handlungsroutinen und Deutungsmuster, die nicht nur im Örtlichen ihren Ausdruck finden, sondern sich auch in Ritualen und interaktiven Handlungen niederschlagen. Hier wird schließlich deutlich, dass das Subjekt nicht mehr zum Nullpunkt der symbolischen Ordnung sein kann (ebd., S. 350). Es bedarf eines dynamischen Raumbegriffs, der zugleich die transformatorischen Potenziale räumlichen Handelns in den Blick nimmt. Hierzu lohnt m.E. eine Betrachtung von Konzepten, welche die Dezentrierung der räumlichen Struktur ausdrücklich zum Gegenstand haben.
2.4 Dezentrierung der räumlichen Struktur (Lacan, Deleuze/Guattari) Im Folgenden geht es also darum, die Annahme der Dynamik von Raum noch einmal zu steigern. Hiermit wird die Relationalität der jeweiligen Perspektivität noch einmal betont, ohne dabei jedoch relativistischen Perspektiven eines Bedeutungsverlustes von Raum aufzusitzen – also Perspektiven, die Raum, wie eingangs beschrieben, als bloße Abstraktion von Bewegungen und Veränderungen begreifen (vgl. Böhme 2006, S. 94). Raum erscheint in den hiermit vorgestellten Perspektiven zwischen (temporären oder imaginär hergestellten) Einheitsvorstellungen und wiederkehrenden Zerfallsdynamiken, die handelnd bearbeitet werden können. Dies soll mit Blick auf das psychoanalytische Konzept von Lacan und den poststrukturalistischen Ansatz von Deleuze und Guattari erläutert werden. Jacques Lacan konzipiert seine raumtheoretische Sicht zwar für das Subjekt, jedoch sei dieses Subjekt mikrostrukturell ähnlichen Prozessen ausgesetzt, wie die Menschheit insgesamt (Doetsch 2006). Er geht zunächst von Freuds psychischer Topik und dem daraus entwickelte Modell der ‚psychischen Lokalität‘ als räumliche Relation zwischen Bewusstem, Vorbewusstem und Unbewussten aus (Ich, Über-Ich, Es). Psychische Prozesse werden hier als dynamische Beziehung zwischen den drei Instanzen dargestellt (ebd., S. 199). Die Entwicklung dieser drei Instanzen erfolgt linear. Lacan ersetzt nun diese drei Allegorien (Ich, Über-Ich, Es) durch drei Phasen des Psychischen: das Reale, das Imaginäre und das Symbolische. Damit verlässt er die explizit räumliche Ebene und begibt sich auf die meta34
phorische Ebene, auf der Subjektwerdung sich nicht linear entwickelt, sondern auf der sich das fragmentarische Selbst mit dem virtuellen Ganzen des Spiegelselbst in Einklang zu bringen versucht. Bei Freud stoßen wir auf ein räumliches Modell, das von einer anfänglichen Ganzheit ausgeht, die sich selbst im Laufe der Entwicklung zunehmend bewusst wird, während zugleich tabuierte und bedrohliche Bewusstseinsinhalte verdrängt werden. Vorstellungsinhalte werden somit innerhalb einer Psyche organisiert, das heißt: Freud geht von einer einheitlichen Psyche aus, innerhalb derer das Bewusstsein sich formiert, die Psyche wird hier analog zu einem Behälter gedacht. Mit dem lacanschen Modell hingegen liegt eine fragmentierte Vorstellung zugrunde, die über Vernetzung in Einklang gebracht wird. Um dies zu verdeutlichen, werfen wir einen Blick auf das Spiegelstadium, in dem sich die Raumbezüge entwickeln (Lacan 2006, S. 212). Dieses Spiegelstadium ist dadurch gekennzeichnet, dass das Kleinkind durch die Spiegelung des Selbst eine erste, aber nur imaginierte Vorstellung des eigenen Körpers erfährt (Lacan 1975). Dem eigenen Körper, der ohne den Spiegel nur fragmentarisch wahrgenommen werden kann, tritt ein virtuelles (Spiegel-) Bild gegenüber, das zum fragmentarischen Körper in Beziehung gesetzt werden muss. An diesem Beispiel verdeutlich Lacan, die Schwierigkeit, die auftritt, bis aus einer disparaten Wirklichkeit, die aus realen Objekten besteht, virtuelle Bilder entstehen, zu der sich das Subjekt verhält bzw. in der es seinen Platz findet (Doetsch 2006, S. 201). Befindet sich das Auge im Einzugsbereich eines Spiegels und betrachtet ein gespiegeltes Bild, so sieht es das Bild dort, wo es nicht ist. Hier formen sich beim Kind, das noch nicht sprechen oder laufen kann (als zwei zentrale Akte der Raumerschließung) erste Verknüpfungen des als fragmentarisch wahrgenommen realen Selbst und der Imagination des Selbst, die dem Kind im Spiegel als Ganzes virtuell gegenübertritt. Damit begreift sich der Mensch als Anderer. „Das ist das ursprüngliche Abenteuer, in dem der Mensch zum erstenmal die Erfahrung macht, daß er sich selbst reflektiert und sich selbst als anders begreift als er ist – die wesentliche Dimension des Menschlichen, die sein ganzes Phantasieleben strukturiert“ (Lacan 2006, S. 217). Indem der Mensch die Fähigkeit erwirbt, sich als Anderer zu begreifen, ist zugleich die Möglichkeit, reflexive Prozesse in Gang zu setzen, angelegt. Damit entwirft Lacan einen Begriff von Subjektivität, der sich durch Dezentrierung auszeichnet. Selbstwerdung gelingt nicht durch einfache Identifikation (mit dem Ideal-Bild), sondern muss symbolisch, d.h. über Sprache vermittelt werden. Die Symbolisierung des Sprachlichen ermöglicht erst eine Vernetzung des Realen und des Imaginären. Bezogen auf das Bild vom umgekehrten Blumenstrauß heißt das: das virtuelle (gespiegelte) Bild und das reale Bild treten als unvereinbar nebeneinander. Sprache dient dabei als technische Mediation einen Einklang herzustellen. Ein Subjekt ist dabei weder nur etwas Reales, noch ausschließlich im Imaginären erfahrbar. Es muss in Form einer Trinität vermittelt werden: „Ein Subjekt ist nicht dort, wo es ist, sondern immer nur dort wo es nicht ist, denn es entsteht im Prozess der Substitution von Objekten und ‚Projekten‘ durch Zeichen. So ist das Subjekt real ein Ort, imaginär ein Bild und symbolisch ein Zeichen in einem. Die Wirklichkeit, welche das Subjekt aufbaut, wenn sie denn eine strukturierte Wirklichkeit sein und nicht nur aus Fragmenten und Affekten bestehen soll, stellt folglich immer schon ein Konstrukt aus Körpern sowie medialen und semiotischen Vermittlungen dar. Und dieses Konstrukt ist ein homogener, strukturierter Raum“ (Doetsch 2006, S. 202).
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Welche Vorstellung von Raum kann damit innerhalb des lacanschen Modells entwickelt werden? Lacan betont, dass räumliches Denken und Handeln einen symbolischen Aspekt und einen virtuellen Charakter haben. „Wenn wir von Orten sprechen, so sprechen wir also nicht von etwas, das einfach da ist und nicht anderswo, sondern von einem Gefüge realer, virtueller Räumlichkeit und deren symbolischer Substitution“ (ebd.). Hierbei kommt es, Lacan zufolge, besonders auf die Position des Subjekts an: „In der Beziehung zwischen Imaginärem und Realem und in der Konstitution der Welt, wie sie daraus resultiert, (hängt, M.H.) alles von der Stellung des Subjekts ab. Und die Stellung des Subjekts – Sie müßten es wissen, seit ich es Ihnen wiederhole – ist wesentlich durch seinen Platz in der symbolischen Welt charakterisiert, anders gesagt in der Welt des Sprechens. Dieser Platz ist das, wovon abhängt, ob jemand sich zu Recht oder Unrecht Pedro nennt. Je nachdem, ob dies der Fall ist oder jenes, befindet er sich im Feld des Kegels oder er befindet sich nicht darin“ (Lacan 2006, S. 219).
Die Abstraktion mit Bezug auf ein raumanalytisches Modell kann hier erfolgen, indem das Imaginäre, das Symbolische und das Reale noch einmal raumanalytisch gewendet werden. Das Imaginäre des Raumes ist nach Lacan (1975) grundlegend für die Wahrnehmung seiner selbst als Einheit und liefert somit die Grundlage für die Identifikation mit dem Anderen (Karakassi 2009). Hier haben wir es mit einem Ideal-Selbst zu tun, das sich am Einheitsbild des Anderen bemisst. Das Kind entwirft schon früh ein imaginäres Bild von der Gestalt seines Körpers, das zugleich zur Antizipation und zur Identifikationsgrundlage wird (Pagel 2002). Hiermit wird ein Ideal-Ich erschaffen (Lacan 1975), das zugleich daran orientiert ist, ein anderer zu sein. Damit würde jedoch der Andere und das eigene Selbst beseitigt. Erst eine symbolische Ordnung (d.h. die Sprache) ermöglicht dieses Dilemma zu überwinden. Die Bezüge zu idealen Entwürfen, welche Einheit verheißen und die symbolische Ordnung herstellen, ermöglichen in diesem Zusammenhang Anknüpfungspunkte zu den anderen hier vorgestellten strukturalistischen Theorien herzustellen. Es geht dabei um die Balance zwischen der inneren Ordnung und den Vorstellungen wie ein Raum sein soll. Lefèbvre10 nennt in diesem Zusammenhang die Repräsentationsräume als imaginierte Vorstellungen, Bilder und Symbole, die zur Konstruktion von Raum beitragen. In diesem Zusammenhang können auch die Heterotopien als ordnendes Moment herangezogen werden, die der inneren Ordnung ein Außen gegenüberstellen und Aufschluss darüber geben, was in einem Raum als anormal empfunden wird (auch: Foucault 2003). Räumliches Handeln drückt sich – so eine grundlegende Annahme dieser Arbeit – nicht nur durch die konkrete (reale) Beschaffenheit des Raumes aus, sondern auch durch die Vorstellungen davon, wie Platzierungen und Lagerungen zueinander angeordnet werden sollen, welche Relationierung idealerweise vorgenommen werden soll. Das Symbolische des Raumes tritt zu dem Imaginären in Form der Sprache. Das Subjekt „ich“ wird dabei mit der symbolischen Ordnung konfrontiert. „Die Entwicklung findet nur in dem Maße statt, wie sich das Subjekt in das symbolische System integriert, sich darin übt, sich darin durch Ausübung eines wahrhaften Sprechens bejaht“ (Lacan 2006, S. 223). Hierbei greift Lacan auf die Sprachtheorie von Saussure zurück, der davon ausgeht, dass sich in Sprache eine Struktur niederschlägt, die in der Beziehung der Zeichen zueinan10
Auch wenn etwa Lefèbvre in seiner „Production of Space“ (2008) einige Anstrengungen unternimmt, die psychoanalytische Theorie in der Tradition Lacans als reduktionistisch und dogmatisch zu verwerfen (ebd., S. 36), so klingt dies jedoch eher spekulativ (Dünne 2006a, S. 333), zumal die Dimensionierung von Raum durch Lefèbvre auch Bezugspunkte zum Imaginären aufweist.
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der ihren Ausdruck findet (Pagel 2002, S. 40). Um dies zu verdeutlichen, wird beim Zeichen zwischen Signifikat (dem Bezeichneten) und Signifikant (dem Bezeichnenden) unterschieden (Pagel 2002). Auf der Seite des Signifikats erkennt man die Vorstellung dessen, was es bezeichnet, auf der Seite des Signifikanten das Lautbild. Das Zeichen ist charakterisiert durch Beliebigkeit des Zusammenspiels von Signifikat und Signifikant und durch Linearität. Das heißt: das einzelne Zeichen hat noch keinen „positiven Charakter“, sondern ist vielmehr durch Abgrenzung von den anderen Zeichen gekennzeichnet. Es bildet daher nicht von vorne herein Ideen oder Dinge ab, sondern es konstituiert sich erst durch die nachträgliche Zuschreibung als signifikant (Pagel 2002, S. 41), d.h. durch Vermittlung des Anderen kommt das Subjekt zur Sprache. Dass das Subjekt der Sprachstruktur unterliegt (vgl. auch Reckwitz 2006), betrifft sein gesamtes Bewusstsein. Dies kann an der Sprachstruktur nachvollzogen werden, aber auch an anderen sozialen Systemen (Pagel, S. 52), wie etwa die Analysen Bourdieus zum Habitus zeigen oder die Foucaultschen Untersuchungen zu Wissensordnungen. Es geht somit immer darum, die symbolische Ordnung sozialer Systeme nachzuzeichnen (ebd.). Hier lassen sich die Handlungsdimensionen Löws in Bezug auf Raum zuordnen. Mit Syntheseleistung wird das gefasst, was es ermöglicht, Menschen, Dinge, Orte oder Anordnungen zu Räumen zu verknüpfen (Löw 2001). Die Syntheseleistung dient also der Vermittlung zwischen der Position (eines Individuum oder einer Gruppe) in einem Raum und der Vorstellung von der ganzen Beschaffenheit des Raumes. Hier findet sich auch ein Anschluss an Lefèbvre: So beschreibt er die räumliche Praxis und die Raumrepräsentationen als Dimensionen, in denen Raum produziert und reproduziert wird, über die sich mit spezifischen Codes verständigt wird. Ähnlich fasst ja auch Löw spacing als die räumlichen Praktiken der Platzierung und die Syntheseleistung als „Abstraktionsleistung“, mittels der die uneinheitlichen (auseinander fallenden) Güter und Menschen zu einem Element zusammengefasst werden (Löw 2001, S. 159). Schließlich kann auch der Ort als Teil des spacing, des räumlichen Handelns also, betrachtet werden, denn er hat das Gepräge der Gruppe erhalten und umgekehrt (vgl. die Ausführungen zu Simmel und auch Halbwachs). In der Beschaffenheit des Ortes findet sich somit eine Ausdrucksgestalt räumlichen Handelns, das die Haltungen der an ihm agierenden Personen widerspiegelt und Ausdrucksgestalt der Inkorporationen von Macht ist – um es mit Bourdieu und Foucault zu sagen. Das spacing, das von Löw als Platzierungsstrategie beschrieben wird, ist dabei immer schon als Vermittlung zwischen der imaginären Syntheseleistung und der Position zu fassen. Es kann – wie ausgeführt – über die Beschaffenheit eines Ortes wahrgenommen werden, aber auch über Sprache, denn gerade über Sprache drücken sich räumliche Praktiken, Platzierungsstrategien und -anweisungen aus. So ist ja auch eine der grundlegendsten Fragen der Sinnhaftigkeit von Lebenspraxis – „woher komme ich, wer bin ich und wohin gehe ich“ (Oevermann 1995) – eine durch den Anspruch der sprachlichen Vermittlung gekennzeichnet und zugleich Ausdruck räumlichen Handelns. Das Reale des Raumes ist in der Lacanschen Logik dem symbolischen Zugang verwehrt (Karakassi 2009). Das Reale stellt demnach eine desintegrative Komponente des Subjekts dar, da das Real-Selbst weder als Einheit entworfen, noch symbolisch vermittelt werden kann. Die primäre Unintegriertheit des Selbst tritt der ganzen Person des Spiegelbildes gegenüber. Dies führt dazu, dass der Zustand des Fragmentarischen verkennend ins Unbewusste verbannt wird (vgl. Helsper 1989). Eine sozial- und kulturanalytische Betrach37
tung des Realen fällt jedoch schwer, weil das Reale bei Lacan sich gerade dadurch auszeichnet, dass es nicht analytisch zugänglich ist. Zugleich wird es in materialen Symbolisierungen zum Ausdruck gebracht, wie Žižek (1991, 2002) mit Verweis auf Hitchcocks Filmbilder in „Die Vögel“ oder „Marnie“ zeigt. Hier erscheinen die Objekte (die Vögel oder das Schiff am Ende der Straße, in der Marnies Mutter lebt) wie eine Ahnung von dem, was möglich oder unmöglich ist (Žižek 2002, S. 20). Es ist daher nur ein Anschluss an die lacanschen Überlegungen möglich, der die Präflexivität des Realen aufnimmt und hiervon ausgehend räumliche Möglichkeitsstrukturen bestimmt. Mit dem Begriff der Position wird dies hier auf den Punkt gebracht: die eigene Position ist bei Lacan bestimmt als Ort, an dem sich das Subjekt nur fragmentarisch wahrnimmt (es kann sich selbst nie in der Einheit und Ganzheit sehen, wie dies sein Spiegelbild vermittelt). Das Auseinanderfallen von Spiegelbild und eigentlichem Sein wird im Modus des Uneigentlichen (durch Sprache) verkennend überwunden. Verallgemeinernd müsste nun die Position als nicht nur an das Individuum gebundene Ortsbestimmung fungieren, die von Akteuren (einzelnen wie kollektiven) nicht vollständig zugänglich ist, aber dennoch unhintergehbarer Teil der symbolischen Ordnung des Raumes ist. Mit der Position wird das Imaginäre und das Symbolische räumlich fundiert. Nicht mehr der Ort ist gegenständlicher Ausgangspunkt des Handelns, sondern die Position, die interaktiv, institutionell, vor dem Hintergrund eines Milieus oder einer Gesellschaft eingenommen wird und dem Akteur selbst letztlich unzugänglich ist. Dabei ist es jedoch wichtig, das Reale nicht als „Universalie einer ‚ursprünglichen‘ menschlichen Psyche“ (Reckwitz 2006, S. 84) zu denken, die dem Subjekt quasi-natürlich eingeschrieben ist, sondern als Grundlage des räumlichen Handelns, die die räumlichen Handlungsmöglichkeiten gleichsam begrenzt. So stellt die Position, in der sich einzelne oder kollektive Akteure befinden, gleichsam einen Ausgangspunkt ihres Handelns dar, den sie nicht hintergehen können und der für einen bestimmten, reflexiv nicht vollständig zugänglichen Lebensstil (Bourdieu 1999) steht. Die Position ist jedoch zugleich immer das Ergebnis sozialen Handelns und daher eben nicht substanzialistisch als Ort zu bestimmen, sondern als Balance einheitsstiftender Idealbezüge und differenzierender Realbezüge. Diese Spannung wird in unterschiedlichen raumanalytischen Bezügen aufgemacht. So verweist Lefèbvre trotz seiner Kritik an der Psychoanalyse, aufgrund ihrer mangelnden materialen Sättigung mit den von ihm eröffneten Raumdimensionen der räumlichen Praxis, der Repräsentationsräume und der Raumrepräsentationen letztlich auch auf eine Trinität des Raumes, in der ideale Annahmen in Spannung zum Handeln und seinen Symbolisierungen gesetzt werden. Jedoch wendet Lefèbvre diese psychologisch anmutenden Anteile seiner Theorie bewusst materialistisch und kritisiert zugleich die Priorität der Sprache im Raummodell Lacans. Ihm geht es – so formuliert er – mehr um die soziale Praxis als Erweiterung des Körpers, denn um den umgekehrten Blick, den Lacan favorisiere (vgl. ebd., S. 242). Das, was sich materiell (in Sprache und Ort) niederschlägt, seien – so Lefèbvre – die Inkorporierungen von Raum. Auch von anderer Seite wird Lacan kritisiert als jemand, der die Relationalität von Raum, die im Konzept des Imaginären, des Symbolischen und des Realen enthalten ist, nicht konsequent zuende gedacht habe. So kritisieren etwa Gilles Deleuze und Felix Guattari ebenfalls die Zentrierung der Sprache im Werk Lacans. In ihrem Werk Anti-Ödipus (Deleuze/Guattari 2005) stehen sie für ein radikal von der Orientierung an Einheit abgewandtes Denken (Schmidgen 1997). Sie beschreiben dabei die Unterscheidung von Bewusstem und Unbewusstem als Ver38
schleierung der Machtstrukturen, die vor allem in der moralischen Autorität, die dem Vater beigemessen wird, ruht. „Da ist er, der unheilbare Familialismus der Psychoanalyse, der das Unbewußte in das Gehäuse von Ödipus sperrt, der es beidseitig abbindet, die Wunschproduktion erdrückt, den Patienten darauf konditioniert, Papa-Mama zu antworten und immer wieder Papa-Mama zu konsumieren. Also hatte Foucault vollständig recht, als er sagte, die Psychoanalyse vollende in gewisser Weise, was die Anstaltspsychiatrie des 19. Jahrhunderts mit Pinel und Tuke sich zum Ziel gesetzt hatte: den Wahnsinn an den elterlichen Komplex zu schweißen, ihn ‚mit der halbrealen, halbimaginären Dialektik der Familie’ zu verbinden, - einen Mikrokosmos zu erstellen, in dem ‚die großen massiven Strukturen der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Werte’ sich symbolisieren, Familie-Kinder, Verfehlung und Bestrafung, Wahnsinn-Unordnung, - es dazu zu bringen, daß die Aufhebung der Alienation denselben Weg geht, wie die Alienation, Ödipus an beiden Enden, und auf diese Weise die moralische Autorität des Arztes als Vater und Richter, Familie und Gesetz zu begründen, - und endlich in das folgende Paradoxon zu geraten: ‚Während der Geisteskranke völlig in der wirklichen Gestalt seines Arztes entfremdet wird, löst so der Art die Realität des Geisteskranken im kritischen Begriff von Wahnsinn auf’.“ (Deleuze/Guattari 2005, S. 119 f.).
Wenn also bei Lacan der Appell als die Fähigkeit Papa und Mama zu symbolisieren als Ausdrucksgestalt der Fähigkeit zu räumlichem Denken gefasst wird, so interpretieren Deleuze und Guattari dies als Zwang, sich der Ausweglosigkeit psychoanalytischen Denkens unterzuordnen („Sag, daß es Ödipus ist oder ich knall dir eine!“ ebd., S. 57). Und auch wenn sie bei Lacan die Ansätze eines dezentrierten Denkens sehen (ebd., S. 67), so geht es Deleuze und Guattari nicht weit genug, denn dieses Denken fällt immer wieder zurück auf die Allmächtigkeit der familialisierten Sexualität, die letztlich ein konservatives räumliches Denken heraufbeschwört, in der der Vater einer unhintergehbare und im Handeln immer wieder symbolisierte Figur ist. In ihrem Werk „Tausend Plateaus“ (Deleuze/Guattari 1987) schließlich trennen sie Räumlichkeit von der Materialität des geographischen Bodens in aufeinander bezogenen Prozessen der De- und der Reterritorialisierung (vgl. Dünne 2006b, S. 382). In dem Text „Das Glatte und das Gekerbte“ unterscheiden Deleuze/Guattari (2006) den Raum des Nomaden und den des Sesshaften als Raum in dem sich die Kriegsmaschine11 entwickelt einerseits, Raum in dem der Staatsapparat angesiedelt ist andererseits. Beide stehen in ständigen Wechselspiel miteinander und wandeln sich permanent, so dass aus glatten Räumen ständig wieder gekerbte werden und umgekehrt gekerbte Räume in glatte zurückverwandelt werden (ebd., S. 434). Was bedeutet dies nun? Stellen wir uns Raum nicht als Container oder Machtbehälter (Giddens) vor, sondern als Rhizom (Deleuze/Guattari 1987), das mit der üblichen Linearität des Strukturalismus bricht. Im Unterschied zum Baum – der dem Strukturalismus eigenen Form der Darstellung hierarchisch aufeinander bezogener Elemente, existiert beim Rhizom keine klare Hierarchie der Einheiten (vgl. Schroer 2008b, S. 152). Dieses Rhizom steht – bildlich gesprochen – der Wurzelstruktur dichotom gegenüber wie der glatte, unerschlossene Raum dem gekerbten, erschlossenen, euklidischen Raum. Der Staat, der nun das euklidische Prinzip verkörpert und da11
Deleuze/Guattari benutzen in ihrem Werk konsequent den Begriff der „Maschine“, um zu zeigen, dass es bei der Bestimmung des Handelns um Funktionsbestimmungen geht, die vor dem Unbewussten liegen, das ohne den Begriff der Maschine auskommt (Deleuze/Guattari 2005, S. 41). In diesem Zusammenhang wird auch die Psychoanalyse selbst zu einer Maschine, die dazu dient, „die Bedingungen eines echten Aussagens zu unterdrücken. „Was auch immer du sagst wird in einer Art Mühle, eine Art Interpretationsmaschine gezogen, und der Patient kann nie zu dem kommen, was er wirklich zu sagen hat“ (Schmidgen 1997). Es geht Deleuze und Guattari also darum, mit dem Maschinenbegriff einen Bedeutungshorizont zu eröffnen, der sich mit dem Bauplan von Phänomenen jenseits von Hermeneutik und Interpretation befasst und Phänomene sich auf ein einheitliches Prinzip zurückführen lässt.
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nach strebt, ein Territorium abzugrenzen, stellt Verbindlichkeiten, Gesetze und Zwänge her und steht für das Prinzip der (Re-) Territorialisierung. Die – durchaus als revolutionär oder künstlerisch gedachte – Kriegsmaschine hingegen, repräsentiert das Prinzip der Deterritorialisierung. Als Bild dafür benutzen Deleuze und Guattari die Musik: „Das Gekerbte ist das, was das Festgelegte und Variable miteinander verflicht, was unterschiedliche Formen ordnet und einander folgen läßt und was horizontale Melodielinien und vertikale Harmonie benennen organisiert. Das Glatte ist kontinuierliche Variation, die kontinuierliche Entwicklung der Form und die Verschmelzung von Harmonie und Melodie zugunsten einer Freisetzung von im eigentlichen Sinne rhythmischen Werten, die reine Linie einer Diagonalen quer zur Vertikalen und Horizontalen.“ (Deleuze/Guattari 2006, S. 436).
Beides findet sich in permanentem Wechselprozess. Das Meer als glatter Raum par excellence (ebd., S. 438) etwa ist ständig mit Einkerbungen konfrontiert (astronomischen und geographischen), mittels derer die jeweilige Position berechnet wird. Die Stadt hingegen als gekerbter Raum par excellence (ebd., S. 441) kann, insbesondere unter Bedingungen der Ausdehnung von Elend, wieder zum glatten Raum werden, weil die Einkerbungen des Geldes, der Arbeit und des Wohnungsbaus für sie uninteressant werden. Deleuze und Guattari geht es also darum, die Vielfalt möglicher Anknüpfungs- und Anschlussmöglichkeiten aufzuzeigen, die einer vereinheitlichten Perspektive zuwiderlaufen (Schroer 2008b, S. 153). Nicht die jeweilige Nutzung der Räume ist damit entscheidend, sondern die Art und Weise der Nutzung. Die jeweilige Position und damit verbundene Perspektive wird zum Bezugspunkt des räumlichen Handelns jenseits des konkreten Ortes. Damit liegt ein weiterer Schritt vor, der zur Dynamisierung des Raumes beiträgt. Raum wird hier als dezentrierte Struktur wahrgenommen, die von jeweiligen Positionen aus handelnd erschlossen wird. Doch sollen diese Vorstellungen von Raum nicht mit Vorstellungen verwechselt werden, die – wie anfangs angedeutet – Raum nur noch als fließendes Netzwerk (Flusser) deuten, in denen Raum als Zwischenraum (im Sinne eines Spatium oder space) gedacht wird (vgl. Schmutzer 2003). Vielmehr kommt es darauf an, zu zeigen, wie vielschichtig räumliches Handeln gefasst werden muss. Deleuze und Guattari setzen dabei an, indem sie räumliches Handeln als beständiges Wechselspiel aus Deterritorialisierung und Reterritorialisierung beschreiben: der glatte Raum kann zum gekerbten werden und umgekehrt der gekerbte zum glatten Raum (Schroer 2008b). Dabei wenden sich jedoch Deleuze und Guattari explizit von der Annahme ab, dass das Wechselspiel von glattem und gekerbtem Raum binär kodiert werden könnte. Denn einerseits kommt es auf die Nutzung des Raumes an, die stets subjektiv bestimmt, ob es sich bei einem jeweiligen Handlungsraum um einen glatten oder einen gekerbten Raum handelt. Andererseits befindet sich Raum selbst ständig im Wandel. Die handelnde Umgangsform mit Raum, die Deleuze und Guattari dabei favorisieren, ist die Nomadologie, welche Raum nur temporär als festgelegt betrachtet und der Vielfalt der Differenzen Rechnung trägt. „Freilich muß um die Vielheit und Vielfalt der Differenzen gerungen werden (…), denn Tatsache ist, dass sich die majoritäre Sicht auf die Dinge (die Perspektive der Sesshaften) herausgebildet hat, die mit einem minoritären Gegenmodell (der Perspektive der Nomaden) konfrontiert werden soll“ (ebd., S. 154).
Hier lassen sich Anschlüsse für das Prozessieren von Raum finden, denn Raum ist im Modell von Deleuze und Guattari Prozessieren. Zugleich finden wir interessanterweise auch Bezüge zu Simmels Vorstellung von Raum und sozialem Umgang mit Fremdheit. Denn 40
dort, wo es Deleuze und Guattari um die Verabschiedung von der binären Codierung geht, die ein Entweder/Oder in der Zuordnung bzw. Zugehörigkeit ausmachen, kann ‚der Fremde’ bei Simmel als Symbolfigur der prinzipiellen Unentschiedenheit gesehen werden. Er wird als Nomade entworfen, der zugleich zugehörig und nicht-zugehörig ist, denn sein Bleiben ist ungewiss, sein Fortgehen aber auch. Damit behält sich der Fremde den Status des Objektiven, der die Regeln einer Gruppe oder Gesellschaft radikal in Frage stellen kann. Mit Deleuze und Guattari muss hier von zwei gegensätzlichen Kräften gesprochen werden: die einen halten an räumlichen Bestimmungen über Teilhabe- und Zugangsrechte fest und versuchen damit das Fremde, das Nomadische, das Ungewisse zu beschränken; die anderen stehen symbolisch für die Infragestellung des Festgeschriebenen. Hiermit sind nun auch Anschlussmöglichkeiten an handlungstheoretische Konzepte von Raum gegeben – etwa mit Bezug auf das Krisenmodell von Oevermann (1991). Eine Kritik an der hier thematischen Ermöglichungsstruktur ist nun, dass Deleuze und Guattari die befreiende Wirkung deterritorialisierender Kräfte idealisieren. Gregory (2002) spricht hier von einer Verkehrung der nomadischen Kriegsmaschine in eine „völkerpsychologische Zuschreibungsmaschine“, die sich „mit dem Bilderschatz von Indianerbüchern auflädt“ (zit. n. Keller 2005, 48). Für unseren Zusammenhang ist jedoch nun die Frage wichtig, welchen Ertrag wir aus den beiden recht unterschiedlichen Konzepten zur Dezentralisierung von Raum gewinnen können. Dabei wurden für Lacan Bezugspunkte herausgearbeitet, mit denen eine räumlich zu denkende dezentrierte Subjektstruktur als Wechselspiel von Imaginärem, Symbolischem und Realem zu denken ist. Die hierin liegenden Anschlussmöglichkeiten in Bezug auf Lefèbvre, Foucault und Bourdieu wurden deutlich gemacht, mit dem Hinweis darauf, dass es sich um Anschlüsse begrenzter Reichweite handelt. Zwar lässt sich an Lacan die Bedeutung der Position extrapolieren und ins Verhältnis zu den Imaginationen und ihren (symbolischen) Einlösungen setzen, aber die Kritik an dem psychoanalytischen Modell kreist um dessen letztendliche Verpflichtung auf die bürgerliche Gesellschaft, die sozusagen blinde Flecken erzeugt, wenn es um die Auseinandersetzung mit der symbolischen Ordnung geht. Die sich auf Lacan beziehenden Kritiken, die auch von Deleuze und Guattari aufgegriffen werden, verweisen darauf, dass in dem hier angelegten Modell eigentlich immer schon vorweggenommen wird, wie die symbolische Ordnung auszusehen hat. Dennoch darf der Ertrag, der aus dem Lacanschen Modell für diese Arbeit gezogen werden kann, nicht unterschätzt werden. So liegt gerade in der Unterscheidung von Imaginärem, Symbolischem und Realem eine Differenzierung vor, die auf der Ebene des Subjekts die Dynamik von (Re-)Territorialisierung und Deterritorialisierung, wie sie Deleuze und Guattari für ihr makrosozial skizziertes Raummodell erfassen, mit denkbar macht. Materialistisch gewendet finden wir eine ähnliche Konstruktion auch bei Lefèbvre. Die Begriffe des Imaginären, Symbolischen und Realen werden in dieser Arbeit aufgenommen, sofern sie das räumliche Handeln als Spannungsverhältnis deutlich machen, in denen Raum in der Spannung von Inklusion und Exklusion verhandelt wird. Dabei wird jedoch Raum nicht nur als materialisierte Abbildung des Sozialen (Lefèbvre) gesehen, sondern auch als imaginierte Einheitsvorstellung, die symbolisch zur realen von Widersprüchen geprägten Differenz vermittelt werden muss. In diesem Zusammenhang ist nun auch das Modell der Nomadologie von Deleuze und Guattari zu diskutieren. Ihr Verweis auf die prinzipielle Zeitlichkeit des Territorialen kann 41
verbunden werden mit der Vorstellung der Einlagerung des Räumlichen in die Spannung von Transformation und Reproduktion. Gleichermaßen macht ihr Blick auf das Räumliche die Einbeziehung weiterer Sinnebenen eines dezentrierten Raumverständnisses möglich: denn indem räumliches Handeln mehrdimensional und dynamisch entworfen wird – als Prozess von Teilhabe und Entfernung/Verweigerung sowie dem Wechsel von Teilhabemöglichkeiten in Form eines Wechsels der Raumbezüge – wird auf ein kreatives Potenzial im Umgang mit Raum angespielt, das bei Lacan (noch) nicht vorfindbar ist. So steht in seinem Raumkonzept der Ideal-Raum (bei Lacan: das imaginäre Selbst) für ein Verkennen der eigenen Position (das reale Selbst). Deleuze und Guattari lassen sich in diesem Zusammenhang als das dezentrierte Konzept weiterdenkend und um eine kreative Instanz bereichernde Theoretiker verstehen. Denn ihre Vorstellung des Wechsels von Deterritorialisierung und Reterritorialisierung verweist auf die Produktivität des Schaffens von Imaginationen im Sinne eines handelnden Umgangs mit der Tatsache, dass das Räumliche selbst fragil und damit beständig von Einheitsverlust bedroht ist.
2.5 Erste Zwischenbilanz: Aspekte eines raumanalytischen Modells Bewusst habe ich bei der Auswahl der Ansätze zur kulturanalytischen Bestimmung von Raum vor allem solche gewählt, die mit einer strukturalistischen Perspektive vereinbar sind, da hier der Bruch mit substanzialistischen Vorstellungen von Raum (vgl. Günzel 2007) sehr weitreichend vollzogen ist. Damit erhalten wir eine ‚topologische‘ Raumvorstellung (ebd., S. 17), die es möglich macht, Raum nicht nur als dreidimensionales dingliches Gebilde zu fassen, sondern als zueinander relationierte Elemente. Jedoch: obwohl ich mich bislang auf eine Linie der Thematisierung von Raum konzentriert habe, fällt auf, dass die hier zugrunde liegenden Theorieansätze in sich sehr komplex sind. Gleichzeitig wurde hier nur eine Auswahl theoretischer Ansätze diskutiert, die in vielerlei Hinsicht erweitert werden können. So wäre es interessant, an dieser Stelle Netzwerktheorien stärker einzubeziehen und besonders vor dem Hintergrund der räumlichen Bewegungen von Raum zu Raum zu diskutieren. Diese Linie verfolgen etwa Deleuze und Guattari, wenn sie von unterschiedlichen Fluchtlinien des Raumes sprechen – und sie wird in Netzwerktheorien weiterverfolgt. Auch wurde deutlich, dass der Aspekt der Fremdheit den Blick auf Raum schärfen kann. Denn in zentralen hier vorgestellten Theoriebezügen steht das Fremde für das Andere, das dennoch Teil des Raumes ist. Dies zeigt sich bei Simmel in der Annahme der Ungewissheit über den Zugehörigkeitsstatus ‚des’ Fremden, bei Bourdieu im Streben nach Distinktion, bei Foucault in der Annahme von „anderen Räumen“, die das Andere der Gesellschaft darstellen und bei Deleuze und Guattari wieder in der Annahme von Ungewissheit, die durch die Omnipräsenz des Nomadischen gegeben ist. Diese Aspekte können hier jedoch nicht weiter vertieft werden, sondern es soll im Folgenden darum gehen, eine erste Systematisierung der vorgestellten Theoriebezüge zu versuchen. Diese Systematisierung könnte sich nun daran orientieren, wie stark die Theorien jeweils unterschiedliche Ebenen sozialen Handelns ‚bedienen‘. Hier wäre mithin eine andere Relationierung der Theorien als die der zunehmenden Dynamisierung von Raum nachvollziehbarer gewesen und es hätten eher subjekttheoretische und eher machttheoretische sowie übergreifende Theorien unterschieden werden müssen. Diese Unterscheidung fällt jedoch 42
aus meiner Perspektive nicht leicht, weil die Theorien, die hier vorgestellt wurden, insgesamt ein Modell vorschlagen, das die Wirksamkeit sozialer Kontexte auf das Handeln als Grundannahme behauptet. So sind etwa die Theorien von Bourdieu und Foucault zwar im Kern machttheoretisch und negieren die Handlungs- und Transformationsspielräume des einzelnen Subjekts in einer Art und Weise wie etwa Oevermann und Honneth sie annehmen. Umgekehrt ist auch in den letztgenannten Theoriemodellen von Einbettungszusammenhängen die Rede, wenn etwa bei Oevermann Handeln mit einem Modell „russischer Puppen“ verglichen wird (Oevermann 1991, S. 282) oder Generationsbeziehungen von historischen Generationslagerungen unterschieden werden – die einen betreffen die Aushandlungen zwischen zwei Generationen, die anderen die die historisch-gesellschaftlichen Bezüge, die Generationen voneinander unterscheiden (Oevermann 2001). Und bei Honneth deutet sich in der These der symbolischen Gewalt der Wertschätzung (Honneth 1994, S. 203) die Annahme des Wirksamwerdens gesellschaftlicher Eingebundenheit von Verteilungskämpfen um individuelle Anerkennung an, ebenso wie die Bezüge zu normativen Anerkennungsdimensionen deren gesellschaftliche Einbettung annehmen lässt. Löw schließlich bringt eine Handlungsdimension in das Foucaultsche Raumkonzept hinein, wenn sie basierend auf den Annahmen zur Strukturiertheit des Handelns durch Raum Handlungsdimensionen wie spacing und Syntheseleistung entwickelt, die räumliches Handeln auch aus der Perspektive der Praktiken und Interaktionen nachvollziehbar macht. Und Lacan entwirft das Subjekt als dezentriert und damit ein Strukturmodell, das – bei aller Kritik, die aus der Perspektive von Deleuze und Guattari daran geübt wird – dennoch in der Lesart dieser Arbeit als subjektspezifische Grundlegung der dezentrierten und rhisomartigen Grundstruktur des Handelns verstanden werden kann, das Deleuze und Guattari selbst ihrem Raummodell zugrunde legen. Wir haben es also bei den raumbezogenen Theorien auf den unterschiedlichen Ebenen immer mit solchen zu tun, die eher subjekt- und handlungsbezogen argumentieren und mit anderen, die eher machttheoretisch zu verorten sind. Diese Feststellung muss in dieser Arbeit jedoch auf einem riskanten Niveau verbleiben und kann nicht weiter diskutiert werden. Vielmehr sollen die Aggregierungsebenen, die jeweils zentral fokussiert werden und die Argumentationslinien der Theorien insgesamt komplementär genutzt werden, indem am Ende der Arbeit die raumbezogenen Erkenntnisse auf zentrale Theorielinien, die hier abgeleitet wurden, bezogen werden. In einem ersten heuristischen Entwurf tritt an die Stelle eines ausführlichen Verlgeichs nunmehr die Frage nach den zentralen Fokussierungslinien, die als Referenzpunkt der vorgestellten Theorien stehen. Diese sind folgendermaßen zu bestimmen: Wie lässt sich der Begriff von Raum allgemein fassen, um einerseits offen zu sein für die Breite der Theoriebezüge, andererseits für die der Arbeit zugrunde liegende Frage nach der Bedeutung von Raum in der Jugendphase anschlussfähig zu sein? Die hier vorgestellten Theoriebezüge verweisen auf das Wirksamwerden räumlicher Strukturen auf unterschiedlichen Sinnebenen sozialer Wirklichkeit. Darauf wurde im vorliegenden Kapitel immer wieder hingewiesen. Systematisierend wäre hier nun zu fragen, welche Raumvorstellungen auf den unterschiedlichen Ebenen wirksam werden (1)? Schließlich wurde hier durchgängig auf räumliche Prozessvariablen verwiesen, die auf der Grundlage eines bestimmbaren Raumbegriffes auf den unterschiedlichen Ebenen der sozialen Wirklichkeit wirksam werden (2). Mit einer Bündelung dieser Variablen soll das Kapitel zur kulturtheoretischen Bestimmung von Raum abgeschlossen werden. 43
(1) Zur Begriffsbestimmung von Raum und der Bedeutung der unterschiedlichen Aggregierungsebenen des Sozialen: Anfangs haben wir von Raum mit Bezug auf Konzepte und Modelle gesprochen und dabei den euklidischen Raumbegriff und das Behälterraumkonzept von einem Konzept des Bedeutungsverlustes von Raum unterschieden. Erstere, so ging aus der knappen Skizzierung des Raumbegriffes hervor, sind von einem absolutistischen Raumverständnis geprägt, letztere sehen im ‚Verlust‘ räumlicher Fixierung einen Verlust von Raum überhaupt. Als Alternative zu diesen beiden Raumkonzepten lässt sich ein relationales Konzept von Raum entwickeln, das um die Raumsoziologie von Martina Löw (2001) zentriert, ist und Raum als „Anordnungsstruktur von Menschen und Dingen/Lebewesen an Orten“ fasst. Löw bezieht dabei die hier vorgestellten Theorien zum Teil mit ein und legt von Simmel bis Foucault als roten Faden das ordnende Moment durch das Verständnis von Raum. Ihre handlungstheoretische Wendung der Bezugnahme auf Foucault besteht darin, dass Raum durch Platzierungs- und Lagerungsbeziehungen bestimmt ist, die handelnd – im interdependenten Verhältnis von spacing und Syntheseleistung – erschlossen werden. Mit ihrem offenen Raumbegriff integriert Löw daher eine Vielzahl von Ansätzen, ohne dass der Begriff seine strukturierende Basis verliert. Die Anschlussfähigkeit für die vorliegende Arbeit ergibt sich dabei vor allem in Bezug auf die Herstellung einer symbolischen Ordnung im räumlichen Handeln. Jedoch wird im vorliegenden Band der von Löw eher gegenständlich verwendete Begriff des Ortes mit Bezug auf dezentrierte Raumkonzepte durch den der Position, die eine je spezifische Perspektivität der handelnden Instanz bedingt, abgelöst. Die Annahme eines dynamischen Raumbegriffs, eines Begriffs also, der durch Handeln bestimmt ist, wird ebenfalls durch den Verweis auf Gegenräume und Umgestaltungsmöglichkeiten gesteigert (vgl. Schroer 2008b). Eine derartige räumliche Dynamik kann dabei in den Begriffen des Imaginären, des Symbolischen und des Realen gefasst werden, die jedoch nicht auf die menschliche Psyche beschränkt werden. Vielmehr geht es darum, mit Bezug auf dieses Spannungsverhältnis die Perspektivität je spezifischer Positionen hinzuweisen, die Handlungsmöglichkeiten eröffnen und begrenzen. Der Ort, Gegenstände und Dinge sind in diesem Zusammenhang als Ausdrucksgestalten räumlicher Praxis zu betrachten. Das heißt, dass ihre Bedeutung für die Strukturierung von Raum nicht bedeutungslos ist, sondern im Gegenteil gerade in der Gestaltung des Ortes und der Verfügbarkeit über Gegenstände als Möglichkeitsraum des Handelns betrachtet wird. So beschreibt Tilmann Habermas (1996), dass etwa die Entstehung von privaten Räumen im Jugendalter es Jugendlichen erlaubt, Handlungen auszuprobieren, „ohne die wertende Reaktion der Eltern fürchten zu müssen“ (ebd. S. 169). Die Symbolisierungen der Abgrenzung (wie abweisende Schilder an der Tür oder überhaupt verschlossene Türen) kann damit als Symbolisierung und Ausdrucksgestalt der Ermöglichung eines Autonomiezuwachses gesehen werden. Auch bewegliche Objekte (z.B. Tagebücher) nehmen in diesem Zusammenhang eine Symbolstellung ein: als persönlicher Raum, nicht aber persönlicher Ort werden sie zu einem Möglichkeitsraum des Eigenen. Dass räumliches Handeln in der Jugendphase sich erst mit der Herausbildung der Jugend und der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit ermöglicht wurde, verweist zudem auf die Wandelbarkeit räumlichen Handelns – also auf die Dynamik des Raumes. Raum lässt sich schließlich als dynamisch begreifen, da er historisch-gesellschaftlich eingebettet ist und interaktiv handelnd entsteht. Er vermittelt eine temporäre Ordnungsstruktur, die durch spezifische Prozessvari-
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ablen reguliert wird und in der sich Anordnungsverhältnisse über die Lagerung im Raum und die Abgrenzungen von anderen Räumen niederschlagen. Zwischen der machtvollen Strukturierung von Raum und den darin entstehenden Möglichkeitsräumen der (Selbst-) Platzierung besteht dabei ein Vermittlungsbedarf, wie an der exemplarischen Diskussion der Theorien von Bourdieu und Oevermann (Kap. 2.2) deutlich wurde. Die Vermittlung von Struktur und Handlung ist dabei eine Aufgabenstellung, die bereits von Lévi-Strauss (1967) und Mead (1992) als Notwendigkeit zur Beschreibung von Lebenspraxis hervorgehoben wurde. Eine pragmatische Operationalisierung im Sinne eines heuristischen Entwurfs gelingt an dieser Stelle, indem für räumliches Handeln unterschiedliche Sinnebenen der sozialen Wirklichkeit unterschieden werden (vgl. Helsper/Hummrich/ Kramer 2010,Hummrich/Kramer 2011). Diese können auch als ineinander verschachteltes und in interdependentem Verhältnis stehende Strukturen begriffen werden. Analytisch werden hier mit Bezug auf den im folgenden Kapitel noch zu erwähnenden Bronfenbrenner (1981) folgende Ebenen unterschieden: Die systemische, makrostrukturelle Ebene, wie sie durch Gesellschaft, die hier wirksam werden nationalen Regelungen und gesetzlichen Ordnungen bestimmbar ist. Raumanalytisch geht es dabei um die Frage nach formalen Integrationsbestimmungen und Teilhaberechten. Diese Ebene des Systems betrifft jedoch auch (transnationale) räumliche Kontexte, die über die nationalen Grenzen hinausgehen, im Sinne von Vernetzungseffekten und globalen Zusammenschlüssen, die wiederum räumliche Gestalt annehmen (Bsp. internationaler Handel, internationale Zusammenschlüsse etwa gegen die „Achse des Bösen“ und auch transnationale Netzwerke, vgl. Stauf 2008). Als örtliche Ausdrucksgestalt werden nicht nur die territorialen Grenzen der Staaten gesehen, sondern auch die Vernetzungsstrategien und Handlungsorte, die gewählt werden, um der eigenen Platzierung Nachdruck zu verleihen. Die mesostrukturelle Ebene von Institution und Milieu, auf der grundlegende Habitusformationen ausgebildet werden, welche wiederum Teilhaberechte an Milieus und Institutionen eröffnen bzw. beschließen. Auf dieser Ebene geht es um kollektive Orientierungen und kulturelle Ordnungen, die mit Bezugnahme auf institutionelle und milieuspezifische Zusammenhänge hergestellt werden. Örtlich bringen Institutionen ihre Lagerung durch ihre Ansiedlung (im Zentrum oder außerhalb der Stadt, als Teil eines Industriegebietes oder in einem Wohnviertel) zum Ausdruck, Milieus verorten sich, trotz stadtplanerischer Bemühungen, oftmals durch räumliche Segregation voneinander. Die mikrostrukturelle Ebene der Interaktion, auf der einzelne Individuen oder kleine Gruppen von Individuen sich über Praktiken und Strukturbezüge verständigen. Damit rekurrieren sie einerseits auf gemeinsam geteilte Sinnbezüge, andererseits bringen sie hier individuelle Interessen und Bezüge ins Spiel, die ihrer Platzierung in einem Interaktionszusammenhang oder vor einem institutionellen bzw. milieuspezifischen Hintergrund wichtig erscheinen. Zur Untersuchung der örtlichen Ausdrucksgestalt von Interaktionen kann einerseits der Möglichkeitsraum, der durch den Handlungsort eröffnet wird, untersucht werden, andererseits die Positionierung der Körper zueinander. Die mikrostrukturelle Ebene des Individuums schließlich ist bestimmt durch Verarbeitungsformen räumlicher Erfahrungen, biografische Verläufe und sich hieran ausbildende Orientierungsmuster, sowie die Vermittlung individueller Platzierungsleistungen zu den
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Platzierungsvorstellungen. Als dinglich-örtliche Ausdrucksgestalt dient dabei die Positionierung in einem Handlungsraum, aber auch die Körperhaltung, die eingenommen wird. (2) Zu den Prozessvariablen von Raum: Von Simmel ausgehend über Lefèbvre, Bourdieu, Oevermann und Honneth, sowie Foucault und Löw bzw. Schroer bis hin zu Deleuze/Guattari und Lacan ist das gemeinsame Bestreben, Raum als dynamischen Prozess zu begreifen, der durch die Beziehung zwischen räumlichen Akteuren erschlossen werden kann. Einen Raum zu analysieren heißt damit, die Beziehungen zwischen den Personen, ihre Möglichkeiten zu handeln und ihre Einbindungen in Ordnungsvorstellungen und an Ordnungsstrukturen zu erschließen. Im Zuge der Ausdifferenzierung räumlichen Handelns und der analytischen Zugänglichkeit können neben den Dimensionen spacing und Syntheseleistung unterschiedliche Prozessvariablen räumlichen Handelns unterschieden werden, welche die Teilhabechancen und Platzierungsmöglichkeiten regulieren. Damit werden die von Löw herausgearbeiteten Dimensionen räumlichen Handelns ausdifferenziert und für die Analyse räumlichen Handelns auf unterschiedlichen Sinnebenen sozialer Wirklichkeit zugänglich gemacht. Die antinomische Fassung der Prozessvariablen, die dabei durchscheint, findet sich in den oben aufgeführten Theoriebezügen fast durchgängig wieder. Ob es nun um die prinzipielle Unterscheidung zwischen Innen und Außen oder glattem und gekerbtem Raum geht (wie bei Foucault und Deleuze/Guattari), oder die Ausdifferenzierung der Teilhabemöglichkeiten über Lagerungen (Foucault, Bourdieu) usw.: Zumeist werden Spannungsverhältnisse gefunden, die räumliches Handeln als Möglichkeit oder Abwehr von Teilhabe verstehen. Aus diesem Grund möchte ich hier die unterschiedlichen Prozessvariablen bündeln, die jedoch zugleich den temporären Status von Räumen nicht leugnen sollen. Vielmehr werden sie als selbst der Transformation zugänglich erachtet. Die hier ausgearbeiteten Variablen sind damit nicht als Bezugnahme auf einen Behälterraum zu verstehen, sondern als Ausdrucksgestalt räumlichen Ordnens. Dabei spielt die zeitliche Dimension in diesem Zusammenhang zunächst nur eine nachrangige Rolle – als Bewusstsein um die Möglichkeit von Transformation und Reproduktion im Raum und des Raumes selbst. Folgende Prozessvariablen werden dabei unterschieden: Inklusion und Exklusion stellen das zentrale, die anderen Variablen gewissermaßen umgebende, Gegensatzpaar dar. Zwischen diesen beiden Polen vollzieht sich die räumliche Anordnung als Eröffnung von Teilhabemöglichkeiten, Ausschluss oder Abgrenzung von Gegenräumen. Wir finden diese Dimension wie einen roten Faden in den hier aufgezeigten Theoriebezügen wieder. Simmel spricht dezidiert von Inklusion und Exklusion, wenn es um die Möglichkeit der Integration und die räumliche Ordnung geht. Bei Theoretikern wie Bourdieu wird gesellschaftliche Exklusion ähnlich wie in der Systemtheorie lange Zeit als ausgeschlossen betrachtet. Doch verweisen sie gerade unter Bezugnahme auf Elendsviertel auf die Möglichkeit internen Ausschlusses (Bourdieu 1998a, S. 527 ff., S. 647, Luhmann 2003, S. 85). Einen interessanten Ansatz bietet schließlich auch Foucault, der zeigt, dass ‚andere Räume’ in der Gesellschaft Bestätigungs- und Abgrenzungscharakter haben und vermögen gesellschaftliche Macht- und Wissensbestände zu reflektieren. Man könnte hier schließen, dass exklusive Räume Teilhabemöglichkeiten und -barrieren der Gesellschaft spiegeln. Hierin liegt mithin ein Grund dafür, dass Foucault ‚andere Räume‘ beschreibt, wenn er gesellschaftliche Macht- und Wissensstrukturen untersucht, Bourdieu die exklusiven Institutionen untersucht, die inkorporierte Herrschaftsverhältnisse sichtbar machen.
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In der Antinomie von Nähe und Distanz (bei Simmel: Entferntheit, 1992, S. 765) wird dabei rekonstruierbar, wie Platzierungsprozesse in einem Raum angesichts der dort herrschenden (An-) Ordnungsstruktur hergestellt werden. Dabei werden Nähe und Entferntheit als Einheit betrachtet (ebd.), die in jedem Verhältnis zwischen Menschen enthalten ist. Denn einerseits werden über Syntheseleistungen bezüglich eines anderen Menschen Annahmen generiert, die ihn als Einheit erscheinen lassen, d.h. als mehr als seine momentane Handlung. Andererseits gilt es diese Annahmen auszubalancieren mit dem Recht des Anderen auf das Eigene (vgl. ebd., S. 698). Dabei verweist Simmel darauf, dass in jeweils unterschiedlichen geschichtlichen, aber auch interaktiven, institutionellen und milieuspezifischen Kontexten der Umgang mit Nähe und Distanz unterschiedlich ausgestaltet sein kann (ebd., S. 699). Auch ist zu beachten, dass das Verhältnis von Nähe und Distanz oftmals über Einbindung bzw. Ent-Fremdung prozessiert wird. Die Zuschreibung von Fremdheit, die auch eine Selbstzuschreibung beinhalten kann, wird hier mit Ent-Fremdung12 bezeichnet. EntFremdung wird dabei von Simmel als Prozess gefasst, der dann eintritt, wenn in einer „Beziehung ihr Einzigkeitsgefühl entschwindet“ (ebd., S. 769). In Bezug auf die Frage nach räumlichen (An-) Ordnungsstrukturen wäre die Spannung von Bindung und Entfremdung jedoch als doppelseitiger Prozess zu begreifen. Einbindung, der darauf verweist, dass Räume immer gewisse Spielräume (Bollnow 2004) zur Verfügung stellen, die (autonom) genutzt werden können, um die mit dem „Nahverhältnis“ einhergehenden Festgelegtheiten wie aus der Vogelperspektive zu erleben und zu behandeln (Simmel 1992, S. 767), oder auch: die Eingebundenheit in Kontexte zu reflektieren13. Die Betrachtung von Prozessen der Ent-Fremdung beinhaltet dabei immer die Möglichkeit, dass Raumstrukturen auch verändert werden (vgl. Löw 2001, S. 272). Letzten Endes geht es hierbei auch um die Frage nach der Platzierung im Raum und der Lagerung der zu platzierenden Elemente zueinander: zu wem oder was wird Nähe hergestellt, wovon wird sich distanziert? Hierbei geht es, um mit Foucault zu sprechen, um die Lagerungsbeziehungen, die in Räumen hergestellt werden. Einheit und Differenz als weiteres Spannungsverhältnis beschreibt den Widerspruch gesellschaftlicher, institutioneller, milieuspezifischer, interaktiver und individueller Homologiekonstruktionen auf der einen Seite und der hierin eingelagerten faktischen Heterogenität. Bei Bourdieu finden wir derartige Homologiekonstruktionen in Annahmen zum com12
Der Entfremdungsbegriff wird hier nicht wie bei Adorno/Horkheimer (1988) gedacht, die in der hegelmarxschen Tradition mit Entfremdung nach den Kosten der Durchrationalisierung der Gesellschaft fragen. Vielmehr geht es hier um die Abgrenzung von und Herauslösung aus (An-) Ordnungsstrukturen. 13 Ein Beispiel für räumliches Handeln in der Spannung von Inklusion und Exklusion gibt der Roman „Das Schloss“ von Franz Kafka. Hier kommt der Landvermesser K. als Fremder in eine dörfliche Gemeinschaft, die zu einem Schloss gehört. Die Bewohner begegnen ihm mit Misstrauen und schließen ihn von ihrem gemeinschaftlichen Leben aus, obwohl K. erklärt, er sei der vom Schloss bestellte Landvermesser. Ob die Bewohner des Dorfes dies glauben und darüber informiert sind, dass der Landvermesser kommen soll, bleibt unklar. K. versucht mehrfach in das Schloss zu gelangen, der Weg dorthin gestaltet sich jedoch als mühsame und durch zahlreiche Verwaltungsakte geregelte Prozedur, der er nicht Herr wird. Im Dorf einquartiert, gehört er dennoch nicht dazu, denn er teilt die Normen und Regeln der Dorfbewohner nicht. Von der Wirtin seines Zimmers danach gefragt, warum er sich nicht anpasse, antwortet er: „Freilich, unwissend bin ich […], aber es hat doch auch den Vorteil, daß der Unwissende mehr wagt und deshalb will ich die Unwissenheit und ihre gewiß schlimmen Folgen gerne noch ein Weilchen tragen“ (Kafka 1961, S. 84). Damit jedoch rüttelt K. an den Grundfesten der Gemeinschaft. Seine Fremdheit erspart ihm zwar „viel Lüge und Heimlichtuerei, aber es machte ihn auch fast wehrlos, benachteiligte ihn jedenfalls im Kampf“ (ebd., S. 242). Damit wird deutlich: die Platzierung des Landvermessers als Fremder ist mit einer beständigen Exklusionsbedrohung verbunden, wobei ihm zentrale Teilhaberechte versagt werden.
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mon sense, der die Struktur des Feldes bestimmt und z.B. von Mandatsträgern des Staates/der Institution mittels symbolischer Gewalt vollzogen und kollektiv verbürgt wird (Bourdieu 1985). Die andere Seite der Heterogenität und Differenz unterläuft die legitimen Gestaltungsprinzipien des durch Kapitalverteilung bestimmten sozialen Feldes. Hierbei wird die doxa, als die Idee von der Natürlichkeit der herrschenden Ordnung, als Legitimationsprinzip nicht mehr fraglos akzeptiert. Die symbolische Stärke der miteinander kämpfenden Parteien ist dabei allerdings abhängig von „deren jeweiliger Position im Spiel“ (ebd., S. 27f.). Gerade auch in den Konzepten, in denen die Dynamik von Raum betont wird, findet eine intensive Auseinandersetzung mit der Antinomie von Einheit und Differenz statt. So werden in den Ansätzen von Foucault und Löw unterschiedliche Räume einander gegenübergestellt und deren Differenz zueinander bedingt die Einheit, die im eigenen Raum behauptet wird. Mit dieser Dimension treten auch solche Lagerungsbeziehungen auf den Plan, die Ordnungsstrukturen aufweisen, die selbst in Distanz zu den eigenen Ordnungsstrukturen gesetzt werden14. Unter der Annahme, dass „ein Raum immer schon ein Raum in Räumen“ (Baecker 2005, S. 81) ist, muss auch angenommen werden, dass Räume zueinander relationiert werden und damit selbst Abgrenzungen bedingen. In diesem Zusammenhang zeigen die Positionen, die deutlich auf die Dynamik der räumlichen Ordnungen hinweisen (vgl. Deleuze/Guattari, Lacan, Foucault) darauf, dass Einheit und Differenz in ständigem Wechselspiel stehen, wobei der strukturierte Raum verkennende und auch produktive Implikationen birgt, denn er verkennt die faktische Existenz von Differenz, ermöglicht aber auch Bezogenheit im Handeln. Schließlich wurde die Antinomie von Anerkennung und Missachtung besonders mit Blick auf die handlungstheoretischen Konzeptionen von Bourdieu und Honneth mit Bezügen auf Oevermann und Mead entfaltet. Anerkennung wurde in diesem Zusammenhang nicht einfach als positive Wertschätzung und Missachtung als Ablehnung gedacht, sondern mit Bezug auf Honneth (1994) wurden die drei unterschiedlichen Formen der Anerkennung ausdifferenziert: emotionale, moralische und individuelle Anerkennung sind insbesondere auf der Ebene der Interaktion zentralthematisch, wenn es um die Ausgestaltung intersubjektiver Beziehungen geht. Aber auch institutionell und milieubezogen (und auch auf der gesellschaftlichen und transnationalen Handlungsebene) können Anerkennungsstrukturen wirksam werden – etwa wenn es um die Teilhabebedingungen geht, die zum Zweck der Inklusion erfüllt sein müssen bzw. um die Teilhabebarrieren, die zu Exklusion führen. So impliziert rechtliche Anerkennung (als Mitglied einer Gesellschaft beispielsweise) eine Ermöglichung der Teilhabe an der Gesellschaft als Rechtssystem. Institutionell und milieuspezifisch werden zudem Entwürfe gelungener Teilhabe wirksam, die zur Anpassungsherausforderung für Akteure werden, an denen sie jedoch auch scheitern können, so dass Missachtungsrisiken wirksam werden. Individuell schreiben sich Erfahrungen von Anerkennung und Missachtung in das Subjekt ein, das handelnd mit den Anerkennungsherausforderungen und Missachtungsrisiken umgehen muss. Schließlich ist festzuhalten, dass Anerkennung immer mit Bezug auf den Status einhergeht, ein(e) Andere(r) zu sein. Dies impliziert in sich eine Form der Missachtung (vgl. Mecheril 2005), die insbesondere im 14
Als Beispiel kann man hier politische Gegenhorizonte nennen, deren Ordnungsstruktur einander entgegengesetzt betrachtet werden. So wurde das Feindbild des Kommunismus mit dem Zerfall der russischen Föderation durch den Islam ersetzt. Der Islam ist der neue Feind (Hamburger 2006), der jedoch dazu dient, die Ordnungsstruktur der westlichen Staaten zu bestätigen und zu manifestieren.
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Fall des Wirksamwerdens sozialer Ungleichheit auftreten kann. Denn über die Zuweisung besonderer Teilnahmebedingungen und -möglichkeiten erfolgen zugleich Zuschreibungen in Bezug auf Teilnahmefähigkeiten, die ausgrenzend sein können. Abschließend noch zwei Bemerkungen zu den hier angesprochenen Theoriebezügen: erstens verweist die das räumliche Handeln umklammernde Spannung von Transformation und Reproduktion, die ja nun nicht als zentralthematisch in die vorliegende Bilanzierung aufgenommen wurde, darauf, dass Räume prinzipiell veränderlich sind. Ebenso sind die hier entfalteten Spannungen in ihrer inhaltlichen Füllung veränderlich. Was zum Beispiel die Vorstellung von Einheit und Differenz bedingt, welche Art intersubjektive Beziehungen Anerkennung erfahren, welche Milieus einander nahestehen oder welche Teilhabebedingungen in einer Institution herrschen: diese Fragen unterliegen prinzipiell der Zeitlichkeit und der raumzeitlichen Relativität. Jedoch, darauf verweisen Studien zu sozialer Ungleichheit, sind gerade die Kämpfe um die symbolische Ordnung auch als Kämpfe um den Erhalt des jeweiligen Ordnungssystems zu verstehen, die analytisch zugänglich gemacht werden müssen. Hieraus folgt für den vorliegende n Band die Konsequenz, dass er im Kern die oben beschriebenen Prozesse in den Blick nimmt und auf die Zeitlichkeit des Räumlichen eher kursorisch Bezug nimmt. Zweitens wurde besonders mit Bezug auf Lacan und Lefèbvre darauf verwiesen, dass räumliches Handeln dezentriert ist, also in der Spannung der Vorstellungen von Raum, der realen Position und Perspektive und deren symbolischer Vermittlung stattfindet. Die Auseinandersetzung darum, ob hier dem psychoanalytischen Modell oder dem marxistisch-materialistischen Recht zu geben sei, soll an dieser Stelle nicht geführt werden. Für die vorliegende Arbeit ist es vielmehr von Interesse zwischen den idealen Entwürfen, ihrer symbolischen Vermittlung und den widersprüchlich strukturierten Positionen in ihrer räumlichen Bedeutung zu unterscheiden. Damit kann eine binäre Strukturierung des räumlichen Handelns, wie sie mit den Prozessvariablen umschrieben wurde, überwunden werden. Räumliches Handeln ist weniger nur durch die Prozessvariablen bestimmt, die etwa den/die Andere/n anerkennen oder missachten, sich in Einheit und Nähe oder Differenz und Distanz zu ihm/ihr positionieren, sondern ist reguliert durch einen Bezug auf eine einbettende symbolische Ordnung. Dies kann mit Bezug auf die Auseinandersetzung von Thomas Bedorf (2004) zu Intersubjektivität deutlich gemacht werden: Im Fall von dyadischen (intersubjektiven) Beziehungen zwischen Selbst und Anderem geht es immer auch um eine Relationerung zu einem Dritten – zu dem, was Lacan mit symbolischer Ordnung beschreibt. Die Auseinandersetzung findet somit nicht nur zwischen Selbst und Anderem statt, sondern mit Bezug zu normativierenden Funktionen (Lacan 1996) oder mit Bezug auf Simmel und seinen Verweis auf die Regeln und Normen, die für Interaktionspartner wirksam werden (Simmel 1992).
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3. Raumvorstellungen im Prozess des Aufwachsens
Ebenso vielfältig wie die sozial- und kulturwissenschaftlichen Ausführungen zu Raum sind die zur Bedeutung von Raum im Prozess des Aufwachsens. In ihnen spiegeln sich die Raumvorstellungen im Spannungsfeld von euklidischem und Behälterraumkonzept auf der einen Seite, relativistischen Positionen auf der anderen, auch wider. Im Folgenden geht es nun darum, einen Überblick über Studien zu Raum zu geben, die den Prozess des Aufwachsens in den Blick nehmen. Dabei stehen die unterschiedlichen Linien, die in den jeweiligen Ansätzen verfolgt werden, im Mittelpunkt. Nicht das vollständige Zusammentragen der Studien zu Raum im Prozess des Aufwachsens oder Verortung der erziehungswissenschaftlichen und sozialisationstheoretischen Ansätze im Spektrum der oben entfalteten Modelle steht im Zentrum dieser Betrachtung, sondern vielmehr geht es um eine Auseinandersetzung mit dem Raumdiskurs zum Aufwachsen in seinen unterschiedlichen Dimensionen, die sich als thematische Zuspitzung des Raumbezugs verstehen lässt. Dabei werden hier zwar auch Konzepte vorgestellt, die sich nicht dezidiert auf die Jugendphase beziehen, sonder allgemein auf den Prozess des Aufwachsens gerichtet sind, von dem die Jugendphase ein Teil ist. Das Kapitel mündet jedoch in eine Bilanzierung, die nach der Bedeutung des Raumes für die Lebensphase Jugend fragt und diesbezüglich das oben skizzierte heuristische Modell weiterentwickelt. Dabei treten zwei Fragen auf, die in der vorliegenden Vorbemerkung abgehandelt werden: (1) Mit welchen Begriffen lässt sich die Jugendphase in der vorliegenden Arbeit angemessen beschreiben? (2) Wie kann angemessen mit damit umgegangen werden, dass mit Jugend nicht eine gesellschaftliche Struktur in den Blick genommen wird, sondern gerade mit der Rede vom ‚Prozess‘ des Aufwachsens oder der ‚Phase‘ auch Zeitlichkeit zentral thematisch wird? (1) King (2004) sowie King und Koller (2006, 2009) grenzen sich in ihren Arbeiten dezidiert von dem Begriff „Jugend“ ab und verwenden den der „Adoleszenz“, „weil er vom Alltagsverständnis über Altersgruppen deutlicher abgegrenzt ist“ (ebd., S.9). Beide Begriffe – Jugend und Adoleszenz – stehen jedoch in unterschiedlichen Theorietraditionen: ‚Adoleszenz‘ wird eher in pädagogisch-psychologischen (Gerhard 2005, Hofer 2006, Reinders 2008) und psychoanalytischen (vgl. Blos 1978, Erdheim 1982, Oevermann 2001a, 2004) Untersuchungen als Begriff benutzt. Hier geht es um Verselbständigungsprozesse, Autonomieentwicklung und die Auseinandersetzung mit dem Individuationsdiskurs; der Jugendbegriff hingegen steht eher in einer soziologischen Theorietradition (vgl. Schäfers/Scherr 2005, Breyvogel 1998), die Jugend im Kontext der gesellschaftlichen Ordnung von Altersgruppen, der Auswirkungen von gesellschaftlichen Bedingungen und der jugendkulturellen Verortungsprozesse in den Blick nimmt. Dieser letztere Fokus scheint daher für die vorliegende Arbeit der angemessenere. Jedoch bleibt es nicht aus, dass auf Arbeiten rekurriert wird, die den Begriff der ‚Adoleszenz‘ benutzen. Diese wird dann gegebenenfalls auch übernommen, selbst wenn ansonsten der Begriff ‚Jugend‘ gebraucht wird.
51 M. Hummrich, Jugend und Raum, DOI 10.1007/978-3-531-93224-8_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
(2) Wenn mit Jugend und der hier auf den Plan gerufenen soziologischen Theorietradition also die gesellschaftliche Ordnung immer schon thematisiert wird, so muss im Grunde nicht nur die räumliche Ordnungsstruktur, sondern auch der Begriff der Verzeitlichung sozialen Handelns (Elias 1994) in den Blick genommen werden. Das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist (wie im zweiten Kapitel bereits ausgeführt) einerseits nicht, die Dimension der Zeit ebenso ausdifferenziert wie die des Raumes zu betrachten. Dies wird mithin in zahlreichen Arbeiten bereits getan, so dass der Zeit gegenüber dem Raum lange Zeit eine vorrangige Beachtung geschenkt wurde (vgl. Schroer 2006, S. 17, Bollnow 2004, S. 19, Foucault 1980, S. 70). Allerdings muss auch der Bedeutung von Transformation in der Lebensphase Jugend (Krüger 1993, Küger/Grunert 2002) Rechnung getragen werden. Raum soll hier nicht als Gegensatz zum dynamischen Zeitbegriff verstanden werden. Denn gerade die Anforderung an Jugend, dass in dieser Phase Neues entstehen soll und das kreative Handlungspotenzial hier in besonderer Weise wirksam werde, legt oftmals scheinbar eher eine zeitliche Fokussierung auf Jugend nahe als eine räumliche. Ein zentrales Missverständnis, dem so gelagerte Perspektivnahmen aufsitzen, ist, dass Raum als statisch begriffen wird: „Während Zeit für das Mobile, Dynamische, Progressive, für Veränderung, Wandel und Geschichte steht, steht der Raum für Immobilität, Stagnation und das Reaktionäre, für Stillstand, Starre und Festigkeit“ (Schroer 2006, S. 21). Bauriedel (2007) führt in Bezugnahme auf Massey, die diese Perspektive kritisiert, aus: „Die Zeit schreitet fort, während der Raum nur herumlungert.“ Gerade die Fokussierung auf einen dynamischen Raumbegriffs bringt nun das Problem mit sich, dass Wandel thematisch wird – und Wandel ist eben auch zeitlich bestimmt. Jedoch liegt in der Relationierung von Raum und Zeit eine Grenze der Arbeit: Zeit geht zwar als Zeit-Räumlichkeit (Mecheril/Hoffarth 2009) in die Konzeption der vorliegenden Habilitationsstudie ein, insofern Jugend und der Prozess des Aufwachsens hier zentral thematisch sind und damit Jugend als „Raum des Möglichen und NichtMöglichen“ thematisiert wird (ebd., S. 221). Jedoch steht eine Ausdifferenzierung des Zeitbegriffs, indem etwa historische, biografische, soziale usw. Zeit unterschieden und auf die Lebensphase Jugend bezogen wird, hier nicht zur Debatte. Vielmehr folge ich im Weiteren zentral der Orientierung an einem dynamischen Raumbegriff, der Raum als handelnd strukturiert und damit im zeitlichen Prozess auch als wandelbar fasst. An dieser Stelle erlaube ich mir strukturtheoretisch zu argumentieren und darauf zu verweisen, dass es in der vorliegenden Arbeit um die Positionalität (Oevermann 2008a) Jugendlicher geht, die sich vor dem Hintergrund familialer und schulischer Handlungsräume verorten. Selbstverständlich wird dabei nicht negiert, dass diese Positionalität im zeitlichen Verlauf biografisch entstanden ist und in Zukunft auch weiterhin wandelbar bleibt. Jedoch interessiert hier vorrangig die zeitlich geronnene Ausdrucksgestalt von Zugehörigkeit, die sich eben in Positionierungen und Verhältnisbestimmungen – so die zentrale These der Arbeit – niederschlägt. Das Kapitel gliedert sich wie folgt: zunächst werden Raumanalysen zwischen Territorialisierung und Biografisierung nachgezeichnet und damit die zunehmende Dynamisierung von Raumkonzepten entlang exemplarischer Studien in den Blick genommen. Im zweiten Teil des vorliegenden Kapitels geht es um die exemplarische Auseinandersetzung mit Studien, die auf die sich auf die oben genannte relationale Perspektive von Raum beziehen (vgl. Kap. 2), allerdings zumeist ohne einen explizierten Raumbegriff zu verwenden. In diesem Zusammenhang ist auch die zentrale Bezugsstudie dieser Arbeit zu diskutieren.
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3.1 Raumanalysen zwischen Territorialisierung und Biografisierung 3.1.1 Raum als Ort des Aufwachsens Ein erster Komplex, der der erziehungswissenschaftlichen Beschäftigung mit Raum zugeordnet werden kann, kreist um die Frage nach der Entwicklung im euklidischen Raum und dessen Aneignung. Studien hierzu untersuchen Raum vor allem in seiner materiellen Beschaffenheit und arbeiten die Wirksamkeit von Raum auf die Entwicklung des Menschen heraus. Hierzu zählt etwa Rousseaus Emile (Rousseau 1998). Rousseau arbeitet in Auseinandersetzung mit den konträren Lebensumwelten des Kindes – Zivilisation und Natur – heraus, dass Raum eine prägende Struktur besitzt und darum für die Bildungsprozesse von hoher Bedeutung ist. Wenn Rousseau etwa die Zivilisation als Behinderung des natürlichen Aufwachsens beschreibt und dieser Zivilisation eine natürliche Umgebung der Entfaltungskonzepte gegenüberstellt, so liegt hier eine Vorstellung zugrunde, die in der räumlichen Beschaffenheit spezifische Ermöglichungsstrukturen erkennt. Hierauf beziehen sich auch reformpädagogische Konzepte des beginnenden 20. Jahrhunderts. So implizieren die Entwürfe zur „häuslichen Schule“ (Key 2000), zur Waldorf- und Montessoripädagogik und nicht zuletzt die Landerziehungsbewegung zum Teil sehr detaillierte Ausarbeitungen zur Schularchitektur im Allgemeinen, der Anordnung und Lagerung der Schüler im Besonderen (Yamana 1996, Gibson 2007, Oelkers 2005). Auch neuere reformpädagogische Konzepte, wie etwa das der Laborschule Bielefeld (von Hentig 2003) setzen auf den positiven Einfluss der ‚richtigen‘ Arbeitsatmosphäre, für die die architektonischen Gegebenheiten grundlegend sind. Ansätze einer sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Raum finden sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in den Anfängen professioneller Sozialarbeit. Als beispielhaft wären hier etwa die „Hull House Maps and Papers“ zu nennen, die auf Initiative des berühmten und der Chicagoer Schule nahe stehenden Settlements Hull House zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden. Die hier benannten Aufzeichnungen können als sozialräumliche Erhebung verstanden werden, die – in Abkehr von Perspektiven auf Armut als selbst verschuldetes Übel – die Lebens- und Wohnbedingungen der Bewohner der Immigrantenviertel untersucht und in Zusammenhang mit dem gehäuften Vorkommen von Krankheit und Verwahrlosung bringt (Addams 1991). Aber auch die Marienthalstudie (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1935) stellt eine bedeutsame Tradition der Sozialraumanalyse dar. Diese erfährt im Übrigen in jüngster Zeit wieder Konjunktur in sozialpädagogischen Publikationen (z.B. Riege/Schubert 2005, Kessl/Otto 2007). Auch hier geht es darum den „ortsbezogene[n], räumlich zugeordnete[n] Kontext von Verhaltensweisen und Nutzungsroutinen“ einzubeziehen (Riege/Schubert 2005, S. 8). Bei allen Vorteilen, die eine so gelagerte Perspektivnahme hinsichtlich der differenzierten Analyse sozialer Benachteiligung mit sich bringt, sei jedoch mit Kessl, Otto und Ziegler (2005) darauf verwiesen, dass bei einer rein verwaltungsförmigen Analyse von Sozialräumen auch die Gefahr einer Festschreibung von Benachteiligung besteht – einer Festschreibung sozialen Ausschlusses also – da die Ressourcen und Handlungsmöglichkeiten der Bewohner nicht einbezogen werden. Mit der „Entwicklung des räumlichen Denkens beim Kinde“ befassen sich Jean Piaget und Bärbel Inhelder (Piaget/Inhelder 1999). Sie entwickeln ein Modell räumlicher Aneignung. Dabei gehen sie davon aus, dass Raumvorstellungen und räumliches Denken nicht passiv 53
durch das Kind „empfangen“ werden, sondern, dass Schritt für Schritt kognitive Operationen aufgebaut werden, die sich kontinuierlich weiterentwickeln und in ihrer Qualität verändern (ebd., S. 251). Mittels eines Experimentes, in dem Kinder aus unterschiedlichen Perspektiven auf ein Landschaftsmodell blicken und hierin Wege und Objekte jeweils wiederentdecken sollten, wurden Entwicklungsniveaus (vgl. Tab. 1) ausdifferenziert. Hier geht es insgesamt um die wachsende Fähigkeit zur Dezentrierung, Perspektivenvariation und Ausweitung der Flexibilität in Kommunikationsprozessen. Bei Piaget gelten Kinder als Gefangene ihrer eigenen Perspektiven. Die Egozentrik hindert sie am Anfang daran, Kommunikationsfähigkeit vollgültig zu entfalten (Köller 2004, S. 150) und die Relationalität ihrer Perspektiven zu überwinden. Relationalität ist bei Piaget/Inhelder nur eine Vorstufe auf dem Weg zum Vollkommenheit – der euklidischen Perspektive. Tab. 1: Entwicklung der Raumvorstellungen beim Kind (Piaget/Inhelder 1999) Alter
Phase
Raumvorstellung
0-4 Jahre
Sensomotorische
Enaktives Erleben des Raumes, handelnde Erschließung, vorbegriffliches symbolisches Denken
Intelligenz 4-7 Jahre
Präoperationale Phase
7-11 Jahre
Phase der konkreten Operation
> 11 Jahre
Formale Operation
Herstellung von Relationen (höher/ tiefer, weiter/näher, über/ unter), topologisches Raumverständnis – Relationen werden sachadäquat eingegrenzt (Köller 2004: Perspektivität und Sprache)
Das Kind hält die eigene Perspektive für die einzig mögliche. Piaget 1976: Sprechen und Denken des Kindes
Relationaler griff
Raumbe-
Denken löst Anschauung ab, räumliches Denken wird zunehmen projektiv
Euklidische und projektive Gesamtkoordinierung
Beginn der Entwicklung einer euklidischen Raumvorstellung (logische Operationen mit Raumvorstellungen und Perspektivierung)
Schematische Planung und metrische Koordination
Die Heterogenität, wie sie durch die Vielfalt von Räumen entsteht, wird nicht berücksichtigt. Piaget/Inhelder orientieren sich nicht an Interaktion, sondern es geht nur um das Erfüllen von Normen, gemäß derer sich das Kind entwickelt. „Wenn Piaget also schreibt, das räumliche Vorstellungsvermögen Erwachsener sei perspektivisch und euklidisch, so versucht er Relativität im Sinne von Perspektivenvielfalt und Euklidik im Sinne der Orientierung an festen Formen, Orten und Winkeln etc. zu einem Raumdenken zu verbinden. Beides jedoch ordnet er, und damit bleibt er der Perspektive der Behälterraumvorstellung verbunden, in ein Koordinatensystem ein. Das heißt, die Relativität ist bei ihnen innerhalb eines absoluten Raumes zu verstehen“ (Löw 1997, S. 23).
Ähnlich wie bei Muchow/Muchow (1998), die den „Lebensraum des Großstadtkindes“ untersuchen, ist, dass es um die Internalisierung euklidischer und perspektivischer Raumkonstruktionen geht (Löw 2001, S. 75), Raum wird als Aneignung räumlichen Vorstellungsvermögens berücksichtigt und es wird geprüft, ob und wann sich, ausgehend von der 54
sinnlichen Wahrnehmung konkreter Objekte, ein räumliches Vorstellungsvermögen entwickelt, das den Menschen dazu befähigt, das Wahrgenommene zu Vorstellungsbildern zu verarbeiten (Löw 2001, S. 74). Die Untersuchung von Martha und Hans-Heinrich Muchow aus dem 1930er Jahren nimmt ebenfalls eine Entwicklungsperspektive ein (Muchow/Muchow 1998). Die Autorin und der Autor gehen davon aus, dass Mensch und Umwelt in einer konvergenten Wechselbeziehung stehen, also als unauflösliche dialektische Einheit zu fassen sind (FaulstichWieland 2000, S. 183). Sie zeigen in ihrer empirischen Studie, die auf Befragungen von Kindern basiert, dass Kinder auch in einer durch Erwachsene stark überformten Welt Aneignungsstrategien in Bezug auf ihre alltäglichen Handlungsräume besitzen, die es ihnen ermöglichen, ihren sozialen Nahraum, der konzentrisch erweitert wird, für sich optionsentfaltend zu nutzen. Muchow/Muchow verweisen damit auf die Entwicklung von Aneignungsstrategien, die jenseits der dinglichen Bestimmung des konkreten Ortes liegen. Kinder werden dabei nicht an die Welt der Erwachsenen angepasst, sondern durchdringen diese, nutzen sie als Spielraum und erkunden sie als Streifraum. Der Raum, in dem das Kind lebt, wird schließlich als Lebensraum bezeichnet und Muchow/Muchow arbeiten heraus, dass – je nach Lebensalter, Geschlecht und Begabung, Bildungsgrad und Grad der Beweglichkeit – Kinder diesen Raum je unterschiedlich nutzen. Die Untersuchung von Ahrens (1997), die das straßenöffentliche Leben von Kindern untersucht, kann an die Erkenntnisse von Muchow/Muchow zum geringeren Aktionsradius von Mädchen im Vergleich zu Jungen anschließen, jedoch konstatiert sie auch die Zunahme eigener Kinderräume (Hort, Spielplatz) und die gleichzeitige Abnahme öffentlicher Raumbewegungen (Ahrens 1997, S. 207 f.). Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch Zeiher/Zeiher (1994), die aufzeigen, dass Kinder Raum überwiegend funktionsgebunden, in Form von Kinderorten wahrnehmen. In diesem Zusammenhang sprechen sie von einer „Verinselung“ der Kindheit (ebd., S. 27), wobei Kinder jedoch nach wie vor in die homogenen Raumvorstellungen einsozialisiert werden. Diese Perspektive ist ebenfalls an der Studie von Ursula Nissen (1998) zu „Kindheit, Geschlecht und Raum“ nachvollziehbar. Die Autorin untersucht die Raumaneignung von Kindern in der Öffentlichkeit und arbeitet die hierin eingelagerten Benachteiligungsstrukturen für Mädchen heraus. Gerade die Aufrechterhaltung der Raumaufteilung nach Geschlecht stehe, so Nissen, für die Reproduktion homogener Raumvorstellungen. Dem entgegen steht die These Heitmeyers, der von einer „Zerstückelung“ stabiler Raumvorstellungen spricht und daraus Kontinuitäts- und Konsistenzverlust folgert (nach: Löw 2001, S. 89). Insbesondere in den letztgenannten Studien liegt nun auch eine Relativierung von euklidischen Raumkonzepten vor (vgl. Löw 2001, S. 39). Diese Relativierungen werden jedoch viel nachhaltiger in Publikationen zum „Cyberspace“ (ebd., S. 94) irritiert. Hiermit entstehen Erkenntnisse über vernetzte Strukturen, die der Vorstellung eines einheitlichen sinnstiftenden Raumes entgegenstehen. Was bereits mit der These der Verinselung anklang steigert sich nun zu einer Verräumlichung jenseits euklidischer Raumvorstellungen – den flüchtigen Räumen auf der Tanzfläche in von „Techno“ und „House“ geprägten Jugendkulturen (Krüger/Richard 1997), den „vernetzten Räumen“ (Löw 2001, S. 112), in denen Räume durch die eigene Bewegung entstehen und den Räumen des „Cyberspace“ (Ahrens 2001). Insgesamt kann gesagt werden, dass es bei dieser ersten Perspektivnahme auf Raum immer darum geht, den Raumbezug von Kindern und Jugendlichen und die Bedeutung der 55
Umgebung zu vermessen, während die letztgenannten Studien diese Vermessungslogik aufstören, und Einheitsvorstellungen eines Behälterraumkonzepts irritieren. Damit sind die letztgenannten Studien wegweisend für ein dynamisches Verstehen von Raum im Jugendalter. Doch ist die Dynamisierung des Raumes nicht als linearer Prozess zu verstehen, bei dem sich sukzessive ein relationales Raumverständnis durchsetzt. Vielmehr können wir beobachten, dass unterschiedliche Raumkonzepte nebeneinander existieren und möglicherweise selbst in einen symbolischen Kampf um Hegemonie eingebunden sind. So finden wir in der PISA-Studie (Deutsches PISA-Konsortium 2001) dort, wo es um die Frage nach der Reproduktion sozialer Ungleichheit im Bildungssystem geht, einen relativ statischen Raumbegriff, dem zufolge soziale Ungleichheit von den Eltern an die Kinder weitergegeben wird (ebd.). Diese Feststellung des Ist-Zustandes birgt jedoch keine Anhaltspunkte dafür, was im konkreten Einzelfall zu Erfolg bzw. Versagen geführt hat und welche strukturellen, institutionellen und subjektiven Erfahrungen Chancen bzw. Risiken im Bildungssystem bedingen, oder um in der räumlichen Semantik zu sprechen: welche Platzierungs-, Aneignungs- und Syntheseleistungen hier vorgelegen haben. Trotz der Verwendung des bourdieuschen Kapitalsortenbegriffs kommt die PISA-Studie letztlich nicht über ein euklidisches Raumdenken hinaus: Raum wirkt als Umgebung auf Kind und Jugendliche bzw. ihr Lernverhalten. Die daraus resultierende (An-) Ordnungsstruktur ist das Resultat einer Perspektive auf Raum als Behälter von Macht und der Umgang mit den bourdieuschen Kapitalsorten wird verdinglichend genutzt, um die Resultate von Kompetenzentwicklung zu erklären.
3.1.2 Raum als Weg In der phänomenologischen Perspektive, die auf Otto Friedrich Bollnow zurückgeht, wird danach gefragt, in welcher Weise der Raum zum Menschen gehört (Bollnow 1963a). Bollnow nimmt dabei Abstand von einem Behälter-Raum-Begriff, indem er die Doppelwertigkeit von Raum als Erleben von Entfaltungsmöglichkeiten und ihrer räumlichen Beschränkung betont (Bollnow 2004, S. 20). Der Mensch ist zwar durch seinen Bezug zum Raum bestimmt, er tritt jedoch dabei sowohl als aktiver Raumgestalter als auch als passiver Rezipient von Raumstrukturen auf den Plan. Hiermit scheint eine Distanzierung von rein zeitbezogenen Konzepten zur Biografieforschung möglich, denn mit Beginn des Lebenswegs spannt sich für den Menschen ein Feld auf, dessen Gestaltung er durch seine Entscheidungen raumzeitlich beeinflusst: „Auch beim Verhalten auf dem Lebensweg ist es genauso wie bei der ‚wirklichen’ Wanderung im räumlich ausgedehnten Gelände: Normalerweise ist der Mensch nach vorn, in die Zukunft, gerichtet. Aber es gibt auch Augenblicke des Rückblicks, der Besinnung, sei es, daß sich der Mensch des Erreichten freut, sei es, daß er auf Schwierigkeiten gestoßen ist und dadurch zur Überprüfung gezwungen wird. Ein Zurückkehren oder Zurückweichen aber hat auf dem Lebensweg keine unmittelbare Entsprechung, so sehr das Fortschreiten auf dem Lebensweg auch als Kampf, als Lebenskampf aufgefasst wird. Der Mensch am Scheideweg, in der Wahl zwischen dem rechten und dem falschen Weg ist ebenfalls eines der großen Ursymbole des menschlichen Lebens“ (Bollnow 2004., S. 53).
Mit Bezug auf Lewin und Sartre verweist Bollnow in Bezug auf das menschliche Handeln auf einen hodologischen Raumbegriff – einen Raumbegriff also, der über seine Erschließungsmöglichkeiten durch Wege und Straßen, bestimmt wird. Während Lewin auf das 56
Wechselspiel zwischen den gegenständlichen Verhältnissen und der „seelischen Verfassung des betreffenden Menschen“ anspielt und Sartre auf die Platzierungsleistung jedes einzelnem Menschen mit der Wahl seines Weges verweist (ebd., S. 197f.), erweitert Bollnow den hodologischen Raumbegriff unter Bezugnahme auf zwei Gesichtspunkte: Erstens geht er davon aus, dass Wege dadurch bestimmt werden, dass sie bestimmte Ziele verfolgen, die für die handelnden Menschen eine spezifische Bedeutung haben. Mit Sartre stimmt Bollnow darin überein, dass alle Wege, die vom momentanen Aufenthaltsort des Menschen ausgehen, seine Situation im jeweiligen konkreten Raum bestimmen. Jedoch stehen die Zielpunkte nicht zusammenhanglos nebeneinander, sondern „bilden ein geordnetes Ganzes der Dinge und Menschen im Raum“ (ebd., S. 203). Der erlebte Raum – und um diesen geht es Bollnow in seiner Darstellung – ist als gegliedertes Ganzes von bedeutungsgeladenen Plätzen und Stellen zu verstehen. Zweitens differenziert Bollnow Sartres und Lewins Wegebegriff aus: Wege seien, so Bollnow, das Verbindungsstück zwischen Orten menschlicher Tätigkeit und Ruhe. So werden die Tätigkeiten im Haus, auf dem Acker, im Arbeitsgebäude usw. nicht als Wege bezeichnet, da sie kein Ziel verfolgen, das über den jeweiligen Ort hinaus geht (ebd., S. 204). Schließlich verweist Bollnow darauf, dass seinem Raumbegriff die Annahme sinnhafter menschlicher Tätigkeit zugrunde liegt. Damit bestimmt er den Handlungsraum ganz allgemein als „jeden Raum, in dem sich der Mensch mit einer sinnvollen Tätigkeit, arbeitend oder ruhend im weitesten Sinne wohnend aufhält“ (ebd.). Dieser Handlungsraum ist bestimmt durch die Wege, die der Mensch anwählen kann, um sich im Raum zu situieren – den „Spielraum“ (S. 210), den Personen zur Verfügung haben, um ihr Verhältnis zur Welt zu bestimmen. Bollnow bestimmt also Raum im Verhältnis zum Menschen. Im Unterschied zum euklidischen Raum, der einen Nullpunkt besitzt und völlig ungegliedert ist, bestimmt sich im „erlebten Raum“ die Entfernung von einem Ort zum Anderen nicht nach dem Abstand in Metern oder Kilometern, sondern nach den Möglichkeiten diese zu erreichen (Bollnow 1979, S. 17). Bollnow verweist an dieser Stelle besonders auf die materiellen Bedingungen, die menschlich geschaffener Orte des Handelns. Es geht in seinem Entwurf also weniger um sozialisatorische Erfahrungen und Einbettungen, die Menschen erleben und mittels derer sich ihnen biografische Wege öffnen, sondern um konkrete Ermöglichungsstrukturen – etwa Straßen, Brücke und Tunnels, sowie Hilfsmittel zum Bezwingen unwegsamer Gelände, wenn es um die Aneignung von Wegen geht, mittels derer Räume verbunden werden15. Oder die Unterscheidung von bergendem (Wohn-) Raum und bedrohlichem (Außen-) Raum, aus der die anthropologische Funktion des Hauses als Raum der Geborgenheit (Bollnow 1963, S. 504) ihren Sinn erhält. Damit ist der Begriff des „Wohnens“ schließlich als Sinnbild für die Raumaneignung zu verstehen: „Der Besitz des Hauses ist eine Vorbedingung für das Wohnen, doch er gewährleistet noch nicht das Wohnen selbst. Wie wäre sonst Heideggers Satz verständlich, daß die Menschen das Wohnen erst noch lernen müssen? (…) Wohnen, so können wir neu einsetzen, besteht nicht im äußeren Besitz eines Hauses, sondern in einer inneren seelischen Verfassung des Menschen, die durch den Besitz des Hauses ermöglicht wird und die im rechten Verhältnis zum Haus besteht. (…)“ (ebd., S. 505). 15
Inwieweit diese jedoch im übertragenen Sinne auch biografisch wirksam werden, führt Bollnow nicht aus. Und auch wenn Bollnow selbst sich von einer biografisierenden Sicht abgrenzt, so liegt die Interpretation von Raum als Weg mit einer Bourdieuschen oder Schützeschen Interpretation der Umwege oder Hilfskonstruktionen doch nahe und man muss sich fragen: was materialisiert sich lebenspraktisch in der Wahl der einen oder dem Ausweichen auf die anderen Wege?
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Es geht damit also um das Verhältnis des Menschen zu seiner unmittelbaren Umgebung, die er sich aneignen muss, zu der er sich ins Verhältnis setzen muss. Gleichzeitig, so zeigt Bollnow mit Verweis auf Merleau-Ponty, geht es auch darum, ein Verhältnis zu sich selbst, ein Bewusstsein über seinen Leib zu entwickeln, der ein Teil des Ich ist, ihn aber nie ganz ausmacht. Der Leib wird damit zum räumlichen Träger des Ich. Die Aneignung von Haus, Acker (als Symbol für das Feld des Arbeitens) und auch Leib verweist darauf, dass der Mensch sich selbst und seiner Umwelt – den Handlungsräumen, in denen er aktiv wird – gegenwärtig ist. Bollnow spricht in diesem Zusammenhang davon, dass der vom Menschen gelebte Raum, im Gegensatz zum abstrakten mathematischen Raum, konzentrisch gegliedert ist – in einen engen Innenraum und einen weiten Außenraum (Bollnow 1970, S. 17). Nun ist jedoch unter Bedingungen der Modernität der Stellenwert des Innenraumes – des Wohnraums als Ort der Sicherheit und Geborgenheit – rückläufig. Somit entstehe, so Bollnow (ebd., S. 25) ein Missverhältnis zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, für das er in Bezug auf die Jugend der 1970er Jahre mit ihrem Streben nach zur Familie alternativen Lebensformen fundamentale Entfremdungstendenzen diagnostiziert. Man mag bei einer kritischen Betrachtung des Ansatzes an die strikte Orientierung Bollnows auf ein modernes Konzept des Aufwachsens und Zusammenlebens – nämlich der Trennung und Wechselseitigkeit von Öffentlichkeit und Privatheit – denken und zugleich darauf verweisen, dass Bollnow dem räumlichen Denken vor dem Hintergrund der materiellen Beschaffenheit von Räumen stark verhaftet bleibt. Insofern lässt sich hier eine Kritik anbringen, die Bourdieu und Foucault gleichermaßen gegen phänomenologische Betrachtungen anwendeten: dass nämlich eine subjektivistische Perspektive vorweggenommen wird, die mit Annahmen zur Mentalität der Menschen einhergeht (vgl. Reckwitz 2000). Dennoch finden sich in Bollnows Ansatz Anschlussmöglichkeiten: So lässt das Bild des „wohnen Lernens“, das Bollnow andeutet, um das Verhältnis des Selbst zum Raum darzustellen, auch einen Interpretationsspielraum für die Betrachtung sozialisatorisch erworbener Raumaneignungsstrategien. Hiermit geht Bollnow über den Ort der physischen Bezugnahme hinaus und zeichnet das Bild sich konzentrisch zum Individuum verhaltender räumlicher Strukturen. Auch für das Bild der Möglichkeiten, die ein Mensch besitzt, um unwegsames Gelände zu bezwingen, gibt es Anschlussoptionen, begreift man die Möglichkeiten nicht als bloße Werkzeuge des Erschließens von Wegen, sondern auch als Fähigkeit im Sozialisationsprozess erworbene Ressourcen zu nutzen, etwa indem der Mensch sich soziales und kulturelles Kapital zunutze macht, um Widerstände räumlicher Strukturen zu überwinden.
3.1.3 Raum als Handlungs- und Sozialraum Eine andere Linie, die erziehungswissenschaftlich von Bedeutung ist, ist die der sozialökologischen Raumanalysen. Hier steht Raum auch für die örtliche Umgebung, aber es werden deutliche Bezüge zur interaktiven Ausgestaltung der Umgebung gemacht. Als frühes soziakökologisches Modell lässt sich Mary Richmonds Werk „Social Diagnosis“ fassen. Dieses zielt auf eine Stärkung der Selbsthilfekräfte der von Armut betroffenen Personen, indem – nach dem Modell konzentrischer Ausdehnung – nach Unterstützungs- und Hilfsmaßnahmen im Einbettungszusammenhang der Personen gesucht wird (Richmond 1925, Humm58
rich 1997). Auch der ökosystemische Ansatz von Bronfenbrenner bettet die menschliche Entwicklung in die zunehmende Auseinandersetzung der Person mit ihrer Umwelt ein. Dabei wird Umwelt als ein „Satz ineinandergeschachtelter Strukturen“ vorgestellt, die den unmittelbaren Lebensbereich (Familie, Klassenzimmer), die Beziehungen zwischen den unmittelbaren Lebensbereichen und die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen betrifft“ (Bronfenbrenner 1981). Bronfenbrenner grenzt sich dabei von der Sozialpsychologie, Soziologie und Anthropologie ab. Ihm geht es um Entwicklung im Kontext, die biologische Faktoren wie physische Merkmale und genetische Gegebenheiten in ihrer Bedeutung für die menschliche Entwicklung würdigt. (S. 29.) Bronfenbrenners Interesse gilt der fortschreitenden Anpassung des menschlichen Organismus an seine Umwelt sowie der Art und Weise wie die Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt durch Kräfte vermittelt werden und welche Milieueinflüsse es gibt. Zentrale theoretische Bezugspunkte für Bronfenbrenner sind Kurt Lewin und George Herbert Mead. Er setzt an die Stelle von Seinsbestimmungen des Raumes Relationsbestimmungen, indem er Raum topologisch beschreibt. Dazu orientiert er sich an der physikalischen Feldtheorie, in der das Verhalten einer Person mit der Umwelt korreliert. Wie bereits im vorhergehenden Abschnitt beschrieben, bezieht sich Lewin auf den Begriff eines „hodologischen Raumes“, also eines durch die Wege, die in ihm zurückgelegt werden, bestimmbaren Raumes. Die Ortsveränderungen einer Person im Laufe eines bestimmten Zeitabschnittes versteht Lewin dabei als Netz hierarchischer Verbindungen im Raum (Günzel 2006, S. 126). Diesen Bezugspunkt, den etwa Bollnow noch sehr wörtlich nimmt und konkret fasst und der am Beispiel der zunehmenden Aufhebung der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit eine kulturpessimistische Wendung erfährt, überwindet Bronfenbrenner schließlich mit seiner Bezugnahme auf die Interaktionstheorie Meads (Mead 1992, Joas 1989), indem er die Aktivität der Personen und die wechselseitige Erwartung sich rollenadäquat zu verhalten, hervorhebt (Bronfenbrenner 1981, S. 41). Damit bleibt es nicht bei einer materiellen Bestimmung von Raum, sondern der Raumbegriff, der schon bei Bollnow durch die Annahme der Bewegung eine Dynamisierung erfahren hat, dynamisiert sich weiter. Raum wird durch die Bezugnahmen der in ihm Handelnden gestaltbar. Mead verweist in diesem Zusammenhang auf die Perspektivität des Handelns, die nicht nur für das Individuum, sondern auch für die soziale Gruppe gilt (vgl. Kap. 2.2). In einer hieran anschließenden Operationalisierung gewinnt Bronfenbrenner schließlich eine Ausdifferenzierung unterschiedlicher Beziehungsvarianten in dyadischen, reziproken Beziehungen. Er unterscheidet: -
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Mikrosysteme, als Muster von Tätigkeiten und Aktivitäten, Rollen und zwischenmenschlichen Beziehungen, das die in Entwicklung begriffene Person in einem gegebenen Lebensbereich mit den ihm eigentümlichen physischen und materiellen Merkmalen erlebt. Dabei stellt der Lebensbereich einen Ort dar, an dem Menschen direkte Interaktion mit Menschen aufnehmen können (ebd., S. 38). Mesosysteme als Wechselbeziehungen zwischen den Lebensbereichen, an denen die sich entwickelnde Person aktiv beteiligt ist. Für ein Kind sind dies zum Beispiel die Beziehungen zwischen Elternhaus, Nachbarschaft und Schule oder Freundeskreis, für einen Erwachsenen die Beziehungen zwischen Familie, Arbeit und Bekanntenkreis (ebd., S. 41). Exosysteme als Lebensbereiche, an denen die sich entwickelnde Person beteiligt ist, in denen aber Ereignisse stattfinden, welche die sich entwickelnde Person nicht selbst beeinflussen kann, auch wenn sie selbst durch die Exosysteme beeinflusst werden (S. 42). Makrosysteme als solche Systeme, die formal und inhaltlich die Ähnlichkeit der Systeme niedrigerer Ordnung (Mikro-, Exo-, Mesosysteme) haben. Sie können innerhalb einer Subkultur oder der ganzen Kultur bestehen, einschließlich der ihnen zugrundeliegenden Weltanschauungen und Ideologien. Hier
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z.B. Gesellschaft wird oft mit Nation gleichgesetzt, obwohl z.B. Spielplätze in Frankreich und den USA unterschiedlich aussehen.
In einem späteren Entwurf führt Bronfenbrenner auch die sogenannten Chronosysteme ein (Bronfenbrenner 1990). Hiermit sind Systeme angesprochen, die sich über die Zeit in einen Lebenslauf einschreiben und die bedeutsame biografische Markierer darstellen. Normative Chronosysteme sind dabei solche, die sich institutionalisiert in Lebensläufen finden (z.B. schulische Übergänge), nicht-normative sind solche, die eine bedeutsame Auswirkung auf das weitere Leben haben, aber individuell stattfinden (etwa: schwere Krankheit, Erbschaft usw.) Dieter Baacke (2003) nutzt ebenfalls einen sozialökologischen Ansatz, um die kindliche Sozialisation zu beschreiben. Dabei ist die erste Zone der unmittelbare Umraum, die zweite der ökologische Nahraum (die Nachbarschaft, der Stadtteil, die außerfamilialen Gleichaltrigen). Die dritte Zone ist durch die Dominanz funktionsbestimmter Beziehungen gekennzeichnet. Etwa in Schule, Kindergarten, Sportplätzen und Kaufhäusern (am Rande) – als Möglichkeitsräume, Gleichaltrigenbeziehungen einzugehen. Die vierte Zone stellt Baacke als ökologische Peripherie vor. Sie bezeichnet nicht systematisch auf die anderen Zonen bezogene Handlungsräume wie Urlaube, gelegentlich genutzte Freizeitaktivitäten etc. Baacke geht dabei davon aus, dass Kinder sich die Zonen im Laufe ihrer Entwicklung sukzessive eigenaktiv erobern. Bronfenbrenners Verdienst ist es, Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen Handlungsräumen aufzuzeigen und zugleich Wechselbeziehungen zwischen unterschiedlichen sozialen Sinnebenen zu verdeutlichen. Damit ist sein Verfahren, wenn es analytisch gewendet wird, ein klassisch mehrebenenanalytisches Verfahren, da es die Interdependenzen von räumlichen Möglichkeiten berücksichtigt. Diese Bezugnahme auf die Interdependenzen zwischen den Sinnebenen fällt bei Baacke weg. Räume werden nicht mehr angeeignet, sondern der Handlungsraum wird durch biografische Erfahrungen sukzessive erweitert. Damit entsteht eine Nähe zu homogenen Konzepten von Raum, wie sie auch im vorhergehenden Abschnitt herausgestellt wurden (vgl. 3.1.2): Die Biografie ermöglicht hier die sich sukzessiv erweiternde Vorstellung von Raum. Ein Raumbegriff, der das interdependente Zusammenspiel von Handlungsbedingungen, Raumaneignung und Teilhabemöglichkeiten in Rechnung stellt, wird damit umgangen. Nähen zu einem so gelagerten Begriff finden sich in Perspektivnahmen auf Raum als Handlungsspielraum (Ecarius 1997) oder Möglichkeitsraum (King/Koller 2006). Handlungs(spiel)räume können dabei durch das Lebensalter bestimmt sein, in dem es zu je spezifischen Akkumulationen von kulturellem, sozialem und ökonomischem Kapital kommt (Ecarius 1997, S. 36). In der Laufbahn werden dabei soziale Bezugsnetzwerke geknüpft und wieder aufgehoben, die in institutionelle und milieuspezifische Bedingungen eingebettet sind. So unterscheidet etwa Jutta Ecarius (1997) den kindlichen, den jugendlichen, den postadoleszenten, den erwachsenen, den jungalten und den alten Sozialraum und bringt diesen in Verbindung mit dem bourdieuschen Kapitalsortenkonzept. Damit legt sie ein Konzept vor, das biografisches Handeln und lebenslanges Lernen nicht als Ausdruck individualisierter Vernetzungsleistungen sieht, sondern als durch gesellschaftliche Ungleichheitsmechanismen gerahmt. Dabei schließt jede Bewegung in einem sozialen Raum eine andere Bewegung aus. Je nach Klasse, Geschlecht [und Ethnizität, müsste man hier ergänzen] stehen unterschiedliche Angebote an ökonomischen, sozialen und kulturellen Ressourcen zur Verfügung (ebd., S. 55). Zugleich sind im Laufe eines Lebens unterschiedliche 60
Statuszugehörigkeiten denkbar. Mit der Vorstellung individueller Aktivität löst Ecarius schließlich das bourdieusche Kapitalsortenkonzept von der ihm oftmals vorgeworfenen mangelnden Berücksichtigung sozialen Wandels. Wandel kann individuell auch gegen soziale Ungleichheitsstrukturen vollzogen werden16. Deutlich wird hier auch, dass altersspezifische Sozialräume mit anderen Räumen – etwa Milieus, Institutionen, Interaktionszusammenhängen – verbunden sind. Damit greift Ecarius den Gedanken der interdependenten Sinnebenen wieder auf, da neben der Biografie auch die soziale Vernetztheit einbezogen wird, wie sie etwa in Generationsbeziehungen wirksam werden. Zugleich denkt sie Raum dynamisch, denn grundsätzlich beinhaltet er gerade im Erreichen unterschiedlicher Lebensalter differente Zugehörigkeitskontexte, die sich angeeignet werden müssen. Wie dies aussieht lässt sich an der Ausdifferenzierung des adoleszenten Möglichkeitsraumes von King und Koller (2006) darstellen. Die Autorin und der Autor entwerfen Bildung als je spezifisch (aufgrund der Erfahrungen und Einbettungen) ausgeformten Möglichkeitsraum, in dem sich die Transformation der Welt-, Sach- und Selbstbezüge vollzieht, die für die adoleszente Entwicklung grundlegend ist. Diesen Konzepten ist gemeinsam, dass der umgebende Raum vor allem interaktiv ausgestaltet ist und die materialen Bedingungen sekundär werden. Dabei dient die Biografie als Möglichkeit der Verknüpfung von Räumen. Das Verdienst der Perspektive auf Raum als Handlungs- und Sozialraum und seine Bedeutung für die Analyse von Raum in erziehungswissenschaftlichen Zusammenhängen liegt in der Abkehr von einem materiell gebundenen Raumbegriff und einer Hinwendung zu einem interaktiv gestalteten Raum. Damit ist eine Dynamisierung und zugleich Systematisierung des Raumes angelegt: Raum ist nicht mehr nur die Umgebung des Aufwachsens, sondern gestaltet sich in Abhängigkeit unterschiedlicher Handlungsebenen (bei Bronfenbrenner systemisch bestimmt, bei Ecarius schließlich biografisch und milieuspezifisch) aus. Der handelnden Hervorbringung von Raum wird damit ebenso Rechnung getragen wie der Tatsache, dass Handlungsräume selbst wiederum räumlich eingebettet sind. Gleichwohl bedarf es einer systematischen Bestimmung der oftmals sehr beliebig verwendeten Begriffe Handlungsraum, Möglichkeitsraum und Spielraum.
3.2 Analysen von Prozessen des Aufwachsens und ihre relationalen Raumbezüge In den vorgestellten Studien zeigt sich, dass sich das Konzept von Raum zunehmend dynamisiert. Eher an Behälterraumvorstellungen orientierte Konzepte werden, selbst wenn der Raum als Ort zentral gesetzt wird, unter Verweis auf die Festschreibungsgefahr von sozialem Ausschluss (Kessl/Otto/Ziegler 2005, Deinet 2004), gegenüber deutlich relativierten Positionen zurückgestellt. An dieser Stelle muss nun auch nach der Integration relationalen Raumverstehens gefragt werden. Anschlussmöglichkeiten an einen topologischen Raumbe16
Dies würde vermutlich auch Bourdieu kaum bestreiten. Jedoch besteht ja der Vorwurf der mangelnden Berücksichtigung von Wandel im bourdieuschen Konzept (z.B. Miller 1989). Diesem setzt er entgegen, dass ein sozialer Aufstieg eines Individuums schließlich noch nicht zu gesellschaftlichem Wandel führe. Trotz individueller Transformation seien die Milieus außerordentlich stabil. Das heißt: selbst wenn ein Individuum sich auch einer Milieubindung löst, wird schließlich die Position wieder durch einen anderen Akteur besetzt (Bourdieu 2004).
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griff – als eines Raumbegriffs, der der Relationalität von Raum Rechnung trägt – finden sich bei Bourdieu ebenso, wie an Foucault anschließende Ausführungen zum Bildungsprozess und schließlich den mit Lacan ausformulierten dezentrierten Bildungsbegriff. Diese sollen im Folgenden vorgestellt werden. Im Anschluss daran wird die dieser Arbeit zugrunde liegende empirische Studie „Jugend zwischen Familie und Schule“ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009) diskutiert. Dabei werden an ihr exemplarisch die Möglichkeiten der Raumanalyse festgemacht.
3.2.1 Dynamischer Raumbegriff und Analyse pädagogischer Prozesse Bourdieu hat sich selbst zum Thema Bildung dezidiert geäußert. Seine Aussagen dazu können in diesem Zusammenhang aufgegriffen werden. In dem zusammen mit Passeron verfassten Band „Illusion der Chancengleichheit“ (Bourdieu/Passeron 1971) zeigen die Autoren auf, wie gesellschaftlichen Strukturmechanismen, die auch auf der institutionellen und der Handlungsebene ihren Ausdruck finden, immer wieder und trotz gegenteiliger Bemühungen, Ungleichheit herstellen. Später greift Bourdieu diesen Gedankengang wieder auf und formuliert: „Wenn man weiß, dass man nach 20 Jahren identischer schulischer Ausbildung immer noch gewichtige kulturelle Unterschiede zwischen den Söhnen von Managern und den Söhnen von Arbeitern oder Bauern findet, dann ist man gezwungen, sich von der Langsamkeit der kulturellen Entwicklung zu überzeugen. Wenn man das Publikum in Museen untersucht hat, das in etwa dasselbe wie in Universitäten ist, und wenn man weiß, dass die Kulturhäuser von Caen und Bourges nur eine verschwindende Minderheit von jungen Arbeitern und Bauern unter ihren Besuchern haben, kann man nicht mehr einfach glauben, dass der einfache direkte oder übers Fernsehen vermittelte Kontakt mit einem Kunstwerk eine kulturelle Wirksamkeit haben könnte (von Ausnahmen immer abgesehen). Die Mehrheit dieser Bemühungen, ‚die Kultur zum Volk zu bringen’, predigen wie die Mission nur den bereits Bekehrten“ (Bourdieu 2006b, S. 23).
Bourdieu merkt hier zweierlei an: zum Einen die Trägheit, mit der sich das Bildungssystem transformiert, zum Anderen die Tatsache, dass der Versuch, Chancengleichheit zu initiieren immer von der herrschenden Klasse dominiert wird, die darüber befindet, was dem Anspruch kultureller Bildung genügt und was nicht. Das bedeutet, dass das Erziehungssystem immer auf die Formierung eines Habitus gerichtet ist, der das Bestehende reproduziert. Jede Familie – so Bourdieu (2006b) – vermittelt ihrem Kind mit dem kulturellen Kapital ein bestimmtes Ethos, was es mit Bildung erreichen kann und im schulischen System erreichen soll. Wenn sich an Bourdieus Feststellung mit der Bezugnahme auf Daten aus den 1960er Jahren, die besagen, dass mit steigendem Einkommen, auch der Schulerfolg steigt (ebd., S. 26), bis heute nichts geändert hat, so kann auch seine These, dass das kulturelle Kapital des Elternhauses den Schulerfolg maßgeblich beeinflusst, nach wie vor geltend gemacht werden. Zugleich stellt Bourdieu fest, dass das Gymnasium „kein konkreter Bestandteil der Erfahrungswelt der Volksklassefamilien“ (ebd., S. 29) ist, und es einer Reihe außergewöhnlicher Erfolge und der Ratschläge des Lehrers bedarf, ehe ein Kind aus der Arbeiterklasse ein Gymnasium besucht. Dies ist im Übrigen ein Ergebnis, das in der neueren Ungleichheitsforschung bestätigt wird (Merkens/Wessel 2002, Ditton 2004, Ditton/Krüsken 2006). Die Orientierung der Auslese entlang dessen, was verinnerlicht wurde, begünstigt wiederum diejenigen, die von ihrer Herkunft her die Inhalte kennen und quasi natürlich wertschätzen. Jedoch ist diese Wertschätzung keineswegs natürlich oder auf eine Begabung 62
zurückzuführen. Diese Perspektive lehnt Bourdieu entschieden ab, denn es handelt sich bei der Übernahme der Haltungen im Bildungssystem zumeist um bloße Vererbung. „Indem sie [die Institution Schule, M.H.] gesellschaftlich bedingten, von ihr aber auf Begabungsunterschiede zurückgeführten Fähigkeiten eine sich ‚unparteiisch’ gebende und als solche weithin anerkannte Sanktion erteilt, verwandelt sie faktische Gleichheiten in rechtmäßige Ungleichheiten, wirtschaftliche und gesellschaftliche Unterschiede in eine qualitative Differenz und legitimiert die Übertragung des kulturellen Erbes. Dadurch übt sie eine mystifizierende Funktion aus. Die Begabungsideologie, Grundvoraussetzung des Schul- und Gesellschaftssystems, bietet nicht nur der Elite die Möglichkeit, sich in ihrem Dasein gerechtfertigt zu sehen, sie trägt auch dazu bei, den Angehörigen der benachteiligten Klassen das Schicksal, das ihnen die Gesellschaft beschieden hat, als unentrinnbar erscheinen zu lassen. Denn sie bringt sie dazu, das als naturbedingte Unfähigkeit wahrzunehmen, was nur die Folge einer inferioren Lage ist und redet ihnen zu, dass ihr soziales Los (das mit fortschreitender Rationalisierung des Gesellschaft immer enger mit ihrem schulischen Schicksal verknüpft ist) ihrer individuellen Natur, ihrem Mangel an Begabung geschuldet ist. Die seltenen Erfolge der Wenigen, die dem kollektiven Schicksal entgehen, verleihen der schulischen Auslese einen Anschein von Legitimität und dem Mythos der befreienden Schule Glaubwürdigkeit, selbst bei den von ihr Ausgeschlossenen, da sie sie glauben machen, Erfolg sei nur eine Sache der Arbeit und der Begabung“ (Bourdieu 2006b, S. 46).
Bourdieu stellt damit vor allem die Rolle des kulturellen Kapitals bei der Reproduktion von Eliten und der Darstellung des illusionären Charakters von Chancengleichheit heraus. Er unterscheidet dabei unterschiedliche Eliten, die alle Herrschaft im sozialen Raum beanspruchen und diese über symbolische Kämpfe verteidigen. So wirken sich auch die Beziehungen, die innerhalb und außerhalb einer Elite unterhalten werden, als Ermöglichungs- oder Risikostruktur hinsichtlich gesellschaftlicher Teilhabe aus. Topologisch ist diese Analyse deshalb, weil es hier um die Herstellung von Nähen innerhalb des sozialen Feldes geht. Bildung ist in diesem Zusammenhang wesentlich daran beteiligt, die sozialräumliche Strukturiertheit fest- und fortzuschreiben. Hier findet sich eine Grundlage für ein erziehungswissenschaftliches Anknüpfen an die Studien von Bourdieu. Zwar zeigt Liebau (2006), dass Bourdieu von Pädagoginnen und Pädaogen als „Störenfried“ wahrgenommen wird – nicht nur weil er die Ideologie der Meritokratie anprangert, sondern auch weil er das Erziehungssystem grundsätzlich hinterfragt. Aber gerade die topologische Fundierung von Bourdieus Werk (vgl. auch Kap. 2.2) verweist auf die Möglichkeiten die Logik der Praktiken im sozialen Feld zugänglich zu machen (Forneck/Wrana 2006), die symbolische Gewalt im Feld zu untersuchen (VesterLange 2006, Bremer 2006) und somit die Möglichkeit der (Selbst-) Beobachtung operativ zu öffnen (Rieger-Ladich 2006). Hierdurch ist es möglich, Interdependenzen zwischen Handlungsräumen (wie Familie und Schule) und sozialer Zugehörigkeit herauszuarbeiten. Dies geschieht etwa in der Studie von Peter Büchner und Anna Brake (2006) zum „Bildungsort Familie“. Die Autorinnen und Autoren des hier benannten Bandes verlassen dabei den Rahmen des Bildungssystems und untersuchen dezidiert den familialen Rahmen als das primäre Bezugsmilieu, in dem grundlegenden Haltungen zum Bildungssystem vermittelt werden. Familie wird als Bildungsort bestimmt, jedoch – dies bleibt kritisch anzumerken – ohne direkte Bezugnahme auf die Spezifik dieses ‚Ortes’ gegenüber anderen Bildungsorten und ohne eine begriffliche Fassung des ‚Ortes’ als Bildungsraum. Dennoch bietet der Blick auf den familialen Habitus in seiner förderlichen oder hemmenden Wirkung für Bildungsprozesse die Möglichkeit, einen Eindruck von der Vernetztheit der Familie mit außerfamilialen Bildungsorten zu erlangen. So kann schließlich der Familienhabitus, der sich in den familialen Bildungsentwürfen und ihrer Kommunikation in der Familie materialisiert, als Ausdrucksgestalt räumlichen Handelns verstanden werden, in dem die milieuspezifischen 63
Bildungsimaginationen symbolisch verknüpft werden – durch die Einnahme von Haltungen zum Bildungsprozess, die vor dem Hintergrund der konkreten Position erfolgen. Büchner und Brake verweisen hier im Anschluss an Bourdieu (1999) auf die „vorreflexiven, nicht direkt abrufbaren Strategien des Habitus, die das Bildungsgeschehen viel nachhaltiger steuern, als es dies bewusst propagierten und verfolgten Bildungsziele zu tun vermögen“ (ebd., S. 108). Der Ausgang von diesen Strategien bietet Anschlussmöglichkeiten für diese Studie, da hier der Zusammenhang von (vorreflexiver, realer) Position, Imagination und der sie vermittelnden Symbolisierung in Platzierungs- und Aneignungshaltungen Niederschlag findet. Leider fehlt am Ende des sehr erhellenden Bandes von Büchner und Brake (2006) eine Typologie, welche die räumlichen Bezüge der Transmission von Bildung systematisierend fasst. Als Klassiker der Reproduktion von Milieubezügen kann die Studie „Spaß am Widerstand“ von Paul Willis (1979) gesehen werden. Hier erfolgt keine direkte Bezugnahme auf Bourdieu, doch zeigt diese ethnografische Studie über die widerständigen Arbeiterjugendlichen das Wechselspiel aus der jugendlichen Suche nach alternativen Handlungsräumen zur Schule und des sich sukzessive vollziehenden Ausschlusses aus dem dominanten System, das durch Schule symbolisiert wird. Die Angehörigen der widerständigen durch die Arbeiterkultur geprägten Jungenclique (genannt: die „lads“), die im Zentrum von Willis’ Betrachtung steht, zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich bei allen möglichen Gelegenheiten aus dem Schulgebäude entfernen und auf der Straße eine Zigarette rauchen. Diese Praxis ist eine ortsbezogene Praxis, mit der die ‚lads’ ihre Schuldistanz symbolisch markieren. Diese dokumentiert sich in einer doppelten Botschaft: zum Einen indem sie den Straßenraum als Teil des Schulraumes markieren, was jedoch wirkungslos bleibt, wenn sie von den Lehrerinnen und Lehrern in ihrer Grenzüberschreitung nicht bestätigt werden (vgl. Löw 2006, S. 117, Willis 1979, S. 35). Zum Anderen wird ein Innen und Außen markiert, wobei draußen vor der Schule die Auflehnung Schätzung erfährt, weil sie mit Tätigkeiten und Praktiken der Erwachsenen zu tun hat, die außerhalb der Schule liegen. „Die Welt der Erwachsenen, besonders die Welt der erwachsenen männlichen Arbeiterschaft wird zur Quelle des Materials für Widerstand und Selbst-Ausschluss“ (Willis 1979, S. 37). Dabei ist den ‚lads‘ jedoch nicht bewusst, dass sie sich selbst schon auf eine Position beziehen, die gesellschaftlich wie schulisch wenig anerkannt ist. So zeigt Willis, dass die praktische und interaktive Hervorbringung von Raum und Gegenraum ein Interaktionsprozess ist, der vor dem Hintergrund der Imagination von (Nicht-) Zugehörigkeit geschieht. Das spacing umfasst hier die Praxis des Zigarettenrauchens vor der Schule und basiert auf der Syntheseleistung, dass diese Tätigkeit die ‚lads’ in die Nähe der von ihnen antizipierten männlichen Arbeiter bringt. Es verkennt gleichsam die Positioniertheit im Abseits des schulischen Erfolges, die Transformationsmöglichkeiten eröffnen würde. Dieser kurze Abriss verdeutlicht nun, dass mit der räumlichen Praxis mehr verbunden ist, als das sukzessive Erschließen von Handlungsräumen: die Bewegungen im Raum symbolisieren Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit, also das Ausagieren von Inklusion und Exklusion. Die mikroanalytische Studie von Willis verdeutlicht damit anschaulich das, was Bourdieu zur Benachteiligung der „Volksklassemilieus“ (Bourdieu 2006b, S. 33) ausführt: es liegt eine doppelte Benachteiligung in Bezug auf die Kulturassimilation und die Neigung zum Kulturerwerb vor. Hier lässt sich mit Willis schließlich auch ein Bezug zu den Lacanschen Raumanalysen herstellen, denn Willis verdeutlicht den Widerspruch zwischen der 64
imaginierten Zugehörigkeit zu den männlichen Arbeitern und der Verkennung des gesellschaftlichen Ausschlusses (Willis 1979, S. 216 ff.). Jedoch wird diese Perspektive im Rahmen der CCCS-Jugendstudien erst von Hall und Cohen (Hall 1999, Cohen 1972) systematisch aufgenommen. Wenn Raum hier nur implizit als Bezugsgröße genutzt wird, so sind davon Studien zu unterscheiden, die Raum als Bezugsgröße explizit mit aufführen. So verweist etwa Breidenstein (2006) in seiner Studie zum ‚Schülerjob’ darauf, dass sich die räumlichen Ordnungen auf die Unterrichtssituation auswirken und kehrt dabei einer verdinglichten Sicht auf Raum den Rücken, indem er mit Verweis auf Löw (2001) einen relationalen Raumbegriff einführt. Diesem folgend untersucht er das, was bei Löw als Zusammenspiel aus spacing und Syntheseleistung charakterisiert wird: nämlich wie sich Schülerinnen und Schüler im Raum platzieren, um gesehen oder gehört zu werden oder um ganz allgemein (auch haptisch) wahrgenommen zu werden. Die herausgearbeiteten Strukturmomente der Geordnetheit von (Schul)-Räumen sind anschlussfähig an ethnographische Untersuchungen, die ebenfalls Raum einbeziehen (Breidenstein 2006, Wulf u.a. 2006). Ein gutes Beispiel für die Frage nach der Bedeutung von Raum und Bildung unter Einbeziehung mehrerer Ebenen sozialer Wirklichkeit ist die Dissertationsstudie von Andreas Pott (2002) zum Aufstiegsprozess junger türkischer Migrantinnen und Migranten, wobei es ihm gelingt Rückschlüsse von kontrastierenden Einzelfällen auf die übergreifenden Kategorien Ethnizität und Raum zu ziehen. Der hier entwickelte Raumbegriff ist mehrperspektivisch und an ethnischen und kulturellen Orientierungsmustern sowie der sozialen Mobilität im Aufstiegsprozess orientiert. Mit den beiden hier knapp skizzierten Studien kann nun eine Brücke zu machtanalytischen Studien in der Tradition Foucaults geschlagen werden. Besonders soll dabei der Band „Schulszenen“ von Friedrich Thiemann (1985) hervorgehoben werden. In einigen Essays über schulisches Handeln arbeitet er heraus, wie räumliches Handeln auch Anordnungsstrukturen reproduziert. Die mit dem Wegfall des Kathederpultes zunehmende Mobilität von Lehrerinnen und Lehrern beispielsweise symbolisiert neue Überwachungsmöglichkeiten. Die Überwachungsfunktion, die sich zuvor als panoptischer Blick ausgeformt hat (hier bestehen durchaus Parallelen zu Foucaults „Überwachen und Strafen“, 1994), wird damit ubiquitär (Thiemann 1985, S. 41). „Der Überwachungsblick, der sich nicht mehr von den Kindern wendet für die Dauer der Unterrichtsstunde. Tiefliegende Angst vor der Unordnung, vor dem Noch-Nicht-Gezähmten, dem Wilden bringt ihn hervor. Legalität erhält er als Technik der Herrschaft durch den institutionellen Auftrag. Der Überwachungsblick, der fortwährend auf den Schülern ruht. In ihm liegt eine Totalitätstendenz begraben“ (ebd., S. 49).
Thiemann macht mit seinen Ausführungen weiterhin deutlich, dass die räumlichen Praktiken des Schulischen, wie des Lehrerhandelns Schule als „Machtdispositiv“ begreifen lassen, das besonders unter Bedingungen einer als wissenschaftliche Technologie entwickelten Pädagogik des 20. Jahrhunderts Normalisierung in das Zentrum der pädagogischen Bemühungen stellt (ebd., S. 103), welche ihre Herrschaftsformen gerade durch den Anspruch „offener“ Schüler-Subjekte behauptet. Die Funktion schulischen Handelns liegt darin, dass nicht Ausgrenzung und Verbot als Herrschaftsinstrumente festgelegt sind, sondern Integration, die jedoch das, was ausgegrenzt werden soll, vereinnahmen und so zum verdeckten Herrschaftsinstrument machen. An die Stelle offener Überwachungsmaßnahmen treten damit subtile in die Lehrpersonen und Schülerpersonen hineinverlagerten Überwachungs65
und Ausgrenzungshandlungen (ebd. S. 121). Wie sich solche Überwachsungs- und Ausgrenzungspraktiken gerade in integrativen reformpädagogischen Erziehungsarrangements einschreiben, kann an der Untersuchung von Yamana (1996) deutlich gemacht werden. Anhand des foucaultschen Begriff der „Übersichtlichkeit“ arbeitet er den panoptischen Blick des Landerziehungsheimes Haubinda heraus. Die hierin liegende zentrale Paradoxie ist die folgende: der Abgeschiedenheit und Intention von Kleinräumigkeit stehen die Möglichkeiten umfassender Kontrolle und Beobachtung der Schüler/Schülerinnen durch die Lehrpersonen und Erzieher/Erzieherinnen gegenüber17. Die Analyse der räumlichen Symbolik und der darin liegenden paradoxen Struktur steht somit paradigmatisch für die Antinomien reformpädagogischer Maßnahmen und Konzepte insgesamt – also wie sie beispielsweise auch in den heteronomen Rahmungen der „Öffnung von Unterricht und Schulleben“ zwecks Autonomiegewinn liegt (vgl. Helsper 1996). Zu ähnlichen Befunden kommt auch Pongratz (1995, 2004), der die „panoptischen Strafpraktiken“ insbesondere in reformpädagogischen Konzeptionen, analysiert und zu dem Schluss kommt, dass gerade die Reformpädagogik, die als Freiheitspädagogik konzipiert und ausgewiesen ist, „selbst noch das Moment von Fremdbestimmung nach Maßgabe einer mobilisierten Gesellschaft“ (Pongratz 1995, S. 193) befördert. Denn einerseits verschwinden tatsächliche Zwänge zunehmend, andererseits wird Mobilität und schließlich die reformpädagogische Freisetzung selbst zum Zwang. Ähnliche Paradoxien arbeitet im Übrigen (Thompson 2004) in Bezug auf den Emanzipationsgedanken heraus: Nicht nur Schule, sondern „das Pädagogische überhaupt“ stellt in diesem Zusammenhang eine räumliche Struktur dar, welche „die befreiende Selbstbehauptung“ (ebd., S. 53) oft als oberstes Ziel deklariert. Freiheitspädagogik wird in diesem Zusammenhang in ihrer subtilen Eingebundenheit in Machtstrukturen thematisiert. Bei den ungleichheitstheoretischen und machtanalytischen Studien finden sich somit Bezüge zu einem relationalen Raumbegriff, der jedoch nur selten deutlich expliziert wird. Zwar werden erzieherische und schulische Orte hinsichtlich ihrer Ordnungsstrukturen in den Blick genommen und die darin möglichen handlungsräumlichen Positionierungen herausgearbeitet. Die Frage nach den relationalen Anordnungen, wie Löw sie mit den Begriffen spacing und Syntheseleistung beschreibt, bleibt jedoch aus. Raum wird vor allem als geordneter Ort verstanden, der Handeln umgibt und ermöglicht. Es wäre wünschenswert, dass die machtvolle Wirkung örtlicher und materieller Arrangements stärker auf die handelnde Konstruktion von Raum bezogen würde. Solche Perspektivierungen finden wir schließlich im Ansatz mit Bezug auf die Theorie Lacans. Hier bilden sich Vorstellungen von Prozessen des Aufwachsens, die mit einem dezentrierten Raumverständnis korrespondieren, in unterschiedlichen Studien ab, von denen hier einige exemplarisch aufgegriffen werden. So betrachtet Kokemohr (2007) die Erfahrung von und den Umgang mit Fremdheit in der Spannung von Imaginärem, Symbolischen und Realen, in der sich eine grundlegende Paradoxie konkretisiert, die wiederum Bildungsprozesse in Gang setzen kann. Das empirische Beispiel, an dem er seine theoretischen Ausführungen mit Bezug auf Waldenfels, Ricoeur und Lacan ausgestaltet ist das Folgende:
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Ähnliches arbeitet auch Anja Gibson (2007) in ihrer Diplomarbeit zu Landerziehungsheimen und Generationsbeziehungen heraus.
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„Der Student Bernard berichtet von der Erfahrung in der Warteschlage vor einer McDonalds-Kasse. Als eine zweite Kasse geöffnet worden sei, habe der neue Kassierer, statt ihn, den Afrikaner, der als zweiter in der ersten Kassenschlange gewartet habe, den Dritten, einen Weißen hinter ihm, zur sofortigen Bedienung an seine Kasse gewinkt. Das Verhalten des Kassierers, das er in analogen Situationen ähnlich erfahren habe, deutet der Kameruner Student Bernard als rassistisch. [Im Seminar entspinnt sich daraufhin ein Konflikt um die Frage, ob dies tatsächlich als rassistische Handlung zu markieren sei, M.H.].Der Konflikt in der Diskussion bezieht sich auf diese Wertung: Welches wäre die Position, aus der dem Verhalten des Kassierers das Prädikat ‚rassistisch’ zugesprochen werden könnte? Die eine Seite behauptet, das individuelle Verhalten sei rassistisch, nämlich systematischer Ausdruck einer rassistisch verfassten Gesellschaft. Die andere Seite entgegnet, das Prädikat ‚rassistisch’ sei eine Zuschreibung, die im gegebenen Fall nicht nachprüfbar sei, da sie sich auf die nicht formulierte Sinnwelt eines Handelnden beziehe und einem externen Beobachter nicht zugänglich sei.“ (ebd., S. 14).
Zwischen zwei unterschiedlichen Akteursgruppen konfigurieren sich zwei unterschiedliche Diskurse, in denen die Präfiguration unterschiedlicher Weltanschauungen zum Ausdruck kommt. Kokemohr zeigt hieran auf, dass hier die wechselseitige Thematisierung von Fremdheit zu einem Paradoxon führt, das Bildungspotenzial besitzt. Unter der Bedingung nämlich, dass die widersprüchlichen Diskurse einander als fremd kon- und refigurieren, wird die Anwesenheit des Abwesenden (des ausgeschlossenen Fremden) thematisiert. In der Anrufung der anderen Haltung als fremd entsteht somit eine Symbolisierung des Fremden, der Vermutungen/Imaginationen bezüglich der eigenen (einheitlichen) Weltdeutung zugrunde liegen, die sich an der Realität – i. e. der Widersprüchlichkeit bzw. Paradoxie, dass Abwesendes (Fremdes) als anwesend thematisiert wird – brechen. Die Aufrechterhaltung der Imagination bedeutet in diesem Fall die Exklusion des Fremden und der damit verbundenen möglichen Transformation, in der ein Bildungsprozess begründet liegen könnte. Das spezifisch Räumliche liegt dabei m.E. in der Nutzung der eigenen Imaginationen zur Aufrechterhaltung der eigenen Positionierung, die Nichtgesagtes, aber präfigurativ Imaginiertes, inkludiert und darüber andere Handlungen exkludiert. Die damit möglich werdende Anschlussfähigkeit an das Raumkonzept steht beispielhaft für den individuell wirksam werdenden Bildungsvorhalt, der auf der Grundlage realer Widersprüche handelnd, aneignend und sich platzierend bearbeitet wird. Bildung wird in diesen Widersprüchen also vorgehalten und die Widersprüche selbst ermöglichen das zugänglich zu machen, was sonst unzugänglich ist, weil es aus den eigenen Handlungsmöglichkeiten exkludiert ist. Mit einem dezentrierten Raumverständnis werden somit auch Bildungsprozesse differenziert beschreibbar. Bildung erscheint damit auch anschlussfähig an das Krisenkonzept Oevermanns (2008a). Sie kann räumlich gefasst werden, indem sie als widersprüchliche Einheit der Imagination von Einheitlichkeit und der realen Widersprüchlichkeit beschrieben wird, die temporär aufbricht und in die Krise gerät, dabei aber kontextuierte Möglichkeitsräume für die Neuordnung von Welt-, Sach- und Selbstbezügen bietet. Dabei zeigen sich jedoch in den unterschiedlichen Kontextuierungen der Möglichkeitsräume differente Teilhabechancen am Bildungsprozess. Möglichkeitsräume offenbaren unterschiedliche Inklusions- und Exklusionspotenziale, welche die Frage nach der Geordnetheit von Bildungsprozessen aufwerfen. Dies lässt sich schließlich angemessen mit dem Begriff der Zugehörigkeitsordnung (Mecheril/Hoffarth 2009) beschreiben. Zugehörigkeitsordnungen lassen sich als „machtvolle Zusammenhänge (…) verstehen (…), die durch eine komplexe Form der Ermöglichung und Reglementierung, der symbolischen, kulturellen, politischen und biographischen Einbeziehung und Ausgrenzung auf den und die Einzelne produktiv Einfluss nehmen, diese konstituieren“ (ebd., S. 252)
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Am Beispiel der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit und ihrer empirischen Ausdrucksgestalt (z.B. durch Erfahrungen von Ausgrenzung) entfalten die hier zitierte Autorin und der Autor die Bedeutung der Zugehörigkeitsordnungen für den Erhalt von Macht: als Mittel der Disziplinierung, Habitualisierung und Bindung, als politische und kulturelle Privilegierung und als Positionierungsaufforderung für das einzelne Handlungssubjekt. Die eigene Positionierung erfolgt also dieser Argumentationslinie, immer auch in Auseinandersetzung mit der Differenz dessen, was als illegitim abgespalten wird. In der Jugendphase ist die Bewältigung dieser Anforderungen eine zentrale Anforderung, in deren Rahmen sich auch mit Familie und Schule auseinandergesetzt wird. Hierbei können Subkulturen eine besonders hohe Relevanz besitzen. So zeigen die Arbeiten von Phil Cohen (z.B. 1972), der wie der bereits erwähnte Paul Willis und auch der noch zu erwähnende Stuart Hall dem Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) angehörte, dass die latente Funktion von Subkulturen darin liegt, dass verdeckte und ungelöste Widersprüche mit der Elternkultur zum Ausdruck kommen und ‚magisch’ bearbeitet werden: auch hier liegt ein Verweis auf die Dezentriertheit des Handelns, die sich in den (imaginären) Platzierungs- und Verortungsleistungen der Jugendlichen niederschlägt. Dabei ist besonders die Bezugnahme auf die Spannung des Imaginären, des Symbolischen und des Realen interessant – darauf verweist auch Hall (1999) – weil das Imaginäre hier nicht wie bei Lacan genutzt wird, um die Verkennung des fragmentierten Eigenen zu beschreiben, sondern hier gerade auch eine kreative Instanz der Konfliktbearbeitung angelegt wird. Hall (2000) erklärt dies wiederum mit dem Derridaschen différance-Begriff, dem zur Folge Spannungen und ungelöste Konflikte gerade als Antrieb für Handeln gesehen werden. Die Möglichkeit die Dezentriertheit als spannungsvolles Zusammenwirken der Ebenen des Imaginären, des Symbolischen und des Realen zu begreifen, eröffnet in diesem Zusammenhang Anschlüsse, das Imaginäre als kreative Instanz der Aneignung und Neuorientierung zu begreifen. Wir können an dieser Stelle schlussfolgern: Studien, die sich im Sinne eines relationalen Raumbegriffs fassen lassen, sind noch lange keine ausgewiesenen raumanalytischen Studien. Zwar gehen Aspekte räumlichen Ordnens und Strukturierens in sie ein, doch setzt sich – insbesondere, wenn es um die Thematisierung von Bildung geht – immer wieder die Orientierung an Zeitlichkeit durch, gerade weil Bildung als Transformationsprozess begriffen werden kann, der eine Neuorientierung der Welt-, Selbst und Sachbezüge beinhaltet. Innovativ stellt sich demgegenüber der Herausgeberinnenband von Jeanette Böhme (2009) zu „Schularchitektur im interdisziplinären Diskurs“ dar. In diesem Band wird sowohl Fragen der handelnden Hervorbringung relationaler Räume als auch der strukturtheoretischen Bedeutung von Orten nachgegangen. Auch wenn im Zentrum des Bandes letztlich vor allem schularchitektonische Wirkmächtigkeiten und Potenziale stehen, die in der vorliegenden Arbeit eher randständig betrachtet werden, findet sich hier doch ein bespielhafter Versuch einer Verknüpfung relationaler Raumkonzepte mit schulischen Verortungspraxen (z.B. Rieger-Ladich/Ricken 2009, Böhme/Herrmann 2009). Zugleich findet sich in dem Artikel „Grenzverschiebungen: Diskurse und Praktiken in Ganztagsschulen“ von Fritz-Ulrich Kolbe und Sabine Reh (2009) eine Auseinandersetzung mit dem Vokabular von Deleuze und Guattari in der Frage, ob es durch neue ganztagsschulische Konzepte, ihre reformpädagogische und zum Teil entgrenzende Handlungslogik nicht zu einer Deterritorialisierung und Neudefinition des schulischen Raumes komme. Diese Idee, die in der Offenheit neuer schu68
lischer Lernarrangements eine Öffnung des Lernens insgesamt versteht, wird jedoch konterkariert durch die individuellen Gelingens- und Misslingensbedingungen der Raumaneignung und Selbstverortung (spacing). Diese stellen keine Entgrenzung, sondern lediglich eine „Grenzverschiebung“ dar, die den schulischen Raum gerade nicht im Lichte einer Deterritorialisierung erscheinen lässt. „Auch neue Räume, die neue schulische Praktiken ermöglichen und teilweise erforderlich machen und in denen diese gleichzeitig konstituiert werden, sind von Normen durchdrungen […] und davon, was man […] an welchen Plätzen tun kann“ (ebd., S. 115).
Zusammenfassend ergibt sich folgendes Bild: am ehesten werden derzeit die bourdieuschen Analysen aufgegriffen – etwa um Prozesse sozialer Ungleichheit zu erklären und einzuordnen. Dabei wird jedoch zum Teil ein sehr verdinglichter und einseitig auf die angenommene ‚Wirkung‘ der drei Kapitalsorten reduzierter Bourdieu verwendet – insbesondere in quantitativen Verfahren der Analyse von Bildungsungleichheit. Studien, die sich mit dem interdependenten Zusammenspiel von Struktur und Handeln im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit befassen, die (qualitativ) auf die Erforschung überindividueller Bedingungsgefüge für die Reproduktion von Habitus gerichtet sind und die Aspekte der symbolischen Gewalt im pädagogischen Handeln rekonstruieren, nehmen dabei dezidiert auf die Komplexität des Bourdieuschen Ansatzes Bezug. Hier spielt die Frage nach der Verortung im Vergleich zu den anderen Autoren eine ungleich größere Rolle: Foucault hingegen wird nur selten vor dem Hintergrund der raumtheoretischen „Klammer“ der Heterotopien (Günzel 2007) rezipiert. Dominant scheinen vielmehr die Analysen, die in Analogie z.B. von „Überwachen und Strafen“ (Foucault 1994) den panoptischen Blick der Schule betrachten. Dominant sind damit Studien, die den materiellen Niederschlag räumlicher Strukturen fokussieren - die Sitzordnung, die Beobachtungsmöglichkeiten von Lehrerinnen/Lehrern sowie die Architektur. Die Frage der Diskurse, die mit materiellen Ausdrucksgestalten angesprochen werden, werden selten berührt. Die heterotopologische Beschreibung, die den Antworten auf diese Frage den Weg ebnen würde, ebenso. Mit Bezug auf Lacan und die strukturtheoretisch fundierte Migrationsforschung sensu Mecheril gelingt es schließlich ein dynamisiertes Raumkonzept in die Analyse der Prozesse des Aufwachsens einzuführen. Dieses auszudifferenzieren und zu systematisieren ist schließlich das Ziel der vorliegenden Studie. Exemplarisch sollen entlang der Studie „Jugend zwischen Familie und Schule“ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009) die Möglichkeiten und Grenzen raumanalytischen Vorgehens systematisch ausgeleuchtet werden. Dazu bedarf es zunächst der Vorstellung der Studie.
3.2.2 Jugend zwischen Familie und Schule: Exemplarische Diskussion raumanalytischer Forschungsdesiderate in der Schulkulturanalyse 3.2.2.1 Zum heuristischen Modell einer pädagogischen Generationsordnung Der Band „Jugend zwischen Familie und Schule“ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009) ist aus einem DFG-Projekt hervorgegangen, das an die Studie zu „Schulkultur und Schulmythos“ (Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001) anschließt. In diesem, zeitlich dem Projekt zu Generationsbeziehungen vorausgehenden Projekt wurde ein mehrebenenanalyti69
sches Konzept zugrunde gelegt, das die Vermittlung von Struktur und Handlung im Blick hat und dabei die durch Antinomien und Widersprüche dezentrierte institutionelle Kultur analytisch erfasst. Aus der Erkenntnis um unterschiedliche Passungskonstellationen, die zum institutionellen Entwurf hergestellt werden (Kramer 2002) und der jeweiligen Bedeutung, die dies wiederum für die institutionelle Kultur hat (Böhme 2001) wurde schließlich gefolgert, dass Schule und Familie als unterschiedlich strukturierte Zusammenhänge sowohl unterschiedliche Anerkennungsstrukturen bereithalten als auch Haltungen reproduzieren, die – in ihrer biografischen Verschränkung durch das jugendliche Selbst – positive und auch antagonistische Passungsverhältnisse produzieren können. Wie diese jedoch konkret ausgestaltet sind, konnte nicht vollständig, d.h. im Spannungsfeld von Jugendlichem oder Jugendlicher, Familie und Schule überprüft werden. Damit tritt das Thema der Generation und der Generatinsbeziehungen auf den Plan: Zum Begriff der „Generation“ gibt es zahlreiche Theorien und Auseinandersetzungen. Diese können prinzipiell danach unterschieden werden, ob es darum geht, Generationen als unterscheidbare kollektive „Lagerungen“ – in Analogie zu Klassenlagerungen (Mannheim 1928) – zu kennzeichnen (auch: Parnes/Vedder/Willer 2008) oder Verhältnisbestimmungen zwischen den Generationen vorzunehmen, wie dies in erziehungswissenschaftlichen Theorien und Bestimmungen der Fall ist, die mit Kaufmann (1993, 2007) in makrosoziale Generationenverhältnisse und mikrosoziale Generationsbeziehungen unterschieden werden können. Hier ist ein Mehrebenenmodell angelegt, das Generation als relationalen Zusammenhang fasst, der in einer generationalen Ordnung gefasst werden kann (Honig 1996, 1999, Lüscher/Liegle 2003, Kramer/Helsper/Busse 2001, Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009). Bezüglich dieser Ordnung herrschen jedoch unterschiedliche Annahmen, die im Folgenden dargestellt werden, wobei der Fokus vor allem auf solche Annahmen gerichtet wird, die für den heuristischen Rahmen der vorliegenden Studie relevant sind. Ausgehend von der Schleiermacherschen Frage „Was will denn die ältere Generation mit der jüngeren“ (Schleiermacher 1959) fokussieren zahlreiche Studien auf die Familie, wobei die unterschiedlichsten Annahmen zur Bedeutung von Familie unter modernisierten Bedingungen gelten: zum Einen ist die Rede von demokratisierten und informalisierten Beziehungen zwischen Eltern und ihren Kindern (Elias 1989, Wouters 1977, 1997, de Swaan 1982), zum Anderen wird der Innovationsgehalt von Jugend so hoch eingeschätzt, dass es zu einem Bedeutungsverlust der älteren Generation für die jüngere kommt (du BoisReymond 2005,2007, Hengst 2000). Schließlich kommt es auch zu Annahmen der Verkehrung der Generationsbeziehungen, die in die zugespitzte Frage mündet, was denn die jüngere mit der älteren Generation wolle (vgl. Ecarius 1998, Müller 1996). Für die Annahme zu schulischen Sozialisations- und Erziehungsverhältnissen hatten diese weitreichenden Thesen unterschiedliche Folgen, denn die kulturelle Aura der Schule und die Lehrerautorität, die noch in den reformpädagogischen Publikationen Nohls (1988) und Kerschensteiners (1927) im Zentrum der Betrachtung standen, wurden konterkariert durch die Annahme pädagogischer Krisenphänomene (du Bois-Reymond 1998b, Winterhager-Schmid 2000). Die Komplexität der spannungsvollen familialen oder schulischen Verhältnisse wird gesteigert, wenn man sich das Verhältnis von Familie und Schule – zwei zentralen Erfahrungsräumen für Jugendliche – betrachtet. Unterschiedliche theoretische Ansätze sehen in Familie und Schule entweder komplementäre Ergänzungsverhältnisse oder aber Spannungsverhältnisse, in denen die Familie entweder durch die Strukturlogik der Schule, ihren 70
Leistungszwang und ihre Selektionsmacht überformt ist oder durch die Ungleichheitsphänomene in die Schule hineinragen (vgl. Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009, S. 36). Alles in allem sind die Annahmen zu pädagogischen Generationsbeziehungen in Familie und Schule jeweils sehr weit reichend und auf hohem Verallgemeinerungsniveau formuliert. Sie zeugen zugleich davon, dass Generationsbeziehungen eingebunden sind in kulturelle und historische Gegebenheiten. Unter Modernisierungsbedingungen bildeten sich Familie und Schule dabei mehr und mehr als im Kern unterschiedliche Bildungsbereiche aus. Oevermann (2001, 2008b) spricht von der Familie als diffuser Sozialbeziehung, die auf Emotionalität, Diffusität, Nähe und Liebe basiert. Die Beziehungen sind nicht rollenförmig, prinzipiell unkündbar, finden zwischen ganzen Personen statt und das Personal ist nicht substituierbar. Schulisches Handeln hingegen fasst er als professionelles ‚Arbeitsbündnis‘18 auf, in dem Beziehungen stärker rollenförmig und universalistisch ausgeformt sind und es um die Vermittlung von Inhalten und Unterricht geht (vgl. auch Helsper/Hummrich 2008a). Mit Verweis auf Parsons (2000) wird jedoch herausgearbeitet, dass bis in die Jugendphase hinein Schüler als ganze Person in die Lehrer-Schüler-Beziehung inkludiert sind, während der Lehrer zugleich auf der Grundlage universalistischer Rahmungen handeln muss (vgl. Oevermann 2001a, 2008b, Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009). Die symbolische Generationsordnung, die in der Studie „Jugend zwischen Familie und Schule“ schließlich als heuristisches Modell dient, wird als Bestandteil und Ergebnis von symbolischen Kämpfen und Auseinandersetzungen um Anerkennung aufgefasst (vgl. Honneth 1994, Bourdieu 1998b), die auf mehreren Ebenen wirksam werden: der rechtlich-organisationsförmigen, der regionalen, der institutionellen oder millieuspezifischen, der interaktiven und der individuellen Ebene (vgl. Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009). Damit kann das anfänglich erwähnte Mehrebenenmodell von makrosozialen Generationsverhältnissen und mikrosozialen Generationsbeziehungen, das sich in seiner Wechselwirkung zu einer Generationsordnung entfaltet, ausdifferenziert werden: Generationsverhältnisse werden durch institutionelle und milieuspezifische generationale Ordnungen vermittelt oder auch gebrochen, diese wiederum durch die interaktiv ausgeformten Generationsbeziehungen und diese wieder durch die Generationsakteure und -individuen. Schließlich werden die Ordnungen auf den unterschiedlichen Ebenen wiederum in der Spannung von Imaginärem, Symbolischen und Realem wirksam. In Modifikation des Lacanschen 18
Der Arbeitsbündnisbegriff ist nicht unumstritten, da Oevermann das Lehrer-Schüler-Arbeitsbündnis in Analogie zum therapeutischen Arbeitsbündnis entwirft und schulisches Handelns somit ‚prophylaktisch-therapeutisch‘ wird. Dies begründet er damit, dass „angesichts des Übergangscharakter der Latenzphase und Ungefestigtheit von Autonomie und Rollenhandlungsfähigkeit des Schülers in dieser Phase immer auch [schulisches Handeln, M.H.] immer auch folgenreich für die Entwicklung des Schülers als ganzer Person“ (Oevermann 1996, S. 147) ist. Im Projekt „Pädagogische Generationsbeziehungen in Familie und Schule“ wurde sich an der Strukturbeschriebung dieses Arbeitsbündnisbegriffs orientiert, wenngleich aufgrund der empirischen Befunde, die Annahme, gelingende Lehrer-Schüler-Beziehungen könnten durch die Schulpflicht gar nicht zustande kommen, modifiziert werden musste (Helsper/Hummrich 2008b). Als Grundlage wird hier die Strukturiertheit durch die Aufgabe der Wissensvermittlung gesehen, in der sich der Lehrer rollenförmig, der Schüler als ganze Person verhält. Der Aspekt des Therapeutischen oder Prophylaktisch-therapeutischen wird hier jedoch zurückgestellt gegenüber dem empirischen Befund der Einlagerung der Lehrer-Schüler-beziehung in konstitutive Handlungsantinomien (vgl. Kramer/Helsper/Busse 2001, Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009). Dieser Aspekt soll auch im Folgenden leitend das Verständnis von „Arbeitsbündnis“ bestimmen und ich greife diesen Begriff auch in den Interpretationen auf, selbst wenn ich schlussendlich zu dem Ergebnis komme, dass sich für den raumanalytischen Zugang der offenere Begriff der „Lehrer-Schüler-Beziehung“ besser eignet (vgl. S. 214) - in Analogie zu dem hier vornehmlich verwendeten Begriff „Jugend“ anstelle von „Adoleszenz“ (vgl. S. 45).
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Modells, der ja im Realen das sieht, was der Symbolisierung prinzipiell unzugänglich ist und mit Bezugnahme auf die schulkulturellen Studien (Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001) wird damit ein dezentrierter Ordnungsbegriff für die Generationsthematik entworfen, der generationale Ordnungsstrukturen auf den unterschiedlichen Handlungsebenen wie folgt fasst: -
-
-
Das Imaginäre der Generationsordnung stellt sich in idealen Bildern, in Mythen und Entwürfen dar, die als Ansprüche und Idealkonstruktionen das richtige und angemessene Verhältnis zwischen den Generationen bestimmen und zugleich auch den Normalitäts- und Erwartungshorizont von Angemessenheit und Unangemessenheit definieren. Sie haben somit visionären Gehalt und Innovationskraft, können aber auch verkennende Konstruktionen bilden, in denen die Strukturprobleme und Spannungen von Generationsbeziehungen und -verhältnissen illusionär überspielt werden (Helsper/Kramer/Hummrich/ Busse 2009, S. 48). Das Symbolische der Generationsordnung umfasst die interaktiven Handlungsverkettungen zwischen generationalen Akteuren, in denen sich jenseits der bewusst formulierten Ziele und Erziehungsverständnisse latente Sinnstrukturen ausformen (Kramer/Helsper/Busse 2001), die sowohl Routinen und Regeln des sozialen Miteinanders umfassen, als auch das Latente, das Unbewusste und Unsagbare von Generationsbeziehungen (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009, S. 49). Die dritte Ebene ist die Ebene des Realen als einer fallspezifischen Variante der Lösung und Bearbeitung übergreifender sozialer und kultureller Generationsverhältnisse und der darin generierten Strukturprobleme und Ambivalenzen. Das Reale ist hier nicht naturalistisch-substanzialistisch zu verstehen, sondern betrifft den individuierten Umgang mit widersprüchlichen Ansprüchen wie sie kulturell und überindividuell an die Ausgestaltung von Generationsbeziehungen herangetragen werden Es ist als sinnstrukturiert und handelnd generiert zu begreifen (Kramer/Helsper/Busse 2001, S. 143, Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009, S. 49).
Diese unterschiedlichen Ebenen des Imaginären, des Symbolischen und des Realen lassen sich schließlich zu den unterschiedlichen Aggregierunsebenen des Sozialen vermitteln (Abb. 1). IMAGINÄRES
SYMBOLISCHES
REALES
Generationsverhältnisse Generationsmilieus und institutionen
Generationsbeziehungen Generationsakteure/ Individuen Abb. 1: Generationsbeziehungen in der Spannung von Imaginärem, Symbolischem und Realem (aus: Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009, S. 50)
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Die damit markierte symbolische Ordnung pädagogischer Generationsbeziehungen ruht dabei nicht in einer Vorstellung geschlossener oder statischer Generationsstrukturen, sondern wird als prinzipiell transformatorisch und zugleich durch Inkonsistenz, Ambivalenz und Antinomie gekennzeichnet begriffen (ebd., S. 50). Ein solches Modell greift damit die Annahmen zur Ambivalenz von Generationsbeziehungen auf, wie sie sich etwa bei Lüscher und Liegle (Lüscher 2000a,b, 2005, Lüscher/Liegle 2003) findet. Als gesellschaftlich-kulturelle Antinomien, die im Fall von pädagogischen Generationsbeziehungen wirksam werden, können ausgemacht werden: Nähe vs. Distanz, Vertrauen vs. Misstrauen, Autonomie vs. Heteronomie, Begründen/Verständigen vs. Befehlen/Anordnen, Person vs. Sache, Interaktion vs. Organisation und Rekonstruktion vs. Subsumption (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009, S. 53). In diesen werden emotionale, moralische und individuelle Anerkennungsverhältnisse in unterschiedlichen Balanceverhältnissen wirksam. Gleichzeitig lassen sich unterschiedliche Modelle von Generationsbeziehungen ausformen, je nachdem ob diese in der Familie oder in der Schule situiert sind. Dies ist dadurch begründet, dass das Verhältnis von Vermitteln und Aneignen als Kern des unterrichtlichen Geschäfts und damit der Lehrer-Schüler-Beziehung verstanden werden muss, während es in der Familie in diffuse Beziehungen eingelagert ist (ebd., S.57ff.). 3.2.2.2 Durchführung und Auswertung der Studie „Jugend zwischen Familie und Schule“ Das Untersuchungsziel die Generationsbeziehungen in der Jugendphase differenziert in den Blick zu bekommen wurde mit einer komplexen Gegenstandskonzeption bearbeitet, die Jugendliche, die als Schülerinnen und Schüler in Familie und Schule eingebunden sind, ins Zentrum setzt (ebd., S. 64) und von da aus nach den wirksam werdenden symbolischen Generationsordnungen fragt. Es geht somit um die Bestimmung von Relationen zwischen Jugendlichem/Jugendlicher und Lehrerinnen/Lehrern bzw. Eltern und den jeweiligen Entwürfen, Mythen und Bildern, die bezüglich der Generationsbeziehungen eröffnet werden (vgl. auch Abb. 3, S. 76). Hierüber werden schließlich Passungsverhältnisse zwischen familialen und schulischen pädagogischen Generationsbeziehungen rekonstruiert, die Aufschlüsse über die jeweils höhersymbolisch wirksam werdenden Ordnungen – als die milieuspezifischen und institutionellen – zulassen. Um ein möglichst kontrastreiches Spektrum einzubeziehen wurden eine ländliche Sekundarschule in Ostdeutschland, ein traditions- und leistungsorientiertes Gymnasium in einer ostdeutschen Stadt sowie eine reformpädagogische integrierte Gesamtschule in Westdeutschland betrachtet. Für diese drei Schulen wurden die Schulleiterreden zur Begrüßung der neuen Schülerinnen und Schüler erhoben, um Aufschluss über die Generationsentwürfe zu erhalten. Weiterhin wurden jeweils zirka 25 Unterrichtsstunden videografiert, 10 Schülerinnen- und Schülerinterviews durchgeführt, sowie 4 Abendbrotszenen in der Familie. Abschließend wurden Eltern- und Lehrerinterviews durchgeführt. Ausgewertet wurde mit dem Verfahren der Objektiven Hermeneutik (Oevermann 1996b), das sequenzanalytisch vorgeht und auf die Rekonstruktion grundlegender Strukturproblematiken zielt. In Bezug auf die Gegenstandskonzeption bot sich dieses Verfahren besonders an, weil es 1., auf unterschiedlichste Textsorten angewendet werden kann und somit für Ausdrucksgestalten sozialer Lebenspraxis auf allen Ebenen angewendet werden konnte und 2., weil es hierdurch möglich wurde nicht nur latenten Strukturproblemen, son73
dern auch latenten Bearbeitungsfiguren dieser Strukturprobleme auf die Spur zu kommen und hieran die idealen Konstruktionen, Bilder und Mythen herausarbeiten zu können (vgl. Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009, S. 78). Nachdem für jede Schule der imaginäre Entwurf der Schulleiterin und des Schulleiters herausgearbeitet wurde, konnten jeweils vier Fallstudien angefertigt werden, die von dem oder der Jugendlichen ausgehend, die familialen und schulischen Generationsbeziehungen sowie die Biografien der 16jährigen Schülerinnen und Schüler in den Blick nahmen. Auf die Falldarstellungen erfolgten Kontrastierungen der in der jeweiligen Schule wirksam werdenden pädagogischen Generatiosbeziehungen, die Aufschluss über die hierin wirksam werdenden symbolischen Generationsordnungen gaben. Der empirische Teil wurde abgeschlossen durch eine schulübergreifende Kontrastierung, welche die jeweiligen Generationsordnungen auf den unterschiedlichen sozialen Sinnebenen extrapolierten. Dabei wurden Rückschlüsse auf das Passungsverhältnis von Schule und Milieu gezogen, die dyadischen Arbeitsbündnisse der Schulen miteinander verglichen und die familialen Generationsbeziehungen kontrastiert. Abschließend wurden vor dem Hintergrund der 12 analysierten biografischen Erzählungen in ihrem Wechselspiel mit den Generationsbeziehungen die Individuationspotenziale der Schülerinnen und Schüler herausgearbeitet. 3.2.2.3 Zentrale Ergebnisse der Studie Es ist nun kaum möglich, die Ergebnisse der Studie an dieser Stelle umfassend darzustellen. Zentral ist jedoch, dass im Rahmen der Kontrastierung die Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Handlungsinstanzen für unterschiedliche Sinnebenen rekonstruiert werden konnten, die wiederum interdependent miteinander verbunden sind. So wurde etwa die Annahme der Schule als „Institutionen-Milieu-Komplex“ (Helsper 2006) vertiefend für alle drei Schulen betrachtet und in Anlehnung an Vester (2005) zentrale Bezugsmilieus für die drei involvierten Schulen herausgearbeitet. Mit der gleichzeitigen Bestimmung von „Abstoßungsmilieus“ gab es erste Verweise auf das Wechselspiel von Teilhabemöglichkeiten und Exklusionsbedrohungen, die – wie später gezeigt wird – raumtheoretisch unterfüttert werden können, da sie sich bereits am bourdieuschen Raumbegriff orientieren. Andere raumanalytische Konzepte werden hier jedoch noch nicht einbezogen. Auch in der weiteren Auswertung der Erkenntnisse fällt die Verwendung relationaler Konzepte, die verräumlichend visualisiert werden, auf. Insbesondere bei der Frage nach der Ermöglichung von Individuation in pädagogischen Generationsbeziehungen werden hier Individuationschancen und -risiken zum Spannungsverhältnis von Transformation und Reproduktion vermittelt, so dass eine räumlich-dynamische Vorstellung der Möglichkeiten und Risiken von Individuation entsteht. In den Interaktionen hingegen wird die Relationierung mehr über die Beziehungsstruktur zwischen Lehrerperson und Schülerperson oder Eltern und Kind dargestellt. Dabei wird über die Vermittlungen unterschiedlicher Beziehungsdynamiken und strukturen zur intersubjektiven Anerkennungstheorie von Honneth (1994) eine erste Annäherung an die räumliche Ermöglichungsstruktur emotionaler, moralischer und individueller Anerkennungsbeziehungen in Familie und Schule eröffnet, indem familiale und schulische Beziehungsstrukturen zueinander vermittelt werden. Eine systematische Auseinandersetzung mit den Inklusions- und Exklusionsbedingungen bleibt jedoch aus. An diese Stelle tritt eine Auseinandersetzung mit der strukturalen Familientheorie und den professionell74
pädagogischen Arbeitsbündnissen, der sozialisatorischen Bedeutung von Anerkennung, den Thesen zum Verfall pädagogischer Generationsbeziehungen und eine Revision des Modells der symbolischen Generationsordnung. Sehr verknappt kann der zentrale Fokus als Analyse des interdependenten Zusammenspiels von Institution/Milieu, familialer und schulischer Interaktion und individueller Biografie im Spannungsfeld von Transformation und Reproduktion bestimmt werden. Dabei kann festgehalten werden: (1) Familiale Generationsbeziehungen haben eine hohe Bedeutung für Jugendliche. Hier geht es zum Einen um die Erfahrung emotionaler Anerkennung und zum Anderen um die hierin eingelagerte Vermittlung von Ressourcen zur Lebensführung. Abhängig von dem jeweiligen Milieu, in dem familiale Generationsbeziehungen situiert sind, entstehen eher reproduktive oder transformatorische Bezugnahmen auf Kinder und Jugendliche. Das heißt: während es in kleinbürgerlichen Milieus, in denen die ländliche Sekundarschule angesiedelt ist, eher um reproduktive An- und Einpassung geht, finden wir in der reformpädagogischen Gesamtschule und den hiervor ‚angezogenen‘ avantgardistisch-alternativen Milieus die deutlichsten an individueller Transformation orientierten Entwürfe. Ein Ausfall, eine Verweigerung oder Umkehr der familialen Generationendifferenz bedeutet für Jugendliche problematische Konsequenzen für ihre Individuationsprozesse, da signifikante Andere ausfallen. (2) Schulische Generationsbeziehungen gestalten sich als dyadische Arbeitsbündnisse aus, die in die jeweilige schulkulturelle Ordnung und deren idealtypisches Arbeitsbündnis eingebettet sind. Dabei wird der Anspruch einer universalistischen Ordnung der Schule von den milieuspezifisch-partikularen Bezügen der jeweiligen Schule unterwandert. Produktive Passungsverhältnisse entstehen am ehesten dort, wo durch den Schüler/die Schülerin die schulischen Milieubezüge hergestellt werden können, die ihrerseits eng mit je spezifischen Vorstellungen von Leistung und Erfolg konnotiert sind. Dabei involviert das im Unterricht entstehende dyadische Arbeitsbündnis, so kann in Anschluss an Oevermann (2001, 2008) entfaltet werden, immer sowohl den Lehrer, als auch den Schüler; der Lehrer muss in der Interaktion eine Respezifikation vornehmen, d.h. er muss sich auf den Schüler (und sein Elternhaus/seine Biografie) beziehen. Und er muss auch eine Reuniversalisierung vornehmen, indem er die Interaktion immer wieder begrenzt und in das Klassengeschehen einbindet (vgl. auch Helsper/Hummrich 2008b). Insbesondere in Fällen der ‚Verwendung‘ der Schülerinnen und Schüler durch den Lehrer (etwa um den Unterricht voranzubringen) werden die Respezifizierungen jedoch auch als Entgrenzungen empfungen und durch die Schüler begrenzt, indem sie selbst die Reuniversalisierung vornehmen. (3) Die drei Formen intersubjektiver Anerkennung (Honneth 1994): emotionale, individuelle und moralische Anerkennung, spielen in Familie und Schule eine besondere Rolle. Idealtypische Modelle schulischer Sozialisation betrachten dabei emotionale Anerkennung als Grundlage der Bildsamkeit (Honneth 1993, 2003a), und nehmen eine fundamentale Differenz von Familie und Schule an19. In der Studie „Jugend zwischen Familie und Schule“ hingegen konnte ermittelt werden, dass sich sowohl Anerkennungsmodelle zwischen der hier beschriebenen komplementären Ergänzung von Familie und Schule finden, als 19
So finden wir bei Hegel (1995) etwa einen Verweis darauf, dass Familie für die grundlegende Erfahrung von Liebe und Vertrauen ist, während die Schule eine „Mittel-Sphäre“ zwischen Familie und wirklicher Welt abbildet. Familie macht – so auch die Annahme strukturfunktionalistischer Theoretiker (Parsons 1981, Fend 1980) – die Kinder bildsam, Schule sozialisiert sie in das Gemeinwesen ein.
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auch kongruente Vorstellungen, wie sie in reformpädagogischen Vorstellungen ruhen (vgl. Ullrich 1997) und auch von der reformpädagogisch orientierten Gesamtschule kolportiert werden. In beiden Fällen finden wir antagonistische und passförmige Beziehungen von Schülerinnen und Schule. Antagonistische Bezugnahmen drücken sich zum Beispiel darin aus, dass emotional anerkennenden Familienbeziehungen schulisch nicht genutzt werden können, weil es aufgrund des Herkunftsmilieus grundlegende Passungsprobleme gibt oder darin, dass der schulische Anspruch an der emotionalen Anerkennung partizipieren zu wollen als übergriffig und entgrenzend erlebt wird. Im Fall fehlender emotionaler Anerkennung in der Familie kann Schule hingegen nicht an die Stelle der signifikanten Anderen treten, ohne dass der Vermittlungsanspruch und -auftrag negiert wird. Jugendliche, die weder in der Familie noch in der Schule emotionale Anerkennung erfahren, sind auf außerschulische Zusammenhänge (etwa Peerzusammenhänge) angewiesen. (4) Moralische und individuelle Anerkennung finden sich in der Teilhabeberechtigung und der Wertschätzung individueller Leistungsfähigkeit – sind also universalistische Kategorien, die klassischerweise der Schule zugeschrieben werden. Auch wenn in diesen Anerkennungsformen grundlegende Dimensionen sozialen Handelns wirksam werden, sind Familien jedoch zentrale Akteure in der Erziehung zu moralischer und individueller Anerkennung. Denn in der Familie vermitteln sich allgemeine Haltungen, die milieuspezifisch konnotiert sind. Dabei scheint es für die Entwicklung von schulischen und Individuationschancen besonders günstig zu sein, wenn familiale Formen moralischer und individueller Anerkennung auch in emotional nahe Beziehungskonstellationen zwischen Eltern und Kindern eingebettet sind. In dem Fall, in dem Schülerinnen und Schüler dann noch auf schulische Anerkennungsformen treffen, die ähnlich gelagert sind wie die familialen – besonders was die moralische und individuelle Anerkennung betrifft – erfahren sie sich als aktive Mitgestalterinnen und Mitgestalter von Arbeitsbündnissen. In dem Fall, dass Schülerinnen und Schüler reduzierte moralische und individuelle Anerkennung in der Familie erfahren, ist – selbst bei einem hohen Maß an kognitiver Achtung und individueller Wertschätzung – die Selbstachtung und der Selbstwert bezüglich der schulischen Leistung, reduziert. (5) Mit Bezug auf die empirischen Erkenntnisse konnten in der Studie schließlich die Thesen vom Verfall und der Umkehr der Generationsbeziehungen ausdifferenziert und zum Teil widerlegt werden. So wurde herausgearbeitet, dass Erwachsene von der nachwachsenden Generation nicht prinzipiell infrage gestellt werden, sondern sich Infragestellungen eher situativ ergeben – zum Beispiel wenn schulisch die Generationendifferenz nicht eingehalten wird oder wenn die Vermittlungsebene verlassen wird. Gleichfalls kann die groß angelegte Geltungskraft der Abnahme der „Fremdsozialisation“ zugunsten der „Selbstsozialisation“ (Zinnecker 2000) nicht aufrechterhalten werden. Generationsbeziehungen sind im Gegenteil oftmals von einer aktiven Auseinandersetzung der Kinder/Jugendlichen mit Erwachsenen geprägt. Kommt es für Jugendliche hingegen zum Ausfall der älteren Generation als Orientierung, bedeutet dies problematische Konstellationen für die Individuation der Jugendlichen. Auch „zu enge“ Bindungen und Kontrollmaßnahmen der Eltern erschweren die Individuation Jugendlicher. Die Frage danach, ob unter Modernisierungsbedingungen die Machtbalance zwischen Alt und Jung verschoben wird, kann nicht generalisierend beantwortet werden. Zwar treten sehr deutlich asymmetrische Beziehungen in der Familie hinter symmetrisierten Varianten zurück, jedoch sind hier unterschiedliche Balancen möglich, die milieuspezifisch konnotiert sind. In alternativ-avantgardistischen Milieubezügen 76
finden sich eher symmetrische familiale Beziehungen, in kleinbürgerlichen und Arbeitermilieubezügen ist keine klare Konturierung von Machtbalancen zu erkennen – die Machtvorstellungen der Generationsbeziehungen gehen in den Vorstellungen von ‚normalen‘ ElternKind-Beziehungen auf (dazu auch: Busse 2010). Im konservativ-bildungsbürgerlichen Milieu, wie es am ehesten in den Bezügen auf das traditionsorientierte Gymnasium repräsentiert ist, finden sich wiederum deutlicher asymmetrische Setzungen. Jedoch sind diese Tendenzen nicht frei von Widersprüchen. So sind Momente der Informalisierung immer eingebettet in die Erziehungs- und Bildungsvorstellungen der Eltern und damit prinzipiell asymmetrisch gestaltet, während das Fehlen von Asymmetrie eher als Ausfall der Generationendifferenz erlebt wird. Schließlich erweisen sich auch Thesen von der Verkehrung der Kompetenz- und Wissensgefälle und dem Verschwinden der Generationsdifferenz in ihrer Reichweite nicht als haltbar. Zwar stoßen wir immer wieder auf Konstellationen, die auf Entdifferenzierung verweisen, jedoch sind diese im Fall der familialen Beziehungen verbunden mit problematischen Konsequenzen für die jugendlichen Individuationsprozesse, während im schulischen Zusammenhang die Vermittlung und damit die Qualifikation zu scheitern droht. Die in den vorgenannten Abschnitten gebündelten Erkenntnisse werden abschließend auf die symbolische Generationsordnung in der Spannung von Imaginärem, Symbolischem und Realem bezogen. Dabei wird vom schulischen Raum ausgegangen und sich auf die Relationierung zu den Familien bezogen. Hierzu wird zunächst eine Verhältnisbestimmung des Imaginären, des Symbolischen und des Realen für die drei untersuchten Schulen vorgenommen. Hier wird deutlich, dass Schulen in unterschiedlichem Maße symbolische Generationsordnungen ausformen. Je expliziter dabei auf der Ebene des Imaginären Mythen und Idealbilder generiert werden, um so deutlicher ist der Anspruch auf Exklusivität und um so eher muss sich die Schule auch auf die Elternhäuser beziehen, welche durch ihre Milieubezüge wiederum zum Erhalt der Exklusivität beitragen, ihn stärken oder die Entfaltung schulischer Exklusivität erst ermöglichen. Mit den auf dieser Grundlage ausgeformten unterschiedlichen pädagogischen Generationsordnung enwerden schließlich – diese Feststellung bildet den Abschluss des Bandes „Jugend zwischen Familie und Schule“ – unterschiedliche soziale Raumbezüge wirksam. Während sich in der ländlichen Sekundarschule eher reproduktionsorientierte, bindende Raumbezüge finden, geht es in der reformpädagogischen Gesamtschule um Transformation durch die jüngere Generation und damit einhergehende globale Verantwortungsübernahme. Das traditionsorientierte Gymnasium schließlich setzt auch auf Transformation der jüngeren Generation zugunsten einer „partikular begrenzten Globalisierung“ (vgl. Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009, S. 415) – eine widersprüchliche Einheit, die dadurch entsteht, dass die transformatorischen Bildungskarrieren auf eine Reproduktion der exklusiven Eliteposition hinauslaufen sollen. Im Feld von Transformation und Reproduktion versus individueller Chancenorientierung und individueller Begrenzung können somit unterschiedlich modernisierte pädagogische Generationsordnungen ausgemacht werden, die ihrerseits die Annahme heterogener Generationsentwürfe bestätigen. In den symbolischen Generationsordnungen wird somit einmal mehr deutlich, dass die Thesen vom Wandel der Generationsbeziehungen nicht einseitig aufgelöst werden können. Dabei implizieren die jeweiligen pädagogischen Entwürfe unterschiedliche Bearbeitungsmodi der Modernisierungsambivalenzen.
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3.2.2.4 Anschlussstellen für eine raumanalytische Betrachtung Die hier vorgestellte Studie weist einen hohen Komplexitätsgrad auf. Dennoch zeigt sich eine inkonsistente Verwendung des Raumbegriffs und die Bezüge zu Raum bleiben unspezifiziert. Erstens ist die Rede von Möglichkeitsräumen oder Handlungsräumen, die sich in familialen und schulischen Bildungsarrangements realisieren. Hier deutet sich das Konzept eines sozial konstituierten und durch eine relationale Ordnung von Lagerung und Positionierung entstehenden Raumes an, das jedoch nicht theoretisch fundiert wird. Zweitens finden sich nur implizite Bezüge zu einem relationalen Raumbegriff. Diese liegen in dem kulturanalytischen Modell der schulischen Ordnung, das bereits im Vorgängerprojekt entwickelt wurde (vgl. Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001) und das als Modell der qualitativen Mehrebenenanalyse hier weitergedacht wurde. Angespielt wird dabei auf das interdependente Zusammenspiel der unterschiedlichen Aggregierungsebenen sozialen Handelns. Systematisch werden diese Ebenen zueinander in Beziehung gesetzt. Jedoch wird die Integration dieses räumlichen Modells in die Kulturtheorie der symbolischen Ordnung der Generationsbeziehung nicht expliziert. Die deutlichsten relationalen Raumbezüge finden sich schließlich auch im Modell der Relationierung von Familie, Schule und Jugendlichem. Hier wird gerade unter Bezugnahme auf das Imaginäre, das Symbolische und das Reale herausgearbeitet, welche Möglichkeitsräume Schulen hinsichtlich der Passungskonstellationen für Familien und Schülerinnen/Schüler bieten (vgl. Abb. 2). An dieser Stelle wäre mithin die Explikation und theoretische Unterfütterung der Relationierung aus raumtheoretischer Perspektive wünschenswert.
Familie (Eltern) Familiale pädagogische Generationsbeziehung
Schule (Lehrer) 1 .
2 .
Schulische pädagogische Generationsbeziehung
Jugendliche/r
1. 2.
Famiale Generationsordnung in der Spannung von Imaginärem, Symbolischem und Realem Schulische Generationsordnung in der Spannung von Imaginärem, Symbolischem und Realem
Abb. 2: Modell der Generationsordnungen (Kramer/Helsper/Busse 2001)
Jedoch wird demgegenüber drittens am Ende der Studie ein Konzept von Sozialraum eingeführt, das sich auf der Spannungslinie von Globalisierung und Lokalisierung ansiedeln lässt, dem jedoch ein theoretisch-modellhafter Referenzpunkt noch fehlt. Hierbei scheinen sich eher ortsbezogene Raumvorstellungen durchzusetzen, die im sozialen Raum familialen und schulischen Handelns ‚erlernt‘ werden sollen. Schließlich ist mit der Rede von der Spannung von Imaginärem, Symbolischem und Realem implizit ein Konzept räumlichen Handelns angesprochen, das an dezentrierte 78
Raumvorstellungen anschlussfähig scheint, wie Lacan sie nur für die Ebene des Subjekts geltend macht, während etwa Doetsch (2006) und auch Reckwitz (2006) diese Trias zur Grundlage räumlichen Handelns überhaupt machen (vgl. Kap. 2.4). Hierin liegt ein noch nicht ausgeschöpftes Erkenntnispotenzial der Schulkulturforschung insgesamt, die einer raumtheoretischen Bezugnahme bedarf. Die hier benannten Desiderata sollen beileibe nicht die Erkenntnisse der Studie in Zweifel ziehen. Sie verweisen vor allem darauf, wie viel Potenzialität in dem Material und Untersuchungsdesign liegt, das aus forschungspragmatischen Gründen nicht ausgeschöpft werden konnte. Insofern kann eine Studie wie die vorliegende auch nicht die Forschungslücken insgesamt schließen, setzt aber bei den raumbezogenen Desideraten an.
3.3 Zweite Zwischenbilanz: Heuristisches Raummodell für die Analyse der Jugendphase In diesem Kapitel ging es zunächst darum, Konzepte, die sich mit der Bedeutung des Raumes für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen befassen, darzustellen. Dabei konnte festgestellt werden, dass der Raumbegriff, der Prozesse des Aufwachsens beschreibt, ebenso wie der kulturwissenschaftlich geprägte und in Kapitel 2 vorgestellte Raumbegriff, sehr unterschiedlich genutzt wird. Zwar lässt sich im historischen Verlauf eine zunehmende Dynamisierung nachzeichnen. Dass dies der Fall ist, bedeutet jedoch nicht, dass euklidische Raumkonstruktionen ad acta gelegt werden. Vielmehr ist davon auszugehen, dass die Behälterraumvorstellung neben dem dynamischen und dezentrierten Raumverständnis weiterexistiert. So lässt sich die immer stärkere Fokussierung auf Effektivität im Bildungsprozess, auf Kompetenzerwerb und Output-Steuerung, mit tendenziell vereinseitigenden Ableitungen aus der PISA-Studie als Festhalten an einem euklidischen Raumkonzept fassen, das die Vielfalt von Anordnungen, Platzierungen und Lagerungen ebenso ausblendet, wie die Wandelbarkeit von Raum. Untersuchungen, die in dieser Weise vorgehen, laufen Gefahr Ungleichheitsstrukturen festzuschreiben. Darauf machen auch Otto, Ziegler und Kessl (2005) aufmerksam, wenn sie darauf hinweisen, dass mit der Territorialisierung des Sozialen als enggeführter sozialer Nahraumorientierung Benachteiligungsstrukturen reproduziert werden. Pädagogisches Handeln stehe hingegen immer auch in der Verantwortung über den konkreten Nahraum hinauszudenken – etwa indem es politische Benachteiligungsstrukturen reflektiert, die sich in der lokalen Benachteiligungspraxis erst artikulieren (ebd.). Ein dynamischer Raumbegriff, der pädagogisches Handeln in den Blick nimmt und jugendliches Verortungshandeln analysiert, ist an einen solchen Anspruch anschlussfähig, denn der dynamische Raumbegriff berücksichtigt die historische, gesellschaftliche, institutionelle und interaktive Einbettung räumlichen Handelns. Zu Analysezwecken muss in diesem Zusammenhang ein Konzept entwickelt werden, das nicht nur Erfahrungen als ‚Erfahrungsräume‘ (Baacke 2003) biografisch vernetzt, denn eine solche Perspektive bleibt einem euklidischen Raumkonzept verhaftet (Löw 2001), indem sie die Vorstellung des einen homogenen Raumes fortschreibt, der sich sukzessive angeeignet wird. Mit den Erfahrungsräumen sind Vorstellungen eines homogenen Raumes verbunden. Diese Vorstellungen binden schließlich auch pädagogisches Handeln an eine verdinglichte Perspektive. 79
Denn die logische Konsequenz aus einer Engführung des Raumes auf territoriale Bezogenheit macht aus Pädagoginnen und Pädagogen Kontrolleure von Erziehungs- und Sozialisationsprozessen. So kann mit Verweis auf die professionstheoretischen Forderungen der Geschlechterforschung entweder Jungen oder Mädchen in ihrem räumlichen Handeln zu stärken (Nissen 1998) nicht nur als Fortführung des homogenitätsorientierten Raumdiskurses verstanden werden, sondern Pädagoginnen und Pädagogen werden entweder zu Sachwaltern der bestehenden Ordnung oder sie negieren ihren eigenen Anteil an der Reproduktion von Machtstrukturen. Die Perspektive, die hier hingegen eingenommen wird, soll der wechselseitigen Bedingtheit individuellen Handelns und struktureller Rahmenbedingungen Rechnung tragen. Oben (Kap. 2) habe ich Raum knapp wie folgt definiert: Raum lässt sich als dynamisch begreifen, da er historisch eingebettet ist und interaktiv handelnd entsteht. Er vermittelt eine temporäre Ordnungsstruktur, in der sich Anordnungsverhältnisse über die Lagerung im Raum und die Abgrenzungen von anderen Räumen niederschlagen. Diese Definition habe ich systematisierend entfaltet, indem ich ihre Bedeutung für die unterschiedlichen Ebenen sozialer Wirklichkeit ausdifferenziert und schließlich die Prozessvariablen räumlichen Handelns im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion bestimmt habe. Noch einmal in Erinnerung gerufen handelt es sich dabei um die Antinomien von Nähe und Distanz, Einheit und Differenz sowie Anerkennung und Missachtung. Diese seien heuristisch zugrunde gelegt, wenn es um die Analyse von Raum für Prozesse des Aufwachsens geht. Durch sie werden Inklusion und Exklusion reguliert und über Zugehörigkeits- und Teilhabechancen bzw. –risiken entscheiden. Dabei sind handelnd hervorgebrachte Räume selbst wieder in andere Räume eingebettet (vgl Baecker 2005). Ein so geartetes heuristisches Konzept eines dynamischen Raumbegriffs, der die Bedingtheit des Handelns und die Auseinandersetzung mit Ordnungstrukturen einbezieht, ermöglicht eine analytische Perspektive auf Inklusion und Exklusion als je spezifisch wirksam werdende Teilhabechancen an Räumen. Damit werden also Teilhabechancen an pädagogischen Prozessen analytisch zugänglich, die die Anordnungs- und Lagerungsverhältnisse Jugendlicher in den Blick nehmen. Einen ersten Eindruck eines dynamischen Raumbegriffs haben wir mit der phänomenologische Auffassung von Raum als Weg (Bollnow) bekommen. Mit der Bronfenbrennerschen Konzeption des sozialökologischen Ansatzes und der Betrachtung von biografischen Zeit-Räumen (Ecarius) sind diese Eindrücke erweitert worden, indem die jeweiligen ordnenden Beziehungen in den Vordergrund traten. Mithilfe dieser Konzepte können jugendliche ‚Bildungsräume‘ in ihrer symbolischen Ordnung als Zeit-Räume begriffen werden, in der die Neu-Ordnung der Welt-, Selbst- und Sachbezüge (King/Koller 2009) im Vordergrund steht. Hier ist nun anzuschließen mit dem Konzept der Zugehörigkeitsordnung, wie es Mecheril und Hoffarth für die Migrationsforschung entwickelt haben (Mecheril 2004, Mecheril/Hoffarth 2009). Zugehörigkeit stellt sich dabei als Ordnungssystem dar, welches die Ordnung von ‚Bildungsräumen‘ im Zeit-Raum Jugendphase spezifisch reguliert. Jugend erscheint in diesem Zusammenhang nicht nur als Raum der Möglichkeiten, in dem Jugendliche auf Probe handeln, sondern beinhaltet auch einen Anforderungscharakter für Jugendliche, angemessen adoleszent zu handeln. Ähnliches gilt für jede Lebensphase, wie sie als altersspezifischer Sozialraum konzipiert wird: sie ist nicht nur Erfahrungs- und Möglichkeitsraum, sondern auch eine „kulturelle Konstruktion biografischer Periodizität“ (Mecheril/ Hoffarth 2009, S. 222). Insofern sind die Handlungsräume die lebensalterspezi80
fisch relevant werden, durch soziale Ordnungen und Zugehörigkeiten reguliert – man kann sagen: sie sind verräumlicht, da sie Anordnungs- und Platzierungsleistungen hervorbringen und erfordern. Perspektiven, die hier anschlussfähig sind, finden sich vor allem dort, wo der Raumbegriff weitgehend dynamisiert ist, also der Dezentriertheit des Handelns auf den miteinander verwobenenen und ineinander verschachtelten Sinnebenen sozialer Wirklichkeit Rechnung getragen wird. Die Rede von Handlungs- und Möglichkeitsräumen ist schließlich eine, die nicht nur bei Mecheril und Hoffarth in den Vordergrund tritt, sondern auch in den schulkulturtheoretischen Studien, die oben (Kap. 3.2.2) beschrieben wurden, immer wieder auftaucht. Insbesondere in letzteren wurde damit ein impliziter Raumbegriff eingeführt, der hier ausdifferenziert werden soll. Mit Blick auf die Konzepte und Auseinandersetzungen, die im Rahmen erziehungswissenschaftlicher Analysen Raum mehr oder weniger implizit verwenden, kann an dieser Stelle ein Raumbegriff heuristisch bestimmt werden, der dem jugendlichen Verortungshandeln Rechnung trägt. Raum scheint hier als Ermöglichungsstruktur, die durch Ordnungsvorstellungen Zugehörigkeit ermöglicht und begrenzt wird. Handlungsräume und Möglichkeitsräume sind in diesem Zusammenhang wechselseitig aufeinander bezogen. Als für die Bestimmung pädagogischen Handelns zentrale Begriffe (vgl. Reutlinger 2009) muss diese Bezogenheit herausgearbeitet und ihr Bezug auf Zugehörigkeitsordnungen geklärt werden. Die Zugehörigkeit Jugendlicher zu einem Raum erfordert die handelnde Auseinandersetzung mit Möglichkeitsräumen. •
•
Möglichkeitsräume stellen somit Zugehörigkeitsordnungen dar, die innerhalb jeweiliger Einbettungszusammenhänge (z.B. interaktiver und institutioneller) entstehen und die auf die Optionen der Handlungsgestaltung schließen lassen. Handlungsräume sind dagegen als konkrete, interaktiv ausgestaltete Zugehörigkeitsordnungen zu verstehen, die Beziehungen zu institutionellen und milieuspezifischen Rahmungen und individuellen Platzierungsvorstellungen aufweisen20.
Die Ausgestaltung von Handlungs- und Möglichkeitsräumen kann man als zirkulär verstehen: Handlungsräume sind in Möglichkeitsräume eingebettet und umgekehrt können Möglichkeitsräume in Handlungsräumen entstehen. Eine solche Perspektivierung von Möglichkeits- und Handlungsräumen ermöglicht schließlich auch eine Verknüpfung mit einem Mehrebenenmodell sozialen Handelns, da sich die Begriffe Möglichkeits- und Handlungsräume sowohl auf individuelle, wie auch auf überindividuelle Ordnungsstrukturen beziehen lassen. Darüber hinaus trägt das Konzept der oben (Kap. 2.4 und 2.5) angesprochenen Dezentriertheit räumlichen Handelns Rechnung: Während Handlungsräume zunächst die real vorkommenden Situiertheiten von Interaktionen oder Artikulationen im sozialen Raum umfassen, stellen Möglichkeitsräume die Vielfalt an Handlungsoptionen dar, die auch sich auch im Imaginären ansiedeln lassen. Hier werden die Möglichkeiten entweder kreativ handelnd ausgeschöpft und es findet schließlich über Symbolisierungsleistungen eine Plat20
Hier bestehen durchaus Anknüpfungsmöglichkeiten an die Oevermannsche Konzeption der Bestimmung von Lebenspraxis in zwei Parametern: Parameter I bezeichnet den Spielraum möglicher Handlungsanschlüsse, Parameter II die konkrete Ausformung der spezifischen Lebenspraxis (vgl. Kap. 4.1.2.3, Oevermann 1995, Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001).
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zierung im Handlungsraum statt (die selbst wieder neue Möglichkeitsräume eröffnet). Gelingt die Symbolisierungsleistung nicht und kann eine sichere Verortung im Handlungsraum nicht stattfinden, so könnte sich ein Möglichkeitsraum auch als verkennende Illusion (Lacan 1975) darstellen, die auf die realen Handlungsmöglichkeiten nicht mehr bezogen ist. In diesem Fall erscheint der Möglichkeitsraum nicht als Handlungsoption, in der das eigene Handeln kreativ ausgestaltet werden kann, sondern als Utopie im Sinne Foucaults (2006), der aufzeigt, dass Utopien irreale Positionierungsansprüche beinhalten. Damit wäre jedoch der Möglichkeitsraum nicht mehr der Raum des Möglichen, sondern ein unmöglicher Raum, der die eigene Verortung unsicher und unmöglich macht. Schließlich kann vor diesem Hintergrund der Zusammenhang von Raum und Jugend systematisierend bestimmt werden, indem die Logik des im zweiten Kapitel grob skizzierten Modells wieder aufgegriffen wird (vgl. Kap. 2.5) und drei Raumbezüge eröffnet werden: Erstens müssen die Einlagerungsverhältnisse heuristisch voneinander getrennt werden (1). Zweitens sind die Prozessdimensionen, auf die sich die Zugehörigkeitsordnung bezieht, näher zu bestimmen (2). Drittens muss der Dezentriertheit räumlichen Handelns Rechnung getragen werden, da räumliches Handeln gerade nicht Linearitäten in den Blick nimmt, sondern auch das Auseinanderfallen von Entwurf und Verwirklichungsmöglichkeiten (3). (1) Die Trennung der Einlagerungsverhältnisse von Räumen ineinander kann mit Bezug auf die oben (Kap. 2.5) bereits in den Blick genommenen Aggregierungsebenen sozialen Handelns in individuelle, interaktive, institutionelle/milieuspezifische und gesellschaftliche Handlungsebenen ausdifferenziert werden. Diese Ebenen (vgl. Abb. 3) sind heuristisch zu begreifen und schließen nicht aus, dass zwischen ihnen weitere einbettende Räume entstehen können. Ebene der Gesellschaft/des Systems (global, national) Gesetzliche Rahmungen National verankerte Teilhabeoptionen Ebene von Institution/Milieu Dominante imaginäre Entwürfe, kulturelle Zugehörigkeitsordnungen, kollektive Orientierungen, Habitus Ebene der Interaktion Aushandlungsbasierte Zugehörigkeitsordnungen Ebene des Individuums Verortungsprozesse, Lagerungserfahrungen, Biografie
Abb. 3: Aggregierungsebenen als Einbettungszusammenhänge räumlichen Handelns (in Anlehnung an Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009)
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An dieser Stelle soll die Verschachtelung der Aggregierungsebenen mit Bezug auf Raum wie folgt illustriert werden. Die Grenzen zwischen den Aggregierungsebenen sind nicht starr oder hierarchisch aufeinander bezogen, sondern stehen in interdependentem Verhältnis zueinander. Gleichzeitig schlagen sich räumliche Strukturen von übergeordneten Ebenen auch in untergeordneten Ebenen nieder und umgekehrt tragen sich Spuren der untergeordneten Ebene auch in den übergeordneten Ebenen ab (vgl. Helsper/Hummrich/ Kramer 2010,Hummrich/Kramer 2011).Die Bezugnahme auf Über- und Unterordnung ist dabei auch nicht zwingend als hierarchisches Modell gedacht, sondern bezeichnet die sich konzentrisch ausdehnende Kollektivität vom Individuum bis hin zur Gesellschaft. (2) Der zentrale Bezug im vorliegenden heuristischen Raumkonzept erfolgt über die Bestimmung räumlicher Prozessdimensionen (Anerkennung-Missachtung, Einheit-Differenz, Nähe-Distanz), wie sie oben schon kurz umrissen wurden. Mit diesem Bezug gelingt zudem eine Bestimmung der ebenenspezifisch hervorgebrachten räumlichen Zugehörigkeitsordnung als Spannungsverhältnis von Inklusion und Exklusion, das sich dreidimensional zwischen den Achsen Anerkennung und Missachtung, Einheit und Differenz sowie Nähe und Distanz aufspannt (Abb. 4). Nähe Gesellschaft
Inklusion Einheit
Inst./Milieu Interaktion Individuum
Missachtung
Anerkennung
Differenz
Exklusion
Distanz
Abb. 4: Dreidemensionales Modell der Zugehörigkeitsodernung im Spannungsfeldvon Inklusion und Exklusion21
Dabei wird die Antinomie von Inklusion und Exklusion als die Klammerung der anderen drei hier markierten Antinomien begriffen. Die Ermöglichung von Inklusion fasst Mecheril (2004) unter den Begriff der Zugehörigkeit. Dabei handelt es sich im Grunde um ein räum21
Das Schaubild müsste an dieser Stelle dreidimensional sein, wirkt aber dann sehr schnell unübersichtlich. Vorstellbar wird es, wenn man sich die dritte Achse (Einheit und Differenz, die sich im Kreuz von Anerkennung und Missachtung sowie Einheit und Differenz aufspannen lässt) als in die Tiefe weisende Ache auffasst und die umgebenden konzentrischen Kreise als Kugel begreift.
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liches Modell, das auf soziale Ordnungen bezogen ist. Entlang des Entwurfs seiner Migrationspädagogik entfaltet er den Begriff der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit als Begriff, der im Rahmen der Dominanzgesellschaft zwischen „Wir“ und „Nicht-Wir“ unterscheidet. Die Konstruktion des „Wir“ ruht dabei in der Imagination von Homogenität, die zur Grundlage von Einbezogenheit wird. Diese Zugehörigkeitsordnung spannt sich im Feld von Inklusion und Exklusion als Modus der Teilhabemöglichkeiten und Ausschlussprinzipien auf. Inklusion und Exklusion wiederum sind selbst bestimmt durch unterschiedliche Spannungsverhältnisse, die sich in Abstandsbestimmungen (Nähe und Distanz), Unterschiedlichkeitsmarkierungen (Einheit und Differenz) und Achtungsbezeugungen (Anerkennung und Missachtung) artikulieren. Dabei ist ein jeweiliger Kreis auf einer Aggregierungsebene wiederum als relationiert zu anderen, ähnlich eingebetteten Kreisen, zu verstehen. Auf der individuellen Ebene können Individuen z.B. in Distanzbeziehungen zueinander relationiert sein, auf der Ebene des Milieus weisen sie jedoch Nähen auf. Das in der untenstehenden Abbildung angeführte Modell (Abb. 4) ist zugleich dreidimensional zu verstehen, so dass die unterschiedlichen Antinomien different zusammenwirken können. Wie sie tatsächlich zusammenwirken, soll in dieser Arbeit Gegenstand der empirischen Rekonstruktion sein. Darum wird an dieser Stellen von einer konkreten Ausformulierung der möglicherweise entstehenden zusammenwirkenden Spannungsverhältnisse (wie: Anerkennung + Einheit + Nähe = vollständige Inklusion; Distanz + Differenz + Missachtung = vollständige Exklusion) abgesehen. Vielmehr soll das Modell als heurisitsche Grundlegung der in einer Rekonstruktion zu berücksichtigenden Spannungsverhältnisse und Verortungsmöglichkeiten dienen. Wenn Zugehörigkeit nun heuristisch über diese Dimensionierungen fassbar ist, wie gestalten sich Zugehörigkeitsordnungen dann für Jugendliche vor dem Hintergrund von Familie und Schule – dem Beispiel auf das die vorliegende Studie hinausläuft – aus? Das Zusammenspiel von Anerkennung, Nähe und Einheit impliziert vollständige Inklusion in einen Handlungsraum und die Möglichkeitsräume werden von inkludierenden Ansprüchen (auf die ganze Person) ausgestaltet. Umgekehrt beinhaltet das Zusammenspiel von Missachtung, Distanz und Differenz Exklusion – die ganze Person wird als nicht-zugehörig markiert und faktisch ausgeschlossen. Die Möglichkeitsräume in einem Handlungsraum sind damit nivelliert. Im umgekehrten Fall bedeutet jedoch die vollständige Inklusion nicht zwangsläufig eine Maximierung der Positionierungsmöglichkeiten. Dies wird gerade dann deutlich, wenn man sich die Doppelbödigkeit der Anerkennungsantinomie deutlich macht. Denn gerade die Anerkennung als Anderer kann auch eine Missachtungsfigur implizieren – nicht nur, wenn, wie Mecheril (2005) ausführt, Anerkennung immer die Zuweisung als Anderer und damit den latenten Ausschluss beinhaltet. Auch in dem Fall, dass Anerkennung auf Inklusion gerichtet ist, kann sie eine Missachtung darstellen, welche die Setzung des Gegenübers als Anderer negiert. Und auch Nähe kann sich, wenn sie überbordend wird, für ein Interaktionsgegenüber als Missachtung der personalen Integrität darstellen und erfordert eine Neupositionierung in der hier benannten Zugehörigkeitsordnung. Hier bleibt es vorerst bei der Illustrierung der Positionierungsmöglichkeiten und es soll die Frage in den Vordergrund rücken, welche Bedeutung dieses Modell, das ja zunächst ganz allgemein Verortungsmöglichkeiten im Rahmen einer Zugehörigkeitsordnung aufzeigt, für Analyse der Positionierungsstrategien Jugendlicher hat und 84
welche Möflichkeiten der Verortung für Jugendliche zwischen Familie und Schule entstehen. (3) Der Dezentriertheit räumlichen Handelns ist schließlich Rechnung zu tragen, indem Position und Idealentwürfe zueinander relationiert werden. Hierzu bietet sich das lacansche Vokabular des Imaginären, Symbolischen und des Realen an, das jedoch auf jeder Aggregierungsebene wirksam wird (vgl. Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001, Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009) (vgl. Abb. 5). Das Imaginäre Raum- und Positionieurngsentwürfe Das Symbolische Praktiken und Interaktionen der Verortung Das Reale Positioniertheit und widersprüchliche Handlungsanforderungen Abb. 5: Das Imaginäre, das Symbolische und das Reale räumlichen Handelns
Die Positionierung (bei Löw 2001: Spacing und Syntheseleistung) erfolgt dabei als symbolisch vermittelte „Kerbung“ von Räumen, durch die die Diskrepanz zwischen den widersprüchlichen Anforderungen auf der Ebene des Realen und den Idealbildern, Utopien, Mythen und Entwürfen vermittelt wird Bezogen auf das Lacansche Modell ist schließlich zu formulieren, dass das Imaginäre der räumlichen Ordnung sich in den Raumentwürfen und idealen Positionierungsleistungen von Personen, aber auch Institutionen findet; das Symbolische der räumlichen Ordnung thematisiert die Interaktionen und Praktiken, auf deren Grundlage die handelnde Auseinandersetzung mit den idealen Entwürfen erfolgt und es vermittelt zugleich zu der Ebene des Realen als der tatsächlichen Positioniertheit in den konstitutiven Widersprüche der Moderne. Mit Verweis auf die in diesem Kapitel behandelten Studien kann schließlich insgesamt herausgehoben werden, dass in der Jugendphase nicht nur eine Neuorientierung hinsichtlich der zentralen Welt-, Selbst- und Sachbezüge thematisch wird (Koller 2007, King/Koller 2006, 2009), sondern auch zunehmend eine Auseinandersetzung mit den bisher erfahrenen Platzierungsleistungen stattfindet. Über Teilnahme am Qualifikationsprozess und Ansprüche an Verselbständigung werden damit auch Anforderungen an Raumaneignung bzw. der eigenen Verortung in den Anordnungsstrukturen gestellt und eine Auseinandersetzung mit den zentralen Anordnungsstrukturen, die bislang erfahren wurden. Insofern bietet es sich an, hier auf einen Zusammenhang Bezug zu nehmen, der pädagogische Generationsbeziehungen in Familie und Schule in den Blick nimmt. Damit sind zwar einerseits die Bezie85
hungen auf der peer-Ebene, die bekanntermaßen in der Jugendphase eine steigende Bedeutung haben (Breidenstein 2006), aus dem Blickfeld, aber andererseits können die Neuorientierungen vor dem Hintergrund zweier Handlungsbereiche, die in der bisherigen Sozialisationsgeschichte zentral waren, fokussiert werden. Dabei setzt die vorliegende Arbeit bei der mangelnden Systematik an, die in Bezug auf die räumliche Struktur des Aufwachsens festgestellt werden kann und zielt darauf, die bis hierhin genannten Linien systematisierend miteinander zu verbinden. Es geht darum, die schulischen Entwürfe sozialen Handelns in ihrer Bedeutung für die Ermöglichung von Positionierungsleistungen von Kindern und Jugendlichen vor dem Hintergrund der institutionellen und milieuspezifischen Verortung herauszuarbeiten. Zentral ist in diesem Zusammenhang die Frage nach den Zugehörigkeitsbedingungen im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion, wie sie für die Aggregierungsebenen sozialen Handelns markiert und für Familie und Schule ausformuliert werden. In diesem Zusammenhang wird besonders auf exklusive Schulkulturen fokussiert, weil diese sich – dies ging aus dem Projekt „Jugend zwischen Familie und Schule“ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009) hervor –besonders profiliert verorten und versuchen, Jugendliche zu rekrutieren, die der Verortung als exklusiv, gerecht werden.
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4. Jugend und Raum: eine Re-Analyse exklusiver Bildungsprozesse zwischen Familie und Schule
Vor dem Hintergrund des in Kapitel 2 und 3 entwickelten heuristischen Modells soll nun eine qualitativ empirische Auseinandersetzung mit dem Thema Raum aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive erfolgen. Dieses Kapitel zielt darauf zu zeigen, dass in pädagogischen Prozessen nicht nur die Autonomiepotenziale im Rahmen generationaler Ordnungsvorstellungen verhandelt werden, sondern auch die Teilhabemöglichkeiten im Rahmen relationaler Zugehörigkeitsordnungen. Besonders deutlich werden diese – so eine grundlegende Annahme dieser Studie – in exklusiven Bildungsprozessen, also dann, wenn die Teilhabemöglichkeiten begrenzt sind und über besondere pädagogische Profilbildung bestimmten Restriktionen unterliegen. Die Studie „Jugend zwischen Familie und Schule“ (Helsper/Kramer/Hummrich/ Busse 2009), die aus dem DFG-Projekt „Pädagogische Generationsbeziehungen in Familie und Schule“ hervorgegangen ist, bietet in diesem Zusammenhang hervorragende Anschlussmöglichkeiten, da sie mit dem Bezug auf eine „symbolische Ordnung der Generationsbeziehungen“ selbst Relationierungen (zwischen Jung und Alt) in den Blick nahm (vgl. Kap. 3.2.2). Somit bietet das breite Datenmaterial, das hier erhoben worden ist, viele Anknüpfungspunkte für eine Bezugnahme, die ebenfalls auf die Herausarbeitung von Relationierungen zielt. Dabei geht es in der vorliegenden Studie jedoch nicht wie im DFG-Projekt um die Frage der Bezugnahme von Alt und Jung in der Spannung von Transformation und Reproduktion aufeinander, sondern um die in diese Bezugnahme eingelagerten Zugehörigkeitsordnungen in Form von Inklusions- und Exklusionsstrukturen. Um diese herauszuarbeiten, soll im Folgenden nicht den Fallstudien, die in das Projekt eingegangen sind, ein raumanalytischer Stempel „aufgedrückt“ werden, sondern gezielt auf die Verhandlung und Ermöglichung von Teilhabechancen oder eben ihre Abwehr eingegangen werden. Weil der Entstehungszusammenhang der vorliegenden Arbeit in dem hier benannten Projekt liegt, ist sowohl der Datensatz, der hier verwendet wurde, als auch das methodische Vorgehen weitgehend kongruent. Darum ist es umso notwendiger, eine auf die zentralen Forschungsfragen dieser Arbeit zugeschnittene Gegenstandsbestimmung vorzunehmen, die den raumbezogenen Re-Analysen dieser Arbeit vorgelagert ist. Dabei ist auch der methodische Umgang mit dem Datenmaterial zu erklären. Im zweiten Teil des vorliegenden Kapitels werden exklusive Bildungsräume ausgehend von zwei Schulen und im Zusammenspiel von Familie, Schule und Jugendlichem/Jugendlicher in den Blick genommen. Hier geht es erstens darum, mit zwei stark kontrastierenden exklusiven Schulen (einem traditionsorientierten Gymnasium und einer reformpädagogischen Gesamtschule) das Feld exklusiver Bildungsmöglichkeiten zu bestimmen. Zweitens sollen innerhalb dieser Schulen, als Mikroarenen der Verhandlung um Zugehörigkeit und Teilhabe, räumliche Ermöglichungsstrukturen entlang unterschiedlicher Fälle von Teilhabe rekonstruiert werden. Hierbei werden LehrerSchüler-Interaktionen, Eltern-Kind-Interaktionen und Interviews mit den Jugendlichen 87 M. Hummrich, Jugend und Raum, DOI 10.1007/978-3-531-93224-8_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
einbezogen – und, soweit möglich, durch weiteres Material ergänzt, das Aufschluss über die Zugehörigkeit gibt.
4.1 Raum unter exklusiven Bedingungen untersuchen: Exklusive Bildungsräume in der Spannung von Jugend, Familie und Schule 4.1.1 Gegenstand, Fragestellung und Ziele der Studie zum Zusammenhang von Jugend und Raum Die differenzierte Auseinandersetzung mit Raum als relationale Anordnungsstruktur wurde in der erziehungswissenschaftlichen Forschung insgesamt recht selten betrachtet, und damit wurde auch die Bestimmung von Platzierungs- und Lagerungsbedingungen im pädagogischen Feld weitgehend ausgeblendet (vgl. Kap. 3). Um dies zu leisten, benutze ich einen Teil des Datenmaterials aus dem im dritten Kapitel beschriebenen Projekt (Kap. 3.2.2) – und zwar das Material aus den beiden exklusiven Schulen: dem traditions- und leistungsorientierten Gymnasium (hier: Martin-Luther-Gymnasium) und der reformpädagogischen integrierten Gesamtschule (hier: Anna-Seghers-Schule). In diesem Projekt wurde eine breite empirische Basis geschaffen, die es ermöglicht, das pädagogische Feld multiperspektivisch zu erfassen: aus der Perspektive der Schule und der Familie sowie der befragten Jugendlichen selbst. Hiermit sind selbstverständlich nicht alle Akteure im pädagogischen Feld abgebildet: die gleichaltrigen Freunde, Klassenkameraden und Geschwister, die erweiterte Familie oder sonstige professionell pädagogische Akteure werden nicht einbezogen, sondern aus dem ‚Aktionsradius‘ der Jugendlichen wird wiederum ein spezifischer Ausschnitt bestimmt. Eine zentrale Annahme dabei ist jedoch, dass dieser Ausschnitt grundlegende Erfahrungen hinsichtlich des räumlichen Handelns bietet, da Familie und Schule in dieser Lebensphase zentrale Handlungsarenen darstellen, über die gesellschaftliche Teilhabechancen vermittelt werden. Ausgehend davon lässt sich nun für die exemplarische Re-Analyse eine Fragestellung formulieren, welche die Teilhabemöglichkeiten, Zugehörigkeitsordnungen und Ermöglichungsstrukturen in Familie und Schule in den Blick nimmt und dabei nach den Bedingungen jugendlichen Aneignungs- und Platzierungsverhaltens sowie den Interdependenzen zwischen jugendlichem Akteur, den jeweiligen Interaktionszusammenhängen sowie institutionellen und milieuspezifischen Bedingungen fragt. Schließlich bildet dieser erste Fragekomplex die Grundlage für einen zweiten, der nach den theoretischen Erkenntnismöglichkeiten raumanalytischen Vorgehens fragt: Welche Möglichkeiten bietet raumanalytisches Vorgehen in der Forschung zu Prozessen des Aufwachsens? Wo kann es gegebenenfalls zu relevanten Ergänzungen kommen? Welchen Aufschluss geben Erkenntnisse über mikrosoziale Zugehörigkeitsordnungen in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabechancen insgesamt? Damit liegt eine Gegenstandskonzeption vor, die mehrere Sinnebenen sozialen Handelns in den Blick nimmt und sie als wechselseitige Bedingungsgefüge betrachtet (vgl. Abb. 3). In deren Zentrum steht somit die räumliche Analyse der interdependenten Ermöglichungsstrukturen von Teilhabe und Zugehörigkeit. Diese stehen auf der jeweiligen Ebene im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion, Nähe und Distanz, Einheit und Differenz sowie Anerkennung und Missachtung (vgl. Abb. 4) und lassen sich in der Spannung von 88
Imaginärem, Symbolischem und Realem bestimmen (vgl. Abb. 5). Über diese Gegenstandsbestimmungen können somit Erkenntnisse über die in den jeweiligen Zugehörigkeitsordnungen ruhenden Vorstellungen räumlichen Handelns und das räumliche Handeln selbst als Platzierungs- und Aneignungsleistung gewonnen werden. Für die vorliegende Arbeit wurde nun eine Gegenstandskonzeption entwickelt, welche die Handlungsräume Familie/Schule, familiale/schulische Interaktion und Jugendliche/r zueinander vermittelt (Abb. 6) und damit die Ebenen Institution/Milieu, Interaktion und Individuum einbezieht. Weitere Handlungsebenen, die nicht in die Samplebildung einfließen (Region, Gesellschaft usw.)
Familie
Schule Institution und Milieu
LehrerInSchülerIn
Eltern-Kind
Interaktion
Individuum Jugendliche/r
Abb. 6: Gegenstandskonzeption „Raum in der Adoleszenz“
Die vertikal schrägen Wechselpfeile verdeutlichen hier, dass sich Zugehörigkeitsordnungen im Zusammenspiel unterschiedlicher Ordnungsstrukturen entfalten, die einander bedingen und beeinflussen. Die horizontalen Wechselpfeile zeigen an, dass auch auf den einzelnen Ebenen (horizontal) Bezugnahmen stattfinden: etwa in den institutionellen Entwürfen bezüglich der familialen Bezugsmilieus oder umgekehrt in den familialen Entwürfen hinsichtlich der Bildungserwartungen und Erwartungen an die Schule. Auch auf der Ebene der Interaktion gibt es mehr oder weniger ausgeformte Wechselwirkungen zwischen Familie und Schule. So ragen über die Erfahrungen und Erlebnisse des/der Jugendlichen Dimensionen schulischen Handelns in die Familie hinein und Familie wird nicht selten als verlängerter Arm der Schule betrachtet (Tyrell 1987), da sie mit spezifischen Erwartungen konfrontiert wird, die Teilhabemöglichkeiten eröffnen oder beschließen. Umgekehrt sehen sich auch Lehrerinnen und Lehrer mit dem familialen Hintergrund und den Erfahrungen, die Jugendliche außerhalb der Schule machen konfrontiert. Dies wird auch in strukturalisti89
schen Annahmen deutlich, die Familie als Teil des dyadischen Arbeitsbündnisses zwischen Lehrern und Schülern markieren (Oevermann 2008b). Aber nicht nur vermittelt über den/die Jugendlichen, sondern auch über die Kontakte zwischen Lehrern und Eltern selbst – auf Elternabenden, Elternsprechtagen oder bei Hausbesuchen – geht es um Zugehörigkeitsordnungen und Erwartungen in Bezug auf die Teilhabemöglichkeiten (vgl. Graßhoff 2007). Die Erfahrungen dieser unterschiedlichen Ebenen laufen in der Schülerbiografie zusammen und werden in ihr gespiegelt und in den Individuationsprozessen wiederum kommunikativ verarbeitet (vgl. Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009). Hier erfolgt eine individuelle (und individuierende) Auseinandersetzung mit den Zugehörigkeitsordnungen und den Ermöglichungsstrukturen im Kampf um Teilhabe durch Platzierungs- und Aneignungsleistungen. Es ist dabei das Ergebnis spezifischer Balanceverhältnisse, welche Teilhabechancen erreicht werden oder verwehrt bleiben. Schließlich verweisen die beiden Pfeile oberhalb der Felder „Familie“ und „Schule“ auf eine Grenze der empirischen Studie. Diese umfasst die Mikro- und Mesoebene des Handelns (Bronfenbrenner 1981), indem sie Selbstbezüge, Interaktionen und Milieu- bzw. Institutionsbezüge in den Blick nimmt. Die Makroebene gesellschaftlichen Handelns bleibt jedoch weitgehend ausgeblendet, da sie mit qualitativem Vorgehen nicht erschlossen werden kann und nur hypothetische Rückschlüsse auf den Bedeutungsgehalt der qualitativ gewonnenen Ergebnisse für die weiterführenden Ebenen erfolgen können (vgl. auch: die Auseinandersetzung zur Mehrebenenanalyse, Kap. 4.2.2). Das Ziel dieser Studie, das ja bereits im Einleitungskapitel kurz angesprochen wurde, lässt sich hier wie folgt ausdifferenzieren: Es geht im Kern darum, die in exklusive schulische Kontexte eingelagerte und in familiale und individuelle Bezüge eingebettete räumliche Ermöglichungsstruktur herauszuarbeiten. Hierbei sollen Zugehörigkeitsordnungen und die darin liegenden Teilhabechancen und Exklusionsrisiken rekonstruktiv bestimmt werden. Dieses Kernziel kann in vier Teilziele ausdifferenziert werden: (1) Die Rekonstruktion von Zugehörigkeitsordnungen in der Spannung von Inklusion und Exklusion in Bezug auf exklusive schulkulturelle Entwürfe und die damit verbundenen Möglichkeiten von Platzierungs- und Aneignungsleistungen für Jugendliche vor dem Hintergrund ihrer Familie/familialen Bezugsmilieus; (2) Die Rekonstruktion der unterrichtlichen Platzierungs- und Aneignungsleistungen in den Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern; (3) Die Rekonstruktion der familialen Platzierungs- und Aneignungsleistungen von den Entwürfen der Eltern her und aus den konkreten Interaktionen zwischen Eltern und ihrem jugendlichen Kind; (4) Die Rekonstruktion biografischer Bedingungen von Platzierungs- und Aneignungsverhaltens aus der Perspektive des jugendlichen Selbst. Damit soll es schließlich möglich werden, den Erkenntniseffekt raumanalytischen Vorgehens insgesamt zu erschließen und auszudifferenzieren. Die Studie „Jugend zwischen Familie und Schule“ dient dabei also als Grundlage, deren Erkenntnisse später (in Kap. 5) zur eingangs erfolgten theoretischen Grundlegung vermittelt werden.
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4.1.2
Methodisches Vorgehen: Datenerhebung, Samplebildung und Auswertung mit qualitativer Mehrebenenanalyse
4.1.2.1 Datenerhebung In das DFG-Projekt „Pädagogische Generationsbeziehungen in Familie und Schule“ wurden drei unterschiedliche Schulen einbezogen: eine ländliche Sekundarschule in Ostdeutschland, die von für die Region typischen Problemen betroffen ist (Schülermangel, Fusionen mit anderen Schulen der Region aufgrund von mangelnder Rentabilität, mangelnde Perspektiven für Jugendliche im Anschluss an die Sekundarschulzeit); ein ostdeutsches städtisches Gymnasium mit über dreihundert Jahre langer Tradition und eine westdeutsche großstädtische Gesamtschule mit ausgewiesenem reformpädagogischen Profil. Für jede Schule wurden die folgenden Daten erhoben: - Die Schulleiterrede zur Begrüßung neuer Schülerinnen und Schüler an der Schule. Hier konnte erwartet werden (und diese Erwartung hat sich auch bestätigt), dass zentrale Entwürfe und Ansprüche der Schule sowie ihre Ideale hinsichtlich dessen, was sie vermitteln will, thematisch wird. Damit kann die Schulleiterrede nicht nur als Ausdrucksgestalt der Idealentwürfe hinsichtlich der Beziehungen zwischen Lehrern und Schülern sowie Eltern und Kindern verstanden werden, sondern auch die Milieubezüge der Schule werden darüber erschließbar - Jeweils etwa 25 Unterrichtsstunden, die zunächst hinsichtlich der hierein stattfindenden um Vermittlung und Aneignung zentrierten Interaktionen zwischen Lehrern und Schülern gesichtet wurden. Die ausgewählten Interaktionssequenzen wurden anschließend verschriftet. Nicht nur der Bedeutungsgehalt der professionell-pädagogischen Beziehung wurde hier deutlich, sondern auch die Optionen oder Einschränkungen, die individuelle Bildungsprozesse beeinflussen. - Fünf bis zehn fokussierte Lehrerinterviews, welche die Beziehungen der Lehrerinnen und Lehrer zu ihrer Klasse und zu einzelnen Schülerinnen und Schülern erzählgenerierend in den Blick nehmen, zugleich aber auch – in einem Nachfrageteil – Fragen zum Verhältnis zur Schule, der Einschätzung der eigenen Bedeutung für Schülerinnen und Schüler und zu zentralen Bereichen der Bildung thematisieren (etwa die Bedeutung der Vermittlung von Wissen etc.). - Nach Möglichkeit vier Interaktionen zwischen Eltern und ihren jugendlichen Kindern22. Hier wurde jeweils eine Szene einer gemeinsamen Mahlzeit oder – wenn dies nicht anders möglich war – eines gemeinsamen Gesprächs im Elterninterview aufgezeichnet und Sequenzen zur Analyse ausgewählt, in denen Aushandlungsprozesse thematisch werden. - Nach Möglichkeit vier fokussierte Elterninterviews, die im erzählgenerierenden Teil die Beziehungsgeschichte zu ihrem Kind zum Gegenstand haben, im fokussierten 22
Das Zustandekommen dieser Erhebung war der schwierigste Teil in der Erhebungsphase, da die Anwesenheit der Forschenden im intimisierten, familialen Raum zum Teil von den Familien abgelehnt wurde. In diesem Fall versuchten wir auf Elterninterviews auszuweichen, die wohl aufgrund ihres etwas formelleren Charakters, z.T. leichter zugänglich waren. Es gab aber auch Familien, die sich gänzlich gegen eine Erhebung in ihrem privaten Raum aussprachen und diesen auch nicht anderenorts thematisieren wollten. In diesen Fällen sind uns die milieubezogenen Informationen nur über die biografischen Interviews mit den Schülerinnen und Schülern zugänglich, was ggf. vermerkt wird.
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Nachfrageteil auf die Erziehungshaltungen, die generationellen Entwürfe und die Bildungsaspirationen eingehen. Etwa zehn biografisch-narrative Interviews mit ca. 16-jährigen Schülerinnen und Schülern, die Aufschluss über die Fallstrukturiertheit des biographischen Selbst, die Erfahrungsverarbeitung und die Subjektkonstruktionen geben. Auch diesen Interviews wurde ein Leitfaden hinzugefügt, in dem Fragen zu den generationellen Beziehungen und den jugendlichen Bildungs- und Zukunftsaspirationen gestellt wurden.
Die Daten, die für das oben beschriebene DFG-Projekt erhoben wurden, eignen sich in hervorragender Weise für die Bearbeitung des vorliegenden Untersuchungsgegenstandes. Mehr zu illustrativen Zwecken werden noch ethnografische Protokolle, wie die Beschreibungen der Schulgebäude oder ausgewählte Unterrichtsprotokolle herangezogen. Um jedoch die vorliegende Studie handhabbar zu machen, soll hier nur eine Auswahl an Schulen und Fällen einbezogen werden, die sich wie im Folgenden dargestellt, zusammensetzt. 4.1.2.2 Samplebildung und Fallauswahl Zur Bestimmung der räumlichen Zugehörigkeitsordnung wurden lediglich die exklusiven Schulen als Sample ausgewählt, da sich hierüber – so die grundlegenden Annahme – besonders profiliert Zugehörigkeitsordnungen rekonstruieren lassen und der Kampf um Teilhabe und günstige Platzierung besonderen Raum einnimmt. Ähnliche Begründungsfiguren finden sich etwa bei Bourdieu (2004), der Teilhabemöglichkeiten am Bildungssystem über Eliteschulen/-universitäten bestimmt. „Wohl an keinem Gegenstand lassen sich die sozialen und mentalen Strukturen, welche die schulischen Urteile bestimmen, besser erfassen als an dem System statistischer Beziehungen, das eine bestimmte Population von Preisträgern charakterisiert. Die Preisträger des Concours général stellen das Idealbild der schulischen ‚Elite‘ dar, das, wie ein projektiver Test, die klassifikatorischen Schemata verrät, deren Produkt sie ist. Die Aussichten, daß die scheinbar unaussprechlichsten Prinzipien der nicht formulierten und nicht formulierbaren Definition schulischer Exzellenz erkennbar werden, sind nirgends größer als bei den mehr oder weniger institutionalisierten Ausleseprozessen, die in Wirklichkeit von einem praktischen Sinn für Wahlverwandtschaften gesteuerte Kooptationsverfahren sind“ (ebd., S.23).
Um nun aber in der Untersuchung exklusiver Teilhabechancen nicht einseitig zu werden und der Vielfalt des deutschen Bildungssystems Rechnung zu tragen, wurde sich hier nicht nur auf eine exklusive Schule bezogen, sondern zwei kontrastierende Exklusivitätsmodelle einbezogen. Bei der ersten Schule handelt es sich um das traditions- und leistungsorientierte MartinLuther-Gymnasium, das in einer ostdeutschen Großstadt angesiedelt ist. Es blickt nicht nur auf eine über 300 Jahre alte Tradition zurück, sondern wählt neue Schülerinnen und Schüler mit einem differenzierten Leistungstest aus. Dabei wird ein Ranking erstellt, das ihnen zugesendet wird. Über einen Vergleich ihres Rankingplatzes mit der Anzahl des für das Folgeschuljahr aufzunehmender Schüler erfahren die künftigen Schüler also nicht nur, ob sie an dieser Schule teilhaben dürfen, sondern auch, wo sie im Leistungsspektrum angesiedelt sind. Welche Rolle dies spielt, soll im Folgenden noch deutlicher dargestellt werden. Bei der zweiten Schule handelt es sich um die reformorientierte integrierte Anna-SeghersGesamtschule. Hier erfolgt die Aufnahme einerseits auf der Grundlage eines Schlüssels des 92
Landesministeriums, über die Anteile von Haupt- und Realschülern sowie Gymnasiasten. Im Vordergrund stehen aber das Anschreiben der Eltern und das Einzelgespräch, das von einem Mitglied der dreiköpfigen Schulleitung mit den Eltern und dem aufzunehmenden Kind geführt wird. Hier geht es um die Abfrage von Erziehungshaltungen und -zielen, auf deren Grundlage dann über die Aufnahme entschieden wird. An beiden Schulen bewerben sich jedes Schuljahr zirka drei Mal so viele Schülerinnen und Schüler wie später aufgenommen werden. Zugleich werben sie aber auch mit dem ‚Ruf‘, der Schülerinnen und Schüler später – im Anschluss an die Schule – die besten Chancen verspricht. Diese Kriterien machen nun die Auswahl der Schulen als ‚exklusive‘ Schulen transparent. Sie sprechen mit ihrer Exklusivität gleichermaßen bildungsorientierte Elternhäuser an, so dass die vertikalen Unterschiede zwischen den Schülerpopulationen hinsichtlich der sozialen Herkunft eher Ähnlichkeiten aufweisen. Sie kontrastieren jedoch maximal auf einer horizontalen Linie der Bezugsmilieus. Trotz der – zusätzlich zur Übergangsempfehlung – erfolgten Homogenitätstendenzen treffen wir in den Schulen auf eine mehr oder minder große Heterogenität in der Schülerschaft. Die im Projekt „Pädagogische Generationsbeziehungen in Familie und Schule“ in den Blick genommenen Schülerinnen und Schüler besuchten dabei das 10. Schuljahr, waren also zum Zeitpunkt der Erhebung um die 16 Jahre alt. Die Begründung, dass sich dies für die Untersuchung pädagogischer Generationsbeziehungen besonders anbietet, weil es in dieser Lebensphase um eine Neuorientierung der bisherigen Welt-, Selbst- und Sachbezüge geht, kann auch für die vorliegende Untersuchung geltend gemacht werden. Denn mit dieser Neuorientierung sind Zugehörigkeitsordnungen thematisch, die sich durch die potenzielle Selektion am Ende der zehnten Klasse in besonderer Weise zuspitzen. Hier geht es also noch einmal um eine Statusbarriere, die überwunden werden muss, oder besser: die erst die volle Entfaltung der Teilhabe am exklusiven Bildungsprozess ermöglicht. Der Umgang mit der Selektivität, die vor dem Eintritt in die Oberstufe wirksam wird, und der gleichzeitigen Individuationsaufgaben und Bildungsaufgaben, lassen auch für die vorliegende Studie deutlich werden, dass es sich um eine Lebensphase handelt, in der in zugespitzter Weise Zugehörigkeitsordnungen verhandelt werden (müssen). Hier ist es nun von Interesse, innerhalb der Schulen ein gewisses Spektrum an Teilhabechancen und Exklusionsrisiken in den Blick zu bekommen. Dies erfolgt durch maximal kontrastierende Fallstudien, was die Passungskonstellationen und Zugehörigkeitschancen in den Schulen anbelangt. Damit ist ein erstes Auswahlkriterium die Inklusivität des Schülers/der Schülerin in den Unterricht, wobei die Rekonstruktion der Unterrichtssituation an erster Stelle steht. Je Schülerin oder Schüler (es handelt sich um zwei Fälle, die aus dem Sample des MartinLuther-Gymnasiums, drei Fälle, die aus dem Sample der für die Anna-Seghers-Schule ausgewählt wurden) wird eine Unterrichtssequenz, eine Familienszene und eine biografische Erzählung zugrunde gelegt. Auf der Basis der im DFG-Projekt „Pädagogische Generationsbeziehungen in Familie und Schule“ angefertigten Rekonstruktionsprotokolle, die jeweils mit Blick auf die Generationsbeziehungen zu Fallstudien verdichtet wurden, wird nun eine Re-Analyse vorgenommen, die auf die Rekonstruktion der räumlichen Ordnungsstrukturen zielt. Abschließend werden die Fälle je Schule kontrastiert, indem sie auf die schulische Ordnungsstruktur und deren räumliche Ermöglichungsstrukturen bezogen werden. Eine schulübergreifende Kontrastierung, die die unterschiedlichen Handlungsebenen sys-
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tematisch aufeinander bezieht, ist hier nur skizzenartig angelegt und erfolgt ausführlich in Zusammenhang mit der Theoretisierung. 4.1.2.3 Vorgehen bei der Auswertung mit objektiver Hermeneutik Die zugrunde liegende Forschungslogik der Objektiven Hermeneutik wird für die Schulforschung etwa bei Stelmaszyk (2002) hervorragend in den Kontext qualitativer Forschung eingebettet und ihre Grundlagen und Grundfiguren entfaltet. Auch die Dissertationsschrift von Kramer (2002) enthält eine sehr stringente Einführung in die rekonstruktive Forschungslogik, das Verfahren der Objektiven Hermeneutik und die Triangulationsmöglichkeit mit anderen Verfahren wie der narrationsstrukturellen Analyse nach Schütze (dazu auch: Helsper 1994, Nölke 1994, Hummrich 2002, 2009, Idel 2006, Graßhoff 2007). Diese Studien zeigen besonders deutlich, was andere Studien im Bereich der Biografie- und Schulforschung der letzten Jahre (auch: Böhme 2000, Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001) auch unter Beweis stellen: die Objektive Hermeneutik hat sich als Methodologie und Methode im Bereich der erziehungswissenschaftlichen Sozialforschung bewährt und ist auch in Triangulationsstudien ein probates Analyseinstrument – nicht zuletzt weil ihre Methodologie es gestattet, Texte als Ausdrucksgestalten sozialer Wirklichkeit zu begreifen (Oevermann 2002), die unabhängig von der Ebene, die sie repräsentieren, sequenzanalytisch interpretiert werden können (ebd.). Im Folgenden soll nun also die Interpretationsmethode der Objektiven Hermeneutik kurz, und vor allem auf den vorliegenden Anwendungsbereich bezogen, dargestellt werden. Der entstehungsgeschichtliche Hintergrund und die grundlagentheoretischen Auseinandersetzungen sind, wie gesagt, bereits vielfach dargelegt worden und finden sich in Analysen wieder, die ich hier nur ansatzweise betrachte (zur Methodologie und Methode der Objektiven Hermeneutik einschließlich grundlagenbezogener Reflexion: Oevermann 2002, Reichertz 1995, Flick/Kardorff/Steinke 2000, Stelmaszyk 2002, Wernet 2000). Mir geht es an dieser Stelle vielmehr darum, die Objektive Hermeneutik als angemessenes Verfahren im Rahmen einer qualitativen Mehrebenenanalyse zu verorten23. „Zentraler Gegenstand der Methodologie der Objektiven Hermeneutik sind die latenten Sinnstrukturen und objektiven Bedeutungsstrukturen von Ausdrucksgestalten, in denen sich uns als Erfahrungswissenschaftlern von der sinnstrukturierten Welt die psychischen, sozialen und kulturellen Erscheinungen einzig präsentieren, und in denen wir als Lebenspraxis uns selbst verkörpern sowie die uns gegenüberliegende Erfahrungswelt repräsentieren“ (Oevermann 2002, S. 1).
Dieser Satz ist Teil von Oevermanns Eröffnung in seinem „Manifest der Objektiven Hermeneutik“, das bereits seit den 1990er Jahren als graues Papier den methodeninteressierten Rezipienten weitergereicht wurde, inzwischen jedoch überarbeitet und über die Homepage der AG „Objektive Hermeneutik“ beziehbar ist. Oevermann eröffnet mit einer Gegenstandsbestimmung, die einerseits sehr weit reichend ist – es geht um Ausdrucksgestalten, die sich in allen möglichen Erscheinungsformen präsentieren. Andererseits impliziert der 23
Auch hier erfolgt die Darstellung vor dem Hintergrund des Bewusstseins, dass es noch zahlreiche andere angemessene Verfahren gibt, mit denen man eine qualitative Mehrebenenanalyse vornehmen könnte. Jedoch scheint für die vorliegende Arbeit gerade die Methodologie der Objektiven Hermeneutik mit ihrer Orientierung an den latenten Sinnstrukturen und – wie unten gezeigt wird – der Herausarbeitung aufeinander beziehbarer Möglichkeitsräume, deren (An-) Ordnungsstrukturen mit dem Verfahren aufgedeckt wird, als probate Methode, den Untersuchungsgegenstand zu erschließen.
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Begriff „Ausdrucksgestalten“ wiederum eine Einschränkung des Gegenstandsbereiches der Objektiven Hermeneutik auf das, was den subjektiven Intentionen konstitutionslogisch vorausgeht, was jenseits der Eigenlogik von Intentionen und innerpsychischen Wirklichkeiten liegt und über die Ausdrucksgestalten von Lebenspraxen analytisch zugänglich wird. Was hat es aber mit den latenten Sinnstrukturen auf sich? „Latente Sinnstrukturen und objektive Bedeutungsstrukturen sind also jene abstrakten, d.h. selbst sinnlich nicht wahrnehmbaren Konfigurationen und Zusammenhänge, die wir alle mehr oder weniger gut und genau „verstehen“ und „lesen“, wenn wir uns verständigen, Texte lesen, Bilder und Handlungsabläufe sehen, Ton- und Klangsequenzen hören und alle denkbaren Begleitumstände menschlicher Praxis wahrnehmen, die in ihrem objektiven Sinn durch bedeutungsgenerierende Regeln erzeugt werden und unabhängig von unserer je subjektiven Interpretation objektiv gelten“ (ebd., S. 2).
Oevermann beansprucht also mit der Verwendung des Begriffes „Objektivität“ nicht etwa die Objektivität der Ergebnisse ohne die Einbeziehung des Kontextes als der sozialen Wirklichkeit, in der eine Ausdrucksgestalt erzeugt wird. Es geht ihm vielmehr um die Entgegensetzung zur subjektiven Erkenntnis, zu psychischen Dispositionen, zu Vorstellungen, Wertorientierungen usw., die für Erfahrungswissenschaftler nicht direkt, sondern nur in Form einer fallspezifischen Ausdrucksgestalt (quasi als Objektivation einer Lebenspraxis) nachvollziehbar wird. In diesem Sinne behandelt die Objektive Hermeneutik Ausdrucksgestalten als Texte, die „gelesen“ werden können und als Protokolle behandelt werden (ebd., S. 3). In dem Maße wie die Ausdrucksgestalten Objektivität verkörpern, beansprucht nun die Objektive Hermeneutik nach Oevermann Objektivität, denn die zu rekonstruierenden Sinnstrukturen sind „durch prinzipiell angebbare Regeln und Prozeduren algorithmischer Natur präzise überprüfbar und lückenlos am jederzeit wieder einsehbaren Protokoll [erschließbar, M.H.]“ (ebd., S. 6). Im Unterschied zu den Naturwissenschaften würden jedoch nicht der stochastischen Welt zugehörige Erscheinungen, sondern sinnlich nicht wahrnehmbare, abstrakte Gegenstände – nämlich Bedeutungs- und Sinnwelten – untersucht. Das hier gewählte Analyseverfahren, das mit der Objektiven Hermeneutik Anwendung findet, ist die Sequenzanalyse24, die sich an der dem menschlichen Handeln zugrunde liegenden Sequenzialität orientiert. Diese Sequenzialität ist nach Oevermann nicht als bloße Aneinanderreihung von Handlungen, sondern als regelgeleitetes Wechselspiel aus Öffnung und Schließung von Möglichkeiten vor dem Hintergrund einer prinzipiell offenen Zukunft. So stellt Oevermann (ebd., S. 7) etwa entlang einer Begrüßungshandlung dar, dass mit Begrüßungen bestimmte Möglichkeitsräume für Handeln eröffnet und beschlossen werden können. Um dies zu verdeutlichen, geht er auf die Parameter der Erzeugungsregeln (Parameter I) und der Auswahlprinzipien und -faktoren (dem Gesamt der Dispositionen einer je konkreten Lebenspraxis) ein (Parameter II) (vgl. Kap. 3.3). Durch das sequenzanalytische Vorgehen und die Ausdifferenzierung der beiden Parameter wird nun in der Analyse deutlich, welches die prinzipiellen Anschlussmöglichkeiten einer jeden Lebenspraxis wären, erschließt man die Anschlussoptionen aller in einem spezifischen Fall möglichen Folgesequenzen. Mit dem konkreten Anschluss, der sich nach einer Sequenz dann fallspezifisch auftut, werden Erkenntnisse über die konkrete Fallstruktur ausdifferenzierbar. Das sequenzanalytische Vorgehen lässt dabei auch Raum für die Erschließung transformatorischer Le24
Reichertz (1995, S. 384 ff.) stellt fünf unterschiedliche Verfahren der Objektiven Hermeneutik dar: die summarische Interpretation, die Feinanalyse, die Sequenzanalyse, die Interpretation der objektiven Daten und die Veranschaulichung. Die vorliegende Darstellung beschränkt sich auf die hier angewendete Sequenzanalyse.
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benspraxen, da ein unerwarteter Anschluss auf die bisher interpretierte Fallstrukturiertheit bezogen werden kann. Oevermann geht also von einem dynamischen Strukturbegriff aus, bei dem sich die Fallstruktur vor dem Hintergrund routinisierter Handlungsabläufe reproduziert und angesichts krisenhafter Ereignisse und Konstellationen transformiert25. Der rekonstruierte Fall hat damit mehr als nur eine illustratorische Funktion – wie dies in Fallbeschreibungen gemacht wird. Vielmehr lassen sich für „die je konkreten Lebenspraxen, seien es einzelne Personen, Gruppen, Vergemeinschaftungen wie Familien und Gemeinden, Organisationen unterschiedlicher Größe, kurz: jegliche Aggregierung von Handlungsinstanzen, die eine eigene historisch gebildete Identität haben“ (Oevermann 2002, S. 11), Fallstrukturgesetzlichkeiten herausarbeiten, für die je spezifische Handlungs- und Möglichkeitsräume auf unterschiedlichen Aggregierungsebenen erschlossen werden können. Die Objektive Hermeneutik ermöglicht in der sequenzanalytischen Vorgehensweise die Rekonstruktion latenter Sinnstrukturen, die eine Fallstruktur in ihrer je spezifischen Krisenund Chancenhaftigkeit erfassen kann. Die Prinzipien der Sequenzanalyse systematisiert Wernet (2000, S. 40 ff.) wie folgt: (1) Das Prinzip der Kontextfreiheit impliziert, dass eine Textsequenz ohne Einbeziehung des äußeren Kontextes, der Aufschluss über die Spezifik der Situation gibt, interpretiert wird – etwa indem zu den jeweiligen Sequenzen „stimmige Geschichten“ gefunden werden, die eine Äußerung unter Normalitätsbedingungen strukturell sinnhaft erscheinen lassen. (2) Das Sparsamkeitsprinzip lässt nur solche Strukturvarianten und Lesarten gelten, die ohne Zusatzannahmen oder nur mit sehr wenigen Zusatzannahmen auskommen. (3) Das Prinzip der Wörtlichkeit bedeutet, dass sich die Interpretation nur an dem Text/an den Wörtern orientiert, die den Interpretierenden tatsächlich vorliegen und dass die Wörter auch in der Weise interpretiert werden, wie sie protokolliert worden sind. (4) Das Prinzip der Sequenzialität schließt hieran unmittelbar an: die Folge der Sequenzen richtet sich nach dem der Interpretation zugrunde liegenden Protokoll. Es werden keine sinngemäßen Satzumstellungen vorgenommen, sondern es erfolgt eine strikte Orientierung an der Reihenfolge, die das Protokoll vorgibt. (5) Beim fünften und letzten Prinzip – dem Prinzip der Extensivität – geht es schließlich um die Frage, wie ausführlich eine Sequenz interpretiert wird. Die Maßgabe der Objektiven Hermeneutik sieht dabei vor, dass ein Ende der Interpretation dann erreicht ist, wenn eine Strukturhypothese gebildet werden konnte. Die Strukturhypothese oder Fallstrukturgeneralisierung, mit der eine Interpretation schließt, kann erst dann als abgesichert gelten, wenn sie durch weitere Textstellen verifiziert wurde. In der vorliegenden Arbeit werden diese Fallstrukturgeneralisierungen als Möglichkeitsräume rekonstruiert, die je spezifische Optionen und auch die latenten Krisen sowie deren Bearbeitungsmuster erfassbar machen. Da dies für alle Ebenen in der gleichen Weise (durch sequenzanalytische Herausarbeitung der latenten Sinnstrukturen) geschieht, sind die erzielten Ergebnisse von gleicher Reichweite und damit aufeinander beziehbar. Die Ebenenvermittlung jedoch findet erst im Nachgang der Analyse einzelner Ebenen statt. Wenn – 25
vgl. dazu auch Oevermanns Auseinandersetzung mit der Frage nach der Entstehung des Neuen (Oevermann 1991).
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wie in dieser Arbeit etwa – biografische Interviews, Eltern-Kind-Interaktionen, SchülerLehrer-Interaktionen, sowie milieubezogene und institutionelle Ausdrucksgestalten aufeinander bezogen werden sollen, so würde es der Methodologie des rekonstruktionslogischen Vorgehens der Objektiven Hermeneutik widersprechen, wenn Erkenntnisse, die aus der Rekonstruktion eines Datums (etwa des dominanten schulkulturellen Entwurfs) stammen, bereits während der Interpretation auf ein anderes Datum (etwa ein autobiografischnarratives Interview) bezogen würden und diese Erkenntnisse über den Einbettungszusammenhang sozusagen subsumptiv dem Protokoll als Ausdrucksgestalt einer Lebenspraxis „übergestülpt“ würden. Vielmehr geht es darum jedes Datum für sich zu interpretieren und erst in einer mehrebenenanalytischen Vermittlung auf den Untersuchungsgegenstand zu beziehen (vgl. Kap. 4.1.2.4) und damit Konvergenzen und Divergenzen zu analysieren, die individuell in einzelnen Handlungsräumen relevant werden und wiederum eine fallspezifische Bearbeitung finden. So können mit der Objektiven Hermeneutik individuell wirksam werdende Passungskonstellationen – hier zu Lehrern und Eltern, zu Institution und Milieu – herausgearbeitet werden und auch die Konvergenzen und Divergenzen von Familie und Schule untereinander aufeinander bezogen werden. Somit entsteht eine dichte Fallanalyse, die in diesem Fall die Zugehörigkeitsordnungen jugendlicher Handlungsräume erfasst und darauf zielt, differente Muster des Umgangs mit den Teilhabechancen und daraus resultierenden Möglichkeitsräumen herauszuarbeiten. Dies wird im vorliegenden Fall in unterschiedlichen Fallstudien dargestellt, die sich im Wesentlichen auf die Darstellung der für den Gegenstandsbereich der Arbeit zentralen Strukturprinzipien beschränkt26. Zweifellos bedeutet dies eine Verknappung des Falles, was den Nachteil bringt, dass die Komplexität der Interpretation reduziert wird. Jedoch scheint dieser Kompromiss als angemessener Weg, angesichts der Tatsache, dass beim mehrebenenanalytischen Vorgehen der Fall auf der Grundlage unterschiedlicher Datenmaterialien ausgewertet wurde, die ihrerseits in einem komplexen Interdependenzverhältnis stehen. Trotz der hier genannten Kritikpunkte an der Objektiven Hermeneutik und der Notwendigkeit die Darstellung auf die zentralen Strukturprinzipien zu begrenzen, wird die Anwendung des Verfahrens der Objektiven Hermeneutik hier als angemessene Vorgehensweise betrachtet. Warum? - Durch die Anwendung der Objektiven Hermeneutik lassen sich latente Sinnstrukturen herausarbeiten, die zur Beantwortung der Frage nach den jugendlichen Möglichkeitsräumen unter Bedingungen von Exklusivität, weit reichende Erkenntnismöglichkeiten bereitstellen; - Es handelt sich um ein Verfahren, das prinzipiell auf allen Ebenen der sozialen Wirklichkeit angewendet werden kann und unter Bedingungen der Sequenzanalyse Erkenntnisse auf unterschiedlichen Ebenen zugänglich und verknüpfbar macht.
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Bekanntlich erhält man in der Praxis der Rekonstruktion eine Fülle von Material über die Interpretation der Textsequenzen. Dies ist der Konvention der intersubjektiven Verständigung in der Objektiven Hermeneutik geschuldet, die dazu dient, möglichst viele sinnhaft erscheinende Lesarten zu bilden und über die Interpretationen wiederum Protokolle anzufertigen, die möglichst detailliert Aufschluss über die Lesarten enthalten, die für wahrscheinlich oder weniger wahrscheinlich gehalten werden, die sich bestätigen oder die neu hinzugenommen oder die verworfen werden müssen. Das Oevermannsche Primat der Nachvollziehbarkeit (Oevermann 2002, S. 11) führt jedoch zu einer dem Leser oder der Leserin kaum zumutbaren Textmenge. Reichertz schlägt hier vor das Spannungsmoment von Nachvollziehbarkeit und mangelnder Darstellbarkeit über die Fokussierung auf ein bestimmtes Darstellungsinteresse zu lösen (Reichertz 1995, S. 385).
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Diese Verknüpfbarkeit ist auch dadurch bedingt, dass hier Interpretationsergebnisse erzielt werden, die von gleicher Reichweite sind. Rein deskriptive Ergebnisse könnten nicht auf die Strukturgesetzlichkeiten einer individuierten Fallstruktur bezogen werden, da der Bedeutungsgehalt der Deskription sich nicht bruchlos an die Fallstrukturgesetzlichkeit „andocken“ lässt. Schließlich handelt es sich – auch das ist aus den vorangegangenen Interpretationen hervorgegangen – um ein strukturalistisches Modell (Reckwitz 2000, S. 256), das die (kulturelle) Dynamik sozialer Prozesse in den Blick zu bekommen vermag, dessen methodologische Grundlage den Akteur oder die Akteurin und seine subjektiven Handlungen als an übersubjektiv gebundene Deutungsmuster versteht (ebd., S. 258).
4.1.2.4 Qualitative Mehrebenenanalyse zur Verknüpfung unterschiedlicher Sinnebenen Von Mehrebenenanalyse ist bisher vor allem in der quantitativ empirischen Sozialforschung die Rede (etwa: Langer 2004, Ditton 1998). Hier ist ein komplexes Vorgehen der Untersuchung eines Forschungsgegenstandes angesprochen, das darauf zielt, den Einfluss des sozialen Kontextes auf das individuelle Handeln zu bestimmen. Damit ist nun ein allgemeiner Anspruch formuliert, der letzten Endes auch für die Frage komplexer theoretischer Gegenstandsbestimmungen und qualitativ empirischer Sozialforschung geltend gemacht werden kann. Damit schließt die Studie an das Vorgehen des beschriebenen DFGProjekts „Jugend zwischen Familie und Schule“ an (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009). Qualitative Mehrebenenanalyse kann als besonderer Fall von Triangulation bezeichnet werden und strebt Systematisierung durch die konsequente Bezugnahme auf den Forschungsgegenstand an. Wie in der quantitativen Mehrebenenanalyse (Ditton 1998, Langer 2004) ist sie dadurch zu charakterisieren, dass mehrere Ebenen (des Systems, der Institution, der Interaktion und des Selbst) systematisch zueinander in Beziehung gesetzt werden. Als Klassiker der qualitativen Mehrebenenanalyse können wohl die Studien „Die Arbeitslosen von Marienthal“ von Jahoda, Lazarsfeld und Zeisel (1975) und „Interaktion mit Sterbenden“ von Glaser und Strauss (1974) bezeichnet werden (Helsper/Hummrich/Kramer 2010). Beide Studien werden von Flick (2005) auch als klassische Triangulationsstudien bezeichnet (ebd., 7 ff.). Diese Studien sowohl als Mehrebenenanalyse wie auch als Triangulationsstudie zu betrachten, bedeutet keinen Widerspruch, sondern verweist vielmehr darauf, dass der Triangulationsbegriff und der Begriff der Mehrebenenanalyse miteinander verbunden sind. Betrachten wir die charakteristischen Merkmale der beiden klassischen Studien, so haben sie nach Flick (2005) gemeinsam, dass „in der Tradition dieser Studien Triangulation als empirischer Zugang zu den untersuchten Feldern und Gegenständen weniger ein Instrument der Überprüfung empirischer Ergebnisse als einen Weg zu erweiterten Erkenntnismöglichkeiten darstellt“ (ebd., S. 9). Ein so gearteter Triangulationsbegriff verweist jedoch über die bloße Kombination von Daten, Beobachterperspektiven, Theorien und Methoden (zu dieser Systematisierung: Denzin 1978, Lamnek 1993, 2000, Janiseck 1994) und auch die Validierung jeweils verwendeter Methoden (vgl. etwa: Helsper/Herwartz-Emden/Terhart 2001) hinaus. Um dies nachzuvollziehen, schadet ein kurzer Blick in neuere Entwicklungen der Triangulation quantitativer und qualitativer Studien nicht. In so genannten „Komplementaritätsmodellen“ (Prein/Erzberger 2000) wird nicht eine Methode hierarchisch über die andere 98
gehoben, sondern die komplementäre Verwendung unterschiedlicher Forschungsmethoden ermöglicht das Überschreiten der Grenzen jeweils einer Forschungsmethode. Damit ist jedoch zugleich gesagt, dass es einer genauen Definition bedarf, wie sich die Forschungsmethoden aufeinander beziehen und auf was sie sich beziehen. Und hier können wir nun die oben genannten „Triangulationsklassiker“ durchaus auch als Klassiker der Mehrebenenanalyse bezeichnen. Wenn etwa Jahoda, Lazarsfeld und Zeiser in der Marienthalstudie darauf zielten, „die Lücken zwischen den nackten Ziffern der Statistik und den zufälligen Eindrücken der sozialen Reportage zu schließen“ (Jahoda/Lazarsfeld/Zeisel 1975) und damit „versuchten, die Arbeitslosigkeit von allen Seiten zu erfassen“ (ebd.), so erweist sich ihr Vorgehen geradezu als paradigmatisch für das mehrebenenanalytische Vorgehen. Die Gegenstandsorientierung an der Bedeutung der Arbeitslosigkeit für das Leben in der Gemeinschaft zieht sich durch alle Erhebungs-, Beobachtungs- und Auswertungsperspektiven. Nur so scheint es abschließend möglich, die Ebene des Einzelfalls als zufälliger Erscheinung oder Illustration im statistischen Gesamtbild zu verlassen und zu einer Abstraktion zu kommen – nämlich die der „müden Gemeinschaft“ –, die dennoch offen ist für spezifische Bearbeitungstypiken der Arbeitslosigkeit (vgl. Jahoda/Lazarsfeld/Zeiser 1975). Und wenn nun Glaser und Strauss systematisch unterschiedliche Akteure und deren soziale Einbindung in die Beobachtungen zum Prozess des Sterbens einbeziehen und dann wieder zueinander zu vermitteln, gelingt auch ihnen eine mehrebenenanalytische Betrachtung um den Gegenstand der Interaktion mit, über und um Sterbende, die wieder weit über das Fallbeispiel hinausweist (Glaser/Strauss 1974). Hier sind zum Beispiel die Analysen des professionellen Umgangs mit Sterbenden zu nennen, in denen die Autoren extrapolieren, wie sich kulturelle Wissensbestände vom „korrekten Sterben“ (ebd., S. 86) reproduzieren. Wenn wir nun in neuere Studien schauen, die ebenfalls Triangulation an einem Mehrebenenmodell untersuchen (etwa: Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001, Nohl/Schittenhelm/ Schmittke/Weiß 2006, Böhme/Kramer 2001, Winkler/Degele 2009), so finden wir auch in ihnen die Orientierung an der komplexen Gegenstandskonzeption und die systematische Einbeziehung unterschiedlicher Ebenen sozialer Wirklichkeit repräsentiert. Verallgemeinernd lässt sich hier ein Modell abstrahieren, das es möglich macht, die Interdependenzen der unterschiedlichen Ebenen zueinander zu vermitteln (vgl. Abb. 7). Die hier benannten Ebenen sind zu jenen Ebenen kongruent, die in den vorangegangenen Kapiteln bereits beschrieben wurden. Winkler und Degele (2009) nehmen an dieser Stelle eine ähnliche Systematisierung vor, indem sie zwischen strukturellen Herrschaftsverhältnissen, symbolischen Repräsentationen und Identitätskonstruktionen unterscheiden. Dabei richten sie auf der Ebene der strukturellen Herrschaftsverhältnisse das Augenmerk auf die Strukturkategorien Klasse, Geschlecht, Rasse und Körper, die spezifische Zugangsbarrieren und -möglichkeiten in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe bereithalten und in Herrschaftsverhältnissen symbolisch repräsentiert werden: durch Klassismen, Heteronormativismen, Rassismen und Bodyismen (ebd., S. 54).
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Ebenen sozialen Sinns Gesellschaft/ makrosozialer Sinn Milieus/ Institutionen Interakte und Praxen Individuen/ subjektiver sozialer Sinn X
Gesellschaft/ makrosozialer Sinn
Milieus/ Institutionen
Interakte und Praxen
Individuen/ subjektiver sozialer Sinn
X X X X
= minimale/maximale Kontrastierung auf einer Sinnebene; = Relationierungslinie zwischen sozialen Sinnebenen; = Anteil der sozialen Sinnebenen an der Generierung des ebenenspezifischen Sinns
Abb. 7: Ebenen sozialen Sinns in ihrer Relationierung zueinander (aus: Helsper/Hummrich/Kramer 2010)
Zugleich sind diese symbolischen Repräsentationen in Identitätskonstruktionen je spezifisch repräsentiert und/oder gebrochen. Der Differenzierungsgrad der obigen Abbildung (Abb. 8) ist im Vergleich zu dem von Winkler und Degele nun anders gelagert, da zwischen die gesellschaftliche und die individuelle Ebene auch Milieu/Institution und Interaktion eingeführt werden. Denn gerade am Beispiel des Milieus kann sich auch zeigen lassen, dass symbolische Repräsentationen in Bezug auf den Umgang mit gesellschaftlichen Strukturkategorien unterschiedlich sein kann und nicht nur mit der Identitätskonstruktion erklärt werden kann (vgl. Hummrich 2009). Dennoch bietet der Ansatz von Winkler und Degele wichtige und interessante Anknüpfungspunkte, da damit Zugehörigkeitsordnungen thematisch werden, die vorstrukturiert sind. Denn mit der Frage nach der symbolischen Repräsentation liegt auch eine Reflexion von Herrschaftsverhältnissen vor – die jedoch hier nicht zwingend nur an die vier Strukturkategorien gebunden werden sollen. Mit diesen kurzen Ausführungen zu den Entwicklungslinien qualitativer Mehrebenenanalyse werden nun zugleich auch ihre Prinzipien deutlich, die hier noch einmal gebündelt werden sollen: (1) ist die Entwicklung qualitativer Mehrebenenanalyse eng mit der Entwicklung der Triangulationsdiskussion verzahnt und als eine spezifische Ausformung der Triangulation zu begreifen, in der Datenmaterial jeweils zuerst für sich interpretiert wird und dann systematisch miteinander verknüpft wird; (2) ist es dazu notwendig, in der Gegenstandsbestimmung auf die Ebenendifferenzierung einzugehen und zu explizieren für welche Ebene, welches Material herangezogen wurde und welcher Aspekt der sozialen Wirklichkeit damit erschlossen wird. Für diese Studie ist das beispielsweise: Auf der Ebene von Institution und Milieu: die Schullei100
terreden zur Begrüßung neuer Schülerinnen und Schüler sowie die familialen Interaktionen; auf der Ebene der Interaktion: die Unterrichtsszenen und die familialen Abendbrotszenen; auf der Ebene des Individuums: die schülerbiografischen Interviews (vgl. Abb. 8)27. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, für jede Ebene „typische“ Protokolle heranzuziehen, die dem Forschungsgegenstand angemessen sind. (3) lassen sich von der singulären Analyse einer jeweiligen Aggregierungsebene Anschlussstellen für die angrenzende Aggregierungsebene formulieren. Dies finden wir beispielsweise in biografieanalytischen Studien relativ gut ausformuliert, indem etwa Interaktions- und Milieubezüge von Einzelfall hergeleitet werden (vgl. Kramer 2002, Idel 2006, Graßhoff 2007). (4) sollen die Ergebnisse der singulären Analysen erst dann zueinander vermittelt werden, wenn sie hinreichend für sich ausformuliert sind. Dieser Schritt ist der eigentliche Triangulationsschritt der qualitativen Mehrebenenanalyse. Die Relationierung kann ihren Ausgangspunkt von unterschiedlichen Ebenen aus nehmen. Dabei sind Relationierungen nicht als monokausale Bezüge im Sinne eines Ursache-Wirkungsverhätlnisses zu sehen, sondern als komplex-komplementäres Zusammenspiel unterschiedlicher Passungskonstellationen. (5) ist dabei unerlässlich, dass neben der exakten Gegenstandsbestimmung die methodologisch explizierte und begründete Vermittlung zwischen den auf den einzelnen Aggregierungsebenen gewonnenen Ergebnissen wiederum zum Gegenstand hin erfolgt (vgl. Hummrich/Kramer 2011). Nach dieser Darstellung des Entwurfes qualitativer Mehrebenenanalyse gilt zu fragen: wie wird das Konzept der qualitativen Mehrebenenanalyse im Rahmen der vorliegenden Studie umgesetzt? Zur Verdeutlichung dient unten stehendes Schema (vgl. Abb. 8). Vorgesehen ist die Porträtierung von zwei Fällen am Martin-Luther-Gymnasium und von drei Fällen an der Anna-Seghers-Schule. Dies hat den Grund, dass je Schule als Auswahlkriterium maximale Kontrastfälle gewählt wurden. Hier finden sich im Gymnasium zwei, in der Gesamtschule drei Kontrastfälle. Es wird allerdings vorbehalten, in der Typenbildung (Kap. 5) exemplarisch auf Fälle aus dem Band „Jugend zwischen Familie und Schule“ (Helsper/Kramer/ Hummrich/Busse 2009) Bezug zu nehmen, wenn dies der Profilierung der Typologie dienlich ist. Die Darstellung der Rekonstruktionsergebnisse beginnt mit der Herausarbeitung der jeweiligen schulischen Zugehörigkeitsordnung und deren Kontrastierung. Danach wird jeder Fall, bestehend aus der Analyse der Interaktionen zwischen Jugendlichem/Jugendlicher und Lehrer bzw. Eltern sowie den biografischen Narrationen der Jugendlichen, zunächst als abgeschlossene Einheit betrachtet, bevor er mit anderen Fällen aus der jeweiligen Schule kontrastiert wird.
27
Weitere Ebenen, wie die von Region und Gesellschaft, wurden in diese Studie nicht einbezogen. Dies hat forschungspragmatische Gründe.
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Martin-LutherGymnasium
Anna-SeghersSchule
Schulischer Entwurf räumlicher Ordnung
Schulischer Entwurf räumlicher Ordnung
Fall 1 E
Fall 1
L
E
J
J
Fall 2
Fall 2 E
L
L J
E
Fall 3 L
J
E
L J
E = Eltern; L = Lehrer; J = Jugendliche/r Abb. 8: Kontrastierung je Schule und ihre Vermittlung über beide Schulen
Die kontrastierenden Fälle können wiederum auf den schulischen Entwurf gelungener räumlicher Ordnung – das heißt, die hierin eingelagerten Zugehörigkeitsbedingungen, Ermöglichungsstrukturen, Platzierungs- und Aneignungsordnungen – bezogen werden. So erhält man schließlich Aufschluss über zentrale Platzierungs- und Lagerungsbedingungen in der jeweiligen Schule. Erst im Abschlusskapitel erfolgt eine schulübergreifende Kontrastierung der Fälle. Auch wenn die hier aufgenommenen Fälle ausführlich objektiv hermeneutisch rekonstruiert wurden, so wäre die Nachzeichnung in der protokollierten Ausführlichkeit aufgrund der bearbeiteten Datenmenge zu umfangreich. Darum wird hier vor allem auf die Darstellung von Fallporträts gesetzt, welche die groben Linien der Interpretation nachzeichnen und dabei sequenziell die Strukturlogik herausarbeiten (dazu: Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009).
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4.2 Wie man in die Schule kommt. Kontrastierende Entwürfe zur Aufnahme an exklusiven Schulen Die folgende Darstellung setzt die Frage nach Inklusion und Exklusion im schulkulturellen Entwurf ins Zentrum. Dabei wird so vorgegangen, dass (1) zunächst die Aufnahmebedingungen der jeweiligen Schulen diskutiert werden; (2) die Rekonstruktionen der Schulleiterreden zur Begrüßung neuer Schülerinnen und Schüler vorgestellt werden; (3) wird kurz auf die Gestaltung des Schulgebäudes eingegangen; (4) auf Ausschnitte der Schulleiterinterviews, die um das Thema Inklusion und Exklusion zentriert sind und (5) auf das in der Schule vertretene Lehrerspektrum, das über jeweils zwei kontrastierende Lehrerinterviews erhoben wurde. Die Darstellung erfolgt verknappt, ist jedoch zumeist das Ergebnis extensiver Interpretationen im Team des DFG-Projektes „Pädagogische Generationsbeziehungen in Familie und Schule“. An den Stellen, an denen eher illustrativ vorgegangen wird, ist dies auch benannt.
4.2.1 Die Schule als Tor zur Welt: Leistung, Respekt und Disziplin im exklusiven Raum des Martin-Luther-Gymnasiums Das Martin-Luther-Gymnasium ist ein Landesgymnasium mit einer über dreihundert Jahre währenden Tradition in einem städtischen Gebiet in Ostdeutschland. Bereits früh profilierte es sich in sprachlichen, altsprachlichen und musischen Fächern und genoss sowohl national als auch international Anerkennung und Aufmerksamkeit. Im 18. und 19. sowie im beginnenden 20. Jahrhundert war das Martin-Luther-Gymnasium sehr durch das Internatsleben geprägt, wobei es auch schon frühe Ansätze der Mädchenbildung gab. Zahlreiche Pädagogen kamen von weit her, um hier zu unterrichten und sich selbst in Sachen Unterricht weiterzubilden. Dies trug dem Martin-Luther-Gymnasium mit der Zeit eine starke Nähe zur Universität ein. Im dritten Reich seiner christlichen und sprachlich-humanistischen Orientierung beraubt, wurde das Martin-Luther-Gymnasium 1946 Oberschule und schließlich als Erweiterte Oberschule (EOS) „Martin Luther“ in das Bildungssystem der DDR integriert. Diese EOS war eine der wenigen Schulen in der DDR, die den Namen eines Theologen trugen. Nach der Wende wurde die EOS wieder in Martin-Luther-Gymnasium umbenannt und es wurden wieder Schülerinnen und Schüler vom 5. bis zum 13. Schuljahr aufgenommen. Nahe dem Universitätscampus befinden sich die beiden lang gestreckte renovierungsbedürftige Gebäude aus der Zeit um die Jahrhundertwende, in denen der Unterricht stattfindet. Beide Gebäude liegen um einen sehr gepflegten begrünten Pausenhof. Das Internatsgebäude für auswärtige Schülerinnen und Schüler liegt nur wenige Gehminuten entfernt und gliedert sich in die Reihe der Universitätsgebäude ein. Neben zahlreichen Kontakten zu Partnerschulen im Ausland profiliert sich das Martin-Luther-Gymnasium auch durch die Teilnahme an Wettbewerben, Austauschprogrammen und Forschungsprojekten. In der Informationsbroschüre wird ausdrücklich auf die guten Abiturdurchschnittsnoten hingewiesen und die Nähe zur Universität unterstrichen – etwa indem hier besonders begabte Schüler der Abschlussklasse Kurse an der Universität vorwegnehmen können oder indem Schü-
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lerinnen und Schüler des Musikzweiges Beiträge zu feierlichen Anlässen an der Universität leisten. 4.2.1.1 Aufnahmebedingungen am Martin-Luthergymnasium Auf der Homepage der Schule finden wir folgende Aufnahmebedingungen: Aufnahmekriterien und Aufnahmevoraussetzungen sind: 1. Die Vorlage einer Schullaufbahnempfehlung für das Gymnasium, 2. die termingerechte Zusendung eines schriftlichen Aufnahmeantrags (formlos oder über unsere Anmeldeseite), 3. mindestens mit „gut“ bewertete Leistungen im Fach des inhaltlichen Schwerpunktes (inhaltlicher Schwerpunkt Sprachen: Deutsch) und 4. die Teilnahme an der Eignungsprüfung. […] Die Eignungsprüfung besteht im inhaltlichen Schwerpunkt Sprachen aus einem kognitiven Test und einer schriftlichen Klausur […]. Die Aufnahme erfolgt nach einem Ranglistenverfahren auf der Grundlage der geltenden Bestimmungen des Kultusministeriums.28 Die Ergebnisse dieser Prüfungen sowie der Durchschnitt der versetzungsrelevanten Zensuren des letzten Zeugnisses (Durchschnittsnote) werden zu einer Gesamtpunktzahl zusammengefasst, die einen entsprechenden Ranglistenplatz ergibt.
Unter der Überschrift „Aufnahmekriterien und Aufnahmevoraussetzungen“ wird eine erste Differenzierung vorgenommen. Dabei fällt auf, dass einerseits zwischen „Kriterien“ und „Voraussetzungen“ unterschieden wird: sie werden jeweils für sich mit dem Wort „Aufnahme“ verbunden. Andererseits werden beide Worte durch ein „und“ als Einheit dargestellt: Kriterien und Voraussetzungen müssen erfüllt sein – alleine die Kriterien oder nur die Voraussetzungen zu erfüllen reicht nicht aus. Dabei ist die Bezugnahme des Wortes „Kriterien“ an einer sachlichen Bezugsnorm orientiert. Schülerinnen und Schüler, die in diese Schule gelangen wollen, müssen sich nach Leistung unterscheiden lassen. Sie müssen aber auch noch „Voraussetzungen“ erfüllen. dabei ist der Begriff der Voraussetzung hier schillernd: es kann sich zunächst sowohl um die Verfügung über ökonomisches Kapital handeln (nur wer den hohen Eintrittspreis bezahlen kann, erfüllt die Voraussetzung), aber auch um formale Bedingungen, wie das pünktliche Ausfüllen von Formblättern. Dass es sich eher um letztere Prämisse handelt, wird im Folgenden deutlich, wo es „um die Vorlage einer Schullaufbahnempfehlung für das Gymnasium“ und die „termingerechte Zusendung eines schriftlichen Aufnahmeantrags“ geht. Hier geht es um den Nachweis, die Berechtigung zu haben, teilnehmen zu dürfen und um eine disziplinierte Haltung, mit der dieser Nachweis nebst Kopie des letzten Zeugnisses auch eingesendet wird. Mit diesen formalen Bedingungen werden nun wieder die kriterialen Bedingungen verknüpft. Der gewählte Schwerpunkt muss mindestens mit der Schulnote „gut“ bewertet sein. Hier werden überdurchschnittliche schulische Leistungen eingefordert. Diese reichen jedoch alleine nicht aus, um die Kriterien zu erfüllen. Mit einem fett markierten „und“ wird ein zweites Kriterium eingeführt: es muss an einer Eignungsprüfung teilgenommen werden. Nun stellt sich die Frage: welchen Zweck erfüllt eine solche Eignungsprüfung? Es wäre möglich, dass die Schule der Notengebung außerhalb ihrer Mauern prinzipiell misstraut. In diesem Fall könn28
Hierzu gibt es von dem Kultusministerium des Bundeslandes, in dem diese Schule liegt, eine Verordnung, die den Zugang zu Schulen mit inhaltlichen Schwerpunkten reguliert. Dabei wird sowohl die Aufnahme, als auch der Ausschluss geregelt.
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te sie jedoch auf die Information zur Bewertung in der vierten Klasse verzichten. Hier wird deutlich, dass es um eine doppelte Überprüfung geht, mit der die Schüler differenziert werden: „Leistung“ und „Eignung“. Erst die Erfüllung beider Kriterien zusammen verheißen Eintritt in das Martin-Luther-Gymnasium. Nun ist hier noch nichts darüber verraten, was die Eignung für das Gymnasium außer Leistung ausmacht. Deutlich wird nur: Um in diese Schule zu gelangen, müssen nicht nur die formalen Voraussetzungen stimmen – also eine disziplinierte Haltung im Sinne von Pünktlichkeit und Ordnung einzunehmen –, auch die Leistung muss stimmen. Und schließlich muss neben dieser zweifachen Beschränkung auch noch eine Eignung vorliegen. Diese, das wird weiter unten entfaltet, besteht in einem kognitiven Test und einer schriftlichen Klausur im Schwerpunkt bzw. in einer allgemein-musikalischen und einer musikpraktischen Prüfung im Fach Musik. Sowohl mündlich als auch schriftlich müssen die Bewerberinnen und Bewerber also ihre Eignung über ihre Leistung hinausgehend unter Beweis stellen. Hiermit wird ein besonderer Schließmechanismus der Schule deutlich, der auch die Begabung von Schülerinnen und Schüler im Blick hat. Hier geht es neben der Leistung auch um die Überprüfung der Haltung: halten sie dem Druck des Auswahlverfahrens Stand? Sind sie begabt genug, um die Weihen höherer Bildung zu erhalten? All dies wird in der – insbesondere durch die Vermeidung persönlicher Ansprache unterstrichenen – sachlichen Information vermittelt, die über den Button „Aufnahmeverfahren“ auf der Homepage anzuklicken ist. Dabei diffundiert der sachbezogene Aussagegehalt jedoch gerade darin, dass nicht persönlich angesprochen wird: wer soll die Unterlagen termingerecht schicken? Wer nimmt am Eignungstest teil? Die Gewissheit, mit der dieses Wissen vorausgesetzt wird, verweist wiederum auf implizite Wissensbestände, welche die Teilhabe am exklusiven Bildungsprozess bedingen. Unter dem Deckmantel doppelter leistungsbezogener Absicherung schleichen sich damit Kriterien ein, die auf Habitusformationen gerichtet sind: Disziplin, Ordnung, Hingabe in Bezug auf die Sache und Talent – dies zählt neben der von der Grundschule empfohlenen Laufbahn und der Beurteilung der Leistung zu den Bedingungen, im Martin-LutherGymnasium aufgenommen zu werden. Hiermit sind jedoch Haltungen angesprochen, die weit über eine meritokratische Beurteilung hinausgehen. Exklusiv wird die Schule damit, indem sie nicht nur Schülerinnen und Schüler ausschließt, die Leistungen erbringen, die eines Gymnasiums nicht ‚würdig‘ sind, sondern auch solche, deren Talente (noch) nicht gefördert wurden oder deren Eltern nicht im Vorfeld eine disziplinierte Haltung einnehmen (z.B. indem sie die Unterlagen termingerecht einreichen), die als schulaffin bezeichnet werden kann. Über diesen ‚Gegenhorizont‘ kann damit geschlossen werden, dass die Schule auf Eltern setzt, welche sich den Anforderungen der Schule formal unterwerfen und ihr Kind auch außerschulisch so fördern, dass es beste Bedingungen hat, als geeignet beurteilt zu werden. Hiermit wiederum sind bildungsnahe Milieus angesprochen, die sich zugleich den Tugenden Disziplin und Ordnung unterwerfen – eine Haltung, die sich im Lernverhalten der Schülerinnen und Schüler fortsetzen soll. Es geht also weniger um die Ermöglichung von individueller Autonomie oder die Verwirklichung kindlicher Interessen, als um klassisches schulisches und bildungsbürgerliches Wissen, das hier reproduziert werden soll. Welchen Rang die Bewerberinnen und Bewerber im Verfahren erhalten, erfahren sie schriftlich über ihre Erziehungsberechtigten, denen der Ranglistenplatz – errechnet aus dem Abschneiden im Eignungstest und der Durchschnittsnote des letzten Zeugnisses – mitgeteilt 105
wird. Damit wird den Erziehungsberechtigten (und ihren Kindern zumeist auch) nicht nur mitgeteilt, ob die Bedingungen der Aufnahme erfüllt wurden oder nicht, sondern auch, wie die Kinder platziert sind. Die schulinternen Verteilungskämpfe werden somit bereits vor der Aufnahme an der Schule vorweggenommen und somit wird die Hierarchie zu einem sehr frühen Zeitpunkt festgelegt. 4.2.1.2 Die Schulleiterrede zur Begrüßung neuer Schülerinnen und Schüler Zu Beginn des Schuljahres begrüßt der Schuldirektor, Herr Westkamp, neue Schülerinnen und Schüler. Dazu steht er in der Aula an einem Pult zu ebener Erde. Während er sich auf die Rede vorbereitet, arrangiert die stellvertretende Direktorin das Mikrofon noch einmal. Im Saal herrscht Unruhe, die Teilnehmenden reden leise miteinander. (anhaltendes stimmengewirr) Herr Westkamp: liebe schülerinnen und schüler, sehr verehrte eltern, ich darf euch beziehungsweise sie recht herzlich hier im martin-luther gymnasium begrüßen, wir sind uns ja alle schon ein bis zweimal begegnet zum beispiel am tag der offenen tür und äh wir hatten auch, die freude die eltern in den schönen basedow-saal vor ein paar monaten begrüßen zu können, wir befinden uns natürlich heute hier in unserer etwas ‚ramponierten‘ (betont gesprochen) aula wir haben leider noch keinen geldgeber für die restaurierung dieser aula gefunden und ((äh nur)) mit ein bisschen farbe ist es hier nicht getan sondern eine restaurierung würde sich auf zwei millionen mark belaufen und die haben wir zurzeit noch nicht
Der Schulleiter beginnt seine Rede mit einer vergemeinschaftenden, diffundierenden Anrede an Schülerinnen und Schüler. Dies kann für nahe Beziehungen stehen, aber auch für die Setzung von Asymmetrie. Dass diese Anrede in das „anhaltende stimmengewirr“ hineingesprochen wird, bedeutet zugleich eine Entwertung der Angesprochenen. Die auf Nähe oder asymmetrische Setzung zielende Anrede wird funktional verwendet, um zu markieren: die Veranstaltung beginnt jetzt. Dies steht nun in eigentümlichem Kontrast zu der Ansprache der Eltern. Sie werden nicht geehrt, in dem Sinne, dass ihnen das normale Maß an Aufmerksamkeit in förmlichen Begrüßungen unter Erwachsenen entgegengebracht wird, sondern sie werden verehrt. Damit werden sie umworben, ihnen wird der größere Anteil der Aufmerksamkeit zu Teil, was dadurch verstärkt wird, dass nun im Saal Ruhe hergestellt ist. Die Umwerbung der Eltern und Funktionalisierung der Schülerinnen und Schüler hat nun einen doppelten Bedeutungsgehalt: zum Einen werden die Schülerinnen und Schüler als solche angesprochen und als in einer asymmetrischen Beziehung stehend auf die schulische Gemeinschaft bezogen. Zum anderen werden sie ‚benutzt‘, um an die Eltern heranzukommen. Diese Figur findet auch im folgenden Satz: „ich darf euch beziehungsweise sie recht herzlich hier im martin-luther-gymnasium begrüßen“. Würde es sich um eine gleichberechtigte Begrüßung von Eltern und Schülern handeln, so wäre es an dieser Stelle unproblematisch gewesen ein „und“ an die Stelle des „beziehungsweise“ zu setzen. Die Wahl des letzteren Wortes impliziert jedoch einen Vorrang des letztgenannten gegenüber dem erstgenannten und rangiert dabei eher auf der Ebene eines „euch oder besser Sie“ als eines „euch und Sie“. Der Gestus des Dürfens schließt dabei an das „sehr verehrte“ an und besondert zugleich den Schulleiter: er ist jemand, der in der Position des Dürfens ist und im Berechtigungswesen des Begrüßens am Martin-Luther-Gymnasium weit oben rangiert. Damit nimmt er eine Setzung vor, die ihn gegenüber anderen in eine Dominanzposition versetzt.
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Der Schulleiter entwirft sich selbst hier als Türöffner für die Schüler, vor allem aber für ihre Eltern, denn diese Strukturlogik setzt sich fort. Den allgemeinen Begegnungen, die eher einen flüchtigen Charakter hatten, stellt er die Begrüßung der Eltern „im schönen basedow-saal“ gegenüber – einer gerahmten Veranstaltung in gediegenem Ambiente. Dieses Ambiente wird zugleich der „ramponierten Aula“ und ihrer Renovierungsbedürftigkeit gegenübergestellt. Wenn bislang noch nicht klar war, warum es bei einer Aufnahmefeier neuer Schülerinnen und Schüler nicht um die Kinder selbst geht, sondern um ihre Eltern, so zeigt sich hier deutlich: die Eltern werden hofiert, weil sie die Bedeutung und Tragweite abschätzen können, die darin liegt, eine Festveranstaltung in einer ramponierten Aula stattfinden lassen zu müssen, für deren Restaurierung noch keine zwei Millionen Mark bereitstehen. Damit werden die Eltern als Mitwisser konstruiert, die die Problematik nachvollziehen können, die entsteht, weil die Begrüßung nicht in einem schönen Ambiente, wie im Basedow-Saal stattfindet, sondern weil sie in einer heruntergekommenen Umgebung erfolgt. Beim ‚schönen Basedow-Saal’ handelt es sich nun um einen außerhalb des Schulgebäudes in der nahe gelegenen Universität liegenden Saal, der im klassizistischen Stil restauriert wurde und dessen Ambiente damit für die vom Schulleiter anvisierte traditionsorientierte Repräsentativität steht. Der Saal, in dem die Eltern die Schule näher kennen lernten, verbürgt also das, was der Schulleiter für seine Schule beansprucht, die innerhalb der Schule liegende Aula nicht. Halb entschuldigend, in dieser Ausführlichkeit aber auch die Eltern in die Pflicht nehmend, zeigt der Schulleiter, was auch an dieser Schule möglich wäre, was aber nur durch die Unterstützung und Absicherung von außen erreichbar ist. Damit besitzt die Bezugnahme auf die bröckelnde Fassade der Schule gleichzeitig einen Aufforderungscharakter für die Eltern. Sie sollen der Schule zu wieder erstrahlender Exklusivität verhelfen. Mit anderen Worten: die Exklusivität der Schule, die sich offensichtlich in einer Krise befindet, kann nur als gelöst präsentiert werden, wenn sich genügend Eltern, die in die Kategorie der Bürgen fallen, bereit erklären, ihre Kinder in diese Schule zu schicken. Wenn der Schulleiter dies als Eröffnungssituation präsentiert und damit die umworbenen Eltern zu Bürgen für Exklusivität und Traditionserhalt werden, dann ist zu vermuten, dass die Eltern um des Statuserhalts willen dazu aufgerufen werden, als Eltern der Schüler dieser Schule dazu beizutragen, dass die Schule ihr repräsentatives Erscheinungsbild wieder erhält und ihre Kinder damit in einer Umgebung lernen, die umfassend für Exklusivität und Traditionsorientierung steht. Um dies realisieren zu können, ist es jedoch Voraussetzung, dass die Eltern den Kindern bereits ein Bewusstsein über die Exklusivität einer solchen Schule vermittelt haben. Das Versprechen gelungener und traditioneller Bildung kann also nur umgesetzt werden, wenn die Elternhäuser den Schülern ein spezifisches Bewusstsein vermitteln, der Schule zu repräsentativem Glanz verhelfen und schließlich so dazu beitragen, dass ihre Kinder die exklusiven Bildungsangebote nutzen, damit sie schließlich ‚höchste Bildung’ durch diese Schule erreichen. Dies wird besonders in folgender Textstelle deutlich: Herr Westkamp: wir haben ein reiches kulturleben darf ich mal behaupten das hängt etwas auch mit unserem sprachenprofil und unserem musikprofil zusammen äh in den jüngeren klassen wirds noch nicht so furchtbar viel reisetätigkeit geben=natürlich die äh ganz normalen wanderfahrten und auch schonmal eine äh ‚ein spaziergang‘ (lauter gesprochen) an einem tag, ausflüge undsoweiter kleinere exkursionen aber spätestens so ab klasse neun zehn setzt dann doch eine umfangreiche reisetätigkeit der martin-luther-schüler ein ((und die
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die finden soviel gefallen daran)) äh dass sie dann ((noch)) in der oberstufe kaum zu bremsen sind=dass hängt auch ein bisschen mit unseren kontakten zu äh ausländischen schulen zusammen, die musiker reist zum beispiel furchtbar gerne zu unsrer partnerschule nach sanktpetersburg, und äh wir haben dann auch für unsere russischschüler eine partnerschule in sanktpetersburg, die . englisch schüler reisen gerne nach amerika, und das kostet ja auch alles sehr viel geld, und äh ich würde jetzt schon an unsre neuzugänge appellieren, von nun an das sparschwein gut aufzufüllen, damit ihr dann so spätestens ab klasse zehn auch mal das ausland bereisen könnt
Der Schulleiter wirbt hier mit dem kulturellen Kapital der Schule: dem „reichen kulturleben“, das sich vor allem in den Auslandsreisen wiederfindet (also auch in etwas, was außerhalb der Schule liegt) und das von den Schülerinnen und Schülern gewürdigt und in Anspruch genommen werden soll. Damit besondert er die Schule im Feld der anderen Schulen: sie hat ein Sprachenprofil und ein Musikprofil – ist also gleich doppelt profiliert – und vermag deshalb dem erhofften ökonomischen Reichtum durch die Eltern einen kulturellen Reichtum gegenüber zu stellen. Indem Herr Westkamp hier jedoch wirbt, zeigt er, dass die Schule sich in einem symbolischen Kampf um Profilierung befindet. Die Exklusivität ist somit nicht selbstverständlich, sondern etwas, das tagtäglich neu hervorgebracht werden muss. Stufenweise werden dabei die Schülerinnen und Schüler in einen Habitus einsozialisiert, der an frühe die bildungsbürgerliche Überzeugung: „Reisen bildet“ anschließt: wir finden diese Haltung in Rousseaus Emile, bei Goethe, Jean Paul und auch Oskar Wilde (um nur einige zu nennen). Es ist auch ein Anknüpfen an die besondere Tradition und Profilierung der Schule seit ihren Anfängen, namentlich: die Weltoffenheit und die sprachlich-musische Orientierung. Die konzentrischen Bewegungen, mit denen hier Schülerinnen und Schüler vom Spaziergang über die Wanderfahrt bis hin nach Russland und Amerika allmählich die Welt aneignen, stehen dabei symbolisch für den Prozess des Aufwachsens und den immer größer werdenden Bildungsreichtum, der ihnen im Rahmen dieser Schule bevorsteht. Die Schule wird damit ein Tor zur Welt: durch sie wird die Welt beschritten und angeeignet, sie verhilft zu exklusiver Bildung, durch die den Schülerinnen und Schülern die Welt offen steht. Allerdings gibt es eine Bedingung, die erfüllt sein muss, damit die vollgültige Teilhabe entfaltet werden kann – der Schulleiter spricht davon, dass die Schülerinnen und Schüler ihr „sparschwein füllen“ sollen. Hier findet sich wieder ein Hinweis auf die notwendige finanzielle Unterstützung durch die Eltern und die Notwendigkeit des elterlichen Bewusstseins, das an die Kinder vermittelt wird: das Sparschwein wird nicht etwa gefüllt, um Konsumgüter zu erwerben, sondern um das erworbene und ersparte ökonomische Kapital in kulturelles Kapital umzuwandeln. Für die Schüler bedeutet dieser Entwurf nun, dass sie sich in das traditionsorientierte Erziehungsprogramm der Schule einordnen müssen, um die Weihen höchster Bildung zu empfangen. Dies wird ihnen auch während der Aufnahmefeier klar gemacht: Herr Westkamp: wir berufen uns in manchen dingen auf die dreihundert jahre alte tradition dieser einrichtung und eines gehört dazu das trifft euch heute schon in voller härte, die schüler müssen den müll den sie im pausengelände verbreiten selber entsorgen, äh un da wir am anfang des ‚schuljahres‘ (betont gesprochen) stehen äh ist es nun eine geflogenheit bei uns dass die neuen klassen sofort den auftakt bilden.
Am Anfang steht eine Geste, die die Schüler in Differenz zu den Erwachsenen und den anderen Schülern, die schon länger auf dieser Schule sind, setzt und die ihnen die richtige Einstellung zur Tradition vermitteln soll. Nicht die Tatsache, dass die Schüler hier sauber 108
machen müssen, sondern dass dieser Dienst in Zusammenhang mit der dreihundert Jahre alten Tradition gebracht wird und aus der Tradition heraus der Dienst der Schüler begründet wird (und das Erziehungsideal hier nicht etwa als ‚Lernen von Verantwortung’ dargestellt wird), gibt Aufschluss über das Bild des Schülers, das hier entworfen wird. Die Schüler werden nicht nur angehalten, einen materialen Beitrag zum Erhalt der Repräsentativität der Schule zu leisten, sondern ihnen wird bei ihrem Eintritt vermittelt, dass sie ja noch ganz unten in der Hierarchie stehen. Hierin steckt ein Erziehungsideal von Demut und Tugendhaftigkeit, eine Haltung wie wir sie vor allem in christlichen und pietistischen Bildungstraditionen finden. 4.2.1.3 Das Martin-Luther-Gymnasium als Ort des Lernens Unter der Maßgabe, dass der Habitus das Habitat mache (Bourdieu 1985), ist hier nun interessant, wie sich die bisher analysierte räumliche Struktur anhand der materiellen Beschaffenheit des Ortes konkretisiert. Was lässt sich hier nun über die Beschaffenheit des Bildungsortes sagen? Dies soll hier nur knapp skizziert und als Illustration des bisher Herausgearbeiteten verstanden werden. Dabei wird kurz auf die Gestaltung der Schulgebäude, die Anordnung der Klassenräume, deren Ausgestaltung und den Eingangsbereich, sowie das Sekretariat und Direktorenzimmer eingegangen, um den Gesamteindruck wiederzugeben. Die Lage der Schule ist mit ihrer Nähe zur Universität ganz in die Tradition der akademischen Orientierung des Gymnasiums gestellt. Dies wird dadurch verstärkt, dass die Schule als Spitzengymnasium an einem Programm teilnimmt, in dem Oberstufenschüler bereits Seminare an der Universität belegen können, um hier Studienleistungen zu erwerben. So wird die Möglichkeit eines fließenden Übergangs geschaffen, der auch bei repräsentativen Veranstaltungen der Schule benutzt wird: hier lagert die Schule den Veranstaltungsort aus den schuleigenen in die universitären und nach historischem Vorbild renovierten Räumlichkeiten. Die Schulgebäude sind, wie bereits beschrieben, um einen ästhetisch anspruchsvoll gestalteten parkähnlichen Pausenhof zentriert. Rechter Hand liegt das renovierungsbedürftige Hauptgebäude, das über Eck geht und den Pausenhof von zwei Seiten her einfasst. Linker Hand liegt das ebenfalls renovierungsbedürftige Nebengebäude, das nur eine Seite des Pausenhofes einnimmt. Zwischen ihnen führt ein kleiner Weg zu den Sportanlagen. Hinter dem Hauptgebäude in einer begrünten Nische liegt auch der Raucherhof, auf dem sich Aschenbecher befinden und der ansonsten ebenfalls einen sehr gepflegten Eindruck macht. Während die Eingangshalle, von der aus man direkt in den Direktorentrakt gelangt, auch von der Straße her erreicht werden kann, liegen die anderen Eingänge um den Pausenhof gruppiert. Sie führen in lange Gänge, von denen die Klassenräume abgehen und auf denen zum Teil Spinde stehen, in denen die Schüler gegen Miete die zahlreichen für die jeweiligen Tage mitzubringenden Materialien unterbringen können. Die Gänge sind nicht als Aufenthaltsräume angelegt, sondern dienen dazu von einem Klassenzimmer in das nächste zu kommen. In Lichthöfen und an verbreiterten Gängen befinden sich die Informationstafeln der Schule: Glaskästen, in denen über Unterrichtsausfall oder schulische Veranstaltungen informiert wird. Die einzelnen Klassen haben keine eigenen Räume, sondern die Schülerinnen und Schüler kommen in jeweilige Fachräume zum Unterricht. Diese Räume sind meist 109
schmucklos und nüchtern gestaltet, die Bänke sind auf Frontalunterricht zum Lehrer hin orientiert. Die Fenster einiger Klassenzimmer sind in der unteren Hälfte verblendet, so dass Helligkeit hineinkommt, der Blick nach draußen jedoch unmöglich wird. Innerhalb der Schule erhärtet sich der Eindruck von Renovierungsbedürftigkeit, der bereits von der bröckelnden Fassade der Gebäude her entstanden ist. Davon ausgenommen sind die technisierten Bereiche der Schule: die Chemiesäle sind neuwertig, die Computerkabinette hochmodern und mit Internetzugang ausgestattet, das Sprachlabor auf dem neuesten Stand. Der Direktorentrakt geht von der Eingangshalle aus, die auch von der Straße her zu erreichen ist. Auch hier findet sich etwas von der in der Begrüßungsrede angestrebten Repräsentativität. Im Entree der Schule befindet sich zunächst eine großzügig angelegte ‚Ahnengalerie‘: Hier hängen Ölgemälde der namhaften Direktoren der Schule. In dieser Eingangshalle ist im Übrigen der einzige Ort, an dem sich in einem Durchgangsbereich ein kleiner runder Tisch mit drei Stühlen befindet. Auf diesem liegen Prospekte über Austauschprogramme aus. Im Sekretariat, befindet sich neben bunt zusammengewürfelten Büromöbeln und einem Tisch, an dem die auf einen Termin Wartenden Platz nehmen, auch die Sendestation des Schulradios. Der hochmodernen Radioanlage und dem neuwertigen Computer steht eine provisorisch wirkende Einrichtung gegenüber, die dadurch abgerundet wird, dass die Sekretärin die Fenster provisorisch mit Wolldecken abgedichtet hat. Nur über das Sekretariat gelangen Besucher ins Direktorenzimmer, das mit einer doppelten Holztür vom Vorzimmer getrennt ist. Dieses Zimmer ist durchgängig mit dunklen Holzmöbeln eingerichtet. Gegenüber der Tür steht ein ausladender dunkler Schreibtisch in der Mitte der Zimmerbreite, dahinter ein die ganze Breite einnehmender Aktenschrank – ebenfalls in dunkelbraun. Auf dem Weg dorthin befindet sich zur Linken eine Ledergarnitur, zur Rechten ein Besprechungstisch in dunklem Holz, an dem der Stuhl an der Frontseite sich dadurch von den anderen Stühlen unterscheidet, dass er Armlehnen hat. Diese knappe Skizze vermittelt einmal mehr den Eindruck, dass es in dieser Schule neben der Orientierung an sachbezogenem Wissen um die Einübung von Disziplin, Ordnung und Demut geht. Dabei stehen die repräsentativen „Inseln“, wie sie durch den Schulleitungstrakt, den Pausenhof und die gelegentlich in Anspruch genommenen universitären Räume repräsentiert werden, einer funktionalen Gestaltung von Schule und Unterricht gegenüber, wobei die Schüler und Schülerinnen zum Teil lange Wege in Kauf nehmen müssen, um sich ihren Unterricht „abzuholen“. Die „Inseln“ spiegeln wider, was in der Schule möglich sein kann, aber unter den gegebenen Bedingungen noch nicht realisiert ist. Hier wiederholt sich schließlich einerseits die Aufforderung der Schule an die außerschulischen Akteure: wer die harte Aufnahmeprüfung geschafft hat und durch Leistung und Eignung/Begabung unter Beweis gestellt hat, dass er/sie zur Teilnahme an exklusiver Bildung berechtigt ist, dessen/deren Eltern werden auch aufgefordert, die Situation ihrer Kinder zu verbessern und der Schule damit wieder zu altem Glanz zu verhelfen. Das Versprechen der Schule ruht nicht nur in den möglichen Bezugnahmen auf die Universität und die bereits renovierten, repräsentativen Orte, sondern auch in dem, was das Arrangement in der Eingangshalle verspricht: durch die Traditionsverbundenheit, wie sie in der ‚Ahnengalerie‘ vorzufinden ist, zur Teilhabe an modernen Bildungsarrangements (z.B. einem Austauschjahr in Amerika) zu kommen.
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Nun mag es scheinen, als stehe die ‚bröckelnde Fassade‘ der Schule trotz der ‚repräsentativen Inseln‘ am stärksten im Widerspruch zu dem Bild, das der Direktor bei der Einschulung neuer Schülerinnen und Schüler von der Schule entwirft. Hier treten in aller Deutlichkeit die Mängel hervor, die der Direktor selbst in seiner Festrede erwähnt. Zugleich kommt der Entwurf von gelungener Bildung und Exklusivität jedoch an den Stellen, die bereits renoviert sind, voll zum Tragen. Denn nicht nur Eingangsbereich und Direktorenzimmer, auch der Schulhof dient der Schule als Bezugsnorm – was unter anderem daran deutlich wird, dass Schülerinnen und Schüler, die die Ordnung der Schule stören, zur Arbeit am Äußeren der Schule verpflichtet werden. 4.2.1.4 „ich lege auch großen wert auf die viel zitierten sekundärtugenden“ – das Schulleiterinterview am Martin-Luther-Gymnasium Hier schließt ein Zitat aus dem Schulleiterinterview mit Herrn Westkamp an, das die Erziehungshaltung in den Blick nimmt: Interviewerin: Herr Westkamp:
was soll erzieherisch vermittelt werden ((ähm dann))‘ (fragend) äh ich weiß nicht ob ich hier in dem punkt äh vielleicht etwas konservativ bin, äh aber ich lege auch großen wert auf die viel zitierten sekundärtugenden, was ich mir von kollegen und schülern wünsche ist zum beispiel ‚rücksichtnahme‘ (gedehnt) höflichkeit im umgang miteinander (I: hmhm) , ein friedliches zusammenleben was ich gar nich mag bei kleineren schülerin is das was die amerikaner als bullying bezeichnen das schuppsen aufm schulhof (I:hmm) das drängeln, vor den klassenzimmern (I: hmm), äh ich denke hier kann man erzieherisch wirken (I:hmm) dass auch an zehnjährgen schon der respekt vor den mitschülern vermittelt (I: hm hm) wird das er einfach nich auf die idee kommt den ((anderen)) teilweise ’anzuboxen‘ (betont) oder äh, eine tätlichkeit zu begehen, und äh da kann ich also sehr hart als schulleiter reagieren wenn mir solche fälle bekannt werden äh ich , formuliere es auch immer bei der gru- begrüßung neuer schüler , der neuen eltern (I: hmhm) des zukünftigen jahres fünf in der aula und dann , sag ich das auch noch mal , äh was ich nich möchte is ‚aggressivität‘ (betont) (I: hmm hmm) , und äh dann=das wird auch geahndet das ahnde ich zum beispiel sofort hier durch, arbeitseinsatz (I: hm hm) auf dem schulgelände ((will sagen)) auf dem gelände des martin-luthergynmasiums ,das kann bis zu zehn zwanzich wochenstunden geben (I: hm hm) äh dafür gibt es natürlich keine gesetzliche ‚grundlage‘ (betont) aber hier berufen wir uns auf die tradition des Martin-Luther-Gymnasiums, das geht aber nur mit zustimmung der eltern (I: hm hm) ich würde alsno ‚nie‘ (betont) irgendeinem schüler einen arbeitseinsatz verhängen, ohne dass die eltern darüber informiert sind=wir bitten dann noch mal die eltern um eine stellungnahme ob sie damit einverstanden sind (I: hm hm) und ich kann ihnen sagen wir hab noch ‚nie‘ (betont) einen einspruch aus elternkreisen gehabt=im gegenteil die eltern, finden das besser als wenn wir über klassenkonferenzen gehen mit schriftlichem tadel und so weiter
Der Schulleiter behauptet hier einen homogenen Entwurf, den er sowohl in der Begrüßungsrede neuer Schülerinnen und Schüler formuliert als auch in der Schule praktisch handelnd umsetzt. Auf die Frage der Interviewerin, was erzieherisch vermittelt werden soll, gibt er sich zunächst unsicher, ob er nicht „etwas konservativ“ sei. Damit dokumentiert er eine Haltung, die sich an Reproduktion orientiert, am Erhalt von etwas, das er noch entfalten wird. Mit dieser Behauptung gibt er zugleich den Rahmen, den er im Folgenden entfaltet. Hier bezieht er sich auf den Begriff der „Sekundärtugenden“, die den „Primärtugenden“ (Tapferkeit, Klugheit, Gerechtigkeit und Verständigkeit) nachgeordnet sind. Zu den Sekundärtugenden zählen, Pünktlichkeit, Ordnung, Gehorsam usw. – auch Höflichkeit im Um111
gang miteinander. Hiermit schließt er an die Haltung an, die er bereits in der Begrüßungsrede dargelegt hat, an und beansprucht sie für Kollegen und Schüler gleichermaßen. Seine Formulierung „was ich mir von kollegen und schülern wünsche ist zum beispiel rücksichtnahme“ kann dabei mindestens in zwei Richtungen verstanden werden: einmal würde es darum gehen, dass Herr Westkamp wünscht, seine Kollegen und Schüler würden Rücksicht aufeinander nehmen. Dies stünde dafür, dass er die gegenseitige Rücksichtnahme in der Lehrer-Schüler-Beziehung als gegenwärtig noch nicht ideal ansieht, denn ein Wunsch ist auf die Veränderung des Bestehenden gerichtet. Fatal wäre seine Position allerdings, wenn die zweite Lesart erhärtet werden könnte: dass er sich Rücksichtnahme von Kollegen und Schülern gegenüber seiner Person wünschte. In diesem Fall wäre das Begehren nach einer Veränderung des Bestehenden ja darauf gerichtet, dass quasi die gesamte Schulgemeinschaft als nicht rücksichtsvoll erlebt wird. In beiden Fällen entwirft sich der Schulleiter jedoch als außenstehend, auf die Beziehungen in der Schule blickend und die Beziehungen an den „Sekundärtugenden“ messend. In der Folge entfaltet er ein Beispiel, in dem Schüler respektlos miteinander umgehen, so dass die erste Variante wahrscheinlicher wird: es geht vor allem darum, dass er und auf der Grundlage seines Begehrens auch seine Kollegen, für die Einhaltung der „Sekundärtugenden“ einstehen. Hier verbindet sich sein Entwurf der Erziehung zur Demut und disziplinierten Haltung mit dem, was er in der Rede anlässlich Aufnahmefeier formuliert hat: unter Berufung auf die Tradition wird zu Erziehungsmitteln gegriffen, die in den konservativen Selbstentwurf passen: die Schüler müssen Strafarbeiten erledigen. Dies durchzusetzen bedarf allerdings, insbesondere wenn es sich um einen Akt der Bestrafung handelt, der Einwilligung der Eltern. Diese geben die Einwilligung nur allzu gerne, da ihnen die (formlose) Bestrafung lieber ist, als ein formales Vorgehen, in dem die Klassenkonferenz einen schriftlichen Tadel ausspricht. Hier wird nun neben der Einübung der Sekundärtugenden und der Bestrafung im Fall des Ungehorsams auf eine mögliche Grenze der Erziehungshaltung verwiesen: der NichtEinwilligung der Eltern in die Strafpraxis der Schule. Jedoch sind die Konsequenzen dieser Nicht-Einwilligung mit direkten Exklusionsdrohungen verbunden: willigen die Eltern nicht ein, droht ein schriftlicher Tadel. Willigen sie ein, so droht auch der Ausschluss nicht. Damit wird deutlich, dass vor allem solche Eltern ihr Kind in diese Schule schicken, die in hohem Maße konform damit gehen, dass die ‚konservative‘ Haltung des Schulleiters die Schülerinnen und Schüler zur Demut erzieht und mangelnde Rücksichtnahme in ihre Grenzen weist. Dabei reflektiert Herr Westkamp durchaus, dass seine Haltung nicht unumstritten ist. Indem er formuliert „ich lege auch großen wert auf die viel zitierten sekundärtugenden“ artikuliert er ein Wissen darum, dass diese Tugenden nicht nur „zitiert“ werden, sondern, z.B. im Rahmen reformpädagogischer Erziehungsprogramme oder von Vorstellungen, die auf eine kritische und autonome Haltung des Heranwachsenden zielen, auch kontrovers diskutiert werden. Ebenso ist er sich bewusst, dass die Verhängung von Strafarbeiten einer rechtlichen Grundlage entbehrt. Jedoch kann die Strafarbeit auch zur sekundären Chance werden, wenn sich mit ihr eben keine Ausschlussbedrohung verbindet, sondern die Möglichkeit auch weiterhin „tadellos“ durch die Schule zu kommen. In der reflexiven Entfaltung der konservativen Haltung ruht nun ein modernisierter Entwurf pädagogischen Handelns. Die Paradoxie, die ihm eigen ist, ist die, dass in der Reflexion mit der die konservative Haltung eingeführt und behauptet wird, gerade eine moderne Haltung artikuliert wird, 112
die sich dennoch bewusst von Haltungen distanziert, die als modernisiert bezeichnet werden können und auf Transformation, frühe Autonomiegewinnung und Teilhabe gerichtet sind – man könnte somit die Haltung auch als „reflexive Entmodernisierung“ bezeichnen. Nun wurde nicht nur die konservative Haltung, die Herr Westkamp hier reflexiv entfaltet, als Inklusionsbedingung der Schule markiert, sondern auch die besondere Leistungsfähigkeit und Begabung, die Voraussetzung der Aufnahme am Martin-Luther-Gymnasium sind. Dies soll an zwei weiteren Textstellen zum schulischen Wissenserwerb und zur Relevanz von Leistungsanforderungen abgehandelt werden: Interviewerin: ja, welche bedeutung hat denn schulischer wissenserwerb für ihre schule und für sie Herr Westkamp: ja für mich is das eigentlich das tür=äh das tor, äh zum berufsleben be wenn man überhaupt, einen äh , ausfüllenden beruf ergreifen möchte, das gilt natürlich auch fürs studium muss ich ja auch über ein entsprechendes wissen verfügen (I:hmm) , und es nützt mir gar nichts das ich äh , äh an einer schule (schulgong im hintergrund) vielleicht äh exzellente noten bekomme die nicht durch wissen unterfüttert sind die vielleicht nur aus einer gewissen wohlgefällichkeit heraus gegeben werden , sondern äh wichtich is für mich die studierfähichkeit (I: hmm) die die schüler nach dem abitur haben (I: hmm) es gibt durchaus fälle, äh wo die schüler mit einem exzellenten zeugnis von einer schule die vielleicht wenig ansprüche stellt ins studium gehen und dann ‚zusammenbrechen‘ (betont) (I: hm hm) wir wissen ja dass die zahl der studienabbrecher sehr=sehr hoch ist
Der Behauptung, Wissenserwerb sei das Tor zum Berufsleben, fügt Herr Westkamp ein Bedingungsgefüge an: „wenn man überhaupt, einen äh, ausfüllenden beruf ergreifen möchte“. Zunächst liest sich dies wie ein Widerspruch zum schulishcen Programm, der sich auf die Annahme gründen könnte, in der Gesellschaft, in der Erwerbsarbeit immer mehr an Wert verliere, ginge es nicht so sehr um einen Beruf, sondern um eine erfüllende Tätigkeit. Jedoch wird spätestens nach dem Einschub, die folgende Formulierung gelte auch für das Studium, deutlich: es geht weniger um eine erfüllende Tätigkeit als um einen adäquaten Anschluss des Wissens an die Schulbildung. Wissen ist somit die Eintrittskarte in das spätere Studium und in den Beruf. Damit wendet Herr Westkamp die Fragestellung zweifach: zum Einen beantwortet er die Frage nach der Bedeutung von Wissenserwerb „für die schule und für sie“ nur fokussiert auf seine eigene Person. Damit verlässt er die Ebene des Schulischen – nicht etwa, indem er sich und die Schule in eins setzt, sondern indem er seine eigene Position stark macht. Auch unter der Annahme, dass seine Position die der Schule sei, wird hier doch eine minimale Differenz deutlich, die unbearbeitet bleibt. In seinen weiteren Ausführungen grenzt er sich von Schulen ab, die exzellente Bewertungen vergeben, diese aber nicht mit Wissen unterfüttern. Sein Gegenentwurf sieht jedoch vor, dass Abiturienten und Abiturientinnen studierfähig werden. Und hier zählt für ihn nicht nur der Erwerb von Wissen, sondern auch die Fähigkeit unter den Anforderungen des Studiums nicht zusammenzubrechen. Als Gegenbild wird hier auch die Studienabbrecherquote bemüht, wobei von den Studienabbrechern implizit angenommen wird, dass sie nicht studierfähig waren und unter der Last des Studiums zusammengebrochen sind, weil sie aufgrund allzu wohlwollender Beurteilungen durch die Schule gekommen sind. Damit zeichnet er von abgehenden Schülerinnen und Schüler des Martin-Luther-Gymnasiums das Bild, disziplinierter, fleißiger, konditionell gut ausgestatteter Personen, die fähig sind, die harten Anforderungen des Studiums auszuhalten. Er verkennt die Bedingungen des Studiums in zweifacher Weise: zum Einen kann es sein, dass die von ihm als „wohlgefälligkeit“ disqualifizierten exzellenten Beurteilungen erst den Weg in ein Fach öffnen, das einen hohen Numerus Clausus 113
hat, so dass gerade jenen, die die Sekundärtugenden gelernt haben, aber weniger gut beurteilt wurden, der Weg versperrt bleibt. Zum anderen setzt er das Wissen, das in der Schule angeeignet wird, mit dem Wissen und den Grundfertigkeiten, die für das Studium benötigt werden, gleich. Dass hier jedoch unterschiedliche Fachkulturen mit unterschiedlichen Anforderungen herrschen, wird nicht berücksichtigt. Wissensvermittlung wird damit von ihm auch gleichgesetzt mit Leistungsanforderungen: wer viel Wissen vermittelt, vermittelt eine hohe Leistungsfähigkeit und kann hohe Anforderungen stellen. Hierbei hebt er die besondere Position des Martin-Luther-Gymnasiums in der regionalen Schullandschaft nun einmal explizit hervor: Herr Westkamp: äh, sie [die leistungsanforderungen, m.h. ]sollten denke ich eine , größere rolle spielen , man sagt uns immer nach dass wir unseren kindern mehr abverlangen als andere gymnasien , äh ich denke das äh muss auch so sein weil das hier unsere existenzberechtigung ist , wenn wir schon ein aufnahmeverfahren eingeführt haben (I: hmm) , in dem wir uns die besseren schülerinnen und schüler dann auswählen , dann muss ich denen auch entsprechendes abverlangen können (I: hmm) da kann ich nich äh tachtächlich irgendwelche spielereien oder (I: hmm) , neckerein veranstalten sondern dann muss wirklich handfestes wissen vermittelt werden und das is auch etwas was die eltern der schule abverlangen=man ‚erwartet‘ (betont) es von uns
Hohe Leistungserwartungen korrespondieren für Herrn Westkamp mit dem Kampf um eine herausragende Position in der Schullandschaft. Diese herausragende Position ist begründet durch die Tatsache, dass die Schule die besseren Schülerinnen und Schüler aufnimmt und ihnen dann auch Leistung abverlangt. Herr Westkamp bezeichnet dies als „existenzberechtigung“ der Schule. Die Vermittlung „handfesten“ Wissens ist dabei das einzige, was möglichen Anfragen auf die Existenzberechtigung als exklusive Schule gerecht wird. Andere Beschäftigungen tut Herr Westkamp als „irgendwelche spielereien oder neckereien“ ab. Die Eltern und das gesamte Umfeld („man“) erwartet von der Schule die strenge Orientierung auf Unterricht und Sachvermittlung. Alles, was daneben passiert, wird aus dem Kreis des Schulischen ausgeschlossen. Damit behauptet der Schulleiter nicht nur wiederholt seine „konservative“ Vorstellung von Schule und Unterricht, er zeigt auch auf, dass sich die Schule im Kampf um die besseren Schüler behaupten muss. Fehlt die kriteriale Orientierung an Leistung, so ist auch die exzellente Position in Frage gestellt. Es zeigt sich, dass der Entwurf als exklusive Schule, die auf exzellente Leistungen setzt, einer ist, der durchaus fragil werden kann. Unter der Bedingung der Exklusivität wird die Schule selbst zum Akteur im Kampf um Inklusion und kann nur weiter eine „bessere“ (und hier ist noch nicht die Rede von der besten) Position im Feld schulischen Handeln beanspruchen, wenn die schulischen Akteure an den „Sekundärtugenden“ festhalten und sich selbst disziplinieren. 4.2.1.5 Kontrastierende Lehrerhaltungen am Martin-Luther-Gymnasium In diesem Abschnitt wird auf die Lehrerinterviews eingegangen. Dabei wurden zwei kontrastierende Interviews ausgewählt, welche das Spektrum der Positionen pädagogischer Professionsentwürfe in dieser Schule illustrieren sollen. Beim ersten Interveiw handelt es sich um den Klassenlehrer, Herrn Ebeling, beim zweiten um die Mathematiklehrerin, Frau Matthes, die auch stellvertretende Schulleiterin ist.
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Interviewerin: und äh 'welche rolle haben denn 'leistungsanforderungen' (betont) , für sie' (fragend) (4) Herr Ebeling: ja , leistungsanforderungen sind , für mich ei- ähm erst mal .. ne notwendigkeit , und die notwendigkeit , wird für mich abgeleitet , aus der tatsacht das ich den schülern eine . bildung vermitteln möchte die ihnen wirklich die besten voraussetzungen im 'leben' (betont) hmm . bietet also es is och sicherlich ne . ja ne praktische .. 'hmm' (abwägend) , also es diese=diese bildung is äh sozusagen ((vehikel)) , (I: hmhm) und dazu gehörn leistungsanforderungen , und aus meiner sicht muss man die leistungsanforderungen so stellen das=das alle schüler gefordert sind und (I: hmm) das die leistunganforderungen für alle schüler zwar erreichbar sind awer , äh nicht äh zu gering so dass also die das erfolgserlebnis wirklich nur dann da ist wenn , wenn sich jemand besonders angestrengt hat wenn jemand ne besonders gute leistung oder ne gute leistung er-zielt hat und also die leistungsanforderungen dürfen nich zu niedrich sein grade (I:hmm) hier bin ich der meinung man könnte ja sagen , die schüler sind durchschnittlich so , gut ich geb nich allen einsen und zweien und das halt ich also für falsch 'ja' (fragend) , es is ne diskussion die die schüler , führn , vergleichen ihre leistungen mit andern auf andern gymnasien , (I: hmhm) stellen fest das sie hier schlechter bewertet werden , also ich denke diese leistungsanforderungen sin 'wichtich' (betont) und die sollten auch ne große rolle spielen (I: hmm) , und die schüler müssen gefordert werden und sie sind am ende och dankbar , dass sie gefordert wurden , (I: hmhm)
Die Haltung Herrn Ebelings ist anfänglich von einer deutlichen Inkonsistenz in seiner Bezugnahme auf Leistungsanforderungen geprägt. Er behauptet die Notwendigkeit von Leistungsanforderungen, die daraus abgeleitet ist, dass er den Schülern „bildung vermitteln möchte, die ihnen wirklich die besten voraussetzungen im leben bietet“. Damit erscheint der Begriff der Bildung verdinglicht, denn hier werden die Formulierungen „Wissen vermitteln“ und „Schüler bilden“ vermischt. Damit wird gerade Abstand genommen von einem Bildungsbegriff, der auf subjektive Weiterentwicklung gerichtet ist. Herr Ebeling formuliert seinen Wunsch Bildung vermitteln zu wollen als Tatsache, die mit Leistungsanforderungen verbunden ist und behauptet so Gesetzmäßigkeiten und Notwendigkeiten, die verobjektiviert erscheinen und mit den Selbstbehauptungen („für mich …“) konfligieren. Hier findet sich ein Verweis darauf, dass der Sprecher keine eigenständigen Legitimationsfiguren für sein Handeln findet, sondern auf übergeordnete Verbürgungszusammenhänge zurückgreift. Fraglich ist jedoch an dieser Stelle, warum er nicht schlicht konform mit der Institution antwortet, sondern an der Findung eigenständiger Begründungsfiguren scheitert. Schließlich muss hier angenommen werden, dass die institutionelle Haltung zwar äußerlich übernommen wurde, aber nicht personal verbürgt werden kann. Dies zeigt sich auch im folgenden Teil. Herr Ebeling verwendet schulisch zentrale Begriffe formelhaft, kann sie aber nicht stimmig mit einer eigenen Haltung in Bezug auf die Leistungsanforderungen verbinden. Hier kann Unsicherheit im Umgang mit zentralen schulischen Angelegenheiten festgestellt werden. Das bedeutet, dass der Lehrer droht, selbst an den Anforderungen dieser Schule zu scheitern. Er laviert zwischen subjektivierenden und objektivierenden Formulierungen und nimmt seiner Aussage die Klarheit. Er selbst steht in einer prekären Position zur Schule. Er formuliert keine offene Opposition – etwa, indem er den Leistungsgedanken gegenüber dem praktischen Lernen für das Leben herabsetzt – noch bezieht er eindeutig Stellung für den Leistungsgedanken. Vielmehr benutzt er den Begriff der Leistungsanforderung hülsenhaft und verschleiert damit seine mangelnde Passung zur schulischen Wertschätzung von Leistung. Erst über eine Diskussion der impliziten Frage, welche Rolle Leistungsanforderungen an dieser Schule für Schülerinnen und Schüler spielen, gelangt Herr Ebeling schließlich zu einer relativ klaren Aussage: „also ich denke diese leistungsanforderungen sind wichtich und die sollten auch ne große rolle spielen , und die 115
schüler müssen gefordert werden und sie sind am ende och dankbar, dass sie gefordert wurden“. Er kann die Begründung für die Relevanz der Leistungsanforderungen jedoch nicht eigenständig liefern. Als Begründungsfigur dient ihm die Dankbarkeit der Schüler im Nachhinein. Auf seinen eigenen Unterricht geht er dabei nicht ein. Herr Ebeling ist damit zusammenfassend als Lehrer zu charakterisieren, der in widersprüchlichem Passungsverhältnis zur Schule steht. Er kann die im Idealbild der Schule geforderte, den Leistungsgedanken charismatisch verkörpernde Lehrerpersönlichkeit nicht verbürgen und ebenso wenig die Orientierungen an ‚Sekundärtugenden‘ begründend behaupten. Damit droht er hinter den Anspruch der Schule und ihren Anforderungen an Exzellenz zurückzufallen. Zwar ist ihm auf der intentionalen Ebene Leistung wichtig, er vermag jedoch keine konsistente Begründungsfigur dafür zu liefern. Hier manifestiert sich Unsicherheit bezüglich der eigenen Haltung und Fähigkeit, die schulisch favorisierte Haltung, mit der er eigentlich auch übereinstimmen möchte, durch die eigenständige Verbürgung von Exzellenz zu unterfüttern. Frau Matthes, die stellvertretende Direktorin der Schule und Mathematiklehrerin der von uns untersuchten Klasse positioniert sich zum Thema Leistungsanforderungen wie folgt: Interviewerin: ähm ich glaube in der schule gibt’s ja auch noch ne andere , dimension der leistungs , anforderung , könn sie mal ´n bisschen erzähln was das für , die schule für´n stellenwert hat und dann auch für 'sie' (betont) Frau Matthes: welche , welchen (I: die leistungs , schulische leistungs , ) die schulischen forderungen leistungen mmh mmh mmmh . was für´n stellenwert=da=na ich meine im mittelpunkt in der schule 'stehen' (betont) nun mal die schulischen leistungen hmhm also stehen ganz vorne , (I: hmhm) vom stellenwert her , das is ja ganz klar ansonsten bräucht mer keine schule zu machen (: hmhm) ne , das is ja der zweck weshalb die kinder herkomm , das sie also wirklich etwas lernen und das sie , vorbereitet werden auf ein studium das spiegelt (I: hmhm) sich nun sicherlich nicht 'immer' (betont) in einer zensur wieder hmm , deshalb , sagte ich ja, dass die beurteilung vielleicht da , ausgleichend wirken kann (I: hmm) dass also im prinzip das gesamtbild genommen wird und , da mach mer uns ja nix vor viele betriebe stelln ja heute nich nur aufgrund der zensuren ein (I: hmm) sondern , die holn sich die bewerber ran , gucken die sich zwei tage an , im umfeld (I hmm) in ihrer teamfähichkeit (I: hmm) und so weiter und dann entscheiden sie sich , ja also , ich denke is man da schon auf der richtigen schiene und , äh ich weiß nich welchen stellenwert sie jetzt noch meinen also ich würde sagen die die=die schulischen leistungen sind an erster stelle natürlich zu setzen . und dann kommt aber auch gleich äh dieser erzieherische effekt den wir ‚versuchen’ (betont) in unseren möglichkeiten äh durchzuboxen dass man also auch bestimmte toleranz den kindern lehrt (I: hmhm) auch toleranz gegenüber schwächeren jetz im leistungsbereich bespielsweise dass man hilfsbereitschaft versucht äh den kindern nahe zu bringen und viele andere kriterien.
Frau Matthes braucht hier ebenfalls einen längeren Anlauf, um sich zu den schulischen Leistungsanforderungen zu positionieren. Sie bearbeitet dabei den Begriff „schulische leistungsanforderungen“ mehrfach und verwendet schließlich den Begriff der „schulischen leistungen“. Hier geht es nicht mehr um das, was die Schule von den Schülerinnen und Schülern fordert, sondern darum, was die Schüler erbringen müssen, um Schüler zu sein. Die Antwort wird mit dem „nun mal“ zu einer Feststellung und Festschreibung der Schule auf Leistung. Diese wird autoritativ gegen eventuelle Zweifel behauptet, bekommt aber auch eine passivische Note: Frau Matthes scheint durch das „nun mal“ dem Zusammenhang von Schule und Leistung ausgeliefert. Jedoch rahmt sie den Satz „im mittelpunkt der schule stehen nun mal die schulischen leistungen“ mit der Wendung „ich meine“. Sie kündigt 116
damit an, subjektiv Stellung zu beziehen und benennt hier einen objektivierten Wirkungszusammenhang, dem sie selbst ausgeliefert ist. Zugleich impliziert diese Aussage eine Delegitimation der Fragestellung und bietet damit eine Erklärung für die Diffusion am Anfang: der Zusammenhang von Schule und Leistung ist für die Interviewte so selbstverständlich, dass sie nicht auf die Idee kommt, darüber nachzudenken. Dies liegt auch daran, dass die Frage umgewertet wird. Die Frage nach den Leistungsanforderungen in der Schule richtet sich auf die spezifische Schule und ihren jeweiligen Umgang mit Anforderungen an die Schülerinnen und Schüler. Die Frage nach Leistung und Schule hingegen kann so aufgefasst werden, dass der Sinn von Schule überhaupt zur Diskussion steht. Der Umkehrsatz „ohne Leistung keine Schule“, macht dies besonders deutlich: Frau Matthes verortet sich in einem Kontext, der alle Facetten schulischer Leistung (Leistungsbeurteilung, Leistungskonkurrenz, Leistungsanforderungen, Leistungserwartungen etc.) in den Mittelpunkt stellt und einen auf Selbstbildung oder individuelle Transformation gerichteten Gedanken zur Begründung des Sinns von Schule in den Hintergrund rückt. In dem Satz „sonst bräucht mer keine schule zu machen“ wird nun auch deutlich, dass die Schule als Institution gesehen wird, die für die Schülerinnen und Schüler gemacht wird. Und sie wird gemacht von den Lehrerinnen, Lehrern und der Schulleitung, denn sie hat den Zweck, dass der Leistungsgedanke vermittelt wird. Partizipative Ansätze, die Eltern und Schüler in das „Machen“ von Schule einbeziehen, sind hier nicht am Platz. Schule gestaltet sich funktional und puristisch um den Leistungsgedanken zentriert. Die Beziehungen in der Schule sind dabei weitgehend hierarchisiert: die Macher sind die Lehrerinnen, Lehrer und der Schulleiter, die Rezipienten die Schülerinnen und Schüler. Sie werden „auf ein studium“ vorbereitet – hiermit pauschalisiert Frau Matthes schulisches Lernen gleichermaßen als Durchgangsstation und als das, was zum Studium führt. Insbesondere in letzterer Lesart ruht ein distinktives Moment, denn implizit sind all jene schulischen Lernformen ausgeschlossen, die nicht in ein Studium führen. Bei der Vorbereitung auf das Studium geht es aber nicht nur um Zensuren, sondern es gehört mehr dazu, um leistungsfähig zu sein. Der Grund zur Schule zu gehen und zu lernen ist damit nicht nur Selbstzweck, sondern das außerhalb der Schule liegende Studium und die Assessment-Center, die sich an Schule und/oder Studium anschließen und in denen die Passförmigkeit neuer Bewerber in ein Team geprüft wird. Damit werden Beurteilungskriterien eingeführt, die ebenfalls über die Benotung hinausgehen. Mit diesen, hier nicht benannten Kriterien, die Leistungsfähigkeit auszeichnen, aber nicht objektiv messbar sind, unterwandert Frau Matthes nun ihre Zentralstellung von Leistung wieder. Nach der scheinbaren Öffnung „äh ich weiß nicht welchen stellenwert sie jetzt noch meinen“ öffnet sie die Interaktion für die Interviewerin und eine mögliche Korrektur der Fragestellung, denn inzwischen geht es nicht mehr um die Leistungsanforderungen der Schule und der einzelnen Lehrerin, sondern um die Leistungsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler und die Schule als Durchgangsstation, die auf das spätere Leben vorbereitet. Der schnelle Anschluss: „also ich würde sagen die=die schulischen leistungen sind an erster stelle natürlich zu sehen“ geht hingegen wieder auf die formelhafte Behauptung der Relevanz von Leistung zurück und behauptet wider die selbst hervorgebrachten Einwände und eigenen Orientierungsschwierigkeiten, eine natürliche Positionierung schulischer Leistungen.
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Die hierin liegenden impliziten Verhältnisbestimmungen werden erst im folgenden Satz ausgeführt: „und dann kommt aber auch gleich äh dieser erzieherische effekt“. Vor Erziehung rangiert also Leistung. Leistung wird zu einem grundlegenden traditionellen Bestandteil der Schule gemacht, sie ist schulische Routine, die nicht hinterfragt wird. Die anderen Selektionskriterien, welche Betriebe und Universitäten haben, werden anerkannt und stellen die harte Orientierung an Leistung in Frage. Jedoch wird fast schematisch an Leistung als primärem Grundsatz des schulischen Lernens festgehalten. Die hinter der Leistung rangierende Erziehung wird in diesem Zusammenhang als „erziehherischer effekt“ bezeichnet. Damit wird deutlich, dass es nicht um Erziehung als solche geht, sondern um etwas anderes, was im Ergebnis zur Erzogenheit der Schülerinnen und Schüler führt. Dieses Ergebnis liegt in dem Versuch begründet Toleranzlernen gegenüber Schwächeren im Leistungsbereich „durchzuboxen“. Damit wird angedeutet, dass das Erziehungsziel Toleranz, das im Übrigen durch das „aber“ in Widerspruch zu den Leistungen gestellt wird, gewaltsam durchgesetzt wird. Ausgerechnet Toleranz stellt sich jedoch als Ziel dar, das durch Gewalt nicht vermittelt werden kann. Zugleich ist zu fragen: gegenüber welchen Anderen sollen die Schülerinnen und Schüler hier tolerant sein? Hier ist wiederum ein distinktives Moment eingeführt, das die Leistungsfähigkeit der Martin-Luther-Schülerinnen und Schüler selbstverständlich annimmt und damit herausstellt, dass es sich um eine Schule mit besonders leistungsfähigen Schülerinnen und Schülern handelt, die jedoch gegenüber anderen tolerant sein sollen. Dabei wohnt dem Begriff der Toleranz immer schon ein Herrschaftsanspruch derjenigen inne, die gegenüber anderen tolerant sind. Es geht nicht um wechselseitige Anerkennung und Respektierung jeweiliger Kompetenzen und Fähigkeiten, sondern um die Duldung von anderen – weniger Leistungsfähigen. Für den Fall Frau Matthes ist zu schlussfolgern, dass sie die Anforderungen der schulischen Ordnung an Distinktion und Leistung deutlich vertritt. An die Stelle von fundierten Begründungsfiguren tritt dabei jedoch der Charismatisierungsversuch einer naturgegebenen Ordnung. Dieser wird unterlaufen durch Anforderungen, die quer zu den formalisierten Kriterien der Schule stehen – etwa der Passförmigkeit in Betrieben. Dieser Widerspruch wird mit disziplinierenden Entwürfen und der Idee von Distinktion durch Stärke gegenüber anderen bearbeitet. Wenngleich beide Lehrer damit mit dem Anspruch der Schule auf Exzellenz konfligieren, kontrastieren sie jedoch deutlich. Herr Ebeling kann den Anspruch an ein hohes, exklusives Bildungsideal nicht verbürgen. Er selbst fällt in seinen inkonsistenten Begründungsfiguren hinter das schulische Ideal zurück. Damit markiert er einen Grenzpol des schulischen Anspruchs auf Exklusivität, denn er droht selbst das Ansehen der Schule zu beschädigen – es zu ‚ramponieren’. Insofern findet sich hier eine Entsprechung zur Schulleiterrede: Herr Ebeling steht sozusagen material für die Manifestierung der institutionellen Strukturproblematik. In seiner Person finden sich jene Eigenschaften verkörpert, die homolog mit den Bruchstellen des Anspruchs einer repräsentativen Schule einhergehen. Damit trägt er nicht zur Lösung dieser Problematik bei. Frau Matthes kontrastiert zwar mit dem Entwurf von Herrn Ebeling, indem sie versucht, den Leistungsgedanken zu charismatisieren. Dies gelingt ihr jedoch nur über den Rekurs auf ein traditionelles Schulverständnis und die Setzung von Asymmetrie in der Beziehung zu den Schülerinnen und Schülern. Es kann gesagt werden: Herr Ebeling ist mit dem Entwurf von Exklusivität und Exzellenz überfordert. Frau Matthes wendet diesen Anspruch vor allem leistungsorientiert. Damit ist ihr Passungsver118
hältnis zur Schule insgesamt weniger spannungsreich. Bei ihr handelt es sich um eine Lehrerin, die in der Routine des schulischen Alltags durchaus hohe Leistungsanforderungen und Exzellenz vertreten kann. Während Herr Ebeling auch gegenüber einer als exzellent und leistungsstark ausgewiesenen Schülerschaft in Legitimationskrisen gerät, bezieht sich Frau Matthes legitimierend auf die herrschende Ordnung und Tradition. 4.2.1.6
Der ideale Raumentwurf am Martin-Luther-Gymnasium
In Bezug auf den idealen Entwurf von Raum kann damit gesagt werden: Der bröckelnden Fassade des exklusiven Bildungsortes werden repräsentative „Inseln“ gegenübergestellt, die für die Verbürgung des Bildungsideals stehen. Diese finden sich auch material in den ansprechend gestalteten Eintrittsarealen der Schule (der Eingangshalle und dem Pausenhof). Der Entwurf als Ort exklusiver Bildung vollzieht sich dabei über die Auswahl der Schülerinnen und Schüler nach Kriterien der Leistung und der Eignung und über die Kontakte der Schule. Damit findet zugleich eine Selbstverortung in einem Netzwerk statt, das Zugang zur höchsten Bildung verspricht. Dies betrifft die Reisemöglichkeiten der Schüler, die sich altersentsprechend in konzentrischen Kreisen vom Schulort und der Familie wegbewegen. Damit wird ihre Bildung als linearer Weg aus der Familie hinaus in die Welt gezeichnet, zu der die Schule die Tore öffnet. Die Metapher „Schule als Tor zur Welt“ umfasst dabei nicht nur die Milieubezüge, die auf elterliches Bildungskapital zielen, das den traditionellen Bildungsentwurf der Eltern zu stützen vermag, sondern auch auf ökonomisches Kapital in den Familien, das für die Schule unterstützend verwendet wird. Damit zielt die Schule auf die Einbeziehung von Familien, die sowohl von ihrer Bildungsorientierung als auch von ihrem ökonomischen Kapital her relativ stark sind, wobei die Präferenz deutlich auf dem Bildungskapital liegt, denn Defizite im Bereich des ökonomischen Kapitals können ausgeglichen werden, indem „das sparschwein“ bereits früh gefüllt wird – also mit Fleiß in die Bildung der Kinder investiert wird. Und zugleich wird den Kindern als neuen Schülerinnen und Schülern zunächst eine Haltung der Demut angewöhnt: sie empfangen nur dann die Weihen höchster Bildung, wenn sie sich der Askese des Bildungsortes hingeben (vgl. Bourdieu 2004, S. 135). Exklusiv wird dieser Bildungsort, weil er nur diejenigen inkludiert, die diese Haltungen übernehmen und dies durch ihre hohe Leistungsfähigkeit und bereitschaft dokumentieren. Als impliziter Gegenhorizont gelten damit nicht nur Familien, die als kapitalschwach in jeder Hinsicht beschrieben werden müssen, sondern auch solche, die einem eher hedonistischen oder einem alternativen Milieu angehören. Allerdings muss gesagt werden, und dies deutete sich im Verlauf der Rekonstruktion ja auch schon an, dass sich in den Entwurf immer wieder Inkonsistenzen einschleichen, die das Exklusivitätskonzept unterwandern. So geht der Schulleiter zum Beispiel davon aus, dass die Eltern in besonderer Weise darauf aufmerksam gemacht werden müssen, dass sowohl die Schule als auch ihre Kinder finanzieller Unterstützung bedürfen. Zugleich macht er Werbung für die besondere Profilierung der Schule und hebt sie damit im symbolischen Kampf aller Schulen der Region darum, welches die beste Schule ist, heraus. Hier liegt offenbar ein Vergewisserungsdruck zugrunde, der der Charismatisierung der Schule als Ort exklusiver Bildung entgegensteht und zum Beispiel in den Lehrerinterviews, die beide eher für das Moment der Disziplinierung stehen und weniger für das der Exklusivität, gesteigert wird. Die legitimierende Berufung auf die Tradition und die Schülerinnen und 119
Schüler, die wiederkehren und der Schule danken, steht symbolisch für Unsicherheit, die in Bezug auf die Gewissheit der Exklusivität und ihrer Verbürgung durch die Schule deutlich wird. Man kann sagen: das Martin-Luther-Gymnasium befindet sich in einer Charismatisierungskrise in Bezug auf die eigene Exklusivität. Indem Eltern darauf verwiesen werden müssen, dass sie die Schule und ihre Kinder zu unterstützen haben, zeichnet sich ein minimaler Bruch in dem Selbstverständnis des Schulleiters in Bezug auf die Schülerschaft ab: er sieht Eltern und Kinder als noch nicht auf die traditionalen Werte der Schule bezogen. Während er diesen mangelnden Bezug bei den Schülern darüber löst, dass sie zunächst in eine Haltung der Demut gezwungen werden, muss er bei den Eltern an das Bewusstsein dafür appellieren, dass es sich in einer schönen Schule besser lernt und dass die Ersparnisse auf die Bildung der Kinder verwendet werden. Hier liegen nun die Grenzen des räumlichen Entwurfes begründet, denn die Schule: kämpft selbst um die Aufrechterhaltung ihrer Positionierung im Feld der exklusiven Schulen. Dies wird auch noch einmal besonders deutlich, in den Distinktionen, die der Schulleiter besonders in Abgrenzung zu alternativen schulischen Konzepten vornimmt. Im Interview mit ihm kommt in diesem Zusammenhang besonders deutlich die Verortung im Feld exklusiver Schulen zum Ausdruck. Dabei behauptet er ein Bild des Martin-LutherGymnasiums, das streng an Leistung orientiert ist und in Abkehr von „irgendwelchen spielereien und neckereien“ auf sachbezogene Vermittlung setzt. Zum anderen deuten sich – wenn auch nur in Miniaturfiguren – latente Krisen an, die die Aufrechterhaltung der Ordnungsstruktur minimal brüchig werden lassen. Dies wird auch dadurch deutlich, dass der Schulleiter gegenüber seinem idealen Entwurf keine Lehrer findet, die die Exklusivität über die traditionale Orientierung hinausgehend mitverbürgen. Die Zugehörigkeitsordnung, die sich pointiert in dem Satz zusammenfassen lässt: Teilhaben darf, wer die nötigen kulturellen und ökonomischen Voraussetzungen mitbringt, wird somit angreifbar und verweist darauf, dass die Schule im symbolischen Kampf mit den anderen Schulen auch in hohem Maße auf verbürgende Kinder und ihre Eltern angewiesen ist. 4.2.2 Die Schule als Schutz- und Schonraum: Aufrichtigkeit, Zivilcourage und Engagement im exklusiven Raum der Anna-Seghers-Schule Die Anna-Seghers-Gesamtschule ist eine Landesversuchsschule in einer westdeutschen Großstadt. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde sie als höhere Bildungsanstalt für Mädchen gegründet. Nach dem ersten Weltkrieg war diese Schule eine der ersten, an der Mädchen die Reifeprüfung ablegen konnten. Nachdem das Schulhaus im Zweiten Weltkrieg vollkommen zerstört wurde, erhielt die Anna-Seghers-Schule Mitte der 1950er Jahre ein neues Gebäude und mit ihm den Namen „Anna-Seghers-Schule“, der zugleich programmatische Bedeutung besitzt. In den 1970er Jahren wurde die Anna-Seghers-Schule koedukativ und die Klassen 11-13 aus der Schule hinaus in das noch heute eng kooperierende Oberstufengymnasium verlegt. Seit 1987 ist sie eine integrierte Gesamtschule mit reformpädagogischem Profil. Die Anna-Seghers-Schule ist engagiert in Programmen, in denen es um Frieden, interkulturelles und soziales Lernen und die Dritte Welt, sowie Umweltschutz geht und ist Versuchschule des Bundeslandes, in dem sie liegt.
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4.2.2.1 Aufnahmebedingungen an der Anna-Seghers-Schule Auf der Homepage finden sich – wie beim Martin-Luther-Gymnasium auch – Hinweise zur Anmeldung neuer Schülerinnen und Schüler. Über den Button „Anmeldung“ gelangt man auf eine Seite, welche die Überschrift trägt „Wie kann ich mein Kind an der Schule anmelden?“ Darunter ist ein Foto zu sehen, das über die ganze Breite eine trommelnde Kindergruppe zeigt, über der in bunten Lettern „Herzlich Willkommen“ steht. Unter dem Bild finden sich zwei weitere Links: „Ich möchte mein Kind zum neuen Schuljahr in die Klasse 5 anmelden“ und „Ich interessiere mich für eine höhere Klasse (6-10)“. Wie kann ich mein Kind in die neue 5. Klasse anmelden? 1. Wir bitten Sie, sich bereits frühzeitig (zwischen Oktober und Januar) schriftlich an die Schule zu wenden. Legen Sie uns bitte kurz Ihre Beweggründe für diese Schulwahl dar und fügen Sie das letzte Zeugnis Ihres Kindes bei. Wir sind als Versuchsschule sehr interessiert daran, zu erfahren, weshalb Sie sich für diese Schule entschieden haben. Eine Schulformempfehlung braucht Ihr Kind für unsere Schule nicht. 2. Sie werden dann von uns zu einem unserer Informationsabende eingeladen, die in der Regel im Dezember und Januar stattfinden. Hier wird Ihnen das Anmeldeverfahren erläutert, das Konzept der Schule vorgestellt und Sie erhalten Gelegenheit zu einer Führung durch die Schule. Die offizielle Anmeldung geschieht dann durch die Grundschule Ihrer Kinder. Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass wir keine Besuche und Führungen für Eltern und Kinder außerhalb der Info-Abende anbieten können. Der jährliche Dritte-Welt-Basar im November bietet Gelegenheit, einmal in die Schule hineinzuschnuppern. Den Termin entnehmen Sie dem Terminkalender der Homepage. 3. Es gibt ein vorgezogenes Anmeldeverfahren für die Anna-Seghers-Schule als Versuchsschule des NBundeslandes. Auf diese Weise erhalten alle Kinder, die nicht aufgenommen werden, eine faire Chance für einen gewünschten Platz an einer anderen Schule. Das bedeutet: Sie müssen Ihre Anmeldung spätestens 4 Wochen vor dem offiziellen Anmeldeschluss bei der Grundschule abgeben. Die Grundschule Ihrer Kinder schickt die Anmeldungen dann an die Anna-Seghers-Schule (bis Anfang Februar). Absagen gehen so rechtzeitig heraus, dass Anmeldungen bei anderen Schulen noch problemlos möglich sind. […]
Am Anfang steht hier eine Perspektivübernahme: den Eltern wird das Wort in den Mund gelegt. Können sie sich mit der Aussage „Wie kann ich mein Kind in die neue 5. Klasse anmelden“ identifizieren, so werden sie weiterlesen. Die Selbstbefragung der Eltern nach ihrer Kompetenz zur Anmeldung, bzw. eines Elternteils, wird zum Ausgangspunkt der Anmeldung gemacht. Diese Perspektive lässt Möglichkeiten für Familienformen, in denen nur ein Elternteil vorhanden ist, richtet sich jedoch mit „mein Kind“ auf den Aspekt der Elternschaft. Damit wird Generationsdifferenz zur Ausgangsbasis der Anmeldung gemacht. Dies bedeutet, dass auch vorausgesetzt wird, dass Kinder sich nicht selbst oder gegen den Willen ihrer Eltern anmelden wollen. Es wird somit von einer Interessenidentität von Eltern und Kindern oder einer Fürsorgehaltung der Eltern für ihre Kinder ausgegangen. Diese Haltung mündet in eine Frage, die – so die Annahme der Schule – an Expertinnen und Experten gerichtet werden muss. Die Eltern treten nicht mit dem Wunsch, dass ihr Kind aufgenommen wird, an die Schule heran, sondern haben eine Frage bezüglich ihres eigenen Handelns. Hier kann die Schule differenziert weiterhelfen, indem sie die Anmeldeprozedur erläutert. Strukturiert und aus der Perspektive eines Experten wird hier in mehreren Schritten dargelegt, welchen Anlauf das Anmelden hat. Zuerst werden die Eltern gebeten, sich frühzeitig an die Schule zu wenden – zu einem Zeitpunkt, wo das vierte Schuljahr gerade erst begonnen hat. „Legen Sie kurz ihre Beweggründe für diese Schulwahl dar.“ Hier geht es um die Darstellung der eigenen Wahl – die Eltern werden aufgefordert aufzuschreiben, 121
was sie bewegt, diese Schule zu wählen. Wäre nicht der Kontext der Gesamtschule, die ab dem 5. Schuljahr beginnt, bekannt, so wäre nun zu überlegen, ob es sich um eine Bewerbung handelt, bei der die Akteure selbst eine Schule besuchen wollen. Doch mit dem Nachsatz „und fügen Sie das letzte Zeugnis ihres Kindes bei“ wird der Kontext wieder eingeführt. Damit geht es aber in der Aufforderung, die eigenen Beweggründe darzustellen um eine Entfaltung der eigenen Haltungen zu schulischem Lernen. Dass diese Haltung vor der Beifügung des letzten Zeugnisses des Kindes rangiert, weist darauf hin, dass die elterliche Haltung einen hohen Stellenwert an der Schule besitzt. Vor der Leistung interessieren die Motive, eine Schule wie die Anna-Seghers-Schule anzuwählen. Darin liegt auch eine implizite Besonderung der Schule begründet. Ein lapidares „Wir wohnen neben der Schule und mein Kind ist schulpflichtig“ schließt sich hier implizit aus. Eine Erklärung für die Aufforderung der Darlegung der Beweggründe wird im folgenden Satz versucht: „als Versuchsschule“ sei man sehr interessiert, die Gründe für die Schulwahl zu erfahren. Nun wird explizit darauf hingewiesen, dass es sich nicht um irgendeine, sondern um eine Versuchsschule handelt. Dies dient als Legitimation für das Interesse die Beweggründe zu erfahren. Jedoch werden die Eltern hier nicht informiert, ob die Beweggründe Grundlage des Auswahlverfahrens sind. Sie werden einer diffusen Bewährungssituation ausgesetzt, die ihnen lediglich deutlich macht, was sie unternehmen müssen, aber wenig über die Auswahlprozedur als solche verrät. Mit dem Satz „eine Schulformempfehlung braucht ihr Kind für unsere Schule nicht“ wird zunächst Offenheit suggeriert. Nicht die Übergangsempfehlung der Grundschullehrerin entscheidet über die Zukunft des Kindes. Doch müssen die Eltern ja ihre Beweggründe und das letzte Zeugnis ihres Kindes beifügen, ohne zu wissen, welchen Stellenwert beides im Auswahlverfahren hat. Damit wird die Auswahl noch diffuser, der suggerierte Elternspielraum, wird minimiert, da die Schule ihre Schülerinnen und Schüler auswählt. Auch im weiteren Verlauf findet sich kein Hinweis darauf, wie die Auswahl begründet ist und welche Bedingungen günstig für die Aufnahme an die Schule sind. Die Eltern sind mit ihrem Wunsch, ihr Kind für die neue 5. Klasse anzumelden, der Willkür der Schule ausgesetzt. Bevor sie nun erfahren, ob ihr bereits jetzt erbrachtes Engagement erfolgreich war, erfolgt eine Einladung zu einem Informationsabend. Hier werden sie unterrichtet, wie sie ihr Kind anzumelden haben, in das Konzept der Schule eingeführt und durch die Schule geführt. Der „Info-Abend“ ist der einzige Termin, an dem über die Schule und die Anmeldeprozedur informiert wird. Auch hier vermittelt die Schule den Eindruck von Geschlossenheit und Abgeschlossenheit nach außen. Einzig zum Dritte-Welt-Basar ist es möglich „in die Schule hineinzuschnuppern“. Hier geht es jedoch weniger um konkrete Information als vielmehr um die sinnliche Wahrnehmung der Atmosphäre. Im Folgeschritt geht es dann wieder um das Anmeldeverfahren, das auf der Grundlage des Versuchsschulstatus „vorgezogen“ ist. Hiermit besondert sich die Schule ein weiteres Mal: sie hat das Recht, sich ihre Schülerschaft zu sichern, bevor andere Schulen ihre Auswahl treffen können. Deutlich wird hier: Es handelt sich um eine exklusive Schule, die den Eindruck von Abgeschlossenheit nach außen vermittelt. Um aufgenommen zu werden, müssen sich die Eltern einer Prozedur unterziehen, die ihre grundlegenden Haltungen zu schulischer und familialer Erziehung in den Blick nimmt. Ob und wie diese Haltung Grundlage des Auswahlverfahrens wird, wird nicht verraten, scheint jedoch latent durch, weil die Darlegung der Haltungen in direktem Zusammenhang mit der Schülerleistung genannt wird und der 122
Schullaufbahnempfehlung jeglicher Stellenwert abgesprochen wird. Als Kontextinformation ist hier sicher auch interessant, dass es zum Zeitpunkt der Erhebungen und in den Jahren seit der Schulgründung zudem Usus war, Aufnahmegespräche mit den möglichen Schülern und ihren Eltern zu führen. In diesen wurden die Eltern zu ihren Erziehungshaltungen befragt und auch mit den Kindern Gespräche geführt. Die Schule entfaltet sich nicht nur als besonderte und exklusive Institution, sondern auch als Institution, die zuerst die Eltern und Kinder prüft, bevor sie die Kinder aufnimmt. Von den Eltern wird dabei erwartet, dass sie zuallererst eine fürsorgende Haltung gegenüber dem Kind einnehmen. In dieser Haltung müssen sie zugleich der Schule zuerkennen, zu beurteilen, ob ihre Haltung angemessen genug ist, um ein Kind an dieser Schule lernen zu lassen. Zwar suggeriert dabei der Verzicht auf die Schullaufbahnempfehlung eine Öffnung, aber die Ungewissheit über die Anerkennung der eigenen Haltung in Form formalisierter Kriterien bleibt aus. Damit wird das Wissen darum, was bei der Anna-SeghersSchule zur erfolgreichen Aufnahme des Kindes führt, zu einer Art Geheimwissen, das Eltern nur über andere Eltern oder über Lehrer, nicht aber auf offiziellem Wege erfahren können. Dies trägt dazu bei, dass die Exklusivität der Schule nochmals gesteigert wird, denn das Bestehen der Eltern im Bewerbungsverfahren ist hochgradig ungewiss. Doch wie sieht es aus, wenn Familien bei der Anmeldung ihrer Kinder letztlich erfolgreich waren? Im Rahmen eines Festaktes werden die neuen Klassen nach den Sommerferien begrüßt. 4.2.2.2
Die Schulleiterinnenrede zur Begrüßung neuer Schülerinnen und Schüler
Die Begrüßungsfeier findet im Festsaal der Schule statt. Im vorderen Bereich befindet sich eine Bühne, neben der ein Orchester steht. Der Saal ist bestuhlt, die Reihen orientieren frontal auf die Bühne hin. In der Mitte der Stühle gibt es einen Gang. Hinten im Saal ist Ton- und Bildtechnik aufgebaut. Hier sind Schüler der Medien-AG am Werk, um die Feier aufzunehmen. Als der Festakt beginnt, spielt die Schulband ein zirka zweiminütiges Stück, während dem die Schulleiterin die Bühne betritt. Der Saal ist jetzt ganz dunkel. Lediglich das Rednerpult ist erleuchtet. Die Schulleiterin beginnt ihre Begrüßungsrede: Frau Kleis:
(2) liebe (ausatmen) eltern (1) liebe großeltern patentaten , und freunde (ausatmen) der familien (3) liebe kolleginnen und kollegen , aber vor allen dingen liebe neue schülerinnen und schüler (2)
Hier kann herausgearbeitet werden, dass eine stimmige und konsistente Begrüßung der Eltern als „liebe eltern“ nicht gelingt. Das Stocken zwischen „liebe“ und „eltern“ bedeutet einen minimalen Bruch – eine Inkonsistenz – im Verhältnis von Eltern und Schule, obwohl mit „liebe“ Vertrautheit suggeriert werden soll. „liebe eltern“ ist dabei zugleich hegemonial kulturelle Form der Realisierung von Elternschaft: als Eltern soll man „lieb“ sein – dieser von Fürsorge, Kindzentrierung und emotionaler Nähe gekennzeichneten Beziehung wird hier jedoch prinzipiell misstraut. Man kann bereits nach der Interpretation dieser kurzen Sequenz feststellen, dass es sich um einen schulischen Entwurf handelt, der die Eltern inkludiert, indem sie in eine nahe Beziehung zur Sprecherin und – als Eltern – zu ihren Kindern gesetzt werden. Dabei wird der Beziehung zu den Eltern jedoch sowohl hinsichtlich der Familie-Schule-Relation als auch von Eltern und Kind, latent misstraut. Wie die minimale Brüchigkeit hier begründet ist, wird an späterer Stelle zu prüfen sein. In ihrer weiteren 123
Rede bezieht die Schulleiterin nun Großeltern, Patentanten und Freunde der Familien mit ein. Hier wird deutlich: es handelt sich um ein Konzept der Öffnung von Schule für lebensweltliche Belange: die Schule ist nicht nur an den Schülerinnen und Schülern interessiert, sondern auch an den Familien und deren sozialem Netzwerk. Die Annahme, dass zahlreiche Personen aus diesem Netzwerk bei der Begrüßung neuer Schülerinnen und Schüler anwesend sind, bedeutet auch, dass ein hoher Stellenwert der Schule für die Familie angenommen wird. Die Einschulung wirkt mit der erweiterten Ansprache fast wie eine religiöse Initiation und nicht wie eine Aufnahme in eine schulische Institution. In dieser Lesart liegt nun zugleich Erklärungskraft dafür, dass auch die stimmige Ansprache der Familienfreunde nicht gelingt. Denn hier konstituiert sich Schule als diffuse und gesinnungsgemeinschaftliche kulturelle Ordnung, die weit über das eigentlich Schulische hinausgeht und die strukturelle Trennung zwischen Schule und Lebenswelt aufhebt. Der Entwurf von Kontinuität zwischen Schule, Familie und Milieu scheitert. Dennoch beinhaltet er einen starken Anspruch auf das Mitwirken an der kindlichen Erziehung, in dem ein Idealentwurf entfaltet wird, der Familie in den schulischen Rahmen inkludiert. Dabei vermittelt die Schulleiterin eine Haltung, in der sich Misstrauen gegenüber den Eltern und ihrer Fürsorgeleistung in Bezug auf das Kind artikuliert. Als in die Schule aufgenommene Eltern haben sie jedoch die Chance, die „richtige“ Haltung gegenüber dem Kind noch zu lernen. In dem Entwurf findet schließlich ein Erziehungskonzept seinen Ausdruck, in dem nicht nur das Kind zur Schule geht, sondern die gesamte Familie – allen voran die Eltern. In einer bis hierhin noch unabgesicherten Strukturhypothese kann daraus gefolgert werden, dass die Schule der Familie als „Familienerzieher“ gegenübertritt und sie damit in ein asymmetrisches Arbeitsbündnis setzt. Dabei wird der strukturelle Unterschied zwischen Familie und Schule negiert, denn Schule setzt sich in eine diffuse, nahe und vergemeinschaftende Beziehung zur Familie. Dies wird im Anschluss zweifach bestätigt: zum Einen dadurch, dass die „lieben kolleginnen und kollegen“ in einer Reihe mit dem familialen Netzwerk genannt werden; zum Anderen dadurch, dass die „neuen schülerinnen und schüler“ ebenfalls mit der diffus vergemeinschaftenden Formel „liebe“ angesprochen werden. Sie werden zwar dadurch abgesetzt, dass nun neu angesetzt wird und sie gegenüber dem Rest der Gemeinschaft herausgehoben werden. Dennoch werden sie auch in eine nahe Beziehung gerückt. Die Schule entwirft für sich ein Bild maximaler Inklusion. Die Bereitschaft zu maximaler Inklusion ist dabei zugleich ihre Voraussetzung. Aufgenommen wird, wer sich als „lieb“ ansprechen lässt und sich als an die symbolische Vergemeinschaftung anpasst. Wer sich nicht bemüht – und die Zweifel der Schulleiterin sind hier, wie gezeigt, bereits gesät – hat auch den Platz an der Schule nicht verdient. Dies zeigt der Fortgang der Rede zur Begrüßung neuer Schülerinnen und Schüler: Frau Kleis:
wir ‚freuen‘ (betont) uns, (ausatmen) über hundert, nein es sind sogar hundertund’eins‘ (betont) (1) neue schüler, un neue schülerinnen, und die lehrer sind gespannt auf euch (1) und auch die ‚älteren‘ (betont) schüler, an unserer schule können sich gar nich vorstellen dass man irgendwann mal ‚so‘ (betont) klein war (1) wie ihr heute (4) ihr ‚wisst‘ (betont), sicher dass eure eltern sich sehr bemüht haben (2) an dieser schule einen ‚platz‘ (betont) für euch zu bekommen (1) wahrscheinlich versteht ihr das auch nich ganz genau ähm warum das ‚so‘ (betont) wichtich gewesen is für eure eltern (2)
Die Schulleiterin gibt im Namen der Schule – hier als „wir“-Zusammenhang dargestellt – der Freude über hundert bzw. hundertundeins neue Schüler und Schülerinnen Ausdruck. Die kleine Korrektur, die sie vornimmt, indem sie einen Einschub einführt und mit „sogar“ 124
rahmt, unterstreicht dabei die Besonderung, welche den Schülerinnen und Schülern zuteil wird, indem sich über sie gefreut wird. Würde sich hier nicht die minimale Krise in Form eines kurzen Absetzens wiederholen, so stände die Freude über die neuen Schülerinnen und Schuler ungebrochen und in Kontrast zu dem inkonsistenten Vergemeinschaftungsentwurf ganz am Anfang. Jedoch wird hier die Freude von den Schülerinnen und Schülern abgetrennt. In welchen Kontexten freut ‚man‘ sich ‚über’ jemanden oder etwas? Es sind Kontexte, in denen man ein Geschenk bekommt, in denen das eigene Kind geboren wird, in denen man eine schwere Prüfung bestanden hat. Der Akt, in dem das Geschenk, der Mensch, das Prüfungsergebnis oder ähnliches erhalten wurde, hat bereits stattgefunden. Man kennt Texte, die mit „wir freuen uns“ beginnen, aus der Zeitung, wenn die Geburt oder Verlobung der Tochter respektive des Sohnes stattgefunden haben. Eine solche Annonce vermittelt: es ist Veränderung eingetreten, die mit derart positiven Gefühlen angenommen wurde, dass jetzt die Welt daran teilhaben soll. Es geht hier um die Bearbeitung des Neuen, das mit dem Alten radikal bricht: aus dem Paar ist eine Familie geworden oder die Tochter/der Sohn verlässt den Single-Status. Damit rückt aber nicht der Geber in den Mittelpunkt, ebenso wenig wie das, was gegeben wird, sondern diejenigen, die empfangen bzw. die sich freuen. Das Absetzen steht damit hier nicht nur für eine minimale Inkonsistenz in der Freude, die sich ja erst noch bewähren muss, sondern auch für eine Art Selbstcharismatisierung, mit der auf die eigene Haltung zum Ereignis aufmerksam gemacht wird. Hier wird nun aber auch Asymmetrie gesetzt, denn die Charismatisierung als Bearbeitungsform der Entstehung des Neuen nimmt vorweg, dass der Anlass, zu dem die Worte gesprochen werden, auch ein Anlass zur Freude ist. In der Initiation, wie sie bezüglich des vorhergehenden Segments herausgearbeitet wurde, liegt also eine Bearbeitungsnotwendigkeit des Neuen vor, der Übergang wird hier als freudiges Ereignis dargestellt, dem eine Krise vorausgegangen ist. Dabei dient die Charismatisierung der Freude dazu, die Krise als bereits bearbeitet darzustellen. Jedoch muss sich die außerordentliche Anzahl der Schülerinnen und Schüler: es sind nicht nur 100, sondern 101 und damit sind sie nicht mehr gleichmäßig auf Klassen verteilbar, sondern eine Klasse muss einen Schüler/eine Schülerin mehr aufnehmen – erst noch bewähren, denn die Freude über sie ist nicht ungebrochen. Als neue Schülerinnen und Schüler stehen sie ja auch erst am Beginn der Schulkarriere an dieser Schule. Die Lehrer begegnen ihnen aus der Erlebnisperspektive mit Spannung – eine Wendung mit der gezeigt wird, dass keine Gewissheit darüber herrscht, was die Schule erwartet. Hierin liegt nun ein pädagogischer Entwurf begründet, der nicht zwingend Leistung in das Zentrum der LehrerSchüler-Beziehung setzt, sondern vor allen Dingen die Vielfältigkeit von Beziehungen. Zugleich ist wieder eine Aufforderung an die Schülerinnen und Schüler gerichtet: sie sollen auch nicht langweilig sein – denn was gibt es Enttäuschenderes als ein mit Spannung erwartetes Ereignis, das dann langweilt. Das Versprechen, das hierin an die Schüler gerichtet wird, nicht nur als Leistungsträger wahrgenommen zu werden, ist damit verknüpft mit spezifischen Idealen in Bezug auf Kindheit: spannend zu sein, Abenteuer- und Entdeckerlust zu entfalten. Die Lehrer werden als Personen entworfen, die dies auf- und annehmen, die offen sind für solche Kinder, die Spannung erzeugen. Damit ist aber auch wieder ein Ausschlusskriterium verbunden: wer die Charismatisierung nicht annimmt und übernimmt,
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wer langweilig ist und keine Abenteuer- und Entdeckerlust verspürt, der ist an dieser Schule falsch. „und auch die ‚älteren‘ (betont) schüler, an dieser schule können sich gar nicht vorstellen, dass sie irgendwann einmal ‚so‘ (betont) klein waren“. Dieser Anschluss zeigt: die neuen Schülerinnen und Schüler stehen in Differenz zu den älteren. Nicht nur, dass sie neu sind, sie sind auch „so klein“. Das Wort „klein“ wird hier zum schillernden Begriff, der nicht nur die Differenz der Körpergröße setzt, sondern der die Neuen in ihrer Existenz weit von den älteren Schülerinnen und Schülern abrückt. Sie sind nun ganz unten in der Hierarchie der Schule platziert, denn sie müssen sich in ihrer Zugehörigkeit noch bewähren. Zugleich steht „klein“ sein in Bezug auf junge Menschen dafür, dass man sich um sie kümmern und eine fürsorgende Haltung ihnen gegenüber einnehmen muss. Damit besitzen die Neuen einen Aufforderungscharakter für die gesamte Schulgemeinschaft: die Schulleiterin freut sich, die Lehrer erwarten mit Spannung die Abenteuer- und Entdeckerlust, die älteren Schülerinnen und Schüler werden für die neuen sensibilisiert. Damit formuliert die Rede auch eine pädagogische Erwartung an die Älteren: sie sollen sich in die hilflose Position der anderen hineinversetzen. In der folgenden Sequenz wird nun artikuliert, dass die Eltern sich sehr um einen Platz an der Schule bemüht haben. Die Eltern werden dabei als Personen entworfen, die sich für die Kinder einsetzen und denen es wichtig ist, dass die Kinder einen Platz an der Schule bekommen. Damit wird wiederum der Stellenwert der Schule im Elternhaus hervorgehoben: diese Schule ist eine besondere, man muss dafür kämpfen, sein Kind hier platzieren zu können. Zugleich wird daran gezweifelt, dass die Eltern ihrem Kind vermitteln können, warum es für sie wichtig war, ihr Kind gerade dort platzieren zu können. Die Kinder haben zwar diffus wahrgenommen, dass die Eltern sich sehr bemüht haben, sie haben aber nicht mitbekommen, warum sie sich bemüht haben. Damit wird unterstellt, dass die Eltern dem grundlegenden Dualismus von Entscheidungszwang und Begründungsverpflichtung nicht nachgekommen sind. 4.2.2.3
Die Anna-Seghers-Schule als Ort des Lernens
Der in den bisherigen Rekonstruktionen angedeutete reformpädagogische Entwurf kommt auch in der Gestaltung des Schulgebäudes zum Ausdruck. Ursprünglich sehr funktional, wurde der Gebäudekomplex aus den 1950er Jahren nach der Umwandlung in eine Gesamtschule auch architektonisch dem reformpädagogischen Konzept angepasst. Das heißt: von außen sieht der Schulbau wie ein funktionales Gebäude aus, in dem sich Klasse an Klasse reiht und die Flure vor allem den Zweck erfüllen, von einem Klassenraum in den nächsten zu gelangen. Doch die Umstrukturierung der Schule hatte zur Folge, dass hier auch Umbaumaßnahmen vorgenommen wurden. So wurden die Klassen zu Jahrgangsteams zusammengefasst. Jede Etage umfasst zwei Jahrgänge, die jedoch räumlich voneinander abgegrenzt sind und sich lediglich einige Funktionsräume (wie z.B. den Computerraum) teilen. Vier Klassen sind pro Jahrgang um einen hellen Lichthof gruppiert, für den jeweils ein Klassenraum weichen musste. Zwischen den Klassenräumen befindet sich ein Teamraum für die Lehrer, der jedoch fast immer offen ist und in dem sich auch Schülerinnen und Schüler auf Nachfrage ihr Mittagessen warm machen können. Das Hauptlehrerzimmer auf dem Gang des Sekretariats ist nur selten besetzt. Auch nimmt es sich sehr unpersönlich 126
gegenüber den Teamzimmern aus, in denen Lehrer ihre Arbeitsmaterialien lagern und ihre Fächer mit persönlichen Fotos dekoriert haben. Beim Betreten der Schule durch den Haupteingang gelangt man in ein Treppenhaus. Das Erdgeschoss wird von den Kellerräumen und dem Festsaal eingenommen. Im ersten Stock befinden sich das Sekretariat und die Direktorenzimmer sowie der Jahrgang der fünften Klasse. Im Treppenaufgang hängen, wie in den anderen Treppenaufgängen auch, Fotos, welche die Schülerinnen und Schüler bei Theaterauftritten und Musikbeiträgen zeigen. Der Flur zum Sekretariat ist mit Requisiten aus der letzen Darbietung der „Zauberflöte“ geschmückt, die jedes Jahr von der 7. Klasse aufgeführt wird. Die Masken und Kostüme werden von Strahlern beleuchtet. Das Sekretariat ist ein lang gezogener Raum, dessen Breite von einer Servicetheke eingenommen wird. Zwei bis drei Bürokräfte arbeiten hier und kümmern sich um diejenigen, die mit einem Anliegen vor die Theke treten. Vom Sekretariat gehen zwei der drei Schulleiterbüros ab. Das dritte ist vom Flur aus zu betreten. Es gibt eine Unterstufenleiterin, einen Mittelstufenleiter und die Schulleiterin Frau Kleis. In ihrem Büro steht in der Mitte ein runder Besprechungstisch aus dunklem Holz mit sechs Stühlen. Ein kleiner Schreibtisch und zwei Aktenschränke befinden sich an der Kopfseite des Büros, so dass man beim Betreten zuerst den Besprechungstisch vor Augen hat. Jede der einzelnen Klassen, die in den Jahrgangsstufenräumen zusammengefasst sind, hat einen gewissen Gestaltungsspielraum die Anordnung von Tischen und Bänken und die Dekoration der Klasse betreffend. In einigen Klassen findet sich im hinteren Bereich ein von Eltern ausrangiertes Sofa mit Überwurf. In jeder Klasse sind Pflanzen vorhanden sowie Regale, in denen jede Schülerin und jeder Schüler ihr/sein eigenes Fach hat. Die Tische stehen als Gruppentische oder in U-Form zusammen. Auf der Türseite befindet sich eine Pinnwand, die über den Stundenplan, den Putzplan (die Schülerinnen und Schüler sorgen selbst für Ordnung und Sauberkeit in ihrer Klasse) und die Themen des wöchentlich stattfindenden Klassenrates informiert. Die längere Türseite wird von einer Pinnwand eingenommen, an der Gemälde der Schülerinnen und Schüler Platz haben oder an der sie thematisch interessante Zeitungsausschnitte anheften können. Im vorderen Bereich befinden sich das Lehrerpult – in den meisten Klassen ganz am Rand, an der Fensterseite –, die Tafel, und ein Thementisch, auf dem je nach fächerübergreifendem Schwerpunktthema thematisch passende Gegenstände arrangiert werden. Für den Klassenrat werden Tisch und Bänke an den Rand gerückt. Die Klasse bildet einen Kreis, es wird ein Moderator/eine Moderatorin und ein Protokollant/eine Protokollantin bestimmt. Hier liegen insgesamt kommunikationsorientierte Arrangements vor, die schüler- bzw. aushandlungsorientiert sind – zuweilen durchbrochen durch institutionelle Ordnungsstrukturen, wie die Theke im Sekretariat, die zwar serviceorientiert ist, aber auch Trennung lokalisiert und Ausschluss von den Verwaltungsarbeiten der Schule suggeriert. Zugleich wirken die Direktoriumszimmer abgeschlossen, obwohl durch die Ausstellung der ZauberflöteRequisiten das Schulleben gewissermaßen in diesen Trakt hineingezogen wird. Dennoch sind es nicht Dinge aus dem Schulalltag, sondern solche, mit denen sich die Schule nach außen repräsentiert. Auch in den Klassen findet sich die Mischung aus Informalisierung und formal-organisatorischer Struktur. Einerseits wird über Stundenpläne und Zeittaktung informiert, es gibt Schulbänke, an denen jeder Schüler seinen eigenen Platz hat. Andererseits gibt es Pflanzen, Fächer, Sitzgruppen und außerhalb der Klassenräume Räume für „offenes Lernen“, in denen die Schülerinnen und Schüler sich zu Gruppenarbeit zusam127
menschließen können. Auch gibt es klassenübergreifende Funktionsräume (wie den Computerraum), den Schülerinnen und Schüler in Gruppenarbeitsphasen nutzen können. Die materialen Anordnungsstrukturen verweisen schließlich darauf, dies kann bereits aus einer kurzen Skizze wie dieser gefolgert werden, dass hier der Schüler oder die Schülerin im Mittelpunkt stehen soll. Auch bei Repräsentationsanlässen wird auf Schüleraufführungen verwiesen, die Teamzimmer stehen den Schülerinnen und Schülern offen für Kommunikation mit den Lehrerinnen und Lehrern. Auch über die materialen Gegebenheiten vermittelt sich die Idealisierung von Verantwortungsübernahme und demokratischer Einbeziehung der Lernenden. Das Schlagwort „Pädagogik vom Kinde aus“ ist hier in die Jugend ausgedehnt und es wurde versucht, dies in den baulichen Strukturen umzusetzen: die Offenheit der Teamzimmer und Klassen, die räumlichen Möglichkeiten zu Freiarbeit, die Bilder aus dem Schüleralltag – all dies vermittelt die Vorstellung von Schülernähe und -zentriertheit – quasi als Symbolisierung des Idealbildes „Schule als Lebensraum“. Dieses wird jedoch durchbrochen von einer Begrenzung durch das Schulische, die in den Stundenplänen der Klassenzimmer, der Tafel, der Einteilung in Klassen und Klassenstufen symbolisiert wird. Gerade hier zeigt sich, dass der umfassende Anspruch der Familialisierung der Schule – wie in Bezug auf die Schulleiterrinnenrede herausgearbeitet – nicht stimmig durchzuhalten ist. Nur über die Konstruktion der Einbindung der Eltern in Verpflichtungen (wie die Mitarbeit an der Aufführung der Zauberflöte, das zur Verfügung stellen ausrangierter Sitzmöbel etc.) und ihre Maßregelung in dem Fall, dass sie das Kindeswohl nicht vor Augen haben, gelingt diese Familialisierung und umfassende Inklusion der gesamten Familie. Dazu das Schulleiterinterview mit Frau Kleis im folgenden Abschnitt: 4.2.2.4
„aber auch dann wenn isch finde dass die eltern mit ihren kindern nischt rischtisch umgehen, da misch ich mich ein“ – Das Schulleiterinneninterview an der Anna-Seghers-Schule Interviewerin: und treten sie dann auch zum teil ko- in kontakt zu den ‚eltern‘ (gehoben) Frau Kleis: ‚ja‘ (kurz betont) (I: hmhm) . (schluckt) klar wenn eh . ‚entweder weil eltern sich beschweren‘ (I: hm) , ich bin ja auch für eltern‘ (leiser) , die oberste ‚beschwerdeinstanz‘ (betonter) , das versuch ich immer so n bisschen , (luft holend) ‚abzuschieben‘ (gedehnter) ehm , und möglichst das vorzubehalten wenn s wirklich ‚brennt‘ (betont) , nicht dass die wegen jedem kickifatz zu mir kommen (I: hmhm) , eh , ‚aber auch dann wenn isch finde‘ (gehoben) ehm , (schnieft) ‚dass eltern mit ihren kindern nischt rischtisch umgehn , da misch ich mich ein‘ (gehoben) ‚und und und eh sage denen meine meinung‘ (leiser) und ‚manschma‘ (schneller) bestell isch se auch un sach also so geht das hier nisch das , so ‚gehen‘ (gezogen) wir mit ihrem kind nisch um und so will isch auch nisch dass sie mit ‚dem kind umgehn‘ (leiser stimme senkend) ,
Hier wird deutlich, dass zu den Eltern eine asymmetrische Beziehung herrscht. Die Eltern selbst dürfen mit Frau Kleis vor allem dann in Kontakt treten, „wenn’s wirklich brennt“. Das bedeutet, sie treten nur im Ausnahmefall mit der Schulleiterin in Kontakt, denn sie versucht Kontaktaufnahmen, die „kickifatz“ betreffen, zunächst von sich zu weisen. Hiermit sind zwei diffuse Kriterien benannt, die eine Kontaktaufnahme der Eltern möglich machen: es darf sich nicht um „kickifatz“ handeln und es muss „wirklich brennen“. Gründe für Beschwerden oder für die Entscheidung, dass ein Anliegen es nicht wert ist bei ihr vorgebracht zu werden, benennt sie dabei nicht. Vielmehr scheint es in ihrem Ermessen zu liegen, ob ein Anliegen als Lappalie deklariert wird oder ob es sich um einen Notfall handelt. Damit setzt sie sich autokratisch als oberste Instanz des Schulischen, die auch über die 128
Schule betreffende familiale Anliegen befindet. Hierin ruht wiederum ein normativer Entwurf der Familie-Schule Kommunikation, der jedoch durch die Diffundierungen Züge von Willkür trägt. Wie sich die Eltern in die Schule einzumischen haben, entscheidet die Schulleiterin selbst. Dem Idealbild von Kooperation und Partizipation steht damit ein exklusiver Entwurf entgegen, der die Beteiligung von Eltern und ihre Einbeziehung begrenzt – und zwar nicht auf der Grundlage formalisierter Kriterien, sondern auf der Basis der Einschätzung der Schulleiterin. Dem „entweder weil die Eltern sich beschweren“ müssen nun noch eine bis mehrere Alternativen hinzugefügt werden. Dies leitet Frau Kleis mit „aber auch“ ein. In dem Fall, dass sie Eltern anspricht, unterscheidet sie nicht zwischen Lappalien und Notfällen, sondern charismatisiert die Ansprache der Eltern über ihre eigene Wahrnehmung, dass die Eltern mit ihren Kindern nicht richtig umgehen. Wieder steht somit die eigene Wahrnehmung im Vordergrund, die normativen Annahmen darüber, was eine Familie darf und was nicht, werden an die Eltern vermittelt. Dabei werden Schule und Familie kongruent gesetzt: „so gehen wir mit ihrem kind nisch um und so will ich auch nisch dass sie mit , dem kind umgehn“. Hier liegt die Annahme zugrunde, dass die Umgangsweisen in Familie und Schule gleich zu sein hätten. In dieser Setzung, von der sie ja annimmt, dass sie in der Familie nicht herrscht, liegt nun wiederum Asymmetrie, denn der schulische Umgang mit dem Kind wird zum Vorbild für den familialen Umgang mit dem Kind. Der richtige Umgang mit dem Kind wird damit zur Teilhabebedingung in der Schule. Im Folgenden soll noch kurz diskutiert werden, wie sich dieser Umgang in den Bildern von Leistung und Erziehung niederschlägt, bevor über die kontrastierenden Lehrervorstellungen das Spektrum des schulischen Entwurfs von Teilhabe und Zugehörigkeit ausgelotet wird. In Bezug auf Erziehung finden wir im Schulleiterinneninterview folgende Ausführung: Interviewerin: und wie , eh wird das dann ehm , ‚gemacht‘ (betont) dass es sich dann , letztendlich , verändert die schüler sind ja in ner sehr entscheidenden ‚phase , hier‘ (betont) und ehm , eh also am anfang sind sie dann eher noch , ganz . kind , also so wie sie gesacht ham , dass die eltern für sie entscheiden müssen später , sind sie ja dann doch schon , n gutes stück , älter (betonter) Frau Kleis: (1) ja ‚durch die erziehung‘ (lauter) die sie hier genießen werden sie ja auch ham sie ja ‚immer ham sie ja sozusagen‘ (leiser werdend) zunehmend mehr mitspracherechte und möglichkeiten und ‚trainieren‘ (betont) das auch und (1) (luft holend) ehm , insofern (1) ‚is natürlisch-sin-natürlich die , vorstellungen die ein sechzehnjähriger hat noch ma anders zu bewerten als‘ (leiser werdend) die n elfjä- obwohl ich auch ‚da‘ (gehoben) (luft holend) gar nich so , so n grossen unterschied mache diese pubertierenden kinder , die sind ja oft so eh auch so fra- eh (2) so ‚verstrickt‘ (betonter) in ihre , in ihre eigenen ‚probleme‘ (gezogener) , dass man nisch sagen kann , die ‚wissen s‘ (betonter) jetzt , dass da müssen schon erwachsene auch sagen , (luft holend) ‚da geht s jetzt lang‘ (lauter, bestimmter) , das is die aufgabe von erwachsenen
Die Interviewerin fragt hier nach der Umsetzung des Verantwortung Lernens vor dem Hintergrund der Entwicklung der Schülerinnen und Schüler vom Kind zum Jugendlichen. Hier setzt Frau Kleis ein und schildert, den systematischen Zugewinn an Mitspracherechten und Trainingsmöglichkeiten für Entscheidungen. Dabei nimmt sie mit der Wendung „durch die erziehung die sie hier genießen“ Bezug auf den Ort der Erziehung: die Schule. Die Schule ist damit gegenüber anderen Orten, die erziehen, besondert. „Hier“ herrschen sowohl Mitspracherechte und Trainingsmöglichkeiten und es gibt Erwachsene, welche „die pubertierenden kinder“ einschätzen können – bis dahin, dass sie die Wünsche der Jugendlichen entwerten und bestimmen „da geht’s lang.“ Bei den Ausführungen steht die Idealisierung 129
systematischer Einbeziehung und Mitsprachegewährung, die ja sukzessive ein Mehr an Verantwortung ermöglichen würde, der Einheit „pubertierender Kinder“ gegenüber. Der Differenzierung, die noch im Entwurf von Erziehung und der Besonderung des Ortes steckt, tritt Einheit gegenüber, die alle Schülerinnen und Schüler zu Kindern macht, die selbst noch nicht abschätzen können, was sie wollen. Hier werden somit dem Entwurf von Einfühlung in die Wünsche, Bedürfnisse und Kompetenzen der Kinder und Jugendlichen Annahmen über die generationale Differenz entgegengesetzt, die im Prozess der Demokratisierung, Partizipation und Verantwortungsübernahme eine autoritäre Hintertür situieren, welche die normativen Annahmen von Erwachsenen über diejenigen der Kinder stellt. Diese Setzung – so ist anzunehmen – ist nun zweifach motiviert: zum Einen geht es um die Durchsetzung normativer Vorstellungen von Teilhabe, die kontrolliert werden muss und nicht in der „Verstrickung in die eigenen Probleme“ untergehen soll. Zum Anderen ist hier eine Schutz- und Kontrollfunktion thematisch, die pubertierenden Kindern einen Schutzund Schonraum gewährt, indem ein Erwachsener im Hintergrund die Erprobung von Verantwortung überwacht und ggf. sanktioniert. Dies erinnert stark an das Rousseausche Erziehungsarrangement der vorbereiteten Umgebung und verweist darauf, dass die Schulleiterin davon ausgeht, dass es besonderer, kindgerechter Bedingungen bedarf, um einen Erziehungsprozess zu gestalten. Dabei orientiert sie in Bezug auf Wissenserwerb und Leistung deutlich auf eine ‚Pädagogik vom Kinde aus‘: Interviewerin: ehm welche bedeutung hat denn schulischer wissenserwerb für sie Frau Kleis: also das finden wir ‚schon auch sehr wischtisch‘ (gehoben) dass ehm . sozusagen das ‚aufwachsen‘ (betont) und das , schule als ‚lebensraum‘ (betont) wahrnehmen aber gleichzeitisch auch schule , (luft holend) eh erleben als n ort-mit dem man , dem man , seinen ort in der welt findet und sein , (luft holend) sein fuss-‚seinen stand in der welt‘ (lauter werdend, betonter) und sisch orientieren kann und eh , ‚wissen erwirbt‘ (schneller) des is eigentlisch gleischbereschticht (I: hm) , ‚und eh w- wir überprüfen das ja auch immer wieder inwiefern wir , so den , anforderungen die normalerweise an , an schüler in der oberstufe gestellt werden wi- wie weit wir dem gerecht werden-un da können wir sehr zufrieden sein‘ (leiser) Interviewerin: hmhm , hmhm (sehr leise) und ehm , wie wichtig (luft holend) (geräusche im hintergrund) is sind an der schule ‚leistungsanforderungen‘ (betont) und welche bedeutung hat das für sie (gehoben) Frau Kleis: das hat ne ‚hohe‘ (gehoben) , aber ich würde unter leistung ja nisch nur verstehn ne klassenarbeit schreiben und , oder tests schreiben sondern , (luft holend) ehm leistung is ja auch ehm , vier wochen lang theater spieln (I: hm [leise]) , ehm und isch finde kinder waham da n ‚rescht auf leistung‘ (betont) un ham n rescht drauf an-bis an ihre ‚grenzen herausgefordert‘ (betonter) zu werden , (luft holend) ich glaube dass das hier an dieser schule ne grössere rolle spielt als anderswo ,
In der Formulierung „schon auch sehr wischtisch“ steckt eine implizite Reihung: Wissenserwerb ist neben anderen Dingen wichtig. Diese anderen Dinge werden ausdifferenziert: es geht um die Wahrnehmung des Aufwachsens als solches und die Wahrnehmung von Schule als Lebensraum. Beide Formulierungen knüpfen an die weit ausgreifenden Ansprüche der Schule an und sind wieder auf vollständige Inklusion gerichtet. In ihrer Rolle zur Wissensvermittlung wird Schule demgegenüber als Ort lokalisiert, mit dem man seinen Ort in der Welt findet. Hier wird die Platzierungs- bzw. Allokationsfunktion der Schule in den Vordergrund gerückt, allerdings wird hier nicht normativ von einem Wissensaneignungsbegriff ausgegangen, der eng mit Selektionsprozessen verbunden ist, sondern, der von den Fähigkeiten und Fertigkeiten des Einzelnen ausgeht. Dies verweist wiederum auf den Anspruch eines individuellen Bezugs in der Ausgestaltung von Wissensvermittlung und -aneignung. 130
Wissen wird dabei gleichgesetzt mit Orientierungsvermögen in der Welt. Damit wird der Lebensraum Schule der chaotischen Welt gegenübergestellt – sie bildet einen Gegenhorizont zu dem, was die Schülerinnen und Schüler im Anschluss an die Schulzeit erfahren. Schulzeit an der Anna-Seghers-Schule wird damit idealisiert als Ort der Erfahrung von Geordnetheit – sie wird damit einmal mehr als Schutz- und Schonraum gegenüber dem schulischen Außen dargestellt. In der Welt müssen sich aber nicht nur die Schüler behaupten, sondern auch die Schule selbst, denn – so führt Frau Kleis im Folgenden aus – der kollektive Zusammenhang, der die Schule repräsentiert überprüft immer wieder, inwiefern die Schule den Schülern, die zur Oberstufe gehen, gerecht wird. „un da können wir sehr zufrieden sein“ konkludiert diese Ausführungen. Offenbar schneidet die Schule im Wettbewerb unter den anderen Schulen gut ab, was die Anschlussoptionen der Schülerinnen und Schüler betrifft. Dies bedeutet einen Bruch mit der Konzeption als Schutz- und Schonraum, denn die Schule selbst muss sich im Konkurrenzkampf mit anderen Schulen behaupten und steht unter Bewährungsdruck (zumal es sich um eine Versuchsschule handelt). Demgegenüber werden die innerschulisch erbrachten Leistungen wieder auf das Konzept der maximalen Öffnung bezogen. Denn hier wird der Begriff der Leistung erweitert. Es geht nicht nur um die bewerteten und für schulische Anschlüsse qualifizierenden Leistungen in Form von Benotung, sondern auch die Leistungen, die innerhalb der schulischen Ordnung erbracht werden. Das Theaterspiel steht dabei symbolisch für den Alternativentwurf schulischer Leistung und die Ermöglichungsstruktur, die die Schulleiterin darin sieht, Kinder „bis an die grenzen“ herauszufordern. Begreift man in diesem Zusammenhang Theater als etwas, das nur unter Einbringen der gesamten Persönlichkeit gelingen kann, so wird wieder der weit ausgreifende Entwurf deutlich, der in seiner verkennenden Form auch eine Vereinnahmung der Kinder und Jugendlichen implizieren kann. Dieser maximalen Öffnung steht nun wieder die Abgrenzung zu anderen Schulen gegenüber: „ich glaube dass das hier an dieser schule ne größere rolle spielt als anderswo“. Damit dokumentiert sich einmal mehr das Streben nach Exklusivität durch die Besonderung der eigenen Schule gegenüber den anderen Schulen. 4.2.2.5
Kontrastierende Lehrerhaltungen an der Anna-Seghers-Schule
Abschließend soll auch hier kurz auf ausgewählte Lehrerinterviews eingegangen werden. Dabei wurden hier Stellen ausgewählt, die sich auf schulischen Wissenserwerb beziehen, weil der Umgang mit schulischem Wissen in dieser Schule auf der Entwurfsebene nicht unmittelbar mit Leistungsanforderungen zusammenhängt. Illustriert wird das Spektrum pädagogischer Professionsentwürfe nun durch das Interview mit dem Klassenlerher Herrn Christian und das Interview mit Frau Horn, der Französisch- und Lateinlehrerin. Herr Christian: und dann sag ich ma is für mich die schulische wissensvermittlung und wissenserwerb im vergleich zu der ‚herausbildung’ als mensch jetz ‚tja’ (lachend fragend) (I: mhm) also die pädagogische variante ich sach ma fifty fifty (I: hmhm). ich sag ma fifty fifty ... (3) aber Interviewerin: was is das ‘andere’ fifty das Herr Christian: na ja also einerseits dieser schulische wissenserwerb Interviewerin: wissenserwerb Herr Christian: und andererseits die äh ..(2) ich sag ma die menschliche die menschliche ‚bildung’ (betont) ähm des sozialverhalten (I: hmhm), umgang mit mitmensch . ähm ... (3) die herausbildung eines charakters .. (2) mmm das sehen oder den ‚blick’ (betont) (I: mhm) für den mitmenschen zu haben . das is für mich genauso wichtich . für mich is auch wichtich dass
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man angstfrei unterrichtet, also . ich bin auch ein stück weit lehrer geworden aus, aus dieser aus diesem bestreben heraus es anders zu machen ‚als was ich selber erfahren habe’ (lachend) (I: hmhm) .
Herr Christian relationiert unmittelbar nach der Einführung des Themas „schulische wissensvermittlung und wissenserwerb“ mit „der herausbildung als mensch“. Wissenserwerb ist damit nicht mehr einziger Gegenstand des Lehrerhandelns oder des schulischen Handelns und auch wird nicht die Ansicht vertreten, erst durch Wissensvermittlung sei Menschenbildung möglich. Vielmehr setzt er beides in ein Verhältnis zueinander. Dabei fällt auf, dass er mit dem Begriff der „herausbildung als mensch“ eine paradoxe Struktur einführt: denn nur ein Mensch kann Mensch werden. Im Selbstverständnis des Sprechers jedoch geht es mit „Herausbildung“ um einen Prozess der Veredelung und die Auffassung ein Mensch sei noch kein vollwertiger Mensch, solange er noch nicht einen bestimmten kulturellen Habitus übernommen habe. Damit trennt er Wissenserwerb von Menschenbildung und setzt dann wiederum Menschenbildung mit der „pädagogischen variante“ gleich. Intentional verbindet sich mit dieser Formulierung die Annahme, dass die Bedingungen, unter denen sich ein Mensch „herausbildet“ pädagogisch sein müssen. Sie bedürfen also einer besonderen und reflexiven Rahmung, um die vollständige Veredelung des Menschen realisieren zu können. Damit bewegt sich Herr Christian im Rahmen eines exklusiven Entwurfs, der Wissenserwerb nicht als einzigen Gegenstand pädagogischen Handelns betrachtet. Vielmehr tritt mit der Formulierung „fifty fifty“ und deren Wiederholung „ich sag mal fifty fifty“ die Einstellung zu Tage, es handele sich um zwei gleichberechtigte Gegenstände. Damit kommen weitere Inkonsistenzen ins Spiel, denn die Trennung von Wissensvermittlung und Menschenbildung ist nicht tragfähig, so lange es sich hier um einen professionellen Wissensvermittler handelt. In der Aushandlungsphase, die nun zwischen Interviewerin und Lehrer erfolgt, geht es noch einmal um die Relationierung von Wissensvermittlung zu dem, was Herr Christian im Folgenden „die menschliche bildung“ nennt. Damit nimmt er eine Umwertung der Formulierung „herausbildung als mensch“ vor. Die „menschliche bildung“ wird nun verstärkt, indem der Begriff „menschliche“ wiederholt und „bildung“ betont wird. Bildung und Wissenserwerb werden gegeneinander geführt, wobei Herr Christian diese Abgrenzung, für die er selbst nach Worten sucht, weiter ausdifferenziert, indem er Synonyme setzt: Umgang mit Mitmenschen und Herausbildung eines Charakters. Dass diese Begriffe nun untrennbar zusammen gehören, verweist darauf, dass es eine – wenn auch suchend formulierte – deutliche Abgrenzung zu einem humanistischen Bildungsbegriff gibt, der Wissenserwerb und Charakterbildung in eins setzt. Charakter bildet sich vor allem sozial heraus. Damit wird eine implizite Normativität des Entwurfes deutlich: wenn einen Charakter nur jemand haben kann, der mit den Mitmenschen in spezifischer Weise umgeht, wird denjenigen der Charakter abgesprochen, die dies nicht tun. Die verstärkte Suche nach Erklärungen für „das andere fifty“ verweist dabei darauf, dass hier Diffusion herrscht bezüglich des Anderen des Wissenserwerbs. Schule soll anders sein, aber was sich genau hinter dieser Andersartigkeit verbirgt, kommt nicht zur Sprache. Herr Christians Ausführungen zur Folge hat es irgendetwas mit dem Umgang der Menschen miteinander zu tun und damit dass er „angstfrei unterrichten“ möchte. Diese Formulierung verweist darauf, dass es nicht nur darum geht, dass die Schülerinnen und Schüler keine Angst haben, sondern auch darum, dass er als Lehrer keine Angst hat und dieses Klima der Angst nicht unter den Schülerinnen und Schü132
lern verbreiten will. Als Gegenbild zu der Form angstfreien Unterrichtens zeichnet er seine eigenen schulbiografischen Erfahrungen Hiermit eröffnet er eine eigentheoretische Konstruktion des Bessermachens und artikuliert, dass er das Andere des Wissenserwerbs auch personal verbürgen kann. Abschließend ist zu folgern, dass Herr Christian sich mit seiner Haltung positiv auf die Schule beziehen kann. Denn durch sein Ideal, den Wissenserwerb nicht gegenüber dem sozialen Miteinander in den Vordergrund treten zu lassen und in einer Atmosphäre angstfreien Unterrichtens zu situieren, zeigt er, dass er selbst sich auch nicht in einer Lage befindet, in der er in Opposition oder Konkurrenz zum schulischen Entwurf steht. Dabei sind jedoch in dem Entwurf des Anderen des Wissenserwerbs minimale Inkonsistenzen, die vor allem in der misslingenden Suche nach einem treffenden Begriff für diesen Gegenentwurf ihren Ausdruck finden. Hierin zeigt sich, dass Herr Christian intentional und intuitiv positiv auf die Schule bezogen ist, jedoch ein professionelles Defizit dort herrscht, wo eine Reflexion möglicherweise überbordender und entgrenzender Bezugnahmen auf die Schülerinnen und Schüler ausbleibt. Denn indem Herr Christian seinen Alternativentwurf unkonturiert lässt, macht er ihn seinem eigenen Handeln nicht zugänglich und er bleibt immer auf die Rahmungen des schulkulturellen Entwurfs begrenzt. Andererseits weitet er die Inanspruchnahme als Lehrer auf die ganze Person aus, wenn er zum Beispiel sagt: „im laufe dieser zeit das sind jetz äh knapp sechs jahre is man natürlich so en klassenpapa geworden ‚ne’ (leise lachend)“. Mit dem Selbstbild als „klassenpapa“, wie er sich selbst bezeichnet, erweist er sich als außerordentlich passförmig zur familialisierten Schulkultur. Frau Horn, die Französisch- und Lateinlehrerin, unterrichtet nicht alle Schülerinnen und Schüler, da einige statt einer zweiten Fremdsprache Arbeitslehre gewählt haben, aber einen großen Teil. Sie selbst kam an die Schule, als diese noch ein Gymnasium war. Derzeit hat sie eine Abordnung an das mit der Anna-Seghers-Schule kooperierende Oberstufengymnasium, die die Hälfte ihrer Arbeitszeit in Anspruch nimmt. Interviewerin: ja, also ähm welche bedeutung hat denn schulischer wissenserwerb für ihre schule und für sie Frau Horn: das is unterscheidlich ‚ne’ (fragend) (lacht) Interviewerin: sie könnens ja mit Frau Horn: ähm ja also äh das ist äh das ist ein großer knackpunkt (I: hmhm) (3) wenn ich von der oberstufe kommend hier sehe (I: hmhm) was so gemacht wird zum teil dann habe ich oft das gefühl dass der wissenserwerb äh nicht hoch genug is (I: hmhm)
Frau Horn beginnt die Antwort auf die Interviewerinnenfrage sogleich mit einer Differenzmarkierung. Die Bedeutung des schulischen Wissenserwerbs schätzt sie für sich und ihre Schule als unterschiedlich ein. Im Gestus einer Frage fordert sie dabei die Interviewerin zu einer Nachfrage heraus. Damit und mit dem Lachen liegt ein Vergemeinschaftungsangebot vor, das die Interviewerin jedoch ablehnt. Vielmehr macht sie einen Vorschlag der Fortführung, der jedoch nicht ausgeführt wird, da Frau Horn nun wieder einsteigt. Mit „das ist ein großer knackpunkt“ bestärkt sie die markierte Differenz als eine Art Sollbruchstelle zwischen sich und der Schule, die von großem Ausmaß ist. Offenbar haben Schule und Lehrerin so unterschiedliche Vorstellung von der Bedeutung von Wissenserwerb, dass hier ein Exklusionsrisiko vorliegt. In dem Satz „wenn ich von der oberstufe kommend hier sehe was so gemacht wird“ reklamiert dabei einen Expertinnenstatus, denn als neben der Tätigkeit an der Anna-Seghers-Schule auch an Oberstufe tätige Lehrerin, sieht sie mehr. Sie nimmt die 133
Position einer Fremden ein, einer Person, die selbst anders ist, weil sie von woanders kommt. Diese andere Wahrnehmung macht sie zu einer Person, die sieht und erkennt, was „hier“ gemacht wird. Diese Wahrnehmung wird jedoch wieder eingeschränkt: zum Einen dadurch, dass sie sieht, was zum Teil gemacht wird, zum Anderen durch die Ich-Botschaft des: „habe ich oft das gefühl“. Hiermit relativiert sie ihre vorhergehende Positionierung, nimmt sie aber nicht zurück. Ihre These ist „dass der wissenserwerb äh nicht hoch genug is“: Nicht die Schule wird aufgrund der mangelnden Wissensvermittlung kritisiert, sondern die Schülerinnen und Schüler haben nicht das Niveau, von dem die Lehrerin denkt, dass es angemessen wäre. Die Kritik gegenüber der Schule bleibt damit nur implizit, aufgrund der Haltung, die schulisch gegenüber Schülerinnen und Schülern eingenommen wird. Der hier innewohnende Vorwurf: dem Wissenserwerb werde durch die Schule eine zu geringe Bedeutung beigemessen, mündet in eine Kritik an der Schule und Geringschätzung der Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler. Auf diese Weise stellt sich Frau Horn in ein ambivalentes Passungsverhältnis zur Schule. Dies gründet sich auf den Ansprüchen der Lehrerin in Bezug auf Wissenserwerb. Während ihr Referenzpunkt die gymnasiale Oberstufe ist und ihr Habitus vor allem gymnasial geprägt ist, nimmt die Schule, an der sie auch unterrichtet, ein Schülerklientel auf, das ihren Ansprüchen nicht genügt. Die eigenen Ansprüche an Exzellenz und Aufnahmefähigkeit und die damit einhergehende faktische Differenz zu gymnasialen Ansprüchen an dieser Schule bilden nun den „knackpunkt“ aus, an dem die Identifikation der Lehrerin mit der Schule brüchig wird, an dem aber auch ihre Inklusion als Lehrerin prekär wird. Dabei wird die Ursache der Brüchigkeit nicht direkt in der schulischen Verankerung von Heterogenität gesehen, sondern die Differenz zur Schule ist durch die unterschiedliche Haltung zum Schülerklientel bestimmt. Die defizitorientierte Haltung von Frau Horn gegenüber den Schülerinnen und Schülern manifestiert sich auch im Anschlussgedanken von Frau Horn: Frau Horn:
also s da müsste könnte äh äh n bisschen mehr gemacht werden und ich denke mal jetzt ähm wird sich die schule ja entschließen äh an dieser klippert sache teilzunehmen da gibts n neues modell da wird am montag drüber abgestimmt (I: hmhm) an einer fortbildung a la klippert (...) (counter: 015) klippert ja und das machen wir dann und ich denke das wird positiv abgestimmt und das is auch bitter nötig weil äh die methoden die zur zeit also ja mit denen wir normaler weise unterrichten ähm greifen nicht mehr an alle schüler die wir jetz kriegen das schülerklientel hat sich in den letzten jahren verändert hin zum schüler der äh weniger kognitive fähichkeiten hat die schwächeren schüler werden mehr ich hatte im letzten durchgang eine klasse ‚die war einfach schwach’ (leicht abgehackt und betont gesprochen) (I: hmhm)
Neben der Suche nach alternativen Handlungsmöglichkeiten, offenbart sich hier die Hoffnung auf das Problemlösungspotenzial von angewandten Methoden im Sinne einer Ursache-Wirkungs-Verkettung. Darauf verweisen auch die Begriffe „klippert sache“ und „modell“ und das mechanistische Verständnis des „greifens“ von Methoden an Schüler. Darüber hinaus wird die defizitäre Sicht auf Schüler deutlich bestätigt, wenn von „geringeren kognitiven fähichkeiten“ und „Schwäche“ die Rede ist. Gegenüber einer Schulform, in der vor Wissenserwerb und Selektion andere Dimensionen pädagogischen Handelns rangieren, bricht sich hier die an Exzellenz und Selektion orientierte Haltung Bahn und die schulischen Integrationsansprüche scheinen als oktroyierter Zwang. Im Vergleich fällt hier eine deutliche Kontrastivität der beiden Lehrpersonen auf. Für Frau Horn stellt die gesamtschulische Orientierung einen berufsbiographischen Bruch dar. 134
Je mehr Gesamtschulklientel in die Schule kommt und je weiter sich die Schüler vom gymnasialen Ideal distanzieren, desto mehr fühlt sich Frau Horn als Gymnasiallehrerin degradiert und in eine Opposition zur Schulkultur gedrängt. Sie vertritt damit eine Position, die deutlich an Leistung orientiert ist innerhalb einer Schule, die gerade diese Orientierung programmatisch begründet ablehnt. Die Begründung hierfür findet sich in ihrer Lehrerbiographie: Einerseits sucht sie sich die Anna-Seghers-Schule aus, weil sie von den reformerischen Idealen begeistert ist und schildert den Wandel zur Gesamtschule als logische Konsequenz der reformerischen Tendenzen, die bereits vorher angelegt waren: Frau Horn:
während der zeit als die äh anna-seghers noch gymnasium war äh fingen wie gesagt schon diese ganzen reformerischen tendenzen an und ähm es war einfach öh es war ‚usus’ (leicht betont gesprochen) ja es war schulklima dass man mit schülern freundlich umging dass man n schüler nich niedermachte (I: hmhm) verbal (I: hmhm) wenn sie was getan hatten das ähm aber das war öh ja ich würds jetz sagen n bisschen gymnasial halt (I: hmhm) so wie s auch einem gymnasium entspricht.
Andererseits sieht sie gegenwärtig deutlich die Problematik der Tatsache, dass viele Schüler dem gymnasialen Anspruch nicht mehr so genügen können, wie das zu Beginn der Schultransformation der Fall war: Frau Horn:
wenn man französisch unterrichtet dann hat man es normalerweise mit kindern zu tun die gewisse jedenfalls am gymnasium gewisse kognitive fähichkeiten (I: hmhm) ‚haben’ (leicht betont gesprochen) sonst öhm sind sie schon mal gar nicht damals erst mal zugelassen worden ((interviewerin hustet)) oder aber sie sind zum teil schon nach der sechsten klasse irgendwie verschwunden (I: hmhm) ne dann gabs ja hier nur latein oder französisch (I: hmhm) und öhm da äh, hat man nich jemanden gehabt der nich zwei und zwei zusammenzählen kann (I: hmhm) und äh das hat man ja inzwischen auch hier ne (I: hmhm)“.
An dieser Stelle verdichtet sich die problemorientierte Haltung, die Frau Horn in Bezug auf die Schultransformation hat, die kaum zu ihrem gymnasialen Anspruch passt. Insbesondere diejenigen, die sie als Hauptschüler identifiziert, werden von ihr als Personen diskreditiert, die nicht zwei und zwei zusammenzählen können. Dem setzt sie das Normalbild einer gymnasialen Orientierung entgegen, die auch vor der Umwandlung der Anna-SeghersSchule in eine Gesamtschule der Normalfall war: Kinder, die den Ansprüchen nicht genügten, sind nach der sechsten Klasse einfach verschwunden. Hier stellt sie Ansprüche an Leistungsdifferenzierung und Selektivität, die mit dem schulischen Ideal überhaupt nicht übereinstimmen. Vergleich mar die Interviews, so wird deutlich, dass der Fall Herr Christian dadurch gekennzeichnet ist, dass er neben die Dimension der Wissensvermittlung und des Wissenserwerbs die Dimension des Menschlichen stellt. Dies macht ihn zu einem prominenten Vertreter der Schulkultur, obwohl er seine Haltung professionell nicht begründen kann. Vielmehr erweist er sich als in die Struktur einsozialisiert und innerhalb der Strukturen handlungsfähig, aber es fällt ihm schwer, seine Position so zu verbürgen, dass er seine Haltung reflektieren kann. Seine Haltung begründet er berufsbiographisch (er ist Lehrer geworden, weil er es anders machen will als das, was er als Schüler erfahren hat) – hieraus resultiert eine alternative Haltung zu Schule mit der er in seiner Positionierung in einer harmonischen Passung zur Schule steht. Er geht förmlich in der Schule auf, und lebt die alternative Hal135
tung mit seiner ganzen Person, ohne die Grenzen des schulischen völlig aus dem Blick zu verlieren: Herr Christian: ich bin auch son mensch der . der meinung ist man darf nicht nur als person da vorne stehn und vermitteln sondern . man muss auch en stück von seiner, von seinem ich, hergeben also durchaus auch mal so en privaten einblick geben . (I: mhm) damit man, damit man nich nur .. (2) unterrichtender is (I: hm) sondern mensch . ‚ne und‘ ((leise)) da muss man aufpassen dass man nich, die grenze überschreitet“.
Reflexion spielt in seinem Handlungsentwurf somit vor allem dort eine Rolle, wo es darum geht, die Grenzen der diffusen Beziehungen auszubalancieren. Die Haltung, die er sich hier angeeignet hat, gründet sich jedoch vor allem auf seine Einsozialisiertheit (er hat mit zu großer Nähe schlechte Erfahrungen gemacht und entwickelt seine Handlungsentwürfe Nähe betreffend vor allem aus seinem Gefühl heraus, dass jemand Nähe braucht), nicht auf vorgängige Überlegungen zur Ausgestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehung. An dieser Stelle kommt immer wieder die Begrenztheit schulischen Handelns an sich zum Tragen: als Lehrer kann Herr Christian nicht nur Mensch, sondern nur „auch mensch“ sein – in dieser Einschränkung kommt wieder die Strukturproblematik der Begrenztheit des Schulischen zum Ausdruck, dass Schule eben nicht Familie sein kann, sondern das familialisierte Ideal immer durch den Handlungsraum Schule begrenzt ist. Frau Horn und Herr Christian kontrastieren maximal in Bezug auf die Lehrer-Schüler Beziehung. Frau Horn entfaltet hierbei besonders die Problematik, die für sie der Wandel vom gymnasialen Anspruch zur Gesamtschule birgt, nämlich dass Leistung und Wissenserwerb in der Schule und der hier praktizierten Schulkultur zu kurz kommen. Herr Christian steht dagegen für einen Lehrer, der erst an diese Schule kam, als sie bereits als Gesamtschule etabliert war und der sich die Schule ausgesucht hat, weil sie ihm die Möglichkeit bot, seine Ideale in Bezug auf Umgang mit den Schülern zu leben. Die Integration im Sinne einer Identifikation impliziert für ihn die Chance biografisch und berufsbiografisch erfahrene problematische Konstellationen zu überwinden und zu bearbeiten. Für die Unterschiedlichkeit der Positionierungen steht nun auch ein Konflikt, den Frau Horn mit der Klasse hatte und der von beiden Lehrern aus ihrer Position heraus geschildert wird. Frau Horn:
also ich hatts mal gerade in dieser gruppierung französisch französisch hatten wir das in der acht (I: hmhm) und zwar der eine teil nur den den sie jetzt immer be, (I: hmhm) schauen ja dieser teil hatte da ein ‚extremes problem’ (betont gesprochen) mit (I: hmhm) und dann ha- ging das über n klassenlehrer und öh dann hab ich gesagt also das is wirklich mit ihnen besprochen und dann ging das weiter und hats gesagt jetz kommste bitte mal mit äh machen wir gemeinsam klassenrat in dieser französischgruppierung (I: hmhm) und dann ähm haben wir das auseinanderdividiert (I: hmhm) was eigentlich is (I: hm) und s kam dann raus dass sie angst haben wenn sie keine hausaufgaben gemacht haben oder wenn sie die dinge nicht gelernt haben und dann kann mer ihnen eigentlich nur sagen hätt ich auch angst ja dran zu kommen und wenn se das dann mal verstanden haben (I: hmhm) dann könn se das auch wieder abbauen ne
Im Gegensatz dazu: Herr Christian: also ich versuch da auch zu unterstützen-oder zu unterstützen und zu vermitteln (I: hmhm) wenns ma irgendwie konflikte gab mit-mit kollegen oder kolleginnen , versuche ich versuche ich ein ‚beistand’ (betont) zu sein-des gehört auch zu meinem klassenlehrerdasein, ähm dass da was ‚passiert’ (betont) (I: mhm) dass da was geschieht , also da, da
136
Interviewerin: Herr Christian: Interviewerin: Herr Christian:
4.2.2.6
gibt es auch ((auch)) oder es ‚gab’ (betont) schon so was wie en mediationsgespräch sag ich ma ‚ja’ (fragend)# (lachend) hmhm , in welchen fällen, was war das so (fragend) äh , das wird anonymisiert ‚ja’ (fragend) ja ja natürlich äh also des war mit frau horn, da hatte die-die-die gruppe am anfang unheimlich ‚angst’ (betont) in französisch (I: mhm) , woran das lag (fragend) war vielleicht die resolute art von der frau horn (I: mhm) zum teil und äh ich sah (3) in dem falle dass die ‚anna’ (betont) und die anna is für mich so en ‚parameter’ (betont,) als schülerin (I: mhm) wenn die des so ‚empfindet’ (betont) dann denk ich is wirklich allerhöchste vorsicht geboten (I: mhm) und auch wirklich wirds zeit da was zu ‚machen’ (stimme hebt sich) und dann äh gabs a au- gabs da ein ‚konstruktives’ (betont) gespräch und, seitdem das gelaufen is is dieses verhältnis, also wie ‚ich’ (betont) des beobachte , sowohl von schüler als auch lehrerseite her wirklich gut“
Der ideale Raumentwurf der Anna-Seghers-Schule
Fassen wir bis hierhin die Rekonstruktionen zusammen, so ergibt sich das Bild einer exklusiven Schule, die jedoch nach innen maximal geöffnet ist. Der anfänglichen Gesinnungsprüfung, dem folgenden Kampf um die begrenzten Plätze und dem Einsatz der Eltern folgt nicht nur die Inklusion der Kinder, sondern der gesamten Familie und des erweiterten familialen Netzwerkes. Dieser inklusive Entwurf betrifft auch nicht nur das Kind als Schülerin oder Schüler, sondern seine ganze Person. Es wird nicht nur als Leistungsträger gesehen, sondern als etwas, das man mit Spannung erwartet, das es aber auch spannend für die Erwartenden macht. Wer in dieser Situation noch die Krisenhaftigkeit des Übergangs spürt, wer zurückgenommen und desinteressiert ist, ist fehl am Platz. Dabei werden die Schülerinnen und Schüler zwar in der Hierarchie ganz unten platziert, sie gelten aber auch als diejenigen, um die sich gekümmert werden muss. Analog zum Bild einer um Liebe zentrierten Familie entwirft die Schulleiterin hier das Bild der neuen Schülerinnen und Schüler und ihrer Familien: dabei ist sie diejenige, die mit ihrer Freude die Krise, die das Neue auch implizieren könnte, bearbeitet. Die Lehrer werden als die Ausführenden dargestellt, die die Kinder elterngleich mit Spannung erwarten. Die älteren Schüler werden implizit ermahnt, sich in die unterlegene und schwache Position der Kleinen einzufühlen, ganz wie ältere Geschwister bei der Ankunft eines neuen Kindes ermahnt und aufmerksam gemacht werden. In diesen Entwurf fügt sich besonders Herr Christian (als „klassenpapa“) ganz harmonisch ein, der sich weniger als pädagogischer „Macher“ entwirft, als vielmehr als affirmativ auf das schulische Konzept bezogen und ausführende Instanz der dominanten pädagogischen Haltung. Frau Horn hingegen symbolisiert die alte Tradition der Schule, die in der gymnasialen Bildung ruht, die die Lehrerin gegen die gesamtschulischen Bestrebungen vertritt. Mit dem hier verbundenen Leistungsanspruch trägt Frau Horn jedoch auch zur Exklusivität der Schule bei, denn sie steht symbolisch dafür, dass das Prinzip der Leistung letztlich nicht negiert werden kann. Zugleich verweist sie mit ihrer Haltung darauf, dass der Entwurf der Schule als große familialisierte Gemeinschaft brüchig ist. Diesem Entwurf gegenüber steht jedoch – und hier ist auch die Haltung Frau Horns konform mit der der Schule, wenngleich die Bezugshorizonte sich unterscheiden – die Herkunftsfamilie mit ihrer mangelnden Vermittlungsfähigkeit im Hintergrund. Sie hat zwar die Vorbereitung zur Ankunft der Kinder in der Schule getroffen, diese sind aber nur unzulänglich und bedürfen der Nachbesserung. Die Schulleiterin artikuliert: die Schule ist die bessere Familie. Und sie bearbeitet das Konkurrenzproblem, das zur Herkunftsfamilie entstehen könnte, indem sie 137
die Familien gleich mit eingemeindet – wenngleich sie die Spannung, die real zwischen Familie und Schule herrscht, nicht aufheben kann. Wie weit reichend diese Einbeziehung der Familie ist, wird in der abschließenden Sequenz noch einmal deutlich. Die Schülerinnen und Schüler haben nach dem Festakt mit Rede der Schulleiterin, Vorführungen der höheren Klassen und feierlicher Bildübergabe der Namensgeberin der Schule gemeinsam mit ihren Klassenlehrern und Klassenlehrerinnen den Saal verlassen, um ihre Klasse aufzusuchen. Die übrigen Gäste bleiben noch sitzen und die Schulleiterin richtet erneut das Wort an sie. Frau Kleis:
wir, sind manchmal auch ‚unbequem‘ (betont), nicht nur weil wir uns immer wieder was neues einfallen lassen, das ist so wie im richtigen leben, sondern auch weil wir uns in ihre ‚erziehung‘ (betont) ein bisschen einmischen, wir verstehen uns, als die ‚anwälte‘ (betont) der kinder (1) und manchmal müssen an- kinder auch gegenüber den eltern vertreten werden oder jedenfalls wie wir ‚meinen‘ (betont) wie es sein sollte, nenne mal ein paar beispiele (1) das erste ist, ‚sorgen‘ (betont) sie sich nicht zu sehr um ihre kinder (1) die sind hier gut aufgehoben und die sollen auch möglichst bald ihren ‚schulweg‘ (betont) alleine bewältigen (2) wir haben immer wieder eltern, die ihre kinder noch bis ins sechste schuljahr hinein ‚täglich‘ (betont, langgezogen) abholen, womöglich noch vorm klassenraum stehn und dann die hausaufgaben abschreiben (2) also (1) sie gehören hoffentlich alle nicht dazu, das ‚wollen‘ (betont) wir nicht (1) das is vor allem für ihr ‚kind‘ (betont) nich gut (3) die kinder sollen möglichst bald ‚selbstständig‘ (betont werden und das heißt nich nur in der schule, sondern auch zu hause (2)
Die Kinder gegenüber ihren Eltern vertreten, Anwalt der Kinder sein, insbesondere, wenn sich die Eltern zu viel um ihre Kinder sorgen, sie zu wenig selbständig werden lassen – all diese Bilder setzen Eltern und Schulleiterin in eine asymmetrische Beziehung, die die Schulleiterin auch im Interview nachhaltig behauptet. Die Eltern werden somit selbst wieder zu Schülerinnen und Schülern gemacht. Sie wissen nicht, was gut für ihr Kind ist. Hier verbirgt sich ein pädagogischer Mythos, der die familiale Erziehung als defizitär erachtet und sich selbst an die Stelle der Eltern setzt. Dabei wird eine Fürsorgehaltung gegenüber dem Kind eingenommen, die auf dessen Verselbständigung gerichtet ist. Das eigenaktive Kind wird damit zum Ideal der Schule gemacht, dessen Eltern, sofern sie nicht dem folgen, was die Schulleiterin ihnen vermittelt, über die kindlichen Bedürfnisse belehrt werden müssen. Die mehrfache Betonung, dass es sich hier „hoffentlich“ nur um erwünschte Eltern handelt, der der Beigeschmack einer Gewissheit verliehen wird, dass dem gerade nicht so ist, verweist darauf, dass auch die Eltern in einer schulischen Bewährungssituation platziert werden. Der inklusive Entwurf, der umfassend an den kindlichen Bedürfnissen orientiert ist, wird zum Exklusionsrisiko, wo die notwendige Integration durch die Eltern und ihre Unterwerfung unter das pädagogische Sendungsbewusstsein der Schulleiterin nicht erfolgt. 4.2.3 Kontrastierung und milieuspezifische Einordnung der schulkulturellen Entwürfe Wir haben es hier mit zwei schulkulturellen Entwürfen zu tun, die sich über jeweils exklusive Zugehörigkeitsordnungen konstituieren. Dabei verorten sie sich jeweils im Feld der Institutionen als herausgehobene Schulen, indem sie auf das besondere Regelwerk des schulischen Alltags hinweisen. In beiden Schulen gibt es besondere Aufnahmeverfahren, die über das bloße Anmelden der Kinder an einer weiterführenden Schule hinausgehen. Dabei liegt der Fokus des Martin-Luther-Gymnasiums in der Leistungsüberprüfung, die zugleich die Haltung des Kindes zum Lernen testet, denn das möglicherweise gute Grund138
schulzeugnis alleine genügt nicht – die Schule bemisst die Kinder an ihren eigenen exklusiven Ansprüchen. Der Fokus der Anna-Seghers-Schule liegt auf der Gesinnungsprüfung: das Zeugnis und die Übergangsempfehlung der Schule sind zweitrangig. Die Besonderung, die beide Schulen im Feld anderer Schulen behaupten, ist gut nachzuvollziehen, wenn man die Möglichkeit damit kontrastiert, es handele sich um Schulen, die sich im Feld der anderen Schulen nicht bestrebt wären, sich als besonders hervorzutun: Dann würde alleine das Bestehen der vierten Klasse den Übergang ermöglichen, und es müsste hier weder auf die altehrwürdige Tradition, das reiche Kulturleben und die besondere Erziehungshaltung auf Seiten des Martin-Luther-Gymnasiums, noch auf die Bedeutung der Einschulung als quasireligiöse Initiation, die fürsorgliche Haltung gegenüber den Kindern und die Anwaltschaft gegenüber den Eltern in der Anna-Seghers-Schule hingewiesen werden. Die Besonderung impliziert dabei an beiden Schulen, dass Schüler und Eltern sich in einer Bewährungssituation gegenüber der Schule befinden. Im Martin-Luther-Gymnasium müssen die Neuen ihre Diszipliniertheit und Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen; die Eltern müssen ihr Engagement für die Bildung ihres Kindes bezeugen, indem sie nicht nur die teuren Bildungsreisen finanzieren, die dem Kind das Tor zur Welt öffnen, sondern indem sie auch die Schule finanziell unterstützen, damit diese im alten Glanz erstrahlen kann und die Kinder in der ihnen angemessenen Atmosphäre lernen können. Dabei ermöglicht gerade das Denken einer Familie-Schule-Differenz die komplementäre Ergänzung in Bezug auf die Bildungsermöglichung für die Kinder. In der AnnaSeghers-Schule konkretisiert sich die Bewährungssituation darin, dass die Eltern an der Herstellung einer Familie-Schule-Einheit mitarbeiten müssen. Die Schule wird dabei zu einer Art Bewährungshelferin, die die Eltern auf den richtigen Weg bringt. Damit müssen sich die Eltern besonders darin bewähren, sich helfen zu lassen und sich sagen zu lassen, wie die richtige Haltung zum Kind eingenommen werden kann. Deutlich wird hier einmal mehr die Besonderung der Schulen und die gleichzeitige Abgrenzung von anderen Schulen, in denen die Haltungen, die hier repräsentiert sind, nicht vorhanden sind. Damit treten zugleich auch die spezifischen Milieubezüge beider Schulen auf den Plan (vgl. Abb.9 und 10): Im Martin-Luther-Gymnasium werden Nähen zu Milieus hergestellt, die sich als bildungsorientiert und wertkonservativ bezeichnen lassen. In ihrer Haltung stimmen sie mit den bürgerlich-konservativen Milieus (vgl. Vester 2006) überein und mit solchen Milieus, die sich in ihrem Streben nach dem bürgerlich-konservativen Milieu bewähren wollen. Distanzierungen finden wir zum alternativen, links-intellektuellen Milieu, zum hedonistischen Milieu und zu den Arbeitermilieus.
139
Soziale Milieus in Ostdeutschland
avantgardistisch
eigenverantwortlich
hierarchiegebunden
autoritär
Differenzierungsachse
Links-intellektuelles alternatives MIlieu
Habitus der Arrivierten
Habitus der Strebenden
Herrschaftsachse
Habitus der Distinktion
Hedonistisches Milieu
Bürgerlich konservatives Milieu
Moder- nes ArbeitnehmerMilieu
A Aufstiegso orientierttes PionierP M Milieu
Traditionelles Arbeiter- und BauernMilieu Habitus der Notwendigkeit
DDRverwurzeltes Milieu
M Modernes b bürgerlliches M Milieu
S Statusu und kkarriereorientiertes o M Milieu
Kleinbürgerliches ArbeitnehmerMilieu
Traditionslose Arbeitnehmermilieus ■
Grenze zu Abstoßungsmilieus; Bezugsmilieus
Abb. 9: Der sekundäre Habitus des Martin-Luther-Gymnasiums und seine Milieubezüge (vgl. Helsper/Kramer/ Hummrich/Busse 2009)
In der Anna-Seghers-Schule hingegen wird sich gerade von den hier benannten Bezugsmilieus des Martin-Luther-Gymnasiums abgegrenzt (vgl. Abb. 10). Hier findet sich eine deutliche Nähe zu gegenkulturellen, alternativen Milieus, wie sie sich im Bereich der liberal intellektuellen und der alternativen Milieus findet, sowie zu Milieus, die in diese Richtung streben (z.B. das hedonistische und das moderne Arbeitnehmermilieu). Wir finden aber auch Übereinstimmungen beider Schulen in den Distanzierungen von den Arbeiter- und traditionslosen Arbeitnehmermilieus sowie von den kleinbürgerlichen Milieus. Damit platzieren sich beide Schulen im gehobenen Bildungssegment sowohl gegenüber anderen Schulen als auch hinsichtlich der Milieubezüge der Elternhäuser. Deutlich wird dies auch in den Aufnahmeverfahren und den Schulleiterinterviews. Die Exklusivität beider Schulen wird dabei ganz unterschiedlich untermauert. Man kann sagen: im Feld der exklusiven Schulen sind sie bestrebt zwei kontrastierende Pole zu besetzen29. 29
Gedankenexperimentell sind hier selbstverständlich Steigerungsmöglichkeiten vorstellbar, setzt man etwa das Martin-Luther-Gymnasium in Beziehung zu traditionellen Eliteinternaten oder Kadettenanstalten, die Anna-
140
Soziale Milieus in Westdeutschland
avantgardistisch
eigenverantwortlich
hierarchiegebunden
Differenzierungsachse
Alternatives Milieus
Habitus der Arrivierten
Habitus der Strebenden
Herrschaftsachse
Habitus der Distinktion
Liberal intellektuelle s Milieu
Modernes Arbeitnehmer-Milieu Hedonistisches Milieu
Leistungsorientierte s Arbeitnehmer-
Konservativ technokratisches Milieu
Modernes bürgerliches Milieu
Kleinbürgerliches ArbeitnehmerMilieu
Traditionelles Arbeiter-Milieu Habitus der Notwendigkeit Unangepasste
■
Traditionslose Arbeitnehmermilieus Resignierte
Statusorientierte
Grenze zu Abstoßungsmilieus; Bezugsmilieus
Abb. 10:Der sekundäre Habitus der Anna-Seghers-Schule und ihre Milieubezüge (vgl. Helsper/Kramer/ Hummrich/Busse 2009)
Die Untermauerung von Exklusivität artikuliert sich im Martin-Luther Gymnasium dabei nicht nur in Bezug auf die spezifischen Nähe-Distanz-Relationen, sondern auch in Bezug auf die Setzung von Differenz in Bezug auf die Unterscheidung von Elternhaus und Schule und in Bezug auf die asymmetrische Relationierung der Beziehungen innerhalb der Schule. Hier werden die Schüler vor allem als Leistungsträger gesehen und es ein Komplementaritätsentwurf von Familie und Schule vor. Familie steht dabei für die Unterstützung des Kindes, Schule für das Einstudieren von Regelbewusstsein (wie es sich im Beispiel vom Saubermachen des Schulhofs niederschlägt) und den Zugang zu höchster Bildung (dies zeigt sich im Beispiel von den Auslandsreisen). Mit Bezug auf die ausdifferenzierte Anerkennungstheorie Honneths (1994) kann dabei gefolgert werden, dass die Erfahrung moralischer Seghers-Schule zu einer internatsförmigen Erziehung, die tatsächlich an die Stelle der Familie tritt. Aber dennoch sind auf der Spannungslinie Nähe-Distanz deutliche Bezüge zur Exklusivität hergestellt.
141
Anerkennung – z.B. in Form der normativen Orientierungen und des Regelbewusstseins – in der Schule vermittelt wird – ebenso wie individuelle Anerkennung, in der sich die Person als Leistungsträger erlebt, der durch die Schule zu höchster Bildung gelangen kann. Damit wird auch deutlich, dass die Schule hier auf die Akquirierung von Kindern setzt, die emotionale Unterstützung in hohem Maße zu Hause erfahren haben, die aber auch eine Idee von Regelbewusstsein, Unterordnung und Leistungsorientierung haben, wenn sie in die Schule kommen. Kinder, die in der Schule nach emotionaler Anerkennung suchen, die aus multiproblembelasteten Elternhäusern kommen oder welche die Werthaltungen der Schule ablehnen, dürften in dieser Schule auf größere Passungsprobleme stoßen. Die Kontrastivität der Anna-Seghers-Schule zum Martin-Luther-Gymnasium wird indes deutlich, wenn man die idealen Beziehungsmodelle miteinander vergleicht. Zwar streben beide Schulen nach Exklusivität, jedoch wird dazu im Martin-Luther-Gymnasium auf komplementäre Beziehungen gesetzt, während die Beziehungsideale in der Anna-SeghersSchule auf einer Familie-Schule-Kongruenz basiert. Die Schule verspricht wie eine Familie für das Kind zu sein und damit auch die Bedürfnisse emotionaler Anerkennung abzudecken. Daneben setzt sie auf ähnliche Werthaltungen und stellt demgegenüber die Leistungsorientierung zurück. Das bedeutet, dass der ideale Schüler bereit ist, sich mit seiner ganzen Person der Schule zu überantworten. Risiken oder Passungsprobleme gibt es dort, wo aufgrund der diffundierenden Beziehungen Entgrenzungen gegenüber den Schülern entstehen (vgl. Wernet 2003), dort wo Schüler, die besonders leistungsfähig sind, gegenüber der Näheorientierung zurückstecken müssen oder wo die sachliche Vermittlung gegenüber dieser Näheorientierung gänzlich in den Hintergrund rückt. Doch sind die Entwürfe, die die Schulleiter hier präsentieren, nicht spannungsfrei. So kann im Martin-Luther-Gymnasium der Anspruch altehrwürdiger Tradition nicht ungebrochen behauptet werden, denn diese ist, wie unter Hinweis auf die „ramponierte Aula“ deutlich wird, in der Schule selbst nicht verwirklicht. Zu repräsentativen Zwecken weicht die Schule auf den nahe gelegenen Basedow-Saal aus, der zur Universität gehört. Und auch zur Verwirklichung der hohen Bildungsziele – so wird über die vielen Auslandsreisen und den immer wiederkehrenden Verweis auf rückkehrende dankbare Schülerinnen und Schüler vermittelt – muss aus der Schule herausgegangen werden. Hier liegt eine Charismatisierungskrise schulischer Exklusivität vor, die zeigt, dass diese Exklusivität der besonderen Stützung bedarf. Der Entwurf der Differenz zum Elternhaus wird da brüchig, wo die Eltern ihre Kinder und die gesamte Schule weit reichend unterstützen müssen, um die Orientierung an höchster Bildung mit zu fördern. Mit dem, was die Kinder konkret erwartet – den Schulhof reinigen – wirkt es vielmehr so, als werde innerschulisch Disziplin gefördert, die Orientierung an höchster Bildung könne jedoch nur außerschulisch stattfinden. Gerade dies wird auch von den Lehrern symbolisiert. In der Anna-Seghers-Schule liegen die Spannungsmomente zum Einen in dem Einheitsentwurf von Familie und Schule, der die funktionale Trennung beider Bereiche aufhebt (vgl. Hummrich/Helsper 2004). Dies geht mit spezifischen Anerkennungsversprechen einher, vor allem im Bereich emotionaler Anerkennung, durch die die Funktionsbereiche der Schule tendenziell nivelliert werden oder zumindest in den Hintergrund rücken. Zudem greift die Schule weit in familiale Strukturen ein, indem sie sich als Expertin der ‚richtigen Haltung‘ geriert und demgegenüber einen generalisierenden Misstrauensantrag in die Familie formuliert. Die Spannungsmomente werden auch in den Lehrerinterviews deutlich. 142
Vor dem Hintergrund dieser Spannungen lassen sich schließlich zwei unterschiedliche Zugehörigkeitsordnungen abstrahieren, die zwar gewisse Gemeinsamkeiten aufweisen, aber dennoch im Feld der exklusiven Bildung diametral zueinander positioniert werden müssen. Ihre Gemeinsamkeit haben sie darin, dass die Schülerschaft ausgesucht wird und dass es sich um Schulen handelt, die sich sowohl gegenüber anderen Schulen als auch hinsichtlich der zentralen Bezugsmilieus im Bereich exklusiver Bildungsangebote bewegen. Dabei profiliert sich das Martin-Luther-Gymnasium über einen Leistungs-, Disziplin- und Traditionsbezug, der den Schülern höchste Bildung verspricht und solche Schüler inkludiert, die sich auf formalisierte Lehrer-Schüler-Beziehungen einlassen, im Elternhaus emotionale Unterstützung und Anerkennung erfahren und die Schule vor allem funktional wahrnehmen. Exklusionsdrohungen sind am ehesten dann wahrscheinlich, wenn das Leistungsstreben nicht hinreichend abgesichert ist und zudem die Haltungen – auch die der Eltern – deutlich von den schulisch präferierten abweichen: also sich zum Beispiel im Bereich des liberal intellektuellen oder alternativen Milieus befinden. In der Anna-Seghers-Schule wird Inklusion über die Homologie von Familie und Schule reguliert. Schüler, die hier zur Schule gehen, werden inkludiert, wenn sie in dieser Homologie aufgehen und sich der Schule überantworten – auch was die schulische Werthaltung von Selbständigkeit betrifft. Als eigenaktives Kind müssen sie sich damit der Fürsorgehaltung der Schule unterwerfen. Nicht Leistung wird hier zum zentralen Inklusionsindikator, sondern die Gesinnung, die Orientierung an der alles inkludierenden Schulgemeinschaft. In beiden Fällen haben wir es damit mit exklusiver Inklusion zu tun, für den Fall, dass Familie und Schule eine entsprechende Haltung einnehmen (können). Und in beiden Fällen müssen die Schulen ihre Platzierung im Feld exklusiver Schulen nach außen (gegenüber anderen Schulen) und nach innen (in Bezug auf die Eltern und Schüler) behaupten.
4.3 Das Zusammenspiel von Familie, Schule und Biografie am Martin-LutherGymnasium 4.3.1 Marcus Johannsons Anpassung als Bearbeitung der familialen Paradoxie Marcus Johannson ist ein leistungsstarker Schüler, der sich zumeist im vorderen Bereich der Klasse, oftmals in der Nähe zum Lehrerpult, platziert. Er hat in der Klasse einen ‚besten Freund‘, darüber hinaus sind seine Kontakte zu den Klassenkameraden eher spärlich, es sei denn Marcus wird um Hilfe bei den Hausaufgaben gebeten, die er – wie selbstverständlich – immer schon erledigt hat. Mit seinem eher konservativen Kleidungsstil (Hemd, Bundfaltenhose, Lederschuhe) scheint er sich sehr an eine bürgerliche Erwachsenenwelt anzupassen – jugendkulturelle Ausstattungen finden sich an ihm lediglich dadurch, dass er einen Rucksack trägt. Sein Stil kann somit kurz als expressive Anpassung an die bildungsbürgerliche Erwachsenenwelt skizziert werden. Marcus ist das erste Kind seines Vaters, der nach der Wende ein Anwaltskanzlei in Schönberg aufgebaut hat, und das dritte Kind seiner Mutter, die bereits aus erster Ehe zwei Kinder hat, welche jedoch zum Zeitpunkt von Marcus‘ Geburt bereits erwachsen waren. Die Mutter ist Marcus‘ Vater nach Schönberg gefolgt, arbeitet halbtags im sozialen Bereich und pflegt zahlreiche Kontakte zu alten Freundinnen in einem westdeutschen Ballungsge143
biet, die sie oft besucht, oder mit denen zusammen sie mehrmals im Jahr verreist. Marcus hingegen unternimmt vornehmlich mit seinem Vater Bildungsreisen nach Rom oder Griechenland, denn – auch wenn er in allen Fächern zur Leistungsspitze gehört – sein besonderes Interesse gilt der Antike. Zusammen teilt die Familie das Interesse an Literatur, an Theater und Oper. 4.3.1.1 Die Bearbeitung der Exklusionsbedrohung durch Marcus Johannson im Geschichtsunterricht (Gong) (stimmengewirr, ca 15 sek.) Lehrerin: so meine herrschaften, wir . . (2) ((springen)) weiter von vortrag zu vortrag aber es lässt sich im moment nich ändern, weil (2 unverst.) ihr nicht da seid in der nächsten woche und uns die zeit, mehr oder weniger, davonrennt . sooo, äähm, ich möchte aber nochma auf die letzte frage die ich gestellt habe, am montag eingehen . es ging um den ((vortrag)) über die grünen, ich hatte euch die frage gestellt inwieweit ääh ein politiker, ein grünenpolitiker wie äh joschka fischer auch glaubwürdig . ob so was für euch ein vo- eine vorbildwirkung sein kann in der rolle die er jetzt hat, der aufgabe der er sich jetzt gestellt hat, nämlich als außenminister deutschlands tätich zu sein und somit ((die grünen)) ja erhebliche regierungsverantwortung, indem sie den vizekanzlerposten bekommen haben, übernommen haben . vielleicht ((nochma kurz)) dazu
Ein Gong markiert den Unterrichtsbeginn, nach dem noch zirka 15 Sekunden Stimmengewirr erfolgt. Mit „so meine herrschaften“ markiert die Lehrerin hier einen Anfang, der jedoch nicht bruchlos vollzogen wird. Dabei bezeichnet „meine herrschaften“ eine Anredeform, die zum Einen die Schülerinnen und Schüler nicht in ihrer Rolle anspricht, zum Anderen auf eine Verwendungsform rekurriert, die die würdigende Anrede von „herrschaften“ ironisiert. Damit werden die Schülerinnen und Schüler in einer asymmetrisch unterliegenden Position zur Lehrerin verortet. Das „meine“ unterstreicht die Asymmetrie dabei. Es geht nicht um die Herstellung von Nähe zum Zweck der Vergemeinschaftung, sondern um die Inklusion auf der Grundlage von Besitztum. „Meine herrschaften“ – als Herrschaftsformen ironisierende Anrede, impliziert gleichsam die Aneignung der Unterworfenen. Jedoch bricht die Setzung von Asymmetrie in dem Versuch Gemeinschaft zu formulieren und verbürgend auszufüllen. Nach dem „wir“ folgt eine zweisekündige Pause. Im Anschluss daran wird ein Strukturproblem des Unterrichts formuliert: „wir springen weiter von vortrag zu vortrag“ – dies markiert, dass Handeln hier unter Zeitdruck stattfindet. Jedoch: obwohl die Zeit „davonrennt“ und eigentlich das ‚Springen‘ von Vortrag zu Vortrag angekündigt ist, springt nun die Lehrerin selbst – sie greift eine Frage der vorhergehenden Stunde noch einmal auf. Die Stellung der Frage wird damit begründet, dass die Lehrerin das so möchte. Damit wird deutlich: der Unterrichtsverlauf kann durch die Lehrerin jederzeit aufgehoben und konterkariert werden. Der sachbezogenen Aufforderung von Vortrag zu Vortrag zu springen wird schließlich eine konträre Aufforderung entgegengehalten, in der die Schülerinnen und Schüler sich zur Regierungsbeteiligung Joschka Fischers äußern sollen und dabei dessen Glaubwürdigkeit und Vorbildwirkung einschätzen sollen. Die Frage, die hier formuliert wird, ist dabei hochgradig inkonsistent: „ob so was ne vorbildwirkung für euch sein kann“. Damit unterläuft die Lehrerin die von ihr selbst vorgenommene sach- und unterrichtsbezogene Setzung, denn sie fordert zu einer persönlichen Äußerung auf, in der die Schülerinnen und Schüler ihre Haltung artikulieren sollen. Die Krise des Unterrichtsbeginns zeigt sich als unsichere Verortungspraxis der Lehrerin im Handlungsraum Unterricht.
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Die hier zum Ausdruck gebrachten widerstreitenden Entwürfe setzen zunächst Asymmetrie und Differenz. Die Aufforderung zur persönlichen Stellungnahme wird dadurch gerahmt und verkommt so zur angeordneten Diffundierung des Unterrichts. Hier liegt eine Entgrenzungstendenz vor, welche die Krise des Anfangs steigert. Lehrerin: vielleicht ((nochma kurz)) dazu . . . . . (5) schweigen im walde . . . . (4) marcus, lös ma das eis
Damit erklärt sich auch die mangelnde Beteiligung, die sich offensichtlich mit der fünfsekündigen Pause vollzieht. Verweigern sich die Schülerinnen und Schüler dem persönlichen Zugriff der Lehrerin? Sind sie verwirrt über den raschen Wechsel der Beziehungsstruktur? Ist ihnen die Frage unklar? Rebellieren sie gar insgesamt gegen die Lehrerin? Mit dem Satz „schweigen im walde“ wird zumindest die Interpretation, die die Lehrerin bezüglich der Nicht-Beteiligung vornimmt, deutlich: Mittels einer ortsbezogenen Metapher werden die Schülerinnen und Schüler (virtuell) in die Natur (den Wald) hineinversetzt und damit von der Kultur abgesetzt, in der nicht geschwiegen, sondern in der kommuniziert wird30. Die ironisierende Verwendung der Metapher steht damit zugleich für eine Ausschlussbedrohung: wer schweigt, gehört nicht zur Kulturgemeinschaft. Diese Drohung wird umso schärfer, je mehr die Schule gerade auf die Kulturgemeinschaft bezogen ist – insbesondere für diejenigen, die besonders nach der Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft streben. Aber auch diese Drohung wird zunächst vier Sekunden lang nicht beantwortet. Dabei ist davon auszugehen, dass die Schülerinnen und Schüler sich hier in einem Dilemma befinden. Antworten sie vielleicht allzu schnell, geben sie die Einigkeit auf, die unter ihnen als peer-Zusammenhang herrscht. Damit könnten sie als „Streber“ stigmatisiert werden. Es bedarf eines weiteren Nachsatzes der Lehrerin: „marcus, lös mal das eis“. Das Eis lösen ist eine ‚schiefe‘ Formulierung. Es ist davon auszugehen, dass hier zwei Aufträge in eine Formulierung gepackt werden: Marcus soll das Eis brechen, das der Beantwortung der Frage von Schülerseite entgegensteht. Damit wird ihm zugetraut, eine besonders schwierige Aufgabe lösen zu können, in deren Fahrwasser – die Metapher hier weiter aufnehmend – die übrigen Schülerinnen und Schüler dann leichtes Spiel bei der Beantwortung von Fragen haben. Thematisiert wird aber auch eine eisige Atmosphäre, die aufgelöst werden soll und mit der die Bedrohungsmetapher des Schweigens im Walde gesteigert wird. Gelingt es Marcus nicht, das Eis zu lösen, so friert die Kommunikation ein und die Klasse wird insgesamt aus der Kulturgemeinschaft ausgeschlossen. Bei Marcus muss es sich folglich um einen Schüler handeln, dem die Position des Eisbrechers und die Möglichkeit der „Klimaerwärmung“ zugetraut werden, der aber auch in besonderer Weise auf die Exklusionsbedrohung ‚anspringt‘, weil ihm die Zugehörigkeit zur Kulturgemeinschaft wichtig ist. Gleichzeitig muss es sich um jemanden handeln, der sich problemlos in die asymmetrische Beziehungslogik einspannen lässt. Er steht nun in einer besonderen Bewährungssituation, die zugleich die Gefahr der Distanzierung vom peerMilieu beinhaltet und ihn der instrumentellen Verwendung durch die Lehrerin preisgibt.
30
Dies lässt sich sehr schön am Roman „Das Schweigen im Walde“ Ludwig Ganghofers (1855-1920) illustrieren, auf dessen Titel die Wendung ironisierend Bezug nimmt. Der Roman beginnt damit, dass ein Wanderer aus einem Dorf hinaus aufsteigt in den Wald. Im Dorf herrscht noch munteres Treiben, es ist laut, die Menschen reden, die Kirchglocke läutet, doch als die Protagonisten den Kulturraum Dorf verlassen und sich im Naturraum Wald befinden, wird ihnen die Schönheit und Ruhe der Natur bewusst.
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Denn mit der hier vorgenommenen Profilierung Marcus wird deutlich, dass es der Lehrerin darum geht, den Unterricht voranzubringen – auch, weil sie unter Zeitdruck handelt. Lehrerin: marcus, lös ma das eis , ((weil)) Marcus: mhmh (räuspernd) also ich persönlich bin ja der meinung dass, äh joschka fischer wahrscheinlich viele seiner ursprünglichen ideale, ei-ja sagen wir mal auf kosten der, realpolitik und auf kosten auch seines eigenen erfolges ääh geopfert hat, das würd ich so sehn, aber, das macht ihn in meinen augen nicht unbedingt so unglaubwürdig, das ist ein ((regierungs)) politiker ‚der’ (gedehnt), äh in etwa abwägen kann inwieweit äh, ja inwieweit, äh äh ja seine diplomatischen . aufgaben mmmh äh . eine besondere bedeutung haben und inwieweit er sich ((2 unverst.)) gegenüber äußern kann, ich bin der meinung er ist ein besonderer mensch und äh . na ja für unglaubwürdich halt ich ihn nich
Nach einem minimalen Zögern („mhmh (räuspernd)“) beginnt Marcus eine persönliche Stellungnahme und kommt damit der Aufforderung nach. Dabei umgeht er jedoch ein offenes politisches Bekenntnis und eine direkte Positionierung zu den prekären Fragen der Vorbildwirkung. In seiner Antwort konzentriert er sich auf die Glaubwürdigkeit, allerdings in ihrer negativen Variante („nicht so unglaubwürdig“). Vorsichtig tastend und selbst abwägend wird Fischer hier als abwägender und besonnener Mensch beschrieben, der vom Rebellen zum Realpolitiker wurde, sich damit aber auch als würdig erweist, politische Verantwortung zu tragen und diplomatisch tätig zu sein. Damit vollzieht Marcus selbst in einer Miniaturfigur die Wendung, die Joschka Fischer hier zugesprochen wird: vom ausschlussbedrohten Rebellen, der sich nicht adäquat beteiligt, zum angepassten Diplomaten. Diese Kongruenz ermöglicht ihm somit, an seiner Re-Integration zu arbeiten und darüber hinaus durch seine kluge und abwägende Haltung seine Teilhaberechte an der Kulturgemeinschaft auf exzellente Weise rückzuversichern. Die instrumentelle Verwendung, die Marcus hier erfährt, kann er also als persönliche Ermöglichungsstruktur wenden, indem er seine Exzellenz unter Beweis stellt. Bezieht man diese Struktur nun auf die Anordnungs- und Lagerungsverhältnisse, so lässt sich hier herausarbeiten, dass die Lehrerin einen imaginären Raum entwirft, in dem Unterricht auf Partizipation fußt. Dieser wird jedoch unterlaufen durch die strenge Sachorientierung und die strukturellen Zwänge, denen die Lehrerin gegenüber steht. In der Art, wie sie den Schülerinnen und Schülern ihren Idealentwurf entgegenhält, entsteht eine widersprüchliche Anforderungsstruktur: einerseits tritt den Schülerinnen und Schülern das partizipative Angebot als heteronome Rahmung entgegen, das ohne die Setzung von Differenz und Asymmetrie nicht auskommt. Die damit gestiftete Diffusion bearbeitet die Lehrerin jedoch, indem sie latent mit dem Ausschluss aus der Kulturgemeinschaft droht. Die Unterstellung des Begehrens einer günstigen Position in der Kulturgemeinschaft arbeitet ihr damit in die Hände. Zugleich wird die Setzung von Asymmetrie verstärkt und das Partizipationsangebot wird zum Partizipationszwang. Sie bearbeitet schließlich die Diffusion, indem sie den Schüler instrumentalisiert, dessen Begehren auf Teilhabe am größten ist: Marcus. Das Versprechen, das mit der Partizipation einhergeht, ist dabei nicht nur Exzellenz, sondern – indem Marcus zum Eisbrecher gemacht wird – auch eine Stellvertreterleistung für die Klasse, die sich dann in seinem Fahrwasser mühelos repositionieren kann. Insofern wird die Bedrohung der Abspaltung minimiert. Die damit gelegte Verführungsspur verweist auf ein Arbeitsbündnis, in dem Marcus über die Präsentation seiner Exzellenz auch die gesamte Klasse re-integrieren kann. Dass hier niemand aus der Klasse aufbegehrt, bedeutet, dass die Klasse sich implizit einverstanden erklärt mit dieser Art der Re-Integration. Marcus gelingt es dabei der Entgrenzung zu entkommen, 146
indem er den Unterricht wieder versachlicht. Zugleich leistet er einen Beitrag zur Integration der gesamten Schulklasse.
4.3.1.2 Entfremdung als Bearbeitung der familialen Individuationsparadoxie Marcus Johannson und seine Familie leben in einem Vorort von Schönberg. Seine Mutter und er zogen es jedoch vor, zum Familieninterview in das Büro der Interviewerin zu kommen. Der Vater war nicht an dem Interview beteiligt. Eine Aufnahme einer ‚natürlichen‘ Interaktionsszene wie dem Abendbrot, war daher nicht möglich. Dennoch fanden sich in dem Familiengespräch zahlreiche „dichte“ Interaktionssequenzen zwischen Marcus und seiner Mutter. Mutter: ich bin noch groß geworden unter vielen sachen (...) was ich am meisten geliebt habe man tut das nich (...) und das ham meine kinder eigentlich- diese grenzen hatten die nich so (...) ich hasse das wenn man sacht das tut man nicht aber das is etwasMarcus: warum eigentlich manche sachen tut man doch wirklich nich Mutter: ja mhm dann fragt man immer warum Marcus: mhm weil man damit 'zum beispiel' (überlegend) seine mitmenschen verärgern könnte Mutter: ja aber nicht wenn man bestimmte garderobenvorschriften nicht einhält=ich gehörte noch zu der gruppe die mit äh sonntags andere klamotten und meistens auch lackschuhe tragen mussten Marcus: ach wie würd ich das gern mal tun . .aber andererseits nein, nein ja
Während die Mutter hier emphatisch für eine kritisch reflexive Haltung in der Erziehung eintritt, stellt sich ihr Sohn oppositionell auf: Warum kritisieren, es gibt doch Konventionen? Bereits in diesem Auftakt der Interaktion scheint die gesamte Individuationsparadoxie durch. Die Mutter bekundet, dass ihre Kinder die Grenzen, die sie selbst sie hatte, nicht hatten (oder haben). Sie spricht hier von Hass gegenüber der auf Konventionen verweisenden Regel „man tut das nich“. Doch in der Emphase, mit der sie dies vorträgt, vermittelt sie ihre Imagination, die selbst wieder von einer allgemeinen Regelhaftigkeit gerahmt ist und überspitzt ausgedrückt heißen könnte: „man macht keine Vorschriften, die auf eine manRegel zurückzuführen sind.“ In der Distanzierung von ihrer eigenen Kindheit übernimmt die Mutter dabei die Imagination einer Regelhaftigkeit, die sie auf die Haltung einer kritisch reflexiven Pädagogik bezieht: Man fragt immer warum! Marcus selbst fragt „warum“, entspricht damit der von der Mutter aufgestellten Regel, widerspricht ihr aber zugleich, indem er sinngemäß danach fragt, warum man alles begründen muss. Die von der Mutter eingeführte Regel „dann fragt man immer warum“ begründet er schließlich unter Verweis darauf, dass die Konventionen dazu da sind, um zu vermeiden, seine Mitmenschen zu verärgern. Hier findet sich eine Argumentation zwischen Mutter und Sohn, die die Umkehrung eines Generationsverhältnisses andeutet. Die Mutter scheint gegen die herrschenden Regeln zu rebellieren, der Sohn verteidigt sie. Dabei ruht die Paradoxie darin, dass diese Umkehrung zwar da ist, aber sich faktisch auch deuten lässt, als bestehende Generationsdifferenz, in der die Mutter Regeln verordnet (man rebelliert, man fragt warum, man sollte nicht so konventionell sein), gegen die Marcus rebelliert. Die hier herausgearbeitete Paradoxie bedeutet für Marcus zugleich eine widersprüchliche Individuationsanforderung: er soll so werden wie seine Mutter (rebellisch, widerständig, begrün147
dungsorientiert) und dabei aber gegen sie rebellieren. Deutlich wird damit, dass die Anforderung an Autonomie und Individuation, die sich in den Erziehungsimaginationen niederschlägt, zugleich aber auch unterlaufen werden, indem sie zur heteronomen Rahmung werden. Die Rebellion von Marcus dagegen, bedeutet eine praktische Umsetzung der „Befreiung aus der Mündigkeit“ (Honneth 1994), um dieser Individuationsfalle zu entkommen. Der Selbstentwurf von Marcus als „reflexiver Konventionalist“ (Helsper/Hummrich 2008) lässt sich damit als Widerhall einer doppelten Anforderung (ähnlich einer double-bindKonstellation, Stierlin 1981) verstehen, gegenüber der sich Marcus reflexiv und dezentriert verhalten muss, um sich zu individuieren. Dies wird deutlich im letzten Wortwechsel der oben präsentierten Sequenz: Marcus tritt für die Einhaltung von Regeln ein, um andere nicht zu verletzten – dies zeigt mithin die reflexive Durchdringung dieser Regeln – und die Mutter begründet das Eintreten für die Nichteinhaltung von Regeln am Beispiel ihrer biografischen Erfahrungen: sie musste ‚Sonntagskleidung‘ und ‚Lackschuhe‘ tragen. Auch hier stellt sich Marcus entgegen, indem er seiner Mutter seinen positiven Bezug auf diese Konvention verdeutlicht und zugleich darauf hinweist, dass ihm das versagt ist. Dem Ganzen nimmt er schließlich den Ernst, indem er sagt: „aber nein , nein ja“. Diese Aushandlung zeigt noch einmal deutlich, die unterschiedlichen Haltungen zu Konventionen, die hier eingenommen und repräsentiert werden. Während die Mutter das Bild hochhält: Konventionen, zumal unbegründete, verletzen die persönlichen Freiheitsrechte, zeichnet Marcus das Bild der Verletzung von Freiheitsrechten unter der Bedingung der Abwesenheit von Konventionen. Der Abschluss mit „ach wie gern würd ich das mal tun“ ist in diesem Zusammenhang eine Provokation, die die Positionierung der Mutter erneut herausfordert. Doch diese geht darauf nicht ein und Marcus passt sich mit einem beschwichtigenden „andererseits nein, nein ja“ an. Die Individuationsparadoxie kommt auch in folgendem Segment deutlich zum Ausdruck: Mutter: also ich denke mir einfach dass das einfach n selbstbewusster mit sich klarkommender mensch werden soll Interv.: mhm Mutter: aber denken soll er Marcus: ‚ja ja’ (abwiegelnd) in bescheidenem maße mach ich das Mutter: und manche sachen akzeptiert er einfach auch was in zeitungen steht wobei mir schon eingetrichtert worden is papier is- papier is geduldig das is das was ich von klein auf von meinen eltern gehört habe hinterfrage . Marcus: mama ich bin Mutter: hinterfrage Marcus: ich bin kein solcher ich bin kein solcher äh faz ge- äh apostel wie beispielsweise manch anderer in meiner klasse nein ich=ich lass mir von äh den zeitungen meine meinung nicht vorschreiben ich äh suche sie mehr oder weniger- ähm ich denke längere zeit darüber nach äh was gefällt mir womit kann ich mich am besten identifizieren äh und in was für einen zusammenhang kann ich das setzen mhm und äh dann hab ich eine meinung und wenn ich die meinung dann einmal hab dannMutter: zivilcourage muss er noch lernen Marcus: bin ich etwas ‚starr’ (betont) in meinen ansichten, Mutter: also nich wechgucken auch zivilcourage is wichtig Marcus: also alles akzeptier ich nun nich ich erinner mich Mutter: ((..)) haben die beiden großen und das muss er auch noch lernen einfach Marcus: ‚ja zivilcourage' (leicht abfällig) Mutter: ja nich wechgucken sondern auch mal- auch wenn man aneckt einfach klappe auf ...
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Dem Anspruch, den die Mutter hier formuliert: Marcus soll ein selbstbewusster mit sich selbst klarkommender Mensch werden, wird ein Widerspruch entgegengehalten: „aber denken soll er“. Das imaginäre Erziehungsideal, das hier zugrunde gelegt wird, ist Selbstbewusstsein und Selbstzufriedenheit. Dabei ist der Mutter aber nicht egal, wie dieses Bewusstsein erreicht wird: „aber denken soll er“ markiert die Tatsache, dass es für die Mutter nur einen Weg gibt, ihre Vorstellung von dem, was aus Marcus werden soll, umzusetzen: denkend. Auch hier verortet sie sich mit dem Anspruch auf Reflexivität, die jedoch nur in einer bestimmten Weise vor ihren Augen Gültigkeit besitzt. Marcus‘ Antwort „jaja, in bescheidenem maße mach ich das auch“ nimmt die Forderung der Mutter ironisierend provokativ auf. Denn gerade diese Antwort zeigt, dass er sich sehr reflexiv mit den Anforderungen auseinandersetzt. Jedoch ist die Mutter damit nicht zufrieden. Sie erzählt der Interviewerin weiter, dass Marcus dazu neige, zu akzeptieren, was in Zeitungen steht. Ihre Botschaft formuliert sie wieder an Marcus („hinterfrage“), der sich nun in Begründungsnot für seinen Umgang mit der Presse sieht. Doch dies findet vor den Augen der Mutter keine Achtung, vielmehr wendet sie sich wieder an die Interviewerin und erzählt über Marcus. Damit verstärkt sich die Individuationsparadoxie: Marcus findet weder in seiner Rebellion gegen die Mutter, noch in der Anpassung, noch darin, dass er behauptet eben so zu sein, wie er ist Anerkennung. Zwar zeigt sich, dass er prinzipiell geachtet wird, aber zugleich ist der ehrgeizige Plan der Mutter an ihm nicht vollständig verwirklicht. Der damit geführte Kampf um Anerkennung zwischen Marcus und seiner Mutter vollzieht sich auf der Ebene der Achtung und Wertschätzung. Es geht um die Achtung in Bezug auf bestimmte Haltungen und die Wertschätzung der individuellen Fähigkeit. Dass Marcus‘ Mutter hier im Duktus des „Redens über“ ihren Sohn verbleibt, verweist auf eine latente Missachtung, die auch dann anhält, wenn Marcus versucht, sich ins Gespräch zu bringen. Dabei geht es nun nicht darum, die Familiendynamik als besonders konfliktreiche zu kennzeichnen. Vielmehr ist der hier zum Ausdruck kommende ‚Kampf um Anerkennung‘ ein Zeichen für die Individuationsermöglichung durch die Aneignung eines angepassten und konventionellen Habitus. Für die Bestimmung des familialen Raums lässt sich schließlich Folgendes festhalten: Die Familienbeziehungen sind auf Aushandlung und argumentative Verständigung ausgelegt. Mutter und Sohn bespielen ihre Unterschiedlichkeit variantenreich. Mal geht es wie in der ersten Interaktion um die Darstellung und Diskussion generationaler Differenz, dann wieder um die Lernaufträge der Mutter an ihren Sohn. Dabei ist die Haltung der Mutter vom Entwurf hochkultureller Bildungsideale geprägt: Handlungen begründen zu können, Selbstbewusstsein und Selbstzufriedenheit sowie Zivilcourage – all diese Haltungen sind dem kritisch alternativen linken Milieu zuzuordnen, für das die Mutter hier steht. Indem sie ihrem vermeintlich angepassten Sohn diese Inhalte vorhält und ihm dokumentiert, dass er all das noch nicht oder noch zu wenig sei, verkennt sie jedoch, dass der Sohn sehr wohl rebellisch ist, denn er tritt in Opposition zu den Forderungen der Mutter. Dabei repräsentiert er in seiner Artikulation von Besonnenheit, Wohlüberlegtheit und Begründetheit, dass er das, was die Mutter fordert, sich in exzellenter Weise angeeignet hat. Insofern besteht Homogenität zwischen Mutter und Sohn sofern es um die Aneignung hochkultureller Ideale geht. Über den Selbstentwurf als gemäßigter Kritiker und reflexiver Konventionalist gelingt Marcus schließlich eine Distanznahme, die nicht auf familiale Exklusion verweist, sondern vielmehr auf die Setzung von Differenz zur Mutter. Würde er ihren Erwartungen entsprechen, so müsste er identisch mit ihr sein. Dabei ist es jedoch ihre Erwartung, dass Marcus 149
gerade nicht-identisch sei. Nicht-identisch kann er jedoch nur sein, wenn er im Gegensatz zu seiner Mutter konventionell und angepasst ist. Dabei schlägt ihm die Aufforderung zur Nicht-Anpassung doppelt entgegen: auch die Geschwister von Marcus waren schon so rebellisch, wie die Mutter es wollte („da bin ich immer zehn meter hinterher gegangen“). Zwischen Mutter und Sohn steht nun nicht prinzipiell die Zugehörigkeit zur Familie auf dem Spiel. Vielmehr wird Marcus durch das paradoxe Zusammenspiel von Einheit und Differenz, Anerkennung und Missachtung sowie Nähe und Distanz ent-fremdet, benötigt aber diese Entfremdung, um als Anderer anerkannt zu werden. Erst die Fremdheit, die durch die paradoxe Verstrickung in Ansprüche auf Einheit (Identität) und Differenz (gegen Identität rebellieren) entsteht, verschafft ihm einen Individuationsraum, der etwa in der Schule maximal optionsentfaltend genutzt wird. Bevor dies jedoch zusammenführend dargestellt wird, sei die biografische Positionierung von Marcus noch dargestellt. 4.3.1.3 Marcus Johannsons biografische Positionierung Interv.: ja also wie du weißt wir interessieren uns für die lebensgeschichten (einatmen) von schülern , erinner dich mal bitte an die zeit als du klein warst und erzähl von anfang an ruhig ausführlich wie du dein leben bis heute erfahren hast ich werd dann erst mal ruhig sein und zuhörn Marcus: ⎣mhm , naja
Der Erzählstimulus verweist auf eine Positionierung des Interviewten in einer heteronom gerahmten Situation. Er soll erzählen, die Interviewerin wird zuhören: damit bestimmt sie die Positionen, die in dem Interview eingenommen werden. Zugleich zeigt sich der Stimulus als sehr geradlinig und direkt: Marcus wird in die Position des aktiven Subjekts versetzt. Subjektivität wird hier also nicht der freien Entfaltung überlassen. Sie wird in einem Spannungsfeld der sehr verallgemeinernden Kategorie „schüler“ und der individualisierten Bezugnahme auf sich selbst gestellt und schließt damit an den Diskurs der Widersprüchlichkeit von Selbstführung unter Bedingungen der Bürokratie an31 (Masschelein/Quaghebeur/Simons 2004). Dabei wird die Spannung gesteigert, indem er als Schüler angesprochen wird, als eine Person unter vielen, der jedoch autonom seine Einzigartigkeit darstellen soll. Das Schüler-Sein stellt damit die Möglichkeitsbedingung für das Zur Geltung-Bringen von Subjektivität und Individuation zum Ausdruck, begrenzt diese jedoch auch wieder, da hiermit bestimmte Erwartungen an artikulierbare Haltungen verbunden sind. Dass Marcus der Interviewerin nun, als diese ankündigt „erst mal ruhig sein“ zu wollen und zuzuhören, ins Wort fällt, kann zunächst als äußerst spontane Bereitschaftsäußerung verstanden werden, sich auf die hier konstruierte Situation einzulassen. Dies wird besonders durch das ratifizierende „mhm“ deutlich, jedoch durch das „naja“ wieder relativiert, wobei auch bei diesem Wort keine eindeutige Zurückweisung der Interviewerin erfolgt, sondern eher eine latente Skepsis enthalten ist. Marcus fährt dann auch unmittelbar fort: Marcus: mhm , naja was kann ich sagen also an meine geburt erinner ich mich nicht mehr aber ähm von=von meiner taufe habe ich dann schon etwas mehr äh mitbekommen
Die zustimmende Relativierung des „mhm , naja“ wird hier weiter ausgeführt: es erfolgt kein unmittelbarer Einstieg in die Erzählung, sondern Marcus beginnt mit einer Selbstbe31
Es handelt sich hier also um ein Spannungsfeld, das – weil der Stimulus in allen Fällen ähnlich gestellt wurde – in allen Fällen in ähnlicher Weise zum Ausdruck kommt.
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fragung „was kann ich sagen“. Er setzt dabei bei den Möglichkeiten der Selbstthematisierung und seiner Kompetenz, darauf adäquat reagieren zu können, an. Das Wort „sagen“ verweist auf eine grundsätzlichere Fragestellung als die Aufforderung zu „erzählen“. Er gerät, dies kann aus der offensichtlich notwendigen Selbstbefragung gefolgert werden, in eine minimale Krise, da er nicht spontan in die Erzählung einsteigt, sondern sich zunächst selbst befragt. Damit erweist er sich aber als grundsätzlich kompetent im Umgang mit selbstbezüglichen Fragestellungen, da er hier aus sich heraustritt und gleichzeitig den Anspruch erhebt, die Krise selbst lösen zu können. Nun steigt Marcus auch nach der Selbstbefragung nicht in die Erzählung seiner Lebensgeschichte ein, sondern setzt sich mit seinem Erinnerungsvermögen auseinander. Auch dies geschieht in Anknüpfung an die von der Interviewerin gestellte Aufforderung. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Erinnerungsvermögen und die hierin enthaltene Reflexivität wären nun konsistent, wenn Marcus behaupten würde „an meine geburt erinner ich mich nicht“ – er sagt aber „erinner ich mich nicht mehr“. Damit führt er eine Terminologie des Vergessens ein und relativiert so die Grenze seiner Erinnerung, die Grenze seines Bewusstseins. Dies verweist auf die Problematik des Sprechers, seine eigene Begrenztheit anzuerkennen. Er beansprucht für sich, der sich selbst vollständig transparente Mensch zu sein, und man kann behaupten, dass hier jemand auf die Interviewsituation trifft, der den widersprüchlichen und aufgrund der Weite der geforderten Erinnerungen („von anfang an“) kaum zu realisierenden Anspruch, den die Interviewerin hier formuliert hat, für sich steigert, indem er die Grenzen seines Bewusstseins relativiert. Damit behauptet er zugleich seine eigene Exzellenz, denn er artikuliert, prinzipiell etwas Unmögliches zu können. Die Staffelung des „nicht mehr erinnern“ und des „schon etwas mehr mitbekommen“ macht nun deutlich, dass die Krise der eigenen Begrenztheit umso größer ist, je mehr die eigene Begrenztheit bewusst ist. Die Bedrohlichkeit, die von der Begrenztheit ausgeht, wird hier in einem visionären Entwurf bearbeitet, der potenziell Erlebnisse und Erfahrungen jenseits der Bewusstseinsgrenzen verfügbar macht. Der von Marcus hier artikulierte Zugang zu seiner eigenen Biographie lässt nun auf einen hohen (und von daher immer wiederkehrenden) Anspruch auf Selbstreflexivität schließen, gemäß der lebensgeschichtliche Ereignisse vor dem Hintergrund der existenziellen Bedeutsamkeit und ihren Möglichkeiten für die Entfaltung der eigenen Subjektivität gedeutet werden. Die Geburt als bedeutsam für die eigene Existenz zu leugnen wäre nun widersinnig, sie aber erinnern zu wollen, unmöglich. Insofern wird Marcus, will er die Darstellung um die Auseinandersetzung mit seiner Existenz zentrieren und die eigene Exzellenz als aus sich selbst generiert darstellen, mit seiner Geburt als erste Besonderung beginnen müssen. Marcus: meine geburt war mehr oder weniger ja eine glückliche fügung (kassettengeklapper im hintergrund) meine eltern dachten schon dass sie kein kind mehr bekommen könnten (I: mhm) und dann wars sehr schön dass ich gekommen bin ‘und’ (gedehnt, überlegend) , naja ähm ich hab auch äh dem arzt das dem chefarzt des krankenhauses dort viel zu danken hätte er mich nicht in letzter sekunde noch mit dem kopf einmal herumgedreht und mich aus dem mutterleib geholt dann wär ich vielleicht ähm geistig nicht ganz so gesund zur welt gekommen (I: mhm) ähm naja gut das=das hab ich von erzählungen hinterher erfahren
Marcus bringt hier seine Besonderung noch einmal deutlich zum Ausdruck. Inhaltlich zeigt sich dies doppelt in der glücklichen Fügung, die die Geburt für die Eltern war, da sie nicht mehr mit der Erfüllung ihres Kinderwunsches gerechnet hätten und weil Marcus eine be151
sondere Form der medizinischen Hilfe erfahren konnte, ohne die er geistig behindert geworden wäre. Strukturell kann die Besonderung an der aktiven Selbstsetzung nachvollzogen werden, mit der sich Markus zu seinen Eltern in Beziehung setzt: er ist zu ihnen gekommen. Diese Metapher nimmt eine räumliche Fortbewegung auf, welche die Aktivität des einen und die Passivität der anderen zugrunde legt: Marcus ist derjenige, der zu seinen Eltern kommt, nicht seine Eltern bekommen ihn. In diesem imaginären Entwurf ruht die Annahme unbegrenzter Aktivität und unbegrenzten Handlungsvermögens. Die kindliche Anhängigkeit und Fürsorgebedürftigkeit wird hier ausgeblendet. Damit ruht dem Selbstideal auch eine verkennende Dimension inne, die Marcus jedoch zugleich mit einem grundlegenden Glauben an seine eigenen Fähigkeiten ausstattet. Die Eingeständnisse, dass auch die Hilfe eines Chefarztes notwendig war und dass er dies alles nur aus Erzählungen weiß, relativieren die Stärke der Selbstverkennung dabei und demonstrieren zugleich, dass er fähig ist, trotz der Unglaublichkeit seiner Geburt und seiner Fähigkeiten, seine Handlungsfähigkeit realistisch einzuschätzen. Marcus entwirft sich selbst als aktiv handelndes Subjekt und trägt damit auch Anforderungen an Subjekthaftigkeit Rechnung, welche von Selbstreflexivität, Selbstbeobachtung und Selbstführung gekennzeichnet ist. Hierin liegt jedoch ein verkennendes Moment, das die Grenzen des Eigenen tendenziell missachtet. So lässt die Betonung der „glücklichen Fügung“ auch annehmen, dass Marcus in dem Bewusstsein handelt, eine hohe affektive Bedeutsamkeit für seine Eltern zu haben, auch wenn später die Nähe zugunsten des Autonomieimagos wieder negiert wird, wenn er etwa distanziert von „mutterleib“ spricht und davon, „aus erzählungen erfahren“ zu haben, ohne zu erwähnen, dass seine Eltern hier höchstwahrscheinlich die Erzählenden waren. Zugleich verdoppelt er hier die Besonderung: nicht irgendein Arzt, sondern der Chefarzt hat ihm auf die Welt geholfen und ihn vor dem Schicksal bewahrt, „geistig nicht ganz so gesund zur welt zu kommen“. Hier geht es um Distinktion, von der angenommen werden kann, dass sie von den Erzählenden übernommen wurde, die bei der Geburt anwesend waren. Marcus ist aber nicht nur ein Wunschkind, er wächst auch behütet auf und ihm werden seine „macken“ zugestanden: Marcus: [...] ansonsten war ich ein eher ruhiges b=kind glaub ich ich=ich hatte immer meine macken, ich=ich war halt n relativ sensibler kerl , mein vater musste noch bis ich etwa äh fünf war äh immer meine hand halten damit ich einschlafen konnte (atmet ein) naja nich=nich immer manchmal bin ich auch schon vorher eingeschlafen aber, (I: mhm) da hatte ich so bestimmte (atmet ein) ja äh gewohnheiten
Es deutet sich hier eine hohe Zentriertheit um Marcus an, die begleitet wird von der Erfahrung emotionaler Stabilität und fürsorglicher Nähe. Hier ist es nicht die Mutter, die als zentrale frühkindliche Bezugsperson hervorgehoben wird, sondern der Vater, der abends das Einschlafen seines Sohnes begleitet. Marcus entwirft sich damit als „sensiblen kerl“, der bestimmte Gewohnheiten pflegt. Zwar schildert er dies im distanzierten Modus, aber es wird deutlich: sein Selbstentwurf bewertet die Eigenschaften ruhig, sensibel und Gewohnheiten habend als positiv, was Marcus denn auch an anderer Stelle unterstreicht, indem er behauptet, kein Interesse am „herumtollen“ gehabt zu haben. Es wird insgesamt – dies wird auch im Durchgang durch das Interview deutlich – das Bild einer anregungsreichen Umwelt gezeichnet, die jedoch vor allem durch die Orientierung an der Erwachsenenwelt gekennzeichnet ist. So verweist Marcus auf seine Großeltern und die bei seiner Geburt bereits erwachsenen Geschwister als erweiterten Kreis der Bezugspersonen, bringt aber wenig 152
peer-Erfahrungen in die Erzählung ein. Diese Zentriertheit ist für Marcus wiederum eine zentrale schulische Gelingensbedingung: Marcus: meine eltern haben mir immer sehr viel vorgelesen ähm und das hat mir dann hinterher in der grundschule ziemlich viel genutzt beim ausdruck ‘äh konnt ich dann ja den äh den lehrer in der ersten und zweiten klasse ziemlich beeindrucken’ (stockend)
Bereits als Grundschulkind kann Marcus seinen Lehrer beeindrucken. Er hat ein breites Wissen, besonders im Fach Geschichte, von dem er sehr gerne erzählt, was ihm nicht immer zum Vorteil gereicht: Marcus: [...] ähm ja in der grundschule war ich manchmal etwas , ja in der ersten zweiten klasse [...] hatte ich ähm teilweise wie der lehrer es auf dem zeugnis ausgedrückt hat probleme damit meinen redefluss etwas zu zügeln das heisst ich habe sehr oft bestimmte sachen ähm mit eingebracht im religionsunterricht muss das besonders schlimm gewesen sein wenn ich dann die etwas äh über die ägyptische geschichte mit einbringen wollte in äh (atmet ein) die erzählung von joseph beispielsweise (I: mhm) als er in den brunnen geworfen wurde da konnte der lehrer manchmal schon etwas ärgerlich werden , ähm hab ich dann hinterher gelernt etwas zu zügeln
Marcus wird, auf der Grundlage des Versuchs, sein Wissen in der Grundschule einzubringen, als ‚Störer’ markiert. Die Erfahrung umfassender Förderung und des abendlichen gemeinsamen Lesens mit dem Vater, wird hier zur Bremse des Unterrichtsflusses. Marcus wird nicht mehr als einzigartig wahrgenommen, sondern es wird deutlich, dass gerade nicht auf seine Interessen und Neugierde Rücksicht genommen wird. Zum Zeitpunkt des Interviews distanziert er sich von seinem damaligen Verhalten, indem er auf einen Transformationsprozess verweist, der Selbstkontrolle verheißt. Dem voraus ging, dass Marcus sich anhaltend unwohl fühlte und seit dem Kindergarten, Schwierigkeiten hatten, sich dem kindlichen Niveau anzupassen, das in den frühkindlichen und kindlichen Erziehungs- und Bildungsarrangements vorhanden war. Zu Illustrationszwecken sei hier noch einmal auf eine Erzählung der Mutter verwiesen, die die Kindergarten- und Grundschulzeit darstellt32. Mutter: und da kam er in kindergarten und musste plötzlich mit so abgestumpften buntstiften malen das hat ihn also derartig gestunken (I: mhm) dass er das also von zu hause aus konnte er eben alles normal malen und machen und da war- fühlte er sich halt überhaupt nicht wohl (I: mhm) is der nur hingegangen mir zu liebe hat sich abliefern lassen hingesetzt und dann wieder ab- äh praktisch abholen lassen, äh da mussten wir auch 'einmal' (betont) schon zum jugendpsychologen, und der hat ihn da so n bisschen überzeugt dass vielleicht kindergarten nur zuhause doch nichwir hatten auch ne kinderfrau zusätzlich (I: mhm) dass also schu- äh kindergarten wohl doch für ihn angebracht wär=da hat er sich auch geschickt, und das zweite war dann in ner grundschule da=da mussten wa dann noch mal zu jugendpsychologen weil er einfach immer rausgegangen is, is also einfach- hat die Interv.: 'im unterricht'(fragend) Mutter: klasse verlassen ohne zuMarcus: nein vor demMutter: nee is einfach reingegangen äh hat sich abliefern lassen hat dem lehrer n=nen guten ta- n guten morgen gewünscht hat seine tasche genommen is wieder wechmarschiert (I: aha) so dass man wenn man starten wollte er schon wieder mit im auto saß (I: (lacht)) und als das dann sich so über mehr - am anfang die ersten drei wochen is er schon gerne gegangen (I: aha) so is das nich aber dann und dann äh sacht die schule es wär wohl doch besser wenn man halt n jugendpsy32
Das Einfügen dieser Interaktionssequenz stellt eigentlich einen Bruch mit der Methodologie der qualitativen Mehrebenenanalyse dar, weil hier zunächst jedes Datum für sich interpretiert wird. Dies ist in der interpretativen Arbeit auch geschehen. Doch geht es an der Stelle der Darstellung des Fallporträts vorrangig darum, den Fall in seiner Differenziertheit darzustellen. Darum wurde hier ein nicht ganz methodenreiner „Kunstgriff“ gewählt, um auf eine relevante Detaillierung hinzuweisen.
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chologen hinzuzieht das ham wa dann auch gemacht, und die war dann der ansicht dass das kind einfach nur chronisch unterfordert is und das einfach langweile is (I: mhm) naja und da ham wa ihn halt mehr lesen lassen er hat eigentlich ab dem er sieben is so drei bücher mindestens die woche gehabt (I: 'oh'(verwundert)) und dann ging es eigentlich (I: mhm) und dann erstaunlicher weise=er hatte auch glück es war ne schule keinerlei ausge- äh ausländeranteil
Hier wird die Familie als anregungsreiches Umfeld beschrieben, das Kindergarten und Schule kontradiktorisch entgegensteht. Um Marcus richtig platzieren zu können, bedarf es expertenhafter Unterstützung durch einen Jugendpsychologen, der dann Marcus’ besonderung bestätigt: er fühlt sich unterfordert. Die Tatsache, dass man ihn nun drei Bücher lesen ließ und dass in der Schule „keinerlei ausländeranteil“33 war, ermöglichen schließlich die beste Förderung von Marcus. Marcus wird dabei ermöglicht, so stellt er es wieder selbst dar, kontinuierlich seine Interessen an der Altertumswissenschaft zu verfolgen. Als Marcus in der dritten Klasse ist, zieht die Familie zusammen nach Schönberg. Dieser Bruch und auch die Tatsache, dass die Schule teilweise recht autoritär ist, stellt Marcus vor eine neue Herausforderung, mit der er aber gut klarkommt. Die außerschulischen Bildungsangebote beflügeln ihn und er wird zu einem Schüler, der gerne in die Schule geht. Marcus: dann hab ich auch das hat sich dann in der vierten klasse gezeigt da kam es dann hier zu den aufnahmeprüfungen an dem martin-luther-gymnasium (I: mhm) habn meine eltern dann sich ja dann bemüht dass ich hier an dem martin-luther unterkomme (atmet ein) da , ja mh war ich relativ gut vorbereitet das äh wir haben beispielsweise schon in der dritten und vierten klasse dann gelernt wie äh die lateinischen ausdrücke für äh satz=äh arten (I: mhm) und so weiter das hat mir sehr viel gebracht da konnte ich wenigstens die aufgabenstellung teilweise schon begreifen wo manche einen nervenzusammenbruch gekriegt haben wenn sie das aufgabenblatt bei der prüfung gesehen haben (I: mhm) ähm ich war sehr überrascht muss ich sagen ähm ich=ich hatte nämlich äh den ersten platz gemacht hinterher bei der aufnahmeprüfung
Fast wie von selbst ‚passieren’ Marcus die Aufnahmeprüfungen und seine Eltern bemühen sich, ihn am Martin-Luther-Gymnasium zu platzieren. Die fürsorgliche und um den Sohn zentrierte Haltung erstreckt sich also auch auf die stellvertretenden Platzierungs- und Anordnungsleistungen. Im Bemühen der Eltern ist ein Streben nach den Teilhabemöglichkeiten des Sohnes angelegt, das über die Haltung der Eltern verrät, dass sie eher als ‚bildungsnah’ zu umschreiben sind. Nun kommen Marcus seine bildungsorientierten Freizeitaktivitäten und seine aufmerksame Teilnahme am Schulunterricht zugute: er hat mit den Tests bei der Aufnahme wenig Probleme. Im Gegenteil: er grenzt sich deutlich von denen ab, die „einen nervenzusammenbruch“ bekommen, als sie nur die Aufgabenstellung in den Händen halten und kann seine Exzellenz unter Beweis stellen. Hierüber gelingt ihm somit die Wiedererlangung der aktiven Subjektposition, die vorher nicht ohne weiteres behauptet werden konnte. Damit scheint die Übergangsempfehlung stark heteronom gerahmt – Marcus fährt mehr ein Platziertwerden, als dass er sich selbst in der Bildungslandschaft platziert. Das Wechselspiel zwischen passiver und aktiver Haltung reproduziert sich in dem Satz: „ähm ich war sehr überrascht muss ich sagen ähm ich=ich hatte nämlich äh den ersten platz gemacht“. Hier zeigt Marcus mit seiner Überraschung, dass trotz der zuvor behaupteten inneren Sicherheit, ein Ungewissheitsmoment in der Testsituation gelegen hat. Darüber, dass er 33
Der Alltagsrassismus (Melter 2006, Terkessidis 2004), den Marcus’ Mutter hier bemüht, dient der Hervorhebung der günstigen Förderbedingungen und nimmt Bezug auf die alltägliche Annahme, dass Begabung dort nicht gefördert werden könne, wo Migrantenkinder mitlernen, weil diese unbegabt seien. Hier wird deutlich, dass rassismus – möglicherweise insbesondere in kritisch-prograssiven Bürgerkreisen – als Dinstinktionsmoment an die Stelle der Herabsetzung anderer Milieus tritt.
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jedoch den ersten Platz macht, stellt er sein aktives Handlungspotenzial wieder her und behauptet sich selbst in exzellenter Art und Weise. Marcus: in der siebten war das zeugnis naja da hat ich fast nur zweien und nur zwei einsen glaub ich warns das war ‘mhmhm’ (zweifelnd, bedauernd) n kleiner schock für mich zu dem zeitpunkt nicht aber am anfang der achten als ich dann darüber nachgedacht hab (I: mhm) da hab ich mich dann wieder angestrengt und seit der achten bin ich wirklich wieder zufrieden mit meinen zeugnissen (I: mhm)
Für die subjektive Wahrnehmung Marcus’ ist der Leistungsabfall in der siebten Klasse ein „kleiner schock“. Die ansonsten problemlose Platzierung im Feld der exzellenten Schülerinnen und Schüler scheint ihm plötzlich bedroht. Nicht die Leistungen implizieren dabei die Bedrohung, sondern die Wahrnehmung der Situation als Möglichkeit, dass die exzellente Positionierung aufgegeben werden muss. Marcus behauptet dabei, seine Eltern hätten „großes verständnis gehabt für meine schlechten leistungen in naturwissenschaften zumindest“ und artikuliert damit die rückversichernde Zuwendung, die er im Elternhaus erfährt. Jedoch sprechen die bisherigen Erfahrungen in Bezug auf Bildungsorientierung und auch die immer wieder dokumentierten Bezugnahmen auf das Bildungskapital („wir=wir sind da auch eine familie in der sehr sehr viel gelesen wird ähm das ganze wohnzimmer steht voll mit büchern ich hab meine zimmer voll mit büchern“), dass dieses Verständnis nicht unbedingt davon geprägt war, dass Marcus sich selbst überlassen wurde. Vielmehr wird hier der Kohärenz der Bildungsorientierungen zwischen Eltern und Marcus Ausdruck verliehen, die sich unter anderem in folgendem Abschnitt dokumentieren: Marcus: ähm ich will meinen das ist ihnen ‘sehr wichtig’ (betont) äh und das haben sie eigentlich schon getan ja seid ja seit meiner geburt wenn ich das so sagen kann ‘mh’ (überlegend) meine eltern das habe ich ja auch mal schon gesagt haben mir immer sehr viel vorgelesen haben mich mit sehr sehr vielen (I: mhm) literarischen stoffen vertraut gemacht klassische äh grimms märchen aber auch andere sachen so schöne kinderbuchklassiker von äh michael ende zum beispiel dann auch (I: mhm) etwas scherzhafteres humorvolleres wie paul maar
Ähnlich wie bei seiner Interessensbekundung für das Fach Geschichte (s.o.) zieht Marcus hier eine Kontinuitätslinie der elterlichen Vermittlung von Geburt an. Dabei wird Nähe gewährt und zugleich bildungspraktisch gewendet: in der Praxis des Vorlesens ist es den Eltern möglich, Marcus bereits früh an Bildungskapital heranzuführen. Die Betonung, es habe sich bei der Lektüre um „kinderbuchklassiker“ gehandelt, verweist dabei auf die Reflexion dessen, was gelesen wird: es wird nicht irgendetwas gelesen (z.B. Comics oder Modeliteratur), sondern es wird sich mit gesellschaftlich als ‚bildend’ anerkannten Inhalten auseinandergesetzt. Auch hier steht also wieder die Dokumentation von Bildungsnähe im Vordergrund der Erzählung, die durch die gewählte Sprache unterstrichen wird. Die Orientierung an hochkulturellen Bildungsaspekten ist nicht nur auf Literatur bezogen, auch auf Werte: „außerdem glaube ich haben, meine eltern immer versucht und versuchen das jetzt immer noch soweit es ihnen gelingt ähm, mich zu einem liberalen menschen zu erziehen“ – Werte, die sich einem bildungsbürgerlichen Habitus zuordnen lassen.
4.3.2 Antonia Schuster im Kampf um Zugehörigkeit und Anerkennung Die Klasse scheint mit den dichten Tischreihen übervoll. Antonia sitzt diagonal zur Tür in der letzten Reihe am Fenster. Vor sich hat sie ihre Arbeitsmaterialien aufgestapelt: Bücher, einen Hefter, einen Ter-
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minplaner und ihr Mäppchen aus Jeansstoff, in dem sich ihre Stifte befinden. Beim Klingeln steckt sie schnell ihre Trinkflasche in den Rucksack. Der Deutschlehrer betritt die Klasse und wünscht einen „Guten Morgen“. Die Klasse grüßt verhalten zurück. Der Lehrer fordert zum Aufschlagen der Bücher auf. Antonias Arbeitsmaterialien fallen allesamt zu Boden. Nun muss sie umständlich aufstehen und sich unter den Tisch bücken, um wieder an ihre Dinge zu gelangen. Einige in der Nähe sitzende Schülerinnen und Schüler lachen leise. Antonia stößt das Mädchen vor sich an und macht eine Geste zum Boden hin. Die Mitschülerin hebt das Jeansmäppchen auf und reicht es Antonia lächelnd. Der Lehrer fordert zum Durchgehen der Hausaufgaben auf.
Dieses ethnographische Protokoll aus dem Unterricht zeigt eine typische Handlung Antonias zu Beginn des Unterrichts. Man kann diese Handlung, die in der Beobachtungs- und Videographiephase nicht von einem Lehrer kommentiert wurde, als integrierte Störung bezeichnen – eine Form der Störung, die im Folgenden näher zu betrachten ist und in der Antonia zwar nicht als Person anerkannt wird, aber in dem Ignorieren eine Anerkennung als Schülerin erfährt. Doch vor diesem Beginn soll gefragt werden, wer Antonia Schuster ist. Die stellvertretende Klassensprecherin trägt ihre Haare rot und kinnlang, ihr Kleidungsstil ist alternativ. Sie ist das einzige Kind ihrer Mutter und lebt mit dieser und ihrem Stiefvater lebt sie zusammen in einer Dreizimmerwohnung im Norden von Schönberg. Der Stiefvater ist Lehrer und hat noch zwei Kinder aus einer früheren Beziehung, die oft am Wochenende zu Besuch kommen und zu denen Antonia ein gutes Verhältnis hat. Bevor die Mutter mit dem Stiefvater zusammenkam war sie längere Zeit Single und lebte in einer Plattenbausiedlung mit ihrer Tochter, nachdem sie sich zuerst von Antonias alkoholabhängigem und inzwischen verstorbenen Vater, dann von ihrem gewalttätigen zweiten Lebenspartner getrennt hat. Antonias Mutter – selbst Krankenschwester – war während der Kleinkindzeit Antonias oft krank, was mit zum Teil langen Krankenhausaufenthalten verbunden war. In dieser Zeit hat Antonia bei ihrer Großmutter gelebt. Erst nachdem die Mutter mit Antonias jetzigem Stiefvater zusammengekommen ist, hat sich eine Stabilisierung der Situation eingestellt. Dennoch hat Antonia auch weiterhin einen guten Kontakt zu ihrer Großmutter, mit der sie auch in Urlaub fährt. 4.3.2.1 Die integrierte Störung als Ausdruck prekarisierter Zugehörigkeit Bis auf die kleinen Störmanöver an den Stundenanfängen ist Antonia eine eher zurückhaltende Schülerin. Darum war es nicht leicht, Unterrichtsinteraktionen zu finden, in denen sie in eine dyadische Beziehung zur Lehrerin tritt. Dabei gibt die Störung am Anfang erste Hinweise auf den Versuch, einer Platzierungsleistung. Indem Antonia stört, stellt sie ihre Zugehörigkeit unter Beweis. Die Akzeptanz der Lehrer zeigt, dass diese Zugehörigkeit nicht hinterfragt wird. Doch bedeutet dieses Störmanöver nicht auch, dass das Selbstverständnis der Zugehörigkeit nicht ohne Zweifel gegeben ist? Es scheint ja fast so, als wolle Antonia die Legitimität ihrer Platzierung immer wieder unter Beweis stellen. Um der Frage nach dieser Legitimität nachzugehen, betrachten wir ein Gespräch zwischen der Religionslehrerin und Antonia, das interaktionslogisch ähnlich aufgebaut ist, wie die Störmanöver zu Stundenbeginn. Die Klasse hat Bibeln ausgeteilt bekommen und soll nun Stillarbeit an einer Textstelle machen. Antonia: frau riedel Lehrerin: ‘hmmm’ (leicht gedehnt) Antonia: wir haben mal ne frage Lehrerin: ‘ja’ (kurz)
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Antonia: wir hatten doch zu weihnachten Doreen: ⎣nee du hast Antonia: ‘ich’ (betont) habe mal ne frage (schnalzt kurz vorwurfsvoll) ‘wir haben zu weihnachten doch immer diese komische karte gehabt’ (fragend) , ((mhm))
Antonia ruft die Lehrerin mit Namen an, ohne direkt ihr Anliegen zu formulieren. Dazu wartet sie zunächst die Bestätigung der Lehrerin ab. Diese fällt eher zurückhaltend und beiläufig aus. Unter einer vergewissernden Bezugnahme auf einen „wir“-Zusammenhang kündigt Antonia an, eine Frage zu haben. Dabei ist interessant, dass sie die Frage nicht unmittelbar gestellt hat, nachdem sie die Aufmerksamkeit der Religionslehrerin auf sich gezogen hat. Offensichtlich bedarf das Platzieren einer Frage an dieser Stelle einer besonderen Rahmung und Ankündigung. Dies irritiert, handelt es sich hier doch um einen schulischen Zusammenhang, der darauf ausgerichtet ist, dass Fragen – signalisieren sie doch Interesse und Neugier – konstitutiver Bestandteil von Lehr-Lern-Situationen sind. Die Situation erinnert sehr an die Rekonstruktion von Wenzl (2009), der herausarbeitet, dass diese Art Rückfragen typisch für Situationen sind, in denen im Unterricht Fragen platziert werden. Hiermit wird ein legitimatorischer Hintergrund geschaffen, die eigene Neugierde oder das eigene Interesse zu rahmen. Das Organisationsgefüge Unterricht scheint also kaum Raum für spontane Fragen und Kommunikation zu bieten. Das nur kurze „ja“ der Lehrerin signalisiert dabei, dass der Störung des geplanten Ablaufs zwar statt gegeben bin, dass die Reaktion darauf aber nicht enthusiastisch ausfällt. Antonia fährt fort, indem sie eine weitere Rahmenkonstruktion bemüht: „wir hatten doch zu weihnachten“. Hiermit wird deutlich, dass die Frage nicht für sich gestellt werden kann, sondern dass auf einen Kontext Bezug genommen wird, der hier – wie die Weiderholung des „wir“ – verbürgend eingebracht wird. Doreen wirft in diese Rahmung ein: „nee du hast“. Damit wird der verbürgende „wir“Zusammenhang zurückgewiesen. Die Platzierung innerhalb der Gemeinschaft wird aufgehoben. Antonia korrigiert sich kurz und ärgerlich und wiederholt ihr Anliegen eine Frage zu haben. Dann leitet sie unmittelbar zu ihrer Rahmenkonstruktion über: Es geht um eine Karte, die sie „zu weihnachten immer“ gehabt hätten. Damit nimmt sie eine sehr unspezifische Rahmung ihrer Frage vor. Die doppelte Rahmung der Frage kann nun als Verzögerungstaktik verstanden werden, welche die eigentliche Platzierung der Frage hinausschiebt. Es kann hier thesenhaft behauptet werden, dass die Frage und ihre Rahmung aufgrund ihrer Umständlichkeit eine Art Selbstzweck erfüllen: Antonia gelingt hierüber eine Selbstthematisierung. Weniger das fachliche oder inhaltliche Interesse stehen dabei im Vordergrund, als vielmehr die Möglichkeit durch die Frage selbst hervorzutreten. Lehrerin: ⎣‘welche komische karte’ (fragend) Antonia: das=das war so ne karte mit diesen zwölf stationen , bevor der , gekreuzicht , wurde Lehrerin: also weihnachten hat ma das nich Antonia: ‘doch das war weihnachten’ (bestimmt) das da bin ich mir (klopft energisch auf den tisch) Lehrerin: das war ostern Schüler: ne nee äh das war ostern ((unverst., 2 sek.)) das war ostern letztes jahr ((unverst., 2 sek.)) Schüler: ‘ostern’ (bestätigend) Antonia: ‘nein’ (betont) (lachen)
Die Frage wird im weiteren Verlauf auch nicht gestellt, sondern es entspinnt sich eine Diskussion, wann die „komische karte“ Gegenstand des Unterrichts war. Antonia muss sich zunächst dafür legitimieren, dass sie die Karte als „komisch“ bezeichnet. Dabei greift die 157
Lehrerin jedoch nicht zu rigiden Strafmaßnahmen oder weist Antonia aufgrund ihrer Wortwahl zurück – indem sie etwa sagt: „wir verwenden keine komischen karten“. Doch die Lehrerin greift zunächst die Formulierung Antonias auf und verweist dann auf eine sachliche Bezugsebene: „also weihnachten hat ma das nich.“ Doch Antonia bleibt beharrlich und tritt hartnäckig für ihre Erinnerung ein. Sie wird von der Lehrerin und zwei Schülern zurückgewiesen: die Karten seien Ostern Unterrichtsgegenstand gewesen. Damit haben sich Lehrerin und Schüler zugleich auf Antonias „Verzögerungsfalle“ eingelassen. Auch wenn die Frage nicht platziert wird, hat Antonia den Fortgang des Unterrichts gebremst. Antonia bekommt also Aufmerksamkeit, indem sie ein Störmanöver initiiert, das vordergründig am Unterricht orientiert ist. Hier liegt mithin eine interessante Parallele zur Praxis des Fallenlassens von unterrichtsbezogenen Dingen, die eingangs beschrieben wurde. Unter dem vordergründigen Interesse am Unterrichtsgeschehen und der Aufstellung als interessierte Teilnehmerin wird das Vorankommen ausgebremst. An seine Stelle treten Reorientierungsmaßnahmen in Bezug auf die Sache, die entweder von Antonia oder – wie in diesem Fall – von der Lehrerin und den Mitschülern ausgehen. Doch Antonia widersetzt sich dem Sachbezug, dass das Kreuzigungsthema zu Ostern ‚drangewesen’ sei mit einem emotional aufgeladenen „nein“. Dies impliziert zugleich einen Widerstand gegen das hier eingeführte Sachlichkeitsprinzip. Das Lachen der gesamten Klasse zeigt hier, dass die Situation nicht ernst genommen wird, sondern sie allen Beteiligten als Auflockerung entgegentritt. Antonias Störung findet in einem vertrauten Rahmen statt, der eine gewisse Duldung erfährt, auch wenn man weiterhin versucht, das Sachlichkeitsprinzip wieder einzuführen. Lehrerin: siste deshalb ((unverst., 2 sek.)) ‘ja und grade das jetz war die frage’ (fra-gend) nee das war keine frage Antonia: ich bin grad davon ausgegangen das wir das zu weihnachten gemacht hätten Lehrerin: nee wirklich nich SchülerIn: ((unverst., 2 sek.)) Lehrerin: ⎣‘wo wo is jetz die frage’ (fragend) Antonia: wir hatten das mal zu weihnachten Schülerin: das war hier ((unverst., 2 sek.)) Lehrerin: ⎣nee=nee , wir ham uns grade überlegt also weil wir so ne philoso-phie wir ham es war zwei mal ausfall , deshalb , fehlten uns also zwei stunden deshalb bin ich vor ostern nich dazu gekomm ja , ‘aber wo is jetz die frage’ (fragend) Antonia: nee weil ich hier nur grade das mit dem gang zum ölberg steht Lehrerin: ach so Antonia: deswegen hab ich jetz ein Lehrerin: ⎣hm=hm
Das „siste deshalb“ führt dabei noch einmal die Unbegründetheit von Antonias Einwurf entgegen. Indem die Lehrerin jedoch weiter nach der Frage fragt („wo is jetzt die frage“) und die Interaktion nicht nach dem „siste deshalb“ beendet, bindet sie Antonia weiter in das Arbeitsbündnis ein. Die Lehrerin signalisiert damit, dass sie dem Interesse Antonias grundsätzlich nicht misstraut, verlangt aber zugleich eine Legitimation für die Störung. Dies vermittelt Antonia einerseits Anerkennung als Teil des Unterrichtsgeschehens, andererseits verweist es sie darauf, dass ihre Beteiligung am Unterricht sachorientiert zu sein hat. Ohne also Antonia direkt zu tadeln, indem sie etwa anmahnt: „Du hast gar keine Frage“, oder „Du hast die Frage nicht gestellt“, wird Antonia wieder in das Unterrichtsgeschehen eingebunden. Auch als sich nach dem dritten Nachfragen der Lehrerin herausstellt, dass tatsächlich keine Frage existiert, signalisiert diese zustimmend und die Störung ist beendet. 158
Es zeigt sich hier ein Arbeitsbündnis, in dem Antonia sich selbst exponiert und den Wunsch nach Besonderung artikuliert. Dabei agiert sie nicht sachbezogen, sonder bindet ihren Wunsch in eine emotionalisierte Bezugnahme auf das Unterrichtsgeschehen ein. Die Lehrerin akzeptiert diesen Besonderungswunsch, führt jedoch Antonia sukzessive auf den sachlichen Bezug zurück. Indem sie dies nicht offensiv und rigide macht, schenkt sie Antonia minimale Aufmerksamkeit, erweist sich als integrativ und an harmonischen Beziehungen orientiert, auch wenn bei ihr der Sachbezug im Vordergrund steht. Das Unterrichtsgeschehen diffundiert nicht insgesamt, sondern wird in ein sachbezogenes Arbeitsbündnis zurückgeführt. Was zeigt uns dies nun in Bezug auf den Fall Antonia? Die Praxis der „integrierten Störung“ manifestiert sich nicht nur an vielen Stellen des Unterrichtsbeginns, sondern stellenweise auch in den dyadischen Arbeitsbündnissen. Dabei tritt die Diffundierung als „Spiel“ hervor, das allgemein akzeptiert wird und für das Antonia Rückvergewisserung bei ihren Klassenkameraden erhält. Dass dieses Spiel gespielt wird, verweist darauf, dass die Möglichkeit von Nicht-Zugehörigkeit zumindest als Option vorhanden ist. Diese Option manifestiert sich nicht in mangelnder Leistungsfähigkeit, sondern vielmehr in der mangelnden Disziplin, mit der sich Antonia in Kontrast zur schulischen Vorstellung von Anpassung und Ordnung setzt. Dabei attackiert sie die schulisch imaginierte Zugehörigkeitsordnung nicht offen, sondern subversiv. Zugleich zeigt sich in der fortwährenden Thematisierung ihrer solchermaßen prekarisierten Zugehörigkeit, dass Inklusion für sie keine Selbstverständlichkeit ist. Über die „integrierte Störung“ behauptet sie vielmehr die Besonderheit, an dieser Schule sein zu können. Auf den Punkt gebracht, kann gesagt werden: Im Spiel der „integrierten Störung“ wird die Möglichkeit von Nicht-Zugehörigkeit kreativ bearbeitet. Antonia exponiert sich als Störerin, die jedoch solche Störungen produziert, die allgemein akzeptiert und in den Unterricht integriert werden. Sie verweist damit darauf, dass ihre Inkludiertheit nicht selbstverständlich ist, sondern, dass diese besondert ist. 4.3.2.2
Instrumentalisierung als Gradmesser von Anerkennung und Zugehörigkeit
Antonia wohnt mit ihrer Mutter und deren Lebensgefährten in einer Dreizimmerwohnung im Norden von Schönberg. Der Stadtteil zeichnet sich durch Heterogenität mit der Tendenz zum alternativen und intellektuellen Milieu aus. Das Haus, in dem Familie Schuster wohnt, ist ein großes Mehrfamilienhaus im Altbaustil an einer belebten Straße. Hinten hinaus liegt der Stadtpark, der von einem Fluss durchzogen ist. Die Wohnung ist mittelgroß, mit Parkett ausgelegt, im Wohn-Esszimmer befindet sich eine Küchenzeile. Antonias Zimmer liegt am Ende des Ganges und hat eine eigene Abstellkammer und einen eigenen Balkon. Am Abend der Aufzeichnung der Familieninteraktion sind Antonia, ihre Mutter und ihr Stiefvater um den Tisch versammelt. (im Hintergrund läuft leise Popmusik im Radio, während der gesamten Szene Gabel- und Messergeräusche auf Tellern) Mutter: für die ‘woche’ (betont) krichste noch kein taschengeld ‘nee’ (fragend) Antonia: nein (.) Mutter: dann geb mer dir , n bisschen geld ‘mit’ (betont) Antonia: hmja Mutter: und n kleines bisschen ‘mehr’ (betont) Antonia: (lacht) , ((was issn das)) ((unverst., 1 sek.))
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Mutter: ⎣da kannste , dann kannste , dann kannste , die omi noch einladen zum eis , aber das kleine bisschen Antonia: ⎣macht se sowieso nich Mutter: kann mer ja ma irgendwo zaubern ‘oder’ (fragend) , da kann Stiefvater: da haste ehmd zwei in der hand Mutter: ⎣mer eigentlich mal richtung toilette ‘gehen’ (betont) und dann hat mer plötzlich , zwei eisbecher oder so was Antonia: hmmm Mutter: oma isst gerne (.) ((‘schoko’ (kurz))) Antonia: ⎣vanille Mutter: ‘vanille’ (fragend) vanille nur ((unverst., 1 sek.)) Antonia: ⎣nein , nein nein nur schoko , vanille Mutter: ⎣siehste nur ‘schoko’ (kurz) Antonia: ‘hasst’ (betont) sie ‘ich hasse vanille’ (mit verstellter stimme) (.) Mutter: wollte mich schon wundern das sich das jetz jeändert hat Antonia: ne=ne , Mutter: wobei das eigentlich wieder gegen die vorschrift diabetiker verstößt aber , Antonia: hm is doch ejal jeht doch ooch ohne Siefvater: ⎣is doch ((piep)) egal , Mutter: ‘nein’ (gedehnt)
Mit der Gabe von Taschengeld spricht die Mutter eine kulturelle Konvention an, innerhalb derer unmündige Personen Geld zur Verfügung gestellt bekommen, mit dem sie umgehen lernen sollen. Zugleich kann die Gabe oder Verweigerung mit einer pädagogischen Intention verbunden sein (Belohnung oder Bestrafung), was offensichtlich in Antonias Beispiel der Fall ist: die Mutter vergewissert sich bei ihr, ob sie für „die woche“ noch kein Taschengeld bekomme, Antonia bestätigt dies. Hier ist ein Hinweis darauf gegeben, dass sich in der Beziehung zwischen Mutter und Tochter die Asymmetrie umkehren kann: die Tochter hat den Überblick über die Taschengeldgabe, die eigentlich von der Mutter kontrolliert und verwaltet werden müsste, und wird von ihr angefragt, ob sie mit ihrer Einschätzung, Antonia bekäme diese Woche kein Taschengeld richtig liege. Angesprochen ist ferner eine bestimmte Woche („die ‚woche’“), so dass angenommen werden kann, dass Antonia in einer bestimmten Woche Taschengeld bekommt, von der nicht klar ist, ob das die Woche ist, von der die Mutter hier spricht. Als Kontextvariante wurde hierbei die Möglichkeit eruiert, ob Antonia eventuell von einer anderen Person als ihrer Mutter das Taschengeld erhalte (Großeltern, Vater, Jugendamt). Dies würde bedeuten, dass Bereiche der Beziehung, aus der diffundierenden Mutter-Tochter-Beziehung ausgelagert sind und es andere gäbe, die ebenfalls an der Verantwortung um Antonia teilhaben. Antonia erhält damit den Auftrag, die Mutter über das zu informieren, das aus der Beziehung ausgelagert ist – eine Konstellation, die um so krisenhafter scheint, je mehr z.B. Mutter und Taschengeld gebende Partei sich in einer konflikthaften Beziehung befinden. Die Folgerung der Mutter „dann geb mer dir n bisschen geld mit“ lässt die Lesart, dass es sich um eine andere Partei der Taschengeldgabe handelt, wahrscheinlicher werden, auch wenn es irritierend anmutet, dass das „wir“ (also „mer“) in diesem Fall nicht betont wird. Zugleich bedeutet das Mitgeben von Geld, dass Antonia möglicherweise in besagter Woche verreisen wird. Dass die Mutter ankündigt, ihr in diesem Fall Geld mitzugeben, gerade wenn sie dann kein Taschengeld erhält, verweist auf eine Haltung, in der das Verreisen ohne Taschengeld, nicht als Option erscheint. Handelt es sich zum Beispiel um eine Klassenreise, so könnte dahinter das Bestreben stehen, Antonia die Teilhabe an gemeinsamen Freizeitaktivitäten zu ermöglichen. Und auch bei anderen Reiseformen wird deutlich, dass 160
über das Geld Teilhabe gesichert werden soll, denn die Mitgabe von Geld zu einem Ausflug ohne die Eltern ermöglicht allgemein, dass der Handlungsspielraum erweitert wird. Antonia steht dem mehr akzeptierend als begeistert gegenüber („hmja“). Sie lässt sich weder zu spontaner Dankbarkeit hinreißen, noch artikuliert sie, dass die Gabe nicht nötig sei. In dieser Akzeptanz scheint so etwas wie Misstrauen, in jedem Fall aber abwartendes Verhalten zu liegen. In der Aussage der Mutter: „und n kleines bisschen mehr“ kündigt sich nun auch an, dass etwas mit dem Geld bezweckt werden soll. Dies irritiert Antonia („was issn das“) und verlangt nach einer Legitimation, denn über eine bestimmte Summe wurde hier noch nicht gesprochen. Die Legitimation könnte nun dahingehend formuliert werden, dass auf die Teilhabechancen angespielt wird („dann kannst du dir auch mal was schönes kaufen“) oder dass bestimmte Bedingungen formuliert werden („dann bringst du mir … mit“). Der Auftrag lautet jedoch: „die omi zum eis einladen“. Es wird deutlich: Antonia wird mit ihrer Großmutter verreisen und soll dazu Geld bekommen. Dieses Geld ermöglicht ihr einen gewissen Handlungsspielraum, der unter der Kontrolle der Mutter ausgestaltet werden kann. Der Handlungsspielraum selbst ist wiederum geknüpft an die Bedingung, die Großmutter zum Eis einzuladen. Bis hierhin liest sich die Passage, wie eine Einsozialisation in den symbolischen Akt des Dankens: für die Reise mit der Großmutter wird diese zu einem Eis eingeladen. Damit wird die Reziprozität der Beziehung nicht faktisch, aber symbolisch hergestellt. Irritierend wirkt der lange Auftakt, den die Mutter benötigt, um diesen symbolischen Akt zu artikulieren. Im Folgenden offenbart sich dann auch der Grund für diesen langen Auftakt: es handelt sich um eine von der Mutter geforderte Aktion, die die Gesundheit der Großmutter, die Diabetes hat, verletzen würde. Antonia erkennt intuitiv die Verletzungsintention und wehrt den symbolischen Akt ab, ohne dabei jedoch die Verletzungsintention zu enttarnen. Indem sie darauf verweist, dass die Großmutter ohnehin kein Eis isst, zeigt sich ihr Bestreben, der einseitigen Loyalitätsbekundung zu entsprechen. Es entbrennt eine Diskussion um die Einschätzung der Großmutter – ob diese Eis isst oder nicht, bzw. welche Sorte sie bevorzugt – in der Antonia den Expertenstatus erringt. Die Positionierung in dem Spannungsfeld zwischen Mutter und Großmutter liegt somit auf der Seite der Großmutter, der die Mutter eine latente Feindlichkeit entgegenbringt. Diese versucht sie zwar reflexiv zu umgehen („wobei das eigentlich wieder gegen die vorschriften für diabetiker verstößt, aber“), bringt jedoch gerade mit dem „aber“ zum Ausdruck, dass sie gewillt wäre diese Vorschriften zu umgehen. Der Stiefvater erscheint in der gesamten Interaktion als Unterstützer der Mutter, indem er Vorschläge zur konkreten Umsetzung des Planes macht, der Großmutter Eis zu kredenzen. Erst gegen Ende, als Antonia einwendet, es sei doch egal und ginge auch ohne, schließt er sich Antonia an: die Woche bei oder mit der Großmutter ginge auch, ohne den vordergründig symbolischen Akt der Reziprozität, der eine objektive Verletzung der Gesundheit der Großmutter impliziert. Dem setzt die Mutter ein vehementes „nein“ entgegen. Die Interaktion, die sich auf den ersten Blick wie eine Einsozialisierung in die Konvention des symbolischen Dankens und der Reziprozität von Beziehungen liest, offenbart latent eine Feindlichkeit der Mutter gegenüber ihrer Mutter – Antonias Oma. Antonia soll diese Feindlichkeit stellvertretend ausagieren, verweigert sich aber der instrumentellen Verwendung. Damit gibt sie einer Loyalitätsbekundung Ausdruck, welche das Wohl der Großmutter dem Wohlbefinden der Mutter vorzieht. Zugleich bleibt Antonia funktional eingebunden in den Loyalitätskonflikt, denn mit dem „nein“ wird offensichtlich, dass die 161
Mutter sie nicht aus der Position der stellvertretenden Verletzung entlässt und es bei der Funktionalisierung bleibt. 4.3.2.3 Erfahrung von Verwendung und Bewährung in der Schule als biografische Themen im Fall Antonia Schuster Interv.: tja jetzt ist wirklich warm , okay du weißt ja wir interessieren uns für die lebensgeschichte von schülerinnen und schülern , hm erinnere dich bitte mal an die zeit als du ganz klein warst , und erzähle da von anfang an ruhig ausführlich , wie du bis heute dein leben erfahren hast ich werde dann erst mal ruhig sein und dir zuhören Antonia: hm vom kindergarten Interv.: kannst auch wirklich von ganz am Anfang an Antonia: also kindergarten ist glaubig das erste woran ich mich erinnern kann also ich weiß bloß von meiner mama die hat immer aus erzählungen die war früher ziemlich krank, und hatte dadurch probleme einen kindergartenplatz zu kriegen
Im Erzählstimulus wird – wie im Fall von Marcus Johannson auch – Asymmetrie gesetzt, die unter anderem in der Verortung im Wir-Kontext ruht, welche der Interviewten machtvoll gegenüber tritt. Mit einer zurückgenommenen direktiven Aufforderung („erinnere dich bitte mal“) wird der Fokus der Erzählaufforderung gesetzt: Antonia soll sich an die Zeit erinnern, in der sie ganz klein war und ihre biografischen Erfahrungen „bis heute“ erzählen. Hier tritt die Autonomie-Heteronomie-Antinomie hervor: Antonia soll selbständig strukturiert erzählen, wird dabei aber heteronom verortet, indem nicht gesagt wird, von wo an sie erzählen soll. Die Antinomie wird gesteigert, indem der Selbstsetzung Antonias („hm vom kindergarten“) eine latente Verneinung entgegengesetzt wird. Der gegenüber gelingt jedoch Antonia eine autonome Setzung, indem sie nicht „ganz am Anfang“ anfängt, sondern beim Kindergarten. Die Selbstpositionierung als autonom handlungsfähig und sich dabei vor entgrenzenden Bezugnahmen der Interviewerin verwehrend wird jedoch gleich nach der Behauptung, beim Kindergarten anfangen zu wollen, weil das das erste sei, wo sie sich selbständig dran erinnert, inkonsistent. Nicht mehr die eigenen Erinnerungen, sondern Erzählungen „von“ der Mutter bilden den Anfang der Erzählung und die Rahmenkonstruktion der eigenen Erinnerung. In diesem „von“ deutet sich nun ein Interpretationsspielraum an: ist die Mutter die erzählende Person oder hat Antonia von einer dritten Person über ihre Mutter erzählt bekommen, dass es schwierig war unter Krankheitsbedingungen einen Kindergartenplatz zu bekommen? Die zugleich demonstrierte Nähe zur Mutter, indem diese mit der kindlichen Koseform „Mama“ bezeichnet wird, erweckt den Eindruck einer nahen emotionalen Bindung, die jedoch durch die latente Botschaft unterlaufen wird, dass es möglicherweise eine dritte Person gegeben hat, die durch die Erkrankung der Mutter an deren Stelle getreten ist und durch die mangelnde Fürsorgefähigkeit, die hier vermutet werden muss, da die Mutter offensichtlich zu krank war, um einen Kindergartenplatz zu bekommen bzw. sich um einen Kindergartenplatz zu kümmern. Insofern bildet die Fürsorgebedürftigkeit der Mutter eine biografische Auftaktfigur, die riskant annehmen lässt, dass die Fürsorgeleistung in Bezug auf Antonia nur eingeschränkt möglich war. Zwar entwirft Antonia hier eine emotionale Nähe, indem sie ihre Mutter verniedlichend „mama“ nennt – diese dient jedoch möglicherweise eher der symbolischen Kompensation davon, dass die idealisierte Nähe als Grundlage eines imaginären Familienentwurfs, nicht gegeben war. Dabei untermauert die Tabuisierung der Person, die Antonia von der kranken Mutter erzählt hat, die kompensatorische Haltung, die Antonia einnimmt. Es entsteht somit der Eindruck eines 162
Loyalitätskonfliktes gegenüber der Mutter, die den Anteil der Beziehung ausblendet, in dem die Mutter ihre Fürsorgepflicht an Antonia nicht erfüllt hat bzw. nicht erfüllen konnte. Über Umwege gelangt Antonia schließlich zu einer – im Schützeschen Sinne – Hintergrundkonstruktion, die die Einmündung in den Kindergarten darstellt: Antonia: [...] , und hm ich war halt immer bei meiner oma weil meine mutter im krankenhaus lag ne ziemlich lange zeit , und ähm und meine oma hat auf mich aufgepasst und der einzige kindergarten der uns, einen platz gegeben hat war ein evangelischer kindergarten obwohl meine mutter nicht gläubig ist sogar aus der kirche ausgetreten ist als irgendwann jemand mehr kirchensteuern ham wollte oder so , und ähm da war ich halt in diesen kindergarten
Die erste Kontinuitätserfahrung geht dabei von der „oma“ aus. Von der Großmutter wird dabei in ähnlich verniedlichender Weise gesprochen wie von der Mutter, so dass hier eine emotional nahe Beziehung angenommen werden muss, die sich aus der mangelnden Fürsorgefähigkeit und Abwesenheit der Mutter begründen lässt. Dabei wird jedoch diese Nähe durch funktionale Schilderungen unterwandert: Antonia „war bei […] ihrer oma“ und die „oma hat auf mich aufgepasst“, sind Formulierungen, die eine deutliche Nähe, ein Umsorgen und Kümmern um Antonia eher in den Hintergrund treten lassen. Vielmehr schildert Antonia die Situation im Modus des Mitlaufens/Dabeiseins und der Aufsicht über das Kind. Die Wir-Gemeinschaft, die Antonia hier bildet, indem sie den Weg in den Kindergarten schildert, ist jedoch die von Großmutter und Enkelin, die der mütterlichen Haltung entgegengesetzt wird. In dieser Beschreibung des Weges in den christlichen Kindergarten – als einziger Institution, die Antonia einen Platz gewährt – liegt eine Reproduktion des oben behaupteten Loyalitätskonfliktes: die Großmutter entscheidet, dass der christliche Kindergarten gewählt wird, obwohl die Mutter sich von der Kirche distanziert hat. Hinter der Legitimierung, dass dies der einzige Kindergarten gewesen sei, der Antonia aufgenommen habe, weil die Mutter sich nicht selbst um einen Kindergartenplatz kümmern konnte, verbergen sich wiederum Ungenauigkeiten, die ebenso als Loyalitätsbeweis gegenüber der Großmutter gelten können: die Verschleierung der Entscheidung die Enkelin in einen konfessionellen Kindergarten zu geben und durch den Sachzwang der Krankheit zu begründen, ist in sich nicht tragfähig. Denn das würde ja bedeuten, dass kein nicht-konfessioneller Kindergarten Kinder von kranken Müttern aufnimmt. Hier tritt ein logischer Bruch hervor, der annehmen lässt, dass die Entscheidung für einen konfessionellen Kindergarten gegen die Mutter erbracht wurde und die Konfessionslosigkeit der Mutter ein Problem zwischen Großmutter und Mutter darstellt. Unter dieser Bedingung kann die riskante Strukturhypothese ausdifferenziert werden: Antonia wächst in einem Loyalitätskonflikt eines Drei-Generationen-Gefüges auf, in dem sie die Vermittlungsfunktion zwischen den beiden Generationsälteren übernimmt. Dabei erfährt sie sich früh funktional eingespannt zwischen den Generationen und ihren Konflikten. Nicht nur die Beziehung zwischen ihr und der Großmutter ist von Funktionalität bestimmt, sie wird auch funktional verwendet im symbolischen Kampf um die Werthaltungen und habituellen Orientierungen von Mutter und Großmutter. Dabei steht Antonia vor der Aufgabe, die hier angelegte Konkurrenz zwischen den beiden Generationsälteren auszubalancieren, was über die Bezeichnung der Großmutter als Aufpasserin gelingt. Zugleich übernehmen die Institutionen eine bedeutsame Position im Kampf um die Enkelin/Tochter ein und stellen ein symbolisches Kapital dar, mit dem die habituellen Orientierungen unterstützt werden. Dabei stellt Antonia dar, dass sie nach der Rückkehr zu ihrer Mutter immer 163
einen weiten Weg zum Kindergarten zurücklegen musste und berichtet von rigiden Erziehungsformen, indem sie zum Beispiel gezwungen wurde Kakao zu trinken oder die Erzieherin als Strafmaßnahme die Köpfe „aneinandergeknallt“ hat. Mit dem Besuch der Grundschule ist schließlich ein Autonomieschub für Antonia verbunden, da sie im Stadtteil in die Schule geht, in dem ihre Wohnung liegt, während die Mutter weiterhin in der Nähe des Kindergartens als Krankenschwester in einer Universitätsklinik arbeitet. Deshalb muss Antonia früh lernen selbständig zu sein: „und äh bin dann schon ziemlich zeitig also alleine meinen schulweg gegangen weil äh meine mutter mit ihren arbeitszeiten nicht vereinbaren konnte mich hinzubringen und abzuholen“. Selbständigkeit wird hier eher aufgrund äußeren Zwangs erlangt und bedeutet für Antonia vor allem sich „nicht von fremden männern ansprechen zu lassen und [zu gucken] wenn man über die Straße geht“. Mit diesem Entwurf wird wieder deutlich, dass es weniger um bestimmte Werthaltungen geht als darum, den Anforderungen des Alltags gerecht zu werden und sich dabei zugleich an die mütterliche Lebensführung anzupassen. Antonia entwirft sich insgesamt nicht als behütetes und umsorgtes Kind, sondern als bereits früh von äußeren Anforderungen zur Reaktivität gezwungen und funktional in einen Konflikt um die Nähe zu ihr eingebunden, der sich latent als Konflikt um die besseren Werte festschreibt. Für die Grundschule findet Antonia dann eher emotional nahe Begriffe: Antonia: […] und äh unsere lehrerin die war auch immer lieb zu mir und hat sich immer ganz toll um mich gekümmert und so, äh und irgendwann gings halt darum dass wir überlegen mussten wie wir was wir machen wenn wir mit der vierten klasse fertig sind und äh, na für meine mama war eigentlich schon ziemlich klar ich mach die fünfte sechste klasse und gehe dann in die siebte klasse ans gymnasium und äh, da war ein mädchen in meiner klasse die hat sich im martinluther-gymnasium beworben und ich hab nicht wirklich mit den gedanken gespielt das zu machen also das stand für mich gar nicht zur frage, weil mein schicksal irgendwie schon besiegelt war ich geh halt ans gymnasium an der siebten klasse, und irgendwie meine lehrerin hatte wohl ne empfehlung also nur mündlich mal zu meiner mutter gesagt dass wir das ja mal probieren könnten oder so na ja und ich hab dann halt diese aufnahmeprüfung gemacht und ich wurde auch äh von meiner ganzen familie immer beruhigt na ja wenn nich klappt das ich nich schlimm (betont gesprochen) und wir ham dich trotzdem lieb (lachend gesprochen) und äh ja ich hab auch wirklich nich mit ner zusage gerechnet, weil ja warum das warn wenige leute die angenommen wurden und ich ja das is halt, es bewerben sich viele gute leute und wenns nich klappt dann klappst halt nich na und irgendwann war dann dieser brief im briefumschlag und es halt tätsachlich geklappt und meine familie war ganz ausem häuschen und hat sich ganz toll gefreut und dann bin ich tatsächlich mit diesem mädchen was sich auch beworben hatte wieder in der selben klasse, das war schon mal kein schlechter zufall
Hier taucht nun erstmals eine Person auf, die eine fürsorgliche Haltung gegenüber Antonia einnimmt und sich „ganz toll“ um sie kümmert. Vor dem Hintergrund der zuvor erfahrenen Loyalitätskonflikte und der rigiden Erziehungsmittel im Kindergarten nimmt sich diese Beziehung als Kontrasterfahrung aus. Deutlich wird nun auch, dass der Mutter zwar der Weg Antonias in ein Gymnasium klar gewesen ist, dass es aber das renommierte MartinLuther-Gymnasium ist, scheint keineswegs selbstverständlich. Hier orientiert sich Antonia eher an einer Klassenkameradin. Dabei scheint ihr selbst dieser Schritt nach wie vor ungewöhnlich, weil ihr „schicksal irgendwie schon besiegelt war“. Neben dem Mädchen, das sich auch bewirbt, spricht die Lehrerin sich deutlich für die Teilnahme Antonias am Aufnahmeverfahren aus. Es kann hier angenommen werden, dass es sich um eine Beziehung handelt, in der die Lehrerin zu einer signifikanten Anderen wird, die die Bildungslaufbahn ja auch entscheidend beeinflusst. Dabei spielt die Familie für Antonias emotionale Hand164
lungssicherheit eine wichtige Rolle, denn sie spricht ihr die Unterstützung und Zuneigung aus, selbst wenn sie in der Aufnahmeprüfung versagt. Antonia besteht jedoch die Aufnahmeprüfung und ist selbst anhaltend überrascht („und es hat tatsächlich geklappt“). Dabei wird die Familie weiterhin als emotional Anteil nehmend entworfen. Der Fremdbestimmung durch die Mutter tritt die Fremdbestimmung durch die Lehrerin zur Seite. Wieder stehen unterschiedliche Haltungen zum Kindeswohl auf dem Plan. Jedoch ist hier der Unterschied, dass die Mutter mit ihrer Bildungsstrategie die Orientierung an einer exklusiven Schule wie dem Martin-Luther-Gymnasium nicht in Betracht gezogen hatte. Sie verfolgt also keinen an Exzellenz und höchster Bildung orientierten Entwurf, auch wenn ihre Bildungsorientierung auf Chancenmaximierung ausgerichtet ist. Diese Haltung, welche die Familie teilt, wird für Antonia in der Situation der Auslese zu einer wichtigen Entlastungsfigur. Gleichwohl ist die Freude der gesamten Familie groß als Antonia das positive Ergebnis in den Händen hält. Das aus dem Häuschen Sein markiert zugleich die große Besonderung, die die Schule in den Augen der Familie einnimmt. Mit Antonia zusammen bewirbt sich nur ein anderes Mädchen aus dem Einzugsgebiet auf das Martin-Luther-Gymnasium. Dies unterstreicht zusätzlich die Besonderung des Besuchs dieser speziellen Schule, denn in dem Einzugsgebiet der Grundschule scheint das Martin-Luther-Gymnasium nicht die populärste Entscheidung, sondern vielmehr die, die Orientierungsstufe noch im Grundschulverbund zu verbringen und danach an den gymnasialen Zweig einer benachbarten kooperativen Gesamtschule zu wechseln. Die Möglichkeit, nun eine exklusive Schule zu besuchen versetzt die Familie gleichermaßen in Ängstlichkeit und Freunde. Die Ängstlichkeit manifestiert sich besonders in den Rückzugsoptionen, die Antonia offen gehalten werden, die Freude darin, dass die Familie „aus dem Häuschen“ ist, als sie es tatsächlich schafft. Hier wird zugleich Fremdheit gegenüber an Elite und Exzellenz orientierten Bildungsinstitutionen deutlich, die sich aus den bisherigen Milieubezügen ableiten lässt. So lassen sich hier familiale Milieubezüge feststellen, die zwar an Erfolg orientiert sind, die sich aber weniger durch Distinktion von unteren Milieus abgrenzen, als vielmehr durch das Streben nach gesellschaftlichem Erfolg. Das Aufstiegsstreben wird dabei mit Rückzugsmöglichkeiten versehen, in denen auch bei Versagen und Verfehlen die Familie Anerkennung zusichert. Dass diese sich jedoch material vor allem in der funktionalen Beziehungsförmigkeit niederschlägt, wurde am Beispiel der Krankheit von Antonias Mutter dargelegt. Im Selbstentwurf mag daher, so geht aus Antonias Erzählungen hervor, die emotionale Stützung angelegt sein, diese bricht jedoch auf der materialen Ebene und lässt die familialen Unterstützungsoptionen zweifach prekär werden: zum Einen durch die funktionale Beziehungsorientierung, zum Anderen durch die (krankheitsbedingte) mangelnde Fürsorgefähigkeit. Diese besteht nach der Krankheit weiter, da die Mutter Antonias sich zunächst von Antonias alkoholkrankem Vater trennt, dann in einer Gewaltbeziehung mit ihrem nächsten Lebenspartner lebt („also, es war wirklich schrecklich mit anzusehen, wie wie die eigene mutter verprügelt wird und mans nich sehen kann, es war wirklich.. schlimm“). Erst später schafft es die Mutter „irgendwie sich von diesem mann zu trennen“. Hier – als Antonia bereits im Grundschulalter ist – liegt ein zweiter Beziehungsbeginn für Mutter und Tochter: „in den jahrn, bin ich mit meiner mutter wirklich äh, hab ich mich mit ihr richtig gut angefreundet, also ich hab gemerkt das wenn ich probleme mit ihr habe dann kann ich zu ihr gehen“. Der Beziehungsauftakt wird hier erst nachträglich eingeholt und birgt auch 165
nicht die Selbstverständlichkeit einer natürlich familial gegebenen Beziehung, wie sie unter Normalitätsbedingungen angenommen werden kann (vgl. Oevermann 2008). Die Zugehörigkeit zur Familie vollzieht sich für Antonia damit nicht selbstverständlich und kindzentriert, sondern ist eingebettet in symbolische Kämpfe um Habitusorientierungen, in Loyalitätskonflikte und mangelnde Fürsorgefähigkeiten, die erst nachträglich versucht werden zu kompensieren. Dabei wird die Mutter weniger als Mutter dargestellt, denn als Freundin – eine passförmige Konstruktion der erst nachträglich sich intensivierenden Beziehung. Der Übergang zu dem exzellenz- und disziplinorientierten exklusiven Gymnasium gestaltet sich nun für Antonia nun problematisch. Antonia: [...] und ja damals hatten die lehrerin die war auch ziemlich heftig weil wir also wir warn, solche verwöhnten grundschulkinder wir kamen aus der fünften klasse in die fünfte klasse rein und da war ne lehrerin die fing an uns zu beschimpfen und und meinte , wir also eine szene war ich hatte ne flasche vor mir stehen auf dem tisch und sie meinte kannste mal die flasche vorstellen ich seh die flasche hinter der flasche nicht mehr , und das hat mich so fertig gemacht in der fünften klasse
Hier schildert nun Antonia, wie sie die Härte der Disziplinorientierung erlebte. Der Übergang von einer eher behütenden und fürsorgeorientierten Grundschule ist für sie mit Herabsetzung verbunden. Die vorher nahen Lehrer-Schüler-Beziehungen, werden hier ins Gegenteil verkehrt. Jedoch bedeutet dies nicht zwingend Distanzierung, die sich als rollenförmige und funktionale Bezugnahme ausgestaltet, sondern Entgrenzung und Diskreditierung. Wer sich nicht anpasst, wird ent-fremdet – eine Auftaktfigur, die Antonias kritische Haltung gegenüber der Schule grundlegend prägt. Die Schülerin erfährt bereits zu Beginn ihrer Schulzeit am Martin-Luther-Gymnasium die Härte des distinktiven Habitus, auch wenn sie sich zunächst etwas anderes erhofft hat. Antonia: [...] und wir haben auch irgendwann in reli hatten wir mal das thema was für an unserer schule verändern würden und äh klara und ich wir haben aufgeschrieben lehrer als pädagogen , mh und im prinzip weil lehrer sind an unserer schule wirklich nur lehrer die sagen einem ja eins plus eins is eins ja das haste richtig gerechnet aber sie sagen nich wie man sich zu verhalten hat oder wenn man was falsch macht sie sagens einem nich sich sie ähm oder=oder wenn man irgendwas richtig macht dann bekommt man auch nicht irgendwie mal nen zuspruch oder so sie sie weisen einem im prinzip in keine richtung
Die positive Bezugnahme Antonias auf die Schule erweist sich als brüchig. „lehrer als pädagogen“ bringt ihre Kritik an der Schule auf den Punkt: sie wünscht sich eine stärkere Beziehungsorientierung und weniger rollenförmige Distanz und Funktionalität. Das, was Schule zu Beginn ihrer Schulbiografie erfüllt hat – die Kompensation der Fürsorge- und Beziehungsdefizite, die sie familial erfahren hat – fällt im Martin-Luther-Gymnasium aus. Dabei ist Antonia im schulischen Alltag auch anpassungsorientiert. Wenn es etwa um Deeskalation von Konflikten zwischen Lehrern und Schülern geht – z.B. als sich einige Mädchen vom Klassenlehrer Herrn Ebeling unangemessen und sexualisierend beobachtet fühlen – nimmt sie eine abwägende Haltung ein. Ob dies nicht letztlich auch Teil ihrer „unterordnenden“ Haltung ist, kann an dieser Stelle nicht abschließend beantwortet werden.
166
4.3.3 Kontrastierung der Fälle am Martin-Luther-Gymnasium Die Fälle sollen nun hinsichtlich ihrer sozialräumlichen Bezüge und den familial und schulisch jeweils wirksam werdenden Zugehörigkeitsordnungen kontrastiert werden. Die Institution Schule bezieht sich positiv auf das Herkunftsmilieu von Marcus Johannson und rudimentär auf das Herkunftsmilieu Antonias, das sich dem strebenden kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu zuordnen lässt. Mit Vester und anderen (2001) lässt sich sagen, dass im Fall von Marcus die in der familialen Interaktion herausgearbeiteten Milieubezüge, die auch im biografischen Interview bestätigt wurden, von unterprivilegierten, kleinbürgerlichen und praktisch orientierten Milieus abgrenzen, jenen Milieubindungen, die also in Antonias Fall – trotz strebendem Habitus – bestehen. Während Vester und andere nun west- und ostdeutsche Milieus trennen, lässt sich in Marcus‘ Fall eine besondere Transformation annehmen: Die Mutter und der Vater, die die meiste Zeit ihres Lebens im Westen verbracht haben, sind vor dem Hintergrund der biografischen Erzählung und der Familieninteraktion (die allerdings ohne den Vater stattfand) als bildungskapital- und ökonomisch relativ kapitalstark einzuschätzen. Mit den ihnen bezüglich repräsentierten Haltungen sind sie im liberal-intellektuellen Milieu zu verorten: es findet eine Abgrenzung gegenüber Mittelmaß und eine Wertschätzung beruflicher Aktivität und materiellen Erfolges statt (ebd., S. 507), wobei besonders Marcus‘ Mutter gegenüber allem Konventionellen Vorbehalte hat. Sie ist stark an Selbstverwirklichung orientiert, was dabei an ein hohes Arbeits- und Leistungsethos – auch in Bezug auf die Erziehung ihres Sohnes – gekoppelt ist. Marcus’ Vater hingegen scheint die konservative und konventionelle Seite der Milieubezüge zu verbürgen. Zwar liegen von ihm keine Interviewtexte vor, jedoch kann aus den Aussagen von Marcus und seiner Mutter geschlossen werden, dass sich der Vater gerade auf jene bildungs- und wertkonservativen Haltungen beruft, von denen sich die Mutter distinktiv abgrenzt. Damit scheint es hinsichtlich der Milieubezüge eine Allianz zwischen Vater und Sohn zu geben, von der die Mutter ausgeschlossen ist. Dennoch gibt es in der Familie auch Übereinstimmungen, was die Orientierung an hochkulturellen Interessen anbelangt: das gemeinsame Lesen steht hier symbolisch für die familiale Vergemeinschaftung und hochkulturelle Orientierung, die sich über beide Elternteile vollzieht. Somit entsteht für Marcus neben der emotionalen Zuwendung, die er gesichert durch beide Eltern erfährt, auch ein doppelter Möglichkeitsraum an Bildungsorientierungen. Dabei folgt er jedoch nicht nur „blind“ seinem Vater, sondern reflektiert den konservativen Habitus durch die kritische Perspektive der Mutter hindurch. Zwischen den familial und individuell repräsentierten Haltungen von Marcus und Antonia besteht nun ein maximaler Kontrast: während Marcus‘ Bezugsmilieu und das seiner Eltern optimal zur schulischen Haltung passen (und Marcus diese Passung auch in seinem Verhalten zusätzlich optimiert), zeichnet sich im Fall von Antonia eine prekarisierte Passung ab. Als „Strebende“ aus dem kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieu gehört sie zu denjenigen, deren Herkunftsmilieu schulisch gerade noch so akzeptiert wird. Es besteht zwar eine hohe Affinität der Familie zu Bildungserfolg, dieser gründet sich jedoch nicht – wie bei Marcus – auf Distinktion, sondern auf das Streben nach einer Verbesserung des gesellschaftlichen Status. Dabei zeichnet sich bei der Großmutter noch eine Tendenz zur alternativen Lebensführung in einer christlichen Subkultur ab, die von der Mutter jedoch abgelehnt und durch Kirchenaustritt abgewehrt wird. Der symbolische Kampf um Antonia 167
wird damit zur Ausdrucksgestalt des Kampfes um gesellschaftliche Teilhabechancen, in Bezug auf die die Großmutter eine Haltung verkörpert, die auf Verwirklichung in einer gesellschaftlichen Nische setzt, die gerade noch so akzeptiert wird, während die Mutter mit ihrem Kirchenaustritt zu DDR-Zeiten eine Haltung symbolisiert, die auf Anpassung setzt – allerdings eine Anpassung, die von persönlichen Widerstandsbestrebungen gekennzeichnet ist. Der maximale Kontrast liegt in den beiden Fällen also darin, dass der distinktive Habitus eines Schülers wie Marcus, eine Reproduktion der familialen Milieuorientierung impliziert, während der strebende Habitus einer Schülerin wie Antonia, die Transformationshoffnungen der Familie auf einen höheren Status und gesellschaftliche Teilhabe realisiert und zugleich die Nischenexistenz, die die Großmutter gesellschaftlich führte durch Antonia in der Schule fortgesetzt wird. In der schulischen Interaktion nimmt Marcus eine abwägende Haltung ein und optimiert die bereits durch die familiale Distinktionsorientierung zugrunde gelegte Passung, indem er sich an die schulisch geforderten Disziplin- und Leistungsideale anpasst. Damit demonstriert Marcus nicht nur eine implizite Orientierung an Joschka Fischer und seinem Wandel vom Rebellen zum Realpolitiker, sondern er stellt auch einen Modus der besonderen Zugehörigkeit zur Schule her. Dies geschieht nicht nur aus dem biografischen Wunsch nach Besonderung und der familial erfahrenen Förderung von Bildung, sondern gerade als Ausdrucksgestalt der Bearbeitung der familialen Individuationsfalle. Marcus‘ Mutter – obwohl der Schule prinzipiell positiv gegenüber stehend – kritisiert an seiner Schule eine zu starke Disziplin und Regelorientierung, was genau ihrer Abgrenzung von konservativen Milieubezügen entspricht. Genau darauf aber bezieht sich Marcus positiv. Hier stoßen wir also nicht – wie Wagner-Winterhager (1990) vermutete – darauf, dass Eltern die Forderungen nach Disziplin, Regeln und Autorität an die Schule und die Lehrer delegieren, die jetzt die Generationsdifferenz, die Differenz von „Klein“ und „Groß“ (Winterhager-Schmid 2000) auszutragen und auszuhalten haben, „weil es zu ihrer professionellen Rolle gehört, Generationsdifferenz zu verkörpern“ (S. 462). Vielmehr opponiert hier die Mutter gegen ein Zuviel an schulischen Regeln, Disziplinforderungen und schulischer Autorität und fordert ihren Sohn auf, mehr „anzuecken“, widerständiger und rebellisch-couragierter zu sein. Demgegenüber verbündet sich Marcus im positiven Bezug auf diese Disziplin und Schulautorität mit der Schule gegen die Mutter. Denn diese Schule setzt, wie bereits in der Schulleiterrede deutlich wurde, auf ihre Tradition, auf Regelbefolgung, Disziplin und auf Dienst am Anderen. Als Verbündeter der Lehrer und konformer, aber die überbordenden und entgrenzenden Anforderungen von Lehrern taktvoll begrenzender Schüler, kann Marcus sich besondern und abgrenzen und seine Individuation gegen überbordende kritisch-reflexive mütterliche Individuationsansprüche durch reflexive Konformität und Konventionalität ausgestalten. Die hier rekonstruierte optimierte Passförmigkeit zum schulischen Habitus ist damit nicht nur Ausdrucksgestalt von an Exzellenz und Elitebildung orientierten Milieubezügen, die reproduktiv von der Familie übernommen werden, sondern einer individuierten Transformation, die auch eine Bearbeitung der familialen Individuationsparadoxie darstellt. Auch Antonias schulische Interaktion liest sich – bezieht man hier die familiale Strukturproblematik der funktionalen Einbindung ein – wie der Versuch einer Kompensation der fehlenden Erfahrung von Fürsorge und der Loyalitätskonflikte aus der Familie. Denn in Antonias Versuch, sich zu exponieren und als ganze Person anerkannt zu werden, liegt der Wunsch nach emotionaler Anerkennung begründet. Dieser wird jedoch schulisch zurück168
gewiesen, indem die Sachorientierung immer wieder in den Vordergrund gerückt wird. Der Wunsch nach „lehrern als pädagogen“ wird ihr somit nicht erfüllt, sondern im Vordergrund steht die rollenförmige Anerkennungsstruktur. Dabei scheint die Religionslehrerin sich gegenüber den Wünschen Antonias noch relativ weit zu öffnen, denn sie weist sie ja nicht in dem Maße zurück, wie das Beispielsweise die Lehrerin tut, die in der 5. Klasse anmahnte, Antonia solle ihre Flasche wegstellen, sonst könne sie „die flasche dahinter nicht sehen“. Doch bleibt eine Lücke klaffen zwischen der „lieben“ Grundschullehrerin und der akzeptierenden, aber korrigierenden Religionslehrerin. Gleichzeitig zeigt die Tatsache, dass Antonia die ‚integrierte Störung‘ verbal nur in der Religionsstunde praktiziert, dass sie versucht, sich an den schulischen Habitus anzupassen. Sie verbleibt somit im Habitus der Strebenden und hat sich darin schulisch eine Nische gesucht, innerhalb derer auch ihr Wunsch nach emotionalisierten Beziehungen situativ zum Ausdruck kommen kann. Damit ist sie noch nicht – wie Marcus – auf einer Ebene angekommen, auf der die Zugehörigkeit zu einer exzellenten Bildungsinstitution selbstverständlich scheint. Vielmehr bringt die ‚integrierte Störung‘ immer wieder die Möglichkeit der Nicht-Zugehörigkeit ins Spiel. Dass Antonia diese Möglichkeit jedoch bespielt, zeigt dass sie aktiv damit umgeht. Der aus der familialen Konstellation entstehenden Verortungsproblematik durch die Loyalitätskonflikte und eine tendenzielle Umkehr der Generationsbeziehungen, in denen die kindlichen und jugendlichen Bedürfnisse nicht im Vordergrund elterlichen Handelns stehen, sondern die Bedürfnisse der Eltern (vgl. Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009), kann somit keine selbstverständliche Zugehörigkeit und optimierende Passung zur bzw. an die Schule entgegengesetzt werden, wie das bei Marcus der Fall war. Vielmehr reproduziert sich durch die schulische Prekarisierung immer wieder die Individuationsblockierung, Schule setzt bei Antonia nicht die Individuationspotenziale frei, sondern begrenzt sie und beschränkt sie auf eine Nischenexistenz. Dies bedeutet zugleich, dass es Antonia über Schule kaum möglich ist, sich aus den familialen Strukturen zu lösen und markiert einen Gegensatz zu ihren Erfahrungen in der Grundschule. Hieraus resultiert eine anhaltende kritische Einstellung gegenüber den Lehrerinnen und Lehrern des Martin-Luther-Gymnasiums, die sie insgesamt als „so unpersönlich“ empfindet. Die Zugehörigkeitsordnung im Fall Marcus vollzieht sich somit als Distanzierung von überbordenden familialen Ansprüchen, die gerade in einer starken auf emotionale Anerkennung gerichteten Beziehung ruhen. Doch tragen diese Beziehungen auch – und dies markiert eine Besonderheit des Falles – minimale Tendenzen emotionaler Missachtung und Vereinnahmung in sich, insofern die mütterlichen Ansprüche Marcus gerade nicht als Anderen anerkennen, sondern ihn vereinnahmen. Die Herstellung von Nähe zu den schulischen Idealen bedeutet daher nicht nur die Setzung individuierender Differenz, sondern auch ein Entkommen aus der familialen Anerkennungsfalle, die imaginär auf Selbstverwirklichung setzt, dabei aber die Differenz von Selbst und Anderem verkennt. Die Selbstpositionierung von Marcus beinhaltet folglich einen imaginären Entwurf, der sich von überbordenden Näheansprüchen der Familie absetzt und seinen Weg in der abwägenden Haltung eines Realisten verortet. Diese Selbstpositionierung kann vor dem Hintergrund der schulischen Ideale ausgebaut werden. Sie wird jedoch dort brüchig, wo Marcus‘ Angewiesenheit auf Fürsorge und emotionale Zuwendung deutlich wird, wobei diese Widersprüchlichkeit dort symbolisch bearbeitet wird, wo Marcus schulisch in seiner Exzellenz bestätigt wird. Antonia erfährt familial ebenfalls eine überbordende Vereinnahmung, ihr gelingt 169
jedoch die Lösung der Individuationsblockierung nicht durch schulisch-kompensatorische Bezugnahmen. In ihrem Fall bleibt sie in die familiale Zugehörigkeitsordnung stagnierend eingespannt, da sie sich in einem Loyalitätskonflikt befindet, der auf der Grundlage fußt, dass die Mutter und die Großmutter an ihr ihren Konflikt um die richtigen habituellen Orientierungen austragen. In Bezug auf die schulische Zugehörigkeitsordnung ist Antonia mit ihrem Wunsch nach persönlichen Beziehungen eher im Abseits, bzw. hat eine Nischenexistenz inne, in der sie zwar akzeptiert wird, die jedoch immer auch die Möglichkeit der NichtPassung in sich trägt. Ihre Selbstpositionierung kreiert einen familialen und schulischen Raum naher und persönlicher Beziehungen im Imaginären, denen jedoch auf der realen Ebene nur rudimentär entsprochen wird. Die symbolische Bearbeitung gelingt Antonia in der Schule durch die ‚integrierte Störung‘, die immer wieder ihre Person thematisch werden lässt. In der Familie bleibt die Bearbeitung vorläufig und führt zu einer Reproduktion der Individuationsblockierung.
4.4 Das Zusammenspiel von Familie, Schule und Biografie an der Anna-SeghersSchule 4.4.1 Anna Wegemanns Transition des schulischen und familialen Schonraums Anna Wegemann ist die beste Schülerin der zehnten Klasse. Sie folgt dem Unterricht stets aufmerksam, gehört aber weniger zu den lebhaften Schülerinnen und Schülern. Dennoch fiel in der Feldphase auf, dass in vielen Situationen, in denen Entscheidungen über die Klasse getroffen werden mussten, von Schüler- und Lehrerseite auf den kompetenten Sachverstand von Anna gesetzt wurde. Als älteste Tochter ihrer Eltern übernimmt sie zu Hause bereits ein hohes Maß an Verantwortung. Sie hat eine vier Jahre jüngere Schwester und einen 12 Jahre jüngeren Bruder, den sie öfter betreut. Der Vater ist Arzt, die Mutter Sozialpädagogin. Beide haben noch studiert, als Anna zur Welt kam. In den Zeiten ihrer ausgedehnten Trekking-Touren, die sie ein Mal im Jahr unternehmen, ist Anna für die Versorgung der Familie zuständig. Die Familie achtet sehr auf die umfassende Förderung ihrer Kinder. Bereits früh werden sie in Musikunterricht und ins Kinderturnen geschickt. Anna spielt Gitarre und reitet. Eine Hauptaufgabe der Mutter besteht darin, das anspruchsvolle Programm, das sie, ihr Mann und ihre Kinder verfolgen, zu koordinieren. 4.4.1.1
Zwischen Entgrenzung und Exzellenz
Die Unterrichtsinteraktion ist in der Chemiestunde situiert. Frau Küster, die Lehrerin, wiederholt im Frontalunterricht das Thema ‚Redoxreaktionen‘ mit den Schülerinnen und Schülern. In diesem Zusammenhang hat Anna sich als einzige gemeldet, nachdem die Lehrerin eine Frage gestellt hat. Lehrerin: anna , manschma tut es mir furschba leid für dich dass wir hier alles noch und noch und noch machen Anna: na ja (leichtes lachen) Lehrerin: dass du nich schon lange aufgegeben hast , also ((da meinen herzlichen dank für)) Anna: ‘äähm’ (gedehnt) , und zwar , also das is schwefelsäure und schweflige säure und das is dann ((unverst., 2 sek.))
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Lehrerin: nein du kannst das ruhisch jetz erstma so stehn lassn , ‘das’ (betont, gedehnt) passiert nur mit nem katalysator , ja also das passiert nu unter normalen umständen mit ((unverst., 2 sek.))
Mit dem anfänglichen Kommentar, geht die Lehrerin nun nicht auf den Grund von Annas Meldung ein, sondern kommentiert ihre Beteiligung am Unterricht. Dabei bringt sie ihr Bedauern zum Ausdruck und bekundet Mitleid gegenüber Anna. Die Nutzung der Wendung „es tut mir leid für dich“ wird vor allem in für das Gegenüber ausweglosen Situationen verwendet und signalisiert Anteilnahme, die jedoch auch ironisierend verwendet werden kann – hier bezogen wird auf eine Gelegenheit („manschma“). Über die Konstruktion, es handele sich hier um eine Eltern-Kind-Interaktion oder eine behördliche Interaktion, konnte hier herausgearbeitet werden, dass die Ausweglosigkeit unvermeidlich ist, die Wendung jedoch signalisiert: persönlich habe ich Verständnis, aber die (Sach-) Zwänge erfordern es. Damit wird deutlich, dass auf der persönlichen Ebene eine Vergemeinschaftung stattfindet, die zunächst jedoch nicht von Anna bestätigt ist, die sich ja als Schülerin im Unterricht gemeldet hat. Zugleich thematisiert die Lehrerin in dem Satz „dass wir hier alles noch und noch und noch machen“ ein gemeinsames Leiden an der verewigten Routine, gegenüber der sie Anna absetzt. Dem grenzenlosen (Mit-) Leid der Lehrerin steht damit die Gelegentlichkeit des Mitleids gegenüber. Wie ist dies zu begründen? Das Herausheben Annas in Bezug auf den Rest der Klasse bedeutet eine Besonderung, die auf eine exzellente Leistungsfähigkeit gerichtet ist. Diese Leistungsfähigkeit wird von der Lehrerin hier idealisiert, Anna wird als ideale Schülerin herausgehoben. Dabei wird sie zugleich dazu verwendet, den Rest der Klasse auf die Unzulänglichkeiten aufmerksam zu machen, die jedoch nicht offen thematisiert werden (können). Damit muss hier ein beruflicher Habitus vorliegen, der solcherlei Thematisierungslinien tabuisiert: die Anmahnung von Schwäche oder eines niedrigen Leistungsniveaus würde das eigene berufliche Handeln hinterfragen, das jedoch in einer verewigten Routine gefangen ist. In Bezug auf das berufliche Handeln idealisiert die Lehrerin damit einen integrativen Ansatz, der jedoch durch ihre eigenen Ansprüche an Exzellenz unterlaufen wird. Die symbolische Bearbeitung dieser Paradoxie, die auf die ewige Routine verpflichtet ist, dabei aber Schülerinnen wie Anna idealisiert, geschieht durch die stellvertretende Heraushebung Annas, als Exempel, das die Möglichkeit der Bearbeitung der verewigten Routine aufzeigt. Dies impliziert jedoch eine instrumentelle Verwendung Annas und zugleich eine Entgrenzung gegenüber ihrer Person als derjenigen, die den Frust der Lehrerin abfängt und eine Entgrenzung gegenüber der gesamten Klasse, deren geringes Leistungsniveau durch diesen Kontrast angemahnt wird. Diese Entgrenzung vollzieht sich raumanalytisch durch die Herstellung von Nähe zwischen der Lehrerin selbst und Anna und der Distanzierung Annas und der eigenen Person von der Klasse. Hierin liegt zugleich eine doppelte Missachtungsfigur, da einerseits Anna nicht als Teil der Klasse entworfen wird, sondern gerade dazu in Differenz gesetzt wird. Individuelle Anerkennung erfolgt dabei auf der Grundlage instrumenteller Verwendung. Andererseits wird die Klasse in ihrer Leistungsfähigkeit nicht wertgeschätzt, sondern als Ganzes gegenüber Anna herabgesetzt. Annas Anschluss mit „naja (leichtes lachen)“ artikuliert nun eine Distanzbewegung von der Lehrerin. So ist das „naja“ als tendenziell relativierende Bestätigung zu sehen, die zugleich durch Lachen unterstrichen wird – wer lacht, leidet jedoch nicht. Dennoch vollführt Anna hier eine Balancebewegung zwischen der Abwehr der Unterstellung von (gemeinsamem) Leid und der Entsprechung der Exponierung. 171
Die Lehrerin soll also nicht vor den Kopf gestoßen werden, indem Anna ihren affektiven Ausbruch ins Leere laufen lässt, aber Anna sucht gleichzeitig die An- und Einbindung in die Gruppe. Hier schließt sich nun die Lehrerin an mit: „dass du nicht schon lange aufgegeben hast ((da meinen herzlichen dank für))“. Die Lehrerin knüpft also an die von ihr eröffnete emotionalisierte Bezugnahme an und unterstellt, dass Personen wie Anna eigentlich so leiden müssten, dass sie aufgeben, unmotiviert sind und im Einerlei der alltäglichen Routine untergehen – eben werden wie alle anderen in der Klasse. Mit dem Dank zeigt sich dabei eine Wiederholung der Vergemeinschaftung und eine Dokumentation des Gemeinschaftsentwurfes, der zuvor bereits konstatiert wurde. Die Anwesenheit von Anna, einer Schülerin, die sich nach Ermessen der Lehrerin von allen anderen Schülerinnen und Schülern abhebt, dient der Lehrerin als Bearbeitung einer umfassenden Sinnkrise, die durch die widersprüchlichen Anforderungen ihrer selbst in Bezug auf die Integrativität einerseits, die Orientierung an Exzellenz andererseits, entsteht. Dies bedeutet jedoch eine Verschärfung der Entgrenzung und eine Beanspruchung Annas als Sinnstifterin des beruflichen Anspruchs. Der Dank thematisiert damit die eigene Krisenhaftigkeit, aber auch die kritische Situation, in der Anna sich als unterforderte Schülerin befindet. Die Thematisierung der Krise über Anna ermöglicht der Lehrerin, die reale Krise ihres beruflichen Handelns zu entthematisieren. Im Dank reproduziert und stabilisiert sich die Krise also gleichzeitig. Für Anna entsteht erneut eine Anforderung zwischen der durch die Lehrerin abgespaltenen Klasse und der Lehrerin selbst zu balancieren. Sie steckt in einem Loyalitätskonflikt, dessen erste Bearbeitung hier unerhört verhallt ist. Indem sie nun den emotionalen Diskurs verlässt und einen fachlichen einführt, nimmt sie selbst nun die Interaktionsstrukturierung vor: „ähm und zwar, also das is schwefelsäure und schweflige säure und das is dann ((2 unverst.))“. Anna stellt die schulische Ordnung wieder her, indem sie eine sachliche Frage stellt. Es gelingt ihr, die eigene Exzellenz unter Beweis zu stellen, indem sie eine komplizierte Frage stellt, und gleichzeitig die Interaktionsaufforderung der Lehrerin bedient. Dieser Kniff ermöglicht ihr darüber hinaus, dass Anna sich rückvergewissernd auf ihren Status als Schülerin bezieht. Sie zeigt sich zwar interessiert und exzellent, benötigt aber den Statusunterschied zwischen sich und der Lehrerin als Wissensvermittlerin. Damit distanziert sich Anna einmal mehr vom diffundierenden Vergemeinschaftungsanspruch und wird wieder zur Schülerin, die jedoch exzellente Leistungen bringt und besonders interessiert ist. Der Klasse signalisiert Anna, dass auch sie nur eine Schülerin ist, die Fragen hat. Hier wird ein dyadisches Arbeitsbündnis entwickelt, das das Interesse Annas als Verführungsspur für die Lehrerin legt: sie kann der ewigen Routine entkommen, indem sie sich am Interesse und der Neugierde einer einzelnen Schülerin orientiert. Die Lehrerin lässt sich auf das exklusive Arbeitsbündnis ein, muss dazu jedoch die restliche Klasse vernachlässigen, der sie ebenfalls verpflichtet ist. Das so gelagerte Dilemma weitet sich aus, wenn man beachtet, dass in dem Fall, in dem die Lehrerin der Klasse ihre ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil werden lässt, Anna in ihrem Bildungsinteresse das Nachsehen hat. In Bezug auf die Zugehörigkeitsordnung kann hier zusammenfassend gesagt werden, dass Annas Zugehörigkeit zur Klasse durch die Lehrerin als prekär konstituiert wird. Eher wird Anna zu einer Art ‚Hilfslehrerin‘ gemacht, die auf einer Ebene mit der Lehrerin steht, als dass sie als integrierter Teil der Klassengemeinschaft anerkannt wird. Diese Symmetriebekundung der Lehrerin bei gleichzeitiger Abwertung der gesamten Klasse, impliziert für 172
Anna einen Loyalitätskonflikt. Wir haben es hier also mit einem Fall zu tun, in dem Anerkennung in der Tendenz auch Missachtung bedeutet. Jedoch handelt es sich nicht um einen Fall, der gerade in der Zuweisung der Position als Andere, eine Abspaltung vom Eigenen bedeutet (vgl. Mecheril 2009), sondern in der gerade die Vergemeinschaftung und die Setzung von Einheit die Verortung im Peer-Zusammenhang missachtet. Für Anna entsteht eine Krise, durch die sie sich selbst gegenüber der Lehrerin und gegenüber der Klasse verorten muss – sie muss eine neue Positionsbestimmung vornehmen, um ihre Zugehörigkeit sicherzustellen. Dies gelingt ihr, indem sie sich in die Position der Fragenden begibt, ihrerseits Differenz setzt und die Entgrenzung überwindet, indem sie die sachlich-distanzierte Beziehung wiederherstellt. Jedoch wird diese Vergemeinschaftung dort brüchig, wo die Lehrerin die Verführungsspur der Anerkennung der individuellen Besonderung und Exzellenz legt. Anna tritt in eine exklusive Lehrer-Schüler-Dyade ein, begrenzt sie jedoch sachorientiert. Damit minimiert sie die vorangegangene Prekarisierung und behauptet dennoch ihre Besonderung. 4.4.1.2
Verordnete Gleichheit als paradoxe Grundstruktur in der Familie
Die Familieninteraktion findet an einem Sommerabend im Garten der Familie Wegmann statt. Die Terminfindung gestaltete sich im Vorfeld als komplizierte Angelegenheit. Beide Eltern führen ein engagiertes Berufsleben und Freizeitprogramm, die Kinder sind nicht minder ausgelastet. So kam dieser Termin nach zwei zuvor erfolgten Absagen schließlich zustande, jedoch ohne Beisein der mittleren Tochter Marie, die 11 Jahre alt ist und zum Zeitpunkt des Abendbrotes im Schwimmtraining ist. Anna:
[...] wenn wir am sonntag diese abschlussfeier habm und ich dann , von da direkt in die schule fahre um den zehnerstreich vorzubereiten , dann schlaf ich in der nacht nich Lasse: ⎣mama hast du den abgewaschen Mutter: wieso von da Anna: ja wenn wir sonntag , was weiß ich bis Lasse: ⎣den schnittlauch von dem salat , mama Anna: keine ahnung , um zwölf , da feiern=oder länger , dann werd Lasse: ((unverst., 3 sek.)) Mutter: ja Anna: ich ganz bestimmt nicht dann nach hause fahrn um dann um sechs uhr ‘spätestens’ (betont) wieder in der schule stehn zu müssen Mutter: ‘mh mh’ (kurz hintereinander) (.) Vater: ‘ach so’ (leise) (.) (kussgeräusch im hintergrund)
Anna und ihre Mutter thematisieren hier die Abschlussfeier der Anna-Seghers-Schule. Gegenstand des Gesprächs ist die Aushandlung darüber, dass Anna in der Nacht der Abschlussfeier nicht zu Hause übernachtet, sondern woanders. Selbstsicher legt sie ihren Zeitplan dar, der vorsieht, von der Abschlussfeier aus direkt in die Schule zu fahren um den „zehnerstreich“ – ein Abschiedsritual der von der Schule abgehenden Zehntklässler – vorzubereiten. Damit thematisiert sie unter der Hand, dass sie bereits eine Entscheidung gefällt hat, für die sie – gemessen an ihrem Alter – eigentlich die Erlaubnis der Eltern benötigt. Dies spricht entweder für eine Familienkultur, in der Autonomie besondere Wertschätzung erfährt. Dann aber ist es irritierend, dass Anna ihren Zeitplan so detailliert darstellt. Oder Anna wählt das selbstsichere Vorgehen strategisch, um den erwarteten Diskussionen vorzubeugen. In diese Auftaktfigur tritt der vierjährige Bruder mit einer Frage ein, die eben173
falls um die Aufmerksamkeit der Mutter buhlt. Dies kann nun für Anna eine Entlastung bedeuten, da der kleine Bruder mit seinen unmittelbaren Bedürfnissen sich in den Vordergrund drängt. Die Mutter geht jedoch auf ihren Sohn nicht ein und fragt „wieso von da“. Dies zeigt, dass eben keine Selbstverständlichkeit im Umgang mit der Frage, wo die sechzehnjährige Tochter übernachtet herrscht. Vielmehr wird Anna auf ihre Legitimationspflicht verwiesen und damit in ein asymmetrisches Verhältnis zur Mutter gesetzt. Dies beantwortet sie selbstsicher mit einer Relationierung von Feierdauer und Nachhauseweg. Dabei flechtet sie ein, dass sie „ganz bestimmt nicht“ nach Hause fährt und unterstreicht selbstbewusst ihr Ziel, die Nacht außerhäusig zu verbringen. Zugleich wird aber deutlich, dass zwischen Ende der Feier und Beginn der Vorbereitung des Zehnerstreichs eine Lücke von sechs Stunden klafft, über die sich Anna nicht rechtfertigt. Man kann also folgern, dass sie für diese Zeit einen selbstverantworteten Umgang mit ihrer Person einfordert, die weder durch die elterliche noch durch die institutionelle Kontrolle gerahmt ist. Daraus kann wiederum gefolgert werden, dass institutionelle Verpflichtungen als legitime Begründung für das Fernbleiben vom Elternhaus geltend gemacht werden. Falls es aber in der Zwischenzeit zu jugendkulturellen oder hedonistischen Aktivitäten kommen soll, so bleibt dies vor den Eltern verborgen. Mit Hilfe der institutionellen Einbindung und ihres Engagements führt Anna damit eine Anfrage auf Selbstbestimmung ein, die sie zunächst als gleichberechtigt zu den Eltern positioniert. Diese Platzierung gelingt ihr jedoch nicht ohne weiteres, denn die Mutter versetzt sie in eine Legitimationsverpflichtung. In dieser Situation kommt ihr die Geschwisterrivalität des kleinen Bruders zur Hilfe, der mit seinem konkurrierenden Kommunikationsangebot die Aufmerksamkeit der Eltern bindet. Die Mutter lenkt schließlich verhalten zustimmen ein, der Vater lässt ein sehr leises Nachvollziehen der Argumentation vernehmen. Beide Eltern stimmen somit zu, jedoch bleibt der Konflikt um die Anfrage auf Selbstbestimmung und die autonome Verortung ungelöst. Weder wird Anna nach dem Übernachtungsort gefragt, noch nach den peers, mit denen Anna die Zeit bis zum Schulbeginn verbringt. Doch offensichtlich akzeptiert die Mutter die institutionelle Einbindung und die darüber legitimierte Ablösung, so dass Anna durch die Schule eine Ermöglichung von Autonomie erfährt, die in diesem Moment jedoch wenig mit Schule zu tun hat. Der Distanzierungsbestrebung Annas wird somit nur sehr verhalten stattgegeben. Liegt dies an einem Ungleichgewicht in Bezug auf die Nähebedürfnisse oder -vorstellungen, an elterlicher Angst vor Kontrollverlust oder an unterschiedlichen Auffassungen über die Altersangemessenheit der Distanzierung? Betrachten wir dazu einen weiteren Aushandlungsprozess, in dem auch deutlich wird, warum die Eltern selbst kaum Interesse daran haben, die Interessenkonflikte um Annas Ablösebestrebungen zu thematisieren. Mutter: Anna: Mutter: Vater: Anna: Mutter: Anna: Vater: Mutter: Vater: Mutter: Anna:
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ich würde ganz gerne am samstag abend (.) zu matthias , thejateraufführung gehn ‘wusste gar nich das der theater spielt’ (fragend) der matthias , is in der theater ag , und er spielt die hauptrolle in der zauberflöte ⎣‘lasse’ (vorwurfsvoll) , hör doch ma auf ich mach das jetz ‘mh mh’ (kurz hintereinander) und die aufführung=es gibt nur eine einzige aufführung und die ist am samstag abend (3) ‘und das heißt’ (unsicher fragend) (.) der papa ist doch da ‘oder’ (fragend) , will der da auch ‘da ham wer jetz noch gar nicht , drüber gesprochen’ (leise) (3) das ham wer vor längerer zeit schon ja grundsätzlich ‘aber das ist jetz am kommenden samstag’ (fragend) das is jetz am kommen=ja , dann sind ferjen (.) das is jetz am kommenden samstag (2) aber marie is da oder geht die da auch hin
Vater: Mutter: Vater: Mutter: Anna: Vater: Mutter: Anna: Mutter:
⎣ja da muss ich , (räuspern) mal sehn=da hat der Eckart ja auch geburtstag=ob der irgendwas macht weiß ich nich wollt ich ihn morgen ma fragen mmh (messerklopfen auf teller, 6 sek.) dann klär das ma ab , weil dann müsste ich mit Christian telefoniern wegen karten ‘mh mh’ (kurz hintereinander, leise) dann würde ich marie gerne eigentlich mitnehm , zu der aufführung da ‘könnt’ (betont) ich ja gar nich zu dem konzert gehn ja aber wenn das ja dann doch=na ja gut es könnte eben nur einer von uns gehn , wenn dann eben wenn=du , ‘ weg wärest’ (betont gedehnt) (2) naja ich mh ich weiß nur noch nich ‘mh mh’ (kurz hintereinander)
Es wird nun deutlich: Mutter, Vater und Anna bringen bezogen auf den gleichen Zeitpunkt gleiche Interessen der außerfamilialen Freizeitgestaltung ins Gespräch. Die Mutter thematisiert dabei eine schulische Aufführung, die sie besuchen möchte, wobei hier der Sohn einer befreundeten Familie eine Hauptrolle einnimmt. Die Aufführung hat einen exklusiven Status: es gibt nur eine Aufführung, das heißt: der Termin und die damit einhergehende Artikulation von Engagement, lassen sich nicht verschieben. Anna ist es nun, die – in Umkehrung der vorhergehenden Situation – ihre Mutter nach den Details der Aufführung fragt. Die Mutter legitimiert – ebenfalls in Umkehrung der vorhergehenden Situation – ihr Interesse über das schulische Engagement. Das Problem dabei bringt Anna schließlich auf den Punkt: der vierjährige Sohn/Bruder muss in dieser Zeit, einem Abend am Wochenende betreut werden. Theoretisch kommen dafür sowohl die Eltern als auch die beiden großen Schwestern in Betracht, auch wenn Anna hier eher leichrangig zu sein scheint als ihre jüngere Schwester. Ihre Frage „der papa ist doch da oder“ verweist auf eine Zuspitzung der Situation: es geht um konkurrierende Ansprüche auf die Freizeitgestaltung. In die Mutter-Tochter-Interaktion fällt nun der Vater mit der Behauptung ein, man habe darüber ja bislang noch gar nicht gesprochen. Hier erhebt die Mutter Einspruch.Wenn es sich nicht um einen Vater handelt, der sich weigert, den vierjährigen Sohn alleine zu betreuen, so muss angenommen werden, dass der Vater hier unter der Hand und sehr defensiv darauf verweist, dass auch er den Abend bereits verplant hat. Anna ‚spielt‘ in dieser Aushandlungssituation ähnlich verdeckt wie ihr Vater. Zwar sucht sie im Folgenden nach anderen Betreuungspersonen für den jüngeren Bruder, artikuliert ihr Interesse an der Abendgestaltung jedoch nicht direkt, sondern erst nachdem beide Eltern ihre Pläne dargelegt haben und die Mutter deutlich gemacht hat, dass auch die jüngere Schwester nicht für die Abendgestaltung zur Verfügung steht, weil diese mit zur Aufführung kommen soll. Die Schlussfolgerung „dann könnt ich ja gar nich zu dem konzert gehen“ bedeutet, dass sie ihre Interessen als nachrangig gegenüber denen der Eltern betrachtet. Die Emotionalität, die sie in diese Feststellung legt, ist dabei sehr verhalten. Anna ist klar: wenn die Mutter einen schulisch gerahmten Termin wahrnimmt und der Vater sich mit einem Freund trifft, dann fallen ihre Freizeitaktivitäten aus. Damit wird deutlich: sie ist sehr stark in das familiale Netzwerk eingebunden und durch ihre „gleichberechtigte“ Einbeziehung in die Planung und Betreuung der jüngeren Geschwister wird es den Eltern möglich, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen. Damit erhält die Eltern-Kind-Beziehung eine funktionale Tendenz, die unter dem Deckmantel der Gleichberechtigung daherkommt. Was dabei wiederholt wird, ist die Möglichkeit, über schulische Bezüge, die eigenen Interessen zu legitimieren: sei es, dass dies jugendkulturelle Vergemeinschaftungsmöglichkeiten betrifft – wie in der vorhergehenden Interaktion – oder durch die engagierte El175
ternarbeit, die es auch ermöglicht, außerfamiliale Freunde zu treffen. Die Positionierung als gleichberechtigt ist dabei jedoch brüchig, da Annas Interessen gegenüber denen der Eltern ins Hintertreffen geraten und sie funktional in Anspruch genommen wird. Eine Distanzierung und Herauslösung aus der Einheit ‚Familie‘ gelingt Anna dabei nicht, auch wenn sie emotional längst als gleichwertige Betreuungsperson anerkannt wird. Anna wird damit für die familialen Interessen vereinnahmt. Die familiale Zugehörigkeitsordnung drückt sich damit in einer Paradoxie aus: Anna bleibt ein bevormundetes Kind, sofern sie ihre Distanzierungsbestrebungen nicht durch von den bildungsambitionierten Eltern wertgeschätzten institutionellen Bezügen verorten kann. Ihr wird zugleich eine auf Gleichheit beruhende Nähe verordnet, wenn sich die Eltern dadurch persönliche Gewinne versprechen, durch die die komplexe und hochindividualisierte Lebensführung der Familienmitglieder vereinbart werden kann. Die elterlichen außerfamilialen Aktivitätswünsche artikulieren sich als verordnete Gleichsetzung mit der Jugendlichen auf Erwachsenenebene. Damit kommt in die Gleichheit, mit der eine Betreuungseinheit zwischen Erwachsenen und Jugendlicher konstituiert wird, ein Moment der Differenz, denn in beiden Interaktionen wird deutlich, dass die Eltern diejenigen sind, die die Gleichsetzung kontrollieren und verwalten. Die Zugehörigkeit wird dabei ambivalent: sie ermöglicht Anna einerseits ihre Ziele und Vorstellungen selbstsicher zu formulieren. Andererseits wird sie tendenziell zum Zwang, wenn es zu Interessenkonflikten und konkurrierenden Zeitgestaltungsvorstellungen kommt. 4.4.1.3 Biografische Gelegenheitsstrukturen und ihre Bedeutung im Verselbständigungsprozess Anna Wegemanns Das Interview beginnt mit einem Stimulus, der aufgrund eines technischen Defekts jedoch nicht aufgezeichnet wurde. Anna wurde hier, wie die anderen Jugendlichen auch mit dem Interesse der Interviewerin für Schülerbiografien konfrontiert und gebeten, ihre Lebensgeschichte von dem Punkt an zu erzählen, als sie noch ganz klein war. Anna:
nich mehr groß erinnern (luft holend) ehm aber ich wurde ehm in , rothenberg ‘geboren’ (gehoben) (I: hmhm) , aber also wir haben in mahringen gewohnt in der ‘innenstadt’ (gehoben) , und ehm meine eltern ham zu der zeit beide noch ehm ‘studiert’ (gedehnt, gehoben) (I: hmhm) und und das war halt dann so dass sie teilweise dann wenig zeit hatten dafür aber dann zu bestimmten also ehm semesterferien wieder ‘ganz viel zeit’ (betonter) für (I: hmhm) mich
Sie beginnt ihre Erzählung reflexiv: Sie kann sich nicht mehr „groß erinnern“. Als Alternative zur Erwartungshaltung, man könne sich an seine frühe Kindheit erinnern, bietet sie biografische Rahmendaten an: ihren Geburtsort und den Wohnort ihrer frühen Kindheit, bei dem es sich auch um die Stadt handelt, in der die Schule liegt und in deren Vorort Anna inzwischen mit ihren Eltern in einer Doppelhaushälfte wohnt. Danach folgen Statuspositionierungen der Eltern im studentisch-akademischen Milieu. Damit reduziert sie die Relativierung der vorangegangenen Erwartungshaltung. Nachdem Anna sich also von der Erwartungshaltung der Interviewerin zunächst distanziert und dann wieder annähert, setzt sie der Annäherung und der Erwartung einen weiteren Gegensatz entgegen: „aber also wir haben in mahringen gewohnt in der innenstadt“. Dieses „aber“ bezieht sich reflexiv auf die Differenz von Geburts- und Wohnort und markiert damit eine Besonderung: obwohl sie in Mahringen – einer westdeutschen Großstadt – 176
wohnte, wurde sie in Rothenberg geboren: damit beginnt sie ihre Biografie durch die Darstellung lokalisierender Bezüge, in denen sie sich aktiv verortet – besonders deutlich an der Formulierung des gemeinsamen „Wohnens“ mit den Eltern. Dies räumliche Verortung über den lokalen Bezug, fokussiert damit auf eine Besonderung, die sie mit dem Statusbezug fortsetzt: ihre Eltern haben beide studiert. Mit dieser Aussage setzt sich Anna von einem Normalmodell von Familie ab und dokumentiert besondere Lebensumstände, die beide Eltern gleichermaßen betreffen: neben ihrer Geburt gibt es weitere zentrale Aufmerksamkeitsfoki der Eltern, die zuweilen zeitliche Konkurrenz zwischen Familie und Studium bedeuten. Dem entgegen steht wiederum die kompensatorische Behauptung, dass die Eltern in den Semesterferien „wieder ganz viel zeit“ für Anna hatten. Der geringe Zeithorizont, den die Eltern für Anna erübrigen können, wird also nicht als negativ erlebt, sondern Anna kompensiert dies mit der Erfahrung der Besonderung und der Tatsache, dass es auch zeitlichen Ersatz für die versäumte gemeinsame Zeit gab. Anna formuliert hier eine subjektiv empfundene Zugehörigkeit, die ihr Selbsterleben von Beginn an aktiv gestaltet und zugleich auch einen aktiven Anteil in der ausgleichenden Gestaltung des Familienlebens übernimmt. Sie erfährt ihre Situation als besonders, insofern sie in ein studentisch-akademisches Milieu geboren wird, in dem ein Kind auch zur organisatorischen Aufgabe wird. Damit ist Annas Biografie nicht von Anfang an durch umfassende Kindzentrierung gekennzeichnet, sondern von der Familienaufgabe, drei unterschiedliche Bedürfnisse in Einklang zu bringen. Die Herstellung des Einklangs selbst gestaltet sich dabei als Wechselspiel aus differenten Ansprüchen in der Vorlesungszeit und der Herstellung von Einheit in der Semesterpause. Anna kann sich damit vor einem familialen Hintergrund verorten, in dem sie sich von Beginn an aktiv selbst verorten kann. Dabei ruht diese aktive Balance von Nähe und Distanz sowie Einheit und Differenz (während und außerhalb der Semesterferien) in der zunächst verkennenden Illusion, sie sei bereits von Beginn an aktiv und unabhängig gewesen, denn als sehr kleines Kind war sie ja faktisch auf die Fürsorgeleistungen ihrer Eltern angewiesen. Diese Verkennung bleibt für sie jedoch keine Utopie, sondern wird zum chancenhaft gestaltbaren Möglichkeitsraum, da sie ihr ermöglicht, eventuell entstehende Konflikte oder das Gefühl der Unterversorgung in der Vorlesungszeit zu kompensieren. Anna:
ja dann also ich bin relativ ‘früh’ (betonter) dann auch in so ehm , ‘krabbelkreise’ (betonter) und so was gegangen (I: hmhm) und hatte viel kontakt mit anderen ‘kindern’ (betonter) , ‘ehm’ (gedehnter) (.) also vor allem auch so ‘elterninitiativen’ (betonter) (I: hm) , und ehm , dann war ich später auch mit all diesen freundinnen und freunden in em ‘kindergarten’ (gehoben) auch wieder ne elterninitiative , und ehm (2) bin dann auch mit einigen von denen ehm (.) in eine , schulklasse in der grundschule ‘dann (I: hm) gekommen’ (gehoben) , also das war ganz schön weil , ich die dann halt alle kannte
Auch in ihrer weiteren Erzählung setzt sich die chancenhafte Selbständigkeitsimagination fort, wenn Anna auf die Krabbelkreise und Elterninitiativen Bezug nimmt, in die sie „gegangen“ ist. Hier nehmen die Eltern eine rein organisatorische Funktion ein: sie sind Teil der Elterninitiativen, die Anna bis zum Schuleintritt besucht. Als nahe Bezugspersonen, die sich fürsorglich um ihr Kind kümmern, treten die Eltern nicht auf den Plan. Viel bedeutsamer ist Anna an dieser Stelle die kontinuierliche peer-Einbindung, die sich vom Krippenalter bis in die Grundschulzeit fortsetzt. Die Eltern nehmen somit eine Randposition in Annas früher Biografie ein: sie gestalten im Hintergrund die Lernumgebung mit und treten implizit als Entscheidungsträger alternativer Bildungseinrichtungen auf den Plan, so dass über 177
sie die Verortung im alternativen Milieu vollzogen wird. Jedoch werden sie nicht in Begriffen emotionaler Anerkennung und Nähe und einheitsstiftender Vergemeinschaftung beschrieben. Dies entwickelt sich mehr über die Gleichaltrigen, zu denen sie zunächst nur „kontakte“ hatte, die sie aber im weiteren Verlauf als „freundinnen und freunde“ bezeichnet. Als Anna fünf Jahre alt ist, bekommt sie eine Schwester und die Familie zieht dann im Laufe des ersten Schuljahres aus der Innenstadt, wo sie mit einer befreundeten Familie in einer Wohngemeinschaft gelebt hat, in einen Vorort von Mahringen. Man entscheidet jedoch, dass Anna nicht die Schule wechselt, sondern sie wird von der Mutter täglich mit dem Bus in die Schule gebracht. Als dann Annas Schwester Marie erkrankt, kann ihre Mutter dies nicht mehr leisten. Anna:
und meine mutter konnte mich an dem einen morgen nich bringen und dann hab ich des alleine gemacht und des hat halt sehr gut geklappt und , (I: hmhm) ab dann bin ich halt immer alleine gefahrn , und s hat halt dazu geführt dass ich sehr schnell unabhängig mich mit dem bus so ‘bewegt hab’ (gehoben)
Anna, die sich bisher bereits unabhängig und aktiv entworfen hat, stellt die Unmöglichkeit zur Schule begleitet zu werden, hier als weitere chancenhafte Ermöglichungsstruktur dar, selbständig und unabhängig zu werden. Diese Unabhängigkeit bezieht sie sowohl auf die territorialen Handlungsräume, die sie sich eigenständig erschließt, als auch auf die familialen Beziehungen: sie ist nicht mehr angewiesen darauf, dass die Mutter sie zu Veranstaltungen, Freunden oder in die Schule begleitet, sondern sie kann ihr Leben aktiv handelnd ausgestalten. Ihre Selbstimagination erfährt damit sozusagen eine Bestätigung und verleiht ihr ein aktives Selbsterleben, das sich bis zur Schulübergangsentscheidung im vierten Schuljahr fortsetzt. Für Anna scheint die Anna-Seghers-Schule in diesem Moment sehr attraktiv: Anna:
[...] war ich dann mal auf schulfesten und (luft holend) hab eben so ganz viel gehört (gehoben) , und , eben auch diese projektarbeiten und das hat mir einfach so gut gefallen (I: hm) , und ehm da hab ich halt so gesagt oah da möcht ich gerne hin
Hier treten die Eltern schließlich gar nicht mehr in Erscheinung, sondern sie werden nur noch implizit benannt, als Anna sich entscheidet „oah da möchte ich gerne hin“. Die illusionäre Verkennung ruht dabei darin, dass die institutionellen Entscheidungen der Eltern im Vorfeld bereits alle im alternativen Milieuspektrum angesiedelt waren und Anna somit mit ihrer „eigenen“ Entscheidung die zuvor vorgenommenen elterlichen Verortungen passförmig fortsetzt. Jedoch ermöglicht ihr diese Verkennung wieder eine aktive Selbstverortung und eine positive Haltung gegenüber der Schule. Anna:
also damals war s noch so ehm (.) (schnalzt) also erst ma musste man so n anmeldeformular ausfüllen und da ‘hinschicken’ (betonter) , und dann bekam man einen ‘termin’ (gehoben) und frau kleis hat damals noch mit jedem ‘schüler’ (betonter) und seinen eltern ‘einzeln’ (betonter) , ein , gespräch geführt (I: hmhm) also mit jedem der sich da beworben hat auch wenn er später vielleicht dann nich , ‘genommen’ (schnell) ‘wurde’ (gehoben) , und ehm , ja da wollte sie halt einfach wissen über so die schulischen leistungen bis ‘dahin’ (gedehnter) (luft holend) wie das kind seine ‘freizeit verbringt’ (gedehnter) und , (I: hm) ja hat mir dann eben auch einige ‘fragen gestellt’ (gedehnter) und wieso ich denn ‘gerne an die schule möchte’ (melodisch) (I: hm) und , ja (2) (I: hm) (.) Interv.: und ehm , wie wie hast du das ‘empfunden’ (gehoben) , so
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Anna:
ja also ich fand es schon komisch weil ehm (.) ich wollte da gerne hin und es ich hatte irgendwie so das gefühl wenn ich da jetzt irgendwas falsches ‘sage’ (gedehnter) oder so was der frau vielleicht ‘nich’ (betonter) so gut gefällt (I: hm) dann (.) kann ich da ‘nich hingehn’ (betonter) und des , (I: hm) ja es war irgendwie komisch
Anna schildert das Aufnahmeverfahren als problematisch, was nicht verwundert, denn damit gerät ihr handlungsschematischer Entwurf unter Druck. Sie kann sich nicht alleine entscheiden, sondern die Schulleiterin befragt Kinder und Eltern unabhängig voneinander und ihr wird bewusst, dass es nicht alleine in ihrer Hand liegt, ob sie angenommen wird oder nicht. Die Angst, etwas „falsches“ sagen zu können verweist dabei darauf, dass hier eine prüfungshomologe Situation vorliegt. Diese wird umso weniger einschätzbar, je mehr es – wie Anna berichtet – um darum geht, etwas von sich zu geben, was der Schulleiterin auch gefällt. Anna deutet hier an, dass ihr sehr bewusst ist, dass es weniger um Leistung geht, als um die Herstellung von Passförmigkeit. Das, was sie dabei mit „komisch“ umschreibt, deutet dabei auf die Ungewissheit der Situation hin und verweist auf die Diffusität, die der Entscheidung zugrunde liegt. Schließlich wird sie jedoch angenommen und erlebt die schulische Ermöglichungsstruktur als Befreiung, die sie in Form eines Erweckungserlebnisses darstellt: Anna:
[...] also ‘da’ (gedehnter) war dann plötzlich als ob so n ‘licht’ (betonter) in meinem ‘kopf angegangen is’ (lächelnd) (I: (lächelt)) und ehm , ich hab des alles sofort verstanden wenn der lehrer das einmal ‘gesagt hat’ (lauter) , und das war vorher eigentlich gar nich so der fall also ich war schon immer ne gute schülerin (betonter) , (I: hm) aber das war dann halt plötzlich so , (I: hm) also ‘es floss’ (betont) ‘alles so’ (lächelnd) (schnieft) , und ehm , (schnalzt) ja es is , also ich denk einfach dass so auch ‘selbstbewusstsein’ (gehoben) ehm , dass sich das halt an dieser schule ganz besonders eben auch ‘entwickelt’ (gedehnt, betont)
Anna stellt sich hier als „Erleuchtete“ dar, die – für sie selbst kaum nachvollziehbar – „plötzlich“ alles versteht. Dabei ist die Differenz von Nicht-Erweckter zur Erweckung weniger groß als sie es in ihrem Erleben schildert: Anna war bereits vorher eine gute Schülerin, aber jetzt vollzieht sich ihr Erfolg grenzenlos. Besonders unterstützend wirkt dabei das von ihr erlangte Selbstbewusstheit, das sich „an dieser schule ganz besonders eben auch entwickelt“ hat. Hier erweist sie sich nun als zutiefst positiv auf die Schule bezogen. Sie kann die schulische Ermöglichungsstruktur für sich maximal chancenentfaltend nutzen. Indem sie jedoch die Erweckungsgeschichte darstellt, verkennt sie, dass die Passung zur Schulkultur bereits biografisch angelegt ist: sie ist bereits vorher eine gute Schülerin und sie hat bereits von klein an sehr an Autonomie orientiert gehandelt. Zugleich wird sich Anna im Laufe der Schulzeit von denen distanzieren, denen diese Erleuchtung nicht zu Teil wurde. Anna:
[...] und wenn dann aber ‘immer noch’ (betonter) einige da sitzen als ob das chinesische schriftzeichen sind , dann (I: hm) zieht sich das halt dann muss der lehrer ja noch ma drauf eingehn (I: hm [leise]) er kann ja auch nich einfach sagen ehm , ja ihr habt ‘pech’ (betonter) (I: hm) (.) und ehm (.) (schnalzt) ja dann denkt man sich halt so ‘ja’ (gedehnter) (.) (I: hm) was ich jetzt in der zeit alles noch ‘neues’ (betonter) lernen könnte weil andererseits is es (I: hm) dann wieder so , (luft holend) ja eh , den lehrplan schaffen wir dieses jahr nich so ganz kriegt man dann von den lehrern so ‘mitgeteilt’ (gedehnter) (I: hm) und ehm , das und das und das können wir jetzt ‘nich mehr machen’ (gehoben) und ehm , das wird dann halt immer so darauf geschoben ‘ja’ (gedehnter) wir sind ja so eine besondere ‘schule’ (gehoben) , aber ehm , das is halt einfach ‘schwierig’ (betonter) also ich denke man muss dann da irgendwie doch noch n ‘bisschen’ (betonter) mehr unterteilen
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Hier liegt wiederum eine verkennende Struktur vor, mittels der Anna ihre Selbstimagination als durch die Schule Erweckte aufrechterhält. Sie reflektiert dabei nicht, dass das besondere Zusammenspiel aus ihren bisherigen familialen und schulischen Erfahrungen, sowie ihrer persönlichen Entwicklung resultiert, die es ihr ermöglicht, eine besonders gelingende Passung herzustellen. Die Distanznahme von den schwächeren Schülerinnen und Schülern wird gesteigert zu einem impliziten Vorwurf, ihr persönliches Vorankommen leide unter den schlechten Schülern („was ich jetzt in dieser zeit alles nich neues lernen könnte“). Damit reproduziert sich die Verkennung, denn Anna berücksichtigt dabei nicht, dass gerade jene schulische Struktur, die von einer heterogenen Schülerschaft gekennzeichnet ist und in der die Wissensaneignung nicht der zentrale Fokus ist, sie erst zu einer exzellenten Schülerin macht. Nicht, dass sie an anderen Schulen nicht erfolgreich wäre, aber gerade die Schule mit ihrer spezifischen Ermöglichungsstruktur, befähigt sie ja in besonderer Weise zur Herausbildung ihrer Exzellenz, die sie an dieser Stelle besondernd in den Vordergrund stellt. Die biografische Ordnung ist im Fall von Anna gekennzeichnet durch eine hochgradige Orientierung an Autonomie und Exzellenz. Anna schildert ihre Biografie als handlungsschematischen Entwurf, auf den sie immer wieder zu sprechen kommt und der sich in der Wahl einer Reformschule mit alternativem Milieubezug zur Erfahrung von höchster Handlungsfähigkeit steigert, die dann zu höchster Leistungsfähigkeit ausgebaut werden kann. Anna verortet sich damit in der Position einer an Distinktion orientierten Schülerin, welche Auswahl- und Qualifikationsprozesse mit Bravour durchläuft und sich dabei stark auf sich selbst verlassen kann. Die persönlichen Beziehungen zu Eltern und Lehrern werden dabei eher distanzförmig geschildert. Nähe wird zu den institutionellen Rahmungen und den frühen peer-Bezügen hergestellt. Der biografische Möglichkeitsraum, wie Anna ihn erlebt und darstellt, fußt damit auf außerordentlich günstigen Gelegenheitskonstellationen, die Anna umfassend nutzen kann und über die es ihr gelingt eine Selbstimagination zu schaffen, an der sie sich – selbst wenn zuweilen das Moment der Verkennung darin eingelagert ist – aktiv orientieren kann.
4.4.2 Lena Fried zwischen familialer Ausgrenzung und schulischer Vereinnahmung Lena Fried ist eine stille Schülerin, die am äußersten Rand des Klassenzimmers platziert ist. Zwar gehört sie nicht zur Leistungsspitze in der Klasse, doch steht außer Frage, dass sie den anstehenden Wechsel in die gymnasiale Oberstufe schaffen wird. Sie selbst hat sich dafür die private Herder-Schule ausgesucht und wird somit nicht, wie ihre Klassenkameradinnen und -kameraden auf das der Gesamtschule angegliederte Oberstufengymnasium gehen, auch wenn sie gute soziale Kontakte innerhalb der Schule hat. Lena ist die älteste Tochter ihrer Eltern. Ihre Schwester ist drei, ihr Bruder fünf Jahre jünger als sie. Zum Zeitpunkt Lenas Geburt studieren die Eltern noch und leben mit der Schwester der Mutter in einer Wohngemeinschaft. Erst nach der Geburt von Lenas Schwester zieht die Familie in eine eigene Wohnung um. Lenas Vater arbeitet nach wie vor als Musiker. Neben seiner Tätigkeit beim Staatsorchester des Bundeslandes, in dem Lena und ihre Familie leben, besitzt er in dem Altbau, in dem er mit seiner Familie das Erdgeschoss bewohnt, ein Tonstudio, das sich unter der Etagenwohnung der Familie befindet. Lenas
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Mutter hat sich als Künstlerin selbständig gemacht und betreibt eine Werkstatt auf dem Grundstück des Hauses, das zentrumsnah, aber doch von Gärten umgeben ist. 4.4.2.1
Emotionale Anerkennung um den Preis der Aufgabe von Vermittlung
Die Lehrer-Schüler-Interaktion zwischen Lena und ihrem Klassenlehrer Herr Christian findet im offenen Unterricht im Fach Geschichte statt. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten hier zum Thema Nationalsozialismus an unterschiedlichen Projekten. Dazu gehört auch, dass an einem Abend ehemalige NS-Zwangsarbeiter die Schule besuchen und vom Nationalsozialismus erzählen. Dazu werden auch andere Jahrgangsstufen eingeladen, an die Lena und ihre Freundin Henrike im Rahmen der Planung dieses Abends eine Einladung verfassen. Die Situation, die hier protokolliert wurde, dokumentiert das Korrekturlesen des Einladungsbriefes durch den Klassenlehrer. Lehrer: nja , eigentlich schreibt mers nach der neuen rechtschreibung ‘klein’ (betont) Lena: ‘ehrlich’ (fragend) (2) Lehrer: also dieses ‘du’ (betont) dieses du des ihr und euch was jetz ((unverst., 2 sek.)) des schreibt mer eigentlich in der neuen rechtschreibung in briefen klein , dieses ‘sie und ihn’ (betont) , groß (lächelnd) Lena: dann muss das ((hier)) aber auch klein (.) toll Lehrer: ‘also müsster euch entscheiden’ (lächelnd) (.) wir bleiben bei einer fassung Lena: ich find aber des euch groß besser Lehrer: ‘dann’ (betont) lassen wir das so (.) wir könn schon mit der ((unverst., 1 sek.)) recht (.) schreibung , wenn ihr sagt groß dann lassen mer das so , das is auch in ordnung ((unverst., 1 sek.)) so ((unverst., 5 sek.)) Elisabeth: herr christian könn se ma , können se ma gucken was das bei uns ist (fragend)
In der Interaktion wird deutlich, dass der Klassenlehrer eine Korrektur vornehmen will, die er jedoch sehr vorsichtig und vorläufig einbringt: „nja, eigentlich“. Er nimmt also weniger die Vermittlerposition ein als dass er einen freundlich gemeinten Ratschlag gibt, der jedoch die Sachzwänge der deutschen Rechtschreibung tendenziell außer Kraft setzt. Der Lehrer verlässt also hier die Ebene der Sachlichkeit, indem er die Eindeutigkeit einer Regel verschleiert. Er positioniert sich damit weniger als sachorientierter und distanzierter Wissensvermittler, denn als jemand, der über die Beziehungsebene quasi nebenbei Wissen vermittelt. Hierin ruht die Imagination, die Beziehungsförmigkeit trage die Wissensvermittlung in sich- eine Imagination also, die schnell zur verkennenden Illusion werden kann, denn nahe Beziehungen und distanzierte Sachlichkeit schließen einander strukturell aus. Für Lena öffnet die Diffundierung, die hier nun vorliegt, die Möglichkeit, die Tragfähigkeit der Behauptung, man schreibe nach der neuen Rechtschreibung etwas klein, anzuzweifeln: „ehrlich?“. Lena nutzt damit den sich ihr darstellenden Möglichkeitsraum, um sich der Sachebene zu entziehen und nach der moralischen Integrität des Lehrers zu fragen. Damit balanciert die Nachfrage in der Spannung emotionaler und moralsicher Anerkennung: Denn latent bedeutet diese Frage nicht nur: ist der Aussagegehalt deiner Korrektur wahrhaftig und generalisierbar? Sondern sie bedeutet auch: bist du aufrichtig zu mir, in der persönlichen Beziehung, die du zu mir unterhältst? Damit liegt eine riskante Struktur vor, die latent Gefahr läuft, zur Missachtungsfigur zu werden: handelt der Lehrer hier streng sachorientiert, missachtet er die persönliche Beziehung, die er zu selbst Beginn zugrunde gelegt hat und die von Lena aufgegriffen wird und in Frage der Haltung gegenüber ihrer Person mündet. Handelt er personenorientiert, so 181
setzt er an dieser Stelle die Sachorientierung aufs Spiel. Lena schafft somit mit ihrer Nachfrage eine doppelte Bewährungssituation für ihren Lehrer, die sich um die Frage der Vertrauenswürdigkeit von Herrn Christian dreht. Herr Christian erläutert im Folgenden vordergründig die Rechtschreiberegel: „dieses du des ihr und euch […] des schreibt mer eigentlich in der neuen rechtschreibung in briefen klein, dieses sie und ihnen groß“. Damit verbleibt er jedoch im Duktus des Eigentlichen und antwortet auch nicht wirklich auf die Frage um die moralische Integrität des „ehrlich“. Diese Frage hätte deutlich mit „ja“ oder „nein“ beantwortet werden können, die Antwort mündet aber in einer differenzierenden Wiederholung der vorhergehenden Lehrerbemerkung, die nach wie vor eine Nische für die Verortung im bereich nicht-sachbezogener Beziehungsförmigkeit erlaubt. Lena balanciert nun ebenfalls auf der Schnittstelle sachbezogener Konsequenzen aus den neuen Rechtschreibregelungen „dann muss das hier aber auch klein“ und der emotionalisierten Bezugnahme darauf im ironisierenden „toll“. Sie macht damit deutlich, dass sie nicht damit einverstanden ist, dass die allgemeingültigen Regeln auch für sie und das Verfassen des Briefes gelten. Falls der Lehrer nun das Blatt wendet und vollends zum Sachlichkeitsprinzip zurückkehrt, droht ihm somit der Anerkennungsverlust der Schülerin. Die von ihm selbst gesetzte Diffusion zwischen sachlicher und personaler Orientierung wird damit für ihn zur Anerkennungsbedrohung. Herr Christian erkennt dies intuitiv und setzt die Rechtschreiberegelungen für Lena und Henrike außer Kraft: „also müsster euch entscheiden“. Damit wird hier gehandelt, als ob es möglich wäre sich situativ gegen die Gültigkeit generalisierter Regelungen zu entscheiden. Der Lehrer setzt damit die Fiktion an die Stelle der sachhaltigen Wissensvermittlung und verkennt dabei den funktionalen Auftrag von Schule. Dies wird im weiteren Verlauf bestätigt, als Lena trotzig artikuliert „ich find des euch groß besser“. Hier wirkt der Herr Christian nun deeskalierend, indem er auf die Möglichkeit verweist, auch die alte Rechtschreibung zu verwenden. Mit dem Satz „dann lassen wir es so“ dokumentiert sich zugleich, dass der Integration in die Wir-Gemeinschaft, trotz der individuellen Besonderungen nichts im Wege steht. Der Lehrer hat nun beide Regelsysteme eingeführt und darauf verwiesen, dass es sie gibt, jedoch unterwirft er die Schülerinnen und Schüler nicht einem bestimmten System. Vielmehr ist die Integration in die Wir-Gemeinschaft davon abhängig, sich überhaupt in ein System zu integrieren („wir bleiben bei einer fassung“). Welches System dies sein soll, oktroyiert Herr Christian nicht. Wir haben es hier mit einer exklusiven Lehrer-Schüler-Dyade (vgl. Helsper/Hummrich 2009) zu tun, in der es nicht nur um sachliche Vermittlung geht, sondern um die emotionale Anerkennung, die sich in einer wechselseitigen Balancierung einer nahen emotionalisierten und der Möglichkeit sachlicher Distanzierung aufspannt. Über die Akzeptanz von Differenz in Bezug auf die Achtung allgemeingültiger Regeln wird damit eine Anerkennungsbeziehung generiert, welche den Bedürfnissen der Schülerin nach emotionalisierter Bezugnahme Rechnung trägt. Hierin ruht jedoch im Kern Missachtung ihrer Person als Andere, die allgemeine Regeln noch lernen muss. Mit dieser Missachtungsfigur wirkt nun Herr Christian der eigenen Anerkennungsbedrohung durch die Schülerin entgegen, in der ein Verlust der Wahrhaftigkeit auch einen Verlust personaler Anerkennung bedeutet. Über die Bezugnahme auf die Wir-Gemeinschaft gelingt eine Re-Integration, die an die lose Bedingung der Entscheidung für ein Regelsystem geknüpft ist. Damit markiert diese Interaktion zugleich die Grenzen des Schulischen in der personalen Anerkennung und die Grenzen der persona182
len Anerkennung in schulischen Beziehungen. Denn beide Bezugnahmen stehen in strukturellem Widerspruch zueinander und müssen schulisch kontrolliert balanciert werden. Die Anfrage einer Schülerin auf eine Dominanz persönlicher Beziehungen wird damit zum Grenzfall des Schulischen. Implizit kommt Herrn Christian nachdem er die Regelungen geöffnet, aber das Schulische in die Interaktion zurückgeholt und dabei gleichzeitig die Integrationsmöglichkeiten in die Wir-Gemeinschaft wiedereingeführt hat, die Anfrage der Schülerin Elisabeth zur Hilfe: indem sie fragt, ob Herr Christian mal bei ihnen gucken kann „was das ist“, wird die restliche Lerngemeinschaft wieder thematisch und Herr Christian muss sich darauf beziehen, indem er aus der exklusiven dyadischen Beziehung aussteigt. 4.4.2.2
Prekarisierte Zugehörigkeit in der Familie
Die familiale Interaktion wurde in der Küche der Familie Fried aufgezeichnet. Die Familie wohnt in einer geräumigen Altbauwohnung. Sie wirkt insgesamt bunt zusammengewürfelt: Stühle und Tisch sind bunt bemalt, als Arbeitsplatte dient eine Holzplatte, die zum Teil mit buntem Mosaik (einem Werk der Mutter) gepflastert ist. In der Küche herrscht belebtes Chaos. Vor dem Abendbrot stehen noch Saftgläser vom Nachmittag auf dem Tisch, die Einkäufe, die die Mutter mitgebracht hat, stehen auf der Arbeitsplatte. Von der Küche aus gelangt man in den Garte, in einen Flur zu den Kinderzimmern, einen weiteren Flur zu Wohn- und Schlafzimmer und einen Flur, der zur Wohnungstür führt. Auch befindet sich hier eine Treppe, die in den Keller und damit zu den Arbeitsräumen des Vaters führt. Dennoch wirkt die Küche nicht unruhig, sondern stellt vielmehr das Zentrum der Wohnung dar. Bei der Abendbrotszene setzt sich der Eindruck des „belebten Chaos“ fort. Neben den Kernfamilienmitgliedern ist spontan auch noch die Kusine der drei Geschwister mitgekommen, die den Nachmittag mit den beiden jüngeren Geschwistern Lenas im Schwimmbad verbracht hat. Nach und nach versammeln sich alle Familienmitglieder in der Küche und nehmen am Esstisch platz. Der Vater erweist sich dabei als besonders kompetent in der Aufnahmetechnik, da er lange Zeit mit den gleichen Aufnahmegeräten wie die Interviewerin gearbeitet hat. Lena erscheint übermüdet am Tisch, da am Abend vorher die Abschlussfeier der Zehntklässler stattgefunden hat und am gleichen Tag der „Zehnerstreich“, den sie mitorganisiert hat. Hannah: ‘und , wie war der zehnerstreich’ (fragend) Mutter: ⎣hattst du früh schule heute Hannah: ‘m mh’ (verneinend) , ich bin zur zweiten , ich hab nich so viel mitbekommen (spricht mit vollem mund) nur des karaokesingn mitbekommen , Tobias: ⎣‘wie’ (fragend) Lena: ‘hast dus männerballet mitbekommn’ (fragend) Hannah: ⎣‘was’ (fragend) Lena: des männerballet Hannah: ⎣nä Lena: der herr gerwien war hat getanzt Vater: ‘wer’ (fragend) Mutter: neiiin Hannah: ⎣ne , das is so peinlich der herr gerwien , Lucy: ⎣der is sowieso Vater: ⎣der Hannah: ⎣das sah so geil aus Lucy: ‘der is doch sowieso schwul oder’ (fragend) Lena: ⎣der herr gerwien , das is der , ein sportlehrer
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Mutter: sport , und , mathe Lena: nein das is der herr thomas
Lenas Schwester Hannah bringt hier beiläufig das Thema auf den Tisch, das für Lena einen besonderen Markierer in ihrer Schulbiografie einnehmen muss. Damit rückt sie Lena in den Mittelpunkt und fragt nach dem Ritual der Schulentlassungsfeier. Sie zielt auf eine Exponierung der großen Schwester, indem sie diese um eine verobjektivierte Darstellung zu der Veranstaltung bittet. Dies scheint verwunderlich, da Hannah die gleiche Schule besucht wie Lena. Sie könnte also bereits wissen, wie der Zehnerstreich war. Die Motivierung dieser Frage könnte nun mehrere Gründe haben: zum Einen könnte sie nachfragen, weil sie selbst nicht beim Zehnerstreich dabei sein konnte, aufgrund eines Klassenausfluges oder eigener Krankheit. Es wäre aber auch möglich, dass es sich um Geschwistersolidarität handelt und Hannah ihre Schwester deshalb exponiert, weil sie ihr im Rahmen der Familienöffentlichkeit einen Rahmen zur Selbstdarstellung verschaffen möchte, da sie weiß, dass es sich um einen herausgehobenen Anlass für die Schwester handelt. Dies würde allerdings auf eine prekäre Situation der älteren Schwester innerhalb der Familie verweisen, der es somit nicht möglich wäre, ihre eigenen Erlebnisse wie selbstverständlich in der Familie darzustellen. Dass diese Variante wahrscheinlich ist, wird deutlich, als die Mutter Lena gar nicht zu Wort kommen lässt und eine Frage an Hannah richtet: „hattest du früh schule heute“. Dies hinterfragt nun die Frageintention der jüngeren Tochter, die als Schülerin der Schule nur dann den Zehnerstreich nicht mitbekommen haben kann, wenn sie Schule – bzw. Unterricht – hatte oder gar nicht in der Schule war. Bevor also der älteren Tochter die Möglichkeit gegeben wird, sich aktiv darzustellen, schenkt die Mutter der jüngeren Tochter Aufmerksamkeit. Damit rückt die Selbstdarstellungsmöglichkeit Lenas in den Hintergrund und Hannah muss ihr Interesse zunächst legitimieren. Je nach Brisanz des damit eröffneten Themas – Hannah könnte sich als Schwänzerin erweisen, die selbst eingebracht hat, dass sie dem Unterricht ferngeblieben ist – ist damit die Selbstdarstellungsmöglichkeit Lenas außen vor. In jedem Fall ist jedoch die Herausgehobenheit des Anlasses für Lena deutlich reduziert. Hannah zieht sich nun damit aus der Affäre, dass sie erst zur zweiten Stunde zur Schule gegangen ist und relativiert das, was sie mitbekommen hat. Dabei belegt sie material, dass sie etwas mitbekommen hat und tut somit dem Kontrollaspekt der mütterlichen Frage genüge. So verweist sie implizit auf Lena als Expertin der Situation und vermag es, sich selbst als aktives Subjekt zu setzen, denn „ich bin zur zweiten“ suggeriert, dass sie selbst darüber entscheiden kann, wann sie zur Schule geht. Hierauf steigt Lena, nach kurzer (aber ungehörter) Intervention des Bruders ein und fragt ihre Schwester, ob sie das Männerballett mitbekommen habe. Lena nutzt also nicht die gesamte Familienöffentlichkeit, sondern stellt eine exklusive Nähe zur kleinen Schwester her. Im Dialog zwischen den Schwestern und vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die kleine Schwester das Männerballett verpasst hat, hat sie nun eine Bühne, auf der sie ihre eigene Erzählung ausgestalten kann: „der herr gerwien hat getanzt“. Hier schalten sich nun beide Eltern ein. Der Vater fragt nach, wer getanzt habe und offenbart sich damit als Nicht-Kenner der Schule seiner Töchter. Zeitgleich lässt sich von der Mutter ein gezogenes „neiiin“ vernehmen, das die Unglaublichkeit des Tanzens von Herrn Gerwien bestärkt. Damit rehabilitiert sich die Mutter gleichzeitig als Gesprächspartnerin. Auch Hannah hebt das von Lena dargestellte Ereignis hervor: „ne das is so peinlich der herr gerwien“. Indem sie den Namen wiederholt, antwortet sie zugleich 184
auf die Frage des Vaters. Die Kusine Lucy versucht den Namen, der noch undifferenziert ist, und bei dem sich die Unglaublichkeit des Tanzens nur über konkrete Vorstellungen zu seiner Person zu vollziehen scheint, näher zu bestimmen. Durchbrochen von Hannahs „das sah so geil aus“, womit diese dokumentiert, doch etwas vom Männerballett mitbekommen zu haben, formuliert Lucy ihre Annahme, Herr Gerwien sei „doch sowieso schwul“. Hier greift Lena ein und führt aus, dass Herr Gerwien Sportlehrer sei, was wiederum von der Mutter durchbrochen und ausdifferenziert wird: „sport und mathe“. Lena bringt ihre Erläuterung für die Kusine zu Ende: „nein das is der herr thomas“. Damit befindet sie sich wieder auf der peer-Ebene und ignoriert die Ausdifferenzierung ihrer Mutter, um wen es sich bei Herrn Gerwien handelt. Mittelpunkt der Interaktion ist deutlich Lenas Schwester Hannah. Sie sorgt dafür, dass Lena re-integriert wird und am Familienleben Anteil nimmt, auch wenn sie in der Familie offensichtlich als Expertin für schulische Belange gilt. Diese Konstruktion wird jedoch an der Stelle tendenziell missachtend, wo Hannah immer wieder als Expertin angefragt wird, das eigentlich für Lena den Status des Herausgehobenen besitzt. Hannah arbeitet dabei strategisch geschickt an der beständigen Vermittlung zwischen Lena und ihren Eltern, indem sie immer wieder die Besonderheit für Lena in den Vordergrund stellt und selbst behauptet, bei zentralen Aufführungen nicht dabei gewesen zu sein, obwohl sich hinterher herausstellt, dass sie das Männerballett – zumindest den ‚peinlichen‘ Auftritt von Herrn Gerwien – mitbekommen hat. Während die Mutter, die zuvor bei der Interaktion der beiden Schwestern außen vor war, über die Bestätigung der Unglaublichkeit, dass Herr Gerwien getanzt hat, wieder Rehabilitation als Gesprächspartnerin erfährt, deutet sich schließlich eine latente Konkurrenz um den Expertenstatus zur Schule an, indem sie Lenas Ausführungen zu Herrn Gerwien ausdifferenziert. Lena gelingt es jedoch sich auf der Peer-Ebene zu behaupten, indem sie die Ausführungen ihrer Mutter ausblendet und ihrer Kusine erläutert, bei welchem Lehrer es sich um den handelt, der schwul sei. Die Positionierung Lenas vollzieht sich damit sehr stark über die familialen peerBeziehungen, während die Beziehung zur Mutter eher konkurrent scheint. Beide Eltern werden von Lena zurückgewiesen und distanzierend behandelt. Die indifferente Generationsbeziehung, die sich an dieser Stelle als Konkurrenz um die Integration in den schulischen Zusammenhang erweist, wirkt dabei dem eingeschränkten Handlungsraum in der Familie entgegen, der dadurch entsteht, dass die Eltern (hier insbesondere die Mutter) der Schwester – selbst bei herausgehobenen Anlässen wie dem Schulabgang – eine gesteigerte Aufmerksamkeit widmen, während Lena weniger im Aufmerksamkeitsfokus steht. Im weiteren Verlauf versucht Hannah wieder Lena zu integrieren: Hannah: ‘dann habt ihr mit götterspeise geworfen’ (spricht mit vollem mund) Lena: nee, wir nich Vater: auf wen denn Hannah: aber irgend jemand hat mit götterspeise geworfen Lena: ⎣((soll ich dir ma sagn)) wir hatten dreißich liter götterspeise Tobias: ‘nä’ (spricht mit vollem mund) Hannah: und die hat ((gerwien)) voll aufn kopf bekommen Hannah+Tobias+Lucy: (kichern) Lena: mit den schönen blonden haaren Mutter: ((unverst., 3 sek.)) Hannah: ⎣in der pause (leicht affektiert) Vater: dreißich liter , wer hattn die , ‘wer hattn die gemacht’ (fragend) Lena: stefanie und anna
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Vater: (kichert) Lena: soooo einen bottich Mutter: und die gestern ham die , als die das rumgefahren haben , ham anna und stefanie den ganzen pott abgekrischt (.) weil die mutter von der steffi gebremst hat (schmatzt) anna meinte (schmatzt) es war noch flüssich Vater: ‘oh no’ (englische aussprache) Mutter: ‚und anna war von oben bis unten mit grünem wackelpudding’ (spricht mit vollem mund) Vater: (kichert) Tobias: bäh Mutter: so kam sie bei an der fichte an Vater: völlisch beschüttet ‘oder was’ (fragend, mit vollem mund) Lena: des hat so geklebt und des hat so, boah des war so eklich Vater: ‘was hattsen da gemacht’ (fragend) , nach hause gefahrn Mutter: ⎣nach hause gefahrn , und geduscht Vater: och wie hart
Lena verhält sich zunächst abweisend gegenüber der Plattform, die die jüngere Schwester ihr bereitet. Doch Hannah bleibt beharrlich. Auch hier versucht sich der Vater teilnehmend einzubringen, doch Lena sucht wieder die exklusive Beziehung zu ihrer Schwester: „soll ich dir mal sagen wir hatten dreißich liter götterspeise“. Im dyadischen Zusammenspiel entfalten Hannah und Lena nun die Geschichte, dass (wieder) Gerwien die Götterspeise „voll aufn kopf bekommen“ hat – „mit seinen schönen blonden Haaren“. Der Bruder, die Mutter und der Vater werden damit zu Zuschauern einer schwesterlich gemeinschaftlichen Inszenierung von Lenas Besonderung. Hier bringen sich nun Lenas Eltern wieder ein. Zunächst fragt der Vater interessiert nach und Lena erzählt, wer die Götterspeise gemacht habe. Bestätigt durch das Kichern stellt sie dann lebhaft dar, wie viel Götterspeise die Schüler mitgebracht hatten. Dabei wird sie von der Mutter abgelöst, die die Geschichte um die Menge der Götterspeise ausschmückt und sich als Mitwisserin um das zustande Kommen des Zehnerstreichs erweist. In ihrer Darstellung benutzt sie die Namen der Klassenkameradinnen ihrer Tochter wie die von alten Freundinnen, während sie die Mutter einer Klassenameradin Lenas auch mit „die mutter“ beschreibt. Damit wird sie selbst zu einer Mitschülerin – handelt ganz im Sinne der Schulleiterrede auf der gleichen Ebene. Die Mutter Lenas beansprucht hier also, ebenso involviert wie ihre Tochter zu sein. Damit wird die eigene Positionierung Lenas im familialen Rahmen problematisch. Sie kann keinen eigenständigen Schulbezug entfalten und unterliegt im Vergleich zu ihrer Mutter im Kampf darum, wer die bessere Schülerin ist. Die Zugehörigkeitsordnung für Lena in der Familie gestaltet sich vor dem Hintergrund einer indifferenten Generationsbeziehung zu den Eltern aus, die ihren Status als Kind nicht würdigt und tendenziell in konkurrente Anerkennungsbeziehungen kippt. Eine Kompensationsmöglichkeit ergibt sich durch die Schwester, die immer wieder an der Reintegration Lenas arbeitet und ihre Besonderung stellvertretend zur Sprache bringt. Während also die Beziehungen von Eltern und Tochter sich in Bezug auf die emotionale Anerkennung als tendenziell problematisch erweisen und Lena die indifferenten Bezugnahmen distanzierend zurückweist, erfährt sie auf der Ebene tatsächlicher Gleichheit – also in Bezug auf die Geschwisterbeziehungen – eine Kompensation und bleibt somit – wenn auch prekär – mit der Familie verbunden.
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4.4.2.3
(Selbst-) Marginalisierung als Individuationsermöglichung Interv.: erinnere dich bitte zurück an die zeit als du klein warst und erzähle von da an ruhig ausführlich wie ‘du’ (betont) dein leben bis heute erfahren hast , ‘ja ich werd erst einmal ruhig sein und dir zuhörn’ (schneller) Lena: ‘hmmm’ (gedehnt) , also gut ähm erst mal ham wir in der lüderstrasse ‘gewohnt’ (betont) (I: hmhm) auch hier in ‘mahringen’ (betont) , in ner kleinen wohnung ähm , meine ‘schwester’ (gedehnter) war glaub ich , is da geboorn worden aber ‘war’ (gedehnter) , ‘drei jahre oder dann sind wir umgezogen
Lena nimmt die Erzählung ihrer Biografie aktiv in Angriff („hmm also gut“). Sie setzt möglichen Vorbehalten ihr prinzipielles Einverständnis entgegen und beginnt mit einer lokalisierenden Verortung in einer Wir-Gemeinschaft. Damit setzt sie ihr Selbst stimmig als in eine Gemeinschaft gebunden und verweist darauf, dass mindestens ein Umzug seit dem Wohnen in der Lüderstraße stattgefunden hat. Welche Bedeutung dieser Umzug hatte, kann an dieser Stelle nicht gesagt werden. Der erste eigenständige Akteur, den Lena schließlich einbringt, ist dabei nicht sie selbst, sondern ihre Schwester, die auch geboren wurde, als die Familie in der Lüderstraße wohnte und drei Jahre alt war, als die Familie umzog. Dies räumt der Schwester einen zentralen Stellenwert in der Biografie ein, da sich die Entwicklung nicht an der eigenen Zeiterfahrung bemisst, sondern an der der zwei Jahre jüngeren Schwester. Die Schwester wird damit zum Transformationsinitial und Lena nimmt sich selbst in ihrer familienkonstituierenden Bedeutung stark zurück. Aktiver formuliert hätte sie mit Bezug auf die Schwester formulieren können: „Als meine Schwester drei Jahre alt war, wurde uns die Wohnung zu klein“ – jedoch wird hier gänzlich die Perspektive der Schwester eingenommen und die eigene Biografie wird in der der Schwester verortet. Lena:
ich weiß nicht’ (schneller, leiser) ‘genau’ (betont) (I: hmhm), das war ähm ich kann mich nicht dran erinnern also nur noch so , n ‘paar’ (gedehnter) , ‘bilder im kopf’ (lauter werdend) (I: hmm) (schnalzt), ‘ähm’ (gedehnt) , aber es war glaub ich es war ne schöne zeit=und meine tante hat da noch ‘gewohnt und’ (gedehnter) ‘joa’ (betont) und dann sind wir umgezogen ‘hierher’ (betont) da war ich ‘fünf’ (betont) , ‘fünf ((ja fünf))’ (leiser) ähm , ja ‘riesengroß alles auf einmal’ (betont, lächelnd) mein bruder is dann auch hier ‘geboorn’ (betont) , (schnalzt) ähm ‘joa’ (gedehnter)
Lena ist sich hier unsicher, wie sie die Zeit in der Lüderstraße bilanzieren soll, aber sie glaubt, sie positiv bewerten zu können. Zu Beginn von Lenas Biografie scheint wenig Sicherheit geherrscht zu haben. Lena erwähnt ihre Schwester als ersten und wichtigen biografischen Ankerpunkt, als zweiten ihre Tante, die sie im Glauben erwähnt, es sei eine schöne Zeit gewesen. Die Eltern erscheinen somit nur implizit in der Wir-Gemeinschaft und fallen als signifikante Andere zunächst aus. Die eigene Positionierung als familienkonstituierendes Kind gelingt ihr dabei nicht. Vielmehr erfährt sie sich selbst durch andere Personen hindurch, was auch im folgenden Segment deutlich wird: Lena:
[...] ich spiel ‘klavier’ (betont) , (I: hmhm) ‘mach ich auch schon ganz lange , macht mir auch ganz viel spass’ (leiser) (I: hmhm) (luft holend) weil also wir sind ja auch ne ziemlich musikalische familie=mein papa spielt schlagzeuger also ‘gelernter’ (betont) (I: aha) , meine mama ‘singt’ (betont) also schon , so dass die kinder dann , weitergehn eh klar dass wir da irgendwas machen-meine schwester spielt auch querflöte (gedehnter) mein bruder auch klavier (I: hmhm) , (tief luft holend) ja wir sind also-sind eigentlich mit musik aufgewachsen-mein vater hat n tonstudio unten immer , immer frühmorgens bis abends irgenwelche , musik (betonter, lächelnd)
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Über die Musik gelingt schließlich eine Konstruktion familialer Beziehungen, in der die Eltern einen zentralen Stellenwert haben. Die Musikalität bedeutet dabei Kontinuität und impliziert Vergemeinschaftung zu einem familialen Handlungsraum. Dieser wird nicht durch die Generationsdifferenz konstituiert, sondern erfolgt fast wie die Besetzung eines Orchesters, bei dem die Musiker jeder einen eigenen Stellenwert haben und über die Orientierung „musikalische Familie“ zum gemeinschaftlichen Handeln befähigt werden. Bis hierhin zeigt sich der familiale Handlungsraum als riskanter Handlungszusammenhang für Lena, da sie keine abgesicherte eigenständige Position hierin besetzen kann. Die Eltern fallen als signifikante Andere ihrer biografischen Verortung aus. Positive Bezüge werden über die Schwester und die Tante hergestellt. Ein sicheres, geschütztes und um sie zentriertes Aufwachsen ist Lena damit zu einem sehr frühen biografischen Zeitpunkt nicht gewährt. Es muss angenommen werden, dass die Beziehungen der Eltern zum Zeitpunkt ihrer Geburt noch viel Unsicherheit impliziert hat und erst mit der Geburt der zweiten Tochter und im Laufe von deren Heranwachsen auch die Konstitution der Familie gelungen ist. Damit kommt der Schwester in Lenas Biografie (dies wurde ja auch in der Familieninteraktion deutlich) eine zentrale Rolle zu. Über sie gelingt es Lena, ihre Familie als Zusammenhang zu entwerfen. Einen weiteren wichtigen Stellenwert nimmt die Musikalität der Familie ein. Dabei besetzt Lena die Positionen der Familie wie in einer Band, ohne jedoch zu entfalten, ob es sich um ein loses nebeneinander existierendes gemeinsames Interesse handelt oder tatsächlich um eine gemeinsam ausgeführte Praxis, über die sich die Familie auch als Einheit darstellt. Lena stellt ihre Biografie im Folgenden vor allem über die institutionellen Handlungsbezüge dar. Zu ihrer Kindheit oder Kindergartenzeit erzählt sie nichts. Lena:
meine frühere ehm ‚grundschule‘ (gehoben) , (schnalzt) kann ich mich ehrlich-gsagt auch nicht mehr richtig so also ich kann mich nicht richtig dran ‚erinnern‘ (gehoben) , weil ich einfach so n . paar bilder halt so die klasse (I: hmhm [leise]) weiß ich bis heute eben aber also sie war- warn schon n teil es war , ‚einfach‘ (gehoben) für mich wenn ich-also ‚heute‘ (betonter) sage ich s war (I: hm) einfach früher war s natürlich ‚grauenhaft‘ (lächelnd) , (schnalzt) ‚ehm‘ (gedehnter) , ja und dann die andre schule jetzt die anna seghers , also ich geh jetzt bald ab , (I: hmhm) ich bin ‚froh dass ich endlich wegkomme‘ (lächelnd) , (I: hmhm [betonter]) aber es war auch also ich denk es war es war wirklich schön eigentlich , es war eigentlich ne schule für mich , geschnitten , (I: hmhm) mit den projekten und so also ‚tausendma‘ (schneller) besser wie gymnasium wo man , (I: hmhm) vorträge melden und sonst nix , (I: hm , hm) , (schnalzt) joa und aber ich freu mich trotzdem dass ich jetzt abgehe , keine lust mehr auf die schule (I: hmhm) Interv.: warum nicht Lena: ich will irgendwas neues irgendwie mal , jetzt einfach , zu zu lange jetzt dort ‚gewesen‘ (gedehnter) und jetzt was neues andre schule andre ‚menschen‘ (gedehnter) (I: hmhm) andre lehrer (gedehnter) . (I: hm [leise]) andres schulsystem , denk ich auch (I: hm) , also irgendwie , es war ehrlich-also-ich fand s wirklich schön ich denk jetzt nicht dass es irgendwie , gott sei dank
Hier artikuliert Lena einen „grauenhaften“ Start in die Grundschule, der lange vorbereitet wird, jedoch nicht weiter ausdifferenziert wird. In Bezug auf die Anna-Seghers-Schule entfaltet sie auch keine biografische Erzählung, sondern gibt lediglich ihrer ambivalenten Haltung zu dieser Schule Ausdruck. Dabei betont sie mehrfach, dass es „schön war“, sie aber auch froh ist, abzugehen. Implizit grenzt sie sich damit von dem Bezugshorizont Gymnasium ab und dem, was sie für die gängige Form gymnasialen Lernens hält, wohingegen sie vom projektorientierten Unterricht doch sehr profitiert habe. Mit der Behauptung „es war eigentlich ne schule, für mich geschnitten“ bringt Lena zum Ausdruck, dass sie die Schule als hochgradig passförmig zu sich empfindet. Jedoch wird diese Passförmigkeit 188
doppelt relativiert – zum Einen durch das „eigentlich“, zum Anderen, indem sie nicht die Erlebnisse in der Schule als Beleg nimmt, sondern die Abgrenzung vom Gymnasium. Hier wird deutlich, dass Lena ihre Passförmigkeit zu Schule überhaupt anzweifelt. Die grundlegende Ambivalenz der Passförmigkeit zur Schule einerseits, der Freude abzugehen andererseits bringt zum Ausdruck, dass Schule insgesamt als sehr eingeschränkt chancenhaft erlebt wird. Dabei wird der Übergang zur Anna-Seghers-Schule familial gerahmt und Lena erlebt sich hier als Mitentscheiderin über ihre Bildungsbiografie: Lena:
[…] meine eltern jetzt die ham mir den vorschlag gemacht also (I: hm [leise]) anna seghers (gedehnter) oder dann gab s noch das gymnasium , beim x-schule m-berg und so , (schnalzt) aber ehm da meine oma jetzt die frau kleis sehr gut kennt mit ihr befreundet is ehm haben meine eltern das halt vorgeschlagen (I: hmm) und ich hab gedacht ja ‚warum nich‘ (gehoben) , ich mein projektschule ich bin gerne so selbständig irgendwelches arbeiten jetzt nich immer da sitzen und , irgendwas zuhörn und dann schreiben , (schnalzt) sondern es hat mich auch irgendwo angesprochen also so die ‚idee‘ (gehoben) überhaupt da hinzugehn fand ich schon ganz gut und gut ,
Zur Auswahl standen in der Familie zwei Schulen: ein Gymnasium und die Anna-SeghersSchule. Lena nimmt dabei den Vorschlag ihrer Eltern an und dokumentiert damit, dass sie Mitsprache- und Entscheidungsrechte hatte, die Eltern jedoch auch um die Entscheidung bemüht waren. Verstärkt hat die Entscheidung für die Anna-Seghers-Schule die Freundschaft ihrer Großmutter mit der Schulleiterin Frau Kleis. Hier wird deutlich, dass es einen Milieubezug geben muss, der über drei Generationen einen positiven Bezug zur AnnaSeghers-Schule ermöglicht. Lenas eigentliche Entscheidung fällt dabei nicht enthusiastisch aus, sondern eher abgrenzend gegenüber anderen Alternativen: „warum nich?“ Die Passförmigkeit, die sie zuvor behauptet hat, kann auch hier nicht vollständig entfaltet werden. Mit dem „es hat mich auch irgendwo angesprochen“ artikuliert Lena vielmehr Diffusion über die Entscheidung und die Passförmigkeit zur Schule. Diese grundsätzlich positive – wenn auch nicht vorbehaltlose – Haltung gegenüber der Schule erklärt nun nicht die tief greifende Ambivalenz, die Lena gegenüber der Schule und schulischem Lernen überhaupt zum Ausdruck gebracht hat. Hier muss die riskante These aufgestellt werden, dass diese Ambivalenz vielmehr darauf basiert, dass die Nähe der Eltern und Großeltern zu dieser Schule so stark ist, dass die Alternative des Gymnasiums keine wirkliche Alternative war. Unter der Bedingung von Lenas Verortungsproblematik in der Familie entsteht hier der Eindruck weit reichender Fremdbestimmtheit, die die Entwicklung einer eigenständigen Haltung zur Schule unterdrückt. Dazu kommen in der Klasse an der Anna-Seghers-Schule Probleme mit den Gleichaltrigen. Lena:
ich mein wenn man dann ga- ganz viel geld hat wo man sich wirklich ‚solche teuren sachen kaufen kann‘ (gehoben) is schön un gut aber es gibt manche-leute das geht einfach nich so wie ich (betonter) jetzt zum beispiel ich hab jetzt keine ‚gucci‘ (gedehnter) , zeug an , (schluckt) un da hat sich das dann einfach irgendwie ‚geteilt‘ (betonter) so , (I: hmhm) (schnieft) weil s einfach wie ‚coolen‘ (betonter, lauter) und die , tja nicht coolen (I: hmhm) (lacht) (I: hmhm) , (schnieft) und also das is einfach der klassenverband-is ‚finde ich bei uns‘ (betonter) total schlecht ,
In ihrer Klasse fühlt Lena sich nicht besonders wohl und anerkannt. Zwar hat sie in ihrer Tischgruppe Freundschaften („meine tischgruppe, das ist so meine welt“), aber sie äußert sich gegenüber dem Rest der Klasse sehr distanzierend. Dies erklärt sie mit der despektierlichen Haltung, die „man“ erfährt, wenn man sich keine teuren Sachen kaufen kann. Lena 189
artikuliert hier, dass sie den Klassenverband als uneinheitlich empfindet und kritisiert die klasseninterne Differenzierung. Dadurch kommt sie in eine prekäre Lage, weil ihr die Möglichkeit der Integration durch teure Markenklamotten verwehrt ist. Als Ideal wird hier ein einheitlicher Klassenverband entworfen, der der Realität diametral entgegensteht. Dies verstärkt nun die ambivalente Haltung zur Schule. Zwar erklärt sie sich mit dem Konzept wie auch mit dem Ansatz des Projektlernens einverstanden und befindet es passförmig zu ihrer Person, aber sie kritisiert, dass in der Klasse eine nicht-integrative Atmosphäre herrscht. Diese hofft sie dann auch mit dem Übergang zu einer neuen Schule loszuwerden. Bewusst entscheidet sie sich gegen das anschließende nahe gelegene Oberstufengymnasium und wählt eine kleine Privatschule für ihren weiteren schulischen Werdegang aus. Die Auswahl hängt jedoch nicht nur mit den problematischen peer-Beziehungen und der befürchteten Anonymität auf dem Oberstufengymnasium zusammen, sondern auch mit einer Selbstproblematik, die im folgenden Segment deutlich artikuliert wird: Lena:
ich mach auch so ne so ne ‚therapie‘ (gedehnter) so ne , (schnalzt) (I: hmhm [leise]) . (haucht) gesprächstherapie is das dass ich weis ich-ich hab noch nich angefangen nach den ferien-ich nehm s an dass s einfach so n bisschen dass , ‚nicht diese blockade da is‘ (lauter werdend, gedehnter) (I: hmhm [leise]) , (schnalzt) ich hoffe ma dass es dadurch besser is und also-im moment is es auch komm ich damit klar eigentlich (I: hmhm) so , un das-is auch weil also die lehrer zum beispiel ‚verstehn das auch voll und ganz , kommt dann nich so du‘ (leiser werdend) ‚musst‘ (betonter) dich jetzt melden oah das wär , ich glaub da würd ich gar nichts mehr sagen , (I: hmhm) wenn ich n richtigen druck kriegen würde , (I: hmhm) Interv.: und eh also warum meldest du dich ‚nich‘ (betonter, gehoben) , obwohl du s ‚weißt‘ (gehoben) Lena: ich hab ‚ja‘ (lauter, gedehnter) das ich ‚weiß-es nich genau‘ (betonter) aber wenn ich ‘dann’ (gezogen) gl=hausaufgabe oder irgendwas vorlegen muss , (luft holend) ich i ärger mich über mich selbst=’warum meldest du dich jetzt nich’ ‘lena’ (zusammenhängend, lauter) aber es geht einfach nich , (I: hmhm) s is einfach irgendwie ne blockade da (I: hm (leise)) , dass du ‘nich machen kannst’ (melodisch) , hab einfach angst davor
Lena thematisiert hier eine Blockade, die sie im Unterricht und im schulischen Geschehen empfindet und die sich als Angst gegenüber den schulischen Exponierungen dokumentiert. Sie geht diese Blockade inzwischen aktiv an, indem sie eine Therapie macht, in die sie die Hoffnung auf Hilfe in Bezug auf die Blockade setzt. In der Schule stößt sie zwar auf verständnisvolle Lehrer, aber sie schildert die Situation des Hausaufgabenvorlegens als solchen Druck, dass sie dann völlig blockiert ist. Dies wird verstärkt durch den Ärger, den sie selbst in der Situation über ihr Verhalten empfindet. In diesem Segment artikuliert sich die Ambivalenz des Schulischen überhaupt. Zwar findet Lena, dass die Schule gute Bedingungen bietet, nicht-konventionell zu lernen, jedoch gelingt ihr der Anschluss an die Selbsttätigkeits- und Eigenaktivitätsideale nicht vollständig. Da es sich jedoch um eine – nach ihrer Darstellung – ideale Schule handelt, in der ihr die Lehrer verständnisvoll begegnen, führt sie die Blockade auf eigene Ängste zurück. Unter der Bedingung, dass die Idealisierung jedoch heteronom gerahmt ist und Lena vor dem Hintergrund ihrer Familie keine Möglichkeit hat, die schulische Ordnung zu kritisieren, bleiben ihr für die Erklärung ihrer Problematik auch nur ihre peer-Beziehungen und ihre eigene Person. Dass die Problematik jedoch auch daraus resultieren könnte, dass Lena in der engen Passung von Elternhaus und Schule die schulisch entstehenden Probleme und eine eventuelle Nicht-Passförmigkeit tabuisiert, reflektiert sie hier nicht. Zunehmend kristallisiert sich hier auf der Basis ihrer prekarisierten Zugehörigkeit zur Familie die Fortsetzung des Anerkennungsdefizits in der Schule. Die optimierte Passung 190
von Elternhaus und Schule impliziert für sie eine Fallenstruktur, da sie hier keinen eigenständigen Möglichkeitsraum findet, ihr Selbst zur Geltung zu bringen: in der Familie erweist sich am Beispiel der Musikalität, dass die Beziehungen im wesentlichen auf Einheit gerichtet sind, auch wenn Lena selbst sich nicht als Teil der Einheit empfindet, weil die Familie sich ja erst mit der Geburt ihrer jüngeren Schwester konstituiert hat. Die Schule erfährt sie ambivalent, weil die Einheit, wie sie in der Familie praktiziert wird, dort reproduziert wird. Zugleich erlebt sie das, was ihre eigenen Bezüge ausmachen könnte – die Gleichaltrigen – als problematisch. Hier liegt mithin eine Erklärung für ihre Ängste und Blockaden, sich schulöffentlich zu profilieren: ihr bleibt nur der Rückzug in sich selbst, der jedoch ihre Selbstverortungsproblematik nicht löst. Lena:
also ehm jetzt im letzten halbjahr an den zeugnissen hatten ehm , (schnalzt) herr christian und ich hatten mit e- , hat n n-gespräch und er hat mir das auch vorgeschlagen (luft holend) und ich hatte mir auch , da schon drüber ‚gedanken gemacht‘ (betonter) (I: hmm) ob ich nich einfach ma , ich weiß je- ich wusste jetzt nicht direkt dass es so eine einzeltherapie is mit so-aber ich hab mir-überlegt ich ‚werd-echt also-jemand suchen der das gleiche problem hat einfach mal‘ (schnell, zusammenhängend, verschluckt) , (luft holend) darüber zu ‚reden‘ (I: hmhm) , und da ehm (gezogen) , hat er mir das halt auch vorgeschlagen und ich meinte auch ja (gedehnter) ich hab mir da-auch schon überlegt und dann (I: hm [leise]) ging s ganz schnell-meine eltern haben dann leute gesucht und herr christian auch (gedehnter) , (I: hmhm) wo man das ‚machen kann‘ (gehoben) (I: hm) , un dann bin ich jetzt ehm , (schluckt) vor fünf wochen bin ich dann ehm zu ner therapeutin gegangen (I: hmhm) un da da hatten wir dann so , kennen’lernen‘ (gedehnter) , stunden (gehoben) (schnalzt) , un da bin ich ganz glücklich un da werd ich dann jetzt auch hingehn (I: hmhm) . joa und ich hoff wirklich dass es also klappt , aber (I: hm) ich ‚denk schon‘ (leiser werdend) , (I: hm) , (I: hmhm)
Herr Christian, der Klassenlehrer bittet Lena, nachdem er ihr Problem bemerkt hat, zu einem Gespräch und legt ihr die Möglichkeit dar, eine Therapie zu machen. Damit trifft er auf Lenas Interesse, die auch schon darüber nachgedacht hat „also jemand zu suchen der das gleiche problem einfach mal hat“. Hier wird nun die Unterstützungsfunktion deutlich, die die Schule gegenüber Schülern haben und einnehmen kann uns die hier über das Schulische hinausgeht. Unter dem Engagement von Herrn Christian wird Lenas Hilfesuche in professionelle Bahnen gelenkt. Dazu kooperieren auch Schule und Elternhaus eng miteinander, denn die Eltern und der Klassenlehrer suchen zusammen nach einem Therapeuten für Lena. Lena schöpft aus dem Gang zur Therapeutin neuen Optimismus ihre Blockaden und Ängste bearbeiten zu können. Die zuvor behauptete Chancenhaftigkeit der Schule, die Lena sehr oberflächlich im Projektlernen verortet, erweist sich nun auf einer ganz anderen Ebene als chancenhaft. Der Klassenlehrer fungiert hier als „Anwalt des Kindes“ und bezieht eine schulübergreifende Position. Er fokussiert dabei weniger auf die schulisch zur Geltung gebrachten Selbständigkeitsansprüche (vgl. Kap. 4.2.2). als vielmehr auf die Übernahme einer fürsorglichen Haltung. Zugleich wird hier nicht reflektiert, dass Schule und Elternhaus selbst einen erheblichen Anteil an der Rückzugshaltung von Lena haben können. Denn die enge Kooperation, die wiederum weit über die Grenzen der Eltern-Lehrer-Interaktion hinausgeht (Herr Christian ist auch ein Freund der Familie und unternimmt mit ihr Wochenendausflüge), kann eine negative Bedeutung für die Individuation beinhalten (vgl. Helsper/Kramer/Hummrich/ Busse 2009). Doch ist auch Herr Christian durch sein tendenziell entgrenzendes Handeln ein Lehrer, dem Lena vertraut:
191
Lena:
zum beispiel mit diesem therapiegeschichte (I: hmhm) ‚ehm‘ (gezogen) hat er [Herr Christian] sich ja auch sofort ins zeug gelegt und es is (I: hm) ja auch n irgendwo n persönliches ‚problem‘ (gehoben) (I: hm) , hat er auch sofort ehm angefangen und kam . gekommen und irgendwie , wenn du , nicht weiterkommst ‚so‘ (gedehnter) (I: hm) , (schluckt) und da ha- also da ha-hab ich auch vertrauen drum dass des a- wirklich , dass er s auch so ‚meint‘ (gehoben)
Gerade hier wird die Ambivalenz der Schule noch einmal besonders deutlich: einerseits scheint die Schule den Möglichkeitsraum für Lenas Individuation zu begrenzen, gerade weil sie der Familie ähnlich ist. Andererseits findet Lena hier Lehrer vor, die vor ihren Problemen die Augen nicht verschließen. Welchen Beitrag jedoch dabei die Schule wiederum selbst an der Begründung der Problematik hat, wird hier nicht reflektiert. Die biografische Rekonstruktion abschließend kann eine Zugehörigkeitsordnung herausgearbeitet werden, welche in eine problematische Selbstverortung mündet. Diese nimmt ihren Ausgangspunkt in der Familie, in der sich Lena nur über die Tante und ihre Schwester sicher verorten kann. Die Beziehung zu den Eltern bleibt dabei unsicher. Sie kann über das allgemeine Interesse der Familie an Musik hergestellt werden, nicht aber über gemeinsame um Nähe und emotionale Anerkennung zentrierte Erlebnisse. Die Prekarisierung, die in Bezug auf die familiale Interaktion bereits angedeutet wurde, kann hier ausdifferenziert werden: Lenas biografische Erzählung dokumentiert ein Anerkennungsdefizit. Die Verortung der Familie im alternativ-künstlerischen Milieu wirkt sich jedoch dominant auf die Freizeitgestaltung, die Schulwahl und die Auswahl der Freundschaften aus. Somit ist der Möglichkeitsraum, den Lena für sich entwerfen kann maximal minimiert: sie kann sich nicht den markenbewussten Klassenkameraden anschließen, wählt eine Schule, die homolog zu den familialen Beziehungen und Orientierungen strukturiert ist und sucht sich Hobbys, die den Familienhobbys nahe stehen. Ihre Selbstimagination zeugt dabei vom Versuch optimaler An- und Einpassung, die jedoch misslingt, weil Lenas Entfaltungsmöglichkeiten auf der Ebene des Realen blockiert werden. Die Therapie steht hier symbolisch für den Versuch, sich aus dem Zwang, sich auf sich zurückziehen zu müssen, zu befreien. Ebenso wählt Lena auch eine Schule im Anschluss an die Anna-Seghers-Schule, die quer zu den üblichen Anschlüssen liegt. Hier deuten sich Bestrebungen an, sich von den vorangehenden Homologiekonstruktionen zu lösen und einen eigenen Weg zu finden, um damit den Möglichkeitsraum der Selbstverortung zu erweitern.
4.4.3 Erik Wagner: personale Missachtung versus utopischer Möglichkeitskonstruktion im Cyberpunk Erik Wagner sitzt zwar in der Mitte des Klassenraumes, hat jedoch in der Schule eine marginalisierte Position inne. Er gehört zur unteren Mitte des Leistungsspektrums und ist Klassensprecher, wobei dies jedoch nach Aussagen des Klassenlehrers und Eriks selbst eher auf eine boshafte Aktion seines Klassenkameraden Florian zurückzuführen ist, denn mit der Wahl ging nicht Anerkennung einher, sondern die Bewusstmachung der Ausgrenzungsbedrohung. Als Anhänger des Cyberpunk stehen ihm bis auf seinen Klassenlehrer alle anderen Lehrerinnen und Lehrer skeptisch gegenüber, denn sie mutmaßen, er wisse gar nicht so recht, worum es hierbei gehe und die hier gezeigte Welt sei doch allzu düster für einen Jungen in seinem Alter. 192
Zusammen mit seiner Schwester und seinem Vater, der Ende 70 ist, lebt Erik in einer Vierzimmer-Altbauwohnung in zentraler Stadtlage. Die Mutter, die um die 40 Jahre alt ist, hat die Familie ein Jahr zuvor verlassen, um mit einem jüngeren Mann zusammenzuleben, hat es aber abgelehnt, Erik mitzunehmen. Eriks Vater ist Künstler (Maler), hat in der Nachkriegszeit Kunst studiert und ist international als Sachverständiger gefragt. Jedoch hat er seit der Trennung von der Mutter eine Schaffenskrise, die ihm die Arbeit an den Bildern unmöglich macht. Ohne das Wissen der Kinder hat er versucht, sich nach der Trennung das Leben zu nehmen. Erik fungiert als seine „Stütze“, während die Beziehung zur Tochter von deren Ablöseprozess getrübt ist. 4.4.3.1 Die schulische Interaktion mit Erik Wagner zwischen funktionalisierender Inklusion und Fremdheit gegenüber seinen jugendkulturellen Orientierungen Das folgende Protokoll wurde im Chemieunterricht aufgezeichnet. Die Klasse behandelt bereits seit mehreren Wochen das Thema ‚Säuren’. Die Lehrerin hat in dieser Stunde Reaktionsgleichungen an die Tafel geschrieben, die von den Schülerinnen und Schülern nachvollzogen werden sollen. Hier entsteht folgende Interaktion. Lehrerin: erik jetz hör mal auf zu malen (4) so , ich behaupte jetz dass weder die kohlensäure noch die säure die da allgemein entsteht noch die schweflige säure eine säure ‘sind’ (betont) (.) ‘warum hab ich recht’ (fragend) (stimmengewirr, 6 sek.) Lehrerin: der erik saachts , dann saachs auch bitte ‘so’ (betont) , dass es auch andere verstehen können
Wir haben es zunächst mit einer disziplinierenden Interaktion zu tun. „erik jetz hör mal auf zu malen“ artikuliert das Interesse der Lehrerin an Eriks Aufmerksamkeit. Sie greift damit direktiv in Eriks Tun ein und begrenzt seine Autonomie, indem sie unterstellt, er sei durch das Malen abgelenkt. Zugrunde liegt hier ein Einheitsentwurf des Lehrerhandelns (alle sollen im Unterricht das gleiche tun), der durchbrochen ist von gelegentlichen Zugeständnissen: im „hör mal auf zu malen“ markiert das Wort „mal“ die Möglichkeit, dass bei anderen Gelegenheiten weitergemalt wird. Auch wenn damit das Malen an sich als respektable Tätigkeit gekennzeichnet wird, wird es in dieser Situation entwertet und als bloße Kritzelei abgetan. Wenn Erik künstlerisch ambitioniert ist, so liegt hier eine Missachtungsfigur vor, die seiner individuellen Besonderung nicht Rechnung trägt. Diese Missachtung dient der Durchsetzung von Konventionen gegenüber Erik, dem damit vermittelt wird, was in dieser Situation angemessen ist und was nicht. Es fordert ihn somit auf, den Status des Individuellen zu verlassen und sich in das allgemeine Tun der gesamten Klasse zu integrieren. Die so strukturierte Lehrer-Schüler-Beziehung beginnt also mit einer dyadischen Bezugnahme, die jedoch im Kern bereits die Reuniversalisierung (vgl. Helsper/Hummrich 2008) beinhaltet: Erik soll mit dem Malen aufhören, um sich ganz dem zu widmen, was alle machen. Nachdem die Lehrerin Erik Zeit gelassen hat, sein Malen zu beenden, strukturiert sie mit „so“ ihre Anschlussthese. Hier findet nun die Reuniversalisierung statt, indem die Lehrerin die Frage an die gesamte Klasse richtet. Damit kommt zum Ausdruck, dass Erik hier als Vehikel gedient hat, um die Aufmerksamkeit der Klasse zu binden. Er dient jedoch hier nicht als Krisenlöser für eine misslingende Unterrichtssituation, sondern die Krise (des Malens) wird von der Lehrerin erst als solche geschaffen, als gelegentliche Krise markiert und Erik auf den Unterricht zurückbezogen. Wir haben es hier also nicht mit einem Fall zu 193
tun, in dem eine Person exponiert wird, um einen ins Stocken geratenen Unterricht weiterzubringen, sondern die Lehrerin hält den Unterricht von selbst an und setzt damit einen Aufmerksamkeitsfokussierer, der an Erik deutlich gemacht wird. Bei Erik handelt es sich damit nicht um einen besonders passförmigen Schüler, sondern um einen Schüler, der gerade nicht besonders gut passt und hier erst in den Unterricht eingepasst werden muss. Gelingt dies, so hat die Lehrerin ein Exempel statuiert: sie hat auch die Aufmerksamkeit des am wenigsten passförmigen Schülers gebunden und damit sichergestellt, dass alle Schülerinnen und Schüler aufmerksam sind. Mit der Schließung der Frage „warum hab ich recht“ verweist die Lehrerin nun darauf, dass die zuvor aufgestellte These wahr ist. Damit hat sie das Ergebnis bereits vorweggenommen, ohne den Beweis zu bringen. Dieser soll nun durch die Schüler gebracht werden. Es folgt eine sechssekündige Pause, in der Stimmengewirr herrscht, das heißt, die Schüler unterhalten sich nun unspezifiziert miteinander. Hier wird eine Unterrichtsatmosphäre deutlich, die mit nur wenigen Strukturierungsmaßnahmen auskommt. Nach diesen sechs Sekunden hat Erik offensichtlich für die Lehrerin, aber nicht für das Aufnahmegerät wahrnehmbar eine Antwort formuliert. Er versucht somit die Inklusionsmaßnahme der Lehrerin zu nutzen, um eine exklusive Lehrer-Schüler-Dyade (Helsper/Hummrich 2008) herzustellen. Hiermit scheitert er jedoch: die Lehrerin exponiert ihn wiederum. Zwar zeigt sie, dass sie ihm Gehör geschenkt hat und würdigt seine Antwort als richtig (sie hätte auch eine offensivere Form der Disziplinierung wählen können, indem sie etwa sagt: „Melde dich bitte, wenn du etwas zu sagen hast“). Aber sie verweist auch darauf, dass er sich mit seinem Antwortverhalten in die Klasse einzupassen hat. Wäre dies nicht der Fall, so wäre die Antwort Eriks nicht „klassentauglich“ (ebd., S. 52, sowie: Helsper/Ullrich/ Stelmaszyk/Graßhoff/Höblich 2006) und es wäre nicht möglich an Erik das Unterrichtsregelwerk zu exerzieren. Die Zugehörigkeit zum Unterricht wie zur Schule insgesamt wird damit von der Lehrerin erzwungen, indem sie Erik auf das Einheitskonzept des Unterrichts bezieht und ihm emotionale und personalisierte Anerkennung verweigert – zugunsten einer moralischen Anerkennung, die ihn als Gleichen inkludiert. Die Erfahrung von Besonderung für Erik ist damit eingebunden in die Bezugnahme auf das Allgemeine: er wird nur zu dem Zweck besondert, damit die Universalisierung stattfinden kann und der Einheitsentwurf gelingt. Erik schließt nun an: Erik:
‘ja’ (gedehnt, überlegend) , da is ja gar kein hydroniumion bei und das , ist ja ein wichtiger bestandteil der säure Lehrerin: ja (3) also , is gar kein hydroniumion dabei was kann denn die säure die dann entsteht gar nischt machen (fragend) (2) jannis
Erik bezieht sich ratifizierend auf die Lehreraufforderung und gibt die korrekte Antwort. Die Reorganisation der Unterrichtsordnung ist damit durch seine Inklusion gelungen. Dem Fortgang der Thematik steht nichts mehr im Weg. Die Lehrerin bestätigt dies sehr knapp mit einem „ja“ wiederholt die Antwort und leitet direkt über zur nächsten Frage, die wieder an einen anderen Schüler gerichtet wird. Zugleich sichert Erik durch seine Anpassung die Position der Lehrerin ab, denn er erkennt sie als diejenige an, die Strukturierungsmacht besitzt und legitimiert ist, dominante Ordnungsvorstellungen zu entwickeln. Die hier entfaltete Zugehörigkeitsordnung basiert auf der Orientierung der Lehrerin an umfassender Inklusion und Einheit stiftenden gemeinschaftlichen Lernens. Dabei blendet sie jedoch aus, dass Erik hier eine andere Orientierung artikuliert: zunächst bezieht er sich 194
mit dem Malen auf eine individualisierte Haltung, mit der er sich situativ dem Unterrichtsgeschehen entziehen kann. Damit distanziert er sich implizit von der inklusiven Haltung der Lehrerin. Die Inklusion, die diese dann verlangt, versucht er wiederum zu nutzen, um eine exklusive und persönlich anerkennende Beziehung herzustellen. Doch auch dies konfligiert mit der Ordnungsstruktur, die von der Lehrerin vorgegeben wird: ihr an Einheit und Gemeinschaftlichkeit orientierter Entwurf misslänge, würde sie sich an dieser Stelle auf eine exklusiv dyadische Beziehung einlassen. Hier verkennt sie jedoch das subjektive Bedürfnis Eriks, individuell und personal zugleich anerkannt zu werden. Die Interaktion mündet so in eine inklusiv intendierte, aber auf die Bedingungen der Exklusion aufmerksam machende Beziehung. Eriks Bedürfnissen wird dabei nur minimalisiert Rechnung getragen, indem er als Beiträger zur Sache anerkannt wird. Dabei handelt es sich bei der hier vorgestellten Interaktion noch um eine, die Erik in seinen Orientierungen – wenn auch nur minimal – würdigt. Das Malen als Ausdruck der individualisierten Orientierung soll ja nur für den Moment eingestellt werden. Wie weit reichend jedoch die Zurückweisung Eriks im Unterricht sein kann, wird im Folgenden ethnografischen Protokoll aus einer Englischstunde deutlich, in der Erik einen Vortrag über Cyberpunk halten soll. Als Lena und Linda sich gesetzt haben, geht Erik nach vorne. Er benötigt fünf Minuten, um den Fernseher aufzubauen und bereitet die Tafel vor, indem er Computerausdrucke anklebt. Auf der linken Seite steht das Wort „Cyber“ auf der rechten „Punk“ und in der Mitte „universe“. Sein Vortrag hat damit das Thema: „cyberpunk universe“. Er erklärt die Begriffe „cyber“ und „punk“ und stellt daran die Bewegung des „Cyberpunk“ dar, die er explizit von „Fantasy“ abgrenzt. Zur Untermalung legt er eine CD ein und spielt Musik im Stil des Industrial/Dark Wave, die er zunächst laut macht und dann leise nebenher laufen lässt. Im Vortrag stockt er mehrmals und trägt stotternd vor. Die Lehrerin lässt Dennis die Musik abschalten, ihr sei das zu viel Nebengeräusch. Erik legt nun ein Video ein und führt als Beispiel für „Cyberpunk“ Ausschnitte aus dem Film „Bladerunner“ vor. Danach fragt die Lehrerin: Lehrerin: is this town fantasy or reality Erik: das ist cyber, fantasy und cyberpunk sollte man trennen, auch aliens sind was anderes Lehrerin: i’m confused about cyber punk Florian: was is der unterschied zwischen aliens und cyber punk Erik: politischer aspekt Lehrerin: das ist nicht meine welt, das ist ja klar aber ich würde es gerne verstehen Erik erklärt, dass es sich um eine „Wunschwelt“, wo es nur Gut und Böse gibt: es gibt Mächtige, die böse und nicht Mächtig, die gut sind. Die Guten kämpfen gegen die Mächtigen und wollen die Menschen befreien. Lehrerin: wieso soll die welt schöner und freier sein, wenn da auch die mächtigen und reichen regieren Erik: ja wegen der punks, die auf der straße leben, die eigentlich abschaum sind, die kämpfen gegen das system und wollen dann eigentlich beherrschen Lehrerin: und das ziel ist, dass die punks dann beherrschen Es klingelt, die Lehrerin packt ihre Sachen zusammen und sagt im Hinausgehen „bye bye“. Einige sagen „tschüss“.
Die Schüler haben sich die Themen ihrer Referate frei wählen können. So kam ein Vortrag über die Folksängerin Eva Cassidy, der von Lena und Linda vorgetragen wurde, Jannis hatte zuvor über das Medikament Ritalin referiert. Erik hat sich intensiv mit der Gestaltung seines Vortrags auseinandergesetzt. Er hat Anschauungsmaterial und Hörbeispiele mitgebracht und knüpft mit seinem Vortrag bei den Kategorisierungen an, die er in der Klasse als 195
bekannt voraussetzt. Der mit Industrial und Dank Wave unterlegte Vortrag kommt einer Inszenierung gleich. Diese wird jedoch von der Lehrerin gestört, die einen Schüler damit beauftragt, die Musik abzustellen, da diese zu viele Nebengeräusche produziere. Hier liegt eine Missachtungsfigur der individuellen Orientierung Eriks vor, die sich durch die gesamte protokollierte Szene zieht. Denn der Freiheit der Darstellung und dem kreativen Potenzial werden hier enge Grenzen gesetzt, indem implizit eine Ordnungsstruktur bemüht wird, die allein von der Lehrerin vorgegeben wird. Ähnlich verhält es sich mit der Nachfrage zum Film Bladerunner. Mit ihrer Frage „is this town fantasy or reality“ zielt die Lehrerin darauf, dass Erik unterscheidet, ob die im Film gezeigte Stadt auch in der Realität existiert. Erik, der zuvor viel Mühe aufgebracht hat, die Genres Fantasy und Cyberpunk zu trennen, ordnet die Nachfrage jedoch als Frage zum Genre des Films ein. Mit dem Satz „cyberpunk und fantasy sollte man trennen“ verrät er eine normative Orientierung, die sich strikt an die Grenzen der beiden Genres hält. Dabei führt er jedoch nicht aus, warum ‚man‘ dies tun sollte und kann das Wissen, das sich hinter der normativen Orientierung verbirgt nicht entfalten. Vielmehr grenzt er ein weiteres Genre – Aliens – von Cyberpunk ab. Damit gibt sich die Lehrerin jedoch nicht zufrieden. Sie fragt an dieser Stelle allerdings nicht nach, sondern kommentiert: „i’m confused about cyber punk“. Ihre Verwirrung wäre nun leicht aufzulösen, wenn Erik die Gelegenheit nutzen könnte, ihr den Sinn von Cyberpunk zu erklären oder wenn die Lehrerin an dieser Stelle nach einer genauen Abgrenzung des Cyberpunk zu den anderen hier benannten Genres fragen würde. Ihre Konfusion entsteht also weniger aus den verknappten Erklärungsversuchen Eriks, als aus der Vermischung der Unterscheidung von Genres und Realitätsgehalt. Die Lehrerin und Erik reden – vereinfacht gesagt – aneinander vorbei. Dies erkennt die Lehrerin nicht und schiebt intuitiv die Verantwortung dafür ihrem Schüler zu. Florian macht hier einen Rettungsversuch, indem er in Bezug auf Aliens und Cyberpunk nach einer Differenzierung fragt. Hierauf antwortet Erik sehr verknappt „politischer aspekt“ und erinnert damit an das, was er bereits vorher im Vortrag erwähnt hat: beim Cyberpunk geht es um die Auseinandersetzung mit Macht und Herrschaftsstrukturen. Auch hier hakt die Lehrerin nicht nach, um Erik zu verstehen, sondern qualifiziert dessen Interesse einseitig ab („das is nicht meine welt, das is ja klar“). Damit artikuliert sie, dass der Vermittlungsversuch, den Erik mit seinem Referat unternommen hat, gescheitert ist und disqualifiziert Eriks Haltung zu Cyberpunk ist damit grundlegend: er hat es nicht geschafft, sein Thema für die Lehrerin so aufzubereiten, dass sie damit etwas anfangen kann. Dass hier möglicherweise eine Verstehensgrenze der Lehrerin erreicht ist, reflektiert sie nicht. Vielmehr reproduziert sich hier die Missachtungsfigur, die schon im Ausschalten der Musik durch einen anderen Schüler, angelegt wird. Es findet keine Auseinandersetzung mit Erik statt, sondern sie inszeniert sich ihrerseits vor der Klasse als repräsentativ dafür, was nachvollziehbar ist und was nicht. Mit dem „aber ich würds gern verstehen“ öffnet sie die Situation wieder minimal. Erik bekommt eine weitere Gelegenheit, sich zu erklären. Nun steigt er mit dem Begriff der „Wunschwelt“ auf die zuvor explizierte Frage, ob es sich um Fantasy oder Realität handele ein. Er entfaltet das, was an der „Wunschwelt“ fantastisch ist, indem er die Grundprinzipien des Cyberpunk wiederholt: es gibt gut und böse, die Bösen sind mächtig und werden von den Cyberpunks bekämpft. Auch hier setzt die Lehrerin dem Beitrag Grenzen und markiert Unverständnis, das sie als logischen Bruch in der Argumentation Eriks ‚tarnt‘. Mit ihrer 196
Nachfrage, wieso die Welt besser sein soll, in der auch die Reichen und Mächtigen regieren, bringt sie zum Ausdruck, dass sie den Aspekt des Kampfes hier nicht nachvollzogen hat. Erik setzt zu einer neuen Erklärung an: die Punks seien diejenigen, die gegen die Mächtigen kämpfen, damit diese entmachtet werden und dann die Punks selbst herrschen. Hier zieht die Lehrerin ein Resümee: „und das ziel ist dann dass die punks herrschen“. Insgesamt zeigt sich hier eine Zugehörigkeitsordnung, welche sich für Erik als Missachtungsfigur erweist. Indem die Lehrerin grundlegendes Unverständnis gegenüber Eriks jugendkulturellen Orientierungen artikuliert und die Struktur des Unverständnisses und der Konfusion beständig reproduziert, verweist sie darauf, dass es hier nicht um den Inhalt der die Qualität des Vortrages geht, sondern um einen latent zugrunde liegenden Wertekonflikt. Dieser dreht sich um die Akzeptanz expressiver Jugendkulturen, die hier mit ihrer eigenen Vorstellung konfligieren. So hebt sie gerade nicht auf den Vortragsstil oder die Güte des Vortrags ab, sondern auf die Unmöglichkeit, eine Orientierung wie die Eriks nachzuvollziehen. Und auch wenn ihr andere Schüler – wie hier Florian – beweisen, dass man den Vortrag durchaus nachvollziehen kann, bleibt sie bei ihrer Entscheidung und reproduziert die in die Entgrenzungen eingelagerten Missachtungsfiguren beständig. Hier kommt nun eine Paradoxie zum tragen: denn in der Entgrenzung und unzulässigen Herstellung von persönlicher Bezugnahme, ruht eine Distanzierung der Lehrerin von Eriks persönlicher Orientierung. Und indem sie ihm die Position des Anderen zuweist, missachtet sie seine Integrität tendenziell. Sie diskriminiert somit seine Orientierung. Auch wenn sie oberflächlich behauptet, sie sei an Anerkennung orientiert („ich würde es gerne verstehen“), kommt latent eine Entwertung zum Ausdruck, die gerade in der von ihr demonstrierten Unmöglichkeit ruht, Erik überhaupt zu verstehen. Die beiden Zugehörigkeitsordnungen, die hier nun herausgearbeitet wurden verweisen auf ein spannungsreiches Passungsverhältnis von Erik und der Schule. Mit seinem Interesse an Cyberpunk orientiert er sich nicht, wie die Schule dies präferiert, an einem alternativen und kritischen Lebensentwurf, sondern an einer Utopie, die sich gegen die von Verbesserungshoffnung geprägte Dystopie der alternativen Szene richtet. In der Interaktion im Chemieunterricht wird diese Orientierung mit einem Verweis auf die der Orientierung entgegenstehende Ernsthaftigkeit des Unterrichts abgetan. Über diese Entwertung gelingt es, Erik zum Gradmesser der Inklusion zu machen, denn wenn er ganz dabei ist, ist es der Rest der Klasse auch. Die Lehrerin instrumentalisiert somit seine marginale Position, um den Unterricht voranzubringen. In der zweiten Unterrichtssituation haben wir eine Interaktion vorliegen, die sich entgrenzend auf Eriks jugendkulturelle Orientierung bezieht. Nicht die inhaltliche und formale Ausgestaltung seines Referates stehen bei der Diskussion im Anschluss an das Referat im Vordergrund, sondern die Haltung der Lehrerin, die der von Erik entgegengesetzt ist. Dabei gibt sie einer Konfusion Ausdruck, die sie selbst verursacht hat. Die Entgrenzung dient ihr dazu, Eriks Differenz zu ihrer Orientierung zu dokumentieren und sich von ihm zu distanzieren. Die Paradoxie der Anerkennung, die im ersten Beispiel nur tendenziell zum Vorschein kam, kommt in diesem Beispiel voll zum Tragen: Erik wird als Anderer anerkannt, indem ihm gegenüber eine Haltung eingenommen wird, die verstehen will. Damit wird er aber auch nicht als Teil der Gruppe anerkannt, dem die gleichen Einheitsrechte und Teilhaberechte zuerkannt werden. Dies wird – das kann der Kontrastierung vorweg greifend schon einmal gesagt werden – wiederum ganz deutlich im Chemieunterricht, in dem Erik nicht die gleiche Exklusivität wie Anna beanspruchen darf. 197
4.4.3.2 Die Inklusion in die Familie als Fallenstruktur Die vorliegende Interaktion wurde während eines nachmittäglichen Teetrinkens von Erik und seinem Vater aufgezeichnet. Vater und Sohn sitzen dabei an einem rechteckigen Tisch in der Altbauswohnung im Innenstadtbereich von Mahringen und essen Kuchen. Dabei fällt auf, dass der Vater den Sohn sehr fürsorglich behandelt und anfangs mehrmals aufsteht, um ihm dieses oder jenes aus der Küche zu holen – unter anderem einen Strohhalm, damit Erik seinen Tee besser trinken kann, weil er zu viel davon in seine Tasse geschüttet hat. Zunächst geht es um Angelegenheiten des Haushalts und die Anschaffung einer Digitalkamera. Dann beginnt der Vater ein neues Thema, bei dem es um die vor einem Jahr ausgezogene Mutter geht, die nun mit ihrem Lebenspartner einige Straßen weiter entfernt lebt, es nach Aussage des Vaters jedoch abgelehnt hat, Erik mitzunehmen. Vater:
die mutter will en bild ham
Herr Wagner nimmt hier auf eine dritte Person Bezug, die nicht mit am Tisch sitzt. Er redet von ihr unter spezifischer Zuweisung einer nahen Position in der Familie, denn sie ist Eriks Mutter. Wenn Herr Wagner nun von „die mutter“ spricht, so kommen zwei Varianten in Betracht: zum Einen wird eine Frau gemeinsam als mit „mutter“ angeredet und es wird über sie gesprochen („was schenken wir denn der mutter zum geburtstag“). Dann müsste eine geschwisterliche Beziehung angenommen werden, die nicht die Koseform Mutti oder Mama gebraucht, sondern sich distanzierend auf die positionale Bestimmung der Generationsdifferenten bezieht. Zum anderen reden auch Eltern, wenn sie die Position ihres Ehegatten gegenüber dem Kind vertreten von Mutter oder Vater („die mutter will das auch“). Hier müsste ebenfalls angenommen werden, dass nicht die Nähe bekundende Form gewählt wird, sondern eine Form, die sich distanzierend auf die Position des anderen Elternteils bezieht. Freilich wären deutlichere Distanzierungen möglich, etwa wenn der Vater hier von „deine mutter“ spricht und sich damit aus der Beziehung ausschließt; oder wenn er den Namen erwähnt und damit die Eltern-Kind-Beziehung ausschließt – es sei denn Eltern und Kinder reden einander mit Vornamen an und verschleiern somit strukturell die Existenz zweier einander ausschließender Beziehungen: der sexualisierten Gattenbeziehung und der Eltern-Kind-Beziehung, die durch die generationale Differenz geprägt ist (vgl. Oevermann 2001b). Mit „will en bild ham“ bringt der Vater zum Ausdruck, dass er um ein Begehren der Mutter weiß. Es handelt sich nicht um ein spezifisches Begehren, sondern ein allgemeines – irgendein Bild. Es muss also eine Auswahl an Bildern geben, die für die Mutter gleichermaßen in Frage kommen. Wenn nicht bereits vorher die Trennungsgeschichte der Eltern eingeführt worden wer, so müsste sie spätestens jetzt als Lesart auftauchen: würden die Eltern sich in einer intakten Gattenbeziehung befinden, so müsste der Vater nicht entfremdend von der Mutter sprechen und diese könnte ihren Wunsch in der Familie vorbringen, auch wenn das Begehren eines Bildes, das dem gemeinsamen Hausstand angehört, dann widersprüchlich wäre. Eine Nebenvariante wäre allenfalls, dass sich die Mutter ein von Erik gemaltes Bild zum Geburtstag wünscht und der Thematisierung des Vaters die Frage von Erik vorausgegangen ist: „Was wünscht sich die Mutter denn zum Geburtstag?“ Jedoch scheint hier die entfremdete und distanzierte Beziehung zwischen Vater und Mutter ebenfalls nicht auszuschließen. So kann gefolgert werden, dass neben dem Begehren der Mutter, 198
die Entferntheit ihrer Person vom Vater thematisiert wird. Handelt es sich zudem nicht um ein Bild aus Eriks Besitzstand, so steht hier der gemeinsame Bestand oder Besitz des Ehepaares des zur Disposition. Dabei wird dem Vater umso mehr persönliche Anerkennung entzogen, je mehr er persönlich mit den Bildern verbunden ist. Denn nicht die persönliche Beziehung zu einem bestimmten Bild steht im Vordergrund des Begehrens der Mutter, sondern die allgemeine Verfügbarkeit über „ein“ (beliebiges) Bild. Indem dies nun vor Erik thematisiert wird, wird er auf die entfremdete Beziehung hingewiesen und Erik muss sich in der Triade verorten. Vater: Erik:
die mutter will en bild ham hmmh (3) musst du ihr natürlich ‘teuer verkaufen’ (schmunzelnd) (.) ‘nein’ (betont) ja wir müssen die bilder sowieso mal verkaufen ; und du musst mal , malen (.) langsam wieder (2)
Erik beginnt zögerlich, sich zu der väterlichen Problematisierung zu verhalten. Sein schmunzelnd hervorgebrachter Satz „musst du ihr natürlich teuer verkaufen“ mach das Bild zum Konsumobjekt und verortet die Beziehung von Vater und Mutter als ökonomisch strukturiert. Damit ziehen Vater und Sohn Gewinn aus dem Begehren der Mutter. Zudem schlägt Erik seinem Vater hier unter der Hand vor, eine Vertragsbeziehung zur Mutter zu unterhalten. Die diffusen Anteile der Beziehung werden damit minimiert, die Beziehung eindeutig in eine distanzierte umgewandelt. Erik sieht diese Beziehungsstruktur möglicherweise durch die Mutter bereits realisiert und hier die Chance, auch dem Vater bewusst zu machen, um welche Art Beziehung es sich hier handelt. Schließlich wird mit dem „teuer verkaufen“ auch deutlich, dass die Mutter viel Geld bezahlen soll: Erik will die Mutter teuer bezahlen lassen, um die Verweigerung persönlicher Anerkennung des Vaters als Künstler zu kompensieren. Denn die Einforderung irgendeines Bildes stellt eine umso größere Missachtung des Vaters dar, je mehr er hier selbst künstlerisch tätig geworden ist. Erik greift somit die Komplexität der Thematik hier intuitiv auf, relativiert aber seinen Vorschlag, indem er ihn ironisiert und mit einem nachdrücklichen „nein“ versieht. Er bettet daraufhin den Vorschlag, die Bilder zu verkaufen, in die allgemeine Notwendigkeit des Verkaufs ein, wobei er auf den Wir-Zusammenhang von Vater und Sohn bezieht. Unter dieser Maßgabe liest sich der Vorschlag, auch der Mutter ein Bild zu verkaufen so: Wenn die Bilder ohnehin verkauft werden müssen, damit die gemeinsam erfahrene Geldknappheit bearbeitet werden kann, warum soll nicht auch die Mutter ein Bild wie alle anderen Personen, die außerhalb der Vater-Sohngemeinschaft stehen, erwerben? Die Mutter wird damit zu einer allgemeinen Anderen, die als mögliche Käuferin und Interessentin in Betracht kommt. Eriks Beitrag liest sich somit als Bearbeitungsversuch der komplexen Beziehungsproblematik zwischen Vater und Mutter und zwischen Mutter und Sohn. Gleichzeitig werden die gemeinsamen ökonomischen Zwänge thematisiert, denen Vater und Sohn unterlegen. Das Bild wird in diesem Zusammenhang zur Bearbeitungsform, über das die gesamte Problematik der Kleinfamilie ausagiert wird: Der Vater beklagt eine entfremdete Beziehung zur Mutter, entfaltet aber über das Bild eine Möglichkeit, mit ihr in Kontakt zu treten. Erik tritt in eine distanzierte Beziehung zur Mutter, belässt aber die Behauptung, dass der Vater dies auch tun müsse, im Impliziten. Gleichzeitig solidarisiert er sich mit seinem Vater, wenngleich er ihn auch mit Verweis auf die ökonomischen Zwänge in die Pflicht nimmt. Der Vater kommt nun in eine Dilemmasituation: Kommt er Eriks Vorschlag nach, so gelingt ihm möglicherweise auch eine Distanzierung von der Mutter und er wäre gleichzeitig die ökonomischen Sorgen los. Doch zeigt sich gerade in der Artikulation des Wissens 199
um das, was die Mutter begehrt, die Hoffnung auf eine Beziehung. Diese würde der Vater jedoch aufgeben, wenn er die diffuse in eine ökonomische und damit spezifische Beziehung umwandeln würde. Erik ist hier derjenige, der sich von der Mutter distanziert und in eine Sorgebeziehung zum Vater eintritt. Die Generationsbeziehungen kehren sich damit um (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009). Erik wird zu jemandem, der um die ökonomischen Zwänge weiß und ihnen Rechnung trägt, indem er den Vater an seine Fürsorgepflicht erinnert. Besonders deutlich wird dies in dem Satz „du musst mal malen . langsam wieder“. Hier wird der Vater als Versorger angesprochen und gleichzeitig wird nach einer Möglichkeit gesucht, die umfassende Schaffens- und Identitätskrise des Vaters zu überwinden. Vater: Erik: Vater: Erik: Vater: Erik: Vater: Erik: Vater:
wir machens so (2) wenn die eva maria rübergeht , dann geb ich ihr einfach mal soll se ein zwei mitnehmen um zu kontrollieren ob das überhaupt in ihre wohnung ‘passt’ (betonter) ‘ne’ (fragend) hmhm (5) muss halt nur damit rechnen dass der michael , sich ne farbe nimmt (.) und was weiß ich über das bild ⎣(lacht leicht) irgend nen ‘mist’ (betonter) schreibt (lacht leicht) ‘wieso’ (betont, fragend) der michael hat doch gar nichts gegen dich na ja doch (.) sonst würde er doch den hörer nicht aufknallen wenn das nicht wär ach das war-is schon ‘so’ (betont) lange her (6) langsam hat er schon nichts mehr gegen ‘dich’ (betont) (2) und da solltest du ‘auch’ (betont) ((unverst., 2 sek.)) werden die mami hat gesacht dass se immer noch so krank is
Der Vater entwirft nun stellvertretend für den „wir“-Zusammenhang der Vater-SohnBeziehung ein Handlungsmodell. Er setzt dabei auf einer ganz anderen Ebene an als der von Erik vorgeschlagenen: Die Schwester von Erik, Eva-Maria soll zwei Bilder mitnehmen, um „zu kontrollieren ob das überhaupt in ihre wohnung passt“. Damit instrumentalisiert Herr Wagner nicht nur seine eigenen Werke, sondern auch seine Tochter, die zur Kontrollinstanz wird oder, überspitzt ausgedrückt: zum verlängerten Arm des Vaters. Die implizite Zurückweisung der Vorschläge des Sohnes, mit denen dieser sich auch gegen eine derartige Funktionalisierung verwehrt hat, wird hier bearbeitet, indem versucht wird, die Tochter einzuspannen. Der Vater gibt sich damit der Illusion hin, eine Beziehung aufrechterhalten zu können, die als Ehegattenbeziehung faktisch nicht mehr existent ist. Vielmehr erfolgt die Beziehung nur über die Kinder. Der damit produzierte imaginäre Entwurf einer kompletten Zwei-Generationenbeziehung, die auf insgesamt diffundierenden Nähebeziehungen gründet, scheitert daran, dass die Beziehung zur Partnerin nicht mehr unter Ausschluss der Kinder stattfinden kann, sondern im Gegenteil die Kinder gerade dazu genutzt werden müssen, um dem verkennenden Entwurf einer triadischen Struktur aufrecht zu erhalten. Eriks Zustimmung fällt entsprechend verhalten aus. Der Vater steht jedoch offensichtlich unter Zugzwang und problematisiert in diesem Zusammenhang die Beziehung zu Michael, dem neuen Partner der Mutter. Dieser erscheint als jemand, der die Bilder nicht würdigen kann und sie entweiht. Hier bestätigt sich nun vollends, dass die Bilder als symbolischer Zugriff des Vaters auf die Mutter dienen sollen. Der Freund der Mutter erscheint hier als jemand, der die verkennende Illusion der Möglichkeit, die Beziehung fortsetzen zu können, zerstören kann. Erik setzt dem die Faktizität der Existenz von Michael entgegen, der ‚gar nichts’ gegen den Vater habe. Erik zu Folge erkennt Michael den Vater also moralisch an, er sieht ihn als Anderen an, der nach universalistischen Kriterien respektvoll zu 200
behandeln. Der Vater hält nun dagegen, dass Michael ihm persönliche Missachtung entgegenbringe, indem er gewaltförmig handelt, wenn Herr Wagner ihn anruft. Erik versucht auch hier, deeskalierend auf den Vater einzuwirken und gibt ihm den Tipp, dem Beispiel von Michael zu folgen (nichts gegeneinander haben). Hier reproduziert sich die oben genannte Struktur der Distanzierung von Herrn Wagners Haltung und des Versuchs, die Beziehung in eine funktionale zu überführen. Jedoch verhallt auch dieser Versuch wieder ungehört. Herr Wagner führt ein „die mami hat gesacht dass se immer noch so krank is“. Offenbar hat der Vater in irgendeiner Weise Kontakt zur Mutter aufgenommen (sei es über die Tochter, sei es selbst). Dieser Kontakt bedeutet die Möglichkeit eines Versuchs, an eine diffuse Beziehung zur Mutter anzuschließen. Die Fassade der Entfremdung und Distanzierung bricht hier völlig in sich zusammen, denn Herr Wagner benutzt hier eine kindliche Koseform, die ansonsten nur von kleinen Kindern verwendet wird. Hier kommt also die verkennende Illusion der Beziehung völlig zur Entfaltung, in der Herr Wagner seinen Wunsch von Einheit, Nähe und Anerkennung durch die Mutter in die Nennung der Koseform legt und dabei die Entfremdungsmomente systematisch ausblendet. In der hier benannten Verkehrung der Generationsdifferenz liegt nun eine Zugehörigkeitsordnung begründet, die Nähe, Einheit und emotionale Anerkennung imaginiert, aber dazu die faktische Existenz von Distanz, Differenz und Entfremdung verkennen muss. Die familiale Einheit wird damit zu einer Utopie, die der Zerrissenheit der Familie entgegengehalten wird. Erik wird zur Symbolfigur des Realitätsprinzips: er hat die ökonomischen Zwänge der Familie im Blick und versucht der Verkennung des Vaters (in Bezug auf die ökonomishce Situation und die Beziehung zur Mutter) entgegenzuwirken. Dazu ist es notwendig, dass Erik selbst eine distanzierte und entfremdete Haltung einnimmt. Die Fürsorglichkeit, die an einigen Stellen der Interaktion durchscheint, ist eine Mischung aus dem Versuch, die Gefühle des Vaters zu berücksichtigen, ihn aber zuvorderst auch darauf aufmerksam zu machen, dass es notwendig ist, sich den Gegebenheiten anzupassen. Sein Handeln bedeutet in diesem Zusammenhang auch einen permanenten Rückzug vor den diffundierenden Gemeinschaftsillusionen des Vaters. Gerade dadurch sitzt Erik jedoch familial in einer Falle, denn je mehr er die Einhaltung des Realitätsprinzips verkörpert, desto eher kann sich sein Vater den verkennenden Illusionen einer Beziehungsmöglichkeit zur Mutter hingeben. Wie weit dabei die Verantwortungsübergabe durch den Vater reicht, wird in folgendem Segment aus dem Elterninterview deutlich. Vater:
also er is . praktisch meine (2) er is meine stütze (I: mmh) wenn er nich wär . dann . wär ich wahrscheinlich nich mehr . ich hab äh . als . das auf mich zukam . in einer ersten 'blöden' (betont) situation versucht mirs leben zu nehmen (I: 'mmh' (betont)) die kinder haben das alles nich mitjekricht ich hab das im wildpark jemacht hier bei uns . (I: mmh) im wald (I: mmh) und bin von zwei leuten gefunden worden (I: 'mmh' (fragend)) die haben mir mal die haben mich dann erst mal nach mahringen ins krankenhaus jebracht . mir dann den magen noch mal ausgepumpt . noch mal alles kontrolliert (I: 'mmh' (fragend)) dann durfte ich nach hause gehen . (I: mmh) aber da war ich so weit da wollt ich nich mehr . das weiss keiner das wissen die kinder natürlich nich (I: mmh . mh) ich hatte darum jebeten und auch die polizei jebeten das also möglichst nich öffentlich zu machen (I: mmh mh) völlich schw=schwachsinnich so was zu machen aber (holt kurz Luft) ich war in einer situation . ich habe es . als ich wieder zu hause war jemerkt . was ich fürn quatsch jemacht habe
201
4.4.3.3
Die utopische Konstruktion eines Möglichkeitsraumes durch Cyberpunk Interv.: von ‘schülern’ (gehoben) , erinnere dich bitte mal zurück an die zeit als du gehoben) und erzähle ruhig von da an ausführlich , wie du dein leben bis heute ‘erfahren hast’ (gehoben) , ich werd dann erst mal ruhig sein und dir zuhörn Erik: hmhm was , ‚könnte’ (betont) man so erzählen , ‚alles’ (betont) ‚ja’ (gedehnt) (.) ich hatte eine hübsche kindheit zum beispiel (.) (I: hmhm) (.) die war vielleicht äh , nich unbe äh dingt sehr , ‘erlebnisreich’ (gehoben) , nich vielen was man erzähl äh kann (.) ‘waren’ (gedehnt) auch , nicht unbedingt prägende ‘ereignisse dabei’ (gehoben) , es war alles ‘sehr , sagen wir’ (gedehnt) (.) ‘überhaupt nich’ (.) ‘erlebnisreich’ (betont) (I: hmhm) , ‘ach’ (leise) (3) ‘gibt s keine fragen , dazu’ (leise)
Im Wesentlichen ähnelt der Stimulus den vorhergehenden, jedoch enthält dieser mit dem „erzähle ruhig von da an“ eine therapeutischen Implikation, also einen gewährenden Gestus, der vermittelt, dass es ‚schon in Ordnung’ ist, wenn der andere erzählt. Die damit intentional hergestellte Nähe droht damit entgrenzend zu wirken und ihr kann in zweifacher Weise begegnet werden: zum Einen kann sie aufgenommen werden und beantwortet werden, zum Anderen kann ihr mit einer Begrenzung entgegengewirkt werden. Erik nimmt jedoch den Stimulus verhalten bestätigend an. Gleich darauf distanziert er sich jedoch, indem er fragt „was könnte man so erzählen“. Hier kommt es also nicht zu einer differenzierenden Nachfrage, mit der Erik seine subjektive Positionierung bestimmen könnte, sondern es geht vielmehr um die Frage, wie ‚man’ sich überhaupt in einer solchen Situation verhält. Damit wird eine generalisierte Sichtweise artikuliert, die in Spannung zu der vorangegangenen Aufforderung der hochgradigen Subjektivierung steht. Gleichzeitig liegt eine maximale Form der Selbstdistanzierung vor, denn hier von seiner eigenen Person zu abstrahieren und zunächst einmal im Konjunktiv von den Möglichkeiten des Erzählens zu sprechen, verweist auf eine Befragung der eigentheoretischen Bezüge, die jedoch nur für sich selbst hergesellt werden können. Insofern birgt dieser spannungsreiche Auftakt eine große Schwierigkeit, die Lebensgeschichte als eigene Geschichte seiner selbst verorten zu können. Im Anschluss an die maximale Selbstdistanzierung thematisiert der Sprecher sich selbst. Er ordnet seine Kindheit nach ästhetischen Kriterien („hübsch“) ein und beginnt somit mit einer Bilanzierung einer abgeschlossenen Lebensphase. Dabei verwendet er nicht den Begriff „schön“, der auch auf positive Haltungen schließen ließe, die erfahrungsgesättigt aus der Kindheit gewonnen werden können, sondern er bedient sich eines Begriffes, der nur auf äußere Kategorien des Schönen zielt, im Sinne des Sichtbaren („schön anzusehen“). Hier kann eine Differenz zwischen Erfahrungsdimension und äußerem Erscheinungsbild ausgemacht werden. Erik erlebt seine Kindheit äußerlich als nicht antastbar, jedoch fehlt ihr zur Ausfüllung dieser positiv gewerteten Unangreifbarkeit die materiale Unterfütterung. Dies kommt dann in den folgenden Sequenzen auch voll zum Ausdruck, wenn er mehrfach betont, dass es sich um keine erlebnisreiche Kindheit handelt. Das hier eröffnete imaginäre Konstrukt einer schönen Kindheit wird in der Symbolisierung durch „hübsch“ bereits gebrochen. In der Wiederholung wird dokumentiert, dass es nicht erlebnisreich war, dass es nicht viel gibt, was man darüber berichten kann und dass hier keine prägenden Ereignisse stattgefunden haben. Die Interpretation, dass hier eine imaginäre Verkennung die Brüche und die mangelnde materiale Unterfütterung des Begriffes „hübsch“ kaschiert, liegt nahe. Erik gelingt es nicht seine Imagination symbolisch zu unterfüttern. So offeriert ihm die Imagination einer schönen Realität nicht genügend kreatives Potenzial, um eine eigenständige Positionsbestimmung vorzunehmen. Die damit brü202
chige biografische Erzählung zeugt somit von fundamentalen Schwierigkeiten der Subjektkonstruktion, die durch die sich durchziehende Wiederholung des „äh“ unterstrichen wird. Weder gibt es distanzierende Bezugnahmen auf den Stimulus, noch kann im Anfangssegment Sicherheit über die eigene Verortung gewonnen werden. Die „hübsche kindheit“ bleibt damit eine leere Hülse, auf die nur resignativ reagiert wird. Und so mündet die Auftaktfigur schließlich auch in ein resignierendes „ach gibt’s keine fragen“. Hier scheint er vor der Spannung von Selbstentwurf und der Unmöglichkeit diesen einlösen zu können, zu kapitulieren. Die mehrfache Problematisierung, keine Ereignisse benennen zu können, verweist dabei auf eine Steigerung der Strukturproblematik. Denn hier wird deutlich, dass es keinen intersubjektiven Zusammenhang gibt, auf den Erik sich verbürgt beziehen kann. Er findet trotz langem Suchen nichts, was es ihm wert erscheint, erzählt zu werden und verortet sich damit nicht in der Nähe von signifikanten Anderen. Dies unterstreicht de Hülsenhaftigkeit der Wendung „hübsche kindheit“. Weder die Familie, noch die Schule oder andere Handlungsbereiche stellen Handlungsräume dar, in denen eine Selbstverortung gelingt. Interv.: doch doch es gibt noch fragen (lachend) , aber ich kann ja ma so nachfragen vielleicht ähm . also , w- wie , wie ‚war’ (betonter) denn für dich als kind also was hast du so , gemacht gerne , wie war so deiner beziehung zu die-nen ‚eltern’ (gehoben) , zu deinen geschwistern wenn du welche hast und so weiter , und wie hat sich das dann bis heute , entwickelt Erik: ‚ja’ (gezogen) , ich war ein sehr kreativer junge, das kann man schon mal sagen (gehoben) äh (gedehnter) und äh , ja habe äh mich gern eh- kreativ betätigt , das verhältnis zu eh- meinen eltern u- äh geschwistern , war im-mer eh- eh- sehr gut o.k. ich hab nur eine schwester eh- , ähm es war auf jeden fall immer äh e- sehr gut , was äh- äh- sich dann ‚eher später’ (gedehnter) , änderte weil s sich s dann äh (I: hmhm) .. weil ich hab das auch äh- e- nie anders äh- erlebt- ich , (I:hmhm) muss äh-
Eriks Zweifel an der Interviewführung wird nun mit einem doppelten Widerspruch begegnet und seiner Resignation entgegengewirkt. Jedoch gelingt hier kein unmittelbarer Anschluss an die Behauptung es gebe noch Fragen. Wieder steigt die Interviewerin mit einem Widerspruch ein („aber ich kann ja ma so nachfragen“). Hier kommt eine Erwartungswidrigkeit zum Ausdruck, mit der sich die Interviewerin implizit auseinandersetzt. Sie muss sich hier ihrerseits neu verorten, indem sie nicht als Zuhörende agiert, sondern als Fragende. Der Widerspruch liegt somit im Positionswechsel, der – dies zeigt der Anschluss – nicht unmittelbar gelingt. Nachdem bei der Fragestellung im Stimulus keine Selbstpositionierung gelingen konnte, bietet die Interviewerin jetzt konkretere Bezüge für Erik an. Dabei benennt sie mit einer Frage nach der Erlebensqualität und schließt direkt an mit einer weiteren Frage danach, was Erik „so gemacht“ habe. Damit zielt sie auf die Erlebnisse, die hier material unterfüttert werden können. Hier schließt sich ein weiterer Fokus an, der bislang von Erik tabuisiert wurde: die Eltern und Geschwister. Dieses weite Spektrum wird schließlich noch einmal geweitet: „und so weiter“. Die Interviewerin geht somit auf die zuvor markierten Entthematisierungslinien ein, benennt sie exemplarisch und fragt danach, wie sie die Erlebnisse und Beziehungen bis heute entwickelt haben. Hier offenbart sich nun die komplexe Anforderungsstruktur erneut. An die Stelle einer Komplexitätsreduktion, wie sie implizit von Erik gefordert wurde, tritt unter dem Deckmantel der Konkretisierung der gesamte Erwartungshorizont der Interviewerin hervor und sie knüpft weniger an das an, was von Erik benannt wurde, als an ihren eigenen Erwartungshorizont. Damit entgeht sie,
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obwohl sie minimal konkreter wird, dem Problem nicht, dass hierin mithin eine Überforderung ihres Interviewpartners liegen könnte. Erik beginnt nun seine Antwort wiederum bestätigend und bilanzierend, dieses Mal jedoch mit einer Selbsteinschätzung („ich war en sehr kreativer junge“). Hier legt er – allerdings in der Vergangenheitsform – eine Charakterisierung zugrunde, die mit konkreten Tätigkeiten verbunden ist. Kreativität ist dabei das, was ihn besondert und was ihm vor einem allgemeinen, generalisierten Anforderungsbezug, den er auch hier wieder herstellt, „schon mal sagen“ kann. Erik gibt dabei einer Selbstverortung Ausdruck, die im schöpferischen Bereich angesiedelt ist und die er auch praktisch umgesetzt hat. Allerdings unterfüttert er seine Darstellung auch hier wieder nicht mit Beispielen, indem er etwa Dinge benennt, die er hergestellt hat oder Ereignisse, in denen er kreativ geworden ist. Vielmehr versucht er die komplexe Aufforderung der Interviewerin abzuhaken und geht zu seinen Eltern und seiner Schwester über. In einer krisenreichen Erzählung, die oft abbricht und von Formulierungsschwierigkeiten zeugt, berichtet er, dass er damals (in seiner Kindheit) ein gutes Verhältnis zu seinen Eltern hatte. Der gesamte Passus, der nun die Transformation der Eltern-Kind-Beziehung dokumentiert wird hier jedoch widersprüchlich: „war auf jeden fall immer äh e- sehr gut , was äh- äh- sich dann ‚eher später’ (gedehnter) , änderte weil s sich s dann äh (I: hmhm) . weil ich hab das auch äh- e- nie anders äh- erlebt- ich , (I:hmhm)“. Hier bringt Erik zum Ausdruck, dass das Verhältnis früher gut war, dass es sich jedoch später änderte. Während bei der ersten Lektüre, die hieran anschließende Begründungsfigur darauf verweist, dass Erik die Beziehung immer als gut empfunden habe, weil er sie nicht anders erlebt hat, zeigt sich in der Zerlegung der Sequenzen in: das Verhältnis war gut – es hat sich geändert – der Grund ist, dass er es nie anders erlebt hat, dass das Verhältnis selbst im Nachhinein negativ bewertet wird und die Änderung sich als Einstellungsänderung vollzogen hat. Diese Lesart ist nun auch anschlussfähig an die Annahme der „hübschen kindheit“ als hülsenhafte Umschreibung von etwas, was äußerlich makellos war, jedoch bei näherer Betrachtung nicht material unterfüttert werden kann. Erik:
dacht halt immer dass dass man , seine eltern ‘mögen’ , ‘muss’ (betont) ‘a-ber’ (gedehnt) jetzt bin ich irgend äh wie , auch ein bisschen anderer mei-nung (I: hmhm) , man muss es eh nich eh unbedingt wenn man genau äh e weiß , was für e probleme sie alle habe
Mit einer selbstlegitimierenden Geste verweist Erik auf den Transformationsprozess, der mit der Einstellungsänderung einhergegangen ist. Während er vor einem hier unbestimmten Zeitpunkt dachte „man“ müsse seine Eltern mögen, ist er jetzt anderer Meinung. Wieder rekurriert er dabei auf einen verallgemeinerten Erwartungshorizont, dem er jedoch hier seine Selbstpositionierung entgegenstellt: die Normalitätserwartung: Kinder mögen ihre Eltern, mit der Erik bereits eine zurückgenommene Nähe artikuliert, rekurriert auf weniger distanzierte Beziehungen als auf das, was Erik in Bezug auf seine Eltern empfindet. Er verortet sich hier als jemand, der sich von den allgemeinen Normalitätserwartungen wie von der Familie selbst entfremdet hat, wobei er dies mit „ein bisschen“ relativiert. Aus seiner Distanzierung, mit der er sich in Differenz zu verallgemeinerten Normalitätserwartungen setzt, erwächst eine Besonderung: ich bin anderer Meinung. Dies ist eine Selbstsetzung, die sich sowohl von den familialen Beziehungen als auch von den diesbezüglichen Normalitätserwartungen absetzt. „man muss es nich eh unbedingt“ artikuliert in diesem 204
Zusammenhang eine neue generalisierte Regel, die jedoch an ein Bedingungsgefüge gebunden ist: wenn man weiß, welche Probleme die Eltern haben, muss man sie nicht mögen. Erik arbeitet hier an seiner Neuorientierung und -positionierung in Bezug auf seine Familie. Dabei dienen ihm die hier gemachten Erfahrungen nicht als kreatives Handlungspotenzial, sondern er schöpft sich selbst quasi ex negativo, das heißt, indem er sich radikal von den Eltern und ihren problematischen Bezügen abwendet. Die Familie stellt somit keinen Orientierungsrahmen dar. Er entwirft sich als Negativbild seiner Schwester, die in ihrer Bezogenheit auf die Familie handlungsunfähig geworden ist („und sie hat halt immer alles äh bekommen und äh schafft das nicht al- äh äh sozusagen alleine , irgendwas . zu machen (betonter) damit eben . (Interviewerin: hmhm) und ich hab mich dann wiederum dadurch dass sie so is , ins gegenteil entwickelt“). Diese Absetzung und Distanzierung gipfelt in einem „ich , erzieh mich selber“, womit auch herausgearbeitet werden kann, dass Erik sich selbst als autonom konzipiert. Diese Autonomieimagination, die er hier entwirft, um sich von signifikanten Anderen zu distanzieren ist es nun, was sich zuvor in den Versuchen symbolisch niedergeschlagen hat, seine Biografie ohne die Verwiesenheit auf Andere zu erzählen. Die Imagination birgt insofern kreatives Handlungspotenzial, als es Erik dadurch überhaupt möglich wird, weiter handlungsfähig zu bleiben und nicht in den Problemen seiner Familie aufzugehen bzw. die Probleme, die er an seiner Schwester durch ihre Verbundenheit mit der problematischen Familie beobachtet, zu reproduzieren. Jedoch gerät die Autonomieimagination auch dort zur verkennenden Illusion, wo Erik auf seiner Eigenständigkeit beharrt, die sich dann in Isolation und Misserfolg niederschlägt. Dies schildert er eindrücklich am Beispiel der Schule: Erik:
und lass mir nich äh äh so oft helfen meistens äh äh , das is ‘sehr schlecht’ (betont) (I: hm) , weil ich dann äh , es nich unbedingt ‘schaffe’ (gehoben) (I: hmhm) , das was ich ‘machen will’ (gehoben) und äh (2) hm (2) ‘ja’ (gedehnt) Interv.: was denn ‘zum beispiel’ (gehoben) Erik: äh zum beispiel schulische=äh äh dinge in äh der schule kann ich äh , wird n projekt äh gemacht und , (luft holend) äh alle sammeln sich in äh gruppen nur ich war wieder äh äh zu ‘spät’ (betont) und (I: hmhm) äh mach dann für mich ne gruppe alleine und das auch noch (I: hm (leise)) mit nem thema was so schwierig ist , das äh , ähm das , kein normaler mensch schaffen würde , (I: hm (leise)) und ich schaff s dann auch meistens ni , nur ‘knapp’ (betont)
Erik schildert damit seine marginalisierte Position in der Schule nicht als Ausgrenzung, die durch andere initiiert wurde, sondern als eigenes Versagen, das sich unter seiner aktiven Beteiligung vollzieht. Damit zieht er sich im negativen Verlauf des Nicht-Schaffens nicht auf eine Verlaufskurve zurück, sondern bezieht sich sozusagen handlungsschematisch auf seine aktive Beteiligung an seiner Marginalisierung. Die aktive Ausgestaltung seiner Positionierung gelingt ihm damit über die Schilderung seiner marginalisierten Position und des Eigenanteils, den er daran hat. Zugleich wird in diesem Segment deutlich, dass Erik auch in der Schule eher distanzierte Beziehungen unterhält und er keine Einbindung in die Gleichaltrigenbeziehungen hat. „und äh mach dann für mich ne gruppe alleine“ verweist dabei darauf, dass nahe Beziehungen auch schulisch für ihn eher ausfallen. Dabei zeigt er jedoch, dass er seinen gesteigerten Selbstanspruch („das äh, ähm kein normaler mensch schaffen würde“) versucht einzulösen und sich damit von seinem Normalitätsmodell, wenn auch „nur knapp“ abhebt. In der Besonderung, die hier latent anklingt, wird schließlich deutlich, dass Erik sich nicht als Versager konzipiert, sondern vielmehr als jemand, der ‚zu viel des Guten’ erreichen möchte. 205
Damit lässt er jedoch die ganzen anderen Gruppen, die dies offenbar nicht wollen, hinter sich. Diese Positionierung ermöglicht Erik nun wiederum, seiner marginalisierten Position einen positiven Stellenwert abzuringen. Jedoch kritisiert er gerade an der Schule und den Schüler-Lehrer-Beziehungen, dass diese ihm keinen verbindlichen Orientierungsrahmen bieten: Erik:
[...] es is , halt immer so dass die lehrer nich unbedingt äh (.) alles auf die äh eh so schaffen wie sie s äh eh wollen wie (I: hm) gesacht auch äh ‘englisch’ (betonter) , äh kriegt man äh nich unbedingt viel beigebracht weil man äh , am ende immer noch nach äh hängt (.) (I: hm) un man hat die gan-ze zeit irgendwas äh gemacht was ‘völlich’ (ausklingend) unnütz äh war höchstwahrscheinlich ‘freies’ (leicht betont) ar äh beiten
Hier kritisiert Erik die mangelnde Strukturierung des Unterrichts, womit er gleichzeitig zum radikalen Kritiker der Schule wird. Seine ironische Feststellung, wenn etwas nicht geklappt hat und zu wenig angeeignet wurde, „war höchstwahrscheinlich freies ar äh arbeiten“ formuliert eine fundamentale Kritik an geöffnetem Unterricht und unterstellt, dass er viel mehr lernen könnte, wenn er nicht sich selbst überlassen wäre. Die Problematik, die er hierin erkennt, ist die, dass wenn er selbst es im freien Arbeiten nicht geschafft hat, sich das Wissen anzueignen, es letztlich auf ihn und seine Qualifikation zurückfällt. In einem Zwischenresümee kann hier festgehalten werden: Erik erlebt die Zugehörigkeit zur Familie als Zwang und entzieht sich ihr zunehmend. Dabei stellen sich seine jugendlichen Ablöseprozesse und Distanzierungen als radikaler Bruch mit den diffundierenden Beziehungen dar. Dies gründet auf einem nicht näher ausdifferenzierten Erleben der familialen Einheit als vordergründig und hülsenhaft im Sinne eines schönen Scheins, der jedoch nicht material unterfüttert werden kann. Daneben erlebt er die abhängige Beziehung seiner Schwester als negativ und entwirft sich als Gegenbild, obwohl er sich darüber bewusst ist, dass die Radikalität, mit der er seinen Gegenentwurf als Einzelgänger umsetzt, ihm in seinem sozialen Umfeld Probleme bereitet. Schließlich wehrt er die Beziehungen zu seinen Eltern und den Zwang einer nahen Verbundenheit zu ihnen ab. Damit schützt er sich vor den Problemen, die seine Eltern haben. In der Schule gelingt ihm die Einbindung auch nicht. Dies begründet Erik einerseits mit der mangelnden Strukturierung, die er durch die Lehrer erfahren kann. Andererseits stellt er seinen Anspruch an sich selbst als Ursache seiner Marginalisierung dar. Die Lehrer treten ihm dabei nicht hilfreich an die Seite und er erlebt sie als despektierlich seiner Person gegenüber. Insbesondere die Englischlehrerin, die wenig strukturiert ist und den Mathematiklehrer, der ihn vor der Klasse diskreditiert, findet er problematisch. Der Klassenlehrer, Herr Christian, wird hingegen von Erik sehr positiv gewürdigt, weil „also . mit ihm gibt s eigentlich nie irgend welche probleme (Interviewerin: hm) , und er meint auch dass , dass ich sehr . ja gut bin (betonter)“. Insgesamt kommt damit ein spannungsreiches Erleben der Schule zum Ausdruck, in der es nicht gelingt, sich konsistent als zugehörig zu verorten. Nun stellt sich hier die Frage, ob nicht die Gleichaltrigen angesichts der schulisch und familial marginalisierten Position eine bedeutende Funktion einnehmen könnten. Doch auch hier macht er die Erfahrung der Zurückweisung. Zwar sagt er, das Klassenklima in der Klasse habe sich allgemein zum Guten gewandelt, aber er selbst hat hier keine Freundschaften. Erik:
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früher war s so in der klasse dass äh , äh ich , jetzt nich unbedingt (leicht betont) der beliebteste (leicht betont) äh äh war (Interviewerin: hmhm) , und es is jetzt eher äh , äh so dass (ausklin-
gend) , ich (betonter) eher akzeptiert wer , de nicht unbedingt beliebt äh äh bin aber auch gleichgültich (betonter) (Interviewerin: hmhm) , also s is ein , wenn man so überlegt ein sehr gutes klassenver- äh halten äh standen dass alle sich akzeptieren (betonter) aber (Interviewerin: hm) , nich (betonter) unbedingt jetzt (Interviewerin: hm) auch äh äh gleichzeitig mögen müssen
Erik erzählt in diesem Zusammenhang auch, dass er inzwischen zwar einige wenige Freunde habe, dass diese Kontakte aber sehr unstet seien. So ist ein Freund aus der Parallelklasse, den er für sein Interesse am Cyberpunk Universe34 bezeichnen wollte, später nicht mehr aufgetaucht. Während nun die Erzählungen zu Eltern, Familie, Schule und Freunden immer recht knapp gehalten ist, kommt Erik nun auf eine Nachfrage nach dem Cyberpunk Universe in einen längeren Erzählfluss. Zunächst schildert er differenziert die Regeln und allgemeinen Bedingungen, die wirksam werden, wenn man das Internet-Rollenspiel Cyberpunk Universe spielt. Erik:
is halt ne ‚zukunft’ (gehoben) die äh , sehr realistisch ist (betonter) , (Interviewerin: hmhm) äh stark auf wissenschaftliche aspekte äh zielt und (Interviewerin: hm) äh , einen starken anteil von anarchie also eh-den ‚wunsch’ (betonter) nach (Interviewerin: hm) anarchie ‚hat’ (betonter) , (Interviewerin: hm) und ähm es (ausklingend) geht halt meistens um irgend welche ‚konzerne’ (gehoben) die äh die normalen (ge-räusche im hintergrund) bürger unter- äh drücken und es gibt ein äh eh paar verrückte leute die , äh (gedehnter) die sich gegen diese konzerne stellenund ähm . (Interviewerin: hm) halt die ‚punks’ (betonter) . und ähm , die die ‚cyber’ (verschluckt) äh punk is eigentlich mit den achtzigern gestorben aber , ähm . es (zischend) wurde halt jetzt so äh eh ‚verändert’ (schnell) dass is jetzt äh jetzt nich im ‚moment’ (verschluckt) äh eh wichtig dass man irgend jemanden spielt der sich gegen die , konzerne stellt-sondern man kann auch jemanden äh eh spielen der äh ‚mit den’ (betonter) konzernen (Interviewerin: hmhm) , lebt und
Erik nimmt hier die Rolle des Kardinals ein. Ausführlich schildert er nun, die Bezüge zum Cyberpunk und die Möglichkeit, die dieses Internet-Rollenspiel ihm bietet. Hier kommt er schließlich auch dazu, sich mit dem persönlichen Bedeutungsgehalt dieses Spiels auseinanderzusetzen. Interv.: und äh welche bedeutung hat das , für ‚dich’ (betonter) , diese , ‚rollenspiele’ (leiser werdend) Erik ja es is äh . ‚es-is‘ (gedehnter, ausklingend) eine äh ich kann mich in ‚diese‘ (schnell) äh welt rein äh ver- äh setzen und (Interviewerin: hm) äh . ich bin sozusagen ‚gerne in dieser welt‘ (lächelnd) (Interviewerin: hmhm) Interv.: und äh , welchen ‚grund hat das‘ (gehoben) , dass ‚du gerne in der welt bist‘ (gehoben) Erik: weil äh , mir äh sozusagen wenn man so sagen will diese äh welt nicht unbedingt äh gut gefällt , (Interviewerin: hmhm) äh sie is jetzt nicht ‚unbedingt’ (gedehnter) . ‚intressant’ (betonter) , oder .. ja es is is halt ähm okay diese cyber punk äh eh welt is eigent äh lich äh eh welt=wo äh sich , äh niemand gern hin äh wünschen würde es is , (I: hm) äh eh dunkel , äh eh grausig die leute äh eh sind nur abhängig von den ‘konzernen’ (gehoben) und kaufen ihre äh produkte oder leben auf der strasse , (Interviewerin: hmhm) äh ‘und’ (gedehnter) , ‘na ja’ (gehoben, betonter) aber es is ‘irgendwie’ (gedehnter) äh , man weiss wo äh ran man is äh wenn man in dieser welt lebt , (Interviewerin: hmhm) man weiss äh genau entweder ma man is für die konzerne oder äh eh gegen sie (Interviewerin: hmhm) , ‘und’ (gedehnter) ‘hier’ (gehoben) , is einfach nichts (Interviewerin: hmhm) man äh , lebt tag für äh tag und äh steht auf geht in die ‚schule’ (gehoben) (luft holend) äh kommt äh wieder zurück und macht keine hausaufgaben weil-eh man keine lust hat (gehoben) (Interviewerin: lächelt) und , das wiederholt sich dann tag für tag , (Interviewerin: hmhm) , bis auf samstag und sonntag
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Bei dieser Variante der Rede vom „Cyberpunk Universe“ handelt es sich um das interaktiv spielbare Computerspiel. Erik verwendet jedoch anderenorts (z.B. im Englischreferat) unter Nennung des Begriffs „Cyberpunk Universe“ auch die Gesamtheit dessen, was mit Cyberpunk in Zusammenhang steht.
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Hier stellt Erik nun einen positiven Bezug zu einer anderen Welt her, die jedoch, wie er zuvor geschildert hat, einen dystopischen Charakter hat. Er ist sich dabei durchaus bewusst, dass es sich um eine andere Welt handelt, in der er sich aber gerne aufhält. Dies begründet er damit, dass ihm die Welt, in der er tatsächlich lebt, nicht gefällt. Es handelt sich also um eine Gegenwelt, die von Konzernen beherrscht wird, in der es jedoch Punks gibt, die gegen die Konzerne kämpfen. Und obwohl die Cyberwelt eigentlich eine Welt sei, die negativ besetzt ist, handelt es sich um einen Zusammenhang, „wo man weiß wo äh ran man is“. Diese Welt steht dann dem „hier is einfach nichts“ kontradiktorisch entgegen. Das Hier wird beherrscht von ewiger Routine, Versagensgefühlen und Unlust. Damit wird Cyberpunk zur Gegenkonstruktion, in der Erik gerade nicht sich selbst überlassen ist. Hier gibt es einen Spielleiter, der ihm sagt, was er machen soll, er hat Normen und Orientierungen, die ihm in seiner Lebenswelt fehlen. Erik findet hier eine virtuelle Sozialität, in der er akzeptiert wird und in der alle auf gemeinsame Regeln bezogen handeln. Er kann somit genau unterscheiden, wer gut ist und wer böse. Hier stellt Erik auch erstmals unproblematisch eine Wir-Gemeinschaft her, auf die er sich positiv bezieht: „im moment sind s äh , äh noch die gleichen aber äh wir unsre gruppe wird halt immer ‚größer’ (gedehnter) und ähm so , treff ich auch immer mehr“. Die räumliche Ordnung der biografischen Erzählung von Erik bietet ihm in den familialen und schulischen Handlungsräumen nur problematische Verortungsmöglichkeiten. Er erfährt wenig Akzeptanz und hat gerade vor einem Jahr eine fundamentale Zurückweisung durch seine Mutter erfahren, die „abgehauen“ ist und den Vater, ihn und die Schwester sich selbst überlassen hat. Hier ist ein biografischer Markierer zu sehen, der einen radikalen Wandel in Eriks Einstellung zu den Eltern begründet: Während er sich vorher der Mutter eher zugetan fühlte, verortet er sich jetzt in der Nähe des Vaters („hab ich mich halt eher äh eh für meinen vater ‚entschieden’ (gehoben) (Interviewerin: hm [leise]) dass-ich den eher äh mochte“). Die zerütteten Familienverhältnisse führen jdoch zu einer Distanzierung von beiden Eltern: „ähm jetzt (betonter) . seh ich meine eltern halt nich mehr so sehr (betonter) als äh eltern an sondern nur als sozusagen mitbewohner“ – bis dahin, dass Erik die diffuse und nahe Beziehung zu ihnen abwehrt und für sich – insbesondere auch in Abgrenzung von seiner als unselbständig erlebten Schwester – einen Gegenentwurf formuliert, indem er sich als Einzelgänger darstellt. Dieser Selbstentwurf dient ihm nun schulisch dazu, sich von den Ausgrenzungserfahrungen zu distanzieren und ihnen gegenüber „gleichgültich“ zu werden. Zugleich bemerkt er, dass der Entwurf des Einzelgängers seine Grenzen dort hat, wo gerade Hilfe und Unterstützung notwendig wären. Weil er jedoch diese Hilfe nicht in Anspruch nimmt, bleibt er immer wieder vereinzelt. Die Beziehungen sind somit durch die Erfahrung von Entfremdung und Anerkennungsverweigerung geprägt, Erik entwirft für sich ein Handlungsschema, in dem er sich selbst auch immer wieder zurückzieht und distanziert. Die familialen und schulischen Erfahrungen haben somit eine katalytische Wirkung auf den jugendlichen Ablöseprozess. Die Radikalität, in der Erik Ausgrenzungsbedrohung erfährt, verletzt ihn – er immunisiert sich dagegen, indem er sich aktiv gegen die ihn verletzenden Nähebeziehungen wendet. Man muss im Fall von Erik somit von einer umfassenden Verortungskrise sprechen, die daraus resultiert, dass er sich selbst nur fragmentarisch wahrnimmt: Ihm gelingt es nicht, sich hinsichtlich Familie und Schule als handelndes Subjekt in einer sozialen Bezogenheit zu entwerfen. Seine imaginären Verortungsversuche als Einzelgänger, Selbster208
zieher und Eigenbrötler verkennen die Unmöglichkeit im sozialen Umfeld auf gesicherte und strukturierende Beziehungen zurückgreifen zu können. Gerade in seinen vielen Abbrüchen kommt zum Ausdruck, dass die eigene Positionierung für ihn hochproblematisch ist. In seiner desorientierten Positionierung und Ortslosigleit biete der Cyberpunk eine Verortungsmöglichkeit. Dabei macht Erik zum Einen die Erfahrung, jemand ganz anderer sein zu können, andererseits wird er in der Cyberpunk-Welt als Experte und aktiver Beiträger akzeptiert. So fertigt er auch Zeichnungen an, die er einscannt und übernimmt einen aktiven Part im Rollenspiel. In diesem Zusammenhang wird es ihm möglich, mit einer konstruierten Umwelt experimentell zu handeln. Die Bezugnahme auf den dystopischen Charakter des Cyberpunk bietet ihm somit die Möglichkeit komplexe Probleme seines gegenwärtigen Lebens kompensatorisch zu bearbeiten. Zugleich erfährt Erik im Cyberpunk Universe Anerkennung, da es sich hier um eine Gruppe handelt, auf die er sich positiv beziehen kann. Hier muss man trennen, zwischen der Dystopie des Cyberpunk und der virtuellen Gruppe. Die Dystopie stellt dabei das vergemeinschaftende Moment der Gruppe dar, das Erfahrungsräume und Zugehörigkeitsmöglichkeiten bietet, die Erik eine positive Bezugnahme ermöglicht. Dass dieser virtuelle Handlungsraum für Erik eine Erweiterung seiner Positionsbestimmungen impliziert, lässt schließlich – und damit ist einer Theoretisierungsmöglichkeit an dieser Stelle bereits vorgegriffen – Rückschlüsse über vereinseitigende Perspektivnahmen auf die Stofflosigkeit des Cyberspace (kritisch dazu: Ahrens 2001) zu: denn Erik gelingt es hier, sich jenseits konkreter Orte zu vernetzen, Nähebeziehungen herzustellen und die fragmentierte Wahrnehmung seiner selbst, wie sie sich in der Verortungskrise manifestiert, zu bearbeiten.
4.4.4 Kontrastierung der Fälle an der Anna-Seghers-Schule Auch hier schließt sich nun eine Diskussion der sozialräumlichen Bezüge an, die sich in den jeweils entfalteten Zugehörigkeitsordnungen niederschlagen und vergleichend aufeinander bezogen werden sollen. Wie bereits in Kapitel 4.2.3 gezeigt, lassen sich in Bezug auf die Anna-Seghers-Schule Milieubezüge herstellen, in denen alternative, avantgardistische oder modernistische Lebensstile gepflegt werden. Diese grenzen sich durch Distinktion von den unteren ebenso wie von den konservativen Milieus ab (Vester u.a. 2001, S. 505). Die zentralen Bezüge der Anna-Seghers-Schule wurden dabei im Bereich der liberalintellektuellen und alternativen Milieus verortet. Bezüge können jedoch auch zum hedonistischen Milieu, zum modernen Arbeitnehmer-Milieu und entfernt auch zum leistungsorientierten Arbeitnehmermilieu hergestellt werden. Jedoch wird auf der Ebene der imaginären Entwürfe von den letztgenannten erwartet, dass sie sich durch besondere Strebsamkeit anpassen. Betrachten wir nun die hier vorgestellten Fälle, so wird deutlich, dass der Fall Anna Wegemann repräsentativ für Milieubezüge steht, die dem liberal-intellektuellen Milieu zuzuordnen sind. Die Distinktion, die hier gelebt wird, vollzieht sich nicht über autoritäre Haltungen, sondern vielmehr über den Anspruch an einen hochgradig individualisierten Lebensstil. „Gleichwohl werden Karriere und Leben bewußt und effektiv geplant. Gepflegt wird ein sich gegen das ‚Mittelmaß‘ abgenzendes Perfektionsstreben“ (ebd., S. 507). Dieses ist begleitet von einem hohen Arbeits- und Leistungsethos und seiner Verbindung „mit dem 209
Sinn für Selbstverwirklichung und Selbstdarstellung“ (ebd.). Gerade hiervon zeugt nicht nur die familialen Interaktion in Annas Familie, sondern auch die von Anna und ihren Eltern artikulierten Haltungen und Orientierungen. Die Distinktion findet allerdings eher implizit statt und es gibt in dieser Familie nicht nur Bezüge zu dem hier benannten Milieu, sondern auch zum alternativen Milieu, was sich auch darin zeigt, dass der Individualismus nicht als Vereinzelung ausgestaltet wird, sondern sich vielmehr in den individuell genutzten sozialen Vernetzungen artikuliert. Jedoch wird sich dabei deutlich von Milieubezügen abgegrenzt, die nur auf Erlebnis, Konsum oder Abwechslung gerichtet sind. Diese Bezüge finden wir am ehesten in der Familie von Lena Fried, die mit ihren alternativen, aber auch auf Selbstverwirklichung setzendem Lebensstil, den elterlichen Berufsbezügen und ihren gesamten Haltungen im postmodernen Milieu angesiedelt werden kann. Vester und andere (2001) nennen als kennzeichnend für das postmoderne Milieu das „Selbstverständnis als ästhetische Avantgarde“ sowie den „Drang nach Autonomie und Unabhängigkeit“ (ebd., S. 510). Er verortet hier vor allem allein Lebende, die in dieser Studie zusammengetragenen Ergebnisse verweisen aber auch darauf, dass diese Haltungen auch familial bedeutsam sein können. Dabei ist besonders zu erwähnen, dass die Familie von Lena Fried über die Kernfamilie hinaus in einen wohlhabenden bürgerlichen Zusammenhang eingebettet ist, der mithin auch den Eltern von Lena die auf Selbstverwirklichung zielende Lebensführung gestattet und insbesondere vom Vater, der als Musikproduzent auch beruflich Erfolg hat, wiederum in eine ökonomisch abgesicherte Positionierung überführt wird. Minimal mit diesem Milieubezug der Familie, die damit hervorragend zum schulischen Milieubezug passt, kontrastiert die Familie von Erik Wagner. Über den Beruf des Vaters, die gemeinsamen Interessen von Vater und Sohn und die Gestaltung der Wohnung vermitteln sich Haltungen, die von einem hohen kulturellen und symbolischen Kapital zeugen. Dabei sind allerdings die alternativen Haltungen weniger in den ökologischen Einstellungen zu finden, wie dies im Fall von Lena Fried der Fall ist. Doch zeugt die Orientierung an Selbstverwirklichung und Persönlichkeitsentfaltung (ebd., S. 509) von einer anhaltenden Verortung im linken oberen Feld. Gleichwohl kontrastieren unterschiedliche Möglichkeitsräume der Positionierung der hier präsentierten Fälle. Dies vermittelt sich zunächst in einem Vergleich der familialen und schulischen Interaktionen. Anna und Lena werden in der Schule zu Nutznießerinnen einer exklusiven Lehrer-Schüler-Dyade (vgl. Helsper/Hummrich 2008). Vor allem im Fall Anna ist diese Dyade eine Ausdrucksgestalt der hohen Anforderung an die Lehrerin, die heterogene Klasse einheitlich zu unterrichten, denn sie bringt die Differenz von Anna und den anderen Schülerinnen und Schülern ins Bewusstsein. Gerade dies ermöglicht Anna nun, ihre schulischen Anerkennungswünsche zu platzieren. Während sie in der Familie funktional in die Versorgungsgemeinschaft eingebunden ist und die Autonomiepotenziale sich vor allem aus dieser Funktionalität ergeben, stößt Anna in der Schule auf Autonomiemöglichkeiten, die pädagogisch intendiert sind. Diese kann sie chancenentfaltend aufgreifen und handelnd umsetzen. zwischen Familie und Schule entsteht somit ein Möglichkeitsraum der wechselseitig positiven Beeinflussung: Anna bringt die Fähigkeit autonom zu handeln, mit in die Schule hinein und profitiert hier von den schulischen Anerkennungsmöglichkeiten und der Bestätigung ihrer Exzellenz. Daneben gelingt es ihr, über die Schule ihre jugendlichen Distanzierungsbestrebungen gegenüber der Familie zu verwirklichen.
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Lena hingegen profitiert von der emotionalisierten Zuwendung ihres Lehrers. Die Hinwendung ruht weniger in der Motivierung des Lehrers, nach einer verbürgten Krisenlösung im Unterrichtsgeschehen zu suchen, als vielmehr in seiner Orientierung an den persönlichen Bedürfnissen seiner Schülerinnen und Schüler (vgl. auch Kap. 4.2). Dabei kommt dem exklusiven Lehrer-Schüler-Paar hier die Öffnung des Unterrichts zur Hilfe, die die individualisierte Bezugnahme erst ermöglicht und die erst dann beendet wird, als eine andere Schülerin die Aufmerksamkeit des Lehrers verlangt. Strukturell ähnlich ist in beiden Fällen, dass den Schülerinnen schulisch ein Möglichkeitsraum entsteht, familiale Probleme oder Defizite zu bearbeiten: Anna die Erfahrung von Besonderung und die Ermöglichung von Freiräumen, Lena die Erfahrung von Besonderung und emotionaler Anerkennung. Im Fall von Anna erfährt die Exklusivität noch einmal eine Besonderung, weil sie in einer klassenöffentlichen Situation platziert ist. Im Fall von Lena ist dies nicht der Fall. Hier geht die Exklusivität, die sich auch in der Abkehr von allgemeingültigen Regeln ausdrückt, mit dem Verlust der Vermittlung schulischen Wissens einher. Der Ansatz des Lehrers, dass sich Wissen über persönliche Beziehungen wie von selbst vermittele, verkennt dabei die möglichen Widersprüche seiner Handlungsorientierung. Trotz dieser strukturellen Ähnlichkeit kann Anna die schulischen Möglichkeiten bestens nutzen. Für sie bedeutet die Zugehörigkeit zu dieser Schule, die sie aktiv herbeigeführt hat, indem sie selbst die treibende Kraft im Aufnahmeprozess an der Schule war, eine hochgradige Freisetzung ihrer persönlichen Orientierungen an Leistung und Selbständigkeit. Das Konzept der Schule, dass sich durch besondere Lernarrangements und Beziehungen zu den Lehrerinnen und Lehrern die Wissensaneignung quasi von selbst vollziehe und dadurch zur optimalen Entfaltung komme, geht im Fall Anna voll auf. Es wird sogar gesteigert, denn die Tatsache, dass Anna als „zu gut“ für die Schule befunden wird und sich selbst distinktiv von den weniger leistungsorientierten Schülerinnen und Schülern absetzen kann, ist zugleich ein Resultat, der besonderen Freisetzungspotenziale, die Anna in Form eines Erweckungserlebnisses erzählt. Hier liegt nun ein bedeutsamer Unterschied zum Fall von Lena, die zwar situativ die Anerkennungsdefizite bearbeiten kann, der es jedoch nicht gelingt, ihre Blockierungen in der Selbstdarstellung oder in Situationen der Exponierung zu überwinden. Dennoch stellt sich die Chancenhaftigkeit der alternativen Lernarrangements für sie nicht begünstigend dar. Dies ist aus einer „Fallenstruktur“ heraus zu erklären, die in der Homologie von Familie und Schule begründet liegt. Während Anna die harmonische Passung von Familie und Schule nutzen kann, um sich mit ihrer Leistungsorientierung zu positionieren, impliziert die Homologie von Familie und Schule im Fall von Lena eine Fortsetzung der familial erfahrenen Besonderungsblockierung. Dies lässt sich konturieren an der unterschiedlichen Bezugnahme der Eltern von Anna und Lena auf die Schule. Annas Eltern engagieren sich im Schulleben, beharren dabei aber gleichzeitig auf ihrer generationsdifferenten Positionierung. Lenas Eltern lassen sich, wie latent in der Schulleiterinnenrede gefordert, zu Schülern der Schule machen und setzen damit die gering konturierten Generationsbeziehungen auch im Handlungsfeld der Schule um (nachzuvollziehen an der Übernahme der Erzählung einer peerkulturellen Begebenheit durch die Mutter bei der Planung und Durchführung des Zehnerstreichs). Zugleich verwischt in ihrem Handeln die Familie-Schule-Differenz, indem die Eltern den Klassenlehrer auf private Unternehmungen einladen, so dass Lena dem Status der Schülerin hier nicht entkommt.
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Die positive Milieupassung führt damit nicht zwingend zu chancenhaft ausgestaltbaren Möglichkeitsräumen. Dies wird noch einmal besonders deutlich am Fall Erik, der zu dem von Anna maximal kontrastiert. Die dyadische Lehrer-Schüler-Beziehung ist im Fall von Erik nicht chancenhaft entfaltet worden. Im ersten hier dargestellten Interaktionsbeispiel (der Chemiestunde, S. 181) erfährt Erik noch eine Minimalform der Anerkennung und seine Einbeziehung gestaltet sich funktional aus. Die Ähnlichkeit zum Fall Anna ist somit die funktionale Ausgestaltung der dyadischen Beziehung, wovon sich der Fall Lena unterscheidet. Jedoch kann Erik das dyadische Arbeitsbündnis nicht optionsentfaltend nutzen. Vielmehr dient seine Anpassung an die Unterrichtsordnung dem Fortgang der Wissensvermittlung. Besonders im zweiten Fallbeispiel von Unterricht (dem Englischreferat), wird bei Erik deutlich, wie reduziert die Anerkennungsbeziehungen für ihn in der Schule sind. Denn gerade hier kann herausgearbeitet werden, dass die schulische Utopie alternativer Orientierung und Weltverbesserung der Dystopie des Cyberpunk Universe diametral entgegensteht. Hier wird nun eine Grenze des Schulischen deutlich, denn das Versprechen „Anwalt der Kinder“ zu sein und sich parteiisch für ihre Belange einzusetzen, wird im Fall Erik nicht eingelöst. Gerade vor dem Hintergrund seiner multiproblembelasteten Familie und der ausfallenden familialen Anerkennungsbeziehungen wäre er ein Kandidat, dem sich die Schule mit besonderer Aufmerksamkeit zuwenden müsste. Doch bis auf den Klassenlehrer, der auch hier – wie im Fall Lena – den Kontakt zum Vater sucht, um für Erik geeignete Anschlussmöglichkeiten an die Anna-Seghers-Schule zu finden, stößt Erik mit seiner jugendkulturellen Orientierung auf Befremden. Während Anna und Lena in der Familie auf signifikante Andere stoßen und ihre Eltern sich schulisch engagieren und somit ganz entsprechend der schulischen Anforderungen verhalten, sind im Fall Erik die signifikanten Anderen ausgefallen. Erik setzt dem die Imagination des Einzelgängers entgegen entkommt aber nicht den Erfahrungen von Missachtung, da seine Mutter die nahe Beziehung zu ihm verweigert und sein Vater selbst in einer tief greifenden Identitätskrise steckt, seit die Mutter die Familie verlassen hat. Die Schule entfaltet ihr Potenzial der Teilhabe und Zugehörigkeit vor allem dort, wo familial auch günstige Ausgangsbedingungen herrschen und die Entwicklung der Schülerin/des Schülers eng mit den schulischen Idealen alternativer Lernarrangements verbunden ist. Dabei ist es möglich, dass Milieupassungen von familialen Problemstrukturen überlagert werden, die die Milieupassungen brechen und zu einer prekarisierten Passung führen. Während der Fall Anna somit als optimierte Passung bezeichnet werden kann, zeichnet sich im Fall Lena eine reduzierte Passungskonstellation ab, die von der Fallenstruktur der Homologie in Familie und Schule gekennzeichnet ist. Im Fall Erik zeichnet sich eine prekarisierte Passung ab, in der die biografisch und familial entstehenden Individuationsblockierungen und Zugehörigkeitsproblematiken nicht bearbeitet werden können. Die Zugehörigkeitsordnung im Fall Anna gestaltet sich schließlich als Möglichkeitsraum aus, in dem sie die Schule benutzt, um sich von den vereinnahmenden Bezugnahmen ihrer Familie zu distanzieren. Der familial pragmatische Umgang miteinander basiert auf einer Familienstruktur, die prinzipiell von Nähe und emotionaler Anerkennung gekennzeichnet ist, in der jedoch deutliche Differenzen zwischen den Familienmitgliedern gemacht werden, im Sinne einer individualisierten Lebensführung. Hier kann es zu konfligierenden Interessenlagen kommen, die sich zwischen den Einzelbedürfnissen und den Fürsorgeansprüchen der Familienmitglieder aufspannen. Anna gelingt es in diesem Zusam212
menhang, die Gefahr von Missachtung ihrer persönlichen Fürsorgebedürfnisse in der Kindheit und ihrer individualisierenden Bedürfnisse in ihrer Jugend pragmatisch zu bearbeiten, indem sie sich früh verselbständigt und zudem eine Schule sucht, die genau auf dem Gedanken der frühen Verselbständigung basiert. Diese Schule ermöglicht ihr später, ihre individualisierenden Interessen durchzusetzen. Sie stellt die Nähe zu den schulischen Idealen damit aktiv selbst her und entkommt so den familialen Vereinnahmungstendenzen – auch deshalb, weil sie sich eine Schule ausgewählt hat, die mit der elterlichen Orientierung an alternativen, die Kinder zentrierenden und die Eltern einbindenden Zusammenhängen harmoniert. Anna kann damit einen Möglichkeitsraum kreieren, der ihr eine exponierte Ausgangsposition für ihre Bildungsbiografie ermöglicht. Im Fall Lena stoßen wir auf eine Zugehörigkeitsordnung, die mit einer ähnlichen Ausgangslage wie im Fall Anna beginnt: Familie und Schule können sich positiv – in Lenas Fall sogar homolog – aufeinander beziehen. Jedoch vermag Lena es nicht, die familialen Erfahrungen chancenhaft und pragmatisch zu wenden, sondern ist in ihrer Zugehörigkeit zur Familie prekarisiert, da ihre familienkonstituierende Position nicht anerkannt ist und die Generationsbeziehungen undifferenziert erscheinen. Die Konkurrenz zur Mutter verstärkt die Ohnmachtsgefühle, die bewirken, dass Lena sich der familialen Interaktion ,trotz der fortwährenden Integrationsleistung ihrer Schwester, immer wieder entzieht bzw. sie aufgibt. Die Schule bietet in ihrem Fall nun eine doppelte Chance: zum Einen erfährt sie hier nahe und diffundierende Beziehungen, zum Anderen unterstützt der Klassenlehrer sie, indem er ihr und ihren Eltern zu einer Therapie rät, damit sie die Blockaden und Ängste im Unterricht überwindet. Hierin ruht die Imagination, dass die Zusammenarbeit von Schule und Familie die günstigste Ausgangsbedingung für die kindliche und jugendliche Entwicklung sei. Im Fall Lena stellt sich dies auch als chancenhaft dar, doch diese Chancenhaftigkeit wird brüchig, wo die Imagination sich in eine verkennende Illusion verkehrt und der eigene Beitrag von Familie und Schule (in seiner Fallenstruktur) nicht reflektiert wird. Dies begründet schließlich die nachhaltig unsichere Selbstpositionierung von Lena, die auch dadurch verstärkt wird, dass sie nicht auf Gleichaltrigenbeziehungen zurückgreifen kann, mittels derer sie sich von beiden Handlungszusammenhängen distanzieren kann. In Bezug auf Schule zeichnet sich diese Distanzierung (erzwungenermaßen) ab, denn Lena schließt die Anna-Seghers-Schule zum Zeitpunkt des Interviews gerade ab. Eine Verstärkung der Distanzierung erfolgt jedoch intuitiv, indem Lena nicht das gewöhnlich anschließende Oberstufengymnasium für sich wählt, sondern eine kleine Privatschule aussucht, die sie im Anschluss an die Anna-Seghers-Schule besuchen möchte. Die Zugehörigkeitsordnung im Fall Erik ist zunächst familial von widersprüchlichen Botschaften gekennzeichnet. Einerseits verlässt die Mutter ihn und signalisiert, dass sie sich von ihm distanzieren möchte. Andererseits erfährt er durch den Vater eine Umkehrung der Generationsbeziehungen und eine überbordende Vereinnahmung seiner Person, die sich in der Angewiesenheit des Vaters auf den Sohn artikuliert. In der familialen Interaktion zeichnet sich ab, dass Erik eine fürsorgliche und vorausschauende Haltung gegenüber seinem Vater einnimmt. Jedoch ist diese Fürsorglichkeit auch dem Zwang der ökonomischen Gemeinschaft geschuldet. Im biografischen Interview kristallisiert sich schließlich Eriks Abwehr- und Distanzhaltung gegenüber der erzwungenen Vergemeinschaftung mit dem Vater und der erzwungenen Entfernung von der Mutter heraus. Dabei positioniert sich Erik am ehesten noch nahe seinem Vater, koppelt diese Nähe jedoch an das Mitleid, das er gegen213
über ihm empfindet, weil die Mutter „verschwunden“ ist. Ein deutliches Gegenbild zeichnet er auch von seiner Schwester, die es nicht schafft selbständig zu sein. Die ursprünglich harmonische Milieupassung zur Schule verkehrt sich durch die Multiproblembelastung im Fall Erik in ihr Gegenteil. Familie und Schule stehen in einem antagonistischen Passungsverhältnis, weil die grundlegenden Fürsorgeleistungen und die Kindzentrierung familial nicht mehr geleistet werden können. Erik wird zum ‚Sorgenkind‘ der Klasse, da er nicht nur auf der Ebene der Gleichaltrigen wenig Anerkennung findet, sondern seine peerkulturellen Orientierungen auf das Befremden der Lehrer stoßen. Es entsteht eine Ortslosigkeit, die Erik zu kompensieren versucht, indem er sich imaginär als Einzelgänger entwirft. Dass er damit die Verwiesenheit auf familiale Anerkennungsbeziehungen ausblendet, ist von ihm intendiert. Jedoch reflektiert er, dass ihm schulisch Anerkennungsdefizite aus seiner Orientierung erwachsen, da er mit Aufgaben wie Gruppenarbeit alleine überfordert ist. Dennoch arbeitet er nicht aktiv gegen diese Überforderung. Vielmehr positioniert er sich selbst außerhalb des familialen und schulischen Rahmens im Cyberpunk Universe. Hier erfährt er Anerkennung und Nähe, die jedoch wiederum zu einer Verstärkung der familialen und schulischen Anerkennungsproblematik führen.
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5. Theoretisierende Kontrastierung: Wege zu einer raumtheoretisch fundierten Analyse von Jugend
Ziel dieser Studie war es, mit einem relationalen Raumbegriff Zugehörigkeitsordnungen zu rekonstruieren. Diese lassen sich – so wurde anfangs ausgeführt – über Abstandsbestimmungen und Lagerungsbeziehungen erfassen. Auf der Grundlage kulturtheoretischer Ansätze wurde ein relationaler Raumbegriff entworfen und über die Forschungsdesiderata zu Raum in pädagogischen Arbeiten ein heuristisches Raumkonzept systematisierend abstrahiert. Das damit entstehende Raummodell wurde wie folgt dimensioniert: (1) Es ließen sich Ebenen räumlichen Handelns unterscheiden, auf denen Teilhabe und Zugehörigkeit unterschiedlich reguliert werden. Auf der Ebene von Gesellschaft gelten gesetzesförmige Rahmungen, die Teilhabeoptionen regulieren. Auf der Ebene von Institution und Milieu wird Zugehörigkeit auf der Grundlage dominanter imaginärer Entwürfe, kollektiven Orientierungen und Habitusformationen reguliert. Interaktiv herrschen aushandlungsbasierte Zugehörigkeitsmöglichkeiten und individuell geht es schließlich um die eigenen Verortungsvorstellungen auf der Basis der eigenen Biografie als aufgeschichtete Zugehörigkeitserfahrungen. (2) Die Zugehörigkeitsordnungen konstituieren sich dabei über die Teilhabechancen, die sich zwischen Inklusion und Exklusion aufspannen,. Beide Pole von Inklusion oder Zugehörigkeit und Exklusion oder Nicht-Zugehörigkeit können über dialektisch zu bestimmende Verhältnisse zwischen Anerkennung und Missachtung, Einheit und Differenz sowie Nähe und Distanz erfasst werden. Während Anerkennung, Einheit und Nähe vollständige Inklusion bedeuten würden, impliziert das Zusammenwirken von Missachtung, Differenz und Distanz vollständige Exklusion. Dazwischen gibt es Spielarten, die sich – so die zentrale Annahme der Studie – in unterschiedlichen Beziehungskonstellationen artikulieren. (3) Schließlich wurde angenommen, dass räumliches Handeln eine dezentrierte Struktur besitzt. Damit wurden die binäre Codierungen von Inklusion und Exklusion, Anerkennung und Missachtung, Einheit und Differenz sowie Nähe und Distanz verlassen und – so kann in der Rückbetrachtung der hier angefertigten Analysen geschlossen werden – eine triadische Struktur räumlichen Handelns eröffnet. Denn wenn Raumstrukturen als symbolische Ordnungen gefasst werden, geht es nicht nur um eine Verständigung und Anerkennung zweier Subjekte zueinander, im Sinne einer binär sich ausgestaltenden Intersubjektivität, die den Anderen um seiner selbst willen anerkennt, sondern um eine Verhältnisbestimmung mit Bezug auf die je spezifischen Ordnungsvorstellungen. Im folgenden Kapitel sollen nun die zentralen Ergebnisse gebündelt und theoretisiert werden. Dazu werden die Ebenen, die im qualitativen Analyseteil zum Tragen gekommen sind (Institution/Milieu, Interaktion und Individuum), noch einmal auf ihre Erkenntnismöglich215 M. Hummrich, Jugend und Raum, DOI 10.1007/978-3-531-93224-8_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
keiten hin befragt, indem die Zugehörigkeitsordnungen schulübergreifend theoretisiert und zu den theoretischen Entwürfen von Raum vermittelt werden. Am Anfang steht dabei die Frage nach dem räumlichen Zusammenspiel von Institution und Milieu bei der Konstitution von Zugehörigkeitsordnungen. In einem zweiten Teilkapitel werden die interaktiven Zusammenhänge in Schule und Familie in den Blick genommen und hinsichtlich ihrer Zugehörigkeitsordnungen kontrastiert. Drittens sollen die Ausformungen jugendlicher Möglichkeitsräume zwischen Familie und Schule und die Möglichkeiten der Selbstpositionierungen jugendlicher Akteure gebündelt werden. Mit diesen Teilkapiteln werden insgesamt die Wege zu einer raumtheoretischen Betrachtung von Jugend aufgezeigt. Im abschließenden vierten Teil dieses Kapitels geht es dann um die Frage nach dem Ertrag der raumanalytischen Betrachtung für die Analyse von Prozessen des Aufwachsens.
5.1 Der Beitrag der raumanalytischen Betrachtung exklusiver Zugehörigkeitsordnungen zur Analyse sozialer Ungleichheit Unter dem Motto „ein Raum ist immer schon ein Raum in Räumen“ (Baecker 2005) wurde zu Beginn eine mehrebenenanalytische Perspektive auf Raum als interdependentes Bedingungsgefüge entwickelt, das durch eine äußere Ordnung (1) bestimmt ist – also das, was einen Raum von anderen unterscheidet (Foucault 2006) – und eine innere Ordnung (2), die sich zwischen dem Imaginären, dem Symbolischen und dem Realen aufspannt und über Zugehörigkeit und Teilhabeoptionen entscheidet. Die Zugehörigkeitsordnungen, die in den Abgrenzungslogiken relational-räumlichen Handelns enthalten sind, können für die beiden schulkulturellen Entwürfe noch einmal gebündelt werden, wenn sie auf das eingangs entwickelte Modell (Kap. 3.3) bezogen werden: 1. Die Selbstverortung der Schulen als „andere Räume“ oder die äußere Ordnung der Schulen Die hier vorgenommenen Rekonstruktionen beziehen sich nun zuerst auf die ‚äußere Ordnung‘ und hierbei auf die Ebene des Institutionellen, lassen dabei aber Rückschlüsse auf ‚höhersymbolische‘ und ‚untergeordnete‘ Aggregierungsebenen zu. Dabei lässt sich feststellen, dass die Schulen im Modus der Distinktion präsentiert werden, wobei diese Distinktion als Ausdrucksgestalt eines symbolischen Kampfes (Bourdieu 1985) um die beste Positionierung im gesellschaftlichen Feld des Bildungssystems verstanden werden kann. Jede Institution steht also nicht für sich, sondern ordnet sich im Feld der Bildung anderen Institutionen zu, bzw. wehrt deren Setzungen und Positionierungen ab. Zugleich existiert ein innerschulischer Distinktions- und Hierarchiekampf. Dabei treten die Schulleiterin und der Schulleiter jeweils als verbürgende Akteure der von ihnen repräsentierten Felder auf, insofern sie ihre eigene Position charismatisieren und die Gruppe der aufgenommenen Schülerinnen und Schüler symbolisch den Schülerstatus verleihen. Sie sprechen somit im Namen der Schule und stellen zugleich eine machtvolle Instanz dar, die ihre Macht aus der Existenz der Schüler generiert. Hier liegt eine „zirkuläre Beziehung“ vor (Bourdieu 1985, S 38), die in der charismatischen Illusion ruht, „daß am Ende der Wortführer als causa sui erscheint: in den Augen der anderen wie in den eigenen“ (ebd.). Nicht natürliche Beziehungshorizonte (wie z.B. die Generationsdifferenz oder die Tradition) konstruieren und ko216
konstruieren Macht zirkulär, sondern die Besonderung der Schulen im Feld der anderen Schulen vor dem Hintergrund einer auserlesenen Schülerschaft. Der Eigen-Sinn (causa sui), den der Schulleiter und die Schulleiterin über die schulischen Ansprüche an die Schülerschaft und die mit ihr verbundene Zugehörigkeitsordnung artikuliert, liegt nicht nur im Unterricht, der in den Schulen erteilt wird, sondern auch in der Verhältnisbestimmung zu anderen Schulen, die jenen, die die Schule besuchen möchten, machtvoll gegenüber tritt. Die Schulen werden exklusiv, weil sie für besondere Bildungsangebote stehen, die nur einerexklusiven Schülerschaft zuteil werden sollen. Damit werden die Schulen zu „anderen Räumen“ (Foucault 2006), der Bildung. Zwar müssen aufgrund der Schulpflicht alle Kinder gebildet und erzogen werden, aber in exklusiven Schulen wird ihnen eine besondere Bildung geboten. Schule ist dabei nicht nur Ort der Normalisierung in Form der Einsozialisierung, wie Helsper (1996) mit Bezug auf Foucault herausarbeitet, sondern sie wird zu einem „anderen Raum“ – zu einer Heterotopie – die wie ein Spiegel die gesellschaftlichen Machtstrukturen repräsentiert, aber auch von ihnen durchdrungen ist. Damit spiegeln sich in diesen Schulen gerade auf der Grundlage ihrer Besonderung die gesellschaftlichen Exklusionsmechanismen und Zugehörigkeitsordnungen in besonderer Weise. Dies kann besonders deutlich an folgenden Grundsätzen der heterotopologischen Beschreibung gezeigt werden35: Der erste Grundsatz besagt, dass es sich bei Heterotopien um Orte handelt, die Menschen vorbehalten sind, die sich gegenüber der Gesellschaft in einer Krise befinden oder von der Normalität der Gesellschaft abweichen (Foucault 2006, S. 322). Hier lässt sich ein Bezug zum Martin-Luther-Gymnasium herstellen, wo das Kind als defizitäres, zu disziplinierendes Wesen gesehen wird und an die Hochkultur noch anzupassen ist. Schule wird hier als Ort entworfen, an dem eine Normalisierungsleistung stattfindet, indem die Schüler die Gelegenheit erhalten, ihre eigene Unzulänglichkeit zu bearbeiten. In der Anna-SeghersSchule finden wir zwar das Bild des eigenaktiven Kindes als Ideal und weitreichende Ansätze in Bezug auf kindliche/jugendliche Partizipation; jedoch auch hier fußt die Erziehung auf einem defizitorientierten, problembelasteten Kind-Imago, wobei die Problembelastung der Kinder im Krisenhaften der Familie begründet ist. Die alternative Schule wird damit zu einem anderen Raum für alle, die sich die Krise und ihre Pädagogisierung durch Schule zuschreiben lassen. Der zweite Grundsatz von Foucault verweist auf die spezifische, genau festgelegte Funktionsweise, die Heterotopien für eine Gesellschaft haben. Diese Funktionsweise ist kulturell und historisch abhängig. Wir finden die Funktionsweise der Schule in strukturfunktionalen Ansätzen (z.B. Fend 1980, 2006) bestens begründet: Schule qualifiziert, selektiert und legitimiert. Jedoch ist hier weiter zu fragen, wofür die räumliche Struktur von Schulen stehen kann: es zeigt sich an den beiden hier vorgestellten Schulen einerseits, dass es sich um Ausdrucksgestalten individualisierter Bildungsansprüche handelt, die etwa zu einer Dorf- und Gemeinschaftsschule des 18. Jahrhunderts in maximalem Kontrast stehen. Im Martin-Luther-Gymnasium geht es dabei um eine Reproduktion von Exzellenz, die funktional für den Erhalt bildungsbürgerlich-konservativer Machtansprüche ist. Das Lernen selbst wird funktionalisiert und technologisiert. Und trotz einer bewusst oppositionellen Haltung der Anna-Seghers-Schule und dem ihr innewohnenden Bestreben, eine Alternative 35
Ich beziehe mich hier lediglich auf die Grundsätze, die an den hier untersuchten Schulen besonders deutlich zum Ausdruck kommen. Ausführlich sind die Grundsätze/Merkmale von Heterotopien in Kapitel 2.4 aufgeführt.
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zu gesellschaftlichem Zerfall und Krisenhaftigkeit zu bieten (vgl. Hummrich/Helsper/Graßhoff 2007), entkommt auch diese Schule den Funktionsbedingungen nicht. Sie entwirft sich als anderer Raum des anderen Raums, bleibt dabei aber implizit auf gesellschaftliche Bereiche (Milieus) bezogen, die sich distinktiv von anderen Milieus abgrenzen. Die Funktionalität ist damit einerseits auf den Erwerb von Wissen und Zertifikaten gerichtet, andererseits auf die Reproduktion und den Erhalt von Machteliten. Der vierte Grundsatz Foucaults besagt, dass Heterotopien in Verbindung mit Heterochronien stehen – zeitlichen Brüchen, die die Menschen in den Heterotopien übernehmen. Foucault benennt hier Museen und Bibliotheken als Beispiele (ebd., S. 325), in denen Zeit unablässig aufgestapelt wird. Gleichzeitig – so erklärt Foucault am Beispiel von Jahrmärkten – sind sie zeitlich befristet (z.B. Jahrmärkte). Im Vordergrund steht der Bruch mit der zeitlichen Alltagstruktur. Dieser liegt der Schule allgemein in der ihr eigenen zeitlichen Strukturierung und Taktung, welche zumeist durch die Schulglocke markiert wird, zugrunde (Klathoff 1997). In den Schulleiterreden, die hier rekonstruiert wurden, finden wir Spuren dieser Heterochronien darin, dass in beiden darauf hingewiesen wird, dass mit dem Eintritt in die Schule eine neue Zeit für die Schüler (im Falle der Anna-Seghers-Schule auch für die Familien) beginnt. Der Schulleiter des Martin-Luther-Gymnasiums macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass jetzt ein kälterer Wind für die Fünftklässler weht: sie müssen sich der strengen Disziplin- und Ordnungsvorstellungen unterwerfen (z.B. indem sie nach Eintritt in die Schule den Schulhof sauber machen). Zugleich gibt es ein von der Schule festgelegtes zeitliches Ablaufmuster, das nach erfolgter Bewährung die Nutzung der Vorteile der Institution (in Form von Reisen) nahe legt. In der Anna-SeghersSchule wird der Neubeginn in den Mittelpunkt gerückt. In einer quasi-religiösen Initiation (ähnlich wie der Taufe) werden die zehnjährigen Schüler zu „kleinen Schülern“ der Schule gemacht. Sie treten aus den bisher strukturierten Handlungszusammenhängen heraus und überantworten sich – auch zeitlich – der Schule. Im fünften Grundsatz weist Foucault darauf hin, dass Heterotopien gleichzeitig offen und geschlossen sind. Man kann dazu gezwungen werden, sich in sie hineinzubegeben (Schulpflicht) und man muss Eingangs- und Reinigungsrituale absolvieren, um aufgenommen zu werden (Foucault 2006, S. 325). Dies finden wir in den beiden hier vorgestellten Schulen nicht nur in den Aufnahmeprüfungen (die im Martin-Luther-Gymnasium als Eignungs- und Leistungstest, in der Anna-Seghers-Schule als Gesinnungstest durchgeführt werden), auch der Festakt als solches stellt ein solches Eingangsritual dar: Die Schüler (und ihre Familien) werden auf die Zugehörigkeitsordnung eingeschworen. Doch gerade am Martin-Luther-Gymnasium ist das Eingangsritual hier nicht beendet, sondern auf die Aufnahme in die Schule erfolgt mit der traditionellen Schulhofreinigung ein Reinigungsritual, mit dem die Schüler symbolisch auf eine demütige Haltung verpflichtet werden. Diese Inpflichtnahme erfolgt auch in der Anna-Seghers-Schule. Hier bekommen die Schüler von der Schulleiterin ein Bild der Namensgeberin geschenkt, das sie in Ehren halten sollen und an dessen Vorbild sie sich orientieren sollen. Die Positionierung als „andere Räume“ ermöglicht diesen exklusiven Schulen schließlich die Beanspruchung einer hegemonialen Position im Feld von Bildung und Erziehung. Dazu bedarf es nicht nur einer Verortung im Verhältnis zu den anderen Schulen, sondern auch einer „inneren Ordnung“ oder einer Auseinandersetzung mit dem, was von Schülerinnen und Schülern sowie ihren Familien und den Lehrerinnen und Lehrern erwartet wird: 218
2. Milieubezüge der Schulen als Entwurf einer „inneren Ordnung“ Mit Bezug auf diese „innere Ordnung“ lässt sich nun auf die Prozessdimensionen räumlichen Handelns das Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion thematisieren. Zunächst ist dabei zu beachten, dass auf der Spannungslinie Einheit und Differenz die schulischen Entwürfe beide von Homogenitätskonstruktionen ausgehen, denn die auserlesene Schülerschaft ermöglicht eine Herstellung von Einheit. Im Martin-Luther-Gymnasium wird diese über den Disziplin- und Leistungsbezug gewährleistet, in der Anna-Seghers-Schule über den alternativen kritischen Habitus. Doch gibt es trotz der Einheitstendenzen beider Schulen in den Aufnahme- und Teilhabebedingungen ihrer Schülerschaft auch einen entscheidenden Kontrast im innerschulischen Umgang mit der Spannung von Einheit und Differenz. Denn während im Martin-Luther-Gymnasium Differenz in der Unterscheidung von Familie und Schule gesetzt wird, ruht der Entwurf der Anna-Seghers-Schule auf einer Idealisierung von Einheit, in dem die gemeinsame ‚Arbeit am Kind‘ in den Vordergrund des Handelns gestellt wird. Beide Schulen setzen auch gleichermaßen die Generationendifferenz als konstitutives Merkmal der Lehrer-Schüler-Beziehungen zentral, auch wenn diese Setzung im Martin-Luther-Gymnasium disziplin- und kontrollorientiert, in der Anna-Seghers-Schule fürsorgebasiert ist. Unter der Bedingung, dass Raum durch Nähe-Distanz-Relationen zwischen Akteuren definiert ist (Bourdieu 1985: 14), weisen beide Schulen Ähnlichkeiten auf, wenn es um die Abgrenzung von prekarisierten, problembelasteten und randständigen Milieus geht, aber sie sind einander deshalb noch nicht nah, denn sie beziehen sich jeweils auf vollkommen unterschiedliche Milieus. Das Martin-Luther-Gymnasium kann mit konservativen bildungsbürgerlichen Milieus, die eine relativ große ökonomische Kapitalstärke aufweisen, in Verbindung gebracht werden; die Anna-Seghers-Schule weist Nähen zum liberal-intellektuellen und alternativen Milieu auf (vgl. Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009). Damit platzieren sich beide Schulen im gehobenen Bildungssegment sowohl gegenüber anderen Schulen als auch hinsichtlich der Milieubezüge der Elternhäuser. Die Exklusivität beider Schulen wird dabei ganz unterschiedlich untermauert. Man kann sagen: im Feld der exklusiven Schulen sind sie bestrebt zwei kontrastierende Pole zu besetzen. Gedankenexperimentell sind hier selbstverständlich Steigerungsmöglichkeiten vorstellbar, setzt man etwa das Martin-Luther-Gymnasium in Beziehung zu traditionellen Eliteinternaten oder Kadettenanstalten, die Anna-Seghers-Schule zu einer internatsförmigen Erziehung, die tatsächlich an die Stelle der Familie tritt. Aber dennoch sind auf der Spannungslinie Nähe-Distanz deutliche Bezüge zur Exklusivität hergestellt Dies wird ing der untenstehenden Abbildung noch einmal illustriert (Abb. 11). Dieses Schema hat einen illustrierenden Charakter und verweist auf die Ähnlichkeit der Schulen im Anspruch auf kulturelles Kapital und ihre Differenz hinsichtlich der Verortung zu ökonomischem Kapital (eine differenziertere Milieuverortung findet sich in Kapitel 4.2.3). Hier markieren die dunkelgrauen Felder, dass es Kernorientierungen gibt, die in den jeweiligen Schulen favorisiert werden. Um diese Kernorientierungen formen sich – hier durch die hellgrauen Felder angezeigt – Orientierungen auf Milieus, die sich unter besonderer Bewährung als passförmig zur Schule erweisen können.
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Kulturelles Kapital+ Martin-Lutherr Gymnasium
Anna-SeghersSchule
Alternative, liberal-intellektuelle und hedonistische Milieus
Bürgerlich-konservativ und aufstiegsorientierte Milieus
Ökonom. Kapital +
Unangepasste Milieu, Arbeitermilieus, Kleinbürgerliche Milieus
Abb. 11: Grobe Relationierung der Schulen
Von den übrigen Milieus grenzen sich die Schulen ab. Die schwarze kurvenförmige Linie zeigt dabei die gemeinsame Abgrenzung von den kulturkapital- und ökonomisch schwachen Milieus und die Abgrenzung voneinander, was die Bezugnahme auf das ökonomische Kapital und seine Milieus betrifft. Neben dieser Abgrenzung von und Annäherung an weniger oder mehr favorisierte Milieus erfolgt auch eine Abgrenzung im Feld konkurrierender Bildungsorte, sozusagen als Vermittlung der Einzelschule auf der Ebene der Institution zu einer höher gelegenen Ebene – der Region. Im Martin-Luther-Gymnasium werden dabei die universitären Bezüge mobilisiert sowie die besonderen Bildungsangebote der Schule, die in einzigartiger Weise Partizipation an exzellenten Bildungsmöglichkeiten verheißen. In der Anna-Seghers Schule wird diese Besonderung einerseits als Ausdrucksgestalt des reformpädagogischen Profils artikuliert, andererseits in impliziter Abhebung gegenüber allen anderen Schulen, die dieses Profil nicht haben, um die sich die Eltern jedoch auch nicht so stark bemühen mussten, um einen Platz zu bekommen. Die dritte Prozessvariable von Anerkennung und Missachtung lässt sich mit Bezug auf Honneths Anerkennungstheorie (Honneth 1994) skizzieren. Honneth entwirft die drei Anerkennungstypen emotionale, kognitive und individuelle Anerkennung und ihre jeweils korrespondierenden Missachtungsformen so, dass emotionale Anerkennung als diffuse und nahe Beziehungskonstellation vorbestimmt für Familie scheint, die anderen beiden Handlungsformen prädestiniert für außerfamiliales, gesellschaftliches Handeln. Grob gesagt lässt sich zusammenfassen: während es bei kognitiver bzw. moralischer Anerkennung um die Einhaltung generalisierter Regeln geht, steht bei individueller Anerkennung die Würdigung der individuellen Leistungsbereitschaft im Vordergrund. Von einer funktionalen Trennung beider Bereiche ausgehend, muss angenommen werden, dass Schule und Familie in ein komplementäres Ergänzungsverhältnis treten, wobei die Schule gegenüber der Familie als „Mittel-Sphäre“ (Hegel 1995: 48) scheint, die die rationalen Prinzipien der Lebensführung vermittelt. Für das Martin-Luther-Gymnasium kann dabei gefolgert werden, dass die Erfah220
rung moralischer Anerkennung – z.B. in Form der normativen Orientierungen und des Regelbewusstseins – in der Schule vermittelt wird – ebenso wie individuelle Anerkennung, in der sich die Person als Leistungsträger erlebt, die durch die Schule zu höchster Bildung gelangen kann. Damit wird auch deutlich, dass die Schule hier auf die Akquise von Kindern setzt, die emotionale Unterstützung in hohem Maße zu Hause erfahren haben, die aber auch eine Idee von Regelbewusstsein, Unterordnung und Leistungsorientierung haben, wenn sie in die Schule kommen. Kinder, die in der Schule nach emotionaler Anerkennung suchen, die aus multiproblembelasteten Elternhäusern kommen oder die Werthaltungen der Schule ablehnen, dürften in dieser Schule auf größere Passungsprobleme stoßen. Bei Betrachtung der Anerkennungsbeziehungen der Anna-Seghers-Schule wird hingegen die Kontrastivität zum Martin-Luther-Gymnasium deutlich. Hier findet sich ein Anerkennungsmodell, das auf der Idealisierung einer Familie-Schule-Kongruenz basiert, denn die Schule verspricht wie eine Familie für das Kind zu sein und damit auch die Bedürfnisse emotionaler Anerkennung abzudecken. Daneben setzt sie auf ähnliche Werthaltungen und stellt demgegenüber die Leistungsorientierung zurück. Diese bedeutet, dass der ideale Schüler bereit ist, sich mit seiner ganzen Person der Schule zu überantworten. Risiken oder Passungsprobleme gibt es dort, wo aufgrund der diffundierenden Beziehungen Entgrenzungen gegenüber den Schülern entstehen (vgl. Wernet 2003), dort wo Schüler, die besonders leistungsfähig sind, gegenüber der Näheorientierung zurückstecken müssen oder wo die sachliche Vermittlung gegenüber dieser Näheorientierung gänzlich in den Hintergrund rückt. Dier hier vorgestellten Prozessdimensionen stellen sich schließlich als interdependentes Beziehungsgefüge dar, das Rückschlüsse auf die Zugehörigkeitsordnung und das hierin zum Ausdruck kommende Verhältnis von Inklusion und Exklusion geben kann. Dies soll im Folgenden abschließend beleuchtet werden: 3. Die räumliche symbolische Ordnung der Schulen Das Verhältnis von Inklusion und Exklusion in den Schulen kann nun nicht als hinreichend ausdifferenziert betrachtet werden, solange die Inkonsistenzen und Brüche der schulkulturellen Entwürfe nicht einbezogen werden. So sind die Relationierungen, wie sie in den ersten beiden Punkten vorgenommen wurden, vor allem Imaginationen, die idealen Bildern und Vorstellungen der institutionellen Repräsentation entsprechen. Die Positionsbestimmung der Schulen erfolgt also als ideale Konstruktion, ebenso wie die Anordnung und Lagerung der schulischen Akteure zueinander. So kann im Martin-Luther-Gymnasium der Anspruch altehrwürdiger Tradition nicht ungebrochen behauptet werden, denn diese wird, wie unter Hinweis auf die „ramponierte Aula“ deutlich wird, in der Schule selbst nicht verwirklicht. Zu repräsentativen Zwecken weicht die Schule auf den nahegelegenen Basedow-Saal aus, der zur Universität gehört. Und auch zur Verwirklichung der hohen Bildungsziele – so wird über die vielen Auslandsreisen vermittelt – muss aus der Schule herausgegangen werden. Hier liegt eine Charismatisierungskrise schulischer Exklusivität vor, das heißt: Exklusivität kann nicht ungestützt aufrecht erhalten werden. Der Entwurf der Differenz zum Elternhaus wird daher brüchig, weil die Eltern ihre Kinder und die gesamte Schule weitreichend unterstützen müssen, um die Orientierung an höchster Bildung mit zu fördern. Mit dem, was die Kinder konkret erwartet – z.B. der Reinigung des Schulhofs – wirkt es vielmehr so, als werde innerschulisch Disziplin gefördert, die Orientierung an 221
höchster Bildung könne jedoch nur außerschulisch stattfinden. Die Charismatisierungskrise des Martin-Luther-Gymnasiums symbolisiert somit die Brüchigkeit der Selbstverortung, welche den Ansprüchen der Schule mit der Drohgestalt des Zerfalls („ramponierte aula“) gegenübertritt. Gerade in der brüchigen symbolischen Vermittlung der Repräsentativität der Schule scheint die Allgegenwärtigkeit dieser Bedrohung auf. In der Anna-Seghers-Schule liegen die Spannungsmomente im Einheitsentwurf von Familie und Schule, der die funktionale Trennung beider Bereiche imaginär verkennend aufhebt (vgl. Hummrich/Helsper 2004). Dies geht mit spezifischen Anerkennungsversprechen einher, vor allem im Bereich der emotionalen Anerkennung, durch die die Funktionsbereiche der Schule tendenziell nivelliert werden oder zumindest in den Hintergrund rücken. Zudem greift die Schule weit in familiale Strukturen ein, indem sie sich als Expertin der ‚richtigen Haltung‘ darstellt und demgegenüber ein generalisiertes Misstrauen gegenüber den Familien äußert. Die Brüchigkeit liegt hier also im paradoxen Verhältnis maximaler Inklusion versus dem prinzipiellen Misstrauen gegenüber der Inkludierbarkeit der Eltern – eine Paradoxie, die gesteigert wird, bezieht man die strukturelle Getrenntheit von Familie und Schule ein (vgl. Helsper/Hummrich 2009, Hummrich 2008). Diese aufscheinenden Inkonsistenzen und Brüche implizieren zum Einen eine Gefahrenquelle für die konsistente Verbürgung schulischer Exklusivität und lassen die Verortung der Schulen sowie die zirkulären Beziehungen in der Schule spannungsreich werden. Zum Anderen besitzen sie Aufforderungscharakter für die beständige Arbeit an der Verbürgung in Form eines symbolischen Kampfes um die Absicherung der Privilegien. Und darüber hinaus liegt in dieser Spannung gerade auch das besondere Transformationspotenzial der schulischen Ordnung. Mit diesen Dimensionierungen lassen sich schließlich zwei unterschiedliche und dennoch exklusive Zugehörigkeitsordnungen abstrahieren. Diese haben ihre Gemeinsamkeit auf der institutionellen Ebene darin, dass die Schülerschaft ausgesucht wird und dass es sich um Schulen handelt, die sich sowohl gegenüber anderen Schulen als auch hinsichtlich der zentralen Bezugsmilieus im Bereich exklusiver Bildungsangebote bewegen. Dabei profiliert sich das Martin-Luther-Gymnasium über einen Leistungs-, Disziplin- und Traditionsbezug, der den Schülern höchste Bildung verspricht und solche Schüler inkludiert, die sich auf formalisierte Lehrer-Schüler-Beziehungen einlassen, im Elternhaus emotionale Unterstützung und Anerkennung erfahren und die Schule vor allem funktional wahrnehmen. Exklusionsbedrohungen sind am ehesten dann wahrscheinlich, wenn das Leistungsstreben nicht hinreichend abgesichert ist und zudem die Haltungen – auch die der Eltern – deutlich von den schulisch präferierten abweichen: also sich zum Beispiel im Bereich des liberal intellektuellen oder alternativen Milieus befinden. In der Anna-Seghers-Schule wird Inklusion über die Homologie von Familie und Schule reguliert. Schüler, die hier zur Schule gehen, werden inkludiert, wenn sie in dieser Homologie aufgehen und sich der Schule überantworten – auch was die schulische Werthaltung von Selbständigkeit betrifft. Als eigenaktives Kind müssen sie sich damit der Fürsorgehaltung der Schule unterwerfen. Nicht Leistung wird hier zum zentralen Inklusionsindikator, sondern die Gesinnung, die Orientierung an der alles inkludierenden Schulgemeinschaft. In beiden Fällen haben wir es daher mit exklusiver Inklusion zu tun, die beansprucht, dass Familie und Schule eine entsprechende Haltung einnehmen (können). Und in beiden Fällen gehen der Aufnahme in die Schule Eingangs- und Reinigungsrituale voraus, mit denen die Schulen ihre Platzierung im Feld exklusiver Schulen nach außen (gegenüber anderen Schulen) und nach innen (in Be222
zug auf die Eltern und Schüler) behaupten. Wie dieses jedoch konkret, das heißt interaktiv ausgeformt ist, soll im Folgenden expliziert werden. 5.2 Zugehörigkeitsordnungen in schulischen und familialen Handlungsräumen Am Beispiel der schulischen Entwürfe konnten ideale Zugehörigkeitsordnungen rekonstruiert werden, die Bedinugngeun für Inklusion und Exklusion stellen und einen rahmenden Charakter für die Lehrer-Schüler-Beziehungen haben. Auf die institutionellen Inklusionsbedingungen müssen sich sowohl die Familien und ihre Kinder beziehen, als auch die Lehrerinnen und Lehrer, die vor diesem Hintergrund ihre Professionsentwürfe ausgestalten. Auf diese Relationierung soll im Folgenden eingegangen werden, indem das Verhältnis von Inklusion und Exklusion als Bedingung der Zugehörigkeit zum Handlungsraum Schule betrachtet wird. Im zweiten Teil dieses Kapitels ist dann zu fragen, welche familialen Hintergründe den jeweiligen sich im Handlungsraum Schule ausformenden Beziehungen zugrunde liegen. Vorausschickend soll in diesem Zusammenhang noch einmal erwähnt werden, dass die eingangs diskutierten relationalen Raumbezüge die Grundlage darstellen, auf der nun verallgemeinernde theoretisierende Ableitungen getroffen werden. Hierbei wurden auch Theorien unterschiedlicher Reichweite diskutiert bzw. solche Theorien, die eine unterschiedliche epistemologische Grundlegung haben. Ansatzweise wurde dies in Kapitel 2.2 in der Relationierung der Theorien von Pierre Bourdieu und Ulrich Oevermann diskutiert und in der Zusammenfassung des zweiten Kapitels aufgegriffen (Kap. 2.5). Hier wurde von einem ‚Modus der Komplementarität‘ gesprochen, der für einen Raumbegriff zugrunde gelegt wird, der sowohl Bezüge zur Strukturiertheit von Handeln durch Macht einbezieht, als auch die subjektiven Verortungshandlungen und es so schließlich ermöglicht, die Relationierung von Handeln zur symbolischen Ordnung in den Blick nehmen zu können. Auch Martina Löw (2001) greift eine solche Perspektive auf, indem sie zwischen spacing und Syntheseleistung unterscheidet und damit die handelnde Erschließung und die machtvolle Strukturiertheit von Raum in den Fokus rückt. Diese Strukturlogik, die auch den eingangs entfalteten dynamischen Raumkonzepten Rechnung trägt und im mehrebenenanalytischen Blick der Interdependenz von (machtvollen) Rahmungen und (subjektiven) Platzierungen für diese Arbeit operationalisiert wurde (vgl. Kap. 2.5), soll auch hier aufgenommen werden. Für die Bestimmung von räumlichen Ordnungsstrukturen und Verortungsprozessen in Zugehörigkeitsordnungen scheint diese Perspektive des interdependenten Wechselspiels von Strukturierungen und Handlungen dabei unerlässlich, da die Rekonstruktion von Verortungsmöglichkeiten, wie sie etwa mit Bezug auf die Theorien von Oevermann und Honneth geleistet werden kann, immer auch eine Auseinandersetzung mit deren Rahmungen beinhaltet. Dies kommt insbesondere dann in den Blick, wenn man die lacansche Perspektive der symbolischen Ordnung mit den intersubjektiv konzipierten Theorien von Oevermann und Honneth konfrontiert (vgl. Bedorf 2004). Interaktives Handeln soll somit nicht nur als dyadisch begriffen werden, sondern als zu einer symbolischen Ordnung vermittelt. Diese symbolischen Ordnungen lassen sich machttheoretisch fassen – etwa mit Bezug auf die raumtheoretischen Konzeptionen von Foucault und Bourdieu. Umgekehrt besitzen aber die subjekttheoretischen Bezüge Erklärungs- und Differenzierungspotenzial für die machttheoretischen Ansätze, welche den fallkonkreten Ausformungen im Handeln nicht gerecht wer223
den. Gerade diese Fallbezüge scheinen jedoch für die Frage nach der pädagogischen Bedeutung räumlichen Handelns bedeutsam, denn sie verweisen auf die möglichen Variationen innerhalb spezifischer Machtkonstellationen und ihrer historischen Gewordenheit. Insofern wird im Folgenden sowhl im Kapitel über den Handlungsraum Schule als auch in dem über den Handlungsraum Familie jeweis auf machttheoretische Vorannahmen eingegangen und vor diesem Hintergrund eine Typologie der Verortung kontrastierender Fälle entwickelt. Dies soll zunächst mit Bezug auf die Zugehörigkeit zum Handlungsraum Schule geschehen, im Anschluss mit Blick auf die Zugehörigkeit zur Familie.
5.2.1 Zugehörigkeit zum Handlungsraum Schule Vor dem Hintergrund kontrastierender schulischer Zugehörigkeitsentwürfe, die sich dennoch in ihrem distinktiven Habitus der Abgrenzung (Bourdieu 2006b) gegenüber bildungsdistanzierten Milieus ähneln, können Lehrer-Schüler-Beziehungen mit Blick auf die in ihnen wirksam werdenden Zugehörigkeitsordnungen betrachtet werden. Dabei sollen weniger die einzelschulischen Beziehungskonstellationen wiederholt werden, als dass die Frage im Mittelpunkt steht, welche Anordnungs- und Lagerungsbeziehungen unter der Bedingung von Exklusivität entstehen. Dabei muss zunächst die Lehrer-Schüler-Beziehung als Möglichkeit einer persönlichen Beziehung zwischen zwei Individuen (Lenz/Nestmann 2009) in den Blick genommen werden, die sich zwischen sachlogischer und beziehungslogischer Orientierung ausgestaltet (1). Im Anschluss daran gilt es, die spezifischen Professionsentwürfe der Schulen und ihre Konzeptionierungen von Lehrer-Schüler-Beziehungen in den Blick zu nehmen (2) und schließlich in eine Typologie von Lehrer-Schüler-Beziehungen unter Bedingungen der Exklusivität zu überführen (3). Schließlich erfolgt eine kurze Diskussion der Erträge der raumanalytischen Betrachtung an (4). 1. Lehrer-Schüler-Beziehungen: persönliche oder rollenförmige Beziehung? Ganz allgemein sind Lehrer-Schüler-Beziehungen durch die Beziehungen von Lehrern und Schülern ausgestaltet (Meyer 2004). Wir finden zu dieser Beziehungsform bereits bei Comenius und Campe Hinweise, die das Unterrichten in den Mittelpunkt stellten (Blankertz 1982). Einen herausragenden Ansatz, der später auch in modernitätskritischen reformpädagogischen Theorielegungen immer wieder aufgegriffen wurde, ist jedoch der von JeanJacques Rousseau. In seinem Erziehungsroman „Emile“ setzt sich Rousseau kritisch mit einer defizitorientierten Sichtweise auf das Kind auseinander und räumt dem Kind durch das Konzept der „negativen Erziehung“ den größtmöglichen Entwicklungsspielraum ein (Rousseau 1998). Herbart (1806) distanziert sich hingegen von diesem Konzept, da dadurch wichtige kulturelle Wissensbestände verloren gingen und siedelt die Lehrer-SchülerBeziehung in der Doppelwertigkeit von Vermittlung und Erziehung an (ebd., S. 19). Die Positionen von Rousseau und Herbart begründen damit eine Tradition unterschiedlicher Ermöglichungsstrukturen für Lehrer-Schüler-Beziehungen, die in den verschiedenen geisteswissenschaftlichen und pädagogischen Strömungen immer wieder einen Niederschlag finden. In der Tradition der vermittlungszentrierten Ansätze ist dabei zuvorderst die Auseinandersetzung zu schulischer Erziehung bei Hegel (1995) zu verorten. Hegel siedelt Schule 224
als eine Art Mittel-Sphäre zwischen Familie und Gesellschaft an und entwirft Schule als Gegensatz zur Familie: Schule gilt als die Instanz, „die das Kind aus dem Kreis der Liebe, Empfindung und Neigung in das Element der Sache“ und hin zur „Welt“ führt (ebd., S. 48). Dabei werden dem Kind universelle Regeln und Pflichten auferlegt, das Kind muss lernen, sich „im Sinne der Pflicht und eines Gesetzes zu betragen, und um einer allgemeinen, bloß formellen Ordnung willen dies zu thun und anderes zu unterlassen“ (ebd., S. 49). In diese Tradition reihen sich schließlich auch strukturfunktionalistische Perspektiven ein, die Lehrer-Schüler-Beziehungen auf ihren Beitrag zur Reproduktion der Gesellschaft hin untersuchen (vgl. Fend 1980, Parsons 1981). In der Lehrerrolle sind dabei universalistische Wertmuster repräsentiert, die zugleich mit institutionellen Gratifikations- und Sanktionierungsressourcen verbunden sind. Die Schüler inkorporieren die affektiv neutralen, auf individuelle Zuschreibung bezogenen Leistungshaltungen und universalistischen Leistungshaltungen im Laufe der schulischen Sozialisation (Helsper/Hummrich 2009). In reformpädagogischen Kindheitsentwürfen wird im Gegensatz zu der Orientierung an sachlicher Vermittlung und universalistischen Bezügen, die Orientierung am Kind in den Mittelpunkt der Betrachtung gesetzt (Ullrich 1999). Der Lehrer wird zum Begleiter des Schülers oder der Schülerin, oder – in radikalisierten, antipädagogischen Varianten – zum Freund der Schülerinnen und Schüler (Helsper/Hummrich 2009, S. 607). Nun implizieren die hier genannten Theorietraditionen auch starke normative Entwürfe dazu, was Schule zu sein hat und wie sich die Lehrer-Schüler-Beziehung darin auszugestalten hat – nämlich einmal als sachorientierte Vermittlungsbeziehung, zum Anderen als persönliche Erziehungsbeziehung, die erst durch die besondere Bezugnahme Aneignung ermöglicht. Wenn wir nun auf Lehrer-Schüler-Beziehungen aus raumtheoretischer Perspektive blicken, so müssen sie im Gegensatz dazu, als spezifischer Möglichkeitsraum gedacht werden, der Handlungsoptionen eröffnet und begrenzt – je nach gesellschaftlicher und institutioneller Rahmung (vgl. Helsper 2006, 2008). Erste Hinweise darauf geben systemtheoretische und interaktionistische Ansätze, die die oben genannten, zum Teil starren und reproduktiven rollentheoretischen Positionierungen relativieren. So ist in interaktionistischen Perspektiven die Bedeutsamkeit der Lehrer-Schüler-Beziehung als Aushandlungsbeziehung im Vordergrund (Zinnecker 1978, Krappmann/Oswald 1995, Breidenstein/Kelle 1998) und Lehrer und Schüler erscheinen als Konstrukteure und Ko-Konstrukteure von Unterricht (Breidenstein 2006). Kade (1997) zeigt systemtheoretisch, dass Vermittlung und Aneignung als wechselseitiger Prozess zu denken ist, bei dem auf der Vermittlerseite immer ungewiss bleibt, was zur Aneignung auf Schülerseite geführt hat. Doch vor dem Hintergrund des Vorhabens, die räumlichen Anordnungs- und Lagerungsbeziehungen zu bestimmen, soll sich hier noch einmal mit den bourdieuschen und foucaultschen Grundlagen, sowie den strukturtheoretischen Bestimmungen zur LehrerSchüler-Beziehung auseinandergesetzt werden. Mit Foucault lässt sich Schule als MachtDispositiv36 (Foucault 1994, Pongratz 1989, 2004) betrachten. Hieran anschließend kann gefolgert werden, dass die räumliche Anordnung und Lagerung der Schüler in der „Schulzeit“ und die damit verbundenen pädagogischen Praxen – disziplinierte und gelehrige Hal36
Dispositive sind in diesem Zusammenhang als heterogenes Ensemble zu fassen, „dass Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische, philantropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wie Ungesagtes umfasst. Soweit die Elemente des Dispositivs. Das Dispositiv selbst ist ein Netz, das zwischen den Elementen geknüpft werden kann“ (Foucault 1978).
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tungen hervorbringt. Insbesondere Pongratz, aber auch Thiemann (1985) arbeiten hierbei heraus, wie die Kontroll- und Disziplinartechniken sich im Laufe der Modernisierung gewandelt haben und schließlich die Gestalt subtiler introspektiver, in die Subjektivität der Schüler eindringende Formen annehmen. Dabei erscheint auch die PISA-Studie als Disziplinarmacht, die in der Gestalt eines „trojanischen Pferdes“ (Pongratz 2004, S. 245) auf das Individuum zugreift. Indem Schule an ihrer Output-Leistung gemessen wird, wird in ihr stets die Disziplinarmacht reproduziert, die sich auch in Machtstrukturen und Anordnungsverhältnissen der Schüler und Lehrer in der Schule nachvollziehen lassen, indem gelehrige Schülerinnen und Schüler und lehrreiche Lehrerinnen und Lehrer ‚gemacht‘ werden. Dabei wohnt reformpädagogischen Schulen mit ihrer Orientierung an Selbständigkeit der Lernenden, eine Steigerung der Disziplinarmacht inne, weil die Vermeidung von „Reibung“ (ebd. S. 252) darauf setzt, dass die Anpassung von selbst vollzogen wird. In dieser Auseinandersetzung wird deutlich, dass sich aus Foucaults Theorie nur indirekt Annahmen zur Lehrer-Schüler-Beziehung folgern lassen. Bei Bourdieu wird die Gestaltbarkeit der Lehrer-Schüler-Beziehung schon mehr in den Blick gerückt. Lehrerinnen und Lehrer erscheinen hier als Repräsentanten des sekundären Habitus der Schule, der zum primären, durch die Familie geprägten Habitus, im Spannungsverhältnis steht, aber auch passförmig an die Familie anschlussfähig sein kann (Bourdieu/Passeron 1973, Bourdieu et.al. 1997). Bourdieu fokussiert insofern die Lehrer-Schüler-Beziehung ähnlich wie Foucault, als er sie innerhalb der gesellschaftlichen Machtstrukturen verortet und in ihr gleichzeitig eine Reproduktionsinstanz gesellschaftlicher Machtstrukturen sieht. Dabei zieht Bourdieu als Erklärung heran, dass soziale Klassifizierungen, wie sie durch die Schule getroffen werden, naturalisiert und verabsolutiert werden. Schule wird so zu einer Instanz, die passförmige „Prädispositionen“ den nicht-passförmigen vorzieht, wobei sich Passförmigkeit – so Bourdieu – an der Verfügbarkeit symbolischen Kapitals durch die Schülerinnen und Schüler und ihrem „guten Willen“ in Bezug auf die Schulabschlüsse bemisst (Bourdieu 1993a, S. 254). Dieser Logik nach zeigt sich die gesellschaftliche Korrumpierbarkeit der LehrerSchüler-Beziehung (und letzten Endes auch die Lehrerprofessionalität). Komplementär zu diesen machttheoretischen Ansätzen kann nun mit Bezug auf Oevermann ein mikroanalytisches Modell der Lehrer-Schüler-Beziehung eingeführt und ergänzt werden. Oevermanns zentrale Annahme ist, dass der Lehrerberuf kein professionalisierter, sondern ein professionalisierungsbedürftiger Beruf sei (Oevermann 1996). Hierbei handelt es sich nicht, wie bei den klassischen Professionen, um einen Beruf, bei dem die lebenspraktische Autonomie wiederhergestellt wird, sondern um einen Beruf, in dem lebenspraktische Autonomie erst ermöglicht wird – es lässt sich somit von einer „prophylaktisch-therapeutischen“ Dimension pädagogischen Handelns sprechen. Dabei geht es im pädagogischen Handeln um die Vermittlung von Wissen und Normen – der Grundlage für die Reproduktion der Gesellschaft (ebd., S. 144). Auch wenn Oevermann hier die Normenvermittlung an die zweite Stelle gegenüber der Wissensvermittlung rückt, erhalten wir doch mit seinen Ausführungen dazu, dass „Normenvermittlung immer auf die Vermittlung eines Habitus und insofern auf Bildung“ (ebd., S. 145) hinauslaufe, auch einen Hinweis darauf, dass es durch diese Verknüpfung zu bestimmten Anordnungs- und Lagerungsverhältnissen kommt, die durch die Lehrer-Schüler-Beziehung entstehen. Diese ist dabei nicht nur rollenförmig, sondern auch mit diffusen Sozialbeziehungsanteilen durchmischt: Die Lehrer-Schüler-Beziehung kann 226
als „widersprüchliche Einheit von diffusen und spezifischen Sozialbeziehungen“ beschrieben werden, „die durch die unfertige psychische Entwicklung des Schülers erzwungen ist“ (ebd., S. 148). Der Lehrer muss schließlich stellvertretend Krisen der Lebenspraxis bei Heranwachsenden lösen (Oevermann 2008b) – er ist „Geburtshelfer im Prozess der Erzeugung des Neuen“ (Oevermann 2002, S. 35). Pädagogisches Handeln bedeutet somit „Hilfe zur Selbsthilfe“ (Oevermann 1996, S. 152) und baut eben nicht auf einem Leidensdruck von Patientinnen und Patienten auf, sondern auf der Neugierde und dem Wissensdrang des Kindes (ebd., S. 153) als Universalie der Disposition zu Lernen. Oevermann konzipiert eine gelingende Lehrer-Schüler-Beziehung damit als „Arbeitsbündnis“, in dem der Lehrer die widersprüchliche Einheit der Beziehung annimmt und vor dem Hintergrund der familialen und der peer-Bezüge ausgestaltet (vgl. Oevermann 2002, 2008b). Die hiermit dyadisch konzipierte Lehrer-Schüler-Beziehung verortet ein Grundproblem professionalisierten Lehrerhandelns in der spezifischen Struktur des schulischen Handelns und setzt ihr mit dem „Arbeitsbündnis“ zugleich ein Ideal prophylaktisch-therapeutischen Handelns entgegen, das auf der universellen Annahme der kindlichen Neugier aufbaut (Oevermann 2008b, 2002). Obwohl sich Oevermann dezidiert gegen machttheoretische Positionierungen und die mit ihnen einhergehende Gefahr der Subsumptionslogik wendet (Oevermann 1996), beinhaltet die Kritik an der Schulpflicht und der Verweis auf die systematische Verhinderung von Professionalität letztlich eine Kritik an den machtvollen Rahmungen auf der systemischen Ebene. Die auf der anderen Seite eher ideale Beschreibung des Arbeitsbündnisses als prophylaktisch-therapeutische Beziehung hingegen läuft trotz des Primats der Einbeziehung des familialen und des peer-Hintergrunds Gefahr, um ihre Bezüge zur symbolischen Ordnung verkürzt zu werden. Hier bieten sich Perspektiven an, die die spezifischen Ermöglichungsstrukturen, die unter Bedingungen der Schulpflicht und der sich darin ausformenden Schulkulturen, in ihre Analysen einbeziehen und das schulische Handeln insgesamt in Handlungsantinomien verorten (vgl. Helsper 2004, Helsper/ Hummrich 2008b)37. Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist in diesem Zusammenhang nicht nur als dyadische Beziehung in Handlungsantinomien engebettet (etwa: Autonomie-Heteronomie, Symmetrie-Asymmetrie, Subsumption-Rekonstruktion, Nähe-Distanz, Entscheiden-Begründen, Vertrauen, Misstrauen, vgl. Helsper 1996). Sie muss auch in Be Beziehungsaufnahme respezifiziert werden, bzw. muss sie reuniversalisierend auch wieder an den Klassenkontext zurückgebunden werden. Idealtypisch sind diese Beziehungen um das Wissen und die Sache zentriert, weshalb etwa Ricken (2009) das Zeigen zum zentralen Element der LehrerSchüler-Beziehung macht. Sach- und Wissensorientierung sind damit zentrale Gestaltungsmerkmale, über die sich die Lehrer-Schüler-Beziehung konstituiert. So, wie die Beziehungen fallspezifisch ausgestaltet werden, gestaltet sich auch die symbolische Ordnung der Schulklasse aus. Dabei wird (indirekt) auch das familiale Herkunftsmilieu (z.B. durch Ablehnung oder Anerkennung der Milieubezüge) und sind in die Schulkultur einbezogen 37
In diesem Zusammenhang wäre auch der Begriff des Arbeitsbündnisses zu diskutieren. Denn bei Oevermann ist hiermit dezidiert auf eine Analogie zum therapeutischen Arbeitsbündnis angespielt (Oevermann 2008a). Auch der Begriff des „Arbeitsbündnisses“ bei Meyer (2004) als eine Art Vertrag zwischen Lehrerin und Schülerin ist nicht frei von idealen Setzungen, da hier eine demokratische Aushandlung zwischen Lehrer und Schüler angenommen wird. Gemeinsam ist beiden Varianten, dass sie die empirisch vorfindbaren Verortngsprozesse von Lehrern und Schülern in ihrer räumlichen Qualität nicht fassen. Insofern schiene der Begriff der Lehrer-Schüler-Beziehung für die Beschreibung der Verortungsprozesse, also unter raumanalytischen Gesichtspunkten, geeigneter und wird im Folgenden verwendet, es sei denn, es handelt sich um ein Zitat.
227
(vgl. Helsper/Hummrich 2008b). Folglich wird die Lehrer-Schüler-Beziehung hier als Möglichkeitsraum gedacht, der innerhalb unterschiedlicher makro- und mesostruktureller Rahmungen (Fend 2008) entsteht. 2. Professionsentwürfe der Schulen und idealtypische Lehrer-Schüler-Beziehungen Unter der Annahme der Wechselseitigkeit unterschiedlicher Handlungsebenen zeigt sich die Ausgestaltung von Lehrerprofessionalität an der Schule eng verwoben mit den idealen schulischen Entwürfen. Lehrerprofessionalität ist sozusagen in den schulkulturellen Möglichkeitsraum der professionellen Orientierungen eingebettet und darauf bezogen und zugleich muss sie als eine Bedingung für die Lehrer-Schüler-Beziehung verstanden werden. Darum sollen hier im Anschluss an eine theoretische Einbettung der Lehrerprofessionalität, die kontrastierenden Entwürfe von Zugehörigkeit in Bezug auf die Professionsideale diskutiert werden. Dabei ist so vorzugehen, dass zunächst die Zugehörigkeit der Lehrerinnen und Lehrer selbst im Verhältnis zu den schulischen Idealentwürfen herausgearbeitet wird und im Anschluss daran die Möglichkeitsräume für die Entstehung der Lehrer-SchülerBeziehungen markiert werden. Dies lässt sich für das Martin-Luther-Gymnasium mit einem Auszug aus dem Schulleiterinterview treffend charakterisieren, in dem der Schulleiter unter Bezug auf die Exklusitität der Schule darauf verweist, dass unter dieser Bedingung nicht „irgendwelche spielereien oder (I: hmm) , neckerein“ veranstaltet werden können: „sondern dann muss wirklich handfestes wissen vermittelt werden“. Hiermit grenzt er sich deutlich vom reformpädagogischen Entwurf ab und setzt die Sachorientierung ins Zentrum der Lehrer-SchülerBeziehung. Legt man die Annahme zugrunde, die Lehrer-Schüler-Beziehung sei als widersprüchliche Einheit von diffusen und rollenförmigen Beziehungsanteilen (Oevermann 1996) zu denken, so entsteht hier und auch vor dem Hintergrund der Schulleiterrede (vgl. Kap. 4.2) der Eindruck, dass die Lehrer-Schüler-Beziehung eher auf der Seite „wissensmäßigen und verwaltungsrechtlichen Expertentums“ (ebd., S. 155) anzusiedeln ist. Im Unterschied dazu findet sich der Professionalitätsentwurf der Anna-Seghers-Schule in der Begrüßungsrede mit folgenden Worten umschrieben: „in ‚unserer‘ (betont) schule gibt es menschen die zuhören (1) es ist eine schule in der es möglich ist das was einen freut und das was einen bedrückt zu sagen (3) und das hilft viel im leben wenn man das nich runterschlucken muss (2) zum zuhören gehört viel geduld (1) viel liebe (2) und zuneigung (1) und zum sprechen gehört mut (2) und wir nehmen uns in der schule zeit (1) und wir geben, euch, und uns die zeit (1) und das is glaub ich manchmal wichtiger als vokabeln lernen und die neue rechtschreibung (2)“. Damit liegt ein gegensätzlicher Eindruck vor: das Professionalisierungsideal verweist hier auf eine „distanzlose ‚Verkindlichung‘ des Schülers“ (ebd., S. 155). Damit haben wir zwei Positionen vorliegen, die genau das beschreiben, was Oevermann als vereinseitigende Tendenzen des Lehrerhandelns und seinen deprofessionalisierenden Implikationen beschreibt: das Lehrerhandeln, das auf einfachen, „in sich agierenden Zurechnungen und Zuschreibungen vermeintlicher feindlicher Absichten und ablehnender Haltungen“ (ebd., S. 156) basiert und damit tendenziell Schülerinnen und Schülern, die emotional verunsichert sind, keine Möglichkeit der diffusen Sozialbeziehungen bietet; und das Lehrerhandeln, das sich im Imago der „strukturverlogenen, kumpaneihaften, anbiedernden Solidarität des Müsli-Lehrers“ (ebd., S. 156) widerspiegelt und damit Schülerinnen und Schüler, die vor allem sachlich orientiert sind, infantilisiert. Diese beiden Extrempole werden von den beiden hier beschriebenen Schulen berührt. Die Möglichkeitsräume für die 228
Entwicklung und Entfaltung von Lehrerprofessionalität und die Lehrer-Schüler-Beziehungen sind damit begrenzt durch die jeweils andere Schulimagination: an der Anna-Seghers-Schule wäre ein Lehrer, der ausschließlich oder fast ausschließlich der sachorientierten Bezugslogik Rechnung trägt, fehl am Platz, am Martin-Luther-Gymnasium bildet er das Ideal ab. Umgekehrt ist das Lehrerideal der Anna-Seghers-Schule eines, das sich auch auf „spielereien und neckereien“ einlässt und sich den lebensweltlichen Problemen der Schülerinnen und Schüler widmet, während dies in der Martin-Luther-Schule abgelehnt wird. Während also in den Entwürfen des Schulleiters des Martin-Luther-Gymnasiums die Sachorientierung im Mittelpunkt steht und damit ein Beziehungsentwurf vorliegt, der an den oben (unter 1.) skizzierten Modus der Wissens- und Sachorientierung anschlussfähig ist, liegt für die Anna-Seghers-Schule ein Beziehungsentwurf vor, der die Person in den Mittelpunkt setzt und in dem sich die Sach- und Wissensorientierung erst innerhalb der persönlichen Beziehung zwischen Lehrer und Schüler ausgestaltet. Die exklusiven Schulen haben somit zwei diametral zueinander liegende Entwürfe von Lehrerprofessionalität. In diesem Zusammenhang ist besonders interessant, dass mit dem traditionsorientierten Gymnasium und der reformorientierten Gesamtschule gerade jene beiden Linien der Lehrer-Schüler-Beziehungen anschlussfähig sind, die zu Beginn dieses Teilkapitels als idealtypische Linien des pädagogischen Diskurses um Lehrer-SchülerBeziehungen ausgemacht werden konnten: während im Martin-Luther-Gymnasium idealtypisch die sachorientierten Vermittlungsbeziehungen den Kern des unterrichtlichen Geschäfts ausmachen (Herbart), werden in der Anna-Seghers-Schule die persönlichen Beziehungen als Grundlage des Wissenserwerbs erachtet (Rousseau). Auf der Grundlage der Passungskonstellationen zum schulischen Möglichkeitsraum und entlang der Nähe-DistanzRelationen zu den schulischen Entwürfen lassen sich nun ähnliche Verortungspraktiken an beiden exklusiven Schulen finden. In den exklusiven Schule, so kann vorweg bereits verallgemeinernd behauptet werden, kommt es zur Ausformung ähnlicher Verortungspraxen zur schulkulturellen Rahmung. Ein erster Typus der sich im Rahmen der Schulkultur ausformenden Professionalität basiert dabei auf der „besonderen Nähe zu den pädagogischen Idealentwürfen“. Er wird repräsentiert durch die Schulleiterin und den Schulleiter der beiden Schulen. Wir finden hier – auch in den Interviews – eine deutliche Übereinstimmung mit den schulischen Werthaltungen. Die Schulleiterin und der Schulleiter entwerfen ihre Professionshaltung sozusagen in Kongruenz mit dem, was sie selbst auch in Bezug auf die Schule entwerfen. Die Schulleiterin der Anna-Seghers-Schule stellt in diesem Zusammenhang besonders die Anwaltschaft für die Kinder und die Erziehung zur Selbständigkeit durch die Schule in den Vordergrund. Erst durch die Beziehung zum Kind wird Wissenserwerb ermöglicht. Der Schulleiter des Martin-Luther-Gymnasiums siedelt Wissenserwerb und Leistungsanforderungen im Zentrum der Schule an. Sie bilden den Kern des pädagogischen Geschäfts und die Voraussetzung für eine erfolgreiche Bildungs- und Berufsbiografie. Durch die Zentrierung von Wissen und Leistung werden die Schülerinnen und Schüler zu Durchhaltevermögen erzogen und in den Stand versetzt, nicht zu den zahllosen Studienabbrechern zu gehören, die Herr Westkamp als Gegenimago zu den Absolventinnen und Absolventen seiner Schule zeichnet. In den Interviews wird jedoch auch deutlich, dass beide nicht ohne einen Bezug auf das auskommen, wovon sie sich eigentlich abgrenzen: der Schulleiter des Mar229
tin-Luther-Gymnasiums möchte erzieherisch die „viel zitierten sekundärtugenden“ vermittelt wissen, die für ihn die Voraussetzung gelingender schulischer Gemeinschaft als Lerngemeinschaft sind. Die Schulleiterin der Anna-Seghers-Schule erachtet Wissenserwerb „schon auch [für, M.H.] wischtisch“, stellt ihn aber in den Kontext des Aufwachsens in der „schule als lebensraum“38. Der zweite Typus kontrastiert minimal mit dem ersten Typus und kann mit dem Stichwort der „identifikatorischen Gefolgschaft“ beschrieben werden. Diese finden wir an der Anna-Seghers-Schule im Interview mit Herrn Christian, im Martin-Luther-Gymnasium im Interview mit der stellvertretenden Schulleiterin Frau Matthes. Beide beziehen sich affirmativ auf die schulkulturellen Entwürfe. Der Möglichkeitsraum der Entstehung von Lehrer-Schüler-Beziehungen ist dabei weitgehend kongruent zum 1. Typus, jedoch werden dabei die jeweils „anderen Haltungen“ der Lehrerprofessionalität nicht einbezogen: Wenn Herr Christian sagt: „ich bin auch so ne art klassenpapa geworden […] der .der meinung is man darf nicht nur als person da vorne stehn und vermitteln sondern . man muss auch en stück von seiner, von dem ich hergeben“, so zeichnet sich hier eine deutliche Tendenz in Richtung der Beziehungsorientierung ab. Dabei markiert die Rede der Hergabe vom Ich eine deutliche Begrenzung der Ausgestaltung von Professionalität als reflexivem Handlungswissen (Kolbe/Combe 2008), denn gerade hierin zeigt sich das, was Breidenstein und Schütze (2008) für reformpädagogische Lehrer-Schüler-Beziehungen als Gefahr bezeichnen: die hohe persönliche Investition, die auch enttäuschungsanfällig ist. Die Imagination einer familialisierten Beziehung verkennt dabei die funktionale Bestimmtheit der LehrerSchüler-Beziehung und begrenzt sie möglicherweise da, wo Schülerinnen und Schüler ihre eigene Sachorientierung und ihren Wissensdrang zentral setzen. Das Selbstverständnis, mit dem Frau Matthes vom Martin-Luther-Gymnasium die Relevanz schulischer Leistungsanforderungen zentral setzt („sonst bräucht mer keine schule zu machen“), ist ebenfalls als Ausdruck der identifikatorischen Gefolgschaft zu werten. Dabei bedeutet die Charismatisierung des Leistungsgedankens und die Zentrierung der sich durch Schule wie von selbst vollziehenden Erziehung zu traditionellen Werten („der erzieherische effekt“) die Konzeption von formalisierten Lehrer-Schüler-Beziehungen. Im Extremfall sitzen diese der Strukturlogik einer totalen Institution auf (Goffman 1973), weil sie eben nicht die kindliche Neugierde zentral setzen (Oevermann 1996), sondern das Pflichtbewusstsein, in das Kinder und Jugendliche einsozialisiert werden. Auch hier liegt eine Grenze der Lehrer-SchülerBeziehungen in einer mangelnden Orientierung am Wissensdrang, denn die schematische Orientierung an dem Lernen von Stoff in einer bestimmten Zeit vermittelt leicht den Eindruck einer „Trichterpädagogik“ (ebd., S. 164), die das Gehorchen von Schülerinnen und Schülern ins Zentrum der pädagogischen Bemühungen setzt und jene zu Abweichlern werden lässt, die sich nicht disziplinieren lassen.
38
Die Tatsache, dass es sich bei den beiden verbürgenden Lehrern/Lehrerinnen um die Schulleiterin/den Schulleiter handelt, heißt in diesem Zusammenhang nicht, dass dies deshalb so ist, weil sie den hegemonialen Diskurs selbst vorgeben. Vielmehr wurde gerade unter Hinzuziehung der Internetauftritte, der ethnografischen Beschreibungen der Schule und der Lehrerinterviews in ihrer Auseinandersetzung mit dem schulkulturell dominanten Entwurf deutlich, dass es sich um kollektiv verbürgte Ausdrucksgestalten handelt, auf die sie die Schulleiterin und der Schulleiter verbürgend beziehen. Dies gelingt jedoch selbst Schulleiterinnen und Schulleitern nicht immer. Darauf verweist z.B. Sandring (2006) in ihrem Fallbeispiel einer problembelasteten Gesamtschule, in der gerade der Schulleiter sich hochgradig inkonsistent auf den dominanten schulkulturellen Entwurf bezieht.
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Ein dritter Typus der Lehrerprofessionalität schließlich markiert eine „prekarisierte Einpassung“. Dieser Typus gehört zu jenen Lehrerhaltungen, die durch den jeweils dominanten schulkulturellen Entwurf eher geschwächt werden. Mit „prekarisiert“ ist dieser Typus deshalb zu beschreiben, weil hier jene Lehrerhaltungen repräsentiert sind, die an den Schulen gerade noch so akzeptiert sind. Der Typus wird durch zwei Varianten verkörpert: Für die erste (Typus 3a) kann das Beispiel von Herrn Ebeling illustrierend herangezogen werden: Herr Ebeling erweist sich am Martin-Luther-Gymnasium als Lehrer, der die ideale Lehrer-Schüler-Beziehung der Schule nicht verbürgen kann, weil er weder den Leistungsgedanken zentral setzen kann, noch die Orientierung an Exzellenz und den Sekundärtugenden in seinem Handeln fokussiert. Mit seiner Diffusität leistet er nun aber nicht schulischen Beziehungen Vorschub, die in das andere Extrem schulischen Handelns verweisen, zum Beispiel den Bereich der emotionalen Anerkennung, der etwa an der Anna-Seghers-Schule besonders verbürgend erscheinen würde. Vielmehr steht er als materiale Ausdrucksgestalt der Charismatisierungskrise der Schule prinzipiell unentschieden vor den widersprüchlichen Handlungsanforderungen als Lehrer. So passt sich Herr Ebeling zwar intentional ein, er kann jedoch die Anforderungen der Schule an eine gelingende Lehrer-SchülerBeziehung nicht verbürgend ausgestalten. Die zweite Variante der prekarisierten Einpassung findet sich im Beispiel von Frau Horn (Typus 3b). Mit ihrer Orientierung am Leistungsideal des Gymnasiums und ihrer Abgrenzung gegenüber jenen, „die nich zwei und zwei zusammenzählen“ können, verrät sie eine heimliche gymnasiale Orientierung, von der sich die Schule – trotz gegenteiliger Milieubindungen auf der symbolischen Ebene – imaginär abgrenzt. Damit steht sie für eine Lehrerposition, die mit der Transformation zur reformpädagogisch orientierten Gesamtschule, systematisch geschwächt wird. Insofern haben wir es bei der prekarisierten Einpassung mit Entwürfen zu tun, die versuchen ihre Prekarisierung im Verborgenen zu halten oder die eine aktive Selbstprekarisierung vornehmen, weil sie mit den dominanten schulkulturellen Entwicklungen nicht einverstanden sind. Der Möglichkeitsraum, in dem sich Lehrer-Schüler-Beziehungen ausgestalten, ist somit einerseits durch die jeweiligen imaginären Entwürfe auf der Ebene der Schulkultur vorkonstruiert: also im Martin-Luther-Gymnasium eher sachorientiert als diffundierend, in der Anna-Seghers-Schule eher beziehungsorientiert als streng der Orientierung an Wissensvermittlung folgend. Die Typologie der Professionalität verweist dabei darauf, dass innerhalb der Entwürfe unterschiedliche Lehrerhaltungen entwickelt werden, die wiederum das Spektrum möglicher Lehrer-Schüler-Beziehungen ausweisen: dasjenige, das sich ideal einpasst, das, das dem idealen Entwurf idealisierend folgt und schließlich das, was in Spannung zum schulischen Idealentwurf steht. Insofern die Lehrerprofessionalität sich immer im Verhältnis zur Schule ausformt, werden auch die Lehrer-Schüler-Beziehungen in diesem Verhältnis zu verorten sein. In unten angeführten Schema (vgl. Abb. 12) lässt sich die Verhältnisbestimmung der Professionsentwürfe illustrieren, indem die Achsen „schulspezifische Exklusivität“ und „Übereinstimmung mit den pädagogischen Entwürfen“ zueinander vermittelt werden. Typus 1 (besondere Nähe zu den pädagogischen Idealentwürfen) verkörpert dabei beides in gesteigertem Maße, während Typus 2 (identifikatorische Gefolgschaft) die Exklusivität weitaus weniger verbürgen kann, jedoch bezieht er sich affirmativ auf die pädagogischen Entwürfe. Typus 3 (prekarisierte Einpassung) zeichnet sich insgesamt durch seine Distanz gegenüber 231
den pädagogischen Entwürfen aus. Während jedoch bei Typus 3a die Bezugnahme auf die Haltung zur Exklusivität formal vorhanden ist, steht 3b für eine andere Exklusivität, die sich deutlich vom schulischen (Gesinnungs-) Entwurf unterscheidet. Übereinstimmung mit päd. Entwürfen +
Typus 2
Typus 1
Schulspezifische Exklusivität +
Typus 3a Typus 3b
Abb. 12: Relationierung der Typen professionellen Handelns an exklusiven Schulen
3. Typologie der Lehrer-Schüler-Beziehungen unter Bedingungen von Exklusivität Unter der Bedingung, dass die Lehrer-Schüler-Beziehungen auf die Schule bezogen werden, und auf der Verortung der Lehrer innerhalb der Schule beruhen, kann nun in der Raumperspektive gefragt werden, wie die Lehrer-Schüler-Beziehungen ausgestaltet werden und in welchen Verhältnis diese wiederum zu den schulischen Idealentwürfen stehen. Zugleich ist zu rekonstruieren, wie die unterschiedlichen Lehrer-Schüler-Beziehungen im Klassenraum und im schulischen Raum positioniert werden und welche Zugehörigkeitsordnungen sich in ihnen widerspiegeln. Dazu wird, ähnlich wie dies in Kapitel 5.1 geschehen ist, entlang des heuristischen Modells herausgearbeitet, zu welchen Relationierungen es hier kommt. Unter mehrebenenanalytischen Gesichtspunkten beginnen wir dabei mit den Idealentwürfen der Lehrer-Schüler-Beziehung in den jeweiligen Schulen. Hier dürfte bereits aus den vorhergehenden Abschnitten deutlich geworden sein, dass im Martin-LutherGymnasium die Lehrer-Schüler-Beziehung dann mit dem Idealentwurf übereinstimmt, wenn sie sachorientiert ist. An der Anna-Seghers-Schule hingegen sind Lehrer-SchülerBeziehungen dann in Einklang mit dem Entwurf, wenn sie beziehungsorientiert sind und die sachliche Vermittlung durch die Beziehungen stattfinden. Dennoch finden Positionierungsprozesse in den Schulen statt, die gewisse Ähnlichkeiten aufweisen. Diese sollen hier als Typologie dargestellt werden, wobei die Lehrer-Schülerbeziehung nicht vom Professionstypus (vgl. Abschnitt (2)) her bestimmt werden, sondern von der spezifischen Relationierung des Schülers oder der Schülerin her. Dabei ist die Frage zu stellen, wie sich vor dem Hintergrund der Vorstellung von Zugehörigkeit bestimmte Zugehörigkeitsmodi aus232
formen, die in der exklusiven Schulkultur angeordnet werden. Diese Frage kann in die folgenden vier Komplexe ausdifferenziert werden:
(1) (2) (3) (4)
Welche Anerkennungsform schlägt sich in der Lehrer-Schüler-Beziehung nieder? Wie werden Nähe und Distanz interaktiv verhandelt? Wie werden Einheit und/oder Differenz ausbalaciert bzw. hergestellt? Wie wird interaktiv die Verortung in der Spannung von Imaginärem, Symbolischem und Realem geleistet?
Der erste sich vor diesem Hintergrund ausformende Typus kann als „Typus der repräsentativen Zugehörigkeit“ bezeichnet werden. Wir haben es dabei mit einer „exklusiven LehrerSchüler-Dyade“ (vgl. Hummrich/Helsper/Busse/Kramer 2006, Helsper/Kramer/Hummrich/ Busse 2009) zu tun, die sehr harmonisch zu den schulkulturellen Entwürfen passt. Lehrer und Schüler arbeiten gemeinsam an der Herstellung einer gelingenden Beziehung. Dies geschieht, indem dem Schüler oder der Schülerin seine oder ihre Exzellenz bestätigt wird. Wir können dies idealtypisch an den Fällen Marcus Johannson und Anna Wegmann nachvollziehen. In beiden Fällen liegt zu Beginn eine Entgrenzungshandlung der Lehrerinnen vor, die auf diffuse Vergemeinschaftung und emotionale Anerkennung zielt. Und in beiden Fällen werden die Beziehungen durch die Schüler begrenzt, nicht ohne ihre eigene Exzellenz und ihre Positionierung im oberen Bereich der Leistungshierarchie distinktiv zu beanspruchen. Dies geschieht, indem auf der Sachebene einer Ausnahmebeziehung zugestimmt wird. Die diffundierenden emotionalen Anerkennungsanteile werden zurückgewiesen und zugleich wird interaktiv – dadurch, dass die Schüler sich sachorientiert auf die Beziehung einlassen – ein exklusives Bündnis hergestellt, das moralische Anerkennung in der Form gewährt, dass die Anfrage des Lehrers oder der Lehrerin beantwortet wird, dass es also eine Solidarisierung mit dem Anliegen des Lehrers oder der Lehrerin gibt. Die Lehrerinnen und Lehrer lassen ihrerseits die Begrenzung der emotionalen Anerkennung zu und vermitteln zugleich, dass die Schüler mit ihrer exzellenten Leistung im Zentrum der schulischen Zugehörigkeit angesiedelt sind. Das bedeutet für die Schülerinnen und Schüler wiederum individuelle Anerkennung: sie werden als Person aufgrund ihrer individuellen Leistungsfähigkeit besondert. Indem nun die emotionale Anerkennung begrenzt und in Formen moralischer und individueller Anerkennung überführt wird, wird zugleich auch das Verhältnis von Nähe und Distanz ausbalanciert. Man kann sagen: diffuse Nähe wird in sachorientierte umgewandelt. Damit enthält die Lehrer-Schüler-Beziehung des „Typus repräsentative Zugehörigkeit“ auch distanzierte Anteile, die wechselseitige Anerkennung aufgrund der Rollenförmigkeit versprechen. Die Einheit, die über diffuse Nähebeziehungen anfänglich scheinbar hergestellt wird, mündet in eine anerkennende Differenz: die Jugendlichen verorten sich als Schülerinnen und Schüler, die die Fachkompetenz ihrer Lehrerinnen und Lehrer wertschätzen und instrumentell nutzen, um sich als exzellent zu positionieren. Die interaktive Herstellung von Exzellenz bildet eine Entsprechung zum idealen imaginären Entwurf der Schule – man kann sagen: der Idealschüler/die Idealschülerin wird symbolisch hergestellt. Die symbolische Verortung von Exzellenz und das schulisch Imaginäre werden ideal durch den Schüler und die Schülerin und die hier entstehende Beziehung verbürgt, aber 233
auch die Schulklasse stimmt dem zu, da sie nicht widersprechend oder stigmatisierend – etwa in der Form, dass die Schülerinnen oder Schüler als „Streber“ bezeichnet werden (vgl. Breidenstein/Meier 2006) – auf die Positionierungsleistung reagieren. Dabei kann es auch vorkommen, dass sich die Klasse affirmativ auf die Konstruktion von Exzellenz bezieht, da die repräsentative Zugehörigkeit im Fall von Kritik an der Schule in besonderer Weise verbürgt, dass das, was die Klasse fordert, legitim ist. Das Reale – das Spannungsmoment repräsentativer Zugehörigkeit – liegt dabei zum Einen in den hohen Zugehörigkeitsansprüchen der Schule, zum Anderen finden wir im Feld von Beziehungs- und Sachorientierung Möglichkeitsräume von Zugehörigkeit, die – obwohl die Schulen auf der Entwurfsebene kontrastierend zueinander angeordnet sind (vgl. Kap. 5.1) – Überschneidungsbereiche aufweisen. Denn in beiden Schulen dokumentiert sich als repräsentative Zugehörigkeit eine Lehrer-Schüler-Beziehung, die Personen- und Sachorientierung harmonisch balanciert. Die Verortung der Schülerinnen und Schüler im Typus repräsentative Zugehörigkeit beinhaltet schließlich eine gemeinsame Praxis der Herstellung von Zugehörigkeit und Leistungsstärke (vgl. Meier 2009). Das Wechselspiel aus Ent- und Begrenzung führt dabei zu einer balancierten Einbindung der Lehrer-Schüler-Beziehung als im Kern der schulischen Zugehörigkeitsordnung angesiedelte Interaktionsbeziehung. Der zweite Typus kontrastiert mit dem ersten maximal. Er lässt sich als „Typus der prekarisierten Zugehörigkeit“ bezeichnen und ist dadurch gekennzeichnet, dass in der Demonstration von Zugehörigkeit immer zugleich eine Bedrohung der Zugehörigkeit enthalten ist. Damit markiert dieser Typus als gerade noch inkludierter die Grenzen des um Zugehörigkeit zentrierten Möglichkeitsraumes. Exemplarisch kann dieser Typus mit Bezugnahme auf die Fälle Antonia Schuster und Erik Wagner entfaltet werden. In beiden interaktiv ausgestalteten Lehrer-Schüler-Beziehungen erfolgt am Exempel der Schüler eine Rückführung auf das Schulische. Dabei wird auf Anerkennungsbeziehungen gesetzt, die dezidiert im Bereich der moralischen Anerkennung liegen und emotionale sowie individuelle Anerkennungswünsche zurückweisen. Es geht also um die Integration in die Gemeinschaft, jedoch unter Bedingung der Missachtung emotionaler Anerkennungswünsche und individueller Besonderungswünsche. So artikuliert sich in der Anfrage Antonias an ihre Lehrerin, ein Wunsch nach emotionaler Anerkennung. Sie wird jedoch von der Lehrerin und den Mitschülerinnen und Mitschülern wieder auf die sachbezogene Unterrichtsordnung bezogen („wo war jetzt die frage“). Im Fall von Erik steht vor dem Hintergrund familialer Problemaufschichtung das Bedürfnis nach emotionaler und individueller Anerkennung im Vordergrund und kontrastiert mit der Dominanz rollenförmiger Einbeziehung („erik jetzt hör mal auf zu malen“ ist somit ein Ausdruck der Integrationsintention bei gleichzeitiger Festschreibung auf die Ordnungsstruktur des Unterrichts und der Schülerrolle). Die Bedürftigkeit wird zwar wahrgenommen, aber die Integrationsproblematik wird externalisiert, indem auf die Fremdheit der Lehrer gegenüber der peerkulturellen Orientierung (Cyberpunk) verwiesen wird. Mit dieser Inszenierung von Fremdheit geht schließlich eine Missachtung der Anerkennungswünsche einher, die die Legitimität der schulischen Zugehörigkeit hinterfragt. Indem den Schülern der „richtige“/der legitime Weg der Anerkennung gezeigt wird, trägt die moralische Anerkennung zugleich Züge der Missachtung, weil die Schüler entfremdet39 werden – sie werden zu Anderen der schulischen Ordnung gemacht. Mit dieser 39
Der Begriff der Entfremdung ist mindestens doppelwertig. Zum Einen kann in kritisch theoretischer Tradition die Fremdheit des Menschen gegenüber seiner inneren Natur gesehen werden (Adorno/Horkheimer 1988). Zum
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Differenzsetzung wird zugleich die Möglichkeit von Nicht-Zugehörigkeit thematisch. Die Herstellung von Nähe im Eingehen auf die Schüler in der dyadischen Beziehung impliziert somit gleichzeitig eine Distanzierungsbedrohung. Dabei liegt das Eigentümliche an der Konstruktion der Fremdheit gerade in der besonderen Beanspruchung der Zugehörigkeit durch die Schüler, die jedoch von den Lehrern zurückgewiesen wird. Mit anderen Worten: wenn man Fremdheit als Kategorie versteht, mit der die Unentschiedenheit von Zugehörigkeit markiert wird (Simmel 1992, Baumann 1991), erscheint der Akt der Ent-Fremdung durch die Lehrerinnen und Lehrer als Versuch der Herstellung von Eindeutigkeit: Erik soll sich, indem er seine Antwort laut vor der gesamten Klasse artikuliert, deutlich zur Anerkennung der Unterrichtsordnung bekennen; Antonia soll ihre sachliche Frage deutlich machen und damit ihren Zugehörigkeitsanspruch zur exklusiven Lerngemeinschaft legitimieren. Im Misslingen oder der tendenziellen Verweigerung dieser Einpassung liegt nun einerseits eine Prekarisierung begründet, andererseits artikuliert sich hier die Möglichkeit das zu hinterfragen, was schulisch selbstverständlich erscheint. Insofern bedeutet die bedrohte Zugehörigkeit dieses Typus auch eine Bedrohung der imaginären schulischen Beanspruchung von Exklusivität. Auf der Ebene des Symbolischen wird mögliche Nicht-Zugehörigkeit vermittelt, wobei die gelingende Re-Integration auch als eine Bestätigung des dominanten schulkulturellen Entwurfs (Böhme 2000) und der dominanten Unterrichtsordnung dient. Jedoch impliziert die symbolische Drohung von NichtZugehörigkeit auch eine symbolische Verortung der Lehrer-Schüler-Beziehungen in der Peripherie des Schulischen und verweist damit auf die Grenzen des schulischen Ideals. Auf der Ebene des Realen verweisen die grundlegenden Widersprüche der Lehrer-SchülerBeziehung zwischen dem Integrationsanspruch und dem verkennenden Umgang mit Anerkennungswünschen. Die Prekarisierung findet gerade darin ihren Ausdruck, dass in der Lehrer-Schüler-Beziehung keine Balancierung von Personen- und Sachorientierung stattfindet (wie im Typus der repräsentativen Zugehörigkeit), sondern dass das Bedürfnis emotionaler Anerkennung von Schülern in sachorientierte Bezüge überführt wird, die sich, wenn die Schüler ihrerseits sich nicht auf diese Sachorientierung einlassen, in eine Exklusionsbedrohung verwandelt. Ein dritter Typus lässt sich als „Typus der Inklusion durch die Dominanz der Beziehungsorientierung“ beschreiben und kann mit Bezug auf den Fall Lena Fried entwickelt werden. Charakteristisch ist hier, dass die Lehrer-Schüler-Beziehung Aspekte der sachorientierten Vermittlung zurückstellt und die Anteile personaler Anerkennung in den Vordergrund stellt. Die Anerkennungsbeziehungen, die sich hier abstrahieren lassen, blenden die moralischen und individuellen Anerkennungsanteile fast vollständig aus und fokussieren vor allem auf diffuse und emotional nahe Beziehungen. Über die hier entstehenden Nähebeziehungen wird jedoch die Integration in die Schule gewährleistet. Die Art der Inklusion impliziert dabei eine verkennende Haltung, denn sie handelt zwar am schulkulturell dominanten Entwurf der Beziehungsorientierung, verstellt aber tendenziell den sachbezogenen Zugang zu Lernen. Die vereinseitigende Auflösung der Lehrer-Schüler-Beziehung bedeutet in dieser Spannung somit die symbolische Vermittlung des inklusiven Anspruchs reformpädagogischer Orientierung, sie steht jedoch real in Widerspruch zur Anerkennung Anderen – und diese Perspektive soll hier eingenommen werden – meint Ent-Fremdung die Zuschreibung von Fremdheit zur Aufrechterhaltung der hegemonialen Strukturen (Hummrich 2009): Zur Unterscheidung von der kritisch-theoretischen Verwendungsweise wird daher hier die Bindestrich-Schreibweise gewählt.
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der Schüler als Leistungsträger (Idel 2006, Graßhoff 2007). Damit ruht auch in diesem personalisierten Anerkennungsverhältnis im Kern eine Missachtungsfigur, denn der Schüler oder die Schülerin wird nicht als jemand anerkannt, der unter gleichen Bedingungen lernt. Die Inklusion der Schule ist damit im Extremfall eine Scheininklusion, weil der Bezug auf die Gemeinschaft der Lernenden nicht gelingt und der Zugang zu Formen individueller Anerkennung verstellt wird. Letzteren Punkt arbeitet auch Wiezorek (2006) heraus, die für eine Hauptschule mit „erzwungener reformpädagogischer Orientierung“ (Hummrich/Helsper/Graßhoff 2007) darstellt, dass eine Klassenlehrerin einer neunten Klasse auf der Grundlage ihrer inklusiven Haltung schulische Anschlussoptionen, die über die Hauptschule hinausgehen, tendenziell verstellt. Für die Positionierung dieser Lehrer-Schüler-Beziehung im Verhältnis zum dominanten schulkulturellen Entwurf kann geschlossen werden, dass es sich um keine zentrale Positionierung handelt, da sonst die Legitimität schulischer Exklusivität hinterfragbar wird. Somit bleibt auch unter Bedingung der Reformorientierung die Dominanz der Beziehungsorientierung ein Sonderfall, der die Grenzen des schulischen Entwurfs markiert. Nun ist zu überlegen, ob es sich mit dem Typus der Inklusion durch die dominante Beziehungsorientierung um einen spezifisch reformschulischen Typus handelt (vgl. Idel 2006), weil gerade die Beanspruchung der Beziehungsorientierung einem solchen Typus besondere Legitimität verleiht. Dies wird dadurch bestätigt, dass es zu einer Entschulung wie sie sich im Fall Lena Fried dokumentiert, am Martin-Luther-Gymnasium nicht kommt. Wohl aber gibt es Inklusionsbeziehungen, die nicht originär schulisch abgesichert sind und die nur geringfügig auf den schulischen Anspruch der Exzellenz Bezug nehmen. Um dies knapp zu illustrieren sei hier kurz auf den Fall Kerstin Lohmann Bezug genommen. Herr Schenk: ja du hast doch da was auf der klarinette da gespielt an dem abend Kerstin: das war keine klarinette das war `querflöte’ (betont) . `herr schenk` (stimme hebt sich, empört) Schüler: na herr schenk das ist fast dasselbe Kerstin: sie sind ja wohl irgendwie ((lacht)) Herr Schenk: ((lacht)) na is erste stunde ((lacht)) entschuldige .. oder=oder was aufm klavier Kerstin: `übelst’ (betont), cool Herr Schenk: also was das das `muss’ (betont) nicht da würde reichen da reichen äh zwei drei minuten aus ein=ein schönes ruhiges einfühlsames stück aufm klavier Kerstin: ja da hab ich was
Ohne diese Lehrer-Schüler-Interaktion hier ausführlich zu interpretieren, kann gesagt werden, dass hier eine instrumentelle Verwendung der musikalischen Kompetenz Kerstins erfolgt: Kerstin soll an einem bestimmten Tag „irgendein“ Instrumentalstück auf „irgendeinem“ Instrument spielen, um eine stimmungsvolle Atmosphäre zu schaffen. Dieser instrumentellen Verwendung als „Stimmungsmacherin“ verwehrt sich Kerstin, indem sie versucht, emotionale Anerkennungsgewinne für sich zu verbuchen. Ihr Ausspruch: „sie sind ja wohl übelst cool“ kann in diesem Zusammenhang als quasi-freundschaftliche und diffundierende Bezugnahme verstanden werden, die von der rollenförmigen Beziehungslogik abweicht. Die Zurückweisung dieser Beziehungsorientierung durch den Lehrer scheint nun zunächst der emotionalisierten Bezugnahme, die der Lehrer im Fall Lena macht, entegegenzustehen. Doch wird der Lehrer im Fall Kerstins durch das Verharren der Schülerin in der diffundierenden Beziehungslogik auch gezwungen, sich legitimierend mit seiner Missachtung auseinanderzusetzen („na is erste stunde“) und sie zumindest soweit zurückzunehmen, dass sein Vorhaben, Kerstin für die musikalische Gestaltung einer Preisverleihung zu 236
gewinnen, nicht scheitert. Er muss also inklusiv handeln, ohne dass die Inklusion auf schulische Exzellenz bezogen werden kann. Darin liegt nun gerade eine Ähnlichkeit der Fälle Lena und Kerstin, selbst wenn der Anspruch emotionaler Anerkennung am Martin-LutherGymnasium zurückgewiesen wird: In beiden Fällen sorgen nicht-schulische Interaktionen für die emotionale Anerkennung (bei Kerstin allerdings in einer Minimalvariante), die zu nicht-schulischer Inklusion führen. Während bei Lena jedoch von einer „Entschulung“ gesprochen werden kann, liegt im Fall Kerstin eine erzwungene Entgrenzung vor, die in eine instrumentelle Verwendung eingebettet ist Bereits zuvor wurde auf Kontraste und zum Teil auch auf Gemeinsamkeiten der Typen verwiesen. Relationiert man sie vor dem Hintergrund der in ihnen realisierten Zugehörigkeiten und Exzellenzentwürfe, so ergibt sich in einem Vierfelderschema die folgende Positionierung (Abb. 16). Hier wird deutlich, dass die beiden Typen 2 und 3 einmal auf die Grenzen schulischer Zugehörigkeit (Typus 2) und zum Anderen auf die Grenzen schulischer Exklusivität (Typus 3) verweisen (Abb. 13). Zugehörigkeit +
Typus 1 Typus 3 Habitus der Exklusivität +
Typus 2
Abb. 13: Relationierung der Lehrer-Schüler-Beziehung im exklusiven schulischen Raum
Dort, wo die Inklusionsleistung der Lehrer ein hohes Maß an Aufmerksamkeit erfordert – schulische Zugehörigkeit also nicht wie im Typus 2 selbstverständlich vorausgesetzt werden kann – spielt in den ‚Kampf‘ um Zugehörigkeit immer auch die Möglichkeit von Entfremdung und Nicht-Zugehörigkeit hinein. Und dort, wo Schule nicht selbstverständlich die Erträge vermittelnder Beziehungen ‚einstreichen‘ kann, sondern wo andere Anerkennungsformen als leistungsbezogene die Inklusion gewährleisten, steht zugleich der Anspruch auf Exklusivität auf dem Spiel. Dabei gehört Exklusivität in einem Gymnasium wie dem Martin-Luther-Gymnasium zum Selbstverständnis des Schulischen. In der Anna-SeghersSchule mutet es zunächst scheinbar widersprüchlich an, misst man die leistungsbezogene Exklusivität an dem Versprechen der Schulleiterin Zeit und Beziehungsorientierungen seien „manchmal wichtiger als vokabelnlernen und die neue rechtschreibung“. Legt man jedoch 237
den schulischen Anspruch der Exklusivität zugrunde, so muss sich diese Exklusivität schließlich in besonderen Leistungen der Schülerinnen und Schüler dokumentieren. Dies zeigt sich auch im Schulleiterinterview: Frau Kleis:
wir überprüfen das ja auch immer wieder inwiefern wir , so den , anforderungen die normalerweise an , an schüler in der oberstufe gestellt werden wi- wie weit wir dem gerecht werden-un da können wir sehr zufrieden sein
Beziehungen, die diese Leistungen nicht hervorbringen, weil sie die Sachorientierung ausblenden, besetzen damit schwache Positionen im schulischen Raum. Dass nun ein vierter Typus, der das Feld unten rechts abdeckt nicht gefunden wurde, ist wohl dem Widerspruch geschuldet, dass eine hohe Exklusivität in der Lehrer-Schüler-Beziehung auch einer deutlichen Zugehörigkeitskonstruktion bedarf. Hier kann ein Anschluss an Bourdieu (2006b) erfolgen, demzufolge die Hervorbringung von Exklusivität immer auch etwas mit Inklusions- und Zugehörigkeitschancen zu tun hat. 4. Schlussfolgerungen für den Zusammenhang von schulischer Interaktion und Raum Im theoretischen Teil dieser Arbeit (Kapitel 3.3) wurde zwischen Möglichkeits- und Handlungsraum unterschieden. Der Möglichkeitsraum wurde dabei als Zugehörigkeitsordnung beschrieben, die spezifisch historisch-gesellschaftlich und institutionell gerahmt ist. Der institutionelle Möglichkeitsraum für die Ausgestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehung an exklusiven Schulen ist dabei, dies wurde in der theoretischen Einführung dieses Teilkapitels deutlich, durch zwei Strukturmerkmale gerahmt: Die Schulpflicht, die allen Schulen gemein ist und als Disziplinarmacht (Foucault 1994) gesehen werden muss, die die Schulpflichtigen an eine staatlich kontrollierbare Ordnung bindet. Diese Schulpflicht ist dabei Bedingung der Ausgestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehung, die strukturell Zwang beinhalten kann und damit die Entfaltung kindlicher Neugier behindern kann, aber nicht muss. Das zweite Strukturelement, das im ersten Teil dieses Schlusskapitels bereits angesprochen wurde, ist die Selektivität der Schule. Dabei ist Selektivität zunächst auch ein gemeinsames Merkmal aller Schulen und eng mit der schulischen Funktionalität verknüpft. Über Schule wird jedoch durch die Selektivität auch soziale Ungleichheit reproduziert (Bourdieu 1993a). Die exklusiven Schulen beanspruchen dabei durch die besonderen Kriterien, die sie an die Auswahl der Schülerinnen und Schüler binden, eine besondere Selektivität. Diese Selektivität stellt damit eine weitere Bedingung der Lehrer-Schüler-Beziehung dar, durchdringt und formt diese Beziehung jedoch auch über die Konstruktion von Passförmigkeit (Bourdieu 1993b, Kramer 2002). Der Möglichkeitsraum der Ausgestaltung der Lehrer-SchülerBeziehung unter Bedingungen der Exklusivität lässt sich schließlich wie folgt beschreiben: (1) Die einzelnen Schulkulturen formen innerhalb der Strukturachsen von Schulpflicht und Selektivität ihre Professionsentwürfe aus. Wir haben es hier mit zwei exklusiven Schulen zu tun, bei denen sich das Bewusstsein um Exklusivität in die professionellen Haltungen der Lehrerinnen und Lehrer ‚einschreibt‘. Vor diesem Hintergrund entstehen Möglichkeitsräume für Passungsverhältnisse, auf deren Grundlage sich Lehrerinnen und Lehrer zur Schule positionieren lassen. Verallgemeinernd kann hier geschlossen werden, dass Lehrerprofessionalität sich immer auch mit dem schulkulturellen Möglichkeitsraum der Verortung eigener Professionsentwürfe auseinandersetzen muss. Dabei werden solche Professionsentwürfe geschwächt, die nicht zum schulkulturell dominanten Entwurf passen (vgl. Helsper 2010). Umgekehrt erfahren besonders jene Lehrer Zugehörigkeit und Anerken238
nung, deren Professionsentwürfe sich zum schulkulturellen Lehrerideal als passförmig erweisen. Diese Erkenntnis differenziert nun die allgemeine Annahmen aus, die davon ausgehen, dass gelingende Professionalität durch die Schulpflicht allgemein verhindert wird (Oevermann 1996, 2008b) und Lehrer durch ihr Handeln zur Reproduktion der sozialen Selektivität beitragen, da schulisch bestimmt wird, welche Sprechakte und welche Schülerhaltungen anerkannt werden und welche nicht (vgl. Bourdieu 1993a, b, 2006b). Vielmehr verorten sich Lehrerinnen und Lehrer mit ihrem Professionsentwurf vor dem Hintergrund der Schulpflicht in aktiver Auseinandersetzung mit dem schulkulturellen Entwurf. Die spezifische Ausgestaltung der Exklusivität (also, ob es sich um eine Leistungs-Exklusivität oder eine Gesinnungs-Exklusivität handelt) spielt im Zusammenhang der Lehrerverortung eine wesentliche Rolle. (2) Mit Bezug auf die Positionierung der Lehrer-Schüler-Beziehung in der Zugehörigkeitsordnung der Schule gibt es trotz der kontrastierenden schulkulturellen Entwürfe einer reformorientierten Gesamtschule und eines traditionsorientierten Gymnasiums Gemeinsamkeiten in der Positionierung der Lehrer-Schüler-Beziehung im Spannungsfeld von Zugehörigkeit und Exzellenz. Dabei markieren Handlungstypen, die Exzellenz verbürgen, in beiden Schulen/Schulformen gleichermaßen repräsentative Zugehörigkeit. In exklusiven Schulen erfolgt dabei eine doppelte Begrenzung: zum Einen indem durch Ent-Fremdung auf die Möglichkeit von Nicht-Zugehörigkeit hingewiesen und Anerkennung missachtend verwendet wird (insbesondere wird dies in den Fällen Erik und Antonia deutlich). Denn gerade die besondere Form der Inklusion verweist die potenziell nicht Zugehörigen in die Position der möglicherweise Anderen oder der von Andersheit Bedrohten. Zum Anderen erfolgt eine Begrenzung des Schulischen, indem Inklusion entschult wird. Diese Entschulung erkennt die Person – wie im Fall Lena (und Kerstin) – als zugehörig an, verkennt aber die Notwendigkeit sachorientierter Vermittlung und impliziert damit Missachtung der moralischen und individuellen Anerkennung. Hier liegen Formen missachtender Anerkennung vor (Mecheril 2005, Ricken 2009), die sich im ersten Fall an der Setzung von Differenz orientieren40, im zweiten Fall an der Vermeidung von Differenz. (3) Die räumliche Verortung der Schülerinnen und Schüler in den Lehrer-SchülerBeziehungen konstituiert sich auf der Grundlage einer symbolischen Ordnung, die nicht nur durch die Vermittlung von Wissen und der Bildung als subjektivierendem Transformationsprozess orientiert ist, sondern es geht auch um Disziplinierung und Anpassung der 40
In der ersten Form ruht gerade in der Intention des Einbezugs eine Missachtungsfigur. Wir finden solche Formen gerade dann, wenn von den Lehrerinnen und Lehrern die erfolgreiche Integration in die Schule offenbar als schwierig eingeschätzt wird, wie im Fall Erik, wo die potenzielle Nicht-Zugehörigkeit beständig als Bedrohung thematisiert wird. Solche Beispiele finden wir auch in der Migrationsforschung. In qualitativen Studien zeigt sich, dass gerade die Integrationsintention und die Anerkennungsbekundungen missachtende Züge tragen. Wenn etwa eine Grundschullehrerin bei der Abiturfeier einer Schülerin erscheint und der türkischen Migrantin lobend mit den Worten gegenübertritt „aus dem kleinen schüchternen mädchen is ne selbstbewusste frau geworden“, dann haben wir es hier mit einer missachtenden Anerkennungsfigur zu tun (vgl. Hummrich 2009). Ebenso in dem Fall Eren bei Badawia (2002), der vor einer Situation in der Grundschule erzählt, bei der die Lehrerin ihm ein Diktat mit den Worten: „Der Eren als Türke hat das beste Diktat geschrieben“ zurückgibt. In der Anerkennung liegt hier eine deutliche Zuweisung der Position als Anderer/Andere, die die selbstverständliche Zugehörigkeit in Frage stellt (vgl. Mecheril 2005). Eine ähnliche Logik besitzt die Handlung der Englischlehrerin im Fall Erik („das [Cyberpunk, M.H.] is nicht meine welt, aber ich würde es gerne verstehen“). Hierin zeigt sich die Integrationsabsicht, die jedoch aus der eigenen Welt verbannt und damit desintegriert wird. Die Setzung von Differenz („kleines schüchternes medel“, „Eren als Türke“, „nicht meine welt“) zeigt damit das Anderssein an, das Zugehörigkeit beständig bedroht und die Ent-Fremdung der Schülerinnen und Schüler reproduziert.
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Schülerinnen und Schüler. In beiden Schulen sind die Bildungsversprechen konträr. Die Anna-Seghers-Schule orientiert sich an Autonomie und Selbständigkeit, das Martin-LutherGymnasium an der Vermittlung hochkultureller Bildung. Zu diesen Bildungsversprechen haben jeweils Milieus Zugang, die gesellschaftlich als privilegiert gelten. Insofern bedeutet die Ausgestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehung vor dem Hintergrund der schulischen Zugehörigkeitsordnung auch eine ordnende Disziplinierung. Dies wird nicht nur in den Milieubezügen oder in den erwarteten Haltungen (z.B. beim Martin-Luther-Gymnasium: die „Sekundärtugenden“, bei der Anna-Seghers-Schule, die Vermeidung von Süßigkeiten und Fernsehen) deutlich, sondern auch in der Positionierung der Schülerinnen und Schüler innerhalb der Lehrer-Schüler-Beziehungen. Dies konnte in der vorliegenden Arbeit theoretisierend exemplarisch mit Bezug auf die Anerkennungsbeziehungen deutlich gemacht werden: Anerkennungsbeziehungen wurden dabei zunächst im dialektischen Verhältnis von Anerkennung und Missachtung (Honneth 1994) gefasst. Die Positionierung in Anerkennungsverhältnissen erfolgt dabei im Rahmen der Professionsentwürfe der Lehrerinnen und Lehrer und der Erwartungen der Schule an die Ausgestaltung der Lehrer-SchülerBeziehung. Dabei wird deutlich, dass schulische Anerkennung, auch in einer Schule, die sich deutlich auf Formen emotionaler Anerkennung bezieht (Anna-Seghers-Schule), vor allem auf moralische und individuelle Anerkennung bezogen ist und emotionale Anerkennung durch diese beiden schulischen/gesellschaftlichen Anerkennungsformen jeweils begrenzt ist. Der Typus 1 (repräsentative Passung) arbeitet aktiv an dieser Begrenzung mit, nutzt aber die Entgrenzungen durch die Lehrerinnen und Lehrer, um sich als exzellent zu positionieren. Das Handeln auf moralische und individuelle Anerkennungsformen begrenzen zu können, bedeutet somit unter Beweis zu stellen, nicht auf emotionale Anerkennung angewiesen und in die symbolische Ordnung gesellschaftlichen Handelns eingepasst zu sein. Dies spielt selbst dort eine Rolle, wo Leistung gegenüber der Öffnung der Schule einen geringeren Stellenwert hat. Man könnte hier den bourdieuschen Ansatz ergänzen, der Leistungsaskese als wesentliches Merkmal schulischen Erfolgs markiert (Bourdieu 2004) und feststellen, dass dort, wo schulischer Erfolg in hohem Maße angestrebt und erreicht wird, auch eine Selbstbeschränkung in Bezug auf emotionale Anerkennungserwartungen vorhanden sein muss. Die anderen Typen (Typus 2 der prekatisierten Zugehörigkeit und Typus 3 Inklusion durch die Dominanz der Beziehungsorientierung) verweisen mit ihren Missachtungserfahrungen auf spezifische Grenzen und Beschränkungen der Anerkennung. Dabei zeigt sich im Typus 2 (prekarisierte Zugehörigkeit), bei dem es um eine ReIntegration in die Schülerrolle geht, eine Missachtung der emotionalen Anerkennungsbedürfnisse. Doch mit dieser Form der Missachtung geht eine moralische Anerkennung als Schüler/Schülerin einher. Moralische Anerkennung als gleich unter Gleichen schließt somit die Anerkennnung als einzigartige Person aus. Mit der Notwendigkeit zur Re-Integration erfolgt jedoch auch eine Positionierung in der Peripherie der schulischen Zugehörigkeitsordnung. Dies hängt damit zusammen, dass die Re-Integration einerseits darauf verweist, dass die Anerkennungsbeschränkung nicht selbsttätig erfolgt (wie bei Typus 1). Andererseits, dass die individuelle Leistungsfähigkeit nicht selbsttätig unter Beweis gestellt wird, sondern gefordert werden muss („der erik sachts, dann sachs auch bitte so dass es auch andere verstehen“). Die Begrenzung der Anerkennung erfolgt also nicht nur durch die Abwehr emotionaler Anerkennungswünsche und die Re-Integration als Schüler/Schülerin, sondern auch durch die Bedrohung der individuellen Anerkennungsmöglichkeiten, wie 240
etwa der positiven Leistungsbewertung (welche Schülern wiederum Besonderung in Form von Exzellenz ermöglichen würde). Beim dritten Typus (Inklusion durch die Dominanz der Beziehungsorientierung), der sich durch nicht-schulische Anerkennung auszeichnet, liegt im Fall Lena ein deutlicher Hinweis auf reformpädagogische Anerkennungsversprechen vor. Denn gerade hier zeigt sich, dass durch die Dominanz emotionalen Anerkennung moralische und individuelle Anerkennungsformen an die Peripherie der Beziehung geraten. Zwar können in persönlichen Beziehungen auch Werte und Normen transportiert werden, wie Honneth und Rössler (2008) zeigen. Sie blenden jedoch – darauf verweist die vorliegende Untersuchung – die Gleichheit aller aus, und es treten dort Missachtungsrisiken hervor, wo die emotionalisierte Lehrer-Schüler-Beziehung re-universalisiert und an allgemeine Leistungskriterien zurückgebunden werden muss. (4) Die Lehrer-Schüler-Beziehung wird schließlich durch die prinzipiell paradoxale Struktur von Anerkennungsbeziehungen begrenzt, nach der Anerkennung immer auch Unterwerfung und Anpassung bedeutet. In der als exzellent und exklusiv ausgewiesenen Lehrer-Schüler-Beziehungen (Typus 1: repräsentative Zugehörigkeit) treten in dieser Anerkennungsparadoxie Subjektivierungschancen hervor, die die Anerkennungsversprechen von Schule (Bourdieu 2006b) optimal ausnutzen. Und in den Zurückweisungen des zweiten Typus (prekäre Zugehörigkeit) liegen Missachtungsfiguren vor, die die Anerkennungswünsche der Schülerin/des Schülers zurückweisen. So kann der Versuch der „integrierten Störung“ Antonias als Versuch des Kampfes um Sichtbarkeit gelten, ebenso wie Eriks Zurückhaltung gegenüber der Sichtbarmachtung seines Wissens als Ausdrucksgestalt des Kampfes um eine exklusive Wahrnehmung verstanden werden kann. Doch indem Antonia und Erik gleichermaßen auf die Sachebene des Unterrichts zurückgeführt werden, werden sie auf moralische Anerkennung (einer unter vielen sein, sich generalisierten Regeln unterwerfen) verpflichtet. Zugleich bedeutet die Rückführung auf die moralische Ebene, dass Erik und Antonia als Schüler und Schülerin sichtbar werden. Sie werden um den Preis ihrer persönlichen Integrität sozial integriert. Die Missachtung des Besonderen ist dabei die Voraussetzung für die Anerkennung des Allgemeinen. So wird ihnen die Grenze der Unterrichtsordnung und der damit einhergehenden Zugehörigkeitsordnung aufgezeigt. Ihre Sichtbarmachung sorgt damit einerseits für die soziale Integration und beugt somit dem „sozialen Tod“ durch Unsichtbarkeit vor. Andererseits zeigt die Grenzziehung auch ihre Ansiedlung in der Peripherie der Zugehörigkeitsordnung an, denn gerade in diesem Fällen offenbart sich die Gefahr der Ent-Fremdung deutlich. Die Korrektur, die der Typus 2 (prekäre Zugehörigkeit) erfährt, verweist damit auf die Möglichkeit als Anderer der Zugehörigkeitsordnung wahrgenommen zu werden. Die erfahrene Integration bedeutet, dass mit der moralischen Anerkennung Unterordnung (unter das Regelwerk der Schule) einhergeht. Diese Unterordnung findet in Typus 3 (Inklusion durch die Dominanz der Beziehungsorientierung) nicht statt, weshalb hier die schulische Ordnung außer Kraft gesetzt wird. Insbesondere in den Typen, in denen also eine schulische Positionierung stattfindet, die auf moralische und/oder individuelle Anerkennung hinausläuft, zeigt sich also, dass Anerkennung auch Unterordnung und Missachtung bedeuten kann (vgl. Bedorf 2010, Butler 2001, 2007): Anerkennung als Missachtung entlarvt den Anderen in seiner Identität und kennzeichnet ihn damit als NichtIdentisch mit dem Eigenen. Mit Anerkennung werden somit auch Unterwerfungsprozesse thematisch (vgl. Balzer 2007).
241
„Die Verhältnisse unter denen wir Anerkennung gewinnen und d.h. auch unsere Existenz gewinnen, sind zugleich die Verhältnisse, die unterwerfen, denn Unterordnung gewährt erst, so Butler, Anerkennung. Das Subjekt wird nicht anerkannt, ohne sich vor den ‚gesellschaftliche(n) Kategorien‘ einer anerkennungsfähige(n) sozialen Existenz (Butler 2001, S. 24) zu beugen bzw. zu unterwerfen“ (Balzer 2007, S. 64).
Damit liegt umgekehrt auch in der Missachtung Anerkennung. Der Umgang mit diesem Widerspruch liegt auf den Seiten der Lehrer in dem Versuch der Herstellung von Eindeutigkeit und der Exklusionsbedrohung bzw. Ent-Fremdung, wenn dies nicht gelingt. Dem Schüler oder der Schülerin wird damit gedroht, dass er oder sie zum Anderen der Zugehörigkeitsordnung wird, wenn er sich nicht anpasst. Die Schüler gehen ihrerseits zum Teil subversiv mit dieser Randständigkeit um. So verweist die beständige Reproduktion der Thematisierung möglicher Nicht-Zugehörigkeit (bei Antonia, indem sie ihre Materialien zu Boden wirft, bei Erik, indem er immer wieder Themen des Cyberpunk einbringt), dass die Bedingungen des Schulischen der jugendlichen Subjektivierung entgegenwirken können. Nicht nur die Verortung in Bezug auf die Milieubezüge, auch die einzelschulisch ausgestalteten Zugehörigkeitsordnungen und die typologisierten Lehrer-Schüler-Beziehungen verweisen damit auf Teilhabemöglichkeiten und Teilhabebegrenzungen in Bezug auf Bildung. Wenn sich etwa im Fall Antonia in ihrer subversiven Störung einerseits die Frage der Zugehörigkeit stellt, so drückt sich darin dennoch die Besonderheit aus, zu dieser Schule zu gehören. Die Möglichkeit der Nicht-Zugehörigkeit wird spielerisch bearbeitet. Zugleich zeigt dieses ‚Spiel‘ die Wirkmächtigkeit der Exklusivität von Schule und schulischer Leistungsorientierung. So beinhaltet die permanente Entfremdungsbedrohung einen Hinweis auf die anhaltende Bewährungssituation und die Permanenz des ‚Kampfes um Anerkennung‘ (Honneth 1994). Aber nicht nur das. Die Einordnung der Schülerinnen und Schüler in eine symbolisch konstituierte Zugehörigkeitsordnung verweist auf die interaktive Herstellung von Distinktion (vgl. Bourdieu 1993b). Die spezifische Ermöglichungsstruktur der Lehrer-Schüler-Beziehung gestaltet sich dabei vor allem dort chancenhaft aus, wo Schülerinnen und Schüler eigenaktiv an der Sache orientiert handeln. Formen besonderer Unterstützungsbedürftigkeit werden dabei an die Peripherie des schulischen Handlungsraumes verbannt. Der Erhalt schulischer Exklusivität durch die Lehrer-Schüler-Beziehung manifestiert sich somit in einer räumlichen Anerkennungsstruktur, die Perspektiven der Fremdheit einbeziehen muss (vgl. Ricken 2009).
5.2.2
Zugehörigkeit im Handlungsraum Familie
Familie ist von Schule strukturell zu unterscheiden. Dies ging bereits aus den oben (Kap. 5.2.1) entwickelten Ausführungen zu den persönlichen Beziehungen in der Schule hervor, die für Familie unter anderem eine vollkommen unterschiedliche Anerkennungslogik als Schule konzipieren (vgl. Hegel 1995, Honneth 1994). Wie Familie strukturell ausgebaut und verankert ist, soll zu Beginn dieses Teilkapitels zunächst von einem theoretischen Standpunkt aus formuliert werden (1). Danach erfolgt eine Typologie der Positionierung des Kindes/Jugendlichen innerhalb der Familie, auf der Basis der familientypischen Zugehörigkeitsordnung (2). Schließlich wird unter Bezugnahme auf die Frage der Anordnungspraxis von Familien, deren Kinder exklusive Schulen besuchen, der raumanalytische Gehalt dieser Relationierung abstrahiert (3). 242
1. Die Struktur von Familienbeziehungen und ihr Verhältnis zu schulischen Beziehungen Familie wird in der Moderne von verschiedenen Vorstellungsmythen begleitet (Lenz/Böhnisch 1999), die letztlich auf ihre historische Einbettung verweisen. Während die Familie bis in das 18. Jahrhundert hinein ein Beziehungsgefüge war, ein „Bündel von Beziehungen, von aufsteigenden und absteigenden Seitenlinien, von Vetterschaft, Erstgeburt und Heiratsallianz, die den Transmissionsschemata der Verwandtschaft sowie der Teilung und Aufteilung der Güter und der gesellschaftlichen Ränge entsprach“ (Foucault 2003, S. 328), wird sie danach eine „Familienzelle“, die sich in körperlichen, affektiven und sexuellen Beziehungen zwischen Eltern und Kind konstituiert (ebd.). Dabei scheint es angesichts der fortschreitenden Modernisierung immer schwieriger die Frage zu beantworten, was eine Familie ist, denn auch die von Foucault bezeichnete „Familienzelle“, die um die biologische Elternschaft zentriert ist, verliert zunehmend an Bedeutung (Rössler 2008, Fuhs 2007). Dies lässt sich unter anderem an zahlreichen Veröffentlichungen nachvollziehen, die den Wandel der Familie in den Blick nehmen: so stellen Beiträge wie „von der Eineltern- zur Kindfamilie“ (Beck-Gernsheim 1988), der „multiplen Elternschaft“ (Groß/Hohner 1990), oder dem „Verhandlungshaushalt im Modernisierungsprozess“ (du Bois-Reymond 1998) usw., Wandel fest, ohne ihn jedoch zu systematisieren (vgl. Fuhs 2007, S. 27). Vielmehr scheinen Analysen zur Familie sich im Spannungsfeld kulturpessimistischer Linienführungen (die Familie verliert an Bedeutung) und Wandlungsgeschichten (die Generationsbeziehungen verändern sich und kehren sich um) zu bewegen (Fuhs 2007, Helsper/Kramer/ Hummrich/Busse 2009). Doch welche Merkmale machen eine Familie überhaupt aus? Hierzu lassen sich unterschiedliche Positionen bestimmen: Systemtheoretische Bezugnahmen auf die Familie fassen Familie als Mikrosystem, das in unterschiedliche Mesosysteme eingebettet ist und sich mit dem Makrosystem gesellschaftlicher Bedingungen auseinandersetzen muss (Petzold 2000). Dabei nehmen nicht alle Familienmitglieder an den gleichen Mesosystemen (Arbeit, Schule, öffentliches Leben) teil, aber alle Mitglieder einer Gesellschaft gehören einer Familie an (Luhmann 2008). Im Unterschied zu anderen gesellschaftlichen Teilsystemen, in die Individuen integriert sind, sind Personen in die Familie als Vollperson integriert (Kieserling 1994). Familie ist dabei zwar ein geschlossenes System, aber auch in die Gesellschaft eingebunden: Sie partizipiert (über Arbeit, Schule und andere öffentliche Aufgaben) am gesellschaftlichen Leben und produziert neue Gesellschaftsmitglieder, die durch ihre Geburt in eine bestimmte Familie (die zu einem bestimmten Milieu gehört) auch einen bestimmten Platz in der Gesellschaft haben. Innerhalb der Familie ist die Kommunikation die konstituierende Kraft: dabei liegt in der Familie Legitimationspflicht bei demjenigen, der Kommunikation verweigert (ebd.). Die Nähe, die kommunikativ erzeugt wird, ermöglicht zugleich die Sozialisation der Kinder, die eine große, aber nicht die einzige Bedeutung innerhalb der Familie einnimmt (Luhmann 2008). In einer interaktionistischen Perspektive erscheint Familie als persönlicher Beziehungszusammenhang, in dem Arbeit und Erziehung miteinander verbunden sind, in dem es unterschiedliche Arbeitsteilungsmodelle gibt, wobei die Frau eher für die reproduktiven, der Mann eher für die produktiven Anteile zuständig ist und das in die sozialräumliche Struktur eingebettet ist (Mollenhauer/Brumlik/Wudtke 1975). Dabei rekurrieren die hier genannten Autoren auf den Ansatz von Mead (1991), der Familienerziehung als interakti243
ves Geschehen beschreibt, das mehr ist als ein Erziehungsstil oder eine Erziehungspraxis (vgl. Ecarius 2007), sondern ein nach Regeln geordnetes Lernsystem, das den einzelnen Mitgliedern die Entwicklung einer Identität ermöglicht und zugleich in die Herausbildung klassenspezifischer Bildungs- und Charakterstrukturen eingebunden ist (Mollenhauer/Brumlik/Wudtke 1975). Unter den strukturtheoretischen Positionen lassen sich einmal die machttheoretischen Positionen von Foucault und Bourdieu unterscheiden, die weniger auf die Mikroprozesse der Sozialisation Bezug nehmen als auf die Reproduktion gesellschaftlicher Strukturen in und durch Familien. Wie bereits gesagt, beschreibt Foucault (2003) Familie als „Zelle“, als affektiven, körperlichen und sexuellen Raum, „der ganz und gar in der direkten ElternKind-Beziehung aufgeht“ (ebd., S. 328). Dabei ist es die Angst vor der kindlichen Sexualität, die die Aufmerksamkeit der Eltern bindet und die die Familie sich vom relationalen Beziehungsgefüge in ein kindzentriertes Beziehungsgefüge wandeln lässt. „Es mag schon so sein (ich nehme es jedenfalls an), daß geschichtlich die relationale Großfamilie, also die aus erlaubten und verbotenen Beziehungen zusammengesetzte Großfamilie, sich einmal aufgrund des Inzestverbotes konstituiert hat. Ich aber würde sagen, daß die affektive, solide, substantielle Kleinfamilie, die unsere Gesellschaft charakterisiert und deren Entstehen man Ende des 18. Jahrhundert beobachten kann, sich vielmehr im Ausgang von dem Quasi-Inzest der Blicke und Handlungen um den Kinderkörper herum konstituiert hat. Es ist dieser Inzest, dieser epistemophile Inzest, dieser Inzest des Kontakts, des Blicks und der Überwachung, der die Basis der modernen Familie gewesen ist“ (ebd., S. 329).
Im Diskurs der Sorge um die kindliche Sexualität, die ihren Ursprung etwa in philantropischen und aufklärerischen Ansätzen hat (vgl. Rutschky 1977), liegt der Ursprung der Sorge um das Kind – der Kindzentrierung und Zentrierung der Familie um Affektivität. Dahinter steht das politische und wirtschaftliche Interesse am Überleben des Kindes, das in die neuen Produktionsformen und Produktionsverhältnisse eingebunden werden soll (Foucault 2003, S. 338). Es sind dabei zuerst die aristokratischen und bürgerlichen Familien, denen im gleichen Zug staatliche Erziehung zugänglich wird – als grundlegende normvermittelnde Instanz. Normvermittlung erfolgt somit in spezialisierten Bildungseinrichtungen (ebd., S. 340) und spannt die Familie ein, die das Kind und seine Triebkontrolle für die Normvermittlung vorbereiten. Die boudieusche Position zu Familie nimmt mehr ihre Bedeutung und ihre Milieuverortung bezüglich der Reproduktion sozialer Ungleichheit in den Blick. Denn in der Familie geht es nicht nur um die ökonomische, sondern auch um die soziale Reproduktion. Drei Merkmalsgruppen kennzeichnen Familien nach Bourdieu (1998b). (1) die überpersönliche Wirksamkeit und Gemeinschaftlichkeit; (2) die Annahme, es handele sich um eine gesonderte soziale Welt; (3) die Abtrennung unter Verweis auf die privacy (ebd.). Bourdieu bezeichnet Familie, die auf diesen Merkmalsgruppen aufbaut als „wohlbegründete Fiktion“, die „nur deshalb als natürlichste der sozialen Kategorien und somit zum Modell aller sozialen Verbände prädestiniert erscheinen [kann, M.H.], weil die Kategorie der Familie in den Habitus als jenes Klassifikationsschema und Konstruktionsprinzip der sozialen Welt und der Familie als sozialer Körperschaft fungiert, das eben im Schoße einer Familie als der realisierten sozialen Fiktion erworben wird. Die Familie ist nämlich das Produkt jener Setzungsarbeit, mit der bei jedem Mitglied der Einheit dauerhaft die Empfindungen induziert werden sollen, die geeignet sind, jene Integration zu gewährleisten, die die Voraussetzung für den Bestand und den Fortbestand dieser Einheit ist“ (ebd., S. 130).
244
Bourdieu beschreibt ferner, dass Einheit in der Familie auf der Basis kontinuierlicher Schöpfungs-Akte immer wieder hergestellt wird – durch die „Pflichtaffekte und affektiven Verpflichtungen des Familiengefühls“ (ebd.). Familie ist somit eine Konstruktionsleistung – ein soziales Artefakt – das in der Logik eines Feldes funktioniert: einerseits finden in ihr symbolische Kämpfe um Erhalt und Veränderung statt, andererseits ist sie Teil des symbolischen Kampfes in der Gesellschaft. So zeigt Bourdieu (2004) exemplarisch, dass der Fortbestand familiärer Macht in Familienunternehmen, die um ökonomische Macht zentriert sind, mit ihren Reproduktionsstrategien (Heirats-, Geburts-, Erziehungs- und Nachfolgestrategien) auch auf ökonomische Strategien zum Kapitalerhalt bezogen bleiben. Folglich werden auch Schulen von Familien danach ausgewählt, wo die größtmögliche Reproduktionschance in Bezug auf Statuserhalt gegeben ist. Er zeigt ferner auch, dass der Habitus der primären Sozialisation Kinder aus privilegierten Milieus zusätzlich begünstigt – nicht nur, weil sie in ihrem Umfeld für schulische Aufgaben nützliche Gewohnheiten und Verhaltensweisen aneignen oder weil die Eltern sie unmittelbar unterstützen können, sondern auch, weil ihre Neigungen und ihr Geschmack unmittelbar an die sekundäre Sozialisation der Schule anschließen kann – weil sie schulisch rentabler sind (Bourdieu 2006b, S. 29f.). Hier zeigt sich: die Ausführungen zu den symbolischen Kämpfen der in ein bestimmtes Milieu eingebundenen Familie sind vielfältig, wie es sich aber mit innerfamilialen symbolischen Kämpfen verhält, die Bourdieu (1998b) in der Familie verortet, wird nicht deutlich. Die Theorien Foucaults und Bourdieus verweisen letztlich auf die historischgesellschaftliche und milieuspeifische Eingebundenheit von Familie. Sie vermögen es jedoch nicht, die Verortungschancen und -risiken, die unter Bedingungen der gesellschaftlichen Machtstrukturen innerhalb von Familien entstehen, nachzuvollziehen und bleiben in ihren Annahmen zur Bedeutung ‚der‘ Familie damit verkürzend. Hier muss somit auf die kompelmentäre Ergänzung eines mikrosoziologischen Ansatzes zurückgegriffen werden – in diesem Fall die strukturale Familientheorie von Ulrich Oevermann. Diesem gelingt mit der Integration der Psychoanalyse in die Programmatik der Theorie der Bildungsprozesse eine Grundlegung der Bildungsprozesse von Subjektivität und der Transformation des ‚epistemischen Subjekts‘ auf strukturtheoretischer Basis (Oevermann 1975). Unter der Bedingung, dass Foucault nun gerade der Psychoanalyse bei der Formung der Disziplinarmacht in der Familie eine besondere Bedeutung beimisst (Foucault 2003), zeigt sich nun die besondere Bedeutsamkeit eines solchen Strukturmodells, weil es den Machtstrukturen Rechnung trägt und zugleich als Strukturmodell familialen Handelns und damit Voraussetzung der Subjektbildungsprozesse dient. Oevermann setzt dabei die „ödipale Triade“ (Oevermann 2008b), die aus unterschiedlichen dyadischen Beziehungen mit wechselseitigen Ausschließlichkeitsanspruch besteht, ins Zentrum der Betrachtung und differenziert die Strukturkonstellationen idealtypisch aus(Abb. 14). Hier sind es die familialen Beziehungen, die Mutter, Vater und Kind in ein spezifisches Verhältnis setzen, bestehend aus drei einzelnen dyadischen Beziehungen mit wechselseitiger Ausschließlichkeit: die sexualisierte Beziehung der Eltern schließt das Kind aus, die Beziehungen zu einem Elternteil schließen den jeweils anderen aus. Auf der Grundlage der gemeinsamen Basis von Familie: der konstitutiven Körperbasis, der Unkündbarkeit der Beziehungen, der Vertrauensbasis und der Affektivität konstituieren sich Familien. Die Unterschiede in den Beziehungen leiten sich daraus ab, dass die 245
Leiblichkeit bei Eltern um Sexualität zentriert ist, beim Kind um Fürsorge und Pflege (Oevermann 2001, S. 89). Dabei finden sich reguläre Transformationsnotwendigkeiten in Bezug auf vier fundamentale Krisen: die Geburt, die Differenzierung zwischen Selbst und Anderem, die ödipale und die Adoleszenzkrise (vgl. Erdheim 1982, King 2004). In all diesen Krisen liegen Verselbständigungsmöglichkeiten für das Kind gegenüber den familialen Bindungen begründet. M
V
M
K
K
Strukturkonstellation 1a
M
V
V
K Strukturkonstellation 2
Strukturkonstellation 1b
M
V
K Strukturkonstellation 3
In den Strukturvarianten 1a und 1b muss das Kind es „ertragen“ (ebd.), dass der eigene Ausschließlichkeitsanspruch auf ein Elternteil, mit dem des anderen Elternteils kollidiert. In Variante 2 erheben beide Eltern gleichzeitig und gleichermaßen einen Ausschließlichkeitsanspruch auf das Kind – eine Dilemmasituation entsteht (vgl. Oevermann 2001, S.) In Variante 3 erheben die Eltern einen Ausschließlichkeitsanspruch, aus denen das Kind aufgrund des Inzesttabus,
Abb. 14: Dyadische Beziehungen in der ödipalen Triade (Oevermann 2008b)
An diesem Modell arbeitet schließlich die Studie „Jugend zwischen Familie und Schule“ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009) ein Beziehungsmodell heraus, das sich vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Handlungsantinomien ausformt. Die Beziehung zwischen Eltern und. Kind/Jugendlichem ist dabei diffus strukturiert: nicht die Sache oder das Wissen stehen im Mittelpunkt der Vermittlung (wie in der Schule, s.o.), sondern die Vermittlung in der Familie ist eingelagert in alltägliche Sozialisationsprozesse, ohne dass eine feste Vermittlungsabsicht gegeben sein muss. Auch sind die Vermittlungsinhalte nicht inhaltlichfachlich gebunden wie in der Schule, sondern können variieren. Raumtheoretisch stellt sich dieses Modell analog zum heuristischen Modell des ‚Arbeitsbündnisses‘ als Möglichkeitsraum der Verortung familialen Handelns dar. Es lässt sich schließlich zusammenfassen: Auch in Bezug auf Familie ist die komplementäre Ergänzung machtheoretischer und subjekttheoretischer Ansätze vielversprechend. So weisen die Theorien von Bourdieu und Foucault zwar auf die Eingebundenheit der Familie in historisch-gesellschaftliche und milieuspezifische Machtformationen hin, sie geben jedoch keine Auskünfte über die fallspezifischen Varianten von Familien und deren Bedeutung für die jugendlichen Platzierungsleistungen in Zugehörigkeitsordnungen. So wäre etwa unter machttheoretischen Gesichtspunkten nach der Bedeutung familialer Platzierungsleistungen in Milieus und zu Schulen für die jugendlichen Raumhandlungen zu fragen und auch auf familieninterne Platzierungen einzugehen, die Jugendliche in spezifischen Machtbalancen platzieren. Dabei soll jedoch weniger die Frage nach der Kontrolle über das 246
Kind (Foucault) oder der symbolischen Kämpfe in Analogie zum gesellschaftlichen Feld (Bourdieu) gefragt werden, denn die Übertragung von makrotheoretischen Ansätzen verkürzt die Perspektive, indem sie die in sie eingelagerten Transformationsdynamiken vernachlässigt. Mit anderen Worten: eine Theoretisierung entlang machttheoretischer Perspektiven läuft Gefahr die fallspezifischen Dynamiken auszublenden und die Familie schematisch oder subsumptionslogisch in einen funktional-reproduktiven Zusammenhang zu stellen – wie es auch der Fall ist, wenn Familie immer wieder als ungleichheitsreproduzierende Instanz dargestellt wird. Durch eine mikroanalytische Perspektive, die dem Variantenreichtum von Familienstrukturen Rechnung trägt, kann hingegen eine Theoretisierung erreicht werden, die Platzierungs- und Anordnungsleistungen innerhalb der Familien und ihren Ermöglichungsstrukturen in Bezug auf Zugehörigkeit Rechnung trägt. Dabei ist mit Blick auf die machttheoretischen Ausführungen jedoch auch zu berücksichtigen, dass emotionale Anerkennungsbeziehungen in der Familie auch moralische und individuelle Anerkennung mittransportieren (Honneth 1994, Rössner 2008, Honneth/Rössner 2008) – die Familie also nicht nur eine Einheit aus verschiedenen dyadischen Beziehungen ist, sondern über die Vermittlung von Normen und Werten immer auch schon Beziehungen zu anderen Anerkennungsverhältnissen aufbaut. Dies lässt schließlich die Frage danach wieder aufscheinen, ob die als dyadisch konzipierten Beziehungen tatsächlich dyadisch sind, oder ob nicht mit Bedorf (2004) von einer triadischen Struktur intersubjektiver Beziehungen ausgegangen werden muss. Denn – so führt Bedorf im Anschluss an Lacan aus – in eine intersubjektive Beziehung spielt immer auch die symbolische Ordnung hinein, die den „Namen des Vaters“ bezeichnet, der für höhere Gesetze und „die Erbschaft der Freudschen Familiendramen“ (ebd., S. 1003) steht – man kann hier auch an Simmel anschließen, der davon ausgeht, dass in Zweierbeziehungen immer die dritte Beziehung hineinspielt: „jedes sensitive Verbundensein von zweien wird dadurch irritiert, daß es einen Zuschauer hat“ (Simmel 1999, S. 115). Dieser Zuschauer – oder „der Dritte“ in einer Beziehung von zweien (ebd.) – kann dabei auch symbolisiert werden durch die „Kräfte der Gemeinschaft“ (ebd., S. 116). Jedoch soll diese Diskussion vor allem mit Blick auf die Fälle erfolgen, da die Bildung einer Typologie räumlicher Strukturen in der Familie auch anerkennungstheoretische Implikationen enthält. 2. Typologie der Eltern-Kind-Beziehungen In Bezug auf die hier vorgenommene Analyse möchte ich hier mit einer Abstraktion der Eltern-Kind-Beziehungen beginnen. Erst in einem Resümee der Typologie und den bilanzierenden Schlussfolgerungen in Bezug auf das raumanalytische Vorgehen (vgl. Abschnitt 4 dieses Teilkapitels) gehe ich auf die Verortung der Familien hinsichtlich ihrer Habitusformationen und die Bedeutung ihrer Milieuzugehörigkeit bei der Anwahl exklusiver Bildungsräume ein. Kriterien der Typenbildung sind vor dem Hintergrund des raumtheoretischen Modells wiederum: (1) (2) (3) (4)
Die familialen Anerkennungsbeziehungen; Der Umgang mit Nähe und Distanz; Das Verhältnis von Einheit und Differenz und schließlich Die Spannung von Imaginärem, Symbolischem und Realem im familialen Interaktionsraum. 247
Bezugnehmend auf diese Differenzierung können am Material drei Typen ausdifferenziert werden:Im Typus 1 ist die Zugehörigkeit zur Familie unhinterfragt. Er kann mit dem Titel „Überbordende Einheit und Begrenzungsermöglichung“ bezeichnet werden. Der oder die Jugendliche erfährt in der familialen Interaktion umfassend Bestätigung, auch wenn Meinungs- und Haltungsdifferenzen bestehen. Die emotionalen Anerkennungsbeziehungen sind sicher und geben Handlungssicherheit. Dabei ist es der besondere Ausdruck der Anerkennung, dass auch die Autonomiebestrebungen der Jugendlichen anerkannt werden. Gleichwohl müssen diese deutlich legitimiert werden. In den der Herausbildung dieses Typus zugrundeliegenden Fällen Anna Wegmann und Marcus Johannson zeigt sich dies deutlich: Marcus rechtfertigt sich für seine konservative Haltung gegenüber den Vereinnahmungstendenzen der liberalen, zum Teil auch progressiven Mutter und zeigt darin Autonomiebestrebungen, dass er sich in besonderer Weise affin zu den schulischen Haltungen verhält. Auch Anna rechtfertigt ihre Autonomiebestrebungen (über Nacht wegbleiben zu wollen) über schulische Verpflichtungen. In derartig gestalteten emotionalen Anerkennungsbeziehungen ist somit die Erziehung zur Legitimationsverpflichtung und Entscheidungsbegründung (Oevermann 2001) immer schon mit angelegt. Damit kann darauf geschlossen werden, dass auch Haltungen zu moralischen und individuellen Dimensionen der Anerkennung in die emotionalisierten Bezüge eingebettet sind. Das, was also die Familie wertschätzt – im Fall von Anna zeigt sich dies in den Bezügen der Eltern zur Schule, die solidaritätsbasiert und sozial integrativ sind – und woran sie sich individuell orientiert – in beiden Fällen Leistung – wird hier in hohem Maße auch durch die Eltern verbürgt. Dabei ist jedoch in die Familien auch eine Akzeptanz von Differenz und Distanzierung integriert: dies zeigt sich im Fall Marcus zum Beispiel daran, dass die gegensätzlichen Haltungen von ihm und seiner Mutter nicht tabuisiert werden, sondern Gegenstand des spielerischen Umgangs miteinander sind, in dem zugleich auch wieder eine reflexive Haltung gegenüber der eigenen Haltung eingeübt wird. Die Jugendlichen zeigen sich somit einerseits stark auf die Familie bezogen, indem sie sich aktiv mit ihr auseinandersetzen. Sie legitimieren die Distanzierungsbestrebungen und übernehmen die familialen Orientierungen an exzellenten Leistungen. Damit wird Nähe auch über die affektiven Bindungen hinaus hergestellt und die affektiven Bindungen greifen das außerfamiliale Geschehen auf und verhalten sich zu ihm. Auf der Ebene des Imaginären herrscht eine deutliche Orientierung an harmonischen Familienbeziehungen, die mit den individuellen ‚Verwirklichungsideen‘ der Einzelnen ausbalanciert werden sollen. Zugleich wird stark am Bildungsgang des Kindes orientiert gehandelt und dies in ein umfassendes Konzept von Bildungsermöglichung eingebunden. So erhalten die Interessen und Hobbies der Kinder eine umfassende Unterstützung und Anerkennung und sind zugleich ihrerseits wieder auf die Unterstützung von Bildungsmöglichkeiten ausgerichtet (Marcus unternimmt Bildungsreisen zusammen mit seinem Vater, Anna spielt Gitarre und reitet). Wir finden eine symbolische Vermittlung dieses familialen Entwurfs in der hohen Kommunikationsdichte, die von einer deutlichen wechselseitigen Bezugnahme aufeinander gekennzeichnet ist. Zugleich verweist im Fall Marcus die Abwehr der mütterlichen progressiven Haltungen, bei Anna die Begrenzung ihrer (Aus-) Nutzung als Betreuungsperson für den kleinen Bruder, auf eine Akzeptanz der Begrenzung von Einheit und Nähe beim Jugendlichen. Damit finden sich auch in diesen, die Kinder umfassend unterstützenden und emotional gesicherten, Anerkennungsverhältnissen Spannungen und Widersprüche. Diese ranken sich um die Individuationsbestrebungen im Kampf um die 248
Anerkennung von Eigenständigkeit und der Verwirklichung eigener Interessen. Denn dem imaginären Entwurf umfassender Akzeptanz und Förderung stehen die dominanten Ansprüche der Eltern an das Kind/den Jugendlichen zum Teil widersprüchlich gegenüber. So führt im Fall Anna der Widerspruch zwischen dem Ideal der Selbstverwirklichung jedes Einzelnen dort zu Grenzen des Ideals, wo die Sorgebeziehungen gemeinschaftliches Handeln erfordern. In der Situation etwa, in der beide Elternteile und Anna sich für den Abend etwas vorgenommen haben und deutlich wird, dass der kleine Bruder nicht betreut ist, beginnt ein Aushandlungsprozess, der dem Ideal an dem möglichst hohen Maß an Freisetzung für alle, entgegensteht. Im Fall Marcus finden wir in den Idealen der Mutter, die mit der impliziten Handlungsaufforderung: „Werde eigenständig, widerständig und kritisch“ und „Werde wie ich“ verbunden sind, eine Individuationsparadoxie (vgl. Helsper/Kramer/ Hummrich/Busse 2009), welche die Ablösebestrebungen wiederum begrenzt und die Gefahr eines „Double-bind“ in sich trägt (Stierlin 1989, 1994). Man kann für diesen Typus zusammenfassend sagen, dass die Zugehörigkeitsordnung sich zwischen deutlicher emotionaler Anerkennung und einer hohen Vermittlungsdichte einerseits und der Begrenzung überbordender Ansprüche andererseits aufspannt. Die Zugehörigkeit zur Familie ist in diesem Typus unhinterfragt. Dem Ideal nach, sind alle Familienmitglieder gleichermaßen in den interaktiven Zusammenhang Familie eingebunden. Diese Eingebundenheit verweist jedoch auf die Risiken dieses Typus, da insbesondere die jugendlichen Individuationsbestrebungen räumlich begrenzt werden. Doch wird dieser Begrenzung wiederum aushandlungsorientiert begegnet, so dass es zu einer Begrenzung der Begrenzung kommt: überbordende Ansprüche können – unter Bezugnahme auf die Legitimationspflicht – zurückgewiesen werden. Typus 2 kann „Missachtung der Fürsorgebedürftigkeit und instrumentalisierende Vereinnahmung“ genannt werden und kontrastiert maximal mit dem ersten Typus. Hier werden die Kinder von ihren Eltern funktional verwendet und für die eigenen Zwecke vereinnahmt. Damit werden die emotionalen Anerkennungsbeziehungen brüchig bis hin zur Verkehrung der Generationsbeziehung und der Missachtung der kindlichen/jugendlichen Fürsorgebedürftigkeit. Die Missachtungsbeziehungen drücken sich weniger in physischer Gewalt aus (vgl. Honneth 1994), als in der mangelnden Anerkennung der emotionalen Bedürfnisse. Jedoch kommt es darüber nicht zu verstärkten Distanzierungsbestrebungen oder „Flucht“ der Jugendlichen aus der Familie, sondern die Einbindungen bleibt zwanghaft erhalten. Der Wunsch nach Distanzierung ist in diesen Fällen zwar vorhanden – wie z.B. im Fall Erik, der sich deutlich von den affektiven Bindungen löst – jedoch zeigt sich zugleich Vergemeinschaftung durch die elterliche Vereinnahmung und erzwungene Nähe, im Sinne eines Zwangs zur Übernahme der elterlichen Haltungen (z.B. im Fall Antonia) oder eines ökonomischen Zwangs gemeinsam wirtschaften zu müssen (z.B. im Fall Erik). Die Verkehrung der Generationsbeziehungen, welche die Position des Kindes/Jugendlichen nicht anerkennt, verweist auf mangelnde Akzeptanz der Kinder, denn die erzwungene abhängige Haltung wird funktional benutzt. Dies zeigt sich im Fall Antonia darin, dass sie von der Mutter in den Konkurrenzkampf mit der Großmutter eingebunden wird. Antonia ist von frühester Kindheit an das Medium dieses Konfliktes. Im Fall Erik zerfällt die Familie mit dem Weggehen der Mutter, was einerseits dazu führt, dass Erik auf sich alleine geworfen ist, andererseits immer wieder vom Vater vereinnahmt wird, um dessen Wünsche nach Nähe (zur Mutter) zu erfüllen. In beiden Fällen entsteht somit eine eine vereinnahmende Instrumenta249
lisierung, welche die Ablösungs- und Distanzierungsbestrebungen der Jugendlichen missachtet. Denn die Distanzierung unterliegt in Loyalitätskonflikten, aus denen sich die Jugendlichen nicht lösen können, es sei denn sie distanzieren sich maximal und entsagen den Beziehungen zu ihren Eltern. Dabei zeigen sich in der Beziehungsvorstellungen der Eltern und ihrem funktionalen Zugriff auf die Kinder imaginierte Nähe- und Einheitsentwürfe, die den eher konflikthaften Beziehungen und der darin aufgehenden Verwendung der Kinder entgegenstehen. Diese Widersprüchlichkeit entfaltet sich gerade dort, wo nahe und einheitliche Beziehungen behauptet werden sollen und über die Überreichung von Gaben und Geschenken mit besonderem symbolischem Gewicht ausgestattet werden sollen. In beiden Fällen dieses Typs finden wir die familialen Interaktionen zentriert um eine ‚Gabe‘: Eriks Vater thematisiert, dass seine Ex-Frau („die Mutter“) ein Bild haben will, Antonias Mutter beauftragt ihre Tochter der Großmutter ein Eis zu kaufen und diese in dem Urlaub, in den Antonia mit fahren darf, damit zu überraschen. Imaginär wird um die Gabe zentriert versucht, Nähe und Einheit herzustellen – es geht um die Herstellung anerkennender Beziehungen, die nicht auf ökonomischem Tausch basieren, sondern auf basalen Grundsätzen der Reziprozität (Simmel 1992, S. 663). Die Großmutter schenkt Antonia eine Reise, Antonia soll Reziprozität herstellen, indem sie ein Eis für die Großmutter kauft. Eriks Mutter hat den Vater um etwas gebeten und damit die Idee der Beziehungsaufnahme aktualisiert, der Vater überlegt, wie er die Übergabe gestalten kann und damit Reziprozität in der Minimalvariante der Beziehungsförmigkeit wiederherstellen kann. Jedoch gestaltet sich auf der Ebene des Symbolischen die Frage der Prozessierung der Gabe als widersprüchlich. Zum einen wird mit der Gabe eine funktionale Verwendung der Kinder als ausführende Instanzen des Gebens – als Vertreter der Übergabe – verbunden. Diese funktionale Verwendung und Vereinnahmung als Ausführer der Übergabe wird in beiden Fällen durch die Jugendlichen abgewehrt: im Fall Antonia durch den Verweis auf die Diabetes der Großmutter, im Fall Erik dadurch, dass er seinem Vater rät, der Mutter das Bild teuer zu verkaufen. Beides lässt sich als Distanzierungsversuch von der Vereinnahmung verstehen. Dieser misslingt jedoch, denn er wird in beiden Fällen ignoriert. In diesem Misslingen wird deutlich, dass die Kinder die Imagination von Einheit und Nähe reflektieren und als verkennende Illusion entlarven. Dennoch bedeutet die Ignoranz der Eltern ein Fortbestehen der vereinnahmenden Beziehung und der verkennenden Einheitsimagination. Mit Bedorf (2010) kann hier die Absicht, die Gabe zu überreichen (oder überreichen zu lassen) als Versuch interpretiert werden, symbolisch Reziprozität herzustellen, um die anderen Familienmitglieder zu binden. Dieser Versuch muss jedoch als „verkennende Anerkennung“ (ebd.) bezeichnet werden. Das Moment des Verkennens ruht dabei in der Vorstellung, dass die Gabe als Ausdruck von Reziprozität (Simmel) funktional genutzt wird, um gerade das zu schaffen (Reziprozität), was durch die Beziehung nicht verbürgt ist (vgl. Bedorf 2008). Wenn also durch die Gabe Nähe und Einheit gestiftet werden sollen, zeigt dies gerade das Verkennen dessen an, dass Nähe und Einheit nicht vorhanden sind. Hier liegt ein Muster verkennender Anerkennung vor, das darauf verweist, dass durch die Symbolisierung eine Verpflichtung auf Reziprozität in Anspruch genommen wird – die Gabe wird als normierende Kraft (Bedorf 2004) benutzt. Die Instrumentalisierung der Kinder reproduziert sich auch in den Bildungshoffnungen, die die Eltern in Bezug auf ihre Kinder und deren Teilhabe an exklusiven Bildungschancen hegen (im Fall Antonia geht es um sozialen Aufstieg, im Fall Erik um die Vermeidung von 250
sozialem Abstieg). Man kann hier – auch mit Blick auf weitere Studien zu sozialem Aufstieg (vgl. Hummrich 2009) – sagen, dass in den Fällen, wo Eltern ihre Hoffnungen auf eigene Statusgewinne deutlich über ihre Kinder vollziehen, eine instrumentelle Verwendung vorliegt, welche die Realisierung der eigenen Vorstellungen der Jugendlichen erschwert oder blockiert. Die Arbeit an einem „Bildungsplan“, wie dies im ersten Typus in die emotionalisierten Beziehungen eingelagert ist, ist hier weniger am Kind orientiert, als an der Hoffnung durch den Bildungserfolg, die familialen Problemlagen bearbeiten zu können. Hinter dieser verkennenden Anerkennung steht eine Zugehörigkeitsordnung, in der die Kinder einerseits instrumentalisierend vereinnahmt werden, andererseits die emotionalen Anerkennungsbeziehungen in Form der Fürsorgebedürftigkeit ebenfalls verkannt werden und hinter den eigenen Anerkennungswünschen der Eltern zurückstehen. Damit liegt eine „Umkehrung der pädagogischen Generationsbeziehungen“ (Helsper/Kramer/Hummrich/ Busse 2009) vor, die Individuation blockiert. Die Kinder erhalten keine Möglichkeit, sich aus der Familie zu lösen und ihre Autonomiebestrebungen zu realisieren, es sei denn sie distanzieren sich radikal. Die Zugehörigkeit zur Familie lässt sich schließlich gerade aufgrund der instrumentalisierenden Vereinnahmung als ent-fremdete Zugehörigkeit bezeichnen. Denn das Kind/der Jugendliche wird nicht als Kind oder Jugendlicher und auch nicht als besondere Person in der Familie anerkannt, sondern es kommt zu einer instrumentellen Verwendung: will das Kind/der Jugendliche die vom Erwachsenen imaginierte Zugehörigkeitsordnung aufrecht erhalten, muss es oder er sich selbst negieren. Die Position als zugehörig wird nur dann anerkannt, wenn die Vereinnahmung stattfinden kann. Im dritten Typus, den man mit „Randständigkeit und Fremdheit“ charakterisieren kann, finden wir eine ungesicherte Positionierung in der Familie vor. Dieser Typus lässt sich am Fall Lena Fried nachvollziehen: die Anerkennungsbeziehungen sind im emotionalen Bereich deutlich zurückgenommen, die familienkonstituierende Kraft des Kindes wird verkannt. Mit dieser Missachtung ist die Positionierung in der Familie fragil. Die Jugendliche ist von Nicht-Zugehörigkeit bedroht und in der Peripherie des familialen Zusammenlebens angeordnet. Die gemeinsamen sachorientierten Interessenlagen reichen nicht aus, um die Positionierung abzusichern. Vielmehr entsteht der Eindruck von Fremdheit in den Beziehungen. Man kann dies deutlich an der Fremdheitstheorie von Georg Simmel herausarbeiten (1992), der behauptet: „Der Fremde ist uns nah, insofern wir Gleichheiten nationaler oder sozialer, berufsmäßiger oder allgemeiner menschlicher Art zwischen ihm und uns fühlen; er ist uns fern, insofern diese Gleichheiten über ihn und und hinausreichen und uns beide nur verbinden, weil sie überhaupt sehr Viele verbinden“ (ebd., S. 769).
Fremdheit drückt sich hier also weniger über Distanzierung aus, als vielmehr darüber, dass ein Mangel an Besonderung herrscht. Genau dies bringt der Fall Lena zum Ausdruck. Sie wird als gleich anerkannt, aber nicht aufgrund ihrer besonderen Position in der Familie gewürdigt. Sie ist gleich wie alle anderen. Die Fremdheit, die in den familialen Beziehungen herrscht, ist nicht Ausdruck einer Distanzierung, wie dies bei der Ent-Fremdung der Fall wäre, sondern einer prinzipiellen Unentschiedenheit in Bezug auf die Zugehörigkeit. Dies drückt sich unter anderem darin aus, dass die Eltern es vermeiden, Lena zum Sprechen zu bringen. In der Anrufung liegt jedoch – so führt Judith Butler (2007, S. 71) aus – ein wesentliches Moment der Begründung von Subjektivierung und Zugehörigkeit, denn durch 251
die Anrufung werden Personen positioniert. Die Vermeidung der Anrufung und die Imagination umfassender Selbsttätigkeit und der Gleichheit aller Familienmitglieder verkennt dabei die individuelle Besonderung und die besondere Positionierung als Kind. Man kann hierin auch eine Verweigerung der Generationendifferenz sehen (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009), die auf einer verkennenden Imagination von Gleichheit ruht. Eine solche Haltung finden wir vor dem Hintergrund des Martin-Luther-Gymnasiums nicht, doch gibt es auch hier einen Fall, der mit „Randständigkeit und Fremdheit“ beschrieben werden kann – und zwar der Fall Kerstin Lohmann. (Während der gesamten Szene Gabel- und Messergeräusche auf Tellern) Kerstin: ‘du ‘papa’ (kurz) weisste was’ (fragend) (.) heute sagen die uns beim sch wir hätten beim schulfest , bloß , ne halbe stunde zeit zum spieln=zweima fünfzehn minuten Eva: und , luther gymnasium ((unverst., 3 sek.)) Vater: ‘hmm’ (leise) Kerstin: ‘warum’ (fragend) (.) es ‘spieln’ (betont) noch zwei andre bands spieln Eva: noch anderthalb stunden Kerstin: das is ‘so’ (betont) lustich , es is ‘so’ (betont) wahnwitzich Vater: ach ‘so’ (betont) , hm=hm ((unverst., 1 sek.)) Kerstin: ‘mann’ (betont) , wir sind , ‘extra wegen dem schulfest’ (schneller) Vater: ((unverst., 2 sek.)) Kerstin: hamm wer uns ‘zusammgetan’ (betont) im eigentlichen sinne und , jetzt sagen die uns es spieln noch , irgend ne ‘punk band’ (betont) und noch irgend welche hip hop leute Mutter: na na Vater: hmm Kerstin: die sind aber noch nich mal aus unsrer ‘schule’ (langgezogen betont) Mutter: (kurzes luftholen) die stehlen euch schon keine schau Kerstin: ‘na’ (kurz) na ich mein aber es geht darum das das n ‘schulfest’ (betont) ist und nich n , ‘nee’ (gedehnt) Mutter: ihr habt den heimvorteil ‘ach’ (kurz verschluckt) die klatschen schon laut stimmts levin , wir holn noch ((unverst., 1 sek.)) Levin: ((und bei den andern machen wir)) ‘buuhu buuhu’ (betont, gedehnt)
Hier liegt eine Strukturähnlichkeit zum Fall Lena vor, indem die jüngere Schwester diejenige ist, die Kerstin immer wieder in die Interaktion zurückholt und unterstützt, während die Mutter Kerstins Wunsch nach emotionaler Anerkennung zurückweist und auch der Vater ihm nicht reziprok begegnet. Doch ruht die Fremdheit hier nicht in einer Verweigerung der Generationsdifferenz, sondern in der Verweigerung des Erkennens der Bedeutsamkeit, die das von Kerstin eingebrachte Thema für sie persönlich hat. Somit kann der Mangel am Erkennen der Besonderung des Einzelnen innerhalb der familialen Gemeinschaft als gemeinsames typologisches Merkmal festgehalten werden. Die familiale Interaktion ruht insgesamt auf einer deutlichen Imagination von Vergemeinschaftung, die im Fall Lena durch die Herstellung von Gleichheit angestrebt werden soll, im Fall Kerstin durch die Unterordnung unter die elterlichen Werthaltungen. Die Gemeinschaftlichkeit wird jedoch symbolisch nicht umgesetzt: Lena entzieht sich der konkurrierenden Situation mit der Mutter, Kerstin kämpft weiter um Anerkennung, ohne sich unterzuordnen. An die Stelle der Gemeinschaftlichkeit tritt Fremdheit, die sich in Lenas Rückzug und der ungehinderten Turn-Übernahme der Mutter artikuliert und im Fall von Kerstin in immer wiederholenden Schleifen des Aufbegehrens der Tochter und der Zurückweisung durch die Mutter. Auf der Ebene des Realen findet sich eine Begründung für diese Positionierung der Jugendlichen in der familialen Peripherie in der widersprüchlichen Einheit familialer Gemeinschaftlichkeit und der Konkurrenzbeziehung zwischen Mutter und Tochter, die in 252
einem Fall (Lena) in der Form des „Ich bin wie du“ auftritt, im anderen Fall (Kerstin) in Form eines Übersehens des Begehrens nach Anerkennung. Im ersten Fall wird damit die basale Zuerkennung von Anderssein verweigert, im zweiten wird der Sprechakt der Tochter delegitimiert. Die Typen können relationiert werden, indem die Achsen emotionale Zugehörigkeit und Exklusivitätsorientierung gegeneinander aufgetragen werden (Abb. 15). Emotionale Zugehörigkeit +
Typus 1
Typus 4
Habitus der Exklusivität +
Typus 3 Typus 2
Abb. 15: Relationierung der Familienbeziehungen zwischen Zugehörigkeit und Exklusivitätsorientierung
Für den ersten Typus (Überbordende Einheit und Begrenzungsermöglichung) kann dabei eine profilierte Bezugnahme auf beide Zusammenhänge behauptet werden: neben der Orientierung an exklusiven Bildungschancen gibt es keinen Zweifel an der Zugehörigkeit des Kindes oder Jugendlichen zu der Familie. Im Gegenteil: Durch die zum Teil paradoxen Strukturen liegen hier die Missachtungsrisiken eher im Bereich des „Double-bind“ (Marcus) oder der zu starken Vereinnahmung (Anna). Im zweiten Typus (Missachtung der Fürsorgebedürftigkeit und Vereinnahmung) zeigt sich die Kehrseite vereinnahmender Zugehörigkeit und funktionaler Verwendung der Kinder/Jugendlichen zur Kompensation der eigenen Probleme von Einheit und Differenz im familialen Raum. Von diesen Problematiken werden auch die Exklusivitätsorientierungen der Familien überlagert. Es geht viel weniger um die gemeinsame Arbeit am „Bildungsplan“ als um die Bearbeitung der familialen Fragilität. Zugehörigkeit ist weniger emotional als instrumentell besetzt. In Typus 3 (Randständigkeit und Fremdheit) hingegen ist die Bildungsorientierungen der Familien relativ hoch. Es wird Wert auf schulischen Erfolg gelegt und zusätzlich verfolgen die Kinder exklusive Hobbies, die sie in der Bildungslaufbahn unterstützen. Jedoch ist die Zugehörigkeit zu den Familien von Spuren struktureller Fremdheit durchzogen, die sich vor allem im latenten Konkurrenzverhältnis von Müttern und Töchtern und der indifferenten Haltung, die die Väter dazu einnehmen, gründet. In der vorliegenden Studie wurde nun kein Typus gefunden, bei dem die Zugehörigkeit in der Familie mit einem nur geringfügigen Habitus der Exklusivität einhergeht (hypothetischer Typus 4). Hier wäre an die Studie „Pädagogische Generationsbeziehungen in Familie und Schule“ anzuschließen und ein Typus zu suchen, bei dem selbst in der Familie 253
Exklusivität nicht verbürgt ist, aber die Zugehörigkeit unhinterfragt und chancenermöglichend – auch hinsichtlich der Bildungsermöglichung für das Kind – verwendet wird. Ein solcher Typus findet sich in der Aufstiegsbiografie von Marcel Jacob, der die AnnaSeghers-Schule besucht. Die emotionale Anerkennung in der Familie ist dabei auf Unterstützung ausgerichtet und um Fürsorge zentriert. Es handelt sich um eine ‚konventionelle familiale Generationsbeziehung’ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009), wie im Fall von Anna Wegmann und Marcus Johannson, in der jedoch an die Stelle reproduktiver Exklusivitätsbestrebungen und deren Weitervermittlung in den Bildungsermöglichungsstrukturen der Kinder transformative Bestrebungen treten, für die die Zugehörigkeit zu exklusiven Bildungsräumen mit Aufstiegshoffnungen verbunden ist. Hier findet sich unter anderem Anschluss an eigene Forschungen zum Zusammenhang von Bildungserfolg und Migration (Hummrich 2009), in der Zugehörigkeit zur und Unterstützung durch die Familie in der Regel konstitutiver Bestandteil des Aufstiegsstrebens war. Abschließend ist zu der vorliegenden Relationierung der Typen zu sagen: es handelt sich hier um eine Typologie, die das exklusive Bildungssegment und die Positionierungen der Familie dazu in den Blick nimmt. Dies bedeutet, dass auch die Ergebnisse zu den familialen Entfremdungstendenzen, die vor allem für Typus 2 (Missachtung der Fürsorgebedürftigkeit und Vereinnahmung) und Typus 3 (Randständigkeit und Fremdheit) noch einmal relativierend einzurücken sind. Fälle, in denen es zu einer Ausstoßung aus der Familie im Sinne einer zentrifugalen Ablösung durch die Eltern kommt (vgl. Stierlin 1980), in denen es zur Verweigerung der Ablösung im Sinne einer zentripetalen Ablösung (ebd.) kommt oder Jugendliche aus den Familien aussteigen, haben sich hier nicht gefunden. So kann man sagen: die Tendenz der hier versammelten Ergebnisse verweist darauf, dass familiale Zugehörigkeitsordnungen unter der Bedingung der Orientierung an schulischer Exklusivität eher inklusiv sind. Zwar gibt es Brüche in der Zugehörigkeit und Zugehörigkeit ist nicht immer unhinterfragt oder kann von Entfremdung und Fremdheit geprägt sein (Typus 2 und 3). An ihnen lässt sich insbesondere dort die Gefährdung der Bildungsorientierung nachvollziehen, wo die Orientierung an einem Habitus der Exklusivität durch die familialen Zugehörigkeits- und Bindungsproblematiken überlagert sind. Formen der Verhinderung von Bildung durch familiale Problembelastung, wie sie etwa bei Sandring (2010) thematisch werden oder der Reproduktion von Bildungsungleichheit, gerade aufgrund der Zugehörigkeit (vgl. Busse 2009) lassen sich als Steigerungsvarianten von Typus 2 formulieren, die jedoch in dieser Studie nicht material auftauchen. 3. Schlussfolgerungen für den Zusammenhang familialer Interaktion und Raum Zusammenfassend können folgende theoretisierende Schlussfolgerungen aus den Rekonstruktionen zu den familialen Zugehörigkeitsordnungen abgeleitet werden: (1) Die Frage nach der Zugehörigkeit vor dem Hintergrund des jeweiligen historischgesellschaftlichen Kontextes, in dem Normalitätsvorstellungen entwickelt werden, kann mit Bezug auf zwei Fokussierungen beantwortet werden: die Zugehörigkeit der Familie (zu einem spezifischen Milieu, einem historischen Kontext etc.) und die Frage nach der Zugehörigkeit zur Familie (im Sinne der Anpassung an die familialen Ordnungsstrukturen). Für die Frage nach der Zugehörigkeit der Familie können mit Blick auf die Typologie folgende Rückschlüsse gezogen werden: Die Aushandlungsorientierungen im ersten Typus (Überbordende Einheit und Begrenzungsermöglichung) können nicht nur als Charakteristikum 254
der Familienbeziehungen gesehen werden, sondern sie stellen auch Repräsentationen der familiären Zugehörigkeitskonstruktionen hinsichtlich der Milieubindungen dar. Den Fällen dieses Typus ist gemeinsam, ist, dass die Familien hier nicht im Kern einer spezifischen Milieubindung verortet sind, sondern dass sich in beiden Familien Bezüge zu kritischreflexiven Milieus und zu bildungsbürgerlich-konservativen Milieus finden: beide Familien sind hierarchisch strukturiert und beziehen sich affirmativ auf Hierarchien, auch wenn sie jeweils hochgradig an der Selbstverwirklichung von Kindern und Eltern orientiert sind (zu dieser Differenzierung: Vester u.a. 2001). Während sich die Schulen also in ihrer Verortungspraxis sowohl horizontal wie auch vertikal eindeutig distinktiv platzieren, realisiert sich in diesem Typus eine Überschneidung auf der horizontalen Ebene, während sich vertikal distinktiv abgegrenzt wird. Familien des zweiten Typus (Missachtung der Fürsorgebedürftigkeit und Vereinnahmung) scheinen hingegen eher um Milieuzugehörigkeit zu kämpfen. So ist in die Interaktion in Eriks Familie ein Kampf gegen den drohenden Abstieg eingelagert, der mit der Aufforderung Eriks an seinen Vater: „du musst mal wieder malen“ die ökonomischen Zwänge deutlich machen, die mit dem Statuserhalt verbunden sind. Im Fall Antonia zeigt sich der Kampf um Zugehörigkeit durch die unsichere Verortung im Feld der Aufstiegsorientierten, Mit der Hoffnung auf Statustransformation der Tochter lockern sich zugleich die Bindungen an das Herkunftsmilieu und die Familie bekämpft in dem Kampf um die Erziehungsziele auch die eigene Entfremdung gegenüber den bisherigen Bindungen – dies ist mithin ein Ergebnis das an Studien zur Aufstiegsorientierung und Statustransformation allgemein anschlussfähig ist (vgl. Brendel 1998, Hummrich 2009). In einem so gelagerten Habitus des Strebens geht es darum, Statuserhalt und Statusaufstieg zu realisieren. Die Milieubezüge, die im dritten Typus (Randständigkeit und Fremdheit) hergestellt werden, sind schließlich homolog zu den schulischen Milieubezügen. Hier sei an den Fall Lena erinnert, deren Eltern sich eindeutig im alternativen Milieu verorten – und an den kurzen ‚Ausflug’ in den Fall Kerstin, bei dem die Hierarchiegebundenheit der Eltern und die habituellen Orientierungen eindeutig auf Zugehörigkeit zum bürgerlichkonservativen Milieu schließen lassen. Diese Strukturhomologie des familialen und des schulischen Bezugsmilieus ist das gemeinsame Merkmal, auch wenn damit deutlich wird, dass die Familien sich in differenten Milieus verorten. Das Thema Zugehörigkeit zur Familie ist für Jugendliche zentral thematisch. Dabei kann zunächst raumtheoretisch mit Bourdieu und Foucault auf Familie geblickt und gefragt werden: welche Normalisierungsdiskurse und Kontrollpraktiken liegen den jeweiligen Familien zugrunde (Foucault 2003), welche Feldstruktur besitzt Familie (Bourdieu 1998b) und welche Aussagen lassen sich auf der Grundlage der Normalisierungsdiskurse, Kontrollpraktiken und der jeweiligen Feldstruktur über die Zugehörigkeit von Jugendlichen in Familien machen. Foucault bezieht – dies deutete sich zu Beginn des Kapitels ja schon an – diese Kontrollpraktiken immer auf den Ursprung der körperlichen Kontrolle, bzw. der kindlichen Sexualität. Diese ist die Basis für die Einschreibung der ‚Sorge um das Kind’ in den Praktiken der Familie. Dabei muss davon ausgegangen werden, dass sich diese Sorge soweit in die alltäglichen Routinen und Praktiken eingeschrieben hat, dass die Kindzentrierung der zentrale Aufmerksamkeitsfokus sein kann, die Foucault ja auch als Ausdrucksgestalt der modernen Normalisierungsdiskurses nennt. Die moderne Psychoanalyse nimmt genau diese Strukturierung zum Ausgangspunkt und suggeriert mit Bezug auf wissenschaftliches Wissen, welche Bedürfnisse die Kinder haben. Doch dieser Diskurs – so Foucault – 255
hat nur Gültigkeit für die bürgerliche Familie. Der Diskurs, der die proletarischen Familien betroffen hat, ruht in der Botschaft: „Heiratet und macht keine Kinder, die ihr dann im Stich lasst“ (Foucault 2003, S. 353). Diese Botschaft ist nicht an wissenschaftliche Erkenntnis und deren Selbstkontrollpraktiken gebunden, sondern an juristische Kontrollinstanzen (Sozialarbeit). Der familiale Handlungsraum wird also beherrscht von den Diskursen um das Kindeswohl. Dies zeigt auch Oevermanns Familientheorie (Oevermann 2008b), in der die „Familienzelle“ ebenfalls das beherrschende Element ist und schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt unterschiedliche Interaktionsordnungen – je nach sozialer Zugehörigkeit – annimmt (Oevermann u.a. 1976). Die Frage, die man jetzt mit Bezug auf die hier geleisteten Rekonstruktionen stellen kann, ist die: welche Bedeutsamkeit haben diese Diskurse für die Platzierung und Anordnung der Kinder innerhalb der Familie? So haben wir gesehen, dass im ersten Handlungstyp der „Einheit und Begrenzungsermöglichung“ die Familie eher kindzentriert ist. Das Kindeswohl steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, auch wenn die Eltern ihre eigene Beziehung davon abgrenzen. Damit befinden sie sich in der Logik der einander ausschließenden dyadischen Beziehungen, die in Konkurrenz zueinander stehen. Doch geht es, dies wurde über die Transmission des kulturellen Kapitals in Familien bereits deutlich, in diesem Typus auch um die Reproduktion des gesellschaftlichen Status und der familialen Haltungen. Insofern sind die Kontrollpraktiken auch um die Leistungsorientierung zentriert. Zugleich bedeutet die Konstellation in Typus 1, dass es hierarchische Beziehungen zwischen Eltern und Kindern gibt, in denen die Elternmacht die Kinder auf Normalitätsvorstellungen bezieht und sie ihnen unterwirft. Diese Unterwerfung gelingt auf der Basis der ungebrochenen Zugehörigkeitskonstruktion. Die in Eltern-Kind-Beziehungen eingelagerte konstitutive Generationendifferenz (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009) impliziert somit auch machtvolle Kontrollbeziehungen, die über Zugehörigkeit an der Reproduktion der Normalitätsvorstellungen arbeiten. Die ‚Lagerung‘ der Kinder im Zentrum der Familie ermöglicht dabei – so könnte man in Bezug auf Foucault weiter interpretieren – den Zugriff auf die Kinder. Eine solche hierarchische Beziehung wäre es auch, die mit einer feldtheoretischen Ausdeutung von Bourdieus Annahme, die Familie sei wie jedes andere soziale Feld um den Erhalt und das Streben nach Kapitalsorten konstruiert. Insofern wären die familieninternen Auseinandersetzungen im ersten Typus weniger psychologisierend mit Blick auf die Individuationsermöglichung zu interpretieren (zu ihrer Kritik: Foucault 2003, S. 356 ff., Deleuze/Guattari 2005) als um den Kampf um die machtvollste Position. Doch kann Familie in der Logik eines sozialen Feldes – also analog zu sozialen Milieus – gedacht werden? Möglicherweise ja. Denn gerade in der Herstellung von sozialer Nähe, die sich über gemeinsame Interessen ergibt und in der Bezugnahme auf andere in der Familie sind zentrale Dimensionen kulturellen und sozialen Kapitals angesprochen, die für die Reproduktion des Status eine wichtige Rolle spielen – mit anderen Worten: die Logik der bewahrenden, normierenden Kraft der Transmission kulturellen Kapitals in der Familie (vgl. Büchner/Brake 2006) kommt hier zur vollen Entfaltung. So lässt sich das Einheitsstreben von Marcus‘ Mutter als Versuch der Herstellung von sozialer Nähe lesen, das nicht nur affektiver Natur ist, sondern dem auch das Bestreben der Reproduktion innewohnt. Und in den Versuchen Annas, eigene Interessen in den Vordergrund zu stellen zeigt sich eine distinkte Bezugnahme auf andere soziale Nähen, die jedoch – und damit sind wir wieder bei der Frage nach der Macht – von den Eltern kontrolliert und normiert werden: unter legitimatorischer Verwendung des Schulischen darf Anna 256
die Nacht außerhalb der Familie verbringen, die implizite Bedingung ist also die, dass eine andere Kontrollinstanz an die Stelle der Eltern tritt. Von diesem ersten Typus, in dem also die Hierarchie auch als Normierungsinstanz und Reproduktionskontrolle ihre Wirkung entfaltet, ist der zweite Typus „Missachtung der Fürsorgebedürftigkeit und Vereinnahmung“ zu unterscheiden. Die Zugehörigkeit, die hier im Vordergrund steht, ist eine, die gerade mit den dominanten Diskursen bricht. Hier steht nicht das Kindeswohl im Vordergrund, sondern diese – im Band „Jugend zwischen Familie und Schule“ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009) als „Umkehrung der Generationendifferenz“ diskutierte – Strukturlogik verliert die ‚Sorge um das Kind‘ aus dem Blick und verwendet die elterliche Machtposition zur Kompensation selbst erfahrener Kränkungen. Der familieninterne Kampf dreht sich in diesem Zusammenhang nicht um die Spannung überbordender Einheit und dem Kampf der Kinder/Jugendlichen um Autonomiegewinne (wie in Typus 1). Vielmehr ist der Gegenstand familieninterner Auseinandersetzungen die Frage der Möglichkeit der Teilhabe an der Familie in der Position des Kindes, die von den Eltern machtvoll verwehrt oder sogar selbst beansprucht wird, wenn die Eltern sich in die Position der Abhängigkeit begeben und die Verantwortung für ihr Wohlergehen auf ihre Kinder übertragen. Eriks Anforderung an den Vater: „und du musst mal wieder malen“ versucht die elterliche Position wiederzubesetzen, um selbst wieder Jugendlicher sein zu können. Antonia setzt sich mit ihrer Mutter um das Expertentum in Bezug auf ihre Großmutter auseinander. Antonia hat zu dieser Großmutter eine deutliche Nähe, die sich der Kontrolle und dem Einflussbereich der Mutter entzieht. Die Instrumentalisierung Antonias, die Gabe von Geld, das zweckgebunden für ein Eis (das der Großmutter zudem schadet) verwendet werden soll, ist dabei weniger um das Wohl der Tochter zentriert, als um die Möglichkeit der Kontrolle und Normierungskraft. Dabei verkennt die Mutter Antonias jedoch, dass gerade die soziale Nähe zur Großmutter eine Nischenexistenz ermöglicht (denn auch die Großmutter hat ja mit ihrer Biografie gezeigt, dass diese Nischenexistenz – als Christin in der DDR – möglich war), die Antonia erst die Möglichkeit gibt, die Aufstiegshoffnungen der Mutter zu erfüllen. Im dritten Typus der „Randständigkeit und Fremdheit“ werden zentrale Normierungsund Kontrollfunktionen vernachlässigt. Einerseits besteht zwischen Mutter und Tochter eine Konkurrenz, die auch als soziale Distanz interpretiert werden kann, so dass Normierung und Kontrolle vor allem formal geleistet werden, nicht aber zentriert um das Wohlergehen der Kinder. Der Vater, der sich hier indifferent verhält, vermag diese Lücke nicht zu füllen, sondern rückt ebenfalls in eine distanzierte Position. Nähen, die in der Familie hergestellt werden, beziehen sich vor allem auf das kulturelle Kapital (indem etwa eine besondere Schule angewählt wird und besonders bildungsnahe Hobbys der Kinder gefördert werden). Der Fall Lena zeigt dabei deutlich, dass entdifferenzierte Beziehungen und die Orientierungen am Kindeswohl einander ausschließen, weil damit die Positionierung des Kindes als Kind der Familie erheblich erschwert wird. Das Kind ist in der Familie ortslos, denn es kann die Position des Kindes nicht beziehen, besitzt aber auch nicht die Position des/der Erwachsenen in der Familie – wie im zweiten Typus. (2) Nun ist mit der Interpretation der Ergebnisse aus machttheoretischer Perspektive in Bezug auf die Platzierung der Kinder in den Familien die Strukturlogik der Positionierung noch nicht hinreichend differenziert betrachtet. Denn die doch recht groben Theoriebezüge müssen noch einmal ‚kleingearbeitet‘ werden. Dies kann wiederum im Anschluss an Hon257
neths Anerkennungstheorie geschehen. Honneth bestimmt den Modus emotionaler Anerkennung als zentral für familiale Beziehungen. Andere Anerkennungsbeziehungen (moralische und individuelle Anerkennung) transportieren sich erst über die emotionalisierte Familienbeziehung. Hierbei muss herausgearbeitet werden, dass Kinder und Jugendliche noch nicht in reziproken Anerkennungsbeziehungen zu den Eltern stehen (Brumlik 2002, Helsper/Sandring/Wiezorek 2005), da sie signifikante Andere benötigen, durch die sie sich selbst erst als Andere erfahren lernen (Mead 1992, Joas 1998, Honneth 1994, Borst 2003). Die Erfahrung des signifikanten Anderen und die darin eingelagerten emotionalisierten und fürsorglichen Beziehungen sind nach Habermas (1981) die Voraussetzung für die Ermöglichung von Anerkennung unter generalisierten Bedingungen. Hiermit lassen sich die Erfahrungen von Differenz, Macht und Kontrolle im ersten Typus als Erfahrungen interpretieren, in denen die Kinder sich als Anderer erfahren konnten. Dies kontrastiert maximal mit den Erfahrungen der Kinder des dritten Typus, denn die Indifferenz in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern verkennt die Fürsorgebedürftigkeit. Was sich auf den ersten Blick als kreative Imagination und Ermöglichungsstruktur von Gleichheit ausnimmt, zeigt in den innerfamilialen Beziehungen eine Missachtung, die in der Figur des Verkennens begründet liegt: Kinder werden nicht als Andere anerkannt und damit werden sie überhaupt nicht als Teil der Familie anerkannt. Mit der Ortslosigkeit verbindet sich damit das grundlegende Fehlen intersubjektiv bestätigender Erfahrungen. Den Kindern/Jugendlichen wird eine vollgültige Reziprozität zugemutet, die sie nicht an der Auseinandersetzung mit dem Anderen ausformen können. Auch im zweiten Typus gestaltet sich die Beziehung verkennend, denn Kinder werden in eine doppelwertige Zugehörigkeitsordnung gezwungen: ihre Position als Kind wird ‚benutzt‘, um die Position als Kind abzuerkennen. Die paradoxe Missachtungsfigur gründet sich darin, dass die Reinstallation von Differenz und damit die Beanspruchung der Position des Anderen, zurückgewiesen wird, mit Bezug auf die machtvollere Position und damit im Grunde dem Verweis auf Differenz. (3) Von dieser Diskussionslage ist abschließend noch einmal ein Bezug zu den bereits oben eingeführten machttheoretischen Ausführungen herzustellen. Das Thema „Macht“ (Balzer 2007) spart auch die Anerkennungsbeziehungen in Familien nicht aus, dies konnte ja schon mit Verweis auf die Diskurse um Familie behandelt werden. Doch zeigt sich gerade in jenen Anerkennungsfiguren, in denen familiale Anerkennung nicht in den normativen Diskurslinien verbleibt und um Affektivität, Nähe und ‚Sorge‘ zentriert ist auch, dass Anerkennung Missachtung sein kann. Gerade im dritten Typus, der von Ortslosigkeit gekennzeichnet ist, verwehren ja die verweigerten und indifferenten Anerkennungsbeziehungen die Möglichkeit einer Positionierung im Zentrum der Familie. Die Anerkennung als Gleicher missachtet somit die emotionalen Anerkennungsbedürfnisse auf der Grundlage einer überbordenden Zumutung von Reziprozität. Geht man nun davon aus, dass die Annahme von Subjektwerdung immer paradox verstrickt ist: zwischen der der Intersubjektivität vorgängigen Annahme der Existenz des Subjekts und der intersubjektiven Hervorbringung (Bedorf 2010, Balzer 2007), so muss es doch immer ein Gegenüber, einen Anderen geben, der diese Intersubjektivität füllt. In diesem dritten Typus der indifferenten Beziehungskonstitution ruht nun aber eine Tendenz der Verweigerung des „Bedürfnis(ses) nach dem Anderen schlechthin“ (Benjamin 1993). Insofern bedeutet die reduzierte Reziprozität des ersten Typus und die darin liegende Unterordnung in der Hierarchie, die Möglichkeit als Subjekt anerkannt zu werden. Selbst in einer paradoxen Konstellation, wie der von Marcus, in 258
der die Mutter einerseits dazu auffordert, wie sie zu sein, aber andererseits möchte, dass Marcus kritisch und widerständig wird, ruht damit subjektivierende Kraft, weil der Geltungsanspruch der Mutter in Bezug auf die ‚Unterwerfung‘ des Sohnes ungebrochen imaginiert werden kann. In einer Paradoxie, wie sie den zweiten Typus kennzeichnet, ist schließlich die Positionierung als Subjekt im Rahmen der Familie erheblich erschwert. Zum Einen wird die generationale Differenz zwar anerkannt, sie wird aber von den Eltern instrumentell verwendet, um die Kinder zu jemandem zu machen, der für sie ein Anderer ist. Die Eltern schreiben damit das Kind auf Zugehörigkeit auf der Grundlage der generationalen Differenz fest. Insgesamt zeigt die Analyse, dass Zugehörigkeit ein Thema ist, das sowohl die Frage der Milieuverortungen und Werthaltungen der Familien, als auch die Frage der Strukturen innerhalb der Familien betrifft. Die Transformationsmöglichkeiten entfalten sich im Rahmen der Zugehörigkeitsordnungen, die um Anerkennung zentriert sind. Dabei stehen auch familiale Anerkennungsbeziehungen in hegemonialen Zusammenhängen. Unter Bedingungen der hegemonialen Diskurse bedarf die Subjektbildung gerade in Familien einer Zugehörigkeitsordnung, die die Zugehörigkeit der Kinder nicht in Zweifel zieht und zugleich die Zugehörigkeit selbst hegemonial rahmt. Voraussetzung für die chancenhafte Positionierung des Kindes in der Familie ist dabei die Erfahrung von Differenz und die Anerkennung nicht-erfüllbarer Reziprozität zwischen Eltern und Kindern. Denn gerade unter Bedingungen der Zumutung von Reziprozität besteht die Gefahr der ‚Ortslosigkeit‘ der Jugendlichen im Verhältnis zur Familie.
5.3 Die Zugehörigkeit Jugendlicher zum exklusiven Bildungssegment zwischen Anerkennung und Fremdheit: eine Bilanzierung Den Gang durch die Ebenen abschließend, sollen nun noch die individuellen Positionierungsleistungen Jugendlicher untersucht werden. Dabei sollen in diesem Teilkapitel nicht wieder die schulübergreifende Kontrastierung und deren theoretische Einbindung im Vordergrund stehen, sondern es soll darum gehen, die Möglichkeitsräume jugendlicher Verortungsprozesse zwischen Familie und Schule bilanzierend zu bestimmen. Dem Kapitel vorausschickend ist es jedoch wichtig, zunächst noch einmal knapp auf eine Grenze der Untersuchung hinzuweisen. Ich habe mich in der vorliegenden Arbeit mit Zugehörigkeitsordnungen in einer räumlichen Perspektive befasst und dazu gezielt exklusive Schulkulturen in den Blick genommen. Bereits in den vorangehenden Kapiteln wurde deutlich, dass dieser Blickwinkel spezifisch begrenzt ist – etwa dadurch, dass Prekarisierungen und Ausgrenzungsbedrohungen immer den Ausschluss aus dem oberen Segment der Zugehörigkeit zu Bildungsräumen betraf und hier nicht, wie in Studien, die dezidiert das untere Segment in den Blick nehmen, von einer Kulmination der Problemlagen die Rede sein kann. Die Fokussierung des oberen Bildungssegments bedeutet in diesem Zusammenhang auch, dass diejenigen, die von Abstiegstransformationen tatsächlich betroffen (und nicht ‚nur’ bedroht) sind, nicht in dieser Studie auftauchen. Insofern ist die Auslotung des Spannungsfeldes von Inklusion und Exklusion im Rahmen der symbolischen Zugehörigkeitsordnung hier wiederum spezifisch begrenzt, denn es konnte zwar deutlich werden, dass es sich um exklusive Bildungsräume handelt, die Bedeutung der Exklusivität für diejeni259
gen, die nicht durch Teilhabechancen privilegiert sind, kann jedoch nur ansatzweise und hypothesenhaft erfolgen. In diesem Zusammenhang ist es jedoch wichtig zu erwähnen, dass es sich auch bei den dargestellten Schulen nur um eine Auswahl aus dem exklusiven Bildungssegment handelt. Diese stehen zwar durch ihre unterschiedlichen schulkulturellen Bezüge für zwei kontrastierende Pole der exklusiven Schulen, aber es wären auch weitere Ausdifferenzierungen vorstellbar, etwa Schulen, die sich besonders affirmativ auf Milieus höchster ökonomischer Kapitalstärke beziehen oder die für die Reproduktion politischer Eliten stehen (z.B. International Schools, Eliteinternate usw., vgl. Helsper 2006). Desweiteren wäre das Feld auch durch eine noch deutlichere Bezugnahme auf reformpädagogische Traditionen auszudifferenzieren – z.B. im Sinne einer noch deutlicheren Familialisierung (z.B. in Landschulheimen) oder einer noch deutlicheren Betonung der Autonomie der Schülerinnen und Schüler (z.B. in Kinderrepubliken). Ebenso wird selbstverständlich in Bezug auf Familien auch nur ein Ausschnitt der sozialen Realität betrachtet. Im Durchgang durch die Studie müssen wir im Blick behalten, dass auch in den problembelasteten Familien minimale Unterstützungsleistungen aufrechterhalten werden und biografische Erfahrungen in einer Weise zusammenlaufen, die auch bei schulisch prekarisierter Zugehörigkeit nach wie vor die Teilhabe am exklusiven Bildungsraum ermöglicht. Und auch die Thesen der instrumentellen Verwendung der Kinder/Jugendlichen sowie der Umkehrung von Generationsbeziehungen sind dahingehend begrenzt, dass die Kinder und Jugendlichen nach wie vor als Mitglied der Familie anerkannt sind. Formen der massiven Missachtung, wie Misshandlung, Vernachlässigung, Ausschluss oder Beziehungsaufkündigung (von Eltern oder Kindern) sind im Verlauf der Studie nicht vorgefunden worden. Hierauf wurde bereits unter Bezugnahme auf die dritte Schule des DFG-Projektes „Pädagogische Generationsbeziehungen in Familie und Schule“ verwiesen, die in die vorliegende Arbeit nicht eingegangen ist. Im Sekundarschulbereich finden sich, so konnte hier herausgearbeitet werden, eher reproduktive Verläufe in Bezug auf Bildung und familiale Bildungserfahrungen (Helsper/ Kramer/Hummrich/Busse 2009) und Integrationsprobleme in das Bildungssystem werden intergenerativ weitergegeben (vgl. Busse 2010). Auch Sandring (2010) arbeitet heraus, dass sich in versagenden Bildungskarrieren familiale Problemaufschichtungen wiederfinden, die von fundamentalen Missachtungserfahrungen gekennzeichnet sind. Desgleichen kann mit der Studie von Büchner und Brake (2006) auf förderliche und hinderliche Aspekte familialer Konstellationen verwiesen werden, sowohl was das obere Bildungssegment betrifft, als auch in Bezug auf das untere Bildungssegment. Vor dem Hintergrund der Relativierung der hier präsentierten Erkenntnisse ergibt sich nun die Frage nach dem Aussagegehalt der vorliegenden Studie. Hier kann angenommen werden, dass gerade aufgrund der kontrastierenden Schulkulturen und trotz der Möglichkeit diese Aussagen weiter auszudifferenzieren, für das Segment der exklusiven Bildungszugänge verallgemeinernde Aussagen zum Spektrum an Platzierungsmöglichkeiten getroffen werden können, da hiermit zwei exponierte Pole exklusiver Bildungszugänge angesprochen werden. Diese verweisen umgekehrt gerade auch auf die Grenzen schulischer Zugehörigkeit, so dass es auch möglich wird, verallgemeinernde Annahmen über die Begrenztheit von Zugehörigkeit zu entwerfen. Schließlich gelingt über die Auseinandersetzung mit exklusiven Schulkulturen eine systematisierende Perspektivnahme auf den Raumbegriff der Schulkulturtheorie. Dieser Aspekt wird in 5.4 noch einmal zu schärfen sein. Für die Frage 260
nach dem Zusammenhang von Jugend und Raum interessiert hier zunächst die Frage nach der Positionierung Jugendlicher in exklusiven schulischen Zugehörigkeitsordnungen (1), im Anschluss folgt eine verallgemeinernde Diskussion zum Zusammenhang von exklusiver Zugehörigkeit und Familie (2). Die in den ersten Abschnitten aufgezeigten Verallgemeinerungen werden im dritten Abschnitt (3) noch einmal in ihrem Zusammenspiel betrachtet und zu Typen verdichtet. Abschließend wird der Zusammenhang jugendlicher Zugehörigkeit zwischen Familie und Schule im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion bilanziert (4). 1. Positionierung in exklusiv-schulischen Zugehörigkeitsordnungen Auch wenn die Kontrastierungslinie mit versagenden Bildungsbiografien, Abstiegstransformationen (Schmeiser 2004), multiproblembelasteten Elternhäusern (Wiezorek 2005) oder misslingenden Transformationshoffnungen (auch: Busse 2010) an dieser Stelle ausfallen muss, so bietet doch gerade der Einblick in kontrastierende Bildungsräume vor dem Hintergrund der oben entfalteten Typologien theoretische Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich der Verortungsprozesse von Jugendlichen im Bildungssystem. Dabei beinhaltet die Untersuchung von Handeln unter Bedingungen gesteigerter Exklusivität, wie es hier in den Blick genommen wurde, zugleich, den Blick auf Handeln im selektiven Schulsystem insgesamt zu richten, denn gerade in den exklusiven Bildungsräumen werden die Bedingungen von Teilhabe und Exklusion besonders deutlich und profiliert artikuliert. Dies ließ sich unter anderem an den Milieubezügen der Schulen und ihrem Schülerideal herausarbeiten. Gerade hier wird deutlich, dass exklusive Schulen eine besondere Erwartungshaltung gegenüber jenen haben, die teilhaben wollen. Diese Erwartungshaltung geht weit über einen meritokratischen (Leistungs-) Bezug hinaus, selbst dort wo – wie im Martin-LutherGymnasium – Leistung das zentrale Bezugskriterium ist. Gerade hier zeigt sich, dass auch Eignung zum Selektionskriterium wird und diese Eignung bezieht vor allem jene Kinder ein, die bereits höchste Weihen in Bezug auf die Aneignung kulturellen Kapitals erfahren haben. Denn, wie sonst könnten Kinder musikalische oder sprachliche Aufnahmetests bestehen, wenn sie nicht bereits im Vorfeld Zugang zu außergewöhnlichen Bildungschancen hatten oder – wie etwa Antonia – auf Bildungsanwälte getroffen sind, die ihnen dazu verholfen haben, einen Platz am exklusiven Bildungsort zu erhalten? Und auch unter Bedingungen des Anspruchs auf die Öffnung der Schule, wie an der Anna-Seghers-Schule, konnte eine deutliche Orientierung an jenen festgestellt werden, die bereits umfassend Erfahrungen mit selbsttätigem Lernen gemacht haben und deren Familien dies auch in ihren Haltungen verkörpern. Unter Bedingungen der Exklusivität geht es, so kann zugespitzt formuliert werden, um eine Privilegierung der Privilegierten und damit eine Reproduktion von Privilegierung, die gerade der Exklusivität bedarf. Insofern erstaunt es nicht, dass gerade die beiden hier in den Blick genommenen Schulen besonders deutlich die Exklusivität von Schule insgesamt thematisch werden lassen, denn in der Erwartung und Herstellung von Passungsverhältnissen zu Milieus, Familien und Schülern, die sich selbst auch als exklusiv erfahren haben, steckt auch die Chance, dass sie durch ihre Exklusivität den imaginären Entwurf der Schule als exklusiv bestätigen und somit zur Reproduktion von Exklusivität beitragen. Zugleich zeigen die Passungsprobleme, dass das Thema der Exklusivität nicht mit dem Eintritt in die Schule erledigt ist. Vielmehr impliziert der Zugang zur Schule eine Bewährungsdynamik, 261
die Schülerinnen und Schüler auf den Erhalt ihrer Positionierung in der Zugehörigkeitsordnung „testet“. Dabei sind insbesondere jene Schülerinnen und Schüler von Ausschlussbedrohungen betroffen, die die grundlegenden Positionierungen und Haltungen in der Schule hinterfragen. Hier kommt es zu Ent-Fremdungsprozessen, die Zugehörigkeit prekär werden lassen und zu Anerkennungsbeziehungen, die deutlich darauf verweisen, dass die Schülerinnen und Schüler emotional missachtet werden. Das Spektrum der hier rekonstruierten Fälle verweist somit darauf, dass in Bezug auf die schulische Zugehörigkeit und die Positionierung innerhalb der Schule weniger die Exklusionserfahrungen diskutiert werden können. Dazu bedürfte es einer Ausweitung des Untersuchungsspektrums um Fälle, die tatsächlich Ausschluss erfahren haben. Die Ansiedlung der Schüler innerhalb der Zugehörigkeitsordnung erfolgt vielmehr im Spannungsfeld von Anerkennung und Fremdheit41. Dabei lässt sich Anerkennung einerseits im Verhältnis von Anerkennung und Missachtung ansiedeln (Honneth 1994), andererseits (unter machttheoretischen Gesichtspunkten) als Unterwerfung unter die geltenden Normen und Regelungen (Butler 2001, Balzer 2007). Fremdheit thematisiert in diesem Zusammenhang die die Gleichzeitigkeit von Zugehörigkeit und Differenz (Simmel 1992, Baumann 1991). Anerkennung und Missachtung werden dabei erstens über als legitim oder illegitim qualifizierte Sprechakte reguliert. Dies lässt sich mit Bourdieu (1990) besonders deutlich herausarbeiten. Anerkennung und Missachtung sind dabei immer auf das Normsystem des Schulischen (als funktionaler gesellschaftlichen Instanz) und auf das Normsystem der jeweiligen Schulkultur bezogen. In exklusiven Schulkulturen geht es in den schulischen Anerkennungsbeziehungen also immer auch darum, die Exklusivität der Schule zu bestätigen. Besonders bestätigende Schülerinnen und Schüler, die innerhalb der exklusiven Schule als exzellent gelten und im Bereich der moralischen und individuellen Anerkennung höchste schulische Weihen erfahren, bestätigen mit ihrem exzellenten Handeln immer wieder die Exklusivität der Schule. Ihre Zentralstellung in der schulischen Zugehörigkeitsordnung erlaubt es ihnen dabei, in der Anerkennung der Lehrpersonen auch dahingehend Grenzen zu setzen, dass überbordende Nähebekundungen und Entgrenzungen begrenzt werden. Zugleich ordnen sie sich der ‚Macht der Anerkennung’ unter, indem sie sich als ‚angerufene Subjekte’ der diskursiven Ordnung des Schulischen und der Schule unterordnen. Hier kann im Anschluss an Butler (2006) geschlossen werden, dass in der Anrufung als besonders Zugehöriger zur Schule, der auch den Unterricht aus der Krise retten kann, zugleich auch eine Unterwerfung unter die Macht der Schule liegt. Diese Unterwerfung bedeutet jedoch – so kann weiter mit Butler gefolgert werden – eine Positionierung innerhalb des Diskurses. Es impliziert damit die Möglichkeit weiterer Teilhabe. Die Disqualifizierung von Schülerhandeln durch Ordnungsrufe oder Rückführung auf schulische Anerkennungsformen bringt prekäre Positionierungen zur Sprache. Dabei fällt auf, dass Prekarisierungen auch Zuordnungen zur Peripherie schulischer Zugehörigkeits41
Selbstverständlich spielen – dies konnte in der Diskussion von Kapitel 5.1 und 5.2 gezeigt werden – auch weitere Spannungen (Nähe und Distanz, Einheit und Differenz) eine Rolle. Diese haben hinsichtlich des hier in den Blick genommenen Verhältnisses von Anerkennung und Fremdheit vor allem differenzierende Erklärungskraft. Zugleich erweist sich die systematisierende Auseinandersetzung mit einem Begriff wie Anerkennung bereits als komplexes Unterfangen. Die gleichermaßen notwendige und interessante Diskussion um die anderen beiden Antinomien (etwa unter deutlicherer Einbeziehung der Theorie von Simmel zu Nähe und Distanz oder den Begriff der Differenz, wie er in den Arbeiten von Derrida zugrunde gelegt wird) kann aus forschungspragmatischen Gründen hier nicht (mehr) erfolgen.
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prozesse beinhalten. Diese Verortungshandlungen werden insbesondere durch EntFremdung prozessiert. Mit der Ent-Fremdung ist dabei eine Handlung angesprochen, die auf potenzielle Nicht-Zugehörigkeit anspielt und mit der Ausschlussbedrohungen ‚bespielt’ werden. Schülerinnen und Schüler zu ent-fremden heißt, ihnen vor Augen zu führen, dass sie potenziell nicht dazugehören können, dass sie sich aber, sofern sie sich unterordnen, noch im Rahmen der Zugehörigkeitsordnung bewegen. So wird in Ordnungsrufen nicht nur die Illegitimität von Handlungen markiert, es geht auch um die Einübung von Haltungen, die zum Sprechen eingenommen werden. Ein Schüler, der etwa zu leise spricht oder seinen Sprechakt an einem illegitimen Ort platziert, wird zur Ordnung gerufen. Damit wird ihm nicht nur gezeigt, dass ‚man’ lauter spricht und die soziale Integrität sich unter den Bedingungen des lauter Sprechens („sachs auch so dass es andere verstehen können“) ausgestaltet, sondern auch, dass seine Sprecherhaltung hier fremd ist. Diese Ent-Fremdung verweist darauf, dass es in der Schule anerkannte und nicht anerkannte Sprecherhaltungen gibt. Hier lässt sich an Ausführung zur Mittelschicht-Bias der Schule anschließen, die etwa die Bevorzugung von Schülerinnen und Schülern mit elaboriertem gegenüber jenem mit restringiertem Sprachcode hervorhebt (Bernstein 1972) oder die insbesondere für Migrantenjugendliche konstatieren, dass deren sprachliche Kompetenz eine andere ist, als die, die in der Schule anerkannt ist, weil die Alltagssprache der Migrantenjugendlichen mit der schulisch anerkannten Sprache nur wenig gemein hat (Gogolin 2003). Die Ent-Fremdung durch Lehrerinnen und Lehrer und die Verortung der Schülerinnen und Schüler in der Peripherie der Zugehörigkeitsordnung, zeigt dabei den Versuch der Herstellung von Einheit in der exklusiven Ordnung, indem mit der Ent-Fremdung zugleich die Ausschlussrisiken thematisch werden. Unter dem Begriff der Fremdheit lassen sich somit jene Zugehörigkeitskonstellationen diskutieren, die noch nicht aus dem Einheitsentwurf der Schule ‚herausfallen’, die jedoch davon bedroht sind und die umgekehrt zugleich den Einheitsentwurf der Schule bedrohen. Der Ordnungsruf in ent-fremdeten Lehrer-Schüler-Beziehungen formuliert ebenso wie die Ausformulierung des Schülerideals in der Begrüßung neuer Schülerinnen und Schüler den Einheitsentwurf der Schule und die Bedingungen moralischer und individueller Anerkennung. Der spielerische Umgang mit der eigenen Fremdheit und Ausschlussbedrohung impliziert hingegen die Möglichkeit des Unterlaufens und der Reflexion schulischer Ordnungsentwürfe. Schülerinnen und Schüler, die ent-fremdet werden, verhelfen damit einerseits der Schule als funktional-gesellschaftlicher Institution und als je spezifischer Institution zur Profilierung ihrer Zugehörigkeitsordnung. Zugleich zeigt die Tatsache, dass es zu Ent-Fremdungshandlungen kommen muss, mit denen auf potenzielle Nicht-Zugehörigkeit verwiesen wird, dass in die Verortungs- und Anerkennungskämpfe Reflexionsmomente eingebaut sind, die Unterordnung subversiv unterlaufen. So kann gerade der spielerische Umgang mit der Möglichkeit der Nicht-Zugehörigkeit darauf verweisen, dass die Grenzen des Schulischen deutlich reflektiert werden. Die Position des Fremden steht dabei geradezu prototypisch für die Möglichkeit, Mechanismen der Unterordnung zu hinterfragen und an ihnen Kritik zu üben. Jedoch wird diese Position in der Fremdheit selbst begrenzt, denn es geht ja nicht um Ausschluss als einer Möglichkeit radikalisierter Außensicht auf der Grundlage von Nicht-Zugehörigkeit, sondern um Zugehörigkeit unter Bedingungen von Prekarisierung. Dies bedeutet, dass im Lehrer-Schüler-Verhältnis sowohl derjenige, der den anderen als potenziell nicht zugehörig markiert (Lehrer/in), als auch die Person, die als potenzi263
ell nicht zugehörig markiert wird (Schüler/in), sich wechselseitig in ihrer Zugehörigkeit anerkennen – oder, wie Bourdieu mit Bezug auf die Sprache formuliert: „Die symbolische Wirkung der Wörter kommt immer nur in dem Maße zustande, wie derjenige, der ihnen unterliegt, denjenigen, der sie ausübt, als den zur Ausübung Berechtigten anerkennt, beziehungsweise, was auf dasselbe hinausläuft, wie er sich selbst in der Unterwerfung als denjenigen vergisst und nicht wieder erkennt, der durch seine Anerkennung dazu beiträgt, dieser Wirkung eine Grundlage zu geben“ (Bourdieu 1990, S. 83).
Die Frage nach der Positionierung in exklusiv-schulischen Zugehörigkeitsordnungen erweist sich damit als Frage nach Anerkennungs- und Ent-Fremdungsprozessen, die Missachtungsrisiken in sich tragen. Auch dies liegt in den Missachtungsrisiken des Schulischen begründet: Schule gestaltet sich unter Bedingungen der allgemeinen Schulpflicht als Massenbildungsinstitution aus, der allgemeine Bewertungs- und Beurteilungskriterien zugrunde liegen. Insofern heißt anerkannt zu werden immer auch, sich an die geltenden Ordnungsbedingungen anzupassen – also das zu vollziehen, was hier unter dem Stichwort der „Unterwerfung“ diskutiert wurde. Dabei schließen sich Anerkennungsbeziehungen, die auf besondernde und persönliche Anerkennung zielen, indem sie beanspruchen der besonderen Bedürfnis- und Affektnatur gerecht zu werden, aus dem Schulischen aus. Die Anerkennung als Besonderer ist schulisch prototypisch vor allem für die Integration in die Wertegemeinschaft aufgrund der Fähigkeiten und Eigenschaften vorgesehen, nicht aber für die besonderen emotionalen Bedürfnisse (Honneth 1994, Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009). Insofern stoßen Positionierungsversuche von Schülerinnen und Schülern, die auf persönliche Besonderung abzielen und auf die Bedürfnisnatur als Kinder/Jugendliche gerichtet sind, selbst dort an die Grenzen, wo die Schule aufgrund reformpädagogischer Orientierungen intendiert, besondere Verantwortung für die emotionale Anerkennung zu übernehmen. Zwei Grenzen konnten hier hinsichtlich der emotionalen Anerkennung ausgemacht werden: (a) Die erste liegt in der Zurückweisung emotionalisierter Anerkennungswünsche der Schülerinnen und Schüler. Hier erfolgt das, was wir oben unter dem Stichwort der EntFremdung diskutiert haben: Schülerinnen und Schüler, die sich auf der Grundlage emotionalisierter Beziehungen in der Schule platzieren wollen, werden in dieser Variante zurückgewiesen. Ihr Positionierungsversuch/ihre Anfrage wird als illegitim markiert und damit wird auf eine Grenze schulischer Zugehörigkeit verwiesen. (b) Dort, wo jedoch diese Anfrage nicht zurückgewiesen wird, scheitert der sachliche Vermittlungsakt und erfolgt somit eine Begrenzung des Schulischen indem die Wissensvermittlung hinter der Beziehung zurücktritt. Bedeutet im ersten Fall die Ent-Fremdung eine Unterwerfung unter und Anpassung an das Schulische, so liegt im zweiten Fall eine Missachtung des Schulischen vor. Denkt man diese Missachtungsfigur schließlich weiter, liegt in ihr nicht nur eine Form verkennender Anerkennung (Bedorf 2010), sondern auch eine Verhinderung der Positionierung im Zentrum der exklusiv-schulischen Zugehörigkeitsordnung vor, da die besondere und besondernde Aufmerksamkeitsbedürftigkeit sich nicht mit schulischer Zugehörigkeit messen lässt. 2. Exklusive Zugehörigkeit und Familie Bei der Frage nach exklusiver Zugehörigkeit und Familie kann nun die Doppelwertigkeit familialer Zugehörigkeit (vgl. Kap. 5.2.2) als Frage nach der Zugehörigkeit zur Familie und als Frage nach der Zugehörigkeit der Familie wieder aufgenommen werden. 264
Die Zugehörigkeit zur Familie ist dabei in sich selbst noch einmal doppelwertig. Zum Einen ist sie hochgradig exklusiv, denn die Mitgliedschaft in einer Familie ist nur durch Heirats- und Verwandtschaftsbeziehungen herstellbar (vgl. Parsons 1981, Lévi-Strauss 1981). Zum Anderen wird die Zugehörigkeit jedoch gerade aufgrund der Strukturbedingungen der Familie nicht-exklusiv, weil die Beziehungen zur Familie prinzipiell unkündbar sind (vgl. Oevermann 2001b). Einmal zugehörig, kann die Beziehung nicht mehr hintergangen werden (Lévi Strauss 1985). Jede auch noch so tragfähige Ersatzkonstellation ist besonders legitimierungsbedürftig, nicht zuletzt deshalb, weil sich die Frage des „Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich?“ (Oevermann 1995) zentral auf die Frage nach der Herkunft bezieht, die in der Familie begründet ist. Familienbeziehungen sind unter diesen strukturalistischen Gesichtspunkten nicht deshalb universal, weil sie biologisch oder funktional bedingt sind und auch nicht, weil sie im Sinne eines Voluntarismus immer wieder frei gewählt werden (Jeske 2008), sondern weil sie gattungsgeschichtlich eine Bedingung der Entstehung von Reziprozität vereinnahmen, in der Individualität und Sozialität prototypisch balanciert werden (vgl. Honneth 1994). Eine breite Theoriediskussion nimmt vor dem Hintergrund dieser Annahmen an, dass in den Erfahrungen in familialen Beziehungen Beziehungsfähigkeiten zugrunde gelegt werden, die bis weit ins Erwachsenenalter hineingehen. Hier ist etwa die Objektbeziehungstheorie zu nennen. Winnicott (1989) geht davon aus, dass die symbiotische Beziehung der Mutter-Kind-Dyade in den ersten Lebensmonaten das Ideal ist, das alle Liebesbeziehungen im weiteren Lebensverlauf antreibt. Dabei ist das Gelingen der wechselseitigen Ablösung aus der Symbiose zugleich eine erste Grundlegung der Erkennung des Anderen und der Anerkennung von Selbst und Anderem (Honneth 1994, S. 169) und hierin liegt schließlich zugleich ein Gradmesser für die geglückten Bindungen zwischen Erwachsenen begründet (Benjamin 1993, S, 66). Schließlich sind familiale Beziehungen und Zugehörigkeitsordnungen zwar um die Anerkennungsform der Liebe zentriert (Honneth 1994), jedoch sind in die Liebesbeziehungen auch die anderen beiden Anerkennungsformen – moralische und individuelle Anerkennung – eingelagert. Damit sind wir bei der Frage der Zugehörigkeit der Familie. Denn, indem Familie als Instanz der „gegenseitigen Zuneigung und Achtung“ (Sorel 1904; nach Honneth 1994, S. 245) bestimmt wird, kann sie als Basis des moralischen Bewusstseins interpretiert werden, durch die „jedes Individuum ein moralisches Sensorium erhält, das die späteren Vorstellungen von Moral grundlegend prägt“ (ebd.). Individuelle Anerkennung erfährt das Kind in der Familie schließlich über die Erfahrung der Einzigartigkeit vor dem Hintergrund familialer kollektiver Orientierungsrahmen und Habitusformationen. Hiermit ist nun einerseits ein Entwicklungsprozess angesprochen, in dem sich das Kind aufgrund der emotionalen Zugehörigkeit zur Familie und der emotionalen Anerkennung in ihr einerseits individuiert, andererseits eine je spezifische Vorbereitung auf gesellschaftliche Beziehungen erfährt. Man kann hier sagen: mit den in die emotionalen Anerkennungsbeziehungen eingelagerten gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnissen (moralisch und individuell), die sich sukzessive im Sozialisationsprozess herausbilden und festschreiben, geht es dann auch um die Zugehörigkeit der Familie. Denn das, was ein Kind als achtenswert oder ehrenwert empfindet, ist durch die habituellen Orientierungen und Verortungen der Familie insgesamt geprägt. Die Logik der Doppelwertigkeit familialer Zugehörigkeit zur Familie und der Familie fortsetzend, kann mit der vorliegenden Arbeit auch auf zwei Erkenntnisse hingewiesen werden. Erstens: Das Wissen um die Balancierung von Bindung und Entfrem265
dung, wie Honneth es vor allem für die Individuationskrise der Unterscheidung von Ich und Anderem ausformuliert, kann mit Bezug auf den Prozess des Aufwachsens erweitert und raumtheoretisch fokussiert werden. Honneths Ausführungen zu emotionaler Anerkennung enden damit, dass er die oben genannte Unterscheidung, die etwa im Alter von sechs Monaten möglich wird, und den Individuationsschub, der sich in einer gelingenden Anerkennungsbeziehung auszuformt, als Basis aller Anerkennungsbeziehungen sieht. Honneth nimmt weirerhin an, dass davon auszugehen ist, dass „alle Liebesbeziehungen von der unbewußten Rückerinnerung an jenes ursprüngliche Verschmelzungserlebnis angetrieben werden, das die ersten Lebensmonate von Mutter und Kind geprägt hatte“, denn nur die Erfahrung der Verschmelzung ist die Bedingung für die entgegengesetzte Erfahrung: „des sich stets wieder in seinen Grenzen konturierenden Anderen“ (ebd., S. 169f.). Weitere Individuationskrisen, wie die Geburt, die ödipale Phase und die Adoleszenzkrise werden im „Kampf um Anerkennung“ nicht thematisiert. Dies kritisiert Borst (2003, S. 124) für die ödipale Phase und die Herausbildung der Geschlechterdifferenz. Sie führt aus, dass Honneth (2000) der ödipalen Phase später eine größere Bedeutung beimisst, wenn er darauf hinweist, dass das Kind gerade hier normative Regeln internalisiert. Achtung entstehe, so Honneth (2000, S. 230) aus der Angst um den Verlust emotionaler Anerkennung und durch die Erfahrung von Zuwendung Fürsorge für den konkreten Anderen. Dieser Hinweis auf die Bedeutung emotionaler Anerkennung für die Herausbildung moralischer Anerkennungsbeziehungen verweist darauf, dass mit den weiteren Individuationskrisen – hier der ödipalen Phase, als zentraler Phase der Ausbildung von Achtung und Respekt – auch die Anerkennungsbeziehungen ausdifferenziert werden. Hier lässt sich auf die Theorien von Habermas (1976) und Kohlberg (1976) verweisen, die im Zuge der Herausbildung eines Moralbewusstseins die Überwindung egozentrischer Bedürfnisse und die Möglichkeit zur Inpflichtnahme des Kindes verorten. Dabei impliziert die Idee, „daß zwischen ihren Mitgliedern [der Familie, M.H.] eine Gleichheit herrschen mußte“ (Honneth 2000, S. 194) auch eine Vorstellung moralischer Anerkennung innerhalb der Familie. Jedoch bedürfen die Subjekte, um zu einem ungebrochenen Selbstverhältnis kommen zu können „über die Erfahrung von affektiver Zuwendung und rechtlicher Anerkennung hinaus stets auch noch einer sozialen Wertschätzung, die es ihnen erlaubt, sich auf ihre konkreten Eigenschaften und Fähigkeiten positiv zu beziehen“ (ebd., S. 196). Insofern kann schließlich die Adoleszenzkrise mit der Anerkennungsform der sozialen Wertschätzung verknüpft werden. Familial entstehen auch hier aus der emotionalen Bindung zwischen Eltern und Kindern Ablösungsprozesse, die das Kind in ein neues Verhältnis zur Familie setzen. Und auch die Anforderung, die hinsichtlich der Frage von Bildung an Jugendphase gestellt werden, können hierauf bezogen werden, wenn unter der Frage nach Bildung auch die Individuationsschübe benannt werden, die auf eine Neuorientierung der Selbst-, Sach- und Weltbezüge verweisen (vgl. King/Koller 2006, Mecheril/Hoffarth 2006) und hiermit typische Ablösungsschritte verbunden werden – auch wenn diese von Jugendlichen zu unterschiedlichen Zeitpunkten vollzogen werden (Fuchs-Heinritz/Krüger 1991, Fend/Berger/Grob 2008). Vera King (2004) beschreibt hier mit Identifikation mit oder Angrenzung von den Identitäts- und Lebensthemen der Eltern zwei typische Haltungen, die Jugendliche einnehmen. Sie spricht in diesem Zusammenhang von einem „Entwicklungsspielraum“ (ebd., S. 108), der von den Eltern vor dem Hintergrund dieser Themen zugestanden wird. Eine be266
sondere Bedeutung nimmt in diesem Zusammenhang die Verweigerung von Generativität durch die Eltern ein: hier markiert sie eine erschwerte oder verunmöglichte Individuation (ebd., S. 125). Dies bestätigt sich auch in dem theoretischen Beitrag von Ulrich Oevermann (2001) zu pädagogischen Generationsbeziehungen. „Die Eltern der ödipalen Triade [die Großeltern, M.H.] müssen also, um vollgültige ödipale Eltern sein zu können, selbst die ödipale Krise erfolgreich bewältigt und sich daraufhin in der Adoleszenzkrise aus dem Elternhaus erfolgreich abgelöst haben“ (ebd., S. 101).
Diese theoretischen Befunde sind nun auch anschlussfähig an den Band „Jugend zwischen Familie und Schule“ (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009). Hier wurde herausgearbeitet, dass sich jugendliche Individuationsverläufe besonders dann gelingend ausgestalten, wenn sie aus sicheren familialen Bindungen heraus entstehen. In Fällen des Fehlens einer Generationsdifferenz kommt es zu einer Individuationsblockierung, in Fällen der Umkehrung von Generationsdifferenz, wie auch in der vorleigenden Studie gezeigt, zu einer Individuationsverhinderung. In Bezug auf die zentrale Frage nach den räumlichen Verortungsprozessen Jugendlicher in familialen Zugehörigkeitsordnungen kann schließlich eine ambivalente Grundstruktur herausgearbeitet werden: Die unhinterfragte Zugehörigkeit zur Familie und die unbedingte Annahme als Kind stellt die Grundbedingung dafür dar, dass das Kind als Jugendliche/r eigene Lebensperspektiven entwickelt und an seiner Ablösung arbeitet. Prozesse der Ent-Fremdung sind für gelingende Individuationsprozesse konstitutiv, weil sie eine Ermöglichungsstruktur für die balancierte Ausgestaltung von Individuation und Einbindung beinhalten. Jugendliche, die sich damit in der Familie verortet wissen, können sich auch zur Familie verorten und eigene Haltungen zu sich Selbst und ihren Lebensperspektiven entwickeln (vgl. Fälle Marcus und Anna). Im Unterschied zur Gefährdung schulischer Zugehörigkeit durch Ent-Fremdung kann also Ent-Fremdung unter Bedingungen der Einbindung einen Möglichkeitsraum bedingen, der die Neuorientierung in Bezug auf die Welt-, Selbst- und Sachbezüge erst ermöglicht. Die Jugendlichen, die diesen Möglichkeitsraum besonders ausschöpfen können, haben die Chance, sich von ihrer Familie zu distanzieren, ohne dass ihre Bindungen gefährdet werden. Obwohl die Zugehörigkeit nur in hochgradig pathologischen und missachtenden Familienbeziehungen hinterfragbar wird – etwa in Fällen der zentrifugalen Ablösung, in der das Kind aus der Familie ausgestoßen wird (Stierlin 1980) – finden wir auch in exklusiven schulischen Bildungsräumen brüchige und spannungsreiche Familienkonstellationen, zu denen die Verortung der Jugendlichen problematisch ist. Hier sind die Fälle zu nennen, in denen Jugendliche sich in Umkehrungsverhältnissen befinden und in denen die Vergemeinschaftung mit den Eltern sie nicht in die Autonomie entlassen kann, ohne dass die prekäre Stabilität der Familie gefährdet ist (Fälle Erik und Antonia). Obwohl die Jugendlichen sich in ihrer biografischen Erzählung ‚abgeklärt‘ und reflexiv zu den Bindungszwängen der Familie verorten, befinden sie sich in der familialen Interaktion doch in einer Endlosschleife der Verantwortungszuweisung. Dies wird beständig dadurch reproduziert, dass die Eltern die Transformationsaufforderungen ihrer Kinder ungehört verhallen lassen. Hier steht die latente Drohung von Zerfall dem bindungssicheren Herauslösen der Kinder aus der Familie entgegen. Die Neuorientierung kann nicht stattfinden, ohne dass gefürchtet werden muss, dass mit der Neuorientierung die Krisenhaftigkeit der Familie manifest wird. Eine weiteres Missverhältnis der Balancierung von Bindung und Ablösung kommt in die familialen Beziehungen, wenn die Zugehörigkeitsordnung der Familie, dem oder der Jugendlichen den 267
Status als Kind verweigert (Fall Lena). Hier tritt für Jugendliche eine Unsicherheit hinsichtlich der Positionierung auf, die es erschwert, sich selbst zu behaupten. Dies wird dann verstärkt, wenn latente Konkurrenzbeziehungen hinzutreten, in der – in unserem Beispiel etwa – Mutter und Tochter als Gleiche nebeneinanderstehen und in die gleichen lebensweltlichen und jugendkulturellen Bezüge involviert sind42. Insgesamt werden die Beziehungen hier so allgemein, dass die Besonderung des Kindes/Jugendlichen in der Familie verkannt werden. Bereits Simmel führt aus: „Endlich gewinnt die Proportion von Nähe und Entferntheit, die dem Fremden den Charakter der Objektivität gibt, noch einen praktischen Ausdruck in dem Abstrakteren Wesen des Verhältnisses zu ihm, d. h. darin, daß man mit dem Fremden nur gewisse allgemeinerer Qualitäten gemein hat, während sich das Verhältnis zu den organisch Verbundenen auf der Gleichheit von spezifischen Differenzen gegen das bloß Allgemeine aufbaut“ (Simmel 1992, S. 768).
Für Jugendliche, deren familiale Beziehungen derart organisiert sind, trägt Fremdheit nicht freisetzende Züge einer Ent-Fremdung, die eine Distanzierung und Neuordnung im oben beschriebenen Sinne ermöglicht, sondern sie wird in einer riskanten, nämlich tendenziell missachtenden Weise, wirksam. Familiale Beziehungen werden damit formalisiert und rollenförmig und können in ihrer entdifferenzierten Strukturiertheit nicht mehr emotional anerkennend ausgestaltet werden. Zweitens: Die Zugehörigkeit der Familie ist ebenfalls Gegenstand der jugendlichen Verortungsprozesse. Denn in der Jugendphase findet auch eine Neuverortung zu den familialen Haltungen und Orientierungsrahmen statt. Dabei spielen die moralische und die individuelle Anerkennung, die die Familie in ihrer Platzierung erfährt, eine bedeutsame Rolle. Honneth geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass mit der Moderne die kollektivistische und deterministische Reproduktion von Zugehörigkeit aufgrund der familialen Herkunft abnimmt (Honneth 1994, S. 203). Dennoch sind unterschiedliche Zugehörigkeitskontexte mit mehr, andere mit weniger sozialer Wertschätzung behaftet. „Mit der Individualisierung der Leistung geht zwangsläufig auch einher, daß die gesellschaftlichen Wertvorstellungen sich für unterschiedliche Weisen der persönlichen Selbstverwirklichung öffnen; fortan ist es ein, nunmehr allerdings klassen- und geschlechtsspezifisch bestimmter Wertpluralismus, der den kulturellen Orientierungsrahmen bildet, in dem sich das Maß der Leistung des einzelnen und damit sein sozialer Wert bestimmt“ (S. 203).
Der Kampf um den sozialen Wert individueller Fähigkeiten wird bei Honneth (ebd., S. 205) als symbolische Gewalt beschrieben. Damit nimmt er ein zentrales Motiv Bourdieus auf, das dieser jedoch weniger als Möglichkeit individueller Anerkennung versteht, als vielmehr als Möglichkeit positionaler Anerkennung – als Anerkennung der Position in einem gesellschaftlichen Raum, die mit Milieubezügen verknüpft ist (Bourdieu 1991b). Bourdieu wendet sich dabei dezidiert dagegen, dass die einzelnen Akteure die symbolische Gewalt steuern können. Bei ihm ist der Habitus das zentrale Steuerungselement der Positionierung in wertgeschätzten und weniger wertgeschätzten Positionen der Gesellschaft. Dagegen kritisiert Honneth:
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Einen ähnlichen Befund liefert Eckold (2007) in ihrer Diplomarbeit zu „Familie, Schule und Suchtbelastung im exklusiv elitären Schulraum“ Die Fallstruktur, die dort aufgezeigt wird, zeugt von einer verweigerten Generationsdifferenz zwischen Mutter und Sohn.
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„Die ökonomischen Zentralbegriffe, die er seiner Kulturanalyse zugrunde legt, zwingen ihn [Bourdieu, M.H.], alle Formen sozialer Auseinandersetzungen nach dem Typus von Verteilungskämpfen zu begreifen, obwohl doch der Kampf um die soziale Geltung von Moralmodellen ganz offensichtlich einer anderen Logik gehorcht. Denn welche Geltung eine bestehende Gesellschaftsordnung den Werten und Normen gewährt, die sich in den Lebensstilen einer sozialen Gruppe verkörpert haben, ist nicht abhängig davon, welches Volumen an Wissen oder Reichtum, welche quantitativ meßbaren Güter also eine bestimmte Gruppe hat akkumulieren können, sondern bestimmt sich nach Maßgabe der Traditionen und Wertvorstellungen, die in der entsprechenden Gesellschaft sozial verallgemeinert und institutionalisiert werden konnten; die soziale Geltung eines Lebensstils und der in ihm zur symbolischen Darstellung gebrachten Werte richtet sich mithin nach dem Grade, bis zu dem jeweiligen Handlungsnormen und Wertvorstellungen Anerkennung gefunden haben“ (Honneth 1999, S. 200).
Die Kritik, die auch davon ausgeht, dass Bourdieu einem utilitaristischen Modell aufsitzt (ebd., S. 181), wird auch von Wacquant in einem Interview an Bourdieu gerichtet (Bourdieu 1991b). Hierin weist Bourdieu den Utilitarismusvorwurf zurück. [Wacquant]: „Darum, wenn sie von ‚Reproduktionsstrategie sprechen, dann impliziert das kein utilitaristisches Kalkül, das aus einem Grenz-Nutzen-Modell der Handlung oder der Rational-Choice-Theorie herrührt?“ [Bourdieu]: Nein. Von Reproduktionsstrategie sprechen bedeutet nicht, dem rationalen Kalkül die Verhaltensweisen zuzurechnen, mittels derer sich die Tendenz der Herrschenden realisiert, in ihrem Sein zu beharren. Es bedeutet lediglich, daran zu erinnern, daß zahlreiche, dem Erscheinungsbild nach sehr verschiedene Praktiken (was Forpflanzung, Prophylaxe, Erziehung, Sparverhalten, Nachfolge usf. betrifft), diesem Zweck entsprechend organisiert sind, ohne auch nur im entferntesten mit ausdrücklichem Bezug auf ihn konzipiert worden zu sein. Und das ist deshalb so, weil ihr Kohärenzprinzip der Habitus ist (Bourdieu 1979, 1990a), der die Tendenz aufweist, die Bedingungen seiner eigenen Produktion zu reproduzieren, indem er, in jedem dieser Bereiche, die objektiv kohärenten und systematischen Handlungsbezüge erzeugt, die einen Reproduktionsmodus charakterisieren“ (ebd., S. 85, Hervorhebungen im Text).
Bei aller Divergenz, die hier durchscheint: Festzuhalten bleibt, dass Wertschätzung und das Versprechen von Wertschätzung die Positionierung des Jugendlichen in der Familie beeinflussen. Familien, die hoffen, ihre Kinder reproduzieren die Zugehörigkeit, welche sie selbst schon erfahren haben, handeln in diesem Zusammenhang sehr stark auf die exklusive Zugehörigkeit hin orientiert. In der Erziehung und Sozialisation ihrer Kinder geht es zentral um die Reproduktion der familialen Zugehörigkeit. Dazu werden Ermöglichungsstrukturen geschaffen, die im Kern auf Ermöglichung von Bildungschancen orientieren. Nicht nur die Wahl der Schule, auch die gemeinsamen Hobbys und Hobbys der Kinder sind auf eine Steigerung der Bildungschancen hin orientiert43. Familiale Nähebeziehungen gestalten sich dabei auch über gemeinsame Interessen oder Bildungsorientierungen. Die oben bereits angesprochene Integriertheit moralischer und individueller Anerkennung ist in diesen Familien auf die Erfahrung von gesellschaftlich geachteten und wertgeschätzten Tätigkeiten gerichtet. Dabei trägt die Beteiligung der Jugendlichen am Kampf um Zugehörigkeit und ihre „Wirksamkeit“ in diesem Kampf zu der Positionierung der Kinder bei. Sie kann jedoch (vgl. Fall Marcus) auch einschränkend sein oder eigenständige Positionierungen tendenziell verhindern, wenn die Reproduktionsorientierung in der Familie keine eigenständige Verortung zu den Welt-, Sach- und Selbstbezügen zulässt oder diese verhindert. Insbesondere in aufstiegsorientierten Familien lässt sich schließlich auch eine tendenziell instrumentelle Verwendung der Kinder feststellen, weil die Familie die Beziehungen vor allem über die 43
Hier kann nicht nur mit Verweisen auf die schichtspezifische Forschung angeschlossen werden (z.B. Rohlfs/Harring/Palentin 2008), auch Studien, die das Freizeitverhalten Jugendlicher in den Blick nehmen, zeigen auf, dass über die Wahl von Freizeitaktivitäten und peer-Beziehungen die Bildungsmilieus voneinander abgegrenzt werden (vgl. Büchner/Brake 2006, Krüger/Köhler/Pfaff/Zschach 2008).
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Ermöglichung des Beitrages der Kinder zum familialen Aufstiegsprojekt sehen (vgl. Fall Antonia; auch: Hummrich 2009). Hier liegt mithin eine Verwendung der Aufstiegshoffnungen und -aspirationen durch die Eltern vor, die Individuation blockieren und die eigenen Platzierungswünsche des Kindes vernachlässigen lassen. So kann geschlossen werden, dass das Thema „Zugehörigkeit der Familie“ in der Jugendphase insbesondere dort die Selbstverortung einschränkt, wo mit dem Erfolg der Kinder außerhalb der Familie besonders große Transformations- und besonders große Repruduktionshoffnungen vorhanden sind. In Familien hingegen, die sehr an der Realisierung der Individualisierungschancen orientiert sind (Fall Anna), spielt die Milieuzugehörigkeit und deren Reproduktion eine untergeordnete Rolle. Zwar bezeichnet das eng an Prinzipien der Selbstverwirklichung orientierte Handeln, selbst eine Verortung (im kritisch alternativen oder im hedonistischen Milieu) mit distinktiven Haltungen, in denen bereits früh für Kinder/Jugendliche Bildungsoptionen gewählt werden, die genau diese Selbstverwirklichungsstrategien reproduzieren. Doch lassen sich besonders dort, wo eigene Haltungen der Eltern als zentrale Bezüge gesetzt werden oder die Distanzierung von den Milieuhaltungen als Orientierung gesetzt wird, Einschränkungen in den Selbstverortungs- und Platzierungshandlungen erkennen. Die Platzierungsstrategien der Jugendlichen werden schließlich dort unsicher, wo die Selbstverständlichkeit elterlicher Milieubezüge dahingehend gefährdet ist, dass sich eine „Abwärtstransformation“ andeutet (Fall Erik) und wo die Eltern die Zugehörigkeit des Kindes nicht eindeutig behaupten (Fall Lena). In beiden Fällen ist die Zugehörigkeit zur Familie problematisch und enthebt die Bindung an die Zugehörigkeit der Familie ihrer Selbstverständlichkeit. 3. Typologie der Platzierungsleistungen Jugendlicher Ein zentrales Ziel dieser Arbeit war die Betrachtung der Platzierungs- und Aneignungsleistung von Jugendlichen in Bezug auf räumliches Handeln zwischen Familie und Schule. Die Frage, die dabei noch nicht umfassend behandelt wurde, ist die nach den Möglichkeits- und Handlungsräumen Jugendlicher vor dem Hintergrund von Familie und Schule. In Kapitel 3.5 wurde die Differenzierung zwischen Möglichkeits- und Handlungsräumen wie folgt bestimmt: Möglichkeitsräume stellen Zugehörigkeitsordnungen dar, die innerhalb der jeweiligen Einbettungszusammenhänge (z.B. interaktiver und institutioneller) entstehen und die auf die Optionen der Handlungsgestaltung schließen lassen. Handlungsräume sind konkrete, interaktiv ausgestaltete Zugehörigkeitsordnungen mit Beziehungen zu institutionellen und milieuspezifischen Rahmungen und individuellen Platzierungsvorstellungen. Jugend als Lebensphase stellt dabei zunächst einen Möglichkeitsraum dar, in dem die Neuorientierung in Bezug auf die Welt-, Sach- und Selbstbezüge angesiedelt werden kann. Für diese Neuorientierung ist Grenzüberschreitung konstitutiv (Mecheril/Hoffarth 2006, Oevermann 2008), es geht – um mit jugendtheoretischen Ansätzen zu sprechen (Krüger 1993, Krüger/Grunert 2003, Schäfers/Scherr 2008) – um die Erprobung von eigenständigem Handeln, das auch widerständiges, gegenkulturelles und oppositionelles Handeln inkludieren kann (vgl. Pfaff 2006). Die Jugendphase jedoch idealisierend nur als Moratorium (Erikson) zu beschreiben, greift zu kurz. Denn in dieser Phase ist in Interaktionszusammenhänge eingebettet und das Handeln und (Selbst-) Erleben ist in institutionelle und milieu270
spezifische Entwürfe von Jugend und jugendlichem Handeln eingelassen. Die Neuorientierung, von der in Bezug auf Jugend somit immer wieder die Rede ist (King 2004, King/Koller 2006, 2009) geschieht somit nicht voraussetzungsfrei, sondern vor dem Hintergrund biografisch erfahrener Chancen- und Ermöglichungsstrukturen. Sie ist dabei jedoch nicht deterministisch, im Sinne einfacher Ableitung in Bezug auf die Möglichkeitsräume, zu verstehen, denn in die Möglichkeitsräume und ihre handelnde Bearbeitung sind kreative Handlungsspielräume eingelassen, durch die die Möglichkeitsräume Transformation erfahren können. Diese kreativen Handlungsspielräume sollen im Folgenden resümierend in den Blick genommen werden. Während also zuvor mit der Thematisierung der Zugehörigkeit die Chancen- und Ermöglichungsstrukturen im Blick waren, geht es jetzt mehr um die eigenaktive Leistung mit der Jugendliche ihre Handlungsspielräume gestalten und Möglichkeitsräume herstellen oder transformieren. Eine Typologie der Platzierungsleistungen muss dabei die Anerkennungsversprechen, Anerkennungsleistungen und das Verhältnis von Selbstplatzierungsleistungen in den Blick nehmen44. Hiermit ist wiederum eine dezentrierte Perspektive anschlussfähig, welche die selbstimaginären Entwürfe zu den symbolischen (Selbst-) Auseinandersetzungen und den erfahrenen Widersprüchen ineinander denkt. Wieder können dabei drei unterschiedliche Typen abstrahiert werden: Typus 1 kann als „Sichere Selbtsplatzierung zu Familie und Schule“ bezeichnet werden. Vor dem Hintergrund sicherer emotionaler Anerkennungsbeziehungen, in denen ein deutlicher Bezug auf Leistung herrscht und Bildungsmöglichkeiten auch an außerschulische Erfahrungen geknüpft werden, können sich Jugendliche dieses Typus‘ als exzellent in der Schule platzieren. Dabei gelingt es ihnen gerade vor dem Hintergrund der gesicherten emotionalen Anerkennungsbeziehungen, überbordende Beziehungsansprüche der Familie und entgrenzende Ansprüche im Lehrerhandeln selbstsicher zurückzuweisen. Der Fall Marcus steht hierfür prototypisch, der Fall Anna kontrastiert minimal damit. Im Fall Marcus haben wir ein biografisches Selbsterleben als „Glücksfall“ der Familie rekonstruiert, in dem die umfassende Fürsorge bereits früh mit exklusiven Bildungserlebnissen gekoppelt war und familiale Vergemeinschaftung zentral über gemeinsame Bildungsbezüge (die Diskussion von Büchern, gemeinsame Bildungsreisen) stattfinden. Die minimalen Spannungen, die sich hier vor allem als Kampf um die richtige Habitusorientierung bezeichnen lassen, versetzen Marcus zwar einerseits in eine Individuationsparadoxie. Andererseits ist er dieser Paradoxie nicht ausgeliefert, sondern gerade das Erleben von Nicht-Identität stellt hier eine Ermöglichungsstruktur dar, in der sich Marcus distanzierend und reflexiv zur Familie verorten kann. Hier nimmt die Schule einen zentralen Stellenwert ein. Da Marcus sich als exzellenter Schüler erfährt, kann er auch im Zentrum der leistungsbezogenen Anerkennungsbeziehungen platziert werden. Zugleich ermöglicht ihm die Nicht-Angewiesenheit auf emotionale Anerkennung durch die Schule eine Distanzierung von Lehrerversuchen, Identität entgrenzend herzustellen. Auch hier erweist er sich als aktiv und reflexiv, indem er die an ihn herangetragenen Vergemeinschaftungsvorschläge diplomatisch balancierend zurückweist. Prinzipiell stimmt der Fall Anna mit dem Strukturmerkmal der sicheren Selbst44
Wenn hier die Rede von Anerkennungsleistung oder Platzierungsleistung ist, so geht es weniger um messbare oder quantifizierbare „Leistungen“, als vielmehr um einen Gegensatz von Versprechen und Vorstellungen auf der Ebene des Imaginären mit den Leistungen, also der symbolischen Vermitteltheit der Versprechen und Vorstellungen und ihrer (realen) widersprüchlichen Einbettung.
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platzierung überein. Auch in ihrem Fall gibt es gesicherte emotionale Anerkennungsbezüge in der Familie, von denen sie sich reflektierend distanziert, indem sie die Nicht-Identität mit den elterlichen Vorstellungen gegen ihre eigenen Wünsche ausspielt. Und auch in der Schule kann sich Anna von den entgrenzenden Lehrerhaltungen distanzieren, ohne ihre anerkannte Positionierung als exzellente Schülerin aufzugeben. Die minimalen Unterschiede, die zwischen beiden Fällen liegen, sind darin begründet, dass in Annas Familie sehr organisatorisch-funktional gehandelt wird und sich wichtige Individuierungsschritte aus den daraus entstehenden Notwendigkeiten ergeben (etwa, dass Anna schon im zweiten Schuljahr einen langen Schulweg alleine zurücklegen konnte, weil ihre Mutter sie nicht mehr begleiten konnte, weil Annas kleine Schwester erkrankt war). Anderseits liegt hierin wieder – und das macht die strukturelle Ähnlichkeit der beiden Fälle aus – eine Möglichkeit an der erfahrenen Nicht-Identität, die eigenen Orientierungen zu situieren und eine reflexiv balancierte Position zur Familie einzunehmen, die wiederum die Distanzierung von entgrenzenden Vergemeinschaftungen mit der Lehrerin ermöglichen. Familie und Schule, so wie die über sie ermöglichten Platzierungen stellen bei diesem Typus somit einen Möglichkeitsraum dar, in dem das Handeln eigenständig platziert werden kann. Sie werden somit zu Handlungsräumen, die die Erfahrung von Individuierung unterstützen. Dieser Typus kontrastiert maximal mit Typus 2: „Distanzierende Platzierung zu Familie und Schule“. Hierfür stehen wieder die bereits mehrfach zu Marcus und Anna maximal kontrastierenden Fälle Erik und Antonia. Die in beiden Feldern erfahrene Missachtungserfahrung führt zu einer kritisch-distanzierten Selbstplatzierung. Diese ruht zwar auf einer grundsätzlichen Affinität zum Bezugsmilieu (Erik kommt ja aus dem künstlerischalternativen Milieu, Antonia aus dem aus dem aufstiegsorientierten Pioniermilieu und teilt unter dem Einfluss ihrer Großmutter die Bezuge zur christlichen Traditionalität der Schule). Aber diese grundsätzlichen Affinitäten werden von den familialen Problemkonstellationen und der Umkehrung der Generationsbeziehungen überlagert. Hier muss von einem Anerkennungsdefizit im emotionalen Bereich gesprochen werden, das durch die instrumentelle Verwendung des/der Jugendlichen zustande kommt. Damit wird hinsichtlich der Selbstplatzierung auch deutlich, dass die Jugendlichen sich kritisch von den Eltern distanzieren – jedoch weniger, um eine eigenständige Position im Sinne einer Neuorientierung zu finden, sondern mehr als unterliegender Rückzug aus missachtenden Beziehungen. Während sich nun in den Interaktionen die Reproduktionslogik der krisenhaften Missachtungsverhältnisse gezeigt hat, offenbart sich in der dazu entgegengesetzten Verortung der Jugendlichen in einer distanzierten Positionierung zu den Eltern die Chance den Individuationsrisiken aktiv zu begegnen. Diese Chance wird durch die Bezugnahme auf jugendkulturelle Verortungsmöglichkeiten erhöht. Hier ist besonders der Fall Erik mit seiner Orientierung aam Cyberpunk exponiert, aber auch Antonia artikuliert mit ihrem alternativen Kleidungsstil und ihrer subversiven Opposition eine kritische Haltung gegenüber den sie ansonsten einschränkenden Handlungsfeldern Familie und Schule. In diesen alternativen Orientierungen ruht das Potenzial zur Erweiterung der Möglichkeitsräume jenseits von Familie und Schule. Dabei liegt in Eriks Bezugnahme auf die dystopische Welt des Cyberpunk, die er der Erziehungsutopie der Schule kontradiktorisch entgegenstellt, eine Opposition, die die Distanz verstärkt. Antonias Rückzug auf eine Nischenexistenz gestaltet sich demgegenüber moderater aus, denn sie nimmt nur situativ auf diese Orientierung Bezug und gefährdet die schulische (moralische) Anerkennung kaum. Erik hingegen wird aufgrund dessen, dass er seine 272
Bezüge zum Cyberpunk in gemäßigt expressiver Weise einbringt (er kleidet sich nicht anders, malt jedoch im Unterricht Cyberpunk-Szenarien und thematisiert diese Bezüge auch in Referaten) wird deutlicher ent-fremdet, kann allerdings auch expressiver auf Cyberpunk als Möglichkeitsraum der Anerkennung und Bestätigung Bezug nehmen. Typus 3 kann „Platzierungsunsicherheit in Familie und Schule“ genannt werden und betrifft den letzten hier diskutierten Fall Lena. Dabei begründet die emotionale Missachtungserfahrung in der Familie auf eine Ortslosigkeit, die deshalb entsteht, weil die Position als Kind im doppelten Sinne nicht anerkannt wird: zum Einen wird die familienkonstituierende Bedeutung als Kind negiert, zum Anderen schreibt sich in die Imagination der Gleichheit eine verkennende Illusionierung ein. Setzt man die Egalitätsentwürfe und Negation von Differenz als Öffnung der Beziehungen jenseits der Generationendifferenz, so wird deutlich dass diese Entdifferenzierung, die den Möglichkeitsraum der Platzierung maximiert, eine Einschränkung des Handlungsraumes nach sich zieht, denn hier kann keine sichere Verortung als Kind stattfinden und jugendliche Ablösungs- und Neuverortungsprozesse treffen nun auf minimale Resonanzen. In der Schule wird vor diesem Hintergrund auch unentschieden agiert. Die Nicht-Beteiligung am Unterrichtsgeschehen und die Blockade der Beteiligung verweisen auf eine Einschränkung des schulischen Handlungsraumes. Nur in exklusiv dyadischen Beziehungen erfolgt eine sichere Platzierung, die jedoch hier als emotionale Anerkennungsbeziehung ausgestaltet wird. Man kann schließen, dass der schulische Möglichkeitsraum keine Kompensation der erfahrenen Verunsicherung bereithält – insofern weist dieser Typus Ähnlichkeiten zum zweiten Typus auf, auch wenn sich aus den erfahrenen Beziehungen keine Distanzierungen ergeben, weil eine instrumentelle Verwendung erfolgt (im Sinne eines Rückzugs). Und auch in Bezug auf die schulische Platzierung entstehen minimale Kontraste zwischen dem zweiten und dem dritten Typus, auch wenn der dritte Typus emotional Anerkennung erfährt. Doch liegt gerade hierin auch eine Einschränkung des Möglichkeitsraumes für die Jugendlichen, da sie als Schülerin/Schüler missachtet werden und somit die Bewertung ihrer Kompetenzen problematisch wird. Vor diesem Hintergrund können nun die Platzierungsstrategien der Jugendlichen im Verhältnis zu Familie und Schule zwischen Anerkennung und Fremdheit aufgespannt und relationiert werden (Abb. 16). Die Relationierung der Typen zeigt, dass eine positive Verortung in der Schule um so sicherer ist, je sicherer auch die Anerkennungsbeziehungen der Familie erlebt werden und je deutlicher die Familie anerkannt wird, auch wenn sich von bestimmten Haltungen distanziert wird. So kann Typus 1 gerade vor dem Hintergrund sicherer Anerkennungsbeziehungen und über die schulischen Anerkennungsmöglichkeiten seine Individuation realisieren und sich gleichzeitig affin auf das schulische Bezugsmilieu berufen, das nicht vollständig homolog mit dem elterlichen ist, aber auch familial anerkannt ist. Das Erleben von Fremdheit gegenüber der Familie, in dem sich auch die Erfahrung von Missachtungsbeziehungen dokumentiert, ist zugleich verbunden mit Distanzierungsbewegungen gegenüber der Schule. Typus 2 steht dem ersten Typus somit diametral gegenüber und muss zur Realisierung der Individuation alternative Möglichkeitsräume schaffen und nutzen.
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Anerkennung der Familie + Typus 1
Fremdheit gegenüber Schule + Typus 3
Anerkennung der Schule +
Typus 2 Fremdheit gegenüber Familie + Abb. 16: Verhältnis jugendlicher Platzierung zu Familie und Schule
Typus 3 erfährt familiale Fremdheit, ohne sich jedoch selbst vehement von der Familie zu distanzieren. Vielmehr gibt es Ungleichgewichte in den Beziehungen zu den Elternteilen (Konkurrenz zur Mutter, nur verhalten beantwortete Anerkennungswünsche durch den Vater), die eine familiale Ortslosigkeit begründen. Zugleich minimiert die Homologie des schulischen und familialen Bezugsmilieus die Möglichkeiten, in der Schule einen ‚anderen Raum‘ vorzufinden, der die familialen Fremdheitserfahrungen kompensiert. Diese Kompensation geschieht situativ und interaktiv, in persönlich ausgestalteten Lehrer-SchülerBeziehungen. Diese wiederum zeigen auch Möglichkeitsräume in Bezug auf die schulischen Inklusionsoptionen (im Sinne von Leistungsbezügen) auf. Abschließend sei noch einmal angemerkt: wir haben es in dieser Relationierung mit Jugendlichen zu tun, die in die exklusiven Bildungsräume inkludiert sind. Formen der maximalen Ent-Fremdung im Sinne von Beziehungsaufgabe, der Erfahrung von Missbrauch oder Schulverweigerung und Abstiegstransformation sind hier nicht repräsentiert. Insofern zeigen die Fälle das Spektrum möglicher Inklusion und der Haltungen, die Jugendliche dazu einnehmen – jedoch aus dem Inneren der exklusiven Bildungsräume heraus. Dabei kommt es zuweilen beim Typus 2 zu Tendenzen interner Ausgeschlossenheit (Bourdieu 1998b), gerade weil die Prekarisierungserfahrungen die Grenzen von Zugehörigkeit aufzeigen. Jedoch befinden sich diese Jugendlichen in einer privilegierten Position gegenüber denjenigen, die tatsächlich Ausschluss erfahren haben. 4. Jugendliche Zugehörigkeit im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion: Zusammenfassende Schlussbetrachtung Inklusion und Exklusion treten uns als scheinbare Gewissheit über Innen und Außen, über Teilhabe und Nicht-Teilhabe gegenüber (Castro Varela/Mecheril 2010). Sie verweisen darauf – dies wurde in der vorliegenden Studie deutlich – dass Zugehörigkeit immmer auch in Herrschaftsverhältnisse eingebunden ist, die gerade diese Gegensätze und Entgegenset274
zungen brauchen, um zu bestehen. Dabei bedeutet Anerkennung „immer die Anerkennung scheinbar gegebener Differenzen und Identitäten“ (ebd., S. 98). Jugendliche Verortungsprozesse und Anordnungen im Raum finden unter Bedingungen von Zugehörigkeitsordnungen statt. Dass dabei der erprobende und ent-fremdende Umgang mit Differenz in der Jugendphase konstitutiv ist, konnte ebenfalls gezeigt werden. Zusammenfassend lässt sich dies wie fogt abstrahieren: (1) In jugendlichen Platzierungsprozessen ist Ent-Fremdung von bislang selbstverständlichen Handlungszusammenhängen konstitutiv. Die spezifische Ermöglichungsstruktur dieser Ent-Fremdung zeigt sich im ersten Typus (Sichere Selbstplatzierung), wo aus den Bindungen heraus gesicherte Selbstentwürfe erfolgen können, die die Erfahrung von NichtIdentität dazu nutzen, sich reflexiv auf die Handlungszusammenhänge zu beziehen und sich chancenentfaltend neu zu ihnen zu verorten. Ent-Fremdung wird jedoch da zum Problem und kann zu krisenhaften Platzierungsprozessen der Jugendlichen führen, wenn Jugendliche ihre Möglichkeitsräume doppelt beschränkt sehen und ihnen nur der Rückzug aus diesen Handlungsräumen bleibt (Typus 2: Distanzierte Platzierung). Hier kann eben keine Neuverortung stattfinden, sondern die Verortung ist krisenhaft oder wird – dies wäre allerdings eine Variante, die hier nicht material abgesichert ist – verweigert. Einen zweiten Fall, in dem Ent-Fremdung nicht individuierend und mit Bezug auf Neuverortung zu den Welt-, Sach- und Selbstverzügen erfolgen kann, stellt der dritte Typus (Platzierungsunsicherheit) dar, in dem die Ortslosigkeit in der Familie Fremdheit bereits begründet hat, ohne dass der oder die Jugendliche eigene Wege der Distanzierung finden kann. (2) In der Schule geht es um die Möglichkeiten, das Selbst chancenentfaltend hinsichtlich der Zukunftsentwürfe platzieren zu können. Insofern impliziert die Begrenzung entgrenzender Bezugnahmen von Lehrerinnen und Lehrern in dem Fall, in dem eine Selbstplatzierung als exzellent erfolgen kann, die Möglichkeit, individuelle Anerkennung zu erfahren und sich mit Blick auf die künftigen Anerkennungschancen und Möglichkeiten sozialer Wertschätzung optimal zu positionieren. Dabei erfahren die Jugendlichen als Schülerinnen und Schüler also nicht nur moralische Anerkennung, wie diejenigen, die in ihren emotionalen Anerkennungswünschen missachtet werden (Typus 2), sondern sie erfahren auch eine individuelle Besonderung aufgrund ihrer Leistungsfähigkeit. Indem sich Jugendliche so platzieren können, dass ihnen schulisch auf der Grundlage moralischer Anerkennung und gleicher Bewertungskriterien auch eine Besonderung gelingt, ist auch hinsichtlich wertgeschätzter Positionierungen in der Gesellschaft der Weg geebnet und die aktive Ausgestaltung des Handlungsraumes öffnet wiederum Möglichkeitsräume wertgeschätzter nachschulischer Optionen. Insofern impliziert die Anpassung an einen schulischen Leistungshabitus auch gute Vorraussetzungen für Jugendliche, die Weichen für schulische Anschlussoptionen zu stellen. Damit setzen sie zugleich das ermöglichend fort, was im schulischen Entwurf als Exklusivität und Exzellenz angelegt ist. Mit Blick auf verweigerte individuelle Anerkennung, wie sie in dem zweiten und dritten Typus auftritt, kann nun die Herstellung von sozialer Ungleichheit nachverfolgt werden. Denn der Rückzug von schulischen Wertmaßstäben und der Verzicht auf individuelle Anerkennung in den distanzierenden oder ortslosen Haltungen der Jugendlichen verweist nicht nur auf Prekarisierung und Reproduktion der schulischen Randständigkeit, sondern hier werden auch Positionierungsprobleme in der Familie deutlich, etwa wenn Jugendliche die ent-fremdete Position als
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Einschränkung ihres Handlungsspielraums erleben und ihnen eine anerkannte Selbstpositionierung in Familie und Schule nicht gelingen kann. (3) Die Verortung in den Zugehörigkeitsordnungen, die die Jugendlichen selbst vornehmen, wird zum Einen durch die Möglichkeitsräume, die ihnen unter anderem familial und schulisch entstehen strukturiert. Diesen Möglichkeitsräumen liegen imaginäre Entwürfe zugrunde, zu denen sich die Jugendlichen zunehmend selbst verorten müssen. Die Möglichkeitsräume begrenzen somit die Handlungsräume durch die ihnen zugrunde liegenden imaginären Entwürfe. In den interaktiv ausgehandelten Verortungen und den Selbstplatzierungen, die Jugendliche vornehmen, können neue Möglichkeitsräume entstehen, die durch die Anerkennungsbeziehungen, das Verhältnis von Nähe und Distanz sowie Einheit und Differenz strukturiert werden. Dabei können Möglichkeitsräume konvergent sein (wie bei Typus 1), wenn etwa die Distanzierung der Jugendlichen von der Familie auf elterliche Akzeptanz stößt und Ent-Fremdung als konstitutiv für die Jugendphase erachtet wird. In die Konvergenzen ist somit die Akzeptanz von Divergenz eingelagert. Divergente Möglichkeitsräume liegen hingegen dann vor, wenn die familialen und jugendlichen Platzierungsund Anordnungsstrukturen auf der Basis wechselseitiger Missachtung angesiedelt sind (Typus 2) oder die Positionierung des Jugendlichen als Kind der Familie (also auf der Grundlage einer konstitutiven Generationsdifferenz) durch die Eltern missachtet wird (Typus 3). In der Schule gestalten sich konvergente Möglichkeitsräume mit Bezug auf die moralische und individuelle Anerkennung aus (Typus 1). Das heißt: in dem Maße, wie Schüler unter universalistischen und rollenförmigen Bezugnahmen wertgeschätzt werden und sich in die Schule einbringen, gelingt eine Positionierung im Zentrum der schulischen Zugehörigkeitsordnung. Ein konvergenter Möglichkeitsraum liegt auch dann vor, wenn Lehrer und Schüler die Basis moralischer und individueller Anerkennung verlassen und sich auf der Ebene emotionaler Anerkennung begegnen (Typus 3). Hier liegt jedoch ein Verkennen der Grenzen schulischer Anerkennung vor. Damit treten Divergenzen in die Strukturierung des Möglichkeitsraumes, denn das Schulische und die schulischen Anerkennungsformen werden durch die Dominanz emotionaler Anerkennung verhindert. Andererseits kann auch gerade die emotionalisierte Bezugnahme den Weg zu den schulischen Anerkennungsformen (moralisch und individuell) ebnen. Divergente Möglichkeitsräume gestalten sich dort aus, wo Schule die Schülerinnen und Schüler in ihren Bedürfnissen nach emotionaler Anerkennung zurückweist (Typus 2). Dies ist allerdings die Voraussetzung für die Herstellung von Konvergenzen im Bereich moralischer und individueller Anerkennung. Jedoch ist bei einem so gelagerten Typus die Verortung in der schulischen Zugehörigkeitsordnung am deutlichsten in der Peripherie. Deutlich kann man das die Verortungsleistungen von Jugendlichen auch über die Frage nach Passungskonstellationen in den Blick bekommen. Dabei geht es einerseits um die Passung oder Einpassung in Familie und Schule, andererseits um die Passungsverhältnisse zwischen Familie und Schule. Die ersteren Passungsverhältnisse wurden differenziert mit Bezug auf die konvergenten und divergenten Möglichkeitsräume beschrieben. Passung in der Familie heißt somit nicht die Kumulation von Anerkennung, Einheit und Nähe, sondern liegt gerade darin, dass auch Differenz und Distanzierung akzeptiert werden. Der/die Jugendliche hat somit die Möglichkeit, sich als Anderer anerkannt zu erfahren und zu platzieren, denn gerade hierin liegt die Ermöglichungsstruktur familialer emotionaler Anerkennung. In der Schule basiert eine positive Passung auf der Möglichkeit der Distanzierung in entgrenzenden Situationen (und der 276
Möglichkeit der Herstellung moralischer Anerkennungsverhältnisse), dass Nähe über Sachbezüge hergestellt wird und dass die Erfahrung von Differenz mit individueller Wertschätzung verbunden ist. Spannungen in den Passungskonstellationen finden wir familial dort, wo der/die Jugendliche strukturell nicht als Kind anerkannt ist und dabei entweder überbordende Einheits- und Nähewünsche an den/die Jugendlichen herangetragen werden oder die Beziehungen zwischen Jugendlichem und Erwachsenem entdifferenziert sind. In beiden Fällen wird die ‚Eigenheit‘ des Jugendlichen missachtet und er kann sich nicht in Differenz zum Elternhaus setzen. In der Schule entstehen Spannungen in den Passungskonstellationen dort, wo Schülerinnen und Schüler nicht mit den Exklusivitätsentwürfen der Schule übereinzustimmen scheinen und die Leistungsfähigkeit Gegenstand der beständigen Überprüfung (durch Lehrer und Schüler) wird. Als krisenhaft erweisen sich auch Beziehungen, in denen Entgrenzung und Emotionalisierung in gegenseitigem Einverständnis stattfindet, denn hier wird der Möglichkeitsraum schulischer Anerkennung negiert und familialisiert. Zugehörigkeit ist schließlich etwas, so kann man die Reflexion der jugendlichen Verortungsleistungen interpretieren, was strukturell ähnlich der Anerkennung, nicht ganz und nicht ganz eindeutig herausarbeitbar ist und immer kontingent bleibt. „Gerade das Ausstehende, das Nicht-Aufgehende, der Rest ist es, der zusammenhält. Das soziale Band wird nicht durch eine versöhnte Einheit stabilisiert, sondern es besteht performativ in der Notwendigkeit, es beständig erneuern und die Gesten der Anerkennung wiederholen zu müssen. Indem provisorische Anerkennung auf provisorische Anerkennung folgt, wird das Netz des Sozialen geknüpft“ (Bedorf 2010, S. 189).
Somit wäre auch die Exklusionsbedrohung – dies stellen die prekarisierten Fälle in der vorliegenden Studie unter Beweis – etwas, was konstitutiv für den Erhalt von Zugehörigkeitsordnungen ist und was zugleich immer auch darauf verweist, dass Inklusion möglich ist. Man kann hier in loser Reflexion auf Louis Althusser (1973, zit. n. Castro Varela/Mecheril 2010, S. 107) sagen: die Inklusionsentwürfe und -ideale schließen nicht nur aus, sie erzeugen und ermöglichen auch Zugehörigkeit. Allerdings sind diese Zugehörigkeitsentwürfe mit ihren Inklusionsmöglichkeiten im Falle der hier vorgestellten Schulen keine starren Gebilde, sie sind kontingent. Zwar gibt es Vorstellungen über Innen und Außen, die dazu dienen die Zugehörigkeitsordnung abzusichern. Aber die Zugehörigkeit ist auch Gegenstand der interaktiven Herstellung. Sie bedarf – wie Bedorf dies für Anerkennung entfaltet – einer provisorischen Herstellung und Bewährung. Man kann sagen, die scheinbare Gewissheit über Inklusion und Exklusion, Innen und Außen, wie sie sich zum Beispiel Schulen in ihren Idealentwürfen kreieren, muss handelnd eingeholt werden, wenn Zugehörigkeitsordnungen nicht total werden sollen. Dies veranschaulichen etwa Foucault (2006) und Goffman (1973) einhellig mit Bezug auf das Schiff und seine Unentrinnbarkeit. Foucault nennt das Schiff als Beispiel für eine vollkommene Heterotopie, Goffman nennt es als Beispiel für eine totale Institution: Die Zugehörigkeit, die Inklusion in den Handlungsraum Schiff, ist bei Betreten des Schiffes total und unvermeidlich. Dass diese Unvermeidlichkeit im Falle der Verortungsprozesse von Jugendlichen nicht gegeben ist, dass ihre Zugehörigkeit kontingent ist, die Idealentwürfe aber als Orientierungshilfe dient, verweist darauf, dass Inklusion nicht total ist und dass es Gestaltungs- und Entwicklungsspielräume gibt. Die Kontingenz, die hiermit angesprochen ist, stellt selbst einerseits eine biografische Chance für Platzierungsleistungen dar, wenn gerade in ihr die Möglichkeitsräume selbstbe277
stimmt gestaltet und erweitert werden können – man könnte hier auch von Gestaltungsspielräumen sprechen. Wie wichtig die Gestaltungsspielräume sind, darauf verweisen die Fälle überbordender Nähe- und Einheitsansprüche und auch die der Abwehr- und Distanzierungsbedrohungen, die in je spezifischen Missachtungsverhältnissen ihren Niederschlag finden. Kontingenz bedeutet dabei nicht nur Ungewissheit im Sinne einer strukturellen Unsicherheit und Offenheit der Zukunft, sondern auch die Chance, Möglichkeitsräume eigenkreativ zu gestalten. Mit Blick auf Liesner und Wimmer (2003) lässt sich in dieser Paradoxie, „die das konstruktivistische Stilisieren von Ungewissheit zum unhintergehbar gewissen Grund als ein bewältigendes reagieren erscheinen lässt“ (ebd., S. 29) als Bedingung der Zugehörigkeit selbst verstehen. Schließlich zeigt sich am Ende die Unmöglichkeit vollständiger Zugehörigkeit als Möglichkeit, andere Zugehörigkeiten zu denken und damit als jugendlicher Möglichkeitsraum im Sinne einer Grundlage der Neuorientierung in Bezug auf die Welt-, Sach- und Selbstbezüge.
5.4
Raum und Jugend: eine zusammenfassende Betrachtung „Wir leben nicht in einem leeren, neutralen Raum. Wir leben, wir sterben und wir lieben nicht auf einem rechteckigen Blatt Papier. Wir leben, wir sterben und wir lieben in einem gegliederten, vielfach unterteilten Raum mit hellen und dunklen Bereichen, mit unterschiedlichen Ebenen, Stufen, Vertiefungen und Vorsprüngen, mit harten und mit weichen, leicht zu durchdringenden, porösen Gebieten“ (Foucault 2005b, S. 9f.).
In der vorliegenden Arbeit ging es darum eine raumanalytische Perspektive zu entwickeln, die den unterschiedlichen Ebenen sozialer Wirklichkeit gerecht wird und die Frage nach Zugehörigkeit räumlich in den Blick nimmt. Ziel war es, die Lücken des schulkulturanalytischen Vorgehens, das implizit immer wieder auf Raum bezug nimmt zu schließen und eine Systematisierung des Raumbegriffs anzubieten, die dem Zusammenhang von Jugend, Schule und Familie, den Ablösungs- und Individuationsprozessen darin und den (Neu-) Verortungsversuchen Rechnung trägt. Dazu wurde im zweiten und dritten Kapitel dieser Arbeit ein Modell entwickelt, das sich auf die unterschiedlichen Ebenen sozialen Handelns bezieht (Gesellschaft, Region, Institution/Milieu, Interaktion, Individuum). Diesem Mehrebenenmodell konnte in der Arbeit mit gewissen Grenzen, Rechnung getragen werden. Begrenzt war die Einbeziehung der unterschiedlichen Ebenen deshalb, weil das empirische Material, das dieser Arbeit zugrunde lag, die Ebenen Gesellschaft und Region nicht in ausreichendem Maße berücksichtigte. Hier wurden vor allem Rückschlüsse auf Positionierungen unternommen, die eher sekundärer Art sind, weil sie nicht materialbasiert sind. Zugleich bietet die mehrebenenanalytische Perspektive eine Systematisierungsmöglichkeit für die Materialien und eine Ausdifferenzierung des Gegenstandes der Fragestellung. Nicht die Falsifikation oder Verifikation stand dabei im Vordergrund, sondern das Ziel, den Blick auf den Untersuchungsgegenstand auszudifferenzieren (vgl. Krüger 2000) und die Verortungshandlungen unterschiedlicher Ebenen in ihren Interdependenzen zueinander zu vermitteln. Das Zusammenspiel zwischen Struktur und Akteur wurde auf diese Weise in den Blick genommen und das Zusammenspiel unterschiedlicher Akteurskonstellationen und Zugehörigkeitsordnungen betrachtet.
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Die Analyse dieses Zusammenspiels erfolgte in Auseinandersetzung mit den räumlich wirksamen grundlegenden Handlungsantinomien. Zugehörigkeitsordnungen wurden hier als räumliche symbolische Ordnungen beschrieben, die grundlegend über Inklusion und Exklusion entscheiden und sich zwischen Anerkennung und Missachtung, Einheit und Differenz sowie Nähe und Distanz aufspannen. Diese zentralen Ordnungsvariablen wurden auch als Prozessvariablen räumlichen Handelns diskutiert. Dabei wurde schnell deutlich, dass sie in sich eine hohe Komplexität besitzen und in unterschiedlicher Weise zusammenspielen. Dies konnte man unter anderem daran sehen, dass mit dem Modell von Axel Honneth, Anerkennung und Missachtung selbst noch einmal deutlich ausdifferenziert sind, je nach Handlungsraum und Handlungsebene, die durch sie beschrieben werden. Weil sein Modell im Vergleich zu den anderen Handlungsantinomien sehr elaboriert und ausdifferenziert ist, diente es im Schlussteil der Arbeit immer wieder als Referenzpunkt der Bestimmung von Verortungsprozessen, wobei auch auf die anderen Handlungsantinomien eingegangen wurde. Schließlich orientierte sich das Modell an einer dezentrierten Strukturiertheit räumlichen Handelns in der Auseinandersetzung der Lacanschen Unterscheidung von Imaginärem, Symbolischem und Realem und ihrer Vermittlung zu den in diesem Zusammenhang entstandenen Modellen der Schulkulturanalyse (Helsper/Böhme/Kramer/Lingkost 2001, Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009). Letztere greifen das Lacansche Motiv dezentrierten Handelns auf, setzten sich jedoch dazu in Differenz, indem die das Reale in einer ähnlichen Argumentation wie Reckwitz (2006) nicht als unbestimmbare „Universalie einer ‚ursprünglichen‘ menschlichen Psyche, sondern als Produkt der Hybridität kultureller Codes“ (ebd., S. 84) beschreiben. Es sind somit die grundlegenden Handlungswidersprüche (Helsper/Böhme/ Kramer/Lingkost 2001), die auf jeder Ebene des Handelns wirksam werden, nicht nur auf der Ebene des Subjekts, für die Lacan das Spannungsverhältnis ausformuliert hat. Diese Handlungswidersprüche wurden mit den räumlichen Handlungsantinomien beschrieben. In der Rekonstruktion der Verortungsprozesse Jugendlicher in exklusiven Bildungsräumen vor dem Hintergrund familialer und schulischer Interaktionsprozesse und Anspruchshaltungen und Idealentwürfe wurden dabei die Ebenen sozialer Wirklichkeit zunächst getrennt voneinander untersucht und in den Fallzusammenfassungen zueinander vermittelt. In der theoretisierenden Schlussbetrachtung wurden wiederum die Fälle miteinander kontrastiert, um fallübergreifende Muster der Verortung Jugendlicher in Zugehörigkeitsordnungen in exklusiven Schulen im Zusammenspiel mit der Familie herauszuarbeiten. Abschließend bleibt nun zu bilanzieren, welche Möglichkeiten raumanalytisches Vorgehen für die Analyse von schulischem und familialem Handeln bietet und welche Anschlussstellen diesbezüglich markiert werden können. Dazu beginne ich mit einer knappen Zusammenfassung der zentralen Befunde (1), zeige dann die Grenzen des hier vollzogenen Vorgehens auf (2) und markiere schließlich die Möglichkeiten des raumanalytischen Vorgehens, als Möglichkeit Prozesse des Aufwachsens differenziert in den Blick zu nehmen (3). 1. Zentrale Befunde Die Arbeit wurde in der Absicht geschrieben zu einer Systematisierung des Raumbegriffs beizutragen, wie er in der Schulkulturforschung und der Erziehungswissenschaft insgesamt oftmals benutzt wird. Zum Vorgehen gab es unterschiedliche Herangehensweisen: erstens die literarische, theoretische Auseinandersetzung mit Raummodellen, wie es in der Sozio279
logie schon Löw (2001) und Schroer (2006) gemacht haben, die dann zu einem Modell verdichtet werden, das für künftige Raumanalysen eine Möglichkeit des Vorgehens bietet. Zweitens, die Orientierung an einem Raummodell, zum Beispiel der foucaultschen Heterotopologie (Foucault 2005b, 2006) oder dem bourdieuschen Feldbegriff (Bourdieu 1991) oder der löwschen Raumsoziologie (Löw 2001) usw. Drittens, ein Abriss ausgewählter kulturtheoretischer Arbeiten zu Raum, die es ermöglichen ein heuristisches Modell räumlichen Handelns zu entwerfen, das die Mehrebenenperspektive einbezieht und der dezentrierten Struktur sozialen Handelns gerecht ist. Wie gesehen, wurde die letzte Möglichkeit gewählt, da sie hochgradig anschlussfähig an die schulkulturanalytischen Bezugsstudien schien und den Raumbegriff so offen hielt, dass Prozesse des Aufwachsens in ihrer Relationalität bestimmbar blieben. Der Vorteil dieses Vorgehens war, dass ein gegenstandsangemessenes Modell entwickelt werden konnte, das der unterschiedlichen Eingebundenheit Jugendlicher und den Interdependenzen unterschiedlicher Ebenen sozialer Wirklichkeiten gerecht wird. Durch dieses Vorgehen kommt es in Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen, in sich bereits hochgradig komplexen Raumtheorien jedoch auch zu Verkürzungen und Abkürzungen, die notwendigerweise entstehen mussten, weil es nur so möglich war, die Fülle an Datenmaterial, die Vielzahl an Informationen und Interpretationsergebnissen zu Raum systematisch in den Blick zu nehmen. Hierbei waren insbesondere die verbindenden Elemente der Theorien handlungsleitend, die zum Teil in komplementärer Ergänzung genutzt werden konnten – wenn etwa Theorien, die vornehmlich aus der Perspektive von Macht oder Subjekt argumentieren ergänzend aufeinander bezogen wurden. Es ist nun nicht leicht, nach der Vielzahl von Teilbefunden und der Komplexität, die das Thema „Raum“ beansprucht, die zentralen Befunde zum Thema „Jugend und Raum“ noch einmal sehr knapp zu fassen. Der Versuch dazu geht in sieben Schritten vor und thematisiert handlungsraumbezogen (Schule, Familie) die Auseinandersetzung mit Ordnungsstrukturen, Verortungsprozessen und Unterordnungsstrukturen, die in den herausgearbeiteten Zugehörigkeitsordnungen deutlich werden. (1) Exklusive Schulen geben sich eine „äußere Ordnung“, die sich mit Bezug auf Foucaults (2006) Ausführungen zu Heterotopien herausarbeiten ließ. Sie werden zu „anderen Räumen“, zu „lokalisierten Utopien“ (Foucault 2005b, S. 10), in denen auf der Basis der Schließung nach außen hin (durch Eingangstests, Eignungs- und/oder Gesinnungsprüfungen) der Eindruck der Abgeschlossenheit entsteht. Die Exklusivität ist dabei die Grundlage der Schaffung einer „inneren Ordnung“, mit der die Schule einen institutionellen Entwurf der Selbstverortung unternimmt und sich ins Verhältnis zu anderen Schulen setzt. Exklusiven schulkulturellen Zugehörigkeitsordnungen ist dabei gemeinsam, dass die innere Ordnung einen weiteren Beitrag zur Abgrenzung nach außen leistet – etwa durch Leistungs- und/oder Gesinnungsorientierung. In die Schule sind somit Distinktionsmomente eingelagert, die dazu beitragen, sich im schulischen Feld möglicher Zugehörigkeitsordnungen zu verorten und zugleich ‚nach innen‘ Handlungsanforderungen für die schulischen Akteure beinhalten. Dabei begünstigen exklusive schulkulturelle Zugehörigkeitsordnungen vor allem Schülerinnen und Schüler aus Milieus, die dem schulischen Bezugsmilieu nahe stehen. Nicht die meritokratischen Prinzipien werden zum zentralen Auswahlkriterium, sondern es handelt sich um eine Bevorzugung von Privilegierten. Mit ihren Versprechungen des Erhalts von Zugang zu höchstem kulturellen und sozialen Kapital kann hier von
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einer Privilegierung der Privilegierten gesprochen werden45, welche durch die exklusiven schulkulturellen Zugehörigkeitsordnungen begünstigt wird. Es handelt sich somit um eine doppelte Privilegierung, die über die Bildungsentwürfe und Imaginationen idealer schulischer Akteure charismatisiert wird. Es kommt sozusagen zu einer „Privilegierung der charismatischen Werte“ (Bourdieu 2004, S. 35). Während Bourdieu jedoch mit seiner Argumentation auf der Ebene des Schulsystems bleibt und markiert, dass die Privilegierung vor allem diejenigen betrifft, die „ein unmerkliches Vertrautwerden mit ihr im Schoß der Familie erworben haben“ (ebd., S. 37), kann in dieser Arbeit auf die unterschiedliche schulkulturelle Bearbeitung von Privilegierung aufmerksam gemacht werden. Denn während im leistungs- und traditionsorientierten Gymnasium eine Charismatisierung der altehrwürdigen Tradition und des Leistungsbezugs stattfindet, liegt die Charismatisierung in der reformpädagogischen Gesamtschule im Gedanken der Anwaltschaft und der Familialisierung schulischer Beziehungen. Mithilfe der Annahme der dezentrierten Struktur räumlichen Handelns können schließlich die imaginären Entwürfe und ihre symbolischen Repräsentationen (in Handreichungen zum Aufnahmeverfahren, den Schulleiterreden zur Begrüßung neuer Schülerinnen und Schüler und in der räumlichen Gestaltung der Schulen) mit den ihnen zugrundeliegenden Widersprüchen konfrontiert werden. Die Brüchigkeit der Charismatisierungen in jeweils krisenhaften Konstellationen (im Gymnasium der Notwendigkeit der Verbürgung durch die Eltern und der Außenorientierung der Schule; in der Gesamtschule der Verkennung der schulischen Funktionalität und Begrenztheit des eigenen Handelns) zeigt dabei, dass Charismatisierungen jeweilige Einheitsentwürfe darstellen, die die Widersprüchlichkeit schulisch-pädagogischen Handelns bearbeiten oder verdecken soll. Andererseits zeigt sich gerade in den Widersprüchen der Charismatisierung die Unmöglichkeit Zugehörigkeitsordnungen konsistent zu formulieren und verweist auf die Hybridität des sozialen Handelns. Fehlte jedoch die Verortung auf der Grundlage von Zugehörigkeitsordnungen, so wäre die Schule als Institution nicht als Schule identifizierbar. Insofern wohnt der Verortung immer schon eine Unmöglichkeit der Verortung inne und die räumliche Struktur von Zugehörigkeit impliziert eine kreative Bearbeitung der Unmöglichkeit Zugehörigkeit herzustellen. (2) Die Platzierung von Schülerinnen und Schülern im schulkulturellen Zugehörigkeitsraum exklusiver Schulen geschieht in hierarchischen Interaktionen, in denen sich privilegierte Schülerinnen und Schüler wie selbstverständlich unterordnen, eben weil sie in der Familie bereits unmerklich mit den Normen und Werten der Zugehörigkeitsordnung vertraut geworden sind. Diese Kinder unterliegen zwar in der Macht der Ordnungsstruktur. Jedoch erweisen sie sich als Gewinner gegenüber weniger privilegierten Schülerinnen und Schüler. Letztere unterliegen doppelt: aufgrund der mangelnden Passung des Milieus sowie den nicht gemachten Erfahrungen unmerklichen Vertrautwerdens (Bourdieu 2004) und in Bezug auf die Hierarchie des schulisch Exklusiven. Wenn Solga und Wagner (2004b) von der doppelten Benachteiligung sprechen, die die Hauptschulen betrifft oder wenn sie auf die doppelte Benachteiligung der „Zurückgelassenen“ (Solga/Wagner 2004a) aufmerksam machen – also jenen Schülerinnen und Schüler, die durch ihr Milieu benachteiligt sind und in eine Schule gehen, die im Feld der Schulen benachteiligt ist, so lässt sich mit Blick auf 45
Hierbei verweise ich jedoch noch einmal ausdrücklich auf die Differenzierungsmöglichkeiten, die vorliegen, wenn man weitere Schulen aus dem oberen Bildungssegment einbezieht oder obere mit dem unteren Bildungssegment kontrastiert.
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die Verortung von Schülerinnen und Schülern aus nicht-privilegierten Milieus in exklusiven Schulkulturen von der Gefahr sprechen, im Prozess um Anerkennung doppelt zu unterliegen: in Bezug auf die biografische Erfahrung weniger privilegiert zu sein und in Bezug auf die beständige Konfrontation mit der Exklusionsbedrohung bzw. der Bedrohung der Zugehörigkeit, die eben nicht selbstverständlich gegeben ist. Dabei kann festgestellt werden, dass eine solche sozialstrukturelle Benachteiligung gegenüber jenen, die weniger privilegiert sind, einerseits die Chance gibt, Benachteiligungsrisiken zu überwinden, andererseits aber beständig mit Unselbstverständlichkeit der Teilhabe konfrontiert. Dabei scheint es sich so zu verhalten, dass die Lehrer-Schüler-Interaktionen eher nicht mit den biografisch erfahrenen Chancenstrukturen brechen, wenn es um die Förderung von weniger privilegierten Schülerinnen und Schülern geht. In ihrem Handeln werden die Krisenproblematiken, die Schülerinnen und Schüler sozusagen als Disposition ‚in die Schule tragen‘ vielmehr bestätigt. Dies bezieht auch auf Fälle, in denen die Privilegierung durch das Milieu aufgrund familialer Problemlagen gebrochen ist. Je deutlicher in diesen familialen Problemlagen dabei die Position des Kindes unklar ist oder Umkehrprozessen der Generationsdifferenz zum Opfer fällt, um so schwieriger scheint dabei auch die Möglichkeit für die Kinder/Jugendlichen, sich in der Schule sicher zu verorten. (3) Exklusive Schulen begrenzen Zugehörigkeit somit auch im alltäglichen schulischen Handeln. Die Aufnahme in die Schule ist dabei die Initiation eines über die Schulzeit andauernden Bewährungskampfes, in dem die Schülerinnen und Schüler beständig aufgefordert werden, die Legitimität ihrer Zugehörigkeit zu behaupten. In der Figur der ‚Macht der Anerkennung‘ finden wir dabei die Paradoxie, dass Anerkennung Unterordnung voraussetzt und sich auch in solchen Schulkulturen, in denen sich auf Anerkennung der Persönlichkeit, Respekt und gegenseitige Achtung hochgradig affirmativ bezogen wird, Missachtungsstrukturen in Bezug auf Anerkennung abzeichnen. Dabei ist insbesondere der (Schüler-) Wunsch nach emotionaler Anerkennung schulisch prekarisierend und strukturell missachtend, weil die Bearbeitung von außerschulischen Anerkennungsdefiziten unter Bedingungen der schulischen Funktionalität misslingt. In unterschiedlichen Figurationen konnten wir in diesen Fällen nachvollziehen, dass selbst dann, wenn Lehrer sich scheinbar intentional positiv auf die emotionalisierten Anerkennungswünsche von Schülerinnen und Schülern beziehen, eine Missachtungsstruktur vorliegt, da dem Bildungsauftrag keine Rechnung getragen wird. Die Missachtung der Anerkennungswünsche tritt jedoch besonders dort deutlich hervor, wo Schülerinnen und Schüler vor dem Hintergrund milieuspezifischer und/oder familienstrukturell problematischer Ausgangslagen handeln, die nicht zum schulkulturellen Idealentwurf passen. Wenn – wie hier gezeigt – deutlich wird, dass die emotionalen Anerkennungsbedürfnisse durch Lehrerinnen und Lehrer zurückgewiesen werden, so ist diese Zurückweisung ambivalent: sie ermöglicht einerseits die Teilhabe unter Gleichheitsbedingungen: nur wer nicht als besondere Person in ihrer Einzigartigkeit (emotional) als signifikanter Anderer in Interaktionen positioniert wird, kann unter generalisierbaren Wahrnehmungsmodi anerkannt werden. Diese generalisierte Wahrnehmung verspricht damit Anerkennung auf der Basis von Rollenförmigkeit (als Schülerin oder Schüler), bedeutet aber auch, dass die emotionalen Bedürfnisse missachtet werden. Hier liegt nun wieder eine implizite Aufforderung zur Unterordnung: Schülerinnen und Schüler sollen sich den generalisierbaren Anerkennungsformen unterordnen und eine Rolle annehmen. Während der Zugang zur Rollenförmigkeit im leistungsorientierten Traditionsgymnasium 282
noch durch Einübung unterstützt wird, liegt in der reformorientierten Gesamtschule mit ihrem Ideal von Selbständigkeit und Eigenständigkeit implizit die Erwartungshaltung zugrunde, dass die Schülerinnen und Schüler von selbst erkennen, wann ihr Wunsch nach emotionaler Anerkennung angemessen ist und wann nicht. Die Unterordnung verlagert sich hier somit vollends in die Subtilität und wird erst dann sanktioniert, wenn Schülerinnen und Schüler die Verpflichtung auf moralische Anerkennung verweigern. Hier kommt es dann, ebenso wie am leistungsorientierten Gymnasium zu Ent-Fremdungsprozessen, welche eine Ausdrucksgestalt des symbolischen Kampfes um Unterordnung darstellen. Zugleich verweisen gerade die Schülerinnen und Schüler, die aufgrund der Infragestellung der Unterordnungskriterien prekarisiert sind, auf die Möglichkeit der Reflexion der Grenzen schulischer Anerkennungsräume- Die Schülerinnen und Schüler, die hingegen in den Zentren schulischer Zugehörigkeitsordnungen angesiedelt sind, ordnen sich schließlich auch selbstverständlich der schulischen Ordnungsstruktur unter. Dabei wird ihre Zentralstellung in der schulischen Ordnung besonders dann hervorgehoben, wenn sie selbst zu deren Verteidigern werden. Dies lässt sich an Entgrenzungsfiguren von Seiten der Lehrerinnen und Lehrer besonders deutlich nachvollziehen: hier sind es die Lehrer, die die Ordnung des Schulischen durchbrechen und damit zugleich auf die Brüchigkeit der Charismatisierung schulischer Zugehörigkeitsordnungen verweisen: indem die Schülerinnen und Schüler sich dennoch selbstverständlich unterordnen, stellen sie die schulische Zugehörigkeitsordnung wieder her und vermögen es dadurch, dass sie im symbolischen Kampf kurzfristig die Situation beherrschen. Sie nutzen jedoch diese Herrschaft nur dazu, um die schulische Zugehörigkeitsordnung wiederherzustellen. Die Begrenzung durch Schüler in durch Lehrer entgrenzten Situationen verortet die Schüler somit im Zentrum der schulischen Zugehörigkeitsordnung. (4) Familiale Zugehörigkeitsordnungen erweisen sich als doppelwertig. Zum einen ist Familie in sich hochgradig exklusiv (vgl. Lévi-Strauss 1985), zum Anderen ist die Exklusivität im Moment der Teilhabe unkündbar. Man könnte hier wiederum von einer „äußeren Ordnung“ der Zugehörigkeit sprechen, die eine Teilhabe vor allem dann ausschließt, wenn sie nicht strukturell – das heißt durch eine Gattenbeziehung oder durch Geburt (oder Adoption, aber dies wäre ein eigens zu diskutierender Fall) – reguliert ist. Damit grenzt sich die Familie nach außen hin von allen anderen Familien als Einheit ab. Die „innere Ordnung“ hingegen verweist auf die Unhintergehbarkeit und Unhinterfragbarkeit von Zugehörigkeit, selbst dann, wenn zentrifugale Ablösungsprozesse (Stierlin 1989) gewissermaßen zur Ausstoßung aus der Familie führen. In diese „innere Ordnung“ eingelagert sind wiederum die symbolischen Kämpfe um Zugehörigkeit und Privilegierung. In Familien, die um Teilhabe am exklusiven Bildungssegment kämpfen und damit auch um eine privilegierte Positionierung ihrer Kinder im gesellschaftlichen System, konnten unterschiedliche Umgangsweisen mit dem Kampf um Zugehörigkeit rekonstruiert werden. Erstens finden sich Familien, in die schulisch passförmige Anerkennungsmodi hinsichtlich der moralischen und der individuellen Anerkennung eingelagert sind. Sie vermögen es, sich sozial nah zu den exklusiven Schulen zu positionieren. Dabei sind besonders jene Kinder und Jugendlichen im Vorteil, deren Familien schulaffine Bildungsbezüge schon früh selbst herstellen. Hier wird einer selbstverständlichen Privilegierung der Kinder Vorschub geleistet. Zweitens: Im Nachteil sind hingegen jene Familien, die hinsichtlich der moralischen und individuellen Anerkennung keine zur Schule kongruenten Anerkennungsbezüge herstellen (können), entweder 283
aufgrund der Milieudistanz oder aufgrund der emotionalen Missachtungsbeziehungen in der Familie, wenn also die Kinder/Jugendlichen in der Familie nicht in ihrer Positioniertheit als Kinder/Jugendliche anerkannt werden. (5) Die Unmöglichkeit von Nicht-Zugehörigkeit bedeutet jedoch nicht, dass in der Familie keine Verortungsprozesse im Sinne symbolischer Kämpfe um Zugehörigkeit und Anerkennung stattfinden. Denn Familien haben nicht nur eine Zugehörigkeitsordnung, die durch die Zugehörigkeit zum Milieu geprägt ist, die Familienentwürfe und innerfamilialen Auseinandersetzungen geben der Familie auch eine Zugehörigkeitsordnung, über die sich in Interaktionen auseinandergesetzt wird. Damit ist Zugehörigkeit nach der erfolgreichen Geburt einerseits zwangsläufig, andererseits bedingen die unterschiedlichen Anordnungen, die sich im Prozess des Heranwachsens stellen, auch unterschiedliche Relationierungen der Familienmitglieder zueinander. In der vorliegenden Arbeit wurde dies immer wieder mit Bezug auf die räumlich wirksam werdenden Prozessvariablen von Anerkennung und Missachtung, Einheit und Differenz und Nähe und Distanz herausgearbeitet. Modellhaft konnte davon ausgegangen werden, dass sich mit jeder Individuationskrise eines Familienmitgliedes die Relationierungen in der Familie verändern können. Während dabei die Schule als Institution den Prozess des Aufwachsens institutionalisiert begleitet und daher auch mit einer Regelhaftigkeit im Umgang mit Heranwachsenden die Rede sein kann, wäre ein institutionalisierter Umgang mit Individuationskrisen in der Familie sehr ungewöhnlich und krisenhaft, denn die Neuordnung, die in der Phase der Neuorientierung einzelner Familienmitglieder entsteht, betrifft alle Familienmitglieder – ändert sich die Position von einem Familienmitglied, so müssen sich auch die anderen Familienmitglieder damit auseinandersetzen. Hier stoßen wir auf einen weiteren strukturellen Unterschied zwischen Familie und Schule: der unterschiedlichen Bedeutung der Relationalität der Anordnungsstrukturen. Denn während Schule Kinder/Jugendliche selektieren kann und besonders exklusive Schulen die Möglichkeit haben, unerwünschte Positionierungen durch Ausschluss zu beantworten und dennoch in der alltäglichen Routine des Unterrichtens und Einübens fortzufahren, wirkt sich eine Veränderung der Position des Kindes/Jugendlichen direkt auf die Positionierung der anderen Familienmitglieder aus. Dabei ist es jedoch verkürzt von Familie als Arena des symbolischen Kampfes zu sprechen, wie Bourdieu dies in Analogie zu anderen gesellschaftlichen Feldern tut (Bourdieu 1998b) oder sie lediglich als in den Normalisierungsund Kontrolldiskurs eingespannt zu sehen (Foucault 2003). Vielmehr setzen sich Familien auch mit den Individuationsprozessen der Kinder/Jugendlichen auseinander, von denen hier die jugendliche Individuation in den Blick genommen wurde. Während Honneth (1994) mit Bezug auf Winnicott sehr ausführlich auf die wechselseitige Abhängigkeit von Mutter und Kind in der Zeit von der Geburt bis zur Individuation in der Unterscheidung zwischen Ich und Anderem unterscheidet, konnten in den familialen Interaktionen (Neu-) Verortungsprozesse und Positionierungsaushandlungen in der Jugendphase in den Blick genommen werden, jener Phase also, die Oevermann (2008a) als vierte Individuationskrise bezeichnet. Hier geht es um den Kampf darum, dass die Eltern die Eigenständigkeit des Kindes/Jugendlichen akzeptieren und sich zustimmend gegenüber der Ent-Fremdung der Kinder gegenüber den Beziehungen zu den Eltern verhalten. Die Erfahrung emotionaler Anerkennung stellt in diesem Zusammenhang die Basis dar, sich selbst sicher auch außerhalb der Familie verorten zu können. Je weniger Jugendliche sich hier sicher (das heißt zentral) in der Familie verortet wissen und je mehr elterliche Selbstproblematiken dem Familienge284
füge aufgebürdet werden, um so unsicherer sind Jugendliche hinsichtlich ihrer Positionierung in der Familie und außerhalb der Familie. Die Verortung in der Peripherie der Zugehörigkeit, die schließlich die Teilhabe an der Familie unsicher werden lässt, führt schließlich zu Individuationskrisen, in denen eine wechselseitige Relationierung zueinander misslingt. (6) Der Blick auf den Zusammenhang von Anerkennung und Macht, zeigt sich in der Familie und hinsichtlich der Positionierung der Familienmitglieder dreifach: zum Einen gilt es für die Familie, sich dem Normalisierungsdiskurs der „Sorge um das Kind“ (Foucault 2003) unterzuordnen. Emotionale Anerkennung wird zur normativen Aufforderung an alle Familienmitglieder und eine Abkehr von der Kindzentrierung bedarf der besonderen Legitimation. Zum Anderen ist „die Sorge“ nur ein Teil des Normalisierungsdiskurses, denn in den Familien geht es auch um die Zugehörigkeit der Familie zu einem bestimmten Milieu. Hier ist eine Nähe von Foucault und Bourdieu feststellbar: während es in privilegierten Milieus immer um die Sorge um das einzigartige Kind geht, dominiert in den weniger privilegierten Milieus der ‚Habitus der Notwendigkeit‘ – die Achtsamkeit darauf, dass das Kind überlebt. Diesen beiden sorgenden Normalisierungsdiskurs orden sich Familien unter und zugleich versetzt es Familien in unterschiedliche Möglichkeiten auf exklusive Bildungschancen Bezug zu nehmen. Dominiert der Habitus der Kindzentrierung, so werden die Bildungsbezüge von Beginn an kindgerecht vermittelt, in einem Wechselspiel aus liebevoller Zuwendung und Aufmerksamkeit gegenüber dem Kind einerseits, der bewussten Gestaltung einer anregungsreichen und bildungsorientierten Umwelt andererseits (gut nachvollziehbar am Fall Marcus Johannson). Ist die Kindzentrierung reduziert, heißt das zwar nicht zwingend, dass der ‚Habitus der Notwendigkeit‘ herrscht, in dem es nur darum geht, dass die Kinder überleben, jedoch tragen Fälle, in denen die Kindzentrierung reduziert ist, Züge von diesem Habitus, da es weniger um kindzentrierte Bildungsermöglichung geht, als um Versorgung und Betreuung des Kindes (Fall Antonia Schuster). Die Reduktion der Kindzentrierung tritt vor allem dort auf, wo keine Milieuprivilegierung vorhanden ist und dort, wo familiale Problemkonstellationen die ‚Sorge um das Kind‘ überlagert. In beiden Fällen kommt es zu einer instrumentellen Verwendung des Kindes und einer Unterwerfung des Kindes unter die Bedürfnisse und Wünsche der Eltern. Während so die Ablösung und Neuorientierung der Jugendphase im Sinne einer ‚Freisetzung‘ in den kindzentrierten Familien intendiert ist und in sicheren Bindungen ruht, wird die Ablösung in reduziert kindzentrierten Familien blockiert: zum Einen weil nur die Bindung Statusgewinn durch Aufstieg gewährleistet oder eben Statusverlust verhindert. Zum Anderen wird das Kind/der Jugendliche zum Hoffnungsträger und vermeintlichen Krisenlöser der elterlichen Problemlagen. Während schließlich in der kindzentrierten Variante die Missachtungsfigur der mangelnden Reziprozität zwischen Eltern und Kindern interaktiv bearbeitet wird, werden dort, wo der Habitus der Notwendigkeit herrscht, die Bedürfnisse der Kinder missachtet. Jedoch ergibt sich ein Möglichkeitsraum für die Jugendlichen, die sich zu diesen Missachtungsverhältnissen verhalten können. Dieser Möglichkeitsraum der Auseinandersetzung mit den Zugehörigkeitsordnungen der Familie fehlt dort, wo es zu indifferenten Beziehungskonstellationen kommt (Lena Fried). Hier kommt es zu einer grundsätzlichen Missachtung der Anerkennungsfähigkeit als Teil der Familie, weil die Eltern verkennend auf Alterität verzichten (vgl. Bedorf 2010). Die Selbstpositionierung des/der Jugendlichen ist erschwert und wurde hier mit „Ortslosigkeit“ beschrieben.
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(7) Das Thema „Jugend und Raum“ ist nicht erschöpfend behandelt, wenn der Thematisierung jugendlicher Neuverortungsprozesse nicht noch einmal gesonderte Aufmerksamkeit geschenkt wird. Da die Frage nach der Platzierung Jugendlicher nun schon in den anderen Teilen behandelt wurde, soll es hier noch einmal um eine Zuspitzung der Ergebnisse hinsichtlich der Zugehörigkeitsfrage gehen. Auf der Grundlage der Feststellung, dass EntFremdung in jugendlichen Platzierungsprozessen konstitutive Voraussetzung der aktiven Selbstplatzierung ist, konnte festgestellt werden, dass die Möglichkeitsräume Jugendlicher, ihre Handlungsräume auszugestalten durch die jeweiligen Zugehörigkeitsordnungen der Räume, in denen sie sich bewegen begrenzt sind und die Passungskonstellationen zwischen familialen und schulischen Möglichkeitsräumen Aufschluss über die Möglichkeitsräume der Selbstplatzierung geben. Dabei ist es wichtig zu erwähnen, dass Jugendliche sich vor allem dann schulisch hervorragend platzieren können, wenn die Passung zwischen Familie und Schule ihnen die Möglichkeit setzt, auch eigene Vorstellungen umzusetzen. Bildlich gesprochen: bei homologen und vollständig konvergenten Überschneidungen von Familie und Schule bleiben Jugendlichen nur wenige Möglichkeit, sich selbst als Eigenes zu entwerfen und ihre eigene Zugehörigkeit selbständig auszugestalten. Die mangelnde Übereinstimmung von Handlungsräumen schafft somit für Jugendliche Möglichkeitsräume, sich zu platzieren. Hieraus entstehen Kontingenzen im Sinne von räumlichen Öffnungen, die das räumliche Handeln auch ungewiss und unvorhersagbar werden lassen. Diese Öffnungen sind jedoch auch notwendig, um die bestehenden Unterwerfungsroutinen zu bearbeiten und neu zu gestalten. Jedoch verweisen sie auch darauf, dass vollständige Zugehörigkeit ebenso eine Unmöglichkeit der Selbstverortung darstellt, wie die Ungewissheit über Zugehörigkeit. So zeigen Fälle, in denen die Kinder den elterlichen Handlungsvorstellungen untergeordnet werden und die Züge der vollständigen Vergemeinschaftung tragen, ebenso Probleme in der eigenständigen Positionierung, wie jene, in denen die Kinder gewissermaßen ortslos sind und sich nicht eigenständig zu Familie und Schule positionieren können. 2. Verortung der Befunde im Spektrum der Grenzen der Studie Mit diesen Erkenntnissen hoffe ich einen Beitrag zur Systematisierung des Raumbegriffs in der Schulkulturtheorie im Speziellen und für Prozesse des Aufwachsens allgemein geleistet zu haben. Doch finden sich bei allen Möglichkeiten, die sich meines Erachtens aus dem Vorgehen dieser Studie ergeben, aufgrund des spezifischen Zuschnitts auch Grenzen, von denen ich die wichtigsten im Folgenden kurz skizzieren möchte. (1) Die Reichweite der Studie als Mehrebenenansatz ist durch die Einbeziehung der Ebenen Individuum, Interaktion, Institution/Milieu begrenzt. Das bedeutet, dass Rückschlüsse auf die gesellschaftliche Verortung von Schulen und Familien immer nur theoriegeleitet stattgefunden haben, nicht aber am konkreten Material orientiert waren. Zugleich handelt es sich bei dieser Studie nicht um eine Milieustudie – z.B. im Stil der „Arbeitslosen von Marienthal“ (Jahoda/Lazarsfels/Zeisel 1975) – die etwa durch teilnehmende Beobachtung der Familien, durch Interviews mit Verwandten und Freunden die Annahmen noch einmal absichert, die hinsichtlich der Milieuverortung der einbezogenen Familien gemacht wurden. Die Annahmen zum Milieu gehen aus einer Triangulation von Familieninteraktionen, z.T. Elterninterviews und den Interviews mit den Schülerinnen und Schülern hervor. (2) In dieser Studie habe ich mich auf die Betrachtung exklusiver Schulkulturen beschränkt. Hiermit wurde ein Ausschnitt des Bildungssegmentes betrachtet, der Jugendliche 286
besonders privilegiert und – wie gesehen – privilegierte Jugendliche und ihre Familien in besonderer Weise anzieht. Annahmen zum Wirksamwerden sozialer Ungleichheit sind damit immer von begrenzter Reichweite, denn sie können an dieser Stelle nicht (oder nur theoretisierend) mit Befunden aus dem unteren sozialen Milieu kontrastiert werden. Die Einbeziehung heterogener Lebenslagen (wie soziale Benachteiligung, Multiproblembelastung, Migrationshintergrund) war nur sehr peripher und vereinzelt (etwa durch den Fall Erik Wagner oder Antonia Schuster). Die Arbeit ist zwar dennoch – wie oben ausgeführt – als ein Beitrag der Rekonstruktion von Mikroprozessen sozialer Ungleichheit zu verstehen, hat jedoch ihre Grenzen darin, dass sie die empirische Realität sozialer Benachteiligung nur aus dem Feld der Privilegierung wahrnimmt und analysiert. Grundlegende Fremdheit gegenüber der Schule (Willis 1979, Bietau/Breyvogel/Helsper 1981, Wiezorek 2005, Krüger/Köhler/Pfaff/Zschach 2008, Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009) habe ich nicht einbezogen, ebensowenig wir deutlich exponiertere Schulen, im Vergleich zu den hier betrachteten (Helsper 2006, Ullrich/Strunck 2008). Hier liegen sicherlich Anschluss- und Differenzierungsmöglichkeiten, die jedoch anderenorts aufgegriffen werden müssen. (3) Eine weitere Grenze liegt darin, dass es in dieser Arbeit vor allem um die relationalen Anordnungsstrukturen ging und ich mich – bis auf die Beschreibung der Schulgebäude zur Unterstreichung des schulkulturellen Entwurfs und seiner Charismatisierungskrisen – auf einen Raumbegriff bezogen habe, der konkrete Orte, Lokalisierungen, Architekturen und Körper sowie ihrer Konstellationen nicht annimmt (vgl. Yamana 1997, Pongratz 1994 – in Bezug auf Foucault). Dies war nicht nur den pragmatischen Überlegungen zum Vorhandensein des Materials geschuldet, sondern auch dem Umfang der Untersuchung selbst. Dennoch fällt im Blick zurück auf, dass die „material-physischen Raumordnungen“, als „schulische Territorialisierung der Schüler- und Lehrkörper“, die in sich „Vermittlungsund Aneignungsprozesse ermöglichen und verhindern“ (Böhme 2009, S. 18) hier sehr marginalisiert sind und „Schule als System und als lokaler Ort in einem konkreten territorialen Kontext“ (Reutlinger 2009, S. 105) nicht betrachtet wird. Diese wären nicht nur deshalb interessant, weil sie mit den Erkenntnissen zu machtförmigen Effekten von Räumen und Gebäuden aus Philosophie und Soziologie und verbunden werden könnten (vgl. RiegerLadich/Ricken 2009, S. 193), sondern auch weil das Zusammenspiel mit den territorialen Gegebenheiten in Anordnungs- und Lagerungsmöglichkeiten und -praktiken differenziertere Aufschlüsse über Zugehörigkeitsmöglichkeiten und -grenzen bieten würde. Hier wiederum liegt eine Anschlussstelle an die Arbeiten von Jeanette Böhme und Ina Herrmann (2009), die in diesem Spektrum ein Modell der raumwissenschaftlichen Schulkulturforschung entwickelt, das der materialen Gestalt von Schularchitekturen, den raumbezogenen Handlungsmustern schulischer Akteure, den institutionellen Entwürfen des schulischen Bildungsraumes und den raumbezogenen Deutungsmuster der schulischen Akteure Rechnung trägt. (4) Die vorliegende Studie hat, wie ich meine, interessante Hinweise auf die Bedeutung der peer-Beziehungen ergeben. Der Zusammenhang von peer-Kultur und Raum ist jedoch bislang erst wenig beforscht (z.B. durch Breidenstein 2006) und könnte vor dem Hintergrund der weiteren schulischen Beziehungen ausdifferenziert werden. Auch ist die Frage nach der Bedeutung außerschulischer Gleichaltrigenbeziehungen ein zentrales Desiderat, das vor allem auf der Grundlage der Befunde zu den jugendkulturellen Verortungen im Falle schulisch und familial eingeschränkter Möglichkeitsräume untersucht werden 287
müsste. Hier könnte an Studien zu außerschulischen peer-Bezügen angeschlossen werden (z.B. Krüger/Köhler/Pfaff/Zschach 2008) und die räumlichen Ermöglichungsstrukturen dieser Bezüge untersucht werden. (5) Reutlinger (2009) stellt fest, dass „eine postulierte Orientierung am (sozialen) Raum […] erst möglich [wird, M.H.], wenn Sozialraum nicht länger im Spannungsfeld von Institution und Intervention, sondern in der Dialektikvon Raum und (sozialer) Entwicklung gedacht wird“ (ebd., S. 104). Der damit verbundenen Orientierung an Räumen als Ermöglichungskontexten“ hat die Arbeit zum Teil Rechnung getragen, indem sie die schulkulturellen Ordnungen und ihre Charismatisierungskrisen in den Blick genommen hat. Jedoch wäre eine Komplexitätssteigerung dann möglich, wenn die soziale Dimension der Zeit noch stärker einbezogen würde, so dass Entwicklungsräume deutlich würden. Was Reckwitz mit Bezug auf die Hybridität von Kultur behauptet, kann hier auch mit Blick auf die Hybridität von räumlichen Zugehörigkeitsordnungen festgestellt werden: Wird die historischtemporale Dimension ernst genommen, dann ist „Hybridität [… ] Hybridisierung; kulturelle Differenzen sind dann Sequenzen der Produktion von Differenzen, die selbst durch immer neue Rückverweise (und Vorverweise) veränderlich und mehrdeutig werden“ (Reckwitz 2006, S. 637). 3. Möglichkeiten der raumanalytischen Betrachtung von Prozessen des Aufwachsens Inklusion und Exklusion stellen nicht einfach nur ein Innen und Außen der Zugehörigkeit dar, sondern differenzieren sich in vielen Konstellationen aus, die nicht einem bestimmten Muster folgen, sondern in denen es zu Überschneidungen und Konstellationen unterschiedlicher Muster kommt, die unterschiedlich miteinander kombiniert sind (vgl. Reckwitz 2006, S. 632). Die Nutzung eines Modells, das Raum dynamisch begreift und diese Konstellationen in ihrer wechselseitigen Bezogenheit aufeinander nachvollziehbar macht, ermöglicht einen theoretischen Gewinn in mehreren Hinsichten: 1. Ist es möglich, die Raumsemantik der Schulkulturanalyse zu systematisieren und sie dennoch so offen zu halten, dass der Dynamik räumlichen Handelns Rechnung getragen wird. Dabei ist es wichtig, Raum als relationale Anordnungsstruktur zu begreifen (Löw 2001), die durch eine jeweilige Zugehörigkeitsordnung systematisiert wird. 2. Zugehörigkeitsordnungen existieren dabei auf unterschiedlichen Aggregierungsebenen des Sozialen und ihnen liegt eine dezentrierte Struktur zugrunde. Sie zu rekonstruieren heißt, die imaginären Entwürfe von Zugehörigkeit mit ihren Symbolisierungen und den einbettenden Spannungsverhältnissen (Anerkennung – Missachtung, Nähe – Distanz, Einheit – Differenz) zu kontrastieren. 3. Durch die Raumanalyse wird es möglich, Entwicklungsspielräume der Schulkultur herauszuarbeiten und somit Schulentwicklungsprozesse mit Blick auf die räumlichen Anordnungsstrukturen der Schule zu betrachten. In Anlehnung an Helsper (2010), der in der Analyse von Schulkulturen eine Möglichkeit sieht Schulentwicklungspotenziale herauszuarbeiten, können mit der Raumanalyse Möglichkeiten der Verortung der Schule nach außen und der Verortung der schulischen Akteure in der Schule Bedingungen von Schulentwicklungsprozessen herausgearbeitet werden. 4. Die Analyse der Anordnungs- und Lagerungsbeziehungen in der Schule ermöglichen den Nachvollzug von Mikroprozessen sozialer Ungleichheit in ihrer komplexen Verwobenheit. So erscheinen ungleiche Platzierungen in der Schule nicht nur als Ergebnis 288
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unterschiedlicher Leistungsfähigkeiten und auch nicht nur als aus den Milieubindungen ableitbar, sondern die unterschiedlichen Platzierungen in familialen und schulischen Beziehungen und die biografischen Erfahrungen differenzieren die Platzierungsund Anordnungsleistungen aus. Familientheoretisch werden ebenfalls unterschiedliche Zugehörigkeitskonstellationen sichtbar. Dabei kann die Zugehörigkeit der Familie und die Zugehörigkeit zur Familie analytisch getrennt und dennoch in ihrer wechselseitigen Bedingtheit untersucht werden. Jugendtheoretisch liegt eine zentrale Erkenntnis darin, dass die ‚Entstehung des Neuen‘ aus einer räumlichen Perspektive, eine Betrachtung der Möglichkeitsräume Jugendlicher vor dem Hintergrund von Familie und Schule ermöglicht und zugleich Zugehörigkeit nicht eindimensional betrachtet wird, sondern die vielfältigen Möglichkeiten an Zugehörigkeiten in ihrer Bezogenheit aufeinander betrachtet werden. Sozialisationstheoretisch ist die Einbeziehung der Frage von Zugehörigkeit und Anerkennung interessant, weil sie das Wechselspiel von Bindung und Ent-Fremdung in seiner intersubjektiven Ausgestaltung in den Blick zu nehmen vermag und dabei den damit verbundenen Macht- und Unterordnungsstrukturen auf die Spur kommt. Raumanalytisches Vorgehen ermöglicht die kontingenten Bedingungen sozialen Handelns und das Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion strukturtheoretisch zu betrachten, indem mehrere Handlungsräume und in ihnen stattfindende Verortungsprozesse zueinander relationiert werden. In der Annahme hybrider Zugehörigkeitskonstruktionen können Möglichkeitsräume differenzierend beschrieben und mit anderen Möglichkeitsräumen in Beziehung gesetzt werden.
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