Austin Osman
Ich – Lucifugus Version: v1.0
Es wird Ihnen nicht schwer fallen, die Peinlichkeit der Si...
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Austin Osman
Ich – Lucifugus Version: v1.0
Es wird Ihnen nicht schwer fallen, die Peinlichkeit der Situation nachzuvollziehen. Fünf Männer, die mich überfielen, mich auf den Boden warfen und versuchten, mir einen Holzpflock ins Herz zu treiben. Ich will auf keinen Fall in den Verdacht des Selbstmitleids geraten. Aber es war genau dieser Moment, der eine Folge von Ereignissen in Gang setzte, an deren Ende unsere Bekanntschaft steht. Und ich betone: Nichts von dem, was geschah, habe ich gewollt!
Der Abend, an dem es begann, erweckte in keiner Weise den Verdacht, er könnte anders ablaufen als tausend andere ruhige Abende, die ich in meinem bisherigen Leben verbracht hatte. Allerdings war schon das Klopfen an der Tür eine unerfreuliche Belästigung, denn ich erwartete keine Gäste. Ich hatte keine Bekannte, keine Freunde, keine sozialen Kontakte zu meiner Umwelt. Es gab niemanden, der mich besuchen konnte – erst recht nicht knapp nach Mitternacht! Ich legte das Buch zur Seite, in das ich vertieft war und wartete ab. Schließlich bestand die Hoffnung, dass ich mich getäuscht hatte. Vielleicht wurde ja an eine andere Tür gepocht. Ich lebte in einem möblierten Zimmer in einer Art Pension und auf dem Gang gab es noch weitere Türen, hinter denen weit sozialere Wesen wohnten, als ich es war. Aber das Klopfen kam erneut und zwar auf eine derart dringliche Art, dass es mich fast schon von der Notwendigkeit des unerwarteten Besuchs überzeugte. Ich öffnete. Das nächste, was ich registrierte, war eine Hand an meiner Kehle. Sie drückte mir die Luft ab, zugleich wurde ich mit roher Gewalt nach hinten ins Zimmer gestoßen. Ich stolperte und stürzte. Der Teppich dämpfte meinen Aufprall. Allerdings warf sich der Mann, dem die würgende Hand gehörte, auf mich und trieb mir den letzten Atem aus den Lungen. Ich will Sie nicht mit der Beschreibung meines Zustandes behelligen. Literarischer Ehrgeiz ist mir ebenso fremd wie das Talent, dem er entwächst. Also betone ich nur, dass mir bunte Schleier vor den Augen tanzten und meine Lunge wie Feuer brannte. Ich vernahm ein Rauschen, als weitere Männer ins Zimmer stürmten. Mein gepeinigtes Hirn baute aus diesem Geräusch eine Vision schwerer lederner Schwingen, als hätten sich Nachtengel in meinem Zimmer
niedergelassen. Aus den Augenwinkeln erkannte ich die prosaische Wirklichkeit. Alle fünf trugen Ledermäntel, die ihnen bis zu den Stiefeln reichten. Sie hatten sich ein Tuch um den Hals gewickelt, das auch noch den Mund und die Nase verdeckte, als fürchteten sie einen Pesthauch. Auf dem Kopf trugen sie alle dieselbe Art von schwarzen breitkrempigen Hüten, die ihr Gesicht verschatteten. Ich konnte nur ihre Augen erkennen, in denen der Fanatismus von Inquisitoren flackerte. Da sie alle schwarze Lederhandschuhe trugen, waren diese Augen – die mich hasserfüllt anfunkelten und mich in der Intensität ihres Abscheus eines Verbrechens bezichtigten, von dem ich nichts wusste – tatsächlich das Einzige, was mich überzeugen konnte, hier mit Menschen und nicht mit Maschinen konfrontiert zu sein. Der Aufzug der fünf Männer wäre mir lächerlich und maskenhaft erschienen, in keiner Weise der herrschenden Mode und sogar noch weniger der warmen Jahreszeit angepasst. Indes war meine Lage eine derartige, dass Bedenken über die Bekleidung meiner Besucher fehl am Platze waren. Hatte ich zuerst noch die Hoffnung gehabt, es möge sich um einen Scherz handeln – wenn auch um einen höchst unpassenden – wurde ich eines Schlechteren belehrt. Der Mann, der mich bisher auf den Boden gedrückt hatte, wälzte sich zur Seite und bog zugleich meinen linken Arm in einem äußerst unnatürlichen Winkel nach hinten. Ich hörte Schreie und brauchte eine Weile zu der Erkenntnis, dass sich dieses tierische Gebrüll meiner eigenen Kehle entrang. Die Männer selbst gingen in völligem Schweigen ihrem Geschäft nach. Dessen Zweck sollte mein Tod sein, daran gab es für mich keinen Zweifel mehr. Ich versichere Ihnen, in diesem Moment hätte ich den Tod als Erlösung begrüßt, denn inzwischen folterten mich unbeschreibliche Qualen.
Es ist wirklich seltsam, wie verletzlich doch der fleischliche Körper gegenüber der Bosheit anderer Menschen ist. Ich will Ihnen diesen Gedanken dadurch illustrieren, dass ich vor Ihrem geistigen Auge das Bild eines Mannes entstehen lasse, der aus der Beschaulichkeit seiner nächtlichen Lektüre herausgerissen wird und sich auf dem Boden liegend wiederfindet, wo vier fremde Männer ihm die Gliedmaßen auf das Schmerzhafteste verdrehen. An Armen und Beinen derart gefoltert, sucht das Opfer nach Entlastung. Es muss sich bewegen, sein Instinkt treibt es dazu. Aber jede Bewegung, die Linderung an einer Stelle bringt, verstärkt die Pein an den anderen. Sagen Sie nicht, Sie könnten mich verstehen. Keiner kann das, es sei denn, er hätte eine solche Situation selbst durchlitten. Ich bezweifele, dass es viele Menschen gibt, die aus der Hölle einer solchen Folter wieder zurück ins Leben fanden. Und wenn, dann werden sie schweigen, weil Worte ein zu schwaches Instrument sind, um Schmerz und Demütigung von solchem Ausmaß zu erfassen. Der Gefolterte ist nur noch ein Stück Fleisch. Er hat aufgehört, Mensch zu sein und ist reduziert auf einige Nervenstränge, die die rote Glut des Schmerzes zu den Muskeln und Sehnen tragen. Er ist nur noch gedemütigte Materie in den Händen seiner Peiniger, er ist ihnen ausgeliefert. Trotz allem gelang es mir, selbst in dieser Lage einige Dinge zu registrieren. So entging mir keineswegs der penetrante Knoblauchgeruch, den die Angreifer ausströmten. Ich erinnere mich daran, dass einem meiner Folterer ein Kreuz aus dem Mantelkragen fiel. Es pendelte an einer silbernen Kette. Es war ein schweres, sicherlich sehr wertvolles Kreuz, das einst liturgische Funktion gehabt haben mochte. In meinen Ohren rauschte das Blut, zugleich peinigte mich das kehlige, unmenschliche Geschrei, das ich als mein eigenes
akzeptieren musste. Mich verwunderte es, dass angesichts solcher infernalischer Klänge nicht schon die gesamte Nachbarschaft zusammengelaufen war. Es war nicht so, dass ich mit diesem Gedanken irgendetwas wie Hoffnung verbunden hätte. Es gab keine Hoffnung für mich. Mit geradezu herausfordernder Ruhe stellte der fünfte Mann eine Tasche auf den Tisch. Es war eine Ledertasche mit einem mittleren Klappbügel, wie sie von Ärzten genutzt wird. Die Instrumente, die er daraus hervorbrachte, erweckten allerdings keineswegs Gedanken an Heilung. Es handelte sich um einen derben Holzhammer, einen grob geschnittenen Holzpflock und eine Säge. Von Letzterer konnte ich aus meiner Perspektive wenig erkennen, hielt sie aber für eine chirurgische Knochensäge. Der Mann nahm Hammer und Pflock und wandte sich mir zu. Er kniete neben mir, drückte mir den Holzpfahl auf die Brust und wechselte noch einige Male dessen Position, bis sie ihn zufrieden stellte. Er ging mit äußerster Brutalität zu Werke, stach mir den spitzen Pflock jedes Mal ins Fleisch, als handele es sich schon um tote Materie. Oder, noch schlimmer, als gehöre mein Körper schon ihm, als hätte er ihn gekauft durch die Währung der Gewalt. Der Fremde drückte den Pflock durch meine Haut, hob den Hammer, setzte ihn leicht klopfend an, hob ihn … Ich wusste, dass es vorbei war, starrte zur Decke, vorbei an einer Hutkrempe, unter der hasserfüllte Augen funkelten. Ich war einverstanden mit meinem Ende. Da setzte mein Peiniger sein Mordwerkzeug noch einmal ab. Die Spitze des Pflocks war inzwischen von meinem Blut gerötet. Die Schmerzen dieser Wunde verband sich mit der Glut, die in meinen verdrehten Gelenken brannte. Er riss mir das Hemd über der Brust auf, strich prüfend über meine Haut. Es mochte auf einen neutralen Betrachter wie die abscheuliche Parodie der Zärtlichkeit erscheinen. Mir war es, als
prüfte ein Schlachter ein Stück Bratenfleisch. In dem Moment, in der der Mann seinen Kopf nahe meiner Brust hielt, stieß ich meinen Kopf hoch. Ich traf seinen Schädel mit der Stirn und wenn ich auch selbst davon halb betäubt war, so war die Wirkung auf ihn wesentlich stärker. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass meine Handlung für mich selbst gänzlich überraschend kam. Ich, der ich mich nie im Leben einer Gewalttätigkeit schuldig gemacht hatte, nutzte meinen Schädel als Rammbock. Unverständlicherweise musste mein Kopfstoß von überraschender Kraft gewesen sein, denn der Mann taumelte aus seiner halb hockenden Haltung nach hinten und stürzte zu Boden. Die vier anderen reagierten, indem sie meine Gelenke noch weiter verdrehten. Dabei allerdings unterlief einem ein Fehler. Für einen kurzen Moment lockerte sich sein Griff. Trotz der lähmenden Schmerzen schaffte ich es, mein Bein an mich zu ziehen und zuzutreten. Ich trat aus purer Verzweiflung, durfte mich allerdings sofort eines unerwarteten Erfolges rühmen. Der Mann wurde in die Höhe geschleudert und prallte knapp unter der Decke gegen die Zimmerwand. Sein Kopf allerdings schlug gegen die Decke, der Putz flog in alle Richtungen und bedeckte ihn, als er leblos zu Boden stürzte. Ich konnte mich leicht zur Seite drehen und mit einem weiteren Tritt auch das andere Bein befreien. Wieder deutete das Ergebnis auf Körperkräfte hin, von denen ich nichts wusste. Unter meinem Tritt kugelte der Getroffene zur Seite und riss mein erstes Opfer erneut zu Boden, als es sich gerade erheben wollte. Weitere Gewalttätigkeiten meinerseits waren nicht mehr nötig. Die Angreifer schienen plötzlich von Panik erfasst zu sein. Meine Arme wurden losgelassen. Die beiden Männer, die sie bis dahin gehalten hatten, sprangen auf, halfen ihren Kumpanen und sie flohen
gemeinsam. Wie mir nachher berichtet wurde, rempelte sie auf dieser Flucht einige Gäste des Hauses an, die schlaftrunken auf dem Gang erschienen waren, um nach der Ursache des Lärms zu forschen. Hilfe wurde mir schnell zuteil. Ich muss gestehen, dass ich mit einer Mischung aus Erstaunen und Rührung erlebte, wie sich die Pensionsgäste, denen ich eigentlich ein gänzlich Fremder war, um mich bemühten. Bald allerdings legte sich die Aufregung wieder. Im Einvernehmen mit meiner Pensionswirtin verzichtete ich darauf, die Staatsorgane einzuschalten. Sie wollte den guten Ruf ihres Hauses nicht durch das Erscheinen der Polizei schädigen. Was mich angeht, wäre eine Schilderung der Ereignisse über die Maßen peinlich gewesen. Außerdem schienen sie selbst mir derart unwahrscheinlich, dass ich mir sicher war, mich als Geschädigter eher rechtfertigen zu müssen, als Genugtuung erwarten zu dürfen. So bekam ich von ihr eine Salbe zur Behandlung meiner gequälten Gelenke und mit dieser fürsorglichen Gabe endete die Aufregung …
* An dieser Stelle scheint es mir angebracht, einen Blick auf mein Leben zu werfen, um zu erläutern, warum ich zu dieser Stunde an diesem Ort war. Denn der Besuch der fünf Männer, der noch seine Erklärung finden sollte, hätte logischerweise ohne meine Anwesenheit nicht stattgefunden. Meinen Vater habe ich nie gekannt, an meine Mutter habe ich keine Erinnerung. Als sie verschwand, war ich zu jung, um mehr zurückzubehalten als einige nebelhafte Gefühle. Wenn ich versuche, mich an meine Mutter zu erinnern, dann kommen mir Begriffe wie Geborgenheit und Sicherheit in den Sinn. Und versuche ich, aus
diesen undeutlichen Empfindungen ein Bild zu filtern, so ist es das eines lachenden Gesichtes nahe dem meinem. Und ich denke an schwarze, von Zärtlichkeit erfüllte Augen, deren Blick mich wie milde Sommerwärme umhüllt. Verzeihen Sie diesen ungelenken poetischen Ausrutscher, aber ich bin mir sicher, das Thema rechtfertigt mich. Dass meine Mutter mir wunderschön erschien, brauche ich nicht zu betonen. Jedem Kind ist seine Mutter die Schönste. Meine Großmutter nahm mich nach dem Verschwinden meiner Mutter zu sich. Ob sie tatsächlich meine Großmutter war, oder eine Tante oder ob sie überhaupt in irgendeinem verwandtschaftlichen Verhältnis zu mir stand, weiß ich nicht. Sie behandelte mich jedenfalls gut. Sie konnte mir nichts von der Liebe einer Mutter geben, aber sie gab mir ein Heim und die Verlässlichkeit ihrer steten, leisen und immer etwas übel gelaunten Anwesenheit. Sie kleidete mich, sie nährte mich und wenn sie besser gestimmt war als üblich, kochte sie mir meine Lieblingsgerichte wie Tomatensuppe oder rote Grütze. Wobei mir diese Speisen weniger durch ihren Geschmack als durch ihre rote Farbe Genuss verschafften. Zu der Zeit musste ich in die Schule und für mich begann eine Leidenszeit. Ich meine nicht die allzu verständliche Abneigung vieler Kinder gegen den Zwang zum Lernen. Nein, zum ersten Mal wurde mir bewusst – vielmehr wurde mir bewusst gemacht – dass ich nicht in diese Welt passte. Intelligenz fehlte mir keinesfalls. Ich lernte schnell, war aufmerksam und von unstillbarer Neugier. Bereits das machte mich zum Außenseiter, wenn ich auch dadurch bei manchem Lehrer besser dastand, was mir das Leben erleichterte. Schlimm waren die Sportstunden. Während die trägsten und dümmsten Klassenkameraden gerade hier ihre Höhepunkte erlebten, versagte ich auf ganzer Linie. Meine Haut vertrug die Sonne nicht gut. Ich bedeckte im
Normalfall stets jeden Teil meines Körpers bis auf Gesicht und Hände. Im Sommer machte ich mich damit zum Ziel der stets spottbereiten Kinder. Aber im Sportunterricht musste ich mich bis auf Hemd und kurzen Hosen entkleiden. Mein schwächlicher Körperbau und die bleiche Haut forderten die höhnischen Kommentare geradezu heraus. Zudem war ich ungelenk und hatte nie im Leben das Bedürfnis gehabt, zu toben oder zu klettern. Nach sommerlichen Sportstunden war meine Haut gerötet, zeigte Blasen und eiternde Stellen. Ich wurde regelmäßig krank, bis mich ein Attest eines einsichtigen Arztes von der Qual weiteren Unterrichtes in Körperertüchtigung entband. Ich erinnere mich genau, mit welch skeptischem Blick der alte Arzt meine Haut betrachtete. Meine Großmutter musste viele Fragen beantworten. Eine Pflicht, der sie sich mit der ihr eigenen übellaunigen Bereitschaft unterzog. Der Arzt bestrich mich mit einer stinkenden Paste, von der ich erst viel später erfuhr, dass es sich um Knoblauch aus der Küche handelte. Er schickte einen Burschen, um spezielles Wasser zu holen, mit dem er mich besprühte. Während der Wartezeit forderte er mich auf, unverwandte das Wandkreuz anzuschauen, das über einer Liege hing und legte mir seine silberne Taschenuhr in die Hand. Endlich schüttelte er den Kopf und erklärte: »Der Casus ist speziell!« Ich bekam mein Attest, eine Salbe und ein Rezept für eine Sonnenbrille. Der kluge Mediziner hatte nämlich erkannt, ohne dass ich es erwähnt hätte, dass meine Augen äußerst lichtempfindlich waren. Es folgten einige gute Jahre, in denen ich mich daran gewöhnte, ein Außenseiter zu sein und damit zu leben lernte. Ich wurde mit meinen Eigenheiten in dem kleinen Ort, in dem ich aufwuchs, einigermaßen akzeptiert. Dass alle Katzen, sobald ich nur aus der Ferne zu erblicken war,
fauchend und mit aufgestelltem Schwanz verschwanden, wurde einem mir eigenen Körpergeruch zugeschrieben. Freunde hatte ich keine. Ich war zu anders und irgendwann sehnte ich mich auch nicht mehr nach Freundschaft. Schließlich kam der Tag, an dem meine Großmutter verschwand. Ich kam aus der Schule und hockte bis in die Nacht vor der Tür, die sich mir nie mehr öffnen sollte. Eine Nachbarin wurde aufmerksam und brachte mich zu sich. Die Polizei kam, öffnete das Haus, fand aber niemanden. Ich wurde in ein Waisenhaus gebracht. Dort war ich der Schwächste von allen, derjenige, an dem jeder sein Mütchen kühlen konnte. Dennoch bestand ich die Reifeprüfung, wurde als untauglich für das Militär befunden und begann zu studieren. Ich war jetzt mein eigener Herr. Es war mir möglich, mein Leben mehr oder weniger nach eigenem Belieben zu gestalten. Also schlief ich tagsüber und arbeitete nachts. Ich mache mich keiner Verleumdung schuldig, wenn ich sage, dass mein Lebensrhythmus demjenigen der meisten Studenten entsprach. Bei der Wahl meines Studienfaches schwankte ich. Kulturwissenschaft hätte meinem Interesse sehr entsprochen. Auf der anderen Seite hatte ich auch eine mathematische Begabung. Weil mir die Welt der Mathematik in ihrer Klarheit und Eindeutigkeit zusagte, schlug ich diese Richtung ein. Unsicher und verwirrt über mich und mein Leben, gab mir die Welt der Zahlen einen festen Halt. Ich durchlief das Studium in der kürzestmöglichen Zeit und etablierte mich als freier Mitarbeiter einiger Versicherungsgesellschaften. Dieses Arrangement erlaubte es mir, ohne das Korsett fester Arbeitszeiten meinen Lebensunterhalt zu verdienen und nebenbei noch ausreichend Zeit für andere Interessen zu haben. Ich zog mich vor Jahren in die Pension zurück, die ich zum
Zeitpunkt des Überfalls noch immer bewohnte. Ich schlief am Tag, arbeitete nachts, las oder spazierte durch die Stadt. Eine schlafende Stadt hat auf mich stets einen unwiderstehlichen Zauber ausgeübt. Ich liebe die stillen Straßen, die dunklen Häuser, in denen nur vereinzelte erleuchtete Fenster Signale fremden Lebens abgeben. Und der Duft eines nächtlichen Parks im Frühling! Versuchen Sie es einmal, mein Freund! Sie werden mich verstehen. Kurz gesagt: Ich war mit meinem Leben nicht unbedingt glücklich, aber zufrieden. Eine Zufriedenheit, wie ich zugebe, die die milde Bitternis der Resignation durchschmecken ließ.
* Am Tag nach dem Überfall erschien mir das Geschehene wie ein böser Traum. Lediglich die blauen Flecken und die Wunden an der Brust zeugten von der hässlichen Wirklichkeit. Ich war geneigt, die Angelegenheit zu vergessen. Vielmehr, sie zu verdrängen, wie ich so vieles in meinem bisherigen Leben verdrängt hatte. Aber der Zufall – oder sollte ich von Vorsehung reden – hatte anderes mit mir vor. Ich fand unter meinem Bett den Holzpflock. In der Hektik ihrer Flucht hatten die fünf Männer ihn als einziges Zeugnis ihrer Anwesenheit nicht suchen und mitnehmen können. Dunkel schimmerte an der Spitze das Blut, das aus meinem Fleisch gequollen war. Der Anblick überzeugte mich, dass hier Kräfte am Werk waren, die ich nicht verstand, die jedoch mich zum Ziel ihrer Aktionen machten. Ich musste mich zur Wehr setzen. Kurzzeitig überdachte ich die Möglichkeit eines Umzuges in eine andere Wohnung, vielleicht in eine andere Stadt. Aber das konnte mir nicht helfen. Langsam dämmerte es mir, dass der gestrige
Überfall nicht einem zufälligen Opfer gegolten hatte. Sie würden wiederkommen. Warum ich zum Ziel ihrer Mordlust geworden war, wusste ich nicht. Ich musste es herausfinden. Ich musste mich zur Wehr setzen. Mein erster Gang führte mich zu einer Buchhandlung in einem nahe gelegenen Stadtteil. Sie nannte sich ›esoterische‹ Bücherei und trug den Namen ›Horus‹. Neben dem Eingang war ein Abbild des ägyptischen Falkengottes auf die Wand gemalt. Dies war meine Stammbuchhandlung. Zwar interessierte mich der Bereich Esoterik nicht im Geringsten, aber der Inhaber wohnte direkt neben dem Laden. Er litt unter Schlaflosigkeit und daher brannte in seinem Zimmer das Licht bis weit nach Mitternacht. Wir hatten uns kennen gelernt, als ich in einer Sommernacht durch die Nebenstraße spazierte und er rauchend am Fenster saß. So kamen wir ins Gespräch. Wir hatten eine seltsam unpersönliche Beziehung, obwohl wir uns seit Jahren kannten. Ich wusste kaum mehr als seinen Namen und ihm ging es genauso. Nach größerer Nähe verlangte es keinem von uns. Aber hier konnte ich Bücher bestellen, die mich interessierten und Öffnungszeiten galten für mich nicht. Jetzt erinnerte ich mich des literarischen Schwerpunktes des Ladens. Ich pochte an die Ladentür, aber nichts tat sich. Es war eine warme Sommernacht. Durch den Stadtdunst schimmerten Sterne vom blanken Himmel. Eine leichte Brise regte die Kastanienblätter. Aus den kleinen Vorgärten stieg betäubend süßlicher Blumenduft, der sich mit dem Ekelhauch der Kanalisation mischte. Es war still, obwohl viele Häuser mit geöffneten Fenstern nach erfrischender Kühle hechelten. Manchmal sah ich das flackernde Licht eines Fernsehers, hörte Geräusche, Stimmen, Lachen. Mich überkam in diesem Moment eine fast lähmende Sehnsucht. Warum konnte nicht auch ich in dieser herrlichen Nacht im Kreis von Freunden lachen und mich des Lebens freuen? Hatte ich
wirklich dieses Leben im Abseits gewählt oder war es mir aufgedrängt worden? Und selbst wenn eine Person anders ist, so konnte es doch irgendwo Seelen geben, die diese Andersartigkeit mit ihr teilen. Noch einmal pochte ich an die Tür. Das Glas schepperte. In der Stille erschien mir das Geräusch übermäßig laut. Ich hörte aus einem kleinen Fenster in der Nähe das Rauschen einer Toilettenspülung, dann schlurfte der Ladeninhaber hustend heran. Er war ein alter Mann, groß und hager. Sein starker Tabakkonsum hatte seine Gesundheit ruiniert, ohne ihn jedoch von seiner Sucht abzubringen. Er stammte aus einem fremden Land. Woher, das wusste ich nicht, aber sein Zungenschlag mit dem geradezu gefährlich rollenden ›R‹ deutete auf eine Herkunft vom Balkan, vielleicht auch aus Rumänien oder Bulgarien hin. Er drückte sein faltiges Gesicht an die Scheibe, erkannte mich und schloss die Tür umständlich auf. Als ich eingetreten war, trat er zwei Schritte auf die Straße, schaute nach beiden Seiten, als musste er weiteren Besuch erwarten. Anschließend schlurfte er eilig in den Laden zurück, wo er abschloss, das Licht löschte und mich recht hastig und derb an der Schulter packte und vorwärts schob. Er brachte mich in einen Raum, den ich in all den Jahren unserer Bekanntschaft noch nie betreten hatte. Das mag seltsam scheinen, spiegelt aber die schon erwähnte Art unserer Beziehung wider. Tatsächlich war es zum ersten Mal, dass ich in eine Umgebung eintrat, in der sich etwas von der Persönlichkeit des alten Mannes finden ließ. Es war eine jämmerliche Kammer, bestückt mit einem Tisch und drei verschlissenen Sesseln. Mehr passte auch nicht zwischen die vier Wänden. An diesen Wänden jedoch hingen Schnitzereien, Fotografien, Ölgemälde und Zeichnungen. Eine bunte Mischung aus übelstem Kitsch und echter Kunst war dies. Ihr einziger Zusammenhalt lag in der Person des Sammlers. Oder – bei dieser
Entdeckung begann mein Herz schneller zu pochen – in seiner Heimat Transsylvanien. Ohne mich weiter zu beachten, drehte der Alte sich eine Zigarette. Er rollte sie sorgfältig, steckte die gelbliche Zunge aus, um das Papier zu befeuchten und zündete sie schließlich an. Erst als er hinter einer Rauchwolke verschwunden war, schien er sich wieder meiner Anwesenheit zu erinnern. »Sehnsucht nach einem Buch?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf. »Nein, vielmehr eine Frage.« Mit diesen Worten griff ich in die Innentasche meines Mantels, um den Pflock hervorzuholen. In diesem Moment blitzte mir die Erkenntnis durch den Kopf, dass ich auf kuriose Weise in meinen Kleidersitten den fünf Angreifern ähnelte. Auch ich kleidete mich nur in Schwarz, trug einen langen Mantel und einen Hut. Ich legte den Pflock auf den Tisch. Der alte Mann sog zischend die Luft ein, als hätte er sich soeben verbrannt. Erst nach einer Weile griff er nach dem Holzstück und drehte es, ohne es aufzunehmen. »Ihr Blut?«, erkundigte er sich. Ich nickte und schob mein Hemd so weit zur Seite, dass eine Wunde sichtbar wurde. Der Alte murmelte in seiner Muttersprache etwas vor sich hin. »Wann?«, fragte er schließlich. »Gestern.« »Ich fragte: Wann?«, wiederholte er fast ärgerlich. Auch ich war ein wenig verärgert. Dies war kein Gespräch, dies war eher ein Verhör. »Gestern kurz nach Mittemacht. Viertel nach Zwölf vielleicht.« Nach kurzem Zögern fügte ich hinzu: »Wenn ich ungelegen bin, kann ich morgen noch einmal wiederkommen.« Er warf mir aus seinen gelblichen Augen einen schwer zu deutenden Blick zu. Dann wies sein tabakgelber Finger auf einen
Sessel. »Setz dich. Und sei dir nicht sicher, ob du noch einmal wiederkommen würdest.« Dass er plötzlich zu einem vertraulichen ›Du‹ wechselte, irritierte mich, aber ich überhörte es geflissentlich. »Wie viel Mann?«, wollte er wissen, als ich mich in den quietschenden Sessel niedergelassen hatte. »Fünf.« »Fünf … Sie wollten sichergehen – und dennoch bist du entkommen!« Eine lange Zeit betrachtete er den Pflock, prüfte ihn, roch sogar daran. »Sagt dir das Wort Vampire etwas?«, erklang unvermittelt die raue Stimme meines Gastgebers aus dem Rauch einer frisch gedrehten Zigarette. Natürlich hatte ich schon die Verbindung zwischen dem Holzpflock und Vampirgeschichten gezogen. Aber das erschien mir zu absurd. Das sagte ich auch dem alten Mann. Er verzog sein Gesicht zu einem bitteren Lächeln. Das berührte mich seltsam, denn irgendein persönliches Schicksal schien sich hinter der Grimasse dieses Lächelns zu verbergen. »Was macht dich so sicher?«, fragte er. »Ich bitte Sie! Dieser ganze Unfug … Blutsauger, Särge, Fledermäuse. Wir leben in einer Zeit, in der solcher Aberglaube nicht einmal mehr literarisch genießbar ist.« »Ahh«, spottete mein Gegenüber. »Was man nicht versteht, wird zum Aberglauben deklariert. Aber wenn man auch nicht mehr an den Mann im Mond glaubt, so ist der Mond dennoch eine allgemein akzeptierte Tatsache. Eine Tatsache wie das hier.« Er deutete auf den Pflock. »Vielleicht gibt es diese Blutsauger ja doch. Vielleicht gibt es sie, aber anders als sie beschrieben werden. Vielleicht
machen sie ja selbst die Beschreibungen, um die Umwelt zu täuschen?« Die Stimme des Alten hatte jetzt einen lauernden Klang angenommen, als wolle er mir eine Falle stellen. Ich empfand einen plötzlichen Widerwillen gegen ihn und gegen das Spiel, das er mir aufzwingen wollte. »Ich jedenfalls bin kein Vampir«, stieß ich erregt hervor und deutete auf jenes ominöse Werkzeug, mit dem man angeblich die nächtlichen Blutsauger bekämpfen kann. »Bist du dir sicher?« Die Frage war derart direkt, dass sie mich traf wie ein Keulenschlag. Als er meine Verblüffung, dann Verwirrung, dann Empörung bemerkte, die sich auf meinem Gesicht deutlich abzeichneten, lächelte der Alte wieder. »Nein, du bist keiner, das kann ich sehen«, sagte er. Nach einer langen Überlegung stand der Alte auf, schlurfte in den Nebenraum. Dort wühlte er hörbar in Schränken und Schubladen und kam dann mit einem Paket zurück. Es war in braunes Packpapier gewickelt, dennoch waren die Umrisse eines Buches unverkennbar. »Lies das. Später. Bis dahin …« Er unterbrach sich, rauchte und stellte Fragen zu dem Überfall. Während ich antwortete, ruhten meine Blicke auf einer Fotografie, die direkt hinter seiner Schulter hing. Sie zeigte eine Gruppe von Personen, die nebeneinander vor einem Gebäude standen. Da der Platz in der Ecke derjenige war, den der alte Mann direkt angesteuert hatte, schloss ich daraus, dass es sich um seinen Stammplatz handelte. Und daraus wiederum schloss ich auf eine besondere Beziehung zwischen ihm und dem Bild. Irgendetwas war falsch an diesem Foto, aber ich konnte nicht erkennen, welche Abweichung dieses unbewusste Unbehagen hervorrief.
»Ich kenne die Gruppe, die dich überfallen hat«, erklärte mir der Alte schließlich. »Es sind Menschen«, er betonte das auf eine Weise, als wäre damit eine besondere Eigenschaft genannt, »die sich der Bekämpfung dessen widmen, was sie die Vampirseuche nennen.« »Ich bin kein Vampir«, sagte ich. »Aber sie glauben, du seiest einer.« »Das ist absurd. Es gibt Polizei, das Internet, die Menschen fliegen in den Weltraum. Warum muss ich mich mit diesem blöden Hinterwäldler‐Aberglauben herumschlagen?« Er lachte trocken, ein Lachen, das schnell in einen fürchterlichen Raucherhusten umzuschlagen pflegte. »Weil ein Aberglaube, der dein Leben verändern kann, kein Aberglaube ist, sondern Realität. Und weil vielleicht auch die Polizei etwas anderes ist, als du denkst …« Er ließ den Satz ausklingen. »Egal«, fuhr er fort. »Sie halten dich für einen Vampir. Oder genauer, für einen Nachtfürsten, sonst wären sie nicht zu fünft gekommen. Jetzt sind sie sich sicher, dass ihre Vermutung richtig ist. Aber im Grunde waren sie schon vorher davon überzeugt. Man hat es ihnen eingeflüstert.« »Wer ist man?« »Vampire vielleicht.« Ich lachte hell auf und war nun endgültig überzeugt, dass der Alte wirr im Kopf war. »Warum sollten Vampire Menschen schicken, um Vampire zu vernichten? Ihre eigene Rasse?« »Weil ihnen der Krieg im Blut liegt vielleicht?«, antwortete der alte Mann. Er sprach so flüssig, als würde er Gedanken äußern, die schon lange in seinem Bewusstsein bereit lagen. »Weil auch sie ihre Schwächen haben und weil Machtgier eine ihrer größten Schwächen ist.« »Nun gut, aber wenn sie mich loswerden wollen – aus
irgendeinem Grund, den ich nicht verstehe – warum dieser altmodische Kram? Ich will sagen, dass die Mörder vielleicht glauben, ich sei ein Vampir. Aber die Auftraggeber müssten doch die Wahrheit kennen. Warum also bringen sie mich nicht durch einen Schuss aus dem Hinterhalt um oder erstechen mich rücklings, wenn ich meine nächtlichen Spaziergänge mache?« »Glaube mir, sie wissen warum. Sie wissen immer, was sie tun.« Damit schlurfte der Alte murmelnd aus dem Raum. Scheinbar stieg er die Treppe hoch, denn die alten Stufen knarrten. Ich folgte einem Impuls, dessen ich mich schämte, stand auf und ging zu dem Foto. Nun waren die Gesichter genau erkennbar, obwohl die Fotografie grobkörnig und verwaschen war. Sie musste uralt sein, denn die Kleidung der abgelichteten Personen wies auf eine Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Ich glaubte, bei den jüngeren Personen eine Ähnlichkeit zu entdecken, die sie wiederum mit dem Mann und der Frau verband. Der Mann … Staunend näherte ich mich noch einmal dem Foto. Das musste der Alte sein, in dessen Zimmer ich stand. Die Frau hatte keine Ähnlichkeit mit ihm. Aber die Kinder. Also war es eine Familie. Er war Familienvater gewesen. Die Vorstellung erschien kaum glaubhaft. Sie überraschte mich derart, dass ich schon wieder zu meinem Platz gehen wollte, als ich mich der Unregelmäßigkeit erinnerte, wegen der ich aufmerksam geworden war. Ich schaute noch einmal hin. Das Foto war bei schlechten Lichtverhältnissen gemacht worden. Der Fotograf hatte einen künstlichen Blitz erzeugt, das sah ich an den Schatten … Die Schatten, das war es! Hinter jeder Person lag ein schwarzer Schatten auf der Holzwand, vor der die Gruppe posierte. Mit einer Ausnahme: der Mann. Aber das konnte nicht sein. Bei der Position der Kamera und der Blitzlichtes musste der Schatten da sein. Aber
er fehlte. Ich schob meine Nase an das Papier, konnte er keine Spuren von Manipulationen erkennen. Es musste ein Abzug sein, von einem veränderten Original. »Suche nicht, was du nicht finden kannst«, erklang hinter mir eine Stimme. Der Alte war lautlos wie eine Katze hinter mich getreten. Ich fuhr auf, mein Herz pochte. Zudem war mir meine Neugier enorm peinlich. Ich murmelte eine Entschuldigung, aber er ging nicht darauf ein. »Die Dinge ändern sich«, murmelte er, mehr zu sich selbst als an mich gewandt. »Manchmal ändert sich auch das Wesen. Man glaubt, man wäre etwas, aber man ist es nicht – und andere wissen es vorher.« Seine trüben gelblichen Augen bekamen einen feuchten Glanz. Er starrte auf die fleckige Tischdecke. »Sie haben mir alles genommen, was mir am Herzen lag. Sie taten es aus Rache und aus Neid.« Er lachte bitter. »Sie rächen sich, indem sie das zur Schwäche machen, weswegen sie dich beneiden. Verstehst du? Sie beneiden dich um deine Achillesferse und nutzen sie, um dich zu vernichten.« Ich verstand nichts. Der Alte redete wirr, da war ich mir sicher. Irgendetwas in seiner Vergangenheit hatte ihn unendlich verletzt und nun brach die Wunde auf. Sein Verhalten schien ihm jetzt bewusst zu werden. Er schüttelte unwillig den Kopf und schob mich aus der Tür. Ich stand schon draußen auf der Straße, als er sich an das Buch erinnerte. Er befahl mir zu warten, holte es und warf es mir zu. »Lies es, du Narr!«, sagte er. »Behandle es gut. Bringe es morgen wieder. Es ist wertvoll, es gibt nur noch wenige Exemplare. Sie haben die meisten vernichtet.« Wer mit ›sie‹ gemeint war, verstand ich ohne Erläuterung. Ich wandte mich zum Gehen.
Aus der Dunkelheit klang seine Stimme hinter mir her. »Pass auf dich auf. Sie kennen dich. Und stell dich den Tatsachen und werd endlich erwachsen!« Was sollte diese Bemerkung? Warum sprach dieser alte Mann zu mir wie zu einem pubertierenden Jungen? Ich war weniger verwirrt als abgestoßen. Mit schnellem Schritt strebte ich meinem Heim zu. Dann hörte ich seine Stimme noch einmal aus der Ferne. »Sie muss dir etwas mitgegeben haben. Sie geben immer etwas mit. Irgendetwas. Du musst es finden!« Selbst aus der Entfernung war das Drängen in seiner Stimme nicht zu überhören. Mir waren seine Worte rätselhaft. Ich gelangte zu meinem Zimmer und entfernte neugierig das Packpapier um das Paket. Wie vermutet war es ein Buch. Aber was für ein Buch! Ich war erstaunt, als ich es in den Händen hielt und genauer beschaute. Es musste ein Vermögen wert sein. Jedes Museum hätte Millionen dafür geboten. Die Frontseite wies als Druckort Venedig aus, als Jahresangabe fand ich 1505. Es berührte mich seltsam, hiermit ein Werk vor mir zu haben, das ein halbes Jahrtausend alt war. Geschrieben war es in einem Gemisch aus Kirchenlatein und einem toskanischen Dialekt. Meine Kenntnisse sowohl der lateinischen wie der italienischen Sprache reichten aus, um den Inhalt zu verstehen. Nachdem ich mehr als eine Stunde gelesen hatte, stellte sich bei mir allerdings eine deutliche Ernüchterung ein. Ich erkannte, dass das Alter eines Buches nicht unbedingt ein Hinweis auf die Qualität des Inhaltes sein muss. Kurz gesagt: Es handelte sich um eine wirre Zusammenstellung von Klatschgeschichten, halbgaren wissenschaftlichen Beobachtungen und schlampig recherchierten historischen Anekdoten.
Wäre mir dieses Werk nicht unter so ungewöhnlichen Umständen in die Hände gekommen, ich hätte es fortgelegt. So aber fühlte ich mich verpflichtet, noch etwas Mühe aufzubringen, um vielleicht doch noch zu verstehen, was an diesem Buch für mich so bedeutsam sein sollte. So blätterte ich es Seite für Seite durch, um schließlich auf einen Holzschnitt zu stoßen. Er zeigte eine Verbrennung auf einem venezianischen Platz. Die Unterzeile erklärte die Illustration als ›Bestrafung der Misophotoi‹. Das griechische Wort bedeutete so viel wie ›Lichthasser‹. Ich hatte es noch nie gehört, ich verstand es nicht, aber mein Interesse war geweckt. Die Geschichte, die ich mit einiger Schwierigkeit und unter Zuhilfenahme von Wörterbüchern entzifferte, war folgende: Ein venezianischer Kaufmann sollte, wegen seines Erfolges beneidet, von Konkurrenten vergiftet werden. Mehrere Anschläge schlugen fehl. Allerdings war dies nun Anlass zur Behauptung, der Betreffende stünde mit dem Teufel im Bunde. Er wurde angezeigt und die Tatsache, dass er mehrmals einen Giftbecher leerte, ohne daran elendiglich zu Grunde zu gehen, erwies seine Schuld. Die eigentlichen Verbrecher wurden nicht bestraft, denn, so folgerte der kluge Richter, sie hätten sich keines Verbrechens schuldig gemacht. Schließlich hatte der Kaufmann die Attacken gesund und munter überlebt. So weit war der Fall lediglich Anlass zum Nachdenken über das bittere Schicksal der Gerechtigkeit, wenn sie Juristen in die Hände fällt. Was mich fesselte, waren die Beschreibungen der Lichthasser. Plötzlich glaubte ich, es wäre die Rede von mir. Ich kannte es alles: die weiße Haut, ihre Empfindlichkeit gegenüber Sonnenstrahlen, der Trieb zur Umkehrung des normalen Lebensrhythmus, die Empfindlichkeit der Augen bei Tageslicht. Zugleich wurde von außergewöhnlicher Körperkraft in Gefahrensituationen fabuliert
und einer angeblichen Fähigkeit, sich wortlos zu verständigen. Empört musste ich lesen, dass die Giftmischer, die den Kaufmann und seine Familie dem Tod ausgeliefert hatten, noch eine Belohnung erhielten. Ihnen wurde, da sie Agenten des Teufels enttarnt hatten, das Geschäft und das Vermögen des Verurteilten überantwortet. Als ich die Seite umschlug, fand ich einen handgeschriebenen Zettel. Die Schrift war unzweifelhaft diejenige des alten Mannes. »So handeln sie«, stand da nur. Ich verstand erst, als ich weiter las. Dort wurde die Geschichte vollends zu einer wilden Spukgeschichte. Denn, so hieß es dort, die Misophotoi wären Bastarde aus Mensch und Vampir. Ich klappte das Buch zu und überlegte mit geschlossenen Augen. Während ich nachdachte, klang wie ein ferner Warnton das Wort Misophotoi. Ich trat ans Fenster. Das Morgenlicht blendete mich – stärker denn je. Auf dem Dach des gegenüberliegenden Hauses erkannte ich mit einiger Mühe eine schwarze Katze, die unverwandt auf mein Fenster starrte. Das Verhalten von Katzen mir gegenüber hatte ich schon erwähnt. Das war der Grund, warum mich dieses Tier nun so fesselte. Eine Hoffnung stieg in mir auf. Sollte sich alles geändert haben? Mit zitternden Händen suchte ich nach meiner Sonnenbrille. Die Katze war immer noch da, als ich wieder ans Fenster trat. Es war eine große schwarze Katze, die mich aufmerksam und wie prüfend betrachtete. Freude stieg in mir auf. Ich war gerettet. Hier war der Beweis. Die Katzen flohen nicht mehr vor mir. Im nächsten Augenblick gefror meine Freude zu Eis. Dies war keine normale Katze, sondern ein Spion. Sie beobachteten mich durch die Augen einer Katze.
Als mir dieser Gedanke durch den Kopf schoss, sprang das Tier auf und hetzte davon, als würde sein Schwanz in Flammen stehen …
* Ich brachte das Buch in der nächsten Nacht zurück. Das heißt, ich wollte es. Statt des Ladens fand ich eine polizeiliche Absperrung vor einem ausgebrannten Loch. Mein Entsetzen war unbeschreiblich. »Kannten Sie den Besitzer?«, fragte mich eine Stimme von der Seite. Ich zuckte zusammen. Der junge Mann schien aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Er betrachtete mich aufmerksam, für meine Empfinden zu aufmerksam. Dennoch blieb ich höflich und bejahte die Frage. »Seltsam, dass wir uns nie gesehen haben«, fuhr er fort. »Ich habe als sein Helfer gearbeitet.« Das Wort Helfer betonte er, als wäre darin eine besondere Botschaft verborgen. Ich sagte nur, dass ich stets zu nächtlicher Stunde aufgetaucht sei, was er mit einem verständnisvollen Kopfnicken quittierte, ganz so, als hätte ich seine Vermutung bestätigt. »Die Feuerwehr behauptet, der alte Mann habe im Bett geraucht und sei eingeschlafen darüber.« Ich schaute auf den ausgebrannten Laden. »Nein«, stieß ich hervor, als würde ich gegen meinen Willen sprechen, als müsste ich mit meinen Worten einen Widerstand überwinden. »Nein, sie haben ihn ermordet, genau wie seine Familie!« Damit wandte ich mich ab und ging.
Als ich mich umblickte, sah ich den Mann nicht mehr. Dafür huschte der Schatten einer Katze über die Straße und verschwand hinter einem Baumstamm. Der schwarze Schatten war hinter mir, schlich sich in der Deckung parkender Autos an mich heran. Er verfolgte mich! Eine Möglichkeit, ihn loszuwerden sah ich nicht. Bis ich an einem kleinen Park vorbeikam. Dort sah ich im Licht der wenigen, noch eingeschalteten Lampen eine Frauengestalt. Ich gestehe, schon beim ersten Anblick beeindruckte mich die aufrechte, stolze Gestalt. Dann erst sah ich den Hund, den sie an der Leine führte. Ich bin kein Hundefreund. Zumal es sich bei dem betreffenden Exemplar um ein großes, schwarzes Tier von außergewöhnlicher Hässlichkeit handelte. Einen Augenblick schwankte ich, was zu tun sei. Dann wechselte ich die Straßenseite und bog in den Park ein. Ein kaum hörbares Tappen hinter mir – von Krallen auf dem Asphalt – bestätigte, dass mein Verfolger sich nicht abschütteln ließ. Ich lief auf die Frau zu. Ihr Hund stellte die Ohren auf und ein tiefes Knurren drang ihm aus der Brust. Nicht ich war der Anlass dieser Drohung. Er sah die Katze. Das war mein Plan. Jetzt musste die Katze fliehen. Erfreut über meinen Erfolg lächelte ich der Frau zu. Im nächsten Moment schämte ich mich, denn sie erschien mir so überirdisch schön, dass ich mein Verhalten als plump und unpassend erkannte. Sie hatte die Blüte ihrer Jugend ohne Zweifel schon hinter sich. Was ihr die Jahre gelassen hatten, reichte aus, um mich schwindlig zu machen. Sie hatte langes schwarzes Haar, kräftige schwarze Brauen und Augen von ebensolcher Farbe. Ihre fast weiße Haut bildete dazu einen perfekten Kontrast und hob die Linien ihres schönen Mundes hervor. Verzeihen Sie, wenn ich an dieser Stelle doch einmal zur poetischen Feder greife. Wir schauten uns an und wussten, dass wir
zusammengehörten. Es war die Zusammenfügung zweier Hälften zu einem perfekten Ganzen. Im Antlitz der Frau spiegelte sich dasselbe Erstaunen und dieselbe Freude wider, die ich empfand. Ich fühlte mich verpflichtet, die Situation durch Worte zu verfestigen, aber sie legte nur den Finger auf die Lippen und machte »Schsch«, wie um ein Kind zum Schweigen zu bringen. Ein bitterer Zug zeigte sich um ihren Mund. Sie ließ den Hund von der Leine und rief einen Befehl. Wie von einer Feder angetrieben, schoss der Hund los. Jetzt erst registrierte ich, dass sich die Katze bis auf wenige Schritte genähert hatte. Sie zeigte keinerlei Fluchtreflex. Ihre Augen glühten und es war nicht allein das Licht der Parklaterne, das sie reflektierten. In den wenigen Momenten, in denen der Hund auf sie zusprang, wuchs sie. Ich taumelte entsetzt zurück. Das war keine Katze mehr. Hier wuchs ein Ungeheuer in die Höhe, ein buckelndes Monstrum mit gesträubtem Fell, das nicht mehr die Weichheit von Katzenfell hatte, sondern klirrte wie eiserne Stacheln. Das aufgerissene Maul entblößte Fangzähne von Dolchgröße, die im Licht boshaft schimmerten. Der Hund warf sich aus vollem Lauf dem Untier an die Kehle. Er jaulte kurz auf, als ihn die harten Stacheln trafen. Dennoch brach diese Rüstung unter der Wucht seines Ansprungs und er konnte für einen Moment die Fänge in ihre Kehle schlagen. Die Katze antwortete mit einem ohrenbetäubend schrillen Schrei, warf sich nach hinten und schleuderte den Hund in die Luft. Der schien besiegt, als er in einiger Entfernung auf den Boden stürzte und reglos liegen blieb. Die Katze oder das, was eben eine Katze gewesen war, wandte sich nun uns zu. Ihre Augen sprühten Funken vor boshaften Triumph. Die Frau floh erschrocken in meine Arme und ich beklagte mein Schicksal, dass ich dieses Paradies im Angesicht der
Vernichtung erleben musste. Unser Schicksal war besiegelt. Die Katze schien zu schrumpfen, übertraf aber noch immer die Größe eines Tigers. Geduckt schlich sie näher, ganz offensichtlich entschlossen, uns ein wenig als Spielzeug zu nutzen. Diesen Moment abgelenkter Aufmerksamkeit nutzte der Hund zu seinem nächsten Angriff. Er hatte sich ein Bein gebrochen. Nun kam er aus dem Dunkel, dreibeinig, das gebrochene Glied nachschleifend. Blut quoll ihm aus Maul und Nase, deutlich war zu sehen, dass eine gebrochene Rippe die Haut durchstoßen hatte. Und dennoch versuchte er, seine Herrin zu verteidigen. Er sprang, biss zu und wühlte sich in die Flanke der Katze. Das monströse Wesen kreischte. Die Krallen wühlten durch den Asphalt des Weges, schlugen dem Hund das Fleisch in Fetzen und fuhren schrill pfeifend durch die Luft. Aber der Hund ließ nicht ab, verbiss sich weiter in sein Opfer, ließ sich förmlich in Stücke schlagen. Am Ende des Kampfes kroch ein tödlich verletzter Hund zu seiner Herrin, um ihr den Balg einer toten schwarzen Katze zu überreichen. Die Frau in meinen Armen ließ ihren Tränen freien Lauf. Erst ein wütendes Fauchen aus den Straßen der Umgebung trieb uns in eine wilde Flucht. Da mein Zimmer in der Nähe lag, war es unser Ziel. Wir hätten uns sicherlich den Ausklang unserer ersten Begegnung anders ausgemalt. Aber so lag sie auf meinem Bett und weinte sich in den Schlaf. Ich dagegen erinnerte mich der letzten Worte, die mir der alte Mann zugerufen hatte. Was sollte es sein, was mir gegeben worden war? Und von wem? Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Es gab etwas. Es gab den kleinen Koffer, mit dem ich in das Waisenhaus gezogen war. Der Koffer war ein kleines, jämmerliches Ding, aber ich wusste, dass ich ihn schon im Haus meiner Großmutter gesehen hatte. Von dort stammte er und war also nicht das Geschenk der Nachbarin.
Sich daran zu erinnern und nach dem Koffer zu wühlen waren eins. Ich hatte ihn aus Sentimentalität immer behalten, obwohl er inzwischen ebenso nutzlos wie zerfetzt war. Ich fand ihn auf dem Schrank, im Inneren anderer Koffer. Schon beim Öffnen fiel mir der Briefumschlag, der in der Stoffausfütterung des Köfferchens steckte, ins Auge. Es war so, als wolle er mir sagen, dass die Zeit nun reif ist, um seinen Inhalt zu erforschen. Genau das tat ich und ich versank in Unglauben und Erstaunen. Zum ersten Mal sah ich eine Fotografie meiner Mutter. Sie war ebenso schön, wie ich sie mir ausgemalt hatte. Das Foto zeigte sie lachend neben einer anderen Frau. Beide Frauen saßen vor einem Spiegel. Der Rücken meiner Mutter war darin nicht zu sehen, derjenige der anderen Frau sehr wohl. Es gab einige handschriftliche Mitteilungen, darunter einen Zettel in Frauenhandschrift ›Tu Lucifugus es‹ stand dort. ›Du bist Lucifugus‹, hieß das aus dem Lateinischen übersetzt. Mir war sofort klar, dass Lucifugus – der das Licht Fliehende – die lateinische Entsprechung vom griechischen Mysophotoi war. Meinen Vater lernte ich durch Zeitungsausschnitte kennen. Wäre er auf der richtigen Seite in den Krieg gezogen, hätte man ihm Denkmäler gesetzt. Aber selbst dann wäre er ein Verbrecher gewesen. Einer, der Dörfer niederbrennen ließ, der in seiner Vernichtungswut nicht vor Frauen und Säuglingen Halt machte. Er überlebte elf Jahre Straflager in Sibirien, bevor er in seine Heimat zurückkehren konnte. Mir schienen diese elf Jahre Hölle nicht genug, um seine Verbrechen zu sühnen. Ich verspürte Abscheu vor diesem Mann. Warum hatte meine Mutter sich mit diesem Scheusal verbunden? Es gab zu viele Fragen, aber auch zu viele Antworten, um sie zu bewältigen …
* In den nächsten Tagen grübelte ich über die Dinge, die mir meine Mutter hinterlassen hatte. Manches konnte ich ahnen, manches mir zurechtbiegen. Doch es gab mir keine Sicherheit. Ich hatte gehofft, mich selbst zu finden und ich hatte mich verloren. Den Gegensatz dazu bildete meine Liebe zu Dorothea. Wir waren einander verfallen und näherten uns dennoch nur vorsichtig wie geschlagene Tiere, die selbst einer zärtlichen Hand misstrauen. Obwohl sie es nie sagte, wusste ich, dass sie unter demselben Schicksal litt wie ich. Dennoch war sie aus anderem Holz geschnitzt. Sie schaffte es, mich zum ersten Mal in meinem Leben in ein Restaurant zu locken. Bisher hatte ich die Tatsache, dass man in der Stadt auch ein Nachtleben führen kann, völlig verdrängt. Aber es gab Museen, die geöffnet hatten, es gab Konzerte, Theater, Lichtspielhäuser. Und es gab Bars, in denen wunderbare rote Getränke zu haben waren. Ich trat in eine neue Welt ein, eine schöne Welt. Dennoch fürchtete ich mich – und was ich ahnte, trat ein. Dorothea verschwand. Ich stand stundenlang vor ihrem Haus, verzweifelt wartend, weinend. Der Regen prasselte nieder, aber ich achtete nicht auf ihn. Allerdings gewahrte ich ein seltsames Phänomen. Zu meiner linken und zu meiner rechten Seite gab es auf den Gehsteigplatten je einen kleinen trockenen Fleck. Es wäre erklärlich gewesen, wenn dort ein Gegenstand die Tropfen abgehalten hätte. Aber dort war nichts. Aus den Augenwinkeln glaubte ich eine Gestalt zu erkennen. Ich zögerte einige Minuten und trat erst dann auf den einen Fleck zu. Ich brüllte in meiner Verzweiflung die Luft an: »Was soll diese Maskerade!«
Wozu soll ich mein Erstaunen schildern, als sich augenblicklich vor mir der junge Mann zeigte, den ich schon kannte? Er stellte sich als Helfer vor und nun erst verstand ich die Bedeutung dieser Bezeichnung. Er war kein Lucifugus, aber er hatte sich auf unsere Seite geschlagen. Er war ein Helfer in jenem Krieg, der schon immer tobte, dessen Schlachtenlärm aber bisher vor den Ohren der unwissenden Menschheit verborgen blieb … Ich sage bisher, mein Freund – in der Hoffnung, dass Sie meinen Worten noch immer folgen – und ich sage es mit Bedauern. Sie werden mir nicht glauben, aber Sie werden die Wahrheit meiner Worte kennen lernen müssen. Die beiden Helfer hatten sozusagen Wache gestanden, um mich zu schützen. Nun bestätigten sie meine Befürchtungen. Dorothea war entführt worden. Unseren Feinden ging es nicht um sie. Ich war es, den sie in ihr Zentrum locken wollten. So allerdings überzeugten mich meine Todfeinde von meiner eigenen Bedeutung. Sie bestätigten, was ich mich bisher zu glauben weigerte, als ich es in den Aufzeichnungen meiner Mutter las. Die Helfer führten mich zu jenem auch Ihnen bekannten Gebäude, in dessen Untergrund sich das Hauptquartier, er selbst nennt es Palast, des Nachtfürsten befindet. Es mag kurios klingen, aber ich schritt unbehelligt mitten in das Lager meiner Todfeinde. Sie hatten mich erwartet. Mein Erscheinen entsprach ihren Plänen – und sie lieben es zu planen. So stand ich ihm schließlich gegenüber, meinem Feind. Und er sprach mich auf eine Art an, die mich erschütterte, obwohl ich ihren Inhalt geahnt hatte. »Sei gegrüßt, Bruder«, lauteten die Worte. Der Mann, dem ich gegenüberstand, ähnelte mir in der Tat äußerlich sehr, auch wenn es innerlich nichts von größerer Verschiedenheit geben konnte als er und ich.
Während ich ihn ansah, spürte ich, dass Dorothea in der Nähe festgehalten wurde. Ihr wurden Schmerzen zugefügt, aber am meisten quälte sie die Angst um mein Schicksal. »Halbbruder wäre treffender«, antwortete ich. Das Nachtwesen – oder nennen wir ihn der Einfachheit halber Vampir …? Der Vampir also fauchte wütend. »Ja, ein Bastard, ein halbes Nichts von einem halben Etwas.« »Ein Kind seiner Mutter und kein Balg in Gewalt gezeugt«, gab ich zurück. Er knirschte mit den Zähnen und schwieg. Wenn Sie mit dem Begriff Vampir eine Umgebung von Grüften voller Spinnenweben oder von Schlössern, gefüllt mit schwülstigen Mobiliar verbinden, muss ich Sie enttäuschen. Der Saal, in dem ich stand, war exklusiv, aber modern eingerichtet. Die Personen, die mich umstanden, trugen ebenfalls keine altertümlichen Kleider. Ich bemerkte in einer Ecke eine Reihe von Uhren mit den Zeiten verschiedener Weltstädte über flimmernden Monitoren, auf denen Börsenkurse abgebildet wurden oder Nachrichtensender liefen. Die Pause gab mir Gelegenheit, das Wesen zu betrachten, das ich mit gewisser Ironie als nächsten lebenden Verwandten bezeichnen konnte. Das Alter spielt bei diesen Wesen der Finsternis keine Rolle. Mit einem Erröten gestehe ich, dass mein Halbbruder jünger aussah als ich, obwohl er doch mindestens ein Jahrhundert älter war. Dennoch sahen wir uns ähnlich. Sehr ähnlich sogar. Dasselbe dunkle Haar, dasselbe schmale Gesicht und dieselben dunklen Augen. Da mein Halbbruder außerordentlich gut aussieht, fällt ein wenig von diesem Glanz wohl auch auf mich. Er stand mir gegenüber, gekleidet in einen Maßanzug mit Weste und Krawatte. Er ähnelte aufs Haar einem Finanzmagnaten und tatsächlich war er etwas in dieser Art. Erwarten Sie nicht, dass ich Ihnen von langen Eckzähnen berichte oder von blassen Jungfern mit Bissspuren am schlanken Hals.
Sollte es derartiges geben, so sind es nur Anzeichen von Abartigkeit und Dekadenz, die es unter den Nachtgestalten gibt. Wahrscheinlicher scheint mir, dass es die Vampire selbst waren, die derartig krude Märchen verbreiteten. Nichts ist ihnen lieber als die trivialen Mythen, mit denen eine gewisse Sorte von Literatur die Seiten füllt. Hinter diesem Lärm ziehen sie ihre Fäden. Hinter dem Mummenschanz blutsaugender Grafen entfaltete sich das Netz ihrer Ränkespiele. Nicht Blut ist ihr Element, sondern Macht. Und für die Macht vergossen und vergießen sie das Blut der Menschheit. Mehr als Millionen der Filmvampire schlucken könnten. Organisiert in Reiche, Häuser und Kammern führen sie Krieg gegen die Menschen und gegen ihresgleichen. Verstehen Sie, was ich sagen will? Diese Wesen sind der Widerpart der Schöpfung. Sie wurden wie Gift in die Venen von Gottes Welt gespritzt. Nennen Sie den Schöpfer dieser Nachtwesen wie Sie wollen, mein Freund, heißen Sie ihn Satan, Widergott, Baal, Seth. Sie werden immer das Richtige treffen und doch nicht die Gesamtheit dieser bösen Gegenmacht erfassen. Dies war es nämlich, was mir entgegenschlug. Kälte, eine eisige Polarnacht der Gefühllosigkeit, der Mitleidlosigkeit, der Seelenlosigkeit. Und selbst wenn sie Gefühle kennen würden – negative, zerstörerische, wenn sie bösen Triumph ahnen –, dann sind ihre Gesichter nicht in der Lage, sie auszudrücken. Oh, mein Freund. Die Nachtwesen sind wunderschön. Ihr Antlitz ist von perfekter Symmetrie, es verrät, dass Engel die Vorbilder waren. Aber sie sind kalt. Sie sind abstoßend in ihrer unmenschlichen Kälte, widerwärtig in ihrer Arroganz, ekel1 haft in ihrer Fühllosigkeit. Sie sind leer … Es mag sein, dass es ein Mensch anders empfinden würde. Es ist
bekannt, dass diese Nachtwesen eine Aura haben, die sie unwiderstehlich erscheinen lässt. Aber es ist nur die Aura der kalten Macht. Faszinierend vielleicht für eine bestimmte Sorte von Menschen. Gänzlich reizlos in den Augen meiner Art. »Ich bin das Kind meiner Mutter«, zischte mich mein Bruder plötzlich an. »Ich bin der Erbe und du bist nichts als der Balg einer Abtrünnigen! Einer elenden Verräterin, einer Pestkranken!« So war es. Die Pest der Vampire. Die Seele. Meine Mutter hatte in sich eine Seele gespürt und war voller Entsetzen aus ihrem bisherigen Dasein geflohen. Kein Wesen konnte wie ich bezeugen, dass die Frau – geschaffen als Nachtwesen, seelenlos, kalt und machthungrig, eine Fürstin ihrer Rasse – eine Seele in sich gefunden hatte. Eine warme mütterliche Seele, wie sie reicher und schöner nicht denkbar ist. Mein Gegenüber ahnte meine Gedanken, vielleicht las er sie. Die Enden seines perfekt geschnittenen Mundes kräuselten sich im Versuch eines boshaften Grinsens. »Ich habe dieser Metze persönlich den Kopf abgeschnitten«, knirschte er und lauerte auf meine Reaktion. Ich senkte den Kopf. »Und nun bist du an der Reihe, du Wurm aus der … einer seelentragenden Abtrünnigen.« »Warum diese Poesie, Bruder«, antwortete ich. »Warum so viel untypischer Aufwand? Stört es dich, dass sie mich als Sohn wollte und du nichts bist als das verhasste Ergebnis einer Vergewaltigung zum Erhalt der Fürstenlinie?« Ich hob den Kopf und schaute in seine eisigen Augen. Dabei konnte ich spüren, wie er mich einschätzte, wie er in meinen Ängsten wühlte, meine Gedanken sezierte. Aber ich hielt stand. Eine kleine Geste seiner rechten Hand verriet seinen Ärger. Ja, er fürchtete mich, das erkannte ich jetzt. Und wieder wurde mir
klar, welchen dummen Fehler mein Bruder gemacht hatte. Ohne ihn hätte ich bis zum Ende das Leben weitergeführt, in dem ich mich jahrzehntelang verkrochen hatte. Ohne seine Machtgier, seinen Hass hätte ich nie die Worte ›Du bist Lucifugus‹ in der Schrift meiner geliebten Mutter gelesen. Er hat mich erschaffen. Ebenso wie meine Mutter mich erschaffen hat. Sicherlich hatte sie meinen Vater geliebt, was immer auch mit ihm geschehen sein mag. Aber sie wählte ihn auch, weil er bei aller Grausamkeit und Kälte ein Führer war, dem seine Männer bedingungslos folgten. Als meine Mutter sich entschloss, ein weiteres Kind zu gebären, sah sie deutlich die Zukunft. Dieses Kind würde keine Gelegenheit haben, die Bedingungen zu wählen, unter denen es leben wollte. Andere würden die Regeln festlegen. Sie – die Nachtwesen, deren Reihe meine Mutter entstammte. Alles, was ihr blieb, war, ihr Kind auf diese Aufgabe vorzubereiten. Als ich nun sagte: »Warum redest du so viel, tu es einfach, Schwätzer!«, da war es die Stimme meines Vaters, die aus mir sprach. Mein Gegenüber knirschte und schwieg. Er konnte mich nicht vernichten. Seine Version würde lauten: »Noch nicht!« Ich würde meinen trockenen Bericht an dieser Stelle gerne spannender gestalten. Aber es war so, wie ich es niederschreibe. Ich nahm meine Gefährtin an die Hand und ging. Sie heulten vor Wut und mussten uns ziehen lassen. Dorothea wurde von mir in ein sicheres Versteck gebracht. Ich hielt es für meine Pflicht, den Leiter dieser Anstalt über das zu informieren, was sich unterhalb des Tiefgeschosses der Garagen befand, aber ich hatte meine Feinde scheinbar doch unterschätzt. So kam ich in diese geschlossene Abteilung. Als ein Paradebeispiel für Verfolgungswahn, psychotische Zustände und ähnliches. Darüber brauche ich mich Ihnen gegenüber nicht näher
auszulassen. Sie kennen meine Krankenakte. Lieber Doktor Ceppel, sie waren mir ein aufmerksamer Gesprächspartner und ein verständnisvoller Zuhörer. Sie waren sogar so rücksichtsvoll, nicht laut zu lachen, sondern nur leise zu schmunzeln, als ich davon sprach, dass wir in einer Zeit der Umwälzungen leben und dass es auch Sprünge in der Entwicklung gibt, um ein vorbestimmtes Gleichgewicht zu erhalten. Ich erlaube mir, bei meiner Meinung zu bleiben. Die Tatsache, dass die Nachtwesen an einer Seele erkranken können und dass wir das Ergebnis dieser Änderung sind, dient mir als Beweis. Unsere Wege trennen sich nun, werter Doktor. Sechs Monate lang wurde ich hier therapiert, wie es so schön heißt. Sechs Monate lang versuchten mich meine Todfeinde und ihre menschlichen Lakaien zu vergiften. Nun werden Sie verstehen, warum dies nicht gelang. Ich mache Ihnen übrigens keinen Vorwurf, Sie wussten nichts von dem Gift. Ich muss Ihnen an dieser Stelle gestehen, dass mein Erscheinen bei Ihrem Anstaltsleiter doch nicht so blauäugig war, wie man es vermuten könnte. Ich begab mich – wie es schien – in die Hand meiner Feinde. Tatsächlich war ich nicht untätig. Wenn Sie sahen, dass ich apathisch gegen die Wand starrte, dann sprach ich mit Dorothea. Diese Form der Verständigung jenseits materieller Grenzen ist nicht allen von uns gegeben. Ich entwickelte sie erst, als ich Dorothea begegnete und begann, mein Schicksal zu akzeptieren. Nun ist es Zeit zu gehen. Es wird kein Abschied für immer sein, dessen bin ich gewiss. Draußen wartet auf mich die Verantwortung eines Fürsten. Ich werde jene meiner Art, die bisher verstreut, verwirrt und verängstigt unter den Menschen lebten, sammeln und führen. Schon ist das Netz geknüpft und es wird sich erweitern. Die Vampire hatten Recht. Sie müssen uns fürchten. Der Krieg hat begonnen und es wird kein Nachteil sein, einen der unseren als Freund bezeichnen zu können. Zumal ich Ihnen
versichern kann, das unsere Art solche Begriffe nicht nur als hohl und nichtig betrachtet. Eben haben meine Helfer das Gitter vor dem Fenster entfernt. Es ist Zeit zu gehen. Ich freue mich auf Dorothea. Die Alarmanlage ist ziemlich misstönend, finde ich. Noch ein letzter Absatz. Ich schreibe dies, während Sie in den Raum stürmen. Sie können mich nicht sehen. Auch dies ist ein erfreuliches Talent, das ich in der letzten Zeit entwickelt habe. Ich bin nicht wirklich unsichtbar. Ich nenne es ›fremdinduziertes Aufmerksamkeitsdefizit‹. Als Psychiater werden Sie solches Wortgeklingel zu schätzen wissen. Es bedeutet nur, dass Sie mich übersehen, solange ich nicht gesehen werden will. Nun empfehle ich mich. Hochachtungsvoll, ihr Austin Osman ENDE