~ SpringerWienNewYork
Plinkert · Klingmann (Hrsg.) Hören und Gleichgewicht Im Blick des gesellschaftlichen Wandels 7...
612 downloads
1082 Views
7MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
~ SpringerWienNewYork
Plinkert · Klingmann (Hrsg.) Hören und Gleichgewicht Im Blick des gesellschaftlichen Wandels 7. Hennig-Symposium, Heidelberg
;XZQVOMZ?QMV6M_AWZS
Univ.-Prof. Dr. med. Dr. h.c. Peter K. Plinkert Priv.-Doz. Dr. Christoph Klingmann Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde der Universität Heidelberg, Deutschland
Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Eine Haftung des Herausgebers oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. © 2010 Springer-Verlag / Wien Printed in Germany SpringerWienNewYork ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.at Satz: JungCrossmedia Publishing GmbH, 35633 Lahnau, Deutschland Druck: Strauss GmbH, 69509 Mörlenbach, Deutschland Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF SPIN 12455188
Mit 180 (teils farbigen) Abbildungen
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-211-99269-2 SpringerWienNewYork
Vorwort Schwindel und der Funktionsverlust des Hörens sind die häufigsten Beschwerden im Laufe des Lebens. Beide Symptome betreffen aber keineswegs nur die älteren Menschen, von denen bis zu 40 % betroffen sind, sondern es können auch Kinder, junge und ältere Erwachsene sowie Hochleistungssportler, Piloten und Raumfahrer darunter leiden. Hörstörungen treten in jedem Lebensalter auf. Durch die enorme Schallbelastung im Beruf und der Freizeit sowie durch die demografische Entwicklung der Bevölkerung wird in den kommenden Dekaden die Zahl der Innenohrschwerhörigen deutlich zunehmen. Durch die modernen mikrochirurgischen und technischen Möglichkeiten kann den meisten Betroffenen heute ein zufriedenstellendes soziales Gehör wiedergegeben werden. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang die mikrochirurgische Verbesserung der konduktiven Schwerhörigkeiten, die digitale Hörgeräte-Technik und implantierbare Hörsysteme bei kochleären Schwerhörigkeiten und Cochlea-Implantate bei hochgradiger Schwerhörigkeit bzw. Taubheit. Deren differentialtherapeutischer Einsatz muss sorgfältig abgewogen und mit den Patienten individuell besprochen werden. Um diesem komplexen Thema ein Forum zu geben, fand am 14. und 15. November 2008 in Heidelberg zum 7. Mal das HENNIG-Symposium unter dem Leitthema „Hören und Gleichgewicht – Im Blick des gesellschaftlichen Wandels“ statt. Einen Schwerpunkt dieser von einem breiten Fachpublikum angenommenen Veranstaltung, die von mehr als 500 Teilnehmern besucht wurde, stellte die sich verändernde und alternde Gesellschaft dar. Aus diesem Grund befasst sich ein großer Teil dieses Buches mit der Physiologie und Pathophysiologie des alternden cochleo-vestibulären Systems und deren Therapiemöglichkeiten. Die heutige Gesellschaft verändert jedoch nicht nur ihre Altersstruktur, sondern auch das Freizeitverhalten der Bevölkerung wird zunehmend Grenzbereich-orientierter. In diesen Grenzbereichen auf See, unter Wasser, im Gebirge oder auch in der Schwerelosigkeit herrschen besondere Umweltbedingungen, die Hör- und Gleichgewichtsorgan in einem besonderen Maße fordern, aber auch gefährden können. Experten aus den Bereichen der Seefahrt, des Tauchsports, des Bergsteigens und aus der Raumfahrt beleuchten die Besonderheiten des Gleichgewichts/Hörsystems in diesem Werk. Die modernen Möglichkeiten der Schwindelbehandlung und der Wiederherstellung der Hörfunktion werden von den führenden Experten aus dem deutschsprachigen Raum ausführlich dargestellt und der Leser auf den aktuellen Stand der Forschung und deren Perspektiven gebracht. Die Spannbreite reicht von den theoretischen Grundlagen über die diagnostischen Möglichkeiten bis hin zu moderner pharmakologischer, operativer und rehabilitativer Therapie, die in diesem Buch in verständlicher Form aufgezeigt werden. Wir danken der Firma Hennig Arzneimittel, insbesondere deren wissenschaftlichen Leiter, Herrn Dr. Baumann, für ihre konstruktive Unterstützung bei der Planung und Durchführung dieses Symposiums in Heidelberg sowie für die großzügige Ausstattung dieses Buches, das ohne eine solche Förderung nicht in dieser Form zu publizieren wäre. Unser besonderer Dank gilt den Referenten und Autoren der Beiträge dieses Werkes, ohne deren Mühe die Veröffentlichung dieses Buch nicht möglich wäre. Wir hoffen, Sie haben bei der Lektüre der einzelnen Kapitel viel Freude. Prof. Dr. Dr. h. c. Peter K. Plinkert
Priv.-Doz. Dr. Christoph Klingmann
Inhaltsverzeichnis IX
Verzeichnis der Autoren (Coautoren im Beitrag angeführt) Presbyakusis und moderne Möglichkeiten zur Hörtherapie
3
Grundlagen des Hör- und Gleichgewichtssystems GOEPFERT, Köln
9
Presbyakusis- genetische und umweltbedingte Risikofaktoren PFISTER, Tübingen
15
Pharmakotherapie bei Hörstörungen PLONTKE, Tübingen
25
Gentherapie des Innenohrs PRAETORIUS, Heidelberg
33
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-ImplantatSystem BÜCHNER, Hannover
43
Cochlea-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules and Pitfalls BATTMER, Hannover
51
Vestibuläre Effekte der Cochlea Implantation BLÖDOW, Berlin Pro und Contra aktiver Mittelohrimplantate
61
Rehabilitation der Schallempfindungsschwerhörigkeit mit dem teilimplantierbaren Hörsystem MedEL Vibrant£ TISCH, Ulm
69
Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate STEFFENS, Regensburg Gleichgewichtssystem
79
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen SCHERER, Berlin
95
Funktionelle Bildgebung des vestibulären Systems DIETERICH, Mainz
103
Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen WALDFAHRER, Erlangen
115
Physiotherapeutische Schwindelrehabilitation SCHOLTZ, Innsbruck
VIII 129
Inhaltsverzeichnis
Tauglichkeit zum Führen von Fahrzeugen bei Erkrankungen des Gleichgewichtssinns STOLL, Münster Presbyvertigo
145
Veränderungen des vestibulären Systems im höheren Lebensalter HAMANN, München
153
Presbyvertigo – HNO-ärztliche Aspekte SCHMÄL, HNO Zentrum Münsterland
161
Schwindel im Alter WESTHOFEN, Aachen
173
Movement strategies after vestibular loss: aiding these with prosthetic feedback ALLUM, Basel Das Gleichgewichtssystem im Grenzbereich
185
Die Entstehung von Kinetosen HEGEMANN, Zürich
195
Schwindel auf See WESTHOFEN, Aachen
205
Schwindel beim Tauchsport KLINGMANN, Heidelberg
215
Schwindel beim Bergsteigern BAUMGARTNER, Zürich
221
Vestibularisforschung in der Schwerelosigkeit CLARKE, Berlin Aus der Praxis Hören
237
Tonaudiometrie und Vertäubung LIMBERGER, Aalen
243
Objektive Audiometrie mit BERA, AMFR und CERA HOTH, Heidelberg
253
Aktuelle Möglichkeiten der Hörgeräteversorgung KIESSLING, Gießen Gleichgewicht
263
Kurse: Apparative Diagnostik und Therapie des vestibulären Systems BASTA und ERNST Preisträger des Hennig-Vertigo-Preises
275
Strukturelle Hirnplastizität nach peripherer vestibulärer Läsion HELMCHEN
283
Klinische Aspekte der Otolithenfunktionsstörung BASTA
Verzeichnis der Autoren
Prof. Dr. Biomed. Eng. J. H. J. ALLUM Universitätsspital Basel Department of Audiology and Neurootology Hebel Str. 10, 4031 Basel, Schweiz Prov.-Doz. Dr. DIETMAR BASTA HNO-Klinik im ukb Charité Universitätsmedizin Berlin Warener Str. 7, 12683 Berlin, Deutschland Prof. Dr. rer. biol. hum. Dipl.-Ing. ROLF-DIETER BATTMER Unfallkrankenhaus Berlin Zentrum für Klinische Technologieforschung Warener Str. 7, 12683 Berlin, Deutschland Prof. Dr. RALF BAUMGARTNER Neurologische Klinik UniversitätsSpital Zürich Frauenklinikstr. 26, 8091 Zürich, Schweiz Dr. med. ALEXANDER BLÖDOW HELIOS Klinikum Berlin-Buch Klinik für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie und Kommunikationsstörungen Schwanebecker Chaussee 50, 13125 Berlin, Deutschland Dr. Dipl. Inform. ANDREAS BÜCHNER Hörzentrum Hannover Wissenschaftliche Leitung MHH Karl-Wiechert-Allee 3, 30625 Hannover, Deutschland Prof. Dr. Ing. ANDREW H. CLARKE Labor für Gleichgewichtsforschung HNO Abteilung Charité Campus Benjamin Franklin, 12200 Berlin, Deutschland
X
Verzeichnis der Autoren
Prof. Dr. M ARIANNE DIETERICH Ludwig-Maximilians-Universität München, Klinikum Grosshadern Direktion Klinik und Poliklinik für Neurologie Marchioninistr. 15, 81377 München, Deutschland Prof. Dr. M ARTIN C. GÖPFERT Universität Göttingen Abteilung für Zelluläre Neurobiologie Max-Planck-Institut für Experimentelle Medizin Hermann-Rein-Str. 3, 37075 Göttingen, Deutschland Prof. Dr. med. K.-F. HAMANN HNO-Klinik und Poliklinik der TU München Ismaninger Str. 22, 81675 München, Deutschland PD Dr. STEFAN HEGEMANN Universitätsspital Zürich Klinik für Ohren-, Nasen-, Hals- und Gesichtschirurgie Frauenklinikstr. 24, 8091 Zürich, Schweiz Prof. Dr. med. CHRISTOPH HELMCHEN Universitätsklinikum Schleswig-Holstein Neurologische Klinik, Campus Lübeck Ratzeburger Allee 160, 23538 Lübeck, Deutschland Prof. Dr. rer. nat. SEBASTIAN HOTH Univ.-HNO-Klinik Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg, Deutschland Prof. Dr. rer. nat. JÜRGEN KIESSLING Universitätsklinikum Gießen und Marburg, Standort Gießen Hals-Nasen-Ohrenklinik, Funktionsbereich Audiologie Klinikstr. 29, 35392 Gießen, Deutschland Priv.-Doz. Dr. med. CHRISTOPH KLINGMANN Universitäts-HNO-Klinik Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg, Deutschland Prof. Dr. med. ANNETTE LIMBERGER Hochschule Aalen Studiengang Augenoptik/Augenoptik und Hörakustik Gartenstr. 135, 73430 Aalen, Deutschland Prof. Dr. M ARKUS PFISTER Universitäts-Hals-Nasen-Ohrenklinik Elfriede Aulhornstr. 5, 72076 Tübingen, Deutschland
Verzeichnis der Autoren
Prof. Dr. med. Dr. h. c. PETER K. PLINKERT Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde der Universität Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg, Deutschland Prof. Dr. med. STEFAN K. PLONTKE Universitätsklinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Hörforschungszentrum Tübingen Elfriede-Aulhorn-Str. 5, 72076 Tübingen, Deutschland PD Dr. M ARK PRAETORIUS Universitätsklinikum Heidelberg Leiter der Sektion Otologie und Neuro-Otologie, Hals-Nasen-Ohrenklinik mit Poliklinik Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg, Deutschland Prof. Dr. med. CLAUDIA RUDACK Klinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde Kardinal-von-Galen-Ring 10, 48149 Münster, Deutschland Prof. Dr. med. HANS SCHERER Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Charité Mitte Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde Charitéplatz 1, 10117 Berlin, Deutschland Prof. Dr. med. FRANK SCHMÄL HNO Zentrum Münsterland Lindenstr. 37, 48268 Greven, Deutschland Ao. Univ.-Prof. Dr. med. ARNE W. SCHOLTZ Medizinische Universität Innsbruck Klinik für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde, Funktionsabteilung Neurootologie Anichstr. 35, 6020 Innsbruck, Österreich Dr. biol. hom. Dipl.-Ing. THOMAS STEFFENS Universitäts-HNO-Klinik Franz-Josef-Strauß-Allee 11, 93053 Regensburg, Deutschland Prof. Dr. med. M ATTHIAS TISCH, OFA Bundeswehrkrankenhaus Ulm Klinik und Poliklinik für HNO-Heilkunde, Kopf- und Halschirurgie Oberer Eselsberg 40, 89081 Ulm, Deutschland Dr. med. FRANK WALDFAHRER Universitätsklinikum Erlangen Hals-Nasen-Ohren-Klinik, Kopf- und Halschirurgie Waldstr. 1, 91054 Erlangen, Deutschland
XI
XII
Verzeichnis der Autoren
Prof. Dr. med. M ARTIN WESTHOFEN Direktor der Klinik für Hals-Nasen-Ohrenheilkunde und Plastische Kopf- und Halschirurgie der RWTH Aachen Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen, Deutschland
Presbyakusis und moderne Möglichkeiten zur Hörtherapie
Grundlagen des Hör- und Gleichgewichtssystems P. Senthilan, Q. Lu und M. C. Göpfert
Einleitung Unser Innenohr umfasst dezidierte vestibuläre und auditorsiche Sinnesorgane für die Messung von Gravitation, Dreh-Beschleunigung, und Schall[24], [13]. Im Herzen dieser Organe sitzen spezialisierte mechanosensorische Zellen, die so genannten Haarzellen, welche durch Gravitation, Dreh-Beschleunigung bzw. Schall ausgelöste Auslenkungen ihrer sensorischen Haarbündel in elektrische Antworten wandeln[26]. Der genetische Modellorganismus Drosophila melanogaster, die Frucht- oder Taufliege, besitzt weder Haarzellen noch ein Innenohr im engeren Sinne, ist aber wie wir in der Lage, Schall und Gravitation zu messen[31]. Neuere Untersuchungen haben verblüffende funktionale und genetische Parallelen zwischen Hör- und Gravitationssinn bei Mensch und Fliege aufgedeckt, die Letztere für die Analyse grundlegender Mechanismen des Hörens und Gravitationssinns prädestinieren[14]. Wesentliche Grundlagen von Hör- und Gleichgewichtssinn werden daher im Folgenden am Beispiel des genetischen Modellorganismus Drosophila illustriert.
Verhalten Die Fruchtfliege Drosophila melanogaster reagiert auf Schwerkraft und Schall. Werden die Fliegen im Dunkeln in einem Röhrchen nach unten geklopft, krabbeln diese schnurstracks der Schwerkraft entgegen nach oben[3].
Dieses gerichtete Verhalten, das als negative Gravitaxis oder negative Geotaxis bezeichnet wird, lässt sich leicht quantifizieren, und wurde daher dazu verwendet, erstmals die genetischen Grundlagen des Verhaltens von Tieren zu ergründen[9], [21]. Hören spielt eine wichtige Rolle bei der „Fliegenbalz“, da Drosophila-Männchen ihre Weibchen mit Schall bezirzen: Nähern sich Männchen einem Weibchen, vibrieren Erstere einen ihrer Flügel und produzieren dadurch eine Serie kurzer, niederfrequenter Schallpulse – das so genannte Drosophila-Liebeslied[12]. Dieses Lied, das sich mit speziellen SchallschnelleMikrophonen registrieren lässt[4], [16] erhöht die Paarungsbereitschaft der Weibchen und stimuliert Männchen zur Bildung von „BalzKetten“ – Reihen einander jagender und singender Fliegen[10].
Sinnesorgane und mechanosensorische Zellen Neuste Untersuchungen zeigen, dass Drosophila sowohl Schall als auch Schwerkraft mit Hilfe der Antennen registriert[30]. Die Fliegenantenne setzt sich aus drei Hauptsegmenten zusammen, von denen das dritte keulenförmig ist und seitlich eine federartige Struktur, die Arista, trägt (Abbildung 1 A, B). Biomechanische Messungen haben gezeigt, dass die Arista steif mit dem dritten Antennensegment verbunden ist, und dass sich beide bei mechanischer Reizung gemeinsam bewegen: Läuft die Fliege aufwärts, biegt die Schwerkraft
4
Grundlagen des Hör- und Gleichgewichtssystems
Abb. 1 Fliegenohr. (A): Menschliches Ohr (links, blauer Pfeil) und Fruchtfliegenohr (rechts, blauer Pfeil) haben äußerlich wenig gemein. (B): Bei der Fliege dienen das dritte, distale Antennensegment (III) und die federartige Arista als Schallempfänger. Die auditorischen Neuronen des Johnstonschen Organs (JO) im zweiten Antennensegment (II) setzen von zwei Seiten direkt an der Basis des Schallempfängers an. Bei Beschallung rotiert der Schallempfänger um seine Längsachse vor und zurück, wodurch die Neuronen des Johnstonschen Organs alternierend gedehnt und gestreckt werden. (C): Die auditorischen Neuronen sind primäre Sinneszellen mit einem distalen sensorischen Cilium und einem proximalen Axon. Eine extrazelluläre Kappe verbindet jeweils zwei bis drei Neuronen mit dem Schallempfänger.
Arista und drittes Antennensegment nach unten. Und wird die Fliege beschallt, schwingen beide hin und her[15], [16], [30]. Funktional bildet der distale Teil der Fliegenantenne damit einen mechanischen Reizempfänger, ähnlich wie unser Trommelfell. Registriert werden die Reiz-induzierten Bewegungen des distalen Teils der Fliegenantenne von einem Streckrezeptororgan im zweiten Antennensegment[12]. Dieses Organ, das sogenannte Johnstonsche Organ, umfasst ca. 500 mecha-
nosensorische Zellen[29]. Im Gegensatz zu den Haarzellen in unserm Innenohr besitzen diese Zellen anstelle eines sensorischen Haarbündels ein einzelnes sensorisches Cilium (Abbildung 1 C). Dieses Cilium ist über eine extrazelluläre Kappe direkt mit dem reizaufnehmenden distalen Teil der Antenne verbunden – ein Mittelohr gibt es nicht. Auch weisen die mechanosensorischen Zellen im Fliegenohr anders als Haarzellen selbst ein Axon auf, welches direkt ins Gehirn projiziert. Trotz dieser anatomischen Unterschiede gleichen sich Haarzellen und die mechanosensorischen Zellen in der Fliegenantenne in einem wesentlichen Punkt: Die Entwicklung beider Zelltypen wird von homologen Genen der atonal-Familie gesteuert[22]. Fliegen, denen das Gen atonal (ato) fehlt, fehlen die mechanosensorischen Zellen im zweiten Antennensegment[28], [18]. Mäuse, denen das homolge Gen, Mouse atonal homologue 1 (Math1), fehlt, haben keine Haarzellen im Innenohr[5]. Interessanterweise sind beide Gene so ähnlich, dass sie einander substituieren können – d. h. transgene Mäuse, bei denen Math1 durch Fliegen atonal ersetzt wurde, haben Haarzellen im Innenohr, und transgene Fliegen, bei denen atonal durch Math1 ersetzt wurde, haben mechanosensorische Zellen im zweiten Antennensegment[36]. Anscheinend sind beide Zelltypen evolutiv miteinander verwandt und gehen auf eine gemeinsame mechanosensorische Vorläuferzelle zurück, die vor vielen Millionen Jahren existiert haben muss – der letzte gemeinsame Vorfahre von Wirbeltieren und Insekten, der sogenannte Protostomier-Deuterostomier-Vorfahre, hat vor ca. 500 bis 1.200 Millionen Jahren gelebt[11].
Aktive Schwingungsverstärkung und Zellmotilität Eine der faszinierendsten Eigenschaften unseres Ohrs ist seine Empfindlichkeit: Es detektiert durch Schall ausgelöste Schwingungen, deren
Grundlagen des Hör- und Gleichgewichtssystems
5
äre Verstärker bekannt ist[8], [2], zeichnet sich durch vier wesentliche Eigenschaften aus. Dies sind: 1. eine kompressive Nichtlinearität: Da kleine, durch leisen Schall ausgelöste Schwingungen maximal verstärkt werden, wird ein weiter Bereich von Schallintensitäten in einen engen Bereich von Schwingungsamplituden komprimiert; 2. Frequenzspezifität: Nur durch Schall bestimmter Frequenzen ausgelöste Schwingungen werden verstärkt; 3. Energiezufuhr: Die Energie der schallinduzierten Schwingungen ist größer als die durch Schall zugeführte Energie, da Haarzellen aktiv Energie in die Schwingungen pumpen; 4. das gelegentliche Auftreten von selbst-erhaltenden Rückkopplungsschwingungen, die sich als spontane otoakustiAbb. 2 sche Emissionen messen lassen Mechanik des Fliegenohrs. (z. B. [27]). Diese vier KennzeiOben: Die Bewegungen des antennalen Schallempfängers lassen sich an der Spitze der Arista berührungsfrei mittels eines Laser-Dopp- chen des cochleären Verstärkers ler-Vibrometers messen. Der auf die Aristaspitze fokussierte Laser- finden sich in der Mechanik der strahl ist in der Detailansicht zu sehen. Unten: Zeitspuren der Arista- Drosophila-Antenne wieder (Abschwingungen in Abwesenheit externer Reize (links), entsprechende bildung 2): Der antennale ReizFrequenzspektren (Mitte) und Intensitätscha-rakteristik (rechts). Beim toten Tier (blau) zeigt die Arista nur thermisches Rauschen (links) und empfänger der Fliege zeigt eine ist breit abgestimmt (Mitte). Bei Beschallung an der Bestfrequenz kompressive Nichtlinearität[20], steigt die Schwingungsampli-tude linear mit der Schallintensität Signaturen von frequenzspezifi(rechts). Mechanische Rückkopplung erhöht im lebenden Tier (grün) scher, aktiver Verstärkung und die Antennenfluktuationen, verbessert die Frequenzabstimmung und moduliert die Intensi-tätscharakteristik in nichtlinearer Weise. Gele- Energiezufuhr[19], [20], [33], gentlich wird die Rückkopplung zu groß, es kommt zu selbsterhalten- und oszilliert gelegentlich konden Oszillationen (rot). tinuierlich in der Abwesenheit akustischer Reize[17], [19], [34]. Wie bei uns beruht auch bei der Fliege diese Amplituden im Bereich atomarer Dimensionen Verstärkung auf der Motilität mechanosensoliegen[25]. Diese Empfindlichkeit erreicht das rischer Zellen. Werden die Zellen des JohnOhr mittels eines cleveren Tricks: Ähnlich wie stonschen Organs mittels eines genetischen das Anstoßen einer Schaukel deren SchwinTricks vom reizaufnehmenden distalen Angungen verstärkt, erzeugen die Haarzellen tennenteil abgetrennt, gehen alle Signaturen im Ohr aktiv Bewegungen mit denen sie aktiver Verstärkung in der Antennenmechanik die durch Schall ausgelösten Schwingungen verloren[17], [19]. Die mechanosensorischen verstärken[27]. Diese mechanische RückZellen in unserem Innenohr und in der Fliekopplungsverstärkung, die als der cochle-
6
Grundlagen des Hör- und Gleichgewichtssystems
genantenne teilen sich nicht nur Entwicklungsgene, sondern funktionieren offenbar auch in ähnlicher Weise.
Mechano-elektrische Transduktion Die wesentliche Funktion mechanosensorischer Zellen besteht darin, mechanische Reize in elektrische Antworten zu wandeln. Diese mechano-elektrische Transduktion erfolgt über dezidierte Ionenkanäle, die sich bei mechanischer Reizung öffnen (oder schließen). In der Fliegenantenne setzen die mechanosensorischen Zellen direkt am antennalen Reizaufnehmer an, und Bewegungen des Schallaufnehmers werden direkt auf die Transduktions-Kanäle in den Zellen übertragen[1]. Aufgrund dieser direkten mechanischen Kopplung ist die Kraftübertragung zwischen Reizaufnehmer und Ionenkanälen reziprok: Bewegt sich die Antenne, ändert sich der Öffnungszustand der Ionenkanäle, und ändert sich der Öffnungszustand der Ionenkanäle, bewegt sich die Antenne[1], [33]. Dasselbe Phänomen kennt man von Haarzellen, bei denen die Bewegungen der sensorischen Haarbündel das Öffnen und Schließen der Transduktionskanäle widerspiegeln[23]. Analysen der Bewegungen von Fliegenantennen und Haarbündeln deuten darauf hin, dass in beiden Systemen die Transduktion auf gleiche Weise erfolgt: Wie in Haarzellen scheinen auch in der Fliegenantenne mechanische Reize über elastische Elemente (sogennannte „gating springs“) auf die Transduktionskanäle übertragen zu werden, und in beiden Systemen scheinen diese Ionenkanäle mit molekularen Motoren (sogennaten Adaptationsmotoren) zu assoziieren[23], [1]. Ob die Transduktionsmaschinerien in der Fliegenantenne und in unserem Ohr molekular identisch sind, ist noch nicht geklärt: Der Transduktionskanal, der Hören bei Fliegen vermittelt, ist möglicherweise NompC, ein Vertreter der „transient receptor potential“ (TRP) Kation-Ka-
nal Familie[35], [20]. Der Transduktionskanal in unserem Ohr ist molekular noch nicht identifiziert[6], dort kennt man aber den Adaptationsmotor, Myosin 1 c[32]. Welches Protein den Adaptationsmotor in den mechanosensorischen Zellen in der Fliegenantenne bildet, ist noch nicht bekannt.
Transduktions-basierte Schwingungsverstärkung Der cochleäre Verstärker in unserem Ohr beruht auf aktiven Haarzell-Bewegungen. Zwei unterschiedliche Formen aktiver Haarzell-Bewegungen sind bekannt: Spannungsabhängige Bewegungen des Zellkörpers und aktive Haarbündel-Bewegungen[27]. Aktive Zellkörper-Bewegungen, die nur die äußeren Haarzellen in der Säugercochlea zeigen, werden durch das Membranprotein Prestin vermittelt[7]. Aktive Haarbündel-Bewegungen hingegen beruhen auf der TransduktionsMaschinerie selbst[32], [27]. Prestin-Homologa werden im auditorischen Organ von Drosophila exprimiert[37], neuere Befunde deuten jedoch darauf hin, dass es die Transduktions-Maschinerie ist, auf der die aktive Verstärkung im Fliegenohr beruht: simuliert man den antennalen Schallempfänger der Fliege mit einem Harmonischen Oszillator und koppelt an diesen Oszillator TransduktionsModule, lässt sich das gesamte aktive Verhalten des Fliegenohrs sowohl qualitativ als auch quantitativ beschreiben[33]. Die Aktivität stammt dabei vom Zusammenspiel zwischen Transduktions-Kanälen und den assoziierten Adaptationsmotoren, d. h. dem molekularen Mechanismus, auf dem auch die mechanische Aktivität der sensorischen Haarbündel von Haarzellen beruht[32], [27], [33]. Die Analysen am Fliegenohr zeigen damit, dass dieser Transduktions-basierte Mechanismus ausreichen kann, um schallinduzierte Schwingungen im Ohr aktiv zu verstärken.
Grundlagen des Hör- und Gleichgewichtssystems
Schall und Schwerkraft – von Sinneszellen zu zentralnervösen Bahnen Die Axone der ca. 500 mechanosensorischen Zellen des Johnstonschen Organs der Fruchtfliege projezieren alle in das „Antennal Mechanosensory Motor Center“, das ist ein bestimmter Bereich im Fliegengehirn[29]. Anhand der genauen Zielregion in diesem Bereich lassen sich vier Hauptgruppen (A, B, C, E) mechanosensorischer Zellen unterscheiden. Jüngste Untersuchungen zeigen, dass zwei dieser Gruppen (A, B) dem Hören dienen, während die anderen beiden Gruppen (C, E) die Detektion der Gravitation vermitteln[30]: Schaltet man mittels genetischer Tricks die Hörzellen aus, reagieren die Fliegen nicht mehr auf Schall, und werden die Gravitations-empfindlichen Zellen ausgeschaltet, laufen die Fliegen im Röhrchen nicht mehr nach oben. Anders als in unserem Innenohr gibt es bei der Fliege folglich keine separaten Sinnesorgane für Schall und Schwerkraft, sondern lediglich separate Gruppen spezialisierter Sinneszellen. Die Unterscheidung, ob Schall oder Gravitation die Antenne bewegen, treffen die Sinneszellen selbst: Messungen intrazellulärer Kalziumsignale zeigen, dass Schall- und Gravitations-empfindliche Zellen spezifisch auf Schall- und Schwerkraft-induzierte Antennenbewegungen reagieren[30]. Die nachgeschalteten Nervenbahnen im Fliegengehirn wurden teilweise kartiert. Zum Vorschein kamen dabei Verschaltungsmuster, die zumindest oberflächlich an die der auditorischen und vestibulären Bahnen in unserem Gehirn erinnern[29]. Die Parallelen zwischen Hör- und Gravitationssinn von Fliege und Mensch scheinen sich folglich von molekularen Mechanismen in mechanosensorischen Zellen bis hin zu zentralen Verschaltungen tief im Gehirn zu erstrecken.
7
Danksagung Die Autoren bedanken sich bei den Organisatoren des Henning-Symposiums. Die hier vorgestellten Arbeiten der Autoren werden im Rahmen des DFG Research Center for the Molecular Physiology of the Brain (CMPB) Göttingen, der International Graduate School for Genetics and Functional Genomics (ISGFG) Köln, des BMBF Bernstein Networks for Computational Neuroscience und von der VolkswagenStiftung gefördert.
Literatur [1] Albert JT, Nadrowski B, Göpfert MC (2007) Mechanical signatures of transducer gating in the Drosophila ear. Curr Biol 17: 1000 –1006 [2] Ashmore J, Gale JE (2004) The cochlear amplifier. Curr Biol 14: R403 – 404 [3] Beckingham KM, Texada MJ, Baker DA, Munjaal R, Armstrong JD (2005) Genetics of graviperception in animals. Adv Genet 55: 105 –145 [4] Bennet-Clark HC (1984) A particle velocity microphone for the song of small insects and other acoustic measurements. J Exp Biol 108: 459 – 463 [5] Bermingham NA, Hassan BA, Price SD, Vollrath MA, Ben-Arie N, Eatock RA, Bellen HJ, Lysakowski A, Zoghbi HY (1999) Math1: an essential gene for the generation of inner ear hair cells. Science 284: 1837–1841 [6] Corey DP (2006) What is the hair cell transduction channel? J Physiol 576: 23 – 28 [7] Dallos P, Fakler B (2002) Prestin, a new type of motor protein. Nat Rev Mol Cell Biol 3: 104 –111 [8] Davis H (1983) An active process in cochlear mechanics. Hear Res 9: 79 – 90 [9] Dobzhansky T (1972) Genetics and the diversity of behavior. American Psychologist 27: 523 – 530 [10] Eberl DF, Duyk GM and Perrimon N (1997) A genetic screen for mutations that disrupt an auditory response in Drosophila melanogaster. Proc. Natl. Acad. Sci. USA 94: 14837–14842 [11] Erwin DH, Davidson EH2 (2002) The last common bilaterian ancestor. Development 129: 3021– 3032
8
Grundlagen des Hör- und Gleichgewichtssystems
[12] Ewing AG (1978) The antenna of Drosophila as a love song receptor. Physiol Entomol 3, 33 – 36 [13] Goldberg ME, Hudspeth AJ (2000) The vestibular system. In: Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (Hrsg) Principles of Neural Science. McGraw-Hill, New York, S 801– 815 [14] Göpfert MC (2007) Drosophila-Antenne gewährt Einblicke in grundlegende Aspekte des Hörens Neuroforum 4/07: 122 –126 [15] Göpfert MC, Robert D (2001) Turning the key on Drosophila audition. Nature 411: 908 [16] Göpfert MC, Robert D (2002) The mechanical basis of Drosophila audition. J Exp Biol 205: 1199 –1208 [17] Göpfert MC, Robert D (2003) Motion generation by Drosophila mechanosensory neurons. Proc Natl Acad Sci USA 100: 5514 – 5519 [18] Göpfert MC, Stocker H, Robert D (2002) atonal is required for exoskeletal joint formation in the Drosophila auditory system. Dev Dynam 225: 106 –109 [19] Göpfert MC, Humphris ADL, Albert JT, Robert D, Hendrich O (2005) Power gain exhibited by motile mechanosensory neurons in Drosophila ears. Proc Natl Acad Sci USA 102: 325 – 330 [20] Göpfert MC, Albert JT, Nadrowksi B, Kamikouchi, A (2006) Specification of auditory sensitivity by Drosophila TRP channels. Nature Neurosci 9: 999 –1000 [21] Greenspan RJ (2008) The origins of behavioral genetics. Curr Biol 18: R192 – R198 [22] Hassan BA, Bellen HJ (2000) Doing the Math: is the mouse a good model system for fly development? Genes Dev 14: 1852 –1865 [23] Howard J, Hudspeth AJ (1988) Compliance of the hair bundle associated with gating of mechanoelectrical transduction channels in the bullfrog‘s saccular hair cell, Neuron 1: 189 –199 [24] Hudspeth AJ (2000 a) Hearing. In: Kandel ER, Schwartz JH, Jessell TM (Hrsg) Principles of Neural Science. McGraw-Hill, New York, S 590 – 613 [25] Hudspeth AJ (1989) How the ear’s works work. Nature 341: 397– 404 [26] Hudspeth AJ (2000 b) Sensory transduction in the ear. In: Kandel ER, Schwartz JH, Jes-
[27] [28]
[29]
[30]
[31] [32] [33]
[34]
[35] [36]
[37]
sell TM (Hrsg) Principles of Neural Science. McGraw-Hill, New York, S 614 – 624 Hudspeth AJ (2008) Making an effort to listen: mechanical amplification in the ear. Neuron. 59: 530 – 545 Jarman AP, Grau Y, Jan LY, Jan YN (1993) atonal is a proneural gene that directs chordotonal organ formation in the Drosophila peripheral nervous system. Cell 73: 1307–1321 Kamikouchi A, Shimada T, Ito K (2006) Comprehensive classification of the auditory sensory projections in the brain of the fruit fly Drosophila melanogaster. J Comp Neurol 499: 317– 356 Kamikouchi A, Inagaki HK, Effertz T, Hendrich O, Fiala A, Göpfert MC and Ito K (2009) The neural basis of Drosophila gravity-sensing and hearing. Nature 458: 165 –171 Kernan MJ (2007) Mechanotransduction and auditory transduction in Drosophila. Pflügers Arch. 454: 703 –720 LeMasurier M, Gillespie PG (2005) Hair-cell mechanotransduction and cochlear amplification. Neuron. 48: 403 –15 Nadrowksi B, Albert JT, Göpfert MC (2008) Transducer-based force generation explains active process in Drosophila hearing. Curr Biol 18: 1000 –1006 Stoop R, Kern A, Göpfert MC, Smirnov DA, Taras D, Bezrucko BB (2006) A generalization of the van-der-Pol oscillator underlies active signal amplification in Drosophila hearing. Eur Biophys J 35: 511– 516 Walker RG, Willingham AT, Zuker CS (2000) A Drosophila Mechanosensory Transduction Channel. Science 287: 2229 – 2234 Wang VY, Hassan BA, Bellen HJ, Zoghbi HY (2002) Drosophila atonal fully rescues the phenotype of Math1 null mice: new functions evolve in new cellular contexts. Curr Biol. 12: 1611–1616 Weber T, Göpfert MC, Winter H, Zimmermann U, Kohler H, Meier A, Hendrich O, Rohbock K, Robert D, Knipper M (2003) Expression of prestin-homologous solute carrier (SLC26) in auditory organs of nonmammalian vertebrates and insects. Proc Natl Acad Sci USA 100, 7690 –7695
Presbyakusis – genetische und umweltbedingte Risikofaktoren M. Pfister
Altersschwerhörigkeit (ASH), auch Presbyakusis genannt, ist die häufigste sensorische Beeinträchtigung von älteren Personen. 37 % der 61–70-Jährigen haben einen signifikanten Hörverlust von wenigstens 25 dB[9] Von ASH Betroffene gewöhnen sich nur schwer an diese Einschränkung. Deshalb hat Schwerhörigkeit (SH) großen Einfluss auf die Lebensqualität und das psychologische Befinden der Betroffenen. Kommunikationsprobleme führen zu psychosozialer Dysfunktion mit sozialer Isolation als Folge. Betroffene verlieren ihre Unabhängigkeit; Depressionen, Angstzustände, Lethargie, soziale Unzufriedenheit und möglicherweise kognitive Defizite, ähnlich der Demenz, folgen daraus[8], [18]. Hörgeräte sind zurzeit die einzige verfügbare therapeutische Maßnahme bei ASH. Sie können Geräusche verstärken, aber der Gewinn an Sprachdiskriminierung wird besonders in lauten Umgebungen als nicht ausreichend empfunden. Hörhilfen werden hierbei nur von einem Teil der Betroffenen verwendet. Das liegt zum Teil an den hohen Kosten, an der sozialen Einstellung, die das Hören unterbewertet, und an der Tatsache, dass viele den Gebrauch von Hörgeräten aufgrund sozialer Stigmatisierung nicht akzeptieren[18]. Deshalb müssen dringend neue therapeutische Strategien entwickelt werden, die die neurale und molekulare Basis anstelle der Symptome der Erkrankung fokussieren. Obwohl jeder mit steigendem Alter eine stetige Verschlechterung des Gehörs zeigt, gibt es große Unterschiede in Manifestationsalter, Ausprägung und Progression der Erkrankung.
ASH wurde bisher immer als Teil des natürlichen Alterungsprozesses angesehen – unausweichlich und unheilbar. Diese Sicht der Dinge verhinderte jedoch die Erkenntnis, dass der variierende Grad des Hörverlusts einzelner Patienten unterschiedlichen Ursachen wie Diabetes, Lärm und genetischen Faktoren zuzuschreiben ist, was wiederum bedeutet, dass ASH keine unvermeidbare Erkrankung ist. Stattdessen sollte ASH wie jede andere komplexe Erkrankung als eventuell behandelbar oder vorbeugbar betrachtet werden. Umweltrisikofaktoren wurden bisher in einer Vielzahl von Studien gründlich untersucht. Im Gegensatz dazu gibt es noch kaum Untersuchungen zu genetischen Suszeptibilitätsfaktoren. Die Heritabilität einer Krankheit beschreibt hierbei die relative Bedeutung der genetischen Komponenten. Sie ist definiert als der Anteil der phänotypischen Varianz, der genetisch terminiert ist. In einer Zwillingsstudie wurde die Heritabilität auf 0,47 geschätzt[28], was heißt, dass etwa die Hälfte der Varianz genetischen Faktoren, die andere Hälfte Umweltfaktoren zuzuschreiben ist. Bis jetzt ist nicht bekannt, wie viele Umwelt- und genetische Faktoren zur Etiologie von ASH beitragen und wie sie miteinander interagieren.
Umweltfaktoren und ASH Der bisher am besten untersuchte Faktor ist Lärm. Tägliche Lärmexposition von 85 dB oder mehr führt zu einem gesteigerten Risiko für Lärm-induzierte SH durch primären Verlust
10
Presbyakusis – genetische und umweltbedingte Risikofaktoren
der äußeren Haarzellen gefolgt von Degeneration der inneren Haarzellen[11]. Bei Personen, die sehr häufig Lärm ausgesetzt waren, sind die Auswirkungen von Alter und Lärm nur schwer zu unterscheiden[6]. Gates et al. postulierten, dass Lärmexposition den Alterungsprozess auf den betroffenen Frequenzen verlangsamt, bei den benachbarten Frequenzen jedoch verstärkt[19]. Eine europaweite Studie zeigt, dass alle Frequenzen betroffen sind, der Hörverlust in den höheren Frequenzen jedoch stärker ausgeprägt ist[14]. Lösungsmittelexposition (Toluol, Trichlorethylen, Styrol und Xylol) wird ebenfalls als ursächlicher Faktor für ASH angesehen[26]. Außerdem bewirken diese Chemikalien oft einen nicht-linearen Effekt in Kombination mit Lärm[31], [5]. Ob zwischen Tabakkonsum und ASH ein Zusammenhang besteht, konnte bis jetzt noch nicht abschließend geklärt werden. Verschiedene Studien zeigen, dass Rauchen keinen Effekt auf das Gehör ausübt[4], [17]. Andere Studien führen zu gegensätzlichen Ergebnissen[21], [30]. Fransen et al. gehen in ihrer Studie noch weiter und berichten von einem dosisabhängigen Effekt[14]. Ebenfalls kontrovers diskutiert wird der Einfluss von Alkohol auf das Gehör. Es wird sowohl von einem gesteigerten Risiko für ASH in Zusammenhang mit Alkohol[30] als auch von einem protektiven Effekt bei moderatem Alkoholgenuss berichtet[4], [25], [14]. Aus diesen verschiedenen Studien lässt sich folgern, dass moderater Alkoholkonsum einen protektiven, Alkoholmissbrauch jedoch einen schädigenden Effekt auf das Gehör haben sollte.
Medizinische Faktoren und ASH Es ist bereits bekannt, dass sensorineuraler Hörverlust bei Patienten mit Diabetes stärker verbreitet ist[27]. Außerdem wurde Diabetes auch mit ASH assoziiert[29]. Diabetes-induzierter Hörverlust wie auch ASH sind sich sehr
ähnlich: beide sind progressiv und betreffen hauptsächlich die hohen Frequenzen. Vermutlich gibt es synergistische Effekte zwischen Diabetes und den Prozessen, die in die Entwicklung von ASH involviert sind[27]. Aufgrund der hohen Prävalenz von HerzKreislauferkrankungen (CVD) bei alternden Individuen, haben viele Studien nach möglichen Assoziationen zwischen CVD und ASH gesucht. In der Framingham Kohorte konnte ein derartiger Zusammenhang gezeigt werden[17]. Dasselbe konnten Brant et al. für erhöhten Blutdruck zeigen[4]. Erst kürzlich konnte eine weitere Studie den Zusammenhang von CVD und ASH bestätigen und sogar einen kombinierten Effekt von CVD, Rauchen und BMI auf das Gehör nachweisen[14]. Hormone können ebenfalls zu Hörverlust beitragen. Aufgrund des unterschiedlichen Estrogenspiegels bei Frauen und Männern könnte eine geschlechterspezifische ASH erklärbar sein. Bei Frauen in der Menopause kann eine Estrogentherapie die Entwicklung von ASH verlangsamen[23]. Wahrscheinlich hat ein am oberen Ende des Normbereiches liegender Aldosteronspiegel einen schützenden Effekt[35]. Progestin könnte dagegen einen negativen Effekt auf die Hörfähigkeit von älteren Frauen, die eine Hormonersatztherapie bekommen, ausüben. Davon betroffen sind sowohl das periphere als auch das zentrale auditorische System[20].
Morphometrische Faktoren Interessanterweise stehen auch morphometrische Faktoren in Verbindung mit ASH. Eine schwedische Studie an Wehrpflichtigen[2] zeigte, dass kleine Personen mit sehr hohem oder sehr niedrigem BMI eher von Schwerhörigkeit betroffen sind als große oder Personen mit einem BMI im Normalbereich. Diese Effekte waren abhängig von Geburtsgewicht und -größe. Das heißt, übergewichtige Personen, die verhältnismäßig klein und leicht geboren wurden, haben ein erhöhtes Risiko,
Presbyakusis – genetische und umweltbedingte Risikofaktoren
im wehrpflichtigen Alter schwerhörig zu sein. Ähnliche Ergebnisse erzielten weitere Studien, die zeigen, dass nicht nur Körpergröße und BMI in Zusammenhang mit ASH stehen, sondern auch die Suszeptibilität für Sonnenbrand einen Bezug zur ASH hat[14], [3]. Die Tatsache, dass genetisch determinierte Komponenten wie Körpergröße und Anfälligkeit für Sonnenbrand in Verbindung mit ASH gebracht werden können, ist außerdem ein weiterer Hinweis, dass ASH wenigstens zum Teil genetisch bedingt ist.
Genetische Faktoren Bislang ist über die involvierten Gene wenig bekannt. Die Wahrnehmung von Geräuschen erfordert komplexe molekulare Vorgänge, und altersbedingte Veränderungen einer beliebigen Komponente können zum Hörverlust beitragen. Deshalb wird erwartet, dass sehr viele Gene an der Entstehung von ASH beteiligt sind. Da genomweite Studien immer noch sehr teuer sind, wurden bisher hauptsächlich Assoziationsstudien mit Kandidatengenen veröffentlicht. Auf diese Weise konnte der Polymorphismus NAT*6A im N-Acetyltransferase 2-Gen mit ASH in Verbindung gebracht werden[36]. Eine weitere Studie kam ebenfalls zu diesem Ergebnis[37]. Die Bestätigung dieser Assoziationsstudie durch eine unabhängige Studie[37] ist als sehr selten und signifikant zu beurteilen. Außerdem konnten Van Eyken et al. in einer finnischen Population SNPs in den Glutathion-S-Transferase-Genen GSTT1 und GSTM1 mit ASH assoziieren[37]. Eine andere Kandidatengenstudie zeigte eine signifikante Assoziation von verschiedenen SNPs innerhalb einer 13-kb-Region in der Mitte des KCNQ4-Gens mit ASH[38]. Auch für den Transkriptionsfaktor GRHL2 konnte ein Zusammenhang mit ASH nachgewiesen werden. Jedoch hat der betreffende Polymorphismus überraschenderweise einen protektiven Effekt auf das Gehör[39].
11
Mitochondriale Mutationen verursachen hauptsächlich Erkrankungen, die typischerweise bei älteren Personen auftreten[40]. Tatsächlich konnte bei Patienten mit ASH ein hochsignifikanter Anstieg von mitochondrialen Mutationen im auditorischen Gewebe beobachtet werden[12] Untersuchungen mitochondrialer Mutationen weisen auf einen Zusammenhang der sehr häufigen Mutation mtDNA4977, einer 4.977 bp umfassenden Deletion im mitochondrialen Genom, mit ASH hin[1], [7], während sie in einer altersangepassten Kontrollgruppe ohne Anzeichen für ASH so gut wie nicht nachweisbar war[32]. Eine erste, das ganze Genom umfassende Kopplungsanalyse zur ASH auf der Basis von Familien aus der Framingham Herz-Studie resultierte in sechs Kandidatenregionen auf vier Chromosomen[10]. 2006 wurde durch eine weitere genomweite Kopplungsanalyse ein siebter Lokus identifiziert, der sich mit dem DFNA18 Lokus überschneidet[16]. Erst kürzlich konnte mit einer familienbasierten, ebenfalls das gesamte Genom umfassenden Kopplungsanalyse eine weitere Genregion für Altersschwerhörigkeit auf Chromosom 8 identifiziert werden[24]. Schließlich wurde zuletzt mit der ersten genomweiten Assoziationsstudie ein weiteres Suszeptibilitätsgen für ASH beschrieben werden. Es handelt sich hierbei um den Glutamatrezeptor GRM7[15].
Schlussfolgerungen Bis heute sind die Ursachen von ASH noch nicht abschließend geklärt, vor allem bei den genetischen Risikofaktoren besteht weiterhin großer Forschungsbedarf. Im Fokus der Studien standen bisher meistens exogene Faktoren. Obwohl bei einigen Umweltfaktoren noch Kontroversen bestehen, können diese Erkenntnisse bereits für die Ausarbeitung von Präventionsstrategien für ASH verwendet werden. Das Wissen, das durch histologische und elektrophysiologische Untersuchungen gewon-
12
Presbyakusis – genetische und umweltbedingte Risikofaktoren
nen wird, hilft dabei, die Entstehungsmechanismen von ASH zu klären. Dadurch können Angriffspunkte für die Behandlung von SH bei älteren Menschen identifiziert werden. Erste Anstrengungen, Kenntnisse über genetische Faktoren zu erlangen, wurden schon unternommen. Genomweite Kopplungsanalysen resultierten in acht Kandidatenregionen für ASH. Durch Assoziationsstudien konnten schon sechs Suszeptibilitätsgene für ASH identifiziert werden. Dieses neu geweckte Interesse an genetischen Hintergründen von ASH wird zur Beschreibung von noch mehr Assoziationen mit weiteren ASH-Genen führen. Dadurch wird unser Wissen über die molekularen Vorgänge bei der Entwicklung von ASH vergrößert, was wiederum zu neuen Behandlungsstrategien führen wird. Da die Industrienationen stark altern und SH die häufigste sensorische Behinderung von älteren Menschen ist, werden diese neuen Therapien ihren Beitrag zur Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität und der Lebensqualität leisten.
Literatur [1]
[2]
[3]
[4]
Bai U, Seidman MD, Hinojosa R, Quirk WS (1997) Mitochondrial DNA deletions associated with aging and possibly presbycusis: a human archival temporal bone study. Am J Otol. 18: 449 – 453 Barrenas ML, Jonsson B, Tuvemo T, Hellstrom PA, Lundgren M (2005) High risk of sensorineural hearing loss in men born small for gestational age with and without obesity or height catch-up growth: a prospective longitudinal register study on birth size in 245 000 Swedish conscripts. J Clin Endocrinol Metab 90: 4452 – 4456 Baur M, Fransen E, Tropitzsch A, Mauz PS, Van Camp G, Blin N, Pfister M (2009) Einfluss exogener Faktoren auf Altersschwerhörigkeit. HNO in press Brant LJ, Gordon-Salant S, Pearson JD, Klein LL, Morrell CH, Metter EJ, Fozard JL (1996) Risk factors related to age-associated hearing loss in speech frequencies. J Am Acad Audiol 7: 152 –160
[5] Chang SJ, Chen CJ, Lien CH, Sung FC (2006) Hearing loss in workers exposed to toluene and noise. Environ Health Perspect 114: 1283 –1286 [6] Corso JF (1992) Support for Corso’s hearing loss model. Relating ageing and noise exposure. Audiology 31: 162 –167 [7] Dai PYW, Jiang S, Gu R, Yuan H, Han D, Guo W, Cao J (2004) Correlation of cochlear blood supply with mitochondrial DNA common deletion in presbyacusis. Acta otolaryngol 124: 130 –136 [8] Dalton DS, Cruickshanks KJ, Klein BE, Klein R, Wiley TL, Nondahl DM (2003) The impact of hearing loss on quality of life in older adults. Gerontologist 43: 661– 668 [9] Davis A (1989) The prevalence of hearing impairment and reported hearing disability among adults in Great Britain. Int J Epidemiol 18: 911.017 [10] DeStefano AL, Gates GA, Heard-Costa N, Myers RH, Baldwin CT (2003) Genomewide linkage analysis to presbycusis in the Framingham Heart Study. Arch Otolaryngol Head Neck Surg 129: 285 – 289 [11] Emmerich E, Richter F, Reinhold U, Linss V, Linss W (2000) Effects of industrial noiseexposure on distortion produckt otoacoustic emissions (DPOAE) and hair cell loss of the cochlea – long term experiments en awake guinea pigs. Hear Res 148: 9 –17 [12] Fischel-Ghodsian N, Bykhovskaya Y, Taylor K, Kahen T, Cantor R, Ehrenman K, Smith R, Keithley E (1997) Temporal bone analysis of patients with presbycusis reveals high frequency of mitochondrial mutations. Hear Res 110: 147–154 [13] Fitzgerald DC (1996) Head trauma: hearing loss and dizziness. J Trauma 40: 488 – 496 [14] Fransen E, Topsakal V, Hendrickx JJ, Van Laer L, Huyghe JR, Van Eyken E, Lemkens N, Hannula S, Mäki-Torkko E, Jensen M, Demeester K, Tropitzsch A, Bonaconsa A, Mazzoli M, Espeso A, Verbruggen K, Huyghe J, Huygen P, Kunst S, Manninen M, Diaz-Lacava A, Steffens M, Wienker T, Pyykkö I, Cremers CW, Kremer H, Dhooge I, Stephens D, Orzan E, Pfister M, Bille M, Parving A, Sorri M, Van de Heyning P, Van Camp G (2008) Occupational noise, smoking and a high BMI are risk factors for age-related hearing impairment and moderate alcohol consumption is protective: a European population based multicentre study. J Assoc Res Otolaryngol 9: 264 – 276 [15] Friedman RA, Van Laer L, Huentelman MJ, Sheth SS, Van Eyken E, Corneveaux JJ, Tembe WD, Halperin RF, Thorburn AQ, Thys S, Bonneux S, Fransen E, Huyghe J,Pyykkö I, Cremers CWRJ, Kremer H, Dhooge I, Stephens
Presbyakusis – genetische und umweltbedingte Risikofaktoren
[16]
[17]
[18] [19]
[20]
[21]
[22]
[23]
[24]
[25]
D, Orzan E, Pfister M, Bille M, Parving A, Sorri M, Van de Heyning PH, Makmura L, Ohmen JD, Linthicum Jr FH, Fayad JN, Pearson JV, Craig DW, Stephan DA, Van Camp G (2008) Grm7 variants confer susceptibility to age-related hearing impairment. Hum Mol Genet. 2008 Dec 1 [Epub ahead of print] Garringer HJ, Pankratz ND, Nichols WC, Reed T (2006) Hearing impairment susceptibility in elderly men and the DFNA18 locus. Arch Otolaryngol Head Neck Surg 132: 506 – 510 Gates GA, Cobb JL, D’Agostino RB, Wolf PA (1993) The relation of hearing in the elderly to the presence of cardiovascular disease und and cardiovascular risk factors. Arch Otolaryngol Head Neck Surg 119: 156 –161 Gates GA, Mills JH (2005) Presbycusis. Lancet 366: 1111–1120 Gates GA, Schmid P, Kujawa SG, Nam B, D’Agostino R (2000) Longitudinal threshold changes in older men with audiometric notches. Hear Res 141: 220 – 228 Guimaraes P, Frisina ST, Mapes F, Tadros SF, Frisina DR, Frisina RD (2006) Progestin negatively affects hearing in aged women. Proc Natl Acad Sci USA 103: 14246 –14249 Helzner EP, Cauley JA, Pratt SR, Wisniewski SR, Talbott EO, Zmuda JM, Harris TB, Rubin SM, Taaffe DR, Tylavsky FA, Newman AB (2005) Hearing sensitivity and bone mineral density in older adults: the Health, Aging and Body Composition Study. Osteoporos Int 16: 1675 –1682. Hiel H, Bennani H, Erre JP, Aurousseau C, Aran JM (1992) Kinetics of gentamicin in cochlear hair cells after chronic treatment. Acta Otolaryngol 112: 272 – 277 Hultcrantz M, Simonoska R, Stenberg AE (2006) Estrogen and hearing: a summary of recent investigations. Acta Otolaryngol 126: 10 –14 Huyghe JR, Van Laer L, Hendricks JJ, Fransen E, Demeester K, Topsakal V, Kunst S, Manninen M, Jensen M, Bonaconsa A, Mazzoli M, Baur M, Hannula S, Mäki-Torkko E, Espeso A, Van Eyken E, Flaquer A, Becker C, Stephens D, Sorri M, Orzan E, Bille M, Parving A, Pyykkö I, Cremers CWRJ, Kremer H, Van de Heyning P, Wienker TF, Nürnberg P, Pfister M, Van Camp G (2008) Genome-wide SNP-based linkage scan identifies a locus on 8q24 for an age-related hearing impairment trait. Am J Hum Genet 83: 401– 407 Itoh A, Nakashima T, Arao H, Wakai K, Tamakoshi A, Kawamura T, Ohno Y (2001) Smoing and drinking habits as risk factors for hearing loss in the elderly: epidemiological study of subjects undergoing routine health
[26] [27] [28]
[29] [30]
[31] [32]
[33]
[34] [35]
[36]
[37]
[38]
13
checks in Aichi, Japan. Public Health 115: 192 –196 Johnson AC, Nylen PR (1995) Effect of industrial solvents on hearing. Occup Med 10: 623 – 640 Kakarlapudi V, Sawyer R, Staecker H (2003) The effect of diabetes on sensorineural hearing loss. Otol Neurotol 24: 382 – 386 Karlsson KK, Harris JR, Svartengren M (1997) Description and primary results from an audiometric study of male twins. Ear Hear 18: 114 –120 Kurien M, Thomas K, Bhanu TS (1989) Hearing threshold in patients with diabetes mellitus. J Laryngol 103: 164 –168 Rosenhall U, Sixt E, Sundh V, Svanborg A (1993) Correlations between presbyacusis and extrinsic noxious factors. Audiology 32: 234 – 43 Rybak LP (1992) Hearing: the effect of chemicals. Arch Otolaryngol Head Neck Surg 106: 677– 686 Seidman MD, Bai U, Khan MJ, Quirks WS (1997) Mitochondrial DNA deletions associated with aging and presbyacusis. Arch Otolaryngol Head Neck Surg 123: 1039 – 1045 Spongr VP, Boettcher FA, Saunders SS, Salvi RJ (1992) Effects of noise and salicylate on hair cell loss in the chinchilla cochlea. Arch Otolaryngol Head Neck Surg 118: 157–164. Stypulkowski PH (1990) Mechanisms of salicylate ototoxicity. Hear Res 46: 113 –145 Tadros SF, Frisina ST, Mapes F, Frisina DR, Frisina RD (2005) Higher serum aldosterone correlates with lower hearing thresholds: a possible protective hormone against presbycusis. Hear Res 209: 10 –18 Ünal M, Tamer L, Dogruer ZN, Yildirim H, Vayisoglu Y, Camdeviren H (2005) N-acetyltransferase 2 gene polymorphism and presbycusis. Laryngoscope 115: 2238 – 2241 Van Eyken E, Van Camp G, Fransen E, Topsakal V, Hendrickx JJ, Demeester K, Van de Heyning P, Mäki-Torkko E, Hannula S, Sorri M, Jensen M, Parving A, Bille M, Baur M, Pfister M, Bonaconsa A, Mazzoli M, Orzan E, Espeso A, Stephens D, Verbruggen K, Huyghe J, Dhooge I, Huygen P, Kremer H, Cremers CWRJ, Kunst S, Manninen M, Pyykkö I, Lacava A, Steffens M, Wienker TF, Van Laer L (2007) Contribution of the Nacetyltrasferase 2 polymorphism NAT2*6A to age-related hearing impairment. J Med Genet 44: 570 – 578 Van Eyken E, Van Laer L, Fransen E, Topsakal V, Lemkens N, Laureys W, Nelissen N, Vandevelde A, Wienker T, Van De Heyning P, Van Camp G (2006) KCNQ4: a gene for age-
14
Presbyakusis – genetische und umweltbedingte Risikofaktoren
related hearing impairment? Hum Mutat 27: 1007–1016 [39] Van Laer L, Van Eyken E, Fransen E, Huyghe JR, Topsakal V, Hendrickx JJ, Hannula S, Mäki-Torkko E, Jensen M, Demeester K, Baur M, Bonaconsa A, Mazzoli M, Espeso A, Verbruggen K, Huyghe J, Huygen P, Kunst S, Manninen M, Konings A, Diaz-Lacava AN, Steffens M, Wienker TF, Pyykkö I, Cremers
CWRJ, Kremer H, Dhooge I, Stephens D, Orzan E, Pfister M, Bille M, Parving A, Sorri M, Van de Heyning PH, Van Camp G (2008) The grainyhead like 2 gene (GRHL2) alias TFCP2L3, is associated with age-related hearing impairment. Hum Mol Genet 17: 159 –169. [40] Wallace DC (1997) Mitochondrial DNA in aging and disease. Sci Am 277: 40 – 47
Pharmakotherapie bei Hörstörungen – Gegenwärtiger Stand und aktuelle Entwicklungen S. K. Plontke
Einführung Im Rahmen der Pharmakotherapie von Hörstörungen beobachten wir in den letzten Jahren eine wachsende Differenz zwischen den Erfolgen präklinischer tierexperimenteller Studien und der Pharmakotherapie in der klinischen Praxis. Zum einen erscheinen Berichte über erste Erfolge bei der Regeneration von Haarsinneszellen nicht nur bei Vögeln, sondern auch bei Säugetieren durch Gen-Transfer von Math-1 [15] und beginnend auch durch Nutzung von Stammzellen[20]. Zum anderen ist die klinische Praxis weltweit geprägt von polypragmatischen Therapien und Medikamenten-Cocktails oder der Anwendung von Mono-Therapien auf der Basis nur geringer klinischer Evidenz. In dieser Arbeit sollen gegenwärtig in der klinischen Praxis angewandte medikamentöse Therapieverfahren bei Hörstörungen auf der Grundlage vorliegender Ergebnisse aus klinischen Studien mit höherem Evidenzgrad dargestellt und vor dem Hintergrund präklinischer Untersuchungen auswahlhaft diskutiert werden. Eine ausführliche Übersicht zur Pharmakotherapie bei Hörstörungen findet sich bei Plontke[24], [25]. Weiterhin wird auf aktuelle Entwicklungen im Bereich klinischer Studien bei der Therapie von Hörstörungen, insbesondere durch lokale Medikamentenapplikation an das Innenohr eingegangen.
Systemische Pharmakotherapie Glukokortikosteroide Die Therapie mit Glukokortikosteroiden (z. B. [Methyl-]Prednisolon, Dexamethason) ist die weltweit häufigste pharmakologische Intervention bei akuten Hörverlusten verschiedener Ursachen. Glukokortikosteroide haben vielfältige Wirkungen in nahezu allen Organen über eine verzögerte, DNA-vermittelte Induktion der Proteinbiosynthese nach Transformation eines intrazellulären Glukokortikoidrezeptors sowie bisher unbekannte Mechanismen mit sofortigem Wirkeintritt. Bei der therapeutischen Anwendung im Rahmen der Innenohrtherapie spielen unter anderem wahrscheinlich folgende Effekte eine wichtige Rolle: 1) antiphlogistische Wirkung: durch Blockade proinflammatorischer Mediatoren; unabhängig davon, ob diese auf bakterielle, virale, immunpathologische, chemische, physikalische oder ischämisch-hypoxische Ursachen zurückzuführen sind, und 2) immunsuppressive Wirkung (z. B. durch Hemmung der Aktivierung von T-Lymphozyten). Durch das Vorhandensein von Glukokortikoid-Rezeptoren im Spiralligament und in der Stria vascularis sind direkte immunsuppressive and antiinflammatorische Wirkungen im Innenohr möglich. Hinzu kommen weitere, z. T. nur in Tierexperimenten untersuchte Wirkungen von Glukokortikosteroiden mit möglichem Einfluss auf die Innenohrhomöostase: a) Stabilisierung der Gefäßbarriere insbesondere für zirkulie-
16
Pharmakotherapie bei Hörstörungen – Gegenwärtiger Stand und aktuelle Entwicklungen
rende Entzündungsmediatoren und Immunkomplexe, b) Verminderung der Produktion und Wirkung von Vasopressin, c) Erhöhung der Expression von Aquaporinen (AQP1, AQP3) im Innenohr und d) unterschiedlich stark ausgeprägte mineralokortikoide Wirkung (nach [44]). Glukokortikosteroide besitzen antioxidative Wirksamkeit und aktuelle Untersuchungen weisen auf eine antiapoptotische Wirkung hin (insbesondere von Dexamethason) durch Unterdrückung Stress-induzierter Signalkaskaden in Traumamodellen unter Beteiligung des Transkriptionsfaktors NFkB[6]. Zahlreiche tierexperimentelle Studien zeigten ein Wirksamkeit von Glukokortikosteroiden in verschiedenen Traumamodellen, so zum Beispiel bei 1) akutem akustischen Trauma[38], [43], [47], 2) Aminoglykosid-Ototoxizität[13], 3) Pneumokokken-Meningitis[16], 4) autoimmunassoziiertem Hörverlust[45], 5) Cochleostomie[50] und 6) Insertionstrauma bei CIImplantation[10], [12]. Diese präklinischen Erkenntnisse bilden eine rationale Grundlage für die Anwendung von Glukokortikosteroiden bei akuten Hörstörungen unterschiedlicher Genese. Hinweise für eine Wirksamkeit von Glukokortikosteroiden bei der akuten idiopathischen Hörminderung (Hörsturz) kommen u. a. aus einer retrospektiven Kohortenstudie[1]. Die wenigen randomisierten Studien (mit nur geringen Patientenzahlen), die die Wirksamkeit von Glukokortikosteroiden beim Hörsturz gegen Placebo oder Nulltherapie vergleichen, kommen allerdings zu uneinheitlichen Resultaten. Als Ergebnis einer systematischen Übersicht (Metaanalyse) der CochraneCollaboration wird der Stellenwert der systemischen Glukokortikosteroidtherapie in der Behandlung des Hörsturzes deshalb als noch unklar eingeschätzt[48]. Diese Aussage wird auch durch die Metaanalyse von Conlin und Parnes[8] unterstützt.
Rheologika Neben Infektionen mit neurotropen Viren und Autoimmunprozessen werden mit cochleovestibulärer Hypoxie einhergehende Durchblutungsstörungen als weitere vermutete Ursachen für die Entstehung akuter Hörminderungen (insbesondere bei sonst unbekannter Ursache) genannt. Direkte Beweise für diese Hypothesen beim Menschen fehlen jedoch. In humanen Felsenbeinstudien konnten keine Hinweise auf die genannten Ursachen gefunden werden[21], obwohl einschränkend angemerkt werden sollte, dass morphologische post mortem Untersuchungen nur bedingt geeignet sind, die Frage nach den Ursachen einer akuten Hörminderung zu beantworten, da die Felsenbeine meist nicht im akuten Stadium entnommen wurden. Indirekte Hinweise auf eine Beteilung von Durchblutungsstörungen an der Pathophysiologie akuter Hörminderungen stammen jedoch aus zahlreichen tierexperimentellen Untersuchungen sowie epidemiologischen Erkenntnissen über ein gehäuftes Schlaganfallrisiko bei Hörsturzpatienten[19]. In einer kontrollierten klinischen Studie fanden Desloovery und Mitarbeiter[9] keinen Unterschied in der Hörerholung nach Hörsturz nach Gabe von HES + Pentoxiphyllin oder Plazebo (NaCl 0.9 %). Auch Probst und Mitarbeiter[34] fanden in einer ebenfalls randomisierten klinischen Studie weder bei akustischem Trauma noch bei Hörsturz Unterschiede bezüglich des relativen Hörgewinns, wenn die Patienten mit Dextran und Pentoxifyllin, NaCl 0,9 % und Pentoxifyllin oder mit NaCl 0,9 % und Placebo behandelt wurden. Allerdings berichten Klemm und Mitarbeiter[17], basieren auf einer post hoc Analyse der Daten ihrer randomisierten Studie, über die Wirksamkeit von HES gegenüber Placebo (Glucose 5 %) bei Patienten mit Bluthochdruck und/oder ohne Hörverbesserung innerhalb von 48 Stunden nach Hörsturz.
Pharmakotherapie bei Hörstörungen – Gegenwärtiger Stand und aktuelle Entwicklungen
Antioxidantien und antiexzitotoxische Therapie Umfassende Untersuchungen in Tierexperimenten haben Aufschluss über wichtige pathophysiologische Prozesse der akuten und chronischen Innenohrschädigung gegeben und damit wichtige Anhalte für klinische Therapieansätze geliefert. Wesentliche allgemeine Mechanismen insbesondere akuter Innenohrfunktionsstörungen umfassen die Bereiche oxidativer Stress, Exzitotoxizität und Apoptose (Übersicht in [27]). Verschiedene Ursachen – Schalltrauma, Hypoxie/Ischämie, ototoxische Medikamente und (gewerbliche) Chemikalien – können in der Kochlea zu Störungen des Gleichgewichts zwischen Bildung reaktiver Sauerstoffund Stickstoffverbindungen und endogenen antoxidativen Systemen und damit zu oxidativem Stress führen. Antioxidantien wirken entweder direkt z. B. als Radikalfänger oder indirekt über die Unterstützung endogener antioxidativer Systeme. Klinische Studien mit hohem Evidenzniveau fehlen bisher weitestgehend. Auf Grund des als viel versprechend eingeschätzten Potentiales von Antioxidantien – insbesondere bei akuten akustischen Traumata – sind gegenwärtig mehrere Firmen als Sponsor klinischer Studien tätig: Die Firma Sound Pharmaceuticals Inc. (USA) führt gegenwärtig eine Phase II-Studie mit der Substanz SPI-1005 (Ebselen) durch. Ebselen ist eine organische Selenverbindung, die die zum (protektiven) endogenen antioxidativen System gehörende Glutathion-Peroxidase imitiert und reaktive Sauerstoff- und Stickstoffverbindungen neutralisiert. Ebenfalls in die Phase der klinischen Prüfung (Phase II bei Ototoxizität durch Cisplatin) eingetreten ist die Verbindung MRX-1024, hinter der sich das Antioxidans D-Methionin der Firma Molecular therapeutics, Inc. (USA) verbirgt. Bereits abgeschlossen ist eine randomisierte Studie bei (lärmexponierten) Soldaten mit dem Antioxidans N-Acetyl-Cystein (NAC), die allerdings keinen Nutzen der systemischen NAC-Therapie – u. a. auch bedingt durch die nur geringen
17
Hörverluste in der Kontrollgruppe – zeigen konnte (Kopke R., persönliche Mitteilung). Einen weiteren Therapieansatz verfolgt die Firma OTOMedicine (USA) mit ihrem Medikament Auraquell TM , welches eine Kombination aus den Vitaminen A, C und E in Verbindung mit Magnesium darstellt und in klinischen Prüfungen untersucht wird. Hier werden, basierend auf erfolgreichen präklinischen Experimenten, antioxidativ (Vitamine) und antiexzitotoxisch (Mg2+) wirkende Substanzen kombiniert[18]. Die protektive Wirkung von Magnesium (aspartat) basiert vermutlich auf der Blockade des NMDA-Rezeptors und damit einer Verhinderung eines für die afferente Nervenfaser toxisch erhöhten Kalziumeinstroms im Rahmen einer übermäßigen Glutamatausschüttung an den Synapsen der inneren Haarsinneszellen z. B. beim akuten akustischen Trauma. In einer randomisierten, plazebokontrollierten Studie an Rekruten konnte gezeigt werden, dass durch prä- und paraexpositionelle Gabe, d. h. bei präventiver Einnahme von Magnesiumaspartat (167 mg/d) während einer zweimonatigen Phase regelmäßiger Schießübungen Ausmaß und Wahrscheinlichkeit eines permanenten Hörverlustes verhindert werden kann (Übersicht in [25]). Die präventive Gabe von Antioxidantien kann auch vor ototoxischer Schädigung durch Aminoglykoside schützen, ohne dass deren antibakterielle Wirkung vermindert wird. In einer randomisierten, placebo-kontrollierten, klinischen Studie konnte der protektive Effekt von (hochdosierter) Acetylsalicylsäure bezüglich einer Minderung des Hörverlustes durch Gentamicintherapie gezeigt werden[39]. Apoptoseinhibitoren Oxidativer Stress, z. B. durch Ischämie, Lärm, ototoxische Medikamente und Chemikalien kann im Innenohr zur Initiierung von Signalkaskaden des programmierten Zelltodes (Apoptose) führen. Für den peptidischen c-Jun N-terminal Kinase (JNK) – Inhibitor AM111 der Firma Auris Medical (Schweiz) zum Beispiel
18
Pharmakotherapie bei Hörstörungen – Gegenwärtiger Stand und aktuelle Entwicklungen
demonstrierten präklinische Untersuchungen eine Wirksamkeit bei verschiedenen Schädigungsmodellen des Innenohres. Weiterhin liegen erste Pilotdaten mit AM 111 auch nach Applikation am Menschen vor[42]. Gegenwärtig wird eine GCP-konforme, multizentrische, randomisierte, placebo-kontrollierte klinische Studie zur Wirksamkeit und Sicherheit von AM111 bei Hörsturz duchgeführt (http:// clinicaltrials.gov/). Eine Besonderheit solcher Apoptose-Inhibitoren ist jedoch, dass sie aufgrund ihrer peptidischen Struktur nicht systemisch sondern nur lokal an das Innenohr appliziert werden können. Da dieser Aspekt wahrscheinlich eine Rolle für zahlreiche zukünftige Medikamente zur Innenohrtherapie spielen wird, soll im folgenden Abschnitt auf die lokale Medikamentenapplikation an das Innenohr gesondert eingegangen werden.
Lokale Pharmakotherapie des Innenohres Die lokale, intratympanale Medikamentenapplikation zur Therapie von Innenohrerkrankungen hat in den letzten 15 Jahren ein steigendes Interesse erfahren. Die rationale Grundlage einer lokalen Medikamentenapplikation besteht 1) in der Umgehung der Blut-Hirn-Schranke, 2) in den bei Tieren und beim Menschen nachgewiesenen höheren intracochleären Medikamentenspiegeln[3], [5], [23] und 3) in den dadurch erwarteten geringeren systemischen Nebenwirkungen. Typische Indikationen für eine lokale Medikamentenapplikation bestehen insbesondere für Medikamente mit systemischer Toxizität oder geringer therapeutischer Breite, mit Metabolismus im Blut oder First-Pass-Effekt in der Leber. Bezüglich der lokalen Medikamentenapplikation an das Innenohr bestehen pharmakokinetische Besonderheiten, welche bei der Anwendung dieser Therapieform berücksichtigt werden müssen. Diese Besonderheiten beru-
hen auf der Tatsache, dass im Vergleich zum systemischen Blutkreislauf die Innenohrflüssigkeiten nicht aktiv durchmischt werden und sich dadurch Substanzen im Wesentlichen passiv durch Diffusion verteilen. Bisherige, vor allem präklinische Untersuchungen zeigten 1) die Bedeutung der Clearance aus Mittelohr und Innenohr von intratympanal applizierten Substanzen[5], [26], [32], 2) die hohe Variabilität intracochleärer Konzentration nach Applikation an die Rundfenstermembran[2], [3], [5], [23], [31] und 3) die fehlende gleichförmige Verteilung mit zum Teil ausgeprägten baso-apikalen Konzentrationsgradienten im Innenohr nach intratympanaler Applikation (z. B. [7], [22], [31], [41]). Die lokale Medikamentenapplikation an die Rundfenstermembran ist aus pharmakokinetischer Sicht auch von besonderer Bedeutung für das Vestibularorgan. Tierexperimentelle Untersuchungen und Interpretationen der Ergebnisse mit Hilfe von 1D- und 3D-ComputerModellen zeigten eine rasche Verteilung der lokal applizierten Substanzen über die laterale Wand der Cochlea (Ligametum spirale) in die Skala vestibuli und in das Vestibulum[29], (Abb. 1). Besonders durch die Lagebeziehung von Rundfenstermembran und Ligamentum spirale im basalen Bereich der Cochlea entsteht ein „pharmakokinetischer Shortcut“ zwischen dem basalen Bereich der Scala tympani und dem Vestibulum welcher die lokale Applikation von Medikamenten an die Rundfenstermembran zu einer interessanten Strategie für die Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen machen kann. Dies wird bereits mit der Gentamicintherapie beim Morbus Menière schon seit mehr als fünf Jahrzehnten ausgenutzt[30], [36]. Neben Lokalanästhetika and Aminoglykosiden wurden auch andere Medikamente meist in kleineren klinischen Fallserien zur intratympanalen Therapie von Innenohrerkrankungen appliziert. Die betrifft z. B. 1) Neurotransmitter und Neurotransmitterantagonisten (Glutamat, Glutaminsäure, Caroverin) bei chronischem
Pharmakotherapie bei Hörstörungen – Gegenwärtiger Stand und aktuelle Entwicklungen
19
Abb. 1 3D-Rekonstruktion des Innenohres (Meerschweinchen): Durch die Lagebeziehung von Rundfenstermembran (RFM) und Ligamentum spirale (L. s.) entsteht ein „pharmakokinetischer Shortcut“ zwischen dem basalen Bereich der Scala tympani (Sc. T.) und dem Vestibulum. Dies kann von Bedeutung sein für die Pharmakotherapie vestibulärer Erkrankungen durch lokale Applikation von Medikamenten an die Rundfenstermembran. (Grafik: © Alec N. Salt und Ruth Gill, St. Louis, USA, Abdruck mit freundlicher Genehmigung).
Tinnitus[37], 2) monoklonale Antikörper gegen Tumor Nekrose Faktor (TNF) alpha (Infliximab) bei „Autoimmunerkrankung des Innenohres“ (AIED)[46] und – wie oben bereits erwähnt – der Apoptose-Inhibitor AM111 bei akutem akustischen Trauma durch SilvesterFeuerwerkskörper[42]. Am häufigsten werden jedoch gegenwärtig Glukokortikoide insbesondere bei akuter, idiopathischer Hörminderung („Hörsturz“) intratympanal angewandt. Bei der wachsenden Anzahl klinischer Berichte in den letzten zehn Jahren werden Dexamethason- oder Methylprednisolon- Präparate entweder 1) primär, 2) sekundär als „Rettungstherapie“ (oder besser: Reservetherapie) oder 3) in Kombination mit einer systemischen Therapie eingesetzt. Dabei kommen verschiedene Applikationssysteme zur Anwendung: 1) einmalige oder wiederholte intratympanale Injektion mit oder ohne Inspektion der Rundfensternische und mit oder ohne Volumenstabilisierung oder 2) Systeme zur kontinuierlichen, kontrollierten Medikamentenapplikation, wie z. B. Katheter
mit Pumpen oder biodegradierbare Polymere, (Übersicht in [26]), (Abb. 2). Bisher existieren vier randomisierte, kontrollierte, klinische Doppelblind-Studien zur intratympanalen Innenohrtherapie bei Hörsturz, die im Folgenden kurz zusammengefasst werden sollen. In allen vier Studien wurden Glukokortikosteroide verwendet. 1) Ho und Mitarbeiter[14] untersuchten die Hörverbesserung bei Patienten mit Zustand nach erfolgloser systemischer Therapie mit einem Medikamenten-Cocktail (Methylprednisolon, Nicametat, Vitamin B Komplex, Fludiazepam und Carbogen-Inhalation). Der Zeitpunkt des Beginns der lokalen Innenohrtherapie lag bei 20 (11– 60) Tagen nach Hörsturz und der durchschnittliche Hörverlust (6PTA, 0,25 – 8kHz) bei 81,0 (71–115) dB. Die Therapie-Gruppe („lokale Rettungstherapie“) erhielt wiederholte (insgesamt drei) intratympanale Injektionen von Dexamethason-Phosphat (4 mg/ml) im wöchentlichen Abstand. Die Kontroll-Gruppe erhielt keine lokale Therapie. Als Therapieerfolg wurde eine
20
Pharmakotherapie bei Hörstörungen – Gegenwärtiger Stand und aktuelle Entwicklungen
Abb. 2 Applikationssysteme zur lokalen Medikamentenapplikation an das Innenohr beim Menschen: A: direkte intratympanale Injektion (Abbildung aus: [26], © S. Karger AG 2006, Zeichnung: Andreas Mücke, Berlin), B: Microotoscope „Model Tübingen“, GYRUS Medical GmbH (früher explorent ®/STUEMED® ): Außendurchmesser: 1,2 mm; enthält einen Kanal mit Faseroptik (0,5 mm, 6.000 Fasern) und zwei Arbeitskanäle (0,27 and 0,3 mm) für Absaugung und gezielte Medikamentenapplikation nach Visualisierung der Rundfenstermembran (Abbildung aus: [28], © S. Karger AG 2002). C: Temporär implantierbarer Katheter für die lokale Medikamentenapplikation an das Innenohr (RWμ/ECathTM ), Abdruck mit freundlicher Genehmigung, © DURECT TM, Cupertino, USA[33]. D: Silverstein Micro WickTM (aus: [40]), Abdruck mit freundlicher Genehmigung, © Micromedics Inc., St. Paul, MN, USA. PR: Pauckenröhrchen, P: Promontorium, * RWμCath (Katherspitze), Pfeile: Amboss-Steigbügel-Gelenk
Verbesserung im Tonaudiogramm von 6PTA > 30 dB gewählt. Entsprechend dieses Kriteriums verbesserten sich acht von fünfzehn Patienten (53,3 %) mit lokaler Rettungstherapie aber nur einer von vierzehn Patienten (7,1 %) in der Kontrollgruppe (p < 0,05). Die durchschnittliche Hörschwellenverbesserung in der Therapiegruppe betrug 28,4 dB und in der Kontrollgruppe 13,2 dB. 2) Xennellis und Mitarbeiter[49] untersuchten die Hörverbesserung bei Patienten bei Zu-
stand nach erfolgloser systemischer Therapie mit systemischer Gabe von Glukokortikoiden. Der Zeitpunkt des Beginns der lokalen Innenohrtherapie lag bei 10 Tagen nach Hörsturz und der Hörverlust (4PTA, 0,5 – 4kHz) bei > 30 dB (absolut) oder > 10 dB schlechter im Vergleich zum Gegenohr. Die TherapieGruppe („lokale Rettungstherapie“) erhielt wiederholte (insgesamt vier) intratympanale Injektionen von Methylprednisolon-Acetat (40 mg/ml) innerhalb von 15 Tagen. Die
Pharmakotherapie bei Hörstörungen – Gegenwärtiger Stand und aktuelle Entwicklungen
Kontroll-Gruppe erhielt keine lokale Therapie. Als Definition für den Erfolg wurde eine Verbesserung im Tonaudiogramm von > 10 dB (4PTA) festgelegt. Dieses Kriterium wurde bei 9 von 19 Patienten mit lokaler Rettungstherapie (47.3 %) und bei keinem von 18 Patienten (0 %) der Kontrollgruppe erreicht (p < 0,005). Die durchschnittliche Hörschwellenverbesserung in der Therapiegruppe betrug 14,9 dB und in der Kontrollgruppe 0,8 dB. Unter den kritisch zu diskutierenden Aspekten dieser Studie sind u. a. das Erfolgskriterium von 10 dB und die vollständig fehlende Erholung in der Kontrollgruppe zu sehen, welche im Widerspruch zu zahlreichen anderen Publikationen steht (Vergleiche z. B. [14]: Kontrollgruppe: + 13.2 dB.). 3) Battaglia und Mitarbeiter[4] verglichen die Ergebnisse bezüglich der Hörverbesserung bei primärer (!) intratympanaler Therapie mit denen bei systemischer oder kombinierter (systemischer und lokaler) Therapie bei Patienten mit Hörsturz vor weniger als 6 Wochen und ohne sonstige Vorbehandlung im Rahmen einer randomisierten, Placebo-kontrollierten Studie. Dabei erhielten die Patienten in Gruppe A (n = 17, „lokal“) intratympanale Injektionen mit Dexamethason (3 Injektionen in 3 Wochen) und ein systemisches Placebo, in Gruppe B (n = 18, „systemisch“) intratympanal ein Placebo und systemisch Prednisolon und die Patienten aus Gruppe C (n = 16, „kombiniert“) intratympanal Dexamethason und systemisch Prednisolon. Der Beginn der Therapie betrug für die verschiedenen Gruppen: A) lokal: 11 ± 14 Tage, B) systemisch: 7±6 Tage und c) kombiniert: 4 ± 3 Tage. Der Hörverlust vor Therapie (PTA0,5 – 2 kHz/Einsilberverständnis) war in den Gruppen: A) 82 ± 82 dB/24 ± 38 %, B) 80 ± 27 dB/34 ± 40 % und C) 75 ± 23 dB/41 ± 40 %. Die Ergebnisse der durchschnittlichen Hörverbesserung betrugen in den Gruppen (Differenz PTA0,5 – 2kHz/Differenz Einsilberverständnis/Anzahl Patienten > 15 dB Verbesserung): A) 31 dB/36 %/12 von 17 Pat., B) 21 dB/20 %/8 von 18 Pat. und in Gruppe C) 40 dB/44 %/14 von 16 Patienten.
21
Die Arbeit wurde jedoch wegen mehrer Unzulänglichkeiten bzw. Bias stark kritisiert. Rauch und Reda[35] stellten heraus, dass sich bei der Auswertung des primären Zielkriteriums kein signifikanter Unterschied zwischen den Gruppen fand (p=0,08). Die Fallzahlabschätzung nach der Zwischenanalyse ergab 92 Patienten per Gruppe und die Zwischenanalyse wurde trotzdem als Endanalyse ausgeführt. Zusätzlich fanden sich Baseline-Unterschiede zwischen den Gruppen (insbesondere) der frühe Behandlungsbeginn in der Gruppe mit kombinierter (systemischer und lokaler Therapie). 4) Plontke und Mitarbeiter[33] untersuchten im Rahmen einer randomisierten, Placebokontrollierten, Doppelblind-Studie die Hörverbesserung bei 23 Patienten mit akutem, idiopathischem, hochgradigem Hörverlust oder akuter Surditas nach erfolgloser systemischer Therapie. Zwölf bis 21 Tage nach dem Ereignis erfolgte die kontinuierliche Applikation von Dexamethason (4 mg/ml) oder Placebo (NaCl 0,9 %) in die Rundfensternische für 14 Tage über einen temporär implantierten Mikro-Katheter. Wenn während dieses Zeitraumes keine vollständige Hörerholung eintrat, wurde die Therapie mit der Verum-Medikation weitergeführt. In der vom BfArM geforderten Zwischenauswertung (ITT-Analyse) fand sich während der Placebo-kontrollierten Studienphase (14 Tage) in der Therapiegruppe eine durchschnittliche Hörverbesserung um 13,9 dB (95 % CI: – 0,4; 28,2) im Tonaudiogramm (4-PTA 0,5 bis 3 kHz) im Vergleich zu 5,4 dB (95 % CI: – 2,0; 12,9) in der PlaceboGruppe. Dieser Unterschied war statistisch nicht signifikant (p = 0,26). Das maximale Einsilberverständnis verbesserte sich während der Placebo-kontrollierten Studienphase (14 Tage) in der Therapiegruppe um 24,4 % und in der Placebogruppe um 4,5 % (p = 0,07). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die intratympanale Medikamentenapplikation bei der Therapie von Innenohrerkrankungen eine für die Zukunft viel versprechende Ergänzung oder sogar Alternative
22
Pharmakotherapie bei Hörstörungen – Gegenwärtiger Stand und aktuelle Entwicklungen
zur systemischen Therapie darstellen wird. Grundsätzlich erscheint die intratympanale Applikation von Glukokortikosteroiden (Dexamethason-Phosphat oder MethylprednisolonAcetat) bei Patienten nach erfolgloser systemischer Therapie als Reservetherapie sinnvoll. Trotz der derzeit noch nicht eindeutigen Datenlage kann dieser Therapieversuch zumindest bei hochgradigem Hörverlust in Betracht gezogen werden. Die Durchführung weiterer, qualitativ hochwertige klinischer Studien auf diesem Gebiet insbesondere mit modernen Medikamententrägern zur kontrollierten Freisetzung ist jedoch erforderlich.
[8]
[9]
[10]
[11]
Literatur [1]
[2]
[3]
[4]
[5]
[6]
[7]
Alexiou C, Arnold W, Fauser C, Schratzenstaller B, Gloddek B, Fuhrmann S, Lamm K (2001) Sudden sensorineural hearing loss: does application of glucocorticoids make sense? Arch Otolaryngol Head Neck Surg. 127: 253 – 258 Arnold W, Senn P, Hennig M, Michaelis C, Deingruber K, Scheler R, Steinhoff HJ, Riphagen F, Lamm K (2005) Novel slow- and fast-type drug release round-window microimplants for local drug application to the cochlea: an experimental study in guinea pigs. Audiol Neurootol. 10: 53 – 63 Bachmann G, Su J, Zumegen C, Wittekindt C, Michel O (2001) [Permeability of the round window membrane for prednisolone21-hydrogen succinate. Prednisolone content of the perilymph after local administration vs. systemic injection] HNO 49(7): 538 – 542 Battaglia A, Burchette R, Cueva R (2008) Combination therapy (intratympanic dexamethasone + high-dose prednisone taper) for the treatment of idiopathic sudden sensorineural hearing loss. Otol Neurotol. 29(4): 453 – 60 Bird PA, Begg EJ, Zhang M, Keast AT, Murray DP, Balkany TJ (2007) Intratympanic versus intravenous delivery of methylprednisolone to cochlear perilymph. Otol Neurotol. 28(8): 1124 –1130 Canlon B, Meltser I, Johansson P, Tahera Y (2007) Glucocorticoid receptors modulate auditory sensitivity to acoustic trauma. Hear Res. 226(1– 2): 61– 69 Chen Z, Kujawa SG, McKenna MJ, Fiering JO, Mescher MJ, Borenstein JT, Swan EE
[12]
[13]
[14]
[15]
[16]
[17]
Leary, Sewell WF (2005) Inner ear drug delivery via a reciprocating perfusion system in the guinea pig. J Control Release 110(1): 1–19 Conlin AE, Parnes LS (2007) Treatment of sudden sensorineural hearing loss: II. A Metaanalysis. Arch Otolaryngol Head Neck Surg. 133(6): 582 – 586 Desloovere C, Meyer-Breiting E, von Ilberg C (1988) [Randomized double-blind study of therapy of sudden deafness: initial results] HNO. 36(10): 417– 422 Eshraghi AA, Adil E, He J, Graves R, Balkany TJ, Van De Water TR (2007) Local dexamethasone therapy conserves hearing in an animal model of electrode insertion traumainduced hearing loss. Otol Neurotol. 28(6): 842 – 849 Fiering J, Mescher MJ, Leary Swan EE, Holmboe ME, Murphy BA, Chen Z, Peppi M, Sewell WF, McKenna MJ, Kujawa SG, Borenstein JT (2008) Local drug delivery with a self-contained, programmable, microfluidic system. Biomed Microdevices. [Epub ahead of print] James DP, Eastwood H, Richardson RT, O’Leary SJ (2008) Effects of round window dexamethasone on residual hearing in a Guinea pig model of cochlear implantation. Audiol Neurootol. 13(2): 86 – 96 Himeno C, Komeda M, Izumikawa M, Takemura K, Yagi M, Weiping Y, Doi T, Kuriyama H, Miller JM, Yamashita T (2002) Intra-cochlear administration of dexamethasone attenuates aminoglycoside ototoxicity in the guinea pig. Hear Res. 167(1– 2): 61–70 Ho HG, Lin HC, Shu MT, Yang CC, Tsai HT (2004) Effectiveness of intratympanic dexamethasone injection in sudden-deafness patients as salvage treatment. Laryngoscope. 114(7): 1184 – 1189. PMID: 15235345 [Pub Med – indexed for MEDLINE] Kawamoto K, Ishimoto S, Minoda R, Brough DE, Raphael Y (2003) Math1 gene transfer generates new cochlear hair cells in mature guinea pigs in vivo. J Neurosci. 23(11): 4395 – 4400 Kim HH, Addison J, Suh E, Trune DR, Richter CP (2007) Otoprotective effects of dexamethasone in the management of pneumococcal meningitis: an animal study. Laryngoscope. 2007 Jul; 117 (7): 1209 –1215 Klemm E, Bepperling F, Burschka MA, Mösges R; Study Group (2007) Hemodilution therapy with hydroxyethyl starch solution (130/0.4) in unilateral idiopathic sudden sensorineural hearing loss: a dose-finding, double-blind, placebo-controlled, international multicenter
Pharmakotherapie bei Hörstörungen – Gegenwärtiger Stand und aktuelle Entwicklungen
[18]
[19]
[20]
[21]
[22]
[23]
[24]
[25] [26]
[27]
[28]
[29]
[30]
trial with 210 patients. Otol Neurotol. 28(2): 157–170 Le Prell CG, Hughes LF, Miller JM (2007) Free radical scavengers vitamins A, C, and E plus magnesium reduce noise trauma. Free Radic Biol Med. 42(9): 1454 –1463 Lin HC, Chao PZ, Lee HC (2008) Sudden sensorineural hearing loss increases the risk of stroke: a 5-year follow-up study. Stroke. 39(10): 2744 – 2748 Martinez-Monedero R, Edge AS (2007) Stem cells for the replacement of inner ear neurons and hair cells. Int J Dev Biol. 51(6 –7): 655 – 661 Merchant SN, Adams JC, Nadol JB Jr (2005) Pathology and pathophysiology of idiopathic sudden sensorineural hearing loss. Otol Neurotol. 26(2): 151–160 Mynatt R, Hale SA, Gill RM, Plontke SK, Salt AN (2006) Demonstration of a longitudinal concentration gradient along scala tympani by sequential sampling of perilymph from the cochlear apex. J Assoc Res Otolaryngol. 7(2): 182 –193 Parnes LS, Sun AH, Freeman DJ (1999) Corticosteroid pharmacokinetics in the inner ear fluids: an animal study followed by clinical application. Laryngoscope. 109(7 Pt 2): 1–17 Plontke S (2005) Wiederherstellende Verfahren bei gestörtem Hören: konservative Verfahren. Laryngo-Rhino-Otologie 84 Suppl 1: 1– 42 Plontke S (2009) Innenohrtherapie. In: Reiss (Hrsg.) Facharztwissen HNO-Heilkunde. Springer, Heidelberg, New York Plontke SK, Salt AN (2006) Simulation of application strategies for local drug delivery to the inner ear. ORL J Otorhinolaryngol Relat Spec. 68(6): 386 – 392 Plontke S, Zenner HP (2004) Aktuelle Gesichtspunkte zu Gehörschäden durch Berufsund Freizeitlärm. Laryngo-Rhino-Otologie. 83 Suppl 1: 122 –164 Plontke SK, Plinkert PK, Plinkert B, Koitschev A, Zenner HP, Lowenheim H (2002) Transtympanic endoscopy for drug delivery to the inner ear using a new microendoscope. Adv Otorhinolaryngol. 59: 149 –155 Plontke SK, Wood AW, Salt AN (2002) Analysis of gentamicin kinetics in fluids of the inner ear with round window administration. Otol Neurotol. 23(6): 967– 974 Plontke SK, Mynatt R, Gill RM, Borgmann S, Salt AN (2007) Concentration gradient along the scala tympani after local application of gentamicin to the round window membrane. Laryngoscope. 2007 Jul; 117 (7): 1191–1198
23
[31] Plontke SK, Biegner T, Kammerer B, Delabar U, Salt AN (2008 a) Dexamethasone concentration gradients along scala tympani after application to the round window membrane. Otol Neurotol. 29(3): 401– 406 [32] Plontke SK, Mikulec AA, Salt AN (2008 b) Rapid clearance of methylprednisolone after intratympanic application in humans. Comment on: Bird PA, Begg EJ, Zhang M, et al. Intratympanic versus intravenous delivery of methylprednisolone to cochlear perilymph. Otol Neurotol 2007; 28: 1124 –1130. Otol Neurotol. 29(5): 732 –733; author reply 733 [33] Plontke SK, Löwenheim H, Mertens J, Engel C, Meisner C, Weidner A, Zimmermann R, Preyer S, Koitschev A, Zenner HP (2009) Randomized, double blind, placebo controlled trial on the safety and efficacy of continuous intratympanic dexamethasone delivered via a round window catheter for severe to profound sudden idiopathic sensorineural hearing loss after failure of systemic therapy. Laryngoscope. 119(2): 359 – 369 [34] Probst R, Tschopp K, Lüdin E, Kellerhals B, Podvinec M, Pfaltz CR (1992) A randomized, double-blind, placebo-controlled study of dextran/pentoxifylline medication in acute acoustic trauma and sudden hearing loss. Acta Otolaryngol. 1992; 112(3): 435 – 443 [35] Rauch SD, Reda DJ (2009) Combined therapy (intratympanic dexamethasone + highdose prednisone taper) for idiopathic sudden sensorineural hearing loss. Otol Neurotol. 30(2): 254 – 5; author reply 255 – 256 [36] Salt AN, Gill RM, Plontke SK (2008) Dependence of hearing changes on the dose of intratympanically applied gentamicin: a meta-analysis using mathematical simulations of clinical drug delivery protocols. Laryngoscope. 118(10): 1793 –1800 [37] Schwab B, Lenarz T, Heermann R (2004) [Use of the round window micro cath for inner ear therapy – results of a placebo-controlled, prospective study on chronic tinnitus] Laryngorhinootologie. 83: 164 –172 [38] Sendowski I, Abaamrane L, Raffin F, Cros A, Clarençon D (2006) Therapeutic efficacy of intra-cochlear administration of methylprednisolone after acoustic trauma caused by gunshot noise in guinea pigs. Hear Res. 221(1– 2): 119 –127 [39] Sha SH, Qiu JH, Schacht J (2006) Aspirin to prevent gentamicin-induced hearing loss. N Engl J Med. 354(17): 1856 –1857 [40] Silverstein H (1999) Use of a new device, the MicroWick, to deliver medication to the inner ear. Ear Nose Throat J. 78(8): 595 – 598, 600
24
Pharmakotherapie bei Hörstörungen – Gegenwärtiger Stand und aktuelle Entwicklungen
[41] Stöver T, Yagi M, Raphael Y (1999) Cochlear gene transfer: round window versus cochleostomy inoculation. Hear Res. 136(1– 2): 124 –130 [42] Suckfuell M, Canis M, Strieth S, Scherer H, Haisch A (2007) Intratympanic treatment of acute acoustic trauma with a cell-permeable JNK ligand: a prospective randomized phase I/II study. Acta Otolaryngol. 127: 938 – 942 [43] Takemura K, Komeda M, Yagi M, Himeno C, Izumikawa M, Doi T, Kuriyama H, Miller JM, Yamashita T (2004) Direct inner ear infusion of dexamethasone attenuates noise-induced trauma in guinea pig. Hear Res. 196(1– 2): 58 – 68 [44] Trune DR (2006) Ion homeostasis and inner ear disease. In: Hamid M, Sismanis A (Hrsg.) Medical Otology and Neurotology: A Clinical Guide to Auditory and vestibular Disorders. Thieme Medical Publishers [45] Trune DR, Wobig RJ, Kempton JB, Hefeneider SH. (1999) Steroid treatment in young MRL. MpJ-Fas(lpr) autoimmune mice prevents cochlear dysfunction. Hear Res. 1999 Nov; 137 (1– 2): 167–173
[46] Van Wijk F, Staecker H, Keithley E, Lefebvre PP (2006) Local perfusion of the tumor necrosis factor alpha blocker infliximab to the inner ear improves autoimmune neurosensory hearing loss. Audiol Neurootol. 11: 357– 365 [47] Wang Y, Liberman MC (2002) Restraint stress and protection from acoustic injury in mice. Hear Res. 165(1– 2): 96 –102 [48] Wei BP, Mubiru S, O’Leary S. (2006) Steroids for idiopathic sudden sensorineural hearing loss. Cochrane Database Syst Rev. CD003998 [49] Xenellis J, Papadimitriou N, Nikolopoulos T, Maragoudakis P, Segas J, Tzagaroulakis A, Ferekidis E (2006) Intratympanic steroid treatment in idiopathic sudden sensorineural hearing loss: a control study. Otolaryngol Head Neck Surg. 134(6): 940 – 945 [50] Ye Q, Tillein J, Hartmann R, Gstoettner W, Kiefer J. (2007) Application of a corticosteroid (Triamcinolon) protects inner ear function after surgical intervention. Ear Hear. 28(3): 361– 369
Gentherapie des Innenohres M. Praetorius
Erkrankungen des Innenohres wie die Altersschwerhörigkeit, der peripher-vestibuläre Schwindel und Tinnitus sind weit verbreitet. Eine kausale Therapiemöglichkeit besteht jedoch auch heute noch nicht. Vielmehr führen wir eine empirische rheologisch-antiphlogistische Therapie durch, deren Kostenerstattung inzwischen unter Druck geraten ist. Gerade der demographische Wandel führt mit größter Wahrscheinlichkeit zu einem erheblichen Anstieg der Zahl Betroffener. So wird die Zahl der über 80-jährigen Mitmenschen in Deutschland bis 2025 um 70 % zunehmen (Bertelsmann-Stiftung). Bis 2035 soll jeder dritte Deutsche älter als 65 Jahre alt sein (Statistisches Bundesamt). Dies bedeutet, dass bis zu diesem Zeitpunkt geschätzte 10,4 Mio. Menschen über 65 Jahren durch ihren Hörverlust in der Kommunikation und damit in ihrer Fähigkeit zur Teilnahme am Leben beeinträchtigt sein werden. Hinzu tritt der Schwindel, der wohl mit für eine Anzahl von Stürzen im Senium verantwortlich sein dürfte. Gerade Stürze sind wiederum mit ihren Folgeerscheinungen wie die klassische Schenkelhalsfraktur Prädiktoren für einen anschließenden Pflegeheimaufenthalt. Es scheint also geboten, der Rehabilitation der Haarsinneszellen im Innenohr, sowohl in der Cholera als auch im Gleichgewichtsorgan besonderes Augenmerk zu schenken. Das Innenohr bietet sich als ideales Ziel für Molekularmedizinische Überlegungen an. Es bietet mit seinen definierten, in sich im Wesentlichen abgeschlossenen Flüssigkeitsräumen ein geringes Zielvolumen an. In diesem
kann ein Agens mit maximierter Konzentration an den gewünschten Wirkort gebracht werden. Es könnte auch ein therapeutisches Protein spezifisch exprimiert werden. Durch die Lage und die Wirkstoffmenge könnte im Idealfall eine systemische unerwünschte Wirkung vermieden werden. Dies würde eine größere Sicherheit auch gegenüber einer möglichen systemischen pharmakologischen Therapie darstellen, der Beweis hierfür steht letztlich jedoch noch aus. Das Nervenwachstum und ihren Erhalt steuernde Neurotrophine wie NT-3[6] und GDNF[23] hatten gezeigt, im Bereich der Spiralganglienzellen der Cochlea nach einem Trauma protektiv zu wirken. Es wurde ein gentherapeutischer Ansatz gewählt, der das gewünschte Produkt in der Zielzelle zur Expression bringen würde. Adenovirale Vektoren hatten diese Fähigkeit experimentell gezeigt[51], [59]. Dennoch wurde das Modell des HSV-basierten viralen Vektors bevorzugt, da dieses über einen Neurotropismus verfügt, der insbesondere durch den HSV-eigenen Promotor IE4/5 begründet wird[28]. Mit anderen Promotoren, etwa dem CMV-Promotor, konnten HSV-Vektoren auch andere Gewebe des Innenohres, etwa die Stria vascularis oder die Stützzellen des Corti-Organs transfizieren[5], [47]. Zum Zeitpunkt der Studie zeigte nur der hier verwendete HSV-Vektor ein streng neurotropes Transfektionsmuster. Es sind bislang eine Vielzahl von Vektoren für die Gentherapie am Innenohr getestet worden, unter anderen Sendai-Viren[20], Lentiviren[1], Adeno-assoziierte-Viren (AAV)[29], Vaccinia-
26
Gentherapie des Innenohres
viren[5]. In der neueren Literatur scheint sich die Hauptanstrengung auf die AAV und Adenovektoren zu konzentrieren. Das ist auch auf die relativ einfach beherrschbare Vektorproduktion zurückzuführen. Durch kommerziell verfügbare Kits können gewünschte Gene in Vektoren solche Vektoren in jedem molekularbiologischen Labor kloniert werden. Auch das potentielle Sicherheitsrisiko, das mit den Adenoviren verbunden wurde, seit bei einem systemischen humanen Therapieversuch ein Todesopfer zu beklagen war, ist angegangen worden[40]. Durch die Deletion der Genregionen E1, E3 und E4 ist die Immunogenität des Vektors erheblich herabgesetzt worden. Dies ist auf die geringere Expression körperfremder, viruseigener Antigene zurückzuführen. Wichtig ist auch die Immunität, die durch einen Kontakt mit dem Wildtyp des Virus verursacht wird. Hierbei ist in der Bevölkerung ein neutralisierender Antikörper-Titer bei bis zu 97 % nachweisbar[4]. Dies betrifft insbesondere den Serotyp 5 der Adenoviren. Dies kann die Effektivität einer Gentherapie beeinträchtigen, indem die Vektoren schon bei der Applikation durch eine Immunreaktion inaktiviert werden. Auch eine wiederholte Anwendung kann so zum Problem werden, da die Immunantwort hierauf erheblich gesteigert werden kann, was insbesondere bei systemischer Anwendung die Leber betrifft[55]. Die Berechenbarkeit der Dosierung und der zu erwartenden Wirkung der Virusvektoranwendung wird hierdurch erschwert. Um dieses Immunproblem zu vermeiden, sind verschiedene Maßnahmen denkbar. So kann die Wahl auf einen anderen Serotyp fallen, 51 humanpathogene davon sind bislang bekannt. Das Grundgerüst (backbone) des Vektors kann auch auf einem bovinen oder porcinen Serotyp beruhen, in der allgemeinen Bevölkerung ist hier keine Immunantwort zu erwarten, anders kann dies jedoch bei Beschäftigten im landwirtschaftlichen Bereich aussehen[9]. Weiter kann der Vektor gleichsam „eingepackt“ werden, in dem er von Polymeren umhüllt wird[7]. Auch kann die Antigen-
Eigenschaft der Oberflächenstrukturen des Viruskapsids verändert werden. Dies verändert nicht nur die Antwort des Immunsystems. Vielmehr kann hierdurch auch die Zielrichtung der Transfektion verändert werden. Während in erster Linie der Coxsackie-Adenovirus-Rezeptor (CAR) für den Eintritt des Virus (und damit auch des Adenovektors) in die Zielzelle verantwortlich gemacht wird, existieren auch alternative Wege. So kann beispielsweise über die an der Zelloberfläche präsentierten Heparinsulfate ein kontaktvermittelter Eintritt ins Zytoplasma nachgewiesen werden[42]. Durch eine solche Erhöhung der Spezifität der Viruskapsidbindung an Zelloberflächen kann gleichzeitig die Gesamtmenge des applizierten Vektors reduziert werden, da die Verteilung auch durch die zelluläre Aufnahme mit beeinflusst wird. Eine geringere Dosis wiederum ist vorteilhaft in Hinblick auf die Vermeidung unerwünschter Effekte. In den Modellen der Hörforschung werden unterschiedliche Tiere eingesetzt. Das Meerschweinchen ist aufgrund der leichten Exposition seiner Cochlea dabei sehr beliebt. Sein Hörvermögen im Tieftonbereich ist ein Vorteil der Gerbils. Insbesondere bei der Untersuchung von Fragestellungen im Zusammenhang mit den Cochlea-Implantaten werden auch Katzen verwendet. Für gentherapeutische Fragestellungen wird insbesondere auf die Etablierung der Methoden in Mäusen wertgelegt. Mäuse haben den Vorteil der guten genetischen Kartierung. Eine Vielzahl von Krankheitsmodellen des Innenohres kann in ihnen genetisch abgebildet und erforscht werden. International sind verschiedene Mutagenesis-Programme mit Mäusen aufgelegt, um hierdurch Zusammenhänge von Genotyp und Phänotyp aufzuklären. Zudem ist die genetische Information über weite Gebiete dem Menschen vergleichbar, was eine translationelle Forschung ermöglicht. Klare Nachteil der Mausmodelle sind die geringen Dimensionen, die einen chirurgischen Zugang erschweren. Bislang wurden häufig deutliche Hörverluste im Tiermodell in kauf genommen.
Gentherapie des Innenohres
Abb. 1 Eine lokale Applikation eines Agens ist am Korrosionspräparat eines Felsenbeines der Maus dargestellt. Es ist über die Membran des runden Fensters, über den Utriculus, eine konventionelle Cochleostomie möglich. Im Menschen wäre auch eine Perforation de Stapesfußplatte denkbar; in der Maus ist dies bei persistierender Arteria stapedialis nicht möglich. Modifiziert nach [39].
Hier konnten wir zeigen, dass das Ausmaß der Schädigung vom Zugang und vom applizierten Volumen abhängig ist. Ein Schutz des verbliebenen Gehörs war im Tiermodell möglich. In der Maus sind im Wesentlichen drei Zugangswege zum Innenohr möglich. So ist die Applikation über die Membran des Runden Fensters (RFM)[47], über eine Öffnung in der knöchernen Wand der basalen Windung (Cochleostomie) und im Bereich der Bogengänge beschrieben[18], [22]. In der eigenen Arbeitsgruppe haben wir hierzu die Möglichkeit der Applikation über den Utrikulus (Utriculostomie) hinzugefügt. Der Vorteil hiervon liegt in der verhältnismäßig großen flüssigkeitsgefüllten Zisterne, die einen langsam injizierten Bolus aufzunehmen vermag. Potentiell schädigende Drucksteigerungen können auch über den Aquäductus cochlearis abgefangen werden. Die Injektionsstelle liegt außerhalb des Sinnesepithels der Cochlea, dennoch hat der Flüssigkeitsraum direkten Zugang hierzu. Zur Anwendung im Menschen etabliert wind bereits zwei Zugangswege: über eine Cochleostomie im Bereich der basalen Windung und über die RFM. Die Cochleostomie wurde zunächst bei komplett tauben Menschen ein-
27
gesetzt. Inzwischen zeichnet sich ab, dass mittels einer behutsamen „soft surgery“ Operationstechnik eine unmittelbare Schonung eines verbliebenen Tiefton-Restgehörs möglich ist. Teils wird hierbei eine verkürzte Reizelektrode in die Cochlea eingebracht. Im Bereich der basalen Windung liegt jedoch auch das für das Hochtongehör verantwortliche Sinnesepithel. Eine Schädigung in diesem Bereich ist durch die Manipulation am Knochen auf jeden Fall zu sehen[33]. Zwar konnte sie in unseren tierexperimentellen Untersuchungen durch den Einsatz eines Lasers vermindert werden, der als weniger traumatisierend eingeschätzt wird. Eine Schädigung des Hörvermögens gegenüber dem unbehandelten Ohr lag jedoch vor. Der Weg über die Membran des intakten Runden Fensters wird beim Menschen beispielsweise bei dem akuten, therapieresistenten Hörsturz[54] oder bei Morbus Menière[14] angewendet. Aber auch eine gezielte Perforation der RFM mit anschließendem Abdecken konnte mit erfolgreichem Hörerhalt gezeigt werden[15], [46]. Wir konnten hier zeigen, dass diese Maßnahmen auch in der Maus ohne Beeinträchtigung des Hörvermögens möglich sind. Neben dem Zugangsweg zeigt das Injektionsvolumen den größten Effekt. Hierbei zeigten sich keine Unterschiede, ob ein viraler Vektor oder ein gleich großes Volumen artifizieller Perilymphe appliziert wurde. Ein Volumen von bis zu einem μl konnte unter dem Erhalt des Hörvermögens injiziert werden, wobei es zu einer Expression des Reportergens GFP in den sensorischen Zellen des Innenohres kam. Ein größeres Volumen wie etwa 3 μl war jedoch mit einem deutlichen Hörverlust verbunden. Der Zusatz eines Pancaspase-Inhibitors konnte diesen Volumeneffekt jedoch aufheben. Caspase-Inhibitoren können den Apoptose-Weg der Zellen unterbinden und damit den Zelltod verhindern[50], [53]. Es ist zu vermuten, dass der hydraulische Schädigungseffekt über den Apoptose-Weg geschieht. Den Schutz durch die Caspase-Inhibitoren macht man sich auch experimentell zur Verhinderung der Ototoxizi-
28
Gentherapie des Innenohres
tät des häufig in der Tumortherapie verwandten Cisplatins zu nutze[58]. Caspase-Inhibitoren könnten jedoch auch in der Chirurgie der Cochlea-Implantate Eingang finden und hierbei ein vorhandenes Restgehör schützen. Denn auch hier ist bei der Insertion der Elektrode von einem hydraulischen Trauma auszugehen. Aminoglycoside sind als die sensorischen Epithele des Innenohres schädigende Agenzien bekannt. Während es beispielsweise bei Vögeln zu einer Regeneration von Sinnesepithel in der Cochlea kommt, ist dies bislang bei Säugetieren nicht beobachtet worden. Eine Ausnahme stellt hierbei das sensorische Epithel im Bereich der vestibulären Organe dar. Hier ist eine Regeneration nach einer Schädigung durch Aminoglycoside beschrieben[8], [27], [52]. Dies kann durch die längerfristige lokale Gabe von Neurotrophinen unterstützt werden. Vorteilhafter scheint jedoch die einmalige Gabe eines Vektors. Haarzellen, die in den mit Aminoglycosid geschädigten und anschließend Math1-behandelten Explantaten auftreten sind nicht aufgrund eines mitotischen Geschehens entstanden sondern durch Transdifferenzierung aus Stützzellen. Die Analyse der Daten in vitro zeigt, dass ca. 60 % der durch das Aminoglycosid zerstörten Haarzellen nach der Math1-Behandlung wieder hergestellt sind. Dies geht mit einer geringeren Epitheldicke einher, was die Transdifferenzierung ebenfalls wahrscheinlich macht, da hierbei keine neuen Zellen durch Teilung entstehen. Im Bereich des auditorischen Sinnesepithels konnten wir keine Regeneration von Haarsinneszellen beobachten, obwohl auch die eigenen Vorarbeiten zeigten, dass mit einer gleichmäßigen Verteilung der injizierten Partikel zu rechnen ist[38], [47]. Andere Arbeitsgruppen hatten darauf hingewiesen, dass eine Injektion des Vektors direkt in den endolymphatischen Raum notwendig sein könnte, um eine Regeneration von Haarsinneszellen in der Cochlea zu erzielen[17], [21]. Woran dies liegt ist nicht klar. Es könnte jedoch an der Konzentration des Vektors, an
einem möglichen zusätzlichen Trauma oder auch an einem anderen Zugang liegen. Die Lage der Stütz- und Haarzellen zwischen Endo- und Perilymphe scheinen eine Injektion in den Endolymphraum jedoch nicht zwingend geboten erscheinen. Eine Expression des Reportergens GFP konnte im Bereich der inneren und äußeren Haarzellen sowie deren Stützzellen auch bei der Applikation in den Perilymphraum zeigen. Neuere Untersuchungen über Morphologie und mögliche Funktion des Saccus endolymphaticus geben Anlass zu Zweifeln an der Theorie eines „Überdruckventils“. Vielmehr scheint die Flüssigkeit eher durch Macrophagen phagozytiert zu werden als einer Resorption zu unterliegen[41]. Unter diesen Voraussetzungen scheint eine Vermeidung eines hydraulischen Traumas nur schwer zu erzielen zu sein. Das eingebrachte Vektorvolumen würde dann vergleichbar eines endolymphatischen Hydrops schädigen können. Die funktionelle Testung ist für die Abschätzung eines therapeutischen Erfolges wesentlich. Etabliert ist im Bereich des Gleichgewichts der Schwimmtest bei Mäusen. Dieser wird in der Literatur bei Studien zur Genetik des Verlustes der Gleichgewichtsfunktion in der Ratte und der Maus[11], [19], der Ototoxizität und bei einem Meerschweinchenmodell der Menière’schen Erkrankung[45] beschrieben. Während gleichgewichtsgesunde Mäuse zielgerichtet zu schwimmen vermögen, ist dies bei einem (Teil-) Ausfall des Gleichgewichtsorgans nicht mehr möglich. Dies zeigt sich in unkoordinierten Schwimmbewegungen, kreisförmig-ungerichtetem Schwimmen oder, in Ausnahmefällen, in einer Unfähigkeit zu schwimmen. Eine präzisere Beurteilung des Gleichgewichtsorganes wird durch die Aufzeichnung des Vestibulo-okulären Reflexes möglich. Während diese Messung für größere Nager wie Meerschweinchen mehrfach beschrieben wurde, ist die Methode bei Mäusen bislang nur selten verwendet worden. Gemessen werden „gain“ und „phase“. Der gain ist hierbei der Quotient aus der Winkelabweichung des Auges und der Winkelabweichung
Gentherapie des Innenohres
29
Abb. 3 Abb. 2 Die Expression des grün fluoreszierenden Proteins (gfp) als Reportergen einer erfolgreichen Transfektion der Innenohrstrukturen ist zu sehen. Die neuralen Struktruen des Modiolus sowie die Spiralganglien mit ihren Ausläufern zum Corti-Organ sind zu erkennen. Modifiziert nach [36]
des Kopfes bei der Drehung. Die Phase bezieht die maximale Winkelgeschwindigkeit der Augenbewegung auf die der Kopfbewegung. Die Methode der Wahl sind hierbei auf die Sklera aufgebrachte Suchspulen. Dies ist aufwändig und ergibt niedrige Werte, die zudem im Dunklen an der wachen Maus erhoben werden müssen. Dennoch gelingen dabei gute, verwertbare Ergebnisse. Es ist jedoch auch eine Testung auf einem komplexen tierexperimentellen Drehstuhl möglich. Hierbei ist eine achsengerechte Stimulation aller Komponenten des Gleichgewichtsorgans der Maus möglich. Gleichzeitig können dabei einzelne Nervenfasern der Gleichgewichtsorgane gezielt elektrophysiologisch abgeleitet werden. Da es bislang im Gleichgewichtsorgan noch kein technisches Hilfsmittel, vergleichbar etwa dem Cochlea-Implantat gibt ist hier eine Suche nach einer Behandlungsmöglichkeit wichtig und drängend. Die technische Herausforderung für ein solches Gerät ist auch erheblich und nicht rasch zu lösen[34], [57]. Eine Möglichkeit der Regeneration von Haarsinneszellen wäre hier gut. Das menschliche
Eine Übersichtsaufnahme des Innenohres. In grün sind die neuralen Strukturen gefärbt, blau ist die DAPI-Kernfärbung. Rot zu sehen sind die cy3-markierten Nanopartikel in den Spiralganglien und ihren Axonen. Modifiziert nach [36]
Innenohr scheint im Bereich des Gleichgewichtssinnes auch ein latentes Potenzial für eine Regeneration zu haben. Dies könnte die vereinzelten Berichte einer wieder hergestellten Gleichgewichtsfunktion nach Aminoglycosidschädigung beim Menschen erklären. Während das Ziel der Haarsinneszellregeneration sich klar abzeichnet, ist der Weg dorthin noch nicht abschließend geklärt. Virale Vektoren zeichnen sich zwar durch ihre hohe Transfektionseffizienz aus, auch der biologische Sicherheitsaspekt ist durch die Deletion von viralen Genabschnitten berücksichtigt. Der Gedanke bei einer nicht lebensverkürzenden Erkrankung wie der Schwerhörigkeit einen auf der Basis eines potenziell pathogenen Erregers aufgebauten Vektor in der Nähe des Gehirns appliziert zu bekommen mag Vielen nicht behagen. Das Konzept eines nichtviralen Vektors könnte hier Abhilfe schaffen. Eigene und andere Vorarbeiten hatten gezeigt[47], dass die Transfektionseffizienz nichtviraler Agenzien wie etwa Liposomen niedrig ist. Gleichwohl sind neuere Entwicklungen wie baumförmig verzweigte Dendrimere geeignet, DNA in Zellen einzuschleusen. Die Enden der Zweigstrukturen können funktionell verändert werden, um damit spezifischere
30
Gentherapie des Innenohres
oder bessere Bindungseigenschaften zu verknüpfen[32]. Mit der sich rasch entwickelnden Nanotechnologie werden Materialien zum Teil völlig neue Eigenschaften vermittelt. Die Teilchen, die eine Partikelgröße von 5 bis 200 nm haben können Oberflächenbeschichtet werden und damit Bindungsdomänen oder auch eine genetische Information tragen. Diese kann somit in die Zellen eingeschleust und dort abgelesen werden. Siliziumbasierte Nanopartikel, die wir mit dem Fluoreszenzfarbstoff Cy3 markiert hatten konnten nach einer Applikation vor die intakte Membran des runden Fensters in den Geweben des Innenohres nachgewiesen werden. Hiermit konnte der invasivere Schritt einer Cochleostomie vermieden werden. Ebenfalls konnte das Hörvermögen bewahrt bleiben. Dies weist auf eine schonende Applikation und auf eine sichere Anwendungsmöglichkeit hin. Für die siliziumbasierten Nanopartikel, auch in Kombination mit DNA, wird keine signifikante Zelltoxizität berichtet[24], [25]. Dennoch haben wir in unserer Studie das Muster der Verteilung von Partikeln im Innenohr untersucht, nicht die Expression eines Genes. Die Verteilung ist jedoch Gegenstand zahlreicher Untersuchungen. Insbesondere der Diffusion von Partikeln in der Perilymphe widmen sich zahlreiche Arbeiten[35], [44], [43]. Wir konnten hier über die Vorhersagen des Computermodells hinaus eine Verteilung bis in die apikale Windung der Cochlea beobachten. Ein Transport von Farbmarkern auch über die Synapsengrenzen hinweg ist bekannt[56]. Auch konnte durch die Injektion von Fluorogold oder fast blue in die Cochlea von Javaaffen in vivo der Nucleus cochlearis angefärbt werden[30]. Weitere Arbeiten haben medialen Corpus geniculatum der Katze[31], die Fasern zum Nucleus suprageniculatum der Ratte[26], die Faserverläufe von Nucleus cochlearis anteroventralis zum Nucleus olivaris superior lateralis im Wiesel[13] und der olivocochleären Neurone der Ratte[3] mit Farbstoffen transsynaptisch untersucht. Wir beobachteten eine klare Markierung von
Neuronen der zentralen Hörbahn über eine Farbstoffapplikation vor die intakte Rundfenstermembran zeigen. Dies ist unter dem Gesichtspunkt der Schonung des Innenohres im Rahmen eines solchen therapeutischen Vorgehens wichtig. Während die meisten Untersuchungen sich mit der Therapie der Haarsinneszellen beschäftigen, da diese die mechanoelektrische Transduktion ausführen[12], [17], [48], [49], darf dennoch der zentralere Abschnitt des Hörsinnes nicht aus den Augen verloren werden. Es gibt zunehmend Hinweise, dass zentrale Komponenten bei weit verbreiteten Erkrankungen wie Tinnitus oder auch den Folgen des Alterns eine deutliche Rolle spielen[2], [10], [16]. Dem muss auch die Suche nach geeigneten Therapeutika und deren Applikation Rechnung tragen.
Literatur [1]
[2]
[3]
[4]
[5]
[6]
[7]
Bedrosian JC, Gratton MA, Brigande JV et al. (2006) In vivo delivery of recombinant viruses to the fetal murine cochlea: transduction characteristics and long-term effects on auditory functionMol.Ther. 14: 328 – 335 Brozoski TJ, Ciobanu L, Bauer CA (23-22007) Central neural activity in rats with tinnitus evaluated with manganese-enhanced magnetic resonance imaging (MEMRI) Hear. Res. Cantos R, Lopez DE, Sala ML, et al. (2000) Study of the olivocochlear neurons using two different tracers, fast blue and cholera toxin, in hypothyroid ratsAnat.Embryol. (Berl). 201: 245 – 257 Chirmule N, Propert K, Magosin S, et al. (1999) Immune responses to adenovirus and adeno-associated virus in humansGene Ther. 6: 1574 –1583 Derby ML, Sena-Esteves M, Breakefield XO, et al. (1999) Gene transfer into the mammalian inner ear using HSV-1 and vaccinia virus vectorsHear.Res. 134: 1– 8 Ernfors P, Duan ML, ElShamy WM, et al.(1996)Protection of auditory neurons from aminoglycoside toxicity by neurotrophin3Nat Med2: 463 – 467 Fisher KD, Stallwood Y, Green NK, et al. (2001) Polymer-coated adenovirus permits
Gentherapie des Innenohres
[8]
[9]
[10]
[11]
[12]
[13]
[14]
[15] [16]
[17]
[18]
[19]
[20]
efficient retargeting and evades neutralising antibodiesGene Ther. 8: 341– 348 Forge A, Li L, Corwin JT, et al. (12-3-1993) Ultrastructural evidence for hair cell regeneration in the mammalian inner earScience. 259: 1616 –1619 Ghirotti M, Semproni G, De Meneghi D, et al. (1991) Sero-prevalences of selected cattle diseases in the Kafue flats of ZambiaVet.Res. Commun. 15: 25 – 36 Gleich O, Hamann I, Klump GM, et al. (610-2003) Boosting GABA improves impaired auditory temporal resolution in the gerbilNeuroreport. 14: 1877–1880 Gray LE Jr, Rogers JM, Ostby JS, et al. (1988) Prenatal dinocap exposure alters swimming behavior in mice due to complete otolith agenesis in the inner earToxicol.Appl.Pharmacol. 92: 266 – 273 Han D, Yu Z, Fan E, et al. (2004) Morphology of auditory hair cells in guinea pig cochlea after transgene expressionHear.Res. 190: 25 – 30 Henkel CK, Gabriele ML (1999) Organization of the disynaptic pathway from the anteroventral cochlear nucleus to the lateral superior olivary nucleus in the ferretAnat.Embryol. (Berl). 199: 149 –160 Hill SL III, Digges EN, Silverstein H (2006) Long-term follow-up after gentamicin application via the Silverstein MicroWick in the treatment of Meniere’s diseaseEar Nose Throat J. 85: 494, 496, 498 Hodges AV, Schloffman J, Balkany T (1997) Conservation of residual hearing with cochlear implantationAm.J.Otol. 18: 179 –183 Imig TJ, Durham D (3-10-2005) Effect of unilateral noise exposure on the tonotopic distribution of spontaneous activity in the cochlear nucleus and inferior colliculus in the cortically intact and decorticate ratJ.Comp Neurol. 490: 391– 413 Izumikawa M, Minoda R, Kawamoto K, et al. (2005) Auditory hair cell replacement and hearing improvement by Atoh1 gene therapy in deaf mammalsNat.Med.11: 271– 276 Jero J, Mhatre AN, Tseng CJ, et al. (20-32001) Cochlear gene delivery through an intact round window membrane in mouseHum. Gene Ther. 12: 539 – 548 Kaiser A, Fedrowitz M, Ebert U, et al. (2001) Auditory and vestibular defects in the circling (ci2) rat mutantEur.J.Neurosci. 14: 1129 –1142 Kanzaki S, Shiotani A, Inoue M, et al. (2007) Sendai virus vector-mediated transgene expression in the cochlea in vivoAudiol.Neurootol. 12: 119 –126
31
[21] Kawamoto K, Ishimoto S, Minoda R, et al. (2003) Math1 gene transfer generates new cochlear hair cells in mature guinea pigs in vivoJ Neurosci. 23: 4395 – 4400 [22] Kawamoto K, Oh SH, Kanzaki S, et al. (2001) The functional and structural outcome of inner ear gene transfer via the vestibular and cochlear fluids in miceMol Ther. 4: 575 – 585 [23] Keithley EM, Ma CL, Ryan AF, et al. (1998) GDNF protects the cochlea against noise damageNeuroreport. 9: 2183 – 2187 [24] Kneuer C, Sameti M, Bakowsky U, et al. (2000 a) A nonviral DNA delivery system based on surface modified silica-nanoparticles can efficiently transfect cells in vitroBioconjug.Chem. 11: 926 – 932 [25] Kneuer C, Sameti M, Haltner EG, et al. (2000 b) Silica nanoparticles modified with aminosilanes as carriers for plasmid DNAInt. J.Pharm. 196: 257– 261 [26] Kurokawa T, Saito H (1995) Retrograde axonal transport of different fluorescent tracers from the neocortex to the suprageniculate nucleus in the ratHear.Res. 85: 103 –108 [27] Lambert PR (1994) Inner ear hair cell regeneration in a mammal: identification of a triggering factorLaryngoscope. 104: 701–718 [28] Lim F, Hartley D, Starr P, et al. (1996) Generation of high-titer defective HSV-1 vectors using an IE 2 deletion mutant and quantitative study of expression in cultured cortical cellsBiotechniques. 20: 460 – 469 [29] Liu Y, Okada T, Sheykholeslami K, et al. (2005) Specific and efficient transduction of Cochlear inner hair cells with recombinant adeno-associated virus type 3 vectorMol. Ther. 12: 725 –733 [30] Marangos N, Illing RB, Kruger J, et al. (2001) In vivo visualization of the cochlear nerve and nuclei with fluorescent axonal tracersHear. Res. 162: 48 – 52 [31] Middlebrooks JC, Zook JM (1983) Intrinsic organization of the cat’s medial geniculate body identified by projections to binaural response-specific bands in the primary auditory cortexJ.Neurosci. 3: 203 – 224 [32] Padilla De Jesus OL, Ihre HR, Gagne L, et al. (2002) Polyester dendritic systems for drug delivery applications: in vitro and in vivo evaluationBioconjug.Chem. 13: 453 – 461 [33] Pau HW, Just T, Bornitz M, et al. (2007) Noise exposure of the inner ear during drilling a cochleostomy for cochlear implantationLaryngoscope. 117: 535 – 540 [34] Peterka RJ, Wall C III, Kentala E (2006) Determining the effectiveness of a vibrotactile balance prosthesisJ.Vestib.Res. 16: 45 – 56 [35] Plontke SK, Salt AN (2003) Quantitative interpretation of corticosteroid pharmacokinet-
32 [36]
[37]
[38]
[39]
[40]
[41]
[42]
[43] [44]
[45]
[46] [47]
[48]
Gentherapie des Innenohres ics in inner fluids using computer simulationsHear.Res. 182: 34 – 42 Praetorius M, Brunner C, Lehnert B, Klingmann C, Schmidt H, Staecker H, Schick B (2007) Transsynaptic delivery of nanoparticles to the central auditory nervous system. Acta Otolaryngol. 127(5): 486 – 489 Praetorius M, Baker K, Brough DE, Plinkert P, Staecker H (2007) Pharmacodynamics of adenovector distribution within the inner ear tissues of the mouse. Hear Res. 227 (1– 2): 53 – 80 Praetorius M, Baker K, Weich CM, et al. (2003) Hearing preservation after inner ear gene therapy: the effect of vector and surgical approachORL J.Otorhinolaryngol.Relat Spec. 65: 211– 214 Praetorius M, Knipper M, Schick B, Tan J, Limberger A, Carnicero E, Alonso MT, Schimmang T (2002) A novel vestibular approach for gene transfer into the inner ear. Audiol Neurootol. 7 (6): 324 – 334 Raper SE, Chirmule N, Lee FS, et al. (2003) Fatal systemic inflammatory response syndrome in a ornithine transcarbamylase deficient patient following adenoviral gene transferMol.Genet.Metab. 80: 148 –158 Rask-Andersen H, Schrott-Fischer A, Pfaller K, et al. (2006) Perilymph/modiolar communication routes in the human cochleaEar Hear. 27: 457– 465 Roy S, Shirley PS, McClelland A, et al. (1998) Circumvention of immunity to the adenovirus major coat protein hexonJ.Virol. 72: 6875 – 6879 Salt AN, Plontke SK (1-10-2005) Local innerear drug delivery and pharmacokineticsDrug Discov.Today. 10: 1299 –1306 Salt AN, Stopp PE (1979) The effect of cerebrospinal fluid pressure on perilymphatic flow in the opened cochleaActa Otolaryngol. 88: 198 – 202 Sawada I, Kitahara M, Yazawa Y (1994) Swimming test for evaluating vestibular function in guinea pigsActa Otolaryngol.Suppl 510: 20 – 23 Schuknecht HF (1982) Cochleosacculotomy for Meniere’s disease: theory, technique and results Laryngoscope 92: 853 – 858 Staecker H, Li D, O’malley BW Jr, et al. (2001) Gene expression in the mammalian cochlea: a study of multiple vector systemsActa Otolaryngol. 121: 157–163 Staecker H, Van De Water TR (1998) Factors controlling hair-cell regeneration/repair in
[49]
[50]
[51]
[52]
[53]
[54]
[55]
[56]
[57]
[58]
[59]
the inner earCurr.Opin.Neurobiol. 8: 480 – 487 Stone IM, Lurie DI, Kelley MW, et al. (2005) Adeno-associated virus-mediated gene transfer to hair cells and support cells of the murine cochleaMol.Ther. 11: 843 – 848 Sugahara K, Rubel EW, Cunningham LL (2006) JNK signaling in neomycin-induced vestibular hair cell deathHear.Res. 221: 128 –135 Suzuki M, Yagi M, Brown JN, et al. (2000) Effect of transgenic GDNF expression on gentamicin-induced cochlear and vestibular toxicityGene Ther. 7: 1046 –1054 Tanyeri H, Lopez I, Honrubia V (1995) Histological evidence for hair cell regeneration after ototoxic cell destruction with local application of gentamicin in the chinchilla crista ampullarisHear.Res. 89: 194 – 202 Van De Water TR, Lallemend F, Eshraghi AA, et al. (2004) Caspases, the enemy within, and their role in oxidative stress-induced apoptosis of inner ear sensory cellsOtol.Neurotol. 25: 627– 632 Van Wijk F, Staecker H, Keithley E, et al. (2006) Local perfusion of the tumor necrosis factor alpha blocker infliximab to the inner ear improves autoimmune neurosensory hearing lossAudiol.Neurootol. 11: 357– 365 Vlachaki MT, Hernandez-Garcia A, Ittmann M, et al. (2002) Impact of preimmunization on adenoviral vector expression and toxicity in a subcutaneous mouse cancer modelMol. Ther. 6: 342 – 348 von Bartheld CS (5-2-2004) Axonal transport and neuronal transcytosis of trophic factors, tracers, and pathogensJ.Neurobiol. 58: 295 – 314 Wall C III, Merfeld DM, Rauch SD, et al. (2002) Vestibular prostheses: the engineering and biomedical issuesJ.Vestib.Res. 12: 95 –113 Wang J, Ladrech S, Pujol R, et al. (15-122004) Caspase inhibitors, but not c-Jun NH2terminal kinase inhibitor treatment, prevent cisplatin-induced hearing lossCancer Res. 64: 9217– 9224 Yagi M, Magal E, Sheng Z, et al. (1999) Hair cell protection from aminoglycoside ototoxicity by adenovirus-mediated overexpression of glial cell line-derived neurotrophic factorHum Gene Ther. 10: 813 – 823
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System A. Büchner, A. Lesinski-Schiedat, J. Pesch, T. Lenarz
Einleitung Cochlea-Implantat (CI) Patienten erreichen heute ein Hörvermögen, welches vor einigen Jahren noch undenkbar schien. War früher das Ziel das Wahrnehmen von Geräuschen, um sich im Alltag besser orientieren zu können, erwarten heute versorgte Patienten ein offenes Sprachverstehen, also die problemlose Kommunikation sowohl im Alltag als auch über Telefon. Enorme Fortschritte in der Implantattechnik, insbesondere in den Bereichen Elektrodenentwicklung und Signalverarbeitung haben neben modernen Rehabilitationsmaßnahmen und verfeinerten Operationstechniken wesentlich zum gesteigerten Hörvermögen der Patienten beigetragen. Konsequenter Weise sind die Indikationskriterien für die Versorgung mit einem Cochlea-Implantat mit zunehmendem Fortschritt der Technologie weiter in den Bereich der Resthörigkeit verschoben worden. Wurden vor 20 Jahren nur komplett ertaubte erwachsene Patienten mit einem CochleaImplantat versorgt, so geschieht heute eine Routineversorgung bei Patienten mit einem Hörvermögen von bis zu 40 % im Freiburger Einsilbertest. Selbstverständlich gehört auch längst die Versorgung tauber oder hochgradig schwerhöriger Kinder zum Alltag in den Implantationszentren. Einhergehend mit der neuen Elektrodentechnologie und einer verbesserten Operationstechnik konnte auch der postoperative Erhaltungsgrad des Restgehörs der Patienten
kontinuierlich gesteigert werden[17], [8], [11], [14]. Denn obwohl die Hörleistung mit dem Cochlea-Implantat bemerkenswert ist, besitzt das normale Hören, wenn es nicht zu stark geschädigt ist, weiterhin erhebliche Vorteile, gerade in Bezug auf Klangqualität, Hören im Störlärm oder das Hören von Musik. Es ist somit keineswegs verwunderlich, dass sich Patienten mit nutzbarem Restgehör am oberen Ende der CI-Indikationskriterien einen Erhalt ihres natürlichen Hörens wünschen. Eine interessante Patientengruppe stellen in diesem Zusammenhang die Patienten mit nur leichtem bis mittelgradigen Tieftonhörverlust dar. Hier ist oftmals ein Restgehör bis 500 Hz oder gar bis 1.000 Hz vorhanden, welches in diesen Frequenzbereichen durchaus im Bereich der Normalhörigkeit liegen kann[17], [13]. Viele Patienten mit fortgeschrittener Altersschwerhörigkeit, die sich i. A. auf höherfrequente Bereiche des Hörens erstreckt, zeigen ein relativ stabiles tieffrequentes Restgehör unter 1.000 Hz, können jedoch aufgrund ihres starken Hörverlusts im Hochtonbereich nur unbefriedigend mit konventionellen Hörgeräten versorgt werden[3], [10]. Verschiedene Untersuchungen bei CochleaImplantat Patienten mit Restgehör im tieffrequenten Bereich zeigten deutlich verbesserte Hörresultate in problematischen Hörsituationen bei Verwendung dieses Resthörvermögens zusätzlich zum elektrischen Hören über das Cochlea-Implantat. Dies betrifft sowohl die bimodale Versorgung, bei der ein Restgehör auf der nicht implantierten Seite zum
34
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System
Einsatz kommt[2], [15], als auch insbesondere die Hybridversorgung mit einem Cochlea-Implantat und einem Hörgerät auf der ipsilateralen Seite bei Erhalt des Restgehörs trotz Cochlea-Implantation[8], [11], [5]. Gerade die klassischen Problemsituationen wie Hören im Störgeräusch (Cocktail-Party-Effekt) bereiten den Patienten mit kombiniertem akustischen und elektrischen Hören deutlich weniger Schwierigkeiten, als Patienten, die ausschließlich über ein Cochlea-Implantat hören können. Bisher jedoch steht dem potentiellen Gewinn durch die Hybridversorgung die Gefahr des Verlustes eines u. U. nicht unerheblichen Restgehörs gegenüber, so dass die Versorgung resthöriger Patienten stockt. Die bisher für den Zweck des Hörerhalts zum Einsatz gekommenen CI-Systeme und damit einhergehende Implantationstechniken erlaubten nur eine begrenzte Erfolgsaussicht von ca. 80 % – 85 %[16], [13]. Bessere Erfolgsaussichten für einen Hörerhalt nach Implantation bietet das Nucleus Hybrid-S Cochlea-Implantat der Fa. Cochlear mit besonders kurzer Elektrode von 10 mm Länge und einer Kontaktanzahl von nur 6 statt 22 beim konventionellen Cochlea-Implantat der Fa. Cochlear[6], [5]. Die Elektrode wird in die basale Windung der Cochlea eingeführt und dient ausschließlich der Übertragung hochfrequenter Signalanteile ab etwa 1.000 Hz. Obwohl dieses System im Hybridbetrieb bei erfolgreichem Erhalt des Tieftonrestgehörs gute Resultate erzielt[5], birgt die geringe Kontaktanzahl das Risiko, bei zunehmender Verschlechterung des Restgehörs, die Reimplantation mit einem konventionellen Cochlea-Implantat angehen zu müssen, da bei Verlust des Restgehörs ein zufriedenstellendes Hören über die sechskanalige Elektrode allein nicht zu erwarten ist. Aus diesem Dilemma könnte ein neu gestalteter Elektrodenträger mit einer speziell darauf abgestimmten Operationstechnik führen, der explizit für den Erhalt von Resthörigkeit entwickelt wurde[14] und dabei den vollen Kontaktumfang des 22-kanaligen Cochlea-
Implantat-Systems „Freedom“ der Fa. Cochlear besitzt. Dieses Nucleus Hybrid-L System wurde in einer Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover in einer definierten Patientengruppe evaluiert, deren bisherige Ergebnisse im Folgenden vorgestellt werden. Die Studie ist in Übereinstimmung mit der ISO 14155 (Klinische Prüfung von Medizinprodukten an Menschen) durchgeführt worden und befolgt die GCP-Richtlinien. Vor Studienbeginn wurden die schriftliche Bewilligung und die aufsichtsbehördliche Zustimmung im Einklang mit den nationalen Gesetzen durch das Medizinische Ethik-Komitee erteilt.
Das Hybrid-L CochleaImplantat System Das verwendete Cochlea-Implantat basiert auf dem Freedom-System der Fa. Cochlear, allerdings wird ein neu entwickelter gerader Elektrodenträger statt der anatomisch vorgeformten Contour Advance Elektrode verwandt. Die neue Elektrode weist ebenfalls 22 Elektrodenkontakte auf, sie ist jedoch nur 16 mm lang und 0,35 × 0,25 mm im Durchmesser, verglichen mit einer Länge von 19 mm und 0,8 mm Durchmesser der Contour Advance Elektrode von Cochlear. Die Elektrodenkontakte sind als Halbringe auf der Modiolus zugewandten Seite angeordnet, so dass die laterale Seite der Elektrode
Abb. 1 Elektrodendesign Contour vs. Hybrid-L
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System
eben ist und eine reibungsarme Insertion gewährleistet werden kann. Um die Elektrode möglichst flexibel und weniger steif als die herkömmliche Elektrode zu gestalten, wurden Zuleitungen zu den Elektrodenkontakten mit reduziertem Durchmesser verwendet. Eine Markierung am Elektrodenträger bei 16 mm Länge dient als Orientierungshilfe, um die korrekte Einführtiefe zu erzielen. Ein an der Elektrodenzuleitung befestigter Silikonflügel dient als Fixierungsmöglichkeit und Orientierungshilfe bezüglich der Rotation der Elektrode und wird in einer dafür angelegten passenden Knochenausfräsung platziert.
35
als erweiterte Gruppe gewonnen werden. Der dunkelgraue Bereich definiert den Bereich der Schwellen für die Hybridgruppe und der hellgraue Bereich markiert den Bereich der erweiterten Gruppe. Die Probanden sollten mindestens 10 % aber nicht mehr als 50 % Einsilberverständnis entweder im Freifeld mit Hörgeräten oder unversorgt mit Kopfhörern auf dem zu implantierenden Ohr haben. Das durchschnittliche Alter der Patienten lag bei 51 Jahren (22 bis 71 Jahre). Die mittlere Dauer des Hörverlustes betrug 27 Jahre im Bereich zwischen 3 und 66 Jahren und das
Operatives Vorgehen Grundsätzlich wird die gleiche Vorgehensweise angewandt wie bei einer regulären Implantation des Nucleus Cochlea-Implantat Systems[14]. Jedoch wird die Elektrode im Gegensatz zum üblichen Vorgehen über einen Schnitt in der Membran des Runden Fensters eingeführt, welcher mit einer feinen Injektionsnadel ausgeführt wird. Um einen besseren Zugang zu erhalten, muss die Membran des Runden Fensters im Regelfall vorher durch Wegfräsen von Knochensubstanz freigelegt werden. Die Elektrode wird mit einer für diesen Zweck entworfenen Zange (Fa. Storz) am Silikonflügel gegriffen und durch den Schlitz in der Rundfenstermembran bis zur Markierung eingeführt. Im Anschluss wird der Silikonflügel an der Elektrode in einer dafür angelegten Ausfräsung platziert.
Patienten Auf Grund ihrer Hochfrequenzertaubung wurden insgesamt 32 Patienten an Hand der audiometrischen Kriterien für die Studie an der Medizinischen Hochschule Hannover ausgewählt. Dabei konnten 24 Probanden für die Hybrid Versorgung und 8 Probanden auf Grund ihres erheblichen Restgehörverlustes
Abb. 2 Der audiometrische Einschlussbereich. Der dunkelgraue Bereich beschreibt den Standardbereich einer Hybridversorgung. Der hellgraue Bereich kennzeichnet den erweiterten Indikationsbereich.
durchschnittliche Alter bei Hörgeräteversorgung lag bei 30 Jahren (2 bis 52 Jahre). Alle Patienten wurden nach dem oben beschriebenen operativen Vorgehen von 2 Ärzten operiert (Lenarz 24 und Stöver 8). In allen Fällen war eine komplette Insertion der Elektrode durch das Runde Fenster möglich.
Postoperative Anpassung Einen Monat nach Erstanpassung wurde der Sprachprozessor zusammen mit einem „ImOhr-Hörgerät“ (IdO) angepasst. In allen Fäl-
36
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System
len konnte ein Programm erstellt werden, wo es zu keinerlei Überschneidungen der Frequenzbereiche zwischen Hörgerät und Cochlea-Implantat (CI) kam. Das Cochlea-Implantat (CI) deckte hierbei den Hochfrequenzbereich ab. Die Filterfrequenzen der einzelnen Elektroden wurden an das Resthörvermögen angepasst. Der niedrigste vom Hörgerät nicht mehr abgedeckte Frequenzkanal wird auf der apikalsten Elektrode des Hybrid-L Implantates repräsentiert. Darunter liegende Frequenzkanäle werden nicht vom CI übertragen. Dabei wird als Grenzfrequenz zwischen HG & CI die Frequenz gewählt, bei der das Tonaudiogramm die 80 dBHL Linie schneidet. Patienten mit geringem Resthörvermögen wurden mit einem Standard-CI-Programm angepasst, welches auch den vollen Tieftonbereich abbildet. Die Klassifizierung der Patienten erfolgte in Abhängigkeit von der Versorgung in „HybridTräger“ (CI- + Hörgeräteträger) oder „Nur-CITräger“.
Patienten-Messungen Zur Überprüfung des Restgehörs wurden die präoperativ bestimmten tonaudiometrischen Hörschwellen mit den Hörschwellen zum Zeitpunkt der Erstanpassung sowie nach 3, 6, 9 und 12 Monaten intraindividuell verglichen. Das Sprachverstehen bei Benutzung verschiedener elektroakustischer Versorgungsmodi (Hörgerät allein, CI allein, CI und ipsilaterales Hörgerät) wurde intraindividuell sowohl zwischen den unterschiedlichen Modi als auch mit dem präoperativen Sprachverstehen (nur Hörgerät) verglichen. Zur Ermittlung des Sprachverstehens dienten folgende Sprachtests: Freiburger Einsilbersprachtest (FMS) in Ruhe bei einem Präsentationspegel von 65 dBSPL sowie der Oldenburger Satztest im Störgeräusch (adaptiv mit konstantem Störgeräuschpegel bei 65 dBSPL). Die Messungen wurden präoperativ, sowie nach 3, 6, 9 und 12 Monaten nach Erstanpassung wiederholt. 16 Patienten haben bereits die vollständige
12 monatige Testdauer abgeschlossen. Aktuell befinden sich 22 Patienten im Studienabschnitt t 6 Monate. Die Erstanpassung haben alle Probanden erfolgreich absolviert.
Ergebnisse Bei allen Patienten konnte die vollständige Insertion der Elektrode durch das runde Fenster erreicht werden. Dabei traten keine intra- bzw. postoperativen Komplikationen auf. In einem Fall hat sich die Elektrode postoperativ verschoben, was zu einem basalen Anstieg der Elektrodenimpedanzen führte. Eine durchgeführte Röntgenanalyse konnte keine weiteren Aufschlüsse geben. Im Gegensatz zu allen anderen Patienten, wo keine Elektrodenverschiebung beobachtet werden konnte, wurde hier eine andere Art der Elektrodenfixierung verwendet. Der Hauptunterschied ist die Ausnutzung einer Knochenvorwölbung, um eine Elektrodenbewegung zu verhindern, indem die Elektrode mit dem Silikonflügel in einer extra angelegten Ausfräsung fixiert wird. Ein Patient war in der Lage sein Restgehör auch ohne Hörgerät zu nutzen. Sechs Patienten nutzen nur das CI alleine, das heißt ohne Hörgerät auf der ipsilateralen Seite. Alle anderen Patienten sind Hybrid-Träger (CI +HG). Bei 8 der 32 Probanden konnten bei den basalsten Elektroden keine auditorischen Hörsensationen hervorgerufen werden. In diesen Fällen berichteten die CI-Träger von Fazialisnervreizungen (N = 1) oder schmerzhaften, unangenehmen Reizungen bei geringer bzw. keiner Hörempfindung (N = 7). In allen Fällen konnten die Komplikationen durch Deaktivierung der ersten bis zur fünften basalen Elektrode behoben werden.
Erhaltung des Restgehöres In einer Untergruppe von 12 Patienten aus der Hybrid-Gruppe wurde der Unterschied zwischen Luft- und Knochenleitung bei einer
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System
37
Abb. 3 Der Median des prä- und postoperativen Hörverlustes bei der Erstanpassung. Die linke Abbildung zeigt die Hörschwellen und den Hörverlust hinsichtlich der Hybridkandidaten (N = 24). Die rechte Abbildung stellt die Ergebnisse der Patienten hinsichtlich des erweiterten Einschlussbereiches dar (N = 8).
Frequenz von 500 Hz in den ersten 6 Monaten nach der Operation kontinuierlich analysiert. Während der ersten 2 Wochen nach der Operation wurde ein Luft-Knochenleitungsunterschied von durchschnittlich 13.6 dB (min = 0 dB, max = 35 dB) beobachtet. Zum Zeitpunkt der Erstanpassung wurde im Mittel noch eine Erhöhung der Schalleitungskomponente um 4.4 dB bezogen auf den präoperativen Wert gemessen. Sechs Monate nach der Operation betrug diese zusätzliche Komponente im Mittel nur noch 1.2 dB Zum Zeitpunkt der Erstanpassung betrug der Abstand durchschnittlich 5 dB. 6 Monate nach der Operation betrug der durchschnittliche Luft-Knochenleitungsunterschied im Vergleich zu den präoperativen Daten nur noch 3,6 dB. Einzig in einem Fall wurde bereits präoperativ ein Luft-Knochenleitungsunterschied von 15 dB gemessen. Eine Zusammenfassung der Luftleitungsschwellen präoperativ und der Unterschied der Hörschwellenveränderung präpostoperativ sind in Abbildung 3 dargestellt. Die Analyse basiert auf dem Audiogramm aus der Erstanpassung jedes Patienten. Der Median der prä- und postoperativen Hörschwelle in der Hybrid-Gruppe ist in der linken Grafik (N = 24), die Patienten mit pantonalem Hörverlust in der rechten Grafik (N = 8) ab-
gebildet. Der Median vor und nach OP der prä- und postoperativen Hörschwellen über die einzelnen Frequenzen zeigen die ausgefüllten Kreise. Der Unterschied des Median über alle Frequenzen (125 Hz – 4.000 Hz) beträgt 10 dB. Die Änderungen in den audiometrischen Hörschwellen sind mittels der durchschnittlichen Schwellen im Frequenzbereich von 125 bis 1.000 Hz analysiert worden.
Langzeitstabilität der Hörschwellen Für die Studienpatienten mit mindestens 12-monatiger Hybrid-Erfahrung (N = 16) wurde die Entwicklung der Hörschwelle über den gesamten Zeitraum analysiert und in Abbildung 4 dargestellt. Hier erkennt man, dass Visit
N
N d 30 dB
N d 15 dB
Init Fitting
32
31 (96 %)
21 (68 %)
6 Mo
22
21 (95 %)
14 (64 %)
12 mo
16
15 (94 %)
11 (69 %)
Tabelle 1 Anzahl der Patienten mit einem Verlust von weniger als 30 dB und weniger als 15 dB während der Besuche bis zu 12 Monaten nach OP
38
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System
die Schwellen bei einem Unterschied von weniger als 10 dB im zeitlichen Verlauf als stabil betrachtet werden können. Nur bei einem Patienten zeigt sich eine Hörverschiebung von 14 dB über den Zeitraum von 12 Monaten. Zugleich wurde auch eine ähnliche Verschiebung für das kontralaterale Ohr beobachtet. Bei einem Patienten mit einem postoperativen Hörverlust von mehr als 30 dB konnte sich der Hörverlust teilweise bis zum 9 Monats-Termin auf 20 dB verbessern, wobei hier eine erneute Reintonschwellenmessung indiziert ist. Der Patient trug ab dem neunten Monat ein Hörgerät auf dem ipsilateralen Ohr und wies beim Oldenburger Satztest im Störgeräusch einen zusätzlichen Gewinn durch das Hörgerät (Hybrid-Effekt) von 2,7 dB auf im Vergleich zum CI alleine auf.
Sprachverstehen Die Sprachtests konnten bei allen Patienten in Ruhe und im Störgeräusch durchgeführt werden. Bei 6 Patienten konnte der Test nur mit CI alleine vorgenommen werden, da dies der
täglichen Handhabung entsprach. Die Ergebnisse wurden für beide Gruppen (HG und CI alleine) dargestellt. Um eine Bewertung des individuellen Nutzens für jeden Patienten abschätzen zu können, wurden die Messwerte des Sprachverstehens in der Hybrid-Kondition mit den präoperativen Messwerten der Hörgeräte-Kondition im implantierten Ohr verglichen. In Abbildung 5 sind die Unterschiede als Streudiagramm dargestellt worden. Die präoperativen Ergebnisse wurden auf der XAchse und die postoperativen auf der Y-Achse graphisch aufgetragen. Die gestrichelte Linie zeigt das 95 % Konfidenzintervall, welches für den OLSA Test aus der 2-fachen Standardabweichung der Test – Retest Differenz abgeschätzt wurde und beim FMS auf einem binominalen Modell basiert. Die Punkte oberhalb der durchgezogenen Diagonalen stellen eine Verbesserung dar, die Punkte außerhalb des 95 % Konvidenzintervalls lassen auf einen signifikanten Unterschied schließen (5 % Niveau). Der graue Bereich im Diagramm zeigt den Bereich normal hörender Personen für den OLSA an.
Abb. 4 Langzeitbeobachtung der Luftleitungshörschwellen (gemittelt über die Frequenzen 125 –1.000 Hz). Es ist der Median, das 75 %il und das 95 %il der Hörschwellenveränderungen relativ zu den Schwellen bei der Erstanpassung über die Zeit dargestellt.
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System
39
Abb. 5 Streudiagramm des Freiburger Einsilbersprachtests und des Oldenburger Satztest im Störgeräusch. Die präoperativen Ergebnisse werden auf der X-Achse und die postoperativen Ergbenisse auf der Y-Achse angezeigt. Die gestrichelte Linie zeigt das 95 % Konfidenzintervall.
Das durchschnittliche präoperative Ergebnis des Freiburger Einsilbertests (FMS) für das Hören mit Hörgerät alleine lag bei 24,1 % (Median 22,5 %). Die Hybrid-Kondition nach 6 Monaten lieferte im Mittel 45,1 % (Median 48,8 %) (p = 0,002). Der OLSA Score verbesserte sich für den Signal-Rauschabstand von 12,3 dB auf 2,1 dB (Median von 20 dB zu 1 dB SNR) (p < 0,001). Ein Signal- Rauschabstand von 20 dB im OLSA weist auf ein schlechtes Sprachverstehen hin und ist gleich zu setzen mit „Patient konnte nicht getestet werden“. Probanden, die den 12 Monatstermin abgeschlossen haben, zeigten eine Verbesserung des OLSA Scores von 13,9 dB zu 0,2 dB (Median von 20 dB SNR zu – 0,45 dB SNR) (p < 0,001). Die durchschnittlichen Sprachtestergebnisse der Gruppe für den OLSA unter den verschiedenen Konditionen (HG alleine, CI alleine, CI +HG) zeigt Abbildung 6. Um weiterhin den Nutzen der Versorgung speziell unter Hinzunahme des CI’s zu zeigen, wurde die Hybridgruppe in Abhängigkeit von der Dauer des Hörverlustes (DOHL)
in zwei Untergruppen aufgeteilt. Es zeigt, dass Probanden mit einer Dauer des Hörverlustes von weniger als 30 Jahren (N = 10) einen erheblichen Gewinn bei Nutzung CI & Hörgerät von 7,9 dB aufweisen (Hybrideffekt), was bedeutet, dass sie eine Verbesserung mit dem CI gegenüber dem Hörgerät aufweisen, welche sich noch erheblich steigert, wenn beide Systeme genutzt werden (CI und HG). Im Gegensatz hierzu besitzt die Gruppe mit einem Hörverlust (DOHL) von mehr als 30 Jahren (N = 6) nur einen begrenzten Nutzen vom CI allein. Hier zeigt das Hörgerät überwiegend die besseren Resultate beim Sprachverstehen. Trotzdem ergibt sich auch hier ein Gewinn bei gleichzeitiger Nutzung beider Systeme (CI + HG), der allerdings weniger ausgeprägt ist (2,1 dB). Bei dieser Patientengruppe könnte jedoch das Risiko bestehen, dass es zu einem Leistungsabfall im Sprachverständnis kommt, wenn die Patienten zu einem späteren Zeitpunkt ihr Restgehör verlieren würden. Hier ist die Gruppe von Patienten mit kürzerer Hörverlustdauer im Vorteil.
40
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System
Abb. 6 Sprachtestergebnisse der unterschiedlichen Konditionen am 6 Monats Termin. Die Abbildung stellt die Ergebnisse der Hörgeräte-Nutzer (Hybrid) separat entsprechend der Dauer des Hörverlustes (DOHL > 30 Jahre, N = 6 vs DOHL < 30 Jahre, N = 10) dar. Der äußere rechte Balken zeigt die Ergebnisse der Patienten, welche Hybrid-L nur als CI nutzen (N = 6).
Die Ergebnisse in Abbildung 5 und 6 zeigen interessanterweise, dass die Probanden, die das CI alleine nutzen (N = 6), in den bei dieser Studie verwendeten Tests eine vergleichbare Leistung erreichen wie die Hybridträger.
Diskussion Unsere Daten zeigen, dass Patienten mit einem Restgehör im Tieftonbereich einen erheblichen Nutzen von der elektroakustischen Stimulation aufweisen, welche die Ergebnisse vorangegangener Studien untermauern[17], [8], [7]. Zwecks Erhöhung der Wahrscheinlichkeit des Restgehörerhaltes und Reduzierung des Insertionstraumas wurden bereits einige spezielle Elektrodenkonzepte entwickelt. Im Gegensatz zu Gstoettner und Adunka[8], [1], die eine dünnere und kürzere Version der Standardelektrode mit einer Insertionslänge von 20 mm vorschlugen, empfahl Gantz et al.[7] eine deutlich kürzere Elektrode mit nur
10 mm und mit 6 aktiven Elektrodenkontakten, um eine möglichst geringe Schädigung zu erreichen. Obgleich eine kürzere Elektrode die hohe Wahrscheinlichkeit gewährleistet, das Restgehör zu erhalten, ist der Nutzen des Systems klar begrenzt auf die Fälle, bei denen das Restgehör nicht erhalten werden kann oder zu einem späteren Zeitpunkt verloren geht. Aus diesem Grund wurde bei der Entwicklung der Hybrid-L Elektrode ein Elektrodenentwurf angestrebt, der die Vorzüge der erhöhten Sicherheit der Gantz-Elektrode mit den Möglichkeiten eines nahezu normallangen Elektroden-Arrays mit voller Kontaktanzahl kombiniert. Im Rahmen früherer FelsenbeinStudien und klinischer Untersuchungen zur atraumatischen Insertion wurde die maximale Länge von 16 mm oder etwa 270 Grad Insertionstiefe ermittelt. Eine Insertion über diesen Punkt hinaus stellt ein deutlich erhöhtes Risiko dar, die Cochlea zu schädigen. Als zusätzliche Unterstützung für diese Einführungstiefe diente auch eine klinische Untersuchung, bei
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System
der Patienten mit einer geraden Elektrode keine Leistungseinschränkung bei unterschiedlichen Einführungstiefen aufwiesen, sofern die Anzahl der aktiven, intracochleären Elektroden mehr als 15 betrug[9]. Die erreichte Erhaltung des Restgehörs in der vorliegenden Studie kann mit der der kürzeren Gantz-Elektrode verglichen werden, bei deren Einsatz ein mittlerer Hörverlust von 10 dB zwischen 150 Hz und 4.000 Hz bzw. 1.000 Hz erzielt werden konnte[5]. Die Ergebnisse sind ferner wesentlich besser als die, die mit einem längeren Elektrodendesign erreicht werden konnten. Kiefer et al.[12] berichteten über einen mittleren Hörverlust von 15 dB bei 250 Hz und 17,5 dB bei 500 Hz. James et al.[11] berichteten über einen Durchschnittswert von 27 dB bzw. 33 dB. In der Studie von Kiefer et al haben 2 von 14 Patienten ihr Hörvermögen komplett verloren (14,2 %), während dieses Schicksal bei der Studie von James et al 2 von 12 (16,7 %) erlitten. Vorliegende Ergebnisse mit der neuen Hybrid-L Elektrode weisen auf eine deutlich verbesserte Flexibilität und Leistungsverbesserung, speziell bei Patienten mit einem progredienten Hörverlust hin. Die Hörleistung der Patienten war auf dem implantierten Ohr bei Verwendung der elektroakustischen Stimulation signifikant besser gegenüber der präoperativen akustischen Stimulation alleine. Der Hybrid-Modus zeigte sich leistungsfähiger als die elektrische oder akustische Stimulation alleine. Diese Ergebnisse unterstützen das Konzept der elektroakustischen Stimulation bei den Patienten, die noch ein Restgehör im Tieftonbereich aufweisen. Die Hörperformanz der Nur-CI-Träger wurde mit Hilfe des OLSA-Satztests im Störgeräusch mit einer Gruppe von 34 neu implantierten Freedom Patienten verglichen. Die durchschnittlichen Sprachtestergebnisse beider Gruppen unterscheiden sich nicht signifikant (p = 0,67). Dies zeigt, dass mit dem kürzeren Elektrodenarray (Hybrid-L) ein ähnliches Ergebnis erzielt werden kann, wie mit der längeren Elektrode beim klassischen Freedom-Implantat. Dies ist
41
besonders wichtig bei Patienten, welche postoperativ kein Hörgerät benutzen können oder bei denjenigen, welche ihr Restgehör aus irgendeinem Grunde verloren haben. Innerhalb der hier untersuchten Patientengruppe zeigten die Patienten mit einer längeren Schwerhörigkeitsdauer (> 30 Jahre) ein besseres Sprachverstehen mit dem Hörgerät alleine verglichen mit dem CI alleine. Bei den Patienten mit einer kürzeren Schwerhörigkeitsdauer (d 30 Jahre) war das Sprachverstehen hingegen besser, wenn sie das CI alleine nutzten verglichen mit dem Hörgerät alleine. In beiden Untergruppen zeigte sich ein zusätzlicher Gewinn im Sprachverstehen, wenn die Patienten die Kombination aus CI und Hörgerät nutzen konnten. Dieser zusätzliche Gewinn war bei Patienten mit kürzerer Dauer der Schwerhörigkeit signifikant grösser als bei Patienten mit längerer Scherhörigkeitsdauer. Dieser Sachverhalt lässt vermuten, dass sich bei Patienten mit längerer Schwerhörigkeitsdauer entweder die Anzahl oder die elektrische Erregbarkeit der spiralen Ganglienzellen im Vergleich zu Patienten mit kürzerer Schwerhörigkeitsdauer reduziert haben. Deshalb sollten Patienten mit langer Schwerhörigkeitsdauer sehr ausführlich über diesen möglicherweise eingeschränkten Gewinn aufgeklärt werden. Da wir allerdings bisher erst wenige Daten haben, die sich über ein Jahr hinaus erstrecken, sollte man bei der Definition der Indikationskriterien noch vorsichtig sein. Davon unabhängig zeigt diese Studie jedoch, dass das Elektrodendesign zusammen mit der Insertionstechnik durch das runde Fenster und einer sicheren Befestigung der Elektrode eine hohe Wahrscheinlichkeit der Erhaltung des Restgehörs gewährleistet. Der zusätzliche Vorteil bei der Nutzung des akustischen Hörens in Kombination mit dem elektrischen Hören im Tieftonbereich, besteht in der subjektiv deutlich besseren Klangqualität der Hybridversorgung im Vergleich zur alleinigen CI-Versorgung. Dieser Vorteil ist besonders relevant in Alltagssituationen, etwa um unterschiedliche Sprecher im Stimmenge-
42
Versorgung resthöriger Patienten mit einem neuen hörerhaltenden Cochlea-Implantat-System
wirr zu unterscheiden oder zu erkennen. Aber auch der Musikgenuss ist ein Aspekt, der von den Patienten zunehmend ins Spiel gebracht wird und der mit dem Hybrid-System durch den Erhalt des Restgehörs um ein Vielfaches größer ist, als bei alleiniger Versorgung mit einem Cochlea-Implantat. Zukünftigen Studien werden darauf abzielen müssen, genau diese alltagsrelevanten Situationen auch unter Laborbedingungen prüfen und evaluieren zu können. Hierzu müssen neue Tests entwickelt werden, welcher die subjektiven Kommentare und Präferenzen der Patientenaussagen reflektieren.
[8]
[9]
[10] [11]
Danksagung Wir möchten uns herzlich bei den Patienten für Ihre Mitarbeit in dieser Studie bedanken, sowie bei Henrike Schultrich und Mark Schüßler für die Mithilfe bei der Durchführung der Messungen. Literatur [1]
[2]
[3]
[4]
[5]
[6] [7]
Adunka O, Kiefer J, Unkelbach MH, Radeloff A, Gstöttner W (2005) Evaluating cochlear implant trauma to the scala vestibule. Clin Otolaryngol 30: 121–127 Ching, TYC, Incerti P, Hill M (2004) Binaural benefits for adults who use hearing aids and cochlear implants in opposite ears. Ear and hearing 25. 1: 9 – 21 Ching T, Dillon H, Bryne D (1998) Speech recognition of hearing-impaired listeners: predictions from audibility and the limited role of high-frequency amplification. J Acoust Soc Am 103: 1128 –1140 Dorman MF, Spahr AJ, Loizou PC, Dana CJ, Schmidt JS (2005): Acoustic Simulations of Combined Electric and Acoustic Hearing (EAS). Ear Hear. 26(4): 371– 380 Gantz BJ, Turner C, Gfeller KE (2006) Acoustic plus electric speech processing: preliminary results of a multicenter clinical trial of the Iowa/Nucleus Hybrid implant. Audiol Neurootol 11 Suppl 1: 63 – 8. Epub 2006 Oct 6 Gantz BJ, Turner C (2003) Combining Acoustic and Electrical Hearing. Laryngoscope 113(10): 1726 –1730 Gantz BJ, Turner C, Gfeller KE, Lowder MW (2005) Preservation of hearing in cochlear implant surgery: advantages of combined
[12]
[13]
[14]
[15]
[16]
[17]
electrical and acoustical speech processing. Laryngoscope 115: 796 – 802 Gstöttner WK, Adunka OF, Kiefer J, Pok S (2004) Electric acoustic stimulation of the auditory system – clinical issues and results. Presentation at the 7th European Symposium on Paediatric Cochlear Implantation, 2 – 5 May 2004, Geneva, Switzerland Hartrampf R, Dahm MC, Battmer RD, Gnadeberg D, Strauss-Schier A, Rost U, Lenarz T (1995) Insertion depth of the Nucleus electrode array and relative performance. Ann Otol Rhinol Laryngol 166(suppl): 277– 280 Hogan C, Turner C (1998) High-frequency audibility: benefits for hearing-impaired listeners. J Acoust Soc Am 104: 432 – 441 James C, Albegger K, Battmer RD, Burdo S, Deggouj N, Deguine O, Dillier N, Gersdorff M, Laszig R, Lenarz T, Manrique Rodriguez M, Mondain M, Offeciers E, Ramos Macias A, Ramsden R, Sterkers O, von Wallenberg E, Weber B, Fraysse B (2005) Preservation of residual hearing with cochlear implantation: How and why. Acta Oto-Laryngol 125: 481– 491 Kiefer J, Gstoettner W, Baumgartner W, Pok SM, Tillein J, Ye Q, von Ilberg C (2004) Conservation of low-frequency hearing in cochlear implantation. Acta Otolaryngol 124: 272 – 280 Kiefer J, Pok M, Adunka O, Stürzebecher E, Baumgartner W, Schmidt, M, Tillein, J, Ye, Q, Gstoettner, W (2005) Combined Electric and Acoustic Stimulation of the Auditory System: Results of a Clinical Study. AudiolNeurotol 10: 134 –144 (DOI: 10.1159/000084023) Lenarz T, Stover T, Büchner A, Paasche G, Briggs R, Risi F, Pesch J, Battmer RD (2006) Temporal bone results and hearing preservation with a new straight electrode. Audiol Neurootol. 11 Suppl 1: 34 – 41. Epub 2006 Oct 6 Rühl, et al. (2007) Bimodale CI-Versorgung im Vergleich zur bilateralen CI-Versorgung bei erwachsenen CI-Patienten; GMS Curr Posters Otorhinolaryngol Head Neck Surg 3: Doc27 Skarzynski H, Lorens A, D’Haese P, Walkowiak A, Lech AP, Anderson SI (2002) Preservation of Residual Hearing in Children and Post-Lingually Deafened Adults after Cochlear Implantation: An Initial Study. ORL 64: 247– 253 Von Ilberg C, Kiefer, J, Tillein J, Pfenningdorff T, Hartmann R, Sturzebecher E, et al. (1999) Electric-acoustic stimulation of the auditory system: New technology for severe hearing loss. ORL-Journal for Oto-Rhyno-Laryngology and its Related Specialties 61: 334 – 340
Cochlear-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules und Pitfalls R.-D. Battmer
Einleitung Seit langem hat sich das Cochlear Implant (CI) als die Behandlungsmethode der Wahl bei gehörlosen und ertaubten Patienten durchgesetzt. Trotz der großen Erfolge mit dem CI werden einzelnen oder auch Gruppen von Patienten bei der Versorgung immer wieder Steine in den Weg gelegt. Als Beispiel sei hier der offene Brief des Rechtsanwalts Kochs aus der „Schnecke“* angeführt, indem ein Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) im Falle der Geltendmachung einer Umversorgung mit einem neuen HDO-Sprachprozessor eines 70-jährigen Patienten zitiert wird mit den Worten: „Das Schreiben des Herrn … vom 14. 03. 2008 zeigt, dass das Anspruchsdenken offensichtlich keine Grenzen kennt.“ Und bei der Beurteilung: „… es muss auch Verwunderung geäußert werden, dass die Universitätsklinik … das Anspruchsdenken noch unterstützt und dies in einem Alter, wo die Ansprüche an die Kommunikation nicht allzu groß sind.“ Abgesehen von dieser ungeheuerlichen Diskriminierung älterer Menschen geht der Gutachter davon aus, dass im hohen Alter die Fähigkeit zum geistigen Austausch und zur Teilnahme am sozialen Leben eingeschränkt oder gar nicht mehr vorhanden ist. Dieses Urteil wird nur aufgrund von Vorurteilen gefällt, ohne dabei eine seriöse wissenschaftliche Argumentation anzuführen. Dieser Artikel geht daher speziell auf die Versorgung älterer * Zeitschrift „Schnecke“ ISSN 1234-5678, Nr. 62, November 2008, 20. Jahrgang
Menschen mit einem Cochlea Implantat sowie auf die spezifischen Erfordernisse dieser Patientengruppe in Hinblick auf eine Implantation ein. „Last, but not least“ sollen die vielfachen Erfolge mit diesem Implantat dargestellt werden.
Relevanz der Thematik Allgemeine demographische Daten Die Relevanz dieses Themas wird klar, wenn man sich die demographische Entwicklung in den westlichen Industrieländern vor Augen führt. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes betrug der Anteil der Bevölkerung, der 1950 t 60 Jahren alt waren, 14,6 %. Im Jahre 2000 stieg der Anteil dieser Personengruppe auf 23,6 % und wird im Jahre 2050 (laut Hochrechnung) auf 38 – 40 % geschätzt (vgl. www.destatis.de). Berücksichtigt man noch die Angaben des Deutschen Schwerhörigenbundes über die Zahl der Hörbehinderten in unserer Bevölkerung, die im Mittel derzeit bei 20 % liegt, aber im Alter von 60 – 69 auf 37 % und bei über 70-Jährigen auf 54 % steigt, so lässt sich leicht hochrechnen, dass die Zahl der Hörbehinderten im Alter und damit die potentieller Cochlear-Implant-Patienten in den nächsten Jahren und Jahrzehnten drastisch steigen wird (vgl. www.schwerhoerigen-netz.de). Eigene demographischen Daten Um diese Situation etwas anschaulicher zu gestalten und die statistischen Daten zu vali-
44
Cochlear-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules und Pitfalls
dieren, haben wir in einer retrospektiven Erhebung auf der Basis der Cochlea-Implantat-Datenbanken der HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover (Direktor: Prof. Dr. T. Lenarz) und des Unfallkrankenhauses Berlin (Direktor: Prof. Dr. A. Ernst) die Häufigkeit der CI-Implantationen im Alter untersucht. Dabei teilten wir die Patienten in zwei Gruppen: Patienten die im Alter von 20 – 40 Jahren implantiert wurden und solche, die zum Zeitpunkt der Implantation 60 Jahre und älter waren. Zusätzlich wurden jeweils die prozentuale Zahl an CI-Operationen beider Gruppen in den Jahren 1987, 1997 und 2007 verglichen. Die Gesamtzahl der seit 1984 in den beiden Datenbanken zusammen gelisteten Patienten betrug etwa 3.800 Fälle. Das Ergebnis der Untersuchung ist in Abbildung 1 dargestellt: x Der Anteil der 20 – 40-jährigen Patienten betrug 1987 rund 39 % aller Implantierten (12 von 31) und nur 16 % (5 von 31) war 60 Jahre und älter. x 1997 bleibt dieses Verhältnis nahezu unverändert: 37 % 20 – 40-Jährige (25 von 67), aber schon 21 % 60 Jahre und älter (14 von 67). x Im Jahr 2007 schließlich werden nur noch 14 % 20 – 30-jährige Patienten (27 von 196) implantiert, aber 32 % (61 von 196) mit 60 Jahren und älter. Im Laufe der 20 Jahren lässt sich also bereits eine Trendumkehr erkennen, es werden deutGruppe
Prozentuale Verteilung der Gruppe der 20 – 40-Jährigen und der t 60-Jährigen in den Jahren 1987, 1997 und 2007. In Klammern ist die Gesamtzahl aller implantierten erwachsenen Patienten in dem jeweiligen Jahr angegeben.
lich mehr Patienten über 60 Jahre implantiert als Patienten im Alter von 20 – 40 Jahren. In der Tabelle 1 sind diese Gegebenheiten noch etwas genauer dargestellt. Insbesondere in der Gruppe der über 60-Jährigen nimmt das Altersmaximum zum Zeitpunkt der Implantation in den betrachteten Jahren von etwa 68 1987 auf 89 Jahre 2007 zu. Auffällig ist außerdem, dass sowohl bei den 20 – 40-Jährigen als auch bei den über 60-Jährigen die Ertaubungsdauer deutlich sinkt (d. h. auf 7 bei den 20 – 40-Jährigen und auf 5 bei den über 60-Jährigen). Betrachtet man als Erfolgsindikator der CI-Versorgung die Sprachtestergebnisse des Freiburger Zahlen- und Einsilbertests (Abbildung 2), so sieht man insbesondere bei den Einsilbern
Bereich (Jahre)
% aller Erw.
Mittlere Ertaubungsdauer (Jahre)
1987: 29,5 Gruppe 1997: 30,9 20 – 40 Jahre 2007: 30.2
22.4 – 40.0 25.1– 38.8 20.8 – 39.9
38,7 (12/31) 37.3 (25/67) 21,9 (27/196)
1987: 9,4 1997: 12,2 2007: 6,8
1987: 65.8 1997: 65.5 2007: 70,1
60.7– 67.7 62.5 –75.0 60.0 – 89.5
16.2 (5/31) 1987: 15,7 21.3 (14/67) 1997: 10,7 38,3 (61/196) 2007: 4,7
Gruppe t 60 Jahre
Mittleres Alter (Jahre)
Abb. 1
Tabelle 1 Demographische Patientendaten der beiden Gruppen 20 – 40 Jahre und 60+ Jahre in 1987, 1997 und 2007.
Cochlear-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules und Pitfalls
Abb. 2 Ergebnisse des Freiburger Zahlen- und Einsilbertests der Gruppe der 20 – 40-Jährigen und der t 60-Jährigen in den Jahren 1987, 1997 und 2007. Die Ergebnisse sind nicht signifikant unterschiedlich. Beim Einsilbertest ist die Verbesserung durch modernere Implantatsysteme über die Zeit besonders deutlich zu erkennen.
eine stetige Verbesserung, die in der Gruppe der über 60-Jährigen sogar noch etwas steiler ausfällt als bei der jüngeren Gruppe. Insgesamt muss man allerdings diese Verbesserung wohl eher dem technischen Fortschritt der Implantatsysteme zuschreiben als anderen Kriterien.
Internationaler Stand der Wissenschaft Während der Erfolg mit dem Cochlear Implant bei gehörlos geborenen Kindern und postlingual ertaubten Erwachsenen inzwischen intensiv erforscht und dokumentiert ist, gibt es relativ wenige Arbeiten, die sich ausschließlich mit implantierten älteren Patienten auseinander setzen. In allen Arbeiten bislang wurden die Sprachtestergebnisse eines Kollektivs jüngerer Erwachsener mit denen älter (meist über 65 Jahre alt) verglichen. Bei 6 von 7 Arbeiten, die seit 2003 über dieses Thema publiziert wurden, zeigten die Ergebnissen der Sprachtests keinen statistisch signifikanten Unterschied im Gruppenvergleich[10], [3], [11], [12], [2], [7]. Nur in der Arbeit von Chatlin et al.[1], bei der Ergebnisse von
45
65 Patienten, die älter als 70 Jahre waren, mit 101 Patienten im Alter zwischen 24 und 69 Jahren in einem Worttest, einem Satztest und einem Satztest im Geräusch verglichen wurden, zeigten sich in allen drei Tests für die ältere Gruppe schlechtere Ergebnisse. Im Geräusch war der Unterschied sogar statistisch signifikant schlechter. Auf einen weiteren Aspekt der CI-Implantation verwiesen sowohl Sterkers et al.[11] als auch Vermeire et al.[12] und Hänsel et al.[2]. Mit der erfolgten Implantation war ein deutlich positiver Einfluss auf die Lebensqualität festzustellen („Improvements in quality-of-life“, gemessen in Qualis) der offensichtlich durch die verbesserte Kommunikationsfähigkeit dieser älteren Patienten entstanden war.
Das alternde auditorische System Es gibt eine Reihe von Gründen anzunehmen, dass ältere Patienten mit einem CI schlechter zurechtkommen könnten als jüngere Patienten. Im wesentliche wird in der Literatur dazu das alternde auditorische System angeführt. Man kann die Veränderungen des auditorischen Systems durch physiologische Alterungsvorgänge einteilen in periphere bzw. zentrale Veränderungen und kognitive Beeinträchtigungen. Bei den peripheren Veränderungen muss man zunächst an den Ausfall von Haarzellen, aber auch an den Verlust von Ganglienzellen denken[9]. Die zentralen Veränderungen entstehen im Wesentlichen durch den Untergang von Neuronen und Synapsen, aber auch durch Verluste von Neurotransmittern und Rezeptoren[6], [4]. Kognitive Defizite schließlich lassen sich in der Beeinträchtigung des Kurz- und Arbeitsgedächtnis sowie insbesondere auch in der Reduktion der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit erkennen[4]. Während die peripheren Veränderungen kaum Auswirkungen auf die Verwendung des Implants haben (bedingt durch die direkte elektrische Stimulation des
46
Cochlear-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules und Pitfalls
Hörnervs), könnten zentrale Veränderungen und kognitive Defizite sich beispielsweise bei Sprachtestergebnissen Älterer, im Vergleich zu einer Gruppe Jüngerer (insbesondere bei Sprachtestes im Störgeräusch) bemerkbar machen. Jene Leser, die sich besonders für die Neurophysiologie des alternden Gehörs interessieren, seien auf den Schriftenreihen Band 16 der Geers-Stiftung „Hören im Alter“ verwiesen. Schließlich sei noch darauf hingewiesen, dass auch ein erhöhtes Operations- und Narkoserisiko den möglichen Nutzen von CI-Implantationen von älteren Menschen beeinflussen könnten[8].
Eigene sprachaudiometrische Daten In einer retrospektiven Erhebung auf der Basis der Datenbanken der HNO-Klinik der Medizinischen Hochschule Hannover und der HNO-Klinik des Unfallkrankenhauses Berlin (s. o.) mit einer Gesamtfallzahl von ca. 3.800 Patienten, haben wir zwei Patientengruppen im Alter von 20 – 40 und von 60 Jahren und älter ausgesuchte. Alle Patienten wurden in den Jahren 2004 bis 2006 implantiert. Die Gruppe der 20 – 40-Jährigen umfasste 55, die Gruppe der t 60 Jahre Patienten umfasste 114 Patienten. Untersucht wurden jeweils die Ergebnisse des Freiburger Zahlentests, des Freiburger Einsilbertests sowie des HSM-Satztests[5] im Geräusch (SNR +10 dB), wobei nur die Daten berücksichtigt wurden, die ein Jahr nach der Erstanpassung erhoben wurden. Die Ergebnisse sind in Abbildung 3 dargestellt. Weder im Zahlen-, noch im Einsilbertest, noch im HSM-Satztest im Geräusch findet sich ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen beiden Gruppen; tendenzmäßig schneidet die Gruppe der älteren Patienten etwas besser ab. Daraufhin haben wir die Gruppe der älteren Patienten weiter aufgeteilt in eine Altersgruppe 60 – 69 Jahre (n = 69), 70 –79 Jahre
Abb. 3 Vergleich der Sprachtestergebnisse (Freiburger Zahlen, Freiburger Einsilber und HSM Satztest im Geräusch) zwischen der Gruppe der 20 – 40-Jährigen und der Gruppe der t 60-Jährigen, implantiert in den Jahren 2004 – 2006. Es besteht in keinem der Tests ein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den Ergebnissen beider Gruppen.
(n = 36) und 80 und älter (n = 9) (Abb. 4). Während man im Vergleich zu diesen Gruppen bei den Zahlen und den Einsilbern keinen statistisch signifikanten Unterschied findet, nimmt das Ergebnis im HSM-Satztest im Geräusch ab von 39,5 % bei den 60 – 69-Jährigen, auf 21,3 % bei den 70 –79-Jährigen und schließlich 14,7 % bei den 80-Jährigen und
Abb. 4 Aufteilung der Gruppe der t 60-Jährigen in drei Untergruppen: 60 – 69 Jahre, 70 –79 Jahre und 80+ Jahre. Während bei den Freiburger Zahlen und Einsilbern (in Ruhe) kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen den drei Untergruppen festzustellen ist, zeigt sich beim HSM Satztest im Geräusch (+10 dB SNR) eine statistische signifikante Verschlechterung mit höherem Alter (* stat. signifikant).
Cochlear-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules und Pitfalls
Gruppe
Mittleres Alter (sd)
Mittlere Ertaubungsdauer (sd)
Anzahl Patienten
20 – 40 Jahre 31,1 (5.8)
7.9 (11.6)
55
60 – 69 70 –79 80+ Jahre
5.2 (9.3) 2.6 (5.1) 3.5 (5.7)
69 36 9
64.8 (2.7) 73.9 (2.9) 84.2 (2.2)
47
wie Hesse 2007 bemerkt, der zentralen Veränderung bzw. den im Alter auftretenden kognitiven Defiziten zuschreiben.
Rules und Pitfalls
Die außerordentlich guten ErgebDemographische Patientendaten der beiden Gruppen 20 – 40 Jahre nisse der älteren Patienten bei den und 60+ Jahre (unterteilt nach 60 – 69, 70 –79 und t 80 Jahre) aus Sprachtests machen es schwer, den Jahren 2004 – 2006 (sd = Standardabweichung). echte Pitfalls zu identifizieren. Es sei hier nur auf einen Fall verwiesen, der im Laufe der Jahre dem Autor dieses älter ab. Diese Ergebnisse sind statistisch sigArtikels bekannt wurde. Das Audiogramm in nifikant different. Abb. 5 zeigt das Ergebnis einer VoruntersuDie demographischen Daten der beiden chung bei einem damals 61-jährigen Mann. Gruppen in Tabelle 2 zeigen insbesondere Es findet sich beidseits ein Restgehör, wobei bei der mittleren Ertaubungsdauer keinen sidie rechte Seite etwas schlechter ist als die gnifikanten Unterschied. Diese signifikante linke. Mit einem Hörgerät rechts konnte der Verschlechterung im Störgeräusch muss man, Tabelle 2
Abb. 5 Präoperatives Audiogramm (P. B., *08. 05. 1940) bei der Voruntersuchung zum Cochlea Implantat. Hörgeräte beidseits, kein Einsilberverstehen re, HSM mit Hörgeräten beidseits 46 %. Implantiert wurde das rechte Ohr.
48
Cochlear-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules und Pitfalls
Patient bei 80 dB noch 40 % der einsilbiger Wörter verstehen. Bei beidseitiger optimaler Versorgung erreichte er 46 % im HSM-Satztest. Nominell erfüllte er die Kriterien für eine CI Implantation und wurde 2001 auf der rechten Seite mit einem Implantat versorgt. Die Ergebnisse mit dem Implantat waren sehr eingeschränkt, so verstand er drei Monate nach Erstanpassung mit dem Cochlear Implant alleine keine Sprache. Er benutzte im täglichen Leben nur das Hörgerät links und lehnte schließlich die Benutzung des CIs ohne Hörgerät ab. Nach drei Monaten lehnte er mögliche weitere Nachsorge ab und nahm keinen Vorstellungstermin mehr wahr. Man muss wohl davon ausgehen, dass er sein CI nicht mehr benutzt. In diesem Fall scheint der Patient nicht mehr in der Lage gewesen zu sein (oder er wollte nicht mehr), sich auf den neuen Klang, den das Cochlear Implant übermittelt, einzustellen. Um derartige sehr seltenen Fälle zu vermeiden, könnte im Einzelfall neben den normalen Indikationskriterien (Ergebnisse Einsilberverstehen < 30 %, HSM-Satztest < 50 %) eine zusätzliche Bewertung der Rehabilitationsfähigkeit sinnvoll sein. Zusätzlich sollte eine ärztliche Abwägung des Operationsund Narkoserisikos folgen, um etwaige medizinische Komplikationen im höheren Alter zu vermeiden.
ter wird, ist eine deutliche Verbesserung der Kommunikationsfähigkeit nach Cochlea Implantation auch im fortgeschrittenen Alter zu registrieren. In allen Altersgruppen kann durch eine CI-Operation eine Verbesserung der Lebensqualität erzielt werden. Diese Tatsachen demonstrieren, dass eine CIVersorgung auch im fortgeschrittenen Alter erfolgreich ist und den Betroffenen in vielerlei Hinsicht Verbesserungen im täglichen Leben bringen. Sie rechtfertigen in keiner Weise eine Ablehnung der Kostenübernahme für alte Menschen. Es sei hier noch vermerkt, dass im Urteil des Landessozialgerichts NordrheinWestfalen zur bilateralen CI-Versorgung vom 03. 11. 2005 klar gestellt worden ist, dass jedem Behinderten eine Versorgung zusteht, die möglichst den Ausgleich der Behinderung erreicht (dies gilt unabhängig vom Alter).
Literatur [1]
[2]
[3]
Fazit
[4]
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Zahl implantierter älterer Menschen steigt weltweit. Dazu haben die Zunahme der Lebenserwartung, eine bessere Aufklärung, eine Verbesserung der körperlichen und geistigen Fitness im Alter sowie das hohe Niveau emotionalen und persönlichen Wohlbefindens beigetragen. Misserfolge können durch geeignete Patientenauswahl vermieden werden. Obwohl jenseits des 80. Lebensjahres das Sprachverstehen im Störgeräusch schlech-
[5]
[6] [7]
Chatelin V, Kim EJ, Driscoll C, Larky J, Polite C, Price L, Lalwani AK (2004) Cochlear implant outcomes in the elderly. Otology & Neurotology 25: 298 – 301 Haensel J, Ilgner J, Chen Y, Tuermer C, Westhofen M (2005) Speech perception in elderly patients following cochlear implantation. Acta Oto-Laryngologica 125: 1272 –1276 Herzog M, Schön F, Müller J, Knaus C, Scholtz L, Helms J (2003) Langzeitergebnisse nach Cochlear-Implant-Versorgung älterer Patienten. Laryngo-Rhino-Otol 82: 490 – 493 Hesse G (2007) Diagnostik peripherer und zentraler Hörstörungen im Alter. Schriftenreihe GEERS-Stiftung, Band 16. 77– 87 Hochmair-Desoyer I, Schulz E, Moser L (1997) The HSM Sentence Test as a Tool for Evaluating the Speech Understanding in Noise of Cochlear Implant Users. Am J Otology 18: 83 Jerger J, Jerger S, Oliver T (1989) Speech understanding in the elderly. Ear Hear 10: 79 – 89 Leung J, Wang NY, Yeagle J, Chinnici J, Bowditch S, Francis HW, Niparko JK (2005) Predictive models for cochlear implantation in elderly candidates. Arch Otolaryngol Head Neck Surg Vol 131: 1049 –1054
Cochlear-Implant-Versorgung beim alten Menschen: Rules und Pitfalls [8] Muravchick S (1998) The aging process: anesthetic implications. Anaesthesiol Belg 49: 85 – 90 [9] Nadol JB (1979) Electron microscopic findings in presbycusic degeneration of the basal turn of the human cochlea. Otolaryngol Head Neck Surg 87: 818 – 836 [10] Pasanisi E, Bacciu A, Vincenti V, Guida M, Barbot A, Berghenti MT, Bacciu S (2003) Speech recognition in elderly cochlear implant recipients. Clin Otolaryngol 28: 154 – 157
49
[11] Sterkers O, Mosmier I, Ambert-Dahan E, Herelle-Dupuy E, Bozorg-Grayeli A, Bouccara D (2004) Cochlear implants in elderly people: Preliminary results. Acta Otolaryngol; Suppl 552: 64 – 67 [12] Vermeire K, Brokx JP, Wuyts FL, Cochet E, Hofkens A, Van de Heyning PH (2005) Quality-of-life benefit from cochlear implantation in the elderly. Otology & Neurotology 26: 188 –195
Vestibuläre Effekte der Cochlea Implantation A. Blödow und M. Westhofen
Einleitung Die Hörrehabiliation mit einem Cochlea Implant hat sich in den letzten Jahren als standardisierte und sichere Versorgungsmethode hochgradig schwerhöriger oder ertaubter Patienten etabliert. Als innenohrchirugischer Eingriff ist sie potentiell mit aufklärungspflichtigen Risiken verbunden. Neben Wundinfektionen, Trommelfelldefekten, Affektionen des Nervus facialis und Implantatunverträglichkeiten gehört hierzu auch das Auftreten von postoperativem Schwindel. Die Literaturangaben zu Letzterem sind uneinheitlich, sie schwanken zwischen 0,33 % bis 75 %[26], [30], [24]. Eine Funktionsstörung des horizontalen Bogengangs findet sich in 3,1 % bis 77 %[6] und die posturale Stabilität der Patienten kann sich nach Cochlea Implantation verschlechtern[3], verbessern[6], [9] oder unverändert bleiben[5]. Bei einigen Patienten bestehen bereits vor der Implantation Schwindelbeschwerden. Die in den letzten Jahren zunehmende Versorgung älterer Patienten mit einer höheren Prävalenz von Schwindelbeschwerden und die nun häufigere bilaterale Versorgung mit einem Cochlea Implantat stellen den implantierenden HNO-Arzt vor die Notwendigkeit einer ausführlichen audiologischen und vestibulären Funktionsdiagnostik. Verschiedene Mechanismen können für das Auftreten eines postoperativen Schwindels verantwortlich gemacht werden. Dazu zählt die Eröffnung des Endolymphraums im Rahmen der Implantation sowie die Eröffnung des Perilymphhraums mit intraoperativem Perilymphverlust oder das
Auftreten einer postoperativen Lymphfistel. Ein mit zeitlicher Latenz eintretender Schwindel kann seine Ursächlichkeit in einem protrahierten endolymphatischen Hydrops finden oder es kann zu einer Fremdkörperreaktion des Labyrinths bzw. Unverträglichkeit mit Entwicklung einer Labyrinthitis kommen. Durch Kempf et al.[20] wurde eine elektrische Stimulation des Labyrinths durch das Cochlea Implantat mit Schwindelsensationen beschreiben, Lesinski et al.[27] wiesen auf das Auftreten eines Tullio-Phänomens nach Cochlea Implanation hin. Auch die Manifestation eines benignen paroxysmalen Lagerungsschwindels durch elektrische Phänomene[11] und die Entwicklung eines autoimmunbedingten Morbus Menière[14] sind beschrieben worden. Zur präoperativen Risikoabschätzung gehört damit das Wissen, inwieweit eine vestibuläre Schädigung abhängig vom Alter, Implantattyp oder der Implantationsweise erwartet werden muss. Die präoperative Diagnostik sollte dabei nicht nur auf die Einschätzung der Funktion der Cristaorgane beschränkt werden, sondern auch die modernen Möglichkeiten einer isolierten Funktionsdiagnostik der Maculaorgane einschließen. Darüberhinaus ist die Einschätzung der zentral-vestibulären Funktion und damit eine Aussage über ein Kompensationsvermögen von Bedeutung. Die Kenntnis des vestibulären Funktionsstatus ist ausschlaggebend zur Prävention postoperativer Komplikationen.
52
Vestibuläre Effekte der Cochlea Implantation
Vestibuläre Funktionsuntersuchungen vor Cochlea Implantation An der Aachener HNO-Universitätsklinik gehört neben der audiologischen Routineuntersuchung vor einer Cochlea Implanation auch eine ausführliche vestibuläre Testbatterie. Orientierende Untersuchungen sind die vestibulo-spinalen Tests, der Kopf-Impuls-Test in allen Bogengangsebenen[15], die Testung hinsichtlich eines Spontan- bzw. Lage- und Lagerungsnystagmus. Für eine quantitative Einschätzung der peripheren Bogengangsfunktion steht die bithermische Vestibularisprüfung und zur Bewertung der zentral-vestibulären Funktion die frequenzselektive Drehpendelprüfung zur Verfügung. Die Funktionsprüfung der Maculaorgane gehört ebenso zum Untersuchungsumfang. Die sacculäre Maculafunktion wird durch die Ableitung der vestibulär evozierten myogenen Potentiale (VEMP)[8] getestet. Die exzentrische Rotation steht für eine seitengetrennte Einschätzung der utriculären Maculafunktion zur Verfügung[7], [17]. Eine weitere Methode hierfür stellt der kalorische Wendetest im Rahmen der bither-
mischen Vestibularisprüfung mit Starkreiz[34] und die Bestimmung der maculo-papillären Achse im Rahmen der nicht-mydriatischen Fundusfotographie[4] dar. Für die zentral-utriculären Reflexwege ist die Durchführung der Schrägachsenrotation (OVAR) die Methode der Wahl. Zusätzlich wird in der CT und MRT nach anatomischen Irregularitäten und einer Flüssigkeitsfüllung der Cochlea und des Labyrinths gefahndet.
Risiko vestibulärer Schädigung bei der Cochlea Implantation An der Aachener HNO-Universitätsklinik wurde zur Beurteilung der prä- und postoperative Schwindelbeschwerden 62 Patienten (21 Kinder, 41 Erwachsene) mit einer Cochlea Implantat-Versorgung untersucht. Der mittlere Zeitraum zwischen Voruntersuchung und Implantation lag bei 2 Monaten, die Nachuntersuchung erfolgte zwischen 3 und 6 Monate postoperativ. Differenziert nach Ertaubungsursache fand sich bei Kindern in ca. 65 % eine kongenitale Taubheit, in 25 % blieb die Ertaubungsursache unbekannt. Bei Erwachse-
Alter bei der Cochlea Implantation
n/(%)
Alter < 18 Jahre Alter > 18 Jahre
21/(34) 41/(66)
von 5 –15 Jahre von 21– 80 Jahre
Geschlecht Männlich
24/(39)
Weiblich
38/(61)
Ätiologie des Hörverlusts
Kinder
Erwachsene
Kongenital
14/(65)
6/(15)
Hörsturz
0
12/(30)
Meningitis
1/(5)
4/(10)
Trauma
1/(5)
0
Unbekannt
5/(25)
17/(40)
Andere
0
2/(5)
Tabelle 1 Demografische Daten von 62 CI-Patienten aus den Jahren 2000 bis 2007
53
Vestibuläre Effekte der Cochlea Implantation
nen war eine ungeklärte Ertaubungsursache mit 40 % am häufigsten, in ca. 30 % war die Ertaubung in Folge rezidivierender Hörstürze eingetreten. Für das gesamte Patientenkollektiv lag eine postlinguale Ertaubung in 66 % vor. In 25 % bestand bereits präoperativ eine permanente oder rezidivierende Schwindelsymptomatik, hier rangierte das Unsicherheitsgefühls (13 %) vor dem Schwankschwindel (6 %) oder einer Drehschwindelsymptomatik (6 %). Präoperativ bestand eine Normalfunktion der Cristaorgane beidseits in 65 %, eine Ausfall auf der zu operierenden Seite in 15 % und ein beidseitiger Ausfall in 8 %. Nach der Cochlea Implantation fand sich eine Zunahme der Schwindelsymptomatik in 6 %, bei 24 % der Patienten war eine Gleichgewichtsstörung temporär oder permanent aufgetreten. Es bestand bei den Patienten nur noch in der etwa der Hälfte aller Fälle eine normale Funktion des horizontalen Bogengangs, vorwiegend war eine Zunahme einer thermischen Mindererregbarkeit gefolgt von der Zunahme der einseitigen Ausfälle zu verzeichnen. In der
Test
Drehpendelprüfung fand sich gehäuft das einseitige Richtungsüberwiegen bzw. eine Mindererregbarkeit. Die Analyse der präoperativen Funktion der Macula zeigte, dass in bis zu 80 % der Fälle keine Schädigung des Utriculus und/oder des Sacculus vorlag. Auch die Maculaorgane unterlagen einem postoperativen Schädigungsmuster. Der Sacculus war dabei etwa doppelt so häufig betroffen wie der Utriculus. Insgesamt lag das Risiko für eine Bogengangschädigung bei 25 % und für eine Maculaschädigung bei 21 %. Eine unzureichende zentral-vestibuläre Kompensation lag mit einem Risiko von 3 % vor. Im Vergleich der Populationen zeigte sich, dass Erwachsene und hier v. a. Frauen ein höheres Risiko für eine postoperative Bogengangsfunktionsschädigung haben. Eine Abhängigkeit vom Implantattyp fand sich nicht.
Präoperativ (%)
Postoperativ (%)
Thermische Stimulation
Normal 65 Ausfall einseitig 21 Mindererreg. einseitig 6 Ausfall beidseitig 8
Normal 52 Ausfall einseitig 27 Mindererreg. einseitig 12 Ausfall beidseitig 9
Drehpendelprüfung
Normal Linksüberwiegen Rechtsüberwiegen Mindererregbarkeit
84 3 0 13
Normal Linksüberwiegen Rechtsüberwiegen Mindererregbarkeit
78 11 0 11
Exz.Rotation/OVAR
Normal Ausfall
85 15
Normal Ausfall
77 23
VEMP
Normal Ausfall
79 21
Normal Ausfall
68 32
Bogengangsfunktion
Otolithenfunktion
Tabelle 2 Prä- und postoperative Testung der Crista- und Maculafunktion mittels thermischer Stimulation, Drehpendelprüfung, exzentrischer Rotation, off-vertikal-axis-Rotation (OVAR) und vestibulär evozierten myogenen Potentialen (VEMP)
54
Vestibuläre Effekte der Cochlea Implantation
Zusammenfassung Der Cochlea-implantierende HNO-Arzt steht vor der Notwendigkeit einer detaillierten präoperativen vestibulären Diagnostik und entsprechender OP-Risikoaufklärung, da das chirurgische Trauma der Insertion einer Elektrode in die Cochlea zum Auftreten von postoperativen Schwindelbeschwerden führen kann. In histopathologischen Untersuchungen ließ sich eine implantationsbedingte Zerstörung von cochleären und vestibulären Strukturen nachweisen[13], [16]. Beim Einführen der Elektrode in die Scala vestibuli kann es zur Verletzung der Lamina spiralis ossea, der Basilarmembran und der vestibulären Rezeptoren kommen. Die Insertion in die Scala tympani führte dagegen nur sehr selten zu einer Zerstörung der cochleären Strukturen[31]. Diese Erkenntnis führte zu Versuchen, die Cochleostomie- und Insertionstechniken zu verbessern. Todt et al.[32] fanden in ihren Untersuchungen eine Bogengangsschädigung in 42,9 % und eine Schädigung des Sacculus in 50 % bei anteriorer Cochleostomie, die Insertion der Elektrode im Bereich des runden Fensters ließ diese Schädigungsraten auf 9,4 % bzw. 13 % sinken. Auf den Nachteil einer zu großen Cochleostomie, v. a. bei Verwendung von Positionern wiesen Hempel et al.[18] hin, die den Fall eines Patienten mit Schwindel durch intralabyrinthäre Luftansammlung nach Schneuzen im Rahmen einer akuten Rhinitis beschrieben. Der Nachweis einer elektrodeninduzierten Stimulation des Sacculus bzw. des Nervus vestibularis inferior gelang Basta et al.[1] durch die Ableitung von eVEMP. Damit wird eine mögliche Schwindelinduktion bei angeschaltetem Implantat erklärlich. Krause et al.[25] konnten in der Untersuchung der präoperativen Sacculusfunktion zeigen, dass bereits 65 % der Patienten einen Ausfall der VEMP aufwiesen, nach einer Cochlea Implantation kam es in 50 % der Fälle zu einem neuen Ausfall der VEMP. Damit hat die Implantation ein hohes Schädigungspotential für den Sacculus. Basta
et al.[2] wiesen nach, dass bei implantierten Patienten mit Schwindelbeschwerden und einer postoperativen Schädigung des Sacculus es v. a. ältere Patienten sind, die einen länger anhaltenden Schwindel über 3 Monate beklagen. Bereits Brey et al.[5] hatten darauf hingewiesen, dass Patienten über 60 Jahren länger unter einem postoperativen Schwindel leiden. Krause et al.[22] fanden in Ihren Untersuchungen bei 45 % der implantierten Patienten das Auftreten von Schwindelbeschwerden, in 32 % fand sich bei den Patienten eine postoperative Minderung oder Ausfall der Funktion des horizontalen Bogengangs. Die Autoren geben an, dass sie keine direkte Korrelation zwischen der postoperativen Bogengangsfunktion und dem Auftreten von Schwindelbeschwerden herstellen konnten. Auch für die Kriterien Alter, Geschlecht, Implanttyp, Operateur, Grund des Hörverlustes und CT-Kriterien des Felsenbeins fanden sie keine Korrelation. Demgegenüber stehen die Daten von Enticott et al.[12], die in 32 % einen postoperativem Schwindel nachweisen konnten. Diese Patienten wiesen schlechtere Werte im Dizziness Handicap Inventory (DHI) und der Activity Balance Confidence-Skala (ABC) auf. Es bestand postoperativ eine verminderte Funktion des horizontalen Bogengangs, während Alter, Grund der Hörstörung, postoperativer Elektrodensitz und der präoperative Status der Bogengangsfunktion keinen Hinweis auf das Risiko eines postoperativen Schwindels lieferten. Auch in dieser Studie wiesen Patienten über 70 Jahre bei postoperativem Schwindel ein höheres Risiko auf, länger unter Schwindelbeschwerden zu leiden. Migliaccio et al.[29] untersuchten mittels des Kopf-Impuls-Tests alle drei Bogengänge und fanden bereits präoperativ eine hohe Prävalenz einer seitendifferenten Cristafunktion. Eine signifikante Verschlechterung wurde postoperativ hier nicht beobachtet. Auch Melvin et al.[28] zeigten, dass in nur einer geringen Anzahl der Fälle (1/16) es zu einer postoperativen Verschlechterung der Bogengangsfunktion (gemessen mittels quantitativem 3 D Kopf-
Vestibuläre Effekte der Cochlea Implantation
a Abb. 1
55
b
Subjektive Schwindelbeschwerden vor (Abb. 1 a) und nach einer Cochlea Implantation (Abb. 1 b)
Impuls-Test und Kalorik) kam, jedoch viel häufiger zu einer Störung der Sacculusfunktion. Sie fanden in 30 % einen völligen Ausfall oder eine Teilschädigung des Sacculus durch fehlenden Nachweis der VEMP oder einer um mindestens 10 dB erhöhten VEMP-Schwelle. Sie schlussfolgerten, dass vestibuläre Komplikationen sich im Rahmen der Allgemeinkomplikationen einer Cochlea Implantat-Versorgung bewegen, jedoch der Patient vorher darauf hingewiesen werden muss, ganz besonders dann, wenn die Implantation auf dem noch einzig vestibulär funktionstüchtigen Ohr stattfinden soll. Die Untersuchungen von Vibert[33] an 15 implantierten Patienten zeigten, dass durch Meningitis ertaubte Patienten bereits präoperativ häufiger eine gestörte Vestibularfunktion aufweisen. Die Cochlea Implantation führte in 20 % zu einer temporären Verschlechterung der Funktion des horizontalen Bogengangs, die postoperative Otolithenfunktion, gemessen mittels OVAR, war in allen Fällen ungestört. Jin et al.[19] fanden in ihren Untersuchungen, dass bei zu implantierenden Kindern bereits in 50 % präoperativ ein Funktionsverlust des Sacculus vorlag. Nach der Implantation war nur in 16 % noch eine normale Sacculusfunktion bei abgeschaltetem Implantat nachweisbar, dagegen fand sich bei eingeschaltetem Implantat eine VEMP-Antwort in 66 %. Den Einfluss des Einschaltzustands des Cochlea Implantats auf die Vestibularfunktion verdeutlichten auch Cushing et al.[9]. Im Vergleich zu alterskorrelierten Normalhörigen fanden sie ein schlechteres Balanceverhalten
bei hochgradig schwerhörigen Kindern im Alter von 4 –17 Jahren, v. a. bei Meningitisschädigung. Das Anschalten des Implantats erbrachte dabei einen Vorteil im Balanceverhalten gegenüber dem ausgeschalteten Zustand. In weiteren Untersuchungen fanden Cushing et al.[10] bei Kinder eine präoperativen Ausfall des horizontalen Bogengangs mittels thermischer Vestibularisprüfung in 50 % der Fälle und bei der Drehstuhluntersuchung zu 38 %, die VEMPS waren zu 19 % ausgefallen. Das Auftreten eines Balancedefizits korrelierte dabei am Besten zu den Drehstuhluntersuchungen, so dass für Kinder jeden Alters dieser gut anwendbare Test empfohlen wird. Insgesamt scheint das Risiko einer vestibulären Schädigung bei Cochlea Implantation um 20 %[6] zu liegen.
Abb. 2 Humanes Cochleapräparat mit in der Scala tympani einliegender Cochlea Implantat-Elektrode, die anatomische Integrität ist durch die Insertion in die Scala tympani erhalten geblieben
56
Vestibuläre Effekte der Cochlea Implantation
Konklusion Die klinische Erfahrung zeigt, dass die Chirurgie des Innenohrs zu vestibulären Störungen führen kann. Die Angaben zur Häufigkeit eines Schwindels nach Cochlea Implantation schwanken deutlich, die Ursache findet sich u. a. in der Traumatisierung der vestibulären und cochleären Stukturen. Präoperativ findet sich bei Patienten mit hochgradigem Hörverlust einen höhere Prävalenz von Funktionsverlusten des Gleichgewichtsorgans und von Schwindelbeschwerden. Implantattyp, Geschlecht und Alter scheinen keine prädiktiven Faktoren für das Auftreten von Schwindelbeschwerden zu sein, jedoch scheinen besonders die über 70-Jährigen länger unter den Schwindelsensationen zu leiden. Die Identifikation von schon geringen Funktionsbeeinträchtigungen der vestibulären Rezeptoren und der Gleichgewichtsfunktion ist wichtig, um das Risiko einer vestibulären Dysfunktion nach Cochlea Implantation zu verstehen und um entsprechende Therapiemaßnahmen anbieten zu können, die zu einer Verbesserung der Kompensation und einer erhöhten Patientensicherheit führen. Bei der immer weiter werdende Indikationsstellung zur Cochlea Implantation und der weiteren Verbreitung der bilateralen Cochlea Implantation nimmt die Kenntnis um die Bedeutung der vestibulären Risiken der Cochlea Implantat-Chirurgie zu. Literatur [1]
[2]
[3]
Basta D, Todt I, Eisenschenk A, Ernst A (2005) Vestibular evoked myogenic potentials induced by intraoperative electrical stimulation of the human inferior vestibular nerve. Hear Res 204(1– 2): 111114 Basta D, Todt I, Goepel F, Ernst A (2008) Loss of saccular function after cochlear implantation: the diagnostic impact of intracochlear electrically elicited vestibular evoked myogenic potentials. Audiol Neurootol. 13(3): 187–192. Epub 2008 Jan 22 Black FO. Effects of the auditory prosthesis on postural stability. (1977) Ann Otol Rhinol Laryngol Suppl 86(3 Pt 2); 38: 141–164
[4] Blödow A (2008) Die nicht-mydriatische Fundusfotographie zur Bestimmung der utriculären Maculafunktion. GMS Publishing House; 2008. Doc 08hnod385 [5] Brey RH, Facer GW, Trine MB, (1995) Vestibular effects associated with implantation of a multiple channel cochlear prosthesis. Am J Otol 16: 424 – 430 [6] Buchman CA, Joy J, Hodges A, et al. (2004) Vestibular effects of cochlear implantation. Laryngoscope. 114(10 Pt 2 Suppl 103): 1– 22 [7] Clarke AH, Schönfeld U, Helling K (2003) Unilateral examination of utricle and saccule function. JVestib Res 13(4 – 6): 215 – 225. Review [8] Colebatch JG, Halmagyi GM (2000) Vestibular evoked myogenic potentials in humans. Acta Otolaryngol Jan 120(1): 112 [9] Cushing SL, Chia R, James AL, Papsin BC, Gordon KA (2008 a) A test of static and dynamic balance function in children with cochlear implants: the vestibular olympics. Arch Otolaryngol Head Neck Surg. Jan 134(1): 34 – 38 [10] Cushing SL, Papsin BC, Rutka JA, James AL, Gordon KA (2008 b) Evidence of vestibular and balance dysfunction in children with profound sensorineural hearing loss using cochlear implants. Laryngoscope. 2008 Oct 118(10): 1814 –1823 [11] Di Girolamo S, Fetoni AR, Di Nardo W, Paludetti G (1999) An unusual complication of cochlear implant: benign paroxysmal positional vertigo. J Laryngol Otol 113(10): 922 – 923 [12] Enticott JC, Tari S, Koh SM, Dowell RC, O’Leary SJ (2006) Cochlear implant and vestibular function. Otol Neurotol. Sep 27(6): 824 – 830 [13] Fayad JN, Linthicum FH Jr (2006) Multichannel cochlear implants: relation of histopathology to performance. Laryngoscope 116(8): 1310 –1320 [14] Graham SS, Dickins JR (1995) Postimplantation meniere’s syndroms with fluctuant electrical thresholds. Ann Otol Rhinol Laryngol 83(5): 596 – 605 [15] Halmagyi GM, Curthoys IS (1988) A clinical sign of canal paresis. Arch Neurol. 45: 737–739 [16] Handzel O, Burgess BJ, Nadol JB Jr (2006) Histopathology of the peripheral vestibular system after cochlear implantation in the human. Otol Neurotol 27(1): 57– 64 [17] Helling K, Schonfeld U, Scherer H, Clarke AH (2006) Testing utricular function by means of on-axis rotation. Acta Otolaryngol. Jun 126(6): 587– 593 [18] Hempel JM, Jäger L, Baumann U, Krause E, Rasp G (2004) Labyrinth dysfunction
Vestibuläre Effekte der Cochlea Implantation
[19]
[20]
[21] [22]
[23]
[24]
[25]
[26]
8 months after cochlear implantation: a case report. Otol Neurotol. Sep 25(5): 727–729 Jin Y, Nakamura M, Shinjo Y, Kaga K (2006) Vestibular-evoked myogenic potentials in cochlear implant children. Acta Otolaryngol 126(2): 164 –169 Kempf HG, Tempel S, Johann K, Lenarz T (1999) Complications of cochlear implant surgery in children and adults. Laryngo-RhinoOtol 78(10): 529 – 537 Kingma H (2006) Function tests of the otolith or statolith system. Curr Opin Neurol. Feb 19(1): 21– 25. Review. Krause E, Louza J, Hempel JM, Wechtenbruch J, Rader T, Gürkov R (2008 a) Effect of cochlear implantation on horizontal semicircular canal function. Eur Arch Otorhinolaryngol. Sep 20 Krause E, Louza JP, Hempel JM, Wechtenbruch J, Rader T, Gürkov R (2008 b) Prevalence and characteristics of preoperative balance disorders in cochlear implant candidates. Ann Otol Rhinol Laryngol. Oct 117(10): 764 –768 Krause E, Louza JP, Wechtenbruch J, Hempel JM, Rader T, Gürkov R (2009 a) Incidence and quality of vertigo symptoms after cochlear implantation. J Laryngol Otol. Mar 123(3): 278 – 282 Krause E, Wechtenbruch J, Rader T, Gürkov R (2009 b) Influence of cochlear implantation on sacculus function. Otolaryngol Head Neck Surg. 2009 Jan 140(1): 108 –113 Kubo T, Yamamoto K, Iwaki T, et al. (2001) Different forms of dizziness occurring after
[27] [28]
[29]
[30] [31]
[32]
[33]
[34]
57
cochlear implant. Eur Arch Otorhinolaryngol 258(1): 9 –12 Lesinski A, Kempf HG, Lenarz T (1998) Tullio phenomenon after cochlear implantation. HNO 46(7): 692 – 694 Melvin TA, Della Santina CC, Carey JP, Migliaccio AA (2009) The effects of cochlear implantation on vestibular function. Otol Neurotol. 2009 Jan 30(1): 87– 94 Migliaccio AA, Della Santina CC, Carey JP, Niparko JK, Minor LB (2005) The vestibulo-ocular reflex response to head impulses rarely decreases after cochlear implantation. Otol Neurotol 26(4): 655 – 660 Steenerson RL, Cronin GW, Gary LB (2001) Vertigo after cochlear implantation. Otol Neurotol 2001 22: 842 – 843 Tien HC, Linthicum FH Jr (2002) Histopathologic changes in the vestibule after cochlear implantation. Otolaryngol Head Neck Surg 127(4): 260 – 264 Todt I, Basta D, Ernst A (2008) Does the surgical approach in cochlear implantation influence the occurrence of postoperative vertigo? Otolaryngol Head Neck Surg. Jan 138(1): 8 –12 Vibert D, Häusler R, Kompis M, Vischer M (2001) Vestibular function in patients with cochlear implantation. Acta Otolaryngol Suppl. 2001 545: 29 – 34 Westhofen (2007) Der kalorische Wendetest in: Scherer H (Hrsg.) Der Gleichgewichtssinn, Springer Wien New York
Pro und Contra aktiver Mittelohrimplantate
Rehabilitation der Schallempfindungsschwerhörigkeit mit dem teilimplantierbaren Hörsystem MedEL Vibrant® M. Tisch
Einleitung Hören zu können, ist von allen Sinneswahrnehmungen die wichtigste Voraussetzung für die geistige Entwicklung des Menschen und für ein sozial integrierendes Leben in der Gesellschaft. Rund 14 Millionen Menschen in Deutschland leiden unter mehr oder minder starker Schwerhörigkeit. Ohne Behandlung entstehen bei Kindern Sprachentwicklungsstörungen, bei Erwachsenen droht die soziale Isolation. Als Therapie kam bis vor 15 Jahren ausschließlich eine konventionelle Hörgeräteversorgung in Betracht. Gerade bei einer hochgradigen Schwerhörigkeit stoßen jedoch konventionelle Hörgeräte auf Grund bauartbedingter technischer Einschränkungen an ihre Grenzen. Hier sind Hörgeräteimplanate aufgrund der Trennung ihrer Einzelkomponenten nach wie vor im Vorteil. Sie bieten in der Regel eine bessere Klangqualität und differenziertere Spracherkennung dank geringerer Verzerrung. Daneben spielen auch medizinische Gründe, wie z. B. intolerable Okklusionen des Gehörganges und rezidivierende Gehörgangsentzündungen bei der Entscheidung für ein Hörgeräteimplantat eine Rolle. Für eine Reihe von Patienten spielt auch die Stigmatisierung durch ein konventionelles Hörgerät eine entscheidende Rolle, sich gegen ein solches Hörgerät zu entscheiden. Anders als für einen Normalhörenden ist es für einen Hörbehinderten besonders schwer, verzerrte Sprache zu verstehen. Darüber hinaus können konventio-
nelle Hörgeräte bei einzelnen Patienten zwar in der Hörprüfkabine effektiv sein, während ihre Anwendung in spezifischen Alltags- und Berufssituationen nur eingeschränkt oder gar nicht möglich ist. Dies trifft insbesondere für Hören im Störlärm oder Konferenzsituationen zu[19]. Diese Nachteile lassen sich in den meisten Fällen durch teilimplantierbare Hörgeräte umgehen. Der Grund hierfür liegt vor allem in der Tatsache begründet, dass aktive Mittelohrimplantate an die Gehörknöchelchenkette angekoppelt werden und so das Innenohr direkt stimulieren[1], [2], [4], [8], [10], [11].
Das teilimplantierbare Hörsystem Vibrant MedEL® Dieses System ist seit 1996 am Markt und wurde mehr als 3.500 Patienten implantiert. Technik Das VSB System setzt sich aus einem äußeren und einem inneren Teil zusammen. Der äußere Teil (Abb. 1) ist ein Audioprozessor, der mit einem Magneten am Kopf unter dem Haar angebracht wird und Mikrofon, Batterie und Elektronik enthält. Das Schallsignal wird von dem Mikrophon aufgenommen, in ein elektrisches Signal umwandelt und an den unter der Kopfhaut implantierten Teil via Induktion übertragen. Der interne Teil besteht aus einer Empfangsstation, die das Signal aufnimmt und über ein Verbindungskabel an den soge-
62
Rehabilitation der Schallempfindungsschwerhörigkeit mit dem teilimplantierbaren Hörsystem MedEL Vibrant®
Abb. 1
Da das akustische Signal direkt auf das Innenohr übertragen wird, und der Gehörgang offen bleibt, resultieren erhebliche Vorteile gegenüber konventionellen Hörgeräten, nämlich eine verbesserte Signalqualität, eine Vermeidung von Rückkopplungen und Verzerrungen des Sprachsignals und ein natürlicher Klang der Stimme. Ein weiterer Vorteil gegenüber konventionellen Hörgeräten zeigt sich in der Übertragung höherer Frequenzen (bis 10 kHz). Insgesamt resultiert eine deutliche Zunahme der Sprachverständlichkeit im Allgemeinen und insbesondere im Störlärm.
Audioprozessor
Abb. 2 FMT mit Titanklammer
nannten Floating Mass Transducer (FMT), der an den langen Ambossschenkel mittels einer Titanklammer (Abb. 2) angekoppelt ist, weiterleitet. Bei dem FMT handelt es sich um einen elektromechanischen Wandler, der das akustische Signal in Schwingungen umsetzt, die direkt über die Gehörknöchelchenkette auf das Innenohr übertragen werden. Aufgrund der geringen Masse des FMT (25 mg) kommt es, wie in zahlreichen Studien belegt werden konnte, zu keiner Beeinträchtigung des Restgehörs[3, 13, 17]. Durch die direkte Platzierung des FMT im Mittelohr, ist das Auftreten von Rückkoppelungen unwahrscheinlich, da kein direkter Schallweg zwischen FMT und dem im äußeren Teil gelegenen Mikrofon besteht.
Indikationen Teilimplantierbare Hörgeräte eigenen sich besonders gut für die Versorgung von Patienten mit einer Schallempfindungsschwerhörigkeit, die einen Hochtonsteilabfall aufweisen, wie man ihn nach akuten und chronischen Lärmbelastungen findet. Dies erklärt sich aus der Bauweise der Implantate, die in den mittleren und hohen Frequenzen besonders effektiv die Schwingungen verstärken können. Daneben sind teilimplantierbare Hörgeräte bei Patienten indiziert, bei denen aufgrund der Anatomie des äußeren Gehörganges, rezidivierenden Gehörgangsentzündungen oder anderen chronischen Hauterkrankungen mit Beteiligung des äußeren Gehörganges eine Versorgung mit konventionellen Hörgeräten nicht möglich ist. Der Indikationsbereich bei reinen Schallempfindungsschwerhörigkeiten ist in Abbildung 3 dargestellt, wobei bei Einsatz des StandardAudioprozessors die Obergrenze bei 500 Hz 65 dB und bei 6.000 Hz 85 dB beträgt. Darüber hinaus ist der Einsatz eines stärkeren Audioprozessors möglich, der die Obergrenze in den genannten Frequenzbereichen um ca. 25 dB erhöht. Vor der Implantation einer VSB kann dem Patienten eine Vorstellung über die zu erwartende Hörverbesserung mit Hilfe des sogenannten Direct Drive Stimulators vermittelt werden. Hierbei wird der FMT nahe bzw. auf dem Trommelfell platziert und über einen CD
Rehabilitation der Schallempfindungsschwerhörigkeit mit dem teilimplantierbaren Hörsystem MedEL Vibrant®
Abb. 3 Indikationsbereich für die Schallempfindungsschwerhörigkeit
63
dere Anteil des Demodulators durchgeführt und gleichzeitig ohne Fadenarmierung fixiert. Nach Komplettierung der Antrotomie wird die posteriore Tympanotomie angelegt. Nach Möglichkeit sollte der Zugang zur Paukenhöhle mindestens einen Durchmesser von 3 mm haben. In Anbetracht der Tatsache, dass hierbei sowohl die Chorda tympani, als auch der N. fazialis gefährdet sind, ist die Verwendung eines intraoperativen Fazialismonitorings empfehlenswert. Nach Abschluss dieser Vorarbeiten wird das Implantat positioniert, der FMT durch die posteriore Tympanotomie durchgeführt und mit der Titanklammer am langen Ambossfortsatz befestigt (Abb. 4 und 5).
Player mit Verstärker angesteuert. Alternativ kann auch der Gehörgang mit Flüssigkeit gefüllt werden, in die der FMT eingetaucht wird. Operatives Vorgehen Die Operationsschritte, die für die Implantation nötig sind, ähneln dem Vorgehen bei Cochlea Implantaten. Nach einem retroaurikulären Hautschnitt wird zunächst eine erweiterte Antrotomie durchgeführt. Hierbei muss der kurze Ambossfortsatz sicher identifiziert werden. Anschließend wird das Implantatbett angelegt. Im Gegensatz zu anderen Autoren[4, 9, 16], die in den Schädelknochen ein vollständiges Implantatbett für die Aufnahme des VORP’s (Vibrant Ossicel Replacement Prothesis) fräsen, empfehlen wir lediglich ein kleines Knochenlager für die Aufnahme des vorderen Anteil des VORP’s anzulegen. Der Magnet, der den Audioprozessor hält, wird unter den M. temporalis und die Kopfschwarte platziert. Der Vorteil für den Patienten bei diesem Vorgehen besteht darin, dass ein wesentlich kleineres Wundbett und damit ein geringeres Operationstrauma resultieren. Eine weitere Modifikation des herkömmlichen Vorgehens besteht darin, dass eine Knochenbrücke am Übergang zur Antrotomiehöhle erhalten wird. Unter dieser wird später der vor-
Abb. 4 Antrotomie und posteriore Tympanotomie vor Implantation
Abb. 5 FMT in situ
64
Rehabilitation der Schallempfindungsschwerhörigkeit mit dem teilimplantierbaren Hörsystem MedEL Vibrant®
teilimplantierbaren Hörsystem vom Typ Vibrant Soundbridge versorgt. Die Daten von 65 einseitig und fünf beidseitig operierten Patienten wurden bislang ausgewertet und zeigten vergleichbare Ergebnisse zu den von anderen Autoren publizierten Daten[5, 6, 7, 12, 16]. Ergebnisse und Diskussion Die von uns operierten Patienten (52 Männer, Am Bundeswehrkrankenhaus Ulm wurden in 13 Frauen) waren im Median 63 Jahre alt den letzten 7 Jahren 71 Patienten mit einem (17–79 Jahre). Bei keinem der Patienten kam es postoperativ zu einer relevanten Abwanderung der Knochenleitungsschwelle oder einer Beeinträchtigung der Schalleitung infolge der Ankoppelung des FMT am langen Ambossfortsatz (Abb. 6). Die funktionelle Hörverbesserung nach Anpassung des VSB Systems betrug zwischen 8 und 40 dB. Der Median der funktionellen Hörverbesserung über alle Abb. 6 Frequenzen hinweg lag Unversorgte Reintonschwellen prä- und postoperativ (dargestellt ist der bei 18 dB, entsprechend eiMedian ohne Standardabweichung) nem Hörgewinn von knapp 40 % (Abb. 7). Besonders deutlich wird der Hörgewinn des VSB Systems bei 60 dB. Im Freiburger Sprachtest wurde ohne Hörhilfe eine Einsilberverständlichkeit von durchschnittlich 50 % erreicht. Mit den vor der Operation getragenen konventionellen Hörgeräten erreichten die Patienten im Median 58 % und mit einem Implantat 86 % Einsilberverständlichkeit (Abb. 8). Herausragend ist das Ergebnis der 5 Patienten in unserem Kollektiv, die beidseitig implantiert wurden. Abb. 7 Durchschnittliche funktionelle Hörverbesserung nach VSB Implantation Ohne Hörgeräte betrug (n = 65) (dargestellt ist der Median ohne Standardabweichung die EinsilberverständlichEtwa 8 Wochen nach dem Eingriff erfolgt die Anpassung des Audioprozessors beim klinischen Audiologen oder dem Hörgeräteakustiker.
Rehabilitation der Schallempfindungsschwerhörigkeit mit dem teilimplantierbaren Hörsystem MedEL Vibrant®
65
Abb. 8 Sprachdiskrimination (Freiburger Sprachtest) bei 60, 80 und 100 dB ohne Hörhilfe, mit konventionellen Hörgeräten und nach einseitiger VSB Implantation (n = 65) (dargestellt ist der Median ohne Standardabweichung)
ventionellen Hörgeräten zunehmend etabliert. Mit einer einseitigen VSB Implantation konnten wir bei allen Patienten ein besseres Sprachverständnis im Vergleich zu einer beidseitigen Versorgung mit konventionellen Hörgeräten erzielen. Eine weitere Verbesserung der Sprachdiskrimination wurde mit einer beidseitigen Implantation erreicht. Zusätzlich Abb. 9 berichten diese Patienten Sprachdiskrimination (Freiburger Sprachtest) bei 55 dB bei ein- und beidüber ein besseres Sprachseitiger Implantation vs. Hörgeräte (n = 5) (dargestellt ist der Median ohne verständnis im Störlärm Standardabweichung) und ein verbessertes Richtungshören. Gerade bei Patienten, die auf ein keit bei 55 dB 45 %, mit 2 idO Geräten 55 %, überdurchschnittliches Diskriminationshören mit einem Hörgeräteimplantat 75 % und mit angewiesen sind (Konferenzsituation), ist dies 2 Hörgeräteimplantaten 100 % (Abb. 9). von erheblicher Bedeutung[14]. Der operative Eingriff selbst war für die PatiZusammenfassend betrachtet stellen teilimenten wenig belastend. Als einzige relevante plantierbare Hörgeräte eine wertvolle ErKomplikation kam es bei einem Patienten zu gänzung der konventionellen Hörgerätevereiner peripheren Fazialisparese, die vermutsorgung dar. Der operative Eingriff selbst ist lich über eine Hitzeentwicklung im Rahmen komplikationsarm. der posterioren Tympanotomie zu erklären Präoperativ müssen die Patienten jedoch ist. Bei diesem Patienten kam es innerhalb von darüber aufgeklärt werden, dass mit einem 8 Monaten postoperativ zu einer weitgehenaktiven Mittelohrimplantat nach derzeitiden Normalisierung der Fazialisfunktion. gem Kenntnisstand keine KernspintomograInsgesamt betrachtet hat sich die VSB in den phie durchgeführt werden kann. Ob durch letzten 12 Jahren als Alternative zu den kon-
66
Rehabilitation der Schallempfindungsschwerhörigkeit mit dem teilimplantierbaren Hörsystem MedEL Vibrant®
Modifikation der Implantatmaterialien eine Kernspin-Freigabe (zu mindestens für Untersuchungen bis 1,5 T) erreichbar ist, kann derzeit noch nicht abschließend beurteilt werden[15, 18]. Weitere Einschränkungen im täglichen Leben und beim Sport (mit Ausnahme von Extremsportarten, wie Presslufttauchen oder Kampfsportarten) bestehen nicht.
[3] [4] [5]
Zusammenfassung Zur Rehabilitation der Schallempfindungsschwerhörigkeit haben sich in den letzten Jahren teilimplantierbare Hörgeräte zunehmend etabliert. Patienten, die mit einem teilimplantierbaren Hörgerät versorgt wurden, berichten mehrheitlich über erhebliche Vorteile des Implantates im Vergleich zu konventionellen Hörgeräten: Genannt werden dabei ein deutlich besseres Sprachverständnis, vor allem im Störgeräusch, eine verbesserte Klangqualität, ein natürlicherer Klang der eigenen Stimme sowie die grundsätzlichen Vorteile eines offenen Gehörgangs. Implantierbare Hörsysteme weisen einen breiteren Indikationsbereich im Vergleich zu konventionellen Hörgeräten auf. Vor allem die Versorgung von Hochtonschwerhörigkeiten, wie auch die Versorgung von kombinierten Schwerhörigkeiten sind hier zu nennen. Betrachtet man querschnittlich Hörergebnisse bei allen mit diesen Systemen bislang versorgten Patienten, so resultiert im Mittel eine Anhebung der Hörschwelle um knapp 15 dB, entsprechend einem Hörgewinn von über 30 %. Insgesamt betrachtet stellen implantierbare Hörgeräte damit eine hervorragende Ergänzung und Erweiterung der konventionellen Hörgeräteversorgung dar. Literatur [1] [2]
à Wengen DF (2004) [Implantable middle ear hearing aids] Ther Umsch. 61(1): 47– 52 Backous DD, Duke W (2006) Implantable middle ear hearing devices: current state
[6] [7]
[8]
[9]
[10]
[11]
[12]
[13]
[14]
of technology and market challenges. Curr Opin Otolaryngol Head Neck Surg 14(5): 314 – 318 Ball GR, Huber A (1997) Scanning laser doppler vibrometry of the middle ear ossicles. J Ear Nose Throat 76(4): 213 – 222 Böheim K, Nahler M, Schlögel M (2007) Rehabilitation der Hochtoninnenohrschwerhörigkeit. HNO 55(9): 690 – 695 Dazert S, Shehata-Dieler WE, Dieler R, Helms J (2000) Das Mittelohrimplantat „Vibrant Soundbridge“ zur Hörrehabilitation bei sensorischer Schwerhörigkeit: Klinik, Indikation und erste Ergebnisse. Laryngo-Rhino-Otology 79(8): 459 – 464 Dumon T (2007) Vibrant soundbridge middle ear implant in otosclerosis: technique – indication. Adv Otorhinolaryngol 65: 320 – 322 Fraysse B, Lavieille JP, Schmerber S, Enée V, Truy E, Vincent C, Vaneecloo FM, Sterkers OA (2001) Multicentric experience and clinical results with the Vibrant Soundbridge middle ear implant. Otol Neurotol 22(11): 952 – 961 Hough JV, Dyer RK Jr, Matthews P, Wood MW (2001) Semi-implantable electromagnetic middle ear hearing device for moderate to severe sensorineural hearing loss. Otolaryngol Clin North Am. 34(2): 401– 416 Jiang D, Bibas A, O’Conner AF (2004) Minimally invasive approach and fixation of cochlear and middle ear implants. Clin Otolaryngology Allied Science 29(6): 618 – 620 Junker R, Gross M, Todt I, Ernst A (2002) Functional Gain of already implanted hearing devices in patients with sensorineural hearing loss of varied origin and extent: Berlin experience. Otol Neurotol 23(4): 452 – 456 Lenarz T, Weber BP, Issing PR, Gnadeberg D, Amnjornsen K, Mack KF, Winter M (2001) Vibrant Soundbridge System: Ein neuartiges Hörimplantat für Innenohrschwerhörigkeit. Teil 2: Audiologische Ergebnisse. Laryngorhinootologie 80(7): 370 – 380 Mosnier I, Sterkers O, Bouccara D (2008) Benefit of the Vibrant Soundbridge device in patients implanted for 5 to 8 Years. Ear & Hearing 29: 281– 284 Needham AJ, Jiang D, Bibas A, Jeronimidis G, Fitzgerald O’Conner A (2005) The effects of mass loading the ossicles with a floating mass transducer on middle ear transfer function. Otol Neurotol 26(2): 218 – 224 Saliba I, Calmels M, Wanna G, Iversenc G, James Ch, Deguine O, Fraysse B (2005) Binaurality in middle ear implant recipients using contralateral digital hearing aids. Otol Neurotol 26(4): 680 – 685
Rehabilitation der Schallempfindungsschwerhörigkeit mit dem teilimplantierbaren Hörsystem MedEL Vibrant® [15] Snik AF, Cremers C (2004) Audiometric evaluation of an attempt to optimize the fixation of the transducer of a middle ear implant to the ossicular chain with bone cement Clin Otolaryngol 29(1): 5 – 9 [16] Thill MP, Gérard JM, Garin P, Offeciers E (2002) Belgian experience with the Vibrant Soundbridge prosthesis. Acta Otorhinolaryngol Belg 56(4): 375 – 378 [17] Tjellstrom A, Luetje CM, Hough V, Arthur B, Hertzmann P, Katz B, Wallace P (1997) Acute
67
human trial of the Floating Mass Transducer. J Ear Nose Throat 76(4): 204 – 206 [18] Todt I, Seidl RO, Mutze S, Ernst A (2004) MRI scanning and incus fixation in Vibrant Soundbridge implantation. Otol Neurotology 25(6): 969 – 972 [19] Zenner HP (1998) Elektronische Hörimplantate zur operativen Behandlung. Deutsches Ärzteblatt (4)
Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate T. Steffens
Einleitung Aktive Mittelohrimplantate, also teil- oder vollimplantierbare Hörgeräte (HG), stellen eine technische Alternative zu konventionellen, nichtimplantierbaren HG dar. In Anbetracht des invasiven, teilweise destruktiven Vorgehens bei der Implantation stellt sich die Frage, ob die Qualität dieser Art von Hörgeräteversorgung den hohen Aufwand und die mit der OP verbundenen Risiken und Nebenwirkungen rechtfertigt, wenn nicht zwingende medizinische Gründe, wie Missbildungen des Außenohres vorliegen, die eine Versorgung mit klassischen Hörgeräten unmöglich macht. Es ist besonders zu betonen, dass eine ausgeprägte Unzufriedenheit mit einer konventionellen Hörgeräteversorgung alleine kein zwingender Grund für die Implantation von Hörgeräten darstellen kann, da sich die Verstärkungsverfahren der implantierbaren und klassischen HG identisch sind und die Hörprobleme in der Regel auf die mit Verstärkung nicht korrigierbaren Defizite der Schallverarbeitung im Innenohr, z. B. des Frequenz- und Zeitauflösungsvermögens, oder auf neuronale Degenerationen im Ganglion spirale zurückführen lassen. Diese Begleiterscheinungen einer sensorineuralen Hörstörung, die zum Verlust von auditiver Differenzierfähigkeit führen, lassen sich mit keiner derzeit vorhandenen Hörgerätetechnologie beseitigen, sodass es nicht verwundert, dass dieselben Probleme auch mit implantierbaren HG weiterbestehen. Dieser Beitrag beschreibt aus Sicht der aktuellen Studienlage audiologische, medizinische und technologische Kriterien, die gegen den
Einsatz von teil- und vollimplantierbaren HG und für die Bevorzugung von nichtimplantierbaren klassischen HG sprechen.
Audiologische Kriterien gegen den Einsatz implantierbarer Hörgeräte Jede Hörgerätetechnologie muss sich an ihren audiologischen Ergebnissen messen lassen. Aus der Datenlage der aktuellen Studien lassen sich folgende audiologische Kriterien ableiten, die relevante Nachteile der Anwendung implantierbarer HG gegenüber klassischen, nichtimplantierbaren HG darstellen. Unilaterale Hörgeräteversorgung Ein gewichtiges audiologisches Gegenargument ergibt sich aus der üblicherweise nur unilateralen Anwendung implantierbarer HG. Damit ist unweigerlich der Verzicht auf den binauralen Hörgewinn, eine Einschränkung des Richtungshörens und die Gefahr einer Deprivation der unversorgten Seite verbunden. Sowohl in Ruhe, als auch vor allem in der alltäglichen Hörsituation im Störgeräusch führt eine nur unilaterale HG-Versorgung zu einer relevanten Einschränkung des Sprachverstehens gegenüber der bilateralen Hörgeräteversorgung. In Tabelle 1 sind typische Verbesserungen des Sprachverstehens von Worten in ganzen Sätzen (gemessen auf der Basis von Satztestverfahren) durch effektive Verbesserung des Signal-Rausch-Verhältnisses (SNR) bei bilateraler HG-Versorgung aufgeführt[7]. Auch wenn sich
70
Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate
Im Störgeräusch
Verbesserung SNR
Verbesserung Sprachverstehen
Kopfschatten-Effekt
6 –12 dB
40 – 80 %
Binaurale Störgeräuschunterdrückung 1– 2 dB
10 – 30 %
Binaurale Redundanz
1 dB
10 –15 %
In Ruhe
Verbesserung SNR
Verbesserung Sprachverstehen
Binaurale Summation
1– 3 dB
10 – 45 %
Tabelle 1 Verbesserung des Sprachverstehens im Störgeräusch und in Ruhe von Wörtern in Sätzen bei bilateraler gegenüber unilateraler Hörgeräteversorgung durch den physikalischen Kopfschatten-Effekt und neurophysiologische Effekte zur Verbesserung des effektiven Signal-Rausch-Verhältnisses (SNR).
nicht in jeder realen Hörsituation die Hörgewinne aller Teileffekte einfach addieren lassen, zeigt sich doch, welch großer Nachteil eine nur unilaterale HG-Versorgung im Vergleich zur bilateralen Versorgung darstellt. Nicht selten kann in den alltäglichen störgeräuschbehafteten Kommunikationssituationen mit einer bilateralen HG-Versorgung ein doppelt so gutes Sprachverstehen erzielt werden, wie mit einer unilateralen Versorgung. Bei mittel- bis hochgradigen Hörstörungen führt eine unilaterale Hörgeräteversorgung zu einer starken Beeinträchtigung des Lokalisationsvermögens gegenüber einer bilateralen Versorgung, insbesondere wenn im Tieftonbereich unterhalb von 1500 Hz ein Hörverlust von mehr als 20 – 30 dB vorhanden ist[3]. Sehr kritisch muss eine nur unilaterale Versorgung im Hinblick auf eine mögliche auditorische Deprivation des unversorgten Ohres gesehen werden[12], die schon nach einem halben bis einem Jahr zu einer relevanten Verringerung des Sprachverstehens auf der unversorgten Seite führen kann. Nicht in jedem Fall kann eine späte Nachversorgung des deprivierten Ohres die erlittene Reduktion des Sprachverstehens beheben[10], [1].
Unzureichende Studienevidenz Eine evidenzbasierte Bewertung der Hörtestergebnisse mit dem teilimplantierbaren HG Symphonics „Soundbridge“ von Med-El und den vollimplantierbaren HG „Carina“ von Otologics und „Esteem“ von Envoy ist nahezu unmöglich, da, wahrscheinlich aufgrund der Invasivität der Operation, bisher keine randomisierten Patientengruppen vorliegen. Leider liegt es in der Natur der Sache, dass bei dieser invasiven Behandlungsmethode eine Randomisierung der Patienten in eine Implantations- und eine Vergleichsgruppe mit konventioneller HG-Versorgung nur schwer durchgeführt werden kann. Auch sind die Fallzahlen bei der großen Streuung der Sprachtestergebnisse in der Regel viel zu klein, um eine im Sinne der Evidenz relevante Aussage treffen zu können. Vergleich mit veralteter Hörgerätetechnik Die eigenen Hörgeräte der Patienten weisen in der überwiegenden Mehrheit der publizierten Studien eine veraltete Technik auf. Ergebnisse der Fragebögen zur präoperativen HG-Versorgung zeigen durchgehend, dass präoperativ vor allem Probleme mit der Lautstärkeeinstellung und verschlossenem Gehörgang, mit dem hören leiser Schallquellen und
Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate
mit Rückkopplungs-Pfeiffen benannt wurden (exemplarisch in der FDA-Zulassungsstudie des „Carina“-Systems, [9]). Diese Probleme sind eindeutige Indizien für eine analoge, lineare Verstärkertechnologie, die spätestens seit Mitte der 90er Jahre in Deutschland als veraltet gilt, und können allesamt mit aktuellen konventionellen Hörgeräten vollständig gelöst werden. Da bei der Bewertung implantierbarer HG wesentliche Aussagen über Hörvorteile nicht aus objektiven audiologischen Messungen des Sprachverstehens, sondern aus subjektiven Fragebögeninventaren gewonnen werden, ist die Referenzsituation mit veralteter Verstärkertechnologie sehr kritisch zu betrachten. Es liegt auf der Hand, dass bei einem solchen Vergleich jedes mit moderner nichtlinearer Verstärkertechnik ausgestattete neues HG in der subjektiven Patientenbeurteilung besser abschneidet, als eine veraltete Technologie, die ja solche Probleme verursachte, dass sich ein Patient einer Ohroperation mit all ihren Risiken und Nebenwirkungen unterziehen ließ. In Anbetracht der im Normalfall vom Patienten selbst zu zahlenden extrem hohen Versorgungskosten pro Ohr von ca. 17.000 € (Symphonics „Soundbridge“) bis zu 25.000 € (Envoy „Esteem“) ist zu fordern, dass für einen beweiskräftigen objektiven Vergleich nur high-end Hörgeräte der klassischen HdOoder IdO-Bauart als Referenzgeräte verwendet werden, deren Zuzahlung im Bereich von „nur“ 2.500 – 3.000 € liegt. Dies wurde bisher jedoch nur in einer Studie[15] ansatzweise insofern berücksichtigt, dass zumindest aktuelle HG der oberen, wenn auch nicht höchsten Leistungsklasse in einen Vergleich des Sprachverstehens in Ruhe einbezogen wurden. Es konnten jedoch keine Vergleichsdaten mit denselben Patienten gewonnen werden, sondern eine Patientengruppe mit „Symphonics Soundbridge“ und eine andere mit Otologics „Carina“ wurden einer Vergleichsgruppe mit konventioneller gehobener HG-Technik gegenüber gestellt. Das Sprachverstehen mit diesen guten konventionellen HG war gegenüber beiden implantierbaren
71
Systemen signifikant besser! Ein Vergleich mit modernen Hochleistungs-HG wurde bisher nur in einer zweiten Studie publiziert. Truy et al.[14] führen zwar vor der Implantation einer „Symphonics Soundbridge“ eine dreimonatige Versorgung mit einem modernen HG der oberen Leistungsklasse durch, konnten jedoch nur sechs Patienten untersuchen und insgesamt keine relevante Überlegenheit der „Soundbridge“ nachweisen (siehe auch den folgenden Teil). Kein akustischer Vorteil gegenüber guten, modernen, konventionellen Hörgeräten Die mäßige Verstärkungsleistung derzeitiger implantierbarer HG beschränkt den Einsatz auf gering- bis mittelgradige sensorineuraler Hörstörungen. Bei einer Progredienz besteht die Gefahr, dass keine Verstärkungsreserven mehr zur Verfügung stehen. Schallleitungsstörungen von >40 dB sind (bei der üblichen Ankoppelung an die Gehörknöchelchenkette) nur schwer zu versorgen. Besonders problematisch gestaltet sich in dieser Hinsicht der Einsatz des vollimplantierbaren Systems „Esteem“ von Envoy, weil zu seiner Applikation die Gehörknöchelchenkette irreversibel unterbrochen werden muss um Rückkopplungen zu vermeiden, und dadurch die Luftleitungsschwelle um 40 – 50 dB verschlechtert wird. Bisher wurden zu diesem System nur zwei Studien publiziert (Chen et al. 2004, Barbara et al. 2008). Die darin erreichten Verstärkungen (Abb. 1) müssen bei den präoperativen Hörschwellen von 60 – 90 dBHL jedoch als völlig unzureichend angesehen werden, da das Langzeit-Sprachspektrum normallauter Sprache nicht ausreichend hörbar gemacht werden konnte. Der vielzitierte Vorteil implantierbarer HG im Sprachverstehen resultiert in erster Linie auf dem Vergleich mit veralteter konventioneller Hörgerätetechnologie. Dementsprechend ernüchternd fällt aufgrund der mangelhaften Verstärkungswirkung der Vergleich des Sprachverstehens mit aktuellen, guten konven-
72
Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate
Abb. 1 Postoperative in-situ-Verstärkung des vollimplantierbaren HG „Esteem“ von Envoy. Die blauen Kurven zeigen die Daten von Chen et al.[4] zum Zeitpunkt 4 Monate (gestrichelt) und 10 Monate nach OP (durchgezogen). Durch eine postoperative Hörschwellenverschlechterung reduzierte sich die in situ-Verstärkung um ca. 10 dB. Barbara et al. (rote Kurve) bestimmten die in situ-Verstärkung 12 Monate nach OP. Trotz pantonalem Hörverlust fällt der mitten-betonte Verlauf der in situ-Verstärkung auf. Negative Verstärkungen bedeuten eine schlechtere Hörschwelle mit als ohne HG.
tionellen HG aus[15], [14]. Verhaegen et al. zeigten auf, dass lediglich nur 41 % der Patienten mit einer Soundbridge bei einem mittleren Hörverlust bis 70 dB ein Sprachverstehen in Ruhe erzielten, dass in der Größenordnung liegt, das 95 % der Patienten mit einem modernen, guten digitalen HG bei gleichem Hörverlust erzielten; bei Patienten mit dem Middle Ear Transducer (MET) von Otologics betrug diese Quote 50 %. In der Untersuchung von Truy et al.[14] zeigte nur ein Patient („SG“) mit der „Soundbridge“ beim Sprachverstehen in Ruhe eine signifikante Verbesserung gegenüber dem klassischen HG bei allen drei getesteten Sprachpegeln. Im Störgeräusch wurde dies von keinem Patienten erreicht. Nur zwei Patienten („BLF“, „TM“) konnten bei einem von fünf getesteten Signal-Rausch-Verhältnissen (– 6 dB) ein um ca. 20 %-Punkte besseres Sprachverstehen gegenüber dem klassischen HG erzielen, das bei dem verwendeten
Sprachtest mit Phonemzählung als signifikat unterschiedlich gewertet werden kann[13]. Aufgrund der sehr kleinen Fallzahl (n = 6) reichen die wenigen Verbesserungen der Einzelfälle zwar aus, um im Gruppenunterschied bei zwei von acht Subtests einen rechnerisch signifikanten Vorteil des teilimplantierbaren Systems aufzuzeigen, dem jedoch keine tatsächliche Evidenz oder klinische Relevanz zugeschrieben werden kann. Für die vollimplantierbaren Systeme „Carina“ und „Esteem“ konnten bisher keine Verbesserungen des Sprachverstehens gegenüber klassischen HG nachgewiesen werden. Im Gegenteil, das Sprachverstehen mit beiden vollimplantierbaren Systemen war signifikant schlechter als mit den präoperativen klassischen HG: „Carina“ präop. 81 %, postop. 68 %[9], „Esteem“ präop. 75 %, postop. 28 %[4]. Bisher wurde ein Langzeit-Vergleich mit der Symphonics Soundbridge publiziert[11], der
Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate
73
Abb. 2 In situ-Frequenzgang der vollimplantierbaren Hörgeräte Otologics „Carina“ und Envoy „Esteem“.
eine Aussage darüber ermöglicht, wie sich das Sprachverstehen und die subjektive Beurteilung der Versorgungsqualität einige Jahre nach Implantation entwickelt hat. Im Sprachverstehen zeigte sich nach 3 ½ Jahren Nutzung der Soundbridge ein signifikant schlechteres Ergebnis in Ruhe und kein Unterschied im Störgeräusch im Vergleich zur präoperativen HG-Versorgung. Die strukturierte Befragung mit dem International Outcome Inventory for Hearing Aids (IOIHA)[5], [6] ergab lediglich in der Kategorie „Impact on Others“ einen leichten Vorteil für die „Soundbridge“. In der Kategorie „Quality of Life“ wurden hingegen die eigenen konventionellen HG besser beurteilt. Das immer wieder vorgebrachte Argument einer besseren Hochtonverstärkung bei implantierbaren Hörgeräten lässt sich sowohl in Anbetracht der Breitbandigkeit moderner high-end HG klassischer Bauart mit Frequenzobergrenzen von bis zu 8 kHz, als auch nach der publizierten Studienlage nicht nachvollziehen. In Abb. 2 sind die bisher publizierten in situ-Verstärkungsfrequenzgänge der vollim-
plantierbaren Systeme „Carina“ und „Esteem“ dargestellt. Deutlich ist die, für die zugrunde liegenden mittel- bis hochgradigen, pantonalen sensorineuralen Hörverluste mangelhafte Verstärkung insbesondere im Tiefton- und im Hochtonbereich erkennbar. Besonders hervorzuheben ist ebenfalls die Tatsache, dass seit mehreren Jahren durch die Möglichkeit der offenen Versorgung mit konventionellen HG für alle Patienten mit Hörverlusten im Indikationsbereich implantierbarer HG (gering- bis mittelgradiger Hörverlust) kein Verschluss des Gehörganges mit einer schalldichten Otoplastik mehr erforderlich ist, was als weiteres gewichtiges Argument gegen den Einsatz implantierbarer HG hervorgehoben werden kann. Die technischen Möglichkeiten zur Störgeräuschreduktion sind bei den klassischen Hörgeräten sehr viel weiter entwickelt, als bei den implantierbaren Geräten. Vor allem die sehr wirksamen Richtmikrofone sind bei den vollimplantierbaren Systemen „Carina“ und „Esteem“ überhaupt nicht realisiert. Hier kann lediglich der Audioprozessor der
74
Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate
„Soundbridge“ eine Störgeräuschreduktion realisieren, die allerdings aufgrund der zulassungsbedingten Festlegung auf einen Hörgeräte-Chip heute nicht mehr dem maximal Möglichen entspricht.
Medizinische und technologische Kriterien gegen den Einsatz implantierbarer Hörgeräte Der große operative Aufwand und die damit verbundenen Risiken und Nebenwirkungen stehen insbesondere durch das Fehlen signifikanter und relevanter audiologischer Vorteile in keinem Verhältnis zur HG-Versorgung mit klassischen Hörgeräten. Die notwendige Unterbrechung der Gehörknöchelchen-Kette und die operative Zerstörung der Chorda tympani bei der Applikation des Envoy „Esteem“ Systems sind bei den ungenügenden Verstärkungseigenschaften dieses Systems nicht akzeptabel. Für alle implantierbaren Systeme gilt eine sehr eingeschränkte oder nicht vorhandene MR-Kompatibilität, die bei der stetig wachsenden Bedeutung der MR-Tomografie einen besonderen Nachteil darstellt. Begrenzte Akku- und Batterielebenszeit, verbunden mit einem notwendigen operativen Austausch und die nur sehr eingeschränkte Teilhabe am technischen Fortschritt durch die dauerhafte Festlegung auf nur einen Hersteller müssen bei den vielfältigen, guten oder überlegenen technischen Alternativen mit konventionellen Hörgeräten als eindeutige Argumente gegen den Einsatz implantierbarer Systeme gewertet werden. Die extremen Versorgungsund Folgekosten bei nur einohriger Versorgung mit implantierbaren Hörgeräten betragen bis zum 10-fachen der Kosten einer beidohrigen Versogung mit klassischen high-end Hörgeräten. Die niedrigsten Versorgungskosten in Höhe von ca. 17.000 € pro Ohr bestehen bei der Versorgung mit der Symphonics „Soundbridge“. Die höchsten Kosten erfordert derzeit die Implantation des Envoy „Esteem“ Systems
mit ca. 25.000 € pro Ohr und den Folgekosten des Batterie/Elektronik-Wechsels alle ca. 5 Jahre in Höhe von ca. 7.000 € pro Wechsel. Bei einer Versorgungsdauer von 30 Jahren mit einem Batterie/Elektronik-Austausch alle 5 Jahre betragen die Kosten für eine beidohrige Versorgung mit dem Envoy „Esteem“ stolze 120.000 € (2 u 25.000 € + 5 u 2 u 7.000 €)! Mit den besten klassischen high-end Hörgeräten betragen die Versorgungskosten bei beidohriger Versorgung im gleichen Zeitraum mit einem Hörgeräteaustausch alle 5 Jahre nach heutiger Kalkulationsgrundlage ca. 36.000 € (6 u 2 u 3.000 €). Keiner der drei derzeit auf dem deutschen Markt tätigen Hersteller implantierbarer HG kann sein wirtschaftliches Überleben und den langfristigen Fortbestand der Implantatstechnologien in dem Maße garantieren, wie es von den Herstellern klassischer Hörgeräte erwartet werden kann. In Fachkreisen bestehen im Gegenteil große Zweifel an der langfristigen Beständigkeit der Produkte und Firmen. Für die vollimplantierbaren Systeme „Carina“ und „Esteem“ werden Ausfallraten von über 50 % berichtet[8], [4]. Mit implantierten HG bindet sich der Patient an einen Hersteller, dessen Produktqualität und an dessen, aufgrund der geringen Absatzzahlen nur beschränktes Innovationspotential.
Fazit Die bisherigen implantierbaren Hörgeräte bieten keine relevanten nachweisbaren Hörvorteile gegenüber guten klassischen Hörgeräten, insbesondere keine bessere Hochtonverstärkung; auch klassische Hörgeräte können seit Jahren mit vollständig offenem Gehörgang angepasst werden. Das Sprachverstehen in Ruhe oder im Störgeräusch ist gegenüber guten klassischen Hörgeräten in den meisten Fällen schlechter. Die üblicherweise nur einseitige Applikation implantierbarer Systeme führt im Vergleich mit der standardmäßigen beidohrigen Versorgung
Kriterien gegen den Einsatz aktiver Mittelohrimplantate
mit klassischen Hörgeräten definitiv zu zusätzlichen Nachteilen in schwierigen Hörsituationen, weil die Hörvorteile des binauralen Hörens nicht ausgenutzt werden können. Auf diesen Umstand müssen Patienten besonders aufmerksam gemacht werden. Dazu ist vor der Implantation über einen ausreichenden Zeitraum die einohrige Versorgung mit konventionellen Hörgeräten mit dem Patienten zu exerzieren. Die Operationsrisiken und extrem hohen Versorgungskosten stehen in keinem Verhältnis zum akustischen Nutzen. Es bestehen große Zweifel an der langfristigen Beständigkeit der implantierbaren Systeme und der Herstellerfirmen.
Literatur [1] [2]
[3] [4]
[5]
Arlinger S (2003) Negative consequences of uncorrected hearing loss – a review. Int J Audiology 42: 6, 17– 20 Barbara M, Manni V, Monini S (2008) Totally implantable middle ear device for rehabilitation of sensorineural hearing loss: preliminary experience with the Esteem®, Envoy, Acta Oto-Laryngologica, Dec 31: 1– 4. [Epub ahead of print], DOI: 10.1080/0001 6480802593505 Byrne D, Nobel W (1998) Optimizing sound localization with hearing aids. Trends in Amplification 3(2): 51–73 Chen DA, Backous DD, Arriaga MA, Garvin R, Kobylek D, Littman T, Walgren S, Lura D (2004) Phase 1 clinical trial results of the Envoy System: a totally implantable middle ear device for sensorineural hearing loss. Otolaryngol Head Neck Surg. 131(6): 904 – 916 Cox RM, Alexander GC (2001) The International Outcome Inventory for Hearing Aids (IOI-HA): psychometric properties of the English version. Int J Audiol. 41(1): 30 – 35
75
[6] Cox RM, Stephens D, Kramer SE (2002) Translations of the International Outcome Inventory for Hearing Aids (IOI-HA). Int J Audiol 1: 3 – 26 [7] Dillon H (2001) Hearing aids. Thieme Verlag, Stuttgart [8] Jenkins HA, Atkins JS, Horlbeck D, Hoffer ME, Balough B, Arigo JV, Alexiades G, Gravis W (2007) U. S. Phase I preliminary results of use of the Otologics MET Fully-Implantable Ossicular Stimulator. Otolaryngology – Head and Neck Surgery 137: 206 – 212 [9] Jenkins HA, Atkins JS, Horlbeck D, Hoffer ME, Balough B, Alexiades G, Gravis W (2008) Otologics Fully Implantable Hearing System: Phase I Trial 1-Year Results. Otol Neurotol 29: 534 – 541 [10] Neumann AC (1996) Late-onset auditory deprivation: A review of past research and an assessment of futur research needs. Ear Hear, 17 (3 Suppl): 3S –13S [11] Schmutziger N, Schimmann F, à Wengen D, Patscheke J, Probst R (2006) Long-Term Assessment after Implantation of the Vibrant Soundbridge Device. Otol Neurotol 27: 183 –188 [12] Silman S, Silverman C, Emmer M, Gelfand S (1993) Effects of prolonged lack of amplification on speech-recognition performance: preliminary findings. J Rehabil Res Dev 30(3): 326 – 332 [13] Thornton AR, Raffin MJM (1978) Speechdiscrimination scores modeled as a binomial variable. J Speech Hearing Res 21: 507– 518 [14] Truy E, Philibert B, Vesson JF, Labasi S, Collet L (2008) Vibrant Soundbridge Versus Conventional Hearing Aid in Sensorineural HighFrequency Hearing Loss: A Prospective Study. Otol Neurotol 29: 684 – 687 [15] Verhaegen VJO, Mylanus EAM, Cremers CWRJ, Snik AFM (2008) Audiological Application Criteria for Implantable Hearing Aid Devices: A Clinical Experience at the Nijmegen ORL Clinic. Larygoscope 118: 1645 – 1649
Gleichgewichtssystem
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen H. Scherer
Einleitung Das Innenohr ist, wie wir alle wissen, im härtesten Knochen der Körpers eingebettet. Wenn auch die bildgebende Diagnostik immer besser wird und die Forschung auf zellulärer Ebene immer tiefer in die Geheimnisse der Natur eindringt, so sind wir doch noch weit davon entfernt, bei akuten oder anfallsartig auftretenden Erkrankungen dem Patienten einen klaren Hinweis auf die Genese seiner Erkrankung zu geben. Entsprechend vielfältig, skurril und wohl z. T. auch falsch sind die von HNO-Ärzten und anderen Vertretern der im Kopf tätigen Fächern untereinander und dem Patienten gegenüber vertretenen Theorien. Ein klassisches Beispiel ist der Hörsturz. Hier wird von Durchblutungsstörungen gesprochen oder von Virusinfekten, nur selten gibt es aber einen klaren Beweis. A. von Tröltsch hat das Dilemma in seinem Lehrbuch der Ohrenheilkunde (1881) in unnachahmlicher Weise beschrieben: „Die nervöse Taubheit (heutiger Begriff: Hörsturz) ist dasjehnige Leiden, bei der der Kranke nichts hört und der Arzt nichts sieht“ Im Folgenden will ich auf Untersuchungsmethoden eingehen, markante Erkrankungen des Gleichgewichtsorgans anführen und unser Unwissen deutlich machen. Der in diesem Gebiet tätige Arzt soll angeregt werden, Patienten gegenüber mehr begriffliche Vorsicht walten zu lassen und bes. in Gutachten keine
unbewiesenen Behauptungen aufzustellen. Vielleicht wird mancher junge Kollege angeregt, auf diesem Gebiet zu forschen, um die weißen Flecken auf der Landkarte des Innenohres mit Wissen zu füllen.
Vestibuläre Untersuchungsmethoden Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist bekannt, dass die bogenförmigen Kanäle des Labyrinths Teile eines Organs für die Statik sind. Der Gleichgewichtssinn als 6. Sinn war gefunden. Während schon früh mit der thermischen Prüfung eine seitengetrennte Reizung des horizontalen Bogengangs möglich war (tatsächlich wird viel mehr gereizt), gelang es erst vor kurzem, auch die Otolithenorgane seitengetrennt zu stimulieren[1– 3] Parallel dazu wurden Videotechniken zur präzisen Messung von Augenbewegungen in allen drei Ebenen (horizontal, vertikal und torsional) entwickelt und zusätzlich zu der mehr laborgebundenen magnetischen Technik mit Haftschalen (Search Coils) in die klinische Routine eingeführt[4 – 9]. Es wurde eine Screeninguntersuchung entwickelt, mit der die einzelnen Bogengangssensoren untersucht werden können (Head Impuls Test, HIT)[10] . Damit sind die wichtigsten Lücken in der Diagnostik geschlossen. Zu den vorhandenen Methoden wie der unilateralen thermischen und der bilateralen rotatorischen Prüfung gesellten sich
80
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
Abb. 1 Links: Zentrische Drehung zur bilateralen Stimulation der Utrikuli. Rechts: Exzentrische Drehung zur unilateralen Stimulation des rechten Utrikulus. Der Stuhl wird dazu während der Rotation um 3.5 cm nach rechts verschoben. Der linke Utrikulus ist im Zentrum der Rotation. Auf ihm lastet keine Zentrifugalkraft. Der rechte ist um 7 cm exzentrisch. Auf ihm lastet eine Zentrifugalkraft (FR), die mit der gleichzeitig bestehenden Schwerkraft (FG) verrechnet wird zur effektiven Kraft (Feff). Es tritt eine Augentorsion auf, die zu einer Abweichung der subjektiv empfundenen Vertikalen führt.
s DIE unilaterale akustische Stimulation der Macula sacculi (Sakkulus) und die Ableitung der über die vestibulo-zervikale Bahn geleiteten Potentiale als Summenaktionspotentiale über dem M. sternocleidomastoideus (Vestibular Evoked Myogenic Potentials: VEMP)[11], [12]. s DIE unilaterale Stimulation der Macula utriculi (Utrikulus) mit der minimal exzentrischen Rotation (Abb. 1). Die dabei auftretende Augentorsion wird entweder mit Videotechnik oder Search Coils gemessen oder, einfacher, die Abweichung der subjektiven visuellen Vertikalen (SVV) bestimmt (Abb. 2)[1], [2], [13], [14], [14 –17]. Dazu gibt es die etwas ungenauere, dafür aber ohne Aufwand ausführbare Technik der Positionsänderung im Verlauf einer
Abb. 2 Drehbare Leuchtlinie zur Bestimmung der subjektiven Vertikalen. Die Position der Leuchtlinie wird vom Untersuchten während der Drehung mit einem Potentiometer gesteuert.
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
81
Abb. 3 Kalorischer Wendetest (aus Duwel P et al., 2005) Dabei wird in Rückenlage der Gehörgang gespült und nach 40 Sekunden die untersuchte Person von der Rückenlage in die Bauchlage gedreht. Bei intaktem Utrikulus dreht sich dabei der Nystagmus um (Pfeile). Bleibt die Umkehr des Nystagmus aus, dann ist dies ein Zeichen für einen Schaden des Utrikulus. Der Test ist nur durchführbar, wenn sich kalorisch ein Nystagmus auslösen lässt.
thermischen Prüfung, die von Duwel und Westhofen eingeführt wurde (Abb. 3)[18]. Diese Prüfung ist aber nur dann aussagekräftig, wenn bei der thermischen Prüfung ein kräftiger Nystagmus abgeleitet wird, denn es wird die Richtungsänderung dieses Nystagmus gemessen. Diese Technik eignet sich. damit z. B. nicht für die Fragestellung, ob es bei einem akuten Ausfall der Gleichgewichtsfunktion nur um einen Schaden im Bereich der Bogengänge handelt, oder ob der Utrikulus mitbeteiligt ist. Wie wir später sehen werden hat diese Aussage bedeutendes Gewicht für die Rehabilitation.
s ZWEI BILATERALE 3TIMULATIONSMETHODEN DER Otolithenorgane sind bekannt, zum einen die zentrische Rotation (Abb. 1 links). Dabei wird auf einem Drehstuhl rotiert. Auf den Otolithenorganen, i. W. dem Utrikulus lastet eine jeweils nach außen gerichtete Zentrifugalkraft. Beim Gesunden heben sich die Wirkungen auf, da sie entgegengesetzt gerichtet sind. Besteht aber eine Funktionsdifferenz zwischen rechter und linker Seite, dann tritt eine Augentorsion auf, die wieder, wie oben beschrieben, gemessen werden kann. Wir benützen dazu die subjektive visuelle Vertikale (SVV). (siehe Abb. 2) Weiterhin kann man auf einem Kipptisch bilateral stimulieren[2]
82
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen Abb. 4 a) Kipptisch zur bilateralen Untersuchung der Utrikulusfunktion b) Augentorsion gemessen mit einer 3-D Videoanlage beim Gesunden. Diese Untersuchung kann nur zu Beginn einer Erkrankung eine Aussage machen über die Funktion eines der beiden Utrikulus-Organe. Später verwischen kompensatorische Vorgänge das Bild und es kann ein seitengleicher Befund auftreten, obwohl eines der beiden Organe noch geschädigt ist.
a)
b)
(Abb. 4). Bei stufenweisem Kippen zur Seite tritt ebenfalls eine Augentorsion auf, die gemessen werden kann. Beide bilateralen Methoden sind nur in der Anfangszeit eines vestibulären Schadens geeignet, eine Beteiligung der Otolithenorgane aufzuzeigen, denn die Kompensation verwischt wie bei dem Drehstuhltest der Bogengänge die Seitendifferenz. Man kann damit also gut die Kompensation verfolgen.
Betrachtung klinischer Probleme des Innenohres Wir haben damit seit Jahren eine Batterie von Untersuchungsmethoden zur unilateralen Reizung aller Anteile des Gleichgewichtsorgans und einige Methoden zur bilateralen Reizung.
Aber: immer noch gibt es wissenschaftliche Arbeiten, die die Funktion aller Sensoren nicht beachten oder aus bilateralen Tests Schlüsse ziehen auf unilaterale Krankheitsverläufe– und die damit z. T. wertlos sind z. B. Neurology 2008, 449 – 53[19]. In dieser Arbeit wird festgestellt, dass sich Schäden im Bereich des Utikulus schneller erholen als Schäden im Bereich der Bogengänge. Gemessen wurde die Funktion der Utrikuli aber mit einer bilateralen Kippung, die keine Aussage über die tatsächliche Leistung der Einzelorgane zulässt. Unsere Erfahrungen bei unilateraler Testung unterscheidet sich von dieser Aussage markant[20]. Schäden an den Otolithenorganen werden zentral kompensiert. Der Schaden selbst bleibt aber lange oder auf Dauer bestehen. Da wir das Problem bei einer akuten Funktionsstörung im Innenohr nicht direkt sehen
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
können, (Siehe Zitat Tröltsch) müssen wir Vermutungen anstellen, die mit dem Gesamtbild des Patienten in Einklang gebracht werden müssen. Es gibt zwei Standarderklärungen für den Hörsturz und den akuten Ausfall des Gleichgewichtsorgans, die Durchblutungsstörung und der Virusinfekt. Sind sie ausreichend? Nein! Eine Durchblutungsstörung liegt wahrscheinlich vor bei älteren Patienten mit entsprechenden Risikofaktoren wie Diabetes, starkem Rauchen usw. In einer Arbeit von Rambold et al aus dem Jahr 2005[21] wird festgestellt: In > 30 % bestand zusätzlich zu einem Hörsturz eine Parese des posterioren Bogengangs. Dies entspricht dem Versorgungsgebiet der A. cochlearis. In dieser Gruppe waren mehr ältere Patienten und solche mit vaskulären Risikofaktoren. Bei einer Patientengruppe mit vaskulären Risikofaktoren kann man also die Vermutungs-Diagnose Durchblutungsstörung stellen und entsprechend behandeln. Einen jungen Menschen ohne solche Faktoren mit durchblutungsfördernden Medikamenten zu behandeln ist zwecklos! Analog zur idiopathischen Fazialisparese, die wohl begründet auf eine Infektion des Ganglion geniculi mit Herpes simplex Typ 1 Viren zurückgeht (Aufhellung im MRT und Auffindung von Viruspartikeln im Ganglion) wird behauptet, dass auch der akute Ausfall Folge einer Infektion mit denselben Erregern sei. Auch im Ganglion Scarpae, dem Ganglion des bipolaren N. vestibularis hat man ähnliche Befunde gefunden. Dies führte dazu, dass insbesonders von neurologischer Seite weltweit der deskriptive Begriff eines akutes Ausfalls (engl.: sudden loss of vestibular function) ersetzt wurde durch den Begriff Neuritis vestibularis (engl. Vestibular Neuritis, VN). Diese leider präjudizierende Benennung ist unsinnig, denn es gibt viele Gründe, die eindeutig gegen eine Virusgenese des akuten Ausfalls sprechen und es gibt noch weitere Ursachen für die Erkrankung, die mit dem Begriff Neuritis nicht erfasst werden. Sie sollen im Folgenden zu Wort kommen.
83
s $ER "EGINN EINES !USFALLS DER 'LEICHGEwichtsfunktion wie auch der eines Hörsturzes ist oft schlagartig, oft aus völliger Ruhe heraus. Dabei ist meist gleich zu Beginn die volle Stärke der Erkrankung gegeben. Diese Plötzlichkeit spricht gegen eine Virusgenese, denn es ist kaum vorstellbar, dass Viren einen Schalter umlegen und plötzlich das vestibuläre Licht ausgeht. s $IE 6IRUSGENESE DES AKUTEN !USFALLS DER Gleichgewichtsfunktion fußt auf einem Befall des im inneren Gehörgang befindlichen Ganglion Scarpae. Nun kennen wir aber viele Patienten, die neben einem Gleichgewichtsausfall noch einen gleichzeitig auftretenden Hörsturz haben und umgekehrt. Bleibt man auch in einem solchen Fall bei dem Begriff Neuritis, wie dies leider meist der Fall ist, dann müssten Viren im Ganglion Scarpae und Viren im akustischen Ganglion spirale im Modiolus der Cochlea gleichzeitig die Funktion lahm legen. Dies ist wohl sehr unwahrscheinlich, denn die beiden Ganglien sind örtlich getrennt. Viren werden wohl kaum „in Absprache“ gleichzeitig Schalter umlegen. s VON 3TRUPP ET AL WURDE ;= EINE Untersuchung durchgeführt, bei der Patienten mit einem akuten Ausfall der Gleichgewichtsfunktion mit Methylprednisolon, Valacyclovir oder der Kombination aus beiden behandelt wurden. Wirksam war nur Methylprednisolon. Die Autoren erklärten die Unwirksamkeit von Vancyclovir damit, dass sich bei Beginn der Therapie die Viren bereits in den Zellen abgekapselt hätten und man blieb m. E. zu Unrecht bei der Virusgenese. Man hätte auch die Schlussfolgerung ziehen können, dass eine Viruserkrankung nicht in statistisch ausreichendem Maße vorgelegen hat. s )M )NNENOHR SIND VESTIBULËRE UND AKUSTISCHE Sinneszellen mechanisch aktiv. Sie können über einen Prestinmechanismus ihre Länge ändern[23], [24]. Die äußeren Haarzellen des Cortischen Organs verstärken die Wanderwellen, bei den vestibulären Haar-
84
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
der Funktion weder Endo- noch Perilymphe untersucht werden können, und Hörstürze wie auch akute Ausfälle des Gleichgewichtsorgans bei Tieren nicht auszulösen sind, somit Tierversuche nicht weiterhelfen, wird die Möglichkeit einer biochemischen Genese einer akuten Funktionsstörung des Innenohres weiter im Dunkeln bleiben.
Abb. 5 Kaliumkreislauf in der Kochlea aus N. Strenzke et al.[25]
zellen ist nicht klar, ob sie den Reiz verstärken durch Bildung einer Vorspannung der Cupula oder ob sie den Reiz abschwächen indem sie die Cupula (und auch die Membranen der Otolithenorgane) nach einer beschleunigungsbedingten Auslenkung fixieren und damit die Auslenkung zurückführen. Für diese Aktionen brauchen diese Zellen aber Energie. Sie erhalten die Energie über einen Kaliumkreislauf[25] (Abb. 5). Dieser Kreislauf ist die Batterie des Innenohres. Biochemische Störungen im Innenohr sind denkbar (in Analogie zu einer leeren Batterie im Auto oder in einer Uhr). Da im akuten Fall eines Ausfalls
Es gibt noch weitere Möglichkeiten, wie Schäden auftreten können: s $AS )NNENOHR MIT DEM AKUSTISCHEN 2Ezeptor in der Cochlea und den fünf vestibulären Rezeptoren im Gleichgewichtsorgan ist ein mechanisch hochkomplexes Gebilde. Störungen sollten vorkommen. Bei der Ursachensuche akuter Funktionsstörungen werden mechanische Ursachen aber selten erwähnt. Meines Erachtens zu Unrecht, denn es gibt viele Möglichkeiten, wie mechanisch die Funktion ausfallen kann. Wir müssen suchen in den Ampullen, dem Netz, in dem die Otokonien gefangen sind und in der Membrana tectoria. Diese drei Gebilde haben wohl eine gemeinsame oder ähnliche biochemische Struktur[26]. Sie bestehen aus Matrixproteinen, die in den Stützzellen der jeweiligen Organe gebildet werden (Abb. 6). Diese Proteine haben Endstellen, an denen sich
Abb. 6 Matrixprotein CUMP-1, das von uns in der Cupula gefunden wurde. SS = Signalsequenz, EX = extrazelluläre Domäne, TM = transmembranöse Domäne, Cyt = cytoplasmatischer Anhang, Stecknadeln = potentielle Ansatzpunkte für Zuckermoleküle (aus Scherer et al: Veröffentlichung in Vorbereitung)
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
85
Abb. 7 Stützzelle aus der Crista ampullaris. Sichtbar sind Vesikel, die das Matrixprotein für die Cupula enthalten. Elektonenmikroskopisches Bild Prof. Merker, Anatomisches Institut der FU Berlin
Zuckermoleküle anheften. Diese sind wiederum intensive Wasserfänger, d. h. H²O Moleküle aus der Endolymphe werden angelagert. Das Matrixprotein bildet das Gerüst und Zuckermöleküle mit anheftenden Wassermolekülen im Inneren führen dazu, dass sich die Struktur mit Wassermolekülen aufgebläht wie ein mit Helium gefülltes Luftschiff oder eine sich selbst aufblasende Luftmatratze.
Abb. 8 Transmissions-elektronenmikroskopische Aufnahme von Material aus der Cupula. Sichtbar sind Fasern (Pfeile) und mehr schaumiges Füllmaterial (Sterne). Aufnahme Prof. Merker, Anatomisches Institut der FU Berlin
Das Material für Cupula, Otolithennetz und Membrana tectoria wird fortwährend gebildet von den Stütz-Zellen (Abb. 7 + 8). Wir kennen weder die Geschwindigkeit mit der das Material gebildet wird, noch den bei fortwährendem Bau auch wieder notwendigen Resorbtionsvorgang und dessen Ort. Wir wissen, dass die Strukturen empfindlich sind gegenüber ph-Verschiebungen. Sie schrumpfen bei Absinken des ph-Wertes (Abb. 9).
Abb. 9 Cupula in artifizieller Endolymphe, links mit physiologischem Ph 7,4, rechts in derselben Lösung aber bei Ph 4,0 (verändert mit Tris-Puffer). Die Linie in den beiden Bildern markiert 0.1 mm Die beiden Bilder sind mit derselben Vergrößerung aufgenommen. Die stärkere Färbung rechts entstand durch die größere Dichte der geschrumpften Cupula.
86
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
1
2
Abb. 10 Rasterelektronenmikroskopisches Bilder des Ampullendaches eines Lachses. Sichtbar ist die Stelle, an der die Cupula angewachsen ist. Bild 2 ist eine höhere Vergrößerung von Bild 1. Aufnahmen Prof. Bachmann, Anatomisches Institut der Charité, Berlin a)
b)
Abb. 11 Oberkante der Cupula eines Lachses. Man sieht in der Cupula eine fasrige, weniger angefärbte Struktur, die nach oben zieht. b) ist eine höhere Vergrößerung von a). Man erkennt, dass die Cupula an der Seite eine weiche, schaumartige Auflage hat, die zwischen den Pfeilen fehlt. Daran ist zu erkennen, dass die Fasern aus demr Cupula weiterlaufen ins Ampullendach und die Zone zwischen den Pfeilen der Abrissstelle entspricht (Präparation und Aufnahme Prof. K. Helling[35]).
Bisher war nicht bekannt, wie die Cupula am Dach der Ampulle befestigt ist. Es ist uns gelungen, rasterelektronenmikroskopisch am Dach der Ampulle von Lachsen die Anhaftungsstelle darzustellen[27]. Auch an der Cupula selbst kann die Abrissstelle dargestellt werden (Abb. 10 + 11). Die Cupula wirkt wie eine Membran. Sie ist am Dach der Ampulle befestigt, kann aber bei Kopfdrehbeschleunigungen dem Druck der Endolymphe an ihrem seitlichen Rand und vor allem am Unterrand nachgeben, dort wo die Haare der Sinneszellen Kontakt mit der Cupula haben. Dort treten die Scherkräfte
auf, die nach Abbiegung der Stereozilien zu einer Depolarisation der Haarzellen führen. Unabdingbare Vorraussetzung für die Funktion des Sensors ist die Anheftung der Cupula am Ampullendach. Wir wissen aus Tierexperimenten an Tauben[28], [29], die wir in Nagoya/Japan und in Berlin durchgeführt haben, dass eine Loslösung der Cupula vom Dach der horizontalen Ampulle zum klinischen Bild eines Ausfalls der Gleichgewichtsfunktion führt mit entsprechendem Nystagmus, einer Fallneigung zum operierten Ohr und einer stetigen Kompensation innerhalb von wenigen
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
87
Abb. 12 Membrana tectoria™, die links ansetzt und auf den inneren und äußeren Haarzellen liegt. Sie ist rechts von den äußeren Haarzellen befestigt. (Abb. aus Bildatlas Innenohr, Duphar Pharma 1983)
Tagen. Die Tauben konnten ca. eine Woche nach Loslösung der Cupula wieder fliegen. Wurden zusätzlich aber noch Schäden an den Otolithenorganen ausgeführt, trat eine Kompensation nicht ein. Die gestörte Flugfähigkeit erholte sich nicht mehr. Bezieht man diese Experimente auf den Menschen, dann kann man feststellen, dass es zum klinischen Bild eines Ausfalls kommt, wenn die Cupula nicht mehr am Ampullendach fixiert ist. Sie verliert dann ihre Membranfunktion, es entsteht ein Leck.
Welche Faktoren können nun zu einem Abriss der Cupula führen? s :U GERINGER -ATERIALNACHSCHUB 3TÚRUNG im Bereich der Stützzellen, z. B. bei der Einwirkung von Aminoglykosiden) s %INE !NHEBUNG DES !MPULLENDACHES IM Verlauf eines Hydrops. Wir kennen Schwindelanfälle bei der Menière’schen Erkrankung. s 3CHRUMPFUNG DER #UPULA Z " BEI EINEM ph-Abfall.
Wie sieht nun die Situation beim Hörsturz aus? Gibt es auch im Corti’schen Organ mechanische Risikobereiche? Durchaus und wir finden sie an der Membrana tectoria (MT, engl.: TM. Abb. 12 + 13). Sie liegt auf den Haaren der inneren und äußeren Sinneszellen, dürfen diese aber nur gerade Abb. 13 berühren, sonst würden Ansatzstelle der Membrana tectoria™ am knöchernen Teil der Basilarmembja durch das Gewicht ran. Der weitere Verlauf der TM ist gestrichelt gezeichnet. MR = Reissner’sche der RM die Haare abMembran. (Abb. aus Bildatlas Innenohr, Duphar Pharma 1983) knicken und es käme zu
88
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
einer Dauerdepolarisation. Wie hat die Natur dies gelöst? Die Membrana tectoria entspringt am knöchernen Teil der Membrana basilaris.Wie bei der Cupula besteht sie aus azellulären Matrixproteinen, die sich mit Hilfe von Zuckermolekülen mit Wasser vollsaugen. Die MT hat somit einen Turgor, der sie in Form hält. Betrachtet man die Zone, von der sie ausgeht, dann wird klar, dass sie wie eine Luftmatratze über den Haarzellen schweben würde ohne sie zu berühren. Der Kontakt wird hergestellt durch den Zug von marginalen Fäden, die wie Zeltschnüre die MT herunterziehen und festhalten. Reißen diese Fäden oder ein Teil davon, dann hebt sich die MT an entsprechender Stelle ab und verliert den Kontakt zu den Haarzellen. Zuerst von den äußeren Haarzellen und bei größerer Abrisszone auch von den inneren. Dies bedeutet bei Abhebung von den äußeren Haarzellen eine Schallempfindungsschwerhörigkeit (in 20 dB Schritten) und bei Abhebung von den inneren Haarzellen eine Taubheit, wie wir dies beim Hörsturz und speziell bei dessen Erholung auch zu sehen bekommen. Welche Faktoren sind geeignet, die marginalen Fäden abreißen zu lassen?
Wie bei der Cupula in der Ampulle kommt auch hier eine Blockade des Baus des Matrixproteins in Frage. Hier muss bedacht werden, dass Aminoglycoside die Stützzellen schädigen, die das Matrixprotein für Cupula und Membrana tectoria herstellen. Ob auch ein Hydrops in der Lage ist, die Membrana tectoria anzuheben ist fraglich, denn sowohl die Endolymphe im inneren Sulcus, also unter der MT, als auch die Endolymphe oberhalb der MT also in der Scala media haben bei einem Hydrops denselben Druck. Hier müssen noch fluidmechanische Überlegungen angestellt werden, in wie fern doch Druckunterschiede auftreten können. Sowohl beim akuten Ausfall des Gleichgewichtsorgans als auch beim Hörsturz kann es also eine rein mechanische Genese geben. Solange wir bei einem Patienten eine der möglichen Ursachen nicht beweisen können, müssen wir die Symptomatologie descriptiv beschreiben. Begriffe, wie „Vestibuläre Neuritis“ sind hier fehl am Platz. Wir könnten sonst ja auch von einer „akustischen Neuritis“ sprechen anstatt von einem Hörsturz.
b) a) Abb. 14 a) Otokonien der Macula sacculi wie sie gewöhnlich dargestellt werden (nach Fixierung und Dehydration) (aus Bildatlas Innenohr. Duphar Pharma 1983) b) tatsächliche Situation. Die Otokonien liegen in einem Netz, das aus Matrixproteinen gebildet wird.
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
Der Benigne Paroxysmale Lagerungsschwindel (BPPV) Der Verlauf dieser Erkrankung und die Ursache der Symptome ist uns wohlbekannt. Es handelt sich um versprengte Otokonien, die entweder im Kanal des vertikalen (häufig) oder horizontalen (selten) Bogengangs liegen (Canalolithiasis) oder auf der Cupula (Cupulolithiasis). Prof. Mamoru Suzuki aus Tokyo hat beim Hennig-Symposium 2006 sehr eindrucksvoll gezeigt, wie sich die Steine bei Positionsänderungen des Kopfes bewegen. Die Genese der Erkrankung ist damit aber noch lange nicht geklärt. Wir wissen nicht, warum die Steine ihr Lager im Bereich des Utrikulus verlassen. Sie liegen nicht auf einer Gallerte, wie oft gezeichnet, sondern in einem dichten Netz aus Matrixproteinen. Bevor es zu einem BPPN kommt muss eine Störung im Bereich des Utrikulus vorliegen. Sie ist nach einer Arbeit von v. Brevern & Clarke et al 2006[30] auch klinisch nachgewiesen. Karlberg et al[31] haben 2000 schon darauf hingewiesen, dass es nach verschiedenen Erkrankungen des Innenohres oft zum BPPN kommt, auch nach Hörsturz! Ein BPPN als Durchgangsyndrom ist eine häufig sichtbare Erscheinung wenn sich ein Gleichgewichtsorgan nach einem akuten Funktionsverlust wieder erholt. Es besteht kein Zweifel, dass die Matrixproteine von Cupula, Membrana Tectoria und den Maculae utriculi und sacculi weitgehend aus identischem Material bestehen (Goodyear & Richardson, Scherer & Tauber et al, Tauber 2001) und sich nur im Aufbau unterscheiden. Damit haben wir mit dem BPPV nach akutem Ausfall und dem Hörsturz eine dritte Erkrankung, bei der eine Störung der Matrixproteine beteiligt sein könnte.
Die Menière’sche Krankheit Die Menière’sche Krankheit gleicht, wenn man unser Wissen betrachtet, einem Sumpf.
89
Seit Jahrzehnten werden internationale Symposien über diese Krankheit abgehalten, es entstehen Bücher, aber sind wir denn in der Lage, dem Patienten etwas über die Ursache seiner Erkrankung zu sagen? Meiner Ansicht nach nein. Wir wissen zwar, dass bei der Erkrankung ein Hydrops auftritt, aber warum und wie dieser Hydrops entsteht, wissen wir nicht. So entstehen skurrile Erklärungsversuche, wie einer erst vor Kurzem (Okt. 2008) im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht wurde: … dass ein Medikament …“ in Tierversuchen die Durchblutung des Innenohres verbessert und so die Balance zwischen Produktion und Resorbtion der Endolymphe verbessern und den endolymphatischen Hydrops reduzieren kann. Der erste Teil des Satzes (bis: verbessert) ist richtig, der zweite reine Spekulation. Man findet zwar bei der Erkrankung Veränderungen im Saccus endolymphatius und auch an anderen Stellen, wir können aber nicht sicher sagen, ob diese primär oder sekundär sind. s 7IE SOLL MAN SICH DENN ERKLËREN DASS im Tierversuch zwar ein Hydrops durch Verschluss des Ductus endolymphatikus erzeugt werden kann, die Tiere aber trotzdem keine Anfälle bekommen? s 7IE SOLL MAN SICH DIE 7IRKSAMKEIT EINER Paukendrainage erklären? s 7IE DIE EINER 4ENOTOMIE $URCHTRENNUNG der Sehne des M. tensor tympani)? In den 70-er Jahren des vorletzten Jahrhunderts wurde von dem Berliner Otologen Dr. Friedrich E. Weber diese Methode in der Monatsschrift für Ohrenheilkunde veröffentlicht (Abb. 15). Die Operation wurde in den Folgejahren vielfach mit Erfolg angewandt, später aber wegen häufiger Komplikationen bei den damaligen OPs ohne Mikroskop wieder verlassen. Ehrenberger hat diese Technik mit modernen Methoden mit Erfolg wieder angewandt[32] und auch wir konnten die Anfälle bei MenièrePatienten damit abstoppen. s 7IE ERKLËRT SICH DIE 7IRKSAMKEIT DER "LOckade des horizontalen Bogengangs[33]?
90
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
Abb. 15 Publikation von Dr. Friedrich Weber über die Tenotomie bei Morbus Menière aus dem Jahre 1870
Abb. 16 Kippstuhl zur Untersuchung des zerviko-okulären Reflexes. Der Kopf ist fixiert, der Rumpf wird a – p oder seitlich gekippt oder gedreht und in den jeweiligen Positionen 30 sek. gehalten. In diesen 30 Sekunden werden die Augenbewegungen mit einem dreidimensionalen Videosystem (SMI GmbH, Teltow) gemessen.
Ungelöste Probleme bei der Untersuchung und Bewertung vestibulärer Störungen
a)
b)
91
s &ËLLE