Petra Scheiper Textile Metamorphosen als Ausdruck gesellschaftlichen Wandels
VS RESEARCH
Petra Scheiper
Textile Me...
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Petra Scheiper Textile Metamorphosen als Ausdruck gesellschaftlichen Wandels
VS RESEARCH
Petra Scheiper
Textile Metamorphosen als Ausdruck gesellschaftlichen Wandels Das Bekleidungsverhalten junger Männer und Frauen als Phänomen der Grenzverschiebung von Sex- und Gender-Identitäten
VS RESEARCH
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Universität Hannover, 2006
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Christina M. Brian / Britta Göhrisch-Radmacher Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8350-7012-7
„O wär’ ich doch ein Narr! Mein Ehrgeiz geht auf eine bunte Jacke.“ Shakespeare, Wie es euch gefällt
Vorwort
Sind sie nur Narren, die jungen Frauen und Männer in Szenen? Geht ihr Ehrgeiz nur auf eine bunte Jacke? Oder ist die ästhetische Ausdrucksform der Kleidung und Mode als eine der wesentlichen Inszenierungstechniken und Körperpraxen zu betrachten und nicht als die bloße Narretei einer konsumorientierten, politikverdrossenen Generation junger Frauen und Männer? Sind die bunten, farbenfrohen und fröhlichen Körper- und Kleiderbilder einer ravenden Community mit dem Slogan Friede, Freude, Eierkuchen und dem Smiley als Symbol für gute Laune nur ein oberflächlicher ästhetischer Ausdruck einer dem Hedonismus erlegenen, kommerzialisierten und medialisierten Jugendkultur, wie es einige Deutungen und Interpretationen evozieren? Oder ist die Kleidung ein zentrales textiles Medium, um eindeutige Identitäten in Szene zu setzen und Wirklichkeit auf der globalen Bühne des Pop zu konstruieren nach dem Motto ‘keep it real’? Spiegeln die über Kleidung inszenierten Körperbilder den Prozess der Auflösung eindeutiger Grenzziehungen von Geschlechtsidentitäten und welche Qualität liegt dann in der Aussagekraft textil inszenierter Metamorphosen? Liegt in der textilen Metaphorik, mit der die Jugend spricht, möglicherweise eine symbolische Aussagekraft, die das gleiche Potential und die gleiche Freiheit für sich beansprucht wie sie in der klassischen Funktion des Narren lag, nämlich die „Wahrheit über eine Zeit“ auszusagen „und zwar sofort und nicht erst in der Rückschau“ (Worthington 1993, 16)? Wären sie nur Narren, dann hinge ihr Ehrgeiz nur an einer bunten Jacke. Ob dem so ist, dem gilt es exemplarisch über die Rückschau zu den Anfängen der HipHopund Techno-Szene bis heute nachzugehen. Petra Scheiper
Danke Herrn Prof. Dr. Wolfgang Manz und Frau Prof. Gudrun Schreiber, der Universität Hannover für die Gewährung eines Promotionsstipendiums, allen Studentinnen und Studenten aus meinen Lehrveranstaltungen, Birte Luther, Cordula Waterboer, Gabi Menke-Koch, Ralf Kleymann und
Lennart Scheiper
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
Inhaltsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Einleitende Beobachtungen: Fragestellung/Hypothesen . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Komplexität betreffend . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Fotografien als wissenschaftliche Daten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13 17 19
2 Sozialwissenschaftliche Beiträge und Theorien zur Jugendphase . . . . . . . . . 2.1 Zur Problematik der Eingrenzung des Jugendbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . 2.2 Entgrenzungstendenzen und Grenzverschiebungen, Destandardisierung von Bildung und Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Entgrenzungstendenzen und Grenzverschiebungen innerhalb der Familie, der Wohnformen und des Auszugsverhaltens . . . . . . . . . 2.3 Sozialisationstheoretische Subjektmodelle in der Jugendforschung . . . . 2.4 Jugend und Jugendkulturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Zum Terminus Subkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Zum Terminus Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.3 Zum Terminus Szene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27 27
3 Sozialpsychologische Theorien zum Bekleidungsverhalten . . . . . . . . . . . . . 3.1 Mode – Ein Definitionsversuch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.1 Mode versus Bekleidungsverhalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2 Kleidung als vestimentäre Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Ambivalenzen und Ambiguitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
53 53 54 61 65
4 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer, ein Spiel der Identitäten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Identität und Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Zur Veränderung des Identitätsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69 70 75
28 32 33 34 38 41 44
10
Inhaltsverzeichnis
4.3 Identitätsbildung als offener Prozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Retro- und prospektive Identitätsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Selbstnarration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Konstruktionen der Identitätsarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Zur Entwicklung von Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.5 Zur Entwicklung von Anerkennung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.6 Identität und Authentizität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Postmoderne Identitätskonstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Zum Begriff der Patchwork-Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79 80 82 83 85 86 87 88 89
5 Sex- und Gender-Identitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 5.1 Identitätsbildungsprozesse junger Frauen: Ein virtuoses Spiel . . . . . . . . 102 5.2 Fluide Grenzen der Geschlechtsidentitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 5.3 Zur Performativität von Geschlecht und Kleidung . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
6 Kleidung als Medium körperlicher Selbstinszenierungen . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Den Körper in Szene setzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Habitus und textile Körperbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Mimesis als textiler Verleiblichungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Die Techno-Szene: Ein Beispiel der Verschiebung eindeutiger Geschlechterpolaritäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Zur musikgeschichtlichen Entwicklung von Techno . . . . . . . . . . . 7.1.2 Techno: Symbiose zwischen Mensch und Maschine . . . . . . . . . . . 7.1.3 Techno-Clubwear . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2 Das Spiel mit den Weiblichkeitsbildern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Crossdressing-Tendenzen als Beispiel für Entgrenzung und Grenzüberschreitungen geschlechtlicher Identitäten . . . . . . . . . . 7.3 Die HipHop-Szene: Ein Beispiel männlich dominierter Jugendszenen . . 7.3.1 Zur musikgeschichtlichen Entwicklung von Rap und HipHop . . . 7.3.2 Zur musikgeschichtlichen Entwicklung von Rap und HipHop in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
119 126 127 131
137 140 140 142 143 147 156 158 158 161
Inhaltsverzeichnis
7.4 Klassifizierung der HipHop-Kleidung in Old School und New School . . 7.4.1 Das Bekleidungsverhalten innerhalb der New School-Szene . . . . 7.4.2 Das Bekleidungsverhalten innerhalb der Old School-Szene . . . . . 7.4.3 Diversifizierungen innerhalb der HipHop-Szene . . . . . . . . . . . . . 7.4.4 Das Bekleidungsverhalten innerhalb der HipHop-Szenen . . . . . . 7.4.5 Die Kleidung der Skater als ein Beispiel für die fließenden Übergänge zwischen jugendkulturellen Szenen . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Die Inszenierung von Männlichkeit in der HipHop-Szene . . . . . . . . . . . 7.6 Weiblichkeitsbilder in der HipHop-Szene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
11 162 162 163 164 166 167 171 178
8 Schlusspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
1
Einleitende Beobachtungen: Fragestellung/Hypothesen
„Die Traditionspolster sind durchgescheuert“. Mit dieser textilen Metapher verwies Max Weber auf die Unmöglichkeit, den Entwicklungen moderner Gesellschaften zu entrinnen. Bis jedoch das Textile einen ernst zu nehmenden Eingang in die traditionellen Forschungsdisziplinen erhielt, sollten noch einige Jahrzehnte vergehen. Erst in den siebziger Jahren erweiterte sich das Spektrum wissenschaftlicher Themen und Methoden, in deren Folge die theoretischen Auseinandersetzungen über Kleidung, Mode und Textilität innerhalb der diversen wissenschaftlichen Disziplinen diskutiert werden. Die Erforschung von Kleidung als ein textiles Medium erfordert, dieser Entwicklung folgend, einen interdisziplinären, vielperspektivistischen Zugang, der die soziologischen, psychologischen, pädagogischen und textilwissenschaftlichen Erkenntnisse berücksichtigt. Aus dem Verständnis heraus, dass der „zeichenhafte Bezug der Bekleidung zu Welt- und Körperbildern Grundlegendes zum Verstehen des Menschen“ (Nixdorff 1997, 15) beiträgt, soll das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer unter Fokussierung der Themenkomplexe Jugend, Mode, Spiel, Identität, Kleidung und Körperlichkeit sowie deren Interdependenzen untersucht werden. Das von Nixdorf für die kulturwissenschaftlich orientierte Textilforschung erörterte Integrationsprinzip der Grenze soll weiter ausgeführt werden, da „hier … das Textile seinen eigentlichen Ort“ (Nixdorff 1999, 15) hat. Des Weiteren bietet sich, in textiler Metaphorik gesprochen, die Philosophie der Grenze als thematischer und methodischer roter Faden an, da nicht nur der Kleidung und dem Textilen das Prinzip der Grenzziehung, Grenzverschiebung und -auflösung immanent ist, sondern auch die Themenkomplexe Jugend, Identität und Geschlechtsidentität als ein Phänomen von Grenzverschiebungen und Grenzüberschreitungen beschrieben werden können. In der sozialwissenschaftlichen und soziologischen Diskussion herrscht weitgehend Konsens darüber, dass die gesellschaftlichen Veränderungen, die zusammenfassend unter dem Begriff der Individualisierung konnotiert werden, die „Normalbiographien“ (vgl. Kohli 1994) und die Lebensphase Jugend (vgl. Ferchhoff/Neubauer 1997) entscheidend beeinflussen und verändern. So wird es zunehmend prob-
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1 Einleitende Beobachtungen: Fragestellung/Hypothesen
lematischer, das Phänomen Jugend aufgrund seiner Heterogenität und seiner vielfältigen Erscheinungsformen und Stilbildungen zu fassen, was sich schon in dem Versuch der eindeutigen altersspezifischen Abgrenzung zu den Lebensphasen Kindheit und Erwachsene zeigt. „Die Konturen von Jugend verschwimmen zunehmend“ (vgl. Richter 1998, Bohle 1998). Aus der vorläufigen Beobachtung jugendlichen Bekleidungsverhaltens kristallisiert sich heraus, dass im Besonderen die Jugendkulturen (zur Problematik der Begriffe Jugend und Jugendkulturen vgl. Baake 1988, Ferchhoff 1990/1995, Vollbrecht 1995) HipHop, und Techno und die sich daraus diversifizierenden Szenen (Zum Begriff Szene vgl. Barthemes 1998, Strzoda et al. 1996, Irwin 1977, Schulze 1992, Hitzler et al. 2000, 2001, 2005) das Bekleidungsverhalten Jugendlicher und die sich daraus entwickelnden Moden prägen und beeinflussen. Jugendkulturen haben hinsichtlich ihres Bekleidungsverhaltens häufig vorwegnehmenden Charakter. Des Weiteren bieten sie Jugendlichen verlässliche Optionen an und die Möglichkeit, über ihre vestimentären Artikulationsformen und ihr ästhetisches Verhalten, Probleme und Tendenzen einer Gesellschaft anzusprechen und diese symbolhaft darzustellen, bevor diese sie bewusst wahrnimmt. Die HipHop- und Techno-Szene sind die zwei dominantesten, erfolgreichsten und folgenreichsten Popkulturen um die Jahrtausendwende, die aber die Veränderungen der Gesellschaft völlig unterschiedlich aufgreifen und thematisieren. Aus diesem Grund wird an ihrem Beispiel das Bekleidungsverhalten von jungen Männern und Frauen untersucht. In dem der Punk den einstigen Bedeutungsgehalt der Mode aufgehoben hat, lässt sich das Bekleidungsverhalten Jugendlicher auf dem Hintergrund der Diskussionen von Enttraditionalisierung, De-Institutionalisierung, Pluralisierung, Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebensläufen als eine Möglichkeit der Präsentation von Identität(en) charakterisieren. Aufgrund der beobachteten Dominanz männlich geprägter Jugendkulturen stellt sich die Frage, ob die Partizipation an einer Jugendkultur oder an bestimmten Szenen für die Identitätsbildung männlicher Jugendlicher von größerer Bedeutung ist als für weibliche Jugendliche, da sie in höherem Maße auf Eindeutigkeit, Sicherheit und Verlässlichkeit angewiesen sind. Ausgehend von dieser Beobachtung der männlichen Dominanz innerhalb der Jugendkulturen sowie auch deren eindeutiger Dominanz innerhalb der meisten jugendspezifischen Szenen (vgl. Shell-Jugendstudie 1997, 7. Jugendbericht des Landes Nordrhein-Westfalen 1999), stellt sich das Verhalten weiblicher Jugendlicher zu den verschiedenen Jugendkulturen und Szenen sowie ihren Stilen, Bekleidungsformen und Moden auf dem Hintergrund aktueller Genderstudien als zentraler Untersuchungsgegenstand heraus. Zu untersuchen wäre die These: Die Zugehörig-
1 Einleitende Beobachtungen: Fragestellung/Hypothesen
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keit zu einer bestimmten Szene ist für weibliche Jugendliche von geringerer Bedeutung, da – neben anderen zu untersuchenden Aspekten – die Übernahme multipler Identitäten von Frauen zu einem früheren Zeitpunkt erfolgte und das Spiel mit den verschiedenen Identitäten von weiblichen Jugendlichen virtuoser beherrscht wird. Hieraus kristallisieren sich zwei weitere Fragestellungen: Wird diese Virtuosität im Spiel mit den Identitäten durch das Kleidungsverhalten dargestellt? Und welches sind die orientierenden Maßstäbe, die dem Kleidungsverhalten weiblicher Jugendlicher zugrunde liegen? Eine interessante Beobachtung lässt sich in der Techno-Szene machen. Im Gegensatz zu männlich dominierten Szenen bildet die Techno-Szene hinsichtlich der Geschlechterverteilung eine Ausnahme. Auffällig ist die bisher noch in keiner Jugendkultur anzutreffende Gleichstellung der Geschlechter und der offene und spielerische Umgang mit geschlechtlicher Identität. Die Gleichstellung der männlichen und weiblichen Identität erfolgt u. a. durch die Darstellung und Inszenierung von Weiblichkeit und zwar von weiblichen, wie von männlichen Jugendlichen. Angesichts dieser Beobachtung ist zu untersuchen, ob der über das Medium Kleidung symbolisierte Tausch von geschlechtlicher Identität – basierend auf der Annahme, dass jugendkulturelle Stilbildungen über ihr ästhetisches Verhalten Veränderungsprozesse innerhalb der Gesellschaft auf seismographische Art und Weise vorwegnehmen – Rückschlüsse auf generelle gesellschaftliche Veränderungen in der Wahrnehmung und Bildung eindeutiger Geschlechtsidentitäten schließen lässt. Aufgrund der verspäteten Emanzipation der Männer und des Zusammenstürzens einer eindeutig definierten männlichen Identität, sind männliche Jugendliche, schon allein historisch gesehen, zu einem späteren Zeitpunkt mit der Problematik des sich verändernden Männerbildes konfrontiert als Frauen. Den Forschungsansätzen aktueller Men’s Studies ist die Ablehnung einer einheitlich definierten Männlichkeit gemeinsam. Gestützt auf die Arbeiten der Sozial- und Kulturanthropologie sowie historischer und soziologischer Forschungen, wird das bisher gültige universelle männliche Modell bestritten. Maskulinität stellt sich für sie als eine Ideologie dar, um Macht und Herrschaftsstrukturen des Mannes zu rechtfertigen und als verzweifelter Versuch, das Konstrukt Mann aufrecht zu erhalten. Männliche Jugendliche können sich jedoch weder in den Männlichkeitsbildern vergangener Zeiten wiederfinden noch in der Ablehnung jeglicher Männlichkeit, es gilt viel mehr eine multiple Identität zu entwickeln. Der Begriff Identität gerät zunehmend in die Kritik wissenschaftlicher Auseinandersetzungen. Identität sei ein „Plastikwort“ (vgl. Assmann/Friese 1988). Mollenhauer konstatiert den inflationären Gebrauch des Identitätsbegriffs (vgl.
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1 Einleitende Beobachtungen: Fragestellung/Hypothesen
Mollenhauer 1983). Kritische Auseinandersetzungen um die Begriffsbestimmungen Identität, Ich, Selbst, Subjekt und Individuum werden von Böhme und MeyerDrawe problematisiert (vgl. Böhme 1997, Meyer-Drawe 1997). In Theorien herkömmlicher Identitätskonzepte der Moderne (vgl. Erikson 1956, 1966, 1976, Levita 1971, Habermas 1976, Krappmann 1971, Nummer-Winkler 1986) konstituiert sich eine stabile Ich-Identität durch das Bewusstsein einer lebensgeschichtlichen Kontinuität und Konstanz. Diese substantiellen Identitätskonzepte werden der Entwicklung der Individuen in der Spätmoderne nicht mehr gerecht, sondern gerade die Brüchigkeit von Kontinuität und Konsistent gehöre zur unverwechselbaren Identität einer Person (Keupp 1994, Gergen/Gergen 1990, Maset 1995). Der Erwerb kommunikativer Kompetenzen, das Erlangen von Anerkennung über den dialogischen Austausch mit anderen und die Fähigkeit zur Selbstpräsentation gewinnen in spätmodernen Kulturen zunehmend an Bedeutung (vgl. Keupp 1999). Dabei erweist sich Kleidung zunehmend als bedeutsames Medium und als ironisches Spiel mit Schönheitsidealen, Geschlechterrollen und Identitäten (vgl. Vinken 1993). Je heterogener sich die Welt dem Einzelnen darstellt, desto größer scheinen Identitätsambivalenzen die Individuen zu treffen. So wird die Triebkraft der wechselnden Kleidungsstile und Moden in der Zunahme von Identitätsambivalenzen in der Spätmoderne begründet (vgl. Davis 1992) oder als misslingender Versuch der Auflösung der Ambivalenzen interpretiert (vgl. Kaiser 1991). In Bezug zur Jugend ist zu diskutieren, in welchem Maß jugendkulturelle Stilbildungen, wie die in der Techno-Szene beobachteten Crossdressing-Tendenzen, exemplarisch eine Affinität zu dem Aspekt der Identitätsfindung in spät-, post- oder nachmodernen Gesellschaften aufweisen. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert beschäftigen sich die verschiedenen traditionellen wissenschaftlichen Disziplinen mit dem Phänomen Mode und Kleidung. Bis in die gegenwärtige Diskussion um die Entstehungsbedingungen und Verbreitungsmechanismen von Mode und Kleidung leisten die aus der Soziologie (Simmel 1905, Steinmetz 1926, König 1958), aus der empirisch-quantitativen Sozialforschung (Kroeber 1919 und Richardson 1940) sowie die Ausführungen des Ästheten Vischer 1879 und Veblens Theory of the Leisure Class (1899), die Abhandlungen des Volks- und Betriebswirts Sombart und die aus der Psychologie kommenden Auseinandersetzungen (Flügel 1930, Kiener 1952, Sommer/Wind 1988) einen viel beachteten Beitrag (vgl. Schnierer 1995). Gemeinsam war diesen Ansätzen jedoch immer die Färbung des Trivialen, Frivolen, Unnützen und des auf das weiblich Reduzierende immanent. Dies hat sich in den letzten fünfzehn Jahren jedoch gravierend
1.1 Die Komplexität betreffend
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geändert. Mit dem zunehmenden Interesse an Körper und Körperlichkeit (Bette 1989, 2003) und dem in diese Periode fallenden Anstieg der wissenschaftlichen Thematisierung soziokultureller Entwicklungen und Kulturphänomene ist eine zunehmende interdisziplinäre Herangehensweise in der Auseinandersetzung der Modeund Kleidungsforschung zu verzeichnen. Dieser Entwicklung entsprechend soll in der folgenden Untersuchung die hermeneutische Methode mit der Analyse von Fotomaterial verknüpft werden, um die verschiedenen Perspektiven der wissenschaftlichen Diskursfelder als Erklärungsmodi zu nutzen. Die volkskundlich ausgerichtete Kleidungsforschung bedient sich der Methodik der bildlichen Analyse und der deskriptorischen Herangehensweise, in dem sie die erhaltenen Exponate vergangener Jahrhunderte beschreibt, und die Originale musealer Bestände analysiert. Eine umfassende Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen von Kleidung ist jedoch nur über die Erschließung weiterer Quellen möglich. Als eine wichtige methodische Annäherung an den Forschungsgegenstand bietet sich die analytische Bearbeitung von Bildmaterial an, da über dieses Medium die Interdependenz von Körperlichkeit, Körperverständnis und Kleidung als textiles Inszenierungsmedium aufgezeigt werden kann.
1.1
Die Komplexität betreffend
Jugendliches Bekleidungsverhalten zu beobachten und zu analysieren, erfordert auf Grund des Einflusses vielfältiger Aspekte eine Herangehensweise in der Bearbeitung des Themas, in der die Perspektiven der Betrachtung, je nach Fokussierung eines Schwerpunktes, gewechselt werden müssen. Dies mag sich auf der einen Seite als etwas verwirrend darstellen, soll aber nicht in einem willkürlichen „anything goes“ münden. Eine mehrperspektivische Methodik bietet die Möglichkeit, sich nicht auf eine einzige grundlegende Theorie beschränken zu müssen und sie auf die teilweise konträr zueinander verlaufenden und sich widersprechenden Aspekte und Phänomene anwenden zu müssen. Zur Verdeutlichung dieser Problematik wird das Beispiel der Anwendung der Systemtheorie (Luhmann 1984, 2002) auf das Phänomen Mode an dieser Stelle stellvertretend für die allgemeine Theorieanwendung exemplarisch aufgezeigt. Eine der grundlegenden Aussagen der Systemtheorie ist die, dass Systeme autopoietisch und selbstreferenziell sind. Das beinhaltet, dass es das ureigenste Interesse von Systemen ist, sich selbst zu erhalten, auf das Phänomen Mode bezogen: Mode als System hat das Ziel, sich selbst zu erhalten. Das Irritie-
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1 Einleitende Beobachtungen: Fragestellung/Hypothesen
rende der Mode stellt sich jedoch insofern dar, als dass der Mode das Moment ihrer Vergänglichkeit und Vernichtung als grundlegende Strategie innewohnt. Das Prinzip der Selbstzerstörung dient der Selbsterhaltung, eine Paradoxie, die auch mit Hilfe systemischer Theorie schwer zu verdeutlichen und zu erklären wäre. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich die systemische Theorie zur Erklärung einzelner Teilaspekte in Bezug auf das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer grundsätzlich nicht eignet, wie z. B. zur Erklärung, dass sich über Kleidungswahl Szenen, also Systeme voneinander abgrenzen und so die Kleidung das Prinzip der Selbsterhaltung und der Abgrenzung von anderen Szenen bzw. Systemen unterstützt. Das Phänomen Mode spiegelt auf so vielfältige und komplexe Art und Weise den gesellschaftlichen Wandel von einer traditionalen Klassen- bzw. Schichtordnung zu einer horizontalen Matrix relativ autonomer gesellschaftlicher Teilsysteme mit ihren je spezifischen Eigendynamiken und Kommunikationsstrukturen und verweist in ihrer Komplexität (zum Begriff Komplexität siehe auch Luhmann 1975, 1980, 1990) auf strukturelle Veränderungen, die auf der einen Seite die individuellen psychischen Vorgänge des Einzelnen betreffen, auf der anderen Seite die kulturellen, ethnologischen, künstlerischen, wirtschaftlichen und historischen Prozesse, die die Welt in ihrem globalen Verquickungsnetz gegenseitiger Abhängigkeiten und Verwiesenheiten betreffen. Das Problem der Herangehensweise stellt sich vor diesem Hintergrund so dar, dass zur Erklärung und Analyse des Bekleidungsverhaltens junger Männer und Frauen theoretische Ansätze herangezogen werden müssen, die einerseits der Komplexität des Themas gerecht werden und andererseits das Vermögen besitzen, die in ihm liegenden Paradoxien aufzuzeigen. So bietet sich meines Erachtens ein mehrperspektivischer Zugang an, der auf der systemischen Grundlage fundiert, dass Beobachtungen von Phänomenen immer beobachterabhängig sind und dass der Wechsel von Perspektiven zwar das Problem der Beliebigkeit in sich birgt, aber auf der anderen Seite das Potential eines sich erweiternden, grenzauflösenden Blickes bietet. Der ‘rote Faden’ zieht sich daher nicht in einer konventionellen Art westlich modernen Denkens und wissenschaftlicher Stringenz durch diese Arbeit, sondern entsteht durch das Prinzip der Interdisziplinarität und des Bezugnehmens auf die einzelnen Teilaspekte, so dass sich der ‘rote Faden’, um mit Wittgenstein zu sprechen, Faser an Faser aneinanderfügt und immer noch Raum für Assoziationen und Konstruktionen der Leserin/des Lesers bestehen bleibt. Im Anschluss an Susan Kaiser, die sich auf den ästhetischen Philosophen Ossi Naukkarinen bezieht, soll geltend gemacht werden, dass das Problem der traditionellen akademischen Philosophie eher in der linearen Beweisführung und der Geist-Körper-Trennung liegt, als in der Art, wie Menschen denken und ihr Aussehen
1.2 Fotografien als wissenschaftliche Daten
19
im Alltag zusammenfügen. Naukarinen fordert eine Philosophie, die daran anschließen und aufbauen könne, „was visuell und nonlinear über ein ausschließliches Vertrauen auf traditionelle Wege des Wissens (z. B. des Spezifizierens, Analysierens, Kritisierens) in moderner, westlicher Philosophie hinausgehe“ (Kaiser 2001, 82; eigene Übersetzung). Das Bekleidungsverhalten junger Männer und Frauen zu untersuchen kann möglicherweise neue Wege des Denkens beschreiten, Wege, die „nonlineare, visuelle Gedankenprozesse, die vielfältige, veränderliche und verkörperte Alltagssubjektivitäten ausdrücken und verbinden“ (Kaiser 2001, 82; eigene Übersetzung). Wenn allgemein wissenschaftlich anerkannte Gewissheiten in Frage gestellt werden, das Ende der „Metaerzählungen“ erklärt wird und sich in dieser Arbeit durch die – in textiler Metaphorik – patchworkartige Fokussierung und Zusammenfügung bestimmter Teilaspekte Uneindeutigkeiten und Widersprüche ergeben, so kann dies auch als ein Spiegel der Uneindeutigkeit und Ungewissheiten von Welt gelesen werden, der sich vor vereinfachenden Dichotomisierungen hütet, und als Versuch gesehen werden, die ‘blinden Flecken’ zu beleuchten, die durch eine weniger komplexe Herangehensweise nicht sichtbar würden.
1.2
Fotografien als wissenschaftliche Daten
„In der neuen Bilderwelt verschwimmen die Grenzen zwischen Wirklichkeit und Virtualität, jedoch repräsentieren auch die digital erstellten, erdachten Foto-Bilder eine Sicht auf die Welt, sind Realität und können als Bilder der Welt zur erfahrenen Wirklichkeit werden (Mitchell 1992)“ (zit. in: Pilarczyk/Mietzner 2005, 15). Die vorliegende Untersuchung basiert neben der hermeneutischen Perspektive, die auf der Analyse verschiedener Verfahren der Datenerhebung beruht, auf einer Analyse fotografischer Daten, die im Kontext des Untersuchungsgegenstandes entstanden sind. Über die Strategie des „Theoretical Samplings“ (Glaser/Strauss 1967, 45) soll hinsichtlich der Auswertung der verschiedenen Arten der Daten eine möglichst dezidierte Kontrolle bezüglich der Aussagen und Ergebnisse erbracht und gesichert werden. Die Auswahl der Fotografien ergibt sich aus der Kombination des theoretischen Vorwissens und einer im Sinne von Glaser und Strauss sich fortschreibenden Theorie, nach der das fotografische Material während des Forschungsprozesses fortlaufend erweitert und ausgewertet wird. Der methodische Ansatz einer qualitativen Forschung auf der Grundlage von Fotografien als sozialwissenschaftlichen Daten bedarf jedoch einiger Erläuterungen,
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1 Einleitende Beobachtungen: Fragestellung/Hypothesen
da diese Art der visuellen Datenerhebung in der sozialwissenschaftlichen Forschung relativ selten eingesetzt wird und sich daraus folgend die wissenschaftlichen Beiträge der theoretisch-methodischen Grundlagenforschung als äußerst spärlich erweisen. „Visualisierung wird in der professionellen soziologischen Diskussion kaum thematisiert“ (Feldmann 2002). Der dieser Untersuchung zugrunde liegende Ansatz zur wissenschaftlichen Datenerhebung stützt sich auf die von Harper (2004, 402 ff.) und Denzin (2004, 416 ff.) verfassten Ausführungen zur Analyse fotografischen Datenmaterials sowie auf die methodologischen Grundlagen und quellenkritischen Standards für Fotografie, die in dieser ausführlichen und detaillierten Systematik erstmalig von Pilarczyk und Mietzner beschrieben werden. Der Aspekt der visuellen Dimension in der qualitativen Sozialforschung stellt sich insofern als problematisch dar, als dass er „sich systematisch nicht beschreiben und nicht lehren … (lässt) …, wie Surveymethoden oder statistische Verfahren. Denn mit der Fotografie gelangt die Soziologie als Wissenschaft ganz in die Nähe der künstlerischen Tätigkeit.“ (Harper 2004, 402). Die optischen Repräsentationsformen jugendlichen Bekleidungsverhaltens mit Hilfe der Repräsentationstechnik Fotografie einzufangen, stellt den Untersuchungsgegenstand und die Untersuchungsmethode in einen engen Zusammenhang und bietet sich aus diesem Grund als geeignete Methode für diese Art der Feldstudie an. Betrachtet man jugendliches Bekleidungsverhalten als seismographische Vorwegnahme gesellschaftlicher Veränderungen, so wird der Untersuchungsgegenstand aus dieser Perspektive in die Nähe der Kunst gebracht, deren Aufgabe es unter anderem schon immer war, die Probleme und Tendenzen, aber auch die immanenten Potenziale und Dynamiken von Gesellschaften aufzuzeigen und zu thematisieren. „Dennoch sind Fotos höchst merkwürdige Repräsentationen: Sie fangen die Welt vor jeder möglichen Deutung ein, tun dies aber mit subjektiver Voreingenommenheit“ (Harper 2004, 403). Die Inkonsistenzen und Widersprüchlichkeiten, die sich aus dieser optischen Methode ergeben, sind mir durchaus bewusst, aber um mit Dollase zu argumentieren, bietet diese Herangehensweise vielleicht die Möglichkeit, über diesen „… an sich kreativen und interessanten sozialwissenschaftlichen Forschungsstil“ (Harper 2004, 402) den Beitrag zur Modeforschung aus seiner ‘wissenschaftlichen Fadheit’ (vgl. Dollase 1995, 82 ff.) zu befreien, also das kreative Potenzial jugendlichen Bekleidungsverhaltens mit Hilfe einer kreativen Methode darzulegen und zu analysieren. Die Fotografien der jungen Frauen und Männer sind auf der Grundlage der erarbeiteten Literatur und meiner langjährigen Beobachtungen jugendlichen Bekleidungsverhaltens, mit dem Ziel, sie als Datenmaterial für diese Arbeit zu nutzen, entstanden.
1.2 Fotografien als wissenschaftliche Daten
21
Die Widersprüchlichkeit fotografischen Datenmaterials ergibt sich aus dem Anspruch auf Objektivität und dem aus dem Postmodernismus formulierten Vorwurf der Subjektivität gegenüber der Verwendung von Fotografien in der sozialwissenschaftlichen Forschung, da sie „eine objektive Realität einfach postulieren und an die Verfügbarkeit von Werkzeugen für die Messung dieser Realität glauben. Aber eigentlich sei die Realität – argumentieren die Postmodernisten – fundamental zweideutig, so dass Fotos, wie überhaupt alle Aufzeichnungen aus dem Leben, viel eher subjektiv gefärbte Repräsentationen als objektive Dokumente seien“ (Harper 2004, 406). Der Anspruch der Objektivität visueller Daten ergibt sich aus der Abbildung der Jugendlichen und ihrer Kleidung, in dem ein einmaliger Wirklichkeitsausschnitt in Abstimmung von Licht und Zeit mittels fotografischer Technik abgebildet wird. „Die fotografische Objektivität beruht auf der Tatsache, dass Kameras das von der Oberfläche von Gegenständen … (oder Personen) zurückgeworfene Licht aufnehmen“ (Harper 2004, 413). Die optische Repräsentation der Kleidung von jungen Männern und Frauen zu einem bestimmten nicht wiederholbaren Zeitpunkt macht die Fotografie Harper zu Folge auch empirisch, denn „sie zeichnet das auf, was unsere Augen wahrgenommen haben“ (Harper 2004, 403). Die Fotos lichten die Kleidung ab, die die jungen Frauen und Männer an einem bestimmten Punkt in Raum und Zeit wirklich trugen und sind nicht über computergestützte Verfahren der Bildbearbeitung verändert worden. Das Problem der Subjektivität gegenüber dem fotografischen Material ergibt sich aus der technischen und sozialen Konstruktion von Fotografien. So beeinflusst die Technik der Kamera, die Wahl des Ausschnittes, die Verwendung spezieller Objektive sowie die Wahl der Blende und der Verschlusszeiten die Aussagekraft von Bildern erheblich. „Die Kamera wird vom visualisierenden Soziologen gleichsam als ein editorisches Instrument verwendet. Die Beherrschung der technischen Parameter der Bildherstellung versetzt ihn in die Lage, Daten zu analysieren und selektiv zu verarbeiten – ähnlich wie ein quantitativ vorgehender Soziologe statistische Tests und Tabellen zur Analyse und darstellenden Verarbeitung numerischer Daten verwendet“ (Harper 2004, 412). Die soziale Konstruktion von Fotografien beruht auf dem sozialen Hierarchiegefälle zwischen fotografierender und fotografierter Person. „Man braucht eine gewisse soziale Macht, um Fotos anzufertigen (vgl. Tagg 1988), teils schon deshalb, weil durch das Aufnehmen Identitäten … verdinglicht werden“ (Harper 2004, 406). Diese Asymmetrie in der sozialen Beziehung zeigt sich auch darin, dass sich die Forscher zwar in die Lebenswelt der Jugendlichen begeben können, die Jugendlichen sich umgekehrt aber nicht in die Lebenswelt der Forscher. Sowie das von Harper in seinem Diskussionsbeitrag angeführte Argument: eine Kamera zeichne
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1 Einleitende Beobachtungen: Fragestellung/Hypothesen
nur das auf, „was unsere Augen wahrgenommen haben“ (Harper 2004, 403), für die empirische Qualität von Fotografien nutzt, so spricht dieses Argument auf der anderen Seite für die Konstruktion von Bildern, da ein Fotograf nur die Objekte und Personen fotografiert, die er sieht und wahrnimmt. Insofern setzt eine Bildaufnahme „die wissentlich oder unwissentlich vollzogene Wahl einer Deutung unter vielen voraus“ (Harper 2004, 408). Auch Denzin (2004) spricht dieses Problem in der visualisierenden Soziologie an, in dem er schreibt: „Fotografien liefern ein Bild oder eine Ansammlung von Bildern als Deutungen von Wirklichkeit“ (Denzin 2004, 423). Jedoch haben Fotografien gegenüber anderen Medien wie z. B. Texten, den Vorteil des direkten Bezugs zur abgebildeten Wirklichkeit. „Angesichts der Rolle des Visuellen in Kultur und Gesellschaft ließe es sich trotz der beschriebenen Forschungsschwierigkeiten nicht rechtfertigen, eines der wichtigsten Medien in der Forschung außer Acht zu lassen“ (Pilarczyk/Mietzner 2005, 35). Um eine Begriffssprache der Fotografie zu finden, unterteilt der amerikanische Fototheoretiker Herron das Medium Fotografie in vier Sparten ein: die informative Fotografie, die Fakten möglichst objektiv aufzeichnet, die dokumentarische Fotografie, die persönlich über einen Gegenstand berichtet und ebenfalls so objektiv wie möglich sein sollte, die bildmäßige Fotografie, die den Gegenstand subjektiv interpretiert und die Fotografie als Äquivalent, als subjektiven Geisteszustand, welcher sich im Artefakt ausdrückt und konkretisiert (vgl. ebd., 118). Die für den fotografischen Teil dieser Arbeit angefertigten Fotos zählen zu dem Genre der Dokumentarfotografie. Sie wurden als fotografische Dokumente (Dokument (lat: documentum = beweisende Urkunde) erstellt, um sie zur Beweisführung der Hypothesen zum jugendlichen Bekleidungsverhalten zu nutzen. Dabei liegt den Fotografien immer ein bestimmtes theoretisches Vorwissen zugrunde, das die Auswahl der zu fotografierenden Personen und Objekte bestimmt. „Jedes Foto wird nach Becker von einem bestimmten theoretischen Gesichtspunkt aus aufgenommen, der sich allerdings nur zu einem geringen Teil aus der Soziologie ergibt“ (Harper 2004, 413). Das theoretische Vorverständnis gibt vor, auf welche Objekte der Fokus der Aufmerksamkeit und dem entsprechend das Objektiv der Kamera gerichtet wird. Für die vorliegende Studie bedeutet dies, das Spektrum der Wahrnehmung für die Wirklichkeit jugendlichen Bekleidungsverhaltens so weit zu fassen, dass es in seiner Spezifität erschlossen und fotografisch in all seinen Facetten dargestellt werden kann. Die Auswahl der Fotografien ergibt sich aus der Kombination des wissenschaftlichen Diskurses zum Konstrukt ‘Jugend’, insbesondere der Popkulturen HipHop und Techno, und der Auseinandersetzung soziologischer und psychologischer Theorien zu Mode und Kleidung. Die „Fotos, die im Verlauf des Forschungs-
1.2 Fotografien als wissenschaftliche Daten
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prozesses angefertigt werden, dienen somit zur Konkretisierung von Erfahrungen, mit deren Hilfe theoretische Annahmen fortlaufend berichtigt werden“ (Harper 2004, 414). Für Pilarczyk und Mietzner liegen die Vorteile von fotografischen Quellen gegenüber anderen Quellen in ihrer indexikalischen Qualität. Das beinhaltet, dass Fotografien eine unaufkündbare Referenz zur Realität besitzen und „nach wie vor eine ausgezeichnete Quelle für realienkundliche Untersuchungen“ (Pilarczyk/Mietzner 2005, 106) besitzen. Alles, was während der Belichtung vor dem Objektiv existierte, wird von der Kamera festgehalten. Dadurch vermitteln Fotografien „nicht nur Ansichten z. B. von … (…) … Kleidungsstilen, sondern auch von Körpern in bestimmten interpersonalen und sozialen Konstellationen, vom unbewussten, spontanen, der fotografischen Situation geschuldeten und habitualisierten körperlichen Ausdruck in Mimik, Haltung und Gestik“ (ebd.). Fotografien dienen zur Visualisierung des gesellschaftlich Sichtbaren wie z. B. „die Anschauungen vom Aufwachsen, von Jugend, Kindheit und vom Verhältnis der Geschlechter und der Generationen“ (ebd.). Aufgrund ihrer Multifunktionalität können Fotografien den Wandel von Lebenswelten bezeugen, „die mit herkömmlichen Quellen nicht erfasst werden können“ (ebd.), auch entspricht der Komplexität des Mediums Fotografie die „Vieldeutigkeit lebensweltlicher Phänomene“ (ebd., 107). Fotografien können des Weiteren „als Ausdruck einer zunehmend beobachteten Ästhetisierung aller Lebensbereiche verstanden und interpretiert werden. Performative Akte von Kindern, von Jugendlichen ...(...) ... werden in Fotografien (und Filmen) festgehalten. Sie sind deshalb eine geeignete Quelle, um Formen von Erziehung, intra- und intergenerationellen Umgang und Kulturen pädagogisch relevanter Gruppen zu erforschen“ (ebd.).
Um sich als geeignete Quelle zu erweisen, müssen Fotografien jedoch einem bestimmten Kriterienkatalog standhalten, dieses Vorgehen wird von Pilarczyk und Mietzner als „Qualifizierung und Klassifizierung“ (Pilarczyk/Mietzner 2005, 55) des Quellenbestandes benannt. Dazu gehören die Verknüpfung externer Kriterien wie Zeit, Ort, Autorenschaft und Verwendung, mit internen Kriterien wie Themen, Motive, formale Bildgestaltung und technische Angaben. Die Generierung der Hypothesen sollte durch die ikonografisch-ikonologische Bildinterpretation oder durch eine serielle Fotoanalyse erfolgen. Zur Sicherung der Ergebnisse der Analyse und Überprüfung der Hypothesen geben Pilarczyk und Mietzner folgende Verfahrensschritte an: • durch Mehrperspektivität • durch nachträgliche Rekonstruktion der fotografischen Situation
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1 Einleitende Beobachtungen: Fragestellung/Hypothesen
• durch Einbezug gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse • durch Einbezug anderer Quellen (Text-, Bilddokumente) • oder durch serielle Fotoanalyse (ebd., 132) Bezogen auf die fotografischen Quellen, die der Untersuchung dieser Arbeit zugrunde liegen und ausgewertet werden, gilt hinsichtlich der externen Kriterien, dass die Fotografien während des Untersuchungszeitraums zwischen 2004 und 2005 an verschiedenen Treffpunkten der Techno- und HipHop-Szene in Hannover, Bielefeld und einigen Kleinstädten in Nordrhein-Westfahlen und Niedersachsen erstellt wurden. Die Fotografien, die in den Jahren 1992, 1993 und 2002 entstanden sind, werden jeweils separat gekennzeichnet. Bezüglich der Autorenschaft muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass die Fotografien, die nicht von mir selbst stammen, in Zusammenarbeit mit den Studenten und Studentinnen im Rahmen zweier Lehrveranstaltungen im WS 2004 und SS 2005 an der Universität Hannover am Institut für Berufspädagogik angefertigt, ausgewertet und diskutiert wurden. Die Anfertigung der Fotografien und ihre Diskussion standen immer auch unter der Prämisse, sie für diese Arbeit verwenden zu können. Für die internen Kriterien wie Themen, Motive, formale Bildgestaltung und technische Angaben soll Folgendes gelten: Die Themen und Motive der Fotografien ergeben sich ausschließlich aus der von den jungen Männern und Frauen getragenen Kleidung. Hinsichtlich der formalen Bildgestaltung standen die Aspekte, den Fokus möglichst auf die ganze Person oder Personengruppe zu richten und die Kleidung gut sichtbar abzulichten, im Vordergrund. Zu den technischen Angaben: Die meisten der verwandten Fotografien sind mit einer digitalen Spiegelreflexkamera erstellt worden. Bei einigen Ausnahmen wurden andere digitale Kameras benutzt. Schwierigkeiten ergaben sich häufig aus den sehr schlechten Lichtverhältnissen in den Diskotheken und Clubs, so dass meistens ein externes Blitzgerät eingesetzt werden musste. Daraus ergeben sich leichte Farbabweichungen, die aber so geringfügig sind, dass sie bei der Auswertung der fotografischen Quellen zu vernachlässigen sind. Alle Fotografien sind nicht, außer in der Größe des Bildformats, mittels Bildbearbeitungsprogrammen verändert worden, so dass die mit der Digitalisierung der Fotografie aufgeworfene Debatte um die uneingeschränkte Produzierbarkeit bzw. Reproduzierbarkeit und die Möglichkeiten der Verfälschung und ihrer damit einhergehenden Referenzlosigkeit nicht berücksichtigt werden muss. Die verwendeten Fotografien beziehen ihre „Authentizität aus verschiedenen Momenten: Aus ihrem Bezug auf die Welt, aus ihrer eigenen Faktizität als Fotografie und aus ihrem faktischen Gebrauch“ (Pilarczyk/Mietzner 2005, 63), so ist auch eine „zur Singularität neigende Quelle, die das Besondere zeigt, eine gültige Quelle“ (ebd., 69).
1.2 Fotografien als wissenschaftliche Daten
25
Die insbesondere in der Kunstgeschichte bewährte ikonografisch-ikonologische Methode zur Bildinterpretation, der das Stufenmodell Panofskys zugrunde liegt und welches von Wünsche (1994) um eine zusätzliche vierte Stufe erweitert wurde (vgl. Piarczyk/Mietzner, 135), wird bei den Fotografien dieser Untersuchung in dieser dezidierten Form nur dann angewandt, wenn sich die Aussage der auf den Fotografien abgebildeten Kleidung nicht eindeutig oder durch die Texteinbindung oder den Titel erschließt. Im weitesten Sinne werden die von Pilaczyk und Mietzner beschriebenen Methoden der ikonografisch-ikonologischen Bildinterpretation und der seriellen Fotoanalyse zur Generierung der Hypothesen kombiniert und durch Mehrperspektivität sowie den Einbezug gesicherter wissenschaftlicher Erkenntnisse und Textquellen überprüft und gesichert.
2
Sozialwissenschaftliche Beiträge und Theorien zur Jugendphase
2.1
Zur Problematik der Eingrenzung des Jugendbegriffs „Diese Kategorien – Kindheit, Jugend, Reife – scheinen mir sehr sonderbar, und wenn ich sie gelegentlich in der Unterhaltung benutze, betrachte ich sie vor mir selber, stillschweigend, als geborgt.“ (Brodsky 1986, 1993, 2003, 31)
Die Jugendphase als eine eigenständige Lebensphase mit eindeutigen Altersgrenzen festzulegen wird aufgrund des sozialstrukturellen Wandels, der mit dem der Individualisierung (vgl. Beck 1986, Heitmeyer 1994, Böhnisch 1997) konnotiert wird, zunehmend schwieriger. Eine Theorie der Entgrenzung distanziert sich von Konzepten, die die Jugendphase durch das Ende der Kindheit und den Beginn des Erwachsenseins klar definieren, da die Übergänge von einer Lebensphase in die nächste immer weniger linear verlaufen. „Der Terminus ‘Jugend’ ist vieldeutig“ (Herrmann 1982, 11 ff.) und „hat viele Gesichter“ (Lenz 1988, in: Ferchhoff 1989, 118). In der traditionalen Gesellschaft war der Begriff Jugend nicht vorgesehen. Historisch greift der Begriff Jugend als eigenständige Lebensphase auf das Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Die Eingrenzung erfolgte über die eindeutige Grenzziehung der Zeit zwischen Kindheit und Erwachsensein, gemessen an der Beendigung der Schulzeit und dem Eintritt in die Erwerbsarbeit bzw. der Absolvierung des Wehrdienstes. Mit dem Beginn der Moderne und dem damit einhergehenden Bruch traditionaler Normen und Lebensvorstellungen kann der Terminus Jugend als offener Lebensbereich im normativen Sinne verstanden werden, wobei sich die Vorstellungen von dem Erreichen des Erwachsenenstatus ausschließlich an der Normalbiographie (Kohli 1985) der männlichen Jugend orientierten. Verlief in der ersten Moderne die soziale Integration der vorangegangenen Generationen noch in vorgegebenen, einigermaßen verlässlichen, wenn auch nicht immer zufriedenstellenden Bahnen, so fehlen in einer reflexiven Modernisierung (vgl.: Beck 1995), in der sich die gesellschaftlichen Strukturen grundlegend verändert haben, die Markierungspunkte, die die Schnittstellen der einzelnen Lebensphasen klar umreißen. Zwar kann der Beginn der Jugendphase noch einigermaßen verlässlich mit dem Eintreten der
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2 Sozialwissenschaftliche Beiträge und Theorien zur Jugendphase
Pubertät bestimmt werden, welche zur Zeit zwischen dem zwölften und vierzehnten Lebensjahr bei den Mädchen und zwischen dem dreizehnten und fünfzehnten Lebensjahr bei den Jungen liegt. Das Ende ist jedoch weniger eindeutig zu datieren, da sich die soziokulturellen und -ökonomischen Voraussetzungen, die die Ablösung aus der Herkunftsfamilie und damit den Eintritt in das Erwachsenenleben markierten, gewandelt haben. Die Jugend ist somit keine anthropologische Konstante, sondern ein soziales Phänomen, das sich mit den gesellschaftlichen Strukturen ändert. Betrachtet man die Lebensphase Jugend unter dem Blickwinkel des Phänomens der Freisetzung, so bedeutet dies, dass sich die Normalvorstellungen von ‘jugendlich oder erwachsen sein’ und die geschlechtsspezifischen Vorstellungen einer männlichen und weiblichen Normalbiographie zunehmend auflösen. Dies wird an den zentralen Themenkomplexen, die bisher nicht für die Erwachsenenphase, sondern nur für die Jugendphase relevant waren, deutlich.
2.2
Entgrenzungstendenzen und Grenzverschiebungen, Destandardisierung von Bildung und Arbeit
„Einer der konstitutiven Bestandteile des modernen kapitalistischen Geistes, und nicht nur dieses, sondern der modernen Kultur: Die rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee, ist … geboren aus dem Geist der christlichen Askese“ (Weber 1921, 202). Die Vergesellschaftung des Menschen, der Aufbau seines Status, seiner gesellschaftlichen Stellung und seines sozialen Ansehens erfolgten durch den Beruf und dessen Institutionalisierung über den Arbeitsmarkt. „… die Etablierung der Lebenslaufphase ‘Jugendzeit’ ist ein Ergebnis des gesellschaftlichen Modernisierungsprozesses“ (Fend 1990, 184). Unter dem Druck sozialhistorischer Wandlungsprozesse wie z. B. Mobilisierung, Rationalisierung, Flexibilisierung, entstehen Individualisierungsschübe (zum Freisetzungsprozess der Individuen siehe Beck 1986) und Pluralisierungen von Lebenswelten, die den Einzelnen vor die Aufgabe eines persönlich zu verantwortenden Lebens stellen. „Der Mensch wird (im radikalisierten Sinne Sartres) zur Wahl seiner Möglichkeiten, zum homo optionis. Leben, Tod, Geschlecht, Körperlichkeit, Identität, Religion, Ehe, Elternschaft, soziale Bindungen – alles wird sozusagen bis ins Kleingedruckte hinein entscheidbar …“ (Beck/Beck-Gernsheim 1994, 16). Die Vergesellschaftung setzt bei den Individuen an. Das Projekt Leben wird zum zentralen Bezugspunkt der eigenen Planung und Verantwortung. „Ob es gelingt oder misslingt, hängt in normativer Verantwortungszuschreibung nur von der Person
2.2 Entgrenzungstendenzen und Grenzverschiebungen
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selbst ab“ (Fend 1988, 305). So wird das Leben zum individuellen Besitz, der eigenverantwortlich gestaltet werden will und muss. Diese gesellschaftlichen Prozesse mit ihrer Entwicklung zur Arbeitsgesellschaft führen zu einer Neustrukturierung des Lebenslaufs. Die chronologische Standardisierung des Lebenslaufs, die „in modernen Gesellschaften um das Erwerbsleben herum organisiert ist“ (Kohli 1985, 3), gliedert sich in drei Phasen: Die Vorbereitungs-, Erwerbs- und Ruhestandsphase (vgl. Kohli 1985). Kohli betrachtet dieses Organisationsprinzip als eigenständige gesellschaftliche Strukturdimension, welche direkt am Individuum ansetzt und sein Handeln reguliert. Auch nach Böhnisch kristallisiert sich die Lebensphase Jugend als eine Vorbereitungsphase um die Themen Bildung und Ausbildung, die Erwachsenenphase um die Erwerbstätigkeit und das Alter um die Entberuflichung (Böhnisch 1997, 63). Die Folge der zunehmenden Differenzierung nach Altersphasen ist der Rückgang der Altersvarianz und die Entwicklung einer Normalbiographie. Ein weiterer Aspekt der historischen Institutionalisierung ist der Prozess der Verzeitlichung des Lebenslaufs. Von einer Lebensform, in der das Alter nur als kategorischer Status relevant war, hat der Wandel zu einer Lebensform geführt, zu deren zentralem Strukturprinzip der Ablauf der Lebenszeit gehört. Gegenüber einer vorwiegend situativ geordneten Lebensform hat sich die biographisch geordnete durchgesetzt. Das „Gerüst der Lebensführung“ (Kohli 1985, 1988) ermöglichte der Bevölkerung einen kontinuierlichen, erwartbaren Lebenslauf bis ins hohe Alter. In der historisch klassisch gewordenen Moderne konstituierte sich eine gesellschaftliche Situation, in der der Einzelne seinen individuellen Lebenslauf auf die bestehenden Erwerbs- und Reproduktionsmöglichkeiten einstellen musste. Die Kontinuität innerhalb des Erwerbslebens bildete die zentrale Stütze zur Erfahrung von materieller wie sozialer Stabilität und Kontinuität. Jedoch muss beachtet werden, dass das ‘Normalarbeitsverhältnis’ sich vorwiegend auf die Biographien der Männer bezog, während sich der Lebenslauf der Frauen seltener nach der Dreiteilung des Lebenslaufs konstituierte. Sie arbeiteten weniger oder in von der Norm abweichenden Beschäftigungsverhältnissen. Unter dem Druck struktureller Umwälzungen, die zu Arbeitslosigkeit, Arbeitszeitverkürzung, Teilzeitarbeit etc. in der ökonomischen Krise der siebziger Jahre führten, wurden die Kontinuitätsgarantien des Arbeitsmarktes zunehmend außer Kraft gesetzt. Aufgrund des sich seit den 80er Jahren zunehmend verschlechternden Arbeitsmarktes machten und machen Jugendliche auch heute die Erfahrung, sich als überflüssig und nutzlos zu empfinden, da der Übergang in das Berufsleben trotz längerer Ausbildungszeiten und höherer Schulabschlüsse problematischer geworden ist. Noch gilt teilweise die Vorstellung, dass im Jugendalter aktuelle Bedürfnisbefriedigungen aufgeschoben werden sollten, um statt dessen eine
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2 Sozialwissenschaftliche Beiträge und Theorien zur Jugendphase
berufliche Qualifikation zu erwerben. Aufgrund des heutigen geringen Ausbildungsplatzangebotes machen viele Jugendliche die Erfahrung, dass sie trotz großer Bemühungen keinen angemessenen Ausbildungsplatz bekommen. Sie stehen zwischen den Fronten, da eine Ausbildung zwar weiter notwendig ist, aber nicht mehr die hinreichende Voraussetzung zur Erlangung eines Arbeitsplatzes bietet. Dass sich dadurch ein weiteres Spannungsmoment, nämlich die Verlängerung der finanziellen Abhängigkeit der Jugendlichen durch längere Verweildauer in den sogenannten ‘Bildungsschleifen’, wie zum Beispiel BVJ und BGJ und anderweitigen schulischen Bildungseinrichtungen entwickelt, ist für immer mehr Jugendliche Realität geworden. Inwieweit die Jugendlichen mit dieser neuen Macht, dem Spannungsverhältnis zwischen zunehmender Freiheits- und Optionsvielfalt sowie der sich real entwickelnden wirtschaftlichen Rezessionen, die Aufnahme in den Arbeitsmarkt minimieren, umgehen und bearbeiten können, wird die Zukunft zeigen. Noch entzieht sich dem derzeitigen Forschungsstand das Wissen, ob sich durch die zunehmende Auflösung der normierten Arbeitsverhältnisse und der biographischen Normalitätsvorstellungen die Lebenskonzepte Jugendlicher im Blick auf Erwerbsarbeit definitiv verändert haben. Durch veränderte Anforderungen und Erwartungen, die nicht mehr durch tradierte Verhaltensmuster bewältigt werden können, werden bestehende Lebensperspektiven durch Bewusstwerdung der Problematik zur Disposition gestellt. Zur Lösung sind neue Identitätskonzepte (siehe Kap. 5) notwendig, denn wenn Identität und Status nicht mehr hauptsächlich durch berufliche Arbeit vermittelt werden können, müssen sie woanders gesucht und gefunden werden. So kann in der heutigen Situation Sinn und Sicherheit nicht mehr allein über den Beruf gewonnen werden. War für die männlichen Jugendlichen bis zu den 80er Jahren die Erwerbsarbeit noch ein wesentliches Strukturmerkmal, so wird ab den 90er Jahren für die Jugendlichen eher die Kostenseite der Entstrukturierung dominant. Laut dem Berufsbildungsbericht von 2002 sind junge Männer bundesweit zu 20,0% nach abgeschlossener Ausbildung arbeitslos (alte Länder 15,9%, neue Länder 33,6%) und junge Frauen zu 24,8% (alte Länder 19,3%, neue Länder 44,1%). Nicht nur Religion, Weltbilder und Traditionsbestände sind von der ‘Entzauberung’ (Weber 1978) betroffen, sondern auch die lebensweltlichen Gewissheiten (wie z. B. die Berufsarbeit) selbst. In der reflexiv gewordenen Moderne ist Entzauberung für jeden erfahrbar geworden und die Arbeitsgesellschaft stellt einen widersprüchlichen Modus der Vergesellschaftung dar. Indem die Grundlagen des modernen okzidentalen Rationalismus in Konflikt mit den realen gesellschaftlichen Entwicklungen geraten sind, bilden sich neue Formen der Erwerbsarbeit wie Teilzeitarbeit oder die Zunahme befristeter Erwerbsverhältnisse, die für die brüchiger werdenden Berufskarrieren
2.2 Entgrenzungstendenzen und Grenzverschiebungen
31
sprechen. Die neue ökonomische Situation verlangt nach Umgestaltung der sozialen und arbeitsrechtlichen Rahmenbedingungen wie z. B. Gleitzeit, Heraufsetzung des Rentenalters, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen etc., so dass sich das Normalarbeitsverhältnis teilweise auflösen konnte. „Als Konsequenz der Deregulierung ist eine neue Topographie der Arbeit entstanden“ (Osterland 1990, 353), in der sich „eine Vielfalt von ‘prekären’, ‘untypischen’, ‘nicht standardisierten’ Arbeitsverhältnissen etabliert“ (Osterland 1990, 353). Nach Schätzung der Gewerkschaften (WSI 1988) beläuft sich die Zahl der Erwerbsbeschäftigten, die nicht im Normalarbeitsverhältnis stehen, auf ca. 30 Prozent. Osterland fügt dem hinzu, dass in der Zeit von 1984 bis 1986 jeder zweite Arbeitsplatz, der neu besetzt wurde, nicht dem Normalarbeitsverhältnis entsprach und 60 Prozent aller Wiederbeschäftigten nur einen Teilzeitarbeitsplatz oder eine Arbeitsstelle mit einem befristeten Arbeitsvertrag fanden. Von dieser Situation sind vorwiegend Jugendliche betroffen, denen eine Ausbildung mit anschließender Weiterbeschäftigung verwehrt wird. „Die gesichert lebenslange Vollzeitbeschäftigung ist nicht (mehr) Grundlage der Lebensplanung“ (vgl. Osterland 1990, 353). Hinsichtlich der Erwerbssituation führt dies zu Unsicherheit und Diskontinuität. Die Institutionalisierung des Lebenslaufs anhand des Erwerbslebens ist für viele der heutigen Jugendlichen faktisch außer Kraft getreten und zwingt sie zu einer individuelleren Biographisierung mit dem Trend in Richtung situativer, flexibler Lebensformen. Risiken und Brüche im Lebenslauf gehören zunehmend zur lebensweltlichen Alltagserfahrung. „Flexibilität der Lebensführung … könnte sich allerdings durchaus zu einer auch subjektiv (vielleicht nur zeitweilig) angestrebten Normalität der Jüngeren entwickeln“ (Osterland 1990, 360). Osterland fügt dem hinzu, dass „durch den Prozess der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses“ (Osterland 1990, 360) die junge Generation auch „ein wenig mehr Verfügungsmacht über ihr eigenes Leben zurückerhält“ (Osterland 1990, 360). Wenn sich die erhöhten Ansprüche an die Erwerbsarbeit nicht erfüllen lassen, kann dies zu einer stärkeren Hinwendung in andere Lebensbereiche, wie z. B. der Verwirklichung von Freizeitinteressen führen (Baethge u. a. 1988, Haunert/Lang 1994), die neue Formen der Weltinterpretation, neue Normen für das Alltagsleben und neue Sinnzuschreibungen bieten, welche sich unter anderem in dem Bedeutungszuwachs der sozialen Einbindung Jugendlicher in Szenen, Cliquen und den verschiedenen jugendkulturellen Stilbildungen ausdrücken. So interpretiert Ziehe den Zuwachs des Bedeutungsgehaltes der Stile „als ein Verlangen nach Re-Personalisierung“ , wobei „die Stile keineswegs lediglich Illustration sind, sondern hochbesetztes, geradezu existentielles Medium für die eigene Personalisation“ (Ziehe 1985, 23), die aufgrund erodierender Traditionalismen nicht mehr als natürlich gegeben erfahren wird.
32
2.2.1
2 Sozialwissenschaftliche Beiträge und Theorien zur Jugendphase
Entgrenzungstendenzen und Grenzverschiebungen innerhalb der Familie, der Wohnformen und des Auszugsverhaltens
Entgrenzungstendenzen und die daraus resultierende Destandardisierung des Lebenslaufs lassen sich unter anderem deutlich anhand der Themenkomplexe Familie, Wohnformen und Auszugsverhalten feststellen. Aufgrund der verlängerten Bildungs-, Ausbildungs- und Berufsfindungsphasen und der damit einhergehenden ökonomischen Abhängigkeiten von der Herkunftsfamilie ergeben sich „semiautonome Mischformen des Wohnens“ (Silbereisen, Schwarz 1996, 305). So pendeln ein Viertel der Mitte Zwanzigjährigen zwischen dem Elternhaus und der eigenen Wohnung/dem eigenen Zimmer, und die jungen Erwachsenen erhalten länger materielle wie immaterielle Unterstützungen seitens der Eltern (vgl. Vaskovics 1997, Buba 2001). Die Gründe für die längeren Verweilzeiten im Elternhaus müssen jedoch differenzierter betrachtet werden. So kommen Silbereisen und Schwarz in ihrer Untersuchung zu dem Ergebnis, dass eine „Verlängerung der Bildungs- und Ausbildungszeiten ins dritte Lebensjahrzehnt hinein nicht notwendigerweise mit einer Verspätung des Auszugs von zu Hause verbunden sein muß“ (Sibereisen/Schwarz 1996) und dass sich das Auszugsalter bei verlängerten Ausbildungszeiten tendenziell bei einer immer größer werdenden Gruppe eher verjüngt. Dagegen steht die Sorge der Familienforscher, dass „eine historische Tendenz zur Ausdehnung der Jugendphase ins dritte Lebensjahrzehnt hinein zu einem längeren Verbleib der jüngeren Generation im Elternhaus führt“ (Zinnecker/Strzoda/Georg 1996). Zu übereinstimmenden Ergebnissen kommen die Studien in der Beschreibung der Geschlechtsunterschiede. Die überalterten ‘Nesthocker’, die auf der feuilletonistisch thematisierten Ebene im ‘Hotel Mama’ wohnen, sind auch auf der wissenschaftlichen Ebene als überwiegend junge Männer mit abgeschlossener Ausbildung identifiziert worden (vgl. Buba et al. 2001). Insgesamt verweisen die Mischformen des Auszugsverhaltens, die individuellen Zwischenlösungen seitens der Abhängigkeiten und die unterschiedlichen Möglichkeiten der Wohnformen auf eine Verlängerung der Jugendphase bis in das dritte Lebensjahrzehnt und somit auf neue Grenzverschiebungen der Jugend- und Erwachsenenphasen. Diese neuen Entgrenzungstendenzen wirken sich möglicherweise auch auf die in dieser Phase entwickelten Werte und Lebensmuster aus (vgl. Papastefanou 2000). Im Zuge der Frauenbewegung wurde die Problematik der geschlechtsspezifischen Sozialisation thematisiert, was nicht nur die Benachteiligung von Mädchen und Frauen aufgedeckt hat, sondern auch zu Konsequenzen hinsichtlich der Verteilung
2.3 Sozialisationstheoretische Subjektmodelle in der Jugendforschung
33
von Arbeit und Familienarbeit geführt hat. So ist das mittlere Heiratsalter der Frauen gestiegen, während Geburtenziffer und Wiederverheiratungsrate gesunken sind. Die Zahl der Ehescheidungen ist dagegen enorm gestiegen. Heute wird etwa jede dritte Ehe geschieden, in Großstädten jede zweite. Als Folge davon hat die Anzahl der geschiedenen und alleinerziehenden Frauen zugenommen. Diese Entwicklungen führten u. a. zu einer verstärkten Orientierung hinsichtlich der Berufsausübung. Die Ausübung eines Berufes ist für Frauen nicht mehr nur erwartbar, sondern auch erfahrbar geworden. Durch neue Formen des Zusammenlebens wie z. B. Wohngemeinschaften, Singles, unvollständige Familien, alleinerziehende Mütter und Väter sowie nichteheliche Lebensgemeinschaften, wird die herkömmliche Form der Kleinfamilie zu einer unter mehreren Möglichkeiten der Lebensgestaltung. Mehr Freiheiten, die Zunahme an Handlungsspielräumen und Wahlmöglichkeiten scheinen neue Unsicherheiten mit sich zu bringen, die individuell bearbeitet werden müssen und nach einer komplexeren Kompetenz hinsichtlich der Bewältigungsstrategien verlangen. Die institutionalisierten Grenzziehungen sind im Zuge forcierter Freisetzungen durch individualisierte, pluralisierte und fragmentierte Übergänge und den damit einhergehenden Entgrenzungstendenzen ersetzt worden, die den Einzelnen zunehmend vor die Aufgabe stellen, eigenständige Lebensformen und Lebensentwürfe zu entwickeln, aus denen sich möglicherweise neue Biographiemuster und Lebensphasen ergeben, die jenseits der eindeutig begrenzten Statuspassagen Kindheit, Jugendliche, Erwachsene liegen.
2.3
Sozialisationstheoretische Subjektmodelle in der Jugendforschung
Für Hurrelmann und Neubauer (1986) ist die zentrale Fragestellung, wie in der Jugendphase die Prozesse der Vergesellschaftung und der Individuation miteinander verbunden werden. Die Entwicklungsphase ist für sie abgeschlossen, wenn bestimmte Qualifikationen erworben wurden, die zur autonomen Handlungsfähigkeit und zur eigenen Persönlichkeit führen. Hurrelmann und Neubauer entwickelten dazu das Modell des produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts. Die von dem Individuum zu erarbeitende Realität wird in eine ‘innere’ und eine ‘äußere’ gegliedert, wobei mit äußerer Realität das soziale und materielle Umfeld gemeint ist, und die innere Realität als die Auseinandersetzung mit dem eigenen Körper und den eigenen Emotionen begriffen wird. ‘Produktiv’ beinhaltet, dass durch die Bewältigung
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2 Sozialwissenschaftliche Beiträge und Theorien zur Jugendphase
alterstypischer Entwicklungsaufgaben grundlegende Kompetenzen erlangt werden. Eine Handlungskompetenz muss insbesondere in folgenden Bereichen oder ‘Handlungssektoren’ erworben werden: • Schulische und berufliche Tätigkeit • Geschlechtsrollenübernahme und soziales Bindungsverhalten zu Gleichaltrigen • Aufbau eines eigenen Wert- und Normsystems und eines ethischen und politischen Bewusstseins • Nutzung des Konsummarktes und des kulturellen Freizeitmarktes Als Erfahrungsräume zum Erwerb von Handlungskompetenzen werden die Familie, die Schule und peer-groups, also jugendspezifische, homogene Altersgruppen genannt, wobei der Schule der grundlegende Faktor zur Bildung von gleichaltrigen Gruppen zugeschrieben wird. Aufgrund der sozialen und materiellen Prägung des Jugendlichen durch sein Umfeld und der Einschränkung durch bestimmte institutionelle Rahmenbedingungen wie z. B. die verlängerte Schulpflicht, verschiebt sich die Auseinandersetzung mit Arbeitsprozessen. Jugendliche werden durch das Fernhalten von wesentlichen gesellschaftlichen Erfahrungsfeldern wie der Berufsarbeit, im Erwerb wesentlicher Erfahrungen und Qualifikationen eingeschränkt. Nach Hurrelmann und Neubauer hat die Jugendphase im Lebenslauf eines Menschen auch deshalb eine herausragende Stellung, da neben den allgemeinen Prozessen der gesellschaftlichen Integration und der Individuation gleichzeitig Optionen für die eigene Zukunft in Form von Bildungstiteln erworben werden müssen. Als übergeordnete Entwicklungsaufgabe steht „die Gewinnung der Identität gegenüber der drohenden Diffusion des Selbstbildes beim Einrücken in immer komplexere soziale Handlungsfelder“ (Hurrelmann/Neubauer 1986, 157). Für Hurrelmann und Neubauer beginnt Jugend mit der Fähigkeit zur Selbstreflexion und endet mit dem Erwerb von Grundqualifikationen, die für die Erwachsenenwelt wesentlich sind. Jugendliche werden als aktive und kompetent Handelnde begriffen, die nicht nur passiv auf starre vorhandene gesellschaftliche Bedingungen und Entwicklungsaufgaben reagieren, sondern diese zum Teil unbewusst, zum größeren Teil jedoch aktiv und produktiv bewältigen und verarbeiten.
2.4
Jugend und Jugendkulturen
Jugendkulturen werden in der Jugendforschung als internationale, globale Stilgemeinschaften beschrieben, deren Konstitution sich über die Grenze von Sprachen,
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geographischen Standpunkten und Nationen hinwegsetzt. Sie bieten Jugendlichen die Möglichkeit, gegenüber bestehenden Lebensformen von Erwachsenen und Eltern sowie gegenüber gesellschaftlichen Strukturen und sozialen Lebensverhältnissen neue Ausdrucksweisen zu entwickeln, die den wachsenden Ansprüchen hinsichtlich Persönlichkeitsentwicklung, Selbstverwirklichung und der wachsenden Verselbständigung von Jugendlichen gerecht werden. Jedoch lassen sich eindeutige Grenzziehungen zwischen den einzelnen Jugendkulturen in postindustriellen Gesellschaften kaum noch festlegen. Jugendkulturen erweisen sich als sozialwissenschaftliches Konstrukt, die Eigenständigkeit und Vielfältigkeit gleichzeitig darstellen. Baacke (1987) begreift Jugend nicht ausschließlich als Problemgruppe, wie es in den meisten entwicklungspsychologischen Ansätzen üblich ist, sondern als einen Teil unserer Gesellschaft, der eine eigene Kultur – eine in sich vielfältig differenzierte Jugendkultur – bildet und sich aus dieser heraus auch definiert. „Es sind die Jugendkulturen, von denen der neuzeitliche Begriff von Jugend seinen Ausgang genommen hat“ (Baacke 1987, 160). Baacke nimmt damit Abstand von dem historisch entstandenen mystifizierenden Jugendbegriff, der die Jugendphase positiv wie negativ verklärt. In Baackes Auseinandersetzung mit Jugend wird von einer Überdramatisierung der Jugendkultur und ihren wechselnden Oberflächenstilisierungen Abstand genommen. Jugend wird als „Generationsgestalt“ (Fend 1990, 178) eines bestimmten Zeitraums oder einer bestimmten Epoche verstanden, die an der Erwachsenenwelt partizipiert, aber auch auf diese zurückwirkt. Dies wird als retroaktive Sozialisation bezeichnet. Diese Umstellung des Erziehungsverhältnisses lässt sich besonders in den Bereichen des Lebensstils und des Habitus, welche sich unter anderem über das Bekleidungsverhalten ausdrücken, feststellen. „Viele Jugendliche nutzen und kreieren zugleich im Zusammenhang ihres sportiv-juvenilen körperlichen Kapitals das kulturelle Zeichensystem Mode, um z. B. den älteren Zuschauern sichtbar zu machen und zu demonstrieren, dass in diesem Falle einmal die Töchter und Söhne den Ton angeben und den Trend setzen, der dann allerdings häufig von den Eltern und Älteren als Anregung aufgegriffen und nicht selten nachgeahmt wird“ (Ferchhoff/Neubauer 1989, 83 f.), wie dies z. B. die Geschichte der Jeans – von ihrem einstigen spektakulären Auftritt bis zu ihrer heutigen Salonfähigkeit belegt. Solche Feststellungen sind nach Baacke nicht neu. Er verweist in diesem Zusammenhang auf die sozialanthropologische Sicht Margret Meads, die Kultur in drei große aufeinander folgende Kulturen unterteilt: 1. Die postfigurativen Kulturen betreffen das Leben in traditionellen Gemeinschaften, in denen die Vorstellungen der Zukunft identisch mit denen der Vergangenheit sind.
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2. In den konfigurativen Kulturen, die in der Gegenwart vorzufinden sind, orientieren sich die Jugendlichen nicht mehr nach ihrer Herkunft oder der Herkunft ihrer Eltern, sondern sind sich ihres Unterschiedes zu der vorherigen Generation bewusst. Sie erkennen Standpunkte Gleichaltriger eher an als die der Eltern oder Großeltern. „Verhaltenserwartungen werden jetzt in der Familie nur noch durch zwei Generationen kenntlich gemacht. Man weiß, dass sich die Eltern von den Großeltern unterscheiden und darum auch, dass man sich selbst von den Eltern unterscheiden wird“ (Baacke 1987, 183). 3. Die präfigurativen Kulturen werden durch die Zukunft bestimmt, von der niemand weiß, wie sie aussehen wird. Diese Kinder „werden dermaßen anders sein, dass jeglicher Strukturalismus, der die Stabilität von bestimmten Identitäten innerhalb sich wandelnder Phänomene behauptet, zuschanden wird“ (Baacke 1987, 183). In diesem Sinn bieten Jugendkulturen und peer-groups Jugendlichen eine Möglichkeit mit der Ungewissheit von Zukunft umzugehen und nicht Vorhersehbares zu simulieren und auszuprobieren. Dies ist sozusagen als „Probehandeln konsumtiver Rollen“ (Baacke 1987, 185) zu betrachten, in dem Fragen nach Sinn, Glück und Identität neu gestellt und vielleicht auch neu beantwortet werden können. Jugendliche wollen sich nicht „pädagogischen Zwecken unterworfen wissen“ (Baacke 1988, 62). Sie wollen „vielmehr abgrenzen, irritieren, das Risiko der Selbstsuche auf sich nehmen“ (ebd.). Auf die in der Literatur auch als ‘postmodern’ stilisierten gesellschaftlichen Veränderungen antworten die Jugendkulturen mit Pluralisierung, Individualisierung und Resistenz. Unter Pluralisierung soll hier die Zunahme und Verschmelzung einzelner Systemgrenzen und -übergänge innerhalb der einzelnen Jugendkulturen verstanden werden, so dass untereinander bestehende Abhängigkeiten undurchsichtig werden. Die Folgen der Pluralisierung sind Unübersichtlichkeit und zahlreiche, wenig verlässliche Möglichkeiten der Sinngebung. Individualisierung bedeutet, dass aufgrund fehlender Orientierungs- und Handlungsmuster jeder Einzelne seine für ihn persönlich passenden Muster entwickeln muss, um für sich selbst erkennbar zu bleiben. Unter Resistenz wird das ambivalente Verhältnis Jugendlicher verstanden, die auf der einen Seite Ängste und Gefühle äußern, auf der anderen Seite aber auf der Erfüllung privater Glücks- und Hoffnungszeichen beharren. Ob die Folge dieser Haltung, wie Baacke anführt, politische Unstrukturiertheit ist, da „Engagement und Eindeutigkeit für sie nicht mehr so leicht herzustellen sind“ (vgl. Baacke 1988, 48), wird von Meyer in sofern differenziert, als dass er der Techno-Szene nicht nur eine hedonistische Haltung vorwirft, sondern in der Szene
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„Phänomene der Politisierung“ (Meyer 2000, 159) sieht und „veränderte Formen politischer Subjektivität“ (ebd.). Diese Strategien haben nach Baacke zu einem hohen Grad an postkonventioneller Selbstreflexibilität geführt. Jugendliche sind heute in der Lage, ihre Situation zu erkennen, darüber nachzudenken und zu reflektieren. „Dies ist ohne Zweifel Folge davon, dass unser Alltag mit Psychologismen durchsetzt ist (schon 13-Jährige erklären ihren Lehrern ‘Leistungsversagen’ damit, daß sie eben in der Pubertät stecken und deswegen gewisse Schwierigkeiten hätten)“ (Baacke 1988, 48). Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass Jugendliche heute schon von frühester Kindheit an mit Themen der Beziehungen und Selbstdarstellungen (z. B. ‘Dallas’, ‘Denver Clan’) konfrontiert werden und diese Selbstdarstellungsmuster in ihren eigenen „Selbst-Kostümierungs-Fundus“ (Baacke 1988, 49) übernehmen. Postkonventionell ist diese Art der Selbstreflexibilität nach Baacke in der Hinsicht, dass einmal getroffene Entscheidungen nicht verbindlich sind oder sich in tieferen Bewusstseinsebenen manifestieren, „sondern häufig im Ausprobieren verschiedener Kleidungsmuster für das Selbst“ (Baacke 1988,49) bleiben. Jugendliche können an mehreren Jugendkulturen gleichzeitig partizipieren oder chronologisch an ihnen teilnehmen. Abgesehen von der kognitiven, emotionalen und sozialen Entwicklung von Jugendlichen, sind demnach Jugendkulturen als relativ freie „kulturell vermittelte Definitionsspielräume“ (Baacke 1988, 62) anzusehen, die den Jugendlichen die Möglichkeit geben, sich selbst zu erfahren und mit den unterschiedlichsten Lebenskonzepten zu spielen. In einer Zeit, in der konventionelle Rollenidentitäten in Frage gestellt werden, in der nicht nur Arbeit sondern auch Sinn knapp geworden ist, können die unterschiedlichen Jugendstile eine identitätsstiftende Funktion übernehmen. Tradierte Kultur und Beziehungsformen können im Zuge von Rationalisierung und Technologisierung nicht mehr die Vorstellung von ‘richtigem’ oder ‘falschem’ Leben vermitteln. An ihre Stelle treten Jugendkulturen. Sie schaffen ihre eigenen Milieus, in denen über die Inszenierung des Ichs Fragen des Glücksanspruchs der gegenwärtigen Verfassung, aber auch der zukünftigen Sinnorientierung behandelt werden. Hornstein beschreibt diesen Prozess sehr prägnant: „Es findet gegenwärtig die weitreichende Neudefinition der gesellschaftlichen Rolle der Jugend statt, ein Prozess, an dem ökonomische, kulturelle, soziale, politische Wandlungen beteiligt sind, eine Neudefinition, auf die die Jugend auf ihre Weise, ‘antwortet’, der sie sich teilweise unterwirft, der sie sich aber auch entzieht, insofern sie unter modernen Bedingungen nicht nur ihre Geschichte im gesellschaftlichen Zusammenhang hat, sondern in gewisser Weise auch ‘macht’“ (Hornstein 1985, 158). So gesehen sind Jugendkulturen das Pendant der gesellschaftlichen Situation. „Die Möglichkeitsräume sind gewachsen. Restriktionen durch Mangel an Geld,
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Zeit, Angeboten, Beschränkungen durch Zugangsbarrieren und Informationsdefizite, Zwänge durch soziale Kontrolle und Peinlichkeitsschranken sind fast schneller zurückgegangen, als wir es verkraften konnten“ (Schulze 1992, 19). Die Vielfalt von Optionen und Sinnkonstruktionen wird in den pluralisierten Jugendkulturen und -stilen widergespiegelt. In einer Gesellschaft, in der sich auch in der Erwachsenenwelt ein vielfältiges Nebeneinander von Stilen, Milieus, Szenen und ‘In-Treffs’ entwickelt hat, lässt sich auch in den Jugendkulturen keine Homogenität mehr feststellen. In diesen verschiedensten Szenen wird Sinn jedoch nicht mehr über Belehrung, theoretische Diskurse oder Vorbilder vermittelt, sondern über Medien wie Musik, Tanz, Sport, Filme oder über den Gestus von Trends und Moden. Jugendkulturen bieten verlässliche Optionen an. Wenn dies auch kein sich Festlegen auf etwas Ganzes bedeutet, so bieten Jugendkulturen die Möglichkeit, verschiedene Identitäten und Selbstkonzepte zu erproben. Jugendkulturen haben hinsichtlich ihres Bekleidungsverhaltens häufig einen vorwegnehmenden Charakter. Über ihr ästhetisches Verhalten sprechen sie Probleme und Tendenzen der Gesellschaft an, bevor diese sie bewusst wahrnimmt. Sie spiegeln die Konflikte einer Generation wieder, die von ambivalenten Wertkategorien geprägt ist, wie z. B. Fortschrittsglaube versus traditionelle Denkmuster, Zukunftsorientiertheit versus Regression in veraltete Nostalgien, neue Technologien versus neue Frömmigkeit etc. In einer Zeit, in der stabile, authentische Identitätskonzepte keinen Bestand mehr haben, in der dem Individuum seine Stellung nicht mehr durch festgelegte traditionelle Normen gesellschaftlich vermittelt wird und jeder der Architekt seines eigenen Selbst ist, können Jugendkulturen vielleicht Hilfe bieten, um den Einzelnen auf den lebenslangen nicht abschließenden Prozess der eigenen Selbst- und Identitätsfindung vorzubereiten. Vielleicht werden dann die verschiedenen und vielfältigen zur Verfügung stehenden Möglichkeitsspielräume nicht nur als Zumutung und verunsichernd erlebt, sondern als persönlicher Zugewinn von neuen Freiheiten, die zu einer „multiplen Identität“ (Ferchhoff 1991, 187) führen.
2.4.1
Zum Terminus Subkultur
Die Existenz von Jugend(sub)kuturen und der Terminus Subkultur werden seit den neunziger Jahren zunehmend in Frage und zur Diskussion gestellt (vgl. Sander 1995, Schwendter 1995) und sind angesichts der sehr heterogenen Verwendungszwecke schwer zu definieren. So werden die Begriffe Subkultur, Gegenkultur, Teilkultur und Jugendkultur in der einschlägigen Literatur weitgehend synonym verwandt. Historisch geht das Konstrukt der Subkultur innerhalb der Sozialwissen-
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schaften auf den angloamerikanischen Raum der 20er, 30er und 40er Jahre zurück. Der Begriff Subkultur bezieht sich auf die „sogenannten Gang-Studien delinquenten (jugendlichen) Verhaltens der interaktionistisch und sozialökologisch ausgerichteten Chicago-Schule“ (Baacke/ Ferchhoff 1988, 291). Dieser Ansatz versteht Subkultur als eine Teilkultur unter- und innerhalb einer dominanten, allgemein anerkannten und akzeptierten Hochkultur. „So gesehen meint Subkultur ein ungeordnetes, manchmal auch unterdrücktes, oftmals auch ein geringgeschätztes kulturelles Segment, dessen Zulassung und Fortbestand stets von der Toleranz oder vom Integrationspotential der dominanten Kultur abhängig ist und nie aus seinem subalternen Status entlassen wird“ (Ferchhoff 1990, 202). Dies entspricht auch Wienkoops Subkulturkonzept, in dem Subkultur als System einer umfassenden Gesamtkultur verstanden wird. „Diese kulturellen Subsysteme weisen immer zugleich integrative und segregative Momente in Bezug zum Kulturganzen auf“ (Wienkoop 1984, 26). Einerseits weisen Subkulturen Charakteristika von eigenständigen Kulturen im Hinblick auf eigene Normen, Werte, Verhaltens- und Gestaltungsformen auf. Andererseits „halten sich Subkulturen im Rahmen und in weitgehender Abhängigkeit des umfassenden Kultursystems“ (Wienkoop 1984, 27). Die Eigenständigkeit einer Subkultur ist demnach nur teilweise gegeben. Die Diskrepanz von Subkulturen zur Gesamtkultur ist unterschiedlich. Bei der Definition ist zu beachten, dass der Begriff Subkultur nur denjenigen Teilkulturen zugewiesen ist, denen eine Stellung „unterhalb“ der maßgeblichen Kultur zugewiesen wird. Die Kultur der gehobenen Sozialschichten wird in der Regel nicht als Subkultur tituliert, „vielmehr wird ihre Dominanz innerhalb der Gesellschaft immer wieder betont“ (Wienkopp 1984, 27). Aufgrund der Enttraditionalisierung der Lebensbereiche innerhalb der Hochkultur und der Vermischung der Gegen-, Sub-, Trivial- und Massenkultur scheint sich der Begriff Subkultur von seiner ehemaligen Bedeutung losgelöst zu haben. „Es gibt keine Hochkultur mehr, von der aus die richtige Bedeutung gegeben werden kann und gegenüber deren Bedeutungen alle anderen Auffassungen Abweichungen wären“ (Burckhard 1986, 169). In der Jugendsubkulturtheorie der 80er Jahre wurde versucht, Subkulturen zu lokalisieren und in bestimmte Klassen oder Schichten einzuordnen. Dies ist jedoch immer weniger möglich. Subkulturen sind nicht immer nur Bestandteil einer bestimmten Gesellschaftsschicht, wie dies das Beispiel des Punk verdeutlicht. Jugendsubkulturen wurden und werden auch heute massenmedial kommerzialisiert und verbreiten sich daher international. Da es in modernen Gesellschaften immer schwieriger geworden ist, eindeutige Zuordnungen zu bestimmten Schichten, Gruppen oder Klassen vorzunehmen, gilt das Konzept der Klassengesellschaft als obsolet.
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Nach Ferchhoff ist von dem Begriff Subkultur Abstand zu nehmen, da er die gegenwärtige Situation der vielfältigen Jugendkulturen nicht mehr beschreiben kann. Es scheint immer schwieriger zu werden, „zwischen den ursprünglich ‘authentischen Jugendsubkulturen’ und deren Vermischungen, Imitationen und Kommerzialisierungen eindeutig etwa klassenspezifisch zu differenzieren“ (Ferchhoff 1990, 204). Ziehe weist darauf hin, dass dem Jugendsubkulturbegriff für unser heutiges Verständnis die Bedeutungsebenen ‘jung – und offen sein’ immanent sind. „Dieses implizierte Verständnis von ‘Jugendsubkulturen’ vermag nun beides miteinander zu verbinden, also die Bedeutungshöfe von Jungsein und offener Lebensstil-Erprobungen“ (Ziehe 1991, 58). Nach Ziehe zerfällt der Begriff Jugendsubkulturen in seine Einzelbestandteile, und zwar in „Kulturen“ und „Jugendliche“. In der Thematisierung von Lebensstil-Trends geht es zunehmend um „Individualisierung von Erwachsenen und Lebensstil-Innovationen“ (Ziehe 1991, 58). Neuheiten in den Jugendkulturen überraschen und schockieren nach den Erfahrungen mit Punk nur noch Wenige in der Bevölkerung. Ziehe spricht von einer „Normalisierung 1“ und einer „Normalisierung 2“. Mit „Normalisierung 1“ ist die Entdramatisierung der einzelnen kulturellen Phänomene gemeint, die die einstige Gegnerschaft kultureller Schichten aufhebt, die Verschiebung der „Konstellation von (bislang subkulturellen) Lebensstil-Impulsen einerseits und gesamtkulturellen, andere Selbstverständlichkeiten hinnehmenden Reaktionsmustern andererseits“ (Ziehe 1991, 59). Die „Normalisierung 2“ beinhaltet die Entdramatisierung des Generationenverhältnisses, in denen die Kämpfe zwischen den Generationen nicht mehr in der Dramatik und Tragik ausgefochten werden müssen, wie in den 60er und 70er Jahren. Mit zunehmender Permissivität und Toleranz haben sich die Konflikte zwischen den Generationen entschärft. „Die Auseinandersetzungen sind weniger durch einen harten sozialmoralischen Wertedissens geprägt, als durch zuviel Besorgtheit“ (Ziehe 1991, 59) der Eltern um die Zukunft ihrer Kinder. Ziehe schließt aus den Normalisierungsbewegungen, dass von ‘scharfen Stil-Konfrontationen’ Abstand genommen werden muss. Die einstigen hegemonialen Erscheinungsbilder, wie es z. B. der Punker oder Rocker noch waren, werden durch „Lebensstil- Innovationen und Lebensstil-Pluralisierungen“ (Ziehe 1991, 60) substituiert. Angesichts dieser Entwicklungen muss wohl von einem allgemeingültigen und umfassenden Kulturbegriff Abstand genommen werden, dem einzelne konträre Subkulturen gegenüberstehen. Über die Grenzen der Subkulturanalyse sagt Cohen Folgendes: „Subkulturen können allerdings, per Definitionem, nur unterhalb der dominanten Kultur existieren, sie können nicht in ihr existieren, und folglich kann die Subkultur-Analyse den konventionellen Jugendstilen nicht gerecht werden“ (Murdock 1981, 36).
2.4 Jugend und Jugendkulturen
2.4.2
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Zum Terminus Stil
Der Terminus Stil wird seit Anfang des achtzehnten Jahrhunderts „auf Verhältnisse des menschlichen Lebens im weitesten Sinn angewandt, eine Tendenz, die sich im 20. ins Unübersehbare ausweitet“ (Pfeiffer 1986, 711). Mit dem Begriff Stil wird die expressive Prägnanz der Ausstrahlung von sprachlichem und nichtsprachlichem Verhalten und Handeln beschrieben und es scheint, als ob der Stilbegriff in den wissenschaftlichen Disziplinen für die Analyse all jener Phänomene herangezogen wird, „die sich weder auf Kontingenz noch auf Determination einschwören lassen“ (Pfeiffer, 1986, 713). Bezogen auf die jugendkulturellen Stilbildungen Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts lässt sich feststellen: „Die Stile, Gruppen, Modetrends waren noch nie so vielfältig wie in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, so dass sich heute eigentlich keine hegemoniale Strömung innerhalb der Jugend mehr ausmachen läßt“ (Kiesi 1989). In der neueren Literatur zum Thema Jugend und Jugendkulturen ist der Terminus Subkultur von dem des Stils abgelöst worden (vgl. Ferchhoff 1990, Ziehe 1991, Soeffner 1986 etc.). Auch die zentrale These des CCCS (Center for Contemporary Cultural Studies) in Birmingham konstatiert, dass in der Thematisierung von jugendlichen Subkulturen nicht mehr die Rede von Kultur sondern Stil sein müsse. Jugendliche Ausdrucksformen lassen sich am treffendsten mit dem Begriff des Stils analysieren und beschreiben. Soeffner definiert Stil aus interaktionischer Sicht als eine beobachtbare und spezifische (Selbst-)Präsentation, durch die die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer bestimmten Gruppe gekennzeichnet und manifestiert wird. Das Individuum partizipiert an dem Habitus und Lebensstil einer Gruppe. Der Stil ist „Teil eines umfassenden Systems von Zeichen, Symbolen und Verweisungen für soziale Orientierung: Er ist Ausdruck, Instrument und Ergebnis sozialer Orientierung“ (Soeffner 1986, 318). Die verschiedenen Stile haben neben der alltäglichen auch eine ästhetische Komponente. Somit wird Stil als ein Ergebnis gezielter Handlungen in Richtung „kultureller Überhöhung des Alltags“ (Soeffner 1986, 319) betrachtet. „Dementsprechend zeigt der Stil eines Individuums nicht nur an, wer ‘wer’ oder ‘was’ ist, sondern auch wer ‘wer’ für wen in welcher Situation ist“ (Soeffner 1986, 318). Jugendliche Stilbildungen zeigen demnach auf der einen Seite die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst, auf der anderen Seite aber auch die Distanz zu der selbstgewählten Ausdrucksform. Das Individuum ist sich der Kontingenzen innerhalb der vielfältigen Stilmöglichkeiten bewusst. Es begibt sich interpretierend in eine Zeit, in der es nicht mehr möglich ist, sich auf eine in allen Punkten kongruente Authentizität zu konstituieren. Für den Bereich der Mode bedeutet dies, dass das
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einzelne Individuum an differenten Stilen partizipieren kann. Es muss jedoch nicht alle dem Stil immanenten Wertorientierungen internalisieren. In diesem Sinn bieten „Jugendkulturen Spielräume für unkonventionelle Entwicklungs- und Persönlichkeitsvorstellungen. Angesichts ihres transitorischen Charakters garantieren sie aber keine Kontinuität von Entwicklungen“ (Vollbrecht 1988, 92). Die Möglichkeit, einen bestimmten Stil zu wählen, ist jedem einzelnen freigestellt, auch mit welcher Intensität oder für welche Zeit er daran teil nimmt. Hier stellt sich die Frage, inwieweit Stil das „Gerüst“ für Identität bildet. Stil hat „die Funktion, Unsicherheit abzuwehren … gerade im Stilbewusstsein kann sich Ratlosigkeit ausdrücken. Stil entlastet …“ (Schulze 1992, 104). Schließlich sichert Stil persönliche Identifizierbarkeit sowohl in den Augen der anderen, als auch in der Selbstwahrnehmung. Nach herkömmlichen Theoriekonzepten (z. B. Erikson) baut sich Identität auf eine lebensgeschichtliche Kontinuität innerhalb des Lebenslaufs auf, die zwar bestimmten Wandlungsprozessen unterworfen ist, jedoch in ihrer Entwicklung eine gewisse Stabilität erlangt. Wenn jedoch das jugendkulturelle Szenenmanagement im Mittelpunkt steht; wenn nicht mehr die Tiefe des Subjekts, sein verborgenes Geheimnis, sondern seine erscheinende, einsehbare Oberfläche behauptet wird; wenn die Wahrheit der Oberfläche mit ihren abgeklärten wechselnden Schattierungen gilt; wenn auf Optionsvielfalt durch Pluralisierung und Bricolage geantwortet wird, dann entsteht eine ‘jugendkulturelle Identität’, die das Bestimmungsmoment der Kontinuität hinten anstellt zugunsten der Kontingenz-, Relativierungs- und Beziehungsbestimmung. Identität wird nicht mehr nur als starr und festgelegt erfahren, sie lässt sich ausprobieren und suchen (Baacke, Ferchhoff 1988, 318).
Im Zuge der Moderne, in der Jugendliche Identität nicht mehr durch die Identifizierung mit tradierten Rollen bilden können, lassen sich jugendkulturelle Stilbildungen als Ausdruck eines Veränderungswillens beschreiben. Identität bedeutet, flexibel über sein eigenes Selbst verfügen zu können und sein Leben im ‘Hier’ und ‘Jetzt’ zu gestalten. Auch für May sind jugendkulturelle Stilbildungen Ausdruck eines Veränderungsbedürfnisses, welches „im Gegensatz zum Attentismus der traditionellen Linken sich nicht mehr auf ferne Revolutionen und klassenlose Gesellschaften vertrösten lässt“ (May/Prondcynsky 1991, 107). Durch bewusste Stilisierung des eigenen Selbst, wie z. B. durch die Wahl eines bestimmten Outfits, können jugendliche Stilbildungen nicht nur – wie so oft vorgeworfen – als Oberflächenphänomen betrachtet werden, sondern sie sind als „Code vestimentaire“ (vgl. Barthes 1967, 65) zu begreifen, der „Abhebung und Unterscheidung von den anderen“ (König 1988, 171) signalisiert. Kulturelle Stilbildungen sind, wie es Hebdige in seiner Untersu-
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chung „The meaning of style“ nachgewiesen hat, als verschlüsselter Austausch von Botschaften zu verstehen. Dadurch können sich Jugendliche zum einen von der Erwachsenenwelt abgrenzen, da Erwachsene die Botschaften teilweise nicht verstehen, aber auch von anderen jugendkulturellen Erscheinungsbildern. Willis bezeichnet die symbolische Stimmigkeit zwischen Werten und Lebensstil einer Gruppe sowie deren Ausdrucksformen über Musik, Kleidung und Verhalten mit dem Begriff der Homologie. Die homologische Analyse versucht in Beziehung zu setzen, „inwieweit besondere Gegenstände in ihrer Struktur und ihrem Gehalt der Struktur, dem Stil, dem typischen Anliegen, Einstellungen und Gefühlen der sozialen Gruppe entsprechen und diesen reflektieren“ (Willis 1981, 238). Die normativen Bedeutungsgehalte der Symbole und Zeichen sind den einzelnen Jugendlichen, die an einem bestimmten Stil partizipieren, bekannt. Sie werden über sprachliche wie vestimentäre Ausdrucksformen innerhalb der einzelnen Stile wie auch in Abgrenzung zu anderen Stilen kommuniziert. Ob gegensätzliche jugendliche Stile und Gruppierungen diese Zeichen entschlüsseln können und sie als Allgemeingut zu betrachten sind, bleibt in Frage zu stellen. Denn zum Teil werden verschlüsselte Botschaften genutzt, damit nicht jeder – vor allem Erwachsene und Pädagogen – sie verstehen kann und um Distanz und eine gewisse Überlegenheit zu demonstrieren, die Jugendliche – aufgrund ihrer ökonomischen Abhängigkeit von ihren Eltern – nicht immer besitzen. Bei eindeutigen subkulturellen Stilen wie z. B. dem der Rocker, Hippies, Popper oder Alternativen waren die jeweils typischen Symbole noch einfach zu entschlüsseln. Mit dem Beginn der Punkbewegung wurde die Decodierung zusehends komplizierter. Wenn alltägliche Gebrauchsgegenstände ihrer eigentlichen Funktion beraubt wurden und z. B. der Abflussstöpsel als Schmuck am Ohr dient, dann wurde dies nur noch als schockierend von der Öffentlichkeit empfunden. Bei zunehmender Vermischung der Stile nimmt der allen verständliche normative Bedeutungsgehalt immer mehr ab. Denn welcher Erwachsene kann noch entschlüsseln, ob schwarze oder weiße Schnürsenkel Ausländerfeindlichkeit oder -freundlichkeit signalisieren? Das jeweilige Outfit muss jedoch nicht immer mit politischer, oder gesellschaftlicher Gesinnung übereinstimmen, sei sie nun konformistisch oder kritisch. Für Schulze bedeutet ‘Stil’ die Sicherung des Erlebens, indem durch „Ähnlichkeit alltagsästhetischer Episoden“ (Schulze 1992, 103) das einzelne Individuum Interpretationsmuster entwickeln kann, um die es umgebenden Zeichen und Symbole zu entschlüsseln. Stiltheoretischer Sinn ordnet sich für ihn nach zwei Prinzipien, dem der „Wiederholungstendenz“ und der „kollektiven Schematisierung“ (vgl. Schulze 1992, 102 f.). Die Wiederholungstendenz beinhaltet, dass das Individuum aus den
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verschiedenen Bereichen ästhetischer Erfahrung für sich selbst nur einige selektiert und unterschiedlich viel Zeit, Geld und Energie dafür investiert. Mit zunehmendem Alter entwickelt sich „ein stabiles Muster von Vorlieben und Abneigungen“ (Schulze 1992, 103). Aus Untersuchungen von Conly lassen sich außerdem starke Zusammenhänge zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und alltagsästhetischen Schemata feststellen (vgl. Schulze 1992, Tabelle 1.4). Mit kollektiver Schematisierung ist gemeint, dass Wiederholungstendenzen nicht immer innerhalb der individuellen Handlungen vollzogen werden, sondern sich an kollektive Angebote anlehnen. Schulze definiert Stil als „die Gesamtheit der Wiederholungstendenzen in den alltagsästhetischen Episoden eines Menschen, wobei Stil die Zeichenebene alltagsästhetischer Episoden wie z. B. Kleidung einschließt, als auch die Bedeutungsebenen Genuss, Distinktion und Lebensphilosophie“ (Schulze 1992, 103). Im Zuge der Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen entseht jedoch eine immense Ausdifferenzierung jugendkultureller Lebensstile, die auf die weltweite Globalisierung und die mediale Verbreitung jugendkultureller Produkte und Stile zurückzuführen ist. Eine weitere Konsequenz dieser Entwicklung ist die zunehmende „Unschärfe der Trennlinien“ (Vollbrecht 1995, 31) in sich geschlossener, eigenständiger Jugendstile. Eine Folge der Medialisierung von Jugendstilen ist Vollbrecht zu Folge die Verkürzung der Halbwertzeit von Jugendkulturen, da sie die Entstehung, Entwicklung, weltweite Ausbreitung, Auflösung und Entwertung jugendkultureller Stile über medienspezifische Ökonomien determiniert und beschleunigt. Die Fluktuation der Bedeutung und Gültigkeit von Zeichen, Symbolen und Stilen unterliegt infolge dessen einem sich immer schneller wandelnden Prozess von Verschiebung, Veränderung und Bedeutungsumschreibungen, so dass eindeutige feste Zuschreibungen und Grenzziehungen in der Zeichenwelt samt ihrer Bedeutungen zunehmend schwieriger zu vollziehen sind. Das Versprechen, über Stilfestlegung zu zeigen, was die Person ausmacht, sein innerstes Wesen zu zeigen und Authentizität darzustellen, läuft somit Gefahr, sich in paradoxen Grenzziehungen zu verstricken.
2.4.3
Zum Terminus Szene
Hat der Begriff Szene längst Eingang in den alltäglichen Sprachgebrauch gefunden, löst er zunehmend den soziologischen Begriff der Peer Group und den der Subkultur in der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung ab (vgl. Baake 1988, Ferchhoff 1988 und 1995, Strzoda et al. 1996; SpoKK 1997; Vollbrecht, 1995), ohne jedoch detailliert theoretisch ausgearbeitet zu werden. Ursprünglich bezeichnet der Begriff Szene die Untereinheiten von Akten, die die Auf- und Abtritte der Schauspieler im
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antiken griechischen Theater bestimmten. „Der Begriff ‘Szene’ (…) beinhaltet also eine sozialökologische Qualität, die sich auf die Möglichkeit zur Selbstdarstellung und auf den actionsgeladenen Erlebnisgehalt bezieht“ (Vollbrecht 1995). Da Jugendliche ihre Freunde immer weniger in traditionalen Vergemeinschaftungsformen finden, sind an die Stelle von Vereinen/Verbänden, altershomogenen Peer Groups und Subkulturen „sogenannte Freizeitszenen als wähl- und abwählbare Formationen getreten“ (Vollbrecht 1997, 23). Die Entstehungsgeschichte von Szenen lässt sich auf die Anfänge der Popkultur datieren. Parallel mit der zunehmenden Bedeutung der Popkultur hat sich das Publikum als Fangemeinschaften o. ä. um die unterschiedlichen musikalischen Ausrichtungen der Popkultur herum organisiert und über die Aneignung der jeweiligen Stilelemente (vor allem über Kleidung) kollektive Inszenierungsmuster geschaffen. Neu ist nach Schulze (1989), im Gegensatz zu der Sozialform Subkultur, das Strukturmerkmal der Sozialform Szene „ihre weitgehende Offenheit und Unstrukturiertheit, oft fast bis zur Grenze der Auflösung als kohärentes soziales Gebilde“ (Schulze 1989, 557). In Schulzes „Erlebnisgesellschaft“ (1992) nimmt der Begriff Szene eine zentrale Rolle ein. In seiner kultursoziologischen Untersuchung beschreibt er Szenen als posttraditionale Sozialform, deren wesentliche Bedeutung darin liegt, das Vakuum an sozialen Bindungen, das sich als Folge der Individualisierung der Lebensverhältnisse herauskristallisiert hat, wieder zu füllen. Die Entwicklung der Vergemeinschaftungsform Szene geht Schulze zufolge aus ähnlich kognitiven Schematisierungen hervor, die Sicherheit und Eindeutigkeit gewährleisten angesichts der wachsenden Komplexität von Erlebnisangeboten. Um die strukturellen Veränderungen des Erfahrungsraumes der Peer Group analysieren zu können, wird von Hitzler u. a. (vgl. Hitzler u. a. 2000) der Begriff der Szene eingehend systematisiert und beschrieben, um die „mit den angedeuteten technischen Innovationen (die Verbreitung neuer Medien, der mehrdimensionale Mobilitätszuwachs und der daraus folgende Loslösungsprozess aus traditionalen und lebensspezifischen Bindungen) und sozialen Wandlungsprozessen einhergehende und das genannte Phänomen grundlegend modifizierende De-Lokalisierung von Peer-Groups zu markieren“ (Hitzler, Bucher, Niederbacher 2000, 8). Unter Rückbezug auf Irwin 1977 und Schulze (1992) definieren Hitzler et al. Szenen als „thematisch fokussierte kulturelle Netzwerke von Personen, die bestimmte materiale und/oder mentale Formen der kollektiven Selbststilisierung teilen und die Gemeinsamkeiten an typischen Orten und zu typischen Zeiten interaktiv stabilisieren und weiterentwickeln“ (Hitzler et al. 2000, 8). Zur näheren Beschreibung von Szenen nehmen Hitzler et al. folgende Systematisierung vor:
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2 Sozialwissenschaftliche Beiträge und Theorien zur Jugendphase
Szenen sind Gesinnungsgemeinschaften, Szenen sind thematisch fokussierte soziale Netzwerke, Szenen sind kommunikative und interaktive Teilzeitgesellschaften, Szenen dienen der sozialen Verortung, Szenen haben je ihre eigene Kultur, Szenen sind labile Gebilde, Szenen haben typische Treffpunkte, Szenen sind Netzwerke von Gruppen, Szenen sind vororganisierte Erfahrungsräume, Szenen organisieren sich um Organisationseliten, Szenen sind dynamisch und Szenen liegen quer zu bisherigen Gesellungsformen und großen gesellschaftlichen Institutionen. „Gesinnungsfreunde“ (Hitzler et al. 2000, 8) werden zunehmend in Szenen – von Hitzler et al. auch als „single-issue-Gruppierungen“ bezeichnet – gefunden. Jede Szene hat ein zentrales Thema = issue wie z. B. einen bestimmten Musikstil (Techno, HipHop, …), eine Sportart (Biker, Skater, Snowborder …), oder bietet gleich ein komplettes Konsum-Stil-Paket an, an dem die Szenegänger intensiv oder weniger intensiv partizipieren. Die Szene bietet den thematischen Rahmen hinsichtlich der Einstellungen, Vorlieben und Gemeinsamkeiten. Über kommunikative und interaktive Prozesse wird der gemeinsame thematische Rahmen immer wieder neu erzeugt: „Im – sinnlich erfassbaren – Gebrauch szenetypischer Symbole, Zeichen und Rituale inszenieren diese ihre eigene Zugehörigkeit und konstituieren tatsächlich zugleich, sozusagen ‘beiläufig’, die Szene“ (Hitzler et al. 2000, 9). So sind die Zugehörigkeiten und Grenzen nicht eindeutig festgelegt, sondern konstituieren sich über Inszenierungsmechanismen und szenetypisches Kulturwissen hinsichtlich bestimmter Codes, Symbole, Verhaltenskodexe immer wieder neu. Ihre Existenz konstituiert sich in der Abhängigkeit der Wahrnehmung von Szeneangehörigen und der Außenwelt. Aufgrund fehlender Sanktionsinstanzen, die die Ein- bzw. Austritte verhindern, also der freiwilligen jederzeit kündbaren Zugehörigkeit zur Szene und der nur teilzeitlichen und themenspezifischen Normierungspotentiale seitens des Kollektivs, beschreiben Hitzler et al. Szenen als relativ labile Gebilde. Dies hat zwei Gründe: Die Szenezugehörigkeit und das daraus resultierende Wir-Gefühl rekurriert sich nicht auf der zuverlässigen Basis von Herkunft, Bildung oder Beruf. „Das heißt, das Wir(-Bewusstsein) konstituiert sich eben nicht aufgrund vorgängiger gemeinsamer Standes- und Lebenslagen-Interessen, sondern aufgrund des Glaubens an eine gemeinsame Idee bzw. aufgrund der (vermeintlichen) Bestätigung der tatsächlichen Existenz dieser gemeinsamen Idee durch bestimmte Kommunikationsformen und/oder kollektive Verhaltensweisen“ (Hitzler et al. 2000, 12). Der zweite Grund der Labilität ergibt sich aus dem nur teilzeitlichen Szeneengagement, das neben den Engagements in anderen Lebensbereichen liegt. Hitzler et al. vermuten, dass sich das „szenetypische Wir-Bewusstsein sozusagen notwendig sequentialisiert in eine Abfolge von Latenzen und Aktualitäten“ (ebd. 12). Aus diesen Gründen er-
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gibt sich die existentielle Bedeutung von Szenetreffpunkten. Als Szenegängerin muss man wissen, an welchem Ort und zu welcher Zeit andere Szenezugehörige zu treffen sind. In der HipHop-Szene sind das z. B. bestimmte Jams und in der TechnoSzene spezielle Raves, die offiziell über Medien wie Flyer, Fanzines, Internetbekanntmachungen, Plakate oder Stadtmagazine verbreitet werden. Inoffiziell (z. B. über SMS-Ketten) weiß aber jeder Szenegänger, wo und wann man in seiner Stadt seine Leute trifft. Hitzler et al. (2000) beschreiben Szenen als Netzwerke von Gruppen, die über eine gemeinsame Interessenslage miteinander verwoben sind. Die Szenemitglieder kennen sich zwar innerhalb der einzelnen Gruppierungen, die Gruppen untereinander sind jedoch nur informell und flüchtig miteinander verbunden. Kommunikationsprozesse laufen über szenetypische Verhaltenskodexe und popkulturelle Elemente wie Musik, Kleidung etc. „Szenemitglieder kennen sich nicht mehr notwendig persönlich (wie das innerhalb von Gruppen der Fall ist), sondern erkennen sich an typischen Merkmalen und interagieren in szenespezifischer Weise (unter Verwendung typischer Zeichen, Symbole, Rituale, Embleme, Inhalte, Attribuierungen, Kommentare usw.)“ (Hitzler et al. 2005, 25). Typisch für Szenen ist ihre Rekrutierung um Organisationseliten, die sich oftmals aus langjährigen Szenemitgliedern zusammensetzen und die die Rahmenbedingungen szenetypischer Erlebnisangebote wie z. B. spezielle Events planen und organisieren. Events werden in diesem Kontext als vororganisierte Veranstaltungen bezeichnet, die für die Szene neben ihren typischen Treffpunkten ein wesentliches strukturelles Element bilden, da hier überregionale Treffen organisiert werden, die den Szenemitgliedern öffentlichen Raum für ihre kollektiven Aufführungen und Inszenierungen geben und der Szene allgemein zur Herstellung und Aktualisierung ihres Zusammengehörigkeitsgefühls dienen. Die Dynamik von Szenen ergibt sich für die Autoren in Anlehnung an Schulzes „Erlebnisgesellschaft“ (1992) aus der quantitativen und qualitativen Dimension von erlebenswerten Ereignissen, auf denen das freizeitkulturelle Angebot beruht. Qualitativ ausgerichtete Angebote bieten demnach einen hohen Erlebniswert aufgrund ihrer hervorgehobenen Außeralltäglichkeit und Einmaligkeit. Dies hat aber zur Folge, dass nur wenige daran teilnehmen können, während Angebote quantitativer Ausrichtung zwar für die Masse zugänglich werden, aber nach Schulzes Theorie dadurch der Erlebniswert eines Angebotes sinkt. „Also: Das Mega-Event an jedem Wochenende in jedem Einzugsgebiet konterkariert sich gleichsam selber. Denn woran alle mehr oder weniger partizipieren können, das verliert eben seine punktuelle und individuelle Besonderheit“ (Hitzler et al. 2000, 18). Gebauer, Hitzler und Pfadenhauer (2000a, 12) verstehen Szenen als die paradigmatische Gesellungsform spätmoderner Gesellschaften, die sich „quer zu bisherigen Ge-
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2 Sozialwissenschaftliche Beiträge und Theorien zur Jugendphase
sellungsformen und großen gesellschaftlichen Institutionen“ (Hitzler et al. 2000, 18) legen und sehen in der zunehmenden Verszenung der Gesellschaft eine Möglichkeit für Jugendliche unter Individualisierungsbedingungen „als Sozialisationsinstanz in eigener Regie zu fungieren und dadurch (eine) jugendspezifische Identitätsbildung zu erleichtern (Tenbruck 1962)“ (ebd., 19). Über das Zugehörigkeitsgefühl, das freiwillige Engagement und die Faszination an einem gemeinsamen Thema könnten sich Szenen als soziale Orte und Räume erweisen, in denen „Identitäten, Kompetenzen und Relevanzhierarchien aufgebaut und interaktiv stabilisiert werden, welche die Chancen zur gelingenden Bewältigung des je eigenen Lebens über die Dauer der Szene-Vergemeinschaftung hinaus (also relativ dauerhaft) erhöhen könnten“ (ebd., 19). Zwar legen sich Szenen quer zu allen bisherigen Gesellungsformen, aber sie übernehmen nach Ansicht der Autoren eine wesentliche Funktion hinsichtlich Sozialisation, Ablösung vom Elternhaus, der Eröffnung sexueller Freiräume, also genau die Funktionen, die ehemals den Peer-Groups und Subkulturen zugeschrieben wurden. Zur Konzeptualisierung einer gesellschaftlichen Bedeutung von jugendlichen Gleichaltrigengruppen schlägt Schulze ein Paradigma der Normalität vor, „bei welchem altershomogene Beziehungen von Jugendlichen (…) als Einstiegsphase in eine Existenzform erscheinen, die nicht gegen andere Existenzen gerichtet sind, sondern neben ihnen besteht“ (Schulze 1989, 554). Sowie Schulze Szenen als eine Vergemeinschaftungsform posttraditionaler Gesellschaften beschreibt, deren Zusammenhang nicht auf der Grundlage einer gemeinsamen sozialen Lage beruht, sondern gerade auf der Loslösung alltagsästhetischer und kultureller Orientierungen, begreifen auch Hitzler, Bucher und Niederbacher Szenen als flüchtige, instabile, nicht-bindend sozialisierende Gesellungsform. Sie betonen in ihren Ausführungen besonders deren ephemeren Charakter und sehen in der Pluralisierung von Lebenslagen innerhalb der sich ausdifferenzierenden Organisationsgeflechte postmoderner Gesellschaften eine der grundlegenden Voraussetzungen für die Neuetablierung von Szenen, in denen die Mitglieder losgelöst von ihrem Herkunftsmilieu über expressive und interaktive Ausdrucksformen und Verhaltensweisen neue sinnbezogene Erfahrungswelten schaffen. Als problematisch erweist sich jedoch die Ausdifferenzierung der Begrifflichkeiten „Thema“ und „Interesse“. Aus der Hervorhebung, dass sich die gemeinschaftsbindende Kraft von Szenen nicht aus einem gemeinsamen Interesse bildet, sondern einzig und allein aus der Faszination an einem Thema, folgern die Autoren eine gewisse Flüchtigkeit und Oberflächlichkeit. Dadurch, dass sich die Mitglieder von Szenen „jene (… Regelungen der Gesellschaft …) typischerweise aus unterschiedlichen Kombinationen von teilzeitlichen Notwendigkeiten und Neigungen, Verpflichtungen und Verlustierun-
2.4 Jugend und Jugendkulturen
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gen zusammenbasteln, können sich darüber hinaus kaum noch gemeinsame Interessen konstituieren“ (ebd., 18). So wird aber an anderer Stelle gesagt, dass die Existenz von Szenen an die „ständige kommunikative Erzeugung gemeinsamer Interessen seitens der Mitglieder“ (ebd., 9) gebunden ist und das Gruppen zu einem Teil von Szenen werden, da sie sich „auf Basis gemeinsamer Interessenslagen zu anderen Gruppierungen öffnen“ (ebd., 13). Genau an diesem Punkt greift auch der Einwand von Schmidt (2002), der die von Gebhardt/Hitzler/Pfadenhauer aufgestellte Charakterisierung der Szenen als flüchtige, momenthafte und nur punktuell gemeinschaftsbindende Sozialform in Frage stellt. In seiner Untersuchung der Berliner Yaam-Szene stellte sich heraus, dass „innerhalb der Szene ein implizites Gebot zur Aufrichtigkeit oder Realness“ (Schmidt 2002, 272) besteht und das die „in der Gemeinschaft aktualisierten Überzeugungen und Stile (mit der Aufforderung verknüpft sind) auch im Alltag gelebt zu werden. Akteure, die szenetypische Verhaltensweisen nur im Szenezusammenhang an den Tag legen und szenetypische Überzeugungen nur hier artikulieren, laufen Gefahr, als Poser abqualifiziert zu werden“ (ebd., 273). Nach Schmidt erlangen Szenen über den Vergemeinschaftungsmodus sinnlich-körperlicher Produktionen – auf deren Ebene auch die Kleidung anzusiedeln ist – ein Gefühl von Zugehörigkeit und Übereinstimmung, und, obwohl die organisatorischen Strukturen traditionaler und institutionalisierter Gemeinschaften nur schwach ausgebildet sind, zeichnen sich Szenen durch eine „beachtliche Stabilität und Dauerhaftigkeit“ (ebd., 273) aus. Auch Meyer (2000) widerspricht einer Temporalisierung jugendkultureller Stile. In seiner empirischen Exploration der Techno-Szene widerlegt er die Thesen der kulturkritischen Theorie, dass Kommerzialisierung, Mediatisierung und Individualisierung zu einer Temporalisierung und Trivialisierung jugendkultureller Vergemeinschaftungen führe. In der Techno-Szene sei die Expansion der Kulturindustrie eher Voraussetzung für die Koexistenz mehrerer „Ausdrucksformen, die als authentisch gelten und solche, die als inkorporiert wahrgenommen werden“ (Meyer 2000, 156). Nach Meyer lassen sich die Wandlungsprozesse der Jugendkulturen nur unzureichend mit dem Begriff der Kommerzialisierung beschreiben, da neben der kulturindustriellen Vereinnahmung vielfältige Formen der Selbstprofessionalisierung bestehen. So ergeben sich aus dem Engagement innerhalb einzelner Szenen Teilzeitbeschäftigungsverhältnisse und „verschiedene Verdienstmöglichkeiten, die in der Techno-Szene selbst realisiert werden können und von der subkulturellen Schattenökonomie über standardisierte bis zu etablierten Formen der Erwerbsarbeit reichen“ (ebd.: 156). Meyer deutet diese Formen der Beschäftigung als eine Reaktion auf den Wandel der Erwerbsarbeit und die prekäre Situation des Arbeitsmarktes. „Die in die-
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2 Sozialwissenschaftliche Beiträge und Theorien zur Jugendphase
sem Kontext zu konstatierenden Formen der sozioökonomischen Selbstorganisation indizieren auch Vergemeinschaftungseffekte, die sich entlang ästhetischer Affinitäten entfalten und darauf hinweisen, wie sich der sozialstrukturelle Prozeß der Individualisierung auf jugendkulturelle Formationen auswirkt“ (ebd., 157). Auch die Mediatisierung, insbesondere die Aneignung digitaler Technologien und die computervermittelte Kommunikation führt zu einer zunehmenden Demokratisierung hinsichtlich der Partizipationsmöglichkeiten an der Szene, wie z. B. in der Produktion von Techno-Musik, der digital hergestellten Printmedien und anderer szenerelevanter Artefakte, zu denen auch die Herstellung typischer Accessoires gehört oder die Herstellung von Kleidung wie z. B. T-Shirts mit bestimmten Aufdrucken, Schriftzügen, Symbolen oder Emblemen. Die Technologisierung der ästhetischen Praxis führt insofern nicht zu einer Angleichung und Anpassung der Ausdrucksformen, sondern zu erheblichen Diversifizierungen und Pluralisierungen innerhalb der Szene und der Bildung einzelner Subgenres. Interessanterweise findet das Präfix ‘Sub’ auf dieser Ebene der theoretischen Auseinandersetzung wieder Eingang in die Literatur zur Jugendforschung, jedoch ohne Bezug auf das Paradigma der Gegenkultur der Subkulturtheorie, sondern um der Vielfältigkeit der Erscheinungsformen der Szenen im HipHop wie im Techno Rechnung zu tragen. Insofern spiegelt die wissenschaftliche Auseinandersetzung das, was die Szenegänger als Mainstream und Underground verbalisieren, um ihre Positionierung innerhalb der Szene zu beschreiben und in ihrem Bekleidungsverhalten zum Ausdruck bringen. Die Teilhabe und Zugehörigkeit zu einer bestimmten Szene basiert primär auf deren ästhetischer Attraktivität, was der gegenwärtigen „Ästhetisierung des Alltagslebens“ (Schulze, 1998) gesamtgesellschaftlich entspricht, jedoch wird die Zugehörigkeit weniger „durch die soziale Verbindlichkeit eines Stils als durch die fakultative Partizipation an der kulturellen Praxis entschieden“ (Meyer 2000, 158). So sind die Individualisierungstendenzen nicht ausschließlich als eine Ausdruckform von Hedonismus zu deuten, sondern als eine neue Form der Politisierung. Die Ästhetisierung des Alltagslebens stellt somit nicht nur einen Ausgangspunkt für veränderte Formen sozialer Aggregation dar, sondern auch für Tendenzen zur Transformation der politischen Artikulation. Im Gegensatz zu der Darlegung Hitzlers konstituiert sich die Bildung eines gemeinsamen Interesses in einer veränderten Form politischer Subjektivität, die sich jenseits der Sphäre des Staates in selbstbezüglichen „life-politiks“ (Giddens) manifestieren, die vor allem die Kultivierung des Körpers (siehe Kap. 6 Kleidung als Medium körperlicher Selbstinszenierungen) als Konstante der Selbstkonstitution des Subjekts reflektieren (vgl. Baumann 1995, 229; Meyer 2000, 158) und die Beck (1993) als „Subpolitik“ beschreibt.
2.4 Jugend und Jugendkulturen
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Im Folgenden sollen Szenen als Sinngemeinschaften betrachtet werden, die den Szeneangehörigen ein hohes Maß an Handlungs- und Erlebnispotential bieten. Möglicherweise wird über neue Formen der Bezugnahme und Vergemeinschaftung auf der ästhetisch-symbolischen Ebene mittels der Selbstinszenierungstechnik Mode und Kleidung (ausführlich in Kap. 6 Kleidung als Medium körperlicher Selbstinszenierung) ein verändertes, den reflexiv-modernen Gesellschaften entsprechendes individualisiertes Potential für die Generierung jugendlicher Gemeinschaften geschaffen, welches auf der Dialektik von Individualität und Vergemeinschaftung (vgl. Miles et al. 1998) beruht.
3
Sozialpsychologische Theorien zum Bekleidungsverhalten
3.1
Mode – Ein Definitionsversuch
Zur Einführung in die Komplexität des Modebegriffs dienen folgende den meisten Modetheorien zugrunde liegende Definitionen. Den Terminus ‘Mode’ eindeutig zu definieren, kann jedoch auf Grund seines heterogenen Verwendungszweckes immer nur ein Versuch bleiben. Lexikalisch wird der Begriff Mode vom lateinischen ‘modus’ abgeleitet (vgl. Brockhaus, Duden). „Mode frz. zu lat. modus ‘Art und Weise’ (Mayers 1983, 322). Im klassischen Latein wurde der Begriff modus „hauptsächlich in der Bedeutung von Maß bzw. Zweckmäßigung gebraucht“ (Petrascheck-Heim 1988, 15) und bezog sich nicht ausschließlich auf Kleidung und deren Gestaltung. In einigen Übersetzungsvarianten von modus wird auch der Verweis auf die „anthropogenen Motivatoren von Mode, insbesondere auf die mit zeitlichen und gesellschaftlichen Maße zusammenhängenden“ (Meinhold 2005, 20) vorgenommen. Um Kleidung in Ihrer Form zu beschreiben, wurden im Latein Begriffe wie ‘habitus’, ‘vestimentum’ oder ‘vestis’ verwandt (vgl. Drengwitz 1986, 79). Drengwitz führt zur Etymologie des Begriffes ‘Mode’ aus, dass sich im 16. Jahrhundert ‘Mode’ (feminin) in zwei voneinander abweichende Bedeutungsgruppen unterteilt, in ‘Mode’ (masc.), welches der lateinischen Bedeutung ‘modus’ entspricht und ‘mode’ (fem.), welches bis heute den Bedeutungsgehalt von zeitgemäßer Bekleidung beinhaltet. „Im 16. Jahrhundert ist erstmals die Anwendung eines dem deutschen ‘Mode’ zugrunde liegenden Terminus auf die als ‘zeitgemäß’ geltende resp. zeitentsprechend gestaltete oder gewandelte Bekleidung zu verzeichnen“ (Drengwitz 1986, 78 f.). In Deutschland taucht der Begriff ‘mode’ (fem.) um 1628 in Form des französischen ‘à la mode’ auf, was soviel wie ‘nach der Mode’, ‘der mode entsprechend’ bedeutet. „Als Frankreich in der 1. Hälfte des 17. Jh.s kulturell tonangebend zu werden begann, wurde der Begriff (…) auch in Deutschland ab 1628/30, gebräuchlich …“ (Loschek 1999, 358). ‘À la mode’ bezieht sich auf die zeitgemäß herrschende Mode und bezeichnet im 18. Jhd. „im deutschsprachigen Raum (…) nur ganz begrenzt eine relativ kurzfristig in bestimmten Bevölkerungskreisen getragene Bekleidung“ (Drengwitz 1986, 81). Neben dem etymologischen Aufschluss des Begriffs Mode
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3 Sozialpsychologische Theorien zum Bekleidungsverhalten
sind nach Schnierer (vgl. Schnierer 1995, 20 f.) drei Dimensionen den meisten Modetheorien gemeinsam. Dies sind die Zeit-, Sozial- und Sachdimension. Unter der Zeitdimension fasst Schnierer die relative Kurzlebigkeit einer Mode, unter der Sozialdimension ist die kollektive Nachahmung einer Modeausprägung von einem Teil einer Gruppe zu verstehen, und die Sachdimension bezieht sich auf die Einschränkung des Begriffs Mode auf den Bereich der Kleidung und nicht auf die weiteren Bereiche wie z. B. Gegenstände, Architektur, industrielle Produkte und die allgemein vorherrschenden universellen Gestaltungsprinzipien, die ein weiter Modebegriff in die Modetheorie mit einbeziehen würde. Das Phänomen Mode definitorisch zu fassen, reicht in der einschlägigen Literatur von einem absolut offenen und weiten Modebegriff, worunter alles zu einer Mode werden kann (vgl Baudrillard 1982, Schnierer 1995, Meinhold 2005), über einen engen Modebegriff bis zu einem „im engsten Sinne“ (Meinhold 2005, 23) gefassten Modebegriff, der sich auf den, „mit dem Übergang von Saison zu Saison periodisch wechselnde(n) gegenwartsbezogene(n) Stil einer luxusdemokratisierten Bekleidung“ (ebd., 22) bezieht.
3.1.1
Mode versus Bekleidungsverhalten
Um den vielfältigen Bedeutungsebenen des Konstrukts Mode Rechnung zu tragen, sind im Folgenden einige der klassischen und bekanntesten Modedefinitionen dargestellt: – Mode ist eine „bestimmte soziale Tendenz“ (Petrascheck-Heim 1988, 17) – Mode ist ein „soziales Reglungssystem eigener Natur“ (König 1985, 113) – Mode ist ein „sozio-kulturelles Phänomen, ein Normengefüge welches von bestimmten Personenkreisen akzeptiert und für kurze Dauer beibehalten wird“ (Drengwitz 1986, 83) – Mode ist ein „Sinnsystem“, welches sich durch Sprache über Mode konstituiert“ (Barthes 1985, 18) – Mode ist ein (willkürlich) „arbiträres Produkt einer kleinen „fashion-group“ (Barthes 1985, 309) – Mode ist „eine die ganze Gesellschaft durchziehende, die einzelnen Hypercodes (Gruppenstile) aber unterschiedlich tangierende Modifizierung des Hypercodes“ (Sommer 1989, 136) – Mode ist „Ausdruck eines bestimmten Lebensgefühls und einer bestimmten Lebensphilosophie“ (Ferchhoff/Neubauer 1989, 82) – Mode „dient zur Darstellung der Lebens- und Denkweise“ (Loschek 1988, 358)
3.1 Mode – Ein Definitionsversuch
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– Mode ist „Indikator für die politischen, wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen oder auch religiösen Verhältnisse bestimmter Zeiten“ (Petrascheck-Heim 1988, 57) – Mode ist „des Capitalismus liebstes Kind“ (Sombart 1986, 104) – Mode ist für Kant „Torheit, ein Zwang …, sich durch bloßes Beispiel knechtisch leiten zu lassen“ (Simmel 1889, 2) – Mode ist „das permanente Eingeständnis der Kunst, daß sie nicht ist, was sie zu sein vorgibt und was sie ihrer Idee nach sein muß“ – (Adorno 1970, 39) – Mode ist „Abhebung und Nachahmung“ (Simmel 1986, 179 f.) „fashion is almost synonymous with arbitrary, short-term changes“ (Back 1985, 3) – „… nie war Mode anderes als die Parodie der bunten Leiche. Provokation des Todes durch das Weib und zwischen greller memorierter Lache bitter geflüsterte Zwiesprache mit der Verwesung. Das ist Mode“ (Benjamin 1974, 997). – Mode ist „nicht nur reflexhafte Imitation oder bewußte Anpassung, sondern sie ist auch Ausdruck eines auf leisen Sohlen daherkommenden ästhetisch variantenreichen Widerstandes jugendkultureller Szenen gegenüber fossilen Lebens-, Denk- und Argumentationsmustern“ (vgl. Ferchhoff 1989, 90) – Mode „reflektiert auf Nachahmung, sie zieht ihre Auffälligkeit gerade daraus, kopierfähig zu sein, aber dem Kopieren voraus zu sein“ (Luhmann 1986, 656) – „Mode ist der mit dem Übergang von Saison zu Saison periodisch wechselnde kommerzialisierte gegenwartsbezogene Stil einer luxusdemokratisierten Bekleidung, der für den Konsumenten in dreifacher Hinsicht Leben bedeutet: Mode bedeutet (1) ‘In-Szene-Setzung’ und Anerkennung auf der sozialen Bühne des Lebens, (2) Melioration des Selbst und dessen Lebens und (3) Leben in der Gegenwart durch Reinvestitation“ (Meinhold 2005, 163) Diese und weitere Denkarten unterschiedlichster wissenschaftlicher Provenienz sind möglich und schließen sich nicht immer aus. Es liegt in der Vielfältigkeit der Mode selbst, dass sie sich nicht eindeutig definieren lässt, „da sie die unterschiedlichsten Sphären unseres Lebens berührt und umgreift“ (Bovenschen 1986, 7). Die Frage, welche Definition die richtige oder falsche ist, ist in diesem Sinn müßig gestellt. Die, teilweise auch in der Fachliteratur synonyme Verwendung der Begriffe Mode und Kleidung, ist möglicherweise darauf zurück zu führen, dass im allgemeinen Sprachgebrauch Mode mit Kleidung gleichgesetzt wird (vgl. Loschek 1994, 358) Aufgrund der unterschiedlichen und vielfältigen Bedeutungsebenen, die dem Begriff Mode immanent sind, ist es notwendig, auf die folgenden Aspekte hinsichtlich der Begriffsbestimmungen Mode und Kleidung aufmerksam zu machen.
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3 Sozialpsychologische Theorien zum Bekleidungsverhalten
In der textil- bzw. bekleidungswissenschaftlichen Terminologie steht der Begriff Kleidung als Oberbegriff zu den Begriffen Uniform, Tracht und Mode. „Kleidung ist der umfassendste Begriff. Er betont den funktionalen Aspekt, das heißt den Schutz vor Kälte, Hitze oder anderen Umwelteinflüssen“ (Lehnert 1998, 10). Aber – und schon hier zeigt sich die Problematik der Begrifflichkeiten – auch Kleidung hat „nie nur eine praktische Funktion (…), sie dient von Anbeginn an in mindestens dem gleichen Maße dem Schmuck des menschlichen Körpers“ (ebd.) und kann somit nicht ausschließlich als „neutraler Ausdruck von Textilien“ (Mann 2002, 29) beschrieben werden. Jedoch muss mit Lehnert darauf hingewiesen werden, dass die Inszenierung von Persönlichkeit und Individualität „das ästhetische Vergnügen am Wechsel der äußeren Formen und die Lust am immer Neuen zum Selbstzweck werden und den Nutzen der Kleidung zu überwiegen beginnen“ (Lehnert 1998, 11). Diese wesentlichen Kennzeichen der Mode (vgl. Lehnert 1998) bestimmen, wie in der folgenden Analyse aufgezeigt werden soll, auch das Verhalten junger Männer und Frauen zu Kleidung und Mode. Wie widersprüchlich die Begriffe Mode und Kleidung in der einschlägigen Literatur verwandt werden, zeigt sich z. B. darin, dass dem Begriff Kleidung einerseits „Neutralität“ (vgl. Mann 2002, 29) zugemessen wird, und er sich aus diesem Grund nicht zur Beschreibung von Jugendmode eigne, andererseits aber die Aussage getroffen wird: „Auch Bekleidungsstücke sind Symbole“ (ebd., 65) oder dass „über das Zeichen Kleidung Urteile über den Träger gefällt“ (ebd., 65) werden, während in der weiteren Argumentationslinie wieder auf den Begriff Mode zurückgegriffen wird. „Weitere Beispiele für die Zeichenhaftigkeit von Mode finden sich auch in der Kulturgeschichte“ (ebd. 66). Dieses Beispiel einer nicht durchgängig konsequenten begrifflichen Fassung von Mode und Kleidung ist kein Einzellfall, es sollte lediglich dazu dienen, die Problematik einer begrifflichen Einschränkung exemplarisch aufzuzeigen. Sie dient des Weiteren zur Offenlegung eines sich daraus ergebenden Gedankenganges. Je nach Einschränkungsgrad auf den Begriff Mode oder Kleidung werden die Aspekte, die besonders in dem Verhalten junger Männer und Frauen zu Mode/Kleidung eine Rolle zu spielen scheinen, ausgeklammert. Der Begriff Mode schließt das Phänomen aus, dass seit den Zeiten der Hippies und Gammler und spätestens seit der Zeit der Punks junge Männer und Frauen auf Kleidungsstücke zurückgreifen und Kleidungsstile entwickeln, die in ihren Anfängen nicht ausschließlich als Mode bezeichnet werden können, da sie nur von wenigen Personen oder einer verschwindend kleinen Gruppe getragen werden und weil sie nicht dem zeitgemäßen Trend entsprechen. Es würde also ein wichtiges Phänomen ausgeschaltet: Junge Männer und Frauen partizipieren nicht ausschließlich an modischen Kleidungsstilen, sondern sie tragen durch ihre Selbstinszenierun-
3.1 Mode – Ein Definitionsversuch
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gen über das Medium Kleidung aktiv dazu bei, dass Kleidung zu Mode wird. Eine Festlegung auf den Begriff Kleidung betont eine weite Fassung von Kleidung in dem Sinne, als dass auch die Kleidung berücksichtigt werden kann, die zu einer bestimmten Zeit noch keiner Mode entspricht, wie z. B. die Staßenkehrerkleidung in den Anfängen der Techno-Szene, eine reine Funktionskleidung, die durch Umsemantisierung und Dekodierungstechniken (ausführlich Kap. 3.1.2) Mode wird.
Abb. 1 Quelle: privates Archiv
Durch eine konsequente Einschränkung auf den Begriff Kleidung ergibt sich jedoch der Nachteil, dass die Teilbereiche der Körperinszenierungen mittels Schmuck, textiler und nicht-textiler Accessoires, Pearcing und Branding ausgeschlossen würden, Körpertechniken, die neben der Kleidung eine zunehmend wichtige Rolle in den Selbstinszenierungen junger Männer und Frauen spielen. Die Annäherung an den Untersuchungsgegenstand über den Begriff Mode führt zu einer ähnlichen Problematik. Nach Schnierer (1995) hat Meinhold (2005) auf diese Problematik ausführlich aufmerksam gemacht. „Aufgrund der disparaten und
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3 Sozialpsychologische Theorien zum Bekleidungsverhalten
Abb. 2 Quelle: Spiegel spezial 1994, Heft 11, S. 23
ausgedehnten Nutzung des Modebegriffs“ (Meinhold 2005, 21) stellt Meinhold eine Bandbreite der Eingrenzung und Klassifizierung des Modebegriffs in vier Abstufungen – von der Mode im weitesten Sinn bis zur Mode im engsten Sinn – auf, um „unterschiedliche Bedeutungen von Mode zu kennen und zwischen den Modebegriffen zu differenzieren“ (ebd., 21). Nach dieser Klassifizierung meint der Modebegriff im weitesten Sinn Trends und Strömungen menschlicher Handlungen seit dem Paläolithikum, wie z. B. Stilmittel zu bestimmten Zeitabschnitten. Mode in einem weiten Sinn bezeichnet diese Trends und Strömungen seit der Demokratisierung des Konsums und erfasst auch Sachgegenstände wie z. B. CDs oder Handys. Der Modebegriff im engen Sinn bezieht sich auf die in bestimmten Gruppen getragene Kleidung. Dabei subsumiert Meinhold auch die Uniform und Tracht unter Mode im engen Sinn, was kontrovers diskutiert wird. Lehnert schreibt zwar nicht ausdrücklich, dass Trachten niemals Mode sind, aber in ihrer Beschreibung der Tracht vermerkt sie: „Die Tracht zeigt nicht eine individuelle Persönlichkeit, sondern die Zugehörigkeit von Menschen zu einer
3.1 Mode – Ein Definitionsversuch
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Gruppe. Trachten existieren in traditionalen Gesellschaften; sie sind zeitlos, niemals modern“ (Lehnert 1998, 11). Die Mode im engsten Sinn wird von Meinhold als der „mit dem Übergang von Saison zu Saison periodisch wechselnde Stil einer luxusdemokratisierten Bekleidung“ (Meinhold 2005, 22) beschrieben. Eine Anlehnung an die von Meinhold vorgenommene Klassifizierung würde bedeuten, dass sich aus der Einschränkung auf den Begriff Mode im engsten Sinne die Problematik ergäbe, die Kleidungsstile der Techno- und HipHop-Szene nicht analysieren zu können, da sie nicht zwingend dem periodischen Wechsel von Saison zu Saison unterliegen. Ein enger Modebegriff im Sinne der von Meinhold aufgestellten Klassifizierung scheint sich von daher am ehesten anzubieten, da dieser auch die Stufe des Modebegriffs im engsten Sinne mit einschließt (vgl. Meinhold, 23). Zu beachten ist jedoch, dass die einzelnen Modebegriffe „nicht völlig trennscharf unterscheidbar, sondern die Grenzbereiche der Inhalte“ (ebd.) ineinander fließen. Wie aus den oben angestellten Überlegungen ersichtlich wurde, lassen sich weder die einzelnen Modebegriffe eindeutig von einander abgrenzen, noch die Bedeutungen, die mit den Begriffen Kleidung und Mode konnotiert werden. Konsequenzen: Da sich der Fokus der Aufmerksamkeit auf die kreativen und innovativen Potentiale der Kleidung richtet und auf die in ihr liegende Widerständigkeit gegenüber den kommerzialisierten Jugendmoden sowie auf das Moment des Gegen-den-Trendsetzens, soll für die folgende Analyse des Bekleidungsverhaltens junger Frauen und Männer der Begriff Kleidung bevorzugt werden, was jedoch nicht ausschließt, dass das Verhalten junger Männer und Frauen auch als ein Verhalten zu oder gegen Mode im engen und engsten Sinne nach der Klassifikation Meinholds gesehen werden kann. „Zudem wird durch diese Spezifikation die Gefahr einer inflationären Überdehnung des Mode-Begriffs vermieden, einer Überdehnung, der jede Veränderung unserer Lebenswelt zu einem Datum der Mode wird, bis schließlich der Begriff Mode synonym mit dem der Veränderung selbst ist und jegliche Aussagekraft verliert“ (Bovenschen 1986, 7). Die Kleidung, die zu Mode wird, wird nicht mehr von der Bourgoisie bestimmt. Ihre Welt ist nicht mehr die der Oper oder des Theaters. Die Bretter, die die Welt bedeuten, liegen heute in den Straßen der Metropolen und dienen als Laufsteg für Raver, Rapper, Sprayer, HipHopper, Skater etc. Die Metropolen bilden den „eigentlichen zentralen Sozialraum für die Entfaltung von Jugendkulturen“ (Baacke 1987, 119). In großen Städten haben „sich dynamische Kulturen herausgebildet, die der jugendkulturellen Szene als Hintergrund und Anlaß dienen“
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(Baacke 1987, 119). Aufgrund ihrer Zentralität und ihres hohen Maßes an Angeboten und städtischen Freiräumen bietet sie viele Möglichkeiten, Freizeit zu gestalten und „ist vor allem für die Szene wichtig, in der Mode und Gesehen-werden-wollen …“ (Baacke 1987, 119) ein wichtiger Teil des Lebens zu sein scheint. Denn „wenn es irgendein Merkmal gibt, das die verschiedensten Elemente der Jugendkultur gemeinsam haben, so ist das die „Glaubwürdigkeit der Straße (street cred)“ (Chisholm 1990, 223). Junge Männer und Frauen fügen sich nicht ausschließlich dem Wechselbad der Mode, die nur saisonal gültig und von kurzer Dauer ist, sondern in der von der Haute Couture und Prêt-à-porter ‘gemachten’ Mode spiegelt der sich der Zeitgeist der jugendlichen Trendsetter wieder. Ein Comeback der Demimonde, wie es der Dandy oder die Kokotte für das 18. und 19. Jahrhundert einmal darstellten. „Kleider sagen die Wahrheit über eine Zeit, und zwar sofort, und nicht erst in der Rückschau“ (Worthington 1993, 16). In dem vielfältigen Nebeneinander verschiedenster Bekleidungserscheinungen findet sich auf der einen Seite der Trend, Stil zu entwickeln, und auf der anderen Seite der Trend, die Eindeutigkeit von Stilen zu durchbrechen. Wenn junge Männer und Frauen sich für einen Stil entscheiden, kann der Schein von Authentizität (zu Authentizität siehe ausführlich Kap. 4.3.6) erlangt werden, auch wenn Authentizität möglicherweise nur die Erfüllung eines Wunsches ist, um der verwirrenden Vielfalt zu entgehen und um am bunten Zaubermix der Mode teilzuhaben. Heute wie damals gilt noch Königs Feststellung, dass über die Mode dem Bedürfnis nach „Abhebung und Anerkennung“ (König 1985, 169) sowie dem des Schmuckes (vgl. ebd.) durch die Wahl eines bestimmten Bekleidungsstils nachgegangen wird. Das Verhalten junger Frauen und Männer zu Kleidung und Mode scheint „ein Kompromiss zwischen dem Bedürfnis des Zusammenschlusses und dem nach Absonderung, zwischen der Tendenz nach sozialer Egalisierung und nach individueller Unterschiedenheit, zwischen dem Trieb zur Individualisierung und dem entgegengesetzten nach seligem Untertauchen im Kollektiv“ (Lenk 1986, 422) zu sein. Denn Individualisierung bedeutet ja, außer der Erosion traditioneller Sozialzusammenhänge und zunehmender Bestimmtheit des Lebenslaufs durch individuelle Entscheidungen, die Pluralisierung von Stilen voran zu treiben, wie es durch das Bekleidungsverhalten junger Männer und Frauen ausgedrückt wird, um dadurch der „Eintrübung des Gefühlslebens, Einsamkeit, Aggression, Zynismus, Orientierungslosigkeit“ (Schulze 1992, 75) und den damit einhergehenden Ambivalenzen durch das Zugehörigkeitsempfinden zu einer bestimmten kulturellen Gruppe oder zu einem bestimmten Stil zu entgehen.
3.1 Mode – Ein Definitionsversuch
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Bevor die Kleidungsstile der Techno- und HipHop-Szene eingehend untersucht werden und um herauszufinden, ob und aus welchen Gründen die Festlegung junger Männer und Frauen auf einen bestimmten Stil und auf die Darstellung von Authentizität variiert, sollen nach der Darstellung der Kleidung als vestimentäre Kommunikation und der Darstellung der Ambivalenztheorie, die die wesentlichen Erklärungsansätze zu Identität und Identitätsbildungsprozessen bieten (Kap. 4 u. 5) ausführlich dargestellt werden. Da – so vermuten Boultwood und Jerrard (vgl. Bouldwood/Jerrard 2000) in ihrer rückblickenden Beschreibung der Kleidungsliteratur und ihrer Vieldeutigkeit – Ambivalenz den zentralen Punkt an der Schnittstelle zwischen Körper, Kleidung und Stil ausmache, müssen der Darstellung des Bekleidungsverhaltens innerhalb der Techno- und HipHop-Szene die wesentlichen theoretischen Ansätze zum Thema Körper und Körperlichkeit (Kap. 6) vorausgehen.
3.1.2
Kleidung als vestimentäre Kommunikation
Kommunikation bedient sich nicht nur der Sprache, sondern ereignet sich auch über Mimik, Gestik, Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Kleidung. Watzlawik geht sogar soweit, dass er sagt: „Man kann nicht nicht kommunizieren“ (Watzlawik 1971). Vestimentäre Kommunikation bedeutet vereinfacht gesagt: Ich teile meinem Gegenüber durch die Wahl einer bestimmten Bekleidung etwas zur Bedeutung meiner Person mit. In der Interpretation dieser nonverbalen Zeichen kann der Kommunikator auf Grund ihrer immanenten Symbolik diese für seine Handlungsplanung heranziehen. Dies setzt jedoch voraus, dass bei verwendeten Symbolen eine allgemeine Übereinkunft über ihre Bedeutung herrscht, die jedem zugänglich ist und verstanden sowie dekodiert werden kann. Über die Kommunikation durch Kleidung können die mit ihr verbundenen Werthaltungen zwischen den Menschen ausgetauscht werden. Die Kleidung liefert dem Empfänger aufschlussreiche Informationen über sein Geschlecht, sein Alter, seine Berufsrolle, seine Gruppenzugehörigkeit und seinen Status. Botschaften, die von der Kleidung ausgehen, können nach Hoffmann soziale Überlegenheit demonstrieren, aber auch, dass sich jemand unterordnen möchte. Dies bedeutet, dass Menschen mit Kleidung potentiell verschiedene Aussagen an verschiedene Adressaten zum Ausdruck bringen können. Innerhalb einer bestimmten kulturellen Zeitspanne besteht nach Hoffmann ein allgemeiner Konsens darüber, was bestimmte Kleidungsstücke bedeuten (vgl. Hoffmann 1985). Auch für Sommer bedeutet Kommunikation, dass „all diejenigen Verhaltensweisen, die zu einem bestimmten Code-System gehören“ (Sommer 1989,
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3 Sozialpsychologische Theorien zum Bekleidungsverhalten
38) für jeden zugänglich sind. „Das heißt, dass Verhaltensweisen, die typischerweise mit Intention ausgesandt werden, von den Mitgliedern einer sozialen Gemeinschaft regelmäßig verwendet, typischerweise als intendiert interpretiert werden und zu relativ konsistenten und übereinstimmenden Interpretationen führen“ (Sommer 1989, 38). Man kann davon ausgehen, dass Jugendliche innerhalb ihrer Sozialisation den Bedeutungsgehalt traditioneller Bekleidungscodes wie z. B. den der Krawatte, des Anzugs, der Bügelfalte, des Kostüms etc. und dessen implizite Symbolhaftigkeit erlernt haben. Jugendliche Bekleidungsstile schaffen jedoch neue Codes und Symbole oder kehren alte in ihrer Bedeutung um. Der Zeichenkontext innerhalb eines bestimmten Stils kann so den Bedeutungsgehalt einzelner Zeichen verändern, die bislang als eindeutig interpretiert wurden, so dass sich das gesamte Bedeutungsfeld verschiebt. ‘Nadelstreifen und Ohrring’ – so der Titel eines Manuskriptes von Ziehe (1985) spielt darauf an. „Der Nadelstreifenanzug, den jemand trägt, der sich im New Wave-Stil bewegt, ist nicht als solcher entschlüsselbar; erst der winzige Ohrring, den der junge Mann trägt, verweist auf das Bedeutungsfeld, also darauf, was der Anzug bedeutet“ (Ziehe 1985, 13). Kommunikationstheoretisch würde dies bedeuten: Wenn Kleidungsnormen fehlen und nicht mehr erlernt werden können, aufgrund dessen, dass ihr traditioneller Bedeutungsgehalt einfach vergessen oder umgedeutet wird, dann verlieren sie auch ihre „Code konstituierende Kraft und das Kleidungsverhalten wird beliebig und damit sozial eher irrelevant“ (Sommer 1989, 43). Sommer führt in diesem Zusammenhang im Gegensatz zu Enningers Sozialsemiotik (Enninger 1983) hinzu, dass im Kleidungscode Reflexivität und Displacement möglich sind. So können z. B. Jeans, die auf ‘links’, d. h. mit den Nähten nach außen getragen werden, den traditionellen Kleidungscode in Frage stellen. Auch ein Mieder nicht unter, sondern über dem Kleid getragen, würde den traditionellen Bedeutungsgehalt (Code) provokativ in Frage stellen. Nach Sommer zeigen sich jedoch Displacement und Reflexivität nicht nur im Bruch mit Traditionen, sondern auch in den verschiedenen Kulturen. So verweisen in gewissen jugendlichen Kulturen weiße Schuhbänder an Turnschuhen auf Ausländerfeindlichkeit, während sie von der Erwachsenenkultur nicht beachtet werden. „Diese Symbolsprache ist Geheimcode, Erkennungsmerkmal und dient der Gruppe zur Abgrenzung nach außen gegen die Welt der Erwachsenen und quasi als Verständigungsmittel untereinander“ (Hartwig 1980, 151). Auch steht die neue WoolworthÄsthetik nicht mehr für soziale Armut, sondern gilt als ‘dernier cri’. Die Kommunikationsforschung belegt durch zahlreiche Studien (vgl. Kness/Densmore 1976, Walsh 1977), dass „Kleidung eine wirkungsvolle Botschaft an unsere soziale Umwelt darstellt, die das Verhalten der Mitmenschen uns gegenüber deutlich beein-
3.1 Mode – Ein Definitionsversuch
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flußt“ (Dollase 1987, 102). Nicht berücksichtigt werden in diesen Studien, dass in alltäglichen Situationen außer der vestimentären Kommunikation auch andere Formen der Kommunikation wie Sprache, Mimik, Gestik zur Verfügung stehen, durch die der über Kleidung vermittelte Eindruck relativiert werden kann. Die über Bekleidung ausgesandten ambivalenten Botschaften können den Encodierer in große Unsicherheit bringen. Wenn das ‘Diesel’-T-Shirt zur Aldi-Jeans getragen wird, sind die vielfältigsten Interpretationsmöglichkeiten denkbar. Missverständnisse können so bewusst inszeniert werden, um den Betrachter zu irritieren. Ob Erwachsene, wie Dollase anführt, aufgrund ihrer größeren Erfahrung in der Interpretation von verlässlichen und nichtverlässlichen Zeichen eine sicherere Encodierungsfähigkeit zugesprochen werden kann, ist jedoch in Frage zu stellen. Denn „oft merkt man die Zugehörigkeit zu einer Gruppe durch bestimmte Zeichen oder Symbole nur an winzigen Details, wie etwa an den Schuhen“ (Heuberger, zitiert nach Martschenig 1990, 298). Missverständnisse können auch auftreten, „wenn der Decodierer allzu komplizierte Encodierungstheorien/-annahmen über sein Gegenüber bemüht, etwa hinter einem Irokesen-Schnitt eine Identifizierung mit nordamerikanischen Indianern und ihrer Situation vermutet“ (Dollase 1988, 118). Wie aus diesen Beispielen ersichtlich wird, sind für das Gelingen von Kommunikation nicht hochkomplexe Deutungsstrategien notwendig, sondern ein gemeinsames, verständliches Deutungssystem. Die durch ein Symbol hervorgerufene Response kann nach Mead nur an Bedeutung gewinnen, wenn sie für den Produzenten wie für den Rezipienten im Wesentlichen dieselbe ist. Dies wird in individualisierten Gesellschaften, die die Möglichkeit der vielfältigsten Stilbildung bieten, immer schwieriger. Je mehr jugendliche Stile sich entwickeln können, desto größer wird die Anzahl der verwandten Ausdrucksmöglichkeiten und desto schwieriger wird es, die feinen Differenzierungen und Nuancen innerhalb der stilistischen Präsentation jugendlicher Outfits wahrzunehmen und zu deuten. „Bondage pants don’t mean bondage, and neon-red hair doesn’t mean rebellion; it’s just wildstyle“ (Hofler 1985, 6). Nach Ziehe konnten bis in die 50er Jahre dieses Jahrhunderts noch eindeutige klassenspezifische Differenzierungen an Hand der Bekleidung des Einzelnen vorgenommen werden (vgl. Ziehe 1985, 8). Mit dem Auf- und Untergang der Punkbewegung, deren Vertreter als die radikalsten Zeichensetzer auf dem Gebiet der Kleidermode zu betrachten sind, ist den folgenden Jugendbewegungen Anstoß zu einer Entwicklung innerhalb der Zeichensetzung einzelner Gegenstände gegeben worden, die Levi-Strauss als Bricolage bezeichnet. Dieser Begriff beinhaltet, dass Gegenstände aus ihren konventionellen Verwendungs- und Funktionszusammenhängen herausgelöst und zweckentfremdet werden. Diese Technik, die der Punk noch so radikal in
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3 Sozialpsychologische Theorien zum Bekleidungsverhalten
Szene setzte, wurde von den folgenden jugendlichen Stilen übernommen, jedoch auf eine sehr viel subtilere und differenziertere Art und Weise. So haben die NewWaver, eine der Nachfolgeerscheinungen des Punks, nicht mehr auf Radikalismus in ihrer Zeichenauswahl gesetzt, sondern versucht, durch ihre Kleidung kleine irritierende Akzente zu setzen. Sie trugen Anzüge aus den 50er Jahren, schwarze spitze Schuhe und eckige Frisuren mit hoch ausrasiertem Nacken – alles Attribute, die auf eine konservativ-spießige Gesinnung schließen lassen, wenn da nicht der kleine Ohrring im Ohr oder der ‘Drei-Tage-Bart’ gewesen wäre. Ihre Strategie bestand darin, „die durchschnittliche Lebensweise zu simulieren“ (Sommer/Wind 1986, 37), aber auch gleichzeitig lächerlich zu machen, indem ehemalige Tabuzeichen wie Schlips, Anzug, nicht rasiert sein etc. neu besetzt wurden. Die Zeichen der Kleidung waren auf Anpassung gesetzt, nicht Ausdruck einer Gegenkultur, sondern ‘man macht Metakultur’. „Das verschafft einem das schöne Gefühl, man steht nicht mehr gegen die Gesellschaft, sondern über ihr“ (Sommer/Wind 1986, 109). Aus den angeführten Beispielen geht hervor, dass durch jugendliches Bekleidungsverhalten Zeichen, die ehemals eindeutig zu decodieren waren, eine neue Semantik erhalten. Die jungen Frauen und Männer probieren aus, was diese Zeichen in einem anderen Kontext heißen würden. Der ‘Style War’, der Kampf um die weggenommenen Zeichen, ist also ein Kampf um die Interpretation des Kontextes. Und da wird nun eins klar: „Wir leben alle zur gleichen Zeit und im gleichen Raum, aber nicht im gleichen Kontext. Unsere Welt gleicht jener Wiese im zoologischem Garten, auf welcher Zebras und Strauße friedlich nebeneinander leben“ (Burckhard 1986, 169). Diejenigen, die den Code einzelner Jugendkulturen deuten können und verstehen, wissen um das Spiel von ‘Sein’ und ‘Schein’. Die Botschaft könnte dann lauten: Ich spiele das, was ich bin, ich spiele mit meiner Identität, ich täusche und fälsche. Authentizität kann durch die spezifischen Jugendkulturen über den Gestus von Bekleidung produziert werden. So gesehen kann das Bekleidungsverhalten als „antiauthentischer Diskurs“ (Vinken 1993, 48) gewertet werden. „Die authentische Persönlichkeit (ein Idealfall, eine Projektion) wurde abgelöst – könnte man sagen – von der imaginierten Persönlichkeit. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach Individualität und Souveränität. Auf deutsch: Alles ist hin. Jeder bastelt an einem Bild von sich. Auf transatlantisch: Er betreibt image engineering“ (Pflasterstrand 1985, 34) oder „Identitätssampling“ (Klein 2004, 47). Dabei scheinen auf dem kulturellen Feld eine Vielzahl von Suchbewegungen zu entstehen, auf dem sich diese imaginierten Persönlichkeiten und Identitätsentwürfe erproben lassen und auf dem die Mehrdeutigkeiten und Widersprüchlichkeiten von Identitätscodierungen wie Identitätsdekodierungen über das Medium Kleidung zum Ausdruck gebracht werden.
3.2 Ambivalenzen und Ambiguitäten
3.2
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Ambivalenzen und Ambiguitäten „Nichts ist absolut, die Ambivalenz ist immer am Werk – in welcher Situation und zu welcher Gelegenheit das auch sein mag.“ (Maffesoli 1986, 100)
Die postmoderne Gesellschaft stellt sich für junge Männer und Frauen nicht, wie hin und wieder postuliert, ausschließlich als ein Untergangsszenario dar, sondern bietet ihnen ein kulturelles Spektrum ohne vorgeschriebene, eindeutige Grenzziehungen, in dem sie sich flexibel – unter dem Topoi einer zum Meliorativum neigenden Identitätsarbeit – ausprobieren und erfahren können. Während die Ausweitung der kulturellen Erfahrungsbereiche über die gegensätzlichen Positionen von extremer Verunsicherung und Zugewinn an Freiheiten in dem Sinne einer Gewinner/Verliererstrategie diskutiert werden, soll hier aufgezeigt werden, dass aus der Perspektive des Bekleidungsverhaltens ein Rahmen ohne feste Grenzziehungen bereitgestellt wird und dieser von den jungen Männern und Frauen beweglich gehalten wird, ein Rahmen, der aber auch immer die Rückzugsmöglichkeit auf eindeutig begrenzte Stile bietet, um den individuellen wie kulturellen Ambivalenzen zu entgehen. Inwiefern diese Rückzugsstrategien gelingen, konnte an dem Bekleidungsverhalten der jungen Männer innerhalb der HipHop-Szene dargestellt werden, das genau wie die alltägliche Sprechweise im HipHop „die Realworld HipHop herstellt und bestätigt“ (Klein/Friedrich 2003, 37). Die Entscheidung, an einer bestimmten Szene zu partizipieren und sich ihr zugehörig zu fühlen, beruht jedoch immer auf der optionalen Vielfalt von Szenen, muss also individuell getroffen werden und kann somit nur als ein Versuch gesehen werden, der kulturellen Vielfalt, oder wie Kaiser sagen würde, der kulturellen Ambivalenz zu entgehen. Aufgrund dieser Beobachtungen erklärt Kaiser, dass die Dynamik des Modewandels in dem Bekleidungsverhalten der „subgroups or subcultures“ (Kaiser 1990, 171) liege, die die verschiedenen Moden aufgreifen, was zur Folge hat, dass immer mehrere Stile und Moden nebeneinander bestehen. Ein weiterer Erklärungsansatz liegt in der Ambivalenztheorie. Ambivalenz wird als zentrales Motiv zur Erklärung des Modewandels von Davis (Davis 1985, 1988, 1989) als auch von Kaiser (Kaiser 1990) zugrunde gelegt. Während sich Davis auf die Ambivalenzen innerhalb von Identitätsbildungsprozessen konzentriert, deutet Kaiser die zugrunde liegenden kulturellen Ambivalenzen als Triebkraft für den Modewandel. Kaiser beschreibt die Mode als Versuch, den ambivalenten Ansprüchen und Herausforderungen postmoderner Gesellschaften zu entgehen. Im An-
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3 Sozialpsychologische Theorien zum Bekleidungsverhalten
schluss an Baudrillards Grundthese des Eingangs einer Ära der strukturalen Wertform, in der einzig der Code herrscht, dem es über die kulturelle Entwertungsmaschinerie gelungen ist, ehemalige Wertbestimmungen zu neutralisieren, fokussiert Kaiser den Bedeutungswechsel „of the signifier (…) and the implosion of meaning“ (Kaiser 1991, 180). Nach Baudrillard sind Wertgesetze, die einst nach dem Realitätsprinzip funktionierten, in einen Zustand der Hyperrealität getreten, in der nicht mehr die Wirklichkeit hervorgehoben wird, sondern die universale Simulation von Zeichen und die globale Vortäuschung. An die Stelle der Wirklichkeit tritt über Simulationsmechanismen die Wirklichkeit nur noch als Zeichen auf, und jegliche realen, sinnvollen Determinanten, die es einmal gegeben hat, haben ihren Realitätsgehalt verloren. Die oppositionellen Begriffe des Realen und Imaginären verlieren ihre Eindeutigkeit, grenzen sich in ihrer Bedeutung nicht mehr klar voneinander ab, sondern werden verdreht, vertauscht oder fließen ineinander. Bis in die heutige Zeit der ‘Simulakren’ hat es nach Baudrillard eine Perfektionierung der Zeichen über verschiedene Etappen gegeben, die von ihm als die drei Ordnungen der Simulation beschrieben werden. Von einer Zeit, in der die Zeichen eine symbolische Verpflichtung hatten (so symbolisierten bestimmte textile, vestimentäre Zeichen Stand und Klasse), über die modernen willkürlichen Zeichen, die ihre Exklusivität verloren haben (so vereinnahmt das angehende Bürgertum textile und vestimentäre Zeichen, die einst dem Adel vorbehalten waren) und mehr Schein als Sein imitieren, bis zu der Zeit der seriellen Produktion, in der die Zeichen ihren Ursprung und ihre eindeutige Begrenzung verloren haben (wenn z. B. das Jeanslabel heavens playground als Emblem den christlichen Dornenkranz für sich adaptiert) und in Folge dessen keine Wahrheit oder Wirklichkeit mehr beinhalten und ausdrücken können. Durch die serielle Produktion von Industriezeichen entstehen Zeichen, die sich unendlich wiederholen und nur noch auf Effekt ausgerichtet sind. Für Kaiser ist die Realität jedoch nicht durch eine Hyperrealität ersetzt worden, sondern es sei ein Klima der kulturellen Ambivalenzen in dem Sinne von „mixed emotions“ und „mixed expressions“ (Kaiser 1990, 169) entstanden. Die Kleidungsstile verhelfen den Individuen, der kulturellen Ambivalenz Ausdruck zu verleihen. Die vielfältige Bandbreite von Kleidungsstilen sei auf den hohen Grad von Ambivalenz zurückzuführen, der in den Ausdrucksweisen der verschiedenen Stile immer wieder individuell hergestellt wird. So schlägt Kaiser zusammen mit Kollegen vor, „that fashion, for example, becomes a process through which groups and cultures can negotiate common ways of expressing complex ambivalences that cannot be easily expressed in words“ (Kaiser 2003, 80). Neben den Ambivalenzen zieht Kaiser zwei weitere Aspekte zur Erklärung des Modewandels heran. Dies ist einmal das nebeneinander
3.2 Ambivalenzen und Ambiguitäten
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Bestehen von Kulturen, die vor allem modische Entwicklungen aufgreifen und zu einer vielfältigen Koexistenz unterschiedlicher Modestile beitragen. Der weitere Aspekt basiert auf der Theorie des symbolischen Interaktionismus, die erklärt, dass der Aushandlungsprozess von Zeichen und Symbolen und deren Bedeutung über soziale Interaktion verläuft. Gerade in der heutigen Zeit sei den einzelnen Individuen die Möglichkeit gegeben, sich aktiv an der Gestaltung der persönlichen Identität zu beteiligen. Dem Aushandeln von Mode liegt jedoch eine Paradoxie zugrunde. Sie soll auf der einen Seite die kulturellen Ambivalenzen zum Ausdruck bringen, aber sie auch gleichzeitig auflösen. Da ihr das jedoch nicht gelingen kann, stellt sich jede neue Mode als ein misslingender Versuch dar, den postmodernen Ambivalenzen zu entfliehen. In ihrem Konzept über Erscheinungsbilder (vgl. Kaiser 2001, 79) versucht Kaiser einen neuen Weg des Denkens über den modisch gestalteten Körper zu gehen, indem sie die Begriffe Stil, Wahrheit und Subjektivität miteinander verbindet. Sie begreift Stil als einen Prozess, mit Erscheinungsbildern im Alltag umzugehen. Stil charakterisiert die sichtbaren Persönlichkeitskonstruktionen, durch den Individuen ihre ästhetischen und sozial–psychologischen aber auch ihre politischen Sehnsüchte und Wahrheiten ausdrücken. Wahrheit wird von Kaiser als Prozess der Erkenntnisgewinnung beschrieben, in dem die Ansprüche auf Bedeutung und Wahrheit kollektiv ausgehandelt werden. Insofern gleicht die Wahrheit dem Erscheinungsstil, „both are individual constructions that must in turn be collectively interpreted and reinterpreted so as to produce knowledge and fashion, respectively“ (Kaiser 2001, 80).
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Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer, ein Spiel der Identitäten?
Betrachtet man die spezifischen jugendkulturellen Moden als ein aktives jugendliches Verhalten zu Kleidung und als eine Ausdrucksform des Spiels der Identitäten, so müssen zunächst die Begriffe Verhalten und Spiel (Caillois 1982) erläutert und diskutiert werden. Die Mode kann als eine intensive emotionale und kulturelle Ausdrucksform betrachtet werden, die sich die Menschen in ihrer Kulturgeschichte geschaffen haben. In einem Teilbereich der Soziologie hat sich eine große Anzahl von Soziologen wie König (1958, 1967, 1971, 1988), Simmel (1908, 1983), Sombart (1986), Vischer (1986) und Wiswede (1971, 1976, 1991) mit dem Phänomen der Mode und des Modewandels auseinandergesetzt. Die Mode als ein „Lieblingsgegenstand der Soziologie“ (Barthes 1985, 315) soll aber nicht den Schwerpunkt dieses Kapitels einnehmen. Zur theoretischen Auseinandersetzung der Mode und des Modewandels hat Schnierer (1995) einen umfassenden Beitrag geleistet und die verschiedenen Ansätze aus der Soziologie kritisch gewürdigt. Die folgende Betrachtungsweise fokussiert nicht das Phänomen der Mode im Allgemeinen, sondern die Betrachtung des Menschen beziehungsweise bestimmter jugendlicher Gruppen von Menschen, in Bezug zur Kleidung. In der empirischen Sozialforschung lassen sich viele Theorien, die das Verhalten von Personen zu erklären versuchen, finden. An dieser Stelle sollen sie auf das Verhalten zu dem speziellen Kulturprodukt Kleidung angewandt werden und auf soziale Prozesse, die auf Interaktion zwischen Personen oder auf Interdependenzen im Sinne von Wechselwirkungen zwischen Personen und Kulturerscheinungen, wie z. B. der Mode beruhen. Der Terminus Verhalten ist nur mit dem der Person verstehbar. Die Soziologie sieht den Menschen, da er sozial isoliert nicht lebensfähig ist, stets in Interaktion (Mead 1973) mit anderen. Indem sie Gruppen von Menschen untersucht und beobachtet, (Gesellschaften, Institutionen Kleingruppen wie Familien und Peer-groups) kann sie bei einer Mehrzahl einerseits zugewiesene gleiche Merkmale wie Alter oder Geschlecht feststellen, andererseits aber auch erworbene Merkmale wie Freizeitverhalten, Musikgeschmack, Bildung und modisches Verhalten. Mit derart ermittelten abstrakten Merkmalen kann das Verhalten von Gruppen als auch von einzelnen Personen
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4 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer, ein Spiel der Identitäten?
erklärt und charakterisiert werden. „Die soziologische Person ist somit nicht Individuum, sondern eine abstrahierte Gestalt, der soziale Merkmale zugesprochen werden. … Sie begründen daher Aktivitäten jener Individuen, bei denen diese Merkmale dominieren“ (Klausmeier 1978, 22). Je differenzierter die soziale Wirklichkeit untersucht wird, desto mehr muss zwischen einem sozialen Handeln als zwischenmenschlicher Interaktion und personalem Verhalten der Einzelperson unterschieden werden. Der Einzelne, der sich in den verschiedensten Outfits vor den Spiegel stellt, reagiert nicht auf andere Personen, sondern erlebt die Lust, sich zu verwandeln. Dieser Akt stellt kein soziales Handeln dar, da soziales Handeln immer auf Interaktion und den Prozessen zwischenmenschlicher Beziehungen beruht, dagegen steht bei der Beobachtung des personalen Verhaltens die Person im Vordergrund und nicht der Prozess, sondern die Auswirkungen des Prozesses auf die Person.
4.1
Identität und Spiel „Wer die Fähigkeit, zu spielen verliert, verliert auch das Gefühl dafür, dass die Welt plastisch ist.“ (Sennett 1986, 24)
Viele Bereiche des sozialen Verhaltens haben neben der verstandesgeleiteten Seite eine sinnlich körperliche Seite. So bieten Spiele die „Möglichkeit für subjektiv ausgeformte Stile und phantasievolle Handlungsweisen, mit denen sich ein Subjekt von der sozialen Praxis distanzieren“ (Gebauer/Wulf 1998, 188 f.) aber sich ihrer auch angleichen kann. Für die Analyse des Bekleidungsverhaltens junger Frauen und Männer stellt sich die Frage, ob Kleidung und Mode einen textilen Spielraum ermöglichen, in dem Identitätsfindungsprozesse spielerisch erprobt werden können und ob in der modischen Übertreibung, in der Verfremdung und der karrikaturhaften Verzerrung ein wichtiges spielerisches Potential für die Selbstinszenierungen junger Frauen und Männer und ihre Repräsentation von Identität liegt. Die von Gebauer und Wulf (1998) vorgenommenen theoretischen Ausführungen zum Thema Spiel machen darauf aufmerksam, dass in Spielen ein hoher Grad an Ernsthaftigkeit und ein enger Bezug zur jeweiligen Kultur und Gesellschaft liegt. Auf dieser Grundlage soll im Folgenden der Überlegung nachgegangen werden, inwiefern sich die Modelle und Theorien zu dem Themengegenstand Spiel zur Erklärung der Veränderungsprozesse und der Dynamik der Austauschprozesse innerhalb der Techno- und HipHop-Szene anwenden lassen.
4.1 Identität und Spiel
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Das Spiel ist eine wichtige Erscheinung in jeder Kultur. Huizinga führt den Gedankengang von Rousseau und Schiller, dessen erster Gegenbegriff des Spiels der der Arbeit war, weiter und kommt in seiner theoretischen Auseinandersetzung des „Homo ludens“ (1938) zu der Kernthese, dass das Spiel eine zentrale Errungenschaft der Menschen sei. Er bezeichnet den spielenden Menschen als Urheber von Kultur und behauptet, dass „die Essenz des Spiels zugleich das Wesen der Menschen ausmache“ (Gebauer/Wulf 1998, 189). Weitere Erkenntnisse zum Thema Spiel kommen aus der Tierverhaltensforschung. Bally veröffentlichte 1966 „Vom Spielraum der Freiheit, die Bedeutung des Spiels bei Mensch und Tier.“ Seine Kernthese lautet, dass der Mensch nur zu spielen vermag, wenn die zur Existenzsicherung notwendigen Bedürfnisse gesichert sind. „Dies ist eine der wichtigen vorsozialen Bedingungen des menschlichen Spiels: die Freiheit von elementaren Triebzielen und, in unmittelbarem Zusammenhang hiermit, die Fähigkeit zur Sublimierung“ (Klausmeier 1978, 112). Spiele sind in diesem Sinn unproduktiv und leben in einer von Arbeit abgetrennten Realität. So war schon in den verschiedensten Kulturen und Epochen zu beobachten, dass das Spiel hauptsächlich in elitären Schichten eine hohe Bedeutung hatte. Das Spiel bietet einen besonderen Freiraum. „Durch die zweckfreie Tätigkeit des Spielens wird das Leben um seinen ‘Ausdruckswert’ ergänzt und erhält auf diese Weise seine ‘Kulturfunktion’“ (Gebauer/Wulf 1998, 191). Wesentlich für meine weiteren Ausführungen hinsichtlich der Thematisierung textiler jugendlicher Ausdrucksformen als Spiel der Identitäten scheinen mir die erweiterten Ausführungen der Spieltheorie Wittgensteins von Gebauer/Wulf zu sein. Nach Wittgensteins Sprachspiel-Theorie sind „Spiele geregelte soziale Handlungen, … (die) … in erster Linie die gesellschaftliche Welt gestalten“ (ebd., 192). Nach Gebauer/Wulf besteht zwischen der internen Ordnung des Spiels und der sozialen Ordnung der Gesellschaft ein mimetisches Verhältnis (zu Mimesis siehe Kap. 6.2). In Spielhandlungen zeigt sich, so Gebauer/Wulf, die Art und Weise, wie sich Gesellschaften organisieren, Entscheidungen treffen, Hierarchien konstruieren, Macht verteilen und das Denken strukturieren. Dies bedeutet jedoch nicht, das Spiele einfache Abbilder oder Widerspiegelungen der sozialen Welt sind, sondern die Bezugnahme zur Welt stellt sich nach ihren Ausführungen in ihrer Komplexität dadurch dar, dass Spiele diese konstituierenden Momente aufnehmen, sichtbar machen, verändern und auf sie zurückwirken. Genau diese Aspekte lassen sich in dem Bekleidungsverhalten von Jugendlichen und ihrem Spiel der Identitäten wiederfinden. In ihrem Verhalten zu Mode und Kleidung nehmen junge Männer und Frauen die konstituierenden Momente auf, machen sie über die verschiedenen Stile sichtbar,
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4 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer, ein Spiel der Identitäten?
verändern sie und wirken auf die Welt zurück. So kann das Spiel „Als ein Modus ‘körperlicher Erkenntnis’ (Bourdieu) (…) mit einverleibten Schemata des Handelns, Wahrnehmens und Fühlens, das Austesten mitgebrachter, in die Körper eingelassener sozialer, kultureller und geschlechtsspezifischer (Bedeutungs-)Grenzen, auch eine Reaktion auf neue gesellschaftliche Anforderungen sein“ (Alkemeyer, Boschert, Gebauer, Schmidt 2003, 12). Caillois (1982) klassifiziert Spiele nach ihrer Organisation in Regelspiele und Phantasiespiele. Seinem Klassifikationsschema liegen vier Prinzipien zugrunde: Wettkampf (Agon), Zufall (Alea), Maske (Mimikry) und Rausch (Ilnix). Prinzipien, die vielen Entscheidungsprozessen innerhalb des Alltagslebens zugrunde liegen und die sich zur Erklärung des Bekleidungsverhaltens von Jugendlichen, betrachtet man dieses als einen Ausdruck des Spiels der Identitäten, anwenden lassen. Die ersten zwei Prinzipien treten vorwiegend in der HipHop-Szene auf, während das dritte und vierte Prinzip besonders für die Techno-Szene gilt. Agon und Alea organisieren eine Entscheidung durch Wettkampf oder Zufallsentscheidung. Im battle des HipHop sind zwei Bedingungen erfüllt, die für die ersten beiden Kategorien gelten. Erstens ist die Entscheidung, wer als Gewinner aus dem Wettkampf hervorgeht, völlig ungewiss und offen und wird erst im Verlauf des battles herbeigeführt, zweitens ist am Anfang eine möglichst hohe Chancengleichheit künstlich hergestellt. „Im Agon hat der Spieler selbst Verantwortung für den Ausgang und beeinflußt diesen durch seinen Einsatz und seine Leistung, in dem er sich in der Konkurrenz gegen seine Gegner durchsetzt“ (ebd., 198). Die Kategorie Alea hat nur in sofern Bedeutung, als dass die Gegner sich spontan am battle beteiligen und sich somit Spieler und Gegenspieler zufällig ergeben. Im battle des HipHop leben die Beteiligten ihr Interesse an Konkurrenz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung aus. Mimikry und Ilinx dagegen bestimmen vorwiegend die Techno-Kultur. „Die Mimikry schafft die Möglichkeit der Verwandlung, Verkleidung … mit einem anderen eins zu werden, zu improvisieren, zu variieren und zu wiederholen. Der Spielsinn befähigt den Spieler, mit anderen etwas Gemeinsames zu schaffen, einen gemeinsamen Raum herzustellen, auf andere einzugehen, sich an ihre Stelle zu versetzen“ (ebd., 200), Aspekte, die sich zum Teil auch im HipHop verbinden, jedoch vorwiegend im Techno zu finden sind. In Ilinx-Spielen dominiert nach Callais die Lust an Rauschbereitschaft und entrückten Zuständen, wie sie vorwiegend im Trance und Tanz zu Technomusik ausgelebt werden kann. Techno lebt von Rausch, Maskerade und Selbstpräsentation durch Tanz und Kleidung. Hinsichtlich des Geschlechterverhaltens lassen sich interessante Parallelen beobachten. So werden Jungenspiele hauptsächlich von den zwei Kategorien Agon und
4.1 Identität und Spiel
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Alea bestimmt, den zwei Kategorien, die im männlich dominierten HipHop eine wesentliche Rolle spielen, während in Mädchenspielen wie im Techno vorwiegend die Kategorien Mimikry und Ilinx zu finden sind. Techno ist eine der wenigen Szenen, in der die weiblichen Jugendlichen in großer Anzahl vertreten sind und in der eine Welt der Illusion und Faszination sowie der Betonung des Körperlichen geschaffen wird, die der relativ geordneten Alltagswelt gegenübersteht. Wie aus den vorhergehenden Überlegungen ersichtlich wird, lassen sich einige Parallelen aus der Spieltheorie auf das Verhalten Jugendlicher hinsichtlich ihres Spiels der Identitäten ziehen, wobei hier kein Spiel im engeren Sinn gespielt wird. Mit dem aus der Spieltheorie entwickelten Modell von Bateson lassen sich soziale Austauschprozesse beobachten, die von sehr spielerischem Charakter sind. Batesons Begriff der Schismogenese beschreibt Fälle von sozialen Gruppen, die genau dem Verhalten jugendkultureller Handlungsweisen hinsichtlich ihres Bekleidungsverhaltens entsprechen. Batesons Modell der Schismogenese erklärt den Anpassungs- als auch den Veränderungsprozess von einzelnen Personen oder von Gruppen, die in Interaktion miteinander treten. Grundlegend in diesem Prozess ist die dynamische Bewegung von Anpassung, Veränderung und Angleichung, in dem sich beide Interaktionspartner von ihrem Ausgangspunkt entfernen. Typisch für diesen Entwicklungsverlauf ist nach Bateson, dass die beteiligten Personen zu einer Entsprechung des anderen werden, entweder dadurch, dass sich die nichtdominierenden Personen dem Dominanten so nahe wie möglich angleichen oder dass sie sich zu einer passenden Ergänzung des anderen machen. Die Dynamik ergibt sich aus dem immer wiederkehrenden Entfernen eines kurzfristigen Überschneidungsmoments. Bateson unterscheidet zwei Grundformen der Schismogenese, die symmetrische und die komplementäre. Innerhalb der symmetrischen Schismogenese versucht der nichtdominante Handlungspartner sich dem anderen immer ähnlicher zu machen, in dem er seine Imitationen präzisiert und die Ausdrucksformen des anderen so verinnerlicht, dass sie seine ganze Person ergreifen. Eine andere Form der Symmetrie besteht darin, dass die nichtdominante Person oder Gruppe solche Ziele anstrebt, die jenen der anderen genau entgegengesetzt sind. „Die einfache symmetrische Schismogenese führt zu Konkurrenz, Nachfolge, Imitation, Epigonentum, Variationen bei der Suche nach ähnlichen Zielen. Die Umkehrung des Vorbilds bedeutet ihre Ablehnung in einer zweiten Welt, bei gleichzeitiger Anerkennung ihrer grundlegenden Prinzipien“ (Gebauer/Wulf 1998, 226).
Gemeinsam ist bei beiden Formen der symmetrischen Schismogenese, dass sich der Handelnde nach den Wertvorstellungen und Vorgaben des dominanten Partners rich-
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4 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer, ein Spiel der Identitäten?
tet. „Je stärker dies geschieht, desto intensiver ist die Auseinandersetzung mit dem Vorbild entweder in Form einer Identifikation oder in einer Bekämpfung“ (ebd., 226). Grundvoraussetzung der komplementären Schismogenese ist der Gegensatz des Verhaltens, der Wahrnehmung und Affektionen von der anderen Person oder Gruppe. Die Art und Weise einer Person oder Gruppe verhält sich zu einer zweiten genau komplementär. Auch hier ist zu beobachten, dass, sobald die Partner in Interaktion miteinander treten, sie ihre typischen Merkmale und Ausdrucksformen verstärken und sich dadurch beide verändern. Während die Rollentheorie ihren Fokus auf die Sicherung fester Bezüge von Personen und ihrer Identität richtet, bietet das Konzept der Schismogenese von Bateson die Möglichkeit, die Dynamik der sich stetig verändernden Ausdrucks- und Verhaltensweisen von Personen und Gruppen zu erklären und auf die spielerische Dimension zu verweisen, die diesen Prozessen zugrunde liegt. In der theoretischen Erweiterung des Schismogenesekonzeptes diskutiert Bateson in der „Ökologie des Geistes“ (Bateson 1981) den Begriff der Schismogenese in Bezug auf kulturelle Austauschprozesse. Er hebt in dieser Diskussion besonders den Aspekt des Körperlichen hervor und verweist auf die bedeutende Rolle der Sinneswahrnehmung und auf die Sichtbarkeit des Wechselspiels der gegenseitigen Beeinflussung. Über die sinnliche Wahrnehmung der körperlichen Präsenz des anderen wird das identische wie das nicht-identische sichtbar. Zwei wesentliche Aspekte, die den Austauschprozessen und Veränderungsdynamiken jugendlichen Bekleidungsverhaltens zugrunde liegen und den ephemeren Charakter jugendlicher Ausdrucksformen beschreiben. So wie das Modell der Schismogenese zur Erklärung der Veränderungsprozesse und der Dynamik der Austauschprozesse gegensätzlicher Szenen angewandt werden kann, so beschreibt es auch die Beeinflussungen und Weiterentwicklungen innerhalb der verschiedenen Jugendszenen. Am Beispiel des HipHop (ausführlich Kapitel 9) lässt sich dieses Phänomen der global zirkulierenden, wechselseitigen Beeinflussung und der daraus resultierenden Zersplitterung, Neufindung und Diversifizierung der Szene besonders gut nachvollziehen. Um zu untersuchen, ob über das Medium Kleidung Grenzverschiebungen hinsichtlich der eindeutig definierten Geschlechtsidentitäten symbolisch vollzogen werden und ob sich daraus Rückschlüsse auf generelle gesellschaftliche Veränderungen in der Wahrnehmung und Bildung eindeutiger Geschlechtsidentitäten schließen lassen, sollen im Folgenden die aktuellen Diskussionen um den Begriff der Identität dargestellt werden.
4.2 Zur Veränderung des Identitätsbegriffs
4.2
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Zur Veränderung des Identitätsbegriffs
Betrachtet man die gegenwärtige Identitätsdiskussion, so tragen die Spaltungen der einzelnen Diskurse neben den unterschiedlichen wissenschaftlichen Forschungsdisziplinen, wie den Geisteswissenschaften mit insbesondere der Philosophie und der Erziehungswissenschaft sowie die sozialwissenschaftliche Diskussion aus Soziologie und Psychologie erheblich zur Unübersichtlichkeit der Debatte um den Begriff der Identität bei. In den Sozialwissenschaften wird der Bergriff der Identität vornehmlich unter dem Blickwinkel der personalen und kollektiven Identität thematisiert. Im Anschluss an Erikson wird die personale Identität als „A subjective sense of continious existence and a coherent memory“ (Erikson 1968, 61) gefasst. Einen zentralen Stellenwert für die Ausbildung einer personalen Identität nehmen in fast allen folgenden theoretischen Auseinandersetzungen zur Identität die formaltheoretischen Begrifflichkeiten Kohärenz und Kontinuität ein. Das grundlegende Verständnis des Begriffs der Identität liegt in der Annahme, dass Identität nicht einfach vorhanden ist, sondern über den Prozess der Bewusstwerdung erlangt wird. Eine stabile Ich-Identität bezeichnet damit das Bewusstsein des Menschen von der eigenen Kontinuität im Sinne einer sich durch narrative Sinnbildungsleistungen verbürgenden, retrospektiv und antizipativ konstruierenden Einheit eines Handlungs- und Lebenszusammenhangs (vgl. Straub 2000, 283) und der Vorstellung von Kohärenz als der „Stimmigkeit eines moralischen und ästhetischen Maximensystems, an dem sich eine Person orientiert“ (Straub 2000, 284). Unter kollektiver oder sozialer Identität wird dagegen nicht die Gleichheit des Einzelnen mit sich selbst, sondern die Gleichheit mit anderen verstanden. Kollektive Identitäten entstehen dann, wenn mehrere Menschen die Gleichartigkeit oder die gleiche Orientierung ihrer personalen Identität in den personalen Identitäten der anderen wiederfinden und dem ihnen gemeinsamen Interesse Bedeutung geben. Auf dem Hintergrund dieser Betrachtungsweise löst sich somit die strenge analytische Grenzziehung von personaler und sozialer Identität auf, da die personale Identität auch eine soziale ist, weil sie „Beziehungen zu anderen Menschen und zu einer bedeutsamen Orientierung im eigenen Leben herstellt“ (Wagner 1999, 46). Mit der Verabschiedung festgesetzter Vorstellungen einer stabilen Identität des Subjekts (vgl. Keupp 1988, Gross 1998) und der Öffnung der Identitätsdiskussion in Richtung einer Konzeption, die die Antinomien und den Entwurfcharakter von Identität betonen, begegnet Wagner der Unübersichtlichkeit der begrifflichen Vorstellungen von Identität, indem er eine grundsätzliche Neuorientierung in der so-
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zialwissenschaftlichen Theorie fordert. Wagner (1999) unterscheidet im Wesentlichen drei Diskurslinien innerhalb der Sozialwissenschaften, indem er den Begriff der Identität mal an Bedeutung und Kultur, mal an Handlung und Moderne und mal an Differenz bindet. In der Beziehung zu Bedeutung und Kultur bezeichnet der Identitätsbegriff die Verbindung der Menschen mit einer sozialen Ordnung, die über gleiche Glaubens- und Wertvorstellungen dem Einzelnen Sinn gibt. Gleichartigkeit wird jedoch nicht mehr anhand von Stand und Klasse, sondern an ihrer kulturellen Identität festgemacht. Der Problematik der sich immer komplexer und pluralistischer entwickelnden Kulturen wird dadurch begegnet, dass der Blick von der Homogenität einer Gesellschaft zu der Heterogenität gegenwärtiger Gesellschaften und der in ihr koexistierenden Kulturenvielfalt gewandt wird. Die Typik dieser nicht territorial festgelegten Kulturen ist ihre räumliche Ausbreitung über nationale Grenzen hinweg. Galt diese Entwicklung einst für die typischen Migrationsbewegungen, so ist dieses Phänomen gegenwärtig in den verschiedenen Jugendszenen zu beobachten. So vollzieht sich z. B. die Ausbreitung der HipHopund Techno-Szene quer über den gesamten Globus. Auf dieses Phänomen verweisen Klein und Friedrich (2003) mit ihrer Bezeichnung des ‘Glokalen’ in Bezugnahme auf die klassische Anthropologie, in der dieses Phänomen als multilokal beschrieben wird. War die Entwicklung von Gegen- und Subkulturen immer auf die in einer Gesellschaft dominierende Hegemonialkultur bezogen, so ist innerhalb der Jugendszenen eine enorme weltweite Koexistenz der verschiedenen Szenen zu beobachten. In der Thematisierung dieser Tendenzen beobachtet Wagner eine Diskursverschiebung von der Abwendung der Betonung von Gleichartigkeit und Gleichgesinntheit zur Hervorhebung von Andersartigkeit. „In der Summe der Diskursmodifikation jedoch verschwinden sowohl die Gemeinsamkeit als auch das Kollektiv, und beide werden durch Ordnungen von Ab- und Ausgrenzung innerhalb und zwischen diskursiv vielfältigen konstituierenden Kollektiven überlagert“ (Wagner 1999, 50). In der theoretischen Konstellation von Identität und Moderne wird insbesondere die Frage nach den Bedingungen der Herausbildung personaler Identität evident. Im Diskurs steht die spezifisch moderne Identitätsproblematik der Schaffung dauerhaft bedeutsamer Orientierungen für das eigene Leben. Durch die Bewältigung von Identitätskrisen während der Adoleszenz wird über die Gewinnung eines Bewusstseins von Kontinuität und Kohärenz eine grundlegend stabile Ich-Identität hergestellt, die trotz Wandlungsprozesse in ihrem Kern gleich bleibt. Identitätskrisen werden als ein ausschließlich typisches Phänomen der Moderne gesehen, da die Annahme, nur der moderne Mensch verfüge über ein Bewusstsein, dass das Vermögen besitze, in Distanz zu sich selbst zu treten, den Diskurs be-
4.2 Zur Veränderung des Identitätsbegriffs
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stimmt. Nähert man sich den Begriffen Identität und Moderne aus der historischen Perspektive, dann ist die moderne Identität mit ihrer spezifischen Problematik der Ich-Bildung und ihrer Krisen eine Folge zunehmender Autonomiegewinnung und Individualität. Sah die Soziologie bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts den Menschen als vorwiegend sozial determiniert an, so stellte sich die Frage nach der Ausbildung einer personalen Identität erst gar nicht. Erst mit G. H. Mead und seiner Anerkennung der Pluralität von Identitäten wird die Konstitution des Selbst zu einer alle Menschen betreffenden Problematik geltend gemacht und zum Thema des sozialwissenschaftlichen Interesses. Durch die Entwicklung von Massengesellschaften und deren sozialen Umbrüchen ab Mitte des neunzehnten Jahrhundert und der Entstehung der Arbeiterbewegung, die in der Industrialisierung ihren Ursprung hat, wird die zunehmende Selbstautorisierung des Menschen als typisches Kennzeichen der Moderne thematisiert und als eine „erste ‘moderne’ Erschütterung von Identitäten wahrgenommen“ (Wagner 1999, 59). Als eine Folge des „disembedding“ (Giddens 1995) beherrscht nun das Verhältnis von Individuierung und Wachstum des Selbst den soziologischen Diskurs. Im Gegensatz zu den Menschen in einer traditionalen Gesellschaft, in der der Mensch aufgrund seiner sozialen Determination die Problematik der Identitätsbildung nicht kennt, wählt und erwirbt der moderne Mensch seine personale Identität aktiv. Die Autonomie und die Fähigkeit, eine stabile Ich-Identität zu konstituieren, bedingt die Wahrnehmung von Kontinuität und Kohärenz und wird Voraussetzung für Handlungsfähigkeit. So vollzieht sich für Piaget die ontogenetische Entwicklung des Menschen aus der symbiotischen Phase der Ungetrenntheit von Selbst und Nicht-Selbst über die Phase der natürlichen Körperidentität und der Phase der Rollenidentität oder sozialen Identität zur Ich-Identität. Ordnet man diesen drei Phasen eine präkonventionelle, konventionelle und postkonventionelle Phase zu, so lässt sich mit Kohlberg folgern, dass eine postkonventionelle, also eine moderne Ich-Identität, Anteile der konventionellen Phase mit ihrer sozialen Determiniertheit der Rollenidentität übernehmen muss. Die phylogenetische Entwicklung mit ihren Prozessen der Enttraditionalisierung und Individualisierung bedingt und fordert die ontogenetische Steigerung von Eigenkomplexität und eine Zunahme von Ich-Stärke, da der konventionellen Phase mit ihrer handlungsleitenden und damit auch immer handlungseinschränkenden Funktion die allgemeingültigen Normen und Bedeutungsmuster im Zuge der Modernisierung abhanden gekommen sind. Die Dichotomie der ontogenetischen und phylogenetischen Entwicklung hebt die einstige Grenze der Trennung von Innen und Außen, von Individuen und Gesellschaft, von Körper und Geist auf, da sie einander bedingen und durchflechten. Die Tendenz der
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4 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer, ein Spiel der Identitäten?
einen Entwicklung bewirkt die Tendenz der anderen, der synergetische Effekt liegt in der Dynamik, die nicht mehr nach dem: ‘Was war zuerst’ fragen kann. Genau an diesem Effekt, an der Dynamik, den Differenzen, den Antinomien und Ambivalenzen und den daraus folgenden pluralen Erscheinungsformen und Bewältigungsstrategien setzen die neueren Identitätsdiskussionen an. Nicht mehr Kontinuität und Kohärenz und die Notwendigkeit der Konstitution einer stabilen IchIdentität sind die zentralen Begrifflichkeiten der theoretischen Auseinandersetzungen, sondern die Pluralität, Flüchtigkeit, Wandlungsfähigkeit und Instabilität bestimmen die Diskussion um die als postmodern bezeichnete Identität. Letztendlich geht die Diskussion bis zu der Frage, ob der Identitätsbegriff unter postmodernen Bedingungen noch das Phänomen der Identität(-en) zu beschreiben vermag oder ob man sich nicht besser von dem klassischen Identitätsbegriff verabschieden sollte, da er der Situation, unter der die Menschen zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts leben, nicht mehr gerecht wird. Es stellt sich die Frage, wie sich die Identitätsdiskussion der Aussage „Ich bin viele“ (Diederichsen 2002, 64), die allein schon alle grammatikalischen Grenzen sprengt und ein linguistisches Problem darstellt, annähern kann, ohne selbst starr zu werden und dem Effekt der Dynamik nicht mehr zu entsprechen vermag. Wie kann sich aus der Feststellung: „Jedes Schreiben über Identität ist in Gefahr, ein sich Fest-Schreiben, ein Still-Stellen zu werden, das diesem Charakter der Welt und der Menschen in ihr nicht mehr gerecht werden kann“ (Wagner 1999, 72) eine theoretisch fruchtbare Diskussion entfalten? Einen Ansatz bieten Keupp et al., die das Salutogenese-Modell Antonovskys (Antonovsky 1987, Bengel et al. 1998) mit seiner zentralen Aussage, dass der Erhalt von Gesundheit ein „sense of coherence“ voraussetzt, modifizieren, indem sie ihr Identitätskonzept auf der Begrifflichkeit von einem sense of identity, einem Gefühl von Identität aufbauen. Je realer und vielfältiger Kontingenzerfahrungen für den Einzelnen werden, desto wichtiger wird es, ein Gefühl von Identität und Kohärenz zu entwickeln. Keupp et al. begegnen der Gefahr des sich Fest-Schreibens, indem sie versuchen, eine handlungs- und identitätstheoretische Antwort zu geben auf die für die (Post-) Moderne so typische Lebenssituation, die sich durch das Eingreifen von Unübersichtlichkeit und Ungewissheit in allen Bereichen des Lebens auszeichnet. Dadurch, das Subjekte über Handlungen Sinnzusammenhänge und Identitätsrelevanzen auf der Grundlage ihrer subjektiven Bemessung herstellen, entwickelt sich ein Gefühl von Kohärenz. Keupp et al. beschränken sich in ihrem Ansatz auf eine Gefühlsbasis für die zu leistende „Identitätsarbeit“ (Keupp/Höfer 1997), die in dem folgenden Kapitel näher beschrieben wird.
4.3 Identitätsbildung als offener Prozess
4.3
79
Identitätsbildung als offener Prozess
In Theorien herkömmlicher Identitätskonzepte wie z. B. bei Erikson (1956, 66, 76), Levita, Krappman, Habermas konstituiert sich eine stabile Ich-Identität, indem sich die Individuen ihrer lebensgeschichtlichen Kontinuität und Konsistenz bewusst werden, also als jemand, der trotz Wandlungsprozesse gleich bleibt. Identität baut sich nach diesen Theoriekonzepten um einen „festen, persönlichen Kern“, der immer gleich bleibt. Nach Keupp u. a. werden diese substantiellen Identitätskonzepte der Entwicklung der Individuen in der Spätmoderne nicht mehr gerecht. Keupp u. a. begreifen den „Herstellungsmodus von Identität als einen offenen Prozess“ (Keupp u. a.1999, 189), der ein Leben lang andauert und nicht zu einem bestimmten lebensgeschichtlichen Zeitpunkt abgeschlossen ist. Die Annäherung an den Modus der Herstellung von Identität findet aus drei Perspektiven statt, der Perspektive des Prozesses der Identitätsarbeit, der Perspektive des Ergebnisses der Identitätsarbeit und der Perspektive der Syntheseleistungen der Identitätsarbeit. Zwei Grundprämissen werden von Keupp u. a. vorangestellt: Erstens besteht Identitätsarbeit „vor allem in einer permanenten Verknüpfungsarbeit, die dem Subjekt hilft, sich im Strom der eigenen Erfahrungen selbst zu begreifen“ (Keupp u. a. 1999, 190). Zweitens entsteht Identität „als Passungsprozess an der Schnittstelle von Innen und Außen“ (Keupp u. a. 1999, 191). Zur Klärung des Prozesses der Identitätsarbeit wird von Keupp folgendes heuristische Modell vorgestellt: zeitliche Verknüpfungen (Vergangenheit/Gegenwart/Zukunft)
g run h fa )Er t s elb S „inhaltliche“ ( r de Verknüpfungen “ (Ähnlichkeiten, Differenzen) rom t S „ lebensweltliche Verknüpfungen (Arbeit/Freizeit… Mann/Frau… Schüler/Rentner)
Abb. 3. Identität als Verknüpfungsarbeit. Quelle: Keupp u. a. 1999, 191
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4 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer, ein Spiel der Identitäten?
Anhand dieses Modells wird der „relationale Grundmodus der Identität“ (Keupp u. a. 1999, 192) beschrieben. Identitätsarbeit besteht aus einer permanenten Verknüpfungsarbeit, die dem einzelnen Subjekt dazu dient, sich selbst im Rahmen seiner Erfahrungen zu begreifen. Die Selbsterfahrungen werden innerhalb einer zeitlichen, einer inhaltlichen und einer lebensweltlichen Dimension verknüpft. In der zeitlichen Dimension wird Vergangenes mit Gegenwärtigem und Zukünftigem verknüpft. Unter die lebensweltliche Dimension fällt die Verknüpfung von Selbsterfahrungen. Des Weiteren stellt das Subjekt Verknüpfungen zwischen Ähnlichkeiten und Differenzen her, also zwischen Selbsterfahrungen, die bereits bekannt sind und schon einmal erlebt wurden, oder Erfahrungen, die allem Bekannten widersprechen sowie völlig neuen Erfahrungen, die in kein bekanntes Schema eingeordnet werden können. Keupp u. a. betrachten die Entwicklung von Identität als einen fortwährenden Prozess, der auf der Interaktion des Einzelnen mit seiner Umwelt basiert.
4.3.1
Retro- und prospektive Identitätsarbeit
Zeitanalytisch lässt sich Identitätsarbeit in zwei Prozesse unterteilen, den retrospektiv-reflexiven Prozess und den prospektiv-reflexiven Prozess. Dem retrospektivreflexiven Prozess unterstehen „situationale Selbstthematisierungen“ (Keupp u. a. 1999, 192), also die Reflexion gemachter Erfahrungen unter kognitiven, emotionalen, körperbezogenen, produktorientierten (Musik/Kleidung) und sozialen Aspekten, wobei nicht alle Aspekte in gleicher Intensität wirken. Überwiegt z. B. der emotionale Aspekt in einer bestimmten Situation, so wird diese Erfahrung auch zu einem späteren Zeitpunkt unter diesem Aspekt erinnert. Des Weiteren werden neue Erfahrungen in einer späteren Lebensphase, die der erlebten Situation ähneln, unter dem gleichen Aspekt gedeutet und bewertet. Subjekte fokussieren im Erzählen ihrer eigenen Biographie unterschiedliche Perspektiven, wodurch der Reflexionsprozess narrativ und kulturspezifisch geprägt ist. Erfahrungen werden im Erzählen sortiert, geordnet und oftmals in späteren Lebensphasen umgeschrieben. „Die unter bestimmten, meist kulturspezifisch geprägten Identitätsperspektiven gebündelten Erfahrungen werden in aller Regel retrospektiv (narrativ) weiterverdichtet zu verschiedenen Identitätskonstrukten, lebensbereichs- bzw. lebensphasisch spezifischen Teilidentitäten oder zu übergreifenden Konstrukten …“ (Keupp u. a. 1999, 193). Im prospektiv-reflexiven Prozess dominieren zukunftsbezogene Reflexionen, geleitet von der Fragestellung, welche Identitätsentwürfe entwickelt und welche Identitätsprojekte in der alltäglichen Lebensführung umgesetzt werden sollen. Im
4.3 Identitätsbildung als offener Prozess
81
Unterschied zu Identitätsentwürfen, die häufig von utopischen Vorstellungen der jeweiligen Teilidentitäten innerhalb eines Individuums geprägt sind und eher träumerisch-imaginären Charakter haben, werden in Identitätsprojekten reflexiv bearbeitete Identitätsentwürfe konkret verwirklicht und dienen als „diskursiver Referenzpunkt“ (Keupp u. a. 1999, 194). Durch die enge und häufig zeitgleiche Verknüpfung retrospektiver und prospektiver Prozesse entsteht eine gleichberechtigte Wechselbeziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Identitätsentwürfe und Identitätsprojekte entwickeln sich aus vergangenen Erfahrungen, wobei die sozialkonstruktivistische Sichtweise bezweifelt, dass sich eindeutige und kausale Erklärungsmodi für die jeweiligen Entscheidungen bezüglich zukünftiger Identitätsprojekte in einer Biographie finden lassen. Aus dieser Sichtweise „gibt es kein Erinnern an sich, Erfahrungen werden immer unter der Perspektive gegenwärtiger und zukünftiger Projekte erinnert, organisiert bzw. retrospektiv konstruiert“ (Keupp u. a. 1999, 195). Für Piaget gelang das Herstellen von Identität im Erreichen des Zustandes der Äquilibration aus den entgegengesetzten Polen von Assimilation und Akkomodation. Das Erreichen von Homöostase in der Jugendphase kann für Keupp u. a. in spätmodernen Gesellschaften nicht mehr das Ziel von Identitätsarbeit sein. „Identität als Frage der adoleszenten Einfädelung in eine wohlorganisierte Gesellschaft ist zu einer nicht endenden Aufgabe geworden, die völlig losgelöst ist von einer spezifischen Lebensphase“ (Keupp u. a. 1999, 72). Für den Identitätsprozess viel ausschlaggebender ist es, Gegensätze und Differenzen nebeneinander bestehen zu lassen, denn gerade sie „bilden eine motivationale Spannung für neue Handlungen und Identitätsentwürfe“ (Keupp u. a. 1999, 196). In der permanenten Aushandlung zwischen dem, was das Subjekt erreicht hat, und dem, was es noch in der Zukunft erreichen will, entwickelt das Individuum ein subjektiv stimmiges Passungsverhältnis, das Keupp u. a. als ein Gefühl von Authentizität bezeichnen. Dabei sind die Ressourcen, über die ein Subjekt verfügen kann, von entscheidender Bedeutung. Keupp u. a. verweisen in diesem Zusammenhang auf die Kapitalsortentheorie Bourdieus. Primär gibt es drei Kapitalsorten: das ökonomische, das soziale und das kulturelle Kapital, welche über die jeweilige Herkunftsfamilie weitergegeben werden. Inwieweit diese Kapitalien oder Ressourcen für die Identitätsentwicklung genutzt werden, hängt zum einen von der subjektiven Wahrnehmung ab, zum anderen von der Art und Weise, wie sie von dem einzelnen Individuum in der alltäglichen Identitätsarbeit mobilisiert und transformiert werden. So können z. B. soziale Ressourcen in ökonomische Ressourcen transformiert werden, in dem soziale Kontakte für die Beschaffung einer Arbeitsstelle genutzt werden.
82
4.3.2
4 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer, ein Spiel der Identitäten?
Selbstnarration
Zentralen Stellenwert nimmt im gesamten von Ambivalenzen und Spannungen geprägten Konstruktionsprozess der Identität das Medium der Selbstnarration ein. Im Erzählen verknüpft das Individuum Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und bezieht selbstrelevante Ereignisse aufeinander. Das Erzählen, sei es nun als innerer Monolog oder als Dialog mit anderen, dient dem Einzelnen, sein Leben verstehbar und sich selbst sichtbar zu machen. Keupp u. a. fanden in ihrer Untersuchung heraus, dass Jugendliche gleiche Ereignisse zu unterschiedlichen Zeitpunkten verschieden erzählten und deuteten. Je nachdem, welche Perspektive der Betrachtung gewählt wird, können demnach identische Ereignisse unterschiedlich interpretiert werden. Die Wahl der Perspektive ist zum Einen vom inneren psychischen Zustand und zum Anderen vom sozialen Kontext abhängig. „Die Konstruktionsarbeit an diesen Selbstgeschichten ist ein ständiger Prozess, der wesentlich von sozialem Aushandeln geprägt ist“ (Keupp u. a. 1999, 209). Die Differenz in den Selbsterzählungen ist abhängig von der Strategie, die der Einzelne entwickelt hat, um sich vor sich selbst und vor anderen zu präsentieren. Die Narrationen sind somit nicht nur vom Handeln und Kontext des Einzelnen abhängig, sondern auch von den Handlungen und Reaktionen der anderen. Die Selbsterzählung kann nur „erfolgreich aufrecht erhalten und fortgeschrieben werden, wenn die handlungsstützenden Rollenträger bereit sind, die Darstellungen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mitzutragen“ (Keupp u. a. 1999, 213). In Anlehnung an Gergen und Gergen beschreiben Keupp u. a. drei unterschiedliche Formen der Selbstnarration: die stabile, progressive und regressive Narration. In der stabilen Narration findet keine Veränderung der Position des Individuums statt, während in der progressiven und regressiven Narrationsarbeit „sich die Position aus der Evaluationsdimension über die Zeit verändert“ (Keupp u. a. 1999, 210). Keupp u. a. bestätigen in ihrer Untersuchung die von Gergen und Gergen aufgestellte These, dass Jugendliche häufig progressive Narrationsarbeit leisten. Der Fokus der alltäglichen Identitätsarbeit in den Selbsterzählungen von Jugendlichen ist in großem Maße auf Veränderung und auf die Zukunft gerichtet. Sie sind geprägt von der Differenz zwischen dem, was schon erreicht wurde und was darauf aufbauend noch erreicht werden soll. Entscheidend in diesem Prozess der Aushandlung ist die Art und Weise, wie der Einzelne selbstrelevante Ereignisse zeitlich aufeinander bezieht, welche Ressourcen er nutzt oder vernachlässigt und welche gesellschaftlichen Machtstrukturen die Narration beeinflussen. Ein wesentlicher Unterschied zu herkömmlichen Identitätskonzepten ist, dass über die Selbstnarration und Konstruktion von Identität kein ausgewogener innerer
4.3 Identitätsbildung als offener Prozess
83
Balancezustand ohne Widersprüche hergestellt wird, sondern dass widerstrebende Positionen eines Individuums in ein dynamisches, konfliktorientiertes Verhältnis gebracht werden und dies in einem lebenslangen Prozess, nicht nur in der Jugendphase.
4.3.3
Konstruktionen der Identitätsarbeit
In der Konstruktion der Identitätsarbeit setzt das Individuum alle Erfahrungswerte in einen bestimmten Kontext und entwickelt die Möglichkeit, sich über den Aufbau einer selbstreferentiellen Struktur eine eigene Identität zu konstruieren. Vier zentrale Konstruktionselemente liegen dabei der Konstruktion von Identitätsarbeit zugrunde: Die Konstruktion von Teilidentitäten, die Konstruktion von einem Identitätsgefühl, die Konstruktion einer biographischen Kernnarration und die sich aus ihren Ergebnissen entwickelnde Handlungsfähigkeit. Teilidentitäten entwickeln sich aus vielen einzelnen situativen Selbsterfahrungen, die sich auch immer wieder verändern können. Die Entstehung von Teilidentitäten ist abhängig von vergangenen, gelungenen oder gescheiterten Erfahrungsbausteinen sowie von zukünftigen Identitätsentwürfen und Projekten. Über die Entwicklung von Typisierungen und Standards, die sich aus fünf Erfahrungsmodi zusammensetzen, können sich Personen als das, was sie glauben zu sein, definieren. Die fünf Erfahrungsmodi setzen sich aus den kognitiven, sozialen, emotionalen, körperorientierten und produktorientierten Standards zusammen. Die Wahl einer Teilidentität und ihre Orientierung ist allein vom Subjekt abhängig. Es gibt für die einzelnen Individuen keine qualitativen oder quantitativen Grenzen. Des Weiteren ist zu beobachten, dass die gewählten Teilidentitäten nur für eine bestimmte Lebensphase gelten. Diese Beobachtung legt die Vermutung nahe, dass das Subjekt über eine größere Anzahl von Identitäten verfügt, die nicht immer präsent sind, auf die das Individuum aber gegebenenfalls zurückgreifen kann. Zwischen den sich zueinander variabel verhaltenen Teilidentitäten bilden sich häufig Hierarchien heraus. Die „Dominanz verdankt sich in der Regel zwei Gründen. Zum einen sind sie aktuell besser organisiert, das heißt, dominierende Teilidentitäten vermitteln dem Subjekt in puncto Anerkennung, Selbstachtung, Autonomie und Orginalität mehr Sicherheit. Zum zweiten haben sie in der jeweiligen Lebensphase eine höhere Relevanz“ (Keupp u. a. 1999, 224). Auch die Entwicklung der latenten, d. h. zur Zeit nicht dominierenden, Teilidentitäten in der Hierarchie werden von ähnlichen Impulsen gesteuert. Das Individuum arbeitet nicht an allen Teilidentitäten mit gleicher Intensität. Vielmehr erfolgt ihre Entwicklung eher selektiv. Die Autoren verweisen in diesem
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4 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer, ein Spiel der Identitäten?
Zusammenhang auf das Bild der ‘Dreifelderwirtschaft’. „Während die eine Teilidentität (in ihrer Weiterentwicklung) eher ‘brach’ liegt, bestellt das Subjekt die zweite und erntet bei der dritten die Früchte der Identitätsarbeit“ (Keupp u. a. 1999, 225). Neben der Verarbeitung situativer Selbsterfahrungen in einer Teilidentität werden alle biographischen Erfahrungen und Bewertungen des Subjekts über die verschiedenen Teilidentitäten hinaus zu einem Identitätsgefühl abgespeichert. Im Identitätsgefühl spiegelt sich „die Art der Beziehung des Individuums zu sich selbst (Selbstgefühl) als auch Bewertungen darüber, wie eine Person die Anforderungen des Alltags bewältigen kann (Kohärenzgefühl)“ (Keupp 1999, 226). Selbstdefinierte Referenzpunkte bzw. Standards dienen dem Subjekt als Bewertungsgrundlage, die, bezogen auf die Erfüllbarkeit der eigenen Erwartungshaltung, individuell gesetzt werden. Je nach Beurteilung fällt die Selbsteinschätzung auf der emotionalen Ebene positiv oder negativ aus. Bestimmendes Moment für die Erfüllung selbstgesetzter Standards ist die Orientierung an Idealvorstellungen. Je höher sie sind, desto schwieriger ist es für den Einzelnen, sie zu erreichen. Da die selbstgesetzten Standards sich an einer Idealvorstellung wichtiger Erfahrungen des Individuums orientieren, können sie auch gleichermaßen als Bedürfnismodelle für ein gelungenes Identitätsziel verstanden werden. Je näher das Individuum an die Erfüllung eigener Identitätsbedürfnisse kommt, desto mehr steigert sich sein positives Selbstgefühl, und es verstärkt das Gefühl, auch spätere Handlungsaufgaben bewältigen zu können. Des Weiteren entwickelt das Subjekt das Vermögen, die Sinnhaftigkeit seiner Projekte zu beurteilen. „Das Subjekt entwickelt dabei auch ein Gefühl, inwieweit es versteht, was mit ihm passiert (inwieweit es selbst eine Identität gestaltet, welchen Einfluss äußere Prozesse haben). Genau diese Bewertungsprozesse bilden die Grundlage für das, was wir als Kohärenzgefühl bezeichnen wollen“ (Keupp u. a. 1999, 227). Über die Synthese der drei Konstruktionen (Teilidentität, Identitätsgefühl und biographische Kernnarration) entsteht ein sich wechselseitig beeinflussendes Gefüge, das phasenweise eine gewisse Stabilität aufweist und die Basis bildet für das Gefühl der Handlungsfähigkeit der Individuen. Nach Keupp u. a. bildet die Handlungsfähigkeit als eine elementare Rahmenqualität die Grundlage allen menschlichen und menschenwürdigen Daseins. Durch die Handlungsfähigkeit erhalten die Individuen die Fähigkeit, ihr Leben eigenständig zu gestalten, Probleme zu lösen und alltägliche Erfahrungen zu bewältigen, zu beurteilen und zu reflektieren. In Anlehnung an Antonovskys Überlegungen zur Salutogenese führen Keupp u. a. drei Komponenten auf, die Subjekte heranziehen, um ihre Selbsterfahrungen zu bewerten, die Sinnhaftigkeit, die Machbarkeit und die Verstehbarkeit.
4.3 Identitätsbildung als offener Prozess
4.3.4
85
Zur Entwicklung von Kohärenz
Es stellt sich die Frage, ob sich Subjekte in der spätmodernen Gesellschaft noch als kohärent erleben können, da sie aus einer Vielzahl von Möglichkeiten stimmige Identitätsprojekte realisieren müssen. Durch die Möglichkeit, unter vielen Lebensentwürfen wählen zu können, ohne genau zu wissen, welche Konsequenzen mit der jeweiligen Entscheidung verbunden sind, ist die Möglichkeit des Misslingens erheblich angestiegen. Dies soll am Beispiel der Berufswahl von Jugendlichen verdeutlicht werden. Die Wahlmöglichkeiten sind vielfältig, aber das zur Verfügung stehende Wissen und die Erfahrungen sind nicht immer ausreichend, so dass sich die Entscheidung für einen bestimmten Beruf auch immer als eine misslungene Entscheidung herausstellen kann. Des Weiteren besteht die „hohe Wahrscheinlichkeit, dass die gewählten beruflichen Identitätsprojekte heute mehrfach zu hinterfragen sind …“ (Keupp u. a. 1999, 244). Verantwortlich sind dafür der unsichere Arbeitsmarkt, die ungewisse Zukunft der Berufe und das Hinzutreten von Mobilitäts- und Flexibilitätsanforderungen, die zu neuen beruflichen Identitätsprojekten führen können. Die Verlässlichkeit und zeitliche Konstanz, die zu einer stabilen Realisierung eines Identitätsprojekts notwendig sind, sind somit in Frage gestellt und daraus folgend das gesamte klassische Identitätsverständnis. „Es wäre gut sich von dem Begriff Kohärenz zu verabschieden, der als innere Einheit, als Harmonie oder als geschlossene Erzählung verstanden wird. Kohärenz kann für Subjekte auch eine offene Struktur haben, in der – zumindest in der Wahrnehmung anderer – Kontingenz, Diffusion im Sinne der Verweigerung von Commitment, Offenhalten von Optionen eine idiosynkratische Anarchie und die Verknüpfung scheinbar widersprüchlicher Fragmente sein dürfen“ (Keupp u. a. 1999, 245). Spätmoderne Gesellschaften bieten dem Einzelnen eine Vielfalt von Wahlmöglichkeiten und schaffen einen Rahmen, in dem die unterschiedlichsten Identitätsprojekte entwickelt, ausprobiert und realisiert werden können. Um diese Gegebenheit positiv nutzen zu können, ist es von besonderer Bedeutung, ein Gefühl der Gestaltbarkeit zu entwickeln und nicht „auf Dauer angelegte Fundamente zu zementieren“ (Keupp u. a. 1999, 245). Fehlt Kohärenz als prozessuales Ergebnis jedoch völlig, besteht die Gefahr emotionaler und gesundheitlicher Beeinträchtigungen. Keupp u. a. halten somit an dem Begriff Kohärenz fest, jedoch mit dem Hinweis seiner inhaltlichen Abhängigkeit von Zeitalter und Kultur. Sowie es in traditionalen Kulturen notwendig wahr Kohärenz als innere harmonische Einheit zu empfinden, so ist es in spätmodernen Kulturen notwendig, differente Erfahrungen und Ambivalenzen in einem kohärenten Ganzen zu integrieren.
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4.3.5
4 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer, ein Spiel der Identitäten?
Zur Entwicklung von Anerkennung
Mit Bezug auf Charles Taylor, der in dem Verlangen nach Anerkennung ein menschliches Grundbedürfnis sah, und Sigrun Anselm, die die Anerkennungsfrage eng mit der Identitätsfrage koppelt, weisen Keupp u. a. auf die Problematik des Erlangens von Anerkennung in spätmodernen Gesellschaften hin. Für sie setzt sich das Gefühl der Anerkennung aus drei ineinander verwobenen Elementen zusammen: Erstens aus der Anerkennung von anderen, zweitens aus der positiven Bewertung durch andere und drittens aus der Selbstanerkennung. Wobei besonders darauf hingewiesen wird, dass neben den Identitätszielen Integration, Entschiedenheit (kognitives Identitätsziel), Selbstachtung (emotionales Identitätsziel) und Originalität (produktorientiertes Identitätsziel) die Anerkennung nur eines der zu entwickelnden Identitätsziele ist. Das Gefühl von Anerkennung „… bildet sich als generalisierte verdichtete Erfahrung im Identitätsgefühl eines Subjekts ab“ (Keupp u. a. 1999, 256) und ist abhängig von der Wahrnehmung sowie der Bewertung der anderen als auch von der eigenen Selbstbewertung. Je nachdem, wie die subjektive Selbstthematisierung über das Medium der Narration ausfällt, kann Anerkennung im positiven Sinne hergestellt werden. Die Gefahr in einer radikalisierten Individualisierung sehen die Autoren in Anlehnung an Anselm darin, dass die Selbstbehauptung in spätmodernen Gesellschaften ihr Gegenüber verliert und Identifizierungen z. B. mit bestimmten Institutionen keine Verbindlichkeiten mehr bieten und dadurch inhaltlich leer bleiben. Ein weiteres Problem besteht für Keupp u. a. darin, dass vielen Menschen die kommunikativen und sozialen Kompetenzen fehlen, die in der heutigen Zeit notwendig sind, um zwischen den Beziehungen und zwischen den unterschiedlichen Anerkennungskulturen zu vermitteln und ihre inhärenten aber nicht unmittelbar sichtbaren Bewertungskriterien auszuhandeln. „Anerkennung muß … im dialogischen Austausch mit anderen Subjekten aktualisiert, gewissermaßen ausgehandelt werden“, und die „Fähigkeiten zur Selbstpräsentation gewinnen heute eine größere Bedeutung als früher“ (Keupp u. a. 1999, 268). Dort, wo die individuellen Spielräume wachsen und Identitätsprojekte relativ frei und ohne Einengung durch vorgegebene Strukturen und Autoritäten entwickelt und umgesetzt werden können, ist das „Spiel auf einer dermaßen individualisierten Anerkennungsklaviatur … anspruchsvoller bzw. erfordert weit mehr beziehungsorientierte Aushandlungskompetenzen als in modernen Zeiten“ (Keupp u. a. 1999, 260). Die Widersprüche und Ambivalenzen, die sich aus den Gegebenheiten der Spätmoderne ergeben und die sich daraus entwickelnden Spannungsverhältnisse
4.3 Identitätsbildung als offener Prozess
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bilden nach Keupp den fundamentalen Bestandteil gelungener Identitätsarbeit, wenn sie als Herausforderung zur Weiterentwicklung begriffen und empfunden werden.
4.3.6
Identität und Authentizität
Es stellt sich die Frage, wie diese Widersprüche in ein Passungsverhältnis gebracht werden können, „das aus der Sicht des Subjekts ‘stimmig’ ist und das Gefühl erzeugt, daß man etwas Gelungenes geschaffen hat. Dieses Gefühl wollen wir mit dem Begriff Authentizität fassen“ (Keupp u. a. 1999, 263). Reichte es, in modernen Zeiten Autonomie zu entwickeln, muss in spätmodernen Zeiten Authentizität, welche die Idee von Autonomie einschließt aber nicht umgekehrt, individuell entwickelt werden. „Die Vorstellung einer authentischen Subjektivität ist für die gegenwärtige Moderne das, was die Vorstellung des autonomen Subjekts für die (einfache) Moderne war“ (Keupp u. a. 1999, 269). Mit Autonomie ist nur die Verantwortlichkeit des Handelnden für eine bestimmte Handlung ohne Berücksichtigung der Beweggründe gemeint. Authentizität meint hingegen ein Handeln, das aus der Sicht des Handelnden für sich selbst als passend und in sich stimmig empfunden wird. Die gegenwärtigen Heterogenitäts-, Kontingenz- und Pluralisierungssteigerungen, vor die die Subjekte in spätmodernen Zeiten gestellt sind, scheinen nur schwer miteinander vermittelbar zu sein. In der Narrationsarbeit liegt daher eine wesentliche Bedeutung. Über das Mittel der Narration können Individuen zum Ausdruck bringen, welche Person sie sind oder sein möchten. Authentizität wird somit nicht nur vom Einzelnen über den inneren Monolog hergestellt, sondern über den Dialog mit anderen. Kohärenz- und Kontinuitätserfahrungen sowie die Erfahrung von Anerkennung durch andere sind heute jedoch weder stabil noch starr, sondern sie beschreiben eine innere Stimmigkeit, die prozessualen Veränderungen unterworfen ist und sich in einem Gefühl von Authentizität ausdrückt. Mit Bezug auf Ferraras Begriff der ‘reflective authenticity’ weisen Keupp u. a. auf den besonderen Stellenwert der individuellen Authentizität für die Entwicklung von Identität hin und erläutern seinen Begriff ‘depth’ als Fähigkeit zu einem reflektierten Selbstbewusstsein, d. h. wie gut es einer Person gelingt aktiven Zugang zur eigenen psychischen Dynamik zu finden und diese zu reflektieren. Identität entsteht zwar aus der Interaktion mit anderen, der authentischen Identität wird aber eine besondere Qualität zugesprochen.
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4.4
4 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer, ein Spiel der Identitäten?
Postmoderne Identitätskonstruktionen
Wo nach Ansicht der Anthropologie die Identität des Menschen in der traditionalen Gesellschaft noch als fest und starr betrachtet wurde und überlieferte Mythen und Religion Orientierung boten, war Identität (ausführlich Kap. 5.2) etwas Unproblematisches, über das nicht nachgedacht oder reflektiert wurde. Identitätskrise und Identitätswahl sind die zentralen Begrifflichkeiten, die erst in der Moderne zum Gegenstand des Interesse werden. Erst hier wird Identität in höherem Maße reflexiv und ein Phänomen, das sich durch Wandlungs- und Innovationsprozesse auszeichnet. Dennoch sind die Identitäten noch als relativ eindeutig definiert und werden von der Wahrnehmung anderer und der Abhängigkeit der eigenen Einschätzung dieser Fremdwahrnehmung (vgl. Mead 1973) bestimmt. Die diskutierten Veränderungen um das Ich-Bewusstsein kreisen in der einschlägigen Literatur um die Erweiterung der Grenzen möglicher Identitäten, die Reflexion der verfügbaren sozialen Rollen, die Zunahme der Möglichkeiten der subjektiven Wahl von Bräuchen, Normen und Sitten sowie dem immer komplexer werdenden Prozess der wechselseitigen Anerkennung. Nicht mehr das denkende Ich (Descartes) mit der genügsamen Antwort „Wir sind denkende, geistige Wesen“ (Descartes) oder das transzendentale Subjekt (Kant, Husserl) oder der Vernunftbegriff der Aufklärung mit der Antwort auf die Frage wer wir sind „freie moralische Wesen“ (Kant), bestimmen die Diskussion, in der die Erlangung einer Identität zu einem Verfahren der Selbstidentifikation wird, in dem der Mensch seine Kraft aus der Vernunft schöpft und die eigene Identität als etwas Wesenhaftes, Substantielles und einheitlich Festes begreift. Die Tendenz der Diskussion bewegt sich somit von einem statischen Verständnis zu einem dynamischen Verständnis von Identität. Das moderne Selbst konstituiert sich aus dieser Perspektive selbst, ist aber vor die Problematik des ‘selbst richtig oder falsch Machens’ gestellt und des Weiteren vor die Dynamik der zeitlichen Veränderungen, die die einmal gewählte Identität in Frage stellen und mit ambivalenten Ansprüchen konfrontieren, die erneut zu Brüchen und Grenzauflösungen der Identität führen können. In der modernen Debatte um die Identität richtet sich der Blick also auf das Problem des Erstellens einer personalen Identität oder Ich-Identität und auf die gesellschaftlichen Strukturen, die sie fördern, bedrohen oder verhindern. Aufbauend auf dieser konstruktivistischen Vorstellung stellen die Poststrukturalisten (Foucault, Derrida) die Begriffe Identität und Subjekt generell in Frage, indem sie die These aufstellen, dass die subjektive Identität ein Mythos sei und den Eindruck suggeriere, als gäbe es eine feste Identität. Aussagen wie „Das Ich ist tot“ (George Bernhard
4.5 Zum Begriff der Patchwork-Identität
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Shaw), „Das Ende des Subjekts“ (frz. Philosophen; Foucault) oder das dezentrierte postmoderne Selbst bestimmen die postmoderne Diskussion um die Identität(-en). In Frage gestellt wird, ob und wie sich die Subjekte weiterhin selbst konstituieren und Autonomie erlangen können und ob durch eine konsumorientierte, durch die Medien beeinflusste Massengesellschaft (Adorno) sowie durch Bürokratisierung und Rationalisierung das autonome, sich selbst konstituierende Subjekt fragmentiert wird und im Verschwinden begriffen sei. Zunehmenden Einfluss auf die Identitätsdiskussion nehmen außerdem an der Wende zum 21. Jahrhundert die Erkenntnisse aus der Neurobiologie und Hirnpsychologie. So der spanische Hirnphysiologe José Delgado, der bestreitet, dass der Mensch einen unzerstörbaren, irreduziblen Kern habe und das Selbst als eine leere Hülle beschreibt, in der die Materialien, die sich die Individuen aus der Umwelt geborgt haben, Platz nehmen.
4.5
Zum Begriff der Patchwork-Identität
Kleidung wird als „zweite Hülle des Ich“ (Sommer/Wind 1988) und als ein wesentliches Medium zur Identitätsdarstellung beschrieben. Als eines der vielfältigsten, wechselhaftesten und wesentlichsten Medien der Selbstinszenierung, bricht sie mit einstigen Bedeutungsgehalten, mischt und mixt Zusammenhänge und schafft in unerschöpflicher, kreativer Weise neue Ausdrucksweisen innerhalb der „politics of articulation“ (Hall 1987). Auf dem Leib getragen, an der Grenze des „subjektivpersönlichen Binnenraums“ und den „diversen äußeren Selbsten“ (vgl. Hall 1987) schreibt sie zu, grenzt sie aus, verschmilzt das Ich im ‘Meltingpot’ von Mitgliedschaften und Zugehörigkeiten. Sie vermittelt zwischen Innen und Außen oder stellt gerade die Brüchigkeiten und Ambivalenzen (vgl. Kaiser 1991; 2001, Davis 1992) dar, die in der Diskussion zur Identität, zur Moderne und Postmoderne thematisiert werden. In der postmodernen Identitätsdebatte wird in einigen Ansätzen (Keupp 1988, Gross 1998, Hitzler/Honert 1994) der Begriff Identität durch das Konzept der ‘patchwork identity’ ersetzt, da er den Patchwork-Identitätsbildungsprozessen in der reflexiven Moderne eher gerecht werde. Patchwork, definiert als ein: „(engl. Amerik., ‘Flickwerk’), urspr. von amerikanischen Siedlerfrauen aus Stoffresten verschiedener Farben und Muster zusammengesetzter Stoff für Decken und Vorhänge“ (Loschek 1994, 371), verweist auf den engen textilen Bezug von Kleidung und Identität. Berücksichtigt man den ursprüng-
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4 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer, ein Spiel der Identitäten?
lichen Bedeutungsgehalt von Patchwork, dann können die einzelnen Stoffteilchen als Metapher für die von Keupp et al. beschriebenen Teilidentitäten gelesen werden, die durch einen Faden zu einem Ganzen zusammengefügt werden. Der Faden als wesentliches Verbindungselement zu den eigenen und äußeren Selbsten, so wie Tom Wolfe in ‘The Bonfire of Vanities’, seinen Romanhelden während seines Sturzes in den Tod sagen lässt: „Dein Selbst … sind andere Leute, all die Leute mit denen du verbunden bist und es ist nur ein roter Faden“ (Wolfe 1987). Problematisch an dem Begriff Patchworkidentität scheint jedoch, dass ein Patchwork zwar aus mehren Teilen besteht, aber zu einem bestimmten Zeitpunkt fest zusammen gefügt ist und nicht mehr verändert werden kann. Das Muster, die Farbgebung, sowie die Größe und Anzahl der Teilchen sind zu einem festen Gefüge verbunden, das nicht mehr verändert werden kann. Begreift man jedoch das Patchwork an sich als lebenslangen Prozess, an dem immer wieder Teile hinzugefügt werden können, stellt sich die Frage, welches die Kriterien sind, die das Patchwork der Identitäten verbinden und zusammen halten. In textiler Metaphorik stellt sich die Frage nach dem ‘roten Faden’, der das Auseinanderreißen der verschiedenen Teilidentitäten verhindert. War für Habermas dieser rote Faden eine starke, durch Komplexitätssteigerung angereicherte Ich-Identität, so wird dieser Faden bei Keupp zu einem Gefühl von Identität und Authentizität, welches Autonomie einschließt. Unabdingbar für die Ausbildung dieses Gefühls von Authentizität und Kohärenz ist jedoch im Anschluss an Antonovsky (1987) das Vertrauen, dass das Leben bewältigbar (manageable), bedeutungsvoll (meaningful) und verständlich (comprehensible) ist. Vertrauensaspekte, die trotz der paradoxen Situation, in der sich junge Männer und Frauen befinden – auf der einen Seite der individualisierungsbedingten Aufforderung, ihr Leben selbständig und eigenverantwortlich zu gestalten, aber auf der anderen Seite das Fehlen der strukturellen Vorraussetzungen, die die Grundlagen für dieses Handeln bilden – entwickelt werden müssen. „Alltägliche Identitätsarbeit hat die Aufgabe, die Passungen (das matching) und die Verknüpfungen unterschiedlicher Teilidentitäten vorzunehmen“ (Keupp 1997, 34 f.), wobei allerdings die „Aufforderung, sich selbstbewusst zu inszenieren, (…) ohne Zugang zu den erforderlichen Ressourcen etwas Zynisches“ (Keupp et al. 1999, 53) hat. Trotz wesentlicher Differenzen in ihren Ansätzen bildet auch bei Nummer-Winkler das Gefühl innerer Einheitlichkeit und biographischer Selbstgleichheit eine wichtige Grundlage in der Identitätsentwicklung. Nummer-Winkler fehlen jedoch an der Patchwork-Konzeptualisierung die Kriterien, „die den einen ‘Flickerlteppich’ vom anderen zu unterscheiden und einen bestimmten trotz steter Ersetzung oder Umfärbung einzelner Flicken immer noch als
4.5 Zum Begriff der Patchwork-Identität
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denselben zu erkennen erlaubten. Körpergrenzen und physische Kontinuität reichen für das subjektive Gefühl von Sich-selbst-Gleichheit und Einheitlichkeit nicht hin“ (Nummer-Winkler 2000, 306). Für Nummer-Winkler scheint eine notwendige Bedingung für die psychische Gesundheit das Streben nach Konsistenz zu sein. In textiler Metaphorik also das Streben nach dem roten Faden, der die Identität als „konsistente Erzählung“ (Giddens 1991) konzeptualisiert, in dem die Individuen durch ständiges Umdeuten die Abfolge ihrer Entscheidungen und Handlungen in einen verstehbaren Sinnzusammenhang bringen. Der derzeitige Stand der Identitätsdiskussion kreist einerseits um den Begriff Identität an sich, debattiert andererseits den Streitpunkt des Pathologischen. So wirft die postmoderne Kritik dem identitätstheoretischen Diskurs vor, zu enge Grenzen zwischen nichtpsychischer und psychischer Gesundheit zu ziehen. Kraus und Mitzscherlich (Kraus und Mitzscherlich 1997, 162 f.) fordern daher, die Normalisierung diffuser Identitätszustände radikaler zu betreiben und Gergen und Welsch (Gergen 1996, 131 ff.; Welsch 1990, 171) treten den Identitätsmodellen von Erikson und Marcia mit Konzepten der Polyphrenie oder Identitätsfragmentierung entgegen, in denen sie davon ausgehen, dass sich durch die Pluralisierung, Differenzierung, Dynamisierung und Anonymisierung der Lebenswelten moderne Identitäten automatisch strukturell wandeln und alle Menschen „mehr oder weniger“ (Gergen 1996, 131 ff.) multi- oder polyphren seien und Identitätsdiffusion nicht als leidvoll und beängstigend erfahren, sondern als lustvolles Spiel mit den Patchwork-Identitäten. Dabei „konstruieren sich Subjekte ihre Identität nicht in beliebiger und jederzeit revidierbarer Weise, sondern versuchen sich in dem, was ich Gefühl von Identität genannt habe, in ein ‘imaginäres Verhältnis zu ihren wirklichen Lebensbedingungen’ zu setzen“ (Keupp 1997, 34). Dadurch, das Keupp et al. die Gefühlsbasis in dem Prozess der Identitätsentwicklung als grundsätzliche Bedingung betonen, begeben sie sich in ihrer Auseinandersetzung auf eine Ebene, auf der die verschiedenen subjektiven Verarbeitungsstrategien nicht ausschließlich auf der kognitiv-reflexiven Ebene gedacht werden, sondern auch auf einer körperlichen Ebene. In der Interpretation von Keupp et al. wird Autonomie im Habermasschen Sinne auf der Ebene der Selbstreflexion erlangt, in dem die Individuen Verantwortung für ihre Handlungen übernehmen. Da aber Autonomie aufgrund der strukturellen Bedingtheiten, wie z. B. der problematischen Übergänge von Jugend und Erwachsen sein, (wenn überhaupt) nur partiell erlangt werden kann, diskutieren Keupp et al. die „Vorstellung einer authentischen Subjektivität“ (Keupp et al. 1999, 269) unter Einbezug der subjektiven Empfindungen. Im Bezug zum Bekleidungsverhalten von Jugendlichen soll auf
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dieser Reflexionsebene, die die körperlich-sinnliche Ebene mit einbezieht, diskutiert werden, ob gesellschaftlich-strukturelle Veränderungen auf dieser körperlich ästhetischen Ebene verleiblicht werden (s. Kap. Kleid und Körper). Basierend auf der Annahme, dass Veränderungen nicht ausschließlich auf dem Wege kognitiv-reflexiver Aushandlungsprozesse stattfinden, sondern gerade von jungen Männern und Frauen in flexiblen Übergängen wie Arbeit/Beruf/Bildung, Familie/Wohnen/Partnerschaft, Geschlecht/Identität/Sexualität und Körperlichkeit auf der subjektiven Sinn- und Körperebene wahrgenommen und verarbeitet werden, bietet Kleidung die Möglichkeit, Authentizität für sich selbst und andere herzustellen. Diskutiert man also die Aspekte, die in der Debatte um Identität als Patchworkidentität oder als Identitätssampling (Klein 2004, 47) beschrieben werden, dann bietet auf dieser Ebene Kleidung mit ihrem inhärenten Charakter des Nicht-fixiert-Seins, des Nicht-Einheitlichen, des Nicht-Statischen, sondern des Pluralen und Veränderlichen, die Möglichkeit den beständigen Prozess des Bastelns von Mehrfachidentitäten zu unterstützen. Insofern kann Kleidung auch eine bildende Funktion im Sinne von Selbstbildung, Selbstfindung einnehmen und ein Terrain für die Erprobung der Vielzahl von Suchbewegungen, Identitätsentwürfen und Lebensstilen bieten, ohne dass schwerwiegende Sanktionen befürchtet werden müssen. Die daraus resultierenden experimentellen Erfahrungen des Selbst sind zwar in der Regel kurzatmig, müssen aber für den weiteren Lebensweg nicht unbedeutend sein, sondern können durchaus relevante Lebensstrategien hervorbringen. Neu an der Nachmoderne ist demnach nicht in erster Linie die weitgehende Erosion traditioneller bürgerlicher Werte, neu ist vor allem, dass die „Pluralisierung der Kultur die Grundmuster der psychischen Identität erreicht hat: Sie ist dem Menschen auf die Haut gerückt und hat sich in ihre Körper eingeschrieben“ (Klein 2004, 48). So scheint Kleidung nicht nur ein bloßes Oberflächenphänomen zu sein, sondern ein Ausdrucksmedium des Auseinandersetzungsprozesses mit sich selbst. Das, was die vielfältigen Stilbildungen der Szenen und die damit einhergehenden Kleidungsstile formen und symbolisieren, verweist auf einen Verleiblichungsprozess der strukturellen gesellschaftlichen Veränderungen, in dem die nebeneinander und übereinander ‘getragenen’ reflexiven Identitäten ans Tageslicht treten.
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Sex- und Gender-Identitäten
„Im Westen wird die Mode ‘karnevalistisch’: Sie hebt die Trennung der Geschlechter und Klassen auf, mehr noch, sie stellt die Kategorien Geschlecht und Klasse als Verkleidungsmodelle bloß.“ (Vinken 1993, 60) Die Auseinanderssetzung mit dem Phänomen Mode und Kleidung junger Männer und Frauen macht es unumgänglich, sich der immer komplexer erscheinenden feministischen Theorie zuzuwenden. Um aufzuzeigen, ob sich die Identitätsentwicklungsprozesse junger Frauen aus der Perspektive feministischer Theoriebildung anders oder differenzierter darstellen lassen, sollen im Folgenden die Stimmen zu Wort kommen, die sich insbesondere mit der Identitätsproblematik auseinandersetzten. Es würde jedoch den Rahmen dieser Arbeit sprengen, das gesamte interdisziplinäre Feld feministischer Forschung mit seinen kontroversen Diskursen und Standpunkten darzustellen. Es sei allerdings darauf hingewiesen, dass sich die feministische Forschung in die Frauenforschung und die Geschlechterforschung unterteilt. Die Frauenforschung ist eine Ausrichtung feministischer Theorie, die die Geschlechtsspezifik auf der Basis der Rollentheorie zu ergründen versucht und die Korrespondenz der geschlechtlichen Arbeitsteilung mit den Verhaltensmustern und Verhaltensrepertoires von Frauen und Männern betont. Ihre Kritik richtet sich gegen die Auffassung „Geschlechter als soziale Konstitution von Weiblichkeit oder Männlichkeit aufzufassen“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 35), welche in die symbolische Ordnung eingeschrieben sind. Die Geschlechterforschung fokussiert dagegen eine vergleichende Perspektive. „Die männliche Genus-Gruppe ist konsequenterweise vorrangiger Referenzpunkt von Aussagen über geschlechtliche Ungleichheitslagen“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 36). Aus dieser vergleichenden Perspektive wird die soziale Ungleichbehandlung der Frauen aufgrund ihres sozialen Geschlechts untersucht. Gegen die Kritik des Verlustes der Verbindung der Frauenforschung mit der feministischen Position und des Vorwurfes einer zu ausgeprägten Akademisierung, wendet dieser Forschungsansatz ein, dass die Bevorzugungen von Männern aufgrund ihres sozialen Geschlechts im Vergleich zu Frauen dargestellt und analysiert werden müssen, um präzise Einsichten in der sozialen Ungleichheit zu gewinnen. Der Untersuchungsgegenstand der Frauenforschung als Geschlechterforschung beruht auf der Intention, Frauen als Menschen weiblichen Geschlechts in Beziehung
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5 Sex- und Gender-Identitäten
zum männlichen Geschlecht zu setzen, da Frauen und Männer in einer kulturellen Ordnung leben, die von einem hierarchisch konstruierten Geschlechterverhältnis durchdrungen ist. Der Begriff der Relationalität nimmt in der Geschlechterforschung einen zentralen Stellenwert in der Erforschung der Geschlechterverhältnisse ein. Da das weibliche und männliche Geschlecht in unserer Gesellschaft in unterschiedlichen Sphären wie z. B. dem Ausbildungssystem, dem Arbeitsmarkt oder der Familie als soziale Größen aufeinander treffen, wird mit diesem Begriff versucht, die Relation der Bewertungsmuster und die Modi der Bezogenheiten zu beschreiben. Nach Becker-Schmidt und Knapp (2003) impliziert der Begriff Relationalität die Angabe der Elemente oder Relata, „die wie Größen einer Gleichung zueinander in Beziehung stehen“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 39). Die Größen sind in der Geschlechterforschung Männer und Frauen, die in ein Wechselverhältnis der Aufund Abwertung geraten. Knotenpunkte wie z. B. Kooperationsbeziehungen oder ökonomische, politische und kulturelle Konstellationen (wie z. B. Jugendszenen) entscheiden über Aneignungs- und Anerkennungschancen von Frauen und Männern, wobei die „Ausgestaltung von Bezogenheiten zwischen den Geschlechtern (…) geschichts- und gesellschaftsabhängig“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 39) ist. Neben der historischen und soziologischen Kontextualisierung von „Relationalität“ und der Angabe, was im Einzelnen in Wechselbezug zueinander tritt, verweist der Begriff auch auf die Bewertungsmaßstäbe und Strukturierungsbedingungen, die angeben, ob dem einen (männlichen) Geschlecht eine Überwertigkeit gegenüber dem anderen (weiblichen) Geschlecht zugemessen wird. Becker-Schmidt/Knapp bezeichnen „solche Verhältnisbestimmungen der Symmetrie oder Asymmetrie, der Egalität oder Disparität … als ‘Konnexionen’“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 40). Ohne auf Giddens Theorie von Struktur und Handeln einzugehen, erläutern sie, dass der Begriff Konnexion „… gleichermaßen auf Struktur und Handeln“ (BeckerSchmidt/Knapp 2003,40) verweist. Vereint wird in dem Begriff Konnexion das Verb nectere, welches verknüpfen oder verflechten bedeutet als auch das Subjektiv nexus, was als Verbindung, Zusammenführung oder Verschlingung übersetzt werden kann. Becker-Schmidt/Knapp folgern daraus, dass sich Konnexion zum Einen „auf die Modalitäten, die durch Denken und Tun gestiftet werden als auch auf die gesellschaftlichen Arrangements, in die Handeln eingebettet ist“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 40), beziehen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Verwendung des Verbs eingebettet. Giddens spricht in diesem Zusammenhang von Entbettung und versteht darunter den Prozess der Herauslösung „sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum-Zeit-Spannen übergreifende Umstrukturierung“ (Giddens 1996, 33). Konnexionen, die wie in der
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HipHop-Szene Rangordnungen zwischen den Genus-Gruppen betonen und etablieren, können zu Legitimationskrisen und Widerstand führen, wie dies die vereinzelten weiblichen HipHopperinnen versuchen, die innerhalb der Männerdomäne HipHop um ihre soziale Anerkennung kämpfen. Solidarische Verbindungen wie sie innerhalb der Techno-Szene zu beobachten sind, können „sich dagegen in einer ausgeglichenen Reziprozität oder in einer Komplementarität ausdrücken, die Unterschiedlichkeit – etwa der Frauen und Männer zugewiesenen Praxen – vorsieht, ohne diese jedoch zu hierarchisieren“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 41). So kann etwa das Schmücken der jungen Männer mit einst typisch weiblichen Bekleidungselementen und weiblich konnotierten Accessoires oder das Phänomen des Schminkens als ein Ausdruck von Enthierarchisierung gelesen werden, da durch die Übernahme dieser Attribute seitens der männlichen Genus-Gruppe das Weibliche Anerkennung findet. Aus der Zusammenfügung gleichgerichteter Konnexionen der weiblichen und männlichen Bekleidungselemente über die Grenzen von typisch Weiblichem und typisch Männlichem entsteht ein Nexus, der sich auf den folgenden Fotographien beobachten lässt.
Abb. 4 Quelle: Spiegel spezial 1994, Heft 11, S. 19
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Abb. 5 Quelle: Christian Jahnbaszek http://www.techno.de-info
Abb. 6 Quelle: Spiegel spezial 9/1996, S. 50
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Abb. 7 Quelle: Spiegel spezial 9/1996, S. 51
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Der Ansatzpunkt für disparitäre Konnexionen liegt in der „Wechselwirkung zwischen der kulturellen Konstruktion von Differenz, die sich auf ungleiche Bewertung von Weiblichkeit und Männlichkeit stützt …“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 47). So drückt sich in der HipHop-Kleidung die kulturelle Konstruktion von Differenz zum einen in der Betonung des männlichen Habitus durch die lässige, coole Körpersprache und Körperhaltung sowie in dem machohaften Geprotze mit dicken Goldketten und allem was bling-bling ist, aus. Die HipHop-Szene ist im Gegensatz zur Techno-Szene „eine patriarchal organisierte, männlich dominierte und sexistische Kulturpraxis, gekennzeichnet dadurch, daß primär zwischen Mann und Nicht-Mann unterschieden und Weiblichkeit als Projektionsfläche für männliche Phantasien begriffen wird“ (Klein/Friedrich 2003, 206). Insofern spiegelt die Kleidung der HipHopSzene das auch in den häufig frauenfeindlichen und sexistischen Songtexten zum Ausdruck gebrachte männlich tradierte Normen- und Wertesystem wider, welches durch die vereinzelten weiblichen Rapperinnen kaum aufgebrochen werden kann.
Abb. 8 Quelle: privates Archiv
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Abb. 9 Quelle: privates Archiv
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Abb. 10 Quelle: privates Archiv
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In der Techno-Szene äußern sich dagegen die unterschiedlichen Praxen in der solidarischen Verbindung der beiden Genus-Gruppen, die in der gegenseitigen Anerkennung beider Geschlechter mündet. In der Kleidung der Techno-Szene findet dieses Phänomen ihren Ausdruck in der Übernahme femininer Gestaltungselemente durch die jungen Männer. So wird z. B. die Darstellung des Körpers als Anschauungsobjekt in der Techno-Szene kultiviert und von beiden Genus-Gruppen gleichermaßen – ohne das Moment der Hierarchisierung – inszeniert. Während in der HipHopSzene das soziale Verhältnis der Geschlechter eher als asymmetrisch und antagonistisch bezeichnet werden kann, das durch ein Machtgefälle und durch Statusdifferenzen seitens der jungen Männer bestimmt wird, ist in der Techno-Szene genau das Gegenteil festzustellen. Diese Beobachtung lässt auf einen Verweisungszusammenhang der Geschlechter schließen, in dem das Identische auch immer das Nicht-Identische des anderen impliziert. „Kein Element einer Relation … hat als selbständiges seine soziale Stellung in der Gesellschaft, sondern jedes gewinnt sie erst aus der Entgrenzung zum anderen“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 48). Aufbauend auf der Formulierung Adornos „das Gesellschaft ein Relationsbegriff sei, bei dem es auf Verhältnisbestimmungen zwischen den einzelnen sozialen Elementen ankommt“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 56), ergänzen Becker-Schmidt/Knapp diesen Gedankengang, indem sie dem sozialen Element ‘soziales Geschlecht’ einen zentralen Stellenwert zuweisen und die Relationalität der Genus-Gruppen zur Bevölkerungsstruktur zugehörig erklären. Des Weiteren gehören auch die sozialen Sektoren wie die nicht marktvermittelte unbezahlte Hausarbeit und die marktvermittelte bezahlte Erwerbsarbeit „zu den Elementen, die im Rahmen gesellschaftlicher Arbeitsteilung zu einander ins Verhältnis gesetzt werden“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 56 f.) müssen. Unter Rekurs historischer Kontextualisierung sprechen Becker-Schmidt/ Knapp in diesem Zusammenhang von einer doppelten Vergesellschaftung in dem Sinne, dass disparitäre Relationen im Geschlechterverhältnis durch die geringere Honorierung der Haus- und Familienarbeit entstehen. Da die Honorierung von Arbeit im Verlauf der kapitalistischen Industrialisierung nicht mehr durch einfachen produktvermittelten, sondern durch geldvermittelten Warentausch bestimmt wird, wurde Geld „zum entscheidenden Medium gesellschaftlicher Austauschprozesse … (und P.S.) machte vor der Familie trotz ihres Ausschlusses vom Arbeitsmarktgeschehen keineswegs Halt: Auch hier begann das Geld über die Arbeit zu herrschen“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 58). Aufgrund dieser Entwicklungen erhöhte sich das Prestige der Männer, da ihre Zahlungen aus dem öffentlich-gesellschaftlichen Verkehr stammen. Die männliche Erwerbsarbeit wurde im Gegensatz zur Hausarbeit durch den Verdienst festgelegt und da Frauen nicht die gleichen Chancen auf dem
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Arbeitsmarkt hatten und immer noch nicht haben, können sie nicht in gleich hohem Maße zum Familieneinkommen beitragen. Den Männern werden dadurch mehr Entwicklungsmöglichkeiten in ihrer beruflichen Karriere zugestanden als den Frauen. Die Entwicklung und Festlegung von Disproportionalitäten ergibt sich des Weiteren durch den größeren Einfluss, den das Berufssystem auf die private Lebenswelt ausübt als umgekehrt. „Trotz der Interdependenzen zwischen den Sektoren, die arbeitsteilig zum sozialen Zusammenhalt beitragen, ist unsere Gesellschaft kein ausgewogenes Ensemble von Sektoren, in dem alle Segmente das ihnen angemessene Gewicht haben“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 59). Zusammenfassend lässt sich aus den einzelnen Strängen der Geschlechterforschung aufzeigen, dass unsere Gesellschaft von androzentrischen Logiken und Hegemonien bestimmt wird, in der den männlichen Machtfeldern wie Militär, Politik, Wirtschaft und Forschung, eine höhere Wertschätzung zuerkannt wird als der „Reproduktion des Lebens samt ihrer kulturellen Erfordernisse“ (Becker-Schmidt/ Knapp 2003, 60). Becker-Schmidt/Knapp resümieren, dass das ideelle Gebilde des Geschlechterverhältnisses eine symbolische Ordnung und ein Sozialgefüge ist, die aufeinander verweisen und eine gemeinsame materielle Basis haben. In ihrer gemeinsamen Sozialgeschichte stützen sie sich wechselseitig ab und stehen in einem engen gesellschaftlichen Vermittlungszusammenhang. „Polarisierende Unterscheidung, diskriminierende Bewertung, disparitäre Behandlung und ungleiche Positionierung der Menschen qua Geschlecht greifen ineinander. Das bringt die Genus-Gruppen – unabhängig von ihrem Willen – in eine Oppositionsbeziehung, die einen strukturellen Hintergrund hat: Besser- versus Schlechterstellung. Dieser gesellschaftliche Antagonismus überschattet auch die persönlichen Beziehungen, die Frauen und Männer miteinander eingehen“ (Becker/Schmidt/ Knapp 2003, 61).
5.1
Identitätsbildungsprozesse junger Frauen: Ein virtuoses Spiel
Eine der Thesen dieser Arbeit lautet, dass junge Frauen im Gegensatz zu den jungen Männern das Spiel mit den verschiedenen Identitäten weitaus virtuoser beherrschen und dies in ihrem Bekleidungsverhalten zum Ausdruck bringen. Belegen lässt sich diese These anhand des fotografischen Materials (siehe Kapitel 7.2, 7.2.1 u. 7.5.6), aus dem ersichtlich wird, dass die jungen Frauen nicht nur in der Abgrenzung von HipHop- und Techno-Szene, sondern auch innerhalb der einzelnen Szenen das vestimentäre Spiel der Geschlechtsinszenierungen weitaus varianten- und facettenreicher beherrschen.
5.1 Identitätsbildungsprozess junger Frauen: Ein virtuoses Spiel
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In dem folgenden Kapitel soll diese Beobachtung zudem mit Hilfe eines Ansatzes aus der feministischen Theorie untermauert und hergeleitet werden. Die Geschlechterforschung verweist auf einen Zusammenhang von Erwerbs- und Familienarbeit, der die Identitätsbildungsprozesse von Frauen heterogener und komplexer erscheinen lässt als die der Männer. Durch die in der Emanzipationsgeschichte immer stärkere Partizipation der Frauen am Arbeitsmarkt „unterlaufen Frauen die Grenzziehung zwischen häuslicher und marktvermittelter Arbeit“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 50), was zur Folge hat, dass durch den Wechsel der Tätigkeitsfelder die teilweise konträr geltenden Handlungsmaximen und Organisationsformen in den einzelnen Funktionsfeldern unterschiedliche Kognitions- und Verhaltensmaximen erfordern. Frauen befinden sich somit in weit stärkerem Maße in der Situation paradoxer Strukturen, als da auf der einen Seite die Ansprüche aus der Erwerbsarbeit erwartet werden und auf der anderen Seite die Erfordernisse und Erwartungen in der häuslichen Familienarbeit zu erfüllen sind. Die psychosozialen Ansprüche von „Trennung und Verknüpfung“ (Krüger 1995, 195) stellen sich als weit differenzierter und heterogener dar, als die homogene Ausrichtung auf einen bestimmten festgelegten Bereich wie z. B. die ausschließliche Tätigkeit im Berufsleben. Krüger sieht in der paradoxen Situation der berufstätigen Frauen, die durch die Postulate Trennung und Verknüpfung (vgl. Krüger, 1995, 195–219) gekennzeichnet ist, eine Doppelorientierung und weist darauf hin, dass in der individuellen Rekombination von sozial Dissoziiertem eher Vorteile als Nachteile für die Gesellschaft zu erwarten sind. Erweitern lässt sich der Ansatz dahingehend, dass sich die Ambivalenzen dieser Doppelorientierungen in frauenspezifischen psychosozialen Belastungen durch die Aufgabe der Vereinbarkeit von Familie und Beruf niederschlagen, als auch in der individuellen Bearbeitung von Identitätsentwürfen und Identitätsprojekten (vgl. Keupp et al. 1999). Durch die Leugnung und Sprengung ehemals typisch weiblicher Lebensläufe und den damit verbundenen Geschlechterklischees entstehen „Risse in diesem Herrschaftsgefüge, die sich auf Dauer nicht kitten lassen“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 49). Eine der zu beobachtenden Folgen ist, dass diese Risse auch durch die Individuen hindurch gehen und zu Grenzauflösungen und Grenzüberschreitungen führen können, die durch das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer symbolisch zum Ausdruck gebracht werden. Hat es nach der französischen Revolution eine verstärkte Übernahme männlicher Kleidungselemente wie flache Schuhe, Hosen und Offiziersmäntel seitens der Frauen gegeben und haben dann, mit den Anfängen der industriellen Entwicklung (besonders in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts) und der zunehmenden Partizipation der Frauen am Erwerbsleben, Frauen verstärkt typisch männliche Kleidungs-
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stücke, wie z. B. die Hose und den Anzug (vgl. Hollander 1994) oder Accessoires wie die Krawatte für sich adaptiert, „Heute haben Frauen alles, was im 19. Jahrhundert nur Männern zustand, in die Palette ihrer Erscheinungsbilder aufgenommen: von Hosen und Sakkos über kurze Haare bis hin zum ungeschminkten Gesicht und zur Schmuckfreiheit. Die Männer hingegen tragen umgekehrt in der Regel immer noch keine Röcke und Kleider und sind, was Haarlänge, Schmuck und Schminke anbelangt, ebenfalls eher vorsichtig. Das alles durch eine ‘düstere Arbeitsästhetik’ zu erklären, erscheint doch eher befremdlich. Vielmehr dürfte die Anziehungskraft der männlichen Identität für viele Frauen ungleich stärker (gewesen) sein als umgekehrt“ (Schnierer 1995,109).
so lässt sich zu Beginn der neunziger Jahre eine gegenläufige Entwicklung und Dynamik mit der Entstehung der Techno-Szene beobachten, die interessanterweise mit dem Perspektivwechsel in der feministischen Theorie zusammenfällt. Nicht mehr ausschließlich die Frauen adaptieren historisch männlich konnotierte Elemente der Kleidung, sondern eine große Anzahl von jungen Männern, und nicht nur die geringe Anzahl, wie sie einst der Dandy darstellte oder im Zuge der Postmoderne der Drag, kombiniert die als weiblich codierten Kleidungsstücke mit Jeans, Jogginghosen etc. Dadurch werden erstmals Geschlechtergrenzen in großem Ausmaß und mit starker medialer Verbreitung – man denke nur an die Live-Übertragungen der Love-Parade – seitens der jungen Männer verwischt und verzerrt. Durch diese Crossdressing-Tendenzen, die teilweise schon in der Punk- und Hippiekleidung angedeutet wurden, wird nicht mehr nur die „Womanliness as a masquerade“ (Riviere 1929, 303; dt. Übersetzung 1994, 34) entlarvt, sondern auch, wie Männlichkeit und männliche Identität über die Maskeraden der Kleidung hergestellt wird. Hier wird ein neues Bild von Männlichkeit präsentiert, das mit dem Männlichkeitsbild der HipHop–Szene sehr wenig gemeinsam hat. Nicht ‘realness’ steht im Vordergrund der Repräsentationstechniken, nicht der Anspruch auf Wahrheit, Eindeutigkeit und Authentizität, sondern das verquere Spiel mit den Geschlechtern, das in der feministischen Forschung unter den Stichpunkten Geschlechter–Performanz, Hybridformen der Geschlechter, Aufbrechen der strengen Dichotomisierungen der Geschlechter und des streng (ein-)teilenden binären Geschlechterkonstruktes thematisiert und diskutiert wird. Hier liegt ein Hinweis darauf, dass jugendliches Bekleidungsverhalten gesellschaftliche und kulturelle Veränderungen und Entwicklungen sensibel anzeigt, spiegelt und seismographisch vorweg nimmt und das zu einem Zeitpunkt, bevor der wissenschaftstheoretische Diskurs das jeweilige Phänomen in seine Diskussion aufzunehmen vermag.
5.2 Fluide Grenzen der Geschlechtsidentitäten
5.2
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Fluide Grenzen der Geschlechtsidentitäten
Zwar ging schon in den siebziger Jahren ein großer Teil der Frauenforscherinnen davon aus, dass es sich bei Identifikationsprozessen um Formen widersprüchlicher Aneignung handeln kann und diese zu Konflikten und Ambivalenzen führen können und teilweise als Identitätszwang erlebt werden. Auch wurde zu dieser Zeit schon darauf hingewiesen, dass in Identitätszwängen ein Potential liegt, Nichtidentisches hervorzubringen, aber die Grundannahme der biologischen Zweigeschlechtlichkeit wurde zu diesem Zeitpunkt der Forschung nicht in Frage gestellt. Erst mit dem Beginn der neunziger Jahre wird die als natürlich gegebene biologisch-binäre Zweigeschlechtlichkeit bezweifelt in dem Sinne, dass „nicht mehr nur die Auslegung des Geschlechtsunterschieds und die Existenzweisen von Frauen und Männern als geschichtlich aufgefasst werden, sondern dass der biologische Dimorphismus selbst, die körperliche Zweigeschlechtlichkeit, nicht von Natur gegeben, sondern als kulturell spezifische Form der Klassifikation in den Blick genommen wurde“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 67).
Nicht mehr die historisch und kulturell bedingten geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen, die aufgrund des biologisch und damit natürlich gegebenen Geschlechts erwartet werden, stehen im Vordergrund des Forscherinneninteresses, sondern die biologische Zweigeschlechtlichkeit an sich. Die Herleitung einer „Zweigeschlechtlichkeit“ (vgl. Hagemann-White 1984, 1985) aus einer biologischen Geschlechtsunterteilung ist danach nicht länger fraglos anzunehmen und die „verschiedenen Möglichkeiten, die für naturwissenschaftliche Klassifikationen herangezogen werden können (…), bilden jeweils keineswegs binäre Kriterien, sondern liegen auf einem Kontinuum oder beinhalten komplexe Kombinationsformen“ (FaulstichWieland 2003, 101). Geschlecht hat Mann/Frau oder ist Mann/Frau nicht, sondern Geschlecht ist „etwas was wir tun“ (Hagemann-White 1993, 68). Neben den aus der Anthropologie stammenden Beobachtungen dritter und weiterer Geschlechtskategorien und den aus der Biologie stammenden Forschungsergebnissen wie dem Verständnis, Geschlecht als „Kontinuum, bestehend aus dem genetischen Geschlecht, dem Keimdrüsengeschlecht und dem Hormongeschlecht“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 69) zu sehen, stellen auch die Studien zur Transsexualität und die Queer Studies, die natürlich gegebene Zweigeschlechtlichkeit in Frage. Kultur und Natur sind zwei der zentralen Begrifflichkeiten, die die Diskussion bestimmen. Aus den umfassenden Studien und Forschungsansätzen zum Verständnis von Natur und Kultur, Sex und Gender, Körperlichem und Symbolischem sollen im Folgendem drei zentrale
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Theorieansätze vorgestellt werden, von denen die Position Judith Butlers näher ausgeführt wird, da ihre Position in den neueren theoretischen Auseinandersetzungen zu Mode und Körperlichkeit häufig aufgegriffen wird (z. B. Lehnert 2003). Die aus den Sozialwissenschaften stammende ethnomethodologisch-konstruktivistische Sicht thematisiert die Gleichursprünglichkeit von Natürlichem und Kulturellem und fragt, ob es diese auch jenseits von Differenz und Hierarchie gibt. Sie kritisiert die Unterscheidung von Sex und Gender. Die Biologin und Wissenschaftstheoretikerin Haraway initiierte mit ihren Thesen, alle Ansprüche auf einen organischen oder natürlichen Standpunkt aufzugeben und den einst als natürlich angesehenen Körper als biotische Komponente und kybernetisches Kommunikationssystem anzuerkennen, eine „Debatte über die wissenschaftlich-technologisch angebahnte Erosion fundamentaler Dualismen westlichen Denkens“ (Becker-Schmidt/Knapp 2003, 72). Für Haraway ist die Feministin der Zukunft ein „Cyborg“ (cybernetic organism), eine Virtuosin der Grenzüberschreitungen, die über „die Gender-Diskussion weit hinausgewachsen ist; ihre Weiblichkeit ist nicht mehr definierbar“ (Bovenschen 1997). Weitergeführt wird die von ihr initiierte Diskussion mit der Frage, inwiefern ein postmodern aufgeklärter Naturbegriff gedacht werden kann, ohne Natur völlig in Kultur aufzulösen und zu entmaterialisieren. Auch Gebauer/Wulf stellen die Konstruktion eines Übergangs von Natur zu Kultur in Frage, da nicht zu erkennen sei, „was sich im Naturzustand an der Stelle des sozialen Ich befunden, geschweige denn, wie es sich zu einem gesellschaftlichen Wesen weiterentwickelt haben soll“ (Gebauer/Wulf 1998, 58). Statt über diesen Vorgang Spekulationen anzustellen, beschreiben Gebauer/Wulf das Individuum, das Ich und die Person als „genuine soziale Konstrukte“ (ebd.), die zwar materielle und biologische Bedingungen voraussetzen aber von Anfang an zur gesellschaftlichen Welt gehören. „Es ist nicht möglich, einen natürlichen Vorläufer dieser Kategorien zu behaupten“ (ebd.). Nach Gebauer/Wulf darf die „soziale Geformtheit der Welt (…) die permanente Formung, die von außen und (…) vom handelnden Subjekt selbst auf den Körper ausgeübt wird“ (ebd.), nicht vernachlässigt werden. Es stellt sich die Frage, was diese Aussagen für das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer bedeutet, wenn das Ich nicht als autonom vom Körper betrachtet werden kann, sondern mit der vorgängig geordneten Welt verschränkt ist. Der Verweis liegt in der Bedeutung der Kleidung auf das Denken, da die Kleidung als eine Verlängerung des Körpers in die Welt betrachtet werden kann (vgl. Merleau-Ponty 1964, 308; zitiert in: Gebauer/Wulf 1998, 59). Kleidung kann den anatomischen Körper „prothetisch in den Raum erweitern“ (Lehnert 2003, 216). Das Verhalten zu Kleidung ist kein reflexives autonomes Handeln, sondern führt zu einer „Verschlin-
5.2 Fluide Grenzen der Geschlechtsidentitäten
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gung von Subjekt und Welt“ (Gebauer/Wulf 1998, 59), so dass das „Ich als eine mit dem Körperlichen unmittelbar verbundene Instanz geformt wird, als eine sozial gemachte Konstruktion, die nur analytisch vom Körper getrennt werden kann, der auch wieder nichts anderes ist als ein Konstrukt“ (ebd.). Das Verhalten zu Kleidung zeigt zudem, dass die soziale Formung des Körpers über das Medium Kleidung von den handelnden Subjekten selbst ausgeht, und sie verweist auf die „materielle und soziale Gemachtheit von Körper und Ich“ (ebd., 59). Über den symbolischen Gehalt von Kleidung äußert sich die Wirkung der Sozialwelt durch den ganzen Körper und die „Konstruktion von Welten, die nicht „diesseits einer Grenze (…) im Raum eines reflexiven Ich“ (ebd., 60) stattfindet, sondern in einem Spiel vielfältiger Beteiligungen, welches „auf dem Prinzip der wechselseitigen Welterzeugung beruht“ (ebd.). Im Handeln zu Kleidung nehmen junge Frauen und Männer Bezug auf andere Welten, und die Gegenwärtigkeit von anderen (Kleider-)Welten nimmt Bezug auf die „Welt Konstruktionen des Subjekts“ (ebd.). Dabei gibt es nach Gebauer/Wulf zwei Typen von Welterzeugnis: „eine objektive Mimesis, die mich handeln macht wie die anderen“ (ebd., 60), also indem durch die Anlehnung und Bezugnahme auf den Kleidungsstil der anderen ein ähnlicher Stil bevorzugt wird, „und eine subjektive Mimesis, in der ich mit Bezug auf die anderen meine Welt so mache, wie die anderen sie machen“ (ebd., 61). Ein weiterer, besonders die Identitätsbildungsprozesse tangierender Ansatz beruht auf der dekonstruktivistischen Position Judith Butlers. Butler bezweifelt die Existenz einer vorgegebenen Identität, die durch die Kategorie Frau bezeichnet wird. Die von Butler initiierte Debatte radikalisiert noch einmal die ethnomethodologischkonstruktivistische Unterscheidung von Sex und Gender. Nicht mehr die Frage der interaktiven und situationsspezifischen Konstruktionspraxen von Männern und Frauen und deren Präsentationstechniken mit ihren alltäglichen Zuschreibungs-, Wahrnehmungs- und Darstellungsroutinen, „in denen sich der sinnhafte Aufbau der Wirklichkeit von Geschlechtszugehörigkeit bzw. -identität (…) vollzieht“ (BeckerSchmidt/Knapp 2003, 75) bestimmt ihre Diskussion, sondern die kulturellen Fundierungszusammenhänge der Zweigeschlechtlichkeit sowie die Zusammenhänge zwischen Geschlechtszugehörigkeit und Sexualität und der Zwang der heterosexuellen Normierung des Begehrens. Im Rahmen sprachtheoretischer und philosophischerkenntnistheoretischer Bezugnahme untersucht Butler die grundlegenden Begrifflichkeiten im Geschlechterdiskurs und die Logiken, die das Denken der Geschlechterbeziehungen bestimmen. Aufbauend auf Foucaults genealogischen Studien über Wissenschaft und Macht und seiner zentralen Aussage, dass über die Art und Weise des Diskurses Macht hergestellt und erhalten wird, analysiert Butler die Begriffe
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5 Sex- und Gender-Identitäten
Macht, Geschlecht, Sexualität, Identität und Körper. Von besonderem Interesse für diese Arbeit wird Butlers Aufdeckung und Dekonstruktion tradierter Denkgewohnheiten in den Kategorien Identität, Körper und Geschlecht sein. Um „die ‘Matrix der Intelligibilität’ zu begreifen“ (Butler 2003, 39) geht Butler der Frage nach, was es mit „dem Bündnis des Systems der Zwangsheterosexualität und jenen diskursiven Kategorien (auf sich hat P.S.), welche die Identitätskonzepte des Sexus“ (Butler 2003, 39) begründen. Ihre zentrale Fragestellung lautet: „Wenn ‘Identität’ ein Effekt diskursiver Praktiken ist, inwiefern ist dann die geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity) – als Verhältnis zwischen biologischem Geschlecht (sex), Geschlechtsidentität (gender), sexueller Praxis und Begehren verstanden – der Effekt einer regulierenden Praxis, die als Zwangsheterosexualität identifiziert werden kann?“ (Butler 2003, 39).
Butlers Annahme nach können individuelle Geschlechtsidentitäten nicht über die Trennung von Sex und Gender hergestellt werden, da diese Vorstellung suggeriere, es gäbe Frauen und Männer als homogene Gruppe und das binäre System der Geschlechterbeziehungen werde durch das System der deutlichen Trennung und Grenzziehung zwischen männlicher und weiblicher Genus-Gruppe bestätigt. Des Weiteren verfestige die Sex-Gender-Debatte die Auffassung einer patriarchalischen Kultur und das vorgegebene System der Zweigeschlechtlichkeit. Mit der Unterteilung von Sex, sei das biologische und damit das natürliche Geschlecht und Gender, sei das soziale und damit das kulturelle Geschlecht, wird die Dualität der Geschlechter in ein vordiskursives Feld geschoben, das die biologisch-naturalistische Argumentation sichert und damit die Stabilität des binären Rahmens von Geschlecht. „Anders gesagt, das ‘biologische Geschlecht’ ist ein ideales Konstrukt, das mit der Zeit zwangsweise materialisiert wird“ (Butler 1997, 21). Eine Wahrheit des Sexus wird nach Butler durch bestimmte Verfahren der Regulierung erzeugt, „die durch die Matrix kohärenter Normen der Geschlechtsidentität hindurch kohärente Identitäten hervorbringen“ (Butler 2003, 38). In diesem Zusammenhang deckt Butler folgende Paradoxie auf: Auf der einen Seite sind Kohärenz und Kontinuität gesellschaftlich erzeugte und gefestigte Normen der Intelligibilität und keine logischen oder analytischen Merkmale der Persönlichkeit, auf der anderen Seite existieren aber die „Gespenster der Diskontinuität und Inkohärenz (…) nur auf dem Hintergrund von existierenden Normen der Kohärenz und Kontinuität“ (Butler 2003, 38). Substanzielle Identitätskonzepte gehen davon aus, dass Identität durch stabile Konstrukte von Sex, Gender, Sexualität und der heterosexuellen Fixierung des Begehrens gefestigt und abgesichert werden und damit auch die Person, die sich mit
5.2 Fluide Grenzen der Geschlechtsidentitäten
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Hilfe dieser Konstrukte definiert und identifiziert. Der Begriff der Person muss aber, so Butler, in Frage gestellt werden, wenn in einer Kultur gesellschaftlich diskontinuierliche und inkohärente Personen auftauchen und Identität als einen Effekt diskursiver Praktiken entlarven. „Innerhalb des überlieferten Diskurses der Metaphysik der Substanz erweist sich also die Geschlechtsidentität als performativ, d. h., sie selbst konstruiert die Identität, die sie angeblich ist. In diesem Sinne ist die Geschlechtsidentität ein Tun, wenn auch nicht das Tun eines Subjekts, von dem sich sagen ließe, daß es der Tat voraus geht“ (Butler 2003, 49).
Butler bricht also mit der Annahme, dass das Geschlecht eine natürliche Eigenschaft von Körper sei und dass es eine natürliche Differenz von Geschlecht gibt, die dem Körper innewohnt. Butler versteht auch den biologischen Körper als Konstrukt und als eine von Macht und kulturellen Diskursen durchdrungene Materie. Der Körper entsteht unter Zwang und als ‘wiederholbare Materialität’, d. h. als Performanz. Neben dem Zwang, bestimmte Körpertechniken und -technologien hervorzubringen, ist der Körper auch Ort subversiver Kräfte, da „die Körper sich nie völlig den Normen fügen, mit denen ihre Materialisierung erzwungen wird“ (Butler 1997, 219). Unter Performativität begreift Butler die sich „ständig wiederholende Praxis, durch die der Diskurs die Wirkungen erzeugt, die er benennt … (und P.S.) … als jene ständig wiederholende Macht des Diskurses, diejenigen Phänomene hervorzubringen, welche sie reguliert und restringiert“ (Butler 1997, 22). Die regulierenden Normen des biologischen Geschlechts bestimmen demnach in performativer Weise die Materialität der Körper und erwecken den Eindruck des Natürlichen und Naturgegebenen. Am Beispiel des Geschlechtskörpers (Sex) zeigt Butler auf, dass sich Sex je nach historischem und kulturellem Umfeld ändert und keine feste Eigenschaft von Individuen ist, sondern eine veränderbare, flukturierende Variable. Die historische Herkunft der Geschlechterdifferenz kann Butler, so Bublitz (2002), jedoch nicht herleiten. Der konstruierte Geschlechtskörper oder das sozial konstruierte (Geschlechts-)Subjekt stiftet keine soziale und damit sexuelle (Geschlechts-)Identität. „Die Dekonstruktion verschiebt diese Differenz in eine neue Einheit eines von Anfang an sozial konstruierten Geschlechts(-körpers) und Geschlechtssubjekts“ (Bublitz 2002, 53). Butler stellt also die intelligible Geschlechtsidentität in Frage, die die sexuellen Begehrensstrukturen mit einem kulturell gefestigten anatomischen Geschlecht in Kontinuität und Kohärenz verbindet. Dieser Bruch mit der Differenz des Biologischen und Sozialen führt dann zu ihrer
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Auflösung und einer „Entnaturalisierung des Biologischen“ (Bublitz 2002, 53). Die heterosexuelle Fixierung wird als ein Effekt diskursiver Praktiken entlarvt. Diese stellt sich in Butlers Argumentation so dar, dass bestimmte Regulierungsverfahren die binäre Geschlechterdifferenz mit hetero-sexuellen Praktiken verbindet, wodurch die Geschlechtsidentitäten ausgeschlossen werden, die sich weder auf die anatomische Ausformung des Geschlechtskörpers beziehen lassen, noch auf die Binarität einer sexuellen Praxis (– die in der binären Geschlechterdifferenz begründet liegt). Neben der Weigerung Butlers „den Begriff der Geschlechtsidentität dem der Identität unterzuordnen“ (Butler 2003, 44) und die Geschlechtsidentität „als vereinheitlichendes Prinzip des leiblichen Selbst“ (Butler 2003, 45) geltend zu machen, bricht Butler auch mit der Vorstellung der Geschlechtsidentität als einer unvergänglichen Substanz, „die an kulturell etablierten Kohärenzlinien entlang angeordnet“ (Butler 2003, 48) wird. Die Paradoxie besteht darin, dass die Geschlechtsidentität die Identität hervorbringt, die sie vorgibt zu sein. „Hinter den Äußerungen der Geschlechtsidentität (gender) liegt keine geschlechtlich bestimmte Identität (gender identity). Vielmehr wird diese Identität durch diese ‘Äußerungen’ konstituiert, die angeblich ihr Resultat sind“ (Butler 2003, 49).
5.3
Zur Performativität von Geschlecht und Kleidung Identität ist „ihrer Inszenierung nicht vorgängig, sondern konstituiert sich in Serien performativer Akte“. (Lehnert 2003, 215)
Mit Performativität ist niemals ein einmaliger Akt gemeint, sondern die Produktion einer Wirkung, die durch ständige Wiederholung erzielt wird. Das Konzept Performativität ist aus seiner sprachtheoretischen Begründung (vgl. Austin, Chomsky, Habermas, Derrida, Butler) seitens der Kulturtheorie (wie z. B. Goffman) übernommen und umgedeutet worden. Sprechakte sind performativ, in dem sie mit der Bezeichnung von etwas erst eine Vorstellung von dem Bezeichneten hervorbringen. Unterstrichen und betont werden die Sprechakte durch Mimik, Gestik, Körperhaltung und Körpersprache. Das Konzept von Performativität bietet insofern ein theoretisches Instrumentarium, als dass der Kleidung sowohl in der modesoziologischen als auch in der modepsychologischen Theorie eine Funktion der Unterstützung körperlicher Ausdrucksweisen und der vestimentären Kommunikation zugesprochen wird. „Der Akt des Sich-Kleidens gleicht einer performativen Aussage“ (West 2003, 195), da „er aus einer Auswahl auf der paradigmatischen Achse und
5.3 Zur Performativität von Geschlecht und Kleidung
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einer Kombination auf der syntagmatischen Achse“ (ebd.) bestehe. So gleicht nach West jeder bekleidete Auftritt einem Sprechakt um „einen Sinn an sich selbst und an Rezipienten weiterzugeben“ (ebd.). Beruhend auf Austins Sprechakttheorie, der unter einem performativen Akt eine sprachliche Äußerung versteht, die beim Aussprechen zugleich einen Handlungsvollzug beinhaltet, entwickelt Butler ihr Konzept der Performativität. Jedoch distanziert sie sich in Anlehnung an Derrida von der Annahme, das dem performativen Akt ein handelndes Subjekt vorausgehe. Müssen für Austin zum Gelingen eines performativen Aktes die Sprechakte den Regeln des Kontextes in ihrer Bezogenheit wie Richtigkeit und Vollständigkeit entsprechen und von den Adressaten akzeptiert werden, so weist Butler auf die Veränderung des Kontextes während der Äußerung durch die zitatförmigen Wiederholungen hin. Butler kalkuliert in ihrem Konzept der Performativität explizit die Vorgabe der Pole des Gelingens und des Misslingens mit ein. Ein Beispiel: Beherrscht ein HipHopper die Spielregeln der Szene und bringt diese durch seine Sprache, seine Kleidung und insgesamt durch seinen Habitus zum Ausdruck, inszeniert er also „realness“ und wird er von den Szenemitgliedern akzeptiert, dann ist der performative Akt gelungen. „Ein gelungener performativer Akt leistet zweierlei: Er zitiert die feldspezifischen Konventionen und bewirkt damit deren Aktualisierung. Zugleich dient er der sozialen Positionierung desjenigen, der ihn durchführt, indem dieser in seiner sozialen Position legitimiert wird. Der Akteur ist ‘real’ und das verspricht Respekt und Fame“ (Klein/ Friedrich 2003, 198).
Übertragen auf die Inszenierung von Geschlechtsidentitäten bedeutet dies: Wenn Männlichkeit oder Weiblichkeit über das Medium Kleidung die feldspezifischen Konventionen in ihren textilen Codierungen korrekt im Sinne von eindeutig männlich oder eindeutig weiblich zitiert, dann wird gleichzeitig deren Aktualisierung bewirkt und damit auch die soziale Positionierung von Geschlecht aktualisiert und immer wieder neu hergestellt. Die Kleidung kann realness – „Realness ist ein zentrales Qualitätskriterium der HipHop-Kultur. Etwas ist (neudeutsch) ‘real’, wenn es als authentisch gilt“ (Klein/Friedrich 2003, 7) – und Authentizität jedoch nur herstellen, wenn die Codierungen von den Akteuren bzw. Adressaten akzeptiert und korrekt interpretiert werden. Verschiebt sich durch die zitatförmige Wiederholung der Kontext, misslingt der performative Akt. Würden junge Frauen den männlichen Habitus der HipHopper in ihren Körperbewegungen, ihrer Sprache und Körpersprache, ihrer Mimik und Gestik und Kleidung übernehmen, würde sich der Kontext durch die am weiblichen
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5 Sex- und Gender-Identitäten
Körper vollzogene Zitation von Männlichkeit verschieben und als inszeniertes Konstrukt entlarven. Da aber, so die grundlegenden Thesen von Klein/Friedrich, HipHop eine wertkonservative und männlich dominierte Kultur ist und „Weiblichkeit als Projektionsfläche für männliche Phantasien begriffen wird“ (Klein/Friedrich 2003, 206), kann sich das Subjekt Frau innerhalb der HipHop-Szene „nur über die mimetische Angleichung an eine männliche Bilderwelt herstellen … (und) … sich dabei am Spektrum männlich produzierter Weiblichkeitsbilder orientieren, die der Kategorie ‘Sexualität’ entstammen“ (ebd., 206). Für Klein/Friedrich stellt sich die Inszenierung des being bad einiger weiblicher HipHopperinnen als ein misslungener Versuch dar, der sexistisch geprägten, männlichen Dominanz innerhalb der HipHop-Szene zu entkommen, „weil er innerhalb des dualistischen Prinzips männlicher Zuschreibungen verbleibt“ (ebd., 207) und dadurch die Fortschreibung der patriarchalen Geschichte bewirkt. „HipHop erscheint aus dieser Perspektive als eine traditionelle Geschlechterstrukturen konservierende Praxis, die Frauen sozial und diskursiv ausschließt, selbst wenn sie ihnen den Zutritt zur Bühne gestattet“ (ebd., 207). Unter Rekurs auf Bourdieus Theorie beschreiben Klein/Friedrich, dass performative Akte dann scheitern, wenn die Position des Sprechers oder der Sprecherin nicht sozial legitimiert ist. So ist die Zitation und Ironie der weiblichen HipHopperinnen ein illegitimes Sprechen gegenüber anderen weiblichen Welten, aber nicht innerhalb der HipHop-Welt. Aus diesem Grund können sie nicht subversiv oder verändernd wirken, da Frauen im Feld des HipHop nicht vorgesehen sind und das being bad nicht auf der Idee der Rapperinnen beruht, sondern auf den feldimmanenten Konventionen, Spielregeln und Verhaltensmustern. „Das männlich dominierte Feld kann keinen spezifischen weiblichen Habitus hervorbringen, der die feldspezifischen Konventionen überschreiten und damit männliche Herrschaft brechen könnte“ (ebd., 207). Die Wirkung oder Wahrnehmung von Geschlechtsidentitäten stellt sich als ein komplizierter Attributationsprozess von Codierungen und Decodierungen dar, in dem Kleidung insofern eine wesentliche Rolle spielt, als dass sie diesen Prozess durch ihre symbolische Zuschreibungsqualität unterstützt. So wird in der HipHopSzene durch sprachliche Äußerungen und durch die Kleidung der männliche Habitualisierungsprozess und die Repräsentation eines männlichen Ideals von den Szenegängern angestrebt und favorisiert. „… alle Beteiligten treten im entsprechenden Dresscode als HipHopper auf und unterstreichen dies durch ihr Sprachmuster und ihr Körper- und Bewegungsverhalten“ (Klein/Friedrich 2003, 147). Die Robustheit der Stoffe von Jeans, Sweat-shirts und Jacken, die grobe Konsistenz des Textilen und die überdimensional auftragenden Turnschuhe unterstreichen
5.3 Zur Performativität von Geschlecht und Kleidung
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die betont lässige, coole Haltung des männlichen Körpers. All jene Adjektive und Attribute, die auf der Matrix des binären Geschlechtersprachgebrauchs für Männlichkeit, Mannsein, ‘das eine wahre Geschlecht’, stehen, lassen sich zur Beschreibung dieses Kleidungsstils anwenden. Insofern bietet diese Szene einen Ort eindeutiger Grenzziehungen zwischen männlichen und weiblichen Identitätszuschreibungen. Der Ausschlusscharakter von Identitäten (vgl. Butler 2003) stellt sich in dieser Szene auf zweierlei Ebenen dar. Erstens partizipieren an der HipHop-Szene vorwiegend männliche Jugendliche und junge Männer (zum Geschlechterproporz vgl. Hitzler u. a. 2000). Zweitens symbolisiert die Kleidung der männlichen Jugendlichen und jungen Männer, die sich dieser Szene zugehörig fühlen, die traditionale Geschlechterzweiteilung, indem sie das Weibliche in ihrer Kleidung ausschließen. In der HipHop-Kleidung lassen sich keine femininen Elemente finden. Der Intention einer Darstellung von Männlichkeit scheint also auf den ersten Blick erfolgreich nachgegangen zu werden und sie scheint für Eindeutigkeit und Festlegung auf eine fest bestimmte männliche Identität zu sprechen. Auf den zweiten Blick lässt sich jedoch noch eine weitere Beobachtung machen, die die Ambivalenz von Darstellungsintention und Darstellungswirkung aufzeigt. Durch die überproportionierten extra large Hosenschnitte rutscht der Hosenbund der Jeans bis auf die Hüftknochen oder noch einige Zentimeter darunter, was zur Folge hat, dass die Gesäßausbuchtungen bis auf Kniekehlenhöhe rutschen. Diese Verzerrung der Silhouette bewirkt eine Verkindlichung des männlichen Körpers durch die Verkürzung der Beine und der extremen Verlängerung des Oberkörpers,
Abb. 11 Quelle: Werbung der Firma Southpole 2006
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5 Sex- und Gender-Identitäten
eine Silhouette, die weniger dem Körper eines Mannes, sondern mehr dem eines Kleinkindkörpers entspricht. Zudem wird das anatomische männliche Geschlecht vollends versteckt und negiert. Der symbolische Effekt, den die Kleidung der HipHop-Szenegänger produziert, ist damit eine Betonung des Jungenhaften, des Nicht-Erwachsen-Seins und des Nicht-Mann-Sein-Wollens, ein Ausdruck, der auf die Problematik der strengen Grenzziehung von Kindheits- und Jugendphase hinweist als auch die Grenzauflösungen von Jugendlichsein und Erwachsensein symbolisiert.
Abb. 12 Quelle: unbekannt
Hier wird eine Tendenz symbolisch zum Ausdruck gebracht, die dem Geist der Zeit zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhundert entspricht, in der es zunehmend problematisch wird, eindeutige Grenzziehungen zwischen Jugend- und Erwachsenenphase zu ziehen. Diese in sich widersprüchliche Artikulation eines festen Subjekts lässt sich als ein Versuch deuten, eindeutig männlich begrenzte und festgelegte Identitäten innerhalb der HipHop-Szene zu konstruieren, konterkariert diesen aber zugleich, indem die Kleidung die Gleichzeitigkeit der Bedeutungsgehalte symbolisch zum Ausdruck bringt und damit auf die Problematik der Herstellung einer
5.3 Zur Performativität von Geschlecht und Kleidung
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einfachen Identität im Singular verweist. In diesem Sinne kann mit Vinken argumentiert werden, dass durch die Imitation „typisch männlicher Bedeutungsgehalte“ kein Ideal erreicht werden kann, sondern immer nur seine Zerstörung bewirkt wird. Nach Butler wird durch Imitation, ständige Wiederholung und Performativität eine subversive Kraft wirksam. In ihrem Konzept der Subversion werden über die Anweisung auf gegebene Geschlechtsidentitäten eine Vielzahl inkohärenter Geschlechtskonfigurationen möglich, die die Eindeutigkeit von kohärenten Identitäten untergraben. Auf der Basis der Macht/Diskurstheorie Foucaults erläutert sie, wie durch Polyvalenz, Heterogenität und Gleichzeitigkeit sich kreuzender und widersprechender Diskurse Widerstand erzeugt wird. Die Handlungsfähigkeit des Subjekts ergibt sich in der Nachmoderne jedoch nicht daraus, dass das Subjekt ein von Konflikten und Uneindeutigkeiten geprägtes kulturelles Feld im Sinne einer kohärenten Identität zusammenfügt, sondern die Handlungsfähigkeit liegt einzig und allein im Aufgreifen von Werkzeugen wie z. B. Kleidung und Mode, die die kulturelle Matrix bereit stellt. In der Umdeutung, Verschiebung und Variation der konventionellen Bedeutungsgehalte männlicher und weiblicher Aspekte in der Kleidung, wird der Rahmen für Wiederholungs- und Imitationsprozesse bereitgestellt, aus dem sich die Individuen ihre Identitäten auswählen, gestalten, verändern und immer wieder neu konstruieren können. Subversive Kräfte werden durch die parodistische Vervielfältigung von Geschlechtern, wie dies in der Techno-Szene praktiziert wird, wirksam, und die subversiven Stilisierungen eröffnen die Möglichkeit der Diversivität von Identitäten. Performative Fehlaneignungen entstehen durch diskursiv-performative Praktiken und durch die Imitation der Imitation, die dann als Fake den Markt irritieren. In der performativen Herstellung von Normen, die durch zitatförmige Wiederholung immer wieder neu initiiert werden, liegt das Potential der Verschiebung und Irritation der einstigen Bedeutungsgehalte. Aufgrund des „phantasmatischen Charakters von Geschlecht“ (vgl. Butler 1997, 2003) werden subversive und parodistische Körperakte hergestellt und Identitäten außerhalb des binären Geschlechtercodes neu inszeniert. Die subversive Kraft sieht Butler in der Verschiebung von Bedeutungsgehalten und in der Neucodierung, da normative Bedeutungen immer instabil, kontextabhängig sowie kulturell und historisch variabel sind. Diese Instabilitäten führen zu Dezentrierungen, Destabilisierungen und zu grenzüberschreitendem Geschlechterhandeln. In der Verknüpfung des Bezugsrahmen der Sprechakttheorie von Austin und der soziologischen Theorie der Habitusforschung Bourdieus resümiert Butler, dass sprachliche Praktiken eine Gesellschaftsordnung spiegeln und diese sich durch die Kraft performativer Äußerungen als ein Effekt gesellschaftlicher Machtstruktu-
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5 Sex- und Gender-Identitäten
Abb. 13 Quelle: Christian Jahnbaszek http://www.techno.de-info
Abb. 14 Quelle: Christian Jahnbaszek http://www.techno.de-info
5.3 Zur Performativität von Geschlecht und Kleidung
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ren darlegen. Aber die Performativität vermag auch zu Brüchen in der Reproduktion der Macht führen. Ein Ziel liegt dann darin, die sozial autorisierten Kontexte von Sprechakten durch performative Verschiebungen zu durchbrechen. In Bezug auf Kleidung und Mode deutet Lehnert den Begriff der Performativität als „die Prozesshaftigkeit kultureller Phänomene (…), das Erzeugen und das Verschieben von Bedeutungen in und durch solche Inszenierungen, kurz: ein produktives und rezeptives Tun“ (Lehnert 2003, 216). Insofern stellt sich das Bekleidungsverhalten junger Männer und Frauen als ein höchst aktives Handeln dar. Junge Männer und Frauen greifen über das kulturelle Medium Kleidung zu „oppositionell unabhängigen und alternativen Symbolisierungen des Selbst“ (Willis 1991, 193). Indem sie auf die kulturellen Güter, die die Modeindustrie bereitstellt, zurückgreifen, einzelne Kleidungsstücke auswählen und individuell zusammenstellen, produzieren sie immer weitere Stilvariationen. Das rezeptive und produktive Tun liegt in dem Aneignungsprozess, der sich auf Vorgängiges bezieht und gleichzeitig durch Neukontextualisierung der vestimentären Zeichen und Symbole deren Verschiebung und Umdeutung bewirkt. Dabei scheint nicht einzig und allein die Produktion eindeutiger Identitäten im Vordergrund zu stehen, sondern die Herstellung individueller „AugenblicksIdentitäten“ oder Geschlechts-„Identitäten bis auf weiteres“ (Baumann 1992, 694). Durch das individuelle sampling verschieben sich die einstigen Bedeutungsgehalte. Bricolage-Positionierungen vernetzen in diesem Prozess die hybriden Bilder fluider Geschlechtsidentitäten. Diese Bilder können in Zeiten radikaler Pluralisierung (vgl. Sander 1995) nicht mehr einen einheitlichen Kanon von Werten, Meinungen und Bezügen herstellen, da junge Männer und Frauen von den Ansprüchen und Auswirkungen der Pluralisierungs- und Individualisierungstendenzen unterschiedlich betroffen sind. Gesellschaftliche Veränderungen werden über die Partizipation an Konsumkulturen (vgl. MC Robbie 1998) von jungen Männern und Frauen in der Art und Weise zum Ausdruck gebracht, dass „übertrieben, witzig und ironisch Geschlechterinszenierungen vorgenommen bzw. kulturelle Formen von Weiblichkeit inszeniert werden“ (Reiss 2003, 29). So birgt der Akt des Übertreibens, der Ironie und der witzigen Überhöhung der Repräsentation von Weiblichkeit und Männlichkeit mittels vestimentärer Zeichen und Elemente, die einst der eindeutigen Konstruktion männlicher und weiblicher Identitäten vorbehalten waren, das Potential, subversive Kräfte freizusetzen. Butlers Konzept der Subversion könnte also aufgehen, wenn junge Männer in der Techno-Szene zu Top und Rock und Federboa greifen und damit die fluiden Grenzen von Sex- und Gender-Identitäten mit Hilfe des textilen Mediums verkörperlichen. Irritierende Bilder, die karnevalesk erscheinen, aber die Dichotomisierung
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5 Sex- und Gender-Identitäten
der Geschlechter als Konstrukt entlarven könnten. Besonders wenn Impulse aus bestimmten Szenen allgemeine Verbreitung finden. Richard (Richard 1998) beschreibt Mode als „ästhetisch-medialen Komplex“, in der sie als textiles Medium zwischen Bildern, Körpern und Waren der Konsumkultur eine zentrale Stellung in der Gestaltung von Gender-Identitäten einnimmt. Ausgehend vom Paradigma der Genderperformanz (vgl. Butler 1991), sind Mode und Konsum auch für Gaugele „zentrale Körperpraxen, über die Identitäten nicht nur symbolisch, sondern gleichzeitig auch physisch erzeugt werden. Als Medium von (Gender-)Identitäten agiert Mode als ästhetische Körperpraxis in der Verbindung von Materialität und Visualität“ (Gaugele 2005, 221). Auch weisen Gaugele und Reiss (Gaugele/Reiss 2003) auf den interdependenten Zusammenhang ästhetischer, kultureller, physischer und ökonomischer Prozesse im Hinblick auf die Geschlechterperformanz hin. Als Ergebnis ihrer empirischen Untersuchung zu Jugend, Mode und Geschlecht zeigt sich die enge Verwobenheit dieser einzelnen Aspekte.
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Kleidung als Medium körperlicher Selbstinszenierungen
„Die Kleidung ist gewissermaßen der Körper des Körpers.“ (Erasmus von Rotterdam zit. nach Elias 1980, 101) Selbstinszenierungen über den Körper und durch Kleidung lassen sich seit jeher in allen jugendkulturellen Vergemeinschaftungen, man denke nur an die Teds, Mods, Rocker und Punks, beobachten und werden in der Jugendforschung thematisiert (Willis, Baake, Dollase, Ferchhoff, Vollbrecht, Hitzler …). Neu ist auf der wissenschaftlichen Seite das gestiegene Interesse am Körper und das nicht nur in der Jugendforschung. Die „Wiederkehr des Körpers“ (Kamper/Wulf 1982) im Fokus des Forschungsinteresses zeigt sich u. a. an der immensen Anzahl wissenschaftlicher Neuerscheinungen, die in den letzten Jahren veröffentlicht wurden: (Skarry 1992, Suleiman 1990, Bette 1989, Helfferich 1994, Klein 1999, Alkemeyer 2001 u. 2003, Schmidt 2002, Butler 1997, 2003). Es wird von einer Konjunktur des Körpers, einer neuen Körperlichkeit, einem Körperboom, zugespitzt: von einem neuen Körperwahn geschrieben. Nachvollziehen lässt sich die steigende Bedeutung des Körpers in der gewaltigen Expansion des Schönheits- und Hygienemarktes, an den wachsenden Expertenkulturen für somatische Bereiche wie Ernährung, Gesundheit, Fitness, Therapie und Sport. Von dieser Alltagsbeobachtung ausgehend gibt Rittner (Rittner 1984, 3 f.) als Ursache – für die zunehmende Bedeutung des Körpers und seiner Inszenierungstechniken – an, dass die klassischen Sinngebungsinstanzen und Sozialstrukturen wie Klasse, Stand, Religion und Tradition immer weniger für die Herstellung von Stabilität und Identität herangezogen werden können. Neben dieser inneren Wahrnehmungsdimension des Körpers tritt aber noch eine zweite, die sich auf die äußere Erscheinung richtet wie z. B. Bodypainting, Piercing, Tatooing, Kleidung und Mode. So ist in den letzten Jahren „eine in der Modegeschichte beispiellose Diversifizierung des Bekleidungsangebotes zu beobachten“ (Fichtner 1990, 357 ff.). Wird der Körper bei Horkheimer und Adorno in ihren Ausführungen über das „Interesse am Körper“ als etwas Unterlegenes, Versklavtes verhöhnt und gleichzeitig als etwas Verbotenes oder Entfremdetes begehrt, so scheint sich der Körper im Übergang von Moderne zur reflexiven Moderne immer mehr in Szene zu setzen,
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sich darzustellen und zu präsentieren. Phänomene wie Bodybuilding, Bodyshaping, Bodypainting, Bodypiercing, Wellness und Beauty, Joggen und Walking, aber auch die Verbreitung asiatischer Entspannungs- und Kampfsportarten sprechen eindeutig für ein verstärktes Körperbewusstsein. Seit Beginn der achtziger Jahre lässt sich eine „massive Verkörperlichung des Freizeithandelns“ (Rittner 1986, 142) feststellen. Es stellt sich die Frage, in welchem Zusammenhang dieses neue Interesse am Körper zu den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen steht und auf welche Entwicklungen die Beschäftigung mit dem Körper in den Szenen HipHop und Techno verweist. Die Thematisierung des Körpers als Erfahrungsträger und zentrales Ausdrucksmedium findet in der soziologischen Jugendforschung erstmals in den Untersuchungen des Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) Eingang, die auf die zunehmende Bedeutung des Körpers bei der Bildung von Subkulturen und jugendkulturellen Stilen verwiesen haben (vgl. Hall/Jefferson 1976, Hebdige 1983). In der deutschsprachigen soziologischen Forschung fand die Thematisierung der Relevanzsteigerung des Körpers ihren Eingang durch Schulzes Analyse alltagsästhetischer Phänomene, wie z. B. der Rolle des Körpers für die Bildung von Milieustrukturen und ihren damit einhergehenden sozialen Differenzierungen. In seiner kultursoziologischen Studie „Die Erlebnisgesellschaft“ (1992) begegnet Schulze der alltagskulturellen Aufwertung des Körpers mit einem Konzept der „Erlebnisorientierung“ (Schulze 1992, 256). Erlebnisorientierung als neues fundamentales Orientierungs- und Handlungsmuster steuere die Gesellschaftsbildung. Nicht mehr Askese und Bedürfnissaufschub und die Unterdrückung des Körpers als zentrale Aspekte ökonomischer Gesellschaftsbildung beherrschen die Menschen, sondern gesellschaftliche Differenzierungen vollziehen sich durch unterschiedliche Erlebnisorientierungen, in denen individuelle Selbst- und Weltverhältnisse durch den Körper zum Ausdruck gebracht werden können. „Im schönen Erlebnis des Spannungsschemas spielt der Körper eine zentrale Rolle. Die physikalisch messbare Intensität von Reizen hat sich immer mehr zum eigenen Stilmittel entwickelt (…) Neben die rezeptive Funktion des Körpers tritt die expressive. Man agiert sich aus (Disko, Sport, Pop-Konzerte), verwendet Zeit und Geld für die äußere Erscheinung, zeigt sich her, mustert die anderen“ (Schulze 1992, 153).
Diese neuen alltagsästhetischen „Spannungsschemata“ stellt Schulze in einen engen Zusammenhang mit der Expansion der Popkultur, in der Expressivität, körperliches Präsentieren und Inszenieren, Spontaneität und Enthemmung einen zentralen Stellenwert einnehmen. Einen weiteren kulturell-körperlichen Bereich der Alltags-
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ästhetik bietet der Sport, der mit der Bereitstellung entscheidender Praxis- und Erfahrungsmodalitäten zu einer körperzentrierten alltagsästhetischen Leitorientierung führt. Pop und Sport verdichten sich dabei an einem Punkt, an dem die Aspekte des einen Bereichs den anderen durchdringen und sie einander bedingen. So ist in der HipHop-Szene ein Konglomerat aus Sport in Form von Streetball, Basketball, Musik, Kleidung und Mode zu beobachten. „Auf einem vorläufigen Höhepunkt ihrer Verbreitung (…) beginnen zu diesem Zeitpunkt die beiden bislang scharf voneinander geschiedenen kulturellen Räume ihre Grenzen gegeneinander zu verwischen, sich füreinander zu öffnen und grundlegende Charakteristika voneinander zu übernehmen“ (Schmidt 2002, 19). So übernimmt der Sport Elemente aus der Popkultur wie z. B. Musik und Kleidung, und der Bereich der Popkultur übernimmt Elemente aus dem Sport wie z. B. bestimmte Körper- und Bewegungstechniken (Breakedance) oder die sportliche, coole Körperhaltung der Streetballspieler. Nach Schmidt geht mit der gegenwärtigen Verschmelzung von Pop- und Sportkultur eine Fülle von Angeboten zur Körperformung einher. Es entstehen neue kulturelle Räume, in denen körperliche Haltungen auf Grund gesellschaftlichen Veränderungsdrucks erprobt und erweitert werden können. Schmidt interpretiert diese neuen Möglichkeiten zur Habitustransformation als Folge der unter Druck geratenen oder verloren gegangenen körperlichen Fassungen und schreibt ihnen eine übergeordnete soziale Bedeutung zu, wobei die „in diesen Praxisformen sich vollziehenden Habitustransformationen (…) nicht per se emanzipatorische Auswirkungen“ (Schmidt 2002, 286) haben. In seiner Untersuchung des Yaam Clubs in Berlin verdeutlicht Schmidt „daß die Umarbeitungen der körperlichen Habitus überwiegend als den Akteuren abverlangte neue soziale Einpassungs- und Anpassungsleistungen verstanden werden müssen, in denen sich jedoch gegenläufig, in der Distanzierung der erworbenen Habitus, immer auch neue Spielräume eröffnen und Freiheitsgrade realisieren“ (Schmidt 2002, 286).
Um die Interdependenzen von Körper und Gesellschaft zu verstehen, bietet Karl Heinz Bette im Rahmen der Theorie sozialer Systeme einen Zugang an, der auf der Grundlage eines soziologischen Verständnisses des Begriffs der Moderne beruht und das „Verhältnis von Körper und Gesellschaft in der Phase fortgeschrittener Modernität“ (Bette 1989, 1) untersucht. Aufbauend auf der paradoxen Feststellung, dass sich mit der zunehmenden Körperaufwertung gleichzeitig „ein Prozess der immer weiter fortschreitenden Körperverdrängung“ (Bette 1989, 2) entfaltet, beschreibt Bette das Körperprojekt der Moderne und den zunehmenden Somatismus als eine
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Folge und Reaktion des zunehmenden Rationalisierungsprozesses der Moderne und der fortschreitenden Entkopplung von System und Lebenswelt sowie der sich immer weiter ausdifferenzierenden Teilsysteme, die aufgrund ihrer Selbstreferenzialität und ihrer autopoeitischen Geschlossenheit Eigendynamiken entwickeln, in denen die subjektive körperliche Präsenz des Einzelnen keine Rolle mehr spielt. Als Beispiele dienen hierfür die „Autonomisierung des Geldmechanismus“ mit ihrer Folge der „Entpolitisierung der Produktionsverhältnisse“ (Bette 1989, 19). Auf diesen „abstrakten Finanz- und Zukunftsmärkten“ haben die dort arbeitenden Personen „reine Surrogatfunktion“ (Bette 1989, 19). Weitere Aspekte zunehmender Körperdistanzierung lassen sich im Strafvollzug, in der Technisierung, Industrialisierung und Computerisierung sowie in der Entkoppelung der engen Verbindung von Mensch und Kommunikation durch neue Speicherungsformen von Informationen feststellen. Selbst „die gemeinsame physische Anwesenheit von Mann und Frau beim Zeugungsakt“ (Bette 1989, 22) ist aufgrund der Entwicklungen in der Gentechnologie nicht mehr notwendig. Zum besseren Verständnis für die komplizierten Relationen, Interdependenzen, und Zusammenhänge von Körper und Gesellschaft bedient sich Bette der systemtheoretischen Terminologie, in dem er die Distanzsetzung des Körpers in Anlehnung an Luhmann als einen Körper beschreibt, der nur noch in der Funktion symbiotischer Mechanismen auftaucht. „Der menschliche Körper taucht als symbiotischer Mechanismus in den gesellschaftlichen Funktionsfeldern nur hochselektiv auf. Er wird hier codespezifisch kontrolliert und zurechtgestutzt, d. h. er darf nur unter einem jeweiligen Sonderaspekt … (z. B. in der Funktion als Konsumkörper) … relevant werden“ (Bette 1989, 22). Sowie der Körper zwar hinter der „Emergenz sozialer Tatsachen und der Abstraktheit gesellschaftlicher Kommunikation“ (Bette 1989, 24) zurücktritt, bildet er aber trotz alledem eine grundlegende Sicherheitsbasis in allen sozialen Bereichen bezüglich der Möglichkeit gegenseitiger Wahrnehmung und Kommunikation. Als weitere Gründe für eine verstärkte Körperorientierung nennt Bette das hohe Prozesstempo, Zeitknappheit und Erwartungsüberlastungen, die sich aus der Überstrapazierung der einzelnen Erlebnishaushalte durch die heterogenen und nebeneinander zeitgleich bestehenden Erlebnismöglichkeiten ergeben. So müssen „entwickelte Industriegesellschaften … ihre Komplexität temporalisieren“ (Luhmann zit. nach Bette 1989, 29). Das bedeutet, dass die Zukunft zu einer dominanten Referenzgröße wird und sich damit einhergehend das bewusste Erleben der Gegenwart als eigenständige Erfahrungsdimension verkürzt. „Der Genuß der Jetzt-Zeit wird zu einem knappen Gut“ (Bette 1989, 30). Die Folgen werden als Erwartungssteigerungen und Erwartungsüberlastungen an die Zukunft beschrieben, die auch zu Erfahrungsverlusten führen, da mit der Beschleunigung
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von Zeiterfahrungen, Erfahrungen an sich schneller veralten (man denke nur an die Diskussion um die Themen Halbwertwissen, … u. ä., die mittlerweile auch Eingang in die curricularen Vorgaben der Berufsschulen gefunden haben) und in neuen Situationen nicht mehr angewendet werden können. Zudem entsteht noch der Widerspruch zwischen individueller Problemlösefähigkeit und den hohen gesellschaftlichen Erwartungen, die in der Jugendforschung unter dem Aspekt des Bedürfnisaufschubs thematisiert werden. Dies bedeutet gerade für junge Frauen und Männer in Übergängen, dass Zukunftsentwürfe von einem besseren Leben auf der Basis schulischer und beruflicher Ausbildung nicht mit Sicherheit verwirklicht werden können. Junge Frauen und Männer sehen sich zunehmend vor unsichere und teilweise obsolete Versprechungen gestellt, die keinen Ersatz für eine intensiv erlebte Gegenwart bieten. Für Bette scheint es daher nicht verwunderlich, dass in den westlichen Industriegesellschaften Dynamiken entstehen, die sich auf die Gegenwart beziehen. „Damit wird eine Aufwertung derjenigen Instanz wahrscheinlich, die permanente Gegenwart darstellt und Sinnhaftigkeit selbst dann noch signalisiert, wenn andere soziale Formationen keinen überzeugenden Sinn mehr zur Verfügung stellen können, des Körpers“ (Bette 1989, 31). Durch das Einwirken auf den Körper durch z. B. Tanz, Sport oder eben auch in besonderen Maße durch Kleidung, können sich die Menschen in die alltägliche Erlebnisgegenwart einbinden. So vermag der Kleidkörper zu helfen „die Indifferenzschwelle des Bewusstseins gegenüber der eigenen Körperumwelt zu überspringen und eine Vergleichzeitigung von Bewusstsein und Körper in der Jetzt-Zeit herzustellen“ (Bette 1989, 31). Der Körper wird zur letzten Instanz, zum Fluchtpunkt für Authentizität und Gegenwärtigkeit – in seiner Erscheinung als biologische Ganzheit gegeben – aber über das Medium Kleidung in all seinen Facetten symbolisch immer wieder neu hergestellt und stabilisiert. „Der Körper stellt eine generell verfügbare und auch noch beeinflussbare Größe dar, bei der Wirkungen noch bewirkt, beobachtet und auch gefühlt werden können. Er ist zu einem wichtigen Symbol für eine noch kontrollierbare Wirklichkeit geworden. An ihm können Zeichen gesetzt und Spuren hinterlassen werden. Er bietet sich als Bezugspunkt des Erlebens und Handelns an, da er als unmittelbares und lebenslanges Begleitmedium psychischer Systeme in besonderer Weise dazu geeignet ist, Sicherheit zu konkretisieren“ (Bette 1989, 31).
In einer Gesellschaft, in der vieles vorstrukturiert ist und die sich in einem großen Maß als eine Organisationsgesellschaft darstellt, kann Kleidung zur Selbstermächtigung des modernen Subjekts dienen. Organisationen und deren Institutionen übernehmen in diesen Gesellschaften Steuerungsmechanismen, denen das Individuum nicht entkommen kann. Sie steuern Geburt, Kindergarten, Schuleintritt … Zudem
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nehmen Organisationen Personen nur noch selektiv wahr, nie als ganze Person, was zu Entfremdungs- und Bedeutungslosigkeitsgefühlen führen kann. Dies bedeutet auch, dass Personen nur teilweise und transitiv in die sie umgebenden Organisationen (Schule, Unterricht, Ausbildung, Arbeit, Arbeitslosigkeit, Entlassung aus dem Schulsystem) eingebunden sind. Die Auswirkungen dieser strukturellen Kopplungen, wenn sie denn brüchig werden, wirken sich jedoch auf die ganze Person aus. Die Menschen in der reflexiven Moderne sind durch strukturelle Kopplungen in viele soziale Systeme eingebunden, auf die sie nur geringfügigen oder gar keinen Einfluss haben. Zu den eigenen Erfahrungen von Machtlosigkeit wird dem Einzelnen die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten auch noch täglich über die Medien vermittelt. Nach Bette entsteht gerade dort, wo die „invisible hands korporativer Akteure operieren … (ein) … Bedarf, nicht nur passiv und in Ausschnitten an der Welt teilzuhaben, sondern … (sie) … aktiv und ‘ganzheitlich’ mitzugestalten und zu erleben“ (Bette 2003, 23). Indem junge Frauen und Männer ihre Körper bewusst nach einem bestimmten Stil kleiden oder ihre Kleidungsauswahl in Anlehnung an die jeweiligen Szenen ausrichten, erleben sie sich selbst in ihrem Körper hautnah und spüren die Wirkung ihrer Körper durch die Kleidung. Junge Männer und Frauen wachsen in eine Gesellschaft, die sich in großem Maße als eine Kommunikationsgesellschaft darstellt, eine Gesellschaft, in der Gefühle vorwiegend über sprachliche oder schriftliche Kommunikation vermittelt werden. In der Pädagogik, insbesondere der Medienpädagogik, wird diese Tendenz unter dem Aspekt der Zunahme von Sekundärerfahrungen thematisiert. „Der heutige Körper ist Gegenstand öffentlicher Wahrnehmung und offener Thematisierung, er ist nicht unter-thematisiert, sondern im Gegenteil überthematisiert“ (Ziehe 1996, 150). Insbesondere die HipHop-Szene kann als eine Szene beschrieben werden, die auf diese Gesellschaftsform reagiert, indem sie das Sprachliche mit dem Körperlichen verbindet. In Jugendszenen, vor allem in der HipHop-Szene, entsteht die Verbindung von Kommunikation und körperlicher Wahrnehmung, indem Sprache und Körper durch die Musik als Entität verschmelzen. Dies kann die Möglichkeit bieten, einer gesellschaftlichen Wirklichkeit zu entkommen, in der die Welt immer abstrakter, paradoxer und personenferner wird. Es geht in dieser Szene um außeralltägliche Sinneseindrücke und als Reaktion auf die Zunahme von Sekundärerfahrungen um das körperliche Erleben von Primärerfahrungen. Da die Subjekte überwiegend einer semiotischen Welt gegenüberstehen, bieten HipHop und Techno einen Handlungsspielraum, indem sie sich über ihre Kleidung, ihre Musik und durch ihren „Tanz der Kulturen“ (Breidenbach/Zukrigl 2000) einen Raum in unserer Kommunikationsgesellschaft schaffen, den sie sich
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durch den Körper aneignen. Als Beispiele seien die Aneignung städtischen Raums durch die Love-Parade, die Skater und Breakdancer auf öffentlichen Plätzen und Straßen … genannt. Zwei Aspekte scheinen nach Bette mit dieser Beobachtung einherzugehen: Die Wahrnehmungsorientierung und das wortlose Körperhandeln, Aspekte, die heutige Gesellschaften zunehmend dezimieren. Unzufriedenheit entsteht dann, wenn Sozialbereiche von Fremdreferenz auf Selbstreferenz umschalten und sich nur noch nach ihrer eigenen autopoietischen Logik entfalten und damit selbst erhalten. Durch ihre Differenzierungsmatrix erzeugen komplexe Gesellschaften ein Weltbild, das polyvalent und uneindeutig erscheint. In einer „Multibeobachtungsgesellschaft“ (Bette 2003, 30) erhöhen sich die Perspektiven und Beobachtungspositionen, aus der junge Männer und Frauen beobachtet werden, aber auch die Perspektiven, aus der sie die Welt beobachten. „Menschen müssen infolge dessen lernen, dass ihre Einschätzungen über sich und über die Welt beobachtungsrelativ sind – und dass eine Position für eine höherwertige und ‘wahre’ Beobachtung nicht in Sicht ist“ (Bette 2003, 30). Nach Bettes Analyse verflechten sich tradierte Wirklichkeitsbilder und Wahrnehmungsmuster durch den Formtypus moderner Gesellschaften und führen zu einem Verlust von Evidenzgefühlen. Im körperlichen Abenteuer und im Risikosport lässt sich eine Antwort finden, um diesem Prozess entgegenzuwirken und die momentan existierende Semantik, die mit „Natürlichkeits-, Fitness-, und Selbstverwirklichungsformeln“ (Bette 2003, 31) körperliche Aktivität positiv bewertet, hilft, diese physischen und psychischen Anstrengungen nicht als Entfremdungserscheinungen zu empfinden. Aber „Entkörperlichung kann durch Verkörperlichung nicht wieder hergestellt werden“ (Bette 1989, 41), wobei jedoch beide Prozesse in einem engen Verweisungszusammenhang stehen. In einer Gesellschaft, die nicht nur allein durch den Prozess der Entzauberung (Weber), sondern auch durch den der Entsinnlichung (Elias) gezeichnet ist, wird der Körper zu einer Sinninstanz, die aktiv modelliert und gestaltet werden kann und an dem undurchsichtige Seins- und Selbstvergewisserungen im gebrochenen Gewand von Schein und Sein temporär in Szene gesetzt werden eine Wiederversinnlichung des Körpers an der fragilen Grenze von Äußerlichkeit und Innerlichkeit, an der mit den Maskeraden der Identitäten gespielt wird. So lässt z. B. die enganliegende, körperbetonte Kleidung der Techno-Szene die Körper gerade, energie- und spannungsgeladen erscheinen, während die weite OverzisedKleidung der HipHop-Szene die extrem lässige und coole Körperhaltung betont. Wilson zu Folge ist Kleiden „a situated bodily practice“, eine situationsbezogene körperliche Gewohnheit, eine Gewohnheit, die Bourdieu als sens pratique bezeichnet. Sich zu kleiden bezieht demnach die Handlungen mit ein, die vom Körper auf
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den Körper gerichtet sind und die sich ausdrücken als „Weisen des Seins und Weisen des Aussehens“ (Wilson 1985 zit. nach Kaiser 2001, 79; eigene Übersetzung).
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Den Körper in Szene setzen „Die Relevanzsteigerung des Körperlichen zeigt sich darüber hinaus in neuen Gemeinschaftungsformen von der körperlich-emotionalen Betroffenheitskultur der Neuen Sozialen Bewegungen bis hin zu den sub- und popkulturellen Körperstilen von … Ravern und HipHoppern.“ (Schmidt 2002, 16)
So wie in der Jugendkulturforschung der Begriff der Szene und die zunehmende Verszenung als gegenwärtig zentrale Vergemeinschaftungsform (Hitzler et al. 2000) diskutiert wird, gewinnen auch in der Identitätsforschung Selbstinszenierungs- und Selbstpräsentationstechniken (vgl. Keupp et al. 1999) zunehmende Bedeutung in den jeweiligen Identitätsbildungsprozessen. So untersucht Stauber (2004) jugendkulturelle Selbstinszenierungen als Aktionsfelder, in denen Jugendliche spezifische Handlungspotentiale entwickeln. In der jugendkultursoziologischen Fokussierung einer subjektbezogenen Handlungstheorie der Selbstinszenierungen analysiert Stauber (Stauber 2004) die jugendkulturellen Phänomene wie Lebensstile, Zeichen, Symbole, Inszenierungen und Trends. Phänomene, die auch in der Modetheorie einen zentralen Stellenwert einnehmen. Stauber bindet ihre Analyse der Selbstinszenierungen an die grundlegenden Überlegungen struktureller Bedingtheiten des Erwachsenwerdens. Im Anschluss an Giddens zeigt Stauber in dem Kontext von Struktur und Handeln die verschiedenen subjektiven Handlungs- und Verarbeitungsstrategien von jungen Männern und Frauen am Übergang zwischen Jugend und Erwachsensein und thematisiert zwei Aspekte, die mir für die Untersuchung jugendlichen Bekleidungsverhaltens wesentlich erscheinen: Dies ist einmal die Bedeutung des Körpers in den Selbstinszenierungen und die Bedeutungen der Selbstinszenierung für die spätmoderne Identitätsarbeit. „… um eine Identitäts-Performance hervorzubringen (Baumann 2001, 144), braucht es Symbole, Zeichen, kulturelle, ästhetische, körperliche und sprachliche Ausdrucksformen. In der Fokussierung auf die Handlungsform der Selbstinszenierungen geht es genau um diesen Zusammenhang zwischen Darstellbarkeit (und ihren strukturellen Voraussetzungen) und den (spät-)modernen Formen der Identitätsarbeit, mehr noch: des (spät-modernen Seins-in-der-Welt“ (Stauber 2004, 181 f.).
6.2 Habitus und textile Körperbilder
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Dabei scheint für Klein (vgl. Klein 2004) die These, dass „nur noch die Inszenierung des Körpers“ (ebd., 256) und seine oberflächliche Gestaltung wichtig sei, zu einseitig zu sein. Vielmehr könne in dem Bedeutungszuwachs des Körperlichen „eine Bedeutungszunahme des Leibes als Medium der Erfahrung und zugleich als Ort der Unmittelbarkeit und Selbstgewissheit“ (ebd.) gesehen werden. Um diesem Gedankengang weiter nachzugehen, sollen im Folgenden die relevanten Aspekte der Konzeption von Habitus und Mimesis vorgestellt und in Bezug zum Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer gesetzt werden.
6.2
Habitus und textile Körperbilder „Die Körperlichkeit hat sich im Geistigen des Stoffes zu sublimieren.“ (Herzog 1985, 282)
Seit den britischen Cultural Studies sind sich die Forscherinnen und Forscher, die sich mit den Themenkomplexen Jugend, jugendliche Subkulturen, Jugendszenen, Jugendmoden, Sport- und Pop-Kultur befassen, weitgehend darin einig, dass in jugendkulturellen Szenen Körperpraktiken und Körperinszenierungen einen zentralen Stellenwert einnehmen. Um darzustellen, wie sich der Prozess der kulturellen Aneignung über das Kulturprodukt Kleidung auf der Ebene des Körpers bei jungen Männern und Frauen vollzieht, soll – unter Rückgriff auf die Habitus-Feld-Theorie Bourdieus und ihre von Gebauer/Wulf (1998) und Klein (2004) um die Begriffe des Performativen und Mimetischen vorgenommene Erweiterung – der interdependente Zusammenhang von Körperwahrnehmungen, Körperpraktiken und Kleidung dargelegt werden. In der Annahme, dass „[d]urch Kleidung (…) ein habituelles Orientierungssystem“ (Bertschik 2005, 353) entsteht, liegt das besondere Interesse in der Aufzeichnung, inwiefern sich über Habitus und Kleidungsstil Körperbilder mimetisch inszenieren lassen. Die heutigen Körper werden als durchrationalisierte und „von alten Tabus freigesetzte Körper“ (Ziehe 1996, 150) beschrieben, die abstrakter und intimer zugleich werden. „Die sich öffentlich treffenden Körper werden entstofflicht, sie sind eher Bild- und Zeichenangebot als stoffliche Körper“ (Ziehe 1996, 150). Der Körper ist jedoch nicht nur Träger von distinktiven Zeichen, sondern auch ihr Produzent, indem er die Metaphorik textiler Zeichen in ihre sichtbare stoffliche Form bringt. Distinktion, Geschmack, Körper/Leib und Habitus sind die zentralen Begriffe, anhand derer Bourdieu über die kulturtheoretische Erschließung der Klassenstrukturen
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seine Analyse der Sozialstruktur darlegt. In der bekanntesten Veröffentlichung Die feinen Unterschiede (1982) weist Bourdieu nach, dass alle kulturellen Handlungen mit den verschiedenen Habitusformen der unterschiedlichen sozialen Schichten im Zusammenhang stehen. Ziel seiner Studie ist die Herausarbeitung der Wechselwirkungen zwischen Sozial- und Klassenstrukturen, kulturellen Mustern und individuellen Lebensstilen sowie die Aufdeckung der Unterschiede in den Lebensstilen und Lebensbedingungen der einzelnen Schichten bzw. Klassen. Einen zentralen Stellenwert zum Verständnis des Habituskonzeptes nimmt der Begriff des symbolischen Kapitals ein. Das symbolische Kapital ist die Fähigkeit, soziale Interaktionen zu steuern und entsprechend der eigenen Bedürfnisse und Interessen lenken zu können. Die habituelle Fähigkeit, symbolisches Kapital zu erwerben, anzusammeln und strategisch einsetzen zu können, ist nach Bourdieu der Grund für die immer noch hierarchische Struktur der Gesellschaft. Mit dem Begriff des Habitus beschreibt Bourdieu die Fähigkeit oder die jeweilige Disposition, die das Handeln, Denken, Fühlen und Wahrnehmen eines Individuums bestimmen. „als Produkt der Geschichte produziert Habitus individuelle und kollektive Praktiken, also Geschichte, nach den von der Geschichte erzeugten Schemata. Er gewährleistet die aktive Präsenz früherer Erfahrungen, die sich in jedem Organismus in Gestalt von Wahrnehmungs-, Denk-, und Handlungschemata niederschlagen und die Übereinstimmung und Konstantheit der Praktiken im Zeitverlauf viel sicherer als alle formalen Regeln und expliziten Normen zu gewährleisten suchen“ (Bourdieu 1987, 101).
Die Determination des Habitus erfolgt über drei Verhaltensaspekte, die unbewusst über den sens pratique zusammenwirken. Dies sind einmal Wahrnehmungsschemata, die die alltägliche Wahrnehmung der sozialen Welt strukturieren, Denkschemata, die Alltagstheorien, ethische Normen und ästhetische Maßstäbe festlegen, und Handlungsschemata, die geregelte Improvisationen und spezifische Praktiken innerhalb der kulturellen Felder generieren. Bourdieu verortet die Habitusformen der Menschen entlang dreier sozialer und kultureller Niveaus und unterlegt sie mit dem Drei-Klassen-Modell. Für die Reproduktion von Klassenunterschieden werden die herkunftsspezifischen Habitusformen verantwortlich gemacht. Dabei richtet er den Fokus seiner Aufmerksamkeit auf den Nachweis, dass kulturelle Unterschiede innerhalb einer Gesellschaft dazu dienen, soziale Gegensätze aufzuzeigen und dadurch zu manifestieren. Mittels einem Sinn für Distinktion und über den Geschmack werden kulturelle und ästhetische Hierarchien etabliert. Zum besseren Verständnis der von Bourdieu aufgestellten Konzeption der Körperlichkeit des Habitus scheinen folgende Gesichtspunkte in Bezug auf das Beklei-
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dungsverhalten junger Männer und Frauen relevant zu sein: Der Körper fungiert nach diesem Konzept als Speicher, der wie eine dauerhafte Gedächtnisstütze die Strukturen des Habitus aufbewahrt und entspricht einem Ort zur Aufbewahrung von Geschichte. Dabei ist der sens pratique jene vermittelnde Instanz zwischen dem erworbenen und im Körper abgespeicherten Wissen und dem praktischen Handeln. Bourdieu beschreibt den Begriff des Habitus als das „Körper gewordene Soziale“ (Bourdieu/Wacquant 1996, 159). Die Inkorporation von Geschichte und Sozialem findet demnach ohne reflexiven Bezug zu Sprache und Bewusstsein statt. So scheint der Körper als Garant, „als Natur gewordene Geschichte“ (Bourdieu 1976, 171), als materielles Substrat, indem sich Kulturelles und Soziales manifestiert. In der Auslegung von Schmidt (vgl. Schmidt 2002) hält der Körper das abgespeicherte Körperwissen jederzeit für Aktualisierungen bereit, die jedoch immer nur körperlich ausgelöst werden können, indem der Körper „in eine Gesamthaltung gebracht wird, welche die mit dieser Haltung assoziierten Gefühle und Gedanken heraufbeschwören kann, also in einen jener Induktorzustände des Leibes, der Gemütszustände herbeiführen kann, wie Schauspielern bekannt ist“ (Bourdieu 1987, 127; zit. nach Schmidt 2002, 278). Welch wesentliche Rolle dabei die Kleidung spielt, lässt sich anhand eines Interviews mit Charly Chaplin belegen, in dem er zur Aussage brachte, dass er nicht wusste, wie er die Rolle zu spielen hatte, als er aber die Melone und das zuenge Jackett anhatte, wurde ihm klar, welche Figur das sei. Er hatte sich über das Medium Kleidung in eben jenen, von Bourdieu heraufbeschworenen Induktorzustand versetzt, in dem er den Leib der Figur, die er spielen sollte, sinnlich erspüren und erfassen konnte. Die Kleidung, so meine These, verhilft jedoch nicht nur Schauspielern, sondern gerade und im Besonderen jungen Männern und Frauen, die an der fragil-fluiden Grenze zwischen Kindheit, Jugendphase und Erwachsenenalter stehen, sich in die verschiedenen Positionen einzufühlen, sie körperlich-sinnlich zu erfahren und zu erfassen. Die Körper-Kleidung an der Schnittstelle zwischen Innen und Außen kann in diesem Prozess zu Neukontextualisierungen und Neukonstruktionen dieser von Schnelllebigkeit und Diskontinuierlichkeit unterworfenen Körperpositionen führen und zu einem Crossover der verschiedenen Kontexte. Bei der Übertragung sozialer Strukturen spielt der Körper insofern eine wesentliche Rolle, als dass er durch die praktische Beherrschung der Spielregeln des jeweiligen kulturellen Feldes Schemata und Rituale kultureller Praxis als inkorporiertes Wissen weitergibt, ohne die Ebene des Diskurses zu beanspruchen. Als körperliche Disponiertheit ermöglicht der Habitus dem Akteur innerhalb der kulturellen Felder kontextadäquat zu handeln und einen Sinn für die jeweilige soziale Praxis zu entwickeln. Der Habitus als eine körpergewordene Struktur wirkt sich jedoch nicht nur
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auf diesen aus, sondern auch auf das Handeln, Denken und Fühlen. Der Körper ist „ein Produkt sozialer Praxis und zugleich das zentrale Medium, das eine Erfahrung von Praxis erst möglich macht. Im Körper sind die Regeln des (pop-)kulturellen Spiels abgespeichert“ (Klein/Friedrich 2003, 193). Auf der Basis der Habitus-FeldTheorie erklären Klein und Friedrich für die HipHop-Szene, dass über „Inkorporierung Wirklichkeit wird: indem global zirkulierende Zeichen nicht nur lokal verankert, sondern auch als real geglaubt werden, indem sie verleiblicht werden“ (ebd., 194). Boxershorts, die unter der Jeans hervorblitzen und T-Shirts, zwei der am häufigsten getragenen, aus ihrem Leibwäschestatus mutierten Kleidungsstücke, symbolisieren und bezeugen das innige Verknüpfungsgeflecht von Körper, Leib, Kleidung und Habitus. Das Leibchen (= T-Shirt) als zentrales textiles Medium, auf dem sich die unterschiedlichsten Bedeutungsgehalte aufdrucken lassen, bezeugt, dass sich „szenespezifischer Geschmack – ob in Musik, Mode oder Styles – als körperliche Manifestationen“ (ebd., 194) verfestigen. Das Normengefüge hinsichtlich des Kleidungsgeschmacks lässt sich mit Hilfe der Habitus-Feld-Theorie insofern erklären, als dass im Habitus der Szene-Stil gespeichert wird, „indem normative Setzungen in Geschmackskategorien umgewandelt werden. Der Körper ist wiederum der Ort, an dem diese feldimmanenten Spielregeln materialisiert und zur sozialen Praxis werden, indem sie performativ wirksam werden“ (ebd., 194). Die Selbstinszenierungen verlaufen aus der Perspektive Bourdieus über die Akzeptanz der im Feld der Szene spezifisch geltenden Regeln, die über Körperhaltungen, Bekleidungscodes, szenerelevanten Techniken und Sprachcodes dargestellt werden. Das Wissen um die innerhalb einer Szene geltenden Regeln, Maßstäbe und Codes ist nach Klein nicht als kulturelles Kapital zu deuten, sondern in Anlehnung an Thornton als subkulturelles Kapital, welches das Wissen über das, was hip und cool und angesagt ist, beinhaltet. Aus der in Kap 3.3.1 vorgenommenen Distanzierung von dem Subkultur-Begriff, sollte dieses Kapital als jugendkulturelles Szenekapital bezeichnet werden, das sich als praxisrelevantes Wissen innerhalb der jeweiligen Szenen niederschlägt. Für Klein ist es dieses Wissen, das darüber bestimmt, welche Kleidung als die modischste gilt, „die bestsortierteste Plattenkollektion zu haben, den entsprechenden Jargon zu beherrschen, sich in der Szene auszukennen und gekannt zu werden, cool Coolness zu inszenieren …“ (Klein 2004, 243). Im Gegensatz zum kulturellen Kapital ist das jugendkulturelle Szenekapital jedoch weniger an soziale Klassen gebunden, sondern „eher von Alter, Geschlecht und sexueller Orientierung abhängig“ (ebd., 243). Sowie Geschmack trennend oder verbindend wirkt und Genuss ein Mittel zur Ein- oder Ausgrenzung bestimmter Praktiken darstellt, so gilt auch hier die von König aufgestellte These, dass der Modegeschmack bzw. der
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Geschmack der szenespezifischen Kleidungsstile ein wesentliches Mittel zur Anerkennung und Abhebung von anderen Szenen als auch von anderen Generationen darstellt, „… über Geschmack konkretisieren sich Generationskonflikte“ (Klein 2004, 228). Ein Beispiel, so Klein, „liefert der Mediendiskurs über die Club- und Rave-Kultur. So zeigen nicht zuletzt die abfälligen Statements und das kopfschüttelnde Unverständnis der etablierten Presse – über den ‘Gummibärchengeschmack’ der Girlies oder über eine Schuhmode, die mit ihren zentimeterhohen Plateaus schon in den 1970ern kaum erträglich schien, sowie über den verfremdenden Umgang mit Accessoires wie Lollipops und Kruzifixen oder das Tragen von Kinnbärten a la Sven Väth – wie über Geschmacksurteile die Distanz zur nachwachsenden Generation erst produziert wird“ (ebd., 228).
Der Habitus stellt sich als eine extrem starke Kraft dar, die soziale Konventionen mit ihren dazugehörigen Geschlechter- und Machtverhältnissen festigt. Ein Potential der Veränderung lässt dieses Konzept kaum zu, da die Verhältnisse, so Bourdieu, in den leiblichen Sinnen verankert sind und als natürlich, unvermeidlich und unhinterfragbar empfunden werden. Der von Bourdieu formulierte offensichtliche Determinismus berücksichtigt nicht, dass jede Sozialisation auch ein aktives Mitwirken seitens der Individuen braucht. Nach Bourdieu bringt der Geschmack und die einmal verkörperte Ästhetik spezifische Körper hervor. Die Geschichte der Mode und Kleidung zeigt uns jedoch, dass zu bestimmten Zeiten Widersprüche und Paradoxien stärker empfunden werden als zu anderen Zeiten, in denen das Zusammenspiel von Machtbeziehungen eine Vielfalt möglicher Formen des Widerstands hervorbringen oder zumindest kreativer Zweifel, wie sie über das Bekleidungsverhalten zum Ausdruck gebracht werden. Des Weiteren lässt sich beobachten, dass die Zugehörigkeit junger Frauen und Männer in Szenen nicht von der Sozialstruktur bestimmt wird, wie in den früheren Jugendkulturen der Mods, Teds oder Punks, die „aus Klassenstrukturen hervorgingen und sich als klassenspezifische Jugendkulturen verstanden“ (ebd., 144).
6.3
Mimesis als textiler Verleiblichungsprozess
Hinsichtlich der Analyse des Bekleidungsverhaltens junger Frauen und Männer ergibt sich die Relevanz der Anwendung einer Mimesis Konzeption aus folgenden Überlegungen: Die gängigen Diskussionen und Theoriebildungen zum Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer bewegen sich zwischen den Polen der reinen, oberflächlichen Nachahmung aktueller Modeströmungen seitens der Ju-
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gendlichen und der gegenläufigen Meinung, dass die eigentlichen Innovatoren und Trendsetzer die jungen Frauen und Männer selbst seien. Das Mimesis Konzept bietet die Möglichkeit, diesen einseitigen Polarisierungen zu entgehen, da das Mimesis Konzept sich gegen die herrschenden Ansichten der Sozialwissenschaften dahingehend abgrenzt, „gewohnheitsgemäßes Handeln sei so etwas wie reflexhaftes oder fremdgesteuertes Verhalten ohne jede Intelligenz“ (Gebauer/Wulf 1998, 9) und von der Vorstellung, „als stünden wir unablässig vor der Wahl zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten“ (ebd.). Historisch lässt sich der Begriff Mimesis auf das 4. Jahrhundert v. Christus zurückführen. Er beschränkte sich im Griechischen nicht allein auf die Kunst, sondern wurde als conditio humana verstanden, die die unterschiedlichen Ausprägungen der Menschen erst möglich macht. Der Bedeutungsgehalt von Mimesis liegt auf Nachahmung, sich ähnlich machen, etwas zur Darstellung bringen, etwas zum Ausdruck bringen und bezog sich auf ästhetische, als auch auf soziale Prozesse. Im Laufe der Entwicklung bis zur Neuzeit fand der Begriff Mimesis hauptsächlich in der Kunstund Literaturtheorie seine Anwendung, bis er ab der Neuzeit generell an Bedeutung einbüßte. Mit der historischen Rekonstruktion durch Gebauer und Wulf (1992, 1998) fand Mimesis als Schlüsselbegriff der ästhetischen, literaturwissenschaftlichen und anthropologischen Diskussion auch Eingang in die sozialwissenschaftliche Rezeption und wird als Kategorie zur Beschreibung ästhetischer, körperlicher und sozialer Phänomene in den verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen herangezogen, so z. B. von Schmidt zur Beschreibung des Sports als „körperliche Mimesis des Sozialen“ (Schmidt 2002, 69), von Klein, die die „Habitualisierung als mimetische Identifikation“ (Klein/Friedrich 2003, 195) beschreibt und dem Begriff Mimesis einen zentralen Stellenwert in ihrer Pop-Kultur-Theorie (2004) zuweist. Mimetische Prozesse verlaufen nach Gebauer/Wulf (vgl. Gebauer/Wulf 1998, 256) über vier Stufen: 1. Bezugnahme auf eine andere Welt 2. Aneignung von Elementen jener Welt 3. Interiorisierung jener Elemente 4. Veräußerlichung und Aufführung Da sich diese vier Abstufungen in dem Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer wiederfinden, lässt sich das Bekleidungsverhalten als mimetischer Prozess deuten. Durch die Bezugnahme auf das textile Medium Kleidung findet eine An-
6.3 Mimesis als textiler Verleiblichungsprozess
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näherung an den anderen statt. So nehmen junge Frauen und Männer z. B. Bezug auf die Kleidung ihrer Freunde und Freundinnen, auf andere Szenemitglieder, die jeweiligen Musikidole, die in der Szene angesagt sind etc., indem sie Elemente aus deren Kleidungsstilen für sich adaptieren. Junge Frauen und Männer beziehen sich durch ihre Kleidung auf „Handlungspartner, Modelle, Vorbilder, Wunschbilder, auf Prototypen“ (Gebauer/Wulf 1998, 256). Die Aneignung einzelner Kleidungsstücke oder die Übernahme bestimmter Elemente aus anderen Kleidungsstilen führt dabei fast nie zu zwei völlig identischen Outfits, sondern wird in der Regel individuell immer wieder neu gestaltet. Die Hineinnahme der Gestaltungselemente der anderen „ist eine Integration der anderen Welt in sein Inneres“ (ebd.), in die eigenen Vorstellungen von Schönheit oder Hässlichkeit, von Weiblichkeit oder Männlichkeit, von Coolness oder was immer die Wünsche, Absichten oder Phantasien der jungen Frauen und Männer berührt. In der Veräußerlichung und „Aufführung werden die Vorstellungen des Handelnden über sich selbst und die Gesellschaft dargestellt“ (ebd.). In einer auffälligen textilen Metaphorik beschreiben Gebauer und Wulf, dass durch mimetische Handlungen, neben Gesten und Ritualen insbesondere auch durch Spiele (an dieser Stelle sei noch einmal auf das Spiel der Identitäten über das Medium Kleidung verwiesen), „auf vielfältige Weise soziale Muster geknüpft“ (ebd.) werden, „bestehend aus den von den sozialen Subjekten gestalteten Welten und den Welten anderer Personen“ (ebd.), und „in allen diesen Fällen werden Fäden geschlungen, die in mehr oder weniger komplexen und kunstvollen Motiven zwischen den Personen hin und herlaufen, so daß sich aus Zug und Gegenzug feste Verschlingungen ergeben“ (ebd.). Nach Gebauer/Wulf kann der Akzent von Mimesis „auf einer sinnlich gegebenen Ähnlichkeit, auf einer unsinnlichen Korrespondenz oder auf der intentionalen Konstruktion einer Entsprechung liegen (Gebauer/Wulf 1998, 9). In mimetischen Prozessen, so Gebauer/Wulf, gleicht sich der Mensch der Welt an und vice versa. Mimesis ermöglicht den Menschen, aus sich selbst herauszutreten, die Außenwelt in die Innenwelt hineinzulassen und die Innenwelt auszudrücken, und sie sei eine notwendige Bedingung von Verstehen. Während in der Auseinandersetzung um Performativität und um die Bedeutung von Performanz der Körper und die zeigende Seite körperlichen Handelns im Vordergrund der Diskussion steht, bezieht sich Mimesis auf den Leib, auf die leiblichen und sinnlichen Erfahrungen und auf den Leib als Vermittlungsinstanz zwischen einer inneren und einer äußeren Perspektive. „Aneignung, Erfahrung und Erkenntnis … erfolgen im mimetischen Prozess nicht ohne Rückbezug auf den Leib. Der Leib ist Vorraussetzung von Mimesis“ (Klein 2004, 249). Der Körper, seine
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6 Kleidung als Medium körperlicher Selbstinszenierungen
physische Gestalt und seine Erscheinung, wird von Außen durch die Sicht der anderen wahrgenommen. Wir erkennen den Körper, vermittelt als Bild. Kleidung zeichnet diese Körperbilder und unterstützt den Körper in seiner Aufgabe darzustellen und zu repräsentieren. Mit dem Blick der anderen werden die eigenen entworfenen Körperbilder entweder bestätigt oder verworfen. Das Mimesis-Konzept beinhaltet die leibliche Nachahmung oder die Verleiblichung von Vorstellungen. Mimesis begegnet uns in allen Formen der kulturellen Produktion oder in der Bedeutungsproduktion, die sich in der Dialektik von Entleibung und Verkörperlichung vollziehen. Mimesis tritt genau an dem Schnittpunkt auf, an dem sich die Diagonalen zwischen den Polen innen und außen, Körper/Leib und Kleidung, das Bekannte und das Fremde, das Identische und das Nicht-Identische, das Weibliche und das Männliche kreuzen, sich widersprechen, aber auch immer entlang einer Unendlichen aufeinander verweisen. Wobei „sich die Frage stellt, ob die Praktiken, in denen der Körper zum Medium und Austragungsort des Imaginären wird, einer bestimmten Geschlechterdramaturgie folgen“ (Weigel 1990, 66). Mimesis ist innerhalb dieses Prozesses ein Stil der Erkenntnis, der subjektive Identifikationen, deren Ausgestaltung sowie deren Brüchigkeit jenseits des Bewusstseins mit sich bringt. Im verkörperten Wissen fallen Wissende und Gewusstes zusammen und treten in eine Wechselbeziehung. Es handelt sich dabei um ein Wissen, das man nicht besitzt, da man es nicht vom Körper losgelöst betrachten sollte, sondern es stellt sich als ein Wissen dar, welches, mimetisch, durch den Körper geweckt wird (vgl. Bourdieu 1987, 135). Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit von Kleidung und Mode stellen sich als zwei wesentliche Bedingungen der mimetischen Bezugnahme auf soziale Körperpraxen dar. Indem die Mode und Kleidung eine relative Autonomie gegenüber anderen gesellschaftlichen Bereichen bewahrt hat (vgl. Lehnert 2003), konnte sie, trotz vielfältiger Abhängigkeiten, ihre eigene spezifische Praxis erhalten. So sieht Lehnert in der Eigenweltlichkeit der Mode eine Voraussetzung zur Darstellung sozialer Praxis und sie betont, dass die Eigenweltlichkeit der Mode weiterhin eine Vorraussetzung sei, dass sie sich anderen gesellschaftlichen Praxen ähnlich mache und ausliefern könne, ohne ihre Distanz aufzugeben. Die Doppeltheit von Ähnlichkeit und Eigenweltlichkeit bildet nach Lehnert den Kern ihrer mimetischen Qualität. Auch Klein (2004) nutzt den Begriff Mimesis, um in der von ihr entwickelten PopKultur-Theorie das von Bourdieu aufgestellte Habituskonzept zu erweitern und beschreibt Habitualisierung als mimetische Identifikation. Klein begnügt sich jedoch nicht, Habitualisierung als einen Sozialisationsvorgang zu beschreiben, sondern sie
6.3 Mimesis als textiler Verleiblichungsprozess
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erklärt Mimesis als den Vorgang, „über den die kontextimmanenten Spielregeln verleiblicht werden“ (Klein 2002, 60). Dabei versteht sie mimetische Identifikationen nicht als bloße Imitation, sondern als einen ‘Akt der Neu-Konstruktion’. Mit der in der Konzeption Mimesis vorgenommenen Betonung des Leibes werden die unvermittelten psycho-physischen Erfahrungen in den Vordergrund gestellt. Der Leib kann aus dieser Perspektive als Ausgangspunkt zum Zugang zur Welt betrachtet werden (vgl. Klein 2004). In der Beschreibung des Bekleidungsverhaltens kommt genau dieses Moment zum Tragen. In den körperlichen Selbstinszenierungen stellen sich junge Frauen und Männer dar und repräsentieren ihre eigenen Körperbilder. In der Inszenierung tritt aber auch das Moment der unvermittelten leiblichen Erfahrung zum Vorschein, da Kleidung genau an der Schnittstelle von innen und außen steht. So erhält die Kleidung die Funktion einer textilen Membran, die Inneres nach außen und Äußeres nach innen diffundieren lässt. Dabei bilden innen und außen „keine Opposition entgegengesetzter Bereiche, die sich gegenseitig zu dominieren suchen, sondern sie sind nichts anderes als zwei Seiten derselben Vorgänge“ (Gebauer/Wulf 1998, 52). Mimesis widersetzt sich nach Gebauer/Wulf der harten Subjekt-Objekt-Spaltung und verweist auf deren gegenseitige Durchdringung. In den textil gestalteten Körperbildern zeigt sich nicht nur die äußerliche Inszenierung des Körpers, sondern Sich-kleiden beinhaltet auch eine leibliche Erfahrung und verweist auf die innere, sinnliche Wahrnehmungs- und Erlebensdimension. Da sich das herkömmliche Verständnis von Mimesis nicht mehr auf Angleichung und bloße Nachahmung, auf die Erstellung einer Kopie des Originals reduzieren lasse (vgl. Koller 1954, Zuckerkandl 1958, Gebauer/Wulf 1998, Klein 2004), sondern auch zugleich die Erstellung eines neuen Bildes bedeutet, bietet sich das Konzept von Mimesis an, den Prozess der Aneignung des Fremden im Eigenen, des Vermittelnden zwischen Außen- und Innenwelt und die Entstehung von neuen Körperbildern mittels des Mediums Kleidung zu erklären. Das Mimesis-Konzept bietet die Möglichkeit, das Bekleidungsverhalten aus dem engen Verständnisrahmen der Befähigung symbolischer Anpassung an eine sich schnell wandelnde Welt (vgl. Blumer 1969, 275–291) herauszuführen und dahingehend zu erweitern, dass über mimetische Identifikation die sich wandelnde Welt über den Leib bzw. über Verleiblichungsprozesse angeeignet wird und durch Kleidung und Mode neue Körperbilder konstruiert werden.
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Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
„Die Zeitgeistmaschine, diese miese, unsichtbare dialektische Ratte, hat sich zwischen unsere Wünsche und die gesellschaftliche Realität geschoben und betreibt dort unermüdlich ihre dialektischen Pirouetten.“ (Horx 1987, 161) Der Punk startete in den Straßen der Arbeiterviertel von England als Reaktion auf jugendliche Arbeitslosigkeit und soziale wie wirtschaftliche Rezession. Das Outfit der Punks war radikal, anders und antiästhetisch. Im Folgenden sollen nicht die einzelnen Varianten und Erklärungsmuster der Punkbewegung dargestellt werden; dies ist auf wissenschaftlicher sowie feuilletonistischer Ebene zu Genüge getan worden (vgl. Clarke 1981, Hebdige 1983, Baacke 1972, Soeffner 1986 etc.). Meine These ist die, dass der Punk den klassischen Bedeutungsgehalt von Mode aufgehoben hat. Klassisch war die Mode in ihrer Gestalt vom Geschlecht, Alter und Verwendungszweck abhängig und dem jeweiligen Modediktat unterworfen. Der Punk in seiner Entwicklung vom Radikal-Punk über den Alternativen- und Freizeit-Punk bis zu dem via Medien vermarkteten Soft-Punk löste die einstige Funktion von Mode und Bekleidung hinsichtlich Distinktion, Trennung der Klassen und Geschlechter auf. Wie man auch die unterschiedlichsten Erscheinungsbilder des Punk charakterisieren möchte, eins hatten alle Punks gemeinsam: die Verdrehung von schön und hässlich, von ästhetisch und antiästhetisch. Ihr gemeinsames Konzept war die Originalität und Kreativität ihres Stils, der dem alten Schönheitsideal entgegengesetzt wurde. Durch die Kraft ihres „Minderheiteneinflusses“ (vgl. Mugny 1982, Moscovici 1981) hatten sie die Möglichkeit, breite Bevölkerungsteile hinsichtlich ihres Bekleidungsverhaltens zu beeinflussen und zu verändern. Der Punk hat wie keine andere soziale Bewegung den Bedeutungsgehalt von Mode im klassischen Sinn in Frage gestellt und aufgehoben. Nach der Punk-Bewegung gab es bis heute keine ähnliche jugendkulturelle Gruppierung, die in dieser Dimension und Tragweite auf das Moment des Schockierens setzte. Betrachtet man jugendkulturelle Stilbildungen als Reaktion auf gesellschaftliche Entwicklungen und Problemlagen, dann muss daraus gefolgert werden, dass, je komplexer und vielschichtiger diese Probleme werden, desto vielfältiger werden auch die Reaktionsmuster und jugendkulturellen Stilbildungen. Je mehr ein
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gesellschaftliches Problem für viele relevant wird, desto eher kann sich daraus eine homogene Szene bilden, die sich mit diesem auseinandersetzt. Dies war in England der Fall. Dadurch, dass Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Rezession sehr viele Jugendliche betrafen, konnte eine Gruppierung wie der Punk entstehen. In einer Zeit, in der die unterschiedlichsten Problemlagen thematisiert werden wie z. B. wirtschaftliche Rezession, Umweltverschmutzung, Arbeitslosigkeit, Widersprüchlichkeit der Wertebereiche, „Wohlstand und Sicherheit entlang an Todeslinien (spätestens seit Tschernobyl)“ (Baacke 1988, 48) etc., wird auch auf jugendkultureller Ebene in unterschiedlichster Art und Weise reagiert. Jeder wählt sich das aus, was ihn – ganz individuell – am ehesten interessiert oder betrifft. Die Folgerung hinsichtlich des Bekleidungsverhaltens ist die: Je vielfältiger Probleme innerhalb unserer Gesellschaft sind, desto vielfältiger werden die Reaktionen und jugendkulturellen Gruppierungen und damit auch die anzutreffenden Bekleidungsstile. Eine weitere Folge ist der Zerfall von Großgruppen in immer kleinere Gruppen, Milieus, Sub- und SubSub-Milieus, die sich wiederum in unterschiedliche Szenen unterteilen und sich durch ihr jeweiliges Bekleidungsverhalten voneinander abgrenzen. Zur Zeit des Post-Punk wird auf jede jugendkulturelle Stilschöpfung innerhalb kürzester Zeit mit ihrem Pendant reagiert. „Kaum liefen mehr als fünf Prozent schwarz herum, kamen die Weißen. Kaum war die Neon Kälte durchgesetzt, begann New Age“ (Horx 1987, 160). Aufgrund des immer schnelleren Auf und Ab wechselnder Jugendmoden hat sich ein „wildes Konglomerat der Stile und Moden“ (Horx 1987, 161) entwickelt. In diesem sich immer schneller drehenden Modekarussell gibt es nicht mehr die Welt des reinen ‘Schwarz’ oder ‘Weiß’, es kommt auf die leisen, feinen, differenzierenden Grautöne an. Jugendliche Stilbildungen wirbeln die eindeutigen Zuordnungsmuster durcheinander. „Die Absetzbewegungen sind komplexer geworden, die Flaggensignale entschieden bunter, herausfordernder und nicht mehr identitätssüchtig“ (Ferchhoff 1989, 93). Eindeutigkeit und Symmetrien sind im Post-Punk ‘Out’. ‘In’ sind neue Asymmetrien, in denen die zunehmende Schwierigkeit der Wahrung einer „balancierenden Identität“ (Krappmann 1969, 133) gesehen werden kann. „Auch wenn Jugend ihre Geschichte wenig kümmert, hat sie doch aus ihr gelernt. Ein ‘eigenes Jugendreich’, eine ‘neue Generation’, die eine völlig neue Welt schafft: Diese immer wieder auch über Kleidungsformen und -stile gehegten Hoffnungen sind einstweilen dahin“ (Ferchhoff 1989, 93 f.). So, wie „das reflexiv gewordene Sozialstaatsprojekt Abschied nimmt von der arbeitsgesellschaftlichen Utopie“ (Habermas 1985, 160), haben auch Jugendliche den Glauben an die einzig wahre Utopie verloren. Sie reagieren jedoch nicht ausschließlich mit Hoffnungslosigkeit und Apathie auf diese „ausgetrockneten utopischen Oasen“ (Habermas 1985, 161), sondern mit
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Ironie und dem „Mut zur Simulation. Zur Verfremdung. Zum grundsätzlichen Zweifel“ (Horx 1987, 162), welcher sich unter anderem über das Bekleidungsverhalten ausdrückt. „Die Modegeschichte zeigt, daß die Mode offensichtlich überall da besondere Bedeutung entwickelt, wo gesellschaftliche Veränderungen und damit einhergehender Wertewandel besonders rasch und undurchschaubar vor sich gehen“ (Sommer 1992, 133). Diese Veränderungen betreffen besonders Jugendliche, die über ihre spezifischen, pubertären, somatischen wie kognitiven Entwicklungen in eine hochkomplexe Industrie- und Massengesellschaft hineinwachsen, in der herkömmliche, substantielle Identitätskonzepte obsolet geworden sind. Anfang der 90er Jahre zeichnet sich der Trend zum ‘anything goes’ ab. Über Künstlichkeit versus Natürlichkeit, Schickimicki und neuen Asketizismus im Non-Fashion-Look sind folgende Szenen und Stilbildungen anzutreffen: Hippies, Mods, Teds, Rocker, Popper, Punker, New Waver, Ökos, Müslis, Prolls, Freaks, Schickimickis, Dancer, Gruftis, Yuppis, Puppies (Postmodern Upwordly Mobile Professional: Yuppies, die dazugelernt haben), Normalos, Dinks (Double Incom No Kids), Autonome, Sprayer, Sputniks, Snowboarder, Skater, Biker, Funster, Busters, Zombie Kids, Acid House Anhänger, Kult Jungs, Grunge Kids, Technos, Rapper, HipHopper etc. Um sich aus dieser Stilvielfalt etwas Passendes herauszusuchen, muss sich das ‘arme gequälte Ich auf die Socken machen’. Neben der Etablierung der klassischen Jugendkulturen wie z. B. den Punks oder Gruftis ist seit 1990 eine zunehmende musikalische Ausdifferenzierung in den Szenen HipHop und Techno zu beobachten, die nicht immer „ein Pendant in einem eigenständigen Stilbild und direkt zugeordneten modischen Elementen“ (Richard 2005, 2) haben. Nach Richard machen die Jugendkulturen der 90er Jahre eine Neubestimmung des Verhältnisses von Authentizität und Kommerzialität notwendig, da der klassische Zyklus von Entstehung, Vereinnahmung, Manipulation und Ende eines Stils, wie ihn Hebdige 1981 proklamierte, durch die Koexistenz von Subversion und Kommerz ersetzt sei. Die Techno- und HipHop-Szene sind zwei typische Beispiele für die „Simultanität von avantgardistischem Untergrund und breitem mainstreamAnteil“ (ebd., 4). Richard deutet das ausgeprägte Konsumverhalten und das unbefangene Spiel mit Marken und Produkten der Kulturindustrie als Hyperkonsum, der sich in drei unterschiedlichen Formen äußert: Die erste Form wird als „Spiegelbild einer auf Konsum fixierten Gesellschaft“ (ebd., 5) und als ein „auf die Spitze getriebene(s) Abbild einer „konsumgeilen“ Elterngeneration“ (ebd., 5) beschrieben. Die zweite Form des Hyperkonsums kann als eine Reaktion und „trotzige Abgrenzungsstrategie gegen die Teile der Elterngeneration, die sich bemüht, bewußter und natürlicher zu leben“ (ebd., 5) gesehen werden und die dritte Form zielt auf das Moment der Subversion, wenn sich die Szene fremde Zeichen, Embleme und Signets etablierter Kon-
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
zerne aneignet und diese umdeutet. „Strategien wie das „adbusting“ (= Umgestaltung von Zeichen und Signets mit Hilfe moderner Layoutprogramme) sind gegen die Generation gerichtet, die ihre Ideale von Protestbewegung zu zementieren sucht“ (ebd., 5). Obwohl sich unter den heutigen Szenen keine klassische konsumkritische Protestkultur befindet, lässt sich jedoch in „der Ästhetik gegenwärtiger Jugendmoden (…) auch ein (unbewusster) gesellschaftlicher Gehalt herausfiltern“ (ebd., 6). Die Techno-Szene und die HipHop-Szene sollen im Folgenden exemplarisch für die temporär autonomen Zonen und Nischen der Abgrenzungsstrategien junger Frauen und Männer beschrieben werden, in denen über die ästhetischen Ausdrucksformen Kleidung und Musik szenespezifische Stilelemente innerhalb der Szene geschaffen werden.
7.1
Die Techno-Szene: Ein Beispiel der Verschiebung eindeutiger Geschlechterpolaritäten
7.1.1
Zur musikgeschichtlichen Entwicklung von Techno
Techno ist der Sammelbegriff technologisch erzeugter elektronischer Musik und der ihr zugehörigen Jugendkultur. Die Ursprünge der Techno-Szene und Musik liegen im Acid House und Detroit-Techno, die Anfang der 80er Jahre entstanden. Techno galt als Synonym für den gesamten Bereich elektronisch erzeugter Musik. Als die einflussreichste Gruppe dieser Musikrichtung gilt die deutsche Gruppe Kraftwerk. Sie sind „The Godfathers of Techno“ und „werden von den meisten Techno- und House-Produzenten als wichtigste Inspirationsquelle bezeichnet“ (Anz 1999, 14). In England entsteht etwa zeitgleich elektronisch erzeugte Musik, wie z. B. Industrial. Dies ist eine Musikart, in der bekannte und gewohnte Rhythmen und Melodieschemata zerstört und verändert werden. Umweltgeräusche und Industrielärm wurden mit Hilfe von Elektronik aufgenommen und zu neuartigen Geräuschklängen zusammengemixt. Die Etablierung dieser Musik begann 1988 in England mit der Entstehung einer neuen Musikbewegung, deren Merkmale in einem futuristischen Sound und 130 Schlägen pro Minute liegen. In Belgien entstand zu gleicher Zeit eine Musikrichtung namens EBM, Elektronik Body Musik. Die Musikindustrie versprach sich anfangs relativ wenig von der Technobewegung und hielt sie für eine kurzfristige Erscheinung, die nach kurzer Zeit wieder verschwinden würde. Aber das Gegenteil sollte sich einstellen. 1991 erfolgte der Durchbruch in Deutschland und beinahe zeitgleich in den USA und England. In Deutschland kristallisierte sich neben Frankfurt auch Berlin zur Metropole der Technobewegung heraus. Die besondere Situation des Mauerfalls zu der Zeit sowie die gesamte Umbruchstimmung der
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Wiedervereinigung förderte die Entstehung neuer Szenen und bot der Technobewegung größte Freiräume. „In Berlin herrschten paradiesische Zustände in punkto abgefahrener Party-Locations“ (Anz 1999, 27). Auf einem der ersten Raves, der Mayday 1991 mit dem Motto „The best of ‘91 House and Techno“, versammelten sich ca. 6000 Jugendliche. Dass Techno im Verlauf der 90er Jahre keine Undergroundbewegung geblieben ist, beweist die Besucherzahl der Loveparade in Berlin, zu der sich 1989 ca. 150 Personen auf dem Kurfüstendamm versammelten und 1999 fast eine Million. Auch in anderen deutschen und europäischen Städten etablierte sich die Szene während der 90er Jahre. „Damit verbunden ist eine Vervielfältigung der Subgenres, die selbst von Kennern häufig nur noch durch die Anzahl der Beats pro Minute unterschieden werden können: von sphärischen AmbientKlängen, die auch ohne Beats auskommen können, über tanzbaren Trance bis zu rasend schnellem Gabber“ (Kemper 1999, 270). Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann man nicht mehr von der Techno-Bewegung oder der Techno-Generation sprechen, da die einzelnen Techno-Szenen mit ihrer speziellen Musik und ihrem Outfit immer weiter auseinanderdriften. Techno war und ist eine relativ offene Jugendkultur, die 16- wie 36-Jährige anzieht und „ist in das urbane Repertoire einer metropolistischen Zerstreuungskultur, die heute jeden erreicht, unabhängig vom Alter, vom Milieu, von Herkünften, Sehnsüchten, Wünschen und Lebensstilen“ (Baacke 1999, 120). Gemeinsam ist den divergierenden Techno-Szenen das ekstatische Tanzen nach elektronischer Musik und das Reisen von Rave zu Rave. So wird ein großer Teil der Freizeit auf Technopartys, auf großen Raves oder auf kleinen illegalen Partys mit dem Touch von Underground und ‘des Verbotenen’ verbracht. Einige dieser Raves können durchaus drei Tage und drei Nächte dauern. Gefeiert wird ohne Pause, ohne zu Schlafen und dies bietet ein durchaus sinnstiftendes Vollprogramm für alle diejenigen, die ihr Vertrauen in technologisch orientierte Gesellschafts- und Zukunftsperspektiven verloren haben. Techno hebt das Raum- und Zeitgefühl auf und ist vor allem eine körperliche Betätigung. Im Mittelpunkt stehen Bewegung, Rhythmus und die Synchronisation des Körpers mit der Musik bis ein tranceartiger Zustand erreicht wird, in dem alle Sinne angesprochen werden und zur Einheit verschmelzen. Gefeiert und getanzt werden Lebenskonzepte wie Love and Peace, Freedom, Unity and Equality. Es geht um nichts Politisches, sondern allein um das gemeinsame Tanzen und um die gute Stimmung. Ein Problem, anders zu sein als andere, gibt es nicht. Raver kommen aus ganz unterschiedlichen Gruppierungen und Szenen zusammen. Ehemalige Gruftis, Türken, Homosexuelle und Punks raven sich zusammen, ohne dass es zu irgendwelchen Ausschreitungen kommt. Man könnte vermuten, „… daß es sich möglicherweise um
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
eine Bewegung handele, freilich von neuer Art. Sie bestände darin, daß sie Glück und Glückserfahrung nicht gegen andere ausbeutet, sondern sie als ein Eigenrecht behauptet und sei es nur als Freizeitkultur“ (Baacke 1999, 122).
7.1.2
Techno: Symbiose zwischen Mensch und Maschine
Multimedia, neue Technologien, Internet und virtuelle Welten, Datenautobahnen und Cyberspace sind Welten, in die die Kinder des ausgehenden 20. Jh. hineingeboren werden. Möglicherweise ist die Etablierung der Technobewegung mit ihren Splitterungen als Ausdruck vieler junger Menschen zu deuten, die sich den Zukünften dieser Welten stellen. Über die körperliche Bewegung wird eine symbiotische Beziehung zwischen Mensch und Maschine eingegangen, eine Technik-(Techno) Erfahrung über die Körperlichkeit. Kommunikation findet nicht verbal über Sprache statt, sondern über das Medium Musik, über Tanz und Körper. Wirklichkeit und Schein, Realität und virtuelle Welt, diese Gegensätze heben sich auf den unterschiedlichen Raves auf. Die Erfahrung der Grenzüberschreitung findet am und im eigenen Körper statt.
Abb. 15 Quelle: Spiegel special 11/1994, S. 21
7.1 Die Techno-Szene: Ein Beispiel der Verschiebung eindeutiger Geschlechterpolaritäten
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Der Kleidung fällt dabei eine ganz besondere Bedeutung zu, da ihr die Funktion der Grenzüberschreitung schon allein aus der Stofflichkeit immanent ist. Die Kleidung als Grenze zwischen innen und außen ist Ausdrucksmittel des momenthaften Erlebens. Sie wirkt nach innen auf den Körper und nach außen auf die Umwelt, wobei das eine das andere beeinflusst. „Mode also ist die Kunst des perfekten Moments, das Jetzt an der Schwelle zu einer unmittelbar bevorstehenden Zukunft … Der Moment regiert Zeit und Dauer; er löscht die Spuren der Zeit um sich selbst als absolut, selbstevident und makellos zu setzen, der vollkommene Moment als Vorschein von Ewigkeit“ (Vinken 1993, 36).
7.1.3
Techno-Clubwear
Der Club stellt in den 90er Jahren jene Art der Location dar wie sie die Diskotheken, Kneipen oder Stammlokale für die 70er und 80er Jahre darstellten. Der Unterschied besteht besonders in den großen Clubs aus der Versammlung einer Mixtur von verschiedenen Szenen. Die Differenzierung wird entweder dadurch vorgenommen, dass an bestimmten Tagen nur eine bestimmte Musik gespielt wird oder, dass sich die einzelnen Clubs in mehrere Räume aufteilen. Da wird dann in einem Teil des Clubs Techno, in einem weiteren House und eine Etage höher HipHop gespielt. Die kleineren Clubs gelten meistens als Geheimtipp und dienen in der Techno-Szene zur Abgrenzung zum Mainstream. Die kleineren Clubs werden dem Anspruch echter Clubber gerecht: Der Demonstration von Insiderwissen und avantgardistischer Selbstinszenierung. Die heutige Club-Szene zeichnet sich nach Klein (vgl. Klein 2004) durch eine „recht bunte Mischung einzelner Teil-Szenen aus“ (ebd. 2004, 142), in denen die Grenzen zwischen den einzelnen Szenen nicht mehr deutlich erkennbar seien. Wenn jedoch junge Frauen und Männer an den hoch- oder nicht hochgestellten Kragen von Polo-Shirts erkennen, wer welcher Schule angehört, dann liegt die Betonung auf ‘nicht deutlich’ zu erkennen oder für Außenstehende nicht deutlich erkennbar. Die „Ein- und Ausschlusspraktiken sind dementsprechend subtiler“ (ebd.) und das sicherlich nicht nur für die Türsteher. Neben der ClubKultur sind die in der Techno-Szene stattfindenden alljährlichen Raves wie die Mayday in Dortmund oder die Love-Parade in Berlin, typische Events der Szene. „Der schrille Science-fiction-Look der Love-Paraden kennt nur drei Regeln: 1. witzig, 2. witzig, 3. witzig.“ (Lacotta 1996, 69) Die Kleidung innerhalb der Techno-Szene unterliegt zwar keinem strengen Dresscode, bestimmte Typisierungen lassen sich jedoch auch in dieser Szene erkennen.
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Viele Stilmerkmale und Modeerscheinungen der letzten Jahrzehnte sind in der Technokleidung wiederzufinden und nehmen Einfluss auf diese. So tauchen Elemente aus der Hippiebewegung der späten 60er in ihr auf wie z. B. der auffällige Farben-Mix und die gewagten, wilden Musterzusammenstellungen, die rasierten Haare, die hauptsächlich der Skinhead-Szene vorbehalten waren, oder die Kombination der Rasur und Färbung, die am augenfälligsten in der Punkbewegung zu beobachten war. Diese „gänzlich neue Form der selbstreferentiellen Rückbesinnung (…) wird zum stilinternen Verfahren und führt die Möglichkeit der Autopoisis von jugendkulturellen Systemen vor Augen“ (Richard 2005, 3). Die „Revival-Loops“ (ebd., 3) zeigen die Unkalkulierbarkeit szenischer Trendentwicklungen und die Schwierigkeit seitens der kulturindustriellen Verwertung und der Vereinnahmung durch die Bekleidungsindustrie. „Eine Kultmarke in der Kleidung zu kreieren und zu halten wird immer schwieriger“ (ebd., 7). Durch die szenespezifischen Verhaltensweisen und das hohe Maß an Individualität in den technoiden Körperinszenierungen wird der „modische Kreislauf auf eine erträgliche, überschaubare Geschwindigkeit“ (ebd., 10) reduziert. Nach Richard beschleunigen und verlangsamen Jugendmoden zugleich die modischen Zyklen. Neben der Produktion von Retro-Looks finden sich relativ viele Elemente aus dem Sport und Freizeitkleidungsbereich in der Kleidung der Techno-Szene wieder. Auffallend – und das ist das Besondere – ist die willkürliche, bunte Vermischung verschiedener Stilrichtungen an ein und derselben Person. „Daneben tragen die Jungs und Mädchen auf ihren „Rave“-Parties – allen voran die Berliner Love Parade – schrille, bunte Klamotten: High-Tech-Stoffe für gummierte Hosen, lackierte Röcke, Shirts mit Spaß-Slogans und Comic-Prints in quietschigen Knallfarben“ (Spieler 1999, 139). Im Gegensatz zu früheren Jugendkulturen, wie den Mods, Teds, Punks, den Poppern und Hippies – aber auch zu den heutigen Szenen wie z. B. der HipHop-Szene oder der schwarzen Szene, lässt sich die Technokleidung nicht so leicht kategorisieren. Denn die ‘Techno-Mode’ gibt es nicht. Die Stilvarianten der Kleidung und besonders der Accessoires sind so facettenreich wie die Szene selbst. Neben der im Mainstream typisierten Technokleidung entwickelten sich die verschiedensten Undergroundszenen mit ihren entsprechenden Stilvarianten. Das Neue an dieser Bekleidungskultur ist die aus dem Sport entliehene Clubwear wie z. B. Trikots, Trainingshosen und Jacken mit den typischen Adidas-Streifen und Turnschuhen. Sie werden gleichermaßen von Männern und Frauen getragen. Natürlich finden sich in dieser Szene auch die altbekannten Klassiker wie Sweatshirts und T-Shirts wieder, ohne die wohl keine Szene-Kleidung gleich welcher Couleur auskommt. In der Techno-Szene sind sie häufig mit Glanzeffekten ausgerüstet oder mit grellen Leuchtfarben bedruckt. Eine besondere Rolle spielen
7.1 Die Techno-Szene: Ein Beispiel der Verschiebung eindeutiger Geschlechterpolaritäten
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auch reflektierende Labels und Alien-Symbole. Der Internationalität dieser Szene entsprechend, bekommen bestimmte Aufdrucke, Labels und Symbole, die für kurze Zeiträume nur in London oder anderen Metropolen auf dem Markt sind, eine besonders große Bedeutung. Durch sie kann man zeigen, wann und wo man die letzten Wochenenden verbracht hat und auf welchen Raves man mitgetanzt hat. „Wie eine Trophäe wurden simple Shirts mit Smiley-Aufdruck vom Wochenend-Trip aus London mitgebracht“ (Spieler 1999, 139). Sichtbar wird an dieser Verhaltensweise die große Bedeutung der medialen Vermittlung jugendlicher Szenen. Denn ohne sie, sei es nun über das Fernsehen und dort besonders in den speziellen Musiksparten-Kanälen, über Video und Computer oder über „Medienorte“ (Baacke) wie Discotheken und Kino, wäre die Entschlüsselung der speziellen Zeichen und Symbole der Stil-Accessoires vielen Jugendlichen nicht möglich. Erst über die Globalisierung durch Medien werden die speziellen Zeichen und Stilmerkmale für eine breite Masse zugänglich und dechiffrierbar und das in einem immer schneller werdenden Tempo. Auffällig ist bei der Betrachtung der Techno-Kultur die Kommerzialisierung einzelner Techno-Stil-Merkmale, aber nicht die Aufhebung und Entwertung des gesamten Stilbildes. Es ist vielmehr zu beobachten, dass die wesentlichen Stil-Merkmale, die dem Techno zuzuordnen sind, bestehen bleiben, während einzelne Stil-Accessoires wie Modetrends kurzfristig in Erscheinung treten und dann wieder verschwinden. Bezogen auf die SmileyAufdrucke bedeutet dies: Nur ein paar wenige können sich Trophäen dieser Art leisten, da für so einen Wochenend-Trip, auf dem sie zu erstehen sind, ein gewisses Geld- und Zeitpotential gegeben sein muss. Der Bedeutungsgehalt der Zeichen ist somit erst einmal nur wenigen zugänglich und bekannt. Das Zeichen symbolisiert noch das Außergewöhnliche in dem Sinne: Ich war da, wo du nicht warst und gibt dem Träger das Gefühl des Besonderen und die Möglichkeit, sich von anderen abzugrenzen. Über Medien vermittelt wissen immer mehr um den Bedeutungsgehalt. Die Kommerzialisierung hat begonnen. Nach kurzer Zeit gibt es SmileyAufdrucke überall und der Bedeutungsgehalt des Besonderen ist aufgehoben. „Die Dechiffrierung der Zeichenwelten von Jugendkulturen ist also mit dem Problem konfrontiert, dass die dauerhafte Verwendung eines Zeichens keineswegs auch die Konstanz des damit Bezeichneten impliziert“ (Vollbrecht 1995, 34). Ähnlich ging es auch einigen Modemachern von Clubwear wie z. B. den Herstellern Stüssy, Box Fresh und den speziell Technomarkenherstellern Vision, Bording, Sabotage und Velvet Monkees. War es 1993 noch etwas Besonderes, eines der legendären T-Shirts von Stüssy zu tragen, so konnte man nur zwei Jahre später
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
kaum noch etwas damit symbolisieren. „Im Club- und Streatwear Bereich ist selbst eine Halbwertszeit der Marken von einem halben bis zu einem Jahr gering“ (Richard 2005, 7 f.). Viele dieser Hersteller existieren heute nicht mehr. Mit zunehmender Kommerzialisierung entstand ein immer größer werdender Mainstream, der der Szene ihre Authentizität beraubte, was jedoch nicht zu ihrem Untergang führte, sondern zu einer Diversifizierung in die unterschiedlichsten Underground-Szenen. Dies ist unter anderem ein Beispiel dafür, wie Jugendliche sich dem Angebot und den Praktiken der Kulturindustrie entziehen und diese im Sinne ihrer eigenen Ästhetik weiterentwickeln. „Die Kulturindustrie macht also gerade durch ihre Allgegenwärtigkeit und Unentrinnbarkeit für viele Jugendliche eine Chance greifbar, Alltagskultur aktiv mitzugestalten bzw. als Ausdruckmittel zu benutzen“ (Vollbrecht 1995, 35). Des Weiteren ermöglichen „… Medien auch virtuelle oder imaginierte Szene-Zugehörigkeiten, wobei die jeweiligen Symbole für Zugehörigkeit symbolisch angeeignet oder im weiten Feld der Merchandising-Produkte auch von einzelnen erworben werden können, die keiner Szene ‘real’ angehören“ (Vollbrecht 1995, 35). Schon die ersten Vorläufer von Techno, Acid oder House, die 1988 zum ersten Mal über London in die Metropolen des Kontinents gelangten, waren sehr unterschiedlich. So verschieden wie die Musik, so unterschiedlich etablierten sich die jeweiligen Szenen mit ihrer entsprechenden Kleidung, wobei sich die Abgrenzungen „in kleinen stilistischen, aber nicht minder bedeutungsvollen Abweichungen“ (Richard 2005, 1) vollziehen. In manchen Städten begann die Ausdifferenzierung in bereits bestehenden Clubs, was sich stark auf die jeweilige Techno-Musik und deren Stilentwicklung auswirkte. In anderen Städten entstanden völlig neue Clubs, legale wie illegale. Schon diese anfängliche Heterogenität in der Entstehungs geschichte des Techno führte zu einem sehr unterschiedlichen Verständnis und zu vielen Interpretationsvarianten. „Da gab es einerseits den Frankfurter ‘TechnoClub’ in der Flughafen-Glitzerdisco ’Dorian-Gray’, dessen Protagonisten einen explizit europäischen EBM- und Industrial-Background hatten. Das Publikum stand Gothic und Grufti weitaus näher als jeglicher Spielart von Soul-orientierter Tanzmusik“ (Niemczyk 1999, 298). Der Inhomogenität der Musik entsprechend, spiegelt sich diese Tendenz auch in der Kleidung wieder. So konnte man 1992, wie auf den Fotos zu sehen ist, in den Discotheken der Provinz zu Techno tanzende Gruftis finden, während auf der anderen Seite schon Ende 1991 die Gruppen L.A. Style und T99 mit ihrem „Proll-Techno“ hoch in den deutschen Charts standen. Nach Niemczyk scheint es zu den tragischen Gesetzmäßigkeiten aller Pop-Bewegungen zu gehören, dass die Hochphasen der Kreativität und ihre marktmäßige Ver-
7.2 Das Spiel mit den Weiblichkeitsbildern
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breitung immer nur Augenblicke voneinander entfernt liegen. „Aus dem kompromisslosen, harten Soundexperiment war stumpfe, dumpfe Marschmusik über 135 Bpm geworden, zuweilen angereichert mit wagnerianischem Bombast“ (Niemczyk 1999, 301). Doch neben aller Kommerzialisierung differenzierten sich die einzelnen Szenen weiter auseinander und bestehen nebeneinander, wie die Fotos und deren Beschreibung in dem Bildteil zeigen.
7.2
Das Spiel mit den Weiblichkeitsbildern
Viel Haut wird gezeigt. Geschmückte, gepiercte, bemalte und gebrandete Haut. Bauchfreie Tops, hautenge Hotpants, enge Hüftjeans und super kurze Minis enthüllen mehr, als dass sie verhüllen. Die jungen Frauen im Hemdchen mit Spagettiträgern, in Bustiers, Bikini-Oberteilen oder BHs, scheinen ein altes bekanntes Spiel zu spielen, ein Spiel, das so manchen Frauen wie ein Rückschritt erscheinen muss, diese Wiederholung des Spiels mit den weiblichen Reizen. Das Girlie-Bild dominiert in der Techno-Szene. Aber das Girlie, das den weiblichen Körper so offensiv zur Schau stellt, negiert das Weibliche zugleich durch die Kombination infantilisierender Accessoires. Schnuller, Plastikperlenketten, Teddybärchen, Spielzeuge aller Art, Kirmesbrausekettchen und die allgemein verbreitete „Kultivierung des schrillen kindlichen Geschmacks“ (Richard 2005, 12) stehen für den offensiven „Rückzug aus den Weiblichkeitsbildern für erwachsene Frauen“ (ebd.). So deutet Richard das prä-pubertäre und prä-sexuelle Outfit des Girlies als autonomen und unschuldigen Umgang mit gängigen Körperpraxen. „Dadurch, daß sie sich selbst dem kindlichen Bereich zuordnen, zeigen sie das Bedürfnis, in Ruhe gelassen zu werden“ (ebd.) und das Bestreben, aus einer übersexualisierten Gesellschaft zu entfliehen. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der in der Deutung des GirlieBildes nicht vernachlässigt werden darf, liegt in der Sozialisationstheorie begründet, die besagt, dass die jungen Mädchen an der Schwelle des Übergangs zu jungen Frauen spezifische sozialisatorische Schritte vollziehen und durchleben müssen, die auch die Entdeckung des weiblichen Körpers implizieren. So changiert das GirlieKörper-Bild zwischen einem kindlich-mädchenhaften und einem weiblich-sexualisierten Erscheinungsbild, dass die Ambivalenz der physisch-psychischen Entwicklung wiederspiegelt. „Demnach befinden sich die ‘Girlies’ in ihrer Wiederbetonung sexueller weiblicher Aspekte, die für sie Weiblichkeit bedeuten, in einer Phase des Übergangs zu einer selbstbewussten, auch kindlichen Weiblichkeit“ (Bombek 2003, 209).
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
Das Girlie-Bild, gezeichnet aus der Kombination Trägerkleidchen/Boots, kann aber auch dahingehend gedeutet werden, dass sich die jungen Frauen sehr wohl ihrer Weiblichkeit bewusst sind. Durch die Kombination von Trägerkleidchen mit Plateauschuhen oder Boots zeigen sie, dass sie auch zutreten können, wenn es denn sein muss, also dass sie, trotz des Bewusstseins ihrer Weiblichkeit, die sie über ihre Kleidung inszenieren, sich ihrer Stärke bewusst sind, jenes Attributs, dass traditionell mit männlich konnotiert wurde. Das über die Kleidung symbolisch inszenierte Spiel zwischen Girlie und Domina verweist auf die Vielschichtigkeit von Weiblichkeitsbildern und zeigt, dass sich die jungen Frauen nicht auf eine eindeutige Identität festlegen, sondern eher spielerisch die Maskeraden von Weiblichkeit aufführen. Dadurch öffnen sie den Möglichkeitsspielraum, subversive Kräfte frei zu setzen, und das Potential die, Eindeutigkeit von Geschlechtsidentitäten über die textile Metaphorik in Frage zu stellen. „Denn selbst das Spiel eröffnet Erfahrungsräume jenseits traditioneller Geschlechternormen: indem es Geschlechterkonfigurationen vervielfältigt und dadurch eindeutige Geschlechtsidentitäten destabilisiert“ (Klein 2004, 161). Aus der offensiven Zurschaustellung und Übertreibung der traditionellen Weiblichkeitsbilder kristallisieren sich möglicherweise neue Körperbilder, die den vielfältigen Metamorphosen zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit gerecht werden. Dass dieser Prozess nicht nur als problematisch erlebt wird, sondern durchaus auch mit Freude, Spaß, Humor und Ironie, wird aus den Fotografien ersichtlich, auf denen die jungen Frauen und Männer ihr Verständnis von geschlechtlichen Körperbildern repräsentieren. Denn es werden ja nicht nur die Körper der Frauen sexualisiert, sondern auch die der Männer. So tragen die Männer enganliegende Hosen, Bodies, durchsichtige Hemden oder Netzhemden. Des Weiteren haben viele Kleidungselemente aus der homosexuellen Szene Eingang in die Kleidung der Raver und Clubber gefunden. Stoffe wie Lurex, glänzende Synthetiks und elastische Materialien schmiegen sich an den männlichen Körper und lassen die männliche Figur zum Objekt des Begehrens werden. Mit Lack und Leder, Latex und Accessoires aus der S/M-Szene, Schmuck und Schminke, Tüll und TüTü wird der Mann aus dem Stoff – aus dem die Träume sind – enthüllt. Dies sind Bilder praktizierter Gender-Wirklichkeiten, in denen mit den verschiedenen weiblichen und männlichen Geschlechtsidentitäten auf gänzlich neuartige Weise gespielt wird.
7.2 Das Spiel mit den Weiblichkeitsbildern
Abb. 16 Quelle: privates Archiv
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
Abb. 17 Quelle: privates Archiv
7.2 Das Spiel mit den Weiblichkeitsbildern
Abb. 18 Quelle: privates Archiv
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
Abb. 19 Quelle: privates Archiv
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Abb. 20 Quelle: privates Archiv
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
Abb. 21 Quelle: Christian Jahnbaszek http://www.techno.de-info
7.2 Das Spiel mit den Weiblichkeitsbildern
Abb. 22 Quelle: privates Archiv
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7.2.1
7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
Crossdressing-Tendenzen als Beispiel für Entgrenzung und Grenzüberschreitungen geschlechtlicher Identitäten Abb. 23 Quelle: Christian Jahnbaszek http://www.techno.de-info
Abb. 24 Quelle: Christian Jahnbaszek http://www.techno.de-info
7.2 Das Spiel mit den Weiblichkeitsbildern
Abb. 25 Quelle: Spiegel special 11/1994, S. 21
Abb. 26 Quelle: Christian Jahnbaszek http://www.techno.de-info
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
7.3
Die HipHop-Szene: Ein Beispiel männlich dominierter Jugendszenen
7.3.1
Zur musikgeschichtlichen Entwicklung von Rap und HipHop „Um Hip-Hop völlig zu verstehen, braucht man wahrscheinlich einen Abschluss in Soziologie, mehrere Knastaufenthalte und ein Gefühl für afrikanische Rhythmen.“ (Nelson 2002)
Die Bezeichnung HipHop entstammt der amerikanischen Popkultur, die als Subkultur der afroamerikanischen und hispanischen Großstadtjugend begann. Charakteristisch für die HipHop Bewegung sind der Sprechgesang Rap, die Sprühdosenkunst Graffiti und die Tanzform Breakdance. Der musikalische Beginn von HipHop liegt ungefähr in der Mitte der achtziger Jahre und ist eine Weiterentwicklung des Musikstils Rap (amerikanischer Slang: quasseln), der Ende der siebziger Jahre aufkam. Typisch für diese Musikrichtung ist der Schnellsprechgesang, der den schwarzen Disc Jockeys nachgeahmt wurde. Der Text wird stark rhythmisiert gesprochen, die Melodie tritt in den Hintergrund. Die Stimme wird im Rap wie das Schlagzeug benutzt und bestimmt den Rhythmus, der Gesang erhält dadurch perkussiven Charakter. Unterschieden wird zwischen free style rap, bei dem die Rapper sich ihre Texte spontan und frei ausdenken, und dem Rap mit vorformulierten Texten wie zum Beispiel dem gangsta rap, hardcore rap und huren rap. Die Weiterentwicklung vom Rap zum HipHop fand mit Hilfe von Computern statt. Kennzeichnend für ein HipHop Stück ist die Kombination eines mit einem Drum-Computer erzeugten Beats mit entliehenen Musikzitaten aus alten Rock-, Soul- oder Funkplatten und dem rasanten, teilweise aggressiven Sprechgesang der Rapper. Sowie der Rap Ausdruck eines neuen afroamerikanischen Selbstbewusstseins ist, verstehen sich viele HipHop-Vertreter ursprünglich als politisch agierendes Sprachrohr gegen Rassismus und Ungleichheit. In der South Bronx von New York experimentierten schwarze Teenager mit den unterschiedlichsten Musikstilen wie z. B. Kool Herc, der die sogenannten Breakbeats entwickelte. Er vermixte kurze Schlagzeugparts und Breaks von zwei gleichen Platten oder mit anderen Musikstilen. Mit zwei Plattenspielern und einem Mischpult kreierte er aus zwei gleichen Platten völlig neue Stücke von besonderer rhythmischer Intensität. Dadurch dass er die identischen Kopien einer Platte benutzte, konnte er mit Hilfe der zwei Plattenspieler endlos zwischen den einzelnen Breaks hin und her wechseln. Diese Version nannte er Break Beat. Die neue Art des Mixens
7.3 Die HipHop-Szene: Ein Beispiel männlich dominierter Jugendszenen
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fand immer mehr Anhänger und technische Weiterentwicklungen wie die von Joseph Saddler (eingegangen in die HipHop-Musikgeschichte unter dem Namen Grandmaster Flash). Er war auch ein Bronx-Bewohner jamaikanischer Abstammung und entwickelte ein Mischpult mit Vorhöreinrichtung, mit dessen Hilfe er einen ganz bestimmten Musikpart über eine laufende Platte ein- oder ausblenden konnte. Eine weitere typische Technik, die zum HipHop gehört, ist die des scratchens. Hierbei wird die Platte vom Disk Jockey vor- und zurück gedreht, wobei die Nadel in der Rille liegen bleibt. Die dadurch entstehenden Geräusche können den Track auf dem anderen Plattenspieler wie Perkussionsinstrumente interpunktieren. Ein großer Anhänger von Kool Herc war Africa Bambaataa, dessen Single ‘Planet Rock’ von 1982 mittlerweile zu den HipHop-Klassikern gehört. Mit seiner Gründung der Zulu Nation band er die Jugendlichen aus der Nachbarschaft in eine Crew ein, die zwar so organisiert war wie die ehemaligen gewaltbereiten Gangs, sich aber nicht mit Gewalt messen wollte, sondern mit rappen, Graffiti sprayen und tanzen. Über den Zusammenschluss von den verschiedensten Rappern, Sprayern und Breakdancern entwickelten sich regelrechte Wettbewerbe in diesen HipHop-Disziplinen. Die überall herrschende Gewaltbereitschaft wurde von den Straßen zurückgedrängt und Rivalität über das Medium Musik ausgetragen. Auf Gemeinschaftspartys in den öffentlichen Parks oder zwischen den Sozialbauwohnblöcken kam es zu den Battles (Schlachten), auf denen sich die DJs mit ihren Sounds maßen. Sie grüßten ihre Freunde, priesen ihre eigene Kompetenz an und verspotteten ihre Gegner. Dabei achteten sie immer darauf, dass die vorhandene Spannung unterhalb den verschiedenen Gruppierungen und Gangs nicht eskalierte. Anfang der achtziger Jahre wurde der verbale Teil der Musik immer wichtiger. Das Gewicht verlagerte sich zunehmend auf die MCs (die Mike Controller oder Masters of Ceremonies), die in der Tradition des Jive Talk schwarzer Radioansager der fünfziger Jahre coole Sprüche auf ihr Publikum losließen. Bei den rhyme-battles ging es um Wortgewandtheit, verbale Vorherrschaft und Schlagfertigkeit. Das Publikum wurde angeheizt mit Geschichten aus ihrer Umgebung, mit Prahlereien über sich und ihre Gangs. Außer den DJs und MCs konnten auch die Sprüher und Tänzer auf den Gemeinschaftspartys ihre Kräfte messen. In den Anfangsjahren der HipHop Bewegung gab es noch keine Platten. Lediglich einige Kassettenmitschnitte von Live-Auftritten waren im Umlauf. Die erste erfolgreiche HipHop Platte (Rapper’s Delight) kam 1979 auf den Markt. Durch Zufall hörte Sylvia Robinson, Mitbesitzerin des Sugar Hill-Labels aus New Jersey, das Tape von Bronx-Rapper Grandmaster Caz, zu dem in einer Pizzeria ein Kellner rappte. Sie engagierte ihn und schuf zusammen mit Big Bank Hank, Wonder Mike und Master Gee die Sugar Hill Gang. Die Single Rapper’s Delight, schon zu dieser
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
Zeit eine verwässerte Version des ursprünglichen HipHop aus der Bronx, verkaufte sich über zwei Millionen mal. Nach dem Erfolg von Rapper’s Delight bekam das Label Sugar Hill einen immer größer werdenden Zustrom von Rap Acts wie z. B. die Treacherous, Spoonie Gee oder Grandmaster Flash & the Furious Five, die zunehmend die materielle, soziale und psychische Depression der schwarzen Jugendlichen in den Ghettos sowie die überall herrschende Aggressivität und Gewalt thematisierten. Trotz dieser Missstände war die allgemeine Botschaft der Old School Rapper die Rückbesinnung auf die Kultur der Schwarzen, auf ihren Stolz und ihre Disziplin. Die schonungslosen und hart formulierten Beschreibungen der unerträglichen Zustände in den Ghettos schlugen jedoch zum Teil auch ins Gegenteil um. Der Gangsta Rap glorifizierte in seinen Texten Gangster- und Zuhälterstrukturen. Ob die Texte Ausdruck von Provokation sind oder Aufruf zum Handeln ist nicht immer eindeutig erkennbar. Aus diesem Grund sind einige der Musiker in den Ruf der Gewaltbereitschaft geraten, was jedoch von den Einzelnen abgestritten wird. Nach ihrer Meinung spiegelt die brutale Sprache in den Texten den normalen Alltag vieler Schwarzer wider. Nachdem sich jedoch die Zeilen eines Rap Songs „Burn, Hollywood, burn / smell a riot goin’on / first they’ re uilty now they’ re gone“ sich verwirklichten und 1992 Krawalle in Los Angeles entbrannten, wurde in den weißen Medien diskutiert, ob der Gangsta-Rap Ursache der zunehmenden Gewalttätigkeit von Jugendlichen sei. NWA hatten mit Songs wie ‘Fuck the Police’ die Charts erobert, und ihr früheres Mitglied Ice Cube sorgte mit seinem Songtitel ‘We had to tear this motherfucker’ für zusätzlichen Sprengstoff. Doch wie so oft sollte die einzige Folge der medienwirksamen Diskussion im Anstieg der Verkaufszahlen liegen. Diese Entwicklung nutzten ehemalige Gangster, wie z. B. Suge Knight und Eazy E, indem sie ihre illegalen Profite in diversen Plattenfirmen investierten. Um sich in der Rangordnung des Ghettos durchzusetzen, findet in den Gangsta-Texten eine Repräsentation der chauvinistischen Ideale statt, die zu dem Trend der Renaissance männlicher Werte passt. Der amerikanische Musikpublizist George Nelson erklärt sich diesen Chauvinismus und die Frauenfeindlichkeit aus der Tatsache, dass die schwarzen Frauen vorwiegend den Sprung aus ihrem Milieu gefunden haben und sich aufgrund ihrer Ausbildung in die Mittelklasse hochgearbeitet haben, während sich ihre Männer weiterhin als Analphabeten verdingen mussten. „Songs wie ‘They Want Money’ von Kool Moe Dee oder ‘Sophisticated Bitch’ von Public Enemy, die Frauen als geldgierig und eingebildet darstellten, machten die Minderwertigkeitkomplexe schwarzer Männer offensichtlich“ (Neue Züricher Zeitung, 1999). Die Frauen werden in den Texten für die Gewalt im Ghetto verantwortlich gemacht, da sie durch ihre Geldgier und
7.3 Die HipHop-Szene: Ein Beispiel männlich dominierter Jugendszenen
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Berechnungen die Kriminalität der Männer bedingen. Da scheint es aus der Sicht der Männer legitim, Frauen zu diskriminieren. Nach Jacob polarisiert der Rap jedoch lediglich hemmungslos und ohne jegliches aufklärende Moment. In seiner Interpretation überträgt Rap lediglich die kriminellen Züge aus denen er entstanden ist. „Die Ordnung im Zuhältermilieu transformiert die Prinzipien bürgerlicher Herrschaft in unmittelbare Gangsterherrschaft und setzt die Bürgerlichkeit fort. In Deutschland wäre es einem Zuhälter wahrscheinlich nicht möglich durch die Veröffentlichung einer Schallplatte eine Karrierealternative einzugehen. In den USA, wo eine Million Menschen rassifiziert werden, sind solche Alternativen eher normal“ (Jacob 1994, 128).
Im allgemeinen Medienrummel um Gewaltverherrlichung oder nicht und um den ästhetischen Streit von Rap zwischen Ost und Westküste setzt sich schließlich Sean Puffy Combs, der nicht nur ein eigenes Label führt, sondern auch selber rappt, als führender HipHop-Produzent durch. Trotz aller Gewalt und allen Buisiness-Wirren setzen sich seine radiofreundlichen Ohrwürmer entsprechend der musikalischen Ästhetik des ‘weißen Marktes’ durch und garantieren dadurch seinen finanziellen Erfolg. Damit hatte der HipHop den Mainstream erreicht und etablierte sich zunehmend nicht nur in den US-Charts, sondern auch in den europäischen Hitlisten. Die eigentlichen Innovationen und Differenzierungen innerhalb der verschiedenen HipHop-Szenen fanden und finden jedoch weiterhin im Underground statt. Erstaunlich ist für Nelson, wie weitreichend der HipHop sich in Europa verbreitet und durchgesetzt hat. „ Es ist 1995, und ich bin in einem Nachtklub in Zürich. Der Raum ist vollgepackt mit Teenagern und jungen Erwachsenen in Schlabberhosen, T-Shirts und Stussy-Mützen. Bleiche, magere Mädchen schwingen ihre schlanken Hüften und nackten Bäuche mit dem Enthusiasmus von Sisters in Brooklyn. HipHop hat auch hier seine Spuren hinterlassen – Graffiti sind über die Mauern der ganzen Stadt verstreut“ (Nelson, zit. aus Neue Züricher Zeitung 1999).
7.3.2
Zur musikgeschichtlichen Entwicklung von Rap und HipHop in Deutschland
In Deutschland dringt HipHop durch den Film Graffiti Wild Style von 1982 in das Bewusstsein der Jugendlichen. Zum ersten Mal wird HipHop in seiner Gesamtheit als Lebensentwurf dargestellt, wozu Rap, Breakdance und Graffiti-Sprühen gehören. Für einige Jahre wird HipHop mit Liedern von Falco, Spliff und den Fantastischen Vier zum Trend der Massenkultur. Auf den ersten Blick scheint die Szene in Deutschland relativ einheitlich und unpolitisch zu sein. Die meisten Texte beziehen sich auf
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
Themen wie Jungs, Mädchen, Liebe, Beziehungen, Spaß und Freizeit. Die fantastischen Vier machen HipHop mit ihrem Song „die da“ massenkompatibel. Ihnen geht es in den Texten nicht um gesellschaftspolitische Gegebenheiten, sondern um Jungs, die Mädchen knutschen wollen. Jenseits der Hitparaden entwickelt sich parallel dazu eine eigene, sich immer weiter diversifizierende Szene im Untergrund. Diese Szene trifft sich in Jugendzentren und auf HipHop-Jams. Auffällig ist der relativ hohe Anteil von nicht deutschstämmigen Jugendlichen. HipHop und Rap bieten ihnen eine Möglichkeit, sich zu ihrer speziellen Situation in Deutschland zu äußern. Alle Bands rappen in ihrer Muttersprache und greifen Themen auf, die sie berühren. 1992 beginnen einige Bands nach den Vorfällen in Hoyerswerda politische Texte zu machen. Sie wenden sich gegen Rassismus, Diskriminierung und Faschismus.
7.4
Klassifizierung der HipHop-Kleidung in Old School und New School
In den 90er Jahren lassen sich im Bekleidungsverhalten der HipHopper zwei Tendenzen erkennen, die Klassifizierung in „Old School“ und „New School“. Zur New School gehören diejenigen, die sich aus dem mittlerweile marktgängigen Angebot, das speziell für diese Jugendlichen konzipiert wurde, ihre Kleidung auswählen. Zur Old School rechnen sich diejenigen, die diese Vermarktung bewusst meiden und sich ihre Kleidung individuell aus Secondhandshops und Flohmärkten zusammenstellen.
7.4.1
Das Bekleidungsverhalten innerhalb der New School-Szene
Zur typischen Kleidung der ersten Gruppe gehören bequeme, extrem breite und teilweise mit sogenannten fadmakern (Polster aus Schaumstoff, die unter den Spann gelegt werden) unterlegte Turnschuhe der Marken Globe, Nike und Adidas, bei denen die Schnürsenkel entweder offen bleiben oder locker zusammengebunden unter die Zunge des Spanns gesteckt werden. Des Weiteren gehören zu dem Angebot extrem weite Hosen, die auf den Hüften getragen werden und bei denen der Schritt bis zu den Kniekehlen verlängert wurde. Auch die dazugehörigen T-Shirts und Sweatshirts sind oftmals überlang und extrem weit geschnitten. Die Jugendlichen, die den HipHop Stil für sich adaptieren, beziehen ihre Kleidung in speziellen Geschäften, die oftmals auch Angebote für Skater vermarkten. Diese Jugendlichen sind jedoch nicht ausschließlich der HipHop-Szene zugehörig. Sie
7.4 Klassifizierung der HipHop-Kleidung in Old School und New School
163
vermischen sich mit den Skatern oder mit den Jungen, die vorwiegend Interesse an Basketball haben. Hinzuzufügen ist an dieser Stelle, dass auch unter den Skatern Abgrenzungen untereinander stattfinden. So haben sich, nachdem Rollerskaten eine Massensportart für jedermann geworden ist, einige kleine Szenen herausgebildet, die sich wieder auf das schwerer zu erlernende Skateboard Fahren besannen. Ihnen ist zumindest sicher, dass keine 40-jährigen versuchen, sie nachzuahmen. In den Anfängen der Skaterszene wurden Musikstile gehört, die dem Hardcore zuzuschreiben sind. Hardcore ist eine Protestbewegung von speziell weißen Jugendlichen. Nach und nach wurde aber immer mehr HipHop und Rap in der Szene gehört. Zweckverbunden waren bei den Skatern die extrem weiten und bequemen Hosen, T-Shirts und Sweater. Die ersten Hersteller dieser Sportswear waren Firmen, die ursprünglich durch die Herstellung und den Verkauf von Skateboards bekannt waren. Die amerikanischen Sportartikelhersteller lieferten zu ihren Skateboards passende Turnschuhe, die den erforderlichen Ansprüchen entsprachen. Sie zeichneten sich durch eine sehr rutschfeste, weiche Sohle mit geringem Profil und einem extra gepolsterten Spann aus. Die schon erwähnten fadmaker, ursprünglich als zusätzlicher Schutz zur Vermeidung von Verletzungen gedacht, wurden später entweder als modische Attitüde getragen, oder wenn man in die Schuhe, die nur ab Größe 37/38 erhältlich waren, noch nicht hineinpasste.
7.4.2
Das Bekleidungsverhalten innerhalb der Old School-Szene
Jugendliche, die nicht den marktgängigen Stil kaufen, stellen ihre Kleidung aus Secondhandshops, klassischen Artikeln aus dem Sport und Freizeitbereich und der 70er Jahre Mode zusammen. Sie sind zu den Vertretern der Old School zu rechnen, die besonderen Wert auf all diejenigen Dinge legen, die die Anfänge des HipHop prägen und symbolisieren. Dazu zählen die Trainingsjacken von Adidas aus den siebziger Jahren und die gleichnamigen Turnschuhe mit den drei weißen Streifen. Diese Artikel hatten einen gewissen Kultstatus erreicht, da sie nicht mehr im regulären Handel zu kaufen waren. Die Kleidungsstücke der Old School, die in der HipHopUndergroundszene getragen werden, sind identisch mit den Originalen der schwarzen New Yorker Kids. Die HipHopper der Old School grenzen sich durch ihre Kleidung bewusst von all jenen ab, die den HipHop-Stil für sich adaptieren und ihn – wie jede andere Mode – während einer kurzen Zeitspanne tragen, um danach zum nächsten trendigen Stil zu wechseln. Zu den weiteren Artikeln der Old School gehören Kapuzensweatshirts, Daunenjacken und als Accessoires Goldketten und Kreuze sowie in den Anfängen auch Basketballkappen. Die Ursprünge dieser
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
Kleidungsstücke liegen in ihrer Zweckmäßigkeit. Kapuzensweatshirts dienten zur Vermummung der Sprayer bei nächtlichen Graffiti-Aktionen und die vorn aufgesetzten Taschen boten den nötigen Stauraum für die Spraydosen. Die Turnschuhe waren das ideale Schuhwerk zur Flucht. Zum Ursprung der überlangen und weiten Hosen gibt es zwei Theorien. Der eine wird in den allherrschenden gewalttätigen Auseinandersetzungen gesehen. Zwar versuchten einige der HipHop-Anhänger, das Gewaltpotential über die Musik zu kanalisieren, doch die oftmals blutigen Auseinandersetzungen fanden weiterhin statt. Um die teilweise großkalibrigen Waffen vor der Polizei zu verstecken, waren die weiten Hosen sehr nützlich. Sie wurden zwischen Gürtel und Körper gesteckt und von den weiten T-Shirts und Sweatern verdeckt. Der andere Ursprung wird in den gängigen ‘Knast’-ritualen der USA gesehen, bei denen allen Gefängnisinsassen die Gürtel abgenommen werden und die Hosen dadurch auf die Hüfte rutschen. Mehr als ein Accessoire waren auch die unterschiedlichen Basketballkappen, die die Zugehörigkeit zu bestimmten Sportvereinen und zu Basketballidolen symbolisierten. Auch die überdimensional großen Goldkreuze dienten nicht nur allein als Schmuckstücke, sondern greifen auf die musikalischen Ursprünge des HipHop zurück, und zwar den Gospelgesang, der in den Gottesdiensten der schwarzen Gemeinden eine wichtige Rolle – in ihrer Sozialisation als Schwarze – spielte. Besonders zum Tragen kommen diese sakralen Ursprünge im Soul Rap, wo sich viele Rapper als Sprachrohr der Schwarzen verstehen und mit ihren Texten an die traditionelle Erzählform der Geschichtenüberlieferung, der oral history, anknüpfen. Auch sie haben ihre Botschaft, wenn diese auch nicht unbedingt religiöser Art ist.
7.4.3
Diversifizierungen innerhalb der HipHop-Szene
In diesem Abschnitt soll am Beispiel der HipHop-Szene in Hannover dargestellt werden, inwieweit sich eine Jugendkultur, die international verbreitet ist, in immer kleinere Gruppen, Gangs und Szenen ausdifferenziert und dort ihre individuellen Ausdrucksformen findet, sei dies nun über die Vorliebe spezieller Musikgruppen oder über das Bekleidungsverhalten. Die ‘hannoversche’ HipHop-Szene unterteilt sich Mitte der 90er Jahre in vier große Gruppen: 1. Die Sprüher; Sie hören vor allem HipHop Underground und Hardcore (hauptsächlich aus der List kommend). 2. Die Brit Cors; Sie hören überwiegend den „totalen Hardcore“ (O-Ton Michael 1993) mit teilweise eingelagerten Technobeats (aus der List und Nordstadt kommend).
7.4 Klassifizierung der HipHop-Kleidung in Old School und New School
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3. Die Proll Rapper; Sie hören meist nur „Disco-HipHop“ und setzen sich nur oberflächlich mit der Musik auseinander (aus Vahrenheide und Linden kommend). 4. Die autonome Szene; sie sind aus der einstigen Heavy Metall Szene umgestiegen auf HipHop (vorwiegend aus der Nordstadt kommend). Zu dem „harten Kern der HipHop-Szene gehören in Hannover ca. 80–100 Leute“ (O-Ton Michael 1993), die sich von den oben genannten Szenen abgrenzen, vor allen Dingen aber von den ‘Wochenend-HipHoppern’, die freitags- und samstags Nacht aus den umliegenden Dörfern anrollen“ (O-Ton Michael 1993). Bei den Kids hören fast alle HipHop, also Brake-Dancer, Sprayer (Sprüher), Rapper und Skater. Die ‘absolute HipHop-Szene’ in Deutschland kommt vorwiegend aus dem Raum Heidelberg und Frankfurt. Dort finden sich die Musikgruppen zusammen wie z. B. Grandmaster Flash oder Aafricaan Baambaataa. Erfunden wurde der HipHop von der Musikgruppe Zulu Nation (in Anlehnung an den schwarzen Stamm Zulu in Südafrika). Als Mekka für die, die eine „Platte“ herausbringen wollen, gilt England mit dem Label SPV, welches als das ‘absolute’ Label für Underground gilt. Das gleiche trifft in Deutschland für Hamburg zu. So kommen zum Beispiel viele Gruppen nach Hamburg, „weil sie in England von den Produzenten (außer SPV) voll abgezogen werden“ (O-Ton Michael 1993). Derzeit gilt HipHop als einzige Musik, in der Aggressionen, Wut und Frust ausgelebt werden können. Die HipHop-Hardcore Anhänger verhalten sich auf Veranstaltungen und Konzerten teilweise sehr brutal. Sie schlagen mit Baseballschlägern (eins der Symbole der Gruppe naughty by nature) in die Menge oder „tanzen den Pogo“ (O-Ton Michael 1993). Bei einer Veranstaltung in Hannover kamen z. B. drei Busse aus Berlin mit den „T 36 Boys“ (die 36 leitete sich aus der damals noch geltenden Postleitzahl Berlins ab). Zu erkennen waren sie an der auf dem Rücken der Bomberjacken abgebildeten 36. Dort „zogen sie einem Proll-Rapper auf dem Klo die teure Bulls-Jacke ab“ (O-Ton Michael 1993). Diese Brutalität und Aggressivität wird auch von denen, die sich davon distanzieren, nicht nur als „schlimm“ oder „schrecklich“ empfunden, sondern „macht manchmal Spaß“ (O-Ton Michael). Hinzuzufügen ist an dieser Stelle, dass es nicht nur bei Veranstaltungen zu körperlichen Auseinandersetzungen kommt, sondern auch, wenn Sprüher – wie z. B. der Sprüher Smash aus Hannover – fremde ‘Reviere’ mit ihren Graffitis besprühen. Für die eigentlichen Freaks, zu denen sich die Brit Cors, die Sprüher und die Autonomen zählen, ist HipHop Underground, mit dem sie sich auch identifizieren. Aus diesem Grund gelten alle, die einst aus dieser Szene kamen und jetzt Erfolg mit ihrer Musik haben, als Verräter wie z. B. die Gruppe STOP (Systematic terror and pleasure). Als positiv wird in der Szene empfunden, dass sich der weiße Unter-
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
grund (Heavy Metall) mit dem schwarzen Underground zusammengetan hat und sie sich gegenseitig in ihrer Musik beeinflussen.
7.4.4
Das Bekleidungsverhalten innerhalb der HipHop-Szenen
Wie bereits im vorherigen Abschnitt dargestellt, unterteilt sich die hannoveraner HipHop-Szene in den 90er Jahren in vier große Gruppen. Im Folgenden soll das Bekleidungsverhalten der Sprüher, Brit Cors, Proll-Rapper und Autonomen dargestellt werden, wobei die Bekleidungsstile der Sprüher und Brit Cors aufgrund ihrer hohen Ähnlichkeit zusammengefasst werden. Die Sprüher und Brit Cors tragen hauptsächlich Jeans der unterschiedlichsten Marken und schlichte, einfarbige Kapuzenpullover in Grau, Schwarz oder Dunkelblau, wie sie von den Schwarzen in den amerikanischen Ghettos getragen werden. Diese „richtigen Undergroundklamotten sind sehr rar und werden in Hannover nur bei ‘Frontline’ und ‘United Sports’ angeboten“ (O Ton Michael 1993). Als Schuhe werden hauptsächlich die ‘Adidas Ghettos’ und ‘Adidas Super Stars’ (in schlicht Weiß mit den drei schwarzen Streifen) getragen. Wie bei den Skatern liegt der Unterschied im Bekleidungsverhalten von Jungen und Mädchen in den Schuhen. Während die Jungen fast ausschließlich Turnschuhe tragen, tragen die Mädchen teilweise hohe Springerstiefel oder die sogenannten ‘Carter Pillars’, die wie Wanderschuhe aussehen. Die Proll-Rapper partizipieren an dem HipHop-Trend nur sehr oberflächlich, ohne sich mit der Musik und deren Inhalten auseinander zu setzen. Sie tragen die „Mode“, die von der Industrie in Anlehnung an diesen Stil vermarktet wird; wie z. B. „Bullsjacken“, „X-Kappen“, „X-Tra-Baggy Jeans“ sowie übergroße T-Shirts und Sweatshirts mit auffälligen Schriftzügen der einzelnen, zum Teil sehr teuren Marken („Starter“, „replay“, „Home boy“, „Diesel“ etc.). Die Autonomen der HipHop-Szene sind von der Heavy Metall-Musik auf HipHop umgestiegen. An ihrer Kleidung fällt besonders die Farbe Schwarz auf. Das Outfit der Autonomen besteht vorwiegend aus Jeans, schwarzen Lederhosen und -jacken sowie einfarbigen T-Shirts, Tour-T-Shirts mit Aufdruck von Heavy Metall oder HipHop-Bands und Schneetarnhosen. Ebenso werden Uniformen aus Militär und Armee getragen. Als Schuhwerk dienen schwarze Schnürstiefel, Turnschuhe, Lederschuhe und Springerstiefel. Die Kleidung, die in der autonomen Szene getragen wird, richtet sich wie bei den Sprayern und Brit Cors gegen jeglichen Markenfetischismus und jegliches Konsumdiktat und ist zum Teil mit Stilelementen des Punks durchsetzt.
7.4 Klassifizierung der HipHop-Kleidung in Old School und New School
7.4.5
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Die Kleidung der Skater als ein Beispiel für die fließenden Übergänge zwischen jugendkulturellen Szenen
Die Kleidung der Skater-Szene ist häufig oversized und extrem locker. Ich habe diese Jugendkultur als ein Beispiel für das Ineinandergreifen verschiedener Stilrichtungen ausgewählt, um die fließenden Übergänge und Vermischungen der unterschiedlichen Jugendkulturen darzustellen. In der Skater-Szene mischen sich HipHop- und Rap-Kultur, die sich über die entsprechende Musikrichtung entwickelt haben, mit den Bekleidungsstilen aus dem Sportbereich. Auch die aus dem Sport kommende Kleidung ist geprägt durch übergroße Jacken, Sweatshirts und Hosen sowie Mützen, die tief in das Gesicht gezogen werden. Analog zum Skateboard fahren sei an dieser Stelle auf die neuartigen Funsportarten wie z. B. Snowboard fahren hingewiesen. Anstatt der extrem enganliegenden Kleidung, wie sie in den traditionellen Sportarten getragen wird, zeichnet sich die Sportbekleidung der Funsportarten durch ein fast schon dysfunktional erscheinendes Äußeres aus. Die als Streetwear bezeichnete Kleidung stellt neben dem Sport Bezüge zur amerikanischen und englischen Arbeiterkleidung her. Sie ist aus robustem Material gefertigt und stellt den Bequemlichkeitsaspekt und die Bewegungsfreiheit in den Vordergrund. Durch die notwendige Bewegungsfreiheit, die die Skater für ihre Sportart brauchen, musste die Kleidung extrem weit sein, da sie sonst durch die sportliche Beanspruchung sofort reißen würde. Hierin ist eine Ursache der Entwicklung von den Normalgrößen S, M, L zu den Übergrößen XL, XXL, XXXL, XXXXL und XXXXXL zu sehen, die auch auf andere Jugendszenen übergriff. Aufgrund dessen, dass die Oberbekleidung wie T-Shirts, Sweatshirts, Hemden und Pullover sowie die Jeans extrem weit sein müssen, sind die Hosen wieder länger geworden. Die sogenannten X-Tra-Baggy Jeans müssen bis auf den Erdboden gehen, da sonst – in Kombination mit überlangen und weiten Sweatshirts – die Proportionen nicht mehr stimmen würden. „Kann’ste doch einfach nicht bringen, ‘ne Hose, wo der Schlag fast unter’m Knie hängt“ (O-Ton Meike 1993). Bevorzugte Marken Mitte der 90er Jahre waren: ‘Starter’, ‘blue system’, ‘Diesel’ und ‘replay’, wobei ‘Diesel’ in einigen Skater-Peers schnell wieder völlig geoutet waren. Die Marke ‘Starter’ war 1993 total hip. ‘Starter’ war die Marke, die die NBA (National Basketball Association) und NFL (National Football Leaguar) belieferte und die die Lizenz besaß, die entsprechende Bekleidung zu vertreiben wie z. B. Netz-Shirts, Jacken, Schuhe, Kappen, Rucksäcke, etc. So hat der aus der NBA ausgetretene Magic Johnson eine eigene „Klamottenlinie“, die ‘Magic’ heißt. Magic Johnson gilt als die absolute Legende, weshalb auch die an ihn assoziierenden Kleidungsstücke noch getragen werden, im Gegensatz zu Michael Jordons,
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
der aus den Chicago Bulls ausgetreten ist. Zwar wird 1993 das Netz-Shirt mit der Nummer 23 (23 ist seine Nummer auf dem Spielfeld) und auch die Turnschuhe der Firma Nike, die ‘Nike Air-Jordons’ noch getragen, aber mit einem Jordons-Käppi oder Rucksack herumzulaufen ist völlig out. „Das ist einfach peinlich, weil er ausgetreten ist. Das stimmt vom Gefühl her nicht“ (O-Ton Meike 1993). Als ebenfalls unmöglich gilt es, T-Shirts, Sweatshirts oder Accessoires wie z. B. Rucksäcke oder „Käppis“ zweier verschiedener Mannschaften gleichzeitig zu tragen. Ein unbedingtes Muss: Die Basketball- oder Footballsachen müssen von ‘Starter’ sein. Das gibt dann die Gewähr, dass nur wenige Einzelstücke im Umlauf sind, im Gegensatz zu der von Karstadt oder C&A vertriebenen Massenware, „wo dann jeder Heinz mit rumläuft“ (O-Ton Meike 1993). Schuhe: Während die Jungen 1993 bevorzugt überdimensional große und klobige Turnschuhe der Marken ‘Adidas’, ‘Nike’ und ‘Converse’ in den Farben Schwarz und Braun tragen, – Weiß geht zur Not für ‘Nike Air-Jordons, aber nur, wenn sie alt und verschlampt sind – tragen Mädchen hauptsächlich Doc Martens, schwarze Skistiefel oder Chuck’s der Firma ‘Converse All Star’. Als Edelmarke für Turnschuhe gilt die Firma ‘Fila’, die ebenfalls von Skatern in den Farben Schwarz und Braun getragen werden. Als zusätzliches Accessoire dient der Talisman, von Skatern und Snowboardern an Spagatbändern getragen. Auffallend unter den Motiven ist das Kreuz. Wem dies jedoch zu christlich ist, der findet auch andere Symbole wie z. B. auf Flohmärkten, in Esoterik- und Orientshops, oder wählt einfach aus dem Urlaub mitgebrachte Souvenirs. Die klassischen Farben der Skater sind 1993 Bordeaux-Rot, Gelb, Schwarz und Weiß in Anlehnung an die Farben der NBA-Mannschaft Red Skins (nicht zu verwechseln mit Red Skinheads!). Bevorzugte Musik sind Rap (Ice Cube, MC Hammer) und HipHop (Die Fantastischen Vier, Marky Mark, naughty by nature). Der sportive Kleidungskult wird auch „jenseits des Sports zur subtiler werdenden Distinktion und habituell lebens- und sportstilgemäß und vor allem auch milieuspezifisch eingesetzt“ (Ferchhoff/Neubauer 1996, 156). In Zeiten zunehmender Versportlichung und eines juvenilen Körperbewusstseins, in denen sich die alltagsästhetischen Wertmaßstäbe immer mehr um die Inszenierung eines durchtrainierten, perfekt gestylten Körpers drehen, verkehren die Streetsportarten genau diese in die Gesellschaft eingegangen Maßstäbe. Sie verhüllen den Körper mehr, als dass sie ihn zur Schau stellen. Die Distinktion zu anderen wird in der HipHop- und Skater-Szene über den Habitus von Coolness und Körperdistanzierung hergestellt. Nicht das harte Training, der Erfolg in Zahlen und Medaillen oder die schweißtreibende Anstrengung stehen im Vordergrund, sondern das Spielerische, das Zufällige. Die harmonische Bewegung von Skaten, Körper und Kleidung ergeben erst das Gesamtbild und
7.4 Klassifizierung der HipHop-Kleidung in Old School und New School
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verschmelzen zu einer coolen Einheit. In dieser vorwiegend männlichen Jugendkultur wird Maskulinität über Coolness, Körperbeherrschung, lässige Ästhetik ausgedrückt und zur Schau gestellt, wie es auf den folgenden Abbildungen zu sehen ist. Abb. 27 Quelle: privates Archiv
Abb. 28 Quelle: privates Archiv
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Abb. 29 Quelle: privates Archiv
Abb. 30 Quelle: privates Archiv
7.5 Die Inszenierung von Männlichkeit in der HipHop-Szene
7.5
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Die Inszenierung von Männlichkeit in der HipHop-Szene
Abb. 31 Quelle: privates Archiv
Abb. 32. Das Käppi darf nicht fehlen Quelle: privates Archiv
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Abb. 33 Quelle: privates Archiv
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Abb. 34 Quelle: privates Archiv
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Abb. 35. HipHop Outfit in Kombination mit Lonsdale-Sweat-Shirt. Quelle: privates Archiv
Seit die Marke Lonsdale von der rechtsradikalen Szene bevorzugt wird, distanziert sich die Firma öffentlich von dem rechten politischen Gehalt und unterstützt antirassistische Aktionen. In der Neo-Nazi- und rechten Skinhead-Szene wurde die Marke beliebt weil in der Kombination mit offenen Bomberjacken nur noch das NSDA (Verweis auf NSDAP) zu sehen war. Da Lonsdale Produkte jedoch auch vom Mainstream getragen werden, gibt es nicht zwingend den Verweis auf eine rechte politische Gesinnung. Einen eindeutigen Verweis auf Rechtsradikalität gibt dagegen das aus dem Schriftzug Lonsdale abgeleitete Label Consdaple (coNSDAPle).
7.5 Die Inszenierung von Männlichkeit in der HipHop-Szene
Abb. 36 Quelle: privates Archiv
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7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
Abb. 37. Einflüsse des Sports in der HipHop-Szene. Quelle: privates Archiv
Abb. 38 Quelle: privates Archiv
7.5 Die Inszenierung von Männlichkeit in der HipHop-Szene
Abb. 39 Quelle: privates Archiv
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7.6
7 Das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer in der Zeit des Post-Punk
Weiblichkeitsbilder in der HipHop-Szene
Die jungen Frauen stellen ihre Zugehörigkeit zur HipHop-Szene vorwiegend über die extrem weiten Hosen her. Die engen, körperbetonten Oberteile könnten dagegen auch in der Techno-Szene getragen werden.
Abb. 40 Quelle: privates Archiv
7.6 Weiblichkeitsbilder in der HipHop-Szene
Abb. 41 Quelle: privates Archiv
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Abb. 42 Quelle: privates Archiv
7.6 Weiblichkeitsbilder in der HipHop-Szene
Abb. 43. Er im Old School Outfit und sie kombiniert ganz frei Coolness mit Strass. Quelle: privates Archiv
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Abb. 44. Old School Outfit jenseits des Mainstream. Quelle: privates Archiv
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Abb. 45. Typisches Old School-Outfit: Die legendäre Addidas-Jacke der 70er. Quelle: privates Archiv
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Abb. 46 Quelle: privates Archiv
7.6 Weiblichkeitsbilder in der HipHop-Szene
Abb. 47 Quelle: privates Archiv
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8
Schlusspunkte
Der Ausgangspunkt dieser Arbeit stand unter der Annahme, dass das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer seismographisch auf gesellschaftliche Veränderungen, Paradoxien und Antagonismen verweise und dass sich hieraus Rückschlüsse auf die Art und Weise dieser Veränderungen ziehen lassen. So kurz vor dem Schlusspunkt fand sich ein Zitat, welches Ähnliches, jedoch mit Blick auf die Retrospektive, im Sinn hatte. „Geschmack ist der treueste Seismograph der historischen Erfahrung“ (Theodor W. Adorno, zit. nach Klein 2004, 222). Wie sich herausstellen ließ, ist der Geschmack nicht nur der treueste Seismograph der historischen Erfahrung, sondern das Bekleidungsverhalten der jungen Frauen und Männer, ihr Gefühl für ‘In’und O ‘ ut’, für Szenen und Szene-Trends, die an dieser Stelle stellvertretend für Geschmack stehen, nehmen historische Erfahrungen vorweg und verweisen auf die Zukunft. Die Antennen der jungen Frauen und Männer sind scheinbar feinsinniger und sensibler justiert, so dass sich aus ihrem Bekleidungsverhalten Rückschlüsse auf die kollektiven wie individuellen Bewältigungsstrategien ziehen lassen. Welche Schlusspunkte lassen sich nun formulieren, an einem Punkt, der immer nur ein vorläufiger sein kann, ein willkürlicher Punkt, ein bedingter Moment in Raum und Zeit, von dem sich die jungen Frauen und Männer, ihr Bekleidungsverhalten, die Szenen in ihrem globalen Netzwerk, die HipHop- und Techno-Szene im Speziellen, die Prozesse der Identitätsentwicklung und das Spiel mit den Geschlechtsidentitäten weiterentwickeln und verändern werden? Punkt 1: Auf dem Diskursfeld des Bekleidungsverhaltens junger Frauen und Männer hat sich in der vorliegenden Analyse herausgestellt, dass seit Beginn der 90er Jahre im Besonderen die Szenen Techno und HipHop die topographische Landkarte jugendspezifischer Erscheinungsformen nachhaltig prägen und beeinflussen, wobei die Reminiszenzen des Punk weiter fortbestehen, auch wenn die schockierenden und subversiven Elemente nicht mehr so offensichtlich über die Kleidung provoziert werden. In dem der Punk den einstigen Bedeutungsgehalt der Mode aufgehoben hat, lässt sich das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer auf dem Hintergrund der Diskussionen von Globalisierung, Individualisierung, De-Institutionalisierung bei gleichzeitiger Institutionenabhängigkeit, Enttraditionalisierung, Pluralisierung und Diversifizierung von Lebenslagen, -läufen und -biografien als eine Möglichkeit
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8 Schlusspunkte
der Präsentation von Wahl-, Bastel- oder Patchwork-Identität(en) charakterisieren, auch wenn diese zeitlich begrenzt und somit transitorisch im Lebenslauf anzusehen sind. Die textile Metaphorik des Bekleidungsverhaltens der jungen Frauen und Männer symbolisiert die neuen, teilweise paradoxen Anforderungen einer spät-modernen Gesellschaft an die Individuen in dem Sinne, eigene Aktivität zu entwickeln und diese möglichst schneller, pfiffiger, kreativer als andere und immer am Puls der Zeit umzusetzen. Punkt 2: Zu beobachten ist, dass in der heutigen Zeit vielfältige Stilformen nebenund miteinander bestehen und sich nicht immer eindeutige, kongruente Jugendkulturen oder Szenen konstatieren lassen. Dabei entsteht jedoch kein wahlloser Bekleidungs-Eklektizismus, sondern junge Frauen und Männer entwickeln ein spezifisches Insiderwissen für die Kategorien von ‘In’und O ‘ ut’, die seitens der Kulturund Modeindustrie nicht immer erkannt werden oder als Trend verkannt und vermarktet werden und als Hype schnell wieder verschwinden. Punkt 3: In einer Multioptionsgesellschaft (Gross), in der jungen Frauen und Männern nicht nur die Wahlfreiheit gegeben ist, sondern diese von vielen, so Keupp u. a., als Zwang erlebt wird, gibt es keine gesamtgesellschaftlichen Codes mehr. Nach Kaiser ist der Modewandel der vergebliche Versuch, den postmodernen Ambivalenzen zu entkommen. Nach der vorhergegangenen Analyse kann das Bekleidungsverhalten junger Frauen und Männer als eine körperorientierte, kreative und ästhetische Verhaltensweise interpretiert werden, um die Ambivalenzen und Paradoxien der Identitätsbildungsprozesse über das textile Medium Kleidung in symbolischen Metaphern zum Ausdruck zu bringen. Denn, um Goffman zu paraphrasieren, jeder ist ein Akteur auf der Bühne und zieht alle Register, um sein – vielleicht nur für eine bestimmte Zeit gewähltes – Identitäts-Sampling für sich selbst und andere zu inszenieren. Punkt 4: In spät-modernen Gesellschaften gewinnen junge Frauen und Männer zunehmend Anerkennung über den dialogischen Austausch mit anderen. Die kommunikativen, personalen und sozialen Kompetenzen (vgl. Keupp u. a.) gewinnen damit an Bedeutung. Wenn Umgangsformen und Distinktion in postmodernen Gesellschaften informeller werden, wird die Fähigkeit zur Selbstpräsentation in Folge dessen bedeutsamer. Szenespezifische Kompetenzen erweisen sich diesbezüglich als Vorteil für die eigene biografische Entwicklung und zunehmend auch für neue berufliche Orientierungen jenseits der klassisch definierten Berufsbilder. Diese Entwicklung wird
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sicherlich auch Auswirkungen auf die Berufspädagogik und die Inhalte ihrer Kompetenzvermittlung haben. Punkt 5: Aus der vorliegenden Analyse wird ersichtlich, dass die jungen Frauen und Männer gesellschaftliche Phänomene, Veränderungen und Entwicklungen auf ihre ganz eigene Art und Weise wahrnehmen und interpretieren. Sie entwickeln ihre eigenen ästhetischen Stilvariationen und wenn es kaum noch konkret wahrnehmbare Grenzen gibt, werden die verschiedenen Stilrichtungen über akzessorische Elemente und Feinheiten angedeutet, die von Erwachsenen, Pädagogen, Eltern und teilweise auch von ihnen selbst schwer zu kategorisieren sind. Damit konstituieren junge Männer und Frauen imaginäre Grenzen zwischen differenten kulturellen Erscheinungsweisen in Raum und Zeit. Dem textilen Medium kommt hier eine besondere Bedeutung zu, weil aufgrund seiner ephemeren Eigenschaften ein rascher Wechsel entsteht, der zu Mikrostilen und -moden verleitet. Denn schließlich trägt der zeichenhafte Bezug der Bekleidung zu Welt- und Körperbildern Grundlegendes zum Verstehen der jungen Menschen in spät-modernen Gesellschaften bei (vgl. Vinken 1993). Punkt 6: Ausgehend vom Paradigma der Genderperformanz (vgl. Butler 1991) ist die Kleidung junger Männer und Frauen das zentrale ästhetische Medium der Körper- und Selbstinszenierungen, über welches Identitäten bzw. Geschlechtsidentitäten symbolisch konstruiert wie dekonstruiert werden. Während in der HipHop-Szene die Repräsentation männlicher Dominanz im Vordergrund der Inszenierungstechniken und Körperpraxen steht, zeigt sich in dem Bekleidungsverhalten der jungen Männer und Frauen in der Techno-Szene ein eher spielerischer Umgang mit den weiblichen und männlichen Geschlechtsidentitäten. Die stilistischen Bekleidungsund Körperpraxen in der männlich dominierten HipHop-Szene erweisen sich als Inszenierungstechnik zur Konstruktion einer eindeutig männlichen Identität. Jedoch kommt es auch in dieser Szene zu paradoxen Erscheinungsbildern, die das Ausmaß der Ambivalenzen in der Konstruktion von Geschlechtsidentitäten aufzeigen. Durch das Moment der Übertreibung und die Überbetonung von Männlichkeit zeigt sich, welch starker symbolkräftiger Ausdrucksmomente es bedarf, um diese konservative Form von Männlichkeit über die Kleidung darzustellen. Der bunte spielerische Kleidermix und Cut’n Mix der jungen Männer innerhalb der Techno-Szene und deren Übernahme von Bekleidungs- und Stilelementen, die einst als weiblich konnotiert wurden, zeigen dagegen die Tendenz der Auflösung und Verschiebung enger Grenzziehungen und eindeutiger Geschlechtsidentitäten.
190
8 Schlusspunkte
Punkt 7: Gemeinsam sind der HipHop- und Techno-Szene die Paradoxien zwischen extrem kindlichen und überbetont erwachsenen Erscheinungsbildern. Die textilen Inszenierungstechniken zwischen Infantilisierung und Sexualisierung des Körpers verweisen einerseits auf ein neues Spannungsverhältnis an der sich auflösenden Grenze zwischen jugendlichem und erwachsenem Erscheinungsbild und andererseits auf einen neuen spielerischen Umgang im Erwerb geschlechtlicher Identität innerhalb oder jenseits der etablierten Geschlechtsgrenzen. In der Verkehrung Simone de Beauvoirs Aussage könnte dies für die weitere Zukunft der Postmoderne bedeuten, dass, wenn der Mann seine Sendung als sexuelles Objekt akzeptiert hat, er sich gern schmückt und verkleidet zum Vergnügen aller Frauen. Dass dieses Schmücken und Sich-Kleiden jedoch nicht nur eine Wahl des Seins im leeren Schein, ein leeres Sein im flüchtigen Schein ist, dazu dient dieser Text-Leit-Faden der textilen Metamorphosen. Punkt.
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