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Anja Lobenstein-Reichmann Houston Stewart Chamberlain Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung
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Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger
95
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Anja Lobenstein-Reichmann
Houston Stewart Chamberlain Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung Eine sprach-, diskursund ideologiegeschichtliche Analyse
Walter de Gruyter · Berlin · New York
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020957-0 ISSN 1861-5651 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Vorwort Zu einem Christlichem hertzen pertinet, ut sit gratum, non solum ad deum praecipue, sed etiam gegen leuten. Luther, WA 45, 195, 1-2.
Bücher entstehen selten im stillen Kämmerchen eines einzelnen Autors. Sie sind in der Regel das Ergebnis eines langen und regen Gedankenaustauschs mit vielen anderen Menschen. Dies gilt auch für dieses Buch. Oft waren es die Gespräche am Rande, die Nebensätze in anderen Themenkonstellationen, die plötzlichen Aufschluss für die eigenen Fragen gebracht haben. Nicht jedem dieser Gesprächspartner kann an dieser Stelle in nötigem Maße gedankt werden. Einige wenige jedoch möchte ich nennen. Von herausragender Bedeutung war vor allem Peter von Polenz. Er hat meine Arbeit immer mit konstruktivem Interesse begleitet und war schließlich auch einer der ersten Leser des hier vorgelegten Buches. Von seiner kritischen Lektüre habe ich maßgeblich profitieren können, ganz abgesehen davon, dass seine "Deutsche Satzsemantik" und seine dreibändige Sprachgeschichte immer noch ein Erlebnis für mich sind und grundlegend für diese Arbeit waren. Peter von Polenz' Art Sprachgeschichte weniger als Laut- und Formengeschichte zu betreiben wie als Geschichte handelnder Menschen hat mir in fachlicher wie in fachprogrammatischer Hinsicht manche Wege gewiesen. – Tief verbunden bin ich auch wieder Andreas Gardt, der nun schon das zweite Mal die Last der frühen Lektüre einer meiner Schriften auf sich genommen hat. Den anderen Herausgebern, Stefan Sonderegger, Christa Dürscheid, Oskar Reichmann, sowie dem Verlag Walter de Gruyter danke ich ebenfalls für die Aufnahme in die Reihe Studia linguistica germanica. Den Habilitationsgutachtern an der Universität Trier, Rainer Wimmer, Ulrich Püschel, Herbert Uerlings, Hartmut Reinhart und Andreas Gestrich (Deutsches Historisches Institut, London), bin ich zu großem Dank verpflichtet. Die Jahre an der Universität Trier waren in vielerlei Hinsicht gute Jahre. Sie brachten mir den interdisziplinären Austausch mit Herbert Uerlings, viele fruchtbare Fachgespräche mit Ulrich Püschel und Rainer Wimmer. Speziellen Dank schulde ich Ulrich Püschel und seiner Frau, Marlene Faber: Sie beide haben meine Trierer Jahre zu der schönen Zeit gemacht, die sie für mich war.
VI Vorwort
Dass ich dieses Buch schreiben konnte, ist zum einen deswegen möglich geworden, weil mich die Direktoren des Instituts für deutsche Sprache, Gerhard Stickel und Ludwig Eichinger, dankenswerter Weise von 2002 bis 2008 beurlaubt haben und vor allem weil Rainer Wimmer mir in Trier die Möglichkeit zur Habilitation gegeben hat. Seine warmherzigkritische Art, die Welt und alles, was diese zusammenhält, zu betrachten, seine fachliche Kompetenz und sprachkritische Brillanz, aber auch seine Fähigkeit, mich immer zur rechten Zeit aufzumuntern, sind mir zum bleibenden 'Bildungs'erlebnis geworden. Ohne meinen Mann jedoch, den jahrelangen kommunikativen Austausch mit ihm, ohne seinen fachlichen Rat, vor allem aber ohne seine Bereitschaft, eine zeitaufwendige Korrektur zu übernehmen, wäre dieses Buch nicht das, was es jetzt ist. Ihm sei es gewidmet.
Inhaltsverzeichnis 0. Vorwort .................................................................................................... I. Einleitung...................................................................................................
V 1
II. Houston Stewart Chamberlain ............................................................. 1. Chamberlains Wirkungsgeschichte ................................................. 2. Historiographische Würdigung Chamberlains .............................. 3. Das deutsche Bildungsbürgertum oder Chamberlains Adressaten........................................................
10 35 39
III. Der sprachwissenschaftliche Ansatz.................................................. 1. Zur Sprachlichen (Re-)Konstruktion von Weltanschauung: Theoretische Prämissen .................................................................... 2. Zur Sprachlichen (Re-)Konstruktion von Weltanschauung: Methoden ............................................................................................ 2. 1. Corpus und Exzerption............................................................. 2. 2. Lexikographische Textanalyse.................................................. 2. 3. Aufbau der Wortartikel.............................................................. 2. 4. Vom Begriff zum Diskurs.........................................................
58
43
58 65 69 70 74 77
IV. Das Menschenbild bei Houston Stewart Chamberlain................... 1. Zum Wort Menschenbild und damit zur Relevanz des Gegenstandes...................................................................................... 2. Das Wort Mensch bei Houston Stewart Chamberlain................... 3. Der Artikel Mensch, die lexikalsemantischen Ergebnisse ............. 4. Die Verortung des Menschen.......................................................... 5. Die Essenz des Menschlichen.......................................................... 6. Onomasiologische Vernetzung, Prädizierung und die Folgen ... 7. Zusammenfassung und Weiterungen .............................................
79 79 86 91 93 94 97 102
V. Die Wortbildungen mit Mensch bei Houston Stewart Chamberlain ......................................................
105
VI. Rasse als Essenz des Menschlichen.....................................................
113
Inhaltsverzeichnis
VIII
VII. Das Wortfeld 'Mensch' ....................................................................... 1. Persönlichkeit ......................................................................................... 1. 1. Exkurs: Jesus Christus und andere Persönlichkeiten der Weltgeschichte ................... 2. Genie...................................................................................................... 3. Held....................................................................................................... 4. Individuum............................................................................................. 5. Der Künstler und die Kunstreligion.................................................. 6. Der Germane – der Liebling der Götter oder die Annäherung an einen alten „homo novus“ ................... 7. Der Arier.............................................................................................. 8. Der Semit und die „Judenfrage“....................................................... 8. 1. Pseudo-Ethnogenetische Argumentationen........................... 8. 2. Die „Judenfrage“ ........................................................................ 8. 3. Konsanguinität oder der Topos von der reinen jüdischen Rasse............................................................................................. 8. 4. Kongenialität oder die Aberkennung von Moralität und Sittlichkeit .......... 8. 5. Die Religionsfrage ...................................................................... 9. Der neu zu schaffende Mensch – das Symptom einer Epoche?
124 125 130 138 142 147 154 163 175 186 191 193 195 200 208 217
VIII. Ideologiewortschatz........................................................................... 222 1. Kennzeichen des Ideologiewortschatzes ....................................... 222 2. Ideologiewörter .................................................................................. 227 2. 1. Entartung und Degeneration .......................................................... 227 2. 2. Leben.............................................................................................. 233 2. 2. 1. Leben und Wissenschaft......................................................... 239 2. 2. 1. Leben und Religion.................................................................. 241 2. 3. Kraft............................................................................................... 247 2. 4. Wille............................................................................................... 252 2. 4. 1. Chamberlains Instrumentalisierung von 'Wille' bei M. Luther .......................................................................... 254 2. 4. 2. Chamberlains Instrumentalisierung von 'Wille' bei I. Kant................................................................................ 258 2. 4. 3. Chamberlains Instrumentalisierung von 'Wille' bei A. Schopenhauer..................................................................... 263 2. 5. Führer............................................................................................. 269 2. 6. Sozialismus..................................................................................... 273 2. 7. Liberalismus und das Prinzip der 'Gleichheit' .......................... 276 2. 8. „Neger“.......................................................................................... 281
Inhaltsverzeichnis
IX
3. Chamberlains Ideologiemetaphern ................................................. 284 3. 1. Eine kurze Einführung .............................................................. 284 3. 2. Chamberlains Metapherngebrauch .......................................... 289 3. 2. 1. Körpermetaphorik oder der „organische Rassenzusammenhang“............................. 294 3. 2. 2. Pflanzenmetaphorik und das „Absterben in der Knospe“ .................................. 300 3. 2. 3. Tiervergleich und Tiermetaphorik oder von Rebläusen und Schlangen.................................... 304 3. 2. 4. Sinnesmetaphorik und Weltanschauung............................. 310 3. 2. 5. Blutmetaphorik oder die ererbte Schuld............................. 325 3. 2. 6. Lichtmetaphorik und die Epiphanie der Germanen......... 328 3. 2. 7. Das Chaos und das antinationale Prinzip........................... 338 3. 2. 8. Schlaf- und Erweckungsmetaphorik? Oder: Deutschland erwache! ...................................................... 343 3. 2. 9. Kampfmetaphorik ................................................................. 351 3. 2. 10. Pathologisierende Metaphorik: Krankheit und Tod....... 354 3. 2. 11. Die Wiedergeburt................................................................. 356 3. 2. 12. Katastrophenmetaphorik .................................................... 357 3. 2. 13. Reinheitsmetaphorik............................................................ 360 4. Zwischenfazit ..................................................................................... 363 IX. Von der Satzsemantik zur Textpragmatik......................................... 365 1. Rassenindividualität und Völkerchaos – Gattungstypisierende Kollektivierung oder die Entindividualisierung des Menschen .. 365 1. 1. Der kollektive Singular – eine sprachliche Form zur Stigmatisierung ............................. 369 1. 2. Kollektivierung durch Sprache................................................. 381 1. 3. dem deutschen Leser -Pronominale Handlungsrollen oder das inkludierende Wir 385 2. wo der Mensch zum Bewusstsein freischöpferischer Kraft erwacht –Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen bezüglich des Wortes Mensch in den Schriften Chamberlains..... 398 2. 1. Der propositionale Akt.............................................................. 398 2. 2. Präsuppositionen ........................................................................ 399 2. 3. Beispielanalysen .......................................................................... 413 2. 4. Existenzpräsuppositionen ......................................................... 421 3. wird wohl kaum jemand zu leugnen sich vermessen – Metakommunikative Legitimationsfiguren und Sprechereinstellungen................................................................ 426 4. Jünger der wahren Meister unseres Geschlechtes – Chamberlains geschichtsphilosophisches Erbauungsschrifttum......................... 431
Inhaltsverzeichnis
X
X. Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung – Eine kommunikations- und diskursgeschichtliche Analyse.............. 437 1. Der Diskursbegriff, ein theoretischer Exkurs ............................... 437 1. 1. Einführende Bemerkungen ..................................................... 442 1. 1. 1. Diskursive Linien .................................................................. 446 1. 2. Diskurstypen ............................................................................. 449 1. 3. Der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott, zu Natur, Kultur und Gesellschaft. ........................ 453 1. 4. Die neue Weltanschauung in ihren diskursiven Traditionen ............................................. 457 2. Der religiöse Diskurs......................................................................... 462 2. 1. Die Reformation der Reformation – auf der Suche nach einer neuen Religion ............................ 462 2. 2. Das Germanische Christentum – eine besondere Form des Antisemitismus ............................. 465 2. 3. Paul de Lagarde, ein Kritiker der zeitgenössischen Theologie und Vorläufer Chamberlains ..................................................... 473 2. 4. Ernst Bergmanns 25 Thesen der Deutschreligion. ............... 480 2. 5. Chamberlains Ethik.................................................................... 484 3. Der biologistische Menschenbilddiskurs: Der Darwinismus...... 488 4. Joseph Arthur Graf von Gobineau................................................. 499 4. 1. Rasse bei Gobineau ..................................................................... 502 4. 2. Dehumanisierung und Vergöttlichung.................................... 505 4. 3. Der Verfall................................................................................... 512 4. 4. Chamberlain und Gobineau...................................................... 513 5. Der Kulturdiskurs: Bildungsreligion und Kulturkritik................. 517 5. 1. Der Menschenbildungsdiskurs ................................................. 517 5. 2. Johann Wolfgang Goethe: der Prometheus oder das faustische Prinzip.......................... 522 5. 3. Schopenhauers Pessimismus und Chamberlains Utopie...... 526 5. 3. 1. Schopenhauer als Erzieher.................................................... 526 5. 3. 2. Schopenhauer und Chamberlain.......................................... 533 5. 4. Friedrich Nietzsche .................................................................... 538 6. Richard Wagner.................................................................................. 548 6. 1. Richard Wagner und sein Kreis................................................ 548 6. 2. Der „Großideologe“ Wagner: vom Antisemitismus zur Kunstreligion.................................. 551 6. 3. Die Krankheit der modernen Zivilisation .............................. 554 6. 4. Das Menschenbild und die Kunst ........................................... 558 6. 5. Menschenbild und Judentum.................................................... 560 6. 5. 1. Die Heilsutopie: Erlösungsantisemitismus......................... 562
Inhaltsverzeichnis
XI
6. 6. Wagner und Chamberlain.......................................................... 571 6. 6. 1. Wagners Einfluss auf Chamberlain ..................................... 571 6. 6. 1. 1. Exkurs: Die Praeger-Affäre.............................................. 578 6. 6. 1. 2. Chamberlains Wagnerbiographie .................................... 580 6. 7. Der Bayreuther Kreis oder die tanzenden Derwische.......... 583 6. 8. Richard Wagner und Adolf Hitler – keine ganz gewöhnliche Rezeptionsgeschichte .................... 597 7. Die Lebensreform.............................................................................. 604 8. Georg Schott oder das Hochziel arisch-germanischer Kultur............... 610 9. Chamberlain und die nationalsozialistischen Folgen ................... 613 9. 1. Chamberlain und Hitler............................................................. 613 9. 2. Hitlers Arier – das höchste Ebenbild des Herrn............................ 620 9. 3. Rassismus und Menschenbild................................................... 629 9. 4. Die Stigmatisierung und Dehumanisierung der Juden ......... 632 9. 5. Metaphorik der Dehumanisierung .......................................... 638 9. 6. Utopie: Sakralisierung und Vergöttlichung des Ariers oder: Hitlers höheres Menschentum.......................................................... 645 10. Chamberlain und seine diskursive Tradition – ein Fazit ........... 654 XI.Houston Stewart Chamberlain – oder: „Das Scheitern der interpretierenden Klasse“......................................... XII. Literaturverzeichnis ............................................................................ 1. Chamberlains Schriften..................................................................... 1. 1. Alphabetisch geordnete Liste der in dieser Untersuchung eingeführten Werkabkürzungen................................................... 2. Zeitgenössische, konservative und völkische Schriften............... 3. Literarische Quellen und wissenschaftliche Literatur ................
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I. Einleitung In den zahlreichen Diskussionen, die es seit 1945 zum Thema Nationalsozialismus gegeben hat, wurde eine Frage besonders häufig aufgeworfen: Wie konnte es geschehen, dass im Land der Dichter und Denker humanistisch gebildete Menschen einem Anstreicher1 wie Hitler gefolgt sind, dass sie ihn in großer Zahl gewählt haben und nicht nur mit diesem einen Akt erheblichen Anteil an seinen Verbrechen hatten? Abgesehen von dem in solchen Argumentationen mitschwingenden Bildungschauvinismus, der in den Präsuppositionen besteht, gebildete Menschen seien letztlich politisch klüger und deshalb auch weniger verbrechensanfällig als nicht gebildete, ist diese Frage durchaus berechtigt. Denn aus der Perspektive der Nachgeborenen2 ist weder der Nationalsozialismus verstehbar noch die Begeisterung seiner Anhänger. Eine zentrale Aufgabe der vorliegenden Arbeit besteht nun darin, auf der Basis des idiolektalen Corpus der Texte Houston Stewart Chamberlains zu zeigen, dass gerade das Bildungsbürgertum durch seinen latenten Antisemitismus, seinen in der Regel offen vorgetragenen Nationalismus, seine Verkehrung aller Dogmen der christlichen Religion und besonders durch seinen die eigene Identität prägenden Kulturchauvinismus (mit den Identifikationszentren 'Künstlertum', 'Schöpfertum', 'geistige Freiheit', 'Idealismus') schon lange vor Hitler auf eine Weltanschauung vom Zuschnitt des Nationalsozialismus vorbereitet war. Diese Vorbereitung und die ihr zugrunde gelegten Wünsche machten es dem Bildungsbürgertum leicht, moralische Bedenken gegen Hitler zur Seite zu schieben. Chamberlains Adressaten waren genau diese Bildungsbürger bzw. all diejenigen, die sich als solche verstanden. In der spezifischen Aufteilung Pierre Bourdieus bilden sie eine distinktive Klasse in der Gesellschaft, die durch einen bestimmten Habitus gekennzeichnet ist. H.-U. Wehler (1998, 30) beschreibt Habitus als "Gelenkkonzept, als einen Scharnierbegriff, der Lage und Handeln verknüpfen, sozioökonomische Klassenpositionen und soziale Praktiken einerseits, kulturelle Sinndeutung, Symbolkonstruktion, Weltbild andererseits gemäß der Doppelnatur der sozialen Welt miteinan_____________ 1 2
So die Bezeichnung Bert Brechts für Adolf Hitler in vielen Gedichten, z.B. im "Lied vom Anstreicher Hitler". In: Brecht, Gedichte 1981, 441. Brecht, An die Nachgeborenen. In: Gedichte 1981, 722.
2 Einleitung
der vermitteln soll. Habitus – das ist dann die Summe aller verinnerlichten Dispositionen, die Verhalten, Denken, Wahrnehmung und Emotionen, Mimik und Gestik, Sprache und Augensprache regulieren und steuern. […] Die Handlungs-, Wahrnehmungs-, Gefühls-, Denkschemata des Habitus wirken realiter als eine Art von evaluativem, kognitivem, motorischem, emotionalem Syndrom, das die soziale Praxis, durch die es selber geschaffen worden ist, wiederum erzeugt und beeinflußt". Der hier angedeutete reziproke Prozess des Strukturierens und des Strukturiertwerdens, des Gefühls, einerseits den klassenspezifischen Dispositionen ausgeliefert zu sein und diese andererseits mitprägen zu können, bildet die Basis für eine Einordnung Chamberlains in den gesellschaftlichen Diskurs seiner Zeit. Er ist Bildungsbürger und schreibt für solche, ist also definiert durch diese soziale Disposition und wirkt als schreibender Zeitgenosse selbst wieder auf sie zurück. Chamberlain befriedigt dabei ein zentrales Bedürfnis seiner Klasse, nämlich im Sinne Max Webers die Kultivierung ihrer Sonderstellung, Würde und sozialen Ehre durch die Fortführung und Vertiefung bestimmter klassendistinktiver Praktiken. Er ist so einerseits passiver Teil einer bestimmten Weltdeutung und andererseits eigenständiger Bildner derselben. Kulturelle Sinndeutung, Symbolkonstruktion und Weltbild (s. das Zitat von Wehler) werden durch Sprache wahrgenommen und gestaltet. Gebildete, damals wie heute, also die so genannten Bildungsbürger, werden nicht als solche geboren, sondern mit bestimmten Texten und Texttraditionen zu Gebildeten innerhalb einer Bildungsgemeinschaft sozialisiert. Zu solchen Sozialisationstexten gehören die Werke der deutschen Klassiker wie diejenigen Goethes und Schillers, die des Philosophen Kant, wenn man protestantisch ist, auch diejenigen Luthers, und wenn man es nicht ist, trotzdem Luther, weil er ja ein Deutscher war. Die Bildungsbürger, die 1933 und schon vorher Hitler unterstützt bzw. ihm zur Macht verholfen haben, kannten ihre großen Deutschen, zu denen auch noch Johann Sebastian Bach, Immanuel Kant, Friedrich der Große, Ludwig van Beethoven und Otto von Bismarck hinzuzuzählen wären. Auf die mit diesen Namen angedeuteten Bezugspersonen und Traditionsstränge war man stolz, mit ihnen konnte man sich als von derselben kulturellen Gesinnung identifizieren. Die genannten Persönlichkeiten waren auch die Legitimationsgrößen für konservative Autoren wie Houston Stewart Chamberlain, Julius Langbehn, Paul de Lagarde, Artur Moeller van den Bruck und andere, deren gemeinsames Kennzeichen nach all ihren Schriften einerseits eine nahezu religiöse Übersteigerung der deutschen Kultur in einer so genannten Bildungsreligion3 und andererseits die Inszenierung der Drohkulisse des _____________ 3
Von Polenz, Sprachgeschichte III, 1999, 303 bzw. 58, dort: idealistische Ersatzreligion.
3 Einleitung
kulturellen Untergangs war. Gerade mithilfe der genannten Klassiker meinten sie aufweisen zu können, wie sehr der kulturelle Niedergang des Abendlandes bereits vorangeschritten sei, aber auch, welche Lösungen es dagegen gäbe. Die genannten Kulturpessimisten schrieben und publizierten in der zweiten Hälfte des 19. und in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Sie gehörten in einer heute kaum nachvollziehbaren Weise zum Lesekanon der bürgerlichen Wohnstube. Wollte man eine Kommunikationsgeschichte dieser Zeit schreiben, so stünden sie als diskursbestimmend neben den Klassikern ganz oben. An der Spitze einer solchen Liste stände auf jeden Fall auch Houston Stewart Chamberlain, speziell mit seinem zweibändigen Werk Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts. Damit ist einer der wichtigsten Gründe angedeutet, warum Chamberlain mit seinen Schriften als Ausgangspunkt der Untersuchung dient. Die Rezeption seiner Werke ist staunenerregend. Chamberlain starb im Jahre 1927. Sein Wirken hatte direkten Einfluss auf die Weimarer Republik und den Aufstieg des Nationalsozialismus. Chamberlains erstes schriftstellerisches Werk war eine zweibändige Monographie (1896 erschienen) über Richard Wagner. In Wagner hatte Chamberlain zeitlebens seinen Meister4 gefunden, der ihn sowohl in seinem Kunstverständnis als auch in seiner politischen und gesellschaftlichen Ideologie prägte. Neben Wagner gehörte der Rassetheoretiker Joseph Gobineau mit seinen Schriften zu den Vorbildern, die 1899 zu Chamberlains Grundlagen geführt hatten. Damit sind die beiden wichtigsten Bereiche umrissen, in die Chamberlains Argumentation hineingehört: Es geht zum einen um ein nationalbürgerliches und nationalchauvinistisches Kunstverständnis und damit einhergehend zum anderen um eine Weltanschauung, in der die Rasse als zentraler Motor für menschliches Sein, menschliches Handeln, für die Erklärung von Geschichte und Kultur und vor allem für die Vorstellung von Zukunft herangezogen wird. Die Grundlagen, in denen sich Bildungschauvinismus mit Rassismus zu einem einheitlichen Welterklärungsmodell vereinen, sind in den Jahrzehnten nach ihrer Erstpublikation hunderttausendfach verkauft und nicht nur bei den Völkischen, sondern im gesamten Bildungsbürgertum vielfach und nachweislich mit Begeisterung gelesen worden. In ihnen wird die abendländische Geschichte als ein lange währender Kampf der so genannten indogermanischen mit der so ge_____________ 4
Hinweis zur Notation: Im Fließtext werden Titel, zitierte Wörter und kürzere Quellenzitate kursiv gesetzt, längere Belege oder Zitate aus der Sekundärliteratur stehen in Anführungszeichen. Lange Belege sind eingerückt und recte zitiert. Zitatnachweise werden im Text in Klammern angegeben, Begriffe stehen in einfachen Häkchen '…', Wortbedeutungen in kleinen Spitzklammern >…<. In Fußnoten werden Zitate in Anführungszeichen gesetzt. Alle Schriften Chamberlains werden in Kurztiteln zitiert. Die Liste der Kurztitel kann im Quellenverzeichnis nachgeschlagen werden.
4 Einleitung
nannten semitischen Rasse beschrieben. Dem Völkerchaos, hervorgerufen durch unkontrollierte Rassemischung von Ariern mit semitischen Völkerschaften, könne nur durch die Reinerhaltung und vor allem Reinzüchtung des arischen Germanentums entgegengetreten werden. Das Germanentum sei überhaupt die zentrale Bewegkraft sowohl in kulturschöpferischer als auch in moralischer Hinsicht, ohne die die Kultur Europas und ganz besonders das Christentum längst untergegangen seien. Doch auch das germanische Element in der europäischen Kultur sei bedroht. Aufgabe der Zukunft müsse demnach die Schaffung eines 'neuen Menschen' sein, des auf germanischer Grundlage gezüchteten Ariers. Chamberlains Theorien machten im gesamten deutschsprachigen Raum Furore. Sein Ruhm wuchs von Jahr zu Jahr. Auch die im selben Tenor wie die Grundlagen verfassten Nachfolgeschriften gehörten zu den Bestsellern ihrer Zeit. Zu Chamberlains Verehrern zählten neben Kaiser Wilhelm II., dessen antisemitische Äußerungen bekannt sind, auch nahezu alle Größen des Nationalsozialismus, allen voran Adolf Hitler,5 in dem Chamberlain schon frühzeitig den kommenden 'Führer' zu erkennen glaubt. Chamberlains Bedeutung für die Geschichte des 20. Jahrhunderts darf also nicht unterschätzt werden. Er hat mit seinen Schriften den Weg für den spezifischen Rassismus und Antisemitismus geebnet, der die deutsche Gesellschaft nicht erst seit der Zeit des Nationalsozialismus bestimmt hat6. Dabei hat er nicht nur rassistische Theoriebildung in einem wissenschaftsinternen, die Gesellschaft kaum berührenden Sinne betrieben. Seine eigentliche Wirkung liegt darin, dass er in einer herausgehobenen sozialen Schicht, dem Bürgertum, die Bereitschaft erweitert7, manchmal sogar erst geweckt hat, rassistische Theorien, für die es von der aufklärerischen Tradition her kaum Grundlagen gab, ernsthaft und mit Interesse zu rezipieren. Und Chamberlain wurde ernst genommen, weil er im konservativbürgerlichen Stil, im Rahmen bildungsbürgerlicher Sprach- und Textideale und im Rahmen bürgertypischer Inhalte argumentiert und geschrieben hat. Er traf die Sprache seiner Leser, teilte ihre Ideale, propagierte ihre bürgerlichen Tugenden und köderte sie mit ihren eigenen Argumenten. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, dass er die bürgerliche Existenzweise und _____________ 5 6 7
Vgl. dazu: Conze, s. v. Rasse. In: GG 5, 173. Man vgl. dazu Alfred Rosenbergs Nachahmung: Der Mythus des 20. Jahrhunderts 1928. Dazu von Polenz III, 1999, 83: "So haben die (noch lange gerühmten) akademischen patriotischen Reden und Schriften von Fichte, Schleiermacher, Adam Müller u. a. und die publizistischen Aktivitäten (in Flugschriften, Zeitungen, Liedern) von Görres, Gentz, Arndt, Jahn, Körner u. a. in der napoleonischen Zeit viel zur Verbreitung eines bildungsbürgerlichen deutschen Nationalgefühls beigetragen, teilweise mit kulturellem Sendungsbewußtsein, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus." Siehe dazu auch: Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland 1985.
5 Einleitung
Existenzidentifikation in einen großen Weltzusammenhang stellte und dabei den Alltag und alle realen Sorgen und Nöte des Individuums ausklammerte. In seinen Schriften thematisiert er immer wieder die vom Bildungsbürgertum geachteten kulturellen Großereignisse wie Reformation und Reichsgründung, beruft sich auf dieselben Vorbilder wie sie, nämlich die schon genannten Luther, Bach, Goethe und Bismarck, und zieht genau diejenigen sprachlichen Register, die entweder altbekannt und damit vertraut sind, oder diejenigen, die beim Leser den Eindruck von Wissenschaftlichkeit und damit von Objektivität erwecken. Chamberlain ist ein Wolf im Schafspelz, dessen Gefährlichkeit in erster Linie darin besteht, dass er vieles schreibt, was ein Bürgerlicher um die Jahrhundertwende problemlos akzeptieren konnte, sehr vieles, womit dieser sich sogar identifizieren wollte, und nur ganz weniges, was ihn, aber nur wenn er sehr kritisch war, hätte aufhorchen lassen müssen. Aber genau die beiläufige Akzeptanz des Problematischen machte jeden affirmativen Leser schon zum Komplizen einer Weltanschauung, in der es programmatisch um die organisierte Vernichtung der jüdischen Rasse und im Gegenzug um die Herstellung eines 'neuen Menschentyps' ging, den er Arier nannte. Damit wird schon deutlich, dass die von Chamberlain propagierte Ideologie ein Menschenbild aufweist, das inhaltlich und in seiner textlichen Gestaltung dichotomisch konstruiert ist und gezielt dazu dient, Feindbilder zu entwerfen. Um diese Konstruktion soll es entsprechend auch im ersten Teil der Untersuchung gehen, der zum Ziel hat, auf der Grundlage eines Textcorpus Chamberlain'scher Schriften und mit Hilfe einer lexikographischen Textanalyse das Menschenbild Chamberlains zu rekonstruieren. Im Mittelpunkt der Analyse steht das Wort Mensch mit seinen Bedeutungsverwandten, danach folgt die Behandlung der ebenfalls aus dem Corpus erarbeiteten Mensch-Komposita. Diese Analyse dient der zweiten These als argumentative Grundlegung. Sie besagt, dass Menschenbilder weltanschauungskonstitutiv sind. Der Begriff vom Menschen, den man sich konstruiert hat, und den man sprachwissenschaftlich rekonstruieren kann, spiegelt die Weltanschauung wider, die ein Autor hat. Als Weltanschauung bezeichnet man normalsprachlich das Gesamtverständnis von Individuen, Gruppen und Schichten über die Welt, in der sie leben. Dieses Gesamtverständnis ist nicht angeboren, sondern wird durch Texte ansozialisiert. Es betrifft nicht nur das Text-Verstehen, sondern ist eine ganz bestimmte Perspektivsozialisation, die die gesamte Art prägt, die Welt zu sehen, sie zu interpretieren und damit letztlich auch in ihr zu handeln. Das Hauptanliegen der Arbeit besteht demnach darin, die Konstruktion einer Weltanschauung nachzuvollziehen, und zwar in ihren Inhalten wie in ihren sprachlichen Fassungen.
6 Einleitung
Um den Weg vom Menschenbild zur Weltanschauung rekonstruktiv zu beschreiben, muss eine linguistische Analyse der weltanschauungskonstitutiven Texte Chamberlains vorgenommen werden, womit das unter sprachwissenschaftlichem Aspekt wichtigste Anliegen der Arbeit angedeutet ist, nämlich die wissenschaftliche und damit zugleich sprachkritische Rekonstruktion der Konstruktion. Selbstverständlich stehen alle Kapitel dieser Untersuchung im Dienste dieser Aufgabe. Sie wird jedoch in unterschiedlicher Weise angegangen. In den Kapiteln II bis IX werden in erster Linie lexikalsemantische und begriffliche Aspekte betrachtet. In den daran anschließenden Kapiteln stehen satzsemantische und pragmatische Stilmittel im Vordergrund. Es geht also um die sprachlichen Handlungen, die dazu dienten, den Leser seiner Zeit erst einmal zu BEDROHEN, ihm dann zu SCHMEICHELN, ihn von dem eigenen Weltentwurf zu ÜBERZEUGEN und ihm schließlich utopische VERSPRECHUNGEN zu machen, die ihn bereits durch die Rezeption in eine Position der affirmativen Zustimmung manövrieren. Es geht außerdem um den Aufweis einer bestimmten Stilistik, die adressatenspezifisch vorzugsweise auf sein bürgerliches Publikum gerichtet ist. Es wird deutlich, dass Chamberlain bewusst die bewährten Register bildungsbürgerlicher Selbstverständlichkeiten ausspielte, wozu die schon genannten Legitimationsfiguren, -ereignisse und typische Legitimationsideale wie Bildungsbewusstsein, Pflichtgefühl und Ordnungsliebe gehörten. Seine Sprechakte sind offensichtlich beziehungssteuernd und ideologisch manipulativ, auch wenn er sie in einem Verbund von pseudowissenschaftlichen Diskussionen und Belehrungen verbirgt. Neben den schon genannten Mitteln muss auch sein Umgang mit sakralsprachlichen Elementen und entsprechendem Textmusterwissen erwähnt werden. Es soll gezeigt werden, dass Chamberlains Texte nicht nur in geschichtstheoretische Zusammenhänge eingeordnet werden können, sondern dass sie auch erbauungsliterarische Züge haben: Ein nicht nur selbstbewusstes, sondern sich auch von innen und außen bedroht fühlendes Bürgertum wird als aufgehoben in den fortschrittlichen Gang der Naturgeschichte, als besserer Teil der Menschheit, gleichsam als ihre von der Natur und von Gott zum Gewinner bestimmte Elite vorgestellt und dadurch erbaut. Chamberlains gesamtes Werk hat damit utopische Züge, seien es die Grundlagen oder seine pseudotheologische Schrift Mensch und Gott, das ausgesprochen rassistische Werk Arische Weltanschauung, oder auch seine Bücher über Immanuel Kant und Richard Wagner. Im Unterschied zu vielen seiner kulturpessimistischen Zeitgenossen propagiert Chamberlain die Lebensbejahung und die Vorstellung von kommender Größe und Heil. Auch hierin liegt ein Geheimnis seines Erfolges begründet. Er konstruierte eine halbreligiöse Projektionsfläche für das Bürgertum, durch die es bereits in dieser Welt auf Glückseligkeit und Macht hoffen konnte. Der
7 Einleitung
Schlüssel dafür lag wiederum in der schon angedeuteten Bildungs- und Kunstreligion. Dass Weltanschauung und Religion Hand in Hand gehen, wurde angedeutet. Es ist aber unwahrscheinlich, dass ein deutsches Bürgertum, das weitestgehend konservativ war und sich darüber hinaus schon aus nationalen Motiven mit dem deutschen Protestantismus identifizierte, vom Christentum abwendet. Daher ist in einem weiteren Schritt zu diskutieren, was sich hinter Chamberlains erklärtem Vorhaben, eine germanische Religion zu propagieren, verbirgt. Deutlich wird dabei, dass sein Religionsverständnis fundamentale Abweichungen vom Christentum aufweist, dass es programmatisch national bis nationalistisch orientiert und in jeder Hinsicht eine eigene Konstruktion ist. Indem diese jedoch als zweite Reformation, als Vollendung der geschichtlichen Leistung Luthers, vorgestellt wird, bleibt sie verbal und argumentativ dem Protestantismus verhaftet. Konsequent konservativ-traditionell erklärt Chamberlain, dass seine Vorstellung von christlicher Religion nichts anderes ist als die Befreiung der Wahrheit aus den Fängen des Bösen. Nichtreflektierende Leser konnten so in dem Glauben bleiben, sie seien orthodox protestantisch. Sie wollen nicht erkennen oder vermögen nicht zu erkennen, dass jeder Ausdruck Chamberlains, laute er nun Gott, Heiland, Erlösung, Heil oder Gnade, betreffe er 'Wahrheit' oder 'Befreiung' oder 'Böses', nur unter dem alten Etikett erscheint, sich bei kritischer Betrachtung aber als Verfälschung des dogmatischen Christentums und selbst seiner humanistischen Traditionen erweist. Unter kommunikationsbezüglichen Aspekten liegt Verführung vor, oft auch Heuchelei und Selbstbetrug. Exkurshaft sei an dieser Stelle erwähnt, dass sich die Fachsprache, die dies beschreibt, in einer fortwährenden Zwickmühle befindet. Einerseits muss sie als Beschreibungssprache referierend auf die Lexik des Beschreibungsgegenstandes, also zum Beispiel auf Gott oder Erlösung, zurückgreifen, kann also nicht neue Ausdrücke einführen und kann auch nicht den gesamten ideologischen Wortschatz in Anführungszeichen setzen oder mit einem warnenden Ausrufezeichen versehen; andererseits läuft sie Gefahr, bereits durch die Überhebelung der zu beschreibenden (objektsprachlichen) Lexik in die Metaebene, also in die beschreibende Fachsprache, beim heutigen Leser die gleichen Effekte von nachvollziehendem Verständnis, Inhaltsverwischung und Identifizierung zu erzielen, denen die zeitgenössischen Rezipienten offensichtlich in großer Zahl unterlegen sind. Die gesamte politische Aussage, die die vorliegende Arbeit neben der wissenschaftlichen hat, wird dieses Problem reduzieren. Das diesbezügliche Verständnis des Lesers wird trotzdem gefragt sein. Das Zentrum der Weltanschauung Chamberlains ist "die Rasse". An ihr ist sein Menschenbild ausgerichtet, damit auch seine Vorstellung von
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Kultur, Religion und Geschichte; und er steht dabei nicht allein. Ganz im Sinne Foucaults, der in der Archäologie des Wissens8 schreibt: "Es gibt keine Aussage, die keine anderen voraussetzt", ist darauf hinzuweisen, dass der Schwiegersohn Wagners den Rasse-Diskurs, der das Zentrum der Arbeit darstellt, nicht begonnen hat. Man kann ihm jedoch eine entscheidende diskursgeschichtliche Funktion in der Vermittlung des Themas 'Rasse' in das 20. Jahrhundert und der Besetzung der Aussageinhalte zuschreiben. Um dabei erfolgreich zu sein, brauchte er historische Autoritäten, auf die er sich - wie auch immer - berufen konnte. Damit wird Chamberlain zum Brückenbauer, und zwar nach rückwärts wie in die Zukunft. Das letzte Hauptkapitel der Arbeit wendet den Blick zunächst nach rückwärts; es geht um Personen vorwiegend des 18. und der ersten beiden Drittel des 19. Jahrhunderts, deren Aussagen unabhängig vom Zusammenhang, in dem sie nach methodisch kontrollierter akademischer Traditionsbildung stehen, je nach Eignung für die eigenen Zwecke aufgegriffen, modifiziert und damit in die Chamberlain'sche Konstruktion eingebaut werden. Auf diese Weise geraten – dem Leser vermutlich völlig unerwartet - Goethe z. B. mit seinem Prometheus und seinem als Übermensch interpretierten Faust (ähnlich später Nietzsche), Kant mit seiner Voraussetzung der Perfektibilität des Menschen, Wagner mit der Kunst als rettender Existenzform (ähnlich Schopenhauer und später wieder Nietzsche) in einen Zusammenhang, der selbstverständlich nicht unter Aspekten wissenschaftlicher Nachzeichnung dessen, was von den genannten Autoren gemeint gewesen sein könnte, betrachtet werden darf, der aber als Gegenkonstruktion gegen Verfallstheorien (Gobineau, Schopenhauer, auch Wagner, später Spengler) unterschiedlicher Provenienz Geschichte machen sollte. Es geht in diesem Kapitel aber auch vorausweisend um Chamberlains Nachfolgerdiskurse, um Bildungsbürger wie Georg Schott oder Ernst Bergmann, vor allem aber um die Nationalsozialisten. Ohne die ideologische Vorbereitung durch Autoren wie Chamberlain, durch die rassistische Textsozialisation, man könnte sie auch eine rassistisch umgedeutete geistesgeschichtliche Tradition nennen, wie sie von Chamberlain propagiert wurde, wären Hitlers Parolen weniger vorbereitet gewesen und hätten beim Bürgertum wohl kaum so rasche allgemeine Resonanz gefunden. Es geht demnach um einen sprachwissenschaftlichen Versuch, der Akzeptanzbereitschaft von Rassismus und Faschismus einer Epoche auf die Spur zu kommen. Auf der Grundlage der ideologiewirksamen Schriften eines typischen Bildungsbürgers, nämlich Houston Stewart Chamberlains, soll gezeigt werden, wie schmal der Grat zwischen bildungsbürgerlicher Hochkultur und menschenverachtender Unkultur werden kann. Es _____________ 8
Foucault, Archäologie des Wissens 1981, 145.
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geht dabei zum einen um die Rekonstruktion des Menschenbildes mit den Mitteln lexikographischer Textanalyse, darauf aufbauend um den Nachweis wort- und begriffsgeschichtlicher ideologischer Verschiebungen, wie sie von Chamberlain praktiziert und in die Tradition eingebracht wurden, herausgearbeitet zum einen an zentralen Lexemen wie Arier, Künstler, Persönlichkeit, Jude und Rasse, und zum anderen an erkennbar ideologiesprachlichen Ausdrücken wie Leben, Wille, Sozialismus oder Entartung bzw. am benutzten Metaphernsystem. Neben der lexikalischen Seite werden der Gebrauch der Präsuppositionen, die Verteilung der Handlungsrollen, Inklusion/ Exklusion und die Kollektivierung analysiert. Dies macht insgesamt die erste Hälfte der Untersuchung aus. Die zweite Hälfte ist dem Diskurs gewidmet, und zwar in doppelter Hinsicht: erstens dem Chamberlain vorangehenden und zweitens dem ihm folgenden Diskurs. "Alles Denken ist Nachdenken", so Hannah Arendt; in unserem Fall geht es um das, was man ihm nach seiner Auffassung vorgedacht hat, wie um das, was man ihm nachgedacht hat, also um seine von ihm selbst ernannten Vorläufer und um seine Jünger. Die Arbeit versteht sich als interdisziplinärer Beitrag zur Ideologiegeschichte im Allgemeinen und zur Geschichte sozio-kommunikativer Beziehungen9 im Sinne K. Mattheiers (1998, 5) im Besonderen. Interdisziplinär ist die Arbeit insofern, als mit sprachwissenschaftlicher Methodik begriffs-, ideen- und diskursgeschichtliche Gegenstände bearbeitet werden. Sie hat außerdem einen pragma- und soziolinguistischen Charakter. Dieter Cherubim hat, in Anlehnung an Horst Grünert,10 dazu aufgefordert, sprachgeschichtliche Betrachtungen nicht auf Systemfragen zu beschränken, sondern um einen handlungstheoretischen (versteckt auch: soziolinguistischen) Zugriff zu erweitern, d. h. "Sprachveränderungen als Veränderungen in den unterschiedlichen Formen und Möglichkeiten des Sprachhandelns zu fassen" (Cherubim 1998, 199).11 Als Beispiel für eine sprachhistorisch bedeutsame Entwicklung, die vorwiegend unter pragmatischen Aspekten zu untersuchen wäre, nennt er u. a. "die Ideologisierung sprachlicher Mittel i. S. einer Zuordnung und Fixierung auf bestimmte Einstellungen oder Positionen, die z. B. mit der Herausbildung von bestimmten politischen Gruppen und Parteien verbunden waren" (ebd. 200). _____________ 9 10 11
Vgl dazu: Mattheier, Kommunikationsgeschichte des 19. Jahrhunderts 1998, 5. Grünert, Sprache und Politik 1974. Cherubim, "Die zerstreute Welt zu binden im vertraulichen Verein" 1998, 199.
II. Houston Stewart Chamberlain Der Evangelist of Race1 Houston Stewart Chamberlain wurde am 9. September 1855 als Sohn des britischen Generals William Charles Chamberlain und seiner Frau Eliza (geb. Hall) in Portsmouth (England) geboren. Die Mutter stirbt bei der Geburt, so dass Großmutter und Tante ihn aufnehmen müssen. Die ersten 11 Jahre seines Lebens verbringt er bei ihnen in Versailles. Entsprechend ist die Sprache, in der er bis zu seinem dreißigsten Lebensjahr kommunizierte, nicht das Englische, sondern das Französische (Field 1981, 26). Die zumeist kurzen Aufenthalte in England, die vermeintlich wegen des englischen Klimas für das kränkelnde Kind selten erfreulich verliefen, änderten nichts daran, auch nicht der Besuch einer englischen Privatschule von 1866 bis 1870 und die Ferienaufenthalte beim Vater und dem Rest der Familie. Von 1870 bis 1879 erhält er Privatunterricht bei einem deutschen Theologen, Otto Kuntze (ebd. 29), der fortan zu den wichtigsten Personen in Chamberlains Leben gehört. Über die mit ihm in Verbindung zu bringenden Weichenstellungen schrieb Chamberlain in seiner 1919 publizierten Autobiographie: Lebenswege 190: In der Persönlichkeit meines Lehrers, Otto Kuntze, trat mir nun eine mir bisher unbekannte und darum auch ungeahnte Menschenart entgegen, die mich sofort stark anzog - und zwar trotzdem dieser edel gesinnte und wahrhaft gute Mann in bezug auf Sprödigkeit und Unbeugsamkeit als Typus des echten Preußen gelten konnte; an Franzosen war ich ein weit anmutigeres, an Engländern ein ungezwungeneres Wesen gewohnt; doch kostete es mir nicht allzu viel Mühe, das mir Fremde hier zu überwinden, und ich fand mich dafür so reichlich durch das, was deutsches Wesen und deutsche Bildung mir entgegenbrachte, belohnt, daß mich bald eine Art Heißhunger auf die Erwerbung alles dessen, was mir als Anglo-Franzosen abging und was der Deutsche mir zuführte, überkam.
Kuntze vermittelte ihm nicht nur die deutsche Sprache in all ihren grammatischen und stilistischen Möglichkeiten, sondern begeisterte ihn insgesamt für alles, was deutsch war oder als deutsch galt, für deutsche Kultur, Literatur und Philosophie. Kindheit und Jugend des immer Kränkelnden waren bestimmt durch zahlreiche Reisen in der Begleitung seiner Tante, _____________ 1
So der Titel der wichtigsten Chamberlainbiographie: Field, Evangelist of Race: The Germanic Vision of Houston Stewart Chamberlain 1981. Dieses Werk bildet eine der Hauptquellen zu den folgenden Ausführungen.
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oft auch seines Lehrers. Häufigstes Ziel bildeten Kurorte in der Schweiz, Italien, Frankreich und Deutschland.2 Die bestimmenden Gefühle seines ganzen Lebens hatten wohl in dieser durch Unrast geprägten Jugend ihren Ursprung, das Gefühl der Heimatlosigkeit3 und der Wunsch dazuzugehören. Erst 1908, also nach seiner Heirat mit Eva Wagner, wird er seine Erleichterung darüber äußern, angekommen zu sein: Br II, 120: "In Bayreuth war es mir Heimatlosen von der Vorsehung beschieden, eine Heimat zu finden." Heimat ist hier sowohl staatsrechtlich und geographisch wie ideologisch gemeint. Der Weg hin zur 'Deutschwerdung' des AngloFranzosen ist denn auch das bevorzugte Thema der späteren völkischen und nationalsozialistischen Biographen. Sie wird zur Teleologie dieses Lebens erklärt oder, wie Chamberlain es selbst zum Ausdruck gebracht hat, zu seiner von der Vorsehung (Br II, 121) beschiedenen Bestimmung. Leopold von Schröder macht diese Berufung gar zum Leitfaden seiner hagiographisch anmutenden Lebensbeschreibung.4 In einer nahezu überall zitierten Anekdote über den durch Kuntzes Unterricht in Chamberlain immer stärker werdenden Wunsch, ein Deutscher zu sein, heißt es: "Damals wohl tat der begeisterte Schüler den denkwürdigen Ausspruch: "Ich wollte meinen linken Arm hergeben, wenn ich als Deutscher geboren sein könnte."5 Am Ende resümiert von Schroeder, im Übrigen bezeichnend für Denkweise und Stil der Zeit: Von Schroeder 1918, 96: Seltsam! Er hat ihn wirklich verloren, seinen linken Arm, - so gut wie verloren. Er ist ihm schwach und lahm geworden, – fast unbrauchbar. […] Sieht es nicht fast so aus, als habe eine höhere, ernst waltende Macht den begeisterten Knaben beim Worte genommen, als er zu jenem Opfer sich bereit erklärte? Was im Innern dieses Sohnes der britischen Insel sich abgespielt hat […], das ist eine Entwicklung von weltgeschichtlicher Bedeutung, – von dem Tage, da er jenes Wort von dem Opfer des linken Armes gesprochen, bis zu dem Tage, da er mit aller Kraft und Klarheit an die Wand des ungeheuren babylonischen Palastes, den die angelsächsischen Völker in ihrem Dünkel als Weltherrschaftszeichen, mit Hilfe der Mächte des Mammons und der Lüge, sich aufgerichtet, mit Flammenschrift die Worte schrieb: Mene, mene, tekel, upharsin! Gezählt, gezählt, gewogen und zu leicht befunden! An der Grenze eines neuen Zeitalters steht er da, – als Denker rückschauend, als Prophet vorschauend, in einen strahlenden Morgen hinein, der nach seinem Glauben den Deutschen als den Streitern Gottes gehört und gebührt.
Der Weg vom Heimatlosen hin zum Propheten der Deutschen verlief jedoch nicht ohne Umwege. Die oben genannte Eva Wagner, die ihm als _____________ 2 3 4 5
Chamberlain war wohl 1870 zeitgleich mit Kaiser Wilhelm I in Bad Ems. Field 1981, 27; 48. Von Schroeder, Houston Stewart Chamberlain. Ein Abriß seines Lebens 1918, 100; 101. Von Schroeder 1918, 52.
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Tochter Richard Wagners in einem doppelten Sinne Heimat bot, nämlich sowohl familiäre Heimat als auch geistige, war Chamberlains zweite Frau. Die erste, Anna Holst, hatte er 1874 in Cannes kennen gelernt. Er heiratete sie am 9. April 1878 gegen den Rat seiner Tante. Über diese Ehe ist nur wenig bekannt. Anfangs wohl nicht unglücklich, entfernte sich Chamberlain seit 1893 immer weiter von Anna,6 je tiefer er in den Wagnerkreis und damit in die geistige Heimat des Wagnerkultes eintauchte.7 Das kleine Büchlein, das Anna Chamberlain später über ihre Zeit mit Houston publizierte, bringt jedenfalls ihre Treue und Ergebenheit gegenüber ihrem geschiedenen Mann zum Ausdruck, die er ihr wohl nicht im gleichen Maße entgegengebracht hat. Vermutungen über Chamberlains außereheliche Verhältnisse sind sicher nicht unbegründet. Field (1981, 333f.) nennt zum einen die Gräfin Zichy, die über die Jahre hinweg einen regen Briefwechsel mit Chamberlain aufrechterhielt, vor allem aber die Schauspielerin Lili Petri.8 Siegfried Trebitsch gestand er, dass sie die Frau sei, die er am meisten geliebt habe.9 Die plötzliche Hinwendung zu Eva Chamberlain kam für viele überraschend, war für den bekennenden Wagnerianer jedoch offensichtlich der Hafen, den er sich erträumt hatte. Seine beruflichen Umwege begannen 1879. Im Jahr nach der Hochzeit mit Anna begann er in Genf bei Carl Graebe Chemie zu studieren. Dieses naturwissenschaftliche Studium war zunächst auch so erfolgreich (Field 1981, 38), dass er eine Universitätslaufbahn anstrebte und eine pflanzenphysiologische Dissertation in Angriff nahm. Doch eine Nervenerkrankung warf ihn aus der Bahn: Lebenswege 108: Eines Nachmittags im Frühherbst des Jahres 1884 saß ich im Garten beim Tee - da wankte die Gegend vor meinen Augen, das Schlagen des Herzens schien aufzuhören, eine Art halbe Bewußtlosigkeit überfiel mich - das Nervensystem versagte den Dienst. Für Jahre blieb jede wissenschaftliche Arbeit unterbrochen; physiologische Beobachtungen habe ich nie mehr anstellen können.
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Vgl. dazu: Hermann Graf Keyserling, Reise durch die Zeit I, 1948, 124. Keyserling bezeichnet Anna zwar als eine "sehr brave subalterne Gouvernante", missbilligte dennoch die Art, wie Chamberlain sich aus dieser Ehe davonschlich. Während eines längeren Kuraufenthaltes seiner Frau teilte er ihr einfach mit, dass ihre Ehe gescheitert sei und er sich von ihr trenne. Sowohl Rudolf Kassner als auch Graf Keyserling (Keyserling 1948, 128) verweisen auf den starken Einfluss des Wagnerkreises auf Chamberlain. Keyserling beschreibt ihn als in "Wahnfried eingefangen wie eine Haremsfrau und bald darauf auch vollkommen bezwungen und gezähmt" (130), und Rudolf Kassner behauptet, Chamberlain sei Bayreuth hörig gewesen (Kassner, Werke 10, 325). Vgl. dazu: Keyserling 1948, 130. Vgl. Field 1981, 335.
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Über die Gründe seines akademischen Scheiterns kann man letztlich nur spekulieren, ebenso wie über die Ursachen seiner immer wiederkehrenden Zusammenbrüche und Erkrankungen. Inwiefern diese hypochondrischen Charakter haben oder auf ein Nervenleiden bzw. auf Neurasthenie (Lebenswege 111) zurückzuführen sind, ist den Schriften nicht wirklich zu entnehmen. Auch die Lähmungserscheinungen, die Chamberlain in den letzten Jahren seines Lebens körperlich immer bewegungsloser werden ließen, können nicht eindeutig diagnostiziert werden.10 Graf Keyserling behauptet allerdings, es sei ein schwerer Fall von Parkinson gewesen.11 Zu den Schwierigkeiten beim Experimentieren und Verfassen der Doktorarbeit kamen finanzielle Sorgen hinzu. Chamberlain hatte sich an der Börse verspekuliert und sein väterliches Erbe verloren. Er fiel damit in die familiäre Abhängigkeit der Tanten und Brüder zurück, aus der er trotz publizistischer Erfolge zeit seines Lebens nicht wieder herauskam. Sein Bruder Basil, eine bekannter Japanologe, unterstützte ihn sogar noch nach dem Ersten Weltkrieg. Die Fehlspekulationen an der Börse, seine Misserfolge an der Universität und die Erkrankung nahm er 1885 zum Anlass, ins ersehnte und zudem billigere Deutschland umzuziehen. Dass die Wahl auf Dresden fiel, war kein Zufall. Die Stadt an der Elbe galt als geistige und musikalische Urheimat Wagners. Hier hatte Wagner als Kapellmeister den Rienzi, den Fliegenden Holländer und den Tannhäuser auf die Bühne gebracht. Hier war er aber auch ausgewiesen worden, nachdem er sich in den Wirren der Jahre 1848 und 1849 auf die Seite der Revolutionäre geschlagen hatte. Die schicksalhafte Verbindung zwischen Chamberlain und Wagners Musik und seiner Kunstauffassung wurde bezeichnenderweise durch den Kontakt mit Juden herbeigeführt. Ein Pariser Pianist namens Löwenthal führte ihn in die Musik Wagners ein, der Wiener Blumenfeld in das Prinzip des Gesamtkunstwerks. Lebenswege 194: Noch einen letzten Namen muß ich nennen, den eines Wiener Juden, Blumenfeld. […]. Blumenfeld war der erste Mensch, der mir Näheres über Richard Wagner mitzuteilen wußte. […] der Wiener […] war erfüllt von der überragenden Bedeutung des Bayreuther Meisters und erfreut, einen so begeisterungsfähigen Zuhörer zu finden. Bezeichnend war, daß es sich bei ihm keineswegs um eine aus Leidenschaft geborene Hingebung handelte, sondern um eine intellektuelle Witterung, wie ich sie später bei Juden nicht selten angetroffen habe. Immer wieder betonte er, er sei kein Enthusiast, ja, Wagner mißfalle ihm in manchen Beziehungen sowohl als Mensch wie als Dichter und Musiker, - worauf aber der Kehrreim stets einfiel: "Aber, bester Herr! man kann sagen, was man will, Wagner ist und bleibt der bedeutendste Künstler in Wort und Ton unter allen Leben-
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Field vermutet Parkinson oder Multiple Sklerose (ebd.). Keyserling 1948, 131.
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den; er ist die einzige große Erscheinung der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.
Nachdem er die Musik in Ausschnitten schon auf Kurkonzerten gehört und Wagners Libretti genauestens studiert hatte, besuchte Chamberlain 1878 die Münchner Ringinszenierung und war sofort so sehr begeistert, dass er dem Allgemeinen Bayreuther Patronatsverein beitrat und seither auch regelmäßig das publizistische Organ der Wagnerianer, die Bayreuther Blätter, herausgegeben von Hans von Wolzogen, erhielt. Schnell entwickelte sich Chamberlain zu einem der umtriebigsten Aktivisten für die Sache Wagners, sei es innerhalb der sich immer weiter verbreitenden Wagnervereine, sei es durch die Suche nach Sponsoren für das zu errichtende Bayreuther Festspielhaus oder in Form von selbst verfasster Artikel. Um es vorwegzunehmen: Aus seiner ästhetischen Begeisterung für das Ideal eines neuen Theaters wurde eine lebenslange ideologische Anhängerschaft an den Bayreuther Kreis und vor allem an die Bayreuther Idee von der Erlösung des Menschen durch die Kunst. Wagners antijüdische und nationalkonservative Vorgaben brauchten vom heimatlosen nationalen Konvertiten Chamberlain in vielerlei Hinsicht nur aufgegriffen und verarbeitet zu werden. Doch man darf trotz dieser Anhängerschaft nicht die geistige Eigenständigkeit Chamberlains unterschätzen. Es gelang ihm im Laufe seines Wirkens, durch besondere Betonungen und Gewichtungen, besonders hinsichtlich der späten Schriften Wagners, der Bayreuther Idee seinen eigenen rassistischen Stempel aufzudrücken. Der schon genannte Blumenfeld war es übrigens, der Chamberlain dazu anregte, zu den Festspielen nach Bayreuth zu fahren, was aufgrund seiner prekären finanziellen Situation aber erst im Jahr 1882 gelang.12 Dann besuchte er den Parsifal gleich sechsmal hintereinander und fühlte sich wie auf "Engelsschwingen in den Himmel getragen"13. Es gelang es ihm sogar, den Meister selbst mehrere Male von weitem zu sehen. Seine Beobachtungen während eines Soupers schildert Chamberlain in den Lebenswegen mit hagiographischer Ausführlichkeit.14 Den Eintritt in die Wagnerschen Sphären, so schließt er seinen Bericht über "seine Premiere" in Bayreuth, war für den Suchenden eine "himmlische Speisung, die der Geist nicht mehr entbehren kann".15 Chamberlains Besuch der ParsifalPremiere (1882) war zugleich seine einzige Chance, den Meister am Werk zu erleben, denn es waren die letzten von Richard Wagner selbst geleiteten Opern-Festspiele überhaupt. Das Idol starb ein Jahr später in Venedig (1883). _____________ 12 13 14 15
Field 1981, 52. So in einem Brief an seine Tante Harriet, vgl. Field 1981, 59. Lebenswege 236-242. Lebenswege 247.
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Den vierjährigen Studienaufenthalt (1885-1889) in Dresden, bei dem er sich weniger der Pflanzenphysiologie als einer Vertiefung der schon in Genf begonnenen Literatur- und Kunststudien zuwendete, nutzte Chamberlain dazu, die Schriften Buckles, Spencers, Darwins und Huxleys zu lesen und sich mit der Geistesgeschichte der deutschen Klassik und des deutschen Idealismus auseinanderzusetzen. Seine literarischen Studien galten vorwiegend Plato, Kant und Schopenhauer. Er besuchte die Oper, so oft er konnte, und publizierte seine ersten Aufsätze über Wagner. Es sind die französischen Abhandlungen in der Revue Wagnerienne: Notes sur Lohen-grin, Notes sur Goetterdaemmerung; Notes sur Tristan et Isolde.16 Die Revue war die französischsprachige Version der Bayreuther Blätter und im Unterschied zu diesen alles andere als nationalkonservativ, sie war im Gegenteil eine treibende Kraft der französischen Avantgarde und des Symbolismus. Schriftsteller wie Paul Verlaine, Jois-Karl Huysman, Philippe Villiers de L'Isle-Adam, Paul Valery, Jules Laforgue, Stephane Mallarmé, Romain Rolland17 schrieben für sie oder lasen sie. Man diskutierte das Kunstwerk der Zukunft und die Philosophie Schopenhauers und hielt im Unterschied zum fränkischen Gegenstück nicht starr am orthodoxen Dogma des Meisters fest. Chamberlain hatte regen Anteil an den Diskussionen und Vorbereitungen des Herausgebers Edouard Dujardin in Paris, die schließlich im Jahre 1885 zum Erscheinen der Zeitschrift führten. Aber auch er konnte deren Einstellung zwei Jahre später nicht verhindern.18 Gerade diese Dresdener Jahre sind entscheidend für sein weiteres Leben. In der Stadt an der Elbe knüpft er seine vielfältigen deutschen Wagnerkontakte, vor allem aber die wegweisenden zur Familie des Komponisten. 1884 war er zum ersten Mal in Bayreuth im Hause Wahnfried zum Empfang geladen. Doch erst 1888 hatte er Gelegenheit, Cosima Wagner in Dresden persönlich kennen zu lernen. Sofort beginnt ein reger Briefwechsel, aus dem sich deutlich nachweisen lässt, wie sehr die Witwe Wagners auf den ideologischen Fortgang des Engländers eingewirkt hat. Einer der nationalsozialistischen Biographen Chamberlains, Hugo Meyer, beschreibt diese schicksalsreiche erste Begegnung mit Cosima Wagner voller Pathos: "Am 12. Juni 1888 lernte die Hüterin von Wagners künstlerischem Vermächtnis im Hause des Dresdener Bildhauers Kietz den künftigen Anwalt ihrer Sache kennen".19 Der jahrelange Briefwechsel zwischen der Herrin von Bayreuth und ihrem zukünftigen Schwiegersohn, der von Paul Pretzsch 1934 herausgegeben worden ist, umfasst fast 700 Drucksei_____________ 16 17 18 19
In: Revue Wagnerienne: Lohengrin: Nr. XII, 8. janvier 1886; 343-351; Goetterdaemmerung: 2, Nr. V, 8. juin 1886, 134-138; Tristan et Isolde: 3, Nr. I, février 1887, 9-17. Vgl. dazu Müller, Wagner in der Literatur und im Film 1986, 707. Vgl. Field 1981, 64. Meyer, Houston Stewart Chamberlain als völkischer Denker 1939, 45.
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ten, darunter freilich auch Auszüge aus Briefen an Eva und Anna Wagner. Er beginnt bereits zwei Tage nach der ersten Begegnung in Dresden, am 14. Juni im Jahre 1888. Bis zur Hochzeit mit Eva Wagner bezeichnet Chamberlain Cosima Wagner ehrfurchtsvoll als Meisterin, danach als Mutter bzw. Mama. Der Weg dahin führte über sein großes Engagement in den Wagnervereinen, seinem Verhalten in der Praeger-Affäre, aber auch über die kontinuierlich voranschreitende Entfremdung von seiner Frau Anna. Die Hauptthemen drehten sich um Kunst und Literatur, Wagner, den Wagnerkreis, Wagneraufführungen überall in Europa, um Schauspieler und Sänger und natürlich um die Festspiele in Bayreuth. Es sind vor allem in späteren Jahren sehr persönliche Briefe, in denen man sich die Sorgen des Lebens mitteilt, vor allem aber in denen man sich seiner Weltanschauung durch den anderen versichert. Der Briefwechsel spiegelt von Beginn an die ideologische "Seelenverwandtschaft" der beiden. Auch wenn die Beziehung nicht immer störungsfrei verlief, so war sie für beide doch ausgesprochen inspirierend.20 Bemerkenswert sind in dieser Hinsicht u. a. zwei Briefe, einer aus dem Jahre 1893, in dem es zuerst Cosima war, die Chamberlain auf die rassenchauvinistisch wegweisenden Schriften des Grafen Gobineau aufmerksam machte:21 "Über Gobineau einmal mündlich. Sie müßten aber doch das Buch selbst lesen." Chamberlain hatte vorher eine lange Ausführung über die Rasse angestellt: "Ebenso wie solche phänomenale Denker wie Kant und Schopenhauer durch glückliche Mischung entstehen konnten, ebenso können außergewöhnliche Tiere nur durch (hier noch dazu zielbewusste) Kreuzung entstehen" (BW 361). Der prinzipielle Konsens hinsichtlich Rassismus und Antisemitismus zwischen Cosima und Chamberlain äußerte sich auch in ihrem Verhalten gegenüber den Juden. Nach dem Tode Hermann Levis bezeichnet Chamberlain ihn in einem Brief an Cosima als labile Waage (BW 599) und bekommt zur Antwort: "Was nun schwere Konflikte herbeiführte, das war das, was seinem Stamm als Fluch mitgegeben ist: Mangel an Glauben, selbst da, wo er Überzeugung hatte, Mangel an Andacht, sogar da, wo er verehrte; […]. Er hat sehr darunter gelitten, Jude zu sein [...]. Aber dieses Leiden war nicht tief genug, um eine Wandlung hervorzubringen." Waren die antijüdischen Prämissen von Wagner vorgegeben, so haben Cosima und Chamberlain sie konsequent weitergeführt. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Dresdener Jahre mit ihren intensiven Kontakten zu den Wagners und den Wagnerianern den Wandel vom Kosmopoliten zum antisemitischen Wagnerianer ausmachten, für den das "Deutsche" zum Orien_____________ 20
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Field 1981, 63; vgl. auch: Hilmes, Herrin des Hügels. Das Leben der Cosima Wagner 2007. Hilmes weist in seiner Biographie der Wagnerwitwe immer wieder auf die Bedeutung Chamberlains für Cosima Wagner und umgekehrt hin (Hilmes 2007, 13; 240; 280; 428). BW = Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain im Briefwechsel 1934, 363.
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tierungszentrum wurde,22 obwohl er persönlich in seinem Leben, zumindest ist nichts davon bekannt, niemals negative Erfahrungen mit Juden gemacht hat. Seine Art des Judenhasses muss daher vor allem mit Richard Wagners Schriften, mit den Einstellungen der Mitglieder der Wagnerfamilie und anderer antisemitischer Zeitgenossen in Verbindung gebracht werden.23 Als Chamberlain 1889 nach Wien übersiedelt, um seine pflanzenphysiologischen Arbeiten, die er in Genf begonnen und in Dresden weitergeführt hatte, zu beenden, waren seine antisemitischen Vorstellungen jedenfalls bereits angelegt. Das "Laboratorium der Apokalypse", wie Karl Kraus die Stadt an der Donau nannte, war jedoch der passende Ort, seine ideologische Gegnerschaft zu den Juden zum zentralen Anliegen seines Lebens weiter zu entwickeln. Field meint dazu: Field 1981, 115: Vienna not only encouraged Chamberlain to ponder more systematically the qualities and mission of the Germanic race, it also shaped and accentuated his conviction that the Jew was its historical antithesis.
Der Umzug nach Wien sollte aber auch seinen letzten Versuch darstellen, die biochemische Doktorarbeit zu einem Abschluss zu bringen. Sein erster Weg galt zunächst Professor Julius Wiesner, dem Rektor der Universität Wien, der aufgrund einer Arbeit über die Rohstoffe des Pflanzenreiches (erschienen 1873) in seinem Untersuchungsgebiet einschlägig bekannt war.24 Wie Anna Chamberlain schildert25, entwickelte sich sehr schnell eine Freundschaft zwischen Wiesner und ihm, die so weit führte, dass er Wiesner später sogar sein wichtigstes Werk, die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, widmete. Die folgende Beschreibung Wiesners durch Chamberlain in seinen autobiographischen Lebenswegen macht deutlich, worin die Sympathie zwischen diesen beiden Männern begründet lag. Sie diskutierten die Darwinschen Vorgaben, nutzten sie aber gleichzeitig dazu, ihre eigenen Vorstellungen von der Entwicklung der Arten zu entwickeln. Dabei wird das Prinzip 'Leben' in metaphysische Ebenen gehoben und die lebendige Anschauung als kritisches Schlagwort gegen empirische Wissenschaftlichkeit genutzt. Lebenswege 115: Um diese Zeit [1900] erschien auch Wiesner's kleine Schrift Das Bewegungsvermögen der Pflanzen; eine kritische Studie über das gleichnamige Werk von Charles Darwin: ein vollendetes Muster sachlicher Kritik; keine Spur der unerträglichen Schulmeisterei und des blöden Besserwissenwollens,
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Vgl. auch Field 1981, 83; 88. Vgl. Large, Ein Spiegelbild des Meisters? Die Rassenlehre von Houston Stewart Chamberlain 2000, 145. Vgl. Lebenswege 114. Vgl. dazu: Anna Chamberlain, Meine Erinnerungen an H. St. Chamberlain 114/5.
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vielmehr ein Widerlegen ungenügender durch genauere Versuche und ein Aufklären der unzulänglichen durch entsprechendere Deutungen, wie sie der eigentliche Fachmann aus seinen umfassenderen Kenntnissen schöpft: zum Schluß die Anerkennung der Anregungen, die Darwin's Schrift in reicher Fülle bietet, und der herrliche Satz: "Das ist aber das Beste, was ein wissenschaftliches Werk bieten kann: zu neuen Forschungen lebendige Impulse zu geben". Wie Sie sehen, faßt Wiesner die Wissenschaft als ein Lebendigbewegliches, als das Gegenteil aller Dogmatik auf.
Insgesamt erhält man den Eindruck, dass je deutlicher Chamberlain in der reinen, d. h. empirisch begründeten und dann nachprüfbar deduzierenden Wissenschaft scheitert, desto vehementer er diese für unzureichend erklärt; und desto mehr geht es ihm um eine künstlerische, durch Ausdrücke wie lebendigbeweglich charakterisierte Gesamtanschauung der Natur als Ergänzung zur exakt scientivischen Betrachtungsweise (ebd. 89). Diese stark gegen den Darwinismus gerichtete, dafür aber um so mehr an Wagners Gesamtkunstwerk erinnernde, immer wieder auf Kant und den Idealismus bezogene Forderung nach Ganzheitlichkeit der Anschauung beschreibt Chamberlain als seine Lebenslehre. Es geht ihm um: Lebenswege 125: EINE NEUE ANSCHAUUNG bezüglich der Gestalten lebender Wesen und der Bedeutung des Begriffes der Verwandtschaft zwischen den Organismen - entstanden unter dem Einflusse der Goethe'schen Naturanschauung, des indischen und des Kant'schen Denkens: vorläufiger Schattenriß zur Verständigung über die geeignetsten Mittel und Wege, um dieser Idee habhaft zu werden, d. h. um sie aus dem Bereiche des nebelhaft Geahnten in das des deutlich Geschauten und klar Durchdachten überzuführen: in der Hoffnung, den geistigen Besitz der Menschen hierdurch zu bereichern, der plump-empirischen Evolutionslehre eine Todeswunde zu schlagen und sowohl der Metaphysik wie der heiligen Kunst in fördersamer Weise entgegenzuarbeiten. […] Dabei wird sich herausstellen, daß einzig die ANSCHAUUNG d. h. dasjenige, was sich bei der Betrachtung der Dinge unmittelbar als Vorstellung widerspiegelt, einen sicheren Wert besitzt und dem Denken eine feste Grundlage gewährt. Sowohl in Schöpfungsgeschichten wie auch in den verschiedenen Entwickelungstheorien benützt das vom Kausalitätswahn betörte Denken eine verhältnismäßig sehr schmale Grundlage des Angeschauten, um darauf einen babylonischen Turm von Syllogismen zu erbauen.
Chamberlain und Wiesner glauben an die Evolution, aber nicht an diejenige Darwins. Der abgebrochene Biochemiker ist zwar ebenfalls gegen den dogmatischen Glauben an die Unveränderlichkeit der Arten, entwickelt aber auf dieser Grundlage seine eigene, auf eine rassische Höherentwicklung bestimmter Gruppen hinzielende Theorie. Dabei gelingt es ihm, zumindest in den Augen der Zeitgenossen, eine Verbindung der Bayreuther Kunstreligion mit der antidarwinistischen Naturauffassung und der Rassetheorie Gobineaus bei gleichzeitiger Beibehaltung christlicher Motivik herzustellen. Er subsumiert auf diese Weise all dasjenige, was im ausge-
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henden 19. Jahrhundert die Gemüter der Zeitgenossen bewegte. Warum diese Synthetisierung ausgerechnet in Wien möglich wurde, beschreibt Brigitte Hamann in ihrem Buch Hitlers Wien,26 das auch dasjenige Chamberlains ist, nur mit dem Unterschied, dass der freie Schriftsteller Chamberlain anders als der Postkartenmaler Hitler nicht im Männerwohnheim unterkommen musste, sondern einen offenen Salon mit den schillerndsten Persönlichkeiten Wiens führte.27 Die Jahre in der nahe dem Naschmarkt gelegenen Blümelgasse führten viele Persönlichkeiten zu regelmäßigen Treffen beim Ehepaar Chamberlain. Dazu gehörten die schon genannten Professoren Leopold von Schroeder und Julius Wiesner, die Verleger Bruckmann und Lehmann,28 daneben Diplomaten wie Graf BrockdorffRantzau und Ulrich von Bülow, vor allem aber Künstler und Schriftsteller wie Adolphe Appia, Rudolf Kassner29 und Graf Hermann Keyserling. Für den letztgenannten wurde Chamberlain sogar zum großen Vorbild. Er schreibt in seinem autobiographischen Buch Reise durch die Zeit: "Der erste und wichtigste Gegenstand echter Verehrung, den ich gehabt habe, ist Houston Stewart Chamberlain gewesen." Der selbst ernannte Reisephilosoph ist von Heidelberg nach Wien gezogen, "eigens um Chamberlain kennen zu lernen."30 Und er nennt diesen seinen Wegweiser, Wegbereiter, Guru, die Hebamme meines Geistes, den Leitstern auf meinem eigenen Wege. Für Keyserling war Chamberlain mit Goethe, an einer Stelle mit Johannes dem Täufer, an einer anderen sogar mit Christus vergleichbar.31 Selbst nachdem er sich in späteren Jahren von seinem Meister entfremdet hatte, ihn als mimosenhaft sensitiv charakterisiert, offenbart sich noch aus der zeitlichen Distanz die zeitweise ans Pathologische grenzende Verehrung und Schülerschaft: "So kann die Begegnung mit einem Gott den Gott im eigenen Innern urplötzlich ins Leben beschwören." Kassners Beschreibungen des von ihm geehrten und geschätzten32 Chamberlain in der Wiener Zeit sind im Unterschied zu denjenigen Keyserlings durchaus reflektierter: "Chamberlain konnte leicht ins Weinen geraten über Dinge, die ihn angingen, ihm gefehlt haben im Leben. Er war nie wirklich ironisch, gelegentlich aber nicht ohne eine gewisse Selbstgefälligkeit, ja Eitelkeit, die in Überschwenglichkeit, in einem Schwärmerischen eingehüllt blieb, was sehr zu Bayreuth
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Vgl. auch Pollack, Wien 1900, 1991; Large 2000, 147f. Zu den von Chamberlain veranstalteten Leseabenden: Kassner 7, 142ff. Über Lehmann vgl. Wladika, Hitlers Vätergeneration 2005, 441. Kassner 7, 140ff. Keyserling 1948, 117ff. Ebd. 118-123; 133. Kassner, ebd. Kassner hatte sein Buch "Die Moral der Musik" (1. Aufl. 1905; 2. Aufl. 1912/1922) Chamberlain gewidmet. Kassner 3, Widmung.
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passte."33 In Kassners Augen hatte Chamberlain eine enzyklopädische, keineswegs dilettantische34 Bildung. Allerdings sei er ein Sektierer des Universellen oder Universalen und ein Demagoge.35 Seine naturwissenschaftlichen Studien führte Chamberlain jedenfalls in Wien nicht zu Ende. Den Anstrengungen der langwierigen Experimente war er auch diesmal nicht gewachsen. Er reichte seine Dissertation zwar später in Genf ein, publizierte sie sogar36, brachte aber das Promotionsverfahren nicht zum Abschluss. Leopold von Schroeder beschönigt dies mit den Worten: "Auf den Doktor-Grad verzichtete Chamberlain, weil die Genfer Universität zwar die Dissertation annahm, aber zur vollen DoktorPromotion die Gegenwart des Verfassers forderte."37 Dazu sei Chamberlain jedoch nicht bereit gewesen. 1898 kommentiert er den Vorfall in einem Brief an Cosima wie folgt: BW 549: Ein Freund teilt mir mit, Hanslick habe mich in seinem gestrigen Feuilleton den streitbaren Bischof der Wagner-Gemeinde betitelt! Sehr hübsch, hochverehrte Meisterin, nicht wahr? […] Die Universität Genf will mir den Doktorhut nur geben, wenn ich hinkomme und eine Art Scheinprüfung bestehe – wozu mir die Zeit fehlt; jetzt bin ich Bischof und pfeife auf den Doktor!
In der Konsequenz der vorangegangenen Jahre, seiner literarischen Studien, vor allem aber seines naturwissenschaftlichen Scheiterns wurde _____________ 33 34 35 36
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Kassner 7, 146. Kassner 6, 259. Kassner 6, 260. Vgl. auch 514-519. Chamberlain, Recherches sur la sève ascendante 1897. Vgl. dazu einen bemerkenswerten Brief an den Herausgeber der Preußischen Jahrbücher, Hans Delbrück (Br I, 172f.), als Reaktion auf einen dort publizierten Artikel des Januarheftes 1908: "Was dort in der Anmerkung gesagt ist, ist eine direkte und absichtliche Lüge, eine Perfidie, um meine Person […] herabzusetzen. […]. In Wahrheit wurde meine Dissertation nicht "in jüngeren Jahren" geschrieben und veröffentlicht, sondern (wie Prof. Hansen und Privatdozent Bruck sehr gut wissen, da sie das Buch in Händen haben) in den Jahren 1896 und 1897, das heißt mitten in der Arbeit an den "Grundlagen des 19. Jahrhunderts", und in einem Augenblick, wo ich das vierzigste Lebensjahr schon hinter mir hatte. […] Und was die maliziöse Behauptung betrifft, dieser Versuch sei "sehr unglücklich ausgefallen", so kann ich nur darauf aufmerksam machen, daß die ersten deutschen Lehrer (...) heute alle ihrer erwähnen, […]. Ohne also die sehr beschränkte Bedeutung einer derartigen Spezialarbeit irgendwie übertreiben zu wollen - im besten Falle handelt es sich um ein Sandkorn -‚ darf ich doch behaupten, daß das "sehr unglücklich ausfiel" ebenso absurd in der Tat wie verleumderisch in der Absicht ist. Und nun kommt noch die ausgesucht kanaillenhafte Lüge, daß ich, weil dieser Versuch unglücklich ausgefallen war, "nachher" das botanische Studium aufgegeben habe. Wogegen ich in Wahrheit die Laboratoriumsarbeiten wegen schwerer langanhaltender Erkrankung aufgeben mußte, und erst viele Jahre später, als ich schon lange auf andrem Gebiete tätig war, einen Bruchteil meiner Ergebnisse rettete; Ergebnisse, die jetzt noch, wie Sie sahen, 25 Jahre, nachdem ich sie erzielte, als Autorität und - innerhalb eines beschränkten Teilgebietes - als einzig in ihrer Art zitiert werden; immerhin etwas bei unserer schnell schaffenden Wissenschaft." Von Schroeder 1918, 64.
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Chamberlain schließlich freier Schriftsteller. Der Ausdruck Schreibdämon (Lebenswege 4) charakterisiert die Leidenschaft, die sein Leben geradezu zwanghaft zu bestimmen begann. Dieser Dämon ergriff ihn nach seiner eigenen Legendenbildung schon während einer mehrmonatigen Bosnienreise im Jahre 1891. Es ist bezeichnend, dass Chamberlain die Schriftstellerei nicht als das Ergebnis eigener Entscheidung, sondern im gleichen Atemzug sowohl als Einzug eines genialischen Wesens wie als biologische Prädestination darstellt. Lebenswege 125: Mein Tagebuch aus dem darauffolgenden Winter 91-92 erregt fast Schwindel durch die Fülle der Studien und Arbeiten, darunter auch Skizzen zu Büchern; doch wagte ich mich noch nicht an die größere Form eines zusammenhängenden Ganzen. In diesem meinem siebenunddreißigsten Jahre zog jedoch auf einmal der Schreibdämon in meine Seele ein und gewann Gewalt über mich, so daß ich nie mehr von der Feder habe lassen können. Auch dieser Vorgang mag für den Biologen belangreich sein.
Nachdem er zuvor einige Vorträge im Wiener Neuen Wagnerverein gehalten hatte, veröffentlichte er 1892 sein erstes Buch, Das Drama Richard Wagners, worin er zum einen dem Bayreuther Meister als dramatischem Dichter huldigt und zum anderen seine bedeutende Stellung innerhalb des Bayreuther Kreises begründet. Unter letztgenanntem Aspekt sind auch seine publizistischen Stellungnahmen zu Ferdinand Praegers Wagnerbuch in den Jahren 1893 und 94 zu verstehen, mit denen er sich im ideologischen Kampf um das Wagnererbe in Bayreuth positionierte. Praegers WagnerBiographie As I Knew him zeigte Facetten des Komponisten, die Cosima nicht in die Öffentlichkeit gebracht haben wollte, so die Aussage, dass Wagner seine erste Frau Minna schlecht behandelt habe, die Beschreibung seiner Rolle während der Revolutionsjahre und die Offenlegung seines Antisemitismus. Chamberlains Bemühungen sorgten dafür, dass das Buch vom Markt genommen wurde.38 Seine zukünftige Machtstellung als ideologischer Nachlassverwalter Wagners im Sinne der Wunschvorstellungen Cosimas deutet sich hier an.39 Im Laufe der kommenden Jahre machte er sich durch seine publizistischen Erfolge immer mehr zum Sprachrohr eines "richtigen", das heißt orthodoxen Wagnerverständnisses. 1896 erschien die Biographie Richard Wagner, und 1899, also nach nur drei Jahren, folgte sein Hauptwerk Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts (in zwei Bänden, im Weiteren mit Gl abgekürzt). Im Februar 1896 war der Verleger Bruckmann mit der Idee an Chamberlain herangetreten, anlässlich des Anbruchs eines neuen Jahrhunderts eine Art literarischer Hommage an _____________ 38 39
Vgl. den Exkurs zur Praeger-Affäre im Kapitel XI. 6 dieses Buches. Dazu: Gottfried Wagner, Vom Erlösungswahn Wagners im Lohengrin und Parsifal 1997, 94; 105.
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die europäische Bildung zu schreiben.40 Von den ursprünglich drei geplanten Bänden erschienen zwar nur die ersten beiden, diese wurden jedoch zu einem durchschlagenden Erfolg. Als germanophile Subsumtion bestimmter Züge des deutschen Idealismus, der Rassenlehre des Grafen Joseph Arthur de Gobineau, der deutschen Theologie Paul de Lagardes, des Gesamtkunstwerks Richard Wagners, unter ein umfassendes natur-, geistes-, kultur- und religionsgeschichtliches Konzept von Vergangenheit und Gegenwart schildert das Werk die abendländische Geschichte als einen apokalyptischen Kampf der Rassen, der mit dem so genannten Völkerchaos seinen ersten Höhepunkt erfahren habe. Die Germanen erscheinen dabei als die einzige Rasse, die kulturschöpferisch gewirkt habe, während die anderen nur kulturtragend oder aber kulturzerstörend gewesen seien. Allein die Germanen seien zum einen in der Lage, das wahre Christentum und wahre christliche Kultur gegen die Einflüsse des Judentums zu verteidigen, zum anderen vermöchten nur sie den Grundstock für einen neu zu züchtenden Menschen, den Arier, zu bilden. Ein germanisches Christentum, in dem dieser neue Adam, der arische Christusnachfolger, das alte katholisch-jüdische Christentum ersetze, wird dann zum Weg der Erlösung. Flankiert werden die rassentheoretischen und antisemitischen Beweisführungen von altwagnerischer Kapitalismuskritik, vor allem aber von Bildungshochmut, Antimodernismus und Wissenschaftskritik. Seine "Erkenntnisse" kompiliert er von folgenden Naturwissenschaftlern (in Auswahl): Jean Baptiste Lamarck und Geoffroy Saint-Hilaire,41 vom fortschrittsgläubigen Begründer des Sozialdarwinismus Herbert Spencer,42 von Frédéric Cuvier,43 Ernst Haeckel,44 von dem schon genannten Pflanzenphysiologen Julius Wiesner45 und dem Rassenanthropologen Ludwig Woltmann.46 Er verband deren Aussagen oder Erkenntnisse mit Theorien aus der Sprachwissenschaft, z.B. Jacob Grimms,47 und vor allem mit den Werken seiner großen Vorbilder Goethe und Kant. Am prägendsten waren aber wohl Richard Wagner und Gobineau, auch wenn er die Wirkung des letzteren auf sich nicht öffentlich zugab. Was Chamberlain speziell kennzeichnet, ist die Übertragung der Evolutionstheorie auf Kunst und Kultur, wobei Wagner als Vermittler fungiert. Obwohl sich seine Aussa_____________ 40 41 42 43 44 45 46 47
Field 1981, 170f. Lebenswege 121; 264; 267. Gl 154; 853; 962; Kant 623; Br I, 25; 139; 193; Der demokratische Wahn 9ff.; PI 58. Lebenswege 265f. Gl 29; 141; 347; 879; Br II, 322; Lebenswege 121; 349 u. ö. Damit auch Gregor Mendel, da Wiesner sein Schüler war. Vgl. Lebenswege 121; Br I 4042; 51; 60; 62; 172; 173; 175; 176; 180; 302; II 46f.; 195; 217. Br I, 126; 193; II, 213; Gl 596; 834. Gl 873; 838; 863; Dt. Sprache 34.
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gen auf vergangene Jahrhunderte und Jahrtausende beziehen, also auf die Antike, die Germanenzeit, das Mittelalter, die Renaissance, sind sie höchstens sehr bedingt auf das Verstehen von Vergangenheit ausgerichtet. Mit Rasse verbindet er eine Art Geschichtsphilosophie, bei der die Geschichte allerdings nur als Anschauungs- und Argumentationsfeld, ja nur als Spielwiese ge- bzw. mißbraucht wird, um eine Zukunftsutopie zu errichten, in deren Mittelpunkt der Mythos des rettenden Germanen / Ariers steht. Diese Utopie birgt keine spezifischen Lösungsvorschläge für die Probleme der Gegenwart, sondern zielt auf eine einzige sehr allgemein gehaltene Botschaft ab, nämlich dass alles gemacht und erreicht werden könne, was man nur erreichen wolle, vorausgesetzt man ordne sein gesamtes Streben dem Kriterium der Rasse unter; dies impliziert aber auch, dass eine Verweigerung zum endgültigen Untergang führe. Die inhärente Drohung muss kaum erwähnt werden, da allein die Formulierung der Theorie als Sachverhalt / Tatsache genügt, um Andersdenkende als unverständig oder inkompetent erscheinen zu lassen bzw. schlimmer noch als unwillig und damit bösartig. Indem er Heilsmittel benennt, schafft er Zwänge; die Weigerung, ihnen zu folgen, kommt einer Ablehnung des Guten gleich und bedeutet die bewusste Hinwendung zum Untergang. Allein die Bereitstellung des Heilsinstrumentes verpflichtet also moralisch zu dessen Gebrauch. Der Handlungsrahmen für die Zukunft ist damit festgelegt. Was dies im Detail an Einzelhandlungen nach sich ziehen würde, ist (zumindest für den Autor der Grundlagen) weniger von Bedeutung. Dieses geschichtsphilosophische Werk traf, indem es sowohl der vergangenen als auch der zukünftigen Zeit eine rassistische und religionsaffine Sinnstiftung aufprägte, prioritäre Erwartungen oder etwas salopp formuliert: den Nerv seiner Leser, und zwar vom ersten Erscheinen bis hin in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts.48 Es stand nicht nur in der Bibliothek der Freunde Rudolf Kassner und Hermann Keyserling, sondern auch bei berühmten Persönlichkeiten wie Wilhelm Busch. In seinem Buch Der Gottmensch schreibt Kassner, worin die Anziehungskraft der Grundlagen für ihn bestanden habe: "zwei Dinge: erstens der Geist des Antiliberalismus, von welchem bis zum Faschismus oder Nationalsozialismus nur noch ein letzter Schritt gefehlt hat, zweitens die Auffassung von Jesus Christus darin."49 George Bernard Shaw50 empfahl die Grundlagen mit den Worten: "The greatest protestant Manifesto ever written, as far as I know, is Houston Stewart Chamberlains's Foundations of the Nineteenth Century: eve_____________ 48 49 50
Als interessante Reaktion auf die Grundlagen sei auf Ernst von Wolzogens Rezension in der Zeitschrift "Das literarische Echo" vom 1. Februar 1900 (Berlin) verwiesen. Kassner 6, 254f.; 256. Laqueur, Antisemitism 2006, 94: "The supporters of Houston Stewart Chamberlain included the German emperor as well as Teddy Roosevelt and George Bernard Shaw".
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rybody capable of it should read it" (Shaw 1930, 100). Aber Chamberlain war auch einer der wichtigsten Gewährsleute Thomas Manns für seine Betrachtungen eines Unpolitischen.51 Dies gilt sowohl für die Grundlagen als auch für die Wagnerbiographie, aus der Thomas Mann nicht nur alle Wagnerzitate entnommen hat, sondern die er auch mehrfach mit der Phrase vom Ende der Politik zitiert.52 Walter Kempowskis Tadellöser haben es, ganz deutsches Bürgertum, ebenfalls in ihrem Regal stehen.53 Und von Hugo von Hofmannsthal, der den Rassenantisemitismus durchaus salonfähig fand,54 ist bekannt, dass er die Grundlagen sogar verschenkte. Aber noch ein anderer Wiener hatte die Grundlagen intensiv gelesen: Karl Kraus55. In der von ihm herausgegeben Fackel schreibt er: Die Fackel, Heft 21, 31 (1899): Abgeordneter Schlesinger. Wenn Sie nächstens wieder einmal wegen der »Juden« interpellieren oder im 'Deutschen Volksblatt‘ Talmudstellen und gelehrte Meinungen ins Treffen führen sollten, dann vergessen Sie nicht, die Quelle anzugeben. Sie vergeben sich damit ganz und gar nichts. Sie können ruhig eingestehen, dass Sie jetzt das soeben vollständig erschienene Werk »Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts« von Houston Stewart Chamberlain lesen. Auch ich lese es. Und so weiß ich immer ganz genau, wo Sie eine Quelle anzugeben vergaßen.
In der Fackel wurden übrigens nicht nur zwei Aufsätze von Chamberlain publiziert und nachhaltig diskutiert, sondern auch ein Briefwechsel zwischen Kraus und dem von ihm um dieser Zeit hoch geehrten Culturfoscher56 Chamberlain. Wie Field (1981, 232) schreibt, war auch die popularity among academic youth [...] extraordinary. Die intensive Rezeption in der Wandervogelbewegung, für die hier stellvertretend Ludwig Gurlitt57 genannt werden soll, ergänzt diesen Befund.58 Auch der Nobelpreisträger der Physik, Philipp Lenard, fühlte sich dem Engländer verbunden, ebenso wie Ernst Krieck und die völkischen Autoren Arthur Moeller van den Bruck,59 Adolf Bartels und Wilhelm Stapel.60 Eine regelrechte Chamberlain_____________ 51 52 53 54 55 56
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Vgl. Kurzke, Thomas Mann 2000, 287. Vgl. dazu Vaget, Im Schatten Wagners 286; 333. Dieses Buch stand wohl auch bei Hitler in der Bibliothek: Vgl. Zentner, Adolf Hitlers Mein Kampf 2006, 15. Vgl. Kempowski, Tadellöser und Wolf 1996, 30. Grab, Egon Erwin Kisch und das Judentum 1998, 219. Es ist außerdem erwähnenswert, dass in vielen Nummern der "Fackel" Chamberlains Wagnerbiographie auf dem hinteren Deckel beworben wird (ab Heft 89, 1901). Fackel, Heft 21, 31 (1899). Kraus zitiert Chamberlain auch immer wieder affirmativ, z.B. Heft 90, 12 (1901) oder 91, 2, 1902: "»H. St. Chamberlains ausgezeichnet kräftiges Wort in der Wiener 'Fackel'«". Vgl. dazu auch Mosse, Die völkische Revolution 1979, 173; 207. Vgl. dazu Puschner 2001a, 65. Zu Moeller van den Brucks Chamberlain-Verehrung vgl. z. B. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr 1963, 255. Vgl. dazu auch Nadler, Geschichte der deutschen Literatur 1961, 828.
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Prägung gilt vor allem für die jüngere Generation der Rassisten: Ludwig Wiesner,61 Ludwig Woltmann,62 Heinrich Driesmans, Alfred Baeumler, Willibald Hentschel und Hans F. K. Günther.63 Doch besonders die Nationalsozialisten,64 allen voran Dietrich Eckart, Baldur von Schirach, Heinrich Himmler,65 Walter Frank, Hermann Göring,66 Alfred Rosenberg,67 Josef Goebbels68 und Adolf Hitler,69 waren davon beeindruckt und sahen Chamberlain als einen der Ihren an.70 Leopold von Schroeder 77: Der Erfolg war so überwältigend groß und trat so rasch ein, dass er den Verfasser selbst in Erstaunen setzte. Unzähligen, die ihn noch gar nicht gekannt, stand er plötzlich als eine der größten schriftstellerischen Erscheinungen der Gegenwart vor Augen, - Bewunderung, Begeisterung, vielfach auch Widerspruch weckend; auf jeden Fall eine Erscheinung, mit der jeder deutsche Mensch sich irgendwie auseinandersetzen mußte.
Die je nach Ausgabe zwischen 1031 und 1246 Seiten umfassenden Grundlagen wurden bis 1944 in 30 Auflagen gedruckt und in mehrere Sprachen übersetzt. Von der preisgünstigeren Volksausgabe, die 1906 erschien, wurden innerhalb von 10 Tagen 10 000 Exemplare verkauft. Sogar der (jüdische) Literaturwissenschaftler Eduard Engel charakterisiert die im selben Jahr wie seine Literaturgeschichte publizierte Volksausgabe zumindest unter stilistischen Aspekten positiv; er bezeichnet sie allerdings als _____________ 61 62 63 64 65
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Puschner 2001a, 95. Puschner 2001a, 96. Field 1981, 234. Vgl. dazu auch: von See, Barbar -- Germane – Arier 1994, 210. Himmler über Chamberlains Rassetheorie: "Eine Wahrheit von der man überzeugt ist: objektiv und nicht voll von hasserfülltem Antisemitismus. Deshalb umso wirksamer. Dieses abscheuliche Judentum." Padfield, Himmler 1993, 54. Zitiert nach Large 2000, 158. Vgl. dazu den folgenden Ausschnitt aus der so genannten Nibelungenrede Görings, der fast wörtlich auf Chamberlain rekurriert (In: Peter Krüger, Etzels Halle und Stalingrad 2003, 390): "Wie überhaupt jeder von euch eins erkennen muß: in diesem Kampf, der zu einem zweiten, noch gewaltigeren Weltkrieg geworden ist, haben wir letzten Endes einen Kampf der Weltanschauungen und der Rassen zu sehen. Mag man es auch als Einbildung auslegen: wir glauben daran, dass die Vorsehung die nordische, die germanische Rasse bestimmt hat, Träger der höchsten Kultur und der höchsten Menschenwerte zu sein -- und das Deutsche Reich von heute fühlt sich als der stärkste Vertreter dieser nordischgermanischen Auffassung und bildet auch in sich den prägnantesten Ausdruck dieser Rassenerscheinung wieder aus". Chamberlains "Grundlagen des 19. Jahrhunderts" gelten gemeinhin als Vorbild für Rosenbergs "Mythus des 20. Jahrhunderts"; vgl. z.B. Römer 1985, 32; von See 1994, 307ff. Large 2000, 157. Römer 1985, 32. Vgl. dazu Field 1981, 226: "It was extensively reviewed in the popular periodicals and provided an appropriate topic for discussion at literary and political meetings, historical societies, and philosophy lectures.” Vgl. auch 452. Field weist hier auch auf den späteren Kultusminister Hans Schemm hin.
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Modebuch und urteilt hinsichtlich seines Inhaltes und seiner Argumentation vernichtend: Engel 1906, 1143: Sehr ähnlich den blendenden, aber rasch verpufften Erfolgen Nordaus war die Aufnahme des ihn ablösenden, deutsch erzogenen Engländers Houston Stewart Chamberlain […]. Seine "Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" (1899) erinnern nicht wenig an Langbehns "Rembrandt als Erzieher": dieselbe rechthaberische Polterei, dasselbe Hinundherhüpfen der Gedanken, deren leitender von der Allüberlegenheit der germanischen Völker nur durch viele Nebelschleier erkennbar wird. Aber dieser deutschgewordene Engländer schreibt glänzend und wirkt dadurch fesselnd auch auf solche Leser, die über den Inhalt je nachdem empört sind oder lachen. Es ist bis auf weiteres das Buch der Mode, von dem behauptet wird, man müsse es gelesen haben, – bis ein anderes Modebuch auch dieses ablösen wird.
Chamberlains Erfolg und seine Popularität waren nicht auf den traditionellen Wagnerkreis oder die späteren Nationalsozialisten beschränkt. Mit den Grundlagen erreichte er breiteste bürgerliche Schichten71 in Deutschland; erwähnt seien: Universitätsakademiker wie der Hygieniker und Anthropologe Ferdinand Hüppe,72 der Indologe Leopold von Schröder, der Historiker Otto Hintze, der Germanist Ernst Bertram,73 sogar der Kulturhistoriker Egon Friedell,74 Pastoren wie Max Christlieb,75 Politiker wie Walther Rathenau,76 die schon genannten Aristokraten77 bis hin zu Fabrikanten wie August Ludowiki, der so beeindruckt war, dass er gleich 15000 Exemplare an Schulen und öffentliche Bibliotheken spendete.78 Am meisten überraschte Chamberlain wohl die Reaktion Hermann Levis, von der er Hans von Wolzogen berichtet: Br I, 78 (1900): Hermann Levi ist einer der genauesten Kenner des Buches, und sein mit fast komischer Aufrichtigkeit geäußertes Entsetzen über das Judenkapitel hat ihn doch nicht verhindert, alles Folgende mit eingehender Begeisterung zu studieren. Ich weiß, Sie sind schon bei der Nennung dieses Namens zur Decke gesprungen - und doch wäre es ein sehr interessanter Akt der Gerechtigkeit, nachdem ein Germane das Kapitel über den Eintritt der Juden geschrieben hat, einen Juden dazu zu bringen, daß er zeige, was er dagegen vorzubringen habe.
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Vgl. dazu Br I, 78f. Br I, 78f. Vgl. dazu auch von See (1994, 305), der Bertram als Epigonen Chamberlains darstellt. Vgl. dazu Grab, Egon Erwin Kisch und das Judentum 1998, 220. Vgl. dazu Br II, 147. Vgl. dazu Knoll, Krisenstimmung und Zivilisationsangst am Vorabend des Ersten Weltkriegs 1984, 127. Vgl. dazu: Malinowski, Vom König zum Führer 2004, 189ff. Field 1981, 232; vgl. dazu: Br II, 161.
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Natürlich wurden die Grundlagen vor allem von jüdischer Seite kritisiert. Kritik kam vom Soziologen Franz Oppenheimer,79 von Friedrich Hertz80 in seinem Buch über die modernen Rassentheorien, aber auch in der Frankfurter Zeitung oder dem Berliner Tagblatt und den Sozialistischen Monatsheften81 wurde Chamberlain angegriffen. Die Berliner Zeitschrift Die Gesellschaft, eine Halbmonatsschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik, verurteilt die Grundlagen im Dezember 1900 als schlecht, unklar und unlogisch. Das Protestantenblatt erklärte Chamberlains Versuche, aus Jesus einen Arier zu machen, für völlig absurd,82 und Leo Spitzer greift dessen Argumentationsweise, besonders die zur Sprache, als pseudosprachwissenschaftlich an.83 Selbst Max Weber sieht sich 1918 dazu veranlasst, seine eigene Terminologie vom Herrenvolk von derjenigen Chamberlains abzugrenzen: Weber-GPS 442:84 Unter einem »Herrenvolk« verstehen wir dabei nicht jenes häßliche Parvenügesicht, welches Leute daraus machen, deren nationales Würdegefühl ihnen gestattet, von einem englischen Überläufer, wie Herrn H. St. CHAMBERLAIN, sich und die Nation darüber unterrichten zu lassen: was »Deutschtum« ist.
Auffallend bei der vorgebrachten Kritik an den Grundlagen, aber auch späterer Werke ist, dass man Chamberlains Gefährlichkeit besonders betont und dass man diese häufig nicht nur an den Inhalten seiner Äußerungen, sondern vor allem an seiner Sprache festmacht. Wie oben schon am Beispiel des Zitates von Eduard Engel deutlich wurde, nahm man ihn als glänzenden Schriftsteller wahr oder, wie Spitzer es ausdrückt, als einen berückenden Feind,85 der durch die markige Eleganz der Sprache, durch Originalität der Gedanken, durch den Scharfsinn seines Urteils, den durchdringenden Blick für Leben und Wirklichkeit gekennzeichnet sei. Chamberlain war ein Laie, der in einer ästhetisch anspruchsvollen, aber durchaus eingängigen und verständlichen Sprache für Laien schrieb und seinen Erfolg daher aus allen Kreisen bezog. Die Lektüre Chamberlains gehörte ebenso zum Ka_____________ 79
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Oppenheimer hatte Chamberlains Rassentheorie schon in "Das Gesetz der zyklischen Katastrophen" (Oppenheimer 1996, 258ff.) angegriffen (das von den Herausgebern angegebene Erschenungsjahr 1897 kann nicht stimmen, da Chamberlains "Grundlagen" erst im Jahr darauf fertiggestellt worden sind). Ebenfalls auf die "Grundlagen" bezieht er sich in seinem Beitrag zum Zweiten Deutschen Soziologentag 1913: "Die rassentheoretische Geschichtsphilosophie" (ebd. 391; 389ff.), schließlich 1930 in: "Rassenprobleme" (ebd. 540). In: Oppenheimer 1996. Vgl. auch Field 1981, 228. Friedrich Hertz, Moderne Rassentheorien 1904. Vgl. Field 1981, 227/8. Field 1981, 236. Spitzer, Anti=Chamberlain 1918. Vgl. dazu auch Lobenstein-Reichmann 2006. Weber, Schriften zur Politik. Parlament und Regierung im neu geordneten Deutschland. Weber-GPS 442. Spitzer 1918, 6.
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non der Wandervogelbewegung (Field 1981, 233) wie in die Bücherschränke bürgerlicher oder aristokratischer Salons feiner Damen. Seine eigentliche Salonfähigkeit errang der publikumswirksame Antisemit jedoch vor allem durch einen seiner Hauptbewunderer, den Kaiser. Wilhelm II. las die Grundlagen wohl zweimal nacheinander und war insbesondere von der Mission des Germanentums fasziniert (ebd. 249). Philipp von Eulenburg, zu der Zeit noch der engste Vertraute des Kaisers, vermittelte im Jahre 1901 das erste persönliche Zusammentreffen. Es wurde zum Beginn einer außergewöhnlich engen Beziehung zwischen dem Kaiser und dem Engländer, die bis zu Chamberlains Tod anhalten sollte. Dem ersten Treffen folgte eine 26 Jahre währende Korrespondenz, über deren Art schon der erste Brief Wilhelms I. an Chamberlain tiefe Einblicke gewährt. Br II, 148 (1901): Da kommen Sie, mit einem Zauberschlage bringen Sie Ordnung in den Wirrwarr, Licht in die Dunkelheit; Ziele, wonach gestrebt und gearbeitet werden muß; Erklärung für dunkel Geahntes, Wege, die verfolgt werden sollen zum Heil der Deutschen und damit zum Heil der Menschheit! Sie singen das Hohelied vom Deutschen und vor allem von unserer herrlichen Sprache und rufen dem Germanen bedeutsam zu: "Laß ab von deinen Streitigkeiten und Kleinlichkeiten, deine Aufgabe auf der Erde ist: Gottes Instrument zu sein für die Verbreitung seiner Kultur, seiner Lehren! Darum vertiefe, hebe, pflege deine Sprache und durch sie Wissenschaft, Aufklärung und Glauben!" Das war eine Erlösung! So! Nun wissen Sie, mein lieber Mr. Chamberlain, was in m i r vorging, als ich Ihre Hand in der meinen fühlte! […] Nein! Fürwahr, danken wir Ihm [Gott] dort oben, daß Er es mit unseren Deutschen noch so gut meint, denn Ihr Buch dem deutschen Volk und Sie persönlich mir sandte Gott, das ist bei mir ein unumstößlich fester Glaube. Sie sind von Ihm zu meinem Bundesgenossen erkoren, und ewig danke ich Ihm, daß Er es getan. Denn Ihre gewaltige Sprache packt die Leute und bringt sie zum Denken und natürlich auch zum Streiten! Angreifen! Was schadet es! Der deutsche Michel wird wach, und das ist für ihn gut, dann paßt er auf und leistet etwas; und wenn er einmal zu arbeiten angefangen, dann leistet er eben mehr wie alle anderen. Seine Wissenschaft in seiner Sprache ist eine Riesenwaffe, und es muß immer daran gemahnt werden!
Chamberlain unterstützte und verstärkte Wilhelms Antisemitismus, seinen Antisozialismus, Antikatholizismus und vor allem seine nationalgermanische Vision.86 Wie weit dieser Einfluss gehen konnte, zeigt folgende Episode: Der Kaiser, der in Personalunion auch oberster Bischof seiner protestantischen Kirche war, wurde um ein Gutachten zu einem Streitfall gebeten, der durch den Assyrologen Friedrich Delitzsch hervorgerufen worden war. Dieser hatte in seiner Vorlesung Babel und die Bibel den Monotheismus auf babylonische, nicht jedoch auf israelitische Einflüsse zurückführt und damit nicht nur bei Theologen scharfe Proteste provoziert. _____________ 86
Field 1981, 259: "Under Chamberlain's guidance Wilhelm's opinions gradually shifted from Lutheranism to a racist Germanic Christianity”.
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Der Laie Wilhelm war mit dieser Anfrage zunächst vollkommen überfordert. Ein Brief Chamberlains änderte dies.87 Vier Stunden nach Öffnen des Schreibens hatte Wilhelm seine Stellungsnahme fertig. Br II, 188 (16. II. 1903): Mein lieber Mr. Chamberlain, Wie einen Retter in der Not habe ich Ihren erfrischenden und prächtigen Brief begrüßen können. Denn, da ich, wegen Überhäufung mit Geschäften, ihn erst gestern öffnen konnte, traf er mich mitten in einer angestrengten Arbeit des "Gebärens" - anders kann ich den Vorgang nicht gut bezeichnen -' des geistigen Drückens. Ich war nämlich gerade damit beschäftigt, ein paar Zeilen zu formulieren [...], um Delitzsch einerseits für seinen Fleiß Anerkennung auszusprechen, sodann ihn freundschaftlich, aber bestimmt in seine Grenzen zurückzuweisen, und zuletzt für ihn und alle anderen Menschen meine Auffassungen und Standpunkt klar festzustellen. […] Nach vier Stunden war mein Skriptum fertig, und werde ich mir gestatten, Ihnen - meinem geistigen Geburtshelfer - mein Kind auch zu Füßen zu legen. Ich muß dabei aber um Verzeihung bitten, wenn Ihnen beim Lesen Anklänge vorkommen sollten, welche IHNEN bekannt erscheinen!
Es mag vielleicht zu weit gehen, Chamberlain als den Hofphilosophen88 Kaiser Wilhelms zu bezeichnen, aber sein Einfluss auf ihn ist unbestreitbar. Der überlieferte Briefwechsel zeigt einen Dialog zwischen ideologisch Gleichgesinnten, wobei der eine den hohen Rang des anderen zwar immer respektiert, ihm jedoch als weiser Lehrer zur Seite steht, und der Andere ihm regelmäßig dadurch seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringt, dass er seine Ratschläge befolgt. Gerade im Hinblick auf das germanische Christentum scheint Wilhelm ein besonders gelehriger Schüler gewesen zu sein. Chamberlain predigte eine Art Christozentrismus, der ohne das als jüdisch oder katholisch diskriminierte Alte Testament und ohne patristische Dogmen auskam. Sein Christentum war nationalistisch und rassistisch, verstand sich als Reformation der deutschen Reformation und konnte offensichtlich in diesem Verständnis nachvollzogen werden. Br II, 165 (21. 12. 1902; Wilhelm an Chamberlain): Die Hauptpunkte, unsere Zukunft, ihre Aufgaben betreffend, habe ich als Programm in Görlitz "point blanc", wie der Brite sagt, unter die Zuhörer gefeuert. Ich war ja so froh, daß Sie dem, was ich innerlich fühlte und was in mir rang, in so lapidarischer Weise Form und Worte verliehen hatten. […] Es war ganz etwas anderes, als sie erwartet hatten, und es war etwas Neues! Zu meinem Erstaunen habe ich bald erfahren und gesehen, daß im Lande die Aufnahme eine günstige war. Von den Universitäten und Professoren war das natürlich, und von dort klang es hell und dankbar zurück. Aber auch "Nichtfachleute" hatte es gepackt. Nur die Orthodoxie von rechts und links grollte! Sie hat einen argen Schreck über die "Weiterbildung unserer Religion" bekommen und kaut seitdem an dem Ausdruck herum, ohne ihn verstehen zu wollen oder zu können. Möge das Samenkorn Frucht bringen! Ihre vier Essays
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Br II, 155f. Vgl. Field 1981, 400.
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- exklusive Rasse - habe ich im Kreise der Meinen vorgelesen und haben wir herzhaft diskutiert und verhandelt. Ja das Alte Testament! Und gar die Genesis! Ei! Ei! Das waren doch gar überraschende Dinge, die Sie daraus mitteilten, und ungern läßt man vom Althergebrachten. Aber ich habe den Eindruck, daß doch allmählich es klar wird, worauf es dabei ankommt, und das habe ich bei den Kontroversen stets betont. Wir haben den Heiland, und der muß für uns die Hauptsache sein und voranstehen, und mit dem muß man sich völlig beschäftigen.
Chamberlains schriftliche Einflussnahmen auf den Kaiser gehören bezeichnenderweise ebenso zu den wenig untersuchten Themen in der Geschichtsschreibung, wie seine Wirkung insgesamt. Dies ist um so bedauerlicher, als sie durch einen regen Briefwechsel des wilhelminischen Chefideologen mit anderen wichtigen bisher noch nicht genannten politischen, kulturellen und literarischen Persönlichkeiten aller couleur ergänzt werden. Zu erwähnen sind: Arno Holz (Br I, 316), Gerhart Hauptmann (Br II, 50), Paul Deussen (Br I, 54; 61), Hans Delbrück (Br I, 172), Großadmiral von Tirpitz,89 Max von Baden,90 Ludwig Woltmann (Br II, 125), Baron Jakob von Uexküll,91 Gerhart von Roon (Br I, 310), Carl Graf Pückler (Br I, 244), Ferdinand von Bulgarien (Br II, 107) und der Vorsitzende der Alldeutschen Heinrich Claß (Br II, 30), der bei einem Verleumdungsprozess auch Chamberlains Anwalt war. Nicht vergessen werden darf außerdem der liberale Theologe Adolf von Harnack, dessen Briefwechsel mit Chamberlain jüngst erst ediert worden ist.92 Auch wenn man nicht sofort bei jeder der genannten Personen von einer ideologischen Übereinstimmung mit Chamberlain sprechen kann, so ist doch eine kommunikative Vernetzung zu konstatieren, die eine gewisse gegenseitige Auf- oder gar Annahmebereitschaft der Kommunikationspartner voraussetzt und damit auch der Positionen, für die der andere steht. An die erfolgreichen Grundlagen schlossen sich zunächst zahlreiche Beiträge in den Bayreuther Blättern an; darunter befanden sich auch die zunächst dort, dann 1900 in einem Buch zusammengestellten Parsifalmärchen: Parsifals Christbescherung, ein Weihnachtsmärchen; Parsifals Gebet, ein Ostermärchen; Parsifals Tod, ein Pfingstmärchen. Zu Chamberlains literarischen Versuchen gehören des weiteren Drei Bühnendichtungen, das sind: Der Tod der Antigone, Der Weinbauer und Antonie oder Die Pflicht. 1922 erschien dann noch Herrn Hinkebein's Schädel. Gedankenhumoreske. Doch sein Erfolg als literarischer Schriftsteller hielt sich in Grenzen. Zwar wurde Der Weinbauer einmal auf einer Provinzbühne gespielt; doch Chamberlain kommentiert _____________ 89 90 91 92
Br II 101. Tirpitz hatte Chamberlain ein Exemplar seiner "Erinnerungen" geschenkt. Br I, 248; 284; 295; 298; II, 15 u. ö. Br I, 177. Üexküll hatte Chamberlain sein Buch "Umwelt und Innenwelt der Tiere" gewidmet. Ebd. Vgl. auch Br II, 68f. Kinzig, Harnack, Marcion und das Judentum. Nebst einer kommentierten Edition des Briefwechsels Adolf von Harnacks mit Houston Stewart Chamberlain 2004.
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selbst: "Die Aufführung glich aber einer Hinrichtung".93 Erfolgreich waren hingegen wieder seine kulturphilosophischen Bücher. So erschien 1905 eine Monographie über Kant94 und 1912 eine über Goethe. Beide Größen der deutschen Geistesgeschichte wurden von ihm konsequent in den Dienst des Deutschtums gestellt und für völkische Zwecke instrumentalisiert. Das Kantbuch fand eine so positive Aufnahme, dass sogar der Marburger Philosoph Paul Natorp es lobte, ähnlich übrigens auch Hermann Broch.95 Die Goethemonographie entstand bereits in Bayreuth. Nach zwanzig Jahren in Wien und im Anschluss an die Trennung von Anna gewann die Verbindung zum Wagner-Kreis durch die Heirat mit Eva Wagner, die Trauung fand am 27. Dezember 1908 statt, und durch den Umzug nach Bayreuth eine neue Qualität. Diese zweite Ehe intensivierte die Beziehungen nicht nur zur engeren Familie der Wagners, wozu auch der Begründer des Kunstwarts und des Dürerbundes, der Wagnerneffe Avenarius, und der Adoptivenkel Franz von Stassen gehörten, sondern durch die rege Zusammenarbeit mit Cosima, für die Eva weiterhin als Sekretärin arbeitete, verfestigten sich auch sein Status als Wagnerfachmann und seine Beziehungen zu den Wagnerianern in aller Welt. Dieser endgültigen Annäherung war eine kurze Phase der Missstimmung vorausgegangen. Man war nämlich im Hause Wahnfried über die Grundlagen zunächst wenig erfreut, hatte Cosima doch gehofft, Chamberlain würde die Chance nutzen, den Wagnerkult noch weiter zu intensivieren. Stattdessen musste man feststellen, dass der Name Wagner darin kaum auftauchte.96 Um die Enttäuschung wieder gut zu machen, wurden das Kant- und das Goethebuch programmatisch der Wagnerschen Kunstreligion gewidmet. Mit Worte Christi97 beginnt Chamberlain 1901 auch eine Reihe weltanschaulich-religiöser Schriften, in denen er seine antikatholische Haltung fortsetzt und das in den Grundlagen entwickelte germanische Christentum zu einer Utopie ausarbeitet. Dazu gehören unter anderem auch die Arische Weltanschauung aus dem Jahr 1905 und Mensch und Gott aus dem Jahre 1921. Dieses letztgenannte Alterswerk ist ganz dem germanischen Christentum verpflichtet und vertritt noch einmal mit aller Kraft das Ariertum Christi und damit die Chamberlain'sche Art des religiösen Antisemitismus. Es _____________ 93 94 95 96
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Drei Bühnendichtungen, Vorwort. Positiv dazu: Kassner 2, 420. Vgl. Field 1981, 285. Cosima hatte möglicherweise sogar ihren Schwiegersohn Henry Thode dazu bewegt, eine kritische Rezension der "Grundlagen" zu verfassen, in der er Chamberlain vorwirft, sein Buch basiere zwar vollständig auf Wagners Gedankengut (besonders auf der Schrift "Religion und Kunst"), Wagner werde aber kaum erwähnt geschweige denn, dass ihm gedankt würde. Henry Thode, Literarisches Zentralblatt 51, 1900, 438; Large 2000, 153. Nach Thimothy Ryback hatte Hitler ein Exemplar in seiner Bibliothek stehen.
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handelt sich um eine Erbauungsschrift, die die Herauslösung des vermeintlich wahren Christentums aus der jüdischen Verunreinigung zum Ziele hat, den angeblich jüdischen Materialismus und den Sündenbegriff (MuG 125; 298) bekämpft und den neuen Weg zur Erlösung in der Kunstreligion sieht. Mit diesem letzten Buch ist Chamberlain wieder zum Ursprung seiner schriftstellerischen Tätigkeit, nämlich zu Wagner, zurückgekehrt. Deutsche Musik (ebd. 282ff.) und Kunst allein können den Menschen aus seiner Verelendung herausführen. Seine geschichts-, kultur- und religionsphilosophischen Schriften wurden spätestens seit dem Ausbruch des Weltkrieges von polemischen politikbezogenen Aufsätzen flankiert. Es sind zwei als Kriegsaufsätze betitelten Sammlungen, von denen bekannt ist, dass sie selbst an der Front im Tornister mitgeführt wurden und 1915, also knapp ein Jahr nach ihrer Erstpublikation, bereits in der 11. Auflage erschienen, ferner die gegen Frankreich und die Errungenschaften der Französischen Revolution gerichteten Politischen Ideale, die antidemokratischen Schriften gegen England (nämlich Demokratie und Freiheit98 und Der Demokratische Wahn), die Arbeiten zur geistigen Mobilisierung (Die Zuversicht; zuerst als Unterhaltungsbeilage der Täglichen Rundschau vom 9. Juli 1915 publiziert, dann nochmals: Bruckmann 1915) und schließlich Der Wille zum Sieg (1918). Wie sehr er dabei seine Art Rassismus weiterpflegte, zeigt auch das 1925 erschienene Rasse und Persönlichkeit. Dem politischen Engagement der Publikationen im Ersten Weltkrieg folgten die Verleihung des Eisernen Kreuzes (1915), die Übernahme der deutschen Staatsbürgerschaft (1916) und der Beitritt zum Alldeutschen Verein. Im Jahre 1921 war er einer der Mitbegründer des Bunds für eine deutsche Kirche.99 Die deutsche Staatsbürgerschaft ist der äußere und formale Höhepunkt der von Leopold von Schroeder zum Leitthema gemachten Deutschwerdung Chamberlains. Von Schroeders Wie Chamberlain ein Deutscher wurde mündet in einem salbungsvollen Verweis auf Chamberlains Kriegsschrift Zuversicht und auf das protestantische Kirchenlied Erneure mich, o ew'ges Licht. Für ihn stand Chamberlains Entwicklung stellvertretend für die Erneuerung Deutschlands, die er als Führer, Prophet, Kämpfer100 vorgelebt, eingeleitet und erstritten habe, und die sogar zum programmatischen Titel einer von Chamberlain u. a. neu gegründeten Monatszeitschrift (Lehmann, München) erhoben wurde.101 Das pseudoreliöse Pathos, mit dem von _____________ 98
Das mir zur Verfügung stehende Exemplar hat einmal einem gewissen Lothar Geistbeck gehört. Geistbeck war laut Stempelabdruck Bataillons-Führer des Kg. Bayer. 5. Inf. Rgt. III. Batl. 99 Field 1981, 412. 100 Von Schroeder 1918, 114. 101 Vgl. dazu auch die ganzseitige Werbung im Anhang des zitierten Buches.
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Schroeder schreibt, erinnert an das Pathos, das Chamberlain Wagner entgegengebracht hat. Es demonstriert die pathologische Selbstbespiegelung eines im Untergang befindlichen deutschen Bildungsbürgertums. v. Schroeder 114: dass sie [die Deutschen] als Streiter Gottes diese Sache zum Siege führen müssen, zum Siege über die Mächte des Mammons und der Lüge, über alle Niedertracht der Welt. Die Zuversicht auf solchen Ausgang des Völkerringens können wir aber nur dann haben und festhalten, wenn wir den bösen Geist nicht unter uns aufkommen lassen, der über unsere Feinde herrscht und sie zu ihrem schändlichen Mordwerke antreibt; wenn wir fort und fort ernstlich daran arbeiten, uns zu rechten Streitern Gottes zu machen, uns innerlich zu läutern, uns zu erneuern. Darum bitten und beten wir mit dem alten protestantischen Kirchenliede: Erneure mich, o ew'ges Licht […]. Wir grüßen den großen Denker, wir grüßen den Kämpfer, den Geisteshelden, wir grüßen den Deutschen Chamberlain.
Aber der hier wie ein Erlöser gepriesene Kämpfer Chamberlain war zu diesem Zeitpunkt schon zu krank und zu alt, um Deutschlands Erneuerung voranzutreiben. Entsetzt und ernüchtert von der deutschen Niederlage verschlimmerte sich sein Gesundheitszustand zusehends. In seinen Nachkriegsvorworten102 zu den Neuauflagen der Grundlagen artikuliert er zum einen seinen Unmut über das hereingebrochene Wirrsal, das neue Chaos103 der Weimarer Republik, für das vor allem der jüdisch-semitische Feind104 verantwortlich zu machen sei. Er äußert aber auch seine Hoffnung auf eine charismatische Führergestalt, die das Deutschtum wie einen Phoenix wieder aus der Asche ziehen werde105, und er erkennt diese Führergestalt schließlich in Adolf Hitler.106 Als dieser ihn 1923 das erste Mal besucht, _____________ 102 103 104 105 106
Vgl. Gl 14. Aufl. XVIII. Gl Vorw. 14. Aufl XVI. Ebd. XXIIIff. Vgl. dazu auch: Gumbrecht 1926, 2001, 333. Vgl. dazu auch: Bruno Brehm, Das Zwölfjährige Reich - Der Trommler 1960, 262-270. Dieser zwischen Realität und Fiktionalität anzusiedelnde Text aus der Nachkriegszeit gleicht einem Fürstenspiegel bzw. einer Heiligenlegende. Hier ein Auszug: "Als Hitler nach dem großen Vorbeimarsch der nationalen Formationen die Einladung in das Haus Wahnfried erhielt, zitterten seine Hände. Endlich sollte es ihm vergönnt sein, die geweihte Schwelle zu überschreiten und die Räume zu betreten, in denen sein Abgott geschaffen hatte. Und in Wahnfried wird er auch Wagners Schwiegersohn Chamberlain treffen, dessen "Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts" ihm ein Trost in seiner schwärzesten Wiener Zeit gewesen waren. […] Chamberlain lauschte vornübergebeugt dem Gast, der nun berichtete, daß ihm die "Grundlagen" nächst Wagners Werken und Schriften das Wichtigste seiner Jugend gewesen seien. Er habe dieses Buch ganz anders gelesen als jemand, der fern vom Schuß über den Rassenkampf rede, er habe ihn aus nächster Nähe mitgemacht, er sei sehr früh an diese Front gekommen, er habe in der Brigittenau und in der Leopoldstadt in Wien das unaufhörliche Einströmen von Juden und Slawen gesehen. Er sei glücklich, heute Chamberlain dafür danken zu können, daß dieser ihm beizeiten die Augen geöffnet und ihn auf die große Gefahr aufmerksam gemacht habe. […] Wenn es Hitler gelingen würde, davon auch die Engländer zu überzeugen, die sich heute über die deutsche Niederlage freu-
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kann Chamberlain schon kaum noch sprechen.107 Joachim Fest kommentiert diesen Besuch Hitlers, seinen ersten in Bayreuth, wie folgt: Fest, Richard Wagner 2000, 32: Es ist dann auch kein Zufall, dass Hitler rund einen Monat vor dem Erhebungsversuch, der dann an der Feldherrnhalle im Feuer zusammenbrach, nach Bayreuth fuhr, um sich gleichsam die höheren Weihen und jenen Zuspruch zu holen, der ihm mit dem berühmten Brief vom 7. Oktober 1923 zuteil wurde. Er sei nun beruhigt, schrieb der nahezu gelähmte, halbblinde Greis, in Hitler habe Deutschland einen Retter gefunden. Bezeichnenderweise tauchte am Ende der Hitler-Rede vor dem Münchner-Gericht wie in einer huldigenden Abschlussgeste noch einmal der Name Richard Wagners auf.
Es ist erstaunlich, wie schnell und vor allem auch wie bedingungslos sich Chamberlain und seine Schwägerin Winifred Wagner auf die Seite Hitlers gestellt haben. Die Wagnerfamilie gehörte neben den Verlegern Bruckmann und Lehmann zu den ersten, die sich öffentlich für Hitler und die nationalsozialistische Partei einsetzten und darin auch nach dem gescheiterten Putsch nicht nachließen. Zum Dank wurde Chamberlain einer der ganz wenigen Altvölkischen, die die nationalsozialistischen Segnungen erfahren durften;108 seinen Schriften waren mit der nationalsozialistischen Machtergreifung neue Verkaufsrekorde beschieden. Als der Deutsche Chamberlain am 09.01.1927 in Bayreuth starb, standen an seinem Grab nicht nur ein Sohn Kaiser Wilhelms, sondern auch die nationalsozialistische Führungsriege, allen voran Hitler und Goebbels. Über seinen letzten Besuch beim todkranken Chamberlain im Mai 1926 schreibt der spätere Propagandaminister Josef Goebbels in sein Tagebuch: Goebbels, Tagebücher I, 247 (8. Mai 1926): Erschütternde Szene: Chamberlain auf einem Ruhebett. Gebrochen, lallend, die Tränen stehen ihm in den Augen. Er hält meine Hand und will mich nicht lassen. Wie Feuer brennen seine großen Augen. Vater unseres Geistes, sei gegrüßt. Bahnbrecher, Wegbereiter! Ich bin im Tiefsten aufgewühlt. Abschied. Er lallt, will sprechen, es geht nicht – und dann weint er wie ein Kind! Langer, langer Händedruck! Leb wohl! Du bist bei uns, wenn wir verzweifeln wollen. Draußen klatscht Regen! Ich hab das Bedürfnis zu schreien, zu weinen. Mir ist so weh ums Herz.
_____________ ten, ohne zu ahnen, daß es auch ihre Niederlage sei, dann werde Hitler das Allergrößte geleistet, nämlich die arische Rasse vor ihrem drohenden Untergang gerettet haben; dann werde er das durch die Tat verwirklicht haben, wovon er, Chamberlain, nur in seinen Büchern geträumt habe. Hitler senkte sein Haupt, er nahm den Auftrag entgegen […]. Hitler erhob sich. Chamberlain schüttelte ihm ergriffen beide Hände: "Sie können nicht ahnen, was Sie mir gegeben haben! Sie können sich nicht vorstellen, was mir Ihr Besuch bedeutet." Die Tränen traten in Hitlers Augen: "Bitte, lassen Sie mich schweigen, ich kann es nicht ausdrücken, was ich empfinde; die Gefühle sind zu stark." 107 Vgl. dazu Large 2000, 203. 108 Puschner 2001a, 280.
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1. Chamberlains Wirkungsgeschichte Die zitierten Ausschnitte aus Leopold von Schroeders Lebensbeschreibung haben bereits Einblicke gewährt in den sich schon zu Lebzeiten um Person und Werk Chamberlains verbreitenden Kult. Diese Verehrung steigerte sich noch während des Nationalsozialismus. Ein Beispiel hierfür ist Martin Dippels 1938 erschienene Würdigung.1 Dippel nennt Chamberlain die geniale, überragende Persönlichkeit, die wie ein Prophet und Seher in Adolf Hitler den Führer eines neuen Deutschland ahnte und bereits früh erkannte (Dippel 1938, 3), der vor allem in Hitler die große Persönlichkeit, zum Segen Deutschlands verkündete (ebd. 27), den Seher des Dritten Reiches, den Verkünder und Begründer einer deutschen Zukunft (ebd. 4), und dieses Feuerwerk variierend: den Mahner und Propheten der Deutschen für die Zukunft (ebd. 24), den Kämpfer für ein aus seiner Eigenart sich erneuerndes Germanien (ebd. 5). Wichtiger als diese Häufung von Preisungen aber ist seine Erkenntnis, dass Chamberlain der Vorkämpfer, der Philosoph der Rasse sei, der mit einem ausgebreiteten Wissen ein völlig neues Geschichtsbild der europäischen Kultur vom Gedanken der Rasse her entwickelt (ebd. 10) und mit seinen Grundlagen zweifellos das Zeitalter der rassischen Weltanschauung angebahnt (ebd. 23) habe. In Dippels Augen ist die Saat, die er gesät hat, […] aufgegangen (ebd. 24), denn heute ist Chamberlains Gebet das einer ganzen Nation (ebd. 28). Dippels Wortschatz spiegelt nicht nur die Sakralisierung eines völkischen Heiligen, sondern auch die messianische Verkündigung des Nationalsozialismus als Ersatzreligion und Hitlers als Ersatzchristus. Mit dem onomasiologischen Feld vom Verkünder, Mahner, Seher und Propheten deutet Dippel auf sein eigentliches Ziel hin, nämlich Hitler. Ist dieser der Messias, so ist jener, Chamberlain, also Johannes. Die von beiden verkündete 'frohe Botschaft' sei die Philosophie der Rasse. Die politische Instrumentalisierung Chamberlains zuerst für die völkische Idee, dann für das nationalsozialistische System kommt auch in einer Serie von Rundfunksendungen zum Ausdruck, die 1934 ausgestrahlt wurde. Mit dem schon von der Namengebung her auffallenden Wagner-SchillerChamberlain-Zyklus wollte der Reichssendeleiter Eugen Hadamovsky "die Verbindung von den revolutionären Vorkämpfern unserer Vergangenheit zur revolutionären Wirklichkeit des Nationalsozialismus und seiner geisti-
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Dippel, Houston Stewart Chamberlain 1938.
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gen Zukunft2" herstellen. Im Mittelpunkt je einer Sendereihe standen Wagner als Musiker, Dichter, Politiker und Denker, Schiller als Krönung der idealistischen Dichtung und Houston Stewart Chamberlain als Vorkämpfer einer nationalsozialistischen Weltanschauung.3 Die Sendungen standen unter der jeweiligen Oberleitung Otto Strobels als des Archivars des Hauses Wahnfried, ferner des Stuttgarter Intendanten Alfred Bofinger und des Chamberlain-Biographen Georg Schott, über den in einem späteren Kapitel noch berichtet wird. Über Chamberlain liefen u. a. folgende Sendungen: am 6. Juli 1934 Houston Stewart Chamberlain, die Prophetengestalt; am 8. Juli: Houston Stewart Chamberlain, der Erbe Wagners, der Vorbote Hitlers; am 19. Juli: Houston Stewart Chamberlain, der Seher des Dritten Reiches. Neben den auf die Person Chamberlains bezogenen Würdigungen steht eine Fülle indirekter, allusionsartiger und deshalb im Detail schwer nachweisbarer Äußerungen durch seine Anhänger, die sich z.B. in Verbänden und Parteien organisierten. Gemeint sind etwa die politischen Aktivitäten der Deutschnationalen Volkspartei, die ihre völkische Politik als ideologische Nachfolgerin der Vaterlandspartei mit einer systematischen Propagierung des Antisemitismus verband. Es waren ebenfalls Anhänger Chamberlains, die 1919 den radikal antisemitisch ausgerichteten Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund gründeten, über den Hitler in Mein Kampf (MK) schrieb: MK 629: Unsere ersten Versuche, der Öffentlichkeit den wahren Feind zu zeigen, schienen damals fast aussichtslos zu sein, und nur ganz langsam begannen sich die Dinge zum Besseren zu wenden. So verfehlt der "Schutz- und Trutzbund" in seiner organisatorischen Anlage war, so groß war nichtsdestoweniger sein Verdienst, die Judenfrage als solche wieder aufgerollt zu haben. Jedenfalls begann im Winter 1918/19 so etwas wie Antisemitismus langsam Wurzel zu fassen.
Hitlers an sich positive Würdigung des Bundes unterschlägt ein wenig den beträchtlichen Einfluss, den er in der kurzen Zeit seines Bestehens ausübte (er wurde schon 1922 verboten). Der Bund hatte 600 Zweigvereine im ganzen Reich; im Gründungsjahr 1919 zählte er 25 000 Mitglieder, im Verbotsjahr waren es 280 000. Einer ihrer Vertreter war Artur Dinter, ein fanatischer Anhänger Chamberlains, der bekannt geworden war, als er Chamberlains Weltanschauung in seinem Buch Die Sünde wider das Blut (Leipzig 1918) literarisch verarbeitet und verbreitet hatte. Der Roman gehörte zu den meistverkauften Büchern der Zwischenkriegszeit und Field
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Vgl. dazu Eugen Hadamovsky: "Aufbau der geistigen Grundlagen des Nationalsozialismus. Trilogie Wagner-Schiller-Chamberlains im Rundfunk". In: Mitteilungen der RRG Nr. 412 vom 5. Mai 1934. Blatt 1-3. Zu Hadamovsky vgl. Klee, Personenlexikon 2005, 215. Pohle, Der Rundfunk als Instrument der Politik 1955, 280.
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schätzt die Anzahl der Leser auf ca. 1, 5 Millionen.4 Wie der Titel schon vermuten lässt, verkündet diese Geschichte von arisch-jüdischer Rassenschande, dass bereits ein geschlechtlicher Fehltritt genüge, um den "Genpool" der gesamten Rasse zu zerstören. Dinter hatte sein Werk nicht ohne Grund seinem Vorbild Houston Stewart Chamberlain gewidmet.5 Kein unbedeutender anderer Epigone Chamberlains war der Chefideologe Adolf Hitlers, Alfred Rosenberg. Ähnlich wie von Schroeder hat auch er eine Chamberlain-Biographie verfasst. Sein Hauptwerk, der Mythus des 20. Jahrhunderts, beruht weitestgehend auf dessen Gedankenführungen zum Völkerchaos und zur Rassentheorie. Die Grundlagen Chamberlains erfahren im Mythus eine literarische Überblendung; sie werden durch konsequente Fortführung des Gedankens in das Gewand eines Mythus gekleidet und in dieser Gestalt in nationalsozialistischen Kreisen neu ins Gespräch gebracht, schließlich durch die Rolle Rosenbergs in der nationalsozialistischen Hierarchie kanonisiert. Der Mythus wurde im Dritten Reich zur Pflichtlektüre in SS-Kursen und -schulen. Sein Duktus und die grundlegenden Chamberlain'schen Fundamente seien mit folgendem Textbeispiel charakterisiert: Rosenberg 1934, 82f.:6 Daß alle Staaten des Abendlandes und ihre schöpferischen Werte von den Germanen erzeugt wurden, war zwar schon lange allgemeine Redensart gewesen, ohne daß vor H. St. Chamberlain daraus die notwendigen Folgerungen gezogen worden wären. Denn diese begreifen in sich die Erkenntnis, daß beim vollständigen Verschwinden dieses germanischen Blutes aus Europa (und nach und nach folglich auch beim Hinsiechen der von ihm gezeugten typen- und nationenschaffenden Kräfte) die gesamte Kultur des Abendlandes mit untergehen müßte. Die Chamberlain ergänzende neue Erforschung der Vorgeschichte in Verbindung mit der Rassenkunde hat dann noch eine tiefere innere Besinnung hervorgerufen: jenes furchtbare Bewußtsein, daß wir heute vor einer endgültigen Entscheidung stehen. Entweder steigen wir durch Neuerleben und Hochzucht des uralten Blutes, gepaart mit erhöhtem Kampfwillen, zu einer reinigenden Leistung empor, oder aber auch die letzten germanisch-abendländischen Werte der Gesittung und Staatenzucht versinken in den schmutzigen Menschenfluten der Weltstädte, verkrüppeln auf dem glühenden unfruchtbaren Asphalt einer bestialisierten Unmenschheit oder versickern als krankheitserregender Keim in Gestalt von sich bastardierenden Auswanderern in Südamerika, China, Holländisch-indien, Afrika. Ferner erscheint ein anderer Baugedanke von H. St. Chamberlains Weltauffassung heute neben der Betonung der neuen Weltgründung durch das Germanentum von ausschlaggebender Bedeutung: daß sich zwischen das alte nordisch betonte Rom und das neue germanisch bestimmte Abendland eine Epoche einschiebt, die gekennzeichnet wird durch hemmungslose Rassenvermischung, d. h. Bastardierung, durch Aufquirlen alles Kranken, durch
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Field 1981, 403. Vgl. dazu Piper, Alfred Rosenberg 2005, 168. Alfred Rosenberg, Der Mythus des 20. Jahrhunderts 1934.
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übersteigerte sinnliche Ekstasen, durch aufgeblähten syrischen Afterglauben und durch das Fiebern aller Menschenseelen eines ganzen Weltkreises. Chamberlain benannte diese Zeit mit einer Prägung, die den echten, Geschichte gestaltenden Künstler verrät: das Völkerchaos. Diese Bezeichnung eines bestimmten Zustandes, wenn dieser sich zeitlich auch weder rückwärts noch vorwärts genau abgrenzen läßt, ist heute Allgemeinbewußtsein, selbstverständliches Gut aller tiefer Schauenden geworden. Diese neue Takteinteilung anstelle von "Altertum" und "Mittelalter" war aber im höchsten Sinne des Wortes eine der größten lebensgesetzlichen und seelenkundlichen Entdeckungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die zu einer Grundlage unserer gesamten Geschichtsbetrachtung des fortschreitenden 20. Jahrhunderts geworden ist.
Als Beispiel für die positive Rezeption, die Chamberlain außerhalb explizit völkischer bzw. nationalsozialistischer Kontexte zuteil wurde, mag der Literaturhistoriker Josef Nadler dienen, der Chamberlain in seiner Literaturgeschichte echte Wissenschaftlichkeit zuschreibt und ihn auf die selbe Stufe wie Herder stellt.7 Man beachte den deutlich affirmativen Duktus des folgenden Zitats, aber auch die Tatsache, dass die zitierte Literaturgeschichte noch 1961 in zweiter, ergänzter Auflage erscheinen konnte, und zwar mit Äußerungen folgender Art: Josef Nadler 549: Überhaupt begannen nun Volkstum und Rasse als die stärksten und am sichersten erkennbaren historischen Entwicklungsmächte eine immer größere Rolle in der Wissenschaft und Weltanschauung zu spielen, man begann endlich zu begreifen, dass Blut ein besonderer Saft sei, und die Lehren des alten Humanismus und Kosmopolitismus wollten auch in ihren modernen Maskierungen nirgends recht verfangen, so eifrig sie uns namentlich das Judentum auch immer noch an den Mann zu bringen suchte. Die großen Werke des normannischen Grafen Gobineau [...] und später die des Engländers Houston Stewart Chamberlain […] erlangten in Deutschland eine große Verbreitung und gewannen wohl die Mehrzahl der Gebildeten für die Rassentheorie, deren vollständige und sichere Durchführung der Wissenschaft ja freilich noch große Aufgaben stellt, und deren Anwendung auf die komplizierten modernen Verhältnisse ja so ganz leicht nicht ist, die aber doch immerhin ein festeres Fundament für die Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung bildet als die bloße Ideenentwicklung.
Allein die mit dem Adverb endlich präsupponierte Negativbewertung der nichtrassistischen Weltanschauung zusammen mit der deutlichen Negativkonnotierung von Humanismus und Kosmopolitismus offenbaren eine Ideologie, von der man eigentlich annehmen müsste, dass sie 1961 obsolet gewesen wäre. Mit dieser Auswahl an Zitaten, Personen und dem wiederholten Hinweis auf die hohen Auflagenzahlen der Schriften konnte das Ausmaß der nachhaltigen ideologischen Bedeutung Chamberlains nur angedeutet wer_____________ 7
Josef Nadler, Geschichte der deutschen Literatur 1961, 734.
39 Chamberlains Wirkungsgeschichte
den. Den über formale Bezüge hinausgehenden Wirkungs- und Vernetzungsnachweis soll die nachfolgende Arbeit erbringen.
2. Historiographische Würdigung Chamberlains Chamberlains Bedeutung wird in der Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit, wie in vorliegendem Teilkapitel belegt werden soll, durchaus anerkannt. Allerdings erscheint er auffallend häufig in Nebensätzen, in Mehrfachnennungen mit anderen, darunter mit Lagarde und Gobineau, insofern immer auch in abwägenden Vergleichen, ist also relativ selten eigenständiger Gegenstand der Darstellung. Es kommt hinzu, dass sein Stil und mit ihm seine wissenschaftliche Argumentation von seinen Beurteilern gerne von oben herab, aus der Position des sprachlich-stilistisch und wissenschaftlich Überlegenen, beschrieben werden und dass diese bildungschauvinistische Zensorenhaltung der Hochschätzung ihrer Bezugsperson und der Anerkennung deren ideologiegeschichtlichen Einflusses einen gewissen Abbruch tut. Insgesamt wird man deshalb sagen können, dass die ideologiegeschichtlichen Fundamente des Nationalsozialismus, zu denen Chamberlains Weltanschauung zu zählen ist, hinsichtlich seiner Person seltsam unterbelichtet geblieben sind und nicht als so prägend erfasst wurden, wie sie es meiner Auffassung nach gewesen sind. Selbst falls sie behandelt wurden, lässt sich – abgesehen von Ausnahmen wie Geoffrey Field – eine Relativierung seiner Person und seiner Bedeutung feststellen. Als Beispiel sei Fritz Stern erwähnt, der Chamberlain zwar explizit behandelt, ihn aber deutlich hinter Gobineau rangiert.1 Stern 1963, 135: Chamberlain selbst übte einen weit geringeren Einfluß aus als Lagarde; er war ein "Hofphilosoph" unter Wilhelm II. und schmeichelte der Eitelkeit der Deutschen, aber gerade dadurch erreichte er keine der zahlreichen Gruppen – auch nicht unter der literarischen Elite -, die das Wilhelminische Deutschland ablehnten.
So überzeugend Stern in seinen Aussagen über den Kulturpessimismus insgesamt und über Lagarde im Besonderen sein mag, seine Bewertung Chamberlains ist in sich widersprüchlich und im Hinblick auf die vielen Schriftsteller der Zeit, die die Grundlagen rezipiert haben, und zwar auch im Hinblick auf die literarische Elite, nicht recht nachvollziehbar. Stern übersieht, dass Chamberlain im Unterschied zu anderen Rassisten in nahezu
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Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr 1963.
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allen bürgerlichen Kreisen salonfähig war.2 Eine Hierarchisierung zwischen de Lagarde und dem nach U. Wehler nicht minder verhängnisvollen3 Chamberlain aufzubauen, ist aber auch deshalb nicht sinnvoll, weil beide demselben Zeitgeist angehörten und sich der gleichen Klientel bedienten. Ganz anders urteilt daher Uwe Puschner, der beide ebenfalls im Vergleich als die wichtigsten Wegbereiter der völkischen Weltanschauung4 bezeichnet, wobei er das von Goebbels benutzte und oben zitierte Prädikat Wegbereiter weiterführt. Nach Puschners Untersuchungen zur völkischen Bewegung gehört Chamberlain zu den wenigen Altvölkischen, die die ideologische Zäsur des Weltkriegs überstanden haben5 und daher auch für die Nationalsozialisten noch eine Rolle spielten, was für den ebenfalls wichtigen Lagarde nicht in der gleichen Weise zutrifft. Auch für K. Sontheimer6 und Th. Nipperdey füllte Chamberlain die Rolle des Wegbereiters in zweierlei Hinsicht aus, zum einen inhaltlich als Prophet des Rassismus und Verkünder einer neuen Weltanschauung und zum anderen in seiner nicht nachlassenden publizistischen Wirkung: Sontheimer 1994, 140: Nicht die Nationalsozialisten selbst hatten die Grundlagen ihrer Weltanschauung geschaffen, sie hatten sie von den zunächst unabhängig von ihnen wirkenden völkischen Publizisten und Pamphletisten, von Rasseforschern und literarischen Germanophilen übernommen, […]. Von den Nationalrevolutionären übernahmen sie die Glorifizierung des Kriegserlebnisses, von den Neukonservativen die Ablehnung des Liberalismus und Individualismus, […] von H. St. Chamberlain und den zahlreichen akademischen Rasseforschern die Verherrlichung der Rasse und des Blutes, von Schopenhauer die Betonung des Willens als Element schöpferischer Tat (Rosenberg), von den Marxisten einen antikapitalistischen Affekt (Strasser), […], und das ganze kleideten sie in die Weltanschauung des Nationalsozialismus, beschworen die Vision eines dritten Reiches, das schlagartig die Lösung aller Probleme der Zeit im Sinne dieser Ideologie bringen würde.
Man kann Sontheimers Auflistung ideologischer Vorläufer noch pointieren, indem man darauf hinweist, dass Chamberlain dem Nationalsozialismus nicht nur die Rassenverherrlichung liefert, sondern die Synthese weiterer von ihm genannter Bausteine ihrer Ideologie, dass er also gleichsam die Synthese vorgab und vor allem für den nationalsozialistischen Chef_____________ 2
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Vgl. dazu: Field 1981, 2: "Unlike Lagarde, Chamberlain was not an "outsider” who lashed against the values and institutions of the imperial Reich and harboured a deep pessimism about future.” So Wehler in seiner Gesellschaftsgeschichte III, 1995, 748. Puschner 2001a, 280. Auch für Fritz Fischer hatte Chamberlain den größten Einfluss auf das geistige Leben des Wilhelminischen Deutschland; vgl. Fischer 1969, 66. Puschner 2001a, 12: "Lediglich vier Altvölkische, nämlich Adolf Bartels, Max Bewer, Houston Stewart Chamberlain, Theodor Fritsch fanden 1925 noch Eingang in die 100 Heldenbilder". Sontheimer, Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik 1994.
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ideologen Alfred Rosenberg die wichtigste Hauptquelle seines Schreibens, speziell auch seines Willensbegriffs, war. Chamberlain gilt ja nicht ohne Grund als der populäre, alles auf wenige einfache Formulierungen konzentrierende Synthesizer7 der völkischen, antisemitischen und nationalistischen Ideologeme der Zeit. Man könnte seine Schriften, darunter vor allem die Grundlagen, mit Wolfgang Mommsen als Brücke sehen "zwischen den sozialdarwinistischen Ideologien und einem mystischen Nationalismus, der an eine besondere Sendung der deutschen Nation glaubte"8. Thomas Nipperdey versucht den Motiven für die beträchtliche Rezeption der Grundlagen nachzugehen. Nipperdey, Deutsche Geschichte I, 1990, 830: Aber für die Denkgeschichte viel wichtiger zumal von der Resonanz her, ist der Kreis, der sich in Bayreuth um das Erbe (und die Erben) Richard Wagners gebildet hatte. […] In diesem Bayreuther Kreis entstand eines der erfolgreichsten und wirkungsvollsten Bücher der Zeit, das Buch des als Engländer geborenen, zum Deutschen gewordenen H. St. Chamberlain, des Schwiegersohns Richard Wagners: "Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts". […] Das Entscheidende hier ist, dass das Buch ein Bestseller wurde – nicht nur weil es den Wissenschaftsenttäuschten und Weltanschauungssüchtigen eine Gesamtdeutung bot. Diese Rasseninterpretation war auch in sich attraktiv. Gewiß sind nicht alle Leser Anhänger jener Rassenreligion geworden, aber viele fanden das doch, wie Kaiser Wilhelm, interessant und eindrucksvoll genug.
Dass die Grundlagen zum Bestseller9 werden konnten, ist vor allem der zeitgeschichtlichen Konstitution seiner Rezipienten, der Wissenschaftsenttäuschten und Weltanschauungssüchtigen (s. o.), geschuldet, deren Wunsch nach einer einfachen, religionsersetzenden bzw. religiösen Gesamtdeutung, in der die Unsicherheiten der Zeit aufgelöst, die eigene Kultur glorifiziert10 und die Widersprüche der unterschiedlichen Betrachtungsweisen aufgelöst werden. Nipperdey, ebd. 635: Aber es gibt nach der Jahrhundertwende ein Krisengefühl, ein Gefühl des Epigonentums – weil im Meer des Gewussten und Wißbaren sichere Linien und verpflichtende Ziele zu entgleiten schienen; weil die un- und halbzünftige Wissenschaftskritik, die Forderung nach "Erlebnis" und "Schau", nach "Synthese", und die Stimme der dilettierenden Außenseiter, wie H. St. Chamberlain oder – später dann - O. Spengler, mit ihren wirkungsvollen Synthesen aus schlechter oder nicht so schlechter Halbwissenschaft, nicht zu überhören
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Field 1981, 173. W. Mommsen, Bürgerliche Kultur und künstlerische Avantgarde 1994, 96. Field 1981, 262: "People read Chamberlain selectively; his rich prose yielded to their various interpretations. Yet a great many Germans regarded it as a book of the hour, an accurate portrayal of the mood of a new era”. Die Grundlagen als Bestseller vgl.: J. H. Ulbricht, Im Herzen des "geheimen Deutschland" 1998, 159; außerdem: Wehler III, 1995, 748. Field 1981, 179.
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waren. Alle neuen Aufbrüche in der Wissenschaft selbst hatten darum auch zum Ziel, Einheit und Bedeutsamkeit der Geschichte neu zu bestimmen.
Der schreckliche Vereinfacher (so Jacob Burckhardt11) war am Puls und er war vor allem der bekannteste rassistische Intellektuelle seiner Zeit.12 Er kombinierte die neue Evolutionstheorie, den biologischen Determinismus, mit einem positiv konnotierten Rassismus13 und einem nationalen Christentum, den traditionellen Antijudaismus mit dem neuen Antisemitismus, Kulturkritik und Kulturpessimismus mit einer hoffnungsvollen utopischen Geschichtserklärung, in der es wiederum das eigene Volk war, dessen Bildung über die aller anderen Völker gestellt wurde. Er entwarf eine neue Elite, zu der prinzipiell erst einmal jeder Deutsche aufgrund seines Deutschtums, im Sinne S. Breuers aufgrund seines Gentilcharismas, Zugang hatte, vor allem aber jene, die seine Bücher lasen.14 Breuer 2001, 71f.:15 Mindestens ebenso wichtig, wenn nicht wichtiger ist ein anderer Aspekt, der ihn [Chamberlain, ALR] sowohl von Gobineau als auch von Nietzsche unterschied: die Übertragung des der Rasse zugeschriebenen Gentilcharismas auf die Nation. Für ihn waren die Germanen als Kollektiv, was Christus als Person war, nämlich die Erscheinung einer neuen Menschenart", die sich durch echten Geburtsadel auszeichnete.
Fritz Stern hatte mit seiner Bemerkung vollkommen Recht (s. o.), Chamberlain habe den Deutschen geschmeichelt. Doch ist dies keineswegs ein Argument gegen dessen breite Wirkung, sondern eher dafür. Denn gerade in seiner Art des Schreibens, seiner Art, seinen deutschen Lesern nach ihrem literarisch geschulten Geschmack zu schreiben, lag seine außerordentliche Wirkung begründet. In allen seinen Schriften verhielt sich Chamberlain manchmal moderat, manchmal radikal, Hoffnung anfütternd und Illusionen wachrufend, dabei immer salonfähig formulierend, stilistisch elegant und gebildet, schmeichlerisch gegenüber der deutschen Mittel- und Oberschicht auf der einen Seite, radikal polarisierend und exkludierend gegenüber den Juden auf der anderen. Bei aller Polemik war er im Ausdruck immer stilsicher, im Gestus freundlich und im Habitus bürgerlich. Wenn er aggressiv wurde, dann selten direkt und aufdringlich, sondern in der Regel auf der satzsemantischen, impliziten Ebene, wo er die Wünsche, Erwartungen und Prädispositionen seiner radikaleren Anhänger bedienen konnte, ohne die weniger radikalen darunter zu vergrämen. Letztere konnten auf dieser Ebene sozusagen weghören und nur wahrnehmen, _____________ 11 12 13 14 15
Zitiert nach Field 1981, 173. So Weiss, Der lange Weg zum Holocaust 1997, 180. Vgl. Mosse, Die völkische Revolution 1979, 104ff. Field 1981, 449: "Lastly, his writings were based on a firm sense of the role of a cultivated and educated elite in society.” Breuer, Ordnungen der Ungleichheit 2001, 71f.
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was er ihnen explizit versprach. Denn konservative und bürgerliche Kreise, sofern sie deutsches Gentilcharisma hatten, wurden von ihm auf den Thron einer macht- und glückvollen Zukunft gehoben. Mosse 1979, 105: Zweifellos hat dieser nicht weichende Optimismus zu dem außerordentlichen Erfolg von Chamberlains Buch […] beigetragen. In diesem Werk, das eine starke Wirkung auf das völkische Denken hatte, wurde der Rassismus zu mehr als einer bloßen Erklärung für den Aufstieg und Fall der Zivilisation. Er fungierte als Hoffnung der Menschheit und die Erfüllung ihrer Sehnsucht. Chamberlains Argumentation überschritt diejenige früherer Rassisten insofern, als in ihr Wissenschaft und Mystizismus zusammenflossen.
Den Preis, den die Anhänger Chamberlains für diese glorreichen Aussichten zu zahlen hatten, war der Antisemitismus, kein Betrag, um den man sich schlug.
3. Das deutsche Bildungsbürgertum oder Chamberlains Adressaten Chamberlains Schriften vermittelten vielen Deutschen in den letzten Jahrzehnten der wilhelminischen Ära, vor allem aber nach dem verlorenen Weltkrieg, beständig das positive Gefühl und die innere Überzeugung, trotz der als Schmach empfundenen Niederlage und trotz der sozialen Nöte und Existenzängste der darauf folgenden Jahre weltgeschichtlich bedeutend zu sein. Eine besondere Anziehungskraft übte diese Vorstellung auf den bürgerlichen Mittelstand aus, den Chamberlain repräsentierte und von dem er selbst auch am meisten rezipiert worden ist. An ihn hatte er seine Schriften stilistisch, d. h. in der sprachlichen Gestaltung, sowie inhaltlich sowohl durch die thematischen Füllungen wie durch die ideologische Ausrichtung adressiert. Die Auflistung der heute noch berühmten Leser Chamberlains, – sie stehen hier repräsentativ für die vielen Unbekannten, ohne die die hohen Auflagenzahlen nicht erreicht worden wären, – ermöglicht bereits ein Bild auf die Soziologie der Rezipienten. Es handelt sich in der Regel um Angehörige der gebildeten Mittelschicht und der Oberschicht,1 die häufig zugleich auch von Wagner begeistert waren, es aber nicht zwangsläufig sein mussten2 und die Jean Paul Sartre zufolge _____________ 1
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Vgl. dazu Field 1981, 2. Er nennt die Grundlagen ein Mittelstandsbuch (Field 1981, 276), das auch durch die überregionale Presse und die Lokalpresse verbreitet wurde, oft auch in Form von Diskussionen und Rezensionen. Von Schroeder (1918, 26) über Chamberlains Leser: "Er wandte sich mit ihnen an alle diejenigen, welche ebenso wie er selbst gebildete Menschen sein wollten, ohne den Anspruch auf Fachgelehrsamkeit und fachmännisches Urteil zu erheben, -- daher er sich selbst als Dilettanten" bekannte und bezeichnete. Wenn er trotzdem mit seinen Schriften
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auch einen Großteil der Antisemiten3 lieferten.4 Dass die sozialen Ränder nach unten, zumindest zum Kleinbürgertum hin, offen waren, ist historisch erwiesen. Wenn die Lektüre der Kriegsaufsätze selbst im ersten Weltkrieg aus freier Entscheidung erfolgte, so darf man annehmen, dass die offizielle Bereitstellung der Grundlagen als Reichswehrausgabe vielleicht auch nicht vollständig ins Leere ging. Chamberlain kommentiert seine Resonanz wie folgt: Br I, 318 (1915): infolge der Kriegsschriften ist mein Name in Kreise eingedrungen, die nie im Leben eine Seite "Goethe" oder "Kant", vielleicht nicht einmal eine Seite "Grundlagen" gelesen hätten; Soldaten aus dem Schützengraben sind alle willkommen, aber Philister, die mir Ratschläge geben, Vorwürfe machen, Damen, die mir erzählen, wer ihr Großvater war usw. usw., dazu Professoren, die Auskunft wollen, Dutzende von Herausgebern und Verlegern, die meine Mitarbeit wünschen ...
Die Adressaten, die er beim Verfassen seiner Bücher vor Augen gehabt habe, seien wissenschaftlich gebildete, frei gesinnte, unparteiisch urteilende, christlich gerichtete Männer nach Art Julius Wiesners.5 Dass er damit die von ihm als geistiger Mittelstand bezeichnete Schicht meint, wird unter anderem aus einem Brief an Keyserling ersichtlich, in dem er dessen Buch als Selbstgespräch kritisiert und ihm vorwirft, keinen Leser angesprochen zu haben: Br I, 158 (1907): zum harmonischen Gesamteindruck gehört aber, auf alle Fälle, daß der Leser genau empfinde, zu wem geredet wird. Sobald ich die Vorstellung Ihrer in Selbstgespräch vertieften Person aus den Augen verlor, war ich nun gepeinigt durch die Empfindung, nicht zu wissen, welches Publikum Sie im Auge gehabt haben. Dem allgemeinen Ton nach, würde ich glauben, die große geistige Mittelklasse, nicht die Ignoranten, nicht die Denkfaulen, aber auch nicht den Gelehrten und noch weniger den alleinigen Geistesadel, da Sie für diesen gewiß schlichter und weniger oratorisch geschrieben hätten. Anderseits aber setzen Sie so viel an naturwissenschaftlichen Kenntnissen voraus und namentlich - an manchen Orten - eine solche Vertrautheit mit subtilen erkenntniskritischen Gedanken, Sie gleiten über diese Dinge verhältnismäßig so schnell hinweg, daß ich mir wiederum sagen muß, jene Mittelklasse kann Ihnen unmöglich hier folgen […].
Die beiden letzten Zitate machen deutlich, dass Chamberlain konkrete Vorstellungen von der Notwendigkeit adressatenbezogenen Schreibens _____________
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bald genug auch von Fachgelehrten beachtet und eifrig gelesen wurde, so verdankte er dies der Tiefe und Originalität seiner Gedanken." Vgl. dazu Reichmann, Eva, Der "bürgerliche" Antisemitismus 1974. Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage 1948, 31: "Die Mehrzahl der Antisemiten findet sich dagegen im Mittelstand, das heißt bei den Leuten mit gleichem oder höherem Lebensstandard als dem der Juden, oder, wenn man will, bei den Unproduktiven (Arbeitgeber, Kaufleute, Mitglieder der freien Berufe, Schmarotzer)". Lebenswege 66.
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und vor allem vom Auffassungsvermögen seiner Leser hatte, und dass es sich daher lohnt, einen Blick auf den genannten Geistesadel, geistigen Mittelstand, die geistige Mittelklasse, die Soldaten, Philister, Professoren und Damen zu werfen. Was die genannten Personen und Personengruppen verbindet, ist ihre Zugehörigkeit zur bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts, das bezeichnenderweise ja auch das bürgerliche Jahrhundert genannt wird.6 Dass das Bürgertum in Deutschland wie in weiten anderen Teilen Europas einem ganzen Jahrhundert seinen Stempel aufprägen konnte, erklärt sich dadurch, dass es diejenige gesellschaftliche Schicht stellte, die in ihrer Eigenschaft "als Träger von Bildung als der integralen Verknüpfung von literarischen und historischen Erkenntnisinteressen sowie als Träger politischer Ideologien, innerhalb derer die Konzepte von Sprache und Nation aufeinanderbezogen werden,"7 fungiert hat, und dass gerade diese genannten Konzepte wiederum zu den konstitutiven Identifikationsmarkern der Gesellschaft gehörten. Was U. Haß-Zumkehr über das gesellschaftliche Interesse an der germanistischen Sprachgeschichte im Besonderen formuliert, gilt für die Interessen im 19. Jahrhundert insgesamt. Nur über die gesellschaftspolitischen Träger gelangt man an die Interessen einer Zeit. Für das 19. und beginnende 20. Jahrhundert ist das Bürgertum als diejenige Schicht anzusehen, der hinsichtlich Bildung und politischer Ideologie die Orientierungsrolle zukam. Obwohl dieses Bürgertum zahlenmäßig nur eine einzelne und sicher nicht die mehrheitliche Schicht im Deutschen Reich stellte, prägte es die Sozialformation dieser Zeit in Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Lebenswelt und Moral, "bisweilen sogar in der Politik" (Kocka 1995, 5). Dennoch, es wäre verfehlt, von einem homogenen, zu jeder Zeit die gleichen Interessen verfolgenden Bürgertum zu sprechen, da man zum Beispiel Kaufleute, Fabrikbesitzer, Kapitalbesitzer und Beamte ebenso dazuzählte wie Ärzte, Rechtsanwälte und Professoren, in der ersten Hälfte des Jahrhunderts auch das Kleinbürgertum bzw. Gemeindebürgertum (Handwerker, Händler, Gastwirte). Kocka (ebd. 32ff.) unterscheidet drei bürgerliche Phasen, zum einen die Konstitutionsphase (ca. von 17801840), dann die Kulminationsphase (1840-1870) und schließlich die Defensivphase (1870-1918). Die beiden ersten Phasen brachten Aufstieg und Höhepunkt der bürgerlichen Macht und des bürgerlichen Sozialprestiges. Man konnte sich politisch verbindend als Opposition gegen die Aristokratie definieren und gemeinsam zum wirtschaftlichen Wandel durch Kapitalismus und Industrialisierung beitragen. Doch schon die zweite Phase, in der das Bürgertum bereits die dominante wirtschaftliche Macht innehatte, _____________ 6 7
Vgl. Kocka, Das europäische Muster und der deutsche Fall 1995. Haß-Zumkehr 1998, 349.
46 Houston Stewart Chamberlain
brachte Krisen. Nach innen spaltete sich das Wirtschaftsbürgertum immer mehr vom Bildungsbürgertum ab, politisch kam es zum Verfassungskampf, der am Ende dieser Phase mit der nationalen Einigung zwar die Einheitswünsche, aber nicht die innenpolitischen Gestaltungs- und Machtwünsche befriedigte, und nicht zuletzt waren die Folgen der industriellen Revolution, die soziale Frage und der Pauperismus zum Brennpunkt geworden, der auch deswegen das eigene Selbstverständnis antastete, weil sich das Bild eines neuen, mächtigen, von unten aufsteigenden Feindes herauskristallisierte. Die dritte Phase entspricht unter chronologischen und allen inhaltlichen Gesichtspunkten der Wirkungszeit Houston Stewart Chamberlains. Trotz der starken bürgerlichen Prägung des Wilhelminismus, in der Gleichheit vor dem Gesetz ebenso gewährleistet war wie individuelle Rechte und eine verfassungs- und rechtsstaatliche Begrenzung der Regierungsmacht, in der es sogar eine relativ freie Öffentlichkeit gab mit einem blühenden Vereinswesen und einer relativen Autonomie von Bildung, Wissenschaft und Kunst, in der das Bürgertum nicht nur die Verwaltung von ihrem Selbstverständnis her prägte, sondern in der es sogar gelang, die bürgerlichen Tugenden zum Leitmaßstab der Gesellschaft8 werden zu lassen, in einer Zeit also, in der das Bürgertum im Sinne Pierre Bourdieus9 wie nie zuvor den sozialen Markt beherrschte, kam es zur Krise. Wehler hebt diese Krise von der Seinsebene zu Recht auf die Wahrnehmungsebene, in dem er in der Kulturkrise eine "spezifisch verzerrte 'gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit"10 erkennt. Das Bürgertum war nach und in seinem eigenen Selbstverständnis in die Defensive geraten. Zur machtpolitischen Stagnation gegenüber dem Geburtsadel, der in Militär und hoher Verwaltung immer noch den Ton angab, kam die neue Herausforderung durch das sich politisch formierende Proletariat. Auch die innere Heterogenität wurde zunehmend registriert, die bürgerliche Vielfalt wuchs: Es kommt neben der Diversifikation von Bildungs- und Wirtschaftsbürgern auch zur Bildung einer neuen Gruppe, den Managern, Funktionären und Experten. Gerade die Existenz dieser letzteren Expertengruppe stellte die größte Herausforderung für das bildungsbürgerliche Selbstverständnis dar. Stärker noch als die Wissenschaft verstand man sie als eine neue, schwer zu berechnende gesellschaftliche Großmacht, die dem ausdifferenzierten Detailwissen den Vorrang über das Allgemeinwissen gab und damit dem Eigenwillen und Eigensinn des Idioten Vorschub leistete, während der "Gebildete synthetisch wirkt und sich dem Wohl aller verpflichtet fühlt, dem _____________ 8 9 10
Kocka 1995, 36f. Bourdieu, Die feinen Unterschiede 1982. Vgl. dazu auch unter sprachwissenschaftlichem Aspekt: Peter Auer, Sprachliche Interaktion 1999, 240-252. Wehler III, 1995, 745.
47 Das deutsche Bildungsbürgertum oder Chamberlains Adressaten
Gesamtleben, welches zuvor bonum commune geheißen hatte".11 Ob dies den historischen Tatsachen entspricht oder eine Selbstüberhöhung der Gruppe darstellt, ist in vorliegendem Zusammenhang ohne Belang. Wenn alle glauben, dass die Selbsteinschätzung der Realität entspricht, ist sie Realität. Der Rationalisierungsprozess12 jedenfalls bzw. die in Gang gesetzte Verwissenschaftlichung der Welt verdrängte die ganzheitlich gedachte Allgemeinbildung, in der Bildung mehr als nur Ausbildung war, sondern auch Erlösungswissen bedeutete. So hatte schon Humboldt am 30. 4. 1803 an Schiller geschrieben:13 "Dies ist also das Ziel unserer Bildung, in das Paradies zurückzukehren, aus dem der Mensch entweichen musste, um zur Selbsterkenntnis zu gelangen". Bildung wird zum Wissen um die Selbstentfremdung und zugleich der Weg, ihr zu entkommen. Hierzu schreibt R. Koselleck: Koselleck14 1990, 16f.: Es zeichnet den deutschen Bildungsbegriff geradezu aus, nicht spezifisch bürgerlich oder politisch konzipiert zu sein, sondern primär theologisch. […] Das deutsche Wort 'bilden' enthält eine aktive Bedeutung, nämlich des Schaffens und Formens, das in der Bildnerei, z. B. eines Töpfers greifbar werden kann, eine Bedeutung, die auch auf die geistige Schöpfung übertragbar wurde. Aber im theologischen Kontext verweist der Ausdruck seit dem 14. Jahrhundert auch auf eine eher passive, jedenfalls empfangende Bedeutung hin, die aus der Schöpfungstheologie herrührt. "Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde." Daraus folgt die Möglichkeit der imitatio Christi oder der imago Dei-Lehre oder der neuplatonisch gestützte Forderung, daß das Abbild sich dem Urbild nähere. [...] Verwandlung und Wiedergeburt sind bleibende Bedeutungsgehalte, die dem religiösen Bildungsbegriff innewohnten.
Bildung oder, wie es zutreffender für diese Zeit heißt, Bildungsreligion kann damit auch als Herrschaftswissen einer kleinen sozialen Schicht verstanden werden, und zwar insofern und in dem Maße, wie ihre Deutungskompetenz für Vergangenheit und Gegenwart beansprucht und anerkannt wird.15 Als gemeinsamen Nenner dieses Bildungsbürgertums nennt A. Linke (in Anlehnung an L. Gall16) "die gemeinsamen kulturellen Wertvorstellungen, Bildungsinhalte und Überzeugungen, die gemeinsamen Lebens- und Verhaltensformen, sowie die typische Wahl sinnstiftender Horizonte und
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Timm, Bildungsreligion im deutschsprachigen Protestantismus 1990, 58. Weingart / Knoll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene 1992, 15ff. Briefwechsel Schiller -Humboldt 1962, 2, 234. Koselleck, Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung 1990, 11- 46. Jeismann, ".. der gelehrte Unterricht in den Händen des Staates" 1990, 325. Linke, Sprachkultur und Bürgertum 1996, 23; Gall, Ich wünschte ein Bürger zu sein. Zum Selbstverständnis des deutschen Bürgertums im 19. Jahrhundert 1987, 601-623.
48 Houston Stewart Chamberlain
die Ausformung spezifischer Gefühlswelten".17 Bürgerliche Gemeinschaft stifteten demnach die Künste, seien es die Literatur, darunter vor allem die kanonisierten Klassiker, die Malerei oder die Musik, ferner alle progressiven Wissensformen und Wissenschaften, aber auch immer noch die Religion. Dies bedeutet zum einen eine von einer eigenen bildungsbürgerlichen Gruppe getragene und im Bildungssystem institutionalisierte lebensweltlich relevante Reflexion von Sprache und Sprachlichkeit, von Geschichte und Geschichtlichkeit, Religion und Religiosität, nicht zuletzt von Kunst und Ästhetik.18 Doch das so skizzierte bürgerliche Selbstverständnis entspricht eher einem konstruierten und nachzustrebenden Ideal als der sozialen Realität. Es ist als bildungsbürgerliche Utopie zu lesen, in der das klassische Gute, Wahre und Schöne zum Maßstab des Lebens und Handelns gemacht wurde und in der Wohlklang und Harmonie keinen erreichten Zustand, sondern ein anzustrebendes Ziel meinen. Der Wunsch nach Harmonisierung ist das Gegenbild der Brüche und Risse, der sich immer weiter verbreitende Krisenstimmung.19 Wehler III, 1995, 745: Seit den achtziger Jahren gab es eine unübersehbare Tendenz zu einer breitgefächerten ideologischen Diversifikation, die eine Aushöhlung speziell des bildungsbürgerlichen Selbstverständnisses und Selbstbewußtseins, einen auffälligen Wertewandel, schließlich ein anschwellendes Krisengefühl verriet. Dieser Schub wurde durch einen Komplex von unterschiedlichen Antriebskräften verursacht. Dazu gehörten der Strukturwandel hin zur Klassengesellschaft, die Zunahme offener Interessenskonflikte, der Aufstieg des organisierten Proletariats, die Urbanisierung und Binnenwanderung, die Auflösung der bildungsbürgerlichen Honoratiorenverbände, die Veränderung der sozialen Mobilitätsbedingungen, der Druck der wirtschaftsbürgerlichen Distanz zum Leben der 'Geld-aristokratie'. Das alles löste eine zutiefst irritierende Statusverunsicherung breiter bürgerlicher, insbesondere aber bildungsbürgerlicher Formationen unterhalb der etablierten Oberklasse aus.
Nicht nur die bürgerliche Identität geriet ins Wanken, auch der soziale Friede der deutschen Gesellschaft wurde als bedroht wahrgenommen. Es kommt zur "Flucht aus der herkömmlichen Bildungswelt" und zur "Suche nach neuer kultureller Stabilisierung, nach neuer Sinnstiftung, nach neuem Religionsersatz" (Wehler, ebd.). Zu den Strategien der Stabilisierung gehörten zum einen die ideologische Nationalisierung inklusive der damit verbundenen inkludierenden und exkludierenden Mechanismen. Dazu zählte erstens die Ausgrenzung der so genannten Reichsfeinde (Sozialdemokraten, Minderheiten wie die Juden oder die Sorben, im Reich lebende Tschechen oder Polen, die Freimaurer, ansatzweise selbst Katholiken), aber auch gemeinschaftsför_____________ 17 18 19
Linke 1996, 31. Koselleck, Einleitung 1990, 35. Konersmann, Aspekte der Kulturphilosophie. In: Ders., Kulturphilosophie 2004, 9ff.
49 Das deutsche Bildungsbürgertum oder Chamberlains Adressaten
dernde und inkludierende Maßnahmen, wie die Bildung einer klassenbezogenen Gedächtnisgemeinschaft,20 deren Ränder selbstverständlich fließend sind, über die aber doch ein Kanon an gemeinschaftsbildenden und festigenden Symbolsystemen konstituiert wird. Dazu gehörte zweitens speziell die Semiotisierung des Gedächtnisses durch eine bewusst gepflegte symbolische Erinnerungskultur mit dem Ziel und dem Ergebnis der Herstellung eines übergreifenden Nationalbewusstseins. Unter Kanon wird hier zum einen die Gesamtheit aller Texte verstanden, die für eine bestimmte soziologische Gruppe kultur- und identitätsstiftend ist und bildungssoziologische, vor allem aber bildungsnormative Funktionen hat, da die Kenntnis ihrer Einzeltexte sowohl Gruppenzugehörigkeit indiziert als auch schafft. Zum anderen und darin aufgehend ist es das Prinzip, "das die konnektive Struktur einer Kultur in Richtung Zeitresistenz und Invarianz steigert. Kanon ist die 'mémoire volontaire' einer Gesellschaft, die geschuldete Erinnerung."21 Träger einer solchen Erinnerung ist häufig eine bestimmte Elite, die nach ihren Klasseninteressen kanonnormativ auftritt und die eine Verallgemeinerung ihrer Ideale im Ernstfall als Bedrohung (dazu weiter unten mehr) empfinden kann, was im Falle des Bürgertums zu beobachten ist.22 Die letzte Hälfte des 19. Jahrhunderts ist die Zeit23 der "Ikonisierung von Integrationsfiguren wie Wilhelm I.",24 Bismarcks oder Moltkes durch die Aufstellung von Denkmälern (z. B. des Bismarckdenkmals in Heidelberg und vielen anderen Städten, die Einweihung des Hermannsdenkmals im Teutoburger Wald 1875), der nationalen Feiertage (Sedansfest) und der literarischen Verbrämung der eigenen, zum Teil adoptierten glorreichen Vergangenheit durch Autoren wie Felix Dahn, Gustav Freytag oder Joseph Victor von Scheffel, dessen Ekkehard (Erstpublikation 1855) 1904 schon in der 200. Auflage erschienen.25 Ein nicht unwichtiger Akt der Semiotisierung der Vergangenheit war zweitens die historiographische Bearbeitung durch die Geschichtsschreibung selbst. Heinrich von Treitschkes Forderung26 nach einer Nationalgeschichte ist in diesem Zusammenhang ebenso zu erwähnen, wie die so genannten geschichtsphilosophischen Darstellungen Chamberlains. Trotz aller Betonung des Rank_____________ 20 21 22 23
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Vgl. zum Ausdruck Gedächtnisgemeinschaft: Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis 1997, 30. Ebd. 18. Kocka 1995, 38. Kipper, Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich 2002, 14: "Hierbei handelt es sich keineswegs nur um offizielle Anstrengungen, sondern gleichfalls um verbreitete und in sich vielfältige Bestrebungen vornehmlich bürgerlicher Kreise." Vgl. dazu: Hardtwig, Nationalismus und Bürgerkultur 1994, 194ff. Dazu: Kipper 2002, 13. Ebd. 15.
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eschen Ideals, zu beschreiben, "wie es eigentlich gewesen" sei, erfüllten zünftige Wissenschaftler die Funktion der Identitätsstiftung genauso wie Schriftsteller vom Schlage Chamberlains. Wichtig war den Autoren wie ihren Rezipienten die Ausbildung einer als ununterbrochen gedachten Linie nationaler Tradition, in der sie sich wiederfinden konnten und mit der sie sich identifizieren wollten.27 Nicht minder wichtig war, dass die Inklusion den Leser keine größere Anstrengung kostete, dass auch alle anderen ihm wichtigen Menschen dazugehörten und dass ihn die ausgegrenzten Reichsfeinde, also die als vaterlandslose Gesellen stigmatisierten Sozialdemokraten und Minderheiten wie Juden und Zigeuner, höchstens als Drohkulisse angingen. Lund 1995, 39: Wichtig ist vor allem der Glaube an eine gemeinsame historische Vergangenheit und Tradition, insbesondere an einen gemeinsamen putativen Stammvater, gelegentlich auch an eine gemeinsame Zukunft. Das letzte gilt natürlich besonders für Utopien.
Doch Nation und nationale Kultur waren grundsätzlich schichtenübergreifende Identifikations- und Inklusionsangebote mit strukturierenden geschichtsinterpretativen Nebenwirkungen, die zwar zur nationalen, aber nicht zur klassenbindenden Binneninklusion ausreichten. Neben der genannten gesamtgesellschaftlich konsensfähigen Erinnerungskultur zur Herstellung einer alle Risse und Brüche überdeckenden nationalen Gemeinschaft müssen als weitere, diesmal klassenspezifische Stabilisierungsanstrengungen zum einen die Profilierung bürgerlicher Distinktionsmerkmale in den sozialen Feldern Religion, Wissenschaft und Literatur bzw. Kunst im Sinne Bourdieus28 unternommen werden, vor allem aber die glaubwürdige Installation einer den Bedürfnissen des Bürgertums angemessenen Zukunftsvision. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Die deutsche Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts musste sich erstens über alle bestehenden partikularistischen Unterschiede hinweg als Nation etablieren, als eine politische Einheit, die ohne Österreich jedoch nur als unvollendet empfunden wurde (als "kleindeutsches" Reich). Sie musste sich zweitens als Klassengesellschaft bewähren, deren bürgerliche Mittelschicht nach oben vom aristokratischen Gegner abgegrenzt wurde, und die sich _____________ 27
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Kipper 2002, 15: "Die Identitätsfrage war mithin keine akademische, sondern eine eminent politisch-ideologische, die im Zeitalter des Historismus gleichwohl durch Rückgriff auf die Vergangenheit beantwortet wurde, genauer auf verschiedene konkurrierende Vergangenheiten, in denen die jeweils favorisierte Konzeption der Nation im klarsten ausgeprägt schien. Sowohl Inhalte der Erinnerung als auch deren Zeithorizonte unterschieden sich dabei ganz erheblich." Bourdieu, Die feinen Unterschiede 1987. Dort besonders zum 'Habitus' (ab 277) und zur 'Bildungsbeflissenheit' (ab 500).
51 Das deutsche Bildungsbürgertum oder Chamberlains Adressaten
durch den proletarischen Feind neuen Bedrohungen von unten ausgesetzt sah. Je bedrohlicher die Krisenstimmung anwächst, desto notwendiger werden Stabilisierung und Herausarbeitung der Selbstversicherung eingefordert, als deren wichtigste Bausteine Kultur und Bildung fungieren, damit in fundamentaler Weise auch Sprache und Sprachreflexion. Sprache ist im vorgetragenen Sinne geradezu ideal nutzbar, da sie einerseits national verbindet und andererseits dennoch die klassenbezogenen Binnendifferenzierungen mit jedem Satz und jedem Wort geradezu hörbar bzw. sichtbar zum Ausdruck zu bringen vermag. Dies leistet sie in doppelter Hinsicht: Zum einen dadurch, dass sie national verbindet, gleichsam mit jeder Äußerung zu erkennen gibt, ob jemand Deutsch oder eine andere Sprache spricht und ob er bei der Rolle, die der Sprache als nationalem Markierungszeichen in Teilen Europas zukommt, damit Deutscher oder Niederländer oder Franzose ist. Diese Leistung der Sprache erschöpft sich aber nicht in der Anzeichenfunktion (Symptomfunktion), sondern hat eine inhaltliche Seite, kann also so aufgefasst werden, als schaffe sie, sofern sie im gerade vorgetragenen Sinne als Nationalsprache verstanden wird, nationalen Konsens (so Bourdieu), den Zeitgeist (so Konersmann) schlechthin. Wenn das stimmt, dann fiele ihr die Rolle der Konstitution sprachnational begründeter Inhalte zu; sie würde zum objektiven Faktor für dasjenige, was die Nation ausmacht. Die folgenden beiden Zitate von Bourdieu und Konersmann können so verstanden werden. Bourdieu, Praktische Vernunft 1985, 129: Wenn es um die soziale Welt geht, schaffen die Wörter die Dinge, weil sie den Konsensus über die Existenz und den Sinn der Dinge schaffen, den common sense, die von allen als selbstverständlich akzeptierten doxa.
Konsensus, Common Sense und Doxa sind zeittypisch oder besser gesagt zeitgeisttypisch. Damit spiegeln sie per definitionem die geschichtstypischen Bedürfnisse und Anforderungen bestimmter Sprechergruppen. Sie sind das für jedermann sichtbare "tragende Element der Kollektivität eines Zeitalters".29 Der Zeitgeist ist entsprechend normativ.30 Er ist identitätsstiftende Heimat. Konersmann 2006, 74: Er ermöglicht tiefe Bindungen in der partikulären Lebensform eines rein zeitlich definierten Wir. Der Zeitgeist bedient mit einem Wort das Bedürfnis nach Zugehörigkeit. Die funktionale Betrachtung gestattet folgenden Vergleich: Der Zeitgeist ist ein Raum der geschichtlichen Zeit, was im geographischen Raum als Heimat erlebt und bejaht wird.
_____________ 29 30
Konersmann, Kulturelle Tatsachen 2006, 95. Konersmann vergleicht den Zeitgeist mit dem Habituskonzept Bourdieus. Ebd. 88.
52 Houston Stewart Chamberlain
Beide Zitate lassen zum anderen auch eine weitere Deutung zu. Bourdieus soziale Welt ist für einen Soziologen niemals eine einheitlich national gedachte, sondern gegliederte Welt, und der Zeitgeist Konersmanns ist für einen Kulturkritiker ebenfalls keine monolithische Größe, sondern per definitionem ein mannigfach geschichtetes und nach Gruppen unterteiltes Gebilde. Auf Sprache angewandt bedeutet das, dass sich der Bürger durch die Art, wie er mit dem Deutschen umgeht, als Gebildeter zu erkennen gibt, dass er seine Virtuosität in der Sprachbeherrschung und der Kenntnis von Inhalten zur Schau stellt und dass er nicht mit denjenigen verwechselt werden möchte, die nicht über diese Fähigkeiten bzw. Kenntnisse verfügen. Wer zum Bürgertum hinzugehören wollte, musste über "rhetorische Virtuosität verfügen, eine extensive Lesekultur praktizieren und die Feder zu führen wissen."31 Als linguale Variante, die im Sprachwertesystem des 19. Jahrhunderts dazu in besonderer Weise prädestiniert ist, kommt nur die bezeichnenderweise als Hochsprache, Hochlautung, Literatursprache, Kultursprache, die feine Sprache der Gebildeten, des vornehmen gesellschaftlichen Verkehrs charakterisierte Ausprägung in Betracht, die damit ein Kriterium der sozialen Unterscheidung innerhalb der nationalsprachlichen Gemeinschaft ist. Deutsch ist also erstens objektiver Faktor, der die Nation (mit)konstituiert, damit Identitätszeichen, und die Hochsprache als ihre vornehmste Variante ist ihr schichtenbezogenes Unterscheidungsmittel. Chamberlain, um es zu pointieren, ist der Heimatschriftsteller Konersmanns, da er den bürgerlichen Zeitgeist zum einen selbst verkörpert und zum anderen in seiner klassen- und rassenspezifischen Distinktion mit tröstenden und religiösen Aspekten verbindet. Diese wird deshalb notwendig, weil der Kulturpessimismus und die Untergangsstimmung, die man selber verbreitet hatte, eines metaphysischen Fluchtpunktes bedurften. Chamberlain zimmert mithilfe traditionell anerkannter Bildungsgüter aus den selbstgeschaffenen Ängsten, Wünschen und Tugenden seiner sozialen Schicht das Fundament seiner historisch-utopischen Erklärungsund Erlösungshypothesen. Einem einführenden Blick in dieses Vorgehen soll das folgende Beispiel dienen. Als Tugenden der Bürgerkultur galten u. a. Pflichtgefühl, Familiengebundenheit, Aufopferungsfähigkeit, Staatstreue. Sie werden von Chamberlain in den Grundlagen alle bedient, sinn- und traditionsstiftend in die Antike zurückverlängert und zu römischen Erfindungen gemacht, wobei man anmerken muss, dass in der zeitgenössischen Vorstellung Griechenland zwar die Wiege der Kultur war, der Beginn der Staatsund Rechtskunst jedoch im antiken Rom verortet wurde,32 und dass beide _____________ 31 32
Timm, Bildungsreligion im deutschsprachigen Protestantismus 1990, 60. Jeismann 1990, 326.
53 Das deutsche Bildungsbürgertum oder Chamberlains Adressaten
Kulturen untergegangen sind. Traditionsbildung und Untergangsszenario gehen hier Hand in Hand, denn auch wenn die Bürgerlichkeit mit besonderen religiösen Weihen versehen wurde, so ist sie dennoch durch eine Gefahr bedroht, die Chamberlain als asiatisch bezeichnet. Es ist dabei nicht zufällig, dass von Moral, Charakter und der Heiligkeit der Ehe die Rede ist. Mit der vorgenommenen, bis zur Sakralisierung reichenden Überhöhung der bürgerlichen Ideale (mit Ausdrücken wie moralisch, befähigt, Grosses zu leisten; Gefahr abwendend; Menschenfreiheit und Menschenwürde rettend; hart; hohes Pflichtgefühl / Familiensinn / Aufopferungsfähigkeit habend usw.) werden selbstverständlich auch die Träger dieser Ideale in besonderer Weise legitimiert. GL 218: Und doch fordert Rom Bewunderung und Dankbarkeit; seine Gaben waren moralische, nicht intellektuelle; gerade hierdurch jedoch war es befähigt, Grosses zu leisten. Nicht der Tod des Leonidas konnte die asiatische Gefahr von Europa abwenden und mit der Menschenfreiheit die Menschenwürde erretten, sie künftigen Zeiten zu friedvollerer Pflege und festerem Bestand übermachend; das vermochte einzig ein langlebiger Staat von eiserner, unerbittlicher politischer Konsequenz. Nicht Theorie aber, und eben so wenig Schwärmerei und Spekulation konnten diesen langlebigen Staat erschaffen; er musste in dem CHARAKTER der Bürger wurzeln. Dieser Charakter war hart und eigensüchtig, gross jedoch durch sein hohes Pflichtgefühl, durch seine Aufopferungsfähigkeit und durch seinen Familiensinn. Indem der Römer inmitten des Chaos der damaligen Staatsversuche seinen Staat errichtete, errichtete er DEN STAAT für alle Zeiten. Indem er sein Recht zu einer unerhörten technischen Vollkommenheit ausarbeitete, begründete er DAS RECHT für alle Menschen. Indem er die Familie, seinem Herzensdrang folgend, zum Mittelpunkt von Recht und Staat machte und diesem Begriffe fast exorbitanten Ausdruck verlieh, hob er das Weib zu sich hinauf und schuf die Verbindung der Geschlechter um zur HEILIGKEIT DER EHE. Geht unsere künstlerische und wissenschaftliche Kultur in vielen wesentlichen Momenten auf Griechenland zurück, so führt unsere gesellschaftliche Kultur auf Rom.
Dieser Text Chamberlains belegt auch die Ontisierung von 'Staat', 'Recht' und 'Ehe' als Größen mit überzeitlicher (Staat für alle Zeiten), übersozialer (Recht für alle Menschen) und religiöser Existenzform (Heiligkeit der Ehe). Stilistisch ist die genannte Trias mittels syntaktischer und lexikalischer Parallelen, hinsichtlich der 'Ehe' nach dem Gesetz der wachsenden Gliederzahl und einer inhaltlichen Klimax gestaltet. Das Bürgertum ist staatsbildend, staatstragend und sogar staatsrettend. Dass man ein solches Bürgerlob gerne las und hörte, ist nachvollziehbar. Wurde der Bürger doch auf diese Weise zum Inbegriff von Gemeinschaft, Gesellschaft und Kultur schlechthin. Und der Verfasser dieser Zeilen? Chamberlain gehörte als Bürgerlicher zu der Elite, die in der vorgetragenen Weise gedächtnis-, staats-, rechts-, kulturprägend wirkte. Als Schriftsteller war er öffentlich wirksam und konnte aktive Normenbildung betreiben, indem er zur textuellen und literarischen Kanonbildung beitrug.
54 Houston Stewart Chamberlain
Er war im beschriebenen Sinne zeitgeistgeprägt und zeitgeistprägend. Seine Art von bürgerlicher Öffentlichkeitsarbeit wog umso schwerer, als er in seinen Schriften sowohl als Religionsphilosoph wie auch als Geschichtsphilosoph auftrat und damit allseitige Welterklärung und Utopiestiftung betreiben konnte. Seine Legitimität dazu rührte auch von seinem sozialen und kulturellen Kapital her, das heißt von der persönlichen und gesellschaftlichen Vernetzung mit der Familie Wagner, und von der eigenen bildungsbürgerlichen Gewandtheit, wozu auch seine Sprachfähigkeiten als kulturelles Kapital beitrugen. Chamberlain sprach mehrere Sprachen fließend und war, wie bereits angedeutet wurde, selbst in den Augen seiner Gegner ein glänzender Schriftsteller. Trotz fehlender akademischer Würden präsentierte er sich seinen Lesern als universal gebildet, als Person, die in ihren Schriften auf umfassende naturwissenschaftliche, philosophische, literarische und musikalische Kompetenzen zurückgreifen konnte. Gleiches gilt in ästhetischen Dingen. Selbstsicher trat er in allen künstlerischen Geschmacksurteilen auf, wusste er doch, dass er letztlich nur den allgemeinen Konsens seiner Klasse, den bildungsbürgerlichen Zeitgeist reproduzierte. Was von Chamberlains Gegnern häufig pejorativ als sein Dilettantismus beschrieben wurde, kann aus einer anderen Perspektive auch ein bildungsbürgerliches Ideal sein: Je oratorischer, umso mittelständischer die Wirkung. Dieses Dictum favorisiert eben nicht den "eingeschränkten" Experten, sondern die universal gebildete kultivierte Persönlichkeit.33 Mit sozialem Prestige behaftet war laut Max Weber: Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1947, 578f: nicht der »Fachmensch«, sondern – schlagwörtlich ausgedrückt – der »kultivierte Mensch«. Der Ausdruck wird hier gänzlich wertfrei und nur in dem Sinne gebraucht: daß eine Qualität der Lebensführung, die als »kultiviert« galt, Ziel der Erziehung war, nicht aber spezialisierte Fachschulung. Die […] kultivierte Persönlichkeit war das durch die Struktur der Herrschaft und die sozialen Bedingungen der Zugehörigkeit zur Herrenschicht geprägte Bildungsideal. Die Qualifikation der Herrenschicht als solcher beruhte auf einem Mehr an »Kulturqualität« […], nicht von Fachwissen. Das kriegerische, theologische, juristische Fachkönnen wurde natürlich dabei eingehend gepflegt. […] Hinter allen Erörterungen der Gegenwart um die Grundlagen des Bildungswesens steckt [der] […] in alle intimsten Kulturfragen eingehende Kampf des »Fachmenschen«-Typus gegen das alte »Kulturmenschentum«.
Chamberlains Dilettantismus muss auf diesem Hintergrund als textlich inszenierte Bürgerlichkeit interpretiert werden bzw. als kompensatorisches Kokettieren des abgebrochenen Experten mit den bildungsbürgerlichen Idealen. Sein ausgeprägter Persönlichkeitskult rundet diese Inszenierung ab. Gerade sein Status als Schwiegersohn des großen Komponisten Wagner kann auf dem Höhepunkt deutscher Wagnerverehrung nicht hoch _____________ 33
Vgl. dazu auch Wehler III, 1995, 744.
55 Das deutsche Bildungsbürgertum oder Chamberlains Adressaten
genug eingeschätzt werden. Er half Chamberlain bei seiner erlösungsheischenden Ideologisierung des Kulturmenschentums ebenso wie bei der eigenen Selbstinszenierung zum Inbegriff eines solchen Kulturmenschen. Auch die rassenideologischen Aussagen Chamberlains fügten sich in diesen Rahmen. Wenn Bildungswissen Herrschaftswissen und damit auch Herrenwissen ist, dann wird sich derjenige, dem Bildung zugesprochen wird, als ein der arischen Rasse Angehöriger erkennen und sich kaum dagegen wehren, in besonderer Weise kulturfähig und damit zum Herrschenden bestimmt zu sein. Chamberlain ist der ausgewiesene Repräsentant dieser Art Bildung und nationale Herkunft verbindenden Rassenchauvinismus und wurde als solcher auch noch nach dem Ende des I. Weltkrieges wahrgenommen. Während Koselleck den Inhalt von Bildung von ihren religiös-schöpferischen Zusammenhängen her bestimmt, betont Timm ihre biologisch-organischen Aspekte. Timm 1990, 58: Schon die Semantik des Bildungsbegriffs schreibt vor, dass eine von ihm geleitete Neuzeitreligion anders aussieht. Die strittige Urheberschaft des Subjekts tritt zurück hinter dem Konkretum biomorpher Organizität. Bildung meint den Werdeaspekt des Lebens. Ihr Grund ist wurzelhaft verborgen in der Tiefe des schöpferischen Weiter und Weiter. Aus Vorgängigem kommt sie her, entwickelt die Mitgift durch permanente Wechselwirkung mit der Umgebung und führt so Veranlagung, Milieueinflüsse und ureigenen Antrieb teleologisch zusammen in eine Seinsgestalt, die zunehmend für den unerschöpflichen Reichtum des Woher zeugt. Metaphern des Vegetativen drängen sich auf. Ein Gebildeter wurzelt tief im Mutterboden seiner Tradition, ausgestattet mit der aristokratischen Gediegenheit des Überkommenen.
Mit alledem war Chamberlain geradezu die Verkörperung deutscher Bildungskultur: er war überzeugter Nationalist, Anhänger des Volkstumsgedankens und eines völkischen Etatismus; dass er extrem rassistisch war, fiel bei der ideologischen Feldbestimmung der Zeit bei nur wenigen ins Gewicht. Er war sinnstiftender Geschichtsphilosoph, Bewunderer der deutschen Philosophen und Dichter, Freund bzw. Anhänger der jeweiligen Führerideale, zuerst des Kaisers und später Hitlers. Beide hat er geprägt, den Kaiser in der direkten oder brieflichen Kommunikation, Hitler durch seine Schriften. Und geht man davon aus, dass das kulturelle Gedächtnis sich besonders auf die jeweils vorangegangenen 3 bis 4 Generationen bezieht,34 so wird deutlich, dass Chamberlains Wirkung bis in die Nazizeit hineinreichen konnte, was im Hinblick auf die hohe Auflagenzahl in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts erwiesenermaßen der Fall war. Was aber vermutlich noch sehr viel entscheidender ist, ist seine aktive _____________ 34
Vgl. Jan Assmann 1997, 50f.
56 Houston Stewart Chamberlain
Mitwirkung bei der Prägung der ganz spezifischen Erinnerungskultur bzw. Mythenbildung seiner Zeit. Chamberlain ist in einem übertragenen Sinne Erinnerungstransformator und Erinnerungsraum gleichermaßen. Jan Assmann macht deutlich, dass im kulturellen Gedächtnis die Unterscheidung zwischen Mythos und Geschichte hinfällig ist, denn Jan Assmann 1997, 52: Für das kulturelle Gedächtnis zählt nicht faktische, sondern nur erinnerte Geschichte. Man könnte auch sagen, dass im kulturellen Gedächtnis faktische Geschichte in erinnerte und damit in Mythos transformiert wird, Mythos ist eine fundierende Geschichte, eine Geschichte, die erzählt wird, um eine Gegenwart vom Ursprung her zu erhellen. […] Durch Erinnerung wird Geschichte zum Mythos. Dadurch wird sie nicht unwirklich, sondern im Gegenteil erst Wirklichkeit im Sinne einer fortdauernden normativen und formativen Kraft.
Chamberlains Art der Geschichtsschreibung ist narrative Mythenbildung, zwar ohne faktische Gewähr, dafür aber umso besser erzählt und auf der Basis identitätsstiftender Fixpunkte. Jan Assmann 1997, 16f.: Beide Aspekte: der normative und der narrative, der Aspekt der Weisung und der Aspekt der Erzählung, fundieren Zugehörigkeit oder Identität, ermöglichen dem Einzelnen, "wir" sagen zu können. Was einzelne Individuen zu einem solchen Wir zusammenbindet, ist die konnektive Struktur eines gemeinsamen Wissens und Selbstbildes, das sich zum einen auf die Bindung an gemeinsame Regeln und Werte, zum anderen auf die Erinnerung an eine gemeinsam bewohnte Vergangenheit stützt.
Chamberlains Akt der "Semiotisierung von Erinnerung" ist einerseits partizipierende Teilhabe an der nationalchauvinistischen Mythenbildung des 19. Jahrhunderts, sie ist aber andererseits auch aktive und stilbildende Fortführung und Hinwendung derselben in eine bestimmte rassenideologische Richtung. Sie stellt sich scheinbar in eine textuelle Kontinuität seit Goethe,35 Fichte, Schopenhauer und Wagner, transformiert diese aber zum Zwecke spezifischer Mythenbildung in eine völkisch bürgerliche Klassenmythologie. Chamberlain ist damit aktiver Partizipant der "konservativen Wende",36 die im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das gesamte deutsche Bürgertum als staatstragende Schicht erfasst hat. Wehler III, 1995, 934: Diese Zäsur kann als entscheidende Wegmarke der "konservativen und schutzzöllnerischen Wendung" (E. Troeltsch) wegen ihrer zeitgenössichen und ihrer prinzipiellen Bedeutung kaum überschätzt werden. Sie ist manchmal sogar als zweite Reichsgründung bezeichnet worden.
_____________ 35
36
Vgl. zur identitätsbildenden Funktion von Schriftstellern auch: Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses 2003, 78ff. Wehler III, 1995, 934. Wehler setzt den Beginn der konservativen Wende mit den Krisenjahren 1878/79 an.
57 Das deutsche Bildungsbürgertum oder Chamberlains Adressaten
Politisch kulminiert diese Wende in der radikalen Abkehr vom Liberalismus und kulturell in der "politischen Religion des reichsdeutschen Nationalismus" (ebd. 938).
III. Der sprachwissenschaftliche Ansatz Es gibt keine Worte, die bloß Worte wären; sondern jedes Wort ist von vornherein ein höchst individuelles Urteil. Christian Morgenstern1
1. Zur Sprachlichen (Re-)Konstruktion von Weltanschauung: Theoretische Prämissen Im Sinne Gaetano Moskas2 politisch-soziologischer Betrachtung definiert Herfried Münkler politische Kultur als "politische Traditionen und Bräuche, Mentalitäten und Einstellungen, Elitenselbstverständnis und Herrschaftsakzeptanz."3 Politische Kultur umfasst mehr als die möglichen Rituale eines verfassungsbedingten Handlungsspielraums, mehr auch als die traditionell institutionalisierten Ordnungsgefüge eines Staates. Die Formel Politische Kultur impliziert politisches Bewusstsein, Nachdenken über Politik, Politiker und politische Strukturen, bewusst wie unbewusst vollzogene Meinungs- und Stimmungsbildungen, die uneingeschränkt alle Bereiche des Politischen und des Gesellschaftlichen umfassen. Politische Kultur beinhaltet damit auch die kommunikative Partizipation am System einer historischen Zeit, wie sie sich in vielfältigen, parallel nebeneinander laufenden, sich überschneidenden oder widersprechenden Einzeldiskursen vollzieht. In diesen Diskursen spiegeln sich einerseits die jeweiligen historischen Mentalitäten4 und Einstellungen, andererseits werden diese in Kommunikation konstituiert oder sind in einem tieferen Sinne gar Kommunikation. Sie sind methodisch auf jeden Fall nur über Texte zugänglich, setzen also einen Untersuchungsgegenstand sprachlicher, genau gesprochen: textlicher Natur voraus. Mentalitätsgeschichte und alle damit verwandten historischen Disziplinen (wie immer man sie nennen und von_____________ 1 2 3
4
Christian Morgenstern, Stufen 1918, 96. Mosca, zit. nach Jonas (Hrsg.), Geschichte der Soziologie 1980, 392. Vgl. Münkler (Hrsg.), Politisches Denken im 20. Jahrhundert 2002, 305; außerdem Dörner / Rohe 1991, 40; Dörner 1995, 60. Dort schreibt Dörner: "Politische Kultur wäre dann ein kollektiv geteiltes Muster zur alltäglichen Konstruktion von politischer Realität, sei es in Form von Denkweisen, von emotionalen Dispositionen oder aber in Form der habits eines gemeinsamen way of life". Hermanns, Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte 1994.
59 Zur Sprachlichen (Re-)Konstruktion von Weltanschauung: Theoretische Prämissen
einander unterscheiden möge) haben hier ihren systematischen Ausgangspunkt, gleichsam die Bedingung ihrer Möglichkeit. Damit wird Sprachgeschichte mit den ihr zur Verfügung stehenden Methoden zur Grundwissenschaft der Historie. Dies ist eine methodische Aussage, der wohl kaum widersprochen werden kann. Viel schwieriger und letztlich unentscheidbar ist die theoretische Frage, ob Texte Mentalitäten spiegeln oder ob sie sie konstituieren. In ersterem Falle gäbe es – in welcher Existenzform auch immer – so etwas wie Mentalitäten, also kollektive ideologische Inhalte, und diese würden sich in Texten, wie man sagt: äußern, spiegeln, niederschlagen, Texte wären gegenüber den Mentalitäten dann nachrangig. Im zweiten Falle geht es um die Frage, ob Texte (und damit Textdiskurse) gegenüber Größen wie der Mentalität tatsächlich nachrangig sind oder ob sie umgekehrt vielleicht Mentalitäten, wie man sagt: bilden, konstituieren, konstruieren, machen, ihnen dann also vorgeordnet wären. Eine linguistische Arbeit, die sich, methodisch von einem Textcorpus ausgehend, die Konstruktion von ideologischer Wirklichkeit durch Kommunikation zur Aufgabe gestellt hat, wird dazu tendieren, dieser Auffassung eine gewisse Plausibilität einzuräumen. Es wird also angenommen, dass Größen wie Gesellschaft, Mentalität, Ideologie, selbstverständlich auch Weltanschauung nicht als wie auch immer vorgegebene Größen, möglicherweise gar als Naturgrößen, behandelt werden können, sondern dass sie ihren Ursprung und ihre Existenz in der Kommunikation haben, also in Texten gemacht werden.5 Dies schließt dialektische Rückwirkungen folgender Art nicht aus: Sind Mentalitäten einmal konstituiert, so können sie als eigenständige Größen betrachtet werden, die ihrerseits eine Eigendynamik entfalten und die Diskurse bestimmen. In solchen Formulierungen schlösse sich der Kreis: vom Text zur Mentalität, von dieser rückwirkend zum Text (Kreismodell). Man kommt aber aus der Problematik nicht heraus. Denn gäbe es Mentalität nur in Texten, dann würde man von einer Textmentalität zur anderen, von dieser zu einer dritten und vierten, von diesen wieder zur ersten oder zweiten kommen. Mentalitätsgeschichte wäre dann Kommunikationsgeschichte (strenges Kommunikationsmodell). In den weiter unten folgenden Zitaten zeigt sich, dass diese beiden Redeweisen, also die bloß methodische und die theoretische, auch bei den Kommunikationstheoretikern begegnen und zum Teil stilistisch variieren. Damit ist die wissenschaftstheoretische Einbindung der Arbeit als pragmatisch angedeutet, genauer als pragmasemiotisch. Die Prämisse lautet demnach: Oehler, Einführung in den semiotischen Pragmatismus 2000, 13: Unsere Lebenswelt ist nicht die Wirklichkeit der Dinge, wie sie an sich selbst sind, sondern
_____________ 5
Vgl. auch: Jung, Aufklärung von ideologischem Sprachgebrauch 2006, 2567.
60 Der sprachwissenschaftliche Ansatz
eine durch Zeichen erschlossene und gedeutete, verstellte oder entstellte, in jedem Fall geprägte Welt.
Mit sprachlichen Zeichen, im einfachsten Peirceschen Sinne verstanden als "something which stands to somebody for something in some respect or capacity"6 strukturieren und bewerten wir unsere Welt gleichermaßen. Dabei ist erstens die Perspektive von Bedeutung, aus der wir die Welt sehen, und zweitens der Zweck, zu dem wir die Zeichen gebrauchen, genannt. Zeichen sind immer Teil eines Zeichensystems, das selbst wieder Teil eines anderen oder noch komplexeren Systems ist. Der Gedanke der fundamentalen Zeichenhaftigkeit des menschlichen Wahrnehmungsraumes, insbesondere der sozialen Welt, wird geöffnet zur fundamentalen Geprägtheit der Welt durch Zeichenhaftigkeit. Entsprechend ist die Semiotik im Verständnis Umberto Ecos diejenige Disziplin, die "sich für die Zeichen als gesellschaftliche Kräfte" interessiert,7 das heißt für die Wechselwirkung / Reziprozität zwischen den unterschiedlichen Zeichensystemen und der Gesellschaftsstruktur, der Kultur und den Erkenntnisbedingungen einer Gemeinschaft, das wäre obiges Kreismodell. Aus dem Prinzip der Reziprozität ergibt sich, dass Zeichen "eine gesellschaftliche Kraft [sind] und nicht nur Hilfsmittel zur Widerspiegelung der gesellschaftlichen Kräfte"8. Das wäre eine sowohl im Sinne des Kreismodells wie auch im Sinne des strengen Kommunikationsmodells interpretierbare Formulierung. Oder um es auf einen radikal semiotischen Punkt zu bringen: "Man stiftet Menschheit, wenn man Gesellschaft stiftet; aber man stiftet Gesellschaft, wenn man Zeichen austauscht."9 Das sprachliche System gehört zum wichtigsten Teilsystem innerhalb des komplexen Systems von Zeichensystemen, die wir insgesamt Gesellschaft nennen. Mit ihm lernen wir nicht nur die anderen Systeme zu begreifen und uns in ihnen zurechtzufinden, wir konstituieren damit auch unsere Sichtweise auf Welt. Es ist eben die Sprache, vorkommend in den Texten jeweiliger sozialer Sinnwelten, in der dem Heranwachsenden Gliederungen vorgegeben, Differenzierungen, Unterscheidungen, vor allem auch Wertungen vermittelt werden, in der – zusammengefasst – die Sinngebung vollzogen wird, die für das Leben und für die gestaltende Teilnahme daran notwendig ist. Der Mensch als das symbolische Wesen, das kommunikativ und das heißt niemals wert- und interessefrei Zeichen aus-
_____________ 6
7 8 9
Charles Sanders Peirce, Collected Papers. Cambridge 1931f. Bd. I, 228. Vgl. dazu auch die weiteren Ausführungen unten und Eco, Einführung in die Semiotik 1994, 77; Peirce, Phänomen und Logik der Zeichen 1998, 66. Eco 1994, 73. Eco, Zeichen 1977, 189. Eco 1977, 108.
61 Zur Sprachlichen (Re-)Konstruktion von Weltanschauung: Theoretische Prämissen
tauscht, ist gleichzeitig "Objekt und Motor des Wandels" (Eco 1977, 108). Oder wie Ch. S. Peirce es pointiert: In Wirklichkeit aber erziehen Menschen und Wörter sich gegenseitig; jede Bereicherung des menschlichen Informationsbestandes führt zu einer Bereicherung im Informationsbestand des Wortes – und umgekehrt.10
Das semiotische Prinzip besteht in der hier favorisierten Fassung demnach darin, dass Zeichen mittels Zeichen beschrieben und dabei in bestehende Zeichensysteme eingebettet werden, die eben durch diese täglichen Gebräuche dynamisch und fortwährend im Wandel sind. Dies gilt insbesondere für das sprachliche Zeichensystem, in dem sie konstruiert werden. Und um auch dies noch einmal zu pointieren: Zeichensysteme sind Interpretationssysteme, mit deren Hilfe sich der Mensch in der Welt zu verhalten, aber in denen er auch zu handeln lernt, von denen er geprägt wird und die er dennoch täglich durch sein Kommunizieren verändern kann. Objekt11 des Wandels ist er, weil er in seiner Sichtweise immer gebunden ist an das Sprachsystem und an die Diskurse, in dem bzw. in denen er kommuniziert, an die historische Gesellschaft, in die er hineingeboren worden ist, und an den individuellen sozialen, darunter textlichen Kontext, in dem er lebt, oder, wie Eco zusammenfassend schreibt, wie er "biologisch, ethnisch, psychologisch und kulturell im Horizont des Seins verwurzelt" ist,12 wobei kulturell die Sprache und die jeweilige soziale Textwelt immer impliziert. Den Wandel in Gang setzender oder ihn beeinflussender Motor ist er, indem er Zeichen austauscht, deutet, ein- und anpasst, indem er mit ihnen Wirklichkeit stiftet oder zerstört, manchmal indem er mittels Zeichen etwas besonders beleuchtet oder verschleiert. Indem wir Zeichen benutzen, kommunizieren wir nicht einfach nur in irgendeinem Sinne von Gedankenaustausch oder –übertragung, sondern wir informieren, schützen, träumen, lieben oder gestalten etwas mit und in ihnen. Wir können sie aber auch zum Lügen und Täuschen benützen. Nicht selten wollen wir mit ihnen andere beherrschen (Eco 1977, 24) oder uns selbst möglichst ins rechte Licht rücken. Zeichen sind beziehungssteuernd, welterklärend und zeitersparend. Sie helfen den Alltag zu strukturieren, weil sie vorgeben, was darin wichtig oder unwichtig, machbar oder nicht machbar ist. Und auf die Sprache bezogen, weiß ich wiederum erst durch die Zeichen, was in ihr und damit in der dazugehörigen Gesellschaft sagbar ist und was nicht. Zur Vernetzbarkeit innerhalb der Systeme kommt die Vernetzung _____________ 10 11 12
Peirce, zitiert nach Eco 1977, 108. Vgl. dazu auch Berger / Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit 2004, 24; 40 u. ö. Eco, Kant und das Schnabeltier 2000, 57.
62 Der sprachwissenschaftliche Ansatz
der Intentionen und zu den Intentionen kommen die Handlungen, die innerhalb der Systeme vollzogen werden. Entscheidend in diesem vorgestellten semiotischen, alle Systeme vernetzenden Kommunikations- und Handlungsprozess ist die Selbstreferentialität der Zeichen, das Faktum also, dass Zeichen nur durch Zeichen interpretiert werden können. Der von Peirce eingeführte und von Eco weiterentwickelte Interpretant steht eben nicht für einen irgendwie gearteten außersprachlichen Referenten, über den etwas gesagt wird, und der die Bezugsgröße für eine Existenzaussage oder gar über eine Wahrheitsbehauptung bildet, sondern betont die Kulturalität der Zeichen, d. h. ihren von kulturellen Menschen gesetzten Wechselbezug, und befreit die Semiotik von der "Metaphysik des Referens"13. Eco 1994, 77: Die am fruchtbarsten scheinende Hypothese ist jedoch die, das Interpretans als eine weitere Repräsentation zu betrachten, die sich auf dasselbe Objekt bezieht. Anders gesagt: um zu bestimmen, was das Interpretans eines Zeichens ist, muß man es mittels eines anderen Zeichens benennen, das seinerseits ein anderes Interpretans hat, welches mit einem weiteren Zeichen benannt werden kann und so fort. Es würde sich hier der Prozeß unendlicher Semiose eröffnen, der – wie paradox das auch sein mag – die einzige Garantie für die Begründung eines semiotischen Systems ist, das fähig wäre, nur mit seinen eigenen Mitteln über sich selbst Rechenschaft abzulegen. Die Sprache wäre also ein System, das sich aus sich selbst heraus durch aufeinanderfolgende Systeme von Konventionen klärt, die sich gegenseitig erklären.
Der im Zitat vorgestellte Prozess der unendlichen Semiose schafft nicht nur semiotische Systeme, sondern er ermöglicht es dem sprachwissenschaftlich arbeitenden Historiker umgekehrt auch, diese Systeme aufgrund ihrer sprachlichen Verfasstheit zu rekonstruieren bzw. nachvollziehbar zu machen. Besonders interessant ist dies im Hinblick auf Ideologien und Weltanschauungen. Denn nicht nur alle zwischenmenschlichen Beziehungen basieren auf den alltäglichen Prozessen des Zeichenaustauschs,14 sondern auch die Ideologien, die zeittypisch sprachlich geformt, kulturprägend und gesellschaftsstrukturierend sind, was den Kreis schließt und den Motor Mensch wieder zum Objekt einer historischen Gesellschaft macht. Eco 1994, 168: wenn man von "Ideologie" in ihren verschiedenen Auffassungen spricht, dann meint man eine Weltanschauung, die von vielen Sprechern geteilt wird und im äußersten Fall sogar von einer ganzen Gesellschaft. Folglich sind auch diese Weltanschauungen nichts anderes als Aspekte des globalen semantischen Systems, schon segmentierte Realität. […] Ein semantisches System als Weltanschauung ist also eine der möglichen Arten, der Welt Form zu geben. Als solche stellt es eine partielle Interpretation der Welt dar und kann theoretisch jedes Mal revidiert werden, wenn neue Botschaften durch semantische Umstrukturierung des Codes neue konnotative Ketten und folglich neue Wertzuordnungen
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Eco 1994, 77. Eco 1977, 48.
63 Zur Sprachlichen (Re-)Konstruktion von Weltanschauung: Theoretische Prämissen
einführen. Eine Botschaft, die etwas behauptet /die Marsmenschen fressen Kinder/ […] befrachtet nicht nur das Lexem / Marsmensch / mit einer Konnotation 'Kannibalismus', sondern sie befrachtet auch die ganze daraus folgende Konnotationskette mit der globalen axiologischen Eigenschaft 'negativ'.
Im Hinblick auf die hier zur lösende Aufgabe, nämlich die Weltanschauung einer Person und einer Klasse zu rekonstruieren, sind folgende Fäden nun zusammenzuführen: Wenn wir von der sprachlichen Verfasstheit von Gesellschaften ausgehen, können wir die ihnen zugrunde liegenden semantischen Systeme untersuchen, indem wir deren Repräsentationen in den zeitgenössischen Texten nachgehen. Dazu ist es sinnvoll, zunächst anhand eines Einzelautors zu betrachten, wie dieser der Welt Form gibt, um dann weiter zu sehen, ob und wie diese individuelle Formgebung zum kulturellen bzw. gesellschaftlichen Konsens werden kann bzw. bereits Teil eines solchen ist. Ecos Marsmenschenbeispiel zeigt, dass es gerade die lexikalischen Einheiten des Zeichensystems Sprache sind, die ideologietragend und ideologiebildend fungieren. Mit ihnen soll die nachfolgende Untersuchung deshalb beginnen. Der methodische Zugriff soll dabei genau dasjenige ernst nehmen, was von Eco beschrieben wurde, nämlich die "Selbstreferentialität" innerhalb des Systems. Ausgehend von einem Begriff, dem des 'Menschen', werden demnach alle Ausdrücke gesucht, mit denen dieser bezeichnet wird, wozu in erster Linie natürlich das Wort Mensch selbst zu zählen ist. Jeder einzelne Ausdruck wird dann semantisch über die in den Texten vorkommenden Prädikationen, Antonyme und (partiellen) Synonyme beschrieben. Indem die Beschreibung des einzelnen Ausdrucks nur über die Beschreibung eines anderen Ausdrucks des gleichen Wortfeldes möglich ist, wird der Prozess der unendlichen Semiose zumindest für die 'Mensch'-Wörter nachgezeichnet. Die Beschreibung der Wortsemantik sollte sich aber nicht auf den Nachvollzug der direkten onomasiologischen Vernetzung allein stützen, sondern außerdem auch konnotativ vergleichbare Ausdrücke berücksichtigen, die ideologiestützend auf das Zeichen einwirken, ohne selbst darauf zu referieren. Es geht dabei um diejenigen sprachlich mitgegebenen Informationen, die Eco oben als globale axiologische Eigenschaften 'negativ' bei den Marsmenschen herausgehoben hat. Auch Konnotationen werden durch selbstreferentielle systematische Sprachgebräuche hergestellt und durch diese rekonstruierbar. Aus diesem Grund wird in einer eigenen Analyse auch eine Auswahl an Ausdrücken des Ideologiewortschatzes untersucht und durch die Betrachtung einer Anzahl typischer Metaphern ergänzt. Dass kein Text ohne Vortext existieren kann und selten ohne Nachtext bleibt, ist das Thema der zusammenfassenden Diskursanalyse, in der es um Chamberlains semantische Vorläufer und seine Art der Interpretation dieser Vorläufer geht, aber auch um die Interpretation Chamberlains durch seine Nachfol-
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ger. Durch diesen Gang von der Wortsemantik über die Bedeutungsgeschichte hin zur Diskursgeschichte erhält man einen Einblick in die von Chamberlain hergestellte "segmentierte Realität" (Eco; s. o.). Natürlich kann dieser Einblick nur einen kleinen Ausschnitt desjenigen vorstellen, was von einem Autor als Realität segmentiert worden ist. Die Konzentration auf das Menschenbild ermöglicht es jedoch, die zentralen anthropologischen Fragestellungen in ihrer ideologischen Beantwortung nachzuzeichnen. Denn (so Eagleton 2000, 7) "es ist Ideologie, was Menschen von Zeit zu Zeit dazu bringt, einander für Götter oder Ungeziefer zu halten." Und er formuliert weiter: "Man könnte das Wort Ideologie als einen Text bezeichnen, der aus vielen verschiedenen begrifflichen Fäden gewoben ist und von divergierenden Traditionslinien durchzogen wird."15 Die Frage nach dem Menschen ist eine der Grundfragen, an der sich nahezu alle Ideologien in ihren Kernaussagen reiben.16 Warum dies so ist, erklärt Eco: Eco 2000, 34: Wir haben die ununterdrückbare Evidenz für die Existenz der Individuen, können aber nichts über diese Individuen sagen, wenn wir sie nicht durch ihre Essenz benennen, also durch Genus und spezifische Differenz (d. h. nicht >>dieser Mensch<<, sondern >>Mensch<<). Sobald man ins Universum der Essenzen eintritt, betritt man das Universum der Definitionen, d. h. das Universum der Sprache, die definiert.
Indem wir definieren, schaffen wir neu, prägen und verändern wir. Die angedeutete Gegenstandsbeschreibung wurde von Fritz Hermanns als linguistische Anthropologie terminologisiert. Linguistische Anthropologie "soll hier ein Name sein für den Versuch, […] die Besonderheiten sprachgeprägter Menschenbilder linguistisch darzustellen".17 Es geht dabei um die "linguistisch-philologische historische Beschreibung sprachgeprägter Menschenbilder. Der Gedanke dabei ist, dass jede menschliche Kultur und Subkultur ihre je eigene Anthropologie hat, d. h. ein Bild des Menschen und der Menschen, eine […] 'Alltags-Anthropologie'. Eine solche Alltags-Anthropologie kann philologisch linguistisch nachgezeichnet werden, insofern sie sprachlich manifest ist." Möglich ist dies für große Sprachgemeinschaften, kleinere Sprechergruppen, aber wie in vorliegendem Fall auch für Einzelsprecher als Repräsentanten einer in einer Zeit akzeptierten anthropologischen Grundauffassung. Dass das Menschenbild Chamberlains akzeptiert werden konnte, beweist die Menge seiner Leser. Die hohen Verkaufszahlen zeigen, dass das von Chamberlain Geschriebe_____________ 15 16 17
Eagleton, Ideologie 2000. Hermanns, Linguistische Anthropologie 1994, 29-59. Hermanns, a. a. O. 30.
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ne auch geschrieben werden konnte, dass er innerhalb seines Zeit- bzw. Rezeptionsgeistes lag. Das Ziel dieser Arbeit ist es, zum einen Chamberlains Anthropologie nachzuzeichnen und ihn dabei in seinen historischen Kontext einzubetten, das heißt ihn zum anderen als einen Repräsentanten seines Zeitgeistes zu beschreiben. Folgender Katalog von Fragen ist dabei mitzubedenken: Konersmann 2006, 103: die Frage nach dem Raum der Evidenz, der für eine Zeit Formulierungsvoraussetzung ist, die Frage nach den Gründen, denen die gegebene Ordnung der kulturellen Tatsachen ihre Grundzüge verdankt. Wie entsteht der Raum dessen, was gesagt werden kann, und wie entstehen die Grenzen zu dem, was ungesagt bleiben muß? Was unterscheidet das bloß Unausgesprochene von dem, was unsagbar ist, und was unterscheidet wiederum dieses Unsagbare von dem, was dem Schweigegebot unterliegt? Woher stammen die Identifikationszwänge, die Vergemeinsamungen und Faszinationen einer Zeit, die immer schon da zu sein scheinen, sobald ihre hemmende oder fördernde Wirkung spürbar wird? Wie verschaffen sich die geistig-kulturellen Imperative der aktuellen Lebensform Gehör, wie setzen sie sich durch, welchen Vorgängen verdanken sie ihre Imposanz?" [….] Eine zur Historischen Semantik erweiterte Begriffsgeschichte sensibilisiert für dieses Wechselspiel von Offenlegung und Verdeckung. Sie protokolliert nicht nur die Chronologie von Wortverwendungen in Texten, sondern spürt auch jenen Intensivierungsschüben nach, aus denen Effekte der Vergemeinsamung und des gemeinsamen Fürwahrhaltens – also, wenn man so will, die Physiognomien kollektiver Gespenster hervorgehen.
2. Zur Sprachlichen (Re-)Konstruktion von Weltanschauung: Methoden Diese Arbeit gestaltet sich methodisch betrachtet von einer Wort- zu einer Begriffs- und von dieser hinüber zur pragmatischen Textanalyse, um schließlich in der diskursiven Einbettung Chamberlains zu münden, im Diskursuniversum einer ihn bestimmenden und durch ihn bestimmten Zeit. Die angewandten sprachwissenschaftlichen Methoden betreffen alle unter semantischem Aspekt relevanten Ränge der Sprache, vom Morphem bis zum Diskurs. Dabei soll das Bedeutungssystem genauso unter die Lupe genommen werden wie das Diskursuniversum, das dadurch mitgeprägt wird und in das es eingebettet ist. Eine methodisch durchgeführte Bedeutungsgeschichte wird als wichtige Voraussetzung für jede Form der Diskursgeschichte angesehen, bildet doch die Wortverwendung, also die Wortbedeutung, im Sinne der oben vorgetragenen pragmasemiotischen Thesen von Peirce und Eco immer auch die Begriffe und fungieren die Begriffe immer auch als die Bausteine der Diskurse, sind die Begriffsvernetzungen gar deren Straßen- und Wegesystem. Oder wie F. Hermanns es (1994, 30) formuliert: "Das Programm
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einer Begriffsgeschichte als Diskursgeschichte eröffnet u. a. die Möglichkeit, Veränderungen in der "Konstruktion der Wirklichkeit" historisch nachzuzeichnen, die im Wandel der Begriffe in Diskursen […] sprachlich manifest sind." Auch wenn bislang mehr Wert auf die lexikalische Konstruktion von Weltanschauung gelegt worden ist, so soll dies nicht bedeuten, dass dabei der Handlungscharakter der jeweiligen Einzeltexte nicht mit in Betracht gezogen würde. Um dem pragmasemiotischen Ansatz jedoch besonders gerecht zu werden, sollen auch Präsuppositionen, Sprechereinstellungen und Handlungsrollen herausgearbeitet werden. Das Vorgehen erfolgt entsprechend in drei aufeinander aufbauenden Phasen: 1. Auf der lexikalischen Ebene: 1.1. Wort Mensch – semasiologische Vernetzung 1.2. Wortbildungsfeld zu Mensch 1.3. 'Mensch' – onomasiologische Vernetzung: 1.3.1. Das Wortfeld 'Mensch' am Beispiel von Rasse; Persönlichkeit; Genie; Held; Individuum; Künstler; Germane; Arier; Semit. 1.4. Ideologiewortschatz: 1.4.1. Entartung und Degeneration; Leben; Kraft; Wille; Führer; Sozialismus; Liberalismus; "Neger" 1.5. Metaphern und Vergleiche: Körpermetaphorik, Pflanzenmetaphorik; Tiermetaphorik, Sinnesmetaphorik, Blutmetaphorik; Lichtmetaphorik; Chaosmetaphorik; Schlafmetaphorik, "Das neue Deutschland"; Kampfmetaphorik, pathologische oder Krankheitsmetaphorik; Katastrophenmetaphorik, Wiedergeburtsmetaphorik; Reinheitsmetaphorik. 2. Auf der satzsemantischen zur textpragmatischen Ebene. 2.1. Der kollektive Singular – eine sprachliche Handlungsform zur Kollektivierung und Stigmatisierung 2.2. Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen 2.3. Metakommunikative Legitimationsfiguren 2.4. Chamberlains Erbauungsschrifttum 3. Diskurswelten Den methodischen Ausgangspunkt der Arbeit bildet die lexikographische Textanalyse. Sie stellt das analytische Fundament der Untersuchung dar und wird im Anschluss an die Corpusbeschreibung eigens vorgestellt. Ihre Ergebnisse liefern das Fundament für alle weiteren Untersuchungen satzsemantischer, handlungstheoretischer und textlinguistischer Art.
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Im Mittelpunkt der lexikographischen Analyse steht die Bedeutung von Wörtern. Bedeutung soll aufgefasst werden als das Referenzpotential (bzw. die Potentiale), das eine bestimmte lexikalische Einheit der untersuchten Corpustexte üblicherweise hat. Das Referenzpotential ist zunächst die Gesamtheit der Möglichkeiten, auf einen Gegenstand Bezug zu nehmen. Diese Möglichkeiten setzen pro Wort ein inhaltlich irgendwie bestimmtes Wissen, eine gleichsam mehr oder weniger vage bis klar umrissene Wissenseinheit (oder deren mehrere) des Sprachbenutzers voraus, so wie diese Wissenseinheiten umgekehrt nur durch historisch vorgängige Referenzgewohnheiten denkbar sind. Entscheidend in vorliegendem Zusammenhang ist, dass Referenzen immer mit Prädikationen verbunden sind; in anderer Terminologie: Darstellung und Kognition sind nur analytisch trennbar. Oder: schon indem ich etwas benenne, sage ich etwas darüber aus. P. von Polenz1 spricht in diesem Zusammenhang vom Mitmeinen, Mitbehaupten, Mitsetzen von bestimmen Informationen, das bedeutet handlungstheoretisch, dass mit dem Referieren auch andere, versteckte oder sonstwie beiläufige Handlungen vollzogen werden. Von Polenz 1988, 125: Solche Benennungen können zur manipulativen Wirkung von Texten und zur Bildung und Bestätigung von Vorurteilen beitragen, da sie den Anschein von Gattungsbezeichnungen als Kennzeichnungen nach dem gemeinsamen Vorwissen erwecken, in Wirklichkeit aber versteckte Prädikate sind, die MITBEHAUPTET werden, ohne daß der Sprecher/Verfasser so stark zu ihrer BEGRÜNDUNG verpflichtet wäre wie bei den Hauptprädikaten." […] "daß man mit solchen Wörtern nicht nur BEZUGNIMMT, sondern auch PRÄDIZIERT, BEWERTET und STELLUNGNIMMT.
Geht man von einer lexikalischen Einheit zur Betrachtung des Feldes semantisch ähnlicher Einheiten (im Sinne der Wortfeldtheorie oder der onomasiologischen Vernetzung) über, so erhält man das Netz der soeben angenommenen Wissenseinheiten: Der Schluss von der Wortbedeutung zu Begriffen und Begriffszusammenhängen wird möglich (zur Arbeitsdefinition von Begriff s. S. 77). Sonstige systematische Orte für das Prädizieren sind Attribute aller Art und natürlich das grammatische Prädikat. Dementsprechend enthält die lexikographische Beschreibung eine Position "Prädikationen und Syntagmen". In ihr werden alle inhaltlich relevanten Aussagen dokumentiert, die Chamberlain zu einem Bezugsgegenstand macht; es handelt sich dabei um Mitteilungen, Bewertungen, Meinungen, zusammengefasst um das volle Spektrum der Typen von Handlungen, die in einer Sprache üblich sind und von denen einige vom Autor in besonderer Weise favorisiert werden. Als Beispiel sei hier die Unterposition "Lemma (Mensch) mit Ad_____________ 1
von Polenz, Deutsche Satzsemantik 1988.
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jektivattribut" angeführt. Die dort ablesbaren Füllungen lauten: ein gescheiter / guter (PI 49) / freier (GL 829) / wahrer Mensch (BR I, 31). Dies ist in der Bewertung etwas vollständig anderes als der ameisenartig emsige (Gl 29) / böse, verbrecherische (Soz.-Führern) (Br II, 35) / fremde (AW 39) / halbschlächtige (Gl 353) / moralisch minderwertige (PI 38) / rasselose (Br II, 152) / syrischkleinasiatische (Gl 424) / syrische (GL 427) / undressierte (BR I, 109) / ungelehrte (Gl 426) / [Römer] unsentimentale / peinlich phantasielose / unideale (GL 210) / unwissende, ideen- und ideallose (IuM 25) / wilde (Gl 62) / am weitesten zurückgebliebene (Gl 155) Mensch. Man sieht, dass es in Chamberlains Menschenbild mindestens zwei (im Artikel Mensch insgesamt 6) verschiedene, in ihrer moralischen Bewertung gegenüberstehende Typen des Menschen gibt. Man erkennt im Detail, dass es sich um moralische, kulturelle und um biologische Kategorisierungen handelt, dass es demnach also eine gewisse Parallelität zwischen den Motiven der Attribuierungen geben muss, dass moralische und kulturelle Kategorien zusammen mit biologischen den Menschentyp ausmachen. Die einzelnen Attribute definieren sich in einem solchen Wertesystem gegenseitig. Die Nationalitätenbezeichnung syrisch in der Kollokation syrischer Mensch muss daher gelesen werden: 1. in einem oberflächlichen Sinne als Nationalitätenbezeichnung, 2. im rassentheoretischen Kontext Chamberlains als biologische Zuordnung und 3. damit verbunden im Kontext der anderen bedeutungsspezifischen Attribuierungen als kulturelle und moralische Abqualifizierung. Wenn man davon ausgeht, dass solche Negativkonnotationen im Sinne von F. Hermanns auch deontischen Charakter haben, dann wird deutlich, wie unmittelbar man über den semantisch-lexikalischen Raum hinaus auch auf die Ebene der Pragmatik gelangt. Diese exemplarische Gegenüberstellung soll andeuten, dass die lexikographische Betrachtungsweise nicht als rein wortschatzorientierte Methode verstanden werden darf, sondern dass mit ihr gerade auch pragmatische und handlungsorientierte Fragestellungen aufbereitet und beantwortet werden können. Doch zu den explizit geäußerten Wertungen kommen die impliziten hinzu. Eine Attribuierung wie wahrer Mensch (BR I, 31) präsupponiert eindeutig, dass es einen Menschen geben muss, der nicht wahr ist. Dies bedeutet, auf die Spitze getrieben, es gibt Menschen, die eigentlich keine Menschen sind. Etwas weniger radikal könnte man auch von Menschen zweiter Klasse sprechen. Die lexikalische Dehumanisierung, die hier durch ein Lob getarnt wird, ist bereits lexikalisch indiziert und kann durch eine Präsuppositionsanalyse weiter differenziert werden. Das überraschende Ergebnis der Präsuppositionsanalyse, dies sei hier schon angedeutet, war, dass Chamberlain auf dieser satzsemantischen Ebene radikaler formuliert und appelliert als in der direkten Ausdrucksweise. Ähnliches gilt für die Metaphorik, der ebenfalls ein eigenes Kapitel
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gewidmet ist. Chamberlain ist ein Meister der indirekten Ausdrucksweise, sei es im bildlichen wie im satzsemantischen Bereich, wobei dies nicht andeuten soll, dass man ihn und seine Absichten deswegen hätte missverstehen können. Er verpackt sie nur so, dass man sich als Zeitgenosse einer politisch wenig korrekten Phase deutscher Geschichte nicht sofort daran stoßen muss, vor allem wenn man selbst in das von Chamberlain anvisierte Kollektiv inkludiert ist. Der Aspekt der sprachlichen Kollektivierung gehört daher ebenfalls zum Gegenstand der Untersuchung. Im Focus stehen also insgesamt diejenigen sprachlichen Erscheinungen, die hinsichtlich des Erfassens des Menschenbildes als Teile sprachregelnder Diskurse erkannt worden sind. Dabei stehen Einzelerscheinungen wie Kollektivierungen und Entindividualisierungen, Dehumanisierungen, Verschleierungen und Typisierungen ebenso im Vordergrund des Interesses wie deren sprachwissenschaftliche Einordnung, die Frage nach ihrer Analyse und ihren Zusammenhängen mit den untersuchten Diskursen. Methodisch geht es also erstens im Bereich der Lexik um Wortfeldvernetzung, Begriffgeschichte, Metaphorik und Ideologiewortschatz, im Bereich der pragmatischen Zugriffe um den kollektiven Singular, die Präsuppositionen sowie um die Untersuchung von Sprechereinstellungen und Handlungsrollen. Die genannten sprachlichen Erscheinungen lassen sich in allen Texten Chamberlains nachweisen und machen zusammen die Bausteine seiner Weltanschauung aus. Besonders auf der Textebene, dem Gegenstand des letzten Konstruktionskapitels, können diese Handlungsabsichten nachgezeichnet werden. Das zentrale Prinzip dieser Arbeit ist die Nachzeichnung von Vernetzungen; neben der semasiologischen auf der Ebene des einzelnen Wortes ist es die onomasiologische auf der Ebene der Wortfelder, die ideologische an sich unabhängiger lexikalischer Einheiten im Ideologiewortschatz, die satzsemantische im Bereich der Präsuppositionen, die textliche innerhalb von Chamberlains Schriften. Intertextuelle Vernetzungen sind aber keine individuellen Erscheinungen, sondern prägende und geprägte Kommunikationsformen eines großen geschichtlichen Diskurssystems. Die Einbettung Chamberlains in die Diskurse seiner Zeit muss das Bild daher abrunden. 2. 1. Corpus und Exzerption Das zugrunde liegende Corpus besteht erstens aus den publizierten Schriften Chamberlains mit Ausnahme einiger kleinerer Arbeiten und der Beiträge, die in den Bayreuther Blättern erschienen. Neben den Werken Chamberlains werden in einen zweiten Corpusteil kataphorisch oder anaphorisch traditionsbildende Schriften all derjenigen Autoren aufge-
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nommen, die im Hinblick auf Chamberlains Texte als relevant erkannt wurden. Das Werk Chamberlains wurde systematisch auf alle hier bearbeiteten Ausdrücke (Mensch und Wortbildungsfeld, Rasse, Arier, Jude, Germane, Entartung, Neger, Chaos, Reinheit usw.) hin exzerpiert, die Texte des zweiten Corpus jedoch nur gezielt im Hinblick auf ihre Nutzung durch Chamberlain. Dieser zweite Corpusteil enthält Texte von Paul de Lagarde, Ernst Bergmann, Charles Darwin, Joseph Arthur Comte de Gobineau, Immanuel Kant, Johann Wolfgang von Goethe, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Georg Schott und Adolf Hitler (s. Literaturverzeichnis). Eine Bibliographie der untersuchten Schriften Houston Stewart Chamberlains befindet sich zusammen mit einer Auflistung der benutzten Abkürzungen im Literaturverzeichnis. 2. 2. Lexikographische Textanalyse Betrachtet man die Verwendungsweisen des Wortes Mensch in Chamberlains Schriften, so fällt auf, dass Mensch einer der von ihm bevorzugten Ausdrücke, sein wichtigster Bezugsgegenstand und dementsprechend auch für uns von besonderem Interesse ist. Chamberlain schreibt regelhaft im kollektiven Singular vom Menschen, seltener von Menschen im Plural. Wenn er Letzteres tut, sind jeweils ausgezeichnete Persönlichkeiten gemeint, niemals namenlose Individuen. Das Gesicht des Alltags als eines soziologischen Gegenstandes schimmert kaum durch. Ebenso wenig greifbar wird die individuelle Ausprägung des Menschen, sei es im Sinne des Nachbarn in der Blümelstrasse in Wien, des Bäckers um die Ecke oder gar eines Straßenbahnschaffners, dessen neu geschaffener Beruf von realen Menschen ausgeführt und als interessanter Gegenstand einer realen Lebenswelt in Chamberlains Reflexionen durchaus hätte eindringen können. Doch Einzelschicksale sind für Chamberlain nicht wichtig. Wichtig ist vielmehr der Typus 'Mensch', der abstrakte, trotz seiner sozialen, kulturellen und individuellen Beschaffenheit gesichtslose Mensch, nicht der real existierende, der soziologisch in seinem Alltag zu verorten wäre. Es geht ihm denn auch generell nicht um die Gesellschaft im Sinne der Soziologie oder irgendeiner Kulturwissenschaft, sondern um eine idealtypische Gemeinschaft der Gattung 'Mensch' in ihrer abstrakt-ideologischen Klassifikation, deren "typischste" Vertreter herausragende Persönlichkeiten darstellen. Welche Ausmaße das Angedeutete hat, lässt sich am besten anhand eines Wörterbuchartikels zum Stichwort Mensch demonstrieren. Der methodische Zugang ist der lexikographischen Praxis entliehen und soll im Folgenden kurz beschrieben werden. Da es um das Men-
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schenbild Chamberlains geht, waren in einem ersten, dem onomasiologischen Zugriff all diejenigen Ausdrücke zu exzerpieren, mit denen der 'Mensch' im Corpus bezeichnet wurde bzw., um in Ecos Terminologie zu bleiben, mit denen er von Chamberlain erklärt wird. Die so zustande kommende Wortliste enthält neben Mensch in dichter Belegung noch Arier, Germane, Jude, auch Genie, Persönlichkeit und Künstler. Die semantische Analyse begann mit Mensch und wurde mit den zugehörigen Wortbildungen fortgesetzt, so zum Beispiel mit Menschenauswurf, allmenschlich, Bruchstückmensch. In einem zweiten, dem semasiologischen Verfahrensschritt wurde Mensch analysiert. Dabei wurde tendenziell jedes Einzelvorkommen auf seine Bedeutung im jeweiligen Belegzusammenhang befragt, so dass genau so viele Formulierungen belegstellenspezifischer Bedeutungen zustande kamen, wie Belegstellen analysiert wurden. In einem daran anschließenden Schritt waren die belegstellenspezifischen Bedeutungen nach Ähnlichkeiten und Differenzen zu prüfen; bei der Beurteilung als 'hinreichend ähnlich' wurden sie abstrahierend zusammengefasst, bei Beurteilung als 'eher different' einer anderen Abstraktionseinheit zugeschlagen. Die Grenze zwischen 'ähnlich' und 'different' ist nicht objektivistisch im Sinne von 'definitiv richtig' zu ziehen; sie entspringt vielmehr einem Abwägungsund Unterscheidungsakt, ist damit ein Interpretationsergebnis nach Aspekten, die sich aus dem Anliegen der Arbeit bei Beachtung der Aussage des Gesamtcorpus ergeben. Die abstraktiven Zusammenfassungen von Belegstellenbedeutungen werden hier Einzelbedeutungen genannt, ihre Gesamtheit soll semasiologisches Feld heißen. Besteht ein in solches Feld (das ist die Regel) aus mehreren Einzelbedeutungen, so gilt das behandelte Wort als polysem. Sowohl das auf diese Weise zustande gebrachte einzelwortbezogene semasiologische Feld, seine Polysemie und sein Polysemiegrad wie auch die Art des Schnittes der Einzelbedeutungen sind interpretationskritisch ein lexikographisches Konstrukt. Solche Konstrukte sind die Bedingung der Möglichkeit semantischen Arbeitens; sie unterliegen einem Begründungszwang, der durch eine Einordnung aller Setzungen in eine Gesamtinterpretation des Corpus eingelöst werden kann. Die semasiologischen Unterscheidungen nach Ähnlichkeiten und Differenzen der belegstellenspezifischen Bedeutungen führten zum Ansatz von Einzelbedeutungen, die einerseits linguistische Arbeitsgrößen darstellen und dabei immer der Tendenz zu einer gewissen Verselbständigung unterliegen, andererseits natürlich konsequent als Systemeinheiten verstanden werden müssen. Ihre Systematizität hat zwei Dimensionen, einmal die paradigmatische und zum zweiten die syntagmatische. Mit ersterer sind die interlexematischen (assoziativen, paradigmatischen) Bezüge zu Synonymen und Antonymen, mit letzteren die linear-syntaktischen
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Beziehungen zu anderen Einheiten im Satzvollzug angesprochen. Die paradigmatischen Bezüge führen in der Beschreibung zur Zusammenstellung onomasiologischer Felder (Wortfelder, Triersche Felder1) sowie einer Position "Gegensatzwörter (Antonyme)", die syntaktischen Verbindungen zu einer Auflistung derjenigen Prädikationen, die in welcher syntaktischen Form auch immer zu einer durch das Substantiv genannten Bezugsgegebenheit gemacht werden (im Falle von anderen Wortarten ist analog zu argumentieren). Wortfelder sind Zusammenstellungen derjenigen lexikalischen Ausdrücke, die mit mindestens einer ihrer Bedeutungen mit allen anderen Wörtern des Feldes hinsichtlich mindestens einer von deren Bedeutungen übereinstimmen oder diesen ähnlich sind. Die Syntagmenlisten enthalten alle vom Autor der Corpustexte über einen bestimmten Bezugsgegenstand, also etwa über 'Mensch', gemachte, textlich attributiv, prädikativ oder in anderer Form realisierte Aussagen. Damit ergibt sich die Form eines ausführlichen Wörterbuchartikels, allerdings nicht des Artikels der Langue-, sondern der Textlexikographie. An den lexikographischen Artikel schließt sich ein diskursiver Erläuterungsteil an, in dem zusätzliche pragmatische und diskursanalytisch relevante Informationen herausgestellt werden. Die Textsorte 'Wörterbuchartikel' wurde auch deshalb als Grundlage der Darstellung gewählt, weil sie eine Reihe von Beschreibungsvorteilen bietet. Diese sind insbesondere: Das Bedeutungsspektrum (semasiologische Feld) des Lemmazeichens kann gegliedert und damit trotz hoher fachsprachlicher und textlicher Verdichtung auf den ersten Blick überschaubar dargestellt werden. Auf die Frage "Was ist ein Arier?" erhält man auf diese Weise eine schnelle und befriedigende Antwort. Die Erläuterungen der angesetzten Bedeutungen zwingen zu einer expliziten sprachlichen Fassung, die zwar keine Definition im strengen Sinne sein kann, dieser aber insofern nahe kommt, als sie relevante Unterscheidungen herausarbeitet. Diese Unterscheidungen ermöglichen aufgrund ihrer lexikographisch vorgegebenen Systematizität die Vergleichbarkeit zwischen den Einzellexemen, die in die Wortfeldanalyse aufgenommen wurden. Die Bedeutungserläuterung von Arier macht zum Beispiel die partielle Synonymie zu Germane auf den ersten Blick erkennbar, und sie macht den Gegensatz zu Jude deutlich, ohne die jeweiligen semantischen Zusammenhänge bzw. die Antonymien zu unterschlagen. Oder, um es wieder mit Eco zu pointieren: Arier
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Trier, Wortfeldforschung 1973. Vgl. auch Lobenstein-Reichmann 1998.
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wird im selbstreferentiellen System Chamberlains durch das ähnliche Germane und durch das gegensätzliche Jude erklärt und umgekehrt. Wörterbuchartikel gestatten ein offenes Ensemble von Informationspositionen zur Beschreibung sowohl struktureller wie pragmatischer Eigenschaften des Lemmazeichens, mit letzterem auch seiner allseitigen Gebrauchszusammenhänge. Gerade hinsichtlich des angesprochenen selbstreferentiellen Systems sind die Informationspositionen eines Wörterbuchartikels von außerordentlicher Bedeutung. Wörterbuchartikel sind theorieoffen in dem Sinne, dass sie trotz ihrer von der Textform her vorgegebenen Gegliedertheit sowohl strukturelle wie pragmatische Theoriebasen lexikographischer Arbeit gestatten. Sie bringen, sofern sie jedenfalls semantisch angelegt sind, das Referenz- und Prädikationspotential von Ausdrücken, das Gemeinte, Mitgemeinte, das Gesagte und Konnotierte auf den lexikographischen Punkt und stellen es in seine autor- oder diskurs- oder auch languebezüglichen semantischen und pragmatischen Vernetzungen. Wörterbuchartikel lassen außer den vom Lexikographen formulierten Beschreibungsteilen einen beliebig umfänglichen Dokumentationsteil zu, der einerseits den Wortgebrauch an Beispielen unterschiedlichen Typs vorführt und der andererseits eine metalexikographische Kontrolle ermöglicht. Im Unterschied zu vielen anderen wissenschaftlichen Textsorten ist das lexikographische Arbeiten dokumentationsorientiert und erlaubt es, das Analysierte sprachgenau zu verifizieren. Diese Zusammenstellung lexikographischer Vorzüge ist für die nachfolgenden Artikel zu spezifizieren: Die Artikel basieren auf dem angegebenen Textcorpus Chamberlains; es handelt sich also um eine idiolektale Textbasis. Dementsprechend kann der Artikel nicht languelexikographisch angelegt sein, sondern muss konsequent textlexikographisch gestaltet werden. Es geht also nicht darum, was das Wort Mensch im Deutschen der Jahrzehnte um 1900 bedeutete, nicht um hochgradig abstrakte Formulierungen, die jeden Einzelgebrauch auf einer sehr allgemeinen Ebene abfangen, sondern um Fragen wie: Auf wen oder was genau referiert der Autor Chamberlain mittels Mensch? Welche Prädikationen werden vorgenommen? Welche deontischen Handlungs- und Bewertungsaufforderungen verbinden sich damit? Sind diese vorkommensbedingt rein zufällig oder sind sie in den idiolektalen Gebrauchsgepflogenheiten des Autors bedeutungsrelevant? Können je nach Gebrauchsweise je eigene Isotopierelationen nachgewiesen werden, seien es Bedeutungsverwandtschaften, Hyperonymie- bzw. Hyponymierelationen oder Antonymien? Gibt es typische Prädikationen, kollokative Vorkommen, Phraseme und Wortbildungen
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mit Mensch? Können diese in bestimmte geistesgeschichtliche Traditionen eingeordnet werden? Die theoretische Grundlage für Fragestellungen dieser Art liefert P. von Polenz, wenn er schreibt: Polenz, Sprachgeschichte I, 46: Heute werden pragmatische Bedeutungstheorien bevorzugt. Statt nach abstrakten Eigenschaften einer sprachlichen Ausdruckseinheit fragt man nach dem, was Sprachbenutzer mit ihr tun, tun können / dürfen / wollen, und zwar im Rahmen von Sprachkommunikation als regelgeleitetem Handeln. Bedeutung [...] konstituiert sich aus Sprachwissen, Voreinstellungen und Intentionen der Sprachbenutzenden (auf beiden Seiten) und ist nach Kontextbedingungen im Rahmen bestimmter kommunikativer Handlungszusammenhänge (,Sprachspiele') zu beschreiben. Nach Anregungen von dem Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein postuliert man so eine "G e b r a u c h s t h e o r i e der Bedeutung” (…): Außer den Regeln, die angeben, auf was für Gegenstände man bestimmte Ausdrücke referierend und prädizierend anwenden kann (propositionaler Gehalt), sind Regeln darüber erforderlich, mit welchen anderen Ausdrücken man sie im Kontext kombinieren kann (Präsuppositionen über Kontextverträglichkeit), und Regeln über ihre Verwendung in bestimmten Handlungszusammenhängen: nach Sprachhandlungstypen, Sprechereinstellungen Vorannahmen, Implikationen, Folgebeziehungen, Sprecherkonstellation, Situationstyp, Partnerbeziehung, Sozialstatus usw.
Diese Theoriegrundlage fordert bestimmte Informationspositionen. Diese mögen teilweise auch in der Langue-Lexikographie üblich sein, sie haben teilweise aber eine besondere Affinität zur Textlexikographie. In jedem Falle werden sie in letzterer anders gefüllt. 2. 3. Aufbau der Wortartikel In der technischen Ausformulierung des methodisch Beschriebenen sieht die Struktur der Wortartikel folgendermaßen aus: 1. Das Lemmazeichen. Lemmatisiert wurden in der Regel Substantive, im Hinblick auf den Ideologiewortschatz aber auch Adjektive. Die Lemmata werden kursiv gesetzt, wie alle aus den Quellen dokumentierten Zitate. 2. Die Bedeutungserläuterung. Bedeutungen werden in Winkelklammern >…< gesetzt. Sie stellen Abstraktionen und Zusammenfassungen des Lexikographen dar und sind daher metasprachlicher Natur. 3. Angaben zur onomasiologischen Vernetzung des Wortes pro Bedeutungsansatz, d. h. 3. 1. Angaben zur Bedeutungsverwandtschaft, im Artikel eingeführt durch die Abkürzung Bdv. 3. 2. Ergänzend zu den explizit genannten Bedeutungsverwandtschaften kommen in den Texten auch erläuternde Umschreibungen vor, die wortartübergreifend sind und daher nicht unter 3. 1. eingefügt
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werden können. Aufgrund ihres großen Informationswertes werden sie als eigene Position Paraphrase, abgekürzt Paraph., im Anschluss an die wortartkonformen Angaben zur Bedeutungsverwandtschaft aufgelistet. 3. 3. Angaben zu den Gegensatzrelationenn. Der Gegensatzbereich wird im Artikel abgekürzt mit Ggb. Unter der Sigle Ktx. stehen alle kontextcharakteristischen Wörter oder Wendungen. Diese Position dient dem Verständnis assoziativer und konnotativer Relationen, die zur angesetzten Bedeutung merkmalsdistinktiv ergänzend, aber auch oppositionell sein können. Einheiten dieser Position können sowohl in jeder beliebigen Wortart als auch wortübergreifend erscheinen. So wurde beim Lemma Genie in dieser Position auf Gottes Gegenwart verwiesen, und bei Künstler auf Religion. Beide Informationen verweisen auf den pseudoreligiösen Impetus, den Chamberlain mit den behandelten Lemmata verbindet. Die syntagmatischen Verbindungen (Präd. und Synt.) bilden die textpragmatische Brücke. Neben den eben genannten paradigmatischen (also semasiologischen und onomasiologischen) Relationen sind in Bezug auf die Vertextung des Wortes auch die syntagmatischen Verbindungen von Bedeutung. In der diesbezüglichen Position (abgekürzt: Synt.) geht es um den Gebrauch des Wortes in seinem linearen Aussagekontext. Von besonderer Bedeutung sind dabei die aggregativen Parallelisierungen, die (prädikativen) Gleichsetzungen und Gegenüberstellungen, vor allem aber die inhaltlichen Prädizierungen (abgekürzt: Präd.), die über die mit dem Lemmazeichen gemeinte Bezugsgröße vorgenommen werden1. Die Liste der Syntagmen bietet einen schnellen Zugriff auf all das, was Chamberlain über einen von ihm entworfenen "Gegenstand" ausgesagt hat (vgl. dazu das Beispiel oben). Entsprechend wird diese Position auch als Kombinationsposition von syntagmatischen Informationen und den damit verbundenen Prädizierungen bezeichnet. Die Wortbildungen (Wbg.): Im Anschluss daran könnte man noch die zu einer Einzelbedeutung gehörigen Wortbildungen aufführen. Dies erfolgt, wenn sinnvoll, bei den Artikeln innerhalb der Wortfeldanalyse. Die Komposita zu Mensch, so z. B. Menschenauswurf, werden jedoch aufgrund ihrer ideologischen Aussagekraft in einem eigenen Kapitel behandelt. Der Belegteil: Elementarer Bestandteil einer auf Dokumentation wie schnellen Zugriff ausgerichteten textlexikographischen Darstellung ist der Belegteil. Belegsammlungen von größeren Textmassen können
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Vgl. dazu: Lobenstein-Reichmann 2002, 71-87.
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entweder nur beispielhaft sein, oder sie überfordern den Leser mit ihrer Materialfülle. Je allgemeinsprachlicher und abstrakter das Wörterbuch, in dem ein Artikel erscheint, desto weniger Wert braucht man auf die Belegdokumentation zu legen. Je argumentationsrelevanter der Kontext des zur Diskussion stehenden Stichworts ist, in desto breiterer Weise müsste er prinzipiell dokumentiert werden. Jede Belegdokumentation ist immer auch Rechtfertigung der durchgeführten Analyse und der daraus gezogenen Schlüsse. Genau eine solche Dokumentationsrelevanz wäre in diesem Zusammenhang prinzipiell von Nöten, führt aber bei tendenziell angestrebter Vollständigkeit zu Rezeptionsproblemen. Ich versuche daher unter Zuhilfenahme qualitativer Kriterien einen Kompromiss zwischen einer rein quantitativ zusammengetragenen Materialmasse und einer nach subjektiven Gründen vorgenommenen Selektion zu finden. Letztere kann durchaus ihre Begründung haben, stellt den Lexikographen aber in Bezug auf eine bewusste Argumentationsrechtfertigung und Nachvollziehbarkeitsbelegung vor schwierige Entscheidungen. Der propositionale Gehalt einer Aussage, wie er bei der ersten Vorinterpretation erkannt worden ist, soll die qualitative Orientierung lenken. Die Belegpräsentation ist damit darauf konzentriert, die Proposition der gemachten Äußerung wiederzugeben, ohne deren Handlungscharakter zu unterschlagen. Sie kann sowohl teilsatzbezogen, satzumfassend als auch satzübergreifend sein und ersetzt die im Quellentext vorkommende, dort oft mit einer Fülle analyseirrelevanter Ausdrücke einhergehende Belegdokumentation. Dies entspricht nicht der herkömmlichen Vorgehensweise, die darin besteht, im Anschluss an den Informationsteil eines Wörterbuchartikels noch einen gesonderten kontextsensitiven Belegteil aufzunehmen. Anders ausgedrückt: In vorliegender Arbeit wird der Belegteil aufgrund darstellungstechnischer Möglichkeiten zugunsten der besonderen Relevanz der Proposition mit der Position 'Prädikationen und Syntagmen' verschmolzen. Dies besagt zugleich, dass einerseits die Syntagmen aus ihrer grammatischen Kürze herausgeführt und mit Kontext gelängt werden, dass andererseits Belege in ihrer textlichen Länge beschnitten und dem Syntagma angeglichen werden. Diese Reduktion ist deswegen sinnvoll und vor allem möglich, weil die lexikographische Arbeit immer auch Untersuchung und Auswertung zugleich ist. Eine solche Textdokumentation, also ein Festhalten der Sprache des Autors, ist in Bezug auf Autoren wie Houston Stewart Chamberlain vorteilhaft und problematisch gleichermaßen. Die Sprache des "Bösen" kann und muss hier mit systematischer und objektorientierter Distanz einfach als Sprache des Bösen dokumentiert werden. Unsi-
77 Zur Sprachlichen (Re-)Konstruktion von Weltanschauung: Methoden
cherheiten bezüglich Objektsprache und Metasprache werden so minimiert. 2. 4. Vom Begriff zum Diskurs Das Wort Begriff wird in dieser Arbeit verstanden als eine kognitive Größe, deren sprachliche Repräsentation durch unterschiedliche Ausdrücke möglich ist. So kann der Begriff, den Chamberlain sich vom Menschen macht, in einem weniger sprachwissenschaftlichem Duktus gesagt: sein Menschenbild, z. B. mit den genannten Ausdrücken Arier, Genie oder Künstler bezeichnet werden. Es geht um dasjenige, was allen genannten Menschenausdrücken gemeinsam ist, sozusagen das Menschliche an ihnen oder, wie Eco es oben gesagt hat, die Essenz. Essenzen sollen hier jedoch nicht als ontische Größen verstanden werden, sondern als Gesamtheit desjenigen, was ein Wortfeld in einer Gesellschaft oder besser: innerhalb von Diskursen auf der isotopisch-semantischen Ebene miteinander verbindet. Diese Essenz dient Chamberlain als das entscheidende Kriterium dafür, etwas oder jemanden als Menschen zu definieren, oder ihm das Menschsein abzusprechen. Essenzen sind keine Bedeutungen eines Einzelwortes, sondern müssen (ontologisierend gesprochen) als etwas kommunikativ hinter dem Wort Stehendes, eben als Begriff,1 angesehen werden. Dieser liegt eine Abstraktionsebene höher als die Einzelbedeutung und geht außerdem über die Einzelwortebene hinaus. Er ist demnach einzelwortübergreifend und nicht mehr mit dem Terminus Bedeutung zu fassen. Alle über das Einzelwort hinausgehenden gemeinsamen Inhalte mehrerer Lemmazeichen werden erst durch den Interpreten extrahiert, in diesem Fall werden sie nur auf einen vom Lexikographen erfassten Punkt, das heißt auf einen Begriff, gebracht. Was hier auf den ersten Blick scheinbar selbstverständlich ist, nämlich dass die Essenz des Menschenbildes das Menschliche ist, ist es auf den zweiten schon nicht mehr. Und das nicht nur deswegen, weil man das zu Erklärende nicht mit sich selbst erklären kann. Wie Eco deutlich gemacht hat, ist genau dieses Menschliche eine Frage der sprachlichen Definition. Und die wird bekanntlich von allen Menschen zu allen Zeiten unterschiedlich vollzogen. Die Art und Weise, wie diese Definition im kommunikativen Prozess entsteht, sich wandelt oder normiert wird, ist das Thema der Diskursanalyse. In den Diskursen werden die Essenzen kontinuierlich thematisiert, abgewogen, für zu leicht oder zu schwer befunden. Dies gilt besonders für die anthropologische Grundfrage: Was ist der Mensch? Sie ist seit jeher _____________ 1
Vgl. dazu: Lobenstein-Reichmann, Freiheit bei Martin Luther 1998, 26.
78 Der sprachwissenschaftliche Ansatz
das nicht auszuschöpfende Thema der Diskurse. Der Begriff wird daher verstanden als dasjenige, was aufgrund kommunizierter Diskurse innerhalb einer Diskurswelt zu einem bestimmten Zeitpunkt als Essenz konsensfähig ist, sei es bei einem Individuum oder in einer ganzen Gesellschaft.
IV. Das Menschenbild bei Houston Stewart Chamberlain Verabsolutierung eines immer partikulären Erkennens zum Ganzen einer Menschenerkenntnis führt zur Verwahrlosung des Menschenbildes. Die Verwahrlosung des Menschenbildes aber führt zur Verwahrlosung des Menschen selber. Denn das Bild des Menschen, das wir für wahr halten, wird selbst ein Faktor unseres Lebens. Karl Jaspers1
1. Zum Wort Menschenbild und damit zur Relevanz des Gegenstandes Im Motto dieses Kapitels weist Karl Jaspers darauf hin, dass das 'Menschenbild', das jemand vertritt, nicht nur eine Frage seiner Erkenntnis und seiner Ideologie, sondern vor allem auch die Basis für seine Handlungen ist. Damit ist die Relevanz von Menschenbildern für Gesellschaft, Politik, Kultur und Alltag angedeutet. Doch was sind solche Bilder? Woraus setzen sie sich zusammen? Wie kann man sie untersuchen? Wie das Kompositum Menschenbild andeutet, geht es um das Bild, das sich Menschen vom Menschen machen. Das ausformulierte Syntagma sich ein Bild von etw. / jemandem machen impliziert bereits die Vielfalt an Schwierigkeiten, die mit einem solchen Ansatz und einer solchen Fragestellung einhergehen. Mit dem Bildbereich des Malens und des kreativen Gestaltens wird der Konstruktionsapekt berührt und die notwendige Unterschiedlichkeit der gemachten Bilder assoziiert. Damit zeigt sich gleichzeitig, dass prinzipielle Erkenntnisprobleme nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Das Syntagma setzt nämlich voraus, dass der Mensch nach dem Menschen überhaupt fragen kann, dass er in der Lage ist, über sich selbst als Gegenstand nachzudenken, sich also von sich selbst distanzieren kann, und damit auch die nötige Distanz zur Reflexion überhaupt hat.2 Diese Vorannahme rekurriert ihrerseits auf ein ganz bestimmtes Menschenbild, in dem der Mensch als einziges Lebewesen betrachtet wird, das _____________ 1 2
Jaspers, Der philosophische Glaube 1948, 50. Vgl. dazu auch Ricken, Menschen - Zur Struktur anthropologischer Reflexionen als einer unverzichtbaren kulturwissenschaftlichen Dimension 2004, 155. Vgl. auch Jaspers, Die geistige Situation der Zeit 1999, 136f.
80 Das Menschenbild von Houston Stewart Chamberlain
in der Lage ist, über sich selbst zu reflektieren: Der Mensch, das denkende Wesen, ein Schlagwort, das sofort auf bestimmte philosophische Strömungen, konkret auf die Aufklärung, hinweist. Der Idee des Menschen als solchen existiert aber zunächst einmal nur als Abstraktion dieses denkenden Menschen selbst, eine Abstraktion, in der jeweils verschiedene Vorstellungen und Eigenschaften auf eine Art Summa alles Menschlichen gebracht werden, mit der aber letztlich nur ein Spiegel produziert wird, in dem sich die von Menschen verfolgten Interessen zeigen. Es sind Bilder, die sprachlich geschaffen werden, und die als Abstraktionen keine außersprachliche Referenz in dem Sinne haben können, wie sie ein konkretes Einzelwesen hat. Man könnte daher behaupten, dass es so viele Einzelbilder vom Menschen gibt, wie es Einzelmenschen gibt, die sie malen. Jedes dieser Einzelbilder trägt allerdings dazu bei, das kommunizierte Gesamtbild 'Mensch' in der einen oder anderen Weise zu verändern. Wie oben schon angedeutet, besagt das Syntagma nämlich außerdem, dass der Mensch mit jedem neuen Denken auch etwas Neues erschafft, nämlich ein neues Bild vom Menschen oder gar in einem konstruktivistischen Sinne den Menschen überhaupt. Genau dies ist der Grund, warum ich dieses Kapitel "das Menschenbild bei Houston Stewart Chamberlain" nenne. Es ist wichtig, einmal darauf einzugehen, welches Bild sich Rassentheoretiker wie Chamberlain vom Menschen gemacht haben, womit sie es begründen und welche Folgen es für die Gesellschaft hatte, in die sie mit ihren Konstruktionen hineingewirkt haben. Doch zunächst noch einmal zurück zu dem an den Anfang meiner Ausführungen gestellten Kompositum Menschenbild. Als elementares Schlüsselwort in Buchtiteln trifft man es in den letzten Jahrzehnten immer wieder an. Es scheint besonders beliebt zu sein in den philologischen Wissenschaften, der Theologie, der Psychologie und in der Pädagogik, aber auch zunehmend verstärkt in den Wirtschaftswissenschaften. Schlägt man es jedoch in den einzelnen fachspezifischen Handbüchern oder in denen des kollektiven Wissens nach, so findet man es kaum. Dies bestätigt die vorangeschickten Überlegungen. Das Menschenbild ist kein Gegenstand, zu dem es eine exophorisch nachweisbare Referenzgröße gibt. Es ist auch keine Größe, die wie etwa 'Freiheit' oder 'Demokratie' im Zentrum der Diskussion, der gesellschaftlichen Aushandlung gestanden hätte. Diesen Befund bewahrheiten auch die Wörterbücher. Das Deutsche Wörterbuch (DWB) der Brüder Grimm (Bd. 6, 2041) hat das Wort zwar gebucht, aber vergleichsweise beiläufig behandelt. Da das Menschenbild Chamberlains jedoch der Ausgangspunkt der nachfolgenden Ausführungen sein soll, das Wort und vor allem die damit verbundene Aussage also eine zentrale Stelle einnimmt, ist es angemessen, diesem außergewöhnlichen "Begriffswort" eine etwas längere Ausführung zu widmen.
81 Zum Wort Menschenbild bei Houston Stewart Chamberlain
Im DWB steht s. v. Menschenbild: "gestalt des menschen und mensch selbst nach seiner gestalt, mhd. menschenbilde". Neben einem Beleg von Hans Sachs und einem von Herder wird bezeichnenderweise nur noch Goethe zitiert: O weiser brauch der alten, das vollkommene, das ernst und langsam die natur geknüpft, des menschenbilds erhabne würde, gleich wenn sich der geist, der wirkende getrennt, durch reiner flammen thätigkeit zu lösen. (Goethe 9, 320)
Ist mit Menschenbild in diesem Zitat nur die äußere Gestalt des Menschen gemeint, wie es als Bedeutungserläuterung vorgegeben wurde? Oder hat der Lexikograph Moriz Heyne versucht, mögliche Abgründe der Interpretation mit einer sehr allgemeinen Bedeutungserläuterung zu umschiffen? Doch auch ohne Codifizierung im Wörterbuch, das Menschenbild, um das es im Weiteren gehen soll, findet sich schon bei Goethe, auch wenn er es an der betreffenden Stelle nicht durch das Kompositum ausdrückt: So form ich Menschen nach meinem Bilde Ein Geschlecht, das mir gleich sei Zu lachen, zu weinen und zu freuen sich und dein nicht zu achten wie ich.
Im ersten Teil dieser Untersuchung soll es vor allem um Menschenbilder gehen, die von Menschen entworfen werden und von denen der gestaltende Mensch meint, selbst Leben schenken zu können. Goethes aufbegehrender Prometheus, der die zitierten Worte im gleichnamigen Gedicht spricht, trifft den Kern des Kapitels daher in mehrfacher Hinsicht. Erstens wird Goethe von Chamberlain zum kulturschaffenden Übermenschen, zum genialsten aller Deutschen stilisiert. Zweitens thematisiert das Gedicht den Kern des Chamberlain'schen Menschenbildes, die große Persönlichkeit und das Genie. Und drittens handelt es von einem Übermenschen, einem Titanen,3 der gegen etwas Höheres aufbegehrt und dabei so sehr über seine Kreatürlichkeit hinauswächst, dass er zum Schöpfer seiner selbst wird, zum neuen Creator eines neuen Wesens.4 Der ursprüngliche Menschenbildner Gott wird durch einen menschlichen abgelöst, der zum einen die Schöpferrolle als solche übernimmt und damit zu einem neuen initiierenden Schöpfergott wird, der sich dabei zum anderen täglich neu erschaffen muss, oder wie Herder es ausdrückt: Dass wir eigentlich Menschen noch nicht sind, sondern täglich werden.5 Doch was ist der Mensch, der vom Menschen geschaffen wird, für eine Kreatur? Was war er vorher? In welche Richtungen soll er werden, was _____________ 3 4 5
Vgl. dazu Platons Protagoras, in dem der Prometheusmythos entfaltet wird. Vgl. dazu auch den Übermenschen in Nietzsches Zarathustra (Studienausgabe 4, 16): "Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch". Herder 1887, XIII, 350-351.
82 Das Menschenbild von Houston Stewart Chamberlain
soll er sein? Wer und vor allem: was ist der Mensch, der ihn schafft, wie schafft er ihn und zu welchem Zweck? Was unterscheidet diesen neuen Menschen vom alten? Wie sieht also das in der Zukunft zu gestaltende Projekt 'Mensch' aus, das gerade seit dem Beginn der Neuzeit weite Kreise der Philosophie (Kant, Fichte, Nietzsche usw. bis Sloterdijk6), der Pädagogik (als prinzipielle Existenzvoraussetzung dieser Wissenschaft überhaupt; Rousseau, Pestalozzi usw.), der Anthropologie und anderer Disziplinen ergreift.7 Das Projekt 'Mensch' wird zur fundamentalen Zielorientierung, zum nachtheologischen Existenzentwurf in vielen geistes- und kulturgeschichtlichen Betrachtungen. Auch für Chamberlain ist der werdende, sich entwickelnde Mensch das Thema überhaupt. Auch er meint, bei der Projektentwicklung als Kreator mitschaffen zu können. Im Folgenden geht es daher um Fragen zum Menschenbild Chamberlains, d. h. zum Bild, das er sich zum einen vom Menschen macht, aber auch zum Bild vom Menschen, den er selbst sprachlich erschafft, um schließlich zu dem Menschen zu gelangen, den er auch in der Realität als Utopie erschaffen will. Zu diskutieren ist dabei vor allem, wie dies sprachlich erfolgt. Dazu muss zunächst geklärt werden, was er unter dem Wort Mensch versteht, mit welchen anderen Ausdrücken er außerdem auf den Menschen Bezug nimmt und welche Prädikationen er mit diesen Ausdrücken verbindet. Es geht ferner darum aufzuweisen, wie diese sprachlichen Bezugnahmen Rückschlüsse auf weltanschauliche Vorstellungen zulassen und schließlich auch inwiefern diese Vorstellungen Faktoren des Lebens werden können, wie Jaspers es im eingangs zitierten Motto angedeutet hat. Kehren wir zurück zum Prometheus, einer Gestalt, die nicht nur Chamberlain immer wieder bewegt hat (GL 27): Gl 64 Anm.: Emin Pascha und Stanley berichten über Schimpansen, welche nachts mit Fackeln auf ihre Raubzüge ausziehen! […]. Sollten die Affen wirklich die Kunst, das Feuer zu erzeugen, erfunden haben, uns Menschen bliebe doch die Erfindung der Gestalt des Prometheus, und dass dieses, nicht jenes es ist, was den Menschen zum Menschen macht, bildet gerade den Inhalt meiner Ausführungen.
Die Grundfrage "Was den Menschen zum Menschen macht" beantwortet Chamberlain im Sinne einer 'idealistischen' Geschichtsphilosophie, wobei er die Geschichtswissenschaft politisiert und als Anleitung zu zukünftiger Politik deutet. Seine Antwort zielt vor allem ganz in Richtung derjenigen Bedeutungen des Wortes Menschenbild, auf die ich selbst in diesem Kapitel hinziele, nämlich auf Menschenbild als 1. >kognitive Gestalt des Menschen, von Menschen entworfene umrisshaft gedachte Vorstellung der wesentli_____________ 6 7
Vgl. Sloterdijk, Regeln für den Menschenpark 1999. Vgl. Ricken 2004, 156f.
83 Zum Wort Menschenbild bei Houston Stewart Chamberlain
chen Züge des Menschen (sowohl bezogen auf physische wie auf psychische Kategorien)<. Mit dieser Bedeutung wird die Möglichkeit eröffnet, bestimmte Menschen als Abweichungen von der gedachten Gestalt zu betrachten und ihre Zuordnung zu ihr, damit zur Klasse aller Menschen, in Frage zu stellen. Umgekehrt ist es aufgrund dieser Vorstellung möglich, eine Gestalt zu entwerfen, die als Neuschöpfung geradezu idealiter dem entspricht, was man sich als Prototyp eines Menschen wünscht. Diese Vorstellung ist dann eine Art sprachlich gemalter Menschenutopie, weswegen man also 2. >Produkt der eigenen Schaffens- und Schöpferkraft< erhält. Beide Aspekte sind im folgenden Zitat angelegt. GL 64f.: Was den Menschen nun zum wahren M e n s c h e n macht, zu einem von allen, auch den menschlichen Tieren verschiedenen Wesen, das ist, wenn er dazu gelangt, OHNE NOT ZUERFINDEN, seine unvergleichliche Befähigung nicht im Dienste eines Naturzwanges, sondern frei zu betätigen, oder – […] – wenn die Not, welche ihn zum Erfinden treibt, nicht mehr von aussen, sondern von innen in sein Bewusstsein tritt; wenn das, was sein Heil war, nunmehr sein Heiligtum wird. Entscheidend ist der Augenblick, wo die freie Erfindung bewusst auftritt, das heisst also der Augenblick, wo der Mensch zum Künstler wird. […] Erst wenn ein einzelner Mensch, wie Homer, frei nach seinem eigenen Willen, die Götter erdichtet, wie er sie haben will, wenn ein Naturbeobachter, wie Demokrit, aus freier Schöpferkraft die Vorstellung des Atoms erfindet, wenn ein sinnender Seher, wie Plato, mit der Mutwilligkeit des weltüberlegenen Genies die ganze sichtbare Natur über Bord wirft und das menschenerschaffene Reich der Ideen an ihre Stelle setzt, [...] dann erst ist ein durchaus neues Geschöpf geboren, jenes Wesen, von dem Plato sagt: "Er hat Zeugungskraft in der Seele viel mehr als im Leibe" [...].
Wo der Mensch zum Künstler wird, wird er erst zum Menschen, so lautet das Fazit dieses Zitates, das als Einstieg in die Ideenwelt eines Houston Stewart Chamberlain dienen soll. Das Schöpferische, sowohl als realkreationistische wie auch als künstlerische Fähigkeit, ist das Schlüsselwort des Menschseins, das Kriterium der Inklusion, aber auch der Exklusion. Deutlich werden Chamberlains Traditionen, so der antike Mythos vom Bildhauer Pygmalion, der sich in die von ihm selbst geschaffene Statue verliebt und sie mit göttlicher Hilfe zum Leben erweckt, und der den vorgestellten Prometheusmythos ergänzt. "Dieses Motiv [der Statuenbelebung, ALR] wird seit dem 18. Jahrhundert mehr und mehr zum Existenzsymbol des Künstlers, der auch das Tote und Künstliche durch seine schöpferische Glut belebt"8 (Borchmeyer 2002, 32). Schillers Gedicht "Die Ideale" ist nur ein Beispiel für diese Tradition, die besonders bei Nietzsche ihren spezifischen Ausdruck findet. Der Künstler bzw. das Genie werden zum Inbegriff, zum Maßstab des Menschlichen, eines Menschlichen allerdings, _____________ 8
Borchmeyer, Richard Wagner 2002, 32.
84 Das Menschenbild von Houston Stewart Chamberlain
das sich bei Chamberlain mehr dem idealen Göttlichen annähert als der realen Kreatur. Nur wo der Mensch erschafft, erfindet, erdichtet, nur wenn er schöpferisch ist und Zeugungskraft besitzt, wenn er zur geistigen und künstlerischen Gestaltung des Lebens fähig ist (so die im obigen Zitat gebrauchten Ausdrücke), und vor allem, wenn er sich sogar seine eigenen Götter erschafft, da erst sei er wirklich Mensch. Doch nicht nur das unterscheide den Menschen vom Tier und (noch wichtiger) von 'menschlichen Tieren'. Das Ameisenstaatendasein, das Chamberlain abfällig als Civilisation betitelt (Gl 69) und dem er Kultur gegenüberstellt9, reicht nicht aus, um das Menschsein zu gewährleisten. Echtes Menschsein bedarf einer innerlichen moralischen Klärung (Gl 64), und es muss weiter, geradezu neu geschaffen werden. Diejenigen Menschen, die nicht 'schöpferisch' wie Demokrit sind, die keine Welt aus sich selbst und ihren Ideen erschafften wie Platon, bleiben auf der Strecke. Dem schöpferischen Genie gegenüber steht die menschliche Ameise, die außerhalb ihres fest gefügten Systems hilflos ist (Gl 371), die zwar schafft, aber nichts erschafft. Welche Rolle hat sie im Menschenbild Chamberlains? Welche Folgen hat ein solcher Status für die Bewertung als Mensch? Wem gilt die innere moralische Klärung, den wenigen Ausnahmegestalten, den Künstlergenies, einer bestimmten Gruppe von Menschen oder etwa allen? Um es vorwegzunehmen: Der neue Mensch als das Produkt des Bildens wird nicht mehr in die Extreme entweder Geniekünstler oder Ameise zerfallen. Er wird den alten Menschen als solchen auflösen und durch einen neuen ersetzen. Dieser neue Mensch ist nicht nur bei Houston Stewart Chamberlain der Arier.10 Es ist kein Zufall, dass auch Hitler in Fortführung der von Chamberlain vertretenen Tradition Prometheus in einen direkten Zusammenhang mit der so genannten arischen Rasse bringt: Hitler, Mein Kampf I, 318: Was wir heute an menschlicher Kultur, an Ergebnissen von Kunst, Wissenschaft und Technik vor uns sehen, ist nahezu ausschließlich schöpferisches Produkt des Ariers. Gerade diese Tatsache aber läßt den nicht unbegründeten Rückschluß zu, daß er allein der Begründer höheren Menschentums überhaupt war, mithin den Urtyp dessen darstellt, was wir unter dem Worte "Mensch" verstehen. Er ist der Prometheus der Menschheit, aus dessen lichter Stirne der göttliche Funke des Genies zu allen Zeiten hervorsprang, immer von neuem jenes Feuer entzündend, das als Erkenntnis die Nacht der schweigenden
_____________ 9
10
Dies ist eine Gegenüberstellung, die nicht erst mit Thomas Manns "Betrachtungen eines Unpolitischen" üblich wurde, sondern wie vieles andere auch auf Richard Wagner zurückzuführen ist. Vgl. dazu: Wagner, Dichtungen und Schriften 8, 1983, 247ff. Vgl. dazu auch den Nationalsozialisten Ernst Bergmann, Der Mensch, das Werk, der Nachruhm. In: Schlüssel zum Weltgeschehen 11. 1931, 359-374. Bergmann, ein Anhänger der Welteislehre von Hanns Hörbiger, bezeichnet auf S. 374 Deutschland als das "Bildungsland der neuen Menschheit."
85 Zum Wort Menschenbild bei Houston Stewart Chamberlain
Geheimnisse aufhellte und den Menschen so den Weg zum Beherrscher der anderen Wesen dieser Erde emporsteigen ließ.
Dass es eine Verbindung zwischen Hitler und Chamberlain gibt, ist bekannt; worin genau die verbindenden Gemeinsamkeiten liegen, jedoch weniger. Dass deutliche Parallelen im Menschenbild bestehen, ist zwar nur eines von vielen Bindegliedern Chamberlains zu Hitler, aber für die weitere Untersuchung das interessanteste, denn dieses Menschenbild könnte zum Schlüssel für die Begeisterung werden, die auch das Bildungsbürgertum für Hitler hegte. Es muss traditionelle Anlagen so mit spezifischen neuartigen Interpretationen verbinden, dass es affirmativ von den Nationalsozialisten ebenso wie von den Bildungsbürgern der Zeit Chamberlains vertreten werden konnte. Es geht also u. a. um die These, dass Chamberlains Weltbild in einer Tradition steht bzw. dass er diese verstärkt und teilweise neu begründet; sie war jedem Bildungsbürger seiner Zeit nicht nur vertraut, sondern lieb und teuer, so dass gerade das damit verbundene Menschenbild von Hitler nur aufgegriffen zu werden brauchte, damit er trotz aller sozialchauvinistischen Widerstände gegen den "Anstreicher" und die Nationalsozialisten auch von den Bildungsbürgern, oder muss man sagen, gerade von diesen gewählt wurde. Es soll im Folgenden also darum gehen, den eigenen Traditionen nachzuspüren, die, wie Jaspers es eingangs formuliert, als "Faktor unser Leben" von heute noch bestimmen. Die entscheidenden Schlagworte, die zur Diskussion der genannten These und damit zur Rekonstruktion der entsprechenden Menschenbilder gebraucht werden, sind bereits gefallen. Ich wiederhole sie noch einmal in der Reihenfolge ihres Auftretens: Mensch / Gestalt des Menschen / die große Persönlichkeit / das Genie / der Übermensch / der Schöpfer / die Kreatur / das Individuum / das Kollektiv / die Masse / Kultur / Zivilisation, das Leben, der Künstler / der neue Mensch / der Arier. Diesen Ausdrücken wird man im Zusammenhang mit dem Bild vom Menschen immer wieder begegnen, nie jedoch in der gleichen Weise, immer in variierenden Semantisierungen und innerhalb unterschiedlicher Ideologien. Über ihren Schlagwortcharakter muss noch diskutiert werden. Nicht zu leugnen ist, dass sie ein wichtiges Kriterium für Schlagwörter erfüllen: Sie sind programmatisch, und dies nicht nur für die Weltbildkonstruktion Houston Stewart Chamberlains.
86 Das Menschenbild von Houston Stewart Chamberlain
2. Das Wort Mensch bei Houston Stewart Chamberlain Mensch, der 1. >zur Klasse der Säugetiere gehöriges, eine eigene Spezies derselben bildendes, im Unterschied zu Tier mit Sprache, mit der Fähigkeit zu sittlicher Entscheidung, zu Erkenntnis von Gut und Böse ausgestattetes, damit von seiner biologischen Anlage her einerseits der möglichen Herabsinkung zum Tier ausgesetztes, andererseits der Nähe zu Gott fähiges Wesen<; als Synekdoche: >Gesamtheit aller Menschen, in der niemand exkludiert ist<. Zentral in dieser relativ allgemeinen Bedeutung ist die Zwischenexistenz des Menschen zwischen Gott und Tier, die als physische und metaphysische Pole immer sowohl Nähe wie Distanz implizieren. Von dieser Existenzform ausgehend nimmt Chamberlain (s. die folgenden Bedeutungsansätze) bewertende Differenzierungen vor. – Ggb.: einerseits Gott; andererseits Bestie; bestia miserrima, Tier. – Ktx: Wesen; Lebewesen. – Synt. + Präd.: Mensch im Subjekt: Das Wesen "Mensch" ist (infolge seiner Schwäche, seiner Entblößung, seiner Instinktarmut) ein Tier (PI 31) / das armseligste Tier / die bejammernswerteste Bestie (PI 46) / ein staatenbildendes Tier / bestia miserrima (PI 48); kein Mensch wird frei geboren (Dt. Freiheit 19; ähnlich PI 30); der Mensch ist in unbedingter Abhängigkeit geboren (PI 30; ähnlich 31) / wird durch den Staat erst Mensch {offen zu Bed. 2} / wird ein höher potenziertes Tier (GL 67) / tritt hilfsbedürftig ins Leben (nackt, waffenlos, unbehaart) (PI 30); die Menschen erben ihre politischen Ideale (PI 27) / sind in keiner Beziehung unter einander gleich (PI 32) / weichen fast unermeßlich voneinander ab (PI 32) / bilden innerhalb ihrer verschiedenen Rassenindividualitäten eine atomistische, nichtsdestoweniger aber sehr homogene Masse (GL 26) / [sind] grundverschieden in ihrer Anlage (GL 328); jeder Mensch zählt Hunderttausende von Voreltern (GL 348); ein Mensch kann sehr schnell, ohne Israelit zu sein, Jude werden (GL 545); welcher Mensch vermöchte in der Bewährung der Treue Höheres zu leisten als der edle Hund? (GL 602); nie hat irgend ein Mensch gelehrt, ein Leben könne gut sein ohne gute Werke (GL 745). Mensch als Genitivattribut: die Tierheit des Menschen (mit anderen Worten, der Mensch als Tier im Gegensatz zum Menschen als Individuum) hat keine notwendige, sondern höchstens eine zufällige Grenze (GL 852); die Gedanken der Menschen sind eitel (GL 238); Blutrache ist das heilige Gesetz aller Menschen der verschiedensten Rassen (GL 242); "Abstammung" der Menschen (GL 838); Entartung der ersten Menschen (GL 668). Mensch als Akkusativobjekt: Neid und der Haß macht die Menschen dumm! (Deutschland 77); die sinnreichste Dynamomaschine erhebt den Menschen nicht um einen Zoll über die allen Wesen gemeinsame Erdoberfläche (GL 67); was ihn [Buddha] noch als Menschen unter Menschen fesselte (GL 233); "Freiheit" löst die Menschen in Atome auf / die "Gleichheit" macht sie zu physiognomielosen Rechenpfennigen (PI 38); indem wir die Menschen scheiden, lernen wir auch die Ideen in ihrer Besonderheit erkennen (GL 584); der Glaube soll die Menschen "bessern" (GL 684). Mensch in einer präpositionalen Nominalgruppe: die Spezialisierung bringt beim Menschen, genau so wie beim Tier edle Rassen hervor (GL 313); [der Römer*] begründete das Recht für alle Menschen (GL 218); körperlich und seelisch ragen die Arier unter allen Menschen empor (GL 597); Aus ihm (dem Menschen ohne Staat*) entsteht weder Sprache noch Civilisation noch Kultur, weder Recht noch
87 Das Wort Mensch bei Houston Stewart Chamberlain
Kunst noch Wissenschaft noch Religion; alle diese Güter, welche das Leben uns Menschen [Bed. 2] erst lebenswert machen) (PI 48). Mensch in einem Präpositionalattribut (oder verwandter Konstruktion): Experimente mit Menschen (GL 333); die Beziehung zwischen Gott und Mensch (GL 526); der Unterschied zwischen Mensch und Tier / zwischen Mensch und Mensch [offen zu 2; GL 58); [keine] Gleichheit zwischen den Menschen (PI 32); Vermischung von Menschen getrennten Ursprungs (Gl 844); wir sind nicht in der Lage, eine Anzahl Menschen einzuhegen (GL 337).
2. >Teilmenge derjenigen Menschen, die sich in Chamberlains Qualifikationsskala als "wahrer" Mensch vom biologischen Menschen (im Sinne von 1) abheben; der eigentliche Mensch im Unterschied zum negativ ausgegrenzten, da nicht die natürlichen Anlagen zur qualitativen Auszeichnung entwickelnden biologischen Menschen<; die geforderten Qualitäten sind in Chamberlains lexikalischer Fassung: das Künstlerische, Schöpferische, die moralische Struktur, Rasse, Wille, Energie, Begabung, Verstand, Freiheit, Kraft, Ideale, Religion, Ehrfurcht; der ästhetische Stand. Tropisch dazu: a) >Produkt der Veredelung des Menschen< und b) >Mensch, wo er im Sinne der Chamberlain'schen Tier- / Gott-Dichotomie am menschlichsten ist: deshalb Künstlermensch, Gottmensch, Genie<. – Bdv.: Schöpfer, Werkmann, Arier, Germane, Hellene, Genie 2, Künstler 1, Persönlichkeit 2, Gottmensch, Individuum 2. – Ggb.: Tier, menschliches Tier209, Ameise, Bestie; bestia miserrima, Kreatur, foreigner, Jude / Semit, (asiatischer und afrikanischer) Knecht, (syrischer) Bastard, Mongole, (vom Wüstenwahnsinn bethörter) Beduine; Geschöpf, mit positiver Extension auch Gott. – Synt. + Präd.: Mensch als Subjekt: der Mensch ist nicht Ameise (PI 51) / ist ein freier Schöpfer in der Kunst (GL 69) / wird zum Künstler (GL 69) / hat Religion (AW 82) / bewährt sich als Erfinder / als Werkmann (GL 188) / als Künstler (GL 59) / dichtet / beginnt zu denken / baut (Gl 59) / gestaltet / schafft Wissenschaft (AW 82) / schuf sich eine erhabene Moral (GL 244) / schafft die Not um (GL 59) / erfindet (GL 68) / sucht (GL 651) / hatte sich Götter geschaffen (GL 244) / handelt nicht mehr aus bloßem Instinkt (Wille/ Wille 10) / schrumpft zum Sklaven seiner eigenen Maschinen zusammen (PI 19) / gelangt aus dem Dunklen ins Helle (PI 27) / ist in das Tageslicht des Lebens eingetreten (Gl 78) / kann der Ideale nicht entbehren (PI 45) / soll der Menschheit dienen (PI 52) / solle [Konj.] sich in allem Lebendigen selber wiedererkennen (GL 489) / erwacht zum Bewusstsein freischöpferischer Kraft (GL 58) / erwacht in Christus zum Bewusstsein seines moralischen Berufs / zur Notwendigkeit eines nach Jahrtausenden zählenden inneren Krieges (GL 244) / hängt organisch mit seiner Umgebung eng zusammen (das alles ist Blut von seinem Blut) (GL 67) / will nicht ein Instrument sein (GL 244) / empörte sich gegen die moralische Tyrannei der Natur (GL 244) / erreicht sein höchstes Mass innerhalb jener Abgrenzungen, in denen scharf ausgeprägte, individuelle Volkscharaktere entstehen (GL 310). Mensch im Gleichsetzungsnominativ: der Mensch [dies Bed. 1] ohne Staat ist kein "Mensch" [dies Bed. 2] (PI 48) / wird "Mensch" im wahren Sinne des Wortes (GL 368) / in einem höheren Sinne (PI 21; vgl. auch PI 14; PI 49); der Engländer ist Mensch (Wer hat den Krieg verschuldet? 49); keine Menschen mehr, sondern nur Geschöpfe sein (GL 551).
_____________ 209 GL 68
88 Das Menschenbild von Houston Stewart Chamberlain
Mensch als Genitivattribut: Wirkung des Menschen auf den Menschen (AW 12); innere Wandlung / Umwandlung des Menschen (AW 24; GL 745); das transszendente Wesen des Menschen (AW 24); die Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst (AW 85) / sittliche Bedeutung (Gl 223) / unermessliche Überlegenheit (GL 67) / Erfindungsgabe (GL 225) / Würde (Br i, 170) / freie That (GL244) des Menschen; Erlösung (GL 666) / Veredelung (Gl 367) / der Anblick wahrer Menschen (BR I, 31); die Wiedergeburt des freien Menschen (GL 829); das überschwenglich Große des Menschen (Br I, 162); Bestimmung des Menschen (GL 53); die Grösse des Menschen (GL 707); Versündigung an dem Geschlechte der Menschen (GL 378). Mensch als Akkusativobjekt: Eine solche Willensbestätigung zeigt den Menschen gottverwandt (Wille/ Wille 10); etw. (z. B. der Staat) macht den Menschen zum Menschen (PI 46; PI 48; ähnlich mehrfach, z. B. GL 59); etw. (ein gescheiter / guter Staat) bringt (gescheite / gute Menschen hervor (PI 49); Homer inthronisiert Menschen auf dem Olympos (GL 225); den Menschen hat eine Krankheit beschlichen / den Menschen verteidigen (GL 319); einzelne Menschen [nicht] ohne weiteres als Muster des Germanen hinstellen (GL 618). Mensch in einer präpositionalen Nominalgruppe: etw. ist für den Menschen bezeichnend (Wille/ Wille 10); daß bei dem Menschen gerade der Verstand die reichste Stufenleiter verschiedengradiger und auch verschiedenartiger Entwicklung aufweisen muß, und zwar sowohl in der Form einer Verschiedenheit zwischen Mensch und Mensch, wie auch namentlich durch Rassenzüchtung (AW26); der Staat wird von Menschen erfunden und errichtet (PI 46); dieses Werk des Germanentums ist ohne Frage das Grösste, was bisher von Menschen geleistet wurde (GL 865); durch das "Deutsch" wird es in dem Menschen Licht (Dt. Sprache 24), das Charakteristische am Menschen [ist] seine Persönlichkeit (GL 844). Mensch mit Adjektivattribut: gescheiter / guter (PI 49) / freier (GL 829) / wahrer Mensch (BR I, 31). Mensch mit Relativsatzanschluss: Mensch, über den wir nicht das Geringste wissen / den wir aus den fernsten, unverständlichsten Sagen herauskonstruieren / aus sprachlichen Indizien zusammenleimen / den ein Jeder mit allen Gaben ausstatten kann (GL 844).
3. >Einzelexemplar der Gattung Mensch, das sich durch bestimmte Kennzeichen von anderen Einzelexemplaren der Gattung unterscheidet<; in der Regel typisierend im Sinne von >kollektives Individuum<; im Plural auch generalisierend: >eine bestimmte Anzahl von Einzelmenschen, die sich durch positiv bewertete Kennzeichen von anderen Menschen bzw. Menschengruppen unterscheiden<; eng an 2 anschließbar; Rasse, Nation und Religion fungieren dabei immer wieder als gruppenkonstitutives und gruppenunterscheidendes Kriterium. Das Gruppenauszeichnende wird durch verschiedene grammatische Konstruktionen, vor allem durch Attribute und an die Nominalphrase angeschlossene Relativsätze angegeben. Damit wird gleichzeitig die Bewertung vorgenommen, und zwar in dieser Bedeutung immer eine positive: begabt, erkennend, denkend, moralisch, befähigt, genial, friedfertig, vornehm, edel, edelgezüchtet, neu, hoch, anständig, reingesinnt, rassig, gut, als Künstler. – Bdv.: Menschenart, Menschentyp(us); Arier / Bosniake / Germane / Hellene / Indogermane / Indoeuropäer; Persönlichkeit 1. – Ggb.: foreigner; Jude; gemeine Menschen, (asiatischer und afrikanischer) Römer, Knecht, (syrischer) Bastard, Mongole, (vom Wüstenwahnsinn bethörter) Beduine.
89 Das Wort Mensch bei Houston Stewart Chamberlain
Synt. + Präd.: Mensch als Subjekt: die hoch- und reingesinnten Menschen haben sich von dem Dämon der Niedertracht überrumpeln / knechten lassen (Zuversicht 6); ein neuer Mensch ist in die Weltgeschichte eingetreten! (GL 594); nur geniale / zumindest hochbegabte Menschen leisten Wertvolles (GL 39); dieser Mensch schreibt die Kritik der reinen Vernunft / erfindet die Eisenbahn (GL 605); dieser edelgezüchtete Mensch ist ungewöhnlich begabt / wird ein überragendes Genie (GL 321) / wurde wie ein flammender Meteor durch eine Laune der Natur auf die Erde herabgeworfen (GL 321) / wächst […] zum Himmel empor (GL 321) / ist kein vereinzeltes Individuum / ist die lebendige Summe ungezählter, gleichgerichteter Seelen (GL 321); die Bosniaken sind durchschnittlich schönere Menschen (BR I, 31); der Indoeuropäer ist kein* schlechter / verderbnisvoller Mensch (GL 404); der Mensch als Künstler formt die Gestalt / haucht ihr Lebensatem ein (GL 86); die Menschen schlagen das Göttliche in ihnen ans Kreuz (GL 243). Mensch im Gleichsetzungsnominativ: der Germane ist der idealste / praktischste Mensch der Welt (GL 605); der Deutsche ist der friedfertigste Mensch (Wille/ Wille 12); die Deutschen sind eisern disziplinierte / wackere, grundanständige, gutherzige Menschen (Deutschland 68); diese Amoriter sind grosse, blonde, blauäugige Menschen / Riesen an Gestalt (GL 434); die höchste Erscheinung des Lebens [ist] der Genie vermittelnde Mensch (BR I, 230). Mensch als Genitivattribut: das Dasein des Menschen als moralisches Wesen (Br II, 10); die Fähigkeiten / die Bestimmung des deutschen Menschen (BR II, 79); Züchtung / Heranbildung deutscher Menschen (BR I, 327); Erziehung vollwertiger Menschen (BR II, 186 an WII); Abtötung des leiblichen und geistigen Menschen (GL 238); Vorstellung eines indoeuropäischen Menschen (GL 554). Mensch als Akkusativobjekt: den verehrungswürdigsten Menschen in dem Philosophen erkennen (AW 49); den genialen Menschen im Auge haben (Dt. Sprache 33); die Rassenangehörigkeit hebt und stärkt den edelgezüchteten Menschen (GL 321). Mensch in einer präpositionalen Nominalgruppe: Die französischen Revolutionsideale haben aus wackeren Menschen halbe Bestien gemacht haben (PI 40). Mensch mit präpositionalem Attribut: der Mensch "in seinem ästhetischen Stande" stellt sich "ausser der Welt (GL 59) / betrachtet sie / erblickt sie deutlich (GL 59). Mensch mit Adjektivattribut: der auferbauende / nicht gewaltsame (an und über AH 1923, Br II, 125) / der bedeutende / durchsichtige / einfache Mensch (an und über AH zum Geb. 1924); der wirklich begabte, denkende, ideal befähigte Mensch (BR I, 75; Gl 184); die Genie vermittelnden Menschen (BR I, 230); rassige Menschen (Br II, 152); der vollendete Mensch: Goethe (Br II, 171); ruhig urteilender Mensch (Deutschland 77); der geniale Mensch (Wille/ Deutschgedanke 6); der deutsche Mensch (Wille/ Wille 11); der anständige Mensch (Zuversicht 5); ein edler, hoher Mensch (Dt. Friede 91); jeder denkende, edelgesinnte Mensch (AW 36); vergesellschaftete Menschen (PI 46); der natürliche / der unwillkürlich handelnde Mensch (GL 191); einsichtsvolle Menschen (Gl 314); der beobachtende, denkende Mensch (PI 45); dieser edelgezüchtete Mensch (GL 321); vernünftige Menschen (GL 224); indoeuropäischer Mensch (GL 554); die echten, edlen Menschen (GL 375); die wirklich vorhandenen, individuell begrenzten, national unterschiedenen Menschen (GL 840); neue Menschen (GL 847). Mensch mit Relativsatzanschluss: Menschen finden, deren unverfälschtes Germanentum […] verbürgt ist (GL 580); Menschen, die zu unseren Gesinnungsgenossen gehören (Br II, 65); Menschen, die in sich selbst einen starken Halt finden / fähig, innerlich so zu kämpfen, wie er [Luther] gekämpft hat (GL 755); ein Mensch, dem es gelungen ist, sein Ich aus den hundertfachen Hüllen, die ihm von Geburt an umgeworfen wurden, so weit zu befreien / nicht bloße Formeln wiederkaut (Br Keyserling 154ff.).
4. >einzelner Mensch, der sich in Chamberlains Qualifikationsskala vom wahren Menschen (s. 2) sowie von positiv bewerteten Einzelmenschen (im Sinne von 3) dadurch unterscheidet, dass er in unterstellter Nähe zum Tier über keine oder nur mäßige schöpferische, künstlerische und kogniti-
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ve Fähigkeiten verfügt<. Die diesem Menschentyp zugeschriebenen bewertenden Eigenschaften sind umgekehrt analog zu 3 negativ verfasst: minderwertig, halbschlächtig, ameisenartig, unwissend, böse, phantasielos, rasselos, verbrecherisch, ideen- und ideallos. – Bdv.: s. Ggb. unter Bed. 3. – Ggb.: s. Bdv. unter Bed. 3. Synt. + Präd.: Mensch als Subjekt: dieser Mensch ist keiner Erkenntnis fähig / ist vom Wahne des "Nichtwissens" umnebelt (AW 68); dieser syrisch-kleinasiatische Mensch zeichnet sich durch zähes Festhalten an dem eigenen Boden und durch die unüberwindliche Macht grosser physischer Beharrlichkeit aus (GL 424); dieser syrische Mensch zeichnet sich durch das Vorwalten eines bestimmten anatomischen Charakters aus (GL 427); die Menschen aus dem Völkerchaos haben Metaphysik und Mythus der Indoeuropäer entstellt (GL 662) / verstanden eben keine anderen Argumente (GL 684). Mensch im Gleichsetzungsnominativ: die aus dem Orient Hinzuströmenden waren halbschlächtige Menschen (GL 353). Mensch als Genitivattribut: ein wilder Kampf millionenfacher Egoismen unwissender, ideen- und idealloser Menschen (IuM 25); Mehrzahl der ameisenartig emsigen Menschen ist unfähig, sich zu solcher genialen Anschauungsweise zu erheben (GL 29); der Naturgesang wilder Menschen (GL 61/62); geringe Widerstandskraft / Mangel an Charakter / moralische Entartung solcher Menschen (GL 353). Mensch als Dativobjekt: die Schöpferkraft geht einem gänzlich fremden Menschen ab (AW 39). Mensch mit Präpositionalattribut: Menschen ohne Tradition / ohne einigende Sitten / ohne alle Aufopferungsfähigkeit (IuM 25). Mensch im / mit Genitivattribut: Menschen des Völkerchaos (Gl 362; 662; 755 u. ö.); Die Urbewohner von Zentralaustralien gehören zu den geistig am weitesten zurückgebliebenen aller Menschen (GL 155). Mensch mit (teilweise erweitertem, auch nachgestelltem) Adjektivattribut: der ameisenartig emsige (Gl 29) / böse, verbrecherische (Soz.-Führern) (Br II, 35) / fremde (AW 39) / halbschlächtige (Gl 353)/ moralisch minderwertige (PI 38) / rasselose (Br II, 152) / syrischkleinasiatische (Gl 424)/ syrische (GL 427) / undressierte (BR I, 109) / ungelehrte (Gl 426) / [Römer] unsentimentale / peinlich phantasielose / unideale (GL 210) / unwissende, ideen- und idealloser (IuM 25) / wilde (Gl 62) / am weitesten zurückgebliebene (Gl 155) Mensch; solche aus aller notwendigen Angehörigkeit losgerissene Menschen (dazu bdv. Bastarde / Ameise) (Gl 371); Menschen, den heutigen Wüstenbeduinen äusserst ähnlich (GL 414). Mensch mit / im Präpositionalattribut: (freigelassene Sklaven aus Asien und Afrika) Menschen ohne Glauben, ohne Treue, ohne Kraft (PI 18); Verwilderung von Menschen (GL 612). Mensch mit Relativsatzanschluss: Menschen, die sehr häufig nicht ein Tier, nicht eine Pflanze, nicht einen Stern kennen, die nicht Augen haben, das zu sehen, was man ihnen zeigt, und nicht Verstand genug, irgendein Grundgesetz unserer Mutter Natur wirklich zu erfassen (BR I, 230); Menschen, die nicht mit ihrem Blute bestimmte Ideale erben, sind einfach "amoralisch" (GL 361); Menschen, deren Umgebung ideallos ist (Br II, 65).
5. >Mensch im Sinne von 2 und 3, sofern er durch sprachliche Identifikationssignale als mit Chamberlain Gleichdenkender in den Status des Gesinnungsverwandten gehoben und somit als Angehöriger der Gruppe der ebenso Wissenden wie moralisch Fühlenden wie im Sinne dieses Wissens und Fühlens Handelnden angesprochen wird<. Das Ziel der Konstituierung einer Gruppe von Gesinnungsverwandten wird über Personalpronomina mit anschließendem Mensch, durch das Possessivum unser und vor allem durch den Aufruf der die Gruppenangehörigen einigenden Ü-
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berzeugungen und Werte mittels einer positiv konnotierten Lexik bzw. durch eine Kombination von alldem erreicht. Belegbeispiele: wir / uns Menschen (vielfach; z. B. Br II, 132ff.; 168ff.); Nennung von Kultur, Recht, Wissenschaft, Religion, Staat, freiem Willen als Gegebenheiten, denen jeder Gruppenzugehörige zustimmen dürfte; Verwendung damit kompatibler Adjektive (organisch, moralisch, geistig) und Verben (veredeln). Selbstverständlich entspricht diesem Wortschatz eine jeweils antonyme Fassung, so z.B. Zerfahrenheit, entarten. Hinzu kommen Inklusionsformeln des Typs wie wir alle wissen. 6. bezogen auf: >einzelne reale Person<; positiv konnotiert: >Persönlichkeit<; anschließbar an 2 und 3. – Bdv.: Persönlichkeit 2; 3; Individuum 2. Präd. und Synt.: daß er [König] sozusagen nie - oder fast nie - ganz er selbst, ganz Mensch, ganz Individuum sein kann (Br Willi 132ff.); Goethe als Mensch (Br Willi 132ff.); der Bischof von Ripon doch ein erzgescheiter Mensch (Br Willi 132ff.); [Timeskorrespondent in Berlin] dieser gewissenlose Mensch (Dt. Friedensliebe 11); wenn ein einzelner Mensch, wie Homer, frei nach seinem eigenen Willen, die Götter erdichtet (GL 69); der Hohenstaufe, gewiss einer der genialsten Menschen (GL 398).
3. Der Artikel Mensch, die lexikalsemantischen Ergebnisse Vom semasiologischen Feld her ist zu beobachten, dass der ersten, der biologisch-generischen Bedeutung Spezifizierungen in drei Stufen folgen. Die dabei zugrunde liegende Vorstellung verläuft analog zu biologischen Systematisierungen: von der Gattung zur Art, von der Art zur Unterart, von dieser zum einzelnen. Das heißt: 1. Chamberlain entwickelt den Menschen in seinen Schriften als biologische Gattung (s. 1), die sich zunächst entsprechend ihrer natürlichen Anlage in verschiedene Untergruppen bzw. schließlich Einzelexemplare dieser Gruppen (2; 3 und 4) unterteilen lässt. Der biologisch orientierten Unterteilung fügt er Kriterien hinzu, die nicht mehr nur biologisch motiviert sind, sondern moralisch und intellektuell bewerten. Daraus folgt ein Verständnis des Menschen, das mit dem hohen Gewicht des Schöpferisch-Künstlerischen (s. 2) und umgekehrt mit der Betonung der Absenz solcher Gestaltungsqualitäten (s. 4) eindeutig normativ einerseits die Möglichkeit eines gottebenbildlichen Menschen und andererseits die Gefahr eines tierähnlichen und im Extremfall rattenebenbildlichen Menschen suggeriert. Selbstverständlich ist dasjenige, was als Abstraktgröße (positiv: als wahrer Mensch) angesetzt wird, auch als einzelner Mensch greifbar. 2. Semantisch gesprochen hat Mensch damit eine weite Generalisierungsamplitude, einerseits wird es hochgradig allgemein als Hyperonym (in 1), andererseits als Hyponym (in 2-5) verwendet und schließlich (in 6) auf des menschliche Einzelwesen bezogen. Es umfasst also einmal alle
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biologisch als Menschen kategorisierten Lebewesen (Bed. 1); zum anderen bezieht es sich auf mittlerer Abstraktionsstufe binnendifferenzierend auf bestimmte Gruppen und schließt dabei jede andere Gruppe aus. So besteht zwischen den Bedeutungen 3 und 4 ein klares Ausschlussverhältnis. Dies besagt nichts anderes, als dass diejenigen Menschen, die unter Bedeutung 3 angesprochen werden, in keinem Fall zu 4 zugeordnet werden können. Alle zusammen hingegen werden aber mit Bedeutungsansatz 1 erfasst. Das angedeutete Ausschlussverhältnis von 3 und 4 kann als ein Gegensatzverhältnis betrachtet werden; man vergleiche auch das Umkehrverhältnis in der onomasiologischen Vernetzung und in den aufgewiesenen lexikalischen Gegensätzen. Ähnliches gilt auch für 5 und 6. 3. Wer als 'Mensch' im Sinne von 2 kategorisiert werden kann, entzieht Chamberlain aller objektiven biologischen Kennzeichnungen (Bed. 1). Letztlich entscheidet Chamberlains dies je nach Interesse selbst. 4. Der ideale (wahre) Mensch wird als eine eigene Größe im Sinne von Bedeutungsansatz 2 geschaffen. Er fungiert als Zukunftsutopie (Gl 368; AW 26) und hat nur in seltenen Fällen einen Realbezug. Wenn der Mensch bislang als dritte Größe zwischen Gott und Tier angesiedelt war, so ist mit dem neu konstruierten Idealmenschen systematisch eine Verschiebung der genannten semantischen Abgrenzungen verbunden. Das Tierische wird semantisch erweitert, das Göttliche ebenfalls. Die Wortfeldverschiebung betrifft damit nicht nur das Wort Mensch, sondern im Trierschen Sinne alle anderen Bedeutungsverwandten, wozu in diesem System Gott und Tier gehören. 5. Jeder Einzelmensch wird an dem neuen Leitbild gemessen. Es gibt dabei nur zwei mögliche Ergebnisse: Entweder ist man ein typischer Vertreter des Leitbildes bzw. nähert sich diesem an oder man passt zum Gegenbild und steht damit außerhalb der Norm. Die neue Normorientierung wirkt je nach vorgenommener Attribuierung ausgrenzend oder vereinnahmend (Bed. 3; 4; 5). 6. Einzelwesen im Sinne des Begriffs der großen, aus sich heraus geschichtsmächtigen und – gestaltenden Persönlichkeit gibt es bei Chamberlain kaum. Menschen sind selbst dann keine Individuen, wenn sie namentlich genannt werden. Die natürlich anerkannte Größe von z. B. Homer oder Goethe etwa beruht nicht auf ihrer Individualität, verstanden im Sinne des 19. Jahrhunderts als autonome, in sich selbst gründende, von historischen Bedingtheiten unabhängige Entität, sondern ergibt sich aus ihrer Zugehörigkeit zu der Gruppe der Gottähnlichen, die ihrerseits rassenbedingt ist. Die große Einzelpersönlichkeit ist damit gleichsam die Konzentration der Eigenschaften des Rassekonzeptes in einem einzelnen Exemplar, damit die Realisierung einer Naturanlage und gleichzeitig deren konsequenteste Ausprägung.
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7. Verallgemeinerung und damit einhergehende Typisierung sind schließlich die Basis für die Polarisierung von Mensch und Nichtmensch. Unter quantitativem Aspekt ist auffällig, dass die Mehrzahl der Belege den Bedeutungen 2-4 zugeordnet werden musste, während Belege zu den einzelpersonenbezogenen Bedeutungen nahezu marginal vorzufinden sind. Dieser Befund erklärt sich aus den vertretenen Inhalten. Wenn man nämlich die Bedeutungen 1 und 2 mit Überschriften versehen würde, so könnte eine solche zu 1 lauten: das WAS des Menschen, die zu 2: das WIE des Menschen. Die nachfolgenden Bedeutungen 3 und 4 gingen dann in die Fragestellung zu 2 ein, erweiterten diese jedoch mit Antworten im Sinne von WELCHE GENAU, also mit der Untergliederung der Menschen in Menschentypen. Ansatz 5 beantwortet die Frage nach der eigenen Zuordnung bzw. der Inklusivität Chamberlains und seiner Anhänger. Die daran anschließenden Bedeutung 6 ist besonders unter dem Aspekt interessant, dass hier zwar explizit auf den Einzelmenschen referiert wird, diese Größe dann aber in Chamberlains Vorstellungswelt mit dem Kollektivwort Mensch kollidiert, oder anders ausgedrückt, nicht wirklich im Sinne eines für sich stehenden, von anderen unabhängigen Individuums gemeint ist. Mensch und Menschsein sind für Chamberlain Kollektivbegriffe. 'Mensch' ist man nicht als Individuum oder Einzelperson, sondern nur im Sinne einer Übereinstimmung mit einer Idee, als Teil eines Kollektivs bzw. als Typus. Selbst das individuelle Genie verdankt seine Genialität nur dem ihm zugrunde liegenden Kollektiv; womit auch Individuum eine Neuinterpretation erfährt. In den angesetzten Einzelbedeutungen kann dieser Befund in all seinen Konsequenzen für das Menschenbild nachgezeichnet werden.
4. Die Verortung des Menschen Obwohl der biologisch-generische Aspekt des Menschseins in Bedeutungsansatz 1 das entscheidende Inhaltsmerkmal zu sein scheint, fällt vor allem bei der Betrachtung der Syntagmen auf, dass die von Chamberlain beschriebene Spezies Mensch zwischen den beiden kategorial völlig unterschiedlichen Polen Gott und Tier hin und her schwankt. Es gibt die normalsprachlich Übliche Unterscheidung zwischen Mensch und Tier einerseits und zwischen Mensch und Gott andererseits. Dies liegt im semantischen System des Deutschen fest und ist unabhängig von der genauen Gottesauffassung oder dem genauen Tierbegriff verstehbar sowie kommunikativ akzeptiert. Chamberlain überlagert diese allgemeinen Unterscheidungen mit einem metaphorischen Wortgebrauch: Er schreibt Eigenschaften, die man üblicherweise mit Gott verbindet, als tertia comparationis einem Teil der Menschen zu, bringt die diesem Teil zugerechne-
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ten Menschen damit in Gottnähe und zeichnet sie vor dem anderen, nicht betroffenen Teil in besonderer Weise aus. Umgekehrt überträgt er Eigenschaften, die man üblicherweise dem Tier anheftet, auf den anderen Teil der Menschen, die damit eine Abwertung erfahren. In beiden Fällen und in systematisch genau gleicher Weise schafft Chamberlain mit dieser Metaphorisierung neue textliche Bezugsgrößen, einmal den Gottmenschen und ein anderes Mal den Tiermenschen. GL 58: […] um den Unterschied zwischen Mensch und Tier drastisch zu kennzeichnen; wichtiger, weil eine bedeutungsvollere Erkenntnis anbahnend, dünkt mich die Unterscheidung zwischen Mensch und Mensch.
Das ist zugleich eine Binnendifferenzierung wie eine Verschiebung der semantischen Grenzen; in der konsequenten textlichen Verfolgung dieser Binnendifferenzierung bzw. Grenzverschiebung werden die langueEinheit 'Mensch' und die langue-Unterscheidung zwischen 'Gott', 'Mensch' und 'Tier' zwar nicht aufgehoben, sie verlieren aber aufgrund der tropischen Neuschöpfungen an Gewicht. Auf den einzelnen Menschen oder auf einzelne Menschengruppen bezogen schlägt das Pendel dann jeweils nach der Richtung aus, nach der die Zuschreibungen tendieren, also entweder hin zum Tierischen oder hin zum Göttlichen. Anstatt also bei der Betrachtung des Menschen die Schlussfolgerung zu ziehen, dass der Mensch das verbindende Glied zwischen dem Tierischen und dem Göttlichen darstellt, geht Chamberlain andere Wege und erhält einmal die Bestia miserrima (vgl. 4 mit der Ggb.-Angabe) ein anderes Mal den Künstler, Schöpfer, den Menschen in einem höheren Sinne (vgl. 3, ebenfalls mit der Bdv.und Ggb.-Angabe). Während letzterer zum einen aufgrund einer bestimmten "Gottesnähe" bzw. Gottähnlichkeit (PI 21) sowie zusätzlich aus seinem Staatsbewusstsein (PI 48) heraus zum 'wahren' Menschen erhoben wird, wird die erste Kategorie entmenschlicht und fällt ganz dem Tierischen anheim. Aus den Bemerkungen bezüglich des "wahren" Menschen (Bed. 2) wird dann ex negativo deutlich, dass der "tiergleiche" Typus für Chamberlain nicht wert ist, Mensch zu sein.
5. Die Essenz des Menschlichen Zu Chamberlains Kategorisierungskriterien, zu dem, was den Menschen im genannten Sinne "menschenwert" macht, gehören neben der Frage nach Tierheit oder Göttlichkeit immer wieder bestimmte Ordnungsprinzipien, wie z.B. die Staats- und Nationenbildung, vor allem aber das der Rasse. Dass er bei der Kategorisierung und Differenzierung gerne auf ganze Felder von Tiermetaphern zurückgreift, ist beim argumentativen Ziel der
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Polarisierung symptomatisch. So sind die Ameisen zwar diejenigen Tiere, die nicht nur von Chamberlain metaphorisch am meisten mit dem Prinzip der Organisation verbunden werden, da sie als besonders fleißige Staatenbildner bekannt sind, doch fehle ihren Staaten das göttliche Moment, was im Chamberlain'schen Duktus bedeutetet: Ameisen seien einfache Arbeiter ohne schöpferisches Element. Wenn Menschen also von ihm als Ameisen bezeichnet werden, so dient dies der doppelten Dehumanisierung: Zum einen werden sie durch die Metapher entmenschlicht, zum anderen aber auch entgöttlicht. Ihre Position im Linnéschen System mag im allgemeinen Sprachgebrauch wiederum unangetastet bleiben, in Chamberlains Semantisierungen jedenfalls erhalten Ameisen einen eigenen Stellenwert. Es ist hier nicht der Platz zu erörtern, was Chamberlain genau unter dem Wort Staat versteht, doch soll angedeutet werden, dass es ihm weniger um zufällig entstandene verfassungs- oder verwaltungsrechtlich zusammengefügte Einheiten geht, sondern eher um ein dem Chaos entgegenstehendes, von Bürgern aus moralischer und sittlicher Notwendigkeit geschaffenes, z. B. im Jahre 1871 durch Preußen vollendetes Prinzip (vgl. Gl 218; Kriegsaufsätze I / Weltstaat 37; Deutschland 92 u. ö.). Staatsfähigkeit als wichtiges Kriterium des Menschseins zeigt im Übrigen, dass Chamberlain keineswegs unpolitisch ist, auch wenn er in seinen Schriften nur selten offen politisiert. Sein Interesse an realen politischen Weichenstellungen und deren Motivation kann man an seinem Menschenbild ablesen und an den Vokabeln, mit denen er seine Typisierungen vornimmt. Ein weiteres, wesentlich entscheidenderes Kriterium für den eingeführten "Menschenwert" ist die Rasse. Sie wird entsprechend im eigenen Wortartikel diskutiert werden müssen. Wert, Mensch zu sein, sind jedenfalls in Chamberlains Auffassung nur diejenigen, deren Lebensenergie durch die "Rasse" gesteigert wurde, solche also, die dem Göttlichen entgegenstrebend eine wahre Verkörperung des Naturgedankens Mensch darstellen; explizit genannt werden von ihm "die Deutschen" (Wille/Deutschgedanke 7). Dies bedeutet nichts anderes, als dass der Deutsche derjenige Mensch ist, in dem Chamberlain die meisten göttlichen Elemente vorfindet. Dass diese starke Pointierung in einer Sakralisierung des Germanen bzw. des Ariers münden musste, und dass dabei der Hinweis nicht ausbleiben konnte, es gäbe einen Kampf, der um eine Welt ginge, um alles, was es uns wert macht, 'Mensch' zu sein (Kriegsaufsätze II / Dt. Friede 87), also Germane, Arier oder Deutscher, ist dann nur noch eine logische Konsequenz aus der Grundanlage seines Weltentwurfs, in dem alles Schöpferische und Künstlerische auf eine einzelne Menschengruppe konzentriert wird. Umgekehrt kann man sagen, dass das, was den "wahren" Menschen ausmacht (Bed. 2), also denjenigen, den Chamberlain nun mit dem neuen Ehrentitel Mensch stilisiert, nichts anderes ist, als seine
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Nähe zur Göttlichkeit. Diese Nähe kann an den idealistischen Tugenden Schöpferkraft (vgl. dazu GL 77: Homer ist vor allen anderen Dichtern göttlich), Schaffenskraft und Sittlichkeit abgelesen werden, aber eben auch daran, dass er ein vergesellschafteter Mensch ist, d. h. bei Chamberlain konkret: dass er eingebunden ist in ein über dem Einzelmenschen stehendes staatliches Netz. Alle drei Kriterien gehen also direkt ineinander über. Göttlichkeit, Staatsbildungskompetenz und Rasse. Ameisen können zwar organisieren, aber ohne göttlichen Funken, den Juden fehle es dagegen an allem. Sie stellen in diesem System den linken Rand hin zum menschlichen Tier dar. Anzumerken ist noch, dass er im Weltkrieg nichts anderes als den Streit der Germanen um das wahre Menschsein sieht und dass dieser zwischen den Engländern und den Deutschen ausgetragen wird1. Chamberlain beschwört dabei nicht nur immer wieder den Sieg der Deutschen, sondern er nimmt ihn sogar sprachlich vorweg, denn nach Ausbruch des 1. Weltkriegs bezieht er das Wort Germane nahezu ausschließlich auf Deutsche. Mit dieser Bedeutungsverengung geht auch sein Wunsch einher, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen (S. 11). Innerhalb dieser polarisierenden Menschenkonzeption lassen sich zusammenfassend folgende Aussagen herausarbeiten, die für die weitere Betrachtung bedeutsam werden: Der Mensch steht als Schöpfungsprodukt zwischen dem Schöpfer Gott und dem Geschöpf Tier (Bed. 1). Ist er selbst schöpferisch tätig, ist er Werkmann, dann steht er Gott näher und ist eine Art Mensch in einem höheren Sinne (Bed. 2). Dieses Menschsein in einem höheren Sinne wird zum Menschsein überhaupt deklariert und findet im Arier seine absolute Personifizierung. Die Zurückstufung des anderen Teils der Menschen verweist auf kulturbiologische Zusammenhänge, und zwar auf eine gezielt zu diesem Zweck manipulierte Evolutionstheorie Charles Darwins. In Anlehnung an Darwin wird die Evolution so mit der Religion harmonisiert, dass die Entwicklung des Menschen von tierischen Vorstufen hin zum Göttlichen verläuft, wobei die tierischen Wurzeln mit fortschreitender Entwicklung dem neu entstehenden Wesen gleichsam zum Opfer fallen. Nach dieser Prämisse bleibt derjenige Mensch, der nicht schaffend, nicht Schöpfer, sondern bloß Geschöpf ist, evolutionshistorisch zurück, bremst gar den Weg hin zum Göttlichen und wird zum Hindernis für Kultur und Entwicklung. Er verliert damit nicht nur – wie bereits gesagt – das Recht, Mensch zu sein, er wird zum Verhängnis des Menschen, geradezu zu seinem Feind. Und der Feind ist deontisch betrachtet zu bekämp_____________ 1
Vgl. dazu die Kriegsaufsätze, dort vor allem: "England" und "Deutschland als führender Weltstaat" usw.
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fen. Als Bremser und Zerstörer werden vor allem die Juden und die Semiten denunziert, und zwar in allen angesprochenen Bereichen, der Religion, der Staatsbildung und der Rasse. Umgekehrt heißt das, dass der kulturbiologisch am weitesten fortgeschrittene Mensch, der Arier-Germane, sakralisiert wird. Wieder deontisch betrachtet bedeutet dies, dass er zum Gegenstand eines "kulturbiologischen" Zucht- und Bildungsgedankens wird. Diese Argumentation führt schnurstracks wieder zur Rassetheorie, in der die Unwertseite von Juden, Semiten, Schwarzen und anderen nichtarischen Gruppierungen hervorgehoben wird. Chamberlains Menschenbild ist also prinzipiell bewertend, hierarchisierend und polarisierend, gesellschaftlich ausgrenzend und rassistisch. Es ist die Spiegelung seiner rassistischen Weltanschauung. Der Begriff 'Mensch' entspricht dabei in einem idealistischen (mittelalterlich: realistischen) Sinne einer Idee, die in den Einzeldingen der äußeren Wirklichkeit zu wirken scheint. Die Idee hat für Chamberlain mehr Realität als die Wirklichkeit selbst. Diese erscheint in Chamberlains Schrift nicht einmal am Rande.
6. Onomasiologische Vernetzung, Prädizierung und die Folgen Das onomasiologische Feld zeigt, worauf Chamberlain außerdem hinaus will. Er nennt die Abgrenzungen immer wieder. Während Genie, Persönlichkeit und Künstler innerhalb seiner Textualisierung bedeutungsverwandt sind, gelten Ameise, (menschliches) Tier, Kreatur, aber auch Gott als Gegensatz. Damit ist auch das Menschheitskollektiv gespalten. Menschwerdung und Menschsein werden in enge, geradezu diskriminierende Grenzen gesetzt. Die Diskriminierung verläuft in zwei Stufen, zunächst biologisch, dann sittlich wertend. Mensch und Gott 13: Die Gedankengestalt Mensch, die der hellenischen Kunst eine himmelstürmende Steigerung ins Erhabene verdankt, erleidet eine entsprechende Herabwertung ins Bestialische, sobald wir den Neger ihr einverleiben.
Auch wenn das Wort bestialisch zunächst sogar in einem biologischanthropologischen Sinne verstanden werden könnte, wird offensichtlich, welche subkutane Differenzierung hier vorgenommen wird. Die ausgesprochen positiv konnotierten Wörter himmelstürmend, Steigerung, Kunst und das Erhabene werden dem Bestialischen, verkörpert im Neger, gegenübergestellt. So erhält die scheinbar biologische Fachsprache sofort den Beiklang einer moralisch-sittlichen Bewertung. Kreatur und Bestia verlieren ihre fachsprachlich neutrale Sinnbeziehung durch die besondere Art der Kontextualisierung. Rassismus und Diskriminierung erhalten hier ihre Basis. Der Übergang zum offenen Rassismus wird fachsprachlich verbrämt. Biologi-
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sche Typisierung, das tägliche Brot der Pflanzen- bzw. Tierbestimmung, wird zum generalisierten Gradmesser des Menschseins und der Menschheit. Ähnliches gilt für Kreatur, das in diesem Kontext nicht auf die theologische Kreatürlichkeit, also das Von-Gott-Geschaffensein des Menschen, hinweist, sondern negativ konnotiert ist und den so Bezeichneten zum wertlosen, gerade nicht des Schöpfungspreises würdigen Wesen macht. Dieses Wesen, das aufgrund mangelnder Schöpfungsgabe oder Lebensenergie, wie Chamberlain es auch an anderer Stelle (Br I, 110) in Verbindung mit dem Wort Rasse nennt, kann im Extremfall Züge des Monströsen oder gar des Verbrecherischen aufweisen, wobei das Monströse das Bestialische impliziert, und zwar sowohl im Sinne von tierisch als auch im Sinn von bestialisch, also besonders gefährlich und brutal.1 Das Menschwerden bleibt keine rein biologische Angelegenheit mehr, sondern wird moralisiert, theologisiert und "politisiert", wenn man das Wort politisch überhaupt auf Vergesellschaftung und Staatenbildung im Sinne Chamberlains anwenden darf, denn er selbst vermeidet es (vgl. PI 21; 49). Was er nicht vermeidet, sondern ganz bewusst handlungslegitimierend einsetzt, ist die Inszenierung der von ihm vorgenommenen Ausgrenzungen als gottgewollt und naturnotwendig. Dies gilt umso mehr, als er ja auch schon den Staat als etwas Naturgegebenes und Menschheitskonstitutives konstruiert hat. Entsprechend ist die Charakterisierung des Menschen, wie Chamberlain ihn sich als Ideal vorstellt, ein vergöttlichter, geistinspirierter Künstler mit all den bereits genannten Attributen wie Rasse, Lebensenergie, Verstand, Kraft, Wille, Religion, Ideal usw. Da aber nicht jeder diesem Ideal in vollem Ausmaße entsprechen kann, müssen akzeptable Zwischenstadien konstruiert werden, zwischen dem Gottmensch-Künstler und dem Bereich des Tierischen. Das Zwischenstadium bildet der Durchschnittsmensch, der dabei tendenziell entweder als höherwertiges Tier oder als der natürliche Mensch, noch ohne Künstlertum zu sehen ist. Je nach Pegelausschlag ist jedoch typisierend die Zugehörigkeit zum generellen Menschentum bedroht, wobei eine so vorgenommene Vergöttlichung sicherlich als weniger problematisch anzusehen ist, als die gezielt eingesetzte systematische Enthumanisierung. Diese wird an den vorgenommenen Prädikationen erkennbar. So gibt es rassige und rasselose Menschen (Br II, 132ff.), d. h. vollendete, vollwertige, geniale, anständige, hoch- und reingesinnte (Zuversicht 6), edelgezüchtete (Gl 321) und deutsche (Wille 11) Menschen, vom Aussehen gross, blond und blauäugig (Gl 434) im Unterschied zu ideenideallosen (IuM 25), unidealen, unsentimentalischen, phantasielosen (Gl 210) Men_____________ 1
Dazu MuG 20: "Man versuche, sich die Gedanken des Königs Mohampatuah, am unteren Kongo, abends, nachdem er seinen Vetter eben verspeist hat, über diesen Gegenstand zu vergegenwärtigen und sie dann mit denen des Sokrates, kurz ehe er den Schierlingsbecher leerte zu vergleichen!"
99 Die onomasiologische Vernetzung
schen, solchen ohne Tradition, ohne einigende Sitten, ohne alle Aufopferungsfähigkeit (IuM 25), ohne Glauben, ohne Treue, ohne Kraft (PI 18), halbschlächtig (Gl 353), losgerissen (Gl 371), syrisch-kleinasiatisch (Gl 424), eben oder immer wieder formelhaft: die Menschen des Völkerchaos (Gl 684; 755 u. ö.). Chamberlains wichtigstes Determinierungskriterium ist die Typenbildung durch eine irgendwie geartete nationale Einstellung, die in zeitgenössisch typischer Polysemie zwischen Staatsnationalität und Rassennationalität schwankt. Dies spiegelt sich in den Adjektiven, die rassen- und nationalitätspräsupponierend fungieren: positiv in Bed. 3: deutsch, arisch; negativ in Bed. 4: jüdisch. Außerhalb der positiv bewerteten Identifikation dient jede Bewertung automatisch zur absoluten Abwertung, deren semantische Gemeinsamkeit in der Feststellung prinzipieller charakterlicher, moralischer oder sittlicher Defizienz besteht, die aus dem Chaos kommend letztlich im Chaos münden muss. IuM 25: ein wilder Kampf millionenfacher Egoismen unwissender, ideen- und idealloser Menschen ohne Tradition, ohne einigende Sitten, ohne alle Aufopferungsfähigkeit, ein atomistisches Chaos, dem keine wahre Nationalkraft zukommt.
Merkmale, die vom Idealtypus abgrenzen, wie ideenlos, ideallos, aber auch sittenlos und im weitesten Sinne auch atomistisch sind Kennzeichen der Unordnung und des Chaos. Nation und Chaos sind in Chamberlains Argumentation die äußeren Orientierungspunkte einer menschenbildprägenden Dichotomie, Leitvokabeln der Unterscheidung von gut und böse. Denn das Wort Chaos ist im Konnotationskontext Chamberlains prinzipiell als 'Völkerchaos' zu bestimmen und ist mit Rasselosigkeit und Zersetzung zu parallelisieren, denen die Nation als das Ordnungssystem par excellence gegenüberzustellen ist. Die nationale Bindung gilt besonders für diejenige Nation, die in seinem germanophilen Weltbildkonstrukt historisch am wenigsten vom Chaos betroffen war bzw., was wohl noch bedeutsamer ist, in der Gegenwart gerade erst zur Nationalstaatsbildung und damit zur bewussten Nationalidentifikation gekommen ist. Diese mystifiziert er. BR II, 79: Den Glauben an die besonderen Fähigkeiten und damit auch an die besondere Bestimmung des deutschen Menschen verliere ich nicht, bildet er doch einen Bestandteil meines Gottesglaubens.
In einem sehr allgemeinen, aber handlungsbezogen übergeordneten Sinne geht es beim Kriterium 'national' immer um eine Sortierung in rassisch determinierte Ingroups und Außenseiter, in das national Eigene und das national Fremde, wobei 'national' keine politische, sondern eine rassische Kategorie bildet. Die nationale Determinierung ist einer der Orte, von dem aus die herkömmlichen Kategorienbildungen neu semantisiert werden, da sie zwar auf politische Bezugsgrößen verweist, aber auf rassischen
100 Das Menschenbild von Houston Stewart Chamberlain
Gesichtspunkten basiert. Chamberlain bewahrt prinzipiell seinen biologisch-universalistischen Rahmen, der u. a. mit den Adjektiven aus dem Wortbildungsfeld rasse- angedeutet wird. Alle charakterlich-moralischsittlichen Bewertungen argumentieren immer auf dem Bewertungshintergrund der Rasse bzw. des sich dahinter manifestierenden nationalen Kollektivs, auch wenn es sich um soziale und historische Kategorien handelt, die mit den Adjektiven anständig, friedfertig, reingesinnt, wacker und genial umgrenzt werden können. Entsprechend ist die rassische Determinierung das Leitmaß für alle Typisierungen. GL 321: und ist nun dieser edelgezüchtete Mensch zufällig ungewöhnlich begabt, so stärkt und hebt ihn die Rassenangehörigkeit von allen Seiten, und er wird ein die gesamte Menschheit überragendes Genie, nicht weil er wie ein flammendes Meteor durch eine Laune der Natur auf die Erde herabgeworfen wurde, sondern weil er wie ein aus tausend und abertausend Wurzeln genährter Baum stark, schlank und gerade zum Himmel emporwächst - kein vereinzeltes Individuum, sondern die lebendige Summe ungezählter, gleichgerichteter Seelen.
Für ihn kann ein anständiger Mensch eben nur ein edelgezüchteter Mensch sein, damit jemand, der in seinen Augen selbstverständlich nicht zur "semitischen Rasse" zugeordnet werden kann. Semitische "Rasse" und menschliche Moral werden als sich ausschließend konstruiert. Was für Moral gesagt wurde, gilt auch für Sittlichkeit und Kultur. Dem nationalbiologischen Prägemuster werden immer wieder bildungschauvinistische und sitten-moralische hinzugefügt. Eines der am häufigsten vorkommenden Wortbildungsfelder in diesem Zusammenhang wird durch Genie oder genial bestimmt. Schon daran kann man Chamberlains bildungsbürgerliche, dem deutschen Idealismus verbundene Grundeinstellung festmachen. 'Genie' oder 'Persönlichkeit' als Typisierungsmerkmale des "wahren" Menschen werden damit auch zum Marker der Rassezugehörigkeit (s. o. Beleg Gl 321). Betrachtet man das onomasiologische Feld zum Adjektiv, das bei Chamberlain sichtbar wird, nämlich verehrungswürdig, bedeutend, begabt, denkend, ideal befähigt, vollendet, vollwertig, so wird deutlich, dass die dazu aufgebauten Gegensätze ideallos, ohne Schöpferkraft, keiner Erkenntnis fähig usw. nicht nur kompetenzabsprechend, sondern auch moralisch abwertend sind, was dann in Aussagen über die Franzosen münden kann, die als moralisch minderwertig2 präsupponiert werden. Die Stigmatisierung, die bislang vermittels fixierender Zuschreibung innerer Defizite auf bestimmte Menschentypen vorgenommen wurde, wird zur absoluten Ausgrenzung, wenn man das Prinzip 'Rasse' als Voraussetzung von innerer und äußerer Schönheit annimmt, dieses dann nicht nur an Eigenschaften und Handlungen des Menschen erkennbar macht, _____________ 2
Vgl. PI 38.
101 Die onomasiologische Vernetzung
sondern es auf das äußerliche Erscheinungsbild ausweitet. Die Typisierung wird somit allumfassend und dient der absoluten Identifizierbarkeit. Tatsächlich wird die Physiognomie von Menschentypen (in den Grundlagen sogar bildlich) dazu herangezogen, nicht nur Rassenunterschiede durch craniometrische Schädelabbildungen darzustellen, sondern Chamberlain behauptet in einigen Belegen sogar explizit, dass man anhand der Gestaltwahrnehmung bereits Zuordnungen zu "guten" oder "schlechten" Menschen treffen kann.3 GL 580:4 Denn das Entscheidende ist hier, dass wir dieses dunkle Haar gerade bei Menschen finden, deren unverfälschtes Germanentum nicht allein in meinem weiteren, sondern in dem engeren taciteischen Sinne des Wortes verbürgt ist und deren ganzes Äusseres und inneres Wesen es ausserdem erweist. Doch, sobald man sich weiter umschaut, wird man genau diesen selben Menschentypus – hochgewachsen, schlank, dolichocephal, Moltkephysiognomie, dazu ein "germanisches Innere" – an den Südabhängen der Seealpen z. B. antreffen.
Das Innerste jedes Menschentypus spiegelt sich in dieser Ideologie im Äußeren.5 Man kann sofort erkennen, so die rassenideologische Aussage, zu welcher Rasse ein einzelner Mensch gehört. Schon allein die nachfolgende Gestaltbeschreibung verrät, dass der Amoriter in den Grundlagen von Chamberlain zu den Guten gezählt wird. GL 434: Diese Amoriter waren grosse, blonde, blauäugige Menschen von lichter Hautfarbe; sie waren "aus dem Norden", d. h. aus Europa, eingedrungen, die Ägypter nannten sie daher Tamehu, "das Volk der Nordländer".
Sortiert wird der Mensch insgesamt nach einem System, das nicht immer schon auf den ersten Blick menschenverachtend erscheint, aber bei genauerer Betrachtung der präsupponierten und insgesamt vorgenommenen Wertkontextualisierungen stark handlungsauffordernde Komponenten hat. Betrachtet man das Beispiel des Amoriters genauer, so wird einerseits die Wertvernetzung deutlich, andererseits aber auch, dass diese selbst wiederum in einem anderen Netz zu verorten bzw. immer mit einem anderen verknüpft ist.
_____________ 3
4 5
Dies hat seit Lavaters Physiognomie Tradition und wurde u. a. zur Verbrechensbekämpfung im 19. Jahrhundert in Italien herangezogen (vgl. Lombroso, den auch Chamberlain kannte; Gl 407). Vgl. dazu auch Br I, 9f.; Gl 449 usf. Mosse berichtet von einem Portraitmaler namens Burger-Villingen, der, so Mosse (1991, 106), "1912 die Richtigkeit von Chamberlains Behauptung zu beweisen suchte, dass die Physiognomie eines Menschen sein innerstes Wesen zeige. Burger-Villingen konstruierte ein Instrument, Plastometer genannt, das die Beschaffenheit eines menschlichen Gesichts messen und somit Aufschlüsse über den Typus der Seele geben sollte. Danach waren z. B. eine vorstehende Stirn und ein fliehendes Kinn Indikatoren für eine oberflächliche Intelligenz und einen Mangel an Kreativität."
102 Das Menschenbild von Houston Stewart Chamberlain
GL 449: Homo europaeus: Dagegen scheint in jenen Amoritern, "hoch wie die Cedern und stark wie die Eichen" (Amos II, 9), mit ihren kecken Herausforderungen, ihrer unbändigen Abenteuerlust, ihrer wahnwitzigen Treue bis in den Tod gegen fremde, selbstgewählte Herren, ihren felsendicken Stadtmauern, aus denen sie so gern in die Berge hinausschweiften, in jenen Amoritern scheint mir das Überschwängliche recht sehr daheim. Ein wildes, grausames Überschwängliche war es noch, doch zu allem Höchsten fähig. Man glaubt ein anderes Wesen zu sehen, wenn man auf den ägyptischen Monumenten unter der Unzahl Physiognomien plötzlich dieses freimütige, charakterstarke, Intelligenz atmende Antlitz erblickt. Wie das Auge des Genies inmitten des gewöhnlichen Menschenhaufens, so muten uns diese Züge an unter der Menge der schlauen und schlechten und blöden und bösen Gesichter, unter diesem ganzen Gesindel von Babyloniern und Hebräern und Hethitern und Nubiern und wie sie alle heissen mögen. O Homo europaeus! wie konntest du dich in diese Gesellschaft verirren? Ja, wie ein Auge, geöffnet in ein göttliches Jenseits, mutest du mich an. Und ich möchte dir zurufen: folge nicht dem Rat der gelehrten Anthropologen, geh nicht auf in jenem Haufen, vermenge dich nicht mit jener asiatischen Plebs, gehorche dem grossen Dichter deiner Rasse, bleib dir selber treu... Doch ich komme drei Jahrtausende zu spät. Der Hethiter blieb, der Amoriter schwand.
Das Wertvolle wird immer als bedroht dargestellt, bedroht vom tückischen Hinterhalt des Bösen, das hier als Fratze geschildert wurde, ob in der Antike oder noch zu Chamberlains Zeiten. Zuversicht 5: In allen bösen Händeln befindet sich der anständige Mensch zunächst im Nachteil, und hier ward der Deutsche die Beute der abgefeimtesten, ruchlosesten Tücke
Schwarz-Weiß-Malerei geht eng einher mit der Errichtung einer Drohkulisse, die den Guten zu vernichten droht. Chamberlains Typenbildung zielt letztlich auf die Erkennung von Freund und Feind, im präsupponierten Kampf des Guten gegen das Böse, ein Kampf, der nicht erst jetzt zu führen ist, sondern als Lebenskampf von Rassen mystifiziert wird.
7. Zusammenfassung und Weiterungen Bei der Durchsicht aller Belege kann nicht übersehen werden, dass Chamberlains Mensch keine Frau ist. Im Wortartikel Mensch spiegelt sich ein maskulin orientiertes Menschenbild. Nicht einmal in den Kontexten, in denen es um Rasse und Rassezüchtung geht, spielen Frauen eine auch nur annäherungsweise konstitutive Rolle. Soziale Unterschiede scheinen ebenfalls irgendwie ausgeblendet. Chamberlain kümmert sich nicht um seine Zeitgenossen. Dass Menschen hungern, frieren oder existentielle Nöte haben können, wird von ihm nicht wahrgenommen, zumindest nicht thematisiert. Sein "Mensch" basiert nicht auf realen, individuell oder soziologisch greifbaren Vorbildern, entspricht eher einer bildungsbürgerlich geprägten Abstraktion von Wirklichkeit, die vermittels einer propositiona-
103 Zusammenfassung
len Reduktion auf einfache Bilder konzipiert ist. Chamberlain blendet die gesellschaftliche Komplexität weitestgehend aus. Der Grund dafür liegt auf der Hand. Seine Utopie kann so kaum auf logische oder argumentative Widerstände stoßen. Das Chamberlain'sche Menschenbild ist in einem lebensfremden abstrakten Raum zu verorten. Er entindividualisiert und kollektiviert, bezieht jedes, auch jedes originelle, von der Norm abweichende Verhalten, auf das eigene, auf Rasse aufgebaute Schema, das alle Nuancen der SchwarzWeiß-Kategorisierung bedient. Es ist eine einfache Welt, die Chamberlain errichtet, eine Welt, in der jeder sofort erkennen kann, wen er vor sich hat, wen heißt hier nicht eine Person als Individuum, sondern meint den Vertreter einer Art. Aus der Identifikation kann er auf Charakter und Wert dieses Menschen schließen. Diese umfassende Artunterscheidung geht bis hin zur Entmenschlichung, und zwar genau in dem Maße, in dem bestimmte Menschen aus seinem Sortierungsraster herausfallen. Als Linné im Jahre 1758 seine Systema naturae schrieb, gliederte er das Tier- und Pflanzenreich binär, in klar voneinander getrennte und durch präzise Definitionen gekennzeichnete Arten (Spezies), die er dann in bestimmte Gattungen, Familien und Ordnungen zusammenfasste. In diesem System war auch der Mensch, der Homo sapiens, eine klar umrissene Art, die allerdings schon damals in Konkurrenz zum Affen stand, denn auch dieser wurde von Linné als Homo, nämlich homo troglodytes, bezeichnet. Dennoch wären Linné keine ernsthaften Zweifel an der Abgrenzbarkeit des Menschen von den Tieren gekommen und schon gar nicht von einem irgendwie verstandenen christlichen Gott. In Linnés Schema befand sich der Mensch als Teil der Natur immer auf gleicher Stufe mit sich selbst. Bei Chamberlain ist diese traditionelle Dreiergliederung, bei der der Mensch zwischen Tier und Gott anzusiedeln ist, dort zwar die Krönung der Schöpfung darstellt und über die Tier herrschen soll, aber im selben Abstand wie die Tiere zu ihm auch zu seinem Schöpfer steht, aufgehoben. Aus den drei im System miteinander harmonierenden Einheiten werden in Chamberlains Menschenbild nunmehr vier oder fünf, je nach Zählung, da sich nun Zwitterwesen dazwischen bilden, deren Pseudo-Existenz ausschließlich auf der Ebene der sprachlichen Konstruktion greifbar wird. Zählt man ein Vierersystem, so besteht es aus den Größen Gott, wahrer Mensch (Bed. 2; 3), Mensch (neutral; Bedeutung 1), Tier. Zählt man fünf, so gehörten dazu Gott, göttlicher Mensch, Mensch, menschliches Tier (Bedeutung 4), Tier. Der Mensch jedenfalls teilt sich auf in ein Zwitterwesen, in dem er mal mehr oder weniger Mensch ist, aber nicht mehr einfach nur Mensch. Wollte man das semantisch Analysierte in ein Schaubild bringen, so würde dies ungefähr folgende Form haben. Auf einer Skala von links nach rechts könnte man den Grad an "Menschlichkeit" im
104 Das Menschenbild von Houston Stewart Chamberlain
Chamberlain'schen Sinne ablesen. Dass er sich wohl selbst an die rechte Ecke des Schaubilds setzen würde, braucht nicht explizit erwähnt zu werden. Menschentypen:
Gott / Staat / Natur / Rasse bilden / machen:
'Gottmensch'
Mensch 2: Künstler 1, Arier, Schöpfer, Werkmann, Genie 2, Persönlichkeit 2, Individuum 2
Mensch 1 'Gottheit'
'Tierheit'
Mensch 3: Retter / Germane / Indogermane / Arier
‚Tierheit' Mensch 4: Bestia miserrima menschliches Tier Ameise ohne Nest Mensch des Völkerchaos Bastard Mongole Jude / Semit
Der neue Mensch
V. Die Wortbildungen mit Mensch bei Houston Stewart Chamberlain Im Anschluss an die lexikographische Textanalyse zum Simplex Mensch bietet es sich an, die zugehörigen Wortbildungen zu untersuchen. Dabei zeigt sich, dass und wie sich Chamberlains Menschenbildkonstruktion wortbildungsdeterminierend ausgewirkt hat. A allmenschlich, s. PI 51 außermenschlich, Adj., s. GL 310; 954; (14. Aufl.) 1108 B Bruchstückmenschen, s. MuG 35 D Durchschnittsmensch, s. Br I, 161 (27); PI 21 E Einzelmensch, s. BR I, 132-141 (49); PI 48; 52; entmenscht, s. Kriegsaufsätze I / Deutschland 68 G Gewaltmensch, s. Br I, 124f.; England 62 Gottmensch, s. AW 85 (18); Br 132ff.; GL 661 H Herrenmensch, s. Wille / Das eine und das andere Deutschland 32f. Herzmenschen, s. BR 65-67 (1) Höhenmenschen, s. Lebenswege 187
I Idealmensch, s. PI 52 K Kraftmensch, s. Kriegsaufsätze I / England 46 M Menschenadel, s. GL 685 Menschenagglomerate, s. GL 351 Menschenantlitz, s. GL 594 Menschenart, s. AW 39; BR I, 110 (25; 26); 115f.; 193; Kriegsaufsätze I / England 46; Wille 15; GL 9; 10; 239; 554; 584; 826; 837; 865 Menschenauswurf, s. Gl 1055 Menschenbabel, s. GL 813 Menschenbrust, s. AW 61 (12) Menschenchaos, s. GL 9; 641 Menschenerfindung, s. PI 11f. menschenerhebend, s. Kriegsaufsätze I / Freiheit 15 menschenerschaffen, s. GL (10. Aufl.) 69 Menschenfamilie, s. GL 597 Menschenfleiß, s. Kriegsaufsätze II / Dt. Friede 91 Menschenfreiheit, s. GL 218 Menschenfresser, s. GL 143
106 Die Wortbildungen mit Mensch von Houston Stewart Chamberlain
Menschengeist, s. Br I, 33-34; 115117; 132-141; 168-188; Kriegsaufsätze I / Deutschland 79; PI 11; 48; GL 26; 60; 70; 135; 700 Menschengemüt, s. PI 52 Menschengeschichte, s. GL 337; 344 Menschengeschlecht, s. AW 45 (10); Br 68-73 (45); PI 19 (121); 51 (135); Kriegsaufsätze I / Dt. Sprache 33; GL (10. Aufl.) 39; 69; 242; 315; 333; 344; 348; 351; 366; 370 Menschengestalt, s. GL 661 Menschengröße, s. AW 12f. (4) Menschengruppe, s. Wille / Deutschgedanke 5; GL 10. Aufl. 997 Menschenhaufen, s. GL 362; 378; 449 Menschenherz(en), s. Br I, 162; GL 471; 771 Menschenhirn, s. Kriegsaufsätze II / Friede 95; PI 48; GL 471 Menschenideal, s. Deutschland 91 Menschenkenntnis, s. AW 61 (14) Menschenknechtung, s. Wille / Vaterlands=Partei 36f. Menschenkraft, s. Kriegsaufsätze II / Dt. Friede 102; GL 226 Menschenleben, s. AW 88f. (19) Menschenmaterial, s. GL 6; 7; 328 Menschenmengen, s. IM 25 menschenmöglich, s. Kriegsaufsätze I / Dt. Sprache 24 Menschennatur, s. Zuversicht 5; Kriegsaufsätze I / Dt. Friede 96; GL 232 Menschenopfer, s. GL 164 Menschenrasse, s. GL 141 Anm.; 201 Anm.; 229; 260; 313; 340; 361; 574; 585; 597 u.ö.
Menschenrechte, s. Kriegsaufsätze II / Grundstimmungen 29; Kriegsaufsätze II / Dt. Friede 96; GL 859 Menschenrechtler, s. Br 132-141; Kriegsaufsätze II / Grundstimmungen 29 Menschenscharfsinn, s. Kriegsaufsätze II / Dt. Friede 91f. Menschenschlächter, s. GL 172 Menschenschlag, s. AW 26 (6) Menschenseele, s. Kriegsaufsätze I / Dt. Freiheit 15; IM 35; Dt. Friede 100; Wille 16; MuG 35 Menschenstaat, s. PI 48; Menschenstamm, s. GL 771; AW 81 (16); Wille / Deutschgedanke 5 Menschentum, s. BR I, 33f. (38); Kriegsaufsätze I / England 64 (79); PI 48; GL 836/844 Menschentypen / Menschentypus, s. GL 412; 413; 421; 423; 424; 426; 577; 580; 632 Menschenüberfluss, s. GL 414 Menschenunterart, s. GL 342 Menschenunwert, s. Kriegsaufsätze I / Deutschland 75 Menschenverschwendung, s. Kriegsaufsätze I / Weltstaat 37 Menschenverstand, s. Kriegsaufsätze I / Deutschland 79; GL 320 Menschenvieh, s. Kriegsaufsätze II / Wer hat den Krieg verschuldet 46; GL 143 Menschenvollblut, s. GL 347 Menschenwellen, s. GL 585 Menschenwert, s. Kriegsaufsätze I / Deutschland 75 Menschenwesen, s. Kriegsaufsätze II / Dt. Friede 91f.
107 Die Wortbildungen mit Mensch bei Houston Stewart Chamberlain
Menschenwille, s. Kriegsaufsätze II / Wer hat den Krieg verschuldet 85 Menschenwürde, s. Zuversicht 11; England 48; PI 24 u. ö.; GL 218 menschenwürdig, s. Br 248-251; Kriegsaufsätze I / Deutschland 82; Dt. Freiheit 15; GL 10. Aufl. 153; 14. Aufl. 141; 10. Aufl. 339/311 Menschenzüchtungen, s. GL 337 menschgeworden, s. GL 661 Menschheit, s. AW 88f.; Br 9-34; 77; 248-251; II 10; 168-188 u.ö.; GL 6; 7; 10; 17; 26; 27; 37; 60; 92; 135; 141; 162; 163; 165; 223; 244 u. ö Menschheitsforderungen, s. PI 51 Menschheitsideal, s. Kriegsaufsätze II / Dt. Friede 91f.; IM 35 Menschheitsmorgen, s. GL 551 Menschheitsphrasen, s. GL 172 Menschheitsrechtler, s. GL 547 Menschheitsreligion, s. GL 172 Menschheitsschwärmereien, s. Br 132-141 menschlich, Adj. , s. GL u. ö. Menschliche, das, s. GL 321 u. ö. Menschlichkeit, s. Krieg 54; Zuversicht 14 Menschsein, s. AW 86; Br I, 64f. Menschtum, s. Menschentum Menschwerden, das, s. GL 58; 60; 135; 368 Menschwerdung, s. GL 661
N Naturmensch, s. Br I, 32 (20; 21); Gl 190 R Rechtsmensch, s. GL 190 reinmenschlich, s. AW 86; Br I, 304 U Übermensch, s. GL 555 Übermenschentum, s. Kant 99 übermenschlich, s. IM 8; GL 18; 472; 473; 476; 489; 813; 489; 14. Aufl. xix; 1055; 1108 Übermenschliche, der, s. Br II, 171 Unmensch, s. Kriegsaufsätze I / England 64 Urmensch, s. GL 554 (Fußnote: Buchtitel) V vermenschlichen, s. Kriegsaufsätze II / Dt. Friede 98
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Neben dem Simplex Mensch erscheint die Derivation Menschheit am häufigsten. Etwas seltener, aber dennoch auffallend zahlreich, sind die Komposita Menschenart (ca. 44), Menschengeschlecht (ca. 42), Menschenrasse (ca. 31) und Menschentyp (ca. 24). Der gemeinsame semantische Inhaltsteil der Grundwörter betrifft eine Gliederung, die in entsprechender Weise in der Fachsprache der Biologie1 begegnet. Allein die Tatsache, dass Chamberlain ausgerechnet diese Bildungen in relativ hoher Frequenz verwendet, und zwar in der Regel im Plural, weist auf sein eigentliches Anliegen, nämlich die Gliederung der Ganzheit 'Mensch' in verschiedene Einheiten und Untereinheiten; dabei muss er notwendigerweise formale, aber auch qualitative Unterscheidungen vornehmen. Diese Unterscheidungen und die dazugehörigen Unterscheidungskriterien lassen sich anhand des Wortbildungsvorkommens nachzeichnen. Chamberlain nutzt systematisch alle Wortbildungstypen. Formal könnte man sie also folgendermaßen ordnen: 1. Komposition: a. Mensch als Grundwort: Bruchstückmensch, Durchschnittsmensch, Einzelmensch, Gewaltmensch, Gottmensch, Herrenmensch, Herzmensch, Höhenmensch, Idealmensch, Kraftmensch, Naturmensch, Rechtsmensch. b. Mensch als Bestimmungswort: Menschenagglomerat, Menschenauswurf bis Menschwerdung; adj. menschgeworden usw. 2. Derivation (mittels Affixen und Affixoiden): a. Substantivisch: Übermensch, Unmensch, Urmensch b. Adjektiv: menschlich i. in der Komposition: außermenschlich, reinmenschlich, übermenschlich ii. mit Affixoid: allmenschlich iii. in der Verbableitung: vermenschlichen iv. Konversion: Subst.: das Menschliche Eine formale Ordnung hat nur sprachsystematisch etwas auszusagen, wichtiger als diese ist eine Ordnung nach semantischen und onomasiologischen Kriterien. Es ist auffällig, dass bestimmte Wortschatzbereiche häufiger in Beziehung zueinander gesetzt werden als andere, dass der Mensch in seiner sittlich-moralischen Bewertung, seiner biologischen Zugehörigkeit und seiner Massenhaftigkeit mehr im Vordergrund steht als in seiner Einzelwesenexistenz, seiner Freiheitssuche oder seiner Fähigkeit, andere Menschen zu tolerieren. Bei all seinen Bestimmungen, die Chamberlain mit diesen Wortbildungen vornimmt, – und Bezeichnungsakte sind handlungstheoretisch _____________ 1
Dies ergibt der Vergleich mit zeitgenössischen biologischen Fachlexika.
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Akte der Ordnungsherstellung und Sortierung –, damit auch der Prädizierung und der Bewertung, lässt er kaum Spielraum für Zwischentöne. Die von ihm semantisierte Wortbildung kennzeichnet etwas als entweder gut oder böse, wertvoll oder wertlos. Entsprechend überwiegen Determinativkomposita, die schlagwortartig nicht nur die Menschen einteilen, sondern auch eine klares Programm der Welteinteilung, der Weltanschauung, darstellen. Ordnung nach Themengruppen und den damit verbundenen Wertungen: (1) Mensch als eine Größe, die ein Grundwort näher bestimmt, das eine Quantität bezeichnet. Durch ein quantifizierendes Grundwort wird der Mensch assoziativ mit Chaos, Ungeordnetheit und Unkontrollierbarkeit in Verbindung gebracht. Im Hintergrund schimmert die Drohkulisse des Leviathan durch, des in der amorphen Masse stehenden, durch Quantität anonymen, metaphorisch einem sozialen Ungewitter verwandten Massenmenschen, den das konservative Bürgertum wie nichts in der Welt fürchtete: Menschenchaos, Menschenagglomerat, Menschenhaufen, Menschenmaterial, Menschenüberfluss, Menschenwellen, Menschenvieh; Menschenbabel. Diese Komposita könnten im Artikel an die Bedeutung 1 und 4 von Mensch angeschlossen werden. Sie tragen aber eine Konnotation mit sich, die tatsächlich erst mit den Komposita explizit zum Ausdruck kommt, die Negativbewertung des Menschen als Masse. In keiner Simplexbedeutung ist dieser Aspekt des Menschseins von so großem Gewicht, dass er semantisch produktiv ist. Die genannten Determinativkomposita haben alle Schlagwortcharakter.2 Sie helfen, eine Drohkulisse zu errichten, deren realer Kulminationspunkt für viele Zeitgenossen in den Revolutionsunruhen der Zeit nach 1918 sichtbar geworden ist. Das Gespenst der Masse, das in den Grundlagen beschworen wird, schürt die Angst bereits lange vor der Revolution. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die Bildung Menschenvieh, die direkt dehumanisierend gebraucht wird. Das Vieh, das in der Herde zahlreicher Artgenossen grasend und wiederkäuend sein Dasein fristet, im Beleg deutlich als unwissend und willenlos beschimpft,3 wird zum Ausdruck einer manipulierbaren Masse, die man je nach Belieben zu allen möglichen Zwecken gebrauchen kann. (2) Mensch als bereits bestimmte, nämlich klassifizierte und bewertete Größe (anschließbar an Bedeutung 2 und 3 von Mensch). Hierbei fällt in erster Linie auf, dass die meisten Bildungen klar nach _____________ 2 3
Vgl. dazu Pavlov 1983; Solms 1999, 225-246; Lobenstein-Reichmann 2004, 69-97. Chamberlain, Kriegsaufsätze, Wer hat den Krieg verschuldet 46.
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Die Wortbildungen mit Mensch bei Houston Stewart Chamberlain
'Schwarz und Weiß' einzuordnen sind, insofern auf unserem Schaubild oben gut skaliert werden könnten. Die als positiv beschriebenen Wortbildungen können als bedeutungsverwandt zum neuen Menschen angesehen werden, entweder als sein direktes Vorbild (Höhenmensch) oder als sein Idealtypus: positiv: Gottmensch, Herrenmensch, Herzmensch, Höhenmensch, Idealmensch, Kraftmensch, Naturmensch, Übermensch4. negativ: Durchschnittsmensch, Rechtsmensch, Unmensch. neutral: Urmensch (Buchtitel). (3) Der Mensch in seiner Erscheinungsform (anschließbar an 1 und 2; als Grenzverschiebungstropen). Auffallend ist, dass der menschliche Körper kaum Erwähnung findet, obwohl in Menschenantlitz und Menschengestalt äußerliche Merkmale durchaus angesprochen werden, doch die meisten körperbezogenen Grundwörter wie z. B. -brust und -hirn stehen in einem metaphorischen Übergang zu inneren bzw. geistigen Inhalten; vgl.: körperlich: Menschenantlitz, Menschenbrust, Menschengestalt, Menschenhirn. charakterlich/innerlich: Menschengeist, Menschengemüt, Menschenherz, Menschenscharfsinn, Menschenseele, Menschenkenntnis, Menschenverstand. (4) Der Mensch im Spannungsfeld von Individuum und Kollektiv. Auch dieses spiegelt sich in den Wortbildungen wider. Die Kollektivierung wird durch die Bezeichnung der Menschenkollektive konstruiert. Das zugehörige Grundwort bildet die Gruppe, zu der man gehören kann oder nicht, es mauert die Inklusion bzw. die Exklusion fest, die mit dem dazu gehörigen Referenzbereich vorgenommen wurde. Menschenfamilie zum Beispiel bezieht sich gerade nicht auf ein humanistisches menschfreundliches Beziehungsgefüge aller Menschen untereinander, sondern beschränkt sich in der von Chamberlain vorgenommenen Kontextualisierung auf unterstellte genetische Gruppierungen des Ariers. Es kann daher auch als partielles Synonym zu Rasse angesehen werden. Gemeint sind hier: durch Gliederungsbeziehung bzw. durch ein bestimmtes, sich aufgrund konkreter Maßgaben differenzierendes, die Dazugehörenden inkludierendes, andere hingegen exklu_____________ 4
Vgl. auch: Br I, 68 "daß Sie im ganzen Nietzsche nicht einen Satz, nicht ein Fragment eines Satzes, geschweige denn einen Gedanken oder irgendeine einzige konstruktive Idee finden, dessen Autor nicht nachgewiesen werden kann: Wagner, Plato, Simonides, Schopenhauer, Goethe (der "Übermensch" ist aus Faust, die "Blonde Bestie" ist eine Verballhornung des Satyros oder der vergötterte Waldteufel usw.) usw."
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dierendes Kollektive: Menschengeschlecht, Menschenfamilie, Menschenrasse, Menschenstaat, Menschenstamm, Menschenart, Menschenschlag, Menschentyp(us), Menschenunterart. Individuen: Einzelmensch. In einer Reihe von Wortbildungen wird der Bewertungsgesichtspunkt expliziert: In den Grundwörtern -wert bzw. -unwert. Es handelt sich hierbei um Abstraktionen über ein Adjektiv, dessen Inhalt rein evaluativer Art ist: Menschenwert, Menschenunwert. Kulturelle Barbarismen polemisch aufgreifend: Menschenfresser, Menschenopfer, Menschenschlächter (alle drei Komposita sind bezogen auf Afrika, bei Menschenfresser sind die Araber Afrikas gemeint, bei den beiden anderen geht es um die Karthager). Auch wenn aufklärerisches Gedankengut nicht per se negativ konnotiert ist, so wird der dazugehörige Wortschatz dennoch häufig stigmatisierend gebraucht. Der Leser dieser Schriften weiß das. Ausdrücke wie Menschenfreiheit, Menschenrechte, Menschenwürde gehören zu den negativen Signalwörtern des Anti-Liberalismusdiskurses und sind entsprechend Stigmawörter im Sinne von F. Hermanns.5 Sie werden als Feindbilder der eigenen national orientierten Wertbegriffe betrachtet. Diffamierung von Menschen durch das Suffix -ler (Menschenrechtler), damit gleichtzeitig auch rückwirkend eine Diffamierung der mit den genannten Wörtern gemeinten und positiv erachteten Gegebenheiten (z.B. Menschenrecht). Bezeichnung der Art, wie man Menschen nicht behandeln sollte: Menschenknechtung. Abstrakte Bezeichnung der dem Menschen als individualisierter Gattung zugesprochenen Eigenschaften: Menschennatur, Menschenwesen, Menschentum, vielleicht auch: Menschengeschichte. Negativbeschreibungen von Handlungen, die nur Menschen ausüben können: Menschenschwärmereien Ausdruck von Existenzqualitäten: Bezeichnung desjenigen, was den Menschen zum Menschen macht: allgemein: Menschentum
_____________ 5 Vgl. dazu: Herrmanns, Schlüssel-, Schlag- und Fahnenwörter 1994.
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Die Wortbildungen mit Mensch bei Houston Stewart Chamberlain
positiv: Menschengröße, Menschenkraft (im Unterschied zur Gotteskraft) (9) Ausdruck rassischer Biologisierung: Menschenvollblut, Menschenzüchtung. (10) Sprachliche Materialisierung des Menschen: Menschenmaterial, Menschenverschwendung. (11) Gesamtheit aller Menschen umfassend: Menschentum, Menschheit Bei zwei Wortbildungen findet eine Entbiologisierung und damit Pseudokultivierung des Menschen durch das Grundwort statt. Beide Bildungen sind theologisch motiviert. Sie suggerieren eine weltimmanente Entwicklung zu einem besonderen, sich kategoriell vom rein biologischen Menschen unterscheidenen Wesen hin: Menschwerden, Menschwerdung. Gl 60: Künstlerisch zu empfinden, künstlerisch zu denken bezeichnet also einen besonderen Zustand des Menschen überhaupt; es ist eine Stimmung, oder vielmehr eine Gesinnung.... noch besser vielleicht ein latenter Kraftvorrat, der sich im Leben des einzelnen Menschen wie auch im Leben eines ganzen Volkes überall, auch dort, wo Kunst und Wissenschaft und Philosophie nicht unmittelbar beteiligt sind, "befreiend", "umschaffend", "reinigend" bethätigen muss. Oder auch, um uns dieses Verhältnis von einer anderen Seite aus vorzuführen, können wir – und zwar wiederum mit Schiller – sagen: "Aus einem glücklichen Instrumente wurde der Mensch ein unglücklicher Künstler." Das ist jene Tragik, von der ich in den einleitenden Worten sprach. Man wird, glaube ich, zugeben müssen, dass diese deutsche Auffassung des "Menschwerdens" tiefer geht, dass sie mehr umfasst und ein helleres Licht auf die zu erstrebende Zukunft der Menschheit wirft, als jede engwissenschaftliche oder rein utilitaristische.
Eines der Komposita sollte gesondert aufgeführt werden. Es geht um Menschenauswurf.6 Das Grundwort assoziiert in drastischer Form zum einen das Hinausgeworfensein aus der menschlichen Gesellschaft und zum anderen zeichnet es das Bild eines kranken, sich übergebenden bzw. eines spuckenden Körpers. Menschen werden mit der Doppelsinnigkeit dieser Wortbildung zum ekelerregenden Sputum. In diesem Wort bündelt Chamberlain seine ganze Verachtung dunkelhäutigen Menschen gegenüber, und es wird deutlich, dass er diese in seiner Wertung noch weit unterhalb der Juden ansiedelt. Gl 1055: Ein derartiges Problem konnte den Juden nie in den Sinn kommen, da sie weder die Natur noch ihr inneres Selbst weiter als hauttief beobachteten und auf dem kindlichen Standpunkt einer nach beiden Seiten hin mit Scheuklappen versehenen Empirie stehen blieben; von dem afrikanischen, ägyptischen und sonstigen Menschenauswurf, der die christliche Kirche aufbauen half, braucht man nicht erst zu reden.
_____________ 6
Das Wort wird auch von Hitler (Mein Kampf II, 585) und Rosenberg (Mythus 52) benutzt.
VI. Rasse als Essenz des Menschlichen Es hat sich gezeigt, dass Chamberlains Begriff vom Menschen essentiell durch das Kriterium der Rasse bestimmt ist. Darum muss der Beschreibung des Wortfeldes, das durch dieses semantische Merkmal nicht nur Menschenbezeichnungen vernetzt, sondern geradezu zu einem ideologischen Wortfeld verbunden wird, eine Analyse der Wortes Rasse vorangehen. 1904 schrieb Chamberlain in einem Brief: Br I, 150 (1904): Vom Bekannten ausgehend und auf die Lehren der Biologie namentlich auf Darwins Untersuchungen über das Entstehen und Bestehen von Rassen - mich stützend, habe ich in meinen "Grundlagen" versucht, einige deutliche Vorstellungen über das, was Rasse ist und bedeutet, zu gewinnen. Weiter nichts. Eine eigene Rassentheorie besitze ich nicht.
Welche Vorstellungen er mit Rasse verbindet, zeigt der folgende Artikel: Rasse, die. >entscheidendes lebens-, kultur- und kraftspendendes Prinzip der Welt, Antriebskraft für Geschichte, Kunst und Kultur; durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe bedingte, von Gott kommende bzw. gottähnliche Trieb- und Schöpferkraft im Individuum wie im Kollektiv, eine Art rassebedingtes Über-Ich, das im Menschen Handelnde, wichtigste Triebkraft des Individuums und jedes Kollektivs<. Metonymisch dazu: >Gruppe von Menschen und Tieren, die sich durch gemeinsame, über biologisch-genetische, körperliche, geistige und seelische Merkmale sowie durch eine damit wechselseitig verbundene Sprache von anderen Gruppen unterscheidet<; zu diesen Merkmalen gehören z. B. ein spezifischer Körperbau, eine kategorisierbare Schädelbildung u. ä. äußerliche Kennzeichen, aber auch besondere charakterliche Eigenschaften und moralische Veranlagungen. Mit dem Wort Rasse bezieht sich Chamberlain extensional 1. auf Nationen, die als die Deutschen, die Engländer, die Spanier usw. (mit positiven Zuschreibungen) erscheinen, 2. auf präsupponierte "historische" Völkerschaften, die als Indogermanen, indische Arier und Germanen (mit positiven Zuschreibungen) erscheinen, 3. auf den Arier als Ideal und Zukunftsprojekt, 4. auf Juden, Israeliten, Mongoloide oder Römer mit Negativstigmatisierung. Im letzteren Fall wird Rasse explizit durch eine nähere Bestimmung von 1 und 2 abgegrenzt, sei es durch jüdisch, mongoloid usw. Es ist dann immer mit negativen Zuschreibungen verbun-
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den. Während die Einheiten unter 1 bis 3 als entwicklungsfähig dargestellt werden, gilt Rasse besonders für die Juden ex negativo. Das "rassische" Prinzip ist für diese Gruppen durch Mangel an kultureller Kraft gekennzeichnet. – Bdv.: Blutmischung (Gl 407/421; Lebenswege 321), Blutsgemeinschaft (Gl 672), Menschenart (Gl 9/10/ 243; Kriegsaufsätze I / England 46), Menschenrasse (Gl 597/843), Nation (Gl 312/347/407/843; AW 66), Volk (Gl 53/141/301/315/545), Völkerschaft (Gl 258); individueller Volkscharakter (Gl 310/441/624), Volksseele (Gl 310). – Paraph. (in Auswahl): die angeerbte physische (und mit dieser zugleich die moralische) Struktur des Menschen (142A); Gemeinsamkeit der Erinnerung und des Glaubens (Gl 311); Naturgesetz (Gl 303); ein organisches lebendiges Wesen (Gl 349); Kollektivbegriff für eine Reihe einzelner Leiber (Gl 370); Kraftfeld eines Magneten (in einem Vergleich; Gl 370); plastisch bewegliches, vielfach zusammengesetztes Wesen (Gl 597); physische Grundlage aller Seelenäußerung (Br I, 110); Phänomen der allgemeinen Steigerung der Lebensenergie (Br I, 110). – Ggb.: Bastardisierung (Gl 632), Chaos (Gl 347/366 u. ö.), Völkerchaos (Gl 9/305/597); Charakter- und Individualitätslosigkeit (Gl 305); Mestize (Gl 632), Mestizenarten (Gl 339); (paraph.:) aus einem chaotischen Mischmasch von allerhand Völkern hervorgegangenes Individuum (Gl 321). – Präd. und Synt.: Rasse als Subjekt: (Die) Rasse ist rein zu bewahren (Gl 156) / ist nicht ein Urphänomen, sondern sie wird erzeugt: physiologisch durch charakteristische Blutmischung, gefolgt von Inzucht; psychisch durch den Einfluss, welchen lang anhaltende, historisch-geographische Bedingungen auf jene besondere, spezifische, physiologische Anlage ausüben (Gl 407) / [ist] ein plastisch bewegliches, vielfach zusammengesetztes Wesen (Gl 643) / hat ihre eigene Physiognomie (Gl 313) / gebar den grossen Seher (Gl 350) / schafft die Sprache / schafft* die künstlerischen, philosophischen, religiösen, ja sogar die praktischen Möglichkeiten / schafft* unübersteigliche Schranken (Gl 350) / besteht aus Individuen (Gl 369) / vergeht (Gl 369) / entsteht (Gl 369) / wird nach und nach veredelt (Gl 369) / be-/entsteht in Zeit und Raum (Gl 371)/ drückt ihren besonderen, unterscheidenden Stempel auf (die anatomischen Thatsachen des Körpers (Gl 573) / verleiht unfehlbaren Instinkt (Gl 283) / verleiht ausserordentliche [...] übernatürliche Fähigkeiten (Gl 321) / verleiht ein Überschwängliches (Gl 322) / Kraft (Gl 832) / hebt einen Menschen über sich selbst hinaus (Gl 321) / blüht durch Kreuzung* wieder auf (Gl 334) / besitzt nicht allein eine physisch-geistige, sondern auch eine moralische Bedeutung (Gl 368) / besitzt Unternehmungssinn (Gl 862); Rasse, bei der das sehende und gestaltende Auge in überschwänglichster Weise zur Ausbildung gelangt war (Gl 350) / die Roms Größe gemacht hat (Gl 361) / die eine seltene Expansionskraft besitzen (z. B. die Germanen) (Gl 425); Rasse und Ideal machen aber zusammen die Persönlichkeit des Menschen aus (Gl 413) / Persönlichkeit und Rasse hängen auf das Engste zusammen (Gl 313) / [Plur.] Alle historisch grossen Rassen und Nationen sind aus Mischungen hervorgegangen (Gl 442) / die Rassen sind ebenso wenig wie die Individuen gleich begabt (Gl 589); [mit Attribut] die jüdische Rasse nahm manches fremde Element auf / blieb rein (Gl 412) / seine (homo syriacus) Rasse ist in den verschiedenen Mischungen siegreich durchgedrungen (Gl 446) / dass die jüdische Rasse zwar eine permanente ist, zugleich aber eine durch und durch bastardierte (Gl 442) / Rasse [reine (Juden)] schützte durch peinliche Vorschriften sich vor jeder Vermengung mit anderen Völkerschaften (Gl 258) // [Rassen] denen das unstäte Herumziehen angeboren ist (z. B. die Beduinen) (Gl 424) / [ungermanische Rasse] welche überhaupt nicht zum indoeuropäischen Verwandtschaftskreise gehört (Gl 583).
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Rasse im Gleichsetzungsnominativ: die Völker (die Alemannen, die Marcomannen, die Sachsen, die Franken, die Burgunder, die Goten, die Vandalen, die Slaven, die Hunnen) sind echte, reingezüchtete Rassen (Gl 372). Rasse als Genitivattribut: Ausbildung einer neuen Rasse (Gl 353) / Bedeutung der Rasse (Gl 361 u. ö.) / Begriff (Gl 256) / Bildung (Gl 324/348/412) / Eigentümlichkeiten (Gl 247) / Entstehung (Gl 326/344) / Frage (Gl 122/140/256) / Jahrhundert (Gl 34) / Kraft reiner Rasse (Gl 836) / Merkmale (582) / Qualität (Gl 323) / Reinhaltung (Gl 312/ 576) / Reinheit (302/321/539) / Tatsache (Vorw. 14. Aufl. XXVI) / Uniformität (Gl 445 bezogen auf China) / Veredelung (Gl 335/340/367/445/655) / Verschiedenheit (Gl 306) / Wert (Gl 326) / Wesen (Gl 314) / Zusammensetzung (Gl 378) einer / der Rasse; Beispiel hervorragend edler, physiognomisch individueller Rassen (Gl 345) / höchste, individuellste Bethätigungen der Rasse (Gl 345) / die Charaktere beider Rassen (Gl 336) / Durcheinander der verschiedensten Rassen (Gl 301) / Erzeugung individueller Rassen (Gl 347) / Entstehungsgeschichte der jüdischen Rasse (Gl 413) / Erbschaft (grosser) Rassen (Gl 362) / Feind unserer Rasse (Gl 630) / höhere Individualität der Rasse (Gl 863) / Infiltration einer ungermanischen Rasse (Gl 584) / Intuition rauher aber reiner, edler Rassen (Gl 373) / Kennzeichen dieser germanischen Rasse (Gl 597) / Kindheit großer Rassen (Gl 328) / physische Struktur einer Rasse (Gl 590) / Ungleichheit der menschlichen Rassen (in ihrem Knochenbau, in ihrer Hautfarbe, in ihrer Muskulatur, in den Verhältnissen ihres Schädels) (Gl 573) / Verschwinden der (schöpferischen Geister, mit anderen Worten,) der Rasse (Gl 832) / Zeugung (reiner) Rassen (Gl 366) / (Nase) als Zeugin unserer Rasse (Gl 573) / das Werk der Rasse (Gl 376) / Wiederaufleben und Vermehrung jener fast, doch niemals ganz ausgerotteten, in die Berge zurückgedrängten, physisch kräftigen, doch geistig untergeordneten, ungermanischen Rasse (Gl 628) / Bastardierung mit jenen Mestizen und mit den Resten unarischer Rassen (Gl 632). Rasse als Dativobjekt: einer hochgewachsenen Rasse angehören (Gl 592) / solche Wirkungen der Rasse zuschreiben (Gl 50); Gestaltung, welche dieser Rasse als Rasse eigen ist (Gl 590). Rasse als Akkusativobjekt: Rasse [im Busen / in den Hochthaten der Genies / auf den glänzendsten Blättern der Menschengeschichte am Werke zeigen] (Gl 344) / züchten (Gl 326)/ zu Grunde richten (durch fortlaufende Blutmischung) (Gl 337) / veredeln (Gl 337) / (mit dem Kraftfeld eines Magneten) vergleichen (Gl 370) / edle Rassen hervorbringen (Gl 313), Rassen durch kraniologische Messungen unterscheiden (Gl 256), Religion und Rasse durcheinander werfen (Gl 257). Rasse in einer präpositionalen Nominalgruppe: Idee eines aus reiner Rasse hervorgegangenen Juden (Gl 437) / der durch Rasse angesammelte Kraftvorrat (Gl 345) / Treue bei reingezüchteten Rassen (Gl 605) / Vermischung mit unverwandten Rassen (Gl 574) / mit der herrschenden Rasse verschmelzen (Gl 338) / Verwechselung zwischen Sprache und Rasse (Gl 424); Abwesenheit (Gl 351) / Besitz von Rasse (Gl 321); der Rasse nach (etw. sein) (Zuversicht 4; Wer hat den Krieg verschuldet 35; Lebenswege 16; Gl 248/255); etw. im Wort Rasse etw. zusammenfassen (Gl 370); Beobachtungen (Gl 324) / Wissen über Rasse (Gl 327). Rasse mit Genitivattribut: Rasse der englischen Vollblutpferde (Gl 333)/ der Basken (Gl 627) / Rassen der Welt (Gl 8). Rasse mit adjektivischem Attribut: anthropologisch unterschiedene (Gl 584) / arische (Gl 318)/ ausserordentliche (Gl 329) / ausgezeichnete (Gl 335) / autonome (Gl 414)/ von den Indogermanen besiegte fremdartige (Gl 343) / echte (Gl 860) / edle (Gl 344 u. ö.) / elende (bezogen auf die Ureinwohner Zentralaustraliens; Gl 155) / englische (Gl 347)/ fremde (Gl 627) / gallorömische (Gl 353) / geadelte (Gl 350) / geistig niedrige (Gl 342) / germanische (Gl 597 u. ö.) / geschichtlich gewordene (Gl 347) / geschwächte (Gl 334) / (aus edlem Material) gezüchtete (Gl 322) / große (Gl 328/362) / herrschende (Gl 338) / höherstehende (Gl 342)/ individuelle (Gl 347) / indoeuropäische (Gl 584) / israelitische (Gl 412f.) / jüdische (Gl 252 / 255 / 258 / 356 / 412 / 442 u. ö.) / kurzköpfige (Gl 584) / merkwürdige (Japan 298) / mongoloide (Gl 584) / (israelitische: =) besondere nationale (Gl 409) / neue (Gl 323) / neue, werdende angelsächsische (Gl 324) / nordeuropäische (Gl 9) / physiologisch einheitliche (Gl 346) / prädominierende (Gl 362) / prähistori-
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sche (Gl 584) / reine (Gl 258/283/305/306/345/835) / reingezüchtete (Gl 334/602) / reinst gezüchtete (Gl 351) / römische (Gl 337) / schlechte (Gl 544) / starke (Gl 361) / stärkste (England Gl 335) / unedle (Gl 352) / unvereinbare (Gl 339) / ungermanische (Gl 628) / unverwandte (Gl 574) / so charakteristisch zusammengesetzte und dann streng rein gezüchtete Rasse (Gl 440). – Wortbildungen (Wbg.): Edelrasse (Gl 539) / Menschenrasse (mehrfach z.B.: Gl 141/229/597/843) / Rassenabsonderung (Dilettantismus 23) / Rassenadel (mehrfach Gl 324/331/575) / Rassenangehörigkeit (Gl 321/406) / Rassenanlage (Gl 322/772/1181) / Rassenantagonismus (Gl 592) / rassenarm (Wille / Das eine und das andere Deutschland 291) / Rassenbedingung (AW 25; Gl 341) / Rassenbegriff (Gl 844) / Rassenbewusstsein (Gl 797/818) / Rassenbildung (Gl 344/347/368; Dilettantismus 17) / Rassenblut (Wille / Vaterlands=Partei 37) / Rassencharakter (Gl 371) / Rassendogmatiker (Dilettantismus 20) / rassenecht (Gl 363/620/1059) / Rasseneigenschaft (Gl 336) / Rasseneinheit (Gl 303/370/650) / Rassenerzeugung (Gl 349) / rassenfeindlich (Gl 351 dazu bdv. antinational) / Rassenfrage (Wille / Das eine und das andere Deutschland 29; Gl Vorw. 10. Aufl. XII; Kriegsaufsätze II / Wer hat den Krieg verschuldet 46; Gl 335/341/349; Dilettantismus 7) / Rassegedanken (Vorw. 14. Aufl. XV; XXVI) / Rassenhochmut (Gl 389) / Rassenhygiene (Buchtitel Gl 216/890) / Rassenindividualitäten (Gl 26) / Rasseninstinkt (Gl 691/789/1025) / Rasseninteressen (Dilettantismus 25), Rassenjude (Gl 592; Dilettantismus 65) / Rassenkomplexe (Gl 9) / Rassenkunde (Dilettantismus 15; 24) / rassenlos (Gl 9/172/351)/ Rassenlosigkeit (Gl 348/584) / Rassenmerkmale (Gl 255) / Rassenmischungen (Gl 342/420; Dilettantismus 32) / Rassenprobleme (Gl 300) / Rassenrache (Gl 628) / rassenrein (Gl 384/691) / Rassenreinheit (AW 38ff.) / Rassenreinkulturen (Gl 574) / Rassenschuldbewusstsein (Gl 442) / Rassenseele (Gl 831/2) / Rassensünde (Gl 445) / Rassentum (Gl 348) / Rassenunterschiede (Gl 643/743/1055) / Rassenumgebung (Gl 362) / Rassenverhältnisse (AW 43; Br II, 153; Gl 964) / Rassenvermischung (AW 43; Br II, 153; Gl 365) / Rassenverwandtschaft (Gl 312) / Rassenwiderstreit (14. Aufl. Gl 655) / Rassenzucht (Dilettantismus 18) / Rassenzüchtung (AW 26; Gl 328/333; Dilettantismus 17; 25) / Rassenzusammenhang (Gl 370) / Menschenrasse (Gl 597/843) / Tierrasse (Gl 313/343/347) / Urrasse (Gl 315/348/407) / Volksrasse (Gl 374) u.vm.
Chamberlains Rasseauffassung ist unter rassenanthropologischen und sozialdarwinistischen Gesichtspunkten zu betrachten, wie sie besonders im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts vorzugsweise von Haeckel, Woltmann, Wolzogen in der Tradition Gobineaus vertreten wurden. Sie muss als Dreh- und Angelpunkt seiner, aber auch der völkischen Weltanschauung betrachtet werden.2 Drei Aspekte sind besonders bedeutsam: 1. 'Rasse' ist ein Ideologem, das die Ungleichheit der Menschen zur Grundlage und zum Gegenstand hat; Ungleichheit heißt dabei nicht 'Andersartigkeit', sondern 'Höherwertigkeit' der einen über die andere 'Rasse'. 2. Den Maßstab für die Wertigkeit bildet die Kulturhöhe. Dieser Maßstab wird nicht hergeleitet, hinterfragt oder gar kritisch diskutiert und mit dem allem in die kommunikative Regresspflicht gestellt, er ist auch nicht diskutierbar, erscheint vielmehr als ein göttliches Prinzip bzw. als Naturgegebenheit. Als solche vermittelt er den Eindruck eines Schlüsselbegriffs einer naturwissenschaftlichen Prädestinationslehre. _____________ 1 2
Wille / Das eine und das andere Deutschland 29ff.: rassenarme Mischlinge. Vgl. Puschner 2001a, 68ff.
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3. Die Hinweise auf Darwins Evolutionstheorie sind mehr wissenschaftsübliches argumentatives Feigenblatt als eine ergebnisoffene Bezugnahme auf eine anthropologische Theorie. Im Hinblick auf die Abstammung der Arten waren Rassentheoretiker wie Chamberlain nämlich kaum bereit, der Darwinschen Theorie einer gemeinsamen Abstammung von Mensch und Affe zuzustimmen. Im Gegenteil, man bemühte sich eher, die Einzigartigkeit der menschlichen Spezies hervorzuheben und über deren Zukunft zu spekulieren, wozu die Evolution mit ihren neuen Denkschemata geradezu einlud. Insbesondere der Glaube an eine von Menschen beeinflussbare Evolution war die gedankliche Basis aller völkischen Menschenbildkonstruktionen. Für Chamberlain ist der Gedanke der Evolution daher der wichtigste Scheck auf eine zu entwickelnde Zukunft. Ähnlich wie einer der Begründer des Sozialdarwinismus, Herbert Spencer,3 geht Chamberlain prinzipiell von der Vererbung erworbener Eigenschaften aus und damit von der fortschreitenden Verbesserung von Generation zu Generation. Träger der Erbinformation ist das Blut, das dahinter stehende Prinzip die Rasse. In den Syntagmen wird deutlich, dass sie das handelnde, weltbestimmende Phänomen ist; bezeichnenderweise erscheint sie deshalb auch in solchen Konstruktionen, die sie kategorialsemantisch als Handlungsträger (z. B. im Subjekt oder in einer funktional ähnlichen Konstruktion) ausweist: Rasse kann gebären (Gl 350), alles schaffen und alles erschaffen (Gl 350). Sie macht das Unmögliche möglich, vor allem hebt sie den Menschen über sich selbst hinaus (Gl 321), verleiht ihm übernatürliche Fähigkeiten (Gl 283) und zeigt sich in den Hochthaten der Genies am Werke (Gl 344). Doch in der Personifikation ist als Möglichkeit auch der Verfall angelegt, so kann Rasse auch vergehen oder verderben (Gl 369). Sie wird außerdem nach den Kriterien 'edel' (Gl 344) und 'unedel' (Gl 344; 352) kategorisiert, wobei immer wieder deutlich wird, dass die Arier bzw. die Germanen an der Spitze der Kategorie, die Juden dagegen, die Chamberlain explizit als Feinde unserer Rasse bezeichnet (Gl 630), am negativen Ende dieses Maßstabes stehen. Und da edle Rasse verderben kann, wird die Infiltration ungermanischer Rassen (Gl 584) für sie zur permanenten Bedrohung, die Vermeidung von Rassensünde oder Rassenmischung (usw.) bzw. umgekehrt die Erhaltung der Rassereinheit, der Rassereinkultur, der Rassenseele (usw., s. o. die Positionen Synt. / Präd. und Wbg.) zur Aufgabe für die Gegenwart und die Zukunft. Die Folgen einer Vermischung mit unarischen (Gl 632) bzw. ungermanischen (Gl 628) Rassen werden nicht nur mit dem Wort Bastardisierung (Gl 632) stigmatisiert. Rassenlosigkeit (Gl 348/584) hat das Verschwinden der schöpferischen Geister zur Folge (Gl 832), den kulturellen _____________ 3
Vgl. dazu und zu Folgendem: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie III, 852; s. v. Sozialdarwinismus.
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Niedergang aller, so dass in Chamberlains Rassenweltanschauung die höherwertige eigene Rasse in ständiger Bedrohung vor dem "Rassenfeind" lebt. Wenn beständig von 'Rasse', von der 'Rassenfrage' und weiteren mit Rasse verbundenen Gegebenheiten geredet bzw. in wissenschaftlichem Stil geschrieben wird, werden die gemeinten Bezuggegenstände existentiell präsupponiert, damit ontisiert. Das Reden und Schreiben von Rasse und von der Rassenfrage setzt eine Wirklichkeit, zu der sich ein jeder Rezipient zu verhalten hat, ganz unabhängig davon, ob er dieses Prinzip als solches akzeptiert oder nicht. Die gesetzte Wirklichkeit geht bis hin zur äußeren Erscheinung und damit zu Behauptungen wie den folgenden: man könne reine Rasse schon äußerlich an der Physiognomie erkennen (Gl 305/313/321 /575/851), die Nase sei Zeugin unserer Rasse (Gl 573), und die Ungleichheit der Menschenrassen zeige sich bereits an ihrem Knochenbau, ihrer Hautfarbe, in ihrer Muskulatur, in den Verhältnissen ihres Schädels (Gl 573). Entscheidend ist weiterhin die Aussage, dass Rasse nicht allein eine physisch-geistige, sondern auch eine moralische Bedeutung besitze (Gl 368). Man sieht Rasse also nicht nur am äußeren Erscheinungsbild oder an den Taten, die durch sie ermöglicht werden, sie ist wirksam auch für Moral und Religion (Gl 952; vgl. s. v. Arier/Jude). Nahezu formelhaft werden von Chamberlain Rasse und Persönlichkeit (Gl 413, vgl. s. v. Persönlichkeit) parallelisiert, aber auch Rasse und Held bzw. Genie (Gl 349; vgl. s. v. Held / Genie); Rasse und Vaterland (Gl 798) / Rasse und Nation (Gl 317f./321/638). Die Rasse wird so zur Prämisse für alle Werte und Wertigkeiten der Zeit und des individuellen wie kollektiven Lebens. Da 'Rasse' als ein Naturphänomen angesehen wird, muss sie, wie sich schon in der Ähnlichkeit des äußeren Erscheinungsbildes der jeweils betroffenen Menschen zeigt, erblich sein. Man kann sie durch Zucht zwar veredeln oder durch falsche Züchtung zerstören, aber man muss sie zunächst einmal haben. Sie ist die unabdingbare Voraussetzung für Veredelung. Dieser wiederum liegt zum einen die Idee einer evolutionären biologisch begründeten Verbesserbarkeit des Menschen zugrunde, wie sie mit Darwin denkbar geworden ist; sie verlangt zweitens den Ausschluss von Minderwertigem, wie es die sozialdarwinistische Eugenik fordert (motiviert u. a. durch Darwins Vetter Francis Galton), um in der evolutionären Entwicklung die sich immer stärker herausbildende Überlegenheit einer bestimmten Rasse zu fördern. Hinzu muss drittens eine Kategorisierung kommen, mit der die Prädikate 'höherwertig' und 'minderwertig' festgelegt werden. Eine solche Wertbestimmung liefert schließlich Gobineau, der den umgekehrten Weg gegangen ist, nämlich von einer gottähnlichen Urrasse hin zum Untergang der Weißen und schließlich der ganzen Menschheit. Für diesen Verfall macht er die Vermischung der weißen mit
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der schwarzen Rasse verantwortlich und führt damit den Gegensatz von Schwarz und Weiß in dieser radikal rassistischen Form ein. Der Überlegenheitsanspruch der Weißen wurde schließlich im Kontext der daran anschließenden Diskurse immer stärker spezifiziert, zunächst auf die Europäer bezogen, dann im Zusammenhang mit der Entdeckung der indogermanischen Sprachverwandtschaft auf 'die Indogermanen', schließlich auf 'die Germanen' und zuletzt von Chamberlain auf 'die Deutschen'. Das Prinzip der kollektiv bestimmten Entwicklung eines Menschen, eine Art rassistischer Prädestinationslehre, leitet sich hier ab, aber auch die Möglichkeit, in die Zukunftsentwicklung einzugreifen. Um es auf Chamberlain zuzuspitzen: Die genetische Prädestination besteht in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, nämlich entweder zu den Ariern bzw. zu den Indogermanen, den Germanen oder den dazugehörenden Nationalitäten oder zu den Nichtariern, in der Regel den Juden. Rasse, und das ist für die Rezeption seiner Texte ausschlaggebend, ist für Chamberlains Leser trotz der vorausgesetzten Prädetermination nicht für jeden eine Exklusionserfahrung, sondern sie ist gemeinschaftskonstituierend oder –verstärkend, und zwar in Bezug auf eine als gemeinsam erscheinende Vergangenheit wie auf eine gemeinsam denkbare Zukunft. Es dürfte in den Jahrzehnten um 1900 kaum größere, politisch oder ideologisch relevante Gruppen in Deutschland gegeben haben, die nicht bereit gewesen wären, die Zugehörigkeit zu einer Nation oder gar einem als genetische Einheit verstandenen Volk, das sich durch die ihm von Chamberlain zugeschriebenen Gütequalitäten auszeichnet, mit einem mindestens unterschwelligen Stolz zu betrachten. Der Adel hatte trotz vieler Brechungen seine Vorstellung besonderer geschichtlicher, sozialer und am Rande sogar biologischer Auszeichnung aus der Barockzeit in das neue Kaiserreich hinübergerettet; das Bildungsbürgertum konnte sich in der Folge seiner Erziehung in den Hochwertbereichen von Kunst, Musik, Literatur, speziell infolge des Wertes, der innerhalb dieser Bereiche der Fiktion als neuer Wirklichkeit zukam, zumindest subkutan auch dann mit Chamberlain verbinden, wenn man seinen Einzelauffassungen oder seiner beanspruchten Wissenschaftlichkeit misstraute; der Imperialismus führte auf gesamteuropäischer Ebene die wissenschaftliche, technische, militärische, wirtschaftliche, administrative und mit dem allem auch die kulturelle Ungleichheit zwischen Europäern und Nichteuropäern gleichsam täglich vor Augen und lud dazu ein, diese Ungleichheit als Überlegenheit mit biologischer Basis zu interpretieren. Die christliche Auffassung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott war wie die rationalistische Grundüberzeugung von der Gleichheit der Erkenntnisvermögen aller Menschen an die Peripherie des Denkens der Zeit gerückt, wurde in der Philosophie zunehmend weniger diskutiert bzw. wich den "modernen" Fragestellungen
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der Lebens- und Existenzphilosophie. Selbst die Arbeiterschaft entzog sich in alter Patriotismustradition der von der Linken vertretenen internationalen Orientierung und wandte sich verstärkt dem neuen Nationalismus zu (man beachte in diesem Zusammenhang das Verhalten der Sozialdemokraten zum Beginn des Ersten Weltkrieges und die Rolle der Arbeiterschaft in der Durchführung des Krieges). Wenn man meint, an der biologischen Prädestination als Arier oder Jude prinzipiell nichts ändern zu können, und sie damit als allen menschlichen Zugriffen entzogen ansieht, wird das Projekt 'Zukunft' als Handlungsaufforderung der Gegenwart betrachtet. Wer entwicklungsfähig ist, und das betrifft die arisch-germanische Gemeinschaft, muss sich zum Besseren fortentwickeln. Die Rasse ist in dieser Argumentation sowohl der Ort der anthropologischen Voraussetzung wie der Ort der von Menschen bewusst eingeleiteten Weiterentwicklung. Entwicklungsfähigkeit heißt in der Praxis, dass man Wege der gesellschaftlichen, speziell der politischen Gestaltung dieser Fähigkeit finden muss. Diesen Weg liefert die Eugenik, die dementsprechend von der Gesellschaft betrieben werden müsse, am besten gleich vom Staat selbst. Eugenik heißt 'Selektion', in Chamberlains Worten Auswahl (Gl 328), Auslese (Gl 3424) oder Zuchtwahl (z.B. Gl 312/325/328/340), Reinigung, Inzucht (Gl 340/835), Züchtung (Gl 328; Br I, 3275), Veredelung (Gl 366) mit dem Ergebnis der Erzeugung (Gl 328/347) neuer Rassen. Sie richtet sich gegen eine als verderblich angesehene Vermischung angeblich nicht zusammenpassender Rassen, was nicht nur zum Schaden der daran Beteiligten verliefe, sondern zur Verschlechterung des Menschengeschlechts (Gl 366) insgesamt führen würde. Doch anders als der pessimistische Gobineau, der aufgrund seines Konzeptes einer fortgeschrittenen rassischen Degeneration den Untergang des Abendlandes als eine nicht mehr aufhaltbare Tatsache betrachtet, geht Chamberlain genau den umgekehrten positiv evolutionären Weg. Er stellt die bewusste _____________ 4 5
Vgl. auch: Der demokratische Wahn 48f., dort explizit: Auslese der Tüchtigsten vs. Auslese der Enghirnigen und Hohlredenden. Vgl. dazu Br I, 326f.: "Beruht ohne Frage Deutschlands Weltbedeutung auf geistiger Begabung, die seit langem systematische, das ganze Volk umfassende Ausbildung genießt, so beweist doch diese Stunde, daß Zahl und Physische Kraft ausschlaggebende Faktoren sind, deren Vernachlässigung den Untergang sicher herbeiführt. Hier wie überall sollte meines Erachtens Deutschland streng wissenschaftlich verfahren, das heißt die Erkenntnisse reiner Wissenschaft bezüglich moralischer, hygienischer und sozialgesetzlicher Maßnahmen zur Hebung der Bevölkerung sollten gebieterische Geltung besitzen und nicht dem Gutdünken und den Zufälligkeiten und Verworrenheiten parteipolitischer Beratungen unterworfen sein. Es handelt sich um ein "überpolitisches" Interesse, höher als alle Parteien, Konfessionen und sonstige Spaltungen. Denn noch wichtiger als Heer und Marine, als Handel, Landbau und Industrie ist die Züchtung und Heranbildung deutscher Menschen in stets wachsender Zahl und Tüchtigkeit."
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Rassenzüchtung als Königsweg in eine paradiesische Zukunft vor und nutzt die Untergangsszenarien als appellative Drohkulisse.6 Wie die oben aufgelisteten Ausdrücke andeuten, trauert Chamberlain außerdem keiner reinen Urrasse nach, sondern macht die Reinheit zum Ziel seiner eugenischen Bemühungen. Hier ist er ganz optimistischer Evolutionist und keineswegs Kulturpessimist. Gl 407: Rasse ist nicht ein Urphänomen, sondern sie wird erzeugt: physiologisch durch charakteristische Blutmischung, gefolgt von Inzucht; psychisch durch den Einfluss, welchen lang anhaltende, historisch-geographische Bedingungen auf jene besondere, spezifische, physiologische Anlage ausüben.
Das die "Rasse" tragende Blut beruht für Chamberlain prinzipiell auf Vermischung, nicht auf Reinheit. Absolut reine Urrassen gibt es für ihn nicht, da andauernd Vermischungen der unterschiedlichsten Menschentypen stattgefunden haben und da die Menschen den unterschiedlichsten Umweltbedingungen ausgesetzt waren. Diese Bedingungen sind manipulierbar und wirken sich schließlich auch auf die Veranlagungen der Rasse aus, und zwar wiederum ebenso auf die Körperlichkeit wie auf den Charakter und die Kulturfähigkeit. Chamberlains Vorstellungen zur Eugenik sehen folgendermaßen aus: Das Entscheidende ist für seine Argumentation die vermeintliche rassische, moralische und kulturelle Qualität der sich vermischenden Typen und damit das Mischungsverhältnis, das sich über die Zeiten hinweg aus den Differenzierungen ergeben habe. Beides könne und müsse – wie bei Tieren – kontrolliert werden. Eine solche Kontrolle geschieht durch eine bewusste Auswahl der Mischungstypen, die Kreuzung ausgewählter Arten und die anschließende konsequent durchgeführte Inzucht. Als Ergebnis dieses "Zucht"-Vorgangs kämen herausragende körperliche und kulturelle Qualitäten zum Vorschein. Falsche Kreuzungen jedoch mit falschen oder schlechten Ausgangstypen oder gar Engzucht führten zu Untergang oder Verderben der Art. Die "real existierenden" Rassenzusammensetzungen sind seiner Theorie entsprechend historisch geworden und stellen selbst nur immer einen Übergang dar. Entscheidend für den Fortgang der Weltgeschichte ist für Chamberlain der Umgang mit der Rasse. Sie ist somit nichts genuin Existierendes, sondern in stetem Werden bestehendes Ergebnis von Veredelung (Gl 337) und Züchtung (Gl 327), eine Teleologie also, die erst erzeugt werden muss (Gl 407). Gl 314: Eine edle Rasse fällt nicht vom Himmel herab, sondern sie w i r d nach und nach edel, genau so wie die Obstbäume, und dieser Werdeprozess kann je-
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Vgl. dazu auch: Lobenstein-Reichmann, Houston Stewart Chamberlains rassentheoretische Geschichts"philosophie" 2008 [Im Druck].
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den Augenblick von Neuem beginnen, sobald ein geographisch-historischer Zufall oder ein fester Plan (wie bei den Juden) die Bedingungen schafft.
Chamberlain sieht sich selbst als Vorreiter dieser Rassenideologie an. Doch bleibt sein Rassebegriff stets im Allgemeinen und so undefiniert, dass letztlich jeder hinzugezählt werden kann, den man hinzurechnen möchte. Eine solche Offenheit liegt in der Tatsache begründet, dass seine Prinzipien große Interpretationsspielräume zulassen, weil sie letztlich durch nichts zu beweisen sind. Selbst sein Rückgriff auf angebliche wissenschaftliche Erkenntnisse, mit deren Hilfe er die "Rassenfrage" als bereits bewiesen postuliert, ist ein Täuschungsmanöver. Er addiert hier einfach eine Wissenschaft mit der anderen, ohne die kausalen Zusammenhänge, die nicht von der Wissenschaft selbst gesetzt wurden, sondern von ihm, zu nennen. Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Einzelmenschen und Menschengruppen, und selbstverständlich sind Sprachen verschieden. Zum Teil lassen sich auch phänotypisch relativ einheitliche Gruppen mit einer bestimmten Sprache verbinden, doch geht es hierbei um Erscheinungen völlig verschiedener Art: Sprachen sind sozialhistorische Erscheinungen, die man sowohl individuell wie als Gruppe selbst in historisch überschaubarer Zeit aufgeben oder wechseln kann; 'Rasse' im Sinne Chamberlains ist das Konstrukt einer biologistischen Ideologie; die Schwierigkeit der Ineinssetzung des einen mit dem anderen wird deshalb von Chamberlain gerne, so im folgenden Zitat, zunächst nur indirekt vertreten, eher suggeriert, danach aber dann doch behauptet. GL 31: Die wissenschaftliche Anatomie hat die Existenz von physischen unterscheidenden Merkmalen zwischen den Rassen erwiesen, sodass sie nicht mehr geleugnet werden können, die wissenschaftliche Philologie hat zwischen den verschiedenen Sprachen prinzipielle Abweichungen aufgedeckt, die nicht zu überbrücken sind, die wissenschaftliche Geschichtsforschung hat in ihren verschiedenen Zweigen zu ähnlichen Resultaten geführt, namentlich durch die genaue Feststellung der Religionsgeschichte einer jeden Rasse, wo nur die allerallgemeinsten Ideen den täuschenden Schein der Gleichmässigkeit erwecken, die Weiterentwickelung aber stets nach bestimmten, scharf voneinander abweichenden Richtungen stattgefunden hat und noch immer stattfindet. Die sogenannte "Einheit der menschlichen Rasse" bleibt zwar als Hypothese noch in Ehren, jedoch nur als eine jeder materiellen Grundlage entbehrende, persönliche, subjektive Überzeugung. (Kursivierungen: ALR).
Die Argumentation verläuft von einer Aussage zur Anatomie zu einer zwar stilistisch variierten, aber doch parallel geschalteten Aussage über Philologie, Geschichtsforschung und Religionsgeschichte. Erst dieses vierte Glied in der Reihe der Ähnlichsetzungen wird dann auf die Rasse bezogen. Wenn Chamberlain diesbezüglich, nachdem also Parallelitäten suggeriert wurden, von scharf voneinander abweichenden Richtungen schreibt, so ist das eine gewollte Perspektive. Um es einmal mit der Anthropologie zu pointieren: Ein menschlicher craniometrisch vermessener Schädelknochen
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mag vielleicht etwas über den Menschen als Phänotyp aussagen, aber er gibt in keiner Weise Informationen über seine Charakteranlagen, seine kognitive und kulturelle Leistungsfähigkeit (Sprache, Geschichte, Religion). Chamberlains Bemühungen um wissenschaftliche Legitimation scheitern daran, dass sein Konstrukt 'Rasse' keinen Erklärungswert hat. Keine der von ihm genannten Referenzwissenschaften hat übrigens jemals einen Rassebegriff, der dem seinigen ähnlich gewesen wäre, eingeführt. Bezeichnenderweise waren es weniger die Fachleute, die sich der sozialdarwinistischen Rassenanthropologie gewidmet haben, als die Laien. Jene haben dafür aber ganze theoretische Weltgebäude geschaffen, die weit reichende Wirkung im Laienpublikum hatten. Eine reduzierte und sehr pointierte Formulierung dieser von Chamberlain und Gleichgesinnten propagierten rassistischen Welterklärung wurde im Dritten Reich in jeder Ortschaft aufgehängt. Die so genannten Stürmerkästen, Schaukästen, in denen das nationalsozialistische Hetzblatt Julius Streichers öffentlich beworben wurde, hatten häufig folgende Überschrift: Die Rassenfrage ist der Schlüssel zur Weltgeschichte.7 Chamberlains Vorlagen für diese Komplexitätsreduktion sollen auf den folgenden Seiten am Beispiel seiner Menschenbildkonzeption näher beleuchtet werden. An einer Auswahl an Lemmata soll gezeigt werden, wie sehr dieses rassistische Diskursuniversum in die Semantik eingedrungen ist bzw. inwiefern das Wortfeld zu Mensch durch den Rassebegriff geprägt ist. Es geht um die Ausdrücke Persönlichkeit / Genie / Held / Individuum als vermeintliche Kulturgrößen, um Germane / Arier und Jude als explizit rassisch geprägte Kategorien. Da Germane und Deutscher synonym verwendet wurden, kann auf eine explizite Beschreibung nationaler Kategorien wie Deutscher verzichtet werden.
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Vgl. dazu (mit Bild): Enzyklopädie des Holocaust III, 1380: s. v. Der Stürmer.
VII. Das Wortfeld 'Mensch' Bei der Analyse des Wortes Mensch begegneten immer wieder bestimmte isotopisch relevante, bedeutungsverwandte oder einen Gegensatzbereich markierende Wörter, die das weiterführende Wortfeld, und damit vor allem Chamberlains Begriff vom Menschen, entscheidend prägen. Zu diesen Wörtern gehörten: Persönlichkeit / Genie / Held / Individuum / Künstler / Germane / Arier / Semit. Mit diesen Ausdrücken ist die onomasiologische Vernetzung auf die am häufigsten gebrauchten und inhaltlich entscheidenden Einheiten eingegrenzt. Im Folgenden wird jede dieser Einheiten in einem eigenen Artikel bearbeitet, wobei weitere onomasiologische Vernetzungen erkennbar werden. Das rassisch determinierte Menschenbild Chamberlains bekommt damit immer deutlichere Konturen. Dieses aufwendige Verfahren, das von den Einzelbedeutungen einer lexikalischen Einheit über die Einzelbedeutungen onomasiologisch vernetzter Ausdrücke zum Begriff führt, spiegelt den Prozess der ideologischen Semiose (vgl. dazu S. 77). Der Schritt von der Größe 'Bedeutung' zu der Größe 'Begriff' vollzieht sich wie folgt: In Bezug auf ein Einzellexem wird immer von Bedeutungen (bzw. fachsprachlich: von Bedeutungsansätzen) gesprochen; ein Wort hat, wie bereits normalsprachlich gesagt wird, Bedeutung. Die auf den Punkt gebrachte inhaltliche Gemeinsamkeit mehrerer Bedeutungen eines oder mehrerer Bedeutungen unterschiedlicher Lexeme wird hier als Begriff bezeichnet.1 Begriffe sind mithin Zusammenfassungen des Analysierenden und somit interpretativ gewonnene kognitive Größen der Metaebene. Von ihnen wird allerdings angenommen, dass sie ein Analogon beim historischen Sprecher, in diesem Fall bei H. St. Chamberlain, haben. Schon in der Zusammenstellung des semasiologischen Feldes von Mensch und in den dort abgetragenen onomasiologischen Vernetzungen hat sich gezeigt, dass diese begriffliche Gemeinsamkeit oder, wie Eco es nennt, Essenz rassistischer Natur ist. Bevor die genannten Ausdrücke zum onomasiologischen Feld von Mensch lexikographisch bearbeitet werden, war es daher sinnvoll, den Artikel Rasse als Zentralartikel zum Verständnis des weiteren Menschenbegriffs voranzustellen. In der vorangegangenen Analyse ist deutlich geworden, dass Rasse merkmalsdistinktiv sowohl für das Wort Mensch wie für den linguistisch davon abgeleiteten Begriff ist. Auch in den nachfolgenden Artikeln zur onomasiologischen Vernetzung von Mensch wird Rasse sich als das zentrale Wort und das zentrale _____________ 1
Vgl. dazu Lobenstein-Reichmann 1998, 25.
125 Persönlichkeit
Begriffsdeterminativ im semiotischen System Chamberlains erweisen. Dies ist nicht überraschend. Bemerkenswert sind jedoch Systematik und Radikalität der semantischen Durchdringung auch in solchen Ausdrücken, die man mit Rasse normalerweise nur bedingt verbindet. Man könnte es auch so ausdrücken: Im Sinne W. Köllers ist der Rassebegriff das wichtigste begriffliche Perspektivierungsmittel der Chamberlain'schen Wortfelder, besonders desjenigen zum Sinnbezirk des Menschen. Mit ihm durchdringt er seinen gesamten Wortschatz und lenkt oft unbemerkt den Focus immer wieder auf dieselben Aspekte. Die Rasse ist sein Standpunkt; setzt er ihn in seinem eigenen Wortfeld durch, so gelingt es ihm auch bald, die Begriffe anderer damit zu besetzen. Köller, Perspektivität und Sprache 2004, 332: Da Begriffe als kognitive Perspektivierungsmittel Einfluss darauf haben, auf welche Aspekte von Phänomenen wir unsere Aufmerksamkeit konzentrieren und von welchen wir absehen, gibt es im gesellschaftlichen Raum natürlich einen Kampf um die kognitive Struktur von Begriffsbildungen und einen Kampf um die begriffliche Objektivierung bzw. Benennung bestimmter Sachbereiche.
1. Persönlichkeit Rasse ist für die Kollektivität, was Persönlichkeit für das Individuum Chamberlain, Br I, 149 (1904)
Persönlichkeit, die, 1. >Gesamtheit der individuellen charakterlichen Eigenschaften eines Menschen, Charakter, dasjenige, das eine Person von anderen Personen psychisch und außenwirksam unterscheidet<. Die Zusammensetzung solcher Eigenschaften kann a) aufgrund von Lebenserfahrung und Sozialisation geschehen und / oder durch b) Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, zu einer Nation oder zu einem bestimmten Menschentypus (z.B. Künstler). Diese Bedeutung basiert vom Prinzip her zwar auf der Vorstellung, jeder Mensch sei in seiner speziellen charakterlichen Zusammenstellung einzigartig. Doch Chamberlain entwickelt eine Bedeutungskomponente, in der 'Persönlichkeit' als Gesamtheit der Charaktereigenschaften einer Person auch etwas Überindividuelles, durch Zugehörigkeit zu Gruppen und Rassen bestimmtes, Angeborenes oder Anerzogenes wird. Individuelle Persönlichkeit ist dann nicht mehr nur zufälliges, durch Umwelteinflüsse bedingtes Zusammenspiel verschiedener charakterlicher Merkmale, sondern eine durch Rasse bzw. durch das rassisch mitgegebene 'Material' (Gl 8) oder durch Nationalität geprägte Prädestination. Es handelt sich dann nicht mehr um eine Individualpersönlichkeit, sondern um eine
126 Das Wortfeld 'Mensch'
Kollektivpersönlichkeit; metonymisch lässt sich deshalb anschließen: >einem Volk als Kollektivindividuum zugeschriebener eigentümlicher Charakter, Wesenszug<; offen zu 2. – Bdv.: Beanlagung, Begabung, Können, Charakter, Geist, Genialität, Individualität, Individuum, Instinkt, Natur, Weltanschauung. Parallel dazu als Spiegel des nichtindividuellen Charakters eines Menschen und bezogen auf mehrere Menschen derselben Zugehörigkeitsgruppe: Volksindividualität (Gl 24; 541; 786; 856; 887); Rasseindividualität (Gl 24); Rassenpersönlichkeit (Gl 889); Volkspersönlichkeit (Gl 445). – Paraph.: Individualität der Gesamtheit eines Volkes (Gl 441); das Charakteristische am Menschen (Gl 844). – Ggb.: bezogen auf die Abwesenheit von Persönlichkeit: gemein, jeder höheren Regung bar (Gl 324). – Präd. und Synt.: Persönlichkeit als Subjekt: Persönlichkeit und Rasse hängen auf das Engste zusammen (Gl 312); Rasse ist für die Kollektivität, was Persönlichkeit für das Individuum (Br I, 149); seine Persönlichkeit muss entscheiden, woher [der bedeutende Mann] stammte; (Gl 361); die Persönlichkeit gehört dem einzelnen Individuum an (Gl 543); Persönlichkeit fällt * ohne Treue* auseinander (Gl 603); die Persönlichkeit der Perser schwand (Gl 797). Persönlichkeit als Apposition: Die Vorstellung des Genies – d. h. der Persönlichkeit (Gl 1069). Persönlichkeit mit Genitivattribut: Persönlichkeit des echten Semiten (Gl 454) / der Nationen (Gl 815) / des Chinesen (Gl 847). Persönlichkeit als Genitivattribut: wird dieses Werk […] zum Ausdruck seiner Persönlichkeit (Br 154f.); die Art der Persönlichkeit wird durch die Art ihrer Rasse bestimmt (Gl 312); die Macht der Persönlichkeit ist an gewisse Bedingungen ihres Blutes geknüpft! (Gl 312); nie hat ein Volk ein so umfassendes, aufrichtiges Bild seiner Persönlichkeit gegeben wie der Hebräer in seiner Bibel (Gl 293); [Momente], welche den intellektuellen Kern der semitischen Persönlichkeit blosslegen (Gl 456); Treue die notwendige Vollendung der Persönlichkeit (Gl 603); echte[n], reine[n], eigene[n] Natur, […] als lebendiger Bestandteil der Persönlichkeit (Gl 618); dass Kultur durch die Art der Persönlichkeit […] bedingt wird (Gl 887f.); Raub der Persönlichkeit (Gl 877); den fragenden, forschenden Instinkten der germanischen Persönlichkeit (Gl 914); Grundlage der sittlichen Persönlichkeit (Gl 1007); [Held] ist der Bruder des Genies, gleich ihm ein Triumph der Persönlichkeit (Gl 1070); die Gewalt der Persönlichkeit (ebd.). Persönlichkeit als Dativobjekt: der Persönlichkeit etw. gewaltsam aufpfropfen (Gl 618). Persönlichkeit als Akkusativobjekt: Rasse und Ideal machen zusammen die Persönlichkeit des Menschen aus (Gl 413); dass es schwer ist, sich die Persönlichkeit des echten Semiten vorzustellen (Gl 454). Persönlichkeit in einer präpositionalen Nominalgruppe: auf diese abstraktere Persönlichkeit (= Individualität der Gesamtheit eines Volkes) lassen sich Zahlen anwenden (Gl 441); diese Bewegung dehnt sich von der einzelnen Person, […] auch auf die Persönlichkeit der Nationen aus (Gl 815). Persönlichkeit mit Adjektivattribut: abstrakte (Gl 441) / autonome, moralische (Gl 605) / germanische (Gl 914) / geistige und moralische Persönlichkeit (Gl 981). – Wbg.: Volkspersönlichkeit (Gl 445). – Weitere Belegstellen (in Auswahl): Worte Christi 12; 18; 37; Arische Weltanschauung 29; 78: Briefe 98f.; 140f.; 148f.; 187-192; 206f; Goethe 7; Vorrede Kant 7: Vorrede Kant 8; Kant / Goethe (1905: 11/ 1909: 13); Lebenswege 31; 72; Gl 248f.; 603; 732; 742; 847; 850; 877; 1082.
2. >Einzelmensch, dessen Charakter und Wesen sich in einer über den Durchschnitt, über die Erwartung hinausgehenden Weise durch besonders ausgeprägte positiv bewertete charakterliche Merkmale und Eigenschaften
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auszeichnet<, im Chamberlain'schen System: >Person mit der höchsten in einem Einzelmenschen zum Ausdruck kommenden Ausprägung der einer Rasse inhärenten Potentiale<. In der Bewertung Chamberlains ist ein solcher Einzelmensch vorwiegend an folgenden Eigenschaften und Merkmalen erkennbar: "inneres Wissen", "innere Erfahrung", "antidialektisches Gefühl", "Empfindung", "Moral", besondere "Sittlichkeit". Diese Zuschreibungen beziehen sich dementsprechend besonders auf Jesus Christus, auf Künstler oder auf einen Kreis anderer, durch das Kriterium "Arier" erweiterbarer Personen. Unter politischen Aspekten gehen sie von Kaiser Wilhelm II. (z. B. Friedensliebe 13) aus und münden direkt in einer über alles Andere stehenden Führergestalt, deren Kommen Chamberlain in Der Wille zum Sieg (S. 16) noch herbeibeten möchte und die er im Brief an Hitler (1923) mit diesem euphorisch begrüßt. In der Regel werden solche Personen daher auch von Chamberlain hypostasiert. Sie sind in seinem Menschen- und Persönlichkeitskonzept jedoch nicht denkbar ohne den Hintergrund ihrer entsprechenden Rassenzugehörigkeit, sowohl arischer als auch nicht-arischer Art. Genannt werden immer wieder Franz von Assisi, Luther, Hindenburg, Goethe, auch Bismarck uvm. – Bdv.: Auserwählter, Geist, Genie, Person, Held, Zuhöchstbegabter; (metaphorisch:) Naturereignis, Meteor, Wille, lebendige Kraft, Mensch 2; 3, Weltanschauung (Kant 7). – Paraph.: große / mit Schöpferkraft begabte Männer, schöpferischer Geist, ein schöpferisches Auge; das Niewiederkehrende, aus dem allein Schöpfungen und große Taten hervorgehen (AW 41); Volksindividualität. – Ggb.: der Schwache; das Chaos. – Präd. und Synt.: Persönlichkeit als Subjekt: die erhabene Persönlichkeit dringt siegreich durch! (Worte Christi 22); Persönlichkeit* [ist] fähig durch die Kraft ihres Willens, sowie durch das echte Deutsche ihres Wesens, volkstümlich zwingend alle Kräfte zu einem einzigen Willen zu einigen und somit nach Innen dasselbe zu leisten (Wille/ Die Deutsche Vaterlands=Partei 42); eine einzige grosse Persönlichkeit [hat] durch ihr Beispiel und durch die Summe von Lebenskraft, die sie in die Welt setzte, mehr vermocht als ... (Gl 619); die Persönlichkeit* kann sich nur innerhalb eng gezogener Schranken zur Geltung bringen (Gl 815); die Persönlichkeit - deren ausserordentliche Wirkung die einzige Quelle dieser Religion war (Gl 1057); mit dem Tode schwand die Persönlichkeit - also das einzige Wirksame – dahin (Gl 1057); Persönlichkeiten unterscheiden sich nun nicht allein der Physiognomie, sondern auch dem Grade nach (Gl 1080). Persönlichkeit als Genitivattribut: Macht dieser Persönlichkeit (Worte Christi 22; Gl 988); die Bedeutung der Persönlichkeit (AW 41); ein Grundbestandteil der Persönlichkeit / Wurzel der Persönlichkeit (AW 66); Macht […] der über das gewöhnliche Maß hinausragenden Persönlichkeit (Wille/ Wille 16); nirgends die Spur einer bedeutenden Persönlichkeit (Wille/ Die Deutsche Vaterlands=Partei 41ff.); die Befreiung der Persönlichkeit (Gl 1043); Wert der einzelnen Persönlichkeit (Gl 1068). Persönlichkeit als Akkusativobjekt: Kunst* erfordert Persönlichkeit (Gl 1080); Opfere mir deine menschliche Persönlichkeit, und ich schenke dir Anteil an der Göttlichkeit (Gl 793). Persönlichkeit in einer präpositionalen Nominalgruppe: was bei jeder hervorragenden Persönlichkeit, bei jeder neu eintretenden Volksindividualität der Fall ist (Gl 5); diese Entwickelung zur Anonymität und Massenproduktion durch Syndikate bedeutet einen Krieg bis aufs Messer gegen die
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Persönlichkeit (Gl 815); Verwandtschaft zum Genie [liegt]* in jeder freien, d. h. zur Originalität befähigten Persönlichkeit (Gl 1080). Persönlichkeit mit Adjektivattribut: hervorragende Persönlichkeit (Gl 5); die übermenschlich gewaltige Persönlichkeit Luther's (Gl 813); wunderbare Persönlichkeit des Franz von Assisi (Gl 1083). – Weitere Belegstellen (in Auswahl): Worte Christi 12; 51; Arische Weltanschauung 42; Briefe I, 17f.; 70f.; 201f.; 206f.; 276f.; 316f.; II, 68ff.; 124f.; Kriegsaufsätze I / Friedensliebe 13; Kriegsaufsätze I / Freiheit 21; Kriegsaufsätze I / Weltstaat 40; Goethe 4; 7ff.; Vorrede zu Kant 6; 7; Kant / Goethe 1905: S. 15f./ 1909: S. 14; Lebenswege 238; PI 10; 75; Grundlagen 24/26; 29; 321f.; 350f.; 661; 689; 813; 949; 1083.
3. >irgendeine einzelne Person, die gesellschaftlich eine besondere Rolle spielt; berühmte Persönlichkeit; der Mensch als gesellschaftliches Wesen<. Im Unterschied zu 2 spiegelt diese Bedeutung einen sehr allgemeinen Gebrauch des Wortes wider. Allein der Bekanntheitsgrad oder der Grad der politischen Wichtigkeit ist hiermit angedeutet, nicht jedoch das mit 1 und 2 programmatisch verbundene Ideal. – Präd. und Synt.: Persönlichkeit als Subjekt: bestimmte Persönlichkeiten hätten sich, und zwar namentlich bestimmte russische Persönlichkeiten, als die treibenden, hetzenden, zahlenden, Verbrechen ersinnenden, Mörder dingenden erwiesen (Wer hat den Krieg verschuldet? 77). Persönlichkeit als Akkusativobjekt: Aufgaben, zu deren Lösung Jeder seine ganze Persönlichkeit einsetzen muß (Kriegsaufsätze I / Weltstaat 39); u. v. m.
Aus dem Vergleich dieses Artikels mit demjenigen zu Mensch ergibt sich, dass Persönlichkeit 2 zu Mensch 2 und 3 bedeutungsverwandt ist, damit zu Chamberlains immer wiederkehrenden Hochwertwörtern zählt. Wir finden es bereits programmatisch in zwei Titeln, nämlich im 1905 erschienenen Buch Immanuel Kant. Die Persönlichkeit als Einführung in das Werk und in Rasse und Persönlichkeit aus dem Jahre 1925. Auch wenn 20 Jahre zwischen der Kantbiographie und der rassetheoretischen zweiten Schrift liegen, bilden diese beiden Texte doch Eckpunkte der Chamberlain'schen Persönlichkeitsauffassung: In dieser wird das Einzelindividuum zwar als solches erkannt und in seinen spezifischen Eigenarten über andere gestellt, in kulturreligiöser Art sogar vergöttlicht, eine solche Überhöhung ist aber letztlich nur auf dem Hintergrund der richtigen Rassezugehörigkeit, die ihrerseits die Weltanschauung bedingt, möglich. 'Persönlichkeit' ist im Kern die Konzentration von Rasseeigenschaften, was die unter Bed. 1 zitierten Syntagmen deutlich zum Ausdruck bringen: die Art der Persönlichkeit wird durch die Art ihrer Rasse bestimmt (Gl 312); die Macht der Persönlichkeit ist an gewisse Bedingungen ihres Blutes geknüpft! (Gl 312). Der immer wieder begegnende Bezug von Persönlichkeit auf Jesus Christus, auf politische Gestalten wie Caesar und Bismarck, auf kulturund wissenschaftsprägende Personen wie Goethe oder Kant, wie er in Bed. 2 sichtbar wird, verbindet sich systematisch mit deren Anbindung an das Kollektiv, die schon im vorangehenden Kapitel zu Mensch begegnete.
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Deutlich wird dies u. a. im Syntagma was bei jeder hervorragenden Persönlichkeit, bei jeder neu eintretenden Volksindividualität der Fall ist (Gl 5) und der darin vorgenommenen Parallelisierung mit Volksindividualität. Aber auch wenn er 1911 (Br II, 235) in einem Brief an Kaiser Wilhelm von Deutschland als dem Urboden der großen moralisch-schöpferischen Persönlichkeiten - der Leibniz, Kant, Schopenhauer, der Bach, Beethoven, Liszt, der Friedrich, Stein, Bismarck, der Lessing, Schiller, Goethe, Wagner usw. schreibt, so hat er die Ebene persönlicher Autonomie längst verlassen. Chamberlains offensichtliches Argumentationsproblem ist es immer wieder, die Balance zwischen der großen schöpferischen Gestalt und der Rasse zu finden. Doch bei allen Zugeständnissen an den Genie- und Persönlichkeitskult des 19. Jahrhunderts ist ihm die Rasse immer ausschlaggebend. Gl 256: Ich nannte die menschliche Persönlichkeit das mysterium magnum des Daseins; in ihrer sichtbaren Gestalt stellt sich nun dieses unergründliche Wunder dem Auge und dem forschenden Verstande dar. Und genau so wie die möglichen Gestalten eines Gebäudes durch die Natur des Baumateriales in wesentlichen Punkten bestimmt und beschränkt sind, ebenso ist die mögliche Gestalt eines Menschen, seine innere und seine äussere, durch die vererbten Bausteine, aus denen diese neue Persönlichkeit zusammengestellt wird, in Punkten von durchgreifender Wesentlichkeit bestimmt. Gewiss kann es vorkommen, dass man auf den Begriff der Rasse zu viel Gewicht legt: damit thut man der Autonomie der Persönlichkeit Abbruch und läuft Gefahr, die grosse Macht der Ideen zu unterschätzen; ausserdem ist diese ganze Frage der Rassen unendlich viel verwickelter als der Laie glaubt, sie gehört ganz und gar in das Gebiet der anatomischen Anthropologie und kann durch keine Dikta der Sprach- und Geschichtsforscher gelöst werden. Es geht aber dennoch nicht an, die Rasse als quantité négligeable einfach bei Seite zu lassen; noch weniger geht es an, etwas direkt Falsches über die Rasse auszusagen und eine derartige Geschichtslüge zu einem unbestreitbaren Dogma sich auskrystallisieren zu lassen.
Selbst an den Stellen, an denen er 'Persönlichkeit' durch absolute Einmaligkeit, Individualität gekennzeichnet sieht, wird dies durch eine Konzession relativiert. Im Beleg unten geschieht dies durch den Hinweis auf die Konventionalität. Die rhetorische Figur hat das Muster: Wohl [dann folgt die Konzession mit dem Hinweis auf Konventionelles], jedoch [worauf die Gegenposition, hier die Nichterklärbarkeit der Persönlichkeit, eingenommen wird]. Gl 227: Verwerfen wir also solche von Gedankenblässe angekränkelte Betrachtungen, die alle den einzigen Erfolg haben, das allein Ausschlaggebende und Produktive, nämlich die Bedeutung der lebendigen, individuellen, unvergleichlichen Persönlichkeit zu verwischen. Immer wieder muss man Goethe's grosses Wort anführen: Höchstes Glück der Erdenkinder / Ist n u r die Persönlichkeit! Wohl wird die Umgebung der Persönlichkeit, die Kenntnis ihrer allgemeinen Bedingtheit in Zeit und Raum wertvolle Beiträge liefern zu ihrer klaren Erkenntnis; durch ein solches Wissen werden wir Wichtiges von Unwichtigem, charakteristisch Individuelles von örtlich Konventionellem unterscheiden lernen: das heisst also, wir
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werden die Persönlichkeit immer klarer erblicken. Sie jedoch erklären, sie als eine logische Notwendigkeit darthun wollen, ist ein müssiges, albernes Beginnen; jede Gestalt – auch die eines Käfers – ist für den Menschenverstand ein "Wunder"; die menschliche Persönlichkeit aber ist das mysterium magnum des Daseins.
Persönlichkeit ist das höchste Glück, zumindest laut Goethe, das Unvergleichliche, das allerdings verwischt werden kann, das mysterium magnum des Daseins. So vage das Wort hier verwendet wird, das Maß für die Persönlichkeit ist das Produktive, oder, wie es beim Artikel Mensch deutlich geworden ist, das Schöpferische und Künstlerische. Das charakteristisch Individuelle wird dem örtlich Konventionellen als höherwertig gegenübergestellt und als distinktiv verstanden. Offensichtlich beziehen sich die Verwendungsweisen von Persönlichkeit einerseits auf besondere, durch Individualität herausragende Einzelpersonen ohne Überhöhungsassoziation und andererseits auf diejenigen Charakterzüge, die sie vor anderen Menschen auszeichnen und herausheben. Doch der Schein trügt. Es geht eben nicht um Individuen in einem modernen Sinne. Das Individuelle oder Unvergleichliche kann nur aus der Bedingtheit durch Zeit und Raum, durch seine Umgebung, durch die Natur der Dinge geboren werden. Freischaffende, sich selbst bestimmende Willenskraft ist hier nicht gefragt und wird vollkommen reduziert auf seine Wechselwirkung mit dem Bedingenden. Das Einzelne ist dann zwar einzigartig, aber nur als Produkt einer vorgeprägten Umwelt, oder als ein Typus, der aus seinen Entstehensbedingungen formuliert wird. Die Geburt einer besonderen Persönlichkeit ist kein bloßer Zufall der Geschichte oder einfach nur der Wille Gottes, sondern beruht auf ganz bestimmten Voraussetzungen, denen jeder Einzelne unterworfen ist. Dies hat der vorletzte Beleg deutlich gemacht. Zu den Voraussetzungen gehörten in erster Linie die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, einer Nation oder einer Sprachgruppe. Die genannte Unterworfenheit betrifft dabei nicht nur das Hineingeborenwerden in damit gegebene Verhältnisse, sondern die individuelle Ausprägung aller geistigen, moralischen und sittlichen Fähigkeiten. Welche Konsequenzen und Probleme dieser strikt "genetisch" bedingte Zugriff auf die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen hat, zeigt das folgende Beispiel.
1. 1. Exkurs: Jesus Christus und andere Persönlichkeiten der Weltgeschichte Das oben Beschriebene gilt nicht nur für lebende Menschen, Chamberlain wendet seine Kriterien auch auf den menschgewordenen Sohn Gottes an. Christus ist für Chamberlain nicht nur theologisch der Inbegriff des
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Gottmenschen, die größte Persönlichkeit, die jemals gelebt hat.1 Am Beispiel Christi kann der Zusammenhang zwischen Rassezugehörigkeit und Persönlichkeitsstruktur besonders gut dargestellt werden. Chamberlain argumentiert nicht nur in seinem religiös-erbaulichen Werk Mensch und Gott immer auf dem Boden einer spezifisch rassetheoretisch angelegten Theologie. Schon in den Grundlagen wird seine Vorstellung eines arischen bzw. germanischen Christentums2 offensichtlich. Die Hauptschwierigkeit bei einer solchen Konzeption ist jedoch, dass das Christentum auf dem Judentum basiert, ohne dieses historisch undenkbar ist. Schauplatz der wichtigsten biblischen Ereignisse ist Palästina, und die "Helden" der Bibel sind Semiten. Während Luther, der mit diesem Faktum ebenfalls Probleme hatte, aber bereits im Titel einer seiner Schriften eigens verkündete, Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei, leugnet Chamberlain genau diese Tatsache, wobei er hier interessanterweise die Religion von der Rassezugehörigkeit trennt (s. u. den Beleg Gl 252). Dies entspricht einer im Gesamtwerk isolierten Differenzierung, die nur der Rechtfertigung seiner Christusauffassung dient, ansonsten aber nicht fortgesetzt wird. Denn Chamberlain unterscheidet, ähnlich wie später die Nationalsozialisten, in der Regel eben gerade nicht zwischen Rasse und Religion. Gl 257f.: Wer die Behauptung aufstellt, Christus sei ein Jude gewesen, ist entweder unwissend oder unwahr: unwissend, wenn er Religion und Rasse durcheinanderwirft, unwahr, wenn er die Geschichte Galiläas kennt und den höchst verwickelten Thatbestand zu Gunsten seiner religiösen Vorurteile oder gar, um sich dem mächtigen Judentum gefällig zu erzeigen, halb verschweigt, halb entstellt. Die Wahrscheinlichkeit, dass Christus kein Jude war, dass er keinen Tropfen echt jüdischen Blutes in den Adern hatte, ist so gross, dass sie einer Gewissheit fast gleichkommt.
Nicht nur die sehr umständliche, an Vagheit kaum zu übertreffende Ausdrucksweise (Wahrscheinlichkeit, einer Gewissheit gleichkommen) des letzten Satzes lässt aufhorchen. Natürlich weiß auch Chamberlain, dass seine Theorie vom arischen Christus auf tönernen Füßen steht, doch kann er nicht umhin, er muss, um das Christentum mit dem Antisemitismus und der Theorie vom Völkerchaos verbinden zu können, auch um seinen Begriff von der Rassebedingtheit der Persönlichkeit zu retten, Christus zum Arier machen. Mit einer nur bedingt nachvollziehbaren Argumentation bemüht sich Chamberlain deshalb, die Rassereinheit des Galiläers nachzuweisen.3
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Vgl. dazu Gl 1058f. Eine Schlüsselstellung nimmt dabei die Erlösungslehre ein: GL 666. Vgl. dazu: MuG 90f.; Gl. 211f.; 247f.; 404; den Brief an Kaiser Wilhelm vom 20. 2. 1902 u. ö.; aber auch Rosenberg, Mythus.
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Gl 247f.: Für den Gläubigen ist Jesus der Sohn Gottes, nicht eines Menschen; für den Ungläubigen wird es schwer werden, eine Formel zu finden, welche die vorliegende Thatsache dieser unvergleichlichen Persönlichkeit in ihrer Unerklärlichkeit so knapp und vielsagend bezeichnet. […] Ein anderes ist es, uns über die historisch gewordene Umgebung der Persönlichkeit zu belehren, lediglich damit wir diese noch deutlicher erschauen. Thun wir das, so ist die Antwort auf die Frage: war Christus ein Jude? keinesfalls eine einfache. Der Religion und der Erziehung nach war er es unzweifelhaft; der Rasse nach – im engeren und eigentlichen Sinne des Wortes "Jude" – höchst wahrscheinlich nicht. Der Name Galiläa (von Gelil haggoyim) bedeutet "Heidengau.4
Jesus wird durch seine Herkunft aus Galiläa und nach einem langen Diskurs über die vermeintlich indoarische Stammeszugehörigkeit der Galiläer, einer in der jüdischen Diaspora lebenden Ausländergruppe, sozusagen "rasserein gewaschen". Gl 252f.: Der Ausdruck Jude bezeichnet eine bestimmte, erstaunlich rein erhaltene Menschenrasse, nur in zweiter Reihe und uneigentlich die Bekenner einer Religion. Es geht auch durchaus nicht an, den Begriff "Jude", wie das in letzterer Zeit viel geschieht, mit dem Begriff "Semit", gleichzustellen; der Nationalcharakter der Araber z. B. ist ein durchaus anderer als der der Juden. […] einstweilen mache ich darauf aufmerksam, dass auch der Nationalcharakter der Galiläer wesentlich von dem der Juden abstach. Man schlage welche Geschichte der Juden man will auf, Ewald's oder Graetzens oder Renan's, überall wird man finden, dass die Galiläer durch ihren Charakter sich von den anderen Bewohnern Palästinas unterschieden; sie werden als HITZKÖPFE bezeichnet, als energische Idealisten, als Männer der That. In den langen Wirren mit Rom, vor und nach Christi Zeit, sind Galiläer meistens das treibende Element und dasjenige, welches der Tod allein besiegte.
Deutlich argumentiert Chamberlain auf der Basis des Persönlichkeitsbegriffes. Er beschreibt den Charakter Christi, erklärt diesen als demjenigen des Ariers ähnlich (Tatmensch), setzt beides in Parallele zum Nationalcharakter der Galiläer (wie er ihn aus ihm genehmer Literatur herleitet) und schließt von dort aus auf die vermeintliche Rassenzugehörigkeit zu einer Gruppe. Zwar gesteht er dem Judentum Einflüsse auf das Christentum zu, nimmt seine Konzessionen jedoch sofort an den entscheidenden Punkten zurück: Gl 293: Weit mehr als das Anknüpfen an die Propheten, weit mehr auch als seine Achtung vor den jüdischen Gesetzesvorschriften lassen uns diese Grundanschauungen Christum als moralisch zu den Juden gehörig erkennen. […] Hier muss man sagen: Christus IST ein Jude, und seine Erscheinung kann nur verstanden werden, wenn wir diese speziell jüdischen Anschauungen, die er vorfand und sich zu eigen machte, kritisch begreifen gelernt haben. Ich sagte soeben, Christus
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Interessanterweise, und dies soll nur angedeutet werden, hat Chamberlain am Ende des Zitats seine Trennung von Religion und Rassen unbemerkt wieder aufgegeben, was man an der Übersetzung Heidengau sehen kann.
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gehöre "moralisch" zu den Juden. Dieses ziemlich zweideutige Wort "Moral" muss hier in einer engeren Bedeutung gefasst werden. Denn gerade in der moralischen ANWENDUNG dieser Vorstellungen von Gottes Allmacht und Vorsehung, von den daraus folgenden unmittelbaren Beziehungen zwischen dem Menschen und der Gottheit und von dem Gebrauch des freien menschlichen Willens wich der Heiland in toto von den Lehren des Judentums ab.
Chamberlain macht deutliche Unterschiede zwischen einer Rassepersönlichkeit und einer Sozialisationspersönlichkeit, die in Abhängigkeit von ihrer historischen Umwelt steht. So negiert er zwar nicht den Einfluss der Sozialisation auf den Menschen, betont aber gleichermaßen, dass dieser durch die spezifische Rassepersönlichkeit (Bed. 1), gegründet in der Stammeszugehörigkeit, tendenziell bis zur Aufhebung überblendet wird. Ausschlaggebend für 'Persönlichkeit' ist demnach eine letztlich biologisch determinierte Größe. Christus ist nach dieser Ideologie aber mehr als nur der Überwinder seiner "jüdischen" Sozialisationsbestandteile; er ist der Begründer einer neuen Menschenart, die mit den Qualitäten ausgestattet wird, zu erregen, das Schwert (statt den Frieden) nicht zu überhören, inneren Geist (im Ggs. zu Formen der Civilisation...) zu besitzen, eine neue Färbung des Willens ohne jedes Paktieren zu repräsentieren. Das sind Zuschreibungen, die an die Ausstattung erinnern, die er dem Arier hat zuteil werden lassen, und die Persönlichkeiten (Bed. 2) hervorbringen. GL 239: Nicht Frieden, sondern das Schwert: das ist ein Ton, den man nicht überhören darf, will man die Erscheinung Christi begreifen. Leben Jesu Christi ist eine offene Kriegserklärung, nicht gegen die Formen der Civilisation, der Kultur und der Religion, die er um sich her fand – er beobachtet das jüdische Religionsgesetz und lehrt: gebet Caesar was Caesar's ist – wohl aber gegen den inneren Geist der Menschen, gegen die Beweggründe, aus welchen ihre Handlungen hervorgehen, gegen das Ziel (auch das jenseitige), welches sie sich stecken. Die Erscheinung Jesu Christi bedeutet, vom welthistorischen Standpunkt aus, die ERSCHEINUNG EINER NEUEN MENSCHENART. Linnaeus unterschied so viele Menschenarten als es Hautfärbungen giebt; eine neue Färbung des Willens greift wahrlich tiefer in den Organismus ein, als ein Unterschied im Pigment der Epidermis! Und der Herr dieser Menschenart, der "neue Adam", wie ihn die Schrift so treffend nennt, will nichts von Paktieren wissen; er stellt die Wahl: Gott oder Mammon.
Dass Linnaeus den Anschluss an die neue Menschenart bildet, ist kein etwas verunglückter Zufall. Der im Sinne Chamberlain'scher Christusvorstellung neu eingeführte Mensch ist nicht einfach ein neuer Adam, wie ihn zum Beispiel auch Luther im paulinischen Verständnis immer wieder anführt, also ein durch die Heilstat Christi von Sündenschuld befreiter Mensch, gerechtfertigt und damit letztlich auch der sündigen Welt enthoben. Dieser neue Adam Chamberlains ist vielmehr biologisch-genetisch der Urva-
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ter eines neuen Stammes, dessen Persönlichkeit den Beginn des germanischen Christentums5 bildet. Gl 1049: unsere germanische Weltanschauung [ist] nicht eine individuelle Grille [...], sondern das notwendige Ergebnis der kräftigen Entfaltung unserer Stammesanlagen; nie wird ein einzelnes Individuum, und sei es noch so bedeutend, ein derartiges Gesamtwerk nach allen Seiten hin erschöpfen, nie wird eine solche anonyme, mit Naturnotwendigkeit wirkende Kraft in einer einzigen Persönlichkeit so vollendet allseitige Verkörperung finden, dass nunmehr ein Jeder in diesem einen Manne [Christus] ein vollkommenes Muster und einen Propheten anerkenne. Dieser Gedanke ist semitisch, [...]. Eine so riesige Lebensarbeit wie die Kant's, "die herkulische Arbeit des Selbsterkenntnisses", wie er sie selber nennt, erforderte besondere Anlagen und nötigte zur Spezialisation.
Von einer moralischen Individualpersönlichkeit, die in eine bestimmte Umgebung hineingeboren und damit zum Produkt einer historisch gewachsenen Sozialisationspersönlichkeit wird, bis hin zu einer rassebedingten Kollektivpersönlichkeit gehen die hier aufgewiesenen Wege, nicht jedoch zu einer individualistischen, freiheitlich auf eigenem Willen beruhenden Persönlichkeitsbildung. Selbst Christus ist dieser Prämisse unterworfen, da die einzelne Persönlichkeit die allseitige Verkörperung der Stammesanlagen ist. Die alles überlagernde Rolle biologischer Vorgegebenheiten erscheint hier gleichsam auf den Punkt gebracht.6 Betrachten wir nun die Menschen, auf die Chamberlain mit dem Wort Persönlichkeit außerdem noch Bezug nimmt. Es sind vor allem die bereits erwähnten Luther, Goethe und Kant; aber auch Bismarck, Kaiser Wilhelm und Hitler gehören dazu. Alle genannten Persönlichkeiten stellen in der Fremdklassifikation durch die Nationalideologen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts Symbolfiguren der deutschen Nationalstaatsbildung dar, sie dienen sowohl der politischen als auch der kulturellen Identifikation. Persönlichkeit liegt in einer sehr allgemeinen, auf 'äußerliche' Voraussetzungen abgestimmten Bedeutung vor, in der es "nur" auf Menschen referiert, die in einer bestimmten Weise führende oder leitende Funktionen in einer Gemeinschaft innehaben (Bed. 3). 'Persönlichkeit' hängt dann auch von der Funktion und der Bekanntheit der Gemeinschaft ab, die jemand vertritt. Für Chamberlain ist dieses Kriterium kaum von Belang. Werte, die eine Persönlichkeit ausmachen, sind für ihn sittlich-moralischer Natur. Mit dem Wort Natur ist man bei dem "tiefen Kern" der Chamberlain'schen _____________ 5
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Vgl. dazu auch Gl 224; 860; 1133: Gl 1133: "Denn unsere germanische Weltanschauung ist eine transscendente und unsere Religion eine ideale, und darum bleiben beide unausgesprochen, unmittelbar, den meisten Augen unsichtbar, den meisten Herzen wenig überzeugend, wenn nicht die Kunst mit ihrer freischöpferischen Gestaltungskraft – d. h. die Kunst des Genies – vermittelnd dazwischen tritt." Im Vergleich dazu bezeichnet Chamberlain Augustinus als "zerrissene" Persönlichkeit, da er "vaterlandslos, rassenlos, religionslos […] dem Völkerchaos entstiegen war" (Gl 657).
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Innerlichkeitsvorstellung. Auch wenn er von sich selbst berichtet, seine eigene Persönlichkeit sei erst durch die Irrungen und Wirrungen des Lebens (Lebenswege 4) ausgebildet worden, er also auch für sich das Prinzip der Sozialisierung anerkennt, sind seine Persönlichkeiten (Bed. 2) oder besser gesagt: seine Kulturhelden durch die Geburt bestimmt. "Geburt" ist dabei im Sinne seiner Rassentheorie zu verstehen; das Wort beinhaltet biologische Vorprägung, einen bestimmten Menschentyp und über dieses eine ebenfalls "geburts"abhängige kulturelle Tradition, unabhängig davon, ob man darauf mittels Inbegriff hellenischer Gestaltungskraft deutscher Charakter Bezug nimmt. So ist z. B. der Philosoph Kant ein Produkt deutscher Geistestradition, deutscher Sprache und deutscher Kultur. Für Goethe gilt das gleiche: AW 38: Homer ist der Inbegriff echt hellenischer, verschwenderischer Gestaltungskraft und kecker Ruhmredigkeit, Goethe – der erhabene und gewissenhafte Pedant – ist ein Kompendium des deutschen Charakters…
Einer semitischen Persönlichkeit (Gl 456) kann hingegen innerhalb dieses Ordnungssystems nichts gelingen. Und um es auch hier zu pointieren: Wäre Kant ein Semit gewesen, so hätte es im Chamberlain'schen Verständnis von Kultur keinen kategorischen Imperativ geben können. Gl 350: Ohne Homer wäre Griechenland nicht Griechenland geworden, ohne Hellenen wäre Homer nie geboren. Die Rasse, die den grossen Seher der Gestalten gebar, gebar auch den erfindungsreichen Seher der Figuren, Euklid, […]. Die Natur ist nicht so einfach, wie die Schulweisheit es sich träumt: ist grosse Persönlichkeit unser "höchstes Glück", so ist doch gemeinschaftliche Grösse der einzige Boden, auf dem sie erwachsen kann. Die ganze Rasse z. B. ist es, welche die Sprache schafft, damit zugleich bestimmte künstlerische, philosophische, religiöse, ja sogar praktische Möglichkeiten, aber auch unübersteigliche Schranken. Auf hebräischem Boden konnte niemals ein Philosoph entstehen, weil der Geist der hebräischen Sprache die Verdolmetschung metaphysischer Gedanken absolut unmöglich macht.
Gemeinschaftliche Größe, eine Zustimmung heischende Paraphrase für Rasse, muss vorhanden sein, damit Einzelpersonen, in denen diese Größe angelegt ist, zu einer Persönlichkeit heranreifen können7. Gemeinschaftliche Größe ist genetisch rassebezogen, sekundär dann, nachdem sie einmal vorhanden ist, sprachbezogen. Am Anfang steht die Rasse, sie gebar den Seher, sie schafft die Sprache, jeweils Größen, die im effizierten Objekt stehen. Im letzten Satz des Zitates wird die in den ersten Sätzen geäußerte _____________ 7
Vgl. dazu: Chamberlain, Kant 12: "Die Weltanschauung eines Mannes ist [Marginalie: Die Persönlichkeit] mit ihm geboren; sie ist das notwendige Ergebnis seiner Art zu schauen. Freilich, die Grenzlinien der besonderen Gestalt, in die er dieses Angeborene nach und nach zu immer vollerer Körperlichkeit ausarbeitet und dadurch erst bewusst besitzen lernt, entstehen wie ein System von Diagonalen aus seinem ureigenen Wesen und den Einflüssen seiner Zeit und seiner Umgebung; doch zu Grunde liegt die Person".
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Ursache-Folge-Beziehung von 'Rasse' und 'Sprache' als Bestimmung der Gedanken durch Sprache umgekehrt, damit in die Nähe des sprachlichen Relativitätsprinzips gerückt, ohne dass dies explizit gesagt und eine kommunikative Regresspflicht dafür übernommen würde. Dem zeitgenössischen Leser, der Wilhelm von Humboldt kannte, könnte aufgefallen sein, dass auch dieser davon gesprochen hatte, dass die Gedanken auch (sic !) von der Einzelsprache abhängig seien, dass die Sprachen die Nationen beherrschen, sie in einem gewissen Kreis gefangen halten, dass sie mit einem Standpunkt in der Weltansicht verbunden sind (z. B. in: Werke 4, 22; 227; 7, 1, 60). Der unterstellte Leser könnte dadurch zur Annahme von Ähnlichsetzungen verleitet worden sein, ohne dass diese aus dem Werk Humboldts auch nur ansatzweise begründbar sind. Den "Geist der hebräischen Sprache" (nunmehr als primäre Gegebenheit unterstellt) als persönlichkeitsausschließend zu behandeln, widerspricht Humboldt vollständig Das hohe Gewicht der Rassepersönlichkeit (gebunden an den 'Arier') rückt den normalen, nicht herausragenden, soziologisch unauffälligen Menschen an die Peripherie des Chamberlain'schen Interesses und damit auch der Aufmerksamkeit seiner Rezipienten. Durchschnittsmenschen haben offensichtlich keine Persönlichkeit und sind dementsprechend auch keine Persönlichkeiten. Die Alltagsdimension des Lebens wird von Chamberlain auch hier ausgeblendet. Nichts deutet daraufhin, dass die große Persönlichkeit in einem historisch soziologischen Sinne überhaupt menschlicher Natur ist. Dies wird bereits augenfällig, wenn man auf die Metaphorik sieht. Persönlichkeiten werden zwar geboren, aber nicht von Menschen, sondern von einer biologistisch verstandenen naturalisierten Kultur, einer Gemeinschaft oder einer Rasse. Sie erwachsen auf einem Boden, der entweder fruchtbar ist oder zur unübersteiglichen Schranke wird. Sie sind zwar Teil einer Natur, aber eben nur metaphorisch fassbar. Es ist daher nur konsequent, wenn Chamberlain schreibt, wie oben schon zitiert, dass die Persönlichkeit in ihrer reinsten Ausbildung, im Genie, unpersönlich werde (GL 1049). Persönlichkeit ist dann Typus, Inbegriff einer Gemeinschaft bzw. eine Art Rassekonzentrat. Rasse ist aber nicht nur Voraussetzung für Persönlichkeit. Persönlichkeit muss umgekehrt auch Indiz für Rasse sein. Man könne, so Chamberlain, die Rassezugehörigkeit eines Menschen bereits an seiner Persönlichkeitsausprägung erkennen. Dieser Zugriff wird dann bedeutsam, wenn man ihn zur Richtlinie für die Beurteilung herausragender Menschen vergangener Epoche macht, in denen es noch gar kein Denken in rassischen Kategorien gab. Er ermöglichte es Chamberlain aber vor allem, praktisch all diejenigen historischen Persönlichkeiten, die er gerne als Arier vereinnahmen möchte, zu Angehörigen dieser Rasse machen.
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Gl 361: Mitten in einem Chaos können einzelne Individuen noch ganz reiner Rasse sein, oder, wenn das nicht, doch vorwiegend einer bestimmten Rasse angehören. Ein solcher Mann, wie Ambrosius z. B., ist ganz gewiss aus echtem, edlem Stamme, aus jener starken Rasse, die Roms Grösse gemacht hatte; zwar kann ich es nicht beweisen, denn in jener chaotischen Zeit weiss die Geschichte von keinem bedeutenden Manne genau anzugeben, woher er stammte; es kann aber auch Niemand das Gegenteil beweisen, und so muss seine Persönlichkeit entscheiden.
Der Persönlichkeitsbegriff Chamberlains ist einseitig und hierarchisierend. Zwar gesteht er allen Menschen, sofern er sie als Menschen akzeptiert, eine ähnliche äußerliche Gestalt zu, auch die gleichen organischen Voraussetzungen, doch keineswegs die gleichen Erkenntnisfähigkeiten. AW 26: Dagegen schwebt Max Müller als Ideal eine Art Paneklektizismus ("Grundsuppe", würde es Luther spöttisch genannt haben) aller Religionen und Philosophien der Welt vor, eine freilich weitverbreitete, doch nichtsdestoweniger ungeheuerliche Vorstellung. Denn die Verschiedenheit ist ein Naturgesetz, und Darwin hat eine Tendenz zum Auseinanderstreben (selbst wo ursprünglich Gleichartigkeit herrscht) bei allen Lebensformen nachgewiesen; nun ist aber der Mensch in gewissen Beziehungen, und zwar namentlich in bezug auf den Verstand, das feinst gegliederte aller Geschöpfe; es ist folglich schon rein empirisch naturwissenschaftlich klar, daß bei dem Menschen gerade der Verstand die reichste Stufenleiter verschiedengradiger und auch verschiedenartiger Entwicklung aufweisen muß, und zwar sowohl in der Form einer Verschiedenheit zwischen Mensch und Mensch, wie auch namentlich durch Rassenzüchtung. Max Müller‘s Behauptung, es existiere "kein spezifischer Unterschied" zwischen einem chinesischen Tâoisten und einem indischen Brahmanen, ist einfach haarsträubend. […] gleichwie alle Menschen Augen und Ohren haben, wenn auch nur ein einziger, durch und durch individueller Menschenschlag imstande war, den von den Göttern bevölkerten Olymp zu erschauen, und nur ein einziger anderer, Isoldens Liebestod zu "erhören".
Da seine Gedankenführung eben nicht auf dem Prinzip gleicher Ausgangsvoraussetzungen beruht, kann er gruppengebundene und gruppenspezifische Persönlichkeitsmerkmale so hervorheben, dass mit ihnen eine Wertungshierarchie errichtet werden kann, die bestimmte Gruppen aufund andere abwertet. In dieser Kollektivpersönlichkeit ist dann der Einzelne mit seiner Individualperson und seinen Individualbedingungen eingebettet. Bei Chamberlain ist das genetische Material kollektivbestimmt und kollektivbestimmend. Dies wiederum bedeutet, dass die Kollektivbestimmung des Menschen auf seine kulturellen, beruflichen und sozialen Fähigkeiten einwirkt und die drei Wahrnehmungskategorien Weltschemata, Umweltschemata und Selbstschemata prägt. Dies alles besagt in der Pointierung: jede einzelne Persönlichkeit ist kollektiv-, d. h. bei Chamberlain rassegeprägt. Die Bandbreite der Einzelausprägungen pendelt dann nicht je nach Umweltbedingungen, sondern je nach Rassezugehörigkeit.
2. Genie Dass das Phänomen der Genialität für Homo faber die höchste Bestätigung seiner Grundüberzeugung wurde, derzufolge das Werk eines Menschen mehr und größer ist als er selbst. Hannah Arendt16
Genie, das 1. >einem bestimmten Ausnahmemenschen, aber auch Völkern oder Menschengruppen inhärente, oft in ontologisierter Form wirkende außergewöhnlich kreative Gestaltungskraft, die kulturelle, gesellschaftliche Entwicklung möglich macht<; das Produkt dieser Schöpferkraft ist immer eine Kollektiverfindung (vgl. PI 11f.). – Bdv. u. Paraph.: Schöpferkraft (u. ö.), erfinderische Ader, Gestaltungskraft, Lebensflamme, die mehr Licht und Wärme ausstrahlt, "l‘activité de l‘âme" (AW 38); l‘activité de l‘âme – d. h. die höhere Wirkungskraft der Seele (Gl 1069); Volkskraft, geistige Glut genialer Empfindungsart (Kriegsaufsätze I / Weltstaat 37); Talent (Briefe); deutscher Geist (Gl Vorw. XVI); schöpferische Geistesthätigkeit (Gl 30); Blitzstrahlen, welche aus dem Gehirn der mit Schöpferkraft begabten Männer hervorleuchten (Gl 30f.); höchstes Phänomen […], welches die Natur uns darbietet (Gl 31); das glorreiche, freie Schaffen aus höchster schöpferischer Not (Gl 214); Kraft / das Germanische / die innere treibende Kraft, die Seelengrösse (Gl 832); Sehkraft (Gl 908); das Schöpferische – und das ist, was wir Genie nennen (Gl 952); Phantasie (Gl 952); Seelenkraft (Gl 1070). – Ktx.: Gottes Gegenwart (Br II, 171). – Ggb.: Mittelmäßigsein (Deutsche Sprache 28), Talent (Gl 214). – Präd. und Synt.: Genie als Subjekt: Genie liegt vielerorten latent / blüht im Verborgenen / schießt hier und da gewaltig empor (Grundstimmungen 14); das Genie in ihm leistet es (Goethe, Vorworte 10); das Genie gleicht nicht einem Orden / schlummert / wirkt in Hunderten und Tausenden, ehe der Einzelne sich hervortun kann (Gl 1075); das Genie der Natur (Gl 1082), das Genie katexochen (Br II, 171). Genie in Gleichsetzungskonstruktionen: Das Echte und das Unechte, …, das Genie und das Talent (Gl 214). Genie als Genitivattribut: Deutschland [ist] die Heimat des Genies; menschliche Erkenntnis durch die Fackel des Genies (Gl 31 s. v. 2); Ausbruch des Genies / Flamme des Genies (Gl 830); das plötzliche Verschwinden alles Genies (d. h. alles Germanischen) (Gl 832); Werke des unvergänglichen Genies (Gl 31); Kunst des Genies (Gl 1081); Mutwilligkeit des weltüberlegenen Genies (Gl 69). Genie als Akkusativobjekt: Genie besitzen (Goethe Vorworte 10; Gl 1069); er wagt es, Genie zu haben! (Gl 78). Genie in einem Präpositionalattribut: Verwandtschaft zwischen Genie und Wahnsinn (Gl 830); Halbgötter an Kraft, Schönheit und Genie (Gl 832). Genie mit Adjektivattribut: das freischöpferische (Gl 3) / musikalische (Gl 1114) / poetische (Grundstimmungen 14; Br I, 171) / deutsche (Gl Vorw. XVI) / staatsmännische Genie (Gl 952). – Wbg.: Organisationsgenie; Genialität, Universalgenie (Gl 288).
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Hannah Arendt, Vita activa 2003, 268.
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2. >besonders begabte Einzelperson als Inbegriff bzw. Verkörperung der schöpferischen Kraft eines Volkes bzw. einer Rasse<. – Bdv. und Paraph.: Persönlichkeit 2, Schöpfer, der geniale Einzelne, Meistergeist, Künstler, Held (Gl 162; 349; 1070!), Höhenmensch (Lebenswege 187), Erfinder (Gl 30), Seher (Wagner 178), phantasiemächtige Schöpfer (Gl 3; 31), Gestalt für diesen Wendepunkt der Geschichte (Gl 14), erhabenster (Lebenswege 187), schöpferischer Geist (Gl 30), Summe ungezählter, gleichgerichteter Seelen (Gl 321), geistig hervorragende Individuen / die tragenden Füsse, die bildenden Hände jedes Volkes, sie sind das Antlitz, welches wir Andere erblicken, sie sind das Auge, welches selber die übrige Welt in einer bestimmten Weise erschaut und dem übrigen Organismus mitteilt (Gl 349); die Persönlichkeit in ihrer reinsten Ausbildung (Gl 1049); Triumph der Persönlichkeit (Gl 1070); Gipfel der Menschheit (Lebenswege 186). – Ggb.: Semit; die Vielen; fragmentarischer (Lebenswege 187), gewöhnlicher Mensch, Menschenhaufe, Menschen in den Niederungen (ebd.). – Ktx.: weil er wie ein aus tausend und abertausend Wurzeln genährter Baum stark, schlank und gerade zum Himmel emporwächst – kein vereinzeltes Individuum, sondern die lebendige Summe ungezählter, gleichgerichteter Seelen (Gl 321); organisches Verhältnis zwischen der Rasse und ihrer Quintessenz, dem Helden oder Genie (Gl 349); die Persönlichkeit in ihrer höchsten Potenz, im Genie (Gl 1127). – Präd. und Synt.: Genie als Subjekt: unsere indoeuropäischen Genies (AW 38); das Genie findet kein Organ vor, woraus es Neues gestalten könnte (Sprache 28); "Genie" [ist] nur dort möglich, wo Genialität in der Luft liegt / ein Genie ist ein großer Geber, aber auch ein großer Nehmer/ erfordert viele Nehmer und viele Geber (Grundstimmungen 14); das Genie kann einzig in einer Atmosphäre der "Genialität" atmen (78); das Genie unterscheidet sich spezifisch vom gewöhnlichen Menschen (Gl 1081); das Genie streckt seine Wurzeln aus bis in die entlegensten Gebiete, saugt Nahrung von überall ein und trägt wiederum Lebenskraft überall hin (Gl 1081); ein die gesamte Menschheit überragendes Genie (Gl 321). Genie in Gleichsetzungskonstruktionen: die Natur ist das unzweideutige Genie, die eigentliche Erfinderin (Gl 1082). Genie als Genitivattribut: Leben und Schaffen (Wagner VI) / Wesen (offen zu 1; Wagner 44) / Tat (Deutschland als führender Weltstaat 37) / Bedeutung (Gl 295; Gl 950)/ Hochthaten (Gl344) / Auge (Gl 449) / Kunst (1058ff.; 1078ff. u. ö.) / Held – Bruder des Genies / Ideen des Genies (Gl 1069); die Augen des Genies (Gl 1071). Genie als Dativobjekt: unsere grossen wissenschaftlichen Theorien verdanken [nicht]* dem Genie allein ihre Ausgestaltung (Gl 950). Genie in einer präpositionalen Nominalgruppe: Verwandtschaft zum Genie in jeder freien, d. h. zur Originalität befähigten Persönlichkeit (Gl 1081); unsere grossen wissenschaftlichen Theorien sind [nicht]* ohne das Genie denkbar (Gl 950). Genie mit Adjektivattribut: das schöpferische (Gl 30) / philosophische / dichterische / plastische (Gl 30) / organisatorische (Gl 145) / religiöse (Gl 526) / unreligiöse (Gl 226)/ moralische (Gl 656) / echte (1081) Genie. – Wbg.: dichterische Weltgenies (Br II, 171; Gl 14).
140 Das Wortfeld 'Mensch'
Hannah Arendt spricht von der götzendienerischen Verehrung, die die Neuzeit dem Genie entgegengebracht17 habe, oder davon, dass Produktivität und schöpferische Genialität die Götter und Götzen der Neuzeit seien.18 Schon bei Persönlichkeit ist dieser Kult auch bei Chamberlain deutlich geworden. Das Wort ist als partiell synonym zu Genie zu lesen, bzw. als Kernbegriff für Genialität überhaupt. Denn das Genie ist, wie Chamberlain selbst sagt, die Persönlichkeit in ihrer reinsten Ausbildung (GL 1049) / in ihrer höchsten Potenz (GL 1127), es ist die freie, d. h. zur Originalität befähigte Persönlichkeit (Gl 1081), sogar der Triumph der Persönlichkeit (Gl 1070). Entsprechend gelten Kollektivbestimmtheit und die Rassegebundenheit, also das zum Artikel Persönlichkeit Beschriebene, in potenzierter Form auch für Genie, und zwar in der Folge: von der Rasse zur Persönlichkeit, von dieser zum Genie. Dann müssen sich, jedenfalls wenn man keine vollständige Synonymie annehmen will, für Genie noch zusätzliche Potenzen nachweisen lassen. Diese liegen in der Betonung der 'schöpferischen Produktivität'. War diese oben schon als dasjenige vermerkt worden, was die Persönlichkeit ausmacht, so sind im Kontext von Genie besonders die semantischen Gehalte von Kraft, Gestaltung und Schöpfertum auffallend. Ein Genie ist nicht nur allgemein eine produktive Persönlichkeit, sondern es ist Schöpfer, Künstler, sogar Held, eine Person, die sich über Schöpferkraft, Gestaltungskraft, Volkskraft, Seelenkraft definiert. In ihm mag sich Gottes Gegenwart verkörpern, es ist aber nie das Einzelverdienst einer Einzelpersönlichkeit, vielmehr Ausdruck einer Größe 'Gentilgenie', denn: Gl 1075: das Genie [...] schlummert, und schlummert nicht bloss, sondern wirkt auch in Hunderten und Tausenden, ehe der Einzelne sich hervortun kann.
Das Hinauswachsen des Menschen aus einem Daseinszustand, der mit schlummern angedeutet wird, über sich selbst, das ist der Traum, der schon immer geträumt wurde, und der in der genialen Persönlichkeit Realität werden kann. Doch Genies sind die nochmals eine Stufe höher liegende Emanation einer Kraft, einer Flamme, einer Fackel, verstanden als germanische Volkskraft. Sie sind nicht Produkte ihrer selbst oder einer entscheidungsfreien Mündigkeit, sondern die am weitesten vorgetriebene Spitze kollektiv- und rassebestimmter Grundlagen. Die Bildlichkeit ist wieder sprechend: das Genie im Sinne einer Gestaltungs– und Schöpferkraft kann schlummern, vielerorten latent sein, dann dem Unbestimmten (wie der Zeit, dem Todesschatten) entsteigen, sich offenbaren, das heißt plötzlich ausbrechen, hier und da gewaltig empor schießen und wieder verschwinden. Das Genie gleicht in dieser Beschreibung einer Naturerscheinung bzw. einem göttlichen Lebensprinzip. _____________ 17 18
Arendt 2003, 268. Ebd. 377.
141 Genie
Gl 214: denn das Genie ist wie Gott: zwar offenbart es sich in einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen, seinem Wesen nach ist es aber unbedingt, was Anderen zu Ketten wird, daraus schmiedet es sich Flügel, es entsteigt der Zeit und ihrem Todesschatten und geht lebendig ein in die Ewigkeit. In Rom dagegen, man darf es kühn behaupten, war das Genie überhaupt verboten.
Immer scheint es innerhalb der germanischen Rasse als präsent durch. Wer nicht zu dieser Gruppe gehört, kann kein Genie besitzen, denn Deutschland ist die Heimat des Genies, und das Germanische selbst wird zum Synonym: das plötzliche Verschwinden alles Genies, d. h. alles Germanischen (Gl 832). Chamberlains Geniekult verbindet sich damit bis zur Identität mit dem Germanenkult und hat nur bedingt etwas mit dem Geniekult der Neuzeit, den Hannah Arendt mit Homo faber in Zusammenhang bringt, gemein. Chamberlains Genie ist nur Kollektiv, nie Individuum, eben die Summe ungezählter, gleichgerichteter Seelen (Gl 321). Auch diese Orientierung auf die immer wiederkehrende 'Seele' ist nicht zufällig. Genie bezieht sich im Kern nicht allein auf künstlerische oder technische Bereiche, also auf das Genie im produktiven Sinne, sondern umfasst den Menschen in seiner Ganzheit. 'Genie' kann der Mensch auch unter moralischen und sittlichen Aspekten sein, was Qualitäten betrifft, auf die das Wort heute nicht angewandt wird. Auch die Bedeutungsverwandtschaft zu Held betont dies (vgl. s. v. Held). Helden wie Genies gehören prinzipiell einer einzelnen Nation an und verkörpern sie; beide Größen sind geradezu nationalistisch bestimmt und bestimmend. Für Chamberlain, der Rasse und Nation gleichstellt, verkörpern Helden sogar die Quintessenz der Rasse, ähnlich wie das bedeutungsverwandte Genie19. Chamberlains Geniebegriff umfasst daher dasjenige, was er geschichtsphilosophisch als arische Utopie beschreibt, als einen Menschen, dessen Persönlichkeit politisch, kulturell und gesellschaftlich den Inbegriff des Arischen darstellt. Gl 349: Ebenso wichtig wie die klare Erkenntnis des organischen Verhältnisses zwischen Rasse und Nation, ist die des organischen Verhältnisses zwischen der Rasse und ihrer Quintessenz, dem Helden, oder Genie. [...] Hervorgebracht werden sie jedoch vom gesamten Körper; nur durch dessen Lebensthätigkeit können sie entstehen, nur an ihm und in ihm gewinnen sie Bedeutung.
Die Organismusmetaphorik ist vielsagend. Genies (im Sinne von Bed. 2) und Helden mögen, wie es im Umfeld des Zitates heißt, die eigentlich handelnden Wesen eines Volkes sein, für das Volk denken, sehen und handeln. Sie sind Kopf und Hand gleichermaßen. Die stilistische Argumentationsfigur hebt diese Überhöhung wieder auf, indem sie eine Konzession ist, der prompt das logische 'aber' in der Form von jedoch, der Ein_____________ 19
Vgl. auch Chamberlain, Wagner, 264. Dort differenziert er noch zusätzlich zwischen verschiedenen Genietypen: Dichter, Seher und Künstler.
142 Das Wortfeld 'Mensch'
leitung des Rhemas dieses Textteils, folgt: Sie sind eben immer nur die Extremitäten des Gesamtkörpers, gewinnen nur an und in ihm Bedeutung. Was sich auf den ersten Blick auszuschließen scheint, nämlich die Überhöhung der großen Persönlichkeit auf der einen Seite, genannt werden u. a. Homer, Euklid, Friedrich der Große und Wagner, und das Rassekollektiv als das kultur- und staatsbildende Prinzip auf der anderen Seite, wird hier zusammengeführt, und zwar in der Weise, dass die Persönlichkeit, das Genie und der Held bei aller Überhöhung doch in die organische Abhängigkeit von 'Rasse' gebracht werden. Die dies stützende Metaphorik (s. Körper, Lebensthätigkeit) findet sich später bei A. Rosenberg in der Wortbildung Rassenkörper wieder.20
3. Held Wir können uns auf der Bühne keinen antiken oder modernen Charakter, sei es ein Held oder ein Liebender, von einem Juden dargestellt denken, ohne unwillkürlich das bis zur Lächerlichkeit Ungeeignete einer solchen Vorstellung zu empfinden. Richard Wagner 5, 69.
Held, der 1. a) >eine sich durch Mut und Tapferkeit besonders auszeichnende Einzelperson als Inbegriff ("Quintessenz der Rasse"; s. o.) bzw. Verkörperung der schöpferischen, vor allem auch kämpferischen Kraft einer Rasse<. Auf dem Hintergrund eines propagierten allumfassenden Lebenskampfes ist der Bezugsrahmen des Helden nicht mehr nur allein durch den Krieg bestimmt, sondern umfasst alle Bereiche, die im Aktionsfeld des von Chamberlain proklamierten Überlebenskampfes der Rasse maßgeblich sind. Dazu gehören in seinen Augen vor allem die Kultur und die Geisteswelt. Die engere kriegsbezogene Bedeutung ist nur mehr eine Speziali_____________ 20
Rosenberg, Mythus 1934, 31: "Ein Cankara versucht eine Neugestaltung indischer Philosophie. Es ist umsonst; durch ein zu weites Atemholen sind die Blutadern des Rassenkörpers gesprengt, arisch-indisches Blut fließt aus, gesickert und düngt nur noch stellenweise das dunkle es aufsaugende Erdreich Altindiens, hinterläßt fürs Leben nur ein philosophischtechnisches Zuchtregiment, das in seiner späteren wahnwitzigen Verzerrung das Hinduleben von heute beherrscht."
143 Held
sierung. b) >Kriegsheld, Person, die sich im Krieg oder Kampf durch Tapferkeit und Mut auszeichnet<. – Bdv.: s. v. Genie 2; Mensch 2; 3. – Ggb.: meteorischer Held. – Paraph.: Quintessenz der Rasse (Gl 349). – Präd. und Synt.: Held als Subjekt: der wahre Held entspringt einer Gesamtheit [...] gleichsam als verdichteter Ausdruck Aller an Einzelne und in Einzelnen zerstreuten Kräfte (Kriegsaufsätze I / Deutschland 75); in vielen von uns (der Krieg zeigt es wieder) schlummert der Held (Wille / Wille 8); für diese Heraklesarbeit reichte nicht ein einzelner Held, nur ein ganzes Volk von Helden konnte sie vollbringen (Gl 175). Held in Gleichsetzungs- und Vergleichskonstruktionen: Held sein ist deutsch! (Vorw. zur 3. Aufl. XII); Der eigentliche germanische Deutsche ist Philister und Held (Wille / Wille 16); Schmerzen wie ein Held ertragen (Gl 571); Rasse und ihre Quintessenz, der Held* (Gl 349). Held als Genitivattribut: gesund und scharfsinnig urteilende Männer werden niemals an dem wirklichen Dasein dieser grossen moralischen Helden gezweifelt haben (Gl 225). Held als Akkusativobjekt: wer den Helden in ihm [dem Deutschen] weckt (Wille / Wille 16); die Helden seines Stammes erblickt er [als Übermenschen] (Gl 261). Held in einer präpositionalen Nominalgruppe: ein Volk von Helden (Gl 175); einen Mann zu einem Helden stempeln (Gl 1069); der Held unter den Orientalisten (AW 15). Held mit Adjektivattribut: wahrer (Kriegsaufsätze I / Deutschland 75; Wagner 90) / politischer (Gl 144) / einzelner (Gl 162; 175) / großer, moralischer Held (Gl 225) / ruhmgekrönter (Wagner 88)/ siegessicherer Held (Gl 245). – Wbg. Heldenanbetung (Gl 349), Heldenattribute (Gl 560), Heldenblatt (Gl 271), Heldengeringschätzung (Gl 349), Heldengeschlecht (Gl 169), Heldengestalt (Gl 560), Heldengröße (Br I, 162), Heldenherz (Gl 359), Heldenjüngling (Dt. Friede 102), Heldenkampf (Lebenswege 146), Heldenkraft (Vorw. 14. Aufl. XVIII u. ö.; dazu: deutsche Heldenkraft, ebd. XXIII), Heldenmut (Gl 473), Heldensinn (ebd. XXV), Heldentat (Br II, 261; Gl 289 u. ö.), Heldentum (Br II, 70; Wille/ Heldenanleihe 47f.; Gl 78).), Heldenverehrer (Kriegsaufsätze I / Deutschland 75; Gl 26), Heldenvolk (Gl 181) Heldenzeit (Gl 197); heldenhaft (Zuversicht 5; Ideal und Macht 14 u. ö.), subst. dazu: das Heldenhafte (Wagner 67 u.ö.), Heldenhaftigkeit (Gl 245); heldenmässig (Gl 1069); Waffenheld (Gl 843), Willensheld (Wille / Wille 7).
Zur Spezialisierung 1. b) >Kriegsheld<: – Präd. und Synt.: Held als Subjekt: unsere Helden siegten auf allen Fronten (Vorw. 14. Aufl. XX); Die deutschen Helden in den Schützengräben (Zuversicht 26). Held als Genitivattribut: Taten der Helden zu Land und zu Wasser (Demokratische Wahn 6). Held als Dativobjekt: verhängnisvolle Einschränkungen, die […] zahlreichen Helden das Leben raubten (Vorw. 14. Aufl. XXI). Held als Akkusativobjekt: die heimkehrenden Helden beglücken (Demokratische Wahn 55). Held mit Adjektivattribut: deutsche Helden (Zuversicht 26). – Wbg. Heldenanleihe (Wille / Heldenanleihe 47f.); Schlachtenheld (Gl 162).
2. allg. >Hauptfigur in einem literarischen Werk<; speziell: >die Titelfigur in einem Drama oder in einer Sage<. Die Vorstellung vom Helden, wie sie in Bedeutung 1 angesetzt wurde, muss reziprok zur literarischen Bearbeitung durch Autoren wie Wagner gesehen werden. Sie ist als Vorstellung das Ergebnis dieser literarischen Verarbeitung, die selbst als ein Spiegel der geistesgeschichtlichen Tradition zu lesen ist.
144 Das Wortfeld 'Mensch'
– Präd. und Synt. (in Auswahl): Held als Subjekt: Seine (Shakespeares) Helden sollten keine poetischen Reden halten (Gl 1110); der Held des Stückes […] (Wagner 87). Held als Genitivobjekt: Wotan‘s Herz freut sich des kindlichen, frohen, neidlosen Helden (Wagner 107); Seelenvorgänge des Helden (Wagner 74), Bild / Seele (ebd. 83), Figur (ebd. 128) / Gestalt des Helden (ebd. 130). Held als Genitivattribut: der Kampf endet mit dem Siege des Helden (Wagner 90). Held als Akkusativobjekt: Der Liebestrank rettet also den Helden vor der sicheren Verachtung (Wagner 69); Erschauen wir den Helden dieser großen Tragödie (Wagner 111). Held mit Adjektivattribut: kindliche[r], frohe[r], neidlose[r] Held (Wagner 107), der letzte Held (ebd. 111), ein freier Held (ebd. 121). – Wbg.: Heldencyklus (Gl 473), Heldensage (AW 44), Heldengedicht (PI 75).
Bei den Ausführungen zu Genie ist bereits auf die semantische Parallelität zu Held hingewiesen worden. Wie im letzten Geniebeleg (s. o.: Gl 349) deutlich wird, ist der Held nicht nur die Titelfigur in den Wagnerschen Dramen (Bed. 2), nicht nur das bevorzugte Thema Wagnerscher Schriften und Kompositionen, sondern er steht auch bei Chamberlain im Mittelpunkt seiner Konstrukte. Er paraphrasiert ihn als die Quintessenz der Rasse (Gl 349), setzt ihn mit Genie gleich, an anderer Stelle nennt er ihn den Bruder des Genies oder die Persönlichkeit in ihrer höchsten Potenz (Gl 1070); der Held entspringt einer Gesamtheit (Kriegsaufsätze I / Deutschland. 75), ist Ausfluß, Inbegriff und Sinnbild einer Gesamtheit (Wille / Vaterlands-Partei 37) oder verdichteter Ausdruck aller Kräfte (Kriegsaufsätze I / Deutschland 75). Die fließenden Übergänge zwischen Held, Genie und Persönlichkeit werden deutlich, können doch alle drei Ausdrücke durch die genannten Paraphrasen ersetzt werden. Chamberlains Heldensemantik spiegelt den Schatten des Überschwiegervaters Wagner wider: Richard Wagner, Heldenthum und Christenthum 274f.21: Und diese Möglichkeit stets noch aus dem Ur-Bronnen unserer eigenen Natur zu schöpfen, welche uns nicht mehr als eine Race, als eine Abart der Menschheit, sondern als einen Urstamm der Menschheit selbst fühlen läßt, sie erzog uns von je die großen Männer und geistigen Helden, von denen es uns nicht zu bekümmern braucht, ob die Schöpfer fremder vaterloser Zivilisationen sie zu verstehen und zu schätzen vermögen; wogegen wir im Stande sind, von den Thaten und Gaben unserer Vorfahren erfüllt, mit klarem Geiste erschauend, jene wiederum selbst richtig zu erkennen und nach dem ihrem Werke inwohnenden Geiste reiner Menschlichkeit zu würdigen.
Mit dem Wort Held wird von Chamberlain zwar auch auf das Millionenheer im Weltkrieg referiert, speziell immer wieder auf den Kriegshelden Hindenburg (Wille / Vaterlands=Partei 37), aber in der Regel bezieht er es auf geistige Helden (s. o.), Genies und Persönlichkeiten, extensional besonders auf Wagner, Luther und Bismarck. Das bereits beschriebene Muster wiederholt sich: Kein Held ist Einzelpersönlichkeit und Individuum, wie _____________ 21
Wagner 10, 274f.
145 Held
Chamberlain es ausdrückt (Kriegsaufsätze I / Deutschland 74): meteorischer Held, der nirgends herkommt und nirgends hingeht, folglich allen bleibenden Untergrunds entbehrt. Kriegsaufsätze I / Deutschland 75: Nein, der wahre Held entspringt einer Gesamtheit, gleichsam als verdichteter Ausdruck Aller an Einzelne und in Einzelnen zerstreuten Kräfte, um somit diese Gesamtheit zu Leistungen hinzureißen, die ihr durchaus gemäß sind, zu deren Vollbringung sie jedoch ohne den einen Unvergleichlichen nie gelangt wäre. Das deutlichste Beispiel aus unserer Zeit bietet uns Richard Wagner, dessen Kunst nie gegen eine Meer von Haß und Verleumdung hätte siegen können, wenn sie nicht den besonderen Ansprüchen und Hoffnungen der deutschen Seele entsprochen hätte, verwirklichend, was Tausende dunkel erträumt und Einzelne tastend gesucht hatten, was aber nur der eine Gottgesandte zu finden fähig war.
Helden sind an das Kollektiv gekoppelt, genauso wie die Genies und alle anderen herausragenden Persönlichkeiten. Sie sind Verkörperungen des rassischen Prinzips, nicht heimatlos. Doch die Bezeichnung Held steht für eine über das semantisch Gemeinsame zu Genie hinausgehende Konnotation. Das Wort ist zwar dem militärischen Bereich entnommen; es ist aber genauso typisch für den Bereich des Theatralischen. Der Held steht einerseits für das Kämpferische und Kriegerische und andererseits für die dramatische Inszenierung. Das Verb siegen passt zum ersten Bereich, die Vorstellung von Befehl und Gehorsam ebenfalls (vgl. dazu Gl 175): ein ganzes Volk von Helden konnte sie [Heraklesarbeit] vollbringen, ein jeder stark genug zum Befehlen, ein jeder stolz genug zum Gehorchen. Die zweite Bedeutung des Wortes spiegelt das Literarische. Immer wieder geht es um den deutschen Helden Siegfried, den Chamberlain auch den Gottesstreiter nennt (Zuversicht 11 u.ö.), um den keltischen Tristan (Gl 562), besonders aber um Parsival, der zum Inbegriff der künstlerischen Erlösung geworden war (Wagner 127f.), also zumeist um die Figuren in Wagners Operndramen. Und hier schließt sich an, warum die Referenzierung des Wortes Held auf den Künstler Wagner gleichermaßen überraschend wie bezeichnend ist. Die Kunst wird von Chamberlain zur Waffe im längst erklärten Rassenkrieg, der Künstler Wagner zum Streiter eines lebenslangen Heldenkampfes (Lebenswege 146) stilisiert. Seine von ihm geschaffenen Helden sind dazu da, die Welt kulturell und religiös zu retten, und dies nicht nur im Drama. Es bleibt jedoch nicht dabei, dass nur die Kunst zusammen mit ihren fiktiven Helden ins metaphorische Gefecht ziehen muss. Spätestens im Weltkrieg wird aus der Inszenierung tödliche Realität. Für Chamberlain bedeutet dies, dass er von nun an verstärkt auch militärische Personen als Helden inszenieren kann. Aber auch hier gilt: Hinter allem Großen, die Welt Veränderndem oder Künstlerischem stehen in seiner Denkweise als eigentlicher Motor der Kultur wieder Rasse und Nation, nunmehr verkörpert im Helden.
146 Das Wortfeld 'Mensch'
Wille / Vaterlands=Partei 37ff.: Und ist auch ein Hindenburg vom Himmel geschenkt, nicht fällt er vom Himmel herab; vielmehr ist eine solche Erscheinung genau bedingt durch das Rassenblut, das in seinen Adern kreist und durch die Geschichte des Volkes, dem er entstammt. Zu allen Zeiten war und ist der Held; mag er diese noch so sehr überragen, sie schuf ihn, sie trägt ihn, sie ist das Geheimnis seiner Sicherheit, seiner Unfehlbarkeit. Von Otto bis Friedrich, von Luther bis Bismarck: alle deutschen Helden bezeugen dies.
Chamberlain unterscheidet zwar Glaubenshelden (Wille / Das eine und das andere Deutschland 29ff. u. ö.), Willenshelden (Wille 7), Waffenhelden22 (Gl 784), deutsche (s. o. Beleg), nationale (Gl 801) oder moralische (Gl 225) Helden. Er spricht vom Messias als dem Helden aus dem Stamme Davids (Gl 655) und den Helden aus dem Stamm der Arier als Übermenschen (Gl 26123). Doch sind all diese letztlich nur Ausprägungen desselben rassischen Prinzips. Und während die Griechen, für ihn das Heldenvolk (Gl 176; 78) überhaupt, durch den semitisch-asiatischen Bann dem Untergang nicht entkommen konnten, seien die Germanen das jugendliche Heldengeschlecht, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt (Gl 169). Heldentum als Lebensprinzip24 und Heldenkraft als das Produkt der inneren Einstellung des Heldensinns25 sind Kennzeichnungen, die in ihrer positiven Postulierung ausschließlich den Germanen zugeschrieben werden. Ganz spezifisch wird Chamberlain im Vorwort seiner 1920 erschienenen 13. Auflage der Grundlagen:26 Gl Vorwort XIV: Das Deutschtum steht und fällt mit seinen großen Männern. Auf die vielberührte Frage "Was ist deutsch?" lautet die zutreffendste Antwort – sobald man den Blick auf das "eine Deutschland" einschränkt –: Held sein ist deutsch!
Selbst als seine "deutschen Helden" den Weltkrieg verloren hatten, hielt Chamberlain an seinem Heldenkonstrukt fest. Heldenkraft und Volkskraft werden dabei zu tragfähigen Ideologiesynonymen, das Wortfeld zum _____________ 22
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Gl 843: "Und wollten wir den ganz genauen Antipoden des arischen Inders bezeichnen, so müssten wir den Chinesen nennen: den egalitären Sozialisten im Gegensatze zum unbedingten Aristokraten, den unkriegerischen Bauern im Gegensatze zum geborenen Waffenhelden, den Utilitarier par excellence im Gegensatze zum Idealisten, den Positivisten, der organisch unfähig scheint, sich auch nur bis zur Vorstellung des metaphysischen Denkens zu erheben, im Gegensatze zu jenem geborenen Metaphysiker, dem wir Europäer nachstaunen, ohne wähnen zu dürfen, dass wir ihn jemals erreichen könnten. Und dabei isst der Chinese, wie gesagt, noch mehr Reis als der Indoarier!" Der Arier: Gl 261: "Wie anders der Arier! […] Die Helden seines Stammes und seine heiligen Männer erblickt er als "Übermenschen" (wie Goethe sagt) hoch über der Erde schweben; ihnen will er gleichen, denn auch ihn zieht es hinan, und jetzt weiss er, aus welch‘ tief innerem Brunnen sie die Kraft schöpften, gross zu sein – Dieser Blick in die unerforschlichen Tiefen des eigenen Innern, diese Sehnsucht nach oben: das ist Religion." Wille / Heldenanleihe 47ff. Gl. Vorw. zur 14 Aufl. XXVI und davor schon XXIII. Vgl. auch: IuM 10: "Das wahrhaft Deutsche ist immer heldenhaft, es enthält immer - wie Goethe es forderte - ein Überschwengliches".
147 Held
Sinnbezirk des 'Helden' erhält einen begrifflichen Hintergrund, auf dem Individualtaten und damit Einzelpersönlichkeiten als autonome Größen keinen Platz haben können. Dies hat auch die Konsequenz, dass er bestimmte Einzelne in dem Augenblick, in dem sie sich aufgrund ihres Misserfolgs als nicht geborene Führer erweisen, abwerten kann. Er braucht dafür nur die Umkehrung der Argumente. Gl Vorw. zur 14. Aufl. XVIII: siehe da! Auf allen Fronten zugleich angegriffen, siegten unsere Helden auf allen Fronten, und verwehrten dem Feinde in vierjährigem Kriege, auf irgend einer Stelle deutschen Bodens Fuss zu fassen. Ein wahres Wunder! Ein umso grösseres, als im Gegensatz zu den Kriegen Wilhelms I., die mit vollendeter militärischer Genialität und unterstützt durch meisterliche Staatskunst geführt wurden, in diesem Falle lange Zeit verstrich, ehe die geborenen Führer an die Spitze der Heeresmacht berufen wurden, die Seemacht aber des vom Schicksal klar bestimmten Gebieters überhaupt verwaist blieb und die politische Leitung sowohl im Innern wie nach Aussen hin von der ersten Stunde an kläglich versagte. So handelt es sich denn nicht um den Sieg eines genialen Einzelnen, sondern es handelt sieh um einen Sieg der gesamten deutschen Volkskraft.
4. Individuum Von hier [Konservativismus] aus wäre möglich gewesen, dem Liberalismus den Protest entgegenzusetzen, der Ratio die Religio, dem Individuum die Gemeinschaft, der Auflösung die Bindung, und dem "Fortschritte" das Wachstum. Artur Moeller van den Bruck27
Individuum, das, 1. >die vorausgesetzten Rassekennzeichen in maximaler Verdichtung aufweisendes, insofern nicht als real konzipiertes, sondern abstrakt und gleichzeitig ideal gedachtes menschliches Einzelwesen, Idee eines Rasseindividuums<; dieses abstrakte Idealwesen ist ein Unikat (s. u. Unvergleichliches, dass nie war und nie wieder sein wird), das qualitativ nur in "rasseübergreifender" Perspektive von anderen derartigen Unikaten unterscheidbar ist. In "rasseinterner" Perspektive mag es sich in mehreren menschlichen Einzelwesen verkörpern, diese sind aber nicht durch je eigene Specifica und damit Andersartigkeit voneinander unterschieden, sondern durch ein Mehr oder Weniger an Rassekennzeichen. In dieser Konstruktion wird es möglich, das Idealwesen auch als Synekdoche im Sinne von Nation >durch gleiche Rasse gekennzeichnete Großgruppe von Menschen< zu verstehen (z. B. nationale Individuen; Gl 793). – Bdv.: Mensch 2 (Wagner 13), Persönlichkeit 1 (Vorr. Kant 8), Weltgeist (AW 57); das Ewigwährende / Niewiederkehren_____________ 27
Artur Moeller van den Bruck, Das dritte Reich 1926, 135.
148 Das Wortfeld 'Mensch'
de / Unteilbare / Unvergleichliche (Kant 93). – Paraph.: Verkörperung des Weltgedankens (Gl 896). – Präd. und Synt.: Individuum als Subjekt: hier tritt, wie die Göttin aus dem Schaume, das Individuum aus der Menge heraus, ein Neues, Unvergleichliches, [...] (Kant 93); das Individuum [bleibt] das eigentliche mysterium magnum (Lebenswege 268); jegliches Individuum spricht mit dem Gott [...] und steht als ein neues Unerforschliches, nicht zu Ergründendes da (GL 90); das Individuum kann nur innerhalb bestimmter Bedingungen, welche in das Wort "Rasse" zusammengefasst werden, zu der vollen, edelsten Entfaltung seiner Anlagen gelangen (GL 369); Grundstock […] woraus […] Individuen von durchschnittlich höherem Werte hervorgehen (Gl 370); zahlreiche Individuen mit geradezu "überschwänglichen" Eigenschaften [entstehen] (Gl 370); das menschliche Individuum kann nicht als vereinzeltes Individuum (Bed. 3), nicht als beliebig austauschbarer Brettstein, sondern nur als Teil eines organischen Ganzen, eines besonderen Geschlechtes seine höchste Bestimmung erfüllen (Gl 371); nur das bewusste, freie Individuum erhebt sich zum Verständnis der Unvergleichlichkeit anderer Individualitäten28 (Gl 850). Individuum in Gleichsetzungskonstruktionen: dass wir Nordeuropäer als bestimmtes Individuum dastehen (Gl 859). Individuum als Genitivattribut: die Empörung (AW 46) / das Besondere und Unterscheidende (Kant 12) / die Entwickelung (Kant 59) / das Denken (Kant 589) / die Denkkraft (Kant 589) / die Einheitlichkeit (Kant 569) / die unvergleichlichen Eigenschaften / das Wesen (GL 90) / die Freiheit (Gl 832) / der innerste Mittelpunkt des Individuums (Gl 863); [die Treue gegen das eigene Blut] ist eine freie Selbstbestimmung des Individuums (GL 460); [Reformation] eine Lossagung zugleich des Individuums und der Nation (Gl 567). Individuum als Akkusativobjekt: dieses System kann nationale Individuen [nicht] in ihrer Eigenart und als Grundlage geschichtlichen Geschehens anerkennen (Gl 793). Individuum in einer präpositionalen Nominalgruppe: Rasse ist für die Kollektivität, was Persönlichkeit für das Individuum (Br I, 149); dass die Wahl der miteinander Zeugenden von entscheidendstem Einfluss auf das neugezeugte Individuum ist (Gl 370); [wer einen Schädel zu lesen weiß] der könnte über das Individuum viel aussagen (GL 446). Individuum mit Adjektivattribut: das bewusste, freie (Gl 850) / menschliche (Gl 371) / lebendige (Gl 90) / nationale Individuum (Gl 793). – Wbg. Individualität (AW 57; Br II, 134 u.ö.), individuell (Gl 10 u. ö.).
2. >Einzelmensch als fest eingebundener Teil eines geordneten Weltgefüges<; mit positiver Extension in der Regel bezogen auf den Einzelmenschen, der sich aus der Masse der Gleichen heraushebt, und zwar aufgrund von Rasse (Gl 362), Tradition und nationaler Zugehörigkeit sowie mit der Veranlagung zu Persönlichkeit und Genie in religiöser Perspektive: >Einzelseele als eine über den Tod hinausgehende Wesenheit<; übertragen auch bezogen auf Sachgegebenheiten (z. B. bezogen auf das Buch Grundlagen; Vorw. Volksausgabe Gl 1906, XVII). Häufig kommt das Wort im Beschreibungskotext zu bestimmten Persönlichkeiten vor. – Bdv.: Mensch 3 (Wagner 13), Persönlichkeit 2 (Vorr. Kant 8; Gl 793); der Einzelne (PI 48); der Künstler (Kant 93); solche Männer (Kant 93). – Paraph.: des in der
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Auch hier ist mit Individuum das Volksindividuum gemeint, nicht der freie Einzelmensch.
149 Individuum
Geschichte einzig Wirksamen (GL 10). – Ggb.: Kollektivität (Br I, 148f.); das Ganze (PI 49). – Präd. und Synt.: Individuum als Subjekt: jedes Individuum handelt nach der Notwendigkeit seiner Natur (GL 190); [dass] ein Individuum schon dreissig Voreltern zählt (GL 326); das begabteste Individuum lebt einem überindividuellen Zwecke (Gl 370); das einzelne Individuum erscheint zu blass, um für mehr als den Schatten einer wahren Idee gehalten zu werden (Gl 948). Individuum im Gleichsetzungsnominativ und in Vergleichskonstruktionen: als ein Individuum steht es da (Vorw. Volksausgabe Gl 1906, XVII bezogen auf das Buch "Grundlagen"). Individuum als Genitivattribut oder -objekt: Einheit des Individuums (Wagner 13); Beobachtung des einzelnen Individuums (Lebenswege 134); des bestimmten Individuums gedenken (GL 10); dem Leben des einzelnen Individuums (k)eine Bedeutung beilegen (Gl 52); wodurch (durch Christus) das Verhältnis des Individuums zu sich selbst, [...] eine früher ungeahnte Beleuchtung erfahren muss (Gl 223); Ungleichheit der menschlichen Individuen (Gl 573). Individuum als Dativobjekt: die Persönlichkeit gehört dem einzelnen Individuum an (GL 543). Individuum in einer präpositionalen Nominalgruppe: die Sprache, d. h. also die Mitteilung von Empfindungen und Urteilen durch ein Individuum an ein anderes (GL 61); es kommt […] auf dessen Verhältnis [Individuum] zu anderen Individuen an (GL 362); etw. (Leidenschaftlichkeit) hängt vom einzelnen Individuum ab (Gl 903); ihr Wert bleibt auf das Individuum beschränkt (Gl 948). Individuum mit Adjektivattribut: excessiv künstlerisch veranlagtes Individuum ({bezogen auf Goethe}; Kant 29); einzelne (Lebenswege 134) / menschliche (Gl 792 u. ö.) / hervorragend energische (Gl 981) Individuen.
3. im negativen Sinne: >ungebundenes, orientierungsloses und von der Weltordnung losgelöstes Einzelwesen, in seiner Vereinzelung, Uneinheitlichkeit und Zerrissenheit hervorgegangen aus dem Völkerchaos<; Pejorisierung von 2. – Bdv.: Mensch 4; Menschenhaufen (GL 362); physiognomieloses Menschenchaos (Gl 981). – Präd. und Synt.: Individuum als Subjekt: aus dem, was das Individuum für sich fordert, entsteht nichts, was Dauer besitze (PI 48); das Individuum stellt das Vergängliche dar (PI 49); Das vereinzelte Individuum ist einem chemischen Atom mit geringer Bindekraft zu vergleichen; es wird aufgesogen, vernichtet (Gl 982). Individuum im Gleichsetzungsnominativ: das Genie, […] – kein vereinzeltes Individuum (GL 321). Individuum als Genitivattribut oder -objekt: die ungebundene Freikultur des losgelösten Individuums (Br II, 140); Irrfahrt eines losgerissenen Individuums (GL Vorw. zur 1. Aufl. XIV). Individuum als Dativobjekt: [jüdische Glaube] der dem Individuum jegliche Freiheit nahm (GL 515). Individuum in einer präpositionalen Nominalgruppe: Aus ihm* [Individuum] entsteht weder Sprache noch Civilisation noch Kultur, weder Recht noch Kunst noch Wissenschaft noch Religion (PI 48); [Rasse] zeichnet ihn [einen Menschen] vor dem aus einem chaotischen Mischmasch von allerhand Völkern hervorgegangenen Individuum aus (GL 321). Individuum mit Adjektivattribut: das losgelöste (Br II, 140) / vereinzelte (Gl 321; 982) / losgerissene Individuum.
Im semasiologischen Feld von Individuum wird deutlich, dass wir es hier mit drei Größen zu tun haben, zum einen mit dem "Ideal-, Rasseindividuum" (Bed. 1), dann mit dem Einzelindividuum (Bed. 2), das als Glied
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eines geordneten Weltgefüges die Eigenschaften des Kollektivindividuums in sich trägt. Die dritte Bedeutung bezieht sich auf die Menschen, die durch die Substanzlosigkeit ihrer Vereinzelung an den unteren Rand des Spektrums von Mensch gerückt und damit in die Nähe des Tieres argumentiert werden, tendenziell sogar aus dem Menschsein herausfallen. Sie haben keine Merkmale des Individuums im Sinne von Bed. 1, sind nicht Teil einer größeren Ordnung. Sie sind losgelöst, vereinzelt und besitzen aufgrund ihrer Zerrissenheit keinerlei Schöpferkraft. Diese Hinweise würden schon genügen, um zu zeigen, dass Chamberlain sein dualistisches Rasseprinzip auch in seine Vorstellung von Individualität eingebracht hat. Das Bild der Zerrissenheit deutet darüber hinaus auf eine Pathologisierung hin, in der solche Individuen als schizoid assoziiert werden. Gl 370: Darum bedeutet für uns Menschen der Mangel an organischem Rassenzusammenhang vor allem moralische und geistige Zerfahrenheit.
Das Gegenbild zu diesem kranken Individuum ist das Individuum als Einzelwesen (Bed. 2), das in dieser Welt lebt, wirkt und durch seine nationale oder rassische Prädisposition immer mit dem Kollektiv verbunden ist. Durch diese Anbindung an das große Ganze, d. h. an die Rasse, gewinnt das Individuum die edelsten Anlagen (Gl 370), die überschwenglichsten Eigenschaften (ebd.), kann es schöpferisch tätig sein und die Welt verändern. Doch es ist als Einzelwesen menschlich und damit an die Bedingungen der Welt gebunden. Das Schöpferische erfährt im Leben des Einzelnen seine Begrenzung, denn alles Individuelle ist prinzipiell auf die Dauer einer einzelnen Lebenszeit begrenzt. Auch seine Werke sind, wie es selbst, den Gesetzen der Zeit unterworfen. Doch genau die unerreichbare Überzeitlichkeit bildet das Maß, an dem Chamberlain alles Individuelle misst. Hierauf zielt auch die Botschaft, die mit der Bedeutung 1 gegeben ist. Dort leuchtet das Große durch, das Unvergängliche, Ewige, dasjenige, das naturgemäß außerhalb des Individuellen liegen muss. Größe im Chamberlain'schen Sinne kann nicht vergänglich sein, sie muss von Generation zu Generation weitergegeben werden können, muss in einem übermenschlichen Sinne auch über den Einzelmenschen hinaus existieren. Wieder ist es die Rasse, die diese Größe angeblich ermöglicht und das Individuum in einem überzeitlichen Sinne lebendig (Gl 90) hält. Gl 326: so war denn alles Bindende, Lebenerhaltende der Erbschaft grosser Rassen entnommen.
Somit werden auch für das Individuum alle Kategorien wie Rasse, Nation, Künstlertum maßstabsetzend. Erst diese Kategorien machen aus dem Einzelwesen das Besondere, das Überdauernde. Deswegen vermag der Einzelne, ist er nur auf sich selbst beschränkt, nichts, ist er Teil eines "Rassenindividuums", vermag er in Chamberlains Versprechungen alles. So wie Genie nicht durch Vereinzelung entstehen kann, Genie ist Summe (Gl 321),
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die in dem bestimmt Typischen, Überpersönlichen ihre Erklärung findet (Gl 321), so ist auch der edelgezüchtete Mensch Individuum im Sinne von Bedeutung 1, das Produkt von Vielen, keine zufällige Laune der Natur (ebd.), was sich denn auch in seiner Physiognomie, sogar in seinem Schädeltyp ausmessen lasse. GL 446: Freilich, dieser Schädel symbolisiert eine ganze Welt; wer seine Masse recht zu erwägen, wer seine Linien in ihrem gegenseitigen Verhältnis recht zu deuten verstünde, der könnte über das Individuum viel aussagen.
Außerhalb der genannten Gemeinschaftsbindungen wird das Individuum zerstört. Vereinzelung wird zum Stichwort für Vereinsamung und Schutzlosigkeit, für Angst und Bedrohlichkeit. Im folgenden Beleg wird diese Drohkulisse noch zusätzlich durch die distanzierende wissenschaftliche Bildlichkeit verstärkt: Gl 982: Das vereinzelte Individuum ist einem chemischen Atom mit geringer Bindekraft zu vergleichen; es wird aufgesogen, vernichtet.
Das Individuum bleibt nur Ausdruck von etwas, steht nur bedingt für sich selbst, handelt nicht und ist in jeder Weise abhängig und vernichtbar. Was in ihm tätig wird, ist seine Individualität (Wortbildung zu Individuum 1). Und auch diese Individualität ist nichts anderes als das im Menschen wirkende Rasseprinzip, das auch als Schöpferkraft (Gl 362f.) ontisiert wird. Gl 370: was ist nun diese Rasse, wenn nicht ein Kollektivbegriff für eine Reihe einzelner Leiber? Es ist jedoch kein willkürlicher Begriff, kein Gedankending, sondern diese Individualitäten sind durch eine unsichtbare, dabei aber durchaus reelle, auf materiellen Thatsachen beruhende Macht miteinander verkettet. Freilich besteht die Rasse aus Individuen; doch das Individuum selbst kann nur innerhalb bestimmter Bedingungen, welche in das Wort "Rasse" zusammengefasst werden, zu der vollen, edelsten Entfaltung seiner Anlagen gelangen.
Um in der einmal begonnenen Metaphorik zu bleiben: für Chamberlain sind diese edlen Anlagen nicht einfach von einem beliebigen Individuum auf ein anderes übertragbar, sondern sie sind prinzipiell abhängig von ihren Trägertypen. Zufällige Mischungen sind schädlich, der immer wiederkehrende Hinweis auf die Wichtigkeit des Einheitsprinzips im Individuum dient nur der Verschleierung seines Völkerchaosgedankens. Chamberlain legt großen Wert auf die Bedingungen der Kompatibilität. Nur das bewusste Umgehen mit dem in der Anlage, dem Grundstock (Gl 370) vorhandenen Material bedeutet Fortschritt für das ganze Menschengeschlecht, und damit auch für das individuelle Produkt der Mischung. Gl 371: dass […] das menschliche Individuum jedenfalls nicht als vereinzeltes Individuum, nicht als beliebig austauschbarer Brettstein, sondern nur als Teil eines organischen Ganzen, eines besonderen Geschlechtes seine höchste Bestimmung erfüllen kann.
152 Das Wortfeld 'Mensch'
Es geht jedoch nicht nur um Fortschritt, sondern auch um die Herausbildung eines neuen Menschen. Wollte man dieses "neue Individuum" beschreiben, so fallen besonders folgende in Bed. 1 und 2 abgetragenen Attribute auf: künstlerisch, begabt mit unvergleichlichen Eigenschaften; lebendig, menschlich; einem überindividuellen Zweck lebend, nach der Notwendigkeit der Natur handeln(d); nicht vereinzelt / Teil eines organischen Ganzen; ungleich zu anderen / unvergleichlich; national und rassenbedingt (Gl 369). Deutlich ist, dass das so definierte Individuum nicht für sich selbst lebt, sondern für das Kollektiv, für die Rassegemeinschaft. Dies entspricht einer Komplexitätsreduzierung ungeheuren Ausmaßes. Die kollektive Sinnstiftung enthebt den Einzelnen von seiner individuellen Verantwortung. Das Individuum braucht auf diesem Hintergrund keinen besonderen Sinn in seinem individuellen Dasein zu suchen, seine Existenzberechtigung und sein Telos ist das größere Ganze, das Volk, die Rasse. Gl 370: Das einzelne Leben ist zu kurz, um ein Ziel ins Auge zu fassen und zu erreichen. Das Leben eines ganzen Volkes wäre ebenfalls zu kurz, wenn nicht Rasseneinheit ihm einen bestimmten, beschränkten Charakter aufprägte, wenn nicht die überschwänglichste Blüte vielseitiger und abweichender Begabungen doch durch Stammeseinheit zusammengefasst würde, was ein allmähliches Reifen, eine allmähliche Ausbildung nach bestimmten Richtungen gestattet, und wodurch das begabteste Individuum schliesslich doch einem überindividuellen Zwecke lebt.
Die überindividuellen Zwecke werden von Chamberlain als Selbstbestimmung des Individuums bezeichnet, obwohl das Individuum gerade nicht im Sinne Kants aufgeklärt und selbstbestimmt handeln kann. Spätestens in Belegen dieser Art wird deutlich, dass das von Chamberlain gemeinte Individuum in der Regel Kollektivindividuum ist, das dem Kollektivideal nahe steht, wie es bereits zu Mensch 2, Persönlichkeit 1, Held 1 und Genie 1 positiv beschrieben wurde und dessen Gegenbild in Mensch 4 und Individuum 3 zu finden ist, so dass Chamberlain das germanische Individuum charakterlich beschreiben kann wie einen alten Bekannten, der durch das Gegenbild bedroht ist: Gl 863: Im Charakter bedeuten diese durch die höhere Individualität der Rasse zusammengehaltenen gegensätzlichen Anlagen Unternehmungsgeist, gepaart mit Gewissenhaftigkeit, oder aber – wenn auf Irrwege geraten – Spekulation (Börse oder Philosophie, gleichviel) und engherzige Pedanterie und Kleinmütigkeit.
An einigen Stellen der Chamberlain'schen Menschenbildkonstruktion bekommt man den Eindruck, als sei der Universalienstreit in der mittelalterlichen Scholastik das theoretische Hintergrundgebäude dieser Ausführungen, als würde Chamberlain einen auf Minimalform gebrachten Realismus predigen, der diesen jedoch nicht nur vereinfacht, sondern das damit verbundene christliche Weltbild rassistisch neu entwirft. Denn Chamberlain geht es selbst dann, wenn er vom Menschen redet, nicht um
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die res, die Einzeldinge, und nicht um deren Realität. Ihm ist das Überindividuelle, das von ferne an das mittelalterliche Universale erinnert, eben die Idee, die hinter den Einzeldingen stehende ideal-abstrakte Entität, real. Diese ist es, die vor den Einzeldingen vorhanden war, in ihnen wirkt, und auch nach ihnen Bestand haben wird. Die Verwendung der Präpositionen vor, in, nach steht dabei in Parallelität zu dem mittelalterlichen ante, in und post (res), wie es in systematischer Form (selbstverständlich in vollständig anderen Zusammenhängen) z. B. bei Thomas von Aquin begegnet. Man vgl. hierzu die schon aus obigen Zitaten, weiterhin aus seiner gesamten textlichen Argumentation hervorgehenden Argumentationsfiguren: Das Einzelne wird in rhetorisch variierenden bildungssprachlichen Konstruktionen mit Ausdrücken wie freilich, zwar, nicht, zu kurz, lediglich usw. eingeleitet und danach mit doch, jedoch, sondern, um, wenn nicht, das andere usw. auf seinen untergeordneten gegenüber einem höheren Rang verwiesen. Damit dieses Höhere nicht als Gedankending, willkürlicher Begriff, also als genau dasjenige erscheint, was man seit den philosophiegeschichtlichen Umbrüchen von der Erkenntnisorientierung der Philosophie zur Lebensorientierung bis hin in die nationalsozialistische Zeit als Zentrum von Gelehrtenunfruchtbarkeit ansah, erklärt man es zur reellen Thatsache. Dieser Tatsache wird dann Zukunftsfähigkeit zugeschrieben. Das war der Schlüssel, mit dem er seine Rezipienten im 19. und 20. Jahrhundert anzusprechen vermochte. Die neuen "Universalien" 'Rasse', 'Nation', 'der neue Mensch' und weitere in diesen Zusammenhang gehörende Konzepte werden mit der besonderen quasisakralen Legitimität der Beständigkeit, Unvergänglichkeit, Dauer und Zeitlosigkeit bis hin zu Ewigkeit ausgestattet. Sie werden damit einerseits als Trost, Erbauung funktionalisiert, andererseits als Zukunftsprojekt vorgestellt und in die Verfügungsgewalt handlungsmächtiger Menschen gegeben. Die Aufgabe des Individuums im Sinne einer 'Zurücknahme' bei gleichzeitiger Hineinstellung in eine höhere Ordnung, in der es dann als Gottmensch wieder ersteht, war in der Zeit Chamberlains offensichtlich vermittelbar. Auch das Christentum konnte in diese Konstruktion einbezogen werden.
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5. Der Künstler und die Kunstreligion Der Ausdruck "Chamberlainsche Strich" gefällt mir außerordentlich; ich bin sehr stolz darauf. Dieser Strich ist sogar ein ganzer Kreis, - ein Zauberkreis, in den ich die unsichtbaren Geister banne, - fest überzeugt, daß nur eines wahrhaft produktiv auf dieser Erde ist: die poetische Schöpfung. Ob wir Isaac Newton, Charles Darwin oder Beethoven und Wagner sind, wir müssen es immer so anfangen, wie seinerzeit unser lieber Herrgott und aus Nichts Etwas machen. Chamberlain, Br I, 16 (1894)
Künstler, der 1. >geniale Persönlichkeit, die kreativ und schöpferisch in das Weltgeschehen eingreift und aufgrund gottähnlicher Fähigkeiten auch eingreifen kann; Inbegriff des kreativen Menschen<; nicht nur bezogen auf Kunstwerke schaffende Personen wie Michelangelo oder Goethe, sondern auf all diejenigen, die kulturschaffend im Sinne Chamberlains sind, d. h. auch bezogen auf Philosophen und Naturwissenschafter. – Bdv.: Genie 1, Persönlichkeit 1; 2; Mensch 2; Gestalter / tonvermählter Dichter (Gl 1062); Mitschöpfer (Gl 1089); Schöpfer (Dt. Sprache 34; Gl 31; 214; 243). – Paraphr.: Mensch in seinem ästhetischen Stande (Gl 59). – Ggb.: misera plebs / oberflächliche dilettanti (Gl 1061). – Ktx.: echte Kunst, Religion (Gl 1063); Fähigkeit des einzelnen Menschen, sich so zur Natur zu stellen, dass er innerhalb gewisser, durch seine Individualität gezogener Grenzen ihre ewig schöpferische Originalität in sich aufnehme und dadurch befähigt werde, selber schöpferisch und originell zu sein (Gl 908). – Präd. und Synt.: Künstler als Subjekt: der Künstler macht aus Nichts etwas (Gl 59) / benutzt die Elemente, die ihm die Natur bietet, um sich eine neue Welt des Scheins zu errichten / stellt sich ausser der Welt (Gl 59) / tritt in einen Bund mit dem Naturforscher (Gl 1133)/ gestaltet frei / legt" die Natur "aus" / sieht ihr tiefer ins Herz, als der messende und wägende Beobachter (Gl 1133) / gesellt sich auch zum Philosophen (Gl 1133) / solle "wetteifernd mit der Natur" ein Werk hervorzubringen trachten, zugleich natürlich und übernatürlich (Gl 1187) / erwächst zu immer grösserer Selbständigkeit (Gl 1164) / [kann] kein einziges Element aus der Wirklichkeit brauchen, wie er es findet (Gl 1192) / solle stets unsichtbar, unauffindbar, unerratbar in seinem Werke walten (Lebenswege 329) / soll in seinem Werke wie Gott in der Schöpfung walten, unsichtbar und allmächtig (Lebenswege 329); der germanische Künstler [griff], seiner echten, unterscheidenden Eigenart gemäss, […] viel tiefer (Gl 1063); jene Natur, in welcher der Künstler zu Hause ist und von wo aus er allein es versteht, eine Brücke in die Welt der Erscheinung hinüber zu schlagen (Gl 1135); der grosse Künstler […] ist stets ein ungemein wissbegieriger Mensch (Gl 1161); der bildende Künstler wird produktiv, indem er an Gestalten anknüpft, welche der Dichter vor die Phantasie hingezaubert hat (Gl 1163); der hellenische Künstler gestaltet nach der menschlichen Idee der Dinge (Gl 1190). Künstler in Gleichsetzungskonstruktionen: Der Mensch* bewährt sich als Künstler [indem er die Not umschafft] (Gl 59); Was der Mensch als Künstler geformt, die Gestalt, der er Lebensatem eingehaucht hat, geht nicht unter (Gl 86); Lucian [konnte kein] Künstler werden (Gl 361); Männer, die nicht Künstler proprio sensu sind (Gl 1160); wogegen der Wortkünstler nur indirekt und uneigentlich Künstler ist (Kant 103). Künstler als Genitivattribut: Zustand des Künstlers (Gl 1181); das Erlebnis der schaffenden Künstler (Gl 1135 Anm.); als Freiester aller Künstler ist er [der tonvermählte Dichter] unbestritten der
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Erste (Gl 1140); Kunst ist Gestaltung /* ist Sache des Künstlers und der besondern Kunstart (Gl 1192). Künstler als Dativobjekt: dem Künstler [gelingt es], durch die Betrachtung Gefühle erregen, durch Form Leben zu spenden (Gl 1181); jedes Werk der Kunst stellt uns dem schöpferischen Künstler gegenüber (dem Walten der selben zugleich transscendenten und realen Welt, aus der Christus spricht, wenn er sagt, in diesem Leben liege das Reich Gottes wie ein Schatz im Acker vergraben) (Gl 1138); ihm [dem germanischen Künstler*] war mit dem Inder der Zug zur Natur gemeinsam (Gl 1141). Künstler als Akkusativobjekt: Die Natur […] bildet den grossen Künstler (Gl 908); den griechischen Künstler nicht willkürlich aus seiner geistigen Umgebung loszutrennen (Gl 1188). Künstler in einer präpositionalen Nominalgruppe: Augenblick, wo der Mensch zum Künstler wird (Gl 69). Künstler mit Adjektivattribut: ein unglücklicher (Gl 60), der germanische (Gl 1141) / griechische (Gl 1188) / hellenische (Gl 1190), grosse (Gl 1161) / bildende (Gl 1163/1184) / schaffende (Gl 1135) / schöpferische (Gl 1138; Lebenswege 329) / plastische (Kant 103) Künstler. – Wbg. Künstlerseele (Bezogen Auf Richard Wagner / Wagner 62), Wortkünstler (Kant 103); Gedankenkünstler (Kant 104), Vernunftkünstler (Kant 623 u. ö.); Künstlergenie (Lebenswege 146), Künstlerindividualitäten (Lebenswege 225); Buchkünstler (ebd. 329 / 406); / Sinnenkünstler / Geisteskünstler (ebd. 329) usw.
2. >einzelne Künstlergestalt<. – Präd. und Synt.: Künstler als Subjekt: Wie dieser Künstler [Michelangelo] selber triumphiert: dall'arte é vinta la natura! (Gl 1138); Der Künstler war Calderon, das Kunstwerk Der standhafte Prinz (Gl 1156); der Künstler (Rubinstein) habe sich verwundet (Lebenswege 230). Künstler als Genitivattribut: Werke dieses herrlichen Künstlers (Josquin de Près; Gl 1171); diese bedeutenden Leistungen deutscher Künstler (Gl 1183); Brust eines einzelnen Künstlers (Gl 1190), das Antlitz des Künstlers (Lebenswege 230). Künstler in einer Gleichsetzungskonstruktion: dass sich jeder Taglöhner mit dem Grabstichel als "Künstler" einem Leonardi da Vinci zur Seite stellt (Gl 1131). Künstler in einer präpositionalen Nominalgruppe: bei aller grossen Verehrung für jene unsterblichen Künstler (Gl 1153; Michelangelo / Raffael); Berührung mit dem Künstler (Lebenswege 230). Künstler mit Adjektivattribut: der einzelne (Kriegsaufs./Deutschl. 92/93); geniale Künstler (IuM 39).
Von zentraler Bedeutung in Chamberlains Weltanschauung ist das Wortbildungsfeld zu Kunst, darunter besonders das Adjektiv künstlerisch und das in die onomasiologische Vernetzung einbezogene Substantiv Künstler. In diesen Ausdrücken spiegelt sich noch einmal zugespitzt, was bereits zu Genie und Persönlichkeit aufgeführt wurde, ein sich hinter einem Persönlichkeits- und Geniekult verbergender Rassekult, aber auch eine von Nietzsche und Wagner in jeweils eigener Facon gefeierte Kunstreligion.29 Chamberlain argumentiert dabei nach seinem Vorbild Wagner. Der Komponist ging davon aus, dass die vom Verfall bedrohte Welt und die christliche Religion allein noch durch die Kunst zu retten seien (vgl. Kapitel X, 6), dass der Künstler ein mit dem Feuer göttlicher Eingebung begnadeter _____________ 29
Vgl. Nietzsches, Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Studienausgabe 1, 57ff.
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Sterblicher sei. Bei einer solchen Ontisierung wird die Kunst zur selbst handelnden Größe erhoben, die zum einen die Welt der Erscheinungen umbildet und zum anderen dadurch sogar zur Vollenderin der Religion wird. In Chamberlains Worten: Gl 1133: was der religiöse Instinkt nur ahnt und in allerhand mythologischen Träumen sich vorführt, das tritt durch die Kunst gewissermassen "in das Tageslicht des Lebens ein"; denn indem die Kunst aus freier innerer Notwendigkeit (Genialität) die gegebene unfreie mechanische Notwendigkeit (die Welt der Erscheinung) umbildet, deckt sie einen Zusammenhang zwischen den beiden Welten auf, der aus der rein wissenschaftlichen Beobachtung der Natur sich nie ergeben hätte.
Kunstwerke zaubern das Leben des Lebens hervor (Gl Vorwort 14. Aufl. XX), in ihnen ist der Menschheit ein neues Organ geschenkt (Kriegsaufs. / Dt. Sprache 33) und die Kunst ist ewige Gegenwart (Gl 1133). Sie steht im Gegensatz zur vergänglichen Natur, und von allen ihren Ausformungen war die Tonkunst, die reinste, die am vollkommensten "künstlerische" Kunst (Gl 1169). Die Musik wird von Chamberlain in Wagnerscher Manier religiös überhöht. Auf der einen Seite bildet sie den direkten Weg zum religiösen Menschen. Gl 1173: Keine Kunst, ausser der Musik, war im Stande, die christliche Religion künstlerisch zu gestalten, denn sie allein konnte diesen Blick nach innen auffangen und zurückstrahlen.
Auf der anderen Seite steht sie als Kunst neben der Poesie, denn jedes echt künstlerische Schaffen unterliegt dem unbedingten Primat der Poesie (Gl 1162). Aber es erfordert vor allem einen Künstler, der durch künstlerische Genialität (Gl 1157/60) / Anlage / Befähigung (Gl 1160) / Eingebung (14. Aufl. Gl 1081) / Inspiration (10. Aufl. 1161) / Kunst (Gl 1169) und Potenz (Gl 1192) gekennzeichnet ist. Anstelle des Adjektivs künstlerisch benutzt Chamberlain auch gerne schöpferisch (Gl 1134). Der künstlerische Mensch (Wagner 62) ist damit nicht nur derjenige, der Kunstwerke schafft, sondern er ist durch seine schöpferische Begabung gekennzeichnet, eine Begabung, die mehr ist, nämlich ein Zustand des Empfindens und Denkens, eine Stimmung, eine Gesinnung, ein latenter Kraftvorrat (Gl 60). Das Künstlersein ist daher nicht einfach nur ein Zusatz zu einem Menschen, sondern es macht den ganzen Menschen (im Sinne von Bedeutung 2) aus. Zu den Personen, die Chamberlain als Künstler akzeptiert, gehören ein Leonardo, ein Shakespeare, ein Bach, ein Kant, ein Goethe (Gl 908), selbstverständlich aber vor allem Richard Wagner. Ein Künstler ist >eine geniale Persönlichkeit, die kreativ und schöpferisch in das Weltgeschehen eingreift und aufgrund gottähnlicher Fähigkeiten auch eingreifen kann<. Die Bedeutungsverwandtschaften sind beredt: Genie 1, Persönlichkeit 1; 2; Mensch 2; Gestalter; Mitschöpfer (Gl 1089); Schöpfer.
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Das angedeutete Eingreifen verwirklicht sich in drei Stufen. Die erste ist die Creatio, das Schaffen, Gestalten, Schöpfen eines Produktes, das dann pleonastisch poetische Schöpfung (Br. I, 15ff.) genannt wird. Die zweite besteht im Einhauchen des Lebensatems, im Lebendigmachen der Schöpfung (Gl 86), und die dritte Stufe beinhaltet das Lebendigerhalten und damit ewige Fortführen derselben (Gl 1081). Die Syntagmen zu Künstler sind ebenfalls sprechend: der Künstler macht aus Nichts etwas (Gl 59) / er benutzt die Elemente (Gl 59) / errichtet sich eine neue Welt des Scheins (Gl 59) / stellt sich ausser der Welt (Gl 59) / betrachtet die Welt (Gl 59) / erregt durch die Betrachtung Gefühle (Gl 86) / gestaltet frei (Gl 1133) / spendet durch die Form Leben (Gl 1181). Das kreative Moment wird von Chamberlain zum Maßstab des Künstlertums genommen, wobei kreativ eben nicht nur übertragen zu lesen ist, sondern ganz wörtlich im Sinne von >fähig, etwas zu schaffen, was vorher noch nicht oder anders da war<. Solche Fähigkeiten werden nicht zufällig immer wieder mit den Möglichkeiten uneigentlichen Sprechens, mit Bildern, Vergleichen, Metaphern bzw. Tropen generell religiös ausgemalt. Die Konstruktion der Gottähnlichkeit des Künstlers baut direkt auf der christlichen Bildlichkeit auf, nutzt deren Mythen und Gestalten (vgl. Gl 1058) und parallelisiert das Handeln des Künstlers mit demjenigen des alttestamentlichen Gottes, der erstens in der Lage war, die Welt aus dem Nichts zu erschaffen. Br I, 15 ff.: wir müssen es immer so anfangen, wie seinerzeit unser lieber Herrgott und "aus Nichts Etwas machen".
Das zweite Attribut Gottes ist seine Omnipräsenz, sein kontinuierliches Fortwirken in der Schöpfung. Auch dies meint Chamberlain auf den Künstler übertragen zu können. Lebenswege 329: Der Künstler soll in seinem Werke wie Gott in der Schöpfung walten, unsichtbar und allmächtig, überall empfunden, nirgends erblickt.
Die Übertragung des dritten Attributes gestaltet den Künstler nicht nur als gottebenbildlich, sondern vergöttlicht ihn geradezu. Der Künstler kann dem von ihm Geschaffenen Leben einhauchen, so wie Gott es mit Adam getan hatte. Doch während Adam sterblich war, sind die Werke des Künstlers unvergänglich. Gl 86: Was dagegen der Mensch als Künstler geformt, die Gestalt, der er Lebensatem eingehaucht hat, geht nicht unter.
Religion und Kunst werden von Chamberlain so sehr miteinander verwoben, dass dadurch nicht nur die Vergöttlichung des Künstlers erreicht, sondern auch in der Umkehrung die Religion zur Kunst wird. Gl 1056: Religion ist bei allen Indogermanen (…) immer schöpferisch in dem künstlerischen Sinne des Wortes und darum kunstverwandt.
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Auf diese Weise entsteht eine Art Kunstreligion, deren Heilige am besten mit den dazugehörigen Wortbildungen gefasst werden können. Typische mit dem Derivat Künstler verbundene Komposita lauten: Tonkünstler (Gl 1092), Künstlerseele (Das Drama Richard Wagners 62), Wortkünstler (Kant 103), Gedankenkünstler (ebd. 104), Vernunftkünstler (ebd. 623 u. ö.), Künstlergenie (Lebenswege 146); Künstlerindividualität (Lebenswege 225), Buchkünstler (ebd. 329, 406), Geisteskünstler (401), Sinnenkünstler (ebd.). Aus den Komposita kann man herauslesen, dass sich das Künstlerische eben nicht auf die bildenden Künste, die Musik oder auf die Literatur reduzieren lässt. Für Chamberlain ist der Begriff des Künstlers und damit auch der Kunst offen für Vertreter der Philosophie und der Naturwissenschaft (vgl. dazu auch Gl 1133). Das Wort Künstlergenie ist einer näheren Betrachtung wert: Es bildet kein rein tautologisches Kompositum, sondern ist ein durchaus vielschichtig zu interpretierendes Programmwort. Es steigert durch die Doppelung der bedeutungsverwandten Ausdrücke die Wirkung der darin mitgeteilten Schöpferkraftideologie. Darüber hinaus verdeutlicht es die Verbindung von Wissenschaft und Kunst, da Genie häufig in Bezug auf naturwissenschaftliche oder philosophische Erkenntnis verwendet wird. Überraschend aber ist, dass auch der Geschichtsphilosoph als Künstlergenie verstanden werden kann: Lebenswege 146: Die Zeit gebiert Gestalt, und die Zeit vernichtet Gestalt; die Gestalt "IST" aber einzig in der Gegenwart - mit anderen Worten, im Raume. Denn in einem gewissen und sehr wichtigen Sinne des Wortes können wir definieren: der Raum ist die zum Stillstand gebrachte, beziehungsweise die als stillstehend gedachte Zeit. Dieser Standpunkt ist zugleich derjenige, auf welchem alles Ewige steht - gleichviel ob als ewiges Gesetz der Natur oder als ewiges Gesetz des Künstlergenies. Hierin besteht nun für mich die eigentliche Verwandtschaft zwischen Wissenschaft und Kunst: VON DEM PANTA RHEI GIBT ES KEINE WISSENSCHAFT; ERST MÜSSEN DIE ERSCHEINUNGEN ZUM STEHEN GEBRACHT WERDEN, DANN ERST KANN WISSENSCHAFT ENTSTEHEN. Darum halte ich es für ein ebenso wissenschaftliches wie künstlerisches Beginnen, wenn ein Mann die gesamte Vergangenheit in die Gegenwart einbezieht, also alle Geschichte unter der Perspektive des einen einzigen Heute erschaut und daraus die Befähigung schöpft, sie zu gestalten; und das ist es, was ich in den Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts versucht habe.
Der Geschichtsphilosoph schafft dadurch, dass er den Fluss, das Werden, die fortwährende Veränderung als die alleinige Seinsform dem zugleich Logischen (s. als stillstehend gedachte Zeit) wie dem Handelnden (s. zum Stillstand bringen) unterwirft, einen neuen, mit Ewigkeitswert versehenen Gegenstand und wird damit geniegleich. Seine dabei vollzogene Tätigkeit bezeichnet er mit den gleichen Verben wie diejenige des Künstlergenies: erschauen, gestalten, schaffen. Auch das Ergebnis wird bezeichnenderweise mit
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einem Hochwertwort der bürgerlichen Bildungssprache, eben Gestalt, gefasst. Der Bezug dieses Handelns auf die eigene Tätigkeit dürfte dem Rezipienten seiner Zeit deshalb auch ohne explizite Charakterisierung der eigenen Leistung deutlich geworden sein; der Verweis auf die Grundlagen schließt zudem jede Möglichkeit aus, diese etwa als objektivistisch vergangenheitsbezogene, der beschreibenden Geschichtswissenschaft zuzuordnende und damit unschöpferische Publikation zu verstehen. Das ist keine punktuelle Aussage, sondern ein Antibekenntnis: Sobald Geschichtswissenschaft objektivistisch aufarbeitet und beschreibt, wie es gewesen ist, dabei den Gegenstand auf dem Papier nur verdoppelt, fällt sie aus dem im Kern künstlerischen Bereich des Gestaltens, schöpferischen Handelns, der Schaffung zukunftsrelevanter Gegenstände heraus. Chamberlain selbst will also in die Weltgeschichte eingreifen, das kann er nur, wenn er sich als Künstler darstellt. An diesem Punkt der Argumentation setzt dann wieder der schon aus der Analyse des Gebrauchs von Genie, Persönlichkeit bekannte Assoziationsmechanismus ein: Es erscheint das Schöpferische, Gestaltende als Dreh- und Angelpunkt des Gesamtdenkens, die Ausstattung mit besonderen Fähigkeiten (z.B. die Sehkraft) und schließlich das Künstlergenie als Gegenteil des Zufalls, nämlich als jemand, der mit der Fähigkeit begabt ist, die schöpferische Originalität der Natur in sich aufzunehmen und damit wie die Natur originell zu sein: Gl 908: d. h. die Fähigkeit des einzelnen Menschen, sich so zur Natur zu stellen, dass er innerhalb gewisser, durch seine Individualität gezogener Grenzen ihre ewig schöpferische Originalität in sich aufnehme und dadurch befähigt werde, selber schöpferisch und originell zu sein.
Weiß man dabei, dass Natur immer auch als Chiffre für Rasse (Gl 1075; vgl. dazu auch den Artikel zu Genie), und über Rasse für Nation steht, dass über diese Brücken dann die Verbindung zum 'Arier' (im einzelnen zum 'Hellenen', zum 'Germanen') hergestellt wird, dann können nur diejenigen gott-, natur- und blutsähnlich schöpferisch tätig sein, die die damit verbunden gedachte 'arische' Moral haben. Gl 361: Menschen, die nicht mit ihrem Blute bestimmte Ideale erben, sind weder moralisch noch unmoralisch, sondern einfach "amoralisch". Wenn ich mir ein Modewort für meinen Zweck zurechtlegen darf: sie sind diesseits von gut und böse. Sie sind auch diesseits von schön und hässlich, diesseits von tief und flach. Der Einzelne vermag es eben nicht, sich ein Lebensideal und ein moralisches Gesetz zu erschaffen; gerade diese Dinge können nur bestehen, wenn sie gewachsen sind. Darum war es auch sehr weise von Lucian, dass er es trotz seines Talentes zeitig aufgab, dem Phidias nachzueifern. Ein Schönredner für die Marseilleser konnte er werden, auch ein Gerichtspräsident für die Ägypter, ja, selbst ein Feuilletonist für alle Zeiten, ein Künstler aber nie, ein Denker ebenso wenig.
Andere hingegen scheiden aus: Der Syrier Lucian (GL 356ff.), heimatlos (GL 358) und geldgierig (ebd.), für Chamberlain Ursache und Ergebnis des
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seelischen Chaos seiner das Völkerchaos begründenden Zeit (Gl 361), konnte sich zwar äußere Bildung aneignen, aber kein Künstlertum. Denn: GL 60: Künstlerisch zu empfinden, künstlerisch zu denken bezeichnet also einen besonderen Zustand des Menschen überhaupt; es ist eine Stimmung, oder vielmehr eine Gesinnung.... noch besser vielleicht ein latenter Kraftvorrat, der sich im Leben des einzelnen Menschen wie auch im Leben eines ganzen Volkes überall, auch dort, wo Kunst und Wissenschaft und Philosophie nicht unmittelbar beteiligt sind, "befreiend", "umschaffend", "reinigend" bethätigen muss.
Als Grundkräfte künstlerischen Schaffens nennt er das Musikalische einerseits und das Naturalistische (Gl 1109) andererseits. Die Musik nimmt also eine herausragende Rolle ein, da sie für ihn die übernatürliche Überdachung, gar die Krone aller Künste darstellt. Gl 1109: dass unter allen Künsten einzig die Musik unmittelbar - d. h. schon ihrem Stoffe nach - übernatürlich ist; das Übernatürliche an den Werken der anderen Künste darf darum (vom künstlerischen Standpunkt aus) als ein musikalisches bezeichnet werden.
Gerade das Musikalische ist dem Schwiegersohn und Jünger Richard Wagners zum Inbegriff des Künstlertums und der Sakralität, der Komponist selbst zum verehrungswürdigen Heiligen geworden. Es ermöglicht die Gottähnlichkeit allein dadurch, dass es selbst dem Rezipienten die Möglichkeit des Mitschöpfertums eröffnet: Gl 1089: nämlich (als einzige unter allen Künsten) eine nicht allegorische Kunst, also die reinste, die am vollkommensten "künstlerische" Kunst, diejenige, in welcher der Mensch einem absoluten Schöpfer am nächsten kommt; darum ist auch ihre Wirkung eine unmittelbare: sie wandelt den Zuhörer zu einem "Mitschöpfer" um; bei der Aufnahme musikalischer Eindrücke ist jeder Mensch Genie.
Man kann sich bei dieser Aussage gewisser, hier sarkastisch übertrieben geäußerter Vorstellungen nicht erwehren: Gemeint ist der zeitgenössische Kunst-, Musik-, Literaturrezipient, der sich in einer auf das Kunsterlebnis zugeschnittenen Kleidung und sonstigen Ausstattung, in einem die Totalität der Kunstwelt symbolisierenden Illusionsraum, mit einer sakrale Höhen erreichenden Stimmung, unter Ausschluss jeglichen Wirklichkeitsbezuges und jeder rational-kritischen Wahrnehmungsbereitschaft der sozialen Realität dem Kunstgenuss hingibt. "Kunstgenuss" wäre dabei nicht als demütiger Nachvollzug derjenigen Schöpfung zu verstehen, die ein Genie vorgibt, sondern als eigenschöpferisches Neugestalten der Vorgabe eines Autors, zu dem man damit auf gleicher Augenhöhe steht. Ganz im Sinne bildungsbürgerlichen Dünkels heißt dies, dass man auch in der Pause in gepflegter Sprache und mit bereitstehenden Argumenten als Gleicher diskutiert, selbstverständlich immer darauf bedacht, sich genau so zu verhalten, dass man von anderen als solcher wahrgenommen wird.
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Dennoch bleibt der Künstler bei allem Mitschöpfertum des Rezipienten der eigentliche Schöpfer, nicht nur von Tönen, Worten oder Bildern. Er erschafft, so schwebt es Chamberlain zumindest vor, wie Gott einen neuen Menschen (vgl. dazu s. v. Arier). Dieser neue Mensch ist also ein Produkt des Menschen, nicht eines Gottes. Im Gegenteil, denn er selbst ist es, der sich die Götter erschafft und sich damit über die Götter erhebt. Die Kunst, verstanden als schöpferische Freiheit, ermöglicht es dem Prometheus, Menschen nach seinem Bilde zu schaffen, die Natur zu übertreffen, neue Götter zu erdichten, Götter, die anders als der christliche Gott einer "arischen" Religion angepasst werden können. GL 69: Entscheidend ist der Augenblick, wo die freie Erfindung bewusst auftritt, das heisst also der Augenblick, wo der Mensch zum Künstler wird. […] Erst wenn ein einzelner Mensch, wie Homer, frei nach seinem eigenen Willen, die Götter erdichtet, wie er sie haben will, wenn ein Naturbeobachter, wie Demokrit, aus freier Schöpferkraft die Vorstellung des Atoms erfindet, wenn ein sinnender Seher, wie Plato, mit der Mutwilligkeit des weltüberlegenen Genies die ganze sichtbare Natur über Bord wirft und das menschenerschaffene Reich der Ideen an ihre Stelle setzt, wenn ein erhabenster Lehrer ausruft: "Sehet, das Himmelreich ist inwendig in euch!": dann erst ist ein durchaus neues Geschöpf geboren, jenes Wesen, von dem Plato sagt: "Er hat Zeugungskraft in der Seele viel mehr als im Leibe", dann erst enthält der Makrokosmos einen Mikrokosmos.
Das Recht, als Mensch bezeichnet zu werden, hat man in dem Maße, in dem man Künstler, Dichter, Philosoph oder Wissenschaftler ist. Sollte dies nicht erreichbar sein, dann ist man doch Mitglied der Gruppe bildungsbürgerlich Eingeweihter, derjenigen also, die durch Schule und Universität sprachlich-literarisch gebildet wurden und sich damit nicht nur einem höheren humanistischen Ideal verpflichtet fühlten, sondern sich aufgrund ihrer Gesinnung auch als eine besonders wertvolle Art Mensch verstanden. Dazu stimmt die nicht nur bei Chamberlain so prononciert ausgeführte Unterscheidung von 'Kultur' und 'Civilisation'30. Zur Kultur gehört der Künstler, zur Civilisation die Ameise. Mensch ist, wer Kultur und Kunst besitzt, ohne sie ist man nur funktionierendes Tier in einem funktionierenden Staat. Der neue Gott ist der Kultur- und Bildungsgott, den das Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts als Kompensation für fehlende politische Macht hervorgebracht hat. Und der Rückgriff auf den kulturfähigen Germanen kompensiert in mehrfacher Hinsicht die Defizienzen der Alltagssituation. Der Kulturmensch konstruiert sich seine eigene Religion, da die alte, besonders die protestantische, durch zuviel Liberalismus scheinbar machtlos geworden war, und füllt diese nicht nur mit eigenen nationalen, kulturchauvinistischen bzw. -imperialistischen _____________ 30
Vgl. Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen, aber auch Arthur Möller van den Bruck, Das dritte Reich. Dazu: Lepenies, Kultur und Politik 2006, 71-97.
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Machtgelüsten, sondern auch mit einem Heilsversprechen auf eine neue glorreiche Zukunft. Der Bildungsbürger fühlt sich erbaut und über seine faktische Machtlosigkeit hinweggetröstet. Seine Macht ist nunmehr von einer anderen Welt, einer, die er selbst geschaffen hat bzw. noch schaffen kann. Diese neue Welt soll das wieder heilen, was durch das Völkerchaos auseinandergedriftet ist, was besonders im 19. Jh. für ihn und viele andere als Niedergang und Untergang zur Bedrohung wurde, nämlich die Folgen der Mechanisierung und der Moderne. Die Kunst wird nicht nur zur Wiederherstellung der wahrgenommenen Weltzerrissenheit herangezogen, zur Medizin gegen das Chaos und den Zerfall, sie wird vielmehr zur radikalen Bedingung und Form des poetischen, künstlerischen Entwurfes dieser dritten, der neuen Welt. Der Künstler als Träger und Ausführer der Kunst ist damit automatisch der Arzt oder wie der Künstler Christus (Gl 1058) der Retter, wenn nicht sogar der Messias selbst. Entsprechend chiliastisch liest sich auch der folgende Beleg: Gl 1133: Sie allein - die echte Kunst - bildet das Gebiet, auf welchem jene beiden Welten, die wir soeben unterscheiden gelernt haben (...) - die mechanische und die unmechanische - sich derartig begegnen, dass eine neue, dritte Welt daraus entsteht. Die Kunst i s t diese dritte Welt.
Zur Creatio mundi gehört die Schaffung eines neuen Menschen. Dass dieser nun alle Kennzeichnungen enthalten sollte, die in den beschriebenen Wortsemantiken vorgestellt wurden, ergibt sich nahezu von selbst. Der neu geschaffene Mensch muss geschaffene und schaffende Natur gleichzeitig sein, Genie und Held, er muss Persönlichkeit haben und kann nur unter diesen Bedingungen überhaupt Mensch im Sinne Chamberlains sein.
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6. Der Germane – der Liebling der Götter oder die Annäherung an einen alten "homo novus" Dass der Germane in seiner historischen Realität kaum mehr als eine fiktive Größe ist und dass vielleicht gerade deshalb seine eigentliche, um so wirkungsvollere Rolle darin besteht, die Garderobe zu liefern für völkische oder soziale Ideologien, Mythen und Heilslehren. Klaus von See.31
Germane, der >Angehöriger derjenigen als 'Rasse' deklarierten Gruppe von Menschen, die durch die Zuschreibung folgender Gütekennzeichen von anderen Rassen unterschieden und vor diesen ausgezeichnet ist: eine besondere wissenschaftliche und künstlerische Begabung, ein ausgeprägter Antiintellektualismus, ein hoher geistiger und sittlicher Entwicklungsstand, eine diesem entsprechende Kulturfähigkeit, überragende staatsbildende Kraft, starker Handlungswillen, gemeinsame Weltanschauung und höherwertiger Charakter, Ausstattung mit besonderen körperlichen Eigenschaften<; der Germane ist damit die Grundlage des von Chamberlain konzipierten "neuen Menschen". Als Kollektivbezeichnung ist Germane extensional bezogen a) auf die Angehörigen folgender germanophoner Völker: der Engländer, Deutschen, Niederländer, Dänen, Schweden und Norweger, b) auf die Angehörigen der üblicherweise als 'germanisch' klassifizierten Stämme der Chatten, Chauken, Friesen, Sachsen, Gambrivier, Sueven, Hermunduren, Vandalen, Goten, Markomannen, Lugier, Langobarden (vgl. Gl 552), c) auf einzelne, die oben genannten Gütequalitäten in besonderer Weise in sich vereinigende Menschen wie Luther oder Paul de Lagarde; außerdem im Sinne eines Umkehrschlusses (ausgehend von der Zuordnung der Güteeigenschaften also: "rassische" Zuordnung nichtgermanischer Personen zu den Germanen) auf Abälard, Dante, Leonardo da Vinci, Michelangelo, Montaigne, Voltaire, auch Christus, d) auf die Angehörigen einer Großgruppe von Menschen, die außer den Germanen auch die Kelten und Slaven umfasst und die ebenfalls als rassisch begründet angesehen wird; das besondere Gewicht, das dem 'Germanen' in diesem Konzept zukommt, zeigt sich in der Tatsache, dass das neologistische Kompositum, mit dem Chamberlain diese in der Sprachwissenschaft der Jahrzehnte um 1900 sonst nicht begegnende Großgruppe bezeichnet, deren germanischstämmigen Kern besonders _____________ 31
Von See, Germane - Barbar – Arier 1994, 29.
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hervorhebt: Slavokeltogermane (vgl. Gl 305) hat Germane als Grundwort mit der näheren Bestimmung Slavokelto-. Oberstes Kriterium für die Zugehörigkeit zu diesen Konzepten ist die Sprache 'Germanisch'. Von dieser ausgehend werden die germanisch Sprechenden als gegliederte Teile einer übergeordneten Volkseinheit und in einem weiteren tropischen Assoziationsschritt als Menschengruppe mit den oben genannten unterscheidenden Gütequalitäten gefasst. Die in Chamberlains Texten verwendeten (partiellen) Synonyme entsprechen diesem Bild. Der Germane erscheint je nach gerade als opportun erachtetem Argumentationszusammenhang als Arier (Gl 597; 834 u. ö.), Deutscher (Gl 630), Engländer (Gl 574), Nordeuropäer (Gl 529; 574; 859), Nordgermane (Br I, 198), Teil einer nordeuropäischen Völkerschaft (Gl 305), homo europäus (Gl 449; 574), Indoeuropäer (Gl 834), Retter, rettender Engel, Spender eines Menschheitsmorgens (Gl 550) usw. Die ebenso begegnenden Ausdrücke Barbar (Gl 550) oder Wilder (Gl 550) sind nicht als Gegensatz dazu zu verstehen; sie evozieren vielmehr deren naturhafte rassische Basis. In die gleiche Richtung weisen Paraphrasierungen des Germanenkonstrukts durch Formulierungen wie ethnische Seele (Gl 571). Als Gegensatzwörter und –syntagmen (Ggb.) erscheinen: Jude (Gl 305; 550; 574 u. ö.), dem Völkerchaos entsprossene Sklavenseelen (Gl 305), asiatischer und afrikanischer Knecht / syrischer Bastard / Ägypter / Mongole (Gl 550), romanisierter Gallier (Gl 555), Homo syriacus / bastardierter Semit (Gl 574), Mestize (Gl 632). [usw.] – Präd. und Synt.: Germane als Subjekt: Germane ist […], wer von Germanen abstammt (Gl 575); Der Germane ist die Seele unserer Kultur (Gl 306) / hat sich als geistig, sittlich und physisch unter seinen Verwandten hervorragend bewährt (Gl 305) / ergreift das Erbe des Altertums mit kraftstrotzender Hand (Gl 306) / [lässt] sich physisch und geistig weder [von] dem "Kelten", noch [vom*] "Slave[n]" scharf scheiden (Gl 555) / [besass] ausser seinem älteren Bruder im Westen, einen jüngeren, ihm gar nicht so unähnlichen, im Osten (Gl 561) / ist nicht Pessimist / ist kein guter Kritiker / denkt im Vergleich mit anderen Ariern überhaupt wenig (Gl 630) / hat seinen "Eintritt in die Weltgeschichte" noch lange nicht beendet / muss erst von der ganzen Erde Besitz ergriffen haben / erforscht die Natur nach allen Seiten / hat sich ihre Kräfte dienstbar gemacht / [hat] die Ausdrucksmittel der Kunst auf einen nie geahnten Grad der allseitigen Vollkommenheit gebracht / [hat*] ungeheures, historisches Wissen als Material zusammengetragen (Gl 632) / [war und ist] eine der grössten Mächte, vielleicht die allergrösste, in der Geschichte der Menschheit (Gl 632) / schuf das Neue / schüttelte* das Alte in so eigensinnigem Kampfe ab (Gl 835) / ist virtualiter der Anfangspunkt eines neuen Stammes, eines neuen Dialektes, einer neuen Weltauffassung (Gl 837) / steht als Herr da (Br II, 213); bedauern, dass der Germane überall, wohin sein siegender Arm drang, nicht gründlicher vertilgte (Gl 551); wo der unkultivierte Germane zum Bewusstsein seiner selbst erwachte (Gl 827). – Juden und Germanen [stehen sich] […] bald freundlich, bald feindlich, stets fremd gegenüber (Gl 305); nur Germanen sitzen auf den Thronen Europas (Gl 306); die Kelten, Germanen und Slaven [traten] [...] in ihrem Körperbau von den Südeuropäern abweichende, "nur sich selbst gleichende" Menschen auf (Gl 573); Germanen hatten (die Kriegstüchtigkeit, die bedingungslose Treue, das hohe religiöse Ideal, die organisatorische Befähigung, die reiche schöpferische Künstlerkraft) gebracht (Gl 575) / [sind] [...] [im Norden] dolichocephal und blond (resp. schwarz) (Gl 584) / gehören zu jener Gruppe der Zuhöchstbegabten (Gl 597) / gleichen [reinen Rassen] (Gl 835) / liessen sich umgarnen und zu Rittern der antigermanischen Mächte machen (Gl 610) / [sind*] Schöpfer
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einer neuen Kultur (Gl 826); Duldsam, evangelisch, sittlich rein: so waren die Germanen, ehe sie dem Einfluss Roms unterlagen (Gl 610); wo die Germanen durch Zahl oder reineres Blut vorwogen, wurde alles Fremde in die selbe Richtung mit fortgerissen (Gl 845); wir Germanen stehen noch mitten im Werden, im Widerspruch, in der Unklarheit über uns selber / umringt und […] bis ins Herz durchdrungen von ungleichartigen Elementen, die dasjenige, was wir aufbauen, niederreissen und uns dem eigenen Wesen entfremden (Gl 859); Wir Germanen haben uns [...] zu höchst charakteristisch verschiedenen, nationalen Individualitäten entwickelt (Gl 868); [AcI:] wir sehen die Germanen ganze Stämme und Völker hinschlachten […], um Platz für sich selber zu bekommen (Gl 865). Germane in Gleichsetzungskonstruktionen: Ich verstehe unter dem Wort "Germanen" die verschiedenen nordeuropäischen Völkerschaften, die als Kelten, Germanen und Slaven in der Geschichte auftreten und aus denen […] die Völker des modernen Europa entstanden sind (Gl 305); ist er [Petrus Abaielardus] doch Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem teutonischen Blut; er ist ein Germane / ebenso Germane wie jene sogenannte "kerndeutsche" Bevölkerung Schwabens (Gl 557); [es* ist] fast bis zur Unmöglichkeit schwer, "Germane zu werden" (Gl 574); wer sich als Germane bewährt […] ist Germane (Gl 574); jn. [nicht] als Germanen betrachten [weil sie eine indoeuropäische Sprache sprechen] (Gl 584); selbst der Nicht-Germane musste Germane werden, um etwas zu sein und zu gelten (Gl 845); selbst Voltaire ist - seiner ganzen Kopf- und Gesichtsbildung nach reiner Germane (Br I, 193). Germane als Genitivattribut: Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte = die Errettung der agonisierenden Menschheit aus den Krallen des Ewig-Bestialischen (Gl 552; Gl 305 u. ö.); Zwischen Dante und Luther bewegt sich die […] physiognomische Skala grosser Germanen (Gl 593); Treue ein spezifischer Charakterzug der Germanen (Gl 599; 600 u. ö.); Geschichte / Wesen / Charakter der Germanen (Gl 607); steht Sitte und Sittlichkeit der arianischen Germanen unermesslich höher als die der katholischen Romanen (Gl 610); seine [des Germanen*] Gaben treiben ihn zum Handeln und zum Empfinden (Gl 630); Sorglosigkeit gehört zum Charakter des Germanen (Gl 632); Bastardierung [der Germanen*] schreitet mit jenen Mestizen und mit den Resten unarischer Rassen fort (Gl 633); der charakteristische, unvertilgbare Individualismus des echten Germanen hängt mit dieser "plastischen" Anlage der Rasse zusammen (Gl 837); Die heiligste Pflicht des Germanen ist, dem Germanentum zu dienen (Gl 860); das Himmelreich des Germanen (Gl 862); Geschlecht der Germanen (Gl 865); der unausrottbare antithetische Instinkt der Germanen (Br I, 21); einer der tiefsten Denker der Germanen, Paul de Lagarde (Wille/ Das eine und das andere Deutschland 29). Germane als Akkusativobjekt: wir erkennen den Germanen als den Baumeister (Gl 837); wir sehen in sehr verschiedenen Stammesindividualitäten […] den Germanen am Werke (Gl 838). Germane in einer präpositionalen Nominalgruppe: Ohne ihn (Germane*) ging der Tag des Indoeuropäers zu Ende (Gl 550); die von Germanen gegründeten Staaten Europas bewährten sich (Gl 599); Augustus, bildete seine persönliche Leibgarde aus Germanen (Gl 600); Kreuzung mit einem für Germanen giftigen Blute (Gl 829); für den Germanen ist* eine noch nie dagewesene Ausdehnungskraft charakteristisch und zugleich eine Neigung zu einer vor ihm unbekannten Sammlung (Gl 863); Anknüpfung der Deutschen allein an die alten Germanen (Gl 867); [der Kelte] ist mit den Germanen innig nahe verwandt (Gl 555); innigen Verwandtschaft zwischen dem echten Germanen, dem echten Kelten und dem echten Slaven (Gl 571); Konflikt […] zwischen ihm [dem Germanen*] und dem Nicht-Germanen (Gl 607); Geschichte Europas [ist] Kampf zwischen Germanen und Nicht-Germanen, zwischen germanischer Gesinnung und antigermanischer Sinnesart (Gl 618); Verwandtschaft zwischen Germanen (namentlich Deutschen) und Indoariern (AW 41); keine Stammesverwandtschaft - zwischen Germanen und Semiten (Wille/ Deutschgedanke 5). Germane mit Adjektivattribut: der echte (Gl 571/ 610) / kurzköpfige (Gl 584) / grosse (Gl 593), hartbedrängte (Gl 603); arianische (Gl 610); unkultivierte (Gl 827), bedeutende (Gl 837) Germane. – Wbg.: Germanentum (Gl 552); Germanenstämme (Gl 552); Keltogermane (Gl 555); Slavokeltogermane (Gl 560); Halbgermane / Viertelgermane / Sechzehntelgermane (Gl 584; 838); Urgermane
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(Gl 607); Nicht-Germane (Gl 607); Germanisierung (Gl 632; dazu Ggb.: Bastardisierung); Entgermanisierung (Gl 584).
Im Motto dieses Kapitels nennt Klaus von See den Germanen eine fiktive Größe, die allerdings die Garderobe zu völkischen und sozialen Ideologien und Heilslehren liefere. Die Fiktionalität besteht darin, dass Chamberlain mit den Mitteln literarischer Sprachgestaltung auf der Basis des Germanendiskurses der damaligen Wissenschaft und seiner Resonanz im geistesund literarhistorisch geschulten Bürgertum die Fiktion einer Bezugsgröße entwirft, die als solche keine Verortung in Zeit und Raum aufweist32. Sie ist zugleich eine bewusst gestaltete Geschichtskonstruktion33 und ideologisch konzipierte Zukunftsutopie. Dabei ist die rekonstruktive Bewertung einer glorreichen germanischen Vergangenheit bzw. einer prähistorischen Figur 'Germane' nur Mittel zum Zweck. Bei der Verbreitung dieser Rekonstruktion haben vor allem die Publikumserfolge von Felix Dahn, Der Kampf um Rom und Die Ahnen von Gustav Freytag geholfen.34 Eine solche geschichtsgestaltende Rückschau diente Chamberlain und den Zeitgenossen zur eigenen gegenwartsbezogenen Identitätsbildung und –findung und erfüllte außerdem die Forderung Treitschkes nach einer eigenen Heldengeschichte.35 Gerade dem Land, das allgemein als 'Germania' bekannt war, in bestimmten Sprachen, z. B. dem Englischen, auch mit diesem Etymon bezeichnet wurde und wird, fiel diese Identifikation nicht schwer. Auch half es, all jene unter einem Dach zu vereinen, die ansonsten uneins waren, sei es politisch die Angehörigen der einen Partei mit ihren Parteigegnern, konfessionell Katholiken wie Protestanten, klassenbezogen Adel, _____________ 32
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Lund, Die ersten Germanen 1998, 57: "Wie Analyse und Interpretation des Germanenbegriffs bei Cäsar und Tacitus ergaben, hat Cäsar den erweiterten geographisch-kulturellen Germanen- und Germanienbegriff erfunden. Diese geographisch-kulturelle Konstruktion wurde später vor allem von Tacitus aufgenommen, der sie mit dem Inhalt erfüllte, den spätere Generationen von den Germanen je nach Bedarf rezipiert haben, auch die Wissenschaft, vor allem die Prähistorie". Lund unterscheidet zwischen überlieferten Selbstbezeichnungen und Fremdbezeichnung von außen. Zur ethnischen Selbstidentifikation schreibt Lund, sie sei kontextabhängig und situativ. Vgl. auch 84: "Die kollektive Identität ist nicht nur vielschichtig, vor allem ist sie nicht statisch und auch nicht an ein bestimmtes Territorium gebunden, wie die Forschung früher meinte." Vgl. dazu: Lund 1998, 11: "Die Geschichte der Germanenforschung im neunzehnten sowie zwanzigsten Jahrhundert spiegelt unfreiwillig und in extremem Ausmaß den Werdegang der Geisteswissenschaften vor allem im deutschsprachigen Raum wider." Vgl. dazu auch: Lund, Germanenideologie im Nationalsozialismus 1995; Kipper, der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich 2002; Römer, Sprachwissenschaft und Rassenideologie in Deutschland 1985; von See, Klaus: Barbar – Germane – Arier 1994. Vgl. dazu Kipper 2002, 12f.; zu Gustav Freytag ausführlich ab S. 85, zu Felix Dahn ausführlich ab S. 118. Felix Dahns "Kampf um Rom" erfuhr bis 1912 sechzig Auflagen, Gustav Freytags "Ahnen" bis 1918 zweiundsechzig Auflagen. Vgl. Treitschke, Deutsche Geschichte I, VII, 1927.
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Bürgerliche und Arbeiter. Das allgemein überdachende Gemeinschaftskriterium aller Deutschen, zu denen sich der Engländer Chamberlain vor allem über das Kriterium Germanentum hinzuzählen konnte, waren bislang die Sprache und die gemeinsame Kultur, im 19. Jh. gesellte sich nun das Kriterium der Rasse hinzu. Alle drei Kriterien zusammen bilden die Basis für die "germanische Idee", die für die meisten völkischen Gruppierungen zum Dreh- und Angelpunkt ihres Handelns wurde. Für sie und für Chamberlain manifestierte sich darin eine Utopie, in der den Germanen die kulturelle Vormachtstellung, aber auch die politische Weltherrschaft versprochen wurde, ein verlockendes Angebot für jeden, der selbst solche Illusionen hegte und der bereit war, die Fiktion des Germanentums ernst zu nehmen. Als eigenständige Größe wird man den Germanen realiter jedoch nicht antreffen können. Mit dem Wort bezeichnet man eine pseudoethnische Kategorie36, die als Utopie gedacht ist und nur scheinbar in reale Bezugsgrößen eingebunden werden kann. Zum damit angesprochenen Prinzip der Fiktionalität passt, dass Chamberlains Grundtempus das Präsens der allgemeinen zeitlichen Gültigkeit ist. Typisch für dieses Vorgehen sind Aussagen wie wer sich als Germane bewährt […] ist Germane (Gl 574); Germane ist […], wer von Germanen abstammt (Gl 575); übrigens Konstruktionen, die auch heute noch in Staatsbürgerschaftsdefinitionen vorkommen. Der so konzipierte Neuentwurf des Germanen beruht außerdem auf einer Reihe von Zirkelschlüssen, in denen das Definiendum im Definiens wiederholt wird und Behauptungen in anderen Behauptungen aufgehen. Chamberlains Germane ist auf diese Weise einerseits zeitlos und andererseits Teil einer noch zu gestaltenden Zukunft, denn: wir Germanen stehen noch mitten im Werden (Gl 859). Diese offene Zukunft wird von Chamberlain als Verpflichtung gesehen, sie auch anzunehmen und nach den Vorgaben seiner Rassenvorstellung zu gestalten. Es passt außerdem, dass Chamberlain zwar auf die Vergangenheit dieser Größe rekurriert, dass seine Bezugsgröße aber nichts mit den Gruppen der Menschen zu tun hat, die in den Jahrhunderten um Christi Geburt im nördlichen Mitteleuropa gelebt haben. Man muss zugestehen, dass zwischen den mittel- und nordeuropäischen Menschengruppen der Jahrhunderte um Christi Geburt und dem Menschen um 1900 gewisse historische Fortsetzungsverhältnisse bestehen. Es hat keine Ereignisse gegeben, die die historischen Kontinuitäten des in Frage kommenden Raumes trotz z. B. der Völkerwanderung oder der so genannten 'Ausdehnung der Slaven' grundsätzlich aufgehoben hätten. Dennoch wissen wir über diese Gruppen von Menschen relativ wenig, vor allem, weil dasjeni_____________ 36
Vgl. dazu Lund 1998, 88.
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ge, was uns überliefert ist, in der Regel auf den Fremdzuschreibungen antiker Autoren wie Tacitus und Cäsar beruht. Diesen durch linguistische Abstraktion zusammengefassten Gruppierungen in einem klassischen transitus ab intellectu ad rem eine biologische Gleichartigkeit und Zusammengehörigkeit zuzuschreiben, sie gar als Rasse mit all den überepochalen Konstanzvorstellungen zu denken, die sich mit dem Rassebegriff verbinden, ist das Produkt des 19. Jahrhunderts37 und hat mit den historischen Fakten nichts zu tun. Eine solche Projektion der Germanen auf das Rassenkonzept führt aber zu einem vollständig anderen Germanen als zu dem aus den antiken Schriftstellern (Tacitus) vage greifbaren. Ganz in dieser Tradition ist auch Chamberlains eigenes Vorgehen zu sehen. Denn auch er konstruiert etwas gänzlich Neues, wenn er sich mit der Ethnogenese des Germanen beschäftigt. Indem er die sprachliche Abstraktion Slavokeltogermane erfindet, hat er einen neuen Typus eingeführt. Gl 305: Ich verstehe unter dem Wort "Germanen" die verschiedenen nordeuropäischen Völkerschaften, die als Kelten, Germanen und Slaven in der Geschichte auftreten und aus denen […] die Völker des modernen Europa entstanden sind.
Dieser neue Germane ist ein überdachendes Konstrukt für ganz unterschiedliche Bezugsgrößen, deren historische Realität vor allem in der referenzierten Zeit ausgesprochen fragwürdig ist.38 Der Slavokeltogermane darf aber keineswegs als der erste Gemeinschaft und Völkerverständigung stiftende Europäer verstanden werden. Das Grundwort Germane beschreibt die festgelegte Hierarchie. Er bildet nur die Ausgangsbasis für die sehr viel wichtigeren Ausführungen, in denen das Mehr oder Weniger an germanischem Blut bzw. an angenommenen germanischen Rasseanteilen zur Voraussetzung für Anwesenheit und Abwesenheit von Kultur in den europäischen Völkern gemacht wird. Während nur der Germane die ihn kennzeichnenden Eigenschaften besitzen kann wie hohe Sittlichkeit, Kulturfähigkeit, wahre Persönlichkeit usw. (s. o. Bedeutungserläuterung und vgl. GL 733; 778/9), sind in dieser Argu_____________ 37 38
Vgl. dazu: Lund 1998, 22f. Vgl. zu den Kelten und ihrer Ethnogenese die sehr allgemeine Perspektive der Byzantiner: Kelten seien: "nicht griechisch sprechende Barbaren im nordwestlichen Teil Europas". Malcolm Chapman, zitiert nach Lund 1998, 88. Noch deutlicher 118: "Daher erklärt es sich, weswegen man in der Antike nie zu der Auffassung gelangen konnte, dass Gallien, Britannien und Hibernien von Mitgliedern ein und derselben Sprachfamilie – seit Johann Kaspar Zeuß (1803-1856) als die keltische bekannt – bevölkert war. Teils ist diese – wie es auch mit dem Germanischen und mit dem Indoeuropäischen der Fall ist – eine rein wissenschaftliche, linguistische Abstraktion der Neuzeit, teils interessierten sich weder die Römer noch die Griechen der Antike für die Sprachen fremder Völker. Es gab für die antiken Hellenen lediglich eine Sprache, die griechische, für die antiken Römer nur zwei, die griechische und die lateinische, die meist utraque lingua bzw. uterque sermo schlechthin genannt wurden."
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mentation alle anderen Rassen (im Sinne von Nationen) durch kulturelle Impotenz, die durch Verlust an germanischen Substanz verursacht wurde, dem Untergang geweiht: die Italiener, da sie entgermanisiert seien (GL 6f.; 775) und damit ihre Schöpferkraft verloren hätten, die Slawen, bei denen der fortschreitende Verlust des Germanentums ebenfalls die Gestaltungskraft, aber auch so etwas wie charakterliche Beharrlichkeit gekostet hätte (GL 778). Was für ein ganzes Volk zutrifft, muss jedoch nicht auch für jeden Einzelnen gelten. Denn für die im Artikel genannten Einzelpersonen wie Dante, Montaigne, Michelangelo oder Leonardo da Vinci geht Chamberlain argumentativ den umgekehrten Weg. Weil sie die in seinen Augen wichtigen künstlerischen Eigenschaften besitzen, die er sonst ausschließlich den Germanen zuschreibt, müssen sie in ihren Völkern die letzten Vertreter der Kultur schaffenden germanischen Rasse sein. Br II, 213/4 (1904): daß Lionardo z. B. am Fuße der Burg des Herrn von Winde geboren wurde, sagt noch nichts über seine eigene Rasse aus. Hier ist Körpergestalt und Kopfbildung entscheidend. Und nun erweist es sich, bei einem peinlich genauen Studium aller Berichte und mathematischen Porträte, daß fast alle diese Leute groß, blond, blauäugig, schmalköpfig sind und in keiner Weise an die heutigen Italiener erinnernd. Lionardo namentlich ist der vollkommen reine Typus des echten Nordländers. Auch Raffael ist zum mindesten vorwiegend Germane: in der Jugend hellgelb-blond und blauäugig, später die Haare etwas nachgedunkelt und die Augen grau. Michelangelo - der selber auf seine angebliche Abstammung von dem sächsischen Kaiserhaus stolz war - scheint weit mehr ungermanische Beimischung im Blute aufzuweisen.
Chamberlain projiziert also sein rassisches Ordnungssystem auf längst vergangene Kulturen und Völkerschaften. Er schafft auf diese Weise ein kulturgeschichtliches Raster, in dem die Unterteilung der Germanen in Halbgermanen, Viertelgermanen oder Sechzehntelgermanen (Gl 584; 838) eben nicht nur eine Aussage macht über den spezifischen Rassenanteil, sondern auch über Kulturkompetenz, Schaffens- und Künstlerkraft. Typisch sind außerdem die herausragende Vitalität, die Tatkraft und die ungebrochene Jugendkraft (Gl 552), die mit diesem "Menschentyp" verbunden werden39. Die Germanen sind das jugendliche Heldengeschlecht (Gl 169), das das Erbe des Altertums mit kraftstrotzender Hand ergreift (Gl 306). Ihre schöpferische Potenz betrifft alle Bereiche menschlichen Handelns. Sie werden von Chamberlain, ganz im Sinne Gobineaus, zum Kultur- und Zivilisationsträger der Geschichte. Ohne sie kann es in dieser völlig ahistorischen Argumentation keine Kultur, keine Wissenschaft und keine wahre Religion geben. Das schöpferische Prinzip wird geradezu zum rasseabhängigen spezifischen Merkmal der Germanen, sei es als kulturelle _____________ 39
Jugendlichkeit gehört neben Ursprünglichkeit und Unverfälschtheit stereotyp zum Germanenbild hinzu. Vgl. zum Topos der jungen Völker: Puschner 2001a, 95.
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Befähigung (Gl 902), als schöpferische Künstlerkraft (Gl 575) oder wenn Chamberlain den Germanen explizit als Schöpfer einer neuen Kultur (Gl 826) anspricht. Die meisten Prädikationen gleichen einer Apotheose des Germanischen. Der Germane, in seinen spezifischen Ausführungen der Arier und speziell der Deutsche, wird zum Liebling der Götter (GL 902), zum wahren Gestalter der Geschichte (GL 6), zur Seele unserer Kultur (Gl 306), zum Erben des Altertums (306), zum Geschlecht, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt (GL 348), zum Retter (GL 37340; 508) und zum Spender eines neuen Menschheitsmorgens (GL 508). Chamberlain macht ihn zum Kämpfer gegen die Verrohung, gegen Unmoral und Heuchelei (GL 710), zum Aufräumer oder moralischen Sittenwächter des Christentums. Die germanische Weltanschauung sieht er als das wahre Christentum (GL 206) an. Und der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte ist für ihn die Errettung der agonisierenden Menschheit aus den Krallen des Ewig-Bestialischen (GL 508). Der Germane ist alles, er kann alles und ohne ihn kann es weder Kultur noch Wissenschaft geben. Das ist Chamberlains wichtigste Botschaft. Dieser Menschentypus bildet die Basis für seine Utopie. Nur er sei aufgrund einer von einem höheren Wesen auserwählten Sprach- und Rassenzugehörigkeit in der Lage, in dieser durch Endzeitstimmung und Agonie geprägten Welt ein neues Menschentum zu schaffen, das die Grundlage für den 'Zukunftsarier' darstellt. GL 779: Es ist nicht unwichtig zu bemerken […] dass der charakteristische, unvertilgbare INDIVIDUALISMUS des echten Germanen mit dieser "plastischen" Anlage der Rasse offenbar zusammenhängt. Ein neuer Stamm setzt das Entstehen neuer Individuen voraus; dass stets neue Stämme bereit sind, hervorzuschiessen, beweist, dass auch stets eigenartige, von anderen sich unterscheidende Individuen vorhanden sind, ungeduldig den Zaum beissend, der die freie Bethätigung ihrer Originalität zügelt. Ich möchte die Behauptung aufstellen: jeder bedeutende Germane ist virtualiter der Anfangspunkt eines neuen Stammes, eines neuen Dialektes, einer neuen Weltauffassung.
Diese Art 'schöpferischer Übermensch' ist also nicht das Ergebnis einer langen Entwicklung einer bereits vollendeten Vergangenheit, sondern er ist der Ausgangspunkt für eine zu entwickelnde Zukunft. Er ist nicht auf eine einst reine und dann sich durch Mischung verunreinigende Urrasse zurückzuführen, sondern wird sich erst im Laufe seines Zuges durch historische Zeiten und Räume, durch Vermischung und Abgrenzung, eben durch fortwährende richtige Zuchtwahl mit daran anschließender Inzucht, im Chamberlain'schen Verständnis letztlich durch gezielte Nationenbildung entwickeln. Dabei können die traditionellen Widersprüche im Germanen_____________ 40
Gl 373: "Germanen waren es, welche immer wieder die asiatische Gefahr vom östlichen Reiche heldenmütig abwehrten; Germanen retteten vor hunnischer Verwüstung auf den catalaunischen Gefilden das westliche Reich."
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bild aufgelöst werden: auf der einen Seite die ganze Stämme und Völker hinschlachtenden und hinmordenden Barbaren (Gl 865) und auf der anderen ein Menschentyp, der sich durch hohe Sittlichkeit auszeichnet (Gl 306 u. ö.) und der duldsam, evangelisch, sittlich rein (Gl 610) ist. Der Zukunftsgermane wird auch einen zweiten Widerspruch aufheben, nämlich den zwischen dem instinktbesitzenden urwüchsigen Naturburschen und dem Bannerträger von Fortschritt und Erkenntnis.41 In ihm harmonisieren und zivilisieren sich alte Vorstellungen und moderne Wünsche. Die Teleologie der Rassenentwicklung wird bezeichnenderweise mit dem Loblied derjenigen Nation verbunden, die als letzte in der europäischen Geschichte von der Vielfalt zur Einheit, von vielen 'Individualitäten' zu ihrer Zentralstaatlichkeit gefunden hat. Gl. 320f.: Nicht also aus Rassentum zur Rassenlosigkeit ist der normale, gesunde Entwickelungsgang der Menschheit, sondern im Gegenteil, aus der Rassenlosigkeit zur immer schärferen Ausprägung der Rasse. Die Bereicherung des Lebens durch neue Individualitäten scheint überall ein höchstes Gesetz der unerforschlichen Natur zu sein. Hier spielt nun bei uns Menschen die Nation, welche fast immer Vermischung, gefolgt von Inzucht bewirkt, eine ausschlaggebende Rolle. Ganz Europa beweist es. […] was die heutigen Deutschen s i n d, hat Herr Renan im Jahre 1870 erfahren können; […]. Das ist der Erfolg von Rassenerzeugung durch Nationenbildung. Und da Rasse nicht bloß ein Wort ist, sondern ein organisches lebendiges Wesen, so folgt ohne weiteres, dass sie nie stehen bleibt: sie veredelt sich, oder sie entartet, sie entwickelt sich nach dieser oder jener Richtung und lässt andere Anlagen verkümmern. Das ist ein Gesetz alles individuellen Lebens. Der feste nationale Verband ist aber das sicherste Schutzmittel gegen Verirrung: er bedeutet gemeinsame Erinnerung, gemeinsame Hoffnung, gemeinsame geistige Nahrung; er festet das bestehende Blutband und treibt an, es immer enger zu schließen.
Rassenbildung ist abhängig von Nationenbildung (und wie schon deutlich wurde, auch umgekehrt). Doch die nationalistische Parallelisierung von Rasse und Nation wird selten so deutlich wie in diesem Zitat. Um es noch stärker zu pointieren: Rassismus ist die Speerspitze des Nationalismus. Der unterstellte besondere staatenbildende Trieb der Germanen gewinnt hier seine ideologische Funktion. Besonders ein Satz des Zitates erfordert Aufmerksamkeit, nämlich die Aussage, dass Rasse nicht bloß ein Wort ist, sondern ein organisches lebendiges Wesen. Dies ist, nunmehr für die Rasse, der gleiche transitus ab intellectu ad rem, wie er auch für Kunst und Natur vollzogen wurde bzw. werden kann: eine Größe, deren Existenz nur als Kopfgeburt in der Abstraktion des Weltbildners und derjenigen besteht, die seine Texte rezipieren, wird mittels einer ist-Prädikation in die Realität projiziert und damit zum Referenzgegenstand für weitere Aussagen gemacht, etwa die, dass das "lebendige Wesen Rasse" nie stehen bleibt, sondern _____________ 41
Kipper 2002, 12.
172 Das Wortfeld 'Mensch'
sich veredelt oder entartet. Die evolutionsbiologischen Hintergründe sind nicht zu verkennen; sie werden aber mit sozialen und pädagogischen Vorstellungen verbunden, da nur diese die Handlungsaufforderungen implizieren, die die zeitgenössischen Rezipienten akzeptierten. Speziell die Hineinstellung des 'Germanen' in eine Entwicklungslinie mag zur Rezeption beigetragen haben. Kipper 2002, 11: Der Gedanke der Wesenseinheit von zeitgenössischen Deutschen und alten Germanen sowie die Annahme einer Kontinuität der germanisch-deutschen Volksgeschichte über die Jahrtausende hinweg zählen zu den wirkungsmächtigsten Elementen des kollektiven Gedächtnisses der Deutschen.
Es gibt in Chamberlains Ideologie eben nicht nur den generischen, sondern auch den nationalbedingten Germanen. Während der generische Germane den Anfang einer Entwicklung bildet, ist sein national definierter Nachfahre das vorläufige Endprodukt einer Entwicklung. Es geht um den Weg von einer ursprünglich aus dem Norden Europas stammenden Menschenart, des homo europaeus Linné's, der als Slavokeltogermane aus ganz unterschiedlichen Mischungen besteht, hin zur rassischen Ausdifferenzierung, die in ihrer deutschnationalen Ausprägung zum Inbegriff des echten Germanentums wird. Betrachtet man die Palette der zu den Germanen zählenden Völker, so zeigt sich immer wieder, dass die Deutschen für ihn den Inbegriff des Germanentums, sozusagen den Locus Germaniae darstellen, den Ort, an dem es am germanischsten ist. GL Vorw. zur 14. Aufl. XVf.: Den Grundgedanken, aus dem dieses Werk geboren wurde, bildete die Überzeugung von der überlegenen Bedeutung der aus dem Norden Europas stammenden Menschenart - des homo europaeus Linné's, des Slavokeltogermanen der Geschichte: einer Überlegenheit, welche Ansprüche rechtfertigt und Pflichten auferlegt. Kein aufmerksamer Leser wird urteilen, der Verfasser verherrliche in parteilicher Weise den deutschen Zweig dieser Familie; vielmehr wird er finden, dass das Germanische überall, wo es sich am Werke zeigt, bis in die entlegensten Gebiete von Europa, ja bis an die äussersten Enden der Weltkugel, aufgewiesen und freudig anerkannt wird. Freilich hat das geschichtliche Werden es mit sich gebracht, dass Deutschland - oder sagen wir lieber das Deutschtum, womit wir alle politische Beschränkung abweisen - der Sitz des eigentlichen germanischen Bewusstseins wurde: zum Teil mag das aus der geographischen Lage erfolgen, bestimmend wirkte jedoch die Tatsache, dass die üppigsten Blüten des Geistes zugleich mit der tiefsten Besonnenheit über die germanische Eigenart durch Männer aus dem deutschen Sprachgebiet in die Erscheinung traten: Luther und Bismarck, Friedrich der Grosse und Moltke, Goethe und Richard Wagner, Bach und Beethoven konnten einzig Deutsche sein. Man darf es aussprechen: damit erhielt das Deutschtum die Würde und die Verantwortlichkeit eines Hauptes des germanischen Rassegedankens, weil es in seiner Mitte Hirn und Herz dieser besonderen Menschenart birgt.
Die Deutschen sind damit nicht nur das Ziel der Geschichte, mehr noch, die germanische Rasse wird ihnen zur Verpflichtung gemacht, weil bei
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ihnen der Sitz des eigentlichen germanischen Bewusstseins, Hirn und Herz dieser Menschenart liege. Dass mit dem Adjektiv germanisch ein Gütesigel ausgesprochen wird, das sowohl Identifikation als auch Kennzeichen des Besonderen darstellt, ist das Eine, das Zweite ist, dass es durch seinen Ausschließlichkeitsanspruch offensichtlich ausgrenzend gedacht ist. Aus dieser Bewertungsprämisse wird ein Herrschaftsanspruch erhoben, der (kultur)imperialistische Folgerungen möglich macht. Passend dazu ist die onomasiologische Vernetzung zum Wort germanisch. Als Bedeutungsverwandtschaft erscheinen immer wieder deutsch (Gl 575), aber auch indoeuropäisch (Gl 584); altdeutsch (Gl 601); nordeuropäisch / slavokeltogermanisch (Gl 826). Die klare Gegensatzrelationierung dazu bilden die Kennzeichnungen jüdisch (Gl 574); ungermanisch (Gl 584; 845 z. B.: der ungermanische, kurzköpfige, brünette Typus; Gl 584); antigermanisch (Gl 861) bzw. mongoloid (Gl 584). Besonders mongoloid impliziert Krankheit und Entartung und verweist wieder auf die dehumanisierende Denkweise Chamberlains, auf den rassischen Bezug des Germanischen und vor allem auf das von ihm konstruierte Feindbild, das schon im Artikel Germane deutlich wurde. Für ihn gibt es einen Konflikt […] zwischen ihm [dem Germanen*] und dem NichtGermanen (Gl 607), und die Geschichte Europas [ist ein] Kampf zwischen Germanen und Nicht-Germanen, zwischen germanischer Gesinnung und antigermanischer Sinnesart (Gl 618), wobei die Juden wie immer den Hauptfeind stellen müssen. Das ganze Ausmaß der Kontiguitäten, die sich mit Ausdrücken wie Germane verbinden, zeigt sich auch beim zugehörigen Adjektiv germanisch, das deshalb noch mal eigens, allerdings nur überblicksartig, analysiert werden soll. Folgende Verwendungsweisen können unterschieden werden: – Relativ selten neutral bezogen auf eine Sprache bzw. eine Sprachgruppe im Sinne von >germanophon, der indogermanischen Sprachgruppe zugehörig, sich trotz interner Gliederungen von dieser und von anderen indogermanischen Sprach(grupp)en durch bestimmte lautliche, morphologische und lexikalische Besonderheiten unterscheidend<. Ein Beleg dazu ist (wenn auch bereits mit Weiterungen): Gl 1068: dass es uns ohne das Vehikel unserer eigenen germanischen Sprachen niemals hätte gelingen können, unsere Weltanschauung zu gestalten.
– Bezogen auf die Menschen, die die Sprache 'Germanisch' sprechen, diese Menschen dabei als Gruppe a) von relativer Einheitlichkeit, b) mit intern-horizontalen Differenzierungen, c) mit einem unterschiedlichen Entwicklungsstand der ihnen zugeschriebenen Rasseeigenschaften konzipierend; prinzipiell offen zu 3: germanische Völker (Gl 575); germanisches Blut (Gl 306/593/766/ 826/ 827/ 829) / Geblüt (Gl 575); germanischer Typus (Gl 584); der germanische Rassegedanke (Vorw. 14. Aufl. XV); das germanische Italien (Gl 826).
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– Der sog. Rasse der Germanen zugehörend, deshalb mit herausragender Kulturfähigkeit, Schöpferkraft und weiteren dem Chamberlainschen Rassekonzept inhärenten Qualitäten ausgestattet; zunächst bezogen auf einzelne Nationalitäten42 als spezifische Ausprägungen dieser Rasse; spezialisiert auf 'die Deutschen' als diejenigen Menschen, die als der ideologiesystematische locus Germaniae konzipiert sind: die germanische Eigenart (Gl 557) / Idee (Gl 574) / Gesinnung (Gl 575/ 618) / Befähigung (Gl 575) / Kraft / Eigentümlichkeit (Gl 850) / Geistesrichtung (Gl 923) / Persönlichkeit (Gl 914) / Natur (Gl 1047) / Seele (Gl 1050; 1083); Weltanschauung (Gl 922; 1025; 1063; 1066; 1113) / Weltauffassung (Gl 1070) / Sittenlehre (Gl 1058) / Kultur (Gl 1035); das germanische Denken (Gl 924; 1026) / Gesicht (Gl 593) / Wesen (Gl 629 / 1036); Bewusstsein (Vorw. 14. Aufl. XV); Entdeckungswerk (Gl 927). – Bezogen auf den Raum, in dem die Sprache / Sprachengruppe 'Germanisch' gesprochen wird bzw. in dem 'die Germanen' leben: die germanische Welt (Gl 864f.); der philosophisch-religiösen Entwickelung der germanischen Welt (Gl 1031). – Bezogen auf einzelne Personen, die die Eigenschaften von Germane 3., 4., 5 in herausgehobener Weise repräsentieren; dabei können Zwangsadoptionen in dem Sinne erfolgen, dass Personen, die nicht an die Germanophonie gebunden werden können, aufgrund ihnen zugeschriebener Eigenschaften zu Angehörigen der 'germanischen Rasse' im Sinne von 3 erklärt werden. Die Willkür, die hinter diesem Akt der Zugehörigkeitserklärung steht, wurde bereits besprochen: ein echter germanischer Mann sein (z.B. Luther) (Gl 575); Thomas [von Aquin war] ein durchaus ehrlicher germanischer Mann (Gl 1030); unsere grossen germanischen Mystiker (Gl 1045) u. ö. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass Chamberlain mit dem Assoziationskomplex, der der vorgetragenen Gliederung zugrunde liegt, den Erwartungen des national orientierten Bürgertums entsprochen hat, diese sogar auf den Punkt bringt. Wenn er schreibt: je weniger germanisch ein Land, um so uncivilisierter ist es (Gl 826), so macht er die in diesem Zitat positiv konnotierte Zivilisation43 zum spezifischen Merkmal der Germanen. Insgesamt konnten alle von Chamberlain aufgezählten Eigenschaften des "germanischen Wesens" gefallen, da sie einem Tugendkatalog entstamm_____________ 42
43
Der Chamberlain'sche Wortgebrauch von Nation und national ist ähnlich unspezifisch. National kann auf Sprachgruppen bezogen sein, auf politische Gebilde und auf die germanischen Rassen, je nach Belieben des Autors. Beim letztgenannten Fall ist die "Biologisierung einer vorwiegend kulturellen Größe" offensichtlich; vgl. dazu Gardt 1999, 306. Das Wort Zivilisation wird in diesem Beleg positiv konnotiert, was jedoch bei Chamberlain nicht der Normalverwendung entspricht. Zivilisation ist in der Regel das negative Pendant zu Kultur. Es steht für Materialismus, Urbanismus und Moralverlust.
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ten, der diesem Bürgertum als Erziehungsleitfaden hätte gedient haben können: körperliche Gesundheit und Kraft, grosse Intelligenz, blühende Phantasie, unermüdlicher Schaffensdrang (Gl 629), Treue (Gl 601 u. ö.), Heldenmut, Ehre (Gl 562), Ernsthaftigkeit (Gl 557), Intelligenz, gestaltendes Vermögen (Gl 826), Künstlerkraft, Kriegstüchtigkeit, Religiosität (Gl 575) und natürlich immer wieder die Pflicht. Gl 860: Die heiligste Pflicht des Germanen ist, dem Germanentum zu dienen.
Chamberlains erste Botschaft war, dass der Germane ein Übermensch ist, die zweite, dass dieses Übermenschsein in seinem gesamtutopischen Charakter dennoch für jedermann erreichbar ist. Denn als Deutscher war man von Geburt an inkludiert, musste sich nicht einmal anstrengen um germanisch zu werden. Man musste höchstens darauf achten, dass man sich rassisch nicht verirrt, dass man sich nicht mit giftigem Blut (Gl 829) verdarb oder dass nicht das germanische Blut erschöpft wird (Gl 829). Chamberlain zeichnet hier auf der Grundlage einer rassischen Prädestinationslehre eine Zukunftsperspektive, in der der zuhöchstbegabte (Gl 597) Germane zum Herrn über die Welt (Br II, 213) wird, zuvor jedoch den Kampf gegen das Judentum zu führen hat (Gl 618) und schließlich der Anfangspunkt eines neuen Stammes, eines neuen Dialektes, einer neuen Weltauffassung (Gl 837) ist. Der Chamberlain'sche 'Germane' ist das dichotomische Gegenbild zum 'Juden' und vor allem die Basis einer Utopie, die ihren Kulminationspunkt im Wort Arier hat.
7. Der Arier Ja, daß er [der Idealismus] allein erst den Begriff "Mensch" geschaffen hat. Dieser inneren Gesinnung verdankt der Arier seine Stellung auf dieser Welt, und ihr verdankt die Welt den Menschen; denn sie allein hat aus dem reinen Geist die schöpferische Kraft geformt, die in einzigartiger Vermählung von roher Faust und genialem Intellekt die Denkmäler der menschlichen Kultur erschuf. Hitler, Mein Kampf 135.
Arier, der >Angehöriger derjenigen als Rasse deklarierten Gruppe von Menschen, die aufgrund besonderer Auserwähltheit und nahezu übermenschlicher Fähigkeiten im kulturellen, moralischen und politischen Bereich über alle anderen so genannten Rassen gesetzt ist und ohne die in dieser Diskurswelt Sittlichkeit und Kultur von Menschen nicht gedacht werden können<. Mit Arier werden alle unter dem Lemma Germane bereits genannten Gütekennzeichen und Zuschreibungen verbunden, allerdings tendenziell superlativisch in zugespitzter Form (z. B. der Zuhöchstbegabte). Die Arier
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erscheinen als die metaphysisch Beanlagten44 (Gl 935), als diejenige Rasse, die in allen ihren Ausprägungen durch eine besondere Religiosität und Gottesnähe gekennzeichnet ist. Aufgrund dieser allseitigen Überlegenheit werden sie auch als die Herren der Welt betitelt. Extensional referiert das Wort auf: a) Angehörige eines vermeintlich in Asien ansässig gewesenen Volkes, das durch die im 19. Jahrhundert rekonstruierte und ontologisierte indogermanische Sprache gekennzeichnet ist. Tropisch dazu: Angehörige einer als existent angenommenen indogermanischen – europäischen bzw. indisch-iranischen Urrasse (Gl 315), Indoarier.45 – Bdv.: Indoarier, Indo-Eranier (Gl 315), Indogermane (AW 85), (alte) arische Inder (Wille 10); b) einen nordischen Menschen und damit auf einen Angehöriger einer so genannten nordischen Rasse, die als Gegenbild zu Römer und zu Mestize als den Größen des Völkerchaos, aber vor allem zu Jude konstruiert ist. Die nordische Rasse wird ethnogenetisch im skandinavischen Raum verortet. Sie inkludiert alle germanischsprachigen Europäer und bezieht sich besonders auf die Germanen als die letzten Arier. – Bdv.: Indoeuropäer (Gl 122; 316; 843 u. ö.); Nordeuropäer, Nordländer46 (Gl 434), Slavokeltogermane, Germane, Deutscher, Engländer, Mensch. – Ggb.: Römer, Mestize, Semit, Hamit (Gl 122), Jude (Gl 315); c) auf einen Zukunftsmenschen, der durch gezielte Rassenzüchtung zu erschaffen ist. Es handelt sich dabei um ein im völkischen Diskurskontext gedachtes Ideal, das gleichzeitig Urtyp und Utopie des kulturschöpferischen Menschen darstellt. Der Arier ist der Inbegriff des von Chamberlain konzipierten "neuen Menschen". Chamberlain favorisiert aufgrund der sprachwissenschaftlichen Erklärungsmodelle die asiatische Herkunft des Ariers, greift aber immer auch auf die Nordeuropatheorie zurück. Die genetische Verbindung zu den Germanen erklärt er durch Wanderungen in den Norden Europas. Die Widersprüchlichkeit seiner Argumentationen ist frappant, was darin begründet ist, dass es ihm gar nicht um historische Arier geht. In Anbetracht der Übergängigkeit zwischen den extensionalen Bezugsgruppen von Arier _____________ 44
45 46
Zur Weltanschauung der Arier vgl. z.B. AW 66: "eine Weltanschauung, die nicht die sichtbare Welt als das zunächst Gegebene betrachtet, worüber, woraus und wodurch, auf dem Wege dialektischer Erwägungen zu weiteren Einsichten zu gelangen sei, sondern für die das Unsichtbare, das Unfaßbare, das Unsagbare des eigenen Herzens das einzige ganz Zweifellose bildet." Zurückgehend auf sanskrit àrya >Edler<; vgl. dazu z.B. von See 1994, 220; SchmitzBerning 1998, s. v. Arier. So auch bei Hitler, Mein Kampf I, 336; Rosenberg, Mythus 273.
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kann in der folgenden Informationsposition keine generelle Differenzierung vorgenommen werden. Klar zuordenbare Belege werden durch in Klammer gesetzte Buchstaben gekennzeichnet. – Präd. und Synt.: Arier als Subjekt: der sieche Arier raffte sich auf / warf den Feind [Buddhismus] hinaus (a; AW 43) / der bejahrte Arier verläßt […] alles was ihm teuer ist auf der Welt, […] um einsam in die Wälder hinauszuziehen und in Jahren des Schweigens und der Entbehrung der Erlösung entgegenzureifen (a; AW 66). – Arier * erfanden die fälschlich "arabisch" genannten Ziffern (a; Gl 486) / machten dadurch alle höhere Mathematik erst möglich / wären in ihrer kindlichen Einfalt und Größe aber nie darauf verfallen, "Gott" geometrisch zu konstruieren (a; AW 58); die alten echten Arier besaßen keine Kirchen und keine Priesterhierarchie (a; AW 89); der Arier legt die felsenfeste Überzeugung von der moralischen Bedeutung der Welt - seines eigenen Daseins und des Daseins des Alls seinem ganzen Denken zugrunde / errichtet sein Denken auf einem "inneren Wissen", jenseits "aller Beschäftigung mit Beweisen" (b/c; AW 60); Es ist, als ob dieser Arier den Drang in sich fühlte, das, was in seinem dunklen Innern sich bewegt, hinaus auf die Umgebung zu werfen, und als ob dann wieder die großen Naturerscheinungen – der Lichthimmel, die Wolke, das Feuer usw. – auf diesen selben, von innen nach außen gesendeten Strahlen den umgekehrten Weg zurücklegten, in des Menschen Brust hineindrängten und ihm zuraunten: ja, Freund, wir sind das selbe wie du! (c; AW 60); Dieser Mensch (Arier *) ist lustig, lebenstoll, ehrgeizig, leichtsinnig, er trinkt und er spielt, er jagt und er raubt (b; Gl 259); Während der erkenntnisreiche Arier "in weite Fernen suchend ziehet", lässt der willensstarke Jude Gott sein Gezelt ein für alle Mal in seiner Nähe aufschlagen (b/c; Gl 290); dieser Mann (Arier*) hat aber jedenfalls Religion, und zwar, wie mich dünkt, ein Maximum an Religion (b/c; Gl 488); [Wahlverwandtschaft] die indoeuropäischen Arier bilden eine Familie (b; Gl 597); Körperlich und seelisch ragen die Arier unter allen Menschen empor; darum sind sie von Rechtswegen (…) die Herren der Welt (b/c; Gl 597). Arier in Gleichsetzungsen: nicht darauf kommt es an, ob wir "Arier" (b) sind, sondern darauf, daß wir "Arier" (c) werden (AW Vorw. zur 3. Aufl.); Anthropologen, Ethnologen und selbst Historiker, Religionsforscher, Philologen, Rechtsgelehrte [können] des Begriffes "Arier" von Jahr zu Jahr weniger entraten (GL 317f. Anm. 4); bleibt der "Semit" als Begriff einer Urrasse, gleichwie der "Arier", einer jener Rechenpfennige, ohne die man sich nicht verständigen könnte (Gl 407); Die Rassen der Menschheit sind in der Art ihrer Befähigung, sowie in dem Masse ihrer Befähigung sehr ungleich begabt, und die Germanen gehören zu jener Gruppe der Zuhöchstbegabten, die man als Arier zu bezeichnen pflegt (b; Gl 597); die metaphysisch Beanlagten, die Arier (b/c; GL 935); wenn ich in diesem Buche das Wort Arier gebrauche, so thue ich es in dem Sinne des ursprünglichen Sanskritwortes ârya = "zu den Freunden gehörig", ohne mich zu irgend einer Hypothese zu verpflichten (a; Gl 317, Anm. 2); gebrauchen die Forscher auf dem Gebiete der Rechtsgeschichte einmütig den Ausdruck Arier, resp. Indoeuropäer (Gl 122); Bevölkerung, welche wir als europäische Arier zu bezeichnen pflegen (b; Gl 316); Ursprünglich waren es die Sprachforscher, die den Kollektivbegriff "Arier" aufstellten (Gl 316). Arier als Genitivattribut: den steilen Bergpfad [..] der alten Arier – einschlagen (a; AW Vorwort zur 3. Aufl.); die ungeheure Begabung der Arier für die Mathematik (a; AW 58); die Nachkommen der Arier (a; AW 89); das Denken der Arier (b/c; AW 66); das Denkergeschlecht der Arier (b; AW Vorwort zur 3. Aufl.); das ewige "Hausfeuer" der Arier (b/c; Gl 295). Arier als Dativobjekt: Dem indischen Arier hat ein Hellene gefehlt (a; AW 76); die Vorstellung des Gottmenschen ist ein den Ariern geläufiger Gedanke (a; AW 85). Arier als Akkusativobjekt: wir sehen ihn (Arier*) beschäftigt, einem dunkeln Drange zu folgen, der ihn antreibt, im eigenen Herzen zu forschen (b; Gl 259); das grosse Rätsel des Daseins nimmt ihn (Arier*) ganz gefangen, [...]. Nicht verstehen, sondern sein: das ist, wohin es ihn (Arier*) drängt (b/c; Gl 259); Dem Semiten, unter dem wir im gewöhnlichen Leben lediglich den Juden verstehen […] stellen wir den Arier entgegen (b; Gl 315); Die Philologie hat ihre "Arier", ohne welche ihre grossartigen Leistungen im 19. Jahrhundert undenkbar gewesen wären (Gl 958).
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Arier in einer präpositionalen Nominalgruppe: daß der Buddhismus in einem von Ariern spärlich bewohnten Teile Indiens entstanden war (a; AW 43); Dem Typus nach stammte er [Rubinstein] […] aus einer Mischung von Mongole und Arier (a; Lebenswege 231); bei den alten Ariern wurde die Ehe als "eine göttliche Einrichtung" betrachtet (a; Gl 207); Hier gilt für alle von semitischem Geist noch nicht berührten Arier (b; Gl 265, Anm. 1). Arier mit Adjektivattribut: der alte (a; AW Vowort zur 3. Aufl.; Gl 207 u.ö.) /echte (a; AW 89) / sieche (a; AW 43) / bejahrte (a; AW 66) / indische (PI 75; AW 76 u. ö.) / phantasievolle (Gl 273) / erkenntnisreiche (Gl 290) / europäische (Gl 316) / indoeuropäische (Gl 597) / hypothetische (Gl 844) Arier. Arier in erweitertem Adjektivattribut. Die Wurzel des besonderen Charakters ist ohne allen Zweifel jene allen Ariern gemeinsame und ihnen allein eigentümliche […] freischöpferische Anlage (b/c; GL 603).
In Chamberlains Ausführungen zum Arier kommt dessen Fiktionalität noch deutlicher zum Vorschein als beim Germanen. Auf die von ihm immer wieder gestellte Frage Was ist ein Arier? (z. B. Gl 314) hat er nur indifferente bis sehr abstrakte Antworten parat. Diese Antworten verweisen auf Konstrukte, zum einen auf eine Rückverlängerung des sanskritsprechenden Inders in eine unbestimmte Urzeit (a) und zum anderen auf eine angeblich davon abgespaltene Gruppe, die nach Westen gezogen ist und als Germanen Europa besiedelt hat (b). Ethnogenetisch sind beide Gruppen nicht nachweisbar; Aussagen der Art, dass sie blutsverwandt seien oder dass man sie anhand eines bestimmten Schädelbaus erkennen könne (Gl 316), wirken unglaubwürdig oder werden von Chamberlain selbst in Zweifel gezogen, dies letztere sogar erstaunlich offensiv (vgl. dazu auch Gl 414): Gl 317: Je mehr man sich bei den Fachmännern erkundigt, um so weniger kennt man sich aus. Ursprünglich waren es die Sprachforscher, die den Kollektivbegriff "Arier" aufstellten. Dann kamen die anatomischen Anthropologen; die Unzulässigkeit der Schlüsse aus blosser Sprachenkunde wurde dargethan, und nun ging es ans Schädelmessen; die Craniometrie wurde ein Beruf, sie lieferte auch eine Menge enorm interessanten Materials; neuerdings aber ereilt diese sog. "somatische Anthropologie" das selbe Schicksal wie seiner Zeit die Linguistik: […] Diese ganze Entwickelung hat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stattgefunden; wer weiss, was man im Jahre 1950 über den "Arier" lehrt? Heute jedenfalls, ich wiederhole es, kann der Laie nur schweigen. Schlägt er aber bei einem der bekannten Fachmänner nach, so wird er belehrt, die Arier "seien eine Erfindung der Studierstube und kein Urvolk", erkundigt er sich bei einem anderen, so wird ihm geantwortet, die gemeinsamen Merkmale der Indoeuropäer, vom Atlantischen Ozean bis nach Indien, seien genügend, um die thatsächliche Blutsverwandtschaft ausser allen Zweifel zu stellen.
Chamberlains Konsequenz aus diesen Unsicherheiten ist es, vom Arierbegriff zu sagen, er sei eine Art der Rechenpfennige, ohne die man sich nicht verständigen könnte, die man sich aber wohl hüten muss für bare Münze zu halten (Gl 407). Dennoch sind diese zweifelhaften Pfennige einzusetzen, und zwar
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mit dem argumentativen Hakenschlag: Als Rechengröße mit Bezug auf eine nicht mehr rekonstruierbare, damit geheimnisvolle, aber dennoch als existent vorausgesetzte Vergangenheit sind sie wertlos, als Orientierungsgröße für die Gestaltung der Zukunft sind sie unersetzlich. Es kommt ihm also gar nicht darauf an, ob wir Arier sind, sondern darauf, daß wir im wagnerisch-nietzscheanischen Sinne Arier werden47 (AW, Vorw. zur 3. Auf.). Und an anderer Stelle schreibt er (Lebenswege 281): die Streitfrage über ein vergangenes Ariertum können wir billig ruhen lassen, sobald wir einem künftigen Ariertum mit vereinten Kräften entgegengehen. Der historische Arier ist, wie Chamberlain selbst zugibt, ein hochumstrittenes Geschöpf, an dessen Untersuchung, wenn nicht sogar deutlicher: Geschöpflichkeit oder Geschaffenheit Sprachwissenschaftler, Indologen, Anthropologen und Juristen,48 auf jeden Fall aber viele unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen ihren Anteil haben, indem sie die eigenen fachlichen Argumente dazu benutzen, ähnlich wie Chamberlain die Existenz des Ariers zu beweisen bzw. zu widerlegen. Was für den Germanen bereits zutrifft, gibt Chamberlain prinzipiell für den Arier zu, seine Fiktionalität. Aber gerade diese Fiktionalität hilft ihm aus seinem Dilemma, denn mit ihr kann er zum einen die Zeitlichkeit des "Ariertums" aufheben und ihn zum anderen neu konstruieren. Fiktionalität bedeutet sprachliche Gestaltbarkeit. Dazu nutzt er bewusst alle bekannten Zuschreibungen für den Germanen und vermischt sie mit dem mystifizierten Bild eines Indoariers, das sich die indogermanistische Sprachwissenschaft zusammengestellt hat.49 Heraus kommt eine Vorläufergröße zum Germanen, die wie dieser durch kulturelle, moralische und politische Vormachtstellung definiert wird, besonders aber durch eine besondere Religiosität und Innerlichkeit. Während der Germane als direkter Vorfahre der deutschen Leserschaft für diese greifbarer ist, da er in Form fiktionaler Texte, sei es durch germanische Heldensagen oder historische Romane wie die schon genannten Ahnen oder Der Kampf um Rom vermittelt wurde, und da er über die Zeit hinweg als eine direkte Generationslinie bis in die Gegenwart gedacht werden konnte, bleibt der _____________ 47 48 49
Vgl. dazu Breuer 2001, 71; Laqueur 2006, 93. GL 122, Fußnote 1. Vgl. dazu: Chamberlain, Dilettantismus 14. "Alle die Hauptbegriffe, die heute Gemeingut sind und die selbst die anatomische Anthropologie nicht entbehren kann, wie Arier, Indoeuropäer, Semit, Hamit, Turanier u. s. w., auch die Vorstellung der Wanderungen, die Kenntnisse der Kulturzustände u. s. w., verdanken wir in erster Reihe der Philologie. Diese untersuchte nicht Knochen, sondern im Gegenteil das Allerinnerste, gleichsam die unsichtbare Seele dessen, was dem Auge als Körper entgegentritt: die Sprache. Und indem sie zwischen fernabliegenden und häufig auf den ersten Blick physisch unähnlichen Völkern das Band der unzweifelhaften prähistorischen Gemeinsamkeit nachwies, richtete sie zugleich zwischen Mensch und Mensch Mauern auf, die keine Sophismen und Phrasen hinfürder herunterreissen können."
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Arier im Bereich der Mythologie. Dieser Rest an Fremdheit ist jedoch kein wirklicher Nachteil, sondern bildet vielmehr die Basis für dessen besondere Gestaltung als außergewöhnlicher Übermensch. Es muss wohl nicht eigens betont werden, dass sowohl der Rückgriff auf die prähistorischen Urzeiten als auch die idealisierende Prophetie hin auf eine ferne Zukunft Chamberlain gänzlich der argumentativen Beweispflicht entheben. Dass er dabei die eine fiktionale Krücke Arier mit einer anderen ebenso fiktionalen Krücke, dem Germanen stützt, gehört zum Sprachspiel genauso hinzu, wie das Haupttempus, das in beiden Fällen das Präsens der Allgemeingültigkeit ist und in vielen Belegen deutlich futur(ist)isch angelegt ist. Je mehr Faktoren zusammenkommen und ein Netz an Zusammenhängen aufbauen, so Ergebnisdarstellungen der obskuren Craniometrie, der Indogermanistik oder gar der Paläoanthropologie, desto glaubhafter wird die präsupponierte Existenz des Ariers und desto plausibler kann Chamberlain das Theorem einer arischen Rasse, auf die er hinaus will, begründen. Dieses Theorem braucht er, um eine Fortsetzung in die Zukunft zu gewährleisten. Dennoch bleibt es ein schwieriger Spagat zwischen der fernen Vergangenheit (a) und einer ungewissen Zukunft (c), zum einen weil er nur mit der Notbrücke nordischer Mensch / Germane (b) vollzogen werden kann, und zum anderen weil er die Existenz arischer Menschen in der Chamberlain'schen Gegenwart voraussetzt. Er muss jedoch explizit machen, was den alten Arier (a) mit dem germanischen (b) und dem der Zukunft (c) verbindet. In der ersten Verwendungsweise (a) geht es um den alten / echten / indischen Arier, der bejahrt, in der Not als Volk sogar siech sein kann. Gerade bei der Darstellung der Vorfahren wird deutlich, dass Chamberlain sie einfach als existent präsupponiert und zwar mit der Zuschreibung von bestimmten zum Germanen zusammengestellten Gütequalitäten. Darüber hinaus betont er deren außerordentliche Begabung und Erkenntnisfähigkeit. Was sie aber vor allem anderen kennzeichne, sei ihre asketische Religiosität. Es liegt nahe, dass Chamberlain damit eine genetische Linie von den Ariern über Luther zu sich selbst ziehen möchte bzw. eine Kontinuität herstellt, die sich von den Ariern und den Germanen über den deutschen Protestantismus bis hin zur Utopie des germanischen Christentums fortsetzen wird. Die Beschreibung der "alten" Arier erinnert außerdem an die Heiligen des frühen Christentums, vor allem aber an buddhistische Mönche, wobei erwähnt werden muss, dass er den Buddhismus als unarisch (Aw 43) und lebensverachtend (Gl 233) ablehnt. AW 66: Wenn der bejahrte Arier – Denker, Krieger oder Kaufmann – seine Kinder und Kindeskinder, alles was ihm teuer ist auf der Welt, Heim und Menschen und Tiere und Erinnerungen verläßt, um einsam in die Wälder hinauszuziehen
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und in Jahren des Schweigens und der Entbehrung der Erlösung entgegenzureifen.
Diese "Arier" werden von ihm nicht nur als erlösungsfähig beschrieben, sondern als besonders erkenntnisfähig (Gl 259), gar als gottverwandt: Wille / Wille 10f.: Das haben die großen Lehrmeister aller tieferen Besinnung, die alten arischen Inder, in ein eindrucksvolles Bild gekleidet, indem sie Gott schildern, wie er – vor der Weltschöpfung – in abgrundtiefes Sinnen versunken, zu sich redet: "Ich will neue Welten schaffen!" Hieraus schließt der Arier, göttlich sei kein blindes Wollen, vielmehr einzig ein Wollen, dem "ein Erwägen vorangegangen sei". Sonst pflegt es nämlich für den Menschen geradezu bezeichnend zu sein, dass sein wahrhafter Wille aus den Tiefen gebietet, die ihm unbekannt bleiben. Dieser Wille wirkt daher als eine blinde und oft verheerende Kraft, die man insofern den toten Elementen zuzählen muß. Erst wenn Erwägung ihm die Augen über sich selbst und alles ihn Umgebende geöffnet hat, erst dann kann der Mensch behaupten: mein Wille erschafft. Eine solche Willensbestätigung zeigt den Menschen gottverwandt.
Schon beim alten arischen Inder sind in dieser Vorstellung bereits alle Anlagen als indoeuropäisches Stammgut vorhanden, allerdings noch in einem überschwänglichen Maße und ungeläutert: Er ist todesmutig, mitleidsvoll, sein Denken ist das metaphysisch tiefste der Welt, sein Sinn fromm, seine Phantasie ebenso üppig wie seine Urwälder (Gl 489). Er habe überwuchernde Kräfte und eine überreiche Phantasie (AW 76). Der nordische Fortsetzer dieser Fähigkeiten, der metaphysisch Beanlagte (Gl 935), hat das rechte Maß schließlich durch die Hellenen ererbt (AW 76) und wurde durch das Christentum zum Maximum der Religion geführt (Gl 488). Ohne diese Fortentwicklung wäre er einfach aus der Geschichte verschwunden. GL 48: Der arische Inder z. B., in metaphysischer Beziehung unstreitig der begabteste Mensch, den es je gegeben hat, und allen heutigen Völkern in dieser Beziehung weit überlegen, bleibt bei der inneren Erleuchtung stehen: er gestaltet nicht, er ist nicht Künstler, er ist nicht Reformator, es genügt ihm, ruhig zu leben und erlöst zu sterben – er hat keine Geschichte.
Erst die spezifischen germanischen Eigenschaften, vor allem dessen Schöpferkraft und Tatkraft und seine Jugendlichkeit (s. v. Germane), ohne die jede Art von "Kulturfortschritt" bei diesem in sich ruhenden alten Arier nicht hätte stattfinden können, führten zu einer außergewöhnlichen Mischung zwischen alter Religiosität, Instinktivität und progressiven Beweglichkeit. Diese Mischung ist dann in Chamberlains Züchtungsideologie die Voraussetzung für den neuen arischen Menschen der Zukunft. Die Schlüsselwörter Kraft / Phantasie und Metaphysik, auch die Vorstellung, eine Welt erschaffen zu können, sind entsprechend kennzeichnende Teile des überzeitlichen Arierbildes. Erst aus einer Verwandtschaft im Denken und Fühlen (Beleg s. u.) oder einem moralischen Ariertum (Gl. 122, Anm. 1) wird eine Rasse, ein Volk und schließlich die politische Nation gebildet, die dann wiederum durch
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gezielte Züchtung den idealen arischen Menschen werden lässt. Die eigentlichen Definitionskriterien verlaufen nun nicht mehr über äußerliche Faktoren wie historische Traditionsbildung oder biologische Genese, sondern über eine Form von Auserwähltheit, Naturverbundenheit und Gottähnlichkeit. Vor allem diese Kriterien setzen jede rational begründete Beweispflicht außer Kraft. Der Arier wird von Chamberlain zu einem utopischen Mythos stilisiert, dessen Prägekraft durch die präsupponierte göttliche Legitimität und Auserwähltheit an Gewicht gewinnt. Kipper 2002, 21: Mythen, so kann eine grundlegende Definition lauten, sind Imaginationen urbildhaften Charakters. Die Prägekraft, die bestimmten historischen Phänomenen beigemessen wird, lässt diese ungeachtet ihrer zeitlichen Ferne als gegenwartsbestimmende Kräfte erscheinen, und dies eben keineswegs nur im Sinne einer geschichtlichen Kausalität, sondern in Form einer substantiellen Identität oder einer numinosen Anwesenheit.50
Diese "numinose Anwesenheit" gestaltet Chamberlain sprachlich dadurch, dass er aus dem präsupponierten indischen und germanischen Menschentypus und dessen Zuschreibungen eine allgemeingültige und überzeitliche Abstraktion ableitet. Diese nennt er entsprechend wieder abstrakt Arier (c), um den Realbezug und damit dessen Funktion als Identifikationsfigur zu gewährleisten. Zwischen dem pseudohistorischen Prototyp und dem visionärem Idealtypus kommt es zu einer sprachlichen Übergangszone, in der Chamberlain gezielt mit der Polysemie zwischen dem Ideal und dem historischen Prototyp wechselt. Die Präsensformulierung als Spielen mit den Tempora zeigt u. a. diese Hebung ins Allgemeine an. Die nähere Bestimmung durch Adjektive wie alt nimmt zwar konkreten Bezug, ohne Adjektive jedoch bleibt die Möglichkeit zum Allgemeinen offen. AW 60: Wenn der Arier die felsenfeste Überzeugung von der moralischen Bedeutung der Welt – seines eigenen Daseins und des Daseins des Alls – seinem ganzen Denken zugrunde legt, so errichtet er sein Denken auf einem "inneren Wissen", jenseits "aller Beschäftigung mit Beweisen". […] Es ist, als ob dieser Arier den Drang in sich fühlte, das, was in seinem dunklen Innern sich bewegt, hinaus auf die Umgebung zu werfen, und als ob dann wieder die großen Naturerscheinungen – der Lichthimmel, die Wolke, das Feuer usw. – auf diesen selben, von innen nach außen gesendeten Strahlen den umgekehrten Weg zurücklegten, in des Menschen Brust hineindrängten und ihm zuraunten: ja, Freund, wir sind das selbe wie du! Daher die eigentümliche Furchtlosigkeit der alten Arier ihren "Göttern" gegenüber.
_____________ 50
Vgl. dazu auch: Vietta / Uerlings, Moderne und Mythos 2006, 7: "Die Grundfigur des Mythos ist die der Legitimation durch Erzählung: Im Mythos wird die Welt der Erscheinungen in Zusammenhang mit einer Welt des Göttlichen und der Götter gebracht und dadurch in ihrem Sein begründet oder beglaubigt. Mythos ist "Wort" im Sinne einer letztgültigen und deshalb nicht mehr zu begründenden Aussage über Existenz und Geschichte der Welt und des Menschen."
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Schon die Ausformulierung verleiht diesem "alten Arier" nicht nur historische Existenz, sondern macht ihn außerdem zum zeitlich Überlebenden, Ewigwährenden und Ewigrichtigen, eben zu einem Ideal, dem es nachzufolgen gilt. Die direkte Anrede an den Leser schließlich ist nur ein weiteres, aber wichtiges zusätzliches Mosaikstück, das die Brücke zwischen den Zeiten schlägt und den Rezipienten Auserwähltheit und Gottverwandtschaft des Ariers nahe legt, aber auch deren Möglichkeit zur Partizipation. Das Kriterium der Auserwähltheit vermittelt den Eindruck, als sei die besondere Geschaffenheit des Ariers nur eine absurde Spiegelverkehrung eines ebenso als existent vorausgesetzten und als Typus pauschalisierten jüdischen Semiten, als hätten die "Arier"konstrukteure mit Neid auf die ebenfalls unterstellten Attribute des semitischen Gegners geschaut und diese dann nachgeahmt. Gl 407: Schliesslich bleibt der "Semit" als Begriff einer Urrasse, gleichwie der "Arier", einer jener Rechenpfennige, ohne die man sich nicht verständigen könnte, die man sich aber wohl hüten muss für bare Münze zu halten. Die wirkliche bare Münze sind dagegen jene empirisch gegebenen, historisch gewordenen nationalen Individualitäten, […], solche Individualitäten wie z. B. die Juden. Rasse ist nicht ein Urphänomen, sondern sie wird erzeugt: physiologisch durch charakteristische Blutmischung, gefolgt von Inzucht; psychisch durch den Einfluss, welchen lang anhaltende, historisch-geographische Bedingungen auf jene besondere, spezifische, physiologische Anlage ausüben. Wollen wir also (…) den Juden fragen: WER BIST DU? so müssen wir zuerst erforschen, ob dieser so scharf ausgeprägten Individualität nicht eine Blutmischung zu Grunde liegt, und sodann – wenn das Resultat ein bejahendes ist – verfolgen, wie die hierdurch entstandene eigenartige Seele sich immer weiter differenzierte. Wie nirgends anderswo kann man gerade beim Juden diesen Vorgang verfolgen; denn die gesamte jüdische Nationalgeschichte gleicht einem fortwährenden Ausscheidungsverfahren.
Als ein fortwährendes Ausscheidungsverfahren (s. o.), durch das sich die Seele immer weiter differenziert, stellt sich Chamberlain auch den Weg vom Urarier hin zum Idealarier vor, vom historischen Ursprung in eine arische Zukunft. Dass diese Chronologie flexible Definitionen des Ariers zulässt, d. h. nicht allein auf biologisch-genetische Traditionsbildung oder Sprachfamilienzugehörigkeit beschränkt ist, offenbaren so vage Aussagen wie die folgende, bei der nicht nur beliebig jeder zum Arier gemacht werden kann, den man als Freund bezeichnen will, sondern zusätzlich auch noch der Sprung von der historischen Vergangenheit in eine willkürlich zu gestaltende Zukunft möglich wird: Gl 317, Anm. 2: Wenn ich in diesem Buche das Wort Arier gebrauche, so thue ich es in dem Sinne des ursprünglichen Sanskritwortes ârya = "zu den Freunden gehörig", ohne mich zu irgend einer Hypothese zu verpflichten. Die Verwandtschaft im Denken und im Fühlen bedeutet auf alle Fälle eine Zusammengehörigkeit.
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Freundsein bedeutet eine Verwandtschaft im Denken und Fühlen, bedeutet vor allem, Teil einer fest umgrenzten und bestimmbaren Gruppe zu sein, eine Qualität, die man dem jüdischen Gegner nicht nur mit der oben genannten realitätsfernen jüdischen Nationalitätsbildung unterstellt. "Der Arier" wird also zum Spiegel antisemitischer Vorurteile und Neidgefühle. Aber dies ist eben nur ein Aspekt. Er ist auch Projektionsfläche aller anderen bereits angedeuteten Ideale. Seine spezifischen Qualitäten werden zum Dreh- und Angelpunkt in Religion, Kunst und Geschichte. Denn, so schreibt Chamberlain in seinen Lebenswegen: Lebenswege 384: Ariersein heißt Schöpfersein; hierin liegt die Verwandtschaft dieser Rasse mit dem Göttlichen und die Überzeugung, Gottes Söhne - nicht seine Knechte - zu sein.
Das Schöpferische des arischen Denkergeschlechtes (AW, Vorwort, 3. Aufl. 1915) macht den Arier zum wahren Menschen, oder noch treffender vergöttlicht ihn, dass er über alle anderen Rassen überhoben und daher automatisch zum Herren der Welt wird. Wenn er handelt, so scheint in ihm ein göttliches Walten durch, ein großer Wille, der ihn führt, denn entweder fühlt er den Drang in sich oder er folgt einem dunklen Drange. Er wird also nicht nur als gottähnlich gekennzeichnet, sondern auch als von Gott geleitet und daher Gott besonders nahe. Die so geschaffene Legitimität arischer Handlungen ist ebenso wenig beweisbar wie hinterfragbar. Sie suggeriert zugleich, dass das Amt des Weltherren, eine sicherlich nicht zufällige Assoziation zu Gott, bzw. Christus, eine erstrebenswerte Einrichtung ist. Das darin präsupponierte antidemokratische Denken ist augenfällig.51 Die hierarchische Weltordnung steht als von Gott geschaffene Basis, als ewig währendes Fundament im Hintergrund. Ihre Stabilisatoren sind einerseits der per se überzeitliche Rassegedanke und andererseits das gemeinsame Ziel, die Realisierung der Utopie. Und gerade dieser Ewigkeitsgedanke, der in einer unsicheren Welt Halt und Stabilität gewährt, verbindet in der Projektion der Chamberlain'schen Rezipienten den arischen Urahnen mit dem Idealmenschen der Zukunft. Dass es Chamberlain nur um die Gegenwart geht und die daran anschließende Zukunft, zeigt auch folgende Beobachtung. Die Bezugnahme auf den Identität stiftenden germanischen Arier und damit immer irgendwie auch auf die damit verbundene Utopie überwiegt in allen Schriften. Und was ihn handlungstheoretisch am meisten beschäftigt, ist die zu konstruierende Zukunft, die er einem zukünftigen Weltenbeherrscher zuschreiben kann, und vor allem der postulierte Weltenbeherrscher selbst. Dieser ist, wie erwartet, wieder _____________ 51
Vgl. dazu AW 25: "Die indische Philosophie ist durch und durch aristokratisch. Sie verabscheut jegliche Werbung; sie weiß, daß die höchsten Erkenntnisse nur den Auserlesenen zugänglich sind, und sie weiß, daß nur unter bestimmten körperlichen Rassenbedingungen sowie durch bestimmte Schulung das Auserlesene gezüchtet werden kann".
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im Germanen zu finden, der übrigens an vielen Stellen einfach mit dem Deutschen (vgl. Gl 631) gleichgesetzt wird. GL 596f.: Die Rassen der Menschheit sind in der Art ihrer Befähigung, sowie in dem Masse ihrer Befähigung sehr ungleich begabt, und die Germanen gehören zu jener Gruppe der Zuhöchstbegabten, die man als Arier zu bezeichnen pflegt. Ist diese Menschenfamilie eine durch Blutbande geeinigte, einheitliche? Entwachsen diese Stämme wirklich alle der selben Wurzel? Ich weiss es nicht, es gilt mir auch gleich; keine Verwandtschaft kettet inniger aneinander als Wahlverwandtschaft, und in diesem Sinne bilden ohne Frage die indoeuropäischen Arier eine Familie. […] Körperlich und seelisch ragen die Arier unter allen Menschen empor; darum sind sie von Rechtswegen […] die Herren der Welt.
Aufschlussreich zu den obigen Ausführungen sind auch die Wortbildungen zum Wortbildungsfeld arisch bzw. Arier (in alphabetischer Reihenfolge): – altarisch (AW 34) – Antiarier (Gl 485, Anm. 2: s. u.) – antiarisch (AW 43) – Arier-sein heißt Schöpfer-sein (Lebenswege 384) – Ariertum (Lebenswege 281; Gl 626 u. ö.) – indoarisch (AW 43) – Indoarier (AW 22; 41; 42; 43; 46; u. ö.) – nichtarisch (AW 43) – unarisch (Lebenswege 281; AW43) – Urarier (Gl 347: Wer sagt ihm denn, dass die hypothetischen Urarier nicht auch geworden waren! Gl 844) Abgesehen von den in die Vergangenheit zurückweisenden Spezifikationen Indoarisch bzw. Indoarier, Urarier und altarisch bezeichnen die genannten Wortbildungen Gruppen, Gruppenzugehörigkeit und Gegnerschaft. Entweder man ist Arier, oder man ist es nicht. Ist man es nicht, so ist man unarisch, nichtarisch, antiarisch, was bedeutet, dass man 1. nicht teil hat an den vermeintlich arischen Gütequalitäten, 2. entsprechend nicht zur Gruppe bzw. Gemeinschaft hinzugehört und 3. deontisch ein Gegner ist. Was im folgenden Beleg noch fast neutral klingt, da es hier um eine bestimmte Opposition zum Buddhismus geht, AW 43: Der Buddhismus [..] ist in seinem Ursprung, […], wohl indoarisch, in seiner Weiterentwicklung aber und in seiner ganzen geschichtlichen Ausbildung eine durch und durch unarische, antiarische und außerdem unoriginelle Erscheinung.
führt im Zusammenhang mit den Juden zur Ausgrenzung: Gl 485, Anm. 2: Auch Spinoza, der in jedem seiner Gedanken so durch und durch Jude und Antiarier ist.
Dazuzugehören ist teilzuhaben an der Göttlichkeit und am Schöpfersein. Der die Wahl habende bildungsbürgerliche Leser wird sich sicherlich für
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das Letztere entscheiden. Chamberlains Arierkult hat in all seinen Ausprägungen bereits Tradition. Ob es darum geht, nachträglich Christus oder Kultur und Kunst zu "arisieren", indem man sie auf ein, wie auch immer konstruiertes, arisches Prinzip zurückführt, oder darum ein Leitbild für die Zukunft zu prägen, immer ist es das vermeintlich göttliche Gegenbild zum "verteufelten" Semiten, dessen Menschlichkeit permanent in Frage gestellt wird. Selbst traditionsbildend ist diese Kulturschöpferideologie in vielerlei Hinsicht. Am deutlichsten findet man sie wohl wieder bei Hitler: Hitler, MK 317: Was wir heute an menschlicher Kultur, an Ergebnissen von Kunst, Wissenschaft und Technik vor uns sehen, ist nahezu ausschließlich schöpferisches Produkt des Ariers. Gerade diese Tatsache aber lässt den nicht unbegründeten Rückschluß zu, dass er allein der Begründer höheren Menschentums überhaupt war, mithin den Urtyp dessen darstellt, was wir unter dem Worte "Mensch" verstehen.
8. Der Semit und die "Judenfrage". Für die Faschisten sind die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches; von ihrer Ausrottung soll das Glück der Welt abhängen. Horkheimer / Adorno52.
Jude, der >Angehöriger derjenigen als Rasse deklarierten Gruppe von Menschen, die aufgrund besonders negativer Zuschreibungen das Gegenbild zum arischen Menschen darstellt<. Chamberlain bedient bei seinen Negativkennzeichnungen alle bekannten antijudaistischen und antisemitischen Stereotype: Vorwurf des Gottesmordes, Ritualmordes, der Blutschande, des Wuchers, der Weltverschwörung, des Materialismus usw. Seine Hauptaussage ist jedoch, ganz gegenbildlich zu seiner Arierkonzeption, das Fehlen der Kulturfähigkeit und dieses Urteil übersteigernd: die Behauptung ihrer kulturzersetzenden Tätigkeit. Arierbild und Judenbild bedingen einander. – Bdv.: Semit, Israelit (Gl 389; 409); Hebräer / Homo syriacus (Gl 440; 445), Staatsbürger mosaischer Konfession (Gl 440). – Ggb.: Germane, Arier (Gl 315). – Präd. und Synt.: Jude als Subjekt: der Jude ist kein Feind germanischer Civilisation und Kultur / sei uns ewig fremd (Gl 20) / empfand ganz anders (Gl 276) / wusste über die Schöpfung der Welt so genau Bescheid wie heutzutage die wilden Indianer von Südamerika, oder die Australneger (Gl 276) /
_____________ 52
Horkheimer / Adorno, Dialektik der Aufklärung 1991, 347. Vgl. dazu auch Eva Reichmann 1974, 123. Sie zitiert Wilhelm Rödiger, der in seiner Anleitung zum Geschichtsunterricht schreibt: "Wir müssen an dieser Stelle klarmachen, was Ariertum bedeutet. Die Kinder wissen, es bedeutete: "nicht-jüdisch"."
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stürzte wie ein Feind hinein / stürmte alle Positionen / pflanzte [...] auf den Breschen unserer echten Eigenart die Fahne seines uns ewig fremden Wesens auf (Gl 383) / versteht uns nicht (Gl 392) / [steht] nicht bloss in äusserer Beziehung mit unserer Kultur als mehr oder weniger willkommener Hospitant, sondern auch in innerer Berührung (Gl 404) / war ein gefeites Wesen (Gl 404) / hat Jesum Christum gekreuzigt (Gl 404; vgl. auch Gl 304) / ist erst nach und nach Jude geworden (Gl 408) / schuf sich sein Schicksal selber (Gl 408) / entsprang aus dem Judentum (Gl 497) / hat sich auf dem beschränkten, religiös gesetzgeberischen Gebiet nie ausgezeichnet (Gl 500) / war verhasst (Gl 677) / glaube einzig und allein das, was er mit Augen gesehen habe (Gl 467) / schwebt, trotz des Materialismus seiner Religion, zwischen Träumen und Trugbildern (Gl 536) / ist unserer Kultur gefährlich (AW 41); der eigentliche JUDE [ist] nicht mit dem Israeliten im weiteren Sinne des Wortes zu identifizieren / entstand erst im Laufe der Jahrhunderte durch allmähliche physische Ausscheidung aus der übrigen israelitischen Familie, sowie durch progressive Ausbildung einzelner Geistesanlagen und systematische Verkümmerung anderer / ist [...] gewissermassen ein künstliches Produkt (Gl 412); der typische Jude interessierte sich weder für Politik, noch für Litteratur, noch für Philosophie, noch für Kunst (Gl 454); dieser Jude, der so ewig unveränderlich, so beharrlich, […] erscheint [...] ist doch GEWORDEN, langsam geworden, ja, "künstlich" geworden (Gl 407) / wird vergehen (Gl 407); ein Mensch kann sehr schnell, ohne Israelit zu sein, Jude werden (Gl 545); ein rein humanisierter Jude ist kein Jude mehr (Gl 546); dass der Jude uns schadet oder nützt (Gl 404); dass der historische Israelit, aus welchem sich der eigentliche "Jude" erst später absonderte, das Produkt einer Mischung ist (Gl 440); daß der Jude, […] der Lehrmeister aller Intoleranz, alles Glaubensfanatismus, alles Mordens um der Religion willen ist (Gl 510); daß der Jude niemals ein reiner Semit war, noch ist (AW 38); daß mancher Jude sich ebensosehr wie wir nach der Erlösung aus semitischen Vorstellungen sehnt (AW 38); wo die Juden […] sich stark vermehren […] fressen sie* die fremden Völker […] / seien sie "als wie die Heuschrecken" (Gl 303); die Juden haben an unserer Kultur positiv mitgearbeitet […], so weit ihr sehr assimilationsfähiger Geist es ihnen erlaubte (305) / haben sich als Erben an dem Vermächtnis des Altertums beteiligt (Gl 305) / verstanden es, als Sklavenhändler und Geldvermittler sich Einfluss und Macht zu verschaffen (Gl 395) / sind auf der Insel Cypern in der Mehrzahl / beschliessen, einen Nationalstaat zu gründen / erschlagen an einem Tage die sämtlichen übrigen Bewohner / erschlagen zugleich die 220 000 nicht-jüdischen Bewohner der Stadt Cyrene / wollen profitieren / verfolgen den selben Zweck [in Spanien] mit grösserer Vorsicht und erstaunlicher Beharrlichkeit / verraten ihren edlen Beschützer (Gl 395); [haben] einen grossen und historisch verderblichen Einfluss ausgeübt (Gl 401) / waren für uns eine verderbliche Nachbarschaft (Gl 401) / handelten nach der Natur ihrer Instinkte und ihrer Gaben (Gl 401) / sind zusammengesetzt: erstens, aus wirklichen Semiten, zweitens, aus arischen Amoritern, drittens und hauptsächlich aus den Nachkommen der alten Hethiter (Gl 440) / lassen sich von Jahve zurufen "ihr seid Götter!" (Gl 527) / wußten im Laufe des Weltkrieges vollends die Herrschaft an sich zu reißen / hatten ein Jahrhundert lang emsig den Boden durch die systematische Vergiftung der Volksseele und Irreführung der Gebildeten vorbereitet (Vorw. 3. Aufl. XI); wofür (für die Verleugnung ihres ganzen Wesens) die Juden ein viel feineres Gefühl haben als wir (Gl 391); dass es die Juden sind, welche in die heitere Welt die ewig drohende Vorstellung der Sünde brachten (Gl 442); dass die Juden allein Gottes Volk seien (Gl 505); dass […] die Juden die Rosstäuscher für ganz Syrien waren (Gl 513). Jude in Gleichsetzungen: wer ist der Jude? (Gl 20; 406; 455); es [ist] leicht, "Jude zu werden" (Gl 574); nenne uns den bedeutenden Römer, der Jude geworden wäre! (Gl 545); Keine Menschen der Welt sind so bettelarm an echter Religion, wie die Semiten und ihre Halbbrüder, die Juden (Gl 20); Jude bleibt er [Jesaia] durch und durch (Gl 247); Der Ausdruck Jude bezeichnet eine bestimmte, erstaunlich rein erhaltene Menschenrasse, nur in zweiter Reihe und uneigentlich die Bekenner einer Religion (Gl 252); dass Christus kein Jude war, (Gl 256); das Wort Jude wird bisweilen für die jüdische Rasse, bisweilen für die jüdische Religion gebraucht / hier bezeichnet Jude einen bestimmten, engbegrenzten, seit Jahrhunderten rein erhaltenen Menschenstamm. (Gl 252); Die wirkliche bare Münze sind dagegen jene empirisch gegebenen, historisch gewordenen nationalen Individualitäten, […], solche Individualitäten wie z. B. die Juden (Gl 407); Ob Paulus ein rassenreiner Jude war (Gl 691; ähnlich 694).
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Jude als Genitivattribut: die Rumänen [...] wären nur noch Heloten der Juden (Br II, 164); Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte (Gl 20; 304; 389); hervorragende Stellung der Juden im neunzehnten Jahrhundert (Gl 20); besondere Geistesanlage (Gl 271) / Historie (Gl 382) / das Volk (Gl 382) / Sklaven (Gl 383) / Weltherrschaft der Juden (Gl 386) / Herz (Gl 533); Phantasielosigkeit (Gl 271) / historischer Instinkt (Gl 285) / hl. Buch (Gl 299) / Einfluss (Gl 303) / Nachkommen (Gl 326) / die zersetzende Thätigkeit (Gl 401) / die Anthropogenie (Gl 440) / Wesen (Gl 445) / Gott (Gl 478) / Werden (Gl 502) / negative Eigenschaften (Gl 680) / historische Beschränktheit und der prinzipiellen Unduldsamkeit (Gl 680) des / der Juden; Verfolgung und Ausrottung der unorthodoxen Juden (Gl 527); Verhältnis der Juden zu ihrem Gott (Gl 278); Hauptstamm der reinen, unvermischten Juden (Gl 384); der Eid eines einzigen Juden (Gl 391); die verbrecherischen Helfershelfer der Juden (Gl 401); die Gegenwart des Juden […] als eine politisch-soziale Gefahr betrachten (Gl 406); Vorliebe der Juden für den abhängigen, gewissermassen parasitären Zustand (Gl 510); [Reinheit der Rasse] als das besondere, charakteristische Merkmal des Juden (Gl 538). Jude als Dativobjekt: dem Juden lehrte dies ein unfehlbarer Instinkt (Gl 276); dass ihnen [Juden] die Erscheinung Christi einfach ein Unbegreifliches und ein Ärgernis ist (Gl 391); wenn wir ihm [Juden*] geistig und moralisch überlegen sind (Gl 392); Völker […], die den Juden als Sklaven dienen sollen (Gl 478); Den Juden lag […] der krasse Götzendienst am nächsten (Gl 271); Dem Juden war der unwankende Glaube an die Geschichte und an die Bestimmung seines Volkes eine Lebensfrage (Gl 680). Jude als Akkusativobjekt: ich habe merkwürdig viele Juden oder Halbjuden zu Freunden (Br I, 77); England duldete während der Jahrhunderte seines Werdens keinen einzigen Juden im Lande (Br II, 164); eine junge Nation muß notwendig zugrunde gehen, wenn sie 16% Juden beherbergt (Br II, 164); Neigung, den Juden zum allgemeinen Sündenbock für alle Laster unserer Zeit zu machen (Gl 20); Die jüdische Nomokratie (d. h. Herrschaft des Gesetzes) vereinigt die Juden […] zu einem festen, einheitlichen, durchaus politischen Gebilde, in welchem die Gemeinsamkeit des Blutes die Gemeinsamkeit der Vergangenheit bezeugt und die Gemeinsamkeit der Zukunft verbürgt (Gl 386); Wir müssten ihn [den Juden*] von der Höhe unserer Überlegenheit aus beurteilen (Gl 392); wo man den Juden zur Gewalt zulässt, missbraucht er sie (Gl 398); die Juden von allen öffentlichen Ämtern ausschliessen (Gl 398); Die Kirche hat die Juden im Zaum gehalten / als fremde Menschen behandelt / vor Verfolgung geschützt (Gl 401); Hätten wir den Juden nicht feierlich zu unserem Ohm ernannt (Gl 404); dass er Jesum Christum gekreuzigt hatte, umgab ihn [den Juden*] mit einem feierlichen, Furcht erregenden Nimbus (Gl 404); Der Gelehrte weiss häufig nicht einen Juden von einem Nichtjuden zu unterscheiden (GL 592); dass Paulus einen Juden aus dem Stamme Benjamin zum Vater […] gehabt hat (Gl 691); Dem Semiten, unter dem wir im gewöhnlichen Leben lediglich den Juden verstehen (was doch wenigstens eine durchaus konkrete, auf Erfahrung beruhende Vorstellung bedeutet) stellen wir den Arier entgegen (Gl 315). Jude in einer präpositionalen Nominalgruppe: bei den Juden hat das stattgefunden, was Darwin "arrest of development" nennt (Gl 259); für die Juden sind alle Nichtjuden "Götzenanbeter" (Gl 271); das Judentum von den Juden trennen (Gl 303); Das [Berührung zwischen ihnen/ Semiten und den übrigen Einwohnern des zukünftigen Europa] geschah erst durch die Juden (Gl 304); man muss […] zwischen Juden edler und Juden minder edler Abstammung unterscheiden (Gl 386); [keine] Gemeinsamkeit der Abstammung zwischen den Juden und den Indoeuropäern (Gl 389); tiefe Kluft, welche uns Europäer vom Juden scheidet (Gl 391); Wir stellen höhere Ansprüche an den Juden als an uns selber (Gl 392); Prophezeiung, nach welcher alle Könige der Welt vor den Juden im Staube liegen (Gl 533); die Hellenen weit über die Juden stellen (Gl 558); das von den Juden erträumte theokratische Weltreich (Gl 683); Aufnahme von Negerblut seitens der Juden in der Alexandrinischen Diaspora (Gl 440). Jude mit Adjektivattribut: der deutsche (Gl 299) / spanische (Gl 299) / einzig echte (Gl 326) / reine, unvermischte (Gl 384) / eigentliche (Gl 409) / unorthodoxe (Gl 527) / typische (Gl 454) / rein humanisierte (Gl 546) / halbe (Gl 673) palästinische (Gl 693) / unverfälschte (Gl 702) / welterfahrene (Wille/ Das eine und das andere Deutschland 29f.) Jude. – Wbg.: jüdisch, Jüdin (Gl 299), Judenfrage (Br I, 77; Gl 20; Br II, 164 u. ö.), Judenanbetung (Gl 36), Judenbibel (Gl 685), Judenblut (Br II, 153), Judenchristen (Gl 694), Judenfresser (Br II, 178),
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judenfreundlich (Gl 421), Judengott (MuG 30), Judenknecht (Br II, 164; Gl 20), Judenschaft (Vorw. 14. Aufl. XVII; Lebenswege 327), Judenstämmling (Br II, 154), Judentum (Gl 298, 303); Judenemanzipation (Gl 30), Judensozialismus (Br I, 190), Halbjuden (Br I, 77), Vollblutjuden (Vorw. 14. Aufl. XVI), Kryptojuden (ebd. XVII), Nichtjude (Gl 385; 592 u. ö.).
Schon ein oberflächlicher Blick auf die Belegsituation bestätigt, dass Chamberlains Äußerungen zum Judentum zu den schlimmsten antisemitischen Ausfällen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts gehören. Dass er diese Ausführungen ernst gemeint hat, kann man spätestens in seinem offenen Brief zu Hitlers Geburtstag 1924 nachlesen, in dem er direkt zu Handlungen gegen die jüdischen Mitbürger aufruft. Es ist ihm [Hitler] z. B. unmöglich, unser aller Überzeugung über den verderblichen, ja, über den todbringenden Einfluß des Judentums auf das Leben des deutschen Volkes zu teilen und nicht danach zu handeln; erkennt man die Gefahr, so müssen schleunigst Maßregeln gegen sie ergriffen werden; das sieht wohl jeder ein, aber keiner wagt‘s auszusprechen, keiner wagt die Konsequenz von seinem Denken auf sein Handeln zu ziehen; keiner außer Adolf Hitler.53
Für ihn ist eine "Wiedergeburt" des Deutschtums nur durch eine Verneinung von Judentum, Rom, Demokratie, Freisinn, Ausländerei, Gelehrsamkeitskultus, naturwissenschaftliche Verblödung, Pornographie usw. (Br. II, 192.) möglich, wobei sein Hauptfeind zweifellos das Judentum ist. Entsprechend sieht er seine Hauptaufgabe im Kampf gegen das zerfressende Gift des Judentums (Br II, 138). Liest man das Vorwort zur dritten Auflage der Arischen Weltanschauung, so zeigt sich, was Chamberlains Ziel ist, nämlich "die INNERE Befreiung aus dem uns umfassenden und erstickenden Semitismus" (AW, Vorw. 9). Für Semitismus schreibt er auch semitische Idee (AW 25), semitische Weltanschauung (AW 36), semitischer Geist (AW 38) oder mit noch deutlicherer Negativkonnotierung in einem Brief an Kaiser Wilhelm, in dem er sich mit ihm über das Alte Testament austauscht: semitische Wahnvorstellung. Es ist offensichtlich, dass Chamberlain, wie viele andere antisemitischen Gesinnungsgenossen, eine Sprachbezeichnung heranzieht, um in einem Wort ein Volk, eine Gesinnung und eine Rasse zu konstituieren, die zum Judentum parallel geschaltet werden. Das Wort semitisch wird ganz selbstverständlich synonym zu jüdisch gebraucht, obwohl semitisch eine Sprach(gruppen)bezeichnung ist, die zwar das Hebräische inkludiert, darüber hinaus aber noch weitere Sprachen54 umfasst. Chamberlain weiß dies: Gl 314: Wir haben z. B. eine mächtige "antisemitische" Bewegung: ja, sind denn die Juden und die übrigen Semiten identisch? Doch es interessiert ihn nicht wirklich. Denn dass jüdisch eben keine Sprache bezeichnet, wird vollkommen über_____________ 53 54
Chamberlain, Adolf Hitler Zu seinem Geburtstag am 20. April 1924, in: Deutsche Presse (München), 2. Jg., F. 65/66 v. 20./21. April 1924, S. 1. Wie z.B. die der Phönizier, Babylonier (Gl 159).
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gangen. Die Parallelisierung einer Sprachgruppenbezeichnung semitisch über die Brechung einer ihrer Sprachen, nämlich Hebräisch, mit der Religionsbezeichnung Jüdisch ist von außerordentlicher Aussagekraft, vor allem über den Realitätsgehalt der Rassenkonstruktion, die sich hinter diesen tropischen Kontiguitätssetzungen verbirgt. Chamberlain verwendet Semit und Jude wider besseres Wissen und traditionell antisemitisch synonym und meint, wenn er vom 'Semiten' schreibt, in erster Linie die Juden (Gl 315). Dieses Vorgehen ist jedoch nicht nur eine einfache Übernahme des üblichen Sprachgebrauchs, sondern hat seine Begründung darin, dass jüdisch für ihn nicht nur wie semitisch für eine besondere Rasse oder eine besondere Sprachfamilien- bzw. Volkszugehörigkeit gebraucht wird, sondern prinzipiell die Fiktion des rassisch und religiös Anderen repräsentiert. Jude wird in dieser Lesart vom Hyponym zum Hyperonym für Semit. 'Der Jude' ist in diesem Sinne eine abstrakte Entität und entspringt systematisch demselben Gedankengang wie 'der Arier' (vgl. Gl 315), nur mit umgekehrtem Vorzeichen. Um es an dieser Stelle noch einmal zu betonen: Die Idee des Ariers und des Juden gehören zusammen wie die zwei Seiten derselben Medaille. Beides sind Fiktionen, die sich aus Wünschen und Vorstellungen von Antisemiten und Rassisten speisen und nichts mit der alltäglichen Lebenswelt der jüdischen Mitbürger zu tun hatten. Schoeps / Schlör 1999, 11: Antisemitische Vorurteile geben keine Auskunft über die jüdische Kultur und Geschichte. Sie erlauben aber, kritisch analysiert, durchaus Rückschlüsse auf das Welt– und Menschenbild der Träger des Vorurteils.
Chamberlain hat Teil an dieser Fiktion, indem er seine Ariervorstellung gezielt auf der Matrix traditioneller antijüdischer Topoi, Stereotype und Vorurteile errichtet. Entsprechend analog sind die folgenden Ausführungen angelegt. Die angedeutete Polarisierung, der "gute Arier" auf der einen Seite und der "böse Jude" auf der anderen, ist jedoch mehr als nur Schwarz-Weiß-Malerei einer grauen Realität. Es geht um die bewusst einfach gehaltene Konstruktion einer geordneten Welt, einer unproblematischen Weltsicht und deren Inszenierung. Die ideologische Auseinandersetzung mit dem Judentum umfasst daher auch alle Bereiche menschlichen Seins. Chamberlains ethnogenetische Konstitution des Judensemiten basiert, parallel zu derjenigen der Arier und Germanen, auf der Herleitung durch die Sprachfamilie, die Rasse und schließlich einer besonderen Art der nationalen Zugehörigkeit. Diese "semitische Herleitung" ist für ihn die Basis aller seiner Zuschreibungen. Moral, Sittlichkeit und Charakter sind Symptome einer Rasse, nicht einzelindividuelle Zufälle. Und doch sind die ethnogenetischen Prämissen nicht denkbar ohne den entscheidenden Schlüsselfaktor Religion. Mit der Ethnogenese, der Rasse, der Frage nach der nationalen Zugehörigkeit und der Religion sind die Zentren der anti-
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semitischen Argumentation Chamberlains, um die sich die folgenden Ausführungen drehen werden, markiert. Um es gleich vorwegzunehmen, rassischer Antisemitismus55 ist auch bei ihm unlösbar mit dem traditionellen religiösen Antijudaismus verbunden. Sein Judenhass beruht auf Rasse und Religion, so dass er in seinen Schriften entsprechend auch gezielt alle bekannten Stereotype seiner Zeit bedienen kann. Doch er tut dies nicht im Stile eines platten Radauantisemitismus, wie er im nationalsozialistischen Antisemitenorgan Der Stürmer auf die Spitze getrieben wurde und wie es in den Stürmerkästen Streichers überall zu lesen war. In der bildungsbürgerlich angepassten Salonvariante des Antisemitismus vollzieht Chamberlain Scheindifferenzierungen und Scheinargumentationen, die an einigen Stellen gezielt den Eindruck vermitteln, er habe ein objektives Bild vom Judentum, von deren Lebenswelt, ihrer Herkunft und ihrer Religion. Seine Art des Argumentesammelns und Abwägens vermittelt den Anschein, rational und objektiv, vor allem in der Ausführlichkeit der Ausführungen auch sachkompetent zu sein. Doch immer wenn Chamberlain beginnt, Jüdisches positiv zu beschreiben oder sogar zu verteidigen (Gl 20), holt er zum vernichtenden Schlag aus. Solche Ausdifferenzierungen dienen ihm höchstens zu rhetorischen Winkelzügen und zur Profilierung seines eigenen Bildungsniveaus, vor allem aber haben sie die jüdische Ausgrenzung zum Ziel. Dies wird bei seinen ethnogenetischen Ausführungen besonders deutlich.56
8. 1. Pseudo-Ethnogenetische Argumentationen Der unkritische und bereits antisemitisch eingestimmte Leser hat bei der Lektüre der Grundlagen schnell den Eindruck, mit ihnen eine gut lesbare wissenschaftlich abgesicherte Abhandlung über die ethnogenetische Herkunft von Semiten und Juden zu erhalten. Chamberlain kennzeichnet darin die Juden, was auf dem Hintergrund der sonst üblichen Gleichset_____________ 55
56
Nachdem das Schlagwort vom Antisemitismus wohl im Jahre 1879 von Wilhelm Marr erst geprägt worden war, um dem traditionellen Judenhass, den man fortan mit dem Namen Antijudaismus vom modernen Antisemitismus abgrenzte, nun einen wissenschaftlichen und vor allem rassenbiologischen Anstrich zu geben, und zwar in seiner Hetzschrift "Der Sieg des Judentums über das Germanentum", scheint zumindest auf den ersten Blick mit dem Ausdruck Semit ausschließlich auf jüdische Mitbürger verwiesen zu werden. Vgl. dazu auch von See 1994, 300; Zimmermann 1987; Benz 2004, 88-90. Benz ergänzt, dass die Schrift bereits im Herbst 1879 in der 12. Auflage erschien. Marr war einer der ersten, der die Juden als "goldene Ratten" verunglimpfte und sie mit den "roten Mäusen des Kommunismus" assoziierte. Vgl. zum folgenden Kapitel u. a. auch: von Polenz, Sprachgeschichte III, 1999, 542ff.; Cobet, Der Wortschatz des Antisemitismus in der Bismarckzeit 1973; Hortzitz, Wortbildung 1996.
192 Das Wortfeld 'Mensch'
zung von Semit und Jude ungewöhnlich ist, als Halbbrüder der Semiten (Gl 20) bzw. als Halbsemiten. Er hebt damit nicht nur die unterstellte Synonymie auf, sondern suggeriert seinen Lesern genaue Sachkenntnis der Verhältnisse und vor allem die Vorstellung, man könne präzise, nahezu quantitativ messbar beschreiben, wie Juden ethnogenetisch zu bestimmen seien. Ähnliches gilt auch für die Germanen, die er in Halb-, Viertels- und sogar Sechzehntelgermanen unterteilt (Gl 584). Im Unterschied zu dieser scheinbaren Präzision werden übrigens alle Mohammedaner von ihm einfach als semitische Menschenart klassifiziert (AW 25), egal welcher Nationalität und Herkunft sie sind. Der Name Mohammedaner referiert bekanntlich auf den Religionsgründer Mohammed und verweist auf die dritte der großen Weltreligionen, deren Mitglieder entweder arabisch oder irgendeine andere Sprache der Welt sprechen, die keineswegs semitisch sein muss. Chamberlain vollzieht hiermit nicht zum ersten Male bewusst die Überblendung einer Religionszugehörigkeit durch die Rassenzugehörigkeit. Eine solche Überblendung erfolgt auch mit der Bezeichnung Jude. Jüdisch ist schließlich ebenfalls eine Religions- und keine Sprachbezeichnung, die in keiner Weise eine rassische Zuordnung ermöglicht, auch wenn Chamberlain etwas konstruiert behauptet, der eigentliche Jude entstamme dem Hause Judas und sei daher kein Israelit (Gl 409). Tatsächlich erfolgt die ethnogenetische Bestimmung des Juden in der Regel ex negativo. Er ist kein Arier, kein Isrealit, kein Araber usw. Was den "eigentlichen" Juden, den Halbsemiten vom ferneren und als weniger bedrohlich dargestellten Mohammedaner abgrenzt, sei vor allem, (AW 39) "daß […] der jüdische Halbsemit durch die Gewalt seines Willens und durch die Verknüpfung zu einer geschlossenen internationalen Nation das auffallendste "fremde" Element in unserer Mitte ist", während der Mohammedaner nur fremd, aber kaum präsent war. Das Kriterium der Fremdheit allein genügt aber nicht zur Erklärung von Ausgrenzung. Es muss auch Erfahrbarkeit und Wahrnehmungsnähe hinzukommen. Hätte es mehr Mohammedaner im damaligen Deutschland gegeben, wäre Chamberlains Antisemitismus wohl auch auf sie übertragen worden. Relative Erfahrbarkeit ist eine wichtige Basis, auf der Vorurteile entstehen, denn nur mit ihr kann die Relevanz des Vorurteilsgegenstandes begründet werden. Die Inhalte der Vorurteile haben dagegen eher mit Nichterfahrung zu tun, es sind stereotype Bilder, die die selbst gemachten Erfahrungen ersetzen sollen. Das von Chamberlain gezeichnete Bild vom "Juden" ist eine Mischung aus Feindbild und Drohkulisse. Es geht um drohenden Verlust von Identität, um Verfall und Untergang. Der Semit, der sich an germanische Muster anschmiegt (Gl 9) und damit mitten im eigenen Lebensraum agiert, wird zur jüdischen Gefahr (Gl 19), die man nicht unterschät-
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zen darf (Gl 164). Doch außer den schon genannten Zuschreibungen ist "dieser Jude" ähnlich kontrovers diskutiert, wie das Konstrukt des Ariers: Gl 18: Die hervorragende Stellung der Juden im neunzehnten Jahrhundert aber, sowie die grosse Bedeutung der philo- und der antisemitischen Strömungen und Kontroversen für die Geschichte unserer Zeit erforderten unbedingt eine Beantwortung der Frage: wer ist der Jude? Ich fand nirgends eine klare, erschöpfende Beantwortung dieser Frage und war deshalb gezwungen, sie selber zu suchen und zu geben. Der Kernpunkt ist hier die Frage nach der RELIGION. [...]. Denn ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass die übliche Behandlung der "Judenfrage" sich durchwegs an der Oberfläche bewegt; der Jude ist kein Feind germanischer Civilisation und Kultur; Herder mag wohl mit seiner Behauptung Recht haben, der Jude sei uns ewig fremd, und folglich wir ihm ebenfalls, und Niemand wird leugnen, dass hieraus grosse Schädigung unseres Kulturwerkes stattfinden kann.
8. 2. Die "Judenfrage" Eine Mohammedanerfrage gab es nicht, aber eine Judenfrage. Das Kompositum Judenfrage ist ein Verbalabstraktum, dessen Grundwort erstens nicht mehr die obligatorische Wertigkeit seiner Basis, nämlich des Verbs fragen (wer fragt wen nach was?), aufweist und das zweitens eine Polysemierung in Richtung auf >Problem, zu erörterndes Thema, zu klärende Sache< (Duden 3, 1297) erfahren, also eine Bedeutung erhalten hat, die beim Verb zwar angelegt57, aber nicht so weit gediehen ist wie beim Substantiv. Frage in Judenfrage ist daher lexikalisch-semantisch mit Problem identisch, unter textlinguistischem Aspekt kommt hinzu, dass Substantive durch ihre bloße Verwendung eine Existenzpräsupposition implizieren, Judenfrage besagt also schon insofern: Es gibt ein Problem, und dieses Problem hat etwas mit den Juden zu tun. Die genaue Beziehung, die zwischen dem präsupponierten Problem und den Juden besteht, wird in Determinativkomposita nicht explizit zum Ausdruck gebracht. Es kann sich von den grammatischen Möglichkeiten her um ein gruppeninternes Problem von Juden (Genitivus subjectivus) handeln (und wäre dann für Angehörige anderer Gruppen höchstens akademisch interessant); es kann sich aber auch um ein Problem handeln, das die Juden gleichsam objektiv für die Gesellschaft darstellen, und es kann sich schließlich um ein Problem handeln, das bestimmte Individuen oder Gruppen der Gesellschaft aufgrund einer besonderen Ideologie mit den Juden haben. In Betracht kommt natürlich auch noch die Möglichkeit einer irgendwie gearteten Verbindung aller drei Lesarten. Chamberlain benutzt das Kompositum mehrfach (Gl 20; 382 sogar als Kapitelüberschrift) in dem zweiten hier erörterten Sinne, und die _____________ 57
Vgl. die Duden-Ansätze 2 und 4.
194 Das Wortfeld 'Mensch'
Rezipienten müssen es so verstanden haben. Der Beweis dafür liegt in den Formulierungen: Wenn von der Existenz der jüdischen Frage (Br 1, 7758) gesprochen, die jüdische Frage zu den brennenden unserer Zeit deklariert und das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert der Juden bezeichnet wird, was sich dann auch in einer rumänischen Judenfrage niederschlägt, dann wird die Existenz eines objektiven Problems der Gesellschaft mit den Juden sowohl explizit ausgesagt, wie schon dadurch als Faktum präsupponiert, dass ständig Prädikationen über das Problem vorgenommen werden: Man kann nicht ohne distanzierende Klauseln über einen Bezugsgegenstand reden und gleichzeitig voraussetzen, dass es ihn nicht gibt. Chamberlain will die Scheidung zwischen Juden und Nichtjuden, die Segregation. Speziell am Beispiel der rumänischen Judenfrage (Br II, 164) errichtet er die Drohkulisse eines am Abgrund stehenden Landes, dessen Bürger zu Heloten der Juden würden, wenn man ihnen die politische Gleichberechtigung zugestünde (Br II, 164). Die Bezugsetzung eines rumänischen Problems auf deutsche Verhältnisse ist im Hinblick auf den Erwartungshorizont seiner Rezipienten im Text selbst dann angelegt, wenn man sie nicht eigens vornimmt. Abgesehen von der Behauptung, die Juden würden unser Kulturwerk schädigen, womit er die Alterität zwischen einem unspezifischen "uns" und den Anderen, den Juden, deutlich macht, bleibt die Frage nach der Identifikation dieses "ewig Fremden" offen. Die festgestellte Kategorienvermischung von Sprachgruppe, Rasse, Nationalität impliziert aufgrund des am Beispiel der rumänischen Verhältnisse aufgerufenen Untergangsszenarios die Warnung, die Juden nicht in die deutsche oder englische Nation zu integrieren, da sie einer eigenen, der arischen entgegengesetzten Rasse angehörten. Dies ist deutlich ein Aufruf zum Ausschluss und zur Segregation: wer zu der Gruppe der Juden gehört, kann niemals zu einer anderen gehören. Er kann somit auch nicht an den Eigenschaften teilhaben, die der Gruppe zugeschrieben werden, bzw. an ihrem Gemüt. Die Gruppenzugehörigkeit ist bestimmt durch die Rasse, oder wie Chamberlain es, auf Paul de Lagarde59 anspielend und diesen korrigierend, ausdrückt, durch ein bestimmt geartetes Geblüt, das das Gemüt fundiert. Gl 574: Gewiss liegt das Germanentum im Gemüte; wer sich als Germane bewährt, ist, stamme er, woher er wolle, Germane; hier wie überall thront die Macht der Idee; doch man hüte sich, einem wahren Prinzip zu Liebe, den Zusammen-
_____________ 58 59
1899 in einem Brief an die Zeitung "die Jugend". Paul de Lagarde II, 1934, 223: "Gewiß ist die Judenfrage auch eine Rassenfrage, aber kein ideal gesinnter Mensch wird je leugnen, dass der Geist auch die Rasse überwinden kann und soll. Ich habe viele Juden zu Schülern gehabt, und vielfach sind aus diesen zu Männern gewordenen Schülern mir Freunde geworden; ich habe auch den Deutschland fremdesten Juden liebevoll aufgenommen und gefördert, wo ich konnte."
195 Der Semit und die "Judenfrage"
hang der Naturerscheinungen zu übersehen. Je reicher das Gemüt, um so vielseitiger und fester hängt es mit dem Unterbau eines bestimmt gearteten Geblüts zusammen.
Rasse und Persönlichkeit (Gl 413) bzw. Gemüt und Religionszugehörigkeit werden als untrennbare Einheit verstanden. Und die Ausdrücke Semit / semitisch / Jude / jüdisch erweitert Chamberlain zu einer national-rassischen Identifikation mit entsprechender Volksseelengeschichte und einer rassisch bestimmten Religion. In seinem besonderen Fremdwortgebrauch heißt dies: Konsanguinität ergibt Kongenialität (Gl 546) und Befähigung zur Religiosität für den Germanen. Für die Juden gilt genau das Gegenteil: Konsanguinität bedingt das Fehlen von Genialität und den Mangel an Religiosität.
8. 3. Konsanguinität oder der Topos von der reinen jüdischen Rasse Die Frage nach der Konsanguinität, konkret nach dem jüdischen Geblüt bzw. der jüdischen Rasse (Gl 258), gehört zur Schlüsselfrage aller Schriften Chamberlains. Wenn man sich auf die Assoziationslinien des rassischen Antisemitismus einlässt, der u. a. darin besteht, dass nach den Theorien Gobineaus der Verfall der Menschheit durch ungehinderte Mischung verschiedener Rassen verursacht wird und dass die Reinheit einer Rasse das Kriterium für eine starke überlebensfähige und vor allem kulturfähige Rasse ist,60 dann stößt man schnell auf einen antisemitischen Widerspruch, nämlich die angebliche Reinheit der unterstellten jüdischen Rasse (Gl 258) aufgrund alttestamentarischer Ehe– und Reinheitsgebote. Obwohl Chamberlain die Gobineau'sche Reinheitstheorie explizit ablehnt, da er im Unterschied zu ihm keiner Verfallstheorie anhängt,61 in der die ursprünglich reine und edle Urrasse durch fortgesetzte Mischung degeneriert, sondern einer Entwicklungstheorie huldigt, in der die Reinheit durch Züchtung erst hergestellt wird, kann er nicht umhin, sich mit diesem Widerspruch auseinanderzusetzen. Denn auch bei ihm steht das Prinzip Reinheit62 prinzipiell für moralische, sittliche und genetische Qualität einer Rasse. Er bekommt jedoch argumentative Probleme, wenn er auf der einen Seite behauptet, die jüdische Rasse sei die einzige reine, und sie dann auf der anderen Seite als defizient, minderwertig und gefährlich diskriminiert. Chamberlain muss außerdem seinen Gegenspieler als einen ernstzunehmenden Gegner darstellen, weil jede Bedrohungsinszenierung sonst ins _____________ 60 61 62
Vgl. Gobineau III, 313; 371; IV, 5; 61; 311. Vgl. dazu das Kapitel XI, 3. 2 (Gobineau). Hier wird die rassentheoretische Abhängigkeit Chamberlains von Gobineau besonders offensichtlich. Vgl. zur Reinheitsmetaphorik das Kapitel IX, 2, 13.
196 Das Wortfeld 'Mensch'
Leere ginge. Gleichzeitig muss er deutlich machen, dass dieser Gegner aufgrund bestimmter Schwächen dennoch besiegbar ist. Chamberlains Behandlung des Reinheitsprinzips zeigt, wie er die Juden zunächst zum bedeutsamen Gegner in seinem rassistischen System aufbaut, um sie dann mit denselben Argumenten als defizient zu stigmatisieren. Reinheit ist in einem von Gobineau geprägten sozialdarwinistischen System ein wichtiger Aspekt der Lebens- und Fortpflanzungskraft; sie symbolisiert Kulturhöhe und genetische Durchsetzungsfähigkeit einer Rasse. Letzteres gesteht Chamberlain den Juden prinzipiell zu. Gl 303: Der Begriff der physischen Rasseneinheit und -reinheit, welcher den Kern des Judentums ausmacht, bedeutet die Anerkennung einer grundlegenden physiologischen Thatsache des Lebens; wo immer wir auch Leben beobachten, vom Schimmelpilz bis zum edlen Rosse, bemerken wir die Bedeutung der "Rasse": das Judentum heiligte dieses Naturgesetz. Darum drang es auch in jenem kritischen Augenblick der Weltgeschichte, wo eine reiche Erbschaft ohne würdige Erben dastand, siegreich durch. Es beförderte nicht die allgemeine Auflösung, im Gegenteil, es gebot ihr Einhalt.
Das positive Zugeständnis an die Juden, sie würden die Gesetze der Natur heiligen, wird aber sofort dadurch relativiert, dass auch Schimmelpilze wie edle Rosse dasselbe tun. Die dehumanisierende Aggregation von Schimmelpilzen und Juden spricht für sich selbst. Auch dass Einheit und Reinheit neben einander gestellt werden, ist kein Zufall. Beides sind Programmwörter der eigenen Utopie. Chamberlains Züchtungsziel ist die Reinzüchtung des Ariers, weil sie die gemeinschaftsbildende Einigung dieser "Rasse" auch in einem politischen Sinne mit sich ziehen würde. Ein ebenso reines und geeintes jüdisches Pendant will er jedoch keineswegs, weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft. Dieses Stereotyp dient ihm allerdings wieder zur Drohkulisse, mit der er vor einer geeinten und starken jüdischen Nation warnt (Gl 302; 386; 407), die über die Jahrtausende hinweg trotz der Diaspora in den unterschiedlichsten Lebenswelten als Gemeinschaft erhalten geblieben sei. Man erkennt sofort die Projektionsfläche für die eigene Rassenidee. Chamberlains Einheitsutopie besteht zum einen in einem Zusammenschluss der arischen Rasse über die Nationen Europas hinweg in einer Art Großgermanien, sie betrifft aber zum anderen auch die innere Einheit des Deutschen Reiches, die keineswegs mit der Reichsgründung vollzogen worden war. 1871 war zwar auf der politischen Ebene eine Einigung gefunden worden, doch nur in Form einer kleindeutschen Lösung. Die konfessionelle (Kulturkampf), soziale (Soziale Frage Arbeiterbewegung) und innenpolitische Zersplitterung (Sozialismus, Adelsparteien) war damit in keiner Weise überwunden. Chamberlain projizierte sein jüdisches "Vorbild" und machte aus dem so konstruierten Zusammenhang von Rasseneinheit bzw. Rassenreinheit und Staatseinheit die Grundlage für die Überwindung aller Zwistigkeiten.
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Gl 359: Der Gedanke, die Nation durch das strenge Verbot der Mischehen zu isolieren und aus dem hoffnungslos bastardierten Israeliten eine Edelrasse zu züchten, ist geradezu genial; ebenso der Einfall, die Reinheit der Rasse als ein historisches Erbe, als das besondere, charakteristische Merkmal des Juden hinzustellen.
Der Schlüssel, wie er sich aus dem oben angedeuteten argumentativen Widerspruch befreit, ist schließlich die Behauptung, die Reinheit der Juden sei eine historische Lüge (Gl 408). Die Juden hätten sich ebenso aus einer Rassenmischung mit edlen und weniger edlen Elementen entwickelt, wobei die Semiten die edleren Elemente eingebracht und die eigentlichen Juden diese zerstört hätten. Das Judentum wird damit in doppelter Hinsicht verhöhnt, zum einen nutzt man die religiös wichtigen Reinheitsgesetze und kehrt sie gegen die Juden, indem man ihnen unterstellt, sie würden bewusst eine Reinzüchtung aus religiösen Motiven vortäuschen, womit man die jüdische Religion zu rassistischer Argumentation missbraucht. Im selben Atemzug macht Chamberlain zum anderen aus ihnen Mischlinge und Bastarde (vgl. dazu Gl 421; 441 s. u.), was in der rassentheoretischen Argumentation fortschreitende Degeneration und Entartung und damit moralischen und sittlichen Verfall impliziert. Gegensätzlich parallel zu den Ariern, die Teil einer hoffnungsvollen edelgezüchteten Zukunft sind, hätten die Semiten zwar einst einer reinen und vor allem edlen Rasse angehört, deren wenige verbliebenen Vertreter, die Sephardim, seien jedoch nur noch in wenigen Ländern Europas zu Hause. Um das damit eingeführte Gefälle noch deutlicher zu machen, wird der Typ der Sephardim auffallend positiv dargestellt. Die Beschreibung weist deutliche Parallelen zur Glorifizierung des Ariers auf: Gl 324: Das ist Adel im vollsten Sinne des Wortes, echter Rassenadel! Schöne Gestalten, edle Köpfe, Würde im Reden und Gebahren. Der Typus ist "semitisch" in dem selben Sinne wie der gewisser vornehmer syrischer oder arabischer Männer.
Deutlich werden außerdem die abgrenzende Zuordnung zu den Arabern und die Spezifizierung der Semiten als Beduinenvolk; es heißt, der Ursemit sei der Wüstenbeduine Arabiens (Gl 413). Die zugeschriebenen Prädikationen passen ins positive Bild und lassen sich schon erahnen: Er ist die treibende Kraft, das Lebensprinzip, die Seele der Semiten (Gl 421). Anders als die Sephardim sind die eigentlichen Juden, also diejenigen, die auch unter diesem Namen bekannt sind, keineswegs Nachkommen einer solchen "schönen" reinen Rasse, sondern aus vielen Vermischungen hervorgegangen; sie seien geworden (Gl 408), wie Chamberlain es umgekehrt analog zum Werden des Ariers nennt. Er typisiert sie als die Juden der Diaspora (Gl 326) und nennt sogar ihren Geburtstermin, 701 v. Christus (Gl 504).
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Ihre Beschreibung entspricht den üblichen antisemitischen und antijudaistischen Stereotypen: Diese Juden der Diaspora machen den Eindruck Gl 325: einer ungewöhnlich gemeinen, jeder höheren Regung baren Masse, die Reichen hart und ungläubig, die Armen wankelhaft und stets voll der Sehnsucht, sich dem erbärmlichsten schmutzigsten Götzendienst in die Arme zu werfen.
Sie seien faul, verräterisch, grausam, habgierig, feige, gar der Auswurf der Menschheit (Gl 421). Chamberlain geht bei seinen stigmatisierenden Äußerungen sogar so weit zu behaupten, ihre negativen Eigenschaften könne man diesem Menschentyp ansehen: GL 53: ausser einigen wenigen sympathischen Zügen scheint alle Niederträchtigkeit, deren Menschen fähig sind, in diesem einen Völkchen verdichtet; nicht als wären die Juden im Grunde genommen noch schändlicher als die anderen Menschen gewesen, die Fratze des Lasters aber glotzt einen aus ihrer Geschichte in unverhüllter Nacktheit an.
Während das von den Juden geheiligte Naturgesetz der Reinheit zwar für die semitischen Sephardim gelte, würden sich unsere Juden (Gl 326) nur mit den minderwertigen Typen kreuzen und so zur infizierenden Gefahr für alle anderen Völker werden (Gl 384). Die Idee von einer reinen jüdischen Urrasse erklärt er, wie bereits dargelegt, zu einer Lüge (Gl 408), in Wirklichkeit seien sie nämlich ein künstliches Produkt (Gl 412), die absoluteste Mischung, und um es ganz angelehnt an Gobineau noch deutlicher zu machen: die Frucht einer Kreuzung zwischen Neger und Weissen (Gl 421).63 Wenn man bedenkt, dass die "Schwarzen" auf der untersten Stufe dieser menschenverachtenden Wertigkeiten stehen, so kann man ermessen, welchen Stellenwert er den Juden in seiner Klassifizierung einräumt. Seine Aussage bekräftigend erklärt er in einer Anmerkung, dass er hier die orthodoxe Meinung referiere und zitiert anschließend Ranke: (Gl 421): Ranke fasst sie in seiner Völkerkunde (II. 399) folgendermaßen zusammen: "Die Semiten gehören zu den mulattenhaften Übergangsgliedern zwischen Weissen und Schwarzen." Die rassistische Ethnogenese findet hier ihren Höhepunkt, und es ist bezeichnend, dass Semit und Jude in diesem Beleg wieder synonym gebraucht werden. GL 440: Auch die viel später erfolgte Aufnahme von Negerblut seitens der Juden in der Alexandrinischen Diaspora – wofür mancher heutige Staatsbürger mosaischer Konfession den lebendigen Beweis liefert – ist nebensächlich. Das Gesagte ist ausführlich genug, damit sich Jeder die Anthropogenie des Juden in ihren grossen Linien klar vorstelle. Wir sahen: es kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, dass der historische Israelit, aus welchem sich der eigentliche "Jude" erst später absonderte, das Produkt einer Mischung ist. Er tritt schon in die Geschichte als Mischung ein, nämlich als Hebräer; dieser Hebräer geht aber dann
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Vgl. dazu als Beispiel folgende Parallelen: Politisches Handwörterbuch (Führer ABC) 1928, 290: "Die Juden sind keine einheitliche Rasse, sondern eine Mischrasse aus vorderasiatischer, Neger-, orientalischer, nordischer und hamitischer Rasse, sie sich seit den strengen Rassengesetzen Esras durch lange Inzucht rassenmäßig befestigt haben."
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weitere Ehen mit fremden, nicht semitischen Menschen ein: erstens mit den Hethitern, einem besonderen Stamm des weit verbreiteten, fest charakterisierten Homo syriacus; zweitens mit den grossen, blonden, blauäugigen Amoritern aus der indoeuropäischen Gruppe. Nun kommt zu dem historischen Zeugnis das unwiderlegliche Zeugnis der exakten Wissenschaft hinzu. F. von Luschan fasst es in seinem schon mehrfach erwähnten Vortrag folgendermassen zusammen: "Die Juden sind zusammengesetzt: erstens, aus wirklichen Semiten, zweitens, aus arischen Amoritern, drittens und hauptsächlich aus den Nachkommen der alten Hethiter.
Es ist müßig, nun die verschiedenen Stämme und Völker zusammenzuzählen, die angeblich zum Mischungsverhältnis der Juden beigetragen haben. Chamberlains Beweisführung könnte an ein landwirtschaftliches Herdbuch erinnern, in dem Zuchtexperimente dokumentiert werden. Wichtig sind folgende Aussagen, erstens: das israelitische Volk ist aus der Bastardisierung durchaus verschiedener Menschentypen hervorgegangen (Gl 441); zweitens: deren einzelne Bestandteile, seien sie rassischer oder auf der Rassenzugehörigkeit beruhender sittlicher Qualität, sind von gewisser Beständigkeit, und vor allem auf die Dauer betrachtet können sie von durchschlagender rassenprägender Dominanz sein (Gl 442). Ganz im Sinne seiner Rassentheorie, nur diesmal spiegelverkehrt auf die Vergangenheit gerichtet, sei "der Jude" ein physiologisches Substrat, das Ergebnis von langwieriger rassischer Ausdifferenzierung. Der oben erwähnte arische Amoriter jedenfalls sei dieser Ausdifferenzierung zum Opfer gefallen und dient nun als "antisemitische" Drohkulisse, mit der suggeriert wird, dass dasjenige, was mit den Amoritern geschehen ist mit allen anderen nichtsemitischen Völkern ebenfalls geschehen würde, wenn man sich mit diesem Substrat einließe. Denn Substrate sind Gefahrenkonzentrate. Gl 574: So sahen wir denn auch [...] wie der edle Amoriter aus der Welt verschwand: in Folge von Vermischung mit unverwandten Rassen wurde seine Physiognomie wie weggewischt, seine gigantische Gestalt schrumpfte zusammen, sein Geist entflog; wogegen der simple Homo syriacus heute der selbe ist wie vor Jahrtausenden und der bastardierte Semit sich aus der Mischung zu seiner dauernden Zufriedenheit als "Jude" herauskrystallisiert hat. Ähnlich ging‘s allerorten. Welch‘ ein herrliches Volk war nicht das spanische!
Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen. Chamberlains Argumentation in Bezug auf die Rassenreinheit von Juden und Ariern verläuft genau entgegengesetzt parallel. Bei den Juden wird die Reinheit zum verloren gegangenen Gut der Vergangenheit, bei den Ariern eines der Zukunft. Die jüdischen Reinheitsgebote werden zum Vorbild genommen für eine zukünftige Heiligung der Naturgesetze durch die Arier, mit dem Ziel, eine sich als Einheit verstehende, reine Rasse zu schaffen. Den Juden wird hingegen jede Form der Reinheit abgesprochen. Die Darstellung der jüdi-
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schen Ethnogenese verläuft von der Reinheit hin zur Zersetzung, wobei letzteres nicht nur als Bedrohung für das Judentum angesetzt ist.
8. 4. Kongenialität oder die Aberkennung von Moralität und Sittlichkeit: Neben den ethnogenetischen Erörterungen Chamberlains sind seine Zuschreibungen zur moralischen Qualität der Juden von diskursivtraditionsbildender bzw. iterativ-performativer Bedeutung. Alte, oft schon aus dem Mittelalter stammende Stereotype aufgreifend integriert Chamberlain diese konsequent in seinen rassentheoretischen Zusammenhang. Charaktereigenschaften, wie er sie einer bestimmten Gruppe von Menschen als Kollektivkennzeichen zuschreibt, werden durch den konstitutiven Zusammenhang von Konsanguinität und Kongenialität (Gl 546) begründet: Die moralische Integrität bzw. Defizienz eines Menschen ergibt sich damit entweder aus der künstlerischen Fähigkeit eines Menschen oder aus der spezifischen Blutmischung seiner Rasse, also entweder aus dem Gemüt oder aus dem Geblüt, wobei das Entweder-Oder von Chamberlain zu einem Sowohl-als-auch verbunden wird. Doch auch hier verwickelt er sich in Widersprüche, die er damit aufzulösen versucht, dass er zwischen einem realen durch Mischung gewordenen Juden (s. o.) und einem kunsttheoretischen Ideal differenziert. Die eine Vorstellung entspricht seiner rassentheoretischen biologistischen Sichtweise, die andere basiert auf dem wagnerschen Konzept des ewigen Ahasver, des unkünstlerischen Menschen, den es prinzipiell überall geben kann. Während Ahasver durch die Kunst, vorzugsweise die deutsche Kunst, erlöst werden kann, bleibt der biologische Jude rettungslos verloren. Anders ist dies mit der Umkehrung. Ein biologischer Jude bleibt immer, was er ist, aber ein Nichtjude kann durch den Kontakt mit der jüdischen Idee, die alles Jüdische ausmacht, zur verlorenen Seele werden. Gl 545: Sollte die jüdische Nationalidee nicht die Kraft besitzen, die anderen Nationalideen eignet? Im Gegenteil, sie ist, wie ich gezeigt habe, machtvoll wie keine zweite und schafft die Menschen um zu ihrem Ebenbilde. Man braucht nicht die authentische Hethiternase zu besitzen, um Jude zu sein, vielmehr bezeichnet dieses Wort vor Allem eine besondere Art zu fühlen und zu denken; ein Mensch kann sehr schnell, ohne Israelit zu sein, Jude werden; Mancher braucht nur fleissig bei Juden zu verkehren, jüdische Zeitungen zu lesen und sich an jüdische Lebensauffassung, Litteratur und Kunst zu gewöhnen.
Während man das Geblüt nicht ändern kann, ist das Gemüt (im Sinne Lagardes) durchaus wandelbar und damit angreifbar. Doch da das Rassekriterium immer das Basisprinzip ist, gilt dies nur in eine Richtung, nämlich hin zum Schlechten, zum Judentum. Ein Nichtsemit kann zwar durch jüdischen Einfluss sein Gemüt verderben, doch ein Semit kann aufgrund
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seiner Rasse nicht zum Arier werden (vgl. oben zitiert: Gl 574). Die Drohkulisse vom kulturellen Verfall und Niedergang nichtjüdischer Kulturen aufgrund jüdischen Einflusses nimmt hier ihren Ausgang. Sie ist konsequent analog zum rassischen Verfall (s. o.). Kollektiv gemütsgefährdend und gefährlich für unsere Kultur (AW 43) ist eine ganze Reihe mit der jüdischen Idee (Gl 574) bzw. der jüdische Nationalidee (s. o.) in Zusammenhang gesetzter Eigenschaften. Diese erscheinen in Chamberlains Texten unter Ausdrücken wie Materialismus, Universalismus (AW 25), mosaische Kosmogenie (AW 36), Historismus (Gl 274; 494), Skeptizismus (Gl 276), Dogmatismus (ebd.), glühender Fanatismus (Gl 494; 507), Intoleranz (Gl 494; 506; 510), Nomokratie (Gl 386; 531), Vergötterung des Willens (Gl 472; auch 274), unfehlbarer Instinkt (Gl 278) und Götzenanbetung (Gl 472 u. ö.). Man beachte dabei das gehäufte Auftreten des Wortbildungssuffixes –ismus, das in einem Teil der Bildungen mit Basen verbunden wird, die in direktem Gegensatz zu den Werten stehen, denen sich das Bürgertum der Zeit Chamberlains bei allen internen Differenzierungen verschrieben hatte oder verschrieben zu haben meinte: – Materialismus (assoziativ verbunden mit einem der Zentralkonzepte von Karl Marx, mit dem biblischen Mammon sowie mit dem Teufel und generell im Gegensatz zu Idealismus stehend), – Universalismus (mit dem – wenn überhaupt verständlich – partiellen Synonym mosaische Kosmogenie, im übrigen zumindest das preußische protestantische Bürgertum an Ultramontanismus als das Schlagwort des Kulturkampfes erinnernd, damit die gerade erreichte nationale Einheit antastend), – auch die übrigen Ausdrücke rufen Assoziationen auf, mit denen man sich zumindest nicht generell und vor allem dann nicht identifizieren konnte, wenn sie wie Dogmatismus, Fanatismus, Skeptizismus, Intoleranz Haltungen kennzeichneten, die nicht durch positive Inhalte der eigenen Sozialgruppe bestimmt waren oder die wie Vergötterung, Götzenanbetung die Konnotation mit 'Heidentum' aufriefen. Dem Semitismus seien – so Chamberlain – nicht nur die Entfremdung und die Entzweiung (AW 36) der nichtjüdischen Völker anzulasten, sondern auch das Völkerchaos und die Entartung des Christentums (Gl 723). Ausgangspunkt ist eine Argumentation, die in das Herz des Menschenbilds Chamberlains führt, nämlich die Unterstellung, dass nur derjenige wahrhaftig Mensch sei, der Schöpferkraft besitzt. Ein typischer semitischer Wesenszug der Juden sei das Fehlen dieser Kraft, eine Aussage, die – diese Bemerkung sei hier gestattet – angesichts der Tatsache, dass besonders die deutsche Kulturgeschichte in überdurchschnittlicher Weise von jüdischen Gelehrten und Künstlern bereichert worden ist, wie blanker Hohn klingt
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(vgl. Gl 16464). Das Stereotyp von der besonderen Geistesanlage der Juden zieht sich wie ein roter Faden durch alle Texte und zwar in folgenden Variationen: durch tyrannische Vorherrschaft des Willens herbeigeführte Phantasielosigkeit (Gl 271; 494), als beschränkte geistige Fähigkeiten, als das Abgehen schöpferischer Befähigung (Gl 302), als enger geistiger Horizont (ebd.), in Bezug auf die Religion als Unverstehen Christi (Gl 391). Sogar die Existenz Jahwes, des jüdischen Gottes, erklärt Chamberlain mit 'kultureller Inkompetenz': Gl 482: Dies ist der Monotheismus der Wüste; nicht aus der Idee des Unendlichen entspringt er, sondern aus der Ideenlosigkeit eines armen, hungrigen, gierigen Menschen, dessen Gedankenkreis sich kaum über die Vorstellung erhebt, dass Besitz und Macht höchste Wonne wäre.
Hervorstechend ist der Vorwurf des 'Schmarotzertums', der eng mit der Zuschreibung von Kulturlosigkeit verbunden ist und als Antwort auf den Einwand angesehen werden muss, die Juden hätten durchaus große kulturelle Leistungen vollbracht. Mit einem solchen Vorwurf wird unterstellt, dass alle kulturellen Leistungen der Juden immer nur diejenigen der anderen Völker gewesen seien, niemals die eigenen (z.B. Gl 497; 500; 510). Chamberlains Erklärung geht weit über das wirksame Assimilations- und Anpassungsmodell hinaus, das dem sich kulturell Integrierenden die einseitig rezeptive, nehmende Teilhabe an den Kulturgütern vorwirft, vor allem aber Raub und Diebstahl derselben. Chamberlain unterstellt den Juden nämlich außerdem die gezielte Zerstörung der Kultur, da sie ihr schon durch einfache Berührung Schaden zufügen würden. Die Metaphorik ist eindeutig: AW 38: Das sage ich nicht aus blutgieriger antisemitischer Gesinnung, sondern weil mir bekannt ist, daß diese merkwürdige Menschenart – der Semit –' der über die ganze Welt hin sich verbreitet und die erstaunliche Fähigkeit besitzt, sich alles anzueignen, nichts berührt, ohne es tief innerlich umzuwandeln. Die Autoritäten […] erklären übereinstimmend, dem Semiten fehle die eigentliche Schöpferkraft, die erfinderische Ader; dagegen besitze er wie keiner die Eigenschaft, sich alles anzueignen. Was ist aber dieses Aneignen? Um einen Gedanken zu begreifen, muß ich ihn nachdenken können, er muß in mir gleichsam vorgebildet, latent gelegen haben; das Schöpferische erfordert den Mitschöpfer, damit es lebe. […] Wie sollte nun einem gänzlich fremden Menschen, dem außerdem Schöpferkraft abgeht, die Aneignung in diesem Sinne gelingen können? Ich halte das für unmöglich. Und ich sehe die Semiten […] sich das Kulturwerk fremder Völker in der Weise assimilieren, daß sie es in etwas anderes umwandeln, was […] für uns aber schlimme Folgen mit sich führt, sobald wir dem stärkeren, oder wenigstens aufdringlicheren Willen unterliegen, unser Eigenes entstellen lassen und an der fremden Form doch kein Genüge finden können.
Der Semit vergifte, entfremde, verderbe, kehre den Segen zum Fluch (AW 39), sei zersetzend (Gl 401) und verbrecherisch (Gl 533), er mache die heutigen _____________ 64
Gl. 164: "Die geistige Unfruchtbarkeit dieses Volkes war geradezu entsetzenerregend."
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Menschen zu Knechten fremder Ideale (AW 25), weswegen der Kern unseres Wesens so stark getrübt [werde], daß unsere gesamte wissenschaftliche und philosophische Weltanschauung, selbst in den freiesten Geistern, fast nie zu vollkommener Lauterkeit, Wahrhaftigkeit und Schöpferkraft ausreift (ebd.). Vergleichbares besagen die Substantive, mit denen auf die Juden Bezug genommen wird und mit denen sie gekennzeichnet werden: Rosstäuscher (Gl 512), Egoisten und Bibelfälscher (Gl 533); der Semit erscheint als Zinswucherer (Gl 200; vgl. auch Gl 510 mit direktem Gegenwartsbezug auf das Bankhaus Rothschild), ihm fehle der moralische Untergrund (Gl 199), und er sei ein Charakter mit gestörtem Gleichgewicht. Außerdem sei er gekennzeichnet durch das Maßlose und immer wieder durch das Gewaltsame (Gl 459), und er sei zäh (Gl 163) und willensstark. Gerade der Wille wird von Chamberlain dazu genutzt, das Jüdische zu dämonisieren und pathologisieren. Denn dieser habe beim Semiten eine Ausbildung ins Ungeheuerliche erfahren (Gl 459). Der Wille steht ganz deutlich für die oben schon eingeführte Lebenskraft, das Durchsetzungsvermögen der Rasse gegenüber anderen, eben seine kulturelle, aber auch psychologisch prägende Dominanz. Insgesamt wird das Semitische für alles verantwortlich gemacht, für ein zerrissenes Seelenleben,65 sogar dafür, dass moralisch integre Menschen zu Bestien werden: Gl 163: teils haben die Eingeborenen durch den Kontakt mit den semitischen Herrschern eine merkwürdige moralische Umwandlung durchgemacht: sie sind Menschenfresser geworden und damit zugleich aus großen dummen Kindern zu wilden Bestien.
Kurzum, es gibt in Chamberlains Ausführungen keinen moralisch "minderwertigeren" Menschen als den "Juden". Er wird dehumanisiert, pathologisiert, zur Personifikation des Bösen, zum Verursacher allen Unheils, eben zum Gegenbild des idealen arischen Retters gemacht. Das Feindbild ist so konstruiert, dass es keinerlei Zweifel an der Gefährlichkeit zulässt. Das ist umso wichtiger, als sich an diesem Gegner die eigene Identität zu bilden hat. Nur ein ernstzunehmender Feind kann ehrenhaft das Gegenüber eines Helden darstellen. Es darf kein Feind sein, der lächerlich gemacht werden könnte, weil man ihn als leicht besiegbar beschreibt. Doch das Bild des vermeintlichen arischen Opfers, – der Arier wurde ja immer als starke Persönlichkeit, als Genie oder Held beschrieben –, muss in diesen Zusammenhängen stark angepasst werden. Als konstitutiver Teil der Drohkulisse wird der Indoeuropäer bzw. der Arier als naiv66 bezeichnet, _____________ 65 66
An Kaiser Wilhelm 1902; Br II, 149f. Gl 510: "mit der Naivetät des wenig gewitzigten Indoeuropäers gestattete er die Rückkehr der Juden und gewährte ihnen Unterstützung für den Wiederaufbau des Tempels; unter dem Schutz arischer Toleranz wurde der Herd aufgerichtet, aus dem semitische Intoleranz jahrtausendelang, allem Edelsten zum Fluche, dem Christentum zu ewiger Schmach, sich wie ein Gift über die Erde ergiessen sollte".
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als jemand, der dem böswilligen Raffinement des willensstarken Juden nichts entgegenzusetzen hat (Gl 470; vgl. auch Gl 510), gar zum freiwilligen Sklaven der Juden herabsinken kann, die Fronkette schleppt (Gl 383) bzw. zum verkrüppelte[n] Judenknecht (Gl 20) wird, der hinter Jahve's Bundeslade her[hinkt]! Die bei der Feindbildkonstruktion gebrauchte gegnerische Stärke darf aber wiederum nicht übertrieben werden, so dass die eigene Position hoffnungslos erscheint oder gar ein echter Widerspruch zum Bild des glorifizierten Ariers entsteht. Chamberlain geht dieser Möglichkeit mit einem einfachen Argument aus dem Wege: Die Juden konnten nur so weit kommen, weil wir selber die verbrecherischen Helfershelfer der Juden seien (Gl 403). Gl 20: In Wahrheit liegt die "jüdische Gefahr" viel tiefer; der Jude trägt keine Verantwortung für sie; wir haben sie selbst erzeugt und müssen sie selbst überwinden. […] Den in unserem eigenen Herzen sprudelnden Quell haben wir verstopft und uns abhängig gemacht von dem spärlichen, brackigen Wasser, das die Wüstenbeduinen aus ihren Brunnen ziehen. Keine Menschen der Welt sind so bettelarm an echter Religion, wie die Semiten und ihre Halbbrüder, die Juden; und wir, die wir auserkoren waren, die tiefste und erhabenste religiöse Weltanschauung als Licht und Leben und atemgebende Luft unserer gesamten Kultur zu entwickeln, wir haben uns mit eigenen Händen die Lebensader unterbunden […].
Der inhärente Appell ist nicht zu überlesen: Es ist ein Aufruf zur vollständigen Befreiung vom 'jüdischen Joch'. Zum Beweis seiner antisemitischen Ausführungen nutzt Chamberlain bestimmte Legitimationsstrategien, so greift er zum einen häufig auf intertextuelle Verweise wie Pseudo-Zitate aus bekannten Legitimationsschriften, wie z. B. auf die Bibel oder den Talmud, zurück, zweitens referiert er aus dem Zusammenhang gerissene Äußerungen bestimmter Persönlichkeiten, und drittens vollzieht er geschichtsklitternde Bezugnahmen auf vermeintliche historische Ereignisse. Chamberlain verweist zum Beispiel auf Herder, für den die Juden das ewig Fremde verkörpert hätten (Gl 20; 382), und lässt seine Stigmatisierung noch durch viele andere Legitimationsgrößen bestätigen. Von Tiberius über Friedrich von Hohenstaufen, Friedrich von Preußen, Herder, Goethe bis Bismarck präsentiert er seinen Lesern eine beachtliche Reihe antijüdischer Zitate (Gl 398). Die unterstellte Einmütigkeit in der antijüdischen Einstellung nennt er dann auch noch überhöhend consensus ingeniorum (ebd.). Nicht zum erlauchten Kreis der Genialen gehören erwartungsgemäß diejenigen, die sich positiv über Juden geäußert haben. Bezeichnenderweise nennt Chamberlain in diesem Zusammenhang nur Franzosen der Revolutionszeit wie Mirabeau, Talleyrand oder Napoleon (Gl 401). Der zuletzt Genannte habe seine Zustimmung zum Judentum allerdings aus rein pekuniären Interessen erteilt. Eine zweite Strategie besteht darin, die Juden für negative kultur- und politikgeschichtliche Ereignisse verantwortlich zu machen. Seine Art der Ereignisgeschichte wird in dieser Weise allerdings kaum in den Ge-
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schichtsbüchern zu finden sein. Eine von Chamberlain vorgenommene Vogelschau (Gl 394), bezeichnenderweise von der Höhe unserer Überlegenheit aus (Gl 392), liest sich wie ein Sündenregister jüdischer Straftaten durch die Geschichte. Die den Juden zugeschriebenen geschichtsklitternden Prädikationen lauten (Gl 394ff.): Sie hätten sich als Sklavenhändler und Geldvermittler Einfluss und Macht verschafft, hätten auf der Insel Cypern beschlossen, einen Nationalstaat zu gründen, und befolgten Gl 394: zu diesem Zweck das aus dem Alten Testament bekannte Verfahren: sie erschlagen an einem Tage die sämtlichen übrigen Bewohner, 240 000 an der Zahl; und damit dieser Inselstaat nicht ohne einen sichern Rückhalt auf dem Festland bleibe, erschlagen sie zugleich die 220 000 nicht-jüdischen Bewohner der Stadt Cyrene.
In Spanien hätten sie die Regierung desjenigen Westgotenkönigs, der sie mit Wohlthaten überhäuft hatte, verraten, indem sie die stammverwandten Araber aus Afrika herüber riefen: ohne Hass, nur weil sie dabei zu profitieren hoffen, verraten sie ihren edlen Beschützer. Sie seien "schuld am geistig[e] und materiell[en] Untergang des blühende[n] maurische[n] Staat[es]". Durch Wucher war ihnen fast ganz Aragonien verpfändet. Es begegnen noch weitere Verkehrungen der geschichtlichen Wirklichkeit: Gl 395: ihre Macht hatten sie benutzt, um sich allerhand Privilegien zu erwirken, so z. B. genügte der Eid eines einzigen Juden, um Schuldforderungen gegen Christen zu beweisen […], während das Zeugnis eines Christen vor Gericht gegen einen Juden nichts galt, und anderes dergleichen; diese Privilegien missbrauchten sie in so massloser Weise, dass endlich das Volk sich erhob.
Von der Argumentationsform her wiederum anders, aber inhaltlich ähnlich gelagert, sind falsche Zitationen, Allusionen, Umdichtungen und außerhalb ihres Kontextes missverständliche Interpretationen jüdischer Schriften, zu denen nicht zuletzt auch das Alte Testament gehört. In solchen Texten sei Christus als Narr, als Zauberer, Gottloser, Götzendiener, Hund, Bastard, Kind der Wollust, Hurensohn beschimpft worden (Gl 391). Ganz im Sinne einer Hetzkampagne, bei der man die Parteien dadurch anheizt, dass man sich gegenseitiger Beleidigungen bezichtigt, werden neben den vermeintlich historischen Verbrechen auch angebliche jüdische Blasphemien aufgelistet. Chamberlain funktionalisiert dabei, dass es, wohl aus mangelndem Interesse der Christen, kaum Übersetzungen jüdischer Schriften gab. Dieses Fehlen lastet er den Juden an. Er behauptet, der Mangel sei beabsichtigt und eine bewusste Verschleierungshandlung. Gl 527, Anm. 3: dass es neben den schönen moralischen Sprüchen gar hässliche, verabscheuungswürdige giebt; so z. B., dass ein Jude mit einer Nichtjüdin das sechste Gebot nicht übertreten kann: "denn ein Eheweib giebt es für die Heiden nicht, sie sind nicht wirklich ihre Weiber" (Traktat Sanhedrin…. Ich gebe absichtlich nur ein einziges Beispiel, damit der Leser den Ton sehe, das genügt: ab uno disce omnes. Zwar giebt es Rabbiner, die diese empörende Lehre bestreiten (da-
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selbst); doch wo die Rabbiner sich widersprechen, darf der Jude frei wählen, und keine Kasuistik kann die Thatsache aus der Welt schaffen, dass die grundsätzliche Verachtung der Nichtjuden zu den Grundlagen des jüdischen Glaubens gehört; sie folgt logisch aus der wahnsinnigen Überschätzung des eigenen Selbst; "ihr seid Götter!" lassen sich ja die Juden von Jahve zurufen (Psalmen LXXXII, 6). Auch andere Deutungen der zehn Gebote zeigen, wie der Begriff von Sittlichkeit nur hauttief in diese semitischen Hethiter eingedrungen war; so lehren die Rabbiner […]: "die Worte des achten Gebotes, "du sollst nicht stehlen", beziehen sich nach der Schrift nur auf Menschendiebstahl"! – und da eine andere von moralischer empfindenden Schriftgelehrten ins Feld geführte Belegstelle, "du sollst nicht stehlen‘, aus Leviticus XIX, 11, sich ausdrücklich auf die Israeliten "Einer mit dem Andern" bezieht, so löst sich hier wieder das einfache sittliche Gebot in einen Ocean der Kasuistik auf; zwar lehrt der Talmud nicht (…): du DARFST den Nichtjuden bestehlen, er lehrt aber nirgends das Gegenteil. – Entsetzlich sind auch im Talmud die vielen Vorschriften über Verfolgung und Ausrottung der unorthodoxen Juden: wie die Einzelnen gesteinigt und die Menge mit dem Schwerte hingerichtet werden sollen, und noch entsetzlicher die Beschreibungen der Folterungen und Hinrichtungen, über welche sich dieses ebenso grauenhafte wie geistlose Werk mit Wohlgefallen auslässt.
Folgen wir einen kurzen Abschnitt lang der Argumentation Chamberlains. Steinbruchartig zieht er hier vereinzelte Stellen aus jüdischen Schriften, entkleidet sie ihres Kontextes und nutzt sie als Exempla, die ab uno disce omnes allgemeingültige Geltung haben sollen. Seine Hauptquelle ist die Bibel, die seine Leser in der Regel in den entscheidenden Stücken auswendig können. Offen bleibt die prinzipielle Einordnung des Alten Testaments als Grundschrift einerseits der jüdischen Religion als auch andererseits der christlichen Nachfolger. Der Grundton der Beschreibung jedenfalls ist leicht abwertend und suggeriert zumindest beim Zitat des Psalmisten, dass Psalm LXXXII nicht von Gott gestiftet, sondern von den Juden zu eigennützigen Zwecken selbst verfasst sei. Es sei nur kurz darauf hingewiesen, dass sich das Zitierte zwar auf das Volk Israel bezieht, dies wird im Psalm aber keineswegs als das ausgewählte, sondern als das vom rechten Weg abgekommene Volk gesehen, und zwar so, dass die Aussage Ihr seid Götter auf den Menschen schlechthin bezogen werden kann. Die umrahmende Wendung, das sich von Jahve etwas zurufen lassen, offenbart entweder den jüdischen Autor des Psalms und dessen eigennützigen Interessen oder aber sie verschiebt die Machtkonstellationen von einem starken Gott, dem man nichts befehlen kann, hin zu einem den neuen jüdischen Göttern untergeordneten Befehlsempfänger. In beiden Fällen ist die Glaubwürdigkeit der Textstelle fragwürdig und weil eines für alles steht, auch das gesamte Alte Testament. Dieses Prinzip des Fragwürdigmachens jüdischer Äußerungen verfolgt Chamberlain die gesamte Belegstelle hindurch, so in der Formulierung lehren die Rabbiner, ins Feld geführte
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Belegstelle oder Ocean von Kasuistik.67 Am überzeugendsten wird ihm dies aber am Beispiel der 10 Gebote gelungen sein. Denn dass sich das Verbot des Stehlens allein auf Menschendiebstahl bezieht, steht bekanntlich nicht im christlichen Dekalog (Exodus 20, 15; Deut. 5, 19), so dass dieser Zusatz als falsches jüdisches Beiwerk entlarvt wird. Dazu passt, dass der nachfolgende Hinweis auf die Schrift nicht spezifiziert ist, so dass die Bibel sowohl wie andere jüdische Schriften gemeint sein kann. Auch die inhaltlich kaum nachvollziehbare Anführung von Leviticus ist gleich mehrfach verfälschend: Einer mit dem Anderen ist nicht zu lesen als "Einer (gleichsam komplizenhaft) zusammen mit dem Anderen", wie Chamberlain es offensichtlich tut, sondern als "Einer gegenüber, im sozialen Verhältnis zu Anderen"; Im übrigen bezieht sich der Passus gar nicht auf das Stehlen, sondern auf fälschliches Handeln des einen Menschen gegenüber dem anderen, was sich durch den Gesamtzusammenhang des Textes, als Appell eines Weinbergbesitzers gegenüber den Armen und Fremdlingen, konkret als Aufruf an das soziale Gewissen erweist. Von einem "Ocean der Kasuistik" kann also nicht die Rede sein; Chamberlain braucht Kasuistik übrigens als Anspielung auf das nach seiner Auffassung unschöpferische, gestaltungsfremde verbale Handeln archivalisch detailbesessener, zukunftsloser Philologen, Historiker, Theologen und Parlamentarier. Die Argumentationskette von "Du (Jude) sollst nicht stehlen" über "Das Gebot gilt nur für Juden gegenüber Juden" zu dem Schluss "Über das Bestehlen von Nichtjuden wird nichts gesagt" und schließlich zur Unterstellung "Wenn nichts gesagt wird, dann ist nicht ausgeschlossen, dass Du es darfst". Diese unausgesprochene Rechtfertigung des Diebstahls an Nichtjuden ist jedoch selbst ein geradezu prototypischer Akt von Kasuistik. Er gewinnt seine zeitgenössische Relevanz im Zerrbild des jüdischen Bankiers. Die unterstellte grundsätzliche Verachtung der Nichtjuden, die an Wahnsinn grenzende Überschätzung des eigenen Selbst als göttlich, die nur hauttiefe Sittlichkeit, dann die Vorschriften zur Verfolgung und Ausrottung der unorthodoxen Juden, der Hinweis auf besondere Modalitäten der Folterung und von Hinrichtungen, all dies dient einem doppelten Zweck, zum einen natürlich der Stigmatisierung und Kriminalisierung der Juden, zum anderen schafft es ein Klima, das irgendwann jemanden finden wird, der es in politische Handlung hinein verlängert. Damit ist der Bezug zum Nationalsozialisten Adolf Hitler gegeben.
_____________ 67
Vgl. dazu auch Dilettantismus 64: "Dass wir aber jetzt im Stande sind […], das Alte Testament richtig zu verstehen, es rein menschlich und nicht mehr bloss als künstlichhierarchische Geschichtskonstruktion zu Ehren des Jahvevölkchens."
208 Das Wortfeld 'Mensch'
8. 5. Die Religionsfrage Der neben Rasse und kollektiver Persönlichkeit dritte wichtige Bereich zur Erklärung des Chamberlain'schen Judenbildes ist die Religion. Wie zu Beginn des Kapitels angedeutet, ist diese nicht von der Rasse zu trennen. Für Chamberlain bildet sie die zweite argumentative Angriffsfläche gegen das Judentum, vor allem da er selbst seine Religion zu reformieren bzw. neu zu begründen hofft. An dieser Stelle ist es nötig, prinzipiell zwischen dem religiösen Antijudaismus und dem Rassenantisemitismus zu unterscheiden. Es handelt sich um zwei zeitlich voneinander abgrenzbare Phasen der Judenfeindschaft. Während der biologische, rassistisch begründete Antisemitismus erst ein Produkt des 19. Jahrhunderts ist, währt der vor allem religiös motivierte Antijudaismus seit Beginn des Christentums, auch wenn er mit zunehmender Säkularisation an Schlagkraft verloren hatte. Man darf bei dieser Differenzierung nicht außer Acht lassen, dass die "modernen Antisemiten" keineswegs aufhörten, auf alte, religiöse, antijudaistische Stereotype zurückzugreifen. Zwei davon werden hier im Zentrum der Diskussion stehen, zum einen der Vorwurf des Gottesmordes und zum anderen der Topos vom auserwählten Volk. Etwas moderner ist dagegen ein weiteres Stereotyp, nämlich dasjenige des jüdischen Materialismus. Das Wort Materialismus kulminiert bei Chamberlain explizit in der Aussage, die Juden seien unfähig zur wahren Religion. Schon die frühchristlichen antijudaistischen Ausgrenzungen werden damit begründet, dass die Juden Christus ans Kreuz geschlagen haben (Gl 304/5). Auf diese Weise wird aus der Tat eines Einzelnen bzw. Weniger, aus einem Einzelereignis eine die Zeiten überdauernde Kollektivschuld hergeleitet. Auch Chamberlain greift diesen Vorwurf auf. Gl 405: Der Jude dagegen war ein gefeites Wesen; mochte er auch hin und wieder auf den Scheiterhaufen geschleppt werden, die blosse Thatsache, dass er Jesum Christum gekreuzigt hatte, umgab ihn mit einem feierlichen, Furcht erregenden Nimbus.
Der herkömmliche Judenhass, der auf religiösen, sozialen und wirtschaftlichen Stereotypen beruhte, wird durch den modernen rassenbezogenen Antisemitismus nicht ersetzt, sondern geradezu radikalisiert. Der Rückgriff auf religiöse Topoi diente nicht nur der religiösen Legitimation der Diskriminierung, was kein unerheblicher Faktor ist, sondern auch der Konstruktion der eigenen pseudoreligiösen Weltanschauung. Erstaunlich parallel zum frühen Christentum, das sich bei seiner Identitätsfindung und biblischen Verortung als wahres Israel verstand und sich vom älteren jüdischen Bruder, der die Erlösungslehre des Messias ablehnte, mit allen Mitteln abzugrenzen versuchte, war Chamberlain daran interessiert, seine eigene Weltanschauung als Gegenbewegung zur entarteten Religion (Gl 458)
209 Der Semit und die "Judenfrage"
zu installieren. Und tatsächlich schreibt er, dass der "Kernpunkt" bei der Erörterung, wer ist der Jude?, in der Frage nach der Religion liege (Gl 20). Zwei Motive müssen also im Auge behalten werden. Zum einen will er die Aufrechterhaltung des Christentums als Basis seiner eigenen germanischen Religion. Dabei muss er aber, um die von ihm präsupponierte Reformbedürftigkeit zu begründen, die letzten 2000 Jahre Kirchengeschichte als Entartungsprodukt der jüdischen Infiltrierung (Gl 382) bzw. des darin enthaltenen und fortgeführten jüdischen Erbes diffamieren. Zum anderen muss er konsequent seinen eigenen Prämissen nachfolgen. Da sich Rasse und Religion in seiner Logik gegenseitig bedingen, kann das Alte Testament nicht mehr als Vorläufer des Christentums gelten. Wie soll er es aber trennen, wenn das Eine auf dem Anderen aufbaut? Was zur Ethnogenese bzw. Reinheit der Rassen in Chamberlains Argumentation beschrieben wurde, wiederholt sich. Die jüdische Religion bildet zuerst das Projektionsmuster für die arische Weltanschauung, wird dann als Täuschung diffamiert, um schließlich in einem dritten Schritt als Negativmatrix dazu zu dienen, die eigene Position aufzubauen und iterativ zu stärken. Abgesehen von der tretmühlenartig begegnenden Verunglimpfung der Juden als Christusmörder stehen zwei Ausgrenzungstopoi immer wieder im Vordergrund: zum einen der Topos vom auserwählten Volk und zum anderen der Topos von einer materialistischen äußerlichen Religiosität. In ihnen werden nicht nur stereotyp negative traditionelle Sichtweisen auf das Judentum subsumiert, sondern sie bilden gleichzeitig die Matrix für die eigenen Wunsch- und Idealvorstellungen Chamberlains. Analog bzw. spiegelverkehrt zum jüdischen Vorbild bzw. zu dem, was er als jüdisches Vorbild entwirft, konstruiert er sein Ideal von der neu zu schaffenden germanischen Gemeinschaft und ihrer Religion. Der Topos vom auserwählten Volk Israel war einer der wichtigsten Parameter, auf die Chamberlain nahezu formelhaft zur Konstruktion der eigenen weltanschaulichen Utopie zurückgreift. Auserwähltheit bedeutet einmal die explizite Sonderstellung eines Volkes in der Welt, sie bedeutet damit außerdem Abgrenzung von anderen Völkern mit gleichzeitiger Höherbewertung, und sie impliziert zum dritten eine besondere göttliche Legitimation. Alle diese Komponenten sind traditionell im Alten Testament auf das Volk Israels bezogen und werden nun von Chamberlain für seine Arier beansprucht. Es liegt in der Semantik dieser Vorstellung, dass es nur ein einziges auserwähltes Volk geben kann, so dass die traditionelle alttestamentarische Bezugsgröße zuerst einmal argumentativ zerstört werden muss. Chamberlain verfolgt dieses Ziel in drei Schritten, zum einen desavouiert er Jahve als den Gott der Juden und nicht der Welt, womit er diesen nicht nur vom christlichen Gott ablöst, sondern ihn insgesamt vom
210 Das Wortfeld 'Mensch'
Weltenthron stürzt und zum Mitverschwörer einer mörderischen Verbrecherbande macht: Gl 478: denn heute noch, wie vor 3000 Jahren, ist Jahve nicht der Gott des kosmischen Weltalls, sondern der Gott der Juden; er hat nur die übrigen Götter umgebracht, vertilgt, wie er auch die übrigen Völker noch vertilgen wird, mit Ausnahme derer, die den Juden als Sklaven dienen sollen.
Zum anderen erklärt er auch die Aussage von der Auserwähltheit der Juden, ähnlich wie die der Rassenreinheit, für eine Lüge und unterstellt den Juden, übrigens nicht nur in diesem Zusammenhang, dass sie die Bibel zu diesem Zwecke verfälscht hätten (vgl. auch Gl 538). Gl 533: Alle jene Stellen, wie z. B. […] "wer wird übrig sein zu Sion, der wird heilig heissen", Kap. LXII, 12: "man wird sie nennen das heilige Volk", u. s. w. sind nachgewiesenermassen spätere Interpolationen, d. h. das Werk der vorhin genannten grossen Synagoge; die Sprache eines viel späteren; das Hebräische nicht mehr frei beherrschenden Jahrhunderts hat die frommen Fälscher verraten.
Und zum dritten pathologisiert er die Idee vom auserwählten Volk als fixe Idee mit tödlichen Folgen. Die im nachfolgenden Beleg genutzte Pflanzenmetaphorik erinnert an bodendeckendes Unkraut, das alles unter ihm Wachsende erstickt. Und tatsächlich wird das Tödliche und Todbringende von Chamberlain zum wichtigen Bestandteil der jüdischen Religion stilisiert, wobei er zum einen die christliche Missionsgeschichte der letzten zwei Jahrtausende auf die Juden des alten Testaments rückprojiziert und sie zum anderen zum blutrünstigen Volk stigmatisiert, das es sich selbst zuzuschreiben habe, wenn es überall in der Welt als Verbrechervolk verschrien sei. Gl 505: Der Glaube an die Vorsehung Jahve‘s, die Meinung, dass alles Wohlergehen von dem passiven Gehorsam gegen seine Gebote abhänge, dass jedes nationale Unglück als Prüfung oder Strafe eintrete, die unerschütterliche Überzeugung, dass Juda das auserwählte Volk Gottes sei, wogegen die anderen Völker tief unter ihm stünden, kurz, der ganze Komplex von Vorstellungen, der die Seele des Judentums ausmachen sollte, entstand jetzt, entwickelte sich ziemlich rasch aus Keimen, die unter normalen Verhältnissen niemals solche Blüten hervorgebracht hätten, schenkte grosse Widerstandskraft, erstickte dafür viel Vernünftiges, Gesundes, Natürliches, wurde zu einer idea fixa. […] Hier taucht z. B. zum ersten Mal, schüchtern und verklauselt, das Gebot auf, man solle Gott den Herrn LIEBEN; zugleich brachte dieses Buch die fanatisch-dogmatische Versicherung, dass die Juden allein Gottes Volk seien, und damit in Verbindung tritt das Verbot von Mischehen zum ersten Mal auf, sowie auch das Gebot, alle "Heiden" dort, wo Juden wohnen, "auszurotten", und jeden Juden, Mann oder Weib, der nicht rechtgläubig sei, zu steinigen (XVII, 5); zwei Zeugen sollten genügen, um das Todesurteil zu sprechen: die Welt war um den Begriff der RELIGIÖSEN INTOLERANZ reicher.
Es werden außerdem auch bestimmte negative Auswüchse der christlichen Religionsgeschichte auf das Judentum projiziert: religiöse Intoleranz,
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Fanatismus und Dogmatismus. Den Mythos von der jüdischen Mordlust,68 wie er später im nationalsozialistischen Stürmer als Verlängerung der mittelalterlichen Ritualmordlegenden weitertradiert wurde,69 erklärt Chamberlain zum jüdischen Gebot und legitimiert dies mit einer vermeintlichen Selbstaussage. Aus der positiv bewerteten Auserwähltheit als Volk Gottes wird in dieser Verkehrung eine Auserwähltheit zum Bösen. Das schon mit der Reinheit angedeutete jüdische Verbot von Mischehen und die Behauptung, die Juden verlangten unter rein religiösem Aspekt auch die Aussonderung und Ausrottung von Andersdenkenden, dienen der Begründung einer von Chamberlain geforderten Segregation der Juden aus der gemeinsamen Gesellschaft. Der Topos vom auserwählten Volk wirkt sowohl inkludierend als auch exkludierend. Gemeinschaftsbildend ist er für beide Gruppierungen in zweifacher Hinsicht. Für die Juden ist er zuerst einmal Marker für die Zugehörigkeit zum Judentum und sodann Abgrenzung gegenüber Nichtjuden. Für die Zuletztgenannten ist es Nichtzugehörigkeit und damit Nichtlegitimation. Sie definieren sich durch ihr Ausgeschlossensein vom auserwählten Volk, aber auch als die zusammengehörige Gruppe, die dieses Volk selbst wieder ausschließt. Erst die Verkehrung der Auserwähltheit zum Bösen macht aus der ehemaligen Inklusion der Gotterwähltheit eine Exklusion und umgekehrt. Der Topos vom "auserwählten Volk" hat vor allem aber eine gemeinschaftsbildende Funktion, weil er wichtiger Bestandteil der jüdischen Erinnerungskultur ist. "Erinnerungskultur", so Assmann,70 hat mit "Gedächtnis, das Gemeinschaft stiftet", zu tun. Gerade aus diesem Grund ist das jüdische Volk, das aufgrund seiner Situation eine Gedächtnisgemeinschaft mit besonderer Gedächtniskultur war, für Max Weber auch der "Prototyp der Nation". Weber verallgemeinert dies mit der Aussage:71 "Hinter allen 'ethnischen' Gegensätzen steht ganz naturgemäß irgendwie der Gedanke des 'auserwählten Volks'." Verbindet man diese Vorstellungen miteinander, kommt man schnell zur Konstruktion eines Staates im Staate. Hier schließt sich der argumentative Kreis, da so das anvisierte Ziel der staatlichen Einheit durch die eigene Auserwähltheit konstituiert, durch die der anderen aber als bedroht inszeniert werden kann. Ein auserwähltes Volk der Juden kann für Chamberlain und seine Gesinnungsgenossen nicht anders gedacht werden als ein eigenes politisches Gebilde, das als Feind im Inneren den nationalen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts ent_____________ 68 69 70 71
Benz 2004, 73. Der Stürmer. I. Ritualmord-Sondernummer. Mai 1934; II. Ritualmord-Sondernummer. Mai 1939. Jan Assmann 1997, 30. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 1947, 221.
212 Das Wortfeld 'Mensch'
gegensteht. Diese Perspektive hatte nicht nur Lagarde (I, 30; I, 422) eingenommen, auch beim preußischen Hofprediger Stöcker ist sie virulent.72 Nationalität bei gleichzeitiger Internationalität dient Chamberlain als einigende Projektionsfläche für die national unterschiedlichen germanischen Völker. Was er an den Juden bewundert, ist der ihnen unterstellte Zusammenhalt über Jahrtausende und Ländergrenzen hinweg. Basis dieser Gemeinschaftsbildung seien die Reinheitsgesetze, vor allem das Festhalten an der Ideologie der Auserwähltheit. Die Aussagen des nun folgenden Beleges brauchen nur einmal gegen den Strich gelesen zu werden, indem man jüdisch durch arisch oder germanisch ersetzt und man erkennt die 'neue' germanische Utopie. Das einigende Band aller Arier soll in Zukunft die Macht des Blutes und die arische Idee innerhalb eines festen, einheitlichen, durchaus politischen Gebildes sein. Bezogen auf die Juden ist der folgende Beleg ein weiteres Beispiel einer Drohkulisse. GL 386: Andere wiederum reden von RELIGION. es handle sich, so sagen sie, lediglich um religiöse Differenzen. Wer das sagt, übersieht, dass es gar keine jüdische Religion gäbe, wenn keine jüdische Nation existierte. Die existiert aber. Die jüdische Nomokratie (d. h. Herrschaft des Gesetzes) vereinigt die Juden, zerstreut wie sie auch sein mögen durch alle Länder der Welt, zu einem festen, einheitlichen, durchaus politischen Gebilde, in welchem die Gemeinsamkeit des Blutes die Gemeinsamkeit der Vergangenheit bezeugt und die Gemeinsamkeit der Zukunft verbürgt. Wenn auch manche Elemente nicht im engeren Sinne des Wortes reinjüdisch sind, so ist doch die Macht dieses Blutes, verbunden mit der unvergleichlichen Macht der jüdischen Idee, so gross, dass diese fremden Bestandteile schon längst assimiliert wurden; […]. Freilich muss man […] zwischen Juden edler und Juden minder edler Abstammung unterscheiden; was aber die disparaten Teile aneinander kettet, ist (ausser der allmählichen Verschmelzung) die zähe Existenz ihres nationalen Gedankens. Dieser Nationalgedanke gipfelt in der unerschütterlichen Hoffnung auf die von Jahve verheissene Weltherrschaft der Juden.
Der auf der Auserwähltheit, der gemeinsamen Idee und der rassischen Verbindbarkeit basierende Nationenbegriff diene vor allem dem Weltherrschaftsanspruch. Auch dieser Vorwurf muss als Projektion gelesen werden. Sowohl die Idee der nationalen Einigung der Arier als auch deren Anspruch auf Weltherrschaft gehören zu den Leitmotiven Chamberlainschen Denkens. Der Weltherrschaftsanspruch der Arier ist die positivierte Umdeutung biblischer Vorstellungen der jüdischen Auserwähltheit (vgl. auch Gl 680). So zitiert Chamberlain ganz gezielt Bibelstellen wie die folgende (Gl 533): Dein Volk wird das Erdreich ewiglich besitzen (Jesaia LX, 21) und leitet daraus ab, dass die Juden ein verbrecherisches Attentat auf alle Völker der Erde (Gl 522) vorhätten. In einigen Belegen bricht augenscheinlich Neid durch, den Chamberlain gehegt haben mag, wenn er sich diese Projektion vorgestellt hat. Seine _____________ 72
Vgl. dazu Benz 2004, 95.
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eigentümliche Vorstellung von der jüdischen Nation, von der zähe[n] Existenz ihres nationalen Gedankens (Gl 386), der strenge[n] Einheitlichkeit des Nationalempfindens, (Gl 389) von ihrem nationalen Durchhalten über die Zeiten hindurch, ist eine weitere Verkehrung historischer Tatsachen. Nicht weil die Juden eine sich bewusst abgrenzende Nation bildeten, lebten sie isoliert, wie sollten sie das auch in der von ihm so oft beschriebenen Diaspora tun, sondern weil sie von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen worden sind. Die Gettoisierung der Juden war kein selbst gewähltes Schicksal, wie Chamberlain behauptet, sondern das Ergebnis der ausgrenzenden Eingrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft. "Schon das Laterankonzil von 1215 hatte die Segregation von Juden und Christen beschlossen. Die Juden sollten durch eine eigene Tracht erkennbar sein (gelber Fleck, Judenhut) und von den Christen abgesondert leben."73 Chamberlain dreht dies einfach um. Damit relativiert er das notwendige Unrechtsbewusstsein der Mehrheitsbevölkerung, indem er von selbstgewollter Isolation schreibt. Es ist die typische Verschiebung der TäterOpferrolle, wie sie im Zusammenhang mit der unterstellten aggressiven Grundhaltung der Juden schon angedeutet wurde. GL 389: Der Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte bedeutet also ohne Frage den Eintritt eines bestimmten, von allen europäischen Völkern durchaus verschiedenen, ihnen gewissermassen gegensätzlichen Elements, eines Elements, welches, während die Nationen Europas die verschiedensten Phasen durchmachten, sich wesentlich gleichblieb; welches im Verlaufe einer oft harten und grausamen Geschichte niemals die Schwäche hatte, auf Verbrüderungsvorschläge einzugehen, sondern im Besitze seiner nationalen Idee, seiner nationalen Vergangenheit, seiner nationalen Zukunft, die Berührung mit anderen Menschen wie eine Verunreinigung empfand und noch heute empfindet; welches, Dank der Sicherheit des Instinktes, die aus strenger Einheitlichkeit des Nationalempfindens entspringt, es stets vermochte, auf Andere tiefgreifenden Einfluss auszuüben, wogegen die Juden selber von unserer geistigen und kulturellen Entwickelung nur hauttief berührt wurden.
Das Zitat mündet ein in die Behauptung, die Juden fühlten sich als die einzig wahren Menschen. Ebd.: Um diese höchst eigentümliche Situation vom Standpunkt des Europäers aus zu kennzeichnen, müssen wir mit Herder wiederholen: das Volk der Juden ist und bleibt ein unserem Weltteil FREMDES Volk; vom Standpunkt des Juden aus erhält die selbe Erkenntnis eine etwas abweichende Formulierung; wir wissen aus einem früheren Kapitel, wie der grosse freisinnige Philosoph Philo sie fasste: "einzig die Israeliten sind Menschen im wahren Sinne des Wortes.
Auch dies ist eine Aussage, die Chamberlain eigentlich über die Arier macht. Die Perfidie der Projektion besteht im darauf folgenden Nachsatz, _____________ 73
Benz 2004, 75; vgl. dazu auch Lobenstein-Reichmann, Stigma-Semiotik der Diskriminierung [erscheint 2009].
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in dem er den Tätermythos weitertreibt und den Juden sogar den eigenen Rassenhochmut unterstellt. Ebd.: Was der Jude hier im intoleranten Ton des Rassenhochmuts vorbringt, genau das selbe hat unser grosser Goethe in liebenswürdigerer Weise ausgesprochen, indem er eine Gemeinsamkeit der Abstammung zwischen den Juden und den Indoeuropäern, und legte man sie noch so weit zurück, in Abrede stellt: "Dem auserwählten Volke wollen wir die Ehre seiner Abstammung von Adam keineswegs streitig machen. Wir andere aber hatten gewiss auch andere Urväter."
Die gegenbildliche Abduktion zwischen Arier und Jude geht aber noch weiter. In einer Anmerkung unterstellt er den Juden, was er positiv selbst den Ariern zuschreibt, nämlich (Gl 527 das ganze Zitat s. o.) die wahnsinnige Überschätzung des eigenen Selbst als Götter. Auserwähltheit bedeutet dann eben auch Gottebenbildlichkeit, eine Attribution, die er prinzipiell aber nur den Anhängern seiner neuen wahren Religion zugestehen möchte und damit den Juden verweigert. Den eigentlichen Höhepunkt der religionsspezifischen Diskriminierung bildet jedoch die Behauptung, die jüdische Religion sei gar keine Religion und die Juden seien nicht religiös; im Gegenteil, sie würden die Religion nur dazu nutzen, alle Nichtjuden zu unterdrücken, ein Gedanke, den Theodor Fritsch in seinem 1887 veröffentlichten Catechismus für Antisemiten unter die Leute brachte: "Die Juden bilden unter dem Deckmantel der "Religion" in Wahrheit eine politische, sociale und geschäftliche Genossenschaft, die, im heimlichen Einverständnis unter sich, auf die Ausbeutung und Unterjochung der nichtjüdischen Völker hinarbeitet…"74. Genau so sieht es auch Chamberlain. Allerdings betont er den Zusammenhang zwischen Religion und Rasse. Seine Prämisse lautet: Religiosität ist wie Kultur eine Frage der Rassenzugehörigkeit und bleibe damit dem Judentum verschlossen. Unterstrichen wird dies nicht nur durch die dezidierte Anwendung der sozialdarwinistischen Terminologie. GL 259: Gewiss stand Christus in einem unmittelbaren Verhältnis zum Judentum, und der Einfluss des Judentums, zunächst auf die Gestaltung seiner Persönlichkeit, in noch weit höherem Masse auf die Entstehung und die Geschichte des Christentums ist ein so grosser, bestimmter und wesentlicher, dass jeder Versuch, ihn abzuleugnen, zu Widersinnigkeiten führen müsste; DIESER EINFLUSS IST JEDOCH NUR ZUM KLEINSTEN TEILE EIN RELIGIÖSER. DA LIEGT DES IRRTUMS
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Thomas Frey (d. i. Theodor Fritsch), Antisemiten-Katechismus. Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständniß der Judenfrage. Leipzig 1887, 14. Zitiert nach: Benz 2004, 97. Später erschien das Buch unter seinem richtigen Namen mit dem Titel "Handbuch der Judenfrage" und erreichte 1944 die 49. Auflage. "Der AntisemitenKatechismus fasste als handliches Kompendium die landläufigen Vorurteile, Stereotype und Klischees zusammen, mit denen Stimmung gegen Juden gemacht wurde. In 'der Zusammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständnis der Judenfrage’, die durch die gedruckte Form scheinbare Beweiskraft erhielt, ist das 'jüdische Sünden-Register’ in Kurzform und damit zur Wirkung gebracht."
215 Der Semit und die "Judenfrage"
KERN. Wir sind gewohnt, das jüdische Volk als das religiöse Volk par excellence zu betrachten: in Wahrheit ist es ein (im Verhältnis zu den indoeuropäischen Rassen) religiös durchaus verkümmertes. In dieser Beziehung hat bei den Juden das stattgefunden, was Darwin "arrest of development" nennt, eine Verkümmerung der Anlagen, ein Absterben in der Knospe.
An diesen Religionsdarwinismus schließt sich argumentativ der dritte Topos an, der Vorwurf des Materialismus. Für Chamberlain ist die jüdische Religion eine krassmaterialistische (Gl 723), starre Gesetzesreligion, ein Schraubstock für die Seele, eine eiserne Jungfrau, die die Lebensader unwillkürlichen Empfindens unterbindet, die Lebensader der instinktiven schöpferischen Thätigkeit eines Volkes (Gl 531). Mit letzterem ist der Bezug zu den Indogermanen hergestellt, deren Geistesrichtung im Gegensatz zur jüdischen durch einen verinnerlichten Glauben, den Erlösungsgedanken, durch Wiedergeburt und Gnade konstruiert ist (Gl 692; s. v. Germane und Arier). Dem unüberwindlichen Gestrüpp des jüdischen Rationalismus (Gl 694), der Religion der Werke, immer wieder des Materialismus, des Ablasskrams und der Gesetzesorientierung setzt er einen tiefen mystischen Glauben, Idealismus und innerliche sittliche Umkehr entgegen. Dazu reiht Chamberlain nun ganz gezielt im Hinblick auf das protestantische Deutschland Versatzstück um Versatzstück der traditionellen christlichen Vorstellungen aneinander und sondert nur aus, was ihm nicht in seine germanische Religion hineinpasst. Das nicht Kompatible erklärt er zum jüdischen Erbe und macht es für die 'Entartung' des Christentums verantwortlich (Gl 723). Seiner Vorstellung nach braucht man das Christentum nur vom Judentum zu befreien, es sozusagen von allem 'Schlechten zu entblättern', so hätte man das wahre Christentum wieder. Was Chamberlain mit seiner neuen religiösen Weltanschauung anstrebt, soll von seinen Lesern nicht als wirklich neu empfunden werden, es soll also keine religiöse Revolution darstellen, sondern eine notwendige Reformation, womit er sich in Vergleich zu M. Luther bringt. Doch während Luther auch in seinen judenfeindlichen Äußerungen nie bezweifelt hat, dass die christliche Religion aus dem Judentum entstanden ist und dass Christus ein geporener Jude sey, stehen diese Prämissen bei Chamberlain zur Disposition.75 Die durch Reinigung auszusortierenden "jüdischen" Versatzstücke sind die Werkgerechtigkeit und die Gesetzesreligion, zwei Argumente der protestantischen Reformatoren gegenüber der katholischen Kirche. Das schon zitierte Ablasskram (Gl 694) sowie die Bezugnahme auf die Werke deuten mit dem protestantischen Stigmawort Ablass zum einen auf die reformatorische Vorlage hin, zum anderen verweisen Werke und Kram auf materialistische Vorwürfe. Materialismus bedeutet Oberflächlichkeit, Rationalismus, Halbheit, das Fehlen von Tiefe, Echtheit _____________ 75
Zur 'rassischen Zugehörigkeit’ von Christus und Paulus vgl. s. v. Persönlichkeit (S. 125ff.).
216 Das Wortfeld 'Mensch'
und Wahrheit und konkret den Wunsch nach materiellen Gütern. Den geringen Grad an Religiosität erklärt Chamberlain zum entscheidenden Merkmal der Juden. Er behauptet, sie hätten eine rein geschichtliche Auffassung von Religion (Gl 274); ihre religiöse Erkenntnisfähigkeit sei auf dem Stand der Indianer in Südamerika (Gl 276). Ihr Verhältnis zu Gott kann daher auch nur ein politisches (Gl 278) sein, oder ein juristisches, das durch Verträge und Kontrakte (Gl 473) geregelt ist, so wie es zum Beispiel zwischen Jakob und Jahve (nach Gen. XXVIII, 20–22) geschehen sei. GL 472/3: der Semit verbannt aus der Religion das gedankenvolle Verwundern, jedes Gefühl eines übermenschlichen Geheimnisses, er verbannt ebenfalls die schöpferische Phantasie; von beiden duldet er nur das durchaus unentbehrliche Minimum, jenes "Minimum an Religion", von dem Renan sprach. Wo also semitischer Einfluss sich geltend macht, sei es durch physische Vermengung (wie bei den Juden), sei es durch die blosse Macht der Idee (wie im Christentum), werden wir diesen beiden charakteristischen Bestrebungen begegnen. Beide kann man in ein einziges Wort zusammenfassen: MATERIALISMUS.
Materialismus76 steht also für Äußerlichkeit, für das Fehlen von echter verinnerlichter Religion (Gl 386), das Wort steht für eine Religion, in der der Wille den Ton angibt. Denn Materie ist laut Schopenhauer (Gl 473) "die blosse Sichtbarkeit des Willens... was in der Erscheinung, d. h. für die Vorstellung, Materie ist, das ist an sich selbst Wille", und "Wo der Wille den fragenden Verstand und das phantasiereiche Gemüt geknechtet hat, da kann es keine andere Lebensanschauung und keine andere Weltanschauung geben, als die materialistische." Der materialistische Wille wird für die Kunstunfähigkeit der Juden verantwortlich gemacht, für Phantasielosigkeit und mangelnde Schöpferkraft. Chamberlain behauptet sogar, dass die Semiten, und hier inkludiert er wieder die Mohammedaner als zweite Religion, in der das Bilderverbot auch heute noch eingehalten wird, in Wahrheit Götzenanbeter seien. GL 271: Die besondere Geistesanlage der Juden, ihre durch die tyrannische Vorherrschaft des Willens herbeigeführte Phantasielosigkeit, hatte sie zu einem sehr eigentümlichen, abstrakten Materialismus geführt. Den Juden, als Materialisten, lag, wie allen Semiten, der krasse Götzendienst am nächsten; immer wieder sehen wir sie sich Bildnisse schaffen und anbetend vor ihnen niederfallen; […] In
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Es ist bezeichnend, dass Chamberlain das 19. Jahrhundert zum Jahrhundert der Juden und des Materialismus deklariert: Gl. 36: "Das 19. Jahrhundert ist wesentlich ein Jahrhundert des Anhäufens von Material, des Durchgangsstadiums, des Provisorischen; in anderen Beziehungen ist es weder Fisch noch Fleisch; es pendelt zwischen Empirismus und Spiritismus, zwischen dem Liberalismus vulgaris, wie man ihn witzig genannt hat, und den impotenten Versuchen seniler Reaktionsgelüste, zwischen Autokratie und Anarchismus, zwischen Unfehlbarkeitserklärungen und stupidestem Materialismus, zwischen Judenanbetung und Antisemitismus, zwischen Millionärwirtschaft und Proletarierpolitik. Nicht die Ideen sind im 19. Jahrhundert das Charakteristische, sondern die materiellen Errungenschaften."
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Wahrheit nämlich sind die Semiten wahrscheinlich die einzigen Menschen auf der ganzen Erde, die überhaupt jemals echte Götzenanbeter waren und sein konnten.
Dass die Verkümmerung (Gl 259) der Anlagen, the arrest of development immer im Kontrast zum Erblühen der arischen Religiosität gelesen werden muss, liegt auf der Hand. Es ist nun nur noch ein kurzer Schritt dahin, diese Verkümmerung als übertragbar und schädlich für die mit dem Judentum in Kontakt kommenden anderen Völker zu behaupten: Gl 305: doch wo ihr abstrakter Götzendienst Fuss gefasst hatte, schwand jede Möglichkeit einer Kultur; edle Menschenrassen wurden durch das semitische Dogma des Materialismus, das sich in diesem Falle, und im Gegensatz zum Christentum, frei von allen arischen Beimischungen erhalten hatte, für immer entseelt und aus dem "ins Helle strebenden Geschlecht" ausgeschlossen.
Der von Chamberlain angenommene Konkurrenzkampf zwischen den Juden und den Ariern, und nichts anderes scheint der Grund für die diskriminierende Darstellung der Juden zu sein, konzentriert sich auf die Fragen nach der Rechtmäßigkeit des jeweiligen Gottes, der Religion, natürlich der richtigen Rassenzugehörigkeit, des wahren Menschentums. Für Chamberlain scheint dieser Kampf kein Theoriegespinst seiner Schreibstube, sondern allgegenwärtige Realität, vor allem aber eine reale Bedrohung zu sein. Gl 163: Der Kampf, der in den letzten Jahren in Zentralafrika zwischen dem Kongo-Freistaat und den Arabern wütete (ohne dass er in Europa viel Beachtung gefunden hätte), ist ein neues Kapitel in dem alten Krieg zwischen Semiten und Indoeuropäern um die Weltherrschaft.
Arier und Jude sind reziproke Erscheinungen. Sie sind Wunschbild und bedrohliches Gegenbild gleichermaßen. Nicht immer kann man in dieser Zeichnung erkennen, was die positive oder negative Vorlage ist und was deren darauf antwortende Nachzeichnung. In der Regel sind es aber die traditionellen antijüdischen Stereotype, die e contrario dazu genutzt werden, den neuen arischen Menschen als Utopie bzw. als rettenden Helden vorzustellen. Mit der Realität der jüdischen und der deutschen Mitbürger hatte diese Zeichnung nichts gemein.
9. Der neu zu schaffende Mensch – das Symptom einer Epoche? Das Wort Rasse ist Essenz und Programmwort der gesamten Ideologie Chamberlains. Man kann die zentralen Punkte der rassistisch ausgerichteten Diesseitsreligion Chamberlains an den Gebrauchsweisen des Wortes Mensch ablesen. Die semantischen Bezugsetzungen, abbildbar in der onomasiologischen Vernetzung, zeigen ein Bild, das auf rassistisch geprägten
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Wertgefügen beruht und damit zu neuen Handlungsmustern aufruft. Die Allumfassung rassetheoretischer Ansätze kulminiert dabei in einem religiös eingebetteten Rassenerneuerungsprogramm, das sich als Ziel den deutsch-völkischen Menschen gesetzt hat. Die angedeutete Verbindung zwischen Rasse und Religion kann, vor allem in ihrer programmatischen Ergänzung durch Kunst und Kultur, als Erfolgsschlüssel der chamberlainschen Menschenbildgestaltung angesehen werden. Fassen wir die Einzelergebnisse noch einmal zusammen: Das Spektrum des Menschen reicht vom unschöpferischen tierischen Tier über das menschliche Tier und den durch Rasse und nationale Zugehörigkeit gebildeten Menschen hin zur Persönlichkeit, speziell zum Künstler, sogar zu einem gottähnlichen Wesen. Durch seine Schöpferkraft ist dieses Wesen in der Lage, Göttliches zu schaffen. Die traditionelle Dreiheit Mensch – Tier – Gott ist durch eine weitere Größe, die sich nunmehr zwischen den Menschen und Gott stellt, den Künstlermenschen bzw. Übermenschen, erweitert worden. Im Sinne Jost Triers hat sich damit das begriffliche Wertesystem verändert. Im konkreten Fall bedeutet dies einerseits die Abwertung des normalen Menschen durch die Annäherung an das Tier und andererseits eine Höherstufung des durch kulturelle Schöpferkraft neu gestalteten Künstlermenschen, der durch Persönlichkeit oder Genie gekennzeichnet ist. Dieses Konstrukt rückt dem Göttlichen immer näher, nimmt manchmal sogar dessen Platz ein. Dehumanisierung und Vergöttlichung laufen insgesamt parallel, sind wie zwei Seiten derselben Medaille und resultieren beide aus der Rassezugehörigkeit. Die Frage nach dem Menschen zu stellen, ist bei Chamberlain aber dennoch nur vordergründig als biologisch zu charakterisieren. Er hebt die Rasse aus dem ohnehin nicht beweisbaren sozialdarwinistischen Argumentationszugang auf die noch weniger nachprüfbare kulturchauvinistische Ebene und macht die Kulturalität dort zur Messlatte eines Mehroder-Weniger Menschen. Denn Chamberlain glaubt, analog zur Schädelmessung auch Kulturalität messen zu können. Sein "Mensch" ist erst dann wirklich Mensch, wenn er kulturschaffend ist. Hier ist er ganz den Gedanken Gobineaus verpflichtet, hat diese aber intensiv mit den Vorstellungen Friedrich Nietzsches und vor allem Richard Wagners verknüpft. Alle drei Autoren sind keine Wissenschaftler, sondern gehören dem Kulturbereich an. Wissenschaftliche Argumentationen haben Chamberlain nur interessiert, wenn sie seine Theorien stützten. Trotz des weitschweifigen wissenschaftlichen Fußnotenapparates wägt er nur den äußeren Formen wissenschaftlicher Texte entsprechend die Fakten gegeneinander ab, zitiert andere Meinungen nur formal ergebnisoffen und argumentativ. Inhaltlich jedoch bezieht er sich nahezu ausschließlich auf den engen Kreis der anderen Rassetheoretiker bzw. derjenigen Autoren, die ebenso wie er den
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Rassediskurs mittragen, aber nur in den seltensten Fällen ausgewiesene Fachwissenschaftler sind. Chamberlains Vorgehen ist pseudowissenschaftlich, an vielen Stellen sogar antiwissenschaftlich und polemisch. Er erzählt Geschichten, die nur dem äußeren Rahmen nach Bezüge zu historischen Ereignissen haben und ansonsten als erbaulich, appellativ und vor allem geschichtsklitternd bezeichnet werden müssen. Die Fiktionalität seiner Äußerungen wird an vielen Beispielen deutlich. Besonders hervorzuheben sind jedoch die beschriebenen Kategorien Germane, Arier und Jude. Ihnen fehlt jeder Bezug zu einer irgendwie verstanden Realität. Chamberlains Fiktionen sind, wie angedeutet, nicht originär auf ihn allein zurückzuführen. Seine Traditionsbildung geht durch die gesamte deutsche Bildungsgeschichte hindurch. Von Kant über Schiller bis Nietzsche, alles, was nicht jüdisch, aber im deutschen Bildungsbürgertum rezipiert und geehrt wurde, hat er für seine Zwecke funktionalisiert. Wichtigste Referenzgrößen waren jedoch Goethe und Wagner. Besonders brauchbar waren diejenigen "Persönlichkeiten", die an die Perfektibilität des Menschen glaubten bzw. diejenigen, die sich mit Kultur und Kunst über die Enttäuschung hinweg trösteten, dass der aufgeklärte Mensch des 19. Jahrhunderts nicht mehr im Zustand der Gnade war. Chamberlain bot mit seinen Fiktionen dafür nationalpolitisch wirksamen Ersatz. Sein Arier / Germane / Künstler wird als im Zustand des "Erwähltseins" beschrieben, wobei die hier gebrauchte Metaphorik nur annähernd zutrifft, denn zum Erwähltsein gehört in der Regel jemand, der aufgrund besonderer Legitimation erwählen kann und der den Arier dann auch erwählt hat. Dieser Agens jedoch bleibt im Dunkel der Vorzeit. Die Bibel als das Heilige Buch kann hierzu nicht herangezogen werden, da sie nur vom auserwählten Volk der Juden erzählt. Die neue Art der Erwählung wird biologisch determiniert, was indirekt auch durch Gott legitimiert ist und als Grundsatzentscheidung im Anbeginn der Welt angesetzt wird. Die neu geschaffene arische Auserwähltheit wird also früher angesetzt als die jüdische. Doch das Prinzip des "Erwähltseins" ist wie vieles andere eine Projektion alttestamentarischer und jüdischer Vorbilder auf den neuen Menschen. Ähnliches gilt für den imperialen Anspruch der Arier auf die Weltherrschaft, der auf diese Weise ebenfalls als von Gott legitimiert dargestellt wird. Germane, Arier und Jude sind Größen, die nur gemeinsam beurteilt werden können. Die eine Größe definiert die andere und jede ist nur aus ihrem Gegenstück heraus verstehbar. Die Polarisierung gleicht einem Spiel mit Licht und Schatten, bei dem die Rollen von vorneherein festliegen. Während das Judentum das prinzipiell Dunkle in dieser Inszenierung darstellt, sind Arier und Germanen die Lichtträger. Persönlichkeit, Heldentum und Genie sind Attribute der Lichtseite. Sie kennzeichnen den Besitz von Kulturalität und Schöpferkraft. Der neue Mensch wird als
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gottähnlicher Übermensch geschaffen. Seine höchste Ausprägung findet er im Künstler, wobei Chamberlain trotz aller arischer Utopie immer auch den verstorbenen Richard Wagner als Vorbild vor Augen hatte. In linguistischer Hinsicht finden wir sozusagen eine Vollvernetzung des Rassebegriffs vor. Die Rasse wird zum Schlüssel für Maß und Unmaß aller Dinge und Werte, für Mensch und Nichtmensch, für Kultur und Nichtkultur. Selbst die Religion wird ihr untergeordnet. Rasse ist der begriffliche Focus, auf den alles ausgerichtet bzw. von dem her alles bestellt ist. Der Mensch wird eingebettet in ein fest gefügtes System, das bildungsbürgerlich geprägt vielen Wunschvorstellungen der bürgerlichen Rezipienten entspricht. Es handelt sich dabei um ein Gesamtordnungsgefüge, das dem mittelalterlichen Ordo-Gedanken analog alles unverrückbar an seinen von Gott gewollten Platz stellt. Nichts ist außerhalb der Ordnung möglich. Dies ist die tröstende Suggestion einer absoluten Stabilität in einer aus den Fugen geratenen, verunsicherten Realität. Hinzu kommt eine Komplexitätsreduktion der besonderen Art. Die Polarisierung unterteilt die Welt in klar erkennbare Freunde und davon deutlich unterscheidbare Feinde, in Prädestination und Mutation. Chamberlains Texte sind aber nicht nur Trost spendende Erbauungstexte, sie sind auch versteckte Appelle. Das scheinbar Unpolitische wird auf der höheren Ebene des Universalistischen umso politischer, als es das gesamte Gesellschafts- und Weltsystem betrifft bzw. mehr noch in Frage stellt. Denn wenn die Realität nicht dem Ideal entspricht, muss die Realität dem Ideal angepasst werden. Dies ist einerseits ein Aufruf zur Gesellschaftsveränderung und damit zum politischen und sozialen Umbruch, es ist aber andererseits das Gebot der Unterordnung unter ein vorherbestimmtes Schicksal bzw. unter höhere Mächte, die in vielfältigen Formen und Bezeichnungen auftauchen: Einmal sind es traditionell religiöse Größen wie Götter, speziell mit einem arisch-christlichen Focus Gott und Christus, daran metonymisch anschließend halbsakrale bzw. sakralisierte und ontologisierte Konstrukte, wie gottgewollte Rasse oder Natur, und schließlich die Kultur als Produkt derjenigen Fähigkeiten, die nur gottähnlichen Wesen möglich sind. Der Widerspruch, der sich hier im parallel verlaufenden Aufruf zur Unterordnung und zur Veränderung zeigt, ist typisch konservativ und schnell auflösbar. Da es nur um die rechtmäßig betriebene Wiederherstellung eines von höheren Mächten eingesetzten Zustandes geht, ist der Einzelne Werkzeug eines im welt-, natur- und heilsgeschichtlichen Zusammenhang stehenden und diesen überblickenden Gesamtwillens. Jede herausragende Persönlichkeit übernimmt dabei die Rolle eines von dieser höheren Macht ausgezeichneten Instrumentes, nicht jedoch die eines selbstbestimmten, selbstverantwortlich Handelnden. Die Menschen sind für die Ordnung da und dienen ihr, nicht umgekehrt.
221 Der neu zu schaffende Mensch – Symptom einer Epoche?
Das Sicherheitsbedürfnis ist zum stabilisierenden Korsett funktionalisiert geworden, das die Juden rassisch ausschließt und letztlich auch die Arier entmündigt. Sicherheit zur Freiheit bietet es nicht. Man könnte meinen, dass dieses Korsett von niemandem wirklich ernst genommen worden sei. Doch offensichtlich wurde die Welt als heilsgeschichtlich so haltlos wahrgenommen, dass man das Korsett der Freiheit vorzog, vermittelte es dem deutschen Bildungsbürger in seiner nach Sicherheit und Wohlstand strebenden Haltung doch am Ende zumindest den Eindruck, ein besserer Mensch zu sein. Im Jahre 1903 schrieb der nobelpreisgekrönte und durch seine zeitkritischen Bemerkungen bekannte Historiker Theodor Mommsen bezeichnenderweise in einem Artikel über das Verhältnis von England und dem Deutschen Reich, dass es den Völkischen vollkommen ernst war damit: einen eigenen, alle Herrlichkeit des Menschengeistes in sich beschließenden germanischen Adam dem allgemeinen zu substituieren.77 Und Uwe Puschner fügt in seiner Untersuchung über die völkische Bewegung hinzu: Puschner 2001, 25: Lange vor dem Ersten Weltkrieg schufen in der wilhelminischen Ära diese Völkischen mit der rassistischen Weltanschauung, mit einem Deutschland überziehenden Netzwerk von Institutionen und mit einer ebenso aggressiven wie zielgerichteten Agitation den ideologischen Nährboden, die organisatorischen Voraussetzungen und das propagandistische Instrumentarium für Nationalsozialismus und Rechtsradikalismus.78
Es muss noch einmal deutlich gesagt werden: Houston Stewart Chamberlain war kein einsamer "Spinner" in einer ansonsten anders orientierten Zeit, sondern je nach Perspektive Nachläufer und Mitläufer. Für bestimmte Gruppierungen war er aber vor allem Vorläufer und Wegbereiter, und das in besonderem Maße für den Nationalsozialismus, wie es Goebbels in seinem Tagebuch beschrieben hat. Er steht inmitten einer ganzen Reihe kommunikativer Diskurse, die sich darüber Gedanken machen, wie die Welt, die Kultur und vor allem der Mensch zu einem Besseren belehrt, umerzogen, bekehrt oder gar umgezüchtet werden könne. Sein Menschenbild war dabei wegweisend.
_____________ 77 78
Theodor Mommsen, Deutschland und England 1903, 21. Puschner 2001a, 25.
VIII. Ideologiewortschatz Unsere Sichtweise geht in unser Sprechen ein, ohne daß wir es wollen. Wer seine realitätsgeladene Bezeichnung durchsetzt, setzt damit auch seine Sichtweise durch und, wer sie als normal etabliert, der hat natürlich in diesem Sinne auch Wirklichkeit geschaffen. Hans Jürgen Heringer 1990, 48.
1. Kennzeichen des Ideologiewortschatzes Im ersten Teil der Arbeit wurde das Menschenbild betrachtet, wie es über die Analyse des Ausdrucks Mensch und seiner onomasiologischen Vernetzung greifbar wurde. Dabei ist auch deutlich geworden, dass Mensch, obwohl es als zentrales Wort des Allgemeinwortschatzes nicht fachsprachlich gebunden ist oder zu einem Jargon gehört, von Chamberlain durch eine bestimmte Art der Semantisierung und Kontextualisierung zu einem Kennwort eines ideologiegebundenen Wortschatzes funktionalisiert wurde. Anders ausgedrückt: Bereits am Wortgebrauch von Mensch konnte gezeigt werden, wes Geistes Kind Chamberlain ist, dass er ebenso treibender Agitator des Rassismus wie Angehöriger der sozialen Schicht des Bildungsbürgertums ist. Man könnte den Gebrauch daher als ideologieindizierend klassifizieren, da neben der sachbezogenen Information auch Ideologie und Weltanschauung zum Ausdruck kommen. Mit W. Köller könnte man sagen, dass im Wort Mensch und im dazugehörenden Wortfeld eine bestimmte Perspektive auf die Welt erkennbar wird. Unter Perspektivität versteht Köller: Köller 2004, 11: eine apriorische Grundbedingung aller Wahrnehmung […], die sowohl in der Struktur des menschlichen Wahrnehmungsvermögens verankert ist als auch in den kulturellen Repräsentationsformen für unsere Welterfahrungen. Damit wird Perspektivität als eine, wenn nicht als die grundlegende semiotische Kategorie bestimmt, die alle kulturellen Zeichenbildungen prägt. Sie verdeutlicht, dass in jeder Wahrnehmung der Wahrnehmende mit dem Wahrgenommenen in unauflösbarer Weise verstrickt ist und dass in jeder Zeichenbildung Objektwelt und Subjektwelt in unauflösbarer Weise ineinander verschränkt sind.
Die Köllers Modell zugrunde liegenden Subkategorien, 'Sehepunkt', 'Aspekt' und 'Perspektive' bilden die Basis für Erkenntnislenkung, sei es durch den Sehepunkt, von dem aus etwas betrachtet, der wahrgenommene Bildausschnitt also bestimmt wird, oder durch die Tatsache, dass wir unseren Referenzgegenstand niemals in seiner Gesamtheit, sondern immer nur
223 Kennzeichen des Ideologiewortschatzes
unter einem Aspekt, das heißt ausschnitthaft, erfassen können. Perspektive beschreibt Köller als Weisen, "in denen Subjekte in die Welt hineingleiten und Kontakt zu ihren Wahrnehmungsgegenständen bekommen." Die Ausbildung von Perspektiven ist also als Bemühung von Subjekten zu verstehen, Sehepunkte zu finden, von denen aus Objekte als aspektuell konturierte Objekte konkret zur Erscheinung kommen. "Perspektivierungsprozesse sind deshalb die Grundlagen von Erkenntnisprozessen" (ebd. 10). Diese Überlegungen bieten sich in besonderer Weise zur Übertragung und Anwendung auf Ideologiesprache an. Denn Chamberlains Perspektive, die sich bisher schon für ein einzelnes Wortfeld gezeigt hat, könnte in nahezu allen Semantisierungen seiner Zeichen nachgewiesen werden. Chamberlain gleitet, um die Köllersche Formulierung wieder aufzugreifen, dadurch in die Welt hinein, dass er alles vom Standpunkt der Ungleichheit der Menschenrassen aus sieht. Anders als Knobloch (1992, 15) unterstellt,1 hat sich gezeigt, dass Begriffsgeschichte sehr wohl von den linguistischen Methoden der Semantik und der Lexikographie profitieren kann, ja ohne lexikalische Semantik überhaupt nicht möglich ist. Entscheidend dabei ist allerdings, dass eine pragmatische Komponente so mit der semantischen verbunden wird, dass der Handlungswert eines Ausdrucks mit seinem denotativen Bezugswert als Gebrauchseinheit erscheint. Im Hintergrund steht also die Auffassung, dass es das eine, eben den Handlungswert, und das andere, eben den Bezugswert, nur als analytische Größen gibt. Man braucht sich nur vor Augen zu halten, dass die Bezugnahme auf einen Gegenstand immer in einer bestimmten Weise erfolgt, dass damit der Bezugsgegenstand immer perspektivitätsgeprägt ist und insofern jeweils als solcher konstituiert wird. Um die genannte Einheit von Handlungs- und Bezugswert eines Wortes und um die sich darin zeigende Perspektivierung geht es bei der Analyse folgender Beispieleinheiten (in der Reihenfolge ihrer Bearbeitung). 1. Entartung / Degeneration 2. Leben 3. Kraft 4. Wille 5. Führer 6. Sozialismus 7. Liberalismus und das Prinzip der Gleichheit 8. 'Neger' _____________ 1
Knobloch 1992, 15: "Für die Zwecke einer sozial- und mentalitätsgeschichtlich erweiterten Begriffsgeschichte […] können die etablierten linguistischen Methoden der Semantik, Lexikographie, Sprechakttheorie nur wenig helfen".
224 Ideologiewortschatz
War im ersten Teil die Ergiebigkeit der onomasiologischen Vernetzung das strukturell leicht begründbare Motiv für die Auswahl der jeweiligen Lemmata, so ist die Rechtfertigung, warum in diesem Kapitel gerade die genannten und keine anderen Wörter ausgewählt wurden, schwieriger. Zunächst ist ein Ausschlusskriterium zu nennen: Nicht behandelt werden all diejenigen Ausdrücke, die – wie z. B. Kunst oder Kultur –, in Verbindung mit den Einheiten des Wortfeldes 'Mensch' immer wieder zur Sprache kamen, sowie Ausdrücke wie Chaos, Weltanschauung oder blind, die aufgrund ihres konzeptuellen Charakters in Kapitel IX erörtert werden. In der germanistischen Sprachwissenschaft beschäftigt man sich seit den 70er Jahren immer wieder mit der politischen Sprache und damit auch mit der Frage nach der Ideologiegebundenheit des verwendeten Vokabulars.2 H. Girnth erklärt die Eigenschaft der Ideologiegebundenheit von Wörtern aufgrund der "Determination ihrer Bedeutungen durch die in einer Gesellschaft oder politischen Gruppe zugrunde liegenden Deutungen und Wertungen sozialer Tatsachen."3 Die Klassifikationsfrage solcher Ausdrücke führte zu unterschiedlichen Bezeichnungen, z. B. brisante Wörter,4 kontroverse Begriffe,5 Schlagwörter,6 Schlüsselwörter, Ideologeme, Miranda usw. Gemeinsam ist den unterschiedlichen Ansätzen, was H. Grünert 1974 als kennzeichnend für Ideologievokabular beschreibt und was als erstes Kriterium für die Auswahl der behandelten Stichwörter gedient hat, nämlich "daß die unterschiedlichen Denkmuster, Wertvorstellungen, Zielsetzungen ihren Ausdruck […] in gruppen-spezifischen Zeichen-Inventaren, Zeichen-Ensembles, Zeichen-Repertoires und in entsprechenden gruppenspezifischen Anwendungsstrategien" [finden] (Grünert 1974, 12f.). Die Auswahl der oben genannten Ausdrücke dokumentiert mit ihrer semantischen Orientierung ein gruppenspezifisches Zeicheninventar, nämlich dasjenige eines rechtsgerichteten Bildungsbürgertums um die Jahrhundertwende in Deutschland.7 Diese Wörter können darüber hinaus im Sinne der Schlagwortklassifikation von F. Hermanns in Fahnenwörter oder Stigmawörter unterteilt werden. Fahnenwörter sind danach (1994, 16), "positive (affirmative) Schlagwörter, die zugleich auch als Erkennungszeichen von Parteiungen fungieren und fungieren sollen." Ähnlich definiert _____________ 2
3 4 5 6 7
Es kann nicht Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, hierzu einen ausführlichen Forschungsbericht zu liefern. Ich möchte jedoch auf diejenigen Publikationen verweisen, auf die ich mich im Weiteren beziehen werde: Burkhardt 1998; Diekmann 1969; Grünert 1974; Hermanns 1989; 1994; 1995; Klein 1989. Zum Ideologiebegriff: Straßner 1987; Eagleton 2000. Girnth 2002, 50. Strauß / Haß / Harras 1989. Stötzel / Wengeler 1995. Diekmann 1981; Diekmannshenke / Klein 1996; Hermanns 1994; Schottmann 1997. Vgl. dazu auch: Wimmer 1979, 109.
225 Kennzeichen des Ideologiewortschatzes
G. Strauß (1986, 100ff.) diese von ihm Miranda genannten Fahnenwörter als emotiv gesteuerte bzw. festgelegte Einheiten, die die Hochwerte einer Ideologie tragen, Gemeinschaftsgefühl ermöglichen bzw. Gemeinschaft überhaupt erst identifizierbar machen. Eine sie verwendende Sprachvarietät kann daher auch als ideologischer Gemeinschaftscode bzw. als gruppenbezogenes Symbolsystem8 mit gruppenintegrativer bzw. exkludierender Funktion begriffen werden. Fahnenwörter und Miranda sind nicht parteipolitisch gebunden und können daher auch von sehr unterschiedlichen Gruppierungen in ihrem Sinne angewandt werden.9 Erkennbar ist ihre Ideologiegebundenheit oftmals nicht sofort, wie das Beispiel Mensch gezeigt hat. Denn nur die wenigsten Ausdrücke haben eine politik- oder ideologiesprachliche äußere Etikettierung. Die Ideologisierung liegt vielmehr im semantischen Bereich,10 der weniger auffallend, dafür aber oft umso wirksamer ist. Demnach kommt nur einer der behandelten Ausdrücke aus dem Bereich der Politik, die meisten stammen aus dem Gebiet der Bildung und Kultur, womit wiederum die soziale Gruppe durchscheint, die sich durch diese Domänen definiert. Gemeinsam ist ihnen allen, dass sie in ihrem speziellen Gebrauch den Ideologiewortschatz des völkisch und rassistisch orientierten Bildungsbürgers, repräsentiert durch Houston Stewart Chamberlain, zeigen. Sie treten als nicht politisch und nicht ideologisch markiert auf. Doch der angedeutete Charakter des Unpolitischen trügt. Da jedes der aufgeführten Wörter hochgradig ideologisch gebunden ist, offenbart es auch die politische Richtung des Sprechers, ebenso desjenigen Rezipienten, der sich schon dadurch, dass er es liest, auf seinen Gebrauch einlässt und es affirmierend aufnimmt. Der Gebrauch führt systematisch zur gezielten Politisierung des Unpolitischen und damit zu einer Bewegung, die programmatisch nicht nur für Chamberlain steht, sondern für die Zeit insgesamt, und die z. B. in den Bekenntnissen eines Unpolitischen von Thomas Mann (speziell in der ersten Auflage), in besonderer Weise aber in Das Dritte Reich von A. Moeller van den Bruck zum Programm erhoben wurde. Das Stichwort, das dieses Programm am besten trifft, ist wohl das Adjektiv überpolitisch11 bzw. das synonyme metapolitisch.12 Mit diesen Wörtern wird sowohl die inhaltliche Anschlussfähigkeit an viele politische Richtungen kenntlich gemacht als auch der inhärente Hochmut des Bildungsbürgertums, der in der Meinung besteht, man könne über den Dingen stehen und Politik von einem höheren Standpunkt aus und damit besser betrachten. Passend dazu bezeichnet Chamberlain _____________ 8 9 10 11 12
Strauß / Zifonun 1986, 67-147. Vgl. dazu z.B.: Diekmannshenke 1994. Vgl. Straßner 1987, 29. Koselleck, Einleitung 1990, 27f. Von dem Bussche 1998, 48f; 106f.
226 Ideologiewortschatz
die geschichtsphilosophischen zweieinhalbtausend Jahre umfassenden Grundlagen, in denen er das Wort Politik meidet, als politisches Bekenntnis.13 Die überpolitische Politikhaltung spiegelt den sprachlichen Befund. Ideologiesprache ist immer auch politische Sprache, selbst wenn sie in untypische Textsorten gewandet ist, sich scheinbar an eine unpolitische Öffentlichkeit wendet und unter dem Deckmantel vermeintlich unideologischer bzw. außerpolitischer Ausdrücke agiert. Was Chamberlains Lesergemeinde betrifft, so rezipierte sie die Grundlagen in derselben Weise wie seine explizit politisierenden Texte, so die Politischen Ideale oder De[n] Demokratische[n] Wahn. Was zur kulturellen Erbauung und Weiterbildung gedacht war, diente gleichzeitig der politischen Sozialisation. Es ist daher nicht zu bezweifeln, dass Chamberlain, obwohl er sich als unpolitischer Schriftsteller versteht, sowohl auf literarischer Ebene als auch in seinen polemischen Schriften immer auch gezielt politische Meinungsbildung, d. h. Propaganda, betreibt. Gerade auf Chamberlain, dem L. Spitzer hohe sprachliche Ausdrucksfähigkeit zugesteht,14 passt, was E. Straßner über den Agitator schreibt: Straßner 1987, 42: Der Agitator will Glauben erzeugen, wünscht und braucht eine fügsame und willenlose Masse und kann mit einem kritischen Publikum nichts anfangen. Sprachlich kommt es zu einer Überbetonung der Form. Mit wohlgesetzten Texten und selbstsicherem Vortrag wird versucht, die vagen Inhalte zu überdecken.
Die Eigenschaften, die man agitierenden Textsorten zuschreibt (Straßner 1987, 42), nämlich unseriöse Argumentation, Emotionalisierung, Vagheit des Ausdrucks und Dekonstruktion, sind auch typische Stilzüge Chamberlains. Auch er ist unseriös bei ernsthaften Fragestellungen, auch er polemisiert, und auch er verwendet eine Sprache, der man literarische Qualitäten nicht absprechen kann, sofern man darunter eine auffallende Häufung der Merkmale klassischer Prosa versteht. Gemeint sind Nominalgruppen mit ausgewogenen prä- und postpositionalen Teilen, ein gekonntes Spiel mit Varianten im Attributbereich (Adjektiv-, Präpositional-, Genitivattribute im Wechsel mit Attributsätzen), ein ebenso perfektes Spiel mit verschiedenen Typen des Nebensatzes (formale, funktionale, logische Aspekte), eine je nach Argumentation gezielt eingesetzte Verteilung von Hypotaxe und Parataxe. Bezeichnenderweise finden diese Mittel in seinen Kriegsaufsätzen eine gehäufte Anwendung; sie werden damit zu Mustern der politischen Agitation, zielen auf Bewusstseinsveränderung seiner Leser und Kaderbildung. Kennzeichnend für politische Agitation ist außerdem die _____________ 13
14
Vgl. Lebenswege 7: "die Grundlagen sind in einem gewissen Sinne ein politisches Bekenntnis; mein Kant und mein Goethe enthalten beide an einzelnen Stellen politische Erwägungen grundsätzlicher Art." Vgl. Spitzer 1918, 4-6.
227 Kennzeichen des Ideologiewortschatzes
Negation, z.B. der politischen und gesellschaftlichen Zustände der Gegenwart, und die Diffamierung des Gegners als Person, seiner Ziele und der mit ihm verbundenen Klientel. Chamberlain will also Macht und Herrschaft über die Köpfe der Menschen erringen. Er versucht dies dadurch, dass er seine Leser durch eine spezifisch semantisierte Lexik entweder überzeugt und zu sich ins ideologische Boot holt oder davon ausgrenzt. Stigmawörter dienen dieser Ausgrenzung (Hermanns 1982, 92). Entartung und Degeneration sind solche Stigmawörter.
2. Ideologiewörter
2. 1. Entartung und Degeneration Das Verb entarten ist schon in mhd. Zeit belegt und wird im DWB (1862) als vierfach polysem angesetzt. Die noch von Jacob Grimm selbst formulierte Grundbedeutung lautet: >ausarten, aus der art schlagen<. Zwei der zitierten Belege stammen von Schiller, einer von Klopstock. Nicht im Grimm lemmatisiert, aber u. a. bei Wilhelm von Humboldt15 und Schlegel16 in je eigenen Zusammenhängen belegt, ist die Substantivierung Entartung. Beide Wörter gelten als Lehnübertragungen aus dem Lateinischen, entsprechen demzufolge den ebenfalls gebräuchlichen Fremdbildungen degenerieren und Degeneration. Auf dem Hintergrund einer Weltauffassung, in der alles seine festgelegte Ordnung zu haben hat, repräsentieren die genannten Wörter vor allem eines: den Norm- und Ordnungsbruch,17 und zwar sowohl im Bereich der Biologie wie der Moral. Der im DWB zitierte Schillerbeleg: "wenn die liebe die nemliche ist, wie könnten ihre kinder entarten?" dokumentiert dies ebenso wie das Adjektiv unartig und das Phrasem aus der Art schlagen. 'Art', 'Norm' und 'Ordnung' sind die semantischen Werte, an denen andere Bereiche gemessen, von denen aus sie beurteilt und dann je nach Ergebnis als nicht artgemäß, nicht der Norm entsprechend abqualifiziert und dementsprechend stigmatisiert werden. Mit den genannten Ausdrücken wird also nicht nur das Andere als anders charakterisiert, sondern es wird auch als dasjenige verstanden, was 'absteigend', dem Verfall und dem Niedergang ausgeliefert ist. Wichtigster Propagandist dieser biologistisch _____________ 15 16 17
Von Humboldt, Wilhelm, Werke 6, 1, 125. Schlegel, Friedrich, Über das Studium der griechischen Poesie 1979, 316 ff. Zum Degenerationsbegriff vgl. Weingart / Knoll / Bayertz, Rasse, Blut und Gene 1992, 42ff.; außerdem: Schmitz-Berning 1998, s. v. entarten / Entartung.
228 Ideologiewortschatz
begründeten Verfallstheorie ist Gobineau, dessen Rassentheorie darauf beruht, dass mit zunehmender Vermischung der so genannten weißen Rasse mit minderwertigen Bestandteilen der so genannten gelben oder der schwarzen Rasse nicht nur die erstgenannte dem Verfall ausgesetzt sei (III, 406; 413), sondern letztlich die gesamte Menschheit zugrunde gehen müsse. Die herausstechenden Schlüsselwörter der Gobineau'schen Schriften waren denn auch degeneriert / Degeneration. Gobineau I, 31f.: dass das Wort degeneriert, auf ein Volk angewandt, bedeuten muß und bedeutet, daß dieses Volk nicht mehr den inneren Werth hat, den es ehedem besaß, weil es nicht mehr das nämliche Blut in seinen Adern hat, dessen Werth fortwährende Verwischungen allmählich eingeschränkt haben. […] kurz, weil der Mensch des Verfalls, derjenige, den wir den degenerierten Menschen nennen, ein unter dem ethnographischen Gesichtspunkten von dem Helden der großen Epochen verschiedenes Subjekt ist.
Beide Ausdrücke wurden von Chamberlain in den frühen Auflagen der Grundlagen als Fremdwörter im vorgetragenen Sinne benutzt, in den späteren Auflagen, deren puristische Tendenzen nicht zu übersehen sind, durch die deutschen Ausdrücke entartet / Entartung ersetzt. Die sich mit ihnen verbindende und sogar aktiv propagierte Verfallsdiagnose gehört zu den wichtigsten Topoi des ausgehenden 19. Jahrhunderts,18 obwohl die sich darauf stützende Argumentation wesentlich älter ist, die Schlussreihe nämlich, dass (1) der Verlust von Althergebrachtem intensiv zu beklagen sei, dass deshalb (2) die Vergangenheit gezielt aufgewertet werden müsse, die Gegenwart mithin (3) abzuqualifizieren und schließlich (4) das Zukünftige aufzubauen sei, und zwar in einer Richtung, die man selbst am besten bestimmen könne. Die Entartungsdiagnose war also nie ausschließlich auf den biologischen Bezugsrahmen reduziert, sondern verband sich systematisch mit moralischen Kategorien und ließ sich – eine entsprechende Interpretation vorausgesetzt – unter Hinweis auf literarische Orientierungsgrößen wie Klopstock und Schiller19 einer entsprechend prädisponierten Leserschaft vermitteln. Auch auf einer neben der biologischen und moralischen dritten Verwendungsebene, nämlich der kulturkritischen, ließ sich die Verfallstheorie einsetzen. Vertreter des Kulturpessimismus wie Chamberlain, aber auch Eugeniker, nutzten die genannten Ausdrücke, indem sie die biologische Semantisierung mit der kulturellen in eine je nach Blickrichtung kausale oder finale Verbindung brachten, das heißt die Rasse als Voraussetzung für Kultur ansetzten und sie dann auch zur Bewertung von Kultur und zur Unterscheidung verschiedener Kulturniveaus nutzten. Es kam, laut Weingart (1992, 51ff.) wohl auch aufgrund von Chamberlains Mithilfe, zur _____________ 18 19
Hamann 2000, 119 nennt es das Modewort Wiens um die Jahrhundertwende. Vgl. dazu die Beleg im DWB, s. v. entarten.
229 Ideologiewörter: Entartung und Degeneration
"zeitgenössische[n] Wahrnehmung" einer "drohenden körperlichen Entartung der Kulturmenschheit; der Eindruck eines durchgängigen psychischen und physischen Niederganges war weit verbreitet." Eine interessante, aber hier nicht weiter zu verfolgende Spielart dieser Vorstellungen ist der literarhistorisch bedeutsame Dekadenzbegriff,20 dessen Vertreter entweder mit dem in ihren Augen unausweichlichen Untergang kokettierten (ebd. 62) (berühmtestes deutschsprachiges Beispiel: Thomas Mann, Die Buddenbrooks) und ihn verklärten oder ihn zu überwinden suchten (ebd. 59). Das Paradigma der Décadence lieferte die Kultur und Literatur der römischen Spätantike.21 Und bezeichnenderweise, geradezu in einem Paradebeispiel von Wortgebrauchsgeschichte, liest man das Wort Dekadenz auch bei Chamberlain immer im Zusammenhang mit dem politischen und sittlichen Verfall des römischen Weltreiches (Gl 203; 827; 844). Die römische Spätantike ging in seiner Periodisierung nicht nur seinem Völkerchaos voraus bzw. leitete dieses ein, sondern bildete mehr noch die Voraussetzung für den bis in seine Gegenwart folgenreichen Untergang der Rassen. Im hier zu behandelnden Zusammenhang von besonderer Bedeutung ist wieder Chamberlains Schwiegervater Richard Wagner, den Nietzsche den Künstler der Décadence nennt und der mit seiner Regenerationslehre eine Antwort auf den Verfalls- und Dekadenztopos vorgelegt hat.22 Zwei Linien sind nachzuzeichnen, zum einen der oben schon eingeführte Rassenverfall Gobineaus und zum anderen Wagners Entartungsund Rettungslehre (vgl. XI, 6 in diesem Band). Ähnlich wie Chamberlain benutzt auch Wagner Degeneration und Entartung gleichermaßen. Wagner 10, 230: Von je ist es, mitten unter dem Rasen der Raub- und Blutgier, weisen Männern zum Bewußtsein gekommen, daß das menschliche Geschlecht an einer Krankheit leide, welche es nothwendig in stets zunehmender Degeneration erhalte. Manche aus der Beurtheilung des natürlichen Menschen gewonnene Anzeigen, sowie sagenhaft aufdämmernde Erinnerungen, ließen sie die natürliche Art dieses Menschen, und seinen jetzigen Zustand demnach als eine Entartung erkennen.23
_____________ 20 21 22
23
Dazu: Borchmeyer, Décadence 1994, 69-76. Ders., Nietzsches Wagner-Kritik und die Dialektik der Décadence 1984, 207-228. Vgl. Borchmeyer, Décadence 1994, 69. Interessant dazu: Nietzsche (Der Fall Wagner. Werke 2, 911f.) erklärt Wagner zum Inbegriff eines Künstlers der Décadence: "Erst der Philosoph der décadence [Schopenhauer, ALR] gab dem Künstler der décadence sich selbst – [...] Dem Künstler der décadence – da steht das Wort. Und damit beginnt mein Ernst. Ich bin ferne davon, harmlos zuzuschauen, wenn dieser décadent uns die Gesundheit verdirbt – und die Musik dazu! Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krankheit? Er macht alles krank, woran er rührt er hat die Musik krank gemacht". Vgl. ebd. 227f.; 236.
230 Ideologiewortschatz
Während Entartung eher den Zustand und das Resultat kennzeichnet, betont Degeneration mehr den Prozess. Nicht nur Wagners Nähe zu Gobineau wird in diesen Ausdrücken offensichtlich, besonders die Parallelen zu dessen Vorstellung vom allmählichen Niedergang der Menschen durch Rassenmischung, sondern vor allem die Charakterisierung des jetzigen Zustands als das Nichtnatürliche, als Krankheitszustand. Beide, sowohl Gobineau als auch Wagner, stellen die menschliche Entwicklung als eine Art Krankheit zum Tode dar, was das Entartete radikal vom bloßen Anderssein hin zum Schädlichsein rückt. Die Gleichung, Natürlichkeit sei Gesundheit, Entartung dagegen Krankheit, lässt sich auf vielen Ebenen weiterverfolgen. Als Ursache für die Krankheit, die, wie oben erläutert, eben nicht nur den körperlichen Zustand der Menschen, sondern auch ihren gesellschaftlichen und kulturellen betrifft, wird von beiden die Vermischung der Rassen genannt (Wagner, s. u.; Gobineau I, 15 u. ö.). Deren Symptome sind dann u. a. Verlust der Instinkte, der Tugenden und vor allem der Kultur (Wagner 10, 269), und zwar nicht etwa eines Einzelmenschen allein, sondern wiederum ganzer Völker bzw. "Rassen". Auch bei Richard Wagner steht der konkrete Verursacher fest. Es sind in seinen Augen die Juden, die das "wehrlose deutsche Volk" dem Verfall aussetzen. Wagner, Ausführungen zu Religion und Kunst 10, 270: Dieser eigenthümliche Geschlechts-Stolz, der uns noch im Mittelalter so hervorragende Charaktere als Fürsten, Könige und Kaiser lieferte, dürfte gegenwärtig in den ächten Adelsgeschlechtern germanischer Herkunft noch anzutreffen sein, wenn auch nur in unverkennbarer Entartung, über welche wir uns ernstlich Rechenschaft zu geben suchen sollten, wenn wir uns den Verfall des nun dem Eindringen der Juden wehrlos ausgesetzten deutschen Volkes erklären möchten.
Auch bei Chamberlain finden wir die genannten Aspekte. Vom biologischen Zentrum aus, der entarteten Rasse (IuM 35; 40; Lebenswege 380; Gl 321; 349; 354; in der 14. Auflage als Ersetzung für degeneriert der 10. Aufl.), wird entartet von Chamberlain als Attribut für Moral und Kultur (Gl 360; 375), für die gesamte Gegenwart (vgl. die heutigen entarteten Tage; AW 74), auch für Politik (Br I, 191) gebraucht. Bedeutungsverwandt zu entarten (als Prozess) sind die Verben verkümmern (Gl 349) bzw. verderben (Gl 336), antonymisch dazu begegnen vor allem veredeln (Gl 349) und bereichern (Gl 336). Dass Entartung und Degeneration keine biologisch-natürlich ablaufenden Prozesse sind, die nur ohne das Zutun von Menschen verlaufen könnten, wird dann deutlich, wenn es um die damit verbundenen Handlungsrollen geht: Es sind wiederum die Juden, in denen auch Chamberlain die Verantwortlichen sieht. Sie hätten die Vermischung bewusst herbeigeführt, seien selbst aber dagegen resistent, und zwar sowohl in Bezug auf Entartung wie auf eine mögliche Veredelung.24 Als Begründung für diese _____________ 24
Dass auch dieser Gedanke von Wagner stammt, zeigt folgendes Zitat: Wagner-SuD 10,
231 Ideologiewörter: Entartung und Degeneration
Form von Immunität, um im Bild der Krankheitsmetaphorik zu bleiben, wird "Minderwertigkeit" angesetzt. Er nennt diese Abqualifizierung im folgenden Beleg zwar nur aggregativ im Zusammenhang mit den Juden, also ohne sich direkt auf sie zu beziehen, nimmt sie sogar in der Parenthese scheinbar wieder zurück, doch der Leser hat die Implikatur verstanden. GL 384: Man sehe doch, mit welcher Meisterschaft sie [Juden, ALR] das Gesetz des Blutes zur Ausbreitung ihrer Herrschaft benutzen: […]; inzwischen werden aber Tausende von Seitenzweiglein abgeschnitten und zur Infizierung der Indoeuropäer mit jüdischem Blute benutzt. Ginge das ein paar Jahrhunderte so fort, es gäbe dann in Europa nur noch ein einziges rassenreines Volk, das der Juden, alles Übrige wäre eine Herde pseudohebräischer Mestizen, und zwar ein unzweifelhaft physisch, geistig und moralisch degeneriertes (14. Aufl.: entartetes) Volk. […] Jene Vermischung bedeutet also ganz ohne Zweifel eine Entartung: Entartung des Juden, dessen Charakter ein viel zu fremder, fester, starker ist, als dass er durch germanisches Blut aufgefrischt und veredelt werden könnte, Entartung des Europäers, der durch die Kreuzung mit einem "minderwertigen Typus" – wofür ich lieber sagen möchte, mit einem so andersgearteten Typus – natürlich nur verlieren kann. Während die Vermischung vorgeht, bleibt aber der grosse Hauptstamm der reinen, unvermischten Juden unangetastet.
Auffällig sind nicht nur die sprachlichen Parallelen zwischen Wagner und seinem Schwiegersohn, sondern vor allem, dass die einen klar zu Tätern gemacht werden, während die anderen, speziell die Germanen bzw. die Deutschen, sowohl Opfer als auch Retter sind. Denn (GL 449): Kein Mensch entartet so schnell wie Lapouge‘s Homo europaeus. Aber auch kein anderer kann den drohenden Niedergang verhindern. Während der Verfallszustand bei Gobineau schon so weit fortgeschritten sei, dass der Untergang unausweichlich kommen muss, soll der Deutsche diesem Einhalt gebieten. Br II, 237 (1911): mit Richard Wagner bekenne ich mich zu der Überzeugung, "die Deutschen dürften zu Veredlern der Welt bestimmt sein", und ich begreife immer weniger, wie diese Welt lebens- und liebenswert bleiben soll, wenn nicht der deutsche Geist den idealen Gehalt schafft und schützt, ohne welchen wir […] zu nichts weiter als zu geldgierigen, seelenlosen Zivilisationsbarbaren degenerieren, die ziellos von einer Leere in die andere herumrasen.
Doch nicht nur die Höherwertigkeit des Deutschen macht ihn zum Retter gegen die rassische und kulturelle Entartung, sondern auch die 'Entartung' selbst, und zwar nunmehr in einer neuen Semantisierung. Bislang war vorwiegend von Gobineaus in die Vergangenheit blickender Degeneration _____________ 271-272: "Dagegen ist denn allerdings der Jude das erstaunlichste Beispiel von RacenKonsistenz, welches die Weltgeschichte noch je geliefert hat. Ohne Vaterland, ohne Muttersprache, wird er, durch aller Völker Länder und Sprachen hindurch, vermöge des sicheren Instinktes seiner absoluten und unverwischbaren Eigenartigkeit zum unfehlbaren Sichimmer-wiederfinden hingeführt: selbst die Vermischung schadet ihm nicht; er vermische sich männlich oder weiblich mit den ihm fremdartigsten Racen, immer kommt ein Jude wieder zu Tage."
232 Ideologiewortschatz
der Menschenracen die Rede, wobei Entartung den physischen und psychischen Verfall von einem ursprünglich guten zu einem schlechten Zustand bezeichnet. Chamberlain benutzt diese pessimistische Vorstellung seinerseits, um eine Drohkulisse zu errichten. Doch er hat noch einen anderen, fundamental positiven Wortgebrauch. Dabei wird 'Entartung', wieder im Sinne Wagners, zur Voraussetzung von 'Erlösung'. Der Sündenfall erscheint dann als erster Normbruch in der menschlichen Mythenbildung und Basis des jüdisch-christlichen Kultur- und Religionshintergrundes, als Schibboleth, das Juden von Christen sondert. Für die Juden ist er Indikator der unterstellten Religionsunfähigkeit; für die Christen indiziert er Gnadenhilfe eines höheren Wesens als eine Grundthatsache für kognitive Kompetenz. Letztere sind es, die – gesehen als Arier – Unterscheidungen zu treffen wissen, in der Erlösungsbedürftigkeit die Voraussetzung für die Erlösungsutopie erkennen und diese zum Zukunftsprogramm zu gestalten vermögen. Ohne die Erbsünde hätte der Mensch keiner Gnade bedurft und müsste nicht durch sie erlöst werden. Schon im Wort Erbsünde wird deutlich, worin die rassischen Übertragungsparallelen für Chamberlain liegen. Ähnlich wie die Rassemerkmale wird auch die ererbte Schuld von Generation zu Generation weitergegeben. Dabei ist die Erlösungsutopie nur die logische Folgerung aus der Erlösungsbedürftigkeit. Gl 667f.: Der Begriff der Erlösung […] umschliesst zwei andere: diejenige einer gegenwärtigen Unvollkommenheit und diejenige einer möglichen Vervollkommnung durch irgend einen nicht-empirischen, d. h. also in einem gewissen Sinne übernatürlichen, nämlich transscendenten Vorgang: die erste wird durch den Mythus der ENTARTUNG, die zweite durch den Mythus der von einem höheren Wesen gewährten GNADENHILFE versinnbildlicht. Ungemein anschaulich wird der Entartungsmythus dort, wo er als Sündenfall dargestellt wird; darum ist dies das schönste, unvergänglichste Blatt der christlichen Mythologie; wogegen die ergänzende Ahnung der Gnade so sehr ins Metaphysische hinübergreift, dass sie anschaulich kaum mitteilbar gestaltet werden kann. Die Erzählung vom Sündenfall ist eine Fabel, durch welche die Aufmerksamkeit auf eine grosse Grundthatsache des zum Bewusstsein erwachten Menschenlebens gelenkt wird; sie weckt Erkenntnis; […]. Dort, wo das Bildende und Bildliche vorwiegt […], tritt die Entartung als "Sündenfall" ungemein plastisch hervor und wird somit zum Mittelpunkt jenes Komplexes innerer Mythenbildung, der sich um die Vorstellung der Erlösung gruppiert; wogegen man dort, wo dies nicht der Fall ist […], nirgends den Mythus der Entartung bis zur anschaulichen Deutlichkeit ausgeführt, sondern nur allerhand widersprechende Vorstellungen findet.
Die gegenwärtige Unvollkommenheit kann behoben werden, der nichtjüdische christliche Mensch (im Sinne Chamberlains) auf Dauer dem Zustand der möglichen Vervollkommnung näher kommen. Für Chamberlain liegt die Überwindung der Degeneration in der religiösen und kulturellen Überhöhung der eigenen Rasse, die allein einen Begriff von der Erbsünde haben kann und damit auch die Voraussetzungen für die Veredlung bzw. zum
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Veredler (s. o.) aufweist. Von der unterstellten Resistenz bzw. Immunität der Juden vor biologischer Entartung wurde schon geschrieben. Chamberlain geht jedoch noch weiter. GL 671: Der Gedanke an eine Erlösung des Menschen ist ebenfalls den Juden von jeher und bis auf den heutigen Tag vollkommen fremd und mit ihm zugleich (notwendigerweise) die Vorstellungen der Entartung und der Gnade. Den treffendsten Beleg liefert die Thatsache, dass, obwohl die Juden den Mythus des Sündenfalls am Anfang ihrer heiligen Bücher selber erzählen, sie niemals von Erbsünde etwas gewusst haben!
'Entartung' ist in seinen Augen ausschließlich ein arisches Konzept, damit eine Gefahr, die nur dem Arier droht, die Juden hingegen weder rassisch, noch kulturell, noch religiös betrifft. Die zweite, positive Verwendungsweise von Entartung offenbart erst die eigentliche Stigmatisierung, die zum Ausdruck gebracht werden soll: Entartung setzt Art voraus. Nur was hochstehend ist, kann tief fallen. Und nur was sündigt und in der Lage ist, sich der Sündhaftigkeit bewusst zu sein, kann durch Gnade erlöst werden. Diese Voraussetzungen erfüllen die Juden nicht: Sie können im Chamberlain'schen Weltanschauungssystem gar nicht fallen, weil er sie längst als kulturell "minderwertig" kategorisiert hat. Sie werden von ihm lediglich als das böse, zerstörerische Prinzip dargestellt, als die Schlange, die in Versuchung führt, als das Erbgut, das das Leben verkümmern lässt.
2. 2. Leben Lebend sterben: das ist die Essenz des Buddhismus (Gl 233) schreibt Chamberlain über die Erscheinung Christi in seinem Kapitel der Grundlagen, in dem er Buddha und Christus gegenüberstellt. Eine auf das Leiden konzentrierte Verneinung des Lebens, wie er sie den Buddhisten zuschreibt, kann nicht im Focus eines Autors liegen, der als Zukunftsutopie das germanische Christentum anstrebt, eine Religion, in der Tatkraft, Stärke und Schöpfertum geradezu als Inbegriff des Lebens konzipiert werden. Seinem Urteil über die Lehren Buddhas, das er mit dem Hinweis auf Schopenhauers Pessimismusphilosophie25 flankiert, stellt er einerseits die diesseitsund jenseitsorientierte Hinwendung zum Leben durch das richtig verstandene Christentum gegenüber und andererseits den Arier mit seinen Kulten. Leben ist für Chamberlain ein Hochwertwort und der Ausdruck für 1. >biologische Existenzform von Lebewesen< (z. B. AW 53); _____________ 25
Schopenhauer, Parerga 247: "Wenn nicht der nächste und unmittelbare Zweck unsers Lebens das Leiden ist; so ist unser Daseyn das Zweckwidrigste auf der Welt. Denn es ist absurd, anzunehmen, daß der endlose, aus der dem Leben wesentlichen Noth entspringende Schmerz, davon die Welt überall voll ist, zwecklos und rein zufällig seyn sollte."
234 Ideologiewortschatz
2. >von einem Menschen gelebte Zeit, Lebensspanne< (PI 21); 3. >Seinsweise, Form, Art und Weise, sein diesseitiges Leben zu gestalten und zu verbringen; Kultur; Lebenswandel, Lebensführung< (PI 22; AW 20; 89); 4. >über das irdische Dasein und den körperlichen Tod eines Einzelwesens hinausgehende Existenz; ewiges Leben<; 5. >durch die Rasse fortwirkendes Lebensprinzip; über den Tod eines Einzelindividuums hinausgehendes Überleben und Fortdauern von Merkmalen eines Volkes bzw. einer Rasse<; 6. >Wirkkraft, Lebenskraft, metaphysische Energie, Kraft, die das biologische, sittliche und kulturelle Handeln und Wirken von einzelnen Lebewesen, Völkern, vor allem aber 'Rassen', ermöglicht<; speziell: >Schöpferkraft<. Auffällig bei allen angesetzten Bedeutungen ist die Bezugsgröße. Nur in ganz wenigen Ausnahmefällen geht es um Individuen, z. B. in den Syntagmen das Leben Christi (Gl 223 u. ö.); das Leben Mohammeds (Gl 476); das Leben Beethovens (Gl 606); das Leben Wagners (Lebenswege 146). In der Regel aber schreibt Chamberlain vom Leben eines Kollektivs, womit die durchlaufende Ontisierung von 'Rasse', 'Volk' und 'Nation' wieder deutlich wird (AW 39; 55; PI 20; Gl 60 u. ö.). GL 370: Darum bedeutet für uns Menschen der Mangel an organischem Rassenzusammenhang vor allem moralische und geistige Zerfahrenheit. Wer nirgends herkommt, geht auch nirgends hin. Das einzelne Leben ist zu kurz, um ein Ziel ins Auge zu fassen und zu erreichen. Das Leben eines ganzen Volkes wäre ebenfalls zu kurz, wenn nicht Rasseneinheit ihm einen bestimmten, beschränkten Charakter aufprägte,
Mit der Ontisierung werden 'Volk' und 'Rasse' aber nicht nur als Entitäten mit einem irgendwie vorhandenen, wenn auch nicht näher definierten realen Seinsstatus suggeriert, sondern auch einer qualitativen Bestimmung, einem Wie, unterworfen. Dieses Wie soll hier mit dem Ausdruck Biologisierung gefasst werden, das ist die Sicht des gesamten gesellschaftlichen, moralischen und kulturellen Lebens als einer durch biologische Prozesse bestimmten Größe. Die biologische Existenzform impliziert also nicht nur die Körperlichkeit eines Lebewesens, sondern stellt das gesamte Bedeutungsfeld und die gesamte Intertextualität, also auch die auf eher biographische (s. Ansatz 1), kulturelle (s. Ansatz 3), religiöse (s. Ansatz 4), geschichtsideologische (s. Ansatz 5) Bezüge ausgerichteten Verwendungen in entsprechende Zusammenhänge und ermöglicht insofern den logischen Brückenschlag zur Rassentheorie. Chamberlains Vorstellung, dass die Rasse ein Grundphänomen des Lebens (Br I, 148) sei, spiegelt sich also auch in seiner Semantisierung von Leben. Wenn die biologische Existenzform der
235 Ideologiewörter: Leben
Menschen als semantische Einheit bei Chamberlain durch das Merkmal 'rassegeprägt' gekennzeichnet ist, dann sind es auch alle damit verbindbaren tropischen Verwendungen und Komposita. Deutlich wird dies in den Bedeutungsansätzen 4 und 5, in denen 'Leben' pseudochristlich im Sinne eines Überlebens der Einzelseele über den Tod hinaus sowie geschichtsideologisch über die Zeiten hinweg oder gar außerhalb der Zeit verstanden wird. Es ist typisch für Chamberlain, dass er in dieser entscheidenden Frage, die ja schließlich die wichtigen letzten Dinge angeht, sowohl die religiösen als auch die (pseudo)naturwissenschaftlichen Erwartungen seiner Leser bedient. Das Dasein der Juden, die als Gegenprinzip des gottähnlichen neuen arischen Menschen gelten, wird zur Sünde erklärt, zum Verbrechen gegen die heiligen Gesetze des Lebens (Gl 444).26 Diese hätten keine Lebenskraft, sondern litten an einem Absterben in der Knospe (Gl 259). Mit den angesprochenen Gesetzen sind die Rassengesetze (Gl 333) gemeint, für Chamberlain nicht nur der Dreh- und Angelpunkt seiner Schriften, sondern die allerwichtigste Lebensfrage, die an den Menschen herantreten kann (Gl 320). Parallel zu Bedeutungsansatz 5 von Leben bedeutet das Kompositum Lebensfrage nichts anderes als die Existenzfrage über das Sein oder Nichtsein der Menschheit, was in seinem System wiederum nur das Überleben der arischen Rasse und damit der unterstellten arischen Kulturfähigkeit voraussetzt. Leben stellt dasjenige Prinzip dar, das das genetische Fortwirken einer bestimmten Rasse ermöglicht, und das sich von einer Generation zur anderen realisiert. GL 362: Dafür bietet die Tierzüchterei experimentelle Beweise in grosser Anzahl. Man nehme ein Stück Papier und zeichne sich einen Stammbaum; man wird sehen, dass, wenn man nur vier Generationen zurücksteigt, ein Individuum schon dreissig Voreltern zählt, dreissig Menschen, deren Blut in seinen Adern fliesst. […] Woraus schöpften jene Menschen des Völkerchaos Gedanken und Religion? Aus sich selbst nicht, nur von Juden und Hellenen. Und so war denn alles Bindende, Leben-erhaltende der Erbschaft grosser Rassen entnommen.
Während der Mensch als einzelner der Sterblichkeit verhaftet bleibt, wird der biologischen Folge, in der der Einzelne über die Kette von Eltern und Kindern steht (Gl 337), ein Fortwirken nach dem Tode zugeschrieben und zwar über den Ansatz einer nach Ontisierung der 'Rasse' zusätzlich ange_____________ 26
Gl 444: "Ich bin, wie gesagt, überzeugt, der Schlüssel zu dieser merkwürdigen, widerspruchsvollen Vorstellung liegt in der physischen Entstehungsgeschichte dieser Rasse: ihr Dasein ist Sünde, ihr Dasein ist ein Verbrechen gegen die heiligen Gesetze des Lebens; so wenigstens wird sie vom Juden selber in den Augenblicken, wo das Schicksal hart an seine Pforte klopft, empfunden. Nicht das Individuum, sondern das ganze Volk müsste rein gewaschen werden, doch nicht von einem bewusst, sondern von einem unbewusst begangenen Vergehen; und das ist unmöglich, "wenn du dich gleich mit Lauge wüschest und nähmest viel Seife dazu", wie Jeremia seinem Volke zuruft (II, 22)."
236 Ideologiewortschatz
setzten Größe, nämlich der 'Rassenseele' (GL 337; 831). Dadurch, dass die neue Größe im Grundwort mit Seele bezeichnet wird, erscheint sie als Spezifizierung von 'Seele', überblendet diesen als christlich geltenden Begriff mit einem genetisch-biologischen Inhaltskonstrukt. Diese Überblendung wird der Leser der Chamberlain-Gemeinde nicht rational hinterfragt, sondern lediglich rezipiert haben; sie wird ihm darüber hinaus den erbaulichen Glauben seines individuellen Aufgehobenseins in der Überzeitlichkeit vermittelt haben. Das Erfolgsgeheimnis dieser Überzeitlichkeit mag darin liegen, dass sie neben der bereits angedeuteten progressiv genetischen und der zumindest verbal an christliche Vorstellungen anschließenden religiösen Komponente auch eine sowohl nach vorwärts wie nach rückwärts gerichtete historische Einbettung suggerierte. Wenn Chamberlain die Rasse zur Lebensfrage macht, dann geht es ihm um das erhaltende Prinzip, das heißt in einem pseudodarwinistischen Sinne um den existentiellen Kampf um Leben und Tod der Menschheit (Gl 632), bei dem nur der Starke überleben und sein genetisches Material für die zukünftigen Generationen retten kann. Der Kampf ums Leben [stärkt] dieses Starke durch Ausscheidung der schwächeren Elemente (Gl 328), das Menschenmaterial wird gestählt und erhöht somit die Überlebenschancen auch zukünftiger Generationen. Das Kompositum Lebenskampf (z.B. Br. I, 127; Wagner 126; 441), das später auch von den nationalsozialistischen Ideologen häufig gebraucht wurde27 und sowohl das Ringen des Einzelnen um seine physische und gesellschaftliche Existenz als auch das Überleben ganzer Völker und "Rassen" im Hinblick auf eine ins gesellschaftliche und sozioökonomische Dasein übertragene Evolution bezeichnet, bezieht der fortwährend kranke Chamberlain übrigens auch auf sich selbst (Br, II, 65): "denn Menschsein ist Kämpfersein, und bei mir absorbiert der Lebenskampf schon alle Kräfte." Das Leben wird von ihm gesehen als das alles bewegende und bewirkende Prinzip (Bed. 6), die metaphysische Kraft in Geschichte und Kultur: So erklärt sich das Bild vom neuen Menschheitsmorgen, vom Aufgehen einer neuen jungen Kultur, der der kommende Tag offen steht. Das Leben als Fortwirken der jungen arischen Rasse müsse deswegen erhalten bleiben, weil es die Voraussetzung des Lebens überhaupt ist. Die Metaphorik von jung und alt impliziert immer schon gleich den Untergang des Alten. Stirbt auch das Junge, kann es, bleibt man im Bild, kein Morgen geben, dann ist das Ende der Art gekommen. Leben, geboren werden, sterben (Gl 6/7; 67), jung und alt sind, wenn man sie aus ihrem Bezug auf den Menschen löst und zur Charakterisierung von Geschichte und Kultur gebraucht (Gl 17), Metaphern, Projektionen aus dem Bereich der Biologie auf soziale _____________ 27
Vgl. dazu: Hitler, Mein Kampf I, 29; 353; II 46f.; Rosenberg, Mythus 36; 644 u. ö.
237 Ideologiewörter: Leben
Größen, ohne dass sie dabei ihre naturgesetzlichen Implikationen verlieren. Das durch die Projektion entstandene neue Leben vermittelt Aufbruchsstimmung, Zukunft und Utopie: GL 17: die Menschheit hat eben unter Führung der Germanen ein neues Leben begonnen, sie ist gewissermassen auf ihrem Wege um eine Ecke gebogen und verliert plötzlich selbst die letzte Vergangenheit aus den Augen; nunmehr gehört sie der Zukunft an.
An dieser Metaphorik zeigt sich Chamberlains chiliastisches Denken; seine Heilslehre ist in die germanische Zukunft gerichtet, braucht aber das Alte zur Demonstration der eigenen Kraft und zur Selbstlegitimation (vgl. dazu Gl 771). Das innere treibende Leben (AW 20), vor allem aber das Leben spendende Leben (AW 20; 22) wirken dagegen in die Zukunft hinein. Wortbildungen wie Lebenskraft (Gl 541),28 Lebensflamme (AW 39), Lebensader (Gl 20), Lebensprinzip (Gl 333) verweisen nicht nur auf das kontinuierliche Fortwirken der Rasse, da sie durchgehend in deren textlicher Nähe erscheinen, sie machen immer wieder deutlich, dass dieses Wirken ein aktives Eingreifen der Größe 'Rasse' in den Lebensalltag bedeutet. GL 847: New York und Melbourne sind ungleich "europäischer" als das heutige Sevilla oder Athen, – nicht im Aussehen, wohl aber im Unternehmungsgeist, in der Leistungsfähigkeit, in der intellektuellen Richtung, in Kunst und Wissenschaft, in Bezug auf das allgemeine moralische Niveau, kurz, in der Lebenskraft. Diese Lebenskraft ist das köstliche Erbe unserer Väter.
Leben im Sinne einer genetisch bedingten Wirkkraft befähigt zu kultureller Leistung des Einzelnen und ist die Voraussetzung für Kultur (AW 34), Genie (AW 37), Schöpferkraft (ebd.) ganzer Völker. So lag z. B. der Schwerpunkt hellenischen Lebens in der künstlerischen Gestaltungskraft (AW 21); Kunst sei in Griechenland höchstes Moment des menschlichen Lebens gewesen (AW 39), aus dem indischen Leben möchte Chamberlain Gewinn für unser eigenes Kulturwerk ziehen (AW 20). Schönheit und Kunst seien der Kraftvorrat des Lebens (Gl 60), das eigentliche Lebensprinzip. Leben und Kultur einer Nation sind für ihn reziprok. AW 39: In Griechenland war eben die Kunst das höchste Moment des menschlichen Lebens, was nur dann der Fall sein kann, wenn sie kein von diesem Leben Abgetrenntes, sondern ein in ihm selbst nach der Mannigfaltigkeit ihrer Kundgebung vollständig Inbegriffenes ist (Richard Wagner).
Das Ineinssetzen von 'Leben' und 'Kunst' hat verschiedene Facetten. Die eine lässt das Leben zur empfangenden Größe werden, in der die Kunst dem Leben (im Sinne von Bed. 2) Antrieb und Leben (im Sinne von Bed. 6) bzw. Lebenskraft spendet.
_____________ 28
Lebenskraft ist auch ein zentrales Programmwort Gobineaus (vgl. Gobineau III, 20).
238 Ideologiewortschatz
Gl 1081: Die Kunst des Genies lebt nicht allein in einer Atmosphäre von vor-, mit- und nachschaffender künstlerischer Genialität, sondern gerade das Genie streckt seine Wurzeln aus bis in die entlegensten Gebiete, saugt Nahrung von überall ein und trägt wiederum Lebenskraft überall hin.
In der zweiten Facette wird die Kunst zur Schöpferin und Spenderin eines neuen, die natürlichen Bedingtheiten sprengenden Lebens (vgl. auch Gl 1100; 1062). Die auf den ersten Blick ebenso absurde wie paradoxe Aussage des folgenden Zitats, was lebt, stirbt nicht, bringt dies zum Ausdruck. Gl 86: was gestern als wahr galt, ist heute falsch, und an diesem Verhältnis wird auch die Zukunft schwerlich etwas ändern, da die Erweiterung des Wissensmaterials mit der Erweiterung des Wissens Schritt hält. Was dagegen der Mensch als Künstler geformt, die Gestalt, der er Lebensatem eingehaucht hat, geht nicht unter. Ich muss wiederholen, was ich oben schon sagte: was lebt, stirbt nicht.
Während das vom Künstler geschaffene Leben außerhalb der Naturgesetze zu existieren scheint, kann Chamberlain Natur explizit auch mit Leben synonym setzen. GL 319/20: Das Leben dagegen, rein als solches, ist ein anderes Wesen als das systematische Wissen, ein weit stabileres, fester gegründetes, umfassenderes; es ist eben der Inbegriff aller Wirklichkeit, während selbst die präziseste Wissenschaft schon das verdünnte, verallgemeinerte, nicht mehr unmittelbare Wirkliche darstellt. Ich verstehe hier unter Leben, was man sonst wohl auch "Natur" nennt, wie wenn zum Beispiel die moderne Medizin lehrt: durch das Fieber befördert die Natur den Stoffwechsel und verteidigt den Menschen gegen die Krankheit, die ihn beschlichen hat. Die Natur ist eben, was man "selbstwirkend" nennt; ihre Wurzeln reichen weit tiefer hinunter, als bis wohin das Wissen wird jemals gelangen können. Und so meine ich nun, dass wir – die wir als denkende, vielwissende, kühn träumende und forschende Wesen doch gewiss eben solche integrierende Bestandteile der Natur sind wie alle anderen Wesen und Dinge und wie unser eigener Leib – mit grosser Zuversicht uns dieser Natur, diesem Leben anvertrauen dürfen. Wenn auch die Wissenschaft uns an gar vielen Stellen im Stiche lässt, wenn sie, wetterwendisch wie ein moderner Parlamentspolitiker, heute verlacht, was sie gestern als ewige Wahrheit lehrte, das darf uns nicht beirren; so viel wir zum Leben brauchen, werden wir schon erfahren. Überhaupt ist die Wissenschaft eine zwar herrliche, doch nicht ungefährliche Freundin; sie ist eine grosse Gauklerin und verführt den Geist leicht zu toller Schwärmerei.
Die Gleichsetzung von Natur und Leben als Wirkkräften dienen nicht nur der unumstößlichen Legitimation der daraus resultierenden Gewächse, wie zum Beispiel der eigenen Weltanschauung, die aus der metaphysischen Tätigkeit eines ganzen Volkes organisch herauswuchs (AW 39), sie dienen vor allem der Rasse, die als waltendes Prinzip sowohl Teil der Natur als auch Teil des Lebens sein soll (Gl 370; vgl. auch Gl 332ff.) und deren Verfall hier metaphorisch als Krankheit angedeutet wird.
239 Ideologiewörter: Leben
2. 2. 1. Leben und Wissenschaft Chamberlains "Lebensphilosophie" lebt, und dies sei hier in einem Exkurs im Anschluss an das letzte Zitat angedeutet, von der Verachtung jeglicher Gelehrtenweisheit (Gl 231), des Buchwissens und wissenschaftlicher Theorien. Erkenntnistheoretisch relevant sind für ihn nicht auf die Ratio zielende philosophische Gebäude welcher Provenienz auch immer und nicht irgendeines der hoch entwickelten methodischen Instrumentarien irgendeiner Einzelwissenschaft, sondern, analog zu ausgewählten Aussagen Nietzsches und bezogen auf bestimmte argumentationsgerecht interpretierte Inhalte von Goethes Faust, die Tat und die Lebenspraxis (Gl 231). Vor allem Natur und Leben sind entsprechend Schlagwörter im Feldzug gegen rational basierte, der Objektivität der Erkenntnis verpflichtete Wissenschaften. Diesen unterstellt er eine rein äußerliche Betrachtung, aber keine Erkenntnis des in der Tiefe der Dinge Verborgenen. Hier zeigt sich einerseits die offensive Strategie eines Illusionisten, das eigene Konstrukt gegen die Desillusionierung zu schützen, andererseits der die Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts bestimmende Umbruch von rationalistischer Begründung der Wissenschaft zu neuen, nunmehr im weitesten Sinne lebensphilosophischen Orientierungen. Es geht nicht mehr um die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen des menschlichen Denkens, um die Methoden, Erkenntnissicherheit und nachprüfbare Erkenntnisergebnisse zu finden, sondern um das Leben mit seinen Möglichkeiten, seinen Grenzerfahrungen und der Gefahr des Scheiterns. Dies ist keine von akademisch Interessierten sine ira et studio betriebene akademische Auseinandersetzung, sondern ein Kampf um das Paradigma, teilweise ein Glaubenskampf. Dabei werden – so auch bei Chamberlain – Wörter wie Natur und Leben zu nicht hinterfragbaren Pauschalargumenten mit Leerformelcharakter, vor allem da sie zu sich selbst erklärenden Autoritäten erhoben werden, zu deren Verständnis man kaum mehr braucht, als das Eingeweihtsein durch den Eingeweihten, eben den alles wissenden Chamberlain. Polemische Wissenschaftskritik führt zu einer sich fortwährend wiederholenden Agitation gegen eine Form von Wissenschaft, die er mittels partieller Synonyme wie Objektivität, Vernunft, Verstand, Logik (Gl 785) kennzeichnet, mit abwertenden Prädikationen versieht und dann seinem Gegenbild gegenüberstellt, das er mit Ausdrücken wie Anschauung, Erfahrung, Instinkt, Wirklichkeit, Natur und immer wieder Leben evoziert und seinerseits durch Bezugsetzungen auf Größen der Geistesgeschichte, darunter Goethe, aufwertet:29
_____________ 29 Vgl. dazu u. a.: Marcuse 1965, 18.
240 Ideologiewortschatz
AW 20: Wie Goethe richtig bemerkt, die Wissenschaft, rein als solche, besitzt keine zeugende Kraft; sie nährt ihren Mann, weiter nichts: Ihr erzeuget nicht das Leben, Leben erst muß Leben geben.
Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit sind nur dann von Nutzen, wenn Chamberlain sie für seine Zwecke gebrauchen kann, wenn nicht, so polemisiert er gegen sie als Ort der Erkenntnis, oder er bezweifelt die Fachkompetenz einzelner Wissenschaftler. Offenbart sich hier schon sehr deutlich, wie "pragmatisch" Chamberlain mit Wissenschaftlichkeit und wissenschaftlichen Fakten umgeht, so zeigt das folgende Zitat, dass diese in Anbetracht der Zukunftsfokussierung ohnehin nur übergehbare Zwischenstadien vorgeben können. Es geht Chamberlain bei aller ausschweifenden Diskussion, die er in seinen Schriften führt, letztlich gar nicht um die wissenschaftliche Klärung der Frage, ob es z. B. den Arier oder den Indogermanen überhaupt je als biologische Größe oder in welcher Existenzweise auch immer gegeben hat. Was er durch die stilistische Technik des Schaffens von abstrakten Bezugsgrößen des Typs der Arier erreicht, sind Fiktionen, die, je konsequenter man sie mit Prädikationen versieht, für den Rezipienten in dem Maße Realität gewinnen, in dem er sich auf die Prädikationen einlässt, in dem er gleichsam das Spiel, das Chamberlain mit ihm spielt, mitspielt. Ob Chamberlain selbst an die Realität seiner Fiktion geglaubt, sich also selber durch seine Stilistik in die Rolle des Gläubigen geschrieben hat, ist nicht definitiv zu entscheiden. Die fortwährende Betonung allerdings des Ariers oder ähnlicher Fiktionen als durch Züchtung zu schaffendes Zukunftsprojekt, als Utopie, macht es wahrscheinlich, dass er das Spiel mit der Schaffung und Ontisierung fiktionaler Gegebenheiten durchschaut und demnach bewusst, d. h. als Täuschung gespielt hat. Im folgenden Zitat gibt er die Möglichkeit, dass es in der Vergangenheit nie eine arische Rasse gegeben hat, sogar explizit zu. Das Argumentationsmuster lautet: Meine Aussagen sind, wie ihre Übernahme durch verschiedene Wissenschaften zeigt, wissenschaftlicher Provenienz; und selbst wenn sie falsch sein sollten, dienen sie den Männern der Tat. Gl 292 Anm. 1: Überhaupt können Anthropologen, Ethnologen und selbst Historiker, Religionsforscher, Philologen, Rechtsgelehrte des Begriffes "Arier" von Jahr zu Jahr weniger entraten. Und dennoch wird Unsereiner, wenn er noch so vorsichtigen und streng umschränkten Gebrauch von dieser Vorstellung macht, von akademischen Skribenten und namenlosen Zeitungsreferenten verhöhnt und verunglimpft. Möge der Leser dieses Buches der Wissenschaft mehr trauen als den offiziellen Verflachern und Nivellierern und als den berufsmässigen antiarischen Konfusionsmachern. Würde auch bewiesen, dass es in der Vergangenheit nie eine arische Rasse gegeben hat, so wollen wir, dass es in der Zukunft eine gebe; für Männer der Tat ist dies der entscheidende Gesichtspunkt.
'Leben', 'Natur' als Referenzobjekte und Männer der Tat als Zukunftsgestaltende bedürfen zur Erhöhung ihrer Akzeptabilität im Ideologiespiel der
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Zeit des Gegenkonstruktes. Als solches fungiert eine Gruppe, die er stilistisch teilsynonym als akademische Skribenten und namenlose Zeitungsreferenten, offizielle Verflacher und Nivellierer, dann als berufsmässige antiarische Konfusionsmacher bezeichnet. Zur Negativität der Bezeichnungen trägt die Fülle der Gestaltungsmittel bei: Fremdwörter (akademisch, Skribent, -referent, Nivellierer, arisch, Konfusion), Fremdaffixe (anti-, -enten, -ierer), Neuwortbildungen (Verflacher, Nivellierer, Konfusionsmacher), Parallelität der Wortgruppen (Adjektivattribut plus Substantiv, letzteres jeweils mit gleichem Suffix: -enten bzw. -er), Behaghelsches Gesetz der wachsenden Gliederzahl (Skribent zu Zeitungsreferent; berufsmäßige antiarische Konfusionsmacher mit zwei Adjektivattributen und damit als Achtergewicht auffassbar). Der Seitenhieb auf das Journalistendeutsch als unkünstlerisches, dem Augenblick verpflichtetes Eintagsdeutsch und auf die Namenlosigkeit des als Referenten abgewerteten Journalisten wird angesichts der Skepsis gegenüber der Presse ohnehin verstanden und akzeptiert worden sein. Eine solche Argumentation dreht die Fakten einfach herum, sie konstruiert ein Weltbild, das sich auf Dynamik und Kraft des Lebens stützt und nicht auf kritischer Analyse beruht. Wort Leben und Sache 'Leben' haben für Chamberlain zentrale Bedeutung. Sie sind mehr als bloße Reflexe des Biologischen und bezogen auf die Gegenwart mehr als der "Inbegriff aller Wirklichkeit" (s. o. 293). Im Wort Leben manifestiert sich die so genannte Lebensphilosophie, in der das Leben als Urgegebenheit mystifiziert und zur legitimen Quelle positiv gesehener, naturhafter Irrationalität stilisiert wird. Für Chamberlain besteht die besondere Bedeutung des Lebens aber auch darin, dass er es als eine sich selbst reproduzierende, über allem stehende Macht ansah, in der die Zukunftsfähigkeit alles Lebendigen zwar bereits angelegt ist, die aber noch Raum für Gestaltungsmöglichkeiten hat. Im Schatten einer solchen Lebensideologie, die jede mit ihr begründete Aussage von vorne herein der Kritik enthebt, ist nachprüfbare Wissenschaft für Chamberlain nur noch dann von Nutzen, wenn er sie für seine Zwecke gebrauchen kann. 2. 2. 2. Leben und Religion Bei näherer Betrachtung der angesetzten Einzelbedeutungen wird klar, dass es Chamberlain zusammen mit vielen seiner lebensphilosophisch geprägten Zeitgenossen nicht um eine vita contemplativa, sondern um die vita activa ging. Dabei stand das Kreationistische und Kämpferische im Vordergrund, lexikalisch gefasst durch Ausdrücke wie Tat und Kraft und die mit ihnen gebildeten Komposita; vgl. Kampfkraft, Schöpferkraft; Geistestat (AW 18), Befreiungstat (AW 34), Großtat (AW 62), Königstat (Br II, 170)30. _____________ 30
Vgl. dazu: Gl 128: "Leopold von Ranke, der für die homerische Religion kein anderes
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Das duldende Leiden hingegen, das im traditionellen Christentum zur Imitatio-Christi-Vorstellung gehört und die Basis des Heilsgedankens darstellt, sei es durch die Passion Christi, sei es in der Demutstheologie, spielt für Chamberlain nicht nur eine untergeordnete Rolle, sondern ist in seinen Augen das Gegenkonzept zum tatbestimmten Menschen, etwa zum Helden. Das Leiden kennzeichnet er daher als buddhistischen Ausdruck der Verneinung. Dieser Gedanke erscheint bei Chamberlain in mannigfachen Ausfächerungen und an verschiedenen Stellen seines Werkes. Als prototypisch kann der folgende Absatz aus den Grundlagen (Gl 236) gelten, der deshalb etwas genauer analysiert werden soll: Gegenstand der Abwertung ist eingangs der Pessimismus des 19. Jahrhunderts, verstanden als "Verneinung des Willens". Wenige Zeilen später wird mit Bezug auf Christus gesagt, sein Leben sei die Verleugnung gewisser historischer Erscheinungen des Christentums, womit Leben in eine synonymische Beziehung zu Willen gebracht und die Willensverneinung in die Nähe der der Lebensverneinung argumentiert und tendenziell mit ihr in eins gesetzt wird. Dem gebildeten Leser des 19. Jahrhunderts wird aufgefallen sein, dass mit der Nennung von Pessimismus und mit Ausdrücken wie Verneinung textgeschichtlich vor allem Schopenhauer gemeint sein muss; Verneinung wird außerdem auch auf den Mephisto der Faust-Dichtung Goethes bezogen worden sein, denn er ist ja der Geist, der stets verneint,31 der dem Entstehen das Zugrundegehen, die Zerstörung entgegensetzt. Dies wiederum ruft in der hier vermuteten Assoziationskette des Rezipienten e contrario eine Lichtgestalt, eben Faust mit seiner Gottesebenbildlichkeit,32 seinem Streben nach Erkennen und Handeln in Einheit hervor. Und dies wiederum macht den Buddhismus, so wie man sich ihn im 19. Jahrhundert vorgestellt haben dürfte, ebenfalls zum Willens- und Lebensverneiner; für die bereits erwähnten kirchlichen Erscheinungen und Dogmen gilt das Gleiche. Die Rettung liegt im Gegenkonzept, nämlich in einem Christus, von dem fern jeder Spur von Christentum im Zitat nur gesagt bzw. suggeriert wird, dass er das Gegenteil von Willens- und Lebensverneinung, Gegenpol eines elenden, zum Jammer geborenen Wesens sei. Zu einer positiven Bestimmung gibt der folgende Text explizit nichts her: Die Rede vom in uns wohnenden _____________
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Epitheton kennt als "Götzendienst", schreibt: "Was Aristoteles über den Unterschied der thätigen und leidenden Vernunft ausspricht, von denen jedoch nur die erste die wahre ist, autonom und gottverwandt, also auch unsterblich, möchte ich für das Beste erklären, was über den menschlichen Geist gesagt werden konnte, vorbehalten die Offenbarung". Goethe, Faust, Studierzimmer 1339ff: "Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, / ist wert, dass es zugrunde geht; / Drum besser wär's, dass nichts entstünde. / So ist denn alles, was ihr Sünde, / Zerstörung, kurz das Böse nennt, / Mein eigentliches Element." Ebd. 516.
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Reich Gottes, vom Göttlichen in uns, vom Himmel lässt sich nicht zu einer rationalen Aussage über Christus transformieren. Es bleibt nur der vage Eindruck, dass er das Lebensprinzip, den Willen, Kraft und Tat vertritt. Eine so postulierte Lebenszugewandtheit Christi wird dabei aus der Transzendenz gehoben und zu einer weltimmanenten Neuorientierung der Gegenwart funktionalisiert. Gl 236f.: Und da schlagen wir die Augen auf und erblicken diese Gestalt, dieses Leben. Über die Jahrtausende hinweg vernehmen wir die Worte: "Lernet von mir!" und verstehen jetzt, was das heissen soll: sein wie Christus war, leben wie Christus lebte, sterben wie Christus starb, das IST das Reich Gottes, das IST das ewige Leben. Im 19. Jahrhundert, wo die Begriffe Pessimismus und Verneinung des Willens sehr geläufig geworden sind, hat man sie vielfach auf Christus angewandt; sie passen aber nur für Buddha und für gewisse Erscheinungen der christlichen Kirchen und ihrer Dogmen, Christi Leben ist ihre Verleugnung. Wenn das Reich Gottes in uns wohnt, wenn es wie ein verborgener Schatz in diesem Leben einbegriffen liegt, was soll der Pessimismus? Wie kann der Mensch ein elendes, nur zu Jammer geborenes Wesen sein, wenn seine Brust das Göttliche birgt? wie diese Welt die schlechteste, die noch gerade möglich war (siehe Schopenhauer, …), wenn sie den Himmel einschliesst? […].
Die Imitatio Dei soll im Hier und Jetzt stattfinden, vor allem in der Begründung eines germanischen Christentums, das dazu verhilft, den arischen Menschen in seiner Gottähnlichkeit zu vollenden. Chamberlains Christus ist das Licht, das Leben und das gute Prinzip, er ist konstruktiv, positiv, bejahend, lebensspendend (s. o.). Gl 237: Christus, […], war "nicht weise, sondern göttlich"; […] und weil er göttlich war, wandte sich Christus nicht hinweg vom Leben, sondern zum Leben hin. Dies findet ein beredtes Zeugnis in dem Eindruck, den Christus auf seine Umgebung zurückliess; sie nennt ihn: den Baum des Lebens, das Brot des Lebens, das Wasser des Lebens, das Licht des Lebens, das Licht der Welt, ein Licht von oben, denen als Leuchte gesandt, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes; Christus ist für sie der Fels, der Grund, auf welchem wir unser Leben aufbauen sollen […]. Alles positiv, alles konstruktiv, alles bejahend. Ob Christus die Toten wirklich auferweckte, mag Jeder bezweifeln, der will; umso höher muss er jedoch dann den lebenspendenden Eindruck anschlagen, der von dieser Erscheinung ausstrahlte, denn wo Christus ging, glaubte man die Toten auferstehen […].
Die Transponierung des auf den religiösen Menschen, seine Rechtfertigung vor Gott und damit seine Heilsgewissheit zielenden Anliegens des dogmatischen Christus aller relevanten Kirchen auf das Diesseits zeigt sich aber nicht nur in direkten Prädikationen der Art "alles positiv" usw., sondern mehr noch darin, wie Chamberlain mit den Texten der Bibel umgeht. Zunächst einmal wird all dasjenige, was sich im Sinne seiner Ideologie verwenden lässt, aus seinem authentischen Zusammenhang gerissen und in gleich gestalteten Syntagmen, teilweise nach dem Gesetz der wachsenden Gliederzahl und mit weiteren rhetorischen Mitteln so
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zusammengestellt, dass eine einheitliche, durchaus nachvollziehbare Fiktion entsteht, nämlich: Christus als der Lebensbejahende (zusammengefasst und verkürzt). Relevanter und der Regressforderung bei normaler Lektüre völlig entzogen aber ist Folgendes: Ausdrücke wie Baum des Lebens, Licht des Lebens sind im Text der Bibel zu lesen als Baum / Licht, der / das Leben spendet; dabei ist Leben in der Nominalphrase als genitivus objectivus, in deren Transformation dementsprechend als Akkusativobjekt, genau gesprochen als effiziertes Objekt zu verstehen. In der Formulierung Chamberlains dagegen bleibt die genaue Semantik der Ausdrücke zumindest offen. Das heißt: es können andere Lesungen vorgenommen werden, nämlich Baum des Lebens als genitivus explicativus (Baum wie Leben und umgekehrt; man vgl. auch das Kompositum Lebensbaum), Licht des Lebens (Licht wie Leben und umgekehrt; vgl. Lebenslicht) usw. mit im einzelnen unsicherer Interpretation. Leben rückt jedenfalls in seinen biblischen Textzusammenhängen aus dem Bereich des von Christus Effizierten in den Bereich des zu Explizierenden oder gar des seinerseits Effizierenden, also in prototypische kategorialsemantische Positionen des Subjekts, damit der autonomen, präsupponierten Existenz. Es handelt sich hier um einen Funktionsschub, der noch schwerer erkennbar ist als die üblichen Satzgliedschübe. Unter lexikalischem Aspekt passt hierzu, dass das Substantiv Leben in der biblischen Rede von Christus als dem Licht des Lebens keineswegs die irdische, biologische, soziale Existenzform des Menschen meint, sondern das Leben nach dem Tode, in der Transzendenz. Doch das Jenseits scheint Chamberlain gar nicht wirklich zu interessieren, denn darüber redet er nicht. Das Reich Gottes liegt wie ein Schatz im Lebensacker begraben (Gl 239) und ist damit von dieser Welt oder, wie er es im Zitat oben perspektivenverschoben ausdrückt, diese Welt schließt bereits den Himmel mit ein. Die Imitatio Dei, mit der Belohnung schon im diesseitigen Leben, ist der Ruf, den Chamberlain vernimmt und dem er huldigt. Christus wird damit einer fundamentalen Neubestimmung unterworfen. Das Lebensvolle an ihm ist nicht mehr die sich in seinem Erlösungstod äußernde Liebe, sondern die Aktivität des Schwertes, das er mitbrachte, seine Kampfeslust (Gl 239). Sein Leben sei eine offene Kriegserklärung (Gl 240) und seine Erscheinung vom welthistorischen Standpunkt aus die Erscheinung einer neuen Menschenart (ebd.). Leben, Kraft, Antrieb und Stärke (Gl 240ff.) werden damit zu kontextuellen Synonymen, bei Ausdrücken wie neue Menschenart wird gleichsam neues rassisches Genmaterial präsupponiert. Chamberlain huldigt Christus als dem Schöpfer, Gottmenschenmacher, Retter und Krieger. GL 239: Nicht Frieden, sondern das Schwert: das ist ein Ton, den man nicht überhören darf, will man die Erscheinung Christi begreifen. Leben Jesu Christi ist eine offene Kriegserklärung, nicht gegen die Formen der Civilisation, der Kultur
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und der Religion, die er um sich her fand […] – wohl aber gegen den inneren Geist der Menschen, gegen die Beweggründe, aus welchen ihre Handlungen hervorgehen, gegen das Ziel (auch das jenseitige), welches sie sich stecken. Die Erscheinung Jesu Christi bedeutet, vom welthistorischen Standpunkt aus, die ERSCHEINUNG EINER NEUEN MENSCHENART.
Diese neue Menschenart fällt in Chamberlains Argumentation erwartungsgemäß mit den Ariern zusammen. Christus wird zum Vorbild für den neuen Menschen. Er verbindet in sich sowohl den christlichen miles als auch den Arier miteinander und bildet damit das Kernstück des germanischen Christentums.33 Lebenswege 384: Zugrunde liegt bei Don Quixote die gewaltige und herrische Kraft der Einbildung, der wir in der Tat alles verdanken, was unsere Rasse Unvergleichliches geschaffen hat. Arier-sein heißt Schöpfer-sein; hierin liegt die Verwandtschaft dieser Rasse mit dem Göttlichen und die Überzeugung, Gottes Söhne - nicht seine Knechte - zu sein." […]
Was die so beschriebenen Gottessöhne explizit ausmacht, ist nicht nur ihre spezifische Christusnachfolge, sondern ihre selbstschöpferische Kraft, die sie durch Christus entdeckt haben. Die Häresie dieses Germanenbzw. Deutschenglaubens wird hier besonders deutlich. In der von Chamberlain propagierten germanischen Religion besteht sie erstens in der Relativierung der Göttlichkeit Christi. Christi Rolle wird auf eine Initiations-, Vorbild- und Vermittlerfunktion reduziert. Er kann nur noch auf eine gleichzeitig allgegenwärtige wie verborgene Kraft hinweisen, die dem entzündeten Menschen selbst innewohnt. Zweitens besteht sie in der Erhebung des Menschen zum Selbsterlöser, zum Handelnden, Gestaltenden und Lebenspendenden in der Welt. _____________ 33
Vgl. dazu Chamberlains Ausführungen über Don Quixote in Lebenswege 384: "In Don Quixote hat uns Cervantes eine rein arische Idealgestalt vor Augen gezaubert; die Biegung des Charakters ins Komische, veranlaßt durch einen gewissen Mangel an Gleichgewicht, dient lediglich, die verborgene Seelenstruktur aufzudecken. Zugrunde liegt bei Don Quixote die gewaltige und herrische Kraft der Einbildung, der wir in der Tat alles verdanken, was unsere Rasse Unvergleichliches geschaffen hat. Arier-sein heißt Schöpfer-sein; hierin liegt die Verwandtschaft dieser Rasse mit dem Göttlichen und die Überzeugung, Gottes Söhne nicht seine Knechte - zu sein." […] Sie sehen: anstatt, daß die vielen schlechten Erfahrungen ihn von seinem Ideal abbrächten, lebt er sich immer mehr hinein und stellt gegen Schluß das stolze Bekenntnis auf: "Ich wurde geboren, um sterbend zu leben". Dieser großartige Arier weist nun keinen einzigen Zug der Selbstsucht, des Neides, des "Gemeinen, das uns alle bändigt", auf; er ist fleckenlos rein; "der Himmel hat ihm ein zartes und mitleidiges Gemüt geschenkt, welches immer wünscht, allen Gutes und keinem Menschen Übles zuzufügen", und der redliche Sancho ruft aus: "Wegen seiner Unschuld liebe ich ihn wie die Blutstropfen in meinem Herzen!" Ehrgeizig ist er - doch nur auf den Ruf eines Tapferen und fleckenlos Ritterlichen. "Oh Du Demütiger unter den Stolzen!" Diese Gestalt lernte nun, wie gesagt, Cervantes erst beim Schreiben kennen - oder wenigstens erkennen - daher ihre siegreiche Überzeugungskraft; hier redet der Heilige Geist durch die durchsichtig gewordene Seele eines erhabenen Dichters."
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Gl 242f.: Ähnlich wie wir Letztgeborene eine Kraft, welche nur von Zeit zu Zeit in flüchtigen Wolken als Blitz aufzuckte, nunmehr in der ganzen Welt entdeckt haben, verborgen, unsichtbar, von keinem Sinne wahrgenommen, durch keine Hypothese zu erklären, doch allgegenwärtig und allgewaltig, und wie wir nunmehr im Begriff sind, von dieser Kraft die völlige Umgestaltung unserer äusseren Lebensbedingungen herzuleiten, – so wies Christus auf eine verborgene Kraft hin, drinnen in der unerforschten und unerforschlichen Welt des Menscheninnern, eine Kraft, fähig, den Menschen selber völlig umzugestalten, fähig, aus einem elenden, leidbedrückten Wesen ein mächtiges, seliges zu machen. Der Blitz war sonst lediglich ein Zerstörer gewesen, die Kraft, die er uns entdecken lehrte, dient nunmehr der friedlichen Arbeit und dem Wohlbehagen; ebenso war der menschliche Wille von jeher die Saat alles Unheils und Elends, das über das Menschengeschlecht niederging, – jetzt sollte er zur Wiedergeburt dieses Geschlechtes dienen, zur Entstehung einer neuen Menschenart.
Auf die spezifischen Implikationen der Ausdrücke Kraft und Blitz ist später noch gesondert einzugehen (S. 248f.; 330f. 359). Kraft und Energie deuten auf Jugendlichkeit und Unsterblichkeit hin, sie werden mit Wohlbefinden und friedlicher Arbeit assoziiert. Auch der Arier wird entsprechend beschrieben als jemand, der das Leben in seinen ganzen Anlagen genießt und bejaht. Sein Lebensbedürfnis ist nicht das Verstehen, sondern das lebensfrohe Sein (Bed. 3 von Leben). Gl 259f: Wie anders der Arier! […] Dieser Mensch ist lustig, lebenstoll, ehrgeizig, leichtsinnig, er trinkt und er spielt, er jagt und er raubt; plötzlich aber besinnt er sich: das grosse Rätsel des Daseins nimmt ihn ganz gefangen, nicht jedoch als ein rein rationalistisches Problem – woher ist diese Welt? woher stamme ich? […] – worauf eine rein logische (und darum unzureichende) Antwort zu geben wäre, sondern als ein unmittelbares, zwingendes Lebensbedürfnis. Nicht VERSTEHEN, sondern SEIN: das ist, wohin es ihn drängt. […]. Anbetend sinkt er auf die Kniee, wähnt nicht, dass er weise sei, glaubt nicht, den Ursprung und den Endzweck der Welt zu kennen, ahnt aber eine höhere Bestimmung, entdeckt in sich den Keim zu unermesslichen Geschicken, "den Samen der Unsterblichkeit".
Diese Beschreibung assoziiert einen jungen Edelmann, der sich seines Standes und seiner eigenen Kräfte bewusst ist und dem die Zukunft gehört. An anderer Stelle (Gl 246) hatte Chamberlain bereits erklärt, dass Christus den Morgen eines neuen Tages [bedeutet]; er gewann der alten Menschheit eine neue Jugend ab, und so wurde er auch der Gott der jungen, lebensfrischen Indoeuropäer. Das Attribut der Jugendlichkeit ist kennzeichnend für das Arierbild. Frauen und Greise kommen darin nicht vor. Künstlerische Darstellungen zeigen in der Regel junge kräftige Männer. Direkt als junges Volk wurden die Deutschen von Chamberlain nach der Reichsgründung (PI 41) bezeichnet, und es ist wohl kein Zufall, dass Arthur Moeller van den Bruck eines seiner wichtigsten Bücher das Recht der jungen Völker betitelte. Der "neue germanische Adam" wird ins Spiel gebracht, der angeblich von Christus bzw. mit Christi Hilfe in die Welt
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gelangt ist. Chamberlain beschreibt ihn aber nicht nur als zukünftigen Herrscher, sondern vor allem als einen Priester der Naturharmonie, ausgestattet mit dem Samen der Unsterblichkeit. Dieser arisch-archaische Priesterkönig verkörpert im germanischen Glauben das schöpferische Element (Gl 261), das Leben, das sich selbst "beleben" kann. Literarische und musikdramaturgische Leitfigur dieser Leben spendenden männlichen Jugendlichkeit ist der Recke Siegfried, dem sogar Gott Wotan weichen muss: Chamberlain, Wagner 125: Da die wahre Handlung die innere ist, so wird immer die Musik ihre eigentliche Offenbarerin sein; hier ist sie ausnahmslos die vermögendste Kunst. Deswegen bricht sie nun mit vollster Machtentfaltung hervor, als Wotan nicht mehr bloß schaut, sondern handelt, als er feierlich seinem Gedanken, seiner Sehnsucht entsagt und "in Wonne dem ewig Jungen weicht"; als er dann, erschrocken vor der Leidenschaft seines eigenen Herzens (Brünnhilde), dem "ewig Jungen" den Weg dorthin sperren will, und als Brünnhilde vor dem rasenden Ansturme des "liebesfrohen Knaben" ihr "himmlisches Wissen" von sich wirft: "Götter-Dämm‘rung, / dunkle herauf! / Nacht der Vernichtung, / neble herein!"
Die Fäden von Kunst, Rasse und Religion laufen hier wieder zusammen. Unsterbliches aus Sterblichem zu schaffen gelingt den Germanen, besonders in ihrer ureigensten Sprache der Musik (Gl 551), aber auch in der Dichtung, wie Chamberlain es immer wieder mit Goethe vorführt. Das schöpferische Element ist und bleibt das Schibboleth für Göttlichkeit.
2. 3. Kraft Kraft gehört zu den inhaltlich zentralen und wortbildungsintensivsten Ausdrücken in Chamberlains Sprachgebrauch. Es ist Indikator sowohl der biologistischen Denkweise wie der lebensphilosophischen Grundströmungen seiner Argumentationen. Chamberlain gebraucht es in folgenden Bedeutungen: Kraft, die 1. >Körperkraft, Muskelkraft<; 2. >Fortpflanzungskraft, rassenfortführende Potenz<; 3. >Lebenskraft, Fähigkeit, im Kampf ums Dasein zu überleben<; 4. >handlungsanleitendes Wirkprinzip, Triebkraft; Durchsetzungsvermögen<; 5. >besondere herausragende Energie, Tatkraft; Spannkraft<; 6. >Fähigkeit, sich über alle Maßen durch Tapferkeit und Mut auszuzeichnen, Heldenkraft<; 7. >Vermögen, aus sich selbst heraus zu gestalten bzw. neu zu
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schaffen, Schöpferkraft, Gestaltungskraft<; 8. >moralisches und sittliches Vermögen, Seelenkraft<; 9. >Naturgewalt, Naturkraft<. In den Bedeutungserläuterungen begegnen gezielt und systematisch Komposita mit Kraft als Grundwort: So wird die Bedeutung 3 mit Lebenskraft wiedergegeben. Die oft vorhandene Polysemie des Kompositums wird dabei nicht weiter thematisiert, da sie durch den phrastischen Erläuterungsteil aufgehoben wird. An einem Beispiel erklärt heißt dies: das Kompositum Lebenskraft bedeutet in Chamberlains Sprachgebrauch regelmäßig auch >Fortpflanzungsfähigkeit einer Rasse< im Sinne von Kraft 2 bzw. >Schöpferkraft< im Sinne von Kraft 7. Diese Polysemie schwindet aber durch den Zusammenhang mit der weiterführenden Erklärung >Fähigkeit, im Kampf ums Dasein zu überleben<. Neben dem Simplex sind folgende Komposita aussagekräftig: Kraft als Grundwort: Eigenkraft Einbildungskraft Expansivkraft Fortpflanzungskraft Geisteskraft Gestaltungskraft
Gottes-Kraft Heldenkraft Körperkraft Lebenskraft Menschenkraft Naturkraft Resistenzkraft Schöpferkraft
Seelenkraft Spannkraft Tatkraft Triebkraft
(Vorw. 14. Aufl. XXI) (Gl 949; 1112; PI 46; 75; Wille/ "Heimat" 55; Lebenswege 282; u. ö.) (Gl 603; 607) (Gl 342) (Gl 55; 1077; 1151; IuM 29; Br II, 168/9; u. ö.) (AW 39; Gl 74; 89; 90; 94; 225; 273; 540; 600; 657; 835; 1084; Wagner 65; Kriegsaufsätze II / Dt. Friede 94; Lebenswege 145; 287; 332; 390; u. ö.) (Gl 239) (Vorw. 14. Aufl. mehrfach; Gl 562) (PI 31) (AW 34; Gl 337; 536; 541; 619; 847; 1081; u. ö.) (Gl 226) (Gl 332; 461; 874; PI 10; 72; IuM 24) (Gl 632) (AW 35; 38; 39; Gl 15; 30; 69; 289; 378; 500; 829; 858; 888; 997; 1081; 1146; 1162; 1188 u. ö.; Wagner 64; Goethe 7; Kant 196/7; PI 12; 95; Lebenswege 203; 337; Br I, 116; u. ö.) (AW 12; Gl 1070; PI 19) (Deutschland 75; 83; HuA 50) (Vorw. 14. Aufl. XXV mehrfach; PI 30; Zuversicht 21; IuM 16; Br II, 206) (AW 60; Vorw. 14. Aufl. XXVI)
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Überzeugungskraft Urteilskraft Volkskraft
Widerstandskraft Willenskraft
(Lebenswege 386) (Gl 76) (Vorw. 14. Aufl.; Kriegsaufsätze I / Dt. Sprache 35; Weltstaat 37; 39; 40; Kriegsaufsätze I / Freiheit 21; Demokratische Wahn 8, u. ö.) (Gl 353) (Wille/Vaterlands=Partei 37; Kriegsaufsätze I / Weltstaat 37; Vorw. 14. Aufl. XIX; Gl (230f.); 444; IuM 8; HuA 37; Br II, 125 an Hitler).
Kraft als Bestimmungswort: Kraftgestalt (England 55) Kräftehort (Kriegsaufsätze I / Weltstaat 40) Kraftentfaltung (Lebenswege 281) Kraftmenschen (England 48) Kraftverschwendung (Kriegsaufsätze I / Weltstaat 38) kraftvoll (14. Aufl. Vorw. XX ) Kraftvorrat (Gl 60)
Simplex ebenso wie Komposita beschreiben eine Semantik, die in ihrer speziellen Vorkommensweise deutlich ideologisch geprägt ist. Die durchweg positive Bestimmung ist symptomatisch für das Wilhelminische Zeitalter. Sie assoziiert Aufbruchsstimmung, Dynamik, Beweglichkeit und Fortschritt auf der einen Seite, aber auch moralische und kulturelle Größe auf der anderen. Kraft ist ein Identifikationsmarker für das aufstrebende Bürgertum wie für die Lebensreform, für Eugeniker, die diese weitervererben wollen, wie für Künstler, die sie als kulturelle Schöpferkraft für sich beanspruchen. Wahre weltgestaltende Kraft (Gl 229) besitzt zwar nur die Religion, sie kann für Chamberlain auch nur im Moralischen wurzeln (England 68), ist aber in den meisten Belegen keine Kraft von Einzelindividuen, sondern Energiequell eines Kollektivs bzw. ein Vermögen, das aus dem Gesamtkörper der Nation entsteht (Vorw. 14. Aufl. XVIII). Diese Volkskraft setzt Gemeinschaft und Rasse voraus. Chamberlain hat wie erwartet drei bevorzugte extensionale Bezugsgrößen, zum einen die Germanen, dann die Hellenen und vor allem immer wieder die Deutschen. Er schreibt von den Spuren germanischer Kraft in der französischen Sprache (Kriegsaufsätze I / Dt. Sprache 32), und dem germanischen Blut in den Adern der Italiener als Quelle ihrer Kraft (ebd. 27), am liebsten aber von der moralischen Kraft des Deutschen Heeres (Kriegsaufsätze I / England 50), der siegenden Kraft, die im deutschen Volke lebt (Vorw. 14. Aufl. XX; passend dazu: die deut-
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sche Heldenkraft oder die deutsche Willenskraft34), von der Kraft der deutschen Sprache (Kriegsaufsätze I / Dt. Sprache 34), und sogar von der gebärenden Kraft Deutschlands. Kriegsaufsätze I / Deutschland 74: Tieck hat die wahren Worte geschrieben: "Sowie Goethe nur die Augen auftat und sie Andern öffnete, war Deutschland unmittelbar auch da." Es hatte also nur geschlummert. Deutschland – vielleicht ist dies ein Symptom seiner gebärenden Kraft – verfällt immer wieder in Unbewusstsein über sich selbst und muß durch Botschaft vom Himmel geweckt werden.
Deutschland habe sich nach Aussage Chamberlains seinen Dichter Goethe geboren. Gebären ist nur eine weitere Metapher für die Fähigkeit, Menschen oder gar "Welten" zu erschaffen, die Chamberlain zumeist explizit mit den Komposita Schöpferkraft oder Gestaltungskraft bezeichnet und die im folgenden gesondert betrachtet werden sollen. Schon in den vorangegangenen Ausführungen wurde mehrfach darauf hingewiesen, dass diese Fähigkeit als Schibboleth für das Vorhandensein von Rasse dient und dass in einer Weltanschauung, in der die Rassenzugehörigkeit als Voraussetzung für Schöpfungskraft angesehen wird, diese selbst umgekehrt auch zum Indikator für Rasse werden muss. Lebenswege 384: Zugrunde liegt bei Don Quixote die gewaltige und herrische Kraft der Einbildung, der wir in der Tat alles verdanken, was unsere Rasse Unvergleichliches geschaffen hat. Arier-sein heißt Schöpfer-sein; hierin liegt die Verwandtschaft dieser Rasse mit dem Göttlichen und die Überzeugung, Gottes Söhne - nicht seine Knechte - zu sein.
Das Bestimmungswort Schöpfung referiert auf den göttlichen Akt der Weltund Menschenerschaffung und impliziert den göttlichen Schöpfer in seiner Omnipotenz. Die Erweiterung des Referenzbereichs um die Bezugsgröße Künstler überträgt die Macht auf den künstlerischen Menschen und behält ganz bewusst das Bild eines göttlichen bzw. von Gott begnadeten Schöpfers, der sein Werk aus dem Nichts heraus kreiert, aufrecht. Das Bestimmungswort Gestaltung betont das kreative Potential in zweifacher Hinsicht. Es impliziert das künstlerische ebenso wie das kreationistische Prinzip. Und es verweist sowohl auf den Akt des Erschaffens als auch auf den des Formens. Mit dem Grundwort Kraft (hier in der Bed. 7) wird die Fähigkeit der arischen Rasse angesprochen, Neues zu erschaffen und Bestehendes in einem eigenen Sinne zu formen. 'Kraft' ist damit vor allem das Vermögen, die Welt zu verändern und den Menschen neu zu erfinden. Neben der alles überragenden 'Gotteskraft' und der göttlichen 'Gestaltunsgkraft' (Gl 74) steht die Kraft der Menschen. Chamberlain gesteht diesen nicht die gleichen Kräfte zu. Er unterteilt sie in verschiedene rassische Gruppen, deren kreatives Potential von menschengebärend (s. o.) und _____________ 34
Deutsche Vaterlands=Partei 37.
251 Ideologiewörter: Kraft
kulturell schöpferisch bis vollkommen steril geht. Sterilität ist entsprechend das von ihm gebrauchte Gegensatzwort zu Schöpferkraft (Gl 378). Neben den Deutschen35 sind es in erster Linie die antiken Griechen, die in der Geschichte kulturell gestaltend (Gl 1188) tätig waren. In ihnen meint er aber nicht nur die begnadeten Philosophen und die größten Künstler vorzufinden, sondern das Beispiel Homers zeigt ihm, dass Menschen in der Lage sind, sich Religion und Götter selbst zu erschaffen (Gl 255). Rechtmäßige, da arische Erben der Hellenen, sind in Chamberlains System die Germanen. Ihre Gestaltungskraft ist zwar weniger ausgeprägt, aber doch zukunftsfähig (Gl 505; 962; 997), vor allem schafft sie das Unsterbliche und vermag Stoff zu Geist umzuwandeln: Gl 551: Bei den Griechen überwiegt das individualistisch Schöpferische sogar bis in die Staatenbildung; bei den Römern ist die kommunistische Kraft der die Freiheit verleihenden Gesetzgebung, der die Freiheit verteidigenden Kriegsgewalt das Vorherrschende; den Germanen dagegen ist vielleicht eine geringere Gestaltungskraft zu eigen, sowohl dem Einzelnen wie dem Gesamtkörper, doch besitzen sie eine Harmonie der Beanlagung, ein Gleichgewicht zwischen dem Freiheitsdrang des Einzelnen, der in der freischöpferischen Kunst seinen höchsten Ausdruck findet, und dem Freiheitsdrang der Gesamtheit, der den Staat schafft, durch welche sie sich den grössten Vorgängern ebenbürtig erweisen. Nie hat eine Kunst Gewaltigeres (wenn auch Formvollendeteres) geschaffen als die, welche zwischen der beschwingten Feder Shakespeare‘s und dem Ätzgriffel Albrecht Dürer‘s alles Menschliche einschliesst, und welche in ihrer ureigensten Sprache, der Musik, tiefer ins innerste Herz hineingreift als jeder vorangegangene Versuch, aus Sterblichem Unsterbliches zu schaffen, Stoff zu Geist umzuwandeln.
Im letzten Beleg vermischen sich das erschaffende Prinzip und das gestaltende, der Akt der Schöpfung und das Ausformen des Schöpfungsproduktes bzw. der Akt des Gestaltens, die Gestaltung, und das Produkt. Entscheidend ist, dass Kunst zum wichtigsten Synonym für Schöpferkraft avanciert und dass sie außerdem Kraft- und Energievorrat ist. Gl 10: Künstlerisch zu empfinden, künstlerisch zu denken bezeichnet also einen besonderen Zustand des Menschen überhaupt; es ist eine Stimmung, oder vielmehr eine Gesinnung.... noch besser vielleicht ein latenter Kraftvorrat, der sich im Leben des einzelnen Menschen wie auch im Leben eines ganzen Volkes überall, auch dort, wo Kunst und Wissenschaft und Philosophie nicht unmittelbar beteiligt sind, "befreiend", "umschaffend", "reinigend" bethätigen muss.
Während Chamberlain die Germanen überhöht, attestiert er den Semiten und den Juden (AW 39; Gl 273; 500) wieder einen gänzlichen Mangel an Schöpferkraft, und über die Slaven bemerkt er, sie hätten ihre Gestaltungskraft in dem Moment verloren, als sie sich mit anderen Menschenrassen vermischt hätten (Gl 832). _____________ 35
Auch die Inder (Gl 882) bzw. Indoarier (Gl 883).
252 Ideologiewortschatz
Entscheidend neben der Gestaltungskraft ist die Willenskraft. Sie ist bedeutungsverwandt zu Kraft 4 und 5, aber auch zu Wille (Bed. 2; s.u.). Wille 10: Sonst pflegt es nämlich für den Menschen geradezu bezeichnend zu sein, dass sein wahrhafter Wille aus den Tiefen gebietet, die ihm unbekannt bleiben. Dieser Wille wirkt daher als eine blinde und oft verheerende Kraft, die man insofern den toten Elementen zuzählen muß.
Ganz im Sinne Schopenhauers wird der Wille von Chamberlain als die Triebkraft, der wichtigste Antrieb der Menschen betrachtet. Die Einsicht in die Willensgebundenheit alles Lebendigen36 macht die Willenskraft zur Voraussetzung jeder Schöpfung und Weltgestaltung (vgl. dazu den oben zitierten Lebenswege 384). "Denn Bedeutendes wird nicht in und aus dem Rausche geboren, sondern aus Klarheit, Besonnenheit, Willenskraft" (Kriegsaufsätze I / Weltstaat 37). Der stärkste Wille, die stärkste weltgestaltende Kraft war in seinen Augen Jesus Christus. Chamberlains deutlich von Wagner geprägte Mitleidsvorstellung setzt eine Naturkraft frei, die von der Person Christi ausgehend als Schöpferkraft im Menscheninneren zur Triebkraft ihrer Handlungen wird. Einerseits können diese Kräfte ohne einen starken Willen nicht zu Taten werden, andererseits repräsentieren sie bereits diesen Willen. Gl 242/3: achtet Christus kaum des eigenen Schmerzes und der Angst, er sieht nur, dass die Menschen das Göttliche in ihnen ans Kreuz schlagen, dass sie den Samen des Gottesreichs zertreten, den Schatz im Acker verschütten, und voll Mitleid ruft er: sie wissen nicht was sie thun! […] Hier redet eine Erkenntnis, die weiter geschaut hat, als die indische, zugleich redet hier der stärkste Wille, das sicherste Selbstbewusstsein. Ähnlich wie wir Letztgeborene eine Kraft, welche nur von Zeit zu Zeit in flüchtigen Wolken als Blitz aufzuckte, nunmehr in der ganzen Welt entdeckt haben, … [Fortsetzung des Belegs s. v. Leben].
2. 4. Wille Das Wort Wille zählt wie Kraft und Leben zu den Entschlüsselungszentren im lexikalischen Weltanschauungsgeflecht nicht nur Chamberlains. Stellvertretend für vieles andere sei auf eine Publikation aus dem Jahre 1928 hingewiesen, die vom Hauptgeschäftsführer der Deutschnationalen Volkspartei, Max Weiß, unter Mitwirkung namhafter Parteigenossen aus Universität und Regierungskreisen herausgegeben wurde. Es enthält einen historischen Rückblick auf das Werden und Wirken der Deutschnationalen Volkspartei, beantwortet neben sozial- und wirtschaftspolitischen auch _____________ 36
Reinhardt 2005, 221.
253 Ideologiewörter: Wille
weltanschauliche Fragen und hatte den bezeichnenden Titel Der nationale Wille. Ein Aufsatz daraus von Geheimrat Dr. Hugenberg erinnert in seiner Polemik an eine Wahlkampfrede und hat ebenfalls eine sprechende Überschrift: Mehr Willen zur Tat. Hugenberg ruft seine Partei denn auch zu mehr Kraft, mehr Energie, mehr Willen (264) und alle seiner Mitbürger zu einem inneren Kraftaufbau (268) auf. Auch Graf Westarp erklärt das nationale Wollen aller (8) zur Voraussetzung für die Zurückerlangung der deutschen Freiheit. Eine solche Kraft- und Willensdramaturgie hat Tradition. Chamberlain speist seinen Willensbegriff zum einen Teil aus dem alltagsgebundenen Wortgebrauch (vorwiegend Bed. 2; 3; 5; 8; 9), zum anderen und wichtigeren Teil jedoch explizit aus theologischen bzw. philosophischen Diskurstraditionen. Damit zeigt er aber nicht nur seine eigene Bildung und Gelehrsamkeit bzw. bedient die im Bildungsbürgertum seiner Zeit akzeptierten Vorstellungen, sondern führt die unterschiedlichsten Argumente zur Legitimation und Begründung seiner Anschauungen zu einem eigenen Konzept zusammen. Die Frage nach dem Willen gehört zu den wichtigsten anthropologischen Grundfragen des Menschen. Chamberlains Antwort ist nicht frei von Widersprüchen, aber innerhalb seines ohnehin nicht logischen Weltanschauungssystems durchaus nachvollziehbar. Bereits der kurze Überblick über das semasiologische Feld lässt die Richtung erahnen, in die seine Argumentation führen wird. Wenn der Wille das charakteristische Kennzeichen für den Menschen ist, der Autor bestimmte Menschen jedoch dehumanisieren will, muss er den Willensbegriff so besetzen, dass er zumindest eine Dialektik zwischen gutem und bösem, wahrhaftigem und unwahrhaftigem, tiefem und oberflächlichem Willen konstruiert. Wille, der 1. >(allgemein:) Wollen des Menschen, dasjenige, was den Menschen im Innersten antreibt, ihn bewegt und ihn im Unterschied zu den als willenlos und instinktiv handelnden Tieren konstituiert< (AW 86); speziell: >mehr oder minder unbewusster Antrieb, das Unbewusste, wie es dem einzelnen Menschen und der Welt (in Anlehnung an Schopenhauer) inhärent ist< (s. u.); 2. >Kraft, Fähigkeit zu planvollen Handlungen; Vermögen, eine Idee in die Tat umzusetzen, Realisierungskraft, Gestaltungskraft (in Anlehnung an Kant)< (Gl 606; HuA 19ff; 57ff.; Wille 10); 3. >Absicht, Intention, die Handlungen zugrundeliegt; Wunsch, Begehren, Ansinnen (allgemein)<; metonymisch dazu: >Gegenstand und Inhalt des Begehrten< (Kriegsaufsätze II / Friede 102; HuA 12; 25). 4. >Geschlechtstrieb, Fortpflanzungstrieb< (Gl 459);
254 Ideologiewortschatz
5. >moralische Gesinnung, Einstellung zu einer Sache bzw. zu einer Person<; speziell dazu: >Zustimmung zu einer Sache<; >Zuneigung, Wohlwollen gegenüber einer Person< (Wille / Vaterlands=Partei 41ff.); 6. >das einen Menschen Antreibende, Charakteranlage einer Person, Wesen, Persönlichkeit<; Spezialisierung zu 1 (Gl 691); 7. >von Gott gegebenes sittlich gutes Wollen<, im Unterschied dazu: >nicht von Gott kommender sündhafter Eigenwille (dies in Anlehnung an Luther)< (Gl 242; PI 48; Kriegsaufsätze II / Friede 102); Spezialisierung zu 1; 8. >Gebot, Befehl, Verfügung<; speziell dazu: >Testament, letzter Wille< (Gl 158; PI 53); 9. >Öffentliche Meinung eines Volkes bzw. einer Nation, Volkswille (in Anlehnung an Rousseau)< (HuA 20; 25). Das semasiologische Feld ist, wie die eingeblendeten Hinweise auf Luther, Kant und Schopenhauer bereits andeuten, semantisch von mindestens drei philosophisch-theologischen Fragen geprägt, zum einen von der Frage nach der inhaltlichen Bestimmung des Willens, zum anderen vom Problem der Willensfreiheit des Menschen und damit verbunden zum dritten von der Frage nach den Fähigkeiten des Menschen, kraft des eigenen Wollens Einfluss auf den Ablauf und die Einrichtung der Welt nehmen zu können. In entsprechender Weise sind die Traditionslinien zu ziehen, die für Chamberlains Willensbegriff prägend waren bzw. die Chamberlain je nach Kontext für seine eigenen Interessen einsetzte. Zu nennen sind dabei besonders Luther, Kant und Schopenhauer. Etwas weniger bedeutsam, aber erwähnenswert, ist der Aufklärungsphilosoph Jean Jacques Rousseau.
2. 4. 1. Chamberlains Instrumentalisierung von 'Wille' bei M. Luther Von Luther übernimmt Chamberlain in erster Linie die religiöse bzw. göttliche Begründung des Willens und die Unterscheidung in einen guten und einen bösen Willen (vorwiegend Bed. 1 und 7). Während der gute Wille der konstruktive ist und von Gott gegeben wird, ist der böse destruktiv und entstammt dem Wirken des Teufels im Menschen. Diese Aufteilung macht den Willen zu einer in der Welt wirkenden göttlichen oder teuflischen Kraft bzw. zu einem generell weltimmanenten göttlichen Prinzip, das sogar bei einer Umsemantisierung (z. B. einer Säkularisierung) als religiös begründete Legitimation zurückbleibt. Wenn aber Gott bzw. der Teufel das wirkende Prinzip ist, dann drängt sich die Frage nach der Willensfreiheit des Menschen auf. Für Luther ist die Antwort eindeutig. Der Mensch kann nur durch den Glauben an der Freiheit Gottes partizi-
255 Ideologiewörter: Wille
pieren, aus sich heraus ist er nur Spielball des Teufels. Von großer historischer Bedeutung ist die reformatorische Auseinandersetzung um die Willensfreiheit (vor allem in: De Servo Arbitrio37), in der es zwischen Martin Luther und Erasmus von Rotterdam um die Frage ging, welche Möglichkeiten der Mensch hat, sein Heil aus eigener Kraft, durch eigene Handlungen und Entscheidungen zu erringen. Weiters fassen wir an dieser Stelle den freien Willen als eine Kraft des menschlichen Wollens auf, durch die sich der Mensch dem zuwenden, was zum ewigen Heil führt, oder sich davon abkehren könnte. (Im Original: Porro liberum arbitrium hoc loco sentimus vim humanae voluntatis, qua se possit homo applicare ad ea perducunt ad aeternam salutatem, aut ab iisdem avertere.)38
Während Erasmus dem Menschen die Entscheidungsfreiheit zugesteht, selbst zwischen dem guten bzw. dem schlechten Weg zu wählen, sieht Luther im Willen als einer dem Menschen frei verfügbaren Kraft ein Instrument des Teufels, mit dem dieser die Seele auf den falschen Weg führt. Einen wirklich freien Willen hat nur der, der Gottes Willen vollzieht, wozu er erst nach der Rechtfertigung im Zustand der Gnade befähigt wird (WA 2, 248, 8). "Dieser Akt, der sich in jenem fröhlichen Wechsel und Streit zwischen Christus und dem Menschen vollzieht, läßt den Menschen Gottes Willen annehmen, so daß nicht mehr der eigene, sondern der Wille Gottes in ihm wirkt. Für eine Kraft menschlichen Wollens, wie Erasmus es versteht, ist hierbei kein Raum. Allein der sich in den Staub werfende, den eigenen Willen aufgebende und demütige Christ kann hoffen."39 Zwei Aspekte sind für im Hinblick auf Chamberlain bedeutsam. Zum einen die Aussage, dass der Mensch nur bei Aufgabe des eigenen Willens gerecht werden kann, zum anderen, dass der eigene Wille vom Teufel ist. Diese letztere Vorstellung findet man explizit und vor allem affirmativ auch bei Chamberlain: ebenso war der menschliche Wille von jeher die Saat alles Unheils und Elends, das über das Menschengeschlecht niederging (Gl 242). In ihrer politischen Ummünzung mündet diese Vorstellung darin, dass man den eigenen Willen aufgeben solle, um sich einem vermeintlich "Höheren" unterzuordnen bzw. sich dem Willen eines anderen zu fügen (Wille 18; s. u.); sie gehört in ihrer typisch völkischen Variante nicht nur zu den Bausteinen der Chamberlain'schen Argumentation. Natürlich wird der Wille Gottes im Sinne Luthers dabei vollkommen verfälscht und durch den Willen eines die Stelle Gottes vertretenden Führers oder eines Gewaltigen oder einer starken Menschenseele (wie Bismarck, Hindenburg oder später Hitler) ersetzt; eine Variante dieses Führerbezuges ist der Ersatz durch den übergeordneten Willen der Volksgemeinschaft. _____________ 37 38 39
Luther, WA 18, 551-787. Vgl. Erasmus, de libero arbitrio (1524) 10, 36f; zit. nach Lobenstein-Reichmann 1998, 526f. Vgl. Lobenstein-Reichmann 1998, 527.
256 Ideologiewortschatz
Kriegsaufsätze II / Dt. Friede 100: Wer nur das erlebt hat, wie unser deutsches Volk […] zur Einheit des Willens und der Kraft zusammenschmolz, dem hat dieses Leben genug an Glück beschert. Etwas so wunderbar Großes wird er nicht wieder erleben. Er hat erlebt, wie das Einzelleben, der Einzelwille von dem Feuerwillen der Volksgemeinschaft verzehrt wurde, wie unser deutsches Volk plötzlich und mächtig über sich selbst hinausgehoben wurde.
Bezieht sich der Wille jedoch auf Gott, der nach Chamberlains Ausführungen vor allem Wille (Wille 7) ist, und ohne dessen Wollen die Welt kein Dasein hätte, so muss man zwischen einem dem göttlichen Willen affinen und einem gottfernen Wollen in der Welt unterscheiden. Wille 18: Das bewirkt der heilige Geist durch seine Auserwählten. Soll der Wille als schaffende Gewalt wirken, so setzt er als erste Träger Gewaltige voraus. Nur ein Gott kann sprechen: "Ich will neue Welten schaffen", nur ein Bismarck vermag es, in der schweigenden Feste seines Herzens sich zu geloben: "Ich will ein neues Deutschland schaffen"; nur von Hindenburg wagt es zu sagen: "Es muß sich alles unserem Willen fügen". Der archimedische Stützpunkt, um das Bestehende aus den Angeln zu heben, muß immer in ungewöhnlich starken Menschenseelen gesucht werden. Bildung, Klugheit, gute Absichten – das alles tut's nicht; die eingeborene Kraft muß gegeben sein. Der Schwache kann sich vieles vornehmen, doch es zu wollen, ist er unfähig; denn der Wille ist ein zeugender Blitz, der aus einer Ueberfülle angestauten Lebenssaftes hervorschießt, wobei er, nach allen Seiten zündend, millionenfache Kräfte sich zugesellt.
Aus dem Letztzitierten ergibt sich die Wiederholung des immer wieder deutlich gewordenen Systems: Wo der Wille göttlicher Natur ist, ist er nicht nur organisierte Hirntätigkeit (Dt. Friede 95), sondern schaffend, gestaltend (Br II, 175), schöpferisch (Wille 7). Ein anderes Bild zeigt dagegen das physiognomielose, von unwissendem, willenlosem Menschenvieh bevölkerte[n] Chaos, das nicht die geringste Gestaltungskraft (ebd.) besitzt. Die Übergänge von religiösen Basierungen zu politischen, von Theologen zu Politikern wie Bismarck bzw. zum militärischen General Hindenburg sind fließend, so dass auch der politisierte Wille stets als religiös verwurzelt erscheint. Das Prinzip der Auserwähltheit, das in diesen Führergestalten zusammengeführt wird, soll sich auch im Willen, das heißt: in der Gesinnung, der moralischen Gesittung und der kreativen Kraft einer gesamten Nation spiegeln. Nahezu formelhaft gilt dies in den Zeiten des Krieges, in denen er immer wieder den deutschen Willen zum Sieg zum Thema seiner Pamphlete macht (z. B. gleichnamig in den Kriegsaufsätzen 1918, 7; 11-16f.). Der Wille zum Sieg ist in seinen Augen mehr als nur der Wunsch, den Weltkrieg für Deutschland zu entscheiden. Er macht ihn zu einer quellenden Kraft, zu einer Volksgesinnung, die sich zum Ziel gesetzt hat, nicht nur den europäischen Krieg zu gewinnen, sondern die es den Deutschen geradezu zur Aufgabe macht, die Herrschaft über die Welt zu übernehmen (Wille 15). Wille 11: gebietet in der Seele des ganzen deutschen Volkes, […] ein allgewaltiger, zäher, unüberwindlicher, kommende Jahrhunderte schon umfassender Wille zum
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Sieg, der aus den tiefsten Tiefen wie ein uneindämmbarer, alles mit sich fortreißender, nie nachlassender Strom emporquillt, zugleich klar erwogene Erkenntnis widerspiegelnd, wie jener göttliche Willensbeschluß: ich will neue Welten schaffen?
Die Strommetaphorik deutet auf eine Urkraft hin, wie sie nur göttlichen Ursprungs sein kann und aus dem Willen einer Nation eine göttliche Berufung macht. Die Deutschen werden auf diese Weise nicht nur in ihren Kriegshandlungen legitimiert, sondern auch in ihren Kriegszielen. Als selbsternannte Werkzeuge eines göttlichen Wollens brauchen sie sich über Maß und Unmaß ihrer Handlungen jedenfalls nicht mehr zu kümmern. Chamberlain nutzt nicht nur Naturmetaphorik, sondern auch die Natur selbst, um das Wirken Gottes in der Welt zu verdeutlichen. Seine biologistische Grundhaltung wird damit zusätzlich religiös überhöht. PI 49: Die Natur – und was ist diese, wenn nicht Gottes Wille in die Tat umgesetzt? – fragt nicht nach Rechten und Wünschen und Verdiensten des Einzelnen, vielmehr sieht sie lediglich auf das Gedeihen des Ganzen. Daraus schließe ich: was dieses Ganze fördert, wird der Wahrheit der Natur entsprechen und wird darum auch ganz sicher die richtige, gottgewollte – im Gegensatz zu der willkürlich begehrten – Förderung aller einzelnen Bestandteile umschließend bedingen.
Die Natur als ausgeführter Wille Gottes, und hier schließt sich der Kreis wieder, dient dem Biologen auch als Gleichnis für die Notwendigkeit der Unterordnung des Einzelwillens unter einen Gesamt- oder Allgemeinwillen, den schon Rousseau als volonté générale in die Tradition eingebracht hatte. Doch wird die Erfüllung eines Volkswillens (Der Demokratische Wahn 14; 42) von Chamberlain keineswegs angestrebt, weil er ihn als Ausdruck der öffentlichen Meinung einer anonymen unfassbaren Masse betrachtet hätte, hinter dem ja das verachtete demokratischen Prinzip lauert (ebd. 36). Seine Vorstellung von der Zurücknahme des eigenen Willens und von der Unterwerfung unter einen anderen ist prinzipiell elitär gedacht und nicht egalitär. Unter allen Umständen muss der übergeordnete Wille Ausdruck einer großen Persönlichkeit, eines Gewaltigen, sein. Der Wille gehört damit zu den tragenden Pfeilern des von Chamberlain propagierten Führerprinzips. Bei aller Anerkennung des Heers von Helden nimmt deren Wollen erst in einem / einzigen Willen Gestalt an, im folgenden Belegtext ist das der Wille Hindenburgs. Die Deutsche Vaterlands=Partei 42f.: draußen ein Heer von Helden, wie es die Welt niemals erblickt hat, diszipliniert, treu bis in den Tod, Alle einem Willen unbedingt gehorsam, in dessen Willensäußerungen dasjenige Gestalt gewinnt, was Alle gemeinsam wollen – daher Folgerichtigkeit, Kraft, Sieg; drinnen dagegen ein Babel von Stimmen, ein Chaos von sich bekämpfenden erbärmlichen politischen Parteiinteressen, nirgends die Spur einer bedeutenden Persönlichkeit, fähig [42] durch die Kraft ihres Willens, sowie durch das echte Deutsche ihres Wesens,
258 Ideologiewortschatz
volkstümlich zwingend alle Kräfte zu einem einzigen Willen zu einigen und somit nach Innen dasselbe zu leisten, was Hindenburg nach Außen leistet.
Chamberlain legitimiert auch seine Polarisierungen religiös, indem er suggeriert, dass sie entweder das Wirken und Wollen Gottes spiegeln oder vom Teufel sind. Wenn der gute Wille von Gott, der böse vom Teufel ist, dann sind Babel und Chaos (s. o.) Bestandteil des negativen Prinzips, und der gute Wille der Germanen ist durch einen aufgedrungenen fremden Willen (Gl 9) gefährdet, nämlich durch den stärkeren, oder wenigstens aufdringlicheren Willen der Juden (AW 38). Er behauptet, die Semiten seien dadurch gekennzeichnet, dass in ihrer Seele der Wille die vorherrschende Macht (Gl 458) und ihr Glaube aus dem Willen heraus entsprungen ist (Gl 472). Aus diesem Grunde seien sie zu den gräulichsten Götzenanbetern (ebd.) geworden. Spätestens mit der letzten Prädikation wird deutlich, dass ihr Wille nicht dem göttlichen entsprechen kann. Hinzu kommt der Materialismusvorwurf, die Unterstellung eines im biblischen Sinne falschen Glaubens an den Abgott Mammon, der die antijudaistischen Assoziationsräume zusätzlich unterstützt (Gl 476). Semiten repräsentieren im Chamberlain'schen System Willensmenschen, bei denen der eigensüchtige Wille als Antrieb des Unbewussten und des Chaos überwiegt, der für den semitischen Egoismus verantwortlich sei und damit auch für das Fehlen jeglicher künstlerischer Tätigkeit. Kurzum: er repräsentiert schlichtweg das böse Prinzip in der Welt. Gl 458: In diesem Menschen steht der Wille obenan, dann kommt das Gemüt, zuunterst steht der Verstand. Lassen legt einen besonderen Nachdruck auf den Egoismus des Semiten, […]; bei seiner Poesie, seiner Philosophie, seiner Religion, seiner Politik, überall erblickt er ein "egoistisches Wesen" am Werke. Das ist eine unausbleibliche Folge jener Hierarchie der Anlagen. Die Selbstsucht wurzelt im Willen; […], sobald der stürmische Wille mit seiner Eigensucht überwiegt, bleiben selbst schöne Anlagen verkümmert: die Religion entartet zum Fanatismus, das Denken ist Zauberei oder Willkür, die Kunst spricht nur die Liebe und den Hass des Augenblickes aus, sie ist Ausdruck, doch nicht Gestaltung, die Wissenschaft wird Industrie.
2. 4. 2. Chamberlains Instrumentalisierung von 'Wille' bei I. Kant Ähnlich wie bei Luther und nachfolgend auch bei Schopenhauer werden die Schriften Kants in extremem Maße eklektizistisch genutzt, nachdem sie Chamberlains Vorstellungen angepasst und in sein Weltanschauungsgebäude integriert worden sind. Die im zuletzt zitierten Beleg (Gl 458) vorkommende Hierarchisierung von Wille, Gemüt und Verstand deutet, ohne dass Kant genannt würde, bereits auf ihn hin. Für Kant ist der gute Wille gleichzusetzen mit der praktischen Vernunft, einer Größe, die als
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reine Vernunft in praktischer Funktion40 gilt und im Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ als oberstes apriorisches Prinzip des Handelns zu sehen ist. Kant verbindet mit diesem Prinzip vor allem auch vernunftbegründete moralische Gesetze und deren Umsetzung in ihren jeweiligen Lebenszusammenhang. Wenn Chamberlain sich nun auf Kant beruft, so hat er folgende Anliegen: zusätzlich zur religiösen Begründung des Willens (wie bei Luther) betont er erstens die ebenso wichtige Vernunftbegründung des guten Willens, zweitens das Prinzip der Erkennbarkeit des moralisch Richtigen und drittens den Praxisbezug des Willens. Denn Wille als praktische Vernunft wird von ihm nicht als passiver Aspekt des Erkenntnisvermögens betrachtet, sondern als bewusste Handlungsfähigkeit, Wirkund Tatkraft. Chamberlain weist seine vorwiegend protestantischen Leser besonders mit dem dritten Aspekt auf die gestalterische Handlungsfähigkeit, sogar Handlungsverpflichtung hin, die sie so aus der jenseitsorientierten Zwei-Reiche-Lehre Luthers nicht begründen konnten. Es geht ihm also nicht nur um die reine Erkenntnis, sondern um eine Umsetzung, die er als schöpferisch propagiert, als geplante Erschaffung eines neuen moralischen Reiches (Gl 606) oder ganzer neuer Welten aufgrund von Besinnung und vernünftiger Erwägung. Wille 10: Das haben die großen Lehrmeister aller tieferen Besinnung, die alten Arischen Inder, in ein eindrucksvolles Bild gekleidet, indem sie Gott schildern, wie er – vor der Weltschöpfung – in abgrundtiefes Sinnen versunken, zu sich redet: "Ich will neue Welten schaffen!" Hieraus schließt der Arier, göttlich sei kein blindes Wollen, vielmehr einzig dein Wollen, dem "ein Erwägen vorangegangen sei". Sonst pflegt es nämlich für den Menschen geradezu bezeichnend zu sein, dass sein wahrhafter Wille aus den Tiefen gebietet, die ihm unbekannt bleiben. Dieser Wille wirkt daher als eine blinde und oft verheerende Kraft, die man insofern den toten Elementen zuzählen muß. Erst wenn Erwägung ihm die Augen über sich selbst und alles ihn Umgebende geöffnet hat, erst dann kann der Mensch behaupten: mein Wille erschafft. Eine solche Willensbestätigung zeigt den Menschen gottverwandt.
Die im Beleg angesprochene Gottverwandtschaft, auch das Possessivpronomen mein verweisen auf eine ganz und gar nicht protestantische Autonomie des Willens, wie sie anders als bei Luther von Kant in seiner praktischen Philosophie dem Menschen zugestanden wird.41 In der Grundlegung der Metaphysik der Sitten kennzeichnet er Die Autonomie des Willens als oberstes Prinzip der Sittlichkeit42 und setzt, wie bereits angedeutet, im Zusammenhang mit dem kategorischen Imperativ den Willen mit der praktischen
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Vgl. dazu: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, 2004, 522. Kant, Werke 4, 444-445. Kant, Werke 6, 74.
260 Ideologiewortschatz
Vernunft43 gleich. Wille, Freiheit und Vernunft gehören in der Gesamtargumentation Kants eng zusammen. Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Werke 6, 81:44 Der Wille ist eine Art von Kausalität lebender Wesen, so fern sie vernünftig sind, und Freiheit würde diejenige Eigenschaft dieser Kausalität sein, da sie unabhängig von fremden sie bestimmenden Ursachen wirkend sein kann.
Diese Vernunftbegründung des Begehrungsvermögens, wie Kant den Willen u. a. auch in der Kritik der praktischen Vernunft nennt,45 setzt einen autonomen Menschen voraus, der sich unabhängig von äußeren Umständen besinnen kann und danach seine Handlungen ausführt. Kant, Die Metaphysik der Sitten, Werke 7, 317: Das Begehrungsvermögen nach Begriffen, sofern der Bestimmungsgrund desselben zur Handlung in ihm selbst, nicht in dem Objekte angetroffen wird, heißt ein Vermögen, nach Belieben zu tun oder zu lassen. […] Das Begehrungsvermögen, dessen innerer Bestimmungsgrund, folglich selbst das Belieben in der Vernunft des Subjekts angetroffen wird, heißt der Wille. Der Wille ist also das Begehrungsvermögen, nicht sowohl (wie die Willkür) in Beziehung auf die Handlung, als vielmehr auf den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung, betrachtet, und hat selber vor sich eigentlich keinen Bestimmungsgrund, sondern ist, sofern sie die Willkür bestimmen kann, die praktische Vernunft selbst.
Über die Verneinung des Vernunftprinzips kann der eigentlich gute, da rational begründete Wille zu einem bösen Willen werden, was wieder den Anschluss an die lutherische Willensvorstellung möglich macht.46 Es ist auffällig, dass die praktische Vernunft Kants bei Chamberlain als der bewusst denkende (Dt. Friede 95), planvoll und systematisch handelnde, vor allem aber als der gemeinschafts- und gesellschaftsbildende Wille erscheint.47 GL 184: Das Recht ist, wie der Staat, eine menschliche, künstliche Schöpfung, eine neue systematische Anordnung der durch die Natur des Menschen und durch seine gesellschaftlichen Instinkte gegebenen Bedingungen. […] Ein in grossen Mengen vorhandener Stoff wird nunmehr in konsequenter Weise und mit stei-
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Kant, Werke 6, 75-76: "Dagegen sagt der moralische, mithin kategorische Imperativ: ich soll so oder so handeln, ob ich gleich nichts anderes wollte. Z. E. jener sagt: ich soll nicht lügen, wenn ich bei Ehren bleiben will; dieser aber: ich soll nicht lügen, ob es mir gleich nicht die mindeste Schande zuzöge. Der letztere muß also von allem Gegenstande so fern abstrahieren, daß dieser gar keinen Einfluß auf den Willen habe, damit praktische Vernunft (Wille) nicht fremdes Interesse bloß administriere, sondern bloß ihr eigenes gebietendes Ansehen, als oberste Gesetzgebung, beweise." Vgl. auch in der Kritik der Urteilskraft, Werke 8, 481: "diese [Vernunft] aber ist alsdann das Vermögen, nach Zwecken zu handeln (ein Wille); und das Objekt, welches nur als aus diesem möglich vorgestellt wird, würde nur als Zweck für möglich vorgestellt werden." Kant, Werke 6, 126-134; 171-174 u. ö. Vgl. dazu auch: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie IV, 2004, 706. Vgl. auch Gl 190 mit direkter Bezugnahme auf den Begriff der Willkür bei Kant.
261 Ideologiewörter: Wille
gender Kunstfertigkeit vom menschlichen Willen dem menschlichen Lebenszweck gewidmet.
Die Fähigkeit, über den Bestimmungsgrund der Willkür zur Handlung zu verfügen, wird von Chamberlain gelesen als >über Handlung zu verfügen, Dinge hervorbringen zu können<. Damit ist er wieder bei seiner Schöpfungsfähigkeit, der Kunstfertigkeit und dem gesamten völkischen Kontext der Arierattribute, also der praktischen Veranlagung, Tatkraft bzw. instinktiven Sicherheit in Sachen der Moral. Im Arier bzw. Indoeuropäer werden laut Chamberlain Ideal und Praxis, Moral und Tatkraft zur Realität. GL 606: Welche Kühnheit, ein moralisches Reich, welches nicht da ist, durch unseren Willen erschaffen, "wirklich" werden lassen! Eine wie gefährliche Kühnheit, wäre nicht jenes Prinzip der Treue am Werk, das für Kant‘s eigene geistige Physiognomie so überaus charakteristisch ist! Und man merke wohl diese Gegenüberstellung: hier (beim Germanen) Ideal und zugleich Praxis, dort (beim Hellenen) das nüchtern Reale und als Geselle die Theorie. Der grosse Kapitän der Mächte des Chaos spottete über die deutschen "Ideologen", wie er sie nannte: ein Beweis von Unverständnis, denn es waren praktischere Menschen als er selber. Nicht das Ideal sitzt in den Wolken, sondern die Theorie. Das Ideal ist, wie Kant es hier zu verstehen giebt, eine praktische Idee zum Unterschied von einer theoretischen Idee. Und was wir hier, auf den Höhen der Metaphysik, in scharfen Umrissen erblicken, wir finden es überall wieder: der Germane ist der idealste, doch zugleich der praktischste Mensch der Welt, und zwar, weil hier nicht Gegensätze vorliegen, sondern im Gegenteil Identität. Dieser Mensch schreibt die Kritik der reinen Vernunft, erfindet aber im selben Augenblick die Eisenbahn; das Jahrhundert Bessemer‘s und Edison‘s ist zugleich das Jahrhundert Beethoven‘s und Richard Wagner‘s.
Auch wenn Kant immer wieder genannt und als philosophischer Hintergrund suggeriert ist, als solcher auch erkannt werden kann, differiert die inhaltliche Rezeption durch Chamberlain an allen entscheidenden Einzelpunkten. Zu den Differenzen, ja diametralen Gegensätzen gehört vor allem Kants Idee von der Gleichheit aller Menschen, die Chamberlain im Sinne Gobineau's verneint, aber auch die Frage nach der tatsächlichen individuellen Autonomie, die es im Sinne Kants geradezu erfordert, unabhängig von anderen Willensbekundungen zu sein.48 Im Übergangsbereich zwischen dem kategorischem Imperativ Kants, dem menschlichen bzw. göttlichen Willen bei Luther und der Vorstellung Schopenhauers vom Willen als alles bewegendem Welttrieb, der das Elend des Daseins verursacht, lässt sich Chamberlains psychologische Unterscheidung von Tiefwillen und Oberflächenwillen ansiedeln (Beleg s. u.). Wäh_____________ 48
Kant, Werke 6, 76: "Der letztere muß also von allem Gegenstande so fern abstrahieren, daß dieser gar keinen Einfluß auf den Willen habe, damit praktische Vernunft (Wille) nicht fremdes Interesse bloß administriere, sondern bloß ihr eigenes gebietendes Ansehen, als oberste Gesetzgebung, beweise."
262 Ideologiewortschatz
rend der Oberflächenwille der Wille des Einzelmenschen und einzelner Kollektive ist, der beständig narrt, der gebrechlich und ohne Bestand ist, wird der Tiefwille von ihm als vom Menschen unabhängige, in der Natur wirkende Antrieb der Welt gesehen. Wille 7: Von allen uns bekannten Gewalten ist der Wille [hier: der Tiefwille; ALR] die größte. Mag sonst die blinde Natur mit ihren entfesselten Elementen zerstören oder wieder zusammentragen, immer handelt es sich nur um Verwandlungen; jede Kraft kann in andere übergeleitet, jede große in tausend kleine zersplittert werden; schöpferisch ist einzig der Wille: dieser allein erschafft, was vorher nicht war.
Der Tiefwille als das kreative Prinzip wird begleitet von Zerstörung und Zersplitterung, Blindheit und Entfesselung. Die Kennzeichnung des Willens als (Natur)gewalt, als blinde Natur, als Kraft (Br II, 175) ist häufig anzutreffen. Ob er eine blinde und oft verheerende Kraft darstellt, die aus den Tiefen gebietet (Wille 11), als zeugender Blitz erscheint, der aus einer Ueberfülle angestauten Lebenssaftes hervorschießt, wobei er, nach allen Seiten zündend, millionenfache Kräfte sich zugesellt (ebd.), immer ist er allgewaltig und allgegenwärtig (Gl 243). Vom Oberflächenwillen eines Einzelmenschen kann hier kaum die Rede sein. Die Naturmetaphorik verweist vielmehr auf das Übernatürliche, auf Gott (Wille 7) oder eine Art Weltgeist bzw. auf das Ding an sich (im Sinne Schopenhauers), auf etwas, das als Wille in der Welt wirkt und auf das Menschen nur bedingt Zugriff haben. Man erkennt diesen Willen, den Tiefwillen, daran, dass er sich beständig dem eigenen Wollen oder dem Willen eines Kollektivs, dem so genannten Oberflächenwillen, in den Weg stellt, ihn sozusagen aushebelt; zum einen, weil er diesen daran hindert, überhaupt zur Ausführung zu gelangen (während der Tiefwille zu Taten führt), und zum anderen, indem er deutlich macht, dass das oberflächlich Gewollte keineswegs das wahrhaft Gewollte war. Das folgende Zitat bringt ein Beispiel: Wille 8: Nicht allein einzelne jedoch, vielmehr auch große Versammlungen und ganze Völker unterliegen leicht der Einbildung, Dinge zu wollen, die sie in Wirklichkeit keineswegs wollen. Fast ergötzlich wirkt es […] zu verfolgen, wie das erste große Revolutionsparlament, die Konstituante, regelmäßig das Gegenteil von dem beschließt, was die überwiegende Mehrzahl seiner Mitglieder soeben als ihren Willen feierlich kundgegeben hat. […] Der Oberflächenwille der Abgeordneten träumte von weiser, besonnen fortschreitender Gesetzgebung, ihr Tiefwille löste die ganze Regierungsmaschine innerhalb weniger Monate in Anarchie auf; der Oberflächenwille [9] des französischen Volkes träumte von Verbrüderung, seinen Tiefwillen erfüllen Haß, Rachegelüste und Habgier. An diesem schauerlichen Beispiel lernen wir Menschen unser eigenes Wesen erkennen; denn die Grundzüge gleichen sich überall. Wenige Dinge sind für leitende Politiker wichtiger als die unbeirrbare, sichere Unterscheidung zwischen dem "Willen", den die Phantasie dem einzelnen oder einer Partei oder vielleicht einem ganzen Volke vorgaukelt, und dem tiefgewurzelten "Willen", der zu Taten führt, an welche die
263 Ideologiewörter: Wille
sie Vollbringenden möglicherweise nie gedacht und deren sie sich vielleicht nicht fähig gehalten hätten – denn in uns allen schlummert die Bestie und in vielen von uns (der Krieg zeigt es wieder) schlummert der Held.
Es ist offensichtlich, dass Chamberlain dem Bewusstsein das Unterbewusstsein zur Seite stellt. Was in diesem wirkt, wird dafür verantwortlich gemacht, welches Ergebnis der Wille zeitigt, Bestialität oder Heldsein, Chaos oder neues Leben (Wille 10). Diese Art der Völkerpsychologie ist nicht nur auf Wilhelm Wundt49 zurückzuführen, auf den Chamberlain selbst verweist, es ist auch die Bezugnahme auf Schopenhauer Willensmetaphysik. 2. 4. 3. Chamberlains Instrumentalisierung von 'Wille' bei Arthur Schopenhauer Chamberlains Gebrauchweisen des Wortes Wille sind oft explizit, häufig auch nur allusorisch an Schopenhauer, vor allem aber an Schopenhauer in der Brechung Richard Wagners, angelehnt. In der Zusammenfassung Arthur Hübschers50 geht es Schopenhauer um folgende Punkte: Hübscher 19f.: In allen Kräften und Gestalten der Natur objektiviert sich derselbe Wille; auf allen Stufen, von den physikalischen Kräften der Materie bis zur Individualität des Menschen: in ihm hat sich der Wille, der seinem Wesen nach "Wille zum Leben" ist, ein Licht angezündet, hat sich im menschlichen Gehirn ein Organ der Erkenntnis geschaffen. […] Der Wille aber ist Ursache alles Leidens in der Welt. […] Enthebung von diesem Leiden findet er einmal auf ästhetischem Wege (eudämonistisch-quietistisch): in der "Seligkeit des willenlosen Anschauens" der "Ideen", die in der Kunst objektiviert sind; Vollkommenheit der Selbstenthebung und –erlösung gewährt die Musik. Da Leben Leiden ist und unaufhörlich Leiden verursacht, kommt Schopenhauer zur Verneinung des Willens zum Leben und ethisch zum Gebot des Mitleidens.
Die wichtigsten Stichwörter lauten: Wille, Leben, Leiden, Ideen, Erlösung, Kunst, Verneinung des Willens, Mitleiden. Während sich später bei Wagner vor allem der Mitleidsgedanke sowohl in seiner Dramaturgie (Parsifal) als auch in seiner Regenerationslehre fortgesetzt hat, sind es bei Chamberlain die Trieb- und Lebenskraft und das Fortpflanzungsprinzip, denen er mit seinen Bezugnahmen auf Schopenhauers Willen huldigt. Dies geschieht nicht immer affirmativ, sondern oft auch als Reibungsfläche zur Überhöhung der eigenen Standpunkte. Der Utopist gebraucht den Pessimisten zur Bestätigung seiner Lebensbejahung, zur Diesseitsorientierung des Christentums und als Argumentationslieferanten für seinen Antisemitismus. Denn, so Chamberlain in der Arischen Weltanschauung (85): Religion ist Gegenwart, nicht Vergangenheit und Zukunft. _____________ 49 50
Chamberlain, Kant 705. Hübscher, Deutsche Geisteswelt 1986, 19f. .
264 Ideologiewortschatz
Auch bei Schopenhauer wird das Wort Wille polysem gebraucht. Er verwendet es vor allem als 1. >inneres Wesen der Welt, das Ding an sich,51 Substrat aller Erscheinungen< bzw. als 2. >Triebkraft alles Lebendigen, das Unbewusste<. Um es noch einmal zu betonen, Schopenhauer versteht unter Wille keineswegs >Absicht<, >Zweck< oder >Ziel<, schon gar nicht >Vernunft<, explizit sagt er: "dass jede Bewegung, Gestaltung, Streben, Seyn, dass dies Alles Erscheinung, Objektivität, des Willens ist; indem er das Ansich aller Dinge ist, d. h. dasjenige was von der Welt noch übrig bleibt, nachdem man davon absieht, dass sie unsre Vorstellung ist".52 Wille bezeichnet dasjenige, was die Welt im Innersten zusammenhält und sie außerdem antreibt und bewegt. Schopenhauer, Ueber den Willen in der Natur III, 294ff.: Kern und Hauptpunkt meiner Lehre [ist], die eigentliche Metaphysik derselben, also jene paradoxe Grundwahrheit, daß Das, was Kant als das Ding an sich der bloßen Erscheinung, von mir entschiedener Vorstellung genannt, entgegensetzte und für schlechthin unerkennbar hielt, daß, sage ich, dieses Ding an sich, dieses Substrat aller Erscheinungen, mithin der ganzen Natur, nichts Anderes ist, als jenes uns unmittelbar Bekannte und sehr genau Vertraute, was wir im Innern unseres eigenen Selbst als Willen finden; […]; ja, daß dieser Wille, als das alleinige Ding an sich, das allein wahrhaft Reale, allein Ursprüngliche und Metaphysische, in einer Welt, wo alles Uebrige nur Erscheinung, d.h. bloße Vorstellung, ist, jedem Dinge, was immer es auch seyn mag, die Kraft verleiht, vermöge deren es daseyn und wirken kann; daß demnach nicht allein die willkührlichen Aktionen thierischer Wesen, sondern auch das organische Getriebe ihres belebten Leibes, sogar die Gestalt und Beschaffenheit desselben, ferner auch die Vegetation der Pflanzen, und endlich selbst im unorganischen Reiche die Krystallisation und überhaupt jede ursprüngliche Kraft, die sich in physischen und chemischen Erscheinungen manifestirt, ja, die Schwere selbst, – an sich und außer der Erscheinung, welches bloß heißt außer unserm Kopf und seiner Vorstellung, geradezu identisch sind mit Dem, was wir in uns selbst als Willen finden, von welchem Willen wir die unmittelbarste und intimste Kenntniß haben, die überhaupt möglich ist; daß ferner die einzelnen Aeußerungen dieses Willens in Bewegung gesetzt werden bei erkennenden, d.h. thierischen Wesen durch Motive, aber nicht minder im organischen Leben des Thieres und der Pflanze durch Reize, bei Unorganischen endlich durch bloße Ursachen im engsten Sinne des Worts.
Die Welt als Ding an sich, als 'Wille', ist leibhaftig im Inneren unseres Selbst anzutreffen und ist im Unterschied zur Welt das wahrhaft Reale, das sich in allen Erscheinungen psychisch, physisch wie metaphysisch auswirkt. Es ist Kraft, Antrieb und Motiv, das Schwere und gleichzeitig die Bewegung, Gestalt, Beschaffenheit und organisches Leben, Gestaltung und Seyn. Die Stichworte _____________ 51 52
Vgl. Welt als Wille und Vorstellung I, 246. Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlass 1985. Beleg hier zitiert nach: Safranski, Schopenhauer 2004, 307. Vgl. auch: Schopenhauer, Ueber den Willen in der Natur, Sämtliche Werke III, 269-428.
265 Ideologiewörter: Wille
sind auch bei Chamberlain alte Bekannte, vor allem die damit angestoßenen Assoziationen 'Schöpfungskraft', 'Tatkraft' und 'Wirkprinzip', Kompetenzen, die der Mensch nach dieser Vorstellung aus sich selbst heraus gewinnen kann. Die Aufwertung des Menschen zum autonomen Schöpfer seiner selbst und seiner Vorstellungswelt kann man hier angelegt sehen. Sie steht gleichwertig neben der religiösen Perspektive der Gottähnlichkeit und bildet die Basis für Chamberlains Hauptanknüpfungspunkt an Schopenhauers Lehre, indem sie dessen Lebenspessimismus zur christlich motivierten Lebensbejahung umkehrt. Wie von Hübscher beschrieben, ist die Erlösung aus dem ewigen Kreislauf des Leidens ein zentraler Aspekt der Schopenhauerschen Metaphysik und seiner Verneinung des Willens. Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung II. Teil, 406: hier stellt das Leben sich keineswegs dar als ein Geschenk zum Genießen, sondern als eine Aufgabe, ein Pensum zum Abarbeiten, und dem entsprechend sehen wir, im Großen wie im Kleinen, allgemeine Noth, rastloses Mühen, beständiges Drängen, endlosen Kampf, erzwungene Thätigkeit, mit äußerster Anstrengung aller Leibes- und Geisteskräfte. […] Alles treibt, die Einen sinnend, die Andern handelnd, der Tumult ist unbeschreiblich. – Aber der letzte Zweck von dem Allen, was ist er? Ephemere und geplagte Individuen eine kurze Spanne Zeit hindurch zu erhalten, im glücklichsten Fall mit erträglicher Noth und komparativer Schmerzlosigkeit, der aber auch sogleich die Langeweile aufpaßt; sodann die Fortpflanzung dieses Geschlechts und seines Treibens. – Bei diesem offenbaren Mißverhältniß zwischen der Mühe und dem Lohn, erscheint uns, von diesem Gesichtspunkt aus, der Wille zum Leben, objektiv genommen, als ein Thor, oder subjektiv, als ein Wahn, von welchem alles Lebende ergriffen, mit äußerster Anstrengung seiner Kräfte, auf etwas hinarbeitet, das keinen Werth hat. Allein bei genauerer Betrachtung werden wir auch hier finden, daß er vielmehr ein blinder Drang, ein völlig grundloser, unmotivirter Trieb ist.
Für Schopenhauer ist der Wille also ein völlig grundloser, unmotivirter Trieb, eine Art Chaosprinzip, das die Basis für das Leiden in der Welt darstellt. Im ewigen Kreislauf der Welt erkennt er nur einen Tummelplatz gequälter und geängstigter Wesen53, welche nur dadurch bestehn, dass eines das andere verzehrt. Als resignative Konsequenz daraus ergibt sich das Mitleid mit diesen Elenden und die Notwendigkeit, sich selbst dem Willen zum Leben zu verweigern. Indem man die Genüsse des Lebens verabscheuet54, findet man Heiligung und Erlösung. Natürlich kann dieser grundsätzliche Pessimismus, wie schon mehrfach angedeutet wurde, keine Basis für eine weltanschauliche Utopie sein, wie sie Chamberlain anstrebt. Askese und Weltverachtung lehnt Chamberlain ab. Sie führen in seinen Augen zum Schiffbruch des Menschseins, zu Schmach und Sklaverei (AW 84). Ihm gilt der Wille zum Leben nicht als Grund _____________ 53 54
Welt als Wille und Vorstellung II, 667. Ebd. IV, 556.
266 Ideologiewortschatz
der Verneinung und damit als resignativer Endpunkt, sondern als eigentliche Perspektive, als Ausgangspunkt seiner Utopie (AW 46). Buddhas Lehre ist für ihn gelebter Selbstmord, der nicht nur das eigene Leben verneint, sondern ohne Samen zur Neugeburt ist (Gl 233). Anders aber der deutsche Wille, er setzt sich über die Jahrhunderte fort (Br II, 175) und gestaltet die Welt konstruktiv. Chamberlain55 will die bewusste Züchtung des Willens (Wille 10) mithilfe des Triebes (im Schopenhauerschen Sinne) zur Fortpflanzung,56 mehr noch: Er will die Zähmung des Schopenhauerschen Unbewusstseins, das er im folgenden Beleg mit unbewusst[em] Kreißen im dunklen Mutterschoß eines ziellosen Werdens umschreibt, durch den Indoeuropäer, der nicht nur im folgenden Beleg immer wieder in die Metaphorik der Aufklärung gekleidet wird. Die damit verbundene Aussage besteht in der Überlagerung des Unbewussten und Chaotischen durch das ordnende Prinzip der praktischen Vernunft. Anders ausgedrückt, das arische Bewusstsein in seiner fruchtbaren und lebensbejahenden Produktivität wird von Chamberlain dem Pessimismus Schopenhauers entgegengestellt. AW 13: In einer Ideenwelt erzogen, die nie die unsere sein konnte […], vernahm unser Ohr plötzlich die Stimme des verwandten Indoeuropäers. Es war das ein Weckruf. Was voranging [...] glich doch mehr dem unbewußten Kreißen im dunklen Mutterschoß eines ziellosen Werdens; jetzt war es Tag geworden, jetzt wurden wir unseres eigenen Willens Herren und schritten bewußt in die Zukunft hinaus. […]; es war aber etwas weit Wertvolleres als das: die Geburt eines Neuen, das allmähliche Erstarken und Auswachsen eines frischen Triebes des unerschöpflich reichen europäischen Völkerstammes, des europäischen geistigen Fürstentums.
Doch Schopenhauers Ethik der Willensverneinung, die wohl auch aus der Auseinandersetzung mit den altindischen Upanishaden57 entwickelt wurde, beanspruchte ebenfalls von sich, eine Erlösungslehre zu sein, sogar eine christliche.
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Vgl. dazu auch Br I, 157ff. Anknüpfungspunkte an Schopenhauer lassen sich überall finden, u. a. da dieser den einzig plausiblen Lebenszweck des Menschen in der Arterhaltung sah: Welt als Wille und Vorstellung II, 652: Der Zeugungsakt verhält sich ferner zur Welt, wie das Wort zum Räthsel. Nämlich, die Welt ist weit im Raume und alt in der Zeit und von unerschöpflicher Mannichfaltigkeit der Gestalten. Jedoch ist dies Alles nur die Erscheinung des Willens zum Leben; und die Koncentration, der Brennpunkt dieses Willens, ist der Generationsakt. In diesem Akt also spricht das innere Wesen der Welt sich am deutlichsten aus. Es ist, in dieser Hinsicht, sogar beachtenswerth, daß er selbst auch schlechthin »der Wille« genannt wird, in der sehr bezeichnenden Redensart: »er verlangte von ihr, sie sollte ihm zu Willen seyn.« Als der deutlichste Ausdruck des Willens also ist jener Akt der Kern, das Kompendium, die Quintessenz der Welt. Vgl. dazu Safranski 2004, 301.
267 Ideologiewörter: Wille
Parerga und Paralipomena 262: [Meine Ethik] weist auf die Verneinung des Willens, als den Weg zur Erlösung aus ihr, hin. Sie ist sonach wirklich im Geiste des N.T., während die andern sämmtlich in dem des alten sind und demgemäß auch theoretisch auf bloßes Judenthum (nackten, despotischen Theismus) hinauslaufen. In diesem Sinne könnte man meine Lehre die eigentliche Christliche Philosophie nennen; – so paradox Dies Denen scheinen mag, die nicht auf den Kern der Sache gehn, sondern bei der Schaale stehn bleiben.
Und gerade dieses Stichwort von der eigentliche[n] Christliche[n] Philosophie könnte Chamberlain durchaus zur Inspiration seines germanischen Christentums gedient haben, vor allem hinsichtlich Schopenhauers Mitleidsphilosophie. Doch s. v. Leben wurde bereits (Gl 236f.) zitiert, wie explizit Chamberlain den Pessimismus Schopenhauers angreift. Wie kann der Mensch ein elendes, nur zu Jammer geborenes Wesen sein, wenn seine Brust das Göttliche birgt? wie diese Welt die schlechteste, die noch gerade möglich war (…), wenn sie den Himmel einschliesst? In der Bejahung des Lebens durch das göttliche Prinzip, personifiziert in der Gestalt Christi, vor allem in ihrer lebens- und diesseitszugewandten Interpretation, sieht Chamberlain eine Umkehrung der Willensrichtung (Gl 238). Gl 239: eine neue Färbung des Willens greift wahrlich tiefer in den Organismus ein, als ein Unterschied im Pigment der Epidermis! Und der Herr dieser Menschenart, der "neue Adam", wie ihn die Schrift so treffend nennt, will nichts von Paktieren wissen; er stellt die Wahl: Gott oder Mammon.
Unter Umkehrung versteht Chamberlain bezeichnenderweise nicht nur die Verlebendigung jenes Reiches Gottes inwendig in uns, das sich im Mitleid (Gl 242) äußert, sondern eben auch die konstruktive Erschaffung einer neuen Menschenart aus diesem Inneren heraus. Wenn Chamberlain den Kreuzestod Christi beschreibt, so erfährt die Heilstat eine vollständige Neuinterpretation. In dieser sieht Christus "nur, dass die Menschen das Göttliche in ihnen ans Kreuz schlagen, dass sie den Samen des Gottesreichs zertreten, den Schatz im Acker verschütten, und voll Mitleid ruft er: sie wissen nicht was sie thun!" (Gl 242) Christus ist dementsprechend der stärkste Wille, das sicherste Selbstbewusstsein und hat den Menschen nur auf die Kraft in ihrem Inneren hingewiesen, eine Kraft, "drinnen in der unerforschten und unerforschlichen Welt des Menscheninnern, [...], fähig, den Menschen selber völlig umzugestalten, fähig, aus einem elenden, leidbedrückten Wesen ein mächtiges, seliges zu machen." (Gl 243). Die Umkehrung des Willens ist demnach nichts anders als die Vergöttlichung des Menschen als gottähnliches Wesen, das den Himmel in sich trägt, also die Umkehrung der Welt als Wille und Vorstellung im Schopenhauerschen Sinne in eine positive, konstruktive und bejahende pseudochristliche Philosophie, in der sogar Christus überflüssig wird. Auch die antijüdische Kontextualisierung, also Schopenhauers Judenfeindschaft, wurde von Chamberlain aufgegriffen.
268 Ideologiewortschatz
Parerga und Paralipomena 262: Welt als Wille und Vorstellung II, 740: Bei mir hingegen ist der Wille, oder das innere Wesen der Welt, keineswegs der Jehova, vielmehr ist es gleichsam der gekreuzigte Heiland, oder aber der gekreuzigte Schächer, je nachdem es sich entscheidet: demzufolge stimmt meine Ethik auch zur Christlichen durchweg und bis zu den höchsten Tendenzen dieser, wie nicht minder zu der des Brahmanismus und Buddhaismus. Spinoza hingegen konnte den Juden nicht los werden: quo semel est imbuta recens servabit odorem.
Auffällig in diesem Beleg ist Schopenhauers Abgrenzung von Jehova als alttestamentarischem Gott und Christus, dem bejahenden Erlöser, wie sie auch in Chamberlains Argumentation maßgeblich ist. Die Parallelität der Topoi von der Gewalt des jüdischen Willens (AW 40) und dem schon erwähnten semitischen Materialismus (vgl. auch Gl 476) wird von Chamberlain sogar offensiv vertreten. GL 473: der Semit verbannt aus der Religion das gedankenvolle Verwundern, jedes Gefühl eines übermenschlichen Geheimnisses, er verbannt ebenfalls die schöpferische Phantasie; von beiden duldet er nur das durchaus unentbehrliche Minimum, jenes "Minimum an Religion", von dem Renan sprach. Wo also semitischer Einfluss sich geltend macht, sei es durch physische Vermengung (wie bei den Juden), sei es durch die blosse Macht der Idee (wie im Christentum), werden wir diesen beiden charakteristischen Bestrebungen begegnen. Beide kann man in ein einziges Wort zusammenfassen: MATERIALISMUS. Einer der gewaltigsten Denker, die je gelebt, dessen Denken ausserdem eine symbolische Plastizität besass, die beispiellos, selbst von Plato unerreicht dasteht, so dass seine Weltanschauung in mancher Beziehung mit Religion verwandt erscheint, Schopenhauer, hat als Metaphysiker den Satz aufgestellt: "die Materie ist die blosse Sichtbarkeit des Willens... was in der Erscheinung, d. h. für die Vorstellung, Materie ist, das ist an sich selbst Wille.
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass dieser Materialismusvorwurf Egoismus impliziert, Götzendienst und Zerstörung von echter Religion. Der semitische Wille ist dem Chaos jedenfalls deutlich näher als dem göttlichen Wirken in der Welt, der Askese und dem Mitleiden ferner als dem eigenen Selbsterhaltungstrieb. Die Doppelgesichtigkeit des Willens als alles bewegend auf der einen Seite und damit zugleich als Leid bringend auf der anderen Seite (vgl. Gl 242; Beleg s. v. Leben, teilweise s. v. Kraft) eröffnet Chamberlain die Möglichkeit der Polarisierung. Der gute Wille, göttlich, vernünftig und alles erschaffend, wird repräsentiert durch den Arier, das zerstörende Prinzip durch den Semiten. Es ist bekannt, dass Richard Wagner ein treuer Verehrer des Frankfurter Philosophen war und in vielerlei Weise auf dessen Schriften Bezug genommen hat. Welch absurde Züge diese Rezeption Schopenhauers bei Chamberlain gezeitigt hatte, ist schon beschrieben worden, das folgende Zitat kann nur andeu-
269 Ideologiewörter: Wille
ten, dass Chamberlain selbst darin nur Epigone des "großen" Bayreuther Meisters war.58 Wagner, Heldenthum und Christenthum. 10, 282:: Aus welchem Blute sollte nun der Genius der Menschheit, der immer bewußtvoller leidende, den Heiland erstehen lassen, da das Blut der weißen Race offenbar verblaßte und erstarrte? Für die Entstehung des natürlichen Menschen stellt unser Schopenhauer gelegentlich eine Hypothese von fast überzeugender Eindringlichkeit auf, indem er auf das physische Gesetz des Anwachsens der Kraft durch Kompression zurückgeht, aus welchem nach abnormen Sterblichkeitsphasen ungewöhnlich häufig erfolgende Zwillingsgeburten erklärt werden, gleichsam als Hervorbringung der gegen den, das ganze Geschlecht bedrohenden Vernichtungsdruck, sich doppelt anstrengenden Lebenskraft: was nun unseren Philosophen auf die Annahme hinleitet, daß die animalische Produktionskraft, in Folge eines bestimmten Geschlechtern noch eigenen Mangels ihrer Organisation, durch ihr antagonistische Kräfte bis zur Vernichtung bedroht, in einem Paare zu so abnormer Anstrengung gesteigert worden sei, daß dem mütterlichen Schooße dieses Mal nicht nur ein höher organisirtes Individuum, sondern in diesem eine neue Species entsprossen wäre. Das Blut in den Adern des Erlösers dürfte so der äußersten Anstrengung des Erlösung wollenden Willens zur Rettung des in seinen edelsten Racen erliegenden menschlichen Geschlechtes, als göttliches Sublimat der Gattung selbst entflossen sein.
2. 5. Führer Vom heiligen Geist eingesetzte Führer (vgl. Wille 17 oben), die geborenen Herrenmenschen (Wille 32.) und hohe Begabung Einzelner (Weltstaat 36) gehören neben der Volkskraft (Wille 17) bzw. der Tüchtigkeit des Volkes und der methodischen Durchbildung Vieler (Weltstaat 36) nach Chamberlains Ansicht zu den Voraussetzungen dafür, dass eine Nation Großes zu leisten vermag. Das von ihm angestrebte Große sei eine "durch deutsche Volkskraft und genial-wissenschaftliche deutsche Staatskunst – Kraft der Gestaltung, Kunst der Verwaltung – eine neue bessere Weltordnung" (Wille 17). Es liegt geradezu in der Konsequenz des bisher Beschriebenen, dass Chamberlain einem Führermythos huldigt, in dem das Charisma einer Einzelperson zum Maßstab erhoben wird. Wille / Das eine und das andere Deutschland 33: Unter Wilhelm dem Getreuen und Bismarck dem Großen, im Bunde mit Moltke dem Nieirrenden und Roon dem stets Vorausdenkenden – vier herrlichen germanischen Typen – hatte das Deutschland der oberen Gruppe einen Gipfelpunkt erreicht [...]. Wie sollen wir aber die todesbedrohende innere Gefahr abwenden, wenn wir den Zusammen-
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Vgl. auch die Betonung des Willens bei Lagarde, Dt. Schriften 1903, 69; vgl. Sieg 2007, 84.
270 Ideologiewortschatz
hang nicht erkennen? Wann endlich ertönt die Stimme des schon von Luther herbeigerufenen "Mannes mit dem Löwenherzen"?
Ob er Bismarck den Großen verherrlicht, Hindenburg oder später Hitler, vor allem in gesellschaftlichen und politischen Krisenzeiten ruft Chamberlain nach dem alles rettenden, von Gott gesandten Führer. Auf der Matrix der genialen Einzelpersönlichkeit, die er regelmäßig in die Nähe einer religiösen Erlöserfigur rückt, wird die Utopie eines deus ex machina geschaffen, der die deutsche Gesellschaft vor der beschriebenen Mittelmäßigkeit und dem damit verbundenen kulturellen, moralischen und politischen Verfall, während der Kriegszeit vor allem auch vor der militärischen Niederlage bewahren soll. Damit sind bereits die drei wichtigsten Führertypen angesprochen. Es handelt sich erstens um den geistigen Führer (z.B. Goethe), zweitens den militärischen Führer (z.B. Hindenburg) und drittens den politischen Führer, wobei letzterer nichts mit Sozialistenführern oder Revolutionsführern gemein hat. Ein Führer ist eine Person, die alle biologischen Anlagen der 'Rasse' erkennt, alle Kräfte einer 'germanisch' konzipierten Gottheit in sich vereint und dadurch in Verlängerung natürlicher und religiöser Potenzen ein schöpferisches, geniales und künstlerisches Kraftzentrum, gleichsam als Inbegriff der Fähigkeiten einer 'Rassenation', bildet. Dieses Gentilcharisma erlaubt es ihm, alle geistigen, politischen, militärischen Aufgaben der Nation und ihre im Sinne der Rasse- und Religionskonzeption aufgegebene Bestimmung mittels eines einheitlichen, als Kunstwerk gedachten Staatswesens zu lösen bzw. zu erfüllen. Verkürzt und vereinfacht ausgedrückt: Der Führer muss ein begnadeter Künstler sein, der seine Tatkraft in Politik und Gesellschaft umsetzt. Solche Eigenschaften entspringen nicht dem Zufall, sondern sind Ausdruck der rassischen Grundlagen eines Volkes und berechtigen dieses dazu, sich als auserwählt zu betrachten. Personifikationen wie Preußen als Führer des Deutschen Reiches (Gl 332) oder Deutschland als Führer der Welt (Weltstaat 37) runden daher vor allem eines ab: den weit reichenden politischen, kulturellen und moralischen Auserwähltheitsanspruch, den Chamberlain in seinen letzten Lebensjahren gezielt für die Deutschen erhebt. Unter Held 1 und Genie 2 wurde bereits erwähnt, wen Chamberlain zu den geistigen Führern der Nation rechnet. Es sind vor allen anderen Richard Wagner und Johann Wolfgang von Goethe. Explizit als Führer wird auch Kant bezeichnet (PI 96); in einer ähnlichen Vorbildrolle sieht Chamberlain die Führer auf philosophischem Gebiet, die Griechen (AW 73). Als sichere Wegführer durch die Nacht des Inneren beschreibt er außerdem die Indoarier (AW 72). Militärische Führer, geborene Herrenmenschen (Das eine und das andere Deutschland 32), geborene Führer an der Spitze der Heeresmacht (Vorw. 14. Aufl. XVIII) sind die Generäle Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff, wobei Chamberlain besonders den Oberbefehlshaber
271 Ideologiewörter: Führer
Hindenburg zur Führerikone erhebt. Die Parallelen zur späteren Hitlerverehrung sind unübersehbar. Hindenburg verkörperte für Chamberlain nicht nur den genialen Feldherrn, sondern auch einen Menschenführer für alle wichtigen Lebensbereiche. Die "Größe" Hindenburgs lässt sich auch daran ablesen, dass er, obwohl Kriegsheld, in vielen Details dem Bild entspricht, das Chamberlain vom Künstler gezeichnet hat: er schafft, er organisiert, beseelt und er erweckt Fähigkeiten (s. u.). Außerdem übe er eine elektrifizierende Wirkung (Wille 17) aus: Wille 17: Sobald er spricht, lebt jeder auf! Solche Worte – und das heißt solchen Geist – brauchen wir aber auch außerhalb der Armee. Hindenburg redet nicht nur, er redete sogar gelegentlich, nebenbei; er schlägt auch nicht nur Schlachten; er schafft, er organisiert, er stellt richtige Leute an richtige Stellen, er beseelt, er weckt Fähigkeiten; man erblickt den "heiligen Geist" am Werke, wie er "alle Seelen heimsucht". Wir brauchen im ganzen Staatswesen die Erlösung aus einem System der grundsätzlichen Mittelmäßigkeit.
Die Glorifizierung des Generalfeldmarschalls hat deutlich sakrale Züge: Er spricht, wie Gott im Schöpfungsbericht sprach, er erblickt den heiligen Geist am Werk, wobei erblicken an das mystische Schauen der Gottheit erinnert. Die parallel geschalteten Prädikationen erinnern an den Sakralstil der Bibel sowie an mystische und pietistische Formulierungstraditionen; in sich unterliegen sie wieder dem Gesetz der wachsenden Gliederzahl; die eingeblendeten Konstruktionen nicht nur [...] sogar ermöglichen interne Pointierungen. Chamberlain bezeichnet Hindenburg als vom Himmel geschenkt (Vaterlandspartei 37) und aus der Rasse entwachsen,59 weswegen er das Recht hat, sich die Welt untertan zu machen: Wille 16: Nur ein Gott kann sprechen: "Ich will neue Welten schaffen", nur ein Bismarck vermag es, in der schweigenden Feste seines Herzens sich zu geloben: "Ich will ein neues Deutschland schaffen"; nur von Hindenburg wagt es zu sagen: "Es muß sich alles unserem Willen fügen".
Die Ausweitung der militärischen Machtkompetenzen auf nichtmilitärische Domänen ist hier angedeutet. Die politische Führung eines Landes sollte bei Chamberlain keineswegs von der militärischen getrennt sein. Eine Dreiteilung der Macht kommt für ihn nicht in Frage. Das monarchische Prinzip, in dem der Kaiser alle Machtbefugnisse in seiner Person vereinigte, auch als oberster protestantischer Kirchenherr, und das mit dem Rücktritt Kaiser Wilhelms ein unrühmliches Ende gefunden habe, soll mit Hilfe von Führerpersönlichkeiten fortgesetzt werden. Diese dürften aber nicht demokratisch gewählt werden, sondern müssten aufgrund _____________ 59
Wille / Die Deutsche Vaterlands=Partei 37ff.: "Und ist auch ein Hindenburg vom Himmel geschenkt, nicht fällt er vom Himmel herab; vielmehr ist eine solche Erscheinung genau bedingt durch das Rassenblut, das in seinen Adern kreist und durch die Geschichte des Volkes, dem er entstammt."
272 Ideologiewortschatz
ihrer erwiesenen Kompetenzen dazu berufen sein. Und Chamberlain sah wie viele seiner Zeitgenossen zunächst in Hindenburg den einzig berechtigten Nachfolger der Monarchie. Die Hypostasierung des Generals nutzt Chamberlain darüber hinaus aber auch dazu, die göttliche Legitimation der Deutschen zu begründen: Wille / Die Deutsche Vaterlands=Partei 36f.: Bewährt sich nicht unter unseren Augen das heilige Deutschtum als gottgegeben, gottgewollt, gottbefohlen? Aus welchem anderen Volke konnte ein Hindenburg hervorgehen?
Kennzeichnend für Deutschland, und hier verknüpfen sich wieder die semantischen Vernetzungen mit den lexikographisch behandelten Stichwörtern, sei, dass es das Land der großen Männer genannt werden könne (Wille 17), dass es aus sich heraus unzählige Führer hervorbringen könne (ebd.), weil es eine Fülle von Meistergeistern besitze. Der Held Hindenburg sei nur das zwangsläufige Produkt des Rassenbluts, das in seinen Adern kreist, sei Ausfluß, Inbegriff und Sinnbild einer Gesamtheit (Vaterlands=Partei 37). Doch die vielen Meister (ebd.) brauchten einen, der die überschwängliche Fülle organisiert und lenkt, einen, der alle drei Führertypen gleichzeitig verkörpert. Br II, 13 (1916): was wir brauchen, ist ein Führer auf völkischem, praktischem, staatswissenschaftlichem Gebiet - wobei dann die deutsche Kunst natürlich gebührende Beachtung erfährt.
Der Hindenburgmythos, der während und vor allem nach dem 1. Weltkrieg weite Kreise der deutschen Gesellschaft erfasst hatte, wird bei Chamberlain schon bald durch die Entdeckung einer neuen Galleonsfigur flankiert. Ohne vorwegnehmen zu wollen, was im Kapitel zu Hitler explizit ausgeführt wird, kann man allein anhand der Briefe (Br an AH, 1924), die Chamberlain an Hitler geschrieben hat, diejenigen Eigenschaften zusammenstellen, die seiner Meinung nach zu einer charismatischen Führergestalt gehören. Chamberlain, der den Gefreiten Hitler mit noch größerem Pathos als den Heerführer Hindenburg beschreibt, erkennt in ihm einen Erwecker der Seelen, jemanden, der die Herzen erwärmt und der voll glühender Vaterlandsliebe ist, einen aufbauenden Menschen, der den Kosmos zu gestalten weiß, eben eine Persönlichkeit, eine Lichtgestalt, die es wie Hindenburg wagt, Konsequenzen zu ziehen von seinem Denken auf sein Handeln. Er sei zielstrebig, leidenschaftlich vaterlandsliebend, zu allem entschlossen, also keineswegs halb oder mittelmäßig. Hitler sei ein Herzmensch, der den Deutschen von Gott geschenkt worden sei und dessen Gewalt bereits gewirkt habe wie ein Gottessegen. Für den in Bayreuth lebenden Schwiegersohn Wagners ist es ganz offensichtlich, dass Hitler der kommende Führer und Erlöser sein wird. Das, was Hitler schon geschaffen hat, als sein eigenstes Werk, ist bereits ein Gewaltiges, was nicht sobald hinschwinden wird. Dieser Mann hat gewirkt wie ein Gottessegen, die Herzen aufrichtend, die Augen auf klar erblickte Ziele öffnend,
273 Ideologiewörter: Führer
die Gemüter erheiternd, die Fähigkeit zur Liebe und Entrüstung entfachend, den Mut und die Entschlossenheit stählend. Aber wir haben ihn noch bitter notwendig: Gott, der ihn uns geschenkt hat, möge ihn uns noch viele Jahre bewahren, zum Segen für das deutsche Vaterland!60
Hitler wird in diesem offenen Brief von Chamberlain explizit zum neuen Führer proklamiert. Die schon Hindenburg zugeschriebenen Attribute des Führertums, Charisma, Schöpferkraft und göttliche Auserwähltheit, werden so auf ihn bezogen, dass es einer Heiligenverehrung gleichkommt. Chamberlain war damit einer der ersten Vertreter des Hitlerschen Führerkultes.
2. 6. Sozialismus Zu den offensichtlich politischen Ausdrücken der Texte Chamberlains gehört das Schlagwort Sozialismus. Schon auf den ersten Blick wird seine dem bürgerlichen Bildungs- und Kulturideal verpflichtete prinzipielle Negativbewertung deutlich (Chamberlain, Kant 694): Sozialismus, dessen rohe, gedankenleere Tyrannei jede Regung der Person im Keim erstickt. Aussagen dieser Perspektive basieren auf den Prinzipien der kulturpessimistischen Antimoderne. Das bürgerliche Stigmawort Sozialismus steht dann nicht in erster Linie für die Aufteilung von Produktionsgütern und für Enteignung bzw. als positives Fahnenwort für die Herstellung sozialer Gerechtigkeit, sondern für Antiindividualismus, Entpersönlichung, Maschinisierung, Kollektivismus, Großindustrie, Imperialismus, Ultramontanismus, Internationalismus, Verlust von Kreativität und Unterdrückung. Gl 814f.: Freilich bedeutet der Sozialismus eine Gefahr für die einzelnen nationalen Staaten, wie überhaupt für den Grundsatz des Individualismus, doch nicht für die Idee des Staates. Er bekennt ehrlich seinen Internationalismus, bekundet jedoch sein Wesen nicht im Auflösen, sondern in einer fabelhaft durchgeführten, gleichsam den Maschinen abgeguckten Organisation. In beiden Dingen verrät er die Verwandtschaft mit Rom. In der That, er vertritt die selbe katholische Idee wie die Kirche, wenngleich er sie am anderen Ende anfasst. Darum ist in seinem System ebenfalls für individuelle Freiheit und Mannigfaltigkeit, für persönliche Originalität kein Raum. Ce qui lie tous les socialistes, c‘est la haine de la liberté' wie Flaubert sagt. Wer die äusseren Grenzen niederreisst, richtet innere Grenzen auf. Sozialismus ist verkappter Imperialismus; ohne Hierarchie und Primat wird er sich schwerlich durchführen lassen; in der katholischen Kirche findet er ein
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Chamberlain: "Adolf Hitler. Zu seinem Geburtstag am 20. April 1924", in: Deutsche Presse (München), 2. Jg., F. 65/66 v. 20./21. April 1924, S. 1.
274 Ideologiewortschatz
Muster sozialistischer, antiindividualistischer Organisation. Einer ganz entsprechenden Bewegung ins Unbegrenzte mit der selben unausbleiblichen Folge einer Unterdrückung des Einzelnen begegnen wir im Grosshandel und in der Grossindustrie.
Sozialismus wird hier bezeichnenderweise mit der 'ultramontanen' katholischen Kirche verglichen, womit Chamberlain die traditionelle Polemik der potentiellen "Vaterlandsverräter" bedient, zu denen neben den Sozialisten die Katholiken, die Freimaurer und vor allem die Juden gerechnet wurden. Die Gefahr des Sozialismus wird auf diese Weise durch Feindbilder anderer Art überblendet. Dabei wird die ihm zugeschriebene Rolle einerseits relativiert, nämlich als eine auf soziale Gerechtigkeit gerichtete politische Bewegung, und andererseits aufgewertet, nämlich als eine Bewegung, die weltanschaulich destruktiv ist, indem sie den gesamten persönlichkeitsbegründeten Wertkomplex von Individualismus, Genie, Schöpfertum, Kunst fundamental gefährdet. Chamberlain reduziert den Sozialismus nicht auf den mit dem Namen Karl Marx verbundenen Kommunismus, in dessen Umsetzung er eine reale Bedrohung für das wirtschaftlich konsolidierte Bürgertum sieht, und bringt ihn aus zeitlichen Gründen auch noch nicht wirklich mit den als traumatisch empfundenen Erfahrungen der russischen Revolution in Verbindung. Er differenziert den Sozialismus im Hinblick auf seine vielfältigen Wurzeln im Laufe der Geschichte sogar so weit aus, dass er ihn zu einer Größe eines natürlichen Wechselspiels innerhalb der Wirtschaft reduziert. Insofern könnte man sein Vorgehen folgendermaßen beschreiben: Er macht den Prozess des Begriffe-Besetzens rückgängig, indem er Sozialismus in einen guten und einen schlechten Sozialismus aufgliedert, das Wort also aus dem spezifischen negativen Assoziationsraum des zeitgenössischen Kommunismusdiskurses herauslöst. Das Wort verliert auf diese Weise seinen Schlagwortcharakter und die bezeichnete Sache ihre über die Gegenwart hinausreichende (angebliche) Gefahr. Zum anderen verbindet er den für das Bürgertum bedrohlichen kommunistischen Sozialismus mit dem Judentum, so dass er seine Argumentation von der politischen Bewegung hinweg auf eine rassenbezogene Ebene und alles damit Assoziierte hinwenden kann. Gl 994: Die Einen weisen heute auf die grossen Syndikatsbildungen, die Anderen im Gegenteil auf den Sozialismus hin und glauben, das Weltende herannahen zu sehen: gewiss bringen beide Bewegungen Gefahren, sobald antigermanische Mächte darin die Oberhand gewinnen, doch an und für sich sind es durchaus normale Erscheinungen, in denen der Pulsschlag unseres wirtschaftlichen Lebens sich kundthut.
Als "antigermanische Mächte" werden aggregativ im weiteren Anschluss an dieses Zitat die Juden zu Profiteuren erklärt und toposartig mit Syndikalismus und Sozialismus in Beziehung gebracht. Prominente Vertreter
275 Ideologiewörter: Sozialismus
des Kommunismus, speziell Karl Marx und der Revolutionssozialist Karl Kautsky, werden von Chamberlain als Juden dem Nordgermanen Thomas Morus61 und dessen von Chamberlain ebenfalls als Sozialismus bezeichneter Utopie gegenübergestellt (Gl 996, Anm. 1), denn: Gl 996, Anm. 1: in den übrigen Punkten hat More, als Blut von unserem Blut, so genau gewusst, was wir brauchen, dass sein Buch, 400 Jahre alt, doch nicht veraltet ist, sondern seine Geltung behält. […] doch ist er nicht deswegen, wie unsere heutigen pseudomosaischen Sozialisten, ein antireligiöser, ethischer Doktrinär, im Gegenteil, wer den Gott im Busen nicht empfindet, bleibt in Utopia von allen Ämtern ausgeschlossen. Was also More von Marx und Genossen trennt, ist nicht ein Fortschritt der Zeit, sondern der Gegensatz zwischen Germanentum und Judentum.
Die Ausdifferenzierung des Wortes Sozialismus in einen guten, germanischen bzw. deutschen (PI 59), und einen schlechten, d. h. einen pseudomosaischen bzw. Judensozialismus (Br I, 190), ist wegweisend. Der gute Sozialismus betont das Kooperationsprinzip und den Willen für das Gemeinwohl, der schlechte wird mit Syndikalismus und Religionslosigkeit gleichgesetzt; das entspricht bekannten antisemitischen Stereotypen. Die damit vollzogene Komplexitätsreduktion rückt die zeitgenössisch relevanten sozialen Realitäten in den Hintergrund und führt alle wichtigen ideologischen Fragestellungen auf das bekannte rassische Entweder-Oder zurück. Dass damit außerdem die antibürgerlichen Drohkulissen von 'hochkompliziert' zu 'vermeintlich einfach lösbar' verschoben werden, ist symptomatisch. Gerade dieser Fokus bedeutet den Aufbau eines Hintergrundes, den die politisch und kulturell von ihrer Führungsaufgabe überzeugten Schichten zur Agitation einer unpolitischen Politik nutzen konnten. Der so genannte deutsche Sozialismus findet übrigens seine Verlängerung im linken Flügel des Nationalsozialismus, und der kommunistische wird sich in der nachfolgenden Propaganda nicht mehr vom polemischen Prädikat des jüdischen Bolschewismus befreien können. Und selbst heute noch werden sozialistische Parteiungen von der Sozialdemokratie bis hin zum Kommunismus in den tagespolitischen Argumenten als antiindividualistisch, geniefern, internationalistisch, bürokratisch usw. angesehen. Die Besetzung der Begriffe ist offensichtlich. Für Chamberlain muss festgestellt werden, dass auch er die sozialistische Drohkulisse in den Antisemitismus hineinlenkt. Die damit angebotene "einfache" Lösung, die in der impliziten Suggestion bestand, bei einer _____________ 61
Chamberlain ist insofern kein prinzipieller Feind des Sozialismus. Dies muss festgehalten werden. Was er will, ist eine Art des humanistischen Sozialismus im Sinne der Utopia Thomas Morus: Gl 996: "rationelle Bewirtschaftung des Bodens, Hygiene des Körpers und der Wohnung, Reform des Strafsystems, Verminderung der Arbeitsstunden, Bildung und edle Zerstreuung einem Jeden".
276 Ideologiewortschatz
entsprechenden antijüdischen Politik löse sich auch die Sozialfrage, konnte besonders auf bürgerliche Kreise bestechend wirken: Sozialsysteme zu verändern ist weitaus schwieriger als sich von einer religiösen Minderheit zu trennen.
2. 7. Liberalismus und das Prinzip der Gleichheit Kriegsaufsätze I / England 55: Das war die von der konservativen Partei engagierte Garde; an und für sich ging diese Männer die Wahl in einer fremden Stadt nichts an, sie waren aber dazu da, um angehende liberale Wähler einzuschüchtern und – wenn das nicht genügte – ihnen den Schädel einzuschlagen. […] Abends erfuhr ich's noch am eignen Leibe. Denn ich war damals Schüler in einem "College", und von den 80 Insassen des Lehrerhauses der Einzige, der die liberalen Farben trug und sich dadurch zu Gladstone bekannte; auch die Bitten der Lehrer vermochten mich nicht, die Farben meiner Gesinnung abzulegen und Disraeli's ans Knopfloch heften zu lassen; und so fiel denn auf einmal die ganze Meute über mich her, warf mich zu Boden und verprügelte mich, bis Lehrer und Diener zu Hilfe eilten.
Dass Chamberlain einmal auf Seiten der Liberalen stand und deswegen von einer zur Wählereinschüchterung engagierten Schlägertruppe der Konservativen verprügelt wurde, ist zunächst überraschend. Der in Kriegszeiten publizierte polemische Bericht dieses Vorfalls wirft nicht nur ein schlechtes Bild auf England, es hinterlässt vor allem einen schlechten Eindruck von den Konservativen und von der Demokratie insgesamt, die er in einer Weise schildert, als käme sie nie ohne rohe Gewalt aus.62 Diese biographische Anekdote steht beispielhaft für Chamberlains Ablehnung jeglicher Art von Parteipolitik, da er behauptet, dass die Parteien immer nur ihre Parteiinteressen bzw. sogar nur die jeweiligen Eigeninteressen der Politiker, nie jedoch die der Gesamtheit vertreten würden. Für ihn ist die programmatische Unterscheidung zwischen den einzelnen Parteien, also zum Beispiel zwischen konservativen und liberalen nur eine Scheindifferenz und die Etikettierung letztlich genauso auswechselbar, wie die Parteipolitiker selbst. Demokratische Wahn 45: Im Grunde wollen beide Parteien genau das Selbe; nirgends trennt sie ein entscheidender Grundsatz; darum finden auch Übergänge aus einer Partei in die andere nach praktischen Rücksichten ohne weiteres statt:
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Vgl. dazu auch: Lebenswege 6: "In Genf lebte ich unmittelbar gegenüber dem Palais Electoral, wodurch sich mir reichlich Gelegenheit bot, das Treiben in einem demokratisch regierten Lande kennen zu lernen: den vielen politischen Versammlungen wohnte ich häufig bei, und an den zahllosen Wahltagen pflegte ich stets mehr als einmal einzutreten und mich an dem Gebaren der Stimmenfänger, der Partei-Aufpasser und - Einschüchterer, sowie an dem Wesen auf den verschiedenen Büros zu ergötzen."
277 Ideologiewörter: Liberalismus
so gehörte z. B. Gladstone zu der konservativen Partei, ehe er Führer der Liberalen wurde, wohingegen Disraeli die liberale Partei, der er anfänglich angehört hatte, verließ, weil sie zu viele Männer von Bedeutung enthielt, während dem "Gegenspiel" ein Mann von seiner Begabung fehlte.
Die Tatsache, dass Chamberlain einmal mit den englischen Liberalen sympathisiert hat, erklärt sich aber in gewisser Weise aus folgender Beschreibung der liberalen Theorie von E. Straßner.63 Straßner 1987, 72: In den Mittelpunkt der liberalen Theorie rückt das Bürgertum, der bürgerliche Mensch als Mensch schlechthin. Bürgerliches Interesse wird zum allgemeinen und mit der menschlichen Vernunft in eins gesetzt. Auf einem allgemeinen, bürgerlich-anthropologischen Anspruch basierend, sichert sich das Bürgertum politisch praktisch und theoretisch gegen die alten Mächte und Herrschaftsordnungen ab, bekämpft sie, indem es Gewissens-, Religions-, Glaubensfreiheit fordert. Es sichert und rechtfertigt seine eigene staatlich gesellschaftliche Herrschaft gegen Interessen, die dem seinigen zuwiderlaufen. Liberale Theorie als bürgerliches Emanzipationsdenken ist von Anbeginn auch Herrschaftsdenken, das wegen seines Allgemeinheitsanspruchs später dem Emanzipationsdenken der Arbeiterklasse die Berechtigung abstreitet.
Chamberlain repräsentiert in Weltanschauung und Lebensweise das bürgerliche Zeitalter, und er spiegelt entsprechend auch biographisch dessen historische Entwicklungen, d. h. von den emanzipatorischen Anfängen bis hin zum konservativen Rückzug. Der von Straßner angedeutete bürgerlich-anthropologische Herrschaftsanspruch und ein stark entwickeltes Fortschrittsbewusstsein waren dabei ebenso kontinuierlich durchlaufende Kennzeichen des Bürgertums wie des Liberalismus. Hinzu kommt eine, später auch in den Geschichtlichen Grundbegriffen (GG 3, 741) s. v. Liberalismus beschriebene Berufung auf Klassik und Idealismus. Genau hier lassen sich die Affinitäten Chamberlains zum Liberalismus ansiedeln, nämlich aufgrund von Bildung und Kultur in den rechtmässigen Besitz von politischer und kultureller Vorherrschaft zu gelangen, außerdem aufgrund der Vorstellung, dass der Mensch sich in einem teleologischen Sinne weiterentwickelt bzw. in einem evolutionsbiologischen Sinne auch weiterentwickeln muss. Träger dieser Entwicklung müsste entsprechend die bürgerliche Kultur sein. Zwar verblasste Chamberlains unbedingter Glaube an die Naturwissenschaft nach seiner gescheiterten Biologenkarriere und wurde durch einen wissenschaftsskeptischen Irrationalismus verdrängt, doch der prinzipielle, das 19. Jahrhundert prägende Optimismus hinsichtlich der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, der ebenfalls ein Aspekt des Liberalismus war, blieb bei Chamberlain die Basis seiner Argumentation. Sie wurde von ihm allerdings einer gewichtigen Einschränkung unterworfen: Der _____________ 63
Zur allgemeinen Gebrauchsgeschichte des Wortes Liberalismus vgl. Straßner 1987, 66 und GG 3, 741-515; speziell 775-782.
278 Ideologiewortschatz
egalitäre Anspruch der Liberalen, bestehend in dem Glauben, dass alle Menschen im Sinne der Aufklärung über die gleiche Erkenntnisfähigkeit verfügten, wurde von ihm so gewendet, dass der Liberalismus notwendigerweise Atomisierung, Chaos, Materialismus, auch Säkularisierung (in seinem Sinne) im Gefolge haben müsse, also alle diejenigen Entwicklungen, die er auch mit der Demokratie geradezu konstitutiv verbunden sah. Es war das Gleichheitsprinzip als Gegensatz zu dem Ideologem der rassebedingten Ungleichheit in Verbindung mit dem einheitszerstörenden Diffusionsprinzip, das seine auf gemeinsamem Fortschrittsglauben beruhende Sympathie mit dem Liberalismus vollständig aus den Angeln hob und ihn geradezu zum Hasser des Liberalismus machte. Chamberlain verwendet das Adjektiv liberal innerhalb dreier Kontexttypen, zum einen in theologischen Zusammenhängen zur Kennzeichnung einer bestimmten Gruppe von Theologen (Br I, 129), zum anderen in politischen Kontexten, um damit auf Parteibezeichnungen Bezug zu nehmen (z.B. nationalliberale Partei in Bayern; Br I, 253) und zum dritten allgemein zur polemischen Kennzeichnung von Vertretern einer bestimmten Weltanschauung (Gl 401). Nahezu bei allen Vorkommenstypen ist die negative Konnotierung offensichtlich und das Wort als Stigmawort erkennbar. Neben dem systematischen Vorwurf der 'Gleichmacherei' ist sein weiteres Hauptkriterium für die ablehnende Haltung gegenüber den Liberalen das der 'Lauheit'. Alle Vorwürfe gelten übergreifend für die Bezugsbereiche Religion, Politik und Weltanschauung. Obwohl sie eigentlich als deutlich unterscheidbare Kriterien erkennbar sind, könnten sie auch als Facetten derselben Medaille betrachtet werden. Ich verwende Lauheit an dieser Stelle64 als eine Art zusammenfassende Bezeichnung, die in theologischer Hinsicht Wankelmut und mangelnden Glaubenseifer, damit Gottesferne, in politischer und weltanschaulicher Perspektive auch Halbherzigkeit und Trägheit im Herangehen an gestellte Aufgaben und Inkompetenz zum Ausdruck bringt. Damit kann in einem Begriff zusammengefasst werden, was Chamberlain mit den Negativkennzeichnungen Dilettantismus, Halbheit65 und Mittelmaß66 aussagen will. Wenn _____________ 64 65
FWB 9, 2, s. v. lauheit. Vgl. dazu auch: Lexikon für Theologie und Kirche 6, 827. Im Unterschied zu den positiven Setzungen wie Reichtum und Übermaß an Begabung steht das Halbe, nicht Vollständige und damit kulturell weniger Produktive. Mit dem nahezu affixoid gebrauchten halb wird in den damit gebildeten Komposita nicht nur die Bedeutungsabschwächung bzw. -rücknahme des nachfolgenden Grundwortes indiziert, wie bei halbbewusst (Gl 69), halbhistorisch (Gl 425), halborganisiert (Gl 638), halbmumifiziert (Br I, 70), halbmenschlich (Gl 1098), halbschlächtig (Gl 353; 651), halbgebildet (Gl 29) bzw. die rassische Vermischung kenntlich gemacht, wie bei halbgermanisch, halbkeltisch (Gl 332), halbsemitisch (Gl 405; 541), Halb-Hebräer (Gl 425), Halbjude (Br. I, 77), Halbgermane (Gl 538), sondern halbsystematisch zum Symptomzeichen des Verfalls eingesetzt. Bezeichnenderweise bezieht Chamberlain es nicht nur auf die Rassenzugehörigkeit, sondern auch auf Bildung, Kultur
279 Ideologiewörter: Liberalismus
er schreibt, dass die Sozialisten ihm lieber seien als die angeblich "liberale" Bürgerschaft (Br I, 285), dann ist dies kein Votum für die Sozialisten, sondern Kritik am unterstellten Unentschiedenen, Undogmatischen, Seichten und Kompromissbehafteten der Liberalen, denn, so schreibt er in einem anderen Brief über liberale Theologen: von allen Seichtigkeiten ist mir die liberale die verhaßteste (Br I, 290). Die stumpfsinnigen Liberalen (Br I, 319) sind in seinen Augen auf allen Ebenen Dilettanten, der Liberalismus politische Dilettanterei (Br II, 159; PI 88) und im Sinne seiner priorisierten Metaphorik letztlich sogar eine Krankheit, sarkastisch bezeichnet als Liberalismus vulgaris (Gl 36). Chamberlains Art der Stigmatisierung, die im Übrigen für die Antiliberalen seiner Zeit typisch war, mündet in einer religiös motivierten Verteufelung des Gegners. Der Angriff auf den liberalen Protestantismus, der die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts prägte, ist dabei nur der Ausgangspunkt für einen Rundumschlag gegen Säkularisation und Intellektuellentum vermittels Ausdrücken wie Paganismus, Profanismus, Herumdefiniererei und Milch-und-Wasser-Gestalt, die semantisch in die Nähe von Halbheit und Unentschlossenheit kommen und textlinguistisch der gleichen Intention unterliegen. Br II, 211: Diese vorsichtige Herumdefiniererei und diese aus dem Johannesevangelium extrahierte Milch-und-Wasser-Gestalt […] - sie würden in unserer realen Welt mit ihrem Bedürfnis nach scharf geschnittenen, von nahe und von ferne deutlich erkennbaren Umrissen wenig ausrichten. "Eine Idee DARF NICHT LIBERAL sein", sagt Goethe; "kräftig sei sie, tüchtig, in sich selbst abgeschlossen, damit sie den göttlichen Auftrag, produktiv zu sein, erfülle"; nur in den Gesinnungen, meint er, nicht in den gestaltenden Gedanken dürfe Liberalität zu finden sein. Es soll eben bis ans Ende der Welt sich bewahrheiten, daß das Heil der Religion niemals von Theologen ausgeht. In hundert Gestalten rückt der Antichrist heran, am meisten Gefahr dort bergend, wo er christlich vermummt auftritt und mit dem Paganismus Syriens und Ägyptens, dem verblödenden, entehrenden, das Gemüt zerstörenden Profanismus - gegen den gemessen die Religion Homers göttlich rein und die Religion der indoarischen Hirten (vor 5000 Jahren) erhaben war - unsere Völker bis ins Innerste verseucht und als erstes Ziel die systematische Vernichtung der germanischen Seele verfolgt.
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und die zeitgenössische Politik: die halbgebildeten Demokraten (Gl Vorw. 14. Aufl. XVII), die Niederungen der Tagespolitik und ihrer ewigen Halbheiten (PI 40). Halbheit steht damit für Unausgegorenheit, mangelnde Kompetenz, Chaos und für Kompromiss und Wankelmut. Gerade der Mangel an Genialität und an Persönlichkeit wird häufig einfach durch das mit den halb-Bildungen synonyme Adjektiv (oft subst.) mittelmässig gekennzeichnet. Vgl. Chamberlain, Kant 798: "Was aber die Presse notwendig sein und werden musste, hat schon vor hundert Jahren kein Geringerer als Goethe mit unbeirrbarem Urteil vorausgesehen: »das Gute, was dadurch gefördert wird«, sagt er, »muss gleich vom Mittelmässigen und Schlechten verschlungen werden«; darum nennt er das Zeitungswesen »ein fallendes Gift«, das zwar »eine Art Halbkultur in die Massen« bringe, wahre Kultur aber vernichte."
280 Ideologiewortschatz
Mit Religion der indoarischen Hirten und germanische Seele werden Isotopien für das angestrebte germanische Christentum aufgebaut, das er als einzig wahre Lösung aus dem religiösen Liberalismus versteht. Chamberlain will die Welt scharf geschnitten haben, in ihren Umrissen schon von ferne erkennbar, damit man den vermummten Antichristen entlarven kann, der in Gestalt des Paganismus und Profanismus das Innerste unserer Völker verseucht und die germanische Seele zu vernichten trachtet. Im Übrigen greift auch hier wieder das schon mehrfach betonte Argumentationsschema, dass eine Krankheit, hier der der Liberalismus vulgaris, von einer bestimmten Gruppe von Menschen verbreitet wird, nämlich den Juden. Die Metaphorik von Krankheit und Verseuchung, Vermummung und Entehrung im letztzitierten Beleg bildet die assoziative Brücke zu ihnen. Chamberlain braucht sie deshalb nicht eigens zu nennen; die Erwähnung Syriens und Ägyptens und ihre Gegensatzstellung zu dem indoarischen Hirten evozieren die Juden für jeden auch nur oberflächlich Eingeweihten als die Verantwortlichen. Vor allem ihnen gilt der Vorwurf der Gleichmacherei als einer Art Verwässerung der natürlichen Unterschiede zwischen den Menschenrassen. In einem Brief an Wilhelm II. aus dem Jahre 1902 macht Chamberlain am Beispiel der Afrikaner deutlich, was er vom Dogma der Gleichheit hält. Dass er in seinen Ausführungen deutlich auf Gobineau zurückgreift, sei hier nur am Rande erwähnt. Br II, 151: In der Schweiz traf ich […] einen alten Freund. Als sogenannter "Liberaler" und außerdem als fromm gläubiger Protestant gehörte für ihn - früher das Dogma von der Gleichheit aller Menschen und von der zu ersehnenden Verschmelzung aller Rassen in eine Einheit zu den unerschütterlichen, undiskutierbaren Wahrheiten. Inzwischen aber hat er fünfzehn Jahre in den südlichen Staaten Nordamerikas gelebt und die Westindischen Inseln bereist, und nun ist er zurückgekehrt, erfüllt von der aus lebendiger Anschauung geschöpften Überzeugung: L'humanité entière est perdue si elle ne s'avise à temps de l'abîme où elle se précipite par le mélange des races. […] Wir haben ja das geschichtliche Beispiel vor uns. Als edelste Zuchtrasse stiegen die Arier vom mittelasiatischen Hochplateau nach Indien hinab; durch drakonisch strenge Kastengesetzgebung schlossen sie sich von den das Land bewohnenden Drawiden, den "Schwarzhäuten" oder "Affen", wie sie sie nannten, ab; doch als Buddha - von ganz ähnlichen Menschheitsschwärmereien wie die Christen bewegt - die Gleichheit aller Menschen verkündet und hiermit die schützenden Gesetze niedergerissen hatte, stürzte das minderwertige Blut in Fluten hinein (genau so wie in Rom nach Caracalla). - Und was sehen wir jetzt? Hat das edle Blut das weniger edle zu sich hinaufgeläutert? Nein; ebensowenig wie dies bei Tieren und - analogisch - bei Pflanzen geschieht. Sondern ein herrlichstes Volk der Erde - Krieger, Könige, Sänger, Denker, Ackerbauer - ist für immer zugrunde gegangen, verschwunden, ausgelöscht, für die Menschheit verloren. […] Freilich, das Beispiel des Negerblutes ist ein extremes. Doch genau dasselbe - nur etwas langsamer - geschieht durch jede nivellierende Vermischung zwischen verschiedenen Rassen, respektive zwischen rassigen und rasselosen Menschen. So dringt z. B. das jüdische Blut immer wieder durch.
281 Ideologiewörter: Liberalismus
Unter der Flagge der Humanität, so heißt es außerdem, fordere der Liberale den Untergang der Menschheit (Br II, 153). Die Parallelen zu A. Moeller van den Brucks Hauptwerk Das Dritte Reich (1923) sind nicht zu übersehen. Sein dort immer wieder in den Vordergrund gestellter Hauptslogan lautet: An Liberalismus gehen die Völker zu Grunde (ebd. 69f.).
2. 8. 'Neger' Chamberlains Stigmatisierung der Afrikaner, die im letzten Zitat angeklungen ist, geht wieder auf Gobineau zurück. Die Parallelen zwischen ihm und Chamberlain sind jedenfalls kaum zu übersehen: Gobineau I, 278: Die schwarze Varietät ist die geringste und nimmt die unterste Stufe der Leiter ein. Der Charakter von Thierheit, der sich in der Form ihres Beckens ausprägt, erlegt ihr vom Augenblicke der Empfängniß an ihre Bestimmung auf. Sie soll geistig nie aus dem engsten Kreise herauskommen. Und doch ist's nicht reinweg ein Stück Vieh, dieser Neger mit der schmalen, schiefen Stirn […].
Doch die Dehumanisierung des Afrikaners ist ein allgemeines Phänomen dieser Zeit, auch wenn sie nur selten in dieser drastischen Weise vorgenommen wird. Als Minimalkonsens für viele gilt, was in den Werken kollektiven Wissens zu finden ist, vor allem im bildungsbürgerlichen Prestigeobjekt Brockhaus. So lehnt der wohl 'aufgeklärte' Lexikograph des UrBrockhaus (1809-11) in seinem Artikel zum Negerhandel diesen zwar rigoros als menschenverachtend ab, schreibt aber, dass gerade die Neger sich sehr leicht zur Sclaverei gewöhnen lassen, […]; eine Erscheinung, die sich aus der allgemein anerkannten Dummheit und Indolenz der meisten Neger erklären läßt.67 Für ihn sind die Schwarzen außerdem träge und müssen daher mit Ruthen zur Arbeit gezwungen werden. Und für den Verfasser des Artikels Afrika war außerdem klar, dass die Menschheit in diesem Erdtheile ohne Zweifel auf der niedrigsten Stufe der Cultur und Vollkommenheit steht (ebd. 1, 23). Im Großen Brockhaus von 1932, der 15. Auflage des Konversationslexikons, steht s. v. Neger (13, 252): "Geistig rasch entwickelt, bleibt der N. doch früh hinter den Angehörigen der europ. Kulturvölker zurück und neigt, wie er in Amerika […] bewiesen hat, durchaus nicht zu selbständiger Kulturarbeit. Dafür besitzt er eine gesunde Zähigkeit." In einem eigens angesetzten Artikel zur Negerfrage steht resümierend: "Der Hoffnung ihrer geistigen Führer […] durch wirtschaftliche und Bildungserfolge die Vorurteile gegen ihre Rasse zu besiegen, gibt die bisherige Entwicklung jedoch nicht recht."68 Die Beschreibung der Afrikaner pendelt im 19. und 20. Jahrhundert zwischen _____________ 67 68
Conversations-Lexikon oder kurzgefaßtes Handwörterbuch (1809-1811), Bd. 3, 234. Ebd. 253.
282 Ideologiewortschatz
hochgradiger Dehumanisierung Gobineauscher Ausprägung und einem relativen Kulturchauvinismus, wie er in den beiden Brockhausausgaben zu finden ist. Eine Darstellung, die im Inhalt und im stilistischen Ductus mit der Darstellung des Europäers, des Briten oder Deutschen bzw. mit der Behandlung des Inders oder Chinesen vergleichbar wäre, geschweige denn eine positiv wertende Beschreibung, hat es nicht gegeben. Mit dem ersten Weltkrieg, in dem vor allem auf alliierter, aber auch auf deutscher Seite69 Hunderttausende afrikanischer Kolonialsoldaten eingesetzt und auf französischer Seite bei der Besetzung des Rheinlands auch in Deutschland stationiert wurden, begann eine neue radikalere Phase des Rassismus. Beispielhaft dafür sei ein 1920 erschienenes Pamphlet erwähnt mit dem Titel Farbige Franzosen am Rhein. Ein Notschrei deutscher Frauen70, in dem berichtet wird: "Junge Mädchen sind von der Straße weggeschleppt worden, um der bestialischen Wollust afrikanischer Wilden zu dienen, Töchter und Ehefrauen wurden in ihren Wohnungen von Farbigen überfallen und geschändet, auf dem Felde arbeitende Frauen bei ihrer Arbeit ein Opfer tierischer Instinkte" (ebd. 3f.). Zu Chamberlains Wortgebrauch genügen folgende Andeutungen: Wenn er das Wort Neger und die zugehörigen Wortbildungen gebraucht, dann geschieht dies als Schimpfwort bzw. zu ihrer Herabsetzung. In der Kriegsschrift die Zuversicht heißt es über die Kultur der Niederträchtigen (18): "andere aber lernten eifrig die aus Paris importierten Negertänze tanzen und klatschten negerhaften Verhunzungen der göttlichen Werke der Hellenen Beifall." Im Hinblick auf die schwarzen Soldaten im Weltkrieg schreibt er: Die Zuversicht 25f.: Das sind doch keine Christen! Die Regierungen, welche wilde Sepoys und Gorkhas, Senegalneger, Wüstenaraber gegen die zivilisierteste und humanste Armee der ganzen Weltgeschichte losläßt, Bauchaufschlitzer, Verstümmler, Augenausstecher, haben jedes Anrecht verwirkt, für christliche Regierungen zu gelten.
Ungewöhnlich ist folgende polemische Äußerung im Kantbuch (736): "wahre Wissenschaft betrifft das Sein, das Ewige, das Allgemeine; jede Frage nach Ursprüngen ist unwissenschaftlich, ist negermässig." Damit ist angedeutet, dass das Wort für kulturelle Unfähigkeit steht, für Dummheit und Unbildung ganz im Sinne des schon Vorgeführten. Passend dazu sind Äußerungen wie: Gl 602: Der Neger und der Hund dienen ihrem Herrn, wer er auch sei: das ist die Moral des Schwachen, oder, wie Aristoteles sagt, des von Natur zum Sklaven Geborenen.
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Vgl. Stevenson, 1914-1918. Der erste Weltkrieg 2006, 157. Farbige Franzosen am Rhein. Ein Notschrei deutscher Frauen. Hrsg. von der Rheinischen Frauenliga. Berlin 1920.
283 Ideologiewörter: Neger
Fast identisch mit Gobineau (I, 278ff.) ist auch die These, schwarze Menschen seien schmerzunempfindlich (Wille / Heimat 53) und kulturell minderwertig. GL Anm. 342: Professor August Forel, der bekannte Psychiater, hat in den Vereinigten Staaten und auf den Westindischen Inseln interessante Studien über den Sieg gemacht, den geistig niedrige Rassen über höherstehende durch ihre grössere Zeugungsfähigkeit davontragen. "Ist das Gehirn des Negers schwächer als das der Weissen, so sind seine Fortpflanzungskraft und das Überwiegen seiner Eigenschaften bei den Nachkommen um so mehr denjenigen der Weissen überlegen. Immer strenger sondert sich (darum) die weisse Rasse, nicht nur in sexueller, sondern in allen Beziehungen, von ihnen ab, weil sie endlich erkannt hat, dass die Mischung ihr Untergang ist." […] Und Forel, der als Naturforscher in dem Dogma der einen, überall gleichen "Menschheit" auferzogen ist, kommt zu dem Schlusse: "Zu ihrem eigenen Wohl sogar müssen die Schwarzen als das, was sie sind, als eine durchaus untergeordnete, minderwertige, in sich selbst kulturunfähige Menschenunterart behandelt werden. Das muss einmal deutlich und ohne Scheu erklärt werden.
"Der Neger" repräsentiert auch für Chamberlain das unterste Niveau des Menschseins, das es geben kann, den Menschenauswurf. Zieht er Vergleiche, dann ausdrücklich mit dem Ziel, den eigentlich anvisierten Gegner, die Juden, besonders hart zu treffen. Die Darlegung hat also Züge der Stellvertreterdiffamierung: In seinen Augen ist z.B. das Denken und Fühlen der Engländer fast so primitiv wie das eines Kongonegers (Grundstimmungen 2371), und im Hinblick auf seine eigentlichen Gegner, die Semiten, seien diesen sogar die australischen Neger überlegen, einfach darum, weil sie zu den semitenfreien Völkern gehörten (GL 489). Es ist daher nur noch eine zusätzliche Verhöhnung, wenn er von der Vermischung mit Negerblut seitens der Juden (Gl 440) schreibt. Die Untergangsbedrohung durch die Vermischung mit den Schwarzen, übrigens das Hauptargument Gobineau's, wiederholt Chamberlain auch in dem schon in Teilen zitierten Brief an Kaiser Wilhelm vom 20. Februar 1902. Br II, 151: mein Freund ist fest überzeugt, daß nicht nur die südlichen Staaten, sondern auch die nördlichen (wo die Neger immer zahlreicher werden) im Laufe der Zeit an dieser Blutmischung rettungslos zugrunde gehen werden. Es genügt ja eine einzige, einmalige Kreuzung, damit nach drei oder vier Generationen lauter Neger geboren werden - weil eben (wie in den "Grundlagen" hervorgehoben) die geistig schwächeren Rassen stets geschlechtlich stärker sind.
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Vgl. auch: Zuversicht 25.
284
3. Chamberlains Ideologiemetaphern Ein Bild hielt uns gefangen. Und heraus konnten wir nicht, denn es lag in unserer Sprache, und sie schien es uns nur unerbittlich zu wiederholen. Wittgenstein72
3. 1. Eine kurze Einführung Der Similaritätstropus 'Metapher' ist seit jeher einer der beliebtesten Gegenstände linguistischen Interesses gewesen. Motor des jüngsten Interesses war die Diskussion um Lakoffs / Johnsons Metaphors We Live by (dt.: Leben in Metaphern), durch die sich die Bewertung der Metapher vom rhetorischen Exklusivstilmittel zu einem in der Alltagssprache nicht nur allgegenwärtigen, sondern den Alltag geradezu strukturierenden und bestimmenden Grundphänomen wandelte. Die beiden Kognitionslinguisten George Lakoff und Marc Johnson erklären nämlich, dass "die Metapher nicht nur eine Frage von Sprache ist, also von Worten allein", sondern dass "die menschlichen Denkprozesse weitgehend metaphorisch ablaufen" und dass "das menschliche Konzeptsystem metaphorisch strukturiert und definiert ist."73 Sie haben mit dieser Schrift die alte Frage nach der Rolle der Metapher neu gestellt und in einer Fachsyntax formuliert, die breite Aufnahme fand, und sie haben die Frage auf die semantische Struktur der Sprache im Kopf der Sprecher bezogen. Da Sprache (verstanden im Sinne von 'Einzelsprache') die Welt bekanntlich nicht abbildet, sondern aktiv teilhat am Prozess der Gliederung von Welt, damit der Bildung von Weltsichten, die möglicherweise bis in die Wahrnehmung hineinreicht, bedürfen die sprachlichen Mittel gerade unter diesem Aspekt genauerer Betrachtung: Das (naiv realistisch gesprochen) Kommunikationsmittel 'Sprache' ist eben nicht nur Mittel zur Übertragung vorher fertiger kognitiver Inhalte, sondern diese gibt es nur im 'Mittel' der Sprache, genauer der Einzelsprache, nochmals genauer der Textwelt, die ein Autor aufzieht. Der Inhalt muss also mittelbestimmt sein. Die lexikographische Textanalyse der Schriften Chamberlains hat bereits gezeigt, welche Strukturierungen bei ihm mit dem Lemmazeichen Mensch vorgenommen werden. In Anlehnung an Lakoff / Johnson sollen nun die Metaphernfelder untersucht werden, die in den Texten mit auffallender Frequenz und in innerer Geschlossenheit begegnen. Es erscheint mir dabei nicht sinnvoll, eine längere Theoriediskussion zu führen und _____________ 72 73
Wittgenstein, PU §15, 1993, 300. Lakoff / Johnson 2003, 14.
285 Chamberlains Ideologiemetaphern
einzelne Positionen der Metaphorologie im Detail gegeneinander abzuwägen.74 Wichtiger ist es mir, eine einfache Arbeitsdefinition voranzustellen: Unter einer Metapher verstehe ich einen (hier: lexikalischen) Ausdruck mit mindestens zwei Bedeutungen, die durch Ähnlichkeitssetzung von zwei üblicherweise als verschieden angesehenen Bezugsgegenständen miteinander korreliert und damit so zueinander geöffnet werden, dass Umrisse eines neuen Bezugsgegenstandes entstehen. Im Beispielsatz Eine feste Burg ist unser Gott versteht man unter Burg üblicherweise ein >von weitem sichtbares, Macht und Herrschaft demonstrierendes, durch festes und hohes Mauerwerk unüberwindlich scheinendes Gebäude, das der Sicherheit seiner Bewohner vor Angriffen von Feinden dient<. Die Aussage des Beispielsatzes lautet, dass Gott eine Burg ist. Die Vergleichsbeziehung besteht darin, dass die Eigenschaften, die man mit der nichtmetaphorischen Verwendungsweise von Burg assoziiert, auf Gott übertragen werden, womit Gott Kennzeichnungen einer Burg, und in dem Maße, wie diese übernommen werden, Sachmerkmale einer Burg erhält. Das Entscheidende ist, dass das tertium comparationis (z. B. Macht und Herrschaft, Stärke und Sicherheit oder Krieg und Verteidigung), auf dem die Vergleichssetzung beruht, nicht genannt wird. Der Rezipient weiß also nicht, aufgrund welchen genauen Inhalts Gott als Burg bezeichnet, als 'Burg' ins Spiel gebracht und letztlich zu einer Burg gemacht wird. Bei isolierter Betrachtung einer Einzelmetapher ist der Rezipient damit gefordert, seinerseits einen Vergleichsinhalt zu setzen, der bei vorausgesetzter Kooperation zwischen Autor und Rezipient demjenigen des Autors möglichst nahe kommen kann. Die Formulierung nahe kommen kann deutet einen Interpretationsspielraum an, der sehr eng, aber auch sehr weit ausfallen kann. Dieser Raum wird in Texten dadurch eingeschränkt, dass Metaphern in der Regel nicht isoliert vorkommen, sondern in Feldern gebraucht werden, die die Amplitude der Bezugsmöglichkeiten korrigieren. Dementsprechend charakterisiert G. Fritz (1998, 43f.) das metaphorische Sprechen als "neue zusammenhängende Sichtweise für einen Gegenstand" und meint weiter, diese vermittele "den Eindruck von Vertrautheit bei unvertrauten Gegenständen". Die Metapher erlaube außerdem "assoziationsreiche Beschreibungen", sei ein "probates Mittel auffälliger Rede" und helfe "über Wortschatzlücken hinweg". Da sie auch gerne als verkürzter Vergleich angesehen werde, vermöge sie z.B. im ideologisch-politischen Diskurs "komplexe Sachverhalte schlagwortartig und schlaglichtartig" zu "vereinfachen"75. Die von Fritz gebrauchten Ausdrücke Sichtweise, Eindruck, assoziationsreich (usw.) machen deutlich, dass die _____________ 74 75
Vgl. zur metaphorologischen Literatur vgl. die Bibliographie bei Rolf 2005. Straßner 1987, 57.
286 Ideologiewortschatz
Metapher nicht nur die Königin der Tropen in einem formalstilistischen Sinne, sondern geradezu der Königsweg ist, Bekanntes in neue Zusammenhänge zu stellen, es damit begrifflich zu affizieren bis umzuprägen, und dass Metaphernfelder Weg und prägende Form zum Aufbau neuer fiktiver Welten sind. Die Neuartigkeit von Vergleichssetzungen schafft dabei eine erhöhte Aufmerksamkeit; sie kann als Teil des rhetorischen docilem parare des Rezipienten angesehen werden. Wie weit Chamberlain dies im Detail gelungen ist, kann natürlich nicht genau bestimmt werden; klar ist aber, und darauf weisen auch Lakoff / Johnson generell hin, dass die Rezeption von Metaphern in der Regel innerhalb einer bestimmten Kommunikationsgemeinschaft oder -gemeinde glückt. Anders als die Metonymie, ein Kontiguitätstropus, ist die Metaphorik-Beziehung prinzipiell kulturgebunden,76 weil sie auf Setzungen von Ähnlichkeiten und nicht auf Sachzusammenhängen beruht. Das angeführte Beispiel ist ein Zitat aus einem protestantischen Kirchenlied. Es ist eine der berühmtesten, vom Reformator Martin Luther selbst gedichteten Kampfansagen an den altbösen Feind, den Teufel. Die metaphorische Beziehung zwischen einer Burg und Gott ist aus der Kampfsituation des 16. Jahrhunderts heraus verständlich, in der Burgen den Inbegriff von Wehrhaftigkeit und Schutz darstellten. Dementsprechend ist Gott als Burg auch eingebettet in ein Bildfeld von Wehr, Feind und Waffen. Man kann prinzipiell jeden Gegenstand mit jedem anderen Gegenstand in eine metaphorische Beziehung setzen. "Metaphern enthalten eine semantische Spannung, schon weil sie verkürzte Vergleiche sind. Sie sind nicht mehr als VERGLEICHE gekennzeichnet (x ist wie ein y, das y-e x)77", sondern machen tendenziell, nämlich bei zunehmendem Eingehen in den Sprachusus, aus zwei Gegenständen einen dritten. In diesem Fall geht das Bewusstsein, dass eine Vergleichssetzung vorliegt, verloren; der neue, dritte Gegenstand verliert seinen Fiktivitätsstatus und wird zur Sache. Dann ist ein semantischer Kampf gewonnen: Sachen sind zu akzeptieren, nicht zu diskutieren. Die Vergleichssetzung eines bestimmten, den Inbegriff von Schädlichkeit darstellenden Bildspenders (z. B. von Ratten, Ungeziefer, Bazillen) mit einer bestimmten Gruppe von Menschen, den Juden, wie sie – wenn auch in verschiedener Weise – von Paul de Lagarde, Richard Wagner, Houston Stewart Chamberlain oder Adolf Hitler vorgenommen, generationenlang wiederholt und ebenso lange rezipiert wurde, fand einen sprachstrukturellen, im Lexikon zentrierten Niederschlag. Dies bedeutet systematisch: Wenn man nur konsequent genug bestimmte Metaphern oder Metaphernfelder auf ganz bestimmte Bildempfänger anwen_____________ 76 77
Vgl. dazu auch Lakoff / Johnson 2003, 31f. Von Polenz 1988, 321.
287 Chamberlains Ideologiemetaphern
det und damit Gehör findet, hat man die Möglichkeit, gezielt Bewertungen zu installieren und letztlich neue Gegenstände zu entwerfen. Speziell Bewertungen machen den Metapherngebrauch für die ideologische Sprache bedeutsam. Selbst die sog. neutralen Metaphern wie fließen (vom Strom) oder Lichtquelle sind nicht wertungsfrei; nicht neutrale Metaphern dagegen werden gezielt zur Affekterregung eingesetzt. So dient die schon genannte Tiermetaphorik zur Dehumanisierung, die Krankheitsmetaphorik zur Herstellung von Unsicherheit, die Katastrophenmetaphorik zur Errichtung von Drohkulissen, alle drei Typen dienen zur Schaffung einer Verfallsfiktion und zu deren Ontisierung als Tatsache. Mit jeder metaphorischen Bewertung, die in der Häufigkeit, in der sie gebraucht wird, auch ihren Grad an Lexikalisierung steigert, werden Sichtweisen auf die Welt errichtet und in den kommunikativen Kreislauf gebracht. Das Beschriebene wird in der Linguistik unter verschiedenen Terminologien und mit verschiedenen Darstellungsabsichten behandelt. Hinsichtlich der ideologischen Metapher wird immer ihre Eignung zur Manipulation betont. Die ideologisch gebrauchte Metapher78 Edelman 1990, 148f.: intensiviert selektive Wahrnehmungen und ignoriert andere. Das ermöglicht es einem, sich auf die erwünschten Folgen der jeweils favorisierten Politik zu konzentrieren und deren unerwünschte und jeweils irrelevante Voraussetzungen und Nachwirkungen zu übersehen. Jede Metapher kann ein subtiles Mittel sein, das hervorzuheben, was man gerne glauben möchte, und das zu umgehen, was man nicht wahrhaben will. Die Metapher ist daher ein Mittel zur Formung politischer Loyalitäten (und politischer Opposition), zur Formung der Prämissen, unter denen Entscheidungen gefällt werden.79
Nach Harald Weinrich80 (und anderen) ist zwischen dem Bildspender und dem Bildempfänger zu unterscheiden, also derjenigen Größe, auf die sich die metaphorische Wortverwendung bezieht. So fungiert im obigen einführenden Beispiel die Burg als Bildspender und Gott als Bildempfänger. Der bildspendende Bereich gehört dabei im weitesten Sinne dem Feld 'Haus' an und ermöglicht insofern die Übertragung aller damit verbundenen Eigenschaften und Assoziationen auf die Zielgröße. Solche Assoziationen nennt man auch metaphorische Implikation (so B. Pörksen 2000, 177; Keller-Bauer 1984, 7281), "die in einer Metapher explizit enthaltenen Behauptungen [...] und die Summe derjenigen Assoziationen, die sich mit der Metapher in Verbindung bringen lassen". Implikationen beziehen sich also auf explizit Gemeintes und auf (potentiell) Mitgemeintes. Das immer wieder zitierte Beispiel lautet: Schriftsteller sind Ratten und Schmeißfliegen. "Ratten _____________ 78 79 80 81
Vgl. dazu auch Burkhardt 1998. Edelman, Politik als Ritual 1990, 148f. Weinrich, Sprache in Texten 1976, 283. Keller-Bauer 1984; Pörksen 2000, 177.
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und Schmeißfliegen sind gemäß ihrer lexikalischen Bedeutung Tiere. Mit diesem Satz wird also impliziert, Schriftsteller seien keine Menschen bzw. nicht als Menschen einzustufen."82 Im Hinblick auf die den ausgewählten Tieren zugeschriebenen Eigenschaften kommt hinzu, dass diese Tiere als schädlich, gar bedrohlich angesehen werden, so dass sich mit dem gegenstandsbezogenen Vergleich auch eine Übertragung der deontischen Komponente ergibt: So wie Ratten zu bekämpfen und Schmeißfliegen zu zertreten sind, so hat man auch gegen die vom Tiervergleich betroffenen Menschen vorzugehen. Die auf F. Hermanns zurückgehende deontische Bedeutungskonzeption betont neben der beschreibenden deskriptiven und der konnotativen Bedeutungskomponente vor allem diejenige Seite der Bedeutung, die über das Sein und die in das Sein hineingetragenen Bewertungen hinausgeht und als Appell an den Sprecher fungiert. F. Hermanns (1995, 84) erklärt: daß ein Wort, das scheinbar Gegenstände oder Sachverhalte einfach nur beschreibt, bezüglich ihres Seins, zugleich auch dazu dienen kann, ein Sollen auszudrücken. […] Die deontischen Bedeutungskomponenten sind die lexikalische Entsprechung dessen, was sich mentalitätsgeschichtlich als das kollektive Sollen (also auch das kollektive Wollen) darstellt. Kraft der in den Wörtern mitgemeinten und mitausgesagten Sollenskomponenten der Bedeutung - eben der ‘deontischen Bedeutung' - sind die Wörter Vehikel oder Abbreviaturen von Gedanken auch bezüglich dessen, was der Fall sein soll; und nicht allein bezüglich dessen, was der Fall ist.
Der Handlungsappell ist kultur- und sozialisationsspezifisch, damit konventionalisiert; er muss also zum kollektiven Handlungswissen der Gesellschaft oder derjenigen gesellschaftlichen Schicht gerechnet werden, die die Tiermetapher pflegt. Dies mag dann besonders eingängig sein, wenn der Spendebereich mit Assoziationen behaftet ist, die als naturgegeben betrachtet werden können und deshalb eine soziologisch breite, über die Ideologiegruppe hinausreichende Basis haben. B. Pörksen (2000, 179) hat eine Liste ideologischer Metaphern zusammengestellt, die sich aus solchen Bildspendern herleiten; es sind: – Körper (Körpermetaphorik), – Krankheit (Krankheitsmetaphorik), – Tierwelt (Tiermetaphorik), – katastrophale Naturereignisse (Katastrophenmetaphorik), – Haus (Hausmetaphorik), – Theater (Metaphorik der Theaterwelt), – Religion und Glaubenskampf (Metaphorik des Religiösen), – Militär und Krieg (Militär- und Kriegsmetaphorik).
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Pörksen 2000, 177.
289 Chamberlains Ideologiemetaphern
Pörksen fasst seine Beobachtungen zur ideologischen Metapher wie folgt zusammen (201): Metaphern haben "einen potentiell polarisierenden Effekt". "Sie homogenisieren das Eigene, suggerieren die Existenz einer Entität des Volkes, die der als Feind beschriebene andere Mensch befällt, in die er eindringt, die er durch Feuer, Flut und einen kriegerischen Akt der Aggression zerstört. Und Metaphern familiarisieren, sie stellen Erfahrungsbezüge her, machen das Unbekannte und vielleicht Komplexe, schwer Erfahrbare zum scheinbar Bekannten […]". Mit gut eingesetzten Metaphern lassen sich Freund-Feind-Verhältnisse, aber auch Opfer-TäterVerhältnisse etablieren, Individuen entindividualisieren, kann man das Gesunde pathologisieren, Lebendiges verdinglichen und immer wieder Menschen diskreditieren und schließlich dehumanisieren. Metaphern geben Lösungs- bzw. Heilungsvorschläge an die Hand, denn ein Haus lässt sich reinigen, Tiere kann man schließlich ohne schlechtes Gewissen töten und epidemisch auftretenden Krankheiten kann man mit ganz bestimmten Hygienemaßnahmen vorbeugen; sollten sie dennoch auftreten, so kann man ihre Träger und ihre Verbreiter durch den gezielten Einsatz effektiver Mittel vernichten. Lagarde 2, 209: Es gehört ein Herz von der Härte einer Krokodilhaut dazu, um mit den armen, ausgesogenen Deutschen nicht Mitleid zu empfinden, und – was dasselbe ist – um die Juden nicht zu hassen, um diejenigen nicht zu hassen und zu verachten, die – aus Humanität! – diesen Juden das Wort reden, oder die zu feige sind, dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten. Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichine und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.
3. 2. Chamberlains Metapherngebrauch Jede geglückte Metapher ist ein weiterführender, hilfreicher, inspirativer Gedankensprung. – Erst wenn man eine spielerische Metapher zu einer todernsten These aufbläht, wird sie falsch. Erkenbrecht 15283
Es ist nicht zu leugnen, dass ein Motiv für die Beliebtheit der Schriften Chamberlains darin liegt, dass er mit der Bildungsvariante der deutschen Sprache gekonnt umzugehen wusste. Leo Spitzer kommentiert Chamberlains Stil: Spitzer 1918, 6: Dieselben Vorzüge des Geistreichen, Apercu-haften, prophetisch-sich-Gebenden erkennt auch der Laie in H. Stewart Chamberlains Ansichten über die Sprache; überall liest man, wie dieser Verfasser 'durch die feine markige Eleganz der Sprache, durch die Originalität der Gedanken, durch den
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Erkenbrecht, Divertimenti. Wortspiele, Sprachspiele, Gedankenspiele 1999, 152.
290 Ideologiewortschatz
Scharfsinn seines Urteils, durch seinen durchdringenden Blick für Leben und Wirklichkeit' fessle.
Chamberlain konnte sich also schon aufgrund seiner sprachlichen und stilistischen Kompetenz der positiven Aufnahme beim entsprechend vororientierten Bildungsbürgertum sicher sein. Eines der von ihm besonders ausgiebig genutzten Stilmittel ist die Metaphorik. Es dient ihm einerseits zur Anschaulichkeit, aber auch zur geistreichen, ästhetisch beeindruckenden Herstellung inhaltlicher Undurchdringbarkeit, wie aus dem folgenden Zitat zu sehen ist. Gl 1120: Wie schrankenlos diese Welt auch sei – deren Flügelschlag aus der Ohnmacht der Erscheinung befreit und alle Sterne überfliegt, deren Kraft dem qualvollsten Tode lächelnd zu trotzen gestattet, die in einen Kuss Ewigkeit hineinzaubert, und in einem Gedankenblitz Erlösung schenkt – ist sie dennoch auf ein bestimmtes Gebiet angewiesen: auf das eigene Innere; dessen Grenzen darf sie nie überschreiten. Hier also, im eigenen Innern, und nirgends anders, muss die Grundlage der Religion gefunden werden.
Das Schwelgen in Metaphern (schrankenlos, Flügelschlag, Ohnmacht der Erscheinung, Sterne überfliegen, Gedankenblitz, dies nur Beispiele für eine potentiell viel längere Liste), wie es hier inszeniert wird, malt außerordentlich bunte und deshalb ansprechende Bilder, ohne ihnen rational nachvollziehbare inhaltliche Konturen zu geben. Man realisiere sich das Gesagte durch Auflösung einiger Metaphern in Prädikationen: die Welt hat einen Flügelschlag; der Flügelschlag überfliegt die Sterne; die Welt hat weiterhin Kraft; sie trotzt dem Tode; sie tut dies lächelnd; sie zaubert außerdem noch Ewigkeit in den Kuss; und sie schenkt Erlösung. Wenn es erlaubt ist, einen Augenblick lang die prinzipiell skeptische Haltung der Aufklärung gegen die Metapher (besonders gegen die verstiegene Metapher) zu übernehmen, und wenn es weiterhin erlaubt ist, zu ironisieren, was Chamberlain anbietet, muss man wohl wie folgt argumentieren: die schrankenlose Welt ist zwar ein Allgemeinplatz, aber noch akzeptabel; wenn sie trotz der Schrankenlosigkeit einen Flügelschlag hat, dann muss sie auch Flügel haben, was angesichts der Schrankenlosigkeit aber doch wohl einen Metaphernbruch darstellt. Der Flügelschlag, also nicht die Welt, überfliegt die Sterne, was selbst im Bereich des Wunderbaren höchst sonderlich klingt und Gottsched sicher, sollte Bodmer so etwas in Verbindung mit seinen Kraftwörtern gesagt haben, zu sarkastischen Kommentaren Anlass gegeben hätte, im übrigen aber von Bodmer akzeptiert worden wäre. Wenn weiterhin – ich kürze hier ab – der Tod, ein Kuss, die Ewigkeit, die Erlösung, dass Innere und dessen Grenzen ins Spiel kommen, obwohl die Welt zumindest mit ihrem sterneüberfliegenden Flügelschlag doch schrankenlos ist, so kann das nur mit oben gebrauchtem Adjektiv bunt charakterisiert werden. Nicht in den Bereich der Metaphorikkritik, sondern in den der Grammatik gehören gewisse Undeutlichkei-
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ten des Bezuges der Relativpronomina (die, deren). Dennoch ist nicht zu leugnen, dass Texte wie der soeben vorgetragene bei nicht kritischem, sondern wohlwollendem Lesen eine gewisse Faszination ausüben können. Ich denke dabei zunächst an einen Rezipienten, der die bunte Vielfalt des metaphorisch miteinander Verbundenen als Ausdruck von Geist, von entwickelter Phantasie, vielleicht sogar als Ausdruck des Witzes im Sinne der Aufklärung verstehen könnte, als Fähigkeit, das Verschiedene durch Setzung von Ähnlichkeiten so miteinander zu vernetzen, dass ein möglicherweise als chaotisch empfundener Weltzustand einer Ordnung unterworfen wird. Wenn diese Ordnung dann aus den typischen Grenzsituationen (wie qualvollster Tod, Ohnmacht der Erscheinung) der Lebens- bzw. Existenzphilosophie herausführt, und diese Herausführung als Erlösung gedacht wird, die man aus seinem Inneren als einer Eigenkraft des Menschen zu vollziehen in der Lage ist, und wenn man damit auch noch die Grundlage der Religion schafft, dann ist der bürgerliche Rezipient der Jahrzehnte um 1900, der ja mit diesen Inhalten befasst ist, zum mindesten zur Aufnahme, in vielen Fallen zur Affirmation des Textinhaltes bereit. Chamberlains Texte könnten so als wissenschaftlich fundierte Erbauungstexte gewirkt haben. Diese Sätze sind als Versuch einer Plausibilisierung der Rezeption von Chamberlain vertretener Inhalte, keineswegs natürlich als eine Rechtfertigung, zu verstehen. Ein zweites kommt hinzu: Es gibt eine Sprache, die feiert (s. L. Wittgenstein, PU § 38). Damit ist ein grammatisch-stilistischer und textlicher Sprachgebrauch gemeint, bei dem die Inhalte hinter der Gekonntheit der Form wenn nicht verschwinden, so doch so weit zurücktreten, dass man sie aufgrund der formalen Eigenschaften des Textes nicht mehr rational prüfend aufnimmt. Dabei können die gemeinten Formeigenschaften fachtextlicher, rhetorischer (speziell tropischer), literarischer Art sein. Mit anderen Worten: Wenn ein Fachwissenschaftler oder Redner oder Literat nur fachsprachlich, rhetorisch, literarisch so gekonnt spricht bzw. schreibt, dass die Aufmerksamkeit des Lesers durch die Art der Sprache gefesselt wird, dann braucht der Inhalt zumindest nicht voll verständlich zu sein. Der Rezipient begibt sich dennoch überzeugt nach Hause oder zur Nachtruhe, wenn auch primär überzeugt von den Qualitäten des Autors, nicht von dem Inhalt seines Textes, den er ja nicht verstanden haben muss. Hat er dennoch Einiges davon verstanden, dann wird sich die dem Autor zu verdankende Überzeugung auf die aufgenommenen Inhalte übertragen. Dieser Versuch der Plausibilisierung der Rezeption Chamberlain'scher Texte betrifft im Unterschied zu dem im vorangehenden Abschnitt Geäußerten die formale Seite der Sprache. Ein Zusatz ist dabei wichtig: Nur derjenige, der eine literarische Sozialisation durchlaufen hat, kann formale Qualitäten erkennen; wiederum ist der Bildungsbürger ange-
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sprochen. Der literarisch nicht Geschulte wird weder die Inhalte, die nicht die seinen sind, noch die Formen der Texte Chamberlains, die er nicht durchschaut, rezipieren. Bei der Analyse von Texten nach metaphorologischen Gesichtspunkten stößt man mindestens auf zwei methodische Probleme. Zunächst könnte man im Sinne Lakoffs und Johnsons natürlich das gesamte metaphorische Sprechen eines Autors abtragen, hätte dann aber, vor allem wenn man Lakoff / Johnson wörtlich nähme, dass nahezu alles metaphorisch sei, eine nicht mehr handhabbare, nur noch auf der allgemeinen Sprachebene fassbare Masse vor sich, die sich z.B. in der gleichen Weise um Metaphernkonzepte wie ZEIT IST GELD kümmern müsste wie um JUDEN SIND BAZLLEN. Da hier aber nur das diskursgeschichtlich Relevante von Interesse ist, wird eine dementsprechende Beschränkung vorgenommen. Es werden also in erster Linie nur solche Konzepte in Betracht gezogen, die nicht lexikalisiert sind und außerdem die hier zur Diskussion stehenden Diskurse prägen. Dazu gehören vor allem die oben von Pörksen genannten Metaphernfelder, die als Überordnung für ganz unterschiedliche Kategorien gedacht werden können. Bei manchen Kategorien verschwimmen jedoch die Grenzen. So kann die Lichtmetaphorik, die bei Chamberlain von großer Bedeutung ist, als Teil der Erkenntnismetaphorik gesehen werden, aber auch in das bildspendende Feld der Religion und des Glaubenskampfes fallen. Diese Überschneidung ist keineswegs ein Zufall, sondern eher Symptom der ideologischen Vernetzung von Erkenntnis und Religion. Das zweite Problem ergibt sich aus dem ersten. Nicht alle metaphorischen Einzelbelege innerhalb der behandelten Diskurse sind von gleichem interpretatorischem Wert, müssen hier also auch nicht im Detail diskutiert werden. Auch wenn die Metaphorik von Hell und Dunkel, Licht und Schatten insgesamt von erheblicher Bedeutung ist, so kann man am nachfolgenden Beispiel zeigen, dass bestimmte, zumeist lexikalisierte Verwendungsweisen eher eine formal ästhetische als eine bewertende und damit inhaltlich relevante Funktion haben bzw. dass sie genau dazwischen anzusiedeln sind: Gl 7: vielleicht wird das vierundzwanzigste Jahrhundert, bis zu welchem etwa die Schatten des neunzehnten in schmalen Streifen sich erstrecken, klarere Umrisse zeichnen können?
Die Schattenmetapher scheint an dieser Stelle eher eine sprachliche Spielerei zu sein und kann z. B. nur bedingt als bedrohlich interpretiert werden, obwohl sie im allgemeinen Zusammenhang immer auf das Böse, Dunkle, Erkenntnisstörende verweist. Metaphernvorkommen dieser Art werden zugunsten der sog. kognitiven, ideologieprägenden Metaphern also aus der
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Betrachtung ausgeschlossen. Ausgangspunkt für die Bearbeitung ist jeweils der bildspendende Bereich. In Chamberlains Metapherngebrauch geht es regelmäßig um die Dichotomien 'Licht und Finsternis', 'Geist und Materie', 'Glaube und Unglaube', 'Konstruktion und Verfall', 'Leben und Tod', 'Bejahung und Verneinung', 'Sieg und Niederlage', auch um das Abgrenzen und Neudefinieren des Vergangenen mit Hinblick auf die noch offene Zukunft. Bezeichnend für den Biologen ist außerdem die Naturmetaphorik, die er häufig zur Symbolisierung des Werdens und Vergehens, aber auch der rechten Ordnung, der obersten Richtigkeit und damit der absoluten Legitimation nutzt. Das Leben als wichtigste Ausdrucksform der Natur wird von ihm metaphorisch geradezu gefeiert. Greift er zusätzlich auf Metaphern aus dem Bereich der Technik zurück, so dienen diese zur Beschreibung der menschlichen Möglichkeiten; er betont damit besonders, wie sehr der Mensch als Krone der Schöpfung durch Erfindungskraft und Schöpfergabe über sich hinauswachsen kann. Folgende Metaphernfelder (mit Unterordnungen) werden hier bearbeitet: Einen ersten Bereich bildet 'Leben und Natur'. Er steht in fließendem Übergang zu 'Körper', 'Schlafen und Wachen', 'Geburt und Tod'; damit lässt sich einerseits die Welt von Pflanzen und Tieren, andererseits 'Rasse' verbinden. An letztere können 'Züchtung' und 'Fortpflanzung', damit auch 'Werden und Vergehen' angeschlossen werden. So erhält man schließlich den hoch komplexen Bereich von Geburt, Erwachen, Aufblühen bis hin zum Sterben oder Untergang, wobei dies alles sowohl als biologische Abfolge wie als Kern einer menschheitsgeschichtlichen Entwicklung gedacht wird. Den zweiten Spendebereich bildet 'Licht'. Daran sind 'Nacht und Tag', 'hell und dunkel' mit dem Zwischenbereich 'Schatten' assoziierbar. Vom optischen Sichtbarsein hin zum erkenntnistheoretischen Sichtbarwerden ist metaphorisch nur ein kurzer Weg. In einem zweiten Schritt lässt sich die Lichtmetaphorik auf den im vorangehenden Absatz genannten Bereich 'Leben und Natur' beziehen. Wenn man die Lichtmetaphorik dazu nutzt, Erkenntnis als Ergebnis eines zugleich natürlichen wie aktiven, das heißt von Menschen in geschichtlichen Situationen zu vollziehenden Prozesses zu sehen, wird sie zur Erleuchtung; der Erleuchtete, Lichtgeleitete wird zum Vollstrecker eines Prozesses, der das in der Natur Angelegte ins Kulturelle transferiert und die Grenzen zum Göttlichen tangiert bzw. gar überschreitet. Dies bedeutet, dass der dritte Spendebereich, der mit 'Gott und Welt' angegeben werden kann, in den Farben der Rassenlehre gedacht wird. Gottes- und Welterkenntnis setzen dann 'Reinheit', konkret 'Rassereinheit', nicht nur als einen unter mehreren erkenntnisfördernden Faktoren
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voraus, sondern erheben diese zum bestimmenden Kriterium des Lebens, der Schöpfung, der Geschichte, der Erkenntnis, des gesamten kulturellen Daseins. Katastrophen und Krankheiten stehen dazu in absolutem Gegensatz, erscheinen als existentielle Bedrohung, und zwar sowohl des Einzelnen wie speziell des Erleuchteten wie generell der Kulturmenschheit. Umgekehrt werden 'Krieg und Kampf' zum Bereich, von dem her die Rettung aus dem existentiellen Entweder-Oder, aus dem prägnostizierten Abgrund von Nicht-Sein und überhaupt aus der Gefährdung von allem, was dem zeitgenössischen Leser hoch oder gar heilig war, konzipiert werden kann. Der Dualismus zwischen Chaos als Inbegriff von Zerstörtheit und zerstörender Aktivität einerseits und Hinaufführung des Menschen in lichtvolle Höhen des Göttlichen andererseits wird also durch 'Kampf' überwindbar. Das Gemälde, das Chamberlain hierzu malt, ist ein Schlachtengemälde, in dem heilige Krieger gegen das Böse zu Felde ziehen, damit die Katastrophe noch abgewendet werden kann. Die Chaosmetapher als Bindeglied von biologisch-rassischer, in Bibelallusionen gedachter und in Eins gesetzter Endzeitvorstellung rundet dieses eschatologische, vorwiegend in Schwarz-Weiß-Tönen gemalte Bild ab. Natürliches und Übernatürliches umspannen die Ränder der völkischen Metaphernbereiche.
3. 2. 1. Körpermetaphorik oder der "organische Rassenzusammenhang" Wenn Chamberlain von der organischen Natur (z. B. Gl 370) schreibt, so meint er sowohl die vegetabilische als auch die animalische und die menschliche. Die wichtigste Bezeichnung für den menschlichen Organismus ist Körper. Während Organismus und das Organische mehr mit funktionierendem und pulsierendem Leben assoziiert werden, mit Wachstum, Werden und Vergehen, ist der Körper eher die sichtbare und fassbare Gestalt eines Lebewesens, das Gegenstück zur Seele, das Gefäß des Geistes. Der Körper hält als äußere Hülle alles dasjenige zusammen, was das Lebewesen, in der Regel den Menschen, über das Organische hinaus, ausmacht. Mit ihm wird die Summe der Einzelorgane zu einem zusammenhängenden denkenden und handlungsfähigen Individuum. Zu den am häufigsten belegten Bildempfängern im Bereich der Körper- und Organismusmetaphorik gehören Kollektiva wie Rasse und Volk,84 bei Chamberlain regelmäßig speziell das Germanentum. Gl 867: Die hierher gehörige Litteratur ist sehr gross, doch erblicke ich darin kein Werk, welches die Entwickelung des gesamten Germanentums darstellt als das eines lebendigen, individuellen Organismus, bei dem alle Lebenserscheinungen –
_____________ 84
Vgl. z.B. Kriegsaufsätze I / Weltstaat 41.
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Politik, Religion, Wirtschaft, Industrie, Kunst u. s. w. – organisch mit einander verknüpft sind.
Entscheidend ist, dass Abstraktgrößen wie 'Germanentum' oder 'germanische Idee' als Organismen bezeichnet und auf diese Weise naturalisiert und damit ontisiert werden. Gl 574: um die Bedeutung des Physischen, [...] zu ermessen, bedenke man ferner, dass das, was man "die germanische Idee" nennen kann, ein unendlich zartgebauter, reichgegliederter Organismus ist.
Vom Bild des Körpers ausgehend stehen zunächst von außen die Gliedmaßen des Menschen und von innen der harmonisierende Organismus als Bilder zur Metaphorisierung bereit: Arme, Hände, Füsse, Knochenbau (Gl 21; 866), Knochengerüst (Gl 21), Antlitz, Physiognomie (der Rasse; 313), das Herz (Gl 531), das Gehirn (Gl 743; 531) und das Auge. Besonders die Wahrnehmungsorgane für Sehen und Hören spielen eine große Rolle. GL 349: der Einfluss der geistig hervorragenden Individuen in einem Geschlecht, wie das menschliche, dessen Eigenheit auf der Ausbildung seiner geistigen Fähigkeiten beruht, ist unermesslich, zum Guten und auch zum Bösen; diese Individuen sind die tragenden Füsse, die bildenden Hände jedes Volkes, sie sind das Antlitz, welches wir Andere erblicken, sie sind das Auge, welches selber die übrige Welt in einer bestimmten Weise erschaut und dem übrigen Organismus mitteilt. Hervorgebracht werden sie jedoch vom gesamten Körper; nur durch dessen Lebensthätigkeit können sie entstehen
Während Metaphern wie Taubheit und Blindheit in (konträren) Bezug zur Fähigkeit des Menschen gesetzt werden, Wahrheit zu erkennen, d. h. zunächst zur Anschauung der Wahrheit und zum Begreifen derselben zu gelangen, steht das Feld des Organischen mit seinen Wortbildungen Organismus, organisch und Organ besonders für drei Aspekte: zum einen für eine Ganzheitsbetrachtung uneinheitlicher Gegenstände und Sachverhalte, zum anderen für eine Anthropomorphisierung von Nichtlebendigem bzw. Kollektivem wie des oben schon genannten 'Germanentums' und zum dritten für die Legitimation von Aussagen als der Natur entsprechend und damit als nicht hinterfragbar. Für das Letztgenannte mag auch das folgende Zitat stehen. AW 78: Das indoarische Denken und Fühlen nun, indem es organisch aus den Herzen und Köpfen eines ganzen Volkes religiöser Denker langsam hervorgegangen war, hatte sich zu einem so merkwürdig bildsamen Organismus ausgewachsen, daß es den abweichendsten geistigen Bedürfnissen (den Bedürfnissen freilich eines auserlesenen, echt arischen Volkes) in gleichem Maße gerecht wurde.
Für den Biologen Chamberlain liegt es nahe, dass er – ähnlich wie zeitgenössische Philologen – auch Sprache als einen Naturorganismus (s. u.) und Sprachwissenschaft entsprechend als Naturwissenschaft betrachtet. So wie es – selbst in heutiger Redeweise – lebende und tote Sprachen gibt,
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wird Sprache als etwas Lebendiges gedacht, sie wächst und entwickelt sich und hat dementsprechend ihre Naturgeschichte. Die Biologisierung von Sprache wird dabei keineswegs in Widerspruch zu ihrer Abhängigkeit von Kultur und Geschichte gesehen, da diese ihrerseits als biologisch bedingt aufgefasst werden, sondern geradezu als ihre Bedingung. Und weil dies alles so ist, kann man aus der Analyse der Naturgeschichtlichkeit von Sprache, verstanden als Wachsen und Werden, nicht nur Aussagen über die Sprachen selbst machen, sondern auch über die Sprecher, die als Teil dieses Organismus von ihr genährt (Gl 29f.), damit in die Position des Sekundären, des Empfangenden gebracht werden. So konstatiert Vermeer: Vermeer 1984, 423: Führte der Darwinismus zur Gesetzeshypothese, so führte der Organismusgedanke bereits früher zu einer Form der Ganzheitsbetrachtung von Sprache und Sprachbenutzer.
Da Chamberlain den Chaosgedanken in alle Bereiche des Seins hineinträgt, wird dessen Gegengröße, die Verbindung von Einheit, Vergemeinschaftung und Ordnung, zum Ziel seiner Bemühungen. Sündenfall und Gnade erscheinen als Teile eines Einzelorganismus (Gl 674) wie Rasse und Nation (s. o. Gl 349). Die Letztbegründung seiner Welt ist eine organischgeprägte Ordnung mit 'Rasse' als Zentrum. Wo Ordnung und Zusammenhang fehlen, gibt es weder Perspektive, noch Ziel, noch Zukunft. Gl 370: Darum bedeutet für uns Menschen der Mangel an organischem Rassenzusammenhang vor allem moralische und geistige Zerfahrenheit.
Der Organismus bzw. der Körper als Bildgeber steht daher auch vor allem für eine Gemeinschaft, deren Einzelelemente dadurch unsichtbar gemacht werden, dass sie einem einzigen zusammenhängenden Ganzen, konkret einem Körper, zugeschrieben werden. Aus den vielen Einzelnen wird ein großes Ganzes. Und dieser eine Körper funktioniert nach Gesetzmäßigkeiten, die dem menschlichen Organismus analog gebildet sind, nach denen sich aber vor allem das Einzelteil dem Ganzen unterzuordnen hat. Dieses Bild, das schon in der klassischen Literatur bekannt war und z. B. von Cicero auf das römische Staatswesen angewandt wurde, ist einerseits typisch für Entindividualisierung und andererseits für eine Staatsidee, in der der eine (das Gehirn) denkt und lenkt, während die anderen ausführen. Charakteristisch für die sprachliche Fassung dieses Organismus sind Wortbildungen wie Volkscharakter (Gl 310; 441; 624), Volksseele (Gl 275; 310; 409; 480; 562; Kriegsaufsätze I / Dt. Sprache 34, u. ö.), gar Volksseelengeschichte (Kriegsaufsätze II / Dt. Friede 86), Volksindividualität (587; 844; 856; 888, dazu bdv.: Persönlichkeit ebd. 1024), aber auch Volksgelüst (Kriegsaufsätze I / England 53), Volksinstinkt (Gl 1067), Volkskraft (Kriegsaufsätze I / Weltstaat; Vorwort Gl 14. Aufl. XVIII; 36; 38 u. ö.), Volksleben (Kriegsaufsätze I / Deutschland 78 u. ö. ), Volksmacht (218), Volkspersönlichkeit (Gl 445). Die Personifikation des Volkes, seine Konzep-
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tion als eine aus vielen bestehende, aber doch als Einheit gedachte Größe, wird dann umso deutlicher, je mehr es Chamberlain um die Beschreibung und Bewertung kultureller Leistungen geht. Diese mögen zwar von hervorragenden Einzelpersonen geschaffen worden sein, sie basieren aber grundsätzlich auf deren Volkszugehörigkeit. Gl 480: Man sieht, hier liegt nicht die That eines einzelnen, vielleicht erratischen Geistes vor; es spricht im Gegenteil eine Volksseele, Alles wenigstens, was in dieser Volksseele echt und edel war.
Die Entindividualisierung des Einzelindividuums bildet den Gegenpart zur Individualisierung des Volkskörpers, dessen organische Struktur den bildspendenden Ausgangspunkt sowohl für physische als auch für psychische Ebenen darstellt. So kann Chamberlain menschliche Eigenschaften und Fähigkeiten auf das Gesamtkollektiv übertragen und gleichzeitig die Kollektive gegeneinander abgrenzen. Es liegt im Gesamtzusammenhang auf der Hand, dass für ihn nur die Rasse die organische Voraussetzung für die Gemeinschaft sein kann, die denn auch kein vereinzeltes Individuum ist, sondern die lebendige Summe ungezählter, gleichgerichteter Seelen (Gl 321). Die so konstituierte Volksseele, obwohl als Summe aus Individuen hergeleitet, bildet dann, nachdem sie einmal geschaffen ist, die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass der Einzelmensch über sich hinauswachsen kann. Der Stoff bzw. der Träger desjenigen Stoffes, mit dem der rassische Zusammenhang hergestellt wird, ist traditionell das Blut, das nicht nur die einzelnen Organe untereinander und miteinander versorgt, sondern geradezu das menschliche Lebenselixier darstellt. Der nachfolgende Beleg zeigt, übrigens typisch für Chamberlains Argumentationsweise, wie einfach und eingängig es ist, vom menschlichen Körper als bildspendendem Feld und seinen naturwissenschaftlich-medizinischen Zusammenhängen ausgehend nichtorganische Bezugsgegebenheiten zu assoziieren und damit zu Gemeinschaften zu gelangen. So wird eine Gemeinschaft der Germanen geschaffen, die als konkret korporierte und als Naturgegebenheit konstruierte Größe naturwissenschaftlicher Untersuchung zugänglich wird. In dem Maße, in dem die Kette von Vergleichssetzungen zwischen Körper, Körperorganen und Blut mit 'Volkskörper' und 'Volksseele' in die Textwelt der Zeit eingeht, wird die Existenzpräsupposition vom 'Germanentum' zum nicht mehr erst einzuführenden und zu begründenden Existenzfaktum. Chamberlain unterstreicht dies sogar noch, indem er den möglichen Kritikpunkt, man könne tierische Körper nicht mit sozialen vergleichen, mit dem Hinweis auf das große Ganze, das Einheitliche, zurückweist. Dass dies im inneren Widerspruch zu seinen eigenen Vorstellungen steht, merkt höchstens der kritische Leser. Gl 870: Bis auf ihn [Bichat; ALR] war die Anatomie des Menschenkörpers lediglich eine Beschreibung der einzelnen, durch ihre Verrichtungen voneinander un-
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terschiedenen Körperteile; er wies als Erster auf die Identität der Gewebe, aus denen die einzelnen, noch so verschiedenen Organe aufgebaut sind, und ermöglichte hierdurch eine rationelle Anatomie. Wie man bis auf ihn die einzelnen Organe des Körpers als die zu unterscheidenden Einheiten betrachtet hatte und darum zu keiner Klarheit durchgedrungen war, ebenso plagen wir uns mit den einzelnen Organen des Germanentums, d. h. mit seinen Nationen, ab und übersehen dabei, dass hier ein Einheitliches zu Grunde liegt, und dass wir, um die Anatomie und Physiologie des Gesamtkörpers zu verstehen, zuerst diese Einheit als solche erkennen, sodann aber: "die verschiedenen Gewebe isolieren und jedes Gewebe, gleichviel in welchen Organen es vorkommt, untersuchen müssen, um erst zuletzt jedes einzelne Organ in seiner Eigentümlichkeit zu studieren". Damit wir die Gegenwart und die Vergangenheit des Germanentums recht anschaulich begriffen, brauchten wir nun einen Bichat, der den Gesamtstoff gliederte und ihn uns richtig – d. h. naturgemäss – gegliedert vor Augen führte.
Ein weiteres Kennzeichen des biologistischen Weltbildes liefert die Fähigkeit aller Organismen zur Fortpflanzung bzw. Vermehrung. Die Reproduzierbarkeit als Kennzeichen alles Lebendigen öffnet die Organismusmetaphorik hin zum Tierischen und Pflanzlichen, so dass ganz unterschiedliche Perspektiven aus der Biologie ineinander verwoben werden. Die Botschaft dieser Vergleichssetzung liegt auf der Hand: Das Schöpferische, Leben Schaffende ist nicht nur ein Kennzeichen biologischer Gegenstände, sondern bei richtiger Analogisierung auch des Sozialen und Historischen im weitesten Sinne. Metaphern wie (organische) Neubildung, Sprosse, Symptom, in einem weniger offensichtlichen Sinne auch Leben, schöpferisch, bilden, hervorbringen durchziehen seine Texte auch da, wo der im engeren Sinne biologische Gegenstand verlassen wird:85 GL 790: Hier handelte es sich um schöpferische Neubildungen, die auch heute Sprossen treiben und noch ferner treiben werden, solange es Leben giebt. Unter unseren Augen finden Verschiebungen des Nationalbewusstseins statt, und noch jetzt können wir das nationalitäten-bildende Prinzip überall am Werke betrachten, wo der sogenannte Partikularismus sich regt: […] so haben wir in allen diesen Dingen Symptome eines lebendigen Individualismus zu erblicken, Symptome der Fähigkeit eines Volkes, sich seiner Eigenart im Gegensatz zu der Anderer bewusst zu werden, der Fähigkeit zu organischer Neubildung. Schüfe der Gang der Geschichte die äusseren Bedingungen dazu, wir Germanen brächten noch ein Dutzend neue, charakteristisch unterschiedene Nationen hervor.
Die im vorgetragen Zitat auf Nationen bezogene organische Neubildung kann aber auch ein anderes Ergebnis haben, nämlich (GL 1130) die organische Einheit alles schöpferischen Menschentums. Dies lässt sich von der Formulierung her als nationenübergreifende humanistische Utopie lesen, ist infolge der Besetzung von Menschentum aber nur auf diejenigen Gesellschaftsbildungen und deren herausragende Vertreter zu beziehen, die von ihrer rassischen _____________ 85
Vgl. auch Kriegsaufsätze I / England 46.
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Anlage her die Verlängerung der Natur ins Geistige, Schöpferische, Kulturelle, Künstlerische bilden. Das schöpferische Prinzip, wie gezeigt wurde das Kernstück in Chamberlains Werk, bezieht sich eben nicht nur auf die Bereiche Kunst und Kultur, sondern vor allem auf den der Menschwerdung und des Menschenschaffens. Passend dazu finden sich Verben wie gebären wieder, und gebären kann die organische Einheit Deutschland auch neue Formen des politischen Lebens (Kriegsaufsätze I / Weltstaat 41). Das Fehlen dieser Fähigkeit wird denjenigen bescheinigt, die sich der Bewilligung der Kriegskredite zu Beginn des I. Weltkriegs entzogen; sie seien Kriegsverderber und Kriegsverlängerer, gekennzeichnet – und hier setzt wieder die Metaphorik ein – durch organische Unfähigkeit, die Probleme der Staatslenkung zu erfassen (Wille / VaterlandsPartei 41). Organische Unfähigkeit ist dabei parallel zur rassenbegründet fehlenden Schöpferkraft der Juden zu sehen und wird vom zeitgenössischen Leser assoziativ sofort damit verbunden worden sein. Sterilität (vgl. auch Gl 26; 27) und Unfruchtbarkeit, auch Monstrosität sind die Ausdrücke, mit denen das so ausgemachte, jede progressive Differenzierung verhindernde Defizit immer wieder bezeichnet wird (vgl. Gl 333): Gl 445, Anm. 2: Die gesamte Geschichte der Menschheit zeigt uns ihren Fortschritt an progressive Differenzierung und Individualisierung gebunden; Leben und Streben finden wir nur dort, wo scharf charakterisierte Volkspersönlichkeiten im Kampfe nebeneinanderstehen (wie jetzt in Europa), die besten Anlagen verkümmern unter dem Einfluss der Uniformität der Rasse (wie z. B. in China), die Bastardierung gegensätzlicher Typen sehen wir auf allen Gebieten des Organischen zu Sterilität und Monstrosität führen – und dennoch soll das "Ineinanderaufgehen" unser Ideal sein! Sehen denn die Herren nicht ein, dass Einerlei und Chaos synonyme Ausdrücke sind?
Wie extrem die Abqualifizierung des zur biologischen und kulturellen Gefahr aufgebauten Gegners werden kann, zeigt sich in der Kennzeichnung von Schulen als (Gl 214) Sterilisierungsanstalten zur Vertilgung jeder schöpferischen Regung. Sterilität' ist hier wieder als das Charakteristikum des Semitischen zu verstehen: Gl 453: Andererseits sehen wir, dass, wo der semitische Wille auf dem lauteren Gebiete der Religion (nicht des Besitzes) siegreich durchdrang, er die geistige Sterilität gebot und erzwang. […] Was den sterilisierenden Einfluss der echtesten semitischen Religion, der mohammedanischen, anlangt, so ist er zu offenbar, als dass ich ihn erst nachzuweisen hätte.
Bedrohlicher noch als Unfruchtbarkeit ist die Monstrosität (vorletzter Beleg). Sie erscheint mehrfach in partieller Synonymie mit Entartung, dem oben schon beschriebenen Ausdruck, der in Chamberlains Duktus einen nicht der 'Art' bzw. der erwarteten und festgesetzten rassischen Norm entsprechenden, defizienten Menschen oder eine solche Menschengruppe kennzeichnet und als "eigentümliche Haltlosigkeit, […] geringe Wider-
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standskraft, […] Mangel an Charakter" (Gl 353) beschrieben wird. 'Entartung', entstanden durch die falsche Vermischung des Blutes, führe zu körperlicher Defizienz, aber vor allem zum kulturellen und moralischen Niedergang. Sie ist das Gegenstück zur psychischen und physischen Veredlung (Gl 307; 327; 340; 366; Zuversicht 6; 15), übrigens ein Wort, das besonders gern von Richard Wagner gebraucht wurde (Wagner 10, 276f.). 'Rasse', 'Entartung', 'Monstrosität' (wo immer man beginnen will) sind Größen innerhalb eines umfassenden natur- und kulturbezogenen Konzeptes; sie existieren insofern zunächst einmal nur im Kopf Chamberlains. Indem sie zum Gegenstand der Biologie erhoben wurden, mutierten sie zu einer biologischen, damit naturgegebenen Größe; das ist der klassische Fall des transitus ab intellectu ad rem. Dieser Transitus wird gerne verschleiert. Gelingt die Verschleierung, so werden 'Rasse', 'Entartung' usw. zum konkreten Ausgangspunkt für Übertragungen. Entartung ist in Chamberlains Argumentation die Waffe der Semiten, mit der diese alles Schöpferische zerstören wollten. Sie ist damit das Werkzeug und gleichzeitig das Produkt des Verfalls. Entartung und Verkümmerung (Gl 412 s. u.) sind Ausdrücke, die besonders auch in der Botanik verwendet werden, der Teildisziplin der Biologie, der Chamberlain Jahre seines Lebens gewidmet hatte.
3. 2. 2. Pflanzenmetaphorik und das "Absterben in der Knospe" Zum Wortfeld der Destruktion und des Verfalls gehören u. a. die Ausdrücke verkümmern (Gl 6; 232; 459; 899) und Verkümmerung (Lebenswege 281; Gl 412; 458/9). Doch im Unterschied zu Entartung, das zunächst einmal "nur" >aus der Art schlagen< bedeutet und dann in zweiter Linie 'Defizienz' impliziert, ist verkümmern ein deutlicher Ausdruck des Verfalls und schließlich des Untergangs, nicht nur des Einzelwesens, sondern vor allem des Todes einer ganzen Rasse. Gl 259/60: Wir sind gewohnt, das jüdische Volk als das religiöse Volk par excellence zu betrachten: in Wahrheit ist es ein (im Verhältnis zu den indoeuropäischen Rassen) religiös durchaus verkümmertes. In dieser Beziehung hat bei den Juden das stattgefunden, was Darwin "arrest of development" nennt, eine Verkümmerung der Anlagen, ein Absterben in der Knospe.
Immer wieder greift der Biologe Chamberlain auf Beispiele aus der Pflanzenwelt zurück, vorzugsweise auf Bäume (Gl 315; 321; 328; 603; 654), und nutzt alle damit verbundenen frametypischen Assoziationen. Es geht ihm positiv um starke Stämme (Gl 603), Hauptstöcke (Gl 384), Wurzeln (Gl 29; 601; 603) und Zweige (Gl 328), um Knospen (Gl 259) und Blüten (29), das Reifen der Blüte (Gl 603), inneres Wachsen und Erstarken (Gl 626), positiv betrachtet überhaupt um Wachstum und Veredelung (Gl 654) durch Züchtung,
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negativ um Verkümmerung, Entartung und Absterben (s. o.). Beispiele aus der Botanik helfen ihm dabei, sein Züchtungskonzept naturwissenschaftlich verbrämt darzulegen, wobei er – parallel zur Handhabung der Körpermetaphorik – das Werden und Vergehen in der Natur auf alles Soziale wie Religion, Kultur und Fortschritt überträgt. GL 654: Diesen Vorgang kann man sich durch ein Gleichnis deutlich machen. Es ist als nähme man zwei Bäume verschiedener Gattung, köpfte sie und böge sie – ohne sie zu entwurzeln – gegeneinander und verbände sie dann derartig, dass ein jeder das Pfropfreis des anderen würde. Für beide wäre fortan ein Wachstum in die Höhe ausgeschlossen; eine Veredelung träte auch nicht ein, sondern eine Verkümmerung, denn eine organische Verschmelzung ist, wie jeder Botaniker weiss, in einem solchen Falle ausgeschlossen, und jeder der beiden Bäume (falls die Operation nicht den Tod herbeigeführt hätte) würde fortfahren, seine eigenen Blätter und Blüten zu tragen, und im Gewirr des Laubes stiesse überall Fremdes unmittelbar auf Fremdes.
Der menschliche Eingriff in die Evolution durch Selektion und Züchtung ist Chamberlains zentrales Ziel. Ganz wie er es als Biologe während der Arbeit an seiner Dissertation mit Pflanzen getan hat, will er nun auch den Menschen in gestalterischer Weise verändern. Dazu kategorisiert er zunächst sein Material (Gl 328), legt das 'Verwandte' zusammen und trennt es vom 'Fremden', setzt Unterscheidungen zwischen Echtem und Unechtem, also Hoch- und Minderwertigem und sortiert das seiner Meinung nach Minderwertige vom Hochwertigen aus. Wieder beschreibt er mit Hilfe botanischer Metaphern, wie er das Hochwertige zu erkennen glaubt. GL 603: dass diese Treue nicht der Urgrund ist, […], nicht die Wurzel, sondern die Blüte, die Frucht, an welcher wir den Baum erkennen. Daher ist gerade diese Treue der feinste Prüfstein, um echtes germanisches Wesen von unechtem zu scheiden; denn nicht an den Wurzeln, sondern an den Früchten erkennt man die Arten; doch bedenke man, dass bei schlechter Witterung mancher Baum keine Blüten oder nur verkümmerte treibt, was bei den hartbedrängten Germanen sich auch manchmal traf. Die Wurzel des besonderen Charakters ist ohne allen Zweifel jene allen Ariern gemeinsame […], bei den Griechen am üppigsten in die Erscheinung tretende freischöpferische Anlage […]; alles leitet sich daher: Kunst, Philosophie, Politik, Wissenschaft; auch die Blüte der Treue finden wir durch diesen besonderen Saft gefärbt. Den Stamm bildet dann die positive Kraft, die physische und die intellektuelle (die von einander gar nicht zu scheiden sind); bei den Römern, denen wir die festen Grundlagen von Familie und Staat verdanken, war gerade dieser Stamm mächtig entwickelt. Doch die wahren Blüten eines derartigen Baumes sind die, welche Gemüt und Gesinnung zeitigen. [Hervorheb.: ALR]
Anhand der Baummetapher kann man zeigen, wie Chamberlain protestantisch-bildungsbürgerliche Traditionstexte für seine eigene Argumentation nutzt, sich ihrer eigentlichen Inhalte entledigt und stattdessen die Rassentheorie unterschiebt. In der Bibel lautet die Metaphernvorlage:
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Hl. Schrift, Matth. 7, 18: An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. […] So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte. Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen, und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. Darum: an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.
Der im Beleg Chamberlains mitschwingende, völlig aus seinem theologischen Kontext gerissene Matthäustext (als Beispiel) wird in doppelter Hinsicht funktionalisiert. Formal stellt Chamberlain seine Argumentation in die Tradition metaphorischen bzw. gleichnishaften Sprechens, die schon durch ihre Sakralsprachlichkeit legitimierend wirken muss. Vor allem jeder Protestant hat dieses Bibelzitat gekannt, da es zu den zentralen Argumenten Luthers gegen die Werkgerechtigkeit gehört. Dem Leser wird vermittels dieser allusorischen Bezugnahme der Eindruck vermittelt, dass Chamberlains Argumentation auch religiös begründbar seien. Mit dem Baumgleichnis hatte Luther erklärt, dass der Mensch zuerst die Anlage des Guten in sich tragen muss, bevor er überhaupt das Gute tun kann. Nur um es einmal explizit zu machen, diese Anlagen sind in keiner Weise genetisch zu sehen oder haben etwas mit rassischer Disposition zu tun. Sie sind bei Luther bezogen auf den Einzelmenschen (s. u. mensch ynn der person) in seiner Unmittelbarkeit zu Gott und damit eine Frage der göttlichen Begnadung und des Glaubens. WA 7, 32, 4 ff.: Drumb seyn die zween sprch war ‘Gutte frum werck machen nymmer mehr ein gutten frumen man, sondern eyn gutt frum man macht gutte frum werck, Bße werck machen nymmer mehr eynen bßen man, sondern ein bßer man macht bße werck', alßo, das allweg die person zuvor muß gut und frum sein vor allen gutten wercken, und gutte werck folgen und außgahn von der frummen gutten person. Gleych wie Christus sagt ‘Eyn bßer bawm tregt keyn gutte frucht. Eyn gutter bawm tregt keyn bße frucht'. Nu ists offenbar, das die frucht tragen nit die bawm, ßo wachsen auch die bawm nit auff den fruchten, sondern widderumb, die bawm tragen die frucht, und die frucht wachßen auff den bawmen. Wie nu die bawm mussen ehe seyn, den die frucht, und die frucht machen nit die bawm wider gutte noch bse, sondern die bawm machen die frchte, Alßo muß der mensch ynn der person zuvor frum oder bße seyn, ehe er gutte oder bße werck thut […].
Das Bild vom Früchte tragenden Baum symbolisiert in der Chamberlainschen Lesart dagegen den Rasse besitzenden Menschen, der somit in der Lage ist, sowohl rassenbiologisch als auch moralisch gute Früchte zu tragen. In dieser Konzeption muss der Baum von vorneherein, also genetisch, dazu ausersehen sein, gute Früchte zu tragen, was für einen Baum sicherlich auch zutrifft. Chamberlain als Nutzer der Theologie Luthers kannte dessen Interpretation im Freiheitstraktat und instrumentalisierte sie, indem er sich auf die Bildlichkeit stützte, in seinem Sinne. Diese Technik, das Ungleiche, Unverbindbare zusammenzubringen, erfolgt me-
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taphorisch und ist ein bedeutsamer Teil persuasiver und manipulativer Texte. Mit dem Auge des Nutzers, das heißt natürlich: ohne Rücksicht auf das im Ausgangstext Gemeinte übersetzt er dessen Formulierungen in die Terminologie und die Fachtextlichkeit seiner Rassentheorie. Damit erreicht er ein Doppeltes: einmal eine an Gewohntes anschließende, insofern unauffällige und unverdächtige Bezugsetzung, zum anderen die religiöse Legitimation und sogar Überhöhung seiner Aussage. Die Metapher ist das vornehmste rhetorische Mittel solcher Konstruktionen; ihre diesbezügliche Leistungsfähigkeit ist dadurch gesteigert, dass im Gegensatz zum Vergleich das tertium comparationis nicht genannt wird, also dem Assoziationshorizont des Rezipienten unterliegt. Chamberlains Argumentation basiert auf dem Prinzip der moralischen Prädisposition: Sie betont in vielfachen Wiederholungen das Adjektiv gut (und antonymes schlecht), ruft damit indirekt die entsprechende Deontik, nämlich die sorgfältige Ausscheidung alles Minderwertigen (Gl 329), des nur noch steinigten Kerns einer langsam gereiften Frucht auf, die ihrer flaumigen farbigen Hülle, ihres sanften Fleisches beraubt sei (Gl 408). Von den Juden, die auch hier wieder gemeint sind, suggeriert er, dass sie um ihre Defizienz wüssten und sich deshalb physisch aufpfropften (Gl 462; so auch 432) bzw. (Gl 382), wie ein Feind herein stürzten, alle Positionen stürmten und wenn auch nicht auf den Trümmern, so doch auf den Breschen der germanischen echten Eigenart die Fahne ihres uns ewig fremden Wesens aufpflanzten. Das Metaphernfeld geht über seinen Kern, den guten / schlechten Baum und die gute / schlechte Frucht, weit hinaus in das damit geforderte Feld eines endzeitaffinen Kampfes. Der Inbegriff der 'Entartung' ist wieder das physisch, geistig und moralisch degenerierte Volk (s. u.). Gl 384: Man sehe doch, mit welcher Meisterschaft sie [Juden, ALR] DAS GESETZ DES BLUTES zur Ausbreitung ihrer Herrschaft benutzen: der Hauptstock bleibt fleckenlos, kein Tropfen fremden Blutes dringt hinein; heisst es doch in der Thora: "kein Bastard soll in die Gemeinde Jahve‘s kommen, auch nicht nach zehn Generationen" (Deut. XXIII, 2); inzwischen werden aber Tausende von Seitenzweiglein abgeschnitten und zur Infizierung der Indoeuropäer mit jüdischem Blute benutzt. Ginge das ein paar Jahrhunderte so fort, es gäbe dann in Europa nur noch ein einziges rassenreines Volk, das der Juden, alles Übrige wäre eine Herde pseudohebräischer Mestizen, und zwar ein unzweifelhaft physisch, geistig und moralisch degeneriertes Volk. […] Während die Vermischung vorgeht, bleibt aber der grosse Hauptstamm der reinen, unvermischten Juden unangetastet.
Man könnte jede einzelne Metapher herausgreifen und hinsichtlich ihrer Bezugsetzungen untersuchen. Dies soll hier deshalb nicht geschehen, weil sich die Aussagen wiederholen würden. Es sei aber doch auf typische Beispiele verwiesen: Der Hinweis auf den Hauptstamm impliziert die latent vorhandene Bedrohung. Denn wo der Hauptstamm lebendig ist, geht die Infizierung weiter. Abgesehen davon, dass das Jüdische hier deutlich als das
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zerstörerische Prinzip in der Natur dargestellt wird, kennzeichnet Chamberlain die Juden metaphorisch als Schmarotzer und Parasiten. Er nennt zwar das Wort Schmarotzer nicht, impliziert es aber immer wieder, wenn er z. B. von aufpfropfen und aufpflanzen schreibt. Evoziert man mit seinen Metaphern zusätzlich noch Texte aus dem Höhenkamm deutscher Literatur, im folgenden Beleg aus Goethes Prometheus, so erfahren die oben angenommene moralische Prädisposition und der implizierte Handlungsaufruf eine zusätzliche Verstärkung.86 Gl 432: Hätten die Israeliten die alteingessenen Landeskinder vertilgt, so würden sie das Land zur Wüste gemacht und sich selbst um den Gewinn der Eroberung gebracht haben. Indem sie sie schonten und sich selber ihnen gleichsam aufpropften, wuchsen sie zugleich in ihre Kultur hinein. In Häuser, die sie nicht gebaut, in Felder und Gärten, die sie nicht urbar gemacht und angelegt hatten, nisteten sie sich ein. Überall traten sie als glückliche Erben in den Genuss der Arbeit ihrer Vorgänger.
Es ist nach dem Letztzitierten auch kein Zufall, dass das Adjektiv parasitär wieder in Bezug auf die Juden verwendet wird. GL 512, Anm. 2: Geschichtsphilosophisch würde man wohl diese eigentümliche Vorliebe der Juden für den abhängigen, gewissermassen parasitären Zustand aus dem lang andauernden Abhängigkeitsverhältnis zu Israel erklären.
Während Schmarotzer dem Reich der Pflanzen zugeordnet werden, sind Parasiten ihr Pendant in der Tierwelt. Und auch aus ihr schöpft Chamberlain seine Bilder.
3. 2. 3. Tiervergleich und Tiermetaphorik oder von Rebläusen und Schlangen Wir finden bei Chamberlain Katzen, die sich selbst in den Schwanz beißen (Gl 936), den Schmetterling in seiner Metamorphose (Kant / Goethe 44), den Affen (Gl 62; 67; Lebenswege 374), die Kuh in Indien (Gl 759), das Krokodil in Afrika (ebd.) und immer wieder die Ameise, die den funktionierenden Staat symbolisiert (Gl 27;87 56; 371; 847; PI 51 u. ö.). Und doch fällt ein relativ zurückhaltender Gebrauch direkter Tiermetaphorik auf. Sätze wie der folgende müssen bei einem Biologen wie Chamberlain nicht unbedingt als metaphorisch verstanden werden, auch wenn sie zugegebenermaßen auf der ohnehin nicht scharf zu ziehenden Grenze zwischen eigentlicher und _____________ 86 87
Ähnlich auch Gl 481. Gl 27: "wie der Bau eines Ameisennestes, bei welchem jede Ameise nur die einzelnen Körnchen sieht, die sie mühsam herbeischleppt. – Ähnliches gilt aber auch von Ideen: sie ergreifen die Menschheit mit gebieterischer Macht, sie umspannen das Denken wie ein Raubvogel seine Beute. Keiner kann sich ihrer erwehren…"
305 Chamberlains Ideologiemetaphern
übertragener Wortverwendung stehen (Br I, 152): "Der Mensch ohne Metaphysik ist doch eigentlich nichts weiter als ein vom Baum herabgekletterter, bodenständiger Affe." Anders als sein ideologischer Nachfolger Hitler hat Chamberlain die Tierwelt eher indirekt, und nur in wenigen Fällen direkt zur Stigmatisierung der Juden verwendet. Tiere werden von ihm in erster Linie zur Veranschaulichung seiner Rassentheorie herangezogen: Gl 312: Entstehen die sogenannten [...] edlen Tierrassen, die Zugpferde vom Limousin, die amerikanischen Traber, die irischen Renner, die absolut zuverlässigen Jagdhunde durch Zufall und Promiskuität? Entstehen sie, indem man den Tieren Rechtsgleichheit gewährt, ihnen dasselbe Futter vorwirft.
Immer wieder sind es die Pferde, aber auch Hunde, wie Windhund, Bulldogge, Dachshund, Pudel, Neufundländer und Bastardhund (Gl 335), auf die er zur Erklärung seiner Züchtungsvorstellungen zurückgreift. Dies vollzieht er in einer Weise, die den Bezug auf den Menschen zwar regelmäßig nahe legt, vielfach aber nicht direkt ausspricht (im Zitat etwa mittels zuverlässig, Rechtsgleichheit, Futter vorwerfen). Im Übrigen sind zwei Richtungen metaphorischer Beziehungen zu unterscheiden: Einmal wird dem Tier eine menschliche Eigenschaft, ein anderes Mal dem Menschen eine Eigenschaft des Tieres zugeschrieben. In ersterem, seltenerem und im Rahmen dieser Arbeit weniger interessierenden Falle läge eine Anthropologisierung des Tieres, im zweiten Falle eine "Vertierung" des Menschen vor. Ein Beispiel für erstere Richtung ist: "Ein Bastardhund ist nicht selten sehr klug, jedoch niemals zuverlässig, sittlich ist er stets ein Lump" (Gl 313). Der zweite Fall tritt in zwei textlichen Formen auf, einmal als Vergleich, zweitens als Metapher. Der Vergleich ist an der Verwendung der Partikel wie erkennbar; damit erhält der Leser die Möglichkeit der Rückfrage in dem Sinne: Was ist es denn genau, das zu der Vergleichssetzung berechtigt? Metaphorologisch gesprochen ist das die Frage nach dem tertium comparationis, durch dessen Verschweigung die Metapher bekanntlich vom Vergleich unterschieden wird, damit die Frage nach der kommunikativen Regresspflicht, der der Vergleich unterworfen ist. Die Metapher ist zweifellos das üblichere, eingängigere, aber auch das gewaltsamere, brutalere Mittel der Sprache. Es macht den kleinen Unterschied aus, ob man sagt: "Bestimmte Menschen (z. B. Juden) sind Heuschrecken", oder ob man sagt: "Sie sind wie Heuschrecken". Wie ist eine Partikel, die spezifierende Fragen zulässt oder gar verlangt, damit den Rezipienten im Spiel lässt, aber zwischen Autor und Leser Distanz schafft. Sie kann im übrigen stilistisch mit anderen Ausdrücken, die unter diesem Aspekt zu wie funktional synonym werden, wechseln; erwähnt seien gleichen, ähneln, ähnlich sein, in die Nähe kommen.
306 Ideologiewortschatz
Bei Chamberlain spielt die Vergleichssetzung eine mindestens eben so große Rolle wie die Metapher. Sie lässt seine Sprache weniger gewaltsam erscheinen, was eine die Beziehungsebene betreffende Aussage ist, keine sachbezügliche. Sie hält die Stilhöhe, ohne dabei auf Deutlichkeit hinsichtlich der Sachaussage verzichten zu müssen. Gl 24: die jüdische Renaissance ist [...] die Wiederauferstehung eines längst totgeglaubten Lazarus, welcher Sitten und Denkarten der orientalischen Welt in die germanische hineinträgt und dabei einen ähnlichen Aufschwung nimmt wie einst die Reblaus, die in Amerika das wenig beachtete Dasein eines unschuldigen Käferchens geführt hatte, nach Europa übergeführt jedoch plötzlich zu einem nicht ganz unbedenklichen Weltruhme gelangte.
Chamberlain kennzeichnet die Juden zunächst keineswegs direkt als Läuse, aber im Kontext steht die Reblaus für den Untergang der Weinbauproduktion in ganz Europa, ein Ereignis epidemischen Ausmaßes. Die ironisierende Litotes nicht bloss Gutes (im Vorfeld des Zitates) unterstreicht die Bezugsetzung. Eine derartige Entschärfung der direkten Metapher durch die Vergleichspartikel wie nutzt Chamberlain vor allem immer dann, wenn der Kontext die diffamierende Eindeutigkeit der Aussage garantiert: GL 304f.: wo die Juden in einem fremden Lande sich stark vermehren, da mögen sie es sich angelegen sein lassen, die Verheissungen ihrer Propheten zu erfüllen und nach bestem Wissen und Gewissen "die fremden Völker zu fressen"; sagten sie doch schon zu Lebzeiten des Moses von sich selbst sie seien "als wie die Heuschrecken"; man muss aber das Judentum von den Juden trennen und zugeben, dass das Judentum als Idee, zu den konservativsten Gedanken der Welt gehört. Der Begriff der physischen Rasseneinheit und -reinheit, [...], bedeutet die Anerkennung einer grundlegenden physiologischen Thatsache des Lebens; wo immer wir auch Leben beobachten, vom Schimmelpilz bis zum edlen Rosse, bemerken wir die Bedeutung der "Rasse": das Judentum heiligte dieses Naturgesetz. […] Das jüdische Dogma war wie eine scharfe Säure, die man in eine in Zersetzung geratene Flüssigkeit giesst, um sie zu klären und vor dem weiteren Verfaulen zu bewahren.
Das doppelt distanzierende als wie wird dadurch flankiert, dass Chamberlain vorgibt, die Bibel bzw. die diskriminierten Juden selbst zu zitieren, eine für den Antisemitismus übliche Vorgehensweise. Weitere stilistische Mittel, vor allem die Konzession vom Judentum als Idee, wären zu erwähnen, betreffen aber nicht die Metapher. Im letzten Teil des Zitates kommt die Metapherntradition der Zersetzung zur Anwendung: der Vergleich wie eine scharfe Säure ist Teil eines komplexen Metaphernfeldes, das Zersetzung, Verfaulen und den Verfall evoziert und das Klären und Bewahren zugleich als Heilmittel nennt. Ähnlich wie der Wurm, der alles zernagt, frisst sich die Säure durch alles hindurch. Aber die Verfallskulisse wird zunächst relativiert: Chamberlain
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suggeriert die Möglichkeit einer positiven Bewertung des jüdischen Dogmas, indem er der von ihm eingeführten Säure eine klärende positive Wirkung einräumt. Die Argumentationsfigur ist deutlich; sie entspricht wieder dem Schema: provozierende Aussage, dann konzessive Differenzierung, dann Verstärkung der Aussage. Die Konzession hat also beziehungssteuernde Funktion. Durch den Hinweis an den Leser, dass man auch Gegenteiliges bedenkt, dient sie der Verstärkung der eigenen Glaubwürdigkeit; es geht aber keineswegs um eine tatsächliche Differenzierung bzw. gar Infragestellung der Sachaussage. Es lenkt den Leser außerdem von der Frage ab, ob man das jüdische Dogma überhaupt mit einer Säure vergleichen kann. Denn, hat man sich einmal auf die Bewertungsfrage eingelassen, hat man die Kennzeichnung schon akzeptiert. Ein bevorzugt aufgeführtes Tier ist erwartungsgemäß der Wurm (Gl 87; 287; 372). Chamberlain instrumentalisiert ihn als anatomisches Anschauungsobjekt im Sinne der Evolutionstheorie, als Inbegriff der Hilflosigkeit,88 vor allem aber in seiner in der älteren Sprache gängigen Übertragung als Drachengestalt, damit doppelt übertragen als Inbegriff des mystisch Monströsen und folglich des zu Bekämpfenden. Der Lindwurm, den Siegfried im deutschen Nationalepos, den Nibelungen, getötet hat, bildet den Hintergrund. Gl 372: Durch diese Geschichtslüge wird uns die vernichtende Wirkung jener nationlosen Zeit verhüllt, und aus dem Erretter, aus dem Töter des nächtlichen Wurms ein Zerstörer gemacht.
Der Drachentöter Siegfried steht für alle Germanen, die in Chamberlains Geschichtsbildnis eben keine Barbaren und Zerstörer, sondern die Retter vor dem mit dem Drachen symbolisierten Chaos gewesen seien. Doch mit Wurm kann auch der heimlich nagende, geradezu hinterhältige Holzwurm gemeint sein, der von innen aushöhlt und zerstört, ohne dass man es merkt oder ihn aufhalten könnte. Kriegsaufsätze II / Dt. Friede 90f.: Gewappnet, gepanzert, ebenso fehlerlos im Staate wie im Heere organisiert, Jedem in Kunst, Wissenschaft, Technik, Industrie, Handel, Finanz, kurz überall überlegen, der Welt Lehrer, […] so wird Deutschland, nach allen Richtungen seine Wirksamkeit ausstrahlend, dastehen müssen, durch innere Überlegenheit die Welt erobernd; wenn nicht – weist etwa die Rüstung einen Sprung, nagt an der reinen germanischen Kraft, wie bisher, ein ekler Wurm – dann unterliegt Deutschland.
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Br II, 137f. (An Kaiser Wilhelm: Wien, 15. November 1901): "bei den anderen Germanen (ich denke namentlich an England) hat schon seit lange eine Entzweiung begonnen, dank welcher die Sprache nach und nach stumm wird (das heißt ein bloßes Medium für die praktische Verständigung, nicht ein Element, aus welchem neue Gebilde geprägt werden könnten) und die Seele infolgedessen nach und nach ihre Schwingen einbüßt und sich nur mehr wie ein Wurm auf dem Bauche weiterschleppt."
308 Ideologiewortschatz
Wie der Holzwurm mit dem Gift der Schlange und indirekt mit dieser selbst verbunden werden kann, zeigt folgender Beleg. PI 30: weil außerdem dieses verderbliche Ideal Denken und Empfinden des sonst so klugen Franzosen – das, was er mit einem schlechten, [30] dem amerikanischen Englisch entnommenen Wort "la mentalité" nennt – ganz und gar durchfressen hat, wie der Wurm das Holz, so daß kein Arzt sie heilen und kein Ingenieur sie neu instand setzen kann. Inzwischen hat das Gift dieser drei Worte von Land zu Land weitergewirkt: unter unseren Augen geht Italien daran zu Grunde.
Unter Ausnutzung der atavistischen Angst des Menschen vor diesem Tier und der biblisch-religiösen Symbolwelt (Worte Christi 13; 38ff.; Gl 724; vgl. Hl. Schrift: Lukas 10, 19) erhebt Chamberlain die Schlange einerseits zum Inbegriff der Gefahr (Gl 461) und des Verderbens (Lebenswege 369; 38789) und andererseits zum Prinzip des Bösen (Gl 272). Das eigentlich Interessante aber am Umgang mit der Schlange ist nicht, dass sie das Symboltier des Bösen ist und dass sie beim Sündenfall nach gängiger Interpretation ihren ersten großen Auftritt als Inkarnation des Teufels hatte, sondern dass das Erkennen des Teufels hinter der Metapher zum Schibboleth wird zwischen religionsfernem Materialismus (Gl 475) und "echter" Religionsfähigkeit. Das Verständnis der Geschichte vom Sündenfall als christlicher Metapher wird zum Kriterium für tiefes Verständnis (s. u.), tiefe Ideen, Phantasie, moralische Mythologie (Gl 672, s. u.). Gl 475: Von all den tiefen Ideen […] merkten die Semiten gar nichts, so rein gar nichts, dass die Juden z. B. die Vorstellung eines bösen Geistes, dem guten entgegengesetzt, erst während der babylonischen Gefangenschaft durch Zoroaster kennen lernten; bis dahin hatten sie in der Schlange ihrer Bibel eben lediglich eine Schlange erblickt! Was sage ich, sie hätten keine Vorstellung eines bösen Prinzips gehabt? [In der Anm. dazu:] Wie tief im Organismus der Semiten diese Unfähigkeit begründet liegt, ersehen wir daraus, dass […] [Darmesteter] schreiben konnte: "Die biblische Kosmogonie, aus fremder Quelle hastig entlehnt, sowie alle ihre Erzählungen von Äpfeln und Schlangen, über welche die Geschlechter der Christen schlaflose Nächte verbrachten, haben unseren israelitischen Doktoren niemals die geringste Qual verursacht, noch ihr Denken beschäftigt." […]; und so dürfen wir wohl lächeln, wenn er uns, nachdem er die Äpfel abgethan hat, belehrt, das Kreuz sei schon "verfault" und das Christentum eine "abortierte" Religion. Doch die gähnende Kluft reisst sich tief auf vor unseren Augen bei dem Anblick so bodenlosen Unverstandes!
Hier führt religiöser Antijudaismus und intellektueller Hochmut dazu, den Semiten kognitive Inkompetenz, Phantasielosigkeit, bezeichnet als bodenloser Unverstand, zu unterstellen und ihnen auf dem Gebiet der Religion jedes _____________ 89
Lebenswege 369: "Der Aberglaube gleicht einer Schlange, welche die Religion ringelnd umschlingt: man muß ihr den Kopf zertreten, ohne jene zu verwunden, die sonst von ihr vergiftet und verschlungen wird". Vgl. auch: ebd. 387.
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über Äpfel und Schlangen als Alltagskonkreta hinausgehende metaphorische Verständnis, Phantasie und Tiefe, ja selbst die Verständnisfähigkeit abzusprechen. Spiegelbildlich zeigt sich zudem, dass ein zentraler Gedanke von Chamberlains Religionsauffassung die Erlösungslehre ist. Am Bild der Schlange, die sowohl für den Sündenfall wie für die verheißene Erlösung stehen kann, da Christus ihr in der Heilstat den Kopf zertreten wird, lässt sich zeigen, wie Chamberlain Religion (in seinem Sinne verstanden), Antijudaismus, Rassismus und Zukunftsutopie miteinander verbindet. Gl 672: Der Jude, wie Professor Darmesteter uns versicherte, "hat sich niemals über die Geschichte von dem Apfel und der Schlange den Kopf zerbrochen"; für sein phantasieloses Hirn hatte sie keinen Sinn; dem Griechen dagegen, und später dem Germanen, war sie sofort als Ausgangspunkt der ganzen im Buche Genesis niedergelegten moralischen Mythologie des Menschenwesens aufgegangen. Darum konnten diese nicht umhin, "sich den Kopf darüber zu zerbrechen". Verwarfen sie gleich den Juden den Sündenfall ganz und gar, so zerstörten sie zugleich den Glauben an die göttliche Gnade, und damit schwand die Vorstellung der Erlösung, kurz, Religion in unserem indoeuropäischen Sinne war vernichtet, und es blieb lediglich jüdischer Rationalismus übrig – ohne die Kraft und das ideale Element jüdischer Nationaltradition und Blutsgemeinschaft.
Das Stereotyp von einem "jüdischen Materialismus" reicht also nicht nur bis in die Erkenntnistheorie hinein, es wird selbst zur Ursache für das unterstellte Unvermögen erklärt, Metaphern als Metaphern zu erkennen, damit unter die Oberfläche zu sehen und tiefere Wahrheiten zu entdecken. Der Rassismus Chamberlain'scher Prägung, der bislang die Kulturunfähigkeit der Juden zum Thema hatte, zeigt sich hier, auch dies übrigens wieder in der Tradition Wagners, von seiner spezifisch religiösen Seite. Der "ewige Ahasver" kann schon deswegen nicht erlöst werden, weil er seine Erlösungsnotwendigkeit gar nicht erkannt hat, aufgrund seiner rassischen Dispositionen gar nicht verstehen kann. Die Forderung nach metaphorischer Wahrheitserkenntnis, wie sie von Chamberlain erhoben wird, ist nichts anderes als das Postulieren von Wahrheiten. Erkenntnisvoraussetzungen zu deklarieren, heißt für ihn, andere von der eigenen Erkenntnis in Kenntnis zu setzen und damit von anderen Erkenntnissen abzugrenzen. Das beste Mittel, anderen die eigenen Ideologeme als Erkenntnisse und Wahrheiten zu vermitteln, sieht er in folgender Schrittfolge: Erstens wird dem Gemeinten der Anschein des offensichtlich Sinnlich-Wahrnehmbaren gegeben und es als unbestreitbares Faktum hingestellt, zweitens wird es metaphorisch ins Kulturelle angehoben, drittens ist dies letztere nur demjenigen möglich, der über die entsprechenden Kompetenzen, Fähigkeiten, Natur-, Rasseanlagen verfügt. Indem man diese Schrittfolge für sich selbst in Anspruch nimmt, wird dem anderen die Wahrnehmungsfähigkeit, die metaphorische Kompetenz (es ist die Fähigkeit zum Witz im Sinne der Aufklärung) und die Religions-
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fähigkeit abgesprochen. Diese beiden Komponenten der Diskreditierung des Gegners, Inanspruchnahme des Wahrheitsbesitzes bei gleichzeitiger Erniedrigung des Kontrahenten, liegen dicht beieinander. Sie führen zur prinzipiellen Frage nach den Voraussetzungen für Erkenntnis. Entsprechend wichtig ist der Blick auf die von Chamberlain gebrauchte Sinnesmetaphorik.
3. 2. 4. Sinnesmetaphorik und Weltanschauung Das Sehen als wichtigste Möglichkeit des Wahrnehmens spielt eine herausragende Rolle in der Philosophie des gesamten 18. und 19. Jahrhunderts. Es wird als Metapher für wahre Erkenntnis aber schon in der Bibel verwendet, findet sich bei Platon als "Auge der Seele"90, wird durch die "mystische Schau" nach innen zum Kernprinzip der deutschen Mystiker und erfährt als das nach "innen gerichtete Auge" Kants und als das "innere Auge" bei Goethe seine klassischen Höhepunkte; in der Romantik ist die Metaphorik mit 'Auge' ohnehin verbreitet, z. B. als deutsches Auge bei Fichte. Das Beobachten als konkretes Hinsehen führt wissenschaftsgeschichtlich außerdem über den Empirismus hin zum modernen Behaviorismus und wird erst durch den Konstruktivismus wieder relativiert. Die Grenze zwischen sinnlichem Sehen in all seinen Ausprägungen vom flüchtigen Hinschauen über das langfristige und methodisch kontrollierte optische Beobachten, von da über das tiefsinnige Betrachten hin zum wissenschaftlichen Erkennen ist dabei ebenso fließend wie die exophorische Gegenständlichkeit der betrachteten Objekte. Das bewusste Spiel mit naturwissenschaftlicher, auf Beobachtung beruhender Wahrheit und spekulativem Geist, zwischen dem Konkret-Beobachtbaren und dem Abstrakt-Unsichtbaren spiegelt sich häufig in den Belegen Chamberlains: Gl 31: Selig diejenigen, welche Augen zum Sehen und Ohren zum Hören haben! Erfüllt uns das Studium des Gesteines, des Mooses, des mikroskopischen Infusoriums mit staunender Bewunderung, mit welcher Ehrfurcht müssen wir da nicht zu jenem höchsten Phänomen hinaufblicken, welches die Natur uns darbietet, zum Genie!
Besonders gern verknüpft Chamberlain die Fachsprache der Naturwissenschaft mit Bibelallusionen. Dies soll besagen, dass er zwar mit dem Mikroskop auf die Dinge sieht, auch die hohe Rolle rationaler Deduktion im Sinne der Aufklärung zumindest verbal betont und seiner Betrachtung damit den Anschein naturwissenschaftlicher Methodik gibt, dass er die Bewertung und Verbindung der Fakten aber letztlich immer zu einer Fra_____________ 90
RGG 4, 357f.
311 Chamberlains Ideologiemetaphern
ge des in seinem Sinne verstandenen 'Glaubens' als einzig wahrer Anschauung macht. "Wahrheit" ist damit die Funktion einer Anschauung, die den naturwissenschaftlich-empirischen Raum hinter sich lässt, die bereits Vorannahmen macht, die mit dem rationalistischen Wissenschaftsparadigma nicht vereinbar sind. Alle Erkenntnis ist für ihn insofern (nicht unter anderen Gesichtspunkten) gnostisch. Die Gnosis wird in der RGG wie folgt charakterisiert: RGG 2, 1648: Bei der Gnosis (Erkenntnis; gnôsis) ist das Erkennen nicht nur ein gedankliches Erfassen im Sinne der Erkenntnistheorie, sondern zugleich ein Schauen oder Einswerden mit dem Gegenstand der Erkenntnis. Dieser ist Gott (Theosophie) und bzw. oder die von ihm ausgehenden (mit ihm identischen) Zwecke und Gesetze der Welt und des menschlichen Lebens (Wahrheit). Sie zu wissen, bedeutet Sein und Handeln in ihnen und damit letztlich, in Abstimmung auf das vorausgesetzte Welt- und Menschenbild, Erlösung.
Dieses kritisch beschreibend gemeinte Zitat könnte bis in die Einzelaussagen hinein einer der Schriften von Chamberlain entnommen sein und dann wie folgt gelesen werden: Es verkündet den Aufstand der Gnosis gegen jede Ausprägung rationalistischer Wissenschaft. Grundlage des Aufstandes sind zwei Arten des Erkennens: einmal "ein gedankliches Erfassen im Sinne der Erkenntnistheorie", zum anderen "ein Schauen oder Einswerden" mit dem Erkenntnisgegenstand. Erstere Erkenntnisart, das ist die seit der Aufklärung herrschende, wird mittels nicht nur in den Text eingeführt, damit gegenüber der zweiten abgestuft, auch wenn diese Abstufung mittels sondern zugleich dann wieder in Richtung auf ein gleichwertiges Nebeneinander relativiert wird. Der Gegenstand der Erkenntnis wird als Gott bezeichnet. Selbst wenn man diesen Ausdruck als verstiegene, eher aufmerksamkeitsheischende als irgendwie aussagehaltige Metapher abtun würde, dann wird 'Gott' doch mit der Substantivgruppe "die von ihm ausgehenden (mit ihm identischen) Zwecke und Gesetze der Welt und des menschlichen Lebens (Wahrheit)" näher erläutert. Die Konjunktion und bzw. oder lässt den Leser über den genaueren logischen Bezug zwischen dem einen und dem anderen im Dunkeln. Viel entscheidender ist denn auch die Gleichung Erkenntnisgegenstand = Gott = Zweck der Welt = Zweck des Lebens = Wahrheit, wobei diese Gleichungsgrößen noch mit allen möglichen Prädikationen, darunter der Identität von Gott und Weltzweck versehen werden. Wenn dies alles nicht als absolut unsinnig oder – was auf dasselbe hinausläuft – als tiefsinnig überverständlich abgetan werden soll, dann muss man es auf einen Aussagenenner bringen, der in die philosophiegeschichtliche Situation der Zeit passt und auch von Chamberlain so formuliert worden sein könnte. Dieser Nenner lautet: Vergesst das gedankliche Erfassen von Gegenständen im Sinne der Erkenntnistheorie; schaut vielmehr (und zwar nicht "hin", das wäre das erkenntnis-
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kritisch nutzbare Verfahren, sondern schaut "schlechthin, eigentlich, tief, innerlich"), werdet eins mit 'Gott', denn das ist die Welt und der Weltzweck. Wenn das Verb erkennen an dieser Stelle des Textes durch wissen ersetzt wird, dann passt das ins Programm: Wissen bedeutet nicht nur Sein, sondern auch Handeln und letztlich Erlösung. Zusammengefasst heißt das: All dieses Erkennen nach den Regeln des Rationalismus ist leeres, handlungsirrelevantes akademisches Treiben; haltet Euch statt dessen im Sinne einer praktikablen Lebensphilosophie an Zwecke, gleich ob diese nun Gott oder Gegenstand oder Wahrheit heißen, und handelt nach diesen Zwecken; das ist Eure, im übrigen mit dem Menschen- und Weltbild abgestimmte, 'Erlösung'. Es versteht sich von selbst, dass Chamberlain für diese Abstimmung weitere Hilfen zu geben wüsste. Das zentrale sprachliche Ausdrucksfeld für solche Auffassungen kann nach dem Gesagten nicht aus der Erkenntnisphilosophie stammen, sondern muss aus anderen textgeschichtlichen Quellen gespeist werden. Dabei bietet sich der Sinnbezirk des 'Sehens', z. B. des 'Anschauens', der 'Sichtbarkeit' an, entsprechend auch der 'Unsichtbarkeit' und 'Blindheit'. Dass es eine richtige Anschauung gibt, ist für Chamberlain ebenso selbstverständlich wie die Auffassung, dass er selbst über sie verfügt. Entsprechend dem bereits Beschriebenen basiert richtige Anschauung auf Kunst und Dichtung, nicht auf Logik oder Vernunft.91 Künstlerische Vorstellungskraft ist die Voraussetzung dafür, dass die Welt in ihrem Innersten erkannt wird, was mit Gelehrtenwissenschaft nichts zu tun hat. Bezeichnenderweise stellt Chamberlain in seinen Betrachtungen über die Frage nach der richtigen Anschauung, um die es im Folgenden gehen wird, dem Vernunftphilosophen Kant den Dichterfürsten Goethe gegenüber. Die Autorität Kants, den Chamberlain denn auch als den Göttlichsten seit Plato bezeichnet92, darf dabei nicht in Frage gestellt werden. Chamberlain hat hier offensichtlich ein schwerwiegendes Bewertungs- und Vermittlungsproblem. Er versucht es dadurch zu lösen, dass er Kants Vernunft_____________ 91
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Lebenswege 405: "Ohne Frage gehört Faust zu jenen Büchern, "die mehr als Bücher sind"; […] weil die Phantasie aufgefordert wird, sich mit allen Sinnes- und Verstandeskräften der angeregten Vorstellungen zu bemächtigen und in eine Welt sich zu erheben, wo weder Buch noch Bühne mehr gilt. "Wenn dies Ding den Leser nicht fortgesetzt nötigt, sich über sich selber hinaus zumuten, so ist es nichts mehr", ruft Goethe aus und bekennt damit, von seinem Leser eine schöpferische Leistung zu erwarten, derjenigen des Dichters nahe verwandt. […] Dem Buche wird hier, wie Sie sehen, geradezu Zaubergewalt zuge-traut: jegliches Bild, das der kühnsten Phantasie entsteigt, soll es in aller Farbenpracht oder in jedem schauerlichen Dunkel vor das innere Auge hervorrufen, nicht weniger Sphärenmusik, Chöre der Meerwundertiere, singende Tempelsäulen und noch anderes von unserem leiblichen Ohre nie Vernommenes. Der Verstand aber soll so gelenkt werden, daß er die Ketten der Logik willig abwirft, um allen Geboten des Dichters fraglos begeistert zu folgen." Chamberlain, Goethe, Vorwort 10.
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philosophie93 nicht nur nicht offen kritisiert, sondern verbal voll anerkennt, ihm neben seiner diesbezüglichen Leistung aber in einer Art von Flucht nach vorne eine zweite, intuitive, metaphysisch schauende Seite zuschreibt, die von den Kantinterpreten nur noch nicht richtig erkannt worden sei und deshalb gleichsam auf ihn als den Wissenden gewartet hat. Während man Wendungen dieser Art noch als Beispiel für eine übliche Strategie von Autoren selbst wissenschaftlicher Texte klassifizieren kann, lässt die kritische Beobachtung der von Chamberlain gebrauchten Beschreibungsmetaphorik an seiner Verlegenheit hinsichtlich Kants keinen Zweifel. Die metaphorischen Überhöhungen des folgenden Textes demonstrieren dies: Chamberlain, Kant Vorrede 5: Der eine schreibt: "Kant's Auge war wie vom himmlischen Aether gebildet, aus welchem der tiefe Geistesblick, dessen Feuerstrahl durch ein leichtes Gewölk etwas gedämpft wurde, sichtbar hervorleuchtete: es ist unmöglich, den bezaubernden Anblick zu beschreiben"; und ein anderer, ein durchaus nüchtern berichtender Arzt, sagt: "Ich lasse mich hier nicht über den Geist und Sinn seines schönen, grossen, blauen Auges aus. Zeuge einer reinen, inneren Klarheit, war es zugleich Ausdruck von Herzensgüte und Wohlwollen, […]." Dieses Auge nun – dieses aus himmlischem Äther gebildete Auge, das auch über die Worte, über die oft dunklen Worte Licht verbreitet und alles um sich erhellt – blickte mich an, als ich zum ersten Mal in einem Kantschen Buche blätterte. Wohl mag ich Kant's Worte manchmal nicht verstanden haben, sein Auge verstand ich immer; den Philosophen verehrte ich, doch der Mensch stand mir näher, jener Weise, in dessen Auge eine Weltanschauung sich spiegelt...
Selbst wenn man einräumt, dass dies im Vorwort steht, so fällt doch auf, dass der Grad der Häufung und der Verstiegenheit dieser Metaphern das sonst übliche Niveau übertrifft. Offensichtlich taucht Chamberlain den Rationalismus Kants in ein Meer von ihm, genauer: von seinen Augen verbreiteten Lichtes. 'Licht' wird dabei aber nicht als aufklärerisches Licht, sondern als 'Feuerstrahl' des Rassegenies verstanden. Im übrigen liegt auf der Hand, dass Chamberlain Kant zur Vermittlung seiner 'Schau' nutzen kann. Kant hatte die Objektivität des Sehens als sinnlicher Voraussetzung zur Erkenntnis (so Chamberlain in: Kant 62) bekanntlich in Frage gestellt. Erst die Vernunft ist "das Vermögen, das das Erkennen objektiv gültig und das darauf bezogene Handeln moralisch richtig macht".94 Zwei Aussagen sind hier bedeutsam, zum einen, dass Kant den Glauben an die Objektivität der Sinne erschüttert habe, zum anderen, dass er die Vernunft zur Korrekturinstanz der Wahrnehmungen erhebt. _____________ 93
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Inwieweit Schellings Kritik am Kant'schen Vernunftoptimismus hier von Bedeutung ist, lässt sich schwer beurteilen, da Chamberlain zwar auf ihn verweist, vor allem in Bezug auf Goethe (Gl 1133), ihn aber als Schwärmer (Gl 1093) betitelt und letztlich ablehnt. Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie II, 167-170.
314 Ideologiewortschatz
Die Rezeption dieses Kantschen Postulats und seiner erkenntnistheoretischen Folgen ist für einen Laien unüberschaubar. Es kann deshalb im Folgenden auch gar nicht um Kants Erkenntnislehre gehen, sondern um deren Rezeption, Interpretation und "Weiterentwicklung", d. h. um die Verfälschungsgeschichte durch Chamberlain. Während diesem die erkenntniskritische Sicht des äußeren Sehens, so wie er sie versteht, argumentativ sehr gelegen kommt, weil er damit die Gültigkeit naturwissenschaftlicher Zusammenhänge in Frage stellen kann, ist die zentrale Stellung der Vernunft in Kants Philosophie, das Vernünfteln, die Ratiocination (wie er pejorisierend sagt), ganz und gar nicht in seinem Sinne nutzbar. Kant unterteilt die Vorstellungen in Anschauungen und Begriffe. Chamberlain greift diese Unterscheidung auf und behauptet nun im Sinne seiner Flucht nach vorne, dass gerade das "anschauliche Element", womit er ein intuitives, inneres Schauen meint, bei Kant in der Forschung nicht seiner Bedeutung entsprechend wahrgenommen worden sei. Sprachliche Basis seiner Argumentationen bilden die Metaphern aus dem Sinnbezirk des "Sehens". Chamberlain, Kant 79: Und ich kann mich nicht entbrechen, Sie schon jetzt darauf aufmerksam zu machen, dass fast alles Missverstehen Kant's darin wurzelt, dass man das anschauliche Element in seinem Denken unterschätzt, wenn nicht gar vollständig übersieht. Jene eigentümliche, hervorragende Vorstellungskraft, die wir für Kant's Geist bezeichnend fanden, ist zugleich die Charakteristik seiner Philosophie; alles in ihr ist Vorstellung. Wohl verschliesst dieser Mann die Augen gegen aussen, und daher haben die Bilder, die er anwendet, selten Glanz, wenn auch immer – wie Sie an dem des focus imaginarius soeben gesehen haben – viel Schärfe; doch ist seine Untersuchung des Innern trotzdem keine abstrakt logische Ratiocination – kein "Vernünfteln"' wie er es ein über das andere Mal voll Geringschätzung nennt, sondern ein wirkliches Schauen.
Es fällt in heutiger Sprache, erst recht in heutiger Fachsprache, schwer, den Inhalt dieses Textausschnittes wissenschaftlich klar oder gar deutlich zu beschreiben; die gerade verwendeten Umschreibungen des Typs intuitives, inneres Schauen sind selbstverständlich keineswegs befriedigend. In ähnlicher Situation muss sich Chamberlain hinsichtlich der in seiner Zeit vorhandenen rationalistischen Formulierungstraditionen nach Ausweis bestätigender Floskeln (vgl. wirklich in wirkliches Schauen) befunden haben. Es gab daneben aber die Redeweisen der 'lebens'orientierten Strömungen, deren Vertreter und Anhänger für das von Chamberlain entfachte metaphorische Feuerwerk um den Kern 'Sehen' durchaus empfänglich gewesen sein dürften. Dieses Feuerwerk sieht – bezogen auf das dargebotene Zitat – wie folgt aus: anschaulich, übersehen (lexikalisiert), Vorstellung (gleichsam 'vor Augen Gestelltes'), Auge, Bild, Glanz, focus imaginarius, sehen, Schärfe, Schauen, und dies alles im Gegensatz zu Denken, abstrakt, logisch, Ratiocination, Vernünfteln.
315 Chamberlains Ideologiemetaphern
Das Substantiv Anschauung (im Nahfeld des Zitates) wird später durch Erfahrung ersetzt. 'Erfahrung' sei der erste Schritt auf dem Weg zur 'Erkenntnis', der zweite wäre der 'Begriff', der dritte die 'Idee' (Chamberlain, Kant 78). Mit letzterer gelangt man bereits aus dem Kern rationalistischer Terminologie heraus; das Ziel ist das 'wirkliche Schauen'. Während Chamberlain Kants 'wirkliches Schauen' verteidigen und begründen zu müssen meint, kann er in Goethe den Schauenden leichter erkennen. Über Goethes Auge schreibt Chamberlain mehrere Seiten. Es wird zum Mittelpunkt von Goethes geistigem Leben, zum Organ der Wahrheit, das sogar in der Lage ist, das Gesehene in Fleisch und Blut und Knochen zu verwandeln (Kant 27). Goethe sei zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt95 und habe eine bewusste Ausbildung des Sehvermögens gehabt (ebd.). Sein Auge sei aktiv und schöpferisch, eben nicht bloß passiv (Kant 30) und Chamberlain fügt erklärend hinzu, dass wenn ich auch nur von dem Auge spreche, ich doch die ganze Sinnlichkeit mit einbezogen wissen will. Für den Dichter stehe die Idee am Anfang aller Erkenntnis. Der Hinweis auf Schillers Ideenlehre (Chamberlain, Kant 65) liegt nahe, und von Goethe kann man, ohne dass Widerspruch zu erwarten wäre, vermitteln, dass er zuerst die Idee von der Metamorphose und die Idee vom Zwischenkieferknochen gehabt habe, dass deren Entdeckung im naturwissenschaftlichen Gegenstandsbereich also erst in der zeitlichen und erkenntnislogischen Folge der Idee gelegen habe (Chamberlain, Kant 89): Intensives Erschauen, nicht genaues Erfahren ist seine Gabe und sein Ziel. (ebd. 86). Selbstverständlich ist auch dies im Hinblick auf die hohe Bedeutung der Erfahrung bei Goethe bestreitbar. Das 'Erschauen' ist das Sehen mit dem inneren Auge; es gehört der Welt der Introspektion bzw. Intuition an, nicht derjenigen wissenschaftsmethodisch geleiteter Wahrnehmung. Die so konstituierte innere Welt enthebt Chamberlain der rationalen Regresspflicht. Dass das Genie Goethe auch in der Welt der Erfahrung und der exakten Wissenschaft erfolgreich ist, ist für seine Gedankenführung unmittelbar überzeugend; die Frage ist nur, was 'Erfahrung' genau ist und ob sie am Anfang des Erkenntnisprozesses steht oder in der Folge einer Idee. Immer wieder betont Chamberlain, dass Goethes Studien, ausgehend von der Welt des inneren Auges96, der Ideen (als vorgeordneter Größe) ihn zu bahnbrechenden Entdeckungen in der äußeren Welt (als nachgeordneter Größe) geführt hätten. Und so werden dem Biologen Goethes Naturbetrachtungen zum Inbegriff des richtigen Schauens.
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Goethe, zitiert nach Chamberlain, Kant 28. Chamberlain, Kant 87.
316 Ideologiewortschatz
Chamberlain, Kant 68: So verhält es sich mit Goethe's Idee von der Metamorphose. Eine wissenschaftliche Tatsache wird durch sie nicht ausgesprochen, ebensowenig eine philosophische Erkenntnis; dennoch besitzt sie unvergänglichen Wert, und zwar darum, weil sie auf der mathematisch genauen Scheidelinie zwischen Erfahrung und Idee, zwischen Analyse und Synthese sich bewegt. Wir Menschen haben nicht bloss zwei Augen nebeneinander, wir haben auch zwei Augen hintereinander; es trifft sich aber sehr selten, dass die Sehachsen dieser beiden Augen genau übereinstimmen, so dass der Strahl, der von aussen kommt, direkt durch das äussere auf das innere Auge fällt und somit die Vernunft in unmittelbare Berührung mit der empirischen Welt stellt. Nur wenn die zwei Hälften unserer Natur sich genau auf der Scheidelinie begegnen, findet es statt, und zwar auch nur auf blitzartige Momente, da, sobald das eine oder das andere Auge – das innere oder das äussere – das erblickte Bild genauer fixieren will, es sich sofort in die betreffende Richtung verschiebt.
Verweilt man bei diesem Beleg ein wenig länger, so fällt wieder auf, wie sich naturwissenschaftlicher Zugriff und philosophisch-metaphysische Fiktion treffen. Ausdrücke wie Sehachse, Analyse, Synthese, mathematisch und empirisch suggerieren in Chamberlains Beschreibungssprache Objektivität und Beweisbarkeit, die metaphorische Vorstellung von 'Augen hinter den Augen' durchbricht die Rationalität. Die Scheidelinie zwischen Erfahrung und Idee oder zwischen wissenschaftlichen Tatsachen und philosophischen Erkenntnissen, wobei das Wort Erkenntnis wiederum für Faktizität spricht, wird unter anderem durch die Sehmetaphorik aufgebrochen. Der Leser jedenfalls bekommt den Eindruck, dass es ein inneres Augenpaar gibt, und dass erst dieses Augenpaar zur wahren Erkenntnis befähigt. Dem widerspricht allerdings die Annahme zweier erkenntnistheoretischer Zugänge; bei dem einen steht die sinnliche Erfahrung an erster Stelle, sie steht für eine exakte Wissenschaft, bei dem anderen die Idee als kreativer Akt des Menschen; das logische Verhältnis bleibt im Dunkel der Metaphorik stecken. Erst das Zusammenspiel beider, hier als 'vier Augen' gekennzeichnet, macht für Chamberlain wahre Erkenntnis aus. Man könnte insofern auch von einer analogia entis des inneren und äußeren Sehens sprechen; ersteres ist auf das zweite, dieses auf das erstere hin angelegt; das hat Züge scholastischer Theologie und Philosophie; mit Erkenntniskritik im fachphilosophischen Sinne hat es nichts zu tun, mag aber trotzdem auf den zeitgenössischen Leser beeindruckend gewirkt haben. Ganz im Sinne seines Goetheverständnisses, für den das 'innere Auge' die Art der Anschauung bestimmt, die innere Wesensschau als Voraussetzung für Gestaltung gilt, aber auch in der Tradition der Romantik, in der die anschauende Erkenntnis […] der der ahnungsvollen Schau [weicht]97, hebt Chamberlain die Trennung von Natur und Geist, Vernunft und Sinnlichkeit zugunsten einer organisch-ganzheitlichen Vorstellung auf, bei der die _____________ 97
Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik 1971, 602.
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innere Schau das Übergewicht bekommt. Dabei spannt er den Bogen von mystischem Insichgehen bis hin zur lebensphilosophischen Verachtung theoretischen Wissens. GL 60: Wahre Wissenschaft, d. h. eine nicht bloss messende, registrierende, sondern eine anschauende, erkennende, entsteht also, nach Schiller, unter dem unmittelbaren Einfluss des künstlerischen Strebens der Menschen.
Die weitaus wichtigste Metapher, die Chamberlain in diesem Zusammenhang aus dem Bereich der Sinnes-Wahrnehmung immer wieder heranzieht, ist Weltanschauung. An ihr könnte man nicht nur seine Ideologie, sondern auch seine gesamte Erkenntnisargumentation nachzeichnen. Chamberlain verbindet schon bei der Definition von Weltanschauung etymologische mit weltanschaulichen Argumenten, um die tatsächlichen Übertragungsdimensionen des Wortes hervortreten zu lassen und um zusätzliche ideologische ins Blickfeld zu rücken. Die Grenzen zwischen nachvollziehbarer Motivation des Ausdrucks und übertragener Bedeutung zerfließen dabei genauso wie die zwischen Wissenschaftlichkeit und Religion, den zwei wichtigsten Pfeilern von Weltanschauung: Gl 877/8: WELTANSCHAUUNG habe ich statt Philosophie gesetzt, denn dieses griechische "Weisheit liebend" ist eine traurig blasse und kalte Vokabel, und gerade hier handelt es sich um Farbe und Glut. Weisheit! Was ist Weisheit? […] Dagegen ist die deutsche Sprache hier, wie so oft, unendlich tief; […] "Welt" heisst ursprünglich nicht die Erde, nicht der Kosmos, sondern die Menschheit. Streift auch das Auge durch den Raum, folgt ihm der Gedanke wie jene Elfen, die auf Strahlen reitend jede Entfernung mühelos zurücklegen: der Mensch kann doch nur sich selbst erkennen, seine Weisheit wird immer Menschenweisheit sein, seine Weltanschauung, wie makrokosmisch sie sich auch im Wahne des Allumfassens ausdehnen mag, wird immer nur das mikrokosmische Bild in dem Gehirn eines einzelnen Menschen sein. Das erste Glied dieses Wortes "Weltanschauung" weist uns also gebieterisch auf unsere Menschennatur und auf ihre Grenzen hin. Von einer absoluten "Weisheit" ([…]), von irgend einem noch so geringfügigen absoluten Wissen kann nicht die Rede sein, sondern nur von Menschenwissen, […]. Und nun, was ist dieses Menschenwissen? Darauf antwortet das deutsche Wort: um den Namen "Wissen" zu verdienen, muss es Anschauung sein. Wie Arthur Schopenhauer sagt: "Wirklich liegt alle Wahrheit und alle Weisheit zuletzt in der Anschauung." Und weil dem so ist, kommt es für den verhältnismässigen Wert einer Weltanschauung mehr auf die Sehkraft als auf die abstrakte Denkkraft an, mehr auf die Richtigkeit der Perspektive, auf die Lebhaftigkeit des Bildes, auf dessen KÜNSTLERISCHE Eigenschaften [...], als auf die Menge des Geschauten. Der Unterschied zwischen dem Angeschauten und dem Gewussten gleicht dem zwischen Rembrandt‘s "Landschaft mit den drei Bäumen" und einer von dem selben Standpunkt aufgenommenen Photographie. Hiermit ist aber die Weisheit, die in dem Worte Weltanschauung liegt, noch nicht erschöpft; denn die Sanskritwurzel des Wortes "schauen" bedeutet "dichten": wie das Beispiel mit Rembrandt zeigt, ist das Schauen, weit entfernt ein passives Aufnehmen von Eindrücken zu sein, die aktivste Bethätigung der Persönlichkeit; in
318 Ideologiewortschatz
der Anschauung ist Jeder notgedrungen Dichter, sonst "schaut" er gar nichts, sondern spiegelt mechanisch das Gesehene wieder wie ein Tier. Darum ist die ursprüngliche Bedeutung des (mit schauen verwandten) Wortes schön nicht "hübsch", sondern "deutlich zu sehen, hell beleuchtet". Gerade diese Deutlichkeit ist das Werk des beschauenden Subjektes; die Natur ist an und für sich nicht deutlich, vielmehr bleibt sie uns zunächst, wie Faust klagt, "edel-stumm"; ebensowenig wird das Bild in unserem Hirn von aussen beleuchtet: um es genau zu erblicken, muss innerlich eine helle Fackel angezündet werden. Schönheit ist die Zugabe des Menschen: durch sie wird aus Natur Kunst, und durch sie wird aus Chaos Anschauung.
Läst sich aus dem ersten Teil des Zitates Kritik am Aufklärer Kant herauslesen, so wird im zweiten wohl auf den Dichter Goethe angespielt, was nicht erst mit dem Hinweis auf seine berühmte Faustdichtung deutlich wird. Wieder steht der analytische Geist neben dem schöpferischen, wobei die Wertungen sich aus Farbe, Glut, Strahl, lebhaft, künstlerisch, aktiv, hell gegenüber abstrakt, Menge, mechanisch, passiv ergeben, im übrigen auch in den von mir verwendeten beschreibungssprachlichen Ausdrücken analytisch versus schöpferisch durchscheinen. Chamberlains Argumentation ist fern von jedem rationalen Abwägen. Farbe und Glut, Elfen und Strahlen, Richtigkeit der Perspektive und Lebendigkeit des Bildes stehen der abstrakten Denkkraft, wie sie in Parallele zur mechanischen Abbildlichkeit der Photographie gesetzt wird, gegenüber. 'Erkenntnis' ist bei ihm immer wieder aktives Erleben und Erfahren, Betätigung, Werk, Dichtung, kein aus Gelehrtenbibliotheken stammendes Wissen, kein Produkt der 'Denkkraft'. Dichtung und Kunst haben als metaphysische Möglichkeit des Menschen die Vernunfterkenntnis wenn auch nicht obsolet gemacht, so doch in eine nachgeordnete Position, nämlich die einer Funktion von Kunst gebracht. Die Lichtmetaphorik im Beleg steht entsprechend nicht mehr für das Aufleuchten der Göttin Vernunft, sondern für eine innere Erleuchtung aufgrund der Sehkraft, für eine optisch gedachte, sich im Dichten niederschlagende Anschauung des genialen, auserlesenen Menschen. Diese Ästhetik des Schauens stellt die Morgendämmerung der germanischen Weltanschauung dar. Gl 1063: Hier führt ein schmaler Steg auf höchsten Höhen – nur auserlesenen Geistern zugänglich – hinüber zu jener der mystischen nahe verwandten künstlerischen Anschauung, deren Bedeutung Goethe […] uns erschloss. Seine Entdeckung des Zwischenknochens des Oberkiefers fand im Jahre 1784 statt, die Metamorphose der Pflanzen erschien 1790, die Einleitung in die vergleichende Anatomie 1795. Hier war das "Schwärmen", das Luther‘s Zorn geweckt, und das "Rasen mit Vernunft und Empfindung", das den milden Kant so ausser Rand und Band gebracht hatte, zu einem Schauen geklärt; auf eine von Irrlichtern beleuchtete Nacht folgte die Dämmerung eines neuen Tages, und der Genius der neuen germanischen Weltanschauung durfte seiner vergleichenden Anatomie das herrliche Gedicht beidrucken, das mit den Worten beginnt: Wagt ihr, also berei-
319 Chamberlains Ideologiemetaphern
tet, die letzte Stufe zu steigen / Dieses Gipfels, so reicht mir die Hand und öffnet den freien / Blick ins weite Feld der Natur . . . .
Wenn man eine Liste der bisher vorgekommenen Erkenntnismetaphern erstellt, so erscheinen auf dieser folgende Wörter und Wendungen: Aus dem Wortbildungsfeld mit -schau- sind es: schauen (oft substantiviert) / Weltanschauung98 / Anschauung / das Angeschaute / das Geschaute / das beschauende Subjekt; in anderen Belegen: etw. (die Zukunft hell) erschauen (Gl 632) / Weltanschauer (Kant 20) / die Umschau (s. u., Wille / Das eine und das andere Deutschland 29ff.) / das Mitaugenschauen (ebd.) / innere Beschaulichkeit (AW 72). Als bedeutungsverwandt kommen hinzu: sehen / erblicken / erkennen (dies versus passives Aufnehmen von Eindrücken), vor allem dichten (denn: schauen bedeutet dichten). 'Schauen' ist ein konstruktiver Akt, kein rezeptiver, oder wie er es charakterisiert, kein passives Aufnehmen von Eindrücken, kein mechanisches Widerspiegeln des Gesehenen. Das Schauen setzt Sehkraft voraus, eine Kompetenz, die in obigem Beleg dem auserlesenen Geist, der die germanische Weltanschauung vertritt, zugesprochen wird. Es geht ihm nicht um eine historisch vorweggenommene Spielart des Konstruktivismus, sondern um ein rassenapriorisch an ein Gentilgenie gebundenes, insofern idealistisches Erkenntnisprinzip, das in einer engen Verbindung von sinnlichem Wahrnehmen durch Auge und Ohr und einem sinnlich gedachten intuitiven Wahrnehmen mithilfe von Herz, Seele, Genie begründet liegt, wie es zum Beispiel Meister Eckhart zugeschrieben werden könnte:99 Gl 1118: Die mechanisch deutbare Natur ist schlecht, dumm und gefühllos; Tugend, Genialität und Güte sind lediglich der mechanisch nicht deutbaren Natur zu eigen. Meister Eckhart wusste das wohl und sprach darum die denkwürdigen Worte: "Sage ich, Gott ist gut, es ist nicht wahr, vielmehr: ich bin gut, Gott ist nicht gut. Spreche ich auch, Gott ist weise, es ist nicht wahr: ich bin weiser denn er." Echte Naturwissenschaft konnte über die Richtigkeit dieses Urteils keinen
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In seinem Buch über Kant, das ja nur zu einem geringen Teil wirklich über den Philosophen geht, ist es Chamberlains Anliegen, die besondere Art des Schauens von Goethe, Leonardo da Vinci, René Descartes, Giordano Bruno und Plato im Vergleich zu Kant zu analysieren. Diese Männer sind für ihn Weltanschauer (Chamberlain, Kant 20), eine Wortbildung, die er analog zu Weltanschauung für Philosoph gebildet hat. Ebd. 19f: "Darum habe ich schon früher vorgeschlagen, man solle den Reichtum der deutschen Sprache benützen, um zwischen »Philosophie« und »Weltanschauung« zu unterscheiden. Die aus dem Griechischen entlehnte Vokabel würde […] eine gelehrte Disziplin, das deutsche Wort eine mit Religion und Mythologie verwandte, allgemein menschliche, doch nach sehr verschiedenen Richtungen entwickelte Anlage bedeuten, mit weitverzweigten Wurzeln, die aus Kunst und Naturwissenschaft, aus Philosophie und Mathematik Nahrung aufnehmen, eine Anlage, die vornehmlich darauf ausgeht, die Harmonie zwischen dem äusseren und dem inneren Auge oder — wenn dieser Tropus Ihnen zu kühn dünkt — zwischen Schauen, Denken und Handeln zu bewirken." Vgl. zu Meister Eckart auch: Gl 1035; 1046.
320 Ideologiewortschatz
Zweifel übrig lassen. Religion müssen wir in der mechanisch nicht deutbaren Natur suchen."
Zum Wortfeld der sinnlichen Wahrnehmung gehören neben den schon genannten Ausdrücken Phraseme wie: etw. vor aller Augen liegen (Gl 10); die Augen aufmachen (Kant 21); ihre Worte künden mehr als das blosse Ohr vernimmt (Gl 469), sich die Ohren gegen etw. verstopfen (Gl 224); sich beide Ohren zuhalten (Gl 703); jn. / etw. mit Blindheit schlagen (Gl 10); taub für etw. sein (für alle weltgeschichtlichen Betrachtungen) (Zuversicht 18); selbst den Blindesten und den Taubsten überzeugen (Gl XII); etw. erschauen und erhören können (AW 26); Man traut seinen Augen und Ohren nicht bei manchen Aufsätzen, die man liest, und Reden die man hört (IuM 22/23). Exemplarisch angedeutet soll noch auf frametypische, immer wieder gebrauchte Ausdrücke wie Perspektive (s. o.) oder Blick hingewiesen werden: richten wir zunächst den Blick hinauf zu der unvergleichlichsten Erscheinung aller Zeiten (Gl 224). Das mit dem 'Schauen' verbundene Sachfeld ist umfassend, verweist aber fast in allen seinen Ausdrucksvarianten metaphorisch auf Erkenntnis und Wahrheit. Eine Aussage über die Art der Erkenntnis ist immer auch eine Aussage über die Art der erkannten Wahrheit sowie die Art des Erkennenden. Diese Aussage würde lauten: Echte (nicht irgendeine mechanische) Wahrheit ist geschaute Wahrheit, was immer das auch sein mag. Die weiter gehende Frage, ob die enge Bindung dieses Wahrheitskonzeptes an das Gentilgenie des Germanen notwendig gewesen sei, kann unter logischem Aspekt nur negativ beantwortet werden. Chamberlain hätte ja auch ohne jeden rassistischen Anflug verkünden können, dass alle Menschen zwischen Nord- und Südpol die gleiche Wahrheitskompetenz besäßen und dann im Einzelfall die Qualität des Genius haben könnten. Da er dies nicht getan hat, da er die Wahrheitskompetenz entsprechend der für ihn ausgemachten Ungleichheit der Menschen also als besonders verteilt ansieht, verleiht er seiner 'Schau'-Metaphorik eine Reichweite, die über die Erkenntnistätigkeit hinaus in den Bereich der Erkenntnisträger greift. Nicht nur Erkennen ist 'Schauen', sondern das erkennende Genie ist als ontische Verlängerung der Natur in die Rasse und der Rasse in einzelne Rassenangehörige ein 'Schauender'. Die 'Schau'-Metaphorik unterwirft die unterschiedlichsten Seinsbereiche einer einheitlichen Metaphorik, bindet sie zu einer Seinsanalogie zusammen bzw. umgekehrt: die Seinsanalogie äußert sich in einheitlichen sprachlichen Fassungen. Erkenntniskompetenz als Besitz von Sehkraft im Unterschied zum Zustand von 'Erblindung' und analoger 'Vertaubung' dient zudem zur Beurteilung der Vergangenheit, zur Analyse der Gegenwart und zur Prägnostizierung der Zukunft. Immer wenn über das eine gesprochen wird, sind die beiden anderen Geschichtsstufen impliziert, und in jedem Falle geht es nicht nur um Analyse, sondern werden politische und ras-
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senbezügliche Handlungsnotwendigkeiten suggeriert. Damit engstens verbunden sind Äußerungen über die Rasse und das Rassengenie. Im einzelnen kommen zur Sprache: die parlamentarische Regierung (PI 63), die Erblindung der Deutschen durch einen Teufelsgeist (ebd.), 'Weltanschauung' als mit dem Manne geborene Größe (Kant 12), die Deutschen als geradeblickende, hell- und kuhäugige Männer (Wille / Das eine und das andere Deutschland 29), immer wieder die Heraushebung des Augenmenschen gegenüber dem Rationalisten (Kant 19; 34; 42)100: PI 63: Sonst aber braucht man nur um sich zu blicken, um zu sehen, wohin wir alle auf diesem Wege kommen werden, und um sich betrübt zu fragen, welcher Teufelsgeist den Deutschen eine Binde vor die Augen hält, daß sie blind ins Verderben laufen. […] Noch eine Bemerkung – die über den Einfluß der Massenpsychose – muß ich vorbringen, die wichtigste von allen, die auf jede parlamentarische Regierung sich bezieht, gleichviel, ob sie aus dem allgemeinen Wahlrecht hervorgeht oder aus einem anderen: sie ist schon öfters in einer oder der anderen Form lautgeworden, doch unterliegen die Menschen zeitweise, wie der Erblindung, so auch der Vertaubung.
Erblindung dagegen, vor allem verursacht von einem Dritten, der einem eine Binde vor die Augen hält, führt ins Verderben, womit präsupponiert wird, dass die Deutschen ohne Blindmacher sehend wären. Einen besonderen Stellenwert innerhalb der Sinnesmetaphorik hat das Adjektiv blind, das geradezu als ideologieindizierend gelten kann. Nur selten bezieht es sich auf Blinde (Gl 533) im Sinne von >diejenigen, die aufgrund einer körperlichen Unfähigkeit die Welt nicht visuell wahrnehmen bzw. sehen können<. In der Regel wird es zur Charakterisierung erkenntnisbezogenen Blindseins gebraucht. Dabei ist zwischen 'Blindsein (Blindheit)' und 'Blindwerden (Erblindung)' zu unterscheiden. Als eine der Ursachen der 'Erblindung' (PI 63) gilt für Chamberlain die 'Gelehrsamkeit': Gl 560: Ich lese in Litteraturgeschichten, derlei Poesien und solche Heldengestalten wie Marco Kraljevich seien aller Volksdichtung gemeinsam: das ist aber nicht wahr und kann nur einem durch Überfülle der Gelehrsamkeit für die Feinheiten der Individualität Blindgewordenen so erscheinen.
Passend dazu ist der Gebrauch des Phrasems jn. mit Blindheit schlagen (Gl 581), das dem Blindwerden vorausgeht. Die Wahrheit wird verborgen gehalten, der Sichtbarkeit entzogen, obwohl man sie doch sehen müsste. Gl 10: inzwischen schlägt uns diese hohle Phrase mit Blindheit und wir sehen nicht ein – was doch klar vor Aller Augen liegt – dass unsere Civilisation und Kultur, […] das Werk einer bestimmten, individuellen Menschenart ist.
Das Phrasem offenbart nicht, wer die Deutschen blind macht, besagt aber, dass es Blindmacher gibt. Traditionell steht es in antijüdischen Zu_____________ 100 Gl 321: "Wer ein offenes Auge besitzt, erkennt ja bei Tieren "Rasse" sofort."
322 Ideologiewortschatz
sammenhängen.101 Blind ist dann zum einen Kennzeichen der unterstellten jüdischen Erkenntnisverweigerung, und zum anderen wird es mittels einer Bezugsgrößenverschiebung zum Kennzeichen ihrer unberechenbaren Schadensgewalt, ihres blinden Hasses (Br I, 310), mit dem sie gegen die Deutschen agieren. In der Kotextualisierung mit Naturkraft und Wille betont es, verschiedene Aspekte des Blindseins ineinander mischend, das Unkontrollierbare, ungezielt Wirkende und damit Unberechenbare auf der einen Seite und das Gefühl des Unheimlichen und Bedrohlichen auf der anderen. Nicht nur der Wille wird dann als blind und damit nichtsehend geschildert; auch diejenigen, die ihn erleben, sind durch dessen nichtvorhandende Gestaltlichkeit mit Blindheit geschlagen, denn sie können ihn nicht erkennen und sich damit auch nicht gegen den Hass verteidigen. Gl 461: so wurde denn der Semit eine Macht ersten Ranges in der Weltgeschichte. Gleich einer blinden Naturkraft – denn der Wille ist blind – stürzte er sich auf andere Völker: er verschwand in ihnen, sie nahmen ihn auf; man sah wohl, was diese Völker ihm gegeben hatten, doch nicht was er ihnen; denn was er gegeben, besass keine Physiognomie, keine Gestalt, es war nur Wille: eine erhöhte Energie (was oft zu grossen Leistungen anregte), eine schwer zu beherrschende Erregbarkeit [...].
Blindheit ist jedoch nicht nur Ausdruck für Defizienz und Chaos und damit ein wichtiges Schmähprädikat. Es kann auch positiv gewertet werden und die Voraussetzung sein für wahres Sehen, nämlich dann, wenn das innere Auge durch die Blindheit des äußeren zu einer innerlichen nichtorganischen Sehkraft herangereift ist. Eines der bekanntesten Beispiele für einen solchen blinden Seher ist der berühmte Teiresias, der Ödipus vor seinem Vatermord warnte, den Odysseus in der Unterwelt besuchte und von dem Ovid in seinen Metamorphosen erzählt.102 Chamberlain bezieht sich bei seiner Vorstellung des blinden Sehens aber auch auf indoarische Metaphysiker und nennt sie – die Sinnesart metaphorisch wechselnd – tastende Denker. Auch hier stellt er das Intuitive über das Rationale, und in einem Gestus des Antimodernismus konstruiert er den prinzipiellen Verlust von Sichtbarkeit durch das Einbrechen von Nebel und Finsternis, in denen nur noch der im Dunklen Geübte den Ausweg findet. So wird der Indoarier zum blinden, von innerem Sehen geleiteten Führer aus einer ins Dunkel absinkenden Welt. AW 71 f.: Wo der tastende Denker aber im Vorteil ist, das ist gerade in dem Bereiche jener Innenwelt, […]. Man überlege doch, was es heißen will, von dem Standpunkt einer solchen Zivilisation aus, kaum erst im Besitze von Schriftzügen, den transscendentalen Idealismus zu denken – und zu leben! Gerade in der Nacht
_____________ 101 Die "Blindheit der Juden" ist ein antijüdischer Topos, den schon Johannes Eck in "Eines Judenbüchleins Verlegung" aus dem Jahre 1541 benutzt hat. 102 Ovid, Metamorphosen III, 331f.-340.
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des Innern ist eben der Inder zu Hause; ihm ergeht es wie dem Blinden, der im hellen Licht des Tages arg im Nachteil ist, im Dunkeln dagegen seinen Weg sicherer als alle anderen findet. Senkt sich auf die ungeheure Weltstadt London jene undurchdringliche Finsternis des Nebels nieder, gegen welche die stärksten Lichtquellen nichts auszurichten vermögen, da gibt es in Notfällen nur eine Hilfe: die Blinden!
Zu einer weiteren positiven Übertragung kommt es in der Fügung blindes Vertrauen haben, die in der Regel mit Bezug auf Gott (Br I, 310) gebraucht wird. Das Wort blind repräsentiert dann das bedingungslose, absolute, Handlung ermöglichende Vertrauen, das sowohl Sicherheit als auch Heil verspricht. Wir finden es in diesem Sinne auch häufig mit dem Substantiv Glauben verbunden. Doch hier tritt eine Ambivalenz zu Tage. Der 'blinde Glaube' ist einerseits das Kennzeichen für bedingungslosen, von Chamberlain auch fanatisch genannten Glauben (Gl 507), er bezieht sich andererseits jedoch auf die Juden und den Gott des alten Testamentes. In diesem Falle verspricht er keineswegs Rettung und Heil, sondern wird als materialistisch orientierter Glaube negativ konnotiert. Die Allusion an Goethes Prometheus ist im folgenden Beleg kaum zufällig, war es doch der Titan, der die Menschen von den alten Göttern emanzipiert hat: Gl 481: was wir ebenfalls verstehen können, ist, wie in einer solchen Umgebung sich jener durchaus egoistische Monotheismus entwickeln konnte, wo der eine Gott nicht der grosse überweltliche Geist ist, […], sondern ein harter, grausamer Herr, […], der mir, wenn ich mich blind ihm unterwerfe, die Länder schenkt, die ich nicht urbar gemacht habe, voll Öl und Wein, die Häuser, die ich nicht gebaut, die Brunnen, die ich nicht gegraben – […] ja, und diese Menschen alle, […], sie will ich meinem Wüstengotte hinschlachten, ihre Altäre umwerfen, nur mein Gott soll hinfürder Gott sein, nur ich allein auf Erden Herr! Dies ist der Monotheismus der Wüste; nicht aus der Idee des Unendlichen entspringt er, sondern aus der Ideenlosigkeit eines armen, hungrigen, gierigen Menschen.
Blind ist in dieser negativen Verwendung mit 'ungezielt', 'ideenlos', 'materialistisch' konnotiert. Bezieht es sich jedoch auf die Germanen und Arier, die den Prometheus in der Geschichte verkörpern, so hat es eine andere Bedeutung. Denn ihr blinder Glaube ist sehend, nicht ziellos, sondern konzentriert, da der Wille nach innen gerichtet ist und damit das Wesentliche zu sehen vermag (Gl 677). Er kann erfassen, was die Wahrheit ist. GL 487: Das Einzige, was Not thut, ist blinder Glaube, und auf diesen Glauben konzentriert sich denn auch die ganze Kraft der grossen leitenden Geister und der verantwortlichen Hüter des Volkes: […]. Wie sollte der Glaube, im semitischen Sinn, Begriffe auffassen können, mit denen nicht ein Mensch in einer Million auch nur die blasseste Vorstellung zu verbinden vermag? Schon Jesus Christus selber, obwohl er sagt: "derer, welche wie diese Kinder sind, ist das Himmelreich", sprach dennoch an dem selben Orte: "Das Wort fasset nicht Jedermann, sondern denen es gegeben ist. Wer es fassen mag, der fasse es!" (Matth., XIX., 11, 12).
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Immer wieder ist es die vindizierte idealistische Gesinnung, die den Unterschied ausmacht zwischen den Juden und den Germanen; der arische Idealismus steht dem jüdischen Materialismus gegenüber, das Sichtbare dem Göttlich-Verborgenen, das man im Vertrauen auf das unsichtbare Wunder glauben muss. Chamberlain hat den blinden Glauben polysemiert. Er bedeutet erstens in einem positiven Sinne das bedingungslose Vertrauen auf Gott und eine allgemeingültige Wahrheit, die für bloße Augen nicht sichtbar ist und nur von einem Arier geleistet werden kann. Und er bedeutet im Gegensatz dazu zweitens eine materialistische Blindheit der Juden, die deren Religion nicht nur zu einer materialistischen Scheinreligion werden lässt, sondern deren Glauben insgesamt als Glaube ad absurdum führt. GL 467 f.: […] aus welchem zwingenden Grunde der wegen der Glut seines Glaubens berühmte Semit dennoch nur ein Minimum an wahrer Religion besitzt. Die Erklärung liegt offen vor uns: wo Verstand und Phantasie vom blinden Willen unterjocht sind, da kann, da darf es kein Wunder geben, nichts Unerreichbares, keinen "Weg ins Unbetretene, nicht zu Betretende", […]. Selbst ein so hoher Geist wie Deuterojesaia betrachtet den religiösen Glauben als etwas, was auf empirischer Grundlage ruhe und durch ein gewissermassen gerichtliches Verfahren geprüft werden könne: "Lasst die Heiden Zeugen stellen und BEWEISEN, so wird man es hören und sagen: es ist die Wahrheit" (XLIII, 9). […] Der oben angeführte heutige jüdische Religionslehrer Philippson setzt ausführlich auseinander, der Jude glaube einzig und allein das, WAS ER MIT AUGEN GESEHEN HABE, ein "blinder Glaube" sei ihm unbekannt…
Blind steht aber auch für das Walten einer unsichtbaren Macht. So wenn es unten heißt, dass alle Umwälzungen im Leben der Gesellschaft "blind" stattgefunden haben. Das Adjektiv blind ersetzt er einige Zeilen später durch das Wort anonym, womit einerseits der Handelnde auf den ersten Blick als nicht erkennbar gekennzeichnet wird, aber bei genauerer Betrachtung eine höhere Antriebskraft gemeint ist. Gl 25f.: dem Einfluss der grossen Persönlichkeit sind äusserst enge Schranken gesetzt. Alle grossen und dauernden Umwälzungen im Leben der Gesellschaft haben "blind" stattgefunden. […] "alles das ist eine Folge der veränderten Verkehrsbedingungen und alles das ist, wenn ich so sagen darf, ANONYM geschehen, wie der Bau eines Ameisennestes, bei welchem jede Ameise nur die einzelnen Körnchen sieht, die sie mühsam herbeischleppt. - Ähnliches gilt aber auch von Ideen: […] Keiner kann sich ihrer erwehren; solange eine solche besondere Vorstellung herrscht, kann nichts Erfolgreiches ausserhalb ihres Bannkreises geleistet werden; wer nicht in dieser Weise zu empfinden vermag, ist zur Sterilität verdammt, und sei er noch so begabt.
Was diese höhere Antriebskraft letztlich ausmacht, ist bekannt: die Rasse und das Blut.
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3. 2. 5. Blutmetaphorik oder die ererbte Schuld Das Blut ist das Trägermedium der genetischen Erbinformation von der vormodernen Medizin bis heute. Was früher nur Tropus zu sein schien, ist heute bewiesene humanbiologische Erkenntnis. Der genetische Code des Menschen ist entschlüsselt, und man kann jeden Einzelmenschen anhand seines persönlichen DNA-Codes identifizieren. Was man dabei im Detail tatsächlich über den Einzelmenschen erfährt, über seine biologischen Anlagen ebenso wie über seine Persönlichkeitsstruktur, ist jedoch umstritten. Blut jedenfalls, das über die vergangenen Jahrtausende hinweg als Tropus für eine angenommene Erbinformation diente, wird heute oftmals durch das Akronym DNA ersetzt oder durch die moderne Metapher des genetischen Fingerabdrucks. Das Entscheidende bei der Verwendung von Blut in rassistischen Zusammenhängen besteht darin, dass biologische Merkmalskennzeichnungen erstens gezielt zur Diskriminierung von Menschen genutzt werden und zweitens als Kriterium der Stigmatisierung von Einzelmenschen hinsichtlich nicht biologischer Gegebenheiten wie Sozialkompetenz, Intellekt und Moral sowie zur Stigmatisierung von phylogenetischen Gemeinschaften dienen. Erbinformationen werden damit in bestimmte, nicht erbbiologische Zusammenhänge gesetzt und einer Bewertung unterworfen, die sich aus diesen Zusammenhängen ergibt. Gl 67: Durch alle Fasern seines Wesens hängt der Mensch organisch mit seiner Umgebung eng zusammen; das alles ist Blut von seinem Blut; denkt man ihn hinweg aus der Natur, so ist er ein Bruchstück, ein entwurzelter Stamm.
Die Formel Blut von seinem Blut, eine sakralsprachliche Redewendung, die bei Chamberlain mehrfach begegnet,103 setzt das Blut eines anderen voraus, bezieht sich demnach nicht auf beliebiges Blut, sondern auf spezielle Mischungen, in denen das verwandte Blut aus verschiedenen Quellen zusammenfloß (Gl 321). Die Blutmischung (Gl 8; 328; 332; 421; 423 u. ö.) gehört damit zum Grundprinzip Chamberlain'schen Denkens. Von der richtigen Zusammensetzung hängt alles ab, das Aussehen, der Charakter, die Moral, die Kultur, die Zukunft und zwar des Einzelnen wie der Gesamtheit. GL 335: NUR GANZ BESTIMMTE, BESCHRÄNKTE BLUTMISCHUNGEN sind für die Veredelung einer Rasse, resp. für die Entstehung einer neuen, förderlich. Auch hier wieder liefert uns die Tierzüchtung die klarsten, unzweideutigsten Beispiele. Die Blutmischung muss zeitlich streng beschränkt, ausserdem muss sie eine zweckmässige sein; nicht alle beliebigen Vermischungen, sondern nur bestimmte können die Grundlage zur Veredelung abgeben. Mit zeitlicher Beschränkung will ich sagen, dass die Zufuhr neuen Blutes möglichst schnell vor sich gehen und
_____________ 103 GL 551: "Dieser Barbar [der Germane], […], ist nichtsdestoweniger der rechtmässige Erbe des Hellenen und des Römers, Blut von ihrem Blut, und Geist von ihrem Geist."
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dann aufhören muss; fortdauernde Blutmischung richtet die stärkste Rasse zu Grunde.
Richtige Zusammensetzung heißt: Aus möglichst reinem Blute soll in genauer, sparsamer Dosierung eine Züchtung vorgenommen werden, damit sich gute Eigenschaften durchsetzen104. Das Blut ist aber nicht nur der Stoff, mit dem die Züchtung des neuen Menschen als Zukunftsaufgabe vollzogen wird, es ist vor allem der systematische Ort, an dem alles Wichtige vorentschieden ist, weil dort sowohl die biologische Erbinformation als auch aus dieser folgend die Gesamtheit sozialer Kompetenzen lokalisiert ist und weiter getragen wird (Gl 362). Man kann weder unter biologischen noch unter sozialen Aspekten über seine Erbinformation, in Chamberlains Worten: über sein Blut, hinaus. Blut ist ein Tropus, und zwar erstens ein Grenzverschiebungstropus (eine Metonymie) für alles, was auf biologischer Ebene mit Blut impliziert sein mag (und in diesem Zusammenhang nicht interessiert), und zweitens ein Sprungtropus (eine Metapher) für alles Soziale, das mit 'Rasse' und 'Rasseneigenschaften' verbunden wird. Dieses Soziale ist ererbt und nicht erworben. Gl 6/7: Wir erbten eine Summe von Kenntnissen, Fertigkeiten, Gedanken u. s. w., wir erbten eine bestimmte Verteilung der wirtschaftlichen Kräfte, wir erbten Irrtümmer und Wahrheiten, Vorstellungen, Ideale. […] Vor Allem erbten wir das Blut und den Leib, durch die und in denen wir leben. Wer die Mahnung "ERKENNE DICH SELBST" ernst nimmt, wird bald zur Erkenntnis gelangen, dass sein Sein mindestens zu neun Zehnteln ihm nicht selber angehört. […] sein Menschenmaterial ist die Frucht dahingeschwundener Generationen, sein geistiger Schatz […] ist ein ererbter, seine Richtungen und Schwankungen ergeben sich mit mathematischer Notwendigkeit aus den vorhergegangenen Bewegungen.
Chamberlain leitet nicht nur die Charakterzüge eines Einzelmenschen aus dem ererbten Blut her, sondern erklärt das damit geschaffene Menschenmaterial zum mathematischen Ausgangspunkt jeder weiteren Entwicklung. Die Qualität eines Menschen hängt damit davon ab, ob er von minderwertigem Blut oder von edlem Blut105 ist. GL 691: Ob Paulus ein rassenreiner Jude war, bleibt, trotz aller Beteuerungen, sehr zweifelhaft; ich meine doch, das Zwitterwesen dieses merkwürdigen Mannes dürfte zum Teil in seinem Blute begründet liegen.
_____________ 104 Vgl. auch: GL 340: "das sind also die fünf Prinzipien, die mir grundlegend erscheinen: die Qualität des Materials, die Inzucht, die Zuchtwahl, die Notwendigkeit von Blutmischungen, die Notwendigkeit, dass diese Blutmischungen in der Wahl und in der Zeit streng beschränkt seien". 105 Br II, 152 (an Kaiser Wilhelm II. 20. 2. 1902): "Hat das edle Blut das weniger edle zu sich hinaufgeläutert? Nein; ebensowenig wie dies bei Tieren und - analogisch - bei Pflanzen geschieht. Sondern ein herrlichstes Volk der Erde - Krieger, Könige, Sänger, Denker, Ackerbauer - ist für immer zugrunde gegangen, verschwunden, ausgelöscht, für die Menschheit verloren. Was würde in der heutigen Weltlage ein großes arisches Herrschervolk in Indien für die Menschheit bedeutet haben!"
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Oder positiv im Hinblick auf Hindenburg: Wille / Vaterlands=Partei 37f.: [Hindenburg] vielmehr ist eine solche Erscheinung genau bedingt durch das Rassenblut, das in seinen Adern kreist und durch die Geschichte des Volkes, dem er entstammt. Zu allen Zeiten war und ist der Held Ausfluß, Inbegriff und Sinnbild einer Gesamtheit; mag er diese noch so sehr überragen, sie schuf ihn, sie trägt ihn, sie ist das Geheimnis seiner Sicherheit, seiner Unfehlbarkeit.
Die letzten Zeilen könnten im Hinblick auf die Erwähnung von 'Geschichte' und 'Gesamtheit' im heutigen Sinne von historischer Bedingtheit der großen Persönlichkeit gelesen werden; dem widerspricht aber die explizite Erwähnung von 'Rassenblut' im Vorfeld sowie folgende Kompositaliste im Umfeld des Zitates: Blutsverwandtschaft, Blutsgemeinschaft, Blutsbande, wir finden Umschreibungen wie Gemeinschaft des Blutes (Gl 315). 'Vererbung' ist das hinter dem Wortgebrauch von Blut stehende Prinzip, das sich konsequent durch alle Bereiche hindurchzieht. Natürlich wird auch die in der Regel rassenbegründete Nationalität über das Blut vererbt, sonst könnte man nicht von indoeuropäischem (424), griechischem (545), arabischem (461; 500), germanischem (Kriegsaufsätze I / Sprache 36), semitischem (462; 494) Blut reden. Ausdrücke wie Blutschande (Gl 442 mit Verweis auf Hesekiel) und blutschänderisches Verbrechen (Gl 442) sind sakralsprachliche Pseudorückkoppelungen an das Alte Testament und verhöhnen damit in doppelter Hinsicht die jüdische Vorlage, da sie das jüdische Reinheitsgebot aus ihrem alttestamentarischen Kontext lösen und rassistisch interpretieren.106 Die 'Blutschuld' wird zu 'Sündenschuld', gegen die nur noch göttliche Erlösung helfen kann. Das Blut ist auch der Ort, an dem sich das Unglück der Menschheit vollzieht, medizinisch vor allem deswegen, weil es als das Haupteinfallstor für Krankheiten dargestellt wird; dabei ist es Infektionstransporteur und infiziertes Objekt gleichzeitig. Die Unsinnigkeit des Bildes vom Blut als Krankheitsüberträger, das ja von einem fortwährenden Blutkontakt der Menschen untereinander ausgeht, wird jedoch kaum bemerkt. Das Blut nimmt in der üblichen Argumentation die Krankheit als eine Art Vergiftung in sich auf und überträgt es auf andere, ohne dass sich das infizierte Objekt dagegen wehren könnte (Gl 378): "Doch bis heute ist es uns noch nicht gelungen, alle Gifte jenes Chaos aus unserem Blute zu entfernen." Wie die gezielt eingesetzte Blutvermischung bei der Züchtung zum Hervorbringen einer neuen Rasse dienen kann, so kann sie falsch eingesetzt zum Verfall der gesamten Menschheit führen. Das Adjektiv jüdisch wird übrigens in einer solchen Argumentationsführung noch einmal polysemiert, denn neben der üblichen Verwendungsweise als Religionsbezeich_____________ 106 So auch bei Rosenberg, Mythus 22, 171; Hitler, Mein Kampf 135; 315.
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nung bzw. Rassenkennzeichnung wird es nun außerdem zum Krankheitsträger, mit dem das Blut transportiert wird. Gl 384: inzwischen werden aber Tausende von Seitenzweiglein abgeschnitten und zur Infizierung der Indoeuropäer mit jüdischem Blute benutzt.
Die Rassevermengung wird aber nicht nur rassenbiologisch verfemt, sondern von Chamberlain auch mit religiösen Attributen verurteilt und zwar als Blutschande und den dazu gehörigen Ausdrücken Rassenschuldbewusstsein, blutschänderisches Verbrechen, Schuld, Sünde, Gewissen: GL 442: Rassenschuldbewusstsein. […] ein derartiger Vorgang, so unbewusst er auch geschieht, ist ein blutschänderisches Verbrechen gegen die Natur; auf ihn kann nur ein elendes oder ein tragisches Schicksal erfolgen. […] jenes tiefe Bewusstsein der Sünde, welches das jüdische Volk (in seinen heroischen Tagen) bedrückte und in den Worten seiner auserwählten Männer ergreifenden Ausdruck fand, wurzelt in diesen physischen Verhältnissen. […] sobald die Vertilgung der Israeliten und die eigene Gefangenschaft das Gewissen des Juden geweckt hatten, war seine erste That, jener Blutschande (wie ich sie oben in wörtlicher Anlehnung an Hesekiel nannte) ein Ende zu machen durch das strenge Verbot jeder Vermischung, selbst mit nahverwandten Stämmen.
3. 2. 6. Lichtmetaphorik und die Epiphanie der Germanen AW 61: als ob dann wieder die großen Naturerscheinungen – der Lichthimmel, die Wolke, das Feuer usw. – auf diesen selben, von innen nach außen gesendeten Strahlen den umgekehrten Weg zurücklegten, in des Menschen Brust hineindrängten und ihm zuraunten: ja, Freund, wir sind das selbe wie du!
Es liegt in der Natur der Sache, dass das Licht als Naturerscheinung und als Metapher für das Sichtbare und das Sichtbarwerden eingesetzt wird. Nur was sichtbar ist, kann erkannt, begriffen und in eine Welt der Sichtweisen eingeordnet werden. Die Beschreibung der Chamberlain'schen Lichtmetaphorik hätte daher auch im Anschluss an die Erkenntnismetaphorik erfolgen können, ist doch ein wichtiger Bestandteil der Lichtmetaphysik erkenntnistheoretisch ausgerichtet. Licht, oft synonym dazu: Sonne als Lichtbringer, ist sowohl die Ursache der Ideen in der Funktion, die Dinge zu beleuchten, als auch der Grund ihrer Erkennbarkeit.107 Von der Anbetung der Sonne als Gottheit durch die Pharaonen (Echnaton-Kult) bis hin zu den Sonnengöttern der Anden hat die Verehrung und Hypostasierung dieses Fixsterns eine lange Tradition, wobei angemerkt werden muss, dass es im Christentum vorgezogen wird, hinsichtlich der Sonne im Bereich der Metapher zu bleiben, während die alten Ägypter diese tatsächlich anbeteten. Aber auch im Christentum (RGG 4, 357ff.) symbolisieren Sonne _____________ 107 Mittelstraß 2, 608.
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und Licht das gute Prinzip, das sich dem Bösen, repräsentiert durch Dunkelheit und Finsternis, entgegenstellt. Das Licht ist das Attribut Gottes im AT und NT. Es beruht vor allem auf Feuer (Ex 13, 21) und Blitz (Hab 13, 11) als direkten Ausdrucksformen göttlichen Eingreifens und damit göttlicher Präsenz. Die Lichtattribute erscheinen häufig nicht nur im Zusammenhang mit Gott und dem Immateriellen, sondern speziell auch mit dem heiligen Geist und als Gegenbild zur Abwesenheit Gottes, zu Finsternis, Materie und Teufel. Das Licht durchbricht in den biblischen Belegen die Finsternis, es leitet die Frommen auf den rechten Weg zur Erleuchtung (Ps 56, 14; Ps 119, 105), wird zum Symbol der Gerechten (Ps 97, 11) und Erleuchteten, damit auch zur prinzipiellen Voraussetzung von Erkenntnis. Es ist somit der sichtbare Ausdruck der göttlichen Gnade: (Ps 36, 10:) bei dir ist die Quelle des Lebens, und in deinem Lichte sehen wir das Licht. Göttliche Gnaden- und Heilsgaben, wie Taufe, Bekehrung zum Glauben oder Erlösung, werden entsprechend auch ikonographisch häufig durch von Gott ausgehende Lichtstrahlen symbolisiert. Und wenn Christus im NT von sich sagt, er sei das Licht der Welt (Joh 8, 12; 9, 5), so ist dies nur ein Beispiel von Lichtsymbolik innerhalb des christozentrischen Neuen Testamentes, das für Christus und sein Leben und Wandeln in Gott steht. Das Licht, als Metapher für Gottes Sohn, sowohl menschgewordene Ausdrucksform der göttlichen Gnade als auch diese selbst, ermöglicht es den Gläubigen, Kinder des Lichts (Joh 12, 36) zu werden bzw. im Licht zu wandeln (Joh 1, 7). Die Gotteskindschaft erhebt die Sterblichen aus dem Zustand des Beleuchtetwerdens zu Erleuchteten, in manchen Fällen sogar zu autonomen Lichtträgern, die anderen Licht spenden können. Doch wo Licht ist, ist bekanntlich auch Schatten und Finsternis (vgl. auch Jes 5, 20). Joh 3, 19: Das ist aber das Gericht, daß das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse. Wer Böses tut, der haßt das Licht und kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht aufgedeckt werden. Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem Licht, damit offenbar wird, daß seine Werke in Gott getan sind.
Wie sich in dieser Stelle aus dem Johannesevangelium zeigt, spiegelt die Metaphorik der Finsternis den Weg des Bösen und der Gottesferne. Doch auch weniger abstrakt, wie dies beim Philosophen unter den Evangelisten geschieht, ist diese Metaphorik nachvollziehbar. Das Nichtsehenkönnen des Weges bzw. das Herumirren in vollkommener Dunkelheit, ob konkret oder übertragen, bedeutet in der Alltagserfahrung Unsicherheit, Isolation und Verlassenheit, existentielle Erfahrungen, die zur existentiellen Angst im Diesseits und zur eschatologischen Bedrohung im Jenseits führen, sofern man an ein solches glaubt. Licht und Dunkelheit sind existentielle Erfahrungen des Menschen, sonst wäre die auf ihr aufbauende Metapho-
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rik kaum so wirksam. Chamberlain weiß darum und nutzt sie entsprechend ausgiebig. Gl 295: Schon die Entstehung der christlichen Kirche führt uns in tiefste Finsternis hinein, und ihre weitere Geschichte macht uns mehr den Eindruck eines Herumtappens im Dunkeln als eines sonnigen Sehens.
Die Gegensatzpaare Licht und Finsternis, Helligkeit und Dunkelheit, Tag und Nacht, Morgen und Abend als loci temporis von abwesendem und vorhandenem Licht, von kommendem und schwindendem Licht, aber auch von Feuer, Sonne, Mond und Sternen als Lichtspendern bilden entsprechend einen Rahmen, in dem es sowohl um Gut und Böse, um Wahrheit und Unwahrheit, um Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit geht, als auch naturbezogen um immer wiederkehrende Abläufe des alltäglichen Lebens, die in den Kreislauf des ewigen Werdens und Vergehens gerückt werden. 'Licht' steht in seinem gesamten Bildbereich funktionsverwandt zu 'Leben' und 'Lebendigkeit', im Unterschied zur 'Finsternis', die das Erschlaffen von Leben und den Tod bedeutet. Das Verhältnis der genannten Gegensatzpaare könnte als ein graduelles Ineinanderübergehen beschrieben werden, indem sich eine beruhigende Ordnung der Dinge immer wieder als ein Mehr oder Weniger entfaltet, oder aber man formuliert es als ein Entweder-oder, in dem entweder die dunkle Nacht mit all ihren Gefahren droht und der Tag dahinschwindet oder die Nacht schwindet und der freundliche Tag hereinbricht, in dem also entweder das Böse oder das Gute herrscht. Oft geht es auch um das geheimnisvoll Verborgene im Unterschied zum sichtbar Offenbarten, speziell dazu um Heimtücke gegen Ehrlichkeit. Der mit den Beispielen angesprochene radikale Dualismus ist doppelt beunruhigend, zum einen, weil er als persönliche Bedrohung inszeniert wird, und zum anderen, weil er vom Rezipienten verlangt, dass er sich prinzipiell entscheidet, entweder für das Gute oder für das Böse. Und diese Entscheidung hätte dann vor allem in einem religiösen Sinne äußerst weit reichende Folgen nicht nur für das Individuum, sondern für die menschliche Gemeinschaft insgesamt, da die beiden Prinzipen zu ewigen Kontrahenten um die "Weltherrschaft" und den letzten Sieg stilisiert werden. Neben der schon genannten christlichen Motivik führt die Lichtmetaphorik auf zwei weitere Religionen zurück, die im 19. Jahrhundert in Mitteleuropa neue Aufmerksamkeit erfuhren und gerade in Intellektuellenkreisen mit großem zeittypischem Interesse rezipiert wurden, die altiranischen "arischen" Lehren Zarathustras108 und die nachchristlichen Lehren Mani's.109 Chamberlains Interesse an diesen Religionen ist offen_____________ 108 Vgl. dazu RGG 6, 1866. 109 Vgl. dazu RGG 4, 714ff.
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sichtlich, und er konnte sie zur besonderen Inszenierung seiner Geschichtsphilosophie nutzen, weil er auf einen vorbereiteten Kulturboden stieß. Was beide Kulte trotz ihrer unterschiedlichen Provenienz miteinander verbindet, ist ein radikal-dualistisches Weltbild, in dem das gute Prinzip, das Licht, sich mit dem Bösen, der Finsternis, in einem ewigen Kampf befindet. Was Zarathustra betrifft, so darf an dieser Stelle natürlich der Hinweis auf Friedrich Nietzsches Also sprach Zarathustra, vor allem auf das dort zu findende Nachtlied,110 nicht fehlen, genau so wenig der Verweis auf Gobineau und seinen zoroastrischen Arier bzw. auf die Kurzform Zoroastrier (Gobineau II, 228). In ihm sah er den Begründer der europäischen Zivilisation (Gobineau III; 16). Das Interesse am Rassekult um den 'Arier' ließ sich mit demjenigen an Zarathustra verbinden. Auch der Musikdramaturg Wagner war von den dualistischen Vorstellungen Zarathustras fasziniert, beinhalten sie neben dem klaren Entweder-Oder ja auch das Alles-oderNichts, das dramaturgisch in seinen Opern eine große Rolle spielt: Wagner 10, 228: Noch jene Völker, welche als Eroberer nach Vorder-Asien vorgedrungen waren, vermochten ihr Erstaunen über das Verderben, in das sie gerathen, durch Ausbildung so ernster religiöser Begriffe kund zu geben, wie sie der parsischen Religion des Zoroaster zu Grunde liegen. Das Gute und das Böse: Licht und Nacht, Ormuzd und Ahriman, Kämpfen und Wirken, Schaffen und Zerstören: - Söhne des Lichtes traget Scheu vor der Nacht, versöhnet das Böse und wirket das Gute! - Noch gewahren wir hier einen dem alten Indus-Volke verwandten Geist, doch in Sünde verstrickt, im Zweifel über den Ausgang des nie voll sich entscheidenden Kampfes.
Über die Brücke der Gut-Böse-Dichotomie bieten die zoroastrische sowie die gnostische Perspektive, wie sie von Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts gerne eingenommen wurden, ideale Voraussetzungen zur dramatischen Inszenierung eines ewigen Weltkrieges zwischen den beiden konträren Prinzipien. So begegnet der Name Zarathustra (AW 85) / Zoroaster in den Schriften Chamberlains denn auch immer wieder (Gl 471; 474; 494, Anm. 1; s. u.), sei es direkt durch Hinweise auf das religiöse Buch der Zoroastrier, die Zend-Avesta (AW 15), oder indirekt auf den Gott Ormuzd (Gl 605) als das gute Prinzip bzw. den Gott Ahriman als das böse Prinzip (Dt. Friede 93). Gl 786: Schon Zoroaster hatte die weisen Worte gesprochen: "Weder an Gedanken, noch an Begierden, noch an Worten, noch an Thaten, weder an Religion, noch an geistiger Begabung gleichen die Menschen einander: wer das Licht liebt,
_____________ 110 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra. In: Werke II, 362. Vgl. dazu auch: Ecce Homo, ebd., 1136: "Man höre, wie Zarathustra vor Sonnenaufgang (II 414 ff.) mit sich redet: ein solches smaragdenes Glück, eine solche göttliche Zärtlichkeit hatte noch keine Zunge vor mir. Auch die tiefste Schwermut eines solchen Dionysos wird noch Dithyrambus; ich nehme, zum Zeichen, das Nachtlied - die unsterbliche Klage, durch die Überfülle von Licht und Macht, durch seine Sonnen-Natur, verurteilt zu sein, nicht zu lieben."
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dessen Platz ist unter den leuchtenden Himmelskörpern, wer Finsternis, gehört zu den Mächten der Nacht."
Zarathustra, der Stifter der alten iranischen Bekenntnisreligion (RGG 6, 1866), bildet die eine lichtmetaphorische Traditionslinie, die andere kommt durch den gnostischen Manichäismus (RGG 4, 714.) hinzu, in dem der Dualismus von Gut und Böse zum Kampf zwischen dem göttlichen Lichtreich und der Welt der Finsternis wird. Während es aber für die Manichäer am Ende ihres Kampfes zur Trennung zwischen Licht und Finsternis kommen muss, das Ende sozusagen die endgültige Scheidung beider Mächte darstellt, setzt in Zarathustras dualistischem Prinzip das eine das andere voraus. Das Gute und das Böse bedingen einander. Ob diese Aussage die religionshistorische Realität der Jahrtausendschritte vor Christus trifft, ist dabei irrelevant. Es geht um eine Instrumentalisierung der "alten" Geschichte: Chamberlain bedient sich synkretistisch bei allen Kulten und Religionen, je nachdem, welchen Zweck er mit welcher Metaphorik gerade verfolgt. Er nutzt alle Funktionen der Lichtmetaphorik, sowohl die beruhigend-erbaulichen, heils- und erkenntnisbringenden als auch die bedrohlichen, in denen er als Prophet des apokalypt-ischen Kampfes den Untergang des Guten und den Verfall ankündigt. Kriegsaufsätze II / Wer hat den Krieg verschuldet 45: aber keine Spur davon, oder kaum eine Spur, nur einzelne Stimmen in der Wüste, die ergreifend wirken, weil sie nicht als Morgenfanfare einen kommenden Tag kühn und übermütig einführen, sondern als Abendröte nach einem sonnenlosen Tage, schmerzvoll und überweise die dunkle Nacht ankündigen; weiter rollen soll die ungestaltete Masse, ohne Ruhe, ohne Heil; Genie nie im Bejahen, nur im Verneinen, Kraft nur zum Bösetun, während der Gute sich beugt und duldet;
Die Parallelisierung der Tageszeiten mit den moralischen Kategorien 'gut' und 'böse' ist also nicht zufällig, sondern impliziert ein komplexes Gerüst an assoziativen Verstrebungen. Die Morgenfanfare, Morgendämmerung (Gl 214) oder das Anbrechen eines neuen Tages (Gl 378; vgl. auch 375) stehen für das Versprechen von Heil und Segen, vor allem aber eines Neubeginns, der das Gute zum Sieg führen wird. Das Eintreten des Menschen in das Tageslicht gilt für Chamberlain als die Voraussetzung zur Menschwerdung (Gl 366), und dies verwundert kaum, da das Licht prinzipiell als prima materia (Gl 20) zu lesen ist, als Lebensader (Gl 20), Erkenntnisvoraussetzung (Gl 25; 31; 34; 409; s. o.), vor allem aber als Heilsgut und Gnadengabe Gottes (Gl 374), die in der Schöpferkraft des Genies seinen kulturhistorisch wichtigsten Ausdruck gefunden hat. Die Androhung der dunklen Nacht nach einem sonnenlosen Tag impliziert entsprechend neben Barbarismus, Chaos und Kulturlosigkeit immer auch Gottverlassenheit, Gottferne und Auswegslosigkeit. Erkenntnis und Eschatologie sind in diesem dualistischen Denken untrennbar miteinander verbunden. Die nächtliche Bedrohung ist äußerst
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affektbeladen und pendelt zwischen zeitgenössischem Zustandsbericht, rechtfertigender Vergangenheitsberichtigung und apokalytischer Zukunftsvision. So umfinstern die Schatten der Nacht die Menschheit (Gl 295), wird das Verständnis der Gegenwart verdunkelt (Gl 9) und wandeln wir heute gleich durch feuchte Nacht (AW 89); immer wieder strecken die Mächte der Finsternis ihre Polypenarme aus, saugen sich an hundert Orten an uns fest und suchen uns in das Dunkel, aus dem wir hinausstrebten, zurückzuziehen (Gl 378). Im Kernpunkt seiner Geschichtsklitterung geht es ihm darum, das Einbrechen tiefer Nacht in Europa (Gl 374), das auf den Verfall des römischen Weltreiches folgte, aus der Verantwortlichkeit der Germaneneinfälle herauszuziehen und es dem von ihm so genannten Völkerchaos zuzuschreiben. Gl 9: An die Stelle dieser Schemen, welche Irrtümer ohne Ende erzeugen, wird dann die einfache und klare Erkenntnis treten, dass unsere gesamte heutige Civilisation und Kultur das Werk einer bestimmten Menschenart ist: des GERMANEN. Es ist unwahr, dass der germanische Barbar die sogenannte "Nacht des Mittelalters" heraufbeschwor; vielmehr folgte diese Nacht auf den intellektuellen und moralischen Bankrott des durch das untergehende römische Imperium grossgezogenen rassenlosen Menschenchaos; ohne den Germanen hätte sich ewige Nacht über die Welt gesenkt.
Die Germanen werden zu Kulturbegründern erklärt, die nur zerstörten, was moralisch und intellektuell bereits bankrott war. Für ihn waren sie nicht die Auslöser der überlieferungslosen und damit kulturlosen Zeit des frühen Mittelalters, Chamberlain gibt ihnen ein historisches Gesicht und macht aus ihnen die Erlöser aus dem 'Chaos' (Gl 374), die nicht nur die ewige Nacht verhindert, sondern vor allem den Grundstein für einen neuen Morgen gelegt hätten, nämlich zu neue[n] grosse[n] Volksrassen, herrliche[n] neue[n] Sprachen und zu eine[r] neue[n], zu den kühnsten Hoffnungen berechtigende[n] Kultur (Gl 374). Das ist einerseits seine arische Utopie, und es ist andererseits eine völlige Verkehrung der traditionellen Geschichtsschreibung, die er abfällig als Hallucination bezeichnet (Gl 374). Seine eigene Geschichts"schreibung" macht aus den Germanen der Barbareneinfälle kulturschöpferische Übermenschen mit einem kulturmissionarischen Heilsversprechen. GL 372: (Die Germanen) Kein Zweifel! das rassen- und nationalitätlose Völkerchaos des spätrömischen Imperiums bedeutete einen unheilvollen, Verderbnis bringenden Zustand, eine Versündigung gegen die Natur. Nur EIN Lichtstrahl glänzte über jene entartete Welt. Er kam aus dem Norden. Ex septentrione Lux!
Der Epiphanie der Germanen entspricht das ewige Hausfeuer der Arier (Gl 295). Zusammen bilden sie das Geschlecht, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt (Gl 378). Das Ziel dieses Strebens, das Licht, symbolisiert Christus und somit das göttliche, das schöpferische und in der Terminologie Chamberlains das bejahende Prinzip.
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Gl 236: das Licht des Lebens, das Licht der Welt, ein Licht von oben, denen als Leuchte gesandt, die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes; Christus ist für sie der Fels, der Grund, auf welchem wir unser Leben aufbauen sollen u. s. w., u. s. w. Alles positiv, alles konstruktiv, alles bejahend.
Das Licht in seiner von Gott auf den Menschen übertragenen Form wird zum Symbol des von Gott begnadeten Genies und damit von Schöpferkraft und Kultur. Es ist deutlich, dass die Arier als Lichtstrahlen in die Gotteskindschaft eingetreten sind, da sie in diesem Bild nicht nur von Gott bestrahlt werden, sondern selbst zu strahlen vermögen. Mensch und Gott sind bei Chamberlain, übrigens in der Tradition der Gnosis, konsubstantiell miteinander verbunden. Und sie haben mit dieser Metapher auch von Chamberlain ihre eigene kleine Göttlichkeit erhalten. Als das von Gott begnadete, von ihm auserwählte und damit in seinem Licht stehende Wesen wird der vergöttlichte Arier selbst zum Lichtträger, zum Selbsterlöser. Auch wenn diese Gestalt als Utopie konstruiert ist, die analog zum biblischen Messias sakrales Heil und Segen (Gl 214) mit sich bringt, ist sie nicht nur ein zukünftiges Idealbild, sondern wird auf die kulturgeschichtliche Realität des 19. Jhs. bezogen. Besonders vier Personen lassen sich dabei eindeutig als Lichtgestalten nachweisen: zum einen Goethe und Kant, sodann Richard Wagner und zuletzt Adolf Hitler, den Chamberlain in seinem offenen Brief aus dem Jahre 1924 explizit als Lichtgestalt bezeichnet:111 doch gehört Hitler zu den seltenen LICHTGESTALTEN – zu den ganz durchsichtigen Menschen. Lichtträger in einem explizit schöpferischen Sinne, also weniger ätherisch, wie dies bei Hitler das Fall ist, ist Richard Wagner (AW 89): Chamberlain, Wagner: 492: Ihm strömte Leben und Licht aus allen Fernen zu, und aus seinem mächtigen Gehirn strömte neues Leben und neues Licht wieder in weite Fernen zurück.
Wagner wird von Chamberlain verehrt wie ein Heiliger, dessen Göttlichkeit sich vor allem in seinem Künstlertum ausdrückt. Auch von Wagner gilt, was oben schon vom Arier formuliert wurde: er sei von Gottes Licht umgeben und könne es selbst ausströmen. Ähnliches sagt er über Goethe und das Genie als Lichtprinzip. Gl 31: denn eben so unzerstörbar wie Stoff und wie Kraft sind die Blitzstrahlen, welche aus dem Gehirn der mit Schöpferkraft begabten Männer hervorleuchten; die Generationen und die Völker spiegeln sie sich fortwährend gegenseitig zu, und, verblassen sie auch manchmal vorübergehend, von Neuem leuchten sie hell auf, sobald sie wieder auf ein schöpferisches Auge fallen. In den letzten Jahren hat man entdeckt, dass es in jenen Meerestiefen, zu denen das Sonnenlicht nicht
_____________ 111 Chamberlain an Adolf Hitler, ein offener Brief: Adolf Hitler zu seinem Geburtstag am 20. April 1924. In: Deutsche Presse 1924, 1.
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dringt, Fische giebt, welche diese nächtige Welt auf elektrischem Wege erleuchten; ebenso wird die dunkle Nacht unserer menschlichen Erkenntnis durch die Fackel des Genies erhellt. Goethe zündete uns mit seinem Faust eine Fackel an, Kant eine andere durch seine Vorstellung von der transscendentalen Idealität von Zeit und Raum: beide waren phantasiemächtige Schöpfer, beide Genies.
Obwohl Chamberlain hier nur auf Goethes Faust anspielt, steht doch auch dessen Prometheus im Hintergrund. Hatte dieser doch dem Blitze aussendenden Göttervater Zeus das Feuer entrungen, um damit Menschen nach seinem Bilde zu schaffen. Da der Blitz das Attribut Gottes ist, müssen auch die den Blitz tragenden anderen Personen göttlich inspiriert sein; mit der Bezeichnung phantasiemächtige Schöpfer übertreffen sie gar das Genie, und ihre Gottähnlichkeit wird durch das metaphorische Weltgerüst Chamberlains zusätzlich verstärkt. Das schöpferische Auge, das im Kapitel zur Sehmetaphorik bereits beschrieben wurde, kann hier durchaus als bedeutungsverwandt zu Genie und Schöpfer interpretiert werden. Es ist an solchen Ausdrücken kaum zu übersehen, wie fließend die Übergänge zwischen Gott und diesen Ausnahmegestalten konzipiert werden. Doch der Eindruck wäre verfehlt, wenn man meint, solche Ausnahmegestalten seien zufällig zu Lichtträgern geworden. Für Chamberlain stellt die deutsche Sprache die wichtigste Fackel des Lichtwerdens dar. Kriegsaufsätze I / Dt. Sprache 25: man muß mitten in diesem mannigfaltigen Segen leben und weben, muß dessen Luft atmen, in dessen Licht arbeiten, in dessen Sonne lieben, unter dessen gütigem Schutze ruhen... Ach, und da fällt mir unsers so ganz und ausschließlich deutschen Schiller's Wort ein: "Sobald es Licht wird in dem Menschen, ist auch außer ihm keine Nacht mehr!" Vorläufig soll mir an diesem Worte genügen: was wir "Deutsch" nennen, ist das Geheimnis, wodurch es in dem Menschen Licht wird; und das Organ dieses Lichtwerdens ist die Sprache.
Chamberlain ist dem einzelsprachbezogenen nationalchauvinistischen Sprachidealismus verhaftet. Er metaphorisiert die deutsche Sprache als Organ der Erkenntnisprägung. Für ihn gilt: Ein Fackelträger wie Kant wäre ohne die deutsche Sprache nicht möglich gewesen (Gl 1068). Licht und Finsternis gehören auch deshalb zum Kernpunkt Chamberlain'scher Metaphorik, weil sie außer der Erkenntnistheorie mit der ersten Creatio, dem Schöpfungsakt, assoziiert werden und mit den damit verbundenen Ursprungsmythen. Allen voran steht die biblische Schöpfungsgeschichte, in der Gott den ersten schöpferischen Sprechakt vollzieht, indem er die Worte formuliert: Es werde Licht (Gen. 1, 3). Im Anschluss daran schied er in einem eigenen Unterscheidungsakt, aber auf dieselbe Weise, Licht und Finsternis (Gen 1, 5) voneinander. Über dasjenige, was davor da war, wird in der Genesisstelle nichts gesagt. In anderen, vor allem aus dem orientalischen Raum stammenden Schöpfungsmythen, ist es explizit das Chaos (RGG 1, 1640ff.), das den Urzustand vor der Schöpfung bildet. Gott ist alttestamentarisch der Chaosbeherrscher (ebd. 5,
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1474), indem er das Chaos bei der Schöpfung in eine Ordnung bringt. Das griechische Chaos, das man als >Kluft, Schlund< übersetzen müsste, bildet damit den Gegenpart zur aufzurichtenden Schöpfung. In vielen Belegen wird deutlich, dass Chamberlain Finsternis und Dunkelheit mit dem Chaos verbindet. Es repräsentiert die absolute Abwesenheit Gottes, das absolute Nichts, in das die Welt jederzeit zurückzusinken droht, die Rücknahme der Schöpfung. Chamberlain weist wieder ganz synkretistisch darauf hin, dass das Chaos nach hellenischer Vorstellung die Mutter des Erebos und der Nyx, der Finsternis und der Nacht sei (Gl 302; vgl. auch Hesiod, Theogonie 116). Chaos, Völkerchaos und Menschenchaos bleiben auf diesem Hintergrund immer religiös assoziiert. Und es ist nicht ganz unwichtig zu erwähnen, dass die tierischen Symbole für das Chaos der Drache (RGG 2, 259) und die Schlange sind. Der Assoziationsraum öffnet sich auf diesem Hintergrund nicht nur zum Literarisch-Mythischen. Denn Siegfrieds Kampf mit dem Lindwurm ist dann eine Miniaturausgabe des apokalyptischen Endkampfes zwischen Gott und dem Drachen (Apk 12, 9). In ähnlich komplexer Weise zu interpretieren ist Materialismus. Der Materialismus bzw. das Verfallensein an die Materie (Gen 3) ist das böse Prinzip und wird häufig durch Luzifer, den ersten gefallenen Engel, repräsentiert. Luzifer bedeutet eigentlich >Lichtbringer<. RGG 4, 553: Luzifer (lat. = Lichtbringer) bezeichnet den Morgenstern. Im Spottgedicht auf den König von Babel (Jes 14, 2 ff.) heißt es: »Wie bist du gefallen, Helal, Sohn der Morgenröte!« Aus der Kombination von Jes 14 mit Lk 10, 18 erwuchs so L. als Name für den Teufel (…). In der jüdischen Apokalyptik der späthellenistischen Zeit gelten die den Menschen verführenden Dämonen (…) als Nachkommen gefallener Engel.
Der von Gott abgefallene Teufel hat nach dieser Mythologie nicht aufgehört, sein Unheilswerk unter den Menschen anzurichten. Der Erlöser aus den Verstrickungen Luzifers ist Christus, den die Juden jedoch nicht anerkennen. Die antisemitischen Parallelisierungen zwischen dem auserwählten Volk, das seinen bevorzugten Platz an der Seite Gottes verloren habe, und dem gefallenen Engel Luzifer erfolgen bei Chamberlain vorwiegend vermittels des Wortes Materialismus. Immer dann, wenn er vom jüdischem Materialismus112 schreibt, meint er damit auch das Prinzip der Finsternis, weist er auch auf Luzifer und das Böse hin. So betrachtet ist das Fehlen direkter Vergleiche zwischen den Juden und Satan, wie wir es bei Hitler später in Mein Kampf vorfinden, bei Chamberlain gar nicht nötig. Seine subtile Art, doppelzüngig mit bildungsbürgerlichem Allgemeinwissen zu spielen, ist eines der Kennzeichen des gehobenen Sprachstils dieser Zeit.
_____________ 112 Z.B. Gl 476; 758.
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Materialismuskritik bedeutet seit Karl Marx natürlich auch Gesellschafts- und Kapitalismuskritik, nur hier in bildungsbürgerlich entsozialisierter Form. Ein Zitat wie das Folgende steht stellvertretend für viele andere und ist eine Zusammenfassung der mit der Lichtmetaphorik implizierten Welterklärung. Es interpretiert sich unter den beschriebenen Perspektiven von selbst. Würde man es jedoch ohne dieses komplexe Wissens- und Bildsystem rezipieren, so erschienen die Ausdrücke nur als leere Worthülsen. Deutschland wird darin zum letzten Gottesstreiter (Erzengel Michael), der sich gegen die niederträchtige Teufelsbrut zur Wehr setzt, gegen die Dämonen, die in Chamberlains Gesamtsystem natürlich immer jüdischer Religion sind. Der eschatologische Kampf, die Weltenschlacht, wird beschrieen, in der es nicht nur um die Entscheidung zwischen Gut und Böse geht, sondern durch die das endgültige Gericht herbeigeführt wird. Das Chaos deutet sich in seinen Symptomen schon an, sei es durch erkenntnisbezogene Begriffsverwirrung oder Wahnsinn, durch liberalistische Unterjochung oder Heillosigkeit. Die Ausdrücke für das Materialistische lesen sich wie eine Liste der typischen Stigmawörter der Antimoderne. Nur die Auserwähltheit der Deutschen steht der teuflischen Niedertracht der Feinde gegenüber, dem Teufelsgezücht, den Niederträchtigen, den Drachen, Würmern und Dämonen. Mit einer deutschen Niederlage im zeitgleich zur Abfassung der hier zitierten Schrift stattfindenden Weltkrieg hatte Chamberlain offensichtlich nicht gerechnet. Zuversicht 11ff.: Daß er hierbei die Völker überwinden muß, die dem Frondienst des Niederträchtigen verfallen sind, liegt auf der Hand; doch wir gelangen auf eine ganz andere Höhe, aus Nacht und Nebel zu strahlend hell beleuchtetem Waffengefilde, sobald wir an Stelle des öden politischen Wirrwarrs die gegenwärtige Weltenschlacht als das erblicken, was sie am letzten Ende ist: der Kampf auf Leben und Tod zwischen dem Niederträchtigen und dem Edelgesinnten. Gewiß ficht Deutschland für sein Recht aufs Dasein; seine Feinde machen kein Geheimnis daraus, daß sie das Reich zerstören, aufteilen, aus der Weltkarte austilgen wollen; doch die höhere und eigentliche Weihe erhält der Kampf erst aus der Einsicht, daß Deutschland nicht nur für seine eigene Existenz kämpft, sondern damit zugleich für das Dasein und die Sicherheit auf unsrem Gestirne überhaupt des Anstands, der Rechtlichkeit, der Menschenwürde, der wahren edlen Geistesfreiheit, für die allmähliche Hinaufführung unsers Geschlechtes auf eine höhere Stufe des Gemeinwohls, der geistigen und sittlichen Entwicklung. Deutschlands Feind ist nicht dieses und jenes Volk, sondern ein Ring von völlig seelenlosen, herzlosen, ehrlosen Geschäftsjobbern, welche die Unterjochung der ganzen Menschheit unter den einen Mamon beschlossen haben; Deutschland steht ihnen im Wege; um Deutschland wegzuräumen, haben sie von langer Hand alles vorbereitet und jetzt unter gewissenloser Ausnutzung der ungeheuren ihnen zur Verfügung stehenden Mittel heillose Begriffsverwirrung angestiftet und fast alle Völker der Erde in Wahnsinn gejagt. Diesem Teufelsgezücht gegenüber steht Deutschland als Gottes Streiter: Siegfried wider den Wurm, Sankt Georg, der Drachenbezwinger. Hier aber geht uns eine weitere Klarheit auf. Genau der gleiche Dämon
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der Niedertracht, der die anderen Völker unterjocht hat, war auch in Deutschland emsig am Werke; zehn Jahre später, und Gott hätte vielleicht auf Erden keinen Streiter mehr gefunden. Schon wandelte Deutschland am Rande des Abgrunds. Die Hochschätzung des Geldes, die Verspottung aller idealen Regungen, die wachsende Macht des undeutschen Teiles der Presse, die systematische Untergrabung der Verehrung des Königtums, des Heeres, der christlichen Überzeugungen: üble, verräterische Einflüsse waren am Werke, und ein großer Teil des deutschen Volkes blieb entweder stumpfsinnig oder ließ sich nach und nach auf die schiefe Ebene verlocken. Vielleicht wird einstens dieser Krieg als Deutschlands Errettung aus tödlicher Gefahr gepriesen werden. Indem der Deutsche, ob er es will oder nicht, zu Gottes Streiter gestempelt wird, MUß er das Niederträchtige aus seinem eigenen Busen verbannen; sonst schwindet alle Zuversicht.
3. 2. 7. Das Chaos und das antinationale Prinzip Eine der zentralen Thesen Chamberlains ist die Behauptung, der Untergang Roms sei Ursache und Produkt des bis ins 19. Jahrhundert hin wirkenden Völkerchaos, wobei er unter Völkerchaos ein durch das untergehende römische Imperium grossgezogene[s] rassenlose[s] Menschenchaos (Gl 8f.) versteht. Das Wort Chaos, das im letzten Kapitel bereits eingeführt wurde, steht ausdrücklich im Gegensatz zu Ordnung, zu schöpferischer Gestaltung (Gl 879), Konzentration und Organisation (Br II, 140). Die von Chamberlain als bedeutungsverwandt gesetzten Ausdrücke sind Wirrwarr, unentwirrbares Durcheinander, Verwirrung (Gl 655; 851), unaufhörliche Ruhelosigkeit (Weltstaat 39), Zerrissenheit (Gl 706), Anarchie (Gl 638), Degeneration, (charakterbarer) Urbrei (PI 85; Gl 305), Rassenlosigkeit, Bastardierung (Gl 633), Rassenbabel (Gl 258), chaotisches Mischmasch (321) oder nationloses, physiognomiebares Gemenge (Gl 350). Auffällig sind die parallelen Verwendungsweisen von Gobineau und Chamberlain, zumindest was die Ausdrücke Wirrwar (Gobineau 284), Unordnung (Gobineau 284), Verwirrung (Gobineau 284) und Menschenchaos (Gobineau II, 5/6.) betrifft. Für ersteren wie für letzteren ist das Chaos das Ergebnis der Rassenvermischung und damit die Ursache für den kulturellen Verfall (Gobineau IV, 63). Schon an den zitierten Bedeutungsverwandtschaften hat man sehen können, dass die Chaosmetaphorik wieder in ineinander verknoteten Strängen verläuft, dem explizit rassistischen und dem religiös-eschatologischen. Wieder gehen diese fließend ineinander über und legitimieren sich argumentativ gegenseitig: (GL 378): Versündigung an dem Geschlechte der Menschen, die wir in das Wort Völkerchaos zusammengefasst haben. Zum einen bedeutet Chaos die Abwesenheit von Rasse, d. h. also das Chaos unindividualisierter, artenloser Menschenagglomerate (Gl 350), zum anderen die Abwesenheit des guten Prinzips und die Anwesenheit des Teufels. Die Mächte des Chaos und die Kinder des Chaos (s. u.) sind konträre
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Analogiebildungen zu den Mächten des Lichts. Den gedanklichen Überbau dazu bildet das dualistische Prinzip der Gnosis, wie es oben beschrieben wurde. Das Chaos, das da war, noch bevor Gott die Welt erschuf, das mit den Attributen wüst und leer in der Genesis beschrieben ist, wird zum Ausgangspunkt einer Vielfalt von Bedrohlichkeiten, die alle irgendwie zwischen dem vorgöttlichen Ausgangspunkt und dem teuflisch verursachten Chaos des Weltuntergangs pendeln. Die drohende Kulturwüste ist einer der wichtigsten Topoi im Verfallsdiskurs Wagnerscher und Chamberlain'scher Prägung. Entsprechend ist es nicht zufällig, dass Chamberlain auf Wagner zurückgreift, der lange vor ihm von der Wildnis des entarteten Paradieses geschrieben hat.113 Das Chaos ist nicht nur der Ort und die Zeit vor der Anwesenheit Gottes, es ist auch das Ergebnis teuflischen Wirkens. Die Tiersymbole des Chaos sind Drache und Schlange und stellen religiös wie mythologisch die Feinde der guten "Helden" dar, sei es Christus, der der Schlange den Kopf zerstritt, sei es St. Georg in dessen Nachfolge oder der schon erwähnte Siegfried mit dem Drachen. Der Hinweis auf den chaotische[n] Tag des Gerichts (Kriegsaufsätze I / Deutschland 77) führt diese Tradition konsequent hin zum Tag des jüngsten Gerichts, in dem der Weltkampf endgültig entschieden wird. GL 378: Beide [Karl der Grosse / Goethe] waren Ritter im Kampfe gegen die Mächte des Chaos, beide Gestalter; beide "bekannten sich zu dem Geschlecht, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt". Nein und tausendmal nein! Die Vernichtung jenes Undinges eines unnationalen Staates, jener Form ohne Inhalt, jenes seelenlosen Menschenhaufens, jener Vereinigung der nur durch gleiche Steuern und gleichen Aberglauben, nicht durch gleiche Herkunft und gleichen Herzschlag aneinandergeknüpften Bastarde, jener Versündigung an dem Geschlechte der Menschen, die wir in das Wort Völkerchaos zusammengefasst haben – sie bedeutete […] das Anbrechen eines neuen Tages. Doch bis heute ist es uns noch nicht gelungen, alle Gifte jenes Chaos aus unserem Blute zu entfernen. Auf weiten Gebieten behielt schliesslich das Chaos doch die Oberhand. Überall, wo der Germane nicht zahlreich genug auftrat, um physisch die übrigen Einwohner durch Assimilation zu überwinden, also namentlich im Süden, machte sich das chaotische Element immer mehr geltend. […] Ich weiss nicht, ob man schon bemerkt hat, wie eigentümlich genau die heutige Grenze der römischen Universalkirche mit der früher bezeichneten durchschnittlichen Grenze des römischen Imperiums zusammenfällt, also mit der Grenze der chaotischen Bastardierung?
Dass derartige Vergleiche sich in der Zeit des Weltkrieges häufen, ist kaum verwunderlich. Die Chaosmetapher repräsentiert eine Metaphorik der Krisenzeiten, da sie dramaturgisch gut einsetzbar ist und historisch soziale Kategorien ins Grundsätzliche hebt. Drei große Krisen stechen in Chamberlains Ausführungen heraus: 1. die Zeit des Völkerchaos, darunter versteht er konkret den Zeitraum des _____________ 113 Vgl. dazu: Wagner 9, 126; Chamberlain, Wagner 235.
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Zusammenbruchs des römischen Reiches, der Völkerwanderung und der Umwandlung des Christentums in eine Staatskirche, dann 2. der Dreißigjährige Krieg in seinen Folgen für Deutschland. und schließlich 4. der schon erwähnte I. Weltkrieg. Man müsste hier auch noch das 13. Jahrhundert ergänzen als diejenige Phase in Chamberlains Geschichtskonzept,114 in der der Germane nach den langen Jahrhunderten des dunklen Mittelalters zum Retter der Kultur avanciert. Doch bildet dieser Vorgang geradezu die argumentative Zielrichtung der Völkerchaoslegende und wird zum Ausgangspunkt der germanischen Wende. Sie ist insofern keine Krisen-, sondern eine Wendephase. Eine solche Einteilung muss als Teleologie gelesen werden, da für Chamberlain die Zeit des Chaos mit dem Völkerchaos begonnen hat, im 13. Jahrhundert von den Germanen zumindest im Norden aufgehalten worden ist, während des 1. Weltkriegs aber einen neuen Höhepunkt erfährt und nun zur Entscheidung drängt. Über diesen tausendjährigen Kampf (Gl 769) hinweg sind es immer dieselben Feinde, gegen die es anzukämpfen gilt, die Juden (Gl 759). Sie repräsentieren die Mächte des Chaos und sind fast gebetsmühlenartig für die chaotische Bastardierung (Gl 378), also für das Völkerchaos verantwortlich. Die wichtigsten sichtbaren Auswirkungen dieses bösen Prinzips seien die in der Zeit des Völkerchaos, das ist die Zeit des Hl. Augustins, entstandenen Rassenvermischungen, damit einhergehend der Niedergang der Sitten, Kultur und Moral. Nur wenige Ordnungsfaktoren bleiben, so Chamberlain, als erlösende Mittel aus diesem Chaos übrig, das wichtigste darunter, neben der neu zu schaffenden germanischen Religion und der Rassenreinigung, ist das Prinzip der Nation (Gl 347). Rasse, Religion und Nation werden insgesamt zur fundamentalen Trinität in Chamberlains Argumentation, negativ in absentia zum Inbegriff des Chaos, positiv und programmatisch zum Inbegriff der Rettung aus dem Chaos. Gl 347: Wir werden über die Bedeutung der Nationen für Rassenbildung ganz anders urteilen. Das römische Reich in seiner Imperiumzeit war die Verkörperung des ANTINATIONALEN Prinzips; dieses Prinzip führte zur Rassenlosigkeit und zugleich zum geistigen und moralischen Chaos; die Errettung aus dem Chaos geschah durch die zunehmend scharfe Ausbildung des entgegengesetzten Prinzips der NATIONEN.
Der Nationalismus des 19. Jahrhunderts ist in Chamberlains Schriften in jedem Absatz greifbar. Seine bevorzugte Spielart ist die rassistische Variante, in der das Chaos durch eine radikalnationale Orientierung beseitigt wird, d. h. indem es durch nationale Züchtungsrichtlinien, also durch klare Abgrenzung von anderen vermeintlichen "Rassen" kanalisiert wird. Rasse und Nation vermischen sich in der Regel zu Synonymen, wie auch germa_____________ 114 Vgl. dazu: Lobenstein-Reichmann 2008.
341 Chamberlains Ideologiemetaphern
nisch spätestens seit Ausbruch des 1. Weltkriegs bei Chamberlain nur noch deutsch bedeutete. Allein die Germanen konnten sich dem Chaos entgegenstellen. Das chaotische Gegenbild zeigt sich in Ausdrücken wie Internationalismus, halbschlächtige Menschen, Charakterlosigkeit, Pöbel, fehlendes Vaterlandsgefühl, Völkerchaos. GL 650f.: Was Alexander begonnen, hatte Rom in gründlicherer Weise vollendet: es herrschte in jenen Gegenden ein Internationalismus, von dem wir uns heute schwer einen Begriff machen können. Die Bevölkerungen […] Kleinasien[s] entbehrten jeglicher Rasseneinheit: in Gruppen lebten Hellenen, Syrier, Juden, Semiten, Armenier, Ägypter, Perser, römische Soldatenkolonien, Gallier […] durcheinander, von zahllosen halbschlächtigen Menschen umgeben, in deren Adern alle individuellen Charaktere sich zur vollkommenen Charakterlosigkeit gemischt hatten. Das Vaterlandsgefühl war gänzlich geschwunden, weil jeder Bedeutung bar; gab es doch weder Nation noch Rasse; Rom war für diese Menschen etwa, was für unsern Pöbel die Polizei ist. Diesen Zustand habe ich durch die Bezeichnung VÖLKERCHAOS zu charakterisieren […] versucht. Durch dieses Chaos wurde nun ein zügelloser Austausch der Ideen und Gebräuche vermittelt; eigene Sitte, eigene Art war hin.
Seine auf das 'Völkerchaos' bezogenen Darlegungen pointiert er am Beispiel Augustins. Der Hl. Augustinus, der lange Jahre dem Manichäismus zugetan war, wird beschrieben als ein Atom unter Atomen im uferlosen Meer des sich immer weiter auflösenden Völkerchaos (Gl 689), seine Zeit als vaterlandslos, rassenlos und religionslos (s. u.), womit er die entscheidenden Kennzeichen seiner Chaostheorie noch einmal genannt hat. Interessant bei der Charakterisierung des wichtigsten Kirchenvaters ist der versteckte Hinweis auf den Manikult. Chamberlain zeigt damit, dass er in der katholischen Kirche, seinem zweiten Hauptfeind, nur eine Art Ersatz-Ordnungsfaktor in unruhigen Zeiten sieht, zu dem der dann doch geehrte Augustin sich mangels Alternativen geflüchtet hat. Die Kirche sei zwar eine rettende, ordnende, einigende und weltbeherrschende Macht (s. u.), aber geographischer Mittelpunkt des Völkerchaos und damit nur ein Kitt […] in einer aus den Fugen geratenen Welt (Gl 753). Bezeichnend ist die Aussage, dass Augustin den besseren Teil seiner Religion dabei opfern musste. GL 706: Kein Mensch bietet uns ein so edles, doch zugleich so trauriges Beispiel der Zerrissenheit, welche das also organisierte Christentum in den Herzen verursachte, wie Augustinus. […] man kann nicht lange darin [Schrift von ihm] lesen, ohne es im Herzen beklagen zu müssen, dass ein solcher Geist, […], dennoch gegen die Mächte des Völkerchaos, dem er selbst – vaterlandslos, rassenlos, religionslos – entstiegen war, nicht aufzukommen vermag, so dass er zuletzt in einer Art wahnsinniger Verzweiflung das eine einzige Ideal erfasst: die römische Kirche als rettende, ordnende, einigende, weltbeherrschende Macht – koste es, was es wolle, koste es auch das bessere Teil seiner eigenen Religion – organisieren zu helfen.
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Berücksichtigt man den gnostischen Hintergrund, wird der Kirche hier ein Status zugeschrieben, der sie nahe an den Rand des Bösen stellt. Zumindest macht Chamberlain die monastischen Kirchenväter für den rassischen Niedergang verantwortlich und zu Komplizen des Bösen. Gl 310: Jene Männer aus dem Chaos also, welche die Zeugung für eine Sünde und die gänzliche Enthaltung von ihr für die höchste aller Tugenden hielten, sie begingen ein Verbrechen gegen das heiligste Gesetz der Natur, sie suchten durchzusetzen, dass alle guten, edlen Männer und Frauen ohne Nachkommenschaft blieben und nur die bösen sich vermehrten, d. h. sie thaten, was an ihnen lag, um die VERSCHLECHTERUNG des Menschengeschlechtes herbeizuführen.
Verstärkt wird dieser Eindruck durch den Hinweis auf den Juden Paulus, das Zwitterwesen, wie er ihn nennt (Gl 691). Chamberlain preist und verdammt ihn gleichermaßen, indem er ihn für die geistige und religiöse Verwirrung der nachfolgenden Jahrhunderte verantwortlich macht. Die semantisch ineinander übergehenden Isotopieketten zu Chaos und Kampf sind kaum zu übersehen: unlösbare, feindliche Widersprüche, das Widerspruchsvolle, das unselige Zwitterhafte, Verirrung, Verwirrung, auch das Wort Babel, und der Hinweis auf das Kakophonische bilden die eine Seite des Rahmens, das Unbegreifliche in den nie endenden Streitigkeiten, Zwist säen und Kampf bis in das Herz des Einzelnen fortpflanzen den anderen. Chaos ist in dieser Argumentationsführung sowohl physische wie auch psychische Unordnung, das Fehlen von Erkenntnis, von Wahrheit und Eindeutigkeit und in der gnostischen Argumentation die Abwesenheit Gottes. Die Kirche wird, subtil protestantische Traditionen aufgreifend, auf die Seite des Antichristen gestellt. GL 703f: mir lag daran zu zeigen: erstens, dass er [Paulus] durch Einführung des jüdischen chronistischen und materiellen Standpunktes auch das unduldsam Dogmatische mit begründet und dadurch namenloses späteres Unheil veranlasst hat, und zweitens, dass, selbst wenn wir auf den reinen, unverfälschten Paulinismus zurückgehen, wir auf unlösbare, feindliche Widersprüche stossen – Widersprüche, die in der Seele dieses einen bestimmten Mannes historisch leicht zu erklären sind, die aber, zu dauernden Glaubenssätzen für alle Menschen gestempelt, notwendiger Weise Zwist zwischen ihnen säen und den Kampf bis in das Herz des Einzelnen fortpflanzen mussten. Dieses unselige Zwitterhafte ist denn auch von Beginn an ein Merkmal des Christentums. Alles Widerspruchsvolle, Unbegreifliche in den nie endenden Streitigkeiten der ersten christlichen Jahrhunderte, […] – die späteren Verirrungen des menschlichen Geistes in der Scholastik, […], das Ganze übertönt von der schrillen Stimme der Blasphemie, während viele der edelsten Menschen sich beide Ohren zuhalten, da sie lieber gar keine Heilsbotschaft vernehmen, als eine derartig kakophonische..... das alles hat seine letzte Ursache in dem zu Grunde liegenden Zwitterhaften des Christentums.
Im Chaosgedanken werden der Rasse-, der Religions- und der Nationsbegriff zusammengefasst. Wenn Chamberlain vom Völkerchaos schreibt, so versteht er darunter das Fehlen aller drei Aspekte gleichzeitig, inklusive
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der damit verbundenen Drohkulissen und Gebrauchsanweisungen. Seine neue "germanische Trinität" bildet die Voraussetzung für Schönheit, Harmonie und Kultur, den ästhetischen Gegenbegriffen zum Chaos. Mit Hilfe dieser "Trinitäten" könnte man Chamberlains Chaosperiodisierung folgendermaßen einteilen. Als die Nationenbildung mit der deutschen Reichsgründung für Chamberlain einen vorläufigen Abschluss gefunden hatte, sah Chamberlain darin den Beweis, dass Deutschland aus dem Chaos des Dreißigjährigen Krieges und der darauf folgenden Läuterungsphase wie der Phönix aus der Asche wiedergeboren worden war und nun seiner welthistorischen Bestimmung nachkommen könne. Kriegsaufsätze I / Deutschland 83: So gelangen wir dazu, den unheilvollen Dreißigjährigen Krieg, […], als nur eine Episode in einem Prozeß der Klärung, der Gesundung, der Läuterung zu betrachten, als eine notwendige Umbildung entgegen einer neuen, neue Formen beanspruchenden Zeit, ein Vorgang, der nur darum schließlich zum Heil führte, weil Deutschland während dieser langen Prüfungszeit sich in den verborgenen Tiefen seines Wesens treu blieb und somit rein.
Doch müsse dieser Nationenbildung nun noch eine weitere Reformation folgen. Noch während des I. Weltkrieges schrieb er euphorisch von der deutschnationalen Erneuerung als Mittel gegen das weltweite Chaos. In dieser Zeit hatte er sein Feindbild der Situation gemäß von den Juden auf die chaotische Zuchtlosigkeit der Tango tanzenden Nachbarn (ebd. 82) erweitert, was übrigens auch seine englischen Landsleute mit einschloss.
3. 2. 8. Schlaf- und Erweckungsmetaphorik: Deutschland erwache! Nachdem der greise Chamberlain 1923 Hitler persönlich kennen gelernt hatte, schrieb er ihm einen langen, enthusiastischen Brief. Darin bezeichnete er ihn als Erwecker der Seelen aus Schlaf und Schlendrian, der ihm mit seinem Besuch einen erquickenden Schlaf (Br II, 124) nach langer Schlaflosigkeit geschenkt habe. Das offensichtliche Paradoxon des Schlaf spendenden Erweckers löst er auf, indem er erklärend hinzufügt, dass der wahre Erwecker zugleich Spender der Ruhe ist. Bei diesen Worten steht das Bild des Gralskönigs Amfortas im Hintergrund. Amfortas kommt erst zur Ruhe, nachdem er von Parsifal erlöst worden ist. Für die Eingeweihten sind damit die Rollen verteilt: Amfortas ist Chamberlain, Parsifal ist Hitler. Die Ausdrücke Schlaf, Erweckung, Erwecker, Aufwachen und das Wachsein bilden den Rahmen einen weiteren Metaphernfeldes. Es handelt sich um eine Tradition, die vor allem in zwei sprachlichen Domänen verankert ist, nämlich im Bereich der Religion und dem der Politik bzw. der politischen Propaganda. Die Grenzen werden im Gebrauch fließend überschritten, so dass das Wort Erweckung mit seinen sakralsprachlichen Konnotationen
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dem Politischen einen zusätzlichen religiösen Assoziationsraum verleiht, wie umgekehrt das Religiöse zum Politikum werden kann. In Chamberlains Schriften begegnet in der Regel das Bild des Erweckens und Aufwachens, nicht das des zur Ruhe kommenden Menschen. Für ihn war die politische Situation selbst im Kaiserreich nicht dazu geeignet, das Deutschtum zur Ruhe kommen zu lassen, sondern er fühlte sich geradezu missionarisch dazu verpflichtet, es mit seinen Schriften zu seiner "wahren" Bestimmung zu erwecken. Der Briefwechsel mit Kaiser Wilhelm gibt darüber beredt Zeugnis. Als der Kaiser abgedankt hatte und der Krieg verloren war, hatte Chamberlain kurzfristig den handelnden Erwecker, die über allem stehende Schicksalsgestalt, verloren. In Hitler fand er jedoch schon bald Ersatz. Die Idee, Hitler als einen Erwecker und Beruhiger zu betrachten, eben als eine Art Parsifal, wird in nationalsozialistischen Kreisen fortgeführt. Abgesehen von der hiermit angedeuteten Wagnertradition führt die Erweckungsmetaphorik auch zurück zur frühprotestantischen Liedtradition. Diese Tradition soll in einem kurzen Exkurs in ihrer Wirkung angedeutet werden. Während der reformatorischen Zeit lässt sich theologisches Interesse nicht vom politischen trennen. Im evangelischen Gesangbuch findet man unter der Nummer 145 ein auch heute noch sehr bekanntes Lied Johann Walthers aus dem Jahr 1561.115 Es gilt aufgrund bewusst funktionalisierter Interpretationen sowohl in nationalsozialistischen Kreisen zu Hitlers Zeiten als auch in national gesinnten Kreisen von heute als Weckruf zur nationalen Wiedergeburt.116 Dass der Protestantismus von diesen Gruppen gerne als "deutsche" Religion vereinnahmt wurde und da die Reformation eine gesellschaftliche Umwälzung Deutschlands mit sich gebracht hatte, die nicht ohne Agitation und Kampf vonstatten gegangen war, liegen Uminterpretationen in diesem Sinne nahe. Besonders gefördert werden sie durch die in der Reformation durchaus übliche drastische Sprache. Doch während der Liedtext im zeithistorischen Kontext der Reformation Teil eines Bußliedes ist, in dem der Mensch zur Rechenschaft für seine Sünden aufgefordert und zur radikalen Umkehr aufgerufen wird, auch zum Dank gegenüber Christus, der – natürlich kernprotestantisch – allein in der Lage sei, sich dem Bösen entgegenzustellen, wird das ehemalige Demutslied von völkisch und nationalsozialistisch ausgerichteten Gruppen in einer der üblichen rezeptionsgeschichtlichen Umprägungen ins Nationalpatriotische gewendet. Passend dazu wird die unten zitierte Strophe, bei Walther übrigens die zweiund_____________ 115 Evangelisches Gesangbuch 1995. Vgl. dazu: Mager, Kommentar zu: Wach auf, wach auf, du deutsches Land 2002, 78-81. 116 Vgl. z.B. auf der Homepage eines NPD-Kandidaten zur Landtagswahl 2006: http://www.npd-hn.de/wahlen_ltw_06_gaerttner.htm (9. 4. 2006).
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zwanzigste von sechsundzwanzig, auf rechtsorientierten Internetseiten von heute zumeist als zweite Strophe und letzte aufgeführt. Ohne den originären Zusammenhang wird der Interpretationsspielraum weit geöffnet, und das Lied kann als Appell zum blutigen nationalpatriotischen Kampf verstanden werden. Während bei Walther dem 'reformatorischen Retter' Martin Luther117 gehuldigt wird, geht es in der nationalistischen Übertragung um den 'Führer' Hitler. Das Legitimationspotential der Reformation ist groß, vor allem, wenn man Christus und Luther, die hier doppelsinnig als das 'höchste Pfand' angesprochen werden, durch ganz und gar nicht religiöse Führergestalten, vor allem eben Hitler, ersetzt und ihn damit auf die gleiche Ebene wie die Vergleichspersonen hebt. Religion und Politik werden damit propagandistisch wirksam zusammengeführt. Höchst brisant ist diese Strophe in Krisenzeiten, vor allem wenn die sprachlich konstruierte Drohkulisse mit einer real empfundenen Bedrohung einhergeht, so im ersten Weltkrieg, besonders aber in jenen Krisenjahren der Weimarer Republik, in denen die Nationalsozialisten ihren größten Zulauf hatten. 118 1. Wach auf, wach auf, du deutsches Land! Du hast genug geschlafen. Bedenk, was Gott auf dich gewandt, Wozu er dich erschaffen. Bedenk, was Gott dir hat gesandt Und dir vertraut sein höchstes Pfand, Drum magst du wohl aufwachen 2. Wach auf, Deutschland! Ist hohe Zeit, Du wirst sonst übereilt, Die Straf' dir auf dem Halse leit, Ob sich's gleich jetzt verweilet. Fürwahr, die Axt ist angesetzt Und auch zum Hieb sehr scharf gewetzt, Was gilt's, ob sie dein fehlet.
Das Bild eines erwachenden Deutschland, Metapher und Personifikation zugleich, findet sich außerdem immer wieder in Liedern, Gedichten und Mythen. Man erinnere sich einerseits an den schlafenden Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser, der in der Stunde der Not wieder erwacht und sein Reich vor dem Untergang bewahrt, aber auch an das Gegenbild, die Lieb_____________ 117 Vgl. bei Walther die 21. Strophe: "Martinus Luther, Gottes man, / hat Deudschland offt vermanet, / Man solz von Sünden abelan, / ein grosse straff jm anet, / Gott würd an Deudschland straffen hart / den vndanck an seim gnaden Wort, / keins vndancks Gott nicht schonet". Zitiert nach: Deutschland! Deutschland? 2002, 54. 118 http://ingeb.org/Lieder/wachaufl.html. Harmlos auftretende Seite, auf der aber unzählige nationalsozialistische Lieder zu lesen und zu hören sind. (Stand: 9. 4. 2006)
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lingsgestalt der deutschen Karikaturisten, den deutschen Michel mit der Schlafmütze. Das Bild des Erwachens präsupponiert eine Nation, die sich entweder im Zustand des Schlafens, eines "bösen Traums" oder der Ohnmacht befindet, sich aus diesem Grunde nicht wehren kann bzw. sich ihrer Bestimmung nicht bewusst ist. Der inhärente Weckruf muss als ein Appell zu Aufruhr und Widerstand gelesen werden, den sich besonders die Nationalsozialisten zu eigen gemacht haben. Die Parole Deutschland erwache gehört ebenso zum nationalsozialistischen Gedankengut wie die beständig aufrecht erhaltene Behauptung der Wehrlosigkeit in einer Zeit höchster Bedrohung. Führergestalten, mögen sie nun in Luther oder Hitler gesehen werden, vermitteln Vertrauen in höhere Mächte und können so Zuversicht im bevorstehenden Kampf wecken. Das Lied Sturm, Sturm, Sturm Deutschland erwache aus Hans Ganßers Liederbuch, das er 1922 Adolf Hitler zugeeignet hat und das 1923 im Hoheneichen Verlag publiziert wurde, zeigt dies. Es stammt von Hitlers Mentor Dietrich Eckart (1919/23). Sturm, Sturm, Sturm, Sturm, Sturm, Sturm! Läutet die Glocken von Turm zu Turm! Läutet, daß Funken zu sprühen beginnen, Judas erscheint, das Reich zu gewinnen, Läutet, daß blutig die Seile sich röten, Rings lauter Brennen und Martern und Töten, Läutet Sturm, daß die Erde sich bäumt Unter dem Donner der rettenden Rache! Wehe dem Volk, das heute noch träumt! Deutschland, erwache, erwache! Sturm, Sturm, Sturm, Sturm, Sturm, Sturm! Läutet die Glocken von Turm zu Turm, Läutet die Männer, die Greise, die Buben, Läutet die Schläfer, aus ihren Stuben, Läutet die Mädchen herunter die Stiegen, Läutet die Mütter hinweg von den Wiegen. Dröhnen soll sie und gellen die Luft, Rasen, rasen im Donner der Rache, Läutet die Toten aus ihrer Gruft! :||: Deutschland, erwache, erwache!
Der Assoziationsrahmen ist offensichtlich. Es geht um Bedrohung durch existentielle Gefahren, um die richtigen Reaktionen darauf, das Vertrauen auf von Gott dazu auserwählte Persönlichkeiten, seien sie selbst göttlicher Natur (Christus) oder mythologischer (Barbarossa) oder "heiliger" wie Luther. Der Erwecker der Toten kann sich mit dem bzw. den Erweckten verbinden, ein Kontext, den man nicht vergessen darf, wenn man zum Beispiel Bruno Schestaks 1937 in Dresden veröffentlichtes Lied Deutschland erwache interpretiert. Wie in der Lichtmetaphorik sind diese Bilder
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immer pseudoreligiöser Art und basieren auf allseits bekannten Heils- und Erweckungsvorstellungen. Deutschland erwache119 1. Deutschland erwache aus deinem bösen Traum! Gib fremden Juden in deinem Reich nicht Raum! |: Wir wollen kämpfen für dein Auferstehn! Arisches Blut soll nicht untergehn! :| 2. All diese Heuchler, wir werfen sie hinaus, Juda entweiche aus unserm deutschen Haus! |: Ist erst die Scholle gesäubert und rein, Werden wir einig und glücklich sein! :| 3. Wir sind die Kämpfer der N.S.D.A.P.: Treudeutsch im Herzen, im Kampfe fest und zäh. |: Dem Hakenkreuze ergeben sind wir. Heil unserm Führer, Heil Hitler dir!
Die Wirksamkeit des protestantischen Kirchenliedes aufgreifend, das gerade in der Frühphase mit Luthers Kirchenlied Eine fest Burg ist unser Gott ein ausgeprägtes Kampflied sein kann, nutzen die Nationalisten dazu, ihre eigenen politischen Bestrebungen religiös zu verbrämen. Offen werden Judas und die Juden als 'altböser Feind' angegriffen und wird die Sakralität der Führerfigur hervorgehoben. Hinzu kommt die Heilsutopie, die über den Tod hinausgeht, das Versprechen auf Wiedergeburt und Auferstehung. Auch wenn er nicht explizit genannt wird, Chamberlains arischer Mensch soll das Ergebnis einer solchen Wiederauferstehung sein. Chamberlain ist kataphorisch und anaphorisch dieser metaphorischen Erweckungstradition verhaftet. Das Verb erwachen verwendet er regelmäßig und vor allem gern im Hinblick auf zwei Bezugsgrößen: 1. den Germanen und 2. Deutschland. Das von ihm gemalte Bild imaginiert zumeist eine metaphysische Bewegung, ein Sich-die-Augen-Reiben nach der Wahrnehmung neuer Erkenntnisse bzw. ein Sichstrecken, nachdem man als Produkt eines wundersamen Schöpfungsaktes zu sich selbst gekommen ist. Beides zusammen bildet die Voraussetzung für tatkräftiges Handeln, das auf das Erwachen folgen soll. Das Erwachen ist entweder erkenntnistheoretisch assoziiert oder kreativistisch, meistens jedoch beides zugleich. Entsprechend sind die Gegensatzausdrücke entweder schlafen (IuM 11) oder einlullen (Wille 15), sich selbst vergessen (Kriegsaufaufsätze I / Deutschland 88), die geistig tötenden Bande Romas abschütteln (Gl 1145) oder erlöschen und ausrotten (Gl 1078). Diese Doppelsinnigkeit setzt sich in jeder Hinsicht fort. Und die häufig vorkommende parallele Nutzung verstärkt die sich gegenseitig _____________ 119 http://www.morgenrot.pl/deuterwache.html
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assoziierende Verkettung. Die Frage nach dem Zweck des Erwachens wird oft dadurch explizit gemacht, dass das Verb erwachen mit der Präposition zu erscheint: z. B. zur wahren Besinnung über sich (Kriegsaufsätze I / Deutschland 88; ähnlich AW 67), zur Selbständigkeit (Gl 1145), zur Kunst (Gl 1140), aber eben auch zum Leben (s. u.). Die Parallelen zur Lebensphilosophie sind ebenso wenig zu übersehen, wie die Anlehnungen an die Schöpfungsgeschichte des aus dem Chaos geschaffenen Menschen: GL 375: Zeit des wilden Kampfes, in jenem Fieber, durch welches allein die europäische Menschheit genesen und aus dem bösen Traum der entarteten, fluchbeladenen Jahrhunderte des scheinbar geordneten Chaos zu frischem, gesundem, stürmisch pulsierendem, nationalem Leben erwachen sollte.
Im Erwachen des Ariers aus dem Chaos zum Leben, von dem hier die Rede ist, sieht Chamberlain die Voraussetzung für einen weiteren Schöpfungsakt, nämlich das Entstehen einer neuen Welt (Gl 7). Deren Schöpfer ist aber selbst geschaffenes Geschöpf, jedoch eines, das als Sekundärschöpfer die gesamte Kulturgeschichte prägt. Die ersten Regungen echter bildender Schöpfungskraft [lägen] bei den Germanen (Gl 1162; ähnlich Gl 526). Für Chamberlain beginnt mit den Germanen die zweite Schöpfungsgeschichte, die darüber hinaus auch eine zweite Heilsgeschichte darstellt. Wieder ist es Wagner, der das bestimmende Bild vom Erwachen, wohl in Anlehnung an den schlafenden Gralswärter, vorgegeben hat. Chamberlain zitiert ihn wörtlich: Zuversicht 15: Zu tieferen Gedanken regt eine weniger geläufige Bemerkung Richard Wagner‘s an: "Anstreitig ist der ganzen Anlage des Deutschen eine große, anderen Nationen kaum erkennbare Aufgabe vorbehalten"; die Anlage bezeichnet Wagner als "den Geist reiner Menschlichkeit", die Aufgabe faßt er zusammen, die Deutschen seien "zu Veredlern der Welt bestimmt"; und als letztes Ziel dieser Veredlung schwebt ihm vor: "das Erwachen des Menschen zu seiner einfach-heiligen Würde".
Die Germanen sind zugleich Objekt und Subjekt der Veredelung der Menschheit. Sie können ihrer Bestimmung in zweierlei Hinsicht nachkommen, zum einen dadurch, dass sie aus dem Schlaf aufwachen, und zum anderen, dass sie als Erweckte selbst zur erweckenden Tat schreiten. Diese Tat ist sowohl kulturschöpferischer als auch eschatologischer Art. Als Erweckte werden erstens menschliche Kulturschöpfer wie Homer genannt, zweitens Religionsstifter, allen voran Christus, der erste göttliche, aber menschgewordene Erwecker: Gl 228: Oder wieder ein Homer! Dieser erweckt als erster das hellenische Volk zum Bewusstsein seiner selbst; um das zu können, musste er die Quintessenz alles Griechentums im eigenen Busen bergen. Wo aber ist das Volk, welches von Christus zum Leben erweckt, sich dadurch das kostbare Recht erworben hätte […] Christum als den Seinigen zu bezeichnen?
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Der Sekundärerwecker ist der von Gott auserwählte Mensch, der Arier, bei dem die Übergänge von Christus zum Menschen fließend werden bzw. der analog zu Christus zwischen Gott und Mensch steht. Im folgenden Beleg erscheint er unter seinem Pseudonym / Synonym Indogermane: AW 13: In einer Ideenwelt erzogen, […], vernahm unser Ohr plötzlich die Stimme des verwandten Indoeuropäers. Es war das ein Weckruf. […] jetzt wurden wir unseres eigenen Willens Herren und schritten bewußt in die Zukunft hinaus. […] es war […] die Geburt eines Neuen, das allmähliche Erstarken und Auswachsen eines frischen Triebes des unerschöpflich reichen europäischen Völkerstammes, des europäischen geistigen Fürstentums. Dies war die Wirkung des Menschen auf den Menschen, und diese Wirkung […] war das Humanistische an jener epochemachenden Aufdeckung vergangener Menschengröße.
Diese Argumentation ähnelt zwar der griechischen Halbgöttermythologie, basiert aber in erster Linie auf dem theologischen Grundsatz der Anthroposophen, wie sie von der Gnosis übermittelt und im Abschnitt zur Lichtmetaphorik bereits angedeutet worden ist. Sie lebt von der Idee, dass der Mensch sich selbst erlösen könne, zum erlösten Erlöser wird. Christus ist nach dieser Vorstellung der Auslöser und der Mitstreiter in der Selbsterlösung, aber nicht derjenige, der die Erlösung allein vollzieht, eine Vorstellung übrigens, die Luther und die Reformatoren als absolute Ketzerei betrachtet hätten. Sie steht in vollkommenem Gegensatz zur Demutstheologie und zweifelt Gottes Allmacht an. Aus dem Menschen als eines von Gott geschaffenen und befreiten Wesens wird bei Chamberlain ein selbst handelndes, sich selbst und andere erschaffendes Götterwesen. Der Erwachte wird zum Retter, zum Schöpfer, aber auch zum Gottesstreiter im Kreuzzug gegen das Böse. Gl 244: Der Mensch will aber nicht mehr ein Instrument sein; und hatte immer sich Götter geschaffen, wie er sie wollte, so empörte sich jetzt der Mensch gegen die moralische Tyrannei der Natur und schuf sich eine erhabene Moral, wie er sie wollte; nicht mehr den blinden Trieben, und wären sie noch so schön durch Gesetzesparagraphen eingedämmt und eingezwängt, will er gehorchen, sondern einzig seinem eigenen Sittengesetz. In Christus erwacht der Mensch zum Bewusstsein seines moralischen Berufs, dadurch aber zugleich zur Notwendigkeit eines nach Jahrtausenden zählenden inneren Krieges.
Während die Bestimmung des Erwachens die Veredelung war, ist das Ziel der Sieg im eschatologischen Kampf um das Heil der Menschheit. Christus gilt dabei zwar als der wichtigste menschliche Erwecker, doch seine Bedeutung wird dadurch relativiert, dass Chamberlain deutlich macht, auch der Mensch sei in der Lage, sich seine Götter selbst zu schaffen. Und hier schließt sich wieder der Erweckungskreis, denn wenn er dieses zu leisten vermag, was ja explizit für menschliche Ausnahmegestalten wie Homer und Goethe behauptet wird, dann ist es ihm auch ein Leichtes, selbst zum Erwecker zu werden. Nun ist es auch nicht mehr Jesus allein,
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der die Menschen das Beten lehrt, sondern Goethe, der zusätzlich noch als allwissend vergöttlicht wird. Wille 16: Soll der Tiefwille ein ganzes Volk ergreifen und mitreißen, so muß eine ungewöhnliche Macht ihn wecken, und diese Macht ist die der über das gewöhnliche Maß hinausragenden Persönlichkeit. Goethe hat uns beten gelehrt: Komm, heiliger Geist, du Schaffender! Und alle Seelen suche heim.
Erweckung und Wiedergeburt erfolgen im Diesseits und werden in Chamberlains ganz und gar nicht christlich bestimmtem Christentum deutschnational definiert. Sie beruhen auf kulturchauvinistischen Argumenten, in denen der Deutsche Goethe zum Menschenideal bestimmt wird und mit ihm das Deutschtum insgesamt. Deutschland 91f.: Welches Volk hat je einen solchen Mann wie Goethe besessen? [...]. Die Weisheit fließt aus seinem Munde wie aus einem ewig sprudelnden Quell, Jedem zugänglich, Jedem zuträglich, Jeden fördernd, bessernd, adelnd. In der Gestalt dieses Mannes lernt man das noch so wenig bekannte, widergeborene Deutschland kennen; […] So wurde gleich in der ersten Dämmerungsstunde des neuen mächtigen Reiches auch das neue Menschenideal vor uns aufgestellt: der vollkommene deutsche Mann. Denn ich wiederhole es: das alte Deutschland […] – ist zwar noch vorhanden, es ist aber ein neues Deutschland geworden; sonst lebte es ja nicht, oder lebte nur als zahnloser, zitternder Greis; hingegen es aus dem Scheintode als der jüngste, lebensfähige aller Staaten der Welt hervorgegangen ist. Auch das wußte Goethe, wie er überhaupt Alles wußte.
Die nahezu religiöse Überhöhung Goethes, die nicht nur wegen der verwendeten Quellmetaphorik an die Grenze des Erträglichen geht, gehört zu einem in sich kohärenten Komplex von übersteigertem Bildungschauvinismus, in dem der Bürgerliche, vom Christentum enttäuscht, sich seine eigene bildungs- und kulturchauvinistische Erweckungsreligion gezimmert hat. Die Charakterisierung Goethes entspricht übrigens genau dem des kaisertreuen, beruflich durchaus der modernen Welt und ihren Fortschritten zugetanen bürgerlichen Lesers der Chamberlain'schen Schriften. Dieser konnte sich mit dem Programm des neuen erwachenden Deutschlands problemlos identifizieren, sicher mehr als mit dem Deutschen Bund vor der Reichgründung, für dessen Überwindung er seine politische Freiheit geopfert hat. Auch in den Freiheitskämpfen der 48er Revolution sollte der schlafende Michel immer wieder geweckt werden, um für genau diese Freiheit einzustehen. Dieses Bild wird von Chamberlain neu aufgegriffen, allerdings nicht um bürgerlicher Freiheiten willen. Er nutzt die gleichen Metaphern dazu, eine Drohkulisse innerer und äußerer Feinde aufzurichten. Gemeint sind mit den Feinden nicht nur die im Krieg miteinander stehenden Staatsmächte, sondern wohl auch die unten angedeutete angebliche jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung und deren internationale, vaterlandslose Gedanken (Ideal und Macht 14). Der schlafende Deutsche steht dieser Bedrohung im Ernstfall willenlos und damit hilflos gegenüber,
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weil er sich in einem verzauberten Schlafzustand befindet (ebd.). Er wird zum Knecht, statt zu ihrem Herrn, gar zum geschorenen Schaf (ebd. 12), das man an der Nase herumführen kann (ebd.) und das um sein Erbe betrogen wird. IuM 11f.: sobald der Deutsche nicht Träumer und Held, nicht Schöpfer und Herr ist, so sinkt er herab zum emsigen Knecht, der fremder Größe frönt. […] Dies ist die Eigenart des echten, erwachten, handelnden und im höchsten Sinne des Wortes "praktischen" Deutschen; der gleichmäßig bescheidene, unterwürfige, nachgiebige, mit allem zufriedene Deutsche ist entweder gar keiner, oder er schläft den langen Schlaf der Riesen, von einem schlimmen Alben verzaubert. Wie weit dieser Schlaf unter uns verbreitet ist, wissen wir, und wir erleben es, in welcher Weise sonst tüchtige deutsche Menschen sich willenlos an der Nase herumführen lassen; der selbe Mann, der draußen vor dem Feind "Gott, sonst nichts auf der Welt fürchtet", läßt sich zu Hause wie ein Schaf scheren, läßt sich um das heilige Erbe seiner Väter betrügen, […].
'Schlaf' bedeutet Untätigkeit und Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein an fremde Mächte und im Ernstfall den Tod, das Erwachen hingegen neu erwachsende Tatkraft, Mobilität, Wehrhaftigkeit, Schöpferkraft und Heldentum. Die Schlaf-Wach-Metaphorik bedeutet ins Politische gewendet einerseits das Inszenieren tödlicher Bedrohung und andererseits das Erwecken einer Aufbruchs- und Kampfstimmung. Sie ist prinzipiell handlungsorientiert, da sie von Stillstand und Unbeweglichkeit zu Aufbruch und Dynamik aufruft, von Passivität zu Aktivität, von scheinbarer Fesselung zu Abwehrhandlungen. Wenn die Bestimmung schöpferische Veredelung ist und das Mittel dazu der Kampf, so ist es sinnvoll, beide Aspekte hier betrachtend anzuschließen.
3. 2. 9. Kampfmetaphorik Der III. Abschnitt der Grundlagen, der im Anschluss an das Kapitel zum Völkerchaos folgt, trägt den programmatischen Titel Der Kampf. Und in der Einleitung dieser Ausführungen erklärt Chamberlain (Gl 637): Zugleich wird begreiflich, inwiefern die Idee des Kampfes meine Darstellung beherrscht. Zur onomasiologischen Vernetzung gehören das schwächere Wort Konflikt (Gl 482), ferner Zwist (Gl 703), Streit (AW 83; Gl 674), Wettstreit (Gl 654), aber auch Krieg (Gl 244; 633 u. ö.). Er schreibt von Kämpfen, die um Leben und Tod gehen (Gl 633), von Todeskämpfen (Gl 502), Vernichtungskämpfen (Zuversicht 5), von Schlachten (Gl550) oder Weltenschlachten (Zuversicht 11) und meint damit nicht einfach nur militärische Anstrengungen in der Geschichte, sondern Kämpfe, die um Leib und Seele (Br 86), um den politischen, moralischen (Gl 271) und religiösen Sieg nicht nur eines Volkes, sondern der ganzen Menschheit gehen. Die Kämpfer sind auf der Seite
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der Bösen die altbewährten Feinde, explizit die römische Kirche (Gl 688), die Parteien des Völkerchaos (Gl 665), vor allem die Juden (Gl 654) bzw. die Judenstämmlinge (Br II, 154), wie Chamberlain sie in einem Brief an Kaiser Wilhelm nennt, auf der Seite der Guten das Redliche, alle edel Gesinnten, die Germanen (Gl 743), Indogermanen (Gl 654) und die Deutschen. Der Kampf ist aufgezwungen (Dt. Sprache 25), aber unvermeidlich (Gl 696), wildbrausend (Gl 680), blutig (Gl 10) und furchtbar (IuM 25). Er dauert unaufhörlich an (Gl 654) und wird heute noch ebenso erbittert geführt wie an seinem ersten Tag: Gl 654: dieser Kampf [ist] ein Wettstreit zwischen indoeuropäischen und jüdischen religiösen Instinkten um die Vorherrschaft. Er bricht sofort nach dem Tode Christi aus zwischen den Judenchristen und den Heidenchristen, wütet Jahrhunderte lang auf das Heftigste zwischen Gnose und Antignose, zwischen Arianern und Athanasiern, wacht in der Reformation wieder auf und wird heute zwar nicht mehr in den Wolken oder auf Schlachtfeldern, jedoch unterirdisch auf das Lebhafteste weitergeführt.
Diese Kampfmetaphorik ruht auf der sozialdarwinistischen Vorstellung vom "Struggle for survival", in der das Leben ein harter Kampf ums Dasein (IuMacht 20; 28; Gl 67; 480; PI 21 u. ö.) ist,120 bei dem in sozialdarwinistischer Uminterpretation die angeblich Stärksten überleben und ihr Erbgut weitergeben können, die Schwächeren jedoch ausgeschieden werden müssen. GL 328: Der Kampf, an dem ein von Hause aus schwaches Menschenmaterial zu Grunde geht, stählt das starke; ausserdem stärkt der Kampf ums Leben dieses Starke durch Ausscheidung der schwächeren Elemente. Die Kindheit grosser Rassen sehen wir stets von Krieg umtobt, selbst die der metaphysischen Inder.
Chamberlains gesamtes System spiegelt Gobineaus Gedanken des großen Kampfes zwischen den vermeintlich minderwertigen und den höherwertigen Rassen wider. Auch seine Sprache lebt von typischen kriegsmetaphorischen Anlehnungen, so wenn die Kelten, als Vorhut der Germanen (Gl 585) in Schottland eintreffen oder wenn von Schlachtfeldern (s. o.) oder Kanonenkugeln (s. u.) die Rede ist. Der große Krieg der Rassen tobt schon seit dem Völkerchaos und ist Folge und Voraussetzung des von ihm immer wieder festgestellten Chaos. Dies bedeutet, dass er ein zum Untergang führender Rassenkrieg ist, der aufgrund evolutionstheoretischer Argumentationen auf Leben und Tod geführt werden muss. Der folgende Beleg führt vor, wie Chamberlain die sozialdarwinistische Umdeutung Darwins auf moralische und geschichtliche Phänomene anwendet.121
_____________ 120 So sagt er auch über sich selbst: (Br I, 64): "denn Menschsein ist Kämpfersein, und bei mir absorbiert der Lebenskampf schon alle Kräfte". 121 Vgl. auch: Gl 654.
353 Chamberlains Ideologiemetaphern
Gl 633: Auch im 19. Jahrhundert, […] standen, […], jene drei Erben in Europa neben einander: das Chaos der Mestizen aus dem früheren römischen Reich (dessen Germanisierung rückschreitet), die Juden und die Germanen (deren Bastardierung mit jenen Mestizen und mit den Resten unarischer Rassen fortschreitet). Kein humanitäres Gerede kann die Thatsache beseitigen, dass dies einen Kampf bedeutet. Wo der Kampf nicht mit Kanonenkugeln geführt wird, findet er geräuschlos im Herzen der Gesellschaft statt, durch Ehen, durch die Verringerung der Entfernungen, welche Vermischungen fördert, durch die verschiedene Resistenzkraft und Beharrlichkeit der verschiedenen Menschentypen, durch die Verschiebung der Vermögensverhältnisse, durch das Auftauchen neuer Einflüsse und das Verschwinden alter, u. s. w., u. s. w. Mehr als andere ist gerade dieser stumme Kampf ein Kampf auf Leben und Tod.
Der biologisch-rassistische Überlebenskampf mündet ein in einen alle Bereiche menschlichen Daseins umfassenden Krieg zwischen dem Guten und dem Bösen, der zweiten Säule der Kampfmetaphorik. Es geht um einen Kulturkampf, der weit über das Bismarcksche Vorbild hinausgeht, da Chamberlain nicht nur kirchenpolitisch gegen den ultramontanen Feind Katholizismus zu Felde zieht (Gl 688), sondern einen Religionskampf (Gl 714; 743) konstruiert, in dem er den Germanen zum Retter des Christentums (Gl 743) und letztlich der Menschheit stilisieren kann. Drohkulisse und Erlösungsgedanken liegen nah beieinander. Konstruiert wird ein Kampf um die Welt, um alles, was es uns wert macht, "Mensch" zu sein (Kriegsaufsätze II / Dt. Friede 87); dieser Kampf wird Deutscher Friede 91: geführt zwischen Rohheit und Gesittung, zwischen Unbildung und Bildung, zwischen gemeinster Goldgier und einer Lebensauffassung, in welcher Goldeswert nur dient und an sich gar kein Ansehen genießt, zwischen materialistischer Regierungsanarchie der Starken und dem Versuch, mannigfaltiges Staatsleben so zu organisieren, daß Höchstleistungen des Menschenwesens auf allen Gebieten erzielt werden.
Auch wenn hier "nur" von Geld und Materialismus die Rede ist, so wissen Chamberlains Leser, dass hier die Juden, Luzifer und das Böse gemeint sind. Das dualistische Prinzip bildet gemäß der semantischen Gesamtvernetzung des Ideologiewortschatzes auch den Rahmen für die Kampfmetaphorik. Zuversicht 11: Daß er hierbei die Völker überwinden muß, die dem Frondienst des Niederträchtigen verfallen sind, liegt auf der Hand; doch wir gelangen auf eine ganz andere Höhe, aus Nacht und Nebel zu strahlend hell beleuchtetem Waffengefilde, sobald wir an Stelle des öden politischen Wirrwarrs die gegenwärtige Weltenschlacht als das erblicken, was sie am letzten Ende ist: der Kampf auf Leben und Tod zwischen dem Niederträchtigen und dem Edelgesinnten.
Letztlich geht es um den eschatologischen Kampf, der im 1. Weltkrieg seinen ersten Höhepunkt erfährt und der spätestens mit dem in den Grundlagen (Gl 244) zitierten Satz legitimiert worden war, dass Christus den Menschen zu dieser Bestimmung erweckt hat.
354 Ideologiewortschatz
3. 2. 10. Pathologisierende Metaphorik: Krankheit und Tod Das Bild des gesunden Körpers, der in aller Harmonie und Jugendlichkeit den neuen Tag ankündigt, wie es mit der Arierfigur gezeichnet wird (vgl. s. v. Arier), steht im Gegensatz zu wild, entartet, fluchbeladen, Kampf, (zu dem Krankheit präsupponierenden Verb) genesen, zu Fieber, bösem Traum und explizit wieder zu Chaos. Jeder dieser Ausdrücke ruft beim eingeweihten Leser ganze Assoziationswelten hervor. GL 375: nun folgenden Zeit des wilden Kampfes, in jenem Fieber, durch welches allein die europäische Menschheit genesen und aus dem bösen Traum der entarteten, fluchbeladenen Jahrhunderte des scheinbar geordneten Chaos zu frischem, gesundem, stürmisch pulsierendem, nationalem Leben erwachen sollte, wenn da Gelehrsamkeit und Kunst, sowie auch das Flitterwerk angeblicher Civilisation unbeachtet, fast vergessen blieben, so bedeutet das, bei Gott, keine Nacht, sondern den Anbruch des Tages.
In ihrem gehäuften Auftreten verstärken diese Schlüsselwörter das dualistische Prinzip und betonen die allgegenwärtige Gefährdung und Bedrohung, lassen den Arier aber umso heller als Retterfigur erleuchten. Diese spezifische Art, eine Drohkulisse aufzurichten, besteht darin, gezielt Krankheitsmetaphorik auf Kollektive zu beziehen. Das oben zitierte Fieber ist nicht nur das Symptom für einen Organismus, der sich gegen eine Krankheit zur Wehr setzt (vgl. auch Gl 319), es steht auch für Unzurechnungsfähigkeit und Wahn (Gl 1011; Grundstimmungen 15; Lebenswege 211). Fieber bezeichnet eines der Symptome derjenigen Krankheit, die aufgrund ihres epidemischen und in der Regel vor allem tödlichen Auftretens tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis der Gesellschaften gegraben hat, der Pest (Gl 366; 503; 510). Die spätmittelalterliche Tradition fortschreibend argumentiert Chamberlain mit ihr als einer Strafe Gottes (Gl 510). Aufschlussreich sind die Größen und Gruppierungen, die Chamberlain direkt mit der Pest in Verbindung bringt. Es sind zum einen die Gelehrten (Gl 899; Gl 903) und Philosophen (Gl 129), zum zweiten ist es der Buddhismus (AW 44). Als dritte Größe nennt er die Pest der Treulosigkeit, die das Völkerchaos und die lateinische Kultur in den Norden gebracht hätten (Gl 600). Und es führt zurück in seine Gegenwart, wenn er vom Pestsumpf der reichstäglichen Verblödung schreibt (Lebenswege 226). Der Weg geht von der intellektuellen Verseuchung über die moralische zur religiösen, die letzte ist der schon beschriebene jüdische Materialismus. GL 758f.: Dagegen hatte sich bis gegen Ende des 2. Jahrhunderts unserer Ära ein durchaus konkreter, wenn auch mystisch gefärbter Materialismus wie eine Pest durch das ganze römische Reich verbreitet. […] gerade dieser unter den geborenen Materialisten weitverbreitete Glaube war es, der jetzt wie ein Lauffeuer durch alle Länder des stark semitisierten Völkerchaos flog.
355 Chamberlains Ideologiemetaphern
Das Jüdische wird von ihm als der Krebsschaden des Christentums diffamiert (Br I, 112), die Jesuiten nennt er den Krebsschaden des Katholizismus (Gl 773). Mit derselben Krankheit vergleicht Chamberlain außerdem die Lehre von der Gleichheit aller Menschen (Br II, 72). Im letzten Beleg wird deutlich, wie unauffällig sich die Krankheitsmetaphorik mit der Katastrophenmetaphorik verbinden lässt. Vom epidemischen Charakter der Pest, die sich durch das ganze römische Reich zum Lauffeuer erweitert, das durch alle Länder flog, ist es isotopisch nicht mehr weit. Beide Bilder können ähnlich gebraucht werden, auch wenn sie assoziativ unterschiedliche Spielräume eröffnen; das Lauffeuer fungiert als Sprach- und Ideologietransporteur, die Pest als körperlicher Krankheitsbringer. In Chamberlains Lebensvorstellung implizieren beide Bilder den Untergang, und zwar sowohl den religiös-moralischen als auch den biologisch-rassischen Tod, verursacht durch die Krankheit 'Völkerchaos'. Gl 322: Wie ein Katarakt stürzt das fremde Blut in das fast entvölkerte Rom, und alsbald haben die Römer aufgehört zu sein. Wäre von allen Semiten ein einziges winziges Völkchen zu einer die Welt umspannenden Macht geworden, wenn nicht die Reinheit der Rasse sein unerschütterliches Grundgesetz gebildet hätte?
Wenn Chamberlain schreibt, dass Christus denen als Leuchte gesandt [ist], die da sitzen in Finsternis und Schatten des Todes (Gl 236), so ist mit Tod das ewige Nichts gemeint (Gl 233), aus dem keine Neugeburt folgen kann (Gl 233). Es ist die Schopenhauersche Verneinung des Willens, die von der Verneinung des Lebens nicht trennbar ist. Chamberlain lehnt den Buddhismus, wie s. v. Leben schon erwähnt, deswegen ab, weil dieser die Natur verneine und damit auch ihre natürlichen Gesetze und Antriebe. AW 45: Wohl galt auch hier die Verneinung des Willens zum Leben als höchste Weisheit; diese Erkenntnis war aber nicht Ausgangspunkt, sondern Endpunkt, sie war die letzte Frucht des Lebens, die Verkünderin des herannahenden Todes.
Tod und Verwesung (Gl 214; 342; 833 u. ö.) treten dann auf, wenn die organischen Gesetze des Lebens nicht beachtet bzw. verletzt werden, das heißt, wenn die Reinheit aufgegeben wird (Gl 260) bzw. wenn die germanischen Rassenbestandteile eines Volkes in den Hintergrund geraten (Gl 833). Für diese Krankheit zum Tode waren die bekannten Verführer und Krankheitsüberträger verantwortlich, zum einen die durch und durch faule Kultur der katholischen Romanen (Gl 610) und zum anderen der todbringende Einfluß des Judentums (Br II, 66). Diese Vorstellung lebt von den Ideen Gobineaus, geht aber insofern über sie hinaus, als sie es bei dessen pessimistischer Grundeinstellung nicht bewenden lässt, sondern zur Utopie wird. Chamberlain hat eine Heilsbotschaft, deren Erlösung eben nicht der Tod, sondern Verklärung, Wiedergeburt und Unsterblichkeit darstellt.
356 Ideologiewortschatz
GL 214: denn das Genie ist wie Gott: zwar offenbart es sich in einer bestimmten Zeit und unter bestimmten Umständen, seinem Wesen nach ist es aber unbedingt, was Anderen zu Ketten wird, daraus schmiedet es sich Flügel, es entsteigt der Zeit und ihrem Todesschatten und geht lebendig ein in die Ewigkeit.
3. 2. 11. Die Wiedergeburt Das Prinzip der Wiedergeburt, der Recreatio oder Regeneratio, zieht sich wie ein weiterer roter Faden durch Chamberlains Gesamtwerk. Neben der Sünde, der Gnade und der Erlösung sei die Wiedergeburt eine uralte arische Vorstellung (Gl 284; auch 699 Anm.). Sie beziehe sich auf alle Bereiche des Lebens, auf die religiöse (Gl 769), die nationale (Gl 734), die deutsche (PI 93), die politische (s. u.), die wirtschaftliche (PI 106), sogar die künstlerische Wiedergeburt. Aufschlussreich ist diesbezüglich ein Buchplan, den Chamberlain 1910 in einem Brief entwickelte. Der Titel des geplanten Buches – eine Fortsetzungsarbeit zu seinen Grundlagen – hätte lauten sollen: Deutschland im 20. Jahrhundert. Das darin angedachte 6. Kapitel hätte er der Wiedergeburt Deutschlands gewidmet. In ihm sollten folgende Themen bearbeitet werden: Br II, 192 (1910): DIE WIEDERGEBURT. a. Die Verneinung als notwendiger erster Schritt (Judentum, Rom, Demokratie, Freisinn, Ausländerei, Gelehrsamkeitskultus, naturwissenschaftliche Verblödung, Pornographie usw.); b. die politische Wiedergeburt: welche Halt, Konsequenz, Zuversicht, Größe gibt; c. die religiöse Wiedergeburt: der Geist des Protestantismus kann jeden echten Deutschen beseelen, wie auch sein Kredo laute; d. die künstlerische Wiedergeburt: ihre enorme Bedeutung für ein geistig so einzig regsames Volk, welches innerhalb eines Jahrhunderts Schiller, Beethoven, Goethe, Wagner hervorbrachte (Bayreuth ein einziges Phänomen in der Weltgeschichte); e. die Wiedergeburt der Naturanschauung: im Gefolge Goethes; f. die gesellschaftliche Wiedergeburt; usw.
Geburt und Widergeburt fallen bei Chamberlain häufig zusammen. Die geistige Wiedergeburt ist das Werk der Rasse, und zwar der germanischen (Gl 367). Allen kulturellen, oder allgemeinmenschlichen Leistungen vorausgesetzt ist die Entstehung einer neuen Menschenart (Gl 243 s. o.), die Neugeburt des Ariers (AW 14) oder noch christlicher verbrämt: die Wiedergeburt zu einer neuen Kreatur (Gl 556). Im christlichen Sinne bezeichnet Chamberlain diesen Vorgang auch als innere Umkehr (Gl 710). Wiedergeburt und Umkehr können ganz im Sinne Wagners durch die deutsche Sprache (Lebenswege 396) und die deutsche Kunst, speziell durch die Musik Wagners, erreicht werden (vgl. dazu Wagners Regenerationslehre). Mit der Kunstreligion seines Schweigervaters schließt sich der Kreis: der Erlöste wird selbst wieder zum Erlöser und zum Schöpfer.
357 Chamberlains Ideologiemetaphern
Gl 1138: man wird mir Recht geben, wenn ich sage, Kunst i s t zwar nicht Religion - denn ideale Religion ist ein thatsächlicher Vorgang im innersten Herzen jedes Einzelnen, jene Umkehr und Wiedergeburt, von der Christus sprach - Kunst versetzt uns aber in die Atmosphäre der Religion, sie vermag es, die ganze Natur für uns zu erklären, und durch ihre erhabensten Offenbarungen regt sie unser innerstes Wesen so tief und unmittelbar an, dass manche Menschen nur durch die Kunst dazu gelangen zu wissen, was Religion ist. Dass das Umgekehrte ebenfalls gilt, ist ohne Weiteres einleuchtend, und man begreift, dass Goethe […] - behaupten konnte: nur religiöse Menschen besässen schöpferische Kraft.
Mit dem I. Weltkrieg brach für Chamberlain zunächst eine Welt zusammen, doch schnell beginnt er über Deutschlands Wiedergeburt zu schreiben. Der eschatologische Kampf, der der endgültigen Widergeburt vorauszugehen hätte, war in seinen Augen mit diesem Krieg ausgebrochen. Aber seine Hoffnungen auf ein wiedergeborenes Deutschland (Kriegsaufsätze / Deutschland 92), haben sich zum Glück nicht erfüllt. Zuversicht 14: Dauernde Errettung aus den Klauen des Undeutschen und Widerdeutschen ist jedoch nur zu erhoffen, insofern es gelingt, das Bewußtsein dessen, was jetzt vorgegangen ist, allgemein zu machen. Nicht um einen Kampf von heute und morgen handelt es sich ja in diesem Kriege, vielmehr um ein gewaltiges Ringen, das ein Jahrhundert und mehr dauern kann; ein schneller Sieg hätte auf Deutschlands Zukunft verhängnisvoller wirken können als eine Niederlage; denn es kommt in erster Linie auf eine Wiedergeburt an, auf ein Reinen und Stählen der Seele.
3. 2. 12. Katastrophenmetaphorik Naturkatastrophen vermitteln in der Regel den Eindruck von Unabwendbarkeit, Unausweichlichkeit und Schicksalshaftigkeit. Mit ihnen werden Zerstörungen assoziiert, oft auch Untergang und Tod. Die Bandbreite der dazu passenden Naturereignisse geht vom Gewitter über den Sturm zum Hurrikan, von der jährlichen Überschwemmung bis hin zur alles mit sich reißenden Flutwelle. Es ist bezeichnend, wie Chamberlain mit den Möglichkeiten dieses Metapherntyps handelt. Wenn es um den Wind geht, sei es im Hinblick auf Sturm (Gl 287), Sturmwinde (Kriegsaufsätze 9) oder gar Orkan (Gl 594), so werden diese weniger mit den angerichteten Schäden assoziiert, sondern sind positiv gebrauchte Metaphern, die Tatendrang, Kraft und Energie symbolisieren. So schreibt er gezielt im Hinblick auf Luther: Gl 596: Hier umweht jener Orkan, von dem Balzac sprach, Stirn und Augen und Nase, keine Marmorkuppel wölbt sich darüber; es ruht aber dieser flammenspeiende Vulkan von Energie und Gedankenfülle auf Mund und Kinn wie auf einem granitnen Felsen. Jeder kleinste Zug des gewaltigen Antlitzes zeugt von Thaten-
358 Ideologiewortschatz
durst und Thatkraft; bei diesem Anblick steigen Einem die Worte Dante‘s ins Gedächtnis: Colà dove si puote / Ciò che si vuole!
Anders ist dies mit den Naturereignissen, in denen das Wasser die Hauptrolle spielt. Zwar kann das Gewitter (Br I, 64) auch befreiend auf sein Gemüt wirken, doch steht es zumeist für Unmut (IuM 39) und drohendes Unheil: Gl 152: Wie viel schwieriger war die Lage Roms, umringt von einem konfusen Durcheinander von Völkern und Völkchen, – in nächster Nähe die Menge der verwandten, ewig sich bekämpfenden Stämme, im weiteren Kreise das unerforschte, gewitterschwangere Chaos der Barbaren, der Asiaten und der Afrikaner!
Mit dem Adjektiv gewitterschwanger inszeniert Chamberlain die Katastrophe. Gewitter sind durch Blitz, Donner und starke Regenfälle definiert. Während aber Blitz und Donner Attribute der germanischen Götterwelt (Worte Christi 33) und damit positiv konnotiert sind, ist das unkontrolliert sich ausbreitende Wasser ein Kennzeichen des Chaos. Berühmtestes Vorbild einer solchen Vernichtungsszenerie durch das Wasser ist die Sintflut, der nicht nur alles Lebendige zum Opfer fiel, sondern die als die schlimmste Strafaktion Gottes in die biblische Geschichte eingegangen ist. Die volksetymologische Umdeutung der Sintflut in die Sündflut findet auch bei Chamberlain Anklang. Goethe, Vorw. 3. Aufl. XII: Fraglos wäre dieses "andere Deutschland" nie zu einer derartigen Sündflut angeschwollen ohne die Mitwirkung der Juden, die im Laufe des Weltkrieges vollends die Herrschaft an sich zu reißen wußten, nachdem sie ein Jahrhundert lang emsig den Boden durch die systematische Vergiftung der Volksseele und Irreführung der Gebildeten vorbereitet hatten: Richard Wagner's Ausspruch über "den plastischen Dämon des Verfalles der Menschheit" bewahrheitet sich in grausiger Weise.
Verfall bedeutet in Chamberlains Argumentation vor allem Niedergang der Kultur und Niedergang der Rasse. Das Anschwellen der Wassermassen, das der Sintflut vorausgeht, geht einher mit der konsequenten Parallelisierung von Wasser und Blut als Basis für denjenigen Metapherntyp, mit dem Chamberlain gezielt das Bild vom Völkerchaos konstruiert und wach hält. Denn die schon von Gobineau (I, 277; IV, 63) und Wagner122 gerne verwendete Flutmetaphorik dient auch Chamberlain dazu, das Bedrohliche und Unberechenbare, sich überall Ausbreitende von – so seine absurde Argumentation – rassisch verunreinigtem Blut zu betonen. Er schafft damit eine assoziative Vernetzung der rassetragenden Flüssigkeit Blut mit den von ihm diskriminierten Semiten und Juden. Das Ergebnis der Katastrophe, die einerseits als einmaliges Ereignis in die Zeit Caracallas verortet wird, die aber andererseits auch als kontinuierlich sich fortsetzender Vorgang, als eine Art Wellenkampf des Lebens bzw. als eine grosse Unterströmung (Gl 964) konstruiert wird, ist mit dem Wort Völkerchaos hinreichend _____________ 122 Wagner 10, 227.
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eingefangen. Dieses Völkerchaos wird durch den syrischen Semiten Caracalla zum Ausgangspunkt für alles Übel, das in die europäische Geschichte eingebrochen ist und vor allem: noch einbrechen wird. GL Anm. 172: Rudolf Leonhard […] zeigt [...], wie dieser Syrer [Caracalla] [...] die Vernichtung Roms und die Vernichtung der noch lebenden Reste hellenischer Bildung als sein Lebensziel erfasst hatte, zugleich die Überflutung der europäischen Kulturwelt mit dem pseudosemitischen Auswurf seiner Heimat. Das alles geschah planmässig, tückisch, und unter dem Deckmantel der Phrasen von Weltbürgertum und Menschheitsreligion. So gelang es, Rom in einem einzigen Tag auf ewig zu vernichten; so wurde das ahnungslose Alexandrien, der Mittelpunkt von Kunst und Wissenschaft, ein Opfer der rassenlosen, heimatlosen, alle Grenzen niederreissenden Bestialität. Vergessen wir nie – nie einen Tag – dass der Geist Caracalla's unter uns weilt und auf die Gelegenheit lauert!
Chamberlain nutzt die Flutmetapher gerne, um das Bild eines massenhaften Hereinstürzens von minderwertigem (Br II, 152), in der Regel explizit semitischem 'Blut' und damit von rassischem Verderben bei seinen Lesern zu evozieren. Er schreibt von der semitische[n] Flut über die europäische, asiatische und afrikanische Welt, eine Flut, wie sie, ohne die Vernichtung Karthagos durch Rom, […] auf immer entscheidend Europa überschwemmt haben würde (Gl 304), von wahren Fluten afrikanischen und asiatischen Blutes, das Sklaven […] ins Volk gebracht hatten und weswegen Rom das Stelldichein aller Mestizen der Welt, die cloaca gentium, geworden war (Gl 338). Das edle Blut sei damit für immer zugrunde gegangen, verschwunden, ausgelöscht, für die Menschheit verloren (Br II, 152; vgl. auch Beleg Gl 322, zitiert oben). Es sei an dieser Stelle einmal erlaubt zu spekulieren, ob das Bild vom stürzenden Blut (Gl 322; Br II, 152) seinen Assoziationsraum nicht vielleicht auch noch in eine weitere bedrohliche Richtung öffnet. Die Substantivierung dieser Kollokation erinnert an eine volkstümliche Krankheit, die in der Zeit Chamberlains regelmäßig auftrat und besonders in ärmeren Kreisen zumeist tödlich endete, den Blutsturz. Aber es ist nicht mehr nötig, explizit auf Blut und Blutstürze einzugehen. Es reicht, von Menschenwellen (585) zu schreiben, und schon sind die damit festgesetzten Assoziationsräume aufgerufen. Flut und Wellen bedeuten in diesem Kontext das Schlechte, das über eine Rasse / eine Nation hereinbrechen kann und sie in die Hölle fortreißen (PI 26) wird, seien es Wellen eines yankeeisierten Angelsachsentums und eines tatarisierten Slawentums oder einfach englische Lügen (Kriegsaufsätze I / Dt. Friede 96). Mit einer ganz anderen Art von Wasser werden die Germanen assoziiert. Gl 827: Wie prächtig blühte Italien auf, den anderen Ländern voranleuchtend auf dem Wege zu einer neuen Welt, als es noch in seiner Mitte zwar äusserlich latinisierte, doch innerlich rein germanische Elemente enthielt. Viele Jahrhunderte hindurch besass das schöne Land, welches im Imperium bereits bis zur absoluten Unfruchtbarkeit herabgesunken war, eine reiche Quelle reinen germanischen Blu-
360 Ideologiewortschatz
tes: die Kelten, die Langobarden, die Goten, die Franken, die Normannen hatten fast das ganze Land überflutet und blieben namentlich im Norden und im Süden lange Zeit beinahe unvermischt.
Das Wort Quelle ist mit Schaffenskraft und Künstlertum konnotiert. Chamberlain schreibt von der Quelle wahren Menschentums (Br I, 210), der Kunst (Das Drama Richard Wagners 59), von der Quelle seiner Gedanken (Br II, 206), von der Urquelle unseres Wesen (Gl 366), aber vor allem immer wieder vom germanischen Blut als der Quelle kultureller Kraft: Kriegsaufsätze / Dt. Sprache 27: daß er unter "Völkern germanischer Abkunft" auch die Franzosen, die Spanier, die Italiener zählt; zwar liegt es auf der Hand, wie viel germanisches Blut in ihren Adern als Quelle ihrer Kraft fließen muß – es genügt uns zu wissen, was der Begriff Germane bedeutet und ein klein wenig Geschichte studiert zu haben.
Das reine Quellwasser germanischer Rassen steht den chaotischen Fluten des semitischen Völkerchaos gegenüber. Die Katastrophe besteht neben dem Unkontrollierbaren der Flutwellen, die nicht nur alles unter sich zerstören, zusätzlich in der Verunreinigung des ehemals Reinen und Kräftigen durch das Unreine.
3. 2. 13. Reinheitsmetaphorik Schon im Kapitel "Der Semit und die Judenfrage" konnte gezeigt werden, dass die Frage nach der Reinheit des Blutes ein Schlüssel zu Chamberlains Rassetheorie ist. Zum dort Beschriebenen ist im Hinblick auf das Substantiv noch folgendes zu ergänzen: Reinheit bedeutet in seinem Wortgebrauch sowohl 1. >Unvermischtheit<, als auch 2. >Ergebnis von Mischung, von gezielter Zuchtwahl<; übertragen auf andere Kategorien als die Rasse steht sie für 3. >Absolutheit und Vollkommenheit<, auch für 4. >Unschuld, Tugendhaftigkeit<. Sie wird zum Attribut für wahre Ingeniosität, Schöpferkraft sowie für die reinste, die am vollkommensten 'künstlerischste' Kunst, die Musik (Gl 1169; vgl. auch 1157). Zu Chamberlains Zielen gehört neben der Errichtung eines reineren Deutschtums (Br II, 65) das Reinmenschliche (AW 86) und das Reingöttliche (MuG 31). Die Hauptkulisse seiner Reinheitsvorstellungen123 ist wie erwartet die Rassentheorie. Immer bietet das Judentum die Matrix, auf der Chamberlain seine Theorie entwickelt. Er unterscheidet zwischen jüdischer Reinheit und germanischer, zwischen dem angeblich rassenreinsten Volk der _____________ 123 Zu den vielfältigen, hier nicht darstellbaren Gebrauchs- und Funktionsweisen der Reinheitsmetapher in Religion und Geschichte (z. B. im 19. Jh. bei den Pietisten, den Lebensreformern) vgl. den von Dirk Mende verfassten Artikel Reinheit in: Konersmann 2007, 292300, dann die Artikel rein und unrein in: RGG 5, 940f., Reinheit in: LThK 8, 1143f.
361 Chamberlains Ideologiemetaphern
Welt und einer Art Reinheit, die durch gezielte Reinzüchtung entsteht. Reinheit ist dafür verantwortlich, dass das Jüdische machtvoll und gefährlich ist, das römische Reich beerbt hat (Gl 303) und auch lange nach dem Völkerchaos noch die Entartung der anderen Völker vorantreibt. Gl 354: Ginge das ein paar Jahrhunderte so fort, es gäbe dann in Europa nur noch ein einziges rassenreines Volk, das der Juden, alles Übrige wäre eine Herde pseudohebräischer Mestizen, und zwar ein unzweifelhaft physisch, geistig und moralisch degeneriertes Volk.
Den rassenreinen Völkern stellt er die Mestizen mit negativen, krankhaften Eigenschaften gegenüber. Im letzten Beleg behauptet er, dass das Mestizentum ein Produkt der semitischen Vermischung sei, letztlich der Verunreinigung (Gl 389). Der semitische Materialismus entseelt ehemals edle Rassen und degeneriert sie zu mestizenhaften Halbmenschen (Gl 304). Jede Berührung mit dem Semitischen wird zum Ausgangspunkt der Umwandlung. Von dieser Verunreinigung unberührt blieben allein die Indogermanen. AW 39: Die erste Eigenschaft - die Reinheit - entströmt freilich nicht eigener Kraft, sondern ist das Ergebnis geschichtlicher Vorsehung; doch sie betrifft den Kern des Denkens: einzig in der gesamten Geschichte indoeuropäischen Geisteslebens ist das altindische Denken und Dichten von jeglicher […] Berührung mit semitischem Geiste frei und daher rein, lauter, echt, eigen. Wer möchte sich nicht auf die Knie werfen und in solch seltenen Fluß dankbare Lippen tauchen? Das sage ich nicht aus blutgieriger antisemitischer Gesinnung, sondern weil mir bekannt ist, daß diese merkwürdige Menschenart - der Semit -' der über die ganze Welt hin sich verbreitet und die erstaunliche Fähigkeit besitzt, sich alles anzueignen, nichts berührt, ohne es tief innerlich umzuwandeln.
Bis zum Degenerationsgedanken durch Verunreinigung kann Chamberlain mit Gobineau mitgehen. Doch das Ergebnis der Verunreinigung kann ihn nicht befriedigen, weil sie letztlich Ausweglosigkeit suggeriert. Er will aber Rasse als Utopie der Zukunft konstruieren124, als Ergebnis eines bewusst geplanten Werdens. Und so braucht er die Möglichkeit, reinigend in sie einzugreifen. Es geht nicht mehr um die Reinrassigkeit als Urphänomen (Gl 407), sondern um die Reinzüchtung, die reine Mischung, um geschlechtliche Zuchtwahl und daran anschließend um strenge Reinerhaltung der Rasse (Gl 312). Gl 314: Hiermit hängt Gobineau's weitere Wahnvorstellung zusammen: die von Hause aus "reinen", edlen Rassen vermischten sich im Verlauf der Geschichte und würden mit jeder Vermischung unwiederbringlich unreiner und unedler, woraus sich dann notwendigerweise eine trostlos pessimistische Ansicht über die Zukunft des Menschengeschlechtes ergeben muss. Die erwähnte Annahme beruht jedoch auf einer gänzlichen Unkenntnis der physiologischen Bedeutung dessen, was man unter "Rasse" zu verstehen hat. Eine edle Rasse fällt nicht vom Himmel herab, sondern sie WIRD nach und nach edel, genau so wie die Obst-
_____________ 124 Vgl. dazu auch: Gl 407f.
362 Ideologiewortschatz
bäume, und dieser Werdeprozess kann jeden Augenblick von Neuem beginnen, sobald ein geographisch-historischer Zufall oder ein fester Plan (wie bei den Juden) die Bedingungen schafft.
Chamberlain argumentiert hier im Sinne der Evolutionstheorie, nicht im Sinne Gobineaus, wenn er schreibt: nichts Ausserordentliches entsteht ohne "Specialisierung" (Gl 313). Diese Spezialisierung wiederum macht eine Perspektivenverschiebung möglich, die von entscheidender Bedeutung ist für die politische Wirkung dieser Theorien, nämlich die Parallelisierung von Rasse und Nation (Gl 344; 407). Eine Rassenzüchtung durch Inzucht kann, so Chamberlain, nur innerhalb eines nationalen Verbandes geschehen. Die Nation wird einerseits zur Voraussetzung von Reinwerden und Reinerhaltung der Rasse, sie wird aber auch zum Produkt einer solchen Reinzüchtung.125 Englands Insellage zum Beispiel habe dafür gesorgt, dass es durch reine Inzüchtung zu einer der stärksten Rassen Europas geworden sei (Gl 324). Aber nicht nur die Stärke ist das Kennzeichen 'reingezüchteter' Rassen. Sie werden von Chamberlain auch in einem moralischen, kulturellen und kognitiven Sinne zu den besseren Menschen gemacht, eine logische Notwendigkeit, wenn man sich die Beschreibung der Mestizen als (Gl 354; s. o.) physisch, geistig und moralisch degeneriertes Volk noch einmal ins Gedächtnis ruft. Gl 373: Sehr auffallend ist ebenfalls der Unterschied […] zwischen dem angeborenen Anstand, dem Geschmack, der Intuition rauher aber reiner, edler Rassen und der Seelenbarbarei der civilisierten Mestizen.
Die Zugehörigkeit zu einer reinen Rasse wirkt sich in allen wichtigen Lebensbereichen aus. Sie macht den Arier angeblich frei von Neid und Selbstsucht (Lebenswege 384), verleiht moralische Reinheit, übernatürliche Fähigkeiten (Gl 321), einen angeborenen Instinkt, angeborenes Wissen über Gut und Böse, unbewussten Antrieb in allen Lebenslagen (Gl 321). Die Adjektive rein und edel werden oft synonym verwendet, auch in den Wortbildungen edelgezüchtet und reingezüchtet (Gl 321). Die Veredelung des Menschen, das Ziel Chamberlains, ist dementsprechend nichts anderes als Reinzüchtung. Gl 366: wir sehen, dass nur eins zur Veredelung des Menschen führt: die Zeugung reiner Rassen, die Begründung bestimmter Nationen. Söhne zu zeugen, die rechten Söhne, ist also unfraglich die heiligste Pflicht des Individuums der Gesellschaft gegenüber; was er auch sonst leisten mag, nichts wird von so dauerndem, unauslöschbarem Einfluss sein wie der Beitrag zur zunehmenden Veredelung der Rasse.
Besonders unter diesem Aspekt ist die unten zitierte Forderung nach Ausscheidung alles Fremden mit dem Ziel einer reinen Deutschwerdung als _____________ 125 Gl 544: "Dass Kelten, Slaven und Germanen von einer einzigen reingezüchteten Menschenart abstammen, darf heute als völlig gesichertes Ergebnis der Anthropologie und Prähistorie betrachtet werden."
363 Chamberlains Ideologiemetaphern
Zuchtappell zu verstehen, der alle Implikationen zulässt, die die Zukunft dann auch wirklich zu bieten hatte. Kriegsaufs./Deutschland 94: Ich wollte, die Deutschen könnten sich entschließen, zehn Jahre lang keine Zeile zu lesen von dem, was im Ausland über sie gedruckt wird; es wäre eine gewaltige Ersparnis an Zeit und Aufregung. Und inzwischen, an sich selbst arbeiten, sich selbst gründlicher kennen lernen, das Viele dem deutschen Wesen Fremde, was sich in Deutschland noch breit macht, rücksichtslos ausscheiden, wirklich rein Deutschwerden.
4. Zwischenfazit Wenn Weltanschauungen textlich konstituiert werden, dann sind Wörter und ihre Kontextbeziehungen ihre wichtigsten Vertextungsmittel. Wortgebräuche schaffen und strukturieren Ideologien. Chamberlains Ideologie ist in sich kohärent. Seine Schriften spiegeln sie auf allen lexikalischrelevanten Ebenen, erstens als Motor der selbstreferentiellen Bedeutungskonstitution seines Wortschatzes, zweitens als Vernetzungsmittel zwischen den einzelnen Wortschatzbereichen. Sie ist dem Leser sowohl im Einzellexem, vor allem aber in der semantischen und wortbildungsmorphologischen Vernetzung der Einzellexeme, als Ideologie erkennbar. Es hat sich zudem gezeigt, dass die Essenz des Chamberlain'schen Menschenbildes die Rasse ist und dass damit der Rassebegriff zum ideologischen Vertextungskern in allen seinen Schriften wird. Er ist bedeutungsdistinktiv im semasiologischen Feld des Wortes Mensch, im dazugehörigen Wortbildungsfeld und im onomasiologischen Feld, ferner in den metaphorischen Vernetzungen. 'Rasse' ist sowohl die Essenz als auch der perspektivische Dreh- und Angelpunkt der Chamberlain'schen Weltanschauung. Es gibt keinen Bereich seiner Ideologie, der nicht unter diese Perspektive gestellt worden wäre. Bezeichnenderweise sind es diejenigen Domänen, die für das Bürgertum als identifikationsrelevant gelten, nämlich Bildung, Kunst und Literatur, die durch die Ideologisierung neu semantisiert worden sind. Es wurden alle Teilbereiche europäischer Mythen-, Kultur- und Religionsgeschichte, Literatur, Kunst, Theologie auf die Elemente hin befragt, die sich in welcher Interpretation und in welchem Grad der Verfälschung auch immer dazu eigneten, für die Rassen-, Geschichts- und Kulturtheorie Chamberlains gebraucht zu werden. Dies erfolgte in bildungssprachlich verführerisch gestalteten Texten und diese bildeten wiederum das Diskurscorpus, in dem eine Art elitären Codes für das deutsche Bildungsbürgertum herausgebildet ist.
364 Zwischenfazit
Zehrer, zit. nach Straßner 1987, 85: Über die Nebelwolken des Jargons reckten sich auf einmal allerorten die Köpfe und begannen, in einer Sprache zu reden, die ihnen in einem neuen Sinne gemeinsam war.
Die neue Semantik wurde bezeichnenderweise nicht zum Kennzeichen einer Sekte. Gerade in ihren offenen Übergängen zum weniger rassistischen Sprachgebrauch lag ihre Wirkung. Das Mitspielen der bildungsbürgerlichen Leserschaft lässt auf unterschwellige bis bewusste Affirmation schließen. Jede Erklärung der Rezeptionsintensität durch äußere Argumente wie vorgetäuschte Wissenschaftlichkeit oder gefällige literaturnahe Sprache würde die Affinität oder gar die ideologische Übereinstimmung mit dem Autor Chamberlain herunterspielen und die (Mit)Verantwortung der zeitgenössischen Rezipienten leugnen. Es war die Gesamtheit der Ideologie, die Form, in der sie dargeboten wurde, wie ihre Inhalte, speziell die Verbindung von Höherwertigkeit, selbstbespiegelnder Erbaulichkeit mit allem daraus Folgenden, das sie soziologisch so erfolgreich "nach unten und vielen anderen Seiten" vermittelbar machte.
IX. Von der Satzsemantik zur Textpragmatik Es ist immer möglich, eine größere Menge Menschen in Liebe aneinander zubinden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben. Sigmund Freud1
1. Rassenindividualität und Völkerchaos – Gattungstypisierende Kollektivierung oder die Entindividualisierung des Menschen Menschen ANEINANDER ZU BINDEN (s. o.) ist eine gemeinschaftsbildende Handlung. Sie wird durch Rituale und Symbole aller Art, vor allem aber über Diskurse (z. B. zur Sprache, Nation, Rasse, Religion oder Kultur) vollzogen, innerhalb dieser durch spezifische sprachliche Handlungsstile. Im folgenden Kapitel soll es um das Verhältnis von Individuum und Kollektiv gehen, zwei gemeinschaftsbestimmte und -bestimmende Größen, die in politisch-ideologischen Sprachspielen stehen und dort affiziert, wenn nicht sogar effiziert werden. Solche Sprachspiele sind insofern existentielle Spiele, als es in ihnen um die Inklusion des Einzelnen in die Gemeinschaft oder um die Exklusion aus ihr geht und als sich in ihnen die Gemeinschaft entweder als Einheit Vieler oder heterogen als Vielfalt mündiger Einzelner gestaltet. Ich verwende in diesem Zusammenhang das Wort Kollektiv, weil es als Gegenpol zu Individuum präziser ist als Gruppe, aber unspezifischer als Gemeinschaft. Vor allem letzteres wäre im vorliegenden Untersuchungszusammenhang sicher ebenso gut einsetzbar gewesen, mündete es doch ideologisch in die nationalsozialistische Volksgemeinschaft ein, doch lässt sich mit dem Substantiv Kollektiv meines Erachtens besser auf den durch das lateinische Ausgangsverb colligere >zusammenlesen, sammeln< mitzudenkenden Handlungsaspekt hinweisen. Kollektiv offenbart deutlicher den Konstruktcharakter von Gemeinschaftsbildung, zum einen dadurch, dass es das von jemandem Zusammengelesene bezeichnet und damit zum anderen jemanden impliziert, der etwas zusammengelesen bzw. auf einen Punkt zusammengebracht hat (Georges I, 1265; s. v. colligo). Für Chamberlain sind die Größen 'Individuum' und 'Kollektiv' Gegensätze, ist das Eine das Isolierte, Losgelöste, das andere das Gebundene _____________ 1
Vgl. Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1927/30) IX, 2003, 243.
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
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und Verbindende. Verkürzt könnte man sagen: Dem Chaos von Individuen steht bei ihm die Ordnung des Kollektivs gegenüber. Innerhalb dieses Ordnungsrahmens ist 'Rasse' zu finden, außerhalb seiner das Völkerchaos. Rasse, aber auch Sprache, verbinden nicht nur Menschen zu einer Gemeinschaft, sondern sind bei Chamberlain das Ordnungs- und Gestaltungsprinzip überhaupt. Ob Homer, Kant, Goethe oder Luther, alle Individuen, und seien sie noch so individuell und genial, historisch noch so bedeutsam und unverwechselbar, sind für Chamberlain nicht ohne das Volk, das heißt für ihn: nicht ohne die Rasse, aus der sie stammen, nicht ohne die Sprache, in der sich ihre Rasse kultiviert, denkbar. Beide bilden den Boden, auf dem Persönlichkeit und Genie erwachsen können. Dabei wird die Persönlichkeit selbst, wie gezeigt wurde, entindividualisiert. Sie verliert ihren Eigenwert, wird funktionalisiert und dient nur noch einem kollektiven, höheren Heilsplan. Aussagen über die Autonomie des Individuums sind daher mit besonderer Vorsicht zu betrachten: Gl 1071: einzig jener leuchtende Mittelpunkt - die Emanzipation des Individuellen – wird gewöhnlich übersehen und musste daher hier betont werden; nur durch die Augen des Genies kann uns eine leuchtende Weltanschauung zu Teil werden, und einzig in unseren eigenen Sprachen kann sie Gestalt gewinnen.
Die Rede von der Emanzipation des Individuellen führt bewusst in die Irre. Sie impliziert keineswegs die Eigenverantwortlichkeit eines Einzelnen oder gar die Autonomie des Individuums, das frei und schöpferisch in die Kultur- oder Weltgeschichte eingreift. Zum Ausdruck kommt hier vielmehr die parallel zu "Persönlichkeit" vollzogene Kollektivierung von 'Individualität'. Individualität erhält dabei zwei Pole. Sprachlich wird sie von Chamberlain einerseits durch das Individualisieren von Kollektiven und andererseits durch das Entindividualisieren (d. h. Kollektivieren) von Individuen geschaffen. Wenn man also vom Individualismus z. B. des echten Germanen spricht, so hat das mit einem Einzelmenschen der Zeit um Christi Geburt ebenso wenig zu tun wie das Wort Rassenindividualität (GL 23). Indem Chamberlain Völker personifiziert, indem er ihnen einzelmenschliche, individuelle Eigenschaften zuschreibt, gibt er ihnen ein persönliches Gesicht und einen spezifischen Charakter. Damit hat er neben dem Individuum eine eigene weitere Handlungsgröße mit offensichtlich anderer Existenzweise als das Individuum geschaffen. Nachdem er diese Größe angesetzt hat, lässt er sie auf das Individuum zurückwirken: Das Einzelwesen wird in seiner Handlungsfähigkeit und vor allem in seiner Handlungsfreiheit auf das beschränkt, was das Kollektiv vorgibt. Indem seine Charaktereigenschaften an die Rasse gebunden oder gar überhaupt von Rasse abhängig gemacht werden, beraubt er es seiner Individualität und seiner individuellen Entscheidungs- und Erkenntnisfähigkeit. Das folgen-
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de Zitat, das in einem offensichtlichen Gegensatz zu dem vorangehenden steht und offen legt, dass das erste eine bloße Konzession an seine Leser war, macht Chamberlains wahre Individualitätsvorstellung deutlich. Gl 26: Es ist nämlich auffallend, wie unendlich wenig die einzelnen Individualitäten sich im Allgemeinen voneinander abheben. Die Menschen bilden innerhalb ihrer verschiedenen Rassenindividualitäten eine atomistische, nichtsdestoweniger aber sehr homogene Masse.
Individualität existiert ausschließlich innerhalb des Kollektivs Rasse, außerhalb ist sie Atom, nur noch Partikel einer homogenen Masse, unkontrollierbar und bedrohlich. Damit degeneriert sie zur quantitativen Größe, die mit wahrer Qualität, dies ist die Gesamtheit derjenigen Eigenschaften, die Einzelmenschen unverwechselbar machen und gegeneinander abheben, nichts mehr zu tun hat. Wenn ich oben von zwei Polen (Individualisieren von Kollektiven auf der einen Seite und Entindividualisierung von Individuen auf der anderen) ausgegangen bin, so spiegelt dieses Bild die absolute Opposition, die Chamberlain errichtet, wenn er der gesichtslosen Masse, die deswegen keine Individualität besitzt, weil sie keine Anbindung an die Rasse hat, also ein Urbrei charakterbarer Rassenlosigkeit2 ist, als Gegenpol der Persönlichkeit bzw. dem Genie gegenüberstellt. Das Suffix -bar des neugebildeten Adjektivs charakterbar ist dabei nicht im Sinne des etymologisch differenten -bar in fruchtbar (>fruchttragend<) und auch nicht im Sinne von –bar in Bildungen wie ertragbar (>erträglich, kann ertragen werden<) zu lesen, sondern als bar (>frei von etwas<). Und Masse meint nicht ein ungefährliches, nur eben träge passiv Daseiendes, sondern ist das Konglomerat des Unkontrollierbaren, des Drohenden, das wie die Angst diffus streut, und das das aus dem Völkerchaos entstammende Menschengemisch zum Inbegriff des irrationalen, mit Vegetativmetaphern beschreibbaren, sich jedem Zugriff entziehenden Schreckgespenstes des politisch und kulturell Verantwortlichen macht. Masse, Chaos, Gemisch, Brei finden sich entsprechend in allen Texten Chamberlains. Es sind Ausdrücke, die die Ängste und politischen Befürchtungen der sich als staatstragend fühlenden Schichten deshalb geradezu passgenau treffen, weil man sie auf die heraufziehende und immer stärker werdende soziale Bewegung beziehen konnte. Entscheidend ist nun, dass Chamberlain der Drohung, die er vom 'Chaos' ausgehen sieht, nicht das Individuum entgegensetzt, das der vermeintlichen Gefahr begegnet, sondern die Kollektivgrößen: 'Nation', 'Staat', 'Sprache' und 'Rasse'. Mag sich in der Neusemantisierung von Individuum die Angst vor der grundschichtigen Masse spiegeln, die in der Zeit _____________ 2
An Kaiser Wilhelm II. In: Br II, 158. Chamberlain stellt diesem vermeintlichen Chaos Konzentration und Organisation entgegen.
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besonders intensiv gefühlt wurde,3 und mag das Individuum deshalb in Teilen von Chamberlains Texten eine gewisse verbale Beachtung erfahren, schon weil seine Leser dies erwarteten, so ist es doch nicht das Gegengewicht zum Chaos. Eine nur subjektiv beschreibbare Kollektivgröße wie das Chaos fordert als Antwort vielmehr ebenfalls eine subjektiv konstruierte Kollektivgröße, und dies kann im Denken Chamberlains letztlich nur die Rasse sein. Damit ist ein neuer Ort für das Individuum geschaffen, und zwar zunächst in negativer Abgrenzung: Das Individuum ist nicht mehr das freie, einem unbegründbaren Eigengesetz unterliegende, nie dagewesene und nie wiederkehrende menschliche Einzelwesen, das der Geschichte nach seinem inneren Gesetz Gestalt verleiht, geistesgeschichtlich ausgedrückt: Es nicht mehr die zentrale Größe des Idealismus und des Liberalismus, also nicht mehr eine Größe, die eigenständig und kritisch denkt, Eigenes schafft, ihr Leben letztlich autark einrichtet, anderen im Bewusstsein der eigenen Qualitäten Gleichberechtigung gestattet. Es kann dies insbesondere dann nicht sein, wenn man ein derart gedachtes Wesen aufgrund seiner Autonomie dem Verdacht unterwirft, außerhalb der Gemeinschaft zu stehen, möglicherweise sogar gemeinschaftsschädigend zu sein. 'Individualität' kann also ihrerseits, wie die Masse auf der anderen Seite, als nicht kontrollierbar, nicht dem Gemeinwohl dienend, möglicherweise sogar dem Chaos affin4 betrachtet werden. Ist die Angst vor der Masse im politischen Kontext der Zeit die Angst vor dem Proletarier oder dem Sozialismus, so ist die Angst vor dem Individuum die Angst vor dem Liberalismus. Beide Bewegungen prägten Chamberlains Lebenszeit. Beiden Bewegungen werden Völkerverständigung und Universalismus zugeschrieben, womit sie letztlich in den Augen Chamberlains nur Produkte des Völkerchaos bilden. Das Individuum ist nun vielmehr ein Rasseindividuum (vgl. s. v. Individuum 1). Das Menschenbild, das hinter dieser Auffassung steht, hat seine Pendants in bürgerlichen Wohnzimmern der wilhelminischen Zeit. Es ist Ausdruck einer vor der Zukunft zurückschreckenden Bürgermentalität, also der Angehörigen jener sozialen Schicht, die ihr eigenes Überlegenheitsbewusstsein mit dem Chamberlain'schen Entwurf eines neuen (den bildungsbürgerlichen Idealen verpflichteten) Menschen in eine gewisse Affinität zu bringen bereit war. Diese Bereitschaft ist dadurch motiviert, dass im Hintergrund ein soziales Krisenbewusstsein schwelte, das man durch aufwertende Identifikationen und die damit einhergehenden Aus_____________ 3 4
Vgl. Gumbrecht, 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit 2001, 304f. und 425f. Hitler hat sie dann verächtlich als Überindividualismus bezeichnet, so in Mein Kampf II, 430: „Soweit sie dabei unserem Volkskörper fremdes Blut zuführten, wirkten sie mit an jener unseligen Zersplitterung unseres inneren Wesens, die sich in dem – leider vielfach sogar noch gepriesenen – deutschen Überindividualismus auswirkt.“
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grenzungen zu verdrängen suchte. Überspitzt formuliert könnte man die These vertreten: Je stärker das Krisenbewusstsein, desto höher die Bereitschaft zur Identifikation mit Entwürfen vom Typ der Chamberlain'schen. Diese Bürger werden es sein, die besonders unter den als chaotisch empfundenen Verhältnissen der Weimarer Republik leiden werden, und dann den Führerpersonen huldigen, die im realen und geistigen Umfeld des Sterbebettes Chamberlains standen. Dass diese Art der Umsemantisierung auch sprachlich greifbar ist, soll das folgende Kapitel zeigen. 1. 1. Der kollektive Singular – eine sprachliche Form zur Stigmatisierung Über den Gebrauch des Singulars schreibt Peter von Polenz: Von Polenz, Satzsemantik 1988, 149: Aus der Wissenschaftssprache kommt der in "Würde des Menschen” vorliegende typisierende Singular. Mit dieser uneigentlichen Ausdrucksweise werden [...] Typus-Begriffe geschaffen. Dabei werden (statt der Gesamtheit aller gemeinsamen Merkmale aller Elemente einer Klasse) vereinfachend die jeweils für wesentlich, prägnant, musterhaft, vorbildlich gehaltenen Merkmale der Klasse als 'reiner' Typus oder Idealtypus in den Vordergrund gerückt (und die anderen vernachlässigt), z. B. der Renaissancemensch, […]. Durch die Verwissenschaftlichung der Öffentlichkeitssprache seit dem frühen 19. Jahrhundert wurden solche typisierenden Singularwörter auch in der politischen Propaganda üblich und wirksam: z. B. […] der Franzose, der Jude, [...]; daneben auch mit uneigentlicher Verwendung des unbestimmten Artikels in typisierender Bedeutung: ein Deutscher, eine Frau, ein Arbeiter, […] In Verbindung mit typisierenden Prädikaten (als kollektiv reproduzierte Gruppen-BEWERTUNGEN) spielen diese typisierenden Singulare in den Stereotypen/Gruppenvorurteilen eine Rolle: der Schwabe ist geizig, […]. Es ist dabei unerheblich, ob der Singular oder der Plural, der bestimmte oder der unbestimmte Artikel oder die Nullform verwendet wird.
Der in den Grammatiken oft als kollektiv, bei P. von Polenz als typisierend charakterisierte Singular ist von seiner terminologischen Motivation her aufgrund des Attributs kollektiv eine semantische, aufgrund von Singular eine grammatische und zugleich semantische Größe. Grammatische und semantische Größen stehen in natürlichen Sprachen höchstens zufällig in einem Eins-zu-Eins-Verhältnis, in der Regel liegt ein Verhältnis von eins zu x oder von x zu 1 vor, das heißt, dass grammatische Formen funktionspolysem sind und dass eine bestimmte semantische Funktion grammatisch auf mehrfache Weise ausgedrückt werden kann, wie es in dem vorgetragenen Zitat zum Ausdruck kommt. Mit dieser einleitenden Bemerkung soll angedeutet sein, dass es hier nicht ausschließlich um Ausdrücke wir der Mensch, der Germane, der Jude in einer einzigen ihrer Funktionen geht, sondern um das gesamte Ausdrucksfeld der Artikel und der Numeri in ihrer Funktionsvielfalt. Die gewählte Überschrift ist also nur als Ausdruck dieser Absicht zu verstehen; sie erklärt sich daraus, dass dem Singular-
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gebrauch, wie er im kollektiv gemeinten der Mensch vorliegt, eine prototypische Funktion zukommt. In einem streng grammatikalischen Sinne ist die Welt der Zählbarkeit auf den ersten Blick klar bestimmt. Man hat einen Apfel und noch einen und noch einen. Hat man nur einen, so gebraucht man grammatisch die Einzahl, den Singular. Der singularische Ausdruck bezieht sich also logisch betrachtet ausschließlich auf eine einzelne Einheit als Referenzgröße 5 . Der Plural indiziert im Unterschied dazu die Mehr- oder Vielzahl, was allgemeinsprachlich heißt: mehr als eins, also mindestens zwei. Mindestens zwei können zwei Einzelne sein oder drei Einzelne oder vier oder fünf. Die Verwendung des Plurals für die gesamte Zahlenreiche von 'zwei' bis an die Grenze des Infiniten z. B. bis 1 200 999), demonstriert eine semantische Amplitude eines geradezu unfassbaren Ausmaßes. Warum haben wir keinen Dual mehr? Warum fehlt uns ein Tertial oder ein Hexal (um wenigstens die Grundeinheiten des alten Sechsersystems grammatisch abzufangen)? Damit ist die Problematik der Numeri angesprochen. Sie beginnt jedoch nicht erst bei der Zahl 1000 oder einer Million, sondern schon bei zwei, drei, vier usw. und besteht in der Frage: Sind viele Einzelne noch Einzelne so wie 'eins', also im vollen Sinne 'singulär, individuell, unverwechselbar', oder verschiebt sich die Semantik schon bei diesen geringen Anzahlen von Einzelnen in die Richtung von 'vielen' oder – um es zünftiger auszudrücken – von 'Vielheit'? Offensichtlich ist mit dem Übergang von 'eins' zu 'zwei', 'zwölf' oder 'tausend' eine schleichende, im Numerus Plural verschleierte Verschiebung der Semantik verbunden. Von einer bestimmten, im einstelligen Zahlenbereich liegenden Anzahl an sieht man nicht mehr das Einzelding, sondern zunehmend nur noch seine Zugehörigkeit zu einer Menge, die natürlich irgendwie bestimmt sein muss. Die Zählung hebt die Individualität des Singulären auf. Dieser Verlust wird sprachlich dadurch bestätigt, dass man bei zunehmenden Anzahlen zu zählen aufhört und die Angabe exakter Zahlen durch massenbezügliche Ausdrücke unterschiedlicher grammatischer Kategorien wie viele, eine ganze Menge oder durch sog. Kollektivbegriffe wie Volk, Germanentum usw. ersetzt. Auch der Gebrauch der Determinativpronomina, die zwar prototypisch deiktischer Natur sind, das heißt auf Einzeldinge hinweisen, unterliegt dieser Verschiebung: Sie referieren dann zunehmend auf Gruppen, Mengen, Typen, Kollektive. Die Einheiten, die in diesen Cumuli aufgehen, sind dann schon deshalb der Zählbarkeit entzogen, weil sie sprachlich gar nicht mehr aufscheinen. Statt dessen entsteht ein neuer, nur in den Köpfen sprachlich Handelnder vorkommender, nicht exophorisch zeigbarer, abstrakter, eine eigene, nicht _____________ 5
Weinrich (Textgrammatik 1993, 337) spricht von „der Einheit des Bündels“.
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durch Singularität bestimmte Existenzform aufweisender Gegenstand, eben ein Cumulus, für den man aber je nach Argumentation auch Begriff, Kollektiv, Typus, Typenbegriff sagen kann und sagt. Dieser wird seinerseits, obwohl zusammengesetzt, als Einheit wahrgenommen, in vielen Fällen der Zählbarkeit unterworfen, der Abgrenzung von anderen solchen Einheiten unterzogen und der wertenden Unterscheidung ausgesetzt, so als wäre er ein Einzelnes. Um es noch einmal zu pointieren: Es gibt Einzeldinge, diese sind singulär in dem Sinne, dass sie sich von anderen Einzeldingen trotz aller möglicher Ähnlichkeiten unverwechselbar unterscheiden. Unterwirft man mehrere bis viele dieser Einzeldinge der Zählung, so verlieren sie ihre Singularität, werden zu gleichartigen Einheiten eines Cumulus: das einzelne Korn geht im Kornhaufen unter. Chamberlain schrieb im letzten Zitat (Gl 26), dass die Individualitäten sich im Allgemeinen unendlich wenig voneinander abheben. Statt des Einzeldings tritt also der Cumulus auf den Plan: seinerseits eine Einheit, oftmals gezählt, abgrenzbar, unterscheidbar. Dies ist eine zugleich sprachliche und kognitive Leistung, die nicht an Einzelsprachen gebunden ist, sondern in irgendeiner grammatischen Form in allen Sprachen vorkommen dürfte. F. Nietzsche hat den beschriebenen Vorgang in seinen semantischen Implikationen (1873) in Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn wie folgt charakterisiert: Nietzsche, Studienausgabe 1, 880: Denken wir besonders noch an die Bildung der Begriffe: jedes Wort wird sofort dadurch Begriff, dass es eben nicht für das einmalige ganz und gar individualisirte Urerlebnis, dem es sein Entstehen verdankt, etwa als Erinnerung dienen soll, sondern zugleich für zahllose, mehr oder weniger ähnliche, d. h. streng genommen niemals gleiche, also auf lauter ungleiche Fälle passen muss. Jeder Begriff entsteht durch Gleichsetzen des Nicht-Gleichen. So gewiss nie ein Blatt einem anderen ganz gleich ist, so gewiss ist der Begriff Blatt durch beliebiges Fallenlassen dieser individuellen Verschiedenheiten, durch das Vergessen des Unterschiedenen gebildet und erweckt nun die Vorstellung, als ob es in der Natur ausser den Blättern etwas gäbe, das "Blatt" wäre, etwa eine Urform, nach der alle Blätter gewebt, gezeichnet, abgezirkelt, gefärbt, gekräuselt, bemalt wären, aber von ungeschickten Händen, so dass kein Exemplar correkt und zuverlässig als treues Abbild der Urform ausgefallen wäre. Wir nennen einen Menschen ehrlich; warum hat er heute so ehrlich gehandelt? fragen wir. Unsere Antwort pflegt zu lauten: seiner Ehrlichkeit wegen. Die Ehrlichkeit! Das heisst wieder: das Blatt ist die Ursache der Blätter. Wir wissen ja gar nichts von der wesenhaften Qualität, die die Ehrlichkeit hiesse, wohl aber von zahlreichen individualisirten, somit ungleichen Handlungen, die wir durch Weglassen des Ungleichen gleichsetzen und jetzt als ehrliche Handlungen bezeichnen; zuletzt formulieren wir aus ihnen eine qualitas occulta mit dem Namen: Die Ehrlichkeit.
Der Grund dafür, dass dieser Text in so großer Länge zitiert wurde, ergibt sich daraus, dass Nietzsche erstens die Bildung von Cumuli, die er seinem Beschreibungsinteresse entsprechend als Begriffe fasst und von den unglei-
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chen Fällen abhebt, auffallend deutlich mit der Herausstellung ihrer Kehrseite verbindet, nämlich dem Verlust der Individualität. Es wird außerdem deutlich, dass Nietzsche diese Implikatur offensichtlich bedauert. Wenn er formuliert, dass der Begriff dem einmaligen, ganz und gar individualisierten Urerlebnis etwas verdankt, dabei die Verschiedenheit fallengelassen wird und dass Abbild nicht korrekt, nicht zuverlässig, nicht treu sein kann, dann schwingt dabei ein unterschwelliges Missvergnügen und letztlich eine tief philosophische Kritik an der Möglichkeit des Menschen mit, eine bestimmte Form von Wahrheit zu finden. Ein dritter Punkt kommt hinzu: Es mag zwar unumgehbar sein, dass man sich Begriffe bildet, also (von mir nunmehr positiv formuliert) z. B. 'den Menschen' vom 'dem Tier', von 'Gott' oder 'Äpfel' von 'Birnen' unterscheidet; aber das Fallenlassen der Verschiedenheiten erfolgt beliebig. Das heißt in der Argumentation der vorliegenden Arbeit: Verschiedenheiten werden in kulturellen Handlungen, in Sprech- und Schreibhandlungen von Individuen nach bestimmten gesellschaftlichen Konventionen zugunsten neu konstituierter Abstraktgrößen aufgegeben. Diese neuen Größen sind demnach das Ergebnis sprachkultureller Handlungen, Konstrukte, die durch Üblichkeiten der Kommunikation, das heißt durch selegierendes Fallenlassen bestimmter und Beibehaltung anderer Verschiedenheiten zustandegebracht wurden. Ihre Inhalte unterliegen also der Handlungsmöglichkeit des einzelnen und des sozialen Menschen. Solche Konstrukte können, wenn sie allgemein übernommen werden, den Status des Abbildes von Sachverhalten gewinnen und argumentativ dann als metaphysische Beweisgröße eingesetzt werden. Das mag im Beispiel des von Nietzsche angeführten 'Blattes' ebenso wie bei kollektivem 'der Apfel' und 'die Birne' unproblematisch sein. In allen interessanten Fällen, das sind diejenigen, in denen es um kulturelle Bezugsgegenstände geht, ist die Begriffsbildung beliebig, sie kann irgendwie begründet, vollkommen zufällig, in manipulativer Absicht usw. erfolgen; selbst dasjenige, was man als begründet oder manipulativ ansieht, unterliegt in sehr viel mehr Fällen, als man gemeinhin denkt, wieder der kulturellen Entscheidung. Bisher wurde vereinfachend von zwei Größen ausgegangen: hie Singuläres, dort Begriff (oder wie auch immer gefasstes Allgemeines). Allerdings wurde bereits deutlich, dass das Verhältnis zwischen diesen Größen skalar gesehen werden muss. Damit ist die gesamte Amplitude kultureller Handlungsmöglichkeiten des Menschen angesprochen, und zwar die Abstraktionsstufe wie das Abstraktionskriterium. Im Folgenden soll zunächst eine Stufung der Skala versucht werden, und zwar an dem einfachen Beispiel Apfel im Vergleich zu einem zweiten Beispiel, nämlich Mensch, dann folgt die Belegung anhand von Texten Chamberlains.
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1. Apfel / Mensch im Singular: a. Referenz auf einen einzelnen Apfel mittels der, ein, dieser Apfel: Gemeint ist dann genau der Apfel, den ich gerade vor mir habe, reif, fast edelfaul, wohlschmeckend. Entsprechend kann ich mit der, ein, dieser Mensch ein Individuum meinen, das groß, reich, intelligent, ansonsten vielleicht ein Ekel ist. b. Referenz auf eine bestimmte Gruppe von Äpfeln. Ich kann diese als Apfelsorte bezeichnen und mittels Nennung der Sorte z. B. als Idared, Rubinette genau bestimmen, von anderen Sorten abgrenzen usw. Eine Bezugnahme auf Eigenschaften wie 'reif' oder 'edelfaul' ist damit nicht mehr möglich. Überträgt man das Beispiel auf den Menschen, so würde man z.B. erhalten: der, ein Deutscher, Germane oder der Schwarze, der Asiate, und zwar nicht im Sinne von 'dieser eine unverwechselbare Deutsche, Schwarze, Asiate', sondern im Sinne von 'der Deutsche usw., der die dieser Gruppe des menschlichen Geschlechtes zugeschriebenen Eigenschaften in reiner (so von Polenz, s. o.) Form erkennen lässt'. Ist diese Abstraktionsstufe gemeint, so spreche ich in Differenzierung der oben genannten Teilsynonyme vom Typus. Dieser Ausdruck bezieht sich also auf eine begriffliche Einheit oberhalb mehrerer gezählter Einzelner (also oberhalb von a) und unterhalb der unter c folgenden Stufe. Im Gegenstandsbereich 'Mensch' gibt es ein reiches Feld lexikalischer Ausdrücke, das zu seiner Fassung bereitsteht, etwa Volk, Nation, Rasse, zum Teil in Verbindung mit Adjektivattributen wie das deutsche Volk, die Nation der Franzosen, die Rasse der Arier. c. Referenz auf ein Abstraktum höherer Ebene, etwa 'Apfel' im Unterschied zu 'Birne' und 'Kirsche'. Diese Stufe kann prototypisch durch den kollektiven Singular mittels der Apfel, der Mensch bezeichnet werden, gemeint und konstituiert ist dann der 'Apfel schlechthin, als solcher' im Unterschied zu 'Birne schlechthin', in "platonischer" Terminologie gleichsam die 'Apfelheit', so wie man mit Bezug auf den Menschen die Ableitung Menschheit zur Verfügung hat. Da jeder davon redet, gibt es sie auch. Sie ist dasjenige, was Nietzsche für sein Blattbeispiel mangels eines eingeführten Lexems mit einer Reihe von Textsynonymen, nämlich Ursache, Urform, qualitas occulta umriss und von Urerlebnis abgrenzte. Beide Ausdrücke (sowohl Apfelheit wie Menschheit) sind prototypisch nicht pluralisierbar. Ich nenne Abstraktbildungen auf dieser Stufe in Übernahme des entsprechenden Ausdrucks von Chamberlain Kollektive. d. Referenz auf eine gegenüber c nochmals abstraktere Einheit, in unserem Falle also 'Obst' oder 'Primat' (beides in weiteren Abstraktionsstufen aufhebbar).
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2. Apfel / Mensch im Plural: a. Referenz auf mehrere Einzelgegenstände: die / diese Äpfel, die / diese Menschen; gemeint sind damit einige Äpfel / Menschen mit bestimmten Eigenschaften im Unterschied zu anderen Äpfeln / Menschen mit ebenfalls bestimmten, aber anderen Eigenschaften. Beginnt man die Einzelexemplare von was auch immer zu zählen, so verlieren sich die individuellen Eigenschaften und gelangt man in den Überlappungsbereich zu b hin. b. Referenz auf Typen von Äpfeln bzw. Menschen. Diese ist für Äpfel zwar möglich (etwa die Idareds oder ohne Artikel Idareds), aber nicht üblich. Menschen können, falls sie Deutsche oder Juden sind, ebenfalls durch den Plural mit Artikel, vor allem aber durch den Plural ohne Artikel (also als Deutsche, Juden) bezeichnet werden und werden der Regel so bezeichnet. Will man die Zugehörigkeit zu einer Rasse betonen, so hat man Wortbildungen zur Verfügung, etwa (die) Rassenangehörige(n). c. Referenz auf das Kollektivum 'Apfel' im Unterschied zu 'Birne': Das Kollektivum ist nur auf eine bestimmte Weise pluralisierbar, nämlich unter Auslassung des Artikels: Äpfel schmecken herzhafter als Birnen. Würde man mit Artikel sagen: die Äpfel schmecken besser als die Birnen, so ist das grammatisch zwar richtig und in bestimmten textlichen Zusammenhängen auch möglich, aber das ist keine Pluralisierung von Apfel im Sinne von 'Apfelheit' und im Unterschied zu Birne, sondern ein Plural von Apfel im Sinne von a. Entsprechendes gilt für Mensch: Menschen haben den aufrechten Gang. d. Für nochmals höhere Abstraktionsstufen gelten weitgehend die unter c. genannten Bedingungen. Die vorgetragene Zusammenstellung lässt erkennen, – dass es einen weiten Weg vom Einzelnen zum obersten Abstrakten gibt, – dass dieser Weg als stufenlos angesehen, aber aus Beschreibungsgründen einer Stufung unterworfen werden muss, – dass die Stufung immer eine Kriterienselektion voraussetzt: Vieles fällt weg, dagegen wird den Interessen Entsprechendes konstitutiv für die Bildung von Abstraktgrößen. Damit ist der Gesamtraum kulturellen Handelns angesprochen. – dass die sprachliche Fassung der gesamten Skala vom Einzelnen bis zum obersten Abstrakten sehr unterschiedlich verläuft; es gibt morphologische, lexikalische und natürlich syntaktische Mittel, die zum Teil funktional klar oder wortsemantisch wohlbestimmt, zum größeren Teil aber in einem offenen Verhältnis zueinander, im übrigen immer in textlichen Zusammenhängen stehen, – dass für die durch Abstraktion konstituierten Größen wiederum Kennzeichnungen verwendet werden können, die auch für das Einzelne gelten.
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Die Weise, wie Chamberlain Plural- und Singularformen gebraucht, wie er dadurch den ihm zur Verfügung stehenden sprachkulturellen Handlungsoder Manipulationsspielraum ausnutzt, soll durch folgende Belegzusammenstellung vorgeführt werden. Untergliedert wird wieder nach a. 'einzelner Mensch, b. 'Rassemensch', c. 'Mensch generell'. a. Es gibt Bezugnahmen auf Einzelmenschen, wie sie etwa in folgenden Zitaten begegnen: Br I, 108: wer die Religion eines Menschen oder eines Volkes diagnostizieren will, muß zuvörderst Klarheit über die Art seiner Mythenbildung besitzen. GL 60: ein latenter Kraftvorrat, der sich im Leben des einzelnen Menschen wie auch im Leben eines ganzen Volkes überall, [...] "reinigend" bethätigen muss. GL 9: nicht Einzelne, sondern Gesamtheiten machen Geschichte. GL 370: Die gesamte organische Natur, [...], beweist, dass die Wahl der miteinander Zeugenden von entscheidendstem Einfluss auf das neugezeugte Individuum ist; ausserdem beweist sie aber, dass das hier waltende Prinzip ein kollektives und progressives ist, indem zuerst ein gemeinsamer Grundstock nach und nach gebildet werden muss, woraus dann, [...], Individuen von durchschnittlich höherem Werte hervorgehen als es ausserhalb eines solchen Verbandes der Fall ist, und unter diesen wieder zahlreiche Individuen mit geradezu "überschwänglichen" Eigenschaften entstehen. Br II, 173, an Wilhelm II (4. 2. 1903): Und wie Kant ein höchstes Denken, das nur deutsch gedacht werden kann, so hat Wagner ein Kunstwerk geschaffen, welches […]. Kriegsaufs. / Dt. Sprache 25f.: so ist z. B. Johann Sebastian Bach, der Wundermann, den Goethe nur mit Gott zu vergleichen wusste, undenkbar außerhalb des Gebietes der deutschen Sprache und außerhalb der Richtung, die Martin Luther dem Geist, aus dem diese Sprache entwächst, angewiesen hatte.
b. Bezugnahmen auf typisierte Menschen begegnen in Zitaten folgender Art vor: Gl 315: Dem Semiten, unter dem wir im gewöhnlichen Leben lediglich den Juden verstehen (…) stellen wir den Arier entgegen. AW 60: der Arier legt die felsenfeste Überzeugung von der moralischen Bedeutung der Welt – seines eigenen Daseins und des Daseins des Alls seinem ganzen Denken zugrunde […]. Gl 142: so dass der Arier, nach Mesopotamien verpflanzt eo ipso Semit geworden wäre. Gl 9: [Erkenntnis], dass unsere gesamte heutige Civilisation und Kultur das Werk einer bestimmten Menschenart ist: des Germanen.
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
376 Gl 550: Der Begriff "Germane". Der Eintritt des Juden in die europäische Geschichte hatte [...] den Eintritt eines fremden Elementes bedeutet [...]; umgekehrt verhält es sich mit dem Germanen. GL 9: musste der Germane in breiten Schichten zur Bethätigung seines Eigenwillens im Gegensatz zu dem ihm aufgedrungenen fremden Willen erwachen. IuM 11: Das wahrhaft Deutsche ist immer heldenhaft, es enthält immer – wie Goethe es forderte – ein Überschwengliches. Doch die Umkehrung gilt auch: ist der Deutsche nüchtern statt überschwenglich und zaghaft statt heldenhaft, so erreicht er weniger als Andere, weil ihm die ergänzenden Eigenschaften anderer Volksseelen abgehen. […] sobald der Deutsche nicht Träumer und Held, nicht Schöpfer und Herr ist, so sinkt er herab zum emsigen Knecht, der fremder Größe frönt. Die Beweise hat Jeder aus Geschichte und Gegenwart vor Augen. Dies ist die Eigenart des echten, erwachten, handelnden und im höchsten Sinne des Wortes "praktischen" Deutschen; der gleichmäßig bescheidene, unterwürfige, nachgiebige, mit allem zufriedene Deutsche ist entweder gar keiner, oder er schläft den langen Schlaf der Riesen, von einem schlimmen Alben verzaubert. Gl 276: Ganz anders empfand der Jude. Er wusste über die Schöpfung der Welt so genau Bescheid wie heutzutage die wilden Indianer von Südamerika, oder die Australneger. Gl 285: Der Wille erreicht beim Juden eine solche Überlegenheit, dass [...]. Gl 404: dass der Jude uns schadet oder nützt. […] Hätten wir den Juden nicht feierlich zu unserem Ohm ernannt, er wäre bei uns ebensowenig heimisch geworden wie der Sarazene, oder wie jene übrigen Wracke halbsemitischer Völkerschaften, welche nur durch bedingungsloses Aufgehen in den Nationen Südeuropas ihr Leben – doch nicht ihre Individualität – retteten. Gl 409: Der Jude kann insofern ein Israelit genannt werden, als er ein Schössling aus jener Familie ist; der Israelit dagegen, [...], war zunächst kein Jude, sondern der Jude begann erst dann zu entstehen, als die kräftigeren Stämme des Nordens durch die Assyrer vernichtet worden waren. Um zu erfahren, wer der Jude ist, haben wir also zunächst festzustellen, wer der Israelit war, und sodann erst nachzufragen, wie der Israelit des Stammes Juda (und Benjamin) zum Juden wurde. Gl 510: Wer auf die Frage: wer ist der Jude? eine klare Antwort geben will, vergesse das Eine nie: dass der Jude, dank dem Hesekiel, der Lehrmeister aller Intoleranz, alles Glaubensfanatismus, alles Mordens um der Religion willen ist Gl 550: Meuchelmörderisch hatte sich der asiatische und afrikanische Knecht bis zum Thron des römischen Imperiums hinaufgeschlichen, inzwischen der syrische Bastard sich des Gesetzeswerkes bemächtigte, der Jude die Bibliothek zu Alexandria benutzte, um hellenische Philosophie dem mosaischen Gesetze anzupassen. Gl 470: Der Semit ist ein Mensch wie andere; es handelt sich lediglich um Gradunterschiede, die aber allerdings in diesem Falle, dank dem extremen Charakter dieses menschlichen Typus, der Grenze des absoluten Ja und Nein, des Sein oder Nichtsein nahe kommen.
377 Rassenindividualität und Völkerchaos
Gl 495: der eigentliche Jude entstand erst im Laufe der Jahrhunderte durch allmähliche physische Ausscheidung aus der übrigen israelitischen Familien […]. Gl 454: Der typische Jude interessierte sich weder für Politik, noch für Litteratur, noch für Philosophie, noch für Kunst.
c. Auf 'Mensch generell' bezogen wären folgende Zitate: AW 82: Gestaltet der Mensch die eine, so schafft er Wissenschaft, gestaltet er die andere, so hat er Religion. AW 69: das was hier vorgeht, geht im Innersten des Menschen vor. AW 24: Das transszendente Wesen des Menschen. AW 26: daß bei dem Menschen gerade der Verstand die reichste Stufenleiter verschiedengradiger und auch verschiedenartiger Entwicklung aufweisen muß. Br I, 102: die Natur (bewirkt) am Menschen ein Phänomen der allgemeinen Steigerung der Lebensenergie. Br II, 170: Die Würde des Menschen: das ist es, was jetzt in Deutschlands Händen ruht Wille/Wille 10: sobald der Mensch nicht mehr, wie ein Tier, aus bloßem Instinkt handelt AW 61: als ob dann wieder die großen Naturerscheinungen – der Lichthimmel, die Wolke, das Feuer usw. – auf diesen selben, von innen nach außen gesendeten Strahlen den umgekehrten Weg zurücklegten, in des Menschen Brust hineindrängten und ihm zuraunten: ja, Freund, wir sind das selbe wie du! AW 85: Eine andere wichtige Folge dieser einzig wahren – oder wenigstens einzig "arischen" – Auffassung der Religion ist, daß die Grundlage der Sittlichkeit nicht in zukünftigen Lohn und zukünftige Strafe verlegt wird, sondern [...] in die Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst, vor dem Weltumfassenden, daß er "in Herzens Tiefen" birgt. Kriegsaufsätze I / Dt. Sprache 24: was wir "Deutsch" nennen, ist das Geheimnis, wodurch es in dem Menschen Licht wird. Wille / Wille 10f.: erst dann kann der Mensch behaupten: mein Wille erschafft. Eine solche Willensbestätigung zeigt den Menschen gottverwandt GL 368: Dass der Mensch nur im Zusammenhang mit dem Menschen im wahren Sinne des Wortes überhaupt "Mensch" wird, das sieht wohl Jeder ein. GL 844: Der Begriff "Menschheit" ist zunächst nichts weiter als ein sprachlicher Notbehelf, ein collectivum, durch welches das Charakteristische am Menschen, nämlich seine Persönlichkeit, verwischt und der rote Faden der Geschichte – die verschiedenen Individualitäten der Völker und Nationen – unsichtbar gemacht wird
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
378
Diese Zusammenstellung ist repräsentativ in dem Sinne, dass sie alle wesentlichen sprachlichen Formen und alle wesentlichen Aussagen Chamberlains über Mensch enthält. Auf den Einzelmenschen wird referiert in Form von: – ein Mensch, ein einzelner Mensch, Individuum, – mittels des Plurals Einzelne, Individuen – mittels eines Namens: Luther, Origenes, Wagner, Bach, Goethe. Typen von Menschen erscheinen unter Formen wie: – der Semit, Jude, Israelit, Arier, Germane, Deutsche, Sarazene (jeweils Singular mit Artikel), – der eigentliche / typische Jude, der afrikanische / asiatische Knecht, der wahrhaft Deutsche (Singular mit Artikel und Adjektivattribut), – die Indianer, die Australneger, die Assyrer (Plurale mit Artikel), – halbsemitische Völkerschaften, die wilden Indianer (Plurale mit / ohne Artikel und Adjektivattribut), – Menschen, deren [...] (Typisierung durch einen Relativsatz), – die miteinander Zeugenden (Typisierung durch den Wortinhalt). Der Mensch generell wird angesprochen als – der Mensch, – die Menschheit. In einer Reihe von Formulierungen fällt die Zuordnung zu einer der drei Klassifizierungseinheiten schwer, was aber hier nicht weiter von Belang ist. Entscheidend ist vielmehr, dass sich für den einzelnen Menschen singuläre Ausdrücke häufen, dass für den Menschentyp der Singular eines Typenausdrucks (in der Regel ein Völkername) überwiegt, dass ferner attribuierte Ausdrücke begegnen, die den Einzelnen auf eine bestimmte Eigenschaft reduzieren, die teils explizit als eigentlich, typisch, wahrhaft angegeben wird. Auffallend ist des weiteren, dass mit Bezug auf 'Juden' und auch auf 'Germanen' der typisierende Singular vorherrscht, dass aber 'Indianer', 'Australneger' und 'Assyrer' im Plural mit Artikel stehen, damit noch in den Übergangsbereich zum Individuum gestellt werden (was an anderen Stellen freilich konterkariert wird). Für den Menschen generell herrscht immer wieder kollektives der Mensch bzw. (seltener) die Ableitung Menschheit. Der Schluss aus diesen Beobachtungen sowie aus weiteren, hier nicht darlegbaren Beobachtungen kann nur lauten, das Chamberlain, wie bereits an anderer Stelle unter anderen Aspekten (s. v. Individuum, Persönlichkeit) gesagt, auf die Darstellung des Einzelmenschen keinen weiteren Wert gelegt hat, dass dem Individuum aber, falls es mit Namen genannt wird, offensichtlich eine besondere Rolle zukommt. Den Mittelpunkt des Gebrauchs typisierender Ausdrücke bildet 'der Jude', und zwar im Gegen-
379 Rassenindividualität und Völkerchaos
satz zu 'dem Germanen'. Bei kollektivem 'dem Menschen' fällt verdächtig häufig auf, dass er gottverwandt sein kann, aber auch in die Nähe des Tieres abzugleiten droht. Diese Schlussfolgerungen bedürfen einiger Erläuterungen. Zum ersten stellt sich die Frage, ob angesichts der hohen Rolle der großen Persönlichkeit wirklich gesagt werden kann, dass der Einzelmensch im Grund an der Peripherie der Aufmerksamkeit Chamberlains stehe. Zur Untermauerung dieser These sei deshalb – rhematisch pointierend – kurz auf einige Prädikationen hingewiesen, die sich geradezu regelhaft mit der Heraushebung der Persönlichkeit verbinden: Es sind die Gesamtheiten, die Geschichte machen, nicht Einzelne (Gl 9); nur in breiten Schichten wurde der Germane Gewalt; das Volk ist der eigentliche Erfinder, während der Einzelne sich der Erfindung nur bemächtigt (Gl 1083). Diese letzte Aussage deutet sogar in die Richtung, er sei ein Usurpator. Damit steht der Typus als abstrakte Entität tatsächlich im Mittelpunkt des Chamberlain'schen Interesses. Zweitens ist das auffallend häufige Auftreten von Völkernamen zu kommentieren. Immerhin begegnen neben Jude, Arier, Germane (über die dargebotenen Belege hinausgehend): der Ägypter (Gl 550), der Beduine (Gl 471), der Grieche (Gl 755), der Deutsche (IuM 11), der Engländer / Franzose (Grundstimmungen 10), der Hellene (Gl 550), der Inder (Gl 480), der Indoeuropäer (Gl 404), der Indogermane (AW 41), der Keltogermane (Gl 555), der Mongole (Gl 550), der Römer (Gl 550), der Sarazene (Gl 404), der Semit (Gl 315), der Slavokeltogermane (Vorw. 14. Aufl. XV). Diese Ausdrücke dürften als Namen eigentlich nur identifizieren6 und nichts über die gemeinte Bezugsgegebenheit aussagen. In Chamberlains Texten prädizieren sie aber, weil sie als Appellativa gebraucht werden, also bereits mit ihrer Nennung etwas zu wissen geben. Dasjenige, was sie zu wissen geben, wird von Chamberlain explizit behauptet und fungiert typenkonstituierend. 'Der Arier' zum Beispiel hat im Unterschied zum 'Semiten', der ihm auch entgegengestellt wird, Religion, das Göttliche ist für ihn kein blindes Wollen, er ist von der moralischen Bedeutung der Welt bis hin zum All überzeugt, sein Denken beruht auf innerem Wissen. All dies findet sich in ähnlicher Form beim 'Germanen', dem Schöpfer von Kultur und Zivilisation, oder bei 'dem Deutschen', der zumindest potentiell Schöpfer, Herr, Held ist. Demgegenüber ist 'der Jude' uninteressiert an Politik, Literatur, Philosophie, Kunst. Entscheidend in vorliegendem Zusammenhang ist die Konstitution von Menschentypen, die inhaltliche Festlegung von Eigenschaften dieser Konstitute und ihre Vermittlung in das öffentliche Bewusstsein bis zu dem Grade, dass man durchaus auch hören (nicht nur lesen) kann, 'der Germane' oder 'der Arier' sei doch tatsächlich die mit den genannten Ei_____________ 6
Vgl. zu den Funktionen von Eigennamen: Wimmer 1973; von Polenz 1988, 122.
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
380
genschaften ausgestattete Gruppe von Menschen, 'der Jude' das Gegenteil. Der Prozess der Verdinglichung, wie ihn A. Honneth in seiner gleichnamigen Studie (2005, 102) nennt, findet hier seinen beobachtbaren Höhepunkt. Honneth 2005, 103: Die soziale Praxis eines bloß distanzierten Beobachtens und instrumentellen Erfassens anderer Personen wird in dem Maße verstetigt, in dem sie durch verdinglichende Typisierungen kognitiv Unterstützung findet, wie umgekehrt jene typisierende Beschreibungen dadurch motivationalen Nährstoff erhalten, dass sie den passenden Interpretationsrahmen für die vereinseitigte Praxis liefern. Auf diese Weise bildet sich ein Verhaltenssystem heraus, das es erlaubt, die Mitglieder bestimmter Personengruppen wie "Dinge" zu behandeln, weil ihre vorgängige Anerkennung nachträglich wieder geleugnet wird.
In dem Maße, wie dieses Wissen vergemeinschaftet wird, ist 'der Germane' eine Sach-, Natur-, Objektivgröße. Wer dagegen agiert, läuft Gefahr, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Das verallgemeinerte Individuum lebt in einem Raum von Verallgemeinerungen und identifiziert sich über diese mit der Gemeinschaft. Straub, Identität 2004, 295:7 Nirgends fußen Identitätskonstruktionen und Identitätspolitiken einfach auf der nüchternen Feststellung empirischer Sachverhalte. Sie arbeiten vielmehr, wenn sie Differenzen zwischen dem Eigenen und dem Anderen bzw. Fremden ausmachen, mit magischen und religiösen Wahrnehmungen und Zuschreibungen, Projektionen und Manipulationen, die »andere soziokulturelle Kollektive« sukzessive oder schlagartig abwerten und über kurz oder lang »als Personifizierungen des Bösen« dämonisieren. Wenn solche psychologischen oder diskursiven Praktiken für das Selbstverständnis einer Gruppe konstitutiv sind und zum Nährboden des eigenen Selbst(wert)gefühls und der allgemeinen verbindlichen, die Zugehörigkeit verbindenden Handlungs- und Lebensorientierungen werden, wird die Lage prekär. Konflikte und deren Eskalation werden zum Programm »negativer« Identitätspolitiken, so dass es nicht mehr wundert, dass besonnene Beobachter der heutigen Welt apokalyptische Szenarien zeichnen, in denen weiterhin die Verfolgung und Vernichtung ganzer Ethnien, Religionen, Nationen und Kulturen droht.
Ein dritter Erläuterungspunkt betrifft das als der Mensch bzw. als Menschheit bezeichnete Kollektiv. Chamberlain meint damit nicht eine Größe in irgendeinem humanistischen Sinne, sondern den Menschen, den er als Rassemenschen, z. B. als 'Arier', 'Germanen', 'Deutschen' klassifiziert und mit _____________ 7
Vgl. auch ebd. 296: „Gruppen bilden sich, wachsen und bleiben zusammen, indem sie sich eine (konstruierte, imaginierte) andere Gruppe als negativen Vergleichs- und Kontrasthorizont hernehmen.“
381 Rassenindividualität und Völkerchaos
bestimmten Eigenschaften ausgestattet hat. Ausdrücklich bezeichnet er Menschheit als sprachlichen Notbehelf, als collektivum, in dem der rote Faden der Geschichte, das sind für ihn die Individualitäten der Völker und Nationen, unsichtbar würden (Gl 844). 1. 2. Kollektivierung durch Sprache Mit dem typisierten / kollektiven Individuum ist bereits ein wichtiges Implikat Chamberlain'scher Weltanschauung aufgerollt worden. Was aber ist ein kollektives Individuum? Diese Bezeichnung ist ja trotz aller möglichen Erläuterungen nach heutigem Sprachgebrauch auf den ersten Blick widersinnig. Doch das durch Rasse oder Nation bestimmte Menschenbild zeigt, dass Individualität im Ideologiekontext eines Rassentheoretikers, erst recht eines Rassisten keinen Wert8 an sich darstellt, sondern nur bezogen auf genau solche Personen bezogen wird, die das Kollektiv, dem sie angehören, in besonderer Weise repräsentieren. Bezeichnenderweise werden große Persönlichkeiten wie Goethe entsprechend mit typisierenden Kennzeichnungen, wie der grosse Heide bzw. der grosse Arier (Gl 276) versehen oder wie Kant so in einen Zusammenhang gestellt, dass sie als Produkt ihrer Nation und ihrer Sprache angesehen werden müssen: Br II, 173 (4. 2. 1903 an Wilhelm II.): Und wie Kant ein höchstes Denken, das nur deutsch gedacht werden kann, so hat Wagner ein Kunstwerk geschaffen, welches so unauflöslich mit der deutschen Sprache verknüpft ist, daß es auseinanderfällt, sobald ein einziges Wort verschoben wird.
Ohne ausführlich auf die Sprache9 an dieser Stelle eingehen zu wollen, muss doch kurz kenntlich gemacht werden, welche Rolle sie in dem Kollektivierungsprozess spielt, und zwar nicht nur als Gesamtheit lexikalischer, grammatischer und stilistischer Mittel zur Typisierung / Kollektivierung, wie es bislang beschrieben wurde, sondern in viel fundamentalerem Sinne als eine Art nach außen hin wirksamer Seele der Kollektivs. Kriegsaufsätze I / Dt. Sprache 25f.: Auf Grund dieser Kenntnisse […], behaupte ich: unter lebenden Sprachen steht fraglos die deutsche einzig da, in einer Majestät und einer Lebensfülle, die jeden Vergleich ausschließen. Dies liegt zum Teil in der Struktur dieser Sprache begründet, wie sie sich aus ihrer Geschichte ergibt, zum Teil in dem Inhalt, den sie durch eine beispiellose Reihe tüchtiger, bedeutender, hervorragender, zum Teil heroischer Geister gewonnen hat. Dieser Inhalt – das sei gleich hinzugefügt – reicht über das Sprachgefüge hinaus: so ist z. B. Johann Sebastian Bach, der Wundermann, den Goethe nur mit Gott zu vergleichen wusste, undenkbar außerhalb des Gebietes der deutschen Sprache und außerhalb
_____________ 8 9
Natürlich finden sich bei Chamberlain durchaus auch gegenteilige Äußerungen, die jedoch mehr als ideologisches Feigenblatt dienen. Vgl. Gl 456. Vgl. dazu Lobenstein-Reichmann, Sprache und Rasse 2005.
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
382 der Richtung, die Martin Luther dem Geist, aus dem diese Sprache entwächst, angewiesen hatte. Es ist das Alles ein und derselbe Strom.
Das Prinzip, das hier anklingt, wird in der modernen Sprachwissenschaft als das sprachliche Relativitätsprinzip10 gehandelt. Es hat auf das Wesentliche reduziert die Vorstellung zum Inhalt, dass die Sprache (in welcher Ausprägung auch immer, vor allem aber als Einzelsprache) Welt- und Wirklichkeitsbilder, damit letztlich auch Welt und Wirklichkeit schafft, dass sie also nicht abbildet, was in einer außersprachlichen Wirklichkeit vorgegeben ist, sondern dass sie diese Wirklichkeit bzw. die Sicht auf sie selbst erst konstituiert.11 Eine solche Konstitution, oft sagt man auch: Konstruktion von Wirklichkeit kann kommunikativ im Sinne eines Aushandelns im Spiel zwischen einzelnen Kommunikationspartnern geschehen oder aber, wie dies von Chamberlain getan wird, auf eine dahinter stehende weitere Größe, nämlich die Rasse, zurückgeführt werden. Die Affinität von Sprache und Rasse, die als Wechselwirkung einerseits, aber auch immer wieder als Bedingtheit von Sprache durch Rasse auftaucht, beinhaltet, dass die Weltsicht oder besser die Weltanschauung, die durch Sprache geprägt wird, immer auch eine rassenbegründete ist (und umgekehrt). Mit anderen Worten: In der idealistischen Sprachphilosophie ist immer vom Wirken und Handeln der Sprache die Rede. Wenn also in den sprachidealistischen Texten Äußerungen zu finden sind, wie: die Sprache schafft etwas oder sie bewirkt etwas, so ist diese Redeweise auch bei Chamberlain nachweisbar. Ein prägnantes Beispiel bietet ein Briefausschnitt Chamberlains an Kaiser Wilhelm II.: Br II, 137: Sprache und Volksseele sind gegenseitig bedingend bedingt; jede wächst aus der anderen hervor; hier ist weiteres Emporblühen möglich, solange beide leben und ineinandergreifen; bei den Romanen sind beide tot; bei den anderen Germanen (ich denke namentlich an [138] England) hat schon seit lange eine Entzweiung begonnen, dank welcher die Sprache nach und nach stumm wird (das heißt ein bloßes Medium für die praktische Verständigung, nicht ein Element, aus welchem neue Gebilde geprägt werden könnten) und die Seele infolgedessen nach und nach ihre Schwingen einbüßt und sich nur mehr wie ein Wurm auf dem Bauche weiterschleppt. Und weil die deutsche Seele unlösbar an die deutsche Sprache geknüpft ist, so ist denn auch die höhere Entwicklung der Menschheit an ein mächtiges, sich weit über die Erde hinausstreckendes, das heilige Erbe seiner Sprache überall behauptendes und anderen aufzwingendes Deutschland gebunden
Deutlich negativ dagegen lauten Chamberlains Kommentare zur hebräischen Sprache (Gl 350): der Geist der hebräischen Sprache [macht] die Verdolmetschung metaphysischer Gedanken absolut unmöglich. Weil die hier angesproche_____________ 10 11
Vgl. dazu: Reichmann, Die weltbildende Kraft der Sprache 2004, 311ff. Vgl. zum Thema auch: Werlen 2002.
383 Rassenindividualität und Völkerchaos
nen Gegebenheiten die Psyche, die Seele und die Erkenntnisfähigkeit nicht eines einzelnen Menschen, sondern einer Sprachgemeinschaft betreffen, werden solche Redeweisen in Chamberlains Denken immer mit der Rasse in Verbindung gebracht. Dann ist es nicht die Sprache allein, die etwas schafft oder bewirkt, sondern nur die Sprache in ihrer Wechselwirkung mit der Rasse. Sprache ist dabei einerseits Indikator für präexistente Rasse, ihr also nachgeordnet, sie ist ihr aber andererseits auch vorgeordnet, da erst durch sie eine Sortierung von Menschen möglich wird und der Begriff 'Rasse' auf ihr beruht. In Chamberlains ansonsten widersprüchlicher Theoriebildung ist die, wenn auch verflachende und verfälschende, Anbindung an den Sprachrelativismus nur konsequent. Mit ihr kann er die These vom inhaltlichen Wirken der Rasse auf das Handeln der Menschen sichtbar machen. Besonders mit der idealistischen Sicht, nach der die Sprache der Rasse vorgeordnet ist, wird eine Unterscheidung von Sprachgruppen auch in inhaltlicher Weise möglich. Eine realistische Weltbildthese würde es nicht zulassen, dass man aufgrund sprachlicher Unterschiede Schlüsse über Charakter oder Moral der Sprecher ziehen kann. Auch wäre die Hypostasierung12 einer Einzelsprache, wie Chamberlain sie mit dem Deutschen unternimmt, schon aufgrund eines universalistischen Ansatzes kaum denkbar. Beispiele solcher Hypostasierungen finden sich gehäuft in dem 1914 in den Kriegsaufsätzen erschienenen Artikel Deutsche Sprache: Dt. Sprache 25: was wir "Deutsch" nennen, ist das Geheimnis, wodurch es in dem Menschen Licht wird; und das Organ dieses Lichtwerdens ist die Sprache. Dt. Sprache 28: Die deutsche Sprache lebt und weil sie lebt, ist sie geeignet, einem Göttlichen zum Gefäß zu dienen. Dt. Sprache 30: Und auf diesem reichen Boden hat nun "der Geist sich offenbart" in einer solchen seit Jahrhunderten ununterbrochenen Fülle, dass auch der Inhalt der deutschen Sprache heute einzig dasteht. Dt. Sprache 35: Wie Du siehst, es mischt sich in die Zuversicht, von der ich anfangs sprach, ein subjektives Element: ich glaube, wie an Gott, an die heilige deutsche Sprache!
Die Mystifizierung von Sprache auf der Ebene der Langue geschieht also durch Personifikation (etwa in: sie lebt), Sakralisation und Vernaturwissenschaftlichung, dies besonders durch Metaphorisierungen, deren Bildspender häufig aus den Bereichen Religion und Naturwissenschaft kommen. Sprache wird mit Kennzeichnungen versehen wie Lebensfülle / Majestät oder als natürlicher Strom (Dt. Sprache 25) bezeichnet. Sie wird als eine Art Triebkraft metaphorisiert, die uns mit guten Gedanken nährt (GL 877), ein höheres, geordnetes Denken ermöglicht" (GL 193), außerdem wird sie einem _____________ 12
Hypostasierung und die Betrachtung von Sprache als Organismus steht in einer langen Tradition, vgl. dazu Gardt, Geschichte der Sprachwissenschaft 1999, 274.
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
384
Organismus13 (Gl 33) mit Lebenskraft gleichgesetzt und mit Adjektiven wie vollkommen (AW 21), reich (AW 21), hehr (Br II, 13014), herrlich (GL 374), tief (Gl 877) oder gar entsetzlich (Br II, 96) versehen. Chamberlain bezeichnet die germanischen Sprachen als Vehikel, ohne das es niemals hätte gelingen können, unsere Weltanschauung zu gestalten (GL 1068), das Deutsche dient als Werkzeug für die Philosophie (Gl 1068 Anm.), das Lateinische dagegen ist ein hoher Damm, der das geistige Gebiet trockenlegt und das Element der Metaphysik ausschließt (Gl 1068). Aus gezielten Sprachuntersuchungen ließen sich daher neben den rein sprachstrukturellen Schlüssen auch Aussagen über die soziokulturellen Existenzformen ihrer Sprecher machen, so [deuten schon] die urältesten Bestandteile der arischen Sprache [...] auf die Herrenstellung des Gatten und Hausvaters (GL 154). Entscheidender Punkt ist für Chamberlain jedoch die seinerseits viel diskutierte Konklusion, dass sich aufgrund von Sprachbau und anderen sprachbezogenen Kriterien überhaupt nur in bestimmten Sprachen, natürlich in den germanischen, wissenschaftliche wie kulturelle Erkenntnisse denken oder verwirklichen lassen. Kultur und Wissenschaft seien also sprachabhängig. Oder wie Andreas Gardt (1999b, 272) schreibt: Es gibt (der These nach) eine klare "Korrelation zwischen der Sprachstruktur und der kognitiven Leistungsfähigkeit der Sprecher". Mithilfe einer solchen sprachnationalistisch ausbaubaren Theorie kann sich eine Aufwertung der eigenen Muttersprache (für den Leser) ergeben, in Bezug auf den englischen Autor Chamberlain muss man allerdings besser von einer Wahlverwandtschaft reden, die sich in einer konvertitenhaften Hypostasierung der Adoptivsprache äußert. Darüber hinaus ist natürlich der bewussten Abwertung anderer Sprachen Tür und Tor geöffnet. Doch das ist nicht alles. Mit einer so gearteten Verabsolutierung von Sprache und Rasse und deren Wirkung auf wissenschaftliche und kulturelle Leistung untergräbt man jede schöpferische Einzelleistung von Individuen. Dies gilt auch und gerade für die Geistesgrößen der deutschen Geschichte, deren individuelle Leistung letztlich nur auf dem Hintergrund ihrer Sprache, nämlich des Deutschen, zu verstehen ist. Gl 1068: Immanuel Kant, dem selben schottischen Stamme entsprossen, erhielt vom Schicksal die deutsche Sprache geschenkt und war dadurch in der Lage, ein Gedankenwerk zu vollbringen, welches durch keine Übersetzungskunst ins Englische übertragen werden kann. Br II, 13115: [Überzeugung] das Heil der Menschheit sei an die Zukunft des deutschen Geistes geknüpft. Dieser Geist aber, eng verwoben mit der hehren Sprache, in der ein Luther, ein Kant, ein Goethe zu der Welt gesprochen haben, kann der Macht als Unterpfand nicht entbehren.
_____________ 13 14 15
Zum Organismus-Gedanken vgl. Gardt 1999b, 245f.; 263; 274f; 280; Vermeer 1984, 420f. An Kaiser Wilhelm II. 1901. An Wilhelm II, 1901.
385 Rassenindividualität und Völkerchaos
Die deutsche Sprache, der deutsche Geist sind über das Bindeglied 'Sprache' das Ergebnis der "deutschen", auf die germanische zurückgehenden Rasse, über die schon referiert (s. v. Rasse) wurde. In den Kapiteln zur onomasiologischen Vernetzung von Mensch, vor allem in den Artikeln Persönlichkeit und Individuum, ist bereits darauf hingewiesen worden, was dies für das Einzelwesen für Folgen hat. Homer ist kein außergewöhnliches Einzelwesen, sondern der große Grieche (z. B. Gl 350), Luther und Goethe sind, neben dem schon erwähnten Kant, die großen Deutschen. Individualität ist im hier zu beschreibenden Sinne eben nicht eine Qualität der Einzelperson, sondern wird auf ein irgendwie geartetes religiöses, kulturelles oder politisches Genie als die Größe bezogen, die die Qualitäten einer Sprachnation wie im Brennspiegel bündelt, handle es sich um Christus, Homer oder Goethe; oder sie mutiert zur Volksindividualität (GL 282), verkörpert in der Volksperson mit Volkscharakter (Gl 285/6; Kriegsaufsätze I / England 46/47). Diese Größen sind deshalb auch nicht wie normale Menschen innerhalb eines erwartbaren Lebensalters sterblich; Rassereinheit und Stammeseinheit stellen es vielmehr in einen überindividuellen Zusammenhang und in das über das Einzelleben hinausgehende allmähliche Reifen. Gl 370: Das einzelne Leben ist zu kurz, um ein Ziel ins Auge zu fassen und zu erreichen. Das Leben eines ganzen Volkes wäre ebenfalls zu kurz, wenn nicht Rasseneinheit ihm einen bestimmten, beschränkten Charakter aufprägte, wenn nicht die überschwänglichste Blüte vielseitiger und abweichender Begabungen doch durch Stammeseinheit zusammengefasst würde, was ein allmähliches Reifen, eine allmähliche Ausbildung nach bestimmten Richtungen gestattet, und wodurch das begabteste Individuum schliesslich doch einem überindividuellen Zwecke lebt.
1. 3. dem deutschen Leser – Pronominale Handlungsrollen oder das inkludierende Wir Mit der Schaffung von Typen und Kollektiven verbindet sich die personalisierende Eigenkennzeichnung mit der Gemeinschaft. Die Abstraktionen des Einzelnen zum Typus und zum Kollektiv (der Jude, der Semit, der Germane, der Mensch) zwingen durch die Inhalte, die Chamberlain ihnen gegeben hat, zur Stellungnahme. Bei dem polaren Denken, das ihn kennzeichnet, kann das nur die Exklusion und die Inklusion sein; ein Zwischenbereich ist nicht erwartbar. Bevorzugte Mittel der Inklusion sind die Pronomina, das personale wir und das possessive unser. Pronomina drücken die Handlungsrollen in einem Text aus. 16 Sie bezeichnen nach Weinrich17 in der prototypischen Kommunikations-
_____________ 16
Vgl. dazu Lobenstein-Reichmann 1998, 301ff.
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
386
situation die Gesprächsrollen, und zwar die Sprecherrolle mit ich / mir / meine, und die Hörerrolle mit du / dir / deiner, ihr / euch / euer, ferner die Referenzrolle mit er / sie / es, seiner / seine / seines, sie / ihnen. Der Terminus Gesprächsrolle bezieht sich auf die Handlungsfunktion der am Gespräch beteiligten Personen, mit Referenzrolle ist die Gesamtheit desjenigen gemeint, um das es in der Kommunikation geht, also Sachen, aber auch Personen, insofern sie von der Handlung der Träger der Gesprächsrollen betroffen sind. Diese Betroffenen sind in der Regel kommunikativ handlungsunfähig: Man spricht über sie, aber nicht mit ihnen. Die Referenzrolle ist indifferent bzw. schwächer konturiert (Weinrich 1993, 98). Die Konturierung wird erst durch den Kontext hergestellt. Das Pronomen der dritten Person dient daher vor allem der thematischen Referenzierung in einem Text. Es verweist auf vorher explizit genannte und ausgeführte Gesprächsgegenstände. Steckt man die pronominalisierten Handlungsrollen in den Texten Chamberlains ab, so ergibt sich folgendes Bild: Houston Stewart Chamberlain, der Autor (in der Regel). erscheint in dieser Form nur in Briefen: der angesprochene Adressat. Er / Sie / Es: seine Gegenstände / Themen: 1. personenbezogen: der Jude, der Semit, der Germane, der Mestize, der Arier usw. 2. sachbezogen: z. B. das 'Völkerchaos' als vergangenheitsbezogener Gegenstand, 'Rasse' als gegenwartsrelevanter Gegenstand, 'Arier' als Zukunftsutopie. Wir: Pronomen, das den Autor Chamberlain, seine Leser, überhaupt alle, die seiner Meinung sind, zu seiner Gemeinde gehören, zusammenbindet. Ihr: erscheint in dieser Form nur in Briefen, bezogen auf deren Adressaten. Sie: s. Singularform. Chamberlain selbst wird zunächst einmal repräsentiert durch das Personalpronomen ich und das dazu gehörige Possessivpronomen mein. Er ist darüber hinaus inkludiert in den Pluralformen wir und unser. UngewöhnIch: Du:
_____________ 17
Vgl. Weinrich 1993, 97; zum Pronomen wir vgl. auch von Polenz 1988, 140f. Es ist ähnlich wie beim typisierenden Singular auffällig, dass außerhalb der rein grammatischen Ebene nur wenig wissenschaftliche Literatur zur Fragestellung vorhanden ist.
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lich häufig für seine Zeit schreibt und argumentiert Chamberlain in seinen Schriften aus dem persönlichen Ich heraus. Gl 58: Mit diesem Ausspruch stelle ich mich auf den selben Boden wie etliche der grössten unter Deutschlands Söhnen. Gl 60: Das ist jene Tragik, von der ich in den einleitenden Worten sprach. […] Man wird, glaube ich, zugeben müssen, dass diese deutsche Auffassung des "Menschwerdens" tiefer geht. Gl 83: Ich rede nicht allein von der tonvermählten Wortdichtung, sondern […]. Gl 87: als ich bei Karl Vogt Zoologie hörte. Gl 108: da kann ich aus Erfahrung sprechen. Gl 185: Dies sage ich ohne metaphysischen Hintergedanken. Gl 280: wenn ich an dieser Stelle mich auf Einzelheiten einlasse; es genügt, wenn ich die allgemeine Vorstellung der so ganz eigenartigen Atmosphäre Judäa's geweckt habe. Gl 320: Und so meine ich nun, dass wir – die wir als denkende, vielwissende, kühn träumende und forschende Wesen doch gewiss eben solche integrierende Bestandteile der Natur sind wie alle anderen Wesen und Dinge und wie unser eigener Leib – mit grosser Zuversicht uns dieser Natur, diesem Leben anvertrauen dürfen. Gl 562: so möchte ich glauben, dass auch hier eine tiefgewurzelte Familienähnlichkeit mit den Kelten und Germanen in der poetischen Anlage nachgewiesen werden könnte. Gl 631: wer möchte da nicht moralisieren [...]! Doch ich werde es nicht thun; ich fühle, dass dieses Amt mir nicht zukommt, und ich muss es gestehen, diese hochmütige Nichtbeachtung ist ein zu charakteristischer Zug, als dass ich ihn entbehren möchte.
Schon an den wenigen Beispielsätzen wird erkennbar, dass das kolloquiale ich ergänzt wird durch mündlichkeitskennzeichnende Verben wie reden, sprechen und sagen und durch viele weitere Merkmale eines zwar konzeptionell schriftlich angelegten, aber mündlich wirkenden Vortragsstiles, der zum einen unmittelbare Verständlichkeit garantieren und zum anderen einen möglichst nahen Kontakt zum Leser sichern soll. Chamberlain erzählt gerne Anekdoten aus seinem Leben, geht von der eigenen Erfahrung (Gl 108; 464; 616 u. ö.) aus, stellt sich selbst Fragen, beantwortet sie abwägend (Gl 211), erklärt, erläutert, kommentiert sein Vorgehen (Gl 280; auch Gl 294 u. ö.), gibt offen zu, dass er meint (Gl 320 u. ö.), hofft (Gl 318), fühlt (Gl 631) und glaubt (Gl 60; 562; 619 u. ö.), sogar manches nicht begreift (Gl 589). Zusammen mit den damit verbundenen rhetorischen Spitzfindigkeiten dienen diese stilistischen Formen vor allem der Kontakt- und
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Sympathieherstellung,18 denn natürlich weiß er alles besser, selbstverständlich sind seine Aussagen in seinen Augen keineswegs Vermutungen, sondern entsprechen der absoluten Wahrheit. Chamberlain betreibt Imagepflege, indem er sich als Erzähler19 auf der einen Seite persönlich einbringt, hin und wieder auch einmal argumentativ zurücknimmt, aber an der Richtigkeit seiner Sache niemals einen Zweifel lässt. Seine Rezipienten werden von ihm textsortenspezifisch in der Regel nicht mit den Pronomen Du bzw. in der Höflichkeitsform Sie angesprochen (außer in seinen Briefen). Eine spezielle Differenzierung seiner Adressatengruppe erfolgt nicht. Chamberlain schreibt prinzipiell für alle, die ihn lesen wollen. Dass ihn jedoch ein bestimmter Rezipientenkreis wirklich gelesen hat, war ihm bewusst. Seine Rezipientengruppe setzte sich aus kultur– und bildungsbeflissenen Bürgerlichen und Adligen zusammen, die die nötige Vorbildung besaßen, weit schweifenden geschichtlichen Ausführungen zu folgen, und außerdem die Zeit zur Verfügung hatten, dieses auch über zwei voluminöse Bände hinweg zu tun. Der Autor kennt seine Leser. Entsprechend kommt es auffallend häufig vor, dass Chamberlain seine Adressaten indirekt als Leser anspricht und (meta)kommunikativ in seine Überlegungen einbezieht, ihnen Lesehinweise gibt oder sie explizit zu Handlungen auffordert. Das bisher Angesprochene ist im Bereich der Handlungsstilistik anzusiedeln, wie sie von U. Püschel (2000, 482f.) folgendermaßen beschrieben wird: "Den Ansatzpunkt der Handlungs-Stilistik bildet die Feststellung, dass Menschen entlang bestimmter gesellschaftlicher Zwecke kommunizieren, für die sich mehr oder weniger feste Muster herausgebildet haben." Von den drei von ihm genannten Textmustertypen (1. die textsortenkonstitutiven Muster; 2. die Organisationsmuster; 3. die Kontakt- und Beziehungsmuster, Imagearbeit) sind vor allem der zweite und dritte relevant. Die Leseransprache wird systematisch mit Handlungsaufforderungen verbunden. Dazu zählen: 1. Beziehungssteuernde Appelle, z.B. in der rhetorischen Form der captatio benevolentiae, des docilem parare, auch der insinuatio, wodurch der Autor sich das Wohlwollen des geneigten Lesers, sein Verständnis und sein Mitgehen sichern möchte: _____________ 18 19
vgl. dazu: Püschel 2000, 483-4. Man könnte an dieser Stelle gewisse Parallelen zu Stanzels 'auktorialem' Erzähler ziehen: die Anwesenheit eines persönlichen, sich in Kommentaren zum Erzählten kundgebenden Erzählers / der Erzähler als Mittelsmann der Geschichte / die berichtende Erzählweise / die szenische Darstellung, die sich der berichtenden Darstellung unterordnet. Eine solche Parallelisierung drängt sich besonders dann auf, wenn man den Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt der Chamberlain'schen Schriften in Betracht zieht und die Gehalte als zeittypische Fiktionen klassifiziert. Vgl. Stanzel 1965, 16f.
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Drama Richard Wagners 77: Der Leser möge mir also gestatten, aus Wagner‘s Schriften eine Reihe von Zitaten anzuführen. Worte Christi 56: Möge der Leser die Länge dieser einleitenden Apologie entschuldigen. AW 32: Darum will ich dem Leser auch nicht mit einer Aufzählung der verschiedenen Arten von Veden, Sutras, Upanishaden, Aranyakas und was es sonst noch für Gattungen religiös-philosophischer Schriften in Indien gegeben hat, lästig fallen. AW 91: Humboldt's Schrift ist vielleicht das Tiefste, das wahrhaft Kongenialste, was jemals über indisches Denken geschrieben wurde; es ist keine leichte Lektüre, ernste, philosophisch beanlagte Leser sollten sich aber diesen hohen Genuß nicht versagen: sie werden Bereicherung für das ganze Leben daraus schöpfen.
2. Lesetechnische Hinweise: Goethe, Vorw. IX: Die genaue Quellenangabe sämtlicher Anführungen findet der Leser in einem Anhang.
3. Rezeptionssteuernde Aufforderungen: Im argumentativen Gesamtzusammenhang werden die der Anrede an den Leser vorangehenden Aussagen noch einmal mit Bedeutungsschwere und Nachdruck versehen. Der Leser wird darauf hingewiesen, dass er hier besonders aufmerksam zu sein habe, dass das Gesagte von außerordentlichem Gewicht ist. Damit geht in der Regel eine besondere Betonung der Wahrheit und Richtigkeit der Aussage einher. Häufig wird diese Richtigkeitsdeklaration zusätzlich noch dadurch hervorgehoben, dass das Gesagte als allgemeingültiges und nicht hinterfragbares Wissen formuliert wird, oder dadurch, dass es mit der in der Wissenschaft üblichen intertextuellen Legitimierung durch andere Autoren versehen wird. Beispiele für die Betonung der Wichtigkeit der nachfolgenden Aussage bzw. für explizite Aufmerksamkeitseinforderung sind: Gl 259: Um das ein für alle Mal festzustellen, werden wir eine Reihe wichtiger Unterscheidungen durchführen müssen, für die ich mir die vollste Aufmerksamkeit des Lesers erbitte. Drama Richard Wagners 15: "Ich bitte den Leser, sich der großen grundsätzlichen Bedeutung dieser veränderten Fragestellung recht klar bewußt zu werden. Vorw. 14. Aufl. XV: Kein aufmerksamer Leser wird urteilen, der Verfasser verherrliche in parteilicher Weise den deutschen Zweig dieser Familie. Gl 165: Jeder Leser weiss wohl, durch welchen automatischen Prozess der Vogel unwissend zur Verbreitung der Pflanzen beiträgt? Gl 224: so lasse ich mir gern die einzelnen Widerlegungen gefallen, die der Leser nicht aus seinem Verstand, sondern aus seinem Gemüt schöpft.
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
390 Gl 1098: So gut es ohne grössere metaphysische Vertiefung gehen will, muss ich nämlich versuchen, jenes unserer spezifisch germanischen Weltanschauung zu Grunde liegende metaphysische Problem zu erläutern, so weit wenigstens, dass jeder Leser begreifen kann, wie berechtigt meine Behauptung war, die Erforschung der Naturlehre den Menschen sich selbst erkennen, sie führe ihn ins Innere ein. Gl 574: dagegen wird der besondere Wert der Rasse klar, sobald es sich um Gesamtleistungen handelt, was ich dem deutschen Leser gleich zu Herzen führe, wenn ich ihm in den Worten eines anerkannten Fachmannes mitteile, dass […]. Gl 1026: Inzwischen empfehle ich dem weniger bewanderten Leser die kurze Skizze einer Geschichte der Lehre vom Idealen und Realen, die den ersten Band von Schopenhauer‘s Parerga und Paralipomena eröffnet […].
Diese Auswahl an Leseransprachen macht deutlich, dass Chamberlains Texte das genaue Gegenteil des sog. Fach- oder Wissenschaftsstiles sind, der keinen persönlich Schreibenden, sondern nur 'den Wissenschaftler', 'den Fachmann' kennt, der auch keinen Leser anspricht, und dessen kategoriale Leistung die neutrale, objektive Darstellung des reinen, auch ohne sprachliche Fassung existierenden Sachverhaltes ist. Chamberlain bindet den Leser gezielt in die Argumentation ein, fordert ihn regelmäßig zu eigenen Schlüssen auf. Diese auktoriale Rezeptionsleitung (Stanzel 1965, 16ff.) führt erstens dazu, dass das vom Autor Vorselektierte vom Leser in gewünschter Weise aufgenommen, fokussiert und bewertet wird, und zweitens dazu, dass es in entsprechender Weise als einerseits inhaltlich wahr und andererseits handlungssteuernd, nämlich zukunftsverheißend in seine Weltanschauung eingeht. Besonders durch Letzteres erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die bloße Leseransprache zur Autor-Leser-Interaktion mutiert. Es sind die zentralen Inhalte seiner Weltanschauung, 'Rasse', 'Germanentum', 'Kunst', die er mit dem ihm eigenen Gespür für das vom Leser Erwartete oder Erhoffte mit leserbezüglichen Textpartien verbindet. GL 413: Die Israeliten sind aus der Kreuzung zwischen drei (vielleicht sogar vier) verschiedenen Menschentypen hervorgegangen: dem semitischen Typus, dem syrischen (richtiger gesagt hethitischen) und dem indoeuropäischen (möglicher Weise floss auch turanisches oder, wie man in Deutschland es häufiger nennt, sumero-akkadisches Blut in den Adern ihrer Urväter). Damit dem Leser ganz klar werde, wie diese Mischung stattfand, muss ich eine flüchtige historische Skizze vorausschicken; sie soll nur dazu dienen, das Gedächtnis für allbekannte Thatsachen aufzufrischen und das Verständnis der Entstehungsgeschichte der jüdischen Rasse anzubahnen.
Hier geht es der Textform nach erst einmal um die Mitteilung wissenschaftsgesicherter Inhalte und die damit verbundene historische Belehrung, wobei die Richtigkeit des Vorgetragenen unter dem hier verfolgten Zweck der Herausarbeitung der Texthandlungen irrelevant ist. Es geht
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zweitens um die Illokution des Textes. Um diese zu erfassen, realisiere man sich, dass der Leser des Jahres 1898 eine Mitteilung über eine Kreuzung mehrerer Menschentypen als Gegensatz zu dem ihm anerzogenen Bild von der eigenen Herkunft, nämlich der durch 'Kreuzungen' nur peripher beeinflussten 'reinen Rasse' lesen konnte und gelesen haben wird. An anderen Stellen der Grundlagen (Gl 547) wird die Rassereinheit in der Formulierung von der reinsten germanischen Abstammung denn auch direkt ausgesagt, und zwar in identifizierungsfördernder Verbindung mit den großen Staatsmänner[n] und Heerführer[n] der Gründungszeit des neuen Reiches, zugleich bezogen auf die Deutschen wie die Germanen. Die so im Bewusstsein des Lesers aufgerufenen Inhalte schmeicheln, sie machen rationales Hinterfragen des Rassegedankens als des eigentlichen Themas der Chamberlainschen Ausführungen unwahrscheinlich, führen im Gegenteil zur Identifizierung. Es stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage nach der Kommunikationsethik: Dienen Leseransprachen der Aufforderung zur rationalen Überdachung des Vorgetragenen, oder dienen sie als Höflichkeitsbezeugung geradezu der Vermeidung des Überdenkens? Unter kommunikationsethischem Aspekt wird man betonen, dass gerade die häufige Anwendung der Leseransprache auf den Assoziationskomplex 'Rasse' Einstellungen evoziert, die die rationale Rezeption der Inhalte zurückdrängt und stattdessen ihre Nutzung zur Gemeinschaftsbildung veranlasst. Eine solche Argumentation läge aber neben der Praxis der Produktion und der Rezeption von Texten, wie sie im ideologischen Kräftefeld der Zeit um 1900 üblich war. Chamberlains Art der Leserführung ist bewusst gewählt. Sie entspricht keineswegs einer zum Disput mit dem Autor anregenden Kommunikation. Viele Belege, die oben zitiert wurden, machen deutlich, dass seine Begründungshandlungen den Leser zwar auf einer Beziehungsebene ansprechen, ihn aber in einem kommunikationsethischen Sinne nicht ernst nehmen. Der Leser wird zwar zur Affirmatio aufgefordert, nicht jedoch zur kritischen Hinterfragung. Wer ein aufmerksamer Leser (Vorw. 14. Aufl. XV) im Sinne des Autors sein will, darf ihm nicht widersprechen und sollte mit ihm vielmehr einer Meinung und vor allem einer Weltanschauung sein. Diese Gemeinschaftsbildung treibt er auch durch die gezielte WirPronominalisierung voran. Im Deutschen werden die Inklusiv- und die Exklusiv-Funktion des Pronomens der 1. Person Plural wir ausdrucksseitig nicht unterschieden (Weinrich 1993, 97). Im Inklusiv-Plural wird der Hörer mit dem Pronomen eingeschlossen: "du und ich, wir sind der Meinung". Beim Exklusiv-Plural steht dem Hörer ein Kollektiv gegenüber: "Im Gegensatz zu euch und allen anderen sind wir der Meinung, daß…." (Beispiele ebd.). Der Inklusiv-Plural hat die Funktion, Verbundenheit und
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Übereinstimmung mit dem Leser herzustellen. Er markiert eine allgemeine Verbindlichkeit, die nicht nur jeden direkt angeht, sondern auch keinen einzelnen ausschließen möchte. Wer sich mit dem Wir verbunden fühlt, gehört dazu: Gl [Goethezitat als Motto des Buches]: Wir bekennen uns zu dem Geschlecht, das aus dem Dunkeln ins Helle strebt.
Der deutlich appellativische Charakter des Mottos wird durch diese Inklusionshandlung zusätzlich verstärkt. Das Wir bietet für alle Angesprochenen eine kommunikative Einladung zur religiös-kulturellen Bekenntnisgemeinschaft. Dabei wird der Leser vor die Wahl gestellt, ob er das kommunikative Angebot annimmt. Nimmt er es an, gehört er dazu, lehnt er es ab, so schließt er sich aus, wird selbst zum nicht mehr akzeptierten Außenstehenden. Eine Art der Annahme stellt bereits das Weiterlesen dar. Während der inkludierende Plural zunächst einmal alle Leser gleichermaßen einbeziehen möchte, ist der exkludierende Plural von vorneherein ausgrenzend. Man sollte analytisch dennoch zwischen drei Arten der kommunikativen Ausgrenzung unterscheiden: (1) Eine Ausgrenzung, in der sich der Autor mit dem wir explizit vom Leser distanziert, also eine direkte Opposition zum Leser herstellt. Eine solche Funktion ist textsortenabhängig und kommt in Chamberlains Texten schon deshalb nicht vor, weil er mit seinen Lesern einen Meinungskonsens anstrebt. (2) Die Ausgrenzung, in der der Hörer / Leser zwar potentiell inkludiert ist, aber selbst entscheiden muss, ob er zum erstrebten Wir hinzugehören kann oder nicht. Diese Ausgrenzung vom inkludierenden Wir kann durch unterschiedliche Faktoren bestimmt sein. Einerseits ist hier die Polyphonie der Rezeption mit zu bedenken. Ein jüdischer Leser wird sich selbst wohl prinzipiell vom inkludierenden Wir Chamberlains bei wir Menschen abgrenzen wollen, da er aus dem Gesamtkontext um die antisemitische Grundhaltung des Autors weiß. Ähnliches gilt für all diejenigen, die aus anderen Gründen nicht bereit sind, sich dem rassistischen Duktus Chamberlains zu unterwerfen, auch wenn sie z.B. in wir Germanen inkludiert sind. Ein begeisterter deutscher Leser muss von Fall zu Fall entscheiden, ob er dem Identifizierungswerben des Autors zustimmt. Entscheidend sind zumeist die im Kontext des Pronomens vorgenommenen Propositionen. Der zeitgenössische Leser hat das Inklusionsangebot Chamberlains wohl in der Regel angenommen. (3) Explizite Ausgrenzung: Die Ausgrenzung erfolgt direkt über die Gegenüberstellung der Meinungen und Gruppierungen im Kontext. Die vom Autor mit dem Wir umfasste Gruppe wird von ihm klar definiert und einer anderen Gruppe gegenübergestellt: Wir Germanen versus der Jude.
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Dass die drei Kategorien oft nur analytisch trennbar sind, zeigt der folgende Beleg. Es geht hier einerseits um die Gegenüberstellung zweier Gruppen, das Wir wird explizit in Opposition zum inneren Feind gestellt. Es hat damit eine deutlich exkludierende Funktion, die durch Feind noch pointiert wird. Der Beleg zeigt außerdem, dass der Leser aufgefordert wird, sich selbst zu entscheiden, ob er das Angebot annehmen möchte oder nicht. Lehnt er ab, so muss ihm klar sein, dass er zum Feind geworden ist. Vorw. 14. Aufl XXVI: Darum kann es keine unglücklichere Lösung geben als die, welche der innere Feind gerade in diesem Augenblick, wo wir alle Kraft des Glaubens benötigen, in Umlauf gesetzt hat, die Parole von dem "Untergang des Abendlandes".
Der Gebrauch des inkludierenden und des exkludierenden Wir gehört zu den hochfrequenten Stilmerkmalen Chamberlain'scher Sprache. Ganze Textpassagen sind auf der expliziten Wir-Inklusion und damit verbundenen Exklusion aufgebaut (Gl 29f.; 560f; 570f; 860f. u. ö.). Am allgemeingültigsten wirkt die Formulierung wir Menschen: Gl 358: Wir Menschen sind eben nicht Brettsteine.
Der bevorzugte textlinguistische Ort für pronominale Inklusion und Exklusion sind Vorworte und Schlussbetrachtungen. In diesen Textpassagen muss Chamberlain besonderes Pathos walten lassen, geht er emphatisch mit direkten Leseransprachen und -integrationen vor, weil es sich nun um vorbereitende oder letzte Werbeanstrengungen handelt. Im Schlussabsatz der Grundlagen stellt sich das Spiel zwischen den beiden Pluralfunktionen wie folgt dar. Gl 1114: Mein Notbrückenbau wäre vollendet. Nichts fanden wir [INKLUSIVPLURAL] für unsere germanische [INKLUSIV-PLURAL] Kultur bezeichnender, als das Handinhandgehen des Triebes zur Entdeckung und des Triebes zur Gestaltung. Entgegen den Lehren unserer [exklusiv ironisierend?] Geschichtssehreiber behaupten wir [EXKLUSIV-PLURAL], nie hat Kunst und nie hat Wissenschaft bei uns [INKLUSIV-PLURAL] gerastet; täten sie es, so wären wir [INKLUSIV-PLURAL] keine Germanen mehr. Ja, wir [INKLUSIV-PLURAL] sehen, dass sich beide bei uns [INKLUSIV-PLURAL] gewissermassen bedingen: die Quelle unserer [INKLUSIVPLURAL] Erfindungsgabe, aller unserer [INKLUSIV-PLURAL] Genialität, sogar der ganzen Originalität unserer [INKLUSIV-PLURAL] Zivilisation, ist die Natur; doch gaben Philosophen und Naturforscher Goethe Recht, als er sprach: "die würdigste Auslegerin der Natur ist die Kunst'.
Chamberlain benutzt den Inklusiv-Plural im Sinne seiner gemeinschaftsbildenden Bemühungen am häufigsten. Der hier vorgestellte ExklusivPlural ist aber darum um so auffälliger und die Frage nach den hierin inkludierten und den exkludierten Personen um so interessanter. Zunächst könnte das Wir auf einen in der Wissenschaftssprache des 19. Jahrhunderts üblichen Pluralis hinweisen, mit dem der sich demütig gebende Au-
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tor darauf hinzuweisen pflegte, dass er als Zwerg auf den Schultern von Riesen argumentierte. Da sich Chamberlain aber gerade nicht diesem unpersönlichen Wissenschaftsstil verpflichtet fühlte und ganz bewusst modern aus der ersten Person heraus mit dem Leser in Kontakt trat, ist diese Vermutung unzutreffend. Tatsächlich ist der zitierte Passus ein Beispiel für eine kaum zu übersehende immer wieder kehrende Wissenschaftskritik, mit der sich der Laie als der bessere Fachmann von den Fachwissenschaftlern abzuheben bemüht war. Zunächst macht der Nichthistoriker Chamberlain allen seinen Lesern wieder das schmeichelnde Inklusionsangebot, mit ihm einer Meinung und vor allem einer Art und Begabung zu sein: unsere germanische Kultur. Er grenzt diese seine positive Meinung aber ab von derjenigen der Geschichtsschreiber, womit er diese nicht nur aus der Inklusion herausgenommen hat, sondern auch unterstellt, dass die Historiker nicht an die besondere Begabung der Germanen glauben, damit nicht an die Prädikationen, die durch die bloße Referenz auf sie, nämlich die Kombination von Trieb zur Entdeckung und Trieb zur Gestaltung, auch für die inkludierten Leser gilt. Hatte sich dieser gerade noch geschmeichelt gefühlt, ist er nun geneigter, Chamberlain und nicht den Fachleuten zu glauben. Passend dazu wird Goethe als zusätzliche Legitimationsgröße ins Feld geführt. Neben der Binnendifferenzierung zwischen dem Autor und den anders denkenden Geschichtsschreibern findet eine Abgrenzung von Germanen und Deutschen gegen andere Gruppen statt. Diese Abgrenzung wird im folgenden Beleg noch deutlicher. AW 41: Ignatius von Loyola, der Baske, das Kind und der Typus dieser geborenen Feinde unserer Kultur, ist ihr ebenso gefährlich wie der Jude. Wie sollen wir nun, wie können wir uns schützen? Wie sollen wir in diesem durchaus berechtigten, ja heiligen Kampf - dem Kampf um das eigene Dasein - bestehen? Erstens, indem wir die Notwendigkeit des Kampfes einsehen lernen, zweitens, indem wir uns auf unsere Eigenart besinnen und sie dadurch vollkommen bewußt erfassen. Ein ganzes Jahrhundert haben wir der Marotte einer unbeschränkten Toleranz geopfert; wir haben das Gefühl für die unersetzliche Bedeutung der Grenzen, für die Bedeutung der Persönlichkeit, des Niewiederkehrenden, aus dem allein Schöpfungen und große Taten hervorgehen, fast verloren; wir steuern auf das Chaos zu. Es ist hohe Zeit, daß wir zur Besinnung erwachen; nicht um Anderen ihre geistige Freiheit zu schmälern, sondern damit wir Herren im eigenen Hause werden, was wir heute nicht sind.
Hier wird der Feind explizit beim Namen genannt und der Eigengruppe als konkrete Bedrohung gegenüber gestellt. Die anschließenden beiden rhetorischen Fragen, stilistisch erstens doppelt und zweitens nach dem Gesetz der wachsenden Gliederzahl aufgebaut, betreffen die von Chamberlain konstituierte Gemeinschaft. Ihr wird vor Augen geführt, dass sie sich in einem existentiellen Kampf gegen einen klar bestimmten Gegner befindet.
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Die Polarisierung ist geglückt. Das Entweder wir oder die Anderen mündet ein im chiliastischen Endkampf der Kontrahenten: einerseits Persönlichkeit, nie Wiederkehrendes, Schöpfung und große Taten, andererseits Chaos, an anderer Stelle (Gl, Vorw. 14. Aufl.; XXIII) Fluten des Elendes und der Schande, vertreten durch den bösen Genius bzw. die Anderen,20 die natürlich in der Rezeption sofort mit dem Juden bzw. dem Semiten, im Beleg AW 41 (s. o.) auch mit dem Basken verbunden werden. Die Schreckenszenarien Kampf ums Dasein und das hereinbrechende Chaos werden bemüht, die Heiligkeit des Kampfes und damit der moralische Standort der mit dem Wir verbundenen Gemeinschaft betont. Auch Not verbindet. Dieses Prinzip nutzt Chamberlain aus. Das polarisierende Feindbild in der Gegenüberstellung von uns und den Anderen ist Teil einer bewusst inszenierten Gemeinschafts- und Gegnerbildung, vor allem auf der Basis einer damit verbundenen Feindbildkonstruktion. Der Abgrenzung nach Außen muss automatisch auch eine Eingrenzung nach innen folgen. Und so ist es kaum verwunderlich, dass der Inklusiv-Plural sich häufig mit einer Drohkulisse verknüpft. Auf diese Weise rückt die neu konstituierte Gruppe enger aneinander und der ihr gegenüber gestellte Feind tritt deutlicher als Feind hervor. Gl Vorw. 14. Aufl. XXIII: Und nun kam der böse Genius, und wir ertrinken in den Fluten des Elendes und der Schande!
Doch während der Feind klar definiert wird, bleibt das Wir relativ offen, vor allem, wenn Chamberlain alle Menschen mit einschließt. Aber bereits bei näherem Hinsehen stellt sich heraus, dass das Wir auffällig häufig mit dem Inklusionsausdruck Germane verbunden ist. Damit wird deutlich, zu welcher spezifischen Gruppe Chamberlain sich selbst und seine Leser hinzuzählt. Gl 859: dass wir die Hellenen auf einem […] Höhepunkt erblicken, woher der unvergleichliche Zauber ihrer Kultur stammt, während wir Germanen noch mitten im Werden, im Widerspruch, in der Unklarheit über uns selber stehen. Gl 868: Wir Germanen haben uns freilich im Laufe der Zeit zu höchst charakteristisch verschiedenen, nationalen Individualitäten entwickelt. Gl 907: Dagegen besitzen wir Germanen eine besondere Beanlagung für das Ausforschen der Natur, und diese Beanlagung ist nicht etwas, was auf der Oberfläche liegt, sondern es steht in innigem Zusammenhang mit den tiefsten Tiefen unseres Wesens. Gl 1111: Zugleich hatte ich geschrieben: "der konsequente Mechanismus, wie wir Germanen ihn geschaffen haben, verträgt einzig eine rein ideale, d. h. transscen-
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Das Pronomen der 3. Person hat außerdem natürlich noch die Funktion, die thematische Referenzierbarkeit zu gewährleisten. Vgl. Weinrich 1993, 373.
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396 dente Religion, wie sie Jesus Christus gelehrt hatte: das Reich Gottes ist inwendig in euch". Zu dieser letzten Vertiefung müssen wir jetzt schreiten.
Statt Germane kann Nordeuropäer (Gl 859), Indoeuropäer (AW 82), Homines Europaei (AW 14)21 oder Wir nordischen Männer (Gl 726) stehen. Entscheidend ist in allen Belegen die Zugehörigkeit zur rassisch konzipierten Gruppe, wie diese im jeweiligen Zusammenhang auch gerade genannt oder charakterisiert werden mag. Allein mit diesen Ausdrücken wird auf eine gemeinsame geschichtliche Vergangenheit verwiesen, die Chamberlain in seiner rassistisch geprägten Interpretation zum Thema jeder seiner Schriften gemacht hat. Das kollektive Wir ruft nun einen gemeinsamen Lebensraum, eine Kultur und eine gemeinsame Geschichte auf, von der die Anderen, die nicht dazugehören, ausgeschlossen sind. Gemeinsame Gegenwart und gemeinsame Vergangenheit bilden die eine Seite, die Zukunft, die damit verheißen wird, die andere. Das inkludierende, im Falle Chamberlains zum kollaborativen Wir werdende Pronomen hat spätestens dann seine Funktion erfüllt, wenn der Leser sich so weit mit der konstituierten Gruppe identifizieren kann, dass er erkennt: tua res agitur, und dass er die Handlungsaufforderungen Chamberlains ernst nimmt. Das gruppenbildende Wir kommt dementsprechend häufig vor und zwar als appellatives, oft unspezifisches, kaum konkretisierbares, aber doch politisch-kulturelles Handeln gebietendes und damit utopieverheißendes Wir: Gl Vorw. 14. Aufl XXVI: Darum muss dieses Bewusstsein von unseren alles Heil ausschliessenden Schwächen so drängend und quälend uns gegenwärtig sein, dass wir nicht anders können, als mit aller Kraft auf Umkehr hinzuarbeiten. AW Vorw. 3. Aufl.: nicht darauf kommt es an, ob wir "Arier" sind, sondern darauf, daß wir "Arier" werden. […] wer nicht den Mut und die Ausdauer besitzt, die Gedanken des Denkergeschlechts der Arier nachzudenken, der ist und bleibt ein Knecht, gleichviel, woher er entstammt, denn er ist innerlich unfrei, blind, erdgefesselt. GL 37: dann dürfen wir wohl hoffen und zu erkennen glauben, dass wir Germanen und die Völker, die unter unserem Einfluss stehen, einer neuen harmonischen Kultur entgegenreifen, […], einer Kultur, in der die Menschen wirklich "besser und glücklicher" sein werden, als sie es jetzt sind. […] darum richten wir nun unseren Blick auf die Zukunft, auf jene Zukunft, deren Gestaltung wir aus dem Bewusstsein dessen, was die Gegenwart der letzten siebenhundert Jahre zu bedeuten hat, allmählich zu ahnen beginnen. Wir WOLLEN es mit dem Athenienser aufnehmen! Wir WOLLEN eine Welt gestalten, in welcher die Schönheit und
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Gl 859: „dass wir Nordeuropäer als bestimmtes Individuum dastehen.“ AW 14: „als ob wir selber – wir Homines europaei des Linnäus – plötzlich aus unterirdischem Kerker ins helle Tageslicht befreit worden wären.“ AW 82: „daß wir Indoeuropäer – dem religiösesten Menschenstamme der Erde angehörend“.
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die Harmonie des Daseins nicht wie bei Jenen auf Sklaven-, Eunuchen- und Kemenaten-Wirtschaft ruht! Gl 318: Würde auch bewiesen, dass es in der Vergangenheit nie eine arische Rasse gegeben hat, so wollen wir, dass es in der Zukunft eine gebe.
Chamberlains Wir-Gebrauch repräsentiert demnach nicht nur unverbindliche Vereinnahmungs- bzw. Inklusionshandlungen zur Gewinnung von Lesersympathien. Wichtiger ist die Absicht der Gemeinschafts- und Identitätsbildung;22 nochmals wichtiger ist die mit ihr verbundene Handlungskonsequenz. Diese ergibt sich gleichsam aus der Logik der Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; verbunden werden: – eine gemeinsame Vergangenheit (wir Germanen), – eine gemeinsame Gegenwart (wir, der Leser und Chamberlain), – eine gemeinsame Zukunft (wir wollen Arier werden), – gemeinsame Ziele (Wir wollen eine Welt gestalten), – gemeinsame Feindbilder (der Andere, der böse Genius, der Semit, der Baske, der Jude). Die Verbindung wird durch indirekte und direkte Handlungsaufrufe zum Gebot: Arier werden wollen, die Welt gestalten wollen, dem Anderen dem Kampf ansagen. Wenn dies gelingen soll, ist die Eindeutigkeit der Identität und der Polarisierung gefordert; die tatsächliche Komplexität der Verhältnisse und die Unterschiedlichkeit der Menschen müssen dem Einheits- und Polarisierungskonzept zum Opfer (s. o. Nietzsche) fallen. Chamberlains Identitäten scheinen sehr eindeutig zu sein, die Polarisierungen zumindest sind es. Es geht trotz allen bildungsbürgerlichen Kulturchauvinismus um eine einfache Welterklärung, in der sich der Einzelne durchaus zurechtfinden kann. Die gesamte Geschichte wird von Chamberlain neu erzählt und vor allem neu erklärt. Von der natürlichen Komplexität der Ereignisse ist dabei ebenso wenig die Rede wie von der Unterschiedlichkeit der Menschen, die darin ihre Rolle spielten. Jan Assmann 1997, 16f.: Beide Aspekte: der normative und der narrative, der Aspekt der Weisung und der Aspekt der Erzählung, fundieren Zugehörigkeit oder Identität, ermöglichen dem Einzelnen, "wir" sagen zu können. Was einzelne Individuen zu einem solchen Wir zusammenbindet, ist die konnektive Struktur eines gemeinsamen Wissens und Selbstbildes, das sich zum einen auf die Bindung an gemeinsame Regeln und Werte, zum anderen auf die Erinnerung an eine gemeinsam bewohnte Vergangenheit stützt.
Die konnektive Struktur wurde mit den letzten Ausführungen angedeutet, auf formaler Ebene ist es der gezielte Einsatz der Typenbildung, der Pro_____________ 22
Jan Assmann 1997, 18: „Gesellschaften imaginieren Selbstbilder und kontinuieren über die Generationenfolge hinweg eine Identität, indem sie eine Kultur der Erinnerung ausbilden; und sie tun das […] auf ganz verschiedene Weise“.
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nominalisierung und anderer stilistischer Mittel (etwa die Wiederholung), auf der inhaltlichen Ebene die immer wieder in Variation fortgeführte Gemeinschaftsbildung, auf der Rezeptionsebene die offensichtliche Bereitschaft des Publikums, das vorgetragene Ideologiegebäude zu übernehmen. Die Grundlagen schwimmen zwar auf der Welle von Objektivitäts- und Wissenschaftsanspruch, suggerieren dem Leser eine der Wahrheit entsprechende Geschichtsdarstellung, sind aber Geschichtsideologie und dienen vor allem der Identitätsstrukturierung der zeitgenössischen Leser. Die besonders in diesem Text zur Konstruktion gebrachten konnektiven Strukturen sind hermeneutische Ablagerungen eines zum Untergang verurteilten bürgerlichen Zeitalters, dessen Träger sich in chiliastischer Sehnsucht nach einem Messias verzehren, der aber bitte aus den eigenen sozialen Reihen erstehen soll. Entsprechend werden die zur Konstruktion der konnektiven Strukturen angelegten Betrachtungen aufgebaut. Sie dienen nach rückwärts der Erinnerungskultur, nach vorwärts der Zukunftsgestaltung, mit allem aber der Identitätsbildung in der Gegenwart, die sowohl die Persönlichkeitsstruktur des Einzelindividuums angeht als auch die "politische Imagination" (Assmann, ebd.) ganzer Gruppen. Die Deontik, verstanden als systemimmanente Logik zu politischkulturellem Handeln oder als direkte Aufforderung dazu, ist nicht zu übersehen; die der Ideologie entsprechende Handlung liegt gleichsam auf der Lauer.
2. wo der Mensch zum Bewusstsein freischöpferischer Kraft erwacht – Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen bezüglich des Wortes Mensch in den Schriften Chamberlains
2. 1. Der propositionale Akt Nicht nur aus lexikalsemantischer Perspektive sind bei Kollektivbezeichnungen wie Germane, Arier und Semit die folgenden beiden Aspekte von besonderem Interesse, zum einen die Frage, worauf mit Germane Bezug genommen wird und zum anderen, welche Zuschreibungen damit verbunden sind. Unter sprechakttheoretischen Prämissen ist also der propositionale Akt angesprochen, mit dem man (im Referenzakt) die identifizierende Aufmerksamkeit auf etwas Bestimmtes in der 'Welt' richtet und mit dem man (im Prädikationsakt) gleichzeitig etwas über das herausgehobene Bestimmte als denjenigen Ausschnitt der 'Wirklichkeit' aussagt, der schon durch die bloße Bezugnahme in den Vordergrund der Handlung gerückt ist. Beim propositionalen Akt wird also erstens vorausgesetzt, dass man
399 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
einen Gegenstand hat, über den man reden möchte, und zweitens, dass man eine Aussage über diesen Gegenstand zu machen wünscht. Diese zwei Aspekte sind im Falle von Kollektiva wie der Arier, der Germane oder der Semit ausgesprochen fraglich. Zumindest 'der Arier' ist erst im 19. Jahrhundert als sprach- oder kulturwissenschaftsgeschichtliches Konstrukt entstanden, die beiden anderen Entitäten haben in der gleichen Zeit eine ideologische Aufladung durch Selbst- und Fremdzuschreibungen erfahren, die sie ebenfalls in die Nähe interessebedingter Setzungen bringt. Es wird also auf etwas als existent Vorausgesetztes referiert, das es erst seit dieser Zeit und nur deshalb 'gibt', weil man darüber wissenschaftliche Texte publizierte. Demnach liegt bereits im Referenzakt, also in jeder einzelnen Benennungshandlung, der Ansatz einer Geschichtsklitterung. Im Prädikationsakt gewinnt der so gesetzte Referenzgegenstand je nach Akzeptabilität der Aussage an Wahrscheinlichkeit. Wenn Chamberlain also schreibt: Der Germane ist die Seele unserer Kultur (Gl 306), dann hat er zum einen eine bestimmte Gruppe von Menschen mit der Bezeichnungshandlung zu Germanen gemacht. Er hat dabei präsupponiert, dass es 'den Germanen' gibt, und zwar als einen Menschentyp. Er hat dieser Gruppe zum anderen bestimmte, deutlich positiv konnotierte Eigenschaften zugeschrieben. Bereits die metaphorische Zuhilfenahme des Hochwertwortes Seele in Verbindung mit dem ebenfalls hochwertigen Kultur bildet ein Feuerwerk an Kennzeichnung und Bewertung. Ein solcher Satz ist typisch für die spezifische Art von Weltkonstruktion, wie sie von Chamberlain vorgenommen wird: Er setzt Gegenstände oder Sachverhalte als existent, verbindet sie mit spezifischen Prädikationen, darunter Wertsetzungen, ohne die Realität seines Konstruktes zur Diskussion zu stellen. Die fehlende Realverortung seiner Setzungen wird noch dadurch unterstrichen, dass er fast immer im Präsens der allgemeinen zeitlichen Gültigkeit schreibt. Sein 'Germane' ist zeitlos und gleichzeitig Teil einer noch zu gestaltenden Zukunft. 2. 2. Präsuppositionen Während das Meinen kognitiv und kulturell vom allgemeinen Bezugswissen und vom Bewusstsein des kontextuellen Bezugsrahmens abhängig ist und der Sprecher seine Aussage dabei in Form von Ausdrücken äußert, die explizite Bezüge herstellen, vollzieht sich das Mitmeinen im Sinne der von Polenz'schen Klassifikation auf drei Ebenen: der Ebene des Sprachimpliziten, der Ebene des Kontextimpliziten und der Ebene des interpretativen Bezuges.23 Alle Bereiche, also die expliziten wie die impliziten, _____________ 23
Von Polenz 1988, 132.
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müssen kommunikativ mehr oder minder nachvollziehbar sein, sonst wäre ein Verstehen nicht gewährleistet. Das Meinen sollte mit der vorgenommenen lexikalsemantischen Analyse in Form von Wortartikeln ausreichend beschrieben worden sein. Das Mitmeinen soll im Folgenden in Form von Präsuppositionsanalysen behandelt werden. Die beiden Herausgeber des Sammelbandes Präsuppositionen in Philosophie und Linguistik, János Petöfi und Dorothea Franck24, leiten Ihr Vorwort mit einem Zitat R. Garners aus dem Jahre 1971 ein: Garner 197125: there is not one concept of presupposition, differing but slightly from one person who employs it to another, but several radically different concepts, all of which have been related to the word presupposition. The dangers of this are, I trust, sufficiently obvious to require no comment.
An der hier beschriebenen Situation hat sich nur wenig geändert. Kemmerling (1991, 329) spricht von einem "recht disparaten Haufen der unter dem Etikett "Präsupposition" erfassten Phänomene".26 Auch wenn die Präsuppositionstheorie z. B. in der linguistischen Pragmatik oder in der Philosophie eine herausragende Stellung einnimmt, so sind die Ansätze in den verschiedenen Disziplinen und schließlich auch die dazu vorgelegten Definitionen nur selten aufeinander abbildbar,27 da sie in aller Regel unterschiedliche Erkenntnisinteressen verfolgen. Da das methodische Konzept der Präsupposition einerseits zwar ein Pfeiler der folgenden Untersuchung ist, andererseits aber nicht das eigentliche Thema der Arbeit bildet, kann auf die explizite Darstellung einer Forschungsdiskussion verzichtet werden, die seit dem Mittelalter28 andauert und neuzeitlich besonders durch Freges 1892 erschienenen Aufsatz Über Sinn und Bedeutung wieder belebt wurde. Die Diskussion verläuft von da zu Bertrand Russells 1905 erschienenem und von Strawsons 1950 in einem eigenen Aufsatz On Referring diskutierten Beitrag On denoting über Austins vierte Vorlesung in How to do things with words (1962, dt. 1972) bis zu Chierchia / McConnell-Gimet, Meaning and Grammar (1990), um hier nur einige Namen zu nennen. Diese Auflistung zeigt, dass die Diskussion über hundert Jahre hinweg nicht an Spannung verloren hat. Bereits die genannten Titel weisen auf die wichtigsten strittigen Fragen hin, zu denen es wohl nie eine 'Lösung' geben wird. Es geht hier also nicht um ein wissenschaftsteleologisches Nochnicht, das vorgibt, irgendwann, wenn man genügend darüber nachgedacht hat, einer definitiven Erkenntnis weichen zu können. Dass bereits der Terminus Präsupposition in so vielfältiger Art definiert werden kann, defi_____________ 24 25 26 27 28
Petöfi / Franck, Präsuppositionen in Philosophie und Linguistik 1973. Garner 1971, zitiert nach Petöfi / Franck 1973, 7. Vgl. dazu vor allem Kemmerling, Implikatur 1991, 319-333. Vgl. dazu Linke / Nussbaumer, Konzepte des Impliziten 2000, 435-448. Vgl. Seuren, Präsuppositionen 1991, 287.
401 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
niert wurde und immer definiert werden wird, weist vielmehr darauf hin, dass er einer dieser typischen Fälle wissenschaftstheoretischer Konzepte darstellt, bei denen es im Kern um das Aushandeln zeit-, sozial- und themenimmanenter Inhalte und um den damit verbundenen methodischen Zugriff geht. Bei aller angedeuteten Unterschiedlichkeit ist man sich letztlich aber über die Existenz des Phänomens einig: Es wird als vorhanden präsupponiert und damit als beobachtbar angenommen. Trotz und gerade wegen der Relativierung des Definitionszugriffs bleibt aber auch in diesem Kontext eine Formulierung und vor allem natürlich die Begründung der zugrunde gelegten "Arbeits"definition von Präsupposition unverzichtbar. Mein Entwurf ist also eine Arbeitshypothese mit einem speziellen anwendungsbezogenen Erkenntnisinteresse und kein eigener Beitrag zur semantiktheoretischen oder logischen Forschungsdiskussion. Die hier vertretene Arbeitsdefinition von Präsupposition basiert vorwiegend auf den Arbeiten von Seuren (1991), Stalnaker (1978), Levinson (2000) und Franck (1973). Die generelle und bei aller Unterschiedlichkeit der Wissenschaftsparadigmen gemeinsame Frage lautet: Was versteht man unter Präsuppositionen? Ein geschriebener bzw. gesprochener Satz A, hier und im Folgenden terminologisch als Trägersatz bezeichnet, präsupponiert einen anderen Satz B dadurch, dass man schließen kann: wenn A gilt, dann gilt auch B. Präsupponieren bedeutet dann soviel wie "etwas voraussetzend mitmeinen". Präsuppositionen sind dann die Inhalte des Mitmeinens, also das Mitgemeinte; sie unterscheiden sich von ihren Trägersätzen dadurch, dass derjenige, der einen solchen Satz äußert, dessen Präsuppositionen als gegeben annimmt. Dies kann explizit geschehen, indem man z. B. zunächst Vorannahmen äußert und diese im Trägersatz formuliert, oder implizit, indem man die Präsupposition dem Trägersatz überlässt. Die Präsupposition wird dann ausschließlich durch den Trägersatz mitgeliefert und ist sozusagen als bestimmter Teilinhalt in diesem mitenthalten. Man könnte Präsuppositionen daher als strukturelle Eigenschaften ansehen, die im Trägersatz inhaltlich festgelegt und vom Hintergrundwissen ihrer Sprecher und Hörer unabhängig sind. So definiert Seuren: Seuren 1991, 289: Wir wollen in der Semantik nur das als Präsupposition betrachten, was eine Tatsache ausdrückt, die für den geglückten Gebrauch des Trägersatzes als gegeben akzeptiert sein muß. Die jeweilige Tatsache wird sich von Situation zu Situation ändern, aber der Ausdruck muß immer derselbe oder ein äquivalenter sein. Wenn ich also die Behauptung AB äußere (das heißt, den Satz A, der B präsupponiert) und die Behauptung, daß A wahr ist, glücken soll, dann muß B als wahr erkannt werden.
Diese enggefasste Definition ist unter traditionell logisch-semantischen Kriterien begründet und sinnvoll. Mit ihr kann die sicherlich notwendige
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
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Differenzierung von weiteren mitgemeinten Kategorien wie der konversationellen Implikatur, bei der eine zusätzliche Bedeutung erst aus dem Kontext erschlossen werden muss, oder der konventionellen Implikatur, die auf der Bedeutung von Wörtern beruht, vollzogen werden. Auf diese werde ich weiter unten näher eingehen. Ein wichtiges Unterscheidungskriterium nicht erst seit Frege ist die Frage nach den Wahrheitsbedingungen bzw. nach den Wahrheitsrelationen. Seuren (1991, 296 mit Problemdiskussion) formuliert diese Vorstellungstradition so: Es ist eine Voraussetzung – also eine Präsupposition – für jeden Behauptungssatz und ebenso für seine Negation, daß die definiten Terme in ihm einen Bezug in der Welt haben. Man muß die ganze Angelegenheit vor dem Hintergrund des klassischen metalogischen Prinzips vom Ausgeschlossenen Dritten (PAD) sehen, das auch als striktes Bivalenzprinzip bekannt ist. Es besagt: Im logischen Sinn gilt: (a) jeder Satz hat einen Wahrheitswert, und (b) es gibt genau zwei Wahrheitswerte, nämlich wahr und falsch.
Ein solches logisch orientiertes Abklopfen von Wahrheitsrelationalität mag in einem theoretischen Sinne wichtig sein, stößt jedoch in praktischen Zusammenhängen auf seine Grenzen. Denn auch in der vorliegenden Untersuchung, in der es letztlich um die Konstruktion von Weltanschauung geht und in dem Präsuppositionen als Bausteine angenommen werden, ist eine solche, auf semantisch Gegebenes gerichtete Auffassung nicht anwendbar. Sie ist dennoch insofern sinnvoll und in Bezug auf eine Konstitution von Welt wichtig, als man in ihr das Muster bzw. den Maßstab sehen kann, auf dem Variation möglich wird bzw. konkret gesagt: auf dessen Hintergrund die Glaubwürdigkeit der Konstitution erreicht wird. Angenommen also, dass Präsuppositionen strukturale Eigenschaften von Sätzen sind und diese durch Setzung konstruiert werden können, sind Präsuppositionen in der Tat fundamentale Werkzeuge zur Konstruktion von Welt. Eine Präsupposition ist eine wahrheitsfunktionale Relation zwischen Sätzen (Aussagen). Der Satz (1) John schläft präsupponiert, dass (2) John existiert. Damit (1) überhaupt ein Wahrheitswert zugeordnet werden kann, muss (2) wahr sein. Das heißt: Die Wahrheit von (2) ist die Voraussetzung dafür, dass (1) überhaupt wahr oder falsch sein kann. Betrachten wir die folgenden Sätze: Trägersatz (1)
Als edelste Zuchtrasse stiegen die Arier vom mittelasiatischen Hochplateau nach Indien hinab. (Br. II, 152, an Wilhelm II, 1902)
PRÄSUPPOSITION (1'): >> Es gibt Arier. >> Existenzpräsupposition Trägersatz (2): Doch als Buddha - von ganz ähnlichen Menschheitsschwärmereien wie die Christen bewegt - die Gleichheit aller Menschen verkündet und hiermit die schützenden Gesetze niedergerissen hatte, stürzte das
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minderwertige Blut in Fluten hinein (genau so wie in Rom nach Caracalla) (ebd.).
PRÄSUPPOSITION (2'):
>> Es hat Buddha gegeben. >> Existenzpräsupposition Beide Sätze funktionieren genau auf demselben strukturellen Hintergrund, dass nämlich 1' wahr sein muss, wenn 1 wahr ist. Tatsächlich ist aber 1' genauso wenig beweisbar wahr wie 1. Die Existenz wird vorausgesetzt und ihre Beweisbarkeit spielt keine Rolle. Dadurch, dass wir die Aussage in dieser sprachlichen Fassung verwenden, und die Erfahrung haben, dass solche Vorkommensweisen in der Regel auf Wahrheitsfunktionalität beruhen, halten wir ihren Inhalt für wahr. Arier und Buddha sind dann so genannte Existenzpräsuppositionen, die auf strukturell satzsemantischer Ebene nicht hinterfragbar sind, auf der realhistorischen Existenzebene aber durchaus. Solche Aussagen gelingen nur solange, wie die Gesprächsteilnehmer a) die angesprochenen Personen / Gegenstände / Sachverhalte kennen und / oder b) davon ausgehen, dass es diese auch wirklich gibt. Im normalen Alltagsdialog bezieht man sich in der Regel auf lebende bzw. existierende / bzw. existiert habende Einheiten, deren Referenz klar zugeordnet werden kann. Der Satz Karl geht spazieren präsupponiert, dass es Karl gibt und dass ich Karl kenne. Historische Größen wie Buddha, Karl der Große oder Luther werden auf diese Weise, nämlich analogisch zur Alltagserfahrung, als existiert habend akzeptiert. Dasselbe gilt rein sprach- und semantikstrukturell für Größen wie die Arier, die Deutschen oder den Germanen. Neben der Existenzvoraussetzung, die ein elementarer Bestandteil von Weltkonstitution ist, müssen Existenzen aber auch mit "Leben" gefüllt werden. Diese Füllungen kann man mit den Einschränkungen auf rein semantisch strukturale Präsuppositionen nur bedingt vornehmen. Dass ich oben zur Existenz auch das Wissen um die Existenz betont habe, führt mich zu einer anderen Auffassung von Präsuppositionen, nämlich zur pragmatischen von R. C. Stalnaker. Dessen Definition von Präsuppositionen bietet einen umfassenderen Zugriff: Stalnaker, Assertion 1978, 321: Präsuppositionen sind das, was vom Sprecher als gemeinsamer Hintergrund der Gesprächsteilnehmer, als ihr gemeinsames oder wechselseitiges Wissen betrachtet wird.
Eine solche Definition – eine pragmatische – ist für mein Anliegen insofern interessant, als hier einerseits der Kontext einer Aussage mit in die Überlegungen einbezogen und zweitens der Zugang zum Weltwissen und damit auch zu dessen Konstruktion durch Präsupposition geöffnet wird. Präsuppositionen im Sinne der oben angeführten Kurzdefinition "etwas voraussetzend mitmeinend" können in vielfältiger Weise Verstehensbedingungen darstellen, ohne die Kommunikation sowohl im Einzelge-
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spräch wie in der gesamtgesellschaftlichen Verständigung unmöglich wird. Dass dabei Semantik und Pragmatik nur analytisch getrennt werden können bzw. dass deren jeweilige Wichtigkeitsbewertung von der Sozialisation des Beurteilenden abhängt, scheint mir daran erkennbar zu sein, dass auch Seuren auf das natürliche Sprechen bezogene Lösungen in die Diskussion einbringt, indem er nämlich den Diskurs in den Mittelpunkt der Argumentation stellt und den neuen Zugang mit dem Terminus "Diskurssemantik" benennt. Seuren 1991, 311: Dessen [Diskurs; ALR] Hauptbestandteil ist ein System mentaler (d. h. psychisch realer) Diskursrepräsentationen, in denen der semantische Beitrag vorangehender Äußerungen gespeichert ist (und die auf Sprecher relativiert sind, falls es mehr als einen gibt). […] Man muß davon ausgehen, dass Diskursrepräsentationen, genau wie das gewöhnliche Gedächtnis, zeitlichen Einwirkungen unterliegen. Nach einer Weile werden einzelne Beiträge nicht mehr getrennt gehalten, und es kommt zu allgemeinen 'Durchorganisierung' oder 'Integration', bei der der ursprüngliche Input auf ein dauerhaftes Speicherformat gebracht wird. [… ] Zentral ist die Behauptung, dass Diskursrepräsentationen oder Diskursbereiche eine entscheidende Rolle im Interpretationsprozess spielen.
Seurens Ansatz soll hier nicht weiter diskutiert werden, sondern als Brücke zum textbezogenen Ansatz dienen, den Dorothea Franck bereits 1973 vertreten hat. Dieser Ansatz ist für das vorliegende Beschreibungsanliegen gerade hinsichtlich seiner aktiv in die Konstruktion von Textwelten eingreifenden Elemente umsetzbar. Nicht ganz unähnlich zu den Diskursbereichen von Seuren geht es in ihrem Aufsatz um die Determinierung eines "universe of discourse". Franck 1973, 37: Textlinguistisch werden die Präsuppositionen relevant zur Erklärung von Textkohärenz und Textkonsistenz. Die nach textbezogenen Definitionen ableitbaren Präsuppositionen eines Satzes innerhalb eines Textes (…) sind mehr als die Präsuppositionen dieses Satzes, wenn er isoliert betrachtet wird. Die Präsuppositionen sind die das "universe of discourse" determinierenden, bereits in den Text eingeführten Propositionen; sie konstituieren jeweils den als bekannt und akzeptiert unterstellten kommunikativen Hintergrund. Diese Textpräsuppositionen sind nur relativ zu der Position des jeweiligen Satzes im Text zu bestimmen. Auf der Basis der Präsupposition als inhaltlichem Hintergrund können dann weitere thematische Selektionen getroffen werden. Die Strukturierung in Assertion und Präsupposition ist folglich ein Mittel der Steuerung eines Dialogs oder einer Argumentationslinie.
Wenn man im Raumbild bleiben möchte, so besteht das hier eingeführte Diskursuniversum29 aus einem kommunikativen Hintergrund und damit auch aus einem Vordergrund. Der Vordergrund wird durch dasjenige abgedeckt, was sprachlich explizit realisiert ist. Das kann eine neue, also rhematisch vorgetragene, es kann aber auch eine alte, längst bekannte _____________ 29
Vgl. dazu von Polenz 1988, 119. Er nennt die Diskursuniversen auch Referenzwelten.
405 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
Aussage sein, die man wiederholt und durch die ein Text als kohäsiv und kohärent betrachtet werden kann. Aussagen dieser Art sind grammatisch in einen Satz bzw. insgesamt in einen Text eingebettet und nur als solche interpretierbar. Sie bilden den Focus, auf den das Rezeptionsereignis gerichtet ist. Der Hintergrund hingegen erregt kaum das Interesse des Betrachters, prägt aber in fundamentaler Weise den Gesamteindruck, obwohl man sich dessen nur bedingt bewusst ist. Genau hier versagt die bislang benutzte Bildmetaphorik (s. Vorder-, Hintergrund), denn ein Bild kann ich aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlicher Intensität betrachten.30 Wenn ich den angesprochenen Vordergrund anschaue, so sehe ich nämlich – wenn auch unbewusst – in der Tat immer auch den Hintergrund. Auch kann ich mich den einzelnen Bildereignissen gesondert zuwenden, da sie offen und sichtbar vor mir liegen. Was da sein soll, muss auch dargestellt werden. Außer in der modernen Kunst, in der sich der Interpretationsspielraum in anderen Dimensionen abspielt, ist hier vorwiegend die Möglichkeit gegeben, den Symbolcharakter der Einzelereignisse auf dem Bild zu diskutieren, nicht jedoch dasjenige, was unsichtbar bleibt. Phänomene wie Präsuppositionen beruhen jedoch nicht ausschließlich auf dem, was in einer Aussage sichtbar wird, sondern in der Regel auf demjenigen, was ungesagt bleibt und dennoch mitgeteilt wird. Es gehören daher sehr vielschichtige Anstrengungen dazu, a) diese Mitteilungen analytisch herauszufiltern, und b) ihre Kommunikationsleistung zu beschreiben. Dass sie kommuniziert werden, steht außer Frage. Das Wie jedoch und auch die Voraussetzungen, die dazu geschaffen werden müssen, also welcher kommunikative Hintergrund zuerst vorliegen muss, stehen zur Diskussion. Aber wer schafft diesen Hintergrund und vor allem zu welchem Zweck? An dieser Stelle sind die Kommunikationsmaximen von H. Paul Grice ins Spiel zu bringen.31 Die Grice'sche Konversationslogik mit ihren Maximen (1. Quantitätsmaxime; 2. Qualitätsmaxime; 3. Relevanzmaxime; 4. Modalitätsmaxime) basiert auf der Grundlage eines übergeordneten Prinzips, des Kooperationsprinzips. Aus der Verstehensperspektive heraus formuliert Frank Liedtke32 dieses Prinzip folgendermaßen: Liedtke 1995, 21: Leitend für diese Reinterpretation ist ein basales Kooperationsprinzip, das die Annahme enthält, jeder an einem Gespräch Beteiligte akzeptiere grundsätzlich die mit diesem Gespräch verbundenen Zielsetzungen und steige nicht einfach aus der Kommunikation aus.
_____________ 30 31 32
Vgl. Köller, Narrative Formen der Sprachreflexion 2006, 18ff. Grice, Logik und Konversation 1979, 243-265. Liedtke, Das Gesagte und das Nicht-Gesagte: Zur Definition von Implikaturen 1995, 21.
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
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Welche Folgen hat diese Kooperationsbereitschaft bzw. salopp formuliert: auf was alles lasse ich mich ein, wenn ich kommuniziere? Pointiert für die hier zur Diskussion stehenden Anliegen: Welche Verantwortung übernehme ich, wenn ich die Zielsetzungen meines Kommunikationspartners erst einmal mitvollziehen muss. Wie weit muss und kann "die Übereinstimmung der kognitiven Gestimmtheit"33 zwischen den Kommunikationspartnern gehen? Welche Bedeutung hat die Kooperationsnotwendigkeit speziell in Bezug auf Präsuppositionen. Diese sind ja aufgrund ihrer Implizitheit besonders von der Bereitschaft des Rezipienten abhängig, sie auch wirklich mitvollziehen zu wollen, da ihr Verständnis ein erhebliches Maß an kommunikativer Mehrarbeit bedeutet. Textlinguistisch gibt es verschiedene Strukturierungsvorgänge, die es dem Leser / Hörer erleichtern, einem Text zu folgen, bzw. die dazu verhelfen, das Gesagte und das Nichtgesagte mit möglichst wenig Anstrengung wahrzunehmen. Gesagtes und Nicht-Gesagtes sind in einem Text in unterschiedlicher Weise vertreten. Gesagtes kann in vielerlei Weise gesagt sein, explizit oder implizit, und Nichtgesagtes muss oft als das NochNichtgesagte oder das Neuzusagende betrachtet werden. Im Hinblick auf die Erkenntnisse der Funktionalen Satzperspektive lassen sich Sätze in Thema und Rhema untergliedern. Das Thema, das oft mit dem bestimmten Artikel und / oder am Anfang des Satzes steht, bezieht sich auf das Bekannte. Das Rhema, das oft vom unbestimmten Artikel begleitet ist und im Mittel- oder Schlussfeld des Satzes steht, vermittelt meist die neue Information. Präsuppositionen werden besonders im Bereich der Themastruktur beobachtet, da sie wie das Thema als bekannt vorausgesetzt akzeptiert werden. Wie oben gesagt wurde, kann das Thematische eines Satzes, das als bekannt und auch als akzeptiert vorausgesetzt wird, unterschwellig dazu benutzt werden, bestimmte Informationen als akzeptiert zu maskieren und das so Behauptete als vermeintliche Textwahrheit damit in das Bewusstsein der Rezipienten zu inferieren. Präsuppositionen eignen sich daher ideal zu sprachlicher Manipulation und Beeinflussung: Franck 1973, 38: Der Voraussetzungscharakter der Präsupposition eröffnet, wie schon Frege betonte, ein weites Feld rhetorischer und manipulativer Verwendungsmöglichkeiten. Da sie als selbstverständlich, ohne weitere Begründung akzeptabel, gar nicht zur Debatte stehend unterstellt wird, richtet sich das Augenmerk des Hörers und damit auch seine Kritik weit weniger auf den Inhalt der Präsupposition als auf das betont Behauptete. Da der Hörer die Präsupposition dennoch akzeptieren muß, wenn er nicht grundsätzlich die gemeinsame Basis der Kommunikation zurückweisen will, kann er u. U. leichter zur Annahme einer präsupponierten als einer betonten Aussage gebracht werden.
_____________ 33
Vgl. dazu Kemmerling, Implikatur 1991, 323.
407 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
Die potentiell manipulative Funktion von Präsuppositionen, oder besser gesagt, der Diskurshorizont, auf dem dies geschehen kann, beruht letztlich auf der kognitiven Disposition, die der Rezipient mitbringt. Das ist eine zusammengesetzte, außerordentlich schwer fassbare, aber dennoch anzusetzende Größe. Sie besteht einmal aus der "kognitiven Gestimmtheit" im Sinne Kemmerlings (1991, 323), zum anderen ist sie wie alle Prädispositionen ein Niederschlag der Diskursgeschichte, in der die Enkulturation erfahren wurde, zum dritten ist sie die Fähigkeit, das raffinierte Manipulationsspiel eines Autors durchschauen und damit entlarven zu können. Schließlich dürfte auch die Volution, verstanden als Gesamtheit der Inhalte, die man verstehen will, in Anschlag zu bringen sein. Erst auf der Basis von alle dem ist die kommunikative Verantwortung anzusetzen; sie ist zweifellos von jedermann einzufordern, sie ist aber mannigfach individuell und sozial bedingt. Kurzum: Der Rezipient muss das Sprachspiel mitspielen, damit die Kommunikation glückt. Mitspielen aber ist Mitübernehmen der kommunikativen Verantwortung und kann, wie Black es pointiert ausdrückt: Kollaboration sein. Black 1973, 66: Consequently, the speaker is allowed to disclaim some responsibility for his implications. Or, to be more precise, in proportion as the implication is precisely determined by conventional rules for implication, the speaker has correspondingly greater license to avow or repudiate the implication. We are allowed to say "I do not intend to imply such-and-such" or "I am here implying such-and-such"; and where we do not either formally avow or repudiate an implication, it is to some extent within our hearer's discretion to draw or not to draw the implication. (So we make him, as it were, a collaborator in the communication - as in a game in which the opponent may, if he chooses, make extra moves for us, which then count as if we had made them.)
Der Kollaborationsaspekt scheint mir gerade in Bezug auf die Ideologiekonstruktion von außerordentlicher Bedeutung zu sein. Der Weg zur Kollaboration ist schon angetreten, wenn man nicht widerspricht, das Unterstellte nicht nachfragt bzw. positiv ausgedrückt, das Gesagte z. B. durch allmähliche Gewöhnung positiv annimmt, ihm letztlich sogar durch Nichtwidersprechen zustimmt. Der Menschenbilddiskurs der Jahrzehnte um 1900 stand unter Bedingungen und schuf Bedingungen, die einen schleichenden Übergang von teilnahmsloser Rezeption zur Kollaboration begünstigt haben mögen. Wenn der Mensch immer wieder als perfektibel behandelt wird, wenn dem Germanen, Arier oder Deutschen immer wieder die rassische Anlage zum Schöpfertum bescheinigt wird und wenn dies in Musik, Kunst und Religion seinen Niederschlag findet, dann wird das kritische Potential zunehmend reduziert; es tritt eine Gewöhnung ein, die von einfacher unreflektierter Aufnahme des Gesagten über ein mehr oder minder zustimmendes Nachvollziehen und schließlich zur handlungsbereiten Zustimmung führt. Sobald (zeitlich) und wenn (kommuni-
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kationslogisch) diese handlungsbereiten Zustimmung bei Vielen eingetreten ist, wurde ein Diskursuniversum geschaffen, das ausgehend von einer Verstehensgemeinschaft mit fließenden Übergängen zur Akzeptanzgemeinschaft und letztlich zur Kollaborationsgemeinschaft führt, die bereit ist, für ihre Überzeugungen handelnd einzutreten. Was eine solche Verstehens-, Akzeptanz- und Handlungsgemeinschaft verbindet, ist die Bereitschaft, bestimmte Präsuppositionen als selbstverständlich hinzunehmen und damit die Komplizenschaft von einem einmaligen Akzeptanzereignis bis zur Gemeinschaftsideologie weiter zu treiben. Franck 1973, 39: Die Untersuchung der Präsupposition als Sinnvoraussetzung sprachlicher Äußerungen läßt die begriffliche Analogie zu dem philosophischen Konzept der "absolute presuppositions" in der Geschichtsphilosophie Collingwoods deutlich werden (Collingwood 194034). Der Bedeutung der sprachlichen Präsuppositionen von Äußerungen oder Texten entspricht die der absoluten Präsuppositionen für die geistesgeschichtliche Situation eines Zeitalters. Sie sind weltanschauliche, philosophisch-ideologische Voraussetzungen, die in einer Epoche allgemein akzeptiert und so selbstverständlich sind, daß sie nicht in Frage gestellt werden, ja nicht einmal bewußt wahrgenommen werden. Wie der Wechsel von sprachlichen Präsuppositionen den Beginn eines neuen Sprachspiels oder Textes anzeigen kann, so weist die Infragestellung oder Ablösung der absoluten Präsuppositionen auf eine historische Veränderung, einen Wechsel der Ideologie im allgemeinen Bewußtsein hin.
Die Frage nach der Handlungsfreiheit des Rezipienten, nach den Möglichkeiten also, nicht zu kollaborieren, ist nur schwer zu beantworten. Dennoch muss sie gestellt werden, da sie zu den wichtigsten Fragen jeder Kommunikationsgeschichte und speziell derjenigen des 20. Jahrhunderts gehört. Kommunikative Handlungsfreiheiten werden durch die Konventionen eingegrenzt, in die sie historisch und sozial verortet sind. Konventionen sind gesetzte Normen, die in einem weiteren Verständnis jedoch nicht nur sprachlich verfasst sein müssen. Sie sind auch gesellschaftsübliche Betrachtungsweisen von Welt, die sich allerdings immer auch sprachlich spiegeln. Damit ist der Bogen zurück zu Chamberlain geschlagen. Wenn Sätze weder wahr noch falsch sein können, sondern letztlich nur Behauptungen sind (Levinson 2000, 187), muss die Wahrheitsfrage ersetzt werden durch die Frage nach der Angemessenheit und nach einem gemeinsamen Hintergrundswissen bzw. nach gemeinsamen Inhalten (ebd. 224). Es geht also letztlich um die jeweils zeit- und gesellschaftsabhängige Inferenz35 / die Hintergrundannahme, "vor der die Aussage einen Sinn erhält" (ebd. 188). Wie wichtig diese pragmatische diskursgemeinschaftli_____________ 34 35
Franck verweist hier auf R. G. Collingwood, An Essay in Metaphysics 1940. Inferenzen sind Hintergrundannahmen, „vor denen die zentrale Bedeutung der Äußerung […] bewertet werden muß.“ Levinson 2000, 196.
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che Einbettung der Sätze ist, zeigt sich am Beispiel der Tilgung von Präsuppositionen. Getilgt werden können Präsuppositionen: Levinson 2000, 208: (i) Wenn allgemein bekannt ist, dass die Präsupposition falsch ist, wird vom Sprecher nicht erwartet, daß er von der Wahrheit der Präsupposition überzeugt ist. (ii) Wenn das Gesagte angesichts von Hintergrundannahmen mit dem Präsupponierten nicht konsistent ist, werden die Präsuppositionen getilgt […]. (iii) In bestimmten Arten von Diskurskontexten, z.B. bei der Konstruktion einer Beweisführung durch Reduktion oder der Präsentation von Belegen gegen eine Möglichkeit oder Annahme, kommt es vor, dass Präsuppositionen systematisch aufgehoben werden.
Tilgungen funktionieren also dadurch, dass in einem allen Kommunikationsteilnehmern bekannten und zumindest nicht kontrovers diskutierten Kontext allgemein akzeptierte Propositionen mit inkonsistenten Präsuppositionen gebraucht werden. Der Kommunikationsteilnehmer weiß also darum, dass die Präsupposition nicht zutrifft, dass sie nicht zu seinem Hintergrundwissen passt bzw. seinen eigenen Vorannahmen widerspricht. Alle drei Tilgungsmechanismen sind nicht nur sprach-, sondern vor allem zeit- bzw. gesellschaftsbedingt. Die pragmatische Beschränkung für den Gebrauch von Sätzen kann somit zum Indikator für dasjenige werden, was in einer bestimmten Zeit als kommunikativ angemessen angesehen wird und was den allgemeingesellschaftlichen Hintergrund einer Zeit repräsentiert. Ich möchte das oben eingeführte Diskursuniversum, Frank nennt es auch die geistesgeschichtliche Situation eines Zeitalters (s. o.), im Folgenden daher mit dem Begriff des 'Zeitgeistes' verknüpfen, wie ihn Ralf Konersmann in seinem Buch Kulturelle Tatsachen (2006) im Rückgriff auf Herder zur Diskussion stellt: Für Herder (ebd. 80) sei der Zeitgeist "die Summe der Gedanken, Gesinnungen, Anstrengungen, Triebe und lebendigen Kräfte, die in einem bestimmten Fortlauf der Dinge mit gegebenen Ursachen und Wirkungen sich äussern." Konersmann (2006, 75) kommentiert: Als geistiges Pendant der Mode […] lehrt der Zeitgeist die Menschen, was sie lieben, was sie richtig und geschmackvoll finden sollen, und ebenso, was sie zu missbilligen und zurückzuweisen haben. So wacht der Zeitgeist über correctness und incorrectness und sichert nach innen wie nach außen, was wir als geistige Heimat empfinden. Tatsächlich stiftet er Identitäten – und hat das, zum Leidwesen seiner Verächter, immer schon getan, selbst in der Antike. Wovon alle überzeugt sind, konnte vor rund zweieinhalb Jahrtausenden Aristoteles mit entwaffnender Knappheit konstatieren, das nennen wir wirklich.
Diese Zeitgeistwirklichkeit prägt die Akzeptanz- und Verstehensbereitschaft implizierten Sprechens. Denn, so Konersmann (2006, 94) weiter: "Der Zeitgeist wacht über Standards, indem er sichert und festigt, was wir spontan als geistige Heimat empfinden und was uns helfen soll, die existentielle Grundspannung zwischen Lebenszeit und Weltzeit im Rahmen
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des Erträglichen zu halten. Er ist der Stifter epochaler Identitäten, die rein über die Epochen der Zeit definiert sind […]." Auf die Präsuppositionen angewandt könnte man daher formulieren: Der Zeitgeist des späten 19. und des beginnenden 20. Jahrhunderts bildete den kommunikativen Hintergrund, die geistige Heimat, auf dem die oben angesprochene Kollaboration stattfand. Wir können zwar wenig über die Reaktion einzelner Rezipienten sagen, aber einiges von dem erahnen, was ihr zeittypischer Akzeptanzrahmen sein könnte. Wo Chamberlain präsupponiert, referiert er nicht nur auf seine eigene gesetzte bzw. fiktionale Textwelt, sondern auch auf den Zeitgeist, in dem diese Textwelt verortet ist. Dieser gewährleistet, dass die von einem Autor gemachten Präsuppositionen auch als zeitgemäß angemessen akzeptiert werden. Diskursgemeinschaften sind in diesem Sinne kollaborative Zeitgeistgemeinschaften (dazu mehr im XI. Kapitel). Was wir heute nicht akzeptieren können, weil wir die Nachgeborenen sind, war für die Menschen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts durchaus akzeptabel. Die Präsuppositionen, die wir heute hinterfragen, gar brüsk ablehnen würden, waren damals als Prämissen gültig. Präsuppositionen sollen und müssen, dies ist sicherlich deutlich geworden, zu einem methodischen Eckpfeiler bei der Rekonstruktion von Weltanschauung werden. Ein wichtiger Schritt bei der Beurteilung von Präsuppositionen ist die Typisierung von Präsuppositionsauslösern. Hier kann nicht der Ort sein, die vielfältigen Kategorisierungsversuche zu diskutieren.36 Verwiesen sei auf Franck (1973, 33f), Meibauer (2001, 48) und Levinson (2000, 197f.). Wegen der darstellerischen Kürze soll Seurens Typologie hier zugrunde gelegt werden. In ihr werden bestimmte Einzelkategorien Levinsons, z. B. die Zustandsveränderungsverben oder die Iterative, unter der kategoriellen Präsupposition zusammengefasst. Typisierung nach Seuren (1991, 296f.): 1. Existenzpräsuppositionen: Der König von Frankreich ist kahlköpfig >> Es gibt einen König von Frankreich. Häufig mit dem Artikel (der) oder mit dem Allquantor (alle). Strukturelle Basis: dadurch dass das Hauptprädikat bezüglich einer Position extensional ist, in der ein definiter oder allquantifizierter Term steht. 2. "Faktive Präsuppositionen: Die Wahrheit des eingebetteten Satzes wird präsupponiert. Der faktive Satz kann ein Subjekt- oder Objektsatz sein. Faktive Sätze kommen durch faktive Verben / Prädikate zustande (bedeuten / nahe legen / beweisen / wissen / einsehen /vergessen haben / schade sein / bedauerlich / schrecklich / wunderbar / entzückt sein / etw. / nichts ausmachen). Anti-Faktive Verben [sind] (einbilden, dass / wähnen, daß)."
_____________ 36
Zur notwendigen Problemdiskussion vgl. die bereits genannten Autoren.
411 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
3. "kategorielle Präsuppositionen: Sie entstehen aufgrund spezifischer semantischer Eigenschaften von Prädikaten (d. h. von einzelnen Lexemen oder auch von komplexen Konstruktionen wie Ehebruch begehen). Solche präsuppositionsauslösenden lexikalisch-semantischen Eigenschaften finden sich im Lexikon aller natürlichen Sprachen." 4. "Präsuppositionen, die mit Spalt- und Sperrsätzen assoziiert sind: Es war Karl, der den Whisky geschmuggelt hat." 5. "Präsuppositionen, die mit dem Operator nur erzeugt werden. Nur Karl hat Whisky geschmuggelt" 6. "Präsuppositionen, die mit sogar verknüpft sind. Sogar Karl hat Whisky geschmuggelt…" 7. "Präsuppositionen, die mit auch, ebenso, gleichfalls u. ä, verbunden sind." (Strukturelle Basis: 1-3; 5-6 wohl lexikalische Präsuppositionen, wobei 5 und 6 nicht unbedingt an Prädikate gebunden sind.)
Eine umfassende Präsuppositionsanalyse aller Corpusschriften kann auch nicht ansatzweise vollzogen werden. Deshalb ist anhand von Beispielen zu zeigen, welche Funktionen die Präsuppositionen in Chamberlains Texten haben. Im Anschluss soll auch die Existenzpräsupposition, die Königin der Präsuppositionen, etwas genauer betrachtet werden. In ihr, aber auch in den anderen Typen, verbinden sich Setzung des Autors und Akzeptanz des Rezipienten, Innovation und die Bereitschaft, das Gesagte für wahr zu halten, Ideenbildung und Vergemeinsamung zu einer Ideengemeinschaft. Sie ist der Ort, an der individuelle Weltanschauung zur kommunikativen Gemeinschaftsveranstaltung mutiert, an dem das Unsagbare gesagt wird, ohne dass man es aussprechen muss, und zwar deshalb nicht mehr aussprechen muss, weil man es in anderen Worten längst zum Ausdruck gebracht hat. An dieser Stelle ergibt sich ein methodisches Problem, das erst dann deutlich wird, wenn man größere Textpassagen untersucht, nämlich die Abgrenzbarkeit von Proposition und Präsupposition. Propositionen sind im Sinne Searles (1986, 48) Äußerungen über die Welt, propositionale Akte entsprechend vom Sprecher verfasste Äußerungen über die Welt, bestehend aus einem Referenzakt und einem Prädikationsakt. Benennungshandlung und eigentliche Äußerungshandlung gehen Hand in Hand, wobei immer klar sein muss, dass beide Handlungen bereits Konstruktionshandlungen sind. Indem ich die Welt mit Namen versehe, kategorisiere ich, indem ich die benannte Welt mit Prädikationen versehe, typisiere, ordne und bewerte ich. Sprechen ist immer konstruktiv, immer wertend und deswegen immer in einen ganz spezifischen Handlungskontext einzuordnen. Dies gilt besonders auf der Ebene der Lexik, was mit einem Hinweis auf den Deontikbegriff von F. Hermanns (1989) hier nur noch ein-
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mal angedeutet werden soll. Das hier als Proposition Angesprochene wird allgemein als das Gemeinte vom Mitgemeinten unterschieden. Dem soll hier nicht widersprochen werden, doch möchte ich darauf hinweisen, dass sich die Grenzen oft nicht in der Weise ziehen lassen, wie es logische Semantiker oder semantische Pragmatiker gerne hätten. Kernbedeutungen entsprechen einem sensus communis, und sie weisen in derselben Weise wie die Gesellschaft, in der sie akzeptiert und gebraucht werden, fließende Übergänge und Varianten auf. Von Kernbedeutungen kann also nur sprechen, wer die Variation in den unterschiedlichen Gebrauchsweisen, sei es soziologisch, räumlich, zeitlich oder gar ideolektal, ausblendet. Das Beispiel leider zeigt, wie schwierig eine Abgrenzung von innerlexikalischen Präsuppositionstypen sein kann. Leider ist eine Modalpartikel, ihre Verwendung kann als Partikelpräsupposition im Sinne Francks (1973, 34) betrachtet werden. Leider ist aber auch einfach nur eine lexikalische Präsupposition, die das Bedauern über einen Sachverhalt ausdrückt und damit eine Bewertung vornimmt. Der dem Wort inhärente Handlungsaspekt ist also BEDAUERN. Leider ist damit eine beziehungssteuernde Präsupposition, d. h. zugleich eine deontische, da in ihr letztlich auch der Wunsch impliziert ist, den angedeuteten Verlust, Misstand, Mangel zu beheben. GL 333: Vielleicht lächelt mancher Leser, wenn ich immer wieder von Tierzüchtung spreche? Sicherlich sind aber die Gesetze des Lebens grosse, einfache Gesetze, welche alles Lebende umfassen und gestalten; wir haben nicht die geringste Veranlassung, das Menschengeschlecht als eine Ausnahme zu betrachten; und da wir gerade in Bezug auf Rassenzüchtung leider nicht in der Lage sind, Experimente mit Menschen anzustellen, so müssen wir die an Tieren und Pflanzen gemachten Versuche zu Rate ziehen.
Chamberlain würde also gerne Menschenexperimente vornehmen, wie mit der Partikel leider deutlich wird. Das Bedauern darüber, dass solche Experimente nicht mit Menschen vorgenommen werden, klingt auch in der Wendung nicht in der Lage sein an. Anzumerken bleibt im besprochenen Textzusammenhang, dass Josef Goebbels dieses leider zum Anlass einer Aussage werden ließ, die den gesamten moralischen Horizont der Nationalsozialisten zum Ausdruck bringt: Er bezeichnete die mit diesem leider in Frage gestellten moralischen Bedenken seiner Mitmenschen als bloße "Humanitätsduselei".37
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Zitiert nach Krabbe 2001b, 180.
413 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
2. 3. Analyse der Präsuppositionen in den Texten Chamberlains: Beispielanalysen Folgende Auswahl an Belegen soll zum einen zeigen, wie dicht präsupponierte Aussagen in den Texten Chamberlains vorkommen, und zum anderen, dass mit ihnen regelmäßig die entscheidende Aussage verstärkt bzw. erst vermittelt wird. 1. Beispiel: Gl 58: Viel Geistvolles ist gesagt worden, um den Unterschied zwischen Mensch und Tier drastisch zu kennzeichnen; wichtiger, weil eine bedeutungsvollere Erkenntnis anbahnend, dünkt mich die Unterscheidung zwischen Mensch und Mensch. In dem Augenblick, wo der Mensch zum Bewusstsein freischöpferischer Kraft erwacht, überschreitet er einen bestimmten Grenzkreis und zerstört den Bann, der ihn, trotz aller seiner Begabung und trotz allen seinen Leistungen, in engster - auch geistiger - Zugehörigkeit zu den übrigen Lebewesen erscheinen liess.
Folgende Präsuppositionen lassen sich aus diesem Text herausarbeiten: (i) wo der Mensch zum Bewusstsein freischöpferischer Kraft erwacht. (i') kategorielle Präsupposition mit einem Zustandsänderungsverb (Levinson 2000, 198): erwachen Der Mensch >>schlief vorher / >> war im Zustand des Unbewussten / ist sich seiner selbst noch nicht bewusst. (ii) [er] zerstört den Bann. (ii') kategorielle Präsupposition mit einem Zustandsänderungsverb zerstören. >> Der Mensch war in einem Bann, er war in einer Art Dornröschenschlaf.
Bei beiden Beispielen drängt sich die Frage nach den Handlungsträgern auf. Wer weckt den Menschen, wer ist der Prinz, der den Zauberbann bricht bzw. wer hat den Bann ausgesprochen? Die Bildlichkeit des Grenzkreises, in dem der Gebannte eingeschlossen ist, impliziert eine dumpfe, freiheitsfeindliche Welt von Mächten, Zauberern und Hexen, gegen die der Mensch angehen muss, deren bedrohliche Bewohner aber nicht genannt werden. Die Leerstelle der Handelnden bleibt, wie sehr häufig in den Texten Chamberlains, offen. Sie ist aber präsent und kann sowohl als Drohkulisse dienen als auch zur Inszenierung eines übermenschlichen Retters. Das oben eingeführte Bild ist jedoch vor allem in seinen Präsuppositionen ein indirekter Appell an die Leser, wach zu werden, in Chamberlains Worten, Mensch zu werden. Deutlich wird außerdem, welchen Typ des Menschen er dabei vor Augen hat.
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
414 (iii) [der Mensch] zerstört den Bann, der ihn, […] in engster – auch geistiger – Zugehörigkeit zu den übrigen Lebewesen erscheinen ließ. (iii') anti-faktive Präsupposition mittels des Verbs erscheinen. >> Der "freischöpferische" Mensch gehört nur scheinbar in die Nähe der übrigen Lebewesen. Er ist in Wirklichkeit etwas Anderes / Höheres.
Die Setzung des Anderen, letztlich Höheren spaltet die Menschheit in einen dem Tier, den Lebewesen verbundenen, und einen höheren, davon geschiedenen Teil. Der erstgenannte Teil verharrt unterhalb des Grenzkreises, der zweite oberhalb. Hier klingt ein Welt- und Menschenbild an, das an anderer Stelle mit den Ausdrücken Tiermensch und Gottmensch operiert. So lange der Mensch gebannt und damit handlungsunfähig ist, kann er sich nicht zu seiner wahren Größe entfalten. Dann wird er daran gehindert, sich selbst im Unterschied zu den anderen zu erkennen. Das von Chamberlain vertretene Prinzip der Ungleichheit steht hier sprachlich im Hintergrund und wird als eigentliches Prinzip der Menschwerdung präsupponiert. (iv) In dem Augenblick, wo der Mensch […], überschreitet er […] und zerstört … (iv') Temporalsatz mit konditionaler Dimension: in dem Augenblick, wo… >> Der Mensch kann erwachen / den Grenzkreis überschreiten / den Bann zerstören. >> indirekter Handlungsappell: der Mensch muss, um Mensch zu werden, all dies tun.
Mit der Temporalität stellt sich die Frage nach einem möglichen Zeitpunkt; suggeriert wird die Gegenwart. Nahezu alle in diesem Zitat präsupponierten Aussagen können als indirekte Handlungsaufforderungen gelesen werden, als Appelle zur neuen Menschwerdung, die hinter einer wissenschaftlich darstellungsbezogenen Diktion verschwinden, keinerlei stilistische Performativität erkennen lassen, nicht explizit ausgedrückt werden, aber als rote Fäden die Texte Chamberlains durchziehen. Insgesamt steckt in einem flüssig lesbaren, bei unkritischer Rezeption kaum auffallenden Text von wenigen Zeilen eine ganze Weltanschauung. 2. Beispiel: GL 550/551: Der Eintritt des Juden in die europäische Geschichte hatte (wie Herder sagte) den Eintritt eines fremden Elementes bedeutet […]. Kunst gab es schon lange nicht mehr, […]: somit, […], eigentlich keine Menschen mehr, sondern nur Geschöpfe. Es war hohe Zeit, dass der Retter [der Germane; ALR] erschien.
Die Aussage dieses Beleges besteht im Wesentlichen darin, den Juden die Schuld am Völkerchaos zuzuschieben und den Germanen im Unterschied
415 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
dazu als Retter von Kunst und Kultur, gar der Menschheit erstrahlen zu lassen. Interessant sind außerdem folgende Präsuppositionsauslöser: (i) [es gab] eigentlich keine Menschen mehr, sondern nur Geschöpfe. (i') kategorielle Präsupposition durch iteratives38 nicht … mehr. >> es hat einmal Menschen gegeben, die mehr waren als nur Geschöpfe.
Dasselbe gilt für die Kunst: Es hat einmal Kunst gegeben, aber nun ist die Kunst tot. Die hiermit nicht nur explizite, sondern auch auf der Ebene des Mitgemeinten aufgebaute Verfallskulisse gehört zu den tragenden Pfeilern Chamberlain'scher Weltanschauung, sie ist aber auch kennzeichnend für die zeittypische Strömung des Kulturpessimismus. Der präsupponierte Verfall der Vergangenheit dient der Projektion einer Bedrohung in die Gegenwart hinein, was wiederum einen indirekten Handlungsappell miteinschließt. (ii) Es war hohe Zeit, dass der Retter [der Germane] erschien. (ii') mitbehauptete Faktizität des anschließenden Konjunktionalsatzes in Abhängigkeit von der dominierenden Verbalphrase; faktische Präsupposition, ausgedrückt durch dass. >> der Retter kam. (ii'') Existenzpräsupposition durch das Determinativpronomen der. >> Es gab einen Retter. >> Der Germane ist ein Retter. >> Dies präsupponiert außerdem, dass damit die Rettung erfolgt ist.
Das Wort Retter bindet die für die Gegenwart eingeführte Bedrohung an biblische Heils-Vorstellungen; sie evoziert unterschwellig eine Parallele zwischen Christus und dem Germanen (Salvator). Diese Art der Sakralisierung durch die Konstruktion einer (un)heilsschwangeren Aura ist generell kennzeichnend für weltanschaulichen Schreibstil. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Verwendung der Modalpartikel eigentlich. Sie "instruiert den Hörer über einen anstehenden Themawechsel (semantisches Merkmal: <WENDUNG>)" (Weinrich 1993, 853). Doch die Partikel wird im hier vorliegenden Beleg gerade nicht dazu verwendet, den Leser auf eine Glaubwürdigkeits-Wendung aufmerksam zu machen, also die uneingeschränkte Gültigkeit der darauf folgenden Aussage zu relativieren. Für ihn sind die aufgeführten Geschöpfe nämlich in der Tat keine Menschen mehr. Was man unter der lexikalischen Einheit Geschöpf zu verstehen hat, wird erst deutlich, wenn man weiter liest: Juden, der asiatische und afrikanische Knecht, der syrische Bastard, der Mongole, der die hehren Blüten des urarischen Lebens […] unter seinem rohen, bluttriefenden Fusse zertritt, der vom Wüstenwahnsinn bethörte Beduin (Gl 551). Geschöpfe werden _____________ 38
Iterativ im Sinne von Levinson 2000, 198.
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
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also in der Kontextualisierung Chamberlains zu meuchelmörderischen Verbrechern, die dasjenige zerstören, was den Menschen ausmacht, nämlich Gesetz, hellenische Philosophie, indisches Dichten und Denken. Sie werden in dieser Auflistung kriminalisiert und beinahe schlechter noch bewertet als Tiere. Das Wort Geschöpf verliert auf diese Weise alle möglichen positiven Assoziationen, die es z.B. mit einer Verweisung auf den Schöpfungsakt Gottes als Geschöpfe Gottes gehabt hätte. Chamberlains Relativierung durch eigentlich vermittelt also nur scheinbar den Eindruck von Besonnenheit und Differenziertheit. Dass er diese Relativierung vornimmt, damit er sich im Falle kritischer Rückfragen darauf berufen könnte, weist deutlich darauf hin, dass er sich selbst der Brisanz seiner Provokation bewusst ist, sie aber dennoch bewusst ausführt. Er will ausloten, wie weit er gehen kann. Er schafft ferner damit die Grundlage, auf der er die ihm wichtigere Aussage des Folgesatzes, die Propagierung des Germanen als Retter, die rein pseudoargumentativ durch bloße Aggregation angeschlossen ist, als unhinterfragbar hinzustellen. Genau dies ist sein Argumentationsziel. 3. Beispiel: GL 12: doch der grundsätzliche Unterschied besteht darin, ob nur Interessen aufeinander stossen, oder ob ideale, durch bestimmte Eigenart eingegebene Ziele der Menschheit vorschweben: diese Ziele besitzen wir nun seit dem 13. Jahrhundert (etwa); wir haben sie aber immer noch nicht erreicht, sie schweben in weiter Ferne vor uns, und darauf beruht die Empfindung, dass wir des moralischen Gleichgewichts und der ästhetischen Harmonie der Alten noch so sehr ermangeln, zugleich aber auch die Hoffnung auf Besseres. Der Blick zurück berechtigt in der That zu grossen Hoffnungen.
In diesem Beleg, in dem Chamberlain die idealen Ziele der Menschheit fokusiert und sie den kurzfristigen Interessen positiv gegenübergestellt, wird besonders auf der zweiten Präsuppositionsebene deutlich, welchen Zustandsbericht er über seine eigene Zeit abgibt. (i) wir haben sie [Ziele] aber immer noch nicht erreicht. (i') kategorielle / lexikalische Präsupposition durch das Verb erreichen. >> Seit dem 13. Jh. versucht die Menschheit, diese Ziele zu erreichen. (ii) immer noch nicht (ii') iterativ-lexikalische Präsupposition: >> Man versucht es weiterhin: es bleibt als Ziel bestehen. >> Auf einer zweiten Ebene ist dies ein versteckter Vorwurf, der mit einem deutlichen Appell einhergeht. Immer noch nicht ist dann zu verstehen als: man hat sich noch nicht ausreichend bemüht, und die Bemühungen müssen verstärkt werden. (iii) des moralischen Gleichgewichts und der ästhetischen Harmonie der Alten ermangeln. (iii') Faktizitätspräsupposition:
417 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
>> Die Alten waren moralisch im Gleichgewicht und hatten ästhetische Harmonie, während dies auf die Jungen nicht zutrifft.
Chamberlains Botschaft auf allen Textebenen lautet: wir haben die Hoffnung auf Besserung, wir müssen uns nur intensiver bemühen. 4. Beispiel: Vorw. 14. Aufl. XXIV: bei dem einzig wirklich gebildeten Volk der Erde [gemeint sind die Deutschen].
Die Proposition dieses Belegs ist deutlich, die Deutschen sind das einzig gebildete Volk der Erde. Das zum Adjektiv gebildet hinzugefügte Adverb wirklich kennzeichnet nicht nur die Modalität der Aussage, sondern präsupponiert auch, dass es nicht gebildete Völker gibt. (i) wirklich gebildetes Volk (i') kontrafaktische Präsupposition: >> es gibt weniger gebildete bzw. ungebildete Völker. >> aber auch: es gibt Völker, die nur scheinbar gebildet sind.
Mit solchen Präsuppositionen kann Chamberlain eine Relativierung der Leistungen Anderer vornehmen, ohne explizit oder direkt ausfällig zu werden. Indem er die Eigengruppe überhöht, erniedrigt er alle Anderen, ohne sie direkt anzugreifen. Ähnliche Fälle liegen vor, wenn er von der wirklichen Schöpferkraft (Gl 1162), vom echt germanischen Mann (Gl 529) schreibt, von der echten deutschen Staatskunst (Weltstaat 41) oder von der echt indoarischen Weltanschauung (AW 46), vom wahren Menschen (Gl 68) usw. 5. Beispiel: GL 865: Die Civilisation und Kultur, welche, vom nördlichen Europa ausstrahlend, heute einen bedeutenden Teil der Welt (doch in sehr verschiedenem Grade) beherrscht, ist das Werk des Germanentums: was an ihr nicht germanisch ist, ist entweder noch nicht ausgeschiedener fremder Bestandteil, in früheren Zeiten gewaltsam eingetrieben und jetzt noch wie ein Krankheitsstoff im Blute kreisend, oder es ist fremde Ware, segelnd unter germanischer Flagge, unter germanischem Schutz und Vorrecht, zum Nachteil unserer Arbeit und Weiterentwickelung, und so lange segelnd, bis wir diese Kaperschiffe in den Grund bohren. Dieses Werk des Germanentums ist ohne Frage das Grösste, was bisher von Menschen geleistet wurde.
Die Proposition lautet: Die Germanen haben dass Größte, das bisher von Menschen geleistet wurde, geschaffen, nämlich Zivilisation und Kultur. Der Satz impliziert entsprechend die Botschaft: Die Germanen sind die größten Kultur- und Zivilisationsträger der Weltgeschichte. Dabei wird unterstellt: (i) Werk des Germanentums (2x)
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
418 (i') Existenzpräsuppositionen: 1. es gibt so etwas wie das Germanentum, 2. es gibt etwas, nämlich 'das Werk', das man exklusiv dem Schaffen einer Größe vom Typ 'Germanentum' zuschreiben kann.
Ähnlich relevante Existenzpräsuppositionen sind Civilisation und Kultur, wobei hier wieder vor allem das Determinativ die interessant ist, da es neben der Existenz auch noch tendenziell eine gewisse Exklusivität impliziert. Man könnte ja auch von Europas Kulturen und Civilisationen im Plural schreiben. (ii) Die Civilisation und Kultur, welche… (ii') Existenzpräsupposition: >> es gibt so etwas wie Civilisation und Kultur, was für heutige Leser weniger in Frage steht, wie die Existenz von Ariern oder Germanen. Kategoriell gehören alle Ausdrücke derselben Abstraktionskonstruktion an.
Was in diesem Beleg außerdem anklingt, ist die Behauptung, Zivilisation und Kultur gehören zum Germanentum dazu, seien geradezu Eigenschaften des Germanen. Alles andere sei Krankheitsstoff oder ein betrügerisches Kuckucksei, das seiner Strafe entgegensehen muss. Die Sprechereinstellung Chamberlains wird im epistemischen Zusatz ohne Frage deutlich. Das Für-Wahr-Halten wird durch die Betonung der Richtigkeit der Aussage noch verstärkt; eine Nachfrage würde Unkenntnis suggerieren. Doch man muss nachfragen, da Chamberlain selbst Einschränkungen vorgibt, wenn er schreibt: (iii) was an ihr nicht germanisch ist […]. (iii') Existenzpräsupposition: >> Es gibt in der Kultur Nicht-Germanisches.
Das Zugeständnis, dass es etwas Ungermanisches an Kultur und Zivilisation gibt, dient der indirekten Handlungsaufforderung an den Leser, eine bessere Zukunft zu schaffen. Die Temporalia noch … nicht und jetzt noch präsupponieren jedenfalls, dass das Ungermanische schon bald aus dem Blut und damit der Kultur verschwinden soll. 6. Beispiel: GL 676: Nichts wäre falscher, als wenn man die jüdische Mitwirkung bei der Erschaffung des christlichen Religionsgebäudes lediglich als eine negative, zerstörende, verderbende betrachten wollte.
Mit der konzessiven Partikel lediglich wird etwas eingeräumt, und zwar nach folgendem Muster: Es gibt negative, zerstörende [...] Aspekte der Mitwirkung (faktische Präsupposition); dies ist nicht bezweifelbar; dennoch ist zu relativieren; relativieren kann man aber nur etwas, das hoch zu veranschlagen ist; dies bestätigt im Umkehrschluss die Faktizität der negativen, zerstörerischen Mitwirkung. In der Regel folgen auf solche Argumentationsfiguren dann nochmals bestätigende Aussagen der faktischen Präsupposi-
419 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
tion. Und tatsächlich betont Chamberlain zunächst einmal die Bedeutung des Judentums, um es dann als religions- und kulturzersetzend anzuprangern; typisch ist wieder die Konjunktion aber. Forts.: […] Aber auch ohne die uns natürliche Auffassung zu verlassen, genügt ein vorurteilsfreier Blick, um den jüdischen Beitrag als sehr bedeutend und zum grossen Teil als unentbehrlich zu erkennen. Denn in dieser Ehe war der jüdische Geist das männliche Prinzip, das Zeugende, der Wille. Man redet vom heutigen Antisemitismus; […]. Was bildet denn die geheime Anziehungskraft des Judentums? Sein Wille. Der Wille, der, im religiösen Gebiete schaltend, unbedingten, blinden Glauben erzeugt. Dichtkunst, Philosophie, Wissenschaft, Mystik, Mythologie.... sie alle schweifen weit ab und legen insofern den Willen lahm; sie zeugen von einer weltentrückten, spekulativen, idealen Gesinnung, die bei allen Edleren jene stolze Geringschätzung des Lebens hervorruft, welche dem indischen Weisen ermöglicht, sich lebend in sein eigenes Grab zu legen, welche die unnachahmliche Grösse von Homer‘s Achilleus ausmacht, welche den deutschen Siegfried zu einem Typus der Furchtlosigkeit stempelt, und welche im 19. Jahrhundert sich monumentalen Ausdruck schuf in Schopenhauer‘s Lehre von der Verneinung des Willens zum Leben.
Mit der Fokussierung auf die Modalpartikel lediglich wird die Feststellung eines vermeintlich negativen Einflusses der Juden nicht mehr hinterfragbar. Es ist eine Art Ablenkungsmanöver, mit dem die eigentliche Aussage verpackt wird. Chamberlain bedient die typischen Topoi des antisemitischen Diskurses: negativ, zerstörend und verderbend und bestätigt sie in ihrem antijüdischen Assoziationszusammenhang. 7. Beispiel: GL 512, Anm. 2: Geschichtsphilosophisch würde man wohl diese eigentümliche Vorliebe der Juden für den abhängigen, gewissermassen parasitären Zustand aus dem lang andauernden Abhängigkeitsverhältnis zu Israel erklären. Es ist übrigens höchst bemerkenswert, dass die Judäer nicht erst auf das Exil (noch weniger auf die sog. Zerstreuung) warteten, um ihre Vorliebe für dieses Leben zu bethätigen.
Das auffallendste Prinzip Chamberlains ist, wie schon im Metaphernkapitel deutlich wurde, dass er sich in der Regel einer indirekten Ausdrucksweise bedient. (i) Vorliebe der Juden für den abhängigen, gewissermassen parasitären Zustand (i') Existenzpräsupposition eines Zustandes mit eingelagerter Faktizitätspräsupposition: >> Juden sind Parasiten.
Er sagt eben nicht explizit: Juden sind Parasiten, sondern er präsupponiert dies auf der Basis eines anerkannten Konsenses mittels der Wortbildung parasitär, diese steht nicht in der Prädikation, sondern als Adjektivattribut
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zu Zustand; und dieser steht auf der 2. Unterordnungsstufe zu Vorliebe. In einem ironisch gemeinten Folgesatz wird unterstellt: >> Die Juden waren schon vor dem Exil und vor der Zerstreuung, also von ihrem Typ oder von ihrer Natur her, zu parasitär genutzter Abhängigkeit veranlagt. Das Exil entsprach also ihrer Natur.
8. Beispiel: Gl 551: Jedenfalls vermag nur schändliche Denkfaulheit oder schamlose Geschichtslüge in dem Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte etwas anderes zu erblicken als die Errettung der agonisierenden Menschheit aus den Krallen des Ewig-Bestialischen. (i) die Errettung der agonisierenden Menschheit aus den Krallen des Ewig-Bestialischen. (i') Faktizitätspräsupposition: >> die Menschheit war in Agonie / in den Krallen des Ewig-Bestialischen (i') Existenzpräsupposition: >> Es gibt das Ewig-Bestialische.
Die Dämonisierung, wie sie oben schon angedeutet wurde, findet nicht nur hier ihre Fortsetzung. Die 'Krallen' der Bestie sind Teil einer systematisch errichteten apokalyptischen Drohkulisse, die sich auf allen Ebenen des Textreliefs spiegelt. Sie sind nicht die Waffen einer substantivisch ausgedrückten Entität, sondern eine Qualität mit ubiquitemporärer (ewiger), immer und überall lauernder Existenz. Was auf den ersten Blick noch ornativ-fiktional wirkt und isoliert sogar als humanistisches Programm gelesen werden könnte, ist auf der Präsuppositionsebene die Konstruktion einer apokalyptischen Wirklichkeit, angesichts deren man nur resignieren kann oder gegen die man sich wehren muss. Die gesamte Analyse der Bespiele hat folgendes gezeigt: 1. Die Schwierigkeit einer klaren Trennung von Präsupposition und expliziter Aussage erhöht sich durch die Stilistik der Corpustexte. Chamberlain arbeitet durchgehend mit ideologischen Ausdrücken sowie mit Allusionen bzw. mit lockeren, allen Kennern der sprachlichen Formulierungstraditionen vertrauten Anspielungen auf kulturelle Hochwertbereiche. 2. Es gibt keine klare Unterscheidung zwischen präsupponierter und explizit vorgetragener, damit kommunikativ regresspflichtiger Aussage. Dies bestätigt im Nachhinein auch die Adäquatheit eines pragmatischen Präsuppositionsbegriffs. 3. Zu diesen Hochwertbereichen zählt erstens die christliche Religion; diese nicht verstanden unter offiziellen dogmatischen Aspekten, sondern verstanden als Gesamtbereich weltanschaulicher bis krass ideologischer
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Interpretationsräume. Dazu zählt zweitens der gesamte Bereich von Kunst, Geist, hoher Literatur und Genialität, den man nur zu evozieren braucht, um einen ganzen Chor von Zustimmungen zu initiieren. Eine texttechnisch bessere Manipulationstechnik kann es kaum geben. 2. 4. Existenzpräsuppositionen Die Existenzpräsupposition kann als besonders geeignet angesehen werden, das akzeptierte und als selbstverständlich angesehene Hintergrundwissen greifbar zu machen. Eine interessante Art solcher Existenzpräsuppositionen lässt sich im folgenden Beleg nachweisen: GL 225: Die Erfindungsgabe des Menschen ist eng beschränkt; das schöpferische Gemüt kann nur mit Gegebenem arbeiten: Homer muss M e n s c h e n auf dem Olympos inthronisieren, denn was er sah und erlebte, zieht seiner Gestaltungskraft die unübersteigbare Grenze; dass er seine Götter so ganz menschlich darstellt.
Präsupponiert wird hier u. a.: – dass es Homer gab, – dass es ein schöpferisches Gemüt gibt, – dass es Erfindungsgabe gibt, – dass es Gestaltungskraft gibt, – dass es Grenzen gibt, – dass es einen Olymp gab, – dass es Götter gibt. Diese Existenzpräsuppositionen stehen in engster Verbindung mit faktischen Präsuppositionen der Art: Menschen besitzen Erfindungsgabe / Homer besitzt Gestaltungskraft / Homer kann Götter im Olymp inthronisieren usw. Diese sind aber nicht Gegenstand des vorliegenden Absatzes, auch wenn mit diesem Exkurs schon angedeutet ist, dass jede Existenzpräsupposition in der Regel weitere Präsuppositionen nach sich zieht und dass gerade flankierend auftretende Faktizitätspräsuppositionen solche Existenzbehauptungen zusätzlich unterstreichen. Dass Chamberlain zunächst die Begrenzung der menschlichen Erfindungsgabe auf das von ihm Erlebte und Gesehene feststellt, steht im Gegensatz zur nachfolgenden (nicht mehr zitierten) Behauptung, der Mensch könne seine eigenen Götter schaffen. Das Verb inthronisieren deutet eine neue Hierarchie an, in der der Mensch über den Göttern verortet wird. Das Possessivpronomen sein in seine Götter rundet dieses Bild zusätzlich ab. Dieser Beleg dient sowohl auf der propositionalen als auch auf der präsuppositionalen Ebene der Konstruktion der Übermenschen. Bei genauer Betrachtung liegen bei der obigen Aufzählung zwei Arten von Existenzpräsuppositionen vor, erstens solche, die die Existenz von
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Personen und Sachen und zweitens solche, die deren Existenzweisen betreffen. Existent sind also einerseits Homer, Goethe, Gott oder (an anderer Stelle) die Germanen, andererseits Abstraktgrößen wie Erfindungsgabe, Gemüt und Gestaltungskraft, also Entitäten, die außerhalb des exophorischen Zugriffs stehen und nur insofern Existenz haben, als sie Textgegebenheiten sind. Entsprechend möchte ich die Existenzpräsupposition untergliedern in personenbezogene und sachverhalts- bzw. gegenstandsbezogene Existenzpräsuppositionen. Strittige Fälle, die zwischen beiden Ansätzen liegen, wären der Germane oder der Arier. Ein weiterer Kategorisierungsversuch innerhalb der Existenzpräsuppositionen basiert auf der Unterscheidung von 'vorwiegend referenzbezogen' und 'vorwiegend prädikationsbezogen'. Maximaler Referenzbezug liegt in Fällen vor, wie sie Dorothea Franck (1973, 33) mit dem Beispiel Johns Kinder schlafen alle veranschaulicht und wie sie sich auch bei Chamberlain immer wieder in den Sätzen finden lassen, in denen das thematisch gebrauchte Subjekt nicht weiter expliziert wird: der Engländer allein ist Mensch, alle übrigen sind "foreigners".39 Prädikationsorientiert sind dagegen Existenzpräsuppositionen wie im folgenden Beleg: alle diese Güter, welche das Leben uns Menschen erst lebenswert machen, sind an den Staat gebunden (PI 49). In diesem letzteren Fall können mehrere Schichten der Existenzpräsupposition unterschieden werden: 1. Es gibt Güter, die das Leben lebenswert machen. Dies ist noch eine referenzorientierte Existenzpräsupposition. Der Relativsatz "welche…." spezifiziert diese besondere Art von Gütern durch prädikative Zuschreibungen und macht dabei wiederum eine referenzorientierte Existenzpräsupposition, nämlich: 2. Es gibt ein lebenswertes Leben. Wenn es aber ein 'lebenswertes Leben' gibt, dann ist auch der Umkehrschluss impliziert, dass es 3. auch ein Leben gibt, das nicht lebenswert ist. Insgesamt sind folgende Existenzpräsuppositionen in der kontextuellen Umgebung von Mensch zu finden. Als existent und damit als nicht weiter hinterfragbar werden vorausgesetzt (in Auswahl): Metaphysische Größen zur Legitimierung des eigenen Geschichts- und Handlungskonzeptes : – Gott (dt. Friede 87; Br. ) – Buddha (Gl 238) – Natur (Gl 313; 319; PI 46), Naturkraft (PI 11) – Leben (Gl 319), Lebensatem (Gl 86)
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Chamberlain, Wer hat den Krieg verschuldet? 49.
423 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
– Seele (Br 132) – Not, Notwendigkeit (PI 10; PI 45) – wahre Sittlichkeit (Dt. Friede 100) – indoeuropäische mythische Religion [GL 668] – der rote Faden der Geschichte - die verschiedenen Individualitäten der Völker und Nationen (Gl 844) usw.
Metaphysische Größen als Bestandteile von Drohkulissen und eines dualistischen Weltbildes: – das Böse: das radikal Böse im Menschen und in der Gesellschaft (GL 53) – das Chaos (Gl 605); Völkerchaos (Gl 362; 662; 684) – der Dämon der Niedertracht (Zuversicht 6) – Entartung (Gl 668) – die neue Welt, die mit unheimlicher Hast von allen Seiten hervorschießt (PI 20): referentiell und prädikativ, dann: Existenz einer alten Welt, die nun zerstört wird. Hier nun einerseits die Konnotation von Vertrautheit des Alten und andererseits die Drohkulisse der Zerstörung (= faktisch) durch das Neue, auf das man keinen Einfluss hat.
Weltimmanente Größen als Bestandteile eines bestimmten Menschenbildes und einer bestimmten Weltordnung: – Menschen und Menschentypen (allgemein): – verschiedene Menschentypen (Deutschgedanke 59) – Gattung Mensch (PI 48) – Menschen, die keine sind (PI 48) – Menschen ohne Staat (PI 48) – der wahre Mensch (GL 68), damit auch 'falscher' Mensch (auch 'menschliches Tier') mitgemeint – edle Rassen (Gl 313), dann unedle Rassen – Rassenindividualitäten (Gl 26) – edelgezüchtete Mensch[en] (Gl 321), dann auch: 'unedle' Menschen – die große Persönlichkeit (PI 11) – Genies (Gl 321 u. ö.) – Lichtgestalten (Br AH zum Geb. 1924) – bedeutende Menschen (ebd.) – undressierter Mensch (Br 102f, dann auch: dressierter Mensch – der vollendete (Br 168f.) / vollwertige Mensch (ebd.), dann auch: der 'unvollendete, nicht vollwertige' Mensch. – unwissender, ideenloser und idealloser Mensch (IuM 25): dann auch: wissender Mensch oder Mensch mit Ideen und Idealen. (Gl 210: Römer als unidealer Mensch). – freie Menschen (Gl 829), dann auch: unfreie Menschen – geistig zurückgebliebene Menschen (Urbewohner von Zentralaustralien) (GL 155) usw.
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
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Typen erkennbar an der nationalen Zuordnung im Sinne von Größen, mit denen nationale oder rassistische Identifikationen vorgenommen werden: – der Engländer (Wer hat den Krieg verschuldet 49), der Römer (AW 68), der Deutsche (Wille 12), der deutsche Mensch (Br 78f.) – der Jude (Gl 404), der Semit (Gl 20), der syrisch-kleinasiatische Mensch (Gl 424), der Arier (z. B. Gl 141; 597), der Indoarier (AW 68), Indoeuropäer (Gl 404) – das Germanentum (Gl 580; 865) – die germanische Rasse (PI 48) – Herren der Welt (Gl 597) – neue Menschen (Gl 181) – Feinde des Deutschtums (Br I, 34f.) usw.
Entitäten, die speziell das soziale und biologische Leben des Menschen betreffen: – der Kampf um das Menschsein (Dt. Friede 87) – Menschwerdung (PI 48) – Staat (PI 48) als oberstes weltimmanentes Ordnungs- und Hierarchieelement – alles nivellierende[s] Imperium (Gl 829: Rom) – lebenswertes Leben (PI 49), dann auch: 'nicht lebenswertes' Leben – Krankheit, die [den Menschen] beschlichen hat (GL 319) – Ideale (IuM 26) – unbegrenzte moralische Freiheit (PI 32): referentiell und prädikativ, dann: Existenz anderer Freiheiten, die nicht moralischer Natur sind bzw. die begrenzt sind – angeerbte physische (und mit dieser zugleich die moralische) Struktur des Menschen (Gl 141): Aussage: Charakter des Menschen ist erblich. – gesellschaftliche Instinkte (Gl 184) – Instinkte, welche den Menschen zum gesellschaftlichen Zusammenleben treiben (Gl 190) – animalische Natur (GL 244) – innerliche Umwandlung des Menschen (Gl 745) – wahrhafter Wille aus den Tiefen (Wille/ Wille 10): referentiell und prädikativ, dann: Existenz eines nicht wahrhaftigen Willens.
Es wäre durchaus interessant, im Weiteren eine strukturelle Typologisierung der unterschiedlichen Existenzpräsuppositionen durchzuführen, also in Bezug auf Existenzpräsupposition durch Determinativartikel oder Existenzpräsupposition durch Pronomina, z. B. Possessivpronomen. Beispielsweise: PI 51: der Mensch ist nicht Ameise, vielmehr hält seinem staatenbildenden Trieb ein anderer Trieb das Gleichgewicht: der Trieb, sein Glück in sich und in dem kleinen vom Ich belebten Kreis zu finden.
Die Präsuppositionen des letztzitierten Belegs lauten: >> Es gibt einen staatenbildenden Trieb. Der Mensch hat ihn, aber er hat auch andere Triebe. >> Staatenbildung ist ein biologischer Trieb.
425 Propositionen, Präsuppositionen und Implikationen
Die Anlehnung an die Darwinsche Gedankenführung ist offensichtlich. Es wird keinesfalls in Frage gestellt, ob man das staatenbildende Verhalten des Menschen tatsächlich als biologischen Trieb bezeichnen kann. Auch eine sich gegenseitig bedingende Beziehung zwischen Gesellschaft und Biologie des Menschen wird als Konsens vorausgesetzt. Fassen wir zusammen, was die Präsuppositionen Chamberlains über seine Textwelt und über den Zeitgeist, in dem sie verankert sind, aussagen. Chamberlain präsupponiert mit Bezug auf den Menschen ein Ordnungsgefüge aus nationaler und rassischer Zugehörigkeit, Religion, Sittlichkeit, Geschichte und Natur, das durch das Böse, das Chaos und die Rassenzersetzung bedroht und latent dem Untergang geweiht ist. Sowohl die positiven Ordnungsgrößen wie die negativen Zerstörungsfaktoren werden von ihm ontisiert und erhalten immer wieder den Status von Handlungsträgern. Diese wirken dualistisch-manichäisch aufeinander und auf das Weltgeschehen ein, so dass eine chiliastische Atmosphäre zwischen Untergangs- und Verfallsbedrohung auf der einen und Zukunftsutopie auf der anderen Seite entsteht. Die präsupponierten Entitäten und Zustände erhalten entsprechend auch dualistische Bewertungen: Die Stigmatisierung des Juden als Vertreter des Bösen schlechthin auf der einen Seite und die Vergöttlichung des Indogermanen / Germanen als Kulturschöpfer und –träger auf der anderen. Im Zentrum dieser Ideologie steht die Spaltung des Menschen: die Dreigliederung 'Tier', 'Mensch', 'Gott' wird damit durch eine Vierergliederung von 'Tier', 'Tiermensch', 'Gottmensch', 'Gott' ersetzt. Aus dieser Vierergliederung mit ihrem Leitideologem der Ungleichheit der Rassen, das sich wie ein roter Faden durch alle Texte Chamberlains hindurchzieht, ergeben sich neue Handlungsmöglichkeiten, ja sogar Handlungspflichten, die schon bei Chamberlain ausgesprochen werden und mit weitgehend gleichem Inhalt das politische Handlungskonzept des Nationalsozialismus bestimmen. Die manipulative Funktion der Präsuppositionen kann bestätigt werden. Das explizit Gesagte findet in den Präsuppositionen eine Grundlage, verstärkt den Eindruck von Wahrheit nicht nur atmosphärisch, sondern auch durch unterstellte Bekanntheit und Zustimmung. Die Komplexität der Welt wird auf der Ebene der Präsuppositionen auf einen einfachen Dualismus mit klaren Antworten reduziert. Die so errichtete Fiktion von Verfall und Rettungsmöglichkeit, von drohendem Untergang und Zukunftsutopie, von Hexen, Dämonen und Monstern auf der einen Seite und Gottmenschen auf der anderen erfährt schließlich ihre Indienstnahme durch den radikalen Antisemitismus. Es ist auffällig, dass gerade die Präsuppositionsebene dazu genutzt wird, das (noch) Unsagbare auszudrücken. Chamberlain ist auf diese Weise weniger angreifbar, bleibt salonfähig und ist dennoch deutlich. Die Infamität der Chamberlain'schen Präsuppo-
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
426
sitionen liegt auf der Hand. Er nutzt sie, um seine Weltanschauung in manchmal offene, in der Regel aber eher versteckte Handlungsanweisungen umzumünzen. Von der Rezipientenseite her argumentiert heißt das: Man war offensichtlich erstens dazu bereit, Weltuntergangstheorien und Verfallsdiagnosen zu rezipieren und zu akzeptieren, zweitens den präsupponierten Verfall als Folge eines universalen Kampfes anzusehen, drittens ihn einer bestimmten Gruppe von Menschen anzulasten und viertens daraus Handlungskonsequenzen abzuleiten. Die These dieses Buches lautet, dass insbesondere bildungsbürgerliche Kreise als die vornehmste Rezipientengruppe Chamberlains sich bereits im Konsens über diese Schrittfolge befanden, auch wenn dieser Konsens sich salonorientiert noch an Konventionen hielt. Man könnte bei machen Textstellen überlegen, ob Chamberlain in seinen Präsuppositionen vielleicht auslotet, wie weit er mit seinen Forderungen nach einem neuen Menschentyp gehen konnte. Dass er auch diesen als Konsens ansieht, zeigt sein gesamtes Werk. Im Kapitel über die anaphorischen und kataphorischen Diskurse (Kap. X) wird dieser zeittypische Konsens noch ausführlicher thematisiert.
3. wird wohl kaum jemand zu leugnen sich vermessen – Metakommunikative Legitimationsfiguren und Sprechereinstellungen Im folgenden Kapitel soll es nicht mehr um die Beziehung zwischen Sätzen und ihren Präsuppositionen gehen, sondern um Deklarationen über bestimmte Aussagen. Statt des nicht determinierten Deklaration hätte man auch Komposita wie Wahrheits- oder Gültigkeitsaussage, -betätigung, -präsupposition gebrauchen können, falls man jedenfalls bereit ist, 'Wahrheit' ihres (onto)logischen Anspruchs zu entheben und pragmatisch in Richtung auf alles Mögliche an Aussagen, Einstellungen, Bewertungen usw. aufzulösen. Gemeint sind also "Attitüden / Einstellungen des Sprechers / Verfassers zum propositionalen Gehalt (Aussagegehalt) […], von Gewissheit und Vermutung, über Distanzierung und Bewertung bis zu Wollen, Erwarten, Hoffen."40 Oft wird derselbe epistemische Ausdruck, wenn er adjektivisch gebraucht wird, zum Präsuppositionslauslöser, der die nunmehr kaum bestreitbare Faktizität einer Proposition angibt: Das Gesagte ist so und nicht anders. Wird dasselbe Wort aber adverbial eingesetzt, besagt es: Das Gesagte wird von mir als wahr, richtig, gültig, unbestreitbar bewertet, und Du, lieber Leser, hast das als Faktum aufzufassen. _____________ 40
Vgl. dazu: von Polenz 1988, 213f.
427 Metakommunikative Legitimationsfiguren und Sprechereinstellungen
Wer hat den Krieg verschuldet? 68: Immer handelt es sich um eine "Auswahl", und sobald ich auswähle, entsteht ein schiefes Bild der tatsächlichen Vorgänge.
Selbst in diesem kurzen Textausschnitt erkennt der Leser durch den Gebrauch des Adjektivs tatsächlich, dass der Autor ein Bild von Vorgängen unterstellt, das der Wahrheit nicht voll entspricht. Das Adjektiv gibt also an, dass die Vorgänge anders abgelaufen sind, als es das Bild, das dann auch als schief charakterisiert wird, vermittelt. An dieser Aussage kann es keinen begründeten Zweifel geben; in dem Maße, in dem das der Fall ist, betrifft sie die Proposition. Anders ist dies beim folgenden Beleg. HuA 28: es könnte für alle Zukunft - für die ganze Zukunft des Menschengeschlechts - verhängnisvoll werden, wenn weite Schichten des deutschen Volkes noch länger blind blieben für die Eigenart der Lage, die sich tatsächlich, in Folge des Verhaltens Englands, zu einem unausweichlichen "Hammer oder Amboß" ausgebildet hat.
In beiden Fällen handelt es sich um Bestätigungen von Aussagen, ein gewichtiger Unterschied ist jedoch, dass im letzteren explizit gemacht wird, dass es sich hierbei um eine Sprechereinstellung handelt. Der Autor offenbart sich in und mit ihnen explizit in seinen Bewertungen, Hauptinteressen, aber auch in seinen Unsicherheiten. Denn die besondere Hervorhebung und Fokussierung eines Sachverhaltes durch den Autor dient nicht nur dem Hinweis an den Leser, dass er diese Stelle mit erhöhter Aufmerksamkeit wahrnehmen soll und dass die Wahrheit derselben nicht zu leugnen ist, sondern sie dient auch der Selbstoffenbarung: Ich kommentiere in dieser Weise nur solche Aussagen, die mir besonders wichtig sind, bzw. solche, von denen ich annehme oder schon weiß, dass sie fragwürdig sind und von anderen angezweifelt werden. Interessant sind vorwiegend diejenigen sprachlichen Mittel, mit denen ein Autor den Wahrheitswert von Aussagen entweder unterstreichen, relativieren bzw. anzweifeln oder gar gänzlich verneinen kann. Solche Mittel können sein (im Rückgriff auf von Polenz 1988, 214f., mit Beispielen Chamberlains): – performative Obersätze (zustimmend:): Ich bin überzeugt (Kriegsaufsätze / England 52 u. ö.) / ich bin zu der Überzeugung gelangt (Gl 20) / Niemand wird leugnen (Gl 20) / (ablehnend:) Ich bezweifle (HuA 52 u. ö.) usw. – prädikative Obersätze: (zustimmend:) Sicher ist,… (Gl 425) / Es ist evident und braucht nicht erst erwiesen zu werden, dass… (Gl 574) / Es ist und bleibt eine Tatsache, dass… (Wille 14) / Das sind Thatsachen (Gl 574) / (ablehnend:) es ist unwahr (Gl 10) / falsch (Gl 470) usw. – Modaladverbien: (zustimmend:) Wahrlich (Gl 313) / wirklich (Gl 889; 1107) / tatsächlich (HuA 28) / zweifellos (Gl 425) / sichtbarlich (Br II, 175f.) / unfraglich (Vorw. 14. Aufl. XXVI) / freilich (Gl 593) / handgreiflich (Gl 29) / natürlich (AW 60; Gl 207; 332; 384, 584) / (ablehnend bzw. relativierend:) wahrscheinlich (Gl 344), anscheinend, eventuell, vielleicht, vermutlich, angeblich (Kriegsaufsätze / Deutschland 70).
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
428 – Modalpartikeln: ja (Man weiss es ja; Gl 573) / doch (Kriegsaufs. / Friedensliebe 10; 17; 38; 42; PI 19 u. ö.) / eben (Gl 425) / (relativierend bzw. ablehnend:) wohl (AW 29; 46; Goethe 11) / etwa (Lebenswege 298) / gewiss (Gl 574; PI 22). – Modalität unterstreichende Phrasen: ohne Frage (Gl 597; 865 u. ö.) / in Wahrheit (Gl 20; 313) / kein Zweifel (Gl 470; 674) / ohne Zweifel (Gl 384; 425) / in der Tat (Br II, 181) / was doch klar vor Aller Augen liegt (Gl 318; in variierender Form häufig z. B. Gl 329; 572) / Wer ein offenes Auge besitzt, erkennt ja bei Tieren "Rasse" sofort (Gl 321) / mit voller Sicherheit (Gl 329) / (ablehnend): Ähnlichen Widersinnigkeiten begegnen wir überall auf Schritt an Tritt (Gl 315) / Weitere Bestätigung wird der Leser überall finden (Gl 1083) / Eine sehr wichtige Einsicht habe ich noch nicht ausdrücklich formuliert; sie ergiebt sich aus allem Gesagten von selbst (Gl 344) / Die Erklärung liegt offen vor uns (Gl 467) / sie ermöglicht es uns, mit absoluter Präcision festzustellen (Gl 471) / Jeder Gebildete weiss, dass … (Gl 674 nach oben?) / Will man weite geschichtliche Komplexe vereinfachen und doch wahrheitsgemäss zusammenfassen, so nehme man zunächst die unbestreitbaren konkreten Thatsachen (GL 840). Mit deutlicher Tendenz zur Bevormundung: dass…, wird wohl kaum jemand zu leugnen sich vermessen (Gl 8) / um dem blödesten Auge dieses Geheimnis zu enthüllen (Gl 313) / Wie können denn einsichtsvolle Menschen bezweifeln, dass… (Gl 318) / so darf wohl vorausgesetzt werden, dass der Leser die nötige Korrektur automatisch ausführt (Gl 471) / Alle, die überhaupt das Recht haben, mitzureden, bezeugen nämlich einstimmig (Gl 470) / Es handelt sich hier nicht um müssige Wortklauberei, sondern um historische Einsicht (Gl 571).
In Chamberlains Schriften sind solche metakommunikativen Äußerungen besonders häufig nachzuweisen. Dies hat seinen Grund erstens in der beziehungs- und meinungssteuernden Anlage seiner Argumentationsweisen. Mit ihrer Hilfe kann der Autor nämlich gezielt perlokutiv tätig sein, das heißt, er versucht, seine Leser von der Wahrheit der eigenen Aussagen zu überzeugen und diejenige des Gegners zu desavouieren. P. von Polenz schreibt (1988, 214): "Es muß schon ein besonderer Anlaß oder Zweck vorliegen, wenn das FÜR-WAHR-HALTEN ausnahmsweise […] sprachlich ausgedrückt wird. […] Anlaß zum sprachlichen Ausdruck des FÜRWAHR-HALTENS ist meist, dass man bei den am Kommunikationsakt Beteiligten mit Zweifeln an der Wahrheit des Aussagegehaltes rechnen muß oder dass schon Gegenteiliges oder Anderes darüber geäußert worden ist". Es geht dabei also auch um die Frage der Glaubwürdigkeit der eigenen Person und der von ihr vorgenommenen Setzungen. Je offensichtlicher der Setzungscharakter einer Aussage ist, desto häufiger werden solche metakommunikativen Äußerungen, und umso wichtiger ist die Imagepflege des Autors. Er muss sich als kompetent und wissend darstellen und möglichen Gegenargumenten zuvorkommen. Der eigenen Imagearbeit41 dienen Äußerungen, die man rhetorisch als Captatio benevolentiae klassifizieren würde: als Person tritt man bescheiden
_____________ 41
Püschel 2000, 483; Holly 1979.
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mit der Haltung des um Wohlwollen Bittenden auf, die Sache aber vertritt man als Wahrheit. GL 633: Und so muss es mir bescheidenen Historiker – der ich auf den Gang der Ereignisse nicht einzuwirken vermag, noch die Gabe besitze, die Zukunft hell zu erschauen – genügen, dem Zwecke dieses Buches gedient zu haben, indem ich das Germanische vom Ungermanischen schied. Dass der Germane eine der grössten Mächte, vielleicht die allergrösste, in der Geschichte der Menschheit war und ist, wird keiner leugnen wollen; es war aber für die Beurteilung der Gegenwart nötig, genau festzustellen, wer als Germane betrachtet werden darf, wer nicht. (Hervorhebungen von ALR).
Es sind vorwiegend seine weltanschaulichen Prämissen, die mit den genannten stilistischen Mitteln als selbstverständliche Wahrheiten unterstrichen werden, darunter vor allem die Rassentheorie und der Antisemitismus. Vierfachbestätigungen wie die folgende sind zwar die Ausnahme, aber insofern bezeichnend, als hier der entscheidende und völlig absurde Kernpunkt seiner gesamten Weltanschauung nur aufgrund von wahrheitsbeteuernden Adjektiven zur Wahrheit deklariert wird, nämlich die als unfraglich wahr erwiesene Tatsache der Rasse (Vorw. 14. Aufl. XXVI). 'Rasse' ist damit nicht nur eine Tatsache, sondern eine solche, die erwiesen ist, genauer: als wahr erwiesen ist, noch genauer: als unfraglich wahr. In vielen Einzelargumentationen wird deutlich, dass eine Aussage dadurch als nicht hinterfragbar präsentiert wird, dass man sie mit historischen Fakten sowie mit Wahrscheinlichkeiten belegt: GL 425: Hebräer sind eben Bastarde zwischen Semiten und Syriern. Diese Mischung hat man sich nicht so vorzustellen, als hätten sich die Hirtennomaden sofort mit der fremden Rasse gekreuzt, sondern vielmehr in folgender Weise: einesteils fanden sie Viertel- und Halb-Hebräer in ziemlicher Anzahl vor, durch welche der Übergang vermittelt wurde, andernteils unterwarfen sie sich zweifellos die Ureinwohner (wie die Herrschaft der semitischen Sprachen, des Hebräischen, des Aramäischen u. s. w. beweist) und zeugten mit ihren syrischen Sklavinnen Söhne und Töchter: später (in halbhistorischen Zeiten) sehen wir sie mit unabhängigen Sippen des fremden Volkes freiwillig Ehen schliessen, und ohne Zweifel war das inzwischen schon seit Jahrhunderten Sitte geworden. Doch, wie man sich auch den Vorgang der Vermischung vorstellen will, sicher ist, dass sie stattfand. (Hervorhebungen von ALR).
Die Behauptung, Hebräer seien Bastarde, die man – abgesehen von den negativen Assoziationen des Ausdrucks – vor allem dann als abwertend auffassen wird, wenn man über Generationen hinweg von der eigenen Reinheit überzeugt wurde, bedarf für Chamberlain offensichtlich des Wahrheitsbeweises. Zu diesem greift er auf das kaum Bestreitbare zurück, auf die Unterwerfung von Ureinwohnern und damit einhergehende Vermischungen, und kennzeichnet diesen Vorgang mittels des Adverbs zweifellos. Aufmerksamkeitssteigernd tritt der bildstarke Hinweis auf syrische Sklaven hinzu, über die inklusive Beweisformel sehen wir und das bestärkende
Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
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ohne Zweifel mündet die Argumentation dann in die Tatsachenfeststellung; sie lautet: Wie die Details dieses Vorgangs auch sein mögen, sicher ist das Faktum der Vermischung. Die Schlussfolgerung, die nach diesen Argumenten im Gewande der logischen Herleitung auftritt, wird mittels sicher ist eingeführt und mündet in einem aus drei Wörtern bestehenden apodiktischen Inhaltsatz, der die Ausgangsbehauptung in anderer Form wiederholt. Der vermeintliche Nachweis ist also in Wirklichkeit ein Argumentationskreis. Dieses argumentative Sich-im-Kreise-Drehen ist typisch für Chamberlain'sche Beweisführungen. Es zeigt sich, dass gerade der unsinnige Topos von der reinen jüdischen Rasse im Hintergrund steht und von ihm aus der Welt geschafft werden soll. Es zeigt sich aber auch, dass hier die eine Fiktion die andere stützen soll. Auffallend ist, mit welcher Dichte er seine Texte mit Selbstbestätigungen durchzieht; je zweifelhafter die Aussage ist, desto bestimmender sind seine metakommunikativen Regieanweisungen an den Leser. Gl 8: Dass die nördlichen Europäer die Träger der Weltgeschichte geworden sind, wird wohl kaum jemand zu leugnen sich vermessen.
Die in einem Nebensatz geäußerte und deshalb kommunikativ nicht voll regresspflichtige, zur Präsupposition tendierende Aussage, dass die nördlichen Europäer die Träger der Weltgeschichte seien, wird durch den Hauptsatz zur nicht mehr hinterfragbaren Wahrheit erklärt, obwohl man gerade diese Aussage eher von den Südeuropäern, den Griechen und Römern akzeptieren würde, später von den Franzosen oder Italienern, die Chamberlain keineswegs zu den nördlichen Europäern zählt. Der prinzipiellen Fragwürdigkeit seiner Aussage entgegnet Chamberlain hier ganz offensichtlich mit kommunikativer Gewalt gegen den potentiell zweifelnden Leser. Noch aggressiver geht er im folgenden Beleg vor: GL 313: In Wahrheit sind die Menschenrassen, […] so verschieden wie Windhund, Bulldogge, Pudel und Neufundländer. Die Ungleichheit ist ein Zustand, auf den die Natur überall hinarbeitet; nichts Ausserordentliches entsteht ohne "Specialisierung"; beim Menschen, genau so wie beim Tier, ist es die Specialisierung, welche edle Rassen hervorbringt; die Geschichte und die Ethnologie sind da, um dem blödesten Auge dieses Geheimnis zu enthüllen.
Geht er direkt auf die Meinung anderer ein, so kann er ebenso kommunikationsaggressiv werden. Gl 1079: Das alles kann und soll uns der wissenschaftliche Geschichtsforscher und also auch der Kunsthistoriker - an der Hand sichtbarer Tatsachen zeigen, nicht aber unser Urteil durch lendenlahme Verallgemeinerungen verblöden.
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4. Jünger der wahren Meister unseres Geschlechtes – Chamberlains geschichtsphilosophisches Erbauungsschrifttum Br I, 318 (1915): zwei Dinge hat aber Deutschland: anbetungswürdige Einzelne, und eine Gesamtheit [...]. Für mich handelt es sich um eine geschichtsphilosophische Erkenntnis - um den Willen Gottes.
Man kann bei Chamberlain drei Gruppen von Autoritäten unterscheiden, zum einen die Autorität eines germanischen Gottes, dann diejenige (über)menschlicher Persönlichkeiten und drittens diejenige der durch Ontisierung bzw. Anthropologisierung oder Sakralisierung zu handelnden Kräften gewordenen Größen wie 'Staat' (PI 45), 'Deutschland' (Br II, 57; Friedensliebe 9ff.), 'Zeit' (PI 26), 'Geschichte' (Gl 321), 'Natur' (Gl 319; PI 46), vor allem aber 'Rasse' (Gl 321). Der Mensch ist in diesem oft komplementär angesetzten und wirkenden Geflecht ein Getriebener, ein Bedrohter oder Gefangener, und seine Handlungsmöglichkeiten erscheinen auf ein Minimum begrenzt. Er ist umgeben von einer Unzahl auf ihn einwirkender, an ihm zerrender und ihn bewegender Kräfte, die alle dem übergeordneten Prinzip 'Rasse' unterworfen sind. Greifbarer als diese und vor allem ganz und gar nicht anonym sind die Vorbilder, denen Chamberlain nachlebt, die ihm, wo Argumente fehlen, immer das geeignete Zitat liefern, auch wenn sie selbst genau zu dem von ihm diskutierten Thema niemals etwas geäußert haben. Keyserling mag im Hinblick auf die so genannte Bildungsreligion richtig liegen, wenn er behauptet, dass Chamberlains wichtigstes Erfolgsprinzip, das also, was ihn zum Massenerfolg geführt hat,42 das Abrufen von Bildungsgütern bzw. Bildungsgöttern, das heißt vor allem das ausführliche Zitieren war. W. Frühwald43 macht deutlich, dass "Zitatfunktion und Zitathäufigkeit aber Kriterien [sind] für den Pegelstand der sozialen Geltung bildungsbürgerlichen Verhaltens", und P. Auer (1999, 250) schreibt in seinen Ausführungen zu Pierre Bourdieu vom "mühsam erworbenen, inkorporierten Kapital"44 mit Distinktionswert, was auf Chamberlain bezogen nichts anderes bedeutet, als dass er mit Zitaten seine prestigeträchtige hohe Bildungsbürgerlichkeit zum Ausdruck bringt und damit zugleich auch die seiner Rezipienten bedient. Der Autor der Grundlagen war ein Zitatensammler. Die durchgehend herangezogenen Legitimationsgrößen wurden bereits genannt; es sind _____________ 42 43 44
Keyserling, Reise durch die Zeit 1948, 133. Frühwald 1990, 208. Vgl. dazu auch Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede 1982; Zu Bourdieu und zum Distinktionswert von Sentenzen: Auer 1999, 250.
432 Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
Luther, Kant, Goethe, Schiller, Fichte, Schopenhauer und nicht zuletzt Wagner. Ihre Zitate dienen in der Regel eher der Autorisierung des Diskurses als der inhaltlichen Argumentation. Keyserling ergänzt: Keyserling 1948, 126: Chamberlain lebte buchstäblich von Sprüchen, welche ihm Glaubensartikel waren; genau in dem Sinne zitiert er dort, wo jeder andere persönlich untersucht und verstandesgemäß geschlossen und bewiesen hätte. Zur genauen Analyse und zur scharfen Diskriminierung fehlte ihm die erforderliche Begabung in erstaunlichem Grad. […] Aber wenn Chamberlain zitierte, so war es doch niemals X-Beliebiges: es mussten kanonisierte Heilige sein.
Die Inanspruchnahme Kants oder Schopenhauers (vgl. s. v. Wille) zeigt in aller Deutlichkeit, wie Chamberlain mit seiner Bildung wuchert, seine Thesen legitimiert und dabei auch gezielt inhaltliche Widersprüche kaschiert. Zu den Bildungsgöttern, den kanonisierten Heiligen, kommen die mehr oder minder anerkannten wissenschaftlichen Autoritäten wie Darwin, Leopold von Schröder, Paul Deussen, Heinrich von Treitschke und andere. Aus ihren Schriften kompiliert er seine Theorien, fügt zusammen, was oft nicht zusammenpasst, würde man den Kontext des Originals genauer betrachten. Die zuerst genannten Personen dienen der Vermittlung von Bildungsreligion im hier vorgetragenen Sinne, die Nennung der zweiten Gruppe suggeriert wissenschaftliche Kompetenz. Chamberlain stellt sich damit als jemand dar, der einerseits als Glied innerhalb einer Gemeinde religionsähnlicher Art bzw. einer Gemeinschaft von Wissenden steht, der diese andererseits aber dadurch überragt, dass er nicht in der Gemeinschaftsbindung aufgeht, sondern sie für seine Zwecke funktionalisiert. Dem entspricht seine Imagepflege; er versucht, selbst vorzuleben, was er zu sein anstrebt, ein idealer durch Kunst und wahre Erkenntnis Gebildeter. Dabei kommt der Legitimationsgröße 'Religion' eine besondere Bedeutung zu. Rein formal lässt sich sein Synkretismus bereits mit der Aufzählung religiöser Autoritäten, auf die er sich immer wieder bezieht, belegen. Die Reihe reicht von Augustinus über Thomas von Aquin und Martin Luther bis hin zu Paul de Lagarde. Auf das Neue Testament als Grundlage des Christentums wird nicht nur in Form von klassischen Bibelallusionen Bezug genommen, sondern auch durch eine die Schriften Chamberlains durchgehend kennzeichnende Sakralsprache. Wie leichtfüßig der Übergang von theologischer Sakralität zur Bildungsreligion ist, zeigt der folgende Beleg: Alle genannten Autoritäten werden zusammen angesprochen, und der Unterschied zwischen einem Goethe und einem Christus marginalisiert sich durch die Rede von den (größten) Männern und wahren Meistern. AW 89: Kultur hat mit Technik und Wissensmenge nichts zu tun; sie ist ein innerer Zustand des Gemütes, eine Richtung des Denkens und Wollens; zerrissene
433 Chamberlains geschichtsphilosophisches Erbauungsschrifttum
Seelen ohne abgerundetes Ebenmaß der Anschauung, ohne flügelsicheren Hochflug der Gesinnung sind bettelarm an dem, was erst dem Leben Wert verleiht. Doch wandeln wir heute gleich "durch feuchte Nacht", sahen wir nicht in Deutschlands größten Männern die "Gipfel der Menschheit" neu erglänzen? Wer nur einmal die Augen hinaufrichtete, der lernte hoffen. Und da diese Männer ihr Licht ebenso über die Vergangenheit wie über die Zukunft werfen, indem sie die fast erloschenen Strahlen der fernen Gipfel auffangen und im Brennpunkt ihres Geistes zu neuen Flammen anfachen, so glaube ich versichern zu können, daß wenigstens diejenigen unter uns, die es nicht verschmähten, Jünger der wahren Meister unseres Geschlechtes zu sein, sehr "bald" sich in die besondere Art der arischen Weltanschauung hineinleben und dann empfinden werden, als seien sie in den Besitz eines bisher unrechtmäßig vorenthaltenen Eigentums getreten.
Bereits der erste Satz öffnet 'Kultur' in Richtung auf 'Religion'; man beachte die Ausdrücke innerer, Gemüt, zerrissene Seele. Die metaphernreiche Sprache und der Predigtstil erinnern an Erbauungsschrifttum und Bibeltexte. Der Psalm 23 "und ob ich schon wanderte im finsteren Tal" wird abgewandelt zu "doch wandeln wir heute gleich durch feuchte Nacht", das Hinaufrichten der Augen beschreibt die Haltung des Betenden, der sich jedoch nicht auf Gott, sondern auf germanische Geistesgrößen richtet und durch sie hoffen lernt. Noch deutlicher wird Chamberlain mit der Doppelformel Jünger und Meister, die in der Regel mit Christus und seinen Jüngern assoziiert wird. Die Licht- und Feuermetaphorik tut ihr Übriges. Es braucht hier nur noch angefügt werden, dass diese Kennzeichnungen eine tragende Rolle in der Metaphorik der Folgezeit haben werden, so wenn Chamberlain Wagner als seinen Meister anerkennt, Cosima als Meisterin45 anspricht und sein eigener Verehrer Keyserling ihn zu Johannes dem Täufer46 macht. Chamberlains Schriften pendeln zwischen einer bildungsbürgerlichen Geschichtsphilosophie und religiöser Erbauungsliteratur, der Predigtstil offenbart sich besonders in den Kriegsaufsätzen. Die Titel seiner Werke spiegeln dieses synthetisierende Ineinandergreifen der verschiedenen Textsorten und Textmuster: Zunächst die bildungsreligiösen Hagiographien zu Richard Wagner, dann zu Goethe und Kant, wobei die letztgenannten im Übergang zwischen werkbiographischen und programmatischen kultur- und geschichtsphilosophischen Schriften anzusiedeln sind.
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Vgl. den Briefwechsel mit Cosima Wagner, z. B. Brief vom 18. 9. 1893; BW 350: „Wie soll ich Ihnen für Ihren Brief danken, hochverehrte Meisterin? […] Ich tröste mich mit den harten Worten über die Dankbarkeit in den „Fragmenten“ – nein, in „Jesus von Nazareth“ -: „Dankbarkeit ist einer der leeren Begriffe, welche in einer egoistischen Gemütsschwäche beruhen“ –; ich will versuchen, die egoistische Gemütsschwäche zu überwinden und dafür, was ich an „Kraft“ besitze, stets ganz in ihren Dient stellen“. Keyserling 1948, 133.
434 Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
Das Hauptwerk (die Grundlagen) ist im Sinne Oppenheimers der Inbegriff einer rassentheoretischen Geschichtsphilosophie.47 Werke dieser Art sind übrigens keine Ausnahmefälle, sondern in doppelter Hinsicht kennzeichnend für ihre Zeit. Zum einen repräsentieren sie eine neue Art des populistischen Schreibens, da sie für Laien verständliche Synthetisierungen einer immer komplexer und undurchschaubarer werdenden Erkenntniswelt darstellen. Georg Field schreibt: Field 1981, 3: He was one of the most successful exemplars of a new literary type: the popular synthesizer who, in an age of specialization, dispensed with academic caution and strove to impose an order on the chaos of experience by drawing together all his knowledge in an easily grasped unified vision.
Chamberlain schlägt programmatische Schneisen in nahezu alle relevanten Bereiche von der Kultur über die Religion bis hin zur Politik. Er vereinfacht, was in der Wahrnehmung der Zeitgenossen immer unverständlicher geworden war. Mit seinen Büchern gehört er zweifellos zu den ersten erfolgreichen Vertretern populistischer, komplexitätsreduzierender pseudowissenschaftlicher Textsorten. Sie stehen in der Nachfolge Gobineaus und werden über Chamberlains Grundlagen zu Alfred Rosenbergs Mythus ins 20. Jahrhundert getragen. Zum anderen stehen die genannten Werke in gewisser Weise in einer Tradition, die besonders Friedrich Nietzsche in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen ausformuliert hat. Im Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben48 wendet er sich gegen den vorherrschenden Historismus seiner Zeit und dessen Untauglichkeit zur wahren Bildung. In seinen Augen schade ein Übermaß an Historie dem Lebendigen49 und die Verwissenschaftlichung sei überhaupt der Tod des Menschen:50 Nietzsche, Werke 1, 209: Gewiß, wir brauchen Historie, aber wir brauchen sie anders, als sie der verwöhnte Müßiggänger im Garten des Wissens braucht, mag derselbe auch vornehm auf unsere derben und anmutlosen Bedürfnisse und Nöte herabsehen. Das heißt, wir brauchen sie zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten Tat. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen.
Nietzsche fordert, dass man Historie zum Zwecke des Lebens (ebd. 218f.) betreibe und unterscheidet dabei drei Arten, die drei Bedürfnissen des Lebens entsprechen: 1. eine monumentalistische 2. eine antiquarische und 3. _____________ 47 48 49 50
Max Weber, Diskussionsreden auf dem zweiten Deutschen Soziologentag in Berlin 1912. In: Weber, SSP 487ff. Vgl. dazu: Lobenstein-Reichmann 2008. Friedrich Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben. In: Werke 1, 209ff. Nietzsche, a. a. O. 219 Nietzsche, a. a. O. 210.
435 Chamberlains geschichtsphilosophisches Erbauungsschrifttum
eine kritische. Alle drei Betrachtungsweisen müssten ineinandergreifen, die antiquarische, um das Gewesene zu bewahren, die kritische, um die Gegenwart von den Fehlern des Vergangenen frei zu halten (ebd. 229), und die monumentalistische, um den Lebenden und vor allem den Tätigen das Mögliche vor Augen zu führen. Geschichte solle schlichtweg zur Tat erziehen. Sie solle funktionalisiert werden, und zwar als Mittel gegen die Resignation, durch Bildung eines Höhenzuges, Verlebendigung des Vergangenen in monumentalischer Historie. Dies ist, um es auf den springenden Punkt zu bringen, ein Aufruf zur Kulturtat, womit Chamberlain sich seinem Selbstverständnis nach durchaus parallelisieren kann. Nietzsche, ebd. 220: Daß der Tätige […] nicht verzage und Ekel empfinde, blickt er hinter sich und unterbricht den Lauf zu seinem Ziele, um einmal aufzuatmen. Sein Ziel aber ist irgendein Glück, vielleicht nicht sein eignes, oft das eines Volkes oder das der Menschheit insgesamt; er flieht vor der Resignation zurück und gebraucht die Geschichte als Mittel gegen die Resignation. Zumeist winkt ihm kein Lohn, wenn nicht der Ruhm, das heißt die Anwartschaft auf einen Ehrenplatz im Tempel der Historie, wo er selbst wieder den Späterkommenden Lehrer, Tröster und Warner sein kann. Denn sein Gebot lautet: das, was einmal vermochte, den Begriff »Mensch« weiter auszuspannen und schöner zu erfüllen, das muß auch ewig vorhanden sein, um dies ewig zu vermögen. Daß die großen Momente im Kampfe der einzelnen eine Kette bilden, daß in ihnen ein Höhenzug der Menschheit durch Jahrtausende hin sich verbinde, daß für mich das Höchste eines solchen längstvergangenen Momentes noch lebendig, hell und groß sei – das ist der Grundgedanke im Glauben an die Humanität, der sich in der Forderung einer monumentalischen Historie ausspricht.
Die Geschichte als Mittel gegen die Resignation (s. o.), der Historiker als Lehrer, Tröster und Warner, Geschichtsschreibung als motivierende und schöpferische Sinnstiftung und nicht als lebensfremde objektivistische Wissenschaft. Chamberlains Geschichtsphilosophie entspricht dieser Forderung, wenn auch sicherlich nicht im Sinne ihres Erfinders Nietzsche. Seine Ideologie versteht sich als eine sinnstiftende Geschichtsutopie, die der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft gleichermaßen gerecht werden will. Sie ist vergangenheitsbewältigende Welterklärung, gegenwartsbezogene Handlungsanweisung für die Tätigen und Zukunftsutopie für die Perspektivlosen in einem. Sie findet ihren spezifischen Ausdruck in der beschriebenen Textsorte, die nicht nur als typisch für das ausgehende 19. und das beginnende 20. Jahrhundert51 gelten muss, sondern letztlich auch erst die Erfindung dieser Zeit war. Die in den Grundlagen ausformulierte rassentheoretische Welterklärung, die Max Weber zu Recht als Rassenmystik52 ablehnt, wird entspre_____________ 51 52
Zur Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts auch: Raphael, Geschichtswissenschaft 2003, 198. Weber-SSP 487.
436 Von der Satzsemantik zur Textpragmatik
chend ihrer sinnstiftenden Funktion flankiert von religionsgeschichtlichem bzw. -philosophischem Erbauungsschrifttum, wobei die Grenzen zwischen den einzelnen Orientierungen längst aufgehoben sind. Die Komplexitätsreduktion wird somit zur umfassenden Welterklärung. Aber auch die anderen Schriften, so die Arische Weltanschauung, die Worte Christi und Mensch und Gott speisen sich aus derselben rassenmythologischen Quelle. Nietzsche könnte hier ebenfalls Pate gestanden haben; in der Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik schreibt er: Nietzsche, Werke I, 184: Ohne Mythus aber geht jede Kultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet. Die Bilder des Mythus müssen die unbemerkt allgegenwärtigen dämonischen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und seine Kämpfe deutet: und selbst der Staat kennt keine mächtigeren ungeschriebnen Gesetze als das mythische Fundament, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt.
Gerade die immer wieder durchbrechende Sakralsprache, in der Chamberlain im Stile Wagners von Sünde (Zuversicht 6) und Erlösung (AW 66; PI 24; Gl 666f.) schreibt, zeigt den utopischen Charakter seiner Schriften, in der sich Persönlichkeits- und Heiligenkult mit biologischem Rassenkult verbinden und als geschichtsphilosophische Textsorten der Konstitution einer monumentalistischen, auf Heroisierung der eigenen Gruppe hinzielenden Nationalreligion dienen. Chamberlains politische Schriften Der demokratische Wahn oder die Politischen Ideale, die in erster Linie als Oppositionsschriften gegen die Anderen angedacht sind, fordern nur noch radikaler ein, was geschichtsphilosophisch erkannt worden ist, nämlich die Umsetzung der germanischen Weltanschauung. Seine Kriegsaufsätze schließlich, in denen der utopische Aspekt vor den Realien zurücktritt, sind polemische Versuche, den Tagesanforderungen des Weltenbrandes gerecht zu werden, ohne dabei von der pseudoreligiösen Bestimmung der Germanen abzukommen. Religion, Kultur und Geschichte sind in allen Schriften Ausdrucksformen der alles bestimmenden Rasse. Insofern sind auch Chamberlains unterschiedliche Textsorten letztlich immer nur Abwandlungen des einen Themas und, wenn man so will, Kennzeichen der einen sich in unterschiedlichen Gewändern kleidenden immer wiederkehrenden geschichtsphilosophischen Utopie.
X. Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung – eine kommunikations- und diskursgeschichtliche Analyse Es gibt keine Aussage, die keine anderen voraussetzt. Foucault1
1. Der Diskursbegriff, ein theoretischer Exkurs Nachdem bisher lexikalische, satzsemantische, textlinguistische und pragmatische Analysen der Texte Chamberlains unternommen worden sind, geht es nunmehr um diejenigen Schriften anderer Autoren, die kataphorisch und anaphorisch traditionsbildend im historischen Zusammenhang zu Chamberlain stehen. Spätestens an dieser Stelle ist ein kurzer theoretischer Exkurs angebracht. Der Begriff 'Diskurs' ist in den letzten Jahrzehnten sowohl in der Literaturwissenschaft als auch in der Geschichtswissenschaft zum Leitbegriff avanciert, ohne dabei eine terminologische Festlegung zu erfahren,2 ein Umstand, der nicht gegen, sondern für den hohen Stellenwert der Fragestellungen spricht, die sich mit dem Begriff verbinden. Je nach Forschungsgegenstand, Fragestellung oder Schulenbildung werden in der Diskussion unterschiedliche Gewichtungen und Fokussierungen vorgenommen.3 Die heute kursierenden Diskursbegriffe sind entsprechend so vielfältig und vielschichtig wie die Autoren, die sie verwenden.4 Deswegen ist es notwendig, hier eine Arbeitsdefinition auf der Grundlage bereits vorhandener Definitionen zu versuchen und sie den praktischen Analysen voranzustellen. Die hier zugrunde gelegte Basisdefinition ist diejenige von Busse / Teubert.
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Foucault, Archäologie des Wissens 1981, 145. Ich verzichte an dieser Stelle auf eine ausgiebige Forschungsdiskussion und verweise stattdessen auf Wengeler 2003; Mills 2007; Warnke 2007. Vgl. dazu Foucault 1981, 116; vgl. auch Mills 2007, 1-10. Verwiesen sei hier nur auf den konversationsanalytischen Diskursbegriff bei van Dijk 1974 oder den Diskursbegriff von Jürgen Habermas, der laut H. Bußmann (1990, 171) darunter eine "Erörterung mit dem Ziel der Wahrheitsfindung" versteht und damit den Schwerpunkt auf die "Diskussion der Normen sowie der Gültigkeit oder Ungültigkeit von Behauptungen" setzt. Vgl. dazu: Habermas 1985 und 1991; van Dijk 1974 und 1987.
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Busse / Teubert5 1994, 14: Unter Diskursen verstehen wir im forschungspraktischen Sinn virtuelle Textkorpora, deren Zusammensetzung durch im weitesten Sinne inhaltliche (bzw. semantische) Kriterien bestimmt wird. Zu einem Diskurs gehören alle Texte, die - sich mit einem als Forschungsgegenstand gewählten Gegenstand, Thema, Wissenskomplex oder Konzept befassen, untereinander semantische Beziehungen aufweisen und/oder in einem gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang stehen, - den als Forschungsprogramm vorgegebenen Eingrenzungen in Hinblick auf Zeitraum/Zeitschnitte, Areal, Gesellschaftsausschnitt, Kommunikationsbereich, Texttypik und andere Parameter genügen - und durch explizite oder implizite (text- oder kontextsemantisch erschließbare) Verweisungen aufeinander Bezug nehmen bzw. einen intertextuellen Zusammenhang bilden.6
Die Auswahl der nachfolgend diskutierten Autoren und Texte ist nach diesem Konzept erfolgt. Gemeinsame Thematik, intertextuelle Verbindungen, vor allem das Kriterium eines "gemeinsamen Aussage-, Kommunikations-, Funktions- oder Zweckzusammenhang[s]" sind dabei berücksichtigt worden. Gemäß dem Diskursverständnis von Foucault,7 dessen Diskurserörterungen als zusätzliche theoretische Grundlage herangezogen werden, besteht ein solches virtuelles Textcorpus aus einer bestimmten Menge diskursiver Ereignisse: Foucault 1981, 42: Das Feld der diskursiven Ereignisse dagegen ist die stets endliche und zur Zeit begrenzte Menge von allen den linguistischen Sequenzen, die formuliert worden sind; sie können durchaus zahllos sein, sie können durch ihre Masse jegliche Aufnahme-, Gedächtnis- oder Lesekapazität übersteigen: sie konstituieren dennoch eine endliche Menge.
Diese Menge kann also so groß sein, dass sie nur in einer interpretierenden Auswahl untersucht werden kann. Eine solche Auswahl nennt F. Schößler (2006, 39) "die Möglichkeitsbedingungen des Aussagens, die zu einem Archiv der Epoche zusammengestellt werden können." Ein solches Archiv umfasst eine nahezu unendliche Anzahl von Äußerungen, die als _____________ 5
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Busse / Teubert, Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? 1994, 10-28. Vgl. außerdem: Auer 1999; Fairclough 1995; S. Jäger 2002. Und unter geschichtswissenschaftlichem Aspekt: Sarasin 1998. Zum Vergleich eine Definition von Foucault 1981, 170: "Diskurs wird man eine Menge von Aussagen nennen, insoweit sie zur selben diskursiven Formation gehören. Er bildet keine rhetorische oder formale, unbeschränkt wiederholbare Einheit, deren Auftauchen oder Verwendung in der Geschichte man signalisieren (und gegebenenfalls erklären) könnte. Er wird durch eine begrenzte Zahl von Aussagen konstituiert, für die man eine Menge von Existenzbedingungen definieren kann. Der so verstandene Diskurs ist keine ideale und zeitlose Form, die obendrein eine Geschichte hätte. Das Problem besteht also nicht darin, sich zu fragen, wie und warum er zu diesem Zeitpunkt hat auftauchen und Gestalt annehmen können. Er ist durch und durch historisch: Fragment der Geschichte, Einheit und Diskontinuität in der Geschichte selbst, und stellt das Problem seiner eigenen Grenzen, seiner Einschnitte, seiner Transformationen, der spezifischen Weisen seiner Zeitlichkeit eher als seines plötzlichen Auftauchens inmitten der Komplizitäten der Zeit." Grundlegend hierzu: Foucault 1981.
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solche jedoch "die scheinbar selbstverständliche Einheit des Subjekts durch reglementierende Sprachordnungen" hervorbringen. "Denn es sind diskursive Ordnungen, die das Subjekt produzieren. Nach Foucault definieren Diskurse, was als wahr/falsch und normal/wahnsinnig gilt; sie entscheiden über das Sagbare/Unsagbare und stellen auf dieses Weise das Subjekt bzw. seine Normalität her" (ebd. 37). Dieses Sagbare und dieses Unsagbare waren bereits relevanter Gegenstand des vorliegenden Buches. Beide kommunikativen Normgrößen sind im terminologischen Sinne Michel Foucaults diskursabhängig, in demjenigen Ralf Konersmanns zeitgeistabhängig. Der Zeitgeist als "Stifter epochaler Identitäten" wird gebildet durch diskursive Ordnungen. Er bildet die Matrix, auf der Präsuppositionen gelingen können, und er bestimmt die "kommunikativen Standards" (Konersmann 2006, 94) bzw. die "reglementierenden Sprachordnungen" (Schössler/Foucault; s. o.) einer Zeitgeist- bzw. Diskursgemeinschaft. Das "Archiv einer Epoche" ist in seiner besonderen Art der Vertextung entsprechend verantwortlich dafür, welche kommunikativen Innovationen durch Autoren möglich sind und welche kommunikativen Kollaborationen vom Rezipienten passiv mitgemacht und aktiv durchgeführt werden. Ein Aspekt der aktiven Kollaboration ist Teilhabe an der Textproduktion und damit das Wechseln von der Rezipienten- zur Autorenseite, womit der ewige Kreislauf des Diskurswelten gestaltenden Kommunizierens fortgesetzt wird. Hat bisher Chamberlains aktiver Anteil an dieser Teilhabe im Zentrum der Betrachtungen gestanden, so soll nun sein Archiv ins Visier genommen werden. Archiv ist hier im doppelten Sinne zu verstehen. Es geht zum einen um das Archiv, auf das er als Synthetisierer seiner Epoche selbst ausgiebig zurückgreift, und zum anderen auf das Archiv, das er mit seinen Schriften für seine Rezipienten mitgeschaffen hat. Die Auswahl für das Archiv/Textcorpus ergibt sich im vorliegenden Fall aus den von Chamberlain vorgegebenen intertextuellen Bezügen, also aus direkten Zitaten anderer Autoren und indirekten Verweisen und Anspielungen auf sie. Dabei muss jedoch aufgrund der Vielzahl der vorgenommenen Bezüge eine weitere Auswahl stattfinden. Diese beruht einerseits auf der Bedeutung des jeweiligen Autors bzw. eines oder mehrerer seiner Texte für Chamberlain und andererseits auf der Breite und Wirkung seiner Rezeption. Es werden also sowohl aus der Zeit vorher wie nachher jeweils diejenigen Autoren herangezogen, die eigene Rezeptionsdomänen haben und über diese Einblicke in andere Kommunikationsbereiche eröffnen. Diese gilt innerhalb folgender Bereiche: – des religiösen für P. de Lagarde (anaphorisch), Ernst Bergmann (kataphorisch), – des evolutionsbiologischen für Charles Darwin (anaphorisch), – des rassentheoretischen für Gobineau (anaphorisch), – des philosophischen für Kant, Schopenhauer und Nietzsche (anaphorisch),
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– des literarischen für Goethe (anaphorisch), – des musikalischen für Wagner (anaphorisch), – des bildungsrelevanten für Schott (kataphorisch), – des kulturkritischen für die Lebensphilosophie (kataphorisch), – und nicht zuletzt des politikideologischen für Hitler (kataphorisch).
Die hier genannten Autoren und ihre Texte werden in einem diskurskataphorischen und einem diskursanaphorischen Sinn behandelt. Wagner ist in diesem Sinne als diskursanaphorische Größe zu betrachten, während Schott und Hitler diskurskataphorisch wären. Mit Wagner haben wir also einen der diskursiven Vorläufer der Texte Chamberlains, in Hitler einen diskursiven Nachfolger. Damit wird keineswegs gesagt, dass der eine den anderen nur beerbt; es wird lediglich behauptet, dass Chamberlain Wagners diskursive Ereignisse, vor allem wohl dessen Judenschrift, in der ihm geeignet erscheinenden Weise in seinen eigenen Diskursen verarbeitet und sie dann in der so entstehenden Brechung bzw. Neunutzung an dritte weitergibt, die ihre eigenen Diskursbeiträge damit amalgamieren und dann ihrerseits wieder auf übernommene, modifizierte bis weitestgehend veränderte Aussagen "tatsächlicher" Vorgängertexte oder von Autoren stützen, die wieder nur im Sinne der eigenen Aussage instrumentalisiert wurden. Damit bin ich beim entscheidenden Aspekt dieser letzten Phase der Untersuchung angelangt, nämlich beim konstruktiven Aspekt von Diskursen.8 Foucault 1981, 74: Ich möchte zeigen, daß der Diskurs keine dünne Kontakt- oder Reibefläche einer Wirklichkeit und einer Sprache, die Verstrickung eines Lexikons und einer Erfahrung ist; ich möchte an präzisen Beispielen zeigen, daß man bei der Analyse der Diskurse selbst die offensichtlich sehr starke Umklammerung der Wörter und der Dinge sich lockern und eine Gesamtheit von der diskursiven Praxis eigenen Regeln sich ablösen sieht. Diese Regeln definieren keineswegs die stumme Existenz einer Realität, keinesfalls den kanonischen Gebrauch eines Wortschatzes, sondern die Beherrschung der Gegenstände. […] Eine Aufgabe, die darin besteht, nicht – nicht mehr – die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen.
Diskurse sind die tragenden Konstruktionspfeiler von Weltanschauungen, wobei das partizipiale Attribut hier als doppelsinnig im Sinne von >stützend< und von >verbreitend< bzw. >weiter tragend< gemeint ist. Die von Foucault eingeführten "Praktiken", die als Diskurse die Gegenstände, von denen man spricht, erst bilden, bezeichnet er später als "diskursive _____________ 8
Vgl. Spiegel 1990, 77: "In that sense, texts both mirror and generate social realities, are constituted by and constitute the social and discursive formations which they may sustain, resist, contest, or seek to transform, depending on the case of hand. There is no way to determine a priori the social function of a text or its locus with respect to its cultural ambience”
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Praxis". Diese ist es, die – unabhängig von der gerade gebrauchten terminologischen Fassung – im Mittelpunkt der nachfolgenden Ausführungen steht. Dabei sind folgende Unterscheidungen zu beachten: Es gibt nach dem Relevanzkriterium Beiträge, die diskursprägend und solche, die diskursirrelevant, damit vielleicht diskursstützend sind, aber nicht die Diskursgeschichte bestimmen. Es gibt nach dem medialen Kriterium Beiträge, die schriftlich abgefasst und publiziert wurden, und es gibt Beiträge, die sich mündlich, damit einmalig vollziehen. Verbindet man beide Kriterienpaare miteinander, dann wird man sagen dürfen, dass diskursprägende Beispiele eher in Schriftfassung vorliegen, diskursirrelevante eher mündlich vollzogen wurden. Diese Affinitäten lassen natürlich die Aussage zu, dass es durchaus schriftliche Diskursereignisse gegeben hat, die irrelevant waren, wie es auch mündliche Diskursbeiträge (z. B. im Bildungswesen, in den Salons) gegeben haben wird, die prägend waren. Verschriftlichung und darauf folgende Publikation, also Öffentlichmachung geben darüber hinaus deutliche Hinweise auf die von der historischen Öffentlichkeit zugestandene Relevanz des diskursiven Ereignisses. Sie spiegeln also nicht nur inhaltlich die diskursiven Praktiken, sondern außerdem auch die zeitgeisttypischen Modi derselben. Foucault 1981, 170: Sie [diskursive Praxis] ist eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben.
Der komplexe mündliche Hintergrund, in dem sich zum Beispiel passive Rezeption mit aktiven, aber nur mündlichen und damit nicht überlieferten Beiträgen kreuzen, fehlt vollständig. Wir können ihn höchstens erahnen, wenn wir die Briefe Chamberlains heranziehen, in denen er auf die vielfältig geführten Diskussionen seiner Zeit hinweist. Damit ist einer der wichtigsten Aspekte der historischen Diskursanalyse angesprochen, ihr Bezug auf schriftlich überlieferte Texte. Anders als bei Foucault (vgl. das Zitat oben), bei dem es weniger um das Was der Aussagen als um die Bedingungen, Formen und Regeln geht, unter denen Bücher entstehen und publiziert werden bzw. nicht erscheinen können, steht hier das verbindende Was, der ideologiebildende thematische Zusammenhang im Focus der folgenden Beschreibungen. Dabei wird das Stichwort der diskursiven Praxis anders als bei Foucault aus der Anonymität, die das Stichwort suggeriert, herausgelöst. Denn Diskurse sind natürlich nur greifbar über Texte, die von Autoren verfasst worden sind und eine reale historische Verortung haben. Entsprechend dem schon angesprochenen konstruktiven Charakter von Diskursen soll diese reale Veror-
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tung auch insofern besonders beachtet werden, als ich ganz im Sinne Foucaults zeigen möchte, dass es "keine Aussage gibt, die keine andere voraussetzt" (Foucault 1981, 145), und dass sich die Modalitäten der Aussagen je nach Kommunikationszusammenhang ändern können, es aber oft nur in ihren Gewichtungen tun. Das bisher Erörterte zusammenfassend verstehe ich daher unter Diskurs die Gesamtheit von Texten, die von inhaltlich einschlägig interessierten Autoren zu einem als aktuell bzw. wichtig geltenden, von anderen abgrenzbaren Thema (wie Rasse, Frauen, Emanzipation) verfasst und von entsprechend interessierten Rezipientengruppen wahrgenommen, kommuniziert und nicht nur in ihr ideologisches Verhalten einbezogen werden, sondern die kollektive Sinnproduktion einer Gesellschaft entscheidend beeinflussen, wenn nicht gar begründen. Sie konstituieren eine spezifische Zeitgeistgemeinschaft mit allen angesprochenen Konsequenzen. Ein Diskurs ist jedoch nicht an einen mehr oder weniger geschlossenen Kreis kommunikativ bestimmender Einzelpersonen und Rezeptionsund Multiplikationsgruppen innerhalb einer bestimmten kulturpolitischen Situation gebunden, sondern steht in einem Netz (geistes)verwandter oder oppositioneller Diskurse. Diskurse werden nicht nur verstanden als sich selbst generierende und von selbst wieder abebbende kommunikationsgeschichtliche Einheiten, sondern auch als reziproke Konstrukte, die bei aller Bindung an kommunikativ charismatische Persönlichkeiten und die deren sprachgestalterischen Fähigkeiten in der Gesellschaft stehen, d. h. von einem ideologisch handelnden Expertenkreis multipliziert und von einem aufnahmewilligen Rezipientenkreis übernommen werden. 1. 1. Einführende Bemerkungen Es geht im folgenden Kapitel nicht um eine inhaltlich genaue referierende Wiedergabe originärer Gedanken bestimmter Autoren. Ausgangspunkt der Beschreibung sind vielmehr die in den vorangegangenen Kapiteln zu Chamberlain zusammengetragenen (lexikalischen, satzsemantischen und pragmatischen) Diskurshinweise, seien diese intertextueller oder metasprachlicher Natur oder konkrete Bezugnahmen auf andere Autoren und deren Schriften durch explizite Namensnennungen bzw. Zitate. Aber auch nicht kenntlich gemachte Zitate, also Textallusionen, indizieren die diskursive Vernetzung, in der Chamberlain zu verorten ist, ebenso wie Formulierungstraditionen (gleiches Vokabular, gleiches Spiel mit Metaphern9) oder inhaltlich betrachtet, thematische Bezüge, Topoi und themengebundene Semantisierungen. Es soll gezeigt werden, dass Chamberlain einer_____________ 9
Foucault 1981, 51.
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seits das Produkt eines Diskurses ist, der schon lange vor ihm begonnen und seinen Lauf angetreten hat, dass aber sein Eintreten in diesen Diskurs diesen und dessen Fahrtrichtung in einer Weise beeinflusst hat, der nicht unterschätzt werden darf. Chamberlain ist die tragende diskursive Brücke, die den Rassediskurs aus dem 19. ins 20. Jahrhundert überführt hat und dabei auch vorgab, an welcher Landestelle der Diskurs ankommen sollte. Viele Argumente derjenigen Diskurse, die für Chamberlain wichtig waren, wurden im Zusammenhang mit dem Menschenbild in ihren Grundzügen bereits aufgearbeitet: Ungleichheit der Menschenrassen, Arierideologie, Antisemitismus, germanische Erlösungsreligion, damit verbunden Perfektibilität des Menschen durch das Künstlertum. Topoi wie die genannten werden und wurden über längere Zeitspannen hinweg verwendet, ohne dass man ihre Erstverwendung genau nachweisen könnte. Sie werden rezipiert, manchmal sogar genau dem rezipierten Wortlaut nach zitiert, d. h. man kann ihre korrekte Einzelzitation sogar punktuell festmachen. Dies ist der wissenschaftliche Zugang, der jedoch die Ausnahme bildet. Denn in der Regel ist in der weiteren Überlieferung die genaue Zitation nur bedingt von Belang, weil sie sich im Laufe des Kommuniziertwerdens zusammen mit anderem Rezipiertem zu Amalgamierungen eigener Art verbindet. Smith-Rosenberg 1989, 102:10 Each discourse is an amalgam of earlier discourses, the vocabulary it chooses, the meanings it assigns to words, its very grammar, the result of repeated conflicts and compromises. The muted voices of defeated discourses and lost meanings haunt present usage.
Es soll von vorneherein postuliert sein, dass die semantischen Gehalte von Diskursen individuell geprägt, damit prinzipiell wandelbar sind, und zwar auch je nach Interessenlage der Rezipienten. Auch wenn die Strukturen übereinstimmen, kann die Anwendung variieren. Denn gerade Diskurse spiegeln die normale Rezeption von Sprache. So schreibt Hörmann (1994, 27): "Wir erfassen im Vorgang des Verstehens nicht nur Information, wir schaffen auch Information, nämlich jene Information, die wir brauchen, um die Äußerung in einen sinnvollen Zusammenhang stellen zu können." Insofern geht es beim Textverstehen immer um eine Wechselbeziehung zwischen der Information, die durch den Text übermittelt wird, und der Information, die durch das Wissen des Rezipienten entsteht (Text-Leser-Interaktion): Ausgehend von dieser allgemein anerkannten Prämisse, dass Rezeption keine darstellungsfunktional orientierte Resemantisierung ist, sondern eine interaktive, zeit-, interessen- und funktionsgebundene Neusemantisierung müssen bei diskursgeschichtlichen Betrachtungsweisen drei Größen besonders betrachtet werden: 1. Der _____________ 10
Smith-Rosenberg, zitiert nach Wengeler 2003, 119.
444 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
angesetzte Ausgangstext. 2. der vom Rezipienten mit Bezug auf den Ausgangstext erstellte Rezeptionstext und 3. speziell der Anknüpfungspunkt bzw. die Anschlussstelle, die den Ausgangstext mit dem Rezeptionstext verbindet. Dabei ist die Auswahl aus den Texten maßgeblich für die Analyseergebnisse. Methodische Probleme ergeben sich schon bei der Linienfindung, also bei der Suche nach den möglichen textexternen und textinternen Verbindungen von Ausgangs- und Rezeptionstexten, dann bei der Frage nach den spezifisch nachweisbaren Anknüpfungspunkten zwischen den Texten, schließlich bei der Suche nach möglichen Übermittlungstexten, das sind solche, die einen Text A indirekt mit einem Text B verbinden. Schwierig ist weiterhin die Frage nach dem Anfang eines Diskurses. Zwar sind Diskurse gerade bei Foucault dadurch definiert, dass sie keinen Beginn haben, unter methodischem Aspekt muss ein solcher dennoch angesetzt werden. Dies kann von einem bestimmten (späteren) Text ausgehend in der Zeitlinie nach rückwärts und es kann in umgekehrter Richtung von früher nach später verlaufen. Metakommunikative Kommentare sind dabei eine wichtige Stütze. Das Nachzeichnen von diskursiven Linien ist trotz der genannten Unsicherheiten lohnenswert, auch wenn von vorneherein mit Bedacht damit umgegangen werden muss. Es sollen ebenso wenig Zwangsläufigkeiten suggeriert werden wie Zufälligkeiten. Die Nachzeichnung soll aber die Einbettung der unterschiedlichen diskursiven Ereignisse in eine Zeitgeistgesellschaft mit ihren speziellen kulturellen und soziologischen Prägungen andeuten. Es geht also nicht um Kontinuitäten, sondern um latent vorhandene Diskurshorizonte, in denen diskursive Ereignisse sagbar bzw. nicht sagbar sind, also um den "Raum dessen, was gesagt werden kann" und die "Grenzen zu dem, was ungesagt bleiben muß" (Konersmann 2006, 103). Ohne diesen Raum wäre Chamberlain nicht möglich gewesen, ohne dessen Möglichkeiten hätte er nicht wirken können. Die folgende Darstellung konzentriert sich daher auf diejenigen Linien, die einerseits zum Verständnis von Houston Stewart Chamberlains Menschenbild notwendig sind und die ihm andererseits überhaupt erst den Raum für eigene Konstruktionen eröffnet haben. Im Mittelpunkt stehen die Menschenbildkonstruktionen in der Geistes- und Diskursgeschichte, die Chamberlain selbst zum Aufbau seines eigenen Konstruktes nutzt. Ausgewählt wurden diejenigen Autoren bzw. Texte, die erstens aufgrund metakommunikativer Kommentare Chamberlains (dies gilt für Kant, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche, Darwin und vor allem natürlich Wagner) zu seinem Auswertungs- oder Instrumentalisierungsinventar, damit zu seinen textlichen Bezugspunkten gehören, und zweitens diejenigen, die aufgrund analytisch nachweisbarer kommunikativer Vernetzungen (z. B. Lebensreform, völkische Bewegung) seinen Rezeptionsbereich be-
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stimmten. Fortgeführt wird die Linienziehung von Tradition und Gleichzeitigkeit schließlich in die (von Chamberlain aus gesehene) nationalsozialistische Perspektive mit Adolf Hitler. Damit entsteht in dieser Arbeit eine Linie mit den zeitlichen Eckpunkten Kant und Hitler. Sie ist natürlich ihrerseits eine Konstruktion, die mindestens Verwunderung und ebenso sicher Ablehnung erfahren wie Verärgerung hervorrufen wird. Deshalb soll unmissverständlich klargestellt werden: Ich behaupte nicht, dass es zwischen Goethe und Chamberlain oder zwischen Goethe und Hitler irgendwelche Gemeinsamkeiten gäbe, die ontisch nachweisbar wären. Ich behaupte auch nicht, dass man Aussagen Goethes, Kants oder Schopenhauers wissenschaftlich plausibel und logisch auch nur ansatzweise schlüssig mit der Ideologie Chamberlains oder eines Nationalsozialisten verbinden könnte. Ich versuche vielmehr nachzuweisen, dass es eine Person namens Houston Stewart Chamberlain gegeben hat, die bestimmte Aussagen Goethes oder eines anderen Autors ausgewählt, aufgegriffen, verändert, permutiert und verfälscht hat. Die Produkte dieser Verkehrungen wurden zu Bausteinen einer Ideologie, die textlich mit dem Blick auf vorhandene Rezeptionsdispositionen so gefasst wurde, dass sie die Rezipienten auch erreichte und zur affirmativem Aufnahme bis Übernahme und damit zur Weitertradierung derselben bis hin zum Nationalsozialismus führte. Chamberlains Rolle ist in diesem kommunikativen Prozess so vielseitig wie die Linien, die hier aufgelistet werden. Er ist sowohl Rezipient als auch Produzent von Weltanschauungstexten, aber er ist vor allem ein radikal konstruktiver, das heißt traditionelles Gedankengut neu semantisierender Vermittler. Er ist die Person, die kommunikative Anschlusspotentiale zwischen einem Autor und seinem zeitgenössischen Rezipienten findet oder setzt, diese so installierten Potentiale diskursiv aufnimmt und mit notwendigen semantischen Verschiebungen passend macht für ideologisch völlig andersartig gedachte Orientierungen. Die Nachzeichnung der inhaltlichen Konstruktion Chamberlains muss damit ebenso im Mittelpunkt vorliegender Arbeit stehen wie die sprachlich-stilistische Gestaltung seiner Texte. In einem ganz fundamentalen Sinne ist es die Einheit von beidem, die beschrieben werden muss. Methodische und inhaltliche Voraussetzung der folgenden Beschreibung waren die vorangegangenen lexikalischen und satzsemantischen Analysen. Ohne die Sammlung dieser sprachlichen Bausteine der diskursiven Architektur könnten weder die semantischen noch die textlichen Zusammenhänge erkannt werden, die einen Diskurs ausmachen. Ohne wortsemantische Analysen, Begriffsgeschichte und Präsuppositionsanalysen bleiben Diskursgeschichten nur an der Oberfläche.
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1.1.1. Diskursive Linien Folgende Linienstränge fallen im Zusammenhang mit der Menschenbildkonstruktion besonders ins Gewicht: 1. Der folgenschwere Missbrauch der aufklärerischen Überzeugung von der Perfektibilität, der Entwicklungsfähigkeit aller Menschen hin zum Besseren, und die ebenfalls aufklärerische Auffassung, dass sich aus dieser Fähigkeit eine Pflicht ergibt, kann als Zwang zu Wandel und permanenter Veränderung verstanden werden. Die negative Seite eines solchen Verständnisses, also von Perfektibilität als Pflicht zur Perfektion, kann dazu genutzt werden, bestimmten Menschen und Menschengruppen zu bescheinigen, dass sie dieser Pflicht nachgekommen seien, während andere sich ihrer entzogen hätten. Das bedeutet zunächst nur die Unterscheidung in 'entwickelt' und 'nicht entwickelt', die auch heute noch jeder Pädagoge oder sonstiger Kulturschaffende bzw. -vermittelnde als vertretbar betrachten würde. Wenn man dann aber die Entwickeltheit (als einer sozialen Errungenschaft) mit Entwicklungsfähigkeit (einer letztlich biologischen Größe) verbindet, also behauptet, entwickelt zu sein, bedeute entwicklungsfähig zu sein und entsprechend 'nicht entwickelt' mit 'nicht entwicklungsfähig' gleichsetzt, dann liegt ein offensichtlicher, wenn auch nur bei genauem Lesen durchschaubarer logischer Fehler vor; dann werden Menschen und Menschengruppen nicht mehr nur unterschieden, sondern nach so genannten biologischen Voraussetzungen, in Wirklichkeit nach ideologischen Setzungen hierarchisiert. Unterscheidung wird dann bald zur Hierarchisierung und diese zur Diskriminierung. Selbst wenn man dies abschwächt und im Komparativ ein Mehr oder Weniger annimmt, bleibt die Diskriminierung erhalten: Es gibt Menschen (Individuen und Menschengruppen), die entwicklungsfähiger als andere sind (und umgekehrt). Und das heißt dann bald auch: Es gibt bessere und schlechtere Individuen und bessere und schlechtere Gruppen von Menschen, womit sich die Argumentationsklitterung zum Rassegedanken öffnet. Mit der Dichotomie von 'besser / schlechter' ist das Menschenbild, mit ihm die Frage nach den genauen Definitionskriterien angesprochen. Sie lässt sich einerseits auf dem Hintergrund biologistischer Entwicklungstheorien, andererseits in der Terminologie und nach den offiziellen Wertvorstellungen der Jahrzehnte um 1900 behandeln. Nach dem biologistischen Hintergrund wird die Einheit des Menschen durch die Vorstellung eines Mehr oder Weniger-Menschen mit Öffnung zum Tier aufgelöst, was zu Ausdrücken wie Zweifüßler (so Schopenhauer, natürlich in seinem Kontext), Ameisenmensch bis Unmensch (so Chamberlain) zum (un)werten Leben (im Nationalsozialismus) führt. Aus der Beachtung der zeitgenössischen Wertvorstellungen ergibt sich eine Lexik, die um Ausdrücke wie Künstler,
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Übermensch (Nietzsche), Genie, Persönlichkeit, Halbgott (Wagner), Arier (Gobineau, Hitler) kreist (hier nur einige Nennungen) und die Grenze zwischen Mensch und Gott verschiebt. 2. Auf dem Weg zum "Prothesengott" Mensch wird der nationale Faktor immer wichtiger. Ohne auf die Frage einzugehen, was im Detail bei den einzelnen Autoren unter national zu verstehen sei, verbindet sich die Menschenbildkonstruktion in Reaktion auf Napoleon immer mehr mit Aspekten der nationalen Identifikation. Je instabiler das herkömmliche Verständnis vom Menschen aufgrund der diskutierten Übergangsverhältnisse in der Evolutionstheorie wird, je alltagsumfassender die moderne Technik ins Leben der Menschen eingreift und alte soziale Strukturen auflöst, desto wichtiger werden die Fragen nach der Zugehörigkeit zu einer überschaubaren, positiv distingierten, 'dem besseren Teil der Menschheit zugehörigen Gemeinschaft'. Der Universalismus, hier verstanden als Gleichheit aller Menschen, wird dabei durch diskriminierende Unterscheidungen im Sinne des vorangehenden Absatzes und um so kleinräumiger gedacht, je großräumiger die tatsächlich erreichbare Welt wird. Der Menschenbilddiskurs verbindet sich aber nicht nur aus identifikatorischen Motiven mit dem Nationalismusdiskurs. Es kommt hinzu, dass der deutsche Nationalismus eigenen historischen Bedingungen unterliegt. Diese bestehen darin, dass das Alte Reich (Heiliges römisches Reich deutscher Nation) in Territorien unterteilt war, deren Souveräne sich einer politischen Nationsbildung widersetzen mussten. Das bedeutete nach gängiger Auffassung innere und äußere Schwäche, Abspaltungen, Annexionen durch absolutistisch regierte Nachbarstaaten. Die Nationsbildung, wie sie im 19. Jahrhundert schließlich erfolgte, galt dann als "verspätet" und als unvollständig, entsprach jedenfalls nicht den Erwartungen, zumindest nicht den Erwartungen derjenigen, die eine Sprachnation im Sinne von Deckungsgleichheit sprachlicher und politischer Grenzen erträumten. Die Spuren der "verpassten" Nationsbildung waren denn auch mit der Reichsgründung von 1871 keineswegs beseitigt. Sprache, außerdem Kultur bildeten also seit der Barockzeit, in Einzelzügen bereits seit dem 16. Jahrhundert, die Identifikationskriterien, an denen die eigene nationale Identität abgearbeitet werden konnte. Sie waren Identifikationsmarker, deren Wert mit jeder berühmten Persönlichkeit, die man als sprach- oder kulturdeutsch ansehen konnte, vergrößert wurde. Die in (1) behandelte Perfektibilität des Menschen inkarnierte sich gleichsam in ihnen, führte zu fast religiösen Überhöhungen des bildenden Künstlers, des Komponisten als des Tonkünstlers und des Dichters als des Sprachkünstlers. Indem der Künstler (im umfassenden Sinne des Wortes) als deutsch, als der eigenen Sprach- und Kulturgemeinschaft zugehörig, betrachtet wurde, erfuhr man
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auch als Teilhaber dieser Gemeinschaft eine Aufwertung, man fühlte sich mitgeadelt, die künstlerische Perfektion der großen Persönlichkeit konnte als jedem Einzelnen erreichbar verstanden werden; und mit einigen Verdrehungen war man sogar in der Lage, die große Persönlichkeit als Verlängerung der eigenen Art zu sehen. Der Kulturdiskurs im Deutschland des späten 19. Jahrhunderts gleicht einer sich aus dem Bewusstsein des zu spät Gekommenen nährenden, am "Künstler" orientierten ständigen Überhöhung der eigenen Möglichkeiten. Die Qualität 'deutsch' trat dabei immer stärker in den Vordergrund, war der Garant für Teilhaftigkeit am Kulturschaffen. Bei Kollokationen wie Deutsche Kunst, Deutsche Musik, Deutsches Wesen, vor allem aber auch Deutsche Sprache war das Adjektiv, um es zu pointieren, ersetzbar durch das besitzanzeigende Pronomen unsere oder gar meine. Die Folgen sind für Teile des kollektiven Selbstbewusstseins der Rezipienten Chamberlains nicht zu unterschätzen. Wenn das mein und unser sich auch noch rassisch vererbt und Kontinuität verspricht, dann wird aus dem Selbstbewusstsein Hochmut und aus dem Hochmut Verachtung für diejenigen, die an der Gemeinschaft keinen Anteil haben. Der Kunstdiskurs ist (bei Anerkennung aller internen Differenzierungen und allen neutralen Leistungen) insofern auch ein beständiges Aufbauen von intellektuellem Hochmut einer bildungsbürgerlichen Elite. Im Schaffen des großen Künstlers erkennt diese den analogischen Zusammenhang aller Kunstarten, baut ihn zu einer Kunstmetaphysik aus, deren Symbole vom Kreuz des Christentums über den heiligen Gral bis hin zum Hammer als dem Werkzeug des Germanengottes Thor geht. 3. Damit ist schon angedeutet, dass es nicht genügt, dem Kunstdiskurs zu folgen, sondern dass auch der Religionsdiskurs im Mittelpunkt der weltanschaulichen Diskursdiskussion zu stehen hat. Ein neues Menschenbild kann nur einhergehen mit der Konstruktion neuer religiöser Riten und Fundierungen. Die soeben genannten Symbole Kreuz, Hammer und Gral stecken den Rahmen einer bestimmten durch Wagner und Konservativismus geprägten Religion ab. In dem Maße, wie dabei herkömmliche Symbol- und Sprachtraditionen beibehalten werden, kann der Rezipient Anknüpfungen an ihm Vertrautes vornehmen. Die Nutzung des Traditionspotentials erfolgt im Sinne der zu entwickelnden Ideologie. 4. Die genannten Inhalte des Menschenbilddiskurses, Perfektibilität, Nationalismus, Kultur und Religion, verlaufen in Texten über eine Zeitspanne von rund 150 Jahren. In dieser Phase wurden auch die konstruktionsrelevanten Fundamente gelegt für den Indogermanen- und den Arierdiskurs. Der sprachgenetische Diskurs des 19. Jahrhunderts,11 der von herausragenden, darunter sehr vielen deutschen Philologen geführt wurde, _____________ 11
Vgl. dazu Römer 1985.
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muss als maßgebliche Anschubkraft für Weltanschauungen Chamberlainscher Prägung angesehen werden, auch wenn sich der wissenschaftliche Indo-Germanendiskurs später davon lösen konnte. Dass er sich aber überhaupt von seinem sprachgenetischen Ausgangspunkt abtrennen ließ, ist der eindrucksvollste Beweis für das Ausmaß des Interesses, das er von Beginn an in der Gesellschaft fand.12 1. 2. Diskurstypen In den vorangegangenen Abschnitten wurde der Terminus Diskurs einerseits synonym für Linie gebraucht, andererseits aber auch hyperonym. Dies ist kein terminologisches Versehen. Jeder Einzeldiskurs setzt sich aus ganz unterschiedlichen Linien zusammen und ist in seiner Komplexität selbst immer Teil eines anderen Diskurses. Anders ausgedrückt: Es gibt ebenso wenig einen Einzeldiskurs, der nicht mit anderen vernetzt ist, wie es einen Diskurs gibt, der nicht aus mehreren Einzeldiskursen bestünde. Kommunikation definiert sich systematisch aus solchen diskursiven Vernetzungen. Entscheidend ist kultur- wie mentalitätsgeschichtlich nur, welcher Diskurs gerade von wem mit einem anderen verbunden bzw. verbündet wird. Das Aufzählen, Sammeln und Analysieren von Einzeldiskursen einer bestimmten Zeit ist daher kommunikationsgeschichtlich und mentalitätshistorisch von hohem Wert. Doch dies allein scheint mir nicht ausreichend zu sein. Natürlich gibt es einen Antisemitismusdiskurs im ausgehenden 19. Jahrhundert, auch einen Künstler- oder einen Nationalismusdiskurs, und es ist unabdingbar, die jeweils geführten Argumentationsstränge in ihrem inneren Aufbau und hinsichtlich ihres Beitrags zum Gesamtdiskurs zu untersuchen. Entscheidend ist aber außerdem die Frage, welche Diskurse sich zu welcher Zeit in welcher gesellschaftlichen Konstellation miteinander verbinden und sich zu neuen, komplexeren Diskurssystemen entwickeln. So ist der Menschenbilddiskurs erst dann wirklich explosiv, wenn er sich mit dem bereits genannten antisemitischen oder dem Kunstdiskurs verknüpft bzw. verknüpft wird, und umgekehrt, wenn es dem Antisemitismusdiskurs gelingt, sich als selbstverständlicher Bestandteil des Menschenbild- oder des Kunstdiskurses zu etablieren. Dann entsteht ein neues Netzwerk, in dem die Einzeldiskurse als semantische Zeichensysteme nicht mehr unterscheidbar sind und die Frage nach dem Menschen automatisch zu einem Problem der Kunstfähigkeit oder zu _____________ 12
Vgl. dazu: Vermeer 1984, 268f.; Lobenstein-Reichmann 2005.
450 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
einer Frage nach der Rasse wird. Bei dem Vorgeführten ist folgende Beobachtung von entscheidender Wichtigkeit. Es gibt so etwas wie anthropologische Grundfragen, die nicht an eine bestimmte Zeitspanne gebunden sind, sondern die Menschen sozusagen seit Menschengedenken bewegen und auch in Zukunft bewegen werden. Dazu gehört sicher die Frage nach dem Menschen selbst, was er ist, woher er kommt und wohin er geht, entsprechend auch die nach einem höheren Wesen, das immer wieder vom Menschen als menschenähnlich gedacht wird und möglicherweise gerade deshalb als Leitprinzip über ihm und allem Lebendigen zu verorten ist. Man kann diese Fragen als rote Fäden jeder inhaltsbezogenen Kommunikationsgeschichte betrachten. Auch wenn sie überlieferungsgeschichtlich zu einem erheblichen Teil von Experten, wie Philosophen und Theologen, diskutiert wurden und die Antworten je nach Zeit, Kulturraum und sozioökonomischen Bedingungen unterschiedlich verliefen, gehören diese Fragen sozusagen zum Inventar jedes reflektierenden Individuums und sind insofern keine Diskurse. Als kommunikationsgeschichtlich zeitlos, gleichsam Dauerbrenner, um sie salopp zu kennzeichnen, stellen sie erstens aber immer den Hintergrund dar, auf dem die zeit- und manchmal zeitmodeabhängigen Diskurse funktionieren. In ihren spezifischen Antwortversuchen können sie jedoch zu einem abgrenzbaren, zeit- und gruppenspezifischen, modeabhängigen Ideologiediskurs werden. Wenn man sich den hier angedeuteten Religionsdiskurs genauer ansieht, so fällt auf, dass er zwar auf dem Muster der anthropologischen Grundfrage, "was ist der Mensch und in welchem Verhältnis steht er zu Gott", verläuft, dass er in seinen Antworten aber in keiner Weise einer anderen Zeit als der hier vorgestellten zugeordnet werden könnte, dass er von einer ganz spezifischen nichtreligiösen Ideologie und entsprechend auch von abgrenzbaren und identifizierbaren Gruppen getragen wird. Während also die Grundfrage nicht unter die Definition von 'Diskurs' fällt, ist die spezifische Antwort einer Zeit durchaus in diesem Sinne zu verstehen. So können wir mit vollem Recht von Religionsdiskursen sprechen oder vom Menschenbilddiskurs, und sind uns dabei im Klaren, dass mit Diskurs deutlich gemacht wird, dass es sich um zeitbedingte Ausprägungen eines unerschöpften und unerschöpflichen Leitthemas handelt. Durch den engen thematischen Zusammenhang mit den Leitfragen jedoch suggerieren diese Diskurse anthropologische Konstanz, Allgemeingültigkeit und Überzeitlichkeit, sie treten mit dem Anspruch auf generelle Aufmerksamkeit auf und versprechen mithin nicht nur dem unkritischen Kommunikationsteilnehmer, alle wichtigen Fragen ein für allemal zu klären. Diese Art von Diskurs, der sich aus anthropologischen Grundfragen ableitet, möchte ich daher als Universaldiskurs klassifizieren. Der Terminus universal ist aber insofern diskutabel, als er eine absolute
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Zeitenthobenheit voraussetzt. Wenn ich dennoch daran festhalte, so erfolgt dies unter steter Berücksichtigung von zwei Argumenten. Erstens beziehen sich die damit angesprochenen Diskurse auf universelle bzw. als universell empfundene Themen wie 'Religiosität' und 'Menschenbild'. Eine wahrscheinlich nur analytisch denkbare Zeitenthobenheit und die Zeitbedingtheit gehen mit dieser thematischen Ausrichtung ineinander über. Das zeitenthobene Universale kann jedenfalls nur in seiner zeittypischen Prägung untersucht werden. Zweitens vertreten die Autoren des zeittypischen Diskurses immer und zu jedem Augenblick den Anspruch, die Tiefe und Allgemeingültigkeit seines zeitenthobenen Diskurses zu haben und damit ein Universaldiskurs zu sein. Einen Einblick in einen solchen Diskurs gewährt das Kapitel zum Religionsdiskurs, in dem, ausgehend von der Grundfrage nach dem Menschen und seinem Verhältnis zu Gott, das germanische Christentum als allgemeingültige Antwort propagiert wird. Diese Antwort, die in unterschiedlicher Ausprägung von Chamberlain, dem Bayreuther Kreis, von Lagarde sowie von vielen Völkischen vertreten wurde, greift zwar auf Expertenwissen zurück, löst dieses aber gleichzeitig so ins Allgemeine auf, dass ihre Rezeption sowohl das Heil für jedermann verspricht als auch zur Basis für einen kleinen Kreis von diskursiv einschlägigen Sektenmitgliedern werden kann. Auf einer dritten Ebene lassen sich diejenigen Diskurse ansiedeln, die weder thematische noch zeitliche Kontinuität aufweisen, aber dennoch wie Gestaltwandler vielfach wiederkehren. Auch sie hängen indirekt mit den anthropologischen Grundfragen zusammen, sonst könnten sie nicht über Jahrhunderte hinweg immer wieder in den Vordergrund gesellschaftlicher Auseinandersetzungen treten. Der hier gemeinte dritte Diskurstyp ist deshalb nicht auf der Ebene der Universaldiskurse anzusiedeln, sondern eher als variantenreiche Verästelung der sich ewig wandelnden Frage nach dem Menschen im Verhältnis zu anderen Menschen zu begreifen. Der Variantenreichtum spiegelt nicht nur den konkreten Bezug zu zeitbedingten Situationen, sondern auch kommunikative Vermeidungsstrategien, aufgrund deren die ungelösten bzw. unlösbaren Fragen nicht gestellt werden, dafür aber Pseudolösungen herhalten müssen. Man könnte solche Diskurse als latent vorhandene gesellschaftspolitische Wiedergängerdiskurse bezeichnen, die je nach Zeit und Ort ihres Erscheinens in unterschiedlichen Verkleidungen und Gestalten auftreten. Ein solcher Gestaltwandler ist der antijüdische Diskurs, der seit der Begründung des Christentums als Identifikations- und Abgrenzungsdiskurs der Christen gegenüber dem "wahren Volk Gottes", dem Volk Israel, geführt wurde. War seit frühchristlichen Zeiten der religiöse Antijudaismus in seinen verschiedenen Varianten, mal mit den Topoi des Christus- und Christenmordes, mal dem des göttlichen Konkurrenzvolkes, dem des Wuchers und der wirtschaftli-
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chen Übervorteilung besetzt, wurde er zum xenophobisch rassistischen Antisemitismus. Der Judendiskurs wandelte sich im 19. Jh. zu einem biologistisch-rassistischen Diskurs, der andere Grundannahmen voraussetzte und dabei jeweils zeittypische spezifische Erwartungen seiner Trägergruppen bediente. Der Wiedergänger ist zwar nicht zu allen Zeiten aktiv, gräbt sich aber so in das kollektive Unterbewusstsein ein, dass er je nach Bedarf abgerufen werden kann. Widergängerdiskurse können von den oben genannten kommunikativ einflussreichen Einzelpersonen bzw. Trägergruppen unter bestimmten zeitabhängigen Bedingungen ganz bewusst und erfolgreich aus dem kommunikativen Untergrund herausgeholt und für bestimmte, jeweils zeitgenössische Zwecke instrumentalisiert werden. Ein weiteres Beispiel bildet der identifikatorische Nationalitätsdiskurs von Deutschen und Franzosen, der zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Gewichtungen und Bewertungen erfahren hat (vom Brudervolk bis hin zum Erzfeind) und der ebenfalls im 19. Jahrhundert einen seiner kommunikationsgeschichtlichen Höhe- bzw. Tiefpunkte erreichte. Auf damit einhergehende Grundfragen, ob man vor dem 17. bzw. je nach Perspektive dem 19. Jahrhundert überhaupt schon von einem Nationalitätsdiskurs sprechen kann, oder ob man besser auf die allgemeinere Ebene eines Nachbarschaftsdiskurses übergeht, sei hier nicht eingegangen, aber explizit hingewiesen. Antisemitismus- und Nationalitätsdiskurs können also als kommunikative Wiedergänger charakterisiert werden, während andere Diskurse kurzfristig sind und in ihrer Ausarbeitung nur Episode bleiben. Dazu zählt der letzte Diskurstyp, der Spezialdiskurs. Es ist dadurch gekennzeichnet, dass er von wenigen vertreten wird, eine relativ geringe kommunikative Reichweite hat, sich auf ein außerhalb des Alltagsbewusstseins liegendes Einzelthema beschränkt und in seinen jeweiligen Inhalten engstens zeitgebunden ist. Als Beispiel eines solchen episodenhaften und ausgesprochen zeittypischen Diskurstyps kann man den Künstlerdiskurs anführen, da dieser vor allem im Hinblick auf die Rezeptionsreichweite engen Beschränkungen unterliegt. Es handelt sich bei ihm um einen Diskurs, der von einem kleinen Kreis von Künstlern, Philosophen und Intellektuellen geführt wurde, die eine im Alltag kaum wahrgenommene Expertenphilosophie betrieben haben. Dieser Spezialdiskurs kann aber trotz seiner Rezeptionsbeschränkung auf Dauer sehr wirksam sein, zum einen, wenn er durch eine interessierte Öffentlichkeit vom Expertenwissen zum Alltagswissen erklärt wird und in "mund"gerechter Form zur Alltagsrezeption absinkt und zum anderen vor allem dann, wenn er sich mit den beiden schon genannten Diskurstypen, dem Universaldiskurs und dem Widergängerdiskurs strukturell und inhaltlich verbindet, bzw. von den Diskursteilnehmern verbunden wird. Der Rassediskurs war anfangs ein typischer
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Spezialdiskurs, der zunächst von einem kleinen Kreis von Gelehrten- und Experten kommuniziert und schließlich von Halbgelehrten und Laien aufgegriffen wurde, um mit ihm neue Antworten auf die allgemeinen Fragen der Menschheit, die in den Universaldiskursen gestellt wurden, zu liefern. Durch einen tiefen Griff ins kollektive Gedächtnis der Gesellschaft wurde er mit bestimmten Wiedergängerdiskursen (Antijudaismus) verbunden, ohne dass dabei die spezifischen Merkmale der einzelnen Diskurstypen verloren gingen, so die Allgemeingültigkeit im Universaldiskurs, die Überzeitlichkeit und das kollektive Erfahrungswissen im Widergängerdiskurs und das spezifische Expertenwissen im Spezialdiskurs. Es ist genau diese besondere Vernetzung der drei Diskurstypen, die auf dem Hintergrund der anthropologischen Leitfragen das ausgehende 19. und die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt haben. Und es ist dieses Diskursgebräu von Mensch-Künstler-Rasse-Diskurs, das zum hochexplosiven Zündstoff für das 20. Jh. werden sollte. 1. 3. Der Mensch in seinem Verhältnis zu Gott, zur Natur, zu Kultur und Gesellschaft Wie schon angedeutet wurde, kann eine Darstellung von Menschenbildern nur dann adäquat sein, wenn sie mit den korrespondierenden Gottesbilddarstellungen verbunden wird. Das Wesen 'Gott' wird als Spiegel, Ergänzung oder gar Gegenstück zum Wesen Mensch gesehen, und in den Vorstellungen über das Göttliche spiegeln sich immer auch die Sehnsüchte und Ängste der jeweiligen menschlichen Betrachter. Dies gilt auch und gerade für den hier untersuchten Autor, dessen Schriften stilistisch wie inhaltlich an christliche, insbesondere erbauungsliterarische Texttraditionen angelehnt sind und der diese Traditionen außerdem für eigene religiöse Weltanschauungstheorien nutzbar macht. Zentral für Chamberlains Ausführungen über Religion und Christentum, Kultur und Naturwissenschaft ist ein Verständnis von Weltanschauung, das die traditionellen Bereiche 'Religion' und 'Philosophie' in enge Verbindung zu den Hochwertdisziplinen des 19. Jahrhunderts, Kunst, Kultur, Wissenschaft, und zwar sowohl Geistes- wie Naturwissenschaft, bringt (vgl. Gl 877 ff.; 880; 1045). Trotz seiner vorsichtigen Kritik ist das 19. Jahrhundert für Chamberlain die Epoche, in der es zur Symbiose der drei anthropologischen Größen Gott, Natur und Kultur kommt. Es ist auch die Zeit, in der sich die darauf bezogenen Wissenschaften innerhalb des Laiendiskurses, aber auch bei manchem Wissenschaftler, so ineinander verschränken, dass ihre inhaltlichen und theoretischen Grenzen verschwimmen und damit gezielt oder unterschwellig weltanschaulich unter verschiedenen Aspekten instrumentalisiert werden können. Die damit
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angedeutete und angestrebte Harmonisierung von Natur und Geisteswissenschaft, darunter der Theologie, spiegelt ein Wunschbild, das die allgemeine Verunsicherung der zeitgenössischen Laien aufzuheben versprach, eine Verunsicherung, die sich daraus ergab, dass die Einzelwissenschaften mit jeder neuen Erkenntnis mehr Fragen aufwarfen, als sie beantworteten, und dass vor allem die Naturwissenschaften Erkenntnisse lieferten, die die vertrauten traditionellen Antworten zusätzlich fragwürdig werden ließen.13 Sigmund Freud erklärt diesen Verunsicherungszustand mit den drei narzisstischen Kränkungen, die die Eigenliebe der Menschheit durch wissenschaftliche Forschung erfahren habe, der kosmologischen, der biologischen und letztlich der psychoanalytischen Kränkung.14 Die erste Kränkung erfuhr der Mensch, als er durch das kopernikanische Weltbild kosmologisch aus dem Mittelpunkt des bekannten Weltsystems hinauskatapultiert wurde, die zweite, als er durch Darwins Evolutionstheorie auch innerhalb seines eigenen Planeten die Vorherrschaft über die Tiere verlor, indem er in deren Entwicklungsreihe gestellt und damit seiner Einzigartigkeit beraubt wurde. Schließlich kam mit Freud selbst noch die Vertreibung aus dem eigenen Verstand bzw. Bewusstsein hinzu; doch diese letzte narzisstische Kränkung war schon lange vor Freud mit Schopenhauer eingeläutet worden. Sie entfaltete ihre Wirkung zwar erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Psychoanalyse und ihren Folgen, ihre Vorboten zeigten sich aber bereits zu Chamberlains Zeiten, was nicht nur dessen Schopenhauer-Rezeption zeigt (vgl. s. v. Wille). Die von Chamberlain in all seinen Schriften vollzogene harmonisierende Verschränkung15 naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Diskurse muss als Reaktion dieser Kränkungen betrachtet werden und sollte der Heilung jener offenen Wunden dienen. Chamberlains Weltanschauung ist entsprechend der Versuch, eine säkularisierte Heilslehre auf christlichem Untergrund zu konzipieren. Das Christliche wird dabei seiner eigentlichen Theologie entkleidet und zum Kulturgut beschränkt. An Stelle des christlichen Heils tritt das germanische, dessen Botschaft keineswegs das universale für alle Menschen gleichermaßen Gültige ist, sondern die nationale Identifikation und die rassische Ausschließlichkeit. Weltanschauung als ein in schöpferischer Gestaltung alle Widersprüche überdachender Konsens erfordert, damit sie ihre Heilswirkung entfalten kann, ein Gegenbild; dieses wird als das Böse, Zerstörerische, zusammengefasst als Chaos konzipiert:
_____________ 13 14 15
Vgl. dazu z.B. Rabinow, Was ist Anthropologie? 2004, 160f. Vgl. Sigmund Freud, Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse 1994, 190. Vgl. Faye, Theorie der Erzählung 1977, 102.
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Gl 879: wo aber Gesetz herrscht, da ist nicht Chaos. Nein, das Chaos ist im Menschenkopf – nirgends anders – zu Hause gewesen, bis es eben durch "Anschauung" zu deutlich sichtbarer, hell beleuchteter Gestalt geformt wurde; und diese schöpferische Gestaltung ist das, was wir als WELTANSCHAUUNG zu bezeichnen haben. Wenn Professor Virchow und Andere rühmen, unsere Zeit "brauche keine Philosophie", denn sie sei "das Zeitalter der Wissenschaft", so preisen sie ganz einfach die allmähliche Rückkehr aus Gestaltung zu Chaos. Doch straft sie die Geschichte der Wissenschaft Lügen; denn nie war Wissenschaft anschaulicher als im 19. Jahrhundert und das kann immer nur unter Anlehnung an eine umfassende Weltanschauung (also an Philosophie) stattfinden; ja, man trieb die Verwechslung der Gebiete so weit, dass Männer wie Ernst Haeckel förmliche Religionsgründer wurden, dass Darwin immerfort mit einem Fuss in unverfälschter Empirie, mit dem anderen in haarsträubend kühnen philosophischen Voraussetzungen breitbeinig fortschreitet, und dass neun Zehntel der lebenden Naturforscher so fest an Atome und Äther glauben, wie ein Maler aus dem Trecento an die kleine nackte Seele, die dem Mund des Gestorbenen entfliegt. Ohne alle Weltanschauung wäre der Mensch ohne jegliche Kultur, eine grosse zweifüssige Ameise.
Auch in diesem Zitat fällt wieder die inhaltliche und fachsprachliche Verwischung einzelner Disziplinen ins Auge. Diese sprachliche Amalgamierung ist symptomatisch für den beschriebenen Versuch, das Gegensätzliche miteinander zu verbinden, das Zerrissene zu heilen. Mit der Sprache suggeriert Chamberlain, den Bruch zwischen den auseinander fallenden Bereichen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft heilen zu können, indem er von einem an Atome glaubenden Naturforscher spricht, zunächst das Chaos als Folge der Grenzverwischung postuliert, letztere dann aber selbst weitertreibt, indem er die Weltanschauung als übergreifende, alles umfassende Instanz über Wissenschaft und Religion stellt. Diese Instanz habe ordnenden Charakter, sei im Ernstfall mit dem Gesetz gleichzusetzen, dessen Verlust oder Nichtanerkennung zum Chaos, konkret zur Dehumanisierung führt. Nicht zufällig verweist Chamberlain auch in diesem Zusammenhang wieder auf die Ameise. Bei seiner pseudoetymologischen Erläuterung des Wortes Weltanschauung assoziiert er das Wort Anschauung mit Sehkraft und Denkkraft als Potentialen des Betrachters und nutzt diese dazu, das für ihn entscheidende Kriterium des Menschseins, das Künstlerische, als das geradezu metaphorisch Ausschlaggebende in die Weltanschauungserklärung einzuführen: Gl 877: weil dem so ist, kommt es für den verhältnismässigen Wert einer Weltanschauung mehr auf die Sehkraft als auf die abstrakte Denkkraft an, mehr auf die Richtigkeit der Perspektive, auf die Lebhaftigkeit des Bildes, auf dessen KÜNSTLERISCHE Eigenschaften (…), als auf die Menge des Geschauten. Der Unterschied zwischen dem Angeschauten und dem Gewussten gleicht dem zwischen Rembrandt‘s "Landschaft mit den drei Bäumen" und einer von dem selben Standpunkt aufgenommenen Photographie. Hiermit ist aber die Weisheit, die in dem Worte Weltanschauung liegt, noch nicht erschöpft; denn die Sanskritwurzel
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des Wortes "schauen" bedeutet "dichten": wie das Beispiel mit Rembrandt zeigt, ist das Schauen, weit entfernt ein passives Aufnehmen von Eindrücken zu sein, die aktivste Bethätigung der Persönlichkeit; in der Anschauung ist Jeder notgedrungen Dichter, sonst "schaut" er gar nichts, sondern spiegelt mechanisch das Gesehene wieder wie ein Tier.
Seine Persönlichkeits- und Menschheitsmarker funktionieren: das Tier, die Ameise, das Künstlerische, die Kunst; alles ist in seinen Darstellungen vermeintlich wissenschaftlich oder empirisch bewiesen, philosophisch schon immer gedacht worden. Weltanschauung und Religion werden inhaltlich zwar nicht vollkommen in eins gesetzt, er beschreibt sie jedoch als zwei Richtungen des Gemütes, zwei Stimmungen (Gl 819). Weltanschauung ist für ihn letztlich Sittenlehre (ebd.), ist Philosophie, ist Kultur (1049); sie ist verwandt mit Kunst, aber ist auch Wissenschaft, so dass Wissenschaft und Religion zusammen unsere Weltanschauung ausmachen (Gl 1045). Chamberlains alle beglückende und alles in sich harmonisierende Weltanschauung setzt sich also aus folgenden Determinanten zusammen: 1. aus der germanischen Religion auf der Basis des Christentums, 2. aus einer speziellen Naturwissenschaft bzw. Naturdeterminierung, die die Welt aus darwinistischen und sozialdarwinistischen Theorien erklärt und 3. aus der absoluten Kulturabhängigkeit des Menschen und deren Übersteigerung durch eine germanozentrische Kunst- und Bildungsreligion. Alle drei Legitimationskonstanten werden von ihm je nach Themenbezug einzeln für die menschliche Sinngebung bzw. Sinnerklärung eingesetzt, sie bleiben insgesamt aber immer der einen übergeordneten, aus allen Bestandteilen synkretistisch zusammengesetzten Weltanschauung untergeordnet. Die Vielfalt der diskursiven Angebote, die Chamberlain seinen Lesern macht, bedient deren Interessen also nicht nur auf vielfältige Weise, sondern verbindet sie zu einer einfachen Welterklärung. Dass es dabei im Detail zu erheblichen Widersprüchen kommt, ist zwar für das Einzelbeispiel relevant, erscheint im großen "Gesamtkunstwerk" jedoch belanglos.
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1. 4. Die neue Weltanschauung in ihren diskursiven Traditionen Was bedeutete nun die Wissenschaft diesen Menschen an der Schwelle der Neuzeit? Den künstlerischen Experimentatoren von der Art Lionardos und den musikalischen Neuerern bedeutete sie den Weg zur wahren Kunst, und das hieß für sie zugleich: zur wahren Natur. Die Kunst sollte zum Rang einer Wissenschaft, und das hieß zugleich und vor allem: der Künstler zum Rang eines Doktors, sozial und dem Sinne seines Lebens nach, erhoben werden. Das ist der Ehrgeiz, der z.B. auch Lionardos Malerbuch zugrunde liegt. Und heute? »Die Wissenschaft als der Weg zur Natur« – das würde der Jugend klingen wie eine Blasphemie. Nein, umgekehrt: Erlösung vom Intellektualismus der Wissenschaft, um zur eigenen Natur und damit zur Natur überhaupt zurückzukommen! Als Weg zur Kunst vollends? Max Weber16
In einer krisengeschüttelten Zeit17, in der die Sinnfragen besonders intensiv gestellt werden, die traditionellen und die modernen Antwortversuche jedoch zu monokausal erscheinen und die allgemeine Unsicherheit durch ihre Gegensätzlichkeit und ihren Ausschließlichkeitsanspruch noch verstärken, scheint das Bestechende an solchen Schriften wie denjenigen Chamberlains darin zu liegen, die vorhandenen Gegensätze aufzuheben und symbiotisch in einem übergeordneten Konstrukt zusammenzufassen. Der so entstandene Wurf wird aber nicht als Vorschlag vorgetragen, wie sich einander widersprechende wissenschaftliche Ansätze miteinander vereinbaren lassen könnten, sondern als Verkündung höherer Wahrheit. Gott, Natur und Kultur sind dann nicht mehr bloße Bezugsgegenstände von Einzelwissenschaften mit unterschiedlichen und sich teils ausschließenden Erklärungsebenen, sondern in sich analog gestaltete Fakten, harmonisch ineinander greifende Bestandteile einer ebenso natürlichen wie religiös begründeten Ganzheit. Die Texte Chamberlains treten mit dem Anspruch auf, diese Ganzheit zu beschreiben und damit die neue und definitive Heils- und Erklärungslehre zu sein, die Inhalte religiösen Wissens, naturwissenschaftliche Fakten und kulturelle Gestaltungsanliegen miteinander verbindet. Negativ ausgedrückt bedeutet dies, dass genau diese nahezu krakenhafte Allumfassung die vermeintliche Heilstheorie so ausgesprochen gefährlich macht. Bezogen auf einen durchschnittlichen Rezipienten der Zeit bliebe ein biologischer Rassismus, der nicht auf der Basis christlicher Lehrinhalte argumentiert bzw. der nicht in die traditionellen religiösen Redeweisen eingebettet ist, wohl ebenso auf einen kleinen Kreis von Rezipienten beschränkt wie ein solcher, der sich außerhalb der europäischen Kulturtradi_____________ 16 17
Max Weber, Wissenschaft als Beruf 1994, 11f. Vgl. dazu: Wehler, Gesellschaftsgeschichte III, 1995, 744ff.; Gay, Das Zeitalter des Doktor Arthur Schnitzler 2003, 177ff.; 195ff; Konersmann, Aspekte der Kulturphilosophie 2004, 9ff.
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tion stellen würde. Ein Durchschnittsmensch des ausgehenden 19. Jahrhunderts will nicht vor die Wahl gestellt werden zwischen einem biologischen Rassismus bzw. einem alle christlichen Werte ausklammernden Antisemitismus einerseits und seiner traditionellen transzendenzorientierten Religion andererseits; er würde wahrscheinlich schon aus guter bildungsbürgerlicher Tradition die Religion vorziehen. Bietet man ihm jedoch einen Rassismus an, der den christlichen Gott nicht ausschließt, sondern diesen sogar über wissenschaftliche und fachtextliche bis literaturnahe Gestaltungen, die an seine eigene Sprachbildung anschließen, rassisch überhöht, ohne dabei bildungsbürgerliche Traditionen wie die der Aufklärung durch rhematisch klare Aussagen zu verletzen, dann hat er eine Chance auf Affirmation. Die neuen Heilslehren, seien es der Darwinismus, der Nihilismus oder die Bildungsreligion, dürfen das Christentum als Grundpfeiler europäischer Geistesgeschichte nicht offen ersetzen wollen, sondern dürfen es, um akzeptiert zu werden, unter Beibehaltung der dogmatisch zentralen Terminologie (Erlösung, Sünde, Jesus, Heil usw.) und unter Nutzung prestigehaltiger Textsorten höchstens modifizieren, verändern, ergänzen, erweitern, neu interpretieren. Dass dabei ein Konstrukt zustande kommt, das jedem Christentum der kirchlichen Traditionen Hohn spricht, liegt auf der Hand. Dass es dennoch von seinen Lesern angenommen wurde, ist ebenso der Virtuosität geschuldet, mit der Chamberlain die Register der deutschen Bildungssprache, damit ihre korrumpierende Potenz zu bedienen wusste, wie den Rezeptionsdispositionen und der Korruptionsbereitschaft seiner Leser (Stichwort: kommunikative Kollaboration; S. 408ff.). Chamberlains Schriften sind, wie schon beschrieben wurde, unter dem Aspekt ihrer Textsortenzugehörigkeit eine Art säkularer Erbauungsliteratur. Er greift – wie der Baumeister auf sein Steinmaterial – auf alles im Sinne seiner Heilsstiftung Nutzbare, das seine Zeit und die Tradition zu bieten hatten, zurück, modifiziert es nach seinen Wünschen, symbiotisiert es und verkündet es dann unter den gewohnten Ausdrücken als neues Christentum. Sein Rezeptionserfolg spiegelt dabei sowohl das Bedürfnis seiner Zeitgenossen nach neuen Lösungsvorschlägen als auch deren allerdings nur verbales Festhalten an den Dogmen des Christentums und an den traditionellen bildungsbürgerlichen Überzeugungen; er beweist wohl auch die Erbauungstexten üblicherweise zugeschriebene Wirkung: Sie begründen Glauben bzw. stärken einen vorhandenen Glauben und wiegen dessen Träger in der Sicherheit, ein Glied innerhalb einer umfassenden Ordnung zu sein. Diese Bindungen können nicht einfach mit Adjektiven wie konservativ erklärt werden, sie liegen gleichsam tiefer. Bewahren und Festhalten als Teil eines gesellschaftlichen Habitus ist eben immer auch
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existentielle Reaktion auf eine als bedrohlich empfundene, die Sicherheit aufhebende Bewegung. Spätestens seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts ist nicht nur in Deutschland ein außergewöhnliches Maß an Unsicherheit gegenüber den letzten Fragen des Menschen oder, wie es in mittelalterlicher Terminologie ausgedrückt wird, den letzten Dingen, beobachtbar. Die Säkularisation, die das Alte Reich mit der Französischen Revolution erfasst hatte, die ideologisch durch die Aufklärung vorbereitet war und institutionell durch die napoleonischen Gesetze (Säkularisierungen von Klöstern usw.) fortgeführt wurde, die sich aber auch in den Neuordnungen Bismarcks während des Kulturkampfes (z. B. Einführung der staatlichen Eheschließungen) zeigte, führten zur allgemeinen Orientierungslosigkeit in Bezug auf die letzten Fragen des Menschen, die innertheologisch überdies durch die Liberalisierung des Protestantismus verstärkt wurde. Zu den vier letzten Dingen gehören neben dem Sterben, dem Paradies, dem Fegefeuer, der Hölle konsequenterweise die Fragen nach dem Menschen und nach Gott, wobei die bisherige Festlegung auf den religiösen Diskurs ins Wanken geriet. Es war nunmehr nicht mehr selbstverständlich, die gestellten Fragen mit dem Inhaltscodes der religiösen Diskurse zu beantworten. Zusätzlich desorientierend zu den innerreligiösen Verunsicherungen wirken die aufkommenden Alternativen, die im 19. Jh. das Stellen der Sinnfragen entweder weiter relativieren oder noch verstärken. Chamberlains Leitmotive sind das bildungsbürgerlich-konservative bzw. -reaktionäre Gegenstück zur linksintellektuellen Reaktion auf den Untergang liberaler Lebensentwürfe des 19. Jahrhunderts. In gewisser Weise könnte man sie sogar als die Vorwegnahme einer konservativen Reaktion auf die Diskurse späterer 'linker' Intellektueller wie Gramsci, Brecht, Benjamin, Marcuse,18 Bloch u. a. betrachten. Während diese in ganz unterschiedlicher Weise um eine sinnvolle und praktikable Einbettung von Kultur und Kunst in eine von Technik und Massengesellschaft geprägte Zeit rangen und dabei mehr oder minder erfolgreich gegen den Liberalismus als Wirtschaftsform agitierten, benutzt Chamberlain die bürgerlichen Ideale des Liberalismus, nämlich den Anspruch auf Eigentum und Besitz, auf Bildung und Kulturhoheit, um diesem den Todesstoß zu verabreichen. Der Liberalismus ist für Chamberlain ebenso sehr Gegner wie für Moeller van den Bruck, aber statt politischer Agitation setzt er ihm das höchste Gut des Bourgeois selbst entgegen, das ihn neben dem Kapi_____________ 18
In einem Beleg spricht Chamberlain den von Marcuse so umworbenen Mittelstand direkt an: (Kriegsaufsätze I / Freiheit 21) "Und ist es nicht seine Bildung, welche nicht den deutschen Mittelstand über jeden ausländischen erhebt? Jene Bildung, die ihm von der Nation mit unnachsichtiger Strenge auferlegt wird, und dank welcher der Einzelne dann eine frei urteilende Persönlichkeit wird?"
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tal bisher gesellschaftlich über alle anderen Gruppen und Stände erhoben hat, nämlich Bildung und Kultur. Indem er diese zur neuen Religion erhebt, den Bürger zu ihrem Priester weiht, verbal dabei die Türen für alle Nichtbürgerlichen dadurch offen lässt, dass er Kultur zur deutschen Kultur stilisiert, an der jeder Deutsche ungeachtet seines Standes oder seiner sozialen Schicht teilhaben kann, wirft er 'die Masse', 'den Arbeiter' als Gegenstand des Klassenkampfes aus dem Zentrum der gesellschaftsideologischen Auseinandersetzung hinaus; er rückt sie gleichsam an die Peripherie und lässt sie als geschichtlich überholt erscheinen. Chamberlain artikuliert mit seiner Kulturreligion in vielen seiner Schriften schon vor dem berühmten Satz Kaiser Wilhelms II. Ich kenne keine Parteien mehr19 die Sehnsucht nach dem Einheitsgedanken, die im Bildungsbürgertum ohnehin seit Generationen Wurzeln geschlagen hatte, die aber auch im revolutionären Proletariat Anklang fand, obwohl es durch die Revolutionierung bereits eine eigene Gemeinschaftsbildung hatte. Sofern man gemeinsam am Altar der deutschen Kultur, der natürlich ein arischer sein musste, opferte, war man Teil einer alles bisher Dagewesene durch seine kulturreligiöse Begründung relativierenden, das Neue dagegen als überhöht erscheinen lassenden Gemeinschaft. Während die Linksintellektuellen die sozialrevolutionäre Kollektivierung anstrebten, in der Kultur und Kunst der Masse, verstanden als quer zu den Völkern liegendes, internationales, damit keineswegs deutsches Proletariat, dienen sollten, suchte Chamberlain nach dem kultur- und bildungsständisch gegliederten Kollektiv, das den gemeinsamen Staat aller Deutschen als moralischen Kulturträger innerhalb einer göttlichen Ordnung über sich forderte und das als große Gemeinschaft zum Diener einer deutschen Kultur wird. Widersprüche der Art, dass dabei dasjenige, was als Kultur definiert wird, so elitär ist, dass es gar nicht kollektivierbar sein kann, werden nicht ausgesprochen. Da auch die Kultur nur einem größeren Ganzen dient, muss der Mensch sich ihr völlig unterordnen, wie dies auch seiner biologischen Natur als Mängelwesen entspricht: PI 31: Damit nicht genug, ist der Mensch infolge seiner Schwäche, seiner Entblößung, seiner Instinktarmut, ein Tier, das unfähig ist, in der Einsamkeit zu bestehen; die Vergesellschaftung ist eine Bedingung seines Daseins auf Erden; und Vergesellschaftung bedeutet immer gegenseitige Verpflichtung.
Kultur und Vergesellschaftung sind damit Notwendigkeiten zum Überleben. Das Mängelwesen 'Mensch', schwach, entblößt, instinktarm, nicht überlebensfähig, eher tierisch als menschlich, hat als Teil eines sozialistischen Kollektivs keinerlei Zukunft, es kann aber zum Titanen werden, die Grenzen zur Göttlichkeit übersteigen, wenn es sich künstlerisch, kreativ, _____________ 19
Thronrede Kaiser Wilhelms 1914. In: Politische Reden II, 664.
461 Der Diskursbegriff
schöpferisch der bereits biologisch begründeten Pflicht der Vergesellschaftung unterwirft. Diese Pflicht bezieht sich selbstverständlich nicht nur auf den freien Schöpfer, sondern auch auf den Erfinder von Recht, den Werkmann, den Schmied seines Glückes (bezeichnenderweise genitivus objectivus / effectivus); immer wieder wird in einem einzigen Satz durch Beispielnennungen der Skopus des Bürgertums aufgerufen. Gl 188: Nicht einzig in der Kunst ist der Mensch ein freier Schöpfer, auch im Recht bewährt er sich als herrlicher Erfinder, als unvergleichlich geschickter, besonnener Werkmann, als seines Glückes Schmied.
Das Mängelwesen kann aber auch defizitär bleiben, ein Tier gar, oder es kann durch unglückliche Zustände eine zusätzliche moralische Verschlechterung erfahren. Das Ineinanderweben von Kultur, Gott und Natur, das Chamberlains charakteristisches Diskursmerkmal ist, kann an der Gradierung des Menschen zwischen Mängelwesen und Prometheus20 dargestellt werden. Das Tierische ist gekennzeichnet durch das kulturell Defizitäre, das Menschliche als von Gott gegebene, in und durch Rasse qualifizierte schöpferische Kulturalität.
_____________ 20
Vgl. dazu auch Gobineau, II, 195.
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2. Der religiöse Diskurs 2. 1. Die Reformation der Reformation – auf der Suche nach einer neuen Religion Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, daß »Weltanschauungen« niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren. Max Weber21
In den vorangegangenen Kapiteln wurden Religion und Weltanschauung gleichsam als verrechenbare Münzen behandelt, ähnlich auch Weltreligionen wie Christentum, Judentum und Buddhismus, altiranische "arische" Lehren Zarathustras und Manis, Größen wie Kulturreligion oder Bildungsreligion. Die scheinbare Beliebigkeit, mit der Religiosität zum Ausdruck gebracht wird, kann auch als Symptom einer Epoche verstanden werden, zu der F. Schößler im Rückgriff auf Luhmann schreibt: "Anders als vormoderne Gesellschaften, die von der natürlichen Perfektion des Menschen, von der Vererbung der Sünden und der Wirksamkeit der Erziehung ausgehen […], verfügt die moderne Gesellschaft über kein einheitliches Selbstbeschreibungssystem oder umfassendes Erklärungsmuster wie beispielsweise das religiöse und produziert deshalb unendliche Variationen ihrer Selbstbeschreibung, die keinerlei Anspruch auf Richtigkeit und Ausschließlichkeit erheben können – ein Relativismus, der auch für Protestbewegungen gilt […]." Die Kulturkritik zwischen den beiden Jahrhundertmitten, also zwischen 1850 und 1950, die in vielerlei Variation zu finden ist, vertreten durch Nietzsche, Schopenhauer und Wagner, aber auch durch Paul de Lagarde, Julius Langbehn, später Oswald Spengler und Arthur Möller van den Bruck, ist oft nicht trennbar von einer überkonfessionellen Kirchenkritik, die entweder zum Wunsch nach einer Reformation oder ganz zum Bruch mit der gängigen kirchlichen Praxis führt, wobei es keinen Unterschied macht, ob diese protestantisch oder katholisch ist. Doch besonders in den kulturell progressiveren protestantischen Kreisen hatte sich das Gefühl von Orientierungs- und Perspektivlosigkeit, von Angst und Unsicherheit, gar von Nervosität22 verbreitet. Säkularisation, _____________ 21 22
Max Weber, Die »Objektivität« sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. Weber-WL 154. Vgl. Radkau 1998.
463 Der religiöse Diskurs
theologische Liberalisierung und Kulturkampf hatten prinzipiell Gültiges radikal in Frage gestellt.23 Die sich immer rasanter entwickelnden Errungenschaften der Technik, der Medizin oder der Biologie machten wissenschaftlich erklärbar, was vormals noch im Reich der Wunder verblieben war, so dass das emotionale Ergriffensein nunmehr durch rationales Verstehen einer immer komplizierter werdenden naturwissenschaftlichen Praxis ersetzt werden musste. Die "Entzauberung der Welt",24 wie Max Weber diesen Prozess nennt, hinterließ Spuren oder besser gesagt, Bedürfnisse, die mit der Religion, so wie sie, jedoch ihrer bisherigen Erklärungskraft entkleidet, den Menschen offenbart wurde, nicht mehr befriedigt werden konnten.25 Der andauernde Versuch vor allem auch des liberalen Protestantismus, Religion zu rationalisieren, führte nahezu zwangsläufig zu einer Vielzahl mystischer, mystizierender oder halbheidnischer Gegenbewegungen, sei es zur Art des ästhetischen Katholizismus des George-Kreises, zu den einzelnen Verästelungen der Lebensreformbewegung, z. B. zu deren Sonnenkult, zu allen möglichen Wunderheilern,26 zu Wagnerianismus und Kunstreligion oder aber damit verbunden zum germanischen Christentum, wie es uns bei Chamberlain entgegentritt. Nietzsches Gott-ist-tot-Postulat27 wurde eben gerade nicht zur Grablegung von Religion und Glauben, wie viele ihm vorwarfen, sondern entwickelte bzw. verstärkte eine neue Art und Weise der Gott- und der Sinnsuche, die schon seit der Aufklärungszeit latent zunahm. Bildungsreligion und Kunsterlösung waren die Heilsbegriffe der Bürgerlichen, Sozialismus und Kommunismus diejenigen der Arbeiter. So begannen nicht nur die politischen Ansichten die Gesellschaft in immer kleinere und sich fremder werdende Gruppen zu spalten, auch der Glaube wurde zum Kennzeichen von Inklusion und Exklusion. Standen sich vormals nur Katholiken, Protestanten und Juden gegenüber, gab es nun eine Vielzahl vollkommen unterschiedlicher Gruppierungen (Lebensreformer, speziell Sonnenanbeter28, Vegetarier, Nudisten, dann Kunst- und Kulturgläubige, Bildungsgläubige, Monisten29, Reformkatholiken, neudeutsche Heiden30, Agnostiker, Pantheisten, Theosophen, darunter speziell Anthroposophen wie _____________ 23 24 25 26 27 28 29 30
Vgl. dazu Mommsen, Bürgerliche Kultur 1994, 82f. Weber, Wissenschaft als Beruf. In: Weber-WL 613. Vgl. dazu Bollenbeck, Weltanschauungsbedarf und Weltanschauungsangebote um 1900. In: Die Lebensreform 2001, 203; Gay, a. a. O. 207ff; 212ff. Vgl. dazu: Linse, Geisterseher und Wunderwirker 1996. Vgl. dazu: Mommsen, a. a. O. 92. Als interessantestes Beispiel sei hier nur auf das Lichtgebet des Fidus hingewiesen. Der Monistenbund wurde 1906 von Ernst Haeckel und dem späteren Nobelpreisträger der Chemie Wilhelm Ostwald begründet. Vgl. dazu Mommsen, a. a. O. 94. Vgl. dazu Clara Ebert, Neudeutsches Heidentum. In: Die Lebenskunst 3, 1908, 401-403.
464 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
Rudolf Steiner, Ariosophen wie Lanz von Liebenfels,31 aber auch buddhistische Missionsbewegungen usw.), bei denen man nicht einmal mehr sicher war, ob sie überhaupt noch an einen wie auch immer verstandenen Gott glaubten. Die Gesellschaft der Deutschen brach in dem Moment religiös und weltanschaulich auseinander, in dem sie scheinbar politisch geeint war. Es ist daher kaum verwunderlich, dass Konzepte, die von sich behaupteten, national vereinheitlichend und gesellschaftlich stabilisierend wirken zu können, und die darüber hinaus auch ganz individuelle Orientierungen versprachen, von vielen Zeitgenossen angenommen wurden. Es sind besonders die völkischen Kreise, in denen ein religiöses Vakuum empfunden und schließlich zu eigenen nationalchauvinistischen Orientierungen genutzt wurde. Puschner 2000, 1: Die Religion führt in das Zentrum der völkischen Weltanschauung wie auch der Bewegung. Religion und vor allem Religiosität bildeten die entscheidenden Antriebskräfte für völkisches Denken und Handeln; sie sind die Voraussetzungen für völkischen Radikalismus. Die völkische Weltanschauung trägt insofern Züge einer politischen Religion, wie die spezifische völkische Semantik veranschaulicht. Anders jedoch als der Nationalsozialismus wo die Weltanschauung Religionsersatz war, kreierten die Völkischen tatsächlich verschiedene sogenannte arteigene, d. h. rassespezifische und auf völkischer Germanenideologie fußende Religionen.
Das Gesagte gilt im Falle des germanischen Christentums Chamberlains32 umso mehr, als er im Unterschied z. B. zu Nietzsches erdverbundener Metaphysik, die ebenso ohne Heilsgewissheit auskam wie Eugen Diederichs kultur- und bildungsbürgerliche Diesseitsreligion,33 nationale und rassische Ewigkeit versprach. Chamberlain war anders als die oft skandalisierten Lebensreformsekten, denen beizutreten mitunter sehr viel Mut verlangte, außerdem im bildungsbürgerlichen Sinne salonfähig. Sein auf dem "Nationalheiligtum" Wagner aufbauendes Konzept der Selbsterlösung hatte dogmatisch gesehen zwar nichts mit dem Christentum gemein, war bei allen Verfälschungen nach außen hin aber doch bewusst innerhalb des bestehenden Christentums angesiedelt und verlangte von seinen Rezipienten – eine gewisse Korruptionsbereitschaft vorausgesetzt – keinen direkten Bruch mit der Tradition. Diese Konstruktion wird von Chamberlain als "zweite Reformation" vorgestellt, als Vollendung der geschichtli_____________ 31
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Ariosophie ist eine rassistische Variante der Theosophie. Adolf Lanz (1874-1954), besser bekannt unter seinem Pseudonym Jörg Lanz von Liebenfels, scheint auch von einem seiner österreichischen Zeitgenossen gelesen worden zu sein, dem späteren Vegetarier Hitler. Vgl. dazu auch: Breuer, Grundpositionen 2001, 88; Field 1981, 223. Eugen Diederichs (1767-1930), Verleger aus Jena, publizierte 1908 einen aufwendig illustrierten Verlagskatalog unter dem Titel "Wege der deutschen Kultur", in dem er nach einer Reformation der Reformation verlangte. Vgl. dazu: Ulbricht, Die Reformation des 20. Jahrhunderts. In: Die Lebensreform 2001, 187.
465 Der religiöse Diskurs
chen Leistung Luthers, bleibt dem argumentativen Schein nach also dem Protestantismus verhaftet. Ganz konservativ-traditionell erklärt Chamberlain, dass seine Vorstellung von christlicher Religion nichts anderes sei als die Befreiung der Wahrheit aus den Fängen des Bösen. Nichtreflektierende Leser konnten so in dem Glauben verbleiben, sie seien orthodox protestantisch. Doch leitete der Evangelist of Race (so Field 1981: Buchtitel) das Altbewährte in solche Fahrwasser, die alle Bedürfnisse rationaler, naturwissenschaftlicher Erklärungen, insbesondere der lebensbejahenden Erbauung, Selbstidentifikation, der Abgrenzung, der Ressentiments und der Selbsterhöhung, vor allem der aktiven Selbsterlösung und des gleichzeitigen Wunsches nach dem sich Auf-Gott-Verlassenkönnen befriedigten. Was Chamberlain erstrebte, war eine nationalrassistische Reformation der Reformation. 2. 2. Das Germanische Christentum – eine besondere Form des Antisemitismus Der Sprache nach ist der Name Mensch wohl ein besonderer, aber der Wahrheit nach der Name aller Namen. Dem Menschen gebührt das Prädikat polyônymos. Was der Mensch auch immer nennt und ausspricht - immer spricht er sein eigenes Wesen aus. Die Sprache ist daher das Kriterium, wie hoch oder wie niedrig der Grad der Bildung der Menschheit. Der Name Gottes ist nur der Name dessen, was dem Menschen für die höchste Kraft, das höchste Wesen, d.h. für das höchste Gefühl, den höchsten Gedanken gilt. Ludwig Feuerbach34
Im Mittelpunkt der von Chamberlain gepredigten weltanschaulichen Theologie steht die Gestalt Christi. Der Sohn Gottes und Begründer des Christentums ist für ihn Ausgangspunkt und Endpunkt seines germanischen Christentums. Doch diese Weltanschauung widerspricht in allen grundsätzlichen Fragestellungen der von Christus gestifteten Religion, was sich schon im charakterisierenden Adjektiv germanisch offenbart. Während sich Christus nicht an irgendeine Gruppierung, heiße sie nun Rasse oder Volk oder Nation, sondern an alle Menschen gleichermaßen richtet, ist Chamberlains Version des Christentums bereits im Grundsatz rassistisch, was sich an der Beschreibung der religionsgründenden Personen Jesus Christus und Paulus festmachen lässt. Jesus (vgl. VII. 1) sei, so Chamberlain, arischer Abstammung (Gl 54 u. ö.), und seine religiöse Botschaft unjüdisch (MuG 297).35 Dies gelte ebenso für den Apostel Paulus36 (MuG _____________ 34 35
Ludwig Feuerbach: Vorläufige Thesen zur Reform der Philosophie. Feuerbach-KPS 76. Hier steht Chamberlain ganz in der Tradition Wagners. Vgl. Wagner 10, 232: "Bleibt es mehr als zweifelhaft, ob Jesus selbst von jüdischem Stamme gewesen sei, da die Bewohner von Galiläa eben ihrer unächten Herkunft wegen von den Juden verachtet waren, so mögen wir dieß, wie alles die geschichtliche Erscheinung des Erlösers Betreffende, hier gern
466 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
178f.) und dessen Erlösungslehre, die als altarisches Gut aus ihrem jüdischen Kontext isoliert (MuG 179f.) worden sei. In Christus feiert Chamberlain den ersten Helden, und von dessen Heilstat behauptet er, sie könne nur von den Indogermanen verstanden werden (Gl 894 s. u.). Das Prinzip 'Christus' ist für Chamberlain Leben, Licht, Tätigkeit und heitere, unbefangene, vertrauensinnige Bejahung (AW 87). Ihm gegenüber wird das Bild von Pessimismus und Verneinung37 (Gl 236), von Materialismus (MuG 61; 125) und Sünde (MuG 297) entworfen, Kennzeichnungen, die immer wieder für das auf diese Weise diffamierte Judentum gebraucht werden.38 So steht das Wort Verneinung für eine Polemik, die Nietzsche mit Chamberlain und der Lebensphilosophie verbindet. Lebensbejahung auf der Ebene einer neuen Lebens- und Existenzphilosophie ist der Gegenpol, der auch mit dem Wort Bejahung immer wider thematisiert wird. GL 676: Doch ist die zweite insofern von grösserer Tragweite, als die Erlösung durch Erkenntnis, wie Indien zeigt, im letzten Grunde eine Verneinung pure et simple bedeutet, somit kein positives, schaffendes Prinzip mehr abgiebt, indes die Erlösung durch den Glauben das menschliche Wesen in seinen dunkelsten Wurzeln erfasst und ihm eine bestimmte Richtung, eine kräftige Bejahung abtrotzt: Ein‘ feste Burg ist unser Gott! Der jüdischen Religion sind beide Auffassungen gleich fremd.
Chamberlain verfasst, wie schon beschrieben wurde, keine theologischen Abhandlungen, sondern Erbauungstexte auf Kosten des Judentums, keine frommen Betrachtungen über den Menschen in seiner Unvollkommenheit, Sterblichkeit oder existentiellen Verlorenheit, keine Meditationen über eine imitatio dei oder gar eine Passionsnachfolge Christi, sondern Erörterungen über ein germanisches Christentum, das auf der Vorstellung eines machtvollen Gottmenschen Christus, nicht auf der eines leidenden und demütigen Christus beruht. Die christliche Botschaft wird auf eine bestimmte, sich über 'Rasse' definierende Nation (oder Nationengruppe) bezogen, alle nicht Dazugehörigen werden exkludiert. Der für das Neue Testament geradezu konstitutive universalistische Auftrag, "alle" (Mt 28, _____________
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dem Historiker überlassen, der seinerseits ja wiederum erklärt mit einem »sündenlosen Jesus nichts anfangen zu können.« Uns wird es da gegen genügen, den Verderb der christlichen Religion von der Herbeiziehung des Judenthums zur Ausbildung ihrer Dogmen herzuleiten." Gl 691: "Ob Paulus ein rassenreiner Jude war, bleibt, trotz aller Beteuerungen, sehr zweifelhaft; ich meine doch, das Zwitterwesen dieses merkwürdigen Mannes dürfte zum Teil in seinem Blute begründet liegen. Beweise liegen nicht vor. Wir wissen nur das Eine, dass er nicht in Judäa oder Phönizien, sondern ausserhalb des semitischen Umkreises, in Cilicien, geboren ward, und zwar in der von einer dorischen Kolonie gegründeten, durchaus hellenischen Stadt Tarsus. […] so erscheint die Vermutung durchaus nicht unzulässig, dass Paulus zwar einen Juden aus dem Stamme Benjamin zum Vater […], dagegen aber eine hellenische, zum Judentum übergetretene Mutter gehabt hat." Vgl. AW 86; PI 45. Vgl. dazu z.B. MuG 251.
467 Der religiöse Diskurs
19) Völker zu lehren und "alle" zu taufen, sie damit als vor Gott gleich zu sehen, geht verloren. Die Botschaft Christi dient ihm im Gegenteil dazu, nur den Germanen als besonderen von Gott erwählten Menschentyp zu installieren und diese neue Erwähltheit in psychopathologischer Weise gegenüber dem im Sinne des Alten Testamentes auserwählten Volk der Juden zu verteidigen. Dass Chamberlain hier die geschichtsideologischen Rollenverhältnisse umkehrt, braucht kaum erwähnt zu werden. Israel galt durch seine ausgeprägte Erinnerungskultur des Bewahrens und Gedenkens als "Prototyp der Nation".39 Dies hatte in einer um den Begriff der Nation ringenden Gesellschaft wie der deutschsprachigen Vorbildcharakter, es rief Neid hervor, reizte aber gleichzeitig zur Nachahmung und verband sich mit strikter, natürlich auf biologische "Vorgegebenheiten" zurückgeführter Abgrenzung bzw. in anderer Perspektive: mit Inklusion.40 Die damit angedeutete Bildung von Kontrasten und Zusammenhängen vollzieht Chamberlain regelmäßig in Form von schon beschriebener Hell- / DunkelMetaphorik sowie durch die Schaffung einer Opposition von christlichem Optimismus und christlichem Konstruktivismus auf der einen Seite und jüdischem Pessimismus und jüdischer Destruktion auf der anderen. Erwartungsgemäß steht das Schöpferische als Unterscheidungskriterium bzw. als Schlüsselbegriff wieder im Vordergrund. Der erbauungsliterarische Charakter der Texte Chamberlains beruht auf der beständigen Vermittlung eines Glaubens an die Zugehörigkeit des durch Rasse, historische Kontinuität, kulturelles Schöpfertum und Zukunft ausgezeichneten germanischen Gottmenschen; die gleichermaßen festzustellenden psychopathologischen Züge in diesen Texten bestehen im fanatischen Versuch des weltanschaulich Verunsicherten, gegen einen zum Dämon gewordenen bzw. gemachten, alles zersetzenden Feind zu kämpfen, um dadurch eine heilvolle Zukunft zu erzwingen. Christus, gleichzeitig Mensch und Gott, ist in dieser Glaubenskonstruktion der erste und wichtigste abendländische Gottmensch,41 der perfectus homo (MuG 87), er bündelt in sich gleichzeitig alle Vorstellungen und Wünsche vom ewigen Leben des Menschen und der ewigen Schöpferkraft Gottes. Er ist das Vorbild für alles Gottmenschentum, wie es Chamberlain in seiner germanischen Weltanschauung auch für den neu zu schaffenden Arier vorschwebt. Immer wieder finden sich Parallelen zu diesem neuen Menschentyp (vgl. Gl 242), den Christus durch die mit ihm vollzogene Ablösung vom Judentum möglich gemacht haben soll. In einer ge_____________ 39 40 41
Jan, Assmann, Das kulturelle Gedächtnis 1997, 30. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft 221: "Hinter allen 'ethnischen' Gegensätzen steht ganz naturgemäß irgendwie der Gedanke des 'auserwählten Volks'." Vgl. Worte Christi 46f.
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zielten Abgrenzung zu den traditionellen Kirchen, die aber als Weiterführung dargestellt wird und damit an die "wahre" Tradition anschließbar ist, beschreibt Chamberlain das teleologische Werk der christlichen Menschwerdung jedoch als noch nicht vollendet, sondern auf halbem Wege stecken geblieben. Gl 246: Christus dagegen bedeutet den Morgen eines neuen Tages; er gewann der alten Menschheit eine neue Jugend ab, und so wurde er auch der Gott der jungen, lebensfrischen Indoeuropäer, und unter dem Zeichen seines Kreuzes richtete sich auf den Trümmern der alten Welt eine neue Kultur langsam auf, an der wir noch lange zu arbeiten haben, soll sie einmal in einer fernen Zukunft den Namen "christlich" verdienen.
Jung und lebensfrisch zwar, aber vermeintlich noch immer von jüdischem Gedankengut (MuG 110 f.; 125) durchsetzt, muss die von Christus ausschließlich für den Indoeuropäer gestiftete Religion noch von altem jüdischem Gedankengut gereinigt und in die geordneten Bahnen einer christlich germanischen Weltanschauung geführt werden. Dazu reicht der theologische Sinnzusammenhang allein nicht aus. Zwar ermöglicht Christus den neuen Adam durch seine religiöse Heilstat, – der neue Adam ist eine Bezeichnung, die Paulus wie später Luther in einem vollkommen anderen Zusammenhang gebraucht42 –, doch während der neue Adam des Protestantismus als nicht von dieser Welt und theologisch durch die Rechtfertigung gekennzeichnet ist, wird der neue Mensch in Chamberlains Vorstellung weltimmanent und vor allem biologisch, letztlich rassisch begründet. Das von Chamberlain proklamierte Christentum basiert auf der Vorstellung, dass sich die Prädestination eines Menschen schon in seiner Rassenzugehörigkeit offenbart. Diese wiederum determiniert dann nicht nur seine Fähigkeit der Gotteserkenntnis, sondern letztlich auch seine weithin sichtbare Gottesebenbildlichkeit. Wird diese biologische Zugehörigkeit bedroht, ist folglich nicht nur die Immanenz gefährdet, sondern auch die Transzendenz. Die Gefährdung durch Vermischung mit anderen Rassen, vorzugsweise durch den biblischen Gegenspieler, das auserwählte Volk der Juden, beschränkt sich dann nicht mehr nur auf Glaubensfragen und traditionelle Religionszwistigkeiten, sondern mündet ein in eine Drohkulisse des alles vermischenden Völkerchaosgedankens. Gl 894: In Jesus Christus hatte das absolute religiöse Genie die Welt betreten: Keiner war so geschaffen, diese göttliche Stimme zu vernehmen, wie der Germane; die grössten Verbreiter des Evangeliums durch Europa sind alle Germanen, und das ganze germanische Volk greift gleich, wie schon das Beispiel der rauhen Goten zeigt zu den Worten des Evangeliums, jedem blöden Aberglauben (die Geschichte der Arianer bezeugt es) abhold. Und trotzdem schwindet das Evangelium bald und verstummt die grosse Stimme; denn die Kinder des Chaos wollen
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Vgl. dazu MuG 204ff.
469 Der religiöse Diskurs
von dem blutigen stellvertretenden Opfer nicht lassen, […]; dazu gesellt sich allerhand kabbalistischer Zauber und stoffliche Metamorphose aus dem späten unsauberen Syro-Ägypten: und das alles, durch jüdische Chronik ausstaffiert und ergänzt, ist nunmehr die "Religion" der Germanen!
Im Sinne des altindischen Kastenwesens wird die Vermischung als Verunreinigung angesehen, deren Folgen nicht nur den reziproken Verlust der Menschlichkeit, sondern auch der Göttlichkeit impliziert. Kehren wir noch einmal zurück zum Menschenbild, nun aus theologischer Perspektive. In seinem letzten Werk Mensch und Gott werden der Mensch (MuG 13ff.; 19) und Gott (MuG 20ff) von Chamberlain als Gedankengestalten beschrieben, die sich gegenseitig bedingen (MuG 22). So ist die Idee Gottes das Gegenstück zu der Idee des Menschen (MuG 31). Entsprechend wird der Glaube zur zwangsläufigen Denknotwendigkeit (ebd.) für diesen. Ähnlich wie bei Feuerbach, nur keineswegs rational begründet, sondern in eine völlig irrationale Rassentheologie einführend, folgert Chamberlain daraus drei Gottesbegriffe (MuG 29): den persönlichhistorischen Judengott, den mythologisch-mystischen dreieinheitlichen Gott des Weltalls und die dem Menschen notwendige und insofern angeborene Gedankengestalt Gott. Die beiden ersten Gottesbilder lehnt er ab, – das erste, weil er darin den jüdisch materialistischen Gott sieht: ein alter Jude […] zornmütig und rachsüchtig […] der einfachsten sittlichen Begriffe ermangelnd: jeden Betrug, jeden Raub- und Mordzug billigt er, sobald dieser seinem auserwählten Völkchen oder einem seiner besonderen Lieblinge zugute kommt (MuG 30), – das zweite, den christlich-abendländischen Gott, dessen Vorstellung einer heiligen Dreieinigkeit (Trimurti) altarisches Gut [ist] (MuG 30), weil dieser, trotz seiner klaren Trennung vom jüdischen Gott, durch kirchliche Dogmen zersetzt wurde und weil er nicht den ergänzenden Gegensatz zu der Idee des Menschen, sondern zu der der Natur darstellt (ebd.).
Der dritte Gottesbegriff ist für ihn der entscheidende. Er entspricht keiner Theologie, ist nur abstrakt greifbar, ein Gott, den man mit all dem irrationalen Gedankengut füllen kann, das Menschen sich denken können. Nur er kann das wahre Spiegelbild zum Menschen sein. MuG 31: Diese dritte in Wahrheit die allererste Gottesvorstellung ist die eigentlich reinmenschliche, und gerade wegen ihrer Reinmenschlichkeit, die reingöttliche; hier hat der Mensch weniger Eigenwillen hineingelegt, hier hat er nicht Gott zum politischen deus ex machina mißbraucht, wie der Hebräer, noch wie die Kirchenväter eine großartige Gottesintuition durch unendliches Spintisieren zugleich menschenmäßig eingeschränkt und dem Menschenherzen ferngerückt. Bezeichnend für diese Gedankengestalt ist gerade ihre Unbegreiflichkeit: der Mensch sucht ein höheres Wesen, das seinen Verstand überragt; verstünde er es, so wäre es nicht das, was er sucht, und dessen er so notwendig bedarf.
Nicht nur in der Christusgestalt findet eine Annäherung zwischen Gott und dem Menschen statt. Der Mensch wird göttlich und Gott menschlich.
470 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
Ein wichtiges Attribut dieses vermenschlichten Gottes ist das Adjektiv rein. Denn der dritte Gott ist der vom ersten, dem "Juden"gott religiös, aber auch rassisch nicht verunreinigte. Man erkennt ihn an einer mit dem Verstand nicht zu erreichenden Unbegreiflichkeit, daran, dass er das Unergründliche / Unfassliche (ebd.) darstellt, dass er nur als das unverfälschte, reine, ursprüngliche Gottesgefühl in des Herzens Tiefen wahrgenommen werden kann. Es geht auch hier um die angeborenen Instinkte (MuG 33), die allein das Göttliche erfassen können, nicht um Bibel oder Schriftreligion, um Einsicht oder Dogma. Die Instinkte sind naturgegeben und werden durch Evolution und Zuchtwahl herausgebildet. Die ideologische Verschränkung von Theologie und Darwinismus und damit von Gotteserkenntnis und Rassenzugehörigkeit kann aus diesem Beleg noch einmal pointiert abgelesen werden. Neben den biologistischen und pseudorationalen Argumenten werden auch die mittelalterlichen Mystiker zur metaphorischen und narrativen Untermalung herangezogen. Die oben zitierten Formeln vom Ursprünglichen, Unergründlichen oder Unfasslichen gehören in das Wortbildungssystem der Mystiker, so dass sich eine funktionalisierte Mystik und ein falsch verstandener Meister Eckart (MuG 34) wie ein roter Faden durch Chamberlains neue arische Theologie ziehen, die deswegen ebenso gut als arische Mystik bezeichnet werden könnte. Rationalismus und Vernunft (vgl. MuG 34) werden dagegen zu Stigmawörtern in einer einzig auf Erbauung (umgekehrt: Judendiskriminierung) ausgerichteten arischen Theologie.43 Dem Erheben und Erbauen auf der einen Seite entspricht das Unterdrücken alles Jüdischen auf der anderen. Sehr häufig kommt es in Chamberlains Texten zu exkludierenden Kennzeichnungen des jüdischen Gottes, oder wie er heranblassend sagt: des Wüstengottes oder Judengottes, mit dem der "arische" Christus nichts zu tun habe (MuG 109) und der von diesem nie als Vater bezeichnet werden würde. Die daraus folgende Metaphorik ist eindeutig. Genau dieser Judengott habe das wahre Bild der Gottheit vergiftet.44 Er sei schuld am Beziehungsverlust, gar an der Entfremdung zwischen Mensch und Gott. Der universale "Sündenbock" für das als gescheitert angesehene Christentum ist gefunden.
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Vgl. dazu auch: Habermas 1996, 15: "[Die] historische Vernunftskepsis gehört dem neunzehnten Jahrhundert an, und erst in unserem Jahrhundert haben die Intellektuellen den großen Verrat begangen." Vgl. dazu auch: GL 479: "heute noch, wie vor 3000 Jahren, ist Jahve nicht der Gott des kosmischen Weltalls, sondern der Gott der Juden; er hat nur die übrigen Götter umgebracht, vertilgt, wie er auch die übrigen Völker noch vertilgen wird, mit Ausnahme derer, die den Juden als Sklaven dienen sollen."
471 Der religiöse Diskurs
MuG 35: Ich glaube an keine Möglichkeit eines alle Kreise erfassenden mächtigen und anhaltenden Wiederaufblühens religiösen Lebens, bis nicht dieser Gott – der nicht gewusst, sondern geglaubt wird – von neuem allgemeiner Besitz der Menschenseelen wird. Dazu müßte aber der Wüstengott aus unserer Erziehung verbannt werden; er vergiftet uns von Kindesbeinen an unsere Vorstellung von und unsere Beziehung zu der Gottheit.
Nicht nur, dass Christus, wie schon oben s. v. Persönlichkeit dargestellt worden ist, kein Sohn eines Juden sein kann, seine nichtjüdische Abstammung wird in folgenreichen Argumentationsketten begründet. Christi Sohnschaft (MuG 109) muss zusätzlich rassisch einwandfrei sein, da in der Theologie der Gotteskindschaft, wie sie allgemein von allen christlichen Kirchen gelehrt wird, alle Menschen einbezogen sind. Chamberlain sucht gezielt den Ausschluss der Hebräer aus dieser Gemeinschaft der Gotteskinder. Dazu nutzt er bekannte Parolen des religiösen Antisemitismus, in dem die Juden als Christusmörder verfolgt wurden und verbindet sie mit einer durch Pseudotheologie legitimierten Rassetheorie. MuG 117: Von Geburt war Jesus Galiläer und als solcher von Hause aus im jüdischen Glauben aufgewachsen; sein Gegensatz zum Judentum führt ihn ans Kreuz!
Religiöser und rassischer Antisemitismus gehen offensichtlich Hand in Hand. Eine besonders deutliche, verschiedene Register des Christentums missbrauchende Variante dieser Verbindung kommt in der Formulierung von der blutsbrüderschaftlichen Verwandtschaft zwischen Mensch und Gott (MuG 43f.) zum Ausdruck. Speziell das Wort Blut scheint Chamberlain zu ausufernden semantischen Vernetzungen angeregt zu haben. Während die Blutsmetapher im religiösen Ritus das Opfer Christi ins Bewusstsein bringen soll, indem auf das äußerlich vergossene Blut Christi, repräsentiert durch den Wein beim Abendmahl, verwiesen wird, nutzt Chamberlain die Bildlichkeit gezielt dazu, die Rassenfrage zu assoziieren. Eine religiöse Blutsgemeinschaft würde durch das religiöse und von den Menschen auch verkostete Opfer gestiftet, sei es archaisch durch das Tieropfer auf der Schlachtbank, sei es durch das von Gott nicht gewollte Menschenopfer Isaaks durch Abraham im Alten Bund, sei es schließlich durch das vollzogene Opfer Christi im Neuen Bund. Durch den gemeinsamen Verzehr des Opfermahls der im Neuen Bund begründeten Christengemeinschaft käme es in der unkonventionellen Argumentation Chamberlains zu einer neu gestifteten Blutsverwandtschaft, nämlich zwischen denjenigen, die das Blut Christi in Form des Abendmahles trinken, und Christus selbst. Was diese Blutsbrüderschaft mit Christus alles impliziert, kann hier nur angedeutet werden. An dieser Stelle schließt sich jedenfalls der Kreis zum postulierten germanischen Christentum wieder. Denn es wird deutlich, dass die Blutsgemeinschaft als eine rassische Überdachung
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aller Christen gedacht wird, die auf diese Weise nicht nur zu einer Glaubens – bzw. Gedächtnisgemeinschaft, sondern vor allem zu einer ähnlich 'blutsmäßig' verbundenen Rassegemeinschaft werden soll, wie er sie den Juden unterstellt. GL 772: so empfinde ich lebhaft, dass ein einziger göttlicher Sturmwind genügen würde, um das verhängnisvolle Gaukelspiel angeerbter Wahnvorstellungen aus der Steinzeit hinwegzufegen, die Verblendungen des verfallenen Mestizenimperiums wie Nebelhüllen zu zerstreuen und uns Germanen alle – gerade in der Religion und durch die Religion – in Blutbrüderschaft zu einen.
An der folgenden Beschreibung Abälards kann man außerdem sehen, wie 'einfach' die rituelle Aufnahme eines Nichtgermanen in die Blutsgemeinschaft vollzogen wird. Chamberlain möchte Abälard in die Gemeinschaft der Germanen einreihen; und er tut dies mit den rituellen Worten der Eucharistie, die die Gemeinschaft mit Christus beschwören: Der Bretone wird mit dem Beschwörungsakt Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem teutonischen Blut ins Germanentum einverleibt. Die Formel ist nicht nur sakralsprachlich, sie öffnet durch das Adjektiv teutonisch zugleich den nationalistisch rassebezogenen Rahmen. GL 557: Im Herzen der Bretagne wird jener bahnbrechende Geist Petrus Abaielardus geboren, […]. Ein typischer Kelte in der düsteren Leidenschaftlichkeit seines Wesens, ein neuer Tristan in seinem Liebesleben, ist er doch Fleisch von unserem Fleisch und Blut von unserem teutonischen Blut; er ist ein Germane.
Es ist kaum zu übersehen, dass für Chamberlain diese neue religionsbegründete Rasse in außergewöhnlicher Weise auserwählt und legitimiert ist, nämlich durch Gott selbst. Diesen Sohn Christus wirkt als Blut übertragende Mittlerperson zwischen Gott und den Menschen und steht in direkterem Kontakt zu denjenigen, die mit ihm verwandt sind, eben seinen Blutsbrüdern. Die Blutsbrüderschaft macht aus der Sohnschaft des Einen die Sohnschaft auch der 'Blutsbrüder', was die Überwindung der Kreatürlichkeit impliziert und die Aufwertung in Richtung auf den gottähnlichen Kreator. Chamberlains Ausführungen handeln entsprechend durchgängig von der unstillbare[n] Sehnsucht […] nach gottverwandtem Menschentum (MuG 50), von der Frage nach dem Gottmenschen, dem Gottwerden, dem Einswerden mit der Gottheit, kurz von der Vergottung (MuG 60/61 u. ö.). Vergottung (MuG 61) erfolgt durch göttliche Speisung, oder wie Chamberlain es auch nennt, durch Gottspeisung (MuG 63), also durch die Sakramente, die im übrigen von ihm als uralter Brauch der arischen Völker (MuG 62) über jeden Zweifel möglicher alttestamentlicher und damit jüdischer Herkunft erhoben werden.
473 Der religiöse Diskurs
2. 3. Paul de Lagarde, ein Kritiker der zeitgenössischen Theologie und Vorläufer Chamberlains Zu Niblum will ich begraben sein / am Saum zwischen Marsch und Geest. / […] Zu Niblum will ich mich rasten aus / von aller Gegenwart. / Und schreibt mir dort auf mein steinern Haus / nur den Namen und: "Lest Lagarde!" / Ja, nur die zwei Dinge klein und groß: / Diese Bitte und dann meinen Namen bloß. / Nur den Namen und "Lest Lagarde!" 45
Christian Morgenstern
Die Affinität Chamberlains zum zeitgenössischen Protestantismus ist durchgängig spürbar; sie resultiert erstens daraus, dass dieser traditionell christozentrisch ist und Christus als Gott und Menschen in den Mittelpunkt stellt, zweitens, dass der Reformator Luther als Begründer der evangelischen Kirche in den Augen Chamberlains einer der bedeutendsten Deutschen war,46 und drittens, dass der Protestantismus aufgrund seiner räumlichen Konzentration auf deutschsprachige Gebiete als die "deutsche" Religion schlechthin bezeichnet werden konnte. Chamberlains germanisches Christentum ist nicht nur vom Rassegedanken bestimmt, es ist infolge des Rassegedankens auch national ausgerichtet, was wiederum besonders in der Feindschaft gegenüber dem als ultramontan gekennzeichneten universalen Katholizismus zum Ausdruck kommt, eine Rückkoppelung auch an die bismarckisch-preußische Kulturkampftradition. Chamberlains nationalistisches Religionsverständnis ist aber auch in vielen Teilen an den Orientalisten Paul de Lagarde47 angelehnt, dessen kulturkritische und religionsphilosophische, eine Nationalreligion ausrufende Schriften er in den Grundlagen mehrfach zitiert (z. B. Gl 1056). Lagardes48 Gedankenführung erfuhr vor allem in protestantischen Theologenkreisen eine große Resonanz. So hat Ernst Troeltsch den zweiten Band seiner Gesammelten Schriften sogar dem Gedächtnis von Paul de Lagarde gewidmet,49 in dem er einen "der anregendsten und bedeutendsten, wenn _____________ 45
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Christian Morgenstern, Stufen, Autobiographische Notiz 1977, 11. Dort schreibt er noch: "Das Jahr 1901 sah mich über den 'Deutschen Schriften' Paul de Lagardes. Er erschien mir – Wagner war mir damals durch Nietzsche entfremdet – als der zweite maßgebliche Deutsche der letzten Jahrzehnte […]." Vgl. dazu Jacob Grimm, Mythologie 1997 (Vorwort XXXVIII): "Es war nicht zufall, sondern nothwendig, dass die reformation gerade in Deutschland aufgieng, das ihr längst ungespalten gehört hätte, würde nicht auswärts dawider angeschürt. Nicht zu übersehn ist, wie empfänglich derselbe boden germanischen glaubens in Skandinavien und England für die protestantische ansicht bleibt. Wie günstig ihr ein großer theil Frankreichs war, in dem deutsches blut haftete. gleich sprache und mythus ist auch in der glaubensneigung unter den völkern etwas unvertilgbares." Vgl. dazu auch Stern 2005, Sieg 2007, dort besonders 312-316. Vgl. dazu: Wehler, Gesellschaftsgeschichte III, 1995, 747f. Troeltsch, Zur religiösen Lage 1913.
474 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
auch zugleich eine[n] der seltsamsten theologischen Denker" erkannte.50 Mit dem Verweis auf Troeltsch, einem noch heute bekannten und angesehenen Theologen seiner Zeit, soll deutlich gemacht werden, dass die von Lagarde vorgebrachte Kulturkritik auch in den Kreisen Anklang gefunden hat, die eher als liberal zu gelten haben.51 Man könnte Lagarde daher mit Fritz Stern in seiner Pathologie der Kulturkritik als einen Propheten52 bezeichnen, der "einen Weg zur nationalen Wiedergeburt" habe aufzeigen wollen, nachdem er zuvor das zeitgenössische Verhängnis eines allgemeinen Sprach- und Sittenverfalls detailliert beschrieben und den "Niedergang des deutschen Geisteslebens und den Verfall seines Ethos verkündet" habe.53 Lagardes erklärtes Ziel ist eine nationale Wiedergeburt, die den deutschen Menschen und das "deutsche Volkstum" aus den Fängen der jede Moral untergrabenden Modernität54 entreißen sollte. Dies setze aber zunächst eine nationale Religion55 voraus, in der das Evangelium Jesu,56 allerdings frei von der jüdischen Geißel (s. u.),57 aufgrund seiner germanischen Naturanlage (a. a. O. 130) zu einer lebendigen, das ganze Volk durchdringenden Kraft werden müsse. Lagarde, Die Religion der Zukunft. Schriften für Deutschland 144: wir wollen die Anerkennung, Erziehung, Verklärung unserer eigenen Natur, wir wollen aber
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Ebd. 19f. Lagarde hatte auch auf viele andere Persönlichkeiten große Wirkung, dazu zählt nicht zuletzt Ferdinand Tönnies, der 1887 sein berühmtes Buch "Gemeinschaft und Gesellschaft" publizierte. Laut Fritz Stern seien Lagardes Nationenbegriff und Tönnies Gemeinschaft nahezu identisch. Tönnies habe sich darüber hinaus ganz offen dazu bekannt, dass Lagarde ihn stark beeinflusst hätte. Vgl. Stern 2005, 83 (Fußnote), aber auch ebd. 116ff. Zum Einfluss auf Thomas Mann, Richard Wagner, Franz Mehring, Adolf Bartels, Heinrich Class, Alfred Rosenberg usw. ebd. 116-122. Stern 52: "Als Prophet wollte er sein Volk lehren, seine Feinde zu besiegen und seine frühere Größe zurückzugewinnen. Überheblich verkündete und glaubte Lagarde selbst der Prophet zu sein, der Deutschlands Wiedergeburt vorbereiten würde. Und er wollte nicht nur ein Prophet Gottes sein – er hielt sich für den Propheten des Deutschtums, des noch unverdorbenen Volkstums, und als solcher wurde er auch gefeiert". Stern, a. a. O. 1f. Die Gleichsetzung des Jüdischen mit der Modernität war eine wichtige Komponente des Lagardeschen Antisemitismus. Vgl. Stern, a. a. O. 91: "Zum Ekel vor der Moderne kommt die Abscheu vor dem Liberalismus." Vgl. dazu Lagarde, Schriften für Deutschland, Die graue Internationale. 1933, 146ff. Lagarde, Schriften für Deutschland 1933, 56ff.; 72f. Lagarde, Schriften für Deutschland 1933, 130. Lagarde unterstellt der Person Jesus, dass sie antijudaistisch zu sei: "Es war gewiß begreiflich, dass ein mit dem Instinkte des Ewigen begabter Mann vor den ihn umgebenden Juden als Masse nichts anderes als Abscheu empfand". Vgl. dazu auch: Lagarde, Über die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik. In: Deutsche Schriften 1903, 25f.: "Jeder Jude ist ein Beweis für die Unkräftigkeit unseres nationalen Lebens und die Wertlosigkeit dessen, was wir christliche Religion nennen".
475 Der religiöse Diskurs
nicht von einem russischen Kutscher an einer französischen Leine gefahren, und mit einer jüdischen Geißel geschlagen werden.
In der Offenbarung und in der Wegbereitung einer solchen nationalen, das heißt deutschen Religion sah er seine weltgeschichtliche Aufgabe. Nationale Religion konnte für ihn 58
Lagarde, Nationale Religion 72: wesentlich unprotestantisch, - nicht eine ausgebesserte alte sein […], wenn Deutschland ein neues Land sein soll, die - wesentlich unkatholisch - nur für Deutschland da sein kann, wenn sie die Seele Deutschlands zu sein bestimmt ist, die – wesentlich nicht liberal – nicht sich nach dem Zeitgeiste, sondern den Zeitgeist nach sich bilden wird, wenn sie ist, was zu sein sie die Aufgabe hat, Heimatluft in der Fremde, Gewähr ewigen Lebens in der Zeit, unzerstörbare Gemeinschaft der Kinder Gottes mitten im Hasse und der Eitelkeit, ein Leben auf Du und Du mit dem allmächtigen Schöpfer und Erlöser, Königsherrlichkeit und Herrschermacht gegenüber allem, was nicht göttlichen Geschlechtes ist. Nicht human sollen wir sein, sondern Kinder Gottes: nicht liberal, sondern frei: nicht konservativ, sondern deutsch: […] das Göttliche in jedem von uns leibhaftig lebend […].
Das in den beiden letzten Zitaten von Lagarde vorgestellte Menschenbild zeigt deutliche Parallelen zu Chamberlain. Besonders auffällig in ihrer Ähnlichkeit ist die religiöse Überhöhung des Menschen innerhalb einer nur noch dem äußeren Rahmen nach christlichen Religion. Lagarde schreibt im vorletzten Zitat sakralsprachlich auf die Erhöhung von Heiligen anspielend von der Verklärung des Deutschen. Im letzten Zitat ist aber bereits von de Gottesebenbürtigkeit des Deutschen die Rede, wenn er ein Leben auf Du und Du mit dem allmächtigen Schöpfer führen wird. Die Gotteskindschaft und die Gottesebenbildlichkeit, die die Phrase, was nicht göttlichen Geschlechtes ist, impliziert, wird hier von Lagarde sofort auf den relevanten Punkt gebracht. Ewiges Leben in der Zeit kann nur erträglich sein, wenn es Königsherrlichkeit und Herrschermacht bedeutet. Und genau das verspricht Lagarde seinen Deutschen. Sie werden wie in Chamberlains Utopie schon im Diesseits zu Göttern erhoben, die über alles Nichtgöttliche herrschen sollen. Lagardes Germanophilie ähnelt nicht nur in der religiösen Überhöhung derjenigen Chamberlains: Lagarde, Deutschs Vaterland 186: Das deutsche Volk wird Parlamente, Landtag, Liberalismus, Fortschritt und ein paar Hände Krönchen mit Freuden fahren lassen, wenn ihm die Gewissheit wird, dass ihm endlich einmal sein Kleid auf den Leib zugeschnitten werden soll. Alle Germanen sind, nicht trotzdem, sondern weil sie Freunde der Freiheit sind, Aristokraten im besten Sinne des Worts.
Und ähnlich wie bei Chamberlain, der im Römischen Reich den Ursprung des Völkerchaos ansiedelt und auch dessen vermeintlich größte Errungenschaft, die Staatsorganisation, nur so weit als Kulturleistung anerkennt, _____________ 58
A. a. O.
476 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
wie sie seinen Vorstellungen entspricht, sieht auch Lagarde das römische Element in der deutschen Kultur, die Staatsbildung, durchaus kritisch. Rom ist für ihn der Antipode59 zum Germanentum, der Staat, sofern er jedenfalls durch Stimmviehgetriebe öffentlicher Versammlungen gekennzeichnet sei, das Hemmnis für ein Herrschaftskonzept mit völlig anderem Charakter. Diesen anderen Charakter fasst Lagarde mit stilistisch teils mehrfach wiederholten Ausdrücken wie frei, selbständig, Stamm, Bund, Männer, national, einen, binden: Von selbständigen Persönlichkeiten, Männern, ausgehend, die sich frei zu ebenfalls selbständigen Gruppierungen, Stämmen, Bünden genannt, zusammenschließen, entsteht schließlich ein freier Bund, den eine nationale Religion eint und bindet. Da dieser Vorgang, der sich übrigens in modifizierter Form auch bei A. Moeller van den Bruck findet, mit Naturgegebenheiten wie Tau, Baum, Gras, Blume assoziiert, mit der Tätigkeit von Kinderseelen verglichen und mehrfach als nationale, deutsche Aufgabe beschrieben wird, erscheint er als etwas ebenso Volkstümliches wie Ursprüngliches und Religiöses.60 Lagarde 180: Die Sektenkirchen sind das notwendige Heilmittel gegen das erschlaffende, uns zum Untergange hindrängende Stimmviehgetriebe unsrer öffentlichen Versammlungen: sie sind solange nötig, als nicht Deutschland ein freier Bund selbständiger Stämme, und seine Stämme nicht ein Bund selbständiger Männer geworden, und als nicht eine nationale Religion alle Deutschen eint und bindet. Nehmet jeden Schein weltlicher Hilfe von der Religion hinweg, aber rührt nicht an sie, wann sie da ist, lasset sie gewähren: sie allein kann uns helfen. Kinderseelen schütten nach dem deutschen Glauben den Tau nachts auf den Baum, Gras und Blume: Kinderseelen werden den Tau auch unserm Volke herbeitragen.
Wahres Ziel ist der Kampf für einen neuen Glauben, eine neue Glaubensgemeinschaft, eine Welt mit festen Werten und ohne "Zweifel, eine neue nationale Religion, die alle Deutschen einen sollte."61 Lagardes Kritik richtet sich vor allem gegen den liberalen modernen Protestantismus,62 gegen die Verknüpfung von Staat und Kirche, gegen Werteverfall und nicht zuletzt gegen Liberalismus und Modernismus als religionszersetzende Geisteshaltungen. In der von ihm propagierten deutschen Religion, einer Art germanisch-christlichen Glaubens, sieht er das einzige noch verbliebene Heilmittel gegen die "gesellschaftliche Fragmentierung"63 und den endgültigen Untergang deutschen Volkstums. Dieser Untergang werde von den Feinden der Deutschen, der jüdischen Nation, betrieben. Die Beschreibung der jüdischen "Nation in der Nation" wird, typisch für die _____________ 59 60 61 62 63
Vgl. dazu von See 1994, 286f. Lagarde, a. a. O. 181f. Stern 1963, 3. Vgl. dazu: Sieg 2007, 57f.; 61. So Sieg 2007, 292.
477 Der religiöse Diskurs
Lagardesche Art der Stilistik, metaphorisch bewertet: "ein fremder Körper im Lebe erzeugt Eiterung."64 Dass Juden in seiner Menschenbildkonstruktion zu den Nichtgöttlichen gehören, ist oben schon angedeutet worden. Aber für Lagarde bedeutet Nichtgöttlichkeit in diesem Kontext keineswegs Menschlichkeit. Lagarde ist bekannt dafür, dass er das Vorbild abgab für viele sprachliche Dehumanisierungen, die er mit Vorliebe gegenüber den Juden anwendet. So stigmatisiert er die Juden regelmäßig65 z. B. als Homunculi,66 Trichine und Bazillen oder als Träger der Verwesung.67 Lagarde 2, 209: 68 Es gehört ein Herz von der Härte einer Krokodilhaut dazu, um mit den armen, ausgesogenen Deutschen nicht Mitleid zu empfinden, und – was dasselbe ist – um die Juden nicht zu hassen, um diejenigen nicht zu hassen und zu verachten, die – aus Humanität! – diesen Juden das Wort reden, oder die zu feige sind, dies wuchernde Ungeziefer zu zertreten. Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichine und Bazillen werden auch nicht erzogen, sie werden so rasch und so gründlich wie möglich vernichtet.
Bei allem hetzerischen Judenhass, der bei Lagarde sehr ausgeprägt zum Vorschein tritt, muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass seine Schlüssel für die "Judenfrage" nicht mit demjenigen Chamberlains korreliert: "Wir werden das Judentum ganz gewiß nicht durch irgend welche Verfolgung, sondern nur dadurch überwinden, dass wir so lebendig wie möglich deutsch und evangelisch sind. Fort muß jenes ganz und gar, aber durch unser Leben, nicht durch die Hände des Büttels."69 Sein "Lösungsvorschlag" ist zum einen die "Verpflanzung der polnischen und österreichischen Juden nach Palästina."70 Zum anderen geht Lagarde, der anders als Chamberlain nicht ausdrücklich dem Rasseprinzip nachfolgt, letztlich immer noch von der Assimilierbarkeit einzelner jüdischer Menschen durch die deutsche Kultur aus.71 Lagarde, Deutsches Vaterland 198: Schon jetzt steht fest, daß alle Juden, welche mit Ernst machendem Leben der Indogermanen in Berührung kommen, demselben unterliegen. Bisher ist noch kein Jude, der griechische Philosophie, deutsche Geschichte, deutsche Musik von Herzen studiert hat, Jude geblieben, und keiner der so dem Judentume Entfremdeten darf behaupten, daß ihm nicht alle wirklich deutsche (sic!) Herzen freudig und dauernd warm entgegengeschlagen hätten.
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Lagarde, Deutsche Schriften 1903, 25. Vgl. dazu auch: Sieg 2007, 60f. Lagarde, Schriften für das deutsche Volk 1, 1933, 371. Lagarde, Deutsche Schriften 1903, 25. Lagarde, Schriften für das deutsche Volk 2, 1933, 239. Lagarde, Schriften für Deutschland 1933, 182. Lagarde, a. a. O. 25; vgl. auch 190. Lagarde, a. a. O. 198.
478 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
Richard Wagner hat genau diese Ansicht übernommen und sie mit seinen Einflüssen von Seiten Gobineaus zu einer Art Kulturantisemitismus verbunden. Dessen Schwiegersohn Chamberlain radikalisiert alle drei Vorläufer zu einer eigenen Form des Kulturrassismus. Doch diese Aussagen über bestimmte radikalere Rezipienten soll keineswegs relativieren, wie sehr Lagarde in seinen Schriften, ähnlich wirksam übrigens wie Chamberlain, jeder Form von Antisemitismus Vorschub geleistet hat. Vor allem seine dehumanisierende Metaphorik hat bis in neonazistische Kreise der Gegenwart Schule gemacht.72 Lagardes Ideen sind zeitgenössisch vor allem von den späteren "Deutschen Christen" übernommen worden, die sie zum Teil in der Vermischung mit Chamberlain'schen Zusätzen zu einer realen Glaubensgemeinschaft umzusetzen begannen. Chamberlains Thesen, dass die Person Jesus ein Arier gewesen sei,73 dass nur eine nationale Religion,74 ein germanisch"christlicher" Glaube die Rettung des deutschen Volkes ermöglichen könne, was u. a. durch die Richtigstellung falscher, durch den Juden Paulus75 in die wahre Religion eingeführter Glaubenslehren geschehen müsse, setzen also in erheblichem Maße fort, was Lagarde vorgedacht hat. Babel und Bibel, Vorw. zur 4. Aufl. der Gl 41: Für uns Laien ist es aber ausserdem von Wert, dass wir Lagarde als Menschen gut kennen und uns somit ein Urteil über ihn zutrauen dürfen. Denn für uns gehören seit lange seine Deutschen Schriften zu den teuersten Büchern und gilt namentlich seine unerschrockene Aufdeckung der Minderwertigkeit der semitischen religiösen Instinkte und ihrer schädlichen Wirkung auf die christliche Religion, als eine That, die Bewunderung und Dank verdient. Lagarde […] wollte das ganze Alte Testament aus der christlichen Religionslehre ausgeschieden wissen; denn, sagt er: »an dessen Einfluss ist das Evangelium, so weit dies möglich, zu Grunde gegangen«.
Beide Autoren wurden vom zeitgenössischen Bürgertum begeistert rezipiert.76 Und beide glaubten an Ausnahmepersönlichkeiten. Sowohl Chamberlain als auch Lagarde warteten auf die Führergestalt: "Nur Eines Mannes großer, fester, reiner Wille kann uns helfen."77 Was beide jedoch deutlich voneinander unterscheidet, ist ihre Art des Antisemitismus und ihre Bewertung von Kultur. Chamberlains Antisemitismus basierte auf einem biologischen Rassebegriff, der bei Lagarde nicht in derselben Weise ausgeprägt war. Für ihn war Kultur immer nur Mittel
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Vgl. dazu Pörksen 2000, 187f. Vgl. dazu Stern 2963, 68. Vgl. auch Lagarde, a. a. O. 56. Vgl. Lagarde, a. a. O. 44ff.; 46; 50. Vgl. dazu Sieg 2007, 13-21; 293; 304; 308ff. Lagarde, a. a. O. 145; vgl. auch ebd. 25.
479 Der religiöse Diskurs
zum Zweck; wenn sie Selbstzweck wird, ist sie für ihn sogar Götzendienst (ebd. 96). Insgesamt ist die deutsche Religion,78 wie sie Lagarde im Visier hat, anders zu beurteilen als Chamberlains rassistische Heilsutopie. Der Satz Lagardes: Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüte, den auch Chamberlain affirmativ anführt, ist als Ausdruck einer auf die individuelle Entwicklung des Menschen hinzielenden These zu betrachten,79 die dem programmatischen rassebedingten Kollektivismus Chamberlains fundamental zuwiderläuft. Während sich das Individuum bei Lagarde noch ändern kann, – sogar ein Jude könnte nach diesem Prinzip sein Judentum ablegen und dem Gemüt nach Deutscher werden, – so ist dies bei einem dezidiert rassistischen Verständnis nicht möglich. Chamberlain hat dies erkannt, will aber dem auch von Wagner hoch verehrten Vorläufer nicht zu sehr widersprechen. Immerhin bezieht sich Wagner ja häufig dezidiert auf Lagarde, vor allem wenn er die Selbstvernichtung des Jüdischen als einzige Möglichkeit der Juden zur Kultur ansieht und konkret wenn er über Börne schreibt (in Vom Judentum in der Musik): "Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für den Juden aber zu allernächst so viel als: aufhören, Jude zu sein. Börne hatte dieß erfüllt".80 Diesen Hintergrund sollte man kennen, um Chamberlains Entgegnung auf Lagarde einordnen zu können. So lautet die Fortsetzung seines Kommentars: Gl 574: Die Bedeutung dieses physischen Momentes lässt sich leichter an grossen Volkserscheinungen als am Individuum nachweisen, denn es kann vorkommen, dass ein ungewöhnlich begabter Einzelner sich eine fremde Kultur aneignet und dann, gerade in Folge seiner innerlich abweichenden Eigenart, Neues und Erspriessliches zu Stande bringt; dagegen wird der besondere Wert der Rasse klar, sobald es sich um Gesamtleistungen handelt, was ich dem deutschen Leser gleich zu Herzen führe, wenn ich ihm in den Worten eines anerkannten Fachmannes mitteile, dass "die bevorzugten grossen Staatsmänner und Heerführer der Gründungszeit des neuen Reiches meist von DER REINSTEN GERMANISCHEN ABSTAMMUNG SIND," genau ebenso wie "die wetterfesten Seefahrer der Nordseeküste und die kühnen Gemsenjäger der Alpen". Das sind Thatsachen, über die man viel und lange nachdenken sollte. […] Sie lehren auch einsehen, in welchem genau bedingten Sinne das bekannte Wort jenes echt germanischen Mannes, Paul de Lagarde, Geltung beanspruchen darf: "Das Deutschtum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüte." Beim Einzelnen, ja, da mag das Gemüt das Geblüt beherrschen, hier siegt die Idee, doch bei einer grossen Menge nicht. Und um die Bedeutung des Physischen, sowie die Beschränkung, die es mit sich führt, zu ermessen, bedenke man ferner, dass das, was man "die germanische Idee" nennen kann, ein unendlich zartgebauter, reichgegliederter Organismus ist.
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Z. B. Lagarde, a. a. O. 140. Vgl. dazu Lagarde a. a. O. 86ff. Wagner, Vom Judentum in der Musik, SuD 5, 85.
480 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
Insgesamt geht es Chamberlain, der im Unterschied zu Lagarde81 Luther sehr verehrt, nicht um eine negativ-akademische Kritik am Protestantismus, sondern – in seinem Sinne konstruktiv – um eine umfassende germanische Weltanschauung (Gl 1060; 1066f.; 1068; AW 84 u. ö.), die Religion, Kunst, Wissenschaft und Philosophie schöpferisch miteinander und vor allem mit seiner Rassentheorie verbindet. Bäuerliche Volkstümlichkeit mit einer Rückbesinnung auf Ackerbau, Viehzucht und einfachen Handel,82 wie sie Lagarde immer wieder einfordert, sind dem auf Bildungsgrößen und Künstlertum orientierten Schwiegersohn Wagners unwichtig. Chamberlains Heilige bzw. "Gottmenschen" heißen im Unterschied zu denjenigen Lagardes Schiller, Goethe, Wagner und Kant. Gl 1048: Und doch hatte gerade Kant gelehrt: "Religion zu haben ist Pflicht des Menschen gegen sich selbst." Sobald er aber auf Christus hinweist und sagt: "seht, hier habt ihr eine vollständige Religion! hier erblickt ihr das ewige Beispiel"! da besteht der Einwurf nicht mehr; denn dann ist Kant gleichsam ein zweiter Johannes, "der vor dem Herrn hergeht und seinen Weg bereitet". Dahin - zu einem geläuterten Christentum - drängte die neue germanische Weltanschauung alle grössten Geister am Schlusse des 18. Jahrhunderts.83
2. 4. Ernst Bergmanns 25 Thesen der Deutschreligion Einer der radikalsten Nachfolger Chamberlains84 und Lagardes war wohl Ernst Bergmann (geb. 1881, gest. 1945 durch Selbstmord).85 Der Leipziger Professor, der seit den 20er Jahren Mitglied der NSDAP war, publizierte neben dem in der Überschrift genannten Katechismus Die 25 Thesen der Deutschreligion (2. Aufl. 1934) unter anderem auch Die Deutsche Nationalkirche86 und Deutschland, das Bildungsland der neuen Menschheit. Eine nationalsozialistische Kulturphilosophie. Schon in den aufgeführten Titeln werden die ideologischen Traditionen zu Chamberlain sichtbar, erstens das Prinzip einer deutschen Nationalkirche, zweitens der Kulturchauvinismus, vor allem aber drittens die Utopie eines neuen Menschen. Hinzu kommen der _____________ 81 82 83 84 85
86
Vgl. dazu: Lagarde, a. a. O. 37; 192. Vgl. dazu u. a. Lagarde, a. a. O. 22f.; 26. Vgl. dazu auch Gl 1050. Vgl. dazu auch Fenske 2005; dort besonders 168ff.; Puschner, Zeitenblicke 2000; Bärsch 2002; Hesemann 2004. Bergmann studierte Germanistik und Philosophie in Leipzig, war einige Zeit in Berlin als Dramaturg und Regisseur tätig und wurde schließlich1916 Professor in Leipzig. Er war der Herausgeber der Zeitschrift Deutsches Werden. Vgl. dazu: Fenske 2005, 168; Klee, Personenlexikon 2005, 41. Ernst Bergmann, Die 25 Thesen der Deutschreligion. Breslau 1934; ders., Die Deutsche Nationalkirche. Breslau 1933; ders., Deutschland, das Bildungsland der neuen Menschheit. Eine nationalsozialistische Kulturphilosophie. Breslau 1933.
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beiden gemeinsame radikale Antisemitismus, ein die Germanen zum Kulturvolk stilisierender Rassismus und vor allem die Idee des Gottmenschen. In der Bergmannschen Radikalisierung erkennt man Chamberlains rote Fäden. Sie werden von diesem nur noch konsequent zusammengeführt, radikal zu Ende gedacht und zum Ausgangspunkt eines neuen Glaubens erklärt. Dass Bergmanns Schriften deswegen auf dem katholischen Index stehen, verwundert nicht. Bergmann will eine artgerechte Religion (Thesen 6), eine moderne Naturreligion vom Geistkind Gott, das im Schoße der Allmutter ruht (Thesen 42). Seine Vorgehensweise entspricht nahezu mustergültig den Traditionen des antisemitischen und kulturpessimistischen Diskurses. Er bedient die Verfallstopoi, die antisemitische Feindbildkonstruktion, den antijudaistischtheologischen Schulddiskurs und entfaltet eine Heilslehre auf der Basis einer christlich-germanisch-naturreligiösen Synthese. Diese 'artgemäße' Religion soll gesund und natürlich sein, eine Religion ohne Krankheits- und Entartungserscheinungen (Thesen 12), eine Religion der Tat und des Willens, der Leistung und der Vervollkommnung (ebd.). Thesen 12: Sie ist eine kräftige und wahrheitsmutige Sitten- und Wirklichkeitsreligion, die alles Morsche und Brüchige im Volksleben wie die Philosophie und Theologie als tödliches Gift ausscheidet und zur Erbgesundheit im körperlichen wie im seelisch-geistigen Leben zurückkehrt.
Diese "Deutschreligion" sei eine positive Religion mit moralischem Optimismus, eine deutsch-nordische Ethik (Thesen 51), die nicht nur dem gesunden, starken kulturschöpferischen, kämpferischen und vor allem dem heldischen (Thesen 12) germanisch-deutschen Volk entspräche, sondern die auch in die Lage versetzte, die Probleme des Diesseits kühn und unerschrocken anzugehen. Eine solche tatkräftige Diesseitsorientierung stehe entsprechend, – man beachte auch hier die Parallelen zu Chamberlain, – ganz im Gegensatz zum jenseitsorientierten Christentum mit seinem Schlechtigkeitsglauben / Pessimismus, seinen Synagogenphantasien der Erbsünde und der Sündenverfallenheit, die zur Demoralisierung / Entsittlichung des Menschen geführt hätten (ebd.). Thesen 56: Insbesondere ist durch die Verseuchung des germanischen Menschen mit dem Geist der Sündenvergebungs= und Rechtfertigungslehre die sittliche Höherentwicklung des Menschen aufgehalten worden. Wäre Germanien, das Führerland der nordischen Menschheit geblieben, das sittliche Antlitz der Menschheit von heute würde anders aussehen.
Das Christentum ist für Bergmann eine jüdisch-christliche Fremdreligion (ebd. 21) orientalischen Geistes (ebd. 7), eine fremde Irrlehre (28), die die germanischdeutsche Seele um die Reinheit, Eigenart, Größe und Geschlossenheit (ebd. 8) gebracht, die Volksmoral zerstört (ebd. 54) und an der germanischen Seele gesündigt (ebd. 21) hat. Sie ist eine ungesunde und unnatürliche Endzeitreligion, eine Religion der Müdigkeit und des Leidens, der Weltflucht und des Erlösungsverlangens
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(ebd. 12). Vor allem der Glaube an einen außerweltlichen oder Jenseitsgott sei nicht indogermanischen, sondern semitischen Ursprungs (ebd. 26). Was er dennoch will, – insofern bleibt Bergmann nicht nur dem 'Christentum' verbunden, sondern vor allem in der ideologischen und textgeschichtlichen Nachfolge Chamberlains, – ist ein Christus ohne Leid (ebd. 81), ein Heiland, der vor dem Manne steht als hohes und göttliches Vorbild männlich-heroischer Tugenden (81) und eine Kirche, wie er sagt, die im Dorfe bleibt (ebd. 23), also nicht mehr dem internationalen Christentum verpflichtet ist, sondern zur Deutschkirche wird. Bergmann erstellt eine Reihe germanisch und christlich-jüdischer Dichotomien: Germanische Volkswohlethik (ebd. 57), Gemeinschaft (58), Leistung (60), Selbstheiligung (60) und Verwirklichungsethik (37) auf der einen Seite, jüdisch-christliche Eigenheilsethik (57), Individualismusstreben (58), gnadenpassive Lastenabnahme (60), Passivmachung (60) und nichtarische Entartungsethik (37), asketisch-christliche Verfallsethik (40) oder Verkümmerungsethik (60) auf der anderen. Das germanisch-deutsche Volk ist in seinen wie in Gobineaus und Chamberlains Augen das Führervolk der nordischen Menschheit, die berufen war, die moderne Kultur zu schaffen, oder auf Fichte rekurrierend das Bildungsvolk der neuen Menschheit (ebd. 7). Es ist entsprechend auch dasjenige Volk, in dem sich Göttlichkeit offenbart. Thesen 18: Insbesondere wissen wir Deutschreligiösen, dass sich der göttliche Sinn der Welt niemals tiefer und reiner der schauenden Erkenntnis des Menschen offenbart hat als im Gottesreichtum der nordischen Seele und in der unergründlichen Tiefe des germanischen Geistes.
Abgesehen von der schauenden Erkenntnis, die bei Bergmann ebenso wie bei Chamberlain nur der erste Schritt hin zum eigentlichen Ziel, der Gottwerdung des Menschen ist, wird im Zitat vor allem durch den Ausdruck Gottesreichtum der nordischen Seele deutlich, dass Gott eine dem Menschen inhärente Größe ist. So fordert Bergmann, dass man Gott im Menschen suchen müsse, da dieser der Ort Gottes in der Welt ist (34, 47), der Ort der Gottesgeburt (37), in der Gott werden und wachsen muss (35). Der menschenartige Gott und der gottartige Mensch (36) sind nahezu zwangsläufige Pointierungen und Radikalisierungen der von Chamberlain vorgedachten germanischen Weltanschauung. In ihr war dem arischen Menschen seine eigene Vergöttlichung zur Aufgabe gemacht worden. Bergmann greift dies auf und holt das göttliche Prinzip dabei noch radikaler ins Diesseits hinein. Thesen 36: Wir haben den rechten Weg, den Menschen zu bessern und zu veredeln, gefunden in der Verwirklichungslehre Gottes im Menschen oder in der Menschengotteslehre (Anthropotheologie). Diese Lehre versteckt Gott nicht hinter der Welt. Sie verlegt das Edle und Vollkommene nicht in möglichst weite
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Ferne vom Menschen, wie das die Jenseitsgotteslehre tat. Sie fordert vom Menschen das Gottsein oder Gottwerden und lässt nicht den Menschen in Gott stürzen, sondern Gott in den Menschen.
Auch die beiden anderen Personen der Trinität werden von ihm auf die gleiche Ebene mit dem Menschen gehoben bzw. erniedrigt, die Gotteskindschaft wird zur radikalen Bruderschaft mit Christus und dem Heiligen Geist verklärt: fühlen [wir], daß wir selbst der Heilige Geist sind […] und erfahren wir die Andacht und Weihe, die dieser Gedanke über unser ganzes Wesen breitet (ebd. 47). Hinsichtlich des christlichen Gottessohnes schreibt er sogar: Wir wollen nicht länger an Christus nur glauben, nein: wir wollen endlich Christus sein und als ein Christus handeln (ebd. 67; ähnlich 81). Mit diesem Appell wird die Frage aufgeworfen, was das konkret heißen soll: als ein Christus handeln. Bergmanns Antwort führt Gobineau, Chamberlain und Hitler zusammen. Sie ist nimmt vorweg, was die Nationalsozialisten in der konkreten Wirklichkeit des Dritten Reiches auch realisiert haben. Thesen 65: Wenn wir Heiland sein wollen […], dann müssen wir vor allem dafür sorgen, dass keine kranken und erlösungsbedürftigen Menschen mehr geboren werden. Wir erreichen dies, indem wir in unserem Volk nur erbgesunden Menschen die Fortpflanzung gestatten, alle Erbminderwertigen aber an der Fortpflanzung hindern. Es muß dann einmal der Tag kommen, wo Bethel und Bethesda verödet liegen, weil alle Kranken und Entarteten ausgestorben sind […].
Bergmanns Heilsweg sind Euthanasie und Eugenik. Mit ihnen will er dem durch das jüdische Christentum angeblich verursachten Verfall entgegentreten. In der vorgeburtlichen Menschenfürsorge, so der von ihm verwendete Euphemismus für Sterilisation und Mord, an anderer Stelle wird er deutlicher und nennt dasselbe Ausmerze des Erbminderwertigen und Bestenauslese der Erbtüchtigen (41), sieht er eine Erlösung zum Leben (64). Thesen 66: Die vorgeburtliche Menschenfürsorge, wie sie in der modernen Eugenik und Erbgesundheitslehre gefordert wird, ist also der einzig richtige Weg zur Befreiung des Menschen von trügerischen Erlösungs= und Unsterblichkeitsreligionen, die den Menschen bis heute nicht besser und glücklicher gemacht haben, die vielmehr gerade den Sieg der Eugenik bisher verhindert und die drohende Hospitalisierung des Menschengeschlechts befördert haben.
Der ewige Kreislauf des Menschengeschlechts, das Widergeborenwerden in einer sich immer weiter entwickelnden Rasse bedeutet für ihn Unsterblichkeit, ein Gedanke, den er wieder mit Chamberlain teilt. Beide haben die Vorstellung, sie könnten mit eugenischen Möglichkeiten einen neuen Menschentyp schaffen. Erlösung ist dann nicht das individuelle Erlöstwerden durch einen außerhalb des Menschen gedachten Gott, das der sittliche[n] Höherentwicklung des Menschen (ebd. 56) im Kollektiv im Wege stehe, sondern die Erschaffung des Ariers, den auch Bergmann als Lichtmenschen darstellt. Der Jenseitsgottesglaube der jüdischen Jahwereligion, der den Menschen herabwürdigt und bemakelt war für ihn
484 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
Thesen 38: der Anfang vom Ende aller Ethik. Im Zeitalter des Jenseitsgottesglaubens ist der Mensch gefallen und schlecht geworden. Mit dem hohen Menschenglauben der Deutschreligion könnte er wieder auferstehn. Wenn es nicht zu spät ist. Aber vielleicht beginnt mit dem Dritten Reich im verjüngten Deutschland eine neue Gotteszeit des Menschen auf Erden. Ist dieser große Gedanke nicht einen Glauben wert?
Die Anthropotheologie, die Menschengotteslehre Bergmanns, will die Einheit der Körperseele (ebd. 40) wieder herstellen, das universale Christentum durch einen nationalistischen Glauben ersetzen und ein Lichtheldentum (81) schaffen, das sich traut, an Gottes Stelle zu treten (68f.). Denn so Bergmann (63): Nicht nur Tiere und Pflanzen kann man züchten, sondern auch Gottmenschen. Es ist nicht nötig, weitere Details dieser Menschengotteslehre zu besprechen. Zu einer Religion ist sie nie geworden. Sie spiegelt jedoch in aller Deutlichkeit, wie radikal man Chamberlain übersetzen konnte, wenn man nur in einer radikalen Zeit lebt. 2. 5. Chamberlains Ethik Zum Menschenbild gehört immer auch die Frage nach den zugrunde liegenden Leitorientierungen menschlichen Handelns innerhalb einer Gesellschaft. In Chamberlains Fall kann diese Frage unter anderem mit dem Hinweis auf das völkisch-germanische Christentum beantwortet werden, das in eine bildungschauvinistische deutsche Überkultur eingebettet ist. Politisch betrachtet handelt es sich hierbei um eine Ethik, die in komplexer Weise jedes verantwortungsbewusste politische Handeln zum Nichthandeln verkehrt. Greifen wir hier auf die bekannte Unterscheidung von Gesinnungsethik und Verantwortungsethik durch Max Weber und deren Weiterung, wie sie in der Schicksalsethik von Karl Mannheim vorliegt, zurück. Ihre Übertragung auf Chamberlains Ethik führt vor Augen, welche Folgen eine solche Umkehrung für den gesellschaftspolitischen Entscheidungsprozess haben kann und muss. Ich zitiere die Weiterung Mannheims: Karl Mannheim, Ideologie und Utopie [1929/85], 165f.: Im Geschichtlichen spiegelt sich dies darin wider, daß der Mensch anfangs das Sozial-Weltliche genauso als Schicksal, d. h. als unbeherrschbar erlebt, wie wir wohl immer die naturhaften Grenztatsachen (das Faktum des Geborenwerdens und des Todes) erleben werden. Zu dieser Art des Welterlebens gehört eine Ethik, die man »Schicksalsethik« nennen könnte. Sie besteht im wesentlichen in dem Gebot, höheren, undurchschaubaren Mächten zu gehorchen.
Das völkisch-germanische Christentum determiniert jedes Einzelschicksal der durch Rasse und Blut untrennbar miteinander verbundenen Schicksalsgemeinschaft in der Weise, dass schon mit der Geburt und der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe eine Art völkischer Prädestination
485 Der religiöse Diskurs
vorgegeben ist. Zum Heil kann demnach nur der gelangen, der dieser Gemeinschaft von vorneherein angehört, und genau diese fundamentale Bedingung ist zu keiner Zeit revidierbar, da sie von einer höheren Gewalt entschieden und dem Einzelnen mit in die Wiege gelegt worden ist. Höhere Mächte wiederum sind es auch, die das jeweilige Schicksal des Individuums im Detail bestimmen. Die Zugehörigkeit zum auserwählten Kreis der zum Heil Prädestinierten verlangt einerseits die prinzipielle und aktive affirmative Akzeptierung dieses Höheren einschließlich aller damit verbundenen Vorentscheidungen und andererseits eine Unterordnung unter die gottgewollte Ordo bzw. das so festgelegte System, ohne das die Welt ins Chaos abzugleiten droht. Jedes dem entgegengerichtete individuelle Eingreifen könnte fatale Folgen haben und kann nicht geduldet werden. Alles Handeln wird in einem solchen System zum Erfüllen des Vorherbestimmten, wird zum Vollzug eines höheren Willens. Man mag sich von ihm emanzipieren, was als Möglichkeit ausdrücklich anerkannt wird. Wenn man es aber tatsächlich tut, dann sollte man sich im klaren darüber sein, so Mannheim, dass man neue Kausalreihen in die Welt setzt, dass man den beruhigenden Glauben an undeterminierte Entscheidungen aufgibt und sich eine Verantwortung auflädt, die die Handlungsirrelevanz der bloßen Gesinnung zugunsten gesellschaftlicher Verantwortung für den Sozialprozeß und die sich daraus ergebenden Regresspflichten stellt. Dies erfordert ein hohes Maß an Souveränität. Mannheim, Forts.: Der Durchbruch dieser an Schicksal orientierten Ethik vollzieht sich zuerst in der Gesinnungsethik, wo der Mensch zumindest sein Selbst dem Schicksalhaften im gesellschaftlichen Ablauf gegenüberstellt. Er reserviert sich seine Freiheit einmal im Sinne der Möglichkeit, durch die Tat neue Kausalreihen in die Welt zu setzen (wenn er auch auf die Beherrschbarkeit der Konsequenzen verzichtet), und zweitens durch den Glauben an die Undeterminiertheit seiner Entscheidungen. Eine dritte Stufe in dieser Entwicklung scheint unsere Gegenwart zu bedeuten: Der Sozialzusammenhang als »Welt« ist nicht mehr völlig undurchsichtig, schicksalhaft, sondern manche Zusammenhänge sind potentiell voraussehbar. Auf dieser Stufe taucht die Verantwortungsethik auf. Sie enthält einmal die Forderung, nicht nur der Gesinnung entsprechend zu handeln, sondern auch die möglichen, jeweils berechenbaren Konsequenzen in die Deliberation einzubeziehen, und zweitens […] die Gesinnung selbst einer bereinigenden Selbstprüfung zu unterwerfen, um die blind und nur zwangsläufig wirkenden Determinanten auszuschalten. Max Weber hat dieser bestimmten Art von Politik die erste durchschlagende Formulierung gegeben. In seinem Wissen und Forschen spiegelt sich dieses Stadium der Politik und Ethik wider, wo das blind Schicksalhafte am Sozialprozeß zumindest partial im Verschwinden begriffen ist und das Wissen des Wißbaren für den Handelnden zur Verpflichtung wird.
Das von Mannheim zweifellos als Aufklärung über Handlungsmöglichkeiten und -verantwortlichkeiten Gemeinte kann aber auch, die entsprechende Ideologie vorausgesetzt, als Warnung und gar als falsches Bewusstsein
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verstanden werden. Wo nämlich die Schicksalsethik das ideologische Bekenntnis bestimmt und dem Menschen die Verantwortlichkeit für sich und seine Umwelt, besonders aber für sich als Individuum und für andere Individuen, auf ein Minimum reduziert oder gar aufhebt, dort ist der kleine Schritt von einer relativen Apathie, positiv ausgedrückt, von einem erbaulichen Aufgehobensein in den natürlichen und göttlichen Vorgegebenheiten, hin zur maximalen Unterordnung unter alles als schicksalsmächtig Dargestellte, sei es das Göttliche oder die Natur in all ihren vielfältigen Ausprägungen, schnell vollzogen. Die Gesinnung ist dann nicht mehr überprüfbar bzw. stellt keine Aufgabe mehr dar, wie es von Weber und Mannheim postuliert wird, sondern sie wird der eigenen Befugnis entzogen. Und mit diesem Verlust der Gesinnung kann auch jede soziale Verantwortlichkeit negiert werden. Möglich wird dies besonders dann, wenn die reale Welt dadurch ihre Lesbarkeit87 verliert, dass der Mensch sich ihrer nicht mehr wirklich sicher sein kann und sich ihr damit auch nicht mehr wirklich beobachtend gegenüberstellt. Mitten in den Wirren einer durch Kulturkritik und soziale Frage ins Wanken geratenen Welt werden genau solche Sinnutopien errichtet, in denen das Schicksalsprinzip von religiös-göttlichen und natur-göttlichen Mächten zugespitzt und übertragen werden kann auf vergötterte Übermenschen wie Kaiser und Führer oder andere als übernatürlich konstruierte Größen, wie den Arier und den Germanen, die Bildungsreligion, die Extreme der Lebensphilosophie und andere Heilskulte. Das Prinzip der Verantwortungsethik gewinnt aufgrund der Infragestellung der Gesinnungsethik dann völlig andere Orientierungen. Es kann umschlagen, und zwar von einer Ethik, in deren Mittelpunkt die von historischen Menschen in einer gegebenen politisch-wirtschaftlich-sozialen Situation regresspflichtig zu treffenden Entscheidungen stehen, zu einer Ethik, deren Handlungspflichten sich aus vor jeder sozialen Handlung liegenden, als ontische Gegebenheiten aufgefassten Ideologemen ergeben. Die Spannweite zwischen dem einen und dem anderen ist groß; im heutigen Sinne kann sich Ethik zur Unethik wandeln, diese aber als eigentliche Ethik propagieren und bei entsprechender Rezeptionsbereitschaft gesellschaftlicher Schichten auf Akzeptanz hoffen. 'Ethik' ist im vorliegenden, auf Sprache bezogenen Zusammenhang neu zu definieren: Unter Ethik verstehe ich die Gesamtheit der durch ein überzeitliches und übersoziales Wertpotential begründeten handlungsanleitenden Maximen einer Gesellschaft bzw. einer der gesellschaftsinternen Kommunikationsgemeinschaften. Ethiken können religiös, naturwissenschaftlich, logisch, sozial begründet sein, müssen es aber nicht. Ihre Ein_____________ 87
Zum Terminus "Lesbarkeit": Blumenberg 1983.
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haltung kann nicht unbedingt juristisch sanktioniert, aber durch gesellschaftliche Ächtung erzwungen werden. Ethiken sind, da ihre Wertpotentiale offen gelegt und begründet werden müssen, im Unterschied zu Mentalitäten häufig textlich ausformuliert und daher für den Sprachwissenschaftler in besonderer Weise greifbar. Betrachten wir den kommunikationsethischen Ansatz von P. Grice und ergänzen ihn durch die Habermas'sche Diskursethik, dann haben wir ein Ideal, das eine Gesellschaft voraussetzt, die im Kern demokratisch verfasst sein muss, damit sie funktionieren kann. Die bildungsbürgerliche Gesellschaft, in der Chamberlain schriftstellerte und Hitler möglich wurde, wird mit diesem Ideal nicht operieren, da ihr der Wunsch nach kommunikativem Austausch, nach politischem Aushandeln, letztlich nach aktiver Verantwortungsethik fehlt. Sie sucht nach der übergeordneten Größe, nach der Person, der Institution oder der Macht, die ihre Handlungen motiviert und leitet. Zwar weiß man, was Humanismus ist, man gibt sich von der Gesinnung her moralisch, ja sogar sittlich, sieht darin sogar einen aktiven Anteil an der Weltgeschichte, aber man ist davon überzeugt, dass nur noch die Anderen missioniert werden müssen, während man mit Goethe, Kant und Schiller selbst schon längst auf dem Höhepunkt der Moral angekommen ist. Die eigene Gesellschaft tatsächlich im Sinne dieser Ethikideale umzugestalten oder nach ihnen in die Weltgeschichte einzugreifen, gehört nicht mehr ins handlungsanleitende Potential der säkularisierten Ethik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, immerhin des Zeitalters des Imperialismus, des Groß- oder gar Weltmachtstrebens mehrerer europäischer Staaten und des Wirtschaftsliberalismus. Dafür hat man die große Persönlichkeit, die staatstragende Bürokratie und natürlich den Staat selbst, aber vor allem das dahinter stehende allmächtige Schicksal, das im Aufgriff von Goethes Prometheus zum Überherrn über die Götter stilisiert wird. Schicksalsethik oder gar Schicksalsglaube sind die Determinativkomposita, die als ethische Grundlagen den Bogen spannen oder die Brücke bilden zwischen dem hier besprochenen Chamberlain und seinem politischen Nachfolger Hitler. Die viel beschworene deutsche Schicksalsgemeinschaft in all ihren polemischen, realtragischen und defätistischen Folgen war schon zu Zeiten Bismarcks und Chamberlains als hinter allem stehende Ethik vorhanden, sicher mit verschiedenen Graden der Deutlichkeit, teils dumpf und gebrochen, teils aber ausformuliert und begrifflich auf den Punkt gebracht, sicher in ihren Handlungskonsequenzen auch unterschiedlich bewusst, oft aber auch explizit vertreten, und sie wurde in Hitlers Vorsehung schließlich zur Handlungspflicht instrumentalisiert. Die von Chamberlain vorgenommene Menschenbildinszenierung basiert auf einem handlungs- und verantwortungsverweigernden Gemeinschaftsideal, das keinen Raum lässt für das aktive Eingreifen Einzelner in
488 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
bereits vorhandene Kausalketten bzw. in dasjenige, was von Chamberlain als Ordo und harmonische Welt konstruiert worden ist. Und hier zeigt sich ein wichtiges Rezeptionsmotiv für die Chamberlain'schen Schriften. Chamberlain präsupponiert sogar mit seiner Leitidee vom Völkerchaos eine dahinter stehende Welt der Ordnung. In ihr hat der Mensch seinen festen Platz und fest umrissene Aufgaben. Orientierungslosigkeit gibt es ebenso wenig wie existentielle Lebensangst oder alltagsnotwendige Verantwortungsübernahme. Einmal auf einen Platz gesetzt, bleibt der Mensch, wo und was er ist. Sozialer und gesellschaftlicher Niedergang wird damit ebenso ausgeschlossen wie Verantwortungsübernahme und psychologische oder politische Überforderung. Diese heile Welt gilt es nun im göttlichen Auftrag wieder herzustellen, indem man das über die Jahrhunderte hinweg entstandene Chaos in Ordnung zurückverwandelt, auch dies nur als Erfüllung vorgefasster Pläne, nicht als Durchführung von Menschen gedachter Ideen. Genau dies bei seinen Lesern zu suggerieren, d. h. also den Anschein der allgemeingültigen Wahrheit und damit der übermenschlichen Legitimation seiner Schriften zu erwecken, ist die "große" Leistung Chamberlains, die aber nicht ohne die prinzipielle Bereitschaft seiner Leser möglich gewesen wäre, sich der gesellschaftlichen und politischen Verantwortung zu verweigern. Eine solche Haltung hat selbst wiederum vielerlei Motive; eines davon ist die kulturchauvinistische Bildungsreligion des deutschen Bildungsbürgers, der den eigentlichen Leserkreis Chamberlains ausmacht.
3. Der biologistische Menschenbilddiskurs: Der Darwinismus Gib nach dem löblichen Verlangen, / Von vorn die Schöpfung anzufangen! / Zu raschem Wirken sei bereit! / Da regst du dich nach ewigen Normen, / Durch tausend, abertausend Formen, / Und bis zum Menschen hast du Zeit. Goethe, Faust II. 2, 8321 (Walpurgisnachtszene).
Der naturwissenschaftliche Zugang zu den anthropologischen Grundfragen: Was ist der Mensch?88 Wo kommt er her? Wo geht er hin? ist durchaus keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, wie man bereits an den einschlägigen Schriften von Bonnet,89 Leibniz, Kant,90 Herder91, Goethe92
_____________ 88 89 90 91 92
Vgl. dazu auch: Elsner 2003, 9-45. K. Bonnet, Betrachtungen über die Natur. 3. Aufl. Leipzig 1774. Kant, Kritik der Urteilskraft. Hamburg 1968. Ch. G., Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. 1784-1791. Vgl. Faust, II. 2, 8321; siehe Zitat oben.
489 Der biologistische Menschenbilddiskurs
oder Cuvier93 und vieler anderer erkennt. Er findet in der Zeit der großen medizinischen und biologischen Entdeckungen aber einen seiner Höhepunkte. Auch die Evolutionsforschung, die zu Recht mit dem Namen Charles Darwins verbunden wird, geht auf lange schon schwelende Diskussionen unter den Gelehrten zurück und ist ein Produkt verschiedenster Einzelforschungen, von denen hier nur auf die Arbeiten von Alexander von Humboldt,94 T. R. Malthus,95 Jean Baptiste Chevalier de Lamarck und Carl von Linné,96 vor allem aber auf Beiträge von Zeitgenossen und Freunden Darwins wie Charles Lyell97 verwiesen werden soll. Doch die wissenschaftsgeschichtlichen Traditionen der Evolutionstheorie, etwa die Idee vom genealogischen Zusammenhang verschiedener _____________ 93
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Für Chamberlain gehörte besonders George Cuvier zu seinen Lieblingsautoren (Lebenswege 262): "Ein Buch namentlich schwebt mir vor, das […] zu den unvergänglich schönen Büchern gehört im Sinne derjenigen, die als echte Bücher erdacht und ausgeführt sind […], ich meine Cuvier's Abhandlung über die Umwälzungen der Erdoberfläche und über die Veränderungen, die sie im Tierreich veranlaßt haben. […] Für mich, der ich an der Hand Lyell's das Studium der Geologie antrat und lange dem Einfluß Darwin'scher Annahmen ausgesetzt blieb, bedeutete die Auffassung Cuvier's zunächst eine arge Zumutung; später kam dazu die jahrelange Vertiefung in Goethe, bis ich dessen große Lehre von der "Ruhe" in mich aufgenommen hatte: Und selbst im Großen ist es nicht Gewalt!" Lebenswege 269: "haben sich die Deutschen […] auf diesem Gebiete wenig ausgezeichnet, so daß auch die Engländer ihnen darin entschieden überlegen sind - ich brauche nur Lyell, Faraday, Erasmus und Charles Darwin, Huxley zu nennen-‚ so besitzen sie doch in Alexander von Humboldt eine sehr bedeutende, in ihrer Art einzige Ausnahme und in Goethe das Muster einer dergestalt vollendeten Darstellung von Naturgegenständen, daß es nichts gibt, was mit ihr verglichen werden könnte. Bei Beiden ist nun die Betonung der Bedeutung der Sprache in ihren Naturschriften bezeichnend: hierin offenbart sich das Bestreben, das Studium der Natur zu einem Element der allgemeinen Menschenkultur zu erheben.” T. R. Malthus, An essay on the principle of population or, a view of its past and present effects on human happiness 1826. Carl von Linné, Oeconomia naturae quam praeside D. D. Car. Linnaeo publico esamini submissit, Isacus J. Biberg Upsaliae 1749. / Politia naturae quam […] proposuit, H. Chr. Wilcke. Upsaliae 1760. Linné geht von der Unveränderlichkeit der Arten aus und seine Einteilung der lebendigen Organismen in Klassen, Ordnungen, Geschlechter und Arten hat Schule gemacht. Der Mensch ist in Linnés hierarchisch gegliederter Ordnung die erste Art des ersten Geschlechts. Linné überträgt vom Menschen ausgehend den Staats- und vor allem den feudalen Ständegedanken auf seine gesamte Naturbetrachtung. Die auf Gott zurückgeführte und damit unveränderliche Ordnung impliziert Herrscher und Diener mit jeweils unterschiedlichen Pflichten. So bekommen selbst die Bäume eine höhere Stellung zugesprochen als die Moose und Gräser. Analoges gilt für die Gliederung der Menschen. Linnés Wirkung auf Gobineau und andere Rassetheoretiker ist unverkennbar. Dies gilt vor allem in Bezug auf die schon bei ihm vorherrschende Charakterisierung des homo sapiens europaeus als blond und blauäugig. Das Buch des Geologen Charles Lyell, "Principles of geology", hatte den aufschlussreichen Untertitel: "An inquiry how far the former changes of the earth's surface are referable to causes now in operation". Darwin trug es während seiner fünfjährigen Reise auf der Beagle bei sich und fand darin wichtige Argumente gegen die bislang vorherrschende theologisch begründete Schöpfungstheorie. Denn schon für Lyell ging der Prozess der "Schöpfung" weiter.
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Organismen und der von Darwin dazu gelieferten Erklärungen, besonders die Selektionstheorie, sind hier nicht das Thema, sondern deren diskursive Folgen, vor allem außerhalb des Fachgelehrtenpublikums. Denn mit der Evolutionstheorie waren die bewährten einfachen Antworten auf die oben genannten anthropologischen Grundfragen nicht nur auf den Prüfstand geraten, sondern im Sinne Freuds zur narzisstischen Kränkung des Menschen geworden. Die Frage nach der Abstammung der Menschen ist die nach dem Woher des Menschen. Glaubte man bisher an den einmaligen direkten und vor allem exklusiven Schöpfungsakt durch Gott, so wurde diese Exklusivität nunmehr demontiert, der Mensch hatte seinen Platz als Krönung der göttlichen Schöpfung verloren. Diese zweite narzisstische Kränkung, die erste war die kosmologische, die dritte die psychoanalytische (s. o.), belastete umso schwerer, als mit der Frage nach dem evolutionären Woher auch die als noch demütigender empfundene Frage nach den Verwandtschaftsverhältnissen verbunden war. Während die Einreihung des Menschen in die biologische Gesamtentwicklung eine Herausforderung an den theologischen Schöpfungsgedanken darstellte, war die damit einhergehende Familienvernetzung mit der Tierwelt vor allem unter psychologischen Gesichtspunkten niederschmetternd. Besonders die Affentheorie in ihrer dem Persönlichkeitskult diametral entgegenstehenden Propagierung wurde für viele Zeitgenossen zum direkten Angriff auf die Würde des Menschen. In der naturwissenschaftlich geprägten Erkenntniswelt des 19. Jahrhunderts wurde also die biologische Sonderstellung des Menschen komplett aufgehoben und selbst die theologische schien auf der Prämisse der biologischen kaum mehr haltbar zu sein. Was für die evolutionsgeschichtliche Vergangenheit gilt, muss umso folgenreicher für eine neue Ausrichtung der Zukunft sein, die von nun an erheblichen Raum für Spekulationen, aber auch für biologische Gestaltungsmöglichkeiten zulässt. Der Mensch war nun nicht mehr das eigentliche Ziel der Geschichte, sondern bloß ein Stadium in einem langsam, aber kontinuierlich fortschreitenden Prozess, der mit scheinbar zufälligen Variationen und einem erbitterten Kampf ums Dasein einhergeht, sich also nicht qualitativ von anderen Stadien unterscheidet. Gott und die theologische wie teleologische Sinngebung werden dabei ebenso in Zweifel gezogen wie die eigene personale Identität. Was für die einen eine plausible Erklärung frei von jeglichem Aberglauben bieten mochte, war für die anderen die kulturgeschichtliche, da mit demütigenden Tierparallelisierungen einhergehende Ernüchterung. Für Schriftsteller wie Chamberlain aber sollten diese naturwissenschaftlichen Erkenntnisse grundlegende Basispfeiler für zukunftsweisende Erbaulichkeit werden, da sie dort anknüpften, wo die Sinnfragen neu gestellt werden mussten. Auf der Basis von Selektion und Züchtung ermög-
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lichten ihre Antworten neue Bestimmungen der Herkunft des Menschen, neue Deutungen seiner Gegenwart und schließlich vor allem neue Zukunftsentwürfe, zusammengefasst: eine zugleich vergangenheits- wie gegenwarts- und zukunftsbezogene Ideologie. Mit ihr wusste man wieder, wo man herkam, wie man sich durchgesetzt hatte, wozu man fähig war und wie man die Zukunft gestalten könnte. Diese neue Form der Handlungsmöglichkeit des Menschen, verstanden als aktive Einfügung in den biologischen Prozess wie als Möglichkeit seiner Beschleunigung und seiner Richtungsbestimmung, gewann für viele Zeitgenossen immer mehr an Überzeugungskraft und passte zudem zu den national orientierten politischen Handlungszielen der Zeit. Der Darwinismus gehörte zu den zeitgenössischen Hauptdiskursen, die demnach nicht nur bei Biologen wie Chamberlain viel Interesse fanden. Besonders aus den Briefen und der Autobiographie Lebenswege kann man herauslesen, dass Chamberlain die Reaktionen wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Rezipienten über den Darwinismus98 sehr genau verfolgt hat, um mit den eigenen Schriften ebenfalls Teil dieses Diskurses zu werden. Der evolutionsbiologische Diskurs des 19. Jahrhunderts spiegelt sich entsprechend in allen Texten Chamberlains, allerdings nicht in der Weise, dass Darwins Aussagen so, wie dieser sie bei akademischer Betrachtung beabsichtigt haben mag, rezipiert worden wären, und nicht einmal so, wie der Diskurs in fachwissenschaftlichen Kreisen geführt wurde. Chamberlain greift Darwins Gedankengut vielmehr ähnlich selektiv auf, wie er es mit allen anderen Autoritäten getan hat, verändert es in seinem Sinne und setzt es so modifiziert für seine Zwecke ein.99 Unterstützung erhält er darin durch eine sich schnell entwickelnde besondere evolutionsbiologische Interpretationsausrichtung, den Sozialdarwinismus.100 Dabei wird selbst das Soziale und Gesellschaftliche unter den biologischen Evolutionsgedanken gestellt, was einen gewichtigen Unterschied zu Darwins Vorgaben zum Ausdruck bringt. Chamberlain gehört bereits zu denjenigen, die das Darwinsche "Survival of the fittest" vom Überleben des Angepasstesten zum Überleben des Stärkeren machen. GL 328: Soweit unser Blick zurückreicht, sehen wir Menschen, sehen, dass sie grundverschieden in ihrer Anlage sind, und sehen, dass Einige kräftigere Wachstumskeime zeigen, als andere. Nur Eines kann man, ohne den Boden historischer Beobachtung zu verlassen, behaupten: hohe Vortrefflichkeit tritt nur durch die Veranlassung besonderer Umstände nach und nach in die Erscheinung, sie wächst durch erzwungene Bethätigung; andere Umstände können sie gänzlich verkümmern lassen. Der Kampf, an dem ein von Hause aus schwaches Men-
_____________ 98 Z. B. ebd. 94; 115. 99 Vgl. dazu auch Weikart 2006, 124. 100 Zum Sozialdarwinismus: Becker, Wege ins Dritte Reich 1990, 379ff.
492 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
schenmaterial zu Grunde geht, stählt das starke; ausserdem stärkt der Kampf ums Leben dieses Starke durch Ausscheidung der schwächeren Elemente. Die Kindheit grosser Rassen sehen wir stets von Krieg umtobt, selbst die der metaphysischen Inder.
Darwin hat das Selektionsprinzip des Lebenskampfes nicht auf menschliche Gesellschaften übertragen, doch die von ihm vorgegebene Sprache, seine Metaphorik und Stichwörter lieferten seinen selbsternannten Erben, darunter Ernst Haeckel,101 dem Autor der Welträtsel,102 den Ausgangspunkt für ihre Theorien. Allein die Kampfmetapher (struggle) gehörte durch ihn zum priorisierten Wortschatz der Sozialdarwinisten, ebenso das in der Nazizeit grausame Karriere machende Selektion (selection). Und so scheint es im bereits vorgetragenen Kontext nur konsequent, dass auch der Biologe Chamberlain die Vorlagen Darwins z. B. über die socialen Instincte103 aufnimmt und zu gesellschaftlichen, gar zu germanischen Instinkten modifiziert (Gl 184; 401; 914). Seinen Hauptanknüpfungspunkt an Darwin meint er jedoch in der Bestätigung seiner Rassentheorie zu sehen. Br I, 83f. an Ernst von Wolzogen: Ohne allen Zweifel gründet sich meine Auffassung - nicht bloß jetzt nachträglich als Stütze Wagnerscher Ideen, sondern von vornherein - auf Darwin. [..]. Doch das alles nur nebenbei, und damit Sie begreifen, welch ein enormes Gewicht ich auf des großen Darwins positives - nicht hypothetisches - Lebenswerk lege. Und dieses positive, rein empirische, nie mehr wegzuleugnende Werk ist der Beweis von der Bedeutung von Rasse im ganzen Bereich lebender Wesen. […] Wenn Sie nun, verehrter Freund, die leidige Hypotheserei beiseite lassen, einschließlich aller der staatsanwältlichen Argumente, die aus Embryologie und Paläontologie geschöpft werden, […], und wenn Sie nun Darwins gesamtes Werk noch einmal auf das durchgehen, was er positiv gesehen, positiv gesammelt, positiv dargetan hat, so werden Sie sehen, daß das Unumstößliche an seinen Ergebnissen der Nachweis von der Bedeutung der Rasse ist.
Wieder ist es der Rassegedanke, den Chamberlain auf den ganzen Bereich lebender Wesen, damit auch auf Kultur, Sozialität, Politik, überträgt und diese damit dem menschlichen Zugriff enthebt. Er legitimiert eine solche Übertragung damit, dass er sie einem höheren Gesetz, einer höheren, übernatürlich legitimierten Ordnung unterstellt, die keinerlei Widerspruch zulässt. Die Betonung dieser Regressverweigerung ist umso wichtiger, als Chamberlain sich mit seiner Berufung auf den Darwinismus auf ein Konstrukt stützt, dessen Wissenschaftlichkeit außerhalb jeden Zweifels stand
_____________ 101 Chamberlain lehnte Haeckels Theorien ab. Vgl. Gl 94; 879; Leopold von Schroeder 65. 102 Die Welträtsel erschienen 1899 zum ersten Mal, wurden bereits im ersten Jahr 100 000 Mal verkauft und schnell in 24 Sprachen übersetzt, darunter Chinesisch und Japanisch. Allein in Deutschland erreichten sie bis 1933 eine Auflage von 410 000 verkauften Exemplaren. Vgl. Field 1981, 292. 103 Darwin, Die Abstammung des Menschen. 1875, 106ff.
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und das damit einen hohen Legitimationswert hat.104 Wenn er Darwin seinen Rassegedanken unterschieben kann, was er im obigen Zitat tut, kann er von sich und seinen eigenen Rasseideen sagen, sie seien auf der Höhe der Wissenschaftlichkeit seiner Zeit. Kritisiert er Darwin, stellt er sich sogar noch über ihn. Diese Übertragung der Darwinschen Vorlage auf die eigenen antisemitischen Beweisführungen beruht in erheblichem Maße auf metaphorischem Sprachgebrauch. Sie verbindet rein aggregativ das Biologische mit dem Religiösen, Darwins Evolutionstheorie mit Rassegedanken und Antisemitismus. Es ist eine Scheinargumentation, die von der Bildlichkeit lebt und die Sachzusammenhänge ausblendet und verfälscht. Gl 259/60: Wir sind gewohnt, das jüdische Volk als das religiöse Volk par excellence zu betrachten: in Wahrheit ist es ein (im Verhältnis zu den indoeuropäischen Rassen) religiös durchaus verkümmertes. In dieser Beziehung hat bei den Juden das stattgefunden, was Darwin "arrest of development" nennt, eine Verkümmerung der Anlagen, ein Absterben in der Knospe. Übrigens, waren alle Zweige des semitischen Stammes, sonst in mancher Beziehung reich begabt, von jeher erstaunlich arm an religiösem Instinkt; es ist das jene "Hartherzigkeit", über welche die bedeutenderen Männer unter ihnen stets klagen. Wie anders der Arier! Schon nach dem Zeugnis der ältesten Urkunden (die weit über alle jüdischen zurückreichen) sehen wir ihn beschäftigt, einem dunkeln Drange zu folgen, der ihn antreibt, im eigenen Herzen zu forschen. Dieser Mensch ist lustig, lebenstoll, ehrgeizig, leichtsinnig, er trinkt und er spielt, er jagt und er raubt; plötzlich aber besinnt er sich: das grosse Rätsel des Daseins nimmt ihn ganz gefangen, nicht jedoch als ein rein rationalistisches Problem – woher ist diese Welt? woher stamme ich? – worauf eine rein logische (und darum unzureichende) Antwort zu geben wäre, sondern als ein unmittelbares, zwingendes Lebensbedürfnis.
Dem Lebensbedürfnis stehen die Verkümmerung der Anlagen (vgl. auch Gl 328) und das Absterben in der Knospe gegenüber. Lebensphilosophische Gedanken werden auf der Basis evolutionstheoretischer Annahmen mit rassebiologischen verbunden und dazu genutzt, Zweige eines angenommenen Stammes, des semitischen, in die Nähe von Unfruchtbarkeit, Instinktarmut und damit in eine Defizienz zu rücken, die geradezu entwicklungshemmend wirkt, ein evolutionstheoretisch bedrohliches Postulat, das die Fortpflanzung der Art in Frage stellt. Das große Rätsel des Daseins ist für Chamberlain, Schopenhauer wie für Darwin die Arterhaltung. Für Chamberlain ist sie besonders dem jungen Arier eigen und äußert sich in einem unmittelbar zwingenden Lebensbedürfnis. Wieder baut er Gegensätze auf: Das Alte und das Neue, das Semitisch-Jüdische, das für den Untergang steht und evolutionstheoretisch am Ende angekommen ist, und das Arische als _____________ 104 Damit ist nichts über die Adäquatheit der Theorie im Detail gesagt. Ohne in einen Kreationismus verfallen zu müssen, kann man Darwins Theorien durchaus auch heute noch sinnvoll anzweifeln. Vgl. dazu: Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit 2007.
494 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
Inbegriff der jungen Völker, die wie die Kinder Garanten einer lebendigen Zukunft sind. Die jungen Völker werden schließlich zum sinnbildlichen Inbegriff der Zukunft und ziehen als Schlagwort in die nationalkonservative Literatur des beginnenden 20. Jahrhunderts105 ein. Mit dem zuletzt Formulierten ist deutlich geworden, dass Chamberlain Darwins Theorien modifiziert und an seine Zwecke angepasst hat. Eine solche Funktionalisierung ist jedoch nur dann möglich, wenn der Ausgangstext schon prinzipielle Anknüpfungsstellen zulässt. Die oben angesprochene Metaphorik gehört zu diesen sprachlichen Möglichkeiten. Es sind aber auch Darwins Schlagwörter selbst bzw. die mit ihnen neu gesetzten Kollokationen, die zu Synapsen zwischen Darwinismus und Rassismus werden konnten. Ein Beispiel für diese Art der Glaubwürdigmachung eigener Interpretationen Darwinscher Texte soll im Folgenden an den Äußerungen Darwins zur Entwicklung der moralischen Eigenschaften des Menschen (s. Beleg unten) kurz umrissen werden. Ein wichtiges Motiv für das allgemeine Interesse lag, wie schon angedeutet, darin begründet, dass der evolutionsbiologistische Ansatz Charles Darwins von den Zeitgenossen sofort als diametral entgegengesetzt zu den religiösen Antworten verstanden wurde. Darwins Theorie negiert den einmaligen und alles sofort fertig stellenden Schöpfungsakt Gottes und setzt ihm einen evolutionären Prozess entgegen, bei dem der Mensch nicht das Produkt göttlichen Willens, sondern dasjenige eines langwierigen natürlichen Auswahlprozesses ist, der sich ausgehend von einer niedrigeren Stufe der Existenz durch Variation und natürliche Zuchtwahl vollzieht.106 Diese Zuchtwahl sei ein Auswahlprinzip der Natur und entspreche den objektiven Überlebensbedingungen der Arten, und es entziehe sich durch seine geologischen und biologischen Zeitmaße von Jahrmillionen der direkten Beobachtung durch den Menschen. Die genannten Ausdrücke Selektion, natürliche Zuchtwahl, Kampf107 um die Existenz, Auslese sind leicht in rassistische Kontexte überführbar und gehören entsprechend zu _____________ 105 Neben O. Spenglers, Untergang des Abendlandes, das bekannteste zeitgenössische Buch zum Thema ist: Arthur Moeller van den Bruck, Das Recht der jungen Völker 1933. (zuerst 1919). 106 Vgl. dazu: Darwin, Abstammung des Menschen 52 u. ö. Vgl. auch eine Briefstelle Darwins an Prof. Asa Gray (Brief vom 5. September 1857): "Es ist wunderbar, was durch Befolgung des Grundsatzes der Zuchtwahl vom Menschen erreicht werden kann, d. h. durch das Auslesen gewisser Individuen mit irgend einer gewünschten Eigenschaft, das Züchten von ihnen und wieder Auslesen u.s.f. […] Zuchtwahl ist in Europa nur seit dem letzten halben Jahrhundert methodisch befolgt worden; […]. Seit sehr langer Zeit muss auch eine Art unbewusster Zuchtwahl bestanden haben, nämlich in der Weise, dass, ohne irgend an ihre Nachkommen zu denken, diejenigen Individuen erhalten wurden, welche jeder Menschenrasse unter ihren besonderen Verhältnissen am nützlichsten waren. Das »Ausjäten«, wie die Gärtner das Zerstören der vom Typus abweichenden Varietäten nennen, ist eine Art von Zuchtwahl." Zitiert nach: Darwin, Über die Entstehung der Arten 1884, 17. 107 Darwin, Abstammung des Menschen 204 u. ö.
495 Der biologistische Menschenbilddiskurs
den immer wiederkehrenden Ideologiewörtern in Chamberlains Schriften. Doch während die Darwinsche Terminologie in ihrer deutschen Übertragung allgemein bekannt ist, gehören seine Formulierungen über die socialen Instincte zu den weniger prominenten, für Autoren wie Chamberlain aber besonders prägenden Vorlagen, da sie alltagsrelevant und geschichtlich begreifbarer scheinen. Darwin schreibt: 108
Darwin, Abstammung 691: Die Entwickelung der moralischen Eigenschaften ist ein noch interessanteres Problem. Ihre Grundlage findet sie in den socialen Instincten, wobei wir unter diesem Ausdrucke die Familienanhänglichkeit mit einschließen. […] Ein moralisches Wesen ist ein solches, welches im Stande ist, über seine früheren Handlungen und deren Motive nachzudenken […]; und die Tatsache, daß der Mensch das einzige Wesen ist, welches man mit Sicherheit so bezeichnen kann, bildet den größten von allen Unterschieden zwischen ihm und den niederen Tieren. Ich habe aber im vierten Capitel zu zeigen versucht, daß das moralische Gefühl erstens eine Folge der ausdauernden Natur und beständigen Gegenwart der socialen Instincte ist; zweitens daß es eine Folge der Würdigung, der Billigung und Mißbilligung seitens seiner Genossen ist, und drittens, daß es eine Folge des Umstandes ist, daß seine geistigen Fähigkeiten in hohem Grade thätig [sind].
Die Verbindung von social und Instinct ist bereits auf den ersten Blick widersprüchlich, da das Adjektiv einer gesellschaftsbezogenen typisch menschlichen Kategorie angehört und das Substantiv Instinct auf eine der menschlichen Kontrolle entzogene, Menschen wie Tieren gemeinsame biologische Größe referiert. Doch in Darwins Zitat wird das Soziale in eine Reihe mit biologischen und angeborenen Eigenschaften des Menschen gestellt und somit zumindest partiell zu einer naturbedingten Größe gemacht.109 Der Mensch als zoon politicon ist in dieser Betrachtungsweise nicht das Produkt der Gesellschaft, in der er lebt, sondern er unterliegt nicht nur in seiner Körperlichkeit einem Ausleseprozess, der durch das vorsoziale Erlernen und Erkennen aus Erfahrungen geprägt ist. Der Ausdruck socialer Instinct impliziert damit nicht nur, dass der Mensch letztlich in einen großen Stammbaum von Tieren gehört, über die er durch seine natürliche Begabung zur Sozialität hinausgewachsen ist, er impliziert auch die Fähigkeit des Menschen zur in seinem Sinne verstandenen moralischen Evolution, und zwar als Bedingung der Möglichkeit von Kultur. _____________ 108 Ähnlich a. a. O. 108. 109 Vgl. dazu auch: Darwin, Arten 1884, 281 und 318: "Endlich mag es wohl keine auf dem Wege der Logik erreichte Folgerung sein, es entspricht aber meiner Vorstellungsart weit besser, solche Instincte, wie die des jungen Kuckucks, der seine Nährbrüder aus dem Neste stösst, wie die der Ameisen, welche Sclaven machen, oder die der Ichneumoniden, welche ihre Eier in lebende Raupen legen, nicht als eigenthümliche oder anerschaffene Instincte, sondern nur als unbedeutende Folgezustände eines allgemeinen Gesetzes zu betrachten, welches zum Fortschritt aller organischen Wesen führt, nämlich: Vermehrung und Abänderung, die Stärksten siegen und die Schwächsten unterliegen."
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Der eigentliche Morallehrer ist neben dem Mitmenschen dann die dem Menschen mitgegebene Natur, das Instinktive. Dieses wird entsprechend zu derjenigen Größe, die alle anthropologischen Fragen zu beantworten hat, seien sie körperlicher oder sittlich moralischer Art. Damit wird der Instinkt zum eigentlichen Antrieb des Lebens, - eine bei vielen Psychologen auch heute noch übliche Grundthese –, die den Menschen und die Gesellschaft aus ihrer sozialen Verantwortung entlässt. Darwin postuliert in seiner Theorie, wobei er wohl nicht ahnte und vor allem nicht intendierte, was von rassentheoretischer Seite schließlich alles daraus legitimiert würde, die Letztbegründung menschlichen Daseins aus der Arterhaltung, die sich durch beständigen Kampf vollzieht, aus der Natur, deren ewigem Werden und Vergehen, ihrer Vielfältigkeit und Dynamik. In unserem Kontext ist die Hauptfrage, wie Darwin das menschliche Wesen, das er wieder zum Tier gemacht hat, in einem zweiten Schritt wieder vom Tier unterscheidet. Seine Antwort lautet, dass der Mensch eben ein moralisches Tier sei. Er ist aber nur moralisch in dem auch für andere Lebewesen gültigen Sinne, dadurch dass er aus seinen Fehlern lernen kann. Er steht deswegen in einer auch anderen Lebewesen möglichen Reziprozität zu seinen Mitmenschen und ist, wie schon ausgeführt, vor allem im Besitz der "sozialen Instinkte". Schon in diesen wenigen Ausführungen wird deutlich, dass Darwin selbst die Vorlage geliefert hat, mit der Sozialdarwinisten und Rassisten ihre Theorien verbinden konnten: die Biologisierung der Moral, der Sozialität und die Unterordnung alles Lebens unter bestimmte Gesetzmäßigkeiten, die außerhalb des göttlichen, vor allem aber des direkten menschlichen Zugriffs gestellt werden. Der einzig verbliebene Handlungsrahmen betraf die Züchtung über Generationen hinweg, nicht die soziale Für- oder Vorsorge. Darwin, Abstammung 699: Der Mensch prüft mit scrupulöser Sorgfalt den Charakter und den Stammbaum seiner Pferde, Rinder und Hunde, ehe er sie paart. Wenn er aber zu seiner eigenen Heirat kommt, nimmt er sich selten oder niemals solche Mühe. […] Doch könnte er durch Wahl nicht bloß für die körperliche Constitution und das Äußere seiner Nachkommen, sondern auch für ihre intelectuellen und moralischen Eigenschaften etwas thun. Beide Geschlechter sollten sich der Heirath enthalten, wenn sie in irgendwelchem ausgesprochenen Grade an Körper oder Geist untergeordnet wären […]. Alle sollten sich des Heirathens enthalten, welche ihren Kindern die größte Armuth nicht ersparen können, denn Armuth ist nicht bloß ein großes Übel, sondern führt auch zu ihrer eigenen Vergrößerung.
Die Publikation der Darwinschen Evolutionstheorie wurde zu einem der größten Skandale des Jahrhunderts; nicht nur die Kirchen feindeten die neue Lehre als atheistisch und religionszerstörend an, auch einfache Menschen fühlten sich existentiell betroffen. Doch sie hatte bald auch Anhänger und Fortsetzer, die einen, die Darwins Theorien zu einer neuen
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naturwissenschaftlichen Heilslehre erhoben, die anderen, die die Evolutionstheorie zu einer neuen Art des biologischen Rassismus brauchten. Für die letztere Gruppe war besonders das siebte Kapitel seines Abstammungsbuches mit der Überschrift "Über die Rassen des Menschen" wegweisend. Hier denkt Darwin nicht nur über die Bildung und das Aussterben von Rassen110 nach, sondern er stellt ganz nebenbei die Gemeinschaft von Europäern und Hindus in einem gemeinsamen arischen Stamm fest, der sich von einem semitischen Stamm der Juden abgrenzt.111 Der Darwinismus und seine wissenschaftsgeschichtlichen Folgeströmungen bildeten sich auf diese Weise zur ernstzunehmenden Alternative für Religion und Gottbegründung heraus. Von Darwin übernimmt Chamberlain neben der bereits vorgestellten Instinkthaftigkeit112 des Menschen im sozialen Bereich auch die Hauptthesen der Evolution,113 der Auslese,114 der Zuchtwahl,115 des Überlebenskampfes, außerdem auch die Naturbedingtheit der moralischen Veranlagungen (s. o.), letztlich das Prinzip der natürlichen Evolution auch innerhalb der charakterlichen Ausstattung des Menschen und damit die Möglichkeit, nicht nur körperlich stärkere Menschen zu "züchten", sondern auch Einfluss auf ihre geistige und seelische Beschaffenheit nehmen zu können. In allen Schriften Chamberlains lassen sich Beispiele für die zu Darwin erläuterte Verbindung von Sozialität und Naturdeterminierung finden, so z.B. in Formulierungen wie: bewusste Züchtung des Willens (Wille 10). Selbst politische Größen wie die Staatsbildung werden in den Bereich des Triebhaften116 transformiert, gelten so als naturbedingt und werden damit in einem höheren Sinne legitimiert. Kategorielle Inkompatibilitäten wie Natur und Kultur oder Natur und Gesellschaft werden in diesem Zusammenhang aufgehoben.117 PI 51: der Mensch ist nicht Ameise, vielmehr hält seinem staatenbildenden Trieb ein anderer Trieb das Gleichgewicht: der Trieb, sein Glück in sich und in dem kleinen vom Ich belebten Kreis zu finden.
Besonders die wichtigen Domänen Kunst und Religion werden von Chamberlain zu naturabhängigen Größen, die auf Trieben bzw. Erfahrungen im darwinistischen Sinne basieren. _____________ 110 111 112 113 114 115 116 117
Darwin, Abstammung 185ff.; 215ff.; 222. Ebd. 214. Vgl. Wille 10. Vgl. Gl 852. Vgl. Gl 329; 335. Br I, 83f. Vgl. dazu Chamberlains Gebrauch von Wille. Vgl. auch Chamberlain, Kant 639, wo er von darwinistischer Sittlichkeit schreibt oder in Gl 1109: "Wenn der starke naturalistische Trieb unsere Dichtkunst nicht von der Musik losgerissen hätte, hätten wir nie einen Shakespeare erlebt." Vgl. außerdem Gl 1113.
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Gl 1056: Und noch bleibt das Verhältnis zwischen Kunst und Religion zu nennen. […] Religion ist bei allen Indogermanen […] immer schöpferisch in dem künstlerischen Sinne des Wortes und darum kunstverwandt. Unsere Religion war nie Geschichte, nie chronistische Erklärung, sondern immer eigene innere Erfahrung und Deutung dieser Erfahrung, sowie der umgebenden (und somit auch erfahrenen) Natur durch freie Neugestaltung; andrerseits ging unsere gesamte Kunst aus religiösen Mythen hervor. Da wir aber heute es nicht mehr vermögen, dem naiven Trieb der schöpferischen Mythengestaltung zu folgen, so wird unser Mythus aus dem Werk der höchsten und tiefsten Besonnenheit hervorgehen müssen.
Kunst und Religion gehen laut dieser Textstelle zurück auf den naiven Trieb der schöpferischen Mythengestaltung. Sie sind in diesem Sinne Folgen einer anthropologischen Notwendigkeit. Mit solchen gemeinsamen Voraussetzungen ist es auch nicht verwunderlich, wenn Natur, Kultur und Religion in dieser mythischen Vermischung die Basis für das neue Christentum bilden, das Chamberlain in den Grundlagen als indoeuropäische mythische Religion (GL 668) bezeichnet. Religion und Kunst sind darin biologistisch konsequent der Natur untergeordnet, was auch die Rassebedingtheit dieser Größen unterstreicht. Gl 1115: Nichts fanden wir für unsere germanische Kultur bezeichnender, als das Hand-in-Handgehen des Triebes zur Entdeckung und des Triebes zur Gestaltung. Entgegen den Lehren unserer Geschichtsschreiber behaupten wir, nie hat Kunst und nie hat Wissenschaft bei uns gerastet; täten sie es, so wären wir keine Germanen mehr. Ja, wir sehen, dass sich beide bei uns gewissermassen bedingen: die Quelle unserer Erfindungsgabe, aller unserer Genialität, sogar der ganzen Originalität unserer Zivilisation, ist die Natur.
Ohne Darwins Untersuchungen wären Chamberlains Mutmaßungen nicht möglich gewesen. Das ist eine Tatsache, der selbst Chamberlain seinen Tribut schuldet, auch wenn er Darwins Thesen als handgreiflich unhaltbares System (Gl 29) bezeichnet und ihm mangelnde Übertragbarkeit auf das Gesamtkunstwerk 'Leben' unterstellt (Kant 532). Was ihm in allen Diskussionen über Darwins System fehlen musste, war die Teleologie (Kant 569), das Warum des Werdens und Vergehens, das Wozu des Lebens, aber auch die Reflexion der Kultur. Ihn stört darüber hinaus die Überbetonung rein naturwissenschaftlicher und vor allem theoretischer Ansätze, die seinem Postulat der reinen Anschauung nicht entsprechen können118. Chamberlain, Kant, 571f.: Welche Gefahr unserer gesamten Kultur vonseiten der Naturwissenschaft droht, sobald wir sie – wie heute – einseitig überschätzen und die notwendige Beschränkung ihrer Geltung nicht bedenken, das konnten Sie damals zugleich einsehen; […].
Bezeichnenderweise greift er auf der sprachlichen Ebene die Darwinschen Prämissen an, die er ja selbst immer wieder für seine Argumente heran_____________ 118 Vgl. dazu: Field 1981, 297-301.
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zieht. Im Kapitel über Platons Ideenlehre und im Rückgriff auf Kant desavouiert er erstens Darwins Terminologie als Idee, macht damit zweitens ihre biologisch-empirische Basis fragwürdig und stärkt drittens vor allem seine eigene Philosophie, seine Naturwissenschaft und Lebenspraxis überschauende und verbindende Position. Chamberlain, Kant 579: Nun hätte jeder philosophische Forscher seit jeher – auch Newton – Darwin belehren können, dass empirische, exakte Wissenschaft über URSPRÜNGE von Naturerscheinungen niemals etwas ausmacht; schon der ehrwürdige Roger Bacon im 13. Jahrhundert, der Weckrufer germanischer Wissenschaft, spricht die denkwürdigen Worte: causas non oportet investigare. Wäre Darwin – der unvergleichliche Beobachter empirischer Einzelheiten, der verehrungswürdige Mensch – auch nur ein klein wenig Denker gewesen, so hätte er einsehen müssen, dass »Art« überhaupt keine unmittelbare Naturerscheinung ist, sondern eine sehr langsam gewordene Idee, deren eigentlicher »Ursprung« im Menschenkopf liegt und nirgends anders, da sie eine jener Hypothesen bedeutet – »Stufe und Sprungbrett«, wie Plato sich ausdrückt – die der Mensch aufstellt, um mit der Natur in Fühlung zu treten, um sie besser »sehen«. und infolgedessen auch besser »denken« zu können
Er, Chamberlain, behauptet sogar zu diesem Thema, besser als Darwin sehen und denken zu können; besser heißt: sozialdarwinistisch und rassistisch. Es führt zwar kein direkter Weg vom englischen Naturwissenschaftler Darwin zum deutschtümelnden Rassenideologen Chamberlain, doch dieser profitierte entschieden von Darwins Untersuchungsergebnissen, von seinen Theorien über die Entstehung der Arten, vor allem aber von der daran anschließenden gesamteuropäischen Diskussion.
4. Joseph Arthur Graf de Gobineau Adolf Bartels 549: Überhaupt begannen nun Volkstum und Rasse als die stärksten und am sichersten erkennbaren historischen Entwicklungsmächte eine immer größere Rolle in der Wissenschaft und Weltanschauung zu spielen, man begann endlich zu begreifen, dass Blut ein besonderer Saft sei, und die Lehren des alten Humanismus und Kosmopolitismus wollten auch in ihren modernen Maskierungen nirgends recht verfangen, so eifrig sie uns namentlich das Judentum auch immer noch an den Mann zu bringen suchte. Die großen Werke des normannischen Grafen Gobineau […] und später die des Engländers Houston Stewart Chamberlain […] erlangten in Deutschland eine große Verbreitung und gewannen wohl die Mehrzahl der Gebildeten für die Rassentheorie, deren vollständige und sichere Durchführung der Wissenschaft ja freilich noch große Aufgaben stellt, und deren Anwendung auf die komplizierten modernen Verhältnisse ja so ganz leicht nicht ist, die aber doch immerhin ein festeres Fundament für die Ge-
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schichtsauffassung und Geschichtsschreibung bildet als die bloße Ideenentwicklung.119
Es ist kein Zufall, dass Gobineau und Chamberlain von Bartels nahezu im selben Atemzug genannt werden. Diskursgeschichtlich sind sie so eng miteinander verknüpft, dass Gobineau neben Darwin geradezu die zweite Voraussetzung für Chamberlain darstellt, auch wenn dieser diesmal eine solch enge Verbindung explizit abstreitet (Br I, 178f.). Beide vertreten eine anthropologisch bestimmte Geschichtsauffassung, bei der die Rassen Segen und Unheil der Menschheit bedeuten.120 Der französische Diplomat Joseph Arthur Comte de Gobineau (18161882), der bezeichnenderweise durch die Werkübersetzung und eine zweibändige Gobineau-Biographie (publiziert 1913) des Bayreuther Bibliothekars Ludwig Schemann in Deutschland bekannt wurde, hielt sich selbst für einen Nachkommen der normannischen Wikinger.121 Gobineaus besondere Rolle in der Geschichte bestand vor allem darin, das Wort Arier dem Antisemitismus verfügbar gemacht zu haben.122 Sein wichtigstes Werk L'essai sur l'inégalité des races humaines123 (dt.: Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen), das er zwischen 1853 und 1855 verfasst hat, wurde von Schemann ins Deutsche übersetzt und 1900 veröffentlicht. Es erfuhr in Deutschland, nicht zuletzt aufgrund dieser Übersetzung, weit mehr Beachtung als in Frankreich oder anderen europäischen Ländern.124 Graf Gobineau, der häufig im Hause Richard Wagners125 verkehrt hatte, wurde zum führenden Rassetheoretiker, und sein auf rassistischer Basis konstruiertes Welterklärungsmodell fand seine Anhänger in denselben Kreisen wie Chamberlain, für den Gobineau wichtigste ideologische Fundamente ge-
_____________ 119 Adolf Bartels, Geschichte der deutschen Literatur 1941, 549. 120 Über antisemitische Geschichtsbilder vgl. den gleichnamigen Band, hrsg. von Bergmann / Sieg 2008. 121 Klaus von See 1994, 144. 122 Von See 1994, 222, Römer 1985, 21. Von See weist übrigens darauf hin, dass Friedrich Nietzsche die Begriffe "Rasse" und "arisch" "wie manches andere", z. B. "Herrenmensch" von Gobineau übernommen habe. Vgl. von See 1994, 289; 290. 123 Joseph Arthur, Comte de Gobineau, Essai sur l'inégalité des races humaines 1853-55; deutsch von L. Schemann, Versuch über die Ungleichheit der Menschenracen 1898/1901. Zu Gobineau vgl. auch: Werner Conze, s.v. Rasse. In: GG 5, 161. 124 Nicht alle Rezipienten waren begeistert. Es gab auch Widerspruch. So verfasste z.B. der Hallenser Soziologie-Professor Friedrich Hertz (1878-1964) eine Art "Anti-Gobineau", die 1924 publizierte "Wissenschaftlichen Rassenkunde". Vgl. dazu: Römer 1985, 21f., 30. 125 Dazu Römer 1985, 31: "Wagner schenkte Gobineau ein Exemplar seiner "Gesammelten Schriften und Dichtungen" mit den Versen: "Das wäre ein Bund, Normanne und Sachse: Was da noch gesund, dass das blühe und wachse." Es wird berichtet, Wagner habe beim Vorspielen aus dem "Siegfried" ausgerufen: "Das ist Rassenmusik, das ist was für Gobineau!" Und Gobineau soll "in Wagner den Vollender des Germanentums" gesehen haben.
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legt hat. Oder um es noch deutlicher zu machen: Ohne die Vorlage des Franzosen wären seine Ausführungen nicht denkbar. Folgende auf das oben genannte Hauptwerk Gobineaus zurückgehende Prämissen gehörten nach der Publikation der Schemannschen Übersetzungen zum Repertoire der Völkischen:126 – Die Rasse sei der Dreh- und Angelpunkt jeglicher Kulturtätigkeit und Zivilisation. – Es könne keine Gleichheit zwischen den Rassen geben und damit natürlich insgesamt auch keine Gleichheit der Menschen, wie sie seit der Aufklärung und der Französischen Revolution propagiert wird. – Unter Gleichgesonnenen umstrittener, aber nicht minder grundlegend war, dass es "reine" Urrassen gegeben habe, deren kontinuierliche Vermischung untereinander zum Untergang von Rassen, Völkern und schließlich der Zivilisation geführt habe bzw. noch führen werde.127 Grad und Wert der Civilisation werden zum äußeren Ausdruck für den Grad der Vermischung (I, 283) und damit auch zum Zeitmesser für das nahende Ende, denn, so Gobineau (I, 31f.), die Völker "sterben, weil sie zum Bestehen der Gefahren des Lebens nicht mehr dieselbe Kraft haben, wie ihre Vorfahren, mit einem Wort, weil sie degeneriert sind." Und so lautet Gobineaus "bedrohlicher" Schlusssatz seines vierbändiges Werkes: Gobineau IV, 323: Die betrübende Voraussicht ist nicht der Tod, es ist die Gewissheit, daß wir ihn nur entwürdigt erreichen werden; und vielleicht könnte selbst diese unseren Nachfahren vorbehaltene Schmach uns gleichgültig lassen, wenn wir nicht mit einem geheimen Schauder empfänden, daß die räuberische Hand des Geschickes schon auf uns gelegt ist.
Der Weg von der ursprünglichen Reinheit bis hin zum angekündigten Untergang, die Zeiten der Degeneration (III, 413), in denen die allmähliche Zerbröckelung der Racen (III, 406), die die natürliche Gesundheit des socialen Cörpers zerstört habe, wird von ihm gekennzeichnet als Racenanarchie (III, 414), Wirrwar (I, 284), Racenwirrwarr (IV, 119/146), Racenzersetzung (IV, 217), Unordnung (I, 284), Verwirrung (I, 284), Menschenchaos (II, 5/6). Wichtigstes Schlüsselwort dieser Verfallskulisse, die wie bei Chamberlain besonders _____________ 126 Puschner 2001a, 75: "Von Gobineau abgeleiteter Grundsatz: "Jedes Volk muß rassenhaft bestimmt sein und bleiben, die Rasse ergibt das nationale Ferment". 127 Gobineau I, XVI: "daß die Racenfrage alle anderen Probleme der Geschichte beherrscht, den Schlüssel dazu birgt, und dass die Ungleichheit der Racen, deren Zusammentreffen eine Nation bildet, die ganze Kette der Völkergeschichte genügend erklären kann" (I, XVI). […] "daß Alles, was es an menschlichen Schöpfungen, Wissenschaft, Kunst, Civilisation, Großes, Edles, Fruchtbares auf Erden gibt, den Beobachter auf einen einzigen Punkt zurückführt, nur einem und dem nämlichen Keim entsprossen, nur aus einem einzigen Gedanken erwachsen ist, nur einer einzigen Familie angehört, deren verschiedene Zweige in allen gesitteten Gegenden des Erdballs geherrscht haben" (I, XXII).
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auf einer Unordnung und Chaos ausdrückenden Metaphorik beruht, ist degenerieren samt den zugehörigen Wortbildungen, darunter immer wieder Degeneration Gobineau I, 44: Hat dagegen dieses Volk, wie die Griechen, wie die Römer des byzantinischen Reiches, seine Racenkraft und deren Folgewirkungen gänzlich erschöpft, so wird der Augenblick seiner Niederlage der seines Todes sein: es hat die Zeit, die der Himmel ihm im Voraus bestimmt hatte, verbraucht, denn es hat vollständig die Race, also das Wesen gewechselt und ist folglich degeneriert.
Die Völker leiden im Anschluss an die Degeneration bei Gobineau nicht nur an tödlichen Wunden (I, 29), an Verlust an Lebenskraft (II, 19), sondern sind ohne Rettung dem Tode geweiht (s. o.), da der einzelne Mensch nicht mehr das "nämliche Blut in seinen Adern hat, dessen Werth fortwährende Verwischungen allmählich eingeschränkt haben. […] kurz, weil der Mensch des Verfalls, derjenige, den wir den degenerierten Menschen nennen, ein unter ethnographischen Gesichtspunkten von dem Helden der großen Epochen verschiedenes Subjekt ist" (I, 31f). Diesem degenerierten Menschen, der unweigerlich dem Verfall zum Opfer fallen wird, stellt Gobineau eine Größe entgegen, die als glorifiziertes Gegenbild die Tragödie des Untergehenden betont, den Arier. Mit ihm ist der "reinrassige Weiße" aus dem Norden gemeint, der gottähnliche Züge hat und der als die letzte Rettungsmöglichkeit der Menschheit propagiert wird. Nach diesem Kurzdurchgang durch Gobineaus Hauptthesen sollen drei, besonders von ihm geprägte Diskurse näher beleuchtet werden, zum einen der Rassediskurs als Zentrum seiner Ausführungen, dann der Menschenbilddiskurs, der sich in einer gleichermaßen ausgeprägten Dehumanisierung auf der einen Seite und einer Vergöttlichung auf der anderen teilt, und schließlich der Verfallsdiskurs, der nicht nur tragende Elemente des Kulturpessimismus vorführt, sondern die Zivilisation und die Geschichte in eine von höherer Gewalt gewollte Teleologie des Untergangs einfügt. 4. 1. Rasse bei Gobineau Gobineau teilt die Menschheit in drei ursprüngliche Ausgangsrassen und eine aus diesen hervorgegangene buntscheckige Mischlingsrasse (I, 282) ein. Die weiße oder arische Race, so Gobineau, sei den beiden anderen Rassen, der schwarzen und der gelben, körperlich wie geistig überlegen und deshalb zur Herrschaft berufen. Nur sie besitze kulturschöpferische Fähigkeiten, und nur mit ihr könne ein Volk eine Zivilisation errichten (I, 286), was soviel bedeutet, dass nur diejenigen Völker, die dieser Rasse zugehören bzw. in ausreichendem Maße mit ihr vermischt sind, überhaupt als zivilisationsfähig betrachtet werden. Jede Veränderung in den rassischen
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Bestandteilen muss folgerichtig auch Veränderungen im Wert der Zivilisation mit sich bringen. I, 133: daß das Urbildungsmerkmal jeder Zivilisation mit dem hervorstechendsten Zuge des Geistes der herrschenden Race völlig übereinstimmt, dass die Civilisation in dem Maaße ausartet, sich verändert, sich umwandelt, wie diese Race selbst derartigen Wirkungen unterliegt; dass sich der von einer inzwischen verschwundenen Race gegebene Anstoß doch in der Civilisation während einer mehr oder minder langen Dauer fortsetzt und daß folglich die in einer Gesellschaft eingeführte Art von Ordnung das ist, was die besonderen Anlagen und den Höhengrad der Völker am besten anzeigt; es ist der starke Spiegel, aus dem ihnen ihre Individualität zurückstrahlen kann.
Schon in der bloßen Formulierung Individualität der Völker wird eine besondere Nuancierung des Inhaltes und der Existenzform des Wortes bzw. seiner Bezugsgröße 'Volk' vollzogen, und zwar insofern, als die Charakterisierung mittels individuell einen bedeutungsverändernden Tropus (am ehesten eine Metapher) darstellt, der eine Qualität des Einzelmenschen auf das Volk überträgt und ihm eine ähnliche, nämlich natürlich-reale Existenzform zuschreibt, wie sie zwar für das Individuum nicht sinnvoll bestritten werden kann, durchaus aber für ein Kollektivum wie Volk. Da Gleiches für die Rasse gilt, können Volk und Rasse unter diesem Aspekt synonym verwendet werden. Beide werden damit aus der Sozialität und der Geschichtlichkeit herausgenommen und zum Produkt der jeweiligen Racenmischung als eines im Kern biologischen Vorgangs.128 Auch wenn Gobineau Kultur und Kunst zunächst als positive Folgen der Vermischung der weißen mit der schwarzen Rasse ansieht, ist für ihn längst entschieden, dass alle vermeintlichen und kurzfristigen Vorteile, die sich durch die Vermischung ergeben haben, gemeint ist natürlich ausschließlich eine solche, in der das weiße Element dominiert, nur den Untergang beschleunigen. Für ihn ist erwiesen, dass die weiße Dominanz nicht von Dauer sein kann, sondern insgesamt im Rückzug begriffen ist.129 Die Lehre von der Degeneration durch Blutmischung, die zur sozialen Nivellierung und damit zur Pöbelherrschaft führen müsse, passte gut zur zeitgenössischen Bildungsreligion und dem damit einhergehenden Kulturpessimismus. Gobineaus Rassebegriff weist deutliche Parallelen zu demjenigen Chamberlains auf. Ähnlich wie bei Chamberlain gehören Rasse (und die jeweiligen Wortbildungen, z. B. die Racenkraft), Nation, Volk, Stamm, Seele, _____________ 128 Gobineau IV, 301: "Nicht der Wille eines Monarchen oder seiner Unterthanen verändert das Wesen einer Gesellschaft, wohl aber, kraft der gleichen Gesetze, eine spätere Racenmischung." 129 Gobineau IV, 318: "[der] Bestand an arischem Blute, der in unseren Ländern noch vorhanden ist und allein das Gebäude unserer Gesellschaft noch stützt, steuert mit jedem Tage mehr dem Endziele seiner Aussaugung zu."
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Kraft, Menschenart, -typ, Individualität, Blut uvm. zu den Wortfeldern, die um den Begriff 'Rasse' kreisen. Auch für Gobineau ist Race ein Kollektivum für eine bestimmte Gruppe von Menschen oder Tieren, die durch ein biologistisches Kriterium, nämlich dasjenige der Blutsverwandtschaft bzw. der Abstammung, konstituiert wird und durch dessen Gebrauch es überhaupt erst möglich wird, Menschen und Tiere jeglicher Vorkommensform voneinander zu unterscheiden und zu hierarchisieren. Infolge der Analogsetzungen einerseits biologischer und andererseits moralischer und charakterlicher Merkmale bedeutet Rasse deshalb auch: >Gruppe von Menschen, die qualitativ, nämlich als kulturell höher- oder geringerwertig von anderen solcher Gruppen zu unterscheiden ist<. Von da ausgehende Tropisierungen sind: a) >Volksseele, Volkscharakter<; b) Mystifizierungen wie >eine den einzelnen Zugehörigen einer bestimmten Gruppe und der Gesamtgruppe von Gott verliehene, demnach gottähnliche Trieb- und Schöpferkraft, >eine Art rassebedingtes Über-Ich, das im Rassezugehörigen Handelnde, rassisch bedingte Triebkraft des Individuums und seiner Gruppe<. Besonders die mystifizierenden Tropen dienen der Hypostasierung und Sakralisierung von Rasse, wie sie Gobineau anstrebt. IV, 299f.: Es ist ein beherrschender Kreis in der Welt der immateriellen Dinge, in welchem sich thätige Kräfte, belebende Elemente bewegen, in beständiger Verbindung mit dem Individuum, wie mit der Masse, deren beiderseitiges geistiges Wesen einige mit der Natur jener Kräfte ganz übereinstimmende Theilchen enthält, und so dafür vorbereitet und in alle Ewigkeiten darauf eingerichtet ist, einen Antrieb von ihnen zu empfangen. Diese thätigen Kräfte, diese belebenden Elemente, oder wenn man sie unter einer concreten Vorstellung fassen will, diese Seele, die bis jetzt unbemerkt und ungenannt geblieben ist, muß den kosmischen Kräften ersten Ranges eingereiht werden. Sie spielt in der Welt des Unberührbaren eine ähnliche Rolle wie Elektricität und Magnetismus auf anderen Gebieten der Schöpfung, und, wie diese beiden Naturkräfte, läßt sie sich wohl nach ihren Functionen oder, genauer gesagt, nach ihrer eigentlichen abstracten Natur, in ihrer Gesammtheit, erfassen, beschreiben und würdigen.
Race erscheint bezeichnenderweise in kompositorischen Zusammenhängen mit Kraft und Antrieb, z.B. Racenkraft (I, 44), Racentriebkraft (IV, 315), und wird im obigen Zitat gleichgesetzt mit Seele. Ihr Vorhandensein wird einerseits zum Symptom von Wert und Unwert von Volksstämmen und Zivilisationen, damit zugleich zum Motor derselben, zur Voraussetzung für Erfolg und Misserfolg. Die Racenfrage (I, XVI) wird zur anthropologischen und historischen Hauptfrage erhoben, ohne die eine angemessene Betrachtung der Menschheitsgeschichte keine echten Zusammenhänge erkennen lasse, weil nur die Rasse den Zusammenhang ausmache. Gobineaus Ziel ist aber nicht nur die Betrachtung dieser Gesamtzusammenhänge, sondern in der Formulierung Schemanns der Versuch, "die tieferen Gründe der Wesenseinheit der socialen Krankheiten zu entdecken und die
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Gründe der Erhebung und des Verfalls der Nationen [zu] erklären." Die Rasse wird zum Antrieb und zum Schicksal der Völker, das 'Leben' der Racen, ihre Anatomie, ihre organischen Triebkräfte führen zu vorherbestimmten Ergebnissen, was sie prinzipiell dem menschlichen Zugriff, und vor allem der menschlichen Verantwortungszuständigkeit, entzieht. IV, 147: Ich befasse mich in keiner Weise damit, die Geschichte der Staatskörper, noch auch die guten oder schlechten Thaten ihrer Lenker vor Augen zu führen. Ganz und gar der Anatomie der Racen zugewandt, berücksichtige ich einzig und allein deren organische Triebkräfte und die vorher bestimmten Folgen […]; das Uebrige achte ich zwar nicht gering, lasse es aber bei Seite, wenn es nicht dazu dient, den zur Prüfung stehenden Gegenstand aufzuhellen. Wenn ich lobe oder tadle, so haben meine Worte nur einen vergleichsweisen oder gewissermaaßen bildlichen Sinn. In der That, es ist kein moralisches Verdienst für die Eichen, daß sie ihr, von einem grünen Diadem gekröntes, majestätisches Haupt durch die Jahrhunderte hoch halten, wie es ebenso wenig eine Schande für die Kräuter der Wiesen ist, daß sie in wenigen Tagen hinwelcken. Die Einen wie die Anderen füllen nur ihre Stellung in den Klassen von Pflanzen aus, und ihre Macht oder Bescheidenheit tragen gleichermaaßen zu den Plänen der Gottheit bei, die sie geschaffen hat.
4. 2. Dehumanisierung und Vergöttlichung Betraf der erste Grundsatz Gobineaus die Behauptung, die Rasse sei Dreh- und Angelpunkt jeglicher Kulturtätigkeit und Zivilisation, so besteht der zweite in der Feststellung der Ungleichheit der Menschenracen, daß es starcke und daß es schwache Racen gibt (I, XVII), also eine Ebene der Eichen und eine der Wiesenkräuter, wobei die einen herrschen, die anderen sich mit den untergeordneten Parthien begnügen müssen (I, 52). Gobineaus Moral der Stärke hat mit Darwins Evolutionstheorie nichts gemein, sondern lebt von Linné's Ordnungstheorie. Darwin ist für Gobineau noch eine unbekannte Größe, und zwar zunächst schon einmal aus rein chronologischen Gründen. Darwin hatte seine erste große und durchschlagende Monographie über die Entstehung der Arten erst im Jahre 1859 publiziert (On the origin of species by means of natural selection or the preservation of favoured races in the struggle for life), diejenige über die Abstammung (The descent of man and selection in relation to sex) erschien erst 1871, also lange nach den Arbeiten Gobineaus. Doch auch inhaltlich lassen sich Gobineau und Darwin nicht miteinander vereinbaren. So schreibt der Graf schon im ersten Band seiner Essais: I, 95: Ich weiß, dass sehr gelehrte, sehr unterrichtete Männer zu diesen etwas plumpen Ehrenrettungen Veranlassung gegeben haben, indem sie behaupteten, dass es zwischen gewissen Menschenracen und den größten Affenarten nur Abstufungen statt Scheidung gäbe. Da ich eine derartige Beleidigung unbedingt verwerfe, so muß es mir auch freistehen, von der Uebertreibung, mit welcher man darauf antwortet, mir Nichts anzunehmen. Ohne Zweifel sind die Menschenra-
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cen in meinen Augen ungleich; aber ich glaube von keiner, daß ihr das liebe Vieh an die Seite zu setzen und ähnlich sei.
Abgesehen von dieser deutlichen Absage an die Möglichkeit eines Verwandtschaftsverhältnisses zwischen den Menschen und bestimmten Tieren würde Gobineaus gesamte Weltentstehungstheorie ins Straucheln geraten, wenn er von einer fortwährenden Entwicklung ausgehen müsste. Für ihn, wie für viele seiner Zeitgenossen auch, war es im biblischen Sinne nach der Schöpfung zu einem Stillstand gekommen. Denn Gott begann am siebten Tage, also nach Vollzug der Schöpfung, für immer zu ruhen. Gobineaus Weltentstehungstheorie geht von 2 Etappen aus (I, 186/7), zum ersten von der Zeit der Schöpfung mit ihren tief greifenden Bewegungen und zum zweiten von der Zeit der Ruhe, die bis heute reicht und durch menschheitsgeschichtliche "Stabilität und Dauerhaftigkeit" gekennzeichnet ist. Diese Argumentation ist doppelt interessant: Einerseits macht sie deutlich, dass man Gobineau und Darwin nicht harmonisieren kann, da bei Darwin das Besondere und Neue gerade darin besteht, dass die Evolution unaufhörlich weitergeht und ein "ewiger" Prozess mit vielfältigen Möglichkeiten für die Zukunft ist. Bei Gobineau geht es hingegen immer um den ehemals gegebenen guten Ausgangszustand, der nunmehr zunehmend dem Verfall ausgesetzt ist. Und sie macht außerdem deutlich, dass Gobineaus Etappentheorie dazu dient, sowohl die Rassentrennung, die seiner Auffassung nach von Gott auf ewig (I, 187f) geschaffen ist, sakral zu legitimieren als auch deren Nichteinhaltung zur Sünde gegen die göttliche Weltordnung und zum Auslöser des Weltunterganges zu erklären. Denn mit dieser zweiten Etappe beginnt auch die Zeit der Vermischung,130 in deren Gefolge erst die unterschiedlichen Rassen entstehen, und zwar ungleich an Kraft und Schönheit (I, 188f.). Diese von Gobineau zur Tatsache erklärte allseitige, äußerliche, charakterliche und zivilisatorische Ungleichheit der Menschenracen ist abhängig vom jeweiligen Mischungsgrad der drei ursprünglichen Gruppen, von denen die gelbe und die schwarze als zivilisationsunfähig stigmatisiert werden (I, 111). Auf seiner Hierarchieskala sind die Schwarzen am niedrigsten anzusiedeln. Sie werden mit Attributen ausgestattet, deren Dehumanisierungstendenzen nicht zu übersehen sind. Mal werden sie metaphorisch zu Tieren gestempelt, mal zu Wilden, die im Übergangsstadium zwischen Tier und Mensch anzutreffen sind. I, 278: Und doch ist's nicht reinweg nur ein Stück Vieh, dieser Neger mit der schmalen, schiefen Stirn, der in der mittleren Parthie seines Schädels die Anzeichen gewisser plumpgewaltiger Kräfte trägt. Wenn sein Denkvermögen mittel-
_____________ 130 Gobineau I, 283 "der Zustand der Zusammensetzung ist für die Menschheit der geschichtliche Zustand."
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mäßig, oder sogar gleich null ist, so besitzt er dafür im Begehren, und folglich im Willen, eine oft furchtbare Heftigkeit. […]
Die Schwarzen seien brutal-grausam, der Vernichtungskrieg sei ihre Politik, Menschenfresserei ihre Moral und ihr Cultus. Mit unterstelltem Kannibalismus allein gibt sich Gobineau aber nicht zufrieden. Diese so leicht in Bewegung zu setzende menschliche Maschine (I, 279) sei auch ein Aasfresser, es gebe kein ekelhaftes Aas, das unwürdig befunden würde in seinem Magen zu versinken. Im Schwarzen zeige sich die Barbarei in ihrer ganzen Hässlichkeit (II, 2f.). II, 3f. Die Raubthiere schienen von zu edlem Wesen, um als Vergleichsobjecte mit diesen scheußlichen Stämmen zu dienen. Affen genügen, um ihr leibliches Bild vorzustellen, und für ihr geistiges Wesen glaubt man die Erinnerung an die Geister der Finsterniß wachrufen zu müssen.
Für die civilisatorische[n] Nichtigkeit der Schwarzen (II, 164), die u. a. als Ursache für den Verfall des mächtigen Assyrerreiches herhalten muss, kann die so zum Monster und halbmenschlichen Ungeheuer131 stigmatisierte Gruppe hingegen nichts, da ja, wie oben schon zitiert, auch ihre kognitiven Fähigkeiten beschränkt sind: II, 175: Der Neger kann eben seine Gedanken nur bis zum lächerlichen Bildniß, zum scheußlichen Stück Holz erheben, und angesichts der wahren Schönheit sind diese Gedanken taub, stumm und blind geboren.
Gobineaus Verachtung für seine schwarzen Mitmenschen kennt keine Grenzen. Ähnlich menschenverachtend ist die Beschreibung der äußerlichen Merkmale (I, 292-293) der so genannten gelben Rasse, bei der der Schöpfer nur eine Skizze habe machen wollen. Ihre Angehörigen seien im Allgemeinen klein, untersetzt, hässlich, unförmlich, von höchst beschränkter, aber nicht ganz null zu achtender Intelligenz, plump utilitaristisch und mit höchst überwiegenden männlichen Instincten ausgestattet (III; 141). Für die gelbe Rasse, die häufig mit den Mongolen gleichgesetzt wird, hat Gobineau die als besonders verächtlich gemeinte Charakterisierung der Mittelmäßigkeit eingeführt, an der letztlich die gesamte Menschheit zugrunde gehen würde: das Mongolische ist durch Mittelmäßigkeit und einen Hang zum Niedrig-Praktischen gekennzeichnet (II, 295). Weitere Zuschreibungen lauten: Sie behaupteten, von den Affen abzustammen (II, 296, man erinnere sich hier nur an das oben Zitierte, in dem derselbe die Verwandtschaft zu den Affen als Beleidigung bezeichnet hat), oder sie siegen nur aufgrund ihrer Massenhaftigkeit (II, 297), und immer wieder: sie hätten nur eine beschränkte Intelligenz (II, 301). Typisch sei eine leibliche und geistige Inferiorität (II, 297), das gänzliche Fehlen von Phantasie und Wissbegier (II, 294). Während die 'schwarze Rasse' durch die Zuschreibung von Faulheit und Trägheit verharmlost wird, sieht Gobineau in der gelben _____________ 131 Gobineau II, 16: "wilde Wesen von riesenhaftem Wuchs. Es sind Ungeheuer, gleich furchtbar durch ihre Hässlichkeit, ihre Kraft und ihre Bosheit."
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Rasse, die für ihn nur eine Übergangsstufe zur weißen sei, den wahren Feind: II, 381: daß die gelbe Race als Angreiferin und Siegerin, gerade wenn sie zwischen die weißen Völker gerieth, einem Flusse ähnlich wurde, der Goldlager durchströmt und zerstört; er belädt seinen Schlamm mit Goldkörnern und bereichert sich selbst. Darum erscheint die gelbe Race in der Geschichte so oft halbcivilisiert und verhältnißmäßig civilisationsfähig, bedeutsam zum Mindesten als Werkzeug der Zerstörung, während die schwarze Gattung, von jeder Berührung mit der erlauchten Familie mehr abgeschnitten, in eine tiefe Trägheit versunken bleibt.
Gerade seine Typisierungen der gelben Rasse gehen abenteuerliche Wege, bei denen immer weniger von Menschen die Rede ist als von Wesen, die alten Mythen und Legenden entsprungen sind. Auf der Suche nach der Urrasse in Europa kommt Gobineau auf die Finnen, die aufgrund wilder volksetymologischer Erörterungen gleichgesetzt werden mit gelben Menschen, d. h. mit der gelben Rasse, mit Pygmaeen und Zwergen (III, 158ff.), später sogar mit Faunen (III, 166). III, 174: Ein Pygmaee ist nicht mehr nur ein gelber Mensch, es ist ein Mensch, der mit allen Merkmalen der finnischen Race ausgestattet ist und damit kann das Wort dann auf Niemand sonst mehr angewandt werden.
Bezeichnenderweise sind es die zur Rasse erklärten Finnen, also eine Gruppe von Menschen, die in erster Linie durch ihre Nichtzugehörigkeit zur indogermanischen Sprachfamilie gekennzeichnet ist, der die vermeintliche Zerstörung der weißen Rasse zur Last gelegt wird. Der Ansturm der finnischen Schaaren (IV, 311) habe zur Umgestaltung der reinen Racen, zum Verschwinden der weißen Familien geführt und diese durch Mischzivilisationen ersetzt. Diese Degeneration habe aber nicht nur die Kelten erfasst, die besonders durch die Finnen verdorben worden seien (III, 259), sondern auch die Germanen (III; 266) und schließlich ganz Osteuropa. Die Zeit der römischen Kaiser und der Völkerwanderung wird Gobineau zur Schlüsselphase seiner Racenkampftheorie. Es ist dieselbe Zeit, die bereits unter dem Stichwort Völkerchaos erörtert wurde. Die Wanderungen mitteleuropäischer Völkerschaften nach Südgermanien, Gallien und Italien (IV, 64ff.) erscheinen dabei als Racenströme. Und die Hunnenkatastrophe habe die Gothen und Alanen von den Slaven mit dem Ergebnis losgerissen, dass Osteuropa seiner arischen Kräfte beraubt worden und mit einer unheilbaren Erniedrigung zurückgeblieben sei. Der damit eintretende Rückzug des Ariers wurde so zum Beginn des allumfassenden Verfalls. Die Eiche unter den Rassen war die weiße, innerhalb dieser stand die arische an ranghöchster Stelle. Ohne die Weißen gäbe es keine Civilisation, keine Kultur, keine Ordnung. Der Charakter des Weißen bestehe in einer besonnenen Energie, in energischem Geist, im Sinn für das Nützliche, für Freiheit, in der Liebe zum Leben, natürlich in der Hochschätzung von Ehre und Pflicht, in einem außerordentlichen In-
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stinkt (I, 283), in aufgeweckter kraftvoller Intelligenz (II, 12); vor allem sei der Weiße weniger sinnlich als der Schwarze und der Gelbe (I, 283). Die weiße Rasse bilde eine auserlesene Familie (II, 5), die sich von Anfang an im Zustand von Ueberlegenheit befunden habe. Diese prinzipielle Überlegenheit habe sich später durch ihre vielfachen Zweige entwickelt […] und zu verschiedenen Formen der Civilisation geführt. Entsprechend konnte auch nur die weiße Race im Besitz der Urwahrheiten der Religion (II, 11) sein. Doch nicht nur das. Speziell die Germanen seien den Göttern näher als alle anderen menschlichen Wesen. Sie bilden in Gobineaus Ausführungen das auf die Spitze getriebene positive Gegenbild zu den beiden bereits besprochenen dehumanisierten Gruppen. Die Argumentationsfigur Chamberlains, nach der die Fiktion eines zugleich Rasse-, Religions- und Kulturedlen in allen seinen Eigenschaften ein Gegenbild im rassisch, religiös und kulturell minder Ausgestatteten finde, hat in Gobineau seinen textgeschichtlichen Vorläufer. Gobineau unterscheidet 3 Klassen germanischer Völker (IV, 90f.): – Arier / Jarls = Herren / Helden edler Abkunft – Karls / Adelbauern = weiße Mischlinge: Slaven / Kelten – Thrals = Sklaven, schwarzbraune häßliche Race, in der man unmöglich die Finnen verkennen kann (ebd.). Während die Thrals schon deutlich der Vermischung zum Opfer gefallen sind, die Karls in ihrem Mischungsgrad noch von überwiegend arischen Elementen leben, sind die Arier nicht nur Helden, sondern durch eine Art Gottähnlichkeit typisiert. Nach einer langen pseudoetymologischen Erklärung zur Herkunft der Arier, gefolgt von der Aufforderung, die Indogermanen fürderhin nicht mehr als solche zu bezeichnen, sondern den vermeintlich viel zutreffenderen Namen Arier zu verwenden (II, 186; 188), beschreibt Gobineau diese stereotyp als schön, kraftvoll, blond und blauäugig, mit beherztem Mut und überlegen an Geist (II, 190). Ihre Tugend sei ein Heroismus, der selbst die Götter das Fürchten lehre, da "sie sogar Aussicht [hätten], die Götter selbst zu entthronen, und inmitten aller seiner Macht zitterte Indra immer, weil er beständig von der Gefahr bedroht war, sich das Scepter durch einen unbezwinglichen Sterblichen entrissen zu sehen" (II, 195). Die unbezwinglichen Sterblichen, die kraftvollen Kempen, werden in Indien auch die Himmlischen (II, 194) genannt und finden ihr griechisches Äquivalent in Halbgöttern wie Prometheus, Herakles und Theseus. Gobineau II, 195: Übrigens trifft man diesen stolzen Begriff von den Beziehungen des Menschen zu den übernatürlichen Wesen in den selben großartigen Verhältnissen bei den Griechen der Heroenzeit. Prometheus, der das göttliche Feuer stiehlt zeigt sich gewitzigter und als größerer Seher denn Jupiter; Herakles entreißt den Cerberus mit Gewalt dem Erebos; Theseus macht Pluto auf seinem Throne erzittern […].
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Die deklarierte Gottähnlichkeit seiner Arier führt Gobineau auf deren Vorzüglichkeit der Race, der Kraft und ihrer Würde zurück und begründet dies mit der Wirkung, die diese Göttlichkeit der von Norden gekommenen Eroberer schon auf die nichtarischen Menschen, die Neger gehabt hätte, da jene alles Ernstes die übernatürliche Gewalt für übertragbar hielten (II, 195) und die Arier entsprechend anbeteten (II, 196). Auffällig sind abgesehen von dieser Glorifizierung auch die unterstellten Handlungsfähigkeiten bzw. die Macht dieser Arier gegenüber den Göttern, so [hatten] die stolzen Arier sich den Himmel als Republik eingerichtet und die Götter, welche die Ehre hatten, über so stolze Menschen zu herrschen, waren es diesen Gottmenschen schuldig, dass sie sich deren Huldigungen erst verdienten. Damit wurden nicht die Menschen nach dem Bild der Götter geschaffen, sondern die Götter nach den Vorstellungen der Menschen: Gobineau II, 198: Das arische Volk wollte sie nach seinem Bild haben. Da es nichts Höheres als sich auf Erden kannte, so wollte es, dass auch im Himmel Nichts anders vollkommen wäre, als es selbst; aber die übermenschlichen Wesen, welche die Welt lenkten, mussten doch einen bestimmten Vorzug haben. Der Arier erkor ihn in dem, was noch schöner ist als die menschliche Gestalt in ihrer Vollkommenheit, in der Quelle der Schönheit, welche auch die des Lebens zu sein scheint: er erkor ihn im Licht und leitete den Namen der höchsten Wesen von der Wurzel du ab, dies besagt ERHELLEN: er schuf ihnen also eine Lichtnatur.
Handlungsträger in dieser Argumentation ist ganz offensichtlich kein Gott, sondern ein übernatürlicher Mensch. Das mächtige Reich der Götter wird damit zum Menschenkonstrukt und verliert seine Macht. Die Hypostasierung der Arier nimmt in diesem Gebäude ihren Anfang und zieht sich von da aus durch das gesamte Werk Gobineaus. Heroismus, Lichtnatur, Prometheus sind die Leitvokabeln, deren Rezeption auch im weiteren Verlauf noch verfolgt werden muss, da sie die Diskurse der nachfolgende Zeit prägen werden. Heroismus findet sich bei Nietzsche und Schopenhauer, Wagner und Chamberlain; Licht und Lichtnatur sind die Kennwörter der Lebensreform, und das Prometheusprinzip ist der Leitgedanke aller hier diskutierten Texte. Prometheus wird in Gobineaus Phantasie-Argumentation mit seinem Bruder Epimetheus zum Begründer der hellenischen Arier. Prometheus, der die Götter herausforderte, wird als Titan zu einem der Söhne desjenigen alten arischen Gottes, den wir schon in Indien in der vedischen Urzeit gefunden haben, des Varunas (III, 149). Dieser ist niemand anderes als der griechischmythologische Urgott Uranos, was schon am Namen leicht erkennbar sei. Gobineau III, 49f.: Die Titanen, Söhne des Uranos, des Urgottes der Arier, waren selbst, […], ganz unbestreitbar Arier und redeten eine Sprache, deren Reste in den hellenischen Dialekten fortlebten und sich ohne Zweifel sowohl mit dem Sanskrit als mit dem Zend, dem Keltischen und dem ältesten Slavischen eng berührten. […] Man erhob sie zu Göttern, man wies ihnen über der menschlichen
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Creatur ihren Platz an, man bekannte sich geringer als sie, und man ließ […] mit dieser Auffassung der Dinge sowohl den Urvölkern rein weißer Race als auch den Massen von mittelmäßigem Werthe, die ihnen gefolgt sind, vollkommen Gerechtigkeit widerfahren.
Nach den Titanen werden auch die Menschen der Heldenzeit, der vermeintlichen Urzeit der arischen Gesellschaft (III, 66f.; 108f.) in Griechenland, zu Halbgöttern, so die Helden Herakles und Theseus. Den Olympiern wie den Helden diente der arische Typus als Vorlage. Sie werden beschrieben als von hohem Wuchs, weiß und blond, mit azurblauen Augen (III, 66). Theseus bezeichnet Gobineau sogar als wahren Skandinavier. Von der Göttlichkeit der Arier, die die Unsterblichkeit geradezu erfunden zu haben scheinen (IV, 17), bis hin zur göttlichen Abstammungsthese der Franken ist nur ein kleiner Schritt, mit dem dann die Nachfahren der alten Arier, die Germanen, zum Ausdruck einer nahezu übermenschlichen Rasse stilisiert werden. Nur durch deren Racentriebkraft konnte das Unheil des Verfalls zumindest aufgehalten werden132 (IV, 61): "Daß der göttliche Ursprung, der Abstammung von Odin, mit anderen Worten der Zustand arischer Blutsreinheit, dieser Königsfamilie nicht abging, und daß nur durch die zerstörerische Wirkung der Zeit ihre Rechtstitel nicht auf uns gekommen sind." Die Parallelen von Gobineaus Menschenbild zu demjenigen von Chamberlain sind kaum zu übersehen: Wir finden bei beiden Autoren Wesen, die durch eine "Nahezumenschlichkeit" charakterisiert sind, bei Gobineau vor allem die Schwarzen, die als hässliche Bestien und Monster beschrieben werden, dann, etwas menschlicher, die gelbe Rasse, bei der der Schöpfer in seinen Augen nur geübt hat und die deswegen durch skizzenhafte Unvollkommenheit gekennzeichnet ist. Sie stehen auf der einen Seite der Skala, auf der anderen finden wir, wie bei Chamberlain, die vergöttlichten Übermenschen, die Arier. Ausgehend von der äußeren Gestalt erlaubt sich auch Gobineau wie selbstverständlich Rückschlüsse auf moralische Kategorien, charakterliche Eigenschaften und auf die Zivilisationsfähigkeit, die bei den genannten Gruppierungen abwertend ausfallen und mit offensichtlich dehumanisierender Metaphorik ausgedrückt werden. Topoi vom Wilden, gar vom edlen Wilden hin zum menschlichen Tier, ich erinnere an die Affen von oben, lassen sich an allen Stellen nachweisen, auch wenn Gobineau immer wieder betont, dass er prinzipiell alle Menschen für Menschen hält (I, 95). Da die fortschreitende Rassenvermischung auch weißes Blut, das als den Göttern näher stehend bzw. nahezu göttlich beschrieben wird, mit gelbem und schwarzem verbindet, werden auch deren Angehörige zivilisatorisch _____________ 132 Gobineau III, 423; IV, 315.
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aufgewertet und je nach Mischungsgrad als mehr oder weniger menschlich und zivilisationsfähig dargestellt. Die Essenz des Menschlichen hängt für Gobineau vom Anteil des weißen Blutes ab. In der Mitte der Menschlichkeits-Skala wäre der weiße Mensch mit einigen gelben oder schwarzen Anteilen zu sehen. Erst das Übergewicht an weißer Rasse lässt die Einzelwesen zu wirklichen Menschen werden. Und je reiner die weiße Rasse im Menschen anzutreffen ist, so lautet Gobineaus Konstruktion, desto gottähnlicher bzw. göttlicher wird der Mensch. Die einstigen Arier, vor deren Gottähnlichkeit sogar den Göttern bange wird (s. den Beleg II, 195), zeigen dies. 4. 3. Der Verfall Die Race wird zum Schlüssel der Welterklärung, mit dem Gobineau nicht nur die Vergangenheit in das ihm genehme Licht rückt, sondern auch die Gegenwart und die Zukunft. Wichtigstes Kennzeichen aller drei Zeitdimensionen ist die Verfallsdiagnose bzw. -prognose. Durch die Degeneration (I, 29) komme es zum unweigerlichen Tod (I, 5) bzw. zum Untergang der Völker (I, 24). Im Detail zeige sich dies zuerst im Verlust des Glaubens (I, XV), der Wahrhaftigkeit im politischen Leben, der Preisgabe der Pflicht, dem Schwund der Poesie (I, XV), darin, dass die Tugend der Alten zum Gegenstand des Gespötts der Jungen werde (I, XV), aber auch darin, daß die Kraft von Menschen auf den Dampf über gegangen ist. Die zuletzt genannten Äußerungen sind Beispiel für den ausgeprägten Antimodernismus. Gobineau Lösungsvorschlag wäre die Verjüngung der Rassen, wie sie durch die Germanische Völkerwanderung schon einmal stattgefunden habe, doch wie der schon zitierte Schlusssatz zeigt, glaubte er nicht wirklich an diese Rettungsmöglichkeit. Für ihn kam das Ende der Aussaugung immer näher, und der Untergang war schon deshalb besiegelt, weil die Entelechie und das Ergebnis des Menschheitsprocesses (IV, 317) ja gerade in der Vermischung liegt (ebd.): Wir können als Grundsatz aufstellen, daß das Endziel der Mühen und Leiden, der Freuden und Triumphe unserer Gattung das ist, eines Tages zur vollkommenen Einheit zu gelangen. Doch Einheit ist bei ihm der andere Ausdruck für ein allgemeines Niveau, was er auch empörendste Niedrigkeit nennt, Mittelmäßigkeit, Nivellierung oder Nichtigkeit. Das Ergebnis dieser Einheit bestehe also im (IV, 319) äußerste[n] Grad der Mittelmäßigkeit auf allen Gebieten, Mittelmäßigkeit, man kann fast sagen Null an Leibeskraft, an Schönheit, an Geistesgaben. IV, 319: Die Völker, nein, die Menschenheerden, werden alsdann, von düsterer Schlafsucht übermannt, empfindungslos in ihrer Nichtigkeit dahinleben, wie die wiederkäuenden Büffel in den stagnirenden Pfützen der pontinischen Sümpfe.
Der äußerste Grad des Verfalls ist also die Vertierung, womit er die Weißen auf dieselbe Stufe stellt mit den von ihm so verachteten Schwarzen
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und Gelben. Verfall und Dehumanisierung gehen Hand in Hand. Die Aufzeichnung der Fallhöhe der Arier, der Abstieg von den übermenschlichen Göttern zum 'un'menschlichen Tier, wird in allen Facetten ausgemalt und damit zum Bedrohungsszenario stilisiert, das einerseits die Katastrophe beschreit und andererseits auf die die mehr oder minder verpassten Möglichkeiten der Race hinweist, sozusagen den Finger auf die Wunde des vermeintlichen Rassenverfalls legt. Gobineaus Kulturpessimismus forderte die positive Umwandlung geradezu heraus. Denn genau an der Stelle, an der er in tiefste Verfallsdepression verfällt, knüpfen seine Schüler an. Während er selbst nicht an die Möglichkeit einer Regeneration im Sinne einer Verjüngung der Racen glaubt, greifen die selbsternannten Nachfolger zur bewussten Rassenpolitik. Sie bedienen zwar ebenfalls den Verfallsdiskurs, nutzen ihn aber zur Errichtung der kommunikativ wichtigen Drohkulisse, nicht um seiner selbst willen. Eine solche Untergangsszenerie unterstützt maßgeblich die Propagierung der ihr gegenübergestellten positiven Utopie und in ihrer Konsequenz ein entsprechendes politisches Handeln. Chamberlains Utopie, wie sie schon beschrieben wurde, lebt geradezu vom erbaulich empfundenen Zukunftsoptimismus. Nur wer eine Perspektive für die Rettung aus dem Verfall bietet und diese textlich so zu gestalten weiß, dass sie unter Bewussthaltung der Verfallsgefahr eine Zukunft verspricht, welche auch noch Aussicht auf Erfolg hat, kann Andere zum Handeln bewegen. Die hoffnungslose Diagnose Gobineaus weicht bei Chamberlain dem als wissenschaftlich begründet vorgetragenen Konzept einer Verjüngung der Völker133 und einem durch Handlung erreichbaren Ziel. 4. 4. Chamberlain und Gobineau Die wörtlichen Übereinstimmungen zwischen Gobineau und Chamberlain sind erstaunlich. Ob es das Menschen- (II, 6) oder Völkerchaos (II, 32) ist oder der Rassenkampf (II, 224), die sprachlichen Parallelen bürgen für die innere Verbindung der beiden Rassetheoretiker. Doch neben den bereits genannten Parallelen, dem Verfallsdiskurs, zukunftsweisend aufgeteilt in die Bereiche Sprache, Rasse, Religion, sowie dem Mittelmäßigkeitsdiskurs, gibt es auch weit reichende Unterschiede zu Gobineau: 1. Ein erster Unterschied besteht darin, dass es dem französischen Grafen, der viele Jahre als Diplomat im Ausland unterwegs war, so in den USA, in Rio de Janeiro und Teheran, eher um den politischen und sozialen Kampf zwischen 'Schwarz' und 'Weiß' ging. Diese Ausrichtung scheint _____________ 133 In diesen Zusammenhang gehört auch Arthur Moeller van den Brucks Buch, Das Recht der jungen Völker, das 1919 erschien, aber noch im Auftrag der OHL verfasst worden war.
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in Mitteleuropa kein besonderes Interesse gefunden zu haben. Die meisten der deutschsprachigen Rezipienten, allen voran Houston Stewart Chamberlain, legten das Gewicht ihrer Aufmerksamkeit vielmehr auf den Antisemitismus. Zur Erklärung sei hier die Vermutung erlaubt, dass Chamberlain seine Kenntnis der Werke Gobineaus mit seinem Wagnerkult in Verbindung brachte. Wagners Haltung gegenüber den Juden, auf die später noch näher eingegangen wird, ist wohl für diese spezifisch antisemitische Verschiebung verantwortlich. Ludwig Schemann, der zentrale Multiplikator des Bayreuther Kreises, übernahm es nicht nur, das Werk des Franzosen in angemessener Weise zu übersetzen und zu verbreiten, sondern es mit gezielt eingesetzten Büchern und Begleitartikeln ins gewollte antisemitische Licht zu rücken.134 Er überträgt dabei u. a. die angebliche Phantasielosigkeit der gelben 'Rasse' auf die Juden. Da beide Werke, die Übersetzung Schemanns und Chamberlains Grundlagen, nahezu gleichzeitig entstanden und beide Autoren begeisterte Wagnerianer waren, wird man die stützende und motivierende Funktion Wagners für deren Antisemitismus nicht leugnen können.135 Auch eine weitere, noch entscheidendere Abweichung vom Gobineauschen Original ist in der Tradition Wagners zu sehen: Der pessimistische Fatalismus, der den unaufhörlichen Verfall predigte, musste einer sich als kulturschöpferisch verstehenden pseudoreligiösen Zukunftsutopie und Kunstreligion widersprechen, wie sie von Schemann und von Chamberlain im Anschluss an Wagners Vorbild propagiert wurde. Aber erst beider Werke zusammen ermöglichten es, die arische Utopie zur optimistischen Glaubenslehre zu erheben und sie an ideologische Überzeugungen der Gesellschaft anzuschließen. Schemann schreibt in seinem Vorwort zur Übersetzung der Essais: Gobineaus Wort soll uns zum Wort des Lebens werden.136 Die zentrale Anlehnung an das Evangelium ist die eine Seite dieses Zitates, die andere besteht darin, dass er mit dem Wort Leben nicht nur auf das Weiterleben der Seele nach dem Tod Bezug nimmt, sondern für jedermann deutlich das Prinzip der biologischen Existenz, Kontinuität und Verbreitung der germanischen Rasse, wie es sich zunehmend durchgesetzt hatte, evoziert. Dies steht im Fundamentalgegensatz zu Gobineau, der die Arier als Träger einer Hochkultur sieht, deren Untergang durch perma_____________ 134 Ludwig, Schemann, Neue Bewegungen auf den Gebieten der Geschichts- und Völkerkunde 1901. Ders., Gobineaus Rassenwerk. […] 1910. Ders., Gobineau. Eine Biographie. […] 1913-16. Ders., Die Rasse in den Geisteswissenschaften. […] 1928-1931. 135 GL 302-5: "Hier wie überall werden wir finden, dass der Einfluss des Juden – zum Guten und zum Bösen – in seinem Charakter, nicht in seinen geistigen Leistungen begründet liegt. Gewisse Historiker des 19. Jahrhunderts, sogar ein geistig so bedeutender wie Graf Gobineau, haben die Ansicht vertreten, das Judentum wirke stets lediglich auflösend auf alle Völker. Ich kann diese Überzeugung nicht teilen." 136 Zitiert nach von See 1994, 291.
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nente Rassenmischung eingeleitet wurde und für den es keine Möglichkeit gibt, bereits entartetes Blut zu reinigen. Jede Rassenmischung sei unumkehrbar und führe unweigerlich zum Rassentod. Es liegt in der Logik der Züchtungstheorie, aber auch der von ihm zwar auf der Verfallslehre basierenden, sie aber überwindenden Heilslehre, dass Chamberlain erstens die Idee einer durch Rassenmischung verdorbenen ehemals reinen Urrasse137 ablehnt (Briefe I, 179) und zweitens die gezielte Rassenmischung zur Lösung des Problems avancieren lässt. Eine edle Rasse fällt nicht vom Himmel, ist also auch nicht schon immer da gewesen, sondern muss erst noch geschaffen werden. Sie wird damit zur rassenbiologischen Aufgabe. Auf diese Weise ist ein züchterischer Handlungsspielraum mit weit reichenden Folgen eröffnet, den Gobineau nicht zugelassen hätte, da für ihn die historische Entwicklung gesetzmäßig vorherbestimmt war. Gl 314: Man sehe doch, wie Gobineau seine Darlegung – so erstaunlich reich an später bestätigten intuitiven Ahnungen und an historischem Wissen – auf die dogmatische Annahme gründet, die Welt sei von Sem, Ham und Japhet bevölkert worden; Ein solch klaffender Riss in dem Urteilsvermögen genügt, um ein derartiges Werk, trotz aller dokumentarischen Begründung, in die hybride Gattung der "wissenschaftlichen Phantasmagorieen" zu verweisen. Hiermit hängt Gobineau's weitere Wahnvorstellung zusammen: die von Hause aus "reinen", edlen Rassen vermischten sich im Verlauf der Geschichte und würden mit jeder Vermischung unwiederbringlich unreiner und unedler, woraus sich dann notwendigerweise eine trostlos pessimistische Ansicht über die Zukunft des Menschengeschlechtes ergeben muss. Die erwähnte Annahme beruht jedoch auf einer gänzlichen Unkenntnis der physiologischen Bedeutung dessen, was man unter "Rasse" zu verstehen hat. Eine edle Rasse fällt nicht vom Himmel herab, sondern sie WIRD nach und nach edel, genau so wie die Obstbäume, und dieser Werdeprozess kann jeden Augenblick von Neuem beginnen, sobald ein geographisch-historischer Zufall oder ein fester Plan (wie bei den Juden) die Bedingungen schafft.
Im Gegensatz zu Gobineau ist also für Chamberlain, der eben doch auch ein Schüler Darwins ist, die Veredelung das Ziel. Die Idee der Züchtung, die ja im Sinne Darwins positiv zur Verbesserung der Art dienen kann, übernimmt nun eine gewichtige Rolle in der Rassebetrachtung (letztlich wie bei Hitler), was den Menschen, der dies plant und vollzieht, in die Nähe des Schöpfergottes bringt. Die Reinheit, die bei Gobineau den verlorenen Ausgangspunkt bildet, wird zum verpflichtenden Ziel der Geschichte. Das folgende Zitat enthält einen dieser Pflicht entsprechenden Aufruf zum 'Rassenwettkampf' und damit zur Züchtung einer neuen, reinen arischen Rasse. _____________ 137 Briefe I, 150: "Daher meine fast unüberwindliche Abneigung gegen Gobineau und gegen das Hypothesengebäude von Männern wie Wilser u. a. Nach meiner Überzeugung diskreditieren diese Männer eine der wichtigsten Einsichten der Biologie, […]. Rasse ist eine Tatsache […]. Dagegen hatte ich den Begriff von "Urrassen" für einen Wahn."
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Gl 366: Denn wir sehen, dass nur eins zur Veredelung des Menschen führt: die Zeugung reiner Rassen, die Begründung bestimmter Nationen. Söhne zu zeugen, die RECHTEN SÖHNE, ist also unfraglich die heiligste Pflicht des Individuums der Gesellschaft gegenüber; was er auch sonst leisten mag, nichts wird von so dauerndem, unauslöschbarem Einfluss sein wie der Beitrag zur zunehmenden Veredelung der Rasse. Von dem beschränkten, falschen Standpunkt Gobineau‘s aus ist es allerdings ziemlich gleichgültig, denn wir können nur schneller oder langsamer zu Grunde gehen; […] wer aber belehrt ist, wie edle Rasse in Wahrheit entsteht, weiss, dass sie jeden Augenblick von Neuem entstehen kann; das hängt von uns ab; hier hat die Natur uns eine hohe Pflicht deutlich gewiesen. Jene Männer aus dem Chaos also, welche die Zeugung für eine Sünde und die gänzliche Enthaltung von ihr für die höchste aller Tugenden hielten, sie begingen ein Verbrechen gegen das heiligste Gesetz der Natur, sie suchten durchzusetzen, dass alle guten, edlen Männer und Frauen ohne Nachkommenschaft blieben und nur die bösen sich vermehrten, d. h. sie thaten, was an ihnen lag, um die VERSCHLECHTERUNG des Menschengeschlechtes herbeizuführen.
Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Wenn man Rassismus mit Kulturpessimismus verbindet, dann erhält man Gobineaus Unausweichlichkeit des Verfalls des einst Größeren, Vollendeteren, eben seine Weltuntergangsstimmung. Fügt man dieser Mischung die Idee der Perfektibilität Kants, den Züchtungsgedanken Darwins und den Kunsterlösungsglauben Richard Wagners hinzu, dann kommt man zu dem Gedankenkonstrukt und Handlungsrezept, das Chamberlain berühmt machte, seinen Lesern Erbauung und nachhaltige Erlösung zugleich versprach; und dann hat man die Basis für eine alles umfassende Weltanschauung, die besonders im gebildeten Bürgertum traditionelle religiöse Orientierungen ergänzen oder gar ersetzten konnte, geschaffen.
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5. Der Kulturdiskurs: Bildungsreligion und Kulturkritik 5. 1. Der Menschenbildungsdiskurs Für das 19. Jahrhundert sind in allen Bereichen der Naturwissenschaft, der Biologie ebenso wie der Chemie, Physik oder Medizin, überragende Erkenntnisse zu verzeichnen. Sie suggerieren den aufnahmebereiten Zeitgenossen, dass nun oder in baldiger Zukunft selbst diejenigen Welträtsel gelöst werden könnten, die bis dato als unlösbar galten. Insgesamt beginnt man die Naturwissenschaft zum Allheilmittel für Krankheiten, nicht nur medizinischer, sondern gesellschaftlicher, politischer, soziologischer, theologischer Natur anzusehen. Was die Bibel nicht erklären konnte und wo Gott nicht geholfen hat, treten nun technischer Fortschritt und Wissenschaft als Hoffnungsträger auf den Plan. Die damit angedeutete neue Wissenschaftsgläubigkeit kann nur zusammen mit der herrschenden Kulturgläubigkeit oder der Bildungsreligion betrachtet werden.141 Bildungsreligion heißt auf einer ersten Ebene, dass man von der Möglichkeit überzeugt ist, mittels Bildung politische Machtlosigkeit zu kompensieren, neue wirtschaftliche Entwicklungen zu initiieren, auch über einen wirkungsvollen Hebel zur Steigerung des persönlichen und sozialen Prestiges zu verfügen. Spielt sich dies alles eher gesellschaftsintern ab, so bedeutet das Grundwort Religion auf einer zweiten Ebene, dass ein neuer, gleichsam Berge versetzender Glaube entsteht, der die neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse in dreifacher Übereinstimmung, nämlich mit den Gesetzen der Natur, dem Aufbau der menschlichen Vernunft und den Schöpfungsgedanken Gottes sieht. Ein solcher Glaube ist religiöser Natur, Bildung ist sein Schlüssel, das Aufgehobensein in der Gesamtordnung die erbauliche Folge. Natürlich bedurfte der neue Glaube einer Neuinterpretation bzw. Verfälschung christlicher Glaubensinhalte. Diese war aus verschiedenen Gründen besonders am Ende des 19. Jahrhunderts realisierbar: Zum einen hatte die Aufklärung bereits die Unbedingtheit des Glaubens in Frage gestellt; zum anderen konnte man einzelne christliche Argumentationsinhalte und vertraute sprachliche Gestaltungsmuster beibehalten; man konnte drittens auf eine gewisse Kompromiss-, Kollaborations- bis Korruptionsbereitschaft vieler Vertreter der meisten christlichen Kirchenorganisationen zählen, wenn es um die nationale Ehre oder um die individuelle und soziale Position der "Gläubigen" ging, und man konnte viertens auf gewisse Überzeugungen der Zeit bauen, vor allem aber auf _____________ 141 Von Polenz III, 1999, 58f.; vgl. Wehler 1987, 1, 275; 2, 507 ff; Engelhardt 1989, 59.
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das nun auch naturwissenschaftlich begründbar erscheinende Perfektibilitätstheorem. Dieses Theorem konnte mit unbestrittenen Autoritäten belegt werden. Es begegnet in nahezu allen anthropologischen oder anthropologierelevanten Texten seit Platon, etwa in Form der Prämisse vom Menschen als Mängelwesen, das erst durch Kulturschaffen überlebensfähig geworden sei.142 'Kultur' wird dabei als Inbegriff dessen verstanden, was Menschen in allen sozialen, politischen, sittlichen und religiösen Breichen geleistet haben und zu leisten imstande sind. Sie ist kein zufälliges Produkt menschlicher Tätigkeiten, sondern im Sinne Kants, der hier regelmäßig ins Spiel gebracht wird, die konstitutive Verpflichtung des vernunftbegabten Menschen gegenüber sich selbst.143 Der Mensch hat: Kant 10, 673: einen Charakter [hat], den er sich selbst schafft; indem er vermögend ist, sich nach seinem von ihm selbst genommenen Zwecken zu perfektionieren; wodurch er, als mit Vernunftfähigkeit begabtes Tier (animal rationabile), aus sich selbst ein vernünftiges Tier (animal rationale) machen kann.
Das ist die Perfektionierung des Menschen durch fortschreitende Kultur (ebd.) oder anders ausgedrückt: Der Mensch vermag sich am eigenen Schopfe aus seiner unmündigen tierischen Existenz in eine neue Art der Mündigkeit herauszuziehen, eine Mündigkeit, die ihn qualitativ und ohne jede Diskussionsmöglichkeit vom Tier unterscheidet. Kant 10, 678: Der Mensch ist durch seine Vernunft bestimmt, in einer Gesellschaft mit Menschen zu sein, und in ihr sich durch Kunst und Wissenschaften zu kultivieren, zu zivilisieren und zu moralisieren.
Der Gegensatz zu den biologistischen Aussagen Darwins ist offensichtlich: Nicht die Naturbedingtheit determiniert das Leben des Menschen, sondern die eigenen vernünftigen oder unvernünftigen Entscheidungen bzw. die verschiedenen, nach oben offenen Grade ihrer Vernunftgemäßheit. Entscheidungsbestimmend ist dabei der Grad der Perfektionierung, der selbst wiederum abhängig ist vom Grad der Kultiviertheit, der Zivilisation und der Moral. Diese zu bilden sind für Kant die Aufgaben, denen sich der Mensch zu stellen hat, mit ihrer Erfüllung kann die Menschengattung letztlich Schöpferin ihres Glücks sein (10, 683). Mit anderen Worten: Der Lohn für die Ausschöpfung der Skala des dem Menschen Möglichen ist die Qualität des Schöpfertums. Paul Rabinow fasst das Beschriebene verallgemeinernd für alle Aufklärer folgendermaßen: Rabinow 2004, 115: Ein Aufklärer ist jemand, der nach rationalem Wissen strebt im festen Glauben, dass es, wohin dieses Projekt auch immer führt, letztlich den Weg zum Guten weisen wird. Die Affekte der Aufklärung (Glaube, Hoffnung,
_____________ 142 Dazu: Arnold Gehlen, Der Mensch 2004. 143 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. In: Werke 10, 673-685.
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Begehren) sind ein Surplus, ein Supplement zu den wissenschaftlichen Errungenschaften. Ein Aufklärer folgt Kants Losung: Sapere aude! Kant zufolge ist Aufklärung ein wissenschaftliches, moralisches und politisches Unterfangen zugleich. Ein solches Unterfangen gründet sowohl in der Verpflichtung zu einer bestimmten Wahrheit als auch in einer Lebensführung, die sich nach dem Begriff des Guten ausrichtet. Aufklärung, so ließe sich sagen, ist eine Kultur, ein Ethos, eine Lebensform. Eine Lebensform, die niemals vollendet werden kann. Eine Lebensform, die gleichermaßen arrogant und demütig ist. Arrogant, weil sie voller Selbstvertrauen, das Richtige zu tun, im Sinne der Menschheit handelt. Demütig, da die Aufklärung ein unabgeschlossenes Projekt ist, dessen Vollendung in der Zukunft liegt.
Besonders die von Rabinow angesprochene arrogante Seite der Aufklärung macht es selbsternannten Geschichtsphilosophen wie Chamberlain leicht, Theorien zu entwerfen, die Bild und Gepräge der Menschheit allumfassend betreffen, weil sie an ihre Perfektibilität, verstanden als nach oben hin offene, die Grenzen zur Göttlichkeit tangierende oder gar überschreitende Fähigkeit zur Vollendung glauben. Selbst die demütige Seite öffnet Tür und Tor für Utopien, mit denen Menschen ausgehend von Menschenbildern verändert, ja sogar perfektioniert werden sollen. Während sich Wagnerianismus, Darwinismus und Sozialdarwinismus durch alle Schriften Chamberlains hindurch ziehen,144 Darwin aber nur in den Briefen genannt wird, ist Kant, neben Goethe und Wagner, die große Persönlichkeit für Chamberlain, mit der er sich explizit schriftstellerisch auseinandergesetzt hat. Erstaunlicherweise nennt er diesen den bedeutendsten Vorläufer Darwins (Gl 29); erstaunlich vor allem deswegen, weil Kants Erkenntnisphilosophie den irrationalen, lebensphilosophischen und lebensbiologischen Vorstellungen Chamberlains so prinzipiell entgegensteht, dass es eigentlich überhaupt nicht möglich scheint, beide in einem Atemzug zu nennen. Aber selbst Kant ist für Chamberlain unter bestimmten Prämissen, nämlich durch gezielt vorgenommene rassistische Interpretation, anschlussfähig; so, wenn Kant über die erkennbare Ordnung der Natur schreibt, "daß es in ihr eine für uns faßliche Unterordnung von Gattungen und Arten gebe; daß jene sich einander wiederum einem gemeinschaftlichen Prinzip nähern, damit ein Übergang von einer zu der anderen, und dadurch zu einer höheren Gattung möglich sei,"145 und von den Produkten der Natur sagt, dass sie bildende Kraft146 in sich tragen. _____________ 144 Vgl. Gl, Vorw. 1. Aufl. XI; 10. Aufl. 27; 29; 259; 329; 852; AW 24; 62; PI 14; Lebenswege 119-122 u. ö. 145 Kant, Kritik der Urteilskraft, Einleitung. In: Werke 8, 258. 146 Kant, a. a. O. 8, 487: "Ein organisiertes Wesen ist also nicht bloß Maschine: denn die hat lediglich bewegende Kraft; sondern sie besitzt in sich bildende Kraft, und zwar eine solche, die sie den Materien mitteilt, welche sie nicht haben (sie organisiert): also eine sich fortpflanzende bildende Kraft, welche durch das Bewegungsvermögen allein (den Mechanismus) nicht erklärt werden kann. Man sagt von der Natur und ihrem Vermögen in organi-
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Chamberlains rassenperspektivische Parallelisierungen sind bereits beschrieben worden, aber auch seine Vorstellungen von Kant waren seinen Zeitgenossen geläufig. Immanuel Kant kann als die Ikone der deutschen Bildungselite betrachtet werden. So verwundert es kaum, dass auch Chamberlain diesem größten (wie in jedem Schulbuch steht) deutschen Philosophen ein Buch gewidmet hat. Bezeichnenderweise geht er jedoch nur auf insgesamt 218 Seiten direkt auf die Persönlichkeit Kants ein, während er über weitere 551 Seiten hinweg die Gelegenheit nutzt, den Philosophen im Spiegel anderer Kulturgrößen wie Goethe, Leonardo da Vinci, Descartes, Bruno und Plato zu beleuchten und damit eine Vernetzung von Tradition und Wirkung Kants vorzunehmen, wie sie harmonischer nicht gestaltet sein könnte. Eine "akademische", d. h. bestimmten methodischen Prämissen der Ergebnisfindung unterworfene Darstellung und Auseinandersetzung mit ihm findet nicht statt. Und so mündet dieser Teil des Buches auch in der 'idealistischen', jedenfalls gar nicht rationalistischen Aussage: Chamberlain, Kant 624: Im Vielen das Eine erblicken: dies ist das Werk der Idee; Menschsein heißt Ideen-bilden-können: dies ist das Geschenk der Götter.
Kant wurde von Chamberlain als diejenige Person vorgestellt, die erstens die Möglichkeiten des Menschen demonstriert, sein Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, und die zweitens als göttlich inspirierte Verbindungsperson zwischen den Polen Rationalität und Religion. Am Beispiel Kants kann gezeigt werden, wie Chamberlain unterschiedlichste Theorie- und Glaubensansätze zusammenbringt, wie er die Person Kants und mit ihm die Aufklärung in eine spezifische Art der Innerlichkeit und in seine Vorstellung von Religiosität hinüberzieht. Ein Satz wie der Folgende ist dabei kein Zufall: Chamberlain, Kant 876: Kant's Religionslehre ist nichts mehr aber auch nichts weniger als die ausführliche Begründung und die methodische Entwicklung von Christi Lehre DAS REICH GOTTES IST INWENDIG IN EUCH.
Der Rationalismus als das epochenkonstituierende Merkmal der Aufklärung ist in solchen Aussagen nicht einmal mehr ansatzweise erkennbar. Bezeichnenderweise haben Wissenschaft und die mit ihr in Kontiguität stehende Vernunft denn auch nur mehr eine Hilfsfunktion bei der Erstellung seines Weltanschauungsgebäudes: Sie sind nicht nur nicht das Ziel, sondern werden unter den Verdacht des zusammenhangslosen Spekulierens im Dienste von Unwichtigem, subjektiv Phantastischem gestellt; das Ziel als über _____________ sierten Produkten bei weitem zu wenig, wenn man dieses ein Analogen der Kunst nennt; denn da denkt man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) außer ihr. Sie organisiert sich vielmehr selbst, und in jeder Spezies ihrer organisierten Produkte, zwar nach einerlei Exemplar im Ganzen, aber doch auch mit schicklichen Abweichungen, die die Selbsterhaltung nach den Umständen erfordert."
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der Wissenschaft stehendes Höheres ist erst einmal die sich mit wichtigen Angelegenheiten befassende Kultur; und diese zielt in letzter Instanz auf einen Bereich, den Chamberlain als Religion fasst. Die Stufungen sind: Chamberlain, Kant 877/878: Nicht Wissenschaft, sondern Kultur war unser Ziel, Kultur als ein die Wissenschaft unter sich befassendes Höhere. […] nicht Spekulation um des Spekulierens willen, sondern einzig im Interesse der "wichtigen Angelegenheiten"; nicht […] ein subjektives Phantasiegebäude, sondern ganz im Gegenteil ein Urteil "aus den Tiefen der Menschheit", ein "in sich zusammenhängendes Urteil"; überall wo Kant Vernunft sagt, können Sie, wenn es Ihnen beliebt, Menschheit oder Menschsein setzen. […] Natur und Freiheit; aus diesen Tiefen entwickelt Kant sein Urteil. Alles praktisch, alles auf Kultur des Geistes hinzielend, und das heisst in letzter Instanz auf die Gewinnung einer "kultivierten", ihrer selbst bewussten, nicht roh-empirisch-phantastischen Wissenschaft und einer "kultivierten", nicht in Aberglauben, Magie und Unsittlichkeit vermummten, den Segen in Fluch wendenden Religion.
Zwei Prinzipien Kants sind für Chamberlain also von Bedeutung, erstens, dass er den Menschen, wie es oben für Kant belegt wurde, für perfektibel147 hält: Gl 28: Bei Herder, bei Kant und bei Goethe treffen wir den Evolutionsgedanken in charakteristischer Färbung an; es ist ein Abschütteln des Dogmas seitens hervorragender Geister: seitens des einen, weil er, dem Zuge germanischer Weltanschauung folgend, die Entwickelung des Begriffes "Natur" zu einem den Menschen umfassenden Ganzen erstrebte, seitens des anderen, weil er als Metaphysiker und Moralist sich die Vorstellung der Perfektibilität nicht konnte rauben lassen.
Und zweitens, dass die Perfektibilität, wie ebenfalls bei Kant, eine Pflicht ist, bei deren Erfüllung die Kultur sowohl als Bedingung wie als Ziel eine wichtige Rolle spielt. Chamberlain, Kant 879: wogegen Goethe's Ideal einer völlig reinen und darum kausalitätslosen - das Werden als ein ewiges Sein auffassenden – Naturanschauung […] und Kant's lückenlos klare und insofern völlig anschauliche Erkenntnis von dem Wesen der Pflicht, der Religion und des Gottesglaubens, vereint, das "mögliche Reich", nämlich höchste Kultur des Menschenwesens, begründen würden.
Das von Rabinow Zitierte ist hier noch einmal ins Gedächtnis zu rufen: Der Mensch ist im Chamberlain'schen Kantverständnis nicht nur perfektibel, er muss auch pflichtgemäß perfektioniert, das bedeutet: zum Handeln gebildet werden. Garant für die richtige Perfektionierung ist die "aufklärerische Arroganz", die davon ausgeht, dass man im Besitze der besseren, ja geradezu höheren Wahrheit auch das Richtige tut. Vor allem _____________ 147 Erwähnenswert ist, dass Chamberlain in der 14. Aufl., 25 das Wort Perfektibilität an dieser Stelle in Anführungszeichen gesetzt hat. Es ist nicht wirklich zu klären, ob es sich hier um eine Relativierung des Fremdwortes oder eine der Sache handelt. Möglich ist beides.
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insofern wird Kant die wichtigste Legitimationsgröße für das ausgehende 19. und das beginnende 20. Jahrhundert, und zwar nicht nur für Erkenntnisphilosophen und bestimmte Pädagogen, sondern sogar für die Lebensphilosophie und die Lebensreform, sofern diese jedenfalls bereit waren, sich der Verstrickung in ihren Grenzerfahrungen durch eine besondere lebensdienliche Perfektionierung zu entziehen. Nur auf der allgemein anerkannten Prämisse des Fortschrittsglaubens kann einerseits der Verfall postuliert und andererseits die Fortschrittsverpflichtung errichtet werden.
5. 2. Johann Wolfgang Goethe: Der Prometheus oder das faustische Prinzip Den lieb' ich, der Unmögliches begehrt.148 Theo Meyer zitiert diesen Ausruf der Seherin Manto aus Goethes Faust mit dem Kommentar: "dieses Wort […] ist eine treffende Kennzeichnung Faustischen Strebens. Faust ist die von Unendlichkeitsverlangen, von Sehnsucht nach dem Grenzenlosen, nach der höchsten Möglichkeit des Menschseins getriebene Existenz, in einem Prozeß der ständigen Selbstverwandlung begriffen."149 Standen Natur und Schöpfung bislang außerhalb des Einflussbereiches des Menschen, waren eine unumstößliche Domäne Gottes, das Produkt seines göttlichen Schaffens, also natura naturata, so wird mit der Genieästhetik der Sturm und Drang-Zeit ein Konzept entwickelt, nach dem ausgewählte Persönlichkeiten das Unmögliche nicht nur erstreben, sondern es in der Kunst und durch die Kunst auch erreichen. Das Genie konstituiert sich dadurch, dass es kreativ ist, schöpferisch und tätig in den Weltverlauf eingreift. Genieästhetik ist entsprechend die eine Seite eines umfassenderen Prinzips, das nur verständlich wird, wenn man darin auch eine sich immer wieder vollziehende Schöpfungsästhetik mitmeint. Das sich immer wieder Vollziehende ist dasjenige, das sich aus sich selbst heraus entwickeln kann, sich also nicht nur das Recht heraus nimmt, wie Prometheus den Göttern das Feuer zu stehlen, sondern sich von diesen zu lösen und sich in der Beanspruchung eigener Kreativität göttergleich und damit unabhängig zu machen. Wenn Prometheus Menschen nach seinem Bilde schafft, braucht er die Götter nicht mehr, er kann sich selbst als Schöpfer sehen. Und wenn Goethe in seinem Tischlied ruft: Lebe hoch, wer Leben schafft! Das ist meine
_____________ 148 Goethe, Faust II. Klassische Walpurgisnacht 1984, 228. 149 Theo Meyer, Faustisches Streben, Zarathustra-Attitüde, Seelentiefe und deutsche Innerlichkeit 2001, 113.
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Lehre,150 so meint er den Menschen, nicht einen Gott. Allah braucht nicht mehr zu schaffen, / Wir erschaffen seine Welt.151 Das ist die Devise des Prometheus. Und doch ist auch Gott für ihn nicht aus der Welt verbannt, sondern neu gekleidet, ein Prinzip, das sich in der Natur und entsprechend auch im Menschen, der selbst als Teil der Natur erkannt wurde, manifestiert.152 Natur, Gott und Mensch werden in diesem Sinnzusammenhang zu Größen, die nicht mehr unabhängig voneinander gedacht werden können und die übergangsartig ineinander fließen. Aus der von Gott geschaffenen Natur, der natura naturata, wird eine sich selbst schaffende, sich selbst organisierende, autopoietische Natur, die natura naturans. In vielen Schriften der Zeit, gerade auch in Goethes eigenen naturwissenschaftlichen Betrachtungen, kommt es zu einem Naturverständnis, das man insofern als "biologisch" verstehen kann, als es vom theologischen Schöpfungsgedanken abgelöst ist. Die damit vollzogene epigenetische Wende153 manifestiert sich sowohl in den Gegenständen wissenschaftlicher Untersuchungen wie in ihrer literarischen Verarbeitung. Dem neuen Naturverständnis entsprechend steht wissenschaftshistorisch die Reproduktion im Focus der Untersuchungen, und zwar einmal diejenige, die organismusintern zur organischen Lebens- und Selbsterhaltung beiträgt (Metabolismus), und zum anderen die Weiterführung des Lebens, also die Fortpflanzung der Organismen. Hieß die Gleichung früher noch deus sive natura, so kommt im 18. und stärker noch im 19. Jahrhundert mit dem programmatischen Ausruf Nietzsches der homo natura154 hinzu. Die Natur als Walten Gottes, als locus dei, beginnt ihren Weg aus der Transzendenz in die Immanenz, wird sozusagen mikroskopisch beobachtbar. Zellteilungen und Zellverschmelzungen sind nun Stichwörter, an denen der kleine Gott der Welt nun das Walten des großen Gottes, das bisher unsichtbar war, nicht nur sichtbar machen, sondern weit darüber hinaus sogar beeinflussen kann. _____________ 150 Goethe, Tischlied. Sämtliche Werke 3, 167. Vgl.: Einer hohen Reisenden: "Dorthin gehörst du, die du schaffend strebest, | Die Trümmer herstellst, Totes neu belebest." 3, 114. Oder: "Natur! du ewig keimende, / Schaffst jeden zum Genuß des Lebens", ebd. 35, 191. 151 Goethe, Gott und Welt, Wiederfinden, ebd. 2, 240. 152 Goethe, Gott und Welt, Proömion, ebd. 239. 153 Vgl. Riedel, Homo natura. Zum Menschenbild der Jahrhundertwende 2001, 105. 154 Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. In: Studienausgabe. 5, 169: "Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur; über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden; machen, daß der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der anderen Natur steht, mit unerschrocknen Ödipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren, taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben: »du bist mehr! du bist höher! du bist anderer Herkunft!« – das mag eine seltsame und tolle Aufgabe sein, aber es ist eine Aufgabe – wer wollte das leugnen!"
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Doch nicht erst bei Nietzsche werden Mensch, Gott und Natur programmatisch neu bestimmt, schon in Goethes Pantheismus geht das Göttliche als schaffendes und waltendes Prinzip in die von Menschen gemachte Schöpfung mit ein, so unterschiedlich die Absichten, geisteshistorischen Zusammenhänge und die sprachlichen Gestaltungen, die dies alles zum Ausdruck bringen, auch sein mögen. Natur und Umwelt können dabei das Kleid Gottes sein, so wenn der Weltgeist im Faust seine Aufgaben beschreibt: In Lebensfluten, im Tatensturm / Wall ich auf und ab, / Webe hin und her! / Geburt und Grab, / Ein ewges Meer, / Ein wechselnd Leben! / So schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit / Und würke der Gottheit lebendiges Kleid (Goethe, Faust I, 24). Doch wer ist der Weltgeist? Ist er nicht auch das schaffende Prinzip, das in diesem Kleide waltet? Ein Prinzip, das nicht zuletzt im Menschen wiederkehrt? Die Ebenbildlichkeit des Menschen zu Gott ebenso immer wieder betonend wie in Frage stellend, wird sie von Goethe doch als weltimmanente Qualität letztlich aufgrund der Teilhaftigkeit des Menschen an der Natur, als Teil der sich ewig vollziehenden Metarmorphose, des ewigen Werdens und Waltens vorausgesetzt. Die Natur als das göttliche Kleid ist dasjenige göttliche Prinzip, das Prometheus mit dem gestohlenen Feuer zu beherrschen lernt, so dass er sowohl Teil derselben als auch ihrer enthoben ist. Natur ist das Kleid Gottes, das Werdende, das ewig wirkt und lebt (ebd. 19), und der Mensch selbst ist Teil dieser wirkenden, sich selbst entfaltenden Natur (ebd. 238). Große Gestalten wie der nach dem Unmöglichen strebende Faust oder Nietzsches Zarathustra werden interpretierbar und interpretiert als Symbole für die Möglichkeit des Unmöglichen. Auch wenn der Weltgeist sich über den Übermenschen Faust zu amüsieren scheint, er nimmt ihn ernst, indem er ihm erscheint. Welch erbärmlich Grauen / Faßt Übermenschen dich! Wo ist der Seele Ruf? / Wo ist die Brust, die eine Welt in sich erschuf / Und trug und hegte, die mit Freudebeben / Erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben? (ebd. 24). Faust, besonders deutlich in dessen Spiegelung Baccalaureus, sieht sich als letzte Ursache der Dinge, als das Ebenbild der Gottheit, von der er allerdings zum Ende hin gerettet werden muss. Goethe, Faust I, 208: Des Menschen Leben lebt im Blut, und wo / Bewegt das Blut sich wie im Jüngling so? / Das ist lebendig Blut in frischer Kraft, / Das neues Leben sich aus Leben schafft. / Da regt sich alles, da wird etwas getan, / Das Schwache fällt, das Tüchtige tritt heran. […] Dies ist der Jugend edelster Beruf! / Die Welt, sie war nicht, eh' ich sie erschuf; / Die Sonne führt ich aus dem Meer herauf; Mit mir begann der Mond des Wechsels Lauf; / Da schmückte sich der Tag auf meinen Wegen, / Die Erde grünte, blühte mir entgegen. / Auf meinen Wink, in jener ersten Nacht, / Entfaltete sich aller Sterne Pracht. / Wer, außer mir, entband euch aller Schranken / Philisterhaft einklemmender Gedanken?
Der Mensch als Übermensch, als Creator omnipotens, so wie Goethe ihn gestaltet, oft sich über ihn lustig (ebd. 66) machend, oft seinen Hochmut
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anprangernd bzw. seine Begrenztheit vorführend, ist auch zum Vorbild für Nietzsche geworden. Beiden gemeinsam ist außerdem die in der Gestalt Fausts verkörperte Lebens- und Diesseitsbejahung, die Absage an das Drüben, an das auch Mephistopheles beim Abschluss des Vertrages mit Faust noch einmal erinnert. Goethe, Faust I, Studierzimmer 56: Das Drüben kann mich wenig kümmern; / Schlägst du erst diese Welt zu Trümmern, / Die andre mag darnach entstehn. / Aus dieser Erde quillen meine Freuden, / Und diese Sonne scheinet meinen Leiden; / Kann ich mich erst von ihnen scheiden, / Dann mag, was will und kann, geschehn. / Davon will ich nichts weiter hören, / Ob man auch künftig haßt und liebt, / Und ob es auch in jenen Sphären / Ein Oben oder Unten gibt.
Der Mensch ist autonom geworden, so sehr, dass er scheinbar nichts mehr zu fürchten braucht. Die Welt, in der er lebt, wird gar von ihm selbst erst erschaffen, und da er Teil dieser ewig währenden und waltenden Natur ist, kann er letztlich auch nicht untergehen. Meyer 2001, 113: Die Welt als Produkt des schaffenden Genies – das ist ein vom Sturm und Drang bis zu Nietzsche latentes Motiv. Freilich, das kreative Ich ist Ausdruck des umgreifenden, ewig schöpferischen Lebens in seinen unaufhörlichen Metamorphosen. Im Ich ist das Leben selbst wirksam.
Das faustische Prinzip ist ein Programm, mit dem eine neue Welt und ein neuer Mensch geschaffen werden soll, einer, der nichts fürchtet und tätig in das Treiben der Welt eingreift, dabei gleichzeitig übernatürliches Genie wie personifiziertes Walten der Natur ist. Hier schließt nun Chamberlain an. Das große Genie oder die geniale Persönlichkeit, wie er sie immer wieder in das Zentrum seiner Erläuterungen stellt, ist Ausdruck seiner Utopie. Sie ist das organische Produkt eines übernatürlichen Waltens. Aussagen wie diejenigen des Baccalaureus (Faust 208) werden für Chamberlain zum Bindeglied, Natur nicht nur als allgemein waltendes Prinzip anzusehen und sich nachvollziehend und nacherlebend mit Goethe auf eine Ebene zu stellen (das wäre eine Ausprägung der üblichen Traditionspflege), sondern den von ihm gebrauchten Ausdruck sowohl aus seiner idiolektalen Verwendung wie aus seinen zeitgeschichtlichen Zusammenhängen zu lösen und als frühe Erkenntnis einer unbestrittenen historischen Autorität in Bezug zum völlig anders angelegten Blutkult der eigenen Rassetheorie zu setzen. In diesem neuen Zusammenhang erscheint das Genie als eine Möglichkeit, die auf den Grundlagen der Rasse beruht, die der biologischen Bestimmung der Rasse entspricht und die deren gezielte Entwicklung dementsprechend zu einer von der Natur aufgegebenen Pflicht der Rasseangehörigen erhebt. Im Umkehrschluss fallen dann alle diejenigen, die nicht der ausgezeichneten Rasse angehören, aus den Möglichkeiten und aus der Pflicht der Geniebildung heraus. Es geht in solchen Fällen nicht um irgendeine rational be-
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gründbare Anbindung eines Ideologiegebäudes an eine Autorität oder, wie oben gesagt wurde, um Traditionspflege, sondern um Nutzung des Akzeptationsspektrums einer viel späteren Zeit. Die Anbindung des Rasseoder Blutideologems an den Geistesheroen der Deutschen schlechthin, an Johann Wolfgang von Goethe, ist eine solche geistesgeschichtliche Usurpation.
5. 3. Schopenhauers Pessimismus, Wagners Mitleid und Chamberlains Utopie
5. 3. 1. Schopenhauer als Erzieher Ein kommunikativ instrumentalisierbares Bindeglied zwischen Goethe und den Zeitgenossen Chamberlains war Arthur Schopenhauer (17881860). Der Philosoph, der mit seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung nicht nur Nietzsche und Wagner, sondern auch Freud und Chamberlain prägte, lernte Goethe im Hause seiner Mutter Johanna in Weimar kennen. Die Bekanntschaft des berühmten Dichters mit dem jungen Philosophen währte jedoch nicht lange. Das gemeinsame Thema, die Farbenlehre, verband und entzweite die beiden Männer in nur wenigen Wochen; was jedoch dauerhaft blieb, war der dabei gewonnene beiderseitige Respekt.155 Schopenhauer betrachtete Goethe als einen der wenigen "wahren" Menschen, die er je kennen gelernt hatte, während er andere Menschen als bipedes / Zweifüßler156 klassifizierte. Schopenhauer, Nachlaß IV, 2, 109: Die Denkmäler, die zurückgelassenen Gedanken (sind) mein größter Genuß im Leben. Ihr todter Buchstabe spricht mich vertrauter an, als das lebendige Daseyn der Zweifüßler.
Zweifüßler repräsentierten für ihn Menschen von beschränktem Kopf, schlechtem Herzen, niedrigem Sinn (ebd. 124). Für sie hatte er seine Werke nicht geschrieben: Ebd. 179: Ich übergebe also [mein Werk] den einzelnen denkenden Wesen, welche als seltene Ausnahmen im Laufe der Zeit erscheinen werden und denen zu Muthe sein wird, wie mir war, oder wie dem Schiffbrüchigen auf der unbewohnten Insel ist, dem die Spur eines früher dagewesenen Leidensgenossen viel mehr Trost giebt, als alle Kakaduen und Affen auf den Bäumen….
Geniale Menschen waren dagegen seine anvisierten Leser oder folgerichtig verkürzt: Menschen, keine Zweifüßler, keine Affen. Als solche denkenden und
_____________ 155 Vgl. Safranski, Schopenhauer 2004, 283. 156 Vgl. auch: Schopenhauer, Der handschriftliche Nachlaß IV, 2, 124.
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damit menschlichen Leser verstanden sich besonders die bereits genannten Friedrich Nietzsche und Richard Wagner. Die folgende Zusammenstellung kann keine Würdigung des Schopenhauerschen Werkes darstellen, schon gar keine Rezeptionsgeschichte; sie stellt nur einen Versuch dar, diejenigen kommunikationsgeschichtlichen Linien herauszuarbeiten, die von Schopenhauer über Nietzsche und Wagner als zeitliche und inhaltliche Zwischenpunkte zu Chamberlain führen. Die genannten Personen gehören zu denjenigen, für die Schopenhauers Schriften zum Wegweiser wurden und die ihn in vielfältigen Modifikationen auch in ihren eigenen Werken verarbeitet haben. Nietzsche hatte dem älteren Philosophen in seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher (1874) ein Denkmal mit weit reichenden Folgen gesetzt. Zum einen führte dieser Text schon rein äußerlich zu Gattungsnachfolgern, deren Relevanz nicht unterschätzt werden darf. Besonders erwähnenswert ist das Nachahmungsprojekt157 Rembrandt als Erzieher von Julius Langbehn, über das zwar Chamberlain herzlich gelacht hat (Br I, 185), das bei seinen Zeitgenossen aber mit großem Interesse nachgefragt worden war. Nietzsches Titelvorlage inspirierte später auch die eigenen Verehrer, so den für die Lebensreform bedeutsamen Pädagogen Ludwig Gurlitt, der 1914 in der Zeitschrift Das Wort einen Artikel mit dem Titel Nietzsche als Erzieher publizierte, und schon vorher wortgleich Walter Hamer, ebenfalls ein Lebensreformer.158 In diese Liste der Volkserzieher wird schließlich sogar Chamberlain gestellt. Am 12. Juli 1902 erschien in der rechtskonservativen Zeitschrift Die Zukunft der Aufsatz Chamberlain als Erzieher.159 Zum anderen feiert Nietzsche in der genannten Schrift Schopenhauer als denjenigen, der das Leben zum ersten Mal nicht nur aus erkenntnistheoretischer Sicht, sondern in seiner Körperlichkeit wahrgenommen und der einer säkularen, auf Gegenwart und Sein hin orientierten Kultur- und Reformpädagogik die Bahn gebrochen habe. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena V, 714: Ich fand eine Feldblume, bewunderte ihre Schönheit, ihre Vollendung in allen Theilen, und rief aus: »aber alles Dieses, in ihr und Tausenden ihres Gleichen, prangt und verblüht, von niemanden betrachtet, ja, oft von keinem Auge auch nur gesehn.« – Sie aber antwortete: »du Thor! meinst du, ich blühe, um gesehn zu werden? Meiner und nicht der Andern wegen blühe ich, blühe, weil's mir gefällt: darin, daß ich blühe und bin, besteht meine Freude und meine Lust.
Drittens verrät Nietzsche offen, wie viel er seinem Vorbild Schopenhauer zu verdanken hat, eine Äußerung, die ihm von Wagner und Chamberlain später als 'Schmarotzerei'bekenntnis ausgelegt wurde. _____________ 157 Vgl. auch: Anonymus, Luther als Erzieher. Berlin 1902. 158 Vgl. dazu: Manfred Schneider, Zarathustra-Sätze, Zarathustra-Gefühle 2001, 169. 159 Chamberlain als Erzieher, Die Zukunft 12. Juli 19, 1902.
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Um das wichtigste vorwegzunehmen: Was Nietzsche trotz aller Schülerschaft prinzipiell dann doch maßgeblich von Schopenhauer unterscheidet, ist seine Lebensbejahung im Gegensatz zum Fundamentalpessimismus des Lehrers. Für den Buddhaverehrer Schopenhauer ist das Leben Leiden, eine unschöne Unterbrechung zwischen Geburt und Tod, nichts, woran man festhalten wollte: Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung I, 457f.: Was aber das Leben des Einzelnen betrifft, so ist jede Lebensgeschichte eine Leidensgeschichte: denn jeder Lebenslauf ist, in der Regel, eine fortgesetzte Reihe großer und kleiner Unfälle, die zwar jeder möglichst verbirgt, weil er weiß, daß Andere selten Theilnahme oder Mitleid, fast immer aber Befriedigung durch die Vorstellung der Plagen, von denen sie gerade jetzt verschont sind, dabei empfinden müssen; – aber vielleicht wird nie ein Mensch, am Ende seines Lebens, wenn er besonnen und zugleich aufrichtig ist, wünschen, es nochmals durchzumachen, sondern, eher als das, viel lieber gänzliches Nichtseyn erwählen.
Nietzsche hingegen lässt Zarathustra sagen: Mut aber ist der beste Totschläger, Mut, der angreift: der schlägt noch den Tod tot, denn er spricht: »War das das Leben? Wohlan! Noch einmal!« (Studienausgabe 4, 199). Unterschiedlicher können Bewertungen kaum sein. Schopenhauers Pessimismus resultiert abgesehen von seiner Persönlichkeitsstruktur wohl aus seinen Erkenntnissen über die menschliche Psyche. Der geniale Misanthrop hatte in seinen philosophischen Grundanschauungen einiges vorweggenommen, was die Evolutionstheorie Darwins und dann die Psychoanalyse Siegmund Freuds noch in den Diskurs des darauf folgenden Jahrhunderts einbringen würde: Instinkte, Triebe, Unterbewusstsein,160 Verdrängung u. v. m. Interessant ist daher Schopenhauers Menschenbild. Schopenhauer hält den Menschen für ein Raubtier, das durch die Zivilisation zwar oberflächlich gebändigt sei, seine entsetzliche Natur aber niemals verliere. Von der viel beschworenen Gottesebenbildlichkeit ist bei ihm nichts geblieben und Ausnahmemenschen wie Goethe bestätigen ihm letztlich nur die Regel. Die Menschhaftigkeit im Sinne von Individualität, von Freiheit und Persönlichkeit, von Autonomie und Handlungsfähigkeit ist für ihn nicht nach herkömmlichen Maßstäben zu messen, sie ist mehr oder minder Zufall, fast eine Art Mutation. Wichtig ist ihm die Erkenntnis, dass vieles, was in der Regel als individuell angesehen wird, etwa Wünsche oder Bedürfnisse, allen Menschen gemeinsam ist und damit der Spezies als Ganzes angehört, Gattungswille und keineswegs Resultat individueller Selbstbestimmung ist (Wille 656f.; 690f.). Der Mensch ist in seiner Weltsicht entweder egoistisch, böse oder im besten Fall voller Mitleid gegenüber der eigenen Art.
_____________ 160 Es sei hier nur am Rande darauf hingewiesen, dass das Individualunbewusste Freuds natürlich anders zu bewerten ist als das Kollektivunbewusste bei Schopenhauer.
529 Bildungsreligion und Kulturkritik
Gerade der 'Gattungswille' bietet Chamberlain das Scharnier für den Brückenschlag: Wenn das zum Erhabenen strebende Individuum an Boden verliert, alles menschliche Handeln triebgesteuert ist und der Erhaltung der eigenen Art dient, die zum eigentlichen Zweck des Lebens erklärt wird, dann braucht der Art nur eine neue, positive Bestimmung gegeben und das Individuum mit allen seinen schöpferischen Möglichkeiten als ihr Konzentrat verstanden zu werden. In den Händen eines Rassisten und in Verbindung mit der Darwinschen Evolutionstheorie wird dies zu einer brisanten Mischung. Viele Thesen Schopenhauers, die Nietzsche beeindruckt und oft auch zum Widerspruch angeregt haben, wurden auch für Richard Wagner zum Ausgangspunkt seines Denkens und Wirkens. Man kann daher zwischen Wagner und Schopenhauer in Anlehnung an Nietzsche in gewisser Weise ebenfalls von einem Lehrer-Schüler-Verhältnis sprechen.161 Doch dies bedeutet keineswegs, dass der Schüler den vorgegebenen Pfaden des Lehrers unbedingt folgen muss; die Pfade bilden zumeist nur den Ausgangspunkt für eine andere, oft völlig gegensätzlich anmutende Reise. Liest man Cosima Wagners Tagebücher, so ist der Name Schopenhauers ein regelmäßig auftauchender Bekannter. Er erscheint auch in allen Schriften und Aufzeichnungen des Meisters selbst, sei es, dass dieser sich direkt auf den zum Teil zeitgleich in Frankfurt lebenden Schopenhauer und seine Schriften beruft, besonders eindrücklich in der BeethovenSchrift aus dem Jahre 1870,162 sei es, dass er ihn zu Legitimationszwecken direkt zitiert oder ihn einfach als den größten Philosophen seit Kant lobpreist.163 In Briefen nennt Wagner den Niegesehenen sogar seinen Freund: Wagner / Mathilde Wesendonck 347: Aber einen Freund habe ich, den ich immer von Neuem lieber gewinne. Das ist mein alter, so mürrisch aussehender, und doch so tief liebevoller Schopenhauer! Wenn ich mit meinem Fühlen am Weitesten und Tiefsten gerathen bin, welche ganz einzige Erfrischung, beim Aufschla-
_____________ 161 Vgl. dazu: Reinhardt 1986, 101-113. 162 Z. B.: Wagner 3, 4: "Über den hieraus entstandenen Misbrauch kann sich nur Derjenige vollständig aufklären, welcher von Schopenhauer über die Bedeutung des Willens sich belehren ließ: wem diese unermeßliche Wohlthat zu Theil ward, weiß dann, daß jenes misbräuchliche »Unwillkür« in Wahrheit »der Wille« heißen soll, jenes »Willkür« aber den durch die Reflexion beeinflußten und geleiteten, den sogenannten Verstandes-Willen bezeichnet". Vgl. ebd. 9, 66f. u. ö. 163 Wagner-SB 6, 298. Typisch für solche Begeisterungsausbrüche. "Ein grosses Geschenk ist mir jedoch geworden durch die Bekanntschaft mit den Werken des grossen (…) Philosophen Schopenhauer. Seine Hauptwerke musst Du Dir sogleich kommen lassen: »Die Welt als Wille und Vorstellung« […] dann »Parerga und Parelipomena« […]. Du wirst staunen, wenn Du diesen Kopf kennen lernst." Vgl. auch ebd.: 6, 261; 309; 347; 7, 149; oder 10, 69: "Wo blieb der große Schopenhauer, dieser wahrhaft einzig freie deutsche Mann seiner Zeit, wenn ihn nicht ein englischer Reviewer uns entdeckt hätte?"
530 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
gen jenes Buches mich plötzlich so ganz wieder zu finden, so ganz verstanden und deutlich ausgedrückt zu sehen.164
Das Buch, das Richard Wagner hier anspricht, ist Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung, das erst mit seiner zweiten Auflage aus dem Jahre 1844 (Erstauflage schon 1818) zum Ruhme seines Autors führte. Es dauerte aber noch weitere zehn Jahre, bis auch Richard Wagner die Schrift 1854 für sich entdeckte. Mit welcher Intensität die Entdeckung auf ihn einwirkte, lässt das vorangegangene Zitat erahnen. Maßgeblich für Wagners Begeisterung für den Philosophen war dessen Hochschätzung der Musik, die, so Schopenhauer (Welt als Wille und Vorstellung I, 366), "darin von allen andern Künsten verschieden [sei], daß sie nicht Abbildung und Erscheinung […], sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt." Schopenhauers musikalische Metaphysik wird zur Basis für viele fruchtbare Kontroversen zwischen "seinen Schülern" Nietzsche und Wagner. Der schon ausführlich behandelte Willensbegriff gewinnt dabei an zentraler Bedeutung. Wagner versichert sich der Schopenhauerschen Präsenz in verklausulierter Form allein durch das Aufrufen des Wortes Wille.165 Entsprechend gehört Wille in seiner Schopenhauerschen Prägung (vgl. s. v. Wille) auch zu den zentralen Ideologiewörtern Wagners. Es ist Teil eines zusammenhängenden Isotopiefeldes, zu denen auch noch Trieb, Instinkt, Geschlecht, Genie, Talent, Kampf u. ä. gehören.166 Cosima-Tagebücher 1, 403 (21. Juni 1871): Außerdem sind die Frauen dem Willen unterworfen; dieser dominiert sie, 'wo habt ihr denn die Augen', frägt Hamlet, aber die Augen haben hier nichts zu tun, hier waltet etwas Dunkles; der energische Wille, nicht die Intelligenz, nicht die Schönheit, fasziniert das Weib.
Ein solcher energischer Wille, dem die Frauen unterworfen werden, suggeriert Fremdlenkung, eine höhere Macht und vor allem dunkle Triebhaftigkeiten, die dem Individuum die freie Fähigkeit des Handelns nehmen und die in keiner Weise mit den erkenntnisphilosophischen Grundgrößen der vorschopenhauerschen Zeit in Harmonie zu bringen sind. Ein so verstandener Wille impliziert die Verbindung des Allerhöchsten zu demjeni_____________ 164 Richard Wagner an Mathilde Wesendonck 1908, 239. Vgl. auch ebd. 347: "Ich las in Schopenhauer's Biographie und fühlte mich unbeschreiblich angezogen von seinem Wesen, das mit dem Ihrigen so viel Verwandtes hat. Eine alte Sehnsucht überfiel mich, einmal in dies begeistert schöne Auge zu blicken, in den tiefen Spiegel der Natur, der dem Genius gemeinsam ist." 165 Vgl. Cosima-Tagebücher 1, 707: Eintrag vom 21. Juli 1873: "R. […] sagt, daß an dem »allein ich will« von Faust, was ganz abseits der Vernunft und der Erkenntnis liege, sich die ganze Schopenhauer'sche Philosophie knüpfen ließe." 166 Vor Kenntnisnahme der Schopenhauerschen Schriften benutzte Wagner das Wort Notwendigkeit. Danach war das Wort Notwendigkeit partiell synonym zu Wille.
531 Bildungsreligion und Kulturkritik
gen, der im Einklang mit diesem Willen steht, gar dessen tieferer Ausdruck ist: Cosima-Tagebücher 1, 494: Abends lesen wir in Schopenhauer, […]. - »Wie der Wille sich manchmal hilft, zeigt sich an mir«, sagt R., »er hat seine Absicht mit mir, und da ich sonst gar nicht mehr mitgemacht haben würde, hat er uns auch in diesem Leben zusammengebracht, ganz abgesehen davon, daß wir außer Zeit und Raum ewig einander angehören, und da habe ich wieder mitgemacht. Wie der Lohngeber den Lohn erhöht, wenn er sieht, daß seine Arbeiter ihm davongehen.«
Auch wenn dieses Zitat uns, wie vieles hier Zitierte, nur über die Brechung Cosimas überliefert ist, so ist doch wahrscheinlich, dass Wagner sich in genau dieser Weise als Instrument eines höheren Willens empfunden hat. Eine weitere Affinität zwischen Schopenhauer und Wagner besteht in ihrem gemeinsamen Glauben an den den Juden zugeschriebenen Verfall der Religion.167 Schopenhauers Haltung wurde (s. v. Wille) bereits angedeutet. Wie sehr sie auf Wagner gewirkt hat, zeigt der folgende Satz. Wagner, Religion und Kunst, 10, 256: Es war - und dieß, wie spät erst! - einem einzigen großen Geiste vorbehalten, die mehr als tausendjährige Verwirrung zu lichten, in welche der jüdische Gottes-Begriff die ganze christliche Welt verstrickt hatte: daß der unbefriedigte Denker endlich, auf dem Boden einer wahrhaftigen Ethik, wieder festen Fußes sich aufrichten konnte, verdanken wir dem Ausführer Kant's, dem weitherzigen Arthur Schopenhauer.
Als Ersatz für die vermeintlich verlorene Religion bieten Schopenhauer und Wagner eine Kunstreligion an, in der die Musik zum entscheidenden Erlösungsfaktor wird. Die Musik schafft als Kunst eine zweite Welt, die das Diesseits transzendiert und zugleich durchdringt. Für den Philosophen ist sie eine unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens: Schopenhauer, Wille als Vorstellung I, 370: Die Musik ist nämlich eine so unmittelbare Objektivation und Abbild des ganzen Willens, wie die Welt selbst es ist, ja wie die Ideen es sind, deren vervielfältigte Erscheinung die Welt der einzelnen Dinge ausmacht. Die Musik ist also keineswegs, gleich den anderen Künsten, das Abbild der Ideen; sondern Abbild des Willens selbst, dessen Objektität auch die Ideen sind: deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der anderen Künste: denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen. Da es inzwischen der selbe Wille ist, der sich sowohl in den Ideen, als in der Musik, nur in jedem von beiden auf ganz verschiedene Weise, objektivirt; so muß, zwar durchaus keine unmittelbare Aehnlichkeit, aber doch ein Parallelismus, eine Analogie seyn zwischen der Musik und zwischen den Ideen, deren Erscheinung in der Vielheit und Unvollkommenheit die sichtbare Welt ist.
_____________ 167 Nicht ohne Grund stieß Wagners Vorliebe für Schopenhauer nicht bei allen seinen Bekannten auf Gegenliebe. Dass er sich dessen bewusst war, spiegelt ein Brief an Carolyne von Sayn-Wittgenstein: "Sie werden da wieder Schopenhauer riechen". Wagner-SB 8, 299.
532 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
Dass eine solche musikästhetische Ideenlehre für einen Komponisten wie Wagner zum Ausgangspunkt bzw. zur philosophischen Überhöhung seines Schaffens werden kann, ist leicht nachvollziehbar. R. Kosseleck168 kommentiert: "Deshalb sei, mit Schopenhauer, die Wirkung der Musik viel mächtiger und eindringlicher als die der anderen Künste, sie holt das verlorene Jenseits in das Diesseits herein. Man könnte sagen, folgerte der alte Richard Wagner, dass da, wo die Religion künstlich ist, der Kunst es vorbehalten sei den Kern der Religion zu retten." Es stellt sich die Frage, ob Wagners Berufung, zumindest seine Regenerationslehre, ohne Schopenhauer möglich gewesen wäre. Neben den damit angedeuteten kunstreligiösen Affinitäten169 kommen die musikästhetischen, die die Musik vor allem auch über das Drama stellten und zum Wagnerschen Begriff der 'absoluten Musik' führten,170 außerdem zu einem von Schopenhauer geprägten Künstlerideal. Doch sowohl Wagner als auch der hier ein wenig in den Hintergrund geratene Nietzsche verlassen den pessimistischen Philosophen Schopenhauer im entscheidenden Punkt. Was er verneint, wollen sie bejahen, Nietzsche das Leben, Wagner die Liebe. Wagner, Mein Leben 522. Wie jedem leidenschaftlich durch das Leben Erregten es ergehen wird, suchte auch ich zunächst nach der Konklusion des Schopenhauerschen Systems; befriedigte mich die ästhetische Seite desselben vollkommen und überraschte mich hier namentlich die bedeutende Auffassung der Musik, so erschreckte mich doch, wie jeder in meiner Stimmung Befindliche es erfahren wird, der der Moral zugewandte Abschluß des Ganzen, weil hier die Ertötung des Willens, die vollständigste Entsagung als einzige wahre und letzte Erlösung aus den Banden der nun erst deutlich empfundenen individuellen Beschränktheit in der Auffassung und Begegnung der Welt gezeigt wird.
Fast symbolhaft scheint es da zu sein, dass Wagners vorsichtige Versuche der Kontaktaufnahme zu Schopenhauer darin bestanden, diesem ein Exemplar seines Nibelungen-Gedichtes171 und das Textbuch zu Tristan und Isolde172 zu schicken. Wagners Tristan feiert seine Erlösung in der Lebensund Liebesbejahung, die ihren verklärenden Höhepunkt schließlich im Liebestod Isoldes findet. Wagner verbleibt also nicht im Verneinen, son_____________ 168 Koselleck, Bildungsbürgertum 1990, 41, das Wagnerzitat: Wagner X, 117. 169 Darüber mehr bei: Reinhardt 1986, 104f. 170 Vgl. Wagner 9, 105: "Die Musik, welche nicht die in den Erscheinungen der Welt enthaltenen Ideen darstellt, dagegen selbst eine, und zwar eine umfassende Idee der Welt ist, schließt das Drama ganz von selbst in sich, da das Drama wiederum selbst die einzige der Musik adäquate Idee der Welt ausdrückt. Das Drama überragt ganz in der Weise die Schranken der Dichtkunst, wie die Musik die jeder anderen, namentlich aber der bildenden Kunst, dadurch, daß seine Wirkung einzig im Erhabenen liegt." 171 Wagner, Mein Leben 523. 172 Richard Wagners Briefwechsel mit Breitkopf & Härtel 1911, 138.
533 Bildungsreligion und Kulturkritik
dern baut auf der von Schopenhauer verkündeten Verneinung seine besondere Art der Bejahung, seine musikdramatische Verklärung und Mystifizierung auf. Aber auch dabei kann er sich schon auf seinen philosophischen Erzieher berufen. Schopenhauers Willensüberwindung, vor allem seine Mitleidsethik, bieten ihm die Grundlage für eine besondere Art von romantisch-ideologischer Erbauungskunst, die Wagner im Parsifal dann in der Verbindung mit künstlerisch verbrämter christlicher Dogmatik und Metaphorik auf die Spitze treibt.173 Wagners Weltabschiedswerk, so: Reinhardt 1986, 111: plädiert ganz nach dem Vorbild Schopenhauers […] für Keuschheit und Askese als moralische Antworten auf ein nun als schuldhaft erkanntes Weltgetriebe, perhorresziert konsequent den Eros als "Sünde", die den Menschen an die Leidensgeschichte des "Willens" fesselt. […] Nicht mehr eros, sondern einzig agape eröffnet nunmehr den Weg zur Erlösung.
5. 3. 2. Schopenhauer und Chamberlain Mitleid, Agape, Keuschheit und Askese sind keine Heldentugenden, denen ein Chamberlain nacheifern möchte, vor allem nicht die Vorstellung, dass das Leiden ein Surrogat der Tugend und Heiligkeit174 sei, und dennoch ist auch er in vielerlei Hinsicht durch Schopenhauer geprägt, sei es durch eigene Lektüre oder durch die oben beschriebene offenkundige Verehrung Richard Wagners für den Frankfurter Philosophen. Wie flexibel Chamberlain jedoch mit dieser Prägung umzugehen wusste, hat schon die Beschreibung seiner Adaption des Willensbegriffes gezeigt. Wichtigste dabei erhobene Parallele ist, dass beide die Arterhaltung zum eigentlichen Willensprinzip machen: Schopenhauer, Wille als Vorstellung I, 385: Die Bejahung des Willens ist das von keiner Erkenntniß gestörte beständige Wollen selbst, wie es das Leben der Menschen im Allgemeinen ausfüllt. Da schon der Leib des Menschen die Objektität des Willens, wie er auf dieser Stufe und in diesem Individuo erscheint, ist; so ist sein in der Zeit sich entwickelndes Wollen gleichsam die Paraphrase des Leibes, die Erläuterung der Bedeutung des Ganzen und seiner Theile, ist eine andere Darstellungsweise desselben Dinges an sich, dessen Erscheinung auch schon der Leib ist. Daher können wir, statt Bejahung des Willens, auch Bejahung des Leibes sagen. Das Grundthema aller mannigfaltigen Willensakte ist die Befriedigung der Bedürfnisse, welche vom Daseyn des Leibes in seiner Gesundheit unzertrennlich sind, schon in ihm ihren Ausdruck haben und sich zurückführen lassen auf Erhaltung des Individuums und Fortpflanzung des Geschlechts.
Aber auch Schopenhauers Antijudaismus muss hier genannt werden. Am auffälligsten sind die Parallelen zwischen ihm und dem Philosophen in _____________ 173 Vgl. hierzu Cosima-Tagebücher 1, 922: "Schopenhauerische Philosophie und Parcival als künstlerische Krönung!" 174 Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung II, 729.
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drei zentralen Punkten: 1. in der Behauptung, dass die Juden in erster Linie eine Nation seien, mit Schopenhauers Worten eine Winkelnation (V, 286), und keine Religion und 2. darin, dass diese Religion keine Wahrhaftigkeit besitze. Der dritte Vorwurf gehört ebenfalls zum Chamberlainschen Repertoire, nämlich der Vorwurf, vom Parasitenstatus zum Herrenstatus gelangen zu wollen. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena V, 286: So ist denn noch heute diese gens extorris, dieser Johann ohne Land unter den Völkern, auf dem ganzen Erdboden zu finden, nirgends zu Hause und nirgends fremd, behauptet dabei mit beispielloser Hartnäckigkeit seine Nationalität, ja, möchte, eingedenk des Abraham, der in Kanaan wohnte als ein Fremdling, aber allmälig, wie sein Gott es ihm verheißen, Herr des ganzen Landes ward (1. Mos. 17, 8.), – auch gern irgendwo recht fußen und Wurzel schlagen, um wieder zu einem Lande zu gelangen, ohne welches ja ein Volk ein Ball in der Luft ist. – Bis dahin lebt es parasitisch auf den andern Völkern und ihrem Boden, ist aber dabei nichtsdestoweniger vom lebhaftesten Patriotismus für die eigene Nation beseelt, den es an den Tag legt […]. Ihre Religion, von Hause aus mit ihrem Staate verschmolzen und Eins, ist dabei keineswegs die Hauptsache, vielmehr nur das Band, welches sie zusammenhält, der point de ralliement und das Feldzeichen, daran sie sich erkennen. Dies zeigt sich auch daran, daß sogar der getaufte Jude, keineswegs, wie doch sonst alle Apostaten, den Haß und Abscheu der Uebrigen auf sich ladet, vielmehr, in der Regel, nicht aufhört, Freund und Genosse derselben […] zu seyn und sie als seine wahren Landsleute zu betrachten. Sogar kann, bei dem regelmäßigen und feierlichen Gebete der Juden, zu welchem zehn vereint seyn müssen, wenn einer mangelt, ein getaufter Jude dafür eintreten, jedoch kein anderer Christ.
Anders jedoch als Chamberlain führt Schopenhauer den Unterschied der verschiedenen Menschenrassen auf klimatische Bedingungen zurück (ebd. 168; 170), so dass man ihn zwar als einen Antijudaisten bezeichnen kann, aber nicht als Rassisten. Dasselbe gilt für die Arterhaltung. Sie geschieht bei Schopenhauer nicht um einer bestimmten Rasse willen. Das wohl wichtigste Motiv für Chamberlains respektvolle Haltung dem Philosophen gegenüber war seine Wagnerverehrung. Er konnte kaum jemanden ablehnen, den sein Meister so tief verehrte. Entsprechend handelt ein zentrales Kapitel in Chamberlains Wagnerbiographie auch von dessen Einstellung zu Schopenhauer. Aber der Leser erhält dabei Einblicke in Chamberlains eigene Meinung. Schopenhauer wird zunächst zum genialsten der Menschen (wie Graf Leo Tolstoi ihn nennt) (Chamberlain, Wagner 192), zum kongenialen kunstbeseelten Philosophen (ebd. 203), zum Beweis für Kants Aussage das Genie schlage bei den Deutschen mehr in die Wurzel (ebd. 192). Wer auf Schopenhauer baut, baut auf einen Felsen (ebd.). Liest man Chamberlains Beschreibung der Wirkung Schopenhauers auf Wagner, so vermittelt diese zunächst den Eindruck, als hätte Schopenhauer beim Komponisten eine Transformation bzw. Metamorphose herbeigeführt oder
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ihm gar zu einem Erweckungserlebnis verholfen: Da kam Schopenhauer und es wurde Tag (ebd. 198). Ebd. 192: der Denker vertiefte sich, der Künstler erstarkte, des Politikers Ansichten wurden klarer, der christliche Geist – des Mitleids, der Sehnsucht nach Erlösung, der Treue bis zum Tod, der Ergebenheit in den Willen einer höheren Macht – zog wieder ein in das Herz, aus dem schon viele Jahre früher Tannhäuser und Lohengrin und der Holländer hervorgequollen waren. Über des Meisters Arbeitstisch hing einzig das Portrait des großen Weltweisen.
Dieser Würdigung Schopenhauers als Lichtbringer folgt jedoch schon bald die herbe Relativierung. Um die Größe des eigentlichen Meisters nicht zu schmälern, um Wagner nicht allzu klein neben dem großen Erwecker erscheinen zu lassen, fügt Chamberlain fast toposartig hinzu, dass es für Wagner die Rückkehr in die ureigene Heimat war, nicht die Entdeckung eines neuen Landes (193). Die Stichworte dieser Heimat sind schon genannt worden: Wille, besonders Verneinung des Willens, die schon an Luther anknüpfende protestantische Diskurslinie, dann die Mitleidsethik, die besonders im Parsifal eine große Rolle spielen wird, außerdem die im Darwinismus ebenfalls bedeutenden Schlüsselwörter Instinkt, Trieb und im Vorgriff auf die Psychoanalyse das Unbewusstsein.175 Die Hervorhebung des Unbewussten wird in der Chamberlain'schen Interpretation nicht nur dazu bemüht, die 'kalte' Erkenntnisphilosophie von ihrem Thron zu stoßen, sondern vor allem dazu, das Irrationale als dem Rationalen überlegen aufzuwerten. Schopenhauer begeistert Chamberlain, weil er eine Gegenüberstellung von Intellekt und Willen, von abstrakter Erkenntnis und anschaulicher Erkenntnis vornimmt, weil er dadurch den Rationalismus durch das instinktmäßige und naturgemäße Gefühl abzulösen scheint. Die besondere Affinität der beiden in der Mitleidsfrage, in der Schopenhauer die Möglichkeit begründet sieht, die Mauer zwischen dem Du und dem Ich aufzuheben, und die für Wagner zur Erlösungslehre nicht nur im Parsifal wird, schließt hier ebenso an, wie die Sakralisierung der Kunst, deren Unmittelbarkeit und Tiefe den Weg zur wahren Erkenntnis ebnet. Das folgende Zitat kann als Reminiszenz an den Philosophen gelesen werden, da es sich offensichtlich nicht nur lexikalisch von ihm speist: _____________ 175 Chamberlain an Keyserling, Br. I, 155: "meine ich [das Argument] des Unbewußtseins, bei
Schopenhauer mit aller Bestimmtheit und aller wünschenswerten Kraft ausgeführt. In der Welt als Wille […] lese ich: "Der Wille, als das Ding an sich, macht das innere, wahre und unzerstörbare Wesen des Menschen aus: an sich selbst ist er jedoch bewußtlos." Des weiteren führt er dann aus, das Bewußtsein sei bedingt durch den Intellekt und dieser sei eine Funktion des Gehirns, welches er gar köstlich als bloßen "Parasit des übrigen Organismus" bezeichnet, welcher in das eigentliche innere Getriebe des Wesens gar nicht eingreife." […] "Bezeichnet nun, wie gesagt, Schopenhauer unser Bewußtsein als eine bloße "Oberflächenerscheinung" (…), so ist es nicht zu verwundern, wenn er […] zu Ergebnissen gelangt, die […] die Ihrigen Punkt für Punkt vorwegnehmen."
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Gl 1113: Die unserer ganzen Kunstentwickelung zu Grunde liegenden Faktoren [...]: auf der einen Seite die Tiefe, Gewalt und Unmittelbarkeit des Ausdruckes (also das musikalische Genie) als unsere individuellste Kraft, auf der anderen, das grosse Geheimnis unserer Überlegenheit auf so vielen Gebieten, nämlich die uns angeborene Neigung, mit Wahrhaftigkeit und Treue der Natur nachzugehen (Naturalismus); diesen zwei gegensätzlichen, doch in allen höchsten Schöpfungen wechselseitig sich ergänzenden Trieben und Fähigkeiten gegenüber, die Überlieferung einer fremden, vergangenen, in strenger Beschränkung zu hoher Vollkommenheit gelangten Kunst, die uns lebhafte Anregung und reiche Belehrung gewährt, doch zugleich durch die Vorspiegelung eines fremden Ideals immer wieder in die Irre führt und uns namentlich verleitet, gerade das, was wir am besten können - das musikalisch Ausdrucksvolle und das naturalistisch Getreue - zu verschmähen. […] Die Kunst ist stets am Ziel: dieses Wort Schopenhauer's habe ich mir schon früher angeeignet und bin darum [...] nicht der historischen Entfaltung von Giotto [bis] Beethoven nachgegangen, sondern den bleibenden Zügen der individuellen Menschenart.
Doch Chamberlains Begeisterung für Schopenhauer hatte, wie schon angedeutet, ihre klar abgesteckten Grenzen, nicht nur, wenn es um den Ruhm seines Meisters ging. In einem Brief bekennt er sich dazu, ein Gegner Schopenhauers zu sein.176 Und es ist, wie zu erwarten war, der schon ausgeführte Schopenhauersche Pessimismus, den Chamberlain ablehnt. Denn: Absolute Verneinung und Kunst sind unvereinbar (Chamberlain, Wagner 218). Während die Schopenhauersche Entelechie in der Zeugung von Nachkommen begründet liegt, das Leben ein ewiger Wechsel von Werden und Vergehen und der Tod nur ein Auf- und Übergehen in die allgemeine Lebenskraft ist, während also dessen Lebenspessimismus eher einem überbordenden Realismus gleicht, ist dem Engländer jede Form von Aussichtslosigkeit zuwider (ebd. 210). Für ihn muss das ewige Werden und Vergehen, das Aufgehen in der allgemeinen Lebenskraft, der Überlebenskampf, wie es mit Darwin dann auf den Punkt gebracht wird, einen für den Menschen und die Menschheitsentwicklung erhabenen Sinn haben (ebd. 237). Er will, wie Wagner (10, 260), die Anerkennung einer moralischen Bedeutung der Welt. Seine Weise der Sinngebung ist einerseits die Regeneration des Menschen durch die Kunst als göttliches Prinzip (so ebenfalls Wagner) und andererseits eine Teleologie der germanischen Rasse, bei der nicht derjenige überlebt, der sich am besten anpassen kann, sondern derjenige, der durch Art und Rasse von vornherein zum neuen Menschen ausersehen ist. Das Ziel der Geschichte wird zum Ziel des Lebens, wobei hier anzumerken ist, dass für Chamberlain die Tonkunst mit Wagner bereits an ihrem Ziel angekommen ist (Chamberlain, Wagner 451). Cham_____________ 176 Br. II, 322, an Hubert Krüger, Bataillonsarzt, 12. Sept. 1915: "Es ist mehr Geist und mehr
Bildung in dem kleinen Finger der einen Hand Schopenhauers als in diesen drei Männern zusammen - und das sage ich als Gegner Schopenhauers."
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berlain gebraucht den Pessimismus Schopenhauers jedoch, um seine eigene Utopie umso farbenreicher auszumalen bzw. um die Wagnersche Regenerationslehre ins rechte Licht zu rücken. Er sucht dabei nicht nur diejenige idealistische Heilslehre, die den Menschen vom Tier abhebt, sondern ihn auch gleichzeitig zum Gott überhöht und damit zur optimistischen Teleologie fähig macht. GL 236: Wenn das Reich Gottes in uns wohnt, wenn es wie ein verborgener Schatz in diesem Leben einbegriffen liegt, was soll der Pessimismus? Wie kann der Mensch ein elendes, nur zu Jammer geborenes Wesen sein, wenn seine Brust das Göttliche birgt? wie diese Welt die schlechteste, die noch gerade möglich war (siehe Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, Kap. 46), wenn sie den Himmel einschliesst?
Aus der Verneinung heraus wird die absolute Bejahung entwickelt, aus der triebgesteuerten Verfallsideologie eine in die Kunstästhetik eingebettete Erlösungsutopie,177 wie sie Richard Wagner vertritt. Wagner 10, 228: der, unter Qual und Leiden seiner Sündhaftigkeit sich bewußt werdende, verirrte Wille des menschlichen Geschlechtes aus dem, seinen natürlichen Adel entwürdigenden Verderben: hoch begabten Stämmen, denen das Gute so schwer fiel, ward das Schöne so leicht. In voller Bejahung des Willens zum Leben begriffen, wich der griechische Geist der Erkenntniß der schrecklichen Seite dieses Lebens zwar nicht aus, aber selbst diese Erkenntniß ward ihm nur zur Quelle künstlerischer Anschauung: er sah mit vollster Wahrhaftigkeit das Furchtbare; diese Wahrhaftigkeit selbst ward ihm aber zum Triebe einer Darstellung, welche eben durch ihre Wahrhaftigkeit schön ward.
Schopenhauer ist für Wagner wie für Chamberlain die philosophische Basis, auch wenn letzterer ihn trotz anfänglicher Apotheose schließlich nur noch als Glied einer Kette (Chamberlain, Wagner 206; vgl. auch 209) bezeichnet, eine Herabsetzung, die vor allem dem Topos vom einsamen und unabhängigen Meister Wagner geschuldet ist. Die möglichen Öffnungen zur späteren Rassenlehre sind zwar nur formal, aber in ihrer biologischen Metaphysik und damit in ihrer Anknüpfbarkeit bereits angelegt, die Topoi vom Heldentum (von Schopenhauer bezeichnet als heroischer Lebenslauf; Parerga 1986, 380), von Opferbereitschaft und Entsagung gehörten zum Philosophen genauso hinzu wie zum Christentum, aber auch zu Chamberlain und Wagner; sie werden von diesen jedoch in völlig andere, zum Teil in erbauliche Kontexte gestellt: "Tristan und Isolde ist die höchste Verherrlichung, die Apotheose der Bejahung des Willens zum Leben" (Chamberlain, Wagner 204) schreibt Chamberlain ganz im Duktus des Philosophen, inhaltlich jedoch schon auf Nietzsche verweisend. _____________ 177 Vgl. dazu Chamberlain, Wagner 208ff.
538 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
5. 4. Friedrich Nietzsche In den an Kant anschließenden Diskursen über Kultur und Zivilisation fallen im 19. Jahrhundert besonders diejenigen auf, die in der Kunst nicht nur die Krönung der Kultur sahen, sondern auch das letztgültige Heilmittel für alle Probleme, an denen moderne Gesellschaften erkranken.178 Wegweisend nicht nur unter diesem Aspekt ist Friedrich Nietzsche.179 Auch wenn der Philosoph schon bald eine breite Anhängerschaft in Deutschland versammeln konnte, so waren es zunächst einmal die radikalen Außenseiter und Randgruppen, die ihn für sich entdeckten, wozu er Antisemiten und Wagnerianer gleichermaßen hinzuzählte. Nietzsche, Briefwechsel (an Overbeck, 24. März 1887) 5: Ich habe nachgerade einen 'Einfluß', sehr unterirdisch, wie sich von selbst versteht. Bei allen radikalen Parteien (Socialisten, Nihilisten, Antisemiten, Christl. Orthodoxen, Wagnerianern) genieße ich eines wunderlichen und fast mysteriösen Ansehens.
Chamberlain, Antisemit und Wagnerianer, zitiert ihn häufig alludierend oder wörtlich, manchmal zustimmend, manchmal ablehnend, oft einfach nur auf ihn anspielend, immer jedoch so, dass offensichtlich wird, wie gut auch er Nietzsches Schriften kennt: Gl 356: Menschen, die nicht mit ihrem Blute bestimmte Ideale erben, sind weder moralisch noch unmoralisch, sondern einfach "amoralisch". Wenn ich mir ein Modewort für meinen Zweck zurechtlegen darf: sie sind diesseits von gut und böse. Sie sind auch diesseits von schön und hässlich, diesseits von tief und flach.
Besonders die Vorstellung des Übermenschen fasziniert ihn derart, dass selbst christliche Bezüge nicht darüber hinwegtäuschen können, wie er seinen neuen Menschen nicht nur inhaltlich nach ihm ausrichtet, sondern ihn auch sprachlich, vor allem in seinem Metapherngebrauch, auf dieselbe Weise charakterisiert: Nietzsche lässt Zarathustra sagen: Nietzsche, Zarathustra, Werke II, 286: Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch.
Oder an einer anderen Stelle: Nietzsche, ebd. 283: Ich liebe alle die, welche wie schwere Tropfen sind, einzeln fallend aus der dunklen Wolke, die über den Menschen hängt: sie verkündigen, daß der Blitz kommt, und gehn als Verkündiger zugrunde. Seht, ich bin ein Verkündiger des Blitzes, und ein schwerer Tropfen aus der Wolke: dieser Blitz aber heißt Übermensch.
Die Blitzmetaphorik ist keineswegs eine genuine Erfindung Nietzsches. Wie schon ausgeführt wurde (S. 329f.), ist der Blitz das Attribut der Götter, sei es der germanischen Götter, des griechischen Gottes Zeus oder _____________ 178 Dieser Diskurs wurde mit kritischer Perspektive durch Adorno u. a. im 20. Jh. fortgeführt. 179 Vgl. Steven E. Aschheim, Nietzsche und die Deutschen. Karriere eines Kults 2000, 9ff.
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des alttestamentarischen Gottes Jahwe (Hab. 13, 11). Dennoch ist das folgende Zitat Chamberlains nicht nur Ausdruck einer gemeinsamen mythologischen Bildungstradition, sondern Zeugnis dafür, wie prägend Nietzsches Idee vom Übermenschen auch in seiner Ausformulierung auf Chamberlain gewirkt hat. Nietzsches positive Umkehrung der Lehren seines "Erziehers" Schopenhauer wird zur Vorlage für Chamberlain: das Leid zur Seligkeit, die pessimistische Passivität zur übermenschlichen, den Menschen selbst mit einschließenden Schöpferkraft. Gl 242/3: Hier redet eine Erkenntnis, die weiter geschaut hat, als die indische, zugleich redet hier der stärkste Wille, das sicherste Selbstbewusstsein. Ähnlich wie wir Letztgeborene eine Kraft, welche nur von Zeit zu Zeit in flüchtigen Wolken als Blitz aufzuckte, nunmehr in der ganzen Welt entdeckt haben, verborgen, unsichtbar, von keinem Sinne wahrgenommen, durch keine Hypothese zu erklären, doch allgegenwärtig und allgewaltig, und wie wir nunmehr im Begriff sind, von dieser Kraft die völlige Umgestaltung unserer äusseren Lebensbedingungen herzuleiten, – so wies Christus auf eine verborgene Kraft hin, drinnen in der unerforschten und unerforschlichen Welt des Menscheninnern, eine Kraft, fähig, den Menschen selber völlig umzugestalten, fähig, aus einem elenden, leidbedrückten Wesen ein mächtiges, seliges zu machen. Der Blitz war sonst lediglich ein Zerstörer gewesen, die Kraft, die er uns entdecken lehrte, dient nunmehr der friedlichen Arbeit und dem Wohlbehagen; ebenso war der menschliche Wille von jeher die Saat alles Unheils und Elends, das über das Menschengeschlecht niederging, – jetzt sollte er zur Wiedergeburt dieses Geschlechtes dienen, zur Entstehung einer neuen Menschenart.
Nietzsche ist wohl einer der herausragendsten und gleichermaßen umstrittensten Gestalten der deutschen Geistesgeschichte und kann gerade aufgrund seiner Rezeption durch die Nationalsozialisten als eine Schlüsselfigur des 19., aber auch des 20. Jahrhunderts angesehen werden.180 Sein Zarathustra gehört zu den wichtigsten Gedankengestalten seiner Zeit. Die in ihm verkörperte Idee eines Übermenschen, der jenseits von gut und böse steht, findet bei Nietzsche ihre programmatische Bestimmung. Dem Tier wird dabei nicht mehr nur der Mensch gegenübergestellt, sondern in einem triadischen Schema steht dem Menschen und dem Tiere gemeinsam der Übermensch gegenüber; wenn man will, tritt zwischen Gott und den Menschen eine neue Gestalt, durch deren bloße Existenz einerseits die Möglichkeit der Annäherung des Menschen an Gott suggeriert wird, andererseits der "normale" Mensch in die Nähe des Tieres rückt. Die Parallelen zu Chamberlain liegen auf der Hand. Wie dieser Übermensch entstehen kann, wird von Nietzsche nicht weiter ausgeführt, er konnte daher leicht zum Spielfeld von Rezipientenphantasien werden. Offensichtlich ist, dass _____________ 180 Vgl. dazu: Lucács, Die Zerstörung der Vernunft 1955; ders., Von Nietzsche bis Hitler oder
Der Irrationalismus in der deutschen Politik 1966. Direkt dazu: Hitler, Mein Kampf 200; Rosenberg, Mythos, 14; 37; 212; 271 u. ö.
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die anthropologische Realität des Übermenschen in seiner Kreativität besteht, dass er nicht nur über andere hinauswächst, sondern vor allem über sich hinaus schaffen und schöpfen kann.181 Als die höchste Form der Kreativität, als erlösender metaphysischer Fluchtpunkt aus dem Leben mit seiner ganzen Negativität, wird – und hier liegt der Vergleich mit Goethe nahe – die Kunst hervorgehoben. Nietzsche, Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Studienausgabe 1, 49: Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die Kunst: Sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben läßt: diese sind das Erhabene als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das Komische als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor des Dithyrambus ist die rettende Tat der griechischen Kunst.
Goethes Prometheus findet im Zarathustra seine Verdoppelung, allerdings ohne dabei denselben humanistisch-moralischen Grundbegriffen verhaftet zu sein. Theo Meyer 2001, 114f.: Goethe ist für Nietzsche der schöpferische Mensch schlechthin. Im jungen Goethe erblickt er das revoltierende Genie. In der Geburt der Tragödie zitiert er Verse aus Goethes Prometheus-Hymne und sieht in Prometheus, ganz im Sinne der Genie-Ästhetik des Sturm und Drang, den "titanischen" Menschen, der eine neue Cultur schaffet. Prometheische Züge prägen auch Zarathustra, ja, mit dem Willen, den Übermenschen zu schaffen, ist Zarathustra eine Art neuer Prometheus.
Faust, Prometheus und Zarathustra, – ohne hier Unvergleichliches zusammenfassen zu wollen –, allen drei Gestalten ist der Glaube an die Fähigkeit des Menschen zu zielgerichteter Verbesserung, an das Menschheits-Utopische gemeinsam (ebd. 115). Das Tausendjährige Reich des Philosophen, die freie Gesellschaft Fausts sind Visionen, die als Voraussetzung einen neuen Menschen postulieren, der nicht zuletzt durch den Bruch mit den alten Göttern geschaffen werden konnte. Spätestens seit seinem provokativen Ausruf Gott ist tot! und seinem im selben Jahr wie Darwins Abstammung des Menschen verfassten Essay (1870/1) Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik182 ist es Friedrich Nietzsche, der die Kunst zum Lebensprinzip, zur Ermöglicherin des Lebens über_____________ 181 Vgl. dazu auch: Aschheim, a. a. O. 8ff.; 17ff. 182 Nietzsches, Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In: Studienausgabe. 1, 9-156. Vgl. auch z.B. über den Künstler bei Nietzsche, ebd. 141: "So vergegenwärtigen wir uns, an den Erfahrungen des wahrhaft ästhetischen Zuhörers, den tragischen Künstler selbst, wie er, gleich einer üppigen Gottheit der individuatio, seine Gestalten schafft, in welchem Sinne sein Werk kaum als »Nachahmung der Natur« zu begreifen wäre, - wie dann aber sein ungeheurer dionysischer Trieb diese ganze Welt der Erscheinungen verschlingt, um hinter ihr und durch ihre Vernichtung eine höchste künstlerische Urfreude im Schoosse des UrEinen ahnen zu lassen." Vgl. zu dieser Schrift Nietzsches auch: Borchmeyer, Richard Wagner und Nietzsche 1986a, 114-136, besonders 122-126.
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haupt stilisiert. Es sei hier nur angemerkt, dass er diesen Essay mit einem Vorwort an Richard Wagner beginnt und dass auf dem ursprünglichen Titelblatt der entfesselte Prometheus abgebildet war. Aus seinem Nachlass sind folgende Zeilen überliefert, die das in der Geburt der Tragödie Formulierte noch pointieren: Nietzsche, Nachlass. Werke 1, 691f.: Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence. Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehen will, des Tragisch-Erkennenden. Die Kunst, als die Erlösung des Handelnden dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden. Die Kunst, als die Erlösung des Leidenden – als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist…
Nietzsches Kunstapotheose wird zur Lebensapotheose, zur Erlösung sowohl des Tragisch-Erkennenden wie des Tragisch-Kriegerischen (Handelnden) und des Leidenden aus dem furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins und zur Hinführung in einen Zustand, der für den Leidenden als große Entzückung konzipiert wird. Der verneinende Pessimismus Schopenhauers schlägt in Bejahung um und wird zur schon angedeuteten Brücke für Chamberlain. Der Diskurs um Bejahung und Verneinung des Lebens kann letztlich sogar als symptomatisch für das 19. und den Beginn des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Die genannten Schlüsselwörter, allen voran Leben und Kunst, stehen dann nicht nur für die Auseinandersetzung Nietzsches mit Schopenhauer, sondern verbinden die Philosophen mit ihren Rezipienten, unter ihnen auch mit Houston Stewart Chamberlain und seiner Gemeinde.183 Neben der ausgeprägten Metaphorik und der Sakralsprache, deren sich Nietzsche und Chamberlain beide bedienen, stehen inhaltliche Parallelen: Das traditionelle Christentum verneine das Leben, die Kunst bejahe es, wird dadurch zur Voraussetzung der Erlösung, womit sich der Künstler als produktiver Ursprung der Welt verstehen kann. Die Göttin Kunst tritt an die Stelle des Christentums; sie bewirkt die göttliche Lust des Schaffen_____________ 183 Vgl. dazu: GL 236: "Im 19. Jahrhundert, wo die Begriffe Pessimismus und Verneinung des Willens sehr geläufig geworden sind, hat man sie vielfach auf Christus angewandt". Oder: PI 45: "in dem zweiten Teil erfuhren wir die Bedeutung der Verneinung als unentbehrlicher Vorstufe der Bejahung, eine Grundwahrheit, die von den nüchtern praktischen Menschen fast immer verkannt wird und für die namentlich Richard Wagner erschöpfend knappen Ausdruck fand: "Wir dürfen nur wissen, was wir NICHT wollen, so erreichen wir aus unwillkürlicher Naturnotwendigkeit ganz sicher das, was wir wollen, das uns eben erst ganz deutlich und bewußt wird, wenn wir es erreicht haben." Ferner: AW 46.
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den184 und macht den Künstler – sicher mit vielen Brechungen – letztlich "wie" Gott. Nietzsche, Richard Wagner in Bayreuth, Studienausgabe I, 470: Aber wie eigenthümlich gekreuzt wird diese Empfindung, wenn gerade zu der Helle seines schaudernden Uebermuthes ein ganz anderer Trieb sich gesellt, die Sehnsucht aus der Höhe in die Tiefe, das liebende Verlangen zur Erde, zum Glück der Gemeinsamkeit - dann, wenn er alles dessen gedenkt, was er als Einsamer-Schaffender entbehrt, als sollte er nun sofort, wie ein zur Erde niedersteigender Gott, alles Schwache, Menschliche, Verlorene »mit feurigen Armen zum Himmel emporheben«, um endlich Liebe und nicht mehr Anbetung zu finden und sich, in der Liebe, seiner selbst völlig zu entäußern!
Dass hier gerade Richard Wagner für Nietzsche zum Inbegriff des schöpferischen Künstlers gehört, wie ein zur Erde niedersteigender Gott, ist trotz der späteren Entfremdung beider Männer nicht verwunderlich und lässt sich u. a. im obigen Zitat ablesen. Der "Übermensch" Wagner wird nach dem Bruch der beiden Männer in den Schriften Nietzsches vom "Übermenschen" Goethe185 verdrängt, über dessen Prometheus er sagt: Nietzsche, Geburt der Tragödie, Studienausgabe I, 67: Der Mensch, ins Titanische sich steigernd, erkämpft sich selbst seine Kultur und zwingt die Götter, sich mit ihm zu verbinden, weil er in seiner selbsteignen Weisheit die Existenz und die Schranken derselben in seiner Hand hat.
Das Leben und das Schicksal selbst in der Hand zu haben, ein Handelnder zu sein, der auf gleicher Ebene wie die Götter steht, dies bedeutet bei Nietzsche, Held zu sein und wahrhaft zu leben. Der vierte Satz über die Kunst, wie er oben zitiert wurde, deutet den neuen, von Nietzsche erstrebten Menschen an, denjenigen, der den tragisch-kriegerischen Helden durch einen in der Kunst erlösten ersetzt, ein Kunstprodukt, das in Chamberlains Arier seine real-tragische Weiterentwicklung feiert. All dies ist Aufgabe, Utopie. Sie gilt dem, der Mut hat, und Ohren um zu hören.186 Das Ziel aller Kultur, so schreibt Nietzsche in seiner Schrift Schopenhauer als Erzieher, ist die Erzeugung des Genies aus sich selbst heraus, mehr noch: das Vollenden sogar der Natur.187 Nietzsche, Schopenhauer als Erzieher. Studienausgabe I, 382: Es ist dies der Grundgedanke der Kultur, insofern diese jedem einzelnen von uns nur eine Aufgabe zu stellen weiß: die Erzeugung des Philosophen, des Künstlers und des Heiligen in uns und außer uns zu fördern und dadurch an der Vollendung der Natur zu arbeiten.
_____________ 184 185 186 187
Nietzsche, Werke 1, 237; vgl. auch: 2, 325ff. Wagner wird nun zum Prototyp der romantischen Dekadenz. Vgl. dazu: Meyer 2001, 162. Nietzsche, Zarathustra. Werke 2, 408. Vgl. dazu: Schneider 2001, 169.
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Philosophen, Künstler, sogar Heilige als Klein'formen' des Genies sind in diesem Sinne keine zufälligen oder geplanten Produkte göttlichen Willens, sondern weltimmanent erschaffbar. Erschaffbarkeit verlangt nach tatsächlicher Erschaffung. Für Nietzsches Nachfolger galt dies allemal. Das Utopische wurde lebensprogrammatisch, und das Genie konnte, allerdings anders als von Nietzsche gedacht, zum züchtbaren Produkt einer darwinistisch geprägten Mentalität werden, sei es für Chamberlain, sei es aber auch für dessen Epigonen und Nachfolger im Nationalsozialismus. Trotz der vorgestellten gedanklichen Parallelen, wiederholt seien: das heroische Prinzip, die Idee vom neuen Menschen, gar vom Übermenschen, die Hypostasierung der Kunst, die Genie-Ästhetik, der Persönlichkeitskult mit prinzipieller Verachtung der Massen u. v. m., oder sollte man besser sagen, vielleicht gerade aufgrund der genannten Affinitäten, ist das Verhältnis Chamberlains zu Nietzsche ambivalent. Obwohl er den Philosophen einerseits in die Reihe der Unsterblichen aufnimmt: für Faust und Werther, für Kant und Schopenhauer und Nietzsche, für alle unsterblichen deutschen Tondichter,188 obwohl er also immer wieder zu erkennen gibt, dass er ihn gelesen und vieles von ihm übernommen hat,189 kritisiert er ihn an anderer Stelle wie kaum einen anderen. Die Motive sind schnell auf den Punkt gebracht: Friedrich Nietzsche war im Unterschied zu Chamberlain kein Nationalist, sondern Europäer; er träumte von einer übernationalen, europäischen Kultur. Auch war er im Unterschied zu seinem Lehr- und Zuchtmeister (ebd. 1, 341) Schopenhauer kein Judenhasser oder hegte Affinitäten zum Rassismus, auch wenn man regelmäßig darwinistische und biologistische Metaphorik in seinen Schriften beobachten kann. Chamberlain fiel es entsprechend sehr viel leichter, sich zu Wagners lebenslangem Vorbild Schopenhauer zu bekennen, als zum Wagner abtrünnig gewordenen Nietzsche. Über das komplizierte Verhältnis Nietzsches zu Wagner ist viel geschrieben worden. Schon Thomas Mann190 versuchte, Erklärungen für den Bruch der Beiden zu finden. Nietzsches erst nach Wagners Tod erschienene Schrift Der Fall Wagner wird von ihm als umgekehrte Panegyrik gelesen, von anderen aber als Abrechnung des Philosophen mit dem Komponisten interpretiert.191 Von einer positiven Umdeutung des Dekadenz-
_____________ 188 Neue Kriegsaufsätze / Grundstimmungen in England und Frankreich 10. 189 Wer hat den Krieg verschuldet 52: "Ich glaube, daß ist, was Nietzsche "jenseits von gut und böse" nennt." 190 Vgl. dazu Borchmeyer, Nietzsche und Wagner 1994. 191 Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners. (1933). Vgl. Dieter Borchmeyer, Doppelgesichtige Passion: Nietzsche als Kritiker Wagners. http://www.uniheidelberg.de/uni/presse/rc9/5.html
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begriffs (vgl. S. 230) durch Nietzsche und Wagner ist da die Rede,192 gar von der leidenschaftlichen Gemütslage des kranken Nietzsche. Es ist hier nicht der Ort, diese Diskussion weiterzuführen, da es in erster Linie um Chamberlain geht und weniger um Nietzsches Ringen um den und mit dem Bayreuther Meister. In den Augen der Wagnerfamilie jedoch war der Bruch das Entscheidende, nicht die Motivlage. Für sie war Nietzsche zum Verräter geworden, so dass Chamberlain gar nicht bereit war, Sätze wie die folgenden in ihrer Vielschichtigkeit zu verstehen. Für ihn repräsentierten sie den Angriff, nichts anderes.193 Nietzsche, Der Fall Wagner. Werke 2, 912: Dem Künstler der décadence – da steht das Wort. Und damit beginnt mein Ernst. Ich bin ferne davon, harmlos zuzuschauen, wenn dieser décadent uns die Gesundheit verdirbt – und die Musik dazu! Ist Wagner überhaupt ein Mensch? Ist er nicht eher eine Krankheit? Er macht alles krank, woran er rührt – er hat die Musik krank gemacht.
Der Bruch des Meisters mit Nietzsche ist in dessen abweisender Reaktion auf den durch christliche Erlösungslehre geprägten Parsifal offenbar geworden und prägte die Brille, mit der auch der Schwiegersohn später urteilte. Die Bewertungsparallelen zu Cosima Wagner sind offensichtlich. Cosima, Tagebücher (2. August 1878) 2, 153: Dadurch kommt R. auf Nietzsche, um zu sagen: »Alles hat dieser schlechte Mensch von einem, selbst die Waffen, die er nun gegen mich führt. So pervers zu sein, so raffiniert und dabei so seicht!«
Chamberlain leugnet wie Wagner die selbständige Kreativität Nietzsches und kommentiert dessen Schrift Richard Wagner in Bayreuth wie folgt: Br. I, 64f. (an Vult von Steyren, 1898): Bei N. [Nietzsche] war von Anfang an der böse Geist stärker als der gute; einzig die Nähe des großen und guten Meisters hat ihn einige Jahre auf dem geraden Wege der Wahrheit und Ehre erhalten: […] Nietzsche ist ein Mensch, bar jeglicher geistigen Initiative; sein Gehirn gleicht einer ungewöhnlich leistungsfähigen Mahlmaschine, die alles immer gemahlen hat, was man auch hineinwarf. Ich wette, daß Sie im ganzen Nietzsche nicht einen Satz, nicht ein Fragment eines Satzes, geschweige denn einen Gedanken oder irgendeine einzige konstruktive Idee finden, dessen Autor nicht nachgewiesen werden kann: Wagner, Plato, Simonides, Schopenhauer, Goethe (der "Über-
_____________ 192 Ders., Wagner und Nietzsche 1986, 132ff. Außerdem: Ders., Nietzsches Wagner-Kritik und die Dialektik der Dekadence 1984, 207-228. 193 Dies gilt wohl auch für andere Passagen im Fall Wagner, die Nietzsches Ambivalenz noch deutlicher machen. Nietzsche, Der Fall Wagner. Werke 2, 934: "Was heute berühmt ist, macht, im Vergleich mit Wagner, nicht »bessere« Musik, sondern nur unentschiednere, sondern nur gleichgültigere – gleichgültigere, weil das Halbe damit abgetan ist, daß das Ganze da ist. Aber Wagner war ganz; aber Wagner war die ganze Verderbnis; aber Wagner war der Mut, der Wille, die Überzeugung in der Verderbnis – was liegt noch an Johannes Brahms!"
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mensch" ist aus Faust, die "Blonde Bestie" ist eine Verballhornung des Satyros oder der vergötterte Waldteufel usw.) usw.194
Man könnte das Zitat als 'Semitisierung' Nietzsches betrachten, indem die üblichen antijüdischen Stereotype der Kultur- und Phantasielosigkeit auf den Philosophen übertragen werden. Hinzu kommt der Vorwurf der Religionslosigkeit. Zwischen Nietzsche und seinen bildungsbürgerlichen Lesern à la Chamberlain gab es ohnehin einen speziellen Gegensatz, der trotz vielfältiger terminologischer und ideentheoretischer Übernahmen nie zu einer Anhängerschaft führen konnte, nämlich die Bewertung der christlichen Religion, die schon zwischen Nietzsche und Wagner zum Bruch geführt hat. Nietzsche lehnt die christliche Moral als Hemmnis für die menschliche Entwicklung ab und empfindet Wagners langsames Zurückgehen und –schleichen zum Christentum und zur Kirche als tödliche Beleidigung.195 Zwar polemisiert auch Chamberlain beständig gegen das kirchliche historische Christentum, indem er glaubt, sich von Nietzsches zweitem Gott Goethe Schützenhilfe holen zu können:196 Gl 1049: zwischen dem Christentum, wie es uns das Völkerchaos aufzwang, und dem innersten Seelenglauben des Germanen hat es nie wirkliche Übereinstimmung gegeben, niemals. Goethe durfte aus voller Brust singen: / Den deutschen Mannen gereicht's zum Ruhm, / Dass sie gehasst das Christentum! Und heute kommt ein erfahrener Pfarrer und versichert uns was wir längst schon ahnten der deutsche Bauer sei überhaupt niemals zum Christentum bekehrt worden. Ein für uns annehmbares Christentum ist jetzt erst möglich geworden; nicht etwa, weil es dazu einer Philosophie bedurft hätte, es bedurfte aber der Hinwegräumung falscher Lehren und der Begründung einer grossen, allumfassenden, wahren Weltanschauung, von welcher Jeder so viel aufnehmen wird, wie er kann, und innerhalb welcher für den Geringsten wie für den Tüchtigsten das Beispiel und die Worte Christi zugänglich sein werden.
Doch was Chamberlain dem, wie er es kennzeichnet, durch sakramentalen Materialismus197 und Völkerchaos verunreinigten Christentum entgegensetzen will, ist ein neues, germanisches Christentum, das, obwohl als christozent_____________ 194 Vgl. auch eine andere Briefstelle an Hermann Keyserling (1907). Br I, 154: "in mancher Beziehung ist doch Nietzsche, der Denker, im buchstäblichen Sinne des Wortes ein Parasit an Schopenhauer, weswegen man viele seiner Leitgedanken recht wohl mit den von hohen Bäumen herabhängenden, blattlosen Orchideenblüten vergleichen könnte, zauberreich und doch erschreckend künstlich, weil des selbständigen Eigenlebens unfähig." Auffällig ist die eklatante Parallelität der Meinungen bei Wagner und Chamberlain. Denn so schreibt Cosima in den Tagebüchern (Eintrag vom 3. Februar 1883): "In der Schmeitzner'schen Monatsschrift steht ein Aufsatz über Nietzsche's "Fröhliche Wissenschaft"; ich spreche davon, und R. blickt hinein, um seinen ganzen Widerwillen dagegen kund zu geben. Alles sei von Schopenhauer entlehnt, was Wert habe. Und der ganze Mensch sei ihm widerwärtig." 195 Zitiert nach Borchmeyer 1986a, 129. 196 Vgl. auch Gl 227; 473; 745; 771 u. ö. 197 Vgl. Gl 771.
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risch propagiert, dem biologistischen Genie- und Übermenschenkult verbunden war und entsprechend in der Persönlichkeit Christi die germanische Rasse zum Ausdruck gekommen sieht.198 Mit Nietzsches moralischem Liberaluniversalismus war dies nicht vereinbar. Während Nietzsche den Bruch mit den Göttern konsequent vollzieht, bleibt Chamberlain ein Schüler Wagners199 und damit einem ideologisch modifizierten Christentum, de facto natürlich einer völlig anders entworfenen Religionsideologie, verhaftet. Dies kam sicherlich auch seiner bildungsbürgerlichen Salonfähigkeit zugute. Nietzsches Abkehr vom traditionellen Christentum und seine Hinwendung zur Leiblichkeit und zum Diesseits stellen ideologische Dammbrüche dar, deren Konsequenzen nicht unterschätzt werden dürfen und von denen vor allem auch die nationalistischen Sektengründer profitierten. Doch während Nietzsche in seiner Kulturkritik, die mehr als nur eine hoch ziselierte Diagnose der Krisenhaftigkeit war, den zur Schau gestellten metaphysischen Krisensymptomen ein weltimmanentes Philosophieren entgegen setzte, verhieß Chamberlain seinen Lesern trotz aller Kirchenkritik immer noch die traditionelle trostreiche Transzendenz eines höheren Wesens, das letztlich imstande sei, in das Weltgeschehen lenkend einzugreifen. Er füllte damit die Lücke, die den Unterschied zwischen Philosophie und Religion ausmacht. Der historische Nihilismus, der in der Nietzscherezeption von der Wandervogelbewegung bis zu Heidegger reicht,200 hatte 'vergessen', auch das Wozu des Wollens und das Wohin mitzuteilen. Er hat Mauern eingerissen, aber keine neuen Sicherungsprogramme eingeführt. Die zurückgebliebene Leere verlangte geradezu nach Füllungen. M. Schneider bringt dies mit folgenden Worten auf den Punkt. Schneider 2001, 172: Der historische Nihilismus ist eine rhetorische, ja vielleicht existenzielle Investition von Glauben, ohne das Vermögen, ja vielleicht auch oh-
_____________ 198 Worte Christi (1903), 3: "Für uns dagegen ist die Persönlichkeit Christi die Wurzel aller Religion im Christentume, und wir bekennen uns zu dem Glauben Goethe‘s: "Christi Wandel ist für den edlen Teil der Menschheit noch belehrender und fruchtbarer als sein Tod". Welchen Augenblick dieses Lebens aber wir auch immer ins Auge fassen mögen: Christi WORTE sind seine Thaten." Und entsprechend passend beginnt er das zweite Kapitel mit der Sentenz: "17. Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebendigen." Vgl. auch ebd. 22f. und das Kapitel zum Wortgebrauch Persönlichkeit. 199 Der Bruch zwischen Nietzsche und Wagner kann in deren unterschiedlichen Vorstellungen vom Christentum begründet werden. Er vollzog sich mit aller Wucht durch Wagners Parsifal, der in maximaler Weise dem Christentum verpflichtet ist, auch wenn das Leidensmotiv selbst in Schopenhauerscher Prägung daherkommt. Nietzsche fühlte sich durch Wagners Bühnenweihfestspiel beleidigt. Denn was der Eine lebenslang zu bekämpfen trachtete, nutzte der Andere für die Überhöhung seiner Musik. Vgl. dazu: Bermbach, Liturgietransfer 2000, 40-65. Zum Thema Wagner und Nietzsche: vgl. Borchmeyer 1986a, 114-136. 200 So lautet ein studentischer Witz über Heideggers Philosophie: "Ich bin entschlossen, nur weiß ich nicht wozu". Vgl. Schneider 2001, 172.
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ne Willen, diesen Glauben mit Inhalten oder Programmen zu verbinden. Dieser historische Nihilismus speist sich […] zunächst aus heftigem Ressentiment und bildet eine gefrorene Attitüde des Aufbruchs aus.
Wenn sich Ressentiment und Aufbruchsstimmung mit Glauben und Wollen verbinden und zusammen die genannte Lücke füllen, dann entsteht eine Mischung von Ideologemen Chamberlain'scher Prägung. In dieser Weltanschauung wird Nietzsches Philosophie, in rezeptionsfreundlicher textlicher Fassung und volkstümlicher Aufbereitung, ideologisch kontextualisiert, radikalisiert und damit funktionalisiert. Wichtigste Voraussetzung für diese Nutzung ist die prinzipielle Offenheit, der Interpretationsspielraum, den Nietzsches seinen Lesern bei der Interpretation seiner Ideen ließ. Das Wozu lieferten entsprechend erst die Epigonen und Rezipienten, zu denen nicht nur Ernst Jünger, Rudolf Kassner, Martin Heidegger oder Gottfried Benn, sondern eben auch Chamberlain und die Nationalsozialisten gehörten. Besonders Letztere verwandelten Nietzsches Befreiung von den Fesseln einer überkommenen Moral in einen Kerker der Unmoral. Es ist übrigens auffällig, dass Nietzsche trotz seiner Gott-ist-tot-Philosophie der Sakralsprache des Christentums verhaftet, seine Rhetorik innerhalb der religiösen Muster blieb. Dies zeigen die Zitate deutlich (S. 541, 544). Chamberlain wie Nietzsche argumentierten bei aller Unterschiedlichkeit und allen qualitativen Quantensprüngen doch in traditionellen, den Menschen in Fleisch und Blut übergegangenen religiös motivierten sprachlichen Formen und blieben dem christlichen Diskurs, im Falle Chamberlains dem Scheine nach, im Falle Nietzsches selbst aus dem Gegenteil heraus essentiell und letztlich auch existentiell verhaftet. Beide machten die Idee einer wie auch immer gearteten Erlösung zum Mittelpunkt ihres Denkens, reflektierten über den von ihnen diagnostizierten und damit als real empfundenen Verfall und betrachteten das Heil in der Kunst, in einer Art Schöpfungskult als vom Menschen selbst bzw. vom Rassemenschen inszenierbar. Auch Richard Wagner hat sich diese Inszenierung auf die Fahnen geschrieben. Für ihn wird die Kunst zum freundlichen Lebensheiland (Wagner 8, 29).
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6. Richard Wagner 6. 1. Richard Wagner und sein Kreis Ich lese eine sehr gute Rede des Pfarrers Stoecker über das Judentum. R[ichard] ist für völlige Ausweisung. Wir lachen darüber, dass wirklich, wie es scheint, sein Aufsatz über die Juden den Anfang dieses Kampfes gemacht hat. Cosima Wagner. Tagebucheintrag (11. Oktober 1879).201
In einem kurzen Kapitel etwas über Wagner und seinen Kreis aussagen zu wollen, ist mehr als vermessen. Man hat also die Möglichkeit, das Thema ganz beiseite zu lassen, was aber schon deshalb nicht sinnvoll ist, weil alle Fäden in Bayreuth zusammenlaufen, oder man schreibt ein Buch über das Thema und lässt, so wie es in der Regel geschieht, alles andere beiseite. Diese Sätze sind, wie man sofort bemerkt, eine captatio benevolentiae, die entschuldigen soll, dass Richard Wagners Musik, seine musikalischen und theaterwissenschaftlichen Leistungen aufgrund ihrer Komplexität hier nicht im Focus des Interesses stehen können. Das folgende Kapitel beschränkt sich auf die text- und wirkungsgeschichtlichen Zusammenhänge, die Wagner mit der Person seines Schwiegersohns Chamberlain verbinden, in ihm seinen ersten völkischen Höhepunkt erreichen und schließlich in Winifred Wagners aktive Hitler-Begeisterung einmünden. Dabei wird auch ein Seitenblick auf die Rolle Wagners in der persönlichen und der politischen Biographie Adolf Hitlers nötig. Auch dies kann nur ein unvollständiger Versuch sein, der sich vorwiegend auf den Vermittlungszusammenhang zwischen Chamberlain, Wagner und Hitler konzentriert.202 Die Crux solcher Beschreibungen besteht prinzipiell darin, dass der Eine, in diesem Falle Richard Wagner, nicht für die postume Rezeption seiner Schriften verantwortlich gemacht werden kann, auch wenn ganz offensichtlich ist, dass der Andere, z.B. Adolf Hitler, in Wagners Schriften _____________ 201 Cosima Wagner, Tagebücher 2005, 310. 202 Die Bandbreite der Aufsätze und Bücher zum Thema geht von ausgiebiger Rechtfertigung der Wagnerschen Ideologie als zeitgebundener Phrasensammlung bis hin zur vollkommenen Verteufelung Wagners als direkten Ideengebers und Vorläufers für den Holocaust. Die Hauptdiskussion heute geht um die Frage, inwieweit Wagners musikalisches Werk von seiner antisemitischen Haltung durchtränkt sei. Vgl. zum Thema: Altgeld, Der Bayreuther Kreis und die Entwicklung des völkischen Denkens 1984, 35-64; Hanisch, Ein Wagnerianer namens Adolf Hitler 1984, 65-75; Borchmeyer, Richard Wagner und der Antisemitismus 1986b, 137-161; Hein, 'Es ist viel Hitler in Wagner'. Antisemitismus und Deutschtumsideologie in den Bayreuther Blättern 1997; Köhler, Wagners Hitler. Der Prophet und sein Vollstrecker 1997; Rose, Wagner – Race und Revolution 1992; Gottfried Wagner, Wer nicht mit dem Wolf heult 1997; Zelinsky, Richard Wagner. Ein deutsches Trauma 1976.
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viele Anknüpfungspunkte finden konnte und sie auch in seine eigenen Schriften und Handlungen übernommen hat, selbst wenn dabei wiederum so manches Detail regelrecht auf den Kopf gestellt worden ist. Bermbach bezeichnet die Tatsache, dass ein solches Auf-den-Kopf-stellen in der nachfolgenden Rezeptionsgeschichte zunächst keine weiteren Probleme als die ideengeschichtliche "Anschlussfähigkeit"203 Hitlers an Wagners Denken aufwarf. Und um diese Anschlussfähigkeit geht es hier. Natürlich sagt eine Untersuchung der Rezeption irgendeiner bedeutenden Persönlichkeit zunächst in erster Linie etwas über den Rezipienten aus. Aber selbst wenn man dieser konstruktivistischen Auffassung zustimmt, ist zuzugestehen, dass die untersuchte Person in welcher genauen Weise auch immer als Folie mit herangezogen werden muss, schon damit die wissenschaftliche Redlichkeit des Rezipienten, die Plausibilität seiner Ergebnisse und deren historische Richtigkeit beurteilt werden können. Die Amplitude zwischen Original und rezeptiver Nutzung kann sehr weit und sie kann minimal sein. Im Falle des Verhältnisses Wagner / Hitler oder Wagner / Chamberlain wird man dem Rezipienten sicher kein besonderes Streben nach Richtigkeit unterstellen dürfen, dennoch ist die Aussagekraft von Hitlers Wagnerbild schon wegen der Dichte seiner persönlichen Beziehungen zum Wagnerkreis, der Intensität der Rezeption und auch der Hitler eigenen besonderen Fähigkeit zur Instrumentalisierung von Autoritäten nicht von der Hand zu weisen. Rezeptionsgeschichten können sich also – und diesem Konzept folge ich hier – auf den Rezipienten und den Ausgangsautor gleichermaßen beziehen. Insbesondere die Erfassung der vorgenommenen Modifikation, verstanden als Nutzung des Originals durch den Späteren, verlangt dies. Modifikationen werden hier also nicht als vollkommen frei vom Ausgangstext, sondern als irgendwie an diesen anschließbar betrachtet. Anschließbar ist wortbildungsmorphologisch mittels des Syntagmas kann angeschlossen werden paraphrasierbar; wenn dies nicht ohne Probleme möglich ist, können Autoritäten zu Hilfe gezogen werden. Im hier untersuchten Fall ist es daher wichtig, erstens eine Resemantisierung des Ausgangstextes, zweitens des Rezipiententextes vorzunehmen und drittens die auftretenden Unterschiede zu verzeichnen, die dann hinsichtlich ihrer genauen Anknüpfungspunkte und hinsichtlich ihrer Vermittlerinterpretationen zu beschreiben sind. Im Falle des Verhältnisses von Wagner und seinen völkischen bzw. nationalsozialistischen Nutzern spielten die rechtlichen und selbsternannten Erben des ersteren eine nicht unbedeutende Rolle. Für Bermbach wurde die Anschlussfähigkeit nationalsozialistischen Gedankengutes an R. Wagner geradezu erst durch die Vermittlung der _____________ 203 Vgl. Bermbach, Liturgietransfer 2000, 41.
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Bermbach 2000, 42: Bayreuther Exegeten ermöglicht, genauer: durch die Wagner-Rezeption und Wagner-Interpretation, die nach Wagners Tod von Chamberlain als einzig authentisch ausgegeben wurde. Und in eben dieser Vermittlung fanden, [...], jene entscheidenden semantischen Verschiebungen statt, ohne die Hitler sich nie auf Wagner hätte berufen können.
Das folgende Kapitel müsste also mindestens eine dreiteilige Geschichte sein. Deren Gegenstände wären in chronologischer Folge zunächst Richard Wagner selbst, dann Cosima Wagner, ihre Familie und den Bayreuther Kreis, zu dem Chamberlain als früher Wagnerianer wie als Ehemann der Wagnertochter Eva hinzugehörte, und drittens die Enkelgeneration um Winifred Wagner, deren Zeitgenosse Adolf Hitler war. Zur thematischen Zuspitzung ist es sinnvoll, die Ausführungen zu Richard Wagner und seinen Schriften vorwiegend unter den hier zur Diskussion stehenden Aspekt 'Menschenbild' mit seinen Teilaspekten 'Antisemitismus' und 'Kunstästhetik' zu stellen. Nach der Darstellung originärer Wagnerscher Gedanken folgt die Rezeptionsgeschichte, beginnend mit Chamberlain und seiner Vermittlerrolle und gefolgt vom Bayreuther Kreis als derjenigen Gruppierung, die zusammen mit Chamberlain und später auch in dessen Nachfolge das Erbe Wagners zu verwalten hatte. Den Abschluss der Linie bildet dann Adolf Hitler. In allen drei Generationen hat Chamberlain eine bedeutende Rolle gespielt. Auch wenn er Wagner selbst nie persönlich kennen gelernt hat, so war er doch schon zu dessen Lebzeiten ein eifriger Schreiber in den Bayreuther Blättern, war Ehrenmitglied des von Georg Schönerer in Wien gegründeten Richard-Wagner-Vereins, verfasste wichtige Schriften über den Komponisten, löste Patronatsscheine für die Festspiele und pflegte früh einen regen Briefwechsel mit Cosima Wagner. Sofort nach seiner Heirat am 25. 12. 1908 mit Eva übernahm er dann auch die geistige Führungsrolle in der Familie204 und verstand sich aufgrund einer ähnlich gelagerten Gesinnung sehr gut mit seiner Schwiegermutter. Speziell wenn es um den Aufbau und den Erhalt des Mythos Wagner ging, harmonierten beide in erstaunlicher Weise miteinander (vgl. dazu u. a. den mehr als 700 Seiten umfassenden Briefwechsel Cosimas mit Chamberlain).205 Nicht an den Sohn Siegfried, für den sie anfangs gedacht waren, sondern an die Tochter Eva Chamberlain wurden die Tagebücher, die Cosima während der letzten Lebensjahre ihres Mannes verfasst hatte, vererbt. Man schwamm auf derselben Welle: Mutter, Tochter und Schwiegersohn. Die Bayreuther Idee wurde von Cosima Wagner, Houston Stewart Chamberlain, außerdem von Hans von Wolzogen verwaltet, interpretiert, ausgebaut und _____________ 204 Hamann, Winifred Wagner oder Hitlers Bayreuth 2002, 42. 205 Vgl. dazu auch: ebd., 21f.
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monopolisiert.206 Die Folgen des Nachlasses und dieser speziellen Nachlassverwaltung, die zur Traditionsbildung Wagner – Hitler führte, zeigt ein Zitat von J. Goebbels aus dem Jahre 1937: Goebbels, Völkischer Beobachter (Ausgabe vom 24. 7. 1937): Was der Jude ist, hat uns Richard Wagner gelehrt. Hören wir auf ihn, die wir uns aus der Knechtschaft der Untermenschen durch das Wort und die Tat Adolf Hitlers endlich befreit haben. Er sagt uns alles: durch seine Schriften und durch seine Musik, in der jeder Ton deutsches reines Wesen atmet.
6. 2. Der "Großideologe" Wagner: vom Antisemitismus zur Kunstreligion. Richard Wagners Antisemitismus hat vielfältige Erklärungs-, manchmal auch Rechtfertigungsversuche der Biographen hervorgerufen. Die Ursachen werden in seinen Enttäuschungen und Misserfolgen in Frankreich gesucht, besonders Kollege Meyerbeer fungiert dabei als öffentlich erwähltes Feindbild.207 Man bemüht sich, psychologische Erklärungen zu finden, die mit Traumata aus der ungewöhnlichen Herkunft sowohl Richard Wagners als auch seiner Frau Cosima zusammenhängen sollen, darunter mit der vielfach geäußerten und bis heute fortbestehenden "Verdächtigung" (so die negative Formulierung) bzw. der Möglichkeit (so die positive Fassung), beide seien selbst "nicht arischer" Herkunft.208 Doch Wagners Haltung muss vor allem ideengeschichtlich-überindividuell aus seiner Zeit heraus verstanden werden, und zwar aus dem Menschenbilddiskurs, dessen Leitthemen, Varianten und Gegensätzlichkeiten von Schopenhauer, Lagarde, Langbehn und nicht zuletzt Chamberlain bestimmt wurden. Besonders der mit Lagarde und Langbehn angedeutete Kulturpessimismus und der sich darin äußernde Antimodernismus repräsentieren eine Meinungs- und Ideologiebildung, die in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts im Jüdischen alles Materialistische zu sehen glaubt, die alles Jüdische als unschöpferisch und destruktiv ablehnt und die die politische Welt mit dem Gedanken durchzieht, dass man entweder dem Ende entgegengehe oder sich dem endgültigen Vernichtungskampf stellen müsse. Wagners Pariser Schrift aus dem Jahr 1850 Das Judentum in der Musik (mit durchschlagendem "Erfolg" wiederaufgelegt 1869) muss besonders auf diesem Hintergrund als folgenschwerer Ausgangspunkt für einen auf das _____________ 206 Vgl. Bermbach 2000, 40. 207 Vgl. Richard Wagner, Mein Leben 1963, 431ff.; 533; 610; 625; 653f. Am deutlichsten wird dies in der unten noch zu besprechenden Schrift "Vom Judentum in der Musik". 208 Vgl. dazu Peter Gradenwitz, Das Judentum – Richard und Cosima Wagners Trauma 1984, 77-91; besonders 78.
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Bildungsbürgertum wirkenden antisemitischen Diskurs betrachtet werden.209 Wagners offensichtlicher Antisemitismus, Jacob Katz nennt es Judenphobie210, balanciert auf der Grenze zwischen traditionellem Judenhass und einem damals immer moderner werdenden Antisemitismus.211 Er ist zwar nicht radikal rassenbiologisch, vertritt aber neben den traditionellen wirtschaftlichen und religiösen Stigmatisierungen schon die entscheidende These von der Nichtassimilierbarkeit der Juden aufgrund genetischer Anlagen. Deutlich wird dies u. a. im Brief Wagners an Ludwig II. von Bayern vom November 1881, aber auch in der Argumentation und Metaphorik seiner Schrift Kunst und Religion.212 Spätestens mit Gobineaus Besuchen in Bayreuth und seinen in rascher Folge erschienenen und in der Familie Wagner mit Begeisterung rezipierten Schriften verstärkt sich diese Tendenz213 bei Richard Wagner. Man kann und muss daher von einer Entwicklung in Wagners Denken sprechen, die es den Nationalsozialisten leicht machte, das Idol Wagner für die eigenen Zwecke zu vereinnahmen. Dennoch ist die Rassenzugehörigkeit für Wagner nur ein Faktor neben anderen. Wichtiger noch waren ihm Religion und vor allem die Kunst. Wie die Gewichtung im Einzelnen auch sein mag: Kunst, Religion und Rasse sind die Grundkategorien, die sich ideologisch miteinander verbinden und in denen Wagner denkt. Die Opposition 'Judentum' und 'deutsches reines Wesen', wie sie von Goebbels (s. o.) als Lehre Wagners aufgestellt worden ist, kann man bei ihm tatsächlich nachweisen. Das Adjektiv deutsch wird von Wagner schon sehr früh als Gegensatzwort zu undeutsch / jüdisch verwendet,214 eine Gegenüberstellung, die in weiteren, ähnlich gelagerten Ausdruckspaaren rei_____________ 209 210 211 212
Vgl. dazu: Gradenwitz, ebd. 77. Jacob Katz, Richard Wagner. Vorbote des Antisemitismus 1985, 148ff. So Borchmeyer 1986b, 137-161. Besonders: Wagner 10, 227. Hier ein kurzer Ausschnitt: "Angriff und Abwehr, Noth und Kampf, Sieg und Unterliegen, Herrschaft und Knechtschaft, Alles mit Blut besiegelt, nichts anderes zeigt uns fortan die Geschichte der menschlichen Geschlechter; als Folge des Sieges des Stärkeren alsbald eintretende Erschlaffung durch eine, von der Knechtschaft der Unterjochten getragene Kultur; worauf dann Ausrottung der Entarteten durch neue rohere Kräfte von noch ungesättigter Blutgier". 213 Borchmeyer (1986b, 152/3) weist darauf hin, dass Wagners Antisemitismus viele Anleihen aus der französischen Literatur genommen hat, "dass gerade die Wagnersche Judenphobie weit stärker französischer als deutscher Provenienz ist". Chateaubriand, Alfred de Vigny oder Balszac und Proudhon müssen hier erwähnt werden. "Die Vermischung von religiöser und rassischer Judenfeindschaft auf sozialistischer Basis, wie sie sich in Proudhons Denken andeutet, bestimmt auch die Wagnerschen Äußerungen über die Judenfrage seit den 60er Jahren" (ebd. 152). Eine nicht zu unterschätzende Gestalt ist Renan, der auch eine besonders wichtige Rolle in Chamberlains Grundlagen spielt. 214 Wagner 10, 276f.
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henbildend ist: schöpferisch-originell / imitierend-ausbeutend; Provinz / Großstadt; Kultur / Zivilisation; Innerlichkeit / Äußerlichkeit bzw. Oberflächlichkeit; unpolitisch / politisch; Moral / Intellekt.215 Unter linguistischem Aspekt könnte man der Frage nachgehen, ob diese Paare als Antonymien (gradueller Gegensatz) oder als Komplenymien (absoluter Gegensatz) zu klassifizieren sind. Zum mindesten für deutsch / jüdisch gilt letzteres eher als ersteres. Aber nicht nur wegen seines ausgeprägten Antisemitismus nennt Joachim Fest (Fest 2000, 24) ihn einen Großideologen, der alles in sich trug, was das 19. Jahrhundert ausmachte: "die Untergangsahnungen und die Anbruchserwartungen, den Zerstörungsfuror und die große Imagination einer neuen und besseren Welt."216 Wagner sah sich, um es pointiert zum Ausdruck zu bringen, als Religionsstifter und Prophet einer politischen deutschen Kunstreligion, als den deutschen Messias, der den Menschen im Zeitalter des kulturellen und sittlichen Verfalls zu Regeneration und Erlösung verhilft. Seine Heilslehre basiert auf zwei Pfeilern, zum einen auf der Kunst als einem dem Christentum entsprechenden Heilsprinzip,217 das sich vorzugsweise in der Tonkunst218 manifestiert, und zum anderen auf einem Erlösungsantisemitismus,219 bei dem es um ein Entweder-Oder (tendenziell komplenymisch) von arischem Germanentum und Judentum geht. Mit diesen wenigen Sätzen ist bereits umrissen, worauf es ideologisch bei Wagner ankommt, und vor allem auch, welche seiner Schriften hier besonders ins Visier gerückt werden müssen: Vom Judentum in der Musik220 und Kunst und Religion. In beiden Texten finden sich zwei Leitideologeme, die wie zwei Seiten derselben Medaille betrachtet werden müssen: Zum einen das dekonstruierende Ideologem vom Verfall und zum anderen das konstruierend-utopische von Rettung und Erlösung, von Regeneration und Wiedergeburt (8, 32). Die folgende Darstellung hält sich in den referierenden Aussagen an die Wagnersche Metaphorik, beschreibt Gegenstand und Kontext der Leitideologeme also als diagnostizierte Krankheit, deren Verursacher und Symptome angegeben werden müssen und wofür ein wirk-
_____________ 215 Vgl. dazu: Hanisch, Wagner-Handbuch 1986, 631. 216 Fest, Richard Wagner. Das Werk neben dem Werk.. Zur ausstehenden Wirkungsgeschichte eines Großideologen 2000, 24-39. 217 Hier trennt sich der Komponist Wagner vom Philosophen Nietzsche. 218 Wagner 10, 221: "Streng genommen ist die Musik die einzige dem christlichen Glauben ganz entsprechende Kunst, wie die einzige Musik, welche wir, zum mindesten jetzt, als jeder anderen ebenbürtige Kunst kennen, lediglich ein Produkt des Christenthums ist". 219 Vgl. dazu: Friedländer 2000, 8-18. 220 Zuerst 1850 anonym erschienen unter dem Pseudonym K. Freigedank in der SeptemberAusgabe der 1834 von Robert Schumann gegründeten Neuen Zeitschrift für Musik in Leipzig. Vgl. Rose, Wagner 124.
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sames Heilmittel genannt wird. Es sei ausdrücklich betont, dass damit keine versteckte Affirmation verbunden wird.
6. 3. Die Krankheit der modernen Zivilisation "Der Rienzi, den ich mir dachte u. zu zeichnen mich bemühte, sollte im vollem [sic!] Sinne des Wortes Held sein, - ein hochbegeisterter Schwärmer, der wie ein blitzender Lichtstrahl unter einem tiefgesunkenen, entarteten Volke erschien, welches zu erleuchten u. emporzuheben er sich berufen hielt"; so schreibt Richard Wagner 1841 an Joseph Tichatschek.221 Als eine Art Anamnese einer explizit vorgestellten Diagnose, nämlich daß das menschliche Geschlecht an einer Krankheit leide, welche es nothwendig in stets zunehmender Degeneration erhalte (10, 231), finden sich bei Wagner immer wieder folgende Ausdrücke, Kollokationen und Syntagmen, die das Untergangs- bzw. Destruktionsideologem konstruieren und bildhaft präsent halten: Verfall (10, 35; 336): Verfall der Kunst (10, 211), der Religion (ebd.), des Volkes (19, 270), verfallende Kirche (10, 35), der Dämon des Verfalls der Menschheit (10, 272); Verderben (10, 244), Verderb des Blutes (10, 275), verderbtes Blut (10, 280), [dass die jüdische Religion] die christliche Religion verdorben hat (CT 1, 210). Auch andere, zum Teil sogar neutrale Formulierungen enthalten den Gedanken des fortschreitenden Verderbens: So schreibt er von der Verwerflichkeit der Welt (10, 35), der Verweltlichung der Kirche (10, 222) und der Tonkunst (ebd.) bzw. vom Künstlichwerden der Religion (10, 211) und von beispielloser Menschenverwüstung (10, 270), vom Zustand tiefster Erschöpfung (3, 31). Die civilisierte Barbarei (3, 32) sei eingekehrt und der menschliche Geist nur als Dampfkraft der Maschine (3, 31) zu sehen. Nach tausendjähriger Verwirrung (10, 257) sei es zu einem Chaos von Impotenz und Unwissenheit (10, 35) gekommen, zu Entfremdung (10, 265) und vor allem zu Entartung des menschlichen Geschlechts (10, 235/6; 10, 230; 241; vgl. auch 8, 102); wobei anzumerken ist, dass das Verb entarten (mit seinen Wortbildungen) von Wagner frequent benutzt wird (z. B. 10, 270 u. ö.). Seiner Meinung nach lebt er in der Wildniß des entarteten Paradieses! (9, 126). Ein Synonym für Entartung ist Degeneration. Und so führt von der Degeneration der Sprache (10, 244) bei Wagner auch nur ein kurzer Weg zur Degeneration des menschlichen Geschlechtes (10, 275 u. ö.).222 Der Verfallsideologe Wagner, der Décadent, wie Nietzsche _____________ 221 Wagner-SB 1, 507.
222 Vgl. dazu auch Hein 1997, 105.
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ihn nennt (s. o.), bringt mit diesen Worten eine Untergangsstimmung auf seine Bühne, die an vielen Stellen nicht drastischer sein könnte. Und mit dieser Stimmung steht er nicht allein: Nietzsche und Schopenhauer, Paul de Lagarde und Julius Langbehn, auch Chamberlain entwickeln eine ähnlich angelegte Bilderdramaturgie. Kulturkritik und Kulturpessimismus gehörten zum Zeitgeist seit 1850 hinzu. Die wichtigsten sprachlichen Topoi, die auch bei den anderen immer wieder erscheinen und geradezu zu den Schlüsselwörtern dieser Verfallsideologie gehören, wurden genannt: Verfall, Verderben, Entartung und Entfremdung. Sie bilden zusammen mit Krankheit, Degeneration, Erschöpfung, Entkräftung (3, 31), Impotenz ein Wortfeld, dessen Suggestivkraft natürlich besonders dann auffällt, wenn man diese Wörter in der hier vorgebrachten Weise direkt zusammenstellt, die aber gerade in ihrem hochfrequenten und kontinuierlichen Einzelvorkommen als eine Art roten Ideologie-Fadens nicht zu unterschätzen sind. Von Wagner wurden diese Ideologeme in den Dienst der Modernekritik gestellt und, was das Besondere bei ihm ist, nicht nur textlich, sondern auch musikalisch begründet und in die Tradition eingebracht. So ist Wagners Musik für Nietzsche die notwendige Offenbarung der Verderbnis, der paradigmatische Ausdruck des modernen als des niedersinkenden Lebens.223 Krankheits-, Untergangs- und Verfallsmetaphorik sind nach diesem Verständnis wagnerscher Kunst ideologische Komponenten seines künstlerischen Schaffens. Wagners Verfalls-Dramaturgie umfasst entsprechend mehr als die Kritik des Künstlers an einer sich dem Verfallsdatum nähernden Welt. Es ist die Prämisse, vielleicht die Ouvertüre zu einem Drama der besonderen Art. Wenn der Verfall als Krankheit diagnostiziert wurde, so ist die Heilung jedoch erst dann möglich, wenn man die Ursache der Krankheit kennt. Und diese Ursache ist für Wagner seit dem ersten Erscheinen der Judenbroschüre unverkennbar das Judentum. Im Judentum sieht er den Verderb der christlichen Religion (10, 232) begründet,224 vor allem aber natürlich die unverkennbare[r] Entartung, über welche wir uns ernstlich Rechenschaft zu geben suchen sollten, wenn wir uns den Verfall des nun dem Eindringen der Juden wehrlos ausgesetzten deutschen Volkes erklären möchten (10, 270). Symptome der Krankheit sind dann das Verblassen und Erstarren des Blutes der weißen Rassen (10, 282), die degenerierende Vermischung des heldenhaftesten Blutes edelster Racen (10, 284; vgl. auch 10, 275) bis zum Verderb des Blutes (10, 275) und dem Verlust der Reinheit hin (10, 276). Das Ergebnis ist Schwächung der edlen Racen durch die unedlen (10, 276), und letztlich zugespitzt der Untergang des deutschen Volkes. _____________ 223 Borchmeyer 1986a, 135. 224 Vgl. auch Wagner 16, 101.
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Wagner an Ludwig II. (22. 11. 1881), Briefwechsel 3, 230: dass ich die jüdische Race für den geborenen Feind der reinen Menschheit und alles Edlen in ihr halte: dass namentlich wir Deutschen an ihnen zu Grunde gehen werden, ist gewiss, und vielleicht bin ich der letzte Deutsche, der sich gegen den bereits alles beherrschenden Judaismus als künstlerischer Mensch aufrecht zu erhalten wusste.
Diese Dramaturgie findet sich in vergleichbarer bis direkt entsprechender Weise in den Texten der Kulturelite der Jahrzehnte vor 1900 wieder. So publiziert der Historiker Heinrich von Treitschke im Jahre 1879 einen bereits im Titel sprechenden Artikel Unsere Aussichten mit der Aussage: Die Juden sind unser Unglück.225 Ähnlich wie dieser und weitere Vertreter des Antisemitismus (Stöcker, Marr, natürlich auch Chamberlain) basierten die detailreich ausgebreiteten antisemitischen Vorurteile auf der Verbindung des wirtschaftlichen, religiösen Antijudaismus und des biologischrassistischen Antisemitismus. Wagner bedient also die allseits bekannten, auch bei Schopenhauer schon vorkommenden Ressentiments von den Juden als den Verderber[n] der christlichen Religion (10, 232; vgl. auch 10, 54; 10, 256), als geldgierigen und machtlüsternen Materialisten. Angeblich hätten sie bereits verderblich dünkende Macht unter uns und über uns (10, 264), vor allem seien sie bekannt als eine Weltherrschaft bzw. Beherrschung der Welt anstrebende (10, 231; vgl. auch 10, 271f.), unschöpferische, sich durch Unbefähigung zur produktiven Theilnehmung an unserer Kunst (10, 264) auszeichnende (10, 264) Gruppe, deren nationale Einheit und Ganzheitlichkeit (10, 268f.), vor allem aber Reinrassigkeit (10, 269), ihnen eine Sonderstellung in der Welt gewähre, während die wenig selbstbewussten Deutschen aufgrund der Verjüdung in der Kunst (5, 68) und der Rassemischung keine Nation mehr bilden, sondern ein barbarisch-judaistisches Gemisch (10, 268) seien, das sich wegen seines instinktsicheren Gegenbildes immer wieder zum Narren mache (10, 272). Wagner wirft den Juden ganz traditionell ihren ökonomischen Erfolg vor, die Kunst des Geldmachens (10, 268), die erstaunlichen Erfolge der unter uns angesiedelten Juden im Gewinn und in der Anhäufung großer Geldvermögen (10, 266; vgl. auch 5, 68), letztlich zielstrebig eingesetztes Ausbeutertum (10, 43) und Kriegstreiberei (10, 284). Das in seinen Augen gesunde Gegenbild erklärt sich daraus nahezu von selbst. Es ist der wahrhaftige Mensch (5, 85), das Rein-Menschliche, das NichtJüdische (10, 274). Doch von hehrem Menschentum, wie Wagner es sich vorstellt, ist die vom Verfall geschüttelte Welt in seiner Inszenierung weit entfernt. Noch ist sie krank. Ihr Heilmittel besteht im bereits antiken Erkenne dich selbst226 (10, 269; 274), sodann in der die Mystik evozierenden Einkehr (10, 264), bezogen auf die Deutschen: im Selbstbewusstwerden der Nation. Wagner baut auf deren regenerativen Erfolg (10, 256), speziell auf _____________ 225 Dies wurde zum Slogan des nationalsozialistischen Hetzblattes "Der Stürmer". 226 Inschrift des Apollotempels in Delphi.
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die Schopenhauersche Philosophie, in der es einerseits auf die Umkehr des missleiteten Willens (10, 257; 279) ankommt, in der aber vor allem die Musik zur höchsten Weisheit (9, 83) avanciert und den Erlösung wollenden Willen vorantreibt (10, 282). Die Musik, von Schopenhauer beschriebene Objektivation des Willens,227 soll zum rettenden Genius des deutschen Volkes werden (10, 292). Die Zielperspektive aller Bemühungen handelt von der Erlösung des wahrhaftigen Menschen (5, 85), vom Widererwachen eines dem deutschen Volke verloren gegangenen Instinktes (10, 272), eines instinktmäßigen Widerwillens, der, obwohl als reiner Rasseninstinkt deklariert, zum Geist reiner Menschlichkeit werden soll. 'Reinheit' ist eine der Schlüsselqualitäten, die durch eine jeweils als Prozess gedachte 'Läuterung' (10, 281) und 'Erlösung' erreicht werden kann. Der Erfüllung muss aber ein Befreiungskampf (5, 68) vorausgehen. Wagner 5, 68: Dünkt uns aber das Nothwendigste die Emanzipation von dem Drucke des Judenthumes, so müssen wir es vor Allem für wichtig erachten, unsere Kräfte zu diesem Befreiungskampfe zu prüfen. Diese Kräfte gewinnen wir aber nun nicht aus einer abstrakten Definition jener Erscheinung selbst, sondern aus dem genauen Bekanntwerden mit der Natur der uns innewohnenden unwillkürlichen Empfindung, die sich uns als instinktmäßiger Widerwille gegen das jüdische Wesen äußert.
Neben der 'Reinheit' stehen als Ideale am utopischen Ende dieser Alteritätsdramaturgie Qualitäten, die als künstlerische Vollendung (3, 190), edlere Kultur der Menschheit (3, 190), religiöse wie die sittliche Erlösung (10, 35) mit wahrhaftiger Moralität (10, 284), umfassend als ästhetische Weltordnung (10, 284) bezeichnet werden, in der die Regeneration des Menschengeschlechts (10, 241) zur Entstehung einer neugeborene[n], glückselige[n] künstlerische[n] Menschheit der Zukunft (3, 86) und eines neuen Menschen führt, eines natürlichen Menschen als göttlichen Sublimates der Gattung (10, 282). Die Elemente des Dramas werden vom Begründer des Musikdramas zielsicher eingesetzt: Es herrscht ein Kampf zwischen dem Guten und dem Bösen, bei dem das Gute und Edle, personifiziert im künstlerischen Deutschen, vom geborenen Feind, dem alles beherrschenden Judaismus, zu Grunde gerichtet wird. Und je verzweifelter die Ausgangssituation geschildert ist, umso euphorischer und pathetischer kann der Kampf beschrieben werden und vor allem das Ende der Geschichte.
_____________ 227 Schopenhauer, Wille als Vorstellung I, 370.
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6. 4. Das Menschenbild und die Kunst Die Schwarz-Weiß-Malerei in Wagners Menschenbild ist unverkennbar. Sie basiert spätestens seit Gobineau auf der Erkenntnis, dass es keine Gleichheit unter den Menschenrassen gebe (10, 275), und dass die unedle Rasse die edle durch Vermischung verderbe (ebd.). Das göttliche Sublimat der Gattung bezieht sich daher kaum auf das in seinen Augen unschöpferische Judentum, dem man neidvoll immer wieder seine religiöse Auserwähltheit vorwirft, sondern bildet, ähnlich wie es schon für Chamberlain deutlich gemacht wurde, eine vierte Kategorie neben dem Tier, dem Menschen und Gott. Das diese Kategorie umreißende Bezeichnungsfeld enthält bei Wagner Ausdrücke wie Gott und Priester zugleich, herrlicher göttlicher Mensch (3, 12); göttlicher Held (10, 279); Helden-Naturen (10, 276); "arische" Halbgötter (10, 277f.), Heilige (10, 279) dämonisch leidende göttliche Naturen, die aus Zitaten wie dem folgenden herausgearbeitet werden können: Wagner 10, 292: die deutsche Musik war eine heilige Emanation des Menschengeistes, und dämonisch leidende göttliche Naturen waren ihre Priester. Wie aber das Evangelium verblaßte, seit das Kreuz des Erlösers auf allen Straßen als Handelswaare feilgeboten ward, so verstummte der Genius der deutschen Musik, seitdem sie vom Metier auf dem Allerweltsmarkte herumgezerrt wird, und professionistischer Gassen-Aberwitz ihren Fortschritt feiert.
Die Heroen der Künste (5, 68) und die Helden-Naturen (10, 276) sind Priester und Künstler in einem, werden zu Heiligen der neuen Religion, in der christliche Symbolik und Motivik mit griechischer Mythologie und germanischer Heldensage ineinander gehen. So werden Künstler zu Heiligen, gar zu göttlichen Helden (10, 279) und Halbgöttern, zu Heldengöttern, in denen Beethoven, Siegfried, Herakles und Christus tendenziell zusammenfallen (2, 131), vor allem an solchen Stellen, an denen biblische Sakralsprache mit Aussagen über germanische Helden (de facto Helden des hochmittelalterlichen Epos) parallelisiert werden: Als das Licht die Finsterniß besiegte, als Siegfried den Nibelungendrachen erschlug […] (2, 133). Sakralität und Musik bilden bei Wagner eine Einheit, in der ersteres das letztere und letzteres das erstere konstituiert. Wagner 9, 120: Wie unter der römischen Universal-Civilisation das Christenthum hervortrat, so bricht jetzt aus dem Chaos der modernen Civilisation die Musik hervor. Beide sagen aus: »unser Reich ist nicht von dieser Welt«. Das heißt eben: wir kommen von innen, ihr von außen; wir entstammen dem Wesen, ihr dem Scheine der Dinge.
Die Nähe zum Wesen der Dinge suggeriert die Möglichkeit der Wahrheitserkenntnis und vor allem auch die Nähe zum übernatürlichen Ideengeber. Dies macht aus den Künsten Heilsinstanzen, deren Vermittler, der Künst-
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ler, einer neuen Kaste von Priestern228 angehört und deren Wirksamkeit darauf beruht, dass sie den Schein vom Wesen zu trennen wissen. Doch erst die Erkenntnisinstrumentarien Kunst und Musik schaffen den sinnlich schön entwickelten (3, 16), den wirklich lebendigen Menschen (3, 31; 3, 34), den Künstler (3, 34), da er durch die Musik überhaupt erst erkennen, sich seiner Selbst bewusst werden kann, weil sie jeden Zwiespalt zwischen Begriff und Empfindung aufhebt, und dieß zwar durch die der Erscheinungswelt gänzlich abgewendete, dagegen unser Gemüth wie durch Gnade einnehmende, mit nichts Realem vergleichliche Tongestalt. (10, 222). Wagner bildet die Kunst zur Heilsvoraussetzung aus, mit der der progressive Verfall aufgehalten werden kann. Menschen, die sich von der Kunst leiten lassen, werden über ihre Natur hinausgehoben, veredelt, geadelt und schließlich vollendet. Wagner an Ludwig II., Briefwechsel 3, 190: Wie nahe bringt uns doch das wunderbar ausdrucksvolle Element der Musik der denkbar höchsten Stufe künstlerischer Vollendung. Es adelt den gemeinsten Menschen, der in der Ausübung der Musik begriffen ist, so dass er, der sonst nur der kleinlichsten Motive zum Handeln sich bewusst ist, während dieser Ausübung in eine unverkennbare Ekstase geräth, die ihn weit über seine eigene Natur hinaushebt. Wie schön, wie wichtig, ja - wie entscheidend für alle erstrebte, edlere Kultur der Menschheit, von diesem Elemente aus die Richtung ihrer Empfindungen bis zum bewussten Fühlen und Denken anleiten und beherrschen zu können!«
Das Spiel mit den verschiedenen Menschentypen gewinnt zusätzlich an Brisanz, wenn man bedenkt, dass Wagner neben der eben genannten Unterscheidung einfacher Mensch – Künstlermensch – edler Mensch – unedler Mensch noch eine weitere, noch stärker dehumanisierende hinzufügt, nämlich dadurch, dass er das Nichtgöttliche, Nichtkünstlerische oftmals als nichtmenschlich oder explizit als viehisch charakterisiert. Wagner 10, 276: ob die Welt eine moralische Bedeutung habe, wollen wir hier damit zu beantworten versuchen, daß wir uns selbst zunächst befragen, ob wir viehisch oder göttlich zu Grunde gehen wollen. Hierbei wird es wohl zunächst darauf ankommen, die besonderen Eigenschaften jener edelsten Race, durch deren Schwächung sie sich unter die unedlen Racen verlor, in genauere Betrachtung zu ziehen.
Es wird deutlich, dass Wagners Menschenbild als vorbildhaft für dasjenige gesehen werden muss, was zu Chamberlain bereits ausgeführt wurde. Dies beweist vor allem die Tatsache, dass die prinzipielle Frage, was als bestimmend für das Menschsein gilt, also ob ein Wesen viehisch ist oder nicht, mit seiner Rassenzugehörigkeit beantwortet werden muss. Die die Menschen charakterisierende Vierergruppe Tiermensch – Mensch – Künstler / Halbgott – Gott gilt für Wagner bereits mit denselben Prämissen wie für Chamberlain. Die Stigmatisierung der Juden erfolgt entsprechend nach _____________ 228 Chamberlain, Wagner, 243: "dieser dichterische Priester."
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diesem Prinzip. Auch Wagner attackiert die Juden als Gewürm229, kunstfeindlichen Dämon (5, 68), als jemanden, dem das Platte, Rohe auffällt und der für das Ideale unserer Natur […] keinen Sinn [hat].230
6. 5. Menschenbild und Judentum Das Judentum ist bei Wagner "das Krankheitssymptom der materiellen Zivilisation, erst wenn sie überwunden sei, verliere das Judentum seine dämonische, zum Untergang treibende Kraft" (Fest 2000, 35). Da er sich als der deutscheste Geist [und] Schöpfer eines eigens für die christliche, deutsche Welt geschaffenen Gesamtkunstwerks fühlte,231 musste er den von ihm selbst aufgebauten Feind dieser Weltordnung bekämpfen. Dies gelingt umso leichter, je weniger kulturelle Qualitäten man dem Gegner zuschreibt und je mehr man ihn von der eigenen Identität abzugrenzen weiß. Nicht nur darum gehört Wagners Art der Judenfeindschaft bereits zu dem von Saul Friedländer so bezeichneten Erlösungs-Antisemitismus, der als "Politische Theologie der kollektiven Erlösung bzw. Selbstwerdung des Eigenen, Deutschen durch die kollektive Vernichtung des Anderen, Jüdischen" definiert ist.232 Aber die Sprache lässt Interpretationen zu. Sie lässt offen, was rein metaphorisch ist oder was so gemeint ist, wie es gesagt wurde. Und so ergeben sich erhebliche Unterschiede zwischen Wagner und den Ideologen des Nationalsozialismus. Während letztere ganz und gar nicht metaphorisch handelten, können Wagners Aussagen immer auf die Ernsthaftigkeit und den Realitätsbezug seiner Metaphorik befragt werden. Und ausgerechnet die Stelle, in der er außer Diskriminierung auch eine Lösung für die Judenfrage (10, 273) vorschlägt, bleibt trotz ihrer Aussagekraft gerade im entscheidenden Punkt vage. Bei aller Stigmatisierung hat Wagner den Juden einen Weg gelassen, gemeinschaftlich mit ihm Mensch zu werden (s. u.), mit ihm einig und ununterschieden zu werden, ein Weg, der in der Literatur als das Schibboleth zu Wagner diskutiert wird.233 Wagners Lösung für das Problem der "Menschwerdung" der Juden: die Erlösung durch Selbstvernichtung, zu der er die Juden im letzten Absatz der Judenbroschüre aufruft. Wagner, Vom Judentum in der Musik 5, 85: Noch einen Juden haben wir zu nennen, der unter uns als Schriftsteller auftrat. Aus seiner Sonderstellung als Jude trat er Erlösung suchend unter uns: er fand sie nicht und mußte sich bewußt
_____________ 229 230 231 232 233
Cosima-Tagebücher 2, 766. Ebd. 1, 245. Vgl. dazu: Gradenwitz 1984, 78. Friedländer, Das dritte Reich und die Juden 2000, 8. Vgl. Katz 1985, 77ff.; Borchmeyer 1986b, 146.
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werden, daß er sie nur mit auch unserer Erlösung zu wahrhaften Menschen finden können würde. Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heißt für den Juden aber zu allernächst so viel als: aufhören, Jude zu sein. Börne hatte dieß erfüllt. Aber gerade Börne lehrt auch, wie diese Erlösung nicht in Behagen und gleichgiltig kalter Bequemlichkeit erreicht werden kann, sondern daß sie, wie uns, Schweiß, Noth, Ängste und Fülle des Leidens und Schmerzes kostet. Nehmt rücksichtslos an diesem, durch Selbstvernichtung wiedergebärenden234 Erlösungswerke theil, so sind wir einig und ununterschieden! Aber bedenkt, daß nur Eines eure Erlösung von dem auf euch lastenden Fluche sein kann: die Erlösung Ahasver's, – der Untergang!
Was immer Wagner hier mit Selbstvernichtung oder auch Untergang gemeint hat, ideelle Assimilation, nationale Selbstaufgabe, wie sie im Zusammenhang mit Lagarde beschrieben wurde, oder Vertreibung, in seinen Worten gewaltsame Auswerfung des zersetzenden fremden Elementes (8, 259), oder physische Vernichtung, zu deren Ausführung er in privaten Gesprächen salopp dahingeworfene Vorschläge zu machen wusste,235 offensichtlich haben Juden in seinem Menschenbild nur als unerlöste Nichtmenschen Platz, als ewig herumirrende Geister wie Ahasver. Und wenn er sich in der Wirklichkeit seines Alltagslebens auf sie einlässt, sei es in der immer wieder offen bekundeten Bereitschaft, Geld von dem Juden Rothschild zu nehmen oder sie gar in seinen Künstlerkreis aufnimmt, was mit Josef Rubinstein236, Hermann Levi,237 Carl Tausig238 sogar zu intensiver Zusammenar_____________ 234 In der ersten Auflage hatte es noch geheißen: "Nehmt rückhaltlos an diesem selbstvernichtenden blutigen Kampfe teil, so sind wir einig und untrennbar." Zitiert nach Borchmeyer 1986b, 146. 235 Hier zwei Stellen aus den Tagebüchern Cosimas (Tagebücher 2, 778): "Ein Aufsatz über Demonstrationen gegen Juden bringt ihn [Wagner] zu der Äußerung: »Das ist das einzige, was sich tun läßt, die Kerle hinauswerfen und durchprügeln.« Bei Gelegenheit der Auswanderung meinte er, im Drang der schlimmen Zeiten, die nicht ausbleiben würden, müßte man eine Kontribution von einer Milliarde erheben, mit dieser alles bestreiten, um dort dann die neue Gesellschaft [zu] gründen. Bis dahin aber geworben haben und die religiöse Basis dieser Gesellschaft festgesetzt haben." Ebd. 2, 852: "Dann erzählt er von einer neulichen Aufführung des »Nathan«, wo bei der Stelle, Christus war auch ein Jude, ein Israelit im Parterre bravo gerufen habe. Er wirft Lessing diese Fadheit sehr vor, und wie ich ihm erwidere, daß mir schiene ein eigener deutscher Zug der Humanität in dem Stück zu liegen, sagt er: »Aber gar keine Tiefe« - er erinnert sich Bernays', der Holtzmann es vorwarf, Lessing zu mißachten. »Man nährt den Hochmut dieser Kerle dadurch, daß man mit ihnen umgeht, und z.B. wir sprechen vor Rub[instein]. unsere Empfindung über die Juden im Theater nicht aus, 400 ungetaufte und wahrscheinlich 500 getaufte.« Er sagt im heftigen Scherz, es sollten alle Juden in einer Aufführung des »Nathan« verbrennen." 236 Ausgesprochen interessant ist Chamberlains Bemerkung über den von ihm sehr verehrten Rubinstein in seiner Autobiographie (Lebenswege 231): "Rubinstein war ganz sicher kein Semit, geschweige ein Jude - weswegen er auch in die von zuständiger jüdischer Seite verfaßte List of jewish world-celebrities nicht aufgenommen ist, was in Deutschland aber bemerkt zu werden verdient, weil man hier immer wieder, des Namens wegen, der irrigen Behauptung begegnet. Dem Typus nach stammte er aus Zentralasien, und zwar wahrscheinlich aus einer Mischung von Mongole und Arier."
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beit geführt hat, so relativiert dies seine antisemitischen Äußerungen in keiner Weise. Sehr treffend formuliert Borchmeyer: "Dieser Umgang hat freilich immer etwas von einem Gnadenakt und stellt sich, z.B. für den Leser der Tagebücher Cosimas, nicht selten als ein Ritual sublimer Quälerei dar, mag diese Wagner auch nicht immer zu Bewusstsein gekommen sein."239 6. 5. 1. Die Heilsutopie: Erlösungsantisemitismus. Kehren wir zu weiteren Ideologemen der Konstruktion zurück. Wagners Intention ist das Aufweisen des rechten Weges zur Aufsuchung des Gestades einer neuen Hoffnung für das menschliche Geschlecht (10, 223). Dieser blassen, aus der Metaphorik lebenden Aussage folgen allerdings konkretere Vorschläge Wagners. Sie betreffen die Politik, Religion und die Kunst, wobei letztere auch als Ersatz sowohl für die Politik als auch für die Religion stehen kann. Joachim Fest beschreibt Wagners Ambitionen, seinen erhabensten Gedanken, als Fest 2000, 28: die große Utopie der Vereinigung von Politik und Ästhetik mit dem Ziel, die Welt zum Gesamt-Kunstwerk der Zukunft umzuschaffen und die Religion durch die Kunst zu ersetzen mit vorerst ihm selbst als Künstler-Prophet, Hohepriester, der zu sich selbst zurückgekehrten Welt und Geburtshelfer des neuen Menschen.
Der neue Mensch, den wir also auch bei Wagner immer wieder genannt finden, assoziiert eine Heilsutopie, die nicht nur metaphorisch-sakralsprachliche Züge trägt. Die künstlerische Metaphysik, die er in seiner Schrift Oper und Drama vertritt, idealisiert den Künstler zum Seher und Propheten, gar zum Retter des wahren Menschen, was immer unter diesem zu verstehen ist. Dabei werden der Politik und einer Reihe ihrer Programme Phantasielosigkeit und Gegenwartgebundenheit, damit systematische Kurzsichtigkeit samt allen damit verbundenen Folgen vorgeworfen. Das Politische wird durch das Bekenntnis zum Unpolitischen abgelöst, zum Idealen, das alle Alltagsfragen von selbst zu lösen verspricht. Wagner spricht dem Politiker jegliche planerische Kompetenz ab und übergibt die Verantwortung dem Künstler, der in seiner Vorstellung nicht nur die Zukunft zu überblicken, sondern sie auch zu gestalten, d. h. aus der Ungestaltetheit und Ungewordenheit zur Gestalt und zum Heil zu führen weiß. Wagner 4, 227f.: Wo nun der Staatsmann verzweifelt, der Politiker die Hände sinken läßt, der Sozialist mit fruchtlosen Systemen sich plagt, ja selbst der Philo-
_____________ 237 Vgl. dazu vor allem die Ausführungen von Katz 1985, 160. 238 In einem Brief an Tausig über die Judenschrift wird deutlich, dass er auch 1869 nicht bereit
war, die Behauptung von der jüdischen Verschwörung gegen ihn zu relativieren. Vgl. Wagner 16, 102 ff. 239 Borchmeyer 1986b, 157.
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soph nur noch deuten, nicht aber vorausverkünden kann, - weil Alles, was uns bevorsteht, nur in unwillkürlichen Erscheinungen sich zeigen kann, deren sinnliche Kundgebung Niemand sich vorzuführen vermag, - da ist es der Künstler, der mit klarem Auge Gestalten ersehen kann, wie sie der Sehnsucht sich zeigen, die nach dem einzig Wahren - dem Menschen - verlangt. Der Künstler vermag es, eine noch ungestaltete Welt im Voraus gestaltet zu sehen, eine noch ungewordene aus der Kraft seines Werdeverlangens im Voraus zu genießen. […] - es kommt der Tag, an dem einst dieses Vermächtniß zum Heile der menschlichen Brüder aller Welt eröffnet wird!
Die hier propagierte Künstlergestalt trägt offensichtlich übermenschliche und deutlich sakrale Züge; man beachte vor allem die Ausdrücke ungeworden (mit Anklängen an die Schöpfung), Vermächtnis (>Testament<), Heil, eröffnen. Sie ist nicht mehr nur Mensch allein, sondern jener wahre Mensch, der die Zukunft repräsentiert. Wagners viel besprochene Regenerationslehre hat hier ihr Zentrum. In seinen Augen könne die Regeneration der Entarteten (10, 242) nur durch Nahrungswechsel (ebd.), vor allem aber nur aus dem tiefen Boden einer wahrhaften Religion erwachsen (10, 243). Und so beginnt er seine 1880 verfasste Schrift "Religion und Kunst" mit den Worten: Wagner 10, 211f.: Man könnte sagen, daß da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei den Kern der Religion zu retten, indem sie die mythischen Symbole, welche die erstere im eigentlichen Sinne als wahr geglaubt wissen will, ihrem sinnbildlichen Werthe nach erfaßt, um durch ideale Darstellung derselben die in ihnen verborgene tiefe Wahrheit erkennen zu lassen. […] dagegen nun die Kunst erst dann ihre wahre Aufgabe erfüllte, als sie durch ideale Darstellung des allegorischen Bildes zur Erfassung des inneren Kernes desselben, der unaussprechlich göttlichen Wahrheit, hinleitete.
Die Kunst tritt also gleichsam in zwei Wertstufen auf, einmal als Retterin der Religion, damit als Erfasserin der sinnbildlichen Werte mythischer Symbole und ihrer Wahrheit (damit stünde sie in einer Hilfsfunktion und in nur mittelbarer Nähe zur göttlichen Wahrheit), zum anderen als diejenige Instanz, die über ideale Darstellung […] zur göttlichen Wahrheit direkt hinleitet. Die Auslassungszeichen in diesem Satz sollen andeuten, dass Wagners Diktion hier "feiert": Die Abfolge dreier attributiver Substantive (Darstellung des Bildes, zur Erfassung, des Kernes), die außerdem noch adjektivisch attribuiert sind (mittels ideal, allegorisch, inner) und deren letztes Glied (also Kern) dann in einer ihrerseits adjektivisch attribuierten Apposition (die adverbial durch unaussprechlich erweitert ist) expliziert wird, mag einem über bürgerliche Bildungssprache verfügenden Rezipienten grammatisch noch nachvollziehbar sein, die Häufung hochgradig polysemer Substantive und Adjektive mit abstraktem Gegenstands- bzw. Qualitätsbezug ist inhaltlich aber völlig unverständlich. Gestaltungen dieser Art haben dennoch Funktion: Sie suggerieren einen Autor, der höchste Gestaltungskraft zu erkennen gibt, gleichsam dasjenige vormacht, was er möglicherweise meinen
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könnte. Die Inhalte des Gesagten werden dabei nachrangig. Zugespitzt könnte man sagen, dass mit diesem Stil einem kulturell entsprechend Aufnahmebereiten jeder Inhalt gerade dann als glaubwürdig erscheinen wird, wenn man ihn nicht verstanden hat. Auf der zweiten Stufe wird die Kunst also nicht mehr nur als Retterin der Religion verstanden, sondern selbst zur Religion. Nicht nur die Grenzen zwischen beiden Bereichen verfließen, sondern es entsteht eine Kunstreligion.240 Diese Wortbildung ist ein Kopulativkompositum erstens in dem Sinne, dass Kunst sowohl Religion ist wie Religion Kunst, im Hinblick auf die oben unterschiedenen Wertstufen aber eher in dem Sinne, dass das Grundwort Religion die Größe angibt, die Kunst ist. Jedes Verständnis des Ausdrucks in Richtung auf >künstliche Nachahmung des Religiösen< ist also ausgeschlossen. Wagners Kunstreligion legt ein weites Dach über Rasse, Religion und künstlerische Darstellung heidnischer wie christlicher Ritualtraditionen. Immer wieder kommt dabei das Blut ins Spiel. Ganz im Duktus Gobineaus ist folgender Beleg zu lesen, der exemplarisch Kampfmetaphorik mit Blut- und Untergangsmetaphorik verbindet: Wagner 10, 227f: Angriff und Abwehr, Noth und Kampf, Sieg und Unterliegen, Herrschaft und Knechtschaft, Alles mit Blut besiegelt, nichts anderes zeigt uns fortan die Geschichte der menschlichen Geschlechter; als Folge des Sieges des Stärkeren alsbald eintretende Erschlaffung durch eine, von der Knechtschaft der Unterjochten getragene Kultur; worauf dann Ausrottung der Entarteten durch neue rohere Kräfte von noch ungesättigter Blutgier. Denn immer tiefer verfallend, scheinen Blut und Leichen die einzig würdige Nahrung für den Welteroberer zu werden:
Aussagen dieser Art finden sich auch in der Metaphorik nicht rassistisch gemeinter Texte. Sie sind dennoch, wenn man sie in ihre metaphern- und assoziationsgeschichtlichen Zusammenhänge stellt, auch anders lesbar. Bei aller Anerkennung "christlicher" Bausteine in Wagners Ideologie ist festzustellen, dass der Stellenwert, den er dem 'Blut' beimisst, nicht nur im Parsifal zentrale Bedeutung hat, sondern mehr als nur werkinterne Metaphorik darstellt. Unverkennbar ist fast jedes Wort ein Schlüsselwort des rassischen Antisemitismus. Aber Blutsmetaphorik kann noch Anderes bedeuten, auch wenn z. B. Zelinsky an manchen Stellen seiner Ausfüh-
_____________ 240 Vgl. Fest, Wagner 2000, 27: Wagners "Politikverachtung hat den traditionell apolitischen
deutschen Kulturgedanken Bestätigung und Auftrieb verschafft, der Sehnsucht nach 'unpolitischer Politik', wie sie einer seiner Bewunderer, Thomas Mann, in den "Betrachtungen eines Unpolitischen" aufgegriffen und in suggestive Prosa übersetzt hat. In seinem übermächtigen Einfluß wird er von keinem anderen der gegen Ende des Jahrhunderts massenhaft hervortretenden panischen Zeitbeobachter auch nur annähernd erreicht."
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rungen241 übertreibt. Blut ist bekanntlich, so sagte Goethe, ein besonderer Saft.242 Es ist geistesgeschichtlich, das heißt konkret metapherngeschichtlich, der Garant für das Leben, solange es fließt, für die Liebe, wenn es wallt, und dient der Besiegelung einer besonderen Art von Freundschaft, erinnert sei hier an die Blutsbrüderschaft Siegfrieds mit Gunther. Verwandtschaftsverhältnisse und damit Erbrecht und personelle Nachfolge konstituieren sich über das Blut. Wenn man Rache will, dann dürstet man nach Blut243 und wischt das Unrecht durch das Vergießen des mythischen Reinigungs'mittels' Blut einfach hinweg. Das Vergießen von Blut steht immer schon für Opferbereitschaft, sei es der Soldaten im Kriege oder eben in der christlichen Motivik des Kreuzestodes. Das Blut Christi, das im Gral sein symbolisches Gefäß gefunden hat, wird für Wagner darüber hinaus zum göttlichen "Fleckenentferner", der die Schäden eines durch Rassenmischung verderbten Blutes mithilfe einer rituellen Reinigung wieder läutert. Wagner 10, 283: Das in jener wundervollen Geburt sich sublimirende Blut der ganzen leidenden menschlichen Gattung konnte nicht für das Interesse einer noch so bevorzugten Race fließen; vielmehr spendet es sich dem ganzen menschlichen Geschlechte zur edelsten Reinigung von allen Flecken seines Blutes. Hieraus fließt dann die erhabene Einfachheit der reinen christlichen Religion, wogegen z.B. die brahmanische, weil sie die Anwendung der Erkenntniß der Welt auf die Befestigung der Herrschaft einer bevorzugten Race war, sich durch Künstlichkeit bis in das Übermaaß des ganz Absurden verlor. Während wir somit das Blut edelster Racen durch Vermischung sich verderben sehen, dürfte den niedrigsten Racen der Genuß des Blutes Jesu, wie er in dem einzigen ächten Sakramente der christlichen Religion symbolisch vor sich geht, zu göttlichster Reinigung gedeihen. Dieses Antidot wäre demnach dem Verfalle der Racen durch ihre Vermischung entgegen gestellt, und vielleicht brachte dieser Erdball athmendes Leben nur hervor, um jener Heilsordnung zu dienen.
Ein Mittel zur Dehumanisierung und Diskriminierung wird es besonders dann, wenn es zum biologistischen Unterscheidungsmerkmal wird bzw. – wie im Parsifalmythos – wenn die Heilstat Christi nicht zum Wohle der gesamten Menschheit gerät, sondern zur Begründung einer deutschgermanischen Weltherrschaft dienen soll: Wagner, Die Wibelungen 2, 146: dieser [Christus] hat für das Heil und Glück seines Geschlechtes, und der aus ihm entsprossenen Völker der Erde, die herrlichste That vollbracht, und um dieser That willen auch den Tod erlitten. Die nächsten Erben seiner That und der durch sie gewonnenen Macht sind die 'Nibelungen',
_____________ 241 Zelinsky, Richard Wagners antisemitische Werk-Idee als Kunstreligion und Zivilisationskritik und ihre Verbreitung bis 1933. In: Richard Wagner im Dritten Reich 2000, 309-341. 242 Goethe, Faust, V. 1740, 1984, 58. 243 Wagner 9, 13: "Zwar haben wir Muth, und dürsten nach Blut / Das Kanoniren doch thut uns Allen sehr gut!"
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denen im Namen und zum Glücke aller Völker die Welt gehört. Die Deutschen sind das älteste Volk, ihr blutsverwandter König ist ein 'Nibelung', und an ihrer Spitze hat dieser die Weltherrschaft zu behaupten.
Wagners Argumentation aus dem Jahre 1848 ist an dieser Stelle nicht vage oder missverständlich. Die Erben der Heilstat waren die Nibelungen, denen deswegen auch rechtmäßig "die Welt gehört". Die Deutschen sind ihre direkten Nachfolger, also gehört den Deutschen die Welt. Dieser unverblümte Nationalismus zieht sich wie ein roter Faden durch das Werk Wagners, in der Revolutionszeit mit besonderer sozialrevolutionärer Komponente, später sehr viel konservativer. Deutlich wird schon hier, wie der Bildbereich der Nibelungen mit dem der christlichen Gralslegende verbunden wird (Chamberlain, Wagner, 400). Und es ist dann auch kaum verwunderlich, wenn seine Spur auf eine Burg in Indien verweist, wie auch der Gral selbst als der ideelle Vertreter und Nachfolger des Nibelungenhortes aus Asien, aus der Urheimath der Menschen, stammt; Gott habe ihn den Menschen als Inbegriff alles Heiligen zugeführt (Wagner 2, 151). Nibelungen und Gralsepik erscheinen so in einer gemeinsamen Argumentationslinie, die bis zum deutschen Kaiser als reale und ideale oberste Weltherrlichkeit, die Vereinigung des höchsten Königthumes und Priesterthumes, reicht.244 Der deutsche Kaiser wird auf diese Weise zum göttlich begnadeten Rechtsnachfolger Christi und zum Herren der Welt proklamiert. Der schon im Mittelalter mit der Johannes-Legende in Asien vermutete Gralsort kann als eine der vielen Brücken hin zum Ariertum gewertet werden, als mythologisch konstruierte Brücke, die das germanische Christentum mit rassenbiologischen Motiven vereinbar macht. Während die Wibelungen schon im Sommer 1848 entstanden, stammt das folgende Zitat aus dem Jahre 1880. Es wurde in den Bayreuther Blättern unter dem Titel Zur Einführung der Arbeit des Grafen Gobineau. »Ein Urtheil über die jetzige Weltlage« publiziert. "Auch er [Gobineau] blickte in ein Inneres: er prüfte das Blut in den Adern der heutigen Menschheit, und mußte es unheilbar verdorben finden." (10, 34f.). Beide Zitate bilden einen Rahmen mit erheblichem Anknüpfungspotential für die Erben. Der biologische Rassismus Wagners kann aus dem letzteren eindeutig diagnostiziert werden. Doch es ist nicht nur Wagners Zustimmung zu Gobineaus Aussagen, die ihn als Rassisten überführen, er ist es gerade durch seine Handlungen, nämlich dadurch, dass er Gobineau in Bayreuth als Gast aufnimmt, dass er den Bibliothekar Schemann dazu motiviert, die Essais zu übersetzen245 und _____________ 244 Die zumindest äußerliche Anlehnung an Luthers Adelsschrift und seine Vorstellung vom königlichen Priestertum und priesterlichem Königtum ist ebenfalls kaum zu übersehen. Martin Luther, An den Christlichen Adel deutscher Nation von des geistlichen Standes Besserung. WA 7, 28, 28ff. 245 Hein 1997, 68.
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ihm, so oft er konnte, seine Huld in öffentlichkeitswirksamen Unterstützungsschriften gewährte.246 In diesem Zusammenhang am wichtigsten ist jedoch, dass er sofort nach Lektüre der Gobineauschen Schriften seiner religiösen Beweisführung die biologische zur Seite stellt, ein synthetisierendes Vorgehen, bei dem er in Chamberlain seinen eifrigsten Nachfolger finden wird. Wagner 10, 280: Von welchem Werthe dürfte nun das »Blut«, die Qualität der Race, für die Befähigung zur Ausübung solches heiligen Heldenthumes sein? Offenbar ist die letzte, die christliche Heilsverkündigung, aus dem Schooße der ungemein mannigfaltigen Racen-Vermischung hervorgegangen, welche, von der Entstehung der chaldäisch-assyrischen Reiche an, durch Vermischung weißer Stämme mit der schwarzen Race den Grundcharakter der Völker des späteren römischen Reiches bestimmte. Der Verfasser der uns vorliegenden großen Arbeit nennt diesen Charakter, nach einem der Hauptstämme der von Nord-Osten her in die assyrischen Ebenen eingewanderten Völker, dem semitischen, weist seinen umbildenden Einfluß auf Hellenismus und Romanismus mit größter Sicherheit nach, und findet ihn, seinen wesentlichen Zügen nach, in der so sich nennenden »lateinischen« Race, durch alle ihr widerfahrenen neuen Vermischungen hindurch, forterhalten. Das Eigenthum dieser Race ist die römisch-katholische Kirche; ihre Schutzpatrone sind die Heiligen, welche diese Kirche kanonisirte, und deren Werth in unseren Augen dadurch nicht vermindert werden soll, daß wir sie endlich nur noch im unchristlichen Prunke ausgestellt dem Volke zur Verehrung vorgeführt sehen. Es ist uns unmöglich geworden, dem, durch die Jahrhunderte sich erstreckenden, ungeheuren Verderbe der semitisch-lateinischen Kirche noch wahrhafte Heilige, d.h. Helden-Märtyrer der Wahrhaftigkeit, entwachsen zu sehen; und wenn wir von der Lügenhaftigkeit unserer ganzen Zivilisation auf ein verderbtes Blut der Träger derselben schließen mußten, so dürfte die Annahme uns nahe liegen, daß eben auch das Blut des Christenthums verderbt sei. Und welches Blut wäre dieses? Kein anderes als das Blut des Erlösers selbst, wie es einst in die Adern seiner Helden sich heiligend ergossen hatte.
In dieser ausführlich zitierten Textstelle finden wir alle wichtigen, von Wagner selbst gelieferten Synapsen für Chamberlain. Betrachten wir zunächst wieder einmal die vorgenommene Diagnose. Es wird der Verfall247 festgestellt, einer der Rasse, einer der Religion und einer des Heldentums, mit anderen Worten sittlicher, religiöser und biologischer Verfall. Die Ursache ist die Rassenvermischung, im Gobineauschen Sinne erst einmal die Vermischung Schwarzer mit Weißen, dann, dies betont Wagner besonders, ergänzt durch das semitische Element des chaldäisch-assyrischen Reiches, eine Ergänzung, die Schemann aufgreifen wird. Das Ergebnis des _____________ 246 Vgl. dazu die Bayreuther Blätter: Richard Wagner, Ein Urtheil über die jetzige Weltlage. Als ethnologisches Resumé vom Grafen Gobineau. Zur Einführung. 4, 5-6, 121-123. (1881). Zitiert nach: Hein 1997, 109: "Wer des Grafen Gobineau grosses Werk […] kennt, wird sich wohl davon überzeugt haben müssen, dass es sich hier nicht um Irrthümer handelt." 247 Über Gobineau s. Wagner 10, 34: "Auch er blickte in ein Inneres: er prüfte das Blut in den Adern der heutigen Menschheit, und mußte es unheilbar verdorben finden."
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Verfalls durch Rassenmischung präge den Charakter des römischen Reiches und setze sich in der katholischen Kirche fort. Dies sind nahezu wörtlich die immer wieder auftauchenden Hauptaussagen Chamberlains. Dazu gehört der Gedanke des Völkerchaos, das im römischen Reich seinen absoluten Kulminationspunkt hatte und durch degenerirende Vermischung des heldenhaften Blutes edelster Racen mit dem, zu handelskundigen Geschäftsführern unserer Gesellschaft erzogener, ehemaliger Menschenfresser (Wagner 10, 284) zum allgemeinen Verfall des germanischen Elementes führte. Dieses scheint im zitierten Wagnertext durch Christus vertreten zu werden, dessen Rassezugehörigkeit im anschließenden Absatz diskutiert wird. Wagner 10, 280: Das Blut des Heilandes, von seinem Haupte, aus seinen Wunden am Kreuze fließend, - wer wollte frevelnd fragen, ob es der weißen, oder welcher Race sonst angehörte? Wenn wir es göttlich nennen, so dürfte seinem Quelle ahnungsvoll einzig in Dem, was wir als die Einheit der menschlichen Gattung ausmachend bezeichneten, zu nahen sein, nämlich in der Fähigkeit zu bewußtem Leiden.
Ob Christus Arier war oder nicht, ist eine Frage, die selbst in einem Kontext begegnet, in dem "die Einheit der menschlichen Gattung" anerkannt wird; sie wird später von Chamberlain ausgiebig diskutiert; Wagner hatte die Antwort längst vorbereitet: Wagner 10, 232: Bleibt es mehr als zweifelhaft, ob Jesus selbst von jüdischem Stamme gewesen sei, da die Bewohner von Galiläa eben ihrer unächten Herkunft wegen von den Juden verachtet waren, so mögen wir dieß, wie alles die geschichtliche Erscheinung des Erlösers Betreffende, hier gern dem Historiker überlassen, der seinerseits ja wiederum erklärt mit einem »sündenlosen Jesus nichts anfangen zu können.« Uns wird es da gegen genügen, den Verderb der christlichen Religion von der Herbeiziehung des Judenthums zur Ausbildung ihrer Dogmen herzuleiten.
Zum arischen Stamme gehören jedenfalls Herakles und Siegfried, die sich ihr Selbstbewusstsein durch heldenhafte Arbeit und Leiden, oft schmachvolles Leiden, das allerdings als Zeugniß göttlicher Herkunft den Helden selbst in schmachvollstem Leiden von jeder Schmach unberührt erhält, errungen haben (Wagner 10, 278). Das Stichwort Leiden, besser noch: die Fähigkeit zu bewußtem Leiden (10, 280) verbindet den wichtigen Argumentationsstrang des Christentums mit demjenigen Schopenhauers und der Rassentheorie: Wagner 10, 282: Aus welchem Blute sollte nun der Genius der Menschheit, der immer bewußtvoller leidende, den Heiland erstehen lassen, da das Blut der weißen Race offenbar verblaßte und erstarrte? - Für die Entstehung des natürlichen Menschen stellt unser Schopenhauer gelegentlich eine Hypothese von fast überzeugender Eindringlichkeit auf, indem er auf das physische Gesetz des Anwachsens der Kraft durch Kompression zurückgeht, aus welchem nach abnormen Sterblichkeitsphasen ungewöhnlich häufig erfolgende Zwillingsgeburten erklärt werden, gleichsam als Hervorbringung der gegen den, das ganze Geschlecht bedrohenden Vernichtungsdruck, sich doppelt anstrengenden Lebenskraft: was nun
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unseren Philosophen auf die Annahme hinleitet, daß die animalische Produktionskraft, in Folge eines bestimmten Geschlechtern noch eigenen Mangels ihrer Organisation, durch ihr antagonistische Kräfte bis zur Vernichtung bedroht, in einem Paare zu so abnormer Anstrengung gesteigert worden sei, daß dem mütterlichen Schooße dieses Mal nicht nur ein höher organisirtes Individuum, sondern in diesem eine neue Species entsprossen wäre. Das Blut in den Adern des Erlösers dürfte so der äußersten Anstrengung des Erlösung wollenden Willens zur Rettung des in seinen edelsten Racen erliegenden menschlichen Geschlechtes, als göttliches Sublimat der Gattung selbst entflossen sein.
An dieser Argumentation Wagners kann beispielhaft vorgeführt werden, was seine Nachfolger, in erster Linie natürlich Houston Stewart Chamberlain, herauslesen konnten. Das Zitat hat die folgenschwere Linie: Blut – Genius – Heiland – Entstehung des natürlichen Menschen – Vernichtung / Vernichtungsdruck gegen ein ganzes Geschlecht – Lebenskraft – animalische Produktionskraft – Erlöser - Erlösung wollende[r] Wille – Rasse - göttliches Sublimat der Gattung. Die Heiligung der Rasse ist offensichtlich. Seine germanische Kunstreligion kann daher gar nicht anders als zur Eliminierung des jüdischen Gottes und aller jüdischen Bestandteile im Christentum führen.248 Aber bei aller Anlehnung Wagners an den Rassetheoretiker Gobineau: das seiner Herkunft nach christliche Heilsmotiv bleibt für ihn die überdachende Form und überlagert seine Vorstellungen zur Rassenlehre.249 Im Unterschied zu Schopenhauers Resignation und eher in der Tradition des Christentums sucht vor allem der ältere Wagner nach der Erlösung aus dem angenommenen kulturellen und sittlichen Verfall. Diese kann nur darin bestehen, das christliche Leidens- und Heilsprinzip mit der biologischen Tradition als Basis seines ausgeprägten Nationalismus zu verbinden. Eine solche Verbindung ist nur in der Kunst möglich. Wagner 10, 292: Oft habe ich erklärt, daß ich die Musik für den rettenden guten Genius des deutschen Volkes hielte, und es war mir möglich, dieß an der Neubelebung des deutschen Geistes seit Bach bis Beethoven nachzuweisen: sicherer wie hier gab auf keinem anderen Gebiete die Bestimmung des deutschen Wesens, die Wirkung seines Gemüthes nach außen, sich kund; die deutsche Musik war eine heilige Emanation des Menschengeistes, und dämonisch leidende göttliche Naturen waren ihre Priester. Wie aber das Evangelium verblaßte, seit das Kreuz des Erlösers auf allen Straßen als Handelswaare feilgeboten ward, so verstummte der Genius der deutschen Musik, seitdem sie vom Metier auf dem Allerweltsmarkte
_____________ 248 Vgl. dazu: Borchmeyer 1986b, 157: "Die Wiedererweckung der wahren Religion zielt also auf die Ausmerzung aller genuin jüdischen Elemente aus dem Christentum." 249 Vgl. Cosima-Tagebücher 2, 936: Eintrag vom 23. 4. 1882: "Judas hat gesiegt, sagt er schmerzlich, und er läßt sich aus über das Christentum, über das Verhältnis vom Menschen zum Menschen, das würde seine letzte Arbeit sein. Er wirft es Gob. vor, das eine ganz außer acht gelassen zu haben, was einmal der Menschheit gegeben wurde, einen Heiland, der für sie litt und sich kreuzigen ließ!"
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herumgezerrt wird, und professionistischer Gassen-Aberwitz ihren Fortschritt feiert.
Die heilige deutsche Kunst, vertreten durch die deutsche Musik, soll richten, was das Völkerchaos über Jahrhunderte hinweg zerstört hatte. In den Meistersingern findet dies im Schlusswort des Hans Sachs seinen lebendigsten Ausdruck. Man kann dieses deshalb auch als persönlichen Appell des Dichterkomponisten lesen: Drum sag' ich euch / ehrt eure deutschen Meister, / dann bannt ihr gute Geister! / Und gebt ihr ihrem Wirken Gunst, / zerging' in Dunst / das heil'ge röm'sche Reich, / uns bliebe gleich / die heil'ge deutsche Kunst!250 Mit der heiligen deutschen Kunst ist natürlich Wagners eigene Kunst gemeint.251 Nur sie könne einlösen, was in und mit der Kunstreligion versprochen wurde. Dass sie ihre Anhänger gefunden hat, ist bekannt. Der neue Wagner-Kult führte in der Folgezeit dazu, dass Bayreuth zur Pilgerstätte der Wagnerianer wurde, das Festspielhaus zum Tempel, gar zur Kirche. Wagners Grab wurde zur Weihestätte, an der auch Hitler 'betete', und die Gemeinschaft der Wagner-Gläubigen wuchs mit jedem Jahr an, blieb aber immer ein elitär denkender, sich als die Avantgarde Deutschlands verstehender Gralsbund. Als solcher war er vorbildlich für die nachfolgenden bildungsbürgerlichen Gruppierungen, denen hier das Beispiel einer emotionalen Vergemeinschaftung in Verbindung mit einer charismatischen Führergestalt vorgelebt wurde. Wagner war die berühmteste ideologische Führerfigur vor Hitler. Seine Rolle im Drama war die des hohen Priesters, des Künstlers und damit kohärent zur vorgestellten Metaphorik Heldennatur und Schöpfergott. Aber dies ist nur die eine Seite der Sakralisierung. Unter Wirkungsaspekten vielleicht noch folgenreicher war Wagners Liturgietransfer,252 das heißt die Konvertierung der christlichen Ritualund Symbolwelt in weltliche Kontexte, seine Vermischung von Kunst und Religion zum Zwecke der Affekterregung und seelisch-mythischen Erbauung. Diese Technik wurde bei den nationalsozialistischen Masseninszenierungen dankbar übernommen. Worin sich außerdem Parallelen nachweisen lassen, ist die Feindbildkonstruktion. Zu Wagner selbst sagt J. Fest:
_____________ 250 Meistersinger, 3. Akt Wagner 7, 270-271. 251 Vgl. dazu Thomas Mann, Leiden und Größe Richard Wagners 267: "Gerade diese Verse, die ersten, die feststanden […], beweisen die vollendete Geistigkeit und Politikfremdheit des Wagnerischen Nationalismus: sie bekunden eine schlechthin anarchische Gleichgültigkeit gegen das Staatliche, falls eben nur das geistige Deutsche, die "Deutsche Kunst" bewahrt bleibt. Daß er dabei nicht eigentlich an die deutsche Kunst, sondern an sein Musiktheater dachte, […], ist eine Sache für sich. Im Grunde mochte er denken, wie der größte Unpatriot, Goethe, nach Börnes Vorwurf dachte: "Was wollen die Deutschen? Sie haben ja mich". 252 Bermbach 2000, 40.
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Fest 2000, 39: unstreitig hat es [das Werk Wagners, ALR] eine Vielzahl trüber Ideologismen aufgerührt und auf seinem Glanz gleich wieder verdeckt. In dem Laboratorium des 19. Jahrhunderts zählen sie zum Explosivsten, was dort zusammengebraut worden ist. Eben dies verlangt nach der Erforschung auch alles dessen, was in seinem Umkreis geschah, wie und wohin es wirkte, wer es weiterentwickelte und welcher Art die Transporteure waren. Was die Innenansichten betrifft, wissen wir vieles, man ist versucht zu sagen: nahezu alles. Hinsichtlich der politisch-gesellschaftlichen Zusammenhänge hingegen, steht noch immer vieles – wiederum ist man versucht zu sagen: nahezu alles aus.
6. 6. Wagner und Chamberlain
6. 6. 1. Wagners Einfluss auf Chamberlain In einem Brief an Kaiser Wilhelm aus dem Jahre 1908 schreibt Chamberlain: Briefe II, 15: Mein Bruder, der bekannte Japanolog, Basil Hall Chamberlain, war mit mir in Bayreuth, ein Mann, der die Hauptliteraturen der Welt in den UrSprachen genau kennt; wir lasen die Dichtungen Wagners wiederholt zusammen, als Vorbereitung zu den Aufführungen, und einmal über das andere rief er aus "What an extraordinary people the Germans must be, not to see that, quite apart from the miraculous music, Wagner is one of the greatest p o e t s of humanity." Ich mußte ihm beistimmen, sowohl in bezug auf die überragende Weltbedeutung Richard Wagners, wie auch betreffs der stumpfsinnigen Beschränktheit eines großen Teils der durch den Einfluß ihrer Professoren um alle Unmittelbarkeit und Sicherheit des Empfindens betrogenen Deutschen.
Im selben Jahr heiratete er die Tochter Wagners und machte es sich zur Hauptaufgabe, die Deutschen über den im Zitat angedeuteten Betrug aufzuklären. Schon 1892 hatte er Das Drama Richard Wagners publiziert und dort ein noch größeres Werk zum selben Komponisten angekündigt, das auch knapp drei Jahre später (1895) unter dem 'einfachen' Titel Richard Wagner mit großem Erfolg erschien. Wagner war, wie diese besondere Aufmerksamkeit schnell vermuten lässt, eine wichtige Persönlichkeit für Chamberlain, wenn nicht sogar die wichtigste überhaupt. Wenn man Chamberlains Bezeichnungen für seinen Schwiegervater zusammenstellen würde, so käme man auf folgende Reihe: der geniale Mann (Wagner 19), identifizierend und damit namenähnlich der Meister (Wagner 9; 15; 17; 19; 125 u. ö.), der Meistergeist (Wagner XI), der Feuergeist (Briefe I, 13), der Genius (Wagner 124), Nietzsche zitierend die Kulturgewalt (Wagner 28), der deutsche dichterische Seher (Wagner 178) oder der künstlerische Seher (Wagner 210), der Dichter, dessen Traum es war, alle Menschen zu Künstlern zu 'erlösen' (Wagner 18), gar der neue Reformator (463). Er schreibt von Wagners Lehre; das ist ein Ausdruck, der wie erlösen und Seher eine Anleihe aus der Sakralsprache darstellt. Chamberlain widmet diesem Thema dann auch das
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Hauptkapitel seines Wagner-Buches. Seine Wagner-Apotheosen sind damit aber nur angedeutet. Er nennt ihn einen makellos edlen, gänzlich uneigennützigen, immer nur für die reine, heilige Kunst entbrannten Mann (Wagner 61), der der Vorsehung oder einer höheren Eingebung gehorchte: Chamberlain, Wagner 124: Ist die Grundidee von Wagner's Regenerationslehre die, dass die Menschheit bestimmt sei, sich in Harmonie mit der Natur zu entwickeln, so liegt seinem eigenen trotzigen, siegesbewussten Glauben die Empfindung zugrunde, dass er selber – in seinem Lebenskampf, in den Erzeugnissen seines Genius – in Harmonie mit einer höheren Ordnung der Dinge handelte, dass er einer Vorsehung gehorchte. […] keiner konnte sich des Eindrucks erwehren, hier spräche eine höhere Eingebung, dieser Mann stände wirklich in irgend einer unerklärlichen Berührung mit einer uns sonst unzugänglichen transzendenten Welt.
Diese an Vergöttlichung reichende Überhöhung lässt sich durch das gesamte Buch nachzeichnen. Sie erfolgt nach einem ausgesprochen interessanten Schema, dessen Topoi wir auch im Führerkult der Nationalsozialisten wieder finden werden: Der einsame Wolf, mit Chamberlains Worten: der Genius kennt den Weg, den er trotz aller Widerstände und Widersacher zu gehen hat. Er steht zwar in losen Verbindungen zu anderen Persönlichkeiten, ist aber letztlich immer auf sich selbst gestellt und folgt mehr einem Höheren, einer Eingebung oder Vorsehung als dem Druck fremder, weniger charismatischer Gestalten, seien es selbst höchste kulturprägende Persönlichkeiten wie Philosophen (z.B. Schopenhauer, s. o.) oder andere Künstler (z. B. Beethoven). Die charismatische Führerpersönlichkeit steht über allem und damit allein, ohne einen Gleichwertigen an der Seite. Sie ist eine Dienerin ihrer überdimensionalen Aufgabe, die nur sie zu lösen in der Lage ist, und sie ist eine treue Erfüllerin der ihr von einer höheren Stelle auferlegten Pflichten. Einsamer Wolf, Diener einer höheren Sache und Führer in eine bessere Zukunft umreissen die Glorifizierung, bei der das Wirken dieses Mannes der gesamten Menschheit gilt und bei der er die eigenen Bedürfnisse selbstlos und opferwillig zur Seite stellt (Chamberlain, Wagner 63). Selbst etwaige Fehler des so überhöhten Wagner verwandelt Chamberlain in Vorzüge, kehrt sie zu besonderen Opfern um, so dass etwa Wagners sozialrevolutionäre Vergangenheit im Lichte einer höheren Aufgabe erscheint. Gerade mit seiner tiefen Religiosität wird sein Verhalten während der Revolution von 1848 erklärt, aus dem Sozialisten ein sich um Sozialfragen kümmernder Christ gemacht, aus einem Revolutionär ein missverstandener Konservativer. Es gäbe Dutzende von Stellen, in denen man zeigen könnte, wie Chamberlain das Bild zurechtrückt oder besser ausgedrückt, wie er sich sein Bild zurechtzimmert, und es ist manchmal kaum zu unterscheiden, wer hier wen mehr geprägt hat, Wagner die Weltanschauung Chamberlains oder Chamberlain das Wagnerbild zwischen
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1890 und 1945. Ein Beispiel für die Argumentation mag Chamberlains Antisemitismus sein. Briefe I, 83f. (An Ernst von Wolzogen 1900): Sie meinen, meine Auffassung der Rasse sei Wagnersches Erbgut? Nun, ich bin der letzte, der die Einflüsse der Umgebung leugnen möchte - und gar einer solchen Umgebung. So etwas kann auch ganz unbewußt stattfinden. Also: concedo. Doch kann ich Sie versichern, daß diese Einflußreihe jedenfalls erst in zweiter Reihe kommt. Ich habe stets das größte Mißtrauen gegen phantastische Wissenschaft gehegt und habe Wagners Schriften (und Gobineaus usw.) erst zu einer Zeit kennengelernt, als ich seit etwa 15 Jahren eifrig Naturwissenschaft trieb. Ohne allen Zweifel gründet sich meine Auffassung - nicht bloß jetzt nachträglich als Stütze Wagnerscher Ideen, sondern von vornherein - auf Darwin.
Seine ausweichende Antwort auf Wolzogen lässt zwar offen, ob Chamberlains Judenhass Wagnerscher Prägung253 ist, aber er verneint es auch nicht ausdrücklich. Natürlich gab es gemeinsame Referenzgrößen, eine davon war der Franzose Ernest Renan, den man regelmäßig in den "Grundlagen" zitiert findet und den auch Wagner schätzt. Er kritisiert ihn allerdings in einem entscheidenden Punkt. Renan geht von einer prinzipiellen Assimilierbarkeit der Juden aus, während vor allem der späte Wagner glaubt, die Juden seien aufgrund angeborener und damit unveränderlicher biologischer Eigenschaften nicht integrierbar.254 Wagners Art von Antisemitismus führt nahezu fließend über zu Chamberlain. Neben gemeinsamen Referenzgrößen, wozu außer dem soeben genannten Renan natürlich auch Gobineau und Schemann gehörten, gab es viele direkte Übernahmen aus Wagners Schriften, von denen der Antisemitismus nur ein Bestandteil war, wenn auch ein sehr wichtiger. Man kann zwar davon ausgehen, dass Chamberlain in seiner Wagnerrezeption besonders diejenigen Anknüpfungspunkte des späten Wagner aufgriff, in denen dieser begonnen hatte, das Hauptgewicht auf die Rassenfrage zu legen. Doch auch die Parallelen im Menschenbild, wie sie oben behandelt wurden, fallen auf. Außerdem war die Kunst für Chamberlain als treuen Wagnerianer auch in den Grundlagen das Mittel zur Erlösung, der Künstler (vorzugsweise in seiner Verkörperung durch Wagner) der Mensch, der dem Göttlichen am nächsten kommt, für den die Gottebenbildlichkeit, die Wagner zumindest als Ziel für sich in Anspruch nahm, in Reichweite schien und der dadurch zum Retter der Menschheit prädestiniert war. Hinzu kommen andere Übereinstimmungen. Für Beide kamen das Deutsche und das Germanische dem Ideal der Gottähnlichkeit am nächsten, das Griechische bildete dazu die Ausgangskultur, und das Römische Reich mit seiner nivellirenden, endlich ertödtenden Civilisation (Wagner 8, 32) _____________ 253 Large (2000, 147) betont den Einfluss Cosimas. 254 Borchmeyer 1986b, 153.
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stellte die Zeit dar, in der das Völkerchaos über die Menschheit hereinbrach. All das sind die Grundzüge der Chamberlain'schen Geschichtsund Weltanschauung; sie stammen also nicht originär von ihm, sondern sind bis in Details, etwa mit ihren Verweisen auf das Brahmanentum (10, 221), den Schriften Wagners entnommen. Large 2000, 153: Jeder, der mit Wagners Schriften vertraut ist, wird unschwer die Parallelen zwischen den Grundlagen einerseits und auf der anderen Seite Publikationen wie Religion und Kunst, Deutsche Kunst und deutsche Politik und Das Judentum in der Musik erkennen.
Chamberlains entscheidender, noch weiter wirkender Einfluss auf die Ideologiegeschichte aber bestand darin, das Wagnersche Gedankengut konsequent in rassistische, völkische, nationalistische Ideologie umgewandelt zu haben, indem er es seiner musikwissenschaftlichen Beschränkungen enthob und es auf eine allgemein verständlich vorgetragene, eindeutig auf die Orientierungsgröße 'Rassismus' zugeschnittene Geschichtsutopie konzentrierte, die er natürlich noch mit eigenen Ausführungen und Interpretationen ergänzte und verstärkte.255 Dieses Vorgehen ergibt eine Gewichtsverlagerung, deren Details kaum auffallen, bleibt das Ergebnis ja gleich: Der Verfall ist aufhaltbar und muss aufgehalten werden, die Kunst wird als Erlösungsmöglichkeit und Erlösungspflicht gesehen, und der Feind heißt Judentum. Da sich beide einig darüber sind, dass die Juden schädlich für das deutsche Volk seien, schuld am Niedergang des Christentums haben (vgl. dazu Wagner 16, 101) und dass man sie nicht assimilieren könne (s. o.), müssen diese in der Logik beider Autoren von den Deutschen getrennt werden. Nicht die Frage nach der Berechtigung der Assimilationsforderung, die man gar nicht stellte, sondern die Frage nach dem Warum des Fehlschlags der Assimilation ist, wie gezeigt wurde, sowohl Wagners entscheidender Wendepunkt hin zum biologischen Rassismus als auch Chamberlain Anknüpfungsmöglichkeit; die Dichte der diskursgeschichtlichen Linien ist offensichtlich. Borchmeyer 1986b, 144: Es lässt sich jedoch nicht leugnen, dass die Kardinalthese des modernen Antisemitismus in Wagners Judentum-Aufsatz bereits in nuce enthalten ist: die Emanzipation hat nicht zur Aufgabe der Sonderstellung der Juden geführt, so die Argumentation des politischen Antisemitismus, sondern die Unterdrückung ist in Herrschaft umgeschlagen, die Juden haben sich (aufgrund ihrer rassischen Fremdheit) nicht wirklich assimiliert, sondern suchen als gleichbleibend geschlossene Gruppe Kultur, Wirtschaft und Politik zu monopolisieren. Diesem Prozeß kann nach der Überzeugung des politischen Antisemitismus nur durch Aufhebung der Gleichberechtigung der Juden entgegengewirkt werden.
Wie auch immer Chamberlains antisemitischer Rassismus tatsächlich motiviert sein mag, von schlechten Erfahrungen mit Juden ist in seinen _____________ 255 Vgl. dazu: Fest 2000, 35.
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Schriften ebenso wenig die Rede, wie man behaupten könne, Darwin habe den Ausschlag gegeben, obwohl Chamberlain dies im oben zitierten Brief an Wolzogen behauptet. Darwins Evolutionstheorie hatte nichts mit Antisemitismus zu tun. Vielmehr waren es wohl doch Wagners Judenphobie und dessen Kunstreligion, die Schriften Gobineaus, die der fließend Französisch sprechende Chamberlain schon vor Schemanns Übersetzungen kannte, in Verbindung mit den Diskussionen über Darwin, die Chamberlain als Biologe ebenfalls mit großem Interesse verfolgt hatte, die zu seinem ausgeprägten Rassismus geführt haben. Dass Chamberlain dem Thema "Wagner und die Juden" in seiner Monographie großen Raum beimaß, überrascht deshalb weniger als die Ausführung. Zunächst einmal fällt auf, dass das Thema im wichtigsten Teil des Buches behandelt wird, nämlich im Kapitel über die Regenerationslehre. Welchen Stellenwert diese auch für Chamberlain hat, zeigt seine Charakterisierung, Wagners Regenerationslehre sei eine ganze, umfassende Weltanschauung (Chamberlain, Wagner 209), die sowohl praktische wie religiöse und philosophische Lehren umfasse. Zentrale Schlüsselwörter dieser Gesamtlehre sind die schon mehrfach angeführten Verbalabstracta Verneinung und Bejahung. Sie entsprechen der Dichotomie von Verfall und Zukunft. Besonders Verneinung wird zum Zeichen für den Verfall, dessen Erkenntnis aber schon zur Voraussetzung für eine glorreiche Zukunft. Als Kennzeichen des Verfalls gelten das Chaos der modernen Zivilisation (Chamberlain, Wagner 215) und die Entartung (ebd.; 220 u. ö.). Was verneint wird, ist die Zivilisation, die Moderne, die 'entgöttlichte' und impotent gewordene kirchliche Religion (ebd. 217). Die Bejahung bestehe im Glauben an die Überwindbarkeit dieses Zustandes, daran, dass der Mensch sich regenerieren könne. Die eigentliche Regenerationskraft komme aus der Kunstreligion, die neu zu schaffen wisse, was der Verfall zerstört habe. Bei der Ursachenforschung wird deutlich, wie selektiv Chamberlain vorgegangen ist und welche inhaltlichen Gewichtungen und Bewertungen er vorgenommen hat. Folgende Ursachen für den diagnostizierten Verfall werden genannt: Geld und Eigentum, Nahrung und Verderb des Blutes. Während der sozialistische Ansatz Wagners, der ihm immerhin die Ausweisung aus Dresden eingebracht hatte, von Chamberlain nicht wirklich ernst genommen wird, – der Schwiegersohn bezeichnet, dabei die sozialrevolutionäre Vergangenheit Wagners relativierend, Geld und Eigentum als Gründe zweiter Ordnung, eher als Symptome denn als ursächliche Faktoren (ebd. 220), – dient ihm die Nahrungsfrage zur argumentativen Überleitung, mit der deutlich gemacht werden kann, dass die moralische Degeneration von der physischen hergeleitet werden müsse (ebd. 222). Eine solche Folgerung ist die Prämisse für alle weiteren Aussagen über den Verfall der Sitten und der Moral durch biologische Faktoren wie z.B. durch Rassenmischung.
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Die Folgen der Rassenlehre werden von ihm ausführlich und immer wieder in Bezug auf das Judentum dargelegt. Mit bewusst eingesetzter Schützenhilfe durch berühmte Antisemiten und vermittels sprachlicher Dehumanisierungsstrategien, z. B. durch den kollektiven Singular und stark präsuppositionsgeladene Ausdrucksweisen wie der Eintritt eines so eigenartigen fremden Elementes in das öffentliche Leben der europäischen Völker (ebd. 225f.) verbindet er den Wagnerschen Antisemitismus mit dem eigenen. Es scheint zwar, als würde Chamberlain hier nur noch einmal rechtfertigen, was Wagner in seiner Schrift Vom Judentum in der Musik geschrieben hatte, doch dieser Schein trügt darüber hinweg, dass Chamberlain bei seiner Rechtfertigung noch schärfer vorgeht als Wagner selbst. Zum einen zitiert er affirmativ, was Wagner gegen die Juden bereits gesagt hat, so dessen Ansicht, dass die Juden von der Ausbeutung des allgemeinen Verfalls lebten (229). Vor allem aber wiederholt er das berühmte Zitat am Ende der Wagnerschen Judenschrift: Gemeinschaftlich mit uns Mensch werden, heisst für den Juden aber zu allernächst soviel als aufhören, Jude zu sein (s. o.). Zum anderen präsentiert er diese Aussage zustimmend als Wahrheit eines Wissenden, der zu dieser Erkenntnis durch langjährige Erfahrung gekommen sei und der dafür, dass er den Nagel auf den Kopf getroffen (227) habe, einen gehässigen Kampf gegen die Presse ausstehen müsse, die in der Hand der Juden liege. Auf das Stereotype dieser Aussagen braucht nicht mehr hingewiesen werden. Der Held und Märtyrer Wagner habe aber drittens die Lösung, in Wagners Worten die Erlösung, parat. Es ist die Erlösung Ahasvers – der Untergang! (228), was nichts anderes bedeutet als die Forderung nach Selbstauflösung des Judentums. Sowohl Wagner, der von einem Erlösung suchenden Juden schreibt (5, 85), als auch Chamberlain behaupten, dass diese Erlösung von den Juden selbst erwünscht sei: daß mancher Jude sich ebensosehr wie wir nach der Erlösung aus semitischen Vorstellungen sehnt (AW 40). Chamberlain unterstreicht Wagners (Er)lösungsvorschlag noch dadurch, dass er zuerst das Alte Testament zitiert, dann ohne Übergang wieder Wagner: Was er [Micha] die Juden lehrte, war dasselbe, was Wagner ihnen jetzt wieder zuruft: "Um gemeinschaftlich mit uns Mensch zu werden, höret auf, Juden zu sein (229). Und in der Fußnote wird dieser Satz auch noch auf Luther zurückgeführt, so dass der Leser an der Richtigkeit desselben keinerlei Zweifel mehr haben sollte. Auch hier stellt sich wieder die Frage, wie man Mensch, aufhören, Juden zu sein und Untergang verstehen soll. Die Menschwerdung ist, wie es nun schon für Chamberlain und oben auch für Wagner ausgeführt wurde, für beide eine Frage der Kunst und derjenigen Kultur, in der der Einzelmensch lebt, in die er hineingeboren ist und mit der er sich identifiziert. Bei Chamberlain liegt die Betonung besonders auf hineingeboren, da er den Rasseaspekt noch zusätzlich betont. Mit der hier angedeuteten, in der Regel national gedachten Gemeinschaft
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sind Inklusion und Exklusion angesprochen, die im Falle der Juden je nach Interpretation der oben aufgeführten Stelle entweder die vollständige Assimilation, d. h. Inklusion, meint, oder im schlimmsten Falle die vollständige Exklusion durch Vernichtung. Vergemeinschaftung hat aber auch noch andere, speziell für die Betrachtung von Kunst und Künstlertum wichtige Weiterungen. Für Chamberlain ist es ein besonderes Anliegen, die die deutsche Nation verbindende Bedeutung des Komponisten herauszustreichen. Die folgenden Äußerungen stammen originär von ihm und sind typisch für ihn; sie gehen weit über die Wagnerschen Vorlagen hinaus. Seine Ausführungen zum Thema beginnt Chamberlain mit dem Hinweis, dass der nun folgende Punkt von größter prinzipieller Bedeutung (256) sei. Es geht ihm um die Voraussetzungen künstlerischen Schaffens, um die allgemeinsame Kunst (ebd.), die kein Luxusgegenstand eines Einzelwesens, sondern das Produkt eines biologisch-nationalen Kollektivs sei. Wie Chamberlains Menschenbild erwarten lässt, sah er in seinem großen Idol Richard Wagner kein Individuum, das seine Künstlerkraft aus sich selbst heraus schafft oder schöpft, sondern das Produkt der Genialität der ihn hervorbringenden nationalen Gemeinschaft. Wagner frei variierend schreibt Chamberlain: Nur in einer höchsten Kunst kann die Allgemeinheit zum bewussten Erfassen ihrer selbst gelangen; nur die Kunst einer Allgemeinheit ist höchste Kunst (257). Sie ist eine Kunst, die tief aus der Veranlagung einer als Naturgegebenheit verstandenen Nation erwächst, kein Individualprodukt, auch kein Ergebnis der Menschheit an sich. Selbst wenn Chamberlain in einem Exkurs der Wissenschaft genau das vorwirft, was er selbst vertritt, dass sie nämlich die Individualität stets dem Gattungsbegriff opfere, so wird er damit keineswegs zum Vorkämpfer des Konzeptes eines souveränen, autonomen, im Einzelnen gründenden, frei und geschichtsmächtig gestaltenden Individualismus. Er bedient sich nach der Gesamtaussage seines Werkes und nach jeder seiner Einzeldarlegungen vielmehr des Inventars argumentativer Täuschungen. Die Individualität offenbart für ihn das Allgemeine, indem sie Chamberlain, Wagner 258: durch freie Entfaltung des Individuellen und durch unbedingtes Gewährenlassen des Charakteristischen dieses reale Einzelne als den wirklichen, lebendigen, einzigen Inhalt des sonst nur abstrahierten Allgemeinen unmittelbar erkennen lässt. […] Nur der unübersehbaren Menge ihres Stoffes wegen erfordert die Wissenschaft zahllose Forscher; ihrem Wesen nach ist sie nichtsdestoweniger egoistischer Natur; zwischen ihr und dem ganzen Volk der "Laien" findet keinerlei Berührung statt; sie hat kein Vaterland; […] Dagegen kann wahre lebendige Kunst nur durch "Allgemeinsamkeit" entstehen und bestehen. Gerade das künstlerische Genie – scheint es auch so ganz aus Machtvollkommenheit zu schaffen – hängt durch tausend und aber tausend Lebensfasern mit seiner Umgebung zusammen.
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Mit diesen Ausführungen wird nicht nur das altbekannte Erkenntnisproblem weiterdiskutiert, dass in der Kunst, vorzugsweise in der Musik, die wahre und unmittelbare Erkenntnis der Dinge möglich sei, sondern hier liegt auch das Fundament für diejenige Argumentation Chamberlains, die in unverhohlen kultur- und rassenchauvinistischer Weise erklärt, nur die Arier, die Germanen bzw. die Deutschen seien zu wahrer Kultur fähig. Es macht den großen Wagner aber vor allem zum Ausdruck nicht der eigenen individuellen, sondern allumfassenden deutschen Schöpferkraft. Da die Frage nach dem Ursprung von Genie und Persönlichkeit im Kollektiv schon explizit behandelt wurde, fasse ich hier nur kurz zusammen: Selbst Wagner ist für Chamberlain nicht ohne das deutsche Volk denkbar. Für ihn ist unzweifelhaft klar, dass ein Genie nicht ausser allem Zusammenhang mit seiner Umgebung entstehe, gleichsam vom Himmel herabfalle, sonders dass es die lebendig erzeugte – und selbst wieder neuen Samen hervorbringende – Blüte einer gemeinsamen Kraft sei. (ebd. 259), die Verkörperung der Schöpferkraft eines Volkes; das heißt bei Chamberlain (s. v. Genie), indem er Nation und Rasse synonym verwendet, zugleich: die Verkörperung der Schöpferkraft einer Rasse. Ein schärferer Kollektivismus ist kaum denkbar; er wird sogar auf das Drama als Gattung übertragen (ebd.; vgl. auch 268). Wenn dabei statt von Rasse von deutschem Geist die Rede ist, so liegen auch dabei textliche Synonymsetzungen vor: Ebd. 295: Wagners Grösse ist, dass er nicht als Zufall der Geschichte, als willkürlich schaffendes Genie auftritt, sondern als langsam gereiftes, mit aller Genauigkeit bedingtes und bestimmtes Produkt der künstlerischen Entwicklung des deutschen Geistes. Das Drama Wagner's ist "die einzige, dem deutschen Geiste durchaus entsprechende, von ihm erschaffene reinmenschliche, und doch ihm original angehörige, neue Kunstform [..]." Es ist das Werk und das Eigentum der grössten deutschen Dichter und der erhabensten deutschen Musiker; in ihrem Namen und Auftrag sprach Wagner und schuf Wagner.
6. 6. 2. Exkurs: Die Praeger-Affäre Neben der eigenen inhaltlichen Vermittlung Wagnerschen Gedankenguts sorgte Chamberlain auch auf andere Weise dafür, dass Wagners Schriften weder in Vergessenheit gerieten noch falsch, das heißt in einem seiner Interpretation nicht entsprechenden Sinne, in die Aufmerksamkeit rückten. Bei seiner ausgeprägten Öffentlichkeitsarbeit begnügte er sich nicht damit, kleinere und größere Artikel über Bayreuth und Richard Wagner zu publizieren (ca. 85 Publikationen, darunter viele in den Bayreuther Blättern), sondern griff gezielt in die allgemeine Wagnerkommunikation ein, speziell wenn diese gegen den Meister oder besser gesagt, den Meister, so wie man ihn haben wollte, gerichtet war. Einer der manipulativsten Eingriffe in die
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zeitgenössische Wagnerrezeption wurde durch ein Buch veranlasst, das Wagners Einstellung gegenüber den Juden in ein anderes Licht zu rücken bemüht war. Im Jahre 1869 hatte Wagner seinen famosen Artikel,256 die Judenbroschüre, in einem erweiterten Druck noch einmal publiziert, diesmal nicht unter dem Pseudonym Karl Freigedank, wie beim ersten Mal, sondern unter seinem richtigen Namen. Wahrscheinlich wegen seines berühmten Verfassers erfuhr dieser Text im national orientierten Bürgertum eine erhebliche Resonanz. Unterstützend für diese Popularität wirkte die in der deutschen Öffentlichkeit intensiv geführte Diskussion um die Reichsgesetzgebung, da der Berliner Reichstag am 22. April 1871 das maßgebliche Gesetz zur Judenemanzipation durchgesetzt hatte. Das Thema war schon in der gesetzgeberischen Vorbereitungsphase zum Politikum geworden, und in Wagners Schrift konnte sich so mancher Judengegner wieder finden. Gradenwitz schreibt von ca. 170 relevanten Reaktionspublikationen, die auf die "Judenbroschüre" folgten. Neben der hohen Anzahl von Anerkennungsschriften gab es auch Kritisches, und manches davon wiederum hätte den Mythos Wagner durchaus antasten können. Solche Negativreaktionen wurden vom überzeugten Wagnerianer Chamberlain zielsicher geradezu vom Markt gefegt. Ein aussagekräftiges Beispiel dieser ungewöhnlichen Art der Rezeptionsbeeinflussung ist dasjenige des 1834 nach England ausgewanderten Juden Ferdinand Praeger. Dieser hatte es gewagt, zum einen Wagners Antisemitismus zu kritisieren, und zum anderen, ihn und seine Beziehungen zu jüdischen Künstlern darzustellen, gar von einer früheren jüdischen Jugendliebe Wagners zu schreiben. Praegers Wagnerbiographie, erschienen 1892, Wagner as I knew him, in deutscher Übersetzung des Verfassers Wagner, wie ich ihn kannte, wurde vom Verlagshaus Breitkopf und Härtel eingestampft. Was Gradenwitz (1984, 85f.) treffend als Bücherverbrennung kennzeichnet, erfolgte im Anschluss massiver Kritiken durch Chamberlain, eine erste publizierte er 1893, und eine zweite folgte im Jahr darauf.257 Wagners Schwiegersohn ruhte nicht eher damit, das Buch als Lügenwerk zu bezichtigen, bis es so sehr in Verruf geraten war, dass es die Verlagsehre gebot,258 das Buch vom Markt zurückzuziehen. Chamberlains Kritiken wirken bis heute, denn die Glaubwürdigkeit Praegers ist bis in moderne Biographien nicht wieder hergestellt.259 _____________ 256 So seine Bewertung in seiner Autobiographie: Wagner, Mein Leben 514. 257 Wieder abgedruckt in: Richard Wagner an Ferdinand Praeger. Hrsg. von H. St. Chamberlain. 1912, 155. 258 Zitiert nach: Gradenwitz 1984, 86f. 259 Eine wichtige Rolle bei dieser Hetzkampagne spielte die Herausgabe des Briefwechsels Wagners mit Praeger durch Chamberlain (vgl. vorletzte Anm.). Golther schreibt 1905 in
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6. 6. 2. Chamberlains Wagnerbiographie Im Unterschied zu Praeger sind Chamberlains Wagnerschriften heute zwar aus politischen Gründen nicht mehr affirmativ zitierbar, sie haben aber viele Spuren in anderen Arbeiten über Wagner hinterlassen.260 Einen großen Erfolg hinsichtlich der ideologischen Öffentlichkeitsarbeit brachte Chamberlains Wagnerbiographie, über die oben bereits berichtet wurde, da sich Chamberlains Wagnerbild an ihr am besten nachzeichnen lässt. Erich Engels 1922 erschienener Monumentalband Richard Wagners Leben und Werke im Bilde beginnt seine Einleitung mit den Worten: "Eine Anregung' benennt H. St. Chamberlain seine kurz gefasste, meisterhafte Schrift 'Das Drama Richard Wagners'. […] Wir haben Glasenapps […] fast lückenlose Tatsachensammlung […] und Chamberlains 'Richard Wagner', worin die Persönlichkeit des Meisters von innen aus nach allen Seiten hin gleichsam durchleuchtet erscheint."261 Selbst der Konkurrent Glasenapp, der nahezu zeitgleich eine eigene Wagnerbiographie auf den Markt gebracht hatte, die übrigens bis heute maßgeblich zitiert wird, lobt den Engländer in den höchsten Tönen. Glasenapp 2, 1905, 10: Nichts konnte die Sterilität dieser Art von 'Forschung' heller ans Licht setzen, als der Kontrast des kürzlich erschienenen, recht aus dem Ganzen und Vollen geschöpften großen Wagnerwerkes von Houston S. Chamberlain. Durch und durch klar und scharf konzipiert und ausgeführt, das Produkt eines selbständigen und unabhängigen Geistes [….]. Chamberlain ist bekanntlich, nach mehrfachen sehr beachtenswerten und allgemein beachteten rein ästhetischen Arbeiten über das Kunstwerk Wagners, in französischer wie in deutscher Sprache, in dem ersten Teil seines Buches erst spät auf das rein biographische
_____________ einer Fußnote des von ihm herausgegebenen Briefwechsels Wagners mit Wesendonk: "Ferdinand Praeger ist der Urheber des 1892 erschienenen übel berüchtigten Buches: »Wagner, wie ich ihn kannte«; vgl. dazu Chamberlain in den Bayreuther Blättern 1893, 201 ff. und 1894, 1 ff. und Wm. Ashton Ellis, the musical standard 1894, Nr. 8-21. Die Verlagshandlung Breitkopf & Härtel hat das lügenhafte und leichtsinnige Buch längst aus der Öffentlichkeit wieder zurückgezogen." In: Wagner / Otto Wesendonk 1905, 130. Glasenapp berichtet von einem Brief, den der Verlag "in Anlaß eines ohnmächtigen Rehabilitierungsversuches, am 29. März 1895 […] an Herrn H. S. Chamberlain richtete: "Wir ermächtigen Sie zu der Erklärung, daß wir Prägers Werk im Sommer 1894 aus dem Buchhandel zurückgezogen haben, sobald uns die Unwahrhaftigkeit dieser Veröffentlichung erwiesen worden war. Wir sind Ihnen dankbar gewesen, daß Sie uns seinerzeit den Sachverhalt nachgewiesen haben, denn selbstverständlich wollen wir in unserem Verlage kein Werk dulden, das die Wahrheit entstellt." Zitiert nach: Glasenapp, Das Leben Richard Wagners. (6 Bde.) 1905. hier: 2, 12; vgl. auch: 3, 468. 260 Verstörend ist, dass Peter Wapnewski in seinem 2001 in dritter Auflage erschienenen Band: "Der traurige Gott. Richard Wagner in seinen Helden" Chamberlains Wagnerbuch unmarkiert zitiert (Wapnewski 2001, 54). Trotz der daran anschließenden gegensätzlichen Interpretation einer Stelle aus "Tristan und Isolde" impliziert dieser mehrfache Zitiervorgang die andauernde Salonfähigkeit des Rassetheoretikers bis in heutige Zeiten. 261 Erich W. Engel (Hrsg.), Richard Wagners Leben und Werke im Bilde 1922, V.
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Gebiet übergetreten; bewunderungswürdig bleibt dabei neben aller Schärfe und Klarheit seiner Auffassung seine ungemein sichere Beherrschung des Tatsächlichen, die makellose Präzision und Exaktheit der von ihm angeführten Daten.
Die Rede von der Exaktheit der angeführten Daten und der Beherrschung des Tatsächlichen verdeckt die Art und Weise, mit der Chamberlain eben diese Daten sortiert, vermischt und bewertet. Dabei ist nicht nur darauf hinzuweisen, dass seine Frau Eva einen erheblichen Bestand an Wagnerautographen verbrannt hat. Dazu gehörten nicht nur die persönlichen Briefe zwischen Wagner und Cosima. Man wollte am ewigen Wagnermythos zimmern und verwehrte sich gegen jede Einmischung von Uneingeweihten. In Anspielung auf den veröffentlichten Briefwechsel Wagners mit Theodor Uhlig prangert Chamberlain ein unzensiertes Umgehen mit Wagners Nachlass an, denn dadurch würde mit den intimsten Herzensergüssen des Verstorbenen Schacher getrieben und aus der kindischen Spürerei selbsternannter Wagner-Forscher käme nichts heraus ausser höchstens Skandal und stets erneuerte Missverständnisse, und es sei klar, auf solcher Grundlage gedeiht nichts zu wahrer Blüte. Wer den wahren Wagner kennen lernen möchte, den Dichter, dessen Traum es war, alle Menschen zu 'erlösen', der lasse sich vor allem nicht durch die sensationellen Entdeckungen und die langatmigen Elukubrationen dieser 'müssigen und unpoetischen Köpf' irreführen (Chamberlain, Wagner 18). Einen nicht zu unterschätzender Anteil am Wagnerkult hat Chamberlains religiöses Erbauungsschrifttum. Wenn der oben genannte Erich Engel in seinem Vorwort die weltanschauliche und religiöse Leistung Wagners preist und dabei auf Chamberlains Buch Mensch und Gott, auf Paul de Lagarde und Gertrud Prellwitz verweist, so entspricht dies einer Traditionsbildung, die von Wagner ausgeht, von diesem in klarer Linie zu Chamberlain und dann über Engel zu den Nationalsozialisten verläuft. Engel, Wagner 1922, XIII: In der Tat wird heute in den weitesten, oft ganz entgegengesetzten Schichten unserer Gesellschaft jenes von Wagner bezeichnete "religiöse Bewusstsein" lebendig, immer stärker wird die Sehnsucht nach einer kräftigen adogmatischen Religion, die das Reinmenschliche mit dem ewig Natürlichen in harmonischer Übereinstimmung zu erhalten, im Stande ist., - die Sehnsucht nach einer Religion, in die wir unbeschadet unseres "im Zeitalter der Naturwissenschaften und der Technik" zur Überreife entwickelten Verstandeslebens uns zu versenken vermöchten, die Sehnsucht nach einem starken und praktischen Christentum, dessen "Ziel" nicht der "zu bemitleidende Schwache", sondern der "bemitleidende Starke" ist, ist von Wagner nicht nur verkündet worden, es hat durch ihn auch seine künstlerische Gestaltung im 'Parsifal' gefunden.
Die Dichotomie von 'Starkem' und 'Schwachem' erinnert an die Darwinsche Terminologie, das Reinmenschliche als das Ewig-Natürliche als Erkennungswort an Wagner. Auf Engels Wagnerkult, der bis in die Formulierungen an Chamberlain angelehnt ist, sei hier beispielhaft eingegangen. Er schreibt von der Saat des Wagnerschen Zeitalters (Engel, Wagner XIII), vom
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Geist Wagners, der als bewusst empfunden oder unbewusst wirksam in seinen großen Zeitgenossen und in einigen wenigen herzerfreuenden Bestrebungen unserer Zeit schaffend weiterlebt (ebd. IX). Wagner ist auch für ihn einem Seher (XII) gleich, natürlich der Meister (XVIII), ein Genie, die von Gott am meisten begnadete Blüte reinen Menschentums (XIV) und ein Vorgänger künftiger Riesengeister (XVIII). Die Einleitung zu seiner Bildbiographie ist dementsprechend keine musiktheoretische Abhandlung, sondern weltanschauliches Erbauungsprogramm, in dem Wagner als Prophet einer neuen Zukunft des Menschengeschlechts (XIX) gefeiert wird. Müsste man Chamberlains Nachlassverwaltung beurteilen, so könnte man sagen, er sei ein guter Verwalter gewesen. Er hat in seinen Schriften tatsächlich ausgebaut, wofür Wagner selbst die konzeptionellen Grundsteine gelegt hat.262 Dass der Bau im juristischen oder geschichtswissenschaftlichen Sinne detailgetreu jeder Formulierung des Grundsteinlegers entsprach, ist zwar unwahrscheinlich, aber in den Augen Chamberlains, wohl auch in denjenigen Cosimas war dies der Fall. Und das wäre ja das Entscheidende, denn Nachlassverwaltung erfolgt nicht notwendigerweise zur Sicherung jeder Einzelheit, sondern als Pflicht für die Traditionsbildung durch die Erben. Diese waren zufrieden, da das ihrer Meinung nach Wagnerische an Wagner bewahrt wurde. Chamberlains gesamtes Werk ist ohne den Musikdramatiker aus Bayreuth, ohne dessen Musik und das von ihm begründete Theater, ohne dessen Judenschrift und den von seiner Frau Cosima intensiv gepflegten Wagnerkult nicht denkbar. Wie er selbst von Wagner geprägt war, so prägte er seinerseits das Wagnerbild, und zwar in der Weise, dass er als selbständiger Kopf die ohnehin vorhandenen antisemitischen Züge radikal verstärkte und damit die Rezeption von Musikliebhabern auf andere Kreise erweiterte. Chamberlains Öffentlichkeitsarbeit erreichte damit vor allem rechtskonservative und völkisch denkende Gruppen. Dass Bayreuth in dieser Zeit zum Vernetzungsknoten für Antisemitismus, Rassismus und völkische Bewegung wurde, geht in nicht unbedeutendem Maße auf Chamberlain zurück und auf dessen Art, das Wagnerische zu vertreten, zu vermitteln und ideologisch zu radikalisieren. Wenn Nietzsche in seiner Schrift Der Fall Wagner meint, dass die Deutschen sich ihren Wagner zurechtgemacht263 haben, so hatte Chamberlain kräftig daran mitgearbeitet. E. Hanisch schreibt (1986, 634):
_____________ 262 Vgl. dazu auch: Hanisch 1986, 625-646. 263 Nietzsche, Der Fall Wagner. Werke 2, 912: "Daß man sich in Deutschland über Wagner betrügt, befremdet mich nicht. Das Gegenteil würde mich befremden. Die Deutschen haben sich einen Wagner zurechtgemacht, den sie verehren können: sie waren noch nie Psychologen, sie sind damit dankbar, daß sie mißverstehn."
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dieser 'Edelnationalsozialist' [Chamberlain] bildete dann die personelle Brücke zu Adolf Hitler. Chamberlains viel gelesenes Buch über Wagner stilisierte diesen zum Deutschesten aller Künstler', retuschierte dessen revolutionäre Vergangenheit und machte ihn für das Bildungsbürgertum verdaulich.
Das Werk hatte übrigens auch einen später noch sehr bekannten Leser. Ernst Hanfstaengl264 erinnert sich an Adolf Hitlers Bibliothek vor 1923. Dort stand auch ein Exemplar der Wagnerbiographie Chamberlains.
6. 7. Der Bayreuther Kreis oder die tanzenden Derwische 265 Chamberlain, Wagner 462: Darum ist für uns dieses Bayreuth nun nicht bloss eine Stätte, wo des Meisters Werke zur Aufführung gelangen, sondern das Symbol des ganzen, so überreichen Vermächtnisses, das Wagner in unser Herz gesenkt.
Nicht nur das Wort Vermächtnis erinnert an sakrale Handlungen. Auch die diesem Satz vorausgegangenen Erläuterungen über die Bedeutung des "Begriffs Bayreuth" erinnern an religiöse Stilistik. Sie sind nahezu im Stile des vierfachen Schriftsinns gehalten und führen vom buchstäblichen Sinn des Nibelungentheaters und der Bühne (1) über die allegorische Auslegung derselben als höchste Kunst (2) zur moralischen Betrachtung (sensus moralis) (3), in der die Kunst zu einem bestimmenden, konstruktiven Faktor im Leben der Menschen werden soll (ebd.). Mehr noch: die Kunst soll die Führung übernehmen, wo der 'Staatsmann verzweifelt, der Politiker die Hände sinken lässt (ebd. 462). Das darauf aufbauende heilsgeschichtliches Versprechen (sensus anagogicus) (4) lautet dann, dass die Kunst die von allen Seiten bedrohte Religion retten und der Welt die Richtung zum Guten geben würde (ebd.), was schließlich zur Erlösung der Menschheit führte. Dieses in Wort und Inhalt erbauliche Vermächtnis spiegelt für Chamberlain den Bayreuther Gedanken (Chamberlain, Wagner 493). Er besteht im Entwurf eines idealen Volkes, das aus echter Einheit von Natur, Sitte, Kultur und Politik stammen sollte, der Idee einer moralisch-religiösen Erneuerung des Menschen, der Rückkehr zur rein-menschlichen Natur durch die Kunst und damit der Bildung eines gereinigten Christentums. Diese Idee fand sowohl buchstäblich als auch in ihren allegorischen Nuancen begeisterte Erben. Es lohnt sich, die gebrauchte Terminologie näher zu betrachten: der Begriff Bayreuth (ebd. 462), Vermächtnis (462), Bayreuther Gedanke (491 Kapitelüberschrift, u. ö.), Überzeugung, Weltanschauung (497 u. ö.), sinnvoller Wahlspruch (497, 501), Quelle, aus der unerschöpflich 'Wasser des Lebens' zu entnehmen ist (501). Es ist nur folgerichtig, dass Chamberlain _____________ 264 Vgl. Zentner, Mein Kampf 2006, 15. 265 So Eduard Hanslick in seiner Autobiographie: Aus meinem Leben, 222.; zitiert nach Hanisch 1986, 633.
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schließlich zur Bezeichnung künstlerischer Glaube (497) greift, die in spöttischer Form bei den Gegnern Bayreuther Religino (507) genannt wird. Das Heil der Menschen, ihre Erlösung aus all ihren religiösen, sittlichen und moralischen Qualen kommt aus der Wagnerschen Kunst, deren sakraler Ort die Bühne von Bayreuth ist: So zumindest lautet die Kurzfassung dieser Botschaft. Dass dieser Bayreuther Gedanke nur auf deutschem Volksboden wachsen könne, liegt in der Logik der Argumentation. Deutsche Religion und deutsche Kunst sind für Wagner, vor allem aber für seine Erben, nicht trennbar, weder inhaltlich noch sprachlich. 400 Jahre vorher hätte man für diese Art der gleichwertigen Verbindung und vor allem für die Umkehr der Prioritäten, Kunst vor Religion, noch auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden können. Chamberlain aber löst die schwierigsten Geheimnisse wie dasjenige des genauen Verhältnisses von Natur, Kunst und Religion zueinander im Ernstfall einfach mit Sätzen wie: wer aber weiß, wie eng alles in der Natur zusammenhängt (504). Und wenn er in bestimmten Einzelargumentation darauf hinweist, dass die Kunst die Religion natürlich nicht wirklich ersetzen könne, so scheinen diese Relativierungen nur Abwehrgefechte zu sein, denn er tritt, statt Konzessionen zu machen, die Flucht nach vorne an und stellt die Kunst wie sein Schwiegervater vermittels einer ausgeklügelten Metaphorik des Erweckens hierarchisch über alles andere: dass die Kunst die Arroganz der Wissenschaft brechen, der Philosophie eine neue Richtung geben und die Religion zu erneutem, segensreichen Leben erwecken wird. So wenigstens meint der Bayreuther Gedanke (507). Die Kunst wird damit ihres Status einer ohnehin ausgezeichneten, aber doch kulturgeschichtlich-relativen Ausprägung der sprachlichen Möglichkeiten des Menschen entrückt und in ihrer speziell nationalen Verknüpfung zum metaphysischen Heilsversprechen (Nietzsche: metaphysischer Trost,266 Wagner: Erlösung, Regeneration,267 Chamberlain: Erlösung (AW 85), Neugeburt (Gl 233), Regeneration (Gl 505) für die Deutschen. Wie sehr diese Kunstbestimmung zum Politikum werden konnte, deutet ein Metaphern- und Bildfeld an, das den Wagnerkult treffend kennzeichnet: In Anlehnung an Darwin interpretiert Chamberlain Bayreuth als Kampfsymbol, als Standarte, um welche sich die Getreuen kriegsgerüstet sammeln (Chamberlain, Wagner 504). Der Held Wagner, der seine Heerschau nicht mehr erleben konnte, der Märtyrer, dem die Gläubigen zupilgern, das Idol, dem man zujubelt und den man nachahmt, die Attribute (s. o.), die spätestens in der von Chamberlains Wagnerbuch angeregten Hagiographie auftauchten, trieben seit der Jahrhundertwende immer neue und verstiegenere Blüten. An ein Abflauen kann schon deswegen nicht _____________ 266 Nietzsches, Geburt der Tragödie, Studienausgabe 56; 59; 109; vgl. auch: ebd. 17; 21; 24. 267 Wagner 10, 281.
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gedacht werden, weil sich die Getreuen immer wieder zu neuen Kreisen zusammenfanden, um dem Meister und seiner Weltanschauung in vielfältigen Formen zu huldigen, sei es durch Pilgerfahrten nach Bayreuth zu den Festspielen, sei es in kleinen oder größeren Vereinen,268 in Wagnerzirkeln oder in lebensreformerischer Daseinsgestaltung (s. das nachfolgende Kapitel). Eine Form der Huldigung bestand darin, Wagnerisches Gedankengut zu überhöhen oder es mit eigenen weltanschaulichen Vorstellungen zu kultivieren. Die meisten dieser Gruppierungen müssen als ein wichtiger, wenn nicht sogar in bestimmten Kreisen tragender Bestandteil der völkischen Bewegung in Deutschland angesehen werden, vor allem, da sie deutschnational eng vernetzt waren und besonders im gebildeten Bürgertum ihre Anhänger fanden. Auch wenn deren Aktivitäten oft vordergründig rein kulturell orientiert waren, so ist mit kulturell immer 'kulturpolitisch' gemeint, wobei das Grundwort politisch betont werden muss. Kulturpolitik ist in jener Zeit der gebildeten Bürgerlichkeit und der Bildungsreligion ein hoch relevanter Aspekt. Einer der bedeutendsten Wagner-Vereine sei als Beispiel hierfür herangezogen. Der deutschnationale Ritter Georg von Schönerer hatte ihn in Wien gegründet und nutzte jede Gelegenheit, mit Wagner in die politische Diskussion einzugreifen. Brigitte Hamann schreibt über das Wien des ausgehenden 19. Jahrhunderts, in dem auch Chamberlain lebte: Hamann 2000, 95: Die Leidenschaft für Wagner war um diese Zeit schon politisch besetzt, spätestens seit der "Führer der Alldeutschen", Georg Schönerer, den Trauerkommers der deutschen Studenten für den eben verstorbenen Wagner 1883 zu einer deutschnationalen Kundgebung gemacht hatte. Deutschnationale Feste waren stets von Wagner-Musik begleitet, so zum Beispiel das große Schulvereinsfest am 8. Dezember 1909 in Wien, das mit der Ouvertüre zu Rienzi begann und mit Musik der Meistersinger endete.
Was Wagnerianer, Deutschvölkische, Rechtskonservative und alle anderen völkischen Gruppierungen und später auch Parteien, trotz aller Unterschiedlichkeit im Detail ihrer Anschauungen miteinander verband, war der Kulturpessimismus (Verfall von Kultur und Kunst), der Antimodernismus (Polemik gegen die Presse, die Industrialisierung, die Urbanisierung und den Parlamentarismus), vor allem aber Antisemitismus und Nationalismus. "Der innere Zusammenhang zwischen deutschnationaler Durchsetzung Wagners und seines Werks und dem allgemeinen Wandel der politischen- und Geisteskultur um 1890 ist schon von Zeitgenossen deutlich vermerkt worden".269 Genau in diesem Sinne formierten sich die Getreuen _____________ 268 Zur Rolle des vor allem bildungsbürgerlich bestimmten Vereinswesens im 19. Jahrhundert: Nipperdey, Verein als soziale Struktur 1976; Cherubim 1998, 202ff.; von Polenz, Sprachgeschichte III, 1999, 66. 269 Altgeld 1984, 54.
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erfolgreich in den vielen Wagner-Vereinen, in der Richard WagnerGesellschaft, und sie verbündeten sich in kulturpolitischen Vereinigungen wie dem Alldeutschen Verband. Solche Wagner"aktivisten" werden oft als Wagnerianer270 bezeichnet und ihr Glaubensbekenntnis als Wagnerismus. Koppen271 1986, 609: Wagnerismus unterscheidet sich von der bloßen WagnerBegeisterung, dem 'Wagnerianertum', weniger durch reflektiertere und kenntnisreichere intellektuelle Aneignung der Wagnerschen Kunst, die zwar oft, aber durchaus nicht immer dazu gehört (der 'Wagnerismus' schließt selbst weitgehende Unkenntnis des Wagnerschen Werks nicht aus), als vielmehr dadurch, dass diese Kunst in oft eigenwillige Verbindung mit bestimmten geistigen, literarischen u. a. Strömungen und Anschauungen gebracht und als deren Grundlage oder Rechtfertigung verwandt wird. Nicht selten werden eigene Programme und Ideologien auf Wagner projiziert.
Auf den nun folgenden Seiten sollen die wichtigsten Exponenten des Wagnerismus vorgestellt werden, Personen, Vereine und Publikationsorgane und deren persönliche, publizistische, textliche und vor allem politisch relevante Vernetzung. Dies kann nur exemplarisch geschehen, da der Wagnerismus ein Phänomen ist, das schon zu Lebzeiten Wagners beginnt, und nicht, wie Koppen meint, bis zum ersten Weltkrieg langsam abebbt, sondern durch Wagnerianer wie Chamberlain in die neue Zeit transformiert und bis in den Nationalsozialismus weiter getragen wird.272 Dies gelang dadurch, dass der Bayreuther Wagnerismus unter der Leitung von Chamberlain, Wolzogen und natürlich Cosima Wagner im Unterschied z. B. zum französischen nicht nur künstlerischen, sondern vor allem weltanschaulichen Idealen verpflichtet war und deren sinnstiftende Funktionen gerade in den schwierigen Zeiten des Krieges und der Weimarer Republik nachgefragt wurden. Das lang anhaltende Interesse an Wagners Kunstreligion, die sich längst mit Chamberlains germanischer Religion vermischt hatte und von dieser manchmal kaum zu unterscheiden war, ist demnach nicht allein der Kunst geschuldet, sondern vor allem den schwierigen Zei_____________ 270 Vgl. Hamann 2000, 62. 271 Koppen, Der Wagnerismus – Begriff und Phänomen 1986, 609-624. 272 Die Anfänge des Wagnerismus lagen in Frankreich, was u. a. an Baudelaires Artikel "Richard Wagner et 'Tannhäuser' á Paris in der Revue Européenne" festgemacht wird. Vgl. Koppen 1986, 610. Bezeichnenderweise war es aber wieder Chamberlain, der das wichtigste Dokument des französischen Wagnerismus, die seit 1885 in Paris erscheinende und von Edouard Dujardin begründete "Revue Wagnérienne" angeregt hat. In dieser Zeitschrift ging es weniger um musiktheoretische Erörterungen als darum, "Wagner nicht nur als Komponisten und Dramatiker zu behandeln, sondern ihn als die große geistige Erscheinung der zweiten Jahrhunderthälfte, als den Führer und Anreger auf schlechthin allen Gebieten zu würdigen, wobei Wagner 'eine Art magischer Zielpunkt, in dem sie die Linien ihrer eigenen Empfindungen und poetischen Stimmungen und ästhetischen Programme konvergieren ließen', war" (Koppen 1986, 613). Der hier beschriebene, der Decadence und dem Symbolismus verpflichtete Wagnerismus, der in Frankreich von Verlaine, Mallarmé, Huysman u. a. getragen wurde, hatte mit Bayreuth jedoch nichts gemein.
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ten, der in ihr ausgedrückten ideologischen Sinnstiftung und damit auch der politischen Opposition. Man konnte eben mit Wagner nicht nur Religion, sondern auch staatskritische Politik machen, und man tat es auch. Das Pronomen man, das ebenso unspezifisch ist, wie die Getreuen, muss nun ausformuliert werden. Während sich Wagnerianer überall versammeln konnten, war es nur wenigen vergönnt, dem näheren Zirkel um die Familie Wagner anzugehören. Dass zum Eintritt in diesen Zirkel eine gleich geartete Gesinnung nötig war, ist selbstverständlich. Gelungen ist es Chamberlain selbst, Gobineau, Stassen und Thode, Glasenapp und von Wolzogen. In Analogie zum Bayreuther Gedanken spricht man vom Bayreuther Kreis und bezeichnet damit all diejenigen, die der ideologischen Übersteigerung und politischen Nutzung Wagners in irgendeiner Weise verpflichtet waren.273 Wer auch immer im Detail zum Bayreuther Kreis hinzugezählt wird, die Namen und die Anzahl ändern sich je nach Zeit und Perspektive, den meisten darunter ist nach Wagners Tod vor allem eines gemeinsam, die Mystifizierung des Meisters in Verbindung mit einer ins Extreme gesteigerten Herauskehrung alles Deutschen. Ihre Bedeutung für die langsame, aber kontinuierlich fortschreitende Durchsetzung völkischen und rassistischen Gedankengutes in allen Kreisen der Gesellschaft, vor allem jedoch in den bildungsbürgerlichen, kann nicht prägend genug eingeschätzt werden. Sie bildeten die Keimzelle eines ideologischen Netzwerkes, das in alle Lebensbereiche der Zeit hineinreichte. Richard Wagner selbst und sein künstlerisches Werk treten dabei nicht selten in den Hintergrund; ihre Funktionalisierung überwucherte vielfach das Original. Es kommt zu einer folgenreichen Ideologisierung, in der das Bayreuther Festspielhaus zum propagandistischen Aufmarschplatz der völkischen und später der nationalsozialistischen Politprominenz gedeiht, die Festspiele gar die Kulturfähigkeit der nationalsozialistischen Bewegung repräsentieren sollen bzw. als Ornament aller nationalkonservativen, aber vor allem ab 1923 der nationalsozialistischen Bewegung dienen. Wichtigstes Publikationsorgan, das nationalkommunikativ alle Fäden zusammenführte, waren die Bayreuther Blätter,274 eine Zeitschrift, die zum Sammelblatt für alles Völkische einschließlich der Rassenideologie geworden ist. Bezeichnend ist, dass diese Blätter jeweils die Mitteilungen der Gobineau-Vereinigung als Beilage enthielten und damit zum entscheidenden Kommunikations- und Diskursorgan eines künstlerisch motivierten, in bildungsbürgerlichen Kreisen gepflegten Antisemitismus geworden waren. Es ist daher kein Zufall, dass Chamberlain über Jahrzehnte hinweg mit 35 eigenen Artikeln zu ihren _____________ 273 Vgl. dazu Altgeld 1984, 35f. 274 Vgl. dazu die Untersuchung von Annette Hein, "Es ist viel Hitler in Wagner. Rassismus und antisemitische Deutschtumsideologie in den "Bayreuther Blättern" (1878-1938) 1997.
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Hauptautoren gehörte.275 Dasselbe gilt für Gobineau (er publizierte 13 Artikel),276 dessen aktive Präsenz in den Blättern nach seinem Tod dann dadurch verlängert wurde, dass man ihn selbst zum Gegenstand von Artikeln der Zeitschrift machte. Es ist auch kein Zufall, dass es gerade ein Bayreuther war, der Gobineaus Werke ins Deutsche übersetzt hat. Diese Übersetzung, deren antijüdische Zuspitzung maßgeblich für die deutsche Rezeption277 war, und die erste Biographie Gobineaus entstammen beide der Feder des Bayreuther Bibliothekars Ludwig Schemann. Schemann, tief beeinflusst von Paul de Lagarde und auch dessen erster Biograph,278 gründete 1894 die Gobineau-Vereinigung und 1906 das an der "Straßburger Universität angesiedelte Gobineau-Museum und Archiv."279 Die Vereinigung machte es sich nicht nur zur Aufgabe, das Erbe Gobineaus, der schon zu Wagners Lebzeiten verstorben war, zu bewahren, sondern es in nahezu missionarischer Weise ideologisch und politisch zu verbreiten. Die Mitglieder- und Gönnerliste liest sich wie ein Who is Who der Völkischen Bewegung: Heinrich Class, Heinrich Driesmans, Theodor Fritsch, Harald Grävell, Friedrich Lange, Josef Ludwig Reimer, Alfred Roth, Alfred Seeliger, Franz Winterstein, Hugo Göring, Friedrich Lienhard, Ernst Wachler.280 Symptomatisches Kennzeichen dieser Verbindung von pseudonaturwissenschaftlichem und politischem Interesse war, dass der Vizepräsident der Vereinigung seit 1894 immer automatisch auch der jeweilige Vorsitzende des "Alldeutschen Verbandes" war, dem es, wie vielen anderen völkischen Organisationen, darauf ankam, zum einen eine rassendeutsche Politik und zum anderen eine außerparlamentarische Opposition zu betreiben, die dann ihren Teil dazu beitrug, dass die Weimarer Republik zu einem Pulverfass wurde. Der Verband gehörte schon im Kaiserreich zu den wichtigen Dachorganisationen der in sich inhomogenen völkischen Bewegung.281 Um die angedeuteten personellen Vernetzungen, die mit den genannten Namen Gobineau und Schemann, sowie mit den Alldeutschen einhergehen, noch zu pointieren, reicht ein Blick auf die Personalliste des Verbandes. An seiner Spitze stand drei Jahrzehnte lang der überzeugte Rassenantisemit Heinrich Class,282 dessen kleine Schrift Wenn ich der Kaiser _____________ 275 Vgl. Hein 1997, 61. 276 Ebd. 80. 277 Puschner 2001a, 78. 278 Vgl. dazu: Schemann, Ludwig, Von deutscher Zukunft 1920. Ders. Paul de Lagarde. Ein Lebens- und Erinnerungsbild 1920. 279 Puschner 2001a, 78. 280 Ebd. 281 Vgl. dazu und zum Folgenden besonders Puscher 2001a. 282 Puschner 2001, 51.
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wär (1912) ausgesprochen publikumswirksam war. Bedeutsam ist er aber vor allem mit seiner viel gelesenen, unter dem Pseudonym Einhart veröffentlichten Deutschen Geschichte (1909) geworden. Zu den aktivsten Mitgliedern des Verbandes zählte Max Robert Gerstenhauer. Wollte Wagner eine Regeneration der Deutschen durch die Kunst bewirken, so war es Gerstenhauer, der diese in der Tradition Chamberlains noch einmal explizit mit der Rasse begründete. Seine 1913 erschienene Schrift Rassenlehre und Rassenpflege fasste zusammen, was bis dahin in der völkischen Bewegung rassenideologisch konsensfähig war,283 und bereitete es damit noch einmal für den zeitgenössischen Leser auf. Gerstenhauer war einer derjenigen, die wie Adolf Bartels und Wilhelm Kube gleichsam selbstverständlich von den Völkischen zu den Nationalsozialisten übergewechselt sind,284 ein Schritt, den Chamberlain ihnen früh vorgemacht hatte. Man könnte ausgehend von Class und Gerstenhauer noch auf viele andere Vertreter der völkischen Bewegung hinweisen, so auf die Sozialanthropologen und Rassentheoretiker Ludwig Woltmann und Otto Ammon,285 auf den Radikalantisemiten Theodor Fritsch,286 den Deutschbundgründer Friedrich Lange,287 auf Ernst Wachler288 und Ludwig Wilser,289 um nur einige wenige zu nennen, die in diesem Netzwerk mehr oder minder eng mit Bayreuth verbunden waren. Ihre publizistischen Organe,290 besonders die Politisch-Anthropologische Revue,291 die Deutsche Erde,292 der Hammer293 oder Heimdall,294 ließen ihre Programme bereits im _____________ 283 Puschner 2001a, 82. 284 Puschner, 2001a, 11. 285 Puschner 2001a, 65 u. ö. Ammon prägte in Anlehnung an Wagners "Götterdämmerung" das Schlagwort von der "Arierdämmerung"; Puschner 2001a, 78. 286 Puschner 2001a, 57. 287 Puschner 2001a, 62. 288 Puschner 2001a, 229. 289 Puschner 2001a, 84/5. Ludwig Wilser war einer der ersten, die die These von der nordischen Herkunft der Germanen vertraten. Sein Bild des Germanen war eine Mischung aus dem Germanen Tacitus und dem "Phänotyp" der heutigen Schweden. Vgl. Lund 15. 290 Zur Rolle der Zeitschriften für die Völkische Bewegung: Puschner 2001a, 21. 291 Puschner 2001a, 98. 292 Seit 1902 vom Alldeutschen Verband herausgegebene Monatszeitschrift, die zugleich Organ der Zentralstelle für Erforschung des Deutschtums im Ausland war und vom Deutschbund zur Agitation benutzt wurde. Vgl. Puschner 2001a, 108. 293 Die Zeitschrift Hammer wurde 1901/2 von Theodor Fritsch begründet und war Sammelund Vernetzungspunkt für die völkische Bewegung. Sie erschien zunächst monatlich, dann halbmonatlich und wurde mit ihren Schriften von der gesamten völkischen Prominenz gefüllt. Vgl. Puschner 2001a, 57. Theodor Fritsch war nicht nur der Gründer des antisemitisch-germanischen Organs Der Hammer. Er gehörte auch zu denjenigen Völkischen, die von den Nationalsozialisten als Vorkämpfer gewürdigt wurden. Aus seiner Feder stammte der 1887 erschienene Antisemiten-Katechismus, der von ab der 27. Aufl. 1927 bis zur letz-
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Titel erkennen. Hinter diesen Zeitschriften standen zumeist wiederum völkische Verbände,295 z. B. der schon genannte "Deutschbund", die "Guido von List-Gesellschaft" oder der "Allgemeine deutsche Kulturbund"296. Es muss beim Verständnis solcher Auflistungen immer mitbedacht werden, dass man zum einen zwischen Antisemiten und Völkischen kaum unterscheiden kann; zumeist gab es höchstens Gradunterschiede bei der Ausprägung des Antisemitismus. Zum anderen war man oft nicht nur Mitglied eines einzigen Vereins, sondern betätigte sich häufig zur gleichen Zeit in mehreren Organen. Wenn man unter dem Adjektiv völkisch297 das Xenophobisch-Nationalistische versteht, dann ist die Verbindung von Nationalismus und Antisemitismus geradezu "natürlich". Die "deutschgermanische Blutsgemeinschaft" ist damit Inklusionsparameter und Exklusionskriterium zugleich. Chamberlain jedenfalls war genau dafür einer der wichtigsten Wegbereiter und dies nicht zuletzt in seiner Funktion als Erbe Richard Wagners. Noch 1925 akzeptierten die so definierten Völkischen ihn als den ihrigen schlechthin, während andere längst vergessen waren. Konzentriert man sich auf den engsten Kreis um Wagner und Bayreuth, so zeigt schon ein flüchtiger Blick in die nähere Verwandtschaft, wie sich deren völkische und rassenbiologische Orientierung mit anderen Bewegungen, insbesondere mit der Lebensreform und der Reformpädagogik, verbindet. So gehört Ferdinand Avenarius, der Begründer der einflussreichen Kunstwarts298 und des Dürerbundes, als Neffe Wagners in die nähere Verwandtschaft.299 Beide Organisationen, Zeitschrift wie Bund, stehen in programmatischem Praxisbezug zur Wagnerschen Kunst- und Bildungsreligion; ihr Ziel war die Einführung des Volkes, wenn auch na_____________
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ten 49. Aufl. 1944 unter dem Titel Handbuch der Judenfrage florierte (Puschner 2001a, 59). Zur Symbolik des Titels Hammer vgl. Ulbricht 2001, 134f.: Der Hammer war das Werkzeug des Gottes Thor und gilt als Symbol der germanisch-deutschen Religionsgemeinschaft, die sich durch Tatbereitschaft und Kämpfertum auszeichnet. Die Völkischen sahen im Hammer eine Waffe, mit der man das "Artfremde" bekämpfen könne. Vgl. Puschner 2001a, 31-36f. Ihr Untertitel lautete: Zeitschrift für reines Deutschtum und Alldeutschtum, ein 1896 von Adolf Reinecke gegründetes Mitgliedsblatt des Alldeutschen Schriftvereins. Heimdall war der Sohn Wotans. Die Heimdall-Deutschen zeichneten sich nach eigener Aussage durch "Vaterlands-, Volks- und Stammesgefühl, Bluts- und Rassentrieb aus". Hierzu mit genauer Auflistung Puschner 2001a, 384f. Vgl. Puschner 2001a, 273. Zur Wortgeschichte: Puschner 2001a, 27f. Weiterführende Literatur: Hermand, Der alte Traum vom neuen Reich 1988; Mosse, Die völkische Revolution 1991. Allein in der mir zur Verfügung stehenden Ausgabe des Kunstwarts (1905) publizierten u. a. Max Klinger, Alfred Mombert, Th. Th. Heine und Ludwig Richter einträchtig neben Arthur Moeller van den Bruck, Hans Thoma, Avenarius und dem Antisemiten Adolf Bartels. Vgl. zur kunstpädagogischen Volksbildung: Buchholz, Lebensreform 2001, II, 491.
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türlich nur mit bestimmten Schichten, in die Welt einer sich germanischreligiös begründenden Kunst. Der personelle Kontakt zur Lebensreform, einer Bewegung, die an dieser Idee erheblichen Anteil hatte (s. u.), verlief über den zeitgenössisch sehr beliebten Maler Franz Stassen. Dieser hatte Chamberlains Adoptivenkelin geheiratet und war so ebenfalls in den inneren Kreis der Familie aufgenommen worden. Auch er war erklärter Antisemit, und einige seiner Bilder sind eindeutige Propagandainstrumente der Gobineauschen Rassentheorie.300 Eine andere Art von Vernetzung mit der Lebensreform ist bei Henry Thode sichtbar. Der Kunsthistoriker heiratete 1884 Cosima Wagners und Hans von Bülows Tochter Daniela.301 Henrys spätere Geliebte war Isadora Duncan,302 die tänzerische Attraktion303 des Tannhäusers im Jahre 1904. Sie hatte mit ihrem "Freien Ausdruckstanz", zu dessen Mitbegründerinnen sie zählt, ebenfalls wagnerische wie lebensreformerische Vorstellungen.304 Thode war Direktor des Städelschen Instituts in Frankfurt und seit 1894 außerordentlicher Professor in Heidelberg. Er galt als Spezialist für Albrecht Dürer und die italienische Renaissance. Stassen und Thode gehörten beide zum völkischen Werdandi-Bund (gegr. 1907), der von Schemann, diesmal zusammen mit Friedrich Sesselburg und Albert Bartels, als nationaler Bildungsverein gegründet worden war. Auch dieser Bund hatte sich die kulturelle Erneuerung des Deutschtums im Sinne Richard Wagners zum Ziel gesetzt.305 Zum Werdandi-Bund stieß neben der Galionsfigur Siegfried Wagner auch der ebenfalls lebensreformerisch akzentuierte Maler Hans Thoma.306 Dessen Verbindungen zu Bayreuth beruhten auf der langjährigen Freundschaft zu Thode und mündeten darin, dass er 1896 als Kostümbildner der Bayreuther Ringinszenierung arbei-
_____________ 300 Eines dieser rassistischen Bilder von ihm ist abgedruckt in: Lebensreform II, 2001, 462. Vgl. auch Hamann 2002, 34. In der Heidelberger Peterskirche befindet sich heute noch ein von Stassen gemaltes Portrait Cosima Wagners. 301 Es sei hier kurz angemerkt, wie sehr auch Daniela Thode später mit den Nationalsozialisten miteiferte. In einem Dankesschreiben vom 15. 9. 1937 an Hitler heißt es: "Dem Retter Deutschlands, der es im Herzen traegt und seine Ehre wieder gewann erschuetternden Dank." Zitiert nach: Heiber (Hrsg.), Die Rückseite des Hakenkreuzes 2001, 49. 302 Vgl. hierzu: Hamann 2005, 80. Zur Person Isadora Duncans: Lebensreform II, 2001, 415; zu Isadoras Auftritt in Bayreuth: Dahms, Der Einfluß von Wagners Werk und Kunsttheorie auf Tanz und Ballett 1984, 154. 303 Hamann 2005, 80. 304 Mit ihrer Schrift 'Der Tanz der Zukunft' aus dem Jahre 1903 kritisiere sie, so schreibt Dahms (1984, 154): "ganz im Sinne Wagners" die "Unnatur und Künstlichkeit des Balletts". 305 Vgl. auch hierzu Puschner 2001a, 132. 306 Vgl. Lebenswege 69; vor allem aber: Hans Thoma. Briefwechsel mit Henry Thode 1928. Dort findet sich auch eine kurze Biographie Thodes.
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tete. Zum Werdandi-Bund gehörten außerdem der Komponist Engelbert Humperdinck, der Maler Arnold Böcklin und der Literat Graf Kessler. Neben diesen Künstlern, die teils durch Verwandtschaft, teils durch enge Zusammenarbeit mit der Familie verbunden waren, sind die deutschen Jünglinge zu erwähnen, wie Nietzsche sie nennt.307 Dieser hatte sich u. a. auch wegen jener Jünglinge von Wagner zurückgezogen und ihm vorgeworfen, zu reichsdeutsch geworden zu sein.308 Zu den deutschen Jünglingen gehörten Hans von Wolzogen, Karl Driedrich Glasenapp, natürlich Ludwig Schemann und nicht zuletzt auch Nietzsches Schwager Bernhard Förster.309 Glasenapp wurde schon mehrfach als der Hauptbiograph Wagners neben Chamberlain erwähnt. Auch er hatte – und zwar bis heute – seinen Anteil an der Wagnerhagiographie. Einer der wichtigsten deutschen Jünglinge war Hans von Wolzogen,310 der Herausgeber der Bayreuther Blätter von 1878 bis 1932 und der wichtigste Adept Wagners im Hinblick auf die Verkündung und Zuspitzung seiner Kunstreligion in den Bayreuther Blättern. Laut Hein (1997, 62) stammen allein 421 Artikel aus seiner Feder. Wolzogen forcierte und verkündete in seinen Beiträgen immer wieder die sittliche Wiedergeburt der gesamten Menschheit durch die Wagnersche Musik, das heißt auch: die Regeneration des germanischen Wesens und ein von allem Semitischen befreites, arisiertes Christentum. In seinem wohl berühmtesten Aufsatz Die gelbe Gefahr wünschte er sich, dass "der deutsche Proletarier sich einstmals nicht mehr nur als Prolet, sondern ganz als Arier fühlen solle."311 An anderer Stelle beschrieb er diese Arier-Germanen als vom Himmel herabgestiegene Götter.312 Es sei hier nur noch einmal daran erinnert, dass die von ihm herausgegebenen Bayreuther Blätter einen eingeschworenen bildungsbürger_____________ 307 Nietzsche, Der Fall Wagner. Werke 2, 914 u. ö. Vgl. auch Altgeld 1984, 52/53. 308 Nietzsche, Ecce Homo. Werke 2, 1091. 309 Sprechend sind auch Försters Publikationstitel: Bernhard Förster, Das Verhältnis des modernen Judenthums zur deutschen Kunst 1881; Parsifal-Nachklänge. Allerhand Gedanken über deutsche Cultur, Wissenschaft, Kunst, Gesellschaft von Mehreren empfunden 1883; Richard Wagner in seiner nationalen Bedeutung und seiner Wirkung auf das deutsche Culturleben 1886. Förster hatte zusammen mit einem Leipziger Professor 1880 eine Antisemitenpetition mit 250 000 Unterschriften eingereicht, die dazu aufforderte, zum einen die jüdische Einwanderung zu verbieten und zum anderen die Juden von öffentlichen Ämtern auszuschließen. Vgl. Benz 2004, 92. Die Petition erschien zeitparallel zum Historikerstreit zwischen dem Antisemiten Treitschke und Mommsen, der sich gegen die Diskriminierung der Juden aussprach. 310 Hans von Wolzogen hatte ein Sagen-Buch mit Federzeichnungen Stassens publiziert: Wolzogen, Hans von, Eberhard Koenig, Urväterhort. Germanische Götter- und Heldensagen. mit 62 Federzeichnungen von Franz Stassen. Leipzig 1929. 311 Hans von Wolzogen, Aus deutscher Welt. Gesammelte Aufsätze über deutsche Art und Kultur. Berlin 1905, 151. Vgl. Altgeld 1984, 56. 312 Vgl. dazu: Römer 1985, 66.
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lichen313 Leserkreis besaßen, zu dem u. a. Adolf Warmund und der preußische Hofprediger Adolf Stöcker gehörten. Stöcker war weit über Berlin hinaus wegen seiner antisemitischen Predigten berüchtigt und trug sicherlich nicht wenig zum antisemitischen Denken seiner Leser, darunter nicht zuletzt Kaiser Wilhelms II., bei. Um den Kreis zu schließen: Stöcker gehörte auch zu denjenigen Autoren, von denen bekannt ist, dass Richard Wagner sie gelesen und geschätzt hat und der auch nach Wagners Tod noch "intensive Beziehungen zu Cosima Wagner, Hans von Wolzogen und Henry Thode" unterhielt.314 Der Komponist rezipierte außerdem auch Eugen Dühring,315 Wilhelm Marr und Bernhard Förster. Neben der antisemitischen Regenerationslehre ist das Wagnersche Kunstverständnis eines der Hauptthemen in den Bayreuther Blättern. Wagners Erben propagierten ganz bewusst ihre Art Germanenkunst auf der Basis eines völkischen Idealismus, dem es im Geiste Wagners um die kulturelle Erneuerung des Deutschtums und die Erziehung der Deutschen in diesem Sinne durch das Medium Kunst zu tun war.316
Dabei holten sie sich auch gerne persönliche wie textliche Unterstützung bei anderen Kulturpessimisten wie Paul de Lagarde und Julius Langbehn.317 Bayreuth und die Bayreuther Blätter übernahmen bereits sehr früh die ideologische Wächterrolle nicht nur zum Schutze der reinen Lehre Wagners, sondern auch derjenigen Langbehns, Lagardes und Chamberlains. Joachim Fest sieht in Langbehn eine Art Apostelfigur Richard Wagners. Fest 2000, 30: Nicht nur verlangte er, ganz im Sinne der lebenslang fortbestehenden anarchistischen Neigung Wagners, die Zerstörung der bestehenden Ordnung zugunsten einer neuen, ursprünglichen Form des Zusammenlebens, ein Ende von Handel, Erwerbsdenken, Realpolitik und Wissenschaft, so daß sich der "Rembrandtdeutsche" streckenweise wie eine Sammlung von Motiven Richard Wagners liest. Wichtiger war, dass für Langbehn die Erlösung einzig durch die Kunst erfolgen und die große Reinigung nur das Werk eines Künstler-Helden sein konnte: Alles, insbesondere die verhaßte Vernunft, habe 'den Beruf', heißt es einmal, 'in der Kunst unterzugehen; aber ein solcher Untergang ist nur ihre Verherrlichung'. Das hätte vom Meister selber stammen können.
_____________ 313 Hein 1997, 57. 314 Hein 1997, 136. 315 Eugen Dühring schrieb 1881: "der jüdische Naturcharakter" sei rein parasitär und könne auf die Gastvölker nur zersetzend wirken; hier helfe auch kein geistiges Prinzip mehr". Eugen Dühring, Die Judenfrage als Racen-, Sitten- und Culturfrage 1881, 111 (6. Aufl. 1930). Er war es auch, der in einem auf dieser Prämisse aufbauenden Maßnahmenkatalog die Nürnberger Gesetze vorweggenommen hat. Seine Selbstbiographie "Sache, Leben und Feinde" erschien 1882. Darin bezeichnet er sich als den Begründer des Antisemitismus. 316 Friedrich Sesselburg, Volk und Kunst 1914; zit. nach Puschner 2001a, 132. 317 Fest 2000, 30.
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Julius Langbehns Rembrandtdeutscher erfuhr in den ersten beiden Jahren nach seinem Erscheinen 39 Auflagen und gehörte damit zu einem der meistgelesenen bildungsideologischen Werke seiner Zeit. Klaus von See (1994, 22) charakterisiert den Bayreuther Kreis daher als deutsche Waffenschmiede. Wie einflussreich Chamberlain auch hier war, zeigt eine Episode: Langbehn wurde von Chamberlain wegen seines unzureichenden Antisemitismus im Rembrandtdeutschen getadelt. Daraufhin fügte dieser in einer späteren Auflage eigens ein antisemitisches Kapitel hinzu. Auch wenn Paul de Lagarde Wagners Musik sterbenslangweilig318 fand, – er sagte (wohl nach einem Besuch des Siegfried in Bayreuth 1881), er sei völlig geheilt und setze sich einer derartigen Qual nicht ein anderes Mal aus, – so bestand doch ein beständiger Briefkontakt319 zwischen ihm und den Wagners, der noch nach Richards Tod von Cosima weitergeführt wurde. Wagner hatte Lagarde zusammen mit Constantin Frantz,320 dem er auch die zweite Auflage seiner Schrift Oper und Drama widmete, öffentlich zu ideeller Kameradschaft aufgefordert.321.Für Wagner wie für Cosima322 war der
_____________ 318 Dies und das Folgende zit. nach Fest 2000, 29. 319 Vgl. dazu: "Sonntag 6ten Schneefall; »der Winter lernt im Alter, weiß zu sein«, sagt R. - Er hat Kopfschmerzen, ich schreibe Briefe, an P. Lagarde […]". Cosima-Tagebücher 1, 968. 320 Constantin Frantz (1817-1891), deutscher politischer Schriftsteller und Föderalist, der die Idee eines europäischen Staatenbunds vertrat und die Verchristlichung des Orients forderte, war zeitweise von großem Einfluss auf Richard Wagner. "Ich sagte Ihnen: mit dem stolzen Schmerze der Entsagung in Ihrer Brust werden Sie hellsehend werden. Nun wünsche ich Ihnen zu der ernsten Laufbahn, die Sie zu durchlaufen haben, den rechten, wahrhaft belehrenden Umgang. Lassen Sie Sich, ich bitte, durch Unsere Freundin folgende zwei Schriften besorgen: 1., »Dreiunddreissig Sätze vom deutschen Bunde« und 2., »Die Wiederherstellung Deutschlands«, beide von Constantin Frantz. Dies ist der Mann, der sich mir zuletzt hoffnungerweckend genähert hat. Er ist der tüchtigste, wahrhaft staatsmännische Kopf, der mir noch unter Deutschen vorgekommen ist." König Ludwig II und Richard Wagner: Briefwechsel 1, 281-282. Die Empathie zu Frantz wird besonders in folgenden Zeilen deutlich: "Jetzt lese ich das neueste Buch von C. Frantz: »Der Föderalismus als das leitende Prinzip« u.s.w. Ein Buch, welches ich mit Posaunentone aller Welt zur ernstlichsten Beachtung empfehlen möchte: es enthält auf das Klarste und Eingehendste dargelegt die volle Lösung der Fragen dieser Welt, wie sie mir selbst einzig als richtig vorschwebt. Leider hat man bei Allem immer nur mit Seufzern zu kämpfen: Lösung - aber Erlösung?" König Ludwig II und Richard Wagner: Briefwechsel 3, 157. Wagner, Mein Leben, Anm. 834. 321 Richard Wagner, Was ist deutsch? 10, 53: [Ich] "glaube mich zur weiteren Beantwortung der Frage: »was ist deutsch?« für unfähig halten zu müssen. Sollte uns da nicht z.B. Herr Constantin Frantz vortrefflich helfen können? Gewiß wohl auch Herr Paul de Lagarde? Mögen Diese sich als freundlichst ersucht betrachten, zur Belehrung unseres armen Bayreuther Patronatvereines sich der Beantwortung der verhängnißvollen Frage anzunehmen". Wagner 10, 53. Vgl. dazu Fest 2000, 29. 322 Vgl. dazu Cosima-Tagebücher 1, 966: "Abends beginnen wir die Broschüre: »Über die jetzige Lage des deutschen Reiches«, welche Pr. de Lagarde mir geschickt, welche Vortreffliches enthält (Aufgabe Österreichs, Kritik der jetzigen Schulen), aber viel konfuse theolo-
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Göttinger Professor Lagarde eine anerkannte Autorität,323 mit der man gerade wegen der gemeinsamen ideologischen Grundhaltung gern kommunizierte (Vgl. dazu das Kapitel zu Lagarde: S. 475ff.). Ein weiteres Aufweisen der institutionellen und personellen Vernetzungen des Wagnerkreises wäre nur noch additiv. Die Vernetzung umspannte das gesamte deutsche Bildungsbürgertum,324 geographisch von Norden nach Süden, soziologisch vom Lehrer bis zum Offizier. Sie alle konnten entweder aktiv in die Institutionen, Vereine oder Zeitschriften eingebunden oder zumindest passiv auf irgendeine Weise als Rezipienten angesprochen werden. Ich verweise hierzu auf die Darstellung von Uwe Puschner (2001a, 279f.), der überzeugend deutlich macht, dass diese ausgeprägte Vernetzung kein Zufall sein kann, sondern als bewusste Strategie einer Gesinnungsgemeinschaft zur Verbreitung des völkischen Gedankengutes im Sinne Lagardes zu betrachten ist. Chamberlains Name und seine Ideologie sind hier als ebenso relevant zu ergänzen. In der Tat, an der kulturpessimistischen und antisemitischen Haltung Wagners und seines Kreises hatte die bildungsbürgerliche Rezeption ganz offensichtlich höchstes Interesse. Dies zeigen nicht nur die Auflagenzahlen der Schriften Chamberlains, sondern auch andere populärwissenschaftliche Abhandlungen mit variantenreich behandelten Themen zur deutschen Kunst und zum deutsche Wesen,325 in denen dem Meister aus Bayreuth regelmäßig besondere Ehrungen zukommen. Folgendes Beispiel ist wegen seiner antisemitischen Themenstellung zwar außergewöhnlich, in Bezug auf Wagner aber sicherlich kein Einzelfall. In einem reich bebilderten Prachtband des Verlages Groh aus dem Jahre 1935, der offen dem Antisemitismus326 verschrieben war, wird Richard Wagner in der Überschrift zu seinem ganzseitigen Portrait als Kronzeuge des Antisemitismus zitiert. Zehn Jahre vorher hatte Oskar Pank im selben Verlag ein ähnliches Buch mit dem ausdrucksstarken Titel herausgegeben: Herz und Hand fürs Vaterland. Ein Buch von deutscher Heimat, von deutscher Seele, von deutschem Geist und Wesen, von deutscher Arbeit und Kraft. Fast erwartungsgemäß beginnt Pank seine Zitatensammlung zum Thema "Deutsche Kunst" mit Richard Wagners Schlusssatz der Meistersinger Uns bliebe gleich / Die heil'ge deutsche Kunst (Pank 1925, 395). Die daran anschlie_____________
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gische Beimischung." […] "Immer mehr bedenken wir, R. und ich, die Erziehungsfrage; Gedanken der Errichtung einer Musterschule, mit Nietzsche, Rohde, Overbeck, Lagarde." Vgl. dazu: Wagner 10, 53. Vgl. zu den bildungsbürgerlichen Lesers und Mitarbeitern der Bayreuther Blätter: Hein 1997, 57-60. So auch Chamberlains "Deutsches Wesen" aus dem Jahr 1916. Antisemitismus der Welt in Wort und Bild. Hrsg. von Robert Körber, Theodor Pugel unter Mitarbeit von Benno Imendörffer, Erich Führer. Dresden 1935.
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ßenden Zitate stammen dann ebenfalls von Wagner, daneben von Schiller, Kaiser Wilhelm II., Houston Stewart Chamberlain und Henry Thode, dem Schwiegersohn Wagners. Auch das Kapitel über die deutsche Tonkunst speist sich, abgesehen vom Bachpräludium, aus Wagner und dem Bayreuther Kreis. Hans von Wolzogens Kommentar "Zu den Bayreuther Festspielen" leitet den Reigen ein (410), gefolgt von Max von Schillings, Georg Steinhausen (411), Martin Luther und immer wieder Richard Wagner, sei es als Laudator Bachs (412) oder Karl Maria von Webers (417) oder schlechthin als über alles gepriesener Meister. So schreibt L. Rohl (413): Richard Wagner hat, wie kein anderer Zeitgenosse, seinem deutschen Volk im Gebiete des geistigen Lebens den ihm eigenen Sinn für das Große und Tiefe, für das Reine und Erhabene, mit einem Wort für das Ideal wiedererweckt. Um diesen Hymnus noch zu unterstreichen folgen auf der nächsten Doppelseite, auf der auch eine Lithographie des Bayreuther Festspielhauses zu sehen ist, sowohl der Partiturausschnitt des schon zitierten Schlusschors der Meistersinger als auch die letzten 40 Verse desselben. In diesen Versen fordert Hans Sachs dazu auf, die deutschen Meister zu ehren, damit die deutsche Kunst zur Rettung werden kann. Und damit dieser Aufforderung auch Genüge getan wird, folgt all dem eine der für Chamberlain typischen Apotheosen Wagners: Deutsches Wesen 168; bei Pank 1925, 415: […] Und während Staatsmann und Krieger weltgeschichtlicher Bedeutung Deutschlands Ehre, Besitzstand und Ruhm mehrten, vollendete dieser große Einsame in einem abseits gelegenen deutschen Städtchen das unsterbliche Werk der deutschen Kunst, das Werk, welches wie kein zweites durch die ganze Welt siegreich zieht, überall die Kunde verbreitend von Deutschlands Beruf, "ein Veredler der Menschheit zu sein": das erhabene deutsche Drama, das klassische Originalwerk deutscher Kunst.
Ein ganzseitiges Zitat Ludwig Schemanns ergänzt die weltgeschichtliche Dimension des germanischen Geistes, die in Wagner seine ideale Verkörperung gefunden hat: Schemann, zitiert nach Pank 1925, 416: […] Was einst Äschylos und Sophokles der griechischen, hat heute Wagner der gesamten abendländischen Welt beschert; […] Wenn daher die Weltära, der wir unvermeidlich zuzusteuern, und in der sich die Völker immer enger einander nähern sollen, ebenso unausbleiblich im Zeichen einer Vorherrschaft germanischen Geistes stehen wird, so kommt keinem daran ein größerer Anteil zu, als dem Meister der Tragödie von Bayreuth, dem höchsten Vertreter der christlich-germanischen Kunst der Musik.
In diesem Werk sammeln sich sozusagen die Köpfe des Bayreuther Kreises, um ihrem Leserkreis noch einmal vorzuführen, was deutsche Kunst, deutsches Wesen und deutsches Volk sind und zu sein haben. Auch im Kapitel über die deutsche Religion finden sich vorwiegend Zitate von den Ziertiergrößen Bismarck, Goethe und Ernst Moritz Arndt, vor allem aber von Bayreuthern wie Hans Thoma, Adolf von Harnack, Friedrich Lien-
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hard, Ernst von Glasenapp, Georg Schott, Paul de Lagarde, Houston Stewart Chamberlain, Henry Thode und Pank selber. Solche Werke waren es schließlich, die nicht nur in den unzähligen Gesang- und speziell Wagner-Vereinen, sondern in allen möglichen bildungsbürgerlichen Zusammenhängen das weltanschauliche Erbe Wagners und dessen Interpretation durch seine Erben weiter trugen. Es konnte nur angedeutet werden, wie tief die Kombination aus künstlerischem Wagnerkult, nationaler Wagnerreligion und völkischem Antisemitismus mit allen seinen personellen und ideologischen Vernetzungen des Bayreuther Kreises in die Kultur- und Kommunikationsgemeinschaft der Zeit vorgedrungen war. Dass sie ideologisch zu Hitler führen konnte, wird deutlich geworden sein. Und so muss man dem zustimmen, was ein Enkel Wagners, Franz Wilhelm Beidler, über die Ideologie der aufstrebenden NS-Bewegung sagt, nämlich dass sie zu einem erschreckend großen Teil Bayreuther Gesinnung wiederspiegele (Fest 2000, 36). Der Beitrag des Bayreuther Kreises zum Faschismus hat neben den genannten noch viele andere Aspekte. Einer davon, und kein geringer, ist das Vorbild, das die ideologische Sektenbildung abgab. Hanisch 1986, 633: Max Weber hat an dem Typus der charismatischen Herrschaft die emotionale Vergemeinschaftung herausgehoben. Zum ersten Mal in der modernen Kulturgeschichte wurde im Bayreuther Kreis das Modell MeisterSchüler, Führer-Gefolgschaft, exzessiv und in säkularisierter Form vorgeführt; das griff tiefer, wirkte radikaler als ein bloß bildungsbürgerlicher Geniekult. Und genau in diesem Konnex lag der genuine Beitrag der 'Bayreuther Idealisten' zum Faschismus. Weniger in der nationalen Ideologie, weniger in den rassistischen Ideen – die gab es auch anderswo, sondern in der Exklusivität des Gralsrittertums, der ausschließlichen und kritiklosen Hingabe an den Meister, in der totalen Unterwerfung wurden sozialpsychische Mechanismen vorbereitet und eingeübt, die im 20. Jahrhundert politisch ausbeutungsfähig waren.
6. 8. Richard Wagner und Adolf Hitler – keine ganz gewöhnliche Rezeptionsgeschichte Will man Hitlers diagnostizierte Wagner-Obsession327 beurteilen, so müssen neben seinen Rezeptionserlebnissen und seinen Äußerungen über Wagner vor allem auch die äußeren Vermittler seiner Texte und die semantischen Interpretationshelfer betrachtet werden. Denn, wie Saul Friedländer bemerkt,328 Hitler hat sich an keiner Stelle auf die antijüdische Einstellung Wagners bezogen, nie darüber geredet oder geschrieben, so oft er _____________ 327 Vgl. dazu Bermbach 2000, 55; vor allem aber: Köhler 1977. 328 Friedländer, Hitler und Wagner 2000, 167.
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auch ansonsten den Komponisten als Referenz- und Legitimationsgröße gebrauchte. Hitlers Antisemitismus entsprach insofern mehr demjenigen der Erben als dem des Meisters, auch wenn dieser mit seinen Schriften den Grundstein für das Nachfolgende gelegt hat. Hitlers Bayreuthliebe war keine kommunikative Einbahnstraße, sondern beruhte auf ideologischer und freundschaftlicher Gegenseitigkeit mit dem Hause Wagner, war sogar mit Familienanschluss verbunden. Und es war neben Winifred vor allem Chamberlain, der Hitler den Weg ins Haus Wahnfried (1. 10. 1923) freimachte und ihm sogar noch nach dem Putsch in München öffentlich den Rücken stärkte: Er schrieb am 1. 1. 1924: Wir haben ihn [Hitler] bitter notwendig: Gott, der ihn uns geschenkt hat, möge ihn uns noch viele Jahre bewahren zum Segen für das deutsche Vaterland.329 Dies geschah auch mit tatkräftiger Unterstützung Winifred Wagners, die angeblich das Papier und das Schreibzeug nach Landsberg lieferte, mit dem Hitler schließlich sein politisches Manifest Mein Kampf abgefasst hat. Bereits am 9. 11. 1923 schrieb sie in einem offenen Brief in der Oberfränkischen Zeitung: Seit Jahren verfolgen wir mit größter innerer Teilnahme und Zustimmung die aufbauende Arbeit Adolf Hitlers, dieses deutschen Mannes. […] Ich gebe unumwunden zu […], dass auch wir, die wir in den Tagen des Glücks zu ihm standen, nun auch in den Tagen der Not ihm die Treue halten.330 Man kann wohl davon ausgehen, dass Hitlers Wandlung vom eigenen Selbstverständnis als "Trommler" der Bewegung zum "Führer" derselben331 auf die Unterstützung der Bayreuther Erben zurückzuführen ist. Hitlers Dankbarkeit dafür blieb bis zuletzt erhalten,332 auch wenn sich seine Beziehung zu Winifred im Laufe der Zeit etwas abkühlte. Wohl einen der längsten Briefe seines Lebens schrieb Hitler an Siegfried Wagner aus seiner Haft in Landsberg: Stolze Freude fasste mich, als ich den völkischen Sieg gerade in der Stadt sah, in der, erst durch den Meister und dann durch Chamberlain, das geistige Schwert geschmiedet wurde, mit dem wir heute fechten. […] Daß Sie endlich mir selber so viel Liebe zuwendeten, will ich nicht vergessen.333
War hier Chamberlain noch im selben Atemzug mit Wagner genannt worden. so weist Wolfgang Altgeld (1984, 38) darauf hin: "Auf dem Höhepunkt seines politischen Aufstiegs hat Hitler […] keinen anderen geistigen Wegbereiter mehr anerkennen wollen als Richard Wagner." Dass _____________ 329 Chamberlain, Flugblatt als Beilage zur 'Großdeutschen Zeitung'. Bayreuth 1.1.1924. 330 Wiederabgedruckt in: Zelinsky, Richard Wagner – ein deutsches Thema 1983, 169f. 331 Vgl. dazu Altgeld 1984, 35; besonders aber Tyrell, Vom 'Trommler' zum 'Führer'. Der Wandel von Hitlers Selbstverständnis zwischen 1919 und 1924 und die Entwicklung der NSDAP 1975. 332 Vgl. dazu: Hitler, Sämtliche Aufzeichnungen 1980; dort Brief an Siegfried Wagner vom 5. 5. 1924. Noch 1942 in der Wolfsschanze erinnerte er sich daran: Hitler, Monologe aus dem Führerhauptquartier 1941-1944, 1982, 224. 333 Zitiert nach: Hamann 2002, 119f. Zu den Beziehungen Hitlers nach Bayreuth: ebd.
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Hitlers Wagner jedoch ein Wagner Chamberlain'scher Prägung war, ist damit nicht ausgeschlossen. Im Gegenteil, es spricht auch und gerade für den Erfolg Chamberlain'scher Vermittlung, dass Hitler Wagner uneingeschränkt als Wegbereiter akzeptieren konnte, ohne dabei auf die doch vorhandenen Gegensätze zu ihm entscheidend aufmerksam zu werden. Hitlers Affinitäten zum Komponisten sind schon auf den ersten Blick unübersehbar.334 Hier müssen allerdings einige wenige Beispiele genügen. Zum einen propagieren beide einen weltanschaulichen Vegetarismus,335 dessen spezifisches Merkmal u. a. darin bestand, dass er schon bei Wagner antijüdische Beimischungen hatte: Wagner, Kunst und Religion, 10, 241: Unsere alt-testamentarische christliche Kirche beruft sich hierbei zur Erklärung der mislichen Beschaffenheit aller menschlichen Dinge auf den Sündenfall der ersten Menschen, welcher - höchst merkwürdiger Weise - nach der jüdischen Tradition keineswegs von einem verbotenen Genusse von Thierfleisch, sondern dem einer Baumfrucht sich herleitet, womit in einer nicht minder auffälligen Verbindung steht, daß der Judengott das fette Lammopfer Abel's schmackhafter fand als das Feldfruchtopfer Kain's. Wir sehen aus solchen bedenklichen Äußerungen des Charakters des jüdischen Stamm-Gottes eine Religion hervorgehen, gegen deren unmittelbare Verwendung zur Regeneration des Menschen-Geschlechtes ein tief überzeugter Vegetarianer unserer Tage bedeutende Einwendungen zu machen haben dürfte.336
Wie bekannt ist, hat sich auch Hitler von seinen vegetarischen Essgewohnheiten bis zuletzt nicht abbringen lassen.337 Eine weitere Parallele ist die mögliche Titelgebung von Hitlers Mein Kampf in Anlehnung an Wagners Mein Leben, wenn die Idee für Mein Kampf nicht sogar auf Chamberlains Grundlagen zurückgeht. Der dritte Abschnitt der Grundlagen, der für Hitler sicherlich interessanteste und wichtigste im ganzen Buch, trägt den Titel: Der Kampf.338 Selbst der berühmte Satz: Ich aber beschloss Politiker zu _____________ 334 Vgl. dazu auch Porat, Zum Raum wird hier die Zeit: Richard Wagners Bedeutung für Adolf Hitler und die nationalsozialistische Führung. In: Borchmeyer 2000, 206-220. 335 Ein eindrucksvolles Beispiel Wagnerscher Hochschätzung der Vegetarianer (Wagner 10, 239) findet sich in der Schrift "Religion und Kunst". In: Ebd. 10, 224f.; 239f. Wagners drastische Formulierungsweise , wenn es um das Verspeisen von Tieren geht, kann an folgender Stelle nachgelesen werden: "War uns der Anblick des den Göttern geopferten Stiers ein Greuel geworden, so wird nun in sauberen, von Wasser durchspülten Schlachthäusern ein tägliches Blutbad der Beachtung aller derer entzogen, die beim Mittagsmahle sich die bis zur Unkenntlichkeit hergerichteten Leichentheile ermordeter Hausthiere wohl schmecken lassen sollen." Wagner 10, 233. 336 Wagner, Religion und Kunst. Werke 10, 241. 337 Laut Porat (2000, 218) versuchte Hitler sogar, Göring von der Jagd "wehrloser Tiere" abzubringen, indem er ihn in eine Aufführung des Parsifal mitnahm. 338 Anders Maser, der die Titelgebung auf die Münchner Zeitung der Unabhängigen Sozialdemokratie "Der Kampf" zurückführt bzw. auf das Buch "Mein Kampf gegen das nihilistische und nationalistische Deutschland" von Friedrich Wilhelm Foerster aus dem Jahre 1924. Vgl. Maser, Adolf Hitlers Mein Kampf 2002, 15.
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werden339 kann als Reminiszenz bzw. Allusion an Wagners ähnlich lautenden Beschluss gewertet werden. Wagner, Autobiographische Skizze 1, 6: Das Studium trug aber nicht so schnelle Früchte, als ich glaubte; die Schwierigkeiten desselben reizten und fesselten mich; ich beschloß Musiker zu werden.
Wagners Werke waren, laut Joachim Fest, Hitlers Vorzugslektüre.340 Die Gestalt Wagners zieht sich wie ein roter Faden durch Hitlers Biographie341 und seine Schriften.342 Seine Rede anlässlich des Münchner Putschprozesses mündete im Aufrufen Wagners; und seine vermeintlichen Erweckungserlebnisse, die der politischen Karriere vorausgingen, waren allesamt laut Hitlers eigenen Aussagen auf die Besuche der Linzer Opernaufführungen zurückzuführen. Hitler, Mein Kampf 15: War ich so frühzeitig zum politischen "Revolutionär" geworden, so nicht minder früh zum künstlerischen. Die oberösterreichische Landeshauptstadt besaß damals ein verhältnismäßig nicht schlechtes Theater. Gespielt wurde so ziemlich alles. Mit zwölf Jahren sah ich da zum ersten Male "Wilhelm Tell", wenige Monate darauf als erste Oper meines Lebens "Lohengrin". Mit einem Schlage war ich gefesselt. Die jugendliche Begeisterung für den Bayreuther Meister kannte keine Grenzen. Immer wieder zog es mich zu seinen Werken, und ich empfinde es heute als besonderes Glück, daß mir durch die Bescheidenheit der provinzialen Aufführung die Möglichkeit einer späteren Steigerung erhalten blieb.
Später schreibt Hitler unter einen Kostümentwurf für die Siegfried-Figur: Jung Siegfried, gut bekannt aus den Tagen der Linzer Oper. Wagners Stück zeigte mir erstmal, was Blutmythos ist.343 Wichtig war vor allem aber der Besuch der Rienzi-Aufführung in Linz,344 über die Hitler 30 Jahre später Anton Kubi-
_____________ 339 Hitler, Mein Kampf 1933, 224: "Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte Entweder – Oder. Ich aber beschloß, Politiker zu werden." 340 Fest, Wagner 2000, 34. 341 Vgl. dazu: Hamann 2000, 39f.; 89f. 342 Vgl. dazu z. B. Hitler, Mein Kampf 232: "Freilich sind diese Großen nur die Marathonläufer der Geschichte; der Lorbeerkranz der Gegenwart berührt nur mehr die Schläfen des sterbenden Helden. Zu ihnen aber sind zu rechnen die großen Kämpfer auf dieser Welt, die, von der Gegenwart nicht verstanden, dennoch den Streit um ihre Idee und Ideale durchzufechten bereit sind. Sie sind diejenigen, die einst am meisten dem Herzen des Volkes nahestehen werden; es scheint fast so, als fühlte jeder einzelne dann die Pflicht, an der Vergangenheit gutzumachen, was die Gegenwart einst an den Großen gesündigt hatte. Ihr Leben und Wirken wird in rührend dankbarer Bewunderung verfolgt und vermag besonders in trüben Tagen gebrochene Herzen und verzweifelnde Seelen wieder zu erheben. Hierzu gehören aber nicht nur die wirklich großen Staatsmänner, sondern auch alle sonstigen großen Reformatoren. Neben Friedrich dem Großen stehen hier Martin Luther sowie Richard Wagner." 343 Zitiert nach Fest 2000, 35. 344 Vgl. Hamann 2000, 39.
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zek, seinem damaligen Freund in Linz, sagte: In jener Stunde begann es!345 Text und Musik müssen den damals 16jährigen Hitler tief bewegt haben, so tief, dass er später als Reinkarnation des Volkstribunen Rienzi betrachtet werden wollte. B. Hamann, die diese Zeit in Hitlers Leben in ihrem Buch Hitlers Wien ausführlich schildert, zitiert zu Recht nicht nur Kubizeks Erinnerungen, sondern auch ausführlich den Wagnerschen Operntext: Hamann 2000, 40: [Hitler] sei nach der Oper im 'Zustand völliger Entrückung' bis in die Morgenstunden mit ihm zum Linzer Freinberg gewandert, schreibt Kubizek: 'In großartigen, mitreißenden Bildern entwickelte er mir die Zukunft des deutschen Volkes'. Ausführlich zitiert Kubizek Verse, die ihnen 'zu Herzen' gegangen seien, so wenn Rienzi singt: '… doch wählet ihr zum Schützer mich / der Rechte, die dem Volk erkannt, / so blickt auf eure Ahnen hin: / Und nennt mich euren Volkstribun!' Die Massen antworten: 'Rienzi, Heil! Heil dir, Volkstribun!' […] Die schwungvolle Rienzi-Ouvertüre wurde zur heimlichen Hymne des Dritten Reiches, allbekannt als Einleitung der Nürnberger Parteitage. Am Ende jedenfalls wenden sich beide Volkstribunen enttäuscht von ihrem Volk ab. Rienzi schmäht angesichts des Todes das 'elende' Rom, 'unwert dieses Mannes': 'Verflucht, vertilgt sei diese Stadt! / Vermod're und verdorre, Rom! / So will es dein entartet Volk!
Angeblich hielt Hitler das Libretto zum Rienzi sogar bei seinem Selbstmord im Berliner Bunker in der Hand.346 Die hier angedeuteten historischen Bezugnahmen sind unverkennbar. Entscheidend sind jedoch ihre ideologischen Übereinstimmungen. Hitler und Wagner feierten den rauschhaft verklärten Untergang und predigten das theatralische Alles oder Nichts. Wagners antimoderner Kulturpessimismus347 und die damit einhergehende Fiktion eines idealen Volkes und einer ästhetischen und moralischen Weltordnung,348 von einer das Christentum ersetzenden, dennoch im christlichen Fahrwasser treibenden Kunstreligion, einem Künstlergenie und einem Künstlerfürstentum, insgesamt von der moralisch-religiösen Erneuerung des deutschen Menschen durch eine nichtjüdische Kultur, erwiesen sich für Hitler als ideologisch prägend und machtpolitisch nützlich zugleich. Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft 3, 129: Nur mit der Erlösung der egoistisch getrennten reinmenschlichen Kunstarten in das gemeinsame Kunstwerk der Zukunft, mit der Erlösung des Nützlichkeitsmenschen überhaupt in den künstleri-
_____________ 345 Zitiert nach: Fest 2000, 33. 346 Payne, The Life and Death of Adolf Hitler 1973, 351. 347 Besonders auffällig in Wagners Schrift "Religion und Kunst" (10, 224:) "daß nicht die Religionen selbst an ihrem Verfalle schuld sind, sondern vielmehr der Verfall des geschichtlich unserer Beurtheilung vorliegenden Menschengeschlechtes jenen mit nach sich gezogen hat; denn diesen sehen wir seinerseits mit solch bestimmter NaturNothwendigkeit vor sich gehen, daß er selbst jede Bemühung, ihm entgegenzutreten, mit sich fortreißen musste". Vgl. dazu: Altgeld 1984, 37f. 348 Cosima Wagner, Tagebücher 2, 863. Vgl. auch: Wagner 10, 258.
602 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
schen Menschen der Zukunft, wird auch die Baukunst aus den Banden der Knechtschaft, aus dem Fluche der Zeugungsunfähigkeit, zur freiesten, unerschöpflich fruchtbarsten Kunstthätigkeit erlöst werden.349
Hitlers Selbstinszenierung als Künstlergenie resultierte sicherlich aus seiner Interpretation der wagnerschen Kunstideologie und wurde durch Langbehns Ideal vom Rembrandtdeutschen ergänzt. In völliger Verkennung von Realitäten gedachten sie alle, die praktische, verhasste Politik polemisch durch die Kunst bzw. eine Art religiöser Kunstpolitik zu ersetzen. Während aber wohl Wagner ebenso wie Langbehn an die Möglichkeiten der Kunst glaubten, war Hitler realistischer. Auch wenn er am 21. März 1933 sagt: "Den Deutschen erwuchs vielleicht aus der Kunst die Sehnsucht nach einer neuen Erhebung, nach einem neuen Reich und damit zu neuem Leben", waren für ihn die propagierten Kunst-Ideale alles andere als dringlich zu realisierende Ziele, da sie mit Machtpolitik nichts zu tun hatten. Und so ist das nachfolgende Zitat Hitlers ein Griff in den Kasten weltanschaulicher Polemik mit dem Ziel bildungsbürgerlich opportuner Selbststilisierung: "Ich würde, hätte sich ein anderer gefunden, nie in die Politik geraten sein; ich wäre Künstler oder Philosoph geworden."350 Wagner war aber auch Hitlers Religionslieferant. 1936 sagt der nationalsozialistische Reichskanzler: "Aus Parsifal baue ich mir meine Religion. Gottesdienst in feierlicher Form … ohne Demutstheater…. Im Heldengewand allein kann man Gott dienen."351 Das Wagnersche Pathos war auch für ihn mehr als Inszenierung. Das Prinzip der Regeneration in der rassistischen Verbrämung durch Chamberlain war für ihn ein Gottesdienst, in dem der Held, nicht aber das Leiden glorifiziert wurde. Und der Künstlerpriester oder Hohepriester, wie D. Porat ihn nennt,352 wusste dennoch um die Notwendigkeit der richtigen Inszenierung dieses Gottesdienstes. Die nationalsozialistische Kunstanschauung ist eine Ästhetik des "Erhabenen", ihre Kommunikationsweise diente der szenischen Emotionalisierung der Massen durch Festveranstaltungen mit monumentalen Zügen. Sie kamen einer Wagneroper gleich, deren "Narkotik" das politische Bewusstsein der Menschen lahm legte. Hitler und seine Getreuen waren sich dieses Phänomens bewusst. Wenn am Tag von Potsdam das Wach auf der Meistersinger, der Plural dieses Imperativs war auf allen nationalsozialistischen Standarten zu sehen, gesungen wurde, dann sollte damit eine Signalwirkung ins gesamte Reich ausgehen. Bei Totenfeiern erklang die Trauermusik aus der Götterdämmerung, und die Ouvertüre des Rienzi war _____________ 349 Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft. Wagner 3, 129. 350 Hitler, Monologe im Führerhauptquartier. Wolfschanze vom 24./25. 1. 1942. Anm. 2, 234. Vgl. dazu auch Lepenies 2006, 98. 351 Zitiert nach Fest, Hitler 1973, 684. 352 Porat 2000, 216.
603 Richard Wagner
die Einleitungsmusik zu den Parteitagen. Dies alles war Teil einer bewusst konzipierten Ritualisierung, bei der der sinnlichen Wahrnehmung, dem Hören und dem Sehen, breiter Raum eingeräumt wurde. Der Faschismus ist, wie Ehlich zusammenfasst,353 die Zeit der expliziten und permanenten Massenpartizipation an der Politik. Die technischen Errungenschaften der Massenkommunikation in Verbindung mit der neuen Mobilität und der Expansion der Auditorien gestatteten die Verallgemeinerung von verbalisierten Gedanken, die Masseninszenierung und vor allem –mobilisierung, in einem bis dahin kaum vorstellbaren Ausmaß. Dramaturgie und Inszenierung werden nach dem Modell Wagners konzipiert und dienten dazu, das Publikum in gezielter Weise zu emotionalisieren, nicht jedoch es zum kritischen Mitdenken anzuregen. Ziel war der Beifall, nicht der Widerspruch. Besonders erfolgreich war die faschistische Inszenierung aufgrund der Verbindung von säkularer Sakralisierung christlicher Traditionen und der Mystifizierung germanischer Riten und Kulte. Wo anders sollte Hitler dies gelernt haben als bei Richard Wagner, seinem Vorbild?354
_____________ 353 Ehlich, Sprache im Faschismus 1989, 20. 354 Vgl. auch Lepenies 2006, 97ff.
604 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
7. Die Lebensreform355 Als öffentlichkeitswirksamer Kulminationspunkt der bisher zusammengetragenen Ideen darf eine Bewegung nicht außer Acht gelassen werden, die zwar mehr lebenspraktischen Charakter besaß, sich aber ihre wichtigsten Anregungen aus den vorgestellten Diskursen geholt hatte, die Lebensreform.356 Sie entwickelte ihren Höhepunkt erst, nachdem die Grundlagen Chamberlains erschienen waren, und sie ist ein Symptom derselben "Krankheit", wie sie von Schopenhauer, Wagner, Nietzsche und Chamberlain diagnostiziert worden war. Die Krise der Menschheit wird von den Lebensreformern ebenfalls als Entartung und Verfall gekennzeichnet, denen man nur durch eine Rückwendung von der modernen Zivilisation zurück zur Natur entgegentreten zu können meinte. Ihre spezifischen philosophischen Grundlegungen erhielt die Bewegung durch Henri Bergson, Ludwig Klages und Melchior Palàgyi. Deren ganzheitliches Denken, das ebenso von Wissenschaftskritik wie vom Unbehagen an einer erkenntniskritisch orientierten und damit außerhalb der Fragestellungen des Alltags gesehenen Philosophie geprägt war, wurde besonders um die Jahrhundertwende zum Katalysator einer weit um sich greifenden bürgerlichen Antibürgerbewegung, deren Stichworte Agrarromantik und Großstadtfeindschaft schon länger virulent waren. Ausgehend von der Überzeugung, dass der Mensch der Natur entfremdet und dem Materialismus verfallen sei und deshalb seine natürlichen Ursprünge nicht mehr wahrnehmen könne, formierte sich diese Bewegung in vielen unterschiedlichen, nur locker miteinander verbundenen Gruppierungen, Vereinen und Verbänden, in der Regel direkt aus dem Bürgertum heraus. Seit dem 1. Weltkrieg fanden aber auch Arbeiterjugendliche über die Jugendbewegung Zugang zur lebensreformerischen Mentalität. Die Lebensreform war, wie der Name schon andeutet, in ihrem Anspruch allumfassend; sie wollte das gesamte Leben von der Wiege bis zum Grabe vollständig, das heißt weltanschaulich wie alltagspraktisch,357 verändern. So schreibt ein Anonymus 1895 in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Vegetarische Warte. Zeitschrift für naturgemäße Lebenskunst: Das Wort Vegetarismus wird hier natürlich im weitesten Sinne verstanden, als Pflege edlen, wahren Menschentums, eines Menschentums, wie es die Natur des Menschen selbst gebieterisch fordert. Es geht daraus hervor, dass die `Vegetari-
_____________ 355 Vgl. hierzu in einem umfassenden Sinn: Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bde. 2001. 356 Zum Wort und Gebrauch des Wortes: Krabbe 2001a, 25. 357 Vgl. Buchholz, Lebensreform und Lebensgestaltung 2001, 363-368; Breuss, Praktische Texte. Ratgeberliteratur für die alltägliche Lebensführung 2001, 373-377.
605 Die Lebensreform
sche Warte´ nicht nur von der vegetarischen Leibeskost sprechen will, sondern dass sie den ganzen Menschen auf naturgemässe Bahnen leiten und darauf führen möchte.358
Naturgemäße Bahnen konnten vielfältig interpretiert werden: neben der von manchen Zeitgenossen als skandalös empfundenen Idee der Sexualreform gab es theosophische und anthroposophische Richtungen,359 Naturisten360 und Naturheilkundler (Sebastian Kneipp, Johannes Schroth),361 Kommunalisten, Bodenreformer (Adam Damaschke362) und Vorläufer des ökologischen Landbaus (Rudolf Steiner),363 aber auch Strömungen, die die Kunst als Lebensform des Volkes betrachteten.364 Die Einen stellten ihre Ernährung um, wurden Veganer bzw. Vegetarier365 und / oder Abstinenzler.366 Andere wiederum schlossen sich der Freikörperbewegung oder weltanschaulich geprägten Wander- und Schwimmgruppen an oder zogen in Gartenstadtkolonien. Gemeinsam war allen Strömungen Großstadtkritik, Heimatschutz, die Idealisierung von Landkommunen,367 besonders die Bewegung "zurück zur Natur". Man achtete insgesamt auf eine neue, als 'gesund' angesehene Ernährung, überhaupt auf ein körperbewusstes und als gesund deklariertes Leben. Die Schlagwörter der Bewegung lauteten entsprechend: Leben, Echtheit, Einfachheit, Wahrheit, Reinheit, Klarheit, Helligkeit, Schönheit und Natürlichkeit.368 Trotz gelegentlicher Uneinigkeit in den Methoden und in der Frage, was denn eigentlich gesund, klar, natürlich, einfach, rein usw. sei, waren sich die Lebensreformer durch die Hinwendung zum Leben, zu Kultur, einem neuen Sinn ihrer Utopie sicher. Mit diesen Ausdrücken, wie unbestimmt sie auch gewesen sein mögen, gewannen sie einen semantischen Kampf, gesundes Leben etwa wurde zu einem Ziel, das man nicht mehr erklären musste, sondern das bis heute unmittelbar einsichtig einen neuen Sinn vermittelte und aus der Dekadenz in die Nähe der _____________ 358 Anonymus, Zum Geleit! In: Vegetarische Warte. 1, 1895, 3. Zitiert nach: Buchholz, Lebensreformerisches Zeitschriftenwesen 2001, 45. 359 Bruno Wille, Gesammelte Werke. Bd. 1: Der Ewige und seine Masken. Bd. 2: Der Maschinenmensch und seine Erlösung. 1930; Bd. 3: Philosophie der Liebe. 1929f. 360 Vgl. Spitzer, Lebensreform und Sport 2001, 391-397. 361 Vgl. Krabbe 2001a, 27f.; Jütte, Naturheilkunde 2001, 387ff. 362 Adolf Damaschke, Die Bodenreform. Grundsätzliches und Geschichtliches 1902. 363 Vgl. Farkas, Biologischer Landbau, Siedlungen, […] 2001, 407-409. 364 Vgl. Mattl, Kunst als Lebensform des Volkes 2001, 453-457. 365 Vgl. Krabbe, 2001a, 26f.; Baumgartner, Vegetarische Lebensführung 2001, 379-381. 366 Vgl. Baumgartner, Antialkoholbewegung 2001, 383-385. 367 Vgl. dazu: Klönne, Eine deutsche Bewegung, politisch zweideutig 2001, 31: "Das Ideal der ländlichen Kommune, die sich der industriekapitalistischen Gesellschaft widersetzt, gab es in der völkisch-rassistischen Variante der Artamanen und in der utopischkommunistischen im Gefolge von Gustav Landauer oder in Gestalt der jüdischsozialistischen Kibbuzim mit deutsch-jugendbewegtem Hintergrund." 368 Vgl. Buchholz, Begriffliche Leitmotive der Lebensreform 2001, 41-43.
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Erlösung, des Trostes, des Heils führte, zu Hoffnungen also, die in dieser Weise, wenn auch mit teilweise anderer inhaltlicher Besetzung auch von Nietzsche, Chamberlain oder Wagner angesprochen worden waren und in deren Tradition gesehen werden konnten. W. Krabbe (1980, 8-13) bezeichnet die neuen Lehren denn auch als individualisierte Heilserwartung im industriellen Zeitalter, und A. Schulz schreibt über die Anhänger (2005, 27): Als neue kulturelle Elite, die das Leben entschieden bejahte, wollte sie ihre Weltanschauung modellhaft vorleben und dadurch klare Handlungsanweisungen geben für eine bessere Zukunft. Kultur und Leben, diese Schlüsselbegriffe der Moderne erhielten einen neuen Sinn: Das Leben war Auftrag zur Selbstreform, die das 'Individuum von der Dekadenz der Moderne erlösen und zur wahren Kultur erheben würde.
Die naturbasierte Heilsgewissheit, mit der die Lebensreformer sowohl einen neuen Menschen schaffen als auch die Zukunft gestalten wollten, spiegelt sich entsprechend in neuen religiösen bzw. pseudoreligiösen Sekten, die oft von selbsternannten Propheten und Predigern,369 etwa Karl Wilhelm Diefenbach, seinem Schüler Johannes Guttzeit, ferner von Gusto Gräser und schließlich auch Hugo Höppener, genannt Fidus, angeführt werden. Das Bild "Lichtgebet" (Berlin, Deutsches Historisches Museum), das der zuletzt genannte Fidus in immer neuen Variationen gestaltete, war die Ikone der Lebensreformbewegung. Als Postkarte, Kohledruck oder großformatiger Farbdruck hing es in zahlreichen Wohnzimmern von ›Wandervögeln‹ oder sonstigen Jugendbewegten. Voller Inbrunst reckt sich der nackte, ›reine‹ Jüngling dem Segen spendenden Licht entgegen – eins mit dem Kosmos. Der Felsen ähnelt denen vom Moldefjord und verstärkt die nordische Stimmung. Das quasi-religiöse Motiv entsprach außerdem den Bestrebungen der religiösen Erneuerungsbewegungen, eine ›arteigene Religion nordisch-germanischen Ursprungs‹ als Ersatz für das ›jüdisch-undeutsche Christentum‹ zu begründen.370
Außer dem 'Menschen' und der 'Natur' erscheint durchgehend auch 'Gott' in den predigtähnlichen Erbauungstexten der genannten Autoren. Autoren wie Gerhart Hauptmann und Hermann Hesse pflegten enge Kontakte zu ihnen. Hesses Demian, der Steppenwolf, die Morgenlandfahrt und das Glasperlenspiel können als Werke betrachtet werden, in denen er seine wechselhafte Freundschaft zu seinem Daimonion Gusto Gräser, mit dem er auf dem Monte Verità lebte, literarisch verarbeitet. Was Gerhart Hauptmann betrifft, so sind viele seiner Werke direkt durch die Lebensreformer geprägt. Die Figur des Tischlergesellen Quint, in Der Narr in Christo Emanuel Quint (erschienen 1910), trägt Züge Karl Wilhelm Diefenbachs, weil er die Sonne verehrt, "sogar vor ihr nieder_____________ 369 Vgl. Müller, Propheten und Dichter auf dem Berg der Wahrheit. Gusto Gräser, Hermann Hesse, Gerhart Hauptmann 2001, 321-324. 370 Vgl. http://www.dhm.de/ausstellungen/wahlverwandtschaft/15akatalog.htm (8. 4. 2006).
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kniet, […] das Nacktbaden als Feier und Andacht pflegt, überhaupt Gott in der Natur findet und sich eher mit der Erde verbinden will als mit dem Himmel."371 Es sei hier nur angemerkt, dass Quint, der als Giersdorfer Heiland den Armen helfen möchte, in seinen Predigten das »Tausendjährige Reich« verspricht. Auch die Figur des Loth in Vor Sonnenaufgang (erschienen 1889) spiegelt Diefenbachs, mehr noch Hauptmanns Sehnsucht nach einer neuen menschlichen Gesellschaft. Licht und Sonne werden dabei zu Metaphern für die idealisierte neue Welt und höhere Erkenntnis. Gräser lebte in der Sonnenkolonie, Diefenbach hatte bei Sonnenaufgang sein Bekehrungserlebnis, und die Nacktkultur, auch als Lichtbewegung bezeichnet, wurde von Lichtfreunden, Lichtmenschen und Fackelträgern372 gepflegt. In das Dunkel der sündhaften, von der Natur entfremdeten Gegenwart sollte durch Selbstreform der Weg zu einer neuen Wahrheit gewiesen werden, letztlich zu einer neuen Heilsbotschaft. Auch Gerhart Hauptmanns naturalistische Utopien zeugen von diesem pseudoreligiösen Impetus. Ohne sich explizit aus der christlichen Tradition zu lösen, folgt er bestimmten naturreligiösen Vorstellungen der Lebensreform nach. Müller 2001, 323: Es ging dem Dichter freilich nicht um Sonnenkult, Sinnenkult und freie Liebe allein. Was ihn umtreibt, ist die Frage, ob eine Verschmelzung des Christlichen mit dem Heidnischen in heute gelebter Existenz möglich sei. Gesucht ist ein dionysischer Heiliger, wenn nicht gar der neuheidnische "Heiland".
Wahre Kultur in Verbindung mit biologistischen Vorstellungen und gewisse Affinitäten zu einem passend gezimmerten Nietzsche werden zur brisanten Mischung für eine neue Moral, und damit wiederum für den Entwurf eines neuen Menschen, der "in Verbindung mit den völkischen Ideologien der Jahrhundertwende zerstörerische Energien im Bürgertum weckte".373 Und gerade nationalistisch-völkische Strömungen innerhalb der sich oft diametral gegenüberstehenden vielschichtigen Bewegungen der Lebensreform, es gibt sozialistische ebenso wie völkisch-bündische Gruppierungen, werden es sein, die ihre Affinitäten zur Freikörperkultur und Sexualrefom dazu nutzen, rassenhygienische Ziele zu verfolgen. "Nacktkultur galt ihnen als Voraussetzung einer geeigneten Partnerwahl, durch die das Prinzip der natürlichen Auswahl implementiert werden könne".374 Naturgemäßes Leben kann seinen Niederschlag eben nicht nur in alltagspraktischem Vollzug sportlicher Aktivitäten haben oder in der Befolgung ideologischer Nahrungsrestriktionen. Die programmatischen
_____________ 371 372 373 374
Müller 2001, 323. Krabbe 2001a, 29. Schulz 2005, 28. Vgl. dazu Krabbe 2001a, 28.
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Schlagwörter Natürlichkeit, Naturgerechtes, Naturgemäßheit375 können in der ihnen eigenen Polysemie auch auf eugenische, sozialdarwinistische oder deutlich rassistische Ideen bezogen werden, wie sie bei Chamberlain zu finden sind, vor allem aber in der Zeit des Nationalsozialismus Hochkonjunktur hatten. Natur ist dann nicht nur bezogen auf dasjenige, was einem Menschen als Individuum wesensgemäß ist und je nach Einzelperson variiert, sondern meint dann die biologische Erscheinungswelt und damit jene darin verankerten Naturnotwendigkeiten, auf die der Einzelne keinen Einfluss hat, an die er sich jedoch, will er wachsen und überleben, anpassen muss. Sich naturgemäß zu verhalten, heißt, den als Gesetzen der Natur erkannten Maßstäben zu folgen und diese als den Leitfaden des Daseins zu hypostasieren. Eine solche "lebensreformerische Mentalität" wird daher nicht umsonst "im Vorhof des Dritten Reiches" angesiedelt. Der vom National-sozialismus propagierte Menschentyp – gesund, befreit, sportlich und schön – als Ausdruck und Produkt naturgemäßer Lebensweise in Ideologie, Zucht und Alltagsdasein, hat hier seine Vorläufer.376 Eine Zwangsläufigkeit oder Direktlinigkeit der Entwicklung von der lebensreformerischen Bewegung hin zur nationalsozialistischen gibt es jedoch nicht.377 Bei der Betrachtung der lebensreformerischen Entwürfe sind viele Parallelen zu Chamberlain aufgefallen, so die gnostisch geprägte Lichtmetaphorik, der chiliastische Impetus, der biologistische Ansatz bis hin zum Rassismus, aber auch die Vorstellung, in der Erziehung zur Kunst Erlösung zu finden. Ein wichtiges, als Bindeglied zu Chamberlain und vielen Gruppierungen der Lebensreform fungierendes und zugleich bezeichnendes Faktum sei noch kurz erwähnt: Eines der Zentren der Lebensreformer war die Naturheilstätte auf dem Monte Verità; sie wurde von Wagnerianern gegründet; man tanzte dort auf der Parzival-Wiese und blickte auf
_____________ 375 Vgl. dazu: Farkas, Lebensreform – deutsch oder multikulturell? 2001, 33; Raschke, Soziale Bewegungen 1985, 44. 376 Vgl. Klönne 2001, 32. 377 Vgl. dazu: Puschner 2001a; 2001b.
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dem Walkürefelsen. Es ist auch hier wieder Richard Wagner, 378 der signifikant seine Spuren hinterlassen hat, und dies wohl nicht nur deswegen, weil er selbst 'lebensreformerische' Ansichten propagierte.
_____________ 378 Vgl. Radkau, Die Verheißungen der Morgenfrühe 2001, 59. Wagner (10, 239ff.) sieht im Vegetarismus und in den Tierschutz- und Mäßigkeitsvereinen wichtige Regenerationsversuche einer im Verfall begriffenen Gesellschaft.
610 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
8. Georg Schott oder "das Hochziel arisch-germanischer Kultur"379 Für die weitreichende Rezeption der Schriften Chamberlains soll der folgende Einblick in ein Buch Zeugnis stehen, dem man auf den ersten Blick nicht anmerkt, wie tief es in der Gedankentradition des Engländers steht. Der Autor Georg Schott wurde bereits als einer der Biographen Chamberlains erwähnt. Sein hier vorzustellendes Buch handelt wie Chamberlains Grundlagen über große Namen und nutzt diese zur höheren Ehre und zum Aufbau der eigenen arisch-germanischen Identität. Diese Ideologie entstammt jedoch fast wörtlich den Grundlagen. Gemeint ist: Die Kulturaufgaben des 20. Jahrhunderts. Ein Grundriß zur Wiederaufrichtung der deutschen Weltanschauung (1926). Bereits der Titel präsupponiert wieder den Verfall und deutet mit Kulturaufgabe und Wiederaufrichtung gleichzeitig die Möglichkeit der Rettung an. Wiederaufgerichtet kann nur werden, was durch bestimmte Umstände in einem übertragenen Sinne beschädigt, aber noch vorhanden ist. Auch für Schott bezieht sich der Verfall auf die Größen Religion, Kunst und Wissenschaft, denen entsprechend die drei Hauptkapitel seines Buches gewidmet sind. Er beginnt bezeichnenderweise mit einem Zitat Chamberlains zum Thema Mythus. Dies ist symptomatisch, denn Chamberlain ist insgesamt eine der meistzitierten Referenzgrößen des Autors (z.B. 13, 20, 23, 35, 61, 110ff. u. ö.). Er rangiert auf derselben Ebene wie Schopenhauer und Goethe. Für Schott ist Kultur nichts anderes als: gestalteter Mythus (17), worin sich die Uranlage unseres Volks und Geschlechts in Bezug auf sein Glauben und Schauen bedeutsam kundgibt (ebd.). Arthur Liebert zitierend heißt es: Schott 19: all unsere Stellungnahme zu Gott und Welt, zu Mensch und Gesellschaft, ja auch zu uns selber, alle Werturteile, die wir aussprechen und im Kampf des Lebens vertreten, alle Überzeugungen, in denen sich unser Wesen offenbart, beruhen letzten Endes auf einer Weltanschauung. In ihr kristallisiert sich, was wir sind und wie wir sind.
Gerade um die deutsche Weltanschauung ihrem tieferen Wesen nach, […] und wie sie wieder zu einer wirkenden Macht im Geistesleben wird (20), geht es ihm. Dass er Chamberlain als sein Vorbild und als Vorläuferautor für sein Werk betrachtet, wird im unmittelbar folgenden Absatz deutlich: Schott ebd.: Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts sind vor 25 Jahren von H. St. Chamberlain aufgezeigt worden. Ich kann jedem Deutschen nur raten, ein paar Jahre seines Lebens auf das Studium dieses hervorragenden Werkes zu verwenden. Er wird dadurch eine Erweiterung seines geistigen Horizontes gewinnen [...]. Was auf Grund der Voraussetzungen, wie sie in den "Grundlagen" gegeben sind,
_____________ 379 Kapitelüberschrift des vorgestellten Buches.
611 Georg Schott
an Kulturaufgaben in unser 20. Jahrhundert herüberragt, bildet den Gegenstand der nachfolgenden Untersuchungen.
Ziel der Schott'schen Untersuchung war, wie der Untertitel des Buches schon besagt, die Wiederaufrichtung. Die Partikel wieder taucht mehrfach auch in den folgenden Wortbildungen auf: Schott fordert verfassungspolitisch, dass das Reich wieder aufgerichtet wird, außerdem will er sozial- und gesellschaftspolitisch reaktionär wiederaufrichten (21), um "was der Pöbel der Eindringlinge mit seinem welschen Dunst und welschen Tand' die adelige Sippe unserer Väter hinterlistig gebracht" hat. "Wir fühlen: es sind noch Nachkömmlinge dieses alten Geistesadels mitten unter uns. Ihnen müssen wir wieder zur Führerschaft verhelfen." Es geht ihm aber vor allem um die Wiederaufrichtung der deutschen Weltanschauung (ebd.) in Religion, Kunst und Wissenschaft. Die Metaphorik von Zukunftsutopie und Verfallsdiskurs kann bei ihm wie bei Chamberlain sehr drastisch ausfallen: Schott 30: Tod und Verwesung das Ganze, vertrocknete Gebeine, Schutt und Moder; nur ein Samenkorn, das abgeschlossen von Licht und Luft in der dunklen Kammer gelegen, zeugt von Leben. Senkt es in frisches Erdreich ein, gebt ihm Tau und Sonne und seine Allmacht wird sich gar herrlich offenbaren. So die Wahrheit Jesu Christi! […] Senkt es ein, dieses Samenkorn, in den "Gottesacker" der deutschen Seele und er wird zur Stätte der Auferstehung werden.
Ganz in der Tradition Lagardes (44) und Chamberlains ist die Ursache für den Todesschlaf der Geist des Judentums, der auf die Wunderblume der deutschen Seele fällt und sie mit seinem Eiseshauch ertötet (32). Die metaphorischen Zuschreibungen von Tod, Leiden, Kälte, Schatten und Dunkelheit für die jüdische Religion und deren Mitglieder stehen im Gegensatz zu Leben, Lebenspoesie, Blüte, Licht und Sonne (30f.), vor allem aber zur Unsterblichkeit (35), die dem germanisch-deutschen Wesen, den Kindern des Lichtes (36), attribuiert wird. Darum müsse man als echter Deutscher dem Judentum den Kampf ansagen, einen heiligen Krieg gegen einen Dämon (34) beginnen. Dann folgen wieder die allgegenwärtigen Vorurteile, so der Vorwurf des Materialismus, der jüdischen Weltverschwörung (36), der Christusfeindschaft (37). Die Bewertung der jüdischen Religion als derjenigen, die verzerrend auf das Christentum eingewirkt und versucht habe, das Christliche am Christentum ins jüdische zu verkehren (39), geht wieder auf Chamberlain und Lagarde zurück. Schott deklariert den Erfolg dieses betrügerischen Unterfangens: Der Betrug ist so grotesk, dass man sich zuweilen an die Stirn greift und fragt, wie alles nur möglich war. Die Tatsache selbst ist nicht zu leugnen. Das jüdische Gift war eingedrungen und begann zu wirken (39). Abgesehen vom Judentum greift Schott die griechische Philosophie an, die er als Verkompliziererin der einfachen religiösen Begriffe beschimpft. Auch die römische Idee ist ihm verhasst: Die Kraft Roms aber lag, wie Chamberlain zeigt, in der Fortdauer des Imperiums=, also Weltherrschaftsgedankens,
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ja ursprünglich in der tatsächlichen Fortdauer der kaiserlichen Gewalt (42), die in die päpstliche übergeht und den ursprünglich christlichen Gedanken institutionalisiert. Schott will, ganz Schüler Chamberlains, ein germanisches Christentum, eine deutsche Religion, frei von 'völkerchaotischen' Einflüssen, in dem der Same Christi nun endlich aufgehen könne (46f.). Schott 47: Die Uridee des deutschen Mythus, der als unzerstörbares Lebensgefühl in der Seele des Germanentums ruht, in inniger, alle Umwege vermeidender Verbindung mit der Geisteswelt Jesu Christi; von ihr durchdrungen, wie von einem köstlichen Sauerteig, der nicht rastet, bis dass der ganze Teig durchsäuert ist: das ist das Wesen und Bestimmung der deutschen Religion.
Was für die Religion gesagt wurde, gilt in Schotts Augen mehr noch für die Kunst und die Wissenschaft. Die Germanen werden in allen Variationen stilisiert. Und es zeigt sich auch hier das schon mehrfach umrissene Menschenbild wieder, in dem die Götter zu Menschen und die Menschen, sofern sie Arier sind, zu Göttern werden; Projektionsbilder nennt Schott die Göttergestalten, die aus der Seele der Germanen, im Zitat: der Zauberlaterne dieser Seele, stammen, womit suggeriert wird, sie seien Produkte derselben, nicht ihre Schöpfer: Schott 49: Es zeigt sich vielmehr dem erstaunten Blick die ans Wunderbare grenzende Tatsache, dass in jener sagenhaften Götterwelt ein wahrhaft genialisches Volk sich im ersten Morgengrauen der Weltgeschichte ein künstlerisches Weltbild von einzigartiger Kraft und Tiefe geschaffen hat. Nicht Vermenschlichungen der einen, ewigen Gottheit – die ihnen über allen Zweifel gewiß war – bedeuteten ihnen die Götter; […] Projektionsbilder, […], waren diese Göttergestalten, die von der Lichtquelle ihres Seelischen durch die Linse eines göttlichen Auges in den unendlichen Himmelsraum hinausgeworfen wurden. […] Das in allen Teilen dramatisch belebte Monumentalbild aber, das in der Brust dieser Gottmenschen als ungeheures Symbol des Kampfes zwischen Licht und Finsternis eine künstlerische Ausgestaltung ins Riesenhafte annahm, konnte nicht anders bewältigt werden, als indem es von der Zauberlaterne dieser Seele bis an die Wand des Himmelsgewölbes hinausprojiziert wurde.
Wieder bilden Halbgötter eine vierte Kategorie zwischen Tier, Mensch und Gott, wieder werden diese als Künstler und Dichter charakterisiert, als Sekundär-Schöpfer innerhalb der göttlichen Schöpfung. Was daraufhin folgt, ist erwartungsgemäß eine Apotheose der deutschen Kulturgeschichte unter besonderer Berücksichtigung Luthers, der als deutscher Heiliger (77) und als genialischer Mensch gefeiert wird. Auch hier ist es Chamberlain, der diesen Lutherkult zu rechtfertigen hat, indem dessen Feststellung zitiert wird, dass der Glaubensheld vom politischen Helden (81) nicht zu trennen sei. Folgerichtig erfährt auch die Kulturgröße Wagner von Schott gebührende Beachtung, wenn er voller Pathos schreibt: der Mythus des Deutschtums hat in dem Werk Richard Wagners seine Inkarnation erlebt (179). Wie zu erwarten, werden die Meistersinger und Wagners Schrift Religion und Kunst (180)
613 Georg Schott
zitiert. Wagner wird als Prophet (179) und Seelsorger (180) bezeichnet, der sie [die Stillen im Lande] im Zeitlichen, Vorüberrauschenden das Ewige, alle Stürme Überdauernde ahnen und festhalten lässt. Georg Schotts besprochenes Buch ist nur eines, wenn auch ein sehr auffälliges, von vielen möglichen Beispielen für das Aufgreifen und Fortspinnen der von Chamberlain und seinen Gewährsleuten vorgesponnenen Gedankenfäden.
9. Chamberlain und die nationalsozialistischen Folgen 9. 1. Chamberlain und Hitler Br II, 12ff. an J. F. Lehmann. 22. April 1916: […], doch was wir brauchen, ist ein Führer auf völkischem, praktischem, staatswissenschaftlichem Gebiet - wobei dann die deutsche Kunst natürlich gebührende Beachtung erfährt. Doch, daß es gelingen sollte, von der Bühne aus das öffentliche Leben umzugestalten - das glaube ich nimmermehr. Wo ein Feuergeist wie Richard Wagner nichts vermocht hat, da bemühen sich kleinere Geister ganz umsonst. Politisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich (namentlich medizinisch) müßte die Sache in Angriff genommen werden; nur tatkräftige Menschen dürfen das Wort ergreifen, keine Schwärmer. Nicht vulgärer Antisemitismus, dafür aber um so strengerer A-semitismus, der den Materialismus und den "Geldsackismus" unter jeder Maske und jeder Konfession schonungslos angreift.
Dass manche Zeitgenossen in Chamberlain den Propheten Hitlers sahen, verwundert nach der Lektüre dieser Briefstelle nicht mehr. Wie sehr sich die Gesamtaussage der politischen Ideologie Chamberlains bis in die Sprache hinein bei Hitler fortsetzt und das Dritte Reich bestimmt, sollen die nun folgenden Ausführungen zeigen. Der Nachruf, den der Völkische Beobachter in der Ausgabe vom 11. Januar 1927 auf den kurz zuvor Verstorbenen abdruckte, ist dementsprechend nicht zufällig. Man sah in Chamberlain einen der großen Schmiede, deren Waffen [...] Rüstzeug abgeben für Lebenskämpfe wie sie Völker oft erst nach Jahrhunderten zu bestehen haben. Mit dem Stichwort Lebenskampf der Völker, eine deutliche Allusion an Chamberlain und Gobineau, sind wir mitten in der nationalsozialistischen Ideologie Hitlers, der diese Metapher wörtlich nahm. Es war nicht Hitler, der auf Chamberlain zukam, sondern umgekehrt hatte der Bayreuther zuerst den Kontakt zu Hitler gesucht. Bereits 1923 schrieb er ihm einen überaus emphatischen Brief, der in die Worte mündete: "Daß Deutschland in der Stunde seiner höchsten Not sich einen Hitler gebiert, das bezeugt sein Lebendigsein; desgleichen die Wirkungen, die von ihm ausgehen; denn diese zwei Dinge - die Persönlichkeit und ihre
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Wirkung - gehören zusammen." Welche Reaktion hierauf aus München kam, ist unbekannt. Doch schon bald danach trafen beide persönlich zusammen. Chamberlain berichtet bereits 1924 von zwei Begegnungen, das erste Mal anlässlich des Deutschen Tages in Bayreuth (29. 9. 1923).380 Hitler war wohl sofort nach seiner Rede zu Chamberlain geeilt und hatte ihm angeblich vor Ehrfurcht kniend die Hand geküsst. Auch wenn Winifred Wagner diese Szene später leugnet, hat sie doch selbst als Legende ihre Aussagekraft. Das zweite Treffen fand am 1. Oktober 1923 auf Einladung Winifreds im Hause Wahnfried statt.381 Winifred Wagners Hitlerbegeisterung und Hitlers Wagnerbegeisterung hätte die beiden wohl über kurz oder lang ohnehin in Bayreuth zusammengeführt. Bezeichnenderweise trafen Winifred und Hitler aber zum ersten Mal aufeinander, als das Ehepaar Bechstein zu Ehren Hitlers eingeladen hatte.382 Man hatte eben auch gemeinsame Bekannte, unter ihnen die Familien Bechstein und Bruckmann als Gönner Hitlers in München. Die berühmten Flügelfabrikanten Bechstein, übrigens Winifreds Ersatzeltern, waren mit den Wagners ebenso eng bekannt wie das Verlegerehepaar Bruckmann. Nahezu alle Werke Chamberlains waren im Bruckmann-Verlag erschienen. Ohne die beiden Verleger und deren finanzielle Unterstützung wäre Chamberlain nicht berühmt geworden und die nationalsozialistische Partei wäre kaum über die ersten Jahre hinweggekommen. Dennoch überrascht der überschwängliche Enthusiasmus, den Chamberlain dem viel jüngeren Hitler entgegenbringt. Der Engländer hatte im fernen Bayreuth alle veröffentlichten Reden Hitlers mit Begeisterung wahrgenommen383 und sich in ihnen vollständig wiedererkannt. Mehr noch, Hitler scheint für ihn das zu verkörpern, was er selbst nicht mehr aufzubringen vermochte: Tatkraft und den Willen zur Umsetzung des ideologisch als richtig Erkannten. Und so kam es, dass er wie Nikodemus im Neuen Testament schon 1923 in diesem nicht nur den lang erwarteten Führer begrüßte, sondern sich seither aktiv an der Konstruktion des Hitlermythos beteiligte. Das Ausmaß dieser Hitlerbegeisterung, sprechend wird sie besonders in den genannten Briefen, kommentiert Hanisch wie folgt: Hanisch 1986, 643: Bereits 1923 prägte Chamberlain das Grundmuster des charismatischen Führermythos. Hitler, der "Erwecker der Seelen" schenkte ihm –
_____________ 380 Vgl. dazu Hamann 2002, 80. 381 Chamberlain, "Adolf Hitler. Zu seinem Geburtstag am 20. April 1924", in: Deutsche Presse (München), 2. Jahrgang, Folge 65/66 vom 20./21. April 1924, 1. 382 Hamann 2002, 83. Vgl. auch 73f. 383 Chamberlain, "Adolf Hitler. Zu seinem Geburtstag […]: "auch sind mir Hitlers Reden in der Sammlung von Koerber bekannt."
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zum ersten Mal seit 1914 – einen so langen erquickenden Schlaf". Es ist das Bild des heilenden Königs, das von Chamberlain bewusst evoziert wird.
Dass Chamberlain nicht untätig war, diesen Führer auch publikumswirksam zu unterstützen, zeigt er in einem anderen Brief, den er zu Hitlers Geburtstag, am 20. 4. 1924 veröffentlichte. In diesem Schreiben übernimmt er Passagen aus seinem ersten (noch privaten) Brief und überhöht Hitler zum heilenden König. Die Allusion zur Parsifalszene, wie dieser an Amfortas' Bett steht und ihm den erlösenden Schlaf beschert, ist nicht zu übersehen. Mit erheblichem Pathos zählt der selbst zumeist bettlägerige Chamberlain Hitler zu den seltenen Lichtgestalten - zu den ganz durchsichtigen im Unterschied zu den undurchsichtigen Menschen, nennt ihn eine Persönlichkeit, was in seiner Semantik ein seltenes Kompliment ist, und vor allem einen Herzmenschen. Hitler sei furchtlos, kein Phrasendrescher, habe Mut und Zivilcourage und sei der schöpferischste Kopf auf dem Gebiete der Staatskunst. Obwohl Hitlers Putsch von 1922 gescheitert war, schreibt er: Sein Werk ist bereits ein Gewaltiges, auch habe das von ihm bisher Erreichte gewirkt wie ein Gottessegen. Im selben sakralsprachlichen Duktus vergleicht er ihn mit Luther und apostrophiert die gemeinsame Sache als heilig. Beinahe hagiographisch verklärt er Hitler in diesem offenen Brief einmal als charismatischen Menschen, einmal als politische Führergestalt, mal als Heiligen, mal als inbrünstigen Liebhaber. Sein als Geburtstagsgruß verkleidetes weltanschaulich-politisches Pamphlet mündet in der Anrufung Gottes, mit der die göttliche Legitimation Hitlers beschworen wird: Chamberlain, Adolf Hitler. Zu seinem Geburtstag […] 20. 4. 1924: Das, was Hitler schon geschaffen hat, als sein eigenstes Werk, ist bereits ein Gewaltiges, was nicht sobald hinschwinden wird. Dieser Mann hat gewirkt wie ein Gottessegen, die Herzen aufrichtend, die Augen auf klar erblickte Ziele öffnend, die Gemüter erheiternd, die Fähigkeit zur Liebe und Entrüstung entfachend, den Mut und die Entschlossenheit stählend. Aber wir haben ihn noch bitter notwendig: Gott, der ihn uns geschenkt hat, möge ihn uns noch viele Jahre bewahren, zum Segen für das deutsche Vaterland!
Das Bild Hitlers als einer Persönlichkeit, die Herzen aufrichtet und Gemüter erheitert, Augen öffnet und Liebe und Entrüstung entfacht, spielt mit einer Schöpfungs- und Erweckungsmetaphorik der besonderen Art. Sie präsupponiert einen Menschen, der genau durch das Gegenteil dessen gekennzeichnet ist, was die Metaphern aufrichten, erheitern, öffnen suggerieren, nämlich einen im Sinne der Tradition von Schopenhauer bis Nietzsche präsupponierten entarteten Menschen. Die positive Bildlichkeit hat also das Negativ als Folie. Dreht man nämlich das Bild um und betrachtet man die vorauszusetzende Ausgangssituation, so müsste der Mensch eine emotionslose und depressive Kreatur sein, die ohne den übermenschlichen Marionettenführer mit dem hypnotischen Blick Hitler völlig lebensunfähig wäre.
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Auffallend an diesem Brief ist der vielfältig nuancierte, selbst in den Nürnberger Prozessen noch begegnende Topos von der außergewöhnlich intensiven Wirkung Hitlers auf seine Kommunikationspartner. Sie zeige sich einmal als unmittelbares Wirken seines Auges: wenn er spricht, faßt er stets irgendeinen der Zuhörer fest ins Auge, niemand kann diesem faszinierenden Blick widerstehen, der etwas Intimes, zu Herzen Gehendes, unmittelbar Wirkendes habe, ein anderes Mal als sprachliche Unmittelbarkeit: daß sich seine Worte immer unmittelbar an das Herz wenden. Man mag solche Kennzeichnungen als phrasenhaft, nichtssagend, plattitüdenhaft betrachten, sie knüpfen aber an die besondere Rolle des Hörens und Sehens als von Chamberlain immer wieder bediente Voraussetzungen zur Erkenntnis der Wahrheit an (vgl. 311ff.). Im Übrigen wird hier das Herz – möglicherweise in Anknüpfung an die mittelalterliche und frühneuzeitliche Mystik und im Gegensatz zum Kopf – als das handlungsrelevante Zentrum des Menschen, als das den Menschen bestimmende Erkenntnisorgan evoziert. Dass dieses Organ Hitler nicht nur in besonderer Weise zu eigen sein soll, sondern sogar zu dessen "Hauptorgan" erklärt wird, überhöht ihn noch mehr, vor allem, weil das Symptom dieser besseren Erkenntnis Hitlers Liebe zum deutschen Volk ist, das er, wiederum in der anschaulichen Metaphorik Chamberlains, wie ein Liebhaber in die Arme schließt. Forts.: Das unterscheidet ihn von den meisten Politikern, er [Hitler; ALR] liebt das Volk, er liebt sein deutsches Volk mit inbrünstiger Liebesleidenschaft. Hier haben wir den Mittelpunkt, aus dem seine ganze Politik, seine Wirtschaftslehre, seine Gegnerschaft gegen die Juden, sein Kampf gegen die Verrohung der Sitten usw. erfließen.
Mit dem letzten Satz wird Hitlers Antisemitismus als Zentrum seiner Affinität zu Chamberlain deutlich. Offensichtlich erhoffte sich der Schreibtischtäter Chamberlain in Hitler diejenige Person, die den antisemitischen Gedanken nun auch in die Tat umgesetzte Konsequenzen folgen ließ. Chamberlain propagiert Hitler also nicht nur in einem handlungsenthobenen diskursiven Sinne als Tatmenschen, der sich dem verderblichen […] todbringenden Einfluß des Judentums entgegenstellen könne, sondern er argumentiert konsequent in Richtung auf ihn als eine Führergestalt hin, die sich der Gefahr entgegenstelle, Maßregeln jenseits des Phrasendreschens ergreife, dem Denken das Handeln folgen lasse. Ihr und nur ihr sei es sogar gelungen, die Arbeiter zu gesünderen Ansichten zu bekehren. Forts.: So z. B. liegt das klar auf der Hand bei seinem viel beklagten Antisemitismus. Weil er kein Phrasendrescher ist, sondern konsequent seine Gedanken zu Ende denkt und furchtlos seine Folgerungen daraus zieht, erkennt er und verkündet er: Man kann sich nicht zugleich zu Jesus bekennen und zu denen, die ihn ans Kreuz schlugen. […] Es ist ihm z. B. unmöglich, unser aller Überzeugung über den verderblichen, ja, über den todbringenden Einfluß des Judentums auf das Leben des deutschen Volkes zu teilen und nicht danach zu handeln; erkennt
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man die Gefahr, so müssen schleunigst Maßregeln gegen sie ergriffen werden; das sieht wohl jeder ein, aber keiner wagt‘s auszusprechen, keiner wagt die Konsequenz von seinem Denken auf sein Handeln zu ziehen; keiner außer Adolf Hitler. […] Das erklärt seine unerhörte Wirkungsgewalt auf die uns so entfremdeten Arbeiter, die ES IHM ALLEIN GELANG, scharenweise zu gesünderen Ansichten zu bekehren und damit zugleich eine Macht zu brechen und eine andere an ihrer Stelle aufzurichten.
Der geniale Vereinfacher, wie Chamberlain Hitler weiterhin nennt, ist offensichtlich im Besitz des Schlüssels, auch diejenigen zu erreichen, zu denen Chamberlain mit seiner bildungssoziologisch ausgerichteten Sprache kaum die Chance hatte durchzudringen. Hier ist der Punkt erreicht, an dem ein über einzelne textliche Äußerungen hinausgehender Vergleich zwischen den Weltanschauungen Hitlers und Chamberlains notwendig wird. Dieser Vergleich beruht einerseits auf dem Corpus der Werke Chamberlains, andererseits auf Hitlers "Mein Kampf". Besonderes Interesse verdienen die Aspekte Kultur, Religion, Rasse und alles ideologisch überdachend: die Weltanschauung. Als Weltanschauung bezeichnet man gemeinhin das Gesamtverständnis der Angehörigen einer Gesellschaft über die Welt, in der sie leben. Dieses Gesamtverständnis ist nicht angeboren, sondern wird durch Primärsozialisation und durch Kulturinstanzen vermittelt. Beides erfolgt über textliche Rekurrenzen, und zwar erstens des Sprechkontaktes während der Primärsozialisation und zweitens des Rezipierens von Texten auf den verschiedenen Stufen der Sekundärsozialisation. Rekurrenzen der hier gemeinten Art ergeben sich aus thematischen Traditionen, aus dominanten Perspektiven auf Thematiken und aus Formulierungsgewohnheiten. Weltanschauungen sind demnach das Resultat der Art und Weise des Redens und Schreibens über die Lebenswelt und natürlich der diskursiven wie handelnden, affirmativen, kritischen, perspektivischen Partizipation an diesem Reden und Schreiben. Religion kann als ein Teil von Weltanschauung angesehen werden; die Grenze zwischen Religion und Alltagsdenken und –handeln ist jedenfalls fließend. Vergleicht man nun die Weltanschauung Chamberlains mit derjenigen Hitlers, so weisen beide dieselben völkischen Grundbausteine auf, vor allem Vaterland, Nation, Rasse, Feinde (speziell die Juden). Diese Bausteine können nicht neutral, - wie oben schon angedeutet -, gleichsam als Gegebenheiten in einem handlungsentlasteten sozialen, wissenschaftlichen, logischen herrschaftsfreien Raum oberhalb der Tagesrealität gesehen werden, sondern enthalten Verpflichtungen: Das Vaterland ist zu lieben; die Nation ist eine Aufgabe, die man aktiv nach innen wie nach außen zu vertreten hat; die Rasse ist rein zu halten; der Antisemitismus ist eine die eigene Existenz sichernde und zur Tat verpflichtende Haltung, die sich
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vor allem gegen die Juden zu bewähren hat. Diese Verpflichtungen sind natürlich redundant, für Hitler verdichten sie sich in folgenden 3 Thesen: – Die Ursache für den Untergang des alten Reiches liege im Nichterkennen der Bedeutung des Rassenproblems für die geschichtliche Entwicklung der Menschheit. – Die arische Rasse sei eine höhere, Kultur gründende Rasse und stehe anderen, minderwertigen Rassen (besonders der jüdischen) gegenüber. – Die letztgenannten Rassen schwächten durch ihre angeblich minderrassigen Elemente die Stärke und den Bestand des Volkes, weshalb der völkische Staat die Rasse in den Mittelpunkt des allgemeinen Lebens zu setzen und für ihre Reinhaltung zu sorgen habe. Alle drei Punkte lassen sich bei Chamberlain nicht nur peripher nachweisen, sondern sind typisch für seine Weltanschauung. Was beide Autoren verbindet, ist ihre von ihnen als positiv betrachtete Utopie. Auch Hitlers "Reinerhaltung" schließt die bewusste Züchtung eines neuen Menschen, der die Grundlage eines neuen Staates und einer neuen Religion wird, mit ein. Das Ziel der Geschichte ist für Chamberlain wie für Hitler eine germanische Weltordnung mit einem germanischen Übermenschen.384 Die rassistischen Prinzipien 'Reinerhaltung' und 'Züchtung' bilden die Eckpfeiler für real konzipierte Menschenbildgestaltungen. Sie sind nur möglich auf der Basis einer damit zusammenhängenden Ideologisierung bzw. konkreter ausgedrückt: "Religions"bildung. Wie wichtig dies für Hitler ist, kann ermessen, wer Kopperschmidts385 Paraphrasierung eines Gedankens von Walter Jens nachgeht: Kopperschmidt 2003, 18: es sei nicht die Artifizialität einer literarischen Kunstsprache, mit der charismatische Führer Massen begeisterten, sondern die Befriedigung ihrer Glaubenssehnsucht; und die ist umso intensiver, je mehr sie als kollektive Erfahrung situativ geteilt werden kann.
Immer wieder sind wir schon im Zusammenhang mit Chamberlain und Wagner auf diese Pseudoreligiosität gestoßen. Sie gilt auch und gerade für Hitler. Diese pseudoreligiöse Dimension der modernen Diktatur wird unter anderem durch einen ansozialisierten Wunsch nach übermenschlicher Begründung von Herrschaft begleitet. Eine solche Begründung kann vielfältiger Natur sein. Auch von Hitler wird die "Rasse" pseudoreligiös überhöht, genau so wie es schon Chamberlain vorgemacht hatte. Denn "der neue _____________ 384 Einen bedeutsamen Unterschied gibt es jedoch zwischen Hitler und Chamberlain; dies sei hier kurz angemerkt: Während Hitler von slawischen Untermenschen spricht, sind die Slawen für Chamberlain anfangs noch positiv im Konzept der Slavokeltogermanen enthalten. Später spricht aber auch er vom tatarisierten Slawentum (Dt. Friede 96) und beschimpft die Tschechen als Tartarenpack (Br II, 54); vgl. auch HuA 16. 385 Kopperschmidt, Darf einem zu Hitler auch nichts einfallen? 2003, 18.
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Mensch", der durch Rassezüchtung hervorgebrachte "Arier", wird zum Abgott einer rassisch-konstruierten Weltutopie, der sich alles andere unterzuordnen hat. Dass auch dieser Mensch zunächst sprachlich und textlich konstruiert werden musste, damit er zum Glaubensinhalt einer neuen Generation werden kann, ist selbstverständlich. Der Rassegedanke als Heilsgedanke war mit Chamberlain salonfähig geworden. Heilsgedanken sind Verpflichtungen, denen sich jedermann unterzuordnen hat, da sie das Kollektiv betreffen, nicht allein das Individuum. Auf der Suche nach den Heilswegen zielte das ausgehende 19. Jahrhundert gerade nicht auf Individualität und Aufklärung, sondern auf das Kollektiv der Rasse und auf einen dem entsprechenden Utopismus. Die Zukunftsutopie des Ariers und dessen Gesellschaftsmodell konnten daher nicht die Hoffnung eines jeden Menschen sein, sondern nur eine derer, die an der bürgerlichen Kultur partizipierten; der Arbeiter (als soziologische Größe) blieb ausgeschlossen. Hitler änderte diese Exklusion, die sozialgeschichtlich in das bürgerlich geprägte 19. Jahrhundert gehört und spätestens gegen dessen Ende historisch überholt war, zum mindesten dem Anschein nach grundsätzlich: Die nationalsozialistische Arbeiterpartei trug den Arbeiter bereits im Namen und der Aufstieg der NSDAP war geprägt durch antibürgerliche Parolen. Ob sie deshalb anders fundiert war oder ob die vorhandene Fundierung sich in der politischen Praxis in anderer Handhabung fortsetzte, ist deshalb nicht in einem Satz zu sagen, weil diese Frage als eine im Kern akademische und damit letztlich handlungsentpflichtete gegenüber der neuen, prinzipiell handlungsorientierten Politik der Nationalsozialisten peripherisiert wurde. Vielleicht wollte die Welt der Akademie aber auch nicht wirklich wahrhaben, dass man sich aus ähnlichen Quellen speiste. Schaut man jedoch genau hin, so findet man die aufgeführten bürgerlichen Ideale bei den Nationalsozialisten samt und sonders wieder. Auch sie verehrten dem Wortlaut nach Goethe, Kant und Schiller.386 Auch sie wollten Pflichterfüllung, Aufopferungsbereitschaft, Staatstreue. Und seit sie Chamberlain gelesen hatten, wollten sie Rassenreinheit und Zuchtwahl. Man, das ist der bildungsbürgerliche Zeitgenosse Hitlers, konnte sich, zumindest mit gewissen Abstrichen durchaus mit Leuten wie Joseph Goebbels oder dem Wagnerverehrer Hitler identifizieren. Thomas Manns Bruder Hitler thematisiert diese Affinität zwischen dem Anstreicher Hitler und dem Bildungsbürgertum. Was Hitler wie Chamberlain neben vielen Details, die im Anschluss diskutiert werden sollen, vor allem gemeinsam war, sind die illokutiven Wirkungsmechanismen ihres sprachlichen Handelns,387 ihr Sprach_____________ 386 Vgl. Frühwald, Büchmann und die Folgen 1990, 198. 387 Vgl. dazu: Ehlich 1989, 22/3.
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gebrauch. Chamberlains heilsversprechende Zukunftsorientierung, seine manichäische Utopie, ist das Kernstück seiner Texte, die man bedenkenlos als moderne Erbauungsliteratur kennzeichnen kann. Er betreibt keine Rückschau, kein Auflisten vergangener Größe, sondern verspricht seinen bürgerlichen Lesern eine eigene glorreiche Zukunft, in der der Bildungsbürger, transformiert zum Arier, zum ersten Male in der Geschichte zum Maßstab wird, ein Menschentyp übrigens, der nicht nur genau weiß, was gut und richtig ist, sondern auch, was er zu tun hat und was nicht. Ziel war insgesamt eine auf einfachen Propositionen beruhende Weltanschauung, einer Religion gleich, in der die Rasse zum Götzen wird, dem man alles opfern kann. In der Ausgabe vom 28. 10. 1926 steht im Völkischen Beobachter: Völkischer Beobachter:388 Nationalsozialistischer Glaube aus völkischer Weltanschauung ist eindeutig, bedeutet Abbruch aller Brücken zu sterbenden, verfaulenden Welten, strebt unbeirrbar der Errichtung einer neuen Welt entgegen, getragen von dem neuen Menschen völkischer Art. Schaffung dieses Menschen ist die erste Tat werdender Erlösung.
Der neue Mensch der Nationalsozialisten entspricht dem "Zukunftsarier" Chamberlains. Beide stellen das personifizierte Versprechen zum Heil dar.
9. 2. Hitlers Arier – "das höchste Ebenbild des Herrn"389 Hitlers "Bekenntnisse" stehen im Mittelpunkt der folgenden Erörterungen. Mein Kampf390 gehörte zu den meistverkauften Büchern seiner Zeit. Nach Maser (2002, 37) wurden bis 1945 rund 10 000 000 Exemplare unters Volk gebracht. Die hohe Auflagenzahl resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, dass das Buch nach der Machtübernahme ein beliebtes staatliches Geschenk wurde, sei es für Brautpaare bei ihrer standesamtlichen Trauung, sei es für Staatsangestellte als Anerkennung für besondere Leistungen oder anlässlich verschiedener Jubiläen. Ob und in welchem Ausmaß man das Buch gelesen hat, darüber streiten sich die Geister. Die Verkaufszahl allein im Jahr 1933 betrug 1, 5 Millionen, was vermuten lässt, dass zumindest diese Käufer ein Interesse hatten, ihren neuen Reichskanzler und seine Politik kennen zu lernen. Und sie taten klug daran, denn wer das Buch las, erfuhr, was auf ihn zukommen würde. Mein Kampf besteht aus 2 Bänden, von denen der erste 1925 in der Festungshaft in Landsberg verfasst worden war und dann im Verlag Franz _____________ 388 Zitiert nach: P. von Polenz 1981, 100. 389 Mein Kampf I, 422. 390 Mir lag zur Untersuchung die 429-433. Auflage aus dem Jahre 1939 zugrunde, die mir dankeswerter Weise Otto Nelsen aus den USA zur Verfügung gestellt hat.
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Eher erschien. Der zweite, weniger bekannte Band folgte 1926/7. Erst ab 1930 wurden beide getrennt publizierten Bände in einer "einbändigen, bibelformatigen Volksausgabe"391 zusammengebracht. Hitler untertitelte den ersten Teil als Eine Abrechnung und den zweiten: Die nationalsozialistische Bewegung. Möglicherweise war für den ersten Band ursprünglich ein anderer Titel geplant: Viereinhalb Jahre Kampf gegen Lüge, Dummheit und Feigheit392. Was scheinbar als autobiographische Erzählung beginnt, entwickelt sich schnell zur politisch-religiösen Bekenntnisschrift.393 Die schon genannten völkisch-ideologischen Grundbausteine (Nationalismus, Imperialismus und Rassismus, speziell der Antisemitismus) werden darin sowohl mit der persönlichen als auch mit der politischen Geschichte in einer Weise verquickt, dass sie als Erklärungs-, Legitimations-, Bedrohungs- und Zukunftsmodell gleichermaßen funktionalisiert werden können. Der angesprochene Leser, der sich in der Regel aus den Reihen der Anhängerschaft rekrutiert, findet vielfältige Anknüpfungs- und Identifikationspunkte, sei es auf der persönlichen Ebene oder auf der zeitgenössisch historischen. Der narrative Charakter, der außerdem nicht auf hohe Literatur stilisiert ist, verleiht den Ausführungen Hitlers den Eindruck von Zeugenschaft und Authentizität. Hitler unterstreicht diesen Eindruck von Selbsterfahrung und Selbsterkenntnis dadurch, dass er kaum auf andere literarische Quellen verweist. Man erfährt aber, dass er vor allem in seinen Wiener Jahren unendlich viel gelesen hat und dass das Gelesene ihn dauerhaft geprägt hat: Mein Kampf 21: Jedes Buch, das ich mir erwarb, erregte seine Teilnahme [Hunger, ALR], ein Besuch der Oper ließ ihn mir dann wieder Gesellschaft leisten auf Tage hinaus; es war ein dauernder Kampf mit meinem mitleidslosen Freunde. Und doch habe ich in dieser Zeit gelernt wie nie zuvor. Außer meiner Baukunst, dem seltenen, vom Munde abgesparten Besuch der Oper hatte ich als einzige Freude nur mehr Bücher. Ich las damals unendlich viel, und zwar gründlich. Was mir so an freier Zeit von meiner Arbeit übrig blieb, ging restlos für mein Studium auf. In wenigen Jahren schuf ich mir damit die Grundlagen eines Wissens, von denen ich auch heute noch zehre. Aber mehr noch als dieses. In dieser Zeit bilde-
_____________ 391 Zentner, Adolf Hitlers Mein Kampf 2006. 392 Vgl. Zentner 2006, 9. 393 Und genau als Bekenntnisschrift ist das Buch auch zu lesen. Ob es schwer lesbar war (Zentner 2006, 7), sei hier dahingestellt. Mir scheint jedoch, dass die Polyphonie der Rezeption weder von Maser noch von Zentner in ihrer Beurteilung berücksichtigt wird (vgl. Maser 2002, 48f.). Für einen nationalsozialistischen Bewunderer hatte das Buch sicherlich hagiographische Züge und war entsprechend sehr wohl lesbar. Dass Lesbarkeit bzw. das Gegenteil davon immer ein hermeneutischer Prozess ist, in den die Lesebereitschaft ebenso eingeht wie sie durch das Lesen selbst verstärkt wird, sei hier nur angemerkt. Für den heutigen Leser ist dieser Prozess in der Regel zunächst einmal durch einen Distanzierungsund Überwindungsakt gekennzeichnet, so dass die Verstehbarkeit zwangsläufig leidet. Das hat jedoch wenig mit Hitlers Text selbst zu tun. Vgl. dazu auch: Jäckel 1991, 129.
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ten sich mir ein Weltbild und eine Weltanschauung, die zum granitenen Fundament meines derzeitigen Handelns wurde.
Tatsächlich konnten große Teile von Hitlers Bibliothek394 rekonstruiert werden. Aber viele der Texttraditionen, deren Ecktexte von ihm gelesen wurden, lassen sich auch schon aus Mein Kampf selbst erschließen, so Gustave Le Bons Psychologie der Massen, Charles Darwin, Thomas Robert Malthus, Gregor Mendel, Wilhelm Bölsche, Ernst Haeckel, Hanns Hörbiger395 und natürlich Houston Stewart Chamberlain und Arthur Gobineau. Die Letztgenannten werden darüber hinaus auch in der Erinnerung seiner Zeitgenossen (August Kubizek, Hans Frank oder Ernst Hanfstaengl) explizit immer wieder als Teil von Hitlers Lektürekanon genannt. Es fallen außerdem folgende Namen (in Auswahl396): Sven Hedin, Ernest Renan, Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Herder, Goethe und Schiller. An geschichtswissenschaftlichen Darstellungen kannte er wohl Treitschke, Ranke, Hermann Stegemanns Geschichte des Ersten Weltkrieges und die heute weniger bekannte Weltgeschichte Maximilian Graf von Wartenburgs, die Gedanken und Erinnerungen Bismarcks, Ludendorffs Autobiographie und natürlich alle möglichen antisemitischen Schriften, angefangen von Otto Hausers Geschichte des Judentums über Henry Fords Der internationale Jude bis zu Theodor Fritschs Handbuch der Judenfrage. Bei der Lektüreliste nicht genannt wird auffälligerweise Hitlers Idol Richard Wagner. Doch kann man davon ausgehen, dass Hitler dessen Judenbroschüre sehr genau gekannt hat, greift er in seinem Text doch stellenweise fast wörtlich auf sie zurück. Dass er außerdem auch die Chamberlain'sche Wagnerbiographie rezipiert hat, wurde schon erwähnt. Von den Grundlagen weiß man, dass er sie noch in den Münchner Anfangsjahren aus der Bibliothek ausgeliehen hat; die Worte Christi397 wurden von der US-Army nach dem Krieg auf Hitlers Berghof beschlagnahmt und sind jetzt in der Library of Congress als Teile der Hitlerschen Bibliothek einsehbar. Die im Folgenden vorgenommene Beschränkung auf die Diskurse Rasse, Menschenbild und Verfall entspricht dem Anliegen dieser Arbeit. Diese Fokusierung reicht vollkommen aus, um einerseits Hitlers Traditionen aufzuweisen, und um andererseits, besonders auf dem Hintergrund der von ihm und seinen Gesinnungsgenossen begangenen Verbrechen, die _____________ 394 Seit 2001 sind die Reste von Hitlers Büchern (von ursprünglich wohl 16000 Büchern immerhin fast 1244) in Washington in der Library of Congress zugänglich. Vgl. dazu: Hesemann 2004, 23-27. Sieg 2007, 338, dort sind die Annotationen Hitlers in Lagardes "Deutschen Schriften" abgedruckt. 395 Vgl. dazu Maser 2002, 90; Zentner 2006, 14ff. 396 Mehr dazu bei Zentner 2006, 14ff.; Hesemann 2004, 27ff. 397 Sigle: BS2554.G3 C43 1935; Third Reich Coll. Das Buch ist handschriftlich mit dem Markusvers 12 versehen, vom wem, ob gar von Hitler selbst, ist unbekannt. Vgl. Hesemann 2004, 29.
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Konsequenzen seiner Ideologie aufzuzeigen. Es ist offensichtlich, dass die genannten Diskurse nur theoretisch von einander trennbar sind. Wer, wie Gobineau, höher- und minderwertige Rassen annimmt, hat ein Menschenbild, das die einen über die anderen stellt, die einen überhöht und die anderen dehumanisiert. Je nach Einordnung in einen entsprechend interpretierten weltgeschichtlichen Prozess dient eine solche Hierarchisierung, wie wir gesehen haben, zur Konstruktion von Kulturverfall oder Kulturgewinn, Höherentwicklung oder Untergang. Die Drohkulissen, die aufgrund solcher Polarisierungen möglich werden, dienen schließlich zur Mystifizierung eines Retters aus der Not, eines übermenschlichen Heilsbringers, der wiederum Teil eines rassistischen Menschenbilddiskurses ist. Hitlers Rassediskurs speist sich aus vielen Quellen. Doch ragen darunter drei besonders hervor: der Sozialdarwinismus, Gobineaus Verfallspessimismus und Chamberlains Rassen- und Menschenbildutopie. Was ihn jedoch maßgeblich von den genannten unterscheidet, ist sein Umgang mit den vorgegebenen rassistischen Theoremen. Hitlers Rassismus, in der Regel konzentriert man die Beschreibung lediglich auf seinen ausgeprägten Antisemitismus, muss als maßgebliche Triebkraft seines Willens zur Macht angesehen werden. Mit anderen Worten: Er ist nicht nur gläubiger Rassist, sondern er gebraucht seinen Rassismus dazu, politische und weltanschauliche Macht zu erlangen. Hier liegt der oben angedeutete Punkt, der ihn von Chamberlain unterscheidet: Der Glaube an eine Ideologie, die Verkündigung dieser Ideologie in wissenschaftssuggestiven Schriften, die Vertretung einer irgendwie begründeten und irgendwie erbaulich ausgerichteten Kunsttheorie sind das eine; dieses vollzieht sich in einem Kommunikationskreis, der historisch möglicher- oder fälschlicherweise auf bestimmte national anerkannte Autoritäten zurückgeführt werden kann, dem man auch eine gewisse soziologische Breite nicht wird absprechen können, der bei alledem aber ein eigener, weitgehend geschlossener Kreis bleibt und höchstens von der soziologisch oberen Peripherie her in diejenigen quantitativ noch breiteren und qualitativ mindestens zum Wirtschaftsmotor gewordenen Kreise übergreift, die sich spätestens seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als das Volk im Sinne von 'Souverän', also nicht mehr im Sinne von 'Masse' oder 'Untertanenschaft' definieren und ganz andere Anliegen haben als 'Verfall' oder 'Welt als Wille und Vorstellung' oder 'Kunst' oder Übermensch' oder 'Rasse'. Mit anderen Worten: Das letztlich bürgerliche Spiel mit diesen Größen war obsolet geworden, weil die Geschichte inzwischen anders spielte, ohne dass man dies hinreichend deutlich bemerkt hätte. Dem steht das andere gegenüber. Es ist der von Hitler praktizierte Wille zur Macht, das machtbestimmte Handeln. Dazu brauchte er eine Ideologie, wie er sie im Rassismus Chamberlain'scher Prägung und allem, was damit verbunden war, vorfand. So wie
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Chamberlain große Teile der deutschen und europäischen Geistes-, Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte zum Bau seiner Theorie nutzte, so verfuhr Hitler nun mit ihm. Um Nuancen und Richtigkeiten oder gar um akademisch genaue Nachweise von Einflüssen und Übernahmen konnte es dabei nicht gehen, Kriterium für Übernahmen war die Nutzbarkeit der einzelnen Inhalte in der Praktizierung von Macht. Hitlers Mein Kampf lebt geradezu von Übernahmen und Anspielungen aus den Schriften Chamberlains; das Buch enthält aber auch diesem Widersprechendes, vor allem dem bürgerlichen Habitus Widersprechendes. Der Schlüssel für Hitlers Erfolg liegt eben darin, dass er den bürgerlichen Kommunikationskreis aufbrach, indem er den Arbeiter als soziale Schicht in seine Machtpraxis einbezog. Sein Vorgehen ist eine sich in Sprache vollziehende Technik, die in einem ersten Schritt darin besteht, bestimmte Menschengruppen zu einem ganz bestimmten Zweck zu stigmatisieren; mit deren Ablehnung können auch andere Gruppen auf einen Schlag mitverurteilt werden. Diese Technik funktioniert dann besonders gut, wenn das ausgewählte Stigmatisierungsopfer einer langen Stigmatisierungstradition unterliegt und sich somit tradierte Formen der Stigmatisierung mit neuen variieren lassen. Die Berechtigung der Stigmatisierung erfährt in den Augen der Stigmatisierer mit dieser historischen Tiefe eine zusätzliche Bestätigung. Solche Gemeinschaftsbildungen, in denen die einen inkludiert und die andern exkludiert werden, basieren im Sinne I. Goffmans (2002, 12ff.) auf drei Stigmatisierungsarten: – 1. Stigmatisierung aufgrund von vermeintlichen "Abscheulichkeiten des Körpers", also aufgrund von physischen Deformationen; – 2. aufgrund von "individuellen Charakterfehlern" ("wahrgenommen als Willensschwäche, beherrschende oder unnatürliche Leidenschaften, tückische und starre Meinungen und Unehrenhaftigkeit, welche alle hergeleitet werden aus einem bekannten Katalog, z.B. Geistesverwirrung, Gefängnishaft, Sucht, Alkoholismus, Homosexualität, Arbeitslosigkeit, Selbstmordversuchen und radikalem politischen Verhalten") und – 3. aufgrund phylogenetischer Stigmata. Dazu zählen die Rasse, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation oder zu einer Religion, in neuerer Bewertung auch zu einer sozialen Klasse. Während die Kriterien 1 und 2 die Einzelperson betreffen, also auch im Laufe eines Lebens erworben und zur Stigmatisierung genutzt werden können, wird die phylogenetische Stigmatisierung "in der Regel von Geschlecht zu Geschlecht weitergegeben" (ebd.). Schon beim ersten Hinsehen wird deutlich, dass Hitler Goffman als Muster hätte dienen können, denn dieser zieht nicht nur in Mein Kampf alle stigmatisierenden Register. Als nicht gering einzuschätzende Nebenwirkung jeder Form der Stigmati-
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sierung muss die darauf aufbauende Dehumanisierung betrachtet werden, denn so Goffman (2002, 13f.): "Von der Definition her glauben wir natürlich, daß eine Person mit einem Stigma nicht ganz menschlich ist." Stigmatisierung und Dehumanisierung gehen demnach Hand in Hand und werden außerdem häufig von der Kriminalisierung begleitet, da der als "moralisch defizient" hingestellte Mensch immer auch eine Gefahr für die positiv bewertete Gesellschaft darstellt. Die Notwendigkeit des Ausschlusses aus derselben ergibt sich dann beinahe zwangsläufig. Nach geglückter Exklusion der stigmatisierten Menschengruppen werden diese in einem zweiten, darauf aufbauenden Schritt zum Feind der eigenen Gruppe erklärt. Die Schaffung von Feindbildern arbeitet nicht nur auf der Basis der genannten Stigmatisierungstypen, sondern nutzt gezielt die moralischen und gesellschaftlichen Grundfesten der eigenen Gruppe zur Dämonisierung der anderen. In deren Konsequenz mutiert der Gegner, nachdem er Feind geworden ist, zum Monster bis hin zur Inkarnation des Teufels. Der entscheidende Faktor bei Hitlers Feindbildkonstruktion ist, dass er alle politischen Gegner, die er haben könnte, unter dem Stigma Judentum konzentriert. Mit diesem 'Kunst'griff kann er, nachdem er seine Stigmatisierung erfolgreich vermittelt hat, mit einem einzigen dafür typischen Attribut alle anderen Assoziationen bei seinen Rezipienten aufrufen, z. B.: Materialismus und damit Habgier (der sog. wirtschaftliche Antisemitismus), insgesamt charakterliche Minderwertigkeit und Verbrechertum, vermeintlich bewiesen durch den Christusmord (religiöser Antijudaismus). Es geht aber vor allem um den Vorwurf an die Juden, nicht aufgrund der Religionszugehörigkeit das auserwählte Volk zu sein, sondern allein aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, was wiederum fehlenden Glauben und mangelnde Religiosität impliziert und die Öffnung zur Rasse und damit zum Antisemitismus bietet. Die phylogenetische Stigmatisierung suggeriert Rassen- und Volksfeindschaft, macht also nicht nur ein Individuum zum Außenseiter, sondern hetzt mindestes zwei Gruppen aufeinander; sie ist im übrigen wieder gegen den nationalen Einheitsgedanken innerhalb des (deutschen) Nationalstaates gerichtet. Die Fokussierung auf das Jüdische als überdachenden negativen Assoziationsraum ermöglicht Hitler die Konzentration auf einen einzigen politischen Gegner. Geht er ihn an, hat er alle angegriffen, die ihm gefährlich sind: Marxisten, Sozialdemokraten und Kapitalisten, Liberale und Freimaurer, aber auch die Demokratie und die Presse, eben alle ihm gefährlichen bzw. ihm zur Feindbildkonstruktion nützlichen Gruppen seiner Zeit. Als Schlüsselzitat muss daher gleich zu Anfang der Analyse auf folgende Textstelle aus Mein Kampf hingewiesen werden.
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MK 129: Überhaupt besteht die Kunst aller wahrhaft großen Volksführer zu allen Zeiten in erster Linie mit darin, die Aufmerksamkeit eines Volkes nicht zu zersplittern, sondern immer auf einen einzigen Gegner zu konzentrieren. Je einheitlicher dieser Einsatz des Kampfwillens eines Volkes stattfindet, um so größer wird die magnetische Anziehungskraft einer Bewegung sein, und um so gewaltiger die Wucht des Stoßes. Es gehört zur Genialität eines großen Führers, selbst auseinanderliegende Gegner immer als nur zu einer Kategorie gehörend erscheinen zu lassen, weil die Erkenntnis verschiedener Feinde bei schwächlichen und unsicheren Charakteren nur zu leicht zum Anfang des Zweifels am eigenen Rechte führt. Sowie die schwankende Masse sich im Kampfe gegen zu viele Feinde sieht, wird sich sofort die Objektivität einstellen und die Frage aufwerfen, ob wirklich alle anderen unrecht haben und nur das eigene Volk oder die eigene Bewegung allein sich im Rechte befinde. Damit aber kommt auch schon die erste Lähmung der eigenen Kraft. Daher muß eine Vielzahl von innerlich verschiedenen Gegnern immer zusammengefaßt werden, so daß in der Einsicht der Masse der eigenen Anhänger der Kampf nur gegen einen Feind allein geführt wird. Dies stärkt den Glauben an das eigene Recht und steigert die Erbitterung gegen den Angreifer auf dasselbe.
In der Konsequenz sind die zum Hauptgegner erklärten 'Juden' kollektiv, also als Sammelbegriff bzw. als Etikett für alles Gegnerische auch schuld an prinzipiell allem. Es reicht vollkommen aus, den unterschiedlichsten Gruppierungen entweder das Attribut jüdisch anzuhängen oder sie mit dem Judentum zu verknüpfen, oft rein additiv (z. B.: MK II, 156: das jüdischbolschewistische Rußland); alle Schuldzuweisungen und Stigmatisierungen werden auf den Gegner konzentriert, den man auf dieses Weise selbst geschaffen hat. Die relative Beliebigkeit, mit der man diese Technik auf Gegner jeder Art übertragen kann, zeigt vor allem eines: Man hat in Wirklichkeit keinen Gegner, schon gar keinen jüdischen, auf den man reagieren muss, sondern man schafft sich einen solchen, mit dem man die semantischen Kämpfe gegen alle potentiellen Gegner aufnehmen kann. Entsprechend könnte man diese Technik als Sekundär-, Tertiärstigmatisierung kennzeichnen (Lobenstein-Reichmann, Stigma 2009). Sie liegt dann vor, wenn man einen gesetzten Gegner mit Prädikationen versieht, die auch auf andere Gegner übertragen werden können. So wie in der Reformationszeit die Protestanten in den Augen katholischer Agitatoren zu Türken oder Juden wurden und die Katholiken in protestantischer Agitation mit ebensolchen Ausdrücken stigmatisiert wurden, so gelang dies im 20. Jahrhundert mit Freimaurern, Sozialisten, Bolschewisten oder Kapitalisten. Beim Isotopiefeld Kapitalismus / Materialismus sind es Wörter oder Wortverbindungen wie: die internationale jüdische Weltfinanz (MK 163), der Finanzjude oder der Börsenjude (MK 344), Schacherobjekt (MK 344), schieben (MK 345), internationales Weltfinanzjudentum (MK 505, 702), jüdische Börsenkräfte (MK 702), Finanzjudentum und das jüdisches Börsenkapital (MK 702). Diese Ausdrücke sind Stigmawörter, die mit ihnen angesprochenen Refe-
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renten keineswegs der jüdischen Religionsgemeinschaft angehören müssen. Das Kennzeichen des Jüdischen brennt aber jedem damit Gekennzeichneten den Makel aller antisemitischen Stereotype auf. Eine beliebte damit ins Boot der Exklusion geholte Gruppe sind die Marxisten und Russland. Das Stereotyp galt aber auch der internationalen Weltfinanz; es bediente den alten Topos von Deutschland in einer Welt von Feinden. Wie sich in den Belegen weiter unten noch zeigen wird, gilt es auch für die Presse (MK 94: der jüdische Presselump, MK 544: die jüdische Pressemeute), für jüdische Literaten (MK 414), für Parteien unter der Leitung von Juden (MK 504), für das jüdisch-demokratische Reich (MK 644), für jüdische Intellektuelle (MK 509), die jüdisch-freimaurerische Umklammerung (MK 521), die blut- und geldgierigen jüdischen Völkertyrannen (MK 704) usw. Für den ideologisch entgegengesetzt anzusiedelnden Sozialismus werde Ausdrücke gebraucht wie die jüdische Weltbolschewisierung (MK 752), Verknüpfungen wie: die Juden als Führer der Sozialdemokratie (MK 64), Verlogenheit des Judentums und seiner marxistischen Kampforganisation (MK 251) oder Prädikationen wie der Jude [siegt] mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses (MK 69; vgl. auch 351). MK 185: Der Marxismus, dessen letztes Ziel die Vernichtung aller nichtjüdischen Nationalstaaten ist und bleibt, mußte zu seinem Entsetzen sehen, daß in den Julitagen des Jahres 1914 die von ihm umgarnte deutsche Arbeiterschaft erwachte um sich von Stunde zu Stunde schneller in den Dienst des Vaterlandes zu stellen begann. In wenigen Tagen war der ganze Dunst und Schwindel dieses infamen Volksbetruges zerflattert, und einsam und verlassen stand das jüdische Führerpack nun plötzlich da, als ob nicht eine Spur von dem in sechzig Jahren den Massen eingetrichterten Unsinn und Irrwahn mehr vorhanden gewesen wäre. Es war ein böser Augenblick für die Betrüger der Arbeiterschaft des deutschen Volkes. Sowie aber erst die Führer die ihnen drohende Gefahr erkannten, zogen sie schleunigst die Tarnkappe der Lage über die Ohren und mimten frech die nationale Erhebung mit.
Der publikumswichtige Gegner Presse (44; 56; 61-65; 94, 263-267; 269), von Hitler als Schmutz- bzw. Schundpresse (34), als jüdische Demokratenpresse (191) bezeichnet und ihre Vertreter als Presselumpen (94), indirekt als Schweine (94 und s. u.) bzw. als jüdische Zeitungsvipern (269) beschimpft, wird prinzipiell mit jedem Einzelgegner verbunden. Sie scheint vielen Herren zu dienen und damit aber wiederum nur einem dienstbar zu sein. MK 265: Die Tätigkeit der sogenannten liberalen Presse war Totengräberarbeit am deutschen Volk und Deutschen Reich. Von den marxistischen Lügenblättern kann man dabei überhaupt schweigen; ihnen ist das Lügen genau so Lebensnotwendigkeit wie der Katze das Mausen; ist doch ihre Aufgabe nur, dem Volke das völkische und nationale Rückgrat zu brechen, um es reif zu machen für das Sklavenjoch des internationalen Kapitals und seiner Herren, der Juden. Was aber hat der Staat gegen diese Massenvergiftung der Nation unternommen? Nichts, aber rein gar nichts! Ein paar lächerliche Erlasse, ein paar Strafen gegen allzu heftige
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Niederträchtigkeit, und damit war Schluß. Dafür (266) aber hoffte man, sich diese Seuche wohlgeneigt zu machen durch Schmeicheleien, durch Anerkennung des "Wertes" der Presse, ihre "Bedeutung", ihrer "erzieherischen Mission" und ähnlichen Blödsinns mehr – die Juden aber nahmen es schlau lächelnd entgegen und quittierten mit verschmitztem Dank.
Wie widersprüchlich und unsinnig die von Hitler vorgenommenen Verknüpfungen auch sein mögen, so z. B. bei der sich beißenden Verbindung von marxistisch und demokratisch in: das seine [des Judentums] marxistische und demokratische Presse (298), sie dienen der gezielten Konstruktion einheitlicher Feinde. Sie werden zu Typen (vgl. Kap. X. 1) und verlieren ihre inhaltliche Verschiedenheit. Ein weiteres politisches Feindbild war die parlamentarische Demokratie. Auch sie kennzeichnet er als jüdisch beeinflusst, indem er behauptet, sie sei nur ein Instrument der Juden, mit dem neben dem politischen Zusammenbruch auch der kulturelle und moralische Verfall eingeläutet werden soll. MK 99: Daher ist diese Art von Demokratie auch das Instrument derjenigen Rasse geworden, die ihren inneren Zielen nach die Sonne zu scheuen hat, jetzt und in allen Zeiten der Zukunft. Nur der Jude kann eine Einrichtung preisen, die schmutzig und unwahr ist wie er selber.
Selbst wenn nicht explizit von einer engen Verflechtung zu den Juden geschrieben würde, die Verbindung offenbart sich in der Art der vorgenommenen Beschimpfung, denn neben den traditionellen Diffamierungen durch Ausdrücke wie parlamentarische Schwätzervereinigung (99), Parlamentsschwätzer (708) begegnen auch die zur Stigmatisierung der Juden immer wieder herangezogenen typischen Tiermetaphern wie Parlamentswanzen oder parlamentarische Ratten (113). Die schon deutlich gewordenen sprachlichen Waffen: Stigmatisierung, Feindbildkonstruktion und Feinbildkonzentration gehen einher mit einem speziell auf die Rasse hin orientierten Verfallsdiskurs, der als angsteinflößende Drohkulisse den Verlust gewohnter Ordnungsverhältnisse ankündigt und damit existentiell als Bedrohung für die Gemeinschaft wahrgenommen werden muss. In Bezug auf die vier letzten Dinge, diesmal nicht im Sinne mittelalterlicher Theologie, sondern nach I. Yaloms moderner existentieller Psychoanalyse (Yalom 2005, 19; 21ff.), in der Tod, Freiheit, Isolation und Sinnlosigkeit die Quellen existentieller Furcht sind, werden diese Furchtauslöser dazu benutzt, eine Utopie zu propagieren, die die eigene Position und vor allem die eigene Funktion herauszustellen weiß. Doch was für den Einen, den Inkludierten, die Utopie darstellt, bedeutet für den Anderen, denjenigen, der vermittels der Stigmatisierung ausgeschlossen wurde, den sicheren Untergang.
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9. 3. Rassismus und Menschenbild Bereits auf den ersten Blick treten die Parallelen zwischen Chamberlain und Hitler zu Tage. Beide erklären die Rasse zur Lebensfrage398 der gesamten Menschheit (MK 132). Bei Chamberlain lautete dies (fast wortgleich): Gl 293: So auch in der Frage, was RASSE zu bedeuten habe: eine der wichtigsten, vielleicht die allerwichtigste Lebensfrage, die an den Menschen herantreten kann.
Was man in diesem Kontext unter Lebensfrage zu verstehen hat, erklärt Hitler im sozialdarwinistischen Sinne: MK 317: Wer leben will, der kämpfe also, und wer nicht streiten will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht. Selbst wenn dies hart wäre – es ist nun einmal so! Sicher jedoch ist das weitaus härteste Schicksal jenes, das den Menschen trifft, der die Natur glaubt überwinden zu können und sie im Grunde genommen doch nur verhöhnt. [...] Der Mensch, der die Rassengesetze verkennt und mißachtet, [...] verhindert den Siegeszug der besten Rasse und damit aber auch die Vorbedingung zu allem menschlichen Fortschritt. Er begibt sich in der Folge, belastet mit der Empfindlichkeit des Menschen, in den Bereich des hilflosen Tieres.
Mit dem Kompositum Lebensfrage wird der Untergang der Kultur, der Verfall der Menschheit präsupponiert. Eine solche Bedrohung betrifft jeden Einzelnen, und zwar entweder dadurch, dass er in den Bereich des hilflosen Tieres absinkt, oder dadurch, dass er vollständig dem Nicht-Leben anheim fällt. Der Streit im Sinne der Rassegesetze mit der Aussicht auf den Siegeszug der besten Rasse ist die daraus folgende Handlungsanweisung. Die Frage der Rasse wird von Hitler dementsprechend in den Traditionen Chamberlains und Gobineaus zum Schlüssel der Weltgeschichte (MK 372) erklärt, als Voraussetzung zur Bildung einer höheren menschlichen Kultur (MK 431) angesehen, außerdem dadurch moralisiert und sakralisiert, dass Verstöße gegen die damit postulierten Prinzipien nicht nur in eine Metaphorik von Sünde und Schande gekleidet (Rassenschande MK 444, Blutschande MK 135), sondern mit religiösen Kategorien wie der Erbsünde (MK 272) parallelisiert werden. Die mit dem Konzept der Rasse formulierten Ausschlusspraktiken basieren auf dem Prinzip der Ungleichheit der einzelnen Menschenrassen, _____________ 398 Vgl. Hitler I, 269; 301; II, 155; 191; vgl. auch Chamberlain: Wer hat den Krieg verschuldet?
33/34; IuM 26; Goebbels im Sportpalast 1943 (1991, 178): "Die europäischen Mächte stehen hier vor ihrer entscheidenden Lebensfrage. Das Abendland ist in Gefahr. Ob ihre Regierungen und ihre Intelligenzschichten das einsehen wollen oder nicht, ist dabei gänzlich unerheblich." Henry Ford, Der internationale Jude 1934, 8: "Die Judenfrage berührt nicht nur allgemein bekannte Dinge wie Finanz- und Handelsherrschaft, Eroberung der politischen Macht, Monopolisierung aller Lebensbedarfe und willkürliche Beeinflussung des amerikanischen Pressewesens, sondern sie dringt in das Gebiet des Kulturlebens ein und wird so zur Lebensfrage des Amerikanertums." Außerdem: ebd. 42; Rosenberg 1934, 644.
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wobei Hitler Gobineaus Vorlage, die Dreiteilung von schwarzer, gelber und weißer Rasse, insofern aufhebt, als er die Juden als den Hauptgegner der arischen Rasse herausstellt und so zu einer eigenen Größe macht; dies wird auch dadurch erreicht, dass er sie nicht zuordnet. Im Hinblick auf die 'Qualität' der so genannten gelben Rasse ist auffällig, dass er Nationen wie die Japaner als kulturtragend kategorisiert (MK 318), während er die Chinesen auf eine Stufe mit den Schwarzen stellt (MK 428). Hier verbindet sich die Tradition Gobineaus (II, 311f.), der die Chinesen zwar zunächst den Weißen zuordnet, dann aber von ihrer Mongolisierung (II, 346) schreibt, mit derjenigen Chamberlains (Gl 843; 846ff.), der die Chinesen als Maschine gewordene Menschen bezeichnete (Gl 885). Die "Schwarzen" stehen bei aller Konzentration auf die Juden als dem Hauptfeind auch bei Hitler am untersten Rand der Menschenwertskala; sie erscheinen bei ihm herablassend als primitive und tiefstehende Menschenkinder (MK 446), von denen angeblich eine existentielle Gefahr, in seinen Worten die Vernegerung (MK 704), für die höher stehende Rasse der Weißen, besonders für den Arier, ausgeht. Das Prinzip der Ungleichheit ist in dieser Argumentation eine ebenso natürliche wie gottgegebene Existenzqualität des Menschen, die nicht durchbrochen werden darf. Jede Angleichung des Ungleichen durch Verschmelzung (MK 436), Rassen- (MK 313) / Blutvermischung (MK 313) / Blutvermengung (MK 313) führe zu einem Völkergemisch (MK 135) / Rassenkonglomerat (MK 135) / Rassenbrei (MK 438), letztlich zur Rassenschande (MK 444). Die Folgen einer solchen Vermischung wären die Entwaffnung der geistigen Führerschicht (MK 346), daraus resultierend eine Herrschaft der Minderwertigen (MK 351) und eine Koalition der Krüppel (MK 747), auf der politisch-gesellschaftlichen Ebene der kulturelle Niedergang (MK 432) und im Hinblick auf Gottesrecht und Naturrecht Strafe und Untergang des Menschen (s. u.). MK 313/4: So wenig sie [die Natur] aber schon eine Paarung von schwächeren Einzelwesen mit stärkeren wünscht, soviel weniger noch die Verschmelzung von höherer Rasse mit niederer, da ja andernfalls ihre ganze sonstige, vielleicht jahrhunderttausendelange Arbeit der Höherzüchtung mit einem Schlage wieder hinfällig wäre. Die geschichtliche Erfahrung bietet hierfür zahllose Belege. Sie zeigt in erschreckender Deutlichkeit, daß bei jeder Blutvermengung des Ariers mit niedrigeren Völkern als Ergebnis das Ende des Kulturträgers herauskam. Nordamerika, dessen Bevölkerung zum weitaus größten Teile aus germanischen Elementen besteht, die sich nur sehr wenig mit niedrigeren farbigen Völkern vermischten, zeigt eine andere Menschheit und Kultur als Zentral- und Südamerika, in dem die hauptsächlich romanischen Einwanderer sich in manchmal großem Umfange mit den Ureinwohnern vermengt hatten. An diesem einen Beispiele schon vermag man die Wirkung der Rassenvermischung klar und deutlich zu erkennen. Der rassisch rein und unvermischt gebliebene Germane (314) des amerikanischen Kontinents ist zum Herrn desselben aufgestiegen; er wird der Herr so
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lange bleiben, so lange nicht auch er der Blutschande zum Opfer fällt. Das Ergebnis jeder Rassenkreuzung ist also, ganz kurz gesagt immer folgendes: a) Niedersenkung des Niveaus der höheren Rasse, b) körperlicher und geistiger Rückgang und damit der Beginn eines, wenn auch langsam, so doch sicher fortschreitenden Siechtums. Eine solche Entwicklung herbeiführen, heißt aber denn doch nichts anderes, als Sünde treiben wider den Willen des ewigen Schöpfers. Als Sünde aber wird diese Tat auch gelohnt. Indem der Mensch versucht, sich gegen die eiserne Logik der Natur aufzubäumen, gerät er in Kampf mit den Grundsätzen, denen auch er selber sein Dasein als Mensch allein verdankt. So muß sein Handeln gegen die Natur zu seinem eigenen Untergang führen.
Die bereits genannte Handlungsanweisung, die sich aus dem Ideologiegebräu von Kultur- und Naturgeschichte, Biologie und Religionsersatz ergibt, steht wiederum in der Folge des Sozialdarwinismus. Zum Schutz vor "dieser Körper und Seele zerstörenden Erkrankung" und dem sicher daraus resultierenden Tod, – das Wort Siechtum bezeichnet bekanntlich eine >Krankheit zum Tode< –, fordert Hitler, die Erhaltung der Rasse zur primären Aufgabe des Staates (MK 144) zu machen. Vollzogen werden soll dies durch Geburtenkontrolle (MK 144) und Sterilisation (MK 447) erblich belasteter Menschen, die mit Syphilitikern, Tuberkulosen, Krüppeln und Kretins (MK 445) in eine Reihe gestellt werden. Er will eine gezielte Vermehrung des deutschen Volkes (MK 144) durch Menschenauslese (MK 477) bzw. Menschenzüchtung (MK 728) und fordert dabei, die besondere Aufmerksamkeit auf die Höherzüchtung des Ariers (MK 313) zu legen. Hitler legitimiert dies immer wieder mit den Naturgesetzen, indem er von naturgesetzlichen Vorgängen (MK 310) schreibt, davon, dass die Natur die Rassenreinheit wolle und zur Höherzüchtung des Lebens (MK 312) geradezu dränge. Abgesehen vom Selbsterhaltungsrecht des Ariers geht es ihm in unverhohlenem Machtanspruch um das Herrenrecht des Daseins (MK 148), das für Arier eben in besonderer Weise gültig sei, da diese als Ebenbilder des Herrn gelten, damit Ziel und Maß aller Dinge, besonders aber des Staates sind. Dass Hitler sich selbst dieser Herrenrasse zuordnet, wird in folgendem Zitat durch die Parallelisierung von Nationalsozialisten und Ariern deutlich. MK 434: Wir Nationalsozialisten dürfen als Verfechter einer neuen Weltanschauung uns niemals auf jenen berühmten "Boden der – noch dazu falschen – Tatsachen" stellen. Wir wären in diesem Falle nicht mehr die Verfechter einer neuen großen Idee, sondern die Kulis der heutigen Lüge. Wir haben schärfstens zu unterscheiden zwischen dem Staat als einem Gefäß und der Rasse als dem Inhalt. Dieses Gefäß hat nur dann einen Sinn, wenn es den Inhalt zu erhalten und zu schützen vermag; im anderen Falle ist es wertlos. Somit ist der höchste Zweck des völkischen Staates die Sorge um die Erhaltung derjenigen rassischen Urelemente, die, als kulturspendend, die Schönheit und Würde eines höheren Menschentums schaffen. Wir, als Arier, vermögen uns unter einem Staat also nur den lebendigen Organismus eines Volkstums vorzustellen, der die Erhaltung dieses
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Volkstums nicht nur sichert, sondern es auch durch Weiterbildung seiner geistigen und ideellen Fähigkeiten zur höchsten Freiheit führt.
Mit dem Arier verbindet Hitler ein höheres Menschentum (MK 434), das sich trotz der bereits vollzogenen Verfallserscheinungen aus vermeintlich noch vorhandenen rassischen Urelementen regenerieren lässt. Der hiermit angesprochene Regenerationsgedanke spiegelt auf der einen Seite die deutliche Abkehr Hitlers von Gobineaus Verfallspessimismus und zeigt auf der anderen Seite, wie tief Hitler in der wortwörtlichen Tradition Wagners bzw. Chamberlains steht. Dabei wird Wagners Regenerationslehre (vgl. dazu z.B. Wagner 8, 49) als positive kulturbezogene Utopie zum rassepolitischen Programm einer Weltanschauungspartei. MK 443: Darin liegt ein, wenn auch langsamer natürlicher Regenerationsprozeß begründet, der rassische Vergiftungen allmählich wieder ausscheidet, solange noch ein Grundstock rassisch reiner Elemente vorhanden ist und eine weitere Bastardierung nicht mehr stattfindet.
Um dieses Programm machtpolitisch wie Ideologisch durchzusetzen, muss Hitler jedoch zunächst das von Chamberlain und anderen vorgestellte Textsspiel treiben; er muss ein erschreckendes Bild von Bedrohung und Verfall, von einer Welt von Feinden zeichnen, um diesem dann einen schillernden Helden gegenüberzustellen. Ohne eine solche argumentativpolarisierende Vorgehensweise könnte er weder die Notwendigkeit der von ihm angestrebten politischen wie ideologischen Veränderungen noch seine an vielen Stellen ausgesprochen brutale Rhetorik überzeugend vermitteln. Sein wichtigstes Mittel ist die schon angesprochene Stigmatisierung des rassischen Hauptfeindes. MK 224: Mit dem Juden gibt es kein Paktieren, sondern nur das harte EntwederOder.
9. 4. Die Stigmatisierung und Dehumanisierung der Juden Dehumanisierung und Stigmatisierung gehen Hand in Hand. Dennoch erscheint es sinnvoll, die genannten drei Stigmatisierungsarten noch einmal aufzugreifen und sie getrennt von der typischen Dehumanisierungsmetaphorik zu behandeln. Wenn man Hitlers Äußerungen auf die drei Stigmatisierungstypen, also 1. auf physische Deformation (Abscheulichkeiten des Körpers), 2. individuelle Charakterfehler und 3. phylogenetische Merkmale, überträgt, wird deutlich, dass man Goffmans Typen auch als Stigmatisierungsketten399 lesen kann, in denen die eine konstruierte Inferiorität die andere _____________ 399 Goffman 2002, 12-14.
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nach sich zieht. Man setzt sie gezielt ein, um den als unauffällig vorausgesetzten Menschen eine Gruppe von Personen als andersartig bis geradezu abartig entgegenzustellen. Goffmans Typen werden von Rassisten wie Hitler in eine bestimmte Hierarchie gebracht, wobei zu bedenken ist, dass eine körperliche Behinderung, z. B. ein amputiertes Bein, als "erworbenes" Ausgangszeichen für eine Stigmatisierungshandlung, selbstverständlich eine vollkommen andere Kategorie darstellt, als z. B. die Stigmatisierung von Homosexuellen in prüden Gesellschaften, da deren Stigma körperlich nicht sichtbar ist. Bei Hitler gibt es keine Trennung der verschiedenen Typen als systematisch anders, sondern der eine Typ, nämlich der phylogenetische, wird zum argumentativen Ausgangstyp, mit dem bewiesen wird, dass die Angehörigen der betroffenen Gruppe auch in den beiden anderen Kategorien defizient sind, es geradezu sein müssen. Mit anderen Worten: Weil die Juden einer als phylogenetisch deklarierten minderwertigen Gruppe, nämlich einer Rasse, angehören, sind sie in Hitlers Argumentation konsequenterweise sowohl moralisch als auch körperlich defizient. Es ist trotzdem sinnvoll, die verschiedenen Typen einzeln zu beschreiben. Hinsichtlich des ersten Typs möchte ich die Kategorie "Abscheulichkeiten des Körpers" etwas weiter fassen als Goffman und darin alle äußerlich sichtbaren Kennzeichen einer Person oder einer Gruppe verstehen, die diese in der Wahrnehmung der sich als "normal" verstehenden anderen Personen schon auf den ersten Blick stigmatisierungstauglich machen. Eine solche "Abscheulichkeit" ist selbstverständlich keine objektive Größe, sondern kultur- und gesellschaftsabhängig; sie wird also in der Regel "gesetzt". Für Hitler ist diese äußerliche Unterscheidbarkeit deshalb wichtig, weil sie nicht nur ein Baustein in seiner Argumentation ist, sondern zum Kriterium wird, ob jemand ein Mensch ist, oder nicht. MK 55: Linz besaß nur sehr wenig Juden. Im Laufe der Jahrhunderte hatte sich ihr Äußeres europäisiert und war menschlich geworden; ja, ich hielt sie sogar für Deutsche. Der Unsinn dieser Einbildung war mir wenig klar, weil ich das einzige Unterscheidungsmerkmal ja nur in der fremden Konfession erblickte.
Die 'Europäisierung' als übergeordnete Größe und als Kriterium für die Zugehörigkeit zum "wahren Menschentum" war schon bei Chamberlain zu finden, die Nationalisierung ebenfalls. Dass Hitler gleich zu Beginn seiner Ausführungen das Aussehen mit der Frage nach der Menschlichkeit parallelisiert, ist nicht zufällig. Die Dämonisierung des Feindes und das Problem der Erkennbarkeit gehören zu den zentralen Bestandteilen seiner Polemik. Wenn die Erkennbarkeit nicht gewährleistet ist, muss sie hergestellt werden: MK 59: stieß ich plötzlich auf eine Erscheinung in langem Kaftan mit schwarzen Locken. Ist dies auch ein Jude? war mein erster Gedanke. […] [61] Mir wurde bei
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dem Geruche dieser Kaftanträger später manchmal übel. Dazu kamen noch die unsaubere Kleidung und die wenig heldische Erscheinung. Dies alles konnte schon nicht sehr anziehend wirken; abgestoßen mußte man aber werden, wenn man über die körperliche Unsauberkeit hinaus plötzlich die moralischen Schmutzflecken des auserwählten Volkes entdeckte. [….] Gab es denn da einen Unrat, eine Schamlosigkeit in irgendeiner Form, vor allem des kulturellen Lebens, an der nicht wenigstens ein Jude beteiligt gewesen wäre?
Wenn Hitler vom Geruch und der körperlichen Unsauberkeit schreibt, die er neben die fremdartige äußere Erscheinung stellt, fremd durch Kleidung und Frisur, so spricht er alle Sinne seiner Leser an und kehrt schon bei der ersten Beschreibung das Äußerliche nach innen. Die "Abscheulichkeit des Äußeren" (Goffman s. o.) wird somit schnell zum Spiegel charakterlicher Defizienz. Die Technik dieser Stigmatisierung besteht darin, dass etwas sinnlich Wahrnehmbares als 'abstoßend' erklärt wird, und dass Adressaten vorhanden sind, die diesen Stigmatisierungsansatz bereitwillig anerkennen und schließlich übernehmen, vielleicht längst auf eine solche Zuspitzung gewartet haben. Auch der angesprochene zweite Typ, der individuelle Charakterfehler, muss spezifiziert werden. Das Adjektiv individuell darf hier anders als bei Goffman nicht als eine einmalige Qualität verstanden werden, die einem Individuum exklusiv zukomme, es bezieht sich vielmehr auf charakterliche Eigenschaften einer Einzelperson als Konsequenz von deren phylogenetischer Zugehörigkeit. Das individuelle (im Sinne von: 'einer Einzelperson zukommende') Merkmal wird damit typisch (im Sinne von 'auch anderen Personen der gleichen Gruppe zukommend'); die Fehlleistung eines Einzelnen wird zum Beweis der prinzipiellen Fehlerhaftigkeit der Gruppe. Ich nenne hier nur eine Auswahl aus den Charakterisierungen, die logisch betrachtet nur auf Individuen bezogen werden können, von Hitler aber auf die gesamte Gruppe transformiert werden: Allgemein charakterisiert Hitler seinen Gegner als minderwertig (MK 430) und von niedriger Wesensart (358). Regelmäßig erscheint der Topos vom Juden als Meister der Lüge (335; ferner 62, 67, 165; 251, 253, 335, 337, 365, 386 u. ö.). Besonders anrüchig ist die Anschuldigung, die Juden betrieben Prostitution und Mädchenhandel (63), seien schmierig im übertragenen Sinne (67) und ohne idealistische Gesinnung (390), ein Vorwurf, der besonders schwer wiegt, weil der Idealismus angeblich die Triebkraft des Ariers ist. Außerdem sei der Jude ein Wucherer (338), ein Erpresser (338), ein Ausbeuter (338), ein Arbeitsverweigerer (334), ein Nestbeschmutzer (65), ein Verführer (66, 67), ein Verderber (68), ein Volksvergifter (185) bzw. Volksverhetzer (185) und Weltverschwörer (337, ähnlich 413, 504). Hitler schreibt ihm Heuchelei (166) zu, Verleumdung (386), Feigheit und Drückebergerei (211, 331), Frechheit (248), nackten Egoismus (331).
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Typisch für die genannten Negativzuschreibungen ist auch Hitlers Maskierungsmetapher, die nicht nur als roter Faden durch Mein Kampf führt, sondern sich zum Beispiel auch durch Veit Harlans Film Jud Süß hindurchzieht. Hitler schreibt, der Jude maskiere sich immer (MK 334; vgl. auch 68, 346, vgl. auch 621f), verstecke sich hinter einem Schleier oder einer Schutzdecke (335), trage eine Tarnkappe (185) oder verwandele sich (341), habe gar eine besondere Wandlungsfähigkeit (64). Die so betriebene Konstruktion des Heimtückischen und Hinterhältigen wird zusätzlich unterstrichen (vgl. dazu MK 251) durch den Vorwurf sprachlicher Verkleidung, da der Jude in tausend Sprachen reden kann und dennoch immer der eine Jude bleibt (342), sich immer wieder anpasse, ohne wirklich anpassungswillig zu sein. Seine Maskierung (346) diene letztlich der Einschläferung der Opfer (ebd.), sie betreffe sogar seine Religion, da sie in Wirklichkeit gar keine sei (334), sondern dem Völkerparasiten (335) nur zur Tarnung seines jüdischen Staates innerhalb anderer Staaten diene. (Man beachte die fast wörtliche Anlehnung an Schopenhauer und Chamberlain.) Im Gegensatz dazu agierten die Nationalsozialisten immer mit offenem Visier (758): Was der Himmel auch mit uns vorhaben mag, schon am Visier soll man uns erkennen. Die phylogenetische Argumentation, der dritte Typ, ist als übergeordnete und rassen- oder religionsspezifische Stigmatisierung bereits in ihren Grundzügen erläutert worden. Typische Stigmatisierungen, die sich daraus ergeben, sind: Hitler betitelt die Juden immer wieder in ironisch-spöttischer Weise als auserwähltes Volk (MK 62; 330 u. ö.). Ähnlich wie bei Chamberlain wird deutlich, dass auch bei ihm eine Projektion im Spiel ist, mit der er die Deutschen gerne zum auserwählten Volk konstruieren würde. Ebenso wichtig ist die Stigmatisierung der Juden als kulturlos (195/6) und als Kulturschmarotzer (329; 332ff.), was schon allein auf dem Hintergrund der Chamberlain'schen und Gobineau'schen kulturkonstruktiven Hierarchieschemata dehumanisierend ist. Es gibt darüber hinaus Passagen, die deutlich an Wagners Judenbroschüre erinnern, in der der Komponist schreibt: der Jude hat nie eine eigene Kunst gehabt, daher nie ein Leben von kunstfähigem Gehalte (Wagner 5, 75). In Hitlers Worten lautet dies: MK 332: Als wesentliches Merkmal bei der Beurteilung des Judentums in seiner Stellung zur Frage der menschlichen Kultur muß man sich immer vor Augen halten, daß es eine jüdische Kunst niemals gab und demgemäß auch heute nicht gibt, daß vor allem die beiden Königinnen aller Künste, Architektur und Musik, dem Judentum nichts Ursprüngliches zu verdanken haben. Was es auf dem Gebiete der Kunst leistet, ist entweder Verbalhornung oder geistiger Diebstahl. Damit aber fehlen dem Juden jene Eigenschaften, die schöpferisch und damit kulturell begnadete Rassen auszeichnen.
Wagner war es auch, der vom Nachplappern bzw. Nachäffen der jüdischen Künstler (5, 74) schreibt (vgl. auch 5, 77ff.) und der die Juden in ähnlich
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drastischen Formulierungen für den viel beschriebenen kulturellen Verfall verantwortlich macht bzw. ihnen unterstellt, dass sie davon profitierten: Wagner 5, 84f: Dieser Kunst konnten sich die Juden nicht eher bemächtigen, als bis in ihr Das dazuthun war, was sie in ihr erweislich eben offengelegt haben: ihre innere Lebensunfähigkeit. So lange die musikalische Sonderkunst ein wirkliches organisches Lebensbedürfniß in sich hatte, bis auf die Zeiten Mozart's und Beethoven's, fand sich nirgends ein jüdischer Komponist: unmöglich konnte ein diesem Lebensorganismus gänzlich fremdes Element an den Bildungen dieses Lebens theilnehmen. Erst wenn der innere Tod eines Körpers offenbar ist, gewinnen die außerhalb liegenden Elemente die Kraft, sich seiner zu bemächtigen, aber nur um ihn zu zersetzen; dann löst sich wohl das Fleisch dieses Körpers in wimmelnde Viellebigkeit von Würmern auf: wer möchte aber bei ihrem Anblicke den Körper selbst noch für lebendig halten? Der Geist, das ist: das Leben, floh von diesem Körper hinweg zu wiederum Verwandtem, und dieses ist nur das Leben selbst: nur im wirklichen Leben können auch wir den Geist der Kunst wiederfinden, nicht bei ihrer Würmerzerfressenen Leiche.
Hitler erklärt, die kulturelle Impotenz der Juden führe dazu, dass sie jede wahre Kultur hassen würden (MK 346) und entsprechend auch alles daran setzten, den kulturellen Verfall der Menschheit (MK 62) herbeizuführen. Dies gelinge ihnen vermittels der von ihnen "planmäßig" vorangetriebenen rassischen Verjudung (das Wort mit Umlaut gilt als Wagnererfindung; Wagner 5, 86; MK 349, u. ö.; auch II 201) bzw. Verwelschung (MK 349) bzw. Bastardisierung (MK 357), Verpestung, sie seien sogar Initiatoren der schon genannten Vernegerung (MK 704). Abgesehen von diesen "rassischen" Angriffen betrieben die Juden angeblich auch psychologische Zersetzung und Zermürbung (MK 351). Hitler greift dabei traditionell auf den Vorwurf vom jüdischen Materialismus zurück und schreibt über Verjudung unseres Seelenlebens und Mammonisierung unseres Paarungstriebes (MK 269), außerdem von dem Versuch der Juden, die nationale Intelligenz auszurotten (MK 629). Die Juden seien als Rasse aber auch schuld an der Revolution, am wirtschaftlichen Zusammenbruch (MK 211), am Dolchstoß (MK 367), am nationalen Verrat (MK 367). Sie wollten eine blutsaugerische Tyrannei (MK 339) und Menschenausbeutung (MK 340). Ihre Religion sei, wie oben schon angedeutet, gar keine wahre Religion, sondern nur ein Mittel zum Geschäftemachen (MK 336f.). Wenn der so beschriebene Feind zum Zuge käme, so presst und saugt er aus (MK 343), so zersetzt er und zermürbt (MK 351) er, so sei er destruktiv (MK 498) und fräße die Völker (MK 504). Sein Ziel sei, in dieser Argumentation nur konsequent, die Weltherrschaft (MK 357) bzw. -verschwörung (MK 352) bzw. Eroberung (MK 413; vgl. auch 504), ein Topos, der schon im 16. Jahrhundert bei Luthers Gegenspieler Johan-
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nes Eck400 begegnet. Die moderne, weniger religiös bestimmte Fassung lautet: MK 352: Entsprechend den Schlußzielen des jüdischen Kampfes, die sich nicht nur in der wirtschaftlichen Eroberung der Welt erschöpfen, sondern auch deren politische Unterjochung fordern, teilt der Jude die Organisation seiner marxistischen Weltlehre in zwei Hälften, die, scheinbar voneinander getrennt, in Wahrheit aber ein untrennbares Ganzes bilden: in die politische und die gewerkschaftliche Bewegung.
Die jüdische Rasse wird von Hitler summa summarum als der Todfeind unseres Volkstums und jeder arischen Menschheit und Kultur (MK 386) dargestellt. MK 629: Man halte sich die Verwüstungen vor Augen, welche die jüdische Bastardierung jeden Tag an unserem Volke anrichtet, und man bedenke, daß diese Blutvergiftung nur nach Jahrhunderten oder überhaupt nicht mehr aus unserem Volkskörper entfernt werden kann; man bedenke weiter, wie die rassische Zersetzung die letzten arischen Werte unseres deutschen Volkes herunterzieht, ja oft vernichtet, so daß unsere Kraft als kulturtragende Nation ersichtlich mehr und mehr im Rückzug begriffen ist, und wir der Gefahr anheimfallen, wenigstens in unseren Großstädten dorthin zu kommen, wo Süditalien heute bereits ist. Diese [630] Verpestung unseres Blutes, […], wird aber vom Juden heute planmäßig betrieben. Planmäßig schänden diese schwarzen Völkerparasiten unsere unerfahrenen, jungen blonden Mädchen und zerstören dadurch etwas, was auf dieser Welt nicht mehr ersetzt werden kann. Beide, jawohl, beide christlichen Konfessionen sehen dieser Entweihung und Zerstörung eines durch Gottes Gnade der Erde gegebenen edlen und einzigartigen Lebewesens gleichgültig zu. Für die Zukunft der Erde liegt aber die Bedeutung nicht darin, ob die Protestanten die Katholiken oder die Katholiken die Protestanten besiegen, sondern darin, ob der arische Mensch ihr erhalten bleibt oder ausstirbt. […] Gerade der völkisch Eingestellte hätte die heiligste Verpflichtung, jeder in seiner eigenen Konfession dafür zu sorgen, daß man nicht nur immer äußerlich von Gottes Willen redet, sondern auch tatsächlich Gottes Willen erfülle und Gottes Werk nicht schänden lasse. Denn Gottes Wille gab den Menschen einst ihre Gestalt, ihr Wesen und ihre Fähigkeiten. Wer sein Werk zerstört, sagt damit der Schöpfung des Herrn, dem göttlichen Wollen, den Kampf an.
Die Feindbildkonstruktion geschieht, wie es hier deutlich wird, vor allem durch metaphorische Dehumanisierungsmuster, von denen besonders die Tier- und Krankheitsmetaphorik heraussticht, die aber auch nicht ohne Schmutzmetaphorik (Morast / Unrat / Dreck / Schmutz, MK 278, oder Verben wie besudeln, MK 287) auskommt. Alles zusammen leitet über zur Kriminalisierung der Angegriffenen, zur religiösen Legitimation der eige_____________ 400 Johannes Eck: Eines Judenbüchleins Verlegung 1541: Ains Juden Büechlins Verlegung darin ain Christ, gantzer Christenhait zuo Schmach, will es geschehe den Juden Unrecht in Bezichtigung der Christen Kinder Mordt. hierin findst auch vil Histori, was Übels und Büeberey die Juden in allem teütschen Land, und andern Künigreichen gestift haben. Ingolstadt 1541. Weissenhorn. 96 Bl. Mikroreprod. UB Heidelberg.
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nen Exklusions- und Aggressionshandlung und zur sakralen Überhöhung des Retters.
9. 5. Metaphorik der Dehumanisierung: Tiere, Kriminelle und Dämonen. Von der Krankheit zum Verfall. Nicht nur Hitlers Argumentationsführung entspricht oft bis ins Detail den Bayreuther Vorbildern, sondern auch sein Metapherngebrauch. Im Zusammenhang mit der Lebensreform wurde schon darauf hingewiesen, dass Hygiene seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einem leitmotivischen Aufklärungsthema der Zeit und aller Klassen gehörte. Die Menschen sind sich viel stärker als jemals zuvor bewusst, dass Schmutz und Unrat, insgesamt unhygienische Verhältnisse, zu Krankheiten führen können. Man ist sich aufgrund der neuen medizinischen Erkenntnisse außerdem darüber im Klaren, dass Krankheiten, die durch Bakterien oder durch Viren verursacht werden, in der Regel nicht nur eine Person allein betreffen, sondern ansteckend sein und sogar epidemische Ausmaße annehmen können. Das Beispiel der Pest, aber auch der noch in vielen Großstädten wütenden Cholera, hat sich anschaulich ins kollektive Gedächtnis eingegraben. Auch hätte, falls dies alles tatsächlich in Vergessenheit geraten wäre, die Spanische Grippe am Ende des Ersten Weltkrieges mit ihren Millionen Todesopfern weltweit die Erinnerung wach gehalten. Hitlers Anspielungen auf solche kollektiven Ängste sind ausgesprochen zahlreich. Immer wieder zeichnet er das Horrorszenario aufkommender Krankheiten (MK 284) wie Tuberkulose bzw. Schwindsucht (253), er schreibt von Verseuchungen des Volkskörpers (269; 272) durch Erreger (246; 253), von schädlichen Bazillen (334) und von Infizierung (705), Massenverseuchung (271), Vergiftungen des Volkskörpers (251; 269), Blutvergiftung (270) und Verpestung (s. u.). Er meint damit in erster Linie nicht die in den Bereich der Medizin fallenden Krankheiten, sondern immer wieder die Judenkrankheit (277) als eine Art medizinischen Gesamtgegner, mit dessen Überwindung alle Krankheiten der Menschheit zu beseitigen seien. Seuchen wie die Pest brauchen dabei nicht einmal explizit genannt zu werden, da bestimmte Marker, wie Geschwulst oder faulender Leib, aufgrund ihrer Anschaulichkeit die Krankheit bereits evozieren, bevor sie dann irgendwo später explizit namhaft gemacht wird. Das Bild des Einschneidens in die eitrigen Beulen erscheint dann als einzig wirksame Heilmethode in einem ansonsten aussichtslosen Kampf: MK 61: Sowie man nur vorsichtig in eine solche Geschwulst hineinschnitt, fand man, wie die Made im faulenden Leibe, oft ganz geblendet vom plötzlichen Lichte, ein Jüdlein.
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In die häufig genutzte Isotopiekette Pest (MK 282; 338) gehören neben den einzelnen Pestbezeichnungen 'Metaphern wie der schwarze Tod (62), Wortbildungen wie Verpestung (272; 704), Weltpest (170; 413), Gesinnungspestilenz (170), Synonyme wie Verseuchung (296; 272). Zur Reihe bestimmter Tiere, die als Baziellenträger (61) bekannt sind und immer wieder mit den Juden als vermeintlichen Urhebern aller epidemischen Krankheiten in Verbindung gebracht werden, gehören die für die Pest stehenden Ratten (113; 330), die Wanzen (113) und die Läuse, die teils explizit genannt und teils andeutend in Phrasemen wie in den Pelz setzen aufgerufen werden (61). MK 62: Das war Pestilenz, geistige Pestilenz, schlimmer als der schwarze Tod von einst, mit der man da das Volk infizierte. Und in welcher Menge dabei dieses Gift erzeugt und verbreitet wurde! Natürlich, je niedriger das geistige und sittliche Niveau eines solchen Kunstfabrikanten ist, um so unbegrenzter ist seine Fruchtbarkeit, bis so ein Bursche schon mehr wie eine Schleudermaschine seinen Unrat der anderen Menschheit ins Antlitz spritzt. Dabei bedenke man noch die Unbegrenztheit ihrer Zahl; man bedenke, daß auf einen Goethe die Natur immer noch leicht zehntausend solcher Schmierer der Mitwelt in den Pelz setzt, die nun als Bazillenträger schlimmster Art die Seelen vergiften
Die Assoziierung von Läusen und Juden ist so erfolgreich, dass Hitler auf Seite 430 nur noch von der verlausten Völkerwanderung zu schreiben braucht, damit natürlich doppelt metaphorisierend auf Ratten und Läuse zugleich anspielt. Jeder seiner Leser weiß, da die Metaphernfelder lexikalisiert waren, sofort, auf wen sich die Aussage bezieht. Als Sammelbezeichnung nutzt er auch Ungeziefer (MK 186), eine metaphorische Implikation, die sowohl Unreinheit und Unsauberkeit wie schwere Bekämpf-barkeit ausdrückt und damit deontisch als Handlungsanweisung fungiert, die so klassifizierten Tiere, in metaphorischem Gebrauch: die damit assoziierten Menschen, zu vernichten. Hitler formuliert dies sehr deutlich: MK 185f.: Nun wäre aber der Zeitpunkt gekommen gewesen, gegen die ganze betrügerische Genossenschaft dieser jüdischen Volksvergifter vorzugehen. Jetzt mußte ihnen kurzerhand der Prozeß gemacht werden, [...] . Es wäre die Pflicht einer besorgten Staatsregierung gewesen, nun, da der deutsche Arbeiter wieder den Weg zum Volkstum gefunden hatte, die Verhetzer dieses Volkstums unbarmherzig auszurotten. Wenn an der Front die Besten fielen, dann konnte man zu Hause wenigstens das Ungeziefer vertilgen.
Der Weg ging von der Körperhygiene zur Sexualhygiene, von dieser zur Rassenhygiene und zur Forderung auszurotten, zu vertilgen. Die zweite von Hitler bemühte Krankheit ist die Syphilis. Sie ist ebenso wie die Pest, wenn auch nicht in demselben epidemischen Ausmaß, ansteckend. Selbst wenn Hitler später meint, dass er gerade dieses Kapitel nicht mehr in derselben Weise schreiben würde,401 so passte es ihm gesamtkonzeptionell _____________ 401 Vgl. Maser 2002, 54.
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doch gut in sein metaphorisches System. Parallel zur Verpestung schreibt er von der Versyphilitisierung (MK 272) als einer entsetzliche[n] gesundheitliche[n] Vergiftung des Volkskörpers (269). Doch anders als die auf Unreinlichkeit und Unhygiene zurückgeführte Schicksalskrankheit Pest betont die metaphorische Implikation der Syphilis besonders sexuelle und moralische Aspekte. Syphilis evoziert Unzucht und Unmoral. Sie führt nicht nur zum physischen Verfall des erkrankten Mannes, sondern zerstört vor allem seine Potenz und endet in vielen Fällen im Zustand der Demenz. Dass sie kein Einzelfall bleiben kann, ist für Hitler erwiesen. Die Prostituierung der Liebe, die moralische Verheerung, die Verjudung unseres Seelenlebens und Mammonisierung unseres Paarungstriebes (s. u.) werden als Anzeichen der unmittelbar bevorstehenden Gefahr rassischer wie moralischer Entartung des Volkes, damit als Vorboten seiner drohenden Zugrunderichtung verkündet. Auch dafür erscheinen die Juden als verantwortlich. Die Krankheit selbst ist sowohl das Produkt der moralischen und rassischen "Entartung" als auch deren Ursache. MK 269: Die Ursache aber liegt in erster Linie in unserer Prostituierung der Liebe. Auch wenn ihr Ergebnis nicht diese fürchterliche Seuche [die Syphilis; ALR] wäre, wäre sie dennoch von tiefstem Schaden für das Volk, denn es genügen schon die moralischen Verheerungen, die diese Entartung mit sich bringt, um ein Volk langsam, aber sicher zugrunde zu richten. Diese Verjudung unseres Seelenlebens und Mammonisierung unseres Paarungstriebes werden früher oder später unseren gesamten Nachwuchs verderben, denn an Stelle kraftvoller Kinder eines natürlichen Gefühls werden nur mehr die Jammererscheinungen finanzieller Zweckmäßigkeit treten. […] Wie verheerend aber die Folgen einer dauernden Mißachtung der natürlichen Voraussetzungen für die Ehe sind, mag man an unserem Adel erkennen. Hier hat man die Ergebnisse einer Fortpflanzung vor sich, die zu einem Teile auf rein gesellschaftlichem Zwang, zum anderen auf finanziellen Gründen beruhte. Das eine führt zur Schwächung überhaupt, das andere zur Blutvergiftung, da jede Warenhausjüdin als geeignet gilt, die Nachkommenschaft Seiner Durchlaucht – die allerdings dann danach aussieht – zu ergänzen. In beiden Fällen ist vollkommene Degeneration die Folge.
Degeneration und Entartung können als verbindende Schlüsselwörter bezeichnet werden zwischen Gobineau (I, 29ff.; III, 413), Wagner und Hitler. Auch wenn Chamberlain Degeneration in seinen privaten Briefen benutzt (z.B. Briefe I, 196; I, 250), bevorzugt er in seinen publizierten Schriften das deutschsprachige Entartung. Beide referieren auf den Endpunkt des rassischen, kulturellen und moralischen Verfalls. Die geistige Degeneration (MK 288) führt nicht nur zum geistigen Wahnsinn (283) Einzelner, sondern zur Impotenz kultureller Schöpferkraft (287), und die rassische Vergiftung (443) bzw. die Infizierung mit niederem Menschentum (705) mündet zwangläufig ein in den Untergang allen künstlerischen Schaffens. Deutlich wird, dass Verfallsdiskurs und Dehumanisierung untrennbar zusammengehören. Das Prinzip bleibt immer gleich: Das vermeintlich
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Minderwertige ziehe das Höherwertige nach unten (MK 324; 360). Der Verfall der rassischen Grundlagen, konkret Verfall der Blutreinheit (751), Blutvermischung und Entgermanisation (429) führten zu kulturellem Verfall (361f.) bzw. zur Verödung der Kultur (44; 295), zu innerer Fäulnis, Feigheit, Charakterlosigkeit, kurz Unwürdigkeit (250), eben zum Niedersenken des Niveaus (429), zu rassischer Zersetzung (629), Zerrissenheit (438) und zur Entartung (275). Der drohenden Ausrottung der Deutschen (711), man beachte wieder die Projektion, müsse dringend entgegengewirkt werden, sonst käme es eben nicht nur zum Aussterben (166) der Arier oder der Deutschen, sondern zum Ende der Menschheit (272). Krankheits- und Tiermetaphorik spiegeln um so deutlicher diesen Verfall in allen seinen Konsequenzen, je mehr sie das Körperliche mit dem Kulturell-Moralischen verbinden können. Je furchtbarer die Krankheit, die den Verfall einläutet, um so wirksamer der Abschreckungserfolg. Je hässlicher das Tier ist, das herangezogen wird, um den einen Menschen von der Menschlichkeit eines anderen absehen zu lassen, desto wirksamer ist es unter deontischem Aspekt. Abschließend soll noch auf weitere Tiere hingewiesen werden, auf die Hitler zur Diskriminierung seiner Feinde zurückgreift. Passend zu den schon genannten Ratten und Wanzen erscheint die Spinne (MK 212) als eine spezielle Art des Blutsaugers: Die Spinne begann, dem Volke langsam das Blut aus den Poren zu saugen. Mit dem Blutsauger (236) begegnet das Adjektiv blutsaugerisch in blutsaugerische Tyrannei (339). Immer wieder erscheinen auch im Zusammenhang mit Spinne die Bezeichnungen Parasit (165; 334f.), Völkerparasit (335; 359) und Schmarotzer (334). Die doppelte Assoziation, die mit den genannten Metaphern angedeutet wird, bezieht sich einerseits auf das Wucherstereotyp, auf der anderen vor allem aber auf die Gefahr einer durch das Blut übertragbaren Verseuchungsgefahr. Besonders deutlichen Bezug zu Wagner hat die folgende, an die antisemitische Legende vom ewigen Juden, Ahasver, angelehnte Allusion: der ewige Blutegel (MK 339). Ebenso aus dem nassen Element stammen Polyp als diskriminierendes Schimpfwort für die Juden (703) bzw. Tintenfisch als Schimpfwort für die jüdische Presse (94). Zu Beginn des folgenden Zitates wird exemplarisch eine konversationelle Implikatur vorgeführt, bei der Hitler konsequent isotopisch auf das Schwein hinweist, ohne es zu nennen. MK 94: Er [der Presselump; ALR] wird dann bis in die geheimsten Familienangelegenheiten hineinschnüffeln und nicht eher ruhen, als bis sein Trüffelsuchinstinkt irgendeinen armseligen Vorfall aufstöbert, der dann bestimmt ist, dem unglücklichen Opfer den Garaus zu machen. Findet sich aber weder im öffentlichen noch im privaten Leben selbst bei gründlichstem Abriechen rein gar nichts, dann greift so ein Bursche einfach zur Verleumdung in der festen Überzeugung, daß nicht nur an und für sich auch bei tausendfältigem Widerrufe doch immer etwas hängen bleibt, sondern daß infolge der hundertfachen Wiederholung, die die Ehrabschneidung durch alle seine sonstigen Spießgesellen sofort findet, ein Kampf des
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Opfers dagegen in den meisten Fällen gar nicht möglich ist; wobei aber dieses Lumpenpack niemals etwa aus Motiven, wie sie vielleicht bei der anderen Menschheit glaubhaft oder wenigstens verständlich waren, etwas unternimmt. Gott bewahre! Indem so ein Strolch die liebe Mitwelt in der schurkenhaftesten Weise angreift, hüllt sich dieser Tintenfisch in eine wahre Wolke von Biederkeit und salbungsvollen Phrasen, schwatzt von "journalistischer Pflicht" und ähnlichem verlogenem Zeug, ja versteigt sich sogar noch dazu, bei Tagungen und Kongressen, also Anlässen, die diese Plage in größerer Zahl beisammensehen, von einer ganz besonderen, nämlich der journalistischen "Ehre" zu salbadern, die sich das versammelte Gesindel dann gravitätisch gegenseitig bestätigt.
Das hier Zitierte zeigt die typische Kriminalisierungsmetaphorik Hitlers. Der als Jude etikettierte Gegner wird als Strolch, Lumpenpack, Schurke, Gesindel (94) bezeichnet, an anderer Stelle als Verbrecher und Meuchelmörder (186). Machenschaften wie die Revolution und der propagierte Dolchstoß (224; 360) waren nicht nur ein Gaunerstück (360) und Verrat (360; Landesverrat 222), sondern eben ein niederträchtiger Schurkenstreich (360), gar infamer Volksbetrug (185). Der Hauptvorwurf des Vaterlandsverrates taucht fast toposartig auf. Besonders Marxisten und Sozialdemokraten werden auf diese Weise kriminalisiert. Sie seien (413) ein Haufen von Straßenstrolchen, Deserteuren, Parteibonzen, (224) Schurken ohne Ehre, die schließlich zu Aasfressern und damit wieder zu Tieren degeneriert werden: MK 771: Nur bürgerliche Gemüter konnten sich zur unglaublichen Meinung durchringen, daß der Marxismus jetzt vielleicht ein anderer geworden wäre, und daß die kanaillösen Führerkreaturen des Jahres 1918, die damals zwei Millionen Tote eiskalt mit Füßen traten, um besser in die verschiedenen Regierungsstühle hineinklettern zu können, jetzt im Jahre 1923 plötzlich dem nationalen Gewissen ihren Tribut zu leisten bereit seien. Ein unglaublicher und wirklich sinnloser Gedanke, die Hoffnung, daß die Landesverräter von einst plötzlich zu Kämpfern für eine deutsche Freiheit werden würden! Sie dachten gar nicht daran! So wenig eine Hyäne vom Aase läßt, so wenig ein Marxist vom Vaterlandsverrat.
Doch die Hyäne ist nicht das letzte Tier, das hier erwähnt werden muss. Wie ein roter Faden ziehen sich auch Variationen der Schlange (MK 186; 269; 751) durch Hitlers Mein Kampf, einmal als giftige Viper (269), ein anderes Mal als mythologisch verbrämte jüdische Welthydra (721). Sie ist nicht nur das Tier, das aufgrund seines Giftes hochgefährlich für den Menschen sein kann, sondern Schlange symbolisiert geradezu den Verrat, zu dem Adam und Eva archetypisch bereits im Paradies verführt wurden. Sie ist Inbegriff der Verführung, Sinnbild des Bösen, der in Tiergestalt erscheinende Teufel. Mit der Schlange beginnen Sündenfall und Erbsünde, deren rassische Uminterpretierung schon angedeutet wurde. Ein wichtiger Teil der Stigmatisierung und Dehumanisierung ist die Dämonisierungsmetaphorik, bei der wiederum Teufel und Schlange eine außerordentlich bedeutsame Rolle spielen. Den Charakter des Menschlichen verliert auch derjenige, dem in der Beschreibung monströse Züge
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angedichtet werden, der fratzenhaft dargestellt wird oder den man, wie es bei Vampiren der Fall ist, die blutsaugerische Assoziationskette zu den Tieren weitertreibend, zwischen Leben und Tod stellt (MK 358). Insgesamt lebt Hitlers Mein Kampf von einer stark religiös angelehnten Metaphorik, bei der fortwährend präsent gehalten wird, dass sich der Mensch zwischen Gott und dem Teufel zu entscheiden hat. Die Juden bieten aufgrund der Tatsache, dass sie nun einmal das religionsgründende Volk des weiteren Mittelmeerraumes sind, die günstigsten Angriffsflächen: Mit den ihnen zugeschriebenen teuflischen Absichten (351), ihrer satanischen Freude an der Verführung der Menschen werden sie zur Gottesgeißel (339), zur Strafe des Himmels (343), zum Todfeind jedes Lichts (346). MK 357: Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit seinem, des Mädchens, Volke raubt. Mit allen Mitteln versucht er die rassischen Grundlagen des zu unterjochenden Volkes zu verderben.
Die Parallelisierung von Juden mit dem Bösen an sich und damit einhergehend ihre Stilisierung zur Inkarnation des Teufels ermöglicht eine Schwarz-weiß-Malerei, die den Kampf gegen den Dämon zur Teufelsaustreibung und damit zur heiligen Handlung werden lässt. MK 355: Da nicht der Jude der Angegriffene, sondern der Angreifer ist, gilt als sein Feind nicht nur der, der angreift, sondern auch der, der ihm Widerstand leistet. Das Mittel aber, mit dem er so vermessene, aber aufrechte Seelen zu brechen versucht, heißt nicht ehrlicher Kampf, sondern Lüge und Verleumdung. Hier schreckt er vor gar nichts zurück und wird in seiner Gemeinheit so riesengroß, daß sich niemand zu wundern braucht, wenn in unserem Volke die Personifikation des Teufels als Sinnbild alles Bösen die leibhaftige Gestalt des Juden annimmt.
Die Konstruktion des Bösen, wie sie hier vorgeführt wird, dient der religiösen Legitimation und Überhöhung der eigenen Handlungen. MK 70: Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen. Die ewige Natur rächt unerbittlich die Übertretung ihrer Gebote. So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln: Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.
Hitler stilisiert sich aber nicht nur zum Werkzeug Gottes, sondern macht sich pseudoreligiös selbst zum Retter und Erlöser, der ein wahres Christentum (MK 336, im Sinne Chamberlains) impliziert, einen neuen politischen Glauben, sogar einen fanatischen Glauben (597) zum Ziel seiner Bewegung macht (405; 414), eine politische Glaubens- und Kampfgemeinschaft begründet (419) und ein politisches Glaubensbekenntnis hat (424; 511). Sakralsprachliche Äußerungen wie die Seelen brechen (s. o.), das EwigWahre (MK 418), direkte Anrufungen Gottes (629; 633; 708; 739) oder Bibelallusionen wie der Hinweis auf Judas Verräterlohn, die dreißig Silber-
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linge (719), Rache bis in das zehnte Glied (s. u.), indirekte Aussagen wie: Sein [des Juden; ALR] Leben ist nur von dieser Welt (336), im weitesten Sinne auch Hitlers "Lieblings"ausdruck: die ewig gerechte Vorsehung (105) flankieren nicht nur den religiösen Legitimationsdiskurs Hitlers, sondern heben außerdem die schon bestehenden Drohkulissen und die darauf begründeten Bekämpfungsvorschläge aus ihrer innerweltlichen Begrenzung ins Transzendente. Die Rasse wird aus dem naturwissenschaftlichen Begründungsdiskurs herausgelöst und zum Sakralgegenstand, an dem sich, wie schon angedeutet wurde, nicht nur der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies (319) wiederholt, sondern der geradezu mit der Erbsünde (s. u.; 705) gleichgesetzt wird. MK 272: Auch dies ist nur ein Prüfstein des Rassenwertes – die Rasse, welche die Probe nicht besteht, wird eben sterben und gesünderen oder doch zäheren und widerstandsfähigeren den Platz räumen. Denn da diese Frage in erster Linie den Nachwuchs betrifft, gehört sie zu denen, von welchen es mit so furchtbarem Recht heißt, daß die Sünden der Väter sich rächen bis in das zehnte Glied, eine Wahrheit, die nur von Freveln am Blut und an der Rasse gilt. Die Sünde wider Blut und Rasse ist die Erbsünde dieser Welt und das Ende einer sich ihr ergebenden Menschheit.
Jede Art der Rassenvermischung hieße Sünde treiben wider den Willen des ewigen Schöpfers (MK 313; ähnlich 629), sei eine Entweihung der Schöpfung Gottes (629), und der Widerstand dagegen müsse als ein religiöser Kampf (632) betrachtet werden. Im Kampf zwischen gut und böse, wie er von Hitler ausgerufen wird, habe die nationalsozialistische Bewegung eine Mission, nämlich die Schaffung eines germanischen Staates (379). Dies ist der erste Auftrag der ihr vom Schöpfer des Universums zugewiesene[n] Mission (234), der zweite, übrigens explizit an das deutsche Volk gerichtete Auftrag (439), ist die Schaffung eines neuen Menschentums. MK 439: Damit erhält der Staat zum ersten Male ein inneres hohes Ziel. Gegenüber der lächerlichen Parole einer Sicherung von Ruhe und Ordnung zur friedlichen Ermöglichung gegenseitiger Begaunerei erscheint die Aufgabe der Erhaltung und Förderung eines durch die Güte des Allmächtigen dieser Erde geschenkten höchsten Menschentums als eine wahrhaft hohe Mission. Aus einem toten Mechanismus, der nur um seiner selbst willen da zu sein beansprucht, soll ein lebendiger Organismus geformt werden mit dem ausschließlichen Zwecke: einer höheren Idee zu dienen.
Dieser neue Mensch ist natürlich der Arier. Er wird als Gegenbild zum verteufelten Juden und als Ebenbild des Herrn (MK 195/6; 445) konstruiert. Der Erzengel Gabriel steht dem gefallenen Luzifer gegenüber. Er fühlt sich berufen, der Gefahr entgegenzutreten, das durch Rassenschande verlorene Heil wieder zu erringen. Hitlers Anspielungen auf den (alt)bösen Feind, allen bekannt aus Luthers Kirchenlied Ein feste Burg ist unser Gott und sein Einmünden in einen von ihm häufig genutzten Gebetsstil unterstrei-
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chen zusätzlich, dass er einen apokalyptischen Krieg des Guten gegen das Böse proklamieren möchte. MK 724 f.: Der Kampf gegen die jüdische Weltgefahr wird damit auch dort beginnen. Und wieder hat gerade die nationalsozialistische Bewegung ihre gewaltigste Aufgabe zu erfüllen: Sie muß dem Volk die Augen öffnen über die fremden Nationen und muß den wahren Feind unserer heutigen Welt immer und immer wieder in Erinnerung bringen. An Stelle des Hasses gegen Arier, von denen uns fast alles trennen kann, mit denen uns jedoch gemeinsames Blut oder die große Linie einer zusammengehörigen Kultur verbindet, muß sie den bösen Feind der Menschheit, als den wirklichen Urheber allen Leides, dem allgemeinen Zorne weihen. Sorgen aber muß sie dafür, daß wenigstens in unserem Lande der tödlichste Gegner erkannt und der Kampf gegen ihn als leuchtendes Zeichen einer lichteren Zeit auch den anderen Völkern den Weg weisen möge zum Heil einer ringenden arischen Menschheit. Im übrigen mag dann die Vernunft unsere Leiterin sein, der Wille unsere Kraft. Die heilige Pflicht, so zu handeln, gebe uns Beharrlichkeit, und höchster Schirmherr bleibe unser Glaube.
9. 6. Utopie: Sakralisierung und Vergöttlichung des Ariers oder: Hitlers höheres Menschentum402 Hitlers Arierbild entspricht demjenigen Chamberlains. Der Arier bildet das heldenhafte, schon rein äußerlich durch seine Herrengestalt auffallende Gegenstück zu den Juden (MK 329). Was bei der Darstellung der Juden in negativer Lichtmetaphorik, mit Schmutz- und Krankheitsassoziationen als dunkel, undurchdringlich, schmutzig, hässlich konstruiert wird, ist bei ihm hell und leuchtend, seien es äußerlich der helle Hautton (320) und die blonde Haarfarbe (629) oder auf einer sittlich-moralischen Ebene Ehrlichkeit (329) und Idealismus. Er wird zu einem durch (629) Gottes Gnade der Erde gegebenen edlen und einzigartigen Lebewesen stilisiert, das in enger Verbindung zum Schönen und Erhabenen (421) steht. Die damit schon angedeutete besondere Beziehung zum Göttlichen spiegelt sich unter anderem darin, dass er Licht und Helligkeit nicht nur einfach repräsentiert bzw. von ihnen wie mit einem Nimbus umgeben ist, sondern dass er der Lichtbringer (320) überhaupt ist, derjenige, der den Menschen aus der kulturellen Dunkelheit geführt hat. Es ist kein Zufall, dass die Licht-Metaphorik sich hier ebenso auf aufklärerisches Gedankengut stützt wie auf traditionell biblisches, mythologisch hellenisches und sogar gnostisches403 und manichäisches und vor allem, dass sie geradezu spiegelbildlich zu derjenigen Chamberlains verläuft. In christlicher Traditionsbildung wird diese außer_____________ 402 MK 434. 403 Vgl. dazu: Bärsch 2002; Ley / Schoeps, Der Nationalsozialismus als politische Religion 1997; Strohm, Die Gnosis und der Nationalsozialismus 1997.
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gewöhnliche Stellung des Ariers zum einen durch die besondere Gnade Gottes im Sinne einer allgemeinen Auserwähltheit begründet, vor allem aber speist sie sich aus der von Hitler immer wieder propagierten direkten Gotteskindschaft des Ariers. Er sei von Gott als sein Ebenbild (195; 421) geschaffen worden und habe daher auch teil an dessen schöpferischen Fähigkeiten. MK 421: Menschliche Kultur und Zivilisation sind auf diesem Erdteil unzertrennlich gebunden an das Vorhandensein des Ariers. Sein Aussterben oder Untergehen wird auf diesen Erdball wieder die dunklen Schleier einer kulturlosen Zeit senken. Das Untergraben des Bestandes der menschlichen Kultur durch Vernichtung ihres Trägers aber erscheint in den Augen einer völkischen Weltanschauung als das fluchwürdigste Verbrechen. Wer die Hand an das höchste Ebenbild des Herrn zu legen wagt, frevelt am gütigen Schöpfer dieses Wunders und hilft mit an der Vertreibung aus dem Paradies.
Die Affinität zu Chamberlain ist stellenweise so ausgeprägt, dass man meinen könnte, einen seiner Texte vor Augen zu haben. Wenn es etwa um die Rassenzugehörigkeit Jesu Christi geht, dann ist dieser ganz wie bei ihm (und bei Wagner) auch für Hitler keineswegs ein geborener Jude, sondern ein Arier.404 Denn nur ein Arier kann zur Voraussetzung für die Bildung eines neuen idealen Menschentums werden, das selbst wiederum aufgrund seiner 'rassischen' Anlagen zur heilsbringenden Utopie für die gesamte Menschheit dient. Nur dieser neu geschaffene bzw. neu zu schaffende Mensch sei aufgrund seiner Auserwähltheit in der Lage, das Böse im schon angesprochenen apokalyptischen Kampf um die letzte Existenz der Menschheit zu besiegen. Hitler, laut Rauschning, Gespräche mit Hitler 1940, 227: Zwei Welten stehen einander gegenüber! Der Gottmensch und der Satansmensch! Der Jude ist der Gegenmensch, der Antimensch. Der Jude ist das Geschöpf eines anderen Gottes […]. Der Arier und der Jude […] sie sind so weit von einander wie das Tier vom Menschen. Nicht, dass ich den Juden ein Tier nenne. Er steht dem Tier viel ferner als wir Arier. Er ist ein naturfremdes und naturfernes Wesen.
Dass er als ein solcher Retter der Menschheit prognostiziert werden kann, funktioniert aufgrund eines deterministischen Rückblicks in eine bewusst interpretierte Vergangenheit, mit dem im Sinne Chamberlains und Gobineaus erklärt wird, dass der Mensch ohne den Arier erst gar nicht zum Menschen (MK 317) geworden wäre, dass dasjenige, was den Menschen ausmache, erst mit dem Arier in die Welt gekommen sei. Erst der Arier habe den Menschen wie Prometheus den göttlichen Funken des Genies gebracht. Ohne ihn müsse daher auch in Zukunft jede Kultur zugrunde gehen.
_____________ 404 Tischgespräche vom 13. 12. 1941. In: Picker, Hitlers Tischgespräche 2003, 109.
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MK 317/8: Was wir heute an menschlicher Kultur, an Ergebnissen von Kunst, Wissenschaft und Technik vor uns sehen, ist nahezu ausschließlich schöpferisches Produkt des Ariers. Gerade diese Tatsache aber läßt den nicht unbegründeten Rückschluß zu, daß er allein der Begründer höheren Menschentums überhaupt war, mithin den Urtyp dessen darstellt, was wir unter dem Worte "Mensch" verstehen. Er ist der Prometheus der Menschheit, aus dessen lichter Stirne der göttliche Funke des Genies zu allen Zeiten hervorsprang, immer von neuem jenes Feuer entzündend, das als Erkenntnis die Nacht der schweigenden Geheimnisse aufhellte und den Menschen so den Weg zum Beherrscher der anderen Wesen dieser Erde emporsteigen ließ. Man schalte ihn aus – und tiefe Dunkelheit wird vielleicht schon nach wenigen Jahrtausenden sich abermals auf die Erde senken, die menschliche Kultur würde vergehen und die Welt veröden. Würde man die Menschheit in drei Arten einteilen: in Kulturbegründer, Kulturträger und Kulturzerstörer, dann käme als Vertreter der ersten wohl nur der Arier in Frage. Von ihm stammen die Fundamente und Mauern aller menschlichen Schöpfungen, und nur die äußere Form und Farbe ist bedingt durch die jeweiligen Charakterzüge der einzelnen Völker. Er liefert die gewaltigen Bausteine und Pläne zu allem menschlichen Fortschritt, und nur die Ausführung entspricht der Wesensart der jeweiligen Rassen.
Die hier von Hitler vorgenommene Dreiteilung der Menschen in Kulturbegründer, Kulturträger und Kulturzerstörer (MK 318) entspricht demjenigen, was schon zu Gobineau beschrieben worden ist. In seiner Tradition gibt es für Hitler kulturfähige Rassen, die kulturelle Leistungen aus sich heraus hervorbringen können, also Schöpfermenschen, und solche, die das von den erstgenannten Hervorgebrachte positiv adaptieren können (wozu er die Japaner rechnet). Ganz und gar nicht dem faustischen Menschen zugerechnet, sondern dem Mephistopheles, also dem Teuflischen und Destruktiven, wird die dritte Gruppe; ihre Angehörigen, konkret: die Juden, sind wie schon bei Wagner und Chamberlain Prototypen des Kulturzerstörers. MK 332: Nein, der Jude besitzt keine irgendwie kulturbildende Kraft, da der Idealismus, ohne den es eine wahrhafte Höherentwicklung des Menschen nicht gibt, bei ihm nicht vorhanden ist und nie vorhanden war. Daher wird sein Intellekt niemals aufbauend wirken, sondern zerstörend und in ganz seltenen Fällen vielleicht höchstens aufpeitschend, dann aber als das Urbild der "Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft". Nicht durch ihn findet irgendein Fortschritt der Menschheit statt, sondern trotz ihm.
Mit den Juden begann, analog zu dieser Argumentationstradition, auch der Verfall (MK 62) in der Kulturgeschichte der Menschheit. Entartung und Degeneration, eine verfaulende Welt (278; 284), der kulturelle Niedergang (432) und die drohende Vernichtung unseres Volkes (633), so Hitler, seien die natürlichen Folgen der Entgermanisierung durch Blutvermischung (429) gewesen, die von den Juden planvoll betrieben worden sei und noch betrieben werde. Mit den Mitteln seiner Täuschungsmetaphorik werden sie als diejenigen beschrieben, die nachahmen und stehlen (332), was sie nicht besitzen.
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Weil sie keine kulturschaffende Kraft besäßen, sei ihr ganzes Handeln auf Schmähung und Destruktion ausgerichtet. MK 195/6: Mit den Juden, als den modernen Erfindern dieses Kulturparfüms, braucht man sich aber darüber wahrhaftig nicht zu unterhalten. Ihr ganzes Dasein ist der fleischgewordene Protest gegen die Ästhetik des Ebenbildes des Herrn.
Wörter wie Kulturparfüm setzen die Täuschungsmetaphorik auf einer neuen, sinnlicheren Ebene fort. Die Gegensatzbildung zwischen dem schaffenden Menschen und dem Sinnbild der Zerstörung wird von Hitler vielfältig variiert und dabei auch auf die staatsbildende Ebene gehoben, indem er arische Arbeits- und Kulturstaaten den jüdischen Schmarotzerkolonien gegenüberstellt (MK 168). Einer der Hauptgründe für die so attestierte Kulturunfähigkeit der Juden sei übrigens das Fehlen des zum Charaktermerkmal erklärten Prinzips 'Idealismus' (s. o. 330; 332). Mit allen Eigenschaften des Schmarotzertums und des Parasitismus ausgestattet, seien sie nur materialistisch und egoistisch (331), verfügten sie über nichts wirklich Eigenes. Das Gegenbild ist der Arier mit der hervorstechendsten Eigenschaft des Idealismus und der ihm eigenen biologischen Voraussetzung für kulturelles Schaffen. Der Idealismus als die Fähigkeit zum Schöne[n] und Erhabene[n] (422) ermögliche erst menschliche Kultur und damit den wahren Menschen. MK 327: Wie nötig aber ist es, immer wieder zu erkennen, daß der Idealismus nicht etwa eine überflüssige Gefühlsäußerung darstellt, sondern daß er in Wahrheit die Voraussetzung zu dem war, ist und sein wird, was wir mit menschlicher Kultur bezeichnen, ja, daß er allein erst den Begriff "Mensch" geschaffen hat. Dieser inneren Gesinnung verdankt der Arier seine Stellung auf dieser Welt, und ihr verdankt die Welt den Menschen; denn sie allein hat aus dem reinen Geist die schöpferische Kraft geformt, die in einzigartiger Vermählung von roher Faust und genialem Intellekt die Denkmäler der menschlichen Kultur erschuf.
Die Fähigkeit zu kulturellen Schöpfungen oder zu genialem Intellekt ist auch bei Hitler keine individuelle Eigenschaft von Einzelnen, auch wenn die Bedeutung der Persönlichkeit wie bei Chamberlain beständig hervorgehoben wird. Immer wieder betont er, dass sie allein das Produkt der Rasse ist. Ein Entrinnen oder Hinauswachsen über die eigene Rasse durch Erziehung oder Bildung lehnt auch Hitler ab. MK 322: der Funke des Genies ist seit der Stunde der Geburt in der Stirne des wahrhaft schöpferisch veranlagten Menschen vorhanden. Wahre Genialität ist immer angeboren und niemals anerzogen oder gar angelernt.
Hitlers Menschenbild entspricht demjenigen Chamberlains detailgenau in allen Ausprägungen. Ein Unterschied zwischen beiden besteht jedoch in der Radikalität der Ausdrucksform und in der Konkretheit der Handlungsanweisungen Hitler:
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1. Wenn nur der neue Menschentyp die Welt zu retten in der Lage sein soll, dann müsse er gezüchtet werden. Dies setze voraus, dass zunächst einmal der Untergang des arischen Menschen verhindert werden müsse. Aus diesem Grunde dürfe es zum einen nicht zu weiteren Vermischungen mit minderwertigen Menschen kommen, und zum anderen müsse eine bewusste Züchtungspolitik zur Hauptaufgabe des Staates werden (MK 434f.). Die so konzipierte und zu praktizierende Menschenauslese ist auf eine Regeneration der arischen Urrasse ausgerichtet. Diese impliziert einerseits die Eliminierung des jüdischen Elementes, andererseits die Ausschaltung kranken Erbgutes mittels Sterilisation und durch bewusste Züchtung, wie sie bei Tieren (Pferden und Katzen; MK 449) adäquat ist. Züchtung, genauer gesprochen: dauernde gegenseitige Höherzüchtung (422), führe zum Emporheben des Menschen selbst (44) und wird damit zum Königsweg der Idealisierung des Menschen. Seine Idealisierung erfolgt bei Hitler nicht durch Erziehung und Bildung Einzelner, sondern ist ein auf die wissenschaftliche Autorität von Ch. Darwin (und die anschließende sozialdarwinistische Diskussion) gestütztes, systematisches Handlungsprogramm, das lediglich einer staatlichen Organisation zur Durchführung bedürfe. Hier liegt ein (gleichsam negativer) "Quantensprung" der Geschichte vor: Was sich im 19. Jahrhundert immer noch im Bereich der Köpfe abspielte, der Diskussion, der Pädagogik, der Bemühung um Beeinflussung der Meinung unterlag, auch wenn all dies manipulativ, agitativ, auf rational kam nachvollziehbare Weise erfolgt sein mag, wurde im 20. Jahrhundert zum politischen Programm und schließlich zur Handlung. Der Frage, ob die Berufung auf z. B. Darwin dabei berechtigt ist bzw. in welchem Maße sie berechtigt ist oder ob sie gar einen Missbrauch seiner Ideen darstellt, kommt dabei nur akademisches Interesse zu; die Geschichte, das heißt: die Verleihung des Handlungsmandates durch breite Wählerschichten und das Handeln der Mandatsträger haben die genannte Frage obsolet gemacht. Dass Idealisierung im Laufe des beschriebenen Prozesses seine Bedeutung verändert, nämlich von 'Bildung in einem bürgerlichen Sinne' zu 'Züchtung im rassenbiologischen Sinne', ist offensichtlich, auch wenn die Einheit des Wortes eine gewisse Bedeutungsähn-lichkeit suggeriert und wenn der Rassenbiologie (wie im folgenden Zitat) eine "höhere Ethik" zugeschrieben wird. MK 420f: Demgegenüber erkennt die völkische Weltanschauung die Bedeutung der Menschheit in deren rassischen Urelementen. (421) Sie sieht im Staat prinzipiell nur ein Mittel zum Zweck und faßt als seinen Zweck die Erhaltung des rassischen Daseins der Menschen auf. Sie glaubt somit keineswegs an eine Gleichheit der Rassen, sondern erkennt mit ihrer Verschiedenheit auch ihren höheren oder minderen Wert und fühlt sich durch diese Erkenntnis verpflichtet, gemäß dem ewigen Wollen, das dieses Universum beherrscht, den Sieg des Besseren, Stärkeren zu fördern, die Unterordnung des Schlechteren und Schwächeren zu
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verlangen. Sie huldigt damit prinzipiell dem aristokratischen Grundgedanken der Natur und glaubt an die Geltung dieses Gesetzes bis herab zum letzten Einzelwesen. Sie sieht nicht nur den verschiedenen Wert der Rassen, sondern auch den verschiedenen Wert der Einzelmenschen. Aus der Masse schält sich für sie die Bedeutung der Person heraus, dadurch aber wirkt sie gegenüber dem desorganisierenden Marxismus organisatorisch. Sie glaubt an die Notwendigkeit einer Idealisierung des Menschentums, da sie wiederum nur in dieser die Voraussetzung für das Dasein der Menschheit erblickt. Allein sie kann auch einer ethischen Idee das Existenzrecht nicht zubilligen, sofern diese Idee eine Gefahr für das rassische Leben der Träger einer höheren Ethik darstellt; denn in einer verbastardierten und verengerten Welt wären auch alle Begriffe des menschlich Schönen und Erhabenen sowie alle Vorstellungen einer idealisierten Zukunft unseres Menschentums für immer verloren. […] (422) Damit entspricht die völkische Weltanschauung dem innersten Wollen der Natur, da sie jenes freie Spiel der Kräfte wiederherstellt, das zu einer dauernden gegenseitigen Höherzüchtung führen muß, bis endlich dem besten Menschentum, durch den erworbenen Besitz dieser Erde, freie Bahn gegeben wird zur Betätigung auf Gebieten, die teile über, teils außer ihr liegen werden. Wir alle ahnen, daß in ferner Zukunft Probleme an den Menschen herantreten können, zu deren Bewältigung nur eine höchste Rasse als Herrenvolk,405 gestützt auf die Mittel und Möglichkeiten eines ganzen Erdballs, berufen sein wird.
2. Das neue durch diese Idealisierung zu schaffende Menschentum begründet sowohl die nationalsozialistische Heilsutopie als auch den nationalchauvinistischen Überlegenheitsanspruch in allen kulturellen und staatspolitischen Angelegenheiten. Wenn nur eine Rasse in der Lage sei, aufgrund ihrer Gottebenbildlichkeit (s. o.: Ebenbild des Herrn) und Auserwähltheit ein neues Menschentum und damit den künftigen Retter der Welt hervorzubringen, dann sei diese Rasse allein dazu berechtigt, als Herrenvolk angesehen zu werden, dem die Weltherrschaft dann naturgemäß obliege. Die mehrfach gebrochene Projektion, wie sie schon bei Chamberlain vorliegt, offenbart sich immer deutlicher als Mimikry und wirkt daher fast lächerlich. Doch ahmt Hitler hier nicht nur inhaltlich das Vorbild Chamberlains nach: er rezipiert wie dieser alles, was ihm für seine Zwecke rele_____________ 405 Vgl. Herrenvolk bei Max Weber (Wahlrecht und Demokratie in Deutschland 1988, 291):
"Die »Demokratisierung« im Sinne der Nivellierung der ständischen Gliederung durch den Beamtenstaat ist eine Tatsache. Man hat nur die Wahl: in einem bürokratischen »Obrigkeitsstaat« mit Scheinparlamentarismus die Masse der Staatsbürger rechtlos und unfrei zu lassen und wie eine Viehherde zu »verwalten«, - oder sie als Mitherren des Staates in diesen einzugliedern. Ein Herrenvolk aber - und nur ein solches kann und darf überhaupt »Weltpolitik« treiben - hat in dieser Hinsicht keine Wahl. Man kann die Demokratisierung sehr wohl (für jetzt) vereiteln. Denn starke Interessen, Vorurteile und - Feigheiten sind gegen sie verbündet. Aber es würde sich bald zeigen, daß dies um den Preis der ganzen Zukunft Deutschlands geschähe. Alle Kräfte der Massen sind dann gegen einen Staat engagiert, in dem sie nur Objekt und an dem sie nicht Teilhaber sind. An den unvermeidlichen politischen Folgen mögen einzelne Kreise interessiert sein. Aber gewiß nicht: das Vaterland."
651 Chamberlain und die nationalsozialistischen Folgen
vant erscheint und verwirft alles dafür Unbrauchbare. Besonders schlagend ist die semantische Kontamination des aus dem Alten Testament überall gegenwärtigen auserwählten Volkes mit dem den neuzeitlichen Verhältnissen entsprechenden Weltherrschaft (in der hier interessierenden Bedeutung erst seit dem späten 18. Jahrhundert belegt; DWB 14, 1, 1, 1601) zu Herrenvolk. Hitler bezieht diesen Ausdruck direkt auf die Deutschen (MK 143), die er mehrfach als Herrenvolk betitelt (422; 438; 739), auch wenn man ihnen das Herrenrecht (143), ja sogar das Herrenrecht des Daseins (148) entzogen habe. Mit Dasein gewinnt dieser Vorgang eine Dimension, die über das kurzfristige politische Wechselspiel hinausgeht und das Existentielle tangiert. Nur solange der Arier den Herrenstandpunkt aufrechterhalten (324), das heißt in letzter Konsequenz: sein Herrenblut vor der Vermischung bewahrt habe, sei noch Kulturschöpfung und Kulturfortschritt möglich gewesen. MK 320: Nach tausend Jahren und mehr zeigt sich dann oft die letzte sichtbare Spur des einstigen Herrenvolkes im helleren Hautton, den sein Blut der unterjochten Rasse hinterließ, und in einer erstarrten Kultur, die es als ursprüngliche Schöpferin einst begründet hatte. Denn so wie der tatsächliche und geistige Eroberer im Blut der Unterworfenen verlorenging, verlor sich auch der Brennstoff für die Fackel des menschlichen Kulturfortschrittes! Wie die Farbe durch das Blut der ehemaligen Herren einen leisen Schimmer als Erinnerung an diese beibehielt, so ist auch die Nacht des kulturellen Lebens milde aufgehellt durch die gebliebenen Schöpfungen der einstigen Lichtbringer. Die leuchten durch all die wiedergekommene Barbarei hindurch und erwecken bei dem gedankenlosen Betrachter des Augenblickes nur zu oft die Meinung, das Bild des jetzigen Volkes vor sich zu sehen, während es nur der Spiegel der Vergangenheit ist, in den er blickt. Es kann dann vorkommen, daß solch ein Volk ein zweites Mal, ja selbst noch öfter, während seiner Geschichte mit der Rasse seiner einstigen Kulturbringer in Berührung gerät, ohne daß eine Erinnerung an frühere Begegnungen noch vorhanden zu sein braucht. Unbewußt wird der Rest des einstigen Herrenblutes sich der neuen Erscheinung zuwenden, und was erst nur dem Zwange möglich war, kann nun dem eigenen Willen gelingen. Eine neue Kulturwelle hält ihren Einzug und dauert so lange an, bis ihre Träger wieder im Blute fremder Völker untergehen.
Die Gegensatzverhältnisse von Kulturfortschritt, neue Kulturwelle versus Erstarrung, Barbarei, Kulturverfall, Untergang, von Licht versus Dunkelheit / Nacht, von Herrenstandpunkt, Eroberer versus Unterjochung, Unterworfener, von eigener Wille versus Zwang im Zitat spiegeln noch einmal das Entweder-Oder Hitlerscher Argumentation mit all der drohenden Prognostik, die er rhetorisch aufzurichten in der Lage war. In seiner eschatologischen Konsequenz geht es um den finalen Kampf der Lichtbringer gegen die Vernichtung durch die Kulturzerstörer. Die gute Rasse und das gute Prinzip laden wie selbstverständlich vor allem dann zur Identifikation ein, wenn sie die
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eigene Gruppe betreffen und der Gegner als jemand ausgemacht wird, den man zu kennen meint. MK 324: Der Arier gab die Reinheit seines Blutes auf und verlor dafür den Aufenthalt im Paradiese, das er sich selbst geschaffen hatte. Er sank unter in der Rassenvermischung, verlor allmählich immer mehr seine kulturelle Fähigkeit, bis er endlich nicht nur geistig, sondern auch körperlich den Unterworfenen und Ureinwohnern mehr zu gleichen begann als seinen Vorfahren. Eine Zeitlang konnte er noch von den vorhandenen Kulturgütern zehren, dann aber trat Erstarrung ein, und er verfiel endlich der Vergessenheit. So brechen Kulturen und Reiche zusammen, um neuen Gebilden den Platz freizugeben. Die Blutsvermischung und das dadurch bedingte Senken des Rassenniveaus ist die alleinige Ursache des Absterbens aller Kulturen; denn die Menschen gehen nicht an verlorenen Kriegen zugrunde, sondern am Verlust jener Widerstandskraft, die nur dem reinen Blute zu eigen ist. Was nicht gute Rasse ist auf dieser Welt, ist Spreu. Alles weltgeschichtliche Geschehen ist aber nur die Äußerung des Selbsterhaltungstriebes der Rassen im guten oder schlechten Sinne.
Sobald der Schuldige gefunden worden ist, können Gegenkräfte aktiviert werden: schlecht Gefügtes oder Unpassendes […] ist zu entfernen und an der dann wieder freigelegten gesunden Stelle weiter- und an[zu]bauen (MK 286). Unter Entfernen versteht er – und hier kommt wieder die konkrete politische Handlung ins Spiel – das Verhindern weiterer Bastardisierung (443), das aktive Ausscheiden der rassischen Vergiftung (443), schließlich die Forderung, die jüdische[n] Volksvergifter auszurotten (185f.). Der Vernichtung des Feindes steht in der bekannten Gegensatzbildung die Überhöhung des Ariers gegenüber. Das ist die vom Schöpfer des Universums zugewiesene Mission zur Erhaltung der Art, der Rassereinheit. Ziel ist die Regeneration bzw. die Höherzüchtung, die darin besteht, Ebenbilder des Herrn zu zeugen und nicht Missgeburten zwischen Mensch und Affe (MK 445). Hitlers Utopie, das positive Pendant zur Drohkulisse und gleichzeitig das Lockmittel für seine Rezipienten, ist das Versprechen zukünftiger Weltherrschaft. Denn, so schreibt er abschließend in seinem zweiten Teil: MK 782: Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muß eines Tages zum Herrn der Erde werden.
Und schon etwas früher hieß es: MK 439: Wer von einer Mission des deutschen Volkes auf der Erde redet, muß wissen, daß sie nur in der Bildung eines Staates bestehen kann, der seine höchste Aufgabe in der Erhaltung und Förderung der unverletzt gebliebenen edelsten Bestandteile unseres Volkstums, ja der ganzen Menschheit sieht. Damit erhält der Staat zum ersten Male ein inneres hohes Ziel. Gegenüber der lächerlichen Parole einer Sicherung von Ruhe und Ordnung zur friedlichen Ermöglichung gegenseitiger Begaunerei erscheint die Aufgabe der Erhaltung und Förderung eines durch die Güte des Allmächtigen dieser Erde geschenkten höchsten Menschentums als
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eine wahrhaft hohe Mission. Aus einem toten Mechanismus, der nur um seiner selbst willen da zu sein beansprucht, soll ein lebendiger Organismus geformt werden mit dem ausschließlichen Zwecke: einer höheren Idee zu dienen. Das Deutsche Reich soll als Staat alle Deutschen umschließen mit der Aufgabe, aus diesem Volke die wertvollsten Bestände an rassischen Urelementen nicht nur zu sammeln und zu erhalten, sondern langsam und sicher zur beherrschenden Stellung emporzuführen.
Wenn man die Rasse zum Prinzip allen Handelns machen würde, könnte man ins Paradies Gottes zurückkehren, dann wäre der arische Übermensch auf die Welt zurückgekommen, das arische Herrenvolk hätte endlich seinen rechtmäßigen Platz als Weltbeherrscher gefunden und der Kulturfortschritt hätte die Entartung überholt. Diesen allgemeinen Aussagen seiner Utopie schließen sich vermeintlich konkretere an, die die Angehörigen des Deutschen Reiches angesichts des verlorenen Weltkrieges und der Verwerfungen der Nachkriegszeit auf sich zu beziehen wussten und großenteils mit affirmativer Haltung rezipierten. Geplant ist eine nationale Volksgemeinschaft (MK 165; 372f.), das ist ein homogener völkischer Organismus (361; ähnlich 434), der den Wiederaufstieg des deutschen Volkes aus Sack und Asche des verlorenen Krieges ermöglichen werde, d. h. im Einzelnen: Gesundung des nationalen Selbsterhaltungstriebes (366) durch Nationalisierung (366; 369), durch politische Reorganisation des Volkes (379), worunter Hitler nicht nur die angestrebte Militarisierung (365), den Lebensraum im Osten (689; 741ff.) meinte, sondern vor allem die Errichtung eines neuen, politischen Glaubens (405; 414; 419) und eines neues Willens (405). Man beachte in dieser Aufzählung von Zitatwörtern und -kennzeichnungen die Fülle substantivischer Abstraktbildungen (darunter auf -ung, auch auf -tion, -ion, -schaft) und Kollektiva sowie die Häufung relationaler Adjektive (im Unterschied zu qualifizierenden). Der Interpretationsspielraum ist infolge der insbesondere den Abstraktbildungen eigenen Auslassungen erheblich, der Charakterisierungswert der Kollektiva und der Adjektive gering, ihr Ausdrucks- und Schmuckwert dagegen relativ hoch. Man kann als Rezipient demnach unterschiedlich verfahren, einmal die positiven Konnotationen z. B. von Gemeinschaft, völkisch, Organismus wahrnehmen, wie dies den geschmacksbestimmenden Formulierungs- und Rezeptionstraditionen der Kaiserzeit und der Zeit der Weimarer Republik entsprach; man hätte sich aber auch fragen können, was denn nun z.B. völkischer Organismus im Lichte von Ideologemen wie Willen, was die Betonung der Handlung im Gegensatz zur Rolle der Reflexion auf dem Hintergrund der zeittypischen Auseinandersetzung zwischen Kollektivismus und Individualismus,406 speziell
_____________ 406 Vgl. dazu Hofstede, Lokales Denken, globales Handeln. Interkulturelle Zusammenarbeit und globales Management 2001. Hofstede zeigt, dass die Untersuchung von Kollektivis-
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auf dem Hintergrund der Rassenideologie, für die Praxis bedeuten könnten. Auffallend ist des Weiteren der pseudoreligiöse Sprachgebrauch von Mein Kampf. Nur mit seiner Hilfe konnte es Hitler gelingen, eine Kampfgemeinschaft zu bilden, die sich bedingungslos seinem Führer-Willen unterwarf: MK 419: Diese Umsetzung einer allgemeinen weltanschauungsmäßigen idealen Vorstellung von höchster Wahrhaftigkeit in eine bestimmt begrenzte, straff organisierte, geistig und willensmäßig einheitliche politische Glaubens- und Kampfgemeinschaft ist die bedeutungsvollste Leistung, da von ihrer glücklichen Lösung allein die Möglichkeit eines Sieges der Idee abhängt. Hier muß aus dem Heer von oft Millionen Menschen, die im einzelnen mehr oder weniger klar und bestimmt diese Wahrheiten ahnen, zum Teil vielleicht begreifen, einer hervortreten, um mit apodiktischer Kraft aus der schwankenden Vorstellungswelt der breiten Masse granitene Grundsätze zu formen und so lange den Kampf für ihre alleinige Richtigkeit aufzunehmen, bis sich aus dem Wellenspiel einer freien Gedankenwelt ein eherner Fels einheitlicher glaubens- und willensmäßiger Verbundenheit erhebt.
Hitler verstand sich mit der größten Selbstverständlichkeit im Sinne seines Arier- und Indogermanenkonstruktes als der charismatische Führer dieser Volks-, Glaubens-, und Kampfgemeinschaft, und er verstand sich in einem vulgärreligiösen alttestamentlichen, ihm selbst in dieser Qualität wohl gar nicht einmal bewussten Sinne als ihr Prophet, und zwar als derjenige, dessen Prophezeiungen gelten. Im folgenden Zitat klingt jedenfalls das Jesuswort von der Nichtgeltung des Propheten in seinem Vaterland an. Hitler am 8. November 1942 (Reden und Proklamationen II, 1937): Man hat mich immer als Prophet ausgelacht. Von denen, die damals lachten, lachen heute Unzählige nicht mehr, und die jetzt noch lachen, werden es vielleicht in einiger Zeit auch nicht mehr tun.
10. Chamberlain und seine diskursive Tradition – ein Fazit Christliche Religion, in seiner mehr oder minder säkularisierten Form, die bisherige Schöpfungslehre in Frage stellende Naturlehre, die keine romantisch verklärte Idylle vortäuschte, sondern in radikaler Form den Menschen als Produkt von Zuchtwahl, Kampf und Erfahrung betrachtet, das Prinzip Aufklärung, das den Menschen für sich selbst verantwortlich macht und damit jede andere Art der übermenschlichen Verantwortung _____________ mus und Individualismus innerhalb der verschiedenen Gesellschaftstypen im globalen Vergleich von außerordentlicher Aussagekraft ist.
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zunächst zurückdrängt, daraus entstehend der Bedarf nach Religionsersatz in Form von Kunstreligion oder Bildungsreligion, all dies bildet in kollusivem Zusammenwirken das Argumentspotential Chamberlains, womit gesagt ist, dass er selbst keine wirklich neuen Ideen vorträgt, sondern nur das bereits Bekannte in besonderer Weise kompiliert. Er bietet seinen Lesern also nur, was sie längst diskutiert haben, allerdings in der Art, dass er die verschiedenen geistesgeschichtlichen Diskurse seiner Zeit zu einem einzigen komplexitätsreduzierten Strang zusammenwebt. Auf inhaltliche Detailgenauigkeit verzichtet er dabei ebenso wie auf die Darstellung oder Offenlegung der vorhandenen Widersprüche. Den Steinbruch geistesgeschichtlicher Diskurse und Ideen, wie er in den letzten Kapiteln ausgeführt wurde, plündert Chamberlain aus und errichtet aus den Einzelstücken in gezielter Umgestaltung eine neue, den Rezipienten aber doch vertraut scheinende Heilslehre. Wir finden bei ihm einen exzessiv nach außen getragenen 'christlichen' Glauben in der Tradition Wagners und Lagardes, am deutlichsten greifbar in seinem Buch Mensch und Gott, einen ausgeprägten biologistischen Rassismus, der sich auf seine Kenntnisse der darwinistischen Schriften und vor allem derjenigen Gobineaus stützt, wobei Chamberlain selbst Biologie studiert hat und damit Teil hatte am zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs. Seine biologischen Studienjahre betonte er immer wieder, auch im bereits zitierten Brief aus dem Jahr 1900 an Ernst von Wolzogen, aus dem man herauslesen kann, dass Wolzogen ihn verdächtigt, in vielem nur ein Adept Wagners zu sein. Dieser Verdacht ist in erheblichem Maße richtig und bezieht sich auf dessen germanozentrische Kunstreligion und vor allem auf die Übernahme seines Antisemitismus, zu dem er nicht durch Gobineau allein gekommen sein konnte. Chamberlain ist auch in vielem anderen ein Adept, doch sein Talent, das scheinbar Unvereinbare mit einander in Verbindung zu bringen, es gar zu harmonisieren und zu versöhnen, ließ die nach Übersichtlichkeit und Sicherheit heischenden Zeitgenossen aufhorchen. Kant, Goethe, Schopenhauer, Nietzsche und Wagner stellen die künstlerphilosophischen Legitimationsgrößen Chamberlains dar, Darwin, Gobineau die naturwissenschaftlichen. Deutschsprachige Naturästheten wie Ernst Haeckel lehnt er zwar als pseudowissenschaftlich ab407, benutzt sie aber dennoch, um sein eigenes Repertoire an Wissen über geistesgeschichtliche Zusammen_____________ 407 Gl 141, Anm. 1. Vgl. auch Kant 60: "alle sind sie aus Idee und Erfahrung zusammengesetzt; und wer das nicht weiss, gerät entweder mit dem bewunderungswürdigen, doch philosophisch unzulänglichen Darwin täglich tiefer in den empirischen Sumpf, oder er steigt mit dem Don Quixote der modernen Naturwissenschaft, dem phantasmorastischen Ernst Haeckel, auf einem beflügelten Rosinante, bis in die Region der dichtesten Bergnebel, wo er sein eigenes Brockengespenst für eine Erkenntnis hält."
656 Houston Stewart Chamberlains Weltanschauung
hänge zu profilieren, das Geistige über das vermeintlich Empirische zu setzen und damit die Letztbegründung der Dinge wieder aus den Fängen der Naturwissenschaft zu entreißen. Hier ein Beispiel, das den Biologen Haeckel mit Goethe und Kant zusammenbringt: Kant 640: Der angebliche »Ursprung« ist stets noch unerklärlicher als das, was er erklären soll: Jehovah, der die Welt aus Nichts erschafft, Haeckel‘s Urzelle, aus der durch Zuchtwahl das Reich der Organismen entsteht, sind weit grössere Wunder, als die Erscheinungen, denen sie zur Erklärung dienen sollen. Was dagegen Begreifen bedeutet, haben Sie vorhin von Goethe erfahren, und Sie lernten des weiteren einsehen, dass wir nur das begreifen, was aus Teilen besteht, und zwar aus Teilen, deren Beziehungen zueinander uns deutlich sind; denn das Begreifen ist seinem Wesen nach, wie vorhin bemerkt, ein Beziehen und Rückbeziehen; wir müssen also diese Möglichkeit, von der die Transscendentalphilosophie handelt, in Teile aufbrechen, das heisst analysieren.
Das Werk Kants wird von Chamberlain reduziert auf sein eigenes Bild von Pflicht, Religion und Gottesglauben, die Naturanschauung überlässt er Goethe und lässt aus der Verbindung die Utopie eines neuen Reiches erwachsen. Das neue mögliche Reich ist aber im Gegensatz zum Reich Gottes von dieser Welt, seine Erbauung keine dem Menschen entzogene göttliche Handlung, sondern das Produkt kulturellen, d. h. hier rassischen Schaffens. Hier klingt an, was neben germanischem Christentum und Rassismus Voraussetzung und Ziel der biologischen wie moralischen Evolution sein soll, die Kultur. Kulturkonzentrat, oder der Ort, wo Kultur besonders konzentriert vorkommt, ist die Kunst. Wie gezeigt wurde, verspricht sie besonders in der Tradition Nietzsches Erlösung und Leben in einem. Chamberlains Affinität zur neu geschaffenen Kunstreligion ist nicht zu übersehen. Hat Nietzsche die Kunst als Stimulans des Lebens (s. o.) bezeichnet, so ist bei Chamberlain in der Nachahmung Wagners der Künstler und das Künstlerische das Ziel der Menschheitsentwicklung überhaupt. Auch bei ihm ist der Künstler lebensbejahend, auch bei ihm ist er Held, wird er vergöttlicht und kann so über Leid und Unbill der Welt siegen. Gl 60: Künstlerisch zu empfinden, künstlerisch zu denken bezeichnet also einen besonderen Zustand des Menschen überhaupt; es ist eine Stimmung, oder vielmehr eine Gesinnung.... noch besser vielleicht ein latenter Kraftvorrat, der sich im Leben des einzelnen Menschen wie auch im Leben eines ganzen Volkes überall, auch dort, wo Kunst und Wissenschaft und Philosophie nicht unmittelbar beteiligt sind, "befreiend", "umschaffend", "reinigend" bethätigen muss.
Der Künstler nimmt, wie gezeigt werden konnte, sogar die Stelle Gottes ein, da er nicht nur als Krone der Schöpfung, sondern selbst als Schöpfer dargestellt wird (Bei Stefan George übrigens der Schöpfergeist). Dass dieser Künstler in einer solchen Argumentation biologisch determiniert ist, d. h. nur der präsupponierten indogermanischen Rassen entstammen
657 Chamberlain und seine diskursive Tradition – ein Fazit
kann, braucht an dieser Stelle nicht mehr weiter expliziert werden. Die Wirksamkeit des Chamberlain'schen Rassismus lag entsprechend darin, dass er diesen derart neuen Menschen mit religiösen Elementen ausstattete und dabei vom Messias ausgehend ein neues Messiasideal geschaffen hat. Dieses Messianische diente als Bindeglied zum künstlerischen Übermenschen Nietzsches, der dem deutschen Bildungsbürger in seiner Kulturreligion entsprach, führte aber auch direkt zu einer vermeintlich naturgegebenen Hierarchisierung der Menschen in Führer und Geführte, zu einem Ideal, das in den nationalistischen Führerkult mündete. Houston Stewart Chamberlain hat in seinen Schriften gegensätzliche Antworten so harmonisch ineinandergeflochten, dass man meint, selbst die unversöhnlichsten Gegensätze wie Nihilismus und Gottglauben, Darwinismus und Festhalten an der göttlichen Schöpfungsgeschichte, Allgewalt Gottes und Allgewalt des Menschen, Innerlichkeit und Rationalismus, würden hier in völliger Eintracht auf ein und derselben Linie liegen. Man fühlt sich an den Ausspruch Kaiser Wilhelms vor dem 1. Weltkrieg erinnert, als dieser sagte, er kenne keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche. Chamberlains Gegenstück müsste dann lauten: ich kenne keine Weltanschauungen mehr, nur noch meine Synthese daraus. Seine Antwort ist das Prinzip des neuen Menschen (Gl 239), der vom christlichen Gott legitimiert, aufgrund seiner "rassischen" Evolutionsgeschichte körperlich wie moralisch, das heißt künstlerisch vollkommen zum Übermenschen geworden ist und dem die Zukunft gehört. Chamberlain hat hier auf den Traditionen des Bildungsbürgertums aufbauend eine neue Utopie geschaffen, die die wichtigsten Strömungen der Zeit in sich vereint und damit auch nahezu allen seinen Lesern ihr philosophisches und/oder theologisches Zuhause bietet. Die Sehnsucht nach Orientierung und Sicherheit, nach Harmonie und Versöhnung ist das Grundprinzip bürgerlichen Handels in dieser Zeit. Zeitgeistwörter wie Décadence408 und Entartung409 fassen zusammen, was die Menschen bewegt, kulturelle Desorientierung, Angst vor dem Niedergang kulturellen Lebens, Suche nach dem Mystischen410 und das Bedürfnis nach kultureller Wiedergeburt. Bildung und Religion, Wissenschaft und Kunst _____________ 408 Vgl. dazu Borchmeyer 1994. 409 Das Wort Entartung darf in dieser Zeit keineswegs nur in rassistischen Kontexten verankert werden. Schon Humboldt benutzte es, auch Nietzsche. 410 Interessant sind neben dem bekannten Theosophen und späteren Anthroposophen Rudolf Steiner auch weniger bekannte, letztlich aber ebenfalls zeittypische Sektierer wie der Begründer des Klarismus Elisar von Kupffer, der in seiner dualistischen Lehre den Gegensatz zwischen Chaos und Klarheit betont, die Gleichheit der Menschen negiert und die alltägliche Welt als eine Welt des Kampfes betrachtet. Bezeichnend ist dabei ein Buchtitel Elisarions (Elisar von Kupffer): "Was soll uns der Klarismus? – nationale Kraft". München 1912. Vgl. dazu: Berger 2001, 109.
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mussten ineinander übergehen, wenn nicht das Lebensgefühl vieler bürgerlicher Zeitgenossen bedroht oder gar gestört werden sollte. Mit den jeweiligen zeitgenössischen Füllungen dieser Größen, dem biologistischrassistischen Potential und der Vorstellung einer nationalen Religion entstand ein hochexplosives Gemisch, das mit den Quelldisziplinen zwar kaum noch etwas gemein hat, in seiner Einfachheit und vor allem seiner überdachenden oder besser gesagt alle Unterschiede zudeckenden Art den Eindruck von Gemeinschaft und Einheit hinterließ und damit weithin Akzeptanz finden konnte.
XI. Houston Stewart Chamberlain – oder: “Das Scheitern der interpretierenden Klasse”
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Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er [der Mensch] sich in der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert, ist beinahe selbst ein Gott geworden. Freilich nur so, wie man nach allgemein menschlichem Urteil Ideale zu erreichen pflegt. Nicht vollkommen, in einigen Stücken gar nicht, in anderen nur so halbwegs. Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen. Sigmund Freud, Vom Unbehagen in der Kultur (1930)2
Dem Unbehagen in der Kultur schließt sich das Unbehagen besonders des bildungsbürgerlichen Menschen an der Politik, an der Gesellschaft, am Individuum, gar an sich selbst an. Es scheint, dass er mit seinen Hilfsorganen nur jämmerlich umzugehen weiß und deswegen glaubt, sich selbst immer wieder neu erfinden zu müssen. Der Ort, an dem er selbstreflexiv Kompensation der eigenen Defizienzen erhofft, variiert von Zeit zu Zeit. In der Regel stehen mehrere zur Auswahl. Es sind die Größen 'Kultur', 'Bildung', 'Geschichte', 'Religion' und 'Wissenschaft' im weitest möglichen Sinne. Um sie kreisen auch Chamberlains Schriften wie um Gestirne am Firmament. Ihr Fixstern ist die Rasse. Alles dreht sich um sie. Ihre physische Anziehungskraft prägt alle menschlichen Kulturprothesen wie den Körper selbst; sie ist in seinem Begriffssystem die Essenz des Menschlichen, der Kultur, der Bildungsfähigkeit und der Religion. Aus der althergebrachten religiösen Prädestination ist eine rassische geworden, und die Erziehung des Menschengeschlechts, die moralische Menschenbildung, wie sie als Ideal der Aufklärung und der deutschen Klassik ausgelobt wurde, mutierte zur Bildung einer einzigen Gruppe, nämlich die der germanischen Arier. Bildbar und damit auch perfektibel war nunmehr nur noch der, der die Veranlagung dazu besaß. Solche Restriktionen resultieren, und dies kann nicht deutlich genug betont werden, nicht aus der mit den genannten Strömungen aufgerufenen Tradition, sie haben ihren Ursprung gerade nicht bei Goethe, Kant oder Nietzsche, sondern sie sind Rezepti_____________ 1 2
Lepenies 2006, 394. Freud, Studienausgabe IX, 1930, 222.
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“Das Scheitern der interpretierenden Klasse”
ons- und Toleranzverengungen und -verzerrungen des konservativen Bürgertums einer ganz bestimmten Epoche deutscher Geschichte. In einem Vortrag aus dem Jahre 1932 sprach Thomas Mann über Goethe als den Repräsentanten des bürgerlichen Zeitalters: Es wetterleuchtet in dem Werk von Ideen, die weit abführen von allem, was man unter bürgerlicher Humanität versteht, weit ab von dem klassischen und bürgerlichen Kulturbegriff, den zu schaffen und zu prägen Goethe selbst in erster Linie behilflich gewesen war. Das ideal privatmenschlicher Allseitigkeit wird fallengelassen und ein Zeitalter der Einseitigkeiten proklamiert. Das Ungenüge am Individuum ist da, das heute herrscht: erst sämtliche Menschen vollenden das Menschliche, der einzelne wird Funktion, der Begriff der Gemeinschaft tritt hervor, der Kommunität; und der jesuitisch-militaristische Geist der pädagogischen Provinz, musisch durchheitert wie er ist, lässt vom individualistischen und liberalen, vom bürgerlichen Ideal kaum mehr etwas übrig.3
Waren Individualismus und Liberalismus am Anfang des 19. Jahrhunderts der Ausgangspunkt zur Entwicklung des deutschen Bürgertums gewesen, so waren sie am Ende des 19. und im Anbruch des 20. Jahrhunderts zum Hauptfeind geworden. Das Idol dieses Zeitalters ist die Gemeinschaft diagnostiziert Helmuth Plessner in seinem Buch über die Grenzen der Gemeinschaft (2002, 28) oder wie Th. Mann es oben formuliert hat: erst sämtliche Menschen vollenden das Menschliche, der einzelne wird Funktion. Er wird eingebettet in einen naturgeschichtlichen und welthistorischen Zusammenhang, der dem Einzelschicksal, Einzelleben und der Einzelzeit vorausgeht, der ihre Gegenwart bestimmt, ihre Zukunft festlegt. Der mittelalterliche OrdoGedanke erfährt seine neuzeitliche Renaissance, indem er an das Ordnungskriterium 'Rasse' gebunden wird. Das Bedürfnis nach einer festen Ordnung, nach Sicherheiten scheint ein Charakteristikum dieser Zeit zu sein, vor allem da sich die genannten Größen in der Wahrnehmung der bildungsbürgerlichen Gesellschaft immer weiter auseinander zu bewegen schienen. Der Darwinismus entthronte die biblische Schöpfungsgeschichte und den Menschen als über den Tieren stehendes Wesen, die Psychoanalyse ließ ihn sogar daran zweifeln, Herr in der eigenen Psyche zu sein. Die Naturwissenschaften waren nicht mehr verstehbar, der Universalgebildete ausgestorben oder zum Dilettanten geworden. Bildungsreligion und Säkularreligionen4 traten in Konkurrenz zu den traditionellen psychologischen Stützinstitutionen der Religion. Auch die moderne Literatur war sprachlos oder zumindest in eine Sprach_____________ 3 4
Thomas Mann, "Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters"; zitiert nach: Karl Mandelkow, Rezeptionsgeschichte der deutschen Klassik 1990, 196. Wehler III, 1995, 44.
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krise geraten. Die Kultur als Ort der Kompensation für politische Partizipation (Lepenies 2006, 31) konnte schon deswegen nicht mehr befriedigen, weil die Moderne mehr Fragen aufwarf, als sie zu beantworten in der Lage war. Chamberlain jedoch gab Antworten. Mehr noch, er holte in den Augen seiner Anhänger das Auseinanderstrebende zurück an seinen von der Natur und von 'Gott' gegebenen Platz, zentrierte die Satelliten Kultur, Bildung, Geschichte und Religion um den Fixstern Rasse, so dass das Unversöhnliche wieder nebeneinander stehen konnte und einen neuen Sinn bekam. Wenn Geoffrey Field den zum Deutschtum bekehrten Engländer einen Synthetisierer (1981, 173) nennt, dann trifft dies in vielerlei Hinsicht zu. Die besondere Begabung Chamberlains bestand tatsächlich darin, die anthropologischen Horizonte 'Gott', 'Natur' und 'Kultur' nicht als unversöhnliche Gegensätze in der Beantwortung der Frage nach dem Menschen stehen zu lassen, sondern daraus eine zutiefst gefährliche, für viele seiner Zeitgenossen aber höchst erbauliche Symbiose zu erstellen. Dabei führte er alte und neue Fäden so zusammen, dass seine Leser den Eindruck einer einfachen, vor allem aber relativ vertrauten Welterklärung bekamen, in die scheinbar nur leichte rassische Modifikationen eingepasst waren. Die alten Fäden hießen Christentum und Bildung; das dazugehörige Wert- und Tugendsystem mitsamt seinen Lebens- und Ausdrucksformen waren Wissenschaftlichkeit, Rationalismus und nun auch Rassismus. Im Unterschied zu den meisten Anhängern der völkischen Bewegung, die das Christentum rundherum ablehnten, besonders der Los-von-Rom-Bewegung, hält Chamberlain scheinbar am christlichen Glauben als vertrauter Erlösungsreligion fest. Zwar ist auch er der Meinung, dass der Katholizismus zum Untergang der germanisch-deutschen Hochkultur geführt habe,5 doch anders als viele Völkischen kehrt er zwar der Kirche den Rücken zu, modifiziert sich seinen Christus aber arisch so zurecht, dass selbst dieser zum Satelliten der Rasse wird. Die Bildung eines neuen Erlöserideals verlangte und produzierte also auch einen neuen Messias. Und dieser fand seine Erfüllung im Führermessianismus der Folgezeit. Das Messianische in Chamberlains Rassentheorie führt direkt von der großen Persönlichkeit zum Übermenschen, konkret vom Kaiser über Hindenburg zu Hitler (Gl 239). Sein gepredigtes Christentum hat damit seine germanischnationalistische Beschränkung erfahren, was der Bildung einer neuen Auserwähltheit, damit einer Elitebildung gleichkam, in der die wahre Religion eben nur von einer arisch-germanischen Nation ausgeübt werden kann. N. Elias (1992, 174) erkennt in dieser Zeit eine „Verschiebung der Priorität _____________ 5
Puschner 2001a, 41.
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von humanistischen, moralischen Idealen und Werten, die für Menschen überhaupt gelten, zu nationalistischen Wertungen, die ein Idealbild des eigenen Landes und der eigenen Nation über allgemein-menschliche und moralische Ideale erhoben.“ Im Bild der Verschiebung mag Chamberlain der Scheitelpunkt sein, vielleicht aber auch nur derjenige, der das Rassistisch-Nationalistische im Gewande des Humanistisch-Idealen zur Schau stellt. Sein 'Humanismus' jedenfalls grenzte das Humane auf den Germanen ein und ließ das Ideale zur sentimentalischen Utopie des Ariertums werden. Eines der von ihm dazu eingesetzten Mittel war seine spezifische Art, mit Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit umzugehen. Was Plessner über den deutschen Wissenschaftsglauben schreibt, gilt in jedem Satz auch für Chamberlain. Plessner, Die verspätete Nation 1974, 165: Ohne Rückhalt an einer Staatsidee, ohne Möglichkeit, aus den Quellen christlichen Bekenntnisses sich auf ein zugleich weltbedeutendes Ziel von politischer Zugkraft zu einigen, banden die Deutschen sich um so fester an eine damals noch kaum bestrittene geistige Autorität, die Wissenschaft. Wenig spezialisiert und unverbraucht war diese für das lebendige Bedürfnis nach einer Sinndeutung des Lebens die gegebene Instanz. Das Vertrauen in die Macht des Geistes, in die Fähigkeit des Erkennens, zu einer sinnvollen Einheit von Mensch und Welt, Dasein und Bestimmung durchzudringen, sah sich von vornherein von einer disziplinär-spezialistisch verhärteten und technisierten Forschung abgewiesen. Ein aus allen Wurzeln menschlicher Existenz genährter Enthusiasmus trieb das wissenschaftliche Denken an und verband sich im Gesamtentwurf mit dem Willen zur Größe und Totalität. Dieses Denken sollte Heilkraft und Heilsbedeutung haben, lebendigen Sinnzusammenhang mit dem Dasein. Nicht die abstrakte Sachlichkeit, die alle Dinge des Himmels und der Erde vergegenständlicht und in hundert Fachreservate aufteilt, um sie losgelöst aus der Lebensperspektive zu untersuchen, nicht die an Astronomie und Physik geschulte Distanzierung der Objekte war sein Ideal.
Sinnstiftung durch Wissenschaft, aber keine verhärtete oder technisierte Forschung, Gesamtentwurf, aber keine aufgeteilten Fachreservate. Auch in dieser späten (zweifellos affirmativen) Formulierung vermischt sich Wissenschaftskritik mit dem Glauben, durch Wissenschaft erlöst zu werden, denn Denken sollte Heilkraft und Heilsbedeutung haben, lebendigen Sinnzusammenhang mit dem Dasein. Auch für Chamberlain steht die Lebensperspektive im Vordergrund, allerdings diejenige der Rasse. Sie liefert ihm und damit auch seinen Lesern metaphysischen Trost,6 da sie ganz im Sinne Nietz_____________ 6
Nietzsche, Die Geburt der Tragödie. Studienausgabe 1, 47: "Der metaphysische Trost – mit welchem, wie ich schon hier andeute, uns jede wahre Tragödie entläßt – daß das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter aller Zivilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel
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sches dasjenige Leben repräsentiert, das ewig währt und sich immer wieder aufs Neue reproduziert. Seine Beweisführung führt ihn zurück in die Anfänge der europäischen Kulturgeschichte, gar in mythische Zeiten. Aber auch dies ist symptomatisch für das ganz und gar nicht rationalistische Erbauungsschrifttum. Neben dem metaphysischen Trost steht der Wille zur Monumentalität, oder wie Plessner oben schreibt: der Wille zu Größe und Totalität. Die alltägliche Wirklichkeit wird in Chamberlains Schriften immer wieder gegen das Versprechen einer glorreichen Zukunft eingetauscht, die Profanie z. B. des Händlerdaseins gegen das Pathos des Heldentums. Polarisierungen gehören zu Chamberlains Menschenbild. Es sind Projektionen von Stereotypen, Ängsten und Wünschen. Der Händler ist Jude, der Arier dagegen der strahlende Held. Vom alltäglichen Machtgerangel weiß dieser nichts. Er rettet die Welt oder er ist künstlerisch tätig, aber von einem arischen Politiker liest man nichts. Zu dieser erbauungsideologischen Art der Geschichtsschreibung passt, was N. Elias wiederum für die Mittelklasse der Zeit feststellt: Elias 1992, 164: Es ist recht aufschlußreich für Stellung und Selbstbild der deutschen Mittelklasse-Eliten, dass diejenige Tradition der Geschichtsschreibung, die der „politischen Geschichte“ am klarsten zuwiderlief, unter dem Namen „Kulturgeschichte“ bekannt wurde. Sie lenkte die Aufmerksamkeit auf solche Bereiche des menschlichen Gesellschaftslebens, in denen die von der politischen Macht ausgeschlossenen deutschen Mittelklassen die hauptsächliche Grundlage ihrer Selbstrechtfertigung und ihres Stolzes fanden – auf Bereiche wie Religion, Wissenschaft, Architektur, Philosophie und Dichtung, aber auch auf den Fortschritt der menschlichen Moral, wie er sich aus den Gebräuchen und Verhaltensweisen gewöhnlicher Leute ableiten ließ.
Karl Kraus nennt Chamberlain einen Culturforscher,7 er selbst versteht sich jedoch als Historiker (Gl 632). In seinen Grundlagen betreibt er bildungsbürgerliche Selbstrechtfertigung; er sieht die Weltgeschichte nicht als politische Geschichte, sondern als eine auf der Grundlage der Rasse entstandene Kulturgeschichte an; sie ist damit einer beeinflussbaren und berechenbaren Größe untergeordnet, die zusätzlich zur Kulturübersteigerung auch dazu diente, politische Verantwortungsverweigerung zu betreiben.8 Chamberlains Argumentationen begeben sich selten auf die Niederungen banaler Politik. Sie bewegen sich in der Regel auf dem bildungsbürgerlichen Höhenkamm, auf dem er seine politikverachtenden _____________ 7 8
der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben." Die Fackel, Heft 22, 30 (1899). Elias 1992, 168 zitiert Ernst Gothein, Die Aufgaben der Kulturgeschichte. Leipzig 1889, 2f: "Politische Geschichte bleibt in ihrer Notwendigkeit und ihrem Wert bestehen; aber die allgemeine, die Kulturgeschichte verlangt von ihr, dass sie sich ihr ein- und unterordne." Vgl. außerdem: Lepenies 2006, 407; Plessner 2002, 111.
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Biedermeier besser erreichen konnte. Anders ausgedrückt: Er hebt die Fragen der Politik auf eine vermeintlich höhere, universalere Ebene. Das ist keine Sekundäragitation, sondern für das Bildungsbürgertum der eigentliche Ort und der eigentliche Ausdruck ihrer Sozialisation. Diese Politik- und Zivilisationsvergessenheit, ja geradezu Kulturkorruption war symptomatisch für ihn, seine bildungsbürgerliche Klasse, vielleicht sogar für den Zeitgeist des späten 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts insgesamt.9 Bildung und Kunst überdachten und überdeckten politische und moralische Verantwortlichkeit. Dazu passt, dass Chamberlain die sozialen Fragen seiner Zeit kaum zur Kenntnis nimmt. Armut kennt er als Gelübde (AW45), als Ideal Rousseaus (Gl 37), als Instinktarmut (PI 31) oder gar als Armut an Phantasie als Grundzug der Semiten (Gl 471), als soziale Frage seiner Gegenwart kennt er sie nicht. Ob dieses Verschweigen Programm ist, kann ich nicht beurteilen. Aber es ist auffällig. Noch bemerkenswerter ist dies, wenn man bedenkt, dass die Inszenierung des Bildungsbürgertums, die beschriebene Art der Selbstrechtfertigung, letztlich einen Gegner voraussetzt, der den Status in Frage stellt. Der von Chamberlain als Bundesgenosse betrachtete Adel kann es jedenfalls nicht sein. Trotz ideologischer Vorbehalte und seiner viel späteren Entstehung ist das folgende Zitat erwähnenswert, da es auch ohne den klassenkämpferischen Bezugspunkt des Marxismus / Leninismus Gültigkeit besitzt. Klaus, Sprache der Politik 1971, 193: Das eigentliche Ziel der Politik ist vielmehr, Menschen zu bestimmten Verhaltensweisen zu veranlassen, um bestimmte Klasseninteressen durchzusetzen.
Unter einem solchen weitgefassten klassenbezogenen Aspekt könnte man die These aufstellen: Chamberlain vertritt die Klasse des wilhelminischen Bürgertums gegen die Arbeiterklasse und die damit assoziierbaren Bemühungen um soziale Gerechtigkeit. Der Grundbegriff, der alle seine Argumentationen miteinander verbindet, sie sozusagen kohärent macht, ist das Gobineausche Prinzip der Ungleichheit. Die biologistisch angemahnte Ungleichheit der Rassen findet ihre Fortsetzung in der Ungleichheit der Nationen und der Klassen. Dem Arier als rassisch-rassistischem Übermenschen korrespondiert der Bildungsbürger als Kulturträger schlechthin. Da man weder über Geld noch über Politik spricht, schon gar nicht in der salonfähigen Literatur, wird der sozialpolitische Kampf, der spätestens mit der Gründerkrise beim Bürgertum virulent war, auf der Hochebene einer geschichtsphilosophisch angehauchten Literatur vorbereitet. Chamberlains
_____________ 9
Vgl. Lepenies, a. a. O.
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Literatur kann entsprechend als eine propagandistische Infrontstellung des Bildungsbürgertums angesehen werden. Zum umrissenen konservativ bürgerlichen Habitus, den der Wagnerschwiegersohn in jedem geschriebenen Wort zu leben scheint, gehören Kulturhöhe, Kunstästhetik, Persönlichkeits- und Geniekult, Kulturchauvinismus und Nationalismus10. Sie alle bedient er nicht nur, sondern ihretwegen wurde er auch gelesen. Chamberlain konnte alles ansprechen, was er ansprach, weil er in bildungsbürgerlicher Sprache schrieb, bildungsbürgerliche Ideale teilte, seine Klasse mit ihren eigenen Argumenten betörte und sie in einen großen Weltzusammenhang stellte. Mit seinen Schriften machte er das Bürgertum wieder bedeutend, suggerierte er ihm, dass es zu Höherem berufen sei (Zuversicht 9-11). Die bildungsbürgerliche Sprache, die hier in Semantik und Pragmatik herausgearbeitet wurde, ist ein ideologisch restringierter Code, der in seiner Selbstreferentialität die Sprache des Kulturrassismus spiegelt. Es ist eine Fachsprache der besonderen Art. Sie hat eine spezifische lexikalische Semantik, die eingebettet in bildungsbürgerliche Stile und salonfähige Sprachhandlungen unterschwellig noch vorhandene Hemmungen zu lockern verstand. Sie verharmlost und radikalisiert gleichermaßen. Aber es ist eine Radikalisierung auf der zweiten Ebene: man benutzte allgemeinsprachliche, „harmlose“ Wörter wie Kraft, Wille, Leben oder das einfache Mensch und meinte Rassenkraft, Rasseleben, Rassenwille. Und Mensch war man nur, wenn man der richtigen Rasse angehörte. Dem Dazugehörenden wurde geschmeichelt: in ihm stecke ein Künstler, Genie und Held, es schlummere sogar das Göttliche in ihm. Und dieses übermenschliche Wesen erstrahlte umso heller, je dunkler nicht nur die Zeiten, sondern vor allem das bedrohliche Gegenbild erschienen. Das Tierische hatte bei Chamberlain viele Formen, aber es fand letztlich immer wieder zum jüdischen Projektionsbild zurück, als sein Dämon Schlange, als die bestia miserrima, das Unkünstlerische, Unschöpferische und Ungöttliche. Chamberlain, dessen direkter Diskursvorläufer Richard Wagner hieß, und dessen ideologischer Nachfolger in vielen Dingen Adolf Hitler war, hat nur selten explizit zur Zerstörung des Anderen aufgerufen. Er lieferte die radikalen Handlungsanweisungen ganz nebenbei auf der Ebene der Präsuppositionen, der Fußnoten oder Nebensätze. Chamberlain war ein Wolf im Schafspelz, da er seinen Rassismus mit schönen Worten, bekannten Formeln aus Kultur, _____________ 10
Von den liberalen Tugenden, die dem Bürgertum ebenfalls zugeschrieben werden müssen, wie Toleranz, Kompromissfähigkeit und Freiheitsliebe, wie sie A. Linke (1996, 22) für das liberalere Bürgertum noch aufführt, ist vor allem die Toleranz bei Chamberlain nur eine Etikette für das Eigeninteresse, die Freiheit immer nur die Freiheit der eigenen Rasse und nie der Anders"artigen" bzw. -denkenden.
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Moral und Sittenlehre verbrämte. Er war ein Nebensatzradikaler, was das folgende Beispiel aus dem Jahre 1914 noch einmal deutlich macht: Kriegsaufsätze I / Deutschland 80: schon damals war das Volk – das die Herren Maeterlinck, [...] als Barbaren in Verruf bringen möchten – Allen Anderen an „Zucht“ überlegen: genau die Eigenschaft, die auch heute das deutsche Volk als Ganzes – und von wenigen, hoffentlich bald auszutilgenden Ausnahmen abgesehen – vor der chaotischen Zuchtlosigkeit ihrer Tango tanzenden Nachbarn auszeichnet.
Dieser Satz gehört zu den radikalsten, die sich bei Chamberlain nachweisen lassen, aber er ist kein kriegsverursachter Kollateralschaden. Auf Houston Stewart Chamberlain, aber auch auf viele seiner Rezipienten passt, was Sartre über den Antisemiten zu sagen hatte. Sartre, Betrachtungen zur Judenfrage 1948, 46: Er ist ein Mensch, der Angst hat. Nicht vor den Juden, vor sich selbst, vor seiner Willensfreiheit, seinen Instinkten, seiner Verantwortung, vor der Einsamkeit und vor jedweder Veränderung, vor der Welt und den Menschen, vor allem – außer vor den Juden. Er ist ein uneingestandener Feigling, ein Mörder, der seine Mordsucht verdrängt und kennt, ohne sie zügeln zu können, und der es doch nur wagt, bildlich oder in der Anonymität der grossen Masse zu töten, ein Unzufriedener, der aus Angst vor den Folgen seiner Auflehnung es nicht wagt, sich aufzulehnen. Wenn er sich zum Antisemitismus bekennt, so unternimmt er einen Akt der Selbstbestimmung. Er wählt für sich die Undurchdringlichkeit des Felsens, die völlige Unverantwortlichkeit des Soldaten, der seinen Vorgesetzten gehorcht; er aber hat keinen Vorgesetzten. Er will nichts erwerben, nichts verdienen, sondern alles in der Wiege vorfinden – aber er ist nicht von Adel. Das Gute soll für ihn fix und fertig, über jeden Zweifel erhaben, unantastbar sein, er wagt nicht, zu ihm aufzublicken, aus Angst, es am Ende bestreiten und nach einem anderen Guten forschen zu müssen. Der Jude dient hier nur als Vorwand; anderswo bedient man sich des Negers oder der Gelben. Seine Existenz ermöglicht es einfach dem Antisemiten, seine Ängste im Keim zu ersticken, indem er sich davon überzeugt, dass ihm sein Platz an der Sonne von jeher reserviert war, dass er auf ihn wartete, und dass er das angestammte Recht hat, ihn einzunehmen. Der Antisemitismus ist, kurz gesagt, die Angst, Mensch zu sein. Der Antisemit will ein unerbittlicher Felsen, ein reißender Sturzbach, ein verheerender Blitz – alles nur kein Mensch sein.
XII. Literaturverzeichnis 1. Chamberlains Schriften Vollständige Bibliographie bei: Albert Vanselow, Das Werk Houston Stewart Chamberlains. Eine Bibliographie. München 1927; ferner bei: Hugo Meyer, Houston Stewart Chamberlain als völkischer Denker. München 1939, 225-230). Ich gebe die Auflagenzahlen der einzelnen Schriften, zumindest soweit sie mir bekannt sind, mit an. Die meiner Analyse zugrunde liegende Auflage ist halbfett ausgezeichnet. Am Ende der jeweiligen Angaben steht die von mir benutzte Zitiersigle. Chamberlains Schriften wurden in der Regel im Verlag der Wagnerfreunde Bruckmann verlegt, der deshalb nicht explizit aufgeführt werden muss. Die Tatsache, dass der Bearbeitung zumeist nicht die Erstauflage zugrunde gelegt wurde, ist dadurch bedingt, dass eine solche nicht immer zur Verfügung stand. Der Rückgriff auf Erstausgaben ist aber auch nicht zwingend notwendig, da die Folgeausgaben seiner Schriften mit Ausnahme der Grundlagen des 19. Jahrhunderts von Chamberlain kaum weiter überarbeitet worden sind. Wenn eine abweichende Auflage zitiert wird, was im Falle der Grundlagen der Fall sein kann, wird dies angegeben. Steht also die Abkürzung Gl, so handelt es sich um die 10. Auflage von 1912, steht Gl 14. Auflage, so ist die Ausgabe von 1922 gemeint. In der Reihenfolge ihres Erscheinens: Chamberlain, Houston Stewart, Über das Verhältnis von Sprache und Musik in Tristan und Isolde. In: Allgemeine Musik=Zeitung. 15. Jahrgang. Berlin 1888, 283-287. Chamberlain, Houston Stewart, Das Drama Richard Wagner's. Eine Anregung. 1. Aufl. 1892; 2. verb. Aufl. 1906; 3. Aufl. 1908; 4. Aufl. 1910. 6. Aufl. Leipzig 1921. [Drama Richard Wagners]. Chamberlain, Houston Stewart, Richard Wagner und die Politik. In: Bayreuther Blätter 1893, V/VI. [Wagner BB]. Chamberlain, Houston Stewart, Echte Briefe an Ferdinand Praeger. Kritik der Praeger'schen Veröffentlichungen. Bayreuth 1894. [Chamberlain, Praeger]. Chamberlain, Houston Stewart, Richard Wagner. 1. Aufl. München 1895/6; 3. Aufl. 1904; 4. Aufl. 1907; 5. Aufl., 6. Aufl. 1919; 11. Aufl.
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1.1. Alphabetisch geordnete Liste der in dieser Untersuchung eingeführten Werkabkürzungen mit Erscheinungsjahr der zitierten Ausgabe: [AW]: Arische Weltanschauung. 8. Aufl. 1938. [Br]: Briefe. 1928. [BW]: Cosima Wagner und Houston Stewart Chamberlain im Briefwechsel 1888-1908. 2. Aufl. 1934. [Chamberlain, Goethe]: Goethe. 1. Aufl. 1912. [Chamberlain, Kant]: Immanuel Kant. 5. Aufl. 1938. [Chamberlain, Praeger]: Echte Briefe an Ferdinand Praeger. 1894. [Chamberlain, Wagner]: Richard Wagner. 6. Aufl. 1919. [Demokratische Wahn]: Der demokratische Wahn. 1918. [Demokratie und Freiheit]: Demokratie und Freiheit. 1917.
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