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Die Zeit um 1524/25 – Beginn der Bauernaufstände in südlichen Schwarzwald und im Hegau, der Bruch der Stadt Waldshut mit dem Hause Habsburg, ihr Überwechseln zur Reformation und ihr Bündnis mit den Bauern. Der Bauernoberst Hans Müller aus Bulgenbach war eine herausragende Persönlichkeit an jenem Schauplatz der Geschichte. Er ist angetreten mit einem unbeirrbaren, geradezu fanatischen Glauben für ein besseres, freieres Leben der Unterdrückten er hat für diesen Traum gekämpft und auch noch nach Niederlagen unermüdlich für ihn geworben und verhandelt; Gefangennahme, Folter und Hinrichtung waren schließlich sein Los. Gunter Koppenhöfer zeichnet Stationen dieses Lebens nach: Hans Müllers Kindheit als Hütebub in Bulgenbach die Jugendjahre in Tiengen, die Zeit als Söldner in französischem Dienst, seine Rückkehr in die Heimat, den Schwarzwald, sein Aufstieg zum Bauernoberst, die Einnahme von Freiburg durch die Schwarzwälder Bauern, seine Begegnungen mit Herzog Ulrich auf dem Hohentwiel und seine Gespräche mit dem Reformator und Wiedertäufer Balthasar Hubmaier – aber auch seine Suche nach Theresle und seine Liebe zu Verena …
Günter Koppenhöfer
Hans Müller aus Bulgenbach Eine Erzählung aus dem Bauernkrieg 1524/25
SÜDVERLAG
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Koppenhöfer, Günter: Hans Müller aus Bulgenbach eine Erzählung aus dem Bauernkrieg 1524/25 / Günter Koppenhöfer – Konstanz Südverl, 1993 ISBN 3-87800-020-0 ISBN 3-87800-020-0
1 Auflage 1993 2 Auflage 1994 © Südverlag GmbH, Konstanz 1993 Typographie und Satz multimedia Electronic Publishing GmbH, Konstanz Einbandgestaltung und Karte Riester & Sieber, Konstanz Druck Druckerei Konstanz GmbH, Konstanz
unverkäuflich 01.07.05
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ie war zwei Tage vor Sylvester gekommen, mit dem Schlitten, davor ein Rappengespann, das sie selbst kutschierte, die Tante Johanna aus Berau, die Gotte des siebenjährigen Johannes. Sie hatte gute Sachen mitgebracht, Honig, Nüsse, Tuche und Wolle. Sie konnte es sich leisten, sie waren tüchtige »Gotteshausleute«, wie man die abhängigen Hintersassen und Klostermeier nannte. Am ersten Tag des neuen Jahrhunderts hatte sie ihre Schwägerin mit deren Kindern auf den Schlitten gesetzt, waren sie in lustiger Fahrt über Häusern hinab nach Sankt Blasien gerutscht. Den kleinen Johannes hatte die Gotte auf ihren Schoß genommen. So durfte er die Zügel halten, mit der Zunge schnalzen, in freudiger Zwiesprache mit den Pferden. Die Gotte verband die Fahrt mit kleinen Geschäften und Gesprächen, die sie mit allen möglichen Leuten führen mußte, mit einem Prokurator, den sie anfänglich nicht finden konnte, mit Meistern und Kämmerern. So viele Menschen hatte der kleine Hannes noch nie beisammen gesehen. Was war da Bulgenbach mit seinen nicht mal zehn Gehöften für eine kleine Welt. Wie sie alle geschäftig waren, diese hin- und hereilenden, wie Ameisen wirkenden Mönche, Klosterleute, Kuttenträger im Gegensatz zu den herumstehenden, ledergewappneten Kriegsmännern. Im Klosterbezirk, am Rande der einfriedenden Mauer, war ein Jahrmarkt aufgebaut, Hauensteiner Händler, Musikan9
ten, es gab Neujahrskuchen mit Rahm und Honig eingebacken. Plötzlich hieß es: an der großen Holzbrükke schießen sie wieder. Alles rannte dorthin, das ganze, müßige, gaffende, neugierige Volk. Der kleine Hannes riß sich von der Hand der Mutter los, lebte sie doch in der Angst, sie könnte ihn in der ungewohnten Menge verlieren. »Wann wird nun geschossen?« So eine kleine Kanone, ein Rohr auf zwei Rädern, ein »Karrenbüchsle« war etwas Seltenes, was viele noch nie gesehen hatten. »Erst wenn geläutet wird, wird wieder geschossen.« »Warum läuten sie nicht?« Es wurde Abend, über den Schnee, die Bäume huschten rosige Lichter, vermischt mit bläulichen Schatten, dann begann ein Glöckchen zu bimmeln, eine zweite Glocke kam hinzu, und dann rauschte das schwere, dröhnende Glokkengewitter über das ausgeweitete Tal, ein Feuerstrahl, das Karrenbüchsle donnerte dazwischen, zweimal, dreimal. So wurde die erste, die zweite Nacht des neuen, des sechzehnten Jahrhunderts eingeschossen.
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aum war der Schnee gegangen, von den rüttelnden Föhnstürmen weggefegt, von der Märzsonne weggeleckt, begann es auch schon zu grünen im engen Mettmatal, sprießten junge Halme aus den vorjährigen, gelben Grasbüscheln. An den Weidenbüschen, den Sträuchern am Bach stand der Saft unter der Rinde, stürzten die Geißen sich darauf, fraßen gierig die 10
jungen Triebe. Seit über drei Jahren war er nun Geißbub. Manchmal fragte er die Mutter: »Wie alt bin ich jetzt?« »Schon über elf«, kam ihre Antwort. »Elf«, sagte er vor sich hin, »um elf kommen die Wölf.« Es gab noch Wölfe, drüben, über der Mettma, an diesem mächtigen Buggenrieder-Berg. Erwachte er am Morgen in seiner Holzkammer über dem Stall, eine Wand war hochgeschichtet mit Rinde und Spänen, Brennholz, das er jahrein, jahraus zusammentrug, dann sah er ihn vor sich, rund, ihm entgegengewölbt, bewaldet bis zum Himmel, mit eingestreuten Blößen, einigen Erdrutschen und glattem Fels, die Sonne kam hinter ihm hervor, die Wärme, die Kraft, die fröhlichen Gedanken. Von der anderen Seite, hinter ihm, von Staufen her, von dem Weg nach Berau, kamen die »Anderen«, die Knechte der Vogtei, die Aufpasser, Eintreiber, Fingergucker. Nur jede zehnte Geiß dürften sie fortnehmen, das sagten alle, so sei es geschrieben und ausgemacht, sie aber nahmen, wie es ihnen paßte, jede fünfte, jede dritte, manchmal die halbe Herde. Sie machten eine Rechnung auf, die niemand nachprüfen konnte, die aber falsch war. Sie sagten: Jede Geiß wirft zwei Junge im Jahr, die Hälfte davon sind Böcke, also habt ihr soviel und soviel. Daß aber manche Geiß überhaupt nicht trägt, nur ein Junges wirft oder gar verwirft, das paßte denen nicht in den Kram, sie wurden gehässig, gewalttätig, duldeten niemals Widerspruch. 11
Wenn die Geißen am Morgen gemolken waren, zog er los mit seiner kleinen Herde, ließ all die Armseligkeit, die Hast und Unruhe hinter sich, die das Haus überwölkte. Der Vater, die älteren Brüder brachen ebenfalls auf, in die Steinbrüche, zum Wegebau, zu unbezahlter Fronarbeit. Es war alles so ausgerechnet, ausgeklügelt, daß nichts blieb als das karge, nackte Leben. Unten, am Bach, an der Heidenmühle vereinigte er seine zehn Geißen mit denen von Theresle. Sie war älter als er, bestimmt ein Jahr, vielleicht auch zwei oder drei. Sie begrüßten sich nicht, weder mit Zuruf noch mit Gesten, hastig ging der Blick über die Gestalt des anderen hinweg, alles war vertraut, unverändert von einem zum anderen Tag. Immer trug sie einen dunklen, abgeschabten Kittelrock, der bis über ihre Knie reichte, die Beine waren nackt, gebräunt von Wind und Sonne, barfuß wie er auch. Theresle hatte meistens ihren Hund dabei, einen starken, mittelgroßen Wächter mit schwarzbraunem, gekräuseltem Fell. Wenn sie ihm mit dem Finger leicht über die porige, graue Nase strich, begann er zu wedeln, so heftig, daß sein Rükken sich wie eine Schlange krümmte, dann sprang er an ihr hoch, und sie drückte sein Fell an ihr Gesicht. Ein sorgloses Leben, die Geißen verliefen sich selten, gegen Abend fanden sie alle wieder zurück. Regnete, stürmte es, suchten sie Unterschlupf in dichten Hecken, unter Bäumen, wollte es gar nicht nachlassen zu nässen, 12
zog Theresle ihren Kittelrock aus und sie spannten ihn zwischen Zweige als Dach über ihren Köpfen. Mit der Zeit aber hatte Hannes an verschiedenen Weideplätzen kleine Hütten aus Ästen und Rinde für sie errichtet. An heißen Sommertagen lagen sie in kühlendem Schatten am Hang und verschliefen manche Stunde. Auch die Geißen lagerten weitverstreut unter den Büschen. Manchmal, wenn er aus dösendem Halbschlaf wieder zurück in die Wirklichkeit fand, spürte er das Bein von Theresle, das angewinkelt über ihm lag, er griff nach diesem Bein, strich von der Kniekehle ausgehend an dieser gerundeten Fläche hoch, und die Berührung verführte ihn, abwechselnd leichten Druck auf dieses feste, elastische Fleisch auszuüben. Seine Augen blickten nach oben, in die aufgetane Wölbung des Himmels, in welche die Formen des Waldes, der Bäume, spitz, gezackt, gerundet, durchlöchert in unübersehbarer Vielfalt hereinreichten. Dieses Bild, gekoppelt mit dem drängenden Gefühl, das durch die Berührung mit der Weichheit und Fülle des Schenkels hervorgerufen wurde, tauchte immer wieder vor ihm auf. Auch noch nach Jahren, als er in französischem Söldnerdienst stand und manche Begegnung mit üppigen Frauenkörpern hatte. Unbewußt suchte er nach diesem Bild, diesem Gefühl in völlig veränderter Umgebung und anderen Situationen. Es wurde zu einem Leitbild, prägte seine sinnlichen Wünsche. 13
Theresle hatte seit frühester Jugend entzündete Augenlider. Oft waren die Wimpern verklebt, daß sie die Augen nach dem Schlaf nur mit Schmerzen öffnen konnte. Schon früh am Morgen wusch ihr die Mutter mit dem Aufguß von Kamillenblüten die Wimpern frei. Auf die Weide nahmen sie einen kleinen Kessel mit glimmender Kohle und Schwämmen mit, so konnten sie immer ein Feuer machen. Manchmal, wenn die Wimpern des Mädchens zu sehr verkrustet waren, nahmen sie auch ein Töpfchen mit diesem Kamillensud mit auf die Weide. Dann kniete er vor der Sitzenden und strich ihr mit dem genäßten Läppchen über die Augen und trocknete ihr nachher mit den Händen die Backen. Ihr Gesicht war dann so nahegerückt, sie hielt die Augen geschlossen, so daß nichts, nicht ihr eigener Blick sein Betrachten, sein Betasten stören konnte. So senkten sich die Erhöhungen, Buchten, Linien, Rundungen dieser menschlichen Formen bleibend in sein Gedächtnis. Den Ansatz der Ohren mußte er hinter der wilden Fülle ihrer Haare suchen, ein Rahmen aus gerollten Goldsträhnen, die im Oberflächenglanz hell, silbern wurden. Hannes hatte mit seiner Gotte über das Augenleiden von Theresle gesprochen, und sie hatte den Siechenmeister im Kloster darüber befragt. Dieser meinte, daß das Tragen von goldenen Ohrringen das Leiden nachhaltig bessern könnte. Woher aber sollten so arme Leute auf der Heidenmühle, in ganz Bul14
genbach goldene Ringe erhalten? Reich waren nur die Herren, der Adel, die Grundbesitzer, die Herrschaften vom Kloster.
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ie waren plötzlich gekommen, unangemeldet wie immer, die Knechte der Vogtei, sie ritten durch Bulgenbach, hinab zur Heidenmühle. Die Sonne war untergegangen, ein gelbrot gefiltertes Licht schien in rotierender Bewegung das Tal zwischen den Hügeln zu umspülen. Soeben hatte Hannes seine Geißen in den Stall gebracht, sich kurz zuvor von Theresle getrennt. Immer gab es Aufregung, wenn diese Knechte erschienen. Was haben sie vor? Scheu, vorsichtig waren einige Bewohner zusammengekommen, Hannes rannte vor zum Scheitel des Abhanges, nun konnte er das Tal übersehen. Sie standen vor dem Haus, die Knechte, die Eltern, die Kinder, auch Theresle, er glaubte, sie weinen zu hören, nun rannte er schneller, erreichte das Haus an der Hinterseite, blieb zehn Schritte im Rücken von den Knechten stehen. Sie hatten eine Seilschlinge gemacht und sie dem Hund um den Hals gelegt und das Ende des Seils über einen vorspringenden Balkenkopf geworfen, um ihn daran hochziehen, aufhängen zu können. Er hörte die Stimme des Oberknechtes: »Ihr habt den Hund abgerichtet, zum Wildern, zum Hasenfang, jede Woche habt ihr Braten, ihr bestehlt die Herrschaft! Was steht auf Stehlen, auf Wildern?« 15
Er schrie auf den Vater von Theresle ein: »Turm, du wirst getürmt, ein Jahr, zwei Jahre, vielleicht kommst du auch vor das Blutgericht! Wie muß ein Hund gehalten werden? Wie? Gib Antwort!« »Ein Bengel …«, begann der Vater, um gleich wieder einzuhalten. »Ja, zwei gekreuzte Bengel müssen an seinen Schwanz gebunden sein, daß er gleich am Waldrand an den Stauden hängen bleibt.« »Wir brauchen ihn zum Hüten.« »Dafür ist diese Rotznase eingeteilt.« Der Oberknecht wies auf Theresle, um dann gleich dem Knecht zuzurufen: »Los, zieh den Köter hoch, macht er seinen letzten Schnapper.« Laut schreiend stürzte sich nun Theresle auf den Knecht, der sie mit gestrecktem Arm zur Seite warf. Was darauf folgte, kam so überraschend und bewirkte sekundenlange Lähmung. Hannes hatte einen dieser armlangen Bengel, die man als Feuerholz zum Brotbacken an der Hauswand aufgeschichtet hatte, ergriffen und ihn dem Knecht über den Kopf geschlagen. Der Mann fiel um, der Hund, den er schon etwas hochgezogen hatte, herab. Hannes eilte dem nahen Wald zu. Er hörte hinter sich die Stimme von Theresle: »Renn Hannes, renn – los Karo, los.« Sie sollen mich nicht erwischen, nie, niemals. Er hielt erst inne, als er völlig ausgepumpt in dichtes Gestrüpp einbrach. Beine, Herz und Lunge hatten sich in ra16
sendem Wettlauf gegenseitig erledigt. So lag er hingestreckt auf der Seite, besänftigte so die stoßweise herausgepreßte Last des Atmens. Erst als der Hund seinen Kopf über seine Hand schob, wußte er, daß er ihm gefolgt war. Er löste das Seil von seinem Halse: »Nun sind wir zu zweit, wir können beide nicht mehr zurück, sind alleine auf uns gestellt.« Sie gingen weiter, bis das nächtliche Licht die Stämme der Bäume mit einem grauen, sich verengenden, wieder auflösenden Nebel umzog und so den Eindruck, als würden sich die Bäume selbst bewegen, hervorrief. Die Nähe des Hundes beruhigte ihn. Er schlief ein, den Arm um den Hals des Hundes gelegt. Erst die klare Kälte des neuen Tages weckte ihn auf. Sie gingen abwärts, auf halber Hanghöhe, mieden den Weg, der entlang der Mettma führte. Den ganzen Tag über hielt er sich im schützenden Wald auf, erst als es dunkelte, suchte er das Haus seiner Gotte in Berau auf. Sie war außer sich: »Was hast du nur angestellt, fast hättest du ihn totgeschlagen, wegen dieses Mistviehs! Sie haben dich hier schon gesucht, sie werden dich prügeln, an einen Platz bringen, an dem du allerniederste Arbeiten verrichten mußt. Laß dich nie mehr daheim sehen, auch ich kann dich nicht brauchen, du mußt gleich wieder fort.« Aber dann gab sie ihm doch ein warmes Essen und den Rat, nach Tiengen zu gehen: »Dort geht alles drunter und drüber, dort kannst du untertauchen und Arbeit finden.« 17
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iengen war vor fünf Jahren im Schweizerkrieg völlig zerstört worden. Man hatte schon einiges wieder aufgebaut, aber vieles, ganze Straßenzüge mußten noch freigelegt, die Steine weggeräumt, für neue Verwendung gesäubert, die angekohlten Balken zu Brennholz zersägt werden. Er fand Unterschlupf bei zwei Familien, die sich zusammengetan hatten, um gemeinsam ein großes Haus zu bauen. Das Erdgeschoß war halbwegs fertig, zwischen den Wänden hatten sie notdürftig ein Dach errichtet. Er und sein Hund hatten nun eine eigene, strohaufgeschüttete Schlafecke. Er verrichtete die verschiedensten Arbeiten, Wasser tragen, Sand herbeikarren, Kalk löschen, Mörtel zu den Maurern bringen, er wurde »Speisbub«, wie die Handwerker seine Tätigkeit bezeichneten. Er hatte sich den Namen Michael zugelegt, so hieß sein Vater, und gesagt, daß man ihn als kleines Kind in die Schweiz gebracht hätte, er aber nun zurückgekehrt sei, um seine Verwandten irgendwo zu finden. Oft warfen angetrunkene Bauleute Steine nach seinem Hund, verjagten ihn mit Tritten. Wenn er dagegen anging, spritzten sie ihm mit der Kelle eine Ladung Kalk in das Gesicht. So ging er eines Tages auf sicheren Wegen zurück zu den einsamen Höfen. Vom Waldrand blickte er hinüber zum Elternhaus und hinab zur Mühle. Er blieb den ganzen Tag, er sah seine Mutter, seine Geschwister, auch die Leute von der Mühle, aber nicht Theres18
le und auch keine Geißen. Er suchte die Weideplätze ab, aber nirgends überraschte ihn das vertraute Gemecker. Hatten die Herrenknechte ihnen alle Geißen fortgenommen, als Strafe? Er schwankte lange, ob er nicht doch in der Dunkelheit hinüber zum Haus, hinunter zur Mühle gehen sollte. Aber würde er sie nicht in große Gefahr bringen? So schickte er nur den Hund fort: »Geh Karo, geh, geh.« Als er nicht von ihm weichen wollte, schalt und drohte er ihm heftig. Als er den Hund mit eingezogener Rute zur Mühle schleichen sah, ging er zurück nach Tiengen. Es tagte, neben ihm lag wieder sein Hund, der mit dem Schwanz so heftig hin- und herschlug, daß das Stroh einen raschelnden Tanz vollführte.
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tand die Sonne früh und warm am Himmel, war es gerade Sonntag oder Feiertag, ging er mit Karo hinab zum Fluß, zu der Stelle, an der die Schlucht ihr Wasser in die Wutach gibt. Er zog sich aus, wusch seine Kleider, schlug sie klatschend auf die geglätteten Steine, spielte, tobte mit dem Hund, bis die Kleider angetrocknet, an seinem Körper weitertrocknen mußten. Auf angeschwemmtem, aufgeschüttetem Erddamm ging er weiter zum zweiten Naturereignis, zur Mündung der Wutach in den Rhein, der grün und klar den Eindringling überspülte, ihn schaukelnd zurück, zur Seite warf, um ihn dann fortzunehmen, völlig einzu19
verleiben. Dieses fließende Dahingleiten, verbunden mit dem Geräusch der bewegten Masse, nie gleichbleibend, immer neue Takte erzeugend – aufspringen, niederstürzen –, dieses alles übertönende Geräusch schlich sich, setzte sich in die Gedanken, in die Stimmung des mit dem Wasser Dahinwandernden. Erwartung, Neugier, unbestimmbare Ahnungen werden geweckt, schaffen ein Gefühl der Spannung. So war er vorbereitet auf das große Ereignis, das ihn jedesmal in stilles Staunen versetzte: Das Vereinen zweier Großen, gleich stark an Macht und Fülle, Aare und Rhein. Waren sie bislang Flüsse, jetzt wurden sie zum Strom. Die aufgestülpten Wellenkämme forderten Licht, riefen nach der Sonne, die in bewegtem Blitzgefunkel zu singen begann: eine Ballade, in unvergleichlichen Bildern von der Natur vorgetragen – Himmel, Bäume, Land und Wasser, der Schwung der Strömung, der in halbgerundetem Bogen den Felssturz umspült, darauf sie errichtet ist, die hochgebaute, überstrahlte wie schattenreiche Stadt, Waldshut, seine erste, wirkliche Stadt, die ihm Schicksalsstätte werden sollte. Oft suchte er sie auf, ging durch ihre langen Zeilen, blanke Stein- und Fachwerkgiebel, geschmückte Altane, Schnitzereien, Handwerks- und Handelsstuben, Schenken, Weinkeller, Geschäftigkeit, rumpelnde Wagenräder über Kopfsteinpflaster, das Geklirr der angeschirrten Pferde, deren taktierende Hufe einen eigenartigen Reiz auf ihn 20
ausübten. Die Lust, weiter, immer weiter zu wandern, Neues zu erleben, zu erforschen, weckte seine Gedanken und Träume, die aber immer wieder von dem Bild der einsamen Höfe, des Tales, der Mettma, der Mühle und Theresles überschattet wurden.
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n Markttagen kommen die Leute zusammen, ein Jahrmarkt aber wird zur Völkerwanderung. Aus dem Hinterland, aus dem zerklüfteten Waldgebiet kommen sie herunter, fahrend, wandernd, mit Traggestellen auf dem Rücken. Wird er welchen aus Staufen, aus Bulgenbach begegnen? Sie werden ihn nicht mehr erkennen. Er ist gewachsen, trägt Kleider, die ihm die Familien gegeben, kämmt die Haare zu einem Scheitel in der Mitte. Es riecht nach Speisen, nach Gebratenem, viel Lärm, auch Musik, er betrachtet die Gesichter, die sich vorbeidrängen, wird zur Seite gestoßen, auch angesprochen, er lauscht den Gesprächen der Männer, die in Gruppen zusammenstehen: Klagen, die mit Flüchen durchstoßen werden, Auflehnung gegen Drangsal, Ausbeutung, Knechtschaft, Willkür. Kommt einer vorbei, der schon von weitem nach Herrenknecht riecht, bilden sie einen Kreis, spucken gemeinsam aus, zerscharren den Speichel, so als wollten sie das Gewürm, die Blutsauger austreten. Das Weltgericht, es wird gezeigt auf großen gemalten Tafeln. Ein Trompetenstoß, Rasseln mit Ket21
ten, ein Schlag auf die große Trommel, jede Attraktion will sich bemerkbar, sich wichtig machen. Er steht, hört sich begierig alles an, wandert von Erschreckendem zu Ergötzlichem. Ein Mann steht erhöht, mit Lederriemen um Arme und Brustkorb, auf den Schultern trägt er zweifach geschlungen eine Riesenschlange. Mit heiserer Stimme verkündet er: »Die große Sybille, die Sterndeuterin aus Brabant. Sie weiß alles, sieht alles, hört alles. Was war, was ist und was sein wird. Sonne, Mond und Sterne weisen ihr die Zukunft. Von der Schlange, die sich um die Welt schlingt, erfährt sie, was gerade geschieht.« Ein schwarzer Vorhang wird zur Seite geschlagen, sie tritt hervor, ein großes, mächtiges Weib. Ein weißgebleichtes Kleid fällt an ihr herunter, läßt nur die Arme frei, auf einer dunklen Halsborde blitzen Steine. Um die Stirne ist ein geflochtener Haarkranz gelegt, an den Seiten herab hängen armlange, dicke Zöpfe. In diesen Stirnkranz hineingesteckt sind die Sternbilder, zuoberst die Sonne, ihr zur Seite der Mond. Sie geht zu dem Mann mit der Schlange, hält ihre Gesichtshälfte in die Nähe des Kopfes des züngelnden Reptils, nickt, wiegt das sterngekrönte Haupt bedächtig in die Bahn eines angedeuteten Halbkreises. Sie setzt sich, bereichert um das Wissen um alle Dinge. Geldstücke fallen in ihren Schoß. Halblaut verkündet sie den zu ihr Drängenden die nahe, die ferne Zukunft. Manche erschrecken, für die meisten aber winkt 22
eine bessere, glücklichere Zeit, die ihre Strahlen jetzt schon auf ihre Gesichter wirft. Die Seherin weiß aus sicherem Gefühl heraus, was sie geben kann, geben muß. Er ist nach oben, ganz in die Nähe der Frau gerückt, fleischern quellen die Arme aus der Schulter, Ringe unterteilen die Finger. Ohne vorausgehende Überlegung, aus einer spielerischen Anwandlung heraus, greift seine Hand nach dem weißblonden Zopf, der in der Nähe seinen Glanz, seine Anziehung verliert, er erkennt, es ist Flachs, ausgekämmter Flachs, der zwischen den Fingern stumpf, ohne Leben wirkt. Die Frau faßt ihn am Arm, drückt ihn zu sich hin: »Dieser hier«, ruft sie laut, »dieser junge Spatz ist was Besonderes, er will hoch hinaus, die Neugier treibt ihn. Er wird mit Fürsten tafeln – nein, er wird die Tische der Fürsten umstoßen! Aber Spatz bleibt Spatz, man wird ihn rupfen, in den Dreck wird er fallen, seine Neugier wird bestraft werden«, damit stößt sie ihn von sich, daß er verwirrt in die erheiterte Menge zurücksinkt.
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s war plötzlich über ihn gekommen, er hatte einen Entschluß gefaßt und ihn sofort in die Tat umgesetzt. Er war auf dem Weg nach Bulgenbach. Gleich am Morgen, als er von seinem Strohlager aufgesprungen war, wußte der Hund, etwas nicht Alltägliches steht bevor, schickt seine Unruhe voraus, auf die er mit hellen Jaultönen und tobenden Sprüngen reagierte. Er 23
nahm den Weg von oben herab, durch Staufen, er wußte, niemand wird ihn erkennen. Hatte er Heimweh, sehnte er sich zurück nach vertrauten Gewohnheiten, nach einer Umgebung, nach Menschen, die man als erste wahrgenommen, von deren Eigenart man selbst geformt wurde? Er näherte sich vom Hang her dem Haus. Es war alles so still, wohl, es war Sonntag, aber etwas hatte der Vater immer zu werken. Er hob den Holzriegel zur Küche hoch, es roch nach gedünstetem Kraut, nach dem Glanzruß, der an den angekohlten Balken über der Feuerstelle hing. Der Wasserkübel, der immer noch auf dem gleichen Platz, auf einem Schemel stand, war halb gefüllt. Er langte hinein mit der Schöpfkelle, im Hochnehmen tröpfelte das Wasser zurück, er trank, es schmeckte nach Harz, nach Eisen, einen Geschmack, den er niemals vergessen würde. Die Türe zur Stube war angelehnt, knarrte beim Aufdrücken, seine kleine Schwester, die ihn nicht erkannte, wich vor ihm und dem hereindrückenden Hund mit ängstlichem Ruf zurück. Seine Mutter, die vorne, dem Licht zugeteilt saß, ein Kleidungsstück vor sich, wandte sich um. Sie erschrak, »Hannes«, sagte sie, richtete sich zitternd auf. Wie ist sie klein und mager, so hatte er sie nicht in Erinnerung, seine Hand langte nach ihrer Schulter, legte sich auf den abgeschabten, kümmerlichen Stoff, Zärtlichkeiten, Liebkosungen lagen weit zurück, wurden mit zunehmendem Alter nicht mehr geübt. Als ob sie 24
unter seiner Hand zerfließen würde, sank sie zurück auf die Bank, die Stimme erstickt unter Erregung und Tränen, die zurückgehalten, erst später einen erlösenden Weg finden sollten. Seine Brüder kamen herein, von der Schwester, die hinausgehuscht war, gerufen. Alles, was ihm nun mitgeteilt wurde, legte sich als Schuld auf ihn nieder, traf ihn, sein noch kindliches Gemüt, wie strafende Schläge. Sein Vater war unter der Drangsal, die er seinetwegen erdulden mußte, zusammengebrochen, Schikane, Kummer und Auszehrung hatten ihn bald hinweggerafft. Hinter aller Not, Entbehrung, die sie nun erdulden mußten, hörte er den Vorwurf heraus – weil du den Knecht der Vogtei fast totgeschlagen hast. »Laß dich nicht mehr sehen, durch den Hund wird man dich noch finden, immer noch suchen sie nach dir.« Kaum brachte er die Frage heraus, so sehr war er beengt: »Wie geht es Theresle?« Was er niemals erwartet hätte, war geschehen. Man hatte sie gleich nach seiner Flucht weggebracht – nicht mehr in der Mühle, nicht mehr, er wollte es nicht glauben. »Sie kam nach Bonndorf, als Magd, als Wäscherin, arbeiten von Tagwerden bis Nachtwerden.« Aber ihre Augen, dachte er, ihre kranken Augen, irgendwann einmal wollte er ihr Ringe kaufen, goldene Ringe. Die Mutter brachte ihm Krautsuppe, in die Brot eingebrockt war. Er konnte nichts essen, nein, es war unmöglich. So langte er in die Tasche und holte zwei 25
flache, blaugraue Steine heraus, welche die Größe eines Kinderhändchens hatten. Zwei gelbschimmernde Streifen durchzogen die Steine, die in wechselnder, gezackter Formgebung die graue Grundtönung durchbrachen. »Aus dem Rhein«, sagte er, »man muß lange suchen, bis man solche Steine findet. Manche suchen ein ganzes Leben lang vergebens. In der Mitte das gelbe Band ist Gold, echtes Gold«. Ungläubiges Staunen bei den Brüdern, sie wollten sie aufschlagen. »Wenn ihr das tut, zerstört ihr auch das Gold, es wird als Sand herausrieseln.« »Als Sand, warum als Sand?« fragten die Brüder. »Weil es als Sand hineingekommen, hineingewachsen ist. Es ist ein Kunstwerk, wer das Gehäuse zerstört, vernichtet auch das Wertvolle.« Er gab die Steine seiner Mutter und der kleinen Schwester. Die Mutter hielt den Stein in der Hand, noch bei seinem Abschied, drückte ihn fest an ihre Brust. Ich muß mich doch noch vorsehen, so nahm er den Weg durch die Wälder, mied die freie Höhe, rastete nicht. Erst als es eindunkelte, ließ er sich im Schutz einer Buchengruppe nieder. Der Hang fiel wechselnd von freien Stellen zu Buschwerk, Bäumen, graubraunen Erdstreifen zur Ebene, die der Rhein geschaffen, hinab. Das Vermischen von Tag- und Nachtblau, dieses geheimnisvolle, teils offene, teils verborgene Übergreifen der Tönungen, grün, brandrot, rosa, goldüber26
haucht, dieses vorbeiziehende Farbenspiel regte ihn an, über sein Leben, seinen jetzigen Zustand nachzudenken. Er konnte die Tage, die Jahre seines Daseins in seinen Händen zusammenpressen, die einzelnen Stationen hervorholen: die Ereignisse seiner Flucht, seinen Aufenthalt in Tiengen. Über allem, das glaubte er zu erkennen, lag die Angst, die Sorge, die Not, die Knechtschaft. Das wenige an Freude, Mut und Glück lag verschüttet, eingeengt unter den strengen, willkürlichen Gesetzen der Vögteien. Er sah seine Eltern, die Nachbarn auf den Höfen nur unter diesem nie endenden Zwang, der alle Handlungen, Gedanken bestimmte. Niemand wagte sich aufzulehnen. Er hatte es getan, ohne es eigentlich zu wollen, aus einem plötzlichen Anlauf heraus. So wurde er zum Verfolgten, zum Gemiedenen. Seine Brüder fürchteten sich davor, mit ihm gesehen zu werden. Seine Heimat hatte er jetzt endgültig verloren. Argwohn ist der Fluch, der auf den Unterdrückten lastet. Die Erinnerung spülte ihm plötzlich viele Gespräche, Handlungen zu, die ihm sonst kaum mehr zu Bewußtsein gekommen waren. So sah er seinen Vater, der allein, nur mit sich beschäftigt, immer wieder einen Stock in die Erde stieß: Es muß ein Recht sein wider die Gewalt, immer wieder, es muß ein Recht sein wider die Gewalt, beim Einstoßen des Stockes fielen ihm die Haare in das Gesicht, den freien Arm hielt er nach oben gestreckt. 27
Dünne Nebelschleier gaben dem Tal Tiefe, veränderten die Strukturen, machten es zu unerforschtem Land, er stieg hinab, es muß ein Recht sein wider die Gewalt.
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ie Ereignisse ließen ihm keine Zeit, seine Lage zu verändern, den Anstoß zur Veränderung, den er selbst gewählt hatte, zurückzunehmen. Er hatte es so gewollt. Nun war er eingespannt in eine Organisation, die aus Befehlen und Gehorchen und auch aus Bestrafen ihren Zusammenhalt errichtete. Er hatte sich verdingt für ein geringes Handgeld, ein Minderjähriger, der Sold nahm, zum Söldner wurde, um andere totzuschlagen, selbst totgeschlagen zu werden. In seinen Gedanken erwiesen sich die herausragenden Abläufe der Ereignisse wie Sterne, die über dunklem Hintergrund heraufziehen, leuchten und wieder versinken. Als gähnendes Loch erscheint der kommende Tag, die mit Ahnungen erfüllte Zukunft, in welcher der Tod, das Sterben eine sich immer größer ausweitende Stelle einnimmt. Das Haus der Familien in Tiengen war fertig geworden, mit Werkstätte, Laden und Wohnungen. Er hätte bleiben können, hatte schon Arbeit bei einem Schmied genommen, das Aufsprühen der Funken des weißglühenden Eisens unter dem Hammerschlag hatte schon immer eine außergewöhnliche Anziehung auf ihn ausgeübt. Es war der kurze Sekundenflug, der ihn faszi28
nierte, die steile Bahn nach oben, das Abstürzen und Erlöschen. Seine Augen wurden beim Betrachten starr, sein Herz vernahm die Hammerschläge als eigene. Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, kurz vor der Abenddämmerung mit seinem Hund vor der Stadt umherzuwandern. Die zerstörte Ringmauer hatte man erweitert, war noch im Zustand des Aufbaues. Im Vorfeld der Anlage pflegten durchziehende Handels- und Reisegesellschaften zu rasten, auch Söldnerformationen bunt zusammengetrommelt, Ungarn, Österreicher, Bayern, Schweizer, die oft von weither gerufen, Kriegs- und Beutezüge für fremde Herren auszufechten hatten. Die Farbigkeit des Aufzugs der Gestalten, die Vielfalt der Sprachen, Dialekte, Frauen in noch nie vordem gesehener, auffallender, lockerer Kleidung, steigerten seine Lust, dieses Schauspiel immer wieder zu genießen. So kam es zu dem Handschlag mit dem Schweizer Werber und Fähnrich Stoffel Bodmer, in dessen mehr Pranke als Hand seine Fingerchen zerdrückt wurden. Er hatte zwei Muli zu versorgen, sie vor einen leichten Wagen zu spannen, auf den eines dieser kleinen Geschütze, Falkonetlein genannt, geladen wurde. Sie waren den Rhein hinabgezogen, über den Rhein, die wechselnden Landschaften, die sein waches Auge, sein begieriger Geist in sich einsammelte, ließen die Tage, Wochen, die sich verändernden Jahreszeiten als großartiges Gemälde, in dem die Personen 29
lebhaft agierten, erstehen. Die Gesichter der Personen waren oft nur einseitig erhellt, während die abgewandte Hälfte, wenn sie flüchtig in Erscheinung gerückt wurde, oft ein tödliches, dunkles Karminrot mit violett und aschgrau überhauchter Tönung aufzeigte. Der Charakter der Gestalten, ihr Verhalten ihm gegenüber offenbarten sich im Mienenspiel des Mundes, der Nasenflügel, er sah den gedrungenen, böhmischen Wärter, der die Feldschlangen zu reinigen, einzufetten hatte, wie dieser in angetrunkenem Zustand sich auf ihn stürzte, er wehrte sich, gab ihm einen Tritt, worauf jener ihm den Hals zudrückte und er nur durch das Eingreifen der Umstehenden befreit, man kann sagen, vor sicherem Tod errettet wurde. Die Frauen, einige hielten sich immer bei der Truppe auf, waren ihm zugetan, unser Kleiner nannten sie ihn, wobei der Ausdruck sich von seiner Jugendlichkeit ableitete, denn an Körperlänge nahm er es nun bald mit allen auf, mächtig war er in die Höhe geschossen. Er lernte das Geschütz bedienen, kurz vor dem Zusammentreffen mit dem Gegner die günstigste Stellung hierfür auszusuchen. Fast konnte man meinen, ein weitsichtiger Blick für Terrain und die darin auszunützenden Möglichkeiten für Tarnung und Entfaltung wären ihm angeboren. Er übte sich im Reiten und Fechten, er suchte die Gespräche, erlernte die wichtigsten Ausdrücke der Verständigung in mehreren Sprachen und Dialekten. 30
In sein erstes Gefecht war er noch ahnungslos hineingestolpert, erst nachher, überdeckt von Feldlärm und brutalem Siegesgeschrei war er vor Angst zusammengebrochen. Jetzt lebte er mit dieser Angst, die ihn damals hinter Metz, in den Argonnen ereilte. Diese Angst hatte sich in einen fieberähnlichen Zustand verwandelt, der immer bei Feindberührung sich einstellte, wie ein aufstachelndes, berauschendes Gift in seinen Adern tobte, seine Schritte, seinen Körper schwerelos, unangreifbar für äußere Einflüsse machte.
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r hatte übergewechselt von habsburgischen in französische Dienste. Er war Korporal geworden bei König Franz – un, deux, trois, marcher, toujours marcher …
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enn ein Blitz eine düstere Landschaft für kurze Zeit durchleuchtet, so werden nur wenige herausragende Gebilde von hellem Schein überflogen, die schattengefüllten Vertiefungen treten erst später, von der Erinnerung gelockt, nach oben. So sah er das Ende seines Hundes immer hinter sich bewegenden Schleiern, schemenhaft, in Geheimnis gehüllt. Er hatte nach ihm gesucht, tagelang, man hatte ihn noch gesehen, als er sich vom Biwak entfernte. Zwischen knospendem Buschwerk, noch etwas auf die Vorderbeine aufgerichtet, wartete er, auf ihn, nein, auf den Tod, der 31
seinem Gesicht die Schärfe nahm, auch das Erkennen, bleigraue Augen, deren Lider nicht mehr die Kraft hatten, sich darüber zu stülpen. Er begrub ihn neben dem Wurzelwerk der Büsche in den Buchenwäldern von Luneville, den Hund von Theresle aus der Heidenmühle.
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enn wir es nicht nehmen, greifen es sich andere. Täglich sah er die Verwüstungen der Felder, niedergebrannte Höfe, abgestochene Kälber, Schweine, über dem Feuer am Spieß, flatternde Hühner, Gänse, wirbelnde Federn, Geschrei, Gelächter, Hohn und Spott. Durch diesen rücksichtslosen Raub trieb die Verelendung des Landes, der Bauern, einem Ausmaß entgegen, das geradezu nach Empörung schrie. Die Herrschenden, die in sattem Wohlleben und geistlosem Stumpfsinn dahinstolperten, erkannten nicht die Gefahr, die unweigerlich auf sie zurückfallen mußte. Aber man tröstete sich: Auf diese Art ist es immer gegangen, wird es weitergehen. Wir treiben die Abgaben ein, jedes Mittel ist hierfür recht. Der Adel, die reichen Klöster waren nicht zimperlich. Was dann noch übrigblieb, nahm der Landsknecht, der Söldner. Kam dann noch Krieg, Feuer und Mord über das Land, blutete das übriggebliebene Leben aus vielen Wunden, blutete aus. Er sah Frauen, Kinder, die vor den Pflug gespannt noch einmal versuchten, Samen in den Boden zu bringen, nachdem die Ernte zerstört war, Samen für Rü32
ben, die vielleicht bis Wintereinbruch noch wachsen könnten, um den Hungertod zu bannen. Krankheiten, Seuchenzüge entlaubten die Kraft, den Tatendrang, die Hoffnung der Landbevölkerung. Es kursierten Gerüchte, nein, es gab Söldner, die dabeigewesen sein wollten, bei der Niederschlagung von Bauernaufständen, die im Elsaß, auch bei Speyer, im Breisgau, in Württemberg aufgeflammt waren, aber sofort in Blut und Greuel erstickt wurden, Folterungen, Hinrichtungen. Aber ein Zeichen war entstanden, das flackernd über die machtgeschwängerten Wolkenbänke flog, ein Symbol, ein Begriff, an den man Wünsche und Hoffnungen hängen konnte: »Bundschuh« und »der Arme Konrad«. Er hatte die Vorstellung, daß das Land nach Süden zu niemals enden könnte, weit, weit, gepaart mit wechselnder Vielfalt der Gebilde und ihrer Zusammensetzung: tonige Erde, mit Sand vermischt, blanker Fels, gelber, roter, schwarzgrauer, gestreuter Granit, Gießbäche wie Schwerthiebe, Wälder, niederwüchsige Eichenurwälder, Bäche, Flüsse, die zu reißenden Strömen wurden, um dann in schaukelnder Trägheit zu enden. Es gab Abschnitte auf ihren Märschen, Landstriche, Wegegabelungen, die ihn seltsam berührten, er glaubte, schon einmal hier gewesen zu sein, genau diese Stelle zu kennen, doch waren es nur Ähnlichkeiten, die ihm auf seinen Wanderungen zwischen Tien33
gen und Bulgenbach auch schon begegnet waren. War es mit den Gesichtern der Menschen, die an den Rändern der ausgefahrenen Wege standen, nicht ebenso? War er nicht schon an ihnen vorbeigezogen, in Lothringen, am Rhein, in Burgund?
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as Meer, hatte er es sich so vorgestellt? Die vom Wind auf und nieder bewegten Kronen der heimatlichen Fichten waren ihm bislang Vorbild. Hier aber bebte die Welt im innersten Kern vom Ansturm einer Gewalt, die sich nur deshalb aufzurichten schien, um in immerwährenden Anlauf niederschmettern zu können. Ebenen in Staub und Sand gehüllt, karges Land, Gehöfte hinter vertrocknetem Gestrüpp. Klatschend fällt die überreife Feige vom Baum, zerplatzt auf der aufgeheizten, gelben Steinplatte, in die sich die Sonne wie eine Schlange eingeringelt hat. Kühle, alte, steinerne Städte, Schattenspiele, Mittagsruhe mit herbem Wein, dessen Farbstoff Tische und Böden purpurn gefleckt hat. Eine weißliche Sonne, fieberheiß, geistert durch Trunkenheit und Schlaf. Hinter einem Torbogen, verdeckt von bröckelndem Gemäuer, nur Kennern bekannt, die Werkstatt eines Goldschmiedes. Hier kaufte er Ohrringe, große, schaukelnde Ringe für die kranken Augen von Theresle. Als er wieder zurück in heimatliche Schwarzwaldnähe kam, konnte er die Ringe in kei34
nem seiner Gepäckstücke, in keinem seiner geheimen Verstecke mehr finden – verloren, gestohlen, Erinnerungen an die Kindheit nun endgültig dahin.
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n der Nähe des Rheines, in der ausladenden Bucht von Vogesen und Jura, durchflossen vom Doubs, kam es zu schicksalhaften Begegnungen und Gesprächen. Franz I., König von Frankreich, und der geächtete, seines Landes vertriebene Herzog Ulrich von Württemberg verband eine immerwährende, unauslöschliche Feindschaft gegen Österreich. Des Herzogs Zufluchtsort war das durch Heirat in Familienbesitz gekommene Mömpelgard (Mombéliard), das er im Schutze Frankreichs ausbaute, von wo aus er Truppen und Söldnerheere anzuwerben gedachte, um sein Land dem Schwäbischen Bund, der Hoheit Österreichs zu entreißen. Er suchte, warb um die Hilfe der Schweiz, wurde Bürger von Basel und Zürich, erwarb und baute mit Darlehen aus der Schweiz den Hohentwiel aus, seinen zweiten Stützpunkt. So konnte der Herzog in eintägigem, scharfen Ritt über Schweizer Boden Mombéliard und den Hohentwiel miteinander verbinden. Je weniger der Herzog über Guthaben und Geld verfügte, um so großzügiger wurde es von ihm ausgegeben. Die Söldner strömten ihm zu. So wechselte auch er von französischem Dienst in den des Herzogs über. 35
Der Stolz des Herzogs war seine Reiterei, die er auf über 250 Mann erhöhte. Für unschlagbar und entscheidend hielt er seine Artillerie mit den schwersten Geschützen, die damals gebaut wurden, den Carthaunen. Er wurde diesen Geschützen zugeteilt, unterstand als gelehriger Schüler dem Geschützmeister des Herzogs. Seit seiner Vertreibung gab sich der Herzog leutselig. Im Kreis seiner Söldner und Hauptleute tafelte er gern und ausgiebig. Stets war eine Meute von Hunden um ihn herum, die wie Katzen seine Beine umschmeichelten. Er wollte einen Restglanz seines Stuttgarter Hofes in sein Asyl hinüberretten. Damals, so erzählte man sich, hielt er prächtigen Hofstaat, Damen, Herren, der Adel des Landes, Künstler, aufwendige Schaustellungen, Musikanten, allein über 500 Sänger, einhergehend mit ungezügelter Verschwendung ruinierten die Finanzen des Landes. Unnachgiebig, stolz und starr, von hoher stattlicher Gestalt mit krausem, blondem Haar und rotem Bart stand er, handelte er, eine Figur absoluten Herrschertums. Von einem Vertrauten des Herzogs, dem Schweizer Rudolf zum Bühl, der ihm als Begleiter während verschiedener Dienstaufträge zugeteilt wurde, erfuhr er die wirklichen Vorgänge, die zum Sturz des Herzogs geführt hatten: Er war verheiratet mit einer Nichte des Kaisers Maximilian, einer Prinzessin von Bayern. Der Herzog hatte auch seine frühere Geliebte, Ur36
sula von Thumb-Neuburg, mit ihrem Mann Hans von Hutten an seinen Hof verpflichtet und seine Beziehungen zu dieser Frau nicht eingestellt, neu aufleben lassen. Es gab öffentliche Auftritte zwischen dem Herzog und Hutten, die zuletzt zu der Ermordung von Hutten führten. Der Herzog überfiel während einer Jagd den Ahnungslosen, stach ihn nieder, band seinen Gürtel um des Toten Hals und an sein Schwert, das er in den Boden stieß. Er wollte ein Femeurteil vortäuschen, zu dessen Richter er sich aufgeschwungen hatte. Die Ritterschaft erhob sich, das Land war entsetzt, seine Frau, die Nichte des Kaisers, verließ ihn mit ihren Kindern. Nicht genug damit verstrickte er sich in waghalsige Händel mit den Reichsstädten, die er unter seine Botmäßigkeit zwingen und ausbeuten wollte. So nebenbei erfuhr er von den jäh aufflammenden Zornesausbrüchen des Herzogs, der bei geringstem Jagdfrevel Untertanen blenden ließ, erfuhr von der unerbittlichen Grausamkeit, mit welcher der Herzog die Aufständischen des »Armen Konrad« verfolgt hatte. War dieser Herzog ein Herr, dem er mit freudigem Gewissen dienen konnte? Bis jetzt hatte er nicht danach gefragt, wem all diese Händel und Kriege nützen oder schaden konnten. Er hatte seinen Sold genommen und die Befehle ausgeführt. Für Gold gab er sein Blut.
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in Gewitter war niedergegangen, in der Dämmerung dampfte die Erde, stieg der Dunst weißlich, in Fetzen zerrissen vor die Abendröte. Darüber, klar gezeichnet die Vorberge, dahinter das Ziel, die Rast, der Stall für die Pferde, der reichgedeckte Tisch der Reiter. Zuerst war er weit voraus, nun wurde er überholt in scharfem Trab vom Herzog und zwanzig seiner engsten Leute, verspätet hintennach kam auf lahmendem Pferd Pfarrer Gayling, der des Herzogs Reiseprediger werden sollte. Sie stiegen ab, führten die Pferde, indes ihre Gespräche zu einem Höhenflug starteten, der sie über dumpfen Zwang und eingefahrenen Alltag hinwegheben sollte. »Es beginnt eine neue Zeit, eine Offenbarung, wie sie über der bedrängten Christenheit noch nie geleuchtet hat. Verkündet wird nun endlich die Wahrheit über die Evangelien. Eine völlige Wandlung der menschlichen Gesellschaft wird sich vollziehen«, der Pfarrer redete sich in Begeisterung und befreite sich durch sein Sprechen von den Unklarheiten und Zweifeln, die ihn selbst noch bedrängten. Seine Zuversicht wuchs, je mehr er fühlte, wie seine Darlegungen aufgenommen, von seinem Zuhörer bejaht und weiterentwickelt wurden. »Eine große Volksbewegung wird entstehen«, meinte der Pfarrer, »ich sehe es hellsichtig voraus, die untersten Massen, die in Unmündigkeit gehaltenen Bauern müssen mobilisiert werden. Hier, nur hier liegt die 38
verschüttete Kraft des Landes. Dies hat auch der Herzog erkannt.« »Der Herzog?« entgegnete er erstaunt, »hat er nicht die Bauern niedergeknüppelt, als sie nur wagten, von ihren Rechten zu sprechen«. »Das war damals, als sie noch seine Untertanen waren, jetzt braucht er sie, sucht sie als Verbündete, als billiges Fußvolk, dem er keinen Sold zu zahlen braucht. Sie sollen die Hauptmacht werden neben seiner Reiterei und den Schweizer Fähnlein, die er werben wird.« »Ein Feldzug? Man spricht davon, aber wann, und was für Bauern sollen dies sein?« »Spätestens in einem Jahr. Er denkt an die Bauern um den Twiel, die Hegaubauern. Noch sammelt er das Geld zusammen, um die Schweizer werben zu können.« Die Bestimmtheit, mit welcher der Pfarrer ihm Einzelheiten mitteilte, überzeugten ihn. »Der Herzog, ich kann es nicht begreifen, der Herzog mit den Bauern als Verbündete? Was will er den Bauern versprechen? Ihre Freiheit, um sie nachher zu betrügen?« »Das darf man so nicht sagen«, meinte der Pfarrer beschwichtigend, »der Herzog folgt nur seinem Machtanspruch, sein angestammtes Land zurückzuerobern. Um dieses Ziel zu erreichen, muß er ergreifen, was ihm im Augenblick nützt. Was früher war oder später wird, 39
danach hat er nicht zu fragen. Das ist Politik, die richtige Politik: das Gegebene des Tages zu fassen, zu halten und nach seinem Willen zu wandeln. Er wird, und das darf man nie vergessen«, fügte der Pfarrer mit verklärtem Blick hinzu, »seinem Land das neue Evangelium bringen.« »Das er vielleicht auch nur ergriffen hat, weil es ihm nützt, seiner augenblicklichen Politik dient.« Der Pfarrer gab ihm hierauf keine Antwort, aber er lud ihn ein, mit ihm eine Predigt des Basler Reformators Johannes Hausschein zu besuchen, der seinen Namen in Oekolampadius geändert hatte. Das Gegebene des Tages zu ergreifen, diesen Satz des Pfarrers bewegte er in seinem Sinn, drehte, wendete ihn, fragte sich: Was ist das Gegebene für mich? Unausgesprochenes, im Unterbewußtsein Erahntes, kann der Zufall plötzlich hervorspülen, kann der helle Tag durchleuchten. Eine Handlung läuft ab, ein Rad wird angestoßen, das, einem mechanischen Zwange folgend, unaufhaltsam weiterläuft, alle Hemmnisse überspringt und die Möglichkeit eines Stillstandes, einer Umkehr niemals aufkommen läßt.
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r war unterwegs im unteren Wutachtal, zu Pferd, mit noch drei Reitern des Herzogs. Sie hatten Lauchringen hinter sich gelassen, durchritten den Wald, der frühlingsgrün seine aufgerollten Blättchen 40
in dem gefilterten, mehrfach gebrochenen Licht spielen ließ. Vor ihnen lichtete sich der von Vogelrufen durchtönte Forst, freies Weideland, die Pferde holten aus, eroberten die ausgeweitete Sohle des Tales. Seitab des Weges, unweit des buschbestandenen Flußlaufes sichteten sie eine Ansammlung von Leuten, schwenkten darauf zu, erkannten im Näherkommen die in aufgesetzten, hellen Punkten sich zeigende Kleidung der Frauen, die Männer in dunklem Ring, dicht beisammen, standen etwas abseits. Vier Pferde weideten im Schatten der Büsche. Ein zweirädriger Karren mit Seitenwänden, ein angeschirrter Ochse davor, war der Mittelpunkt des lärmenden, kreischenden Geschehens. Auf dem Wagen lagen flügelschlagend mehrere Gänse mit abgetrenntem Kopf, das Blut tränkte die Federn der Tiere, die noch einmal versuchten, auf die starken Beine zu kommen, wobei die mit Schwimmhäuten bespannten Zehen über das Holz des Wagens kratzten. Es waren Knechte der Herrschaft Lupfen, die eine nicht erfüllte Abgabe von Gänsen nun selbst eintrieben, wobei als Strafe die doppelte Zahl festgelegt war. Neben dem Karren stand der hölzerne Klotz, auf dem die Tiere mit einem Beil getötet wurden. Dem Köpfer wurden die Gänse zugereicht, beide Beine und die Flügel zusammengehalten. Die Schneide des Beils durchschlug den Hals, der Körper wurde auf den Karren geschleudert, der abgetrennte Kopf hing mit in das Holz ein41
getriebenen Federn am Klotz. Diesen Kopf mit weitgesperrtem Schnabel, der letzte, durchdringende Ruf erfüllte noch den Raum zwischen Himmel und Erde, warf der Schlächter den Frauen zu: »Kocht euch eine Suppe davon.« Ein zweiter Knecht steckte für jede getötete Gans einen dünnen Stab in die Erde, sein Zählwerk. Die Gänse waren in das Eck eines Gatters getrieben worden, das nach oben hin mit Tüchern abgedeckt war. Hier drängten sie sich ängstlich, klagend, übereinander, sich erdrückend, hier wurden sie herausgeholt, entrissen der geborgenen Gemeinschaft. Als sie hinzuritten, den Platz erreicht hatten, wurde das Geschehen für kurze Zeit unterbrochen, um dann mit größerem Eifer, unter Fluchen und Schreien der Knechte und Lamentieren, Weinen der Frauen sich fortzusetzen. Es war üblich, daß Vorbeikommende solche öffentlichen Vorstellungen als willkommenes Spektakulum genossen, sich daran belustigten. Er sah, nahm einzelne Bewegungen, Gesichter wahr und erlebte die Vorgänge nicht als wirklich, vielmehr wie ein gemaltes Bild, das in sich, vielschichtig, viele Erinnerungen gespeichert trägt. So sah er sich bei solch ähnlichen Vorgängen immer als passiven Zuschauer. Hier aber trat, auch durch günstige Umstände angelockt, eine von keinem vorhergesehene Änderung ein. Aus seinem Kopf befreiten sich die Gedanken, sprengten das Denkgehäuse, entfalteten sich zur Tat: »Auf42
hören!« schrie er, sprang vom Pferd und stieß mit dem Fuß den Holzklotz um. Dem Oberknecht, der sich als erster von der Überraschung erholte und auf ihn eindrang, schlug er mit der Flachseite des Kurzschwertes über Schulter und Rücken, daß er stöhnend sich krümmte, nieder auf die Knie ging. Zu den Knechten: »Nehmt euere Pferde und verschwindet«, auf den Niedergeschlagenen weisend, »und nehmt ihn auch mit. Ich will keinen mehr sehen.« Die Frauen waren es, die sich als erste in der neuen Situation zurechtfanden, ihn umringten, auf ihn einredeten, zu den Gänsen im Gatter eilten, versuchten ihre Tiere herauszufinden, sie mit Kosenamen zu locken. Die Knechte, welche scheue Blicke zu den unbeweglich auf den Pferden sitzenden herzoglichen Reitern warfen, nahmen zu zweit den niedergeschlagenen Oberknecht auf, führten ihn zu den Pferden, ritten davon, ohne sich um den Ochsenkarren zu kümmern. »Sie werden wiederkommen, mit Verstärkung«, riefen die Frauen. »Wir werden sie empfangen«, er wandte sich zu den Männern, sie standen, als wäre ein Gewitter mit nässendem Regenguß über sie ergangen. »Laßt es euch nicht mehr gefallen: Willkür und Tyrannei!« Und dann sprach er einen Satz aus, der schon oft das Land durcheilt hatte, eine Drohung, einen Fluch, der allem Unrecht nachgeschickt wurde, dem aber nie mehr die Tat gefolgt war, so wie damals, vor 43
zehn Jahren, im Remstal: »Wir werfen einen Armen Cunz auf.«* Er wiederholte den Ausruf mehrmals mit einer Stimme, die sich steigerte, den Aufruhr in sich barg: »Auf, auf, ihr Männer, bewaffnet euch, und wären es nur Gabeln und Sensen!« Die Männer begannen plötzlich zu reden, ihre Stimmen, die jahrelang blockiert schienen, lösten sich, Fäuste ballten sich, reckten sich nach oben: »Wir werfen einen Armen Cunz auf!« Haben sie nicht darauf gewartet, daß man sie führt, daß ich sie führe? Zu seinen Begleitern sagte er: »Berichtet dem Herzog, was geschehen ist, meine Aufgabe ist jetzt hier.« »Du mußt wissen, was du tust,« erwiderten sie, »du bist ein Doppelseldner.«** Er folgte den Männern in ihre Dörfer, die Kinder und Frauen eilten voraus, verkündeten den Armen Konrad. Nach drei Tagen suchte des Herzogs Vertrauter, der Schweizer Rudolf zum Bühl, ihn auf, versicherte ihn des Wohlwollens des Herzogs und ermutigte ihn, in dem Aufstand fortzufahren.
* Einen Armen Cunz aufwerfen: einen Armen Konrad, einen Bauernaufstand beginnen. ** Söldner mit doppeltem Sold, Offizier.
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»Des Herzogs Wege sind nicht meine«, gab er ihm zur Antwort, »wir kommen aus verschiedenen Lagern und wandern in getrennte Richtungen.« Das Feuer war gelegt, ein noch verdecktes, schwelendes Feuer, das Dorf um Dorf erfaßte, eine freiheitliche Gesinnung, in der man erst zaghaft die Schritte setzte. Nicht mehr gestoßen, getreten zu werden, sich wehren zu können gegen Willkür und Ausbeutung. Was konnte man den Herrschenden entgegenstellen, in deren Händen alle Macht und die Erfahrung der Verwaltung lag: die blanken Fäuste? Er war umsichtig und klug und hatte die Gabe der gewinnenden, überzeugenden Rede. So bildete er in jedem Dorf einen Stamm von standhaften Männern, die auf die Ängstlichen, Unschlüssigen einwirken sollten. In entlegenen Gehöften, in Waldverstecken wurden Waffenlager angelegt. Unermüdlich war er unterwegs, ritt von Dorf zu Dorf, rekrutierte, unterrichtete im Kriegshandwerk. Keine Schmiede im Umkreis, die nicht für ihn geheime Aufträge auszuführen hatte. Aus dem Arsenal des Herzogs hatte er eine defekte Kanone erhalten, die er herrichten, schußfertig machen ließ. Schon ritt er nicht mehr allein, immer gefolgt von einigen treu Ergebenen. Oft genügt ein schwacher Luftzug, um ein glimmendes Feuer in eine aufprasselnde Flamme zu verwandeln.
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ie Gräfin von Schloß Lupfen, eine geborene von Montfort, die sich gern als glänzenden Mittelpunkt der umliegenden Adelssitze feiern ließ, veranstaltete Feste, die immer etwas Besonderes, Überraschendes, noch nie Dagewesenes aufzuweisen hatten. Zu gefallen, sich hervorzutun, hierfür scheute sie keine Mühe, keine aufwendigen Vorbereitungen. Von einem italienischen Maestro der Musik hatte sie die Anregung erhalten, äolische Musik zu erzeugen. An dem Schloß entlang, zwischen den Baumreihen, sollten Hunderte, Tausende von Schneckenhäusern aufgereiht werden, die durch den vorbeiziehenden Wind zu säuselnden, unerhört lieblichen, geradezu himmlischen Tönen gebracht werden sollten. Zuerst wurden nur Kinder zum Suchen der Schneckenhäuser angehalten, doch als an den nahegelegenen Plätzen nichts mehr zu finden war, wurden auch Frauen und Männer von den Feldern geholt und zum Absuchen in weitentlegene Gebiete geschickt. Schneckenhäuser, Schneckenhäuser, die Herrschaft befahl, und jedermann sprach nur noch von Schneckenhäusern. Das Aneinanderreihen erwies sich als schwierig. Das dünnschalige Gehäuse mußte durchbohrt, Garnfäden hindurchgezogen werden. Die ersten Versuche brachten nur Mißerfolge, die Garne waren zu schwach, rissen, mußten mehrfädig gezwirnt werden. Statt lieblicher Musik ertönten nur scheppernde Geräusche. Als man nun dar46
anging, die waagerechten Reihen durch senkrecht herabhängende Aufreihungen zu unterbrechen, konnten zu den scheppernden Geräuschen auch einige quietschenden Töne hinzuerzeugt werden, aber an liebliche Musik war nicht zu denken. Zwischendurch hatte es mehrfach geregnet, die Gehäuse mußten entleert, die Festlichkeiten von Woche zu Woche verschoben werden. Die Arbeit auf den Feldern blieb liegen, die Ernte war teilweise vernichtet. Die Bevölkerung hatte nichts übrig für Musik aus Schneckenhäusern, für herrschaftliche Hirngespinste. Der Unmut explodierte auf den Feldern. Die Aufseher wurden verprügelt, zum Schloß getrieben, die Herrschaft beschimpft. Ausgeschickte, berittene Strafabteilungen wurden abgefangen: Hans Müller stand bereit mit über fünfhundert bewaffneten Bauern. Sie zogen vor das Schloß, die Kanone donnerte von den Albhängen auf die Dächer der Steingebäude, Brandsätze wurden nachgeschickt. Der massige Turm hielt allen Angriffen stand. Nach zwei Wochen wurde die Belagerung aufgegeben, verschoben bis zur großen Abrechnung. Etwas Unerhörtes war geschehen, ein Waffengang gegen die verhaßten Unterdrücker. Wer war dieser Hans Müller, dessen Name bis in die entlegensten Gehöfte gereicht wurde? Gab es nicht eine alte Prophezeiung, daß einer aufstehen und allem Elend ein Ende bereiten würde? Aus dem Schwarzwald würde er kom47
men, von den unwegsamen Höhen herab. Nun war er da. Der Aufruhr sprang hinüber zum Klettgau, zum Hegau, erfaßte das rückliegende Waldgebiet. Die Hauensteiner Bauern umlagerten das Kloster Sankt Blasien, verweigerten die Abgaben, verlangten die Aufhebung aller Beschwernisse, der Steuern und Zinsen.
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aldshut, Laufenburg, Säckingen und Rheinfelden – die Waldstädte, diese vorgelagerten, rechtsrheinischen Machtklötze, waren der Stolz des Hauses Habsburg. Hatte sie nicht wie eine Löwin gekämpft, die erste, oberste der Waldstädte, sich gegen die kriegerischen Landeroberungen der Schweiz gewehrt, war standhaft, siegreich geblieben, hatte immer treu zu Österreich gehalten? Nun war sie abgefallen, war reformatorisch geworden. Wer aber seinen Glauben verläßt, seinen alten, angestammten, katholischen Glauben, der verläßt auch das Reich, den Kaiser, verläßt die Gesetze, wird Ketzer und Revolutionär. Was war geschehen? Wodurch konnte sich ein solch einschneidender Wandel vollziehen? War ein plötzlicher Hunger nach neuen Ideen, nach Veränderung alter, eingefahrener Gewohnheiten ausgebrochen? Es war das Erscheinen, das Wirken eines einzelnen Mannes, der die damals vielleicht tausend Einwohner zählende Stadt auf den Kopf gestellt hatte. Vor vier Jahren war er gekommen, eingesetzt als Pfarrer in die obere Kirche. Er war nicht ir48
gendwer, er war Doktor, Professor der Theologie, hatte im Dom zu Regensburg gepredigt, und seine Stimme, seine glänzenden Formulierungen waren weit in das Land gedrungen, ebenso seine Schriften, in denen sich ein heißes Bemühen nach Wahrheit, nach Reinheit der Evangelien herauslesen ließ. Die kleinen Leute hingen ihm an, die Handwerker, vor allem die neu in die Stadt gekommenen Bürger vom Lande, für sie war er der auserwählte Heilsbringer. Sie nannten ihn nicht nach seinem Namen, Balthasar Hubmaier, für sie war er nur unser Doktor oder der Friedberger, gebürtig aus Friedberg bei Augsburg. Die kleine Schicht der Vornehmen, der Stadtadel, hielt sich reserviert, war durch Privilegien an Österreich gebunden. Doch es währte nicht lange, und alle Macht glitt in die Hände der Reformbewegung. Ein dreifaches Wehe über die Stadt ausrufend, verließ der Dekan der unteren Kirche mit seinen Kaplänen und einigen Getreuen seine alte Wirkungsstätte. Noch zögerte man, die Stadt mit Krieg zu überziehen, die alte Ordnung mit Gewalt wieder aufzurichten, man setzte auf Verhandlungen, vorweg auf die Zeit, auf diese Veränderin aller Dinge. Eine Grundforderung aller Verhandlungen war das sofortige Absagen von diesem ketzerischen Doktor, der sich nach Meinung der österreichischen Regenten wie eine Beulenpest in den Leib der Stadt gefressen hatte. Die Haltung der Stadt war einmütig: Niemals wollte man sich 49
von dem Doktor trennen, ihn ausweisen oder ausliefern. Für die Bauern war die Situation in der Waldstadt ein wie vom Himmel geschickter Glücksfall. Sie hatten eine Gefährtin im Kampf gegen die Unterdrücker gefunden, ein Bollwerk, einen Rückhalt, eine schier uneinnehmbare Festung. Sie schlossen ein Bündnis zu »Schutz und Trutz«, vereinigten sich in der evangelischen Bruderschaft. Im fernen Wien, der Erzherzog Ferdinand tobte. Er befahl, die Aufständischen zu erstechen, zu erwürgen, ihre Häuser zu verbrennen. Ebenso soll es denen geschehen, die ihnen Beistand und Unterschlupf gewähren.
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ine Begegnung findet statt, das erste Eindringen, Ausleuchten eines fremden Gesichtes. Merkmale treten stark hervor, die sich nachher, nach mehrmaligem Zugesichtbekommen verwischen. Aber dieser erste Eindruck schafft ein Grundverhalten, das Zuneigung wie Abneigung in sich tragen kann, das die Bewegungen des Gemütes, diese nicht kontrollierbaren, seelischen Schwingungen nachhaltig beeinflußt.
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ie Steinwände, die gepflasterten Straßen verströmten die sommerliche Tageshitze. Die Sonne hatte eine gläserne Wand zurückgelassen, durch die man wie durch ein fernes Horizontfenster in riesige, 50
blaudunkle Abgründe blicken konnte. Von dort her quollen sie herauf, türmten sich hoch, übereinander, Wolkenberge, die das letzte, über die Ränder zuckende Licht erdrückten. In fahlem Licht, in geisterhafter Stille lag das Land, ohne Bewegung, ohne zu atmen. Er war durch das obere Tor gekommen, allein, der Bauernoberst Hans Müller. Sein Pferd hatte er bei der Wache untergestellt. Nun stand er am Sturz der Halde, versuchte in der Tiefe die Bahn des Wassers zu erkennen, Festes von Bewegtem zu unterscheiden. Vor wie hinter ihm, unter und über ihm schien alle sichtbare wie greifbare Welt in einer spannungsgeladenen Pressung zu verharren. Er wandte sich zurück, nach oben, die lange Straßenzeile sprang vor ihm her, an den Hausfronten entlang, aus deren Türen die Leute stürzten, Männer, Frauen, Kinder, getrieben von einer allen sich mitteilenden Unruhe, die sich in Bewegung zu erlösen suchte. Das gellende Wiehern eines Pferdes übertönte die Geräusche, die rufenden Stimmen. Die Brandwache begann sich zu formieren, vorsorgend die Ledereimer mit Wasser zu füllen. Der erste aufblendende Strahl, blauviolette Schatten um sich sprühend, glich in seiner Vehemenz dem Wiehern des Pferdes. Das untere Tor wurde getroffen, die Feuersäule war in die erzbeschlagenen Flügel gefahren. Roch es nicht nach Höllenpfuhl und Teufelsbrühe? Nun eilten die Frauen und Kinder, die älteren, gebrechlichen Leute hilferufend 51
zur oberen Kirche, drangen in sie ein, hier war Geborgenheit, Sicherheit. Es schien, als ob sich das Unwetter nur über dem engumzirkten Gelände der Stadt austoben würde. Auf dem Höhepunkt der niederschmetternden Schläge, der durchdringenden Erhellungen mit einstürzenden Donnersäulen, erhob sich der Mensch, der menschliche Geist als Sieger. Er war aus dem Portal der Kirche getreten, ihm zu Seiten standen die in ergebener Hoffnung zu ihm aufblickenden Leute, er, der große »Doktor«, in golddurchwirktem Ornat, die Monstranz mit Strahlenkranz, mit beiden Händen den Blitzen entgegenhaltend. Er suchte die Mitte der Straße, wandte sich nach links, nach rechts, vor allem aber nach oben, und seine Beschwörungen wurden vernommen und erhört. Die Blitze verblaßten in rauschendem Regen. Er hatte die Bahn bis zum unteren Tor durchmessen, kehrte zurück im Spalier der dankbar ihm entgegengestreckten Hände. Das Gesicht eines Magiers. Hans Müller blickte ihm entgegen, erahnte in dem hervorspringenden Schwung der Nase eine gewisse Kühnheit, Angriffslust, vielleicht auch eigensinnige Starrheit. Aus den langen, bis auf die Schultern gerollten Haaren lief das Wasser, ebenso aus dem Bart, der spitz über das Kinn hinaussprang. In den von Düsternis überlagerten Höhlungen, darin man die Augen vermutete, suchte man auch den Herd des Mystischen, das diesen Mann umgab, die Macht, auf andere einzuwir52
ken. In dem kurzen Zusammentreffen der beiden Männer, in dem Geschehen des Vorübergleitens wurde der Wunsch zu weiteren Begegnungen erzeugt.
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us der Not, aus der Befreiung von Zwang und Pressung wird das »Feiern«, werden die Feste geboren. Sie waren abgezogen, die Schweizer, nicht mehr mit Pfeifen und Trommelschlag, wie sie gekommen, nein, mißmutig, die Wut im Bauch, nach einer ergebnislosen, fünfwöchigen Belagerung. Die Siebzigjährigen konnten sich jener Ereignisse noch gut erinnern, und ihre Erzählungen wurden um so phantastischer, um so farbiger, je weiter jene Vorgänge zurücklagen. Jedes Jahr aber gedachte man jenes denkwürdigen Tages, wurde die Befreiung in einem Jubelsturm, in einem Rausch des Glückes nachvollzogen.* In aller Herrgottsfrühe, noch ehe der Tau Blätter und Gräser näßte, wurden die Bewohner der Stadt aus den Betten geschossen, krachte es an allen Ecken und Enden. Die Glocken dröhnten aus ihrem Gehäuse, die Trommelwirbel der frühaufgestandenen Junggesellen drangen in die Ohren, in die Gehirne, erzeugten den unverwechselbaren Rhythmus, der die Schritte der Festtage bestimmte. Die Gerüche von Gesottenem, Gebratenem, am Spieß Geröstetem überlagerten den * Schweizer Jahrtag, Chilbifest
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Duft der Blüten, der Gewürze. Die allzeit Satten erstickten fast in unmäßiger Völlerei, die aber oft gedarbt, gehungert hatten, wurden endlich einmal satt. Die Stadt wurde überschwemmt von einem Ansturm der Freude. Aus dem Hinterland, aus den tiefgefurchten Talern drangen sie herein, gereifte Männer mit bedächtigem, wiegendem Gang, die Jungen mit Bändern geschmückt, in scheuer Zurückhaltung, bevor der Tanz Glieder und Zungen löste. Hans Müller zog ein mit achthundert Bauern, das Bündnis der Verbrüderung zu vertiefen. Essen und trinken, sich betätigen, seine Stimme, seine Glieder zu gebrauchen, seine Persönlichkeit herauszustellen, sich isoliert, als einzelnen zu sehen und trotzdem aufzugehen, eingebettet im Strom der Menge, darin besteht der Anreiz, die Lust, solche Kundgebungen zu gestalten, zu besuchen. Hoch über dem Rhein, über Trubel, Rausch und Schlaf saßen der Doktor und der Bauernoberst. Der frühe Wind des frischgeborenen Tages, der Frösteln bringt, löschte die Laterne, neben der das Papier lag, auf dem ihre Erkenntnisse, ihre Forderungen an die neue Zeit festgeschrieben waren. Der Bauernoberst: Zwölf Stunden hat der Tag. Der Doktor: Zwölf Apostel folgten dem Herrn. Wir haben zwölf Artikel gefaßt, nach denen wir leben, die wir durchsetzen wollen. 54
1. Bauern und Bürger schließen sich zusammen in der großen, christlichen Bruderschaft. 2. Wir wollen reichsfreie Bauern sein, keinem Herrn, nur noch dem Kaiser Untertan. 3. Freie Wahl des Pfarrers, Einsetzung und Absetzung nur durch die Gemeinschaft. 4. Verkündigung des Evangeliums nach reinem, unverfälschtem Wortlaut. 5. Abschaffung der Leibeigenschaft. 6. Befreiung von aller Zinsknechtschaft. 7. Befreiung von Groß- und Kleinzehnten, von jeglicher Steuer und Frondiensten. 8. Wald, Weide, Wasser, Wild und Fisch werden allgemeiner Besitz. 9. Wir sind frei geboren, tragen aufrecht Armbrust und Spieß. 10. Einführung des alten Rechtes. 11. Die Wahl der Richter und Schöffen nur aus den eigenen Reihen. 12. Wer sich weigert, in die Bruderschaft einzutreten, wird mit dem weltlichen Bann belegt. Ein Pfahl soll vor sein Haus gesetzt und er aus jeglicher Gemeinschaft ausgeschlossen werden.
Ü
ber die Alpen war sie gekommen, die Sitte der geschmückten Wagen, der Sieges- und Triumphwagen. Auf hohen Leitergestellen fuhren sie über 55
Land, die Verkünder der neuen Zeit. Grüne Maien hatten sie beidseitig in die Leiterbäume gesteckt, farbige Bänder flatterten. In der Wagenmitte stand erhöht die Fahne, schwarz mit goldener Schrift. Der »Zierhold«, ein mit bunten Tüchern herausgeputzter Bursche, zwei Trommler zur Seite, gab die Artikel bekannt. Jede der Forderungen wurde so lange wiederholt, bis sie von den hinzulaufenden Leuten verstanden und nachgesprochen wurde.
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in Ruf geht aus, ein Gedanke wird erzeugt, eine Hoffnung geweckt. Ein seit Generationen genährter Wunsch geht in Erfüllung. Endlich! Sie liefen zusammen wie das Wasser aus ihren Höhen, Schluchten und Tälern. Aus wenigen wurden Hunderte, Tausende.
I
n Bonndorf, auf der breitgelagerten Höhenflucht zwischen Steinach und Wutach, kamen sie zusammen zur großen Schau, zur Demonstration ihres Willens, ihrer geeinten Kraft. Hans Müller formierte, informierte die Massen, erkannte, wie wichtig es war, Gliederungen zu schaffen, Ordnung in die wahllos sich bildenden Lager zu bringen. Er straffte die »Haufen«, setzte ihnen fähige Waibel und Hauptleute vor, war bestrebt, eine notdürftige Bewaffnung zu erreichen, vor allem, moderne Waffen, Geschütze aufzu56
treiben. Ihm zur Seite standen der lange Thomas Bernauer aus Waldshut, der alle schriftlichen Arbeiten für ihn erledigte, Bernhard Eichkorn aus Blumegg, Baltes Indlekofer und der zähe, bis auf das letzte entschlossene Kunz Jehle. Bonndorf und die umliegenden Dörfer waren völlig in der Hand der aufständischen Bauern. Die Vögte der Grafschaft, mit ihnen die Verwalter, der niedere Landadel hatten sich abgesetzt. Hoch oben auf der gezimmerten Bühne stand jetzt Hans Müller, der in einem freudigen, einstimmigen Bekenntnis zum obersten Feldhauptmann der Schwarzwälder Bauernhaufen gewählt wurde. Er war durch die Reihen geritten, auf schwarzem Pferd, ein roter Mantel schwenkte einseitig von seiner Schulter herab, ein schwarzes Federnbarett war sein Kennzeichen. Hände hatten sich ihm entgegengestreckt, Tausende von Händen. »Ein freidiger Hans«*, hatte die Menge begeistert gerufen. Hans Müller: »Losed alli her, ohne viel Gschrei und Larifari, der Schwarzwald isch unser.« Die Bauern: »Isch unser, isch unser.« Hans Müller: »Von der Schwiiz über Waldshuet, Säckinge, Sankt Bläsi bis is Schwobeland isch es unser Land.« Die Bauern: »Unser Land, unser Land.« * D. h. ein mutiger Kerl 57
Hans Müller: »Numme die schönscht Stadt fehlt iis no: Friiburg. Aber mir nehmed sie, mir nehmed sie.« Die Bauern: »Her – her.« Hans Müller: »Mir bliebed nit uf einem Bein stehn, mir marschiered witer: Un, deux, trois, marschiere, marschiere.« Die Bauern: »Marschiere, marschiere.« Hans Müller: »Kamerade, uns jucket der Pelz, mir duldet sie nimme, die Blutsauger, die Flöh, Läus und Wanze. Mir treted sie us, mir treted sie us.« Die Bauern: »Mir treted sie us, mir treted sie us.« Hans Müller: »Uf unsere schönschte Berg hont sie ihre Burge und Schlösser gsetzt. Aber mir holed sie abe, mir holed sie abe.« Die Bauern: »Mir holed sie abe.« Hans Müller: »Uns schmeckt der Wi nur guet, wenn me ihn als freie Maa trinke ka. Kamerade, für des kämpfe mir.« Die Bauern: »Her, her, her.« Drei Tage währte die Schau, brachte Hoffnung und Mut, weckte kühne Gedanken. Es lag in der Luft, man spürte es mit jedem Atemstoß, einmal würde sie kommen, die große Stunde, die Bewährung, die entscheidende Auseinandersetzung. Noch zögerte Österreich, unterschätzte die Bewegung, war zu sehr in Schwierigkeiten, in andere kriegerische Handlungen verstrickt. 58
Er hatte geredet, diskutiert, überzeugt. Die Forderungen der großen Politik stießen auf ihn zu. Er überwand diesen Druck durch tätiges Hineinfinden in die stündlich auftretenden Belange. Aus den Entscheidungen, Lösungen, die sich hierbei ergaben, glaubte er auch den Schlüssel für alle noch größeren, anstehenden Aufgaben gefunden zu haben. Außer den zwölf Artikeln gab es nichts, an das man sich halten konnte. Es gab keinen Plan, keine voraussehende Gestaltung der Zukunft, sie lag unentwirrt in Wunsch- und Phantasieträumen. Sie waren wieder zurückgekehrt in ihre Dörfer, in die abgeschiedenen Taler, auf die einsamen Höfe. Er ritt am Hang entlang, seine Vorstellung ließ ihn noch einmal die vielköpfige Menge überfliegen, die ihm hier zugejubelt hatte. Feldhauptmann der Schwarzwälder Bauern! Sie hatten ihn gewählt, nun mußte er auch für sie alle denken und handeln.
I
n der Nacht hatte es geregnet, wie mit Kübeln geschüttet. Die großen Wasserlachen spiegelten das Pferd und den Reiter in verzerrten, schütternden Teilen, spiegelten die überhängenden Äste von Büschen und Bäumen wider. Die Sonne stand darin, wackelte, zersprang unter dem Pferdetritt. Zierliche Bachstelzen setzten sich in wippendem Schwung immer wieder vor ihn nieder, flogen erst im letzten Augenblick vor den 59
Hufen auf. Sie gumped wie die Fisch, hatte damals Theresle vergleichend von den Bachstelzen gesagt, und er sah sich mit ihr und den Geißen an der Mettma entlang zur Weide ziehen. Theresle – ihr Gesicht tauchte über dem Kopf seines Pferdes auf, es veränderte sich mit jeder Bewegung von Pferd und Reiter. In den üppigen, gerollten Haaren knisterte die Sonne, die Augen waren nicht mehr gerötet, dunkle Wimpern hoben und senkten sich über die Sterne, öffneten und schlössen das Geheimnis ihres Wesens, die Türe zu ihrem Innern. War sie so jung, so schön wie das Bild vor ihm, das er jetzt im Augenblick zusammenfügte? War sie nicht einige Jahre älter als er? Er hatte goldene Ringe für ihre kranken Augen gekauft, sie verloren, vergessen wie auch die Gedanken an sie. Warum aber kamen sie jetzt, so unerwartet auf ihn zu? Er hörte seine Mutter sagen: Man hat sie nach Bonndorf gebracht, als Magd, als Wäscherin, arbeiten von Tagwerden bis Nachtwerden. Er legte die Hand unter die Mähne, strich über die feuchtwarme Halsflanke des Pferdes, ich werde sie suchen, auf der Stelle. Rasch kam die Auskunft: sie wohnte nicht weit, gleich unterhalb Bonndorf, in Wellendingen, hinter der Mühle, verheiratet, Kinder, ihr Mann und dessen Mutter, in einem kleinen Haus. Es war wirklich klein, eine baufällige Hütte. Sein Pferd hatte er in der Mühle angebunden. Der Müller, 60
in mehlverkrusteten Hosen, zwei große, dunkle Augen sahen zu ihm her, die Zunge fuhr über fette, aufgestülpte Lippen, hatte ihn gleich erkannt, tat unterwürfig, wies ihm den Weg, wollte seinem Pferd ausgedroschenen Spelz bringen. Er ging über den Hof, seine Stiefel quietschten in dem von den Regengüssen aufgeweichten Boden. Ein Eingang, Küche und Wohnraum zugleich, anschließend der Stall. Gleich über der niederen Türhöhe hing der Vorsprung des Daches herab, ausgelaugtes, faulendes Stroh, das sicherlich undicht war, schon lange hätte ausgewechselt werden müssen. Eine Frauengestalt beugte sich unter dem Vorsprung hervor. Eine ausgefranste Schürze, die fast den Boden berührte, war über einen vorgewölbten Leib gespannt. Ihr Haar, langsträhnig, über der Stirne gekräuselt, hing seitlich in das Gesicht herein. Sie kam einen zögernden Schritt auf ihn zu, die Füße unbedeckt, eine Hand legte sie über die Augen, die Sonne abzuschirmen, von deren Helligkeit sie grell getroffen wurde, die ihr Gesicht zur flachen Scheibe verwandelte, alle Erhebungen, Stirne, Nase und Kinn ihrer Eigenart beraubte. Er wollte die Frau ansprechen, glaubte, die Mutter von Theresles Mann vor sich zu haben, als diese die erhobene Hand plötzlich fallen ließ, mit beiden Händen nach der Schürze griff und diese hoch über ihr Gesicht schlug. Mit einem stoßweise herausgepreßten Wimmern sank sie in die Knie, ließ sich mit dem Rücken 61
an der Hauswand nieder. Sie verharrte in dieser kauernden Stellung, immer noch das Gesicht bedeckt. Die Finger umklammerten das Tuch der Schürze, die Fäuste preßten sich an den Hinterkopf. Er stand unschlüssig, eigenartig berührt. Wer war diese alte Frau mit dem schweren Leib? Das Wimmern verstärkte sich, dazwischen kam eine zerbrochene Stimme: »Warum bist du gekommen? Geh wieder, geh«, und dann hörte er seinen Namen wie hinter vielen dämmenden Tüchern und Wänden hervor. Er hatte schon manche Stöße und Schläge erhalten, als Söldner, als herumgeschleudertes, niedergetretenes Stück Menschendreck. Er hatte die Ereignisse hingenommen, wie sie der Tag brachte, und weggesteckt, ohne sich viel darum zu scheren. Hier aber wurde er getroffen, elendiglich fertiggemacht von der Erkenntnis, daß diese niedergekrümmte Gestalt nur The-resle sein konnte. Er legte seine Hände auf die zusammengekrallten Fäuste, die zu zittern begannen, als er sie berührte, sich lösten, das Tuch vor ihrem Gesicht sinken ließen. Die Augenlider waren völlig wimpernlos, zerfressen, mit Knoten und Löchern, die Haut an den Wangen hing schlaff herab, am Kinn in tiefen, dunklen Rillen endigend. Der Atem ging flach, beim Sprechen stockend, sich oftmals verkrampfend: »Ich habe dich gesehen in Bonndorf – – –, daß du das bist –, so hoch hinauf – – –, du hättest nicht kommen dürfen, hierher – ach –«, sie begann zu wimmern, er knie62
te neben ihr, hielt ihre ausgelaugten Hände, strich darüber: »Sei ruhig, ganz ruhig, wenn ich dir helfen kann, irgendwie …« »Helfen? Mir helfen? Wer sollte mir schon helfen können?« Drei Kinder drängten sich von hinten aus dem Raum an ihre Seite, legten ihre Ärmchen um ihren Hals, auf die Schulter, ohne Scheu vor ihm, blickten zu ihm auf. Aus den ärmlichen Lumpenkleidern stieg der Geruch von getrockneter Pisse. »Die Jüngsten«, sagte sie. »Die letzten«, fügte sie hinzu, als wollte sie sich für das Kinderkriegen entschuldigen. »Ich habe noch vier Größere, sind auswärts, müssen schon arbeiten.« »Sieben Kinder?« er reagierte ungläubig. »Nicht sieben, neun, zwei sind gestorben. Was denkst du, wie das zugeht – auf dieser Welt«, setzte sie nach einer Pause hinzu, um dann fortzufahren, in fliegender Hast, wie um alles so schnell wie möglich aus sich herauszuschleudern, loszuwerden: »Sie wurden mir gemacht – im Schlaf, im Heu, am Feldrain, am Bach, beim Gequak der Frösche, ich war noch kein Jahr in Bonndorf, da hatten sie mich schon dick gemacht. Diese Kerle, ich habe sie gekannt und nicht gekannt, Aufseher, Verwalter, Schreiber, großmäulige Angeber, Scheißkerle allesamt.« Ich weiß nicht, warum sie immer hinter mir her waren, weiß Gott, ich habe nichts dazu getan, immer nur hinter mir her, als ob es 63
sonst keine anderen Weiber gäbe. Die vielen Kinder, eines nach dem anderen, sie haben mich geschwächt, ich wollte sie nicht – nicht alle, wollte sie vorher schon loswerden: Ich ging auf die Felder, ließ mich vor den Pflug spannen, zog, daß der Schweiß mir aus den Kleidern dampfte, ich sprang vom Heustock, ich trank Silbermanteltee, heiß, so heiß, daß ich Blasen an den Lippen bekam – – es nützte nichts, die Kinder blieben mir.« Sie versuchte, sich aus ihrer niedergekrümmten Haltung etwas aufzurichten, holte Atem, hustete trokken: »Wenn meine Milch versiegte, schlich ich mich zu den Herden, holte dort meinen täglichen Krug Milch. Wie soll man Kinder vom Abfall der Küchen ernähren? So kam ich auch zur Mühle hier, bettelte um etwas Mehl und Grütze. Er gab mir, obwohl der Müller und der Verwalter es verboten hatten. Er war gut zu mir, so wurde er mein Mann.« Sie hatte bis jetzt vermieden, ihn länger anzusehen, seinem Blick standzuhalten. Nun blickte sie zu ihm auf: »Ist so das Leben? Was habe ich noch auf dieser Welt zu erwarten?« Sie preßte eine Hand auf die Brust, oben, gleich unter dem Ansatz des Halses. Eine schetternde Stimme rief von der Stirnseite der Hütte her, eine grobknochige, große Frau kam hinter dem Hauseck herum: »Thärres, jo hörsch nint, losch d Rüebe abrenne, sie stinked scho.« Therese nahm ihre Hand von der Brust und wink64
te ihr müde ein-, zweimal zu, sie in Ruhe zu lassen, richtete sich dann auf, versuchte es, er griff ihr unter die Arme, hob ihn hoch, den schweren Körper mit dem krankhaft aufgequollenen Fleisch. Die knochige Frau drückte sich dann wortlos an ihnen vorbei in das Haus. »Deine Schwiegermutter?« »Ja«, sie legte die Hände auf die Köpfe der Kinder, »die drei jüngsten sind von ihm.« Die Frau kam aus dem Haus geeilt, einen dampfenden Topf in den Händen, stellte ihn auf den Vorplatz und griff im Umwenden nach einem Holzkübel, der an der Wand stand. »Sie holt Wasser«, sagte Therese, sie sagte es nur, um etwas zu sagen, um die drückende, unangenehme Situation zu verändern. Sie strich die Haare aus der Gesichtshälfte: »Es ist lange her.« Was meinte sie damit? Vielleicht das, was er auch meinte, die Zeit, als sie noch Kinder waren, das sorglose Hirtenleben in Bulgenbach? Jetzt erst erkannte er, daß er bislang mit seinen Gedanken in einer vorgetäuschten Traumwelt gelebt hatte. Hier, das war die Wirklichkeit, diese ausgebeutete, entkräftete Frauengestalt war die Gespielin seiner Kindheit. Von der Mühle her hörte man lärmendes Rufen, eine männliche Gestalt mit schwenkenden Armen kam durch den Dreck gewatet. Jedesmal, wenn er einen Fuß aus der klebrigen Masse herauszog, glaubte 65
man, ihn stürzen zu sehen, aber die rudernden Arme bewahrten ihn vor dem Fall. Gleichzeitig schrie er unverständliches Zeug, wobei nur der Namen Thärres, Thärres herauszuhören war. »Das ist er«, sie sagte es tonlos, ohne Bewegung, ohne Erregung in der Stimme. »Dein Mann«, ergänzte er. »Er hat ihn wieder betrunken gemacht, der Müller, er arbeitet dort, manchmal wird er auch geschlagen, er ist willenlos, läßt sich alles gefallen. Man hat ihn schon in seiner Jugend um den Verstand geprügelt.« Nun war er doch gefallen, nach vorn, die Hände versanken in der glitschigen Masse, das Gesicht wurde in den Erdbrei gedrückt. Er richtete den Kopf auf, plärrte. Seine Mutter kam mit dem gefüllten Wasserkübel, sah ihn liegen, ging schimpfend auf ihn zu und schüttete das Wasser über ihn aus. Nun begann er noch lauter zu plärren, stemmte sich mit den Armen hoch, schüttelte den Kopf, spuckte aus. Therese verdrängte ihre Schwiegermutter, half ihm aufzustehen, band ihre Schürze ab, begann ihn damit zu säubern, wobei sie selbst, ihre Kleider und Arme beschmutzt wurden. Mit großer Mühe konnte sie ihn auf den Vorplatz bringen, wo sie ihn auf ein Bündel Stroh niedersinken ließ. Die Kinder sprangen herbei, setzten sich auf das Stroh an seine Seite, fuhren mit ihren Fingerchen über sein Gesicht, streiften den Dreck auf sei66
ne Lippen, in seinen Mund. Er spuckte, versuchte sie zu greifen, sie lachten, entwischten, nahmen den betrunkenen Vater als willkommenes Spielzeug. Therese hatte ein angefeuchtetes Tuch geholt, reinigte ihm das Gesicht. Im Aufrichten sagte sie: »Er wird gleich schlafen, manchmal verschnarcht er den Tag und die folgende Nacht.« Sie standen sich nun gegenüber, wortlos. Aber er wollte ihr zeigen, daß er immer wieder an sie gedacht, in all den vielen Jahren sie nie ganz vergessen hatte. So legte er seine Hand auf ihre Schulter, ließ sie in leichtem Druck über den Oberarm gleiten und auf der quellenden Rundung der Hüfte ausruhen: »Ich werde wiederkommen, in zwei, in drei Tagen, ich werde Kleider bringen, für dich, für die Kinder, für ihn. Bald wird alles anders sein, unser Leben, auch dein Leben, Theresle.« Er sagte Theresle. Wollte er sie wieder jung, zu jenem kleinen Mädchen machen? Sie blickte zu ihm auf, so etwas wie ein Lächeln war in ihrem Gesicht, oder war es Spott, Resignation? »Es kommt immer anders – immer anders.« Die späte Nachmittagssonne traf die Hauswand und das in verwaschenen Farben, wie in Wellenbewegung sich zeigende Strohdach. Er wandte sich dieser Sonne entgegen, holte sein Pferd und ritt davon. Er kam wieder, nicht in zwei, drei Tagen, über eine Woche war vergangen, ein Bündel Kleider hatte er vor 67
sich auf das Pferd geschnallt. Es kommt immer anders, immer, so hatte sie gesagt, und so war es auch eingetreten: Sie war tot, die Holzkiste, in die man sie gelegt hatte, war schon zugenagelt und sie mit ihr unter der Erde. In den Weiher war sie gegangen und hatte sich die Pulsadern geöffnet. Die Schwiegermutter, die ihm dies berichtete, saß unter der Türöffnung, stumpfsinnig, verteilte den Kindern, die sich ihr näherten, sie etwas fragen wollten, vielleicht auch Hunger hatten, Stöße und klatschende Ohrfeigen. Dem Vater der Kinder war er schon in der Mühle begegnet, er hatte kaum aufgeschaut, war ihm ausgewichen. Nun holte er ihn, machte ihm und seiner Mutter den Vorschlag, daß er die Kinder mitnehmen, sie zu seiner Schwester und zur Heidenmühle bringen wollte. Weder zeigten sie sich erfreut darüber, noch hatten sie Vorbehalte. Ihre Teilnahmslosigkeit wurde von einer Haltung bestimmt, die vom Leben nichts mehr erwartet, auch keine Forderungen mehr stellt als diese, in Ruhe gelassen zu werden und nur das zu tun, zu dem man durch Strafen, durch körperliche Züchtigungen gezwungen wird.
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as haben sie für eine Zukunft, diese Kinder, die in dem rumpelnden Wagen saßen, neben dem er herritt, die er in eine neue, eine bessere Heimat bringen wollte. Wie hatten sie geweint, als er sie aus diesem Elendsloch, aus Armut und trübem Stumpfsinn 68
herausholte. Noch ist es ihnen nicht aufgegangen, daß sie ihre Mutter endgültig verloren haben, daß sie nicht mehr sein wird, weder hier noch anderswo, doch ihre Sehnsucht wird sie immer dort suchen, wo der tägliche Umgang mit ihr, ihr frühestes Erinnern einsetzt. Wird auf solche Weise auch das Gefühl für Heimat geboren, selbst wenn der Ort sich als noch so unwirtlich erweisen sollte? Auch ein Hund kehrt oft in seine erste Hütte zurück, mag es ihm auch noch so schlecht dort ergangen sein. Neue, bessere Bedingungen schaffen! Er holte Atem, der langsame Trott des Wagens beengte ihn, er ritt voraus, wartete in Sichtweite, eroberte die überblickbare Welt bis hin zu den Horizonten. Bedingungen, die das Land lebenswert machen, in welchem das Heimatgefühl mit Wohlergehen gekoppelt ist. Eine Aufgabe, seine Aufgabe und die aller Bauern und Bürger.
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ie Köpfe der Pferde schnellten hoch und nieder, unablässig, in rascher Folge, ein Ausgleich für die Anstrengung, welcher der muskelgeballte Körper ausgesetzt ist. Oft rutschten die Hinterbeine auf dem Kopfsteinpflaster ab, ein Schnauben durch die Nüstern, erregtes Schütteln des Kopfes, neuer Ansturm, die Steigung zu meistern, hinter sich zu bringen. In Windungen, Schleifen den Berg zu erobern, das Land unter sich zu lassen, Großes klein zu machen, welch 69
reizvolles Spiel. Zwei Reiter des Herzogs hatten ihn geholt, eingeladen auf den Twiel. Eine uneinnehmbare Festung, geschützt durch Mauern, Türme, Tore, Stein und Eisen, verteilt in übereinandergeschichteten Ringen. Oben im hellen Saal, auf dessen Boden die Sonnenkringel von dem Schattenspiel der Bäume durchbrochen wurden, empfing ihn der Herzog. Er gab sich leutselig, gastfreundlich, der Wein hatte die Farbe des fallenden Herbstlaubes. Ohne Umschweife brachte er sein Anliegen vor: Er, der nun einflußreiche Feldhauptmann der Schwarzwälder Bauern sollte ihm behilflich sein, die Hegaubauern für seinen Feldzug zu gewinnen. »Ich habe von diesem Feldzug gehört. Wann soll er stattfinden?« »Gleich im nächsten Jahr, ich denke noch im Januar.« »Bei Schnee und Eis?« »Im Februar will ich vor Stuttgart stehen. Die Hauptmacht sind über 30 Fähnlein Schweizer, manche Einheit bis zu 500 Mann stark, sie warten auf Abruf. Du kennst sicherlich einige Hauptleute: den Jerg von Hinwyl, den Heinrich Pröpstli, Ulrich Küng, Klaus Keller von Bulach, Hans Han, Hans Bulmann und vor allem den Hauptmann Setzstab aus Zürich – schau her«, er war aufgesprungen, zu den Fenstern geeilt, »alle meine Geschütze gehen mit«, sie standen aufgereiht in der Bastei, »meine gesamte Reiterei, aber es fehlt mir noch an 70
Fußvolk, ich brauche die Hegaubauern, auch für Troß und Nachschub.« »Es gibt hier einiges zu bedenken.« »Bedenken? Was gibt es hier lange zu bedenken, Hans Müller? Wir waren nie Leute von langen Gedanken. Wird das Pferd gesattelt, muß auch geritten werden.« Der Herzog ist gut, dachte er, er begreift den Aufstand der Bauern als seine Sache, will ihn nützen, so sagte er: »Was springt für die Bauern dabei heraus?« »Sie erhalten Sold, sie lernen kämpfen, nur wer freiwillig ziehen will.« »Stuttgart ist weit, wir müssen alle Kraft zusammenhalten.« »Ich habe gehört, ihr kommt an der Kirchweih in Hilzingen wieder zusammen, ich werde dort werben lassen und hoffe auf deine Unterstützung.« »Es kann nur werben, wer der Bruderschaft der Bauern angehört und für ihre Artikel eintritt.« »Nichts leichter als das«, der Herzog sagte es leichthin, gewahrte den abwartenden, abweisenden Ausdruck im Gesicht seines Gastes, fügte hinzu: »Eure Artikel werden von Landschaft zu Landschaft verschiedener Auslegung bedürfen. Ich trete ein für das neue, das lautere Evangelium, ich werde, sollte ich mein Württemberg zurückerobern, die Güter neu verteilen lassen.« »Wir werden darüber beraten, es wird zur Abstim71
mung kommen. Den Ausschlag, ob Hegaubauern mit euren Schweizern ziehen, dürfte Hans Benkler aus Kalchwiel bringen.« »Ich setze auf dich, Hans Müller.« »Setzt nicht falsch, Euer Gnaden.« »Laß die ›Gnaden‹, wir brauchen eine andere Gnade, die Gnade des Schicksals, jetzt, und für das nächste Jahr, sonst gnad uns Gott.« Sie trennten sich, vorher zeigte ihm der Herzog noch einen Verschluß an einem der neuen, schweren Geschütze. Noch einen letzten Blick von dem mächtigsten Kegel, den die Natur in einer aufsprühenden Laune in diese Landschaft gesetzt hatte, hinweg über die ausgesäten Dörfer zur Bucht des Zeller Sees, von Pappeln gesäumt, zum langen Grat der Schiener Höhen, die den frischgebadeten, auslaufenden Rhein verdeckten.
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ie Tage der Hilzinger Kirchweih wurden zum weithin hörbaren Ausruf der Bauern. Der Herzog kam vom Twiel herab, flankiert von Reitern. Er beantragte die Aufnahme in die Bruderschaft der Hegaubauern. Dies Ereignis brachte Aufruhr, unterschiedliche Meinungen. Zuletzt siegte der Stolz, einen Herzog zum Verbündeten zu haben. Hans Müller verhielt sich neutral. Aus dem abwertenden Urteil des Adels, aus der 72
Schicht der Regierenden kam Spott und Verachtung: Ein Herzog, der mit den Bauern paktiert, ist kein Herzog mehr. Er tanzt auf allen Hochzeiten.
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ie hatten sich etwas Neues einfallen lassen, die Herren der vorderösterreichischen Regierung, die in Ensisheim im Elsaß saß. »Wir bieten Waldshut Verhandlungen an: Sollte die Stadt zurückkehren in den Schoß des Habsburger Mutterhauses, wird sie ihrer Privilegien nicht verlustig gehen, im Gegenteil, neue hinzugewinnen, wir umschmeicheln sie, geben Versprechungen. Sollten sie sich widerspenstig verhalten, unsere Mahnungen in den Wind schlagen, zeigen wir ihnen die Folgen. Laßt uns mit Drohungen nicht sparen, sie sollen auf sie niederprasseln, daß ihnen die Knie wanken.« Man suchte sie aus, diese Abordnung, die in das Rathaus nach Waldshut geschickt wurde, gewichtige Männer: den Grafen Rudolf von Sulz, den Ritter Hans Imer von Gilgenberg und den Nachbarn von Waldshut, den Vogt von Laufenburg, diesen ehrgeizigen Ulrich von Habsberg. Wo dieser letzte aber auftauchte, schlug ihm der Haß und die Verachtung der Aufrechten unter der Bevölkerung entgegen. Viele jedoch sahen scheel zu ihm auf, die Angst ließ sie ihr Genick einziehen, den Rücken beugen. Sie waren am Abend durch das untere Tor hereingekommen, man hatte sie nach Gebühr empfangen, be73
wirtet und im Roten Mann untergebracht. Am Morgen darauf fand die große Aussprache im Rathaus statt. Es hatte sich herumgesprochen, jedermann wußte es: Nur diese eine Forderung wurde gestellt, die sofortige Ausweisung dieses ketzerischen Doktors, der nach Ansicht der Regenten alles Unheil, die Widerspenstigkeit, den Ungehorsam, den Aufruhr in die Stadt gebracht hatte. Vor dem Rathaus waren die Leute zusammengeeilt, sie schrien ihren Willen durch die steinernen Gassen, daß er an den Giebelfronten hinauffuhr und die Scheiben an den Fenstern des Rathauses zum Zittern brachte: »Unser Leben für den Doktor.« Auch innen, im Rathaus hatte man die Forderung abgelehnt: »Wir sind frei und eigenständig, die Wahl des Pfarrers und seine Absetzung bestimmen wir.« Es folgten die Drohungen. Schweigend wurden sie von den Ratsherren mit dem Schultheiß Heinrich Gutjahr entgegengenommen. Der Laufenburger Vogt vor allem übertraf sich in der Aufzählung der fürchterlichsten Strafen, die nur ein menschliches Gehirn auszusinnen imstande war. Jedes Überschreiten des Maßes, ein Überhäufen der Gegebenheiten aber erdrückt, sucht einen Ausweg, einen Ausgleich bei den Empfangenden. So befreite sich der Ratsherr HansJakob Bellinger von dem Schwall der Drohungen, klatschte in die Hände: »Pfuch, was soll der Schnickschnack! Sind wir Kinder, Lausbuben, denen man den 74
Hosenboden strammzieht? Wir kennen unsere Rechte und lehnen euer Leffern ab.« Nun polterte aber der Graf von Sulz los: »Potzdunder! Habt ihr nicht den größten Übeltäter, diesen Thomas Münzer bei euch empfangen, der den Klettgau aufgewiegelt hat, der wie eine gesengte Sau unter den Christenmenschen herumwühlt! Oh, Hans-Jakob Bellinger, man wird dir und deinesgleichen den Grind abhauen, aber wenn dich das noch nicht beeindruckt, denk an dein Weib, deine Kinder.« Der Schultheiß Heinrich Gutjahr, der bis jetzt bemüht war, mäßigend, ausgleichend zu wirken, legte nun ebenfalls einen scharfen Gang ein: »Was wirft man uns vor? Ist es eine Übeltat, nach dem wahren, dem richtigen Evangelium zu leben? Wir halten die Gebote und das Wort Gottes mehr in Ehren als manch andere, die nur den Fürsten nach dem Maul reden, um sich den Wanst vollschlagen zu können. Unser Doktor hat Frieden in unsere Stadt gebracht, und alle Leute hoch wie nieder hängen ihm an, lehnen seine Auslieferung ab. Wer sonst als er soll uns den richtigen Weg durch das Evangelium weisen?« »Ich habe vernommen«, begann nun der Ritter Hans Imer von Gilgenberg, während er im Saal mit seinen langen, steifen Beinen hin- und herstakste, »daß ihr euere Kinder nicht mehr taufen laßt, ihr sagt, die Kindertaufe sei nicht eingesetzt von Gott, sondern vom 75
Teufel, genauer von Papst Nikolaus, der mit dem Satan im Bunde war. Macht nur so weiter! Aber man wird euch euer ketzerisches Evangelium um die Ohren bleuen, daß euch die Sterne am Tage leuchten.« Ihm erwiderte der Ratsherr Hans Giller, der ein Waldshuter Fähnlein befehltigte: »Würde es den Rittern nicht besser anstehen, gegen die Türken zu kämpfen, als – knopfete und ungehobelte – Reden wider uns zu führen.« Nun gab ein schimpflich Wort das andere, die Diskantstimme des Laufenburger Vogtes spaltete sich in piepsige Zwischentöne, geifernder Speichel netzte seine Lippen. So ging, rannte man erbost auseinander, die Abordnung die steinernen Stufen des Rathauses hinab, zum unteren Tor, wo ihre Begleitung mit den Pferden auf sie wartete.
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ans Müller war in eine Phase ungewöhnlicher Erregung geraten. Die Vorstellung, nicht genügend Waffen, moderne Waffen, Geschütze für das Bauernheer herbeischaffen, herstellen zu können, versetzte ihn in tägliche Sorge, die in Angstvorstellungen gipfelte. Wie soll man mit Eichenprügeln gegen Büchsen, Doppelhaken, Feldschlangen bestehen? Das Bauernheer wuchs, schwoll an, als ob es Bauern vom Himmel schneite, wie ein Zeitgenosse berichtete. Solche großen Massen mußten in Ordnung gehalten, einge76
teilt, unterrichtet werden – aber wie sie bewaffnen? Es fehlte an Werkstätten, Schmieden, an Erzen, an geeignetem Material. Die größeren Städte waren ihnen verschlossen. Die entscheidende Auseinandersetzung kommt, muß kommen. Seine Unruhe trieb ihn über die Höhen und Täler, entlang der tiefgefurchten Flußläufe, hinauf, hinab, unablässig wie sein Herzschlag, wie der galoppierende Huftritt seines Pferdes. Er erkannte: Mit Reden, Werben, Organisieren allein ist es nicht getan, der Rückhalt fehlt, ein Bollwerk, so wie es Waldshut im Kleinen ist, so müßte eine große Stadt mit guteingerichteten Werkstätten, inmitten einer ergebenen Landschaft dem Bauernheer verbunden sein. Was können tausend schlecht ausgerüstete Bauern gegen ein einziges Geschütz ausrichten, das schon aus der Entfernung mit einigen sichergezielten Schüssen Unordnung, Panik, bis zu Fluchterscheinungen hervorrufen kann. Er dachte an Freiburg, diese glänzende Stadt, sicher gelegen zwischen dem Rhein und den Bergen. Er nahm Kontakt auf mit den Breisgauer und Markgräfler Bauern. Doch schon hatte sich der Winter angekündigt, eisiger Wind über den Höhenpässen, erster Schnee auf den Gipfeln. In einem letzten Ansturm zogen die Kampfabteilungen über die Wutach, eroberten die offen liegende Baar. Sollte man hinabstoßen, Freiburg zu, wo in der milden Ebene die Rüben noch im Boden saßen? Es war zu spät, die Schwarzwälder kehr77
ten zurück zum warmen Ofen; Krieg im Winter, das war noch nicht üblich.
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ine Tür wird aufgemacht, man tritt aus nebligem Dunkel – spürt noch den niedergedrückten Rauch der vielen Feuerstellen kratzend in Nase und Hals – in die gelblich-rote Beleuchtung wohnlicher Räume. Das huschende Spiel von Kerzen, Öllampen, ausgelöst vom Luftzug der geöffneten Türen, empfing ihn, es empfing ihn das Pfarrhaus, der Doktor, der seine Hand auf seine Schulter legte, ihn herein in die mit Fellen und gewobenen Teppichen ausgelegten Zimmer führte. Schon oft hatte der Doktor ihn eingeladen, den nun weit über die Grenzen des Gebietes hinaus bekannten Bauernoberst. Doch nie reichte es zu ausgedehntem Besuch, immer nur kurze Berichte, immer unterwegs, vorauseilend den täglichen Ereignissen, die mit ihm, von ihm bestimmt waren. Auch sie war da, die schöne Elsbeth Hüglin, des Doktors Braut, eines Müllers Tochter aus Reichenau in Kärnten. In 14 Tagen sollte die Hochzeit sein, ein Ereignis, das für den lebhaftesten Gesprächsstoff in der kleinen Stadt sorgte. Sie kam herein, den Besuch erwartend, stellte rasch ein Tablett mit Geschirr auf den Tisch, wandte sich ihm grüßend zu, lächelnd mit leicht geöffnetem Mund. Eine solch große, auffallend geschmackvoll gekleidete Erscheinung war schon lange nicht mehr vor 78
ihn getreten. Das karminrote, weite Kleid war über der Hüfte eng gefaßt, betonte die Fülle der Brust, mit faltig gebauschten Ärmeln, die über dem Ellenbogengelenk abschlossen, während die Unterarme bis zum Handgelenk mit einem dunkelgrün schimmernden, enganliegenden Samtstoff bekleidet waren, der etwas über den Handrücken reichte und seitlich geschlitzt war. Der Kontrast von Bauschig und Enganliegend wurde als sinnfälliger Überraschungseffekt wahrgenommen. So hoben sich Hals und Kopf aus der weiten Schulterbreite in betonter Schlankheit hervor. Die rehbraunen Haare waren nach florentinischer Sitte in der Mitte gescheitelt, in einem geflochtenen Kranz um den Kopf gelegt, von einem Reif gehalten, in dessen Mitte, genau über dem Scheitel, eine bronzeglänzende, mit Steinen überstreute Rosette stand. Ein Gesamtanblick, für dessen Einzelheiten man Zeit brauchte, über die Stunden des Besuches hinausgehend, wobei die Erinnerung immer wieder neue Details hervorholte, über welche das Auge beim Betrachten nur flüchtig darübergeglitten war, gehindert von dem lebhaften, rasch wechselnden Ausdruck dieses Frauengesichtes, das alle Aufmerksamkeit auf sich zog. »Wir freuen uns, einen so lieben Besuch nun endlich einmal bei Tisch zu haben, vor allem er freut sich«, mit einem schalkhaften Blick zum Doktor, »er sprach nur von Ihnen, von dem besonderen Gast, weniger von 79
dem erlesen zubereiteten Mahl, und das will was heißen, denn er ist ein Feinschmecker.« Man saß, aß und trank, und das Gespräch kam sofort nach dem Abräumen von Teller, Besteck, diesem üblichen Geklapper, auf die aktuellen Tagesthemen, das, was den Pfarrer am meisten bewegte, auf die verschiedenen Auslegungen des Evangeliums. So hatte er, der gelehrte Pfarrer und Doktor, die Gemeinde der kleinen Stadt zusammengerufen, sie hatten beraten, disputiert, »Bruderschaften«, wie man diese Zusammenkünfte nannte, eine Art früherer Synoden, aus denen dann, vom Doktor zusammengestellt, 18 Thesen hervorgingen. Die erste, als Grundfeststellung hieß: Der Glaube allein macht uns fromm vor Gott. Diesen Satz wiederholte der Doktor mehrmals, und diese Feststellung gerade war es, welche den Widerspruch des Bauernhauptmanns herausforderte, lächelnd meinte er: »Der Glaube soll es sein, der Glaube allein? Welcher Glaube aber?« »Aber, aber«, der Doktor hob mitleidig seine Hände, »es kann nur solcher sein, der aus dem reinen, unverwässerten Evangelium hervorgeht.« »Gibt es hierfür nicht sich widersprechende Auslegungen? Ich habe so im Vorübergehen, als ich noch beim Herzog war, so manchen Disput aufgeschnappt. Schon das übersetzte Wort allein löst Zweifel aus. Ich nehme zum Beispiel, ganz frei herausgegriffen die Be80
deutung von Stamm. Was ist ein Stamm im Walde und was ist ein Stamm der Menschen?« Nun lachte der Doktor, daß sein Kinnbart zitterte: »Das ist wirklich frei herausgegriffen, aber lassen wir es gut sein. Wichtig ist und für jedermann empfohlen: Der Glaube darf nicht müßig gehen, er muß ausbrechen in Danksagung gegen Gott und in brüderlicher Liebe gegen die Menschen.« Man kam dann auf den Bildersturm in Zürich zu sprechen, wo fanatische Eiferer alle Bilder, Ornamente, Skulpturen und sogar Kreuze zerschlagen und die Wände der Kirchen weiß getüncht hätten. Auch hier in Waldshut hatte man begonnen die Kirchen auszuräumen, sie in nüchterne Hallen zu verwandeln. Hans Müller, der, ohne sich jemals Gedanken über Kunst, über das Verständnis hierzu gemacht zu haben, mit einer angeborenen Sinnenfreudigkeit ausgestattet war – er hatte im Elsaß, in Frankreich farbenfreudige Bilder gesehen, die mit ihren dargestellten Gestalten bewegende Geschichten greifbar vor Augen führten, besonders die Schönheit der Frauenkörper sprach ihn unmittelbar an –, konnte für eine solch zerstörerische Haltung kein Verständnis aufbringen. So fragte er: »Wem kann so etwas nützen?« Der Doktor erwiderte ihm mit einer seiner 18 Thesen: »Bilder sind zu nichts gut, deshalb sollen solche Kosten fortan nicht mehr an Holz und Stein, sondern 81
an die lebendigen, bedürftigen Bilder Gottes gelegt werden.« Er hatte diese Äußerung kalt und trocken von sich gegeben. Nun legte seine Braut ihre Hand auf seinen Arm, während ihre Augen den Blick des Gastes suchten: »Er meint es nicht so, er möchte duldsamer verfahren, aber er wird gezwungen von der Mehrheit der Gemeinde.« Der Doktor wehrte ab: »Nun laß mal, es hat schon seinen Sinn, seinen Ursprung. Abbilder, Butzenwerke fordern den Götzendienst heraus.« »Dabei hast du selbst die Statue des heiligen Jakobus vor ihrem Zugriff gerettet, sie auf unseren Dachboden gebracht.« »So ist sie Anfechtungen, Verführungen entzogen.« Bei dieser Äußerung des Doktors wurde nicht deutlich, wer angefochten, verführt werden konnte, die Gemeinde oder er selbst. Auch als das Gespräch auf die Erwachsenentaufe, auf das Verbot der Kindertaufe kam, mußte der Doktor zugeben, daß er diese Untersagung nicht starr und konsequent durchführte. Seine zukünftige Frau erzählte, daß er manchen Eltern ihr neugeborenes Kindlein, das sie nach alter Sitte zu ihm brachten, auch getauft hätte. Sie tranken »Rotlagrein«, jenen herben Wein aus Tiroler Trauben, prosteten sich zu, tranken, bis der Wein seine kratzende Trockenheit verlor, in Süßigkeit überwechselte. 82
Hans Müller brachte ein Wohl auf ihre kommende Hochzeit aus, wünschte ihnen scherzhaft einen Stall voll Kinder. Der Doktor rief hochgestimmt: »In Zürich drüben, der Zwingli, hat eine Witfrau, die Meigerin, geehelicht, ich heirate meine liebe Elsbeth, eine Jungfer«, er faßte sie in der Hüfte, zog sie zu sich her, drückte ihr einen Kuß auf die blutdurchpulsten Bakken. Das Thema Mann – Frau – Liebe – Ehe – hatte der Doktor auch in seine Thesen eingebaut und er zitierte daraus: »Ehe verbieten den Priestern, aber gleichzeitig ihnen fleischliche Unzucht nachsehen, ist Barabas freigeben und Christus töten. Aus menschlichen Kräften Keuschheit verheißen, ist nichts anderes als verlangen, ohne Flügel über das Meer zu fliegen.«
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ls Hans Müller nachher in der frostdurchwaberten Nachtluft stand, empfand er sehr deutlich wie einseitig, wie unwesentlich die Gespräche gegenüber den wirklichen Problemen waren. Die Spitzfindigkeiten bei der Auslegung der Schrift, das Wichtignehmen von Nebensächlichkeiten, das willkürliche Hochspielen von abgestorbenen Begriffen, um sie in fanatische Streitobjekte zu verwandeln, verletzte seinen gradlinigen Verstand, sein Rechtsempfinden. Was hatte dies noch zu tun mit dem Kampf der Geknechteten, der Unfreien, der mühselig Beladenen, denen der Anteil des Himmelreichs auch hier auf der Erde zu83
stand. Er sah seinen Vater, der den Stock in den Boden stieß: Es muß ein Recht sein wider die Gewalt. Er sah das kleine Theresle, er sah sie als elend zugrunde gehende Frau. Wir müssen kämpfen, vor allem aber, wir müssen siegen. Er soll vorbeigehen, dieser Winter, rasch vorbeigehen, den wir schlechter zu nützen verstehen als unsere Gegner.
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ls Hochzeitsgeschenk für das Paar hatte er bei einem Wagner und kunstverständigen Drechsler in Remetschwiel ein mehrteiliges Besteck, Löffel, Gabeln in verschiedenen Größen, auch Becher erworben. Die Stücke waren aus Eschenholz gefertigt und bis zur Spiegelglätte geschliffen. Die gradlinige, gelbe Maserung des Holzes durchzog, umzog, Sonnenstrahlen gleich, die Kanten, Rundungen der Gegenstände. Sie waren für den Gebrauch bestimmt, aber man nahm sie vorwiegend als Dekoration, aufgestellt an Wandborden, hängend hinter Glasplatten.
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r war ihr begegnet auf dem Weg zum Pfarrhaus. Sie trafen zusammen vor dem Eingang. Sie kam von der niedersteigenden Seite, er stieß rechtwinkelig hinzu. Die Geometrie ihrer Weglinien, das Zusammentreffen ihrer Bahnen, Lebensbahnen führte zu einem Eck, in dem sie festgeschweißt umklammert wurden. So standen sie dicht zusammen, der Atem, die 84
körperlichen Ausstrahlungen vermischten sich, die Überraschung blockierte die Bewegungen, und keine der Hände vermochte sich vorerst zu heben, die Klinke der Türe niederzudrücken. Wenn man ihn nachher gefragt, ihn auf den Kopf gestellt hätte, er vermochte sich nicht zu erinnern, was er als erstes zu ihr gesagt hatte. Vielleicht war er auch stumm geblieben, ergriffen von dieser Erscheinung, die wie eine Wolke ihn einhüllte, alle Sinne seines Körpers mobilisierte, sie zur höchsten Reizaufnahme anstachelte. Unter ihrer Kopfbedekkung, einer bräunlichen Kappe, die sich in einer Kegelform schräg nach hinten zuspitzte, quollen tiefschwarze, geringelte Haare seitlich und über der Stirne hervor. Sie traten ein in das Haus, mehr schwebend als gehend, erste Berührungen ließen Töne entstehen, eine Spannung erzeugen, die unentwegt nach neuen Fortsetzungen verlangten. Sie war die Schwester der Pfarrersfrau. Verspätet war sie zur Hochzeit gekommen und mußte schon morgen wieder hinüber in die Schweiz, wo sie mit einem befreundeten Ehepaar die beschwerliche Heimreise antreten würde. Das lebhafte Geplauder der Schwester stockte immer wieder, ausgefüllt mit Blikken der Pfarrersfrau, die zwischen ihrer Schwester und dem Bauernoberst hin- und herwanderten. Hellsichtig, für Schwingungen empfänglich, die Liebende austauschen, ahnte sie die plötzlich aufbrechende Zuneigung der beiden. Unterdessen kam der Pfarrer, wurde 85
aber gleich wieder hinweggerufen, und so ließ sie die beiden mit Absicht allein. Sie gingen im Zimmer umher, betrachteten die Gegenstände, mehr als Vorwand nehmend, um das Spiel der Finger, die sich tastend berührten, sich aber auch wieder unvermittelt festhielten, zu genießen, immer wieder neu zu suchen, herauszufordern. Sie standen sich gegenüber: »Ich heiße Verena.« »Ich weiß, den Namen werde ich nie vergessen.« »Nie?« Sie spielte mit dem Wort, das sie ihm scherzend zuwarf. »Niemals«, er ging ein auf ihren schalkhaften Unterton, aus dem aber immer noch Festigkeit, Glaubhaftigkeit herauszuhören war. Im Wuchs war sie ihm ebenbürtig, ganz nah vor ihm ihr Gesicht mit diesem großgeschnittenen, üppig geschwungenen Mund, der das Lächeln einsammelte, das von den Augen herab über die vollen Wangen wanderte. Über dem Ansatz der geraden starken Nase wölbten sich die Brauen, stumpfer im Ton als die schimmernden, blauschwarzen Haare, die er ihr hoch, hinauf über die Stirne drücken wollte. Unvermittelt sagte er: »Ich muß noch hinab zum Haus des Fischers Heini unterhalb der Halde.« »Am Rhein?« fragte sie und suchte nach einer Erklärung für solchen plötzlichen Aufbruch, denn gleich darauf ging er, sich rasch verabschiedend, wie jemand, der nicht richtig bei der Sache ist, dessen Gedanken von 86
ungelösten Spannungen getrieben werden. So stand er unten an dem gewalttätigen Strom, der seine Massen gegen den Berg warf, ihn zu unterspülen suchte, das blanke Gestein in immer neuem Anlauf überrannte. Wartend blickte er hinauf, entlang diesem stein-brockengesäumten Weg, an dessen oberen Rand sie dann auch erschien, sie lief ihm entgegen, er rannte hinauf, bis er sie dann mit seinen Armen umfing. Sie vergruben sich ineinander, ein rauschartiger Genuß, durch die Kleider die Formen des anderen zu spüren, zu drücken, zu kosen, Wange an Wange, Lippe auf Lippe zu pressen. Sie löste ihren Arm, die Hand unter seiner Umklammerung, strich über sein Gesicht, nannte ihn mein Lieber. Er begann sie leise hin- und herzuwiegen, sie veränderte ihr Standbein, er fuhr mit seinem Knie, seinem Schenkel in diesen freiwerdenden Raum, sie drückte mit den Beinen, die er wie elastische Säulen empfand, dagegen. »Komm, der Fischer wird uns ein Zimmer geben.« »Nein, nein«, stammelte sie mit solcher Leidenschaft, als würde sie ja, ja sagen. »Ich komme wieder im zeitigen Frühjahr, ganz gewiß, und müßte ich zu Fuß gehen, die ganze Strecke, auf allen vieren würde ich kriechen.« Warum spricht sie so hastig, mit einem Atem, der vom Herzschlag gejagt wird? Sie hat Angst, aber jetzt muß es geschehen, morgen ist sie fort. So nahm er sie hoch, trug sie hinab zum Pfad, der am Ufer entlang 87
führte. Dort ließ er sie nieder. Noch während sie an seiner Brust hinabglitt, nahm sie seinen Kopf, sein Gesicht in beide Hände: »Du bist bei mir, in mir, für immer, niemand kann dich vertreiben, aber laß mich von dir träumen, auf dich warten mit aller Sehnsucht, die Zeit wird kürzer werden, immer kürzer, und dann bin ich bei dir, laß es so sein, Lieber, mein Lieber.« Die Wehmut, in welche sie sich steigerte, ließ ihre Augen verschwimmen. Ihre Erschütterung teilte sich ihm mit, verwandelte sein Ungestüm in Zärtlichkeit. Ohne sich dessen voll bewußt zu werden, dämmerte ihm die Erkenntnis, daß große Liebe Zeit braucht, Raum und Entfernung braucht, um das unergründliche Spiel anlaufen zu lassen, zu einem Höhepunkt zu führen. Sehnsucht muß reifen, dies liegt in dem uranfänglichen Plan des Mysteriums Liebe. Sie wanderten flußaufwärts, engumschlungen, manchmal nahm er sie auch wieder hoch, trug sie ein Stück des Weges, er wollte den Druck, die Fülle ihres Körpers immer wieder spüren. Seine Hände glitten entlang ihrer Schultern, über Achsel, Oberarme: »Wie breit du bist, wie stark.« »Ja«, gab sie ihm lachend zurück, »Vater sagt, das kommt vom Säcketragen. Soweit man zurückdenken kann, waren in unserer Familie Müllersleute, schon der Urgroßvater und noch weiter nach hinten, alles Müller, Müller.« »So seid ihr von Beruf Müller, ich aber heiße mit Na88
men so, irgendwie müssen wir verwandt sein«, und er umfaßte, drückte sie, daß ihr die Luft wegblieb. Dann wollte er wissen, wie ihr Elternhaus gebaut ist, aus Holz, aus Stein, die Umgebung, in der es liegt, und was für ein Wasser die Mahlsteine treibt. Es gehörte zu ihrer Art, gern und freudig zu erzählen, dazu brauchten nur die Riegel zu ihrem Wesenskern ein wenig geöffnet werden. Hier aber war es eine so plötzlich und ungestüm aufbrechende Liebe, die alle Scheu, jegliche Vorsicht etwas zu bergen, zur Seite schob. Sie hatte die Gabe, so zu zeichnen, zu gestalten, daß Unfertiges entstand, aber mit dem Anreiz weiter zu formen, zu bilden, zu vollenden. So stiegen im Hintergrund die Berge auf, so steil, so mächtig hoch, daß sie in Dunst, in Unsichtbarkeit verschwanden. Sie selbst war noch nie oben, fürchtete sich, sie sah sich am liebsten durch das Tal springen, durch Blumen und Vogelgezwitscher, durch die Au, die reiche Au. Das Wasser, das von den Bergen kam, über Wehre polterte, glucksende Wirbel drehte – die Gurk, die Gurk, sie sprach den Namen des Flusses in ihrer Kärntner Mundart so gleichklingend wie gurgelnde Wasserlaute aus. Angeregt durch ihre Schilderung wollte er wissen, wohin sie geht – die Gurk, die Gurk. »Sie geht nach Süden und nach Osten, ja, nach Süden und Osten und dann fließt sie in die Drau.« Drau, diesen Namen hatte er schon gehört, Drau und Donau, für ihn ein sehr verschwommener Begriff, 89
selbst die Alpen kannte er nur von der französischen Seite her. Sie erzählte dann, wie ihre Schwester zu dem Pfarrer gefunden hatte und daß man zu Hause, daß die Eltern in großer Sorge seien: »Sie können diesen so heftig ausgebrochenen religiösen Streit nicht verstehen, Auseinandersetzungen, die zu Kriegen führen müssen. Reformieren, ja, das war wohl eine überreife Sache, aber doch nicht alles über den Haufen stoßen.« »Das Volk ist zu sehr betrogen worden, man hat mit dem Namen des Herren jede Ungerechtigkeit zugedeckt, jetzt wird weggeräumt, was anstößig ist. Ich selbst kann dem kleinlichen Gezeter nicht folgen, will mich auch nicht einmischen, es gilt nur eines: Der Mensch ist unter dem Schirme Gottes geboren, er soll sich in Gleichheit und Freiheit bewegen können, es gibt keine angeborenen Privilegien. Für das stehe ich ein, für das streiten wir, die Bauern und alle aufgeschlossenen Bürger.« »Ja, das verstehe ich, das wäre auch meine Sache, wenn ich stark und Manns genug wäre. Darum liebe ich dich doch.« »Nur darum?« fragte er lächelnd. »Nicht nur darum, nein, gewiß nicht. Vielleicht würde ich versuchen dich zu verstehen, würde dich verändern wollen, wenn du ganz gegen meine Ansicht geraten wärst, vielleicht würde ich mich auch wie meine Schwester verhalten.« 90
»Wie verhält sie sich?« »Sie hat sich völlig dem Pfarrer und seinen Ansichten untergeordnet. Wir haben daheim ein auf die Giebelseite des Hauses gemaltes Bild – Maria mit dem Jesuskind. Wir liebten Maria, brachten ihr Blumen, nun will sie von Maria nichts mehr wissen. Wir beide sangen lateinische Messen. Obwohl wir die Wörter nicht verstanden, klangen sie schön und so geheimnisvoll. Nun dürfen es nur noch deutsche Messen sein, Weihrauch ist die Vernebelung der Wahrheit, unnütz findet sie alle Mirakel und Plappergebete. Sie ist völlig in den Ansichten des Pfarrers aufgegangen, benützt nur seine Ausdrücke.« Er blickte vorbei an der gekräuselten Woge ihrer Haare, hinauf in das Geschiebe der düstergrauen Wolkenballen, er hörte den Schlag des Flusses, ihr Gesicht mit den großflächigen, klaren Formen war so nah, so versinkend und wieder auftauchend, als ob es schon Erinnerung wäre: »Sind noch andere Bilder an eurem Hause angebracht?« »Nein, nur dieses, es wurde von zwei Italienern in den frischen Kalk gemalt, es entstand zu der Zeit, als meine Schwester und ich geboren wurden. Aber komm, reise morgen mit, so wirst du alles sehen.« »Sicherlich werde ich diese Reise einmal unternehmen, wenn alles getan ist, jetzt verlangt jeder Tag nach mir. Auch könnte die Fahrt manche Überraschung 91
bringen. Wenn sie mich erkennen, meiner habhaft werden, sie brächten mich nach Wien, ein Schauprozeß, ein Spektakulum, so stirbt der Bauernrebell vom Schwarzwald.« »Nein, nein, so schnell stirbst du nicht. Wir beide wollen doch leben, lange miteinander leben«, sie hatte zu einem herzhaften, fröhlichen Ton gefunden, küßte ihn, strich ihm die Haare aus der Stirn. Die Nacht hatte sie auf ihrer Wanderung eingeholt. Die Bäume wurden massiger, dicker, verloren sich in Unkenntlichkeit mit nässenden, kahlen Ästen, ein dünner, gelblicher Schein schwankte über und durch Nebelschleier. Er hatte ihr die Wege und Plätze gezeigt, die er mit Karo, dem Hund von Theresle, gegangen war, hatte von ihr erzählt, ihrem armseligen Leben und Tod. Sie hatte ihren Arm fest um seine Hüfte gelegt, sich so eng an ihn gedrängt, daß sie im Schreiten sich gegenseitig behinderten: »Wir gehören zusammen, für immer, so soll es sein, so muß es sein.« Oben in der Stadt umwanderten sie die Gassen und engen Durchlässe, geleitet von den trüben Beleuchtungen der Häuser, den plötzlich aufflackernden Feuerstellen, welche die schattenhaften Überhänge der Giebel und Altane beweglich machten. »Elsbeth wird auf mich warten, in Sorge auf mich warten.« Sie trennten sich, doch nur für einige Stunden, denn 92
bevor der kommende Tag die übereinandergelagerten Wolkenbänke zu schieben begann, noch vor verfrühtem Hahnenschrei hatte er sie über den Rhein, ins schweizerische Koblenz geleitet. Der Wagen ihrer Bekannten wurde schon hergerichtet, die Pferde angeschirrt. Die Rückfahrt sollte über Bayern und Salzburg erfolgen. Noch einmal überholte er mit seinem Pferd den davonfahrenden Wagen, hob die Hand, richtete sich hoch, ein letzter Gruß, ihr Gesicht von der Morgensonne mit purpurnem Hauch gestreift, ein Gesicht, das in viele Erscheinungen gehüllt, auf- und niederschwankte, dessen Mienenspiel sich als facettenartiges Spiegelbild in raschem Wechsel vor ihn hinstellte: Aufblitzend in sorgloser Heiterkeit, dann wieder von Sehnsucht und Wehmut überschattet, dazwischen ihre Stimme, überbringe nur die Nachricht von Elsbeth an die Eltern, dann komme ich, bald komme ich, das ist gewiß, ganz gewiß. Er glaubte an diese Gewißheit, sie nährte seine Gedanken, doch schon nach kurzer Zeit wurde sie ausgehöhlt von Zweifeln: Diese weite Strekke, welch beschwerliche Reise, ich sehe sie nie wieder, niemals wieder.
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ine nächtliche Sturmbö war durch den Wald gefahren, hatte die Wipfel der Bäume geschüttelt, sie splitternd zu Boden geschlagen. Die Vögel wurden aus ihren Sitzplätzen gejagt, hoch- und niedergewir93
belt, gegen den blanken Felshang geschleudert, daß sie mit letzten Zuckungen auf der Erde verendeten. Am Rhein, bei Albbruck, hatte der Wind wie eine mächtige Schaufel die Flut aus dem Bett gehoben, sie weit über Land getragen, um sie dann mitsamt den Fischen niederplatschen zu lassen. Was für ein Jahr, was für ein schreckliches Jahr hatte begonnen! Grausige Geschichten wurden im heulenden Wind geboren, nein, wurden leibhaftig vorgeführt: Männer tasteten sich wankend daher, eiternde Höhlen im Gesicht. Mit scharfkantigen Löffeln hatte man ihnen die Augen ausgekratzt, manchen waren die Finger an den Händen ausgerissen, abgeschlagen, anderen war die Zunge im Gaumen herausgeschnitten worden. Was für ein Jahr, was für ein schauriges Jahr! Wen wundert es, wenn die Quäler und Schinder der Menschheit ganz oben einen Vorsager hatten, diesen Erzherzog Ferdinand, der einmal deutscher Kaiser werden sollte, von dem die Aufforderung zu morden, hängen, brennen, sengen kam, den sie nur den »Wippernatterzüngel« hießen.
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unz Jehle hatten sie aus dem Schlafe geholt, geweckt von dem geheimen Zeichen, das sie immer wieder wechselten: Zweimal auf ein hohles Holz geklopft, ein leiser Pfiff und nochmal geklopft. Er hatte nie einen festen Standort, rastlos, immer auf dem 94
Sprung, seine Füße mußten laufen, laufen, seine Hände mußten greifen, packen, festhalten, er war Jäger und Gejagter, er war zäh wie die Sträucher am Hang, kantig wie die Steine im Albtal, er war der meistgefürchtete Anführer eines Hauensteiner Bauernhaufens. Wir müssen sie schnappen, wo sie sichtbar werden, keine Ruhe den blasianischen Kutten, keine Gnade den Laufenburger Henkersknechten. Seine Späher hatten sie ausgemacht, ihm die Kunde gebracht: »Ein Troß mit sechs schwerbeladenen Wagen, Getreide, Fleisch und Silbermetallen, rastet in der Nähe von Tiefenstein. In der abendlichen Dämmerung müssen sie oben im Kloster abgefahren sein, sicherlich wollen sie noch während der Dunkelheit Laufenburg erreichen. So an die zehn Laufenburger Knechte reiten als Bewachung mit. Wir wissen, wo die Reise hingehen soll, über den Rhein zum Kloster Klingnau, dort lagert, was unserem Land erpreßt, gestohlen wird.«
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unz Jehle tauschte gerne das Kurzschwert mit einer kleinen zweischneidigen Axt, er steckte sie mit langsamen Bewegungen, exakten Griffen – sie hätten auch blind erfolgen können – in den Gürtel. Im Gegensatz zu dieser maßvollen Ruhe suchten seine Augen in raschem Wechsel irgendetwas noch nicht Sichtbares zu entdecken, wobei auch der Kopf eine hin- und herpendelnde Bahn einschlug. Wenn er sich anschickte, 95
seinen Standplatz zu verändern, geschah es ruckhaft, als würde der Start zu einem plötzlichen Lauf vollzogen. Maßvoll und kurz waren auch seine sprachlichen Äußerungen. Nur wenn er über die Herren und deren Knechte loszog, konnten Wut und Verachtung die gewohnte Knappheit überspringen.
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uf, auf, ihr zwei, reitet nach Birndorf und Buch, holt zusammen, was Bein und Hand hat, geschlafen wird ein andermal. Der Huser-Jerg soll alles richten, ihr steigt runter in das Loch, zieht aufwärts, wir kommen von oben euch entgegen. Mir nehmen sie in die Zange, do druf mini Hand.«* Es ging alles sehr schnell und ohne viel Lärm, seine gewohnte Kampfschar – bis zu dreißig, meist jungen Männern, die Hälfte zu Pferd, die anderen folgten im Lauf hintennach – war geübt in Überfällen. Aus dem Stand sprang der Kunz auf sein Pferd. Mit eingezogenem Genick versuchte er die Dunkelheit zu durchdringen, als Vorreiter den Weg zu finden. Es ging durch dichtes Strauchwerk, die Pferde mußten immer wieder geführt werden, gefrorener Altschnee fiel ihnen von den in Erschütterung gebrachten Zweigen in das Genick. Unterdrücktes, halblautes Fluchen, die Nacht
* »Do druf mini Hand«: ein immer wiederkehrender Ausspruch von Kunz Jehle.
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nicht sternenklar, aber auch nicht kohlschwarz, an einem Grat entlang, alte Eichen und Weißtannen, offenliegende, säulendicke Wurzelstränge, unten am Hang, nicht bis zur Tiefe einsehbar, lag der Fluß, die Alb und die Straße. Auf einer schräg zum Hang, nach unten zielenden Schneise erreichten sie die Sohle. Der Weg ging mit dem Wasser, etwas erhöht, mal zehn, mal fünfzehn Meter über dem Bett, gesäumt von rötlichgrauen Felsklötzen. In den senkrechten Rissen des Gesteins hingen zu Eis gefrorene Wasseradern. Der Lauf des Flusses teilweise offen, mit hartem Schlag an rundgeschliffenen Steinbrocken vorbei, verschwand oft dumpf rollend unter vibrierender Eisdecke. »Hier haben sie gerastet!« Sie ritten jetzt langsam, neben jedem Pferd ein Mann zu Fuß. Ein Einzelgänger eilte voraus, wartete bis zur Sichtweite, untersuchte die gefallenen Pferdeäpfel: »Ganz frisch, sind noch warm.« Sie hielten ein, lauschten, ja, rumpelnde, knarrende Laute, menschliche Stimmen. Sie folgten so dicht hintennach, bis sich vor ihnen aus dem grauweißlichen Schluchtnebel bewegende Formen, Umrisse erkennen ließen. In Düsternis lagen die seitlich ansteigenden Hänge, helle Flecken, Schneefelder brachen daraus hervor, ganz oben der Himmel, gesättigt mit Dunkelheit, aber dennoch die Quelle des Lichtes. Vordringen, anhalten, lauschen, jede Phase nährt die Spannung, läßt 97
sie sprunghaft wachsen. Jetzt müßten doch die von unten entgegenkommen, die Männer von Buch und Birndorf. Warten auf das Zeichen, es war ausgemacht, daß einige Männer voraus, von halber Hanghöhe herab, Felsbrocken lösen sollten, um sie auf den anrückenden Troß niederwalzen zu lassen. So geschah es. Der erste der Brocken, der mit klirrendem Aufstoß, in rauschenden Sätzen zum Schwunge ausholte, übersprang den Weg, stürzte in den Fluß, andere blieben oben in dichtem Gestrüpp hängen, selten erreichte einer die Straße. Alarm! Die erschreckten Pferde stießen Laute aus, die sich zu hellen, durchdringenden Tönen steigerten. Der Kunz schrie in die Nacht, trieb sein Pferd nach vorn, jetzt erkannte er: Zwei, drei Reiter, die anderen sicherlich an der Spitze. Einer wendete, zog sein Schwert, der Kunz ihm entgegen, sprang vom Pferd, faßte das Pferd seines Gegners von hinten am Schwanz, drehte ihn, daß es aufbäumte, der Reiter zu Boden rutschte. Im Herabgleiten kam dieser noch auf die Beine, doch ehe er zustechen konnte, traf die Axt des Kunz seinen Oberarm, gleich unter der Schulter. Nun waren die Nachfolgenden aufgerückt, ein ungleicher Kampf, die Knechte ergaben sich. Auch von vorne drangen die Männer von Buch und Birndorf herbei, entwaffneten die Reiter, rissen den Knechten die Zügel aus der Hand. Die Pferde eines Gespannes waren durch den 98
Überfall, die herabstürzenden Steine, das Geschrei der Männer, das Zerren an den Zügeln, in solche Erregung geraten, daß ihre Vorderbeine hochstiegen, die Deichsel mit in die Höhe rissen und im Niedersetzen durch die federnde Kraft der Hinterbeine nach vorn zur Seite schnellten. Gespann und Wagen hingen über dem Abhang, stürzten, sich mehrmals überschlagend, die steile Böschung hinab. Unten am Ufer, in dem angeschwemmten Steinbrockenfeld, lag der geborstene Wagen, lagen die Pferde, eingeklemmt, mit gebrochenen Gliedern. Ihre Köpfe bewegten sich, wie mit unsichtbaren Schnüren gezogen, langsam auf und nieder. Der glattfellige, geschmeidige Hals verlangte nach der menschlichen Hand, die ihn berühren, streicheln sollte, doch das Kurzschwert, der geschliffene Stahl, fuhr in den Hals, daß das Blut der Arterien stoßweise über den verharschten Boden sprang. Einige begannen sofort die Leiber auszuweiden, die Fleischteile zu zerlegen, auf die Ochsenkarren zu laden, die man von den Dörfern herabgeholt hatte. Die Überfallenen wurden zusammengetrieben, man überließ ihnen ein Gespann mit einem Wagen, den man entladen hatte. Der Verwundete und zwei mit gebrochenem Bein, zerquetschtem Fuß – die Räder waren darübergegangen – wurden auf den Wagen gelegt. »Die anderen alles ausziehen«, zischend, durch die kaum geöffneten Lippen gesprochen, kamen die An99
weisungen des Kunz: »Alle Kittel runter, auch die Schuhe«, sie mußten sich der Kleidung bis auf das Hemd entledigen. »Nun springt, lauft rauf nach Bläsi, so werdet ihr warm, und meldet dort den stinkenden Madensäcken: Bald kommen wir selbst und holen euren Überfluß, do druf mini Hand.« Es war ein gespenstiger Anblick, den Wagen mit zwei daraufstehenden, schlotternden Gestalten, welche die Zügel hielten, davonfahren zu sehen. Die anderen sprangen seitlich und hinter dem Wagen her. Ein leichter Luftzug, der immer in einem Tal mit fließendem Gewässer entsteht, ließ die Hemden hin- und herschwenken. Bald vermischten sich die sich bewegenden, hellen Flecken mit den grauweißen Flächen, die eingestreut zwischen den dunklen Stämmen der Bäume lagen. Eine Kehre des Weges verschluckte den Spuk.
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ie Sonne über der meerblauen Firmamentglocke hatte zur späten morgendlichen Stunde die Höhen blankgefegt, den Nebel, den Kältereif in die Taler gedrückt. Hier lag er, ein See mit Buchten und seitlich ausgestreckten Armen, eine genaue Nachzeichnung der Struktur der Landschaft. Oben in Görwihl, in dieser alten Siedlung auf dem geschwungenen Bergsattel, lag die Wärme auf den rissigen Brettern der verschalten Hausgiebel. Kinder sprangen umher, in der Hand, im 100
Mund ein Stück Rauchfleisch, kleine, junge Zähnchen bissen sich darin fest, Zunge und Gaumen lutschten an der Schwarte. Sie konnten sich nur schwach erinnern, wann sie zum letztenmal Fleisch gesehen, gegessen hatten. Manche hatten in den Backen dunkelrote Buckel mit weißlicher Hautkruste, geschwürähnliche Beulen, Mangelerscheinungen in der Ernährung. Nun waren das Fleisch und das Getreide zu den Dörfern und Höfen links und rechts der Alb hinaufgebracht und verteilt worden. Kunz Jehle stand erhöht auf der abgedeckten Höhlung eines hölzernen Brunnentroges, die Bewohner aus den Häusern, Höfen und Hütten umdrängten ihn. Waren solche Zusammenkünfte gewöhnlich nur Männersache, so war heute der Anteil der Frauen und Kinder überstark, getragen von einer Begeisterung, die sonst nur Feste hervorlocken. Hände streckten sich ihm entgegen, in der Luft das Gewirr vieler Stimmen, herausbrechende Zurufe, plärrende Kleinkinder auf den Armen, schaut hin, das ist er, dort steht er, der Kunz, der Kunz, unser Kunz. Was für eine Huldigung, er streckte sich, sog tief die Lungen voll, man weiß, für wen und was man kämpft. »Zu was hat man uns gemacht, zu Räubern, Dieben, Wegelagerern, wir, die wir in früheren Zeiten alles hatten, was der Boden, der Wald, der Stall uns zur Genüge gaben. Der Fleiß und die Kraft unserer Hände schenkten uns das tägliche Brot und immer noch etwas drauf. Kein 101
Kind mußte vor Hunger weinen, in Elend sterben.« Er hielt inne, seine Augen suchten über die Menge hinweg die Begrenzung der Höhen, den Horizont, dann senkte sich wieder sein Kopf mit den buschigen, tief in die Stirne hineingewachsenen Haaren. »Er hat recht, der Kunz hat recht, so ist es, so ist es.« »Frei waren wir zu allen Zeiten, freie Bauern, freie Leute vom Wald. Wir hatten unsere Zusammenkünfte, unsere Dingstatt, unser Freigericht. In unseren Einungen wurde gewählt und besprochen, wie wir unser Leben gestalten wollen, wie wir über Not und Drangsal obsiegen können. Es gab vier Einungen unter der Alb: Görwihl, Hochsal, Rickenbach und Murg. Was ist aus uns geworden? Man hat uns unsere Rechte, unseren Stolz genommen. Damit zerbrach auch unsere Redlichkeit, unsere Einfachheit, unsere Friedlichkeit. Als Folge kamen Haß, Zwietracht, Neid und Argwohn in unsere Familien, unsere Häuser, unsere Herzen. So wurden wir zu Besitzlosen, zu Leibeigenen, zu Hörigen, zu Knechten. Die uns heute befehlen, in Willkür über uns herrschen, sind die wirklichen Diebe, Räuber, Totschläger, Henker.« Der Kunz atmete heftig, die Leidenschaft, der Haß übersprühte seine Anklage. »Aber nicht nur die Rohen, die Gewalttätigen haben unser Leben, unsere Höfe zu ihrem Eigen gemacht, uns in die Fron gepreßt, es gab auch noch die anderen, die Leisetreter, die scheinheili102
gen Augenverdreher, ihr wißt, wen ich meine – die bläsischen Kuttenbrüder. So manch freier Wäldersmann lag alt, krank und wislos auf dem Sterbebett, sie kamen mit frommen Sprüchen, mit Versprechungen, mit herrlichen Genüssen im Jenseits und drohten mit Feuer und Teufel auf der anderen Seite. Die Engel rechts, die Teufel links. So quälte sich mancher zwischen ewiger Verdammnis und seligen Halleluja-Freuden, bis der Hof vertan, verschenkt und die Kinder und Enkel leer ausgingen. Im Kloster, in ihren Regalen lagern alle diese Überschreibungen mit den Namen der Zeugen. Den Lohn im Jenseits? Aber noch keiner kam zurück und brachte uns Kunde vom verheißenen Lohn. Wir wissen nur eins: Die Würmer werden uns alle fressen! Leute, es gibt kein Jenseits! – Do druf mini Hand.« Er war zu weit gegangen, er merkte es sofort. Ein frostiger Hauch hatte sich über die Menge gelegt. Vor allem die Frauen sahen ratlos vor sich hin: Kein Jenseits, keinen Lohn, keine Vergeltung droben im Himmel für all den Kummer, die Leiden, die man hier unten erdulden mußte? Kann das richtig, gerecht sein? Der Kunz rückte zurecht, kam zurück auf das Nächstliegende, seine Worte fielen jetzt abgehackt, einzeln, wie kurze harte Schläge: »Was steht vor deiner Tür? Es ist der Hunger – die Kälte – die lange Nacht – die Angst – die Sorge – das Elend. Unser Getreide, das Mehl, das Brot karren sie fort aus unserem Land. Sie 103
nehmen es von deinem Tisch. Aus dem Mund deiner Kinder. Aber verlaßt euch – wir holen alles wieder zurück: Das Land – die Höfe – unsere Freiheit. Die Verschreibungen zerreißen wir, zerstreuen sie in alle Winde. – Das schwöre ich! – Do druf mini Hand.«
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ine große Bewegung rollte über das Land. Ein Söldnerzug sammelte, formierte sich, wie man ihn in solcher Masse noch selten in diesem Landstrich gesehen hatte. Der verbannte Herzog Ulrich von Württemberg, der in Montbeliard und auf dem Twiel saß, hatte sich Geld geliehen beim König von Frankreich, bei Basel und Zürich. Es reichte gerade, um das erste Handgeld für die Söldner zu bezahlen, die aus den Vogesen und aus der Eifel kamen. Seine Hauptmacht aber waren 32 Fähnlein Schweizer. Über tausend Hegaubauern liefen ihm freiwillig zu. So zog er an der Spitze seiner 250 Reiter mit all seinen schweren und leichten Geschützen in die Richtung oberes Neckartal, mit dem Wunsch, dem Ziel vor Augen, in Stuttgart einzuziehen, in diese reiche Stadt, zu den Geldtruhen des Landes. Ohne Widerstand fielen ihm die Städte Sulz, Herrenberg, Böblingen zu. Der Truchseß Georg von Waldburg, Feldhauptmann des Schwäbischen Bundes, konnte ihn nur in leichtes Geplänkel verwikkeln, niemand wagte, sich dieser Übermacht zu stellen. Schon in den ersten Februarwochen umlagerte er 104
die Stadt, seine Geschütze bollerten von der Weinsteige herab auf Mauern und Dächer. Auf der Höhe von St. Leonhardt hatte er seinen Befehlsstand aufgeschlagen. Zwei Nürnberger Fähnlein, welche die Belagerung zu durchbrechen versuchten, wurden zurückgeschlagen. Des Herzogs Feldplan war, ohne wesentliche Verluste die Stadt sturmreif, übergabereif zu schießen. Kurz vor der Erfüllung verließ ihn das Glück, stellten sich widrige Umstände ihm entgegen. Im Lager der Schweizer brach eine Revolte aus, sie kündigten dem Herzog ihren Dienst auf.
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as war geschehen? Kaiser Karl V. hatte am 24. Februar in der Schlacht bei Pavia den französischen König besiegt, Tausende schweizerische Söldner waren gefallen, verwundet, verkrüppelt auf dem Schlachtfeld geblieben. Ein strenger Erlaß der Kantone verbot allen Schweizern, in fremde Kriegsdienste einzutreten. Schwere Strafen, Landesverweis wurden angedroht. Die Schweizer bedrängten den Herzog, wollten ihn gefangensetzen, verlangten ihren Sold, begannen den Rückzug. In Rottweil, die Stadt hatte einen Bündnisvertrag mit der Schweiz, lieh sich der Herzog das Geld für die Söldner. Als Pfand mußte er seine sämtlichen Geschütze, sein Kriegsgerät, seine Wagen mit Pulver und Blei in der Stadt zurücklassen. Mit Spott überhäuft zog er sich mit seiner Reiterei 105
auf den Twiel zurück. Er tobte: Der Kaiser hat gesiegt, dieser Karl, dieser Kerl! Es wäre besser, die Motten hätten ihn aufgefressen. Ein Kaiser, der schlechter Deutsch als Spanisch versteht, ein Romläufer – die Filderbauern sollten ihn mit Krautköpfen beschießen. Der verfluchte Schwäbische Bund und dieser Erzherzog Ferdinand, Statthalter einer ausbeuterischen österreichischen Regierung. Diese Milchsuppenschlapperer! – Mein Stuttgart, es lag vor mir, zum Greifen nah, ich hatte es schon in der Hand. – Diese verfluchten Schweizer, dieser Rückzug, diese Blamage!
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er Twiel, der hohe Twiel, der mächtigste der Hegauberge, bietet einen weiten Blick, einen Ausblick, der Großes und Kleines in richtige Proportionen stellt, er gibt auch einen Einblick in eigene Gedanken, die sich verlaufen haben, die in Zorn und Verwünschungen erstarren wollen. Des Herzogs täglicher Rundgang entlang der Bastei ließ ihn wieder zu seinen Wahlsprüchen finden, die er in den zurückliegenden Tagen vergessen hatte: »Hindurch mit Freuden« und »Es bleibt dabei«. Ja, es muß dabei bleiben, Stuttgart muß zurück, mein Herzogtum muß zurückerobert werden. Es bleiben nur noch als einzige Hoffnung die Bauern. Wie waren sie treu und ergeben, marschierten nach Stuttgart und zurück, nächtigten auf frostiger Erde, genügsam, forderten keinen Sold. Ich will meine Pläne mit 106
dem Aufbruch der Bauern verbinden. Überall strömen sie jetzt zusammen. Es wird ein leichtes sein, ein Heer von zehn-, von zwanzigtausend Bauern zusammenzutrommeln. Wir marschieren nach Rottweil, fordern meine Geschütze zurück.
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r schickte seine Boten aus, zu den Bauernführern, zu dem Bulgenbacher, dem berühmtesten, bekanntesten aller Feldhauptleute, lud sie ein nach Hilzingen, zu einem großen Gastmahl. In der Zehntscheuer waren in langen Reihen Tische aufgestellt, die sich draußen im Freien fortsetzten. In Schüsseln und auf geglätteten Holzbrettern wurde das gebratene Fleisch von Wildschweinen aufgetragen, die man in den Buchen- und Eichenwäldern des Hegau, an den Hängen der Schienerhöhen erlegt hatte. Dazu gab es Berge von frischgebakkenem, dünnausgewalktem Fladenbrot. Man aß rohe Zwiebeln, die zu Büscheln zusammengeknotet auf den Tischen bereitlagen. Es mußten schon außergewöhnliche Gäste sein, vor allem solche, deren Gunst man erringen wollte, wenn aus des Herzogs Steinkammern Wein aus Burgund herangefahren wurde. Ist der Magen gesättigt, der Kopf in leichte Schwingungen gebracht, bedarf es nicht allzu großer Überredungskunst, um aus gehobener Stimmung heraus Begeisterung für vorgetragene Pläne zu erhalten. Der Herzog setzte in den Horizont seiner Wünsche und 107
Träume reale Sterne: Den Fall, die Gewinnung von Sulz, Herrenberg, Böblingen, Stuttgart. Das Land gehört wieder uns, ich biete Gerechtigkeit für die Bauern. Wie aber diese Gerechtigkeit aussehen solle, danach wurde vorerst nicht gefragt. Man kam überein, daß die Hegaubauern über Tuttlingen nach Rottweil ziehen, die Schwarzwälder von der westlichen Baar her dazustoßen sollten. Auch Hans Müller fand den Plan gut, er sagte: »Vorerst bis Rottweil, bis dahin gibt es viel zu tun.« Zu seinen Hauptleuten meinte er: »Was dann geschieht, bestimmen wir, des Herzogs Wege brauchen nicht auch unsere zu sein.«
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ie Dreschflegel kreisten über den Schultern, den Köpfen, drehten sich am beweglichen Band aus Schweinsleder, klatschten nieder auf die aufgeschüttete Garbe. Im Takt kamen die Schläge, keiner der Drescher durfte aussetzen, einen Schlag überspringen. Aus der Reihe tanzen, das wäre wie falsche Töne singen, die Harmonie einer Gemeinschaft zu zerstören gewesen. Man konnte zu zweit, zu dritt, aber auch zu viert, zu fünfen dreschen, das klang dann: tik – tak oder tik -tak – tak oder auch tiki – taki – tik – tak – tak. Die Schwalbennester an den Balken der Scheunendecke waren leer, bis zum Sommer war es noch weit – wer weiß, was bis dann sein würde. Die Meisen hatten schon im Februar geschäkert, nun ging der März zu Ende, und 108
die gesprenkelten Stare trippelten auf den Zweigen der Bäume, hoben die Flügelchen, schlugen aufgeregt gegen die aufgeplusterte Brust, unterstützten den geblähten Hals, aus dem die Töne wie gluckernde Wasserperlen über das erwartungsvolle Land purzelten. Die jungen Kerle sprangen aus den Häusern, den Scheunen – sollen die Alten dreschen, wir haben jetzt anderes zu tun, wir dreschen auf die Herren los, schlagen ihnen den Buckel blau, den Schädel ein. Wo gab es noch versteckte Waffen, einen alten Spieß, einen Säbel? Wer nichts fand, pflanzte die Sense senkrecht auf den Stiel, griff sich einen knorrigen Eichenbengel. »Degege gohts«, der Bulgenbacher hatte gerufen, aus den Talern kamen sie herauf, auf den Weiden zupften die frischgeborenen Lämmer schon das erste Grün. Bis in die hintersten Winkel ging der Ruf. An den Steilhängen klebten die Behausungen, gerade noch Platz für eine Hütte aus rohgeschlagenem Stammholz, ein einziger Raum: Feuerstelle, Lehmherd, Bettstatt und Stall. So lebte man zusammen, hielt sich warm, überstand den Winter. Macht auf den Schlag! Hinaus in das Freie, in die Ferne, in die Freiheit, die man jetzt erkämpfen muß, jetzt oder nie! Oben auf den Höhen, den Paßwegen traf man sich, marschierte zum großen »Haufen«. So mancher trug als Wegzehrung nur ein Säcklein mit dicken Bohnen, mit gedörrten Pflaumen, Äpfeln oder Heidelbeeren bei sich, seine eiserne Ration. Bald würde es 109
Fleisch und Brot aus den Ställen und Scheunen der Reichen geben. Nicht nur der Söldner, auch der Bauer, der Krieg schlechthin fraß das Land kahl, hinterließ blutige Spuren.
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ans Müller war tagelang, nächtelang unterwegs, ritt zu den Zusammenkünften, den Bereitstellungen, besprach mit seinen Hauptleuten den Plan, den Sprung über die Wutach, in die offene Baar. In Bonndorf, Lenzkirch und Löff ingen errichtete er Sammellager. Es fehlte an Waffen, an geeigneten Waffen, vor allem an Artillerie, zu wenig Geschütze, keine kampferprobte Bedienung, ohne Erfahrung in der Einschätzung des Geländes und der Reichweite des Schusses. Er hatte Briefe diktiert, Boten abgesandt, um Zuzug geworben, Kanoniere gesucht. Waldshut, diese entschlossene, mutige Stadt, die ihre Hoffnung, ihr Schicksal völlig mit dem der Bauern verknüpft hatte, erklärte sich bereit, für den ersten Vorstoß der Bauern ein Fähnlein ausgesuchter Jungbürger bereitzustellen. Hans Müller war auf dem Weg zum Rathaus, dort wollte er den Hauptmann des Fähnleins, den Ratsherrn Hans Giller, treffen, da erreichte ihn ein Ruf, eine Stimme, weich, melodisch, im Umwenden hatte sie ihn eingeholt, die braunroten Haare offen, nicht so streng gescheitelt, wie er sie in Erinnerung hatte – Elsbeth, die Frau des Pfarrers Balthasar Hubmaier. Im Atemholen 110
strich sie mit beweglichen Fingern eine Strähne lockerer Haare aus der Stirn, er grüßte, drückte ihren Arm, ihre Hand, »ich wäre noch vorbeigekommen«. Sie aber, ihr Gesicht ganz nahe, er spürte den Hauch ihres hastigen Atems: »Schon gestern habe ich gewartet, wollte einen Boten schicken, habe erfahren, du kommst, wirst kommen«, noch ehe er sich sammeln, eine Antwort formen konnte, überrauschte ein Flüstern sein Ohr, so dicht, daß er die Bewegung der Lippen zu spüren glaubte. Er verstand den Sinn der Mitteilung nicht, konnte nur Wortfetzen in Zusammenhang bringen. Fischer-Heini, sie wartet, schon zwei Tage, gehe, rasch, jetzt, jetzt sofort. Im Durcheinanderstürzen der Gedanken, der auftauchenden Möglichkeiten, im Wirbel der Empfindungen griffen seine Hände nach ihren Schultern, suchte er in ihrem Gesicht, in den wissenden Augen den Namen, das Bild, von dem er geglaubt hatte, ihm nie mehr leibhaftig zu begegnen, das er aber immer und immer wieder herbeigewünscht, seinem einsamen Körper in langen Nächten zur Seite gegeben hatte. »Verena?« fragend dehnte er die Vokale, um dann in erlösendem Ausstoß den Namen freizugeben, »Verena, Verena!« Sie deckte mit ihrer Hand seinen Mund: »Wer denn sonst? Aber komm, komm.« Sie eilte voraus, zur Südseite der umwehrten Mauer. Der Durchlaß war schattig, in den Fugen der geschichteten Steine hing noch morgendliche Feuchtigkeit, aber 111
dann ein Ausblick über die mit Sträuchern bewachsene Halde hinweg, über den dunkelgrünen, manchmal hellaufschäumenden Strom in weites Land unter einem verheißungsvollem Himmel. Er stürzte, eilte den Hang hinab auf unebenem, hindernisreichem Pfad, bemerkte nicht, daß seine Begleiterin oben zurückgeblieben war, ihm nachsah. Das Haus des Fischer-Heini, nun wurde es sichtbar, flußabwärts hob es sich vom Ufer ab, schien in den Fluß hineingebaut zu sein, eine Seite umspült von der Strömung. Das Walmdach der Giebelseite zeigte große Lücken in der Schilfbedeckung, Schäden des Winters. Im Fenster dieser Giebelseite hing ein weißes Tuch, winkte aus der dunkeln Höhlung. Als ob sie auf ihn gewartet, immer und immer wieder nach oben gespäht hätte, war sie vor ihm, deckte ihn mit ihren Armen, mit der Fülle des Leibes. Ein Geist, ein Körper, der immer nur in Gedanken sich Begegnungen vorgestellt, in Träumen erlebt hat, erfährt eine Mattigkeit, Erschlaffung beim plötzlichen Eintritt in die Wirklichkeit. So hing sie kraftlos in seinen Armen, ihre Tränen näßten sein Gesicht, brachten Erlösung von einem übermächtigen Druck. Doch nur wenige Atemzüge hielt dieser Zustand sie gefangen, dann wollte Bewegung, Handeln, den Körper in Gleichgewicht, in gewohnte Haltung zurückführen. Ihre Küsse fielen in stürmischer Folge auf ihn nieder, sie küßte ihre Tränen aus seinem 112
Gesicht, ihre wie zugeschnürte Stimme wurde frei: »Mein Lieber, mein Lieber, Hannes, mein Lieber«. Sie führte ihn zum Haus, zum Eingang. Weit offen die Türe, durch die ganze Breitseite des Gebäudes eine Gangflucht, auch die gegenüberliegende Seite offen, man sah in die Mitte des Flusses, genährt wurde die Vorstellung, das Haus schwimme im Strom. Diese Öffnungen erzeugten einen Windkanal, der die zum Trocknen an der Decke aufgereiht hängenden Fische in Bewegung brachte. Die Gerüche des Wassers und der ausgenommenen Fische vermischten sich. Von diesem Gang teilte sich gleich links, flußaufwärts gelegen, das Zimmer mit dem hellen Tuch im Fenster. Sie traten ein, immer noch hielt sie seine Hand, klammerte sich fest an den nun endlich in Erfüllung gegangenen Traum, wollte ihn bewahren, ihn nie mehr wesenlos werden lassen, »unsere Wohnung«, mit der anderen Hand griff sie nach seiner Schulter, seinem Kopf, küßte ihn erneut. Der Boden war belegt mit geglättetem Kiefernholz, man erkannte die dunkelgelbe Maserung, die geschwungenen Ringe, die sich an den Stellen der Äste dunkler in die hellere Tönung des Holzes ausbreiteten. »Den Boden habe ich gescheuert mit weichem Sand und Wasser, die Fischersfrau hat gestaunt.« »Wo sind die Fischersleute? Bist du allein im Haus?« »Sie sammeln Holz, Strandgut, angeschwemmte Äste, die sie an Land ziehen, hierher schleppen, ihr 113
nächstes Brennholz. Ihre Kinder haben sie zur Großmutter, nach oben, in die Stadt gebracht.« »Aber warum? – Warum bist du hier und nicht bei deiner Schwester?« »Hast du nicht selbst gesagt, der Fischer-Heini wird uns ein Zimmer geben? Hast du das vergessen?« »Ja, damals, trotzdem – ist das Pfarrhaus nicht geräumig genug?« »Elsbeth hat mir alles gegeben, die Leintücher, die Decken, wir beide haben das Zimmer gerichtet – gefällt es dir nicht? Schau her, das Bett, sie wollte eine weiche Unterlage bringen, aber dann haben wir den Sack geleert, ihn frisch gestopft mit getrocknetem Farnkraut aus den Bergen. Es riecht jetzt noch nach Wald, ich dachte, dies sei nach deinem Geschmack, dies würdest du als heimatlich empfinden.« – Sie sprach mit freudiger Hast, der Eifer durchglühte die bräunliche Tönung der Haut. »Ich werde uns jetzt einen Tee brühen, ich habe die Blüten mitgebracht, aus unseren Bergen, slowenische Kräuter sind auch darunter, man kann den Tee mit Alkohol oder mit Honig trinken, er wird dir gut tun.« »Nachher, Verena, deine Schwester hat mich vor einem wichtigen Gespräch abgefangen. Aber du könntest mit mir hinaufgehen, wir treffen uns dann im Pfarrhaus.« »Ach, weißt du, lieber nicht, heute nicht«, und dann eilte sie zur Wand, nahm von dort einen kleinen Hand114
spiegel mit silberner Umrandung und Stiel: »Mein Geschenk für dich. Wenn du hineinschaust, werde ich dir entgegenblicken.« Er hielt den Spiegel, fuhr mit den Fingern an der Umrandung entlang: »Du meinst, der Spiegel soll mich an dich erinnern.« »Nicht nur erinnern«, in ihrem Gesicht bildete sich leichtes Lächeln, versteckte Freude, »du wirst mich auch sehen, der Spiegel hat zwei Seiten, drehe ihn um.« Auf der Rückseite, unter Glas, war ihr gemaltes Konterfei, flächig ausgebreitet, mit grellen Farben, ohne Abstufung und plastische Wirkung, tiefschwarz die geringelten Haare, grellrot der große, üppige Mund. »Ein Schüler aus Villach malt ein Gesicht in zwei Stunden. Gefällt es Dir?« Er legte den Spiegel auf den grobgefügten Bohlentisch, umfaßte ihre Schultern, zog sie an seine Brust: »Später, wenn ich dich nicht mehr halten, fühlen kann, wird er zu Ehren kommen, aber jetzt, jetzt habe ich, was keine Maler, keine Farben mir ersetzen können.« Sie vernahm weniger den Sinngehalt der Worte, des Satzes, sie war gefangen von der Stimme, die dunkel aus der Tiefe der Brust den Ausgang des Mundes suchte. Sie fanden sich sitzend auf dem Bett wieder, sie waren engumschlungen rückwärts gegangen, kleine Schritte, geschoben von dem Verlangen, noch enger die Wärme des anderen zu spüren. Er tastete nach ihren Brü115
sten. Es war, als ob sie den Atem anhalten, irgendeinem Klang, Signal von innen lauschen würde, dann nahm sie mit beiden Händen seine Hand, führte sie hinunter in die Weichheit ihres Schoßes und wie in einem nicht zur momentanen Situation gehörenden Gedankengang sagte sie: »Es ist gut so, hier sind wir für uns.« »Es ist mir nicht entgangen«, er hielt inne, wartete auf eine Äußerung von ihr, »verbirgst du etwas?« »Er wollte es nicht. Auch Elsbeth konnte nichts gegen ihn ausrichten.« »Der Pfarrer also, er wollte nicht, daß wir beide in seinem Hause nächtigen?« »Er sagte, er könne es nicht dulden, es sich nicht leisten, ein solches Ärgernis seiner Gemeinde vorzusetzen.« »Nach allem, was ich gemeinsam mit ihm habe, ich kann ihn nicht verstehen.« »Elsbeth sagt, die Ereignisse, die Streitgespräche, die er mit Zwingli aus Zürich führt, hätten seine Ruhe, seine Gesundheit gestört. Mal nennt er ihn ›den Meister Huldreich aus Zürich‹ und dann wieder barsch und abwertend ›diesen Herrn Ulrich‹. Ich selbst verstehe die Gegensätze nicht, um deren sie sich anfeinden, ich erlebte nur an dem einen Tag, an dem ich gekommen, seine Unduldsamkeit, sein starres Festhalten an der einmal von ihm aufgestellten Behauptung. Elsbeth widerspricht ihm nie, umsorgt ihn, 116
ja, sie liebt ihn sehr, leidet unter seiner Unzufriedenheit. Als ich mich nicht sofort bereit erklärte, mich von ihm neu taufen zu lassen, auch dich wollte er taufen, uns beide zusammen, zog er sich beleidigt zurück, ich aber ging hier herunter.« »Kindertaufe, Erwachsenentaufe, diese Bewegung der Wiedertäufer, was soll sie uns nützen? Wasser, was ist Wasser? Eine reinigende Kraft. Wir können den Dreck von unserem Körper waschen, das sehen wir, das erleben wir, ob wir auch innerlich gesäubert werden von unseren schlechten Gedanken, schlimmen Taten, wer will es wissen? Wer lehrt uns, was schlecht und was schlimm ist? Wir Bauern können mit solcher Botschaft nichts beginnen. Wir wissen nur, daß wir kämpfen müssen. Unterliegen wir, werden wir noch tiefer getreten, noch tiefer in den Schmutz. Kein Wasser, kein Pfarrer vermag uns dann noch zu reinigen.« »Seit ich wieder hier bin, in diesen letzten Stunden habe ich mich gefragt, warum die Pfarrer ihre Lehren, ihre Gebote, ihre Verbote so zwingend auf die Liebe legen. Warum haben sie ihre Ohren, ihre Augen noch in der dunkelsten Kammer der Liebesleute? Sie selbst verbieten, enthalten sich der Liebe, um sich aber dann plötzlich wieder in die Liebe, in die Ehe zu stürzen. Sind sie nicht gespaltene Wesen, im Kampf mit sich selbst?« Immer noch hielt sie seine Hand, ihr Kopf lehnte sich mit kuschelnden Bewegungen an seine Brust. 117
»Sie müssen überall dabei sein: Bei der Geburt, der Reife, der Hochzeit, dem Sterben. Sie begleiten die Gläubigen auf ihren wichtigsten Stationen. Für alle Fragen, für die Rätsel und Geheimnisse, die unser Leben umgeben, haben sie eine Antwort, umstellen sie mit Zeremonien. Hieraus erwächst ihr Einfluß, ihre Macht über die Gedanken, die Seelen.« Er hielt sein Gesicht geradeaus gerichtet, hatte mehr zu sich selbst als zu ihr gesprochen. »Ach«, es entschlüpfte ihrem Mund wie ein Seufzer, »so könnte ich ruhen, schlafen.« »Du erinnerst mich, daß ich vorher noch einiges zu tun habe«, er erhob sich vom Bett, zog sie sanft mit hoch: »Gehst du mit? Vor dem unteren Tor steht ein venezianischer Cantastorie, er singt halb deutsch, halb italienisch, teils schreckliche, teils heitere Geschichten, nebenbei verkauft er noch bemalte Muscheln.«
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n der Stadt, in den engen Gassen erwartete ihn emsiger Umtrieb, rege Geschäftigkeit vor den Werkstätten. Die Geräusche der Arbeit, Klopfen, Sägen, helles Nachklingen der Hammerschläge auf dem Amboßklotz, übertönten die menschlichen Stimmen. Gesichter, Gestalten zogen an ihm vorbei, blickten ihm nach, kaum einer, der ihn nicht erkannte. Auf dem Rathaus erhielt er die freudige Nachricht, daß außer den Geschützen, die mit dem Fähnlein ausrücken, noch zwei weite118
re Geschütze für das Bauernheer mitgegeben würden. In drei Tagen sollten alle Mann gerüstet, gegliedert, marschbereit sein. Sonst brannte ihm die Zeit auf den Nägeln, nun erschienen ihm diese drei Tage als glückverheißende Zeichen, drei Tage und Nächte mit Verena. Sie war im Fischerhaus zurückgeblieben, komm bald wieder, hatte sie ihm nachgerufen, und im Modellieren der Vokale, im Heben und Senken der Stimme wollte er etwas wie Überraschung, Verheißung heraushören. Auch das schattenhafte Huschen von Hell und Dunkel, das erregend über die Flächen des Gesichtes lief, deutete er in ein Geheimnis um, das ihn beim Zurückkommen erwarten würde. So wurden seine Schritte von dem Wunsch geschoben, dieses Ziel, dieses Geheimnis, das von seiner Einbildungskraft erzeugt worden war, so schnell wie möglich zu erreichen. Von dem Venezianer erstand er eine Halskette, wasserblaue Glaskugeln, in welche Goldstaub hineingeblasen war, aus dem »Roten Mann« trug er einen schweren Henkelkrug, gefüllt mit Wein, hinab in das Fischerhaus. Dort erwartete ihn eine von Eifer gerötete Hausfrau. Verena hatte den Tisch zu einem kleinen Mahl gerichtet, an den Enden des Tisches hatte sie kleine Täßchen aufgestellt, gefüllt mit wohlriechenden Veilchen, deren zarte Stengel die breiten Blütenlippen kaum zu tragen vermochten. So hingen sie über den Rand des Gefäßes in gedrängtem, buschigen Beieinander, ein bläulicher 119
Ausruhpunkt für das Auge. In der Mitte der gedeckten Tischplatte, in den schlanken Hals eines bauchigen Kruges gesteckt, standen die Zweige von blühenden Weiden und Haselnußsträuchern. Eine Schüssel mit angemachtem Salat, Brunnenkresse, die Verena mit der Fischersfrau gesucht hatte, war der erste einladende Gang der Mahlzeit. Sofort bei seinem Eintreffen wurden die Fische gebraten, mit großem Geschick vom Fischer-Heini vorgenommen, der sie auch selbst servierte und mit einem Griff den Grätenstamm entfernte. Dazu wurde grobkörniges Gerstenbrot gegessen. Hans Müller lobte den Fischer, das Gericht, die Mühe der Frauen, der Fischer lobte den Wein, von dessen reichlichem Genuß er bald darauf zu munteren Reden entführt wurde. Er erzählte von seltsamen Gästen, die er mit seinem Weidling schon über den Fluß gebracht hatte. So saßen sie zusammen, vergaßen den Krieg, die Teuerung, die Not, die über den Winter geherrscht hatte. Hans Müller verfolgte mit seinen Blicken Verena, ihre Bewegungen, ihre, wie es ihm manchmal schien, zurückhaltende, zaghafte Art zu sprechen. War sie ihm eine Fremde, an der es immer noch Neues, Überraschendes zu entdecken gab, oder war sie ihm so vertraut, als lebten sie schon Jahre zusammen? Begegneten sich ihre Augen, sandte sie ihm mildes Lächeln entgegen, das sie aber gleich wieder verbarg, mit gesenktem 120
Blick, als wollte sie in sich hineinhören, sich auf Vergessenes besinnen. Vor dem Eindunkeln gingen sie hinauf in die Stadt, er wollte nach seinem Pferd sehen, das er an der oberen Torwache untergestellt hatte. Verena hatte dem Rappen trockenes Brot mitgebracht, das er mit beweglich-aufgestülpten Lippen aus ihrer Hand nahm. »Er hat schon viel von seinem Winterpelz verloren«, meinte Hans Müller und verfolgte ihre Hand, die über die glatte, muskelpralle Halsflanke des Pferdes strich. Er legte seine Hand auf ihre, sie drehte ihre Hand, so daß nun Handfläche auf Handfläche zu liegen kam. Ausgelöst durch diese Berührung erfolgte eine solche impulsive Wendung des Körpers zueinander, ein gegenseitiges Umschlingen der Arme, ein Versinken, Verlieren in den anderen in langanhaltendem Küssen. Das Pferd rieb den Kopf an seiner Schulter. »Ich weiß nicht, habe ich es geträumt oder nur so vor mich hingedacht, ich wäre mit dir, zu zweit auf dem Pferd, nach Bulgenbach in unser altes Heimathaus geritten.« »Das hast du nicht geträumt, das hast du bei meinem letzten Besuch gesagt, aber heute abend mag es hierfür wohl zu spät sein«, fügte sie scherzhaft hinzu.
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er Mond war über die noch kahlen Wipfel der Bäume heraufgezogen, blickte durch die Lücken 121
der Äste, stellte die Geometrie, die Formen der sich berührenden, überschneidenden Linien der Zweige an den Himmel. »Bald ist er voll, vielleicht schon morgen, gewiß aber übernächste Nacht.« »Schau hin, ein kleines Stück wurde ihm schon herausgebissen, er ist angekratzt, er nimmt ab.« »Das weiß ich nie so recht, das erkenne ich immer erst später, entweder er ist dann ganz dick oder ist magerer geworden«, sie schaute in schräger Linie zu dem Gestirn hinauf und meinte dann: »Heute ist er gelb wie Honig, manchmal ist er bleich wie Wachs.« Sie waren eine kurze Strecke flußabwärts gegangen, waren umgekehrt und näherten sich nun dem Haus. Die kantigen Steinbrocken mit den abgeschliffenen Flächen, die am Rande lagen und in ungleichem Wechsel von dem strömenden Wellengang überspült wurden, änderten in dem rieselnden Mondlicht ihr Gesicht, ihre Formen, ja manchmal, wie es schien, ihren Standort. War sie den Tag, den Abend über gesprächig, so wurde sie nun still, als müsse sie laute Äußerungen zurückhalten, etwas von ihrem Wesen verschließen. Sie fröstelte, legte ihren Arm enger um seine Hüfte. Der Fischer saß allein, vor sich hindösend in dem Durchgang, an dessen Decke die Fische hingen. Die hintere, offene Flurwand war jetzt mit einem Brettergatter bis zur Hälfte verschlossen. Durch die obere Hälfte drückte 122
die Helligkeit der Nacht herein, stürzten die Geräusche des Wellengangs stärker als am Tag in das Haus. Der Fischer blickte auf, nickte ihnen zu, stocherte mit einem Holz in die Glut der Feuerstelle. In ihrem Zimmer konnte man im Licht der Gestirne die Gegenstände, die Umrisse zwischen Hell und Dunkel noch erkennen. Verena holte aus ihrer Reisetasche einen in Ringe gelegten Wachsstock, ging hinaus zur Feuerstelle und kam mit dem brennenden Docht zurück. Sie stellte das Licht auf den Tisch. Der Winkel, in dem das Bett an die Wand angelehnt stand, war nun matt erleuchtet, hell die leinenen Tücher, die fast den Boden berührten. Sie setzte sich auf das Bett, schaute an sich nieder, auf ihre Hände, die sie ineinandergelegt hatte. Sie hörten wie der Fischer die Außentüre mit einem Querbalken, den er in die eisernen Halter schob, verschloß. Hans Müller trat zum Fenster, seine Augen umwanderten die Konturen der Landschaft, die vom fließenden Mondlicht entschärft, ihrer eckigen Kanten entledigt waren. Er setzte sich auf einen Hokker in der Nähe des Tisches, zog sein Schuhwerk aus, stulpenartige Stiefel, die über die halbe Wade reichten. Als er sich erhob, den Gürtel an seinem Obergewand löste, begann das Licht zu flackern. Vom Hals abwärts bis eine Handbreite über der Hüftlinie war der Rock in einem breiten Schlitz mit Lederriemen geschnürt. Immer wieder sah er beim Ausziehen der Kleidungsstük123
ke zu Verena hin, die unverändert, mit niedergeschlagenem Blick auf dem Bett saß. »Was hast du? – An was denkst du?« Sie sah auf und ihr Lächeln traf ihn mit solch schmerzhafter Süßigkeit, wie er es noch niemals empfunden, wie es ihm weder in Träumen noch Wunschvorstellungen begegnet war. Ihr Gesicht schien wie von innen her durchleuchtet. »An was ich denke?« Nach einer Stille, während sie den Kopf etwas nach hinten legte, fügte sie hinzu: »Ich war zu Hause, aber früher, vor vier, fünf Jahren, es war wie jetzt Frühlingszeit, die Nächte noch kalt, aber am Tage schon ungewöhnlich warm. So war ich barfuß in den Mühlenteich gegangen, wollte meine Beine kühlen. Den Rock hielt ich vorne zusammen, etwas hochgezogen, als ich plötzlich rutschte und fiel. Unser Müllerbursche, der mir schon immer gerne nachsah, kam gesprungen, umfaßte mich, wollte mich zum Hause tragen. Ich wehrte ihn lachend ab, ging zu einem Holzstapel, setzte mich, er stand vor mir, sah auf meine Beine und sagte: ›Zieh den Rock aus, er ist ganz naß.‹ ›Ach‹, meinte ich, ›der wird auch so trocken. ‹ Er aber blieb weiterhin vor mir stehen. Meinem Blick wich er aus, starrte unentwegt auf meine Beine, bis er dann sagte, ›noch nie habe ich deine Knie gesehen, ich möchte deine Knie sehen‹. Ich mußte hellauf lachen, das hatte doch noch niemand zu mir gesagt. Wer will schon die 124
Knie sehen? So faßte ich meinen Rocksaum, zog ihn aber nicht höher, sondern noch tiefer herab. Nun begann er zu bitten, kniete sich vor mich hin, faßte meine Hände, die den Rock umspannten, und drückte sie höher und höher, bis die Knie frei, die Schenkel, die ich fest zusammenpreßte, offenlagen. ›Was für schöne, runde Knie‹, rief er immer wieder, strich zärtlich darüber und begann sie zu küssen.« Sie hatte sehr leise und eintönig gesprochen, ein Singsang an die Nacht, hineingerichtet in das Dämmerlicht der Kammer, die ausgefüllt war mit Erwartung, mit gesteigerter Begier der Liebenden. Da sie mit der Erzählung nicht fortfuhr, fragte er: »Und dann, was geschah dann weiter?« »Nichts, nichts weiter. Ich bin aufgesprungen und in das Haus gegangen. Immer, wenn wir uns später alleine begegneten, wollte er meine Knie sehen, mal wehrte ich ihn ab, manchmal aber zeigte ich sie ihm auch, denn es gefiel mir, jemanden zu wissen, der solche Lust, solches Verlangen verspürte, meine blanken Knie zu sehen. Er ging dann bald von uns weg und soll bei einer Messerstecherei umgekommen sein.« »Dies war also dein erster Verehrer. Wer aber war dein letzter?« »Wie du sprichst, was du alles wissen möchtest.« »Nun, ich denke, so ein schönes, munteres Mädchen wird nicht immer allein gewesen sein.« 125
»Es gab so manchen, der es bei mir versuchte, aber sie wollten alle mehr als nur meine Knie sehen«, sie zögerte, holte hörbar Atem, »es gab nur zwei, die länger und vertrauter mit mir verkehrten, aber so ein richtiger Schatz, so ein Herzallerliebster, wie man sagt, war nicht dabei, auch möchte ich keinen mehr zurückholen.« Er fuhr mit der Hand über ihre Haare, eine Berührung, die als zärtliches, verstehendes Zeichen auf sie übersprang. Sie blickte auf, seine Hände faßten sie unter den Armen, hoben sie hoch, ihr Kopf lehnte an seiner entblößten Brust, langsam begann er sie zu entkleiden. »Nicht so«, meinte sie lächelnd, wenn seine Finger ungeschickt an Knöpfen und Schließen herumnestelten. Bevor sie das letzte Kleidungsstück über den Hokker legte, das sie sich selbst abstreifte, beugte sie sich zum Tische hin und blies das Licht aus. Zwischen Bett und Fenster standen sie sich gegenüber. Allmählich gewöhnten sich die Augen an die Lichtquellen, die von der Mondnacht gestreut wurden, sich als erstes auf die mattschimmernden, menschlichen Körper legten, sie neu, in veränderter Sicht zu modellieren begannen. Einem geheimen Antrieb folgend, nahm sie die Arme hoch, der Körper, die Glieder streckten sich, die Finger hoch oben im Dämmerschein der Decke begannen sich zu bewegen, wie um ein Gleichgewicht für diese angespannte Haltung zu erzeugen. Langsam hoben sich die 126
Fersen, alles Gewicht der Körperfülle verlagerte sich auf die Zehen, gestrafft Leib und Brüste, eine Position zum Start, zum Flug in die Liebe, in jenen Zustand, der völliges Aufgelöstsein, grenzenloses Öffnen schützender Barrieren verlangt. In diesen Flug einbezogen auch sein Körper, der männliche Teil, der die Spannung zur Entladung bringt. So stürzte er in diese, bis zur Spitze getriebenen Lockung hinein, sein Gesicht suchte die Höhlung ihrer Achseln, Wärme, umhüllendes Fleisch, Haare, Schweiß, Wahrnehmung des geliebten Wesens durch alle Sinne. Ihre Arme senkten sich, legten sich auf seinen Rücken, gehoben, getragen fanden sie sich engumschlungen im Bett zwischen gebleichten Tüchern und dem Geruch von getrocknetem Farnkraut. Sichert die Vereinigung in der Liebe nur den Fortbestand des Lebens schlechthin? Mit einhergeht auch ein angestacheltes Lustgefühl, das befähigt ist, grenzenloses Entzücken in Schmerz zu verwandeln. Besiegt wird die Einsamkeit, die Nacht, die Not, die Angst, man fühlt sich mit dem anderen, in dem anderen geborgen, ein Zustand der Sicherheit, der Ruhe und Müdigkeit führt zu glücklichem Schlaf. Er erwachte. Im Rauschen des Stromes fuhr das Bett, fuhr das Fischerhaus flußaufwärts, gegen die Wellen, gegen die Kraft, die rüttelte, schäumend an die Wandung schlug. Er löste seinen Arm unter ihrem Nacken, ein Vorbeistreichen an der Fülle der geringelten Haa127
re, hell der Hals, das Gesicht, aufgetan, flächig Brust und Leib, die er bedeckte mit seinem Körper, seinen Gliedern, ruhig lag er, ruhend auf ihr. Sie war es dann, die mit ihren Händen, Fingern in seine Hüften griff, ihren Körper in hin- und herrutschende Bewegung brachte, einen Tanz, ein Spiel entfachte, das im Heben und Senken, im Aufsteigen und Niederstürzen Sieg und Niederlage in ein neues, unbekanntes Feld führte, in welchem bisherige Begriffe sich als wertlos, unzutreffend erwiesen. So glaubte er später, im Wechsel von Nacht zu Tag – die Umrandung des Fensters, Pfosten und Riegel zeigten sich in scharf abgegrenzten Flächen –, daß er im Zustand der Vereinigung, im Umkippen von Erregung zu Erschlaffung, einen Zwischenbereich durchschritten hätte. In dieser Phase, die zeitlich nicht einzuordnen war, vielleicht während der Dauer eines aufzuckenden Blitzes, hatte sich eine geschlechtliche Verwischung, eine Umpolung vollzogen: Die männlichen Teile waren weiblich, die weiblichen männlich geworden, er war Verena, sie war er geworden. Das Urland der Schöpfung, in graue Schleier gehüllt, von rotglühenden Blitzen durchzuckt, überfällt das Lebende mit Schaudern. So sprang er auf, ging zum Fluß, warf sich mit beiden Händen Wasser in das Gesicht, blinzelnd sah er durch die von der Stirne über die Augen rinnenden Tropfen, wie der Tag, die Sonne die Wellenkämme färbte. Auch als er schon fertig angezo128
gen war, schlief sie noch. Er deckte sie auf, seine Augen liebkosten diesen Körper, verfolgten das Spiel des Atems. Ihre Liebe zueinander steuerte einer Innigkeit, einer bis jetzt nicht gekannten gegenseitigen Zugehörigkeit entgegen.
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ben in der Stadt, nachdem er sein Pferd versorgt hatte, traf er in der Schmiede einen alten Meister, den Jörg Äbi, der sich noch an ihn, den damals 14jährigen Jungen erinnerte, der in Tiengen einmal Schmied werden wollte und dann mit den Söldnern davonzog. Immer wieder schüttelte er den Kopf, vor 18 Jahren – was es nicht alles gibt – was das Leben mit einem vorhat, aus einem macht. Sie schmiedeten, legten neue Bänder um die Protzenwagen der Geschütze. Drei glückliche Tage, angefüllt mit Werken, Planen, Organisieren, drei Nächte beherrscht von Liebe, die auch in den Tag hinein ihre Schlingen um die Gedanken legte. Oft kam er mehrmals während der Tagesarbeit hinab zum Fischerhaus, mußte sie sehen, ihre Stimme hören. Sie hatte es darauf angelegt, sich wechselnd in neuem Bild, in veränderter Person zu zeigen. Sie schaffte dies durch Kleidungsstücke, die sie in ihrer Zusammenstellung veränderte, auch von ihrer Schwester auslieh, durch neue Frisuren, Bänder, Schmuckstücke und Gürtel, durch Bedecken und Entblößen von Armen, Schultern und Brüsten. Es schien, als hät129
te ein Fieber sie erfaßt, sich, ihr Bild unauslöschlich in sein Gedächtnis einzubrennen, ihm eine Folge von Ereignissen, Festen, Feiern, Situationen des Lebens zu zeigen, Jahrzehnte zusammengepreßt in drei Tage. Vor dem Zubettgehen sprengte sie ätherisches Duftwasser über das Lager, gewonnen aus Blüten ihrer Heimat.
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n zwei Säulen zogen sie über die Wutach in die fruchtbare Hochebene der Baar: Ganz im Westen Kunz Jehle mit seinen Hotzenwäldern über Göschweiler nach Löffingen, Hans Müller mit der Hauptmacht der Schwarzwälder Bauern und dem Waldshuter Fähnlein über Ewattingen nach Hüfingen. Von überallher kam Zuzug, aus Dörfern, Weilern, Gehöften, uner-fahrende junge Burschen, aber auch gereifte, gestandene Männer, sie mußten eingeteilt, mit den primitivsten Regeln des Feldlagers bekannt gemacht werden. Hans Müller vermied es, diese Hinzugekommenen in zu großer Anzahl in die gestrafften Kampfabteilungen aufzunehmen. Es hatte sich gezeigt, daß Fluchterscheinungen durch solche Neulinge ausgelöst wurden, Unruhe in die geplante, taktische Bewegung getragen wurde. Auch der Troß, der Nachschub war überreichlich besetzt, so bildeten sich irreguläre Haufen, die wohl der Ordnung, den Gesetzen der zentralen Führung unterstanden, aber Streifzüge in die weitverstreute Umgebung unternahmen. Hans 130
Müller beauftragte sie, kleinere, unbedeutende Räubernester, deren Besatzung teilweise geflüchtet war oder sich freiwillig ergeben, sich den Aufständischen angeschlossen hatte, niederzureißen, auszubrennen. Jeden Abend ließ er als oberster Feldhauptmann die gewählten Räte, die Hauptleute, Waibel und Profosen zusammenkommen, ließ sich Berichte über den Ablauf des Tages geben, besprach mit ihnen die zunächst anfallenden Handlungen. Verboten, unter Strafe gestellt waren Plünderungen sowie Gewaltanwendungen gegenüber ungeschützter, friedlicher Bevölkerung. Je tiefer sich der Zug in das Land hineinschob, um so mehr Frauen und Mädchen folgten den Truppen, ihren Männern, Liebsten nach, bildeten sich lose weibliche Schwärme, die am Vagabundieren Gefallen fanden. In den Berichten häuften sich die Klagen über Händel, Schlägereien, ausgelöst durch Eifersucht, Rivalität. So erging die strenge Anordnung, alle weiblichen Personen abzuweisen, die nicht in Küchen oder Proviantlagern beschäftigt waren. Schon bevor die Hauptmacht befestigte Orte, Städte erreichte, wurden Boten dorthin entsandt, mit der Aufforderung, sich in die christliche Bruderschaft der Bauern zu begeben. Diese Aufforderungen waren immer sehr höflich gehalten, zeigten die Bereitschaft, sich in Toleranz und christlichem Verständnis zu einigen.
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Aufforderung »Fried und Gnad von Gott dem Allmächtigen fügen wir Euch, Burgermeister und Rat und ganze Gemeind, und wir ermahnen Euch, ob Ihr auch wollen helfen zu dem Göttlichen Rechten und zu dem heiligen Evangeli unsers Herrn Jesu Christi, und zu verbrüdern in die Christenlich Bruderschaft nach laut des Artikelbrief, so wir Euch hiemit schicken.« Hauptleut und Rät des Haufen auf dem Schwarzwald. Artikelbrief: Ehrsamen, weisen, günstigen Herrn, Freund und lieben Nachbaurn. Dieweil bisher große Beschwerden, so wider Gott und alle Gerechtigkeit dem armen gemeinen Mann in Stedten und auf dem Land, von Geistlichen und Weltlichen Herren und Oberkeiten aufgelegt worden, welche sie doch selbs mit dem wenigsten Finger nit angerührt haben, erfolgt, daß man solch Bürden und Beschwerden lenger nit tragen noch gedulden mag, es wolle dann der gemein arm Mann sich und seine Kindskind ganz und gar an Bettelstab schicken und richten: Demnach ist der Anschlag und Fürnehmen dieser Christlichen Vereinigung, mit der Hilf Gottes sich ledig zu machen und das als viel es möglich, ohn alle Schwertschlag und Blutvergießung, welches dann nit wohl sein mag ohn brüderliche Ermahnung und Vereinigung in allen 132
gebührlichen Sachen, den gemeinen christlichen Nutz betreffende, in diesen beiliegenden Artikeln begriffen. Ist hierauf unser freundlich Bitt, Ansinnen und brüderliche Ersuchung, Ihr wöllen Euch mit uns in diese Christenliche Vereinigung und Bruderschaft gutwillig einlassen und freundlichs Willens begeben, damit gemeiner christenlicher Nutz und brüderliche Lieb wiederum aufgericht, erbauen und gemehrt werde. Wo Ihr das tund, beschied daran der Will Gotts in Erfüllung seins Gebots von brüderlicher Liebhabung. So aber Ihr sölichs wurden abschlaken, des wir uns doch keinswegs versehen, tund wir Euch in den weltlichen Bann und erkennen Euch hierbei darin in Kraft dieses Briefs, sofern und lang, bis Ihr Euers Fürnehmens abstandent und Euch an diese christenliche Vereinigung günstigs Willens ergebent. Das haben wir Euch als unsern lieben Herren, Freunden und Nachbauren ganz guter Meinung nit wollen verhalten. Begehrn hierauf von Rat und Gemein schriftlich Antwurt bei diesem Boten. Hiemit sind Gott befohlen. Der Weltlich Bann halt in diese Meinung. Daß alle, so in dieser Christenlichen Vereinigung seind, bei ihren Ehren und höchsten Pflichten, so sie geton mit denen, so sich sperren und widern, brüderliche Vereinigung inzugohn und gemeinen christenlichen Nutz zu fürdern, ganz und gar kein Gemeinschaft halten noch brauchen sollen und daß weder Essen, 133
Trinken, Baden, Mahlen, Backen, Ackern, Meien, auch ihnen weder Speis, Korn, Trank, Holz, Fleisch, Salz oder anders zuführen noch jemand zuführen gestatten oder lassen, von ihnen nichts kaufen, noch zu kaufen geben, sonder man laß sie bleiben als abgeschnittne, gestorbne Glieder in den Sachen, so den gemeinen christlichen Nutz und Landfrieden nit fürdern, sonder mehr verhindern wellen. Ihnen sollen auch alle Markt, Holz, Wunn, Weid und Wasser, so in ihren Zwingen und Bannen nit liegent, abgeschlagen sein. Aufforderung an Schlösser, Klöster und Stifte Nachdem uns aber aller Verrat, Zwangnis und Verderbnis aus Schlössern, Klöstern und Pfaffenstiften erfolgt und erwachsen, sollen die von stundan in den Bann verkündt sein. Wo aber der Adel, Münch oder Pfaffen, sölicher Schlösser, Klöster oder Stiftungen williglich ab-stohn wollten und sich in gemeine Heuser wie ander fremd Leut begeben und in diese Christenliche Vereinigung ingon wollten, so sollen sie mit ihrer Hab und Gut freundlich und tugendlich angenommen werden. Und darnach alles das, so ihnen von Göttlichen Rechten gebührt und zugehört, getreulich und ehrbarlich folgen lassen ohn all Eintrag.
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ie kamen vor das kleine, aber stark befestigte Städtchen Fürstenberg, das vormals den Landgrafensitz beherbergte und mit bevorzugten Rechten, auch Marktrechten ausgestattet war. Obwohl die Zahl der Häuser und deren Einwohner einem mittleren Dorfe gleichkam, der Haupterwerb im Ackerbau lag, hatten sich die Bewohner höfische Allüren und Redewendungen angewöhnt, wegen derer sie oftmals dem spöttischen Neid der umliegenden Nachbarn ausgesetzt waren. Die landschaftliche Lage der Bergbefestigung war ein solch herausgehobener Wurf, den man nicht ohne Entzücken genießen konnte. Das Erhabene wölbte sich aus der Niederung herauf, schwebte in einem Himmel mit weitgesteckten Horizonten, den nur die Ebene hervorbringen kann. Von Osten zog sich ein mit Eichen, Buchen und Nadelhölzern bewaldeter Höhenrücken heran, der plötzlich abbrach, eine grüne Wiesensohle bildete, zu neuem Schwung ausholte, in die Höhe stieß und mit gerundeter Plattform die Menschen zu geschütztem Siedeln einlud. Von Osten gesehen war dies der letzte Berg, von Westen her aber der erste, der vorderste, der Fürderste, eben dieser Fürstenberg. Das Land lag von hier oben betrachtet geteilt, beackert, von Bächen und Obsthainen durchzogen, ein Kornland, ein Blütenland. Von weither, aus dunklen Rändern herab kamen die Flüsse, vereinten sich, wurden in der flachmuldig geformten Ebene zur Donau. 135
Das Städtchen hatte wohl tiefe, in den Kalkstein hinabgetriebene Brunnen, die aber nicht genügend Wasser sammeln konnten, um Tiere und Menschen vollauf zu versorgen. So waren gemauerte, mit Kalk und Lehm abgedichtete Becken angelegt als Reserve, auch als Löschwasser bei Feuersbrünsten. Mit Eseln und Mulis wurde das Wasser aus der Wiesensohle auf die Höhe, in die Becken geschafft. Die Vorausabteilung der Bauern konnte einen solchen Wasserzug noch sichten, hinter dem die Tore sich dann schlossen. Die Boten, die man hinaufgeschickt hatte, kamen zurück, ohne greifbare, klare Antwort erhalten zu haben. Es schien, als ob die lautlos hinter den Mauern Sitzenden sich auf eine Hinhaltetaktik, auf lange Bedenkzeit einrichten wollten. Als folgsame Untertanen, als treue Regierungsanhänger wollten sie auch nicht als Abtrünnige gelten, sich als kampflos Übergebene zeigen. Das Bauernheer war aufgerückt, hatte die Festung im Halbrund umzogen, die Geschütze abgeprotzt, als eine in dunkle, flatternde Gewänder gehüllte Gestalt sich außerhalb der Mauern zeigte und mit einem langen Stab in den Händen den Hang herabkam. Beim Näherkommen erkannte man, daß auch das Gesicht der Gestalt verhüllt war, Sehschlitze in das Tuch geschnitten waren. Beide Hände hielten den Stab, schwenkten ihn ziellos hin und her. Ein Verrückter, ein Besoffener, ein Aussätziger? – Die Pest, die Pest! Dieser Schrecken auslösende Ruf kam 136
auf, wollte sich fortsetzen, als ein Bursche aus den vorderen Reihen sich löste, der Gestalt entgegensprang, ihr Kapuze und Umhang vom Körper riß: »Ein Spinner, eine List, noch vor zwei Tagen war ich oben, Männer, Weiber, Kinder, alle munterer als die Rösser beim Haferdreschen.« Unter Gelächter versuchte die Gestalt zu entkommen, fiel zu Boden, hastete auf Händen und Füßen den Hang hinauf. Ein Geschütz wurde fertiggemacht, gezündet, der Schuß brach los, knallte wie ein Taubenschwarm beim Auffliegen. Man konnte die Kugel verfolgen, hörte, wie sie wabbernd die Luft durchschnitt, in steigendem Bogen die Stadt überflog und niedersinkend in einen Mauerturm der rückliegenden Seite einschlug. Bald darauf gingen die Torflügel auf, einige Frauen, einen Maulesel in der Mitte führend, traten in das scharfgebündelte Mittagslicht. In den Händen schwenkten sie erste grünende Zweige. An den Seiten des Tieres hingen geflochtene Weidenkörbe herab, gefüllt mit Brot und Getreide. Eine Abordnung der Bauern begab sich hinauf, vereinbarte, was das Städtchen an Korn und Fleisch abgeben konnte, freiwillig an das Bauernheer abgeben wollte.
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unz Jehle war von Löffingen nach Döggingen gezogen, hatte die Höhe über der Gauchach erreicht und schritt nun mit seinem Hotzenwälder Haufen auf über tausendjährigen Wegen, die schon von den 137
Römern benutzt worden waren, nach Osten in Richtung Hüfingen, das von Wasser und Mauern geschützt, in der Flußebene fest und sicher, wie eingepflanzt, verankert lag. Eine gerundete Hufe, aus deren Mitte ein massiger Turm mit glasierten Ziegeln sich als weithin sichtbares Zeichen hervortat. Die kleine Stadt hatte sich auf Widerstand, auf Belagerung vorbereitet. Bevor die sanfte Höhenflucht in die Niederung abbrach, schwenkten die Hotzenwälder nach Norden, nach Bräunlingen, das sich von oben her als offenliegende Zielscheibe zum Einschließen darbot. Ohne Schwertstreich öffneten sich die Tore, wurde das Städtchen besetzt. Ebenso erging es Hüfingen, das nach kurzen Verhandlungen von Hans Müller in die Christliche Vereinigung eingegliedert wurde. Einige Tage hielt sich das Bauernheer im Umland von Hüfingen auf, auch Kunz Jehle mit seinen Hotzen war dazugestoßen. Die Niederung bis Pfohren, über Donaueschingen hinaus, nach Aasen zu war zu einem einzigen, aufgelockertem Bauernlager geworden. In der Nacht zeichneten die Biwakfeuer die Größe, die Grenzen. Schon am frühen Morgen kreisten die roten und schwarzen Milane, geschwungene Flügelweite, ruhig und sicher über der Ebene, setzten ihre hellen Schreie in einen Himmel, über den ein frischer Wind weißgraue Wölkchen jagte. Im Sumpfland waren die ersten Störche eingetroffen. 138
»Wir haben ihn erwischt, wir haben ihn erwischt«, ein schmaler, hochaufgeschossener Junge wurde vor Hans Müller gebracht. Sie stießen ihn vor sich her, er blieb stumm, bleiches Gesicht, dunkelblonde, lockige Haare, manchmal schien es, als wolle er stehen bleiben, sich zur Wehr setzen. Er wurde mehrerer Vergehen beschuldigt: Er wollte die Pferde vergiften – er hat Hafer gestohlen – er ist ein Spion, hat gefragt, wie viele Geschütze wir haben – er verschweigt seinen Namen. »Bringt ihn vor die Feldrichter«, Hans Müller, der sich anschickte, mit seinem Pferd einige Außenposten abzureiten, hielt inne, betrachtete noch einmal eingehend den Jungen. Seine Größe ließ ihn älter wirken, sicherlich war er aber nicht mehr als 14 oder 15 Jahre, noch ein Kind. Auch meinte er, das schlanke Gesicht zu kennen, es irgendwo schon gesehen zu haben. Dieses Nachsinnen, Hervorholen von Erinnerungen veranlaßte ihn, den Jungen zu befragen, und während dieser Fragen wußte er plötzlich, wo er dieses Gesicht einzuordnen hatte – er hatte es nicht wirklich gesehen, auf einem Bild trat es ihm entgegen, im Elsaß, vom Hals bis zu den Füßen in ein weites, stumpfrotes Gewand gehüllt, den Kopf zur Seite geneigt, schmerzlich der halbgeöffnete Mund, mit dem rechten Arm eine zurücksinkende Frau haltend, die aus einem marmorstarren, weißen Kleid die verkrampften Hände nach oben streckt, sie, die Mutter des Gemarterten, Gekreuzig139
ten, neben dem sie stehen, er, sein Jünger, dieser Johannes. »Du willst deinen Namen nicht sagen, auch nicht, woher du kommst und warum du dich bei den Pferden herumgetrieben hast?« Der Junge schwieg, sah kurz zu ihm auf und dann vor sich nieder. »Du wolltest die Pferde vergiften?« »Niemals würde ich ein Pferd vergiften, ich habe selbst ein Pferd. Wer das sagt, der lügt«, die erst zaghafte Stimme gewann an Festigkeit, er vermied es, jemanden dabei anzusehen, sein Blick ging nach oben, auf ein unbestimmtes Ziel gerichtet, es war die aufkommende Angst, die irgendwo einen Halt, einen Ausweg suchte, die auch der Stimme die Färbung von Mut verlieh. Eine Hand langte von hinten in seine langen Haare, drückte den Kopf zur Seite: »Bürschle, habe ich dich nicht erwischt, wie du Hafer aus der Kiste genommen hast?« »Laßt ihn los! Komm her«, Hans Müller nahm den Jungen am Arm, zog ihn näher zu sich heran: »Du wirst mir berichten, warum du dich bei den Pferden herumgetrieben hast.« »Ich habe mein Pferd gesucht, ich habe es auch gefunden, es steht angepflockt bei den Wagen. Ich wollte ihm Hafer bringen.« »Du hast ein Pferd? Wie kommt dein Pferd hierher?« 140
»Wir hatten viele Pferde, man hat sie alle weggeführt, auch meines.« »Und wer bist du?« »Das ist ein Schellenberger«, rief nun einer der Umstehenden, »daß ich nicht gleich darauf gekommen bin, so ein adliger, kleiner Seicher, die Alten haben sich aus dem Staub gemacht, er hat ein Bauernwams übergezogen, sich zu tarnen, zu verbergen.« »Nun, was hast du mir zu sagen? Bist du ein Schellenberger?« – Der Junge war in eine schlaffe, teilnahmslose Haltung gefallen. Nach nochmaliger Aufforderung bekannte er: »Ja, ich bin der Klaus, aber ich wollte mich nicht tarnen, auch nicht verbergen. Ich habe nur mein Pferd gesucht.« »Gut«, meinte Hans Müller, »du sollst dein Pferd versorgen, du wirst noch zwei dazubekommen, die du zu betreuen hast, pflege sie gut, die Winterhaare müssen jetzt raus. Wenn du arbeiten willst, kannst du bei uns bleiben. Wenn nicht, hast du das Lager sofort zu verlassen, ohne dein Pferd.« »Ich bleibe«, seine Antwort kam ohne Zögern, spürbar war seine Erleichterung, diesen Fragen und Angriffen entronnen zu sein. »Du wirst dich jeden Tag einmal bei mir melden, mir berichten, was du getan hast.« Er ordnete dies vor allem zum Schutz des Jungen an, die Anhänglichkeit des Knaben zu seinem Pferd hatte ihn dazu bewogen. 141
Von Waldshut waren Boten eingetroffen: Das Fähnlein unter der Führung des Ratsherrn Hans Giller wurde zurückgerufen. Die Sache der Bauern stand gut, eine weitere Unterstützung hielt man vorläufig für nicht erforderlich. Diese Boten brachten auch eine besondere Überraschung für Hans Müller, die ihn so unvorbereitet traf, daß er erst einmal die Augen schloß, um diesen Ansturm der Gefühle, Gedanken zu bewältigen. Sie, an die er täglich gedacht, die er aber niemals erwartet hatte, trat ihm, eilte ihm entgegen, umarmte, küßte ihn ohne Scheu vor den vielen Männern, die sie umringten. Über eine grobgewirkte, strumpfartige Hose hing ein noch bis unter die Knie reichendes Bauernwams, das die Formen des Körpers entstellte, verdeckte. Die langen Haare hatte sie hochgesteckt, unter einem topfartigen Hut verborgen. Er nahm sie zur Seite: »Warum bist du gekommen? Habe ich dir nicht versprochen, ich eile, ich bin wieder bei dir, so schnell, sobald es geht?« »Du freust dich wohl gar nicht?« Er fühlte ihre weiche Hand, die an seiner Wange hinabstrich, am Kinn innehielt und mit Daumen und Zeigefinger seine Lippen berührte. »Aber so verstehe doch, Verena.« »Ich will nichts verstehen, ich bleibe jetzt bei dir, ich halte es nicht aus, allein und einsam im Fischerhaus.« »Du hast deine Schwester, deinen Schwager, und alle Leute in der Stadt sind dir zugetan.« 142
Sie ergriff seinen Arm, drängte ihren Körper an seine Seite, ihre Stimme klang belegt, heiser vor innerer Erregung: »Stoß mich fort – so tue es. Dann weiß ich wenigstens, woran ich bin.« Behutsam führte er sie entlang einer Buschgruppe – kleine Vögel flatterten auf, ließen sich wieder nieder – , versuchte ihr zu erklären, warum er, vor allem er, ihren Aufenthalt im Lager, ihren Wunsch, mit ihm weiterzuziehen, nicht zulassen konnte. Er nahm ihr den Hut ab, dessen rundumlaufende, aufgestülpte Krempe sie bis über die Ohren hinabgezogen hatte, seine Finger glitten durch ihre geringelten Haare, die sich unter seiner Berührung knisternd aufrichteten. Welch einmaliger Rahmen für dieses Gesicht, das dunkel, geheimnisträchtig ihn bedrängte, das er zu kennen glaubte und nun neu, in ungeahnter, wilder Schönheit ihn überraschte. Sie muß es begreifen. »Ich habe angeordnet, vielmehr wir, der Rat, haben beschlossen, daß alle Frauen, die keine Funktion ausüben, aus dem Lager, der Truppe zu entfernen sind. – Ich weiß, was du einwenden willst, aber dies wäre eine Umgehung, die jedermann als Bevorzugung durchschauen würde. Ich, als ihr Feldhauptmann, darf mir solches nicht erlauben. Ich verlange von ihnen ihr Leben, also muß ich auch bereit sein, meines zu geben. Ich errichte ein Verbot, also muß es auch für mich gelten.« Nur mit Mühe gelang es ihm, sie zu beruhigen, über143
zeugen konnte er sie nicht. Sie betrachtete ihre Auseinandersetzung mehr als Zweikampf zwischen sich, ihrer weiblichen Ausstrahlung, ihrer Liebe und seiner starren Haltung gegenüber Pflicht, Recht und aufgestellten Verboten. Sie fühlte sich als Unterlegene. Sie nächtigten abseits des Hauptlagers in einem Bauernhof. Am Morgen darauf reiste sie mit dem Fähnlein zurück nach Waldshut, in ihrem Ohr sein Versprechen – ich komme zu dir, sobald, so schnell es mir möglich ist.
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ie Hegaubauern unter der Führung von Hans Benckler aus Kalchwiel bei Stockach und der Herzog mit seiner Reiterei waren schon einige Tage vor dem Schwarzwälder Bauernhaufen bei Rottweil eingetroffen. Die freie Reichsstadt war bemüht, ihre Neutralität zu wahren, sie durch keinerlei Versuche der rivalisierenden Parteien aufzugeben, sie unterhielt ein Bündnis mit der freien Schweiz, gewährte den Bauern ungehinderten Durchzug, trat aber nicht in ihre Bruderschaft ein. Ebenso korrespondierte sie mit dem Truchseß von Waldburg, dem Feldhauptmann des Schwäbischen Bundes, der bei Ostheim in abwartender Stellung lagerte. Noch fühlte sich dieser zu schwach, die Bauern anzugreifen, er wartete auf Verstärkung durch freigewordene Söldnerheere, die schon seit Wochen von Oberitalien auf dem Wege nach Süddeutschland waren. Die Stadt verweigerte dem Herzog 144
die Herausgabe seiner vor acht Wochen verpfändeten Geschütze. Der Fürst war ungehalten, tobte, schimpfte auf diese bornierten, ungebildeten Geizhälse, Pfennigfuchser, die von der Welt noch nichts erfahren, die nur den Geruch von ihrem eigenen Mist in der Nase hätten. Woher sollte er in aller Eile 40 000 Gulden nehmen! Aber das wußten sie doch von vornherein, er hatte sie im Verdacht, daß ihre Haltung abgesprochen, zu einem untereinander abgekarteten Spiel mit dem Truchseß von Waldburg, der österreichischen Regierung gehörte. Er wollte die Unterredung mit ihnen in ihrem Rathaus so schnell wie möglich vergessen. Dieser starre, frischernannte Bürgermeister Konrad Mock, der so abgehackt sprach, als wollte er jedes Wort vorher untersuchen, ob er es in seine Rede aufnehmen könnte. Auch die Ratsherren, diese Spreter, Uhl und Rötlins, die kein Verständnis für diese historische Stunde, für sein Land, sein bedrängtes Württemberg aufbringen konnten. War er ihnen nicht mehr als entgegengekommen? Herzog: »Mein letztes Angebot: Meine Geschütze sind verpfändet mit vierzigtausend Gulden. Ich löse sie nach dem Feldzug ein mit fünfzigtausend.« Bürgermeister: »Wir sind keine Wucherer. Wir verlangen nicht mehr, als wir geliehen haben, vierzigtausend. Aber dies sofort und nicht auf ein Verspre145
chen hin, das nach dem Feldzug eingelöst wird.« Ratsherr Rötlin: »Wobei noch zu bemerken wäre, daß wir völlig im dunkeln tappen.« Herzog: »Im dunkeln? Von was?« Rötlin: »Vom Ausgang des Feldzugs.« Herzog: »Den Sie durch Ihre Haltung ungünstig beeinflussen. Jedermann weiß, daß Geschütze ausschlaggebend sein können. Ich brauche sie und verlange sie sofort heraus. Mein Sekretär hat ein Papier vorbereitet, eine Überschreibung eines Teils meiner Güter von Mömpelgard an die freie Reichsstadt Rottweil.« Bürgermeister: »Mömpelgard ist weit, ein für uns völlig ungünstiges Objekt. Ich kann nicht die Stadt mit zweifelhaften Verträgen belasten.« Rötlin: »Auch beugen wir uns keinem Zwang.« Uhl: »Der Landfrieden ist gebrochen, wir dürfen die Bedrohung nicht noch vergrößern.« Herzog: »Angst vor dem Truchseß? Vor dem Schwäbischen Bund? Vor Österreich? Nun wird mir klar, wer dahintersteckt.« Bürgermeister: »Der Herzog irrt. Wir haben uns in allen unseren Handlungen frei gehalten und souverän. Unser Bündnis mit der eidgenössischen Schweiz beweist dies.« Herzog: »Ich habe den Landfrieden nicht gebrochen. Auf meiner Seite ist das Recht, auch das göttliche 146
Recht. Dies ist mein Land, meine angestammte Herrschaft. Ich habe an alle Stände des Deutschen Reiches ein gedrucktes Ausschreiben erlassen, in welchem ich die Gründe meines kriegerischen Vorhabens darlegte. Ich habe von dem Reichstag in Nürnberg und dem Reichskammergericht in Esslingen keine Antwort auf meine Eingaben erhalten. Mein Bote Michelin wurde gefangengenommen, gefoltert und auf den Asperg gesetzt.« Spreter: »Alles gut und schön, aber vergessen wir nicht, daß Seine Fürstliche Durchlaucht in der Acht stehen, in der kaiserlichen Acht.« Uhl: »Und was noch schwerer wiegt, was man in Stuttgart nie verzeihen wird, er paktiert mit den aufständischen Bauern.« Herzog: »Wer mir zu meinem Vaterland verhilft – durch Stiefel oder Schuh –, ich hoffe, mit Ehren dazuzukommen, den werd’ ich fürstlich lohnen.« Rötlin: »Richtig, kommen wir auf die Finanzen zu sprechen. War es nicht der finanzielle Ruin, der dem Herzog vor allem das Genick gebrochen hat?« Bürgermeister: »Für jeden eine fürstliche Belohnung? Was bleibt dann vom Land noch übrig?« Herzog: »Ich kann nur wiederholen, was ich vor dem Rat in Zürich festgelegt habe: Bei der Wiedererlangung meines Landes werde ich meine Untertanen nie mehr schätzen und beschweren. Ich werde mit 147
den Gütern der Stifte und der Klöster, die ich aufzuheben gedenke, alle meine Schulden bezahlen und künftig meine Ausgaben ohne Beschwerung der Untertanen bestreiten. Ferner wird mein Land mit Zürich in ein besonderes ›Ewiges Bündnis‹ treten.« Rötlin: »Warum hat Zürich kein Geld mehr gegeben?« Herzog: »Die Zeit drängt, in den nächsten zehn Tagen fällt die Entscheidung.« Bürgermeister: »Wir haben uns entschieden. Auch die Einberufung des ›Großen Rates‹ würde an unserer Haltung nichts mehr ändern.« Herzog: »Rottweil hat mich enttäuscht.« Bürgermeister: »Was wir bedauern müssen.«
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ußer dem Herzog war es vor allem Hans Müller, der die Schwächung ihrer Kampfkraft durch den Verlust der Geschütze richtig einschätzte. Er drang in den Herzog, noch einmal einen Versuch zu unternehmen, die starre Haltung der Stadt aufzuweichen. Doch der Herzog lehnte resigniert ab. Er setzte jetzt seine Hoffnung vor allem auf die Streitmacht des Thomas Mayer vom Vogelsberg, der mit seinen »Vorderwälder« Bauernhaufen schon an Rottweil vorbeigestoßen war und die für unbezwinglich gehaltene Stadt Sulz mit Schloß Albeck belagerte und sie nach kurzer Zeit einnehmen konnte. Ein schon fast legendärer Ruf eilte diesem unbeugsamen, klotzigen Bauernkönig voraus, der von der 148
Ostabdachung des Schwarzwaldes, von den vierundzwanzig Höfen herab die Bauern gesammelt hatte, eine alles erdrückende Walze, die bis zu fünftausend Streitern zählte. Man sagte von ihm: Er rupft zehnjährige Bäume mitsamt der Wurzel aus dem Boden – wo seine Faust hinfällt, wächst kein Gras mehr. Er hatte eine Spezialtruppe, Holzfäller, Fuhrknechte, Zimmerleute, die mit ihren Rammklötzen jedes Tor sprengten, jede Mauer brachen. Er hatte die Eingekerkerten aus modrigen, stinkenden Türmen und Verliesen befreit, er hatte Dornhan genommen und Dornstetten, Wildberg, Reichenbach, Alpirsbach und Schiltach. Sie standen zum Abmarsch bereit, die Hegaubauern und die Schwarzwälder, um sich mit Thomas Mayer bei Sulz zu vereinigen, als ein Bote vom Hegau auf einem völlig erschöpften Pferd eine Meldung überbrachte, die Aufruhr in die Mannschaften der Hegaubauern trug und eine Verzögerung der Pläne bedeutete. Die Radolfzeller Stadtknechte hatten einen Überfall auf einige ungeschützte Hegaudörfer unternommen. Nach der bewährten, von Erzherzog Ferdinand befohlenen Methode wurden die Dörfer völlig ausgeplündert, das Getreide weggefahren, das Vieh abgetrieben, die Häuser angezündet, wehrlose alte Männer und Frauen niedergestochen. Dies war eine der wirksamsten angewandten Praktiken, die Bauernhaufen in ihren kriegerischen Aktionen zu hemmen. Daraufhin kehrte die Haupt149
macht der Hegaubauern nach kurzer Beratung um, mit der Absicht, Radolfzell zu bestrafen, die Stadt zu belagern. Nur wenige folgten dem Herzog neckarabwärts. Gleichzeitig drangen aber auch gute, sieg verheißende Nachrichten vom Unterland herauf. Die württembergischen Bauern aus der Gegend um Weinsberg, aus dem Zabergäu, dem Bottwartal hatten sich unter der Führung von Maternus Feuerbacher und Hans Wunderer zu den »hellen, christlichen Haufen« zusammengeschlossen. Nach der Vereinigung mit den Remstaler Bauern wurde ihre Streitmacht auf 25 000 Mann geschätzt. Diese Bauernmassen bewegten sich in aufgelokkerten Säulen Stuttgart zu. »Nun sind wir überflüssig«, riefen die Schwarzwälder. Hans Müller ließ alle Hauptleute und Räte, Leutinger, Fähnriche und Troßmeister zusammenkommen. Wie vorauszusehen lag ihnen Freiburg, die Vereinigung mit den Wiesentäler und Breisgauer Bauern näher als Stuttgart und die Württemberger. Sollen sie Stuttgart nehmen, wir nehmen Freiburg. So zogen sie westlich über St. Georgen nach Villingen. Diese Stadt hatte die Boten der Bauern als Antwort auf ihren Artikelbrief eingekerkert. Eine Belagerung dieser starkbefestigten Anlage würde voraussichtlich Wochen verschlingen, so entschieden sie, sich dem Bedeutenderen, eben Freiburg, zuzuwenden. Villingen und alle übrigen noch nicht eingenommenen Orte müßten sich dann notgedrungen kampflos übergeben. 150
Kunz Jehle mit seinen Hauensteiner und Hotzenwälder Bauern war einer Nachhut der Hegaubauern gefolgt, wollte auf einer südlicheren Route in der Ebene vor Freiburg bei Kirchzarten wieder zu dem großen Schwarzwälder Bauernheer stoßen. An der Vertreibung der Radolfzeller aus den Hegaudörfern schien ihm nichts gelegen, er hatte seinen Hotzenwäldern eine schon längst überfällige Abrechnung mit ihren heimischen Unterdrückern, dem Klosterstift St. Blasien, versprochen. So strebten sie in anstrengenden Tagesmärschen den zerklüfteten Flußtälern entlang, über sie hinweg, überwanden die Paßhöhen, bis vor ihnen, unter ihnen der friedlich von Wäldern umgürtete Klosterbezirk zu erkennen war. »Es ist soweit, Leut, jetzt holen wir aus zum letzten Schlag«, Kunz Jehle spuckte seine Verachtung über die blasianischen Kuttenbrüder aus, schürte den Haß seiner Anhänger. »Von hier, von hier unten kam es über uns, das Elend, die Armut, die Not, Krankheit und Knechtschaft, alles hat seinen Ursprung hier, kam von hier. Jetzt zerreißen, vernichten wir die Verträge, Verschreibungen, holen unser Land, unsere Freiheit zurück. Jetzt lassen wir sie hopsen und springen, wir machen ihnen Feuer unterm Fiddle, Leut, do druf mine Hand.«
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leich nach den ersten wieder ausgebrochenen Bauernerhebungen im zeitigen Frühjahr hatte der Abt Johannes mit dem Großteil der Insassen das Kloster verlassen. In der nahen Schweiz, in Basel, hatten sie Asyl gefunden. Zurückgeblieben waren nur wenige Brüder, deren Anhänglichkeit an die gewohnten, lange Zeit bewohnten Gebäude, an die Bräuche, täglich geübten Handlungen, Gebete, Spaziergänge, an das umgebende Land mit Fluß, Tal, Wald und Höhen so mächtig war, daß sie jegliche Furcht vor drohenden Überfällen zur Seite schoben. Manche hielt auch die Liebe zu den Haustieren, für deren Betreuung und Pflege man sich freiwillig hingab. Die Bauern fielen wie ausgehungerte Ratten über Küchen, Speise-, Vorratskammern und Weinkeller des Klosters her. Nebenbei zerschlug man die Altäre, riß die Bilder von den Wänden, denn Götzen und Götzendienste seien nicht gut vor Gott, so wenigstens hatte man sie gelehrt, hatte man es ihnen vorgemacht. Vor allem aber zerriß, zertrat man alle Schriften und Bücher, deren man habhaft werden konnte, denn darunter mußen ja alle die Verschreibungen, die Enteignungen ihres Besitzes sein. Als die Bauern nach fünf Tagen die Klosteranlagen verließen, waren sie überzeugt, daß sie mit dieser Tat alle Pflichten, Verpflichtungen, die ihnen das Kloster seit Generationen aufgezwungen hatte, zunichte gemacht hätten. Man könnte nun darange152
hen, den Klosterbesitz aufzuteilen, der Allgemeinheit wieder zuzuführen.* So befreit und voller Pläne für die Zukunft, hob sich die Stimmung in den aufgelockert marschierenden Bauernhaufen. Man hatte gut gespeist, die Fässer im Stift leergetrunken. Singend ging es über die Höhen, durch grünende, blühende laier, das Ziel: die Perle vom Breisgau, Freiburg.
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ans Müller hatte das Schwarzwälder Bauernheer in mehrere Marschsäulen aufgeteilt. So reichte ein nördlicher Stoßkeil über Zindelstein nach Vöhrenbach bis Furtwangen. An den Grenzen der Baar, vor der zerklüfteten westlichen Schwarzwaldbarriere bei den Orten Löffingen, Rötenbach, Neustadt wollte man sich wieder sammeln, eine zweitägige Ruhe einlegen. Diese Tage werden meine Tage, eine Nacht und ein Tag mit Verena. Reif war gefallen in der Nacht, erst in den Morgenstunden hatte er sich gebildet. Das Frührot löste sich aus weißlicher Nebelwand. Mit dem Gesang der Vögel kam die Sonne höher, verwandelte Festes in tauige Tropfen. Nur im Schatten das büschelige Gras blieb noch steif und gläsern bis Mittag. Bis zum späten Vormittag hatte er alle Vorbereitungen hinter sich gebracht, alle Gespräche geführt, alle Anordnun-
* Überfall des Klosters: 1. Mai 1525. 153
gen getroffen. Aufatmend hielt er inne: – Es wird auch ohne mich gehen, es muß gehen, vielleicht ginge es auch ganz ohne mich, nicht nur diese zwei Tage. Sie haben mich zu ihrem Hauptmann gewählt, aber könnte meinen Platz nicht auch jeder andere übernehmen? Vielleicht noch besser, tatkräftiger, als ich es vermag? Sage ich mir das nur, um meinen Weggang vor mir selbst zu entschuldigen? Wenn jeder das Lager verlassen wollte! Wie viele Männer gibt es, deren Frauen und Kinder auf sie warten? Er schüttelte diese Gedanken von sich, sie zerstören meine Tatkraft, hemmen den Mut, die Entschlossenheit. Ich habe die kommende Nacht und den folgenden Tag für Verena bestimmt, und dabei bleibt es. Was soll stärker sein im Leben eines Mannes: Ein Ziel, eine Aufgabe oder die Liebe? Es soll beides sein, beides zu seiner Zeit. Jetzt schlägt die Zeit für Verena. Er sah sie vor sich, streifte ihr den topf artigen, entstellenden Hut ab, die schwarzglänzenden Haare bedeckten befreit den Nacken, umringelten die Stirn. Gegen Mittag erreichte er schon Bonndorf, auf der gegenüberliegenden Höhe, oberhalb Wittlekofen rastete er, sein Pferd nahm die jungen Gräser an den Rainen auf, schnaubte, schüttelte sich, graste weiter und ruhte dabei. Sie stiegen hinab in das Tal der Steina, an manchen Steilstellen führte er das Pferd; doch nur eine kurze Strecke ging es dem Wasser entlang, dann wieder hinauf zur Höhe, zur Sonne, die in warmem Dunst 154
eine so abwechslungsreiche, so vertraute Landschaft vor ihm ausbreitete, daß seine Erwartung, seine Freude, Verena und den Rhein wiederzusehen, in ein beglückendes Hochgefühl überging. Noch einmal hielt er an zu längerer Rast, es war eine Stelle, die er zu kennen glaubte, die sich ihm eingeprägt hatte, als er als Junge von der Bulgenbacher Heimat nach Tiengen wanderte. An einem sanftgewellten, abwärtsgleitenden Hang zwischen Sträuchern und verkrüppeltem Buschwerk wuchs eine Eiche herauf, deren kolossale Rundung den Eindruck von Zeitlosigkeit, Unveränderlichkeit hervorrief. In halber Manneslänge teilte sich der dunkelgerillte Stamm in drei Tochterarme, die vor und seitlich in angedeutetem leichtem Schwung nach oben strebten und so einen Himmel, ein Dach aus unzähligem verzweigten Astwerk bildeten. Schaute man durch die Lücken der Arme, so sah man rechts, hangabwärts auf den hellen Stamm einer Buche, daneben auf eine Fichte, deren Äste tief bis zum Boden reichten, und links auf eine zweite Buche, die – sicherlich gleich an Alter, gleich an Höhe und Dicke des Stammes – völlig identisch mit der rechten Buche schien. Die Knospen der Buchen saßen voll Sprengkraft, hatten sich teilweise schon entrollt, ein noch blasses, noch nicht gefestigtes Grün. Die Fichte in dunklem übergeworfenen Mantel verharrte abwartend. Die Eiche aber hatte noch ihre vorjährigen Blätter, braun155
rot bis zu ausgelaugtem Gelb, eingerissen, zerfetzt von den Eisgeschossen des Winters. Als er die Eiche sah, wußte er, daß unterwärts zwei Buchen stehen mußten, links und rechts. Er hatte dieses Bild, die dreiarmige Eiche mit den Buchen, vor über fünfzehn Jahren in sich aufgenommen, in sich verwahrt, ohne sich jemals mehr daran zu erinnern. Nun sah er das Bild von damals und erlebte es in einer zweiten Wirklichkeit. Wäre er fünfzehn Jahre später an dieser Stelle noch einmal vorbeigekommen, hätte er an den Bäumen kaum eine Veränderung festgestellt – Bäume, haben sie ein gewisses Wachstum erreicht, leben in einer anderen, gereifteren Ruhe als die verletzbare Art der Menschen.
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chon zeigte sich der Höhenstrich über dem geweiteten Rheintal, der Abend sickerte herein, vermengte die kräftigen Tagesfarben, erzeugte nebelgebadete, verwaschene Zwischentöne. Unruhe erfaßte ihn, ein plötzliches Angstgefühl: Sie ist nicht mehr da, abgereist in ihre Heimat, ich weiß es, sehe es voraus, warum habe ich sie so grundlos weggeschickt? Gleich werde ich Gewißheit haben. Es dunkelte, als er die Halde zum Fischerhaus hinabstieg. In überstürzter Eile war er durch die Torwache gestürmt, hatte sein Pferd untergestellt, notdürftig versorgt. Das Haus vor dem südwestlichen, angeflammten 156
Abendhimmel nahm er als Ruhepunkt, wurde das Ziel seiner suchenden Augen, nichts – leer – still. Da, eine Gestalt kam hinter dem Haus hervor, er eilte darauf zu. Enttäuschung, es war der Fischer. Nun sprich schon, sag schon, daß sie nicht mehr hier ist. Zögernd, wie um die schlechte Nachricht zu verbergen, sah der Fischer zu ihm her, doch schon sagte er: »Sie ist noch unten, am Sandplatz, sie hat gewaschen.« Er kannte die Stelle, eine eingebuchtete Nische, bei Hochwasser überspült, die Wäsche wurde dort zum Bleichen ausgelegt. Vor der springenden, sich überschlagenden Strömung bewegten sich hellere Zeichen, es waren ihre nackten Arme, deren Hände Steine auf die Enden der ausgebreiteten Wäschestücke legten. Noch ehe sie sich besinnen, aufrichten konnte, hatte er ihre Schultern umspannt, ihren und seinen Kopf zusammengerückt. Nicht nur ihre Arme, auch die Füße und Beine waren nackt, nur ein leichter Kittel, in der Hüfte durch ein Stoffband gerafft, bedeckte den Körper. Er fuhr mit der Hand in die tief ausgeschnittene Achselhöhlung, seine Finger glitten über ihren Rücken. Sie atmete tief, ach sie atmete noch einmal, hörbar, wie bin ich erschrocken, ich bin noch gar nicht bei mir, er küßte sie von Atemzug zu Atemzug. Sie gingen zum Haus. Sie wollte mit ihren nackten Füßen den Unebenheiten, den spitzen Steinen ausweichen, was bei der Dunkelheit oft mißlang und ihr ein leichtes, zur Heiterkeit überglei157
tendes Stöhnen entlockte. Er nahm sie hoch, trug sie. »Bin ich dir nicht zu schwer?« »Wo denkst du hin, leicht wie ein Flaum.« »Du schwindelst, schwer wie ein Klotz.« Vor dem Eingang empfing sie die Frau des Fischers, wandte sich gleich an Verena: »Das Wasser im Kessel ist heiß, beginnt schon zu sprudeln.« Das Fenster in ihrer Kammer brachte keine Helligkeit. Verena entzündete den auf dem Tisch stehenden Wachsstock. Gleich seitlich der Kammertür stand ein aus Holzdauben gefügter Bottich in der Form eines hohen, nach oben geweiteten offenen Fasses, aber ohne bauchige Wölbung. Er trat hinzu, langte in das Gefäß, es war halb gefüllt mit Wasser: »Hast du in der Stande gewaschen?« »Nein, darin will ich noch baden, das heiße Wasser aus dem Kessel kommt noch hinzu.« »Baden? Du willst noch baden?« »Ja, wir baden zu Hause immer nach dem Waschen.« »Wollen wir zusammen baden? Haben wir zu zweit darin auch Platz?« Er nahm ihr Lächeln als Vorbote eines verheißungsvollen Vergnügens. Gemeinsam trugen sie den Kessel von der Feuerstelle zur Stande. Mit einem kleinen Holzkübel, der ein verlängertes Daubenbrett mit einem Loch als Griff hatte, schöpften sie das heiße Wasser in die Stande, deren Höhe ihr bis unter die Brust reichte. 158
»Mit einem solchen Melkkübel haben sie das Wasser vom oberen Brunnen in die Kirche getragen, und mein Schwager hat über 300 Personen an einem Morgen getauft. Der Kübel wurde nachher den Fluten übergeben. Unter Gesängen haben sie ihn in den Rhein geworfen.« Überrascht hörte er ihr zu. »Du sagst, der Doktor hat getauft? Über 300 Personen? Ich habe gedacht, sie hätten diese Wiedertauferei aufgegeben.« »Nein, nein, alle wollen getauft werden, es gibt nur noch wenige, die abseits stehen.« »Und du? Hat er dich jetzt auch getauft?« »Nein, ich bleibe bei meinem alten Standpunkt: Nur mit dir zusammen.« Sie holte einen Hocker, stellte ihn vor die Stande, um über ihn in das Wasser steigen zu können. Sie löste das Band von ihrem Kittel: »Dreh dich um, zieh dich derweil aus.« »Aber, aber«, er lachte, »ich lupf dich hinein.« »Ich will nicht, daß du siehst, wie ich hineinsteige.« »Wir kennen uns, unsere Körper, und du schämst dich immer noch?« »So dreh dich schon um, bitte dreh dich um«, sie sprach sehr leise. »Du zwitscherst wie ein kleines Vögelein vor dem Schlafengehen.« Aber er gehorchte, begann sich abgewandt zu entkleiden. Er hörte den plätschernden 159
Schlag des Wassers, das Spiel ihrer Hände, den dumpfen, gemilderten Klang, wenn ihre Glieder an die hölzerne Wandung kamen. »Ist das schön, das ist schön!« rief sie immer wieder, tauchte auf und unter. Als er neben ihr hineinrutschte, stieg das Wasser, erreichte bald den Rand der Stande. Sie standen sich gegenüber, ihre Rücken an der hölzernen Wandung. Wenn ihre Körper sich senkten, die Knie sich anwinkelten, reichte ihnen das Wasser bis zum Kinn, schwappte leicht über den Rand. In dieser angewinkelten Stellung wurde je ein Bein, Knie, Oberschenkel von zwei Beinen des anderen umschlossen, während je ein Bein mit seiner äußeren Seite Berührung mit dem Holz hatte. Ihre Hände legten sich gegenseitig auf die Hüften, die Knie federten, beugten, streckten sich, ein leichter, fast schwereloser, hüpfender Wassertanz wurde geboren. »Wir gumped wie die Frosch«, rief sie übermütig. »Quak, quak«, erwiderte er. Vor ihm schwammen ihre Brüste, wunderbar geformte, feste Bälle, er versuchte sie mit dem Mund zu erreichen, zu küssen; das Wasser lief in seinen Mund: »Es schmeckt nach irgend etwas.« »Es ist Kamille, ich habe Kamille gebrüht und den Sud in das Wasser gegeben, das ist gut für die Haut und erhöht das Wohlbefinden.« Er mußte sich umdrehen, sie rieb, massierte seine Schultern, den Rücken, umtastete mit den Fingern die 160
Kuppen seiner Wirbelsäule. Als sie an der Reihe war, ihm ihren Rücken zudrehte, sagte sie: »Du darfst nicht hart, nur ganz leicht über die Haut streichen, ich liebe das Zarte, Weiche, Gefühlvolle«, und sie bog unter seinen Händen das Kreuz durch, senkte und streckte sich, hielt mit den Händen den Holzrand umfaßt. Sie drehten sich wieder einander zu, begannen von neuem ihr vergnügliches Spiel, den Wassertanz. Die Stande begann, ausgelöst durch die Bewegungen, zu rutschen, zu schwanken. »Sie steht nicht eben«, sagte er. »Es muß weggerutscht sein, das Holzstück, das ich daruntergelegt habe.« »Was hast du daruntergelegt?« »Wie – hörst du schlecht? Ein Holzstück, komm, ich wasch dir die Ohren aus«, und sie versuchte seinen Kopf in das Wasser zu drücken. Als er aber sie hinuntertauchen wollte, schrie sie auf: »Nein, nein, meine Haare, die wasche ich, wenn die Sonne scheint.« Dann wollte er plötzlich ihre Knie sehen. Sie lachte: »Warum willst du meine Knie sehen, jetzt meine Knie sehen?« Sie wehrte seine Hände ab. »Warum wollte sie jener Müllerbursch sehen? Er durfte, mir aber zeigst du sie nicht«, und er unternahm einen neuen Versuch, sie hochzudrücken, mit der Hand, dem Unterarm unter ihr Kniegelenk zu fahren. Sie lachte, strampelte, juchzte, er aber drückte sie hoch, mißach161
tete die bedrohlichen Schwankungen der Stande, wollte im letzten Augenblick noch dagegensteuern, aber der in Bewegung geratene Schwung des Wassers drückte die Stande um, platschend schlug sie auf dem Boden auf, und mit dem Wasserschwall, der ihre Körper überspülte, fanden sie sich wie Fische auf dem Trockenen wieder. Verena, auf allen vieren krabbelnd, kam als erste hoch, begann ihre nun doch genäßten Haare zur Seite zu streichen, begann zu lachen, was so ansteckend wirkte, daß er ebenfalls miteinstimmte. Auch die Fischersfrau, die neugierig unter der Türe erschien, in dem flackernden Lichtschein die Situation erkannte, zog sich belustigt zurück. Durch den Luftzug der sich schließenden Türe war das Licht ausgegangen. Im Dunkeln ertastete Verena ein großes Tuch, hüllte ihren, seinen Körper darin ein, hüpfend fanden sie das Bett. In der umhüllenden, feuchten Wärme entspannten sich die Glieder. Ein Signal wird gegeben, es ist plötzlich da, wird sofort von den Körpern, von allen Sinnen aufgenommen, und wieder fuhr das Bett, das Fischerhaus stromaufwärts, rauschend, stürzend schlug die Flut gegen die dünne, schützende Wandung. Eintauchen in einen Zwischenbereich, Umpolung der Körper: Sie wurde Er, Er wurde Sie, die Nehmende wurde Gebender, die Gebende wurde Nehmender, ein gegenseitiges Dankgefühl umhüllte sie, ließ sie aus der geheimnisträchtigen Verwandlung hinübergleiten in den Schlaf. 162
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ie mußten gleichzeitig erwacht sein, er erinnerte sich noch einer suchenden Hand, die über seine Schulter hinweg in leisem Darüberstreichen seinen Kopf liebkoste. Sie winkelte ihre Beine an, atmete tief: »Sie waren alle so glücklich, ja man sah es ihnen an, das Wasser, die neue Taufe hatte sie irgendwie verändert. Sie haben gesungen, laut gesungen, die Kirche hallte wieder von ihrer Freude, manche haben auch nur recht laut hinausgeschrien.« »Du sprichst von dieser Wiedertaufe, darüber wolltest du mir ja noch berichten. Du sagst, sie waren alle freudig gestimmt?« »Die meisten, aber es gab auch Übereifrige, Fanatische, die Abseitsstehende zur Taufe zwingen wollten. Auch auf mich hat eine Frau eingeredet, mich am Arm gezogen, ich mußte weggehen, mir einen andern Platz suchen.« »Ich sehe dies als hinderliche Auswüchse an, all dies hat nichts mehr mit dem lauteren, hellen Evangelium zu tun. Wir haben unsere zwölf Artikel, unsere Botschaft, diese geben uns das Recht, unsere Peiniger mit Gewalt niederzukämpfen, den Besitz neu und gerecht zu verteilen, alle anderen Austragungen, die sich auf Bräuche, auf überkommene Formen beziehen, sind in dieser angespannten Zeit unnötig, bringen Zwietracht in unsere Reihen«, er hatte hinaufgesprochen zur Dekke, in den Raum, der ihm nicht mehr wie am Abend so 163
düster erschien, das Fenster war jetzt sichere Orientierung. »Es war Ostermorgen, aber die Kirche war so öd, so kahl, kein Altar mehr, ein roher Fleck an der Wand, sie sagen: ›Hinweg mit den Fleischbänken, auf denen der Herrgott geopfert, sein Leib gegessen, sein Blut getrunken wird‹. Kein Bild mehr an der Wand, an der Dekke, nur der Taufstein stand noch. Sie verlangen auch, daß keiner mehr als der andere besitzen soll. Auch in der Kleidung sollen alle gleich werden. Aber sag selbst, das wäre doch ein unmöglich Ding. Es gibt welche, die halten etwas auf sich, schmücken sich gerne, haben am Nähen und Stricken ihre Freude und lassen nicht alles verschmutzen und verkommen.« Lächelnd fügte er hinzu: »Und haben keine so schönen Hüte und Kappen wie du, aber auch keine so schönen Knie.« »Ja, spotte du nur«, sie löste ihre Beine aus der angewinkelten Stellung. »So gibt es in der Stadt jetzt drei Parteien, die Reformierten, die Reformierten Wiedertäufer und die Altgläubigen?« »Viele der Altgläubigen sind aus der Stadt, weinend aus der Stadt gezogen. Einige der Frauen kamen zu Elsbeth und haben sich beklagt, daß ihr Mann, der Doktor so hart, so unduldsam sei. Er aber läßt sich nicht beirren, er sagt, es gebe nur eine Linie, eine Glaubens164
ansicht, der wir nachleben, die wir durchsetzen müssen. Wem dies nicht gefalle, der könne gehen, er hindere keinen. Elsbeth trägt diese Klagen nicht alle zu ihrem Mann, man müsse ihn schonen, sagt sie, er sei geschwächt, seine Gesundheit sei nicht mehr die beste, wozu dann noch diese Aufregungen, auch sei sein Streit mit Zwingli aus Zürich noch nicht beigelegt. So umsorgt sie ihn aufopfernd, versucht alle Aufregungen von ihm fernzuhalten; daß meine Schwester einmal eine solch liebevolle Frau werden könnte, hätten wir, unsere Familie, nie für möglich gehalten. Auch wünschen meine Eltern, daß sie jetzt, in dieser unruhigen Zeit vorläufig nach Hause zurückkehre. Aber dies habe ich ihr verschwiegen, auch würde sie auf ein solches Ansinnen niemals eingehen.« »Es muß jeder wissen, wo sein Platz ist, man kann nicht seiner Zeit entrinnen, man muß hindurch, unruhig sind die Zeiten allerorts.« »Ich würde auch bei dir bleiben, an deiner Seite ausharren, aber du willst mich ja nicht, schickst mich fort.« »Aber, aber«, er schob seinen Arm unter ihren Nakken, ihre Schultern, drückte sie zu sich her, »du weißt, daß es so nicht ist, auch für uns kommt der Tag, an dem wir uns nicht mehr trennen müssen, an dem alle diese Kämpfe um Macht und Besitz entschieden sind.« »In der Stadt sprechen die Wiedertäufer von einem 165
kommenden großen, tausendjährigen Reich, das sich jetzt durch sie schon angekündigt habe. Gott werde kommen, sagen sie, Gott mit all seinen Heerscharen und werde die Widersacher niederringen.« »Schön wär’s, nur kann ich an einen solchen Gott nicht glauben, er wohnt mir zu hoch, über den Wolken, in dem Dunst benebelter Gehirne. Was wir selbst nicht erstreiten, wird niemals uns gehören.« »Ja, das sagt der Doktor auch, streiten müßten wir, kämpfen für unser Recht, unseren Glauben. Darauf hielten ihm viele vor, daß er nicht nach dem Evangelium lehre, welches die Liebe und nicht das Schwert verkündet habe. Aber auch hierauf hat er ihnen eine Antwort gegeben, eine Antwort, die er mit seiner Person demonstriert hat; er gürtete sich ein Schwert um und stellte sich als Wache an das untere Tor. Meine Schwester Elsbeth und sicherlich auch noch andere fanden dies reichlich übertrieben; es soll auch bei diesem einmaligen Versuch geblieben sein.« Er erheiterte sich an dem Gedanken, den Pfarrer als Wächter an dem unteren Tor zu sehen, aber dann sah er ihn mit der hochgehaltenen Monstranz durch die gleißenden Blitze, durch Wetter und Regenguß gehen, und das Volk, die Gläubigen blickten staunend zu ihm auf. Auch das war er: ein streitbarer Gotteswortverkünder.
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erena und die Frau des Fischers hatten wieder ein gutes, kräftiges Essen zubereitet, das sie zusammen vor dem Haus einnahmen. Die Kinder sprangen übermütig um den Tisch, denn im Freien zu essen war für sie eine Seltenheit und Anlaß, dem Ungewohnten auf ihre Weise Ausdruck zu geben. Auch die Wasseramseln, die schon für Nachwuchs sorgten, schössen in sirrendem Flug zwischen den Büschen hindurch. So begann ein fröhlicher Tag, geschoben von der im Hintergrund lauernden Trennung. So wurde jedes Wort, auch die unscheinbarste Handlung zu einem in der späteren Erinnerung fest verwurzelten Element. Alle diese, durch solch zeitliche Pressung zusammengerafften Bilder kann man dann später wie aus einem Kranz aufgereihter Glaskugeln abrufen. In diesen Kugeln sind die Bilder eingemalt, erscheinen aber in der gebrochenen Darstellung eines Spiegelbildes: Das Heftige zeigt sich entschärft, das Banale erfährt im Reflex geheimnisvolle Bedeutung. Sie wanderten am Fluß entlang, gingen durch die Gassen der Stadt, waren zu Gast im Pfarrhaus, von Elsbeth liebevoll bewirtet. Der Pfarrer war auf seinen nachmittäglichen, ausgedehnten Besuchen, bei Freunden, einflußreichen Personen, auch vergaß er niemals bei diesen Gängen die Kranken und Gebrechlichen, denn vor allem sie gaben jede Zuwendung mit anhänglicher Dankbarkeit zurück. All dies gehörte zu seinem 167
Plan, die Herzen der Stadt zu gewinnen, auf seiner Seite zu halten. Am Abend wollte Hans Müller zurückreiten, aber es wurde Nacht. Aus den Niederungen, vom Wasser her zog eine nässende Regenwand herauf. Letzte Berührungen, die Warme des Atems, den Duft der Haut mitzunehmen in die Dunkelheit.
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ie Hauptmacht des Schwarzwälder Bauernheeres nahm den westlichen Schwarzwald-Abstieg über St. Märgen durch das gut zu passierende Wagensteigtal. Vereinzelte Trupps, ohne Wagen und Geschütze, folgten den schmalgeritzten Tälern, die von Rinnsalen, kleinen Bächen geformt wurden. Immer wieder wurden diese Abstiege erschwert, gehemmt von Steilhalden, Geröllfeldern, abschüssigen Felspartien. Diese hellen Steinflecken waren umschlossen von zähem, dornenreichen Gestrüpp, von Bäumen, deren Samen wahllos vom Wind verteilt, von der Erde aufgenommen und zu hochstämmigem Wachstum oder verkrüppeltem Niederholz bestimmt wurden. Nach solch hindernisreichem Abstieg wurde die Öffnung, der Ausblick zur Ebene als Wohltat für Auge und Glieder empfunden. Füße, Waden, Kniegelenke waren übermäßig beansprucht, nun konnten Muskeln und Sehnen sich entkrampfen, Füße und Beine schlenkerten die Last von sich, stimmten sich auf sanft abwärtsglei168
tende Matten ein. Das Auge überflog die von hellem Licht durchtönte Landschaft, sie lag tiefer, unter dem Betrachter, ein besitzergreifendes, nach Macht strebendes Verlangen verschaffte sich Einlaß in die Gemütsund Gedankenwelt der jahrhundertelang ausgebeuteten, unterjochten kleinen Leute. Die einzelnen Höfe, Hütten gingen in Dörfer über, und irgendwo dahinter mußte sie liegen, die hochgerühmte, glänzende Stadt, von der so viel gesprochen, von der alle gehört, die aber nur wenige von innen gesehen hatten, durch ihre blanken Gassen, vorbei an stolzen Giebeln, prächtigen Fassaden gegangen waren. Wenn in Freiburg alle Glokken läuten, steigen die Engel vom Himmel herab. Ein Ruf, hinter dem Wunsch und Wille standen, schwirrte durch die Reihen, der nun in der Ebene Marschierenden: »Gi Friiburg, gi Friiburg.« Schon der Anblick dieser sich heranwälzenden Heeressäule, der aufgewirbelte Staub war schon aus weiten Entfernungen zu sehen, genügte, um das vorgelagerte Kirchzarten mit Vogtei, Gericht, Dorf und Tal zum sofortigen Eintritt in die Bruderschaft der Bauern zu bewegen. Hier in Kirchzarten, im Vorland von Freiburg, nahm Hans Müller Kontakt auf mit den heranrückenden Markgräfler und Breisgauer Bauernhaufen, von Westen kamen die Kaiserstühler, von Norden die Bauern aus der oberen Markgrafschaft Hochberg. Freiburg war umlagert, eingeschlossen, nichts ging mehr, weder 169
hinein noch hinaus. Die Stadt war stark befestigt, mit Lebensmitteln reich versorgt, aber sie war auch überbevölkert, aus dem weiten Umland waren der Adel sowie die Insassen der Klöster und Stifte geflüchtet, hatten Schutz und Unterschlupf in der Stadt gefunden. Hans Müller umritt die Stadt, besprach sich mit den Obristen, Hauptleuten, erstellte einen Angriffs- und Belagerungsplan. Seine technischen und taktischen Kenntnisse der Artillerie, die er in Frankreich und beim Herzog erworben hatte, waren ihm hilfreich, ließen ihn die günstigsten Plätze für die Feuerstellungen auswählen. Die Verhandlungen mit der Stadt verliefen ergebnislos. Eine Belagerung, die Wochen, Monate beanspruchen würde, wäre für das nun auf über 18 000 Mann angewachsene Bauernheer selbst eine Herausforderung; ein Sturm auf die Stadt verlustreich und nicht auf Anhieb auch erfolgreich. So wurde viel beraten, diskutiert, er aber – der Schwarzwälder war voll Zuversicht – setzte auf einen raschen Erfolg: »Mir marschiered z Friburg i, iser Trummelschlag rißt Tor und Kriizstock uf, iseri Schalmeie fahred an de Huswänd nuf, holed s Blaue vum Himmel abe.« Während er so Mut und Hoffnung auf einen raschen Erfolg verbreitete, ereilte ihn die Nachricht, die ihm so ungeheuerlich erschien, daß er einige Zeit brauchte, um sich von diesem Schlag, dieser heraufziehenden Bedrohung zu erholen. Lange zweifelte er an der Wahrheit 170
der Mitteilung, doch dann verstärkte, verdichtete sich der Inhalt der Botschaft durch neue Berichte, die aus zuverlässigen Lagern, von Teilnehmern des Geschehens zu kommen schienen: Die Vorderwälder Bauern unter Thomas Mayer, ein Teil der He-gaubauern mit Bauern aus der Baar, die neckarabwärts nach Stuttgart gezogen waren und sich mit den württembergischen Bauern vereinigt hatten, hatten bei Böblingen eine der gräßlichsten Niederlagen erlitten. Der Herzog, der Antreiber zu diesem Feldzug, soll die Bauern an den Adel, an den Schwäbischen Bund, an ihren Feldhauptmann Georg Truchseß von Waldburg verraten haben. Der Herzog ein Verräter? Niemals, des Herzogs Feind ist der Schwäbische Bund mit diesem Truchseß von Waldburg, diese sind es, die ihm sein Land, seinen Rechtsanspruch verweigern. Doch ungeachtet aller Wahrheiten, Halbwahrheiten, die in den Berichten steckten, suchte er ihre Verbreitung vorerst im Bauernheer zu verhindern. Was aber hatte sich wirklich zugetragen? Nach der Vereinigung der Bauernhaufen Matern Feuerbacher mit Thomas Mayer entstand Uneinigkeit darüber, wer nun den Oberbefehl einnehmen sollte. Zuletzt übertrug man ihn dem Schenk von Winterstetten, der in dilettantischer Führung die Bauernmassen in unübersichtlichem Gelände auseinanderzog, wo sich gleich nach den ersten Attacken durch die Reiterformationen des Truchsessen die ersten Fluchterschei171
nungen bei den Bauern einstellten. In diese Auflösungen hinein stießen dann die von Oberitalien herbeigezogenen Söldnertruppen, schlugen, stachen, würgten tot, tot, tot. Ein Gemetzel entstand, wie es seit Jahrhunderten nicht mehr erfolgt war. Der Herzog, der aus erhöhtem Standort die Bewegungen verfolgte, eine günstige Position abwartete, um mit seiner 250 Mann starken Reiterei eingreifen zu können, erkannte sofort die Ausweglosigkeit, sah die Niederlage voraus. Er befahl den Rückzug. Noch in der Nacht erreichten sie Rottweil, tags darauf den sicheren Twiel. Die Schlacht begann morgens zehn Uhr und endigte nachmittags zwei Uhr. Der Adel nahm Rache für Weinsberg. Dort wurden an Ostern 70 Adelige durch die Spieße gejagt. Eine alte Quacksalberin, ›die schwarze Hofmännin‹, riß den Leichnam des Grafen Ludwig von Helfenstein auf und schmierte mit seinem Darmfett ihre Schuhe. Auch hier, nach der Schlacht, fand man Gefallen an einem scheußlichen Schauspiel. Im Bauernheer wurde Melchior Nunnenmacher ausfindig gemacht, er hatte bei der Hinrichtung der Edlen von Weinsberg auf seiner Pfeife aufgespielt. Mit einer eisernen Kette wurde er an einen Baum gebunden, rings um ihn Holz aufgeschichtet und angezündet. Der Truchseß und seine Gesellen ergötzten sich bei ihrem Siegesmahl an dem Geheul des so zu Tode Gemarterten.* 172
Für Hans Müller gab es nur eine Forderung, sie stand unablässig vor ihm: Jetzt mußte ein Sieg, ein Erfolg der Bauern kommen, damit solche Rückschläge leichter überwunden, verkraftet werden könnten. Es wurde Zeit, höchste Zeit, er drängte auf sofortigen Feuerüberfall. Die günstigsten Geschützstellungen boten die Hügel im Norden und Osten, Ausläufer des Schwarzwaldes, entstanden bei der Trennung von Schwarzwald und Vogesen. Der Rhein, das Wasser, das Fließende, die Verursacher aller Veränderungen im Zusammenwirken von Druck, Feuer und Eruption hatten hier eine Landschaft gezaubert, die durch ihre wechselhaften Formen und Gebilde, durch ihre sich rasch verändernden Luftströmungen, gepreßt in den Kanal dieser auseinandergerissenen Gebirge, als wohltuend, anregend, lieblich, aber auch als drängend, unruhig, zerstörend empfunden werden kann.
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m Morgengrauen krachte es von Hügeln und Hängen, bedrohlich das weithin sichtbare Mündungsfeuer, das erst durch den Tag vernichtet wurde. So wurde Schuß auf Schuß hinausgejagt. Die Rohre erhitzten sich so stark, daß die Kanoniere Eier darauf braten konnten. Die runden, kindskopfgroßen Eisenbollen
* Die Schlacht bei Böblingen-Sindelfingen war am Freitag, dem 12. Mai 1525, rund 8000 Bauern wurden dabei getötet.
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durchschlugen die Dächer, rissen Löcher in das Mauerwerk. Überall, durch Gassen, Durchlässe, Tore und Plätze spritzten die von den Steinen geplatzten Splitter. Das Zusammenkommen der eingeschlossenen Stadtbewohner untereinander, schon der Besuch von Nachbar zu Nachbar wurde gefährlich, zu einem gewagten Unternehmen. Es war aus mit der Ruhe, vorbei mit der behäbigen Freiburger Gemütlichkeit. Sie kamen zusammen, Bürgermeister und Räte, eine Abordnung des in die Stadt geflüchteten Adels und des Klerus. Sie alle schüttelten die Köpfe: Was für eine unmögliche Welt! Diese Bauern stellen alle greifbaren, seit Generationen gefaßten Einrichtungen auf den Kopf, den Anstand, die Ehrfurcht, die Sitte, die Gesetze; was für Flegel, was für ein unerzogenes, unordentliches Volk ist auf den Dörfern großgeworden, bollern in die Stadt, als hätte das alles nichts gekostet, die Gläser, Scheiben, die polierten, bemalten, geschnitzten Hölzer. Schon sind einige Brunnen getroffen, geben kein Wasser mehr, können nicht instand gesetzt werden, zu gefährlich, gleich kann der nächste Schuß kommen, dieselbe Stelle treffen. Das geht nun schon drei Tage, drei Tage und drei Nächte, wie lange noch? Sollen wir tatenlos zusehen? Wir schießen wohl zurück, aber wohin die Rohre richten? Sie verstecken sich hinter Büschen, wechseln in der Nacht ihre Stellungen. An Entsatz ist nicht zu denken. Wo bleibt Österreich, für das wir dies alles erdulden 174
müssen? Sollen wir unsere schöne Stadt, unsere herrlichen Bauwerke, für die wir noch lange arbeiten und opfern müssen, von diesen rohen Gesellen mutwillig zerstören lassen? Vertragen wir uns mit ihnen, machen wir einen Vertrag. »Wir halten aus, wir bleiben standhaft«, riefen die adeligen Herren, die geistlichen Würdenträger, denn sie fürchteten Repressalien, bangten um ihr Leben. Aber dann kam der ›Sotele‹ zu Wort und brachte alle die gegenteiligen Ansichten auf einen Punkt, auf seinen Standpunkt. Man nannte ihn den ›Sotele‹, weil er diese immer wiederkehrende Redewendung für jeden Anlaß bereit hatte; sotele, das heißt, so ist es, so kann man es lassen, das wäre getan, so bleibt es. Er war nicht erster Stadtrat, hatte auch sonst keine festgelegte Funktion im Stadtgetriebe inne, aber er besaß das, was man als einen gesunden Menschenverstand bezeichnete, darin eingeschlossen Mutterwitz, Schlagfertigkeit in jeder gegebenen Situation, Erfahrungen, die sich aus Brauchtum, aus vielen seit Generationen geübten Praktiken ableiteten. Dieser Sotele sagte: »Rutschen wir nicht lange hin, rutschen wir nicht lange her, stellen wir fest, daß wir eingeklemmt sind. Stellen wir fest, daß wir uns befreien können, mit einem kleinen Papierle, unterschreiben wir das Papierle.« Aber da gab es wieder Bedenken, das Ansehen der Stadt, die Schädigung, so kampflos, so rasch aufgegeben zu haben. Doch der Sotele meinte: »Bedenken hin, 175
Bedenken her, Ansehen vorn, Ansehen hinten. Was nützt es einem Toten, wenn er ein schönes Begräbnis hat mit ehrendem Nachruf? Unternehmen wir nichts, schmeißen sie unsere Stadt in den nächsten Tagen restlos zusammen. Also laßt uns eintreten in ihre Bruderschaft. Siegen die Bauern, so sind wir schon drin in ihrem Verein, siegen sie nicht, so sind wir wieder schneller draußen, als wir reinkommen.« Aber solches Gerede behagte dem Adel und der Geistlichkeit überhaupt nicht, sie bekamen dicke, rote Köpfe: »Unsere Sicherheit? Wer garantiert für unser Leben?« »Numme nit huddle«, beschwichtigte der Sotele und schickte ein leichtes Lächeln seinen Ausführungen voraus: »In dem Papierle wird festgelegt, daß alle Personen, Adel, Ritterschaft, Prälaten, Geistlichkeit, die sich in unseren Schutz gegeben, mit Leib und Gut gesichert und geschirmt bleiben. Dafür zahlen wir an die Bauern so und soviel Gulden, die Summe muß ausgehandelt werden, sotele.« »Auch noch bezahlen, das kann ich nicht verantworten vor der Bürgerschaft«, meinte ungehalten der Bürgermeister, »sie schmeißen uns die Fenster ein, und wir sollen dafür noch bezahlen.« »Ohne Geld geht nichts bei den Bauern, die schießen noch lange, die haben Lust am Böllern, wer das noch nicht gemerkt hat. Laßt uns zahlen und das Doppel176
te wieder einnehmen, einmal für das, was wir gegeben, und einmal für den Schaden, den die Stadt erlitten hat, sotele.« Was für ein verrücktes Geschwätz! Wie soll das zugehen? Zahlen und gleichzeitig das Doppelte einnehmen? Aber der Sotele erklärte und überzeugte: »Angenommen, wir zahlen an die Bauern 2000 Gulden, so fordern wir von Geistlichkeit und Adel 4000 Gulden, dafür wird ihnen von den Bauern und von der Stadt Schutz an Gut und Leben vertraglich garantiert. Laßt uns zwei Papierle ausstellen, eines für die Bauern und eines für unsere geflüchteten Herren.« So kam tatsächlich ein Bruderschaftsvertrag zwischen den Bauern und der Stadt Freiburg im Breisgau zustande. Zu den üblichen Beistandserklärungen wurde noch ein sogenanntes ›Verehrgelt‹ von 3000 Gulden ausgehandelt. Dafür sollten die sich in die Obhut der Stadt begebene Ritterschaft und Geistlichkeit – ihrs Leibs und Guts – gesichert und geschirmt sein. Dieser Vertrag wurde außer von dem Obristen und Feldhauptmann der Schwarzwälder Bauern, Hans Müller, von noch weiteren 14 Obristen, Hauptleuten und Unterhauptleuten unterzeichnet.*
* Der Vertrag kam am 24. Mai 1525 zustande.
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uf weichen Daunenkissen, ausgelegt auf Fensterbänken, Galerien, Altanen, ruhten Unterarme, aufgestützte Ellenbogen der Bürgersfrauen, geschmückt, hergerichtet, aufgedrehte Locken, wie Blumen farbig leuchtend hingen sie über die Brüstungen, richteten ihre neugierigen Blicke, ihr Lächeln hinab in die Gassen, in denen die Bauern vorbeizogen, siegestrunken, verbrüdert. Hinter den Frauen standen die Mädchen, die Jungfern, winkend, aufgeputzt zum Tanz. Unten, auf den Stufen vor den geöffneten Türen der Eingänge, die Herren, Bürger, Männer und Knechte. Zwischen ihnen die Kinder, sich vordrängend, trotz Ermahnungen, Schelten, Androhung von Strafen sich losreißend aus zurückhaltenden Händen, zwischen Hosenbeinen hindurchschlüpfend, auf die Gassen, zu den Bauern, mitmarschierend, ihnen zur Seite springend. Wie hatte dieser Schwarzwälder Hans Müller vorausgesagt: »Iser Trummelschlag rißt Tor und Kriizstock uf, iseri Schalmeie fahred an de Huswänd nuf, holed s Blaue vum Himmel abe.« So war es gekommen, ein blauer Himmel und Fliederduft umspülte Häuser, Plätze und Wege. 18 000 Bauern, jeder einmal Freiburg von innen sehen! Immer neue Abordnungen, Trupps marschierten hinein durch die Tore, riefen, sangen, schwenkten Tücher und Mützen, eingehüllt vom Geläute der Glocken: Sieg – Sieg, alle siegten, die Bauern, die Stadt, die Vernunft – sotele. Auch die 178
nahe Landbevölkerung war hergeeilt, richtete sich ein zum tage- und nächtewährenden Fest, trug ihre Mahlzeit in geflochtenen Handkörben mit. An jedem freien Platz, an steinernen Brücken, unter Bäumen wurde Wein ausgeschenkt, auf Ochsenkarren gebracht, von Winzern vom Tuniberg, Kaiserstuhl, aus Orten, in denen die römischen Legionäre schon gezecht hatten. Dieser Sieg, dieser Erfolg der Bauern, errungen ohne Schlachtenlärm, ohne Verluste, Tote, Verletzte legte sich rauschartig über das Bauernheer. In dieser euphorischen Stimmung wurde die Lage, in der sich die Bauern befanden, glorreich vernebelt, ein Zustand erzeugt, der sich im weiteren Verlauf als überaus schädigend, als selbstmörderisch erweisen sollte. Die Bauern waren nicht geübt, eine Niederlage einzustecken, noch weniger aber konnten sie einen solchen Sieg verkraften. Mit diesem Erfolg glaubten sie alles, restlos alles gewonnen zu haben. Es berührte sie kaum, daß die Bauern in Württemberg und auch im Elsaß drüben geschlagen, hingemetzelt wurden, das ist alles so weit von uns, hier haben wir gesiegt, wer will uns das streitig machen? Sollen sie nur kommen, dann stehen wir wieder zusammen, jetzt aber geht es erst einmal nach Hause. So lösten sich die Formationen auf, strebten dahin zurück, von wo sie ausgezogen waren. Die Bauern waren keine Landsknechte, keine Totschläger, die ihren Job berufsmäßig ausübten, auf ihren Sold warteten, um sich dann 179
weiterhin einer Ungewißheit, einem möglichen Tod zu stellen. Die Bauern wollten in Frieden ihr Land bestellen, säen, ernten und so im wahrsten Sinne des Wortes – im Schweiße ihres Angesichtes ihr Brot verdienen. Der Mai ging zu Ende und noch kein Samen war in der Erde, nur das, was die Frauen und Kinder notdürftig werken konnten. Der Winter würde kommen, und um die Not zu bannen, mußte noch manches getan werden. Hans Müller, einer der wenigen Bauernführer, der eine Vorstellung von möglichen, kommenden Ereignissen hatte, versuchte viele Kampfabteilungen zu halten, sie zu bewegen, mit ihm zurück über das Gebirge, zum See, nach Radolfzell zu marschieren. Dort belagerte ein Teil der Hegaubauern immer noch erfolglos die Stadt. Radolfzell, diese am See vorgelagerte österreichische Bastion, wird immer eine Bedrohung für die freiheitlich gesinnten Hegaubauern sein. Sie muß fallen, dann könnte man ein weites Gebiet, angelehnt an die Schweiz, den Rhein im Rücken, bis Basel und nordwärts, weit über Freiburg hinaus, den gesamten Schwarzwald einbezogen, beherrschen. Dies könnte dann ein Kernland, eine Schutzheimat für die neuen, geistigen, politischen Bewegungen werden, eine Stätte des lauteren Evangeliums, in der Gleichheit und Brüderlichkeit errichtet sind. Die noch dazwischenliegenden österreichi180
schen Ankerplätze, vor allem Laufenburg, würden sich zwangsläufig kampfl os ergeben müssen. So strebte er eine enge Allianz mit den Wiesentäler und Markgräfler Bauern an. Die Bauernführer Hans Schmidlin von Badenwiler und der Breckher von Schöpfen waren seinen Vorstellungen nicht abgeneigt, aber jetzt, gleich anschließend, in einem Atemzug hinauf an den See marschieren, das wollte man den Männern nicht zumuten, jetzt müßte erst mal Ruhe sein, später könnte man dann über manches beraten. Es ist nichts schwerer, als Sorglosigkeit zu zerstreuen, vor allem, wenn sie wie hier von einem Sieg getragen wird: Der heutige Tag ist unser, so wird es auch der morgige sein. So kam er schlecht an als Mahner, als Maler düsterer Zukunftsbilder. Aber hatte nicht die Beschießung von Freiburg gezeigt, daß Planung und Ausführung nicht harmonisierten? Vor allem endigte das Zusammenwirken der verschiedenartigen Einheiten oft in sich gegenseitig behindernden Aktionen. Auch der Vorrat an Kugeln war so ziemlich verbraucht worden. Warum fehlten Blei und Erze, wurden Gießereien nicht beauftragt? Vieles müßte getan werden, um solche Fehler zu beseitigen, um eine allesumfassende Organisation aufzubauen. Manche, der sich neu gebildeten Strukturen des Zusammenwirkens wurden durch diesen Sieg plötzlich wieder auseinandergerissen, wurden nicht weiterhin ausgeübt, gerieten in Vergessenheit. Über allem, über 181
jedem Gespräch stand dieser große Sieg – der Sieg wurde an der Größe der Stadt gemessen –, es bildete sich die Vorstellung, etwas Außerordentliches geleistet zu haben, von dem man noch lange sprechen würde. Die Landbevölkerung des Breisgau, der Markgrafschaft umschwärmte das heimwärtsziehende Bauernheer, verstärkte den selbsterzeugten Ruhmesglanz. Auch die Stadt Waldshut hatte sich mit einer Geschützabteilung an der Belagerung von Freiburg beteiligt. Mit ihr zog Hans Müller und einigen ihm treu ergebenen Bauernhaufen die südwärts gelegenen Täler hinauf, über die Bergsättel, nach Osten, dem Hochrhein zu.
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un lag das Wiedersehen so nahe, das Wiedersehen mit ihr. Dabei war sie immer bei ihm, um ihn, nur verdrängt im Hintergrund seiner Gedanken, vorgelagert war das immer neu zu bewältigende Tagesgeschehen eines Feldhauptmannes. Sie hatte ihm einen Spiegel mit ihrem Bild auf der Rückseite geschenkt. Der Spiegel war zerbrochen, aber das Gemalte lag zusammengerollt bei seinen wenigen Sachen, die er ständig mit sich führte. Doch brauchte er dieses Portrait nicht als Anreiz oder Stütze, um ihre Gegenwart herbeizuführen. Seine Vorstellungskraft führte sie so lebendig, blutvoll herbei, er sah, hörte, fühlte sie, spürte ihren Atem, unter seinen Berührungen knisterte ihr Haar, zeigten sich die Bewegungen ihres Körpers, fuhr 182
das Bett, in dem sie lagen, gegen die Strömung. Nun stand er wieder oben an der Halde, sah hinab zum Fischerhaus. Als er das letztemal zu Besuch gekommen war, war er voll Sorge gewesen, hatte ihn die Angst durchzittert, sie könnte nicht mehr hier sein. Er hatte sie in der abendlichen Dämmerung am Ufer gefunden, sie beim Auslegen der Wäsche überrascht. Jetzt war es Mittagszeit, eine grelle Sonne, welche die Augen blendete, lag auf den Steinen, sprang über die Wellenkämme des Flusses. Drüben, das schweizerische Ufer verlor sich im silberig schimmernden Dunst, den Sonne und Bodenfeuchtigkeit erzeugten. Er stand und wartete, gleich mußte sie aus dem Haus, hinter dem Haus hervorkommen. Die Nachricht von der Übergabe von Freiburg hatte schon vor mehreren Tagen die Stadt durcheilt. Seine Augen ließen das Fischerhaus, den Vorplatz, das nahe Ufer nicht los – ja, jetzt, die Türe bewegte sich, eine Gestalt, es war – es war der Fischer, er blickte zum Ufer, zu seinem Boot, wandte sich zur Halde, zur Stadt hin, sah ihn stehen, erkannte ihn, winkte, eilte zurück in das Haus. Nun wird er sie holen, schon ist er wieder zurück mit ihr, eine helle Bluse, nein, nicht sie, es ist die Frau des Fischers. Er eilte hinab, stand bei ihnen. »Sie ist nicht mehr hier, fort«, sagte der Fischer. »Fort?« fragte er. »Bei ihrer Schwester, der Pfarrersfrau?« »Nein, nein«, sagte die Frau und wies hinüber in 183
die Schweiz: »Ein Onkel kam aus ihrer Heimat und hat sie geholt.« Er stand ohne Regung, dann sagte er, als habe er nicht richtig verstanden: »Geholt?« und wiederholte es noch einmal, »geholt?« »Ihre Schwester, die Pfarreisfrau war auch dabei«, sagte die Frau des Fischers. »Ist sie auch mit?« fragte er. »Nein, sie hat sie nur hierher begleitet. Sie haben beide geweint, auch mir kamen die Tränen.« »Ja, wo es was zu plärren gibt, bist du dabei«, meinte der Fischer. »Ich habe es mit ihr gekonnt, wir haben uns so gut verstanden«, und wieder kamen ihr die Tränen. »Ich habe sie hinübergebracht, und als ich zurückkam, stand sie immer noch drüben am Schweizer Ufer und winkte herüber. Ihr Onkel mußte sie wegführen. Ich bin dann in das Haus gegangen, kam nach einiger Zeit wieder heraus, und da stand sie immer noch, mußte zurückgekehrt sein, und winkte. Ich dachte, sie winkt ihrer Schwester, die vielleicht noch oben an der Halde steht, aber da war niemand mehr. Sie winkte und winkte, daß ich glaubte, ihre Hand, der ganze Arm müßte herüberfliegen«, nach einer Pause fügte er noch hinzu, »ja, so war das«. Die Frau des Fischers war in das Haus gegangen und kam nun mit einem verschnürten Päckchen zurück: 184
»Das hat sie für dich zurückgelassen.« Er nahm das Päckchen, schien es zu betrachten, wendete es mit langsamen, völlig abwesenden Gedanken, Bewegungen, sah über den Fluß in die Ferne. Oben an der Ringmauer, unter schattigem Vorsprung öffnete er die Verschnürung. Er blickte auf eine bemalte, dünne Holztafel, in den Maßen etwas über die Länge und Breite einer Hand hinausgehend. Der Vordergrund, ein Drittel einnehmend, an den Seiten bis zur Mitte hinaufreichend, eine Blumen-, eine Sommerwiese, die alle nur denkbaren Farben und deren Mischungen vereinigte, angesiedelt in den Blütenblättern, Köpfen, Kelchen, Dolden, die aus dem getupften Blattgrün der Gräser, Rispen, Halme hervorleuchteten. Darüber schwebte in silbrigem Kleid vor blauem Hintergrund eine Frauengestalt, eine Madonna mit dem Kind auf dem Arm. Die Frau hatte die geringelten, tiefschwarzen Haare von Verena. Ist dies eine Wiedergabe des Bildes von der Giebelseite ihres Hauses, von dem sie mir erzählt hat? Links neben der Frau waren die großen Buchstaben H M und rechts V H mit schwarzer Farbe in den blauen Hintergrund eingezeichnet: »Hans Müller« und »Verena Hüglin«. Er wußte, daß sie Lese- und Schreibunterricht bei ihrem Schwager, dem Pfarrer, begonnen hatte. Auf dem Wege zum Pfarrhaus bewegte ihn der Gedanke, warum eine Vorahnung von einem Geschehen sich nicht dann verwirklicht, wenn man dieses Ge185
schehen erwartet, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt, wenn man an diese Vorahnung längst nicht mehr glaubt, sie sich als irrig erwiesen hatte. Damals, bei seinem letzten Besuch, hatte ihr die Vorstellung gemartert, sie nicht mehr anzutreffen, hatte er zwischen Hoffnung und Zweifel geschwankt und war durch ihre Gegenwart erlöst worden. Heute aber stürmte er voll freudiger Erwartung zu dem ersehnten Wiedersehen und wurde von der Vorahnung eingeholt. Liegt es in dem Wesen der Vorahnungen, daß sie über Umwegen, erst über vorausgegangene Täuschungsmanöver zum Schlage ausholen? Haben Vorahnungen die Funktion, das verspätet eintretende schlechte Ereignis zu mildern, es durch die schon vorausgegangenen erlittenen Spannungen, Erregungen zu neutralisieren? Er fühlte sich niedergeschlagen, erschöpft: Warum, warum konnte sie nicht warten, diese wenigen Tage noch abwarten? Im Pfarrhaus führte ihn die stille Magd in das ihm so gut im Gedächtnis gebliebene Zimmer, dessen Helligkeit durch die nun belaubten, vor den Fenstern stehenden Bäume gedämpft wurde. »Nein, warten wollte ich dich nicht lassen, so mußt du mich nehmen, wie ich mich soeben vom Ausruhen erhoben habe«, sie griff mit beiden Händen nach seiner Hand, seinem Arm, lud ihn zum Sitzen ein. Ihre langen, hellbraunen Haare breiteten sich aufgelöst auf einem fliederfarbenen, durchscheinenden Umhang 186
aus. Wie sind sie so außergewöhnlich schön, diese zwei Schwestern, zwar sehr verschieden …, er suchte nach einer Ähnlichkeit und glaubte sie in dem üppig geschwungenen Mund gefunden zu haben. Er sprach von seiner Bestürzung, sie nicht mehr angetroffen zu haben, von dieser übereilten Abfahrt. »Man hätte sie wegtragen müssen, sie wäre nicht freiwillig gegangen, aber dieser Umstand, dieses nun Eingetretene«, sie sprach nicht weiter, brachte ihm ein Getränk, dann netzte sie in einer Schale zwei Finger ihrer Hand und strich sich in die Winkel ihrer Augen. »Unser Onkel, der Bruder unserer Mutter, hatte den Auftrag – du mußt begreifen, wie sehr unsere Eltern in Sorge sind, diese unruhigen Zeiten –, er hatte den Auftrag, Verena unbedingt mitzubringen, aber wie ich schon sagte, dieser Umstand, dieser nun eingetretene Zustand bewog sie einzuwilligen.« Was redet sie immer von einem Zustand, einem Umstand, und er wartete auf eine nähere Erklärung, aber sie sprach von ihrer Mutter, die sehr empfindsam sei, nervlich überreizt und daher wenigstens eines ihrer Kinder zu Hause haben wollte. Er zeigte ihr das gemalte Andenken, das Verena ihm zurückgelassen: »Ein Gruß von euerm Elternhaus, dies ist doch die Madonna an der Giebelseite?« »Aber nein, jene Madonna ist blond, dies ist Verena, erkennst du sie nicht?« 187
»Wohl, es ist Verena, es sind ihre Haare, doch das Kind auf ihrem Arm?« »Es ist ihr Kind, dein Kind, es wird euer Kind sein«, sie sprach monoton, mit Pausen, aber ohne jede Hebung oder Senkung der einzelnen Worte. »Soll das bedeuten …?« »Ja, so ist es. Daß du nicht selber darauf gekommen bist. Nicht jede Liebe bleibt ohne Folgen. Als Verena Gewißheit, absolute Gewißheit hatte, fiel es ihr leichter heimzureisen, denn nun mußte sie etwas bewahren, in sich beschützen, sie sagte: ›Er hat sich in mich eingepflanzt, ich darf das Wachstum nicht stören, möglichen Gefahren aussetzen, so wird er mir verzeihen, daß ich nicht länger gewartet habe, ohne Abschied gegangen bin‹.« »Wollte sie auf meine Zurückkunft warten?« »Wie kannst du nur fragen! Aber es ging nicht, es war alles festgelegt, der Tag, die Strecke der Reise, niemals wäre unser Onkel ohne sie gefahren.« Frau Elsbeth war in die Nähe eines Fensters getreten und kehrte nun zu ihm zurück. Ihr leichter, fast schwebender Gang, die Formen ihres Körpers, der Glieder, die im Spiel mit ihren Bewegungen durch den leichten Umhang modelliert und wieder verwischt wurden, dazu der Ausdruck ihres Gesichtes, der seine bedrückte Stimmung nachempfinden, aber gleichzeitig auch wieder erhellen wollte – dieses Bild sollte sich seinem Ge188
dächtnis immer wieder zeigen, sollte lebendige Erinnerung werden. Der Pfarrer kam, ließ sich von dem unerwarteten Erfolg über Freiburg berichten. Das Gespräch wurde am Abend bei einem Essen fortgesetzt. »Dieser Freiburger Sieg, er wirkte wie ein befreiender Atemzug, er brachte wieder Mut und Zuversicht in unsere Stadt, ein frischer Wind, der die Türme hinauffuhr, die Glocken zum Klingen brachte.« Der Pfarrer redete sich in eine Begeisterung, die unecht wirkte, denn er hatte kurz zuvor bemerkt, wie ringsum im Lande die Trostlosigkeit eingekehrt war, Christus wieder tausendfach gekreuzigt wurde. Hans Müller blieb auf dem Boden der sachlichen Gegebenheiten, seine Sorge war, woher in Eile ein neues, gutgerüstetes Heer gegen Radolfzell zusammenzurufen. Er sah in der Kurzsichtigkeit vieler Bauernführer, in der laschen Ausbildung der Kampfabteilungen die Schwäche der Bauernbewegung. Man kam auf die Schweiz zu sprechen, beklagte, daß man sie nicht als Verbündeten hatte gewinnen können. »Die Schweiz«, meinte der Pfarrer, »ist ebenfalls in sich zerrissen und uneins«, so kam er auf seinen lange schwelenden Streit mit Zwingli zu sprechen und auf sein Traktat, das Taufbüchlein. Hans Müller konnte diesen religiösen Ausführungen, die der Pfarrer mehr oder weniger als Selbstgespräche führte, kaum Interesse abgewinnen. Manch189
mal fragte der gelehrte Doktor ihn nach seiner Meinung, wartete aber eine Antwort kaum ab, gab sie sich selbst, gab sich zwei gegenteilig gelagerte Antworten, wobei er eine davon beweiskräftig widerlegte. So verirrten sich ihre Gespräche, blieben in der vorgegebenen Situation der so unterschiedlichen Persönlichkeiten hängen. Übereinstimmung aber erzielten sie in der Beurteilung der gegenwärtigen Lage und darin, daß noch zu keinem Zeitpunkt das Geschick, die Zukunft der Stadt Waldshut so unentrinnbar mit dem Erfolg oder Niedergang der Bauernbewegung verbunden war. »Ihr müßt siegen!« rief der Pfarrer zum Abschied, nannte ihn: »Herzbruder.« Frau Elsbeth umarmte ihn: »Unser Lieber, guter Schwager.«
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or Radolfzell angekommen, stürzte er sich sofort in die bis jetzt noch nicht ergriffenen Vorbereitungen, um die belagerte Stadt auch restlos von jeder Zufuhr abschneiden zu können. Vieles war versäumt worden, die Blockade der Wasserwege lückenhaft, vor allem aber fehlten Geschütze, und was kaum zu begreifen war, der Vorrat an gegossenen Kugeln war ausgegangen, Werkstätten waren nicht ausreichend und nicht rechtzeitig beauftragt worden. Als Ersatz wurden aus Eichenholz gedrehte »Bollen« verschossen. Er eilte den Hegau hinauf, in die Baar, versuchte dort eine Nachschuborganisation für Kriegsgerät aufzubau190
en, vor allem aber auch zu werben, die Kampfstärke zu erhöhen, um etwaige Angriffe auf die Belagerer rechtzeitig abwehren zu können. Unter all diesen Vorbereitungen neigte sich der Juni seinem Ende entgegen. Berichte, Meldungen, die sich überwiegend als Gerüchte herausstellten, schwirrten durch das Bauernheer: So wollte man in der Abenddämmerung schwarze Schiffe gesehen haben, die, von Bregenz kommend, Entsatz für die Eingeschlossenen gebracht hätten. Der helle Tag entlarvte das Geschwafel als Spuk und Nebelgebilde. Doch hatte Erzherzog Ferdinand den Vogt von Bregenz, Mark Sittichen von Embß, und den Grafen Felix von Werdenberg schon vor Wochen beauftragt, die bedrohliche Lage vor Radolfzell zu beenden. Mit 8000 ausgebildeten Kriegsknechten, unterstützt von Artillerie und vorpreschenden Reiterformationen, zerschlugen sie am 2. Juli zwischen Radolfzell und Steißlingen die Hauptmacht des Bauernheeres. Um die Verwirrung im Bauernlager zu vervollständigen, stürmte die Besatzung der Stadt aus den Toren, verhinderte alle Versuche der Bauern, Ordnung in ihre Abwehr zu bringen. Hans Müller, der den völligen Untergang zu verhindern suchte, war in die Nähe von Hilzingen geritten, um die dort stehenden, noch intakten Bauernhaufen den Siegern entgegenzuwerfen. Aber auch diese letzte Anstrengung erwies sich als erfolglos, ging unter in dem tags darauf folgenden Gefecht. 191
Er selbst war in ein tumultartiges Gemenge geraten, schlug um sich, ohne zu sehen, zu zielen, drehte sich wie ein Rad, an dessen Ende das Schwert war, bis der Drehpunkt erstickt war, das Eisen seinen Händen entfiel. Er lag mit dem Gesicht zur Erde, erhob sich in der Nacht, tanzende Ringe vor seinen Augen. Mit ihm erhoben sich noch viele, hinkend, kriechend, stöhnend, sie waren die letzten, zurück blieben die Toten, voraus war die Flucht der Unzähligen gegangen.
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ie ein großes, dunkles Auge, aus der Landschaft herausgestoßen, um alle Vorgänge, Niederungen, Erhebungen sehen, überblicken zu können, stand der Twiel. Das kommende Tageslicht strich an seinen Flanken herab, füllte die Risse mit beweglichem Dunst. Vor dem Aufgang zur Festung standen des Herzogs Wächter, sie hatten Anweisung, keine Flüchtigen aufzunehmen. Der Herzog, noch vor einigen Wochen der Verbündete der Bauern, war jetzt in die Rolle strikter Neutralität gefallen. Seine Verlautbarungen: Mein Streben, mein Kämpfen, mein Ziel, die Zurückgewinnung meines Herzogtums, alles, was diesem nicht dienlich, sondern nachteilig, schädigend ist, muß abgelehnt werden. Hans Müller verlangte nach dem Vertrauten des Herzogs, dem Schweizer Rudolf zum Bühl. Dieser erlaubte nach Rücksprache mit dem Herzog eine vorläu192
fige Unterbringung mit Hilfeleistung für die Verwundeten, die sich bis hierher noch schleppen konnten. Tausende starben auf den Feldern vor ihren Dörfern, die sich nicht mehr erreichten. Hans Müller bot er die Rückkehr in seine Dienste nach Mömpelgard an, bestellte ihn zu einer kurzen Unterredung, die tags darauf gegen Abend auf der Bastei stattfand. »Du lehnst mein Angebot ab, glaubst noch an die Sache der Bauern? Es ist vorbei, Hans Müller, es ist endgültig vorbei. Sie gehen daran, es ihnen auf Generationen, auf Jahrhunderte hinaus auszubrennen«, er wies auf die vielen Feuerstellen, die ringsum im Land durch die hereinbrechende Nacht erst in vollem Ausmaß sichtbar wurden, hochstießen und den tiefblauen Horizont mit rötlichem Schein überfackelten. »Meine Melder berichten von 24 Dörfern, die bis jetzt ausgeraubt und niedergebrannt wurden. Wer sich wehrte, verschmort jetzt in den Gehöften. Auf den Feldern wird der Schrei der Krähen nicht enden, bis Frauen und Kinder genügend Erde über die Toten gescharrt haben. Begonnen hat die Zeit der Vergeltung, der blindwütigen Rache, die noch lange dauern wird – es ist vorbei, Hans Müller, der Traum der Bauern ist zu Ende.« »Es ist auch mein Traum, noch lebe ich, noch ist es nicht soweit.« Hans Müller sprach von seinem Plan, den noch unbezwungenen Klettgau mit Waldshut und Zuzug aus der Schweiz zu verbinden, zu verstärken, 193
die Wiesentäler, die Markgräfler Bauern zu mobilisieren, die noch vorhandene Möglichkeit eines erfolgreichen Widerstandes zu nutzen. Der Herzog wirkte müde: »Wir haben uns beide geirrt, wir vertrauten, wir setzten auf die Überzahl der Bauern, doch hat sich gezeigt, daß hundert gut ausgebildete, in straffer Führung gehaltene Landsknechte tausend Bauern in eine flüchtende, sich gegenseitig zu Tode trampelnde Horde verwandeln können. Nur noch mit Söldnern kann man Kriege erfolgreich führen, gewinnen. Es ist eine Sache des Geldes geworden, Geld und Macht sind unzertrennbar miteinander verschmolzen.« »Aber die Schweiz? Kann sie tatenlos zusehen, wie die Freiheit an ihren Grenzen erdrosselt wird?« »Die Schweiz und das Geld, es gibt kaum etwas, das besser zusammenpaßt. Ich habe es durchexerziert, es waren Schweizer, die mir als erste zuliefen, aber auch die ersten, die mir davonliefen, als der Boden in meinem Geldsack sichtbar wurde. Hoffe nicht auf die Hilfe der Schweizer. Vielleicht sind sie schon gebunden, durch Geld gebunden an Österreich.« »Wie soll ich das verstehen?« Die Frage des Bauernobersten klang überrascht, insgeheim aber wertete er die Andeutung des Herzogs als Ausflucht, als persönliche, hingeworfene Vermutung. »Verstehe es, wie du willst. Dein Weg zum Klettgau 194
führt dich über die Schweiz, versuche dein Glück als Werber. Aber laß dir Zeit, laß deine Wunden verheilen. Man soll dir ein Pferd geben, bringe es zurück, wenn du dich selbst zurückbringen willst, ich suche tüchtige Leute.« Der Herzog begann seine rastlose, nächtliche Wanderung entlang der Bastei, eine zur täglichen Gewohnheit gewordene Übung, er suchte nach einem neuen Wahlspruch, den er nach Jahren fand, den Spruch der protestantischen Fürsten Deutschlands: Verbum Domini manet in aeternum (Das Wort des Herrn währt in Ewigkeit).
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ie baulichen Veränderungen, die sich seit seinem letzten Aufenthalt in Schaffhausen vollzogen hatten, erregten seine Neugier, seine Bewunderung, sie ließen ihn seine körperlichen Beschwerden, ausgelöst durch seine Verwundungen, völlig vergessen. Seine Schritte wurden leicht, seine Augen wanderten den Sehenswürdigkeiten voraus. Die Festung, der Munot, hoch über der Stadt, war in seinen gewaltigen Ausmaßen schon sichtbar, versprach ein seltenes Ereignis seiner Art zu werden. Hinter dem bewaldeten Bergklotz schoß der Rhein hervor, die Krümmung des Laufes schien die Geschwindigkeit der Strömung zu bestimmen, zu beschleunigen. An den gedämmten Flanken hingelagert die Stadt, steinerne Masse, dunkelgrau, 195
hellbraun, ziegelrot, Türme, Straßen, Kreuze, Fahnen, metallgegossenes Geläut. Er nahm Quartier in dem von hohen, alten Bäumen umstandenen Klosterbezirk von Allerheiligen. Bekannt waren ihm einige Unterhauptleute von Söldnerführern, er suchte sie auf, warb um Zuzug von Freiwilligen. Nach zwei Tagen wurde er verhaftet, in eines der Torgefängnisse gebracht, verhört und nach den Auftraggebern seiner Werbetätigkeit befragt. Auf die Fürsprache eines Söldnerführers kam er frei, mit der Auflage, die Stadt sofort zu verlassen und künftighin jegliche Abwerbung eidgenössischer Bürger in fremde Kriegsdienste zu unterlassen. Er suchte nach Gründen für diese schroffe Haltung und erinnerte sich der Andeutung des Herzogs: Die Schweiz durch Geld bestochen von Österreich.*
* Eine Vermutung, die sich hartnäckig hielt und sowohl von Österreich als auch von der Schweiz zurückgewiesen wurde. Noch nach Monaten, als sich Waldshut ergeben mußte und unter österreichischer Besatzung stand, an Lichtmeß 1526, wurde ein Waldshuter Bürger, Ulrich Bachmann, dieser Behauptung wegen, er nannte auch noch die Bestechungssumme von 16 000 Gulden, auf dem Fischmarkt öffentlich bestraft: Seine Zunge wurde an ein Brett genagelt. Aus Gnade und Barmherzigkeit oder mehr noch aus Hohn und Verachtung wurde ihm ein Messer in die Hand gegeben, um sich selbst freischneiden zu können.
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s gibt Mut, Kraft und Zuversicht, solch entschlossene Männer und Frauen zu erleben, eine solch verschworene Gemeinschaft, wie sie Hans Müller im Klettgau, in Grießen antraf. Er kam dazu, als der Bauernführer Klaus Wagner und der reformatorische Pfarrer Johannes Rebmann in einer abendlichen Zusammenkunft bei Fackelschein ihren Zusammenhalt bekräftigten. Singend gingen sie auseinander, der Pfarrer reichte allen zum Abschied die Hand, nahm sich Zeit, um nachher noch in ausführlichen Gesprächen auf persönliche Anliegen einzelner einzugehen. Hans Müller sah den heimwärts ziehenden Gruppen nach, die sich in den Häusern verloren, hörte die Stimmen, der sich weit entfernenden Auswärtigen, die aus den benachbarten Höfen, Dörfern hier zusammengekommen waren. Er hörte die Fuhrwerke abfahren, das Getrappel der Pferde, die anfeuernden Rufe der Kutschierenden. Es fiel ihm auf, daß Männer wie Frauen außergewöhnlich gut gekleidet waren, die Frauen hatten sich breite, aus Wollsträngen geknüpfte Umhänge über die Schultern gelegt, um den Gegensatz von heißem Sommertag zu stark abkühlender Nacht zu mildern. Die Gespräche, die er anschließend noch mit dem Bauernführer Wagner und dem Pfarrer Rebmann führte, zogen sich weit über Mitternacht hin. Es hatten sich noch ein Dutzend Männer dazugesellt. Man saß auf hölzernen Bänken, die um steinerne Tische liefen, un197
ter breit ausladenden Nußbäumen. In Abständen zog die Nachtwache vorbei, die man der unruhigen Zeiten wegen auf zwanzig Männer erhöht hatte. »Hat der Klettgau nicht alles, was den Menschen erhält, ihm zum Nutzen dient?« Der Pfarrer hob seinen Becher, »auch der Wein, den wir trinken, wächst an unseren Hängen.« Es machte ihm Freude, die Vielzahl der Früchte zu nennen, die Getreidearten, auch Wasser, Wald und Auen zu erwähnen, die gut besuchten Märkte, die Vielzahl der Reisenden, welche die Durchgangswege benutzten, »und deshalb nur, unseres Reichtums wegen, werden wir begehrt, wird um uns gewuchert, geschachert, werden wir verkauft und wieder zurückgeholt, werden Kriege um uns geführt, werden wir an irgendeinen hochnäsigen Gimpel vererbt, der unsere Ernten verpraßt, uns hungern und fronen läßt.« »Aber das ist nun vorbei«, rief der Bauernführer Wagner, »endgültig abgeschieden. Unsere Rücken soll niemand mehr beugen, weder die Gewalttätigen noch diese Papperlapapp-Ploderer – eine Ladung Dreck in die Augen, einen Löffel voll Brei um das Maul geschmiert –, das ist vorbei, auf alle Zeiten vorbei.« Die Reden der Männer steigerten, erhitzten sich, es war offenkundig, diese letzten Monate der Freiheit, der Selbstbehauptung, der Verwaltung ihrer angestammten Region wollten sie nicht mehr aufgeben, keinen 198
Rückfall mehr unter die Botmäßigkeit fremder Herren hinnehmen. »Wir haben uns für Christus, für das wahre, unbefleckte Evangelium entschieden«, die Stimme des Pfarrers legte sich beruhigend über die herausgestoßenen Anklagen, Verwünschungen der Männer, von denen jeder Not, Drangsal, tyrannische Behandlung durch die Herrschaft schon erleiden mußte, »er wird bei uns sein, welchen Weg wir auch immer einschlagen werden.« Auch Klaus Mayer war unter den Anwesenden, er war der Instruktor der Klettgauer Bauernhaufen, über tausend Mann befehligte er: »Wir wollen nie vergessen, was uns Thomas Münzer bei seinem Besuch im Winter gelehrt und geheißen hat: ›Fragt sie, diese büffelwütigen Tyrannen, wer ihnen das Recht gab, uns zu knechten? Der ewige, lebendige Gott hat uns geheißen, sie mit Gewalt von ihrem Stuhl zu stoßen, denn sie sind der Christenheit nichts nütze und müssen ausgereutet werden – ja, ausgereutet, sie müssen ausgereutet werden‹.« »Uns bleibt die Verteidigung«, Pfarrer Rebmann brachte die Gespräche zurück auf die augenblickliche Situation, in der sie standen, »so wollen wir jeden Tag nützen und uns auf ihren Angriff vorbereiten. Nach Berichten, die uns laufend zugehen, sieht es nicht so aus, als wollten sie in nächster Zeit mit voller Kriegs199
macht gegen uns anrücken. Die Söldnerheere um Radolfzell werden nordöstlich abgezogen.« Hans Müller berichtete noch einmal ausführlich von der Radolfzeller Niederlage, von seinem mißlungenen Versuch, Verstärkung aus der Schweiz zu gewinnen. »Uns laufen Schweizer zu, junge, wehrhafte Männer, an die hundert sind schon bei uns, es werden noch mehr kommen«, bemerkte Klaus Mayer, der Ausbilder der Kampfeinheiten. »Es sind treue Glaubensbrüder, die uns beistehen wollen und sich über die Anordnungen ihres Landes hinwegsetzen«, ergänzte der Pfarrer. Hans Müller betrachtete die Zerschlagung der Bauernhaufen vor Radolfzell als seine eigene Niederlage. Die Betäubung, welche diese vernichtenden Vorgänge bei ihm hervorgerufen hatten, war etwas gewichen, die Wunden so ziemlich geheilt, dafür wurde ihm die Ausweglosigkeit der Bauernbewegung immer deutlicher vor Augen gestellt, er hörte den Herzog: Der Traum der Bauern ist zu Ende, auf Generationen, auf Jahrhunderte hinaus vorbei. War er nicht immer mit Hoffnung, mit weit vorauseilenden Plänen an eine Sache herangegangen? Aber dies war keine beliebige Sache, die man zur gegebenen Zeit zur Seite legen konnte, dies war sein Lebenswerk, mit ihm würde auch er fallen, untergehen, von dieser Erde verschwinden. Um so mehr bewunderte, beneidete er die Klettgauer um ihre Arglo200
sigkeit, um ihren unerschütterlichen Glauben, sich gegen eine Übermacht behaupten, erfolgreich verteidigen zu können. Was konnte er noch anderes tun, als ihnen in ihrem Entscheidungskampf beizustehen? Vielleicht ihnen seine Zweifel mitteilen? Noch gab es die unbesiegten Wiesentäler und Markgräfler Bauern. In ihrer Erlebniswelt stand der große Sieg über Freiburg noch im Vordergrund, die Niederlagen im Unterland und vor Radolfzell kannten sie nur aus Berichten, waren noch nicht wirksam in sie eingedrungen. Wenn man sie bewegen könnte, und es müßte gelingen, sie als Schutzwall westlich und nördlich einzusetzen, zur Verteidigung der Höhenpässe und der südlich gelegenen, offenen Flußtäler, dahinter Waldshut und der Klettgau als Stoßkraft, um eingedrungene, weitervordringende Angreifer zu stellen, zurückzuwerfen, so würde das Gebiet, das man freihalten könnte, zwar immer kleiner, aber man könnte den Sommer, den Herbst, den Winter überstehen, und dann? Dann würde man schon weitersehen, bis dann könnte sich manches geändert haben, zum Vorteil der Bauern sich eingestellt haben. Er unterbreitete den Klettgauern seinen Plan: »Ich kann nicht versprechen, ein neues Bauernheer zusammenzurufen, ich weiß nicht, was mir gelingen wird. Doch werde ich im Wiesental, in Schopfheim alles daransetzen, um sie zu überzeugen, wie wichtig, wie geradezu lebenserhaltend es für uns alle ist, jetzt zusam201
menzustehen, alle Kräfte einzusetzen. Morgen werde ich meinem Pferd noch Ruhe gönnen, dann werde ich reiten. Ich hoffe, daß ihr bald gute Nachricht von mir erhaltet.« Es ist nicht leicht, sich von einem System auf ein anderes plötzlich umzustellen. Den Klettgauern war es gelungen: Sie hatten das herrschaftliche Feudalwesen mühelos abgeschüttelt, den Landbesitz neu verteilt und eine für jeden überschaubare Verwaltung eingeführt. Hans Müller schien es, als ob die Bevölkerung auf den Feldern mehr und freudiger arbeitete als anderswo und zu früheren Zeiten. Der Rücken beugt sich leichter für Eigentum, das man mit Interesse wachsen sieht, man erntet die eigenen Früchte, behält sie, verkauft sie, tauscht sie um, belebt, regt durch dieses Handeln den Geist an. All dies wirkt ein auf die Beweglichkeit der Gedanken, die durch eine eintönige, tägliche Fron zu ersticken drohte. Ein neues Lebensgefühl ist entstanden, das dem einzelnen wohl höhere Leistungen abfordert, ihm dafür aber eine bis dahin nicht gekannte Befriedigung, eine Wertschätzung seiner eigenen Person zurückgibt. Es hielten sich einige Waldshuter in Grießen auf, zwei dieser Männer, die am Abend auch an den Gesprächen teilgenommen hatten, erboten sich, mit dem Bauernoberst nach Schopfheim zu reiten. In gut neun Stunden, Rast und Erholung für Pferde und Reiter 202
mit einbezogen, konnte die Strecke bewältigt werden, die über eine der wechselvollsten, anregendsten Landschaften, Niederungen, Flußtäler, Gebirgskämme führte. Ein gefahrloser Ritt, nur das Gebiet des Laufenburger Vogtes sollte gemieden, vorsorglich umgangen werden. Es war später Vormittag, als sie losritten, der Himmel leicht bedeckt, mit grauweißen, teilweise mit rundgeballten, etwas helleren Wolken überzogen. Vom Rheintal her strich ein belebender Wind, eine angenehme Erholung nach den vorausgegangenen, heißen Tagen. Am Rande der Siedlung, auf einer von Bäumen umsäumten Wiese, spielten Kinder. Sie hielten ein ausgebreitetes Tuch in den Händen, an jedem Zipfel des Tuches zwei bis drei der Kinder, sie hielten es gestrafft, denn oben in den Ästen des Baumes warteten welche, bereit zum Sprunge hinab in das Tuch. Mit aufmunternden Reden, nun endlich zu springen, standen andere zur Seite, vor allem schaulustige Mädchen, die Köpfe nach oben gerichtet, die langen Haare reichten tief in den Rücken. Dann rauschte es durch die Blätter, der mutige Springer wurde aufgefangen, nachfolgend noch mehrmals wippend in die Höhe geschickt. Das Spiel erfuhr seine Steigerung durch den immer höher im Baum gewählten Platz der Springenden. Manchmal traf der Springer nicht die Mitte des Tuches, es wurde an einem der Zipfel den Haltenden aus den Händen 203
gerissen, so daß sie lachend allesamt durcheinander, übereinander purzelten.
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ieses Spiel, die fröhlichen Rufe, das muntere Bewegtsein der Kinder, die sonst wie üblich zur Sommerszeit von den herrschaftlichen Aufsehern auf die Felder zur Arbeit geschickt wurden, nahm er als eines der letzten, sonnenüberstrahlten Bilder hinein in die Düsternis seiner letzten Lebenstage, hinein in das modrige, stinkende Felsenverlies, in das man ihn gestoßen hatte. In einer von Schmerzen durchtobten Wahrnehmung, die gerade noch am Rande von bewußtem Empfinden dahintaumelte, geisterten die Bilder von gleißendem Licht, von Wolken, Wind, von warmer Erde und Geborgensein als zuckende Blitze in sein zerstörtes Gedächtnis. Nun hatte er zwei Tage einer beginnenden Folterstrecke hinter sich, die in ausgeklügelter, in einer zur Wissenschaft ausgebildeten Weise, die über Erfahrungen, Praktiken verfügte, die seit Generationen zusammengetragen, nur dem einen Ziele diente, den Delinquenten durch gesteigerte Schmerzzu-fügung so zu zerstören, daß er sich selbst als das schmutzigste, niederträchtigste Stück Menschendreck vorkam. Man hatte ihn auf einen Stein gesetzt, der spitz nach obenhin zubehauen war, seine Füße und seine Kniegelenke waren an eine aus dem Boden ragende Eisensäu204
le so straff gefesselt, daß ein Verrücken der Lage unmöglich wurde. In seinen entblößten Rücken, auf die Wirbel gerichtet, zielte eine stumpfe Eisenstange. Die Kopfhaare waren zusammengefaßt, geknotet und mit Schnüren an einem Mauerring befestigt und so straff nach hinten angezogen, daß das Gesicht in fast waagrechter Lage nach oben gerichtet war. Öffnete er die Augen und war es gerade Tag, so sah er über sich an einer grobgefügten, gewölbten Steindecke undeutliche Licht- und Schattenreflexe. Dieses Wechselspiel erzeugte Gedanken, Vorstellungen, Phantasien, die dann bei geschlossenen Augen zu Bildern mit agierenden Gestalten wurden. Immer war ein Rauschen zu hören, ein gleichmäßiges Rauschen, das, von dem Raum aufgenommen, beruhigend auf ihn wirkte, ihm zeitweise zu klaren Gedanken und Überlegungen verhelfen konnte. Der Rhein mußte es sein, der Wellengang der Strömung, der sein Folterverlies umspülte. Es war alles so gut angelaufen in Schopfheim, die Gespräche, aus denen eine Bereitschaft zu helfen, die Pläne zu unterstützen herauszuhören war. »So ein kleines Feldzügle, warum nicht«, hatte der Breckher gut gelaunt gemeint, aber am Ende kam doch nichts heraus als Gerede, Vorbehalte, Ängste. Auch eine Zusammenkunft mit den Markgräflern verstärkte den Eindruck, daß man müde war, des Kämpfens müde – war nicht schon zuviel Blut, allzuviel Blut vergossen wor205
den? Auch werden die Herrschaften jetzt gemerkt haben, daß es so nicht mehr weitergehen, daß der Rükken der Bauern zwar breit und geduldig, aber sich auch straffen, erheben kann, diese Lehre werden sie doch wohl begriffen haben. Aber man versprach, wenn Not am Mann sei, zu helfen. War denn jetzt keine Not? War sie nicht jetzt am größten? Schon als sie wegritten, sann er auf neue Möglichkeiten des Widerstandes. Vorerst nach Waldshut, und dann wollte er Kunz Jehle aufsuchen, um dessen Stoßtruppen zu einer größeren, geschlosseneren Kampfkraft zusammenzufassen. Auch über Bonndorf hinaus, droben, auf der Baar, könnte man noch einmal versuchen zu werben. Sie eilten den Hufen der Pferde voraus, die Zukunftsblitze, die geplanten Möglichkeiten, sie endeten in dem Steinhagel eines Hinterhaltes, in den sie geraten waren. Als letztes wahrgenommenes Bild stand eine geschlossene Dornenhecke, die sich oben an einem leicht ansteigenden Hang entlangzog. Aus ihr heraus flogen die Steine, und sie kamen auch von hinten, als sie mit den scheuenden Pferden seitlich ausscheren wollten. Am Hinterkopf getroffen fiel er betäubt zu Boden, kam zu sich, als er gefesselt auf einem quietschenden Holzkarren lag. Knechte des Laufenburger Vogtes hatten sie gesichtet, sie unbemerkt umstellt und auf diese Weise kampflos in ihre Hände gebracht. Was für ein Fang! Der Vogt, Ulrich von Habsberg, sprang mit seinen leicht geschwun206
genen Beinen die breiten, steinernen Stufen hinauf, hinab, er hätte seine Knechte umarmen können, seine lobenden Ausrufe überschlugen sich in hellen, zerquetschten Wortfetzen. Nun war es ihm gelungen, ihm als ersten, diesen Bauernkönig in seine Gewalt zu bringen, dem Erzherzog wird er melden können: Ich habe ihn, ich habe diese stinkende Bauernratte in meinem Verlies. Auch die Tage von Waldshut sind nun gezählt, auch sie wird sich kampfl os ergeben müssen, ich werde es sein, der dort einzieht, ich, der an Reiches statt die Strafen verhängt. Die beiden Waldshuter, die Begleiter von Hans Müller, fügte er sofort in seine Pläne ein. Sie wurden gut bewirtet, aber am dritten Tag hinunter in die Folterkammer geführt. Unbemerkt von Hans Müller wurden sie gezwungen, zuzusehen, wie dieser auf der Streckbank in einem aussichtslosen Kampf immer stärkere Qualen erlitt. Die Sehnen, Bänder an den Gliedern wurden bis zum Zerreißen gespannt, die Kugeln aus den Gelenken getrieben, Blutgefäße platzten, füllten die Innenhöfe der auseinandergetriebenen Räume, dann ein plötzliches Nachlassen des Streckapparates, dieses plötzliche Aussetzen, das Zurückbilden der gezerrten Teile erfolgte unter nicht vorstellbaren Schmerzen, die Feuerstößen gleich vom Gehirn bis zu den Zehen rasten. Die bis zum Ersticken zurückgehaltene Schmerzäußerung brach mit Schreien, Stöhnen aus Hals und Mund, die Augen wurden mit blutigem 207
Wasser überflutet. »Er jubelt«, ein Fachausdruck der Foltermeister. Bei Hans Müller erfolgte dieser Zustand erst kurz vor der Bewußtlosigkeit. »Daß er nicht verreckt«, mahnte der Vogt, und dann befahl er den zwei Waldshutern sich auszuziehen: »Nun seid ihr an der Reihe«, da fielen sie nieder, winselten um Gnade, und er nahm sie zur Seite, machte sie zu seinen willenlosen Werkzeugen. Sie mußten schwören bei Leib, Gut und Leben, bei Weib und Kindern, alle Aufträge, Befehle getreu bis zur Todesgefahr zu erfüllen: den Aufruhr in der Stadt zu schüren, zur gegebenen Zeit an verschiedenen Stellen Brände zu legen, die Torwachen anzugreifen. Damit entließ er sie. Der Monat Juli dieses denkwürdigen Jahres endigte ohne Erlösung der Qualen des Bauernführers Hans Müller. Er hatte versucht sich umzubringen, die Nahrung zu verweigern, sie wurde ihm mit Gewalt eingeflößt, den Atem anzuhalten, es gelang nicht, der Wille unterlag den unter Druck gesetzten, alle Hemmnisse sprengenden Organen, die nur auf den Weiterbestand des Lebens ausgerichtet waren. Nun war sein Wille, seine geistige Kraft nur noch ein flatterndes, weißliches Tuch, eine Geisterhand, die von einer fremden, unbestimmbaren Macht gelenkt wurde. Er war nicht mehr fähig, Gespräche aufzunehmen, einzuordnen oder Schlüsse daraus abzuleiten. Jede Wahrnehmung erfolgte nur noch in verworrenen Bildern, vor deren Hinter208
grund der Feuerherd gesammelter Qualen flackerte. Die Schmerzen konnten nicht mehr lokalisiert werden, waren einem Dauerrhythmus unterworfen, wurden mit dem Herzschlag durch den gesamten Organismus getrieben. Die knappen Anweisungen der Folterknechte, die sie sich gegenseitig gaben, die Gespräche, die sie untereinander führten, konnte sein Gehör nicht mehr in einer verständlichen Sprache dem Gehirn zuführen. »Er jubelt nicht mehr. Alle Nägel an Zehen und Fingern sind gequetscht oder ausgerissen.« »Es macht keinen Spaß mehr ohne Musik.« »Du bist zu grob vorgegangen«. »Quatsch, zwei Tage war er bewußtlos.« »Er hat sich verstellt.« »Dann hätte er auf Wasser angesprochen.« »Morgen nehmen wir den linken Hoden dran, du wirst sehen, dann zeigt sich was, dann musiziert er wieder.« »Er wird zum Himmel fahren«. Es wurde der Zustand einer Schmerzauflösung erreicht: Dröhnende Klänge, im Wechsel von Hell und Dunkel, gekoppelt mit Bildern der Erinnerung und Phantasie bevölkerten nun den Raum, schalteten alle übrigen Einflüsse, Schmerzzufügungen aus: Undurchdringliche Wälder, grüngraues, sprießendes Moos unter den Füßen, an den Bäumen herab hängen grauweiße, durchlöcherte Flechtenstränge, die sich im leichten 209
Wind, der von der dämmerigen Schwüle erzeugt wird, hin- und herbewegen – sind es nicht die Bärte von Männern, die hinter den Stämmen hervorkommen, sich in einem Kreis zusammenfinden, um sich dann wieder lautlos huschend hinter den Stämmen zu bergen? Sie kommen zusammen und entschwinden wieder. Aber dann ist eine Stimme zu hören, die laut und lauter wird: »Es muß ein Recht sein wider die Gewalt«, die Stimme seines Vaters, die nun vielstimmig zu den Stimmen aller Männer wird, die hinauf in einem dröhnenden Schwall das Nadel-Blätterdach des Waldes aufreißt, eine weite, tiefblaue Kuppel offenbart, ein bis zu den Himmelslichtern reichender Dom – es muß ein Recht sein wider die Gewalt – Halleluja, Halleluja –, auf- und abschwellender Gesang, der einer Spitze, einer Höhe zutreibt in immer neuen, gehetzten Anläufen, aber dann plötzlich in einem alles erstickenden, zerschmetternden Knall ein Ende, eine Erlösung findet – die Stille, die folgt, wirkt wie zehrende Sehnsucht, er sieht seinen Körper hängend über einem Abgrund, für den es keinen Boden gibt, ist es die Höhe, die verdreht nach unten reicht? Die Dimensionen haben sich aufgelöst, es wechseln Höhe und Tiefe, Bewegung wird daraus geboren, eine rotierende Bewegung, ein sich immer schneller drehender Wirbelschwung, der sich, seinen Körper mit unzähligen anderen Körpern, Leibern, Köpfen, Gesichtern davonreißt. Aus diesem rotierenden Chaos blitzen Lichter, aus Dü210
sternis will sich eine Landschaft bilden, Wasser wellt über Felsgeschiebe, eine Sonne wird errichtet, Glanz und Wärme verdrängen das Entsetzen. Der Gesang des Wassers verschluckt die Stille, nach vorne schieben sich jetzt murmelnde, gurgelnde Laute, eine Stimme will sich formen, ihre Stimme: »Sie fließt durch die Au, die reiche Au, sie geht nach Süden und Osten, sie treibt unsere Mühle, die Gurk, die Gurk, wußtest du nicht mehr, daß wir Müllerstöchter sind?« Ihre Knie will ich sehen, diese blanken Scheiben, die schönsten Knie der Welt, wie sie sich biegen und strecken, eine Melodie erzeugen, die Melodie aller Melodien, aus den Gelenken, den Linien, den Formen, aus den abgewinkelten, sich wieder streckenden Linien und Formen kommt die Freude, die Lust, das Verlangen, der Sinn für die Schönheit – die Stimme von Elsbeth: »Es ist nicht die Madonna am Giebel des Hauses, jene ist blond, dies ist Verena, erkennst du nicht ihre geringelten, schwarzen Haare? Und das Kind, es ist dein, ihr, euer Kind, aber du mußt eilen, gleich ist sie fort, sie schwebt, entschwebt auf einer Wolke, aus dem Wasser ist eine Wolke geworden, wußtest du nicht, daß aus Wasser Wolken werden?« – Ein Klirren, ein Zerspringen, die Wolken zerbrechen im Gewittersturm, Regen fällt aus ihnen, Regen, Regen – Tränen, Tränen, aus geröteten Augen, schrundigen Lidern fallen die Tränen – es gibt keine goldenen Ringe für Theresle – , sie sitzt und wäscht und wäscht, waschen von Tagwer211
den bis Nachtwerden, »mein armer, geschundener Leib, ich wasche ab die Sünden dieser Welt« – in den Buchenwäldern von Luneville, durch Strauch- und Wurzelwerk blicken die erloschenen Augen ihres Hundes, seines Hundes. Es gibt kein Tagwerden, kein Nachtwerden, kein Hellwerden, kein Dunkelwerden, die Erde hat aufgehört sich zu drehen, sie ist in ein dämmriges Loch gefallen – was dröhnt aus mir, in mir? Durch meinen Körper geht eine Achse, eine stählerne, hohle Röhre, und ein Hammer schlägt darauf, daß meine Glieder, die darauf (ingeschweißt sind, abfallen – Schlag auf Schlag, mein Kopf, er wird zerspringen, fallen – Schlag auf Schlag, zitterndes Dröhnen, eine Hand legt sich auf die Röhre, erstickt das Dröhnen, die Hand der Mutter, in grauen Tüchern, lautlos wie mit Fledermausflügeln kommt sie angeweht, eine kleine zarte Wälderfrau, in der Hand, an die Brust gedrückt, hält sei einen Stein: »Er ist mir vom Herzen gefallen«, sie spricht mit drängender, nach Atem ringender Stimme, »du hast ihn mir gegeben, vor langer Zeit, hast ihn gefunden im Wasser der Wutach, der Aare, des Rheines, Gold ist im Innern eingewachsen, echtes, reines Gold, wer zu dem Gold will, muß den Stein, das Kunstwerk zerstören, so hast du gesagt, ich habe ihn gut verwahrt an meinem Herzen. Nun ist er herausgefallen, sein Platz ist frei geworden. Ich nehme dich wieder auf, wieder ganz in mich auf –« Graue Tücher hüllen ihn ein – – – 212
Am Samstag, dem 12. August 1525, wurde Hans Müller nach wochenlangen Folterungen in Laufenburg enthauptet.
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ie kamen von der Rheinebene, aus dem Dorfe Dogern, gingen den Bach aufwärts, dessen Seiten, von dünnem Gehölz gesäumt, weiter oben in zusammenhängende Waldstücke übergingen. Wie einzelne große Augen blickten die gerodeten Plätze mit Hof, Stallung, Matten und kargem Ackerland aus den breit hingelagerten Flanken der Anhöhen. Ihr Hof lag versteckt in einer Nische, Hochwald im Rücken, bewässert von mehreren Adern, die aus dem Walde drückten, die Brunnentröge füllten, im zeitigen Frühjahr das erste Grün auf die Matten brachten. Von zwei Seiten, von Birkingen und Birndorf her hörten sie das Morgen-, Mittag- und Abendläuten. Unterwegs waren der Bauer Fideli Siboldt, sein Weib Marei und ihre Schwiegertochter, die Karlin, die mit Doni, dem Sohn des Hofes, verheiratet war. »Ich hätt’s mir denken können«, sagte der Siboldt, blieb stehen und schaute abwärts, »was sollte er auch in Dogern machen? Wenn er da unten gewesen war, warum ist er dann nicht zu uns heraufgekommen? He, sagt mir das mal?« »Sie sind jeden Tag woanders, sie halten sich nie lange an einem Platz auf, nur wenn sie in einer Schmiede sich aufrüsten oder wenn ihnen Neue zulaufen, die 213
mitstreiten wollen, die noch eingeübt werden müssen. Aber ich weiß, wenn es sich irgendwie schickt, wird er kommen, und wenn es nur für eine halbe Nacht ist. Vielleicht ist er jetzt grad am Haus, und wir suchen ihn im Dorf«, sie hatte sich in Eifer geredet, die rotbackige Karlin, die immer einige Schritte voraus war. »Ja, glaub das mal«, erwiderte der Siboldt, »glaub das mal«, er zog geräuschvoll den Atem ein, »bevor die Blätter fallen, wird es aus sein mit Kriegen – wenn er dann noch lebt, aber vielleicht kriecht er auch als Krüppel herum.« »Warum mußte er sich noch einmal stellen? Er war doch in Freiburg dabei, ein Glück, daß er dieses Radolfzell nicht gesehen hat. Warum noch einmal los, los und los? Wie kann der Bauersmann etwas richten gegen die Herren? Das ist abgeschiedene Sach«, äußerte sich heftig Marei, die Mutter von Doni. »Gerade deshalb, weil er am See nicht dabei war, will er es noch einmal zwingen. Sie sollen nicht sagen, der Doni verkriecht sich, so hat er gesagt, ja, so hat er gesagt«, hielt Karlin ihr entgegen. »Du unterstützest ihn ja noch in seinem Wahn«, erwiderte ihr die Mutter. »Was bringt es dir? Nun hast du einen Mann und hast doch keinen. Hättest ihn auch zurückhalten können.« »Zurückhalten? Haltet mal den Regen auf, wenn er herunterfällt. Alle sind aufgestanden, damals, alle, es 214
sollte Schluß sein mit Bosheit, Gewalt und Schinderei. Warum soll man sich jetzt wieder ducken und tun, als sei nichts gewesen?« »Karlin, Karlin, ich weiß nicht, was ich machen soll, dich schelten oder loben«, meinte der Siboldt und kratzte mit dem Schuh einen Stein aus dem Boden, schob ihn an den Wegrand, »am liebsten würdest du doch auch mitstreiten, in den Wäldern herumspringen – aber das weiß ich, sobald der Doni kommt, bind ich ihn fest, an deine Bettpfosten.« »Was wollen sie noch ausrichten? Wo wollen sie noch hin? Sich im Heustock verkriechen, das wird kommen, man wird sie jagen und fangen«, die Mutter stützte eine Hand in die Hüfte und setzte ihren Gang schweratmend bergaufwärts fort. »Sie wissen schon, wohin sie gehen«, die Stimme von Karlin klang sicher, zuversichtlich, »vielleicht gehen sie zu den Klettgauern oder zum Uhli in die Berge«.* »Der Uhli wird sich nicht mehr lange halten können, was der treibt, ist auch nicht die gute Art. Wer Rechter steht noch ein für uns? Seit der Hinrichtung vom Bulgenbacher ist für uns kleine Leut die Luft aus dem Sack«, sagte der Siboldt. »Der Laufenburger Vogt wird dafür büßen müssen,
* Uhli ist die Abkürzung für Kunz Jehle. 215
das ist ganz gewiß«, meinte die Karlin mit anklagender, heftiger Stimme, »den Scharfrichter hat er aus der Schweiz, von den Schaffhausern holen müssen, für viel Geld, weil sich sonst niemand für das Bubenstück hergegeben hätt. Aber der ihn gerichtet hat, eben dieser Schaffhauser, dem verdorren die Hände, die Finger soll er schon nicht mehr bewegen können.« »Das sagt man halt so, aber ob es wirklich so ist – wer will das wissen?« meinte der Siboldt darauf. »Das ist ganz gewiß«, bekräftigte die Karlin, »zwei Schaffhauser waren in Waldshut, sie haben es berichtet, haben es selbst gesehen: er kann schon den Löffel nicht mehr halten, er muß gefüttert werden«. »Je, Gott, was noch alles kommen wird«, sagte die Mutter, »und der Bulgenbacher soll sich ja auch verzeigen*«. »Ja«, rief die Karlin, »in der Nacht fährt er durch die Wälder, und alle toten Bauern mit ihm, sie schreien – her, her –, sie streiten mit den Herren, daß die Bäume krachen und die Steine aus der Felswand stürzen.« »Jesus Maria«, die Mutter schlug das Kreuz über Stirne und Brust, »was noch alles kommen wird.« »Es gibt keine Geister! Der Doni soll kommen und das Unglücksjahr zu Ende gehen«, der Siboldt holte weit aus, mit vorgebeugtem Körper meisterte er den Hang, erreichte den Frauen weit voraus seinen Hof. * als Geist erscheinen. 216
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ie Söldnerheere waren nach den siegreichen Kämpfen um Radolfzell abgezogen, an neue Kriegsschauplätze verlegt worden. Ringsum im Reich erstickten die Aufstände der Bauern in Blut, Feuer und Ohnmacht. Nur der Klettgau und Waldshut trotzten noch frei und unbezwungen kaiserlicher Befehlsgewalt. Mit der Beseitigung dieser Pestbeulen beauftragte Ferdinand von Gottes Gnaden, Erzherzog zu Österreich, den ehrgeizigen Ritter Christoph Fuchs von Fuchsberg, Erzherzoglicher Rat und Kriegskommissar, Hauptmann der Festung Kufstein. Nach Rekognoszierung der gegnerischen Kampfstärke formierte er ein Söldnerheer von 1000 Mann. Den Schwerpunkt legte er auf eine gutausgebildete Reiterei. Er wußte: 1000 Mann und 150 Schweizer stehen gegenüber, so rekrutierte er aus der bewaffneten Bürgerschaft der Städte Rottenburg, Horb, Villingen, Stockach und Radolfzell noch eimmal 1000 Mann. Die einzelnen Abteilungen waren den Grafen Rudolf von Sulz und Wilhelm von Fürstenberg unterstellt. Mit dieser doppelt überlegenen Kampfstärke zog er Anfang November durch das Wutachtal, schwenkte östlich ab und stand am 4. November vor Grießen. Ein leichter Bodennebel, der schwankend die Vertiefungen der flachräumigen, weiten Talsohle füllte, strich auch in abgerissenen Fetzen an der Anhöhe zum Dorf hinauf. Im Hintergrund, südöstlich, hoch über den Häusern des Ober217
dorfes und den abgegrasten Weiden, zog sich als dunkler Schutzwall ein bewaldeter Bergrücken entlang, dessen Laubhölzer sich zu färben begannen. Ein gut eingespielter Nachrichtendienst der Klettgauer hatte frühzeitig die herannahenden Heeresabteilungen gemeldet. »Wir werden sie empfangen«, Klaus Mayer; der seine Truppen eingeübt hatte, stellte sie in Kampfordnung auf. Ein Geschütz aus Waldshut mit Bedienungsmannschaft plazierte er am linken Flügel an etwas erhöhtem Standort. Der reformatorische Pfarrer Johannes Rebmann und der Bauernführer Klaus Wagner hatten noch einmal zu den Männern gesprochen, sie hatten sich alle eines unverbrüchlichen Zusammenhaltes versichert und sich der Allmacht Gottes anempfohlen. Eher wollten sie sterben, als ihren neuen Glauben zu verleugnen, ihr frisch errichtetes Gemeinwesen aufzugeben. Ein letztes Lied, zusammen mit Frauen und Kindern gesungen, die volltönende, tiefe Stimme des Pfarrers gab den Strophen Halt, festen Untergrund, sie schwebte über dem spannungsgeladenen Raum zwischen den kampfbereiten Fronten. Nachdem sich die Frauen und Kinder in die Häuser des Oberdorfes zurückgezogen hatten, feuerten die Klettgauer ihr Geschütz ab und schossen mit Hakenbüchsen auf den heranrückenden Gegner. Es war drei Uhr nachmittags. Lag es daran, daß die Zieleinrichtung des ab218
wärtsgerichteten Geschützlaufes eine ungünstige Position angab, bei den Kanonieren die Erfahrung fehlte, täuschten auch die leichten Nebelschleier, die von unten nach oben zogen, der Schuß ging über die Angreifer hinweg und auch die Hakenbüchsen blieben ohne nennenswerte Wirkung. Schon richteten sich die Reiter in den Bügeln auf, mit vorgerecktem Oberkörper, den Kopf seitlich an den Mähnen, sprengten sie in Keilform auf die Reihen der Bauern, und Eisen traf auf Eisen, traf den warmen Körper der Streitenden. Der Ruf der Reiter, scharf und gellend – stich tot – stich tot –, ein Gekreisch, wie von Tausenden beutejagenden Vögeln ausgestoßen, diente dazu, sich selbst Kampfesmut einzuflößen und den Gegner zu erschrecken. Schon waren die Reihen der Bauern aufgerissen, war die Absicht der Reiter zu erkennen, die geschlossene Formation des Bauernheeres zu spalten, als die 150 Mann starke Abteilung der Schweizer, von der Seite kommend, sich auf die Reiter warf und mit Spieß und Morgenstern sie von den Pferden holten. In dem nachfolgenden Getümmel erstickte der vorgezeichnete Plan, wurde die Stoßkraft des Söldnerheeres abgebremst. Ritter Fuchs von Fuchsberg erkannte die Gefahr einer Stagnation, war auf eine rasche Entscheidung eingestellt. Sofort erteilte er seiner zurückgehaltenen Reiterreserve den Auftrag, den Vorstoß der Schweizer zu brechen, sie zu umzingeln, im Rücken anzugreifen. Der völli219
ge Untergang der Schweizer schien hiermit besiegelt. Wer würde sich aus solchem blutwütigen Getrampel, Getöse, Gemetzel noch retten können? Die Spaltung des Bauernheeres war nicht mehr aufzuhalten, beginnende Fluchterscheinungen führten zu einem überhasteten Rückzug hinter die hochgelegene Kirche, auf den mit starken Mauern umgürteten Friedhof. Steht auf, ihr Toten, helft uns, diese Herrenknechte abzuwehren! Einige der Bauern hatten sich in die Häuser des Oberdorfes geflüchtet, die Eingänge verrammelt. Schonungslos legten die Landsknechte Feuerbrände an die Häuser, deren Wohnungen, Dächer, aus Holz gefertigt, eine prasselnde Lohe zum Himmel schickten, die beginnende Abenddämmerung verdrängten. Wer nicht im Rauch ersticken wollte, suchte durch Fenster, Luken, Löcher das Freie, um sich brennend, mit würgendem Husten auf der Erde zu wälzen. Es erstickten, verbrannten Frauen und Kinder. Ein zweimaliger Ansturm auf die Friedhofsmauern, angesetzt an verschiedenen Stellen, wurde von den Bauern erfolgreich abgewehrt. Die Landsknechte begannen Brandsätze, Pech, Schwefel und mit Öl gefüllte Behälter auf den Friedhof zu schleudern, um jede Bewegung der Bauern in dem flackernden Licht zu erkennen. Seitlich und von unten her leuchtete das Feuer der brennenden Häuser, zog der Rauch in sich dauernd verändernden Richtungen die Anhöhe hinauf. Sichtbar gemacht vom schwanken220
den Schein des Feuers, wieder verhüllt von Rauch und Schatten, boten die huschenden Gestalten zwischen den Grabreihen einen gespenstischen Anblick. Ritter Fuchs von Fuchsberg, in der günstigen Position des Belagerers, forderte, auch um weitere Verluste seiner Leute zu vermeiden, die Bauern zur Übergabe auf. Die Bauern, welche die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage erkannten, legten im Morgengrauen ihre Waffen nieder, verließen den Friedhof. Im diesigen Licht des kommenden Tages schlich das Entsetzen durch die Gassen des Oberdorfes. Mit dem Tode ringende Männer und Frauen, einige rannten in wahnsinniger Hast umher, nur irgendwohin, irgendwohin; kleine Kinder, auf der Erde liegend, die Händchen mit langsamen, müden Bewegungen nach oben greifend, nach einem Halt, nach der Mutter suchend, die es nicht mehr gab, mit einer Stimme, deren Kraft nur noch zu stoßweisem Wimmern reichte, vervollständigten das Bild dieses grauenvollen Geschehens. Noch glimmte das Gebälk, stürzten durchglühte, geborstene Teile ein. Der beizende Rauch war durchzogen von dem Geruch verschmorter Körper von Menschen und Tieren. Die Ställe waren von den Landsknechten geöffnet worden, die Tiere, Kühe, Rinder stürzten brüllend über die Höfe, suchten, um ihr Gleichgewicht und die gewohnte Ruhe gebracht, nach einem sicheren Platz, rannten völlig verstört oft wieder in die brennenden 221
Ställe zurück. Vor dem Unterdorf lagen die Leichen der Gefallenen und Erschlagenen. Obwohl den Bauern bei der Übergabe Unversehrtheit an Leib und Leben garantiert worden war, begannen die Stunden des Gerichtes, der Rache, der Bestrafung. Von den 150 Schweizer Freiwilligen hatten nur 36 Männer überlebt. Darunter waren noch mehrere Verletzte, Schwerverwundete, Sterbende. Sie mußten sich ihrer Kleidung bis auf Hemd und Hose entledigen und schwören, nie mehr gegen Österreich zu kämpfen. Mit einem Wagen, darauf ihre Verletzten lagen, den sie selbst schieben, ziehen mußten, schickte man sie zurück in die nahe gelegene Schweiz. Der Bauernführer Klaus Wagner und der reformatorische Pfarrer Johannes Rebmann wurden geblendet. Dem Pfarrer wurde zusätzlich noch die Zunge aus dem Gaumen geschnitten – damit der Pfaff das Wort Gottes nicht mehr verkehren könne. Einigen Waldshutern, welche die Kämpfe überlebt hatten, wurden die Schwurfinger abgeschlagen – meineidig geworden am Hause Österreich. Man schickte sie mit Bauernführer und Pfarrer, mit diesen bald zu Tode Gemarterten, in die Waldstadt, damit Schultheiß, Rat und Gemeinde, vor allem aber dieser Balthasar Hubmaier sehen könnten, wohin Abtrünnigkeit und Ketzerei führen. Tags darauf rückten die Söldner ab. Mit sich führten sie das Vieh und alle brauchbaren Lebensmittel. 222
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chrecken, Not, Qual und alle Grausamkeiten können enden in Stumpfsinn, im Verlieren jeglichen Maßes der Empfindungen. Man kann die Plätze des Grauens, der Zerstörung nicht verlassen wie die Tiere des Feldes, des Waldes, wie umherschweifende Nomaden, man ist gefesselt an den Ort seiner Entstehung, seiner Tätigkeiten, seiner Erinnerungen. Man atmet, weil die Lungen, das Herz, der gesamte Organismus danach verlangen, man bewegt sich, man blickt den anderen an und erkennt seine eigene Leere, Trostlosigkeit in den Augen des Nachbarn. So flüchteten einige in wahnwitziger Verzweiflung in den Selbstmord. Nur die zwingenden, vor ihnen liegenden Aufgaben führten zurück in ein Gleichmaß, das die irrenden Gedanken übertönen, besänftigen konnte. Ein Berg von Aufgaben: Wohin mit den Toten? Soll man sie den Krähenschwärmen, den Füchsen, dem Raubzeug, den Hunden überlassen? Noch ist die Erde nicht gefroren, läßt sich graben, herausheben. Sie waren gekommen aus den benachbarten Dörfern, Weilern, Gehöften, suchten in den Gesichtern der Toten ihre Männer, Brüder, Söhne. Oft war das Erkennbare so gräßlich zerstört, daß man die Kleidung nach Merkmalen durchforschen mußte. Hinter jeden Kopf der Beerdigten, man begrub Freund wie Feind, steckten sie einen Zweig von Büschen oder Bäumen in den Boden, damit all diese Zweige im Frühjahr Wurzeln treiben, die Walstatt in 223
ein grünendes Feld verwandeln könnten. Man verteilte sich in die noch erhaltenen Häuser des Unterdorfes, kroch zusammen, schaffte Möglichkeiten des Überlebens. Manche aber, mit ausgeprägtem eigenen Sinn, suchten ihr altes Haus auf, zogen die verkohlten Balken aus den Trümmern, legten sie über die Mauerreste, überdachten sie notdürftig, setzten aus Lehm und Steinen einen neuen Herd, der nie mehr ausgehen, der Mittelpunkt ihres kleinen Kreises werden sollte.
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ie letzten großen Zugvögel waren mit durchdringenden Rufen, die Orientierung und Zusammenhalt sicherten, über die stillen nächtlichen Höhen nach Süden gezogen. Es begann zu schneien. Zuerst zaghaft, leichte, durchschimmernde Flöckchen schwebten, zerrissenem Spinngewebe gleich, durch das gedämpfte, graublaue Tageslicht, mit dünner Schicht den Boden, die Gegenstände bedeckend. Aber ein darauffolgender stahlblauer Himmel mit kurzer, wandernder Sonne löste den Schnee zurück in Wasser. Doch sie rückte näher, die Zeit der langen Nächte, der großen Dämmerung, die Zeit, in der das weite Land, Höhen und
* Der Wald ist unser, es ist unser Wald! Nirgendwo sollen sie sicher sein! Wir bringen ihnen das Gruseln bei. Rache für den Bulgenbacher! Tod dem Laufenburger Henker und seinen Knechten! Keine Gnade den blasianischen Mönchen! Darauf meine Hand!
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Wälder mit einer geschlossenen Schneedecke überzogen waren. Und da geschah es: Zuerst berichteten es Kinder, wollten gesehen haben, wie in der Dunkelheit unzählige Lichter über dem Gräberfeld tanzten, wie Gestalten mit durchschimmernden Körpern von oben nach unten schwebten, sich mit den gelbflackernden Lichtern vereinigten, zu einem einzigen großen Licht wurden, das solch helle, stechende Strahlen verschickte, daß die Augen geblendet sich schließen mußten. Waren es zuerst Kinder, so wollten bald auch Erwachsene diese Gestalten und Lichter gesehen haben. Mögen auch viele, vorab die Nüchternen, die blind waren für Träume, solch wundersames Geschehen zwischen Himmel und Erde belächelt, als Truggebilde abgetan haben, die Erscheinungen blieben, wurden immer wieder von neuen Zeugen bestätigt. Nicht auszuschließen ist, daß die Entstehung dieses wunderbaren Gemäldes durch eine Wechselwirkung zwischen Erwachsenen und Kindern zustandekam. Vielleicht hat eine Mutter auf die Fragen ihres Kindes nach dem toten Vater ihre Antwort in diese imaginäre Richtung gelenkt, um auf diese Weise ihren eigenen Schmerz, die qualvollen Erinnerungen zu übertönen. Das Kind aber verwandelte die tröstenden Worte in Bilder, die dann auch real mit offenen Augen gesehen wurden. Diese Kraft des Sichtbarmachens übertrug sich dann von den Kindern wieder auf die Erwachse225
nen. So wird der Tod, das Gräßliche in einen lieblichen Reigen des Gefallens verwandelt, lichte Boten verkünden den Glauben, der Himmel und Erde, der Wirklichkeit und Traum miteinander verbindet. Werden so Legenden geboren? Im Frühjahr aber mußten die eingesteckten Zweige am Gräberfeld nicht durch neue Schößlinge ersetzt werden, sie grünten alle.
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n den verkohlten, noch nicht ganz erloschenen sowie an den prasselnden Lagerfeuern konnte man die Standorte der letzten noch unbesiegten, kämpferischen Bauernhaufen erkennen. Es waren die zähen, die bis zum Äußersten entschlossenen Wäldersleut, die Hotzen, die sich um Kunz Jehle geschart hatten. Dazu eingefunden hatten sich die Versprengten, Entwurzelten, ihrer Heimat, ihres Hofes Beraubten, auch eine Rotte Waldshuter, die nicht mitansehen wollten, wie ihre Stadt daranging, sich auf Gnade und Ungnade kampflos an Österreich auszuliefern. Er war ein Meister der knappen, treffsicheren Rede, dieser Kunrad, dieser Uhli, wie sie ihn nannten. Die Anzahl seiner Gefährten schwankte zwischen 100 und 200 Männern. Aus Gründen der Sicherheit bewegten sie sich in kleineren Abteilungen, nur gegen Abend, in den Nächten strebten sie einem gemeinsamen Aufenthalt entgegen. Hier besprachen sie sich dann, er226
zählten von den Ereignissen des Tages, bereiteten ihre abendliche, große Hauptmahlzeit – am Spieß geröstetes Fleisch, Brot aus den Dörfern und den einsamen Höfen, Hirse und Gerstensuppe aus dem großen Kessel, den sie mit sich führten. Hier sprach er dann, der Uhli, den dunkeln Wald als Mantel, als Schutz im Rükken, er sprach in das Feuer, sie hörten ihm zu, die sitzenden, liegenden, stehenden Männer: »Mir lont iis nit zämmedmetzge wie Saue, iseri Häls ummedrille, wie me es mit de Vögel, mit de Häer macht, mir wehred iis.«* »Mir wehred iis, mir wehred iis.« Er war bedingungsloser Zustimmung gewiß. Niemals vergaß er die wichtigste Forderung ihres Verhaltens zu wiederholen: sich unter keinen Umständen in größerem Verband in Kämpfe einzulassen, immer nur aus dem Hinterhalt zu überfallen, mit der Gewißheit zu obsiegen. »Der Wald ischt iiser, ’s ischt iisern Wald! Nieneds solled sie sicher sii! Mir lehred ihne ’s Grusle. Rache für de Bulgebacher! Tod dem Laufeburger Henker und sine Knecht! Koe Gnad de bläsische Kutte! Mini Hand druff.«*
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itter Fuchs von Fuchsberg beauftragte Philipp von Degernau, diesem Spuk, diesen nächtlichen Wegelagerern ein Ende zu bereiten. Mit ausgesuchten
* Wir lassen uns nicht zusammenschlachten wie Schweine, unsere Hälse umdrehen, wie man es mit den Vögeln, mit den Hühnern macht, wir wehren uns.
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Leuten aus dem Söldnerheer gelang es ihm, die Bauern auf dem Hungerberg zwischen Indlekofen und Waldshut im Morgengrauen zu stellen, zu umzingeln. Die Verluste bei dieser Auseinandersetzung waren auf beiden Seiten sehr hoch. In einer todesmutigen Anstrengung konnten die Bauern die Umklammerung durchbrechen. Viele entkamen, darunter auch ihr Anführer Kunz Jehle. Mit den Kämpfen um Grießen und diesem Treffen endigten die letzten kriegerischen Handlungen der deutschen Bauernaufstände. Berittene Boten des Kriegskommissars Fuchs von Fuchsberg eilten durch die Grafschaft Hauenstein samt den Talern Schönau und Todtnau, bestellten alle hier ansässigen Männer auf den 13. November vor das Gelände unterhalb der Gutenburg. Hier, auf diesen von Rauhreif glitzernden Matten, umstellt von Lanzenträgern, mußten sie – gezwungen oder freiwillig – einen neuen Treueeid auf das Haus Österreich schwören. Diktiert wurden ihnen Gebote und Verbote sowie die Strafen bei Zuwiderhandlungen. Verboten war das Tragen jeglicher Waffen. Sie mußten samt und sonders sofort abgeliefert werden: Büchsen, Schwerter, Lanzen, Spieße, Harnische. Abgebrochen werden mußten alle befestigten Bauwerke, Türme, Kirchhofsmauern, auch Kirchtürme, die Glocken abgeliefert werden. Eine Situation wie in Grießen dürfte sich nie mehr wiederholen. Alle An228
führer, Anstifter und Förderer der Empörung mußten angezeigt, der Obrigkeit ausgeliefert werden. Sofort waren von jedem Haus sechs Gulden an die Staatskasse zu entrichten. Bedingungslos hatten sie sich ihrer alten Herrschaft zu unterwerfen und den Schaden, den sie ihr durch ihre Empörung zugefügt hatten, abzuleisten. Wer aber außer Landes geflohen war oder diese Strafen nicht annehmen wollte, dessen Haus sollte zerstört, verbrannt werden und er nie mehr in eine Gemeinschaft aufgenommen werden. So knieten sie auf der frostigen Erde, die Schwurhand nach oben gerichtet. Sie vernahmen die Stimmen, die ihnen von früher her so bekannt, so verhaßt im Gedächtnis haften geblieben waren. War dies nur ein Traum, dieser Freiheitssturm der letzten Monate, ein Nebelfetzen, der an ihnen vorbeizog, der nicht zu greifen, zu begreifen war?
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ach all diesen Niederlagen, Fehlschlägen hatte sich in der Stadt Waldshut eine nüchterne, objektive Beurteilung ihrer Lage durchgesetzt. Ist es nicht sinnlos, sich gegen eine von allen Seiten hereindrückende Übermacht zu wehren, neue Blutopfer und Zerstörungen heraufzubeschwören? Auch war die Stadt nicht mehr ein Ganzes, ein geschlossener Körper mit entschlossenem, einheitlichem Sinn, sondern 229
in drei Lager, Altgläubige-Katholische, Reformierte und Wiedertäufer, die wie Feuer und Wasser auseinanderstrebten, gespalten. Aus Angst vor Repressalien begannen nun die Reformierten zu fliehen, nach Kadelburg in den Bannkreis des eidgenössischen Chorherrenstiftes Zurzach. Der Bürgermeister und einige Räte waren an diesem entscheidenden Tage, dem 5. Dezember, unterwegs, auf der Suche nach günstigen Bedingungen für eine kampflose Übergabe der Stadt. Die Spannung, die entscheidenden Ereignissen vorausgeht, trieb die Menschen auf die Gassen und Plätze, sie versammelten sich vor dem Rathaus. Der Baumeister Hans Müller ließ zu seiner kurzen Erklärung auch den geistigen Führer der Stadt, den Pfarrer Doktor Hubmaier, rufen. »Leut, hört her, wir stehen am Scheideweg, uns steht das Wasser bis zum Hals. Sollen wir untergehen, allesamt ertrinken? Alles Starktun, auch alles Lamentieren und Jammern bringt nichts. Uns bleibt nur, uns zu unterwerfen. Leut, laßt uns abstohn. Wer gehen will, kann gehen, er ist ledig aller Treue- und Eidschwüre.« Pfarrer Hubmaier, der die Ereignisse sehr wohl auf sich zutreiben sah, war völlig eingesponnen in seine geistige Arbeit, seine religiösen Abhandlungen, war von der Direktheit des Auftrittes überrascht. Ein Ahnungsloser, von Krankheit Geschwächter trat aus däm230
merigem Raum in das grelle Licht der Wirklichkeit. So verließen ihn seine Stärke, seine Begabung zu begeistern, zündende Reden in die Massen zu werfen, auch war er nicht geneigt, sich ihrer zu bedienen. Was lag näher, als in Demut zu verfallen, sich diesen unabwendbaren Gegebenheiten zu beugen. War dieser Weg nicht vorgezeichnet, liegt er nicht als Grundgehalt im Evangelium? So fiel er nieder auf die Knie, hob die Hände nach oben und bat alle, die er wissentlich oder unwissentlich erzürnt oder beleidigt haben sollte, um Verzeihung. Dieses büßende Moment kräftigte seinen angeschlagenen Willen, er erhob sich: »Wohin soll ich mich wenden? Ich bin umstellt von Feinden. Auf mich warten Gefangennahme und Folter, an den Horizonten meiner Wege leuchtet der Scheiterhaufen. So lebt denn wohl in Christo, unserem Herrn.« Auf dem Wege zurück in das Pfarrhaus erreichte ihn die Warnung: das Pfarrhaus ist umstellt. Im Haus des befreundeten Stadtrates Bellinger erhielt er einen Mantel, der ihn völlig umhüllte. So brachte man ihn durch das Rheintor hinab zur Lände des Fischers Heini. Unterdessen hatte seine Frau Elsbeth die verdächtigen Bewegungen um das Haus wohl bemerkt und die Magd in das Rathaus geschickt, ihren Mann zu warnen. Sie selbst aber barg in aller Eile Geld und einige Wertsachen an ihrem Leib, eine weite Handtasche füllte sie mit Kleidung und Essen. Sie war schon durch die 231
Mauern, stand aufatmend an der Steilhalde, plötzlich von dem Gedanken zurückgehalten: Was liegt ihm vor allem am Herzen? Doch nicht Geld und Kleidung, es sind seine Schriften, seine niedergelegten Gedanken. Sie sieht, wie er sich vom Lager erhebt, mit kurzem, hüstelndem Atem wankt er zum Tisch, greift zum Stift, schreibt und schreibt, streicht durch, beginnt von neuem, tritt dann zum Fenster, sucht durch Bäume, Laub und Zweige den Himmel. So eilte sie wieder zurück zum Haus – man ließ sie als Frau gewähren – und raffte von Tischen, Borden, Schränken alle seine Schriften, gehefteten Bücher, knotete sie in ein Tuch, das sie sich über die Schulter hängte. So beladen kam sie am Fischerhaus an. Bald darauf traf er ebenfalls unten ein: »Meine liebe, gute Elsbeth«, vor Rührung kamen ihm die Tränen, »du hast an alles gedacht, du hast mein geistiges Gut, meine Lebensarbeit über alles gestellt«. Sich an den Händen haltend wie ein junges verliebtes Paar, das jede Berührung auskostet, stiegen sie in den Weidling des Fischers Heini. Nicht das Boot, das seinen Weg quer durch die Strömung sucht, ist es, das auf- und niederschwankt, es ist der Hügel, es sind die Mauern, die Türme, Häuser der Stadt, die zusammenstürzen, sich wieder aufrichten, hoch und nieder, eine Parabel ihres Lebensweges demonstrierend. »Vor fünf Jahren bin ich gekommen, hochfahrend mit kühnen 232
Plänen, meine Stimme drang durch die Mauern, meine Gedanken waren Schwerthiebe, die das Evangelium reinigten, das geläuterte Wort Gottes in den hellen Strahl des Lichtes stellten. Es leuchtete durch die Finsternis.« Er sieht die Massen der Gläubigen, die Hände ihm entgegengestreckt, er sieht auch seine Widersacher, den alten Dekan Armbruster, der mit seinen Kaplänen weinend die Stadt verläßt. »Er ist vorgezeichnet, der Weg, mein Weg, unser aller Weg.« Eng drängte sie sich an seine Seite – sie hört seine Predigten, weniger von dem Sinn des Gesagten als von dem Glanz seiner Stimme ist sie umhüllt, sie vernimmt die Meinungen, Gespräche, Aussagen dieser guten, fröhlichen, ihr zugetanen Leute über ihn: Ist unser Doktor nicht einer der Gelehrtesten von Rotterdam bis Basel, bis hinauf nach Konstanz? Ihre Hochzeit, welch ein Glanz, reiches, feierliches Gepränge, schon immer liebte sie erlesene Kleidung, die sie selbst zu fertigen verstand, liebte es, sich zu zeigen, ein offenes, freigebiges Haus zu führen – verlöschender Glanz, Abendröte, Untergang, im Wasser versinken, ertrinken. Doktor Balthasar Hubmaier und seine Frau suchten Zuflucht in Zürich. Noch an demselben Tag flohen 60 reformierte evangelische Bürger aus der Stadt, zurück ließen sie Frau und Kinder, Haus und Habe, hofften auf eine Rückkehr in günstigeren Zeiten. 233
Noch ehe die Nacht zu Ende war, zog die österreichische Besatzungsmacht durch die geöffneten Tore.
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er »edel und gestreng Herr Christoph Fuchs von Fuchsberg, Ritter, Rat, Hauptmann und Kriegskommissar« erhielt die Schlüsselgewalt über die Stadt. Völlig ergeben dem Erzherzog Ferdinand, besaß er dessen uneingeschränktes Vertrauen. Zurückstecken mußte Ulrich von Habsberg, Vogt zu Laufenburg, der sich schon in diese Stellung hineingeträumt hatte. Die Stadt hatte durch die Übergabe keine Schäden an Gebäuden und Einrichtungen erlitten; so ging man daran, mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die obere Hauptkirche in einen festlichen Zustand zu kleiden – Weihnachten stand vor der Tür. Der Innenraum, aller schmückenden Elemente, aller Verzierungen beraubt, kahl, weißgetüncht, blickte kalt auf die Eintretenden. Es fand sich ein versteckter Altar aus der unteren Johanniskirche, man stiftete Gemälde aus privatem Besitz, hing farbige Stoffbahnen an den Wänden herab, schlug Brüstungen, Galerien mit Samtstoffen aus. Mit farbigen Bändern gebündeltes Tannengrün zog man in übereinan-dergeschichteten Reihen als Girlanden an den Wänden entlang. Können religiöse Gemeinschaften, die sich aus recht unterschiedlichen Bevölkerungskreisen zusammensetzen, auf jeglichen Dekor verzichten? Führen nicht 234
schmückende, darstellende Beiwerke, wie Figuren, Bilder, Kerzen, Weihrauch, den Besucher in eine gelenkte, vorgegebene Stimmung, die Andacht, Sammlung, Ehrfurcht und Furcht enthalten können? Das Tor zum Mystischen wird hierdurch leichter geöffnet. Das Mystische aber ist ein Grundgehalt alles Religiösen. Ist solches Beiwerk nicht vorhanden, wird darauf bewußt verzichtet, so muß etwas anderes diesen Einstieg vollziehen. Hier in dieser Kirche war es vor wenigen Tagen noch die Stimme dieses Balthasar Hubmaier, der als großer Zauberer, als Magier die Gläubigen zusammenpreßte, ihre Gedanken in eine Richtung lenkte und auf ihren Seelen wie auf einem willfährigen Instrument zu spielen verstand.
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m Weihnachtstag zelebrierte der aus seinem Basler Asyl zurückgekehrte Abt Johannes von St. Blasien ein Pontifikalamt. Man hatte ihn mit starker Bewachung vom Kloster in die Stadt gebracht und geleitete ihn auch wieder zurück. Auf diesem Nachhauseweg sichteten die Knechte einige verdächtige Männer, die sie stellen konnten. Sie erkannten unter ihnen den gefürchteten Anführer Kunz Jehle und brachten ihn vor den Abt. Johannes, der Bettmaringer, aber wandte sein Gesicht von ihm und vollführte mit der rechten Hand einen weiten, abweisenden Bogen. Die Knechte wollten darin eine Schlinge erkennen und henkten den 235
Kunz an dem nächsten herausragenden Ast eines Baumes. Dies vollzog sich ohne Wissen des Abtes. In der Nacht nahmen Kunzens Freunde den Leichnam ab und trennten seine Hand von dem Gelenk. Diese Hand fand sich am Morgen darauf angenagelt an der Pforte des Klosters. Darunter stand geschrieben: Diese Hand wird sich rächen. Monate später ging der gesamte Klosterbezirk in Flammen auf. Es brannte an verschiedenen Plätzen zu gleicher Zeit, die Stellen waren durch gestreute Pulverbahnen miteinander verbunden. So geschehen am 11. April 1526.
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ine sich über Jahre hinziehende Straf- und Säuberungsaktion rollte über die Landstriche. Eine in Württemberg aufgestellte berittene Henkertruppe, an deren Spitze Peter Aichele stand – er nannte sich des Reiches Profos –, kam auch über den Schwarzwald, vergaß nicht die einsamsten Höfe, die hintersten laier. Die Angst ging um, jetzt war jedermann in Gefahr, angezeigt und verdächtigt zu werden. Neid, Haß, Rache, Mißgunst wuchsen hoch wie Unkraut auf den Feldern. Vor allem die Pfarrer, Prediger, Prädikanten der neuen Lehre waren ihres Lebens nicht mehr sicher. Ein Schreckensruf: der Aichele kommt, er henkt und henkt und henkt. Es gab kaum einen Baum im Wald, an dem nicht ein Unschuldiger sein Leben aus236
gehaucht hätte. Diesem gnadenlosen, willkürlichen, von der Regierung befohlenen Treiben wurde ein jähes Ende gesetzt. Peter Aichele erlag einem Mordanschlag. Er wurde in Göppingen erstochen. Ein Nachfolger wurde nicht mehr ernannt. Die weiteren »Säuberungen« erfolgten durch Verhaftungen, Kerker, Verhöre und Verurteilungen. In Waldshut hatte Ritter Fuchs von Fuchsberg mit 200 Mann Besatzung als Erzherzoglicher Beauftragter Einzug gehalten. Der Gasthof zum »Roten Mann« wurde in sein Befehls- und Standquartier umgewandelt. Er suchte durch Mäßigung und Umsicht die Konflikte zu entschärfen. Die Stadt, ihrer Privilegien beraubt, führte über Jahre hinweg einen mühsamen, geduldigen Existenzkampf. Ritter Fuchs von Fuchsberg könnte man als ehrlichen Makler zwischen Stadt und Regierung bezeichnen. Dies geht schon daraus hervor, daß er die 200 Mann Besatzung, die von der Stadt unterhalten werden mußten, nach einem Monat auf 100 Mann reduzierte, dann auf 60 Mann und nach einem halben Jahr nur noch eine 12 Mann starke Wache beanspruchte. Kirchliche und weltliche Belange, die durch die Wiederherstellung der alten Einheitskirche eng miteinander gekoppelt waren, wurden in einem umfangreichen Vertragswerk geregelt. Diese Festlegungen fanden als »Fuchsischer Vertrag« Eingang in die Geschichte. Hervorzuheben an der Gestalt dieses Rit237
ters Fuchs von Fuchsberg sind seine militärischen und diplomatischen Fähigkeiten. Auch muß sein geistiges, seelisches Spannungsfeld Raum für weitgesteckte Gedankengänge gehabt haben. So wandelte er sich vom Kriegskommisar zum kirchlichen Würdenträger. Nach dem Tode seiner Frau trat er in den geistlichen Stand, wurde Domherr zu Salzburg und Trient. Er starb als Bischof von Brixen.
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aum hatte Balthasar Hubmaier in Zürich Boden unter die Füße bekommen – er und seine Frau hatten bei Freunden gesicherte Unterkunft gefunden –, als sein Erscheinen, hervorgerufen durch sein Wirken in Waldshut, vor allem aber durch seine glänzend formulierten revolutionären Schriften, Unruhe in die Züricher Religions- und Geisteswelt brachte. War doch das Auge der Bevölkerung, eingeschlossen die dünne Schicht der Gelehrten, nur auf die Evangelien, auf ihre Auslegung gerichtet. Von ihr erwartete man die Lösung der anstehenden Fragen, der persönlichen wie auch der allgemeinen, gesellschaftlichen. Von diesen Strömungen beeinflußt waren die kommunalen Bestimmungen und Gesetze der Stadt, nach ihnen orientierte sich die Meinung der Obrigkeit. Nun befürchtete aber Zwingli, einer der bedeutendsten Reformatoren, daß mit dem Einwirken Hubmaiers in die gesichert scheinende, reformierte Ordnung, Neuerungen 238
Einlaß finden könnten, die zu einer Spaltung, zu einer Wiedertäuferbewegung führen würden. Hubmaier spürte die gegen ihn aufkommende feindliche Haltung, auch befürchtete er eine Verhaftung, so willigte er in ein Taufgespräch mit Zwingli ein, das schon am 19. Dezember 1525 stattfand. Bei diesem Gespräch erklärte er sich bereit, seine bislang verteidigte Ansicht zu widerrufen, seine Verirrung in der Auslegung einzugestehen. Diese plötzliche Umkehr entsprang aber nicht einem Wandel seiner Erkenntnisse, sondern der Not, der Befürchtung, verhaftet zu werden, erneut fliehen zu müssen und dadurch seine geliebte Frau, die immer so treu zu ihm gehalten, in ein Ungewisses Schicksal mit hineinzuziehen. So verlas er am 22. Dezember vor dem versammelten Rat der Stadt seinen schriftlich niedergelegten Widerruf. Es wurde ihm zur Auflage gemacht, diesen Widerruf in den drei Hauptkirchen von Zürich von der Kanzel bekanntzugeben. So sollte er erstmalig am 29. Dezember von der Kanzel des Frauenmünsters nach der Predigt von Zwingli diesen Widerruf verkünden. Zwingli stand auf der Kanzel, seine Vortragsweise, ohne stark abhebende, stimmliche Veränderungen, ein in Gleichmaß gehaltenes Gedankengebäude, überzeugte durch die einfache Logik seiner Auslegung der Überlieferungen unter Hinzufügung aktueller Beispiele des Tagesgeschehens. Er füllte den Kirchenraum, 239
er zwang die Besucher zu ihm aufzusehen. Gerade und massig sprang seine Nase unter der Stirn hervor, unter mächtigen Bogen blickten die großen Augen mit gebietendem Ausdruck. Nur sein Mund verriet eine gewisse Weichheit, milderte die kantigen Flächen von Kinn und Wangen. Er kam zum Schluß seiner Predigt, bereitete die Zuhörer auf den Auftritt von Hubmaier vor, auf das Bekenntnis eines in Irrungen und Verstrickungen befangenen Mannes, der sich aber jetzt mit seiner Hilfe zur Wahrheit durchgerungen hatte. Hubmaier empfand die Vorankündigung Zwinglis demütigend, wollte spottende Überheblichkeit in seiner Stimme herausgehört haben. So schritt er, den schriftlich festgelegten Widerruf in der Hand, zur Kanzel. Bei jeder Stufe hinauf erhob sich die nur mühsam zwischen ihnen unterdrückte Rivalität. Ich bin kein Unterlegener, kein Verirrter, meine Erkenntnisse drangen tiefer und weiter in die Geheimnisse der göttlichen Botschaften ein. So legte er oben seinen Widerruf auf die Brüstung der Kanzel, deckte ihn mit seiner Hand. Sein Blick umwanderte den bis zum letzten Fleck mit Besuchern gefüllten Kirchenraum. Endlich wieder einmal oben zu sein, ein Mitteilender zu sein, überwältigt zu werden von dem Ansturm der gebündelten Erwartungen der lautlos verharrenden Menge. Diese auf ihn zustürzende Spannung ließ ihn Atem holen, sein Gesicht zur Höhe heben in die gerundeten Formen der hoch240
angesetzten Fenster, die in die gegliederten Felder der Decke übergingen. Schon seine ersten Sätze entführten ihn aus der quälenden Not der letzten Tage. Immer nur und immerfort hatte man ihn bedrängt zu widerrufen, die Wahrheit, die er gefunden, in einsamen Nächten sich abgerungen, zu verleugnen. Diese Wahrheiten waren seine Kinder, aus seinem Leib, seiner Seele herausgewachsen, niemals wollte er sie verraten, sie einem flüchtigen Wohlergehen opfern. Seine Stimme strebte jetzt einer Festigkeit entgegen, erzeugte ein Kraftfeld, das in der Lage war, Sendboten zu verschicken, Himmel und Erde zu vermählen, seine Zuhörer in den Strom seiner Gedanken, in die bestechende Farbigkeit seiner Gleichnisgemälde hineinzuziehen. Er sprach von den Bausteinen der Welt, den Grundmauern, auf denen die Architektur, die ethischen Pfeiler der menschlichen Ordnung errichtet sind, erwachsen aus göttlicher Zuwendung. Er rief die Elemente herbei, gefesselt und dienstbar gemacht, eingebunden in den Plan einer übergeordneten Bestimmung. So strömte das Wasser aus göttlichen Händen, erzeugte im Vermischen mit Erde Wachstum, Blühen und Frucht, es läuterte, reinigte, stärkte. Er sprach von der Taufe, der Wiedertaufe; er widerrief nicht, er verteidigte die Wiedergeburt, die Reinwaschung eines nicht kindlichen, sondern eines denkenden, erwachsenen Menschen, der diese ihm zuteil gewordene Gnade 241
mit dankbarem Herzen auf sich niederregnen läßt. Ein in diesem Kirchenraum noch nie vernommenes Loblied, das mit einer solch außergewöhnlichen Begeisterung vorgetragen wurde, ließ die Gläubigen aufhorchen, schreckte sie hoch, weckte in manchen schon das Verlangen, ebenso in solch wundertätiges Geheimnis eingeführt zu werden, am eigenen Leibe solche Wohltat zu empfangen. Zwingli, der zuerst mit Überraschung, dann mit Ärger über das falsche, alle Absprachen gebrochene Verhalten Hubmaiers, zugehört hatte, konnte seinen Zorn nicht länger zurückhalten. Er sprang auf und schrie ihn nieder. Er schrie so lange, bis nur noch seine Stimme, in verzerrtem Widerhall von der Decke herabfallend, zu vernehmen war. Ordner holten Hubmaier von der Kanzel. Gleich nach Verlassen der Kirche wurde er verhaftet und in das Stadtgefängnis an der Limmat gebracht. Hubmaier befand sich in einer bisher nicht am eigenen Leib erfahrenen Gefängnishaft. Die ihn umgebenden Einflüsse, seine Wärter und ihre Schikanen, die feuchte Kälte, die Dürftigkeit der Zelle wurden zu Nebensächlichem, nachdem ihm seine Gedanken in den stillen Nächten zugeflüstert hatten: Du bist der Sieger, der wirkliche, große Sieger, du hast widerstanden, nicht widerrufen. Hinter der Vergitterung bewegte sich sein Geist in euphorischen Vorstellungen. Unterdessen war seine Frau unermüdlich unter242
wegs, um günstige Meinungen für ihren Mann zu erzeugen. Sie bot ihre Dienste als Schneiderin den Frauen von einflußreichen Männern an, sie brachte zusätzliches Essen, vor allem aber Wein in das Gefängnis, denn Wein war ihm zur täglichen Gewohnheit geworden, er verhalf ihm, die Mühsal zu ertragen, entführte ihn zu zeitweisem Wohlbefinden. Kaum war die Festsetzung Hubmaiers über Zürich hinausgedrungen, als auch schon Österreich einen Antrag auf seine Auslieferung stellte. Der Rat der Stadt, anfangs unschlüssig, neigte aber dann doch in seiner Haltung für eine Auslieferung Hubmaiers, jedenfalls erwog er sie ernstlich. Würde doch der Aufenthalt Hubmaiers in der Stadt immer Anlaß zu Schwierigkeiten geben. Hier aber war es Zwingli, dessen Einfluß bedeutend war, der sich für Hubmaier einsetzte, ihn vor Folter und Scheiterhaufen rettete. Er machte ihm den Vorschlag, nach geleistetem Widerruf, die Stadt gesichert verlassen zu können. Hubmaier willigte ein und konnte in Begleitung eines Ratsherrn, unter dessen Schutz, als Gesandter die Grenzen überschreiten. Im Frühjahr 1526 kam er nach Augsburg und von dort nach Nikolsburg in Mähren. Auch hier stand Hubmaier wieder auf der Kanzel, auch hier beugten sich die Gläubigen der Strahlkraft seiner Stimme, konnte er in kürzester Zeit eine Täufergemeinde zusammenschweißen, die Obrigkeit dafür gewinnen. Dies war nun nach 243
langer Zeit wieder ein glückliches Jahr für Elsbeth, die Frau Hubmaiers, die nun glaubte, alle Mühsal überstanden zu haben. Als aber Erzherzog Ferdinand König von Böhmen wurde und gleich darauf auch die Mark Mähren in sein Herrschaftsgebiet fiel, spürten seine geheimen Polizeiagenten Hubmaier dort auf und brachten ihn nach Wien. Hier eingekerkert, lag das Urteil des Prozesses von Anbeginn fest. Auch das Bekenntnis seines Widerrufes wurde als Beweis gegen ihn verwendet, sollte ihn als Ketzer überführen. Vor allem aber wurde er verurteilt als Empörer, Aufwiegler, Volksverhetzer und Verführer, der die Bauern und die Stadt Waldshut in großes Unglück gestürzt, sie zu Ungehorsam gegen alle Oberen, Fürsten und Regierung verleitet hat. Balthasar Hubmaier wurde am 10. März 1528 in Wien öffentlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Seine Frau, die schöne Elsbeth Hüglin, wurde mit eisernen Ketten umgürtet in der Donau ertränkt.
N
ur einer, der in jenen ereignisreichen Jahren sein Schicksal, seine politischen Bestrebungen mit den Bauernaufständen zeitweilig gekoppelt hatte, erreichte mit zäher, unbeirrbarer Entschlossenheit seine Ziele: der geächtete, seines Landes verwiesene Herzog Ulrich. Mit einem starken Söldnerheere, nach Verpfändung seiner gesamten Güter, vor allem aber mit der tat244
kräftigen Hilfe des Landgrafen Philipp von Hessen konnte er den Schwäbischen Bund am 12. Mai 1534 bei Lauffen am Neckar besiegen und sein Herzogtum zurückgewinnen. Herzog Ulrich führte in Württemberg die Reformation ein.
W
ie werden Ereignisse und Personen in der Geschichtsschreibung beurteilt, verurteilt? Können zeitgenössische Berichterstatter ein objektives Bild ihrer Epoche vermitteln? Fahren sie nicht in dem Zug der allgemeinen herrschenden Meinung mit? Oft brauchen in Nebel gehüllte Bilder den Abstand von Jahrhunderten, um sich in klarer Sicht zeigen zu können. Diese scheinbare Klarsicht kann aber getrübt sein von den Schatten, die nachfolgende Ereignisse, Erkenntnisse, Irrungen und Verwirrungen geworfen haben und werfen werden. So wird es keinen absoluten, in der Geschichtsschreibung völlig objektiven Standpunkt geben können. Am gesichertsten erscheint hier die Aufzählung von folgerichtig aneinandergereihten Fakten. 1524/25 – ein so bedeutender Zeitabschnitt der deutschen Geschichte, der Beginn der Bauernaufstände im südlichen Schwarzwald, die zu revolutionären Erhebungen, zum großen Bauernkrieg führten, das Vordringen der Reformation, der Abfall der Stadt Waldshut, die aus gesichertem österreichischen Verband, aus der Einheit von staatlicher und kirchlicher Macht, zur 245
Reformation überwechselte, sich gleichzeitig mit den Bauern verband – alle diese hier zusammentreffenden, hervorstechenden Ereignisse werden immer ein dauerhaftes, allgemeines Interesse auf sich ziehen. Von diesen Bewegungen nach vorn gedrängt zeigen sich der Bauernoberst Hans Müller aus Bulgenbach sowie der Pfarrer, Reformator und Wiedertäufer Doktor Balthasar Hubmaier. Um diesen Personen gerecht zu werden, um sie als agierende Gestalten in ihrer Umwelt zu erleben, sie sichtbar zu machen, sie einem größeren Kreis zu erschließen, wird die Phantasie gefordert. Die Phantasie aber nicht nur als beliebig lenkbares Hilfsmittel gesehen, sondern als exaktes Meßgerät unserer seelischen Vorgänge, das sich in fremde, längst vergangene Abläufe einzuschalten, sie zu erhellen vermag. So sind zum Beispiel von Hubmaiers Frau nur ihr Name, ihre Herkunft (eines Müllers Tochter aus Reichenau, Kärnten), ihre Hochzeit, ihre Flucht, ihr früher Tod überliefert, und dies ohne näheres Eingehen auf die umgebenden Verhältnisse. So müssen diesen Personen, um sie plastisch und beweglich zu machen, um unsere Teilnahme für sie zu wecken, noch andere Personen an ihre Seite gegeben, Szenen gestaltet werden, die einen größeren, erweiterten Raum füllen können. Um aber Schauplätze jener Zeit heraufzuholen müssen wir unsere Einbildungskraft kaum bemühen, wenigstens nicht, was Waldshut betrifft. Hier zeigt sich 246
die Altstadt in einer solch geschlossenen, einheitlichen Architektur – nicht beschädigt durch Kriege, auch nicht durch Bombardierungen des Zweiten Weltkrieges –, die unsere Gedanken anregen, uns um Jahrhunderte zurückversetzen kann. Denkt man sich die Ladenlokale in den aneinandergereihten Häuserzeilen als mittelalterliche Werkstätten, die ihr Werken bis in die Straße hinein verlegt haben, so ist ein Nachklingen ihrer Tätigkeit noch heute zu vernehmen. Die Stadt mit der Waldregion im Rücken ist ein bedeutender Zielort von Wirtschaft, Verwaltung und Verkehr am Hochrhein geblieben. Sie hat sich in der Einwohnerzahl mehr als verzehnfacht, an den Hängen wurde hinauf- und entlanggebaut. Nur der Rhein schießt nicht mehr mit rüttelndem Schwung um den Felsklotz; beruhigt, gedämmt, angehoben von einer Staubrücke, genützt von einem abwärtsgelegenen Kraftwerk, liegt er wie ein kaum bewegter See, immer noch die Grenze zur Schweiz markierend. Bulgenbach, in der Mulde zweier Hügel geborgen, hat sich nicht vergrößert, ein Dutzend Höfe, Scheunen, eine Kapelle wie zu alten Zeiten. Das Elternhaus des Bauernhauptmannes Hans Müller ist durch einen Blitzschlag im Jahre 1911 bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Es wurde nicht mehr aufgebaut. In den Mauern fand man ein in Tücher gehülltes Schwert. 247
Es ist anzunehmen, daß es aus jenen Zeiten stammt, in denen das Tragen und Besitzen von Waffen strengen Strafen unterlag. Wenn heutige Geschichtsschreiber von Hans Müller bedauernd meinen, er hätte ein besseres Los verdient gehabt, so ist zu fragen: Wie werden die Lose verteilt? Wer wird herausgehoben unter den vielen? Wie wird er fertig mit solcher Auszeichnung? Hans Müller ist angetreten mit einem unbeirrbaren, geradezu fanatischen Glauben für ein besseres, ein freieres Leben der Unterdrückten. Er hat für diesen Traum gekämpft. Noch nach den Niederlagen hat er unermüdlich geworben, gehandelt, sich bis zur Erschöpfung verausgabt. Dies war seine Größe. Er wußte: Folter und Hinrichtung warten, dies sein Schicksal, sein Los, er mußte damit fertig werden. Sein Geburtsjahr ist nicht bekannt, aber nimmt man das Jahr 1493 an, so erreichte er 32 Lebensjahre. Einen späteren Zeitpunkt anzunehmen wäre unrealistisch, und ein noch früheres Datum würde nicht dem Erscheinungsbild entsprechen, welches die Chronisten von ihm vermitteln: Er war ein stattlicher Mann in rechter Manneslänge, und alle sahen in Achtung zu ihm auf, er war verständig und wohlberedt, seinesgleichen Redner mochte man nicht finden. Bei Versammlungen soll er in rotem Mantel und mit federgeschmückten Barett erschienen sein, bevorzugt habe er schwarze Pfer248
de geritten. Er besaß in zutreffendem Maße die Merkmale und Eigenschaften eines Volkshelden. So blieb er unvergessen. Oben in den Wäldern fand man einen unbearbeiteten Stein, in den die Buchstaben H. M. und die Jahreszahl 1525 eingemeißelt waren. Ein früher Versuch, seinem Ansehen, das er immer bei den Leuten vom Walde besaß, ein sichtbares Zeichen zu setzen. Heute steht ein tief im Boden verankerter Granitklotz an der Biegung des Weges, der in gewundenen Schleifen den Hang hinaufsteigt; er steht am Rande der Gärten seines Elternhauses. Man blickt hinab in das Tal der Mettma, hinweg über die Heidenmühle zum Buggenrieder Berg. Eine frühe Sonne streicht über den bewaldeten Kamm, zielt auf die gegenüberliegenden Höhen. Kühl, in gedunkeltem Blauton der Nacht ruht noch die Fülle des Berges. Es ist die Zeit vor dem Tau, der die Gräser der Weiden, der Wiesenhänge netzen wird. Oft liegen Blumen auf seinem Stein, an den Weg- und Waldrändern gepflückt, aus Bauerngärten, aus überglasten Gewächshäusern geholt. Purpurner Schein überfliegt die schattigen Plätze, in raschem Wechsel entstehen Zwischenfarben, Violett, Rosa, ein saftiges Gelb. Die Farben der Blumen finden sich oben an den Wolkenrändern wieder, umspülen die Stämme der Bäume, auch den Stein, nehmen ihm seine schwere Massigkeit. 249
Ein Stein der Erinnerung an jene bewegte Zeit und ihre Gestalten, hereingeholt in das Tageslicht der Gegenwart. Lebendige Gegenwart erfährt die Gestalt des Hans Müller durch seine Landsleute, die seinen Weg nachvollziehen, ihn mit ihren Wünschen und Vorstellungen begleiten. So zeichnet eine über Generationen weitergegebene mündliche Überlieferung seine Spuren, sein Wirken in überhöhter Farbigkeit, in einer Vielfalt der Möglichkeiten. Demnach soll er schon in seiner frühesten Jugend im Bulgenbacher Elternhaus die Bekanntschaft jenes legendären Jos Fritz gemacht haben, jenes BundschuhRebellen, der schon 1502 den Aufstand gegen den Bischof von Speyer in die Wege geleitet und 1513 den Brandanschlag von Lehen gegen Freiburg inszeniert hatte, gedacht als Fanal zur allgemeinen großen Volkserhebung. Auch der Stein, den man in den Wäldern fand, erfährt in dieser mündlichen Überlieferung eine andere Deutung. Hier ist er nicht nur Erinnerungsstein, Denkmal, sondern wird zum Grabmal für den Körper des Hingerichteten. Nach dieser Darstellung sollen treue, zu allem entschlossene Anhänger des Hans Müller seinen Leichnam nach Bulgenbach gebracht und in den heimatlichen Wäldern beerdigt haben. Dies wirkt 250
um so überzeugender, da die Denkart der Menschen jener Zeit vor allem darauf gerichtet war, dem Gescholtenen, Geschändeten einen ehrenden Platz zu geben.
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Günter Koppenhöfer über sich selbst 1913 wurde ich in Berghausen, im badischen Unterland, geboren. Mein Vater war Landschaftsmaler, er kam aus dem schwäbisch-fränkischen Raum, die Heimat meiner Mutter war der Kniebis im Schwarzwald. Zur Schule gegangen bin ich im Unterland, auf dem Kniebis, in Mundelfingen auf der Baar und in Donaueschingen. Nach einer dreijährigen Lehre als Zimmermann in Schwenningen a. N. arbeitete ich auf verschiedenen Baustellen Süddeutschlands, erlebte den Bauarbeiterstreik am Hochrhein und war schließlich einen Sommer lang landwirtschaftlicher Saisonarbeiter auf einem Gut in Mannheim-Straßenheim. Es folgte eine Ausbildung zum Schauspieler an der Theaterakademie in Karlsruhe. Nach über sechs Jahren Krieg und Gefangenschaft in der Ukraine, dem Kaukasus und in Südfrankreich wurde ich seßhaft in Mundelfingen, heiratete und begann gemeinsam mit meiner Frau, einer Geflügelzüchterin, eine Geflügelzucht. In Mundelfingen richtete ich ein Naturtheater ein, schrieb die Grimmschen Märchen um in alemannische Mundart, gab ihnen eine moderne Deutung. Inzwischen wird die Aufführung dieser Stücke von einem Pflegesohn in Ilmensee fortgeführt. Mit der Aufgabe der Geflügelzucht nahm das »Alemannische Puppentheater« mit holzgeschnitzten lebensgroßen Köpfen
seinen Anfang – das Paradestück: »Romäus, der stark Maa vu Villinge«. Über 15 Jahre wurde von Rottweil bis Breisach, von Konstanz bis Offenburg gespielt. In dieser Zeit entstanden mehrere Hörspiele für den Südwestfunk, alemannische Bänkellieder und die »Geschichten aus dem Südwesten«. Dazwischen das tägliche Leben mit Sorgen, Freuden und Reisen durch die Länder Europas. Man errichtet eine Basis, eine Schwelle, setzt Stein auf Stein, zwei Senkrechten neigen sich zueinander, der Giebel, das Dreieck wird geboren, das Dach umstreicht der Wind, aus dem Giebel fliegen die Gedanken, die Wünsche, die Phantasien …
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