Das neue Abenteuer 509
Horst Czerny: SOS aus dem Eis
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Illustriert vo...
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Das neue Abenteuer 509
Horst Czerny: SOS aus dem Eis
Verlag Neues Leben, Berlin
V 1.0 by Dumme Pute
Illustriert von Günther Lück ISBN 3-355-00917-2 © Verlag Neues Leben, Berlin 1989 Lizenz Nr. 303 (305/118/89) LSV 7503 Umschlag: Günther Lück Typografie: Walter Leipold Schrift: 10 p Timeless Gesamtherstellung: (140) Druckerei Neues Deutschland, Berlin Bestell-Nr. 644 696 4 00025
Der General schlief schlecht in dieser Nacht. Unruhig wälzte er sich von einer Seite auf die andere, erwachte mitunter und stöhnte leise auf. Schließlich, es war mittlerweile drei Uhr morgens geworden, erhob er sich, kleidete sich notdürftig an und ging an Deck, um eine Zigarette zu rauchen. Sein Blick geisterte unstet und müde umher. Die Landschaft rings um die Kingsbai an der Nordwestküste Spitzbergens war zu Eis erstarrt. Unaufhörlich stießen in der weiten Bucht Eisschollen gegeneinander und verursachten lautes Poltern, als würden riesige Holzstapel zusammenstürzen. Die Temperatur lag unter zwanzig Grad minus. Es war aber nicht die Kälte, die General Umberto Nobile frösteln ließ, sondern der Gedanke an das Abenteuer, das an diesem Morgen beginnen würde. Nobile, dreiundvierzigjährig und von mittelgroßer Statur, wußte, was ihm bevorstand. Er hatte das Schicksal herausgefordert, und er kannte den Preis: Weltruhm oder Untergang. Wieder in seiner eleganten, mit Mahagoniholz verkleideten Kabine, legte er sich nicht noch einmal nieder, sondern ordnete seine Sachen. Für ihn war die Nacht zu Ende. Bald auch für die anderen. An Bord der Citta di Milano, eines Kreuzers, der der Expedition als Mutterschiff diente, gingen die Lichter an. Der große Tag war gekommen. Matrosen, Mechaniker, Ingenieure, Marineflieger und Wissenschaftler krochen gähnend aus ihren Kojen. Nach einem kurzen Frühstück gingen sie an die Arbeit. Was jetzt zu tun war, hatten sie wochenlang geprobt, sie beherrschten jeden Handgriff. Mit vereinten Kräften zogen sie aus einem Hangar eine Riesenzigarre hervor, das Luftschiff Italia. Es hatte eine Länge von hundertsechs Metern, war fünfundzwanzig Meter hoch, besaß vier Gondeln
und wurde von drei Motoren angetrieben. Gewaltige Benzintanks und Ölbehälter faßten acht Tonnen Treibstoff, genug, um dem Flugkörper einen achtzigstündigen Aufenthalt in der Luft zu ermöglichen. Die Italia war Nobiles Werk, er selbst hatte das Luftschiff erdacht und bis ins kleinste Detail konstruiert. Mit einem ähnlichen Apparat, der Norge, hatte er zwei Jahre zuvor als Pilot an dem Nonstopflug Spitzbergen-NordpolAlaska teilgenommen, der unter Leitung des Norwegers Roald Amundsen zu einer Weltsensation ersten Ranges geworden war. Diese Leistung gedachte Umberto Nobile jetzt zu übertreffen. Er wollte auf dem Nordpol landen und danach zur Kingsbai zurückkehren. Dazu bedurfte es eines tollkühnen Mutes. Nobile besaß ihn. Das trug ihm viel Anerkennung ein. Allerdings meinten etliche Experten, daß nur ein Wahnsinniger einen solchen Plan entwerfen könne, denn Landungen aus der Luft seien auf dem nördlichsten Scheitelpunkt der Erde unmöglich. Sie verwiesen auf den schwedischen Ingenieur Salomon August Andree, der dies 1897 mit einem Freiballon versucht hatte und dabei elend umgekommen war. Im Mai 1925, ein weiteres Beispiel, war Amundsens Unternehmen, sich mit zwei Flugzeugen auf dem Pol niederzulassen, gescheitert. Dreihundert Kilometer vor dem Ziel hatte eine Bruchlandung alle Blütenträume buchstäblich zerschellen lassen. Solche Erfahrungen schreckten General Nobile nicht, gab es doch andere Experten, die seinem Vorhaben begeistert zustimmten und deshalb mit ihm auf die waghalsige Reise gingen. Sie begaben sich nun also an Bord der Ita lia. Es verstand sich von selbst, daß die großen Zeitungen
und Radiostationen ihre besten Korrespondenten zur Kingsbai entsandt hatten. Ein italienischer General will zum Nordpol. Das durfte man sich nicht entgehen lassen. Nobile hatte etlichen ausländischen Reportern angeboten, ihn zu begleiten, aber sie hatten dankend abgelehnt. Ihr persönlicher Mut wäre überfordert worden. "Herr General, haben Sie der Weltöffentlichkeit noch etwas mitzuteilen?" wurde Nobile gefragt. Das hatte er. "Die Erforschung des Pols ist nicht das Privileg der Völker an den Ufern des Eismeeres. Wir Italiener wollen zeigen, wozu wir fähig sind. Wir wollen unbekannte Länder entdecken und unsere Flagge auf dem Gipfel der Erde hissen!" Das war gewiß heroisch gesprochen. Der Vertreter der "New York Times" erlaubte sich einen Einwand. "Wo wollen Sie etwas Neues entdecken, Herr General? Amundsens Flug hat doch bewiesen, daß es zwischen Spitzbergen und dem Nordpol keine unbekannten Länder und Inseln gibt." Nobile ließ sich von dem vorlauten Frager nicht das Konzept verderben, er lächelte dünn und sagte: "Das ist natürlich richtig, und niemand weiß das besser als ich, denn schließlich habe ich ja Amundsens Luftschiff gesteuert. Unbekanntes vermute ich aber zwischen Spitzbergen und dem Norden Grönlands. Dieses tausend Kilometer breite Gebiet ist gänzlich unerforscht. Aus diesem Grunde will ich es überfliegen, ehe ich in Richtung Pol abdrehe." Eine einleuchtende Erklärung, die neugierigen Reporter erkannten sie an. Endlich war es soweit. Schwerfällig hob die Italia vom Boden ab. Dies geschah am 23. Mai 1928, 4.28 Uhr MEZ. Wenig später herrschte auf der Citta di Milano ein
Durcheinander. Die Korrespondenten drängten sich darum, in der engen Funkkabine als erste ihre Berichte durchzugeben. Noch im Laufe dieses Tages wußte die ganze Welt, daß sich General Umberto Nobile auf dem Wege zum Nordpol befand. Erinnerungen an Kolumbus, Cook, Peary und Amundsen wurden wach, und ein wenig roch das Ganze nach Romantik, nach Robinson Crusoe und Karl May.
Unmittelbar nach dem reibungslos verlaufenen Start suchte General Nobile seine Kabine in der Führergondel auf und ließ sich in einem bequemen Ledersessel nieder. Er gönnte sich etwas Ruhe, das Luftschiff wußte er in guten Händen. Die Kapitäne Adalberto Mariano und Filippo Zappi, beide knapp über dreißig, bedienten abwechselnd das Steuer. Auch die andere Expeditionsteilnehmer befanden sich auf ihren Posten. Die Physiker und Meteorologen nahmen ihre Messungen auf. Am meisten hatte freilich Giuseppe Biaggi zu tun. Der quirlige Radiotelegrafist aus der Kleinstadt Medicina teilte im Auftrag Nobiles dem Papst, mehreren Staatsoberhäuptern und weiteren hochgestellten Leuten über Funk mit, daß an Bord alles wohlauf sei. Seine Funksprüche endeten gleichlautend: Evviva Italia! Es lebe Italien! Nobile blickte unentwegt in die Tiefe hinab. Die Sicht war ausgezeichnet. Das Luftschiff überflog ein Gebiet, das noch niemals von einem Menschen erblickt worden war, doch etwas Besonderes gab es nicht zu entdecken. Eintönig und schier unendlich dehnten sich Packeisfelder aus. Nur gelegentlich wurden sie von breiten Rissen unterbrochen. Aber keine Spur von Bergen, Ländern oder Inseln.
Menschen, überlegte der General, könnten in solchen Eiswüsten nicht lange leben, die Einsamkeit würde sie töten. Plötzlich geriet die Italia in eine dicke Nebelwand, so daß er nichts mehr sehen konnte. "Bis auf zweihundert Meter heruntergehen", befahl Nobile über das Bordtelefon. Nachdem der Befehl ausgeführt war, besserte sich die Sicht trotzdem nicht. Immer dichter wurde der Nebel. Es war zu befürchten, daß die Manövrierfähigkeit der Italia beeinträchtigt wurde. Nobile beorderte den Navigator zu sich und fragte ihn: "Haben Sie Ihre Geräte genauestens überprüft? Ist alles in bester Ordnung?" "Ganz bestimmt, General." "Um so besser. In dieser Waschküche sind wir ausschließlich auf die Instrumente angewiesen. Jetzt dürfen Sie zeigen, was Sie bei mir gelernt haben." "Jawohl, General." Obendrein kam ein Sturm auf, die Italia hatte Gegenwind, und das minderte sogleich die Reisegeschwindigkeit. Erst zur Mittagszeit lichteten sich die Nebelschleier, und auch der Sturm flaute ab. Bei klarer Sicht tauchten unter dem Luftschiff nun die Küsten Grönlands auf. "Endlich!" rief Nobile aus. "Wir wollen ihren Verlauf eine Weile untersuchen." Zu diesem Zweck ließ er die Italia bei mittlerer Geschwindigkeit und einer Außentemperatur von zwanzig Grad unter Null zwei Stunden lang über dem Norden dieser größten Insel der Erde kreuzen. Am späten Nachmittag erklärte er das Manöver für beendet. Mit einem gewissen Pathos verkündete Nobile: "Kame-
raden, nunmehr begeben wir uns auf den geraden und direkten Weg zum Nordpol!" Seine Begleiter stimmten begeistert ein: "Evviva Italia!" Diesen Ruf sollten sie noch etliche Male ausstoßen. Dem geraden und direkten Weg zum Pol folgten sie längs des 27. Grades westlicher Länge. Die Italia flog in einer Höhe von zweitausend Metern. Tief unter ihnen dehnte sich der Arktische Ozean aus. Das war freilich kein rauschendes, brausendes Meer, sondern eine öde, grauweiße Landschaft aus Packeismassen. General Nobile bat jetzt jene drei Männer zu sich, die er ausersehen hatte, mit ihm den Nordpol zu betreten. Das waren die Kapitäne Zappi und Mariano sowie der schwedische Professor Malmgreen. Nobile traute ihnen zu, daß sie an seiner Seite, falls es kritisch werden sollte, wie die Löwen kämpfen würden. Bei einer Tasse Kaffee erläuterte er ihnen, wie das komplizierte Manöver ausgeführt werden sollte. "Wir gehen bis auf fünfzig Meter herunter und lassen uns dann in einem Gummiboot bis zur Erde abseilen. Dort angekommen, hissen wir die Flagge unserer Heimat und rammen das vom Heiligen Vater gestiftete goldene Kruzifix ins Eis. Unser Aufenthalt auf dem Nordpol sollte nicht länger als eine halbe Stunde dauern." Die anderen nickten. "Ich sehe überhaupt keine Schwierigkeiten", sagte Kapitän Filippo Zappi. In dieser Runde war er der Stärkste, war kräftig gebaut und strotzte geradezu vor Gesundheit. Sein Gesicht kündete von Energie und Tatendrang. Dagegen sah Adalberto Mariano eher schmächtig aus. Malmgreen machte sogar einen ausgesprochen schwächlichen Eindruck und war
kaum mittelgroß. Allerdings trog dieses Bild. Der Professor für Ozeanographie an der Universität Upsala besaß eine eiserne Natur. Als Teilnehmer mehrerer Expeditionen ins Nordeis hatte er bewiesen, stärksten Belastungen gewachsen zu sein. Als einziger an Bord wußte er, was Daseinskampf in der Arktis bedeutet und wie man selbst in aussichtslosen Situationen das Überleben organisiert. Die nächsten Stunden vergingen rasch. Je näher die Italia dem ersehnten Ziel kam, desto mehr nahm an Bord die Unruhe zu. Gegen 22.30 Uhr war der 88. Breitengrad erreicht.
Nobile befahl: "Auf sechshundert Meter gehen!" "Zu Befehl, General." Wenig später bahnte sich eine Krise an. Unvermittelt geriet das Luftschiff in die Gewalt eines Sturmes und wurde kräftig geschüttelt. Der General zeigte sich bestürzt
und ratlos. Er suchte Finn Malmgreen auf, den Meteorologen der Expedition. "Was hat das zu bedeuten?" fragte er ihn hastig. Der Schwede erwiderte ruhig: "Wir sind in einen schweren Sturm geraten, der sich zum Orkan auswachsen kann. Das könnte unser Ende bedeuten." "Was schlagen Sie vor, Professor?" "Wollen Sie meine ehrliche Meinung hören?" "Natürlich." "Wir sollten sofort umkehren und später einen neuen Versuch unternehmen." Nobile biß sich auf die Lippen. So kurz vor dem Ziel kapitulieren? Das war nicht seine Art. "Immerhin", räumte er ein, "könnte sich der Sturm wieder legen?" "Theoretisch ist das natürlich möglich." Nach kurzem Überlegen entschied Umberto Nobile, den Flug fortzusetzen. "Auf ihre Verantwortung, General", erwiderte Malmgreen gelassen. Glücklicherweise verschlimmerte sich das Unwetter nicht, der Orkan blieb aus, auch die Wucht des Sturmes ließ etwas nach. So verlief der Weiterflug einigermaßen gefahrlos. Kurz nach Mitternacht ließ Nobile durch Giuseppe Biaggi einen weiteren Funkspruch zur Citta di Milano an der Kingsbai senden: In zwanzig Minuten wird die italienische Flagge am Nordpol wehen. Die Navigationsoffiziere an den Sextanten und den anderen Meßgeräten fieberten vor Ungeduld und lasen mit gespannter Aufmerksamkeit die Daten ab. Endlich das erlösende Zeichen.
Ingenieur Ceccioni rief lachend aus: "Kameraden, genau unter uns liegt der Nordpol!" Der größte Teil der Besatzung bestand aus Italienern, die für ihr lebhaftes, oft überschäumendes Temperament bekannt sind. Ihrem Ruf machten sie auch jetzt alle Ehre. Sie brachen in ohrenbetäubenden Jubel aus und fielen einander wild gestikulierend in die Arme. Die Stimmung erhöhte sich noch, als eine Flasche Eierlikör herumgereicht wurde. Und General Umberto Nobile, der mit gerötetem Gesicht dabeistand, kostete seinen Triumph aus. War das der Weltruhm, die Unsterblichkeit? Sein Hang, große Worte zu machen, brach sich in diesen Augenblicken wieder Bahn. "Freunde, Kameraden! Noch in tausend Jahren werden die Geschichtsbücher von unseren Taten künden. Evviva Italia!" "Evviva Italia!" antworteten seine Landsleute im Chor. Für Giuseppe Biaggi blieb keine Zeit zum Feiern. Im Auftrag des Generals mußte er erneut zahlreiche Funksprüche abschicken, an den italienischen König, den Heiligen Vater, an gekrönte und ungekrönte Häupter aller Kontinente. Der Text war immer derselbe: Mit Gottes Hille hat Umberto Nobile am 24. Mai 1928 um 00.31 Uhr den Nordpol erreicht. Es lebe Italien! Unterdessen nahm der Sturm an Heftigkeit zu. Unter diesen Umständen durfte der General das geplante Landungsmanöver nicht riskieren. "Wir versuchen es später. Vielleicht bessert sich das Wetter in ein paar Stunden", entschied er daraufhin. Nobile gab Anweisung, den Pol in weiten Schleifen zu umrunden. Als aber drei Stunden verstrichen waren und
der Sturm unvermindert anhielt, verlor er die Geduld, riß ein Kabinenfenster auf und schleuderte die Fahne Italiens und das vom Heiligen Vater gestiftete Kruzifix in die Tiefe hinab. Er war verärgert, weil er auf die Landung hatte verzichten müssen.
Und dann hatte er es mit einemmal sehr eilig. Da er den Pol nicht betreten konnte, schien dieser ihn nicht länger zu interessieren. Unruhe bemächtigte sich seiner seine Stimme verriet Unsicherheit, als er die Kommandos gab. "Auf tausend Meter gehen. Wir halten uns längs des fünfundzwanzigsten Meridians östlich von Greenwich. Die Motoren auf volle Touren bringen. Zurück zur Kingsbai." Aus den Frühnachrichten der Radiostationen erfuhren am 25. Mai die Menschen in allen Ländern, daß Umberto Nobile den Nordpol überflogen hatte. Einige Stunden
später verbreiteten die Mittagsblätter und Abendzeitungen die Nachricht von dem geglückten Unternehmen in großer Aufmachung auf den ersten Seiten. Die Welt hatte eine neue Sensation, über die sich auf vielfältige Weise spekulieren und diskutieren ließ. Vor allem lenkte sie vorübergehend von anderen Ereignissen ab - von dem schrecklichen Hungerdrama in China, dem Gemetzel, das britisches Militär in Kalkutta, Madras und anderen indischen Städten gerade anrichtete, von dem jüngsten Justizmord in Chicago und der heimlichen Aufrüstung in Deutschland. Ein wahrer Freudentaumel erfaßte ganz Italien. Überall im Lande läuteten die Glocken. Die großen Zeitungen ließen auf den Straßen kostenlose Extrablätter verteilen. Die Kinder bekamen schulfrei, und im altehrwürdigen Petersdom zelebrierte der Heilige Vater eine Extramesse, wobei er den Beistand des Allmächtigen für die sichere Heimkehr der Helden erflehte und den großen Segen spendete. Einige namhafte Wissenschaftler meldeten sich öffentlich zu Wort. Sie nannten den Flug der Italia eine vollkommen überflüssige Demonstration, die unnötigerweise Menschenleben gefährde. Ihre Stimmen gingen allerdings in der allgemeinen Begeisterung unter. Im übrigen waren die Gedanken auf die ferne Kingsbai gerichtet. Dort mußte nun in jedem Augenblick die Riesenzigarre zur Landung ansetzen. Techniker und Hilfskräfte standen bereit und beobachteten den Himmel. Zwei Dutzend Reporter froren unterdessen jämmerlich und fluchten vor sich hin. Manchmal trotteten sie zur Citta di Milano, um sich an der Bar bei Grog und Glühwein aufzuwärmen. Stunde um Stunde verrann, aber Nobile und seine Männer kamen nicht.
Einer von Biaggis Funksprüchen besagte, daß die Italia am 24. Mai morgens gegen vier Uhr den Rückflug vom Pol angetreten habe, also vor vierundzwanzig Stunden. Und in einem weiteren hatte es geheißen: Wir haben Sturm. An Bord alles wohlaul. Seitdem war keine Nachricht mehr gekommen. Wieder verstrich ein Tag, aber der General meldete sich nicht. Der Kommandant des Expeditionsschiffes geriet in große Unruhe. Neben ihm standen mehrere Offiziere und Reporter. "Seit achtundvierzig Stunden schweigt Nobile. Also muß befürchtet werden, daß ihm und seiner Mannschaft ein Unglück zugestoßen ist", sagte er zu ihnen. "Vielleicht hat aber bloß die Sendeanlage versagt. Der General verfügt immerhin über Treibstoff für achtzig Flugstunden, und selbst dann, wenn der letzte Tropfen verbraucht ist, kann er sich mit abgedrosselten Motoren vom Wind treiben lassen und sich längere Zeit in der Luft aufhalten." Dann ergänzte er leise: "Wenn jedoch nicht bald etwas geschieht, muß Alarm gegeben werden!" Alarm schlug der Kapitän einen Tag später, indem er einen Funkspruch in die Welt schickte: Nobile überlfllig. Später verkündete er: "Der General ist wahrscheinlich irgendwo auf dem Eis notgelandet. Wir wollen versuchen, zu ihm zu fahren." Unmittelbar darauf dampfte die Citta di Milano in Richtung Norden davon. Aber schon nach wenigen Kilometern kam unerbittlich das Aus. Vor dem Bug des Schiffes tat sich eine undurchdringliche Mauer aus meterhohem Packeis auf. Der Kapitän gab das Zeichen zur Umkehr.
Fünfzig Stunden waren seit Verlassen des Nordpols vergangen. Der heftige Sturm hatte sich anfangs wieder gelegt, und so konnte die Italia bei günstigen Witterungsbedingungen mühelos Kilometer um Kilometer hinter sich lassen. Nobile war überzeugt, bis Spitzbergen nicht länger als einen halben Tag zu brauchen. Wie sehr er sich irrte! Bald geriet das Luftschiff in dichte Nebelbänke, die die Sicht zunehmend erschwerten. Erneut kam Sturm auf. Resigniert schrieb der General am späten Vormittag ins Bordtagebuch: "Flughöhe 300 Meter. Durchschnittliche Geschwindigkeit 47 Kilometer je Stunde. Sicht mangelhaft. Der Sturm drängt uns vom Kurs ab. Wir befinden uns am 25. Meridian Ost über unerforschtem Gebiet. Erste Anzeichen von Erschöpfung bei der Mannschaft." Alle Motoren arbeiteten mit Hochdruck. Die Geschwindigkeit erhöhte sich indes nicht. "Elender Sturm." Der General schimpfte. "Wir werden immer langsamer, und außerdem geht uns bald der Treibstoff aus." Eine neue Gefahr kündigte sich an: die Kälte. In den Kabinen war es längst ungemütlich geworden, denn die Heizungsaggregate vermochten gegen den eindringenden Frost nicht viel auszurichten. Auf das eigentliche Problem wies jedoch Vincenzo Pomella hin. Der Dreißigjährige gehörte zur Gruppe der Maschinisten, die für das sichere Funktionieren der technischen Einrichtungen verantwortlich war. Er schien ziemlich aufgeregt, als er Meldung erstattete. "General, Außenhülle und Antenne sind vollständig vereist. Auch an Höhen- und Seitenruder sind Vereisungen zu
erkennen. Was befehlen Sie?" Nobile reagierte im ersten Augenblick recht bestürzt und sah den Maschinisten fassungslos an. "Das ist eine verdammt böse Sache." Was er zu befehlen habe? Ihm fiel zunächst nichts ein, er sagte lediglich: "Biaggi soll unsere Lage zur Kingsbai melden." Eben wegen der unbrauchbar gewordenen Antenne waren Biaggis Anstrengungen allerdings zum Scheitern verurteilt. Das Luftschiff setzte seine Fahrt, unaufhörlich gegen Sturm und Eis ankämpfend, fort. Es war am 25. Mai 1928. Gegen neun Uhr morgens erfuhr General Nobile von den Kapitänen Zappi und Mariano, daß der weitaus größte Teil der riskanten Reise bewältigt war, die Italia befand sich bereits weniger als dreihundert Kilometer von der Küste Spitzbergens entfernt. "Männer, wir schaffen es", rief Nobile siegesgewiß aus. Mariano dämpfte dessen Optimismus. Vorausgesetzt, daß in den nächsten vier Stunden nichts Außergewöhnliches passiert." "Verbreiten Sie keine Panik." Der General lächelte plötzlich. "In vier Stunden, lieber Freund, werden Sie das Vergnügen haben, uns alle zu Sekt und Kaviar einzuladen." Gleich darauf verging ihm der Appetit auf Sekt und Kaviar, wenigstens vorübergehend. Professor Franz Behounek, der dicke Naturwissenschaftler aus Prag und gelegentlich Spaßvogel der Expedition, kam mit einer weiteren unangenehmen Neuigkeit. "Das Höhenruder ist defekt. Wir verlieren sehr rasch an Höhe." Diesmal zeigte sich Nobile nur für Sekunden unsicher.
Blitzschnell erkannte er die tödliche Gefahr und sagte mit erstaunlich wirkender Ruhe und Kaltblütigkeit: "Irgendein Esel muß geschlafen haben, sonst wäre das nicht passiert. Sofort die Motoren abstellen und die Signalleitungen in Bewegung setzen!" Nachdem der Befehl befolgt war, gewann die Italia wieder an Höhe und flog dreihundert Meter über dem Eis, zwar vom Sturm bedrängt, doch einigermaßen sicher auf die Kingsbai zu. Die total erschöpften Männer atmeten erleichtert auf. Mariano machte sich Notizen. "Was schreiben Sie da?" wollte Malmgreen wissen. Mariano lachte. "Ich rechne gerade aus, was mich das Sektfrühstück mit Kaviar kosten wird. Hoffentlich wird es nicht zu teuer, meine Frau will sich nämlich schon wieder ein neues Kostüm machen lassen. Das geht ins Geld, mein Freund." Um 10.30 Uhr verkündete der General über das Bordmikrofon: "Nur noch zweihundert Kilometer bis zur Kingsbai." Allerdings lastete die Eisschicht schwer auf dem Luftschiff, dessen Gewicht dadurch weiter gefahrlich zunahm. Kapitän Zappi schlug vor, Ballast abzuwerfen. "Einverstanden", erwiderte Nobile. Sofort wurden Kisten mit Proviant, Ausrüstungsgegenständen und technischem Gerät über Bord geworfen. Das Gewicht der Italia verringerte sich dadurch nur unbedeutend. Unterdessen meldete Biaggi, daß das Funkgerät wieder in Ordnung sei. "Ausgezeichnet", sagte der General. "Geben Sie unsere Position sofort an die Kingsbai durch."
Giuseppe Biaggi funkte, was Mariano ihm diktierte: 80 Grad nördlicher Breite, 15 Grad östlicher Lfnge. Malmgreen stand zufällig daneben und wurde kreidebleich. "Aber das ist nicht unsere Position!" rief er laut. "Wir befinden uns weiter östlich." Es war jedoch zu spät, den Irrtum zu korrigieren. Professor Behounek kam angestürzt. Was er mitzuteilen hatte, löste bei den Besatzungsmitgliedern Entsetzen aus. "Überall strömt Gas aus. Wir stürzen ab .!" "Das ist nicht wahr", schrie Nobile. Unfähig, an den Untergang seiner Expedition zu denken, blickte er seine Gefährten entgeistert an. Als könnte er etwas retten, riß er mit beiden Händen ein Kabinenfenster auf. Eisiger Sturm schlug ihm ins Gesicht. "Gott steh uns bei", flüsterte er, während die anderen ebenso gelähmt und fassungslos dastanden. Im nächsten Augenblick ging ein Ruck durch die Italia. Ihr Bug neigte sich nach unten. Das Weitere spielte sich in Sekundenschnelle ab. Die Riesenzigarre stürzte nieder. Nur noch fünfzig Meter ., vierzig ., dreißig . Eine gewaltige Explosion erschütterte die Luft. Die zerfetzte Ballonhülle riß sich los und wurde mit einer der Gondeln, in der sich mehrere Männer befanden, in die Höhe getrieben und danach vom Sturm in eine unbekannte Ferne getragen. Unterdessen schlug die Führergondel hart gegen das Eis auf. Wie von Geisterhand bewegt, ebbte der Sturm mit einemmal ab. Eine unübersehbare Schnee- und Eislandschaft lag in toter Schönheit ausgebreitet. Ringsum herrschte Grabesstille. Nur manchmal schien es, als näherte sich jemand mit leisen Schritten. Es war aber bloß das Eis, das von der Drift
sanft dahingeschoben wurde. In der Ferne zottelte ein Eisbär durch die einsame, eisige Wüste. Sein Fell leuchtete im Sonnenlicht wie das Vlies eines edlen Hermelins. Zwischen Trümmern, herumliegenden Kisten, zersplittertem Glas, beschädigten Geräten und Fetzen der einstigen Ballonhülle lagen zehn Männer im Eis, teils ausgestreckt, teils zusammengekrümmt. Waren sie tot? Gab es noch Leben in ihnen? Eine Zeitlang war das nicht auszumachen. Plötzlich erklang leises Stöhnen. Jemand bewegte sich, versuchte aufzustehen, sackte aber gleich wieder in sich zusammen. Es war Umberto Nobile, der als erster aus der Betäubung erwachte. "Mein Gott, was ist geschehen? Wo bin ich hier?" fragte er verwirrt. Jede Bewegung verursachte ihm Schmerzen, er hatte sich einen Arm gebrochen. Der Schmerz brachte ihm indes die Fähigkeit zu denken zurück. Auch die anderen kamen langsam zu sich. Malmgreen hatte sich Prellungen zugezogen, einer der Ingenieure beide Beine gebrochen. Zappi, Mariano, Behounek und Biaggi waren wie durch ein Wunder unverletzt geblieben. Ein Mann dagegen hatte den Absturz nicht überlebt und lag etwas abseits von den anderen tot auf dem Eis, der Maschinist Vincenzo Pomella. "Wir bestatten ihn später", sagte Nobile. Nachdem er das Wunder seiner Rettung begriffen hatte, erfaßte ihn tiefe Sorge um diejenigen Kameraden, die sich zum Zeitpunkt der Explosion in der Gondel aufgehalten hatten und danach vom Sturm mitgerissen worden waren. "Was mag aus ihnen geworden sein?" fragte er wieder und wieder.
Das Schicksal dieser Männer blieb im dunkeln. "Vielleicht melden sie sich bei uns", sagte Mariano. Ob er daran selbst glaubte, blieb ungewiß. Die übrigen Männer hatten Glück in ihrem schweren Unglück gehabt. Zwischen den Trümmern und in weitem Kreis über das Eis verstreut lagen "Geschenke des Himmels", die ihnen zumindest für eine gewisse Zeit das Überleben sichern konnten: ein großes Zelt von roter Farbe, Schlafsäcke, Decken, ein zerbeulter Kochapparat, Behälter mit Petroleum, ein Sextant, zwei Chronometer, vor allem Lebensmittel aller Art, sogar Butter, Schokolade, Kaffee, Zucker, Tee und gefüllte Kekse. Sie trugen diese Schätze zusammen, und der General meinte, daß man von den gefundenen Vorräten längere Zeit existieren könne. Er befahl, ein Lager zu errichten. Die unverletzt gebliebenen Männer stellten das Zelt auf, trugen Schlafsäcke und Decken hinein. Der Funker Biaggi, nach eigenem Geständnis ein Liebhaber erlesener Speisen, versuchte sich in der Zwischenzeit als Koch und bereitete eine Mahlzeit zu, einen zähen Brei aus Pemmikan und Reis. Sein Kommentar zu dem Ergebnis fiel schlicht und selbstkritisch aus: "Das Zeug schmeckt abscheulich." Unterdessen wollten die Kapitäne Zappi und Mariano ihren Kameraden Pomella bestatten. Dabei erlebten sie eine Überraschung, die ihnen das Blut in den Adern erstarren ließ. Der Leichnam war verschwunden. An der Stelle, an der Vincenzo vor einigen Stunden gelegen hatte, befand sich jetzt ein Eisblock. Das Eis hatte sich den Toten einverleibt und gab ihn nicht wieder heraus . In seinem bisherigen Leben war Umberto Nobile, Sohn begüterter Eltern in Avellino, ein Kind des Glücks, ein
Mann des Erfolges gewesen. Nie wäre ihm der Gedanke gekommen, eines Tages auf der Straße der Verlierer und Gescheiterten zu landen. Als einen Verlierer aber sah er sich jetzt an. Er lag - es war schon spät in der Nacht in seinem Schlafsack und überdachte die Situation. Natürlich ging er davon aus, daß der Kapitän der Citta di Mila no alles daransetzen würde, die Verschollenen zu finden und zu bergen. Vielleicht, überlegte Nobile, werden unseretwegen sogar internationale Aktionen unternommen wie vor achtzig Jahren, als vierzig Hilfsexpeditionen unterwegs waren, um John Franklin und seine hundertneununddreißig Begleiter zu suchen. Damals war dies vergeblich gewesen. Und nach einer Rettung? Man wird mich, dachte Nobile, für die Katastrophe persönlich verantwortlich machen. Bisher haben wir nur einen Toten zu beklagen, den guten Pomella. Wenn aber auch die Kameraden aus der Gondel umgekommen sein sollten .? Der General fürchtete um seine Zukunft. Wieder einmal erfaßte ihn große Unruhe. Er erhob sich und trat vor das Zelt, wo ihn schneidende Kälte, silbrig glänzendes Mondlicht und eine gespenstische Stille empfingen. In seiner Jackentasche befanden sich noch einige Zigaretten. Er zündete sich eine an und unternahm eine einsame Wanderung. Grauen überkam ihn, als er vor dem Eisblock stand, in den sich der tote Vincenzo Pomella verwandelt hatte. Beim Weitergehen stolperte er und fiel der Länge nach hin. "Verdammtes Eis!" Sein Fluch verhallte in der Nacht. Nobile nahm an, über eine Kiste gefallen zu sein. Zu seiner Überraschung bemerkte er aber, daß es das Funkgerät der Italia war. Wie elektrisiert fuhr er hoch. Unsere Rettung, durchzuckte es ihn. Ja, wir kommen hier wieder
heraus, denn nun können wir der Welt mitteilen, wohin es uns verschlagen hat, und binnen weniger Tage wird man uns gefunden haben. Der Fund erschien ihm so bedeutsam, daß er zum Zelt zurückeilte und sofort Giuseppe Biaggi weckte. "Ich habe das Funkgerät entdeckt", rief er triumphierend. "Stehen Sie auf. Wir müssen uns an die Arbeit machen." Doch was fiel dem Funker plötzlich ein? Er widersetzte sich, wurde aufsässig, verweigerte einfach den Gehorsam. "Lassen Sie mich schlafen", maulte er gähnend; "Die Sache hat wohl Zeit bis morgen." Sprach's und schlief augenblicklich wieder ein. Nobile begriff Biaggis Unbotmäßigkeit nicht. Redete man in solchem Ton mit einem italienischen General? Wie es gewöhnlich seine Art war, wollte er aufbrausen, doch er besann sich, mußte einsehen, daß seine Kommandogewalt unter den gegebenen Umständen zusammengebrochen war. Hier, in dieser gottverlassenen Gegend, war er auch nichts weiter als ein dem Tode Geweihter wie die anderen. Er stand nicht länger über ihnen, war ebenso der einfache Überlebende einer furchtbaren Katastrophe mit der vagen Hoffnung auf Errettung aus der erbärmlichen Not. Also fügte er sich stumm, kroch wieder in seinen Schlafsack, fror entsetzlich und schlief dann trotzdem ein. Am anderen Morgen untersuchte Biaggi das Funkgerät mit aller gebotenen Gründlichkeit. "Es ist arg beschädigt", stellte er fest, "aber mit etwas Glück mache ich den Kasten wieder funktionstüchtig." Er nahm das Gerät vollständig auseinander und setzte die vielen Einzelteile mühselig wieder zusammen. Für diese Arbeit benötigte er zehn Tage. Von nun an nahm er den Kopfhörer nur noch selten ab. Angestrengt lauschte er
in den Apparat hinein, achtete auf jedes Geräusch, das zu
vernehmen war. Endlich bekam er einen ersten Kontakt
zur Außenwelt. "Hören Sie etwas?" fragte der General. "Und ob. Irgendeinen südamerikanischen Sender. Tanzmusik . Rumba . Mann Gottes, die sind vielleicht ausgelassen." "Interessante Neuigkeiten", sagte Nobile sarkastisch. Plötzlich verfärbte sich Biaggis Gesicht. "Entsetzlich", entfuhr es ihm. "Was ist so entsetzlich?" wollte der General wissen. "Es ist furchtbar . Ich glaube es einfach nicht. In der Heimat werden wir für tot gehalten. Ich höre eben einen Sender in Neapel. Trauermusik. Der König und die Regierung haben alle Empfänge abgesagt. In den Kirchen finden Bittgottesdienste für uns statt. Die Gläubigen sollen für unsere Seelen beten." Das waren keine ermutigenden Neuigkeiten. Nobile und die anderen standen mit betretenen Gesichtern da. Indes, mochte die Welt draußen sie auch für verloren halten, sie selbst waren entschlossen, um ihr Leben zu kämpfen. Inzwischen hatte Kapitän Mariano die derzeitige Position des Eisfeldes errechnet, auf dem sie sich befanden, und Biaggi konnte mit dem Absenden von Notrufen beginnen. In Abständen von jeweils fünfzehn Minuten schickte er sie durch den Äther. Sie warteten viele Stunden und schließlich Tage auf ein Zeichen, aber nichts dergleichen geschah. "Man muß uns doch längst gehört haben", meinte der General mit verstörtem Gesicht. "Warum antwortet man uns nicht?" "Weil unsere Hilferufe nicht empfangen werden, weder
an der Kingsbai noch woanders", erwiderte Finn Malmgreen mit einem bitteren Zug um den Mund.
In Wosnessenskoje, einem Dorf südwestlich von Archangelsk, lebte der Bauer Nikolai Reinhold Schmidt, ein noch recht junger Mann. Nach der Tagesarbeit ging er, wie man so sagt, höheren Interessen nach. Ohne fremde Hilfe hatte er sich einen Kurzwellenempfänger gebaut, an dem er fortan viele Stunden zubrachte, nicht selten bis tief in die Nacht hinein. Auch an jenem Abend im Juni lauschte er den Sendungen, die aus aller Welt in seine Stube drangen. Radio Hilversum brachte gerade eine Musikdarbietung, und Schmidt vernahm sein Lieblingsstück, Peter Tschaikowskis erstes Klavierkonzert. Nachdem es verklungen war, ging er auf eine andere Frequenz. Eine Zeitlang verfolgte er den Funkverkehr zwischen den Schiffen im hohen Norden. Plötzlich stutzte er. Ihm war, als hätte er soeben einen Hilferuf vernommen. SOS aus dem Polarmeer? Schmidt lauschte weiter. Die Hilferufe wiederholten sich, aber ihr Text war stellenweise unverständlich oder wegen der langen Entfernung einfach verstümmelt. Immerhin, diese Worte hörte der Bauer aus Wosnessenskoje deutlich heraus: SOS . SOS . Isola Foyn . SOS . Nobile. Nobile? Das konnte nur jener italienische General sein, von dessen Schicksal überall die Rede war und der zusammen mit seiner Mannschaft für tot gehalten wurde. Aber er lebte! Schmidt erkannte sofort, was der von ihm aufgefangene Funkspruch zu bedeuten hatte. In höchster Eile verließ er sein Haus, trommelte den Bürgermeister
aus dem Schlaf und erklärte ihm die Situation. "Wir sind verpflichtet, die Regierung in Moskau zu verständigen." Das sah der Bürgermeister ein und setzte sich ans Telefon. So kam ein Stein ins Rollen. Die Regierung nahm die Geschichte des Nikolai Reinhold Schmidt durchaus ernst und handelte, ohne zu zögern. Radio Moskau verbreitete die Nachricht von dem aufgefangenen Funkspruch in regelmäßigen Abständen und wiederholte ebenso regelmäßig den Wortlaut. Umberto Nobile und seine Männer sind am Leben! Das schlug überall wie eine Bombe ein, löste aber auch Befreiung und Erleichterung aus. Der Bauer Schmidt aus Wosnessenskoje wurde über Nacht der berühmteste Amateurfunker der Welt! In den Ländern des Westens meldeten sich Leute zu Wort, die die Nachrichten aus Moskau anzweifelten. Während die großen Radiostationen vergeblich auf ein Lebenszeichen der ItaliaMfnner warten, will ausgerechnet ein sibirischer Bauer in seinem Kopfhörer etwas von ihnen gehört haben? Ja, gab es im kommunistischen Rußland überhaupt Amateurfunker? Die Sache, mit einem Wort, erschien einigen Besserwissern sehr verdächtig. Auch sachliche Einwände wurden geltend gemacht: In Nobiles angeblichem Hilferuf soll von der kleinen Insel Foyn die Rede sein. Diese indes befindet sich bekanntlich in einem derart abgelegenen Gebiet, daß sie unmöglich der derzeitige Aufenthaltsort der Verunglückten sein konnte. Zweifler, namentlich dann, wenn sie sich weit weg vom Schuß befinden, entdecken immer und überall ein Haar in der Suppe. Die sowjetische Regierung ließ sich davon nicht beein-
drucken, sondern verkündete schlicht und eindrucksvoll: Unsere Menschenpllicht gebietet es, der Nobile Expedition mit allen zur Verlügung stehenden Mitteln zu Hille zu kommen. Keine leeren Worte. Der Ministerrat beauftragte den berühmten Professor Rudolf Lasarewitsch Samoilowitsch, die Sache unverzüglich in die Hand zu nehmen. Samoilowitsch kannte die Arktis gewissermaßen wie seine Westentasche. Als sehr junger Gelehrter, es war noch vor dem ersten Weltkrieg gewesen, hatte er die riesigen Steinkohlenvorkommen auf Spitzbergen entdeckt und später an zahlreichen Polarexpeditionen teilgenommen, ehe er vor etlichen Jahren zum Direktor des Leningrader Instituts zur Erforschung der arktischen Gebiete berufen wurde. Seine jetzige Aufgabe ging er mit der ihm eigenen Tatkraft an. "Wir werden", verfügte er, "unsere Rettungsaktionen mit Schiffen und Flugzeugen durchführen. Selbstverständlich nehmen wir auch Hunde und Schlitten mit." Als erstes schickte er den Eisbrecher Malygin auf die Reise ins Nordmeer und beorderte mehrere Polarflieger nach Spitzbergen, von wo aus sie sofort mit der Suche nach den Vermißten beginnen sollten. Er selbst wollte einige Tage später mit einem anderen Schiff folgen, dem Eisbrecher Krassin. So brachte der wackere und umsichtige Rudolf Lasarewitsch Samoilowitsch zwei Wochen nach dem Unglück System in die Rettung der ItaliaBesatzung. Das machte außerhalb der Sowjetunion natürlich gewaltigen Eindruck. Nun wollten auch andere nicht zurückstehen. Nahezu täglich trafen an der Kingsbai Leute ein, um nach den Verschollenen zu forschen. Das waren Amerikaner, Eng-
länder, Schweden und Deutsche. Besonders auf einen Mann richteten sich die Blicke, an ihn klammerten sich die Hoffnungen. Roald Amundsen, der große Amundsen, der gewiß erfolgreichste Polarforscher aller Zeiten, der die dreihundert Jahre lang gesuchte Nordwestpassage gefunden und befahren, der den Südpol und den Nordpol bezwungen hatte, er teilte dem Kapitän der Citta di Milano telegrafisch mit, daß er sich mit einem Wasserflugzeug an der Suche beteiligen werde. Die neun Männer auf der Eisscholle wußten nichts von den internationalen Bemühungen um ihre Rettung, denn aus Biaggis Apparat drang kein Wort zu ihnen. Nur einmal fingen sie einen direkt an sie gerichteten Funkspruch auf, doch dessen Inhalt vermehrte geradezu ihre Verzweiflung. Hier Citta di Milano . Wo seid ihr? . General Nobile, lalls Sie am Leben sind, so geben Sie doch Antwort . Hier Citta di Milano . Malmgreen winkte ab. "Da habt ihr's, kein Mensch hört unsere SOS-Rufe, sonst wären sie längst beantwortet worden." Sie konnten sich das nicht erklären, und Biaggi behauptete fest, das Gerät sei bestens in Ordnung. Die täglichen Positionsmeldungen, die er in der Frühe hinausschickte, besaßen zudem niemals lange Gültigkeit. Ihr Lager befand sich nämlich auf einer Eisscholle, die unaufhörlich in Bewegung war. Zeitweise driftete sie nach Norden und dann wieder in östlicher Richtung. Gerieten sie in eine Gegenströmung, wurden sie nach Süden abgedrängt. "Eines Tages hört man unsere Rufe vielleicht doch", meinte Kapitän Mariano verdrossen, "aber ich befürchte, daß uns das nichts nützen wird. Denn solange wir kreuz und quer dahindriften, kann uns niemand finden."
Ja, die Lage der Männer um Umberto Nobile gestaltete sich als immer komplizierter. Tag für Tag verstrich, und nichts geschah. Professor Behounek, der seit dem Unglück als Proviantmeister amtierte, überprüfte täglich die ohnehin kargen Lebensmittelbestände, und eines Morgens machte er eine Mitteilung, die seinen Gefährten wie ein elektrischer Schlag in die Glieder fuhr: "Mit unseren Vorräten geht es zu Ende." Ratloses Schweigen. Auf den Gesichtern der Männer spiegelte sich das ganze Ausmaß der Katastrophe. Jemand fragte, wie lange man noch zu essen haben werde. "Für acht Tage", antwortete Behounek kühl, ohne eine Spur innerer Erregung erkennen zu lassen. "Eventuell für zehn. Unter Umständen sogar für vierzig, aber dann dürften wir nur jeden vierten Tag eine Kleinigkeit zu uns nehmen." Sie blickten sich entsetzt an, weil sie wußten, was die Worte des Professors zu bedeuten hatten. Auf einer einsamen Wanderung hatte Finn Malmgreen einen Revolver und etwas Munition gefunden. Nun, es war einige Zeit nach Behouneks bestürzender Eröffnung ihrer Lebensmittelsituation, betrachtete er die Waffe mit großer Nachdenklichkeit. Er bemerkte nicht, daß jemand näher kam und schließlich unmittelbar hinter ihm stand. Nur dessen Stimme vernahm er: "Na, Professor, Sie wollen wohl Schluß machen? Ich kann das verstehen. Eine Kugel durch den Kopf ist in unserer Lage die beste Methode, anständig zu sterben." Malmgreen fuhr herum und blickte in Kapitän Zappis Gesicht. Lange schwieg er, dann sagte er: "Sie irren sich, lieber Filippo. Selbstmord verabscheue ich. Nein, nein, ich habe
mir etwas durch den Kopf gehen lassen, was unter Umständen unsere Rettung bedeuten könnte. Lassen Sie uns zum General gehen und gemeinsam darüber sprechen." Wenig später standen die Männer vor dem roten Zelt, und Professor Malmgreen machte sie mit seinem Plan bekannt. "Wir haben lange genug auf ein Wunder gehofft und sollten jetzt endlich handeln. Ich schlage vor, daß wir zur Kingsbai marschieren." Zu Fuß über das Packeis? Zweihundert Kilometer gegen Kälte und Sturm ankämpfen? Und das in einer elenden körperlichen Verfassung? Von den Verletzten gar nicht zu reden. Malmgreens Plan löste keine Begeisterung aus. Im nächsten Augenblick verbot es sich von selbst, weiter darüber nachzudenken, denn nun trat ein Ereignis ein, das die Situation fürs erste schlagartig veränderte. "Ein Eisbär!" rief Mariano entsetzt. "Er rennt direkt auf uns zu." Das kräftige Tier, ein wahrer Herrscher der Arktis, erschien wütend, machte einen furchterregenden Eindruck und drohte unter den Todgeweihten ein Blutbad anzurichten. Nach der ersten Schrecksekunde wichen sie zurück. Nur Finn Malmgreen blieb kaltblütig stehen. Er hatte eine solche Lage schon einmal erlebt und wußte deshalb, daß ein Davonlaufen keine Aussicht auf Rettung bot. Bis auf fünf Meter ließ er den Bären an sich herankommen, dann streckte er ihn mit einem einzigen Pistolenschuß nieder. Das Aufatmen war allgemein, und langsam trauten sich die Hasenfüße wieder an den Schauplatz des Geschehens zurück. "Das war Tells Geschoß", rief Nobile mit glänzenden Augen pathetisch aus.
Franz Behounek, im zivilen Leben Direktor des RadioInstituts in Prag, betrachtete die Dinge aus der Sicht eines tiefbesorgten, aber sachlichen Proviantmeisters. "Sofern es uns gelingt, diesen kapitalen Burschen nach Art der großen Küchenchefs fachgerecht zu zerlegen und sein Fleisch gewissenhaft einzuteilen", meinte er bedächtig, "hätten wir einen ganzen Monat zu leben."
So war die Gefahr des Verhungerns erst einmal beseitigt, die bedrohliche Gesamtsituation dagegen blieb bestehen. Malmgreen wiederholte deshalb seinen Vorschlag, und der General meinte, ein solches Wagnis bedürfe sorgfältigster Überlegung. Schließlich gab er seine Entscheidung bekannt: "Zappi, Mariano und Malmgreen schlagen sich nach Spitzbergen durch und versuchen von dort aus, unsere Rettung zu organisieren. Als Leiter der Expedition muß ich selbstver-
ständlich hierbleiben, denn ginge ich mit, sähe das nach Fahnenflucht aus." Besonders die Mitwirkung des schwedischen Professors war wichtig, weil er sich als einziger im Eis wirklich auskannte. Als Marschverpflegung empfingen die drei Männer ein wenig Pemmikan und Schokolade sowie etliche Kilogramm Bärenfleisch. Am anderen Morgen machten sie sich auf den Weg. Nobile blickte ihnen lange nach. Eineinhalb Jahre lang hatte die Krassin in Kronstadt gelegen, nun begab sie sich wieder auf große Fahrt: OstseeKattegat-Skagerrak-Europäisches Nordmeer-Arktischer Ozean. Ziel waren die gefürchteten Gewässer nördlich Spitzbergens. Als Leiter des Unternehmens amtierte natürlich Rudolf Lasarewitsch Samoilowitsch. Kaum hatte die Krassin abgelegt, erlebte ihr Leiter eine Überraschung. Schiffskapitän und Offiziere baten ihm zu Ehren zu einem Umtrunk in die Messe. "Mir zu Ehren?" fragte er verwundert. "Ich habe doch gar nicht Geburtstag." "Das nun gerade nicht, verehrter Rudolf Lasarewitsch, aber uns ist bekannt, daß Sie sich heute auf Ihre vierzigste Reise in die Arktis begeben. Das ist uns eine kleine Feier wert." Dem Umtrunk folgte ernsthafte und konzentrierte Arbeit. Samoilowitsch und seine Mitarbeiter studierten alle verfügbaren Karten des wahrscheinlichen Unfallgebietes und werteten die Funksprüche aus, die nahezu pausenlos zum Fall Nobile eintrafen. Der Eisbrecher Krassin besaß eine moderne Radioanlage, die weitreichende Kontakte erlaubte. "Ich erfahre soeben", sagte der Professor, "daß sich
mittlerweile sechs Staaten mit einundzwanzig Flugzeugen und sechzehn Schiffen sowie mehreren Schlittenabteilungen an der Suche beteiligen. Leider können Sie nichts ausrichten. Den Piloten gelang es bisher nicht, auf den riesigen Eisfeldern Überlebende zu entdecken, und die Schiffe stehen dem Packeis machtlos gegenüber. Zu allem Unglück ist es auch nicht möglich, General Nobile über Funk zu erreichen." Die Reise verlief weiterhin störungsfrei. Im südnorwegischen Bergen wurde Station gemacht. Die Matrosen erhielten für ein paar Stunden Landurlaub und verließen das Schiff. In der Zwischenzeit wurden Vorräte aufgefüllt, dreitausend Tonnen Steinkohle und tausend Tonnen Wasser an Bord genommen. Die Weiterfahrt verzögerte sich. Zwei Regierungsvertreter aus Oslo, denen Bestürzung mühelos anzusehen war, betraten das Schiff und verlangten den Kapitän und Professor Samoilowitsch zu sprechen. In einer äußerst dringenden Angelegenheit, wie sie betonten. "Die Regierung unseres Landes richtet an Sie die Bitte, auf Ihrer Fahrt durch das Eis auch nach Kapitän Amundsen zu suchen." Seit vielen Jahren gehörte Samoilowitsch zu den aufrichtigsten Bewunderern des weltberühmten Entdeckers. Darum geriet er in Unruhe und fragte: "Was ist mit ihm?" "Seit sechs Tagen sind wir ohne jegliche Verbindung zu ihm. Wir befürchten, daß ihm ein Unglück zugestoßen ist." In Tromsö war Amundsen mit einem französischen Wasserflugzeug in Richtung Kingsbai gestartet, um von dort aus zu den Verschollenen zu gelangen. Nicht zuletzt an ihn, der dreißig Jahre seines bewegten Lebens in den Eis-
wüsten des Nordens und Südens verbracht hatte, knüpften sich hohe Erwartungen. Zwei Stunden nach seinem Start, etwa in Höhe der Bäreninsel, zwischen dem europäischen Nordkap und Spitzbergen, brach der Funkkontakt plötzlich ab. Seitdem fehlten jede Nachricht und Spur von ihm. Professor Samoilowitsch dachte eine Weile nach, und dann sagte er mit einer gewissen Gelassenheit: "Die Welt kennt Amundsen als einen Teufelskerl. War er nicht schon hundertmal totgesagt, und kam er nicht jedesmal mit heilen Gliedern zurück? Er schafft es bestimmt auch diesmal wieder." Doch er ergänzte mit fester Stimme: "Es wird uns eine Ehrenpflicht sein, das Schicksal Ihres bedeutenden Landsmannes aufzuklären. Ohnehin liegt die Bäreninsel auf unserem Kurs. Seien Sie versichert, daß wir das ganze Gebiet gewissenhaft untersuchen werden, meine Herren." Ein sowjetischer Eisbrecher im Hafen. Das sprach sich schnell herum in der Stadt. Bald waren an die dreihundert Menschen am Kai versammelt. Immer wieder riefen sie den Matrosen und Offizieren der Krassin zu: "Rettet Amundsen! Bringt uns Amundsen zurück!" Roald Amundsen galt in Norwegen als Nationalheiliger. Eine Woche später kreuzte die Krassin in der stürmischen See rund um die Bäreninsel. "Beobachtet die Oberfläche des Wassers", befahl Samoilowitsch, "achtet auf jede Kleinigkeit. Wer einen Gegenstand sichtet, und sei er noch so geringfügig, hat dies sofort zu melden." An Bord des Eisbrechers befanden sich über hundertdreißig Männer. Etwa die Hälfte von ihnen stand an der Reling und blickte angestrengt m die endlos scheinende
Wasserwüste hinaus. Doch sie entdeckten nichts. Unterdessen waren schon vierzehn Tage seit Amundsens Start in Tromsö verstrichen. "Eine so lange Zeit kann sich kein Flugzeug auf dem Wasser halten", stellte der Professor sachlich fest. "Ich gehe davon aus, daß Amundsen weiter nördlich auf dem Eis notgelandet ist und versuchen wird, zu Fuß die Bäreninsel oder Spitzbergen zu erreichen." Daß Amundsen tot sein könnte, wollte er nicht glauben, auch seine Mitarbeiter wiesen einen solchen Gedanken weit von sich. Nebel kam auf, starker Schneefall setzte ein, die Suchaktion mußte abgebrochen werden. Der Eisbrecher Kras sin nahm Kurs auf das Gebiet nordöstlich von Spitzbergen, wo Nobile und seine Gefährten vermutet wurden. Bald war das Schiff von Treibeis umgeben, aber mühelos fuhr es durch die Schollen hindurch. Tags darauf geriet es in mächtige Eisfelder, deren Ausdehnung mehrere Quadratkilometer betrug. Das Eis schimmerte bläulichgrün und war an manchen Stellen bis zu zwei Meter dick, für das Schiff vorerst kein Hindernis. Die Probleme blieben trotzdem nicht aus, denn schon bald ging es nicht mehr weiter. Der Kapitän befahl, die Maschinen zu stoppen. Samoilowitsch wiederum kabelte nach Moskau: Schweres Packeis macht Vorwfrtskommen unmöglich . Eis wird durch Nordostwind stark zusammengepreßt . Haben Maschinen gestoppt, um Aullockerung des Eises abzuwarten . Wie sich herausstellt, ist eine der vier Schauleln der linken Ruderschraube gebrochen . Repa ratur kann augenblicklich nicht ausgelührt werden . Der größte Eisbrecher der Welt saß nun selbst im Eise
fest. Eine verteufelte Geschichte. Professor Samoilowitsch sagte mit finsterem Gesicht: "Und dabei ist jede Stunde kostbar, jeder Augenblick entscheidet über Menschenleben. Nobile und seine Leute müssen praktisch am Ende sein, denn schließlich sind schon sechs Wochen seit dem Absturz vergangen."
Sie waren am Ende, obwohl ihr Sterben noch nicht begonnen hatte. Wiederholt hatten sie den Lagerplatz wechseln müssen, denn überall zeigten sich Risse und Sprünge im Eis, an den Rändern der Scholle bröckelte es ab. Kleiner und kleiner wurde der Lebensraum der Verunglückten. Ständige Kälte und Nässe hatten ihre Kleidung zerschlissen, sie hing in Fetzen an ihnen herab. Sie ernährten sich von kümmerlichen Fleischresten und Bärenknochen. Ein geregeltes Alltagsleben gab es auf der Scholle nicht mehr. Die Männer gingen einander aus dem Wege, jeder wollte mit sich allein sein, und was schlimmer war: Sie begannen, einander zu hassen. Nobile machte den Eindruck eines Menschen, der mit sich, der Welt und dem Leben abgeschlossen hatte. Viele Stunden am Tag stand er teilnahmslos da und schaute zum Himmel hinauf. Wenn er wirklich einmal etwas sagte, hörte ihm niemand zu. Seine Autorität war erloschen. Nur einer blieb hellwach und hielt sich ständig in Bewegung, Giuseppe Biaggi. Seit zwei Wochen funktionierte sein Gerät nicht mehr, ohne daß er sich das zu erklären vermochte. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend bastelte und reparierte er. Den Fehler fand er nicht. Am Ende freilich wird der Mensch für seine Mühen belohnt. Auch Biaggi erlebte das. Ganz unverhofft rauschte und zitterte es in seinem Kopfhörer wieder, besser als je zuvor
war der Empfang. "Der verdammte Kasten", schimpfte der Funker befreit, er benimmt sich wie eine launische Primadonna von der Scala." Am liebsten hätte er die launische Primadonna umarmt und abgeküßt. Er lauschte und staunte: Hier Citta di Milano . General Nobile, hören Sie uns? . Wir haben Ihnen mitzuteilen, daß . Biaggi lauschte und staunte noch immer. Danach bekreuzigte er sich, denn er war ein frommer Mann, und brach in Tränen aus. Er lief sogleich zu den anderen und rief: "Wir sind gerettet! Die ganze Menschheit befindet sich unseretwegen in Aufregung. Flugzeuge und Schiffe sind zu uns unterwegs. Die Russen schicken einen Eisbrecher." Wie betäubt hörten ihm die Kameraden zu. Aber sie glaubten ihm kein Wort. Professor Franz Behounek reagierte sogar bösartig. Wütend zeigte er auf den Funker. "Der Kerl ist blödsinnig geworden. Der Polarkoller hat ihn erwischt. Das ist ein Wahn, bei dem der Befallene bei sonst klaren Sinnen verrückt wird. Schwer zu erklären, aber es verhält sich wirklich so." Umberto Nobile sah das anders. Als einziger schien er die Lage richtig erfaßt zu haben. Innerhalb von wenigen Sekunden ging eine Veränderung in ihm vor. Er wandte sich scharf an Behounek: "Ich verbiete Ihnen, unseren Kameraden Biaggi einen blödsinnigen Kerl zu nennen." "Sie verbieten mir .?" Der Professor aus Prag wollte laut auflachen, weil er den General schon lange nicht mehr so energisch erlebt hatte. "Wiederholen Sie, was Sie gehört haben", sagte Nobile zu dem Funker, und der ließ sich nicht lange bitten.
Der General achtete auf jedes Wort, nickte einige Male, dachte nach und sagte schließlich: "Ich wußte es. Keinen Augenblick lang habe ich daran gezweifelt, daß man draußen alles unternehmen würde, um uns zu helfen." Das sagte er jetzt. Er tat aber auch andere erstaunliche Dinge, die in erheblichem Widerspruch zu seiner deprimierten Haltung der vergangenen Woche standen. Er straffte seine Gestalt, ging mit energischen Schritten auf und ab, sein Gesicht verriet Entschlossenheit. Mit einem Schlage gewann er die entglittene Autorität zurück. "Wir werden", kommandierte er, "unseren Befreiern einen würdigen Empfang bereiten. Darum befehle ich als erstes, unser Lager in Ordnung zu bringen. Ich ordne zweitens an ., drittens befehle ich ., und viertens bitte ich mir aus ." Die Männer nahmen zwar nicht gleich eine stramme Haltung an, aber sie taten, was von ihnen verlangt wurde. Das verwunderte nicht. Mit der Aussicht auf Rettung normalisierte sich das Leben wieder, und wo normales Leben war, mußte auch Ordnung herrschen. Und nun warteten die Männer um General Nobile auf das Wunder ihrer Rettung. Es dauerte auch tatsächlich nicht lange, da tauchte ein Flugzeug am Himmel auf. Die Männer wollten das kaum glauben und brachten lange kein Wort hervor. Wie von einem Zauberbann gefangen, blickten sie unentwegt nach oben. Kein Fiebertraum, keine Fata Morgana, die Maschine kam näher und näher, ging tiefer herunter, zog einen weiten Bogen um ihr Lager und landete einige Meter neben dem roten Zelt. Lachend und winkend stieg der Pilot heraus, es war der schwedische Fliegerleutnant Lundborg.
Nobile lief ihm entgegen, begrüßte ihn kurz und fragte ihn als erstes: "Haben Sie eine Zigarette?" Lundborg wurde wie ein Fabelwesen bestaunt. Endlich war zu ihnen ein Mensch aus jener verloren geglaubten Welt gekommen, in der es Leben, Wärme und Geborgenheit gab. Doch die Zeit drängte, man mußte zur Sache kommen. In der kleinen Fokkermaschine des Schweden war nur für einen einzigen Passagier Platz. Die Frage, wer als erster mitfliegen würde, verstand sich von selbst. Nur der schwerverletzte Ingenieur Ceccioni konnte das sein. Der General entschied jedoch anders: "Ich fliege zuerst." Das durfte wohl nicht wahr sein! Geht irgendwo ein Schiff unter, bringt ein Kapitän von Ehre sich erst dann in Sicherheit, wenn auch der letzte seiner Männer gerettet ist. Immer geht er als letzter von Bord. Von diesem Brauch hielt Umberto Nobile aber nichts. Entgeisterte und verständnislose Blicke trafen ihn. Natürlich verstand er sie. Seine Erwiderung war kühl: "Die Sache geht in Ordnung. Ich muß mich schnellstens um unsere Vermißten kümmern. Das kann ich nur von der Kingsbai aus." Das nahm ihm niemand ab. Sie ließen ihn stumm ihre Verachtung spüren. Der junge Fliegerleutnant aus Schweden versuchte einzulenken. "Keine Aufregung, Freunde. In zwei Stunden bin ich wieder hier und hole den nächsten ab." Minuten später hob die kleine Fokker ab, und Umberto Nobile war gerettet. Lundborg hielt Wort. Zwei Stunden waren kaum herum, da setzte er erneut zur Landung an. Und da passierte es. Die Maschine überschlug sich und ging zu Bruch. Lundborg kroch zwar unverletzt unter den Trümmern hervor,
aber er fluchte fürchterlich. Der Befreier war nun selbst ein Gefangener im Eis geworden. Der Eisbrecher Krassin stand wieder unter Dampf. Mühsam bahnte er sich den Weg durch das schwere Eis. Heftiger Sturm machte die Arbeit an Deck zur Schinderei. Das Schiff befand sich jetzt in jenem Gebiet, in das die Verschollenen möglicherweise geraten waren. Auf die Positionsmeldungen, die gelegentlich von Nobile gekommen waren, durfte man sich nicht verlassen, sie stimmten einfach nicht. Zahlreiche Männer hielten sich an der Reling fest und ließen ihre Blicke unentwegt über das Eis schweifen. Hundert Rubel sollte derjenige erhalten, der als erster etwas von den Gesuchten entdeckte!
Unterdessen saß Professor Samoilowitsch in der Radiostation und riß den Funkern die aufgefangenen Meldungen aus der Hand. Sie enthielten verzweifelt wenig,
eigentlich so gut wie nichts. Dann erreichte ihn eine neue Schreckensnachricht. Immer wieder starrte Samoilowitsch auf die Buchstaben und weigerte sich zu glauben, was er schwarz auf weiß zu lesen bekam. Tieferschüttert wiederholte er den Funkspruch: Amundsen ist tot. Über dem Eismeer abgestürzt. Man hat Wrackteile der Maschine aus dem Wasser gelischt. Jeder Zweilel ist ausgeschlossen. Lange brütete er vor sich hin, gedachte der Taten des bedeutenden Norwegers und rief sich seine Begegnungen mit ihm ins Gedächtnis zurück. "Ein Großer hat sich für andere geopfert." Über eine andere Meldung schüttelte er den Kopf. "Ich erfahre soeben, daß sich General Umberto Nobile in Sicherheit befindet. Er hat sich als erster retten lassen, während die anderen zurückbleiben mußten. Ich begreife ihn nicht. Wie konnte er sich dazu hergeben? Sein Ruf ist für alle Zeiten zerstört!" Die Stürme flauten ab. Mehrere Suchflugzeuge stiegen wieder auf. Einer der Piloten schickte an Professor Samoilowitsch eine persönliche Nachricht, sie enthielt, worauf man lange genug gewartet hatte. An den Führer der Expedition. Karte 303. Wir haben Menschen aul 80°45' und 25°45' aul einer kleinen, hohen, scharlkantigen Scholle in sehr zerklültetem Eis entdeckt. Zwei Leute standen mit Fahnen in der Hand. Ein dritter lag am Boden. Wir kreisten lünlmal über ihnen . Tschuchonowski. Boris Tschuchonowski gehörte zu einer Gruppe sowjetischer Polarflieger, die an den Rettungsaktionen beteiligt wurden. Sein Versuch, bei den drei Männern zu landen,
scheiterte. Auf dem Rückflug mußte er eine Notlandung vornehmen. Dabei zerbrachen zwei Propeller und das Fahrgestell. Nun wartete er selbst darauf, gerettet zu werden. Seine Meldung löste an Bord des Eisbrechers Krassin Hektik und Betriebsamkeit aus. Endlich ein verläßliches Zeichen, auf das man bauen konnte. Der Schiffskapitän dämpfte den plötzlich aufkommenden Optimismus. "Wenn die von Tschuchonowski angegebene Position kein Irrtum ist, befinden wir uns vier Tagereisen von den drei Männern entfernt. Und bis wir dort sind, kann viel passieren." "Keine Schwarzseherei", polterte Samoilowitsch los. "Kapitän, Sie sorgen mir dafür, daß aus Ihren Maschinen das Letzte herausgeholt wird." Der Kapitän hatte sich nicht geirrt. Die Krassin benötigte in der Tat vier volle Tage, bis er in das von dem Piloten genannte Zielgebiet gelangte, und die über Funk durchgegebene Position stimmte auch nicht ganz. Das war aber kein Wunder. Die etwa zehn mal acht Meter große Scholle, auf der nun zwei Gestalten gesichtet wurden, driftete dahin und änderte ständig ihre Richtung. Alle eilten an Deck, denn jeder wollte Zeuge der Rettung sein. Das Schiff fuhr hart an die Scholle heran. Das Fallreep wurde hinabgelassen. Als erster betrat Professor Rudolf Lasarewitsch Samoilowitsch das Eis. Gleich daraufsträubten sich ihm die Haare. Ein Bild des Entsetzens und Grauens bot sich ihm. Auch die anderen, die nun der Reihe nach von Bord der Krassin kamen, wollten nicht wahrhaben, was sie sahen. Kapitän Filippo Zappi ging mit ausgebreiteten Armen auf seine Retter zu. Aber wie er aussah! Keineswegs wie
ein Mensch, der die Hölle hinter sich, der Not, Elend und Verzweiflung erlebt hatte, sondern einigermaßen gesund und stark wie ein Bär. Und auf seinem Gesicht ein breites Lachen wie bei einem Geistesgestörten. Sein massiger Körper war in drei dicke Pelzmäntel gehüllt. Neben ihm indes - nur notdürftig bekleidet, krank, fiebernd, praktisch schon verhungert und mit gebrochenem Fuß - lag Adalberto Mariano. Ein armseliges Bündel Mensch, dem selbst der fähigste Arzt kaum noch eine Überlebenschance geben konnte. Was hatte sich in der trostlosen Einsamkeit dieser Eiswüste abgespielt? Tschuchonowski hatte von drei Menschen gesprochen, hier waren nur zwei. "Wo ist der dritte?" fragte Samoilowitsch. Sofort zuckte Zappi zusammen. Nach einigem Zögern antwortete er: "Er war ein guter Kamerad. Leider ist er tot." "Tot? Wann ist er gestorben?" "Vor einem Monat. Er war so entkräftet, daß er keinen Schritt mehr gehen konnte. Mariano und ich haben ihn begraben. Danach sind wir weitergezogen." Eine unglaubliche Geschichte. Samoilowitsch blieb hart. "Warum sagen Sie nicht die Wahrheit, Kapitän Zappi. Vor einem Monat kann er nicht gestorben sein, denn er hat vor vier Tagen noch gelebt. Einer unserer Flieger hat ihn mit eigenen Augen gesehen. Er hat sich nicht geirrt." Darauf war der stämmige Zappi offenbar nicht gefaßt gewesen. Sein Gesicht verdunkelte sich, verzog sich zur Grimasse. Unsicher stotterte er: "Wenn Sie es sagen, wird es wohl stimmen. Vielleicht ist Malmgreen wirklich erst gestern gestorben. Oder vorgestern. Ich weiß das nicht.
Meine Sinne gehorchen mir nicht mehr. Bedenken Sie, was ich durchgemacht habe." "Und wo liegt er begraben?" Auch in diesem Punkte versagten Zappis Sinne. "Wie kommt es, Kapitän, daß Sie drei Pelzmäntel tragen, während Ihr Kamerad Mariano nur dünne Fetzen am Leibe hat? Haben Sie ihm seine warme Bekleidung weggenommen?" "Nein." Diesmal brachte Zappi seine Erklärung recht schnell hervor. "Professor Malmgreen nahm mich beiseite und meinte, daß sein Ende gekommen sei. Er bat mich, seine Mutter zu grüßen, und schenkte mir seinen Mantel. Außerdem händigte er mir seinen Kompaß und den Rest seiner Verpflegung aus." Samoilowitsch konnte sich einer ironischen Bemerkung nicht enthalten. "Und als er sein edles Werk getan hatte, legte er sich kurzerhand zum Sterben nieder und schlummerte friedlich ein, ja?" Zappi zog es vor, nichts darauf zu erwidern. Der sterbenskranke Adalberto Mariano wurde in Decken und Pelze gehüllt und auf eine Trage gebettet. Samoilowitsch beugte sich über ihn. "Was ist hier wirklich geschehen, Kapitän? Wann und wie kam Malmgreen ums Leben?" Mariano blieb stumm, er wollte nicht reden, sondern das finstere Geheimnis um den Tod des Schweden für sich behalten. Samoilowitschs Geduld schien erschöpft zu sein. Scharf blickte er Zappi an und sagte: "Ich weiß schon, warum Sie nicht sprechen wollen. Sie haben etwas zu verbergen. Soll ich Ihnen verraten, was sich bei euch zugetragen hat? Ich wart mit eurem Proviant am Ende und mußtet mit eurem
Tod rechnen." Er wandte sich an die anderen, zeigte auf Zappi und fuhr fort: "Er aber wollte um jeden Preis sein Leben verlängern. Dazu war ihm jedes Mittel recht. Er trieb Malmgreen in den Kältetod. Anschließend begann er damit, den Leichnam zu verspeisen. Mit Mariano hatte er dasselbe vor. Um dessen Tod zu beschleunigen, nahm er ihm die gesamte warme Bekleidung weg ." In Marianos geschwächten Körper kam etwas Bewegung. Seine Lippen bebten, und ein Flüstern war zu vernehmen: "Ich habe Zappi erlaubt, mich nach meinem Tode zu essen. Das ist wahr." Hierauf schwieg er wieder. Bis an sein Lebensende würde er schweigen und eins der düstersten Geheimnisse der Polarforschung mit ins Grab nehmen. Aber dreißig Menschen hatten seine Worte gehört. Nun wichen sie angewidert zurück. Einige Stunden später erreichte die Krassin die Eisscholle mit dem roten Zelt. Behounek, Biaggi und die anderen starrten ihre Befreier ungläubig an. Lange brachten sie kein Wort heraus. "Na, Freunde, wie ich sehe, seid ihr alle wohlauf, sagte Professor Samoilowitsch mit einem gutmütigen Lachen. Und dann wurde er von den Geretteten schweigend umarmt. Die Männer, die in der Gondel waren, wurden dagegen niemals gefunden. Nach und nach verebbte das Entsetzen über die Katastrophe der Italia, wenngleich die Erinnerung an sie niemals enden wird, denn sie war eine der schrecklichsten Polartragödien aller Zeiten. Kapitän Zappi verschwand bald von der Bildfläche, man hatte nichts mehr von ihm
gehört. Sein Opfer hingegen, Adalberto Mariano, überlebte, doch blieb er für sein weiteres Leben ein körperlich und seelisch gezeichneter Mann. Das Geheimnis um Finn Malmgreens Tod - nur er kannte es! - hatte er schließlich mit ins Grab genommen. War er mitschuldig? Weil er fürchtete, in Italien Anfeindungen ausgesetzt zu sein, bat Umberto Nobile die sowjetische Regierung unmittelbar nach seiner Rettung um Asyl; es wurde ihm gewährt. In Moskau und Leningrad erhielt Nobile Möglichkeiten zu vielfältiger wissenschaftlicher Tätigkeit. Erst nach Ende des zweiten Weltkrieges kehrte er in seine Heimat zurück. Eine Zeitlang arbeitete er als Hochschullehrer in Neapel, danach zog er sich ins Privatleben zurück. Er verstarb in seinem 95. Lebensjahr, und das geschah friedlich im Bett.