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Craigie sagte: »Und hier ist noch eine.« Es war ein dunkelhaariges Mädchen, jünger als das erste. Es mochte einmal hübsch gewesen sein, aber die Gesichtszüge waren eingefallen. – Jedes Gebäude stand für sich. Carlsen kamen sie wie eine Ansammlung ägyptischer Grabstätten vor. Insgesamt waren es dreißig. In jedem lag ein Schläfer: acht ältere Männer, sechs ältere Frauen, sechs jüngere Männer und zehn Frauen, deren Alter sich zwischen achtzehn und fünfundzwanzig bewegt haben mochte. »Aber wie sind sie in diese Mumien hineingekommen?« Murchison hatte recht; es gab keine Türen. Sie gingen um die Gebäude herum und untersuchten die Glasoberfläche. Sie war nahtlos.
VAMPIRE AUS DEM WELTRAUM von Colin Wilson »Superior science fiction« – Los Angeles Herald Examiner
Science Fiction Ullstein Buch Nr. 31016 im Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Titel der Originalausgabe: THE SPACE VAMPIRES Aus dem Amerikanischen übersetzt von Klaus Weidemann Deutsche Erstausgabe Umschlagillustration Blair Wilkins Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1976 by Colin Wilson Übersetzung © 1980 Verlag Ullstein GmbH, Frankfurt/M – Berlin – Wien Printed in Germany 1980 Gesamtherstellung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh ISBN 3 548 31016 8 Juli 1980
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Wilson, Colin: Vampire aus dem Weltraum: Roman/ Colin Wilson. [Aus d. Amerikan. übers. von Klaus Weidemann]. – Frankfurt/M, Berlin, Wien: Ullstein, 1980. ([Ullstein-Bücher] Ullstein-Buch; Nr. 31016: Ullstein 2000: Science-fiction) Einheitssacht.: The space vampires «dt.» ISBN 3-548-31016-8
Colin Wilson
Vampire aus dem Weltraum Roman
Science Fiction
Für June O'Shea, meine kriminologische Beraterin
Vorbemerkung Dieses Buch verdankt seine Entstehung einer vor vielen Jahren geführten Diskussion mit meinem alten Freund A. E. van Vogt, dessen Erzählung Asylum zu den Klassikern der utopischen Vampirliteratur zählt. (Kennern des Genres werden beim Lesen gewisse Parallelen nicht entgehen.) August Derleth, der meine erste Science Fiction-Arbeit veröffentlichte, ermutigte mich aufs herzlichste zu diesem Projekt. Leider war es ihm nicht mehr vergönnt, seine Vollendung mitzuerleben. Der Dank für die Idee der Parallelität zwischen Vampirismus und Verbrechen gebührt June O'Shea aus Los Angeles, die mich reichhaltig mit Büchern und Zeitungsausschnitten über amerikanische Verbrechen der jüngsten Vergangenheit versorgt hat. Zahlreiche Anregungen zu diesem Buch gingen auch aus Diskussionen mit Dan Farson hervor – sowohl was Vampirismus im allgemeinen als auch seinen Großonkel, Bram Stoker, im besonderen betrifft. Gleichfalls möchte ich an dieser Stelle Graf Olof de la Gardie für seine Gastfreundschaft in Rabäck und für
die Erlaubnis, mir Einblick in die Familiendokumente bezüglich seines Vorfahren Graf Magnus zu gewähren, meinen herzlichsten Dank aussprechen. Schließlich noch muß ich Mrs. Sheila Clarkson für das sorgfältige Korrigieren und Abtippen des eselohrigen Manuskripts danken. C. W.
1 Lange bevor sie sie sahen, erfaßten ihre Instrumente die gewaltige Silhouette. Das war zu erwarten gewesen. Was Carlsen verwunderte, war, daß, als sie nur noch tausend Meilen entfernt waren und die Bremsraketen ihre Geschwindigkeit auf siebenhundert Meilen pro Stunde reduziert hatten, sie noch immer nicht zu erkennen war. Dann sah sie Craigie durch das Kristallglas des Beobachtungsfensters als Schattenriß gegen die Sterne. Die anderen verließen ihre Plätze, um sie zu betrachten. Dabrowsky, der Chefingenieur, sagte: »Noch ein Asteroid. Wie sollen wir ihn diesmal nennen?« Mit zusammengekniffenen Augen – das grelle Sternenlicht blendete ihn – schaute Carlsen aus dem Beobachtungsfenster. Als er den Analysator betätigte, liefen symmetrische, grüne Linien über den Kontrollschirm; durch die Schnelligkeit ihrer Annäherung waren sie nach oben hin verzerrt. »Das ist kein Asteroid. Er ist durch und durch aus Metall.« Dabrowsky kam zur Kontrolltafel zurück und starrte auf den Schirm. »Was könnte es dann sein?«
Das Summen der Atommotoren war bei dieser Geschwindigkeit kaum lauter als das einer elektrischen Uhr. Sie gingen zurück an ihre Plätze und beobachteten, wie das größer werdende Objekt immer mehr Sterne verdeckte. Während des vergangenen Monats hatten sie neun neue Asteroiden untersucht und in die Sternkarten eingetragen; nun sagte ihnen der Instinkt des erfahrenen Weltraumfahrers, daß sie es hier mit etwas anderem zu tun hatten. Bei zweihundert Meilen Distanz war die Silhouette klar genug erkennbar, um alle Zweifel zu beseitigen. »Es ist ein Raumschiff«, bekannte Craigie. »Aber um Himmels willen, wie groß ist es denn?« Im leeren All, wo es keine Bezugspunkte gibt, konnten Entfernungen trügerisch sein. Carlsen drückte die Computertasten nieder. Dabrowsky, der ihm über die Schulter sah, meinte ungläubig: »Fünfzig Meilen?« »Das ist unmöglich«, erklärte Craigie. Dabrowsky schlug heftig auf die Tasten und starrte das Resultat an. »Neunundvierzig Komma sechs vier Meilen. Fast achtzig Kilometer.« Das schwarze Objekt füllte das Sichtfenster jetzt aus. Dennoch waren selbst auf diese Entfernung keine Einzelheiten zu erkennen. Lieutenant Ives sagte: »Es ist nur ein Vorschlag, Sir – aber wäre es nicht
besser zu warten, bis wir Antwort auf unseren Funkspruch zur Basis erhalten?« »Das würde noch einmal vierzig Minuten dauern.« Die Basis war der Mond, zweihundert Millionen Meilen entfernt. Ein Funkspruch, der sich mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegte, würde dreiundzwanzig Minuten brauchen, um dort anzulangen, und eine Antwort noch einmal dreiundzwanzig Minuten. »Ich würde gern näher herangehen.« Die Motoren schwiegen nun. Sie trieben mit fünfzig Meilen pro Stunde auf das Raumfahrzeug zu. Carlsen schaltete die gesamte Innenbeleuchtung aus. Allmählich gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkelheit, und sie sahen die grauschwarzen Metallwände, die das Sonnenlicht aufzusaugen schienen. Als sie noch ein paar hundert Meter entfernt waren, stoppte Carlsen die Hermes. Die sieben Männer drängten sich um das Sichtfenster. Durch das dicke Kristallglas, das so durchscheinend wie klares Wasser war, konnten sie die Seitenwand des Schiffes sehen. So weit das Auge reichte, ragte sie wie ein eiserner Felshang über ihnen auf. Nach unten zu schien sich die Wand bis in den gähnenden Abgrund des Alls fortzusetzen. Sie waren alle an Schwerelosigkeit gewöhnt, doch diesmal brachte sie der Blick nach unten aus dem Gleichgewicht. Ein paar traten unwillkürlich vom Fenster zurück.
Auf diese Entfernung war eindeutig zu erkennen, daß das Schiff ein Wrack war. Hundert Meter weiter rechts war ein drei Meter großes Loch in die Schiffsplatten geschlagen worden. Der Suchscheinwerfer zeigte, daß das Metall sechs Zoll stark war. Als der Lichtstrahl langsam über die Schiffswände wanderte, konnten sie weitere tiefe Beulen und kleinere Meteoreinschlagslöcher sehen. Steinberg, der Navigator, meinte: »Es sieht aus, als hätte es einen Krieg mitgemacht.« »Möglich. Aber ich glaube, die Schäden rühren größtenteils von Meteoren her.« »Dann muß es aber ein regelrechter Sturm gewesen sein.« Sie betrachteten das Schiff schweigend. Carlsen sagte: »Entweder das, oder es befindet sich schon sehr lange Zeit hier.« Niemand mußte fragen, was er meinte. Die Wahrscheinlichkeit, daß ein Raumschiff von einem Meteor getroffen wird, ist etwa ebenso groß wie die Gefahr, daß ein Schiff im Atlantik ein treibendes Wrack rammt. Um diesen Schiffsrumpf so übel zuzurichten, wären Tausende von Jahren erforderlich gewesen. Craigie, der schottische Funker, bemerkte: »Mir gefällt das Ding nicht. Es hat etwas Verruchtes an sich.« Den anderen erging es offenbar ebenso. Carlsen sagte fast gleichgültig: »Es könnte die größte wissen-
schaftliche Entdeckung des einundzwanzigsten Jahrhunderts sein.« In der Aufregung und Anspannung der letzten Stunde war keinem dieser Gedanke gekommen. Mit dem telepathischen Gespür, das sich zwischen Menschen im All zu entwickeln scheint, erfaßten nun alle, was in Carlsens Kopf vor sich ging. Dieses Ereignis konnte sie berühmter machen als die ersten Menschen, die auf dem Mond gelandet waren. Sie hatten ein Raumschiff entdeckt, das eindeutig nicht von der Erde stammte. Damit stand außer Frage, daß es intelligentes Leben in anderen Sternsystemen gab – Das Geräusch vom Funkgerät ließ sie auffahren. Es war die Antwort von der Mondbasis. Die Stimme gehörte Dan Zelensky, dem Kommandanten. Offenbar hatte ihre Nachricht schon Furore gemacht. Zelensky sagte: »O.K. Umsichtig vorgehen und Radioaktivitäts- und Weltraumvirentests machen. Sobald wie möglich Bericht erstatten.« In der herrschenden Stille konnten alle die Worte hören. Ebenso hörten sie Craigies Antwort, die Carlsen diktierte. Craigies Stimme klang brüchig vor Erregung. »Hier ist ein eindeutig fremdes Raumfahrzeug, fast fünfzig Meilen lang und fünfundzwanzig hoch. Es sieht aus wie ein riesiges, am Himmel schwebendes Schloß. Es ist unwahrscheinlich, daß Leben an Bord ist. Vermutlich befindet es sich mindestens schon ein
paar hundert Jahre hier. Wir bitten um Erlaubnis, es untersuchen zu dürfen.« Die Botschaft wurde in einminütigen Intervallen ein halbes dutzendmal wiederholt; selbst wenn die meisten von statischen Störgeräuschen des Weltalls unverständlich gemacht wurden, würde eine wahrscheinlich durchkommen. Während der Stunde, in der sie auf Antwort warteten, stieß die Hermes sanft gegen das unbekannte Schiff. Sie aßen Büchsenrindfleisch, das sie mit schottischem Whisky hinunterspülten; die Aufregung hatte sie hungrig gemacht. Wieder meldete sich Zelensky persönlich, und auch seiner Stimme war die Erregung anzumerken. »Bitte ergreift alle erdenklichen Vorsichtsmaßnahmen. Und für den Fall, daß eine Gefahr droht, bereitet euch auf sofortige Rückkehr zur Mondbasis vor. Wir empfehlen euch, keinen Versuch zu machen, an Bord zu gehen, bevor ihr euch nicht ausgeschlafen habt. Ich habe mich mit John Skeat von Mount Palomar unterhalten, und er gesteht, daß ihn die Sache verblüfft. Wenn dieses Ding fünfzig Meilen mißt, hätte man es schon vor zweihundert Jahren entdecken müssen. Langzeitbelichtungsaufnahmen zeigen in diesem Teil des Himmels nichts von so einem Körper. Bevor ihr also an Bord geht, bitte alle möglichen Tests durchführen.« Obwohl die Botschaft ihnen nichts sagte, was sie
sich nicht selbst schon wußten, lauschten sie ihr aufmerksam und spielten sie noch mehrmals ab. Das Leben im Weltall ist einsam und langweilig; nun plötzlich, so spürten sie, standen sie im Mittelpunkt des Universums. Auf der Erde würden ihre Nachrichten jetzt auf allen Fernsehkanälen übertragen werden. Vor zwei Stunden hatten sie begonnen, Geschichte zu machen. In London war es jetzt sieben Uhr abends. Die Männer der Hermes lebten nach Greenwicher Zeit; auf diese Weise hielten sie eine Art Kontakt aufrecht. Es war bereits abzusehen, daß die allgemeine Erregung ihren Höhepunkt überschritten hatte und die Spannung im Verlauf des Abends weiter abflauen würde. Carlsen gab Whisky aus, jedoch nicht so viel, um die Männer betrunken zu machen; er wollte das Wrack nicht mit einer verkaterten Mannschaft betreten. Zusammen mit Giles Farmer, dem Schiffsarzt, manövrierte Carlsen die Hermes so, daß ihr Notausstieg gegenüber dem drei Meter großen Meteoreinschlagsloch zu liegen kam. Ferngesteuerte Roboter entnahmen Proben kosmischen Staubs aus dem Innern des Wracks. Die Weltraumvirentests verliefen negativ. (Seit dem Desaster der Ganymede 2113 waren sich Raumfahrer der Gefahren, die sie vielleicht mit auf die Erde einschleppten, nur zu bewußt.) Leichte Radioaktivität wurde gemessen, keine größere jedoch,
als von kosmischem Staub, der den periodischen Ausbrüchen tödlicher Strahlung solarer Stürme ausgesetzt war, zu erwarten gewesen wäre. Von Robots aufgenommene Blitzlichtaufnahmen zeigten einen riesengroßen Raum, dessen Abmessungen schwer abzuschätzen waren. In seinem letzten Tagesbericht, bevor er sich schlafen legte, erwähnte Carlsen, er glaube, das Schiff müsse von Riesen gebaut worden sein. Es war eine Bemerkung, die er später einmal bedauern sollte. Allen fiel das Einschlafen schwer. Carlsen lag noch wach und fragte sich, wie sein restliches Leben wohl aussehen würde. Er war fünfundvierzig, norwegischer Abstammung und mit einer hübschen Blondine aus Älesund verheiratet. Verständlicherweise hatte sie nichts für diese sechsmonatigen Forschungsexpeditionen übrig. Nun sah es so aus, als könnte aus seiner Rückkehr zur Erde vielleicht ein Daueraufenthalt werden. Als Kapitän der Expedition stand ihm das Recht zu, das erste Buch und die ersten Zeitschriftenartikel darüber zu verfassen. Dies allein konnte einen reichen Mann aus ihm machen. Er würde gern eine Farm in den Äußeren Hebriden kaufen und mindestens zwei Jahre lang die Vulkane auf Island erforschen – Diese rosigen Zukunftsträume riefen, anstatt ihn schläfrig zu machen, eine krankhafte Erregung hervor. Um drei Uhr morgens schließlich nahm er ein
Schlafmittel; dennoch träumte er die Nacht über von Riesen und verwunschenen Schlössern. Um zehn Uhr hatten sie gefrühstückt, und Carlsen hatte sich die Männer ausgesucht, die ihn in das Wrack begleiten sollten. Er nahm Craigie, Ives und Murchison, den Zweiten Ingenieur, mit. Murchison war ein Mann von immenser Gestalt; irgendwie gab es Carlsen ein beruhigendes Gefühl, ihn dabei zu wissen. Dabrowsky legte einen Zweistundenfilm in die kleine Kamera ein. Er filmte die Männer beim Anlegen der Raumanzüge und forderte jeden auf, seine Gefühle zu beschreiben; er dachte bereits im Sinne von Fernsehwochenschauen. Steinberg, ein hochgewachsener, junger Jude aus Brooklyn, sah krank und niedergeschlagen aus. Carlsen fragte sich, ob er verärgert war, daß er nicht zur Gruppe jener gehörte, die an Bord des Wracks gehen durften. »Wie fühlen Sie sich, Dave?« fragte er. »Gut«, antwortete Steinberg. Als Carlsen die Augenbrauen hochzog, sagte er: »Ich habe ein ungutes Gefühl. Die Sache gefällt mir nicht. An dem Wrack ist etwas Unheimliches.« Carlsens Mut sank; er erinnerte sich, daß Steinberg eine ähnliche Vorahnung gehabt hatte, kurz bevor die Hermes auf dem Asteroid Hidalgo beinahe verun-
glückt wäre; eine allem Anschein nach solide Oberfläche war damals eingebrochen, das Landetriebwerk des Schiffes war beschädigt und Dixon, der Geologe, schwer verletzt worden. Zwei Tage später war Dixon gestorben. Carlsen unterdrückte den aufkommenden Zweifel. »So geht es uns allen. Seht auch das verdammte Ding doch an. Frankensteins Schloß –« Dabrowsky fragte: »Olof, wollen Sie ein paar Worte sage?« Carlsen zuckte die Achseln. Der Public-RelationsTeil seiner Arbeit mißfiel ihm zwar, aber er wußte, daß es nun einmal dazu gehörte. Er setzte sich auf den Stuhl vor der Kamera. Sofort kamen ihm alle möglichen Gemeinplätze in den Sinn; er wußte, es waren abgedroschene Phrasen, aber etwas anderes fiel ihm nicht ein. Um ihn zu ermuntern, fragte Dabrowsky: »Was für ein Gefühl ist es, wenn man –« »Nun – äh – wir wissen nicht, was wir dort drinnen vorfinden werden. Wir haben nicht die leiseste Ahnung. Offensichtlich – äh – Professor Skeat in Mount Palomar hat darauf hingewiesen, daß niemand dieses Ding bisher gesehen hat. Immerhin ist es ziemlich groß, fünfzig Meilen lang. Astronomen können durch Vergleiche von Fotografien Asteroidenfragmente von zwei Meilen Länge ausfindig machen. Die Erklärung liegt vielleicht in seiner Färbung. Es handelt sich um
ein außergewöhnlich mattes Grau, das offenbar nur sehr wenig Licht reflektiert. Also – äh –« Er verlor den Faden. Dabrowsky fragte: »Sind Sie aufgeregt?« »Nun ja, natürlich bin ich aufgeregt –« Das war nicht wahr; er war stets ruhig und bei der Sache, wenn ein Einsatz bevorstand. »Dies könnte unser erster wirklicher Kontakt zu Lebewesen aus einer anderen Galaxis werden. Andererseits könnte dieses Schiff sehr, sehr alt sein, und es –« »Wie alt?« »Wie soll ich das wissen? Aber nach dem Zustand der Schiffshülle zu urteilen, könnte sein Alter irgendwo zwischen zehntausend und vielleicht zehn Millionen Jahren liegen.« »Zehn Millionen?« Carlsen rief ärgerlich: »Um Himmels willen, stellen Sie dieses verdammte Ding ab. Wir sind hier nicht in einem Filmstudio.« »Tut mir leid, Skip.« Carlsen klopfte ihm auf die Schulter. »Ist nicht Ihre Schuld, Joe. Ich hasse einfach dieses ganze Getue.« Er wandte sich an die anderen. »Kommt, Leute. Fangen wir an.« Er betrat die Luftschleuse als erster; aus Sicherheitsgründen pflegten sie sich einzeln durchzuschleusen. Die kräftigen Magnete in seinen Schuhsohlen erzeugten eine Illusion von Schwerkraft. Als er in
den Abgrund unter sich blickte, wurde ihm schwindlig. Sehr sachte schob er sich an der Luke vorbei und schlug sie hinter sich zu. Im Vakuum gab sie keinen Laut von sich. Er stieß sich mit der Hand ab, überbrückte die ein Meter fünfzig breite Kluft zu dem gezackten Loch und schwebte hindurch. Die Filmkamera hatte er sich quer über die Schulter gehängt. Der Suchscheinwerfer, den er bei sich trug, hatte nur die Abmessungen einer größeren Taschenlampe, aber seine Atombatterien konnten einen Lichtstrahl liefern, der mehrere Meilen weit reichte. Der Boden befand sich etwa fünf Meter unter ihm. Er war aus Metall. Aber als er auf ihm landete, prallte er wieder ab und stieg zwei Meter in die Höhe. Das Metall war offensichtlich antimagnetisch. Mit dem Kopf voran schwebte er langsam hinunter und setzte so sanft wie ein Luftballon auf. Er setzte sich auf den Fußboden und leuchtete, als Zeichen, daß alles in Ordnung war, mit der Lampe auf die Öffnung. Dann schaute er sich um. Für einen Augenblick hatte er die Illusion, sich in London oder New York zu befinden. Dann sah er, daß die gewaltigen, hochaufragenden Gebilde, die ihn an Wolkenkratzer erinnert hatten, in Wirklichkeit riesige Säulen waren, die vom Boden bis zur Decke reichten. Die Dimensionen war atemberaubend. Die nächste Säule, etwa hundert Meter entfernt, mochte
die Größe des Empire State Buildings haben; er schätzte ihre Größe auf über dreihundert Meter. Sie war kreisrund und mit Rillen versehen. An der Spitze wuchs sie wie die Äste eines Baumes auseinander. Er ließ den Lichtstrahl durch die Halle wandern. Es war, als blicke man in eine gigantische Kathedrale oder einen verzauberten Wald. Der Fußboden und die Säulen waren von der Farbe reifbedeckten Silbers mit einer Spur Grün darin. Die Wand neben ihm erstreckte sich ohne sichtbare Wölbung eine Viertelmeile in die Höhe. Sie war mit fremdartigen farbigen Figuren und Mustern bedeckt. Er bewegte sich vorsichtig ein Stück auf die nächste Säule zu – trotz seines geringen Gewichts konnte ein heftiger Zusammenprall den Raumanzug beschädigen – und stieß sich ab. Er verbreiterte den Lichtstrahl, so daß er eine Fläche von zwanzig bis dreißig Metern ausleuchtete. Sein Verstand war abgestumpft gegen jegliches Erstaunen, sonst wäre ihm vielleicht ein Ausruf entschlüpft. Craigies Stimme ertönte: »Alles in Ordnung, Skip?« »Ja. Dies ist ein phantastischer Ort. Wie eine gewaltige Kathedrale mit riesigen Säulen. Und an der Wand sind Bilder.« »Was für Bilder?« Ja, was für Bilder? Wie konnte er sie beschreiben? Sie waren nicht abstrakt; etwas stellten sie dar; soviel stand fest. Aber was? Es erinnerte ihn an ein Ereignis
in seiner Kindheit; er lag in einem Wald, umgeben von Glockenblumen, und die weißlichgrünen Stengel dieser Blumen verschwanden in der braunen Erde. Diese Bilder hätten einen tropischen Urwald oder vielleicht einen Unterwasserwald aus Unkraut und Ranken darstellen können. Die Farben waren Blau, Grün, Weiß und Silber. An den Bildern war etwas faszinierend Kompliziertes. Carlsen hatte keinen Zweifel, daß er ein großartiges Kunstwerk betrachtete. Weitere Lampen stachen in das Dunkel. Die drei anderen schwebten langsam nach unten, vollführten dabei Schwimmbewegungen, als befänden sie sich unter Wasser. Murchison schwebte zu ihm hinauf und versetzte ihm mit seinem Gewicht einen Stoß, der ihn fünfzehn Meter weit treiben ließ. »Was halten Sie davon, Skip? Glauben Sie, daß das wirklich Riesen waren?« Er schüttelte den Kopf und entsann sich dann, daß Murchison sein Gesicht ja nicht sehen konnte. »In diesem Stadium würde ich nicht einmal raten.« Er wandte sich an die anderen. »Wir bleiben am besten zusammen. Ich möchte das andere Ende untersuchen.« Mit eingeschalteter Kamera schwebte er langsam durch die Halle. Rechts zwischen den Säulen konnte er etwas erkennen, das wie eine riesige Treppe aussah. Für die Männer, die auf der Hermes zu-
rückgeblieben waren, kommentierte er die Szenerie fortlaufend; er war sich jedoch bewußt, daß seine Worte ihnen keinen Begriff von den schwindelerregenden Ausmaßen dieser Bauwerke geben konnten. Vierhundert Meter weiter kamen sie an einem riesigen Korridor vorbei, der auf die Mitte des Schiffes zuführte; seine Decke war geschwungen wie die eines mittelalterlichen Gewölbes. Alles an dieser Umgebung wirkte fremdartig und zugleich seltsam vertraut. Er hörte sich zu Craigie sagen: »Wenn dieses Schiff von Erdenmenschen gebaut worden wäre, hätten sie ihm ein totes, funktionelles Aussehen verliehen – viereckige Säulen mit Nieten. Was für Wesen es auch immer gebaut haben, sie hatten einen Sinn für Schönheit –« Weit oben an der Wand zur Linken war ein kreisförmiges Gitter, das ihn an ein Kirchenfenster erinnerte. Er schwebte darauf zu. Aus der Nähe konnte er erkennen, daß es einem Zweck diente. Es war etwa dreißig Meter hoch und einsfünfzig stark; die Löcher darin waren mehrere Meter breit. Carlsen ließ sich in einem davon nieder und leuchtete mit dem Scheinwerfer hindurch. Die Filmkamera, nun an seiner Brust festgeschnallt, lief automatisch und filmte alles, was er sah. »Christus«, murmelte er. »Was ist?« Der Raum dahinter wirkte wie eine Traumland-
schaft. Monströse Treppen erstreckten sich hinauf in die Finsternis und hinab in die Tiefen des Schiffs. Zwischen ihnen verliefen schmale Stege und geschwungene Laufgänge, deren Bauweise ihn an Schwalbenflügel erinnerte. Dahinter befanden sich weitere Treppen, Laufgänge und Stege, die sich weiter nach oben und tiefer in das Dunkel fortsetzten. Als Craigie fragte: »Alles in Ordnung bei Ihnen?«, wurde er sich gewahr, daß er mehrere Minuten nichts gesagt hatte. Er fühlte sich benommen und überwältigt und irgendwie zutiefst bei etwas gestört. Der Ort hatte etwas Alptraumhaftes. »Alles in Ordnung, aber ich kann es nicht beschreiben. Sie müssen es sich selbst ansehen.« Er stieß sich durch die Öffnung nach außen, aber die ungeheuren Ausmaße des Raumes, in den er schwebte, gaben ihm ein bedrückendes Gefühl. »Was für einem Zweck könnte es bloß dienen?« fragte Ives. »Ich bin mir nicht sicher, daß es einem Zweck dient.« »Was?« »Einem praktischen Zweck, meine ich. Vielleicht kann man es mit einem Gemälde oder einer Sinfonie vergleichen – etwas, das das Gemüt ansprechen soll. Oder ist es vielleicht eine Art Karte?« »Eine was?« fragte Dabrowsky ungläubig.
»Eine Karte – vom Innern des Verstandes. Sie müßten es sehen, um es zu begreifen –« »Irgendwelche Anzeichen vom Kontrollraum? Oder von Maschinen?« »Nein, aber vielleicht befinden sie sich im hinteren Teil, bei den Antriebsdüsen – falls der Antrieb auf diese Weise arbeitet.« Er schwebte nun über eine der Treppen. Aus der Ferne wirkte sie wie eine Feuerleiter, aber aus der Nähe sah er, daß das Metall mindestens einen Meter stark war. Es besaß dieselbe matte Silberfärbung wie der Fußboden. Jede Stufe war ungefähr einszwanzig hoch und ebenso tief. Ein Geländer gab es nicht. Er folgte der Treppe aufwärts bis zu einem von Pfeilern gestützten Laufgang. Ein Laufsteg, ebenfalls ohne Geländer, lief über einen Abgrund von mindestens einer halben Meile Breite. »Können Sie das Licht sehen?« fragte Craigie. Er zeigte darauf. »Schaltet eure Lampen aus«, sagte Carlsen. Sie befanden sich in einer Finsternis, die sie wie ein Grab umschloß. Dann, als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnten, erkannte Carlsen, daß Craigie recht hatte. Irgendwo vom Mittelpunkt des Schiffes her kam ein grünlicher Lichtschein. Er blickte zur Kontrolle auf den Geigerzähler. Die Strahlung war etwas höher als sonst, konnte aber noch nicht als gefährlich gelten. Er teilte Dabrowsky mit: »Da
scheint eine Art schwaches Leuchten zu sein. Ich sehe es mir mal näher an.« Er war versucht, sich kräftig von den Stufen abzustoßen und über den Abgrund zu schnellen, aber zehn Jahre im Weltraum hatten Vorsicht zu einem Reflex werden lassen. Langsam, den Laufsteg als Führung benutzend, schwebte er auf den Lichtschein zu. Den Geigerzähler behielt er ständig im Auge. Als sie näherkamen, erhöhte sich seine Aktivität merklich, blieb aber noch unterhalb der Gefahrenmarke. Der Weg war weiter, als es den Anschein hatte. Die vier Männer schwebten an Laufgängen vorüber, die aussahen, als wären sie von einem verrückten Architekten der Renaissance ersonnen worden, und an Treppen, die den Eindruck erweckten, als mochten sie zur Erde zurück oder bis hinaus zu den Sternen reichen. Sie begegneten weiteren riesigen Säulen, aber hier hörten sie plötzlich mitten im Raum auf, als wäre das Dach, das sie einst getragen hatten, nun eingestürzt. Als Carlsen eine von ihnen streifte, bemerkte er, daß sie mit einem feinen, weißen Puder bedeckt zu sein schien, ähnlich wie Schwefelstaub oder Lycopodium. Er kratzte etwas davon in einen Probenbeutel. Eine halbe Stunde später war der Lichtschein heller geworden. Als er auf die Uhr schaute, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß es fast ein Uhr war. Er
merkte plötzlich, daß er Hunger hatte. Sie hatten die Scheinwerfer abgeschaltet; der grüne Schein war hell genug, um ausreichend sehen zu können. Das Licht kam von unten. Dabrowsky sagte: »Das war die Mondbasis, Olof. Sie meinten, Ihre Frau und die Kinder wären gerade im Fernsehen zu sehen gewesen.« Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ihn die Nachricht entzückt. Nun schien sie seltsam entrückt, als bezöge sie sich auf ein anderes, weit zurückliegendes Leben. Dabrowsky fuhr fort: »Zelensky sagt, daß vier Milliarden Menschen vor den Fernsehschirmen sitzen und auf Neuigkeiten warten. Kann ich einen Zwischenbericht senden?« »Warten Sie noch zehn Minuten. Wir nähern uns diesem Licht. Ich möchte herausfinden, was es ist –« Nun konnte er endlich sehen, daß es aus einem Spalt im Fußboden strömte. Der grünlichblaue Schein erinnerte ihn an Felder im Mondlicht. Er spürte ein plötzliches Triumphgefühl, ein Frohlocken, und stieß sich mit den Füßen kräftig ab und schwebte hinunter. »He, Skip, nicht so schnell«, sagte Ives. Er fühlte sich wie eine auf den Erdboden zugleitende Schwalbe. Der Rand des Abgrunds lag vierhundert Meter unter ihm, und er konnte das immense rechteckige Loch nun in seiner vollen Ausdehnung sehen. Es glich einem wolkenverhangenen, von Bergen umgebenen
Tal. Der Geigerzähler hatte die Gefahrenmarke jetzt überschritten, aber die Isolierung des Anzuges würde ihn noch einige Zeit schützen. Das Loch, in das sie hineintauchten, war etwa fünfzehnhundert Meter lang und fünfhundert Meter breit. An den Wänden befanden sich die gleichen Muster wie in der äußeren Kammer. Das Licht schien vom Fußboden und einer gewaltigen Säule in der Mitte des Raumes zu kommen. Er hörte Murchison sagen: »Was, zum Henker, ist das? Ein Monument?« Dann bemerkte Craigie: »Es ist aus Glas.« Carlsen streckte die Hände aus, um seinen Aufprall gegen den Boden zu dämpfen. Er überkugelte sich wie ein Fallschirmspringer, prallte ab und wurde hundert Meter weit geschleudert. Als es ihm geglückt war, sich aufzurichten, stellte er fest, daß er sich am Fuße eines Sockels befand, der die transparente Säule trug. Die Säule, wie die meisten Dinge in diesem Schiff, war größer, als es aus der Ferne den Anschein hatte. Carlsen schätzte ihren Durchmesser auf mindestens fünfzig Meter. In ihrem Innern hingen riesige, dunkle Gestalten. In dem phosphoreszierenden Licht sahen sie wie schwarze Kraken aus. Carlsen schwebte nach oben, bis er sich einer gegenüber befand, und beleuchtete sie mit dem Scheinwerfer. In dem hellen Lichtstrahl konnte er erkennen, daß sie nicht schwarz, sondern orangefarben war. Aus der Nähe betrachtet,
sah sie weniger wie ein Krake als eine Anzahl an einem Ende zusammengefügter, schwammartiger Kriechtiere aus. Dicht neben ihm fragte Ives: »Was halten Sie davon?« Carlsen wußte, was er dachte. »Ich glaube nicht, daß diese Dinger das Schiff gebaut haben.« Murchison drückte das Sichtglas seines Raumhelms gegen die Säule. »Was meinen Sie, was sie sind? Pflanzen? Oder eine Art Tintenfische?« »Vielleicht keins von beiden. Sie könnten eine völlig fremde Lebensform sein.« »Mein Gott!« murmelte Murchison. Die Furcht in seiner Stimme ließ Carlsens Herz pochen. Als er sprach, klang seine Stimme erstickt. »Was in Gottes Namen ist das?« Hinter den tintenfischähnlichen Gebilden bewegte sich etwas. »Ich bin's«, sagte Craigie. »Was stellen Sie da an?« Der Schreck hatte Carlsen wütend gemacht. »Ich bin in dieser Röhre. Sie ist hohl. Und unten kann ich etwas erkennen.« Vorsichtig setzte sich Carlsen nach oben in Bewegung. Er bremste sich ab, indem er die behandschuhten Hände gegen das Glas der Säule preßte. Obwohl die Temperatur des Raumanzugs automatisch gere-
gelt wurde, schwitzte er. Er schwebte über das obere Ende der Säule hinaus, machte eine Drehung in der Luft und landete auf dem Säulenrand. Dann konnte er sehen, daß sie, wie Craigie gesagt hatte, hohl war. Die Wände, die die tintenfischähnlichen Wesen enthielten, waren nicht stärker als drei Meter. Und als er in den Hohlraum in der Mitte der Säule blickte, stellte er fest, daß der blaue Schein dort weitaus stärker war. Er kam von unterhalb des Fußbodens. »Donald? Wo stecken Sie?« Craigies Stimme antwortete: »Ich bin hier unten. Ich glaube, dies müssen die Wohnräume sein.« Er griff nach Murchison, der mit zuviel Schwung ankam und im Begriff war, an ihm vorbeizuschweben. Wortlos stießen sich beide ab, mit dem Kopf voran in das hohle Innere. Da die Fortbewegung in der Schwerelosigkeit zu ihrem zweiten Ich geworden war, hatten sie ihre instinktive Abneigung gegen diese Körperlage verloren. Mit mäßiger Geschwindigkeit sanken sie dem blaugrünen Schein entgegen. Kurze Zeit später schwebten sie durch das Loch in ein Meer blauen Lichts, das Carlsen an eine Grotte erinnerte, die er einmal auf Capri gesehen hatte. Beim Aufschauen bemerkte er, daß die Decke – der Boden des Raums, den sie gerade verlassen hatten – halb durchsichtig, aus einer Art Kristall war. Der Schein, den sie von oben gesehen hatten, war das Licht, das diese
Decke durchdrang. An der Wand zur Rechten führte eine weitere große Treppe abwärts. Die Dimensionen waren hier jedoch weniger gigantisch als oben. Alles in allem kam dies den Größenordnungen auf der Hermes schon näher. Das Licht kam aus den Wänden und dem Fußboden. In der Mitte des Raumes waren Gebäude, viereckig und ebenfalls halb transparent. Und am anderen Ende, in einer Entfernung von vielleicht einer Viertelmeile, konnte Carlsen die Sterne in der Schwärze leuchten sehen. Ein Teil der Wand war herausgerissen worden. Er sah, daß die riesigen Metallplatten nach innen gebogen und gerissen waren, so als hätte jemand einen Pappkarton mit einem Hammer bearbeitet. Er deutete darauf. »Vermutlich war es das, was dem Schiff zum Verhängnis wurde.« Die Faszination, die eine furchtbare Katastrophe auszuüben scheint, trieb sie auf das Loch zu. Dabrowsky erkundigte sich nach weiteren Einzelheiten. Carlsen hielt am Rand an und betrachtete den Boden zu seinen Füßen, der verzogen war und Risse aufwies. »Ein großer Gegenstand hat ein Loch in das Schiff geschlagen – ein über dreißig Meter großes Loch. Er muß heiß gewesen sein – das Metall sieht nicht nur gerissen, sondern auch zerschmolzen aus. Die gesamte Luft muß innerhalb von Minuten entwichen sein, andernfalls hätten sie diesen Teil des Schif-
fes noch hermetisch abriegeln können. Alles Leben an Bord muß sofort umgekommen sein.« »Was ist mit diesen Gebäuden?« fragte Dabrowsky. »Wir werden sie jetzt untersuchen.« Ives Stimme ertönte. »He, Captain!« Es klang fast wie ein Schrei. Carlsen sah, daß er bei den Gebäuden stand und daß der Strahl seines Scheinwerfers in die transparenten Wände eindrang und auf der anderen Seite wieder zum Vorschein kam. »Captain, hier sind Leute drin.« Carlson mußte gegen den Wunsch ankämpfen, die fünfhundert Meter, die ihn von den Gebäuden trennten, mit einem mächtigen Satz zurückzulegen. Sein Schwung hätte ihn über sie hinausgetragen und vielleicht bewußtlos gegen die Wand am anderen Ende des Raumes geschleudert. Während er sich langsam vorwärtsbewegte, fragte er: »Was für Leute? Leben sie?« »Nein, sie sind tot. Aber sie sind menschlich. Humanoid, zumindest.« Carlsen bremste sich am hintersten Gebäude ab. Die Wände waren aus einem Glas, das so klar war wie das des Beobachtungsfensters der Hermes. Es waren eindeutig Wohnquartiere. Im Innern befanden sich Gegenstände, die er als Tische und Stühle identifizieren konnte; fremdartig in der Gestaltung, aber als Mobiliar erkennbar. Und einen halben Meter entfernt,
auf einem Bett auf der anderen Seite der Glaswand, lag ein Mann. Der Kopf war kahl, die Wangen eingefallen und gelb. Die blauen Augen starrten glasig gegen die Decke. Niedergehalten auf das Bett wurde er von einem Leinwandtuch, dessen grobes Gewebe deutlich zu erkennen war. Unter diesem straff gespannten Tuch konnten sie die Umrisse von Riemen oder Bändern sehen, die fraglos dazu dienten, den Körper an Ort und Stelle zu halten. Murchison rief: »Captain, hier ist eine Frau.« Er schaute durch die Wand des nächsten Gebäudes. Craigie, Ives und Carlsen gesellten sich zu ihm. Die auf das Bett geschnallte Gestalt war unverkennbar eine Frau. Es hätte des Beweises der Brüste, die sich unter der Decke wölbten, nicht bedurft, um das zu erkennen. Die Lippen waren noch rot, und an der Gesichtsform war etwas undefinierbar Feminines. Fast ein Jahr lang hatte keiner von ihnen eine Frau gesehen; alle überkam plötzlich ein Heimwehgefühl; und ein Anflug einer banaleren, physischen Reaktion. »Auch noch blond«, bemerkte Murchison. Das kurzgeschnittene Haar, das den Kopf bedeckte, war blaß, fast weiß. Craigie sagte: »Und hier ist noch eine.« Es war ein dunkelhaariges Mädchen, jünger als das erste. Es mochte einmal hübsch gewesen sein, aber die Gesichtszüge waren eingefallen. Es war das Gesicht einer Toten.
Jedes Gebäude stand für sich. Carlsen kamen sie wie eine Ansammlung ägyptischer Grabstätten vor. Insgesamt waren es dreißig. In jedem lag ein Schläfer: acht ältere Männer, sechs ältere Frauen, sechs jüngere Männer und zehn Frauen, deren Alter sich zwischen achtzehn und fünfundzwanzig bewegt haben mochte. »Aber wie sind sie in diese verdammten Dinger hineingekommen?« Murchison hatte recht; es gab keine Türen. Sie gingen um die Gebäude herum und untersuchten jeden Zoll der Glasoberfläche. Sie war nahtlos. Auch die Dächer, die aus halb transparentem Kristallglas bestanden, schienen fest mit dem Glas verbunden oder verschmolzen zu sein. »Es sind keine Gräber«, überlegte Carlsen. »Sonst brauchten sie keine Möbel.« »Die alten Ägypter legten ihren Toten auch Einrichtungsgegenstände mit ins Grab.« Ives hatte eine Leidenschaft für Archäologie. Aus irgendeinem Grund fühlte Carlsen Ärger in sich aufsteigen. »Aber die glaubten auch, sie könnten ihre Güter mit in die Unterwelt nehmen. So dumm sehen diese Leute nicht aus.« Craigie gab zu bedenken: »Trotzdem, vielleicht hofften sie, einmal von den Toten aufzuerstehen.« Carlsen erwiderte er ärgerlich: »Reden Sie keinen Unsinn.« Dann, als er Craigies erstaunten Blick durch
das Sichtglas seines Helms auffing, sagte er: »Tut mir leid. Ich muß Hunger haben.« Als sie an Bord der Hermes kamen, hatte Steinberg die für den ersten Weihnachtsfeiertag vorgesehene Mahlzeit zubereitet. Es war jetzt Oktober; ihr Rückflug zur Erde war für die zweite Novemberwoche angesetzt und die Ankunft für Mitte Januar (bei Höchstgeschwindigkeit legte die Hermes vier Millionen Meilen am Tag zurück); aber niemand bezweifelte, daß sie schon früher abfliegen würden. Dieser Fund war wichtiger als ein Dutzend unbekannte Asteroiden. Die Atmosphäre war entspannt und festlich. Zum Gänsebraten tranken sie Champagner und zum Plumpudding Brandy. Ives, Murchison und Craigie redeten fast ununterbrochen; die anderen hörten ihnen begeistert zu. Carlsen war seltsam müde. Er fühlte sich, als hätte er zwei Tage nicht geschlafen. Er überlegte, ob das ein Effekt der Radioaktivität sein konnte, verwarf den Gedanken aber. In diesem Fall würde es den anderen ebenso ergehen. Ihre Raumanzüge befanden sich jetzt im Dekontaminator, und das Meßgerät zeigte an, daß die aufgenommene Strahlung minimal gewesen war. Farmer meinte: »Olof, Sie sagen ja gar nichts.« »Ich bin müde, das ist alles.« Dabrowsky fragte ihn: »Was ist Ihre Theorie über diese Sache? Warum haben sie dieses Ding gebaut?«
Alle warteten, daß Carlsen etwas sagte; aber er schüttelte nur den Kopf. »Dann hört euch meine an«, begann Farmer. Er rauchte Pfeife und gestikulierte mit dem Stiel. »Aus dem, was ihr sagt, geht hervor, daß diese Treppen keinem praktischen Zweck dienen konnten. Richtig? Also hatten sie vermutlich eine andere Funktion – wie Olof heute morgen sagte, eine ästhetische oder religiöse.« »Gut«, sagte Steinberg. »Also ist es eine Art fliegende Kathedrale. Das ergibt trotzdem keinen Sinn.« »Laßt mich fortfahren. Wir wissen, daß diese Wesen nicht aus dem Sonnensystem stammen. Also kommen sie aus einem anderen System, vielleicht aus einer anderen Galaxis.« »Unmöglich, außer sie sind hundert Millionen Jahre oder so unterwegs gewesen.« »Gut.« Farmer blieb gelassen. »Aber sie könnten aus einem anderen Sonnensystem gekommen sein. Wenn sie die halbe Lichtgeschwindigkeit erreichen konnten, hätte der Weg von Alpha Centauri bis hierher nur neun Jahre gedauert.« Er bedeutete den anderen, ihn ausreden zu lassen. »Wir wissen, daß sie aus einem anderen Sonnensystem gekommen sein müssen. Die Frage ist also nur, aus welchem? Und wenn sie eine so weite Reise gemacht haben, erklärt sich auch die Größe des Schiffes. Es ist das Gegenstück zu
einem Ozeanriesen. Im Vergleich dazu ist unser Schiff nur eine Schaluppe. Und –« Er wandte sich an Ives. »Wenn Leute auswandern, was nehmen sie als erstes mit?« »Ihre Götter.« »Genau. Die Israelis nahmen die Bundeslade mit. Diese Menschen brauchten einen Tempel.« Steinberg sagte: »Und trotzdem ergibt es keinen Sinn. Wenn wir alle zum Mars auswandern würden, würden wir nicht versuchen, die Kathedrale von Canterbury mitzunehmen. Wir würden auf dem Mars eine neue bauen.« »Sie vergessen, daß die Kathedrale gleichzeitig ein Heim ist. Angenommen, sie landen auf dem Mars? Er ist ein unwirtlicher Planet. Es würde sie vielleicht Jahre kosten, eine Stadt unter einer Glaskuppel zu errichten. Aber sie haben ihre Kuppel gleich mitgebracht.« Die anderen waren beeindruckt. Dabrowsky fragte: »Aber warum die Treppen und Laufstege?« »Weil sie Grundvoraussetzungen für eine neu zu errichtende Stadt sind. Ihr Lebensraum ist begrenzt. Wenn die Bevölkerung wächst, müssen sie nach oben anbauen. Das ist die einzig mögliche Richtung. Also haben sie das Gerüst für eine Stadt mit vielen Etagen gebaut.« Ives sagte erregt: »Ich sage euch noch eins. Sie
würden nicht allein kommen. Sie würden zwei oder drei Schiffe schicken. Und sie würden nicht auf dem Mars landen, denn er ist lebensfeindlich. Sie würden auf der Erde landen.« Alle starrten ihn an. Selbst Carlsen horchte auf. Craigie sagte langsam: »Natürlich –« Sie saßen schweigend da. Murchison pfiff vor sich hin. Steinberg verlieh ihren Gedanken Ausdruck. »Dann könnten diese Wesen unsere Vorväter sein?« »Nicht unsere Vorväter«, bemerkte Craigie. »Die erreichten die Erde. Aber die Brüder und Schwestern unserer Ahnen.« Alle begannen auf einmal zu reden. Nach einigen Sekunden setzte sich Farmers langsame Stimme durch. »Damit haben wir das wesentliche Problem der menschlichen Evolution geklärt – warum der Mensch den Affen so wenig ähnelt. Wir stammen nicht von Affen ab. Wir stammen von ihnen ab.« Carlsen fragte: »Und was ist mit den Neandertalern und den anderen Gattungen?« »Eine völlig andere Evolutionslinie –« Der Summer des Funkgeräts unterbrach ihn. Craigie schaltete es ein. Sie hörten Zelenskys Stimme: »Meine Herren, ich habe eine Überraschung für Sie. Den Premierminister der Vereinigten Staaten von Europa, George Magill.«
Angenehm überrascht, schauten sie einander an. Wenn die Welt einen Staatsmann besaß, dem niemand das Wasser reichen konnte, dann war dies Magill, der Baumeister von World Unity. Im Raum ertönte die vertraute, tiefe Stimme: »Meine Herren, ich nehme an, Sie sind sich bereits darüber im klaren, daß Sie mittlerweile die berühmtesten Menschen im Sonnensystem sind. Ich übermittle Ihnen diese Botschaft, unmittelbar nachdem ich Ihren Film aus dem Innern des Schiffs gesehen habe. Trotz einiger wirklich ärgerlichen Störungen ist es der bemerkenswerteste Film, den ich je gesehen habe. Man muß Sie zu Ihrem außergewöhnlichen Abenteuer beglückwünschen. Sie werden –« An dieser Stelle wurde seine Stimme von statischen Störungen überlagert. »– stimmt mit mir darin überein, daß es die vordringlichste Aufgabe ist, eines dieser Wesen, und wenn möglich mehrere, zur Erde zu bringen. Selbstverständlich müssen wir uns dabei auf Ihr Urteil verlassen, ob dieses Unternehmen durchführbar ist. Wir wissen, daß die Körper vielleicht zu Staub zerfallen, wie es mit so vielen Mumien geschehen ist, wenn sie die Gräber aufbrechen. Doch es sollte Ihnen möglich sein festzustellen, ob sich in diesen Gräbern eine Atmosphäre oder ein Vakuum befindet. Wenn sich ein Vakuum darin befindet, sollte es Ihnen keine Schwierigkeiten bereiten –«
Carlsen stöhnte. »Warum will der Narr die Dinge übereilen?« Er schwieg, als er sah, daß die anderen angestrengt zuhörten, um den Rest von Magills Botschaft mitzubekommen. Verdrießlich saß er die nächsten fünf Minuten da, während sich Magill über die wissenschaftliche und politische Bedeutung ihrer Entdekkung ausließ. Dann meldete sich Zelensky wieder. »Also, Jungs. Ihr habt gehört, was der Mann gesagt hat. Ich stimme ihm zu. Wenn es irgend möglich ist, bringt ein oder zwei dieser Wesen zur Erde. Schneidet eines der Gräber auf. Haltet euch vor Augen, daß sie vielleicht gar nicht tot sind, sondern sich nur in einem suspendierten Lebenszustand befinden. Wenn ihr sie ins Schiff holt, steckt sie ins Tiefkühlabteil und laßt es versiegelt, bis ihr die Mondbasis erreicht. Faßt sie nicht an –« Carlsen stand auf und verließ den Raum. Er ging in sein Quartier, machte sich zurecht und legte sich ins Bett. Er schlief sofort ein. Als er erwachte, stand Steinberg an seinem Bett. Er richtete sich auf. »Wie lange habe ich geschlafen?« »Sieben Stunden. Sie sahen so müde aus, daß wir beschlossen, Sie nicht zu wecken.« »Was ist los?« »Vier von uns sind gerade zurückgekommen. Wir haben eines der Gräber geöffnet.«
»O Gott, weshalb? Warum konntet ihr nicht warten, bis ich aufwachte?« »Zelenskys Befehle.« »Solange ich Captain bin, gebe ich die Befehle.« Steinberg sagte kleinlaut: »Wir dachten, Sie würden sich freuen. Wir haben eine Öffnung in das Grab geschnitten, und es war Vakuum darin. Der Körper ist nicht zu Staub zerfallen. Es dürfte kein Problem sein, ihn in den Froster zu bringen.« Fünf Minuten später – er rieb sich noch den Schlaf aus den Augen – ging er zum Kontrollraum. Durch das Sichtfenster konnte er den vertrauten blaugrünen Schein sehen. Das Schiff war zur Kammer der Humanoiden gesteuert worden; er konnte die Grabstätten deutlich sehen. Dabrowsky fragte: »Hat Dave Ihnen gesagt, daß die Wand gar nicht aus Glas war?« »Nein? Woraus dann?« »Aus Metall, einem transparenten Metall. Wir haben das herausgeschnittene Stück in den Dekontaminator gesteckt, aber es scheint nicht radioaktiv zu sein. Und das Grab ist völlig frei von Radioaktivität. Das Metall ist eine Abschirmung dagegen.« »Wie seid ihr reingekommen?« »Der Hitzelaser hat es glatt durchschnitten.« Carlsen sagte gereizt: »Das nächste Mal wartet ihr meine Befehle ab.« Er fegte einen Einwand beiseite.
»Ich hatte vor, Verbindung zur Mondbasis aufzunehmen und vorzuschlagen, die Gräber vorläufig unangetastet zu lassen, bis eine spätere Expedition eintrifft. Angenommen, das Ding befand sich in einem suspendierten Lebenszustand? Und angenommen, ihr habt es jetzt getötet?« »Es sind noch neunundzwanzig da«, entgegnete Murchison. »Darum geht es nicht. Nur weil die verdammten Narren auf der Erde nicht abwarten können, habt ihr ein Leben weggeworfen. Es würde nur ein paar Monate dauern, um eine voll ausgerüstete Expedition hierher zu schaffen. Sie könnte dieses Schiff in eine Erdumlaufbahn schleppen und es in den nächsten zehn Jahren in allen Einzelheiten studieren. Statt dessen –« Dabrowsky unterbrach ihn mit fester Stimme. »Entschuldigen Sie, daß ich das sage, Skip, aber daran sind Sie schuld. Sie haben sie mit Ihrem Gerede von Riesen dazu gebracht.« »Riesen?« Carlsen hatte vergessen, was er gesagt hatte. »Sie haben gesagt, es sähe so aus, als wäre das Schiff von Riesen gebaut worden. In dieser Version wurde die Geschichte gestern abend in den Fernsehnachrichten verbreitet: Forscher entdecken von Riesen gebautes Raumschiff.« »Ach, Unsinn«, sagte Carlsen.
»Die Wirkung können Sie sich ja vorstellen. Alles wartet darauf, etwas von den Riesen zu hören. Ein fünfzig Meilen langes Raumschiff, gebaut von Wesen, die eine Meile groß sind – Sie schmachten alle nach der nächsten Fortsetzung.« Carlsen starrte finster durch das Sichtfenster. Er nahm einen Becher Kaffee vom Tisch und nahm geistesabwesend einen Schluck. »Ich glaube, ich sehe lieber mal nach –« Zehn Minuten später stand er neben dem Bett und betrachtete den nackten Mann. Er hatte die Leinwanddecke zerschnitten und den Körper so freigelegt. Jetzt konnte er sehen, daß der Mann von Metallbändern festgehalten wurde. Das Fleisch sah eingeschrumpft und kalt aus; als er es berührte, gab es unter seinen behandschuhten Fingern wie Gelatine nach. Der glasig starre Blick gab ihm ein unangenehmes Gefühl. Er versuchte, ein Augenlid zu schließen, aber es sprang wieder auf. »Das ist merkwürdig.« Craigie, der in ihrem Schiff war, fragte: »Was?« »Die Haut ist noch elastisch.« Er betrachtete die dünnen Beine und sehnigen Füße. Blaue Venen waren durch die marmorfarbene Haut zu sehen. »Haben Sie eine Idee, wie wir diese Bänder lösen können?« »Mit dem Laser durchschneiden«, meinte Murchison, der hinter ihm stand.
»Gut. Versuchen Sie es.« Aus der Mündung des tragbaren Lasers bohrte sich ein weinroter Strahl; aber bevor Murchison ihn auf die Metallbänder richten konnte, schoben sie sich zurück und verschwanden in Löchern im Bett. »Was haben Sie gemacht?« »Gar nichts. Ich habe sie nicht mal angefaßt.« Carlsen legte die Hand unter die Füße des Mannes und hob sie an. Sie schwebten in die Luft. Der Körper blieb schräg in der Luft hängen; der Kopf kam nun frei von der zusammengerollten Decke, die als Kopfkissen diente. Carlsen wandte sich an Steinberg und Ives, die draußen warteten. »Kommt und holt ihn.« Der Körper wurde in einen grauen Metallbehälter gelegt. Er war zigarrenförmig und besaß zwei Tragegriffe in der Mitte, die ihm das Aussehen einer überlangen Reisetasche verliehen. In der Inventarliste des Schiffes wurde er unter ›Probensammler‹ geführt; jedermann wußte jedoch, daß es sein eigentlicher Zweck war, bei einem Todesfall im Weltraum als Sarg zu dienen. Dixons Leichnam lag nun in einem ähnlichen Behälter. Als Steinberg und Ives mit dem Körper verschwunden waren, suchte Carlsen jeden Zoll der Bettoberfläche ab. Tatsächlich war es kaum mehr als eine Metallplatte; unter der Leinwandunterlage be-
fanden sich keinerlei Knöpfe oder Hebel. Sie krochen darunter, aber auch die Unterseite war glatt und fugenlos. »Vielleicht sprach es auf Ihre Gedanken an«, meinte Murchison. »Das werden wir bei den anderen herausfinden.« Sie untersuchten und fotografierten die Kammer eine halbe Stunde lang, entdeckten jedoch nichts von Bedeutung. Alles schien auf reine Zweckmäßigkeit ausgelegt zu sein. Interessiert beobachtete er, wie der Laser die Wand des nächsten Raums durchschnitt. Das Spektrometer zeigte an, daß sie aus einer unbekannten Legierung bestand; immerhin war die Molekularstruktur typisch metallisch. Ansonsten glich das Material in jeder Hinsicht Glas. Die Wand war etwa drei Zoll stark. Er hatte sich gewundert, warum Murchison den Eingang zu der anderen Kammer relativ klein gemacht hatte; nun sah er den Grund. Das Metall widerstand einem Strahl, der normalerweise Corshamstahl wie Butter zerschneiden konnte. Es dauerte zwanzig Minuten, um ein einszwanzig hohes und sechzig Zentimeter breites Stück herauszutrennen. Dies war der Raum, der das dunkelhaarige Mädchen beherbergte. Nach den Radioaktivitäts- und Raumvirentests trat Carlsen über die Schwelle. Er ging hinüber zum Bett, zog das Messer und trennte das Leinentuch
entlang der Stelle auf, wo es im Metall verschwand. Er schlug das Laken zurück. Sie lag da wie aufgebahrt, die Füße dicht nebeneinander. Die Brüste, von keiner Schwerkraft niedergedrückt, standen ab, als würden sie von einem Büstenhalter gestützt. »Unglaublich«, sagte Murchison. »Sie sieht aus, als wäre sie am Leben.« Es stimmte; das Fleisch des Körpers hatte nichts von jener Schlaffheit an sich, die man mit Tod assoziiert. »Könnte am Blutdruck liegen. Wenn sie sofort nach dem Tod hierher gebracht wurde, wäre der Blutdruck noch hoch genug gewesen, um den Körper im Vakuum leicht anschwellen zu lassen.« »Soll ich den Laser einschalten?« Der Eifer in seiner Stimme amüsierte Carlsen. Ohne die Augen von dem Mädchen abzuwenden, sagte er: »Gut. Fangen Sie an.« Während er sprach, glitten die Metallbänder zurück; sie hinterließen Striemen auf dem nackten Fleisch von Bauch und Oberschenkeln. »Es muß eine Form von Gedankenkontrolle sein. Mal sehen, ob ich sie dazu bewegen kann, wieder zuzuschnappen.« Er starrte konzentriert auf das Bett, aber nichts geschah. Er drehte sich um und winkte Steinberg und Ives zu. »Bringt sie zum Froster.« Steinberg sagte: »Wenn dort kein Platz mehr ist, kann sie das Bett mit mir teilen, bis wir zur Erde kommen.« Carlsen grinste. »Ich glaube kaum, daß Sie sie sehr
entgegenkommend finden würden.« Er wandte sich an Murchison. »Gehen wir zurück.« »Ist das alles, was wir mitnehmen?« Murchison hörte sich enttäuscht an. »Zwei reichen doch wohl, meinen Sie nicht?« »Im Froster ist noch Platz für eine Menge mehr.« Carlsen lachte. »Also gut. Aber nur noch einen.« Er ließ Murchison vorangehen. Wie erwartet, ging Murchison zu der Kammer, in der sich das blonde Mädchen befand. Er stand beobachtend da, während der Laser rotglühende Kügelchen aus dem Metallglas schmolz, die auf den Fußboden spritzten. Nachdem das letzte Verbindungsglied durchtrennt worden war, fiel das Segment nach innen; Murchison taumelte vor, der Laser prallte gegen den Boden und brannte einen kleinen Krater hinein. »He, Vorsicht. Alles in Ordnung?« »Tut mir leid, Skip.« Seine Stimme klang schwerfällig. »Ich bin plötzlich hundemüde.« Carlsen spähte durch die Glasscheibe im Raumhelm des anderen. Murchison sah erschöpft und bedrückt aus. »Sie gehen zurück in die Hermes, Bill. Sagen Sie Dave und Lloyd, daß sie mit einem neuen Behälter rüberkommen sollen.« Er trat an das Bett. Anstatt das Messer zu nehmen, versuchte er es diesmal mit einem Experiment. Er
starrte intensiv auf das Leinwandlaken und erteilte ihm den geistigen Befehl, sich zurückzuziehen. Einen Augenblick lang geschah nichts; dann glitten die Metallbänder unter dem Laken zurück. Einen Moment später glitt auch das Laken über den Körper und verschwand in einem Spalt, der sich am Rand der Platte auftat. »Natürlich«, sagte er. »Was ist natürlich?« Craigie hatte von der Hermes aus mitgehört. »Ich habe eben die Bänder mittels Willenskraft dazu gebracht, sich von selbst zurückzuziehen. Ist Ihnen klar, was das bedeutet?« »Eine hochentwickelte Technologie.« »Das meine ich nicht. Es bedeutet, daß diese Wesen wahrscheinlich noch am Leben sind. Die Bänder sind so gemacht, daß sie auf ihre Gedankenausstrahlung ansprechen, wenn sie erwachen. Ich frage mich, ob ich –« Er starrte die Metallplatte an und erteilte den Bändern innerlich den Befehl, wieder zuzuschnappen, aber nichts geschah. Er sagte: »Nein. Das ist nur logisch. Wenn sie erst einmal erwacht wären, bestünde keine Notwendigkeit mehr, die Bänder wieder zuschnappen zu lassen. Aber wie zum Henker gedachten sie, hier rauszukommen?« »Aus dem Schiff?« »Nein. Aus dieser Glaskammer.« Während er das sagte, starrte er die hintere Wand an und erteilte den
geistigen Befehl, eine Tür zu öffnen. Statt einer Tür glitt die ganze Wand zügig beiseite. In diesem Augenblick sah er Ives und Steinberg mit dem Sargbehälter die Halle entlangschweben. Er rief ihnen zu: »Ihr braucht euch nicht durch die Tür zu quetschen. Kommt durch die Wand.« »Wie zum Teufel haben Sie das gemacht?« »So.« Als er die Wand anstarrte, wußte er instinktiv, daß sie sich schließen würde. Als er sich konzentrierte, glitt sie an ihren Platz zurück. »Dieses Ding ist so konzipiert, daß es auf telepathische Befehle reagiert. Aber es funktioniert nur von innen.« »Woher wissen Sie das?« »Seht her.« Er ging auf die Wand zu und befahl ihr, sich wieder zu öffnen. Sie glitt beiseite und ließ ihn hinaus. Von draußen befahl er ihr, sich zu schließen. Nichts geschah. »Seht ihr? Es wurde so konstruiert, daß man es nur von innen bedienen kann.« Die Männer starrten den Körper der Blondine an. Sie war schlanker und einige Jahre älter als das andere Mädchen; aber ihr Fleisch war ebenso fest und faltenlos. »Kommt. Gehen wir zurück zur Hermes.« Als sie in der Luftschleuse die Raumanzüge ablegten, stellte er fest, daß Ives und Steinberg krank aussahen. Ives rieb sich die Augen. »Ich glaube, ich brauche Schlaf.«
»Ich auch«, sagte Steinberg. »Sie legen sich beide hin. Sie haben es verdient. Aber lassen Sie die Finger von dem Mädchen.« Steinberg sagte: »Glauben Sie mir, ich bin so erledigt, daß ich, selbst wenn sie am Leben wäre, zu nichts mehr zu gebrauchen wäre.« Als er den Kontrollraum betrat, empfing ihn Craigie mit den Worten: »Wir haben gerade unsere Befehle von der Mondbasis erhalten. Wir sollen das Schiff einen Tag lang von einem Ende bis zum anderen filmen und anschließend zur Erde zurückkehren.«
2 Im Hyde Park begannen die Osterglocken zu blühen. Carlsen lag mit geschlossenen Augen auf einem Liegestuhl und ließ sich von der Aprilsonne wärmen. Er war nun seit drei Monaten zurück, und noch immer genoß er das Dasein auf Erden in vollen Zügen. Die Schwerkraft machte ihm noch zu schaffen, so daß er nach einigen Stunden des Wachseins für gewöhnlich eine wohltuende Müdigkeit, wie bei einem Genesungsprozeß, empfand. Eine Stimme ertönte plötzlich: »Verzeihen Sie, sind Sie nicht Captain Carlsen?« Träge schlug er die Augen auf. Dies war einer der Nachteile, eine bekannte Persönlichkeit zu sein; er wurde von Fremden auf der Straße angesprochen. Vor ihm, mit der Sonne im Rücken, stand ein wuchtig gebauter junger Mann, dessen Hände in den Hosentaschen steckten. Carlsen starrte ihn unfreundlich an. »Erinnern Sie sich nicht an mich? Ich bin Seth Adams.« Der Name kam ihm bekannt vor, aber er konnte sich nicht mehr entsinnen, wo er ihn gehört hatte. Er sagte unverbindlich: »Ah, ja.« »Sie waren ein Freund meiner Mutter – Violet Mapleson.«
»Natürlich ...« Jetzt fiel es ihm ein. Er deutete auf einen freien Stuhl neben sich. »Setzen Sie sich doch.« »Seth«, rief eine Mädchenstimme. »Kommst du nun oder nicht?« Ein hübsches Mädchen in einem weißen Kleid kam auf sie zu. Es führte einen Pekinesen an der Leine. Der junge Mann funkelte es wütend an. »Ja, gleich. Ich ...« Er warf Carlsen einen verlegenen Blick zu und sagte: »Das ist Captain Olof Carlsen, ein alter Freund meiner Mutter.« Carlsen erhob sich und reichte dem Mädchen die Hand. Die blauen Augen, die ihn anstarrten, waren weit aufgerissen. »Mann, Sie sind es wirklich! Das ist ja phantastisch! Sie glauben gar nicht, wie gern ich Sie kennenlernen wollte ... Queenie, sei doch still!« Der Hund kläffte Carlsen wütend an. Seth ächzte »Mein Gott« und blickte angewidert zum Himmel. »Schon gut«, beruhigte ihn Carlsen. Er kniete sich hin und streckte die Hand aus. »Seien Sie vorsichtig«, bemerkte das Mädchen. »Sie beißt ...« Aber der Hund hörte auf zu kläffen, beschnüffelte Carlsens Hand und leckte sie dann. Das Mädchen freute sich überschwenglich: »Mann, sie bewundert Sie. Das tut sie sonst nie bei Fremden.« »Hör mal, Charlotte«, begann Seth mit fester Stimme. »Macht es dir etwas aus, allein nach Hause zu gehen? Ich möchte etwas mit Captain Carlsen bespre-
chen ...« Er nahm sie beim Arm. Der Hund fing an ihn anzukläffen. »Still, du kleines Ungeheuer!« fuhr er ihn an, und der Hund flüchtete hinter die Beine des Mädchens. Seth wandte sich mit einem charmanten Lächeln an Carlsen. »Würden Sie uns einen Augenblick entschuldigen?« Er nahm das Mädchen beiseite. Carlsen machte eine angedeutete Verbeugung und setzte sich. Er beobachtete die beiden belustigt. Kein Zweifel, er war Violets Sohn. Hatte er sich etwas in den Kopf gesetzt, kannte er keine Skrupel. Vor fünfundzwanzig Jahren war Carlsen mit Violet Mapleson, der Tochter Commander Vic Maplesons, der als erster Mensch den Mars betreten hatte, verlobt gewesen. Als er damals von seiner ersten, drei Monate dauernden Reise im Weltraum zurückgekehrt war, hatte sie währenddessen den Fernsehstar Dana Adams geheiratet. Die Ehe hatte nur zwei Jahre gehalten; dann hatte sie Adams wegen eines italienischen Schiffsmagnaten verlassen. Heute, nach ihrer dritten Scheidung, war sie eine schwerreiche Frau. »Wie gemein!« hörte Carlsen das Mädchen sagen. Offenbar wollte es bleiben und sich mit Carlsen unterhalten, und Seth war entschieden dagegen. Kurze Zeit später rauschte das Mädchen ohne sich noch einmal umzudrehen davon. Seth kam mit einem matten Lächeln auf den Lippen zurück und setzte sich.
»Sie müssen es ziemlich satt haben, von dahinschmachtenden Verehrerinnen angestaunt zu werden.« Carlsen unterdrückte seinen Ärger. »Oh, es stört mich nicht. Sie schien ganz reizend zu sein.« »O ja. Ein nettes Mädchen«, sagte Seth großmütig. »Aber ich habe wirklich etwas Dringendes mit Ihnen zu besprechen. Wissen Sie, Mutter erzählte mir, Sie hätten sie groß zum Essen ausgeführt, und ich war außer mir vor Wut, daß sie mich Ihnen nicht vorgestellt hatte.« »Äh ... das stimmt nicht ganz. Wir hatten uns nur zu einem kleinen Imbiß verabredet.« Violet hatte ihn tatsächlich unmittelbar nach seiner Ankunft auf der Erde angerufen und zum Essen eingeladen. Er kannte sie gut genug, um zu wissen, daß sie eine große Abendgesellschaft geben würde und daß er dabei das Schaustück abgeben sollte. Er hatte rasch erklärt, er sei zu erschöpft – was zutraf –, hatte sie aber zum Essen ins Savoy eingeladen. Sie hatte bereitwillig angenommen, und sie hatten einen angenehmen Abend verbracht und über alte Zeiten geredet. Seither hatte er immer neue Ausflüchte erfunden, um den Einladungen in ihr Haus zu entgehen. Seth beugte sich vor. »Wissen Sie, ich glaube, ich lege meine Karten am besten gleich auf den Tisch. Ich arbeite bei einer Zeitung.«
»Ah, ich verstehe.« »Wahrscheinlich überrascht Sie das. Aber die Sache ist so, mein Vater ist pleite und Mutter rückt nichts raus. Sie hat nichts als ihre miesen Wochenendpartys im Kopf. Ich verdiene jetzt einen lausigen Hunderter die Woche für Artikel in der Klatschspalte der Gazette.« Carlsen gab ein mitfühlendes Murmeln von sich. Vor zehn Jahren noch hätte er eine heftige Abneigung gegen diesen verwöhnten jungen Mann mit seinem welligen, schwarzen Haar und seinem ausdrucksvollen Mund gefaßt. Nun hörte er ihm gleichgültig zu und überlegte, wie er ihn loswerden konnte. »Sie wollen mich interviewen?« fragte er. »Nun, das wäre natürlich großartig ...« Sein Tonfall deutete an, daß er mehr im Sinn hatte. Er warf Carlsen einen raschen, abschätzenden Blick zu. »Ließe sich das machen?« Carlsen lächelte. »Ich denke schon. Aber es gibt ein Problem dabei. Das RFI hat für morgen vormittag zehn Uhr eine Pressekonferenz anberaumt. Ich glaube kaum, daß Ihr Redakteur an zwei Interviews interessiert wäre.« »Ich weiß. Deshalb möchte ich Sie auch vorher interviewen.« »Sie glauben, man würde Ihrem Bericht den Vorzug geben?«
»Wenn ich eine interessante Story als mein Gegenspieler vorweisen könnte vielleicht.« »Sicher. Woran hatten Sie gedacht?« »Nun ja, sehen Sie, ein richtiger Knüller wäre, wenn ich ...« Er hatte den bewundernden Tonfall eines Schuljungen angenommen, der mit einem Fußballstar spricht, »und ich nehme es Ihnen keineswegs übel, wenn Sie mir sagen, ich soll mich zum Teufel scheren – aber es wäre einfach umwerfend, wenn ich ins Labor gelangen und einen Blick auf die Fremden werfen könnte.« Carlsen lachte in sich hinein. »Sie sind ganz schön ehrgeizig.« »Vermutlich.« Seths Miene verdüsterte sich; er faßte es als Kritik auf. »Aber Oscar Phipps von der Tribune hat sie gesehen.« »Zufälligerweise ist er ein alter Freund des Direktors.« »Ich weiß. Und sehen wir den Tatsachen doch ins Auge – Sie sind ein alter Freund meiner Mutter.« Seths Lächeln sagte mehr aus als seine Worte. Carlsen erkannte überrascht, daß der junge Mann dachte, er und seine Mutter hätten ein Verhältnis miteinander. Natürlich, soweit er wußte, glaubte Seth, Carlsen wäre sein wirklicher Vater ... Um Zeit zu gewinnen, sagte er: »Es eignet sich wohl kaum für die Klatschspalte.« »Natürlich nicht. Darum geht es ja. Sehen wir den
Tatsachen doch ins Auge. Jemand, der für die Klatschspalte schreibt, ist ein Niemand. Aber wenn ich ein Exklusivinterview von Ihnen bekommen und das Raumforschungslabor sehen könnte, würde ich morgen Leitartikel schreiben.« Carlsen betrachtete nachdenklich den Park und überlegte, wie sehr er Leute verabscheute, die sagten ›Sehen wir den Tatsachen doch ins Auge‹. Andererseits fühlte er sich Violet gegenüber schuldig. Verschaffte er ihrem Sohn diese Chance, würde er das Gefühl haben, seine Schuld beglichen zu haben ... »Also wollen Sie Ihren Leitartikler von seinem Job verdrängen?« fragte er. »Keineswegs. Aber wenn es so kommen sollte ...« Seths Augen leuchteten. Er spürte, daß er gewonnen hatte. Carlsen seufzte. »Also gut.« Er schaute auf die Uhr. »Gehen wir.« »Was, jetzt gleich?« Seth schien sich nicht sicher zu sein, inwieweit er sein Glück auf die Probe stellen konnte. »Wenn Sie Ihren Artikel noch schreiben wollen, wäre das wohl ratsam.« Während sie zum Taxistand am Marble Arch gingen, fragte Seth: »Kann ich eine Aufnahme von Ihnen im Labor machen?« »Nein, tut mir leid. Das ist streng gegen die Vor-
schriften. Keine Kameras im RFI. Aus Sicherheitsgründen.« »Selbstverständlich.« Bis das Taxi sie endlich durch das Verkehrsgewühl von der Park Lane bis Whitehall befördert hatte, war es fast fünf Uhr, und es fing an zu dämmern. Wie Carlsen erwartet hatte, waren die meisten Büroangestellten schon fort. Der alte Pförtner grüßte ihn. »Gehört der junge Mann zu Ihnen, Sir?« »Ja. Wir wollen in den Klub.« Der Pförtner hätte Seth eigentlich auffordern müssen, seinen RFI-Ausweis vorzuzeigen, aber er kannte Carlsen schon seit zwanzig Jahren. Er ließ sie vorbei. Mittels seiner elektronischen Computerkarte orderte Carlsen den Aufzug herbei. Im RFI-Gebäude gab es keine Treppen, so daß niemand, der nicht einen Passagierschein besaß, über das unterste Stockwerk hinausgelangen konnte. »Gehen wir in den Klub?« fragte Seth. »Das will ich meinen. Ich brauche einen Drink.« »Könnten wir uns vorher das Labor ansehen?« »Dagegen ist nichts einzuwenden.« Als sie den Korridor entlang gingen, meinte Seth: »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie dankbar ich Ihnen bin.« Carlsen wünschte, er hätte ihm glauben können. Er hatte das Gefühl, daß Seth die Erfüllung seiner Wünsche als eine Art Naturgesetz ansah. Das Laboratorium schien auf den ersten Blick leer
zu sein; dann kam jedoch ein junger Laborassistent aus dem Probenlagerraum. Carlsen erkannte in ihm einen seiner Bewunderer wieder. »Oh, guten Tag, Sir. Sie kommen sicher, um sich den Film anzuschauen?« »Was für einen Film?« »Von der Wega. Er ist heute morgen eingetroffen.« Die Wega war einer der beiden großen Raumkreuzer, die man vor einem Monat auf den Weg zu dem Wrack geschickt hatte. Sie konnten bis zu zehn Millionen Meilen pro Tag zurücklegen. »Und was gibt es neues?« »In der Stranger ist ein neues Loch, Sir.« Stranger war der Name, mit dem die Boulevardpresse das Wrack getauft hatte. »Wie groß ist es?« »Ziemlich groß. Zehn Meter im Durchmesser.« »Himmel! Das ist unglaublich.« Sein erster Impuls war, hinaufzustürmen und genaueres in Erfahrung zu bringen, dann fiel ihm jedoch Seth ein. Er stellte die beiden jungen Männer vor. »Seth Adams, Gerald ... Ich habe Ihren Nachnamen vergessen.« »Pike, Sir.« »Wann gehen Sie, Gerald?« »In ungefähr zehn Minuten, Sir. Weshalb? Kann ich Ihnen behilflich sein?« »Nein, es ist nicht so wichtig. Ich wollte nur, daß
jemand Mr. Adams das Labor zeigt, weil ich in den Klub wollte.« »Wenn Sie es eilig haben«, meinte Seth, »könnte ich mir vielleicht nur kurz die Fremden ansehen?« »Gewiß. Kommen Sie.« Er führte ihn in den Probenlagerraum. An der Wand am anderen Ende des Raums waren vor kurzem eine Reihe von Schränken zur Leichenbeschau aufgestellt worden. »Wissen Sie, wo sie sich befinden, Gerald?« fragte er. »Ja, Sir. Ich zeige sie Ihnen.« Er zog ein großes Schubfach auf, das wie bei einem Aktenschrank aufging. Der Körper des Mannes lag darin. Die Augen starrten noch immer ausdruckslos nach oben. »Merkwürdig«, sagte Carlsen. »Er wirkt irgendwie lebendiger als beim letzten Mal, als ich ihn sah.« »Nun, er lebt ja auch«, sagte Gerald. »Ist das sicher?« frage Seth schnell. »Völlig«, antwortete Carlsen. »Wäre es nicht so, wäre er inzwischen verwest.« »Kann man ihn wecken?« »Wenn ja, kennen wir das Geheimnis jedenfalls nicht. Das Lebensfeld seines Körpers ist noch immer stark – das bedeutet, daß er lebt. Nach dem Tod verschwindet es völlig. Er ist in einer Art Trance, und wir wissen nicht, wie wir ihn wieder zu sich bringen sollen.«
Gerald öffnete die beiden anderen Schubfächer. Die nackten Körper sahen so aus, wie Carlsen sie in Erinnerung hatte. Die Gesichter jedoch wirkten nicht länger leichenhaft. Sie hätten Schläferinnen gehören können. Seth betrachtete sie fasziniert. Als er eine Bemerkung machen wollte, versagte ihm die Stimme, so daß er neu ansetzen mußte. »Sie sind wunderschön.« Er beugte sich vor und streckte die Hand aus. »Darf ich ...« »Nur zu.« Er legte dem dunkelhaarigen Mädchen vorsichtig die Hand auf die Brust und fuhr ihm langsam den Körper hinab, über den Bauch bis zum Schambein. »Unfaßbar!« murmelte er. »Ja«, sagte Gerald. »Sie sind ganz hübsch.« Er hatte die Körper jeden Tag gesehen. »Ich finde, der Mann hat das interessanteste Gesicht.« »Hat man eine Ahnung, wie alt sie sind?« fragte Seth. »Nicht die geringste«, antwortete Gerald. »Sie könnten älter sein als die menschliche Rasse.« »Und mit welchen Methoden versuchen Sie, sie wieder zum Leben zu erwecken?« »Nun, es ist recht kompliziert. Wir versuchen, das Lambda-Feld durch nicht-direkte Integration aufzubauen.«
»Könnten Sie das mit einfachen Worten erklären?« »Hören Sie«, sagte Carlsen, »wenn es Ihnen nichts ausmacht, lasse ich Sie jetzt für fünf Minuten allein ...« In seinem Büro angekommen, wählte er die Nummer des Filmvorführraums, der augenblicklich auf dem Bildschirm erschien. Alle Sitze waren belegt, und die Leute standen sogar in den Gängen. Auf dem großen Bildschirm am Ende des Raums erblickte er die Stranger, deren gewaltige Masse nur schwach im Sonnenlicht schimmerte. Offenbar war es die Schlußszene, denn einen Augenblick später war der Schirm leer, und die Menschen begannen von ihren Plätzen aufzustehen. Er rief das Büro des Direktors an. Er wußte, daß Bukovsky die Übertragung wahrscheinlich schon vorher gesehen hatte. Bukovskys krächzende Stimme meldete sich. »Wer ist am Apparat?« »Carlsen, Sir.« »Olof! Ich versuche Sie schon den ganzen Nachmittag zu erreichen.« Seine Stimme klang vorwurfsvoll. »Tut mir leid, Sir. Ich bin im Hyde Park eingeschlafen.« »Na ja, Gott sei Dank sind Sie jetzt hier. Wissen Sie, was geschehen ist?« »Nicht genau, Sir.« »Dann sage ich es Ihnen. Hören Sie zu. Die Wega
erreichte die Stranger heute morgen um halb zehn. Man entdeckte ein großes Loch im Dach. Ein Meteor hatte es wie eine Kanonenkugel durchschlagen. Was halten Sie davon?« »Erstaunlich, Sir. Ein unglaublicher Zufall.« »Genau das denke ich auch. Sie haben nichts von Meteorschauern berichtet, oder?« »Es gab keine, Sir. Meteorschauer treten stets in Verbindung mit Kometen auf, und im Umkreis von vierzig Millionen Meilen gab es keinen einzigen.« »Sicher, sicher.« Bukovsky haßte es, belehrt zu werden. »Wie konnte es dann geschehen?« »Es kann nur ein vereinzelter Meteor gewesen sein. Aber die Chancen stehen eine Million zu eins dagegen.« Bukovsky grunzte. »Genau was ich sage. Aber natürlich müssen wir schnell handeln, sobald die Nachricht an die Öffentlichkeit dringt. Das ist Ihnen doch klar? Könnten Sie heute abend im Fernsehen erklären, daß die Chancen eine Million zu eins dagegen stehen?« »Selbstverständlich, Sir. Wenn Sie es für nötig halten.« Bukovskys Bürotür ging auf, und ein halbes Dutzend Leute trat ein. Carlsen erkannte sie als Angehörige des Beraterstabs. »Ich denke, Sie kommen am besten gleich rauf«, meinte Bukovsky. »Wie schnell können Sie hier sein?«
»In fünf Minuten, Sir.« »Dann in zwei.« Er legte auf. Carlsen schaute auf die Uhr und sagte: »Mist.« Das bedeutete, daß er das Interview mit dem jungen Adams auf später verschieben mußte. Er stellte eine Verbindung zum Teleschirm des Laboratoriums her. Es war leer. Er schaltete auf den Probenlagerraum um. Dort gab es keinen Teleschirm, aber eine Fernsehkamera und eine Wechselsprechanlage. Seth Adams war allein. Carlsen setzte zum Sprechen an; dann ließ ihn etwas innehalten. Adams schlich verstohlen durch den Raum, so wie eine Katze, die es auf einen Vogel abgesehen hat. Carlsen schaltete auf das Labor zurück, um nach Pike Ausschau zu halten, aber er war nirgendwo zu sehen. Er verband sich mit dem Pförtner. »Haben Sie Gerald Pike gesehen, den jungen Elektroniker?« »Ja, Sir. Er ist vor ein paar Minuten hinausgegangen.« Also war Seth Adams seit mindestens fünf Minuten allein. Er schaltete zurück zum Probenlagerraum. Wie erwartet hatte Seth eines der Schubfächer geöffnet. Es war dasjenige, in dem der Mann lag. Adams griff in die Jackentasche und holte einen kleinen Gegenstand heraus – einen Kugelschreiber. Er schraubte das Oberteil ab, hielt es dicht vors Auge und drückte
auf einen Knopf. Es war ein winziger Fotoapparat von der Art, wie sie seit dem zwanzigsten Jahrhundert für Spionagezwecke verwendet wurden. Carlsen hätte daran denken sollen, daß jeder Reporter stets ein solches Gerät bei sich hatte. Er war enttäuscht. Er mochte Seth Adams zwar nicht, aber er war bereit gewesen, ihm zu helfen. Er hatte sogar begonnen, eine Art sportliches Interesse zu entwickeln, dem jungen Mann die Aussicht auf eine Sensationsmeldung zu verschaffen. Erkannte der Dummkopf nicht, daß sein Unterfangen unsinnig war? Nun würde er sein verdammtes Interview nicht bekommen, und wenn Bukovsky dahinterkam, würde er sogar von seiner Zeitung gefeuert werden. Er beobachtete, wie Adams das Schubfach schloß und das nächste aufzog. Er war versucht, sich laut zu räuspern, um ihm auf diese Weise einen Schreck einzujagen. Oder wäre es einfacher vorzugeben, von nichts zu wissen und ihn mit seinen Fotos davonkommen zu lassen? Die Zeitung davon abzuhalten, sie zu veröffentlichen, wäre nicht schwer. Adams fotografierte das blonde Mädchen und schloß das Schubfach wieder. Dann zog er das verbleibende Fach auf und machte eine weitere Aufnahme. Einen Augenblick später hatte er den Kugelschreiber wieder in die Tasche gesteckt und sich aufgerichtet. Sein Seufzer der Erleichterung war deutlich
über den Teleschirm zu vernehmen. Er schlich zur Tür und spähte hinaus, um sich zu vergewissern, daß niemand im Labor war. Dann sah er sich sorgfältig im Raum um; die versteckte Kamera, die seine Bewegungen verfolgte, entging ihm jedoch. Er ging wieder zu dem geöffneten Schubfach und sah hinab auf das Mädchen. Es befand sich etwa auf gleicher Höhe mit seinen Knien. Er bückte sich, berührte das Mädchen an der Brust und strich mit der Hand über den Körper. Dann streichelte er das Gesicht, fuhr mit den Fingerspitzen über die Lippen und zog die Unterlippe hinab. Seine andere Hand ruhte auf dem Oberschenkel des Mädchens. Am Geräusch seiner Atemzüge, die deutlich zu hören waren, konnte Carlsen seine wachsende Erregung erkennen. Als Adams sich neben dem Schubfach hinkniete, fand Carlsen, daß es an der Zeit war, einzuschreiten. Er ging hinüber zur Tür in der Absicht, sie zuzuschlagen. Das Geräusch würde über die Sprechanlage deutlich zu hören sein. Neben der offenen Tür hielt er inne. Die über das Schubfach gebeugten Schultern wirkten irgendwie unnatürlich. Die Muskulatur war angespannt, und der ganze Körper krümmte sich. Fasziniert, und von einer plötzlichen Vorahnung gepackt, näherte er sich leise dem Teleschirm. Seths Kopf befand sich im Innern des Schubfachs, und er drückte sein Gesicht an das des Mädchens; sein Körper jedoch wurde wie von
Krämpfen geschüttelt. Carlsen rief etwas, und der Körper schien sich noch stärker zu winden. Dann begann er zu erstarren. Es schien sehr lange zu dauern. Dann kippte Seth Adams sehr langsam nach hinten und fiel auf den Rücken. Am Rand des Schubfachs erschien eine Hand. Unsicher, als erwache es aus tiefem Schlaf, richtete sich das Mädchen auf. Es schaute sich um, ignorierte den Körper des Mannes und schwang die Beine über die Seitenwand des Schubfachs, gerade so, als steige es aus einem Bett. Der andere Teleschirm summte, und Bukovskys Stimme ertönte. »Carlsen, sind Sie immer noch da unten?« Carlsen achtete nicht darauf, sondern lief zur Tür. Die Fahrstuhltür stand offen. Sekunden später war er im unteren Korridor und rannte zum Labor. Der Gedanke an Gefahr kam ihm nicht. Er dachte nur an Violet Mapleson und hoffte, daß ihr Sohn nur bewußtlos war. Das Labor war leer. Er lief zum Probenlagerraum, in der Erwartung, das Mädchen an der Tür zu treffen. Zu seiner Überraschung war es nicht da. Dann stellte er fest, daß es wieder im Schubfach lag. Er sah Seths Gesicht an und tat unwillkürlich einen Schritt zurück. Dies war nicht mehr derselbe Mensch. Dem Gesicht war etwas zugestoßen. Die Lippen waren weggeschrumpft und hatten die Zähne freigelegt, die grau
und rissig waren. Zuerst hatte er den Eindruck, das Gesicht wäre von einem grauen Spinnengewebe überzogen. Dann stellte er fest, daß es ebenfalls zusammengeschrumpft war und der Effekt durch Falten hervorgerufen wurde. Es war das Gesicht eines alten Mannes geworden. Carlsen bemerkte, daß sich das schwarze Haar grau färbte. Auch die Hände waren faltig geworden, und das Fleisch war durchscheinend, als hätte es sich in graues Zelluloid verwandelt. Er bemerkte eine Bewegung im Schubfach. Die Augen des Mädchens waren offen, und es sah ihn an. Es konnte keinen Zweifel daran bestehen, daß es lebte. Der ganze Körper schien einen sanften Lichtschein auszustrahlen. Es lächelte freundlich, wie ein Kind, das aus dem Schlaf erwachte. Er starrte es an und spürte ein Staunen in sich, das sich wie in Wellen auszubreiten schien. Es war etwas, das er niemals zu sehen erwartet hatte. Eine ferne Kindheitserinnerung, die in seinem Bewußtsein keinerlei Spuren hinterlassen hatte. Es war etwas mit Bäumen und fließendem Wasser und einer Märchen- oder Wasserfee, die zugleich seine Mutter war. Neben dieser Frau waren alle Frauen der Welt blasse, unfertige Geschöpfe, schlechte Kopien von Männern. Er spürte den Wunsch, in Tränen auszubrechen. Sein Blick wanderte über ihren nackten Körper, ohne Verlangen, nur voll Staunen über ihre Schönheit.
Sie lächelte und breitete die Arme aus, so wie ein Kind, das auf den Arm genommen werden möchte. Er trat vor, um ihre Hände zu ergreifen, und stieß gegen den am Boden liegenden Körper. Er blickte hinab und sah das graue, durchscheinende Gesicht und das weiße Haar. Die Kleidung sah nun aus, als wäre sie mehrere Nummern zu groß. Mit plötzlicher, totaler Gewißheit, mit derselben Gewißheit, die er verspürt hatte, als er Seths Körper auf dem Teleschirm hatte erstarren sehen, erkannte er, daß diese Frau gerade einem Menschen das Leben ausgesaugt hatte. Er sah sie an, und noch immer spürte er kein Entsetzen. »Warum mußtest du das tun?« fragte er. Sie sagte nichts, aber er schien die Antwort in seinem Kopf zu spüren. Es war nicht ganz klar, was sie meinte. Sie schien sich entschuldigen und sagen zu wollen, es sei notwendig gewesen. Ihre Arme waren noch immer ausgestreckt. Er schüttelte den Kopf und trat zurück. Die junge Frau richtete sich daraufhin auf und stieg anmutig aus dem Schubfach. Ihre Bewegungen waren schnell und völlig kontrolliert, wie die einer Ballettänzerin. Sie kam auf ihn zu und stand lächelnd vor ihm. Aus der Nähe betrachtet, weist selbst eine schöne Frau Unvollkommenheiten auf. Diese junge Frau nicht; sie war ebenso schön, wie sie aus der Ferne ausgesehen hatte. Sie streckte die Arme aus und
machte Anstalten, ihn zu umarmen. Im Innern seines Kopfes sagte sie: »Liebe mich. Ich weiß, daß du mich liebst. Nimm meinen Körper.« Es stimmte; er liebte sie. Doch er wich zurück und wehrte ihre Hände ab. Sie waren warm, eine Spur wärmer als die eines Menschen. Nicht, daß er sie abwies; er begehrte sie heftiger, als er jemals eine Frau begehrt hatte. Aber er war immer ein Mann gewesen, der sich zu beherrschen wußte. Er legte Wert darauf, sich wie ein Gentleman zu benehmen. Es hätte seinen innersten Instinkten widersprochen, sie hier, im Probenlagerraum, zu lieben. Wieder fiel sein Blick auf den am Boden liegenden Körper, und ihm wurde bewußt, daß sie den Mann getötet, das Resultat von zwanzig Jahren des Wachstums und Aufbaus, zunichte gemacht hatte. Sie hatte es mit der unbedachten Gier eines durstigen Kindes getan, das eine Eiskremlimonade trinkt. »Du hast ihn ermordet«, sagte er. Sie nahm seine Hand, und die Berührung versetzte ihn in Entzücken. Plötzlich fielen alle Hemmungen von ihm ab. Sie drängte ihn, mit ihr zu kommen, irgendwohin, wo sie sich lieben konnten, und er spürte, daß er ihr nachgeben wollte. Der Anblick des reglosen Körpers machte ihm klar, daß es ihn wahrscheinlich das Leben kosten würde, aber das schien bedeutungslos zu sein. Ihm dämmerte etwas, das er
nicht in Worte fassen konnte. Doch seine trainierten männlichen Reflexe sträubten sich noch. Sie legte ihm die Arme um den Hals und zog seinen Kopf zu sich herab, so daß sich ihre Lippen berührten. Er küßte sie und spürte die Wärme ihres nackten Körpers. Jetzt begriff er mit größerer Klarheit, was er seit dem Augenblick, wo sie die Augen aufschlug, instinktiv gewußt hatte. Sie konnte sein Leben nicht nehmen, außer er gab es ihr. Sie war bereit, sich ihm hinzugeben. Solange er nicht nachgab, hatte sie keine Macht über ihn. Aber er wußte, daß es nur eine Frage der Zeit war, daß es davon abhing, wie rasch seine Selbstbeherrschung nachlassen würde. Er hörte Bukovskys ärgerliche Stimme: »Carlsen, wo zum Henker stecken Sie?« Sie kam aus dem Laboratorium. Er versteifte sich und ließ von ihr ab. Sie gab ihn gleichgültig frei und schaute zur Tür. Er fühlte sie sagen: »Ich muß gehen. Wie komme ich hier raus?« Sie entnahm seinen Gedanken, daß sie Kleider brauchte. Sie blickte auf die Leiche. »Nein«, sagte er. »Das ist Männerkleidung.« Sie griff in seine Jackentasche und nahm seine Brieftasche und den Computerausweis heraus. Er machte keinen Versuch, sie daran zu hindern. Dann drehte sie sich um und ging zur Tür hinaus. Er folgte ihr zur Türschwelle. Auf dem
Teleschirm des Labors konnte er Bukovsky sehen. Er unterhielt sich mit jemand, der ihm gegenüber saß. »Ich weiß, daß er in der Etage ist.« Er schaute auf und erblickte Carlsen. »Da sind Sie ja.« Das Mädchen ging gerade hinaus. Mit einem Mal wurde sich Carlsen der Gefahr bewußt, in der er geschwebt hatte. Der Schock traf ihn noch nachträglich. Er erkannte, daß diese Mädchen im Begriff gewesen war, sein Leben zu trinken – mit seiner uneingeschränkten Zustimmung. Alle Kräfte verließen ihn. Er fühlte, wie ihm die Knie nachgaben. Er hielt sich an der Tür fest und sank langsam zu Boden. Er war bei völlig klarem Verstand, aber unendlich müde und ausgelaugt, so als hätte er sich bei einem körperlichen Kraftakt völlig verausgabt. Bukovsky beugte sich über ihn. Er konnte sich nicht entsinnen, das Bewußtsein verloren zu haben; er wußte nur, daß er angenehm vor sich hingedöst hatte. »Was ist passiert, Carlsen?« Er erwiderte schläfrig: »Sie sind Vampire. Sie saugen Lebenskraft.« Er lag auf der Couch im Vorzimmer zu Bukovskys Büro. Harlow, der Sicherheitsbeauftragte, saß auf einem Stuhl neben der Couch und beugte sich über ihn. »Wer ist der alte Mann auf dem Fußboden?«
Mit einer Anstrengung richtete er sich auf. Er hatte das warme, wohlige Gefühl, aus einer Narkose zu erwachen. »Das ist kein alter Mann. Das ist ein junger Bursche von zwanzig Jahren.« Harlow dachte offensichtlich, er phantasiere. »Wo ist die Frau hingegangen?« fragte er. »Sie ist aufgewacht. Sie wurde wieder lebendig. Ich habe es über den Teleschirm in meinem Büro beobachtet.« Er stellte fest, daß ihm das Sprechen Schwierigkeiten bereitete, so als könne er die Worte nicht mehr koordinieren. Stotternd, mit dem Gefühl, einen großen, störenden Gegenstand im Mund zu haben, berichtete er von dem Geschehen. »Sie haben einen Reporter mitgebracht?« fragte Bukovsky wütend. »Sie wissen doch, daß das streng gegen die Vorschriften ist.« Er erwiderte müde, aber entschlossen: »Nein, das ist es nicht. Die Entscheidung lag bei mir. Die Pressekonferenz morgen gebe ich. Er war der Sohn einer alten Freundin. Ich wollte ihm bloß einen Gefallen tun.« »Nun, das ist Ihnen gelungen.« Harlow stand vor dem Teleschirm und erteilte Befehle. Er hörte ihn sagen: »Wenn ihr sie seht, kommt ihr keinesfalls zu nahe. Schießt sofort.«
Die Worte durchzuckten ihn schmerzhaft. Dann fiel ihm ein, daß sie seinen Ausweis hatte. Also konnte sie sich irgendwo im ganzen Gebäude aufhalten oder es sogar schon verlassen haben. Der starke Kaffee belebte ihn allmählich. Er stellte überrascht fest, daß er den größten Hunger seit seiner Rückkehr zur Erde verspürte. »Könnte ich ein Sandwich haben?« fragte er. »Ich habe einen Bärenhunger.« »Selbstverständlich«, erwiderte Bukovsky. »Fahren Sie fort. Was geschah, nachdem Sie mich angerufen hatten?« »Ich sah, wie sie ihn umbrachte – über den Teleschirm. Dann ging ich hinunter.« »War sie noch dort?« »Ja.« »Warum haben Sie sie entkommen lassen?« »Ich konnte sie nicht aufhalten.« Der Arzt trat ein. Er hieß Carlsen, Mantel und Hemd auszuziehen, und überprüfte Puls und Blutdruck. »Ihnen scheint nichts zu fehlen«, sagte er. »Ich glaube, Sie leiden an den Nachwirkungen eines Schocks – nervliche Überlastung.« »Haben Sie einen Lambdameter dabei?« »Ja.« Er wirkte überrascht. »Macht es Ihnen etwas aus, meinen L-Feldwert zu messen?«
Der Arzt heftete eine Elektrode des Galvanometers an Carlsens linkes Handgelenk, die andere an seine Brust unterhalb des Herzens. »Er ist höher, als er eigentlich sein dürfte. Beträchtlich höher.« »Höher?« Er richtete sich auf. »Sind Sie sicher, daß Sie die Pole nicht verwechselt haben?« »Völlig. Außerdem spielt das keine Rolle.« Höher ... Es stimmte, daß er anstelle von Erschöpfung ein seltsames inneres Glühen spürte. Dennoch war er sich sicher, daß sie ihm etwas von seiner Lebenskraft genommen hatte. Er erinnerte sich, wie erschöpft er an dem Tag gewesen war, an dem sie das Wrack untersucht hatten. Und Steinberg und Ives hatten zwölf Stunden geschlafen. Diese Wesen hatten ihre Lebensenergie aufgesaugt, das wußte er jetzt. Trotzdem war sein Lambdawert höher. Irgendwie hatte sie ihm Energie gegeben und gleichzeitig welche genommen. Die Sandwiches wurden gebracht. Nachdem er sie verzehrt und mit Bier hinuntergespült hatte, fühlte er sich besser. Harlow meldete sich über den Teleschirm. »In diesem Stockwerk ist sie auf keinen Fall – wahrscheinlich auch nicht mehr im Gebäude. Wir haben überall gesucht.« »Das ist ausgeschlossen. Ohne Passierschein konnte sie das Stockwerk nicht verlassen.«
»Sie hatte meinen Ausweis«, sagte Carlsen. »Mein Gott, das sagt er mir jetzt!« Bukovsky wandte sich wieder an Harlow. »Damit kann sie sich Zutritt zu den anderen Stockwerken verschaffen. Aber aus dem Gebäude kommt sie nicht raus. Ein nacktes Mädchen kommt nicht weit.« Er wandte sich wieder an Carlsen. »Wie zum Henker ist sie zu Ihrem Ausweis gekommen?« »Sie hat ihn genommen.« »Woher wußte sie davon?« »Sie hat meine Gedanken gelesen.« »Sind Sie sich dessen sicher?« »Völlig.« »Das kompliziert die Sache. Glauben Sie, daß sie die Gedanken der Sicherheitsbeamten lesen kann?« »Wahrscheinlich ja.« Bukovsky ging zum Getränkeschrank und schenkte sich einen Whisky ein. Er deutete wortlos auf die Flasche, und Carlsen nickte zustimmend. Bukovsky brachte ihm den Drink. Carlsen nahm einen großen Schluck und fühlte Erleichterung, als die rauchige Flüssigkeit in seiner Kehle brannte. Bukovsky setzte sich und sagte: »Hören Sie zu, Olof. Ich stelle Ihnen jetzt eine Frage, auf die ich eine ehrliche Antwort haben möchte. Halten Sie diese Frau für gefährlich?« »Natürlich«, erwiderte er. »Sie hat einen Menschen umgebracht.«
»Das meine ich nicht. Ich will wissen: Ist sie böse?« Er versuchte zu antworten und geriet in Konflikt mit sich. Sein Impuls war, nein zu sagen, doch sein Verstand sagte ihm, daß das eine Lüge wäre. Obwohl er wußte, daß sie die Absicht gehabt hatte, ihn seiner Lebenskraft zu berauben, hegte er seltsamerweise keinen Groll gegen sie. War sie böse? Ist ein Tiger, der Menschen reißt, böse? Während er zu Boden starrte und eine Antwort zu finden versuchte, sagte Bukovsky: »Sie wissen, wonach ich frage. Dieser Mann hatte vor, sie zu vergewaltigen. Sie vernichtete ihn. War das zugrundeliegende Motiv Selbstverteidigung?« Er kannte die Antwort. Er sagte müde: »Nein. Es war nicht Selbstverteidigung. Sie brauchte sein Leben. Sie nahm es.« »Vorsätzlich?« Als Carlsen zögerte, sagte Bukovsky: »Sie war bewußtlos. Ich habe sie ein dutzendmal gesehen. Ihr Lambda-Feld lag bei Null Komma null vier. Das entspricht dem Wert eines im Eis eingefrorenen Fisches. Ist es nicht möglich, daß sie keine Kontrolle über das Geschehen hatte?« Er nahm sich Zeit für die Antwort. Schließlich erklärte er: »Nein. Sie hatte sich in der Gewalt. Es geschah vorsätzlich.« »Gut.« Bukovsky stand auf und ging zum Teleschirm hinüber. »Geben Sie mir George Ash«, sagte
er. »George, es geht um die beiden Wesen aus dem Weltraum im Probenlagerraum. Ich will, daß sie vernichtet werden. Heute noch. Sofort. Richten Sie danach eine Botschaft an die Wega. Sie sollen sich der Stranger nicht nähern. Mindestens hundert Meilen Abstand halten.« Ash war Leiter der RFI-Polizei. Sein unmittelbarer Vorgesetzter war Harlow. »Ich lasse sie zum Verbrennungsofen schaffen«, verkündete er. Bukovsky kam zurück. »Nun brauchen wir nur noch diese Frau zu finden«, sagte er. »Ich wünschte, ich hätte die Gewißheit, daß sie sich noch im Gebäude aufhält. Ein Generalalarm würde eine Panik auslösen.« Er vergrub das Gesicht in den Händen; offenbar war er müde. »Gott sei Dank ist es nur einer.« »Inspektor Caine ist hier, Sir.« Es war Bukovskys Sekretärin. Caine sah aus wie ein Polizist: massige Gestalt, bekümmerte Miene, graues Haar. Bukovsky stellte sich und Carlsen vor. »Ja, ich erkenne Sie wieder, Sir«, grüßte Caine. »Sie haben sie entdeckt, nicht wahr?« Carlsen nickte. »Falls man es so nennen kann.« Caine war im Begriff fortzufahren, doch Bukovsky unterbrach ihn. »Wie meinen Sie das?« Carlsen zuckte die Achseln und lächelte müde. »Haben wir sie entdeckt? Oder haben sie uns ent-
deckt? Befand sich die Stranger wirklich seit einer Million Jahren dort? Oder hat man sie dorthin geschafft, damit wir sie entdecken würden?« Caine hielt solche Spekulationen offenbar für nutzlos. Er sagte geduldig: »Verzeihen Sie, Sir, aber ich möchte, daß Sie mir mit Ihren eigenen Worten schildern, was heute vorgefallen ist.« Carlsen begann seine Geschichte von neuem, und Caine hörte ihm aufmerksam zu und machte eine Bandaufzeichnung. Als Carlsen schilderte, wie er in den Probenlagerraum lief und die Leiche dort fand, unterbrach er ihn. »Sie sagen, sie öffnete die Augen. Was geschah dann?« »Sie richtete sich auf ... und streckte die Arme aus ... so etwa. Wie ein kleines Kind, das auf den Arm genommen werden möchte.« »Und wie reagierten Sie darauf?« Er schüttelte den Kopf. Es hätte unsinnig geklungen zu sagen: »Ich verliebte mich in sie.« Bukovsky beobachtete ihn aufmerksam. »Ich tat nichts«, erklärte er. »Ich starrte sie nur an.« »Sie müssen ziemlich erschüttert gewesen sein. Und dann?« »Dann stand sie mit einer geschmeidigen Bewegung auf und wollte mich umarmen.« »Sie wollte auch Sie aussaugen?«
»Ich nehme es an.« Es war unglaublich, wie schwer es ihm fiel, ihre Fragen zu beantworten. Etwas in ihm schien sich hartnäckig dagegen zu sträuben. Der Teleschirm summte. Ash erschien auf der Mattscheibe. »Diese Wesen, Sir ...«, sagte er, »sie sind schon tot.« »Sind Sie sicher?« »Kommen Sie, und sehen Sie selbst.« Bukovsky ging hinaus. Sie folgten ihm wortlos. Im Probenlagerraum waren drei Polizisten; einer von ihnen maß das Zimmer mit einem Bandmaß aus, ein anderer machte Fotos. Adams Körper lag noch an derselben Stelle. Der Polizeiarzt kniete neben ihm. Die Schubfächer mit den Fremden waren geöffnet. Carlsen sah auf den ersten Blick, was Ash meinte. An ihrem Tod konnte kein Zweifel bestehen. Als er näher heranging, empfing ihn der Geruch nach verwestem Fleisch. Der Anblick von Seths Adams Körper versetzte ihm einen Schock. Er war jetzt wie eine Mumie. Er bestand nur noch aus Haut und Knochen. Caine fragte ungläubig: »Sagten Sie, das Opfer wäre ungefähr zwanzig gewesen?« Carlsen nickte niedergeschlagen. Er wandte sich an Bukovsky: »Ich nehme an, seine Mutter ist noch nicht verständigt worden?« »Nein. Wir kennen ihre Adresse nicht.«
»Ich glaube, ich übernehme es am besten.« Er fragte Caine: »Brauchen Sie mich heute abend noch?« »Ich glaube kaum. Stehen Sie im Teleschirmbuch?« »Nein. Ich mußte mich kürzlich streichen lassen.« Er gab Caine seine Nummer. Bukovsky und der Polizeiarzt betrachteten die Fremden. »Nun, damit bleibt nur noch einer übrig«, meinte Bukovsky. Carlsen wollte etwas sagen, überlegte es sich aber anders. Er zog es vor, seine Gedanken für sich zu behalten. Das Summen des Teleschirms riß ihn aus tiefem Schlaf. Er hörte, wie Jelka fragte: »Wer ist da? ... Tut mir leid, aber er schläft ...« Sie sprach über den Hörer. »Wer ist es denn?« fragte er matt. »Die Polizei.« »Reich ihn mir doch mal.« Er nahm den Hörer. »Hallo.« »Detective-Sergeant Tully, Sir. Chefinspektor Caine hat mich beauftragt, Sie anzurufen. Er möchte, daß Sie sofort herkommen, wenn es sich machen läßt.« »Ist es dringend?« »Jawohl, Sir.« »Wohin?« »Versuchen Sie, in fünf Minuten fertig zu sein, Sir. Wir schicken Ihnen einen Grashüpfer.«
Als er sich anzog, fragte Jelka: »Muß das sein? Wissen Sie nicht, daß du erschöpft bist?« »Er meinte, es wäre wichtig.« Sie schaltete die Nachttischlampe zwischen ihren Betten ein. Ihre Wange hatte an der Stelle, wo das Kopfkissen dagegen gedrückt hatte, einen Abdruck. Er streifte Hose und einen Wollpullover über den Pyjama. Dann fuhr er ihr zärtlich durchs Haar. »Leg dich wieder hin. Schließ die Tür ab und laß niemanden rein.« Als er auf den Weg hinaus trat, schaltete er das Peilgerät ein. Über sich konnte er das blaue Licht eines Flugzeugs erkennen. Dreißig Sekunden später stürzte der Grashüpfer geräuschlos herab, schwebte einen Augenblick bewegungslos in der Luft und landete dann auf dem Weg. Die Tür ging auf, und der uniformierte Polizist half ihm die Stufen hinauf. Nur einer der drei Sitze war leer. Der Mann, der hinter dem Pilotensitz saß, trug einen Abendanzug. Er drehte sich zu Carlsen um und sagte: »Ich bin Hans Fallada. Guten Tag.« Carlsen ergriff die ihm über die Schulter dargebotene Hand. Trotz des deutschen Namens hatte Fallada den Akzent der britischen Oberklasse. Er hatte eine klangvolle, kehlige Stimme. »Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er.
»Gleichfalls«, erwiderte Fallada. »Schade, daß es unter diesen Umständen geschieht.« Carlsen beobachtete, wie die Themse unter ihnen immer kleiner wurde. Im Osten zeigte sich bereits der graue Streifen der Morgendämmerung am Horizont; unter ihnen glitzerten die gelben und orangefarbenen Lichter der Vororte. Beide fingen gleichzeitig zu sprechen an. Dann beantwortete Fallada die Frage, die Carlsen hatte stellen wollen. »Ich komme gerade aus Paris zurück. Als sie mich holen ließen, hielt ich gerade eine Ansprache vor dem Jahreskongreß europäischer Kriminologen. Jetzt sieht es so aus, als wäre die Reise umsonst gewesen.« »Warum?« »Hat man es Ihnen nicht gesagt? Man glaubt, daß man ihre Leiche gefunden hat.« Er war zu müde, als daß der Schock ihn voll hätte treffen können. Er hörte sich fragen: »Sind Sie sicher?« »Nein, man ist sich nicht sicher. Deshalb sollen Sie sie ja identifizieren.« Er lehnte sich im Sitz zurück und versuchte, seine Reaktion auf das Gehörte abzuschätzen. Er fühlte sich wie betäubt. Er war sich nur einer Sache sicher: daß sich ein Teil von ihm instinktiv weigerte, es zu glauben.
Innerhalb von fünf Minuten lagen die Lichter der Londoner Innenstadt unter ihnen. Fallada sagte gerade: »Erstaunliche Fluggeräte, diese Grashüpfer. Man sagt, daß sie es auf vierhundert Meilen pro Stunde bringen und auf einem sechzig Zentimeter breiten Freiraum mitten im Verkehrsgewühl niedergehen können.« Carlsen erkannte das grüne Licht auf dem RFI-Gebäude nahe Piccadilly. Sie stießen hinab auf die schwarze, ausgedehnte Fläche des Hyde Park. Der Suchscheinwerfer streifte das stille Gewässer der Serpentine. Der Grashüpfer verhielt reglos in der Luft und setzte dann erschütterungsfrei auf. Carlsen ließ Fallada zuerst aussteigen. Er sah Caine auf sie zukommen; ihm folgten Bukovsky und Ash. Zwanzig Meter entfernt hatte man eine Reihe von Leinwandschirmen zu einer Einfriedung aufgestellt. »Entschuldigen Sie die Belästigung, Sir«, sagte Caine. »Aber es wird nur fünf Minuten dauern ...« »Was veranlaßt Sie zu glauben, daß sie es ist?« »Sie ist es«, erklärte Bukovsky. »Aber man braucht Sie, um sie zu identifizieren. Sie haben sie als letzter gesehen.« Sie führten ihn hinter die Schirme. Der Körper lag unter einer Decke. Er konnte sehen, daß die Beine gespreizt und die Arme ausgestreckt waren. Caine zog die Decke zurück und leuchtete mit ei-
ner Taschenlampe. Einen Augenblick lang war er im Zweifel. Das linke Auge war blau angelaufen, und die Lippen wiesen Quetschungen auf und waren geschwollen. Dann sah er die Form von Kinn, Zähnen und die hohen Backenknochen. »Ja, das ist sie.« »Sie sind sich völlig sicher?« »Völlig.« Fallada zog die Decke ganz zurück. Sie trug nichts außer einem grünen Nylonkittel und einem Mantel; beide Kleidungsstücke waren aufgeknöpft. Der Körper war vom Halsansatz bis zu den Knien mit Blut beschmiert. Im Licht der Taschenlampe konnte er Abdrücke von Zähnen in der Haut erkennen. Eine Brustwarze fehlte. Ein paar Meter entfernt lagen Gummischuhe. Als Fallada den Kopf berührte, fiel er zur Seite. »Die Kleider fand sie im Schrank einer Putzfrau«, sagte Caine. »Seit wann ist sie tot?« fragte Fallada. »Seit schätzungsweise neun Stunden.« »Mit anderen Worten ... etwa eine Stunde nach ihrer Flucht aus dem Raumforschungsgebäude wurde sie ermordet. Das ist höchst merkwürdig. Ist bekannt, ob in dieser Gegend ein Sexualverbrecher sein Unwesen treibt?« »Uns liegen keine Berichte vor. Der letzte Mord dieser Art geschah vor einem Jahr in Maidstone.«
Carlsen richtete sich auf. Seine Hose war an den Knien feucht geworden. Er fragte Fallada: »Warum, meinen Sie, hat er sie gebissen?« Fallada zuckte die Achseln und schüttelte den Kopf. »Das ist eine bekannte sexuelle Perversion. Man nennt es Vampirismus.«
3 Als er erwachte, war es dunkel. Die Zeiger auf dem Leuchtzifferblatt der Uhr standen auf halb drei. Nachmittags oder morgens? Er langte hinüber und stellte den Weckton ab. Gleich danach hörte er das Lachen der Kinder. Damit war die Frage beantwortet; es war Nachmittag. Er drückte den Schalter für die Jalousieautomatik, die daraufhin hochgezogen wurden und Sonnenlicht ins Zimmer ließen. Er blieb noch träge im Bett liegen. Nach fünf Minuten kam Jelka mit einem Tablett herein. »Hier ist Kaffee. Wie geht es dir?« Er gähnte. »Das sag ich dir, wenn ich aufwache.« Er richtete sich ächzend auf. »Ich habe gut geschlafen.« »Das kann man wohl sagen.« Sich nach dem Sinn ihrer Bemerkung fragend, schaute er wieder auf die Uhr und bemerkte den Wochentag: Donnerstag. »Du liebe Güte«, sagte er. »Wie lange habe ich denn geschlafen?« »Warte mal ... an die dreiunddreißig Stunden.« »Warum hast du mich nicht geweckt?« »Weil du so erschöpft aussahst.« Die beiden Kinder kamen herein und kletterten aufs Bett. Die vierjährige Jeanette kroch zu ihm unter
die Decke und wollte eine Geschichte erzählt haben. Jelka sagte streng: »Daddy möchte seinen Kaffee trinken«, und führte die Kinder hinaus. Er blickte aus dem Fenster und fragte sich, ob das Gras tatsächlich grüner geworden war oder ob ihm seine Augen einen Streich spielten. Er probierte den Kaffee und stellte mit Entzücken fest, daß er ungewöhnlich gut schmeckte. Zum ersten Mal seit seiner Rückkehr zur Erde spürte er keinen Rest Müdigkeit in sich. Die Gärten und Häuser des Vororts von Twickenham Garden draußen lagen in aller Friedlichkeit und Schönheit im Sonnenlicht. Als er sich jetzt den Schlaf aus den Augen rieb, erkannte er, daß kein Zweifel daran bestehen konnte: er fühlte sich tatsächlich lebendiger. Seit seiner Kindheit hatte er die Dinge um sich nicht mehr so intensiv und lustvoll in sich aufgenommen. Als er gerade die zweite Tasse Kaffee trank, kam Jelka wieder herein. »Was gibt's Neues?« fragte er. »Nichts.« »Nichts? Haben sie in den Fernsehnachrichten nichts von den Ereignissen erwähnt?« »Nur, daß die Fremden alle gestorben wären.« »Das ist gut so. Es hat keinen Sinn, eine Panik auszulösen. Keine Post für mich?« »Nichts sonderlich Wichtiges. Wer ist Hans Fallada?«
»Er ist Kriminologe. Erinnerst du dich nicht? Er trat doch immer in der Fernsehserie über außergewöhnliche Mordfälle auf.« »Ach ja. Nun, er hat angerufen. Er möchte, daß du zurückrufst. Er meinte, es sei dringend.« »Wie ist seine Nummer?« Als er angezogen war, rief er Fallada an. Eine Sekretärin meldete sich. »Im Moment ist er bei Scotland Yard, Sir. Aber er hinterließ eine Nachricht. Sie möchten so schnell wie möglich herkommen.« »Wohin?« »Ins Ismeer-Gebäude, oberste Etage. Aber wir schicken Ihnen einen Grashüpfer. Wann kann er Sie abholen?« »In einer Viertelstunde?« Er verzehrte seine Rühreier an einem schattigen Plätzchen im Garten. Selbst hier war die Hitze drükkend. Der tiefblaue Himmel war so klar wie Wasser, und der Anblick erweckte in ihm den Wunsch, die Kleider abzustreifen und sich hineinzustürzen. Er trank gerade eisgekühlten Orangensaft, als der Grashüpfer eintraf. Eine Polizistin war am Steuer. Als er Jelka und den Kindern zum Abschied zuwinkte, rief Jelka: »Geh nicht zu nah an den Rand.« Ihre Bemerkung bezog sich auf das Dach des Ismeer-Gebäudes. Es bedeckte eine Grundfläche von
einer Quadratmeile in der Londoner Innenstadt und war das höchste Gebäude der Welt. Es war in den Tagen der Überbevölkerung von einem Konsortium des Nahen Ostens errichtet worden. Der Büroraummangel in London hatte diese Leute auf die Idee gebracht, einen eine Meile hohen Wolkenkratzer mit fünfhundert Stockwerken zu bauen. Sie hatten vorgehabt, in jeder Hauptstadt der Welt einen solchen Wolkenkratzer zu bauen, aber eine AntiAgglomerationspolitik hatte ihre Pläne zunichte gemacht. Die Idee war überholt. Und so war das Ismeer-Gebäude einzig in seiner Art geblieben; es war die größte Ansammlung von Büros auf der Welt. Der Grashüpfer glitt jetzt im Steilflug durch die ungetrübte, rauchlose Luft; über ihnen ragten bereits die Wände des Gebäudes turmhoch in den Himmel. Sie erinnerten Carlsen an die Stranger, und er spürte plötzlich einen Stich in der Brust. »Wohin geht es?« fragte er die Polizistin. »Zum Psycho-sexuellen Institut, Sir.« Sie wirkte überrascht, daß er es nicht wußte. »Untersteht es der Polizei?« »Nein, das Institut ist unabhängig. Aber die Zusammenarbeit mit uns ist eng.« Als er ausstieg, schlug ihm überraschend kühle Luft entgegen. Der blaue Himmel über ihm wirkte so fern wie vom Erdboden aus. Er ging an die Brüstung,
die von einem Drahtzaun gesichert wurde. Von seinem Aussichtspunkt aus konnte er dem Verlauf der Themse folgen; sie schlängelte sich durch Lambeth und Putney hindurch bis nach Mortlake und Richmond. Wenn Jelka das astronomische Fernrohr benutzen würde, könnte sie ihn wahrscheinlich hier stehen sehen. »Ich nehme an, da kommt Mr. Fallada«, meinte die Polizistin. Ein anderer Grashüpfer schwebte über dem Dach. Er ging geräuschlos nieder und landete so sanft wie ein Nachtfalter, keine sechs Zoll von dem anderen Flugzeug entfernt. Fallada kletterte heraus und winkte ihm zu. »Es war nett von Ihnen, daß Sie so prompt erschienen sind. Wie fühlen Sie sich heute?« »Ausgezeichnet, danke. Habe mich noch nie wohler gefühlt.« »Gut. Ich brauche nämlich Ihre Hilfe. Und ich brauche sie dringend. Kommen Sie mit hinunter.« Es ging eine Treppe hinab. »Entschuldigen Sie mich einen Moment. Ich muß mit meinem Assistenten reden.« Er öffnete eine Tür mit dem Schild ›Lab. C‹. Ein Geruch nach Chemikalien schlug ihnen entgegen, und Carlsen roch Jodoform heraus. Er blickte überrascht auf den nackten Körper eines älteren Mannes, der auf einer fahrbaren Bahre neben der Tür
lag. Ein Assistent in einem weißen Kittel beugte sich gerade über ein Mikroskop. Fallada wandte sich an ihn mit den Worten: »Ich bin wieder zurück. Im Laufe der nächsten halben Stunde wird der Yard noch eine Leiche schicken. Ich möchte, daß Sie alles andere liegenlassen und sich an ihre Untersuchung machen. Verständigen Sie mich, sobald sie eintrifft.« »Wie Sie wünschen, Sir.« Er schloß die Tür. »Hier entlang, Mr. Carlsen.« Er führte ihn zu einem Büro auf der anderen Seite des Korridors. An der Tür war ein Schild mit der Aufschrift: ›H. Fallada, Direktor‹. »Wer war der Mann?« fragte Carlsen. »Mein Assistent, Norman Grey.« »Nein, ich meine den Toten.« »Oh, irgendein Narr, der sich erhängt hat. Er könnte der Lustmörder von Bexley sein. Wir müssen es noch herausfinden.« Er öffnete den Getränkeschrank. »Ist es Ihnen noch zu früh für einen Whisky?« »Nein, ich denke, ich kann einen vertragen.« »Nehmen Sie Platz.« Carlsen setzte sich in den Lehnstuhl neben dem großen Erkerfenster, der sich automatisch seinen Körperformen anpaßte. Von hier sah die Welt sonnig und unkompliziert aus. Er konnte bis zur Themsemündung und bis nach Southend blicken. Es fiel schwer, sich vorzustellen, daß es Unrecht und Böses auf der Welt gab.
Von einem Buchumschlag auf dem Regal ein paar Meter entfernt starrte ihn Falladas Gesicht an. Das Buch hieß Leitfaden der Sexualkriminologie. Die dicken Lippen und schlaff herabhängenden Augenlider verliehen Falladas Gesicht ein seltsam finsteres Aussehen, ja, es war sogar etwas Humoristisches, fast Clownhaftes an dieser Miene. Die Augen hinter den dicken Brillengläsern erweckten den Eindruck, daß sich ihr Besitzer über einen geheimen Scherz amüsierte. »Auf Ihre Gesundheit.« Das Eis im Glas klirrte, als er es an die Lippen setzte. Fallada setzte sich auf die Schreibtischkante. »Ich habe gerade eine Leiche untersucht«, begann er. »Und?« »Ein totes Mädchen. Man fand es auf einer Eisenbahnlinie in der Nähe von Putney Bridge.« Er griff in die Tasche und reichte Carlsen ein zusammengefaltetes Blatt Papier. Es war ein maschinenbeschriebenes Blatt mit der Überschrift: ›Eidliche Aussage von Albert Smithers. Adresse: Foskett Place 12, Putney‹. ›Gegen halb vier bemerkte ich, daß meine Frau vergessen hatte, mir die Teeflasche einzupacken. Also bat ich den Vorarbeiter um Erlaubnis, nach Hause gehen und sie holen zu dürfen. Ich nahm die Abkürzung entlang der Bahnlinie, eine Strecke von etwa
fünfhundert Metern. Ungefähr eine Viertelstunde später, um zehn vor vier, kam ich denselben Weg zurück. Als ich mich der Brücke näherte, bemerkte ich etwas auf den Schienen. Vor zwanzig Minuten war es eindeutig noch nicht dagewesen. Als ich näher kam, sah ich, daß es der Körper einer jungen Frau war, die auf dem Bauch lag. Ihr Kopf ragte über die Schiene. Ich wollte schon loslaufen, um Hilfe zu holen, als ich hörte, wie sich der Güterzug von Farnham näherte. Also faßte ich den Körper an den Fußknöcheln und zog ihn vom Gleiskörper. Ich tat das deswegen, weil ich dachte, sie könnte vielleicht noch am Leben sein. Aber als ich ihren Puls fühlte, merkte ich, daß sie tot war ...‹ Carlsen schaute auf. »Wie wurde sie getötet?« »Erwürgt.« »Ah, ja.« Er wartete. Fallada sagte: »Ihr Lambdawert betrug nur Null Komma null null vier.« »Ja, aber ... das will doch nicht viel besagen, oder? Ich dachte, daß jeder, der eines gewaltsamen Todes stirbt ...« »Sicher. Es könnte Zufall sein.« Er sah auf die Uhr. »In knapp einer Stunde dürften wir Gewißheit haben.« »Wie?« »Mit Hilfe eines Tests, den wir entwickelt haben.«
»Handelt es sich um ein Geheimnis?« »Es ist ein Geheimnis. Allerdings nicht für Sie.« »Oh, vielen Dank.« »Eigentlich habe ich Sie deswegen sogar hergebeten. Ich meine, daß Sie über diese Sache Bescheid wissen sollten.« Er zog eine Schreibtischschublade auf und nahm eine kleine Blechdose heraus. Er machte den Deckel ab und stellte sie auf den Tisch. »Raten Sie, was das ist.« Carlsen beugte sich vor und betrachtete die winzigen, stecknadelkopfgroßen roten Kügelchen. »Elektronische Abhörgeräte?« Fallada lachte. »Eins zu null für Sie. Aber solche haben Sie bestimmt noch nicht gesehen.« Er schloß die Dose und steckte sie in die Tasche. »Wollen Sie mitkommen?« Er führte ihn in einen Nebenraum und machte Licht. Sie befanden sich in einem kleinen Laboratorium. Auf den Tischen standen reihenweise Käfige und gläserne Fischtanks. In den Käfigen waren Kaninchen, Hamster und Albinoratten. In den Tanks sah Carlsen Goldfische, Aale und Tintenfische. »Von dem, was ich Ihnen jetzt sage«, meinte Fallada, »hat niemand außerhalb dieses Instituts Kenntnis. Ich weiß, daß ich mich auf Ihres Diskretion verlassen kann.« Er blieb vor einem Käfig mit zwei zahmen Kaninchen stehen. »Eins davon ist ein Rammler, das
andere ein Weibchen. Das Weibchen ist jetzt ›heiß‹.« Er legte einen Schalter um. Ein Fernsehschirm oberhalb des Käfigs leuchtete grün auf. Als er einen anderen Schalter betätigte, begann eine schwarze Wellenlinie über den Schirm zu laufen. Es hätte die grafische Darstellung eines auf und ab hüpfenden Gummiballs sein können. »Das ist die Lambdawertanzeige des Rammlers.« Er drückte einen weiteren Schalter. Eine zweite, weiße Linie erschien, die höhere Werte als die erste erreichte. »Das ist die des Weibchens.« »Ich verstehe nicht ganz. Was wird hier gemessen?« »Das Lebensfeld der Kaninchen. Diese kleinen, roten Kügelchen sind winzige Lambdameter. Sie messen nicht nur die Stärke des Lebensfeldes der Tiere, sondern senden auch ein Funksignal aus, das empfangen und über einen Verstärker zu diesem Bildschirm geleitet wird. Was fällt Ihnen an den beiden Linien auf?« Carlsen starrte die Wellenlinien an. »Sie scheinen mehr oder weniger parallel zu verlaufen ...« »Genau. Man kann einen interessanten Kontrapunkt feststellen – hier und hier.« Er zeigte darauf. »Sie kennen doch die Redensart ›Zwei Herzen, die im Einklang miteinander schlagen‹. Hier ist der Beweis, daß sie mehr ist als nur eine sentimentale, literarische Phrase.«
»Lassen Sie mich klarstellen, ob ich Sie richtig verstehe«, sagte Carlsen. »Sie haben den Kaninchen diese winzigen Abhörgeräte eingepflanzt, und wir sehen jetzt ihre Herzschläge?« »Nein, nicht ihre Herzschläge, sondern den Puls der Lebenskraft in ihnen. Man könnte sagen, daß die Tiere völlig harmonisch aufeinander abgestimmt sind. Beide können die Stimmung des anderen spüren.« »Telepathie?« »Ja, es ist eine Art Telepathie. Beobachten Sie jetzt dieses Weibchen.« Er ging zum nächsten Käfig, in dem ein einzelnes Kaninchen lustlos an einem Kohlblatt knabberte. Fallada schaltete den Monitor über dem Käfig ein. Die weiße Linie erschien, aber diese hatte weniger Spitzen und floß träge dahin. »Das Weibchen ist allein und langweilt sich vermutlich. Folglich ist sein Lambdawert weit niedriger.« »Mit anderen Worten, ihr Lambdawert steigt, wenn ihre sexuelle Erregung wächst?« »Genau. Und Sie wollten wissen, ob die Meßgeräte den Herzschlag anzeigen, sich also nahe bei den Herzen befinden. Das ist nicht der Fall. Sie befinden sich dicht bei den Geschlechtsorganen.« »Interessant.« Fallada lächelte. »Interessanter, als Sie glauben.« Er
stellte den Monitor ab. »Die Lebensfelder der Kaninchen intensivieren sich im Zustand sexueller Erregung nicht nur, sondern es findet, wie Sie sehen können, eine Interaktion statt. Und noch ein Punkt ist bemerkenswert. Wie Sie sehen, ist das Feld des Rammlers im Moment schwächer als das des Weibchens. Das liegt daran, daß das Weibchen läufig ist. Wenn aber der Rammler das Weibchen begattet, wird sein Lebensfeld zu dem stärkeren, und der Verlauf der Wellenlinie des Weibchens folgt der des Rammlers anstatt umgekehrt.« Fallada legte ihm die Hand auf den Arm. »Und nun zeige ich Ihnen etwas anderes.« Er ging zu einem Tisch am Ende des Raums, auf dem sich ausschließlich Glastanks befanden. Er pochte gegen die Wand eines dieser Tanks. Von den Felsbrokken am Boden des Tanks schnellte ein kleiner Krake mit einer Gesamtlänge von etwa achtzehn Zoll empor. Einem Rauchwirbel gleich, glitt er mit graziösen Bewegungen an die Oberfläche. Fallada zeigte auf ihn. »Wenn Sie genau hinschauen, können Sie sehen, wo wir das Meßgerät angebracht haben.« Er schaltete den Monitor über dem Tank ein. Die Linie, die erschien, hatte eine langsame, abgeflachte Bewegung. Die spitzen Ausschläge, die für die Wellenlinien der Kaninchen charakteristisch gewesen waren, fehlten hier. Fallada ging zum nächsten Tank. »Das ist eine Mu-
räne, eines der widerwärtigsten Geschöpfe des Meeres. Der Mittelmeerkrake ist für sie eine seltene Delikatesse.« Carlsen spähte in den Tank und blickte in eine Teufelsfratze, die aus einer Felsspalte herausschaute. Das Maul war offen und ließ Reihen nadelspitzer Zähne erkennen. »Diese hier ist hungrig – sie hat seit mehreren Tagen kein Futter bekommen.« Fallada schaltete den Monitor ein. Auch das Oszillogramm der Muräne floß träge dahin, allerdings mit plötzlichen Ausschlägen, die auf vorhandene Kraftreserven hindeuteten. Fallada sagte: »Ich werde die Muräne zu dem Kraken in den Tank geben.« Carlsen schnitt eine Grimasse. »Ist das unbedingt nötig? Könnten Sie mir nicht einfach sagen, was geschehen würde?« Fallada gluckste. »Das könnte ich, aber es würde Ihnen wenig nützen.« Er schob einen Riegel an dem Metalldeckel des Tanks mit dem Kraken zurück. »Kraken lieben die Freiheit, und sie sind wahre Meister in der Kunst des Entfliehens. Deshalb muß man sie in verschlossenen Tanks halten.« Er holte eine Kneifzange aus Kunststoff unter dem Tisch hervor. Sie ähnelte einer Kohlenzange, nur war sie länger. Er tauchte sie vorsichtig in den Tank der Muräne, ließ sie langsam bis zum Grund sinken und machte dann eine blitzschnelle Bewegung. Das Wasser schäumte,
als die Muräne wild um sich schlug und nach den unsichtbaren Kiefern, die sie festhielten, zu schnappen versuchte. »Ein Glück, daß das nicht meine Hand ist«, meinte Carlsen. Mit einer raschen Bewegung hob Fallada die Muräne aus dem Wasser und ließ sie in den Tank des Kraken fallen. Wie ein Pfeil schwamm sie durch das grüne Wasser. Fallada deutete auf den Monitor. »Beobachten Sie jetzt.« Beide Oszillogramme waren zu sehen. Das des Kraken floß noch träge dahin, war aber bereits von Angst gekennzeichnet. Das der Muräne zeigte jetzt heftige Schwankungen, die von Zorn herrührten. Als Carlsen in den Tank spähte, sagte Fallada: »Achten Sie auf die Oszillogramme.« Während der nächsten fünf Minuten schien sich nichts zu verändern. Die Muräne hatte durch ihre Bewegungen Pflanzenteilchen aufgewirbelt und war, dadurch in ihrer Sicht behindert, zunächst ziellos umhergeschwommen. Der Krake war verschwunden; Carlsen hatte ihn zwischen die Felsbrocken gleiten sehen. Die Muräne war sich seiner Anwesenheit offenbar nicht bewußt, denn sie schwamm in die entgegengesetzte Ecke des Tanks. »Sehen Sie, was geschieht?« Carlsen starrte die Oszillogramme an. Er bemerkte jetzt eine gewisse Ähnlichkeit in ihren Strukturen. Es
hätte sich schwer in Worte fassen lassen, aber da war eine Art Kontrapunkt, so als stellten die Oszillogramme Taktstriche einer Musik dar. Das Oszillogramm des Kraken floß nun nicht mehr träge dahin, sondern bewegte sich in ruckartigen Sprüngen. Die Muräne schnellte plötzlich vor und tauchte in einen Spalt zwischen den Felsbrocken hinab. Das Wasser im Tank wurde von einer Wolke schwarzer Tinte getrübt. Die Muräne kam wieder zum Vorschein und schwamm auf die Glaswand zu. Für einen Augenblick starrten die kalten Augen Carlsen ins Gesicht. Sie hatte ein Stück Fleisch des Kraken im Maul. Er betrachtete wieder die Oszillogramme. Das der Muräne war in die Höhe geschnellt. Der Wellenbewegung einer stürmischen See gleich, lief es mit einer Serie spitzer Ausschläge über die Mattscheibe. Das Oszillogramm des Kraken hatte sich nun jedoch völlig verändert. Es war wieder zu einer flachen Wellenlinie geworden. »Ist er am Sterben?« fragte Carlsen. »Nein. Er hat nur ein Tentakelende verloren.« »Was ist dann geschehen?« »Ich bin mir nicht sicher. Aber ich glaube, er hat erkannt, daß sein Tod unvermeidlich ist, und sich damit abgefunden. Er spürt, daß ihn nichts retten kann. Dieses Oszillogramm ist charakteristisch für Freude.«
»Sie meinen, es macht ihm Spaß, gefressen zu werden?« »Ich weiß es nicht. Ich vermute, daß die Muräne eine hypnotische Kraft auf ihn ausübt. Ihr Wille damoniert den Willen des Kraken und befiehlt ihm, seinen Widerstand aufzugeben. Natürlich kann ich mich auch irren. Mein leitender Assistent glaubt, daß es sich nur um ein Beispiel dessen handelt, was er ›die Todestrance‹ nennt. Ich habe mich einmal mit einem Angehörigen eines Eingeborenenstammes unterhalten, der von einem menschenfressenden Tiger angefallen worden war. Seiner Aussage nach befand er sich in einem seltsam gelassenen Gemütszustand, als er dalag und darauf wartete, gefressen zu werden. Dann wurde der Tiger von jemand erschossen, und da erst merkte er, daß ihm fast der ganze Arm abgerissen worden war.« Die Muräne war wieder zum Angriff übergegangen. Diesmal versuchte sie, den Kraken aus seinem Versteck zwischen den Felsbrocken hervorzuzerren, aber der Krake hielt sich mit sämtlichen Tentakeln fest. Die Muräne machte eine halbe Drehung und griff an. Dieses Mal schnappte sie nach dem Kopf. Wieder trübte sich das Wasser mit Tinte. Das Oszillogramm des Kraken auf dem Monitor machte einen plötzlichen Sprung nach oben, flatterte und erlosch dann. Das der Muräne zeigte einen Aufschwung des Triumphes.
»Daran erkennt man, daß die Muräne sehr hungrig ist«, erklärte Fallada. »Sonst hätte sie den Kraken Stück für Stück, tentakelweise, gefressen und ihn vielleicht noch tagelang am Leben gelassen.« Er wandte sich ab. »Aber das Interessanteste haben Sie noch nicht gesehen.« »Mein Gott, sagen Sie nur, Sie haben noch mehr auf Lager!« Fallada zeigte auf einen grauen Kasten zwischen den Tanks. »Das ist ein gewöhnlicher Computer. Er hat die Schwankungen der Lebensfelder beider Tiere aufgezeichnet. Sehen wir uns doch einmal das der Muräne an –« In rascher Folge betätigte er mehrere Knöpfe, und kurz darauf kam aus einem Schlitz im Computer ein Papierstreifen zum Vorschein. »Wie Sie sehen, liegt der Durchschnittswert bei 4,8573«, sagte Fallada und überreichte Carlsen den Streifen. »Jetzt der Krake.« Er zog den Papierstreifen heraus. »Dieser beträgt nur 2,956. Der Krake hat kaum mehr als die Hälfte der Vitalität der Muräne.« Er reichte Carlsen einen Kugelschreiber. »Würden Sie die Zahlen addieren?« Einen Augenblick später las Carlsen vor: »Es macht 7,8133.« »Gut. Prüfen wir jetzt den Wert der Muräne während der letzten Minuten.« Er drückte weitere Knöpfe und reichte Carlsen den zum Vorschein kommenden
Streifen, ohne ihn auch nur anzuschauen. Carlsen las die Zahl laut vor: »Sieben Komma acht eins drei. Das ist verblüffend. Sie meinen, die Muräne hat das Lebensfeld des Kraken absorbiert – Nein –« Seine Kopfhaut prickelte, als er begriff. Er starrte Fallada staunend an, der glücklich lächelnd dastand. »Exakt«, sagte Fallada. »Die Muräne ist ein Vampir.« Carlsen war so aufgeregt, daß er kaum zusammenhängend sprechen konnte. »Das ist unglaublich. Aber wie lange hält es an? Ich meine, wie lange bleibt das Feld so hoch? Und woher wollen Sie wissen, daß dieses Ergebnis tatsächlich durch die Absorption des Lebensfeldes des Kraken zustande kommt? Schließlich könnte das Hochschnellen der Vitalität der Muräne auch aus dem Triumphgefühl, Nahrung erhalten zu haben, resultieren –« »Das dachte ich zuerst auch. Bis ich die Zahlen sah. Es geschieht bei jedem Mal. Für eine kurze Zeitspanne steigt das Lebensfeld des Angreifers um exakt jenen Betrag, den er vom Opfer genommen hat.« Er sah in sein Glas, bemerkte, daß es nur noch schmelzende Eiswürfel enthielt, und sagte: »Ich glaube, wir können beide einen Drink vertragen.« Sie gingen zurück ins Büro. »Und gilt es für alle Lebewesen? Oder nur für Raubtiere wie die Muräne? Sind wir vielleicht alle Vampire?«
Fallada lachte. »Es würde Stunden dauern, Sie über alle Ergebnisse meiner Forschungen zu unterrichten. Schauen Sie.« Er schloß einen Metallschrank auf und nahm ein Buch heraus. Carlsen sah, daß es ein eingebundenes, maschinengeschriebenes Manuskript war. Anatomie und Pathologie des Vampirismus, von Hans V. Fallada, FRS. »Sie sehen das Resultat von fünf Jahren Forschungsarbeit vor sich. Noch Whisky?« Carlsen nahm dankbar an. Er ließ sich in den Sessel fallen und schlug das Manuskript auf. »Das ist reif für den Nobelpreis.« Fallada zuckte die Achseln. »Sicher. Das war mir bereits klar, als ich vor sechs Jahren auf das Vampirismus-Phänomen stieß. In der Tat, mein lieber Carlsen, es besteht keine Veranlassung, den Bescheidenen zu spielen. Dies ist eine der bedeutendsten Entdekkungen in der Geschichte der biologischen Wissenschaften. Sie stellt mich auf eine Stufe mit Newton und Darwin. Auf Ihre Gesundheit.« Carlsen hob sein Glas. »Auf Ihre Entdeckung.« »Danke. Sie verstehen jetzt sicherlich, warum mich Ihre Entdeckung – diese Weltraumvampire – so fasziniert? Meiner Theorie zufolge muß es Lebewesen geben, die den Lebenssaft – oder besser gesagt, die Lebenskräfte – ihrer Artgenossen vollständig aufsaugen können. Ich bin davon überzeugt, daß darin die Bedeutung der alten Vampirlegenden – Dracula und so
fort – zu suchen ist. Und Sie müssen selbst schon oft bemerkt haben, daß gewisse Menschen an Ihrer Lebenskraft zu zehren scheinen – für gewöhnlich trübsinnige Menschen, Menschen voller Selbstmitleid. Auch sie sind Vampire.« »Aber trifft es auf alle Lebewesen zu? Sind wir alle Vampire?« »Ah, damit kommen wir zu der faszinierendsten Frage überhaupt. Sie haben doch die Kaninchen beobachtet – wie ihre Lebensfelder in Einklang miteinander pulsierten? Ursache dafür ist eine sexuelle Verbindung. Wenn es zu einer solchen Verbindung kommt, kann ein Lebensfeld das andere verstärken. Und dennoch beweisen meine Forschungen zweifelsfrei, daß die sexuelle Beziehung ein starkes Element des Vampirismus enthält. Dieser Verdacht kam mir das erste Mal, als ich mich mit dem Fall Joshua Pike, dem Sadisten von Bradford, befaßte. Sie entsinnen sich vielleicht – einige Zeitungen nannten ihn doch tatsächlich einen Vampir! Nun, es entsprach den Tatsachen. Er trank das Blut und aß Teile des Fleisches seiner Opfer. Ich befragte ihn im Gefängnis, und er erzählte mir, daß ihn solche kannibalischen Festmahle in einen mehrere Stunden andauernden Zustand der Ekstase versetzt hatten. Während er mir dies erzählte, maß ich seine Lambdawerte – sie stiegen um über fünfzig Prozent.« »Und auch Kannibalen –« Carlsen war so erregt,
daß er versehentlich Whisky auf das Manuskript auf seinem Schoß schüttete. Er wischte mit dem Ärmel darüber. »Kannibalenstämme haben stets beteuert, daß das Fressen eines Feindes sie in die Lage versetze, in den Genuß seiner Fähigkeiten zu kommen – seines Mutes und –« »Genau. Das ist allerdings ein Beispiel für einen Vorgang, den ich als negativen Vampirismus bezeichne. Er zielt auf die totale Vernichtung des Opfers ab. Aber beim Liebesleben gibt es auch positiven Vampirismus. Wenn ein Mann eine Frau begehrt, greift er mit übersinnlichen Kräften nach ihr und versucht, sie sich gefügig zu machen. Und Sie wissen so gut wie ich, daß Frauen dieselbe Macht über Männer ausüben können!« Er lachte. »Eine meiner Laborassistentinnen ist ein ideales Beispiel dafür. Sie ist ein buchstäblicher Menschenfresser. Sie kann nichts dafür. Im Grunde ist sie ein reizendes, stets hilfsbereites Mädchen. Aber eine bestimmte Sorte Männer findet sie einfach unwiderstehlich. Sie fliegen auf sie wie Fliegen auf einen Fliegenfänger.« Er deutete auf das Manuskript. »Ihre Lambdawerte sind darin festgehalten. Sie beweisen, daß sie ein Vampir ist. Aber diese Form sexuellen Vampirismus muß nicht unbedingt destruktiv sein. Sie erinnern sich vielleicht an all die alten Witze über die vollkommene Ehe zwischen Sadisten und Masochisten? Sie treffen im wesentlichen zu.«
Der Teleschirm summte. Der Assistent, den sie vorhin gesehen hatten, war am Apparat. »Die Leiche ist eingetroffen, Sir. Wollen Sie, daß ich schon mit den Tests anfange?« »Nein, nein. Ich komme gleich selbst rüber.« Er wandte sich an Carlsen. »Jetzt kann ich Ihnen meine Arbeitsmethoden am Objekt vorführen.« Im Korridor kamen ihnen zwei Sanitäter mit einer fahrbaren Bahre entgegen. Sie traten beiseite, um die Männer vorbei zu lassen. Beide grüßten Fallada. Im Labor C untersuchte der Assistent, Grey, gerade das Gesicht eines toten Mädchens mit einem Vergrößerungsglas. Ein älterer, kahlköpfiger Mann saß auf einem Stuhl und stützte sich mit den Ellenbogen auf den Tisch hinter sich. Als Fallada eintrat, erhob er sich. »Das ist Detective-Sergeant Dixon vom Kriminallabor«, sagte Fallada. »Commander Carlsen. Was tun Sie hier, Sergeant?« »Ich überbringe Ihnen eine Nachricht vom Commissioner, Sir. Er meint, Sie könnten sich die Mühe sparen. Wir sind uns ziemlich sicher, wer für die Tat verantwortlich ist.« Er deutete auf die Leiche. »Wie haben Sie es herausgefunden?« »Es gelang uns, die Fingerabdrücke an der Kehle des Opfers zu verwerten.« Carlsen betrachtete die junge Frau. Das Gesicht
hatte zahlreiche blaue Flecken und war geschwollen. Die Kehle wies Würgemale auf. Das Laken war halb zurückgeschlagen worden, und man sah, daß sie noch bekleidet war. Sie hatte einen blauen Nylonkittel an. »War der Täter ein uns bekannter Krimineller?« fragte Fallada. »Nein, Sir. Es war dieser Clapperton, Sir.« »Sie meinen Don Clapperton?« fragte Carlsen. »Richtig, Sir.« Fallada sagte zu Carlsen: »Er verschwand Dienstag abend in der Londoner Innenstadt.« Er wandte sich an Dixon. »Hat man ihn inzwischen gefunden?« »Noch nicht, Sir. Aber es dürfte nicht mehr lange dauern.« Der Laborassistent fragte: »Wollen Sie die Untersuchung trotzdem vornehmen, Sir?« »Ich denke schon. Um der lieben Routine willen.« Er fragte Dixon: »Wann wurde Clapperton zuletzt gesehen?« »Er ging um sieben aus dem Haus und begab sich auf den Weg zu einem Kinderfest in Wembley. Er sollte die Preise austeilen. Er kam jedoch nie dort an. Zwei Teenager sagten aus, sie hätten ihn gegen halb acht in Begleitung einer Frau im Hyde Park gesehen.« »Und acht Stunden später, in Putney, hat er dieses Mädchen umgebracht?« fragte Fallada.
»So scheint es, Sir. Vielleicht hat er einen Tobsuchtsanfall bekommen und ist durchgedreht. Möglicherweise hat er das Gedächtnis verloren und ist stundenlang in geistiger Umnachtung umhergeirrt –« Fallada fragte Carlsen: »Zu welcher Uhrzeit flüchtete Ihr Weltraumvampir aus dem Raumforschungsgebäude?« »Gegen sieben, glaube ich. Sie meinen –« Fallada hob abwehrend die Hand. »Ich sage Ihnen, was ich meine, wenn wir die Leiche untersucht haben.« Er wandte sich an Grey. »Ich möchte Commander Carlsen vorführen, wie wir einen Körper auf negative Lebensenergie hin untersuchen. Könnten Sie die notwendigen Apparate aufstellen? Wir nehmen zuerst den Mann dort.« »Ich gehe jetzt, Sir«, sagte Dixon. »Der Commissioner läßt ausrichten, er wäre bis sieben Uhr in seinem Büro zu erreichen.« »Danke, Sergeant. Ich werde ihm das Ergebnis mitteilen.« Der Körper des Toten lag noch immer auf der fahrbaren Bahre neben der Tür. Man hatte ihn jetzt mit einem Laken zugedeckt. Carlsen faßte mit an, als sie die Bahre zum anderen Ende des Labors schoben. »Diese Tür dort«, sagte Grey. Es war ein kleiner Raum, in dem sich nur ein Tisch befand. Von oben hing ein Gerät herab, das Carlsen
an einen Röntgenapparat erinnerte. Carlsen half dem Assistent, den Körper auf den Tisch zu legen. Grey schlug das Laken zurück und legte es auf die Bahre. Die Haut des Mannes war gelb und gummiartig. Der Abdruck der Seilschlinge zeichnete sich deutlich auf seinem Hals ab. Ein Auge stand einen Spalt offen; Grey schloß es mit einer gleichgültigen Bewegung. An der Wand hinter dem Tisch war ein großes LFeldmeter angebracht worden, dessen Skala in millionenstel Ampère unterteilt war. Daneben befand sich ein Fernsehmonitor. Grey befestigte die Elektroden am Kinn sowie an dem schwabbeligen Fleisch des Oberschenkels. Die Meßnadel schlug aus. »Null Komma null vier«, sagte Grey. »Und der Mann ist schon seit achtundvierzig Stunden tot.« Fallada kam herein. Er betrachtete den Meßwert und sagte dann zu Carlsen: »Auch dieser Mann starb eines gewaltsamen Todes.« »Ja, aber von eigener Hand. Das ist etwas anderes, als erschlagen oder erdrosselt zu werden.« »Vielleicht. Mit diesem Bentz-Apparat werden wir nun ein künstliches Lebensfeld induzieren. Beobachten Sie.« Er drückte einen Schalter. Von dem Apparat über dem Leichnam ging nun ein schwacher, blauer Lichtschein aus. Gleichzeitig ertönte ein immer schriller werdendes Geräusch, das rasch die Hörbarkeitsgrenze überschritt. Nach ungefähr einer Minute be-
gann die Nadel des Lambdameters kontinuierlich zu steigen. Sieben Minuten später hatte sie die Marke Zehn Komma drei erreicht, ein Wert, der geringfügig unter dem eines lebenden Menschen lag. An diesem Punkt verhielt zitternd die Nadel. »Ich denke, damit dürfte der Maximalwert erreicht sein«, sagte Fallada. Er stellte den Schalter auf ›Aus‹, und der Lichtschein erlosch allmählich. Fallada deutete auf das Meßinstrument. »Es müßte jetzt zwölf Stunden dauern, bevor sich das Lebensfeld wieder abbaut. Und das trotz des Verwesungsprozesses, der in den Eingeweiden bereits eingesetzt haben muß.« Grey entfernte die elektrischen Anschlüsse. Fallada half ihm, den Körper wieder auf die Bahre zu legen. Grey schob sie hinaus. Kurz darauf kehrte er mit dem Körper der jungen Frau zurück. Er schlug das Laken zurück, und sie hoben sie auf den Tisch. Unter dem Nylonkittel trug sie einen Tweedrock. Eine Strumpfhose hing lose an einem ihrer Füße. »Wer war sie?« fragte Carlsen. »Kellnerin in einem Café. Sie wohnte nur ein paar hundert Meter von ihrem Arbeitsplatz entfernt.« Ohne Umschweife zog Grey den Rock hoch. Darunter war die Frau nackt. Carlsen bemerkte die Blutergüssen und Schrammen an ihren Oberschenkeln. Grey befestigte eine Elektrode an der Innenseite eines
Oberschenkels, die andere an der Unterlippe. Fallada beugte sich vor. Carlsen fiel plötzlich auf, daß er gespannt war. Die Meßnadel stieg langsam und blieb bei Null Komma null null zwei stehen. »Das Lebensfeld ist in sieben Stunden um zweitausend Milliampère gefallen«, erläuterte Grey. Fallada betätigte den Schalter, und das blaue Licht erschien. Als das Sirren verstummte, herrschte absolute Stille. Langsam wie der Minutenzeiger einer Uhr kletterte die Nadel auf Acht Komma drei. Eine Minute später, als klargeworden war, daß sie nicht weiter steigen würde, sagte Fallada: »Jetzt«, und schaltete die Apparatur aus. Beinah sofort begann die Nadel des Lambdameters zu fallen. Fallada und Grey blickten sich an. Carlsen stellte fest, daß Grey schwitzte. Fallada drehte sich zu Carlsen um. Er fragte mit ruhiger Stimme: »Verstehen Sie?« »Nicht ganz –« »Es wird nur zehn Minuten dauern, bis sich ihr künstliches Lebensfeld abgebaut hat. Sie kann kein Lebensfeld halten.« Grey beobachtete die Meßnadel. »Ich habe schon einiges an zersprengten Lebensfeldern gesehen«, meinte er. »Aber keines war so schlimm wie dieses.« »Aber was bedeutet das?« fragte Carlsen. Fallada räusperte sich und erklärte: »Es bedeutet, daß derjenige, der sie getötet hat, ihr das Leben mit
solcher Gewalt ausgesaugt hat, daß ihre Fähigkeit, ein Lebensfeld zu halten, dabei zerstört wurde. Man könnte sie mit einem tausendfach durchlöcherten Reifen vergleichen, der keine Luft mehr halten kann.« Carlsen mußte sich überwinden, um die nächste Frage zu stellen. »Sind Sie sicher, daß es nicht auf andere Weise geschehen sein könnte?« »Ich wüßte von keiner«, antwortete Fallada düster. Eine Pause trat ein. »Was geschieht jetzt?« fragte Grey. »Ich denke, jetzt beginnt die Jagd von neuem«, sagte Fallada. Er legte Carlsen die Hand auf den Ellenbogen. »Gehen wir zurück in mein Büro.« »Was soll ich jetzt machen?« erkundigte sich Grey. »Fahren Sie mit den Tests fort. Ich würde gern wissen, ob der Tod wirklich durch Erwürgen eingetreten ist.« Als sie wieder im Büro waren, nahm Carlsen sein halb leergetrunkenes Whiskyglas in die Hand. Fallada ließ sich in den Sessel hinter dem Schreibtisch fallen. Er drückte einen Schalter auf dem Teleschirm. Eine Mädchenstimme meldete sich. »Sie wünschen, Sir?« »Verbinden Sie mich mit Sir Percy Heseltine von Scotland Yard.« Er wandte sich an Carlsen.
»Genau das habe ich erwartet. Ich muß gestehen, daß es mich mit einer gewissen Befriedigung erfüllt, zu wissen, daß ich recht hatte.« »Aber sind Sie sicher, daß Sie recht haben? Ich sah, was mit dem jungen Adams geschah. Sie saugte alles Leben aus ihm heraus, und er verwandelte sich in einen alten Mann. Haben Sie die Leiche gesehen?« Fallada nickte. »Nun, dieses Mädchen sieht nicht so aus, als wäre es einer solchen Behandlung unterzogen worden. Für mich sieht es wie das Opfer eines gewöhnlichen Sexualverbrechens aus. Es könnte doch bestimmt eine andere Erklärung für das zersprengte Lebensfeld geben?« Fallada schüttelte den Kopf. »Nein. Sie verstehen nicht. Zunächst einmal geht es nicht um ein zersprengtes Lebensfeld. Zersprengt wurde, was immer das Lebensfeld festhält. Niemand weiß genau, worum es sich dabei handelt – ich kenne sogar Biologen, die glauben, daß der Mensch zusätzlich zu seinem materiellen Körper einen zweiten, nichtmateriellen Körper besitzt, und daß das Lebensfeld eine Funktion der Atome dieses Körpers ist – wie Magnetismus eine Funktion der Atome eines Magneten ist. Stellen Sie sich das Fruchtfleisch einer Orange vor. Der Saft ist in winzigen Zellen gespeichert –« Der Teleschirm summte. »Hallo?« fragte Fallada. Die Sekretärin antwortete: »Der Commissioner ist
zur Zeit bedauerlicherweise nicht erreichbar. Er hält sich in Wandsworth auf. Er dürfte in ungefähr einer halben Stunde zurück sein.« »Gut. Sagen Sie seiner Sekretärin, daß ich in einer halben Stunde zu ihm herüber komme. Sagen Sie, es sei dringend.« Er legte auf. »Wo war ich stehengeblieben?« »Bei der Orange.« »Ah, richtig. Ich wollte sagen, wenn man eine Orange austrocknen ließe und sie dann für einen Tag in Wasser legte, damit sie sich wieder vollsaugt, dann würde sie doch ihre frühere Gestalt wiedererlangen, nicht wahr? Aber wenn man sie in einen Schraubstock spannen und den Saft auf diese Weise herauspressen würde, könnte nichts ihre ursprüngliche Gestalt wiederherstellen. Alle Zellen wären zerstört. Mit einem Lebewesen ist es dasselbe. Wenn es auf normale Weise stirbt, braucht das Lebensfeld mehrere Tage, um sich vollständig abzubauen. Selbst wenn die Todesursache eine Gewalttat ist, hält sich das Feld dennoch ziemlich lange, denn die meisten Körperzellen bleiben intakt. Der Körper ist dann mit einer Orange vergleichbar, die einen großen, braunen Fleck bekommen hat, aber dennoch nicht sofort, sondern erst in einigen Tagen austrocknet. Nun wurde aber die Zellstruktur dieses Mädchens auf eine Weise zerstört wie die fiktive Orange im Schraubstock. Und ich
kann mir keine normalen Umstände vorstellen, unter denen so etwas geschehen könnte. Sie hätte schon verbrannt werden oder vom Dach dieses Gebäudes stürzen müssen.« Er unterbrach sich und leerte sein Glas. »Oder von einem Eisenbahnzug zersäbelt werden müssen.« »Ein Zug hätte diese Zerstörung der Zellstruktur also vollbringen können?« »Nein, es war nur ein Scherz. Aber er hätte nachhaltig dafür gesorgt, eine Lambdawertmessung unmöglich zu machen.« Er ging zum Getränkeschrank hinüber. »Möchten Sie noch einen Drink? Es ist zwar noch früh am Tag, aber ich glaube, ich kann einen brauchen.« Carlsen leerte sein Glas und hielt es ihm hin. Für kurze Zeit sprach keiner von ihnen. Carlsen stellte fest, daß er trotz der zwei Whiskys nicht im geringsten angeheitert, sondern noch völlig nüchtern war. »Sagen Sie mir eins«, begann Fallada wieder. »Waren Sie wirklich der festen Überzeugung, daß sie tot war?« Carlsen schüttelte den Kopf. »Nein, das war ich nicht. Und wenn Sie die Wahrheit wissen wollen, ich wollte es nicht glauben.« Er fühlte, daß er rot wurde. Wieder hatte es ihn eine Überwindung gekostet, die Worte auszusprechen. Wenn Fallada überrascht war, so zeigte er es jedenfalls nicht. »War sie so attraktiv?«
Der Wunsch, nicht weiterzusprechen, war so stark, daß er fast eine Minute schwieg. Schließlich sagte er: »Es ist schwer zu erklären.« »Würden Sie beispielsweise sagen, daß sie eine hypnotische Anziehungskraft hatte?« Carlsen war wegen seiner Verlegenheit wütend auf sich selbst. Er sagte stockend: »Wissen Sie, es ist – schwierig – ich meine, es ist eigenartig, wie schwer es mir fällt, darüber zu reden.« Fallada sagte rasch: »Aber es ist wichtig, daß Sie darüber sprechen. Das möchte ich Ihnen nur klarmachen.« »Also gut.« Carlsen schluckte. »Haben Sie während Ihrer Schulzeit vielleicht einmal das Gedicht ›Der Rattenfänger von Hameln‹ gelesen?« »Nein, aber ich kenne die Sage. Meine Mutter ist in Hameln geboren.« »Nun, in dem Gedicht heißt es, daß der Rattenfänger die Kinder verleitet, ihm in eine Berghöhle zu folgen. Und alle gehen bereitwillig mit ihm. Nur ein Kind bleibt zurück, weil es lahmt. Und es beschreibt, was die Musik zu verheißen schien – etwas – ich erinnere mich nicht an die genauen Worte, aber es war etwas mit einem wunderbaren Land, wo alles neu und fremd ist. Ein paradiesischer Ort, wo die Torte auf den Bäumen wächst und in den Flüssen Eiskremlimonade fließt.« Er kippte den Drink hinunter und
fühlte, wie ihm Wangen und Ohren von der trockenen Hitze brannten. »So ein Gefühl war es.« »Und können Sie beschreiben, was sie zu verheißen schien?« »Nun – nichts. Nichts im Sinne von Verheißung. Es war eher eine Vision – das Wunschbild der vollkommenen Frau, wenn Sie so wollen.« »Das ewig Weibliche?« Carlsen blickte ihn verständnislos an, so daß Fallada erklärend hinzufügte: »Goethes Prinzip des ewig Weiblichen. Er schließt seinen Faust mit: ›Das EwigWeibliche zieht uns hinan‹.« Carlsen nickte. Er fühlte sich plötzlich seltsam erleichtert. »Ja, das stimmt. Genauso war es. Ich glaube, Goethe muß einer solchen Frau begegnet sein. Es ist eine Traumgestalt aus der Kindheit. Man betrachtet die Freundinnen seiner Schwester und meint, sie seien Göttinnen. Dann wird man älter und realistischer und begreift, daß Frauen keineswegs so sind.« »Aber der Traum bleibt«, ergänzte Fallada leise. »Genau. Und das ist auch der Grund, warum ich es nicht glauben konnte. Träume sterben nicht einfach so.« »Eins müssen Sie sich klarmachen.« Er wartete, bis Carlsen von seinem Glas aufschaute. »Diese Kreatur war keine Frau.« Als Carlsen eine protestierende Ge-
ste machte, fuhr er rasch fort: »Ich will damit sagen, daß diese Wesen alles andere als Menschen sind.« »Aber sie sind humanoid«, beharrte Carlsen. »Nein, nicht einmal das«, entgegnete Fallada scharf. »Sie übersehen, daß der menschliche Körper das Produkt eines langen Entwicklungsprozesses ist. Vor einer Viertelmilliarde Jahren waren wir noch Fische. Dann entwickelten wir Arme, Beine und Lungen, um uns an Land fortbewegen zu können. Die Chancen, daß Lebewesen in einer anderen Galaxis genau derselben Entwicklungslinie gefolgt sein könnten, stehen eins zu einer Milliarde.« »Außer die Lebensbedingungen auf ihrem Planeten glichen denen der Erde.« »Das ist möglich, aber unwahrscheinlich. Wir haben inzwischen einen pathologischen Befund über die Körper der drei Fremden erhalten. Ihre Verdauungssystem ist mit dem von Menschen identisch.« »Und?« Fallada beugte sich vor. »Sie leben von der Lebenskraft anderer Lebewesen. Sie brauchen keine Nahrungsmittel.« Carlsen schüttelte den Kopf. »Ich vermute es nur. Aber ich weiß es nicht. Wir wissen es einfach nicht, oder? Im Grunde haben wir nichts in den Händen – nicht eine einzige unumstößliche Tatsache.« Geduldig, wie ein Lehrer, der einem zurückgeblie-
benen Schüler Nachhilfeunterricht erteilt, sagte Fallada: »Ich denke doch, daß wir einige Tatsachen haben. Beispielsweise sind wir uns ziemlich sicher, daß das Mädchen auf der Eisenbahnlinie von einem dieser Wesen getötet wurde. Und wir wissen, daß die Fingerabdrücke, die man an seinem Hals gefunden hat, von einem Mann namens Clapperton stammen.« Er machte eine Pause; Carlsen schwieg. »Das läßt auf zwei Möglichkeiten schließen. Entweder Clapperton handelte auf Anweisung der Vampire, oder einer von ihnen hatte Besitz von seinem Körper ergriffen.« Carlsen hatte im voraus gewußt, was er sagen würde; dennoch prickelte seine Kopfhaut bei diesen Worten, und ein kalter Schauer überlief ihn. Er setzte zu sprechen an, doch seine Kehle war wie zugeschnürt. Sein Herz pochte plötzlich schmerzhaft. Fallada sagte leise: »Wir müssen dies als Möglichkeit in Betracht ziehen. Und in diesem Fall müssen wir auch damit rechnen, daß sich diese Wesen als unzerstörbar erweisen könnten. Was nicht heißen soll, daß sie keine Fehler begehen können. Zum Beispiel –« Das durchdringende Summen des Teleschirms unterbrach ihn. Er drückte die Antworttaste. »Der Polizeipräsident möchte Sie sprechen, Sir.« »Verbinden Sie ihn.« Carlsen saß auf der anderen Seite des Schreibtischs, so daß er das Gesicht des Polizeipräsidenten nicht se-
hen konnte; aber die Stimme, die er hörte, hatte einen abgehackten, militärischen Tonfall. »Gut, daß ich Sie erwischt habe, Hans. Ich habe eine Neuigkeit für Sie. Wir haben den Verdächtigen gefunden.« »Den Rennfahrer?« »Ja. Ich habe ihn mir gerade angesehen.« »Lebt er?« »Leider nein. Er ist in der Wandsworther Leichenhalle. Seine Leiche wurde heute nachmittag aus dem Fluß gefischt.« »Dann hat noch keine Autopsie stattgefunden?« »Nein. Aber ich würde sagen, es ist ein klarer Fall von Selbstmord. Er hat das Mädchen getötet und sich dann selbst umgebracht. Soweit es uns angeht, ist der Fall abgeschlossen.« »Percy, ich möchte die Leiche sehen«, sagte Fallada. »Nun, warum nicht? Aus einem – äh – bestimmten Grund?« »Weil ich wetten könnte, daß er nicht durch Ertrinken starb.« »Die Wette würden Sie verlieren. Ich habe selbst gesehen, wie man ihm das Wasser aus den Lungen gepumpt hat.« Fallada schüttelte ungläubig den Kopf. »Sind Sie sicher?«
»Völlig. Warum? Ich verstehe Sie nicht –« Fallada sagte: »Ich komme jetzt zu Ihnen. Sind Sie in einer halben Stunde noch da?« »Ja.« »Ich bringe Commander Carlsen mit.« Fallada legte auf. Er stand auf, gab einen Seufzer von sich und rieb sich die Augen. »Das will mir nicht in den Kopf. Ich hätte tausend Pfund gesetzt, daß er bereits vorher tot war.« Er ging zum Fenster hinüber und starrte hinaus; die Hände hatte er tief in die Manteltaschen gesteckt. »Als der Schirm summte, wollte ich gerade sagen, daß sie einen Fehler begangen hätten, indem sie sich Clapperton aussuchten. Er war zu gut bekannt. Folglich war er für sie nutzlos. Und mußte sterben –« »Nun, Sie hatten recht.« »Vielleicht –« brummte Fallada. »Wir müssen jetzt gehen.« Er drückte einen Knopf der Wechselsprechanlage und sagte zu seiner Sekretärin: »Bestellen Sie mir ein Taxi. Es soll in fünf Minuten vor dem Gebäude warten. Und sagen Sie Norman, er soll sich für die Untersuchung einer weiteren Leiche bereithalten.« Der Expreßlift benötigte fünfundzwanzig Sekunden, um sie zur untersten Etage eine Meile tiefer zu befördern. Man hatte nicht das Gefühl zu fallen, sondern spür-
te lediglich eine vorübergehende Leichtigkeit. Fallada stand, den Kopf gesenkt, schweigend da. Als sie das kühle, klimatisierte Innere des IsmeerGebäudes verließen, traf sie die Luft der Innenstadt wie ein Schwall warmen Wassers. Es war ein Frühlingstag, doch es war so heiß wie im Hochsommer. Viele der dunkel gekleideten Männer hatten die Jakketts ausgezogen. Die Frauen nutzten das schöne Wetter, um die neueste Mode vorzuführen: durchsichtige Kleider über schreiend farbiger Unterwäsche. Die Menge strahlte eine solche Unbekümmertheit aus, daß es schwerfiel, an die Existenz von Vampiren zu glauben. Das kleine, batteriebetriebene Taxi wartete am Straßenrand. Carlsen wollte gerade einsteigen, als er auf die Stimme des Zeitungsautomaten aufmerksam wurde: »Neue Sensationsmeldung von der Stranger. Neue Sensationsmeldung von der –« Die Leuchtschrift auf dem Reklameschild vor dem Automaten besagte: ›Raumfahrer beschreibt Marie Celeste des Alls –‹ Carlsen steckte eine Münze in den Apparat und nahm sich die Abendpost. Auf dem Titelblatt befand sich das Foto einer Frau mit zwei Kindern an der Hand. Carlsen erkannte sie als Patricia Wolfson, Ehefrau des Kapitäns der Wega. Während der Fahrt beugte sich Fallada vor und versuchte über seine Schulter mitzulesen. »Es
scheint«, sagte Carlsen, »als wäre Wolfson trotzdem an Bord der Stranger gegangen.« Fallada lehnte sich wieder zurück. »Lesen Sie doch vor, einverstanden?« »Nur eine Stunde vor Eintreffen eines Befehls, der jede weitere Erforschung der Stranger untersagte, betrat Captain Wolfson mit einem Dreimannteam den Kontrollraum des fremden Schiffs. Bekannt wurde diese Tatsache durch Mrs. Patricia Wolfson, der Ehefrau des Raumfahrers, die unserem Reporter heute auf dem internationalen Raumflughafen von London ein Exklusivinterview gab. Am Dienstagnachmittag befand sich Mrs. Wolfson zusammen mit ihren beiden Kindern in der Nachrichtenzentrale der Mondbasis, wo sie sich über Funk fünf Stunden lang mit ihrem Mann unterhielt, der sich über eine Viertelmilliarde Meilen entfernt an Bord des Forschungsschiffs Wega aufhielt. In einer achteinhalb Minuten dauernden Bildübertragung schilderte Captain Wolfson, wie sein Team durch ein großes Meteoreinschlagsloch in das Wrack eindrang. Im November vergangenen Jahres, zum Zeitpunkt der Entdeckung der Stranger, hatte dieses Loch noch nicht existiert. ›Wenn der Meteor ein paar Meter höher eingeschlagen wäre‹, erklärte Captain Wolfson seiner Frau, ›hätte er das Kommandodeck völlig zerstört.‹
Nach Angaben von Dr. Werner Hass, dem Physiker, der Wolfson begleitete, deuten die Instrumente im Kontrollraum auf eine der irdischen weit überlegene Technologie hin. Captain Wolfson erklärte seiner Frau, daß der Kontrollraum keine erkennbaren Schäden aufwies, daß aber Dokumente und Sternkarten auf dem Fußboden verstreut lagen. ›Der Raum sah aus, als wäre er erst vor einer halben Stunde aufgegeben worden‹, meinte Wolfson dazu. Aber man fand keine Spuren der Lebewesen, die sich auf dem Kommandodeck aufgehalten hatten. Wolfson erklärte seiner Frau: ›Es erinnerte mich an das Geheimnis der Marie Celeste.‹ Die Dokumente, die man im Kontrollraum fand, bestanden aus einem Material, das dickem wachsimprägnierten Papier ähnelte. ›Dies könnte uns Aufschluß über die Galaxis geben, aus der die Stranger stammt.‹ Wolfson und sein Team befanden sich noch immer an Bord der Stranger, als die Wega eine Botschaft der Mondbasis empfing, in der die Erforschung des Wracks unter Berufung auf die Strahlungsgefährdung untersagt wurde. ›Unser Weltraumkorrespondent meint dazu –‹« Carlsen faltete die Zeitung zusammen und reichte sie Fallada. »Hier, lesen Sie selbst.« »Ich frage mich, wer ihm die Erlaubnis zu diesem Ausflug gab«, meinte Fallada.
»Vermutlich niemand. Wolfson gehört zu jener Sorte Männer, die solche Dinge auf eigene Faust unternehmen.« Der Taxifahrer sagte: »Also da ist mir mein Job lieber.« Es erinnerte sie daran, daß sie nicht offen reden konnten. Für die nächsten zehn Minuten saßen sie schweigend da, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Carlsen dachte an die verwirrende Schönheit der unterwasserlandschaftsähnlichen Malereien an den Wänden der Stranger, an ihre riesengroßen, kathedralenhaften Innenräume und überlegte, wie er Fallada einen Eindruck davon vermitteln konnte. »Marie Celeste des Alls«, sagte Fallada. »Wieder so ein journalistisches Klischeebild.« »Hoffen wir, daß es bei den Leuten nicht ankommt.« Der diensthabende Sergeant bei New Scotland Yard erkannte sie. »Der Commissioner möchte, daß Sie sofort zu ihm raufkommen, Sir. Den Weg kennen Sie ja.« Im Aufzug meinte Fallada: »Was das wohl bedeuten sollte?« »Was?« »Dieser Empfang. Er wußte, daß wir kamen. Warum also die Aufforderung, wir sollten uns beeilen? Sieht so aus, als gäbe es Neuigkeiten.«
»Vielleicht hängt es mit dieser Zeitungsmeldung zusammen.« Als sie aus dem Lift traten, wurden sie bereits erwartet. Der große, glatzköpfige Mann trug Zivilkleidung, aber seiner Körperhaltung nach hätte er ebensogut in einer Uniform stecken können. »Sir Percy Heseltine, darf ich Ihnen Commander Carlsen vorstellen?« fragte Fallada. Sein Händedruck war kraftvoll. »Freut mich, daß Sie gekommen sind, Commander. Da ist übrigens eine Nachricht für Sie. Bukovsky vom Raumforschungsinstitut möchte, daß Sie ihn sofort anrufen.« »Danke. Wo finde ich einen Teleschirm?« »In meinem Büro.« Sie folgten ihm in ein großes, anonym wirkendes Büro, von dem aus man den Start- und Landeplatz der Helikopter auf dem Dach überblicken konnte. »Nehmen Sie den Apparat im Büro meiner Sekretärin«, sagte Heseltine. »Es ist zur Zeit niemand drin.« Carlsen ließ die Tür offen. Er hatte das Gefühl, daß, was immer Bukovsky ihm zu sagen hatte, sie alle anging. Als er nach Bukovsky fragte, sagte die Empfangsdame: »Ich bedaure, Sir. Er ist zur Zeit nicht erreichbar.« Als er seinen Namen nannte, sagte sie jedoch: »Oh, natürlich. Er wartet schon auf Ihren Anruf. Wir versuchen Sie schon seit einer Stunde zu erreichen.«
Kurz darauf erschien Bukovsky auf der Mattscheibe. Er machte einen nervösen Eindruck. »Olof, Gott sei Dank, daß wir Sie endlich erreicht haben. Wir haben es vor einer Stunde bei Ihnen zu Hause versucht, aber Ihre Frau war nicht da.« »Ich war bei Dr. Fallada.« »Dann weiß ich Bescheid. Haben Sie die Zeitungen gelesen?« »Ich habe gelesen, daß Captain Wolfson in der Stranger gewesen ist.« »Captain!« sagte Bukovsky grimmig. »Er kann von Glück reden, wenn er noch Unterleutnant ist, wenn ich mit ihm fertig bin. Was seine schwachsinnige Frau betrifft ... Ich weiß wirklich nicht, was sich Zelensky dabei gedacht hat, sie in die Mondbasis zu lassen. Und das Schlimmste kommt erst noch. Der Raumfahrtminister hat mich gerade angerufen. Er wünscht, daß die Stranger umgehend gründlichst erforscht wird.« »Sagen Sie ihm, er soll sich zum Teufel scheren«, sagte Carlsen. »In Ordnung. Wieso?« »Weil Dr. Fallada glaubt, daß die drei Fremden gar nicht tot sind.« »Was? Nicht tot? Wovon reden Sie überhaupt? Wir haben sie doch mit eigenen Augen gesehen.« Carlsen erwiderte gelassen: »Und ich glaube, daß er recht hat.«
Bukovsky wirkte mit einem Mal ruhig und konzentriert. »Wie kommen Sie darauf?« »Durch das, was ich heute nachmittag in seinem Laboratorium gesehen habe. Hätten Sie es auch gesehen, wären Sie wahrscheinlich ebenfalls überzeugt.« »Wenn sie nicht tot sind, wo sind sie dann?« »Keine Ahnung. Das fragen Sie lieber ihn.« Er winkte Fallada zu, der zusammen mit Heseltine im Türeingang stand. Fallada kam herüber und bückte sich, so daß sein Gesicht von der Fernsehkamera erfaßt wurde. »Hallo, Bukovsky. Carlsen hat recht. Aber sollten wir das am Teleschirm besprechen? Sind Sie sicher, daß wir nicht abgehört werden können?« »Ja, der Apparat hat einen ACM. Wie können diese Wesen noch am Leben sein? Meinen Sie etwa, sie können ohne Körper existieren?« »Für begrenzte Zeit ja.« »Warum nur für begrenzte Zeit?« fragte Bukovsky schnell. »Nun, diese Annahme erscheint mir begründet ...« »Würden Sie das näher erklären?« »Selbstverständlich. Als ich mir das Tonband mit Carlsens Aussage über seine Begegnung mit der Frau anhörte, konnte ich einfach nicht glauben, daß sie tot sein sollte. Wenn sie eine so dominierende Persön-
lichkeit war, wie er sagt, wäre sie jedem Lustmörder gewachsen gewesen.« Bukovsky nickte; offenbar war er derselben Meinung. »Ich überlegte dann, ob sie nicht einen Mann in den Park gelockt und irgendwie seinen Körper übernommen haben könnte. Ich unterzog ihre Leiche daraufhin einem Test, um festzustellen, ob ihr Lebensfeld noch intakt war. Das nicht der Fall. Es war zwar nicht ausgesaugt worden wie bei der Leiche des jungen Adams, aber dennoch ungewöhnlich niedrig. Also kam mir der Gedanke, sie könnte noch am Leben sein, und zwar im Körper eines Mannes. Aber dieser Hypothese widersprach, was mit Clapperton geschehen war. Sie wissen darüber Bescheid?« Bukovsky nickte. »Er verschwand ungefähr eine halbe Stunde nachdem die Frau aus dem Gebäude des Raumforschungsinstituts entkommen war, und ungefähr zur selben Zeit, als man entdeckte, daß die beiden anderen Fremden tot waren. Clapperton wurde zuletzt im Hyde Park in Begleitung einer Frau gesehen, deren Beschreibung auf die Fremde zutreffen könnte. Aber sie konnte seinen Körper nicht für sich selbst gewollt haben – sie wurde ja erst mehrere Stunden später ermordet. Meine Vermutung geht dahin, daß sie Clapperton für einen der beiden anderen wollte. Warum die Eile, wenn sie für unbegrenzte Zeit außerhalb ihrer Körper leben könnten?«
Bukovsky unterbrach ihn. »Dann glauben Sie auch, daß es ein drittes Opfer gab?« »Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit. Möglicherweise eine Frau – falls sie es vorziehen, ihr ursprüngliches Geschlecht beizubehalten. Und nun muß es noch ein weiteres Opfer gegeben haben. Sie wissen, daß man Clappertons Leiche heute nachmittag im Fluß fand?« »Nein.« Bukovsky wirkte wenig interessiert. Carlsen hatte schon des öfteren beobachtet, daß Bukovsky, wenn er vor schwerwiegenden Entscheidungen stand, sein übliches nervöses, aggressives Gehabe ablegte und vollkommen ruhig wurde, zu einer Rechenmaschine, die kaltblütig Tausende von Möglichkeiten durchkalkulierte. Nach einer kurzen Pause sagte er: »Über diese Angelegenheit muß strengstes Stillschweigen gewahrt werden. Wenn etwas davon an die Öffentlichkeit dränge, würde eine Panik ausbrechen. Ich werde mich mit dem Raumfahrtminister in Verbindung setzen. Wie ist Ihre Nummer dort?« Fallada nannte sie ihm. »Ich rufe so bald wie möglich zurück. Äh, glauben Sie, es gibt irgendeine Möglichkeit, diese Wesen zu vernichten?« »Ich möchte es bezweifeln.« Bukovsky seufzte. »Das habe ich befürchtet.« Er unterbrach die Verbindung. Für kurze Zeit sprach keiner von ihnen. Dann
meinte Carlsen: »Da habe ich uns ja einen ganz schönen Brocken aufgeladen.« »Es war nicht Ihre Schuld«, sagte Heseltine. »Sie taten nur Ihre Arbeit. Gott sei Dank, daß Sie nicht noch mehr mitgebracht haben.« »Ich fürchte, das ist ein schwacher Trost«, sagte Carlsen. Fallada legte ihm die Hand auf die Schulter. »Seien Sie nicht so trübsinnig. Bisher war das Glück auf unserer Seite. Wenn sich diese Frau nicht durch den Mord an Adams verraten hätte, wären sie inzwischen allesamt auf dem Weg zur Erde. Und wenn ich ihre Leiche nicht meinem neuen Lambdatest unterzogen hätte, würden wir jetzt annehmen, sie wären tot. Die Dinge könnten weit schlimmer stehen.« »Sie übersehen, daß Sie sagten, daß Sie sie für unzerstörbar halten.« Heseltine sagte: »Kommen Sie mit in mein Büro. Ich habe Tee und Sandwichs bestellt. Ich weiß nicht, wie es mit Ihnen steht, aber ich habe einen Bärenhunger.« Carlsen merkte plötzlich, daß auch er Hunger hatte und daß ein Teil seiner Niedergeschlagenheit wahrscheinlich seinem leeren Magen zuzuschreiben war. Fallada nahm sich eine Zigarre aus der Kiste auf dem Schreibtisch. »Ich habe nicht gesagt, daß ich sie für unzerstörbar
halte. Es gibt keine Möglichkeit, das zu beurteilen. Zudem haben wir gewisse Vorteile auf unserer Seite. Im Grunde haben wir es lediglich mit drei unbekannten Mördern zu tun. Und Mörder hinterlassen eine Spur, wie wir gesehen haben –« Jemand klopfte an der Tür. Eine junge Frau, die einen Servierwagen vor sich herschob, trat ein. Die Schinkensandwichs waren frisch; Carlsen fühlte seinen Optimismus beim Essen zurückkehren. Er sagte: »Der Schaden, den sie anrichten können, dürfte vermutlich geringer ausfallen als der, der durch Verkehrsunfälle entsteht ...« »Na, hoffentlich«, meinte Heseltine. »Die Zahl der Todesfälle beträgt gegenwärtig im Schnitt neunundvierzig pro Tag.« Er drückte eine Teleschirmtaste. »Mary, verbinden Sie mich bitte mit dem StadtKoordinator. Wahrscheinlich ist es heute Philpott.« Als der Teleschirm einige Minuten später summte, hörten sie ihn sagen: »Tag, Inspektor. Ich möchte, daß Sie etwas für mich tun. Erinnern Sie sich an das Mädchen, das man gestern auf der Bahnlinie in Putney fand? Es handelt sich dabei um einen Mordfall. Ich möchte, daß Sie alle Berichte über ähnliche Todesfälle zusammensuchen, und zwar aus ganz England. In Betracht kommt jeder, der eines plötzlichen Todes stirbt, sei es durch Erdrosseln oder ohne ersichtliche Ursache. Geben Sie entsprechende Direktiven an je-
des Polizeipräsidium im Lande aus. Ich möchte die Sache vertraulich behandelt wissen. Wenn die Presse Wind davon bekommt, sagen Sie, es ginge um eine Routinenachforschung – für eine statistische Erhebung oder so was. Sie wissen schon. Und ich möchte, daß Sie mich unverzüglich benachrichtigen, wenn Sie neue Berichte erhalten. Wir glauben, daß der Täter ein Wahnsinniger ist, der unbedingt geschnappt werden muß. Übrigens – warten Sie noch – er könnte eine Frau als Komplizin haben. Alles klar?« Er legte auf. »Das ist immerhin ein erster Schritt. Wir werden ein Sonderkommando für diesen Fall zusammenstellen müssen. Und das bedeutet natürlich, daß die Presse früher oder später davon Wind bekommt.« »Das könnte vielleicht gar nicht schaden«, sagte Fallada. »Carlsen behauptet, daß diese Kreaturen niemand ohne seine eigene Bereitschaft töten können. Wenn wir das besonders hervorheben würden, sollte es möglich sein, eine Panik zu verhindern. Und wir könnten bei der Suche nach ihnen auf die Unterstützung der Öffentlichkeit zählen.« »Das stimmt schon. Aber die Entscheidung liegt nicht bei uns. Es müßte auf Regierungsebene –« Der Teleschirm summte. »Ja?« »Guten Tag, Sir Percy. Ist Carlsen bei Ihnen?« Es war Bukovsky. Carlsen ging an den Apparat.
»Möchten Sie das Gespräch lieber nebenan führen?« fragte Heseltine. Bukovsky sagte: »Nein, es betrifft auch Sie. Der Premierminister möchte uns alle so bald wie möglich sprechen. Das gilt auch für Dr. Fallada. Etwas recht Merkwürdiges hat sich ereignet. Können Sie so schnell wie möglich in die Downing Street kommen?« »Ich auch?« fragte Heseltine. »Er hat ausdrücklich darum gebeten. Ich sehe Sie dann später.« Er legte auf. Carlsen nahm sich noch ein Sandwich. »Erst trinke ich meinen Tee aus.«
4 In Whitehall wimmelte es von Büroangestellten, die auf dem Weg nach Hause waren. Der Tag ging seinem Ende entgegen, und die Luft war wieder kühl geworden. Carlsen überlegte, daß jeder in dieser Menschenmenge ein Fremder sein konnte, und sein Ohnmachtsgefühl verstärkte sich für einen Moment. An der Abbiegung zur Downing Street fuhr ein Rolls-Royce an ihnen vorüber. Carlsen erkannte in einem der Männer auf dem Rücksitz Philip Rawlinson, den Innenminister. Als sie bei der Nummer zehn ankamen, stieg er gerade aus. »Ah, Heseltine, gut, daß Sie hier sind«, sagte Rawlinson. »Kennen Sie Alex M'Kay, den Raumfahrtminister?« M'Kay war ein gedrungener, kahlköpfiger Mann mit einem dichten, roten Schnurrbart. Er sah Carlsen mit gerunzelter Stirn an. »Sie kenne ich doch. Sie sind der Bursche, dem wir diese Schwierigkeiten verdanken, nicht wahr?« Als Carlsen verlegen lächelte, klopfte ihm M'Kay auf die Schulter. »Keine Sorge. Wir werden schon damit fertig werden.« Carlsen wünschte, er könnte seine Überzeugung teilen. Drinnen empfing sie eine ältere, aber noch gutaussehende Sekretärin mit den Worten: »Der Premiermi-
nister läßt Sie bitten, sich einen Moment zu gedulden. Er führt gerade ein Telefongespräch.« »Nein, ich bin fertig. Bringen Sie sie rauf.« Everard Jamiesons massige Gestalt erschien am oberen Treppenabsatz. »Wir nehmen das Kabinettszimmer.« Jamieson war sogar noch größer als Carlsen. Ein Journalist hatte einmal gesagt, er hätte das Gesicht Abraham Lincolns, die Stimme Winston Churchills und die Gerissenheit Lloyd Georges. Als er ihnen die Hände schüttelte, drückte er so kräftig zu, daß Carlsen innerlich stöhnte. »Gut, daß Sie gekommen sind, meine Herren. Bitte, nehmen Sie Platz.« Er legte Fallada die Hand auf die Schulter. »Und Sie sind, wenn ich mich nicht irre, der geniale Dr. Fallada, der Mann, den man den Sherlock Holmes der Pathologie nennt?« Fallada nickte zwar nur knapp, schien sich aber dennoch geschmeichelt zu fühlen. Auf dem Konferenztisch stand ein Tablett mit Whisky und Gläsern. M'Kay bediente sich, ohne eine Aufforderung abzuwarten. Jamieson saß am oberen Ende des Tisches. Er senkte den Kopf und blickte stirnrunzelnd auf die Tischplatte, als denke er angestrengt über etwas nach. Unwillkürlich verstummten alle; nur das Zischen der Siphonflasche unterbrach die Stille. Kurz darauf kam die Sekretärin herein und legte vor jeden ein Blatt Pa-
pier auf den Tisch. Carlsen betrachtete es näher, stellte fest, daß es verkehrt herum lag, und drehte es um. Es war eine Landkarte, und die Konturen darauf kamen ihm bekannt vor; die Schrift hatte er allerdings noch nie gesehen. »Wo Bukovsky nur bleibt?« Noch während Jamieson sprach, ging die Tür auf, und Bukovsky trat ein, gefolgt von einem dicken Mann mit einer randlosen Brille. »Ah, da sind Sie ja, Bukovsky. Und das ist, wenn ich nicht irre, Professor Schliermacher? Sehr freundlich von Ihnen, daß Sie gekommen sind, Professor –« Schliermacher errötete, räusperte sich geräuschvoll und sagte nervös: »Es ist mir eine Ehre, Herr Premierminister.« Bukovsky setzte sich und begann seine Brillengläser zu polieren. Er erblickte die Landkarte. »Ah, Sie haben sie schon erhalten?« »Ich ließ sie von der Mondbasis schicken. Würden Sie Professor Schliermacher ein Exemplar überreichen? Danke sehr.« Er blickte in die Runde und räusperte sich, um M'Kays Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Der Raumfahrtminister wischte sich die Stirn mit einem Taschentuch und schaute aus dem Fenster. »Meine Herren, ich denke, wir sind jetzt vollzählig. Wir können beginnen.« Er wandte sich an Carlsen. »Wenn Sie gestatten, möchte ich mit Ihnen anfangen,
Commander. Wissen Sie, was das ist?« Er tippte auf das Blatt Papier vor sich. »Eine Karte von Griechenland?« fragte Carlsen. Jamieson wandte sich an Schliermacher. »Stimmt das, Professor?« Schliermacher wirkte verwirrt. »Ja, natürlich.« »Wissen Sie, woher wir sie haben?« Er sprach wieder zu Carlsen. Carlsen schüttelte den Kopf. Jamieson blickte in die Runde, offenbar in der Erwartung, daß sich jemand zu Wort meldete. Er erinnerte Carlsen an einen Schulmeister vor einer Klasse Sextanern. Als das Schweigen langsam peinlich wurde, sagte Jamieson: »Man fand sie im Kontrollraum der Stranger.« Ausrufe des Erstaunens ertönten; Jamieson blickte sie lächelnd an, offensichtlich zufrieden mit dem Effekt, den er erzielt hatte. »Natürlich ist die Karte nicht sehr genau. Das Original dürfte für uns wesentlich aufschlußreicher sein.« »Das ist unglaublich«, sagte Rawlinson. »Aber nichtsdestoweniger wahr, wie Ihnen Dr. Bukovsky bestätigen wird.« Bukovsky nickte, ohne von der Karte aufzuschauen. Schliermacher hatte eine Lupe aus der Tasche hervorgeholt und untersuchte die Karte aufmerksam. »Ihnen ist natürlich klar, was da bedeutet?« fragte Jamieson. »Daß sie die Erde ziemlich gut kennen«, sagte Rawlinson.
Jamieson wirkte momentan irritiert; offenbar war er verärgert, daß man ihm zuvorgekommen war. Er schlug auf den Tisch. »Ganz genau, meine Herren. Es bedeutet, daß diese Wesen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unserer Erde bereits bei einer früheren Gelegenheit einen Besuch abgestattet haben.« Seine Stimme vibrierte und hatte den »Churchill-Tonfall« angenommen. Er blickte sie feierlich an. »Die einzige denkbare Alternative ist meiner Meinung nach, daß sie die Erde mit unglaublich leistungsfähigen Teleskopen untersucht haben. Eine dritte Möglichkeit kann ich mir nicht vorstellen. Sie vielleicht?« Carlsen schaute zu Fallada hinüber. Er bemerkte, daß Fallada verblüfft war und sich für einen Moment seiner Sache nicht sicher zu sein schien. Schliermacher sagte plötzlich: »Aber das ist völlig unglaubwürdig.« »Weshalb, Professor?« Schliermacher war offenbar so erregt, daß ihm das Sprechen Schwierigkeiten bereitete. Er tippte mit dem Finger auf die Karte. »Nun – dies ist Griechenland, aber nicht das moderne Griechenland.« Bukovsky unterbrach ihn bissig: »Daran ist ja wohl nichts Ungewöhnliches, oder?« Er ignorierte den tadelnden Blick des Premierministers. Schliermacher
erwiderte leicht stotternd: »Sie verstehen mich nicht. Dies ist eine äußerst merkwürdige Sache. Sehen Sie.« Er beugte sich zu Bukovsky hinüber. »Wissen Sie, was das ist?« »Eine Insel vermutlich«, sagte Bukovsky. »Jawohl, eine Insel. Aber die Form stimmt nicht. Dies ist die Insel Thera – wir nennen sie heute Santorini. Auf einer modernen Karte hat sie die Gestalt einer Mondsichel, denn gegen 1500 vor Christus wurde sie durch einen Vulkanausbruch teilweise zerstört. Diese Karte entstand vor dem Vulkanausbruch.« »Sie behaupten, diese Karte entstand vor 1500 vor Christus?« fragte der Premierminister. »Sicher, genau das behaupte ich.« Schliermacher war so erregt, daß er seine Scheu vollkommen vergessen hatte. »Aber da ist noch mehr, was ich nicht verstehe. Hier ist Knossos auf Kreta. Hier ist Athen. Kein Mensch hätte zu der damaligen Zeit eine solche Karte anfertigen können.« »Genau«, sagte Jamieson. »Kein Mensch hätte es gekonnt, aber diese Wesen konnten es und taten es auch. Rawlinson, reichen Sie mir bitte den Whisky. Ich glaube, dies muß gefeiert werden.« Als Rawlinson das Tablett über den Tisch schob, fragte Fallada in ruhigem Tonfall: »Würden Sie mir sagen, was wir hier feiern sollen?« Jamieson lächelte ihn wohlwollend an. »Meine
Herren, ich sollte Ihnen vielleicht erklären, daß Dr. Fallada diese Wesen für gefährlich hält. Und nach allem, was ich weiß, könnte er damit durchaus recht haben. Aber ich bin gleichfalls der Ansicht, daß diese Landkarte einen der größten Fortschritte in der Geschichtsforschung unserer Zeit repräsentiert. Und, wie Ihnen allen bekannt ist, betrachte ich mich eher als Historiker denn als Politiker. Und deshalb, so meine ich, können wir mit gutem Grund unsere Gläser auf Commander Carlsen und die Stranger erheben.« Er begann ein halbes Dutzend Gläser mit Whisky zu füllen. »Ich halte das für eine ausgezeichnete Idee«, sagte M'Kay. »In der Tat habe ich bereits die Anweisung erteilt, die Stranger gründlich zu untersuchen.« Er wandte sich an Bukovsky. »Ich nehme an, daß das inzwischen in die Wege geleitet wurde?« Bukovsky errötete. »Nein.« M'Kay fragte mit ruhiger Stimme: »Warum nicht?« »Weil ich mit Fallada darin übereinstimme, daß diese Wesen gefährlich sein könnten.« »Nun hören Sie mal –« begann M'Kay. Fallada sagte heftig: »Sie sind gefährlich. Es sind Vampire.« M'Kay sagte spöttisch: »Das ist meine Großmutter auch –« Die anderen begannen alle auf einmal zu reden.
»Meine Herren, meine Herren!« sagte Jamieson. Seine Stimme hatte eine beruhigende Wirkung. »Es besteht keine Veranlassung, sich zu erregen. Wir sind hier, um diese Angelegenheit ausgiebig zu erörtern, und jeder«, er wendete sich Fallada zu, »hat ein Recht darauf, seinen Standpunkt darzulegen. Vergessen wir unsere Differenzen also für einen Moment und trinken wir auf Commander Carlsens Gesundheit.« Fallada nahm seinen Whisky nur stirnrunzelnd entgegen. Jamieson hob sein Glas. »Auf Commander Carlsen und seine epochemachende Entdeckung.« Alle tranken, während Carlsen verlegen lächelnd dasaß. »Ich sollte vielleicht hinzufügen, Commander«, sagte Jamieson, »daß diese nur eine von mehreren Karten ist, die man in der Stranger fand. Ich möchte, daß Professor Schliermacher die Untersuchung dieses Materials übernimmt.« Schliermacher errötete und sagte mit heiserer Stimme: »Ich fühle mich zutiefst geehrt.« Jamieson sah Fallada lächelnd an. »Doktor, erinnern Sie sich an die Geschichte mit den Landkarten von Piri Reis?« Fallada schüttelte mürrisch den Kopf. »Dann lassen Sie sie mich Ihnen erzählen. Wenn ich mich recht entsinne, war Piri Reis ein türkischer Pirat, der ungefähr zu der Zeit, als Kolumbus Amerika entdeckte, geboren wurde. 1513 und 1528 zeichnete er zwei Weltkarten. Das Erstaunliche daran ist nun, daß diese Karten
nicht nur Nordamerika zeigten – das von Kolumbus ja entdeckt worden war –, sondern auch Südamerika einschließlich Patagonien und Feuerland. Und diese Länder waren zu der Zeit noch nicht entdeckt worden. Selbst die Wikinger, die Nordamerika fünfhundert Jahre vor Kolumbus entdeckten, kamen niemals über den nördlichen Halbkontinent hinaus. Aber das ist noch nicht alles. Auf Piri Reis Karten befand sich auch Grönland. Das war sehr leicht zu erklären – den Wikingern war Grönland wohlbekannt. Aber an einer Stelle, wo neuzeitliche Karten Land zeigten, hatte Piri Reis zwei Buchten eingetragen. Die Sache schien der Nachforschung wert, und ein Team von Wissenschaftlern führte in Grönland seismographische Messungen durch. Sie fanden heraus, daß Piri Reis recht hatte und die modernen Karten falsch waren. An den Stellen war kein Land – eine dicke Eisschicht bedeckte die Buchten. Mit anderen Worten, Piri Reis Karte zeigte Grönland, wie es war, bevor es von Eis bedeckt wurde – vor Tausenden von Jahren.« Er blickte in die Runde; jedermann hörte aufmerksam zu, selbst Fallada. Jamieson sagte: »Wir glauben jetzt, daß Piri Reis Karten auf viel älteren Karten basieren – auf Karten, die so alt sind wie diese oder gar älter.« Er tippte mit dem Finger auf die Karte auf dem Tisch. »Und diese Karten können nicht von Menschen der Erde hergestellt worden sein. Dazu waren sie nicht fortgeschritten genug.« Er wandte sich
an Fallada, und sein Blick war fast hypnotisch. »Glauben Sie nicht, daß es möglich ist, daß diese alten Karten von jenen fremden Lebewesen angefertigt wurden, die Sie Vampire nennen?« Fallada zögerte, dann sagte er: »Ja, ich denke schon, daß es möglich ist.« »Dann ist es doch auch möglich, daß diese Wesen die Erde in der Vergangenheit mindestens einmal, möglicherweise auch zweimal besucht haben, ohne Schaden anzurichten?« Fallada, Carlsen und Bukovsky redeten gleichzeitig. Es war Bukovsky, der sich schließlich Gehör verschaffte. »– das, finde ich, ist so schwer zu verstehen. Kann es überhaupt eine Rechtfertigung geben, derartige Risiken einzugehen? Selbst wenn die Chance, daß diese Wesen gefährlich sind, eins zu einer Million stünde, wäre es das Risiko nicht wert. Ebensogut könnte man einen tödlichen, unbekannten Bazillus zur Erde bringen.« »Ich bin geneigt, dem beizupflichten«, sagte Rawlinson. Jamieson lächelte gelassen. »Das sind wir alle, mein Lieber. Aus diesem Grund diskutieren wir auch darüber.« Bukovsky sagte: »Vielleicht könnten wir uns einmal anhören, was Dr. Fallada zu sagen hat.«
»Selbstverständlich!« Der Premierminister wandte sich Fallada zu. »Bitte, Doktor.« Alle Blicke richteten sich auf Fallada. Dieser nahm die Brille ab und polierte die Gläser. Er sagte: »Nun, kurzum, ich habe zweifelsfrei nachgewiesen, daß diese Wesen Vampire sind – Energievampire.« Jamieson warf glattzüngig ein: »Verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber Sie brauchen das gar nicht nachzuweisen. Wir wissen alle, was mit diesem jungen Journalisten geschah.« Es war für jedermann erkennbar, daß Fallada langsam der Geduldsfaden riß. Er beherrschte sich nur mühsam. »Ich glaube, Sie verstehen nicht ganz, was ich meine. Ich habe eine Methode entwickelt, mit der man testen kann, ob jemand von einem Vampir umgebracht wurde. Zunächst einmal habe ich eine Methode entwickelt, in den Körper eines kürzlich verstorbenen Lebewesens ein künstliches Lebensfeld zu induzieren. Wenn nun ein Körper von einem Vampir ausgesaugt wurde, hält er kein Lebensfeld mehr fest. Es ist wie bei einem geplatzten Reifen – was man hineinpumpt, geht ebenso schnell wieder hinaus. Sehen Sie –« Er zögerte einen Moment. Jamieson nutzte die Gelegenheit, um zu fragen: »Und wann machten Sie diese Entdeckung?« »Äh – vor zwei Jahren.«
»Vor zwei Jahren! Sie befassen sich seit zwei Jahren mit Vampirismus?« Fallada nickte. »Ich habe sogar ein Buch darüber geschrieben.« Diesmal unterbrach ihn M'Kay. »Aber wie konnten Sie über Vampirismus schreiben, bevor diese Geschichte überhaupt anfing? Woher haben Sie Ihr Material bezogen?« Fallada sagte ernst: »Vampirismus ist ein verbreiteteres Phänomen, als man meint. Er ist ein grundlegender Bestandteil der Natur und spielt auch bei menschlichen Beziehungen eine wichtige Rolle. Es gibt viele Raubtiere, die ihre Beute nicht nur fressen, sondern ihr auch das Lebensfeld aussaugen. Und selbst bei Menschen tritt dieses Phänomen auf. Warum verspeist man Austern lebend? Warum werden Hummer lebend gekocht? Und selbst für den Verzehr von Pflanzen trifft es zu – man zieht einen frischen Kohlkopf einem, der eine Woche alt ist, vor –« M'Kay sagte: »Mann, das ist doch kompletter Unsinn. Man ißt frischen Kohl, weil er besser schmeckt, nicht weil er lebt –« Rawlinson sagte: »Und mir schmeckt mein Moorhuhn erst, wenn es mindestens eine Woche abgehangen ist.« Carlsen sah, daß Fallada in seinem gereizten Zustand seiner Sache nur schadete. Er fragte: »Könnte
ich vielleicht ein paar kurze Worte zur Erklärung sagen?« Jamieson erwiderte höflich: »Bitte, Commander.« »Ich war heute nachmittag in Dr. Falladas Labor, und ich sah den Körper des Mädchens, der gestern auf der Bahnlinie in Putney gefunden wurde. Es besteht nicht der geringste Zweifel, daß es von einem Vampir getötet wurde.« Jamieson schüttelte den Kopf. Er war sichtlich beeindruckt. »Woher wissen Sie das?« »Durch Dr. Falladas Test. Der Körper hielt kein Lebensfeld fest.« »Ich weiß nichts von diesem Mädchen. Auf welche Weise starb es?« Heseltine sagte: »Es wurde erwürgt, dann warf man die Leiche von einer Brücke auf die Gleise.« Jamieson wandte sich an Fallada. »Würde eine solche Gewalttat nicht einen ähnlichen Einfluß auf das Lebensfeld ausüben?« »Einen geringfügigen ja. Aber nicht annähernd in diesem Ausmaß.« »Und wann fand der Mord statt?« »Gestern morgen in der Frühe«, sagte Heseltine. »Ich – verstehe nicht. Aber – zu dieser Zeit waren diese drei Wesen doch bereits tot.« Fallada sagte: »Ich glaube gar nicht, daß sie jemals
tot waren. Ich glaube vielmehr, daß sie noch immer am Leben sind.« »Aber wie –« Fallada unterbrach ihn: »Ich glaube, daß sie die Körper anderer Menschen übernehmen können. Die Fremde starb in Wirklichkeit gar nicht im Hyde Park. Sie lockte einen Mann in den Park, übernahm seinen Körper und arrangierte es dann so, daß es wie ein Sexualverbrechen aussah. Und ich glaube, daß auch die beiden anderen noch leben. Sie verließen einfach ihre Körper im Raumforschungsgebäude und übernahmen andere.« Es gab eine Pause. Rawlinson und M'Kay hatten beide den Blick auf die Tischplatte gesenkt und schienen nichts sagen zu wollen. Jamieson sagte in vernünftigem Tonfall: »Sie müssen zugeben, daß das, was Sie da sagen, unglaubwürdig klingt. Welchen Beweis haben Sie für diese – Behauptungen?« »Es geht hier nicht um Beweise«, sagte Fallada. »Es geht um simple Logik. Diese Wesen sollen angeblich tot sein. Dennoch werden Leichen gefunden, denen man die Lebensenergie ausgesaugt zu haben scheint. Das legt doch den Schluß nahe, daß diese Wesen überhaupt nicht tot sind.« »Wie viele Leichen?« fragte Jamieson. »Zwei bisher – das Mädchen auf der Bahnlinie und der Mann, der es umbrachte.«
»Der Mann, der es umbrachte?« Jamieson sah Heseltine entgeistert an. Heseltine sagte: »Das Mädchen wurde von einem Mann namens Clapperton erwürgt – der bekannte Rennfahrer. Dr. Fallada glaubt, er wäre von einem dieser Wesen besessen gewesen.« »Ich verstehe. Und nun ist er auch tot?« »Ja.« »Und ist sein Körper – auch – in dieser Verfassung?« »Das wissen wir noch nicht. Er wird zur Untersuchung in mein Labor gebracht.« »Und wann werden wir das Resultat erfahren?« »Er wurde vor zwei Stunden abgeschickt«, sagte Heseltine. »Die Untersuchung könnte inzwischen abgeschlossen sein.« »In diesem Fall«, sagte Jamieson, »erkundigen Sie sich bitte. Hier ist ein Teleschirm.« Er drehte sich um und nahm einen tragbaren Teleschirm vom Schreibtisch hinter sich. Rawlinson schob ihn zu Fallada hinüber. »Wie Sie wünschen«, sagte Fallada. Als er die Wähltasten drückte, herrschte totale Stille. Als sich eine Mädchenstimme meldete, sagte Fallada: »Würden Sie mir bitte Norman an den Apparat holen?« Eine halbe Minute verstrich. M'Kay schenkte sich unaufgefordert einen neuen Drink ein. Dann ertönte Greys Stimme: »Ja, Sir?«
»Norman! Ist der angekündigte Körper aus Wandsworth eingetroffen?« »Ja, Sir. Der Ertrunkene. Ich bin gerade mit den Tests fertig geworden.« »Welches Resultat?« »Nun, soweit ich es beurteilen kann, handelt es sich um einen normalen Fall von Ertrinken. Es ist möglich, daß er Schlaftabletten genommen hat.« »Aber was ist mit dem Lambdawert?« »Völlig normal, Sir.« »Keinerlei Abweichung?« »Nicht die geringste, Sir.« »Gut«, sagte Fallada. »Danke, Norman.« Er legte auf. Jamieson sagte rasch: »Ich gebe selbstverständlich zu, daß das gar nichts beweist. Im Prinzip könnten Sie trotzdem recht haben, auch wenn Sie sich in diesem speziellen Fall irren. Aber wie mir scheint, gründet sich Ihre Theorie nun auf eine einzige Leiche – das Mädchen auf der Bahnlinie?« Bevor Fallada etwas erwidern konnte, warf M'Kay mit ruhiger Stimme ein: »Ich möchte Ihnen keinesfalls zu nahe treten, Doktor, aber ist es nicht möglich, daß Sie sich von Ihrem Interesse an Vampiren zu einer – äh – falschen Einschätzung haben verleiten lassen?« »Nein, ausgeschlossen«, erwiderte Fallada ärgerlich.
Carlsen spürte, daß es an der Zeit war, Fallada zu Hilfe zu kommen. »Ich gebe zu, daß dieses Resultat ziemlich überraschend ist, aber ich glaube nicht, daß Dr. Falladas Argumentation dadurch entkräftet wird.« Jamieson wandte sich an Bukovsky. »Was meinen Sie?« Bukovsky war sich offenbar im Zweifel. Er mied Falladas Blick, als er sagte: »Ich weiß es wirklich nicht. Ich möchte mich nicht dazu äußern, bevor ich nicht alle vorliegenden Beweise untersucht habe.« »Und Sie, Sir Percy?« Heseltine runzelte die Stirn. »Ich habe den größten Respekt vor Dr. Fallada, und ich bin sicher, er weiß, wovon er redet.« »Selbstverständlich. Das bezweifelt niemand«, sagte Jamieson. »Wir alle wissen, daß er einer unserer hervorragendsten Wissenschaftler ist. Aber selbst Wissenschaftler können sich irren. Lassen Sie mich Ihnen nun offen sagen, welchen Standpunkt ich in dieser Sache vertreten würde – und ich möchte hinzufügen, daß ich ihn keinesfalls zum Dogma erheben möchte.« Er legte eine Kunstpause ein, als warte er auf Einwände. Es war ein parlamentarischer Trick; alle warteten darauf, daß er fortfuhr. »Alle vorliegenden Erkenntnisse deuten darauf hin, daß diese Wesen aus einem anderen Sonnen- oder Sternensystem
kommen und daß sie sich außerordentlich für das Leben auf der Erde interessieren. Vielleicht sind sie Wissenschaftler, die sich mit dem Studium sich entwickelnder Zivilisationen befassen. Offensichtlich gehören sie einer Rasse an, die sehr viel älter und fortgeschrittener ist als die menschliche.« Er hielt inne und sah sie eindringlich an. Carlsen wurde sich gewahr, daß er dieser erstaunlich ausdrucksstarken Stimme fasziniert lauschte. Jamieson fuhr in vertraulichem Tonfall fort. »Nun fällt es mir persönlich äußerst schwer, mir eine hochentwickelte Rasse vorzustellen, die ihre Bruderrassen als willkommenes Freiwild betrachten soll. Ich behaupte nicht von mir, ein hochentwickeltes Geschöpf zu sein, dennoch bin ich Vegetarier, weil ich es widerwärtig finde, daß man Tiere tötet. Aus diesem Grund will es mir einfach nicht in den Kopf, daß diese Wesen – wie Dr. Bukovsky es ausdrückt – das Äquivalent von tödlichen Bazillen sein könnten.« Fallada unterbrach ihn ungehalten: »Dann hätten Sie die Leiche jenes Reporters sehen sollen, nachdem die Frau ihn umgebracht hatte.« Rawlinson schüttelte verzweifelt den Kopf. M'Kay starrte an die Decke, als sei ihm die plötzliche Erkenntnis gekommen, daß sie es mit einem Schwachsinnigen zu tun hatten. Jamieson jedoch schien sich nicht brüskiert zu fühlen. Er sagte feierlich: »Ich habe in der Tat eine Fotografie
dieses unglücklichen jungen Mannes gesehen. Ich bin mir durchaus darüber im klaren, daß die Frau ihn tötete und daß sie darum unseren Gesetzen zufolge eine Mörderin ist. Aber ich habe auch Commander Carlsens Schilderung der Ereignisse gehört, und ich habe keinen Zweifel, daß der Mann vorhatte, sie zu vergewaltigen. Es war Selbstverteidigung – und wahrscheinlich geschah es unabsichtlich, denn sie wachte auf und sah plötzlich diesen Mann, der sie überfiel. Ist es nicht so, Commander?« Carlsen spürte, daß es zu kompliziert sein würde, einen Erklärungsversuch zu machen. »Im wesentlichen ja«, sagte er. Jamieson wandte sich an Fallada. Er hob den Finger zu einer Geste, in der Tadel mitschwang. »Sie glauben, daß es die Absicht dieser Wesen ist, Menschen zu töten. Aber kann man nicht ebensogut annehmen, daß es ihr Wunsch ist, uns zu helfen?« Fallada zuckte die Achseln, schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Jamieson fuhr eindringlich fort: »Lassen Sie mich erklären, wie ich das meine. Als Historiker habe ich mich oft gewundert, mit welcher Plötzlichkeit geschichtliche Umwälzungen eingetreten sind. Das Schicksal der Menschheit ist viele Male einschneidend verändert worden – durch den Gebrauch von Waffen, die Entdeckung des Feuers, die Erfindung des Rades, durch das Errichten von Städten. Und ist es nicht
möglich, daß dies« – er tippte auf das Blatt Papier – »die Antwort sein könnte? Daß diese Wesen die heimlichen Mentoren der Menschheit sein könnten?« Er schwieg und sah Fallada an, als verlange er eine Antwort von ihm. Fallada räusperte sich und sagte beharrlich: »Möglich ist alles. Ich versuche, mich an Tatsachen zu halten. Und Tatsache ist, daß diese Wesen gefährlich sind.« Jamieson nickte. »Also gut. Dann lassen Sie mich einen Vorschlag machen. Die Zeit läuft uns nicht davon. Wir brauchen keinen sofortigen Entschluß zu fassen. Also schlage ich vor, das Wrack dort zu lassen, wo es ist, und abzuwarten, was geschieht. Schließlich wird es wohl kaum Schaden nehmen.« »Bis auf ein paar weitere Meteorlöcher«, knurrte M'Kay. »Dieses Risiko müssen wir eingehen. Mein Vorschlag geht dahin, daß ich nach dieser Sitzung bekanntgebe, daß das Raumforschungsinstitut beschlossen hat, die Wega und die Jupiter zur Erde zurückzubeordern, um das Studium der Dokumente zu ermöglichen, die Captain Wolfson entdeckt hat. Das wird eine wie immer geartete Entscheidung um mindestens zwei Monate hinausschieben.« Er sah Fallada an. »Falls Sie recht haben und diese Wesen tatsächlich noch leben, dann werden wir es bis dahin wahrscheinlich erfahren haben. Sind Sie einverstanden?«
Fallada, von der Konzession offenbar überrascht, sagte: »Ja. Ja, natürlich –« »Und die anderen Herren?« M'Kay sagte kritisch: »Ich bin nicht einverstanden. Ich finde, es ist eine Zeit- und Geldverschwendung, die Expedition zurückzubeordern. Ich meine, man sollte sofort an Bord gehen.« Jamieson sagte diplomatisch: »Ich bin geneigt, Ihnen zuzustimmen. Aber ich habe das Gefühl, daß Sie und ich in der Minderheit sind, und daß die restlichen Herren zur Vorsicht mahnen. Also müssen wir uns dem Willen der Mehrheit beugen.« Er blickte fragend in die Runde. Alle nickten. Als Carlsen zu Fallada hinübersah, wußte er, daß sie beide dasselbe empfanden: das seltsame Gefühl, ein Tauziehen gewonnen zu haben, weil der Gegner sein Seilende einfach losgelassen hatte. »Überdies hat die Expedition bereits bemerkenswerte Ergebnisse erbracht«, sagte Jamieson. »Ich finde, daß allein diese Karte die bisher entstandenen Kosten aufwiegt. Nehmen wir uns Dr. Falladas vorzüglichen Rat zu Herzen und gehen wir mit äußerster Vorsicht vor. Ich glaube nicht, daß wir es zu bedauern haben werden.« Er stand auf. »Und nun, meine Herren, ist es an der Zeit, daß ich meine Ansprache vor dem Parlament halte. Dr. Bukovsky, ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie mich begleiteten – ich werde Ihre Hilfe brauchen, um spätere Fragen zu
beantworten. Und mit Ihnen, Sir Percy, würde ich gern die Maßnahmen besprechen, die Sie zu ergreifen gedenken, um diese Wesen aufzuspüren ... Wenn Sie uns entschuldigen wollen, meine Herren –« Als sie auf der Straße waren, sagte Fallada nachdenklich: »Ich glaube, ich werde aus den Politikern nie schlau werden. Sind sie nun die hirnlosen Ochsen, die sie zu sein scheinen, oder nicht?« Carlsen knurrte zustimmend. »Trotzdem, ich glaube, er hat die richtige Entscheidung getroffen.« »Er will das Wrack zur Erde bringen lassen. Das wäre katastrophal.« »Aber er hat uns Zeit gegeben.« Fallada lächelte. Wenn er lächelte, veränderte sich sein Gesicht; der Ernst und die Betrübtheit verschwanden daraus und machten den Zügen eines Spaßvogels mit einer Spur boshaften Humors Platz. Er legte Carlsen die Hand auf die Schulter. »Ich bemerke, daß Sie ›uns‹ sagen. Gehe ich richtig in der Annahme, daß ich Sie überzeugt habe?« Carlsen zuckte die Achseln. »Was immer auch geschehen sollte, ich habe so das Gefühl, daß wir diese Sache gemeinsam durchstehen müssen.«
5 Als er erwachte, fühlte er sich seltsam müde und schlapp. Er hatte tief geschlafen; aber als er zu vollem Bewußtsein erwachte, durchzuckte ihn die Erinnerung an Angstträume. Die Nachttischuhr zeigte neun Uhr dreißig an. Es war ein Freitag; das bedeutete, daß Jelka die Kinder in die Vorschule gebracht hatte. Er lag fünf Minuten da, bevor er sich dazu aufraffen konnte, den Schalter für die Jalousieautomatik zu drücken. Einige Minuten später hörte er, wie die Eingangstür geschlossen wurde. Jelka machte leise die Tür auf, sah, daß er wach war, und kam herein. Sie warf ihm die Zeitung aufs Bett. »Da steht ein Artikel drin, in dem der Premierminister attackiert wird. Oh, und das kam per Eilbote.« Sie nahm eine Buchsendung vom Tisch. Auf dem Etikett war der Absender aufgedruckt: ›Psycho-sexuelles Institut‹. »Ach ja, das ist Falladas Buch über Vampire. Er versprach, mir eine Fotokopie zu schicken. Wie wär's mit Kaffee?« »Geht es dir gut? Du siehst blaß aus.« »Bin bloß müde.« Als sie einige Minuten später Kaffee und ange-
bräunten Toast brachte, las er Falladas Manuskript. Sie legte ein Buch auf den Nachttisch. »Das habe ich gestern aus der Bücherei geholt. Ich dachte, es könnte dich interessieren.« Er blickte auf den Titel: Geistiger Vampirismus. »Merkwürdig.« »Was ist merkwürdig?« »Nur ein Zufall. Der Autor ist Ernst von Geijerstam. Und Fallada erwähnt einen Grafen von Geijerstam –« Er schlug im bibliographischen Teil von Falladas Buch nach. »Ja, es ist derselbe.« »Hast du den Leitartikel der Times schon gelesen?« »Nein. Was steht denn drin?« »Nur, daß es eine empörende Verschwendung von Steuergeldern ist, zwei Raumschiffe den weiten Weg zu den Asteroiden zurücklegen zu lassen und sie dann unverrichteter Dinge wieder zurückzubeordern.« Carlsen war zu sehr in das Buch vertieft, um etwas zu erwidern. Sie ließ ihn allein. Als sie eine halbe Stunde später zurückkam, war er immer noch am Lesen, und sie sah, daß die Glaskanne leer war. »Hast du schon Hunger?« »Noch nicht. Hör dir das mal an. Dieser Graf Geijerstam soll Fallada zufolge ein komischer Kauz gewesen sein. Er war eine Art Psychologe, wurde aber von niemandem ernst genommen. Hör zu: das Kapi-
tel heißt ›Der Patient, der mich das Denken lehrte‹. Der Patient, den ich Lars V. nennen werde, war ein recht gutaussehender, aber blasser Ektomorph Mitte zwanzig. In den vergangenen sechs Monaten hatte er unter dem heftigen Zwang gelitten, seine Geschlechtsteile an öffentlichen Orten vor Frauen zu zeigen. Dies war vor kurzem dem Wunsch gewichen, kleine Kinder auszuziehen und sie zu beißen, bis sie bluteten. Er hatte keinem dieser Triebe nachgegeben, wenn er auch zugab, daß er des öfteren mit offenem, unter dem Mantel verborgenem Hosenschlitz spazierenging. Der Patient hatte folgende Vorgeschichte. Beide Elternteile waren begabte Künstler, und Lars hatte seit frühem Alter ein Talent für Bildhauerei gezeigt. Mit sechzehn bewarb er sich bei einer Schule für bildende Künste und bestand die Aufnahmeprüfung mit Auszeichnung. Mit neunzehn hatte er so spektakuläre Fortschritte gemacht, daß er eine eigene, erfolgreiche Ausstellung veranstaltete und sich damit beträchtliches Ansehen verschaffte. Bei dieser Ausstellung lernte er Nina von G. kennen – die Tochter eines preußischen Adligen. Nina war ein blasses Mädchen, das schwächlich wirkte, aber in Wirklichkeit beträchtliche Körperkräfte besaß. Sie hatte große dunkle Augen und einen ungewöhnlich roten Mund. Sie hofierte Lars und sagte, sie
hätte schon immer die Sklavin eines großen Künstlers sein wollen. Innerhalb weniger Tage hatte er sich hoffnungslos in sie verliebt. Es dauerte viele Monate, bevor sie ihm gestattete, sie zu besitzen. Die ganze Zeit über beließ sie ihn in dem Glauben, sie sei Jungfrau. Dann bestand sie auf einer merkwürdigen Pantomime. Sie lag in einem behelfsmäßigen Sarg, war mit einem weißen Nachtgewand bekleidet und hatte die Hände überkreuz auf die Brüste gelegt. Lars mußte sich wie ein Einbrecher in den Raum schleichen und dann den Körper finden, um den herum brennende Kerzen aufgestellt waren. Dann sollte er eine ausgedachte Handlung nachspielen. Er mußte die ›Leiche‹ liebkosen, sie zum Bett tragen und am ganzen Körper beißen. Schließlich mußte er sie vergewaltigen. Während der ganzen Zeit blieb das Mädchen völlig still und gab kein Lebenszeichen von sich. Nachdem er sie geliebt hatte, war klargeworden, daß Nina keine Jungfrau war; Lars war nun jedoch zu verblendet, als daß ihn das gekümmert hätte. Die beiden fuhren fort, abstruse sexuelle Phantasien nachzuspielen. Er war ein Lustmörder, der sie in einer dunklen Seitengasse vergewaltigte, oder ein Sadist, der sie durch den Wald jagte, an einen Baum fesselte und sie dann auspeitschte, bevor er sie besaß. Jedesmal nach einem solchen Ereignis fühlte sich Lars vollkommen abgespannt, und einmal kam es vor, daß
die beiden, nachdem sie geliebt hatten, mehrere Stunden nackt im Freien schliefen und erst vom Schneefall geweckt wurden. Lars bat sie nun, ihn zu heiraten. Sie lehnte mit der Erklärung ab, daß sie bereits einem anderen Mann gehöre. Sie sprach von diesem Mann schlicht als ›dem Grafen‹ und sagte, daß er sie einmal in der Woche aufsuche, um ein kleines Glas von ihrem Blut zu trinken. Lars war in der Tat aufgefallen, daß sie kleine Schnittwunden an den Unterarmen hatte. Er erklärte Lars, daß sie seine Energie genommen hatte, um den Forderungen des Grafen nachkommen zu können. Der einzige Weg, um sie und Lars zu vereinen, bestünde darin, daß sie beide dem Grafen völlige Ergebenheit schwörten und sich zu seinen Sklaven erklärten. Blind vor Eifersucht drohte Lars, sie zu töten. Danach versuchte er, sich selbst zu töten. Er nahm eine Überdosis eines starken Medikaments. Seine Familie fand ihn bewußtlos auf und ließ ihn in die Klinik bringen. Dort wurde er zwei Wochen festgehalten. Nach Ablauf dieser Zeit lief er fort und suchte die Wohnung des Mädchens auf, in der Absicht, ihm mitzuteilen, daß er seine Bedingungen akzeptierte. Aber es war fort, und niemand wußte seine Adresse. Von da an war er häufigen nervlichen Erschöpfungszuständen ausgesetzt. Seine sexuellen Phantasi-
en drückten sich in Träumen aus, in denen er von dem Mädchen und seinem Liebhaber, dem Graf, mißhandelt wurde. Nach diesen auto-erotischen Orgien war er oft tagelang erschöpft. Seine Eltern waren zutiefst um ihn besorgt, und sein Professor, ein bedeutender Kunsthistoriker, bat ihn, an seine Arbeit zurückzukehren. Schließlich beschloß er, zu mir zu kommen. Zuerst nahm ich an, es handele sich um eine Freudsche Neurose, bei der wahrscheinlich Schuldgefühle wegen einer Mutterfixierung eine Rolle spielten. Der Patient gab auch zu, Inzestwünsche gegenüber seinen Schwestern zu haben. Aber eine Episode, die er mit erzählte, veranlaßte mich zu der Überlegung, ob mein Ansatz vielleicht völlig falsch sein könnte. Er erzählte mir von einem Ereignis während des Frühstadiums der Liebesaffäre. Er arbeitete in seinem Atelier an einer Marmorstatue und fühlte sich ungewöhnlich kräftig. Seine Geliebte suchte ihn im Atelier auf, und er versuchte, sie zum Fortgehen zu bewegen, damit er weiterarbeiten konnte. Statt dessen legte sie die Kleidung ab und legte sich zu seinen Füßen, bis er erregt wurde. Schließlich liebten sie sich auf dem Fußboden. Er schlief in ihren Armen ein. Als er erwachte, stellte er fest, daß nun sie auf ihm lag und ihm – wie er es ausdrückte – den Lebenssaft aussaugte. Er sagte, es hätte sich genauso angefühlt, als
saugte sie sein Blut. Als sie schließlich aufstand, war er zu erschöpft, um sich zu rühren; sie dagegen strahlte nun eine tigerhafte Vitalität aus, die fast dämonisch wirkte. In diesem Zusammenhang fiel mir ein, was meine Mutter einmal über meine Tante Kristin gesagt hatte – daß sie jeder im Raum befindlichen Person Lebenskraft entziehen könnte, während sie einfach dasaß und anscheinend völlig von ihrem Stricken in Anspruch genommen wurde. Ich hatte dies als Redensart abgetan, aber nun überlegte ich, ob nicht eine sachliche Grundlage dahinterstecken könnte. Den Aussagen des Patienten zufolge besuchte ihn sein ›Vampir‹ oft in Träumen und entzog ihm Lebenskraft. Ich brachte ihn deshalb in meinem Haus unter und begann mit einer Testreihe. Jede Nacht, bevor er schlafen ging, machte ich Messungen von seinem Lebensfeld und Kirliansche Fotografien von seinen Fingerkuppen. Während der ersten Nächte zeigte er keinerlei Anzeichen eines Erschöpfungszustandes – die Messungen fielen am Morgen stets ein wenig höher aus, wie man es nach einer gut durchschlafenen Nacht durchaus erwarten kann, und die Kirlianschen Fotografien zeigten eine gesunde Aura an. Aber in jener Nacht, als er das erstemal von seinem ›Vampir‹ träumte, wurde sein Lebensfeld auffällig niedriger, und die Kirlianschen Fotografien ent-
sprachen denen eines Mannes, der an einer kräftezehrenden Krankheit leidet –« Carlsen schaute auf. »Was hältst du davon?« »Was geschah weiter?« fragte sie. »Ich weiß nicht. Weiter bin ich noch nicht gekommen. Aber so wie ich es verstehe, lautet seine Theorie, daß alle Menschen bis zu einem gewissen Grad Energievampire sind –« Jelka saß in dem Sessel am Fenster. Sie sagte: »Mir scheint, es war ein klarer Fall von sexueller Perversion. Die Sache mit dem Sarg und so weiter –« Er starrte an ihr vorbei und schüttelte den Kopf. Er hatte plötzlich das Gefühl, den Fall vollkommen zu verstehen und schon seit langem davon gewußt zu haben. Er sagte: »Nein. Das ist ja das Interessante daran. Sie begann damit, sich in sein Gefühlsleben einzuschleichen.« Jelka sah ihn verwundert an; die Redensart hörte sich irgendwie falsch an. »Verstehst du nicht? Sie beginnt mit Schmeicheleien, sagt ihm, daß sie einem genialen Mann gehören möchte – mit anderen Worten, sie bietet ihm bedingungslose Unterwerfung an. Dann findet sie seine geheimen Phantasien heraus – seine Träume von Vergewaltigung und Schändung – und wird zu einem Instrument dieser Phantasien, bis er völlig von ihr abhängig ist. Sie beginnt seine Energie zu trinken, ihm den Lebenssaft zu rauben. Und dann kommt die Kehrtwendung. Wenn sie sicher ist, daß sie
ihn völlig in der Gewalt hat, sagt sie ihm, er müsse sich ihr völlig unterwerfen und ihr Sklave werden. Mit anderen Worten, sie dreht den Spieß um –« »Ich habe ein paar Frauen von der Sorte gekannt.« Sie stand auf. »Aber lies trotzdem weiter. Ich schmachte danach zu erfahren, wie es weitergeht.« Eine Viertelstunde später schob sie den Teewagen ins Schlafzimmer. »Du siehst jetzt besser aus«, sagte sie. »Ja, ich fühle mich auch besser. Ich muß fest geschlafen haben. Ah, das schmeckt ja köstlich. Geröstete Brötchen –« Sie hob das Buch auf, das er auf den Boden hatte fallen lassen. »Und? Wurde er geheilt?« Er sagte mit vollem Mund: »Das schon, aber das Ende ist ziemlich enttäuschend. Er führt nicht näher aus, wie er es gemacht hat. Er sagt nur, der Patient habe seine sexuelle Orientierung geändert.« Sie setzte sich hin und las. »Stimmt, es ist wirklich ziemlich unbefriedigend. Kannst du dem Autor nicht schreiben?« Sie sah auf das Titelblatt. »Oh, geht nicht – er muß tot sein. Das Buch erschien zweitausenddreißig – das ist fast fünfzig Jahre her.« Der Teleschirm summte. Sie schaltete die Bildübertragung aus, bevor sie antwortete, und benutzte das angeschlossene Telefon. Kurz darauf sagte sie: »Es ist Hans Fallada.«
»Ausgezeichnet, ich rede mit ihm.« Falladas Gesicht erschien. »Guten Morgen. Haben Sie mein Manuskript erhalten?« »Ja, vielen Dank. Ich lese es gerade. Was gibt's Neues?« Fallada zuckte die Achseln. »Nichts weiter. Ich habe gerade mit Heseltine gesprochen. Es tut sich nichts. Und heute nachmittag gibt es eine Anfrage im Parlament wegen der Zurückbeorderung der Wega und der Jupiter. Ich rufe an, um Sie zu warnen. Wenn sich die Presse bei Ihnen meldet, geben Sie an, Sie wüßten nichts davon. Oder sagen Sie etwas Unverbindliches. Man müsse in dieser Angelegenheit eben langsam vorgehen oder so was.« »Gut. Sagen Sie, Doktor, haben Sie eigentlich das Buch Geistige Vampire gelesen?« »Von Graf von Geijerstam? Das ist lange her.« »Ich lese es gerade. Er scheint in seinen Ansichten in vielen Punkten mit Ihnen übereinzustimmen, trotzdem tun Sie ihn als einen Sonderling ab.« »Ja, das stimmt. Dieses Buch ist ganz brauchbar, aber seine späteren Arbeiten sind völlig verrückt. Zum Schluß glaubte er, die meisten Geisteskrankheiten würden von Geistern und Dämonen verursacht.« »Aber der erste Fall, den er schildert – dieser Bildhauer, entsinnen Sie sich? –, ist faszinierend. Es müßte interessant sein herauszufinden, wie er ihn geheilt
hat. Er muß letztlich eine Abwehrmethode gegen Vampirismus entdeckt haben.« Fallada nickte nachdenklich. »Ja, nun, da Sie es erwähnen ... Geijerstam muß natürlich tot sein. Aber er hatte viele Schüler und Studenten. Vielleicht könnte uns die schwedische Botschaft weiterhelfen.« Jelka, die an der Tür stand, meinte: »Wie wäre es mit Fred Armfeldt?« »Einen Moment –« sagte Carlsen. »Fred Armfeldt, der Mann, der sich bei deinem Empfang so betrunken hat«, sagte Jelka. »Er war der schwedische Kulturattaché.« Carlsen schnippte mit den Fingern. »Ja, natürlich. Er könnte uns helfen. Ein Mann, der zu meinem Empfang in der Guildhall kam. Ich versuche, mich mit ihm in Verbindung zu setzen.« »Gut«, sagte Fallada. »Rufen Sie zurück, wenn Sie etwas erreichen. Ich überlasse Sie jetzt Ihrem Frühstück.« Offenbar hatte er das Tablett auf dem Bett bemerkt. Carlsen duschte und rasierte sich, bevor er die schwedische Botschaft anrief. »Könnte ich bitte Fredrik Armfeldt sprechen?« Er nannte seinen Namen. Kurze Zeit später sprach er mit einem glattrasierten, jungen Mann mit rosigen Wangen. »Welche Überraschung, Commander!« sagte Armfeldt. »Was kann ich für Sie tun?«
Carlsen erläuterte sein Anliegen kurz. Armfeld schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie von diesem Geijerstam gehört. Er ist Arzt, sagen Sie?« »Psychiater. Er schrieb ein Buch mit dem Titel Geistige Vampire.« »Ah, in dem Fall steht er wahrscheinlich im schwedischen Schriftstellerverzeichnis. Ich habe es hier im Büro. Einen Augenblick, bitte.« Kurz darauf erschien er mit einem dickleibigen Buch. Er blätterte es durch und murmelte: »Fröding, Garborg – ah, Geijerstam, Gustav. Ist er das?« »Nein. Ernst von.« »Ah ja, hier: Ernst von Geijerstam, Psychologe und Philosoph. Geboren in Norrköping, Juni 1987. Ausbildung an der Universität Lund und Universität Wien ... Was möchten Sie wissen?« »Wann starb er?« Armfeldt schüttelte den Kopf, sah dann auf den Buchumschlag. »Soviel ich sehe – lebt er noch. Er muß – dreiundneunzig sein.« Carlsen unterdrückte seine Erregung und fragte: »Ist eine Adresse angegeben?« »Ja. Heimskringla, Storavan, Norrland. Das ist eine seenreiche Gebirgsgegend –« Carlsen notierte die Adresse. »Eine Teleschirmnummer ist nicht angegeben?«
»Nein. Aber wenn Sie möchten, kann ich versuchen, sie herauszufinden –« »Nein, sparen Sie sich die Mühe. Das war schon sehr nützlich.« Sie tauschten noch einige Höflichkeitsfloskeln aus, kamen überein, sich einmal zu einem Drink zu treffen, und verabschiedeten sich. Carlsen rief sofort Fallada an. »Geijerstam lebt noch.« »Unglaublich! Wo wohnt er?« »In Storavan in Norrland. Ich überlege gerade, ob ich ihm ein Telegramm schicken soll? Bei all dem Rummel könnte er durchaus von mir gehört haben.« Fallada schüttelte den Kopf; er sagte langsam: »Nein. Ich glaube, ich muß versuchen, mich mit ihm in Verbindung zu setzen. Ich hätte es eigentlich schon vor Jahren versuchen sollen. Reine Faulheit und Borniertheit, daß ich es nicht tat. Immerhin war er der erste, der das Phänomen des mentalen Vampirismus erkannte. Können Sie mir die vollständige Adresse geben?« Carlsen verbrachte den Rest des Vormittags im Wohnzimmer mit Lesen. Er hatte eigentlich vorgehabt, Falladas Buch zu lesen, aber Geistiger Vampirismus fesselte ihn so sehr, daß er es zur Hälfte durch hatte, als Jelka die Kinder zur Mittagszeit aus der Vorschule holte. Der Teleschirm summte unaufhörlich: zumeist Journalisten,
die einen Kommentar zum Rückruf der Raumschiffe von ihm wollten. Nachdem Carlsen mit dreien gesprochen hatte, bat er Jelka zu sagen, er sei nicht zu Hause. Um zwei, nach dem Essen, als er mit den Kindern im Planschbecken spielte, kam Jelka an die Haustür. »Dr. Fallada ist wieder am Schirm.« Er ging hinein. Nach dem grellen Sonnenlicht gewöhnten sich seine Augen nur langsam an die im Haus herrschenden Lichtverhältnisse. Fallada war am Nebenapparat in der Küche. »Was haben Sie für den Rest des Tages vor?« fragte er. »Nichts außer Ihr Buch zu lesen«, sagte Carlsen. »Können Sie mit mir nach Schweden kommen?« Er lächelte interessiert. »Ich denke schon. Warum?« »Geijerstam hat uns zu sich eingeladen. Wenn wir die Fünfzehn-Uhr-zweiundvierzig-Maschine vom Londoner Flughafen noch erwischen, können wir um halb sieben in Karlsborg sein.« »Wo liegt das?« »Es ist eine Kleinstadt am Nordrand des bottnischen Meerbusens. Geijerstam sorgt dafür, daß wir dort von einem Lufttaxi abgeholt werden.« »Was soll ich mitnehmen?« »Nur eine Reisetasche. Und Geijerstams Buch. Ich möchte es auf dem Weg dorthin lesen.«
Carlsens Helitaxi hatte Verspätung; er und Fallada hatten kaum Zeit, ein paar Worte zu wechseln und sich anzuschnallen, bevor der Aeroflot-Jet zum Flug nach Moskau über Stockholm und Leningrad startete. Carlsen hatte sich stets eine kindliche Freude am Fliegen bewahrt. Nun, als er die Grünflächen Südenglands dem silbergrauen Spiegel des Meeres weichen sah, spürte er eine wachsende Erregung, ein Gefühl, als fliege er einem Abenteuer entgegen. »Waren Sie schon einmal in Nordschweden?« fragte Fallada. »Nein. Nur in Stockholm. Sie?« »Ja. Ich schrieb meine Dissertation über Selbstmord in Schweden und verbrachte viele Wochen im Norden. Die Menschen dort sind ein schwermütiges und zurückhaltendes Volk. Aber die Landschaft ist wunderschön.« Eine Hostess bot ihnen Drinks an; beide nahmen einen Martini. Es war noch früh, aber Carlsen war in Urlaubsstimmung. »Haben Sie mit Geijerstam persönlich gesprochen?« fragte er. »Allerdings. Eine Viertelstunde lang. Er ist ein charmanter alter Herr. Als ich ihm von meinen Experimenten erzählte, wurde er ganz aufgeregt.« »Wieviel haben Sie ihm von – dem Fremden erzählt?«
»Gar nichts. Es war zu riskant am Teleschirm. Ich sagte nur, ich würde an dem merkwürdigsten und kompliziertesten Fall arbeiten, der mir je begegnet ist. Und er lud mich unverzüglich zu sich ein. Er muß übrigens ziemlich reich sein, denn er erbot sich, mir die Fahrtkosten zu ersetzen. Ich erwiderte natürlich, daß das Institut zahlen würde. Wir tragen übrigens auch Ihre Unkosten. Sie sind offiziell als mein Assistent hier.« Carlsen gluckste. »Ich werde mir Mühe geben.« In Stockholm stiegen sie in eine kleinere Maschine der schwedischen Luftfahrtgesellschaft um. Fallada war weiterhin in das Buch vertieft; Carlsen schaute aus dem Fenster und beobachtete die Landschaft. Grünes Flachland wurde von mit Kiefern bewachsenen Hügeln abgelöst und ging schließlich in eine schwarze, von Schneeadern durchzogene Tundra über. Die Aprilsonne sah nun blaß aus, als würde ihr Licht durch Eis gefiltert. Man servierte ihnen einen Imbiß, bestehend aus Salzgebäck, rohem Fisch und Wodka. Fallada aß geistesabwesend, den Blick auf das Buch geheftet. Carlsen bemerkte, mit welcher Geschwindigkeit und völliger Konzentration er las; in den zweieinhalb Stunden, seit sie London verlassen hatten, hatte er mehr als drei Viertel von Geijerstams Buch gelesen. Das Flugzeug glitt nun im Landeanflug durch die
Dunstwolken; unten wurden zum Teil mit Schnee bedeckte Inseln sichtbar. Der Karlsborger Flughafen wirkte lächerlich klein: kaum mehr als ein Kontrollgebäude und ein winziger, von Blockhäusern umgebener Landeplatz. Als sie ausstiegen, wurde Carlsen von der schneidend kalten Luft überrascht. Der Taxifahrer, der sie abholte, war kein Skandinavier; er hatte schwarzes Haar und ein rundes Gesicht, das Carlsen an das eines Eskimos erinnerte. Er trug ihre Reisetaschen zu einem sechssitzigen Hubschrauber, der auf einem Landefeld neben dem Flughafen stand. Wenig später flogen sie über schneebedecktes Ackerland dahin, dann wieder über das Meer. Carlsen fand heraus, daß der Pilot ein wenig Norwegisch sprach; er war ein Lappländer aus der Nordprovinz. Als Carlsen fragte, wie groß Storavan wäre, schaute der Pilot überrascht auf und sagte dann: »Ungefähr zehn Kilometer.« »Eine große Stadt.« »Es ist keine Stadt, sondern ein See.« Fortan schwieg er. Die Szenerie ging in bewaldetes Bergland über; Carlsen erblickte ab und zu Rentiere. Fallada las unbeirrt weiter. Schließlich klappte er das Buch zu. »Interessant, aber eindeutig verrückt.« »Sie meinen geisteskrank?« »Nein, das nicht gerade. Aber er glaubt, daß Vampire böse Geister sind.«
Carlsen lächelte. »Und? Sind sie's nicht?« »Sie haben gesehen, wie die Muräne den Kraken attackierte. War sie ein böser Geist?« »Aber wenn diese Fremden außerhalb des menschlichen Körpers leben können, macht sie das dann nicht zu Geistern?« »Nicht in seinem Sinn. Er redet von Gespenstern und Dämonen.« Carlsen schaute hinab auf die Wälder, die sich nur knapp dreißig Meter unter dem Hubschrauber befanden. In diesem Land fiel es leicht, an Geister und Dämonen zu glauben. Da waren kleine, dunkel getönte Seen, die den Himmel, der sich in ihnen spiegelte, wie blau angemaltes Glas aussehen ließen. Eine halbe Meile entfernt auf einem Granithang warf ein Wasserfall eine weiße Dunstwolke in die Höhe; Carlsen konnte sein Donnern durch das Motorengeräusch hindurch hören. Im Westen ging der Himmel von einem Goldton langsam in Rot über. Die Landschaft hatte etwas Traumhaftes und Unirdisches. Eine Viertelstunde später deutete der Pilot nach vorn. »Heimskringla.« Sie sahen einen See, der sich, so weit das Auge reichte, zwischen Bergen dahinschlängelte. Ein paar Meilen weiter südlich glitzerte ein weiterer gewaltiger See zwischen den Bäumen. Rechts unter ihnen lag ein kleines Städtchen; für einen Augenblick dachte
Carlsen, es wäre Heimskringla, dann bemerkte er, daß sie darüber hinwegflogen. Er fragte: »Var är Heimskringla?« Der Mann deutete nach vorn. »Där.« Da erblickte Carlsen die Insel im See und das Dach, das zwischen den Bäumen hindurchlugte. Als sie in geringer Höhe über den Bäumen dahinflogen, konnten sie die Vorderfront des Hauses sehen. Sie war grau und hatte Türmchen wie ein Schloß. Von der Rückseite aus konnte man den See überblicken; vor dem Haus war Rasen, und zwischen den Bäumen wanden sich verschlungene Pfade dahin. An einer freien, grasbewachsenen Stelle am Seeufer stand eine kleine Holzkapelle. Der Hubschrauber setzte sanft auf dem Kies vor dem Haus auf. Als die Rotorblätter zum Stillstand kamen, sahen sie einen Mann, der von der Vordertür aus auf sie zukam. Ihm folgten drei Mädchen. »Ah, was für ein entzückendes Empfangskomitee«, sagte Fallada. Der Mann, der ihnen entgegenkam, war groß und hager, und er schritt kraftvoll und zielbewußt aus. Fallada meinte: »Das kann doch nicht der Graf sein? Er ist zu jung.« Als sie auf den Kies traten, wehte ihnen ein kalter Wind ins Gesicht. Carlsen fand, daß er nach Schnee roch. Der Mann reichte ihnen die Hand. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen. Ich bin Ernst
von Geijerstam. Es war nett von Ihnen, die Strapazen einer so langen Reise auf sich zu nehmen, um einen alten Mann zu besuchen.« Carlsen fragte sich, ob er scherzte. Obwohl sein Schnurrbart grau und das schmale, ansprechende Gesicht von Falten gezeichnet war, wirkte er kaum älter als sechzig. Die tadellose Kleidung verstärkte den jugendlichen Eindruck: er trug einen schwarzen Mantel, Hosen mit Nadelstreifen und eine weiße Schleife. Sein Englisch war perfekt und akzentfrei. Carlsen und Fallada stellten sich vor. Geijerstam drehte sich um. »Gestatten Sie, daß ich Ihnen meine drei Studentinnen vorstelle: Selma Bengtsson, Anneliese Freytag, Louise Curel.« Miß Bengtsson, eine große Blondine, hielt Carlsens Hand einen Augenblick länger als nötig. Das Leuchten in ihren Augen sagte ihm, daß sie ihn wiedererkannte, und er wußte bereits, was sie sagen würde. »Ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Sind Sie nicht der Captain der –« »Der Hermes. Genau.« Geijerstam sagte: »Und Sie sind als Dr. Falladas Assistent hier.« Es war eine Feststellung, aber sie war nicht ironisch gemeint. Fallada sagte: »Das werde ich sagen, wenn ich die Erstattung seiner Unkosten verlange.« »Ah, ich verstehe –« Der Graf drehte sich um und
sprach mit dem Chauffeur auf Lettisch; der Mann grüßte und stieg in den Hubschrauber. »Ich habe ihn angewiesen, morgen mittag zurückzukehren – wenn Sie natürlich länger bleiben möchten ... Haben Sie Lust, sich den See anzuschauen, bevor wir ins Haus gehen?« Die Hubschrauberrotoren heulten auf, und der entstehende Luftwirbel ließ den Mädchen die Kleider um die Beine flattern. Ein livrierter Diener nahm ihre Taschen. »Sie leben hier an einem wunderschönen Ort«, sagte Carlsen. »Schön ja, aber zu kalt für einen alten Mann mit dünnem Blut. Würden Sie mir folgen?« Er führte sie einem moosbewachsenen Pfad entlang zum Wasser, dessen Oberfläche das Abendrot widerspiegelte. Fallada ging mit Geijerstam voraus, und Carlsen sagte zu der Blondine: »Der Graf ist weitaus rüstiger, als ich erwartet hatte.« »Natürlich«, sagte sie. »Wir halten ihn auch jung.« Als er sie erstaunt ansah, lachten die drei Mädchen. Sie standen auf dem mit Kieselsteinen übersäten Uferstreifen und sahen zu dem Kiefern- und Tannenwald hinüber. Das Sonnenlicht, das sich in den Baumwipfeln fing, vermittelte den Eindruck, als brenne dort ein Feuer. Darüber lag ein klarer, tiefblauer Himmel. Geijerstam deutete mit dem Finger voraus. »Die Kapelle ist älter als das Haus. Zu Lebzeiten Gustavus
Vasas gab es ein Mönchskloster auf dieser Insel. Um 1590 wurde das Haus auf seinen Grundmauern errichtet.« »Warum leben Sie so weit im Norden?« fragte Fallada. »In Norrköping gibt es ein Sprichwort: daß in Norrland Eichen, Edelmänner und Langusten enden. Schon als Kind wollte ich immer hier leben. Dieses Haus fand ich vor fast vierzig Jahren, als ich hierher kam, um der Sage von Graf Magnus nachzugehen.« »War er nicht ein Liebhaber Königin Christianas?« fragte Carlsen. »Das war sein Onkel. Der Neffe erbte den Titel.« Sie gingen am Strand entlang; die Steine knirschten unter ihren Füßen. »Als ich hierher kam, stand das Haus schon seit einem halben Jahrhundert leer. Die Leute sagten, es wäre zu groß, um es zu unterhalten. Aber der wirkliche Grund war, daß die Menschen von Avaviken sich noch immer vor dem Graf fürchteten. Er soll dem Vernehmen nach ein Vampir gewesen sein.« »Wann starb er?« »Er starb während der Schlacht von Poltawa 1709. Man brachte seinen Leichnam hierher. Sein Sarg befindet sich noch immer im Mausoleum.« »Was geschah mit der Leiche?« »Im Jahre 1790 trieb der damalige Besitzer des
Hauses ihr einen Holzpfahl durchs Herz und verbrannte sie zu Asche. Man sagt, sie sei ungewöhnlich gut erhalten gewesen.« Sie hatten sich der Kapelle bis auf hundert Meter genähert. »Möchten Sie einen Blick in das Mausoleum werfen?« Die Französin, Louise, sagte: »Mir ist kalt.« »Ah, dann sehen wir es uns morgen früh an.« Sie gingen über den Rasen und kamen an einem großen, künstlich angelegten Teich vorüber; eine dünne Eisschicht glitzerte auf der Oberfläche. »Die Mönche pflegten ihre Forellen darin zu halten.« Carlsen fragte: »Glauben Sie, Graf Magnus war wirklich ein Vampir – in Ihrem Sinn?« Der Graf lächelte. »Es gibt doch sicherlich nur einen Sinn?« Er führte sie die ausgetretenen Steinstufen hinauf in die Vorhalle. »Aber die Antwort auf Ihre Frage lautet ja. Und nun, möchten Sie Ihre Zimmer sehen? Oder möchten Sie erst einen Drink zu sich nehmen?« »Einen Drink«, sagte Fallada entschlossen. »Gut. Dann kommen Sie mit in die Bibliothek.« Durch das Bibliotheksfenster konnten sie sehen, wie die Sonne langsam hinter den Bergen unterging. In dem gewaltigen Kamin brannte ein Holzfeuer; die Glut spiegelte sich auf den kupfernen Kaminwerkzeugen und den polierten Lederrücken der Bücher. Die Deutsche, Anneliese, schob einen Getränkewagen
auf den Kaminvorleger. Mit ihrer strammen Figur und den rosigen Wangen erinnerte sie Carlsen an eine Kellnerin in einem Biergarten. Sie goß schwedischen Schnaps in die Gläser. »Ich trinke auf Sie, meine Herren«, sagte Geijerstam. »Es ist eine große Ehre, zwei so berühmte Gäste zu haben.« Die Mädchen tranken ebenfalls. »Darf man fragen, was Ihre attraktiven Schülerinnen studieren?« fragte Carlsen. Der Graf lächelte. »Warum fragen Sie sie nicht selbst?« Louise Curel, ein schlankes Mädchen mit dunklen Augen, sagte: »Wir lernen, wie man die Kranken heilt.« Carlsen hob sein Glas. »Ich bin sicher, Sie werden reizende Krankenschwestern abgeben.« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »O nein, wir haben nicht die Absicht, Krankenschwestern zu werden.« »Ärztinnen?« »Das kommt der Sache schon näher.« »Sind Sie müde?« fragte der Graf. Überrascht von dem Themawechsel sagte Carlsen: »Nein, durchaus nicht.« »Sind Sie nicht einmal ein bißchen müde von der Reise?« »Nun, ein klein wenig.«
Geijerstam lächelte den Mädchen zu. »Möchten Sie es demonstrieren?« Sie schauten Carlsen an und nickten. »Dies ist vielleicht die beste Möglichkeit, Ihre Frage zu beantworten und Ihnen gleichzeitig eine Vorstellung von meiner Arbeit zu vermitteln«, sagte Geijerstam. »Würden Sie bitte aufstehen?« Carlsen stellte sich auf den Kaminvorleger. Selma Bengtsson begann den Reißverschluß seines Jacketts zu öffnen. Geijerstam sagte: »Schließen Sie einen Moment die Augen und konzentrieren Sie sich auf Ihre Empfindungen – besonders auf das Müdigkeitsgefühl.« Carlsen machte die Augen zu; er konnte das Spiel der Flammen durch die Lider sehen. Er spürte eine Müdigkeit in den Muskeln und ein Gefühl von Entspannung. »Die Mädchen werden die Hände auf Sie legen und Ihnen Energie geben. Entspannen Sie sich, damit Sie sie aufnehmen können. Sie werden nichts spüren.« Louise Curel sagte: »Würden Sie bitte den Schlips abnehmen und das Hemd aufmachen?« Als er das Hemd aufgeknöpft hatte, schoben sie es ihm bis über die Schultern zurück. Die Schwedin sagte: »Schließen Sie die Augen.« Er stand leicht schwankend da und spürte, wie die Mädchen ihm die Fingerkuppen auf die Haut legten. Er konnte ihren Atem in seinem Gesicht spüren. Es war ein erregendes, leicht erotisches Gefühl.
Sie standen vielleicht fünf Minuten so da. Carlsen spürte ein übersprudelndes Wonnegefühl, als hätte er das Bedürfnis zu lachen. »Es könnte sogar noch schneller gehen, wenn sie es mit den Lippen machten«, sagte der Graf. »Das ist übrigens der Grund, warum Küssen Spaß macht. Es ist ein Austausch von männlicher und weiblicher Energie. Wie fühlen Sie sich?« »Vorzüglich.« »Gut. Ich denke, das dürfte genug sein.« Die Mädchen halfen ihm, das Hemd zuzuknöpfen und den Schlips zu binden. »Wie fühlen Sie sich?« fragte Fallada. Als Carlsen zögerte, sagte Geijerstam: »Er wird es erst in frühestens fünf Minuten sagen können.« Er fragte Miß Bengtsson: »Wie war es?« »Ich glaube, er war müder, als er dachte.« »Wie kommen Sie darauf?« fragte Carlsen. »Sie nahmen mehr Energie, als ich erwartet hatte.« Sie blickte die anderen Mädchen an, die beide nickten. »Dann fühlen Sie sich jetzt müde?« fragte er. »Ein wenig. Aber vergessen Sie nicht, daß wir zu dritt sind, jede einzelne also nicht viel gibt. Und wir nehmen Ihnen Energie.« »Sie nehmen sie?« »Ja. Wir nehmen ein wenig von Ihrer männlichen Energie und geben Ihnen dafür unsere weibliche
Energie.« Sie wandte sich an den Grafen. »Sie können es besser erklären.« Geijerstam füllte die Gläser nach. »Man könnte es wohltätigen Vampirismus nennen«, sagte er. »Sehen Sie, wenn Sie müde sind, heißt das nicht unbedingt, daß Sie keine Kraft mehr haben. Sie haben vielleicht noch enorme vitale Reserven, aber es ist kein Stimulus da, der sie zum Vorschein bringt. Wenn die Mädchen Ihnen weibliche Energie geben, werden diese vitalen Reserven freigesetzt, genau wie bei einem sexuellen Reiz. Für einen Augenblick fühlen Sie sich genauso müde wie zuvor – vielleicht sogar noch müder. Dann beginnen Ihre vitalen Energien zu fließen, und Sie fühlen sich ausgezeichnet.« »Eine Art gleichzeitiger, gegenseitiger Befruchtung?« fragte Fallada. »Genau.« Er fragte Carlsen: »Wie fühlen Sie sich?« »Fabelhaft, danke.« Er spürte ein wohltuendes, inneres Glühen und fragte sich, inwieweit es dem Schnaps und der zauberhaften Schönheit des Sonnenuntergangs über dem See zuzuschreiben war. »Schließen Sie einen Moment die Augen. Bemerken Sie noch eine Spur Müdigkeit?« »Nicht die geringste.« Geijerstam sagte zu Fallada: »Wenn wir seinen Lambdawert messen würden, würden Sie feststellen, daß er gestiegen ist.«
»Ich würde gern umfassende Untersuchungen vornehmen«, sagte Fallada. »Selbstverständlich, das ist kein Problem. Ich habe bereits welche durchgeführt, und ich will Ihnen die Resultate zeigen.« »Haben Sie sie jemals veröffentlicht?« »Ich schrieb vor rund zehn Jahren einen Artikel darüber für The Journal of Humanistic Psychology, aber Professor Schacht aus Göttingen attackierte ihn so heftig, daß ich beschloß zu warten, bis die Menschen aufnahmebereiter wären.« »Wie kamen Sie zu Ihrer Entdeckung?« fragte Carlsen. »Eine erste Vermutung kam mir, als ich noch Student war. Das ist über siebzig Jahre her. Mein Professor war Heinz Gudermann, der mit einer außergewöhnlich reizenden jungen Frau verheiratet war. Er besaß eine enorme Vitalität, und er pflegte oft zu sagen, daß er sie seiner Frau verdanke. Dann las ich eine Abhandlung, in der ausgeführt wurde, daß viele Männer, die mit jungen Frauen verheiratet waren, sich die Vitalität bis ins hohe Alter erhalten hatten. Ich entsinne mich, daß der große Cellist Casals, der Gitarrist Segovia und der Philosoph Bertrand Russell darin erwähnt wurden. Der Verfasser der Abhandlung vertrat die Ansicht, dies sei rein psychologisch bedingt, aber bereits damals kamen mir Zweifel an
dieser These. Fünfzehn Jahre später, als ich das Vampirismusprinzip entdeckte, begann ich zu vermuten, daß der wahre Grund in einem Austausch sexueller Energie zu suchen war. Ich überredete ein junges Paar, ihre Lambdawerte zu messen, bevor sie an ihrer Hochzeitsnacht zu Bett gingen, und den Vorgang am nächsten Tag zu wiederholen. Die Messungen zeigten einen deutlichen Anstieg der Lebensfeldenergie. Als nächstes überredete ich ein anderes Ehepaar, Messungen vor und nach dem Liebesakt vorzunehmen. Das erste, was mir auffiel, war, daß die zweite Kurve der einer hungrigen Person glich, die gerade Nahrung zu sich nahm. Aber sie war viel steiler. Dies schien meine These zu bestätigen: daß beide Partner eine Art Nahrung zu sich genommen hatten – Lebensenergie. Und dennoch waren bei beiden die Werte gestiegen. Wie konnte dies sein, wenn es nicht zwei Sorten Energie gab, männliche und weibliche? Sehen Sie, das Liebesspiel ist eine symbiotische Beziehung, wie die Beziehung zwischen einer Biene und einer Blume. Die Biene saugt der Blume den Nektar aus und befruchtet sie dabei. Aber zu der damaligen Zeit interessierte ich mich mehr für die negativen Aspekte des Vampirismus – für Menschen wie Gilles de Rais und Graf Magnus. Als ich etwa Mitte siebzig war, hatte ich eine schwere Krankheit. Meine Pflegerin war ein hübsches Bauernmädchen. Jedesmal, wenn
sie die Hände auf mich gelegt hatte, fühlte ich mich wesentlich besser, sie dagegen war müde. Mir kam daraufhin der Gedanke, mich von mehreren Mädchen gleichzeitig berühren zu lassen. So wäre es für jedes leichter. Es funktionierte. Und heute nehme ich jeden Tag ein wenig Energie von meinen drei Assistentinnen, und sie nehmen ein wenig von mir. Sie halten mich jung.« Fallada schüttelte fassungslos den Kopf. »Das ist wirklich erstaunlich. Könnte man es nicht in der medizinischen Praxis zur Anwendung bringen?« »Das hat man. Ein Beispiel dafür befindet sich direkt hier im Haus – Gustav, der Diener, der Ihre Koffer trug. Er kommt aus Lycksele, einer nahegelegenen Kleinstadt. Er war einmal ein ausgezeichneter Zimmermann; eine Serie von Trauerfällen ließ ihn depressiv werden, und er machte mehrere Selbstmordversuche. Nach dem dritten Versuch wurde er in eine Anstalt für Geistesgestörte eingeliefert, und dort wurde er völlig schizophren. Nun ist Schizophrenie eine Art Teufelskreis. Die Lebensenergie ist niedrig, folglich erscheint einem alles bedeutungslos und sinnlos. Und weil alles so sinnlos erscheint, wird man noch depressiver und apathischer. Nun hatte ich zu dieser Zeit sieben junge Mädchen den ganzen Sommer über zu Besuch. Wir brachten Gustav hierher – um ihn aus seiner alten Umgebung fortzuschaffen –
und begannen mit einer intensiven Behandlung. Es handelte sich dabei im wesentlichen um die gleiche Methode, die der Commander gerade erlebt hat. Während der ersten Stunden wurden die Mädchen sehr müde, er aber lebte merklich auf. Nach einigen Sitzungen nahm er ihnen nicht mehr so viel Energie. Er begann seine eigene wieder aufzubauen. Innerhalb einer Woche war er ein völlig anderer Mensch. Er bat mich, hierbleiben zu dürfen, also stellte ich ihn an, und er heiratete die Tochter des Gärtners. Heute ist er vollkommen normal.« »Wenn das alles wahr ist«, sagte Fallada langsam, »ist es eines der erstaunlichsten Dinge, die ich je gehört habe. Kann jeder diese Energie geben?« »Ja. Es braucht ein wenig Übung dazu – Frauen fällt es leichter als Männern. Aber ich glaube, daß jeder dazu fähig ist.« »Und was passiert, wenn der Patient von diesen Energie-Transfusionen abhängig wird wie von einer Droge?« fragte Carlsen. Der Graf schüttelte den Kopf. »Das geschieht nur in seltenen Fällen, wenn der Patient eine kriminelle Veranlagung hat.« Fallada schaute ihn interessiert an. »Kriminell?« »Ja. Es ist eine Art – Verderbtheit. Verstehen Sie den Begriff? Gesunde Menschen lieben es, unabhängig zu sein. Sie möchten sich anderen gegenüber
nicht gern verpflichtet fühlen. Wenn man allerdings sehr müde oder krank ist, braucht man natürlich Hilfe – wie es mir geschah. Aber manche Menschen sind selbstmitleidiger als andere. Sie brauchen wesentlich mehr Hilfe, bevor sie willens sind, zu versuchen, sich selbst zu helfen. Und dann gibt es auch Menschen, die so voll von Selbstmitleid und Ressentiments sind, daß sie diesen Punkt niemals erreichen. Je mehr Hilfe sie bekommen, desto mehr verlangen sie.« »Und Sie würden das als kriminelle Veranlagung bezeichnen?« »Jawohl. Denn der wirkliche Kriminelle handelt aus derselben Einstellung heraus. Vielleicht wird er zum Verbrecher, weil er arm dran, eine gescheiterte Existenz ist ... Ich denke dabei an Jarlsberg, den Lustmörder von Uppsala, bei dessen Verhandlung ich als Zeuge aussagte. Er erzählte mir einmal, daß er, wenn er ein Mädchen würgte und vergewaltigte, ihm etwas nahm, das es ihm schuldete. Nach einer Weile beginnt ein solcher Mann Gefallen an dieser Mischung aus Haß und Gewalttätigkeit zu finden. Bei der ersten Vergewaltigung wird er vielleicht noch von sexueller Frustration getrieben. Aber nach der zehnten will er keinen Sex mehr, sondern Vergewaltigung, das Erlebnis, einem anderen Menschen Gewalt anzutun. Wenn Sie so wollen, macht es ihm Spaß, das Gesetz zu brechen, Unrecht zu tun. Aus
demselben Grund verwüsten Einbrecher manchmal eine ganze Wohnung.« »Sie glauben, der Vampir gehört dem kriminellen Typ an?« fragte Carlsen. »In der Tat. Das ist die extremste Form von Vergewaltigung.« In der Vorhalle schlug eine Uhr zur vollen Stunde. Carlsen schaute auf seine Uhr; es war sieben. Die Mädchen standen auf. Selma Bengtsson sagte: »Ich hoffe, Sie werden uns entschuldigen. Wir müssen uns zum Abendessen zurechtmachen.« »Selbstverständlich, meine Liebe.« Der Graf machte eine kurze, formelle Verbeugung. Als die Mädchen das Zimmer verlassen hatten, sagte er: »Bitte nehmen Sie wieder Platz.« Er blieb stehen, bis sie sich gesetzt hatten. »Ich gab den jungen Damen zu verstehen, sie möchten uns eine halbe Stunde vor dem Essen allein lassen.« Er lächelte ihnen zu. »Wenn ich mich nicht irre, glauben Sie, daß die Fremden von der Stranger Vampire sind?« Beide starrten ihn verblüfft an. »Woher, zum Henker, wissen Sie das?« fragte Fallada. »Es war nicht schwer zu erraten. Es kann doch wohl kaum Zufall sein, daß Sie den berühmten Commander Carlsen als Ihren Assistenten mitbringen. Wir haben seine Abenteuer alle mit Faszination verfolgt. Und Sie sagen mir, Sie möchten meine An-
sicht über Vampire hören. Es wäre doch höchst merkwürdig, wenn zwischen diesen Tatsachen kein logischer Zusammenhang bestünde.« Fallada lachte. »Mein Gott, für einen Moment haben Sie mir Angst gemacht.« »Aber diese Fremden sind doch tot, nicht wahr?« fragte Geijerstam. »Nein. Wir glauben es nicht.« Fallada holte sein Zigarrenetui hervor. »Olof, möchten Sie es erklären?« Es war das erste Mal, daß er Carlsen beim Vornamen genannt hatte; es verlieh einem Umstand Ausdruck, den sie beide schon seit einiger Zeit empfanden: daß sie nicht nur Verbündete und Kollegen, sondern auch Freunde waren. Ohne auf überflüssige Einzelheiten einzugehen, schilderte Carlsen seinen Besuch im Raumforschungsgebäude, Seth Adams Tod und seine Begegnung mit dem Mädchen. Zu Anfang hörte ihm Geijerstam, die Hände auf den Schoß gelegt, ruhig zu. Er begann mit wachsender Erregung zu nicken. Schließlich konnte er sich nicht mehr beherrschen und begann kopfschüttelnd im Zimmer auf und ab zu schreiten. »Genau! Das habe ich schon immer vermutet. Ich wußte, daß es möglich war.« Carlsen war froh über die Unterbrechung; er spürte wieder jenen seltsamen inneren Widerwillen, der sich immer dann einstellte, wenn er beschreiben sollte,
was vorgefallen war, als er mit dem Mädchen allein gewesen war. Fallada fragte Geijerstam: »Ist Ihnen diese Form von Vampirismus schon einmal vorgekommen?« »Niemals in so ausgeprägter Form wie in diesem Fall. Trotzdem war klar, daß es sie irgendwo geben mußte – das behaupte ich in meinem Buch. Ich glaube, daß sie in früheren Zeiten wirklich auf der Erde existiert hat. Die Vampirlegende ist nicht bloß ein Märchen. Aber fahren Sie bitte fort. Was geschah mit dem Mädchen?« »Irgendwie gelang es ihm trotz aller Wachen und elektronischen Sicherheitsvorrichtungen, das Gebäude zu verlassen. Eine Stunde später entdeckte man, daß die beiden anderen Fremden tot waren.« »Und das Mädchen?« »Es wurde zehn Stunden später tot aufgefunden – vergewaltigt und erwürgt.« »Tot?« fragte Geijerstam ungläubig. »Ja.« »Nein! Das ist unmöglich!« Fallada blickte Carlsen an. »Wieso?« Geijerstam breitete die Arme in einer hilflosen Geste aus. »Weil – wie soll ich sagen? –, weil Vampire auf sich achtgeben können. Das klingt vielleicht absurd, aber eines ist mir in meiner Laufbahn als Kriminologe immer wieder aufgefallen. Menschen, die
einem Mord zum Opfer fallen, gehören einem bestimmten Typ an. Und Vampire gehören nicht zu diesem Typ. Sie müssen das doch schon selbst bemerkt haben?« »Wie erklären Sie sich dann den Tod der Fremden?« »Sind Sie sicher, daß es wirklich ihre Leiche war?« »Absolut.« Geijerstam schwieg für kurze Zeit. Dann sagte er: »Es gibt zwei mögliche Erklärungen. Einmal ist es möglich, daß es eine Art Unfall war.« »Was für ein Unfall?« »Man könnte es ein Versehen nennen. Manchmal ist ein Vampir so gierig auf Energie, daß die Lebenskraft in der falschen Richtung fließt – hin zum Opfer, statt von ihm. Man könnte ihn dann mit einem Vielfraß vergleichen, der sich vor lauter Gier verschluckt.« »Und die andere Möglichkeit?« »Ah, das ist etwas, dem ich selbst nie begegnet bin. Die Griechen und Armenier behaupten, daß ein Vampir seinen Körper willentlich verlassen kann, um den Eindruck zu erwecken, er sei tot.« »Halten Sie das für möglich?« »Ich – ich glaube, daß ein Vampir für kurze Zeit außerhalb eines lebenden Körpers existieren könnte.« »Warum nur für kurze Zeit?«
»Kurz gesagt – es würde gewaltige Energie und Konzentration erfordern, außerhalb eines lebenden Körpers an der individuellen Existenz festzuhalten. Unter Okkultisten herrscht eine Technik vor, die als astrale Projektion bekannt ist. Sie ist in vieler Hinsicht vergleichbar.« Fallada beugte sich vor. »Glauben Sie, daß ein Vampir den Körper einer anderen Person übernehmen könnte?« Geijerstam blickte stirnrunzelnd auf den Teppich. Schließlich sagte er: »Es könnte möglich sein. Wir wissen, daß Menschen von bösen Geistern besessen sein können – mir sind in meiner Praxis drei solche Fälle vorgekommen. Und Besessenheit wäre natürlich die logische Konsequenz des Vampirismus, der ja der Wunsch ist, von jemand Besitz zu ergreifen und ihn aufzusaugen. Doch ich habe nie von einem solchen Fall gehört.« Carlsen fragte mit plötzlicher Erregung: »Diese Fälle von Besessenheit durch böse Geister – kamen die besessenen Personen dabei zu Schaden?« »In einem Fall wurde der Betreffende auf Dauer wahnsinnig. Die beiden anderen wurden durch Teufelsaustreibung geheilt.« Carlsen wandte sich an Fallada. »Könnte darin nicht die Erklärung für das liegen, was Clapperton zustieß? Wenn er von einem dieser Wesen besessen
gewesen wäre, ohne daß dabei seine Persönlichkeit zerstört wurde, dann hätte er doch die Geschehnisse bei vollem Bewußtsein miterlebt, wenn er auch nicht dagegen einschreiten konnte. Dann hätten sie ihn schließlich töten müssen. Er hätte zuviel über sie gewußt.« »Wer ist dieser Mann?« fragte der Graf. Fallada berichtete in knapper Form von dem Mädchen, das man auf den Eisenbahnschienen gefunden hatte, von Clappertons Verschwinden und anschließendem Selbstmord. Geijerstam hörte aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen. »Ich würde sagen, daß der Commander recht hat«, sagte er. »Dieser Clapperton war von einem der Wesen besessen. Er hat vielleicht Selbstmord begangen, um ihm zu entkommen.« »Oder er wurde dazu gezwungen«, sagte Fallada. Für kurze Zeit schwiegen sie und starrten auf das ausgehende Feuer im Kamin. Geijerstam sagte: »Nun, ich will mein möglichstes tun, um Ihnen zu helfen. Ich kann Ihnen alles erzählen, was ich über Vampire weiß. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das in diesem Fall von Nutzen ist.« »Je mehr wir darüber wissen, desto besser«, sagte Fallada. »Wir stehen unter Zeitdruck. Angenommen, es gelingt den anderen Fremden, an Bord der Stranger zur Erde zu gelangen?« Geijerstam schüttelte den Kopf. »Das ist unmöglich.«
»Warum?« »Sie müssen ›gerufen‹ werden. Das ist ein charakteristisches Merkmal von Vampiren. Sie können die Initiative nicht ergreifen.« Fallada fragte ein wenig skeptisch: »Wie kommt das?« »Ich weiß es nicht genau. Aber so scheint es zu sein –« Er wurde von einem Gongschlag in der Vorhalle unterbrochen. Keiner von ihnen rührte sich. Als der Lärm verebbte, hörten sie die Stimmen der Mädchen auf der Treppe. »Aber es ist möglich, daß sie ›gerufen‹ werden«, sagte Carlsen. »Der Premierminister von England will die Stranger zur Erde bringen lassen. Er glaubt, sie könnte von historischem Wert sein.« »Weiß er nicht, was Sie mir erzählt haben?« »Doch. Aber er ist ein Dickkopf. Er meint wahrscheinlich, wenn wir es nicht tun, könnten uns die Russen oder die Araber zuvorkommen und die Lorbeeren ernten.« »Sie müssen ihn aufhalten.« »Er hat uns ein paar Monate Zeit gegeben. Bis dahin müssen wir die Fremden aufgespürt haben. Haben Sie eine Idee, wo wir zu suchen anfangen könnten?« Geijerstam kniff die Lider zusammen und überlegte. Schließlich seufzte er und schüttelte den Kopf.
»Aus dem Stegreif, nein.« Fallada und Carlsen sahen sich enttäuscht an. »Aber reden wir darüber. Es muß einen Weg geben. Ich werde tun, was ich kann. Aber gehen wir jetzt essen.«
6 Das Eßzimmer war kleiner als die Bibliothek, aber an dem großen Eichentisch hätten gut und gerne vierzig Gäste Platz nehmen können. Zwei der getäfelten Wände waren mit Gobelins geschmückt, von denen jeder etwa vier Meter maß. Vom Mittelbalken an der Decke hing ein Kristallkronleuchter herab; zwei übergroße Spiegel, einer über dem Kamin, der andere an der gegenüberliegenden Wand, warfen sein Abbild zurück. Die Mädchen hatten bereits Platz genommen. Der Diener schenkte gerade Moselwein in hohe, grüngetönte Gläser. Geijerstam deutete auf den Gobelin in der Mitte. »Das ist unser berühmter Vampir, Graf Magnus de la Gardie.« Es war das Porträt eines breitschultrigen Mannes in Militärkleidung; in das Bruststück war eine Metallplatte eingearbeitet. Die Augen hatten den strengen Blick eines Mannes, der es gewohnt war, zu kommandieren. Die schmalen Lippen unter dem kräftigen Schnauzbart waren fest zusammengepreßt. »Ihr Landsmann M. R. James, Verfasser von Gespenstergeschichten«, sagte Miß Bengtsson, »hat etwas über Magnus geschrieben. Wir haben die schwedische Ausgabe davon.«
»Ist sie lesenswert?« »O ja«, sagte Geijerstam. »Sie hält sich sehr genau an die Tatsachen. James hat uns hier besucht – wir haben seine Eintragung im Gästebuch.« »Was tat dieser Magnus?« fragte Carlsen. »Im Grunde war er ein Sadist. In 1690 war in Westgotland ein Bauernaufstand, und der König beauftragte Magnus mit seiner Niederschlagung. Magnus richtete ein solches Blutbad an, daß selbst die Höflinge schockiert waren. Es heißt, daß er über viertausend Menschen hinrichten ließ – die halbe Bevölkerung der Südprovinz. Der König, Karl XI., war wütend, weil ihm dadurch Steuereinnahmen verlorengingen. So fiel Magnus in Ungnade und wurde vom Hof verbannt. Der Legende zufolge entschloß er sich daraufhin, die Schwarze Pilgerfahrt nach Chorazin zu machen. Chorazin war ein Dorf in Ungarn, dessen Einwohner dem Vernehmen nach allesamt mit dem Teufel im Bunde stehen sollten. Wir haben ein handgeschriebenes Manuskript von Magnus, und darin heißt es wörtlich: ›Er, dessen Wunsch es ist, das Blut seiner Feinde zu trinken und getreue Diener zu erlangen, soll hingehen zu der Stadt Chorazin und dem Prinzen der Lüfte huldigen‹.« »Wahrscheinlich erklärt das die Herkunft der Vampirlegende – die Phrase, man solle das Blut seiner Feinde trinken«, sagte Fallada.
»Das ist unmöglich. Erstens ist das Manuskript in Latein geschrieben, und man fand es unter mehreren alchimistischen Werken im Nordturm. Ich bezweifle stark, daß es in den ersten fünfzig Jahren nach Magnus Tod von irgend jemand gelesen wurde. Und zweitens wird er in einem Manuskript der Royal Library als Vampir bezeichnet.« »Unternahm er die Schwarze Pilgerfahrt?« »Man weiß es nicht, aber es ist so gut wie sicher.« »Und Sie glauben, daß er dadurch zum Vampir wurde?« fragte Fallada. »Ah, das ist eine schwierige Frage. Magnus war bereits Sadist, und er hatte eine Machtposition inne. Ich glaube, daß sich solche Menschen leicht zu Vampiren entwickeln – zu Energie-Vampiren. Sie haben Freude daran, Schrecken zu verbreiten und die Lebenskraft ihrer Opfer in sich aufzusaugen. So war er wahrscheinlich bereits eine Art Vampir, noch bevor er die Schwarze Pilgerfahrt antrat. Aber als er sich zu dieser Fahrt entschloß, entschied er sich bewußt für das Böse. Von da an war er nicht länger ein Mann, der seine Untaten aus einer hitzigen Leidenschaft heraus beging, sondern aus bewußter, vorsätzlicher Grausamkeit.« »Aber was tat er?« »Er folterte Bauern, brannte Häuser nieder. Man sagt, er hätte zwei Wilddieben bei lebendigem Leibe die Haut abziehen lassen.«
»Das hört sich so an, als wäre er eher ein sadistischer Psychopath als ein Vampir gewesen.« »Da stimme ich Ihnen zu. Erst nach seinem Tode wurde er allgemein als Vampir angesehen. Ich habe ein Geschäftsbuch aus dem achtzehnten Jahrhundert, geschrieben von einem Verwalter; darin heißt es: ›Die Arbeiter drängen darauf, vor Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein, weil Graf Magnus auf dem Kirchhof gesehen wurde‹. Man sagt, er verließ sein Mausoleum in Vollmondnächten.« »Und gibt es irgendwelche Zeugnisse für Vampirismus nach seinem Tod?« »Einige. In den Aufzeichnungen der Kirche in Stensel wird die Beerdigung eines Wilddiebes erwähnt, den man mit angefressenem Gesicht auf einer Insel fand. Seine Familie zahlte für drei Messen, um, wie es heißt, ›seine Seele vor dem Teufel zu retten‹. Dann war da noch die Frau eines Wagenbauers, die als Hexe verbrannt wurde. Sie behauptete, Graf Magnus wäre ihr Liebhaber, und er hätte sie gelehrt, das Blut von Kindern zu trinken.« Sie waren mit der Vorspeise fertig. Fallada, der mit dem Rücken zur Wand gesessen hatte, stand nun auf und betrachtete den Gobelin genauer. Nachdem er mehrere Minuten zu ihm aufgeschaut hatte, meinte er: »Ehrlich gesagt, fällt es mir schwer, diese Geschichte ernst zu nehmen. Ich akzeptiere, was Sie
über Energie-Vampire sagen, denn meine eigenen Experimente führen mich zu derselben Schlußfolgerung. Aber all dies ist Legende, und man kann sie schwerlich ernst nehmen.« »Sie sollten Legenden nicht unterschätzen«, sagte Geijerstam. »Mit anderen Worten, wo Rauch ist, da ist auch Feuer?« »Ich denke, ja. Wie erklären Sie sich die große Vampirepedemie, die Anfang des achtzehnten Jahrhunderts über Europa hinwegfegte? Zehn Jahre zuvor waren Vampire fast unbekannt. Und dann, urplötzlich, hört man allerorts Geschichten von Wesen, die von den Toten auferstehen und menschliches Blut trinken. 1730 zog sich eine regelrechte Vampirismusplage von Griechenland bis zur Ostsee – es gibt Hunderte von Berichten. Das erste Buch über Vampirismus wurde aber erst zehn Jahre später geschrieben; folglich können Sie die Schuld nicht auf phantasiereiche Schriftsteller schieben.« »Es könnte eine Massenhysterie gewesen sein.« »Das könnte es in der Tat. Aber was hat sie ausgelöst?« Die Unterhaltung wurde durch das Servieren des Hauptgerichts unterbrochen. Es gab kleine, runde Elch- und Rentiersteaks mit Fenchelsauce und saurer Sahne. Sie tranken dazu einen schweren bulgarischen
Rotwein, der kalt serviert wurde. Für den Rest des Essens beschränkte sich die Unterhaltung auf allgemeine Themen. Die Mädchen waren des Geredes von Vampiren offenbar überdrüssig, und sie drängten Carlsen, die Entdeckung des Wracks zu schildern. Geijerstam unterbrach ihn nur ein einziges Mal, als er auf die Glassäule mit den tintenfischähnlichen Kreaturen im Innern zu sprechen kam. »Haben Sie eine Ahnung, was sie gewesen sein könnten?« »Nein. Wenn sie nicht als Nahrung dienten ...« Miß Freytag sagte: »Ich hasse Kraken.« Ihr Tonfall war so heftig, daß alle sie anstarrten. »Sind Sie schon mal einem begegnet?« fragte Fallada. Sie errötete. »Nein –« Carlsen fragte sich, warum Geijerstam wohl lächelte. Sie tranken in der Bibliothek Kaffee. Die Wärme des Feuers ließ Carlsen gähnen. »Möchten Sie jetzt in Ihre Zimmer gehen?« fragte der Graf. Carlsen schüttelte verlegen lächelnd den Kopf. »Nein. Ihr vorzügliches Essen hat mich zwar schläfrig gemacht, aber ich möchte noch mehr über Graf Magnus hören.« »Haben Sie Lust, sich sein Labor anzusehen?« »Mitten in der Nacht?« fragte Selma Bengtsson.
»Zu dieser Stunde, meine Liebe«, erwiderte Geijerstam sanft, »verrichteten die Alchimisten den größten Teil ihrer Arbeit.« »Doch, ich möchte es gern sehen«, sagte Carlsen. »Dann werden Sie Ihren Mantel brauchen. Es ist kalt dort oben.« Er wandte sich an die Mädchen. »Möchte noch jemand mitkommen?« Alle drei schüttelten den Kopf. »Ich kann den Ort nicht einmal bei Tag ertragen«, sagte Selma Bengtsson. »Glauben Sie, die Aktivitäten des Grafen könnten für mich von Interesse sein?« fragte Fallada. »Davon bin ich überzeugt.« Geijerstam zog eine Schublade auf und entnahm ihr einen großen Schlüssel. »Wir müssen das Haus verlassen. Es gab einmal einen Zugang am Ende der Halle, aber der Vorbesitzer ließ ihn zumauern.« Er führte sie zu Tür hinaus. Es war eine klare, mondhelle Nacht; der Mond warf eine langgezogene silberglänzende Lichtbahn über den See. Die kalte Luft belebte Carlsen wieder. Geijerstam führte sie den Kiesweg entlang zum Nordflügel. »Warum ließ er ihn zumauern?« fragte Fallada. »Hatte er Angst vor Gespenstern?« »Nicht vor Gespenstern, glaube ich – allerdings habe ich ihn nie kennengelernt. Das Haus stand schon fünfzig Jahre leer, als ich einzog.« Er steckte den
Schlüssel in das Schloß der massiven Tür und drehte ihn um. Carlsen erwartete ein Knarren verrosteter Türangeln zu hören, aber die Tür ging geräuschlos auf. Im Innern roch es muffig, und die Luft war unerwartet kalt. Carlsen wickelte den Schal fester um den Hals und schlug den Mantelkragen hoch. Zur Linken war die Tür, die früher einmal ins Haus geführt hatte; sie war mit Winkeleisen am Türrahmen befestigt worden. »Wurde dieser Teil zur gleichen Zeit wie das übrige Haus gebaut?« fragte Fallada. »Ja. Warum fragen Sie?« »Mir fällt auf, daß die Treppenstufen nicht ausgetreten sind.« »Ich habe mich oft darüber gewundert. Vielleicht sind sie nie benutzt worden.« Die Wände waren, ebenso wie im Wohnteil des Hauses, mit Kiefernholz vertäfelt. Geijerstam führte sie drei Treppen hinauf; auf jedem Absatz machte er halt, um ihnen die Bilder zu zeigen. »Das sind Werke von Gonzales Coques, dem spanischen Maler. Als junger Mann war Graf Magnus diplomatischer Gesandter in Antwerpen, wo Coques für den Statthalter der Niederlande arbeitete. Er gab diese Porträts großer Alchimisten bei ihm in Auftrag. Dies ist Albert Magnus. Dies Cornelius Agrippa. Und dies hier ist Basil Valentinus, der nicht nur Alchimist, sondern
auch Benediktinermönch war. Fällt Ihnen an diesen Porträts etwas auf?« Carlsen betrachtete sie aufmerksam, schüttelte aber schließlich den Kopf. »Der Maler hat den Gesichtern ein edelmütiges Aussehen verliehen.« Fallada nickte. »Sie sehen aus wie Heilige.« »Magnus war Mitte zwanzig, als diese Porträts entstanden. Ich denke, man kann aus ihnen schließen, daß er damals hohe Ideale besaß. Und doch schlachtete er nur zehn Jahre später die Bauern von Westgotland ab und schickte sich an, seine Seele an den Teufel zu verkaufen.« »Wie erklären Sie sich das?« Der Graf zuckte die Achseln. »Ich meine den Grund zu kennen, aber das ist eine lange Geschichte.« Er stieg die letzte Treppe hinauf. Von dem Buntglasfenster im Alkoven aus konnten sie die weite Fläche des vom Mond beschienenen Wassers sehen. Die Tür, der sie sich auf dem obersten Treppenabsatz gegenübersahen, war mit schweren Eisenringen und Ziernägeln versehen. Die rechte Türkante wies Spuren von Gewaltanwendung auf; das Holz war gesplittert und trug Kerben von Axtschlägen. »Ich denke mir, daß dieser Raum nach Magnus Tod verriegelt und der Schlüssel wahrscheinlich weggeworfen wurde«, sagte Geijerstam. »Jemand aus einer
späteren Generation brach ihn dann auf.« Er stieß die Tür auf. Der Raum dahinter war größer, als sie erwartet hatten. Ein merkwürdiger, unangenehmer Geruch ging von ihm aus; Carlsen meinte, Weihrauch herausriechen zu können. Da war noch ein anderer, widerwärtiger Geruch, den er nicht so schnell einordnen konnte. Dann kam er darauf: es war der Gestank in einer Leichenhalle, in der ein Körper seziert wird. Geijerstam betätigte den Lichtschalter, doch nichts geschah. »Es ist schon merkwürdig. Glühbirnen halten nicht lange in diesem Raum.« »Glauben Sie, daß der Graf etwas dagegen hat?« fragte Carlsen. »Vielleicht liegt der Fehler auch an den Leitungen – « Geijerstam nahm ein Streichholz und zündete zwei Petroleumlampen auf dem Experimentiertisch an. Das Mobiliar des Raums bestand im wesentlichen aus einem Ziegelsteinbrennofen und einer Art Zelt. Als Carlsen es anfaßte, bemerkte er, daß es aus schwarzer Seide bestand, der schwersten, die er jemals gesehen hatte. »Dies ist eine Art Dunkelkammer«, sagte Geijerstam. »Manche alchimistischen Arbeiten müssen in absoluter Finsternis ausgeführt werden.« Auf den Regalen standen schwere Glasflaschen
und andere Behälter verschiedener Gestalt und Größe. Da war ein kleiner ausgestopfter Alligator, sowie eine Kreatur mit einem Vogelkopf, einem Katzenkörper und einem Eidechsenschwanz. Carlsen betrachtete sie sich näher, konnte die Nahtstellen aber nicht finden. In der Ecke stand ein großer, unförmiger Metallkessel mit einem schweren Tondeckel; eine Vielzahl von Rohrleitungen ging von ihm aus. Geijerstam nahm einen ledereingebundenen Band aus dem Regal, dessen Buchrücken auf beiden Seiten eingerissen war, und legte ihn auf den Tisch. »Das ist das alchimistische Tagebuch des Grafen. Er scheint das Zeug zu einem echten Wissenschaftler gehabt zu haben. Die ersten Experimente sind allesamt Versuche, eine Flüssigkeit namens Alkahest herzustellen, die angeblich alle Materie in ihren Urzustand auflösen soll. Es war das erste Mal, daß er sich in Alchimie versuchte. Wenn er seine Urmaterie geschaffen hätte, wäre es sein nächster Schritt gewesen, sie in einem Gefäß zu verschließen und in den Äthanor zu schaffen – das ist der Brennofen in der Ecke dort. Magnus gab sich fast ein Jahr mit dem Versuch ab, Alkahest aus menschlichem Blut und Urin herzustellen.« Er blätterte die Seiten um. Die Handschrift war ein unordentliches Gekritzel, aber die Zeichnungen in Text – chemische Apparaturen und verschiedene Pflanzenskizzen – zeugten von großer Sorgfalt und Präzision.
Geijerstam klappt das Buch zu. »Am 10. Januar 1683 kam er zu der Überzeugung, daß es ihm schließlich gelungen war, Alkahest aus dem Urin von Säuglingen und aus Weinsteinpulver herzustellen. Der nächste Band beginnt zwei Monate später, denn er brauchte Frühlingstau für seine Urmaterie. Er gab übrigens auch zweihundert Goldflorinten für Kobragift aus Ägypten aus.« Fallada sagte angeekelt: »Kein Wunder, daß er verrückt wurde.« »O nein. Er hörte sich nie vernünftiger an als zu dieser Zeit. Er behauptet von sich, der Frau seines Gutsverwalters bei einer Geburt das Leben gerettet und seinen Schäfer mittels einer Mixtur aus Alkahest und Schwefelöl von der Gicht geheilt zu haben. Er schreibt: ›Um die Besserung seines Leidens zu demonstrieren, kletterte mein Schäfer zum Wipfel des Baumes hinter dem Fischteich.‹ Aber nun sehen Sie sich dies an –« Er schlug den Schlußteil des zweiten Bandes auf. »Was fällt Ihnen auf?« Carlsen schüttelte den Kopf. »Nichts – außer daß die Handschrift unleserlich wird.« »Genau. Er ist verzweifelt. Ein Handschriftenexperte sagte mir einmal, es sei die Schrift eines Mannes, der kurz vor dem Selbstmord steht. Schauen Sie: ›Or n'est il fleur, homme, femme, beauté, que la mort à sa fin ne le chace ...‹ Keine Blume, kein Mann, keine
Frau, keine Schönheit, die der Tod am Ende nicht ereilt. Er ist besessen vom Tod.« »Warum schreibt er französisch?« fragte Fallada. »Er war Franzose. Im siebzehnten Jahrhundert wimmelte es am schwedischen Hof von Franzosen. Aber sehen Sie her –« Er nahm einen weiteren Band aus dem Regal; dieser war in schwarzes Leder eingebunden. »Er hat das Datum verschlüsselt, aber ich habe den Code herausgefunden. Es ist der Mai 1691, der Monat nach seiner Vertreibung vom Hof. ›Der, dessen Wunsch es ist, das Blut seiner Feinde zu trinken und getreue Diener zu erlangen, soll hingehen zu der Stadt Chorazin und dem Prinzen der Luft huldigen.‹ Die nächste Eintragung stammt vom November 1691 – sechs Monate später. Und sehen Sie sich die Handschrift an –« »Die stammt doch gewiß nicht von derselben Person?« fragte Carlsen. Die Schrift hatte einen völlig anderen Charakter angenommen: enger, kleiner, doch irgendwie zielbewußter. »O doch. Wir haben noch andere, von ihm unterzeichnete Dokumente mit derselben Handschrift: Magnus von Skane – das war sein Geburtsort. Aber die Handschrift verändert sich.« Er blätterte mehrere Seiten um: Carlsen erkannte das ungestüme, unordentliche Gekritzel der vorherigen Bände wieder. »Mein Handschriftenexperte sagt, es wäre ein klarer
Fall einer dualen Persönlichkeit gewesen. Er führt weiter alchimistische Experimente durch, aber nun verschleiert er viele der Ingredenzien mit einem Code. Aber eigentlich wollte ich Ihnen dies zeigen –« Er blätterte den Band bis zum Ende durch. Mitten auf einer leeren Seite befand sich eine Zeichnung eines Kraken. Carlsen und Fallada beugten sich vor, um sie genauer zu betrachten. Diese Zeichnung ließ die anatomische Präzision früherer Pflanzenskizzen vermissen. Die Striche waren verwischt. »Die Zeichnung ist ungenau«, sagte Fallada. »Sehen Sie hier – da hat er nur eine Reihe Saugnäpfe eingezeichnet. Und er verleiht der Abbildung eine Art Gesicht – ein menschenähnliches.« Er schaute zu Carlsen auf. »Sahen diese Wesen in der Stranger vielleicht so ähnlich aus?« Carlsen schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hatten gewiß keine Gesichter.« Geijerstam klappte das Buch mit einem Knall zu und stellte es zurück ins Regal. »Kommen Sie. Ich möchte Ihnen noch etwas zeigen.« Er pustete die Petroleumlampen aus und führte sie wieder hinaus zum Treppenabsatz. Carlsen war froh, daß sie den Raum verließen. Er hatte den Geruch zum Schluß nur noch schwer ertragen können. Als sie ins Freie traten, atmete er die kalte Nachtluft tief ein. Geijerstam wandte sich nach links und führte sie
den Kiesweg entlang. Dann ging es über den Rasen am Fischteich vorbei. Das Gras sah im Mondschein grau aus. »Wohin gehen wir?« »Zum Mausoleum.« Es war dunkel zwischen den Bäumen. Der Weg endete abrupt vor der Kapellentür. Zum Bau der Kapelle hatte man ausschließlich Holz verwendet. Sie hatte die Form eines umgekehrten V und war, wie sich jetzt erwies, größer, als es aus der Luft den Anschein gehabt hatte. Geijerstam drehte an dem schweren Metallring, und die Tür ging nach außen auf. Er knipste das Licht an. Das Innere war von unerwarteteter Pracht. Die Decke war mit Engelsgestalten bemalt, und drei runde Messingkronleuchter hingen von ihr herab. Es gab eine kleine Orgel, die in den Farben Rot, Gelb und Blau angemalt war und silberfarbene Orgelpfeifen besaß. Die Kanzel glich einem Pfefferkuchenhaus, wie sie in Märchen vorkommen. Ihr Oberteil war bemalt und mit einer Reihe Figuren verziert, die offensichtlich Heilige darstellen sollten. Geijerstam führte sie ins Nordschiff, vorbei an der Kanzel zu einer Holztür mit einem bogenförmigen Oberteil. Sie war unverschlossen, und in dem Raum dahinter roch es nach kalten Steinen. Geijerstam klappte eine hölzerne Truhe auf und
nahm ein elektrisches Kabel heraus, an dessen Ende eine Glühbirne hing. Er schloß es an einer Steckdose im Nebenraum an. »Im Mausoleum gibt es kein elektrisches Licht. Als die Kapelle zu Anfang dieses Jahrhunderts an die elektrische Stromversorgung angeschlossen wurde, weigerten sich die Arbeiter, das Mausoleum zu betreten.« Die Glühbirne erhellte einen oktagonalen Raum mit einer kuppelförmigen Decke. An den Wänden standen eine Reihe von Steingrabmälern und Sarkophagen. In der Mitte des Raums standen drei Kupfersarkophage. Zwei hatten auf den Deckeln Kruzifixe; auf dem dritten befand sich die Abbildung eines Mannes mit militärischen Insignien. »Das ist die Grabstätte von Graf Magnus.« Er deutete auf das Gesicht der Abbildung. »Es scheint nach einer Totenmaske gearbeitet worden zu sein – achten Sie auf die Verletzung an der Stirn. Aber hier – das ist das eigentlich Interessante.« Er hielt die Birne so, daß sie die Darstellungen sehen konnten, die auf der anderen Seite des Sarkophags eingraviert waren. Einige stellten Kriegshandlungen dar. Eine andere zeigte eine Stadt mit Kirchtürmen. Aber auf der Rückwand war tief unten ein schwarzer Krake mit einem menschlichen Gesicht zu sehen, der einen Mann auf eine Felsöffnung zuzerrte. Das Gesicht des Mannes war nicht zu erkennen, aber er trug eine Rüstung.
»Diese Szene ist niemals verstanden worden«, sagte Geijerstam. »Zu der damaligen Zeit waren Kraken in Europa so gut wie unbekannt.« Sie betrachteten die Abbildung schweigend. Carlsen steckte die Hände tief in die Manteltaschen und vergrub das Kinn im Schal. Dies war nicht die erfrischende Kälte, die er vorhin draußen erlebt hatte; sie hatte etwas Erstikkendes. »Merkwürdig«, sagte Fallada. Seine Stimme klang ausdruckslos. »Ich kann nicht gerade behaupten, daß es mir hier gefällt.« »Warum nicht?« »Die Luft ist irgendwie schlecht.« Geijerstam betrachtete neugierig Carlsen. »Wie fühlen Sie sich, Commander?« Carlsen wollte schon gewohnheitsmäßig »Gut« sagen, aber er spürte ein Motiv hinter der Frage und prüfte seine Empfindungen. »Mir ist etwas unpäßlich«, sagte er. »Beschreiben Sie es bitte.« »Unpäßlichkeit beschreiben?« »Ja, bitte.« »Nun – ich spüre ein leises Kribbeln in den Fingerspitzen, und Ihr Gesicht ist leicht verschwommen. Nein, alles ist leicht verschwommen.« Geijerstam lächelte und wandte sich an Fallada. »Und Sie?«
Fallada war offenbar verwirrt. »Ich spüre nichts dergleichen. Vielleicht hat Carlsen zuviel Wein getrunken.« »Nein. Das ist es nicht. Es liegt an diesem Ort. Ich spüre auch, was der Commander beschreibt. Bei Vollmond tritt es am stärksten auf.« »Kobolde und Gespenster?« fragte Fallada ein wenig sarkastisch. Geijerstam schüttelte den Kopf. »Nein. Ich glaube, daß der Geist des Grafen ruht.« »Was dann?« »Gehen wir hinaus. Ich finde es langsam beklemmend hier.« Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Carlsen war froh, den Raum zu verlassen. Sobald er die Türschwelle überschritten hatte, verschwand das Übelkeitsgefühl. Die farbenprächtige Orgel machte einen festlichen Eindruck in dem elektrischen Licht. Sein Sehvermögen schien sich wieder normalisiert zu haben. Geijerstam setzte sich auf die vorderste Bankreihe. »Was wir dort drinnen erlebt haben, war meiner Meinung nach nicht, was man eine Geistererscheinung zu nennen pflegt. Es war eine rein körperliche Reaktion, vergleichbar dem Schwindelgefühl, das man empfindet, wenn man an Chloroform riecht. Nur wurde sie nicht von einem chemischen, sondern von einem elektrischen Effekt hervorgerufen.«
»Einem elektrischen Effekt?« fragte Fallada erstaunt. »Nicht, daß ich damit sagen will, man könnte ihn mit einem Lambdameter nachweisen – wenn ich es auch nicht völlig ausschließen möchte. Ich glaube, daß es eine Art psychische Aufzeichnung war – einer Tonbandaufzeichnung vergleichbar.« »Und was ist dabei das Tonband?« »Irgendein Feld – vergleichbar einem Magnetfeld. Es rührt von dem Wasser her, das uns umgibt.« Er wandte sich an Fallada. »Auch Sie haben das Phänomen zu einem gewissen Grad wahrgenommen, obwohl Sie weniger sensibel sind als Commander Carlsen. In Magnus' Laboratorium trat es auch auf. Aber dort ist es schwächer, weil das Labor oberhalb des Sees liegt.« Fallada schüttelte den Kopf. »Haben Sie irgendwelche Beweise dafür?« »Nicht in wissenschaftlichem Sinn. Aber über die Hälfte aller Menschen, die das Mausoleum bei Vollmond betreten, spüren das Phänomen. Manchmal kommt es sogar vor, daß jemand in Ohnmacht fällt.« Er fragte Carlsen: »Ist Ihnen aufgefallen, daß es urplötzlich aufhörte, als wir die Schwelle überschritten? Diese Felder beschränken sich stets auf ein scharf umrissenes Gebiet. Ich habe sogar den genauen Punkt festgelegt, wo es aufhört – exakt sieben Zoll hinter der Tür.«
»Wenn es ein elektrisches Feld ist«, sagte Fallada, »muß man es irgendwie messen können.« »Dessen bin ich mir sicher – aber ich bin Psychologe, kein Physiker.« Er stand auf. »Gehen wir zurück ins Haus?« »Ich verstehe das nicht –«, sagte Carlsen. »Soll dort vielleicht eine unangenehme Atmosphäre herrschen? Geschah etwas, das dazu eine Veranlassung geben könnte?« Der Graf machte das Licht aus und verschloß sorgfältig die Tür. »Ich kann Ihnen sagen, was im Labor geschah. Es steht alles in den Aufzeichnungen. Magnus praktizierte schwarze Magie. Und manche Dinge, die er tat, sind zu entsetzlich, um darüber zu reden.« Schweigend gingen sie zwischen den Bäumen dahin. »Und was ist mit der Kirche?« fragte Fallada. »Dasselbe wie mit dem Mausoleum. Man fragt sich doch, wie kommt dieses Feld zustande, wenn Magnus tatsächlich schon tot war, als er dort aufgebahrt wurde?« Carlsen fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. »Eine vielleicht unwissenschaftliche, aber interessante Frage.« »Es könnte durch die Angst der Leute, die das Mausoleum aufsuchten, entstanden sein«, meinte Fallada.
»Ja, vielleicht – wenn es jemand aufgesucht hätte. Aber die Tür war über hundert Jahre verschlossen und zweifach mit Riegeln gesichert. Nach Magnus' Tod wurde die Kapelle nicht mehr benutzt, weil jedermann Angst hatte, man könnte seinen Geist stören.« Sie schwiegen, bis sie wieder im Haus waren. Die Lampen in der Bibliothek waren ausgemacht worden, aber das Kaminfeuer erhellte den Raum. Auf dem Sofa saß Selma Bengtsson. »Die anderen sind zu Bett gegangen. Ich blieb noch auf, weil ich wissen wollte, ob etwas geschah.« Carlsen setzte sich neben sie. »Geschehen ist nichts. Aber ich hatte ein seltsames Gefühl.« »Ich glaube, wir können alle einen Cognac vertragen«, meinte Geijerstam. »Einverstanden?« »Hatten Sie das Gefühl auch?« fragte sie Fallada. »Ich – weiß nicht. Ich gebe zu, daß dort eine beklemmende Atmosphäre herrscht ...« Der Graf unterbrach ihn. »Aber Sie glauben nicht an Vampire?« »Nicht an diese Sorte – die, die wieder zum Leben erwachen, nachdem sie beerdigt worden sind.« Er schnupperte an seinem Cognac. »Vampire sind eine Sache, Geister eine andere.« Geijerstam nickte. »Ich verstehe Ihren Standpunkt. Ich glaube allerdings auch an Geister. Aber ich glaube nicht, daß wir in diesem Fall von einem Geist reden.«
»Nun, ein Mensch, der von den Toten aufersteht – das ist doch wohl dasselbe.« »Glauben Sie wirklich?« fragte Geijerstam. Er ließ sich in den Lehnstuhl sinken. Fallada wartete gespannt. »Im Tagebuch des Grafen findet sich eine interessante Redewendung: ›Er, dessen Wunsch es ist, das Blut seiner Feinde zu trinken und getreue Diener zu erlangen ...‹ Was für Diener?« »Dämonen vielleicht?« fragte Carlsen. »Möglich. Aber Dämonen oder Teufel werden nirgendwo in den Aufzeichnungen erwähnt. Wir wissen nur, daß der Graf, als er von der Schwarzen Pilgerfahrt zurückkehrte, ein anderer Mensch war – und auch seine Handschrift hatte sich verändert. Sie haben sich selbst davon überzeugen können. Nun sind mir persönlich fünf Fälle von multipler Persönlichkeit bekannt – dem Jeykill-and-Hyde-Syndrom. Und in einigen Fällen veränderte sich mit der Persönlichkeit auch die Handschrift. Doch im Grunde blieb sie immer dieselbe – sie veränderte sich lediglich in einigen charakteristischen Merkmalen, wurde entweder ausdrucksstärker oder -schwächer. In diesem Fall aber handelt es sich um die Handschrift einer völlig anderen Person –« Carlsen beugte sich vor. »Mit anderen Worten, Magnus war besessen?« »Ich glaube, darauf läuft es hinaus.« Er lächelte Fal-
lada zu. »Natürlich nur, wenn man unterstellt, daß eine entkörperlichte Entität vom Körper einer anderen Person Besitz ergreifen kann.« »Und dann ist da der Krake –«, sagte Carlsen. Für mehrere Minuten sprach keiner von ihnen; das einzige Geräusch im Zimmer war das Knistern des Feuers. Fallada meinte schließlich: »Ich wünschte, ich wüßte, wo uns das hinführt.« Die Uhr in der Halle schlug zur vollen Stunde. Carlsen trank seinen Cognac aus. »Vielleicht sollten wir es überschlafen«, sagte Geijerstam. »Genug der Rede für heute. Ich habe das Gefühl, daß Commander Carlsen müde ist.« Carlsen hatte ein Gähnen unterdrückt, und nun tränten ihm die Augen. »Selma, würden Sie den Commander auf sein Zimmer bringen?« fragte Geijerstam. »Ich werde noch einige Minuten hierbleiben und mir vielleicht noch einen Cognac genehmigen. Möchten Sie auch noch einen, Doktor?« »Nun, einen kleinen vielleicht«, meinte Fallada. Carlsen sagte gute Nacht und folgte Selma Bengtsson die Treppe hinauf. Der schwere Teppichbelag gab unter seinen Füßen nach. Die Hitze des Feuers hatte ihn mit einer angenehmen Müdigkeit erfüllt. Miß Bengtsson führte ihn in ein Zimmer im zweiten Stock. Die Tür stand offen, und man hatte seinen Pyjama aufs Bett gelegt. Im Zimmer war es warm und gemüt-
lich; die Wandvertäfelung hatte hier einen helleren Farbton als im Parterre. Als Carlsen sich aufs Bett setzte, spürte er, wie müde er war. Er holte ein eingerahmtes Foto seiner Frau mit den Kindern aus der Reisetasche und stellte es auf den Nachttisch, eine Handlung, die ihm zur Gewohnheit geworden war, wenn er auf Reisen war. Er ging ins Bad und wusch sich mit kaltem Wasser. Als er sich gerade die Zähne putzte, klopfte jemand an der Tür. Er rief: »Herein.« Als er aus dem Badezimmer kam, stand Selma Bengtsson vor ihm. »Ah, ich dachte, es wäre Fallada –«, sagte er. »Könnte ich Sie einen Moment sprechen, bevor Sie sich schlafen legen?« »Selbstverständlich.« Erzog sich den Schlafrock über. »Es stört Sie doch nicht, wenn ich mich schon ins Bett lege?« Sie stand vor dem Bett und sah zu ihm herab. »Ich möchte Sie etwas fragen.« Ihre Haltung war vollkommen sachlich und ließ nicht auf verführerische Absichten schließen. Sie beugte sich vor und sah ihm in die Augen. »Wußten Sie eigentlich, daß Sie ein Vampir sind?« »Was?« Er starrte sie intensiv an und versuchte abzuschätzen, ob sie es ernst meinte. »Sie denken, ich scherze?« Er schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich glaube, daß Sie sich wahrscheinlich im Irrtum befinden.«
In ihrer Stimme klang eine Spur Ungeduld mit, als sie sagte: »Sehen Sie, ich bin nun fast ein Jahr in diesem Haus. Ich weiß, wie es ist, wenn man jeden Tag eine kleine Menge Energie gibt. Und ich kann Ihnen versichern – Sie haben mir Energie genommen.« »Nicht, daß ich Ihnen nicht glaube. Nur – es fällt mir schwer, es zu akzeptieren.« Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. »Auch die anderen haben es gespürt. Wir unterhielten uns darüber, als Sie draußen waren. Die beiden waren so erschöpft, daß sie zu Bett gingen. Aber ich fand, ich müßte mit Ihnen darüber reden.« »Ja, aber Sie gaben mir die Energie doch heute abend.« »Ganz recht. Und das hätte Ihnen für den Rest des Abends genügen müssen. Doch bereits eine Stunde später – als Sie beim Abendessen neben mir saßen – spürte ich, daß Sie mir Energie nahmen.« »Wenn dem so sein sollte, fühle ich mich jedenfalls nicht danach. Ich bin todmüde. Sind Sie sicher, daß Sie sich nicht irren?« Sie zuckte die Achseln. »Das läßt sich leicht feststellen. Legen Sie sich zurück und schließen Sie die Augen.« »Wie Sie wollen.« Er ließ sich zurücksinken und spürte den unwiderstehlichen Drang einzuschlafen. Er bemerkte, daß sie den obersten Knopf seiner Py-
jamajacke aufmachte, und einen Augenblick später fühlte er ihre Handflächen auf der Oberpartie seiner Brust. Er versteifte sich; für einen Moment hatte er das Gefühl, eine kalte Dusche zu erhalten. Er lag mit geschlossenen Augen da und bemerkte, daß sein Magen knurrte. Dann löste sich die Verkrampfung, und er fühlte, wie er in leichten Schlaf fiel. Das hielt etwa dreißig Sekunden an. Dann stellte er plötzlich fest, daß seine Müdigkeit nachgelassen hatte. Ein angenehmes Prickeln durchströmte seine Glieder. Er murmelte schlaftrunken: »Sie geben mir Energie.« »Ganz recht, ich gebe sie Ihnen.« Bisher hatte er sich völlig passiv verhalten, hatte alles über sich ergehen lassen. Nun spürte er den Funken eines Verlangens in sich aufflammen. Plötzlich, ohne Übergang, war er voll bei Sinnen und spürte ein sonderbares, heftiges Hungergefühl. Er hörte, wie sie sagte: »Jetzt nehmen Sie sie.« Ihre Stimme klang seltsam unnatürlich. Er schlug die Augen auf und sah sie an. Ihr Gesicht war blaß. »Dann nehmen Sie die Hände doch weg«, sagte er. Noch während er sprach, wurde ihm klar, daß sie nicht reagieren würde. Er spürte, wie etwas in ihm nach ihr griff und sie festhielt. Ihr Widerstand war schwach. Er spürte, daß sie kein Verlangen hatte, sich zurückzuziehen. Eine gewisse Angst ging von ihr aus, die sich durch ihre Fingerspitzen auf ihn über-
trug. Das Gefühl erinnerte ihn irgendwie an den Geruch von Benzin. Er war sich eines Zwiespaltes in sich bewußt. Ein Teil von ihm verfolgte unbeteiligt das Geschehen; er spürte, daß er einschreiten, den Bann hätte brechen können, wenn er nur gewollt hätte. Der andere Teil war schieres Verlangen, das sich unaufhaltsam in den Vordergrund drängte. Er ergriff ihre Handgelenke und riß sie von sich weg. Selma Bengtsson kippte vornüber auf ihn. Er konnte ihre Körperwärme durch den dünnen Seidenstoff ihres Kleides spüren. Er schob die Bettdecke mit den Füßen zurück und legte sie neben sich. Sie lag mit geschlossenen Augen da, den Mund leicht geöffnet. Die Versuchung, sich über sie zu beugen und den Mund gegen ihre Lippen zu pressen, war unwiderstehlich, doch er entsann sich, daß die Zimmertür nicht verschlossen war und daß Fallada vielleicht noch einmal hereinschauen würde, um gute Nacht zu sagen. Er schlüpfte aus dem Bett, schloß die Tür ab und machte das Licht aus. Das Mondlicht im Zimmer war hell genug, um ihn Selmas Gestalt auf dem Bett erkennen zu lassen. Selbst als er ihr eben den Rücken zugekehrt hatte, war er sich ihrer Gegenwart bewußt gewesen. Er war sich auch der Tatsache bewußt, daß sein Wille sie ans Bett fesselte. Er ließ sich auf der Bettkante nieder und schob ihr das Kleid bis über die Taille. Sie legte sich bereitwillig auf die Seite, um ihn
das Kleid aufknöpfen zu lassen. Gewöhnlich stellte sich Carlsen bei solchen Dingen ungeschickt an. Anders jetzt: mit zielsicheren Griffen knöpfte er das Kleid auf, öffnete den Verschluß des Büstenhalters und zog ihr beide Kleidungsstücke über den Kopf. Sie trug nur noch einen schwarzen Slip, den er rasch abstreifte. Als er sich auf sie legte, fiel sein Blick kurz auf Jelkas Gesicht auf der Fotografie; sie erschien ihm wie eine Fremde. Er küßte Selma Bengtsson. Als sich ihre Lippen berührten, spürte er ein Schwindelgefühl. Ein gleichmäßiger Energiestrom ging von ihr aus, der ihn in Entzücken versetzte. Sie stöhnte, als er in sie eindrang. Die glühende Wärme, die sie ausströmte, hatte eine ähnliche Wirkung auf ihn wie Alkohol, aber sie war köstlicher als jeder Drink, den er jemals probiert hatte. Er wurde sich plötzlich gewahr, daß sie nicht allein waren. Da war noch jemand: die Frau aus dem Wrack. Sie war jenseits des Ozeans, aber zugleich war sie auch im Bett und gab sich ihm hin. Auch ihre Lippen waren leicht geöffnet, und sie trank die Energie, die ihn durchfloß. Selma Bengtsson spürte nichts von ihr; sie war sich nur ihrer völligen Hingabe bewußt. Carlsen dachte plötzlich: So ist das also? Das anfängliche heftige Verlangen ließ nach. Er drückte die Lippen weiterhin fest gegen ihren Mund, aus Angst, ihr Stöhnen könnte gehört werden. Sie geriet in Ekstase, und er erkannte, daß sie mehr nicht er-
tragen konnte. Gleichzeitig spürte er das Verlangen der anderen Frau. Sie wollte, daß er weitermachte. Auch ihre Begierde hatte nachgelassen, aber noch wollte sie mehr. Sie lag unter ihm, ihr Körper zuckte, und sie war wütend, daß Selma Bengtsson befriedigt war. Für einen Moment entstand eine heftige Auseinandersetzung, aber er weigerte sich standhaft. Die junge Frau lag erschöpft neben ihm und war dem Einschlafen nahe. Es wäre ein leichtes gewesen, ihr noch mehr Energie zu nehmen. Doch Carlsen erkannte, wie viel er bereits genommen hatte, und er war bestürzt. Er hatte ihre vitalen Reserven angegriffen und zum größten Teil aufgebraucht. Zwar konnte sie sich unter normalen Umständen relativ rasch wieder erholen, doch war sie in der Zwischenzeit erschrekkend leicht verwundbar. Träfe sie ein plötzlicher Schicksalsschlag, konnte nicht wiedergutzumachendes Unheil entstehen. Er spürte weiterhin das Drängen der Fremden, die ihm zuzuflüstern schien: Du sollst sie ja nicht töten. Nimm nur noch ein bißchen ... Er war sich der rasenden Wut, die sie unterdrückte, bewußt, als er sich weigerte. Die Fremde, so schien ihm, war wie eine Alkoholikerin, der man die Flasche wegzunehmen versucht. Er wurde sich auch eines neuen Elements in seiner Beziehung zu dieser Frau gewahr. Im Raumforschungslabor hatte sie all ihre Verführungskünste
spielen lassen, um ihm das Bild der vollkommenen Frau vorzuspiegeln, und er hatte sich mit unwiderstehlicher Macht zu ihr hingezogen gefühlt. Jetzt erkannte er, daß unter dieser äußeren Schale Rücksichtslosigkeit und Egoismus herrschten. Um seiner Entschlossenheit, ihrem Drängen zu widerstehen, Nachdruck zu verleihen, kehrte er dem Mädchen an seiner Seite den Rücken zu. Er sah Jelkas Foto mit den Kindern im Mondlicht, und der Anblick erfüllte ihn mit einer Welle von Zärtlichkeit. Einer Zärtlichkeit, die er jetzt auch gegenüber Selma Bengtsson empfand. Wäre es nach dem Vampir gegangen, so hätte er sie getötet, ihr die Lebenskraft bis auf den letzten Rest, bis hinab zur molekularen Ebene ihres Körpers, entzogen. Carlsen war sich darüber im klaren, daß ein schwächerer Mann dem Drängen der Fremden nachgegeben hätte. Es wäre ihr auch gleichgültig gewesen, daß man ihn dann des Mordes angeklagt hätte und er fortan für sie nutzlos gewesen wäre. Nicht etwa, daß sie Carlsen verlieren wollte. Es war nur so, daß ihre Gier nach Leben alle anderen Überlegungen beiseite fegte. Carlsen spürte eine Woge der Verachtung in sich aufsteigen. Gleichzeitig erkannte er, daß die Fremde sich dieses Gefühls bewußt war. Sie schwenkte sofort auf eine versöhnliche Taktik um. Natürlich hatte er recht. Sie war nun einmal gierig. Er spürte, wie ihre Enttäuschung zu einer ohnmächtigen
Wut aufflammte und dann soweit unterdrückt wurde, daß sie sich seinem Wahrnehmungsvermögen entzog. Er erhaschte einen flüchtigen, erschreckenden Einblick in einen bodenlosen Abgrund der Frustration, in einen Abgrund unbefriedigter Sehnsüchte, den sie seit Jahrtausenden mit sich schleppte. Er verstand plötzlich auch, warum sie ein Vampir sein mußte. Der gewöhnliche Kriminelle kann bereuen und versuchen, seine Verbrechen wiedergutzumachen. Diese Wesen nicht. Ihrer Verbrechen waren so viele, daß die Wiedergutmachung eine Ewigkeit gedauert hätte. Er wurde sich plötzlich gewahr, daß Selma Bengtssons Hand auf seinem Oberschenkel lag und daß Energie aus ihr strömte. Der Vampir reagierte augenblicklich und trank die Energie so gierig wie eine Katze Sahne schleckt. Ihm wurde nun klar, daß die Fremde eine Gefahr darstellte und daß sie, sollte sie eine feindselige Haltung einnehmen, ihn vernichten konnte. Er nutzte die Gelegenheit, solange sie abgelenkt war, und errichtete eine Sperre vor seinem Verstand. Er drehte sich sogar zu Selma um und strich ihr mit der Hand zärtlich über den nackten Körper, so daß ihn ein schwacher Energiestrom durchprickelte. Sie bewegte sich im Schlaf und seufzte. Die geöffneten Lippen waren eine Versuchung, der er jedoch widerstand. Statt dessen entspannte er sich und ließ sich von der Müdigkeit übermannen.
Sorgsam zog er die Bettdecke hoch. Dann nahm er das Mädchen in die Arme und konzentrierte sich darauf, ihm etwas von seiner eigenen Energie zu geben. Die Fremde verlor das Interesse; es war ihr unbegreiflich, wie jemand freiwillig seine Energie hergeben konnte. Tief im Unterbewußtsein verstand Selma Bengtsson, was er tat. Sie regte sich, öffnete die Augen einen Spalt und murmelte etwas, das sich wie »Ich liebe dich« anhörte. Er drückte sie an sich und spürte, daß sie wieder einschlief. In diesem Moment erkannte er, daß der Vampir fort war. Er war wieder allein. Der Mond war weitergewandert, und sein Licht schien jetzt auf die Frisierkommode. Er konnte das leise Plätschern der Wellen vom See her hören, das von einer leichten Brise herrührte. Er lag reglos im Bett und starrte an die Decke. Das Mädchen an seiner Seite war eine Komplikation. Er verstand jetzt, was die ganze Zeit über geschehen war. Die Ignoranz, mit der er die Warnungen seines Unterbewußtseins in den Wind geschlagen hatte, bestürzte ihn. Seit Tagen schon hatte ihn der Vampir dazu benutzt, Jelka und den Kindern Energie auszusaugen. Sein unbewußter Widerstand war ein Hindernis gewesen. Als dann die drei Mädchen heute abend die Hände auf ihn gelegt hatten, war der Vampir plötzlich aufmerksam ge-
worden und hatte die Energie in dem Maße aufgesaugt, wie sie von den Mädchen floß. Unterbewußt waren die Mädchen zwar verwirrt gewesen – sie mußten das Gefühl gehabt haben, fortlaufend Tee in eine Tasse zu gießen, ohne daß sich diese jemals füllte –, doch gleichzeitig hatten sie sich stark zu Carlsen hingezogen gefühlt. Der Energieverlust hatte die gleiche Wirkung auf sie gehabt, wie sie eine dominierende männliche Ausstrahlungskraft ausgeübt hätte. Die beiden anderen Mädchen hätten bereitwillig dasselbe getan, was Selma Bengtsson getan hatte, obwohl sie wußten – wie es auch Selma gewußt hatte –, daß Carlsen ein Vampir war. Etwas Geheimnisvolles schien ihn zu umgeben, das in ihnen den Wunsch erweckte, sich ihm hinzugeben. Wenn er sie jetzt mit Hilfe seiner neu gewonnenen Kraft herbeiriefe, würden sie bereitwillig zu ihm ins Schlafzimmer kommen. Ein plötzliches Verlangen packte ihn, das er aber sofort wieder unterdrückte. Der Vampir reagierte auf Verlangen wie ein Hai auf Blut. Als er erwachte, dämmerte es bereits. Selma beugte sich über ihn und fuhr ihm mit den Lippen zärtlich über den Mund. Er stellte überrascht fest, daß sie wieder zu Kräften gekommen war. Ihre Lebensenergie war noch niedrig, lag aber über der Gefahrenzone. Und sie wollte, daß er sie wieder nahm. Er spürte ein Gefühl der Absurdität in sich. Sie erweckte in ihm
ein tiefes Zärtlichkeitsgefühl, aber für gewöhnlich behielt er sich diese Zärtlichkeit für seine Frau und Kinder vor. Ihm kam mit einem Mal die Erkenntnis, daß ihr Körper der von Jelka war. Beide waren Verkörperungen des weiblichen Wesens, einer Eigenschaft, die nicht nur ihnen, sondern jeder Frau auf der Welt anhaftete. Er streichelte sie an der Schulter. »Es ist besser, wenn du jetzt in dein Zimmer gehst. Es wird schon hell.« »Ich möchte lieber bei dir bleiben. Wir könnten uns noch einmal lieben.« Sie beugte sich über ihn und küßte ihn. Er schüttelte den Kopf. »Wann kehrst du nach London zurück?« fragte sie. »Heute.« »Dann lieben wir uns jetzt.« »Nein. Leg dich hin.« Sie sank zurück aufs Kopfkissen. Er begann sie zärtlich zu streicheln, erst an der Schulter, dann an der Brust, bis hinab zu den Knien. Gleichzeitig ließ er seine Energie in sie fließen. Sie seufzte und schloß die Augen wie ein zufriedenes Kind. Sie atmete immer tiefer. Er küßte sie und spürte die Zufriedenheit, die sich in ihr ausbreitete. Dann merkte er, daß sie einschlief. Er lag erschöpft, aber zufrieden neben ihr. Er hatte ihr eben nichts genommen, sondern ihr nur ein
wenig von der Lebenskraft, die er ihr während der Nacht ausgesaugt hatte, zurückgegeben. Zumindest bis jetzt war er noch kein Vampir ... Jemand klopfte an der Tür und drückte die Klinke nieder. Er richtete sich auf und rief: »Vem är där?« Er hörte eine Frauenstimme etwas von Kaffee sagen. »Stellen Sie ihn bitte vor die Tür.« Selma Bengtsson fragte schläfrig: »Wie spät ist es?« »Viertel vor acht.« Sie richtete sich mit einem Ruck auf. »Du meine Güte! Ich muß gehen!« Als sie im Bad verschwunden war, holte Carlsen das Tablett mit dem Kaffee herein und legte sich wieder ins Bett. Der See glitzerte in der Morgensonne. Während er den Kaffee schlürfte, schlug er die Augen zu und konzentrierte sich auf sein Befinden. Er war zwar müde, aber es war nicht dieselbe sonderbare Mattigkeit, die er bisher immer seit seiner Rückkehr zur Erde empfunden hatte. Selma kam voll angekleidet aus dem Bad. Sie wirkte auf Carlsen so schön und makellos, als hätte sie sich gerade zum Essen zurechtgemacht. Sie neigte sich vor und gab ihm einen Kuß. »Würdest du bitte nachsehen, ob jemand auf dem Flur ist?« Er öffnete die Tür und spähte hinaus; auf dem Korridor war niemand zu sehen. Sie umarmte ihn und
drückte sich noch einmal fest an ihn, dann eilte sie hinaus. Er schloß leise die Tür. Es war ein seltsam erleichterndes Gefühl, allein zu sein. Er war gerade mit dem Ankleiden fertig, als jemand an der Tür klopfte. Er rief: »Stig in.« Es war Fallada. »Guten Morgen«, sagte Carlsen. »Wann sind Sie denn ins Bett gegangen?« »Gegen halb zwei. Wissen Sie, ich habe den Grafen falsch eingeschätzt. Er ist gewiß kein komischer Kauz.« »Dafür habe ich ihn auch nie gehalten«, erwiderte Carlsen. Fallada starrte aus dem Fenster. »Wir haben uns über Sie unterhalten«, sagte er. »Er ist der Meinung, daß Ihre Begegnung mit dieser Frau Sie nachhaltiger beeinflußt hat, als Ihnen bewußt ist.« Als Carlsen zu sprechen ansetzte, erlebte er wieder das bekannte Gefühl tiefen Widerwillens. Während Fallada abwartend dastand, kämpfte er es mit einer Willensanstrengung nieder. »Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen.« In diesem Moment ertönte unten der Gong. »Hat es nicht Zeit bis nach dem Frühstück?« fragte Fallada. »Ich denke schon. Es wäre mir sogar lieber, denn ich möchte, daß auch Geijerstam anwesend ist.« Fallada sah ihn verwundert an, sagte aber nichts.
Die anderen, einschließlich Selma, saßen bereits am Tisch. Die Fensterfront des Frühstückszimmers lag nach Osten, und die Sonne knallte herein. Geijerstam erhob sich. »Guten Morgen. Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen?« »Sehr fest.« Carlsen fand, daß diese Antwort hinreichend aufrichtig und zutreffend zugleich war. Er nahm zwischen Selma und Louise Platz. »Wir hoffen, Sie dazu bewegen zu können, mindestens noch einen Tag zu bleiben«, sagte Geijerstam. Carlsen sah zu Fallada hinüber. »Das liegt ganz bei Hans. Ich habe Zeit genug, aber auf ihn wartet Arbeit.« »Oh, bitte bleiben Sie doch noch«, sagte Miß Freytag. Als Carlsen nach den Toastschnitten griff, streifte seine Hand die der Französin. Er erkannte sofort und ohne jeden Zweifel, daß sie über Selma und ihn Bescheid wußte. Die Erkenntnis verblüffte ihn. Gleichzeitig stellte er fest, daß er sie begehrte. Es war nicht das gewöhnliche Verlangen, mit dem ein Mann eine attraktive Frau zu begehren pflegt. Es hing mit der Lebenskraft und Wärme zusammen, die durch ihren jungen Körper pulsierte. Er verspürte den Wunsch, ihren nackten Körper an sich zu drücken und ihr langsam die Lebenskraft auszusaugen. Einen Augen-
blick später wurde er sich gewahr, daß er Anneliese gegenüber denselben Wunsch hegte, und daß ihm sein Verlangen die Macht verlieh, ihre Gedanken zu lesen. Beide Mädchen wußten, daß Selma die Nacht in seinem Zimmer verbracht hatte. Er erkannte sogar, woher sie es wußten. Selma hatte ihre Zimmertür einen Spalt offen gelassen und das Licht nicht ausgemacht. Als Louise Viertel nach sieben an dem Zimmer vorbei gekommen war, hatte sie hineingeschaut und gesehen, daß das Bett nicht benutzt worden war. Er verzehrte sein Frühstück geistesabwesend, gab auf Fragen einsilbige Antworten und dachte fasziniert über diese neue Macht nach. Er hatte ähnliches gelegentlich bei intimen Zusammensein mit Jelka erlebt: ein Gefühl so enger Verbundenheit, daß sie ihre Empfindungen gegenseitig wahrnehmen konnten. Dasselbe Erlebnis hatte er gehabt, wenn er seine Kinder, als sie noch sehr klein waren, in die Arme genommen hatte. Und einmal, fiel ihm jetzt ein, hatte er es auch als Kind erlebt, als er eines Sommermorgens im Garten gestanden und sich gegen einen Baum gelehnt hatte. In all diesen Fällen war es ein vages, vom Unterbewußtsein ausgehendes Gefühl gewesen, das die Schwelle zum Bewußtsein niemals überschritten hatte. Jetzt war es ein bewußtes und detailliertes Wissen. Es bereitete ihm wenig Mühe, in Louise Curels Bewußtseinsinhalt vorzudringen und festzustellen,
daß ihr Büstenhalter zu stramm saß und der linke Träger ihr ins Fleisch schnitt. Er wußte, daß Anneliese die Schuhe abgestreift hatte, weil sie es gern hatte, den tiefen Teppich unter ihren bloßen Fußsohlen zu spüren. Beide Mädchen waren neidisch auf Selma Bengtsson. Anneliese wollte, daß er blieb, weil sie in seiner Nähe sein wollte. Louise glaubte, daß er sich physisch zu ihr hingezogen fühlte und mit ihr schlafen würde, wenn sich die Gelegenheit bieten sollte. Selmas Gefühle beunruhigten ihn. Sie war völlig vernarrt in ihn und mußte sich beherrschen, um nicht unter den Tisch zu greifen und ihm die Hand aufs Knie zu legen. Sie hatte das Foto mit Jelka und den Kindern gesehen, doch das war ihr gleichgültig. Sie spielte mit dem Gedanken, nach London zu ziehen, und überlegte, ob Fallada ihr vielleicht eine Stellung anbieten würde. Sie redete sich ein, daß sie es zufrieden wäre, seine Geliebte zu sein, ohne weitergehende Ansprüche an ihn zu stellen. In Wahrheit hoffte sie, Jelka zu verdrängen. In ihrer Einstellung lag eine starrköpfige Entschlossenheit, die ihm Sorgen machte. Er versuchte Geijerstams Gedanken zu lesen, aber das mißlang. Da er kein Verlangen nach Geijerstam verspürte, war es nur folgerichtig, daß ihm sein Bewußtseinsinhalt verborgen blieb. Dasselbe galt für Fallada. In ihm konnte er zwar ein gewisses Un-
wohlsein wahrnehmen, aber als er tiefer einzudringen versuchte, schien der Kontakt abzubrechen. Er versuchte festzustellen, ob die Fremde noch in ihm war und den anderen durch ihn Energie entzog. Das Erlebnis während der letzten Nacht hatte ihm den Weg gewiesen, wie er ihre Anwesenheit feststellen konnte. Soweit er es beurteilen konnte, war sie nicht da. Wieso begehrte er dann die Frauen, die am Tisch saßen? Die Antwort zog ihm das Herz zusammen: weil er sie wollte, und zwar für sich selbst, nicht für die Fremde. Für einen Augenblick kämpfte er gegen ein aufsteigendes Panikgefühl an, das ihm fast Übelkeit verursachte. Dann entsann er sich, daß er beabsichtigte, Geijerstam davon zu unterrichten. Der Gedanke brachte ein Gefühl der Erleichterung. Er war froh, als das Frühstück zu Ende war. Der Appetit war ihm ohnehin vergangen. »Gewöhnlich mache ich einen Spaziergang am Seeufer entlang«, sagte Geijerstam, »oder eine Fahrt im Ruderboot zum Landesteg am anderen Ufer. Hätten Sie Lust mitzukommen?« »Selbstverständlich«, sagte Fallada. »Können wir auch mitkommen?« fragte Selma Bengtsson. »Ich fürchte, nein, meine Liebe. Wir haben einiges zu besprechen. Und Sie müssen Ihren Studien nachgehen.«
Die Enttäuschung, die sie ausstrahlte, war so intensiv, daß Carlsen versucht war zu intervenieren. Als er aus dem Zimmer ging, war er sich bewußt, daß ihre Augen auf seinen Rücken gerichtet waren und ihn mit ihrem Blick zwingen wollten, sich umzudrehen und ihr zuzulächeln. Gleichzeitig spürte er, daß auch die anderen Mädchen ihn aufmerksam beobachteten. Er ging hinaus, ohne sich umzudrehen.
7 Die Luft war mild und voller Frühlingsdüfte. Nun, da das Lebensfeld der Mädchen sein inneres Gleichgewicht nicht mehr störte, fühlte er sich besser. Erleichtert wandte er seine Sinne äußeren Dingen zu, und die Reize, die auf ihn eindrangen, erfüllten ihn mit einem fast schmerzhaften Wonnegefühl. Sobald sie zwischen den Bäumen waren und auf den Südzipfel der Insel zugingen, fragte er: »Können wir uns hier irgendwo setzen? Ich möchte Ihnen etwas sagen.« »An der Bucht ist eine Bank.« Geijerstam deutete nach vorn. Ein paar hundert Meter entfernt mündete ein Bach in den See. »Dieser Bach fließt aus einer Quelle an der Bergspitze«, sagte Geijerstam. »Wir nennen sie die Sankt-Eric-Quelle. Der Legende zufolge soll Sankt Eric eines Nachts in einer Einsiedlerhütte nahe der Bergspitze gebetet haben. Am nächsten Tag führte er seine Männer in die Schlacht gegen die Finnen. Und am darauffolgenden Morgen war die Quelle aus dem Boden hervorgesprudelt – ein Zeichen, daß sein Gebet erhört worden war –« An der Stelle, wo der Bach in den See mündete, stand eine grob behauene Holzbank, die man aus ei-
nem Teilstück eines Baumes angefertigt hatte; der Stamm einer großen, alten Ulme diente als Rückenlehne. Geijerstam setzte sich. Carlsen begann sofort zu sprechen, als hätte er Angst, etwas könne dazwischenkommen. »Heute nacht geschah etwas Merkwürdiges. Miß Bengtsson kam zu mir aufs Zimmer.« Geijerstam lächelte und runzelte die Stirn. »Und was ist daran merkwürdig, mein lieber Commander?« Die Entgegnung sagte Carlsen, daß der Graf bereits Bescheid wußte. »Bitte lassen Sie mich ausreden.« Wie er befürchtet hatte, spürte er plötzlich den inneren Widerstand, der ihn am Sprechen zu hindern suchte. Er war so heftig, daß Carlsen das Gefühl hatte, etwas schnüre ihm die Kehle zu. Sein Gesicht lief rot an, und sein Herz begann wild zu pochen. Als er sprach, klang seine Stimme gepreßt und atemlos. Die anderen schauten ihn überrascht an. Er stieß die Worte stammelnd hervor, entschlossen, sie um jeden Preis auszusprechen. »Ich glaube nicht, daß sie beabsichtigt hatte, die Nacht mit mir zu verbringen – ich weiß es sogar sicher, denn sie hatte ihre Zimmertür offen und das Licht brennen gelassen. Sie wollte mir nur mitteilen, daß ich ihr Energie genommen hatte. Außerdem hatte ich gar nicht die Absicht, mit ihr zu schlafen. Ich bin
seit fünf Jahren verheiratet und habe während dieser Zeit eine andere Frau nicht einmal geküßt –« »Fehlt Ihnen etwas?« fragte Fallada. Trotz des Sonnenscheins klapperten ihm die Zähne, und sein Körper war eiskalt. Er ballte die Fäuste und preßte sie gegen die Oberschenkel. Es war ein ähnliches Gefühl, wie er es während seiner Ausbildung zum Astronauten bei Raketenstarts mehrfach erlebt hatte. Er fuhr mit erstickter Stimme fort. »Lassen Sie mich ausreden. Wissen Sie, sie hatte recht. Ich bin ein Vampir. Das wurde mir klar, als sie mich berührte. Es muß mit dieser Fremden zusammenhängen, die noch immer existiert und irgendwie in mir ist. Und das ist keine Wahnvorstellung von mir. Ich ... ich weiß, daß es seltsam klingt, aber sogar jetzt versucht etwas, mich am Sprechen zu hindern.« Er lehnte sich gegen den Baumstamm und fühlte sich momentan erleichtert. Er atmete tief durch. »Lassen Sie mich einen Moment ausruhen. Es wird mir gleich wieder besser gehen.« Er brauchte über eine Minute, um seinen zitternden Körper unter Kontrolle zu bekommen. Das Wissen, daß er ihnen das Wichtigste bereits gesagt hatte, machte es ihm leichter. Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß vom Gesicht. »Quälen Sie sich nicht«, sagte Geijerstam sanft. »Ich will Ihnen etwas sagen. Ich wußte bereits das meiste von dem, was Sie mir sagen
wollten. Ich hatte schon gestern abend eine Ahnung, als Selma sagte, Sie hätten mehr Energie genommen, als sie erwartet hatte. Und als Sie mir von Ihrer Begegnung mit der Vampirfrau erzählten, wußte ich, was geschehen war.« Er drückte Carlsen die Hand. »Ich sage Ihnen eins: die Sache ist nicht so ernst, wie Sie glauben.« »Ich hoffe, daß Sie recht haben«, sagte Carlsen bedrückt. »Können Sie beschreiben, was geschah?« fragte Fallada. »Ich werde es versuchen.« Sobald er zu reden anfing, wurde er ruhiger. Er konzentrierte sich bei der Schilderung auf die Beschreibung von Details, und das machte es leichter. Er beendete die Darstellung mit seinen Beobachtungen beim Frühstück. Nach einer Pause fragte Geijerstam: »Und jetzt sind Sie davon überzeugt, daß Sie auch ein Vampir sind?« »Glauben Sie es denn nicht?« »Nein. Ich glaube, Sie sind sich des Vampirismus bewußt geworden, der latent in allen Menschen vorhanden ist. Das ist alles.« Carlsen mußte den Ärger, der in ihm aufstieg, unterdrücken. »Ich hätte ihre Lebenskraft aufsaugen können, bis sie vor Erschöpfung gestorben wäre. Ist das der Vampirismus, der latent in allen Menschen vorhanden ist?«
»Nein. Aber ich glaube, daß das mögliche Potential dazu in diesem Stadium der menschlichen Evolution existiert. Diese Kreatur hat Sie nicht zu einem Vampir gemacht. Sie hat nur den Samen zu einer neuen Entwicklung aufkeimen lassen. Und diese Entwicklung kann sich sowohl zum Guten wie zum Bösen wenden.« »Wie meinen Sie das?« fragte Carlsen schnell. »Zunächst einmal erhielten Sie dadurch die Fähigkeit zu größerer Anteilnahme und tieferer Einsicht. Sie haben Selma nicht getötet, nicht wahr? Sie spüren instinktiv, daß Liebe Geben und Nehmen beinhalten sollte.« Es gab eine Pause; nur das Zwitschern der Vögel und das Rauschen des Baches waren zu hören. Schließlich sagte Carlsen: »Das ändert nichts an der Tatsache, daß sie mich in einen Vampir verwandelt hat. Sie hat abnorme Wünsche in mir erweckt, die ich vorher nicht hatte – und sie hat mir die Macht verliehen, ihnen Geltung zu verschaffen.« Fallada und Geijerstam begannen gleichzeitig zu sprechen. Fallada entschuldigte sich. »Sie verstehen nicht«, sagte Geijerstam. »Jeder Mensch kann Wünsche aller Art in sich entwickeln. Haben Sie den Bericht über meinen ersten Vampirfall gelesen?« »Der junge Maler?« »Ja. Das heißt, er war eigentlich kein Maler, son-
dern Bildhauer. Sein Name war Torsten Vetterlund. Nun, er war ein Mann von sehr kräftigem Körperbau, und seine natürlichen Neigungen waren sadistischer Art – nicht sehr ausgeprägt, aber der Tendenz nach. Dieses Mädchen, Nina von Gerstein, verwandelte ihn in einen neurotischen Masochisten. Sie verstehen, warum?« Carlsen nickte. Fallada fragte überrascht: »Sie verstehen es?« »Sie konnte einem Sadisten keine Energie aussaugen«, sagte Carlsen. »Genau. Der Sadist will nehmen, nicht genommen werden. Also mußte sie seine sexuelle Orientierung ändern. Und das tat sie, indem sie alle seine Wünsche befriedigte – seine sexuellen Phantasien – so lange, bis er von ihr abhängig geworden war. Am Ende war er ihr Sklave, und sie konnte ihm nun die Energie rauben.« »Wie haben Sie ihn geheilt?« fragte Fallada. »Ah, das war eine interessante Sache. Mir fiel sofort auf, daß an seinen Symptomen etwas Widersprüchliches war. Nachdem ihn dieses Mädchen verlassen hatte, wurde er zum Exhibitionisten, der sich vor Frauen auf der Straße entblößte. Das war eindeutig Masochismus – er genoß das Gefühl der Selbsterniedrigung. Aber er erzählte mir auch, daß er den Wunsch entwickelt hatte, Kinder auszuziehen und sie
zu beißen. Das war offensichtlich Sadismus. Selbstverständlich haben viele Sadisten auch masochistische Anwandlungen und umgekehrt. Aber ich kam zu der Überzeugung, daß er versuchte, seinen Masochismus zu überwinden, indem er seinen Sadismus entwickelte. Er erzählte mir von den sexuellen Fantasien, die er gehabt hatte, bevor er Nina kennenlernte – sie waren allesamt leicht sadistischer Natur. Und er erzählte mir von einer Prostituierten, die er zu besuchen pflegte – ein Mädchen, das sich von ihm fesseln ließ, bevor sie Verkehr hatten. Und damit zeichnete sich die Lösung ab. Ich ermutigte ihn, die sadistische Tendenz neu zu entwickeln. Er begann die Prostituierte wieder aufzusuchen. Dann lernte er eine Schuhverkäuferin kennen, die es gern hatte, vor dem Geschlechtsakt ausgepeitscht zu werden. Er heiratete sie, und sie führten ein durchaus glückliches Leben.« »Und der Vampirismus hörte auf?« »Ja, er hörte auf. Und die Heilung war nicht mein Verdienst. Er hatte bereits begonnen, sich selbst zu heilen, noch bevor er zu mir kam –« Carlsen lächelte trocken. »Nach dieser Logik sollte ich versuchen, mich in einen Masochisten zu verwandeln.« Geijerstam schnalzte mit den Fingern. Mit plötzlicher Erregung sagte er: »Nein, aber dabei fällt mir etwas ein. Etwas, das ich schon vor langer Zeit ver-
gessen hatte.« Er starrte nachdenklich über den See hinweg. Sie warteten, daß er fortfuhr. Plötzlich stand er auf. »Ich möchte Sie einer meiner Mieterinnen vorstellen.« »Ich wußte gar nicht, daß Sie welche haben«, sagte Fallada. »Kommen Sie.« Er begann den Hügel hinaufzugehen. Fallada blickte Carlsen an und zuckte die Achseln. Sie folgten ihm einen Pfad hinauf, der am Bach entlangführte. Geijerstam sagte über die Schulter: »Sie entsinnen sich, daß ich Ihnen von der Sankt-EricQuelle erzählt habe? Dort lebt eine alte Lettin – sie wohnt in meiner Hütte. Sie hat das Zweite Gesicht –« Der Pfad wurde nun steiler, und der dicke Kiefernnadelteppich machte ihn unwegsam. Die Bäume standen so dicht beisammen, daß kaum noch Sonnenlicht durch das Blattwerk drang. Nach fünf Minuten Marsch waren Carlsen und Fallada außer Atem. Geijerstam, der ihnen vorauseilte, schien es nichts auszumachen. Er drehte sich um und wartete auf sie. »Ich bin wirklich froh, daß mir der Gedanke kam, Sie zu ihr zu bringen. Sie ist eine bemerkenswerte Frau. Sie lebte früher in der Umgebung von Skarvsjö, aber die Dorfbewohner fürchteten sich vor ihr. Ihr Äußeres ist ein wenig –« Der Rest des Satzes ging in einem wütenden Hundegebell unter. Ein riesiges Tier mit
einem Fell von der Farbe gelben Tons sprang ihnen entgegen. Geijerstam streckte die Hand aus, und das Tier beschnüffelte sie. Als er weiterging, trottete es neben ihm her. Geijerstam blieb am Rand einer Lichtung stehen. Der Erdboden war mit Granitblöcken übersät. Auf der anderen Seite stand eine kleine Holzhütte. Der Bach floß an ihr vorüber und bildete weiter unten einen kleinen Wasserfall. Geijerstam rief: »Labrit, mate.« Niemand antwortete. Er wandte sich an Carlsen und Fallada. »Warum sehen Sie sich nicht die Quelle an, während ich nachsehe, ob sie wach ist?« Er zeigte auf ein kleines Steingebäude weiter oben auf dem Berg. »Das ist die Sankt-Eric-Quelle. Falls Sie Arthritis, Gicht oder Lepra haben sollten, wäre ein Bad darin empfehlenswert.« Sie stiegen die Stufen zur Quelle hinauf; der Hund lief ihnen voraus. Der überdachte Brunnen war aus roh behauenen Granittafeln errichtet worden; die darauf wachsenden Flechten sahen wie grüner Samt aus. Das Wasser strömte unter einem gewaltigen Granitbrocken hervor, der quer über dem Zugang lag. Carlsen kniete darauf nieder und schaute ins Innere. Das Wasser war glasklar, reichte aber so tief hinab, daß man den Grund nicht sehen konnte. Es erinnerte ihn an das Sichtfensterglas der Hermes, und für einen Moment meinte er, den Rumpf des Wracks
klar und deutlich sehen zu können, als würde er in den Tiefen des Wassers widergespiegelt. Die Illusion verschwand. Er steckte die Hand ins Wasser; es war eiskalt, und nach kurzer Zeit taten ihm die Knochen weh. Er stand auf und lehnte sich gegen die Wand. »Geht es Ihnen gut?« fragte Fallada. Carlsen lächelte. »O ja. Vielleicht werde ich verrückt, aber ansonsten geht es mir gut.« Am Abhang unten erschien der Graf. Neben ihm stand eine Frau in brauner Kleidung. Als Fallada und er näher kamen, erkannte Carlsen, daß sie keine Nase hatte und daß ein Auge größer war als das andere. Trotzdem war der Gesamteindruck nicht abstoßend. Ihre Wangen waren so rot wie Äpfel. »Das ist Moa«, sagte Geijerstam. Er sprach Lettisch, als er ihr Fallada und Carlsen vorstellte. Sie lächelte und machte einen Knicks. Dann bedeutete sie ihnen mit einer Geste, zum Haus hinüber zu gehen. Carlsen fiel auf, daß sie trotz ihrer Entstellung einen jugendlichen und liebenswürdigen Eindruck machte. Der Innenraum war groß und wirkte seltsam kahl; in der Mitte stand ein großer, eiserner Herd. Eine grob geflochtene Strohmatte diente als Teppich. Die einzigen Einrichtungsgegenstände waren ein niedriges Bett, ein Tisch, ein Schrank und ein altmodisches Spinnrad. Eine Treppe verlief an der Wand entlang
zu einem von einem Geländer umgebenen Absatz; Carlsen stellte verblüfft fest, daß er nirgendwohin zu führen schien. Sie redete sie auf Lettisch an und deutete auf den Fußboden. Geijerstam sagte: »Sie entschuldigt sich für das Fehlen von Stühlen und erklärt, daß sie immer auf dem Boden sitzt. Es gehört zu einer Art ... mystischen Übung.« Sie zeigte auf die Kissen nahe bei der Wand. Carlsen und Fallada setzten sich. Sie beugte sich über Carlsen, schaute ihm ins Gesicht und legte ihm die Hand auf die Stirn. Geijerstam übersetzte ihre Worte. »Sie will wissen, ob Sie krank sind.« »Sagen Sie ihr, daß ich es nicht weiß. Das würde ich ja gern erfahren.« Sie machte den Schrank auf und nahm ein Stück Bindfaden heraus. Ein Ende war um ein Spindel gewickelt; das andere Ende war mit einer etwa zwei Zentimeter großen Holzperle beschwert. »Sie wird Sie jetzt mit dem Pendel testen«, sagte Geijerstam. »Was bewirkt es?« »Man könnte es als eine Art Lambdameter bezeichnen. Es mißt Ihre Felder.« »Seltsamerweise funktioniert es«, sagte Fallada. »Wir hatten früher einen alten Diener, der es auch konnte.« »Was tut sie jetzt?«
»Sie mißt die genaue Länge für einen Mann ab – rund sechzig Zentimeter.« Die alte Frau hielt den Faden sorgfältig gegen ein Metermaß und wickelte noch ein Stück von der Spindel ab. Sie sagte etwas zu Carlsen. »Sie will, daß Sie sich auf den Boden legen«, sagte Geijerstam. Carlsen legte sich flach auf den Rücken und schaute zu ihr auf, als sie über ihm stand. Sie streckte den Arm aus, und das Pendel begann hin und her zu schwingen. Kurze Zeit später begann es, sich im Kreis zu bewegen. An ihren Lippenbewegungen konnte er erkennen, daß sie zählte. Etwa eine Minute später hörte das Pendel auf zu kreisen und schwang wieder hin und her. Sie lächelte und sagte etwas zu Geijerstam. »Sie sagt, daß Ihnen nichts fehlt«, sagte er. »Ihr Gesundheitsfeld ist ungewöhnlich stark.« »Schön. Was hat sie jetzt vor?« Die alte Frau verlängerte den Faden. »Weitere Tests.« Wieder hielt sie das Pendel über ihn. Diesmal spürte er, daß Geijerstam gespannt war. Er sah neugierig zu, wie das Pendel von seinem normalen Hin- und Herschwingen in eine kreisende Bewegung überging. Ihre Lippen bewegten sich, zählten. Sie sagte etwas mit leiser Stimme zu Geijerstam. Als das Pendel wieder hin und her schwang, legte sie es zu Boden und schüttelte den Kopf. Sie sah Carlsen nachdenklich an.
»Fertig«, sagte Geijerstam. »Sie können sich wieder setzen.« »Was hatte das alles zu bedeuten?« Geijerstam sprach zu der alten Frau auf Lettisch; ihre Antwort dauerte mehrere Minuten. Carlsen strengte sich an, ihr zu folgen; während seiner Ausbildung in Riga hatte er ein paar Brocken Lettisch aufgeschnappt. Er verstand die Worte ›bistams‹, was soviel wie gefährlich bedeutete, und ›briesmas‹ – Gefahr. »Ne sieviete?« fragte Geijerstam. Sie zuckte die Achseln und sagte: »Varbut.« Sie sprach weiter, hob das Pendel auf und hielt es mit ausgestrecktem Arm über Carlsen, der sich mit dem Rücken gegen die Wand lehnte. Nach wenigen Augenblicken begann es zu kreisen. Sie ging hinüber zu Fallada und hielt es über seinen Bauch. Diesmal pendelte es ausschließlich hin und her. Sie zuckte die Achseln. »Loti atvainojos.« Sie schleuderte das Pendel aufs Bett. »Worüber ist sie traurig?« fragte Carlsen. »Es ist verblüffend – aber nicht völlig unerwartet«, sagte Geijerstam. »Als Torsten Vetterlund in Ninas Gewalt war, wies ihn das Pendel als Frau aus. Ich habe ihr das gesagt, aber sie betont, daß diese Länge – etwa dreiundsechzig Zentimeter – auch Gefahr bedeuten kann.« »Sie meinen, daß dies die Reaktion ist, die sie von mir erhält?« fragte er.
»Ja.« Ihm wurde schlecht vor Enttäuschung und Niedergeschlagenheit. Mit einem Mal wurde ihm bewußt, daß er sich krank und erschöpft fühlte. Das Übelkeitsgefühl wurde innerhalb weniger Sekunden so stark, daß er befürchtete, sich übergeben zu müssen. Er spürte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Als er sich aufrappelte, fing der Hund zu knurren an. Er wich vor Carlsen zurück und versperrte den Türeingang; sein Fell war gesträubt. »Was haben Sie vor?« fragte Geijerstam. »Mir ist schlecht. Ich muß an die frische Luft.« »Nein!« Geijerstam sagte es mit solcher Schärfe, daß Carlsen ihn überrascht anschaute. Geijerstam legte ihm die Hand auf den Arm. »Verstehen Sie nicht, was vor sich geht? Betrachten Sie den Hund. Die Vampirfrau ist wieder da. Schließen Sie die Augen. Spüren Sie nicht, daß sie da ist?« Carlsen schloß die Augen, aber er schien unfähig, zu denken oder seine Empfindungen zu registrieren. Er fühlte sich wie im Delirium. »Ich glaube, ich falle gleich in Ohnmacht.« Er machte einen Schritt auf die Tür zu; der Hund kauerte sich zusammen und fletschte knurrend die Zähne. Geijerstam und Fallada standen beide neben ihm; er bemerkte, daß er schwankte. »Wir müssen noch einen Test durchführen«, sagte Geijerstam. »Einen ent-
scheidenden. Kommen Sie und legen Sie sich drüben hin.« Sie führten Carlsen durch das Zimmer. Er ließ sich widerstandslos leiten, als hätte man ihm alle Willenskraft ausgesaugt. Er legte sich flach auf den Rükken, aber sofort wurde ihm so schlecht, daß er sich auf den Bauch rollte. Die grobe Strohmatte drückte gegen seine Stirn; sie roch nach Staub. Wieder schloß er die Augen, und er schien in eine schwarze Dunstwolke zu treiben, in eine Art Zwielichtwelt. Mit einem Mal verstand er, was vor sich ging. Sie war da, aber sie beschäftigte sich nicht mit ihm. Sie stand in Verbindung mit dem Wrack, das immer noch in der schwarzen Leere dahintrieb. Er konnte jetzt auch einen gierigen Hunger wahrnehmen, der sich wellenförmig von dem Wrack ausbreitete. Die Männer aus den Raumschiffen waren fort, und sie fühlten sich betrogen. Sie waren wütend darüber, daß sie sich noch immer im Wrack befanden. Sie konnten nicht verstehen, was schiefgegangen war. Es fiel ihr schwer, sich ihnen verständlich zu machen, denn sie war in einer anderen Welt; sie war wach, sie dagegen schliefen. Ihre Qual traf sie wie Peitschenhiebe. Einer Induktionsspule gleich registrierte Carlsen ihren Schmerz. Durch die Dunstwolke hindurch hörte er Geijerstam sagen: »Legen Sie sich bitte einen Moment auf den Rücken.« Mühsam machte er die Augen auf und wälzte sich herum. Er war irgendwie nur mit einer
Hälfte seines Ichs im Zimmer, und die schwarzen Wolken waren zwischen ihm und den anderen. Er konnte sehen, daß die alte Frau auf der Treppe an der Wand stand und das Pendel über seine Brust hielt. Es begann in weiten Kreisen zu schwingen. Er fühlte, wie ihm der Schweiß aus den Achselhöhlen lief. »Sie können jetzt aufstehen«, sagte Geijerstam schließlich. Mit einer schmerzhaften Anstrengung richtete er sich halb auf und stützte sich mit den Ellenbogen ab. Der Hund fing wütend zu bellen an. Er lehnte sich gegen die Holzstufen und vermied es, die Augen zu schließen, aus Angst, er könnte wieder in jene Welt des Hungers und der Qual, zurückgezogen werden. Er bemerkte, daß die alte Frau vor ihm stand und ihm etwas hinhielt. Sie sagte in gebrochenem Schwedisch: »Nehmen Sie das und riechen Sie daran.« Der Geruch sagte ihm, daß es Knoblauch war. Er schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.« »Tun Sie bitte, was sie sagt«, drängte Geijerstam. Er nahm ihn entgegen und hielt ihn sich vors Gesicht. Es war ein Gefühl, als hielte ihm jemand ein Kissen gegen die Nase. Der Knoblauch roch nach Fäulnis und Tod. Er begann zu husten und zu würgen; die Tränen liefen ihm über die Wangen. Er geriet in Panik und hatte das Gefühl zu ersticken. Dann verschwand das Schwächegefühl ganz unvermittelt. Geradeso, als wäre
eine Tür zugeschlagen worden, um einem nervenzermürbendem Lärm ein Ende zu bereiten. Er stellte fest, daß der Hund aufgehört hatte zu bellen. Fallada legte ihm die Hand auf die Schulter. »Wie fühlen Sie sich jetzt?« Carlsen empfand Dankbarkeit über die aufrichtige Besorgnis, mit der er es sagte. »Es geht wieder. Könnte ich jetzt ins Freie?« Ihn dürstete nach frischer Luft. Sie faßte ihn bei den Armen und halfen ihm zur Tür hinaus. Er setzte sich auf die Holzbank und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand. Die Sonne schien ihm warm ins Gesicht. Er hörte die Vögel zwitschern und den Wind durch die Zweige rauschen. Er fühlte, wie jemand seine Hand ergriff. Es war die alte Frau. Sie saß auf einem Schemel vor ihm; ihr Gesicht war angespannt, als konzentriere sie sich. Dann sah sie ihm in die Augen und sprach auf Lettisch. Geijerstam übersetzte. »Sie sagt: Lassen Sie sich nicht von der Furcht übermannen. Ihr größter Feind ist die Angst. Ein Vampir kann Sie nicht töten, wenn Sie ihm nicht nachgeben.« Carlsen brachte ein Lächeln zustande. »Das weiß ich.« Sie sprach weiter. »Sie sagt: Vampire haben kein Glück«, sagte Geijerstam. »Auch das weiß ich.«
Die alte Frau drückte seine Hände und sah ihm in die Augen. Sie sagte auf Schwedisch: »Denken Sie immer daran, daß, wenn sie in Ihnen ist, Sie auch in ihr sind.« Er runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Das verstehe ich nicht.« Sie lächelte und stand auf. Sei sagte etwas in ihrer eigenen Sprache zu Geijerstam und ging dann in die Hütte. Kurz darauf kehrte sie zurück und drückte ihm etwas in die Hand. Es war ein kleiner Messingring, der an einem Stück Bindfaden hing. »Sie sagt, Sie sollen ihn am rechten Arm tragen, damit er Sie vor dem Bösen bewahrt. Es ist ein litauischer Hexenzauber.« »Loti pateicos«, sagte Carlsen. Sie lächelte und machte einen Knicks. »Fühlen Sie sich kräftig genug, um zum Haus zurückzugehen?« fragte Geijerstam. »Ja. Es geht mir jetzt besser.« Geijerstam verbeugte sich vor der alten Frau; sie nahm seine Hand und küßte sie. Als sie sich am Rand der Lichtung noch einmal umdrehten, stand sie mit dem Hund an ihrer Seite da und sah ihnen nach. Als sie den Wald hinter sich gelassen hatten, hörten sie Gelächter. Die drei Mädchen badeten im See; Anneliese schwamm auf dem Rücken und wirbelte mit
den Füßen eine Gischtwolke auf. Als Selma Bengtsson sie erblickte, winkte sie und rief Carlsen zu: »Ihre Frau hat angerufen.« »Hat sie eine Nachricht hinterlassen?« fragte er. »Nein.« »Warum rufen Sie nicht zurück?« fragte Geijerstam. »Wenn Sie nichts Dringendes vorhaben, könnten Sie ja noch einen Tag bleiben.« »Sehr freundlich von Ihnen.« Das traumähnliche Erlebnis war verblaßt; er war jetzt müde und wollte sich hinlegen und schlafen. Die Vorstellung, noch einen Tag ausruhen zu können, war verlockend. Als sie im Haus waren, sagte Geijerstam: »Bitte nehmen Sie den Apparat in meinem Arbeitszimmer. Erste Etage.« Es war ein kleiner, gemütlicher Raum, der nach warmem Leder und Zigarren roch. Der Ledergeruch kam von einem altmodischen Sofa, das zu nahe am Feuer stand. Als er sich an den Schreibtisch setzte, fragte Carlsen: »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Sie meiner Frau vorstelle? Sie hat Ihr Buch entdeckt und möchte Ihnen wahrscheinlich guten Tag sagen.« »Es wäre mir ein Vergnügen.« Er konnte die Nummer direkt wählen. Auf der Mattscheibe erschien Jeanettes Gesicht. »Daddy!« sagte sie. »Bist du auf dem Mond?«
»Nein, Kleines. Nur jenseits des Meeres. Ist Mami da?« Sie hörten Jelkas Stimme: »Ja, ich bin hier. Hallo.« Sie hob Jeanette hoch und setzte sie auf ihren Schoß. »Geht es dir gut?« Aus irgendeinem Grund war Jelka am Teleschirm niemals ungezwungen. Sie gab sich zurückhaltend und kühl wie eine Sekretärin. »Ja, danke.« »Kommst du morgen nach Hause?« fragte Jeanette. »Das weiß ich noch nicht, Kleines. Ich bleibe vielleicht noch einen Tag. Ich wohne in einem Schloß, das diesem Herrn gehört.« Er bedeutete Geijerstam, an den Apparat zu kommen. Carlsen stellte ihn vor, und Jelka und Geijerstam sagten sich einige Höflichkeiten. Jeanette warf ein: »Daddy, was ist ein Prühmehminister?« »Ein was?« »Ach ja«, sagte Jelka. »Jemand vom Büro des Premierministers rief an und wollte dich sprechen. Leider hatte ich deine Adresse verlegt.« Er fühlte ein plötzliches Unbehagen, als wehe ihm ein kalter Wind in den Nacken. »Was wollte man?« »Ich weiß es nicht.« »Und hast du die Adresse wiedergefunden?« »Nein. Susan hat Blätter aus dem Notizbuch gerissen und Papierflugzeuge daraus gemacht.« »Woher hast du dann diese Nummer?«
»Ich rief bei Fred Armfeldt in der schwedischen Botschaft an. Der Sekretär des Premierministers will nachher noch einmal anrufen. Ich gebe ihm die Nummer dann.« »Nein!« sagte er heftig. Sie sah ihn überrascht an. »Warum denn nicht?« »Weil – weil ich hier nicht gestört werden möchte.« »Aber wenn es etwas Wichtiges ist?« »Das ist egal.« Er bemerkte, daß seine Stimme ungehalten klang. »Wenn jemand anruft, sagst du, du hättest meine Adresse verlegt.« Sie schaute sich um. »Da ist jemand an der Haustür. Wann kommst du nach Hause?« »Morgen nachmittag.« Als er aufgelegt hatte, fragte Geijerstam: »Haben Sie etwas gegen den Premierminister?« Er rieb sich die Augen mit den Fingern. »Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist nur –« Er zuckte die Achseln. »Was?« Er schaute auf. »Spielt das eine Rolle?« »Ich möchte es gern wissen.« Carlsen blickte nachdenklich aus dem Fenster. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich nehme an, es gefällt mir hier zu sehr –« Es klopfte an der Tür. »Ich störe doch nicht?« fragte Fallada.
»Nein, kommen Sie herein.« »Haben Sie im Institut eine Nachricht hinterlassen, wo Sie zu erreichen sind?« fragte Carlsen. »Selbstverständlich«, sagte Fallada überrascht. Dann runzelte er die Stirn und kratzte sich an der Nase. »Das heißt, jetzt, da Sie es erwähnen, bin ich mir nicht ganz sicher. Ich hatte es vor – wieso fragen Sie?« »Ach, nur so«, sagte Carlsen. Geijerstam lächelte Fallada an. »Also haben Sie vergessen, Ihre Adresse zu hinterlassen. Und Commander Carlsen hinterließ seine dort, wo sie verlegt werden konnte. Somit weiß jetzt niemand, wo Sie sich aufhalten. Was würden Sie als Psychologe dazu sagen?« Fallada nickte. »Ja, Sie haben recht. Aber wenn Carlsen seine Adresse tatsächlich hinterließ, sieht es mehr nach einem Versehen aus.« »Nur habe ich ihn geradezu seiner Frau sagen hören, daß sie dem Sekretär des Premierministers ausrichten soll, sie wüßte nicht, wo er ist.« Carlsen und Fallada begannen beide gleichzeitig zu sprechen. Fallada sagte: »Das läßt sich leicht erklären. Vor zwei Tagen nahmen wir beide an einer Besprechung mit dem Premierminister teil. Er glaubt nicht, daß diese Vampire gefährlich sind. Folglich trauen wir ihm beide nicht.«
Geijerstam stand am Fenster und schaute hinaus. Er sagte langsam: »Meine Erfahrung sagt mir, daß man Warnungen des Unterbewußtseins nicht in den Wind schlagen sollte.« »Was schlagen Sie vor?« fragte Carlsen. Geijerstam setzte sich auf die Schreibtischkante, so daß er Carlsen ins Gesicht sehen konnte. »Entsinnen Sie sich, was Moa zum Schluß zu Ihnen sagte?« fragte er. »Was immer es auch war, ich habe es nicht verstanden.« »Sie sagte: Denken Sie daran, daß, wenn sie in Ihnen ist, Sie auch in ihr sind.« »Das stimmt nicht«, sagte Carlsen. »Wirklich nicht?« »Ich weiß nicht, was sie damit meinte.« »Sie meinte, daß, wenn die Fremde in geistiger Verbindung mit Ihnen steht, Sie auch in geistiger Verbindung mit ihr stehen.« »Wie?« fragte Fallada schnell. Geijerstam fragte Carlsen: »Sind Sie schon einmal hypnotisiert worden?« Fallada schnippte mit den Fingern. »Ja! Das ist einen Versuch wert.« Carlsen verneinte. Geijerstam fragte: »Wären Sie bereit, es mich versuchen zu lassen?« Carlsen hatte ein flaues Gefühl im Magen; er atmete tief ein.
»Nun – es könnte wohl nicht schaden.« »Die Idee behagt Ihnen nicht?« Carlsen sagte entschuldigend: »Es ist nur so – ich bekomme langsam das Gefühl, daß mein Verstand nicht mehr mein eigener ist.« »Ich verstehe. Aber deswegen brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen. Sie werden die ganze Zeit über bei Bewußtsein bleiben.« »Das ist möglich?« fragte Carlsen überrascht. »Selbstverständlich. Ich ziehe es sogar vor, wenn die betreffende Person bei vollem Bewußtsein ist.« »Es ist völlig sicher«, sagte Fallada. »Ich bin ein dutzendmal hypnotisiert worden. Zu meiner Studienzeit war es eine Art Sport.« »Also gut. Und wann?« fragte Carlsen. »Warum nicht gleich?« Carlsen lächelte. »Ich werde wahrscheinlich dabei einschlafen. Ich bin hundemüde.« »Das würde keine Rolle spielen.« Geijerstam zog die Vorhänge zu. Er stellte die Schreibtischlampe an. »Möchten Sie, daß ich mich entferne?« fragte Fallada. »Nur wenn es Commander Carlsen wünscht.« Er nahm einen Metallständer aus einem Schrank, an dessen gebogenem Oberteil sich ein Haken befand. Geijerstam befestigte eine an einem Stück Faden hängende Chromkugel daran. Im Licht der Leselampe
konnten sie ihre langsame und gleichmäßige Rotation beobachten. Carlsen sagte, den Blick darauf geheftet: »Ich habe nichts dagegen.« Geijerstam drehte die Lampe so, daß Carlsens Gesicht im Schatten lag. Er sagte: »Die Kugel dient dazu, Ihre Augenmuskulatur zu ermüden. Folgen Sie ihr mit Ihrem Blick, bis Sie merken, daß Ihre Augen müde werden, und schließen Sie sie dann. Ich möchte, daß Sie in Ihrem Sessel völlig bequem sitzen. Ich kann Sie nur mit Ihrer Hilfe hypnotisieren. Wichtig ist vor allem, daß Sie völlig ruhig und entspannt sind.« Er sprach ruhig und langsam weiter, während er das Pendel in Bewegung setzte. Carlsen ließ sich tief in den Ledersessel zurücksinken. Hinter der Kugel konnte er undeutlich Falladas dunkle Gestalt auf dem Sofa erkennen und das Kaminfeuer, das sich in seinen Brillengläsern spiegelte. »So ist es gut«, sagte Geijerstam leise. »Entspannen Sie sich und achten Sie genau auf das, was ich sage. Sie denken jetzt an nichts. Ihre Augen werden müde. Ihre Lider sind schwer. Sie möchten sie schließen.« Es stimmte; das Licht tat seinen Augen weh. Er machte sie zu und fühlte sich von einem warmen Dunkel umgeben. Geijerstams Stimme sagte: »Ihre Glieder sind schwer. Sie haben das Gefühl, in einen Sessel zu sinken. Sie atmen tief und gleichmäßig, tief und
gleichmäßig ...« Er spürte jenes warme, wohltuende Vertrauensgefühl, das er wegen einer geringfügigen Sache operiert werden sollte. Er war sich nur seiner Atemzüge und Geijerstams Stimme bewußt. Dann hörte die Stimme auf zu sprechen. Er fühlte, daß Geijerstam seinen rechten Arm anhob und dann fallen ließ. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Es war, als erwache er aus sehr tiefem Schlaf und läge in einem warmen, weichen Bett, ohne den geringsten Wunsch zu verspüren, sich zu regen. Zeit spielte keine Rolle. Er hätte sich glücklich geschätzt, tage- oder wochenlang in diesem Zustand losgelöster Zufriedenheit dahintreiben zu können. »Können Sie mit mir sprechen?« fragte Geijerstam. »Antworten Sie mit ja, wenn Sie können.« Mühsam gegen die Trägheit ankämpfend, die auf ihm lastete, sagte er: »Ja.« »Wissen Sie, wo Sie sind?« »Ich bin in Schweden.« »Sind Sie eine Person oder zwei?« »Eine.« »Aber diese Vampirfrau – ist sie nicht in Ihnen?« »Nein.« »Aber gestern nacht war sie in Ihnen?« »Nein.« »Sie war nicht in Ihnen?« »Nein. Sie stand in Kontakt mit mir. Ihr Verstand
stand in Kontakt mit meinem. Wie bei einem Teleschirm.« »Ist sie jetzt in Kontakt mit Ihnen?« »Nein.« »Warum nicht?« »Sie hat nicht danach gefragt.« »Würden Sie es ihr sagen, wenn sie danach fragte?« »Ja.« »Wissen Sie, wo sie jetzt ist?« »Ja.« »Wo?« »Ich weiß den Namen nicht.« »Aber Sie wissen, wo sie ist?« »Ja.« »Können Sie den Ort beschreiben?« Er schwieg eine Zeitlang. Er ging neben ihr her, einen aufgeweichten Weg entlang. Es hatte geregnet. Sie trug ein auffallendes Kleid mit roten und gelben Streifen. In der Ferne ragten die Büroblocks einer Stadt in die Höhe. »Wo ist sie jetzt?« fragte Geijerstam. »Sie geht durch ein Moor.« »Was tut sie?« »Sie sucht einen Mann.« »Was für einen Mann?« »Irgendeinen Mann. Sie will einen jungen und gesunden – jemand, der in einer Fabrik arbeitet.« »Will sie ihn töten?«
»Nein.« »Warum nicht?« »Sie hat Angst, gefangen zu werden.« Fallada unterbrach: »Wie könnte sie gefangen werden?« »Die Leiche könnte sie verraten.« »Was erhofft sie sich dann?« Es war wieder Geijerstam. »Einen gesunden Mann zu finden und ihn zu verführen. Sie will ihm Energie nehmen – aber nicht so viel, daß er stirbt.« »Und was weiter?« »Dann will sie ihm Energie entziehen – wie sie mir welche entzieht.« Fallada, der am anderen Ende des Schreibtischs saß, schnippte mit den Fingern. »Natürlich! Das haben sie vor. Sie wollen ein Netz von Energiespendern errichten!« Er fragte Carlsen: »Stimmt das?« »Ja.« »Wessen Körper benutzt sie jetzt?« fragte Geijerstam. Carlsen zögerte. Es war fast unmöglich, in den Verstand der Fremden einzudringen und ihre Gedanken zu lesen. Wenn er es versuchte, würde es sie alarmieren. Aber da war noch ein anderer Verstand. »Ich glaube, sie heißt Helen«, sagte er. »Sie ist Krankenpflegerin.« »In einem Krankenhaus?«
»Ich – glaube ja.« »Ist Helen jetzt tot?« »Nein. Sie ist noch in ihrem Körper.« »Sie meinen, daß zwei Menschen in einem Körper sind – Helen und die Vampirfrau?« Man merkte Geijerstams Stimme die Spannung an. »Ja.« »Was geschah mit dem anderen Körper – dem des Mannes, den sie übernahm?« fragte Fallada. Carlsen schwieg. Er wußte, daß die Antwort in dem Verstand der Fremden wie in einem Panzerschrank verschlossen lag. Geijerstam fragte ihn: »Können Sie uns irgend etwas über den anderen Körper sagen? Etwas, das uns einen Hinweis geben könnte?« Wieder konnte er ihnen nur sagen, was er in den Gedanken der Krankenpflegerin las. »Da ist ein anderer Körper. Aber er ist in dem Krankenhaus.« »Ein Mann oder eine Frau?« »Ein Mann.« »Wissen Sie seinen Namen?« »Jeff.« »Seinen Nachnamen?« »Nein.« »Was meinen Sie damit, er sei in dem Krankenhaus? Ist er tot?«
»Nein.« »Können Sie uns etwas über das Krankenhaus sagen?« »Es liegt – am Stadtrand. Auf einem Hügel.« »Sie haben keine Ahnung, wie es heißt?« »Nein.« »Oder wo es zu suchen ist?« »Nein.« Es trat eine Pause ein. Fallada und Geijerstam unterhielten sich, aber das kümmerte ihn nicht. Sie hätten ebensogut in einer fremden Sprache sprechen können. Er erfreute sich an der kühlen Brise und an den Wasserlachen, die das Sonnenlicht widerspiegelten. »Was tut sie jetzt?« fragte Fallada. »Sie sitzt auf einer Bank am Wegrand. Sie beobachtet einen Mann.« »Was tut der Mann?« »Er sitzt in seinem Wagen und liest Zeitung.« »Können Sie das Nummernschild erkenne?« fragte Fallada rasch. »Ja.« »Lesen Sie es vor.« »QBX 5279 L.« »Sind noch andere Autos da?« »Ja. Ein roter Temeraire parkt am Zaun. Ein junges Ehepaar ißt gerade Sandwichs und bewundert die Aussicht.«
»Wie ist die Nummer?« »3 XJUT 9.« »Was tut sie jetzt?« »Sie wartet. Sie schlägt die Beine übereinander und schiebt dabei den Rock hoch. Sie tut so, als lese sie ein Buch.« Fallada und Geijerstam unterhielten sich wieder. Dann fragte Fallada: »Wissen Sie, was mit den beiden anderen Vampiren geschehen ist?« »Ja. Einer ist nach New York gegangen.« »Und der andere?« »Er ist noch in London.« Wie bei einem Traum veränderte sich die Szenerie. Er stand am oberen Absatz der breiten Marmortreppe, die vom Gelände des alten Savoy zum Fluß hinabführte. Der andere Fremde schüttelte gerade einem kleinen dicken Mann die Hand: es war der chinesische Geschäftsträger. »Können Sie uns seinen Namen sagen?« »Er ist schwer auszusprechen. Wir würden Ykx-ByOrun sagen.« »Aber wie lautet sein jetziger Name? Der Name des Körpers, den er benutzt?« »Everard Jamieson.« Ihre erstaunten Ausrufe kümmerten ihn nicht. Er interessierte sich mehr für den glänzenden Raketen-
träger, der langsam flußabwärts glitt und dessen schäumendes Kielwasser das kleinere Schiff kaum behinderte. Geijerstam sprach wieder zu ihm. »In dreißig Sekunden werde ich Sie aufwecken. In dreißig Sekunden werde ich Sie aufwecken. Wenn Sie aufwachen, werden Sie sich frisch und ausgeruht fühlen. Ihr Schlaf wird jetzt schon leichter. Sie wachen langsam auf. Ich zähle jetzt bis zehn, und bei zehn werden Sie hellwach sein. Eins, zwei –« Er machte die Augen auf und überlegte einen Moment, wo er war. Er bildete sich ein, zu Hause im Bett zu liegen, und konnte sich nicht erklären, wieso er in einem Sessel saß. Dann zog Geijerstam die Vorhänge zurück, und Tageslicht erhellte das Zimmer. Er fühlte sich, als hätte er lange und fest geschlafen. Er erinnerte sich vage an einen Fluß und an ein riesiges silberglänzendes Schiff, aber das Bild verblaßte, als er sich genauer zu erinnern versuchte. Falladas Gesicht war vor Erregung gerötet. Er fragte: »Ist Ihnen klar, was Sie da eben behauptet haben?« »Nein, was habe ich denn behauptet?« »Sie haben gesagt, einer der Fremden hätte den Premierminister von England übernommen.« »Mein Gott!« sagte er erschrocken. »Erinnern Sie sich nicht?« fragte Fallada verwundert. »Ich hätte ihn anweisen sollen, sich später an alles
zu erinnern. Ich vergaß es.« Geijerstam setzte sich auf den Schreibtisch. »Sie sagten uns, daß einer der Fremden vom Körper einer Krankenpflegerin Besitz ergriffen hat. Ein anderer hat den Premierminister übernommen.« Er betätigte einen Schalter auf dem Schreibtisch. »Ich spiele Ihnen die Bandaufnahme vor. Hören Sie zu.« Während der folgenden sieben Minuten lauschte er verblüfft den Worten seiner eigenen Stimme. Sie klang schwerfällig und ausdruckslos. Er erinnerte sich an nichts von dem, was er gesagt hatte. Für einen Moment tauchte das Bild eines Mädchens in roter Kleidung, dessen Haar im Wind flatterte, in seinem Gedächtnis auf; aber es verblaßte sofort wieder. Seine anfängliche Verwunderung verschwand, und er fand zu einer nüchternen und sachlichen Haltung zurück. Als seine Stimme »Everard Jamieson« sagte, schaltete Geijerstam das Bandgerät ab. »Das war's. Sie wußten beide, daß mit diesem Jamieson etwas nicht stimmte. Ihr Unterbewußtsein hat Ihnen den richtigen Weg gewiesen.« »Trotzdem will es mir nicht in den Kopf«, sagte Fallada. »Er machte neulich einen völlig normalen Eindruck. Ich habe ihn oft im Fernsehen gesehen –« Er hatte Carlsen beim Sprechen angeschaut. Carlsen sagte achselzuckend: »Das war auch mein Eindruck.«
Fallada fragte Geijerstam: »Halten Sie es für möglich, daß er sich irrt? Daß seine Abneigung gegen Jamieson ihn unbewußt zu der Beschuldigung veranlaßt haben könnte?« »Das läßt sich leicht feststellen.« Geijerstam legte den Finger auf den Zettel auf dem Schreibtisch. »Wir haben hier zwei Kennzeichen von Personenwagen. Man könnte sie beim Kraftfahrzeugzulassungsamt überprüfen lassen. Wenn sie sich als richtig herausstellen, dürfte auch der Rest der Geschichte stimmen.« »Rufen wir doch Heseltine an«, sagte Carlsen. »Gut.« Fallada ging hinüber zum Schreibtisch. »Gestatten Sie, daß wir von hier aus London anrufen?« »Bitte sehr«, sagte Geijerstam. Der diensthabende Sergeant meldete sich. »New Scotland Yard.« »Das Büro des Polizeichefs, bitte.« Heseltines Sekretärin erschien auf der Mattscheibe. »Ah, Dr. Fallada«, sagte sie. »Wir haben schon versucht, Sie zu erreichen.« »Liegt etwas Dringendes vor?« »Der Premierminister hat nach Ihnen gefragt.« Fallada und Carlsen blickten sich an. »Ist Sir Percy zur Zeit in seinem Büro?« fragte Fallada. »Leider nein. Er ist in der Downing Street. Soll ich ihn benachrichtigen, daß er Sie anrufen soll?«
»Das wird nicht nötig sein. Aber ich möchte eine Nachricht hinterlassen. Würden Sie diese Autonummern notieren?« Er las sie vor. »Ich möchte den Wohnort der Fahrzeughalter erfahren.« »Wenn Sie einen Moment warten, könnte ich das schnell für Sie erledigen. Möchten Sie in der Leitung bleiben?« »Nein, danke. Ich kehre heute noch nach London zurück. Ich werde Sie dann anrufen. Würden Sie Sir Percy sagen, daß die Nummern mit dem Fall zu tun haben? Er wird schon wissen, was ich meine. Und sagen Sie ihm, er möchte nichts davon verlauten lassen, bevor ich ihn nicht gesprochen habe.« »Wie Sie wünschen, Sir. Wo halten Sie sich zur Zeit auf?« Fallada sagte lächelnd: »In Istanbul.« Als er die Verbindung unterbrochen hatte, sagte Geijerstam: »Dann reisen Sie heute ab? Das tut mir leid.« »Ich halte die Sache für wichtig. Wir müssen diese Frau ausfindig machen.« »Und was dann?« Fallada zuckte die Achseln. »Das weiß ich nicht. Haben Sie eine Idee?« Geijerstam rückte das Sofa ein Stück vom Feuer ab und ließ sich darauf nieder. Er saß kurze Zeit schweigend da. Schließlich sagte er: »Ich fürchte, daß Ihnen
mein Rat nicht viel nützen wird. Aber sehen Sie zu, was Sie damit anfangen können. Das Hauptproblem besteht darin, einen Vampir in die Defensive zu drängen. Erinnern Sie sich an die Schlußszenen der Dracula-Filme? Es klingt vielleicht absurd, aber sie gewähren einen zutreffenden Einblick in die Psychologie eines Vampirs. Wenn der Vampir sich erst einmal auf der Flucht befindet, hat er seinen Vorteil verloren. Ich habe Vampirismus einmal als eine Form mentalen Karates definiert. Er basiert auf Angriff, auf Aggression. Im Grunde ist der Vampir ein Krimineller. Er ist wie ein Dieb in der Nacht.« Fallada nickte. »Wie ein Sexualverbrecher. Wenn das Opfer den Spieß umdrehen und versuchen würde, ihn zu vergewaltigen, würden ihm sehr schnell alle sexuellen Gelüste vergehen.« Geijerstam lachte. »Genau. Wenn Sie also Ihre Vampirfrau ausfindig machen, haben Sie keine Angst vor ihr. Natürlich weiß ich nichts über die Fähigkeiten dieser Fremden, und vielleicht sind Sie bei mir schlecht beraten. Aber ich würde folgendes sagen: versuchen Sie, ihr Angst einzujagen.« Carlsen schüttelte den Kopf. »Dagegen läßt sich einwenden, daß sie dann wieder untertauchen könnte. Dem legendären Vampir sind gewisse Grenzen gesetzt – er muß in einem Sarg voller Erde schlafen und so fort. Diesen Wesen offenbar nicht.«
»Sie müssen ihre Grenzen haben«, sagte Geijerstam. »Ihre Aufgabe ist es, sie ausfindig zu machen. Sie sagen, sie könnte vielleicht wieder untertauchen. Aber sind Sie dessen sicher?« »Wie meinen Sie das?« fragte Fallada schnell. »Überlegen Sie, was beim letzten Mal geschah. Die erste Frau verschwand aus dem Raumforschungsgebäude. Dann entdeckte man, daß die beiden anderen tot waren. Sie wissen jetzt, daß sie ihre Körper einfach aufgaben und dafür andere fanden. Aber brachten sie das allein fertig? Oder mit Hilfe des anderen Vampirs?« »Das ist wahr«, sagte Carlsen. »Wir haben keinen Beweis dafür, daß sie es ohne die Hilfe des anderen tun können.« »Und da die drei nun voneinander isoliert sind, läßt es sich vielleicht leichter mit ihnen fertig werden. Überdies wissen Sie jetzt, daß Sie den Aufenthaltsort der Vampirfrau unter Hypnose ermitteln können.« »Würden Sie sich überreden lassen, mit uns zu kommen?« fragte Fallada. Geijerstam schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin zu alt. Außerdem brauchen Sie mich gar nicht. Sie wissen ebensoviel über Vampire wie ich – wahrscheinlich sogar mehr.« Es klopfte an der Tür. Der Diener, Gustav, schaute herein. Er sagte: »Die jungen Damen lassen fragen, ob
Sie ihnen bei einem Drink vor dem Mittagessen Gesellschaft leisten wollen, Sir.« »Ja, warum nicht. Richten Sie ihnen aus, daß wir in einigen Minuten hinunter kommen.« Er wandte sich an Fallada. »Zum Schluß noch ein letzter Rat. Denken Sie immer daran, daß der Vampir ein Verbrecher ist. Das ist sein grundlegender Charakterzug. Und früher oder später verläßt den Verbrecher das Glück.« »Meinte sie das – die alte Frau?« fragte Carlsen. »Als sie sagte, Vampire hätten kein Glück, dachte ich, sie bezöge sich dabei auf ihre Opfer.« Geijerstam gluckste und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Nein. Sie meinte, Vampire seien vom Pech verfolgt. Sehen Sie sich diese Kreaturen doch an. Sie arbeiten einen perfekten Plan zur Invasion der Erde aus, und in jedem wichtigen Stadium geht etwas schief. Es gibt gute wie böse Mächte im Universum.« »Ich wünschte, ich könnte es glauben«, sagte Carlsen. »Das werden Sie, noch bevor Sie mit diesen Wesen fertig sind.« Carlsen wollte ihn noch mehr fragen, aber er ging bereits zur Tür hinaus.
8 Ein purpurroter Abendhimmel lag über der Stadt, als die Maschine auf dem Londoner Flughafen landete. Als Carlsen die Gangway herunter ging, stellte er erfreut fest, daß die Luft mild war und ein wenig nach Treibstoff roch. Es war ein merkwürdiges Gefühl, wieder zurück zu sein. Unfaßbar, daß es erst einen Tag her sein sollte, daß er London verlassen hatte. Ihm war, als kehrte er von einer Sechsmonatsreise im Weltraum zurück. »Wie fühlen Sie sich?« fragte Fallada. »Ich freue mich, wieder hier zu sein. Aber ich bin ein wenig deprimiert.« »Wegen Selma?« »Ja.« »Sie brauchen sich keine Vorwürfe zu machen. Schließlich war es nicht Ihre Schuld. Außerdem konnten wir einfach nicht länger bleiben.« »Das ist es nicht«, sagte er. »Was dann?« »Ich wollte dableiben.« Fallada warf ihm einen schnellen Blick zu. »Oh, nicht weil ich in sie verliebt bin.« Es schien absurd, über diese intimen Dinge zu reden, während sie durch den Lärm auf den wartenden Bus zugingen; aber er fuhr unbeirrt fort: »Es war
ihre Vitalität –« Er brach ab, unfähig weiterzusprechen. Fallada sagte rasch: »Lassen Sie sich deswegen keine grauen Haare wachsen.« »Es ist nicht wegen mir.« »Ich weiß. Aber Sie müssen sich vor Augen halten, daß es nur ein instinktives Verlangen ist, dem Sexualtrieb vergleichbar. Und es läßt sich ebenso leicht damit fertig werden.« Aber als das Gefährt fast geräuschlos über den glatten Betonboden dahinglitt, stellte Fallada fest, daß auch er beunruhigt war. Er verstand, warum Carlsen Anlaß hatte, um seine Frau und Kinder zu bangen. Er hatte die automatische Fernsehaufzeichnung von Seth Adams Tod gesehen; sein Eindruck war, daß der Vampir mit einem sofortigen gnadenlosen Angriff reagiert hatte, wie eine Venusfliegenfalle, die über einem gefangenen Insekt zuschnappt. Im Flughafengebäude suchten sie beide Teleschirmzellen auf. Carlsen rief Jelka an; sie erschien im Bademantel auf der Mattscheibe. »Ich wasche mir eben die Haare. Mandy und Tom wollen gegen neun rüberkommen. Bist du bis dahin hier?« »Ich weiß noch nicht. Fallada ruft gerade Heseltine an. Ich rufe noch einmal zurück.« Fallada hatte mit dem diensthabenden Sergeanten
vom Yard gesprochen; man hatte für ihn die Nachricht hinterlassen, er solle Heseltine zu Hause anrufen. Heseltine war am kauen, als er sich meldete. »Tut mir leid, wenn ich Sie beim Essen gestört haben sollte«, sagte Fallada. »Macht nichts – ich war sowieso fast fertig. Wo haben Sie gesteckt?« »Das sage ich Ihnen später. Haben Sie die zwei Autokennzeichen überprüfen lassen?« »Ja.« Heseltine holte einen Zettel aus der Tasche. »Eins ist die Nummer eines ausländischen Wagens – ein dänisches Ehepaar, das die Flitterwochen hier verbringt. Der Halter des anderen Wagens ist ein gewisser Pryce, wohnhaft in Holmfirth.« »Wo liegt das?« »In Yorkshire.« »Ausgezeichnet! Ich danke, wir kommen am besten gleich zu Ihnen. Haben Sie Zeit?« »Selbstverständlich. Ich wollte mir gerade einen Cognac und eine Zigarre genehmigen. Kommen Sie her und leisten Sie mir Gesellschaft. Ist Carlsen bei Ihnen?« »Ja.« »Gut. Meine Frau brennt nämlich darauf, ihn kennenzulernen. Kommen Sie so rasch wie möglich.« Auf dem Weg aus dem Flughafengebäude machten sie an einem Buchladen halt, und Fallada kaufte ei-
nen Atlas der britischen Inseln. Im Helitaxi schlug er ihn auf, suchte einen Moment und gab dann einen zufriedenen Ausruf von sich. Er reichte Carlsen den Atlas und zeigte mit dem Finger auf eine bestimmte Stelle. »Hier.« Holmfirth, sah Carlsen, war eine Kleinstadt etwa fünf Meilen südlich von Huddersfield. Höher gelegenes Gelände war auf der Konturenkarte in Gelb- und Brauntönen dargestellt. Holmfirth lag am Rand einer braunen Fläche. »Es ist schätzungsweise kaum zweihundertfünfzig Meilen von London entfernt. Das heißt, in einem Grashüpfer könnten wir es in weniger als einer Stunde schaffen.« »Um Himmels willen – aber nicht heute abend«, sagte Carlsen. »Müde?« »Allerdings.« Noch während er sprach, wurde ihm klar, daß das nicht der wahre Grund war. Er hatte Angst: Angst, nach Hause zu gehen, Angst, die Fremden zu suchen, Angst, überhaupt etwas zu unternehmen. Aber sein Verstand sagte ihm, daß er eigentlich nichts zu verlieren hatte, wenn er weitermachte. Das Helitaxi landete am Taxistand beim Sloane Square. Sie gingen die zweihundert Meter zum Eaton Place zu Fuß. »Heseltines Frau ist übrigens erpicht
darauf, Sie kennenzulernen«, sagte Fallada. »Sie war einmal Siegerin in einem Schönheitswettbewerb – Peggy Beauchamp.« Er klopfte Carlsen freundschaftlich auf die Schulter. »Ich hoffe, daß Sie Ihren fatalen Charme im Zaum halten werden.« Er sagte es scherzhaft, aber Carlsen kannte ihn gut genug, um den ernsthaften Unterton herauszuhören. Er lächelte und machte »Hm«. Sie machten vor der Eingangstür eines dreistöckigen roten Backsteinhauses halt; der häßliche eiserne Gartenzaun stammte noch aus viktorianischer Zeit. Eine schlanke, gutaussehende Frau in einem grünen Kimono machte ihnen auf. Fallada küßte sie auf die Wange. »Peggy, das ist Commander Carlsen.« »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Commander.« Carlsen hatte sie sich älter vorgestellt. »Ganz meinerseits«, sagte er. Sie reichten sich die Hände: urplötzlich, ohne jeden Übergang, erfaßte er ihre Gedanken und Gefühle. Das Blut schoß ihm ins Gesicht, und er war froh über die schwache Beleuchtung im Flur. »Percy ist oben im Arbeitszimmer. Gilt Ihr Besuch geschäftlichen Dingen?« Fallada sagte diplomatisch: »Nur zum Teil. Es dauert höchstens ein paar Minuten.«
»Na, hoffentlich. Ich habe gerade Kaffee gekocht.« Sie führte sie in den Salon; es war ein netter, gemütlicher Raum mit altmodischem Mobiliar aus den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts. »Ich sage Percy kurz Bescheid, daß Sie da sind. Er hat Sie so früh noch nicht erwartet.« »Warum gehe ich nicht selbst hinauf?« meinte Fallada. »Bleiben Sie doch hier, Olof, und leisten Sie Lady Heseltine Gesellschaft, während ich Percy holen gehe.« Als Fallada hinausging, fragte sie: »Trinken Sie ihn schwarz oder mit Milch?« »Mit Milch, bitte.« »Cognac?« »Einen kleinen.« Er beobachtete sie, wie sie am Buffet stand, und fühlte sich verwirrt. Der kurze Moment mentalen Kontaktes hatte ihn mehr über sie gelehrt, als er in Wochen intimen Beisammenseins hätte erfahren können. Die Macht, in die geheimsten Gedanken einer attraktiven Frau vordringen zu können, brachte ein Gefühl tiefer Befriedigung mit sich. Aber es erfüllte ihn auch mit Sorge; es schien anzuzeigen, daß sich eine innere Wandlung in ihm vollzog. Sie stellte den Kaffee und den Cognac auf den Tisch. »Merkwürdig, aber irgendwie kommen Sie mir wie ein alter Bekannter vor. Vielleicht, weil ich Sie schon im Fernsehen gesehen habe.«
Als sie ihm den Zucker reichte, berührten sich ihre Hände kurz. Er setzte ihn auf dem Tisch ab und ergriff ihre Hand. Er sah ihr ins Gesicht und sagte: »Ich möchte Sie etwas fragen? Können Sie meine Gedanken lesen?« Sie schaute ihn überrascht an, unternahm aber keinen Versuch, die Hand zurückzuziehen. Sein Einblick in ihre Gedanken sagte ihm, daß sie im Begriff war zu erwidern: »Natürlich nicht«; dann wurde sie nachdenklich und schien innerlich aufzuhorchen. Plötzlich spürte er, daß eine kurze geistige Berührung zwischen ihnen stattfand. Sie sagte zögernd: »Ich – ich glaube, ja.« Er ließ ihre Hand los; ihre Gedanken rückten in die Ferne, waren nur noch schwer verständlich wie bei einem Gespräch über eine schwache Telefonverbindung. »Was hat das zu bedeuten?« fragte sie erstaunt. »Hat Ihr Mann Ihnen von den Vampiren erzählt?« Sie nickte. »Dann brauchten Sie eigentlich nicht zu fragen.« Einer gedanklichen Suggestion nachkommend, setzte sie sich neben ihn auf das Sofa. Er ergriff wieder ihre Hand, legte den Daumen mitten auf ihr Handgelenk und die Finger um ihren Handrücken; er wußte instinktiv, daß dadurch der beste Kontakt gewährleistet werden würde. Sie senkte den Blick, um sich zu konzentrieren. Es war ein sonderbares Gefühl:
er kannte sie noch keine fünf Minuten und hatte dennoch intimeren Kontakt mit ihr gehabt als ihr Ehemann. Sie war noch zu verwirrt, um seine Gedanken in aller Deutlichkeit zu lesen, aber er registrierte klar, daß eine zweiseitige Kommunikation stattfand. Auch sie war sich dessen bewußt. Der Kimono war am Hals aufgegangen und ließ den Rand eines spitzenbesetzten BHs erkennen; ohne seiner Blickrichtung zu folgen, langte sie mit der Hand nach oben und brachte die Kleidung in Ordnung. Dann bemerkte sie, daß er lächelte. Sie errötete, in der Erkenntnis, daß alle Scham vergeblich war. Unter den gegebenen Umständen hätte sie ebenso gut nackt vor ihm sitzen können. Während der nächsten zehn Minuten saßen sie reglos da. Kommunikation spielte weniger eine Rolle; hauptsächlich beobachteten sie einander. Er war in die Wärme ihres Körpers; vor einer Stunde hatte sie ein Bad genommen und sich das Haar gewaschen. Er spürte, welches Wohlgefühl und welche Gelassenheit ihr das Bewußtsein gab, nach Badesalz zu duften. Es war ihm noch nie zu Bewußtsein gekommen, daß sich das weibliche Selbstgefühl so grundlegend von dem eines Mannes unterschied. Als ihr eine Persianerkatze auf den Schoß sprang und sich schnurrend den Kopf an ihr rieb, erhaschte er einen flüchtigen Einblick in das Wesen der Katze, und wieder war er verblüfft
festzustellen, wie verschieden es von seinem eigenen war. Er dachte an die Millionen von Menschen, jeder einzelne ein selbständiges Universum, jeder so fremd und einzigartig wie ein unerforschter Planet, und ihm schwindelte. Eine Etage höher summte ein Teleschirm; dann brach das Geräusch ab. Widerstrebend zog sie ihre Hand zurück. Sie sagte mit leiser Stimme: »Ihr Kaffee ist kalt geworden.« »Macht nichts.« Er nippte an dem Cognac. Eine gezwungene Atmosphäre war entstanden, wie zwischen zwei Menschen, die sich gerade zum erstenmal geliebt hatten und sich nun der Konsequenzen bewußt wurden. Sie schenkte sich Kaffee ein. »Halten Sie das für einen Scheidungsgrund?« Der scherzhafte Tonfall klang irgendwie falsch. Er sagte ernsthaft: »In gewisser Weise, ja.« Sie hob ihr Glas und stieß mit ihm an. »Haben Sie schon jemals so schnell geliebt?« »Geliebt?« fragte er. »Nun, das war es doch. Oder meinen Sie nicht?« Es war ein seltsam erleichterndes Gefühl, sich wieder auf normale Weise zu unterhalten. Sie setzte sich in den Sessel ihm gegenüber. »Ich weiß jetzt alles über Sie«, sagte sie. »Ich kenne Sie so gut, als hätten wir schon jahrelang zusammengelebt. Ich fühle, daß ich mich Ihnen hingegeben und Ihnen Einblick in
meine tiefsten Geheimnisse gewährt habe. Kommt das nicht einer Liebesbeziehung gleich?« »Ich denke schon.« Er fühlte sich sehr müde, aber entspannt. »Befürchten Sie immer noch, Sie könnten sich in einen Vampir verwandeln?« Erst jetzt fiel ihm auf, daß er nicht den Wunsch verspürt hatte, ihre Lebensenergie zu nehmen. »Mein Gott!« sagte er. »Was ist?« »Jetzt begreife ich langsam. Diese Wesen könnten unsterblich sein, nicht wahr? Sie könnten einfach neue Körper übernehmen –« Er fing an zu lachen. Sie wartete, daß er sich erklärte. »Es ist absurd. Heute morgen sagte Geijerstam zu mir, ich würde mich nicht in einen Vampir verwandeln – ich wäre mir nur des latenten Vampirismus bewußt geworden, der in uns allen existiert. Ich verstand nicht, was er meinte – das heißt, ich dachte sogar, er redete Unsinn. Jetzt sehe ich, daß er recht hatte. Ich frage mich nur, woher er es wußte?« »Wahrscheinlich hat er mehr von einer Frau in sich als Sie.« »Wie meinen Sie das?« »Ich war mir dessen schon immer bewußt. Allerdings muß ich zugeben, daß es mir noch nie so klar-
geworden ist wie in den letzten zehn Minuten. Ich glaube, daß die meisten Frauen es spüren. Wenn eine Frau sich verliebt, dann, weil sie einen Mann verstehen, ihm sozusagen unter die Haut kriechen, ein Teil von ihm werden will. Ich vermute, daß Masochismus eine verzerrte Form desselben Wunschs ist – des Wunsches, aufgesaugt zu werden, sich voll und ganz hinzugeben. Andererseits glaube ich, daß die meisten Männer ein Mädchen einfach nur besitzen wollen – um das Gefühl zu genießen, es erobert zu haben. So merken sie niemals, daß es ihr eigentlicher Wunsch ist, es in sich aufzunehmen –« »Das sagt Fallada in seinem Buch – er spricht von Kannibalismus.« Sie lachte. »Ein kluger Mann, unser Hans.« Er ging zum Fenster hinüber und betrachtete die im Neonlicht stehenden Bäume auf dem Eaton Square. »Geijerstam sagte noch etwas. Er meinte, der Mensch stünde an einem Wendepunkt seiner Entwicklung. Ich frage mich –« Sie stellte sich neben ihn, und er wurde von dem plötzlichen Verlangen gepackt, sie zu berühren. Schnell trat er ein paar Schritte zurück. »Was ist?« »Ich – Etwas in mir will Ihre Energie nehmen.« Sie griff nach seiner Hand. »Nehmen Sie, wenn Sie
sie brauchen.« Als er zögerte, sagte sie: »Ich bin bereit, sie Ihnen zu geben.« Sie nahm seine Hand und legte sie auf ihren bloßen Halsansatz. Er versuchte das plötzliche gierige Verlangen zu beherrschen, aber seine Hand glitt in den Kimono und griff nach der nackten Brust. Plötzlich floß Energie in ihn; er trank sie wie ein Durstender. Er spürte, wie sie erschauerte und sich an ihn lehnte. Er betrachtete ihr Gesicht; die Lippen waren blutleer, aber sonst wirkte es völlig entspannt. Seine Müdigkeit war wie weggeblasen, als die Kraft von ihr strömte. Er war versucht, sie zu küssen und ihr die Energie durch die Lippen auszusaugen, aber irgendeine Anstandsregel hielt ihn davon ab. Als er die Hand wegnahm, taumelte sie wie im Traum durch das Zimmer und ließ sich auf das Sofa sinken. Ihre Augen waren geschlossen. »Es geht Ihnen doch gut?« fragte er besorgt. »Ja.« Es war kaum mehr als ein Flüstern. »Müde, aber – zufrieden.« Sie schaute zu ihm auf; Carlsen fiel auf, daß es derselbe Blick war, den er in Jelkas Augen gesehen hatte, als sie nach Jeanettes Geburt erschöpft im Wochenbett gelegen hatte. »Würden Sie bitte hinaufgehen und nachsehen, was Hans und Percy machen?« fragte sie. Sie befürchtete, die beiden könnten herunterkommen und sie in diesem Zustand sehen. »Selbstverständlich.« »Die Treppe rauf und die erste Tür rechts.«
Er ging gemächlich die Treppe hinauf. Er konnte Falladas Stimme durch die Tür hören. Er klopfte an und trat ein. »Ihre Frau bat mich nachzusehen, wo Sie geblieben sind.« »Du liebe Güte«, sagte Fallada. »Ich glaube, wir sollten lieber hinuntergehen.« Er sagte rasch: »Keine Sorge – sie hat durchaus Verständnis, wenn es noch etwas dauert.« Heseltine stand von seinem Platz hinter dem Schreibtisch auf und schüttelte ihm die Hand. »Sie sehen gut aus, Carlsen. Ich habe gerade von Ihren unglaublichen Abenteuern in Schweden gehört. Nehmen Sie Platz. Whisky?« »Nein, danke. Ich hatte gerade einen Cognac.« »Dann trinken Sie noch einen.« Während er einschenkte, fragte Heseltine: »Wie ernst nehmen Sie diese Geschichte mit dem Premierminister?« »Ich weiß nicht, was ich darauf antworten soll«, sagte Carlsen. »In gewisser Hinsicht weiß ich darüber so wenig wie Sie. Ich hörte nur meine Stimme auf dem Tonband.« »Sie entsinnen sich nicht, es gesagt zu haben?« »Ich entsinne mich an nichts von dem, was geschah, während ich unter Hypnose stand.« »Offen gesagt ...« Heseltine überlegte. »Sehen Sie,
ich war den ganzen Nachmittag über in der Downing Street. Ich finde es einfach unglaubwürdig, daß –« Er wurde vom Summen des Teleschirms unterbrochen. Er drückte die Antworttaste. »Ja?« »Sir Percy? Hier ist ein Anruf von Polizeichef Dukkett.« Wenig später sagte eine Stimme mit ausgeprägtem Yorkshireakzent: »Hallo, Percy. Ich bin's noch mal.« »Gibt's was Neues?« »Ich denke schon. Ich habe Nachforschungen über Arthur Pryce anstellen lassen. Er führt eine Elektrofirma in Penistone – das liegt direkt hinter dem Holmfirther Moor.« »Und das Krankenhaus?« »Das ist schon schwieriger. Im Umkreis von Huddersfield gibt es insgesamt fünf, eins davon für Geriatrie. Das einzige, das in der Nähe von Holmfirth liegt, ist Thirlstone.« »Thirlstone? Ist das nicht eine Irrenanstalt?« »Ja, für kriminelle Geistesgestörte. Es liegt nahe beim Moor, eine Meile außerhalb der Stadt.« Heseltine schwieg einen Moment, dann sagte er: »Gut, Ted. Das hilft uns schon weiter. Ich sehe Sie wahrscheinlich morgen.« »Sie kommen selbst her?« Er schien überrascht. »Es könnte sich als notwendig erweisen. Bis dann also.«
Als er die Verbindung unterbrach, sagte Carlsen: »Das ist der Ort.« Heseltine sah ihn überrascht an. »Thirlstone? Woher wollen Sie das wissen?« »Ich weiß es nicht. Aber eine Anstalt für kriminelle Geistesgestörte ist genau der Ort, den sie sich aussuchen würden –« Fallada sagte mit erregter Stimme: »Er hat recht. Diese Wesen können wahrscheinlich die Körper anderer Menschen übernehmen, ohne die betreffende Person dabei zu töten. Geijerstam brachte mich auf diese Idee. Als ich sah, wie sich Magnus' Handschrift verändert hatte, nachdem er die Schwarze Pilgerfahrt gemacht hatte, wurde mir plötzlich klar, daß sich zwei verschiedene Personen in seinem Körper aufhielten.« »Wer, zum Henker, ist Magnus?« fragte Heseltine. »Das erkläre ich Ihnen später. Ich wollte damit nur ausführen, daß eine Anstalt für kriminelle Geistesgestörte ein ideales Refugium für einen Vampir wäre. Wenn sie sich noch in dieser Gegend aufhalten sollte, dann dort.« »Wenn das so ist –« Heseltine sah auf die Uhr. »Ich überlege, ob wir es riskieren können, bis morgen zu warten.« Er sah Fallada und Carlsen an. »Was meinen Sie?« Fallada zuckte die Achseln. »Von mir aus kann es
jederzeit losgehen. Bei Olof weiß ich nicht. Er hat Frau und Familie, die ihn erwarten.« »Nein«, sagte Carlsen. »Sie erwarten mich, wenn sie mich zu sehen bekommen.« »Gut. Dann –« Er drückte die Wähltasten. »Hallo, Sergeant Parker, bitte – Ah, Parker, ich brauche heute abend einen Grashüpfer. Ich muß nach Yorkshire. Sind Sie zur Zeit frei?« »In zehn Minuten, Sir, wenn Culvershaw zurück ist.« »Ausgezeichnet. Landen Sie am Belgrave Square und benachrichtigen Sie mich dann.« Er unterbrach die Verbindung und wandte sich an Carlsen. »Wenn Sie möchten, können Sie jetzt Ihre Frau anrufen, Commander. Anschließend werde ich versuchen, den Direktor von Thirlstone anzurufen, und ihm mitteilen, daß er sich auf unseren Besuch vorbereiten soll.« Zwanzig Minuten später beobachteten sie, wie die Lichter der Stadt langsam hinter ihnen verblaßten. Vor ihnen erstreckten sich, so weit das Auge reichte, die Lichter der Nordautobahn wie eine gigantische Landepiste. Sie flogen unterhalb der üblichen Luftverkehrsrouten mit einer Geschwindigkeit von dreihundert Meilen pro Stunde. Die Autoscheinwerfer auf der Straße unter ihnen waren ein sich kontinuierlich fortbewegender Strom.
»Genaugenommen handele ich meinen Anweisungen zuwider, indem ich London verlasse«, sagte Heseltine. »Wieso?« »Ich bin dem Innenminister direkt unterstellt worden und soll sein Büro über die jüngsten Entwicklungen ständig auf dem laufenden halten. Darum wollte mich der Premierminister sprechen – um die Suche nach den Fremden zu koordinieren.« »Hat er irgendwelche Vorschläge gemacht, wie man dabei vorgehen sollte?« fragte Carlsen. »Nein. Er ließ sogar durchblicken, daß er Sie und Fallada für leicht übergeschnappt hält. Nun, immerhin haben wir ein kompliziertes Nachrichtenverbindungssystem in Gang gesetzt.« Fallada sagte angeekelt: »Und wenn keine Berichte eintreffen, wird er es als Beweis dafür hinstellen, daß keine Gefahr besteht.« Sie schwiegen mehrere Minuten und hingen ihren Gedanken nach. »Glauben Sie, daß es überhaupt eine Möglichkeit gibt festzustellen, ob eine Person ein Vampir ist?« fragte Heseltine. Carlsen schüttelte den Kopf. Fallada schaute ihn überrascht an. »Aber selbstverständlich. Wir haben sie heute morgen bei Ihnen angewendet.« »Worum handelt es sich dabei?« fragte Heseltine. »Um Radiästesie – das Pendel.«
Carlsen brummte. »Ich hatte nicht den Eindruck, daß es etwas bewies – bis auf die Tatsache, daß ich ein Mann bin.« »Sie haben den interessantesten Teil versäumt. Sie schliefen nämlich.« »Würden Sie das bitte erklären?« fragte Heseltine. »Man kann ein Pendel wie eine Wünschelrute benutzen«, sagte Fallada. »Bei bestimmten Längen reagiert es auf bestimmte Substanzen – die Länge für einen Mann beträgt sechzig Zentimeter, die für eine Frau vierundsiebzig. Der Graf meinte, er benutzte es, um festzustellen, ob einer seiner Patienten von einem Vampir besessen war – wenn das der Fall war, reagierte es, wenn man es über den Betreffenden hielt, bei den Längen für Männer und für Frauen. Aus diesem Grund testete er Olof damit.« »Und was geschah?« »Es wies ihn als Mann und Frau zugleich aus. Aber das ist noch nicht alles. Geijerstam gab zu, daß es Zufall sein könnte, weil die Länge für Frauen auch Gefahr bedeuten kann. Also versuchte er, Carlsen mit Längen über hundert Zentimeter zu testen – hundert Zentimeter ist die Länge für Tod und Schlaf. Über diese Länge hinaus dürfte offensichtlich keine Reaktion erfolgen, denn der Tod setzt eine äußerste Grenze. Als Olof schlief, testete ihn die alte Frau mit einer Länge von hundert Zentimetern und erhielt eine hef-
tige Reaktion. Dann verlängerte sie auf hundertsechzig – hundert Zentimeter plus die normale Länge für einen Mann. Daraufhin erfolgte überhaupt keine Reaktion. Also verlängerte sie das Pendel auf hundertvierundsiebzig – hundert plus die Länge für eine Frau. Daraufhin begann das Ding in weiten Kreisen auszuschlagen.« »Und was bedeutet das?« fragte Heseltine leise. »Geijerstam war sich nicht sicher. Aber er sagte, es könnte bedeuten, daß, wer immer auch die Reaktion hervorrief, bereits tot sei.« Carlsen fühlte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Er sagte mit gepreßter Stimme: »Das glaube ich nicht. Diese Kreaturen sind noch am Leben.« Fallada zuckte die Achseln. »Ich gebe nur wieder, was Geijerstam sagte. Ich glaube auch nicht, daß sie übernatürliche Wesen sind.« »Das kommt darauf an, was man unter übernatürlich versteht«, sagte Heseltine. »Die Geister von Verstorbenen, meinetwegen. Nennen Sie es, wie Sie wollen.« Carlsen empfand wieder jene inzwischen vertraut gewordene Mischung aus Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, das Gefühl, daß ihm die Welt auf einen Schlag unendlich fremd geworden war. Er war die Leere des Weltalls gewöhnt; doch selbst an den äußeren Grenzen des Sonnensystems hatte er niemals
den Sinn dafür verloren, zur Erde zu gehören, ein Angehöriger der menschlichen Rasse zu sein. Nun spürte er eine angstmachende innere Kälte, als betrete er Gelände, wohin ihm kein anderes menschliches Wesen folgen konnte. Als er die endlose Lichterkette der Nordautobahn und das Schimmern einer Stadt in der Ferne – wahrscheinlich Nottingham – betrachtete, überkam ihn ein Gefühl der Unwirklichkeit, und er meinte zu fallen. Panik stieg in ihm auf. Dann, ebenso plötzlich, wie sie gekommen war, legte sie sich wieder. Was auch vor sich ging, es geschah zu schnell, als daß sein Wahrnehmungsvermögen ihm hätte folgen können. Da war das Gefühl, einen momentanen Einblick zu erhalten, der die Panik absurd erscheinen ließ. Dann schienen die Lichter unten heller zu werden; er spürte ein plötzliches Wonnegefühl, ein Gefühl der Frische. So rasch, wie es gekommen war, verschwand es wieder und überließ ihn seiner Überraschung und Verwirrung. Die Augen taten ihm weh, und er schloß sie. Einen Augenblick später sagte Fallada: »Aufwachen, Olof. Wir sind da.« Er bemerkte, daß der Grashüpfer zur Landung auf einer verlassenen Landstraße ansetzte und mit seinen starken Scheinwerfern die Baumwipfel beleuchtete. »Wo sind wir?« fragte er. Der Pilot sagte über die Schulter: »Einige Meilen südlich von Huddersfield. Holmfirth kann nicht weit sein.«
Carlsen sah auf die Uhr. Es war neun Uhr fünfzehn; er hatte eine halbe Stunde geschlafen. Als sie auf der Straße gelandet waren, schaltete der Pilot von Düsen- auf Radantrieb um, und die Stummelflügel wurden eingezogen; der Grashüpfer war somit zu einem großen Bodenfahrzeug geworden. Sie hielten ein paar Meter weiter an einer Kreuzung; ein Hinweisschild zeigte die Richtung nach Barnsley an, das andere die nach Holmfirth. »Es ist noch relativ früh«, sagte Heseltine. »Ich denke, wir können Mr. Pryce noch einen Besuch abstatten. Sergeant, stellen Sie fest, wo wir den Upperthong Road finden können.« Der Pilot befragte den Bordcomputer. Ein Stadtplan von Holmfirth leuchtete auf dem Fernsehmonitor auf; eine Straße war rot gekennzeichnet. »Das nennt man Glück«, sagte Parker. »Wir scheinen uns direkt darauf zu befinden.« In weniger als fünf Minuten hatten sie das Haus gefunden; ein luxuriöser Bungalow aus Glas und Kunstfasermaterial, der auf einem Viertelmorgen Rasenfläche stand. Ein Scheinwerfer erhellte den Zierteich und die Blumenbeete. Als sie läuteten, erschien eine ältere Dame an der Tür. Sie wirkte bestürzt, drei Fremde vor sich zu sehen. Heseltine zeigte seinen Ausweis vor. »Können wir Ihren Mann sprechen?«
»Ist es wegen der Einkommensteuer?« fragte sie. Heseltine sagte beruhigend: »Nein, durchaus nicht. Es ist eine reine Routinesache. Wir möchten nur ein paar Auskünfte von ihm.« »Einen Moment, bitte –« Sie verschwand im Innern. Heseltine sah die anderen an und zwinkerte ihnen zu. »Na, was sie bedrückt, ist wohl offensichtlich.« Mehrere Minuten verstrichen, dann kam die Frau zurück. »Treten Sie bitte ein.« Sie führte sie in ein Wohnzimmer mit zugezogenen Vorhängen. Am Tisch saß ein kräftiger, älterer Mann in einem Rollstuhl, vor sich eine kalte Mahlzeit. »Mr. Arthur Pryce?« fragte Heseltine. »Ja.« Er wirkte gelassen; er schien nur neugierig zu sein. »Äh – es handelt sich um ein kleines Mißverständnis. Besitzen Sie einen Crystal Flame mit dem Kennzeichen QBX 5279 L?« »Ja. Der gehört mir.« »Sind Sie heute damit gefahren?« Die Frau warf ein: »Nein. Er kann nicht mehr Auto fahren.« »Halt den Mund, Nell!« sagte der Mann. Er wandte sich an Heseltine. »Geht es um einen Unfall?« »Nein, keineswegs. Wir suchen nur den Mann, der ihn heute morgen gefahren hat.« »Das dürfte Ned gewesen sein«, sagte die Frau.
»Bist du endlich still!« »Wer ist Ned?« fragte Heseltine. Der Mann funkelte seine Frau wütend an. »Unser Sohn. Seit ich den Unfall hatte, führt er den Betrieb.« »Ah, ja. Könnte ich seine Adresse haben?« »Er wohnt gleich gegenüber«, sagte der Mann nach einer Pause. »Worum geht es überhaupt?« »Nichts Ernstliches, Mr. Pryce, das kann ich Ihnen versichern. Wir suchen eine vermißte Person und dachten, er könnte uns vielleicht ein paar Auskünfte geben. Wie ist die Hausnummer?« Der Mann sagte mürrisch: »Hundertneunundfünfzig.« Die Frau führte sie bis ans Gartentor und zeigte auf ein fünfzig Meter entferntes Haus. »Das mit den roten Gardinen – Sie können es nicht verfehlen.« Das Haus mit den roten Gardinen war auffallend weniger luxuriös als das andere; der Garten befand sich in einem verwilderten Zustand. Das Auto, nach dem sie suchten, stand vor dem Garagentor. Als Heseltine läutete, meldete sich eine Stimme aus der Sprechanlage. »Wer ist da?« »Die Polizei. Könnten wir Mr. Pryce kurz sprechen?« Es erfolgte keine Antwort, aber Augenblicke später wurde die Tür geöffnet. Vor ihnen stand eine kleine hellhaarige Frau mit einem schlafenden Kind in den
Armen, das viel zu groß für sie war. Hätte sie nicht einen so niedergeschlagenen und gequälten Eindruck gemacht, hätte sie direkt hübsch aussehen können. Sie sah sie ein wenig mißtrauisch an und flüsterte: »Was wollen Sie denn?« »Könnten wir bitte Ihren Mann sprechen?« »Er ist zu Bett gegangen.« »Könnten Sie nachsehen, ob er schon schläft? Die Angelegenheit ist dringend.« Sie blickte von einem zum anderen und war offenbar von Heseltines kühler, selbstsicherer Haltung eingeschüchtert. »Also, ich weiß nicht ... Sie müssen schon einen Augenblick warten –« »Selbstverständlich.« Sie sahen, wie sie, sich mit dem Gewicht des Kindes abmühend, schwerfällig die Treppe hinaufging. Die Minuten verstrichen. Heseltine sagte: »Das erinnert mich an meine Zeit als Streifenpolizist. Es lag mir noch nie, Leute zu belästigen.« Sie standen wartend da; im Flur, so sahen sie, standen ein Kinderwagen, ein Fahrrad und eine Kiste mit Kinderspielzeug. Nach fünf Minuten erschien ein Mann am oberen Treppenabsatz. Als er auf sie zukam, sah Carlsen, daß er rotes Haar, eine ungesunde Gesichtsfarbe und Übergewicht hatte. Er wirkte beunruhigt und warf ihnen verstohlene Blicke zu. Als Heseltine sich für die Störung entschuldigte
und ihn fragte, ob er einige Minuten Zeit für sie hätte, schien er seine Selbstsicherheit zurückzugewinnen. Er warf einen Blick zur Treppe hinauf und bat sie dann herein. Die einzige Beleuchtung im Wohnzimmer war der Sechzig-Zoll-Farbfernseher. Der Mann stellte den Ton ab und schaltete die Wandbeleuchtung ein. Er ließ sich in einen Sessel fallen und rieb sich die Augen. Seine Hände waren muskulös und mit dichtem rotem Haar bedeckt. Heseltine sagte: »Mr. Pryce, heute morgen gegen halb zwölf waren Sie mit dem Wagen, der jetzt vor Ihrem Haus parkt, draußen am Moor –« Der Mann brummte, sagte aber nichts. Er machte den Eindruck, als hätte man ihn aus tiefem Schlaf gerissen. Carlsen konnte seine Müdigkeit und gleichzeitige Unruhe spüren. »Wir interessieren uns für die Frau in dem rotgelbgestreiften Kleid«, sagte Heseltine. Der Mann sah rasch auf und senkte den Blick dann wieder. Er räusperte sich und fragte: »Ich habe nichts Ungesetzliches getan, oder?« »Selbstverständlich nicht, Mr. Pryce«, sagte Heseltine besänftigend. »Das hat auch niemand behauptet.« »Was soll dann das Ganze überhaupt?« fragte der Mann aggressiv.
Carlsen spürte, daß man den Mann anders anfassen mußte. Er hatte die Fotos auf dem Bücherschrank betrachtet; auf den meisten von ihnen lachte oder lächelte der Mann, oft zusammen mit einer Gruppe von anderen Männern. Es war das Gesicht eines extrovertierten Mannes, der Situationen, die Schuldgefühle in ihm erzeugten, haßte. Carlsen setzte sich auf einen Stuhl ihm gegenüber, so daß er ihm ins Gesicht sehen konnte. »Lassen Sie mich offen mit Ihnen reden, Mr. Pryce. Wir benötigen Ihre Hilfe, und alles, was Sie uns sagen, bleibt selbstverständlich unter uns. Wir wollen nur wissen, was mit der Frau geschah.« Während er sprach, legte er dem Mann die Hand auf die Schulter. Der Kontakt kam augenblicklich und unerwartet zustande; es war, als höre er plötzlich ein fremdes Telefongespräch mit. Er saß im Wagen, und die Umgebung wirkte vertraut, als hätte er sie schon einmal im Traum gesehen. Es war der Parkplatz am Rande des Moors; er las Zeitung und bemerkte das Mädchen, das ganz in der Nähe auf einer Bank saß, zunächst nicht. Dann war das Mädchen im Wagen. »Was hat sie denn verbrochen?« fragte der Mann. »Gar nichts. Aber wir müssen sie finden. Wohin fuhren Sie, nachdem sie in den Wagen gestiegen war?« »Zum Staubecken«, sagte er widerwillig. Carlsen hatte ein klares, deutliches Bild von der Szene: der
Rücksitz des Wagens, der Mann, der sein Glück gar nicht fassen konnte, als sie ihm gestattete, ihr unters Kleid zu fassen; dann die Entdeckung, daß sie keine Unterwäsche trug. »Sie haben sich geliebt. Was geschah dann?« Von oben kam ein dumpfes Poltern. Carlsen konnte spüren, welche Erleichterung der Mann empfand zu wissen, daß seine Frau noch oben war und nicht an der Tür horchte. »Wir saßen da und unterhielten uns. Dann schlug sie vor, wir sollten in ein Hotel gehen. Also fuhren wir nach Leeds –« Carlsen nickte. »Ins Europa-Hotel. Wann gingen Sie dort weg?« »Gegen sieben.« »Und sie war schon vorher gegangen?« Der Mann zuckte die Achseln. »Sie scheinen ohnehin alles zu wissen.« Durch die Bewegung fiel Carlsens Hand von seiner Schulter; der Kontakt brach augenblicklich ab. Er stand auf. »Vielen Dank, Mr. Pryce. Sie haben uns sehr geholfen.« Als sie zur Tür gingen, fragte Heseltine: »Haben Sie sich wieder mit ihr verabredet?« Der Mann seufzte und nickte wortlos. Er erhob sich schwerfällig und begleitete sie an die Tür. Als er sie öffnete, blickte er Carlsen ins Gesicht. »Ich nehme an,
daß Sie mich verurteilen. Aber es kommt nicht oft vor, daß ein Mann solches Glück hat.« Carlsen erwiderte lächelnd: »Ich will Ihnen ja nicht zu nahetreten, aber es scheint Sie ganz schön mitgenommen zu haben.« Der Mann grinste; für einen Moment wirkte er gut gelaunt. »Das war es wert.« Als sie zurück zum Grashüpfer gingen, fragte Heseltine: »Glauben Sie das auch?« »Was?« »Daß es es wert war?« »Von seinem Standpunkt aus, ja. Sie hat ihm Energie ausgesaugt, aber er wird sich in ein paar Tagen wieder erholen. Es ist nicht schlimmer, als einen bösen Kater zu haben.« »Und es wird kein dauerhafter Schaden zurückbleiben?« »Wenn sie damit meinen, ob ich glaube, daß er zu einem Vampir werden wird, lautet die Antwort nein.« »Wie kommen Sie darauf?« fragte Fallada schnell. »Ich – keine Ahnung. Ich spüre es einfach. Ich kann Ihnen nicht sagen, woher ich es weiß.« Heseltine betrachtete ihn neugierig, sagte aber nichts. Der Sergeant studierte eine amtliche Vermessungskarte.
»Ich habe mich gerade über Sprechfunk mit dem Direktor dieser Klapsmühle unterhalten, Sir. Ich schätze, sie muß drüben auf dem Hügel liegen, wo Sie die Lichter sehen können.« Er deutete in die Ferne. Heseltine sah auf die Uhr. »Wir machen uns am besten gleich auf den Weg. Es wird schon spät.« Kaum vier Minuten später sahen sie das massive graue Gebäude auf dem Hügel im Scheinwerferlicht des Grashüpfers. Als sie näher kamen, begannen die Lichter auszugehen. »Zehn Uhr«, sagte Fallada. »Schlafenszeit für die Insassen.« Die Rasenfläche vor dem Krankenhaus blieb weiterhin beleuchtet. Als sie auf einem Luftkissen langsam darauf zu sanken, fragte Heseltine: »Können wir auch sicher landen? Werden die Radaranlagen nicht Alarm schlagen?« »Er hat sie ausgeschaltet, Sir. Ich sagte, daß wir gegen zehn eintreffen würden.« Als sie zur Landung ansetzten, ging die Tür des Haupteingangs auf; eine massige Gestalt zeichnete sich als Silhouette gegen das Licht aus dem Korridor ab. »Ich glaube, das ist der Direktor«, sagte Heseltine. »Der Mann, mit dem ich gesprochen habe. Er schien mir ein ziemlicher Clown zu sein.« Als sie auf dem Gras aufsetzten, flüsterte er Fallada ins Ohr: »Er behauptet übrigens, ein großer Bewunderer von Ihnen zu sein.«
Fallada schmunzelte. »Ich hoffe, die beiden sind nicht miteinander verwandt.« Der Mann kam auf sie zu. »Es ist mir eine Ehre, Commissioner, eine große Ehre – Ich bin Dr. Armstrong.« Sein Umfang war gewaltig; Carlsen schätzte, daß er mindestens drei Zentner wiegen mußte. Er trug einen weiten grauen Anzug von einem Zuschnitt, der schon vor zwanzig Jahren aus der Mode gekommen war. Die Stimme war ausdrucksvoll und kultiviert: die Stimme eines Schauspielers. Heseltine schüttelte ihm die Hand. »Es ist sehr freundlich von Ihnen, uns zu so später Stunde noch zu empfangen. Das ist Doktor Hans Fallada. Und dies Commander Olof Carlsen.« Armstrong strich mit einer fetten Hand über seinen flauschigen grauen Haarschopf. »Das ist ja überwältigend! So viele berühmte Gäste, und alle auf einmal!« Als er ihnen die Hand gab, stellte Carlsen fest, daß er große nikotinverfärbte Zähne hatte. Armstrong führte sie in die Vorhalle. Der Duft nach Möbelpolitur mit Veilchengeruch überlagerte einen anderen, unangenehmen Geruch: den nach Schweiß und abgestandenem Essen. Armstrong redete die ganze Zeit über; die affektierte, honigsüße Stimme hallte im kahlen Korridor wider. »Es ist wirklich schade, daß meine Frau nicht da ist.
Sie wird vor Neid erblassen. Sie besucht Verwandte in Aberdeen. Hier entlang, bitte. Was ist mit Ihrem Pilot? Kommt er nicht?« »Er wird vorläufig draußen warten. Er kann sich ja die Fernsehnachrichten ansehen.« »Ich fürchte, hier wird eine fürchterliche Unordnung herrschen.« Carlsen bemerkte, daß die Tür zu Armstrongs Privatwohnung vergittert war. »Aber ich hatte keine Zeit, mich darum zu kümmern – Ah, George, du bist noch hier?« Ein gutaussehender Jugendlicher, der auf einem Auge schielte, sagte mit leerem Blick: »Ich bin fast fertig.« »Gut, laß den Rest bis morgen liegen. Du solltest eigentlich schon im Bett sein. Bevor du gehst, hol uns noch Eis aus dem Kühlschrank.« Als der junge Mann hinausschlurfte, flüsterte Armstrong: »Einer unserer Patienten. Ein reizender Junge.« »Weswegen ist er hier?« fragte Carlsen. »Er hat seine kleine Schwester umgebracht. Aus Eifersucht, Sie verstehen. Bitte, nehmen Sie Platz, meine Herren. Ich darf Ihnen doch einen Whisky anbieten, ja?« »Ja, danke.« Fallada bemerkte die aufgeschlagene Zeitschrift neben dem Sessel. »Ah, Sie haben meinen Artikel über Vampirismus gelesen«, sagte er.
»Selbstverständlich. Ich bewahre alle vier Artikel aus dem BPJ auf. Wirklich meisterhaft! Sie sollten ein Buch darüber schreiben.« »Das habe ich.« »Tatsächlich? Was für ein Glück! Hoffentlich bekommt man es bald zu lesen.« Er reichte Fallada ein halbvolles Glas mit Whisky. »Es ist wirklich wahr. Meine Frau saugt mich vollkommen aus.« Er lächelte, um anzudeuten, daß er scherzte. »Soda?« Der Jugendliche hatte eine Schüssel mit Eiswürfeln auf den Tisch gestellt. »Gut so, Junge«, sagte Armstrong. »Und jetzt ab ins Bett. Schlaf gut!« Als die Tür zu war, fragte Fallada: »Angenommen, er haut ab?« »Er würde nicht weit kommen. Wir sind hier mit einer ganzen Batterie von elektronischen Alarmvorrichtungen ausgerüstet.« »Was, wenn er einen der gefährlichen Anstaltsinsassen herausließe?« »Unmöglich. Sie sind in Einzelzimmern eingesperrt.« Er setzte sich. »Auf Ihre Gesundheit, meine Herren! Ich kann es noch kaum fassen, daß Sie tatsächlich hier sind!« Carlsen stellte fest, daß ihm der Enthusiasmus besser zu Gesichte stand. Er wirkte dadurch weniger salbungsvoll, dafür um so liebenswürdiger. »Ich hoffe, daß Sie hier übernachten.« »Vielen Dank«, sagte Heseltine, »aber wir haben
Zimmer im Continental in Huddersfield reservieren lassen.« »Das können Sie leicht rückgängig machen.« »Das ist vielleicht eine gute Idee«, sagte Fallada nachdenklich. »Wir müssen morgen ohnehin noch einmal herkommen.« »Ausgezeichnet! Dann betrachten wir die Sache als abgemacht. Die Betten stehen im Pflegerabteil bereit. Und nun, was kann ich für Sie tun?« Heseltine beugte sich vor. »Sie haben Falladas Artikel über Vampirismus gelesen. Glauben Sie, daß es echte Vampire gibt?« Während Heseltine sprach, spürte Carlsen das bekannte Schwächegefühl, das Gefühl, rückwärts in einen bodenlosen Abgrund zu fallen. Die Stimmen rückten in weite Ferne; statt dessen war da Leere, die Kälte des Weltraums. Er fühlte seine Kräfte schwinden, als hätte ihm jemand eine Vene geöffnet und zapfe ihm nun das Blut ab. Wieder wurde er in die Qual und Verwirrung hineingezogen, die von dem Wrack ausging, und wieder spürte er das Elend und die Anspannung der antwortenden Fremden, die ihm jetzt die Energie aussaugte. Das Zimmer wurde unwirklich, als wäre ein dünner, silberner Schleier wie ein Wasserfall vor seine Augen gelegt worden. Er fiel in die Tiefe wie ein Blatt, das von einem hohen Baum herabfällt. Gleichzeitig spürte er einen sexuellen Sti-
mulus in der Bauch- und Lendengegend. Für einen Moment entspannte er sich und genoß das Gefühl, dann begann er sich dagegen zu wehren. Der Energieverlust hörte augenblicklich auf. Dafür fühlte er sich jetzt schwerfällig und müde. Die Fremde saugte seine Energie noch immer; doch nun in geringerem Ausmaß. Er registrierte mit gelinder Verwunderung, daß sie sich seiner physischen Nähe nicht bewußt war. Entfernungen spielten für sie keine Rolle; eine Million Meilen oder fünfzig Meter, es machte keinen Unterschied. Er wurde sich Armstrongs Stimme gewahr, und für einen Moment erstarrte er vor Verblüffung über die unglaublichen Dinge, die er sagte. Dann erkannte er, daß Armstrong sie nicht wirklich aussprach. Er erzählte von einem seiner Patienten; aber die Art, wie er sprach, enthüllte seine geheimsten Gedanken und Gefühle. Carlsen hatte den Eindruck, daß der Direktor von Thirlstone eine riesige, schwammige Kreatur war, die wie eine Qualle in dem psychischen Blutstrom seiner Anstalt für kriminelle Geistesgestörte schwamm, ein portugiesisches Kriegsschiff in warmen Gewässern. Er war multisexuell veranlagt; er fühlte sich nicht nur zu Männern oder Frauen hingezogen, sondern zu allen Wesen, in denen Leben pulsierte. Die Intensität seiner unbefriedigten Sehnsüchte war beunruhigend. Er empfand gegenüber den An-
staltsinsassen, die unter seiner Obhut standen, eine tiefe, lüsterne Neugier. In seiner Phantasie hatte er Schandtaten begangen, die all ihre Verbrechen weit in den Schatten stellten. Eines Tages, wenn ihn sein Realitätssinn im Stich ließ, würde er vielleicht ein sadistisches Verbrechen begehen. Aber im Moment war er auf der Hut, mit dem Instinkt eines gejagten Tieres. Er sagte gerade: »Sie heißt Ellen, nicht Helen. Ellen Donaldson. Sie ist seit zwei Jahren Oberin des weiblichen Pflegepersonals.« »Ist die Arbeit hier nicht gefährlich für Frauen?« fragte Heseltine. »Weniger gefährlich, als Sie vielleicht glauben. Außerdem hat weibliches Pflegepersonal einen beruhigenden Einfluß auf die männlichen Insassen.« »Könnte ich sie sprechen?« fragte Carlsen. Sie sahen ihn überrascht an. »Selbstverständlich«, sagte Armstrong. »Ich glaube nicht, daß sie schon zu Bett gegangen ist. Ich lasse sie rufen.« »Nein«, sagte Carlsen. »Ich meine allein.« Für kurze Zeit war es vollkommen still. Fallada fragte: »Halten Sie das für angebracht?« »Mir droht keine Gefahr. Ich bin ihr schon einmal begegnet und habe es überlebt.« »Sie sind ihr schon einmal begegnet?« Armstrong war erstaunt. »Er meint die Fremde«, sagte Heseltine.
»Ah, natürlich.« Carlsen konnte seine Gedanken lesen. Armstrong hielt sie alle für leicht übergeschnappt oder zumindest für vollkommen verwirrt. Seine Gewißheit gab ihm ein Gefühl der Überlegenheit. Er war so sehr von seinen eigenen Wünschen und Gefühlen in Anspruch genommen, daß er alles, was jenseits seines beschränkten Begriffsvermögens lag, nur mit Skepsis betrachten konnte. »Warum wollen Sie sie ausgerechnet jetzt sprechen?« fragte Fallada. »Warum warten Sie nicht bis morgen?« Carlsen schüttelte den Kopf. »Nachts sind sie am aktivsten. Jetzt ist es besser.« Heseltine nickte. »Sie könnten recht haben. Aber nehmen Sie dies mit.« Er hielt Carlsen einen kleinen, zwei Zoll großen Plastikwürfel hin. Er drückte auf den Knopf in der Mitte; augenblicklich ertönte ein schriller Summton aus seiner Jackentasche. »Wenn Sie unsere Hilfe brauchen, drücken Sie den Knopf. Wir werden in Sekundenschnelle bei Ihnen sein.« Er ließ den Knopf los, und das Summen brach ab. »Wo ist sie?« fragte Carlsen. Armstrong stand schwerfällig auf. »Ich bringe Sie hin.« Er führte Carlsen zum Haupteingang hinaus, einen Kiesweg am Rand der Rasenfläche entlang, durch einen von einer Mauer umgebenen Garten mit einem Lilienteich, bis zu einem verschlossenen Tor.
Er holte einen Schlüssel aus der Tasche und öffnete es. Carlsen sah ein langgestrecktes, niedriges Gebäude; über jedem Türeingang brannte eine Lampe. »Das sind die Wohnungen der Pflegerinnen. Donaldson wohnt an diesem Ende, Nummer eins.« »Danke sehr.« »Sollte ich nicht lieber mitkommen und Sie vorstellen?« »Es wäre mir lieber, wenn Sie es nicht täten.« »Wie Sie wollen. Das Tor läßt sich von dieser Seite ohne Schlüssel öffnen. Wenn Sie in einer halben Stunde nicht zurück sind, kommen wir und sehen nach, was Sie anstellen.« Es war scherzhaft gemeint, aber in seiner Stimme schwang ein ernster Unterton mit. Das Tor schloß sich hinter ihm. Carlsen ging zur Veranda von Nummer eins und läutete. Eine Frauenstimme ertönte aus dem Lautsprecher. »Wer ist da?« Er beugte sich vor und sagte: »Mein Name ist Carlsen. Ich möchte Sie sprechen.« Er erwartete weitere Fragen, aber der Lautsprecher blieb stumm. Kurz darauf ging die Tür auf. Die Frau musterte ihn neugierig und ohne Furcht. »Was wollen Sie?« »Könnte ich Ihnen das drinnen sagen?« »Wie sind Sie hergekommen?« »Dr. Armstrong hat mich hergebracht.«
»Kommen Sie rein.« Sie trat beiseite und ließ ihn vorbei. Dann machte sie die Tür zu und ging zu einem Teleschirm. Einen Moment später ertönte Armstrongs Stimme. »Ja?« »Ich habe hier einen Mr. Carlsen. Wußten Sie davon?« »Ja. Ich habe ihn gebracht. Das ist Commander Carlsen.« »Ah, ja.« Sie schaltete aus. Er hatte während des Gesprächs an der Tür gestanden und sie betrachtet. Er war enttäuscht. Irgendwie hatte er erwartet, daß sie schön war. Die Realität war ernüchternd. Sie war um die fünfunddreißig und hatte eine rauhe Gesichtshaut. Die Figur war einmal gut gewesen, ging jetzt aber etwas in die Breite. Er bemerkte, daß der Saum des grünen Wollkleides ungleichmäßig war. »Weswegen wollten Sie mich sprechen?« Ihre Stimme klang kühl und unpersönlich, wie die einer Telefonistin. Für einen Moment überlegte er, ob er einen Fehler gemacht hatte. »Darf ich mich setzen?« Sie zuckte die Achseln und deutete auf einen Sessel. Er suchte nach einem Vorwand, um sie zu berühren, aber sie stand zu weit weg. »Ich wollte Sie nach dem Mann fragen, mit dem Sie den Nachmittag verbracht haben – Mr. Pryce«, sagte er.
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.« »Ich denke doch. Zeigen Sie mir Ihre Hand.« Sie sah ihn überrascht an. »Wie bitte?« »Zeigen Sie mir mal Ihre Hand.« Sie drängte sich gegen die Kante eines kleinen Tisches bei der Wand. Dann plötzlich kam der Kontakt zustande. Sie spielten ein Spiel, und beide kannten die Regeln. Sie starrte ihn an und kam dann sehr langsam näher. Er griff nach ihren Händen und umfaßte sie. Die Energie sprang über wie ein elektrischer Funke. Sie schwankte, und er stand auf, um sie zu stützen. Die Energie floß in einem gleichmäßigen Strom von ihr zu ihm. Er betrachtete ihr Gesicht; ihr Blick war glasig. So deutlich, als hätte sie laut gesprochen, vernahm er ihren unhörbaren Kommentar. Er packte sie an den Armen. »Wie ist sein Name?« Sie lehnte sich an ihn. »Ich weiß es nicht.« »Sag es mir.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich werde dir weh tun.« Er drückte ihr fest ins Fleisch der Arme. Wieder schüttelte sie den Kopf. Gemächlich, als mache er lediglich einen Zug bei einer Schachpartie, hielt er sie ein Stück von sich weg und ohrfeigte sie. Sie schüttelte nochmals den Kopf. Es klopfte an der Tür. Er zuckte erschrocken zusammen; sie dagegen schien nichts zu hören. »Wer ist da?« fragte er. Es klopfte noch einmal. Er ließ die
Frau in einen Sessel sacken und ging an die Tür. Es war Fallada. »Alles in Ordnung?« »Ja, natürlich. Kommen Sie rein.« Fallada trat ein und erblickte die Frau. »Guten Abend«, sagte er. Dann sah er Carlsen an. »Was ist mit ihr?« »Gar nichts.« Er kam Falladas Frage zuvor. »Sie ist völlig harmlos.« »Kann sie uns hören?« »Vermutlich. Aber es interessiert sie nicht. Sie ist wie ein hungriges Kind.« »Hungrig?« »Sie will, daß ich ihr weh tue.« »Meinen Sie das im Ernst?« fragte Fallada ungläubig. »Ja. Sehen Sie, wenn sie von der Fremden besessen ist, saugt sie ihren Opfern Energie aus. Aber sie gibt alles wieder her. Sie ist wie eine Frau, die für ihren Geliebten stiehlt. Wenn ich ihr jetzt Energie nehme –« er legte ihr die Hand auf den Arm – »reagiert sie automatisch. Sie ist darauf konditioniert.« »Nehmen Sie ihr jetzt Energie?« »Ein wenig. Genug, um sie in diesem Dämmerzustand zu halten. Wenn ich aufhöre, wird sie wach.« »Wie das Mädchen letzte Nacht – Miß Bengtsson?« »Ja. Aber bei ihr war es nur der normale weibliche
Wunsch, sich hinzugeben. Bei ihr ist es viel schlimmer. Sie will, daß man sie total erniedrigt.« »Masochismus?« »Genau.« »Sollte man sie nicht lieber in Ruhe lassen?« »Erst, wenn ich erfahren habe, was ich wissen will. Den Namen des Patienten, der ihre Energie nimmt.« Fallada kniete sich vor der Frau hin und hob ein Augenlid an. Sie betrachtete ihn teilnahmslos; sie interessierte sich nur für Carlsen. »Können Sie ihre Gedanken nicht lesen?« »Sie sträubt sich. Sie will mir nichts sagen.« »Warum?« »Das sagte ich doch. Sie will, daß ich sie dazu zwinge.« Fallada erhob sich. »Möchten Sie, daß ich gehe?« »Bleiben Sie ruhig hier, wenn Ihnen das Warten nichts ausmacht. Ich habe keinen Spaß an dieser Sache.« Er sagte zu ihr: »Steh auf.« Sie erhob sich langsam, und ein Lächeln spielte in ihren Mundwinkeln. Carlsen umarmte sie. Er bemerkte, daß sie aufstöhnte, als seine linke Hand gegen ihren Rücken drückte. »Sag mir seinen Namen!« befahl er. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Wieder drückte er ihr die Hand gegen den Rücken. Sie keuchte und krümmte sich vor Schmerz, dann schüttelte sie erneut den Kopf.
»Was tut ihr denn weh?« fragte Fallada. »Keine Ahnung.« Carlsen zog ihr den Reißverschluß des Kleides herunter. Auf ihrem Rücken waren lauter Schrammen. Fallada betrachtete sie näher. »Sie sind frisch. Ein Andenken von ihrem Liebhaber.« Überall, wo Carlsens Hände die bloße Haut berührten, strömte Energie aus ihr. Er begann ihr das Kleid abzustreifen. »Was haben Sie vor?« fragte Fallada. »Wenn Sie nicht zusehen wollen, gehen Sie nach nebenan.« »Keinesfalls«, sagte Fallada. »Ich bin der geborene Voyeur.« Carlsen zog ihr das Kleid herunter, bis es zu Boden fiel. Darunter trug sie einen BH und einen Slip. Sie legte Carlsen jetzt die Arme um den Hals. Er drückte sie an sich und spürte die Wärme ihres Körpers. Eigentlich wollte er auch seine Kleidung abstreifen, um einen engeren Kontakt herzustellen, aber er fühlte sich durch Falladas Anwesenheit gehemmt. Er legte ihr eine Hand aufs Gesäß, die andere auf die zerschrammte Haut zwischen den Schulterblättern und drückte sie fest an sich. Sie stöhnte auf; dann, als er sie küßte, gab sie sich plötzlich hin. Durch ihre Lippen, Brustwarzen und aus der Schamgegend strömte die Lebenskraft in ihn. Fallada räusperte sich. »Unglaublich. Ihr Rücken wird immer blasser –«
Sie löste sich kurz von ihm und sagte: »Jetzt. Jetzt.« »Sind Sie sicher, daß Sie es nicht lieber hätten, wenn ich gehe?« fragte Fallada. Carlsen ignorierte ihn. Er kam ihrer Aufforderung nach und entzog ihr brutal die Energie, als habe er vor, sie zu töten. Er spürte, wie ihr Körper erglühte, als sie sich an ihn drückte; die Umklammerung ihrer Arme nahm ihm fast den Atem. Sie stieß mit Hüften und Schenkeln gegen ihn. Dann lockerte sich ihr Griff, und ihre Knie gaben nach. Mit einem Mal waren die Schranken vor ihrem Verstand verschwunden. Fallada half ihm, sie zu stützen. Carlsen nahm sie auf die Arme und trug sie ins Schlafzimmer. Neben dem Bett stand eine rosafarbene Lampe; die Bettdekke war zurückgeschlagen. Er legte sie aufs Bett. Fallada, der im Türeingang stand, sagte: »Das war das erste Mal, daß ich erlebt habe, wie eine Frau in aufrechter Stellung einen Orgasmus erreichte. Kinsey wäre fasziniert gewesen.« Carlsen deckte sie zu. Haarsträhnen hingen ihr in die schweißtriefende Stirn. Ein Speichelfaden rann ihr aus dem Mundwinkel. Er machte das Licht aus und ging leise aus dem Zimmer. Als sie das Haus verließen, begann es zu regnen; der Wind wehte einen feinen Sprühregen vom Moor herüber. Die Luft roch nach Ginster und Heidekraut.
Carlsen spürte ein überraschendes Wonnegefühl, das seinen Körper wie Elektrizität durchströmte. Dann plötzlich, als hätte jemand einen Schalter umgelegt, hörte es auf. Zuerst war er verblüfft, aber einen Augenblick später hatte er es bereits vergessen. »Was Sie wissen wollten, haben Sie dennoch nicht erfahren«, sagte Fallada. »Ich fand genug heraus.« Der Rasen lag nun im Dunkeln; sie konnten den Grashüpfer sehen, der durch seine phosphoreszierende Farbe hervorstach. Von der Reihe langer, niedriger Gebäude gegenüber kam ein Mann über den Rasen auf sie zu. Sie hörten Armstrongs Stimme: »Ist alles zu Ihrer Zufriedenheit verlaufen?« »Danke, ja«, sagte Carlsen. »Ihr Sergeant hat sich bereits zurückgezogen. Sie haben übrigens die drei hinteren Zimmer.« Er zeigte auf die Gebäude, in denen noch Licht brannte. Er steckte einen Schlüssel ins Schloß und öffnete die Haupteingangstür; in der Vorhalle brannte jetzt nur noch eine blaue Nachtbeleuchtung. Heseltine ging im Zimmer auf und ab. »Na endlich«, sagte er. »Ich fing schon an, mir Sorgen zu machen.« Er wandte sich an Armstrong. »Vorhin war oben ein fürchterlicher Lärm – jemand schrie.« Armstrong erwiderte gelassen: »Viele der Patienten leiden an Alpträumen.«
»Wenn ich Ihnen einen der Anstaltsinsassen beschreiben würde«, fragte Carlsen, »glauben Sie, Sie könnten mir sagen, wer es ist?« »Wahrscheinlich. Wenn nicht, könnte es auf alle Fälle der Oberpfleger.« »Es handelt sich um einen sehr großen Mann – an die zwei Meter. Er hat eine große vorspringende Nase und rotes Haar mit einer kahlen Stelle –« Armstrong unterbrach ihn. »Ich weiß, wen Sie meinen. Das ist Reeves – Jeff Reeves.« »Der Kindesmörder?« fragte Fallada. »Genau der.« »Ich würde gern näheres über ihn wissen«, sagte Carlsen. »Nun –« sagte Armstrong. »Er ist jetzt seit – äh – fünf Jahren hier. Er ist geistig minderbemittelt – hat den IQ eines Zehnjährigen. Seine meisten Verbrechen beging er bei Vollmond – vier Morde und zwanzig Vergewaltigungen. Es dauerte zwei Jahre, bis man ihn faßte – seine Mutter deckte ihn.« »Wenn ich mich recht entsinne«, meinte Fallada, »behauptete er, vom Teufel besessen zu sein?« »Oder von irgendeinem Dämon.« Er wandte sich an Carlsen. »Darf man fragen, woher Sie seine Beschreibung haben?« »Von der Pflegerin – Ellen Donaldson.«
»Und seinen Namen konnte sie Ihnen nicht nennen?« »Ich habe nicht danach gefragt.« Armstrong zuckte die Achseln. Carlsen spürte, daß er den Verdacht hatte, daß sie etwas vor ihm geheimhielten. »Ist dieser Mann mit den anderen Insassen zusammen?« fragte Heseltine. »Im Moment nicht. Morgen ist Vollmond, deshalb haben wir ihn isoliert.« »Wollen Sie ihn heute nacht noch sehen?« fragte Heseltine Carlsen. Carlsen schüttelte den Kopf. »Warten wir lieber bis morgen, wenn er weniger aktiv ist.« »Möchten Sie, daß ich Lamson, den Oberpfleger, rufe?« fragte Armstrong. »Er könnte uns wahrscheinlich sagen, ob Reeves irgendwelche Anzeichen von – Vampirismus hat erkennen lassen.« Die Ironie in den Worten war kaum herauszuhören. »Das ist überflüssig«, sagte Carlsen. »Ihm dürfte ohnehin nichts aufgefallen sein – höchstens, daß Reeves vielleicht etwas weniger stumpfsinnig wirkt als gewöhnlich.« »Dann fragen wir ihn doch«, sagte Armstrong. »Ich bin sehr gespannt.« Carlsen zuckte die Achseln. Armstrong legte dies als Einverständnis aus und drückte auf einen Knopf der anstaltsinternen Wechselsprechanlage. Er sagte:
»Lamson, macht es Ihnen etwas aus, kurz herüber zu kommen?« Sie saßen einen Augenblick schweigend da. »Ich verstehe immer noch nicht, warum diese Fremde sich einen geistig minderbemittelten Kriminellen aussuchen sollte«, sagte Heseltine. »Schließlich könnte sie – oder es – eine beliebige Person übernehmen?« »Nein«, sagte Carlsen. »Einen Kriminellen zu übernehmen – noch dazu einen kriminellen Psychopathen – ist fast so, als ziehe man in ein leeres Haus ein. Überdies glaubte der Mann, schon einmal vom Teufel besessen gewesen zu sein. Er würde nichts Verwunderliches daran finden, nun von einem Vampir besessen zu sein.« »Aber was ist mit dieser Pflegerin – Donaldson? Ich nehme doch nicht an, daß sie kriminell veranlagt ist?« »In diesem Fall geht es wohl weniger um eine kriminelle Veranlagung als um die Frage einer gespaltenen Persönlichkeit.« Fallada nickte. »Das ist ein psychologisches Axiom. Jemand, der starken unterbewußten Trieben ausgeliefert ist, hat das Gefühl, sozusagen zwei Personen zugleich zu sein.« »Wenn Sie damit andeuten wollen«, sagte Armstrong, »daß Ellen Donaldson an Persönlichkeitsspaltung leidet, kann ich dazu nur sagen, daß es mir niemals aufgefallen ist.«
Als Fallada zu einer Erwiderung ansetzte, sagte Carlsen: »Es muß nicht unbedingt eine schwerwiegende Persönlichkeitsstörung sein. Sie ist sexuell unbefriedigt. Sie hat einen starken Sexualtrieb und keinen Ehemann. Und sie spürt, daß sie auf Männer keine Anziehungskraft mehr ausübt. Und so stellt sie keine Fragen, wenn diese Kreatur ihre tiefsten sexuellen Bedürfnisse befriedigt –« Es klopfte an der Tür. Armstrong öffnete. Ein Mann mit dem Körperbau eines Gewichthebers trat ein. Als er Fallada und Carlsen erblickte, kam ein Leuchten des Wiedererkennens in seine Augen. Armstrong legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Dies ist mein Assistent, Fred Lamson, der mir eine unschätzbare Hilfe ist. Fred, diese Herren interessieren sich für Reeves.« Lamson nickte; er hoffte offensichtlich, näher bekannt gemacht zu werden, aber Armstrong hatte nicht die Absicht, die Episode länger als notwendig auszudehnen. Carlsen stellte amüsiert fest, daß Armstrong seinen Versuch, kameradschaftlich zu erscheinen, durch Ungeduld und Snobismus wieder zunichte machte. »Sagen Sie, Fred, ist Ihnen in den letzten Wochen etwas Ungewöhnliches an Reeves aufgefallen?« Lamson schüttelte langsam den Kopf. »Nein ...« Armstrong nickte. »Nichts? Gut. Danke, Fred.« Lamson ließ sich nicht drängen. »Ich wollte sagen,
nicht in den letzten Wochen. Aber in den letzten Tagen hat er sich irgendwie verändert.« »In welcher Hinsicht?« Armstrong war außerstande, sich seine Ungeduld nicht anmerken zu lassen. »Also das kann ich wirklich nicht sagen –« »Kam er Ihnen vielleicht munterer vor?« fragte Carlsen. Lamson kratzte sich an seinem kurzgeschorenen Haarschopf. »Das wird es wohl sein – Ich will Ihnen eins sagen. Die anderen schikanieren ihn immer ein bißchen, wenn er so ruhig ist. Aber mir fiel auf, daß sie ihm in den letzten Tagen aus dem Weg gegangen sind.« »Aber das ist doch, weil bald Vollmond ist«, sagte Armstrong. Lamson schüttelte hartnäckig den Kopf. »Nein. Das habe ich viele Male gesehen. Wenn es auf Vollmond zugeht, wird er sonst immer unruhig. Aber diesmal ist es anders. Wie dieser Herr sagt – er wirkt munterer.« »Haben Sie so einen Fall schon einmal erlebt?« fragte Fallada. »Kann ich nicht behaupten. Meistens ist es genau umgekehrt.« »Aber er ist jetzt von den anderen isoliert?« fragte Armstrong. »Ja, sicher. Zu dieser Zeit stecken wir ihn immer in eine Einzelzelle. Aber meiner Meinung nach wäre es
diesmal gar nicht nötig. Er kam mir gar nicht vor wie – wie –« Während er nach Worten suchte, fiel Armstrong in entschiedenem Tonfall ein: »Danke, Fred. Das war alles, was wir wissen wollten. Sie können jetzt gehen.« Als Carlsen den mühsam unterdrückten Ärger des Mannes bemerkte, sagte er: »Sie haben uns wirklich sehr geholfen. Vielen Dank.« »Keine Ursache, Sir.« Lamson lächelte ihnen zu und ging hinaus. »Ein erwähnenswerter Punkt«, sagte Carlsen. »Der Fremde möchte keine Aufmerksamkeit auf sich lenken. Aber er verkennt, daß sich die Persönlichkeit eines Psychopathen bei Vollmond verändert. Und so erreicht er das genaue Gegenteil ...« Fallada fragte Armstrong: »Fällt es Ihnen jetzt immer noch so schwer, an Vampire zu glauben?« Armstrong erwiderte ausweichend: »Es ist merkwürdig ... höchst merkwürdig.« Carlsen gähnte ungeniert und stand auf. »Also ich würde jetzt gern zu Bett gehen.« Unter normalen Umständen hätte sich Carlsen mittlerweile von Armstrong leicht angewidert gefühlt; jetzt, da er die Niederträchtigkeit hinter der äußeren Fassade, die hohle Eitelkeit, vermengt mit der Gier nach Bewunderung, direkt wahrnehmen konnte, hatte er Mühe, seine Abscheu zu verbergen.
»Möchten Sie nicht noch einen Drink?« »Wir sind alle müde«, sagte Heseltine, Carlsens Beispiel folgend. »Wir sollten zu Bett gehen.« »Dieser Reeves«, sagte Carlsen. »Wann erhält er sein Frühstück?« »Gewöhnlich gegen acht Uhr.« »Könnte man seinem Essen ein schwaches Beruhigungsmittel beimischen?« »Ich denke schon. Wenn Sie es für nötig halten ...« »Vielen Dank.« Er begleitete sie zur Tür. In der Halle trafen sie auf Lamson, der gerade die Treppe herunterkam. »Wo sind Sie gewesen?« fragte Armstrong. »Ich habe noch kurz nach Reeves gesehen, Sir. Was Sie sagten, brachte mich auf den Gedanken ...« »Hat er Sie gesehen?« fragte Carlsen. »Oh, er war wach, hellwach.« Sie überquerten den Rasen; Fallada ging mit Lamson voraus. »Zu schade, daß er das getan hat«, sagte Carlsen. Heseltine zuckte die Achseln. »Wieso? Es muß doch ganz normal sein, nachts noch ein letztes Mal nach den Häftlingen zu sehen.« »Ich weiß nicht ... Aber jetzt ist es sowieso egal.« Ihre drei Zimmer grenzten aneinander. Sergeant Parker hatte die Reisetaschen aus dem Grashüpfer geholt und in die Zimmer gestellt.
Carlsen war bereits im Pyjama, als es an der Tür klopfte und Fallada mit einer Flasche in der Hand eintrat. »Wie wär's mit einem letzten Whisky vor dem Schlafengehen?« »Gute Idee.« Im Bad fand er Gläser. Fallada hatte das Jackett abgelegt und den Schlips gelockert. Sie stießen an. »Was Sie über gespaltene Persönlichkeiten sagten, hat mich fasziniert«, sagte Fallada. »Glauben Sie wirklich, daß diese Wesen eine gesunde Person nicht gewaltsam übernehmen können?« Carlsen, der auf dem Bett saß, schüttelte den Kopf. »Das habe ich nicht gesagt. Sie könnten wahrscheinlich jeden übernehmen – mit List und Gewalt. Aber sie würden eine gesunde Person buchstäblich zerstören müssen. Wahrscheinlich ist das der Grund, warum sie die ersten Opfer töteten – Clapperton zum Beispiel.« »Und der Premierminister?« fragte Fallada. »Ich weiß nicht. Es ist schwer zu glauben, und doch ... Etwas stimmt mit ihm nicht.« Er blickte stirnrunzelnd in sein Glas. »Es ist etwas, daß alle Politiker haben – die Fähigkeit zu einer Art Zwiedenken. Sie können es sich nicht leisten, so offen wie die meisten Menschen zu sein. Sie müssen lavieren, überreden können ...«
»Staatsmännisch sein, meinen Sie wohl.« »Vermutlich. Dasselbe ist mir bei vielen Geistlichen aufgefallen – man hat das Gefühl, sie seien professionelle Lügner. Oder zumindest Menschen, die sich einer Selbsttäuschung hingeben.« Er wurde plötzlich lebhafter. »Ja, genau das ist es. Menschen, die sich selbst etwas vormachen, sind die leichteste Beute für Vampire. Menschen, die ihre rechte Hand nicht wissen lassen wollen, was die linke tut. Und dieses Gefühl habe ich bei Jamieson. Er gehört zu der Sorte Mensch, die es nicht einmal merkt, wenn sie es wirklich ehrlich meint.« Sie saßen schweigend da, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Fallada trank seinen Whisky aus. »Was sollten wir machen, wenn diese Wesen wirklich unzerstörbar sind?« fragte er. »Wenn es keinen Weg gibt, sie zum Verlassen der Erde zu zwingen?« Als Carlsen schwieg, fuhr er fort: »Wir müssen mit dieser Möglichkeit rechnen. Die Welt ist voll von kriminellen Psychopathen. Jedesmal, wenn wir einen erwischten, könnten sie einfach zum nächsten überwechseln. Meinen Sie nicht auch?« Carlsen spürte wieder jenes plötzlich aufflammende Verständnis in sich, dem sofort ein Gefühl der Verwirrung folgte. »Ich weiß nicht«, sagte er. »Ich weiß es einfach nicht.« Fallada stand auf. »Sie sind müde. Ich lasse Sie jetzt
schlafen.« Er hielt inne, die Hand bereits auf der Türklinke. »Mir kommt da ein Gedanke. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, zu einer Verständigung mit diesen Wesen zu kommen? Wir wissen jetzt, daß sie Menschen nicht töten müssen, um ihre Nahrung zu erhalten. Nehmen Sie zum Beispiel diesen Pryce. Ich hatte den Eindruck, daß er seine Energie mit Freuden hergab. Er würde es immer wieder tun für die Aussicht, einen weiteren Nachmittag mit dieser Frau im Bett verbringen zu können ... Man sollte diesen Punkt vielleicht im Auge behalten.« Carlsen lächelte. »In Ordnung. Ich verspreche, darüber nachzudenken.« »Schlafen Sie gut«, sagte Fallada. »Falls Sie mich brauchen sollten, ich bin nebenan.« Er ging leise hinaus. Carlsen ging zur Tür und schloß ab. Er hörte, wie Fallada das Zimmer nebenan betrat und kurz darauf den Wasserhahn aufdrehte. Er stieg ins Bett und machte das Licht aus. Fallada hatte recht: er war müde. Aber als er die Augen schloß, überkam ihn ein merkwürdiges Gefühl. Ein Teil von ihm lag im Bett und überlegte, was am nächsten Tag zu tun war. Ein anderer Teil war von ihm losgelöst, schien über dem Bett zu schweben und wie auf einen Fremden auf ihn hinabzublicken. Es war ein kaltes, fremdartiges Gefühl. Dann spürte er, daß sein Körper einschlief, während der losgelöste Verstandesteil un-
beteiligt zusah. Einen Augenblick später verlor er das Bewußtsein. Als er es wiedererlangte, hatte er das Gefühl, durch dunkles Wasser nach oben zu treiben. Zur einen Hälfte schlief er, zur anderen lag er da, umgeben von einer Wärme, die ihm wie die Geborgenheit des Mutterleibes vorkam. Er empfand ein tiefes, zeitloses Glücksgefühl. In diesem Moment bemerkte er die Anwesenheit der Fremden. Sie schien neben ihm im Bett zu liegen, es war die schlanke schwarzhaarige junge Frau, die er zuletzt im Raumforschungsgebäude gesehen hatte. Sie hatte ein dünnes schleierartiges Gewand an. Er war so weit bei Sinnen, daß er denken konnte: das ist unmöglich; dieser Körper wurde im Hyde Park umgebracht. Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Da er wußte, daß seine Augen geschlossen waren, erkannte, daß sie eine Traumerscheinung sein mußte. Doch, ganz im Gegensatz zu einer Traumgestalt, schien sie von Dauer und irgendwie real zu sein. Ihre Hände tasteten sich unter seine Pyjamajacke und berührten mit kühlen Fingerspitzen den Solarplexus. Er fühlte Verlangen in sich aufsteigen. Die Hand zog am Pyjamabund und schob sich in die Hose. Gleichzeitig drückte sie den Mund gegen seine Lippen und schob sie mit der Zungenspitze auseinander. Er lag mit ausgestreckten Armen da, anschei-
nend unfähig, sie zu bewegen. Wieder fragte er sich, ob er träumte, und wieder kam er zu keinem Ergebnis. Sie sagte kein Wort, aber ihre Gefühle wurden gedanklich übertragen. Sie bot sich ihm an, er braucht sie nur zu nehmen. Als ihre Finger über seinen Körper strichen, durchlief ein Prickeln sein ganzes Nervensystem. Noch nie hatte er ein so intensives körperliches Wohlbehagen empfunden. Er versuchte erneut die Arme zu bewegen. Sein Körper war schlaff, wie gelähmt. Er fühlte, wie sie den Kopf senkte und ihm mit der Zungenspitze über den Hals, dann über die Brust strich. Das Wonnegefühl erreichte eine Intensität, die an Schmerz grenzte. Sie schien ihm sagen zu wollen: der Körper ist unwichtig. Der Verstand ist es, der das Gefühl der Freiheit erfahren kann. Mit jeder Faser seines Selbst drückte er Zustimmung aus. Er stellte plötzlich fest, daß sein Verstand, ebenso wie sein Körper, einen Punkt totaler Passivität erreicht hatte; der eigene Wille war verschwunden. Er spürte nur die Kraft ihres Willens und ihre Absicht, ihn gefügig zu machen. Dadurch entstand ein plötzliches Unbehagen, ein inneres Zurückweichen. Er spürte ihre Ungeduld, ein Aufflammen unbeherrschten Zorns. Ihre Haltung schien sich zu verändern. Statt sich ihm hingebungsvoll anzubieten, befahl sie
ihm, kein Narr zu sein. Das erweckte die Erinnerung an ein Ereignis in ihm, das über dreißig Jahre zurücklag: eine Kusine hatte ihn zu überreden versucht, einen Spielzeughund gegen einen Teddybär einzutauschen. Sie war wütend geworden und auf ihn losgegangen. Genau wie damals rief der auf ihn ausgeübte Druck einen störrischen Widerstand in ihm hervor. Er war sich bewußt, daß, wenn sie zu ihrer Überredungstaktik zurückkehren würde, er nachgeben würde. Sie hatte alle Trümpfe in der Hand. Bis auf einen. Es war ihr unmöglich, den eigenen Zorn im Zaum zu halten. Sie haßte es, wenn man ihr Widerstand leistete. Er erhaschte einen flüchtigen Einblick in den bodenlosen Abgrund ihrer Frustration. Er versuchte, sie von sich wegzustoßen. Jetzt liebkoste sie ihn nicht mehr, sondern umklammerte ihn gierig. Er hatte die Wahnvorstellung, von einem Riesenkraken festgehalten zu werden, der ihm die Tentakel um die Glieder geschlungen hatte und mit dem Schnabel nach seiner Kehle suchte. Entsetzen packte ihn, und er wehrte sich verzweifelt. Sie hielt ihn noch einen Moment fest, um ihre Stärke zu demonstrieren; aber der mörderische Zorn war verraucht. Obgleich er jetzt hellwach war, konnte er sich noch immer nicht bewegen. Die Angst hatte ihn ausgelaugt; er hatte keine Kraft mehr zu kämpfen. Er konnte noch immer ihre Gedanken und Gefühle wahr-
nehmen, und nun erkannte er, was sie davon abgehalten hatte, ihn zu töten. Seine Angst hatte Erinnerungen wachgerufen: an Lebewesen, die um ihr Leben kämpften, sich dagegen wehrten, in den unersättlichen Schlund gezogen zu werden. Dann war ihr eingefallen: vorläufig darf niemand sterben. Das würde ihre Pläne vereiteln. Selbst wenn sie seinen Körper übernähme, würde sich der Schein nicht lange aufrechterhalten lassen. Fallada würde die Veränderung bemerken; ebenso seine Frau und die Kinder. Jetzt lag niemand mehr neben ihm im Bett. Er wußte, daß das auch niemals der Fall gewesen war, denn seine Pyjamajacke war nach wie vor zugeknöpft, und niemand hatte seinen Hosenbund angetastet. Die Fremde war auch keine Frau mehr. Sie war zu einem geschlechtslosen Wesen, zu einem ›Es‹ geworden. Und dieses ›Es‹ befand sich außerhalb von ihm und versuchte in seinen Körper einzudringen. Seine inneren Abwehrschirme waren aufgebaut, lagen wie schützende Hände auf seinem Gesicht. ›Es‹ versuchte die Hände beiseite zu drängen, seinen Willen zu durchdringen und sich einen Weg in sein innerstes Wesen zu bahnen. Der Vorgang war so rücksichtslos und brutal wie Vergewaltigung. Er wollte aufschreien, aber er wußte, daß dadurch seine Gegenwehr geschwächt würde. Er fühlte, wie seine Abwehr unter dem unbeugsa-
men Druck nachgab; das Ding bahnte sich einen Weg hindurch. Er wurde sich plötzlich der Konsequenzen bewußt, die eintreten würden. Diese Kreatur beabsichtigte, in sein Nervensystem einzudringen und es von seinem Willen abzutrennen; er wäre dann ein Gefangener in seinem eigenen Gehirn, unfähig, sich zu rühren, verschnürt wie eine Fliege im Spinnengewebe. Seine individuelle Existenz würde zwar erhalten bleiben, aber nur, damit sich das Wesen Zugang zu seinem Wissen verschaffen konnte. Die Vorstellung, sein Gehirn mit dem Fremden teilen zu müssen, verlieh ihm eine wilde Kraft. Mit fest zusammengebissenen Zähnen drängte er ihn zurück. Diesmal sperrte er seinen Willen; es war, als rolle er sich zu einer Embryonalstellung zusammen. Das Ding attackierte ihn mit unverminderter Heftigkeit; es hoffte, seine Kräfte zu erschöpfen. Er war sich bewußt, daß die Grenzen jetzt abgesteckt waren. Sie waren unwiderrufliche Feinde; nichts vermochte dies zu ändern. Zehn Minuten, vielleicht mehr, vergingen. Er begann seine Kräfte zurückzugewinnen. Die wichtigste Waffe des Fremden war Furcht; doch er spürte, daß er tief im Innern keine Angst hatte. Er hatte den schwachen Punkt seines Gegners erkannt, den begierigen Wunsch, ihm seinen Willen aufzuzwingen, und dieser Wunsch machte ihn nachlässig. Den Fremden verlangte es danach, um jeden Preis unumschränkter
Herrscher zu sein; und nun befand er sich in einer Situation, die es ihm unmöglich machte, etwas, das er haßte, zu vernichten. Als Carlsen dies dachte, spürte er, wie sein Gegner wieder wütend wurde; sein innerer Einblick war wie Hohn. Der Fremde erneuerte den Druck und griff wütend nach seinem verschlossenen Willen. Wieder wehrte er sich mit der Kraft der Verzweiflung. Nach einigen Minuten erkannte er, daß der Fremde wieder eine Niederlage erlitten hatte. Eine instinktive innere Abscheu hatte einen Widerstand erweckt, der sich als stärker erwiesen hatte. Er spürte einen Kraftfluß in sich, ein Gefühl, tage- oder, falls notwendig, wochenlang jedem Angriff standhalten zu können. Er fühlte einen sonderbaren Stolz in sich. Diese Kreatur war ihm in jeder Hinsicht überlegen; gegen ihre Macht und ihr Wissen kam er sich wie ein kleines Kind vor. Und doch hinderte es irgendein universelles Gesetz daran, seine schwächliche Persönlichkeit gegen seinen Willen zu übernehmen. Der Druck ließ plötzlich nach. Er schlug die Augen auf, die fest geschlossen gewesen waren, und bemerkte, daß es am Horizont bereits dämmerte. Dann war er allein. Er bewegte die Hände und stellte fest, daß das Bettzeug klatschnaß war, als hätte er im Fieber gelegen. Er wickelte sich in die feuchte Bettdecke ein, drehte das Kopfkissen um und schloß die Augen.
Das Zimmer wirkte seltsam friedlich und leer. Einen Augenblick später war er fest eingeschlafen.
9 Er erwachte, als jemand laut seine Zimmertür öffnete. Es war Lamson, der Oberpfleger; er trug ein Tablett. »Einen wunderschönen guten Morgen«, sagte er fröhlich. »Ich bringe Ihnen Kaffee.« Carlsen richtete sich auf. »Sehr freundlich von Ihnen. Wie spät ist es?« »Viertel nach acht. Dr. Armstrong läßt ausrichten, daß es in einer halben Stunde Frühstück gibt.« Er setzte das Tablett auf Carlsens Knie ab. »Was ist das denn?« Carlsen deutete auf die Illustrierte, die auf dem Tablett lag. Das Titelblatt kam ihm bekannt vor. »Mein Neffe ist ein großer Bewunderer von Ihnen, Sir. Wenn Sie so freundlich wären, Ihr Bild für ihn zu unterzeichnen?« Lamson hielt ihm einen Kugelschreiber hin. »Selbstverständlich.« »Ich bin in ein paar Minuten wieder da, Sir. Ich muß den beiden anderen Herren noch ihren Kaffee bringen. Ist der eine nicht Dr. Fallada, der Mann, der die Kriminalserie macht?« »Genau.« »Und den anderen Herrn habe ich doch auch schon im Fernsehen gesehen?«
»Das ist Sir Percy Heseltine, der Polizeipräsident.« Lamson stieß einen Pfiff aus. »Es kommt nicht oft vor, daß wir so hohen Besuch erhalten. Genaugenommen bekommen wir eigentlich nur höchst selten Besuch ... von den Angehörigen natürlich mal abgesehen.« Er ging hinaus und ließ die Tür einen Spalt breit offen. Carlsen sah, daß er den Servierwagen zur nächsten Tür schob. Während er Kaffee trank, las er den Artikel noch einmal. Er trug die Überschrift »Olof Carlsen – Mann des Jahrhunderts«. Er stöhnte innerlich auf, als er an die Nonstop-Werbekampagne dachte, der er vor drei Monaten ausgesetzt gewesen war. Sie war anstrengender und nervenaufreibender gewesen als seine schwierigsten Forschungsaufgaben während der Weltraumexpedition. Dieser war nur einer von Dutzenden ähnlichen Artikeln, die in der Weltpresse erschienen waren. Er war an die weibliche Leserschaft gerichtet, sentimental aufgemacht, mit einem doppelseitigen Foto von Carlsen mit Jelka und den Kindern. Als Lamson zurückkam, fragte ihn Carlsen: »Wie heißt Ihr Neffe?« »Georgie Bishop.« Er schrieb eine Widmung auf die Abbildung, unterzeichnete sie und gab Lamson Illustrierte und Kugelschreiber zurück.
»Das wird ihn umhauen.« Er betrachtete die Abbildung. »Sie haben hübsche Kinder.« »Danke.« »Sie haben ein Glück ...« Er faltete die Illustrierte einmal zusammen und steckte sie in die Tasche seines weißen Kittels. »Haben Sie keine Kinder?« »Nein. Meine Frau wollte keine.« »Sie sind verheiratet?« »Jetzt nicht mehr. Das ist vorbei. Wir trennten uns ...« Carlsen wechselte das Thema. »Haben Sie diesen Reeves heute schon gesehen?« »Ja. Ich habe ihm um sieben das Frühstück gebracht. Wir taten das Beruhigungsmittel hinein, wie der Doktor vorschlug.« »Wie ging es ihm?« »Nun ... meiner Meinung nach hätte er das Mittel nicht gebraucht.« »Wieso nicht?« »Er machte einen ganz ruhigen Eindruck. Etwa so.« Er ahmte die Miene nach: glasiger, stierer Blick, weit offener Mund, schlaff herabhängende Arme. »Wird ihn das Mittel betäuben?« »Nein. Er wird sich nur gelöst und entspannt fühlen. Wenn Sie ihn hypnotisieren wollen, darf er nicht bewußtlos sein.«
Lamson grinste. »Das war nicht nötig. Er sagte mir, ich solle die Nortropin-Methidin-Mixtur für die Injektion vorbereiten. Die wird nur vor einer Hypnose oder bei schwerem Schockzustand angewendet. Und Reeves hat keinen Schock.« »Sie hätten Detektiv werden sollen.« Lamson fühlte sich geschmeichelt. »Danke.« »Was bewirkt das Mittel?« »Eine leichte Paralysierung des Nervensystems – oder eine völlige Leere im Kopf, wenn Sie so wollen. Danach läßt es sich leicht hypnotisieren. Dr. Lyell – der frühere Direktor – benutzte es häufig. Aber Armstrong hält nichts von Hypnose.« »Warum nicht?« Lamson zuckte die Achseln. »Er meint, es käme einer Gehirnwäsche gleich ...« Er sah Carlsen durchdringend an, kam zu der Überzeugung, daß er ihm trauen konnte, und sagte: »Aber ich glaube, das sind nur Ausflüchte. Dr. Lyell wollte niemanden einer Gehirnwäsche unterziehen. Er wollte den Leuten bloß helfen ...« »Ich verstehe, was Sie meinen«, sagte Carlsen freundlich. Er war bereits zu dem Schluß gekommen, daß Armstrong zu der Sorte Mensch gehörte, die hochgesinnte moralische Bedenken für Entscheidungen anführten, die auf schierer Faulheit beruhten. »Da bin ich mir nicht so sicher«, seufzte Lamson. »Nicht? Wieso, glauben Sie, sind wir hier?«
Lamson schaute ihn verblüfft an. »Was?« Carlsen bemerkte, daß der Mann die Frage falsch aufgefaßt hatte. »Sie meinen doch nicht ...« Es klopfte an der Tür. Fallada rief: »Fertig zum Frühstück, Olof?« Die Tür ging auf. »Na ja, ich gehe dann wieder«, sagte Lamson. »Bis später.« Er trat beiseite, um Fallada vorbei zu lassen, und ging hinaus. »Noch im Bett? Soll ich später ...« »Nein. Kommen Sie ruhig rein.« Fallada kam der Aufforderung nach und schloß die Tür. »Ich habe mich gerade mit Lamson unterhalten.« »Er scheint mir ein tüchtiger Mann zu sein.« »Zu tüchtig, fürchte ich.« Carlsen nahm seine Sachen und ging ins Bad; die Tür ließ er halb geöffnet. »Er hat uns gestern wahrscheinlich verraten, als er noch einmal bei Reeves nachsah.« »Wie kommen Sie darauf?« Aus irgendeinem Grund mochte Carlsen nicht über die Ereignisse der letzten Nacht sprechen; es erschien ihm zu persönlich. »Er meint, Reeves sei heute morgen wieder normal gewesen.« »Normal?« »In seiner halb schwachsinnigen Verfassung.« Sie schwiegen für kurze Zeit. Carlsen stopfte sich das Hemd in die Hose. Fallada fragte:
»Dann glauben Sie, daß sie fort ist?« »Scheint so.« Er begann sich zu rasieren. Beide schweigen, bis er fertig war. Als er aus dem Bad kam, sich das Gesicht noch kurz mit Rasierwasser einreibend, starrte Fallada finster aus dem Fenster. »Dann ist diese ... Kreatur uns immer noch einen Schritt voraus?« »Ich fürchte, ja.« »Vielleicht hat sie wieder die Frau übernommen – die Pflegerin.« »Das tat sie vermutlich auch. Und stellte fest, daß wir auch darüber Bescheid wußten.« »Sie könnte sich also irgendwo hier im Krankenhaus aufhalten – oder es auch verlassen haben.« Es war eine Feststellung, und Carlsen erwiderte nichts darauf. Er legte seinen Pyjama zusammen und verstaute ihn in der Reisetasche. Fallada sah ihn nachdenklich an. »Ich könnte versuchen, Sie wieder zu hypnotisieren ...« »Nein.« »Warum nicht?« »Erstens ist es zu gefährlich. Die Kreatur könnte versuchen, mich zu übernehmen, während ich unter Hypnose stehe. Und außerdem würde es nichts nützen. Ich habe den Kontakt mit ihr verloren.« »Sind Sie sicher?«
»Völlig.« Er war froh, daß Fallada keine weiteren Fragen stellte. Draußen auf dem sonnenbeschienenen Rasen lag Sergeant Parker unter dem Grashüpfer und stellte die Senkrechtstartdüsen nach. »Kommen Sie nicht mit zum Frühstück?« fragte Carlsen. »Nein, danke, Sir. Ich habe bereits mit dem Pflegepersonal gefrühstückt.« »Ist Ihnen dort eine Frau aufgefallen? Schwester Donaldson?« »Allerdings.« Er grinste. »Sie hat sich eingehend über Sie erkundigt.« »Was wollte sie wissen?« »Na, ob Sie verheiratet wären und so ...« Er zwinkerte ihm zu. »Danke.« Als sie weitergingen, sagte er zu Fallada: »Damit ist Ihre Frage beantwortet.« »Glauben Sie?« »Wenn sie von der Fremden besessen wäre, würde sie keine Fragen stellen. Sie würde sich so unauffällig wie möglich verhalten.« »In der Tat ...«, sagte Fallada nachdenklich. Er lächelte. »Sie entwickeln sich langsam zu einem Sherlock Holmes.« Die Morgensonne schien hell in Armstrongs Eßzimmer. Heseltine saß bereits am Tisch. Armstrong
rieb sich die Hände. »Guten Morgen, meine Herren. Was für ein herrlicher Morgen. Haben Sie gut geschlafen?« Beide brummten etwas, das wie eine Zustimmung klang. »Lamson hat Reeves ein Beruhigungsmittel gegeben«, sagte Armstrong. »Im Kaffee. Außerdem habe ich Lamson angewiesen, ein mildes Hypnotikum zur Injektion vorzubereiten. Wenn Sie ihm Fragen stellen wollen, ist das wahrscheinlich der einfachste Weg – finden Sie nicht auch?« »Ausgezeichnet«, sagte Fallada geistesabwesend. »Sie denken auch an alles.« »Es ist mir eine Freude, Ihnen behilflich zu sein. Eine wirkliche Freude.« Er rief in die Küche hinüber: »George, noch Kaffee, bitte.« Er stand an der Tür und strahlte sie an. »Nehmen Sie doch Platz. Auf mich brauchen Sie nicht zu warten – ich habe schon gegessen. Ich lasse Sie jetzt allein und mache meinen Rundgang. Wenn Sie etwas brauchen sollten, wenden Sie sich an George.« Er ging hinaus. Der Jugendliche mit dem schielenden Auge, jetzt in einer weißen Jakke, brachte ihnen Kaffee und Grapefruitscheiben. Als sie unter sich waren, sagte Fallada: »Ich fürchte, wir verschwenden unsere Zeit.« Heseltine schaute ruckartig auf. »Wieso?« »Es ist nur ein Verdacht«, sagte Carlsen. »Ich habe mich mit Lamson unterhalten. Er meinte, Reeves hät-
te sich wieder verändert. Er wirkt nicht mehr munter.« Es widerstrebte ihm noch immer, über die Geschehnisse der letzten Nacht zu reden. Heseltine schüttelte den Kopf. »Und was schlagen Sie vor?« »Machen wir weiter wie bisher«, sagte Carlsen. »Es kann nicht schaden, diesen Reeves zu befragen.« »Vielleicht steht er noch in mentalem Kontakt mit der Fremden, wie es bei Ihnen der Fall war«, meinte Fallada. »Vielleicht könnte er uns sogar sagen, wo sie sich jetzt aufhält.« »Möglich.« Aber noch während er sprach, spürte Carlsen, daß es nicht so war. Der Jugendliche in der weißen Jacke servierte ihnen Spiegeleier mit Speck. Sie verzehrten den Rest der Mahlzeit schweigend. Carlsen spürte, daß die Aussicht auf einen Fehlschlag die beiden anderen deprimierte. Er selbst fühlte sich seltsam abgestumpft und passiv, als hätte sich sein Empfindungsvermögen durch die Anstrengungen der letzten Tage abgenutzt. Als sie die Mahlzeit beendeten, kehrte Armstrong zurück, gefolgt von Lamson und einem anderen Pfleger. »Hatten Sie genug zu essen? Gut. Ich beginne meinen Tag nämlich stets mit einem guten Frühstück.« Er trug eine weiße Jacke, und Carlsen fiel auf, daß er ungewöhnlich fröhlich wirkte. »Ich bin davon über-
zeugt, daß dies das Problem der meisten Leute hier drinnen ist.« Heseltine sah ihn verblüfft an. »Frühstück?« »Genau. Sie haben sich niemals angewöhnt, gut zu frühstücken. Und das Resultat: Nervosität, schlechte Laune, Magengeschwüre – psychische Überlastung. Ich meine das ernst. Wenn Sie die Zahl der Verbrechen in England wirklich senken wollen, bringen Sie alle dazu, gut zu frühstücken ...« Er legte Carlsen die Hand auf die Schulter. »Was meinen Sie, Commander?« »Da könnten Sie durchaus recht haben«, sagte Carlsen. Er erkannte jetzt, was anders geworden war: er besaß nicht mehr die Fähigkeit, die Gedanken der Personen in seiner Umgebung zu lesen. Es wurde ihm klar, als Armstrong ihn an die Schulter faßte; die Berührung gab ihm keinen intuitiven Einblick in seine Gedanken. Armstrong rieb sich die Hände. »Nun, meine Herren, können wir anfangen?« Alle Blicke richteten sich auf Carlsen. Irgendwie wurde stillschweigend vorausgesetzt, daß die Entscheidung bei ihm lag. »Ja, selbstverständlich«, sagte er und stand auf. »Dann würde ich vorschlagen, daß Lamson und ich zuerst hineingehen. Er wird annehmen, daß es die übliche medizinische Untersuchung ist.« Er sagte er-
läuternd zu Fallada: »Solange Vollmond ist, kontrolliere ich ständig seinen Adrenalinspiegel. Wenn er zu hoch wird, besteht die Gefahr einer Angstpsychose. In diesem Fall verabreichen wir dann Beruhigungsmittel.« Er wandte sich an Carlsen und Heseltine. »Sie bleiben am besten außer Sicht, bis wir ihm die Injektion gegeben haben.« Sie gingen quer durch die Halle und folgten ihm eine Treppe hinauf. Carlsen fand den Ort bedrükkend. Die Anstalt war um die Jahrhundertwende gebaut worden, als die Zahl der psychischen Erkrankungen sprunghaft angestiegen war. Die Architektur war nach rein funktionellen Gesichtspunkten ausgerichtet. Die Kunststoffwände, die einmal einen hellen und freundlichen Eindruck gemacht hatten, waren jetzt verschmutzt und zerschrammt. Auf jeder Etage waren Metalltüren, von denen der grüne Lack abblätterte. »Das sind die Stationen, in denen der Großteil der Patienten untergebracht ist«, sagte Armstrong. »Wer von den anderen isoliert werden muß, befindet sich in einem schalldichten Einzelzimmer in der obersten Etage. So werden die anderen nicht gestört. Würden Sie die Tür aufschließen, Norton?« Der Pfleger steckte zwei Schlüssel in die zwei Türschlösser und drehte beide gleichzeitig; die Tür schwang geräuschlos auf. Die Korridorwände dahinter waren mit einem Kunststoffmosaik dekoriert, das eine Gebirgs-
landschaft darstellte. »Reeves hat ein Zimmer am Ende des Ganges«, sagte Armstrong. Carlsen fiel auf, daß er es vermied, sie ›Zellen‹ zu nennen. Die Tür am Ende des Ganges ging auf, und Ellen Donaldson kam heraus; sorgfältig schloß sie hinter sich ab. Sie wirkte überrascht, so viele Leute hier zu sehen. Dann, als ihr Blick auf Carlsen fiel, erblaßte sie. Als Armstrong an ihr vorbeiging, hielt sie ihn am Ärmel fest. »Könnte ich Sie einen Moment sprechen, Doktor?« »Jetzt nicht, Schwester. Wir haben zu tun.« Er rauschte an ihr vorbei. »Aber es ist wegen Reeves ...« Er drehte sich ruckartig um. »Ich habe gesagt, jetzt nicht.« Obwohl er nicht laut wurde, hatte seine Stimme doch einen klirrenden, herrischen Ton. Die beiden Pfleger blickten sich überrascht an. Die Krankenschwester wandte sich ab und ging weiter. Carlsen hatte erwartet, daß sie ihm einen Blick zuwarf, aber sie ging starr geradeaus sehend an ihm vorbei. Ihr Verhalten verblüffte ihn; das war nicht die Reaktion einer Oberschwester, die gerade eine barsche Abfuhr erhalten hatte. Sie zeigte keinerlei Verärgerung, sondern wirkte geradezu unterwürfig. Norton schloß die Tür auf und trat beiseite, um Armstrong eintreten zu lassen. Ohne sich umzudrehen, bedeutete Armstrong ihnen mit einer herrischen
Geste, fernzubleiben. Lamson füllte gerade eine Spritze mit einer Flüssigkeit aus einer Flasche mit einem Gummistopfen. In diesem Moment verstand Carlsen plötzlich. Für ihn stand zweifelsfrei fest, daß Armstrong den Fremden beherbergte. Mit einem Geistesblitz erfaßte er, was getan werden mußte. Er griff lächelnd nach der Spritze in Lamsons Hand. Lamson war überrascht, ließ sie sich aber wegnehmen. Armstrong beugte sich gerade über den im Bett liegenden Mann und sagte: »Guten Morgen, Reeves ...« Bevor er weitersprechen konnte, hatte ihm Carlsen den linken Arm um den Hals geschlungen und riß ihn zurück. Norton rief etwas. Carlsen war die Ruhe selbst. Mit einer Kraft, die ihn überraschte, zog er Armstrongs Kopf nach hinten gegen seine Brust, visierte sorgsam und stach die Spritze durch den Jackenstoff in Armstrongs Arm. Er spürte, wie Armstrong aufstöhnte, als die Nadel die Haut durchstach. Dann drückte Carlsen ohne Eile den Kolben durch. Lamson war zum Kopfende des Bettes gegangen, so daß er Carlsens Gesicht sehen konnte. Als sich ihre Blicke trafen, lächelte Carlsen und nickte. Er hatte das Gefühl, die Situation vollkommen zu beherrschen. Er zählte bis zehn und spürte, wie Armstrong in seinen Armen erschlaffte. Er ließ den Körper zu Boden sinken. Plötzlich wälzte sich Armstrong herum und schlang die Arme um
Carlsens Beine. Carlsen hatte damit gerechnet; er ließ sich augenblicklich fallen, traf Armstrong mit den Knien zwischen den Schulterblättern und drückte ihn zu Boden. Gleichzeitig kniete sich Lamson auf Armstrongs strampelnde Beine. Für kurze Zeit wehrte sich Armstrong heftig; dann ließ sein Widerstand nach und erlahmte schließlich ganz. Als Carlsen ihn umdrehte, war sein Blick glasig. »Was hatte das zu bedeuten?« fragte Heseltine in überraschend ruhigem Tonfall. Carlsen lächelte Lamson zu. »Danke für Ihre Hilfe.« »Sie hätten mir Bescheid sagen sollen«, entgegnete Lamson. »Ich hatte schon immer das Gefühl, daß etwas mit ihm nicht stimmt ...« »Ich konnte es nicht riskieren.« Er wandte sich an Fallada und Heseltine. »Bringen wir ihn in ein leeres Zimmer. Ich will ihm ein paar Fragen stellen, bevor die Wirkung nachläßt. Wohin könnten wir ihn schaffen?« fragte er Lamson. »Ins Sprechzimmer, würde ich meinen. Warten Sie einen Moment – ich hole einen Rollstuhl.« Kurz darauf kehrte er mit einem zusammenklappbaren Rollstuhl mit einer Segeltuchlehne zurück. »Hilf uns mal, Ken.« Zum erstenmal betrachtete Carlsen den Mann im Bett. Der vorangegangene Tumult schien ihn nicht
berührt zu haben. Er starrte an die Decke; sein Gesicht war entspannt. Er war groß und kräftig gebaut, aber seine Haut war schlaff und von bläßlicher Farbe. Trotz seiner Schulterbreite und der kräftigen Hände fiel es schwer, sich vorzustellen, daß er gefährlich werden könnte. »Ich fahre ihn im Aufzug runter«, sagte Lamson. »Wir treffen uns dann im Parterre am unteren Treppenabsatz.« Als sie die Treppe hinuntergingen, fragte Fallada: »Was war denn los?« »Mir wurde plötzlich klar, daß der Vampir Armstrong übernommen hat.« »Sind Sie sich auch sicher?« fragte Heseltine. »Vollkommen. Ich hätte schon früher darauf kommen sollen. Ich weiß selbst nicht, warum es mir erst eben einfiel. Es war ganz logisch, daß die Wahl für die nächste Übernahme auf Armstrong fallen würde. Er ist verschlagen, eitel und pervers veranlagt.« »Woher wußte Lamson davon?« Carlsen lachte. »Er weiß es gar nicht. Heute morgen sagte ich etwas, das ihn glauben machte, wir hätten es auf Armstrong abgesehen. Und er haßt Armstrong.« »Woher wollen Sie wissen, daß sich das fremde Wesen noch in Armstrong aufhält?« fragte Fallada. »Was hindert es daran, zu fliehen und jemand anderen zu übernehmen?«
Carlsen schüttelte den Kopf. »Solange Armstrong bewußtlos ist, sitzt es in der Falle. Es ist denselben Bedingungen wie Armstrongs Körper unterworfen.« »Sind Sie sich dessen sicher?« »Nein, aber es scheint mir eine vernünftige Annahme zu sein. Ich glaube nicht, daß es von einem Moment auf den anderen in Körpern ein und aus gehen kann. Es muß eine ziemlich komplizierte Prozedur sein – wie wenn man einen Raumanzug anlegt. Es braucht seine Zeit.« Der Aufzug kam an. Armstrong saß zusammengesackt im Rollstuhl, den Kopf gegen Lamson gelehnt, der ihn vorwärts schob. Die Augen waren noch offen. »Hier entlang, Sir.« Lamson führte sie in den Raum, der an den Flur angrenzte. Es war ein kleines Sprechzimmer mit den üblichen Aktenschränken, Nachschlagewerken und eingebundenen Exemplaren des British Medical Journal. Carlsen wies die Pfleger an, Armstrong auf die Couch zu legen. Er zog die Vorhänge zu und richtete die Schreibtischlampe auf Armstrongs schlaffes Gesicht. »Könnten Sie mir noch eine Dosis des Hypnotikums bringen?« Lamson betrachtete ihn unschlüssig. »Ich denke schon, Sir. Aber in der Regel ist eine genug.« »Es könnte sein, daß wir sie brauchen. Wie lange hält die Wirkung an?«
»Eine solche Dosis – mindestens zwei Stunden.« »Dann brauchen wir wahrscheinlich noch eine.« Als die beiden Pfleger hinausgingen, sagte Heseltine leise: »Ich würde vorschlagen, daß Sie Ihren Kollegen gegenüber nichts von dem Vorfall erwähnen.« Lamson nickte. »Keine Sorge, Sir. Wir verstehen ...« Heseltine machte die Tür zu und schloß ab. »Meinen Sie nicht, daß eine zweite Dosis gefährlich sein könnte?« fragte Fallada. »Das Herz könnte überlastet werden.« »Ich weiß. Aber diese Wesen sind mächtiger, als Sie glauben. Es könnte uns sonst entkommen ...« Er beugte sich über Armstrong und drückte ihm vorsichtig die Augen zu. Dann nahm er den Kassettenrekorder vom Schreibtisch und stellte ihn auf ein Tischchen am Kopfende der Couch. Er überprüfte den Aussteuerungspegel und drückte die Taste nieder. Er setzte sich auf den Couchrand und beugte sich so weit vor, daß er Armstrong ins Ohr flüstern konnte. »Armstrong. Können Sie mich hören?« Die Augenlider flatterten, aber die Lippen bewegten sich nicht. Carlsen wiederholte die Frage und setzte hinzu: »Wenn Sie mich hören können, antworten Sie mit ja.« Die Lippen zuckten. Nach einer Pause flüsterte Armstrong: »Ja.«
»Wissen Sie, wo Sie jetzt sind?« Wieder mußte die Frage wiederholt werden. Dann verzerrte sich Armstrongs Gesicht langsam und nahm den Ausdruck eines Kindes an, das anfangen will zu schreien. Seine Stimme klang unnatürlich. »Ich will nicht hierbleiben. Ich will fort. Ich habe Angst. Laßt mich los. Laßt mich los ...« Die Stimme war kaum hörbar. Die Lippen bewegten sich sekundenlang weiter, gaben aber keinen Ton mehr von sich. »Wo sind Sie?« Die Pause dauerte über eine Minute. Carlsen wiederholte die Frage mehrmals. Dann sagte Armstrong mit erstickter Stimme: »Sie wollen mich nicht mit Ihnen reden lassen.« »Wer?« Er gab keine Antwort. »Hören Sie, Armstrong«, sagte Carlsen eindringlich. »Wenn Sie wollen, daß wir Ihnen helfen zu fliehen, dann müssen Sie uns sagen, wo Sie sind. Wo sind Sie?« Speichelblasen bildeten sich auf Armstrongs Lippen. Er begann keuchend zu atmen. Er sagte: »Ich bin hier ...« Dann ging der Satz in einem sinnlosen Geplapper unter. Plötzlich krümmte sich der Körper heftig. Armstrong schrie auf. Der Schrei war so entsetzlich, daß er ihnen einen Schauer über den Rücken jagte. Als Armstrong wild um sich schlug, versuchten
sie ihn zu dritt niederzuhalten. Sie hatten Mühe; er schien enorme Kräfte zu haben. Nach dem Kampf lag er still da und keuchte. Carlsen saß auf einem seiner Arme, Heseltine hielt den anderen fest, und Fallada saß auf den Beinen. »Armstrong«, sagte Carlsen. »Können Sie das Ding selten, das Sie gefangenhält?« »Ja.« Die Augen gingen auf, und die Angst darin war unverkennbar. »Sagen Sie ihm, daß es mit uns reden muß. Sagen Sie ihm das.« Der Körper ruckte plötzlich hoch und fiel fast von der Couch. Carlsen und Heseltine wälzten ihn zurück. Als es plötzlich an der Tür klopfte, fuhren sie erschreckt zusammen. »Wer ist da?« »Lamson, Sir. Ich bringe das Nortropin-Methidin.« Fallada schloß die Tür auf. »Danke.« »Sie wissen, wie man damit umgehen muß, Sir? Warten Sie, bis er wieder zu sich kommt, bevor Sie ihm die nächste Dosis geben.« »Keine Sorge«, sagte Fallada. »Wir kennen uns damit aus.« Er machte die Tür zu und schloß wieder ab. Armstrong lag wieder still. Carlsen machte den Manschettenknopf auf und schob ihm den Ärmel über den feisten, behaarten Arm. Am Ellenbogen ging es nicht mehr weiter. Heseltine reichte ihm eine
Operationsschere vom Schreibtisch; Carlsen schnitt den Ärmel vom Handgelenk bis zur Schulter auf. Als er die Spritze in die Hand nahm, richtete sich Armstrong auf und wälzte sich herum. Carlsen ließ die Spritze fallen und packte ihn. Mit Heseltines Hilfe legte er Armstrong wieder auf die Couch. »Hans«, sagte Carlsen, »nehmen Sie die Spritze und injizieren Sie.« Eine fremde Stimme, deren ruhiger und gelassener Tonfall sie überraschte, sprach plötzlich aus Armstrongs Mund. »Das ist überflüssig. Wenn Sie mich gehen lassen, verspreche ich Ihnen, die Erde zu verlassen.« Fallada zögerte, die Spritze in der Hand. »Injizieren Sie«, sagte Carlsen. »Das Ding lügt. Wenn wir ihm die Spritze nicht geben, wird es in zehn Minuten frei sein.« Er fühlte, wie sich Armstrongs Muskeln unter seinen Händen anspannten, und hielt den sich windenden Körper mit aller Kraft nieder. Die Stimme sprach erneut. »Carlsen, Sie enttäuschen mich. Ich hielt Sie für klüger.« Carlsen widerstand der Versuchung, sich auf eine Diskussion einzulassen. Er nickte Fallada zu. »Machen Sie.« Fallada stach die Nadel über dem Blutstropfen von der vorherigen Injektion ins Fleisch und drückte den Kolben nieder. Sie beobachteten das Ge-
sicht über eine Minute. Armstrong atmete jetzt tiefer. Die Augen starrten ins Leere, und die Gesichtsmuskulatur entspannte sich. »Können Sie mich hören?« fragte Carlsen. Er gab keine Antwort. »Vielleicht haben Sie ihm zuviel gegeben«, meinte Heseltine. Carlsen schüttelte den Kopf. Er hielt den Mund dicht an Armstrongs Ohr. »Hören Sie mir zu. Wenn es notwendig sein sollte, werden wir Sie tage- oder wochenlang in diesem Zustand halten. Verstehen Sie mich?« »Ja.« Es war dieselbe Stimme, aber sie war jetzt schwächer, weniger eindringlich. Die Atmung wurde unregelmäßig. »Ich hoffe, daß wir ihn nicht umbringen«, sagte Fallada. »Das wäre dann auch nicht zu ändern«, sagte Carlsen. »Der Fremde würde mit ihm sterben. Das wäre es wert, Armstrongs Leben zu opfern.« Die Stimme sagte dumpf: »Ihr könnt uns nicht alle töten.« »Wir können es versuchen«, sagte Carlsen. »Wir können Kriegsschiffe auf den Weg schicken, um euer Raumschiff zu vernichten.« Er beugte sich näher heran. »Und wir werden dabei jenen gelben Tintenfischen besondere Aufmerksamkeit schenken.« Fallada sah ihn überrascht an, sagte aber nichts. Sie sahen, daß Armstrongs Augen zufielen. Das Gesicht
verlor seine Ausdruckskraft, und das Fleisch schien regelrecht einzufallen. »Wir haben noch eine Spritze mit Hypnotikum«, sagte Carlsen. »Sollen wir sie injizieren, oder beantworten Sie unsere Fragen freiwillig?« Das Gesicht zeigte keinerlei Regung. Dann sagte die Stimme: »Stellen Sie Ihre Fragen.« »Wie ist Ihr Name?« »Sie könnten ihn nicht aussprechen. Sie können mich G'roon nennen.« »Sind Sie ein Mann oder eine Frau?« »Weder, noch. Unsere Rasse kennt keine getrennten Geschlechter.« »Wie heißt Ihre Rasse?« fragte Heseltine. »Sie würden uns Nioth-Khorgai nennen.« »Von wo kommen Sie?« fragte Fallada. »Von einem Planet des Sterns, den Sie Rigel nennen. Sie können ihn von hier aus nicht sehen, auch nicht mit Ihren leistungsfähigsten Teleskopen.« »Wie alt sind Sie?« »Nach Ihrer Erdzeit zweiundfünfzigtausend Jahre.« Sie schauten sich verblüfft an. Carlsen fragte: »Leben alle Angehörigen Ihrer Rasse so lange?« »Nein. Nur wir vom Ubbo-Sathla. Wir sind das, was Sie als Vampire bezeichnen.« Fallada notierte die Antworten. »Und wie steht es
mit den anderen Nioth-Khorgai?« fragte er. »Wie alt werden sie?« »Etwa dreihundert Ihrer irdischen Jahre.« »Wie wurden Sie zu Vampiren?« fragte Heseltine. »Das ist eine lange Geschichte.« »Wir möchten sie trotzdem hören. Erzählen Sie.« Es gab eine mehrminütige Pause, so daß sich Carlsen zu fragen begann, ob das Wesen überhaupt antworten wollte. Aber schließlich erklang die Stimme wieder. »Unser Planet ist eine Wasserwelt. Und wie Sie bereits vermutet haben, hat unsere Rasse die Gestalt jener Wesen, die Sie Tintenfische nennen. Aber im Unterschied zu Ihren Mollusken, die nur eine sehr geringe Hirnmasse haben, besitzen die Nioth-Khorgai ein hochentwickeltes Gehirn und Nervensystem. Weil unsere Körper so leicht sind, können wir unter den extremsten Druckverhältnissen leben. Unser Metabolismus ist auf die Salze des Elements Fluor angewiesen, die in unseren Meeren in ebenso großen Mengen vorkommen wie Natriumchlorid in Ihren. Unter unseren Meeren gibt es riesige natürliche Höhlen, die zu unseren Städten wurden. Sie sind weitaus größer als Ihre irdischen Höhlen. Selbst die kleinste hat noch eine Höhe von acht Meilen. Zur Zeit, als auf Ihrem Planeten die großen Reptile herrschten, besaßen wir eine hochentwickelte Zivili-
sation, die sich aber in einem wesentlichen Aspekt von Ihrer irdischen Zivilisation unterschied. Der Mensch liebt es, technische Probleme zu lösen, und sein höchstes Ideal ist die Wissenschaft. Die NiothKhorgai interessieren sich für andere Dinge. Sie würden es Religion und Philosophie nennen. Jedes Individuum strebt danach, das Universum zu begreifen und schließlich eins mit ihm zu werden. Daraus erklärt sich auch, warum wir nicht, im Gegensatz zu Ihnen, über zwei Geschlechter verfügen. Ihre Körper übertragen den Funken des Lebens am Höhepunkt sexueller Erregung, aber die Nioth-Khorgai können diese universellen Energien direkt empfangen. Sie stellen eine Liebesbeziehung zum Universum her, nicht unter ihresgleichen. Und in Augenblicken höchster innerer Einkehr werden sie von der Lebensenergie des Universums geschwängert. Als wir die Geheimnisse des Universums ergründeten, lernten wir auch, unser Bewußtsein in ferne Galaxien zu projizieren. Wir besuchten die Erde, als sich die Meere erstmals abkühlten. Wir lehrten die Pflanzengeschöpfe des Mars, ihre Zivilisationen unter Wasser zu errichten. Wir halfen den Geschöpfen Ihres Planeten Pluto, zu einer Welt des Doppelsterns Sirius zu flüchten, als ihre Heimatwelt die Atmosphäre verlor. Unsere größte Tat war es, bei der Evakuierung von über tausend Planeten des Sternhaufens, der Ihnen als
Sternbild des Krebses gilt, zu helfen, bevor dieser sich in eine gigantische Supernova verwandelte. Ihr Erdwesen könnt euch keinen Begriff von der Dramatik des Geschehens im interstellaren Raum machen. Euer Gesichtskreis ist zu eng. Aber die Nioth-Khorgai haben die Geburt und den Tod von Galaxien gesehen. Wir sahen, wie Inseluniversen aus dem Nichts erschaffen wurden. Ihr müßt verstehen, daß diese Universen lebende Organismen sind, die ihr kosmisches Eigenleben führen. Dies geschieht auf einer Ebene, die von organischem Leben nicht erfaßt werden kann. Die Religion der Nioth-Khorgai lehrt, daß das Universum ein gigantisches Gehirn ist, in dem die Welten, die wir kennen, nur einzelne Zellen sind. Vor fünfzigtausend Jahren ging auf der Erde eine große Eiszeit ihrem Ende entgegen, und die Menschen, die damals lebten, waren nur wenig klüger als Affen – Sie kennen sie als Neandertaler. Die Nioth-Khorgai kamen zu der Überzeugung, daß die Bedingungen für ein großes Experiment günstig waren – für den Versuch der Schaffung einer intelligenteren Lebensform. Das war zu Lebzeiten Kuben-Droths, eines unserer führenden biologischen Wissenschaftler –« Fallada warf ein: »Ich dachte, Sie besäßen keine Wissenschaft?« Das Wesen schwieg. Sie befürchteten schon, daß es
beschlossen hatte, seine Erzählung zu beenden, doch nach einer halben Minute fuhr es fort. »Wir hatten keine Technologie in Ihrem Sinn. Wir brauchten keine – das Meer stellte alles zur Verfügung, was wir zur Befriedigung unserer bescheidenen Bedürfnisse benötigten. Aber Wissenschaft entspringt dem Willen und der Seele. Unser Problem war, Ihre Steinzeitmenschen dazu zu bringen, Intelligenz zu entwickeln. Kein Wesen kann gegen seinen Willen dazu gezwungen werden, sich weiterzuentwickeln. Wir mußten diesen Geschöpfen einen Willen zur Intelligenz einimpfen, und dies konnte nur geschehen, indem wir ihre Gehirne bewohnten und ihnen Träume eingaben. Sie können sich keine Vorstellung von den dabei entstandenen Schwierigkeiten machen. Zwar konnte man diesen Frühmenschen das Erlebnis eines intensiven Wonnegefühls vermitteln – aber wenige Sekunden später hatten sie es wieder vergessen. Es war, als versuchte man, Affen Algebra beizubringen. Kuben-Droth opferte die Hälfte seiner Lebensspanne für diese Aufgabe, aber er starb, bevor uns schließlich der Erfolg vergönnt war. Es dauerte siebenhundert Jahre, einen Mann und eine Frau zu schaffen, deren Kinder die ersten Vorfahren der neuen Gattung Mensch wurden. Wir nannten sie Esdram und Solayeh. In Ihrer Mythologie werden sie als Adam und Eva überliefert.
Nun hatten wir siebenhundert Jahre in den Gehirnen und Körpern von Menschen gelebt. Und in mancher Hinsicht war das ein gefährliches Unterfangen. Ihre Lebensenergie nährte uns. Wir berauschten uns an ihrer ausgeprägten Sinnlichkeit, wenn wir uns auch anfangs davon abgestoßen fühlten. Ihre Welt war gefährlich und gewalttätig, aber sie war auch sehr schön. Doch wir waren Wissenschaftler und wußten, daß es an der Zeit war, die menschliche Rasse sich selbst zu überlassen. Wir verließen die Erde in Gruppen zu jeweils hundert, um zu unserem eigenen Sternsystem zurückzukehren –« Fallada sagte: »Verzeihen Sie, daß ich Sie noch einmal unterbreche, aber Rigel ist viele hundert Lichtjahre von der Erde entfernt. Wie lange brauchten Sie für diese Reise?« Wieder entstand eine längere Pause, als müsse das Wesen seine Antwort erst vorbereiten. Dann sagte es: »Sie übersehen, daß die Energien des Universums auf vielen Ebenen existieren. Auf der physikalischen Ebene kann Energie keine höhere Geschwindigkeit als die des Lichtes erreichen. Auf unserer Ebene kann sie sich tausendfach schneller fortbewegen. Die Reise dauerte weniger als ein Jahr. Unsere Gruppe war die letzte. Wir waren freiwillig geblieben, solange es ging. Dann vollzogen wir die
Umwandlung zur richtigen Ebene kosmischer Energie – Sie könnten es die fünfte Dimension nennen – und traten die Reise an. Auf dieser Reise stieß uns der Unfall zu. Die Chancen dagegen standen viele Millionen zu eins; normalerweise hätte er nicht passieren dürfen. Als wir die halbe Entfernung zu unserem Sternsystem zurückgelegt hatten, kamen wir dicht an einem zusammenbrechenden Stern vorbei – einem schwarzen Loch. Diese gehören zu den seltensten Erscheinungen im Universum, und keiner von uns war jemals zuvor einem begegnet. In ihrem Endstadium verlassen sie das bekannte Universum und werden Bestandteil eines übergeordneten Raums. Wir beschlossen, es zu erforschen – was sich als Fehler erwies. Einige von uns wurden in den Strudel hineingezogen. Ein paar andere erkannten, was geschah, und warnten die restlichen, fernzubleiben, damit nicht auch sie hineingerissen wurden. Aber es war zu spät, um zu fliehen. Die Kraft war zu gewaltig. Alles, was wir tun konnten, war, unseren Untergang hinauszuzögern, indem wir in eine Umlaufbahn um das schwarze Loch gingen. Und wir umkreisten und umkreisten es, unwiderstehlich von seiner Schwerkraft gefesselt. Einige von uns verloren die Kraft und Hoffnung und ließen sich hineinziehen. Wir restlichen setzten den Kampf fort, entschlossen, bis zum letzten Moment durchzuhalten.
Dann, nach über tausend Jahren, verschwand das schwarze Loch. Es fiel aus dem Weltraum, und wir waren frei. Doch waren wir jetzt so entkräftet, daß es uns unmöglich war, die Umwandlung zur richtigen Energieebene zu vollziehen. Wir waren frei, aber vierhundert Lichtjahre von unserem Sonnensystem im All gestrandet. Von da an fingen wir an, von den glücklichen Tagen, die wir auf der Erde verlebt hatten, von dem Energiestrom lebender Körper zu träumen. Wir reisten langsam in Richtung auf unser System zu und hielten Ausschau nach bewohnten, erdähnlichen Planeten. Diese gibt es zu Millionen im Universum, und währen wir nicht so entkräftet gewesen, es hätte uns keinerlei Mühe bereitet, einen zu finden. Doch so suchten wir über ein Jahr, bevor wir fündig wurden. Auf dem Planeten lebte eine primitive Tierrasse, ähnlich den Dinosauriern, aber sehr viel größer. Ihre primitive Energie ekelte uns an, aber wir brauchten sie zum Leben. Wir saugten sie auf, bis wir trunken waren, und töteten die Tiere dabei zu Hunderten. Danach ließ unsere Verzweiflung ein wenig nach, aber die Energieumwandlung war noch immer nicht möglich. Die niedere Energieform erschwerte sie sogar noch zusätzlich. So wanderten wir weiter und suchten einen Planeten mit einer höher entwickelten Lebensform. Es ist wahr, daß wir zu Zerstörern von Leben ge-
worden waren. Aber wir hatten keine Wahl. Wir waren wie Soldaten, die in der Wüste gestrandet sind, und mußten nehmen, war wir kriegen konnten. Wir fanden viele bewohnte Planetensysteme. Manchmal fanden wir Geschöpfe, die die Lebensenergie, die wir brauchten, besaßen; aber stets widerstanden sie uns. Wir mußten uns das, was wir brauchten, mit Gewalt nehmen, und töteten jene, die zu schwach waren, um uns abzuwehren. Auf einem Planeten des Altairsystems fanden wir Körper, die unseren eigenen, in der Heimat zurückgelassenen, glichen, und wir übernahmen sie. Wir hatten uns allmählich mit dem Status heimatloser Wanderer abgefunden. Und da wir jetzt Körper besaßen, ließ das Heimweh nach. Außerdem erkannten wir, daß wir offensichtlich unsterblich geworden waren. Zuerst nahmen wir an, dies sei eine Folge der Zerreißprobe, die wir bei dem schwarzen Loch durchgemacht hatten. Um uns Klarheit zu verschaffen, entschlossen wir uns zu einem Experiment. Wir ernährten uns nur noch von natürlicher Nahrung, und das Resultat war, daß wir auf normale Weise alterten. Damit war klar, daß wir keine Wahl hatten, wenn wir weiterleben wollten. Wir mußten fortfahren, die Lebensenergie anderer Wesen aufzusaugen. Und wir lernten, daß man dies tun konnte, ohne zu töten – so wie Menschen es lernten, Kühe zu melken. Das war nicht nur humaner, es gewährleistete auch, daß wir nicht unsere eigene
Nahrungsquelle zerstörten. Einige von uns empfanden selbst davor Abscheu und zogen es vor, schließlich an Altersschwäche zu sterben. Aber wir übrigen fanden uns mit unserem neuen Status ab – als Vampire oder geistige Parasiten. Es scheint ja ein Naturgesetz zu sein. Alle Lebewesen verzehren andere Lebewesen. Auf einem Planeten des Systems von Alpha Centauri begannen wir ein Raumschiff zu bauen. Es war riesengroß, denn wir wollten, daß es uns an die Heimat erinnerte – an die großen Unterwasserhöhlen unserer Heimatwelt. Vor mehr als zwanzigtausend Jahren statteten wir Ihrem Sonnensystem einen zweiten Besuch ab. Wir hofften, auf unsere Artgenossen zu treffen, denn wir wußten, daß sie periodisch hierher zurückkehren wollten, um Ihre Fortschritte zu beobachten. Wir wurden enttäuscht, blieben aber dennoch hier. Die Menschen waren noch immer Jäger, die in Höhlen hausten; wir lehrten sie die Kunst des Ackerbaus und der Errichtung von Dörfern. Als wir nichts mehr tun konnten, kehrten wir nach Alpha Centauri zurück und setzten unsere Erkundungen fort –« Carlson erhob sich leise und ging zur Tür. Die beiden anderen waren von der Geschichte so gefesselt, daß sie nicht bemerkten, wie er aufschloß und leise hinausschlüpfte. In der Eingangshalle traf er den Pfleger namens Norten.
»Wo finde ich Fred Lamson?« »Im Moment müßte er auf Station zwei sein. Warten Sie hier, dann hole ich ihn schnell.« Wenige Minuten später kam Lamson die Treppe herunter. »Ich brauche eine weitere Dosis des Hypnotikums«, sagte Carlsen. Lamson war verblüfft. »Sind Sie sicher? Wissen Sie eigentlich, wie stark es ist?« »Durchaus. Aber ich wäre sehr froh, wenn Sie mir eine besorgen könnten.« »Also gut, ich hole sie Ihnen.« Carlsen wartete in der Halle; von hier aus konnte er die Stimme des Fremden aus dem Sprechzimmer hören. Auf diese Entfernung kam sie ihm wie eine mechanische Komputerstimme vor. Auch fiel ihm auf, daß sie an Lautstärke gewonnen hatte. Lamson kam die Treppe herunter und reichte ihm eine kleine Pappschachtel. »Hier ist noch eine Spritze. Aber seien Sie vorsichtig. Eine Überdosis könnte ihn umbringen.« »Keine Sorge.« »Was hat er eigentlich angestellt?« fragte Lamson. Carlsen klopfte ihm leicht auf die Schulter. »Wenn ich es Ihnen sagen würde, würden Sie es nicht glauben. Aber Sie werden später alles erfahren. Danke für Ihre Hilfe.« Er machte leise die Sprechzimmertür auf. Es
herrschte Stille. Heseltine warf ihm einen Blick über die Schulter zu und sah dann wieder weg. Offenbar war eine Frage gestellt worden. Die seltsam eintönige Stimme hörte sich so an, als läse sie von einem Manuskript ab. »Um Kontakt mit Ihrer Rasse aufzunehmen, erwies es sich als notwendig, menschliche Körper zu übernehmen. Wenn Sie sie eingehend untersuchen, werden Sie feststellen, daß sie Silizium statt Kohlenstoff enthalten.« »Wenn dem so ist«, meinte Heseltine, »warum haben Sie dann nicht versucht, sich mit uns zu verständigen, anstatt zu verschwinden?« »Sie kennen die Antwort darauf. Ich wurde bewußtlos überrascht, und bevor ich es verhindern konnte, hatte ich den Mann auch schon getötet.« »Was machen Sie da?« fragte Fallada. Carlsen stand neben der Couch und hielt die Spritze für subkutane Injektion über Armstrongs bloßen Arm. Durch die Frage verwirrt, hörte das Wesen zu sprechen auf. Carlsen stach die Nadel in die Haut und drückte den Kolben. Als er die Spritze zurückzog, bildete sich ein Blutstropfen an der Einstichstelle. Nach einer Pause sagte das Wesen: »Ich verstehe nicht –« Es brach ab. »Ich auch nicht«, sagte Fallada. »Warum haben Sie das gemacht?«
Carlsen schwieg einen Moment und achtete auf Armstrongs Atmung. Dann sagte er: »Weil wir uns beeilen müssen. Wir müssen nämlich nach London.« »Aber war das notwendig?« fragte Heseltine. »Trauen Sie ihm nicht?« Carlsen schnaubte verächtlich. »Nein, natürlich nicht.« »Wieso nicht?« fragte Fallada überrascht. »Weil es uns nur die halbe Wahrheit erzählt hat. Ich erkläre es Ihnen im Grashüpfer. Und jetzt machen wir uns lieber auf den Weg. Helfen Sie mir, ihn hochzuheben.« »Was haben Sie mit ihm vor?« »Ich will ihn mitnehmen.« Er drückte den Kassettenauswurfschalter des Recorders und steckte die Kassette in die Tasche. Sergeant Parker lag dösend auf dem Rasen, das Hemd bis zur Taille aufgeknöpft. Er richtete sich auf und starrte überrascht auf die schlaffe Gestalt im Rollstuhl. »Helfen Sie uns, ihn hochzuheben«, sagte Heseltine. »Wir müssen so schnell wie möglich nach London zurück. Wie schnell können wir es schaffen?« »In einer halben Stunde, wenn wir uns beeilen.« Sie brauchten fünf Minuten, um den schweren Körper auf den Rücksitz des Grashüpfers zu wuchten. Kaum eine Minute später waren sie in der Luft. Lamson, der bis an die Eingangsstufen hinausgetre-
ten war, winkte ihnen zu, als sie senkrecht in die Höhe stiegen. Heseltine sagte schnaufend: »Ich habe keine Widersprüche in seiner Geschichte bemerkt.« »Sie war voll davon. Einer ist Ihnen selbst aufgefallen. Wenn sie sich menschliche Körper zu dem Zweck zugelegt haben, Kontakt mit uns aufzunehmen, warum haben sie es dann nicht getan?« »Das hat er doch erklärt. Er tötete den jungen Adams versehentlich, geriet daraufhin in Panik –« »Kreaturen wie diese geraten nicht in Panik. Sie kalkulieren. Hat er erklärt, warum sie sich alle in einem Zustand herabgesetzter Lebensfunktionen befanden, als wir sie entdeckten?« »Um die Reise schneller vergehen zu lassen – aus demselben Grund schlafen wir bei Flugreisen.« »Warum war es dann so schwierig, sie zu sich bringen?« »Wir hatten keine Zeit, ihn das zu fragen. Sie haben ihn vorher bewußtlos gemacht.« »Die Frage ist überflüssig«, sagte Carlsen. »Der Grund liegt auf der Hand. Sie wollten, daß wir sie allesamt zur Erde brachten. Und hätten wir das getan, wären sie alle einer nach dem anderen gestorben – und wir hätten nicht einmal den leisesten Verdacht gehabt, daß wir uns Vampire aufgehalst haben. Bestenfalls wäre uns aufgefallen, daß die Zahl der Ge-
waltverbrechen, sadistischen Morde und so weiter plötzlich sprunghaft angestiegen wäre.« Heseltine schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, entweder bin ich zu leichtgläubig, oder Sie sind zu mißtrauisch.« Es war ein unausgesprochener Vorwurf. »Betrachten Sie seine Geschichte noch einmal«, sagte Carlsen. »Erst erklärt er uns, wie seine Rasse unserer half, sich weiterzuentwickeln. Das könnte stimmen, obwohl wir nur sein Wort dafür haben. Dann erzählt er von ihrem Unfall. Auch das könnte stimmen. Aber von da an fielen mir die Widersprüche auf. Sie wurden zu Parasiten anderer Lebewesen. Sie stahlen die Körper von tintenfischähnlichen Wesen eines anderen Planeten. Und dann, seiner Aussage zufolge, machten sie den Versuch, sich von natürlicher Nahrung zu ernähren, um zu sehen, was geschehen würde. Dadurch begannen sie wieder zu altern, folglich gingen sie wieder dazu über, sich von anderen Intelligenzwesen zu ernähren.« »Aber ohne sie zu töten«, sagte Fallada. »Sie entsinnen sich, er verglich ihre Methode mit Milchwirtschaft –« »Sie übersehen, daß wir Kühe nicht nur melken, sondern auch essen«, sagte Carlsen. »Er versuchte uns davon zu überzeugen, daß sie ihre Opfer wie gleichgestellte Partner behandelten. Ich glaube nicht
daran. Warum, meinen Sie wohl, reisen sie von Planet zu Planet? Weil sie natürliche Raubtiere sind und dem Drang, ihre Opfer zu töten, nicht widerstehen können. Wenn sie alles Leben auf einem Planeten vernichtet haben, suchen sie sich den nächsten.« »Aber dafür haben Sie keinen Beweis«, sagte Fallada. »Es könnte wahr sein, aber wir wissen es nicht.« »Mein Instinkt sagt es mir. An ihrem bisherigen Verhalten ist aber auch nichts, was mich veranlassen könnte, ihnen zu trauen. Die anderen Kreaturen sind dort draußen im Weltraum und sterben eines langsamen Hungertodes. Wie kommt das, da sie doch angeblich die Kunst der Milchwirtschaft erlernt haben? Wäre es wirklich so, dann hätten sie dafür gesorgt, daß ihnen die Nahrung nicht ausgeht, genau wie wir dafür sorgen, daß wir bei einer Neunmonatsreise zum Jupiter nicht verhungern. Sie konnten nicht genug Nahrung mitnehmen, weil sie die Speisekammer nämlich leer gegessen hatten. Und ihre nächste Speisekammer sollte die Erde sein.« Fallada und Heseltine waren von seinen Überlegungen offenbar beeindruckt, doch keiner von ihnen schien restlos überzeugt zu sein. Sie drehten sich um und betrachteten den schlaffen Körper, als könne er ihnen Antwort geben. Fallada sagte: »Ich habe irgendwie das Gefühl, daß wir ihnen etwas schuldig sind. Schließlich gerieten sie nur deshalb in diese un-
glückliche Lage, weil sie versuchten, und zu helfen, uns zu wirklichen Menschen zu entwickeln. Und seiner Behauptung nach lehrten sie uns den Ackerbau. Oder halten Sie das auch für eine Lüge?« »Nicht unbedingt. Natürlich wollten sie, daß wir uns weiterentwickelten. Als sie vor zwanzigtausend Jahren zur Erde zurückkehrten, gab es wahrscheinlich eine Gesamtbevölkerung von kaum einer Million Menschen. Und auch die waren für sie kaum besser als Tiere. Sie ließen uns in Ruhe, damit wir uns weiterentwickelten, so daß sie später, wenn wir uns vermehrt hatten, zurückkehren konnten. Und jetzt haben sie eine Speisekammer, die ihnen für zehntausend Jahre reichen könnte. Und ich sage Ihnen noch eins: Er behauptet, sie wären zur Erde zurückgekommen in der Hoffnung, auf ihre Artgenossen zu treffen –« »Aber das klingt doch nur vernünftig.« »Tatsächlich? Was, glauben Sie, hätten ihre Artgenossen für sie tun können? Sie hätten ihnen nicht helfen können, zum Orion zurückzukehren, denn sie haben keine Raumschiffe. Sie verwandeln sich in eine höhere Energieform, in der sie mit Überlichtgeschwindigkeit reisen können. Und diese Fähigkeit verloren diese Wesen, nachdem sie zu Vampiren geworden waren.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Liegt es nicht auf der Hand? Hätten sie sie nicht
verloren, wären sie nach Hause zurückgekehrt. Darum brauchen sie jetzt auch ein Raumschiff zur Fortbewegung.« »Aber ihr Volk hätte ihnen vielleicht helfen können.« »Halten Sie das für wahrscheinlich? Sie sind zu galaktischen Verbrechern geworden. Sie verließen die Erde wahrscheinlich, um ihrem Volk aus dem Weg zu gehen. Sie sind zu Aussätzigen geworden.« Fallada sinnierte: »Das ist ein interessanter Gedanke. Eine Art Fall –« Sergeant Parker deutete nach unten. »Da liegt Bedford, Sir. Wir dürften in zehn Minuten ankommen. Soll ich den Yard anfliegen?« Heseltine schaute Carlsen an. »Vielleicht ist es besser, wenn wir zum Ismeer-Gebäude fliegen«, sagte Carlsen. »Wir könnten Armstrong dort lassen. Wir müssen dafür sorgen, daß er bewußtlos bleibt.« Er wandte sich an Fallada. »Ist Ihnen das recht?« »Selbstverständlich. Mein Assistent Grey kann sich darum kümmern.« »Und was dann?« fragte Heseltine. »Wenn mich nicht alles täuscht, dürfte bereits eine Nachricht des Premierministers auf Sie warten«, sagte Carlsen. »Er wird sicher wissen wollen, wo Sie stecken.« »Die Nachricht ist schon da«, sagte Heseltine. »Ich
habe heute morgen meine Frau angerufen. Der Premierminister wünscht uns drei so bald wie möglich zu sprechen.« »Gut. Dann gehen wir zu ihm.« Heseltine meinte skeptisch: »Mit ihm dürften wir nicht so leicht fertig werden wie mit Armstrong. Was haben Sie vor?« »Keine Ahnung. Aber eins weiß ich. Wir müssen ihn von Angesicht zu Angesicht sehen. Es gibt keinen anderen Weg.«
10 Der Polizist an der Tür grüßte, als er Heseltine erkannte. Kurz darauf öffnete ihnen ein hübsches, dunkelhaariges Mädchen. »Ich glaube, der Premierminister erwartet uns?« »Ja, Sir. Er wird Sie in wenigen Augenblicken empfangen. Wenn Sie solange hier warten möchten?« »Ich sehe Sie hier zum erstenmal«, sagte Heseltine. »Ich bin Merriol.« Sie lächelte, und ihre kleinen, weißen Zähne kamen zum Vorschein. Sie wirkte kaum älter als ein Schulmädchen. Als sie das Zimmer verließ, sagte Heseltine: »Merkwürdig.« »Was?« »Ach, nichts weiter –« Er senkte die Stimme. »Es geht das Gerücht um, Jamieson habe eine Vorliebe für junge Mädchen. Eigentlich ist es sogar mehr als nur ein Gerücht. Das letzte soll eine Studentin aus Anglesey gewesen sein.« »Aber er würde sie doch wohl kaum mit hierher bringen?« meinte Fallada. »Damit könnte er sich leicht in Schwierigkeiten bringen.« »Das hätte ich auch gedacht. Was meinen Sie dazu, Carlsen?« Carlsen hatte geistesabwesend aus dem Fenster ge-
blickt. Jetzt sah er überrascht auf. »Tut mir leid. Ich habe nicht zugehört.« »Es ist reichlich seltsam, daß dieses Mädchen –« Er unterbrach sich, als die Tür aufging. »Würden Sie bitte mitkommen?« fragte das Mädchen. Es lächelte Carlsen kokett an. Als es vor ihnen die Stufen hinaufging, betrachtete er anerkennend die schlanken Beine unter dem kurzen Rock. Es führte sie in das Büro neben dem Kabinettssitzungszimmer. Jamieson saß am Schreibtisch, und ein bebrillter Mann Mitte sechzig wühlte in einem Briefesortierkorb. »Das wäre im Moment alles, Morton«, sagte Jamieson. »Denken Sie daran, den Privatsekretär des Zaren anzurufen.« Er sah Heseltine über den Brillenrand hinweg an und lächelte. »Ah, die Wanderer kehren zurück? Nehmen Sie Platz, meine Herren.« Drei Sessel waren gegenüber dem Schreibtisch aufgestellt worden. »Zigarre? Werfen Sie den Papierkram ruhig auf den Fußboden – da gehört er sowieso nicht hin.« Er schob die Zigarrenkiste über den Schreibtisch. »Also, ich muß sagen, ich bin froh, Sie zu sehen. Ich fing schon an, mir Sorgen zu machen. Haben Sie mir etwas Interessantes zu berichten?« »Commander Carlsen und ich flogen nach Schweden, um einen Vampirismusexperten zu konsultieren«, sagte Fallada. »Tatsächlich? Sehr – äh – interessant.« Jamiesons
Lächeln drückte eine Mischung aus Höflichkeit, Belustigung und Langeweile aus. Er sah Heseltine an. »Noch etwas?« Heseltine warf Carlsen einen Blick zu. »Ja, Sir. Ich schätze mich glücklich, Ihnen berichten zu können, daß wir eines der Fremden habhaft geworden sind.« »Mein Gott, reden Sie im Ernst?« Sein Erstaunen wirkte so aufrichtig, daß Carlsen momentan Zweifel kamen. Er griff in die Tasche und holte die Kassette hervor. »Darf ich?« fragte er. Er beugte sich vor und drückte auf den Auswurfknopf des Schreibtischrecorders. Er schob die Kassette in den Schlitz und drückte die Wiedergabetaste. Die eintönige Stimme des Fremden erklang: »Unser Planet ist eine Wasserwelt. Und wie Sie bereits vermutet haben, hat unsere Rasse die Gestalt jener Wesen, die Sie Tintenfische nennen. Aber im Unterschied zu Ihren Mollusken, die nur eine sehr geringe Hirnmasse haben, besitzen die Nioth-Khorgai ein hochentwickeltes Gehirn- und Nervensystem –« Sie beobachteten aufmerksam Jamiesons Gesicht. Er hörte mit völliger Konzentration zu. Er hatte das Kinn in die rechte Hand gestützt und kratzte sich mit dem Zeigefinger. Nach fünf Minuten stellte er das Gerät ab. »Das ist gewiß höchst bemerkenswert. Wie haben Sie diesen – äh – Vampir ausfindig gemacht?«
»Der schwedische Experte zeigte uns die Methode. Wir versprachen, sie geheimzuhalten.« »Ich verstehe. Und was ist mit den beiden anderen Fremden?« »Die Spur des einen führt nach New York. Der andere hält sich hier in London auf.« »Und was schlagen Sie vor, wie man sie ausfindig machen sollte?« »Der erste Schritt«, sagte Carlsen, »ist, diese Bandaufnahme in den Massenmedien zu verbreiten. Ich habe bereits ein Fernsehinterview für heute abend um zehn arrangiert.« »Was!« Er zog überrascht die buschigen Augenbrauen hoch. »Aber damit würden Sie unsere Vereinbarung verletzen.« »Als wir diese Vereinbarung trafen«, sagte Carlsen, »dachten Sie, daß die Fremden tot wären. Dies ändert alles.« Jamieson schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Es tut mir leid, meine Herren, aber ich muß Ihnen ein solches Vorgehen energisch untersagen.« Carlsen erwiderte gelassen: »Das können Sie gar nicht. Sie sind nur der Premierminister dieses Landes – nicht sein Diktator.« Jamieson seufzte. »Commander, Sie vergeuden meine Zeit.« Er drückte auf eine rote Taste des Recorders. »Ich habe die Aufnahme jetzt gelöscht.«
»Das macht nichts«, sagte Carlsen. »Wir haben Kopien hergestellt, bevor wir hierher kamen.« »Ich verlange diese Kopien.« »Eine ist bereits unterwegs zum Fernsehstudio«, sagte Carlsen. »Dann müssen Sie sie zurückbeordern.« Carlsen sah ihn wortlos an. Er bemerkte einen Funken Unsicherheit in den Augen, die ihn mit ihrem drohenden Blick aus der Fassung zu bringen versuchten. Jamieson sagte im Gesprächston: »Entweder sind Sie sehr tapfer, oder sehr töricht. Vielleicht auch beides.« Während er sprach, veränderte sich sein Gesicht. Es war keine augenfällig Veränderung. Der Gesichtsausdruck blieb leidenschaftslos, aber eine andere Person sah jetzt durch seine Augen. Der Blick wurde plötzlich hart und distanziert. Alle drei spürten die drohende Gefahr. Es war, als säßen sie vor einem Despoten mit unumschränkter Macht. Als Jamieson sprach, hatte sich auch seine Stimme verändert. Der energische, anmaßende Tonfall war verschwunden, dafür klang die Stimme jetzt unpersönlich, fast metallisch. Es war etwas an ihr, das Carlsen frösteln ließ. »Dr. Fallada, ich wünsche, daß Sie in Ihrem Labor anrufen und Ihren Assistenten anweisen, Dr. Armstrong hierher zu bringen.« Fallada sagte wie betäubt: »Sie wußten es die ganze Zeit.«
Jamieson ignorierte ihn. Er drückte einen Knopf auf dem Schreibtisch. Das walisische Mädchen kam herein. »Vraal, ruf Dr. Falladas Büro über die Privatleitung an. Er möchte seinen Assistenten Grey sprechen.« Fallada stand langsam auf. Ein überraschter Ausdruck kam auf sein Gesicht, und er fiel in den Sessel zurück. Carlsen spürte eine plötzliche Schwäche in den Muskeln, als hätte ihm jemand ein Betäubungsmittel injiziert. Er versuchte mit aller Macht, sich aus dem Sessel zu erheben. Es war umsonst; der Sessel schien ihn wie ein Magnet festzuhalten. Als er die Augen schloß, hatte er das Gefühl, seine Glieder hätten sich in etwas Massives und sehr Schweres verwandelt. Das Mädchen drückte eine Taste auf der Schalttafel des Schreibtischs und wählte eine Nummer. Als sich eine Frauenstimme meldete, sagte es: »Ein Gespräch für Mr. Grey von Dr. Fallada.« Carlsen bemerkte, daß das Mädchen mit derselben mechanischen Stimme wie Jamieson sprach. Jamieson und das Mädchen hatten den Blick auf Fallada gerichtet. Er zuckte zusammen, und sein Gesicht verzerrte sich für einen Moment. Dann erstarrte er. Als die Blicke der beiden weiterhin auf ihn gerichtet blieben, erhob er sich mit steifen Bewegungen und durchquerte das Zimmer. »Tun Sie es nicht, Hans«,
sagte Heseltine. Fallada ignorierte ihn und ging an den Teleschirm. »Hallo, Norman.« Seine Stimme war heiser. »Ich möchte, daß Sie Armstrong zur Downing Street Nummer zehn bringen. Könnten Sie es sofort erledigen?« »Ja, Sir. Was ist mit dem Betäubungsmittel? Soll ich ihm noch eine Dosis geben?« »Nein. Bringen Sie ihn so, wie er ist. Ich möchte, daß die Wirkung abklingt.« »Geht es Ihnen gut, Sir?« fragte Grey besorgt. Fallada lächelte. »Ja, durchaus. Ich bin etwas müde, das ist alles. Nehmen Sie den Grashüpfer des Instituts.« »Wie Sie wünschen, Sir.« Das Mädchen drückte den Aus-Schalter. Fallada wankte und mußte sich an der Schreibtischkante festhalten. Sein Gesicht war mit einem Mal alt geworden. Heseltine drehte sich mit einer schmerzhaften Anstrengung Carlsen zu. »Was machen sie mit uns?« Seine Stimme klang erstickt. »Sie wenden Willensdruck an. Keine Sorge. Sie können ihn nicht lange aufrechterhalten. Es kostet Kraft«, antwortete Carlsen. Jamieson sagte mit seiner ausdruckslosen Stimme: »Ich denke, wir können ihn so lange aufrechterhalten, wie es nötig ist.«
Fallada ließ sich wieder in den Sessel fallen; sein Gesicht war schweißüberströmt. Carlsen bedauerte zutiefst, ihn dieser höchst erniedrigenden Situation ausgesetzt zu haben, bei der sein Körper und seine Stimme ohnmächtig den Befehlen eines fremden Willens gehorcht hatten. »Nicht einschlafen, Hans«, sagte er. »Solange Sie sich wehren, können sie Ihren Widerstand nicht brechen. Der andre hat es letzte Nacht bei mir versucht und es nicht geschafft.« Jamieson musterte ihn neugierig. »Mit Ihnen müssen wir uns noch ausgiebig befassen, Carlsen. Es ist mir ein Rätsel, woher Sie von Willensdruck wußten.« Er sah Fallada und Heseltine an. »Aber geben Sie sich keinen falschen Hoffnungen hin. Er hat Zeit gehabt, einen gewissen Widerstand aufzubauen. Sie nicht. Außerdem, das können Sie mir glauben, bleibt Ihnen überhaupt keine Wahl. Wir machen Ihnen ein einfaches Angebot.« Er hielt inne. Heseltine sagte: »Fahren Sie fort.« Die Stimme sagte: »Wir brauchen Ihre Kooperation, und wir können sie auf zweierlei Weise erhalten. Wir könnten Sie töten und Ihre Körper übernehmen. Oder Sie erklären sich bereit zu tun, was wir verlangen.« »Er meint, Sie sollen ihnen Ihre Körper freiwillig überlassen«, sagte Carlsen. »Falls Sie das unangenehm finden sollten, lassen Sie mich Ihnen einen Vorgeschmack geben«, sagte
Jamieson. Er wandte sich an das Mädchen. »Zeig es dem Commissioner, Vraal.« Sie trat hinter Heseltines Sessel, legte ihm die Hand auf die Stirn und drückte seinen Kopf nach hinten. Die andere Hand legte sie ihm auf die Kehle. Carlsen beobachtete Heseltines Gesicht und bemerkte seinen vorübergehenden Widerstand. Er ließ rasch nach. Da war noch ein kurzes Aufbäumen, dann brach er vollständig zusammen. Heseltines Augen fielen zu, und er begann tief zu atmen. Es kam wieder Farbe in seine Wangen. »Das reicht, Vraal«, sagte Jamieson. Sie nahm widerwillig die Hände fort, ließ eine jedoch noch auf Heseltines Schulter ruhen. »Ich sagte, das reicht«, sagte Jamieson scharf. Sie ließ Heseltine los. Er machte träge die Augen auf und blickte Carlsen an. Anscheinend sah er ihn gar nicht. Das Mädchen wandte sich Carlsen zu; ihre Lippen waren feucht. »Nein«, sagte Jamieson. »Das ist überflüssig. Commander Carlsen hat es bereits erlebt.« Ein Luftzug bewegte die Vorhänge am Fenster. Jamieson saß in seinem Sessel und starrte sie an. Das Gesicht wirkte wie aus Stein gemeißelt. Im Büro herrschte eine träumerische Ruhe. Der Verkehrslärm in Whitehall schien aus weiter Ferne zu kommen. Carlsen sammelte all seine Kräfte, um gegen die Schläfrigkeit anzukämpfen. Er bemerkte, daß Heseltine und Fallada kurz vor dem Einschlafen waren. Er
hatte kein Gefühl der Panik, sondern spürte nur die wohlige sexuelle Mattigkeit. Zeit schien unwichtig zu sein. Erinnerungen kamen ihm in den Sinn: Geschichten, die er als Kind gelesen hatte; die Mohnblumenfelder aus Der Zauberer von Oz, das Knusperhäuschen aus Hänsel und Gretel. Er war vollkommen entspannt und hatte das Gefühl, daß alles bestens war. Er versuchte sich vor Augen zu halten, daß sie in Gefahr waren, aber es war umsonst; seine Gefühle reagierten nicht darauf. Ein goldener Nebel der Glückseligkeit trieb durch sein Bewußtsein und verwischte seine Gedanken. Die Türglocke läutete, und Carlsen erkannte, daß er eingeschlafen war. »Das dürfte unser Kollege sein«, sagte Jamieson. Er ging hinaus. Einige Minuten später kam er zurück. Carlsen brachte den Willen auf, sich im Sessel zu drehen. Er erblickte Armstrong, der grau und krank aussah. Sein Gang war langsam und unbeholfen. Jamieson führte ihn zum Sessel hinterm Schreibtisch. Armstrong sah Carlsen, Fallada und Heseltine teilnahmslos an. Sein Atem ging rasselnd, und die Augen waren blutunterlaufen. »Schau mich an«, sagte Jamieson. Armstrong sah unwillig zu ihm auf. Jamieson zerrte ihn an den Haaren, so daß er aufstöhnte, riß ihm dann den Kopf zurück und starrte ihm in die Augen. Armstrong räusperte sich und stöhnte. Für einen Moment waren bei-
de wie erstarrt. Dann veränderte sich Armstrongs Gesicht. Die schlaffe Haut schien sich zu straffen, und der Mund nahm einen entschlossenen Ausdruck an. Als er die Augen aufschlug, war sein Blick klar und stechend. Er schüttelte Jamiesons Hand ab. »Es geht wieder. Danke. Sie gaben mir drei Spritzen mit dem verdammten Zeug.« Er sah Carlsen mit kalter Wut an, und der Druck seiner Willenskraft traf Carlsen wie eine Ohrfeige. »Wenn er getötet werden muß, tue ich es«, sagte Armstrong. »Er ist bereits mir versprochen«, sagte das Mädchen. »Er hat die Wahl«, sagte Jamieson. Er wandte sich Carlsen zu. »Was würden Sie vorziehen? Von ihr besessen zu werden? Oder sich von ihm umbringen zu lassen? Entscheiden Sie sich schnell.« Carlsen versuchte erneut, sich zu bewegen, aber ihre drei Willen hielten ihn wie festgenagelt im Sessel nieder. Er fühlte sich völlig hilflos, als wäre er ein kleines Kind in den Händen von Erwachsenen. Es kostete ihn große Mühe, zu sprechen. »Es wäre töricht von Ihnen, mich umzubringen. Sie könnten sich zwar meinen Körper zunutze machen, aber Sie könnten niemanden, der mich kennt, damit täuschen.« »Das wir gar nicht nötig sein. Wir verlangen von Ihnen nur, daß Sie das Fernsehinterview heute abend
geben. Sie werden sich dabei dafür aussprechen, daß man die Stranger sofort zur Erde bringen sollte. Sie werden sagen, es sei töricht zu warten, weil uns andere Länder zuvorkommen könnten. Anschließend werde ich bekanntgeben, daß man Sie zum Leiter einer Expedition ernannt hat, deren Aufgabe es ist, die Stranger zur Erde zu bringen. Morgen früh werden Sie dann zur Mondbasis aufbrechen. Mehr wird nicht von Ihnen verlangt.« Carlsen starrte ihn an und versuchte die Müdigkeit und das sich verstärkende Gefühl der Niederlage abzuschütteln. Die Stimme sagte: »Treffen Sie Ihre Wahl.« »Soll ich ihm ein bißchen zureden?« fragte das Mädchen. Ohne auf Antwort zu warten, setzte sie sich auf Carlsens Knie und drückte ihm den Kopf nach hinten. Sie tat es mit raschen, sachlichen Bewegungen, so wie eine Krankenschwester, die einen Patienten für eine Operation vorbereitet. Als er ihre kühlen Hände auf seiner Haut spürte, war ihm klar, daß sie ihm Energie entzog. Sie drückte sich eng an ihn, um den Kontakt zu intensivieren. Er fühlte, daß sie unter dem braunen Rock fast nackt war. Paradoxerweise spürte er trotz seiner Erschöpfung ein sexuelles Verlangen in sich aufsteigen. Sie hielt seinen Kopf mit beiden Händen, beugte sich vor und küßte ihn. Wieder empfand er das trunkene Wohlgefühl, den Wunsch, sich ihr auszuliefern und sie Besitz von
seinem Willen ergreifen zu lassen. Als sie spürte, daß er seinen Widerstand aufgab, schlang sie ihm die bloßen Arme um den Hals und drückte die feuchten Lippen fordernd gegen seinen Mund. Er spürte, wie die Lebenskraft aus ihm wich, wie sie wie Blut aus einer verletzten Schlagader in ihren Körper strömte. Mit einer letzten, verzweifelten Anstrengung versuchte er sich zu wehren, aber die vereinte Kraft ihrer drei Willen band ihn mit unwiderstehlicher Gewalt an den Sessel. Dann, als er den Widerstand aufgab, löste sich das Gefühl der Hilflosigkeit auf, und an seine Stelle trat ein glühendes Verlangen. Es schien eine Reaktion auf die Bewegungen ihrer Hüften zu sein, die in einer Simulation des Geschlechtsakts rhythmisch gegen ihn stießen. Er fühlte die Wärme ihrer Brüste, die sich gegen seinen Körper preßten, und verspürte den Wunsch, ihre Schultern zu packen und ihr die Kleidung vom Leib zu reißen. Das Verlangen wurde immer heftiger, und er spürte ihre Überraschung darüber, daß er sich nicht mehr passiv verhielt. In diesem Moment erkannte er, daß er ihr seinen Willen aufzwingen, sie enger an sich drücken und ihren Mund gewaltsam gegen seine Lippen pressen konnte. Die Kraft dazu kam aus einer Quelle im Zentrum seines Gehirns. Ohne die geringste Muskelbewegung auszuführen, hielt er sie fest, auf eine Weise, wie ein Vogel einen Wurm im Schnabel festhalten
mochte. Jetzt war es umgekehrt. Er saugte ihre Lebenskraft, und sein ganzer Körper glühte vor Verlangen nach ihrer Energie. Er hörte Armstrongs Stimme: »Was machst du, Vraal? Bring ihn nicht um.« Er verstärkte seinen mentalen Griff und gab sich völlig der Lust hin, die Essenz ihres Wesens in sich aufzusaugen. Der intensive Kontakt ließ sein Fleisch erglühen. Er sah, daß Jamieson sie an den Schultern packte. Er ließ sie los, als sie von ihm weggerissen wurde. Jamieson zerrte sie mit solcher Gewalt fort, daß sie gegen den Schreibtisch stieß und zu Boden fiel. Jamieson setzte zum Sprechen an, dann sah er den geschwollenen Mund und ihren erschreckten, erschöpften Gesichtsausdruck. Er reagierte augenblicklich. Er wirbelte herum zu Carlsen, und die Gewalt seines Willens hätte Carlsen wie ein Blitzschlag treffen, seinen Widerstand ein für allemal brechen müssen. Aber Carlsens Reaktion war noch schneller; er parierte den Schlag, lenkte ihn wie ein Boxer einen Faustschlag von sich ab. Dann, bevor Jamieson sich erholen konnte, schlug er mit der Wucht seines eigenen Willens zu, traf Jamieson seitlich in die Rippen und schleuderte ihn gegen die Wand. Eine Bewegung zu seiner Linken machte ihn auf Armstrong aufmerksam. Bevor er einen Abwehrschirm errichten konnte, traf ihn Arm-
strongs Willenskraft wie ein ungeschickt ausgeführter Hammerschlag seitlich am Kopf. Der Schmerz machte ihn so gereizt, daß er mit mehr Kraft zurückschlug, als er vorgehabt hatte. Sein Zorn traf Armstrong wie der Prankenschlag eines Bären an der Schulter und brach das Schlüsselbein. Armstrong wurde quer durch das Zimmer geschleudert und krachte mit dem Kopf gegen die Wand. Er drehte sich halb und sackte mit leerem Blick auf die Knie. Jamieson hatte sich wieder aufgerichtet. Er stützte sich auf die Schreibtischplatte, als er Carlsen anstarrte. Das linke Auge war halb zugeschwollen, und Blut lief über die Wange. Doch es war ein Maß für die Macht, über die dieses Wesen verfügte, daß er keine Angst oder das Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben, erkennen ließ. Er fragte mit ruhiger Stimme: »Wer, zum Henker, sind Sie?« Als Carlsen zu einer Antwort ansetzte, erkannte er plötzlich, daß es nicht nötig war. Eine Stimme sprach durch seinen Mund in einer fremden Sprache, die er jedoch verstehen konnte. Sie sagte: »Ich komme von Karthis.« Er bemerkte, daß es die Sprache der Nioth-Khorgai war. Jamieson griff in die Tasche, holte ein schneeweißes Taschentuch hervor und wischte sich das Blut vom Gesicht. Er fragte in ruhigem, gelassenem Tonfall:
»Was wollen Sie von uns?« »Ich denke, Sie wissen es.« Während er sprach, bemerkte er, daß der Vampir, der das Mädchen besessen hatte, sich nun von seinem Körper löste. Obgleich Carlsen in die entgegengesetzte Richtung schaute, sagte ihm ein zusätzlicher Sinn, daß er sich auf das Fenster zubewegte. »Du kannst nicht entkommen, Vraal«, sagte er. »Es hat uns über tausend Jahre gekostet, dich zu finden. Wir werden nicht zulassen, daß du wieder entkommst.« Er griff den Vampir und schleuderte ihn ins Zimmer zurück. Heseltine und Fallada starrten verblüfft auf die transparente violette Gestalt, die sich jetzt sichtbar gegen den Hintergrund der Wand abzeichnete. Sie schimmerte im Licht, und ihre internen Energieströme riefen eine fortwährende Bewegung hervor, so daß sie einem Rauchwirbel ähnelte. Carlsen wandte sich an Fallada. »Ich bitte um Verzeihung, daß ich in einer für Sie unverständlichen Sprache gesprochen habe. In unserer natürlichen Gestalt verständigen wir uns ausschließlich durch Gedankenübertragung, aber wir können auch noch die uralte Sprache der NiothKhorgai verwenden.« »Ich verstehe nicht«, sagte Fallada. »Sind Sie –« »Ich bin ein Bewohner der Welt Karthis. Das ist ein Planet jener Sonne, die Sie Rigel nennen. Ich benutze
den Körper Ihres Freundes Carlsen, der das Geschehen bei vollem Bewußtsein miterlebt. Ich leihe ihn mir sozusagen aus.« Er betrachtete Armstrong, der seinen Körper gerade in eine sitzende Position wuchtete, dann Jamieson. »Kommt. Es ist an der Zeit, daß wir gehen.« Fallada und Heseltine beobachteten erstaunt, wie ein purpurroter Dunstschleier langsam aus Carlsens Körper hervorquoll. Er strahlte eine größere Helligkeit aus als der des anderen Fremden, und er schien voller kleiner, funkenartiger Lichtpunkte zu sein. Carlsen spürte ein plötzliches Schwächegefühl, wie von Blutverlust. »Warten Sie bitte«, sagte er. Das purpurrote Licht schwebte in der Mitte des Zimmers; seine Helligkeit schmerzte die Augen. Nun lösten sich auch flackernde Lichtformen aus den Körpern von Armstrong und Jamieson. In dem helleren Lichtschein des Wesens, das sie gefangen hatte, waren sie kaum zu erkennen. Armstrong fiel mit offenem Mund auf die Seite. Jamieson taumelte in den Sessel hinter dem Schreibtisch und starrte verständnislos auf das Mädchen, als sähe er es zum erstenmal. Als er die schimmernden purpurroten Gestalten, die sich jetzt wie heiße flimmernde Luft gegen den Hintergrund der Wand abzeichneten, betrachtete, spürte Carlsen ein Aufwallen von Emotionen, das intensiver war als alles, was er jemals erlebt hatte. Er
fühlte sich von einer Ehrfurcht überwältigt, die seine Existenz als nichtig erscheinen ließ, und zugleich empfand er tiefes Mitleid. Zum erstenmal verstand er das volle Ausmaß des Elends und der Verzweiflung, das diese Wesen dazu getrieben hatte, die Galaxis nach Lebensenergie zu durchforschen. Jetzt konnte er die Einsamkeit nachvollziehen, die sie empfunden haben mußten, als sie sich der drohenden Vernichtung gegenüber gesehen hatten. Im Spiegel dieser Realität kam ihm sein eigenes Leben plötzlich unwichtig vor. Es schien, als habe er es seit seiner Geburt in einem einzigen schalen Tagtraum durchlebt. Die Erkenntnis verlieh ihm den Mut des Zorns. Er stand auf und ging auf das Licht zu. »Töte sie nicht!« rief er. »Laß sie gehen.« Seine Mühe schien absurd zu sein, ebensogut hätte er versuchen können, sich mit einem Berg zu unterhalten. Doch einen Augenblick später vernahm er deutlich eine Stimme, die fragte: »Ist dir klar, was du da forderst?« Sie sprach nicht mit Worten, sondern benutzte Gedankenassoziationen. »Was haben sie denn Schlimmes getan?« fragte er. »Sie wollten nur leben. Warum sie deswegen bestrafen?« Während er sprach, tat er noch einen Schritt vorwärts und drang in die Ausläufer der Lichtgestalt ein. Plötzlich spürte er wieder den intensiven Kraftfluß und die Fähigkeit in sich, die Gedanken der an-
deren zu lesen. Diesmal sprach die Stimme aus seinem Mund. »Es geht nicht um Bestrafung. Aber weil der Gerechtigkeit Genüge getan werden muß, sollen Sie die Richter sein.« Das Wesen benutzte Carlsens Körper, um das Mädchen hochzuheben und es sachte auf den Stuhl hinter dem Schreibtisch zu setzen. Es öffnete die Augen und starrte Carlsen erstaunt an. Er beugte sich über Armstrong und ergriff dessen Schultern. Die Heilkraft strömte aus seinen Fingern und veranlaßt den gebrochenen Knochen, wieder zusammenzuwachsen. Er ging zu Jamieson hinüber, der zurückschreckte, als er nach ihm griff. Seine Hand berührte die geschwollene und verfärbte Haut des Wangenknochens. In Sekundenschnelle verschwand der Bluterguß, und die Schwellung ging zurück. Der Fremde setzte sich in Carlsens Sessel und betrachtete sie der Reihe nach. »Sind Sie bereit, ein Urteil über diese Wesen zu fällen, die versucht haben, Sie zu vernichten?« Es gab eine Pause, und Carlsen konnte die Gedanken und Gefühle aller im Zimmer befindlichen Personen lesen. In Armstrong und Jamieson verwandelten sich Schuld- und Angstgefühle in Haß; sie hatten das instinktive Verlangen, sich den Jägern anzuschließen. Das Mädchen war verwirrt und nicht bei
der Sache. Nur Fallada und Heseltine versuchten, objektiv zu sein. »Wie können wir denn richten?« fragte Fallada. »Hören Sie zu und entscheiden Sie sich.« Die Stimme klang sanft und geduldig. »Seit über zweihundert Jahren halte ich mich auf der Erde auf und warte auf die Rückkehr der Ubbo-Sathla. Und seit über tausend Jahren sucht unser Volk die Galaxien nach ihnen ab. Unsere Aufgabe war schwieriger als die Suche nach einem einzelnen Sandkorn im Sand aller Wüsten der Welt.« Die Worte waren weniger wichtig als die Bilder, die sie begleiteten. Der Fremde projizierte seine Gedanken und Gefühle in ihr Bewußtsein und vermittelte ihnen so eine Vorstellung von der Unendlichkeit des Alls mit seinen zahllosen Welten. »Vor rund zweitausend Jahren entdeckte eines unserer Forschungsteams die Überreste des Planeten B76 im System der Wega. Er war explodiert. Wir wußten, daß eine hochentwickelte Rasse namens Yeracsin auf ihm gelebt hatte – in Ihren Augen hätten sie wie Lichtkugeln ausgesehen. Diese Wesen waren ein harmloses und friedliches Volk. Deshalb begannen wir uns nach der Ursache zu fragen, die für die Vernichtung ihrer Welt verantwortlich gewesen war. Zuerst nahmen wir an, es könnte eine Naturkatastrophe gewesen sein. Als wir dann die Bruchstücke un-
tersuchten, entdeckten wir Hinweise auf eine atomare Explosion. Uns kam langsam der Verdacht, daß der Planet vernichtet worden war, um ein entsetzliches Verbrechen zu verschleiern. Weitere Untersuchungen brachten uns zu der Überzeugung, daß der Planet Schauplatz eines Massenmordes gewesen war – der Vernichtung einer ganzen Art.« Er musterte die flimmernden Gestalten vor der Wand mit kaltem Blick. Carlsen hatte den Eindruck, daß sie erblaßten. »Dann begann die Jagd. Wir suchten alle näheren Planetensysteme nach Spuren ab, die uns vielleicht einen Hinweis auf die Identität der Mörder geben konnten. Wir fanden diesen Hinweis in Ihrem Sonnensystem, wo ein weiterer Planet in Fragmente explodiert war.« »Die Asteroiden?« fragte Fallada erstaunt. »In unserer Sprache hieß er Yllednis, der blaue Planet. Als wir Ihr Sonnensystem zuletzt besucht hatten, war Yllednis die Heimat einer großen uralten Zivilisation von Geschöpfen gewesen, die uns sehr ähnlich waren – eine Rasse intelligenter Mollusken. Auch der Mars war damals bewohnt gewesen, von einer Rasse humanoider Riesen, die gerade die Kunst des Städtebaus lernte. Der Mars war zu einer wasserlosen Wüste geworden, und Yllednis war in Tausende von Felsbrocken explodiert. Doch die Erde mit ihrer damaligen hochentwickelten Zivilisation im Mittel-
meerraum war verschont geblieben. Wie das, außer die Verbrecher betrachteten die Erde als eine Art Stützpunkt? Zu diesem Zeitpunkt kam uns erstmals der Gedanke, daß es sich bei ihnen um die Verlorenen handeln könnte – das ist der Name, den wir jenen Wissenschaftlern gaben, die vor fünfzigtausend Jahren auf ihrer Rückreise zu unserem Sternhaufen spurlos verschwanden. Das schien zunächst unmöglich zu sein, denn die Nioth-Khorgai sind ebenso wie die menschliche Rasse physisch sterblich. Aber als wir die Erde aufsuchten und die Rassenerinnerungen der Menschen studierten, konnte kein Zweifel mehr bestehen. Die Verbrecher waren Wesen wie wir, Angehörige der Niothrasse, deren natürlicher Impuls, schwächere Rassen zu beschützen, zu einer Form von Sadismus pervertiert war –« Carlsen spürte die unverhohlene Verachtung, die in den flimmernden Gestalten an der Wand bei diesen Worten aufflammte. Der Fremde fuhr unbeirrt fort: »Ihre Überlieferungen von Geistern und Dämonen stecken voller Erinnerungen an die Ubbo-Sathla, die Weltraumvampire. Und da sie ihren Planeten verschont hatten, war klar, daß sie beabsichtigten, eines Tages hierher zurückzukehren. Selbstverständlich setzten wir die Suche in den anderen Galaxien in der Hoffnung fort, weitere Verbrechen verhindern zu können, aber allein Ihre Galaxis besteht aus über hunderttausend Millionen
Sternen. Und so blieben unsere Bemühungen erfolglos – bis jetzt.« Die Stimme brach ab. Carlsen spürte wieder die Wellen des Zorns und der Enttäuschung, die von den Fremden ausgingen. Das Schweigen zog sich in die Länge. »Nun?« fragte die Stimme. »Gibt es immer noch jemanden unter Ihnen, der der Meinung ist, man sollte sie freilassen?« Sein Blick richtete sich auf Jamieson. Jamieson errötete und räusperte sich. »Selbstverständlich nicht. Das wäre eine kriminelle Dummheit.« »Ich habe eine Frage«, sagte Fallada. Er war nervös und blickte zu Boden. »Sie sagten, ihr Impuls zu helfen wäre zu einer Form von Sadismus pervertiert. Aber könnte man das nicht rückgängig machen?« »Reden Sie keinen Unsinn, Mann«, sagte Jamieson ärgerlich. Fallada fuhr unbeirrt fort: »Ich will wissen, ob diese Kreaturen durch und durch kriminell sind.« Er musterte Jamieson mit gerunzelter Stirn. »Etwas Gutes haben die meisten Menschen in sich.« »Diese Frage können nur sie beantworten«, sagte der Fremde. Er sah zu den Vampiren hinüber. »Nun?« »Können sie denn sprechen?« fragte Fallada. »Nicht ohne Zuhilfenahme eines Körpers. Ihnen stehen sechs zur Auswahl.«
Carlsen fühlte sich auf einmal krank und schwach. Es dauerte einen Augenblick, bis er bemerkte, daß der Fremde ihn verlassen hatte und nun über seinem Kopf schwebte. Sein Magen zog sich zusammen, als er sah, daß eine der flimmernden Gestalten auf ihn zuschwebte. Dann spürte er einen beruhigenden äußeren Einfluß. Er entspannte sich und ließ zu, daß die Lichtgestalt mit seinem Körper verschmolz. Für einen Moment war ihm übel, so als hätte man ihm gewaltsam eine widerwärtige Arznei eingeflößt. Das Gefühl verflog, statt dessen spürte er ein überschwengliches Frohlocken. Eine rauhe Vitalität durchströmte ihn und spannte all seine Muskeln an. Es war der Fremde, der Jamieson besessen hatte: der Anführer. Die Stimme, die durch seinen Mund sprach, hatte einen schroffen, emotionsgeladenen Ton. »Ich werde sprechen, obwohl ich weiß, daß es aussichtslos ist. Niemandem hier geht es um Gerechtigkeit. Aber ich möchte auf eine einfache Tatsache hinweisen. Die Nioth-Khorgai sind ebenso wie die menschliche Rasse sterblich. Wir vom Ubbo-Sathla dagegen haben eine Form der Unsterblichkeit erlangt. Ist es etwa nichts, das Geheimnis des ewigen Lebens ergründet zu haben? Sie werden sagen, daß wir sie nur erlangt haben, indem wir Leben vernichteten. Aber ist das nicht ein Naturgesetz? Alle Lebewesen sind Mörder. Menschen töten Tiere bedenkenlos ihres
Fleisches wegen. Sie essen sogar das Fleisch neugeborener Lämmer. Und Kühe und Schafe fressen Gras, das gleichfalls lebt. Dr. Fallada hat sich mit Vampirismus befaßt. Er kann Ihnen bestätigen, daß er ein grundlegender Bestandteil der Natur ist. Wenn dem so ist, wessen haben wir uns dann schuldig gemacht?« »Leugnen Sie, daß es Ihnen Freude bereitet, Leben zu vernichten?« fragte Fallada. »Nein.« Die Stimme klang ruhig und gefaßt. »Aber weil wir nun einmal töten müssen, um zu überleben, gibt es dann irgendeinen Grund, warum wir keinen Gefallen daran finden sollten?« Carlsen achtete weniger auf die Worte, die gesagt wurden, als auf die ihnen zugrundeliegende Überzeugung. Der Kraft dieser Überzeugung brannte wie elektrischer Strom in seinem Bewußtsein und offenbarte ein schonungsloses Bild. Die Menschen waren unbedeutend. Ihre hervorstechenden Eigenschaften waren Egoismus, Dummheit, Faulheit, Unehrlichkeit. Sie waren eine Rasse geistig Minderbemittelter, die den Affen nur wenig voraus hatte. Wenn es ein Naturgesetz war, daß die Schwachen untergingen und die Starken überlebten, dann verdiente es die menschliche Rasse, vernichtet zu werden. Dem Kern ihres Wesens nach waren sie die Opfer. Heseltine räusperte sich. »Aber – Grausamkeit ent-
steht doch aus Schwäche, nicht aus Stärke.« Er sprach zögernd, ohne innere Überzeugung. Der Vampir sagte: »Niemand, der nicht die Erfahrung totaler Hoffnungslosigkeit gemacht hat, hat das Recht, von Schwäche oder Stärke zu reden. Können Sie ermessen, was es bedeutet, tausend Jahre lang gegen den drohenden Untergang anzukämpfen? Nachdem wir dies durchgemacht hatten, sahen wir keinen Grund, uns mit dem Tod abzufinden, solange es die Möglichkeit gab, weiterzuleben. Verurteilen Sie uns deswegen?« Er richtete sich an Heseltine und Fallada, aber es war Jamieson, der ihm antwortete. »Sie verurteilen sich selbst«, sagte er. »Sie haben eben gesagt, daß Morden ein Naturgesetz ist. Und Sie hatten die Absicht, uns zu morden. Gibt es irgendeinen Grund, der uns davon abhalten sollte, Sie zu morden?« »Wenn Sie die Macht dazu hätten, würde ich nichts anderes von Ihnen erwarten.« Die Stimme war bar jeglichen Sarkasmus'. »Aber die Nioth-Khorgai glauben nicht, daß Morden ein Naturgesetz ist. Sie glauben an höhere Gesetze.« Er legte den Kopf in den Nacken, ohne die Lichtkugel jedoch direkt anzuschauen. »Deshalb möchte ich wissen, was Sie mit uns vorhaben.« Wieder sprach die Stimme direkt in ihr Bewußtsein.
»Das wird auf Karthis entschieden werden.« »Aber wir können nicht nach Karthis zurückkehren, wenn Sie uns nicht die Energie zur Umwandlung geben.« »Die wird euch gegeben werden.« »Wann?« »Wenn ihr es wollt, jetzt?« Carlsen erlebte das Aufwallen ungläubiger Vorfreude mit. Einen Augenblick später, als der Fremde seinen Körper verließ, hörte das Gefühl auf. Er versuchte die Lichtgestalt anzuschauen, aber sie blendete ihn. Aus dem Augenwinkel heraus sah er Heseltines schmerzverzerrtes Gesicht. Er hielt sich die Hände vors Gesicht, aber es half nichts. Das Licht schien in ihm selbst zu sein, und es erfüllte ihn mit Freude und Entsetzen zugleich. Er wußte, daß die Energie aus dem Wesen in der Mitte des Zimmers strömte, doch gleichzeitig spürte er, daß sie noch aus einer anderen Quelle im Universum floß. Es war eine Offenbarung ohnegleichen, die die normalen Schranken vor seinem Verstand beiseite fegte. Er erkannte plötzlich, daß alles menschliches Wissen aus zweiter Hand stammte, ein Machwerk war, dem der wirkliche Realitätsgehalt fehlte. Das Geschehen versetzte ihn nun in die Lage, die Wirklichkeit direkt anzuschauen, und was er sah, war unerträglich. Das Wissen, daß er nur Zuschauer war, daß dieser Kraftfluß für die Fremden
bestimmt war, milderte seine Angst. Er schlug die Augen auf und sah die Vampire an. Sie absorbierten die Energie, verschlangen sie begierig, aalten sich darin. Ihre Gestalten verdichteten sich langsam und nahmen eine intensivere Färbung an. Ihre Umrisse wurden schärfer, so daß sie jetzt materiellen Körpern glichen, in denen eine innere Kraft brodelte, die wie Rauch durcheinanderwirbelte. Der Absorptionsprozeß war jetzt zu Ende. Sie begannen, dem Wesen in der Mitte des Zimmers gleich, Energie auszustrahlen. Doch das hielt nur Sekunden an. Dann bildeten sich schwarze Flecken in den Lichtgestalten. Carlsen erkannte, was geschehen würde. Er wollte ihnen noch eine Warnung zurufen, aber es war bereits zu spät. Urplötzlich, als wären drei Glühbirnen genau gleichzeitig durchgebrannt, waren sie verschwunden. Im Zimmer wurde es dämmerig, und eine seltsame Stille trat ein. »Was ist geschehen?« Es war Falladas Stimme. Carlsen war erstaunt, daß er überhaupt sprechen konnte. Jamieson rief: »Warte. Geh noch nicht.« Carlsen schaute auf und sah, warum es dunkler wurde. Obwohl die Lichtkugel des Nioth-Khorgai an Ort und Stelle blieb, entstand der Eindruck, daß sie zurückwich und sich mit rasender Geschwindigkeit entfernte. Carlsen spürte ein stechendes Verlustgefühl. Es war die Wirklichkeit selbst, die dort verlorenging,
und er versuchte, sie mit seinen Gedanken zurückzuhalten. Dann begriff er, daß es unmöglich war. Die Aufgabe des Nioth-Khorgai auf der Erde war beendet. Er schrumpfte zu einem stecknadelkopfgroßen Lichtpunkt zusammen, schwebte noch einen Moment wie ein blasser Stern am Morgenhimmel in der Mitte des Zimmers und verschwand. Mit einem Mal wirkte das Zimmer kahl und trostlos, wie von einem trüben Zwielicht erfüllt. Die vertraute, traumähnliche Unwirklichkeit, die er stets für die Realität gehalten hatte, war zurückgekehrt. Jamieson stieß einen Seufzer der Erschöpfung aus und drückte auf einen Knopf auf dem Schreibtisch. Die Fenster öffneten sich automatisch. Verkehrslärm drang in das Zimmer und mit ihm die sommerlich warme Luft. Für mehrere Minuten herrschte tiefes Schweigen. Heseltine saß mit geschlossenen Augen in seinem Sessel. Fallada war das Kinn auf die Brust gesunken, doch seine Augen waren offen. Das Mädchen hatte sich in einen Lehnstuhl in der Ecke fallen lassen und atmete durch den offenen Mund. Carlsen schloß die Augen und gab seinen Widerstand gegen die aufkommende Müdigkeit auf. In diesem Moment spürte er eine plötzliche sexuelle Erregung und sah vorübergehend ein Bild nackter Schenkel vor seinem inneren Auge. Er schlug die Augen auf und bemerkte, daß Armstrong das Mädchen anstarrte. Aus dem Au-
genwinkel sah er, daß es mit leicht gespreizten Beinen dalag. Das Kleid war ihm hochgerutscht und entblößte den Slip. Carlsen machte die Augen wieder zu. Kein Zweifel, was er spürte, war Armstrongs Erregung. Er wandte seine Aufmerksamkeit dem Mädchen zu und erkannte, daß es schlief. Er sah seine wirren Traumbilder deutlich vor dem inneren Auge. Er wandte sich Jamieson zu und erkannte sofort, daß dieser weniger erschöpft war, als er vorgab. Jamieson besaß eine bemerkenswerte innere Ausdauer und den zähen Starrsinn eines Menschen, der die Macht liebt. Er betrachtete Carlsen und Fallada und überlegte, wie er sie dazu bewegen konnte, Stillschweigen zu bewahren. Der Summer des Teleschirms ließ sie alle aufschrecken. »Ja?« In Jamiesons Stimme schwang eine Spur unterdrückter Hysterie mit. »Der Arbeitsminister möchte Sie sprechen, Sir«, antwortete die Stimme des Sekretärs. »Um Himmels willen, auch das noch«, sagte Jamieson. Er fing sich wieder. »Wimmeln Sie ihn ab, Morton. Sagen Sie ihm, ich sei im Moment unabkömmlich.« »Wie Sie wünschen, Sir.« Jamieson beugte sich vor und blickte von einem zum anderen. Er räusperte sich. »Ich weiß nicht, wie es mit Ihnen steht. Aber ich brauche einen Drink.« Er sah aus und hörte sich an wie jemand, der sich gerade
übergeben hatte. Carlsen stellte interessiert ist, daß er schauspielerte. Es war Jamiesons gewohnheitsmäßige Taktik, seine wahren Gedanken zu verbergen. »Merriol, würden Sie so freundlich sein und den Whisky holen?« Carlsen spürte Armstrongs Enttäuschung, als das Mädchen sein Kleid zurechtschob und aufstand. Armstrong lachte nervös. »So dringend habe ich noch nie einen gebraucht.« Jamieson nickte beifällig. »Ihre Haltung war bewundernswert, mein Lieber.« »Danke sehr, Herr Premierminister«, sagte Armstrong bescheiden. Carlsens und Falladas Blicke trafen sich. Beide waren sich nur zu bewußt, was vor sich ging. Die Situation schrie förmlich nach einem Verhalten, das über den Rahmen der normalen Alltagsumgangsformen hinausging; Jamieson und Armstrong »normalisierten« sie. Das Mädchen stellte die Whiskykaraffe und ein Tablett mit Gläsern auf den Schreibtisch. Jamieson schenkte Whisky in sechs Gläser; daß seine zitternde Hand einiges verschüttete, schien ihm nichts auszumachen. Er trank das Glas in einem Zug aus, setzte es ab und atmete tief durch. Carlsen nahm ein Glas vom Tablett; Whisky tröpfelte auf sein Hosenbein. Der Drink schmeckte widerwärtig. Er hatte das Gefühl, Benzin zu trinken. Er erkannte, daß er den Sinn für
die tiefere Realität nicht völlig verloren hatte. Es war, als wäre er zu zwei Personen geworden; zu einer, die wie gewohnt die Umwelt durch seine Augen betrachtete, und zu einer anderen, die sie aus anderem, leicht verschobenen Blickwinkel sah. Und die Spannung zwischen beiden verlieh ihm die Kraft, gegen den Traum anzukämpfen. Jamieson trank seinen zweiten Drink langsamer. Er sagte: »Nun, meine Herren, wir haben alle eine Zerreißprobe durchgemacht. Gott sei Dank ist jetzt alles überstanden.« »Aber was geschah mit den Vampiren?« fragte Fallada. Carlsen spürte Jamiesons plötzliche Unruhe. »Sie sind fort«, sagte er. »Mehr braucht uns nicht zu interessieren.« Fallada fragte Carlsen: »Wissen Sie, was sich ereignet hat?« »Ich glaube, ja.« »Spielt das noch eine Rolle?« fragte Armstrong, Jamiesons Beispiel folgend. Fallada ignorierte ihn. »Warum verschwanden sie?« Carlsen überlegte. Er verstand, warum, aber es ließ sich schwer in Worte fassen. »Man könnte sagen, daß sie Selbstmord begingen. Sie hatten vergessen –« »Was hatten sie vergessen?« fragte Jamieson, des-
sen Neugier nun doch stärker war als die Furcht, die Kontrolle über die Situation verlieren zu können. »Daß wir alle die Energie aus derselben Quelle schöpfen. Es ist, als stehle man Äpfel aus der Speisekammer, obwohl einem der ganze Obstgarten zur Verfügung steht.« »Aber was geschah mit ihnen?« fragte Fallada. »Er gab ihnen soviel Energie, wie sie wollten – genug, um sie zu befähigen, zu ihrem Sternsystem zurückzukehren. Er sagte die Wahrheit, als er meinte, daß sie nicht bestraft werden würden. Ihr Gesetz kennt das Prinzip der Strafe nicht. Aber er warnte sie, daß sie gerichtet werden würden. Er versuchte ihnen einen Fingerzeig auf das zu geben, was sie erwartete. Als sie in den Besitz der Energie kamen, hörten sie auf, Vampire zu sein. Sie wurden zu dem, was sie ursprünglich waren – zu Göttern. Und in diesem Moment konnten sie selbst darüber richten, ob sie im Recht gewesen waren, als sie zu Vampiren wurden. Sie verurteilten sich selbst – zum Untergang.« »Sie meinen, sie hätten auch weiterleben und zu ihrem Heimatplanet zurückkehren können?« fragte Jamieson. »Ja. Die Entscheidung darüber lag voll und ganz bei ihnen.« »Sie müssen verrückt geworden sein –«, sagte Jamieson.
»Nein. Sie waren nur völlig ehrlich vor sich selbst. Sie waren unfähig, sich weiter einer Selbsttäuschung hinzugeben. Während ihrer Zeit als Vampire waren sie zu Meistern in der Kunst der Selbsttäuschung geworden. Dann sahen sie plötzlich der Wahrheit ins Angesicht und erkannten, was getan werden mußte. Selbsttäuschung ist, vorzugeben, daß Freiheit ein Gebot ist.« Er war sich bewußt, daß seine Worte eine tiefe Unsicherheit in Jamieson aufwühlten, einen Selbstzweifel, der zur Panik werden konnte. »Die christliche Religion«, wandte er ein, »lehrt, daß jede Sünde vergeben werden kann.« »Sie verstehen nicht. Natürlich hätten sie sich einreden können, daß sie im Grunde keine Schuld traf, oder daß sie ihre Untaten wiedergutmachen könnten, indem sie Gutes taten. Aber sie sahen einfach zu klar, um sich etwas vormachen zu können. Ihnen ging plötzlich auf, was sie angerichtet hatten.« »Also mußten sie sterben?« fragte Fallada. »Nein, sie mußten nicht. Es war ihre Entscheidung. Sie haben einmal den Körper eines Menschen, der von einem Vampir getötet worden ist, mit einem tausendfach durchlöcherten Reifen verglichen. Genau das waren sie. Und darum verschwanden sie.« »Was ist mit den anderen in der Stranger?« fragte Heseltine.
»Man wird sie vor dieselbe Wahl stellen.« »Und könnten sich nicht einige entscheiden weiterzuleben?« fragte Jamieson. Er sah Carlsen eindringlich an, und Carlsen war überrascht über die Angst, die in seinem Blick lag. Er spürte, wie sein Ekel wich und einem Gefühl des Mitleids Platz machte. »Natürlich weiß ich es nicht«, sagte er. »Aber ich halte es für möglich.« »Gibt es – keinen Weg, es herauszufinden?« »Nein.« Jamieson sah weg, und Carlsen spürte seine Erleichterung. Big Ben schlug zur vollen Stunde. Sie lauschten angespannt und zählten die Glockenschläge: Mittag. Als der letzte Schlag verhallte, stand Jamieson auf. Er schien von neuem Elan erfüllt zu sein. »Meine Herren ... ich glaube, wir sind alle müde und müssen uns jetzt ausruhen.« Als Carlsen aufstand, fuhr er rasch fort: »Ein Punkt ist allerdings noch zu klären, bevor wir dieses Zimmer verlassen. Kann ich davon ausgehen, daß wir uns alle darin einig sind, daß über diese Angelegenheit Stillschweigen bewahrt werden muß? Jedenfalls vorläufig?« Fallada sagte unschlüssig: »Ich denke schon –« »Es geht mir dabei nicht um mein eigenes Wohl oder um das von Dr. Armstrong oder das Miß Jones'. Dies ist eine Angelegenheit, die uns alle gleichermaßen betrifft.« Carlsen spürte, wie sein Selbstvertrauen
zurückkehrte, während er sprach. Jamieson beugte sich vor und stützte sich mit gespreizten Fingern auf die Schreibtischplatte. »Wenn wir diese Geschichte verbreiteten, würden uns vielleicht einige Menschen Glauben schenken. Aber ich kann Ihnen versichern: die überwiegende Mehrheit würde uns für verrückt halten. Man würde uns in die nächste Irrenanstalt stecken. Und ich finde, wir hätten es uns selbst zuzuschreiben. Denn warum sollte uns jemand eine so unglaubwürdige Geschichte abnehmen?« »Warum sollte man es nicht?« fragte Fallada. »Aber man würde es, mein lieber Doktor. Für die Opposition wäre es ein willkommener Anlaß, uns allesamt als verrückt hinzustellen oder zu behaupten, wir hätten uns die Geschichte aus schäbigen, eigennützigen Motiven aus den Fingern gesaugt. Ich sähe mich dann genötigt, mein Amt zur Verfügung zu stellen – nicht etwa, weil ich mich meiner Rolle in dieser Angelegenheit, für die ich keine Schuld trage, schäme, sondern weil ich dadurch meine Partei gefährden würde. Und in diesem Fall würde man auch von dem Commissioner erwarten, daß er zurückträte. Kurzum, wir würden Skandalen und Verleumdungen Tür und Tor öffnen. Es würde jeden einzelnen von uns ruinieren.« Carlsen beobachtete Jamiesons Gedankenabläufe mit Belustigung. Als er zu sprechen angefangen hat-
te, war es ihm nur darum gegangen, sie zum Stillschweigen zu bewegen. Nach wenigen Sätzen hatte er sich soweit gebracht, daß er selbst glaubte, daß seine Motive völlig uneigennützig waren. Carlsen erkannte ernüchtert, daß sein Mitleid fehl am Platze gewesen war. Er sagte eindringlich: »Aber ist es denn fair, unsere eigenen Interessen voranzustellen und diese Geschichte vor der Welt geheimzuhalten? Die Menschen haben ein Recht darauf, sie zu erfahren.« »Das, Commander, ist eine abstrakte Frage. Als Politiker bin ich Pragmatiker. Ich sage Ihnen ganz offen, daß wir unser Leben unerträglich machen würden. Im übrigen spielt auch die moralische Frage eine Rolle. Ich bin der Premierminister dieses Landes. Es ist meine Pflicht, alles in meinen Kräften Stehende für Großbritannien zu tun. Diese Affäre würde sich zu einem Skandal ausweiten, der uns vor den Augen der Welt bloßstellen würde. Hat irgend jemand von uns das Recht, dieses Risiko einzugehen?« Als Heseltine zu sprechen begann, hob er abwehrend die Hand. »Ich will Ihnen offen sagen, daß mich die Ereignisse von heute morgen zutiefst erschüttert haben. Ich kann Ihnen in aller Aufrichtigkeit gestehen, daß ich für den Rest meines Lebens daran zu tragen haben werde. Wenn ich an das Ausmaß der Bedrohung denke, die abgewendet wurde, ist mir, als stünde ich
am Rande eines Abgrunds. Wir haben dieser Bedrohung gemeinsam ins Auge gesehen, und durch die Gnade Gottes haben wir irgendwie gesiegt. Ich finde, daß uns dies eng miteinander verbunden hat. Und, das darf ich hinzufügen, ich werde es mir zur persönlichen Aufgabe machen, dafür zu sorgen, daß Sie alle die Ihnen gebührende Anerkennung finden. Ich glaube, Sie werden feststellen, daß sich Ihr Land nicht als undankbar erweisen wird.« Er schenkte sich den Rest Whisky ein und lächelte Heseltine zu. »Kann ich davon ausgehen, daß Ihr Einverständnis habe, Commissioner?« »Selbstverständlich, Herr Premierminister«, sagte Heseltine. »Commander Carlsen?« »Wenn Sie es so darstellen, wie kann man dann nein sagen?« entgegnete Carlsen. Jamieson schien die Ironie zu spüren und sah Carlsen scharf an. Die ernsthafte Miene des anderen beschwichtigte seinen Verdacht. Er wandte sich an Fallada. »Doktor?« »Und mein Buch?« fragte Fallada. »Soll ich es vielleicht in den Papierkorb werfen?« Er bewahrte die Ruhe nur mühsam. »Ihr Buch?« fragte Jamieson verblüfft. »Anatomie und Pathologie des Vampirismus.« »Himmel, nein! Was für ein absurder Gedanke!
Das Buch ist ein wertvoller Beitrag zur Wissenschaft. Ich werde mich persönlich dafür einsetzen, daß es die volle Unterstützung der British Medical Association erhält. Nein, nein, Doktor, das Buch muß veröffentlicht werden. Und ich bin sicher, daß es Ihnen einen Ritterschlag einbringen wird.« »Das dürfte kaum nötig sein«, sagte Fallada gereizt. Er stand auf. Jamieson tat so, als bemerke er seinen Ärger nicht. »Und was soll mit der Stranger geschehen?« fragte Heseltine. »Ach, ja. Die Stranger.« Jamieson runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich glaube, je eher wir sie vergessen, desto besser.« Fallada ging hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Als Carlsen aufstand, um ihm zu folgen, lächelte Jamieson ihm vertraulich zu. »Reden Sie mit ihm, Commander. Er ist verständlicherweise erregt. Aber ich bin sicher, daß man ihm unseren Standpunkt klarmachen kann.« »Ich werde mein möglichstes tun, Herr Premierminister«, sagte Carlsen. Er holte Fallada im Korridor ein. Fallada schaute sich ärgerlich um, entspannte sich dann, als er Carlsen erkannte. »Regen Sie sich nicht auf, Hans.« »Tue ich nicht. Es widert mich nur an. Er ist eher ein Reptil als ein Mensch. Woher will er wissen, daß
mein Buch wertvoll ist, wenn er es gar nicht gelesen hat?« »Es ist wertvoll, ob er es gelesen hat oder nicht. Was spielt das für eine Rolle?« Fallada unterdrückte seinen Ärger und grinste. »Ich weiß wirklich nicht, wie Sie es so gelassen hinnehmen können.« Carlsen legte ihm die Hand auf die Schulter. »Das ist gar nicht so schwer. Wir haben wichtigere Dinge, über die wir nachdenken müssen.«
11 Auszug aus Mathematiker und Monster: Autobiographie eines Wissenschaftlers von Siegfried Buchbinder (London und New York, 2145). Vermutlich war ich einer der ersten, der Carlsens berühmte Redewendung [Zeitumkehrung] zu hören bekam. Das ereignete sich im Frühjahr 2117, und es kam dazu wie folgt. Während des zweiten Jahrs seiner Gastprofessur [am M. I. T.] war Professor Fallada ein häufig gesehener Gast in unserem Haus in der Franklin Street. Dies war zum Teil seiner Freundschaft mit meinem Vater zuzuschreiben (der damals Leiter der Sektion für Psychologie am Raumforschungsinstitut war), hauptsächlich aber der Tatsache, daß meine Schwester Marcia und Falladas attraktive Ehefrau Kirsten unzertrennliche Freundinnen geworden waren. Fallada war über fünfzig Jahre älter als seine Frau, aber sie schienen eine außergewöhnlich glückliche Ehe zu führen. An einem warmen Aprilabend waren die Falladas zu einem Grillabend zu uns eingeladen ... Gegen neun Uhr rief Kirsten Fallada meine Mutter an und fragte, ob sie einen Gast mitbringen könne. Meine
Mutter bejahte natürlich. Eine halbe Stunde später trafen sie in Begleitung eines Mannes ein, den wir alle als den berühmten Commander Carlsen erkannten. Am Morgen jenes Tages erst war in einem nationalen Nachrichtenmagazin zu lesen gewesen, Carlsen hätte ein Angebot von annähernd zwei Millionen Dollar für sein Buch über die Weltraumvampire abgelehnt. Seit mehr als zwei Jahren war über sein Verbleiben gerätselt worden. Das Magazin Universe hatte berichtet, er lebe in einem buddhistischen Mönchskloster irgendwo im Mare Tranquillitatis auf dem Mond. Und nun spazierte die sagenumwobene Gestalt, mir nichts, dir nichts, in unseren Patio und begann sich über die Kunst des Rentiersteakröstens auszulassen. Selbst damals noch, als er bereits auf die Achtzig zuging, war Carlsen ein hochgewachsener, an die zwei Meter großer Mann. Aus der Ferne hätte man ihn auf fünfzig geschätzt. Man mußte schon dicht herangehen, um die feinen Fältchen um Augen und Mund zu bemerken. Meine Schwester Marcia meinte, er wäre der attraktivste Mann, dem sie jemals begegnet sei. Unnötig zu sagen, daß ich mich den ganzen Abend über in einem Zustand sprachloser Heldenverehrung befand. Wie alle Schuljungen wollte ich damals Raumfahrer werden. Ich sollte hinzufügen, daß es den meisten Familienmitgliedern ähnlich erging. Es
war, als hätte man Marco Polo oder Sir Thomas Lawrence zu Gast. Während der folgenden Stunden drehte sich die Unterhaltung um allgemeine Themen, und wir entspannten uns alle. Mir Grünschnabel gestand man einen Krug selbstgebrauten Biers zu. Als niemand hinsah, schlich ich mich zum Faß und füllte ihn nach. Gegen Mitternacht sagte mir meine Mutter, ich solle zu Bett gehen. Als sie es zum dritten Mal wiederholte, ging ich um den Tisch herum und sagte allen gute Nacht. Als ich bei Carlsen anlangte, blieb ich stehen und starrte ihn an. Dann platzte ich heraus: »Darf ich Sie etwas fragen?« Meine Mutter sagte: »Nein, du gehst jetzt ins Bett.« Carlsen jedoch fragte mich, was ich denn wissen wolle. »Leben Sie wirklich in einem Kloster auf dem Mond?« Mein Dad sagte: »Nun ist es aber genug, Siggy. Tu, was deine Mutter sagt.« Aber Carlsen schien an meiner Vorwitzigkeit keinen Anstoß zu nehmen. Er lächelte und sagte: »Aber nein. Ich lebe in einem Lamakloster in Kokung-chak.« »Wo liegt das?« fragte ich (das Kopfschütteln meines Vaters ignorierend). »Im zentralen Hochland von Tibet.« So war es also heraus. Mir, einem zwölfjährigen Schuljungen, verriet er das Geheimnis, für das jeder Journalist das Augenlicht hergegeben hätte. Und noch immer war meine Neugierde nicht gestillt. »Warum kommen Sie nicht zurück und leben hier in
Cambridge? Niemand würde Sie belästigen.« Er strich mir übers Haar und sagte: »Ich überlege es mir vielleicht.« Dann sagte er zu meinem Vater: »Ich gehe nach Storavan in Nordschweden zurück.« Ich setzte mich hin und hörte zu, und niemand sagte mir, ich solle ins Bett gehen. Das Eis war jetzt gebrochen, und Carlsen schien es nichts auszumachen, Fragen zu beantworten. Meine Schwester Marcia übernahm die Rolle des Fragestellers (als Kind nannte man sie Schlüsselloch-Käthe, ihrer unersättlichen Neugier wegen). Sie fragte ihn, was er denn in Tibet gemacht hätte. Er erwiderte, er sei vor dem Ansturm der Öffentlichkeit dorthin geflüchtet, nachdem die Vampirgeschichte im Universe erschienen war. [Die Mörder von den Sternen – Die wahre Geschichte des Stranger-Falls von Richard Forster und Jennifer Geijerstam – 26. Januar 2112, später zu dem gleichnamigen Buch erweitert.] Mein Vater fragte, ob der Versuch, sich der Öffentlichkeit zu entziehen, denn nicht den gegenteiligen Effekt hervorriefe. Carlsen sagte, das sei schon wahr, aber es sei halt nicht immer wahr. Nach der Vernichtung der Vampire [im Jahre 2076] brauchte er Zeit und Ruhe, um nachzudenken. Und Fallada brauchte Zeit, um sein Manuskript zu überarbeiten. Wäre damals die volle Wahrheit ans Tageslicht getreten, hätten sie ständig im Rampenlicht der Öffentlichkeit gestanden, und ihr Leben wäre zur
Hölle geworden. Das mußten sie unbedingt vermeiden. Zu irgendeinem Zeitpunkt schaltete ich meinen Batterierecorder ein. Dann muß ich wohl im Sessel eingeschlafen sein. Mein Vater trugen mich hinauf ins Bett. Am nächsten Morgen war Carlsen fort. Aber mein Recorder, der unter dem Sessel gestanden hatte, lief noch immer. Ich besitze die Aufzeichnung dieser Unterhaltung heute noch. Ein Großteil des Gesagten fand sich später in Carlsens Buch Der Stranger-Fall wieder. Aber das Buch endet mit der Schilderung der Bergung der Stranger und ihrer Landung auf dem Mond. Auf dem Band berichtete Carlsen von seinem Leben in Storavan und von seiner Arbeit mit Ernst von Geijerstam an einer Vampirtheorie. Diese Arbeit fand ein Ende, als von Geijerstam durch einen Skiunfall im Alter von 105 Jahren ums Leben kam. Carlsen war davon überzeugt, daß von Geijerstam ohnehin gestorben wäre. Sein »wohltätiger Vampirismus« verlängerte das Leben zwar, aber nur indem er die normalen Stoffwechselvorgänge verlangsamte. Das Problem, sagte Carlsen, bestünde darin, den Stoffwechselprozeß nicht bloß zu verlangsamen, sondern ihn umzukehren. Dieser Gedanke war offensichtlich neu für Fallada, der an dieser Stelle sagt: »Es ist physikalisch unmöglich, die Zeit umzukehren.« Carlsen erwidert: »Zeit
abstrakt gesehen, ja. Aber das gilt nicht für Lebenszeit. In unserem Universum ist Zeit nur ein anderer Name für Metabolismus – oder Stoffwechselprozeß. Dieser Prozeß schreitet in unseren Körpern voran wie der Stundenzeiger einer Uhr und löscht unseren Lebensfunken nach und nach aus. Aber jedesmal, wenn wir uns konzentrieren, verlangsamen wir diesen Prozeß – das ist der Grund, warum Wissenschaftler und Philosophen dazu neigen, länger als die meisten anderen Menschen zu leben. Wohltätiger Vampirismus verlängert die menschliche Lebensspanne, weil er die Konzentrationsfähigkeit erhöht. Die Weltraumvampire erlangten eine Form der Unsterblichkeit, weil sie sich tausend Jahre lang darauf konzentrierten, der drohenden Vernichtung durch das schwarze Loch zu entgehen. Aber sie erkannten die wahre Bedeutung ihrer Entdeckung nicht. Sie glaubten, sie müßten unentwegt Lebensenergie saugen, um am Leben zu bleiben. Das war falsch. Sie stimulierte sie nur, so wie ein Glas Whisky.« Mein Vater unterbricht: »Wenn sie die Bedeutung ihrer Entdeckung erfaßt hätten, hätte sie das unsterblich gemacht?« »Nein. Denn sie hätten trotzdem nicht erkannt, daß die wahre Lösung des Problems in der Zeitumkehrung liegt. Es hätte mir schon damals, an jenem Tag in der Downing Street, auffallen müssen. [Er wendet
sich offensichtlich an Fallada.] Jene Energie, die von dem Nioth-Khorgai ausging ...« [die Worte werden hier unverständlich – jemand wirft Holz ins Feuer.] Fallada fragt: »Warum waren die Nioth-Khorgai dann sterblich?« »Weil sie einer Entwicklungslinie gefolgt waren, die das Verlassen ihrer Körper zur Folge hatte. Dadurch wurden sie dem Einfluß absoluter Zeit unterworfen. Der Körper schützt uns vor absoluter Zeit. Dadurch haben wir zwar geringer Bewegungsfreiheit, aber dafür größere Handlungsmöglichkeiten. Unsere physiologische Zeit kann umgekehrt werden. Natürlich nicht auf Dauer. Aber für einen Sekundenbruchteil, so wie man vielleicht einen Fluß für einen Augenblick anhalten kann, oder wie der Wind den Gezeiten entgegenwirken kann.« Fallada: »Wollen Sie damit sagen, daß dies meine Vampirismustheorie über den Haufen wirft?« Carlsen: »Im Gegenteil, es ergänzt sie.« Mein Vater: »Aber gibt es Beweise dafür, daß man die Zeit umkehren kann?« Carlsen: »Ich habe es getan.« An dieser Stelle, so sollte man meinen, hätte doch jemand fragen müssen, wie oder wann er es getan hätte. Statt dessen fragt meine Mutter: »Möchte vielleicht jemand Kaffee?« Und meine Schwester sagt: »Ich mache welchen ...« Danach wird wieder über
Vampirismus geredet und über die Psychologie der Opfer – der Titel von Geijerstams letztem Buch. Dann läuft die Kassette ab. Dies war das einzige Mal, daß ich mit Carlsen sprach. Nachdem der Weltgerichtshof entschieden hatte, seine Privatsphäre gegen Journalisten zu schützen, zog Carlsen wieder nach Storavan. Fünf Jahre danach schrieb ich ihm einen Brief, um ihn an jenen Abend zu erinnern, und bat darum, ihn anrufen und besuchen zu dürfen, wenn ich nach Europa kam. Er schickte mir eine höfliche, aber kurze Antwort, in der es hieß, seine Forschungen hätten einen kritischen Punkt erreicht und es sei ihm unmöglich, Besucher zu empfangen. Ich sah ihn nur noch ein einziges Mal – im Sarg. Einen Tag, nachdem man seinen Tod bekanntgegeben hatte, traf ich in Stockholm ein und mietete unverzüglich ein Privatflugzeug, das mich nach Storavan bringen sollte. Seine dritte Frau, Violetta, empfing mich freundlich, teilte mir aber mit, es sei leider unmöglich, daß ich bliebe. Sie lud mich jedoch ein, zusammen mit ihnen zu essen – Carlsens Familie schien sehr umfangreich zu sein – und führte mich anschließend in das Mausoleum hinter der Kapelle. Es war dies ein achteckiger Raum, in dem sich eine Anzahl steinerner Sarkophage befanden. Es waren offensicht-
lich die Grabstätten von von Geijerstams Ahnen. [Anmerkung des Herausgebers: Buchbinder irrt. Es sind die Grabstätten der De la Gardie-Familie.] Von Geijerstams Leichnam befand sich nicht darunter. Es war sein letzter Wunsch gewesen, in einem Granitsteinsarg in der Mitte des Sees versenkt zu werden. In der Mitte des Raums standen vier Kupfersarkophage. Mrs. Carlsen teilte mir mit, daß sich in einem davon die äschernen Überreste von Königin Christinas Liebhaber, Graf Magnus, befanden. Daneben, auf einem Steinsockel, stand der Sarkophag Olof Carlsens. Der Deckel war zurückgeschoben worden, so daß man das Gesicht sehen konnte. Ich war überrascht festzustellen, daß er kein bißchen älter aussah als an jenem Abend damals. Er wirkte sogar irgendwie jünger. Ich legte ihm die Hand auf die sonnengebräunte Stirn. Sie war kalt und schlaff wie die eines Toten. Der Mund jedoch wirkte straff und verlieh ihm das Aussehen eines Schlafenden. Er wirkte so lebensecht, daß ich meine Zurückhaltung überwand und Mrs. Carlsen fragte, ob der Arzt einen Lambdatest durchgeführt hatte. Sie bejahte und sagte, er hätte bestätigt, daß alle normalen Stoffwechselvorgänge vollständig zum Erliegen gekommen seien. Mrs. Carlsen – sie war Katholikin – kniete nieder und betete. Als Zeichen des Respekts kniete ich auch nieder, obwohl ich mich dabei verlegen fühlte und
mir irgendwie unehrlich vorkam. Die Steinplatten waren kalt, und nach einigen Minuten fühlte ich mich so unwohl wie damals als Kind in der Episkopanerkirche unserer Gemeinde. Ich stützte mich mit einer Hand auf den Steinsockel und beugte mich vor, so daß ich Carlsens Gesicht sehen konnte. Mrs. Carlsen schien so sehr in ihr Gebet vertieft zu sein, daß ich mich der Bewegung schämte. Dann, als ich das Profil betrachtete, spürte ich eine sonderbare Ruhe, die sich in meinem Körper wie der Effekt einer Droge auszubreiten schien. Gleichzeitig empfand ich ein absurdes Freudegefühl, das mir die Tränen in die Augen kommen ließ. Ich kann das Gefühl nicht erklären, ich kann es nur konstatieren. Ich hatte den Eindruck, daß von dem Ort eine übernatürliche Kraft ausging, eine Kraft des Guten. Der tiefe Friede, der hier herrschte, gab mir das Gefühl, daß die Zeit stillstand. Das Unwohlsein verflog, und das, obwohl ich über eine halbe Stunde kniete. Als Mrs. Carlsen die Tür zur Kapelle schloß, sagte ich: »Ich kann es kaum glauben, daß er tot ist.« Sie erwiderte nichts, aber ich fand, daß sie mich seltsam ansah.