Am 29. Oktober 1949 starb in Paris ein höchst außerordentlicher Mann: G. Gurdjieff, betrauert von Freunden und Schülern...
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Am 29. Oktober 1949 starb in Paris ein höchst außerordentlicher Mann: G. Gurdjieff, betrauert von Freunden und Schülern aus vielen Ländern. Er starb, während sein erstes Buch in vier Ländern im Druck war - ein Gleichnis gewissermaßen seiner immer gewahrten und gewollten Anonymität der größeren Öffentlichkeit gegenüber, trotzdem sein Aktionsradius von Tibet über Europa bis nach Amerika reichte. Hinterlassen hat er der Welt ein vierfaches Gut: 1. Seine Schriften 2. Seine Musik 3. Seine „Bewegungen” und Tänze (Movements) 4. Eine wohl vorbereitete Überlieferung durch seine älteren Schüler. Mir, als dem einzig Lebenden seiner deutschsprachigen Anhänger und Übersetzer seiner Schriften ins Deutsche, fällt die Aufgabe zu, für alle meine Brüder gleicher Zunge, wenn auch sehr unzulänglich, so doch auf Gurdjieff hinzuweisen!! Gurdjieff wurde 1872 in der Gegend des Ararats geboren, von alters her ein Knoten- und Kreuzungspunkt vieler Völker und Kulturen. Seine Vorfahren stammten von Griechen aus Cäsarea ab, deren Geschichte weit vor Christi zurückreicht. Er wuchs in einer patriarchalischen Familie unter geradezu biblischen Lebensumständen auf. In der zweiten Serie seiner Schriften „Begegnungen mit hervorragenden Menschen“, schildert er seinen Vater, einen letzten Barden und ursprünglichen Denker, seinen ersten Lehrer, den Dechanten der militärischen Kathedrale in Kars, der seinen fähigen Schüler für die Laufbahn eines Priesters und Arztes zugleich bestimmte, das heißt, zur Heilung des ganzen Menschen. Er selber hatte großes Interesse für alle Wissenschaften und zeigte gleichzeitig große Geschicklichkeit mit den Händen, weshalb er sich in vielen Gewerben versuchte. Aber einige Jugenderlebnisse in der seltsamen kaukasischen Umgebung, für die er keine Erklärung in der Wissenschaft fand, ließen ihn früh über den Sinn des Lebens nachdenken und an dem zweifeln, was die Leute sagen. So kam es dahin, dass er sich noch jung auf die Suche nach wahrem für alle Zeiten und für alle Menschen gültigem aufmacht. Nachdem er verschiedene mittelalterliche Ruinen und altarmenische Literatur studiert hatte, kam er zu der Überzeugung, dass die Menschen früherer Zeiten ein Wissen besessen hatten, das im Laufe der Zeit verloren gegangen war. Im Verein miteinigen jungen Freunden machte er sich auf die Suche nach Überresten oder Spuren dieses alten Wissens auf. Sie nannten sich „Wahrheitssucher“ und kamen in abgelegene Klöster, die uralte Traditionen bewahrt hatten, trafen Derwische, heilige Männer und Mitglieder der verschiedensten religiösen Bruderschaften. Später gesellten sich Leute aus verschiedenen Wissenszweigen
und mit größeren materiellen Hilfsmitteln zu ihnen, ein Archäologe, ein Geologe, ein Ingenieur, ein Arzt, Sprachwissenschaftler usw. Einigen von diesen hat Gurdjieff auch in der zweiten Serie seiner Schriften ein Denkmal gesetzt. Ihre Reisen gingen nach Persien, Turkestan, Tibet, Indien, der Wüste Gobi, Ägypten. Gerüchte, dass Gurdjieff in Tibet eine führende Rolle im englisch-tibetanischen Krieg gespielt haben soll, sind aus dieser Zeit erhalten geblieben. Gelegentlich tauchte er zu Hause auf und verschwand wieder, betrieb auch zwischendurch verschiedene Geschäfte und Gewerbe, um sich seinen Unterhalt zu verdienen. Seine Spuren werden für uns erst um 1912 herum deutlich. Damals war er an die vierzig, lebte in St. Petersburg und hatte Schüler um sich, die von seiner ungewöhnlichen Originalität und Echtheit angezogen waren. Sie empfanden alle etwas von dem, was eines meiner Kinder so zum Ausdruck brachte: „Er sieht anders aus und ist anders als alle anderen Leute.“ Damals lernte ihn der Schriftsteller D. P. Ouspensky kennen, der durch seine Erforschung der vierten Dimension auf psychologisch-philosophischem Gebiet bahn brechend geworden ist. Er fand in ihm alles, was er, der selbst gerade aus Indien zurückgekehrt war, an verschiedenen Orten im Osten vergeblich gesucht hatte. In seinem letzten Buch „Auf der Suche nach dem Wunderbaren. Fragmente einer unbekannten Lehre“ (Deutsch im Verlag „Der Palme“, Innsbruck) schildert Ouspensky sein Zusammentreffen mit Gurdjieff und gibt wörtlich viele seiner Gespräche mit Gurdjieff wieder, oder genauer gesagt, Gurdjieffs gewichtige Antworten auf die prägnanten Fragen Ouspenskys sowie anderer Schüler. Gurdjieff kannte sich auf allen Gebieten aus und brachte Licht in die dunkelsten Ecken. Besonders gab er eine neue Auffassung vom Sinn und Zweck des menschlichen Daseins und dem, was Evolution wirklich ist. Er ging über alles bekannte Universitätswissen hinaus, auch über das, was gewöhnlich Religion genannt wird; er konnte helfen, wo die üblichen Ärzte und Seelsorger versagten. Aber er hielt keine Vorlesungen, er drängte sein Wissen niemandem auf, im Gegenteil, es war schwer, es aus ihm herauszuholen und man musste wirklich ernsthaft suchen, wirklich es sich etwas kosten lassen, wirklich mehr als Worte wollen. Bei ihm hatte alles Hand und Fuß, das große Ferne kam einem nahe und wurde deutlich wie die eigene Hand, das nahe Kleine wurde millionenfach vergrößert und deshalb erkennbar. Alles übrige „Denk- und Glaubensgut“ des modernen Menschen flatterte wie Motten am Licht, wenn es in das Blickfeld Gurdjieffs kam. Dafür gab er zu ahnen, in seiner Sprache „zu kosten“, was„der Weg“, „die Wahrheit“, „das Leben“ in Wirklichkeit ist. Damals war er im Begriff, ein großes Institut zu gründen, „Das Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen“, in dem der physische, emotionelle und denkerische Teil des Menschen auf gleiche Weise erzogen und Aufmerksamkeit und Wille zur Erkenntnis und Lenkung seiner selbst herangebildet werden soll. Er hatte
schon viele wissenschaftliche Apparate aus Deutschland kommen lassen, als die politischen Ereignisse alles vereitelten; der erste europäische Krieg brach aus. So unglaublich es klingen mag, auch ein solches enormes Ereignis brachte Gurdjieff nicht von seinem Vorhaben ab; das geplante Institut wurde ein wanderndes Institut, teils mit den gleichen, teils mit verschiedenen Leuten. Dabei machten sie alle Schwierigkeiten der Millionen von Heimatlosen dieses unseligen zwanzigsten Jahrhunderts durch. Gurdjieff wie die Schüler kämpften um das tägliche Brot, aber nicht nur in dem einen Sinn, in dem dies gewöhnlich verstanden wird, sondern sie arbeiteten auch. Arbeit bei ihm und in seinem Kreis bedeutet: Arbeit an sich selbst, Arbeit zur Erkenntnis seiner selbst und zur Selbstvervollkommnung. „Je größer die Schwierigkeiten, um so größer die Möglichkeit zu produktiver Arbeit, vorausgesetzt, dass man bewusst arbeitet.“ Für eine Weile schien es, dass das Institut im Kaukasus, dann in Tiflis seßhaft werden könnte, aber die politischen Ereignisse vereitelten es auch dort nach kurzer Zeit. Gurdjieffs Takt, Menschenkenntnis und ganz ungewöhnlicher allgemeiner Umsicht war es zu verdanken, dass die verschiedenen feindlichen Parteien ihn und seine Gruppe unbehelligt ließen, ja es kam sogar dazu, dass die Weiße und Rote Armee ihn „unparteiisch“ genug fanden, so dass zum Beispiel beide ihm eine schriftliche Erlaubnis gaben, Waffen tragen zu dürfen. Das wandernde Institut gelangte schließlich nach fast unüberwindlichen Schwierigkeiten nach Konstantinopel. Alfons Paquet, der Frankfurter Schriftsteller, traf ihn dort 1921, am Tag vor seiner Rückkehr nach Deutschland, und sah eine Vorführung der sakralen Tänze von Gurdjieffs Gruppen. Es ist erstaunlich, wie viele Ahnungen er an jenem einen Abend von der Universalität von Gurdjieffs Lehre gewann.* Nach einem fehlgeschlagenen Versuch, das Institut in Hellerau zu eröffnen, und Gurdjieffs Weigerung, es in London zu tun, kam es schließlich 1922 dazu, dass es in Fontainebleau im historischen Château du Prieuré eine - wie es schien - bleibende Behausung fand. Es hatte Schüler aus aller Herren Länder, vorwiegend jedoch Russen und Engländer. Das große Haus und der große Garten und Wald gaben mehr als genug Gelegenheit zu praktischer Arbeit. Es wurde gebaut, gefarmt, studiert, gewoben, gemalt und in dem aus einer Zeppelinhülle eigens dafür errichteten „Study House“ wurden bis tief in die Nacht „die Bewegungen“ und heiligen Tänze geübt, psychologische Übungen gemacht und es gab Gurdjieff seine auf Fragen gegebene Antworten. Eine Vorführung im Theater der Champs Elysées ließ die Welt sehen, was Gurdjieff und sein Kreis leisteten. 1924 ging er mit 40Schülern seines Instituts nach Amerika und gab dort große Vorführungen in Carnegie Hall, New York, Boston, Chicago und anderen Städten. Diese Vorführungen von Tempeltänzen und psychologischen Phänomenen erregten größtes Aufsehen. Damals wollte er in Amerika und in (*Siehe Alfons Paquet, Delphische Wanderung, Seite 218 ff.) verschiedenen anderen Ländern Zweigstellen des Instituts für die harmonische Entwicklung des Menschen gründen.
Wiederum unterbrach das Schicksal seine Pläne und wiederum wurde dadurch nur die Form der Mittel, seine Lehre an andere weiterzugeben, verändert. Kurz nach seiner Rückkehr nach Frankreich erlitt Gurdjieff einen sehr schweren Autounfall, der seinem Leben fast ein Ende machte. Während er wochenlang im Bett lag und mit großer innerer Anstrengung sein Bewusstsein wiedererkämpfte, erkannte er, wie viel er noch zu tun und wie wenig Zeit er noch hatte. Damals eben beschloss er zu schreiben. Es war sein eigener Entschluss, seine ihm von sich selbst diktierte Aufgabe, sein freiwillig auf sich genommenes Kreuz. Er schloss sein Institut für die harmonische Entwicklung des Menschen, schickte seine Schüler nach Hause, schloss sich selbst von allem ab und begann zu schreiben. Der von ihm gewählte Rhythmus seines Tages blieb überall derselbe; alle nur mögliche Kraft und Zeit verwandte er auf das Schreiben. Davon wich er nicht ab, ganz gleich, was die äußeren Umstände waren. er schrieb auch in der Eisenbahn oder auf dem Schiff. Meistens saß er im Café de la Paix in Paris, oder in einem kleinen Café in Fontainebleau, oder wenn er für kurz nach New York kam, bei Childs, und schrieb. Der Lärm der redenden Menschen und das Klappern des Geschirrs drangen nicht an sein Ohr - ja selbst Besucher, deren viele kamen, mussten warten, bis er sich ihnen zuwandte, und darüber konnten ein und zwei und drei Stunden vergehen. Manche spürten in der Nähe des seltsamen Meteors den Gegensatz zwischen der geräuschvollen, hastenden, trügerischenäußeren Welt und der Ruhe, Sicherheit und inneren Fülle dessen, der da saß und schrieb. Ziemlich am Anfang meiner Arbeit, als ich noch verwundert war, dass Gurdjieff nichts von dem suchte, was die Annehmlichkeiten und das Streben aller anderen Menschen ausmacht, setzte er sich einmal, als er sichtlich ermüdet aus dem Café zurückkam, neben mich auf die Terrasse mit dem schönen Blick auf dem historischen Garten der Prieuré, wo ich an der Übersetzung arbeitete. „Warum arbeiten Sie nicht auch hier, mit dem Blick auf die Rosen, den Goldfischteich und die beschnittene Platanenallee, in so guter Luft?“ „Ich arbeite immer nur in Cafés, Tanzlokalen und ähnlichen Stätten, wo ich die Menschen sehe, wie sie sind, wo ich die sehe, die am meisten betrunken sind, am anormalsten. Bei ihrem Anblick kann ich den Impuls der Liebe in mir erzeugen. Und aus dem heraus schreibe ich meine Bücher.“ Eine Art Erholung war für ihn das Kochen. Er nannte sich „Dr. Kulinari“ und konnte die verschiedensten Gerichte aller asiatischen Stämme zubereiten, so wie sie durch die Jahrhunderte überliefert worden sind, und viele eigene Kombinationen dazu, die nicht nur den uns immer mehr abhanden kommenden Geschmackssinn beleben, sonder den Menschen auch zu einem gewissen Bewusstwerden der in ihm vor sich gehenden Verdauungsvorgänge führen. Acht oder neun Jahre verwandte er zum Schreiben und es entstanden drei Serien von Büchern, für einen einzigen Menschen von ungewöhnlicher Fülle,
Originalität und Vielfalt der Bedeutung. Die zweite Serie, die zugleich ein Reisebuch von unvergleichlicher Schönheit ist, ging ihm so leicht wie seine Musik vonstatten, die an die 5000 Stücke zählt. Die Hauptanstrengung für Gurdjieff war die erste Serie seiner Schriften, betitelt; „Eine objektive – unparteiische Kritik des Lebens des Menschen“ oder „Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel“. Manche Kapitel der ersten Serie, vor allem das Kapitel „Gedankenerwachen“, zuerst „Warnung“ genannt, hat er sieben- und dieses sogar zwölf Mal umgearbeitet. Was für eine Mühe, bis alle Themen seines Werkes, das keine Frage unberührt lässt, in dieser Ouvertüre angeschlagen und verbunden waren. Bei den Änderungen war deutlich zuerkennen, dass er „den Knochen tiefer vergraben wollte“, das heißt, nichts auf billige Weisegeben wollte. Dies war unbedingt nötig zur Erreichung des sich von ihm gesteckten Zieles. Es kann keinem etwas geschenkt werden; auch das Beste, was uns gegeben wird, kann nur dann unser eigen genannt werden, wenn wir es selbst erarbeiten. Auf keinem Fall wollte er „neues Wissen“ geben, was sich leicht in Worten sagen lässt, sondern etwas im Wesen des Menschen ändern, öffnen, entfalten, was ihn langsam zur Erschaffungseiner eigenen inneren Welt führen und ihm Verstehen geben sollte. Er, der die Menschen mit einem Blick erkannte, wusste, dass dieser Vorgang eine ungeheure Operation bedeutet und die erste Serie hatte eben die Aufgabe, aufzuräumen „mit den im Denken und Fühlen des Lesers seit Jahrhunderteneingewurzelten Vorstellungen und Anschauungen über alles in der Welt angeblich Existierende“, um Platz zu schaffen zur Aufnahme von etwas Neuem und Wirklichem. Damit komme ich auf das Hauptziel von Gurdjieffs Schriften zu sprechen und vor allem zu seiner ersten Serie: an Stelle eines persönlichen Lehrers gibt sie alles, was wir in diesem zwanzigsten Jahrhundert brauchen, um uns eine wahrhafte und unveränderliche innere Welt erwerben zu können. Dies kann aber nur geschehen, wenn der Leser langsam lernt, dass seine Mitarbeit, sein sich wundern, Vergleichen, Gegenüberstellen, Fragen lernen, und auf Antwort warten, ebenso nötig ist, wie die Hilfe des Buches. Durch unsere falsche Erziehung sind die uns verliehenen Kräfte des Denkens, Fühlens und Empfindens ganz vermechanisiert und einseitig ausgebildet; erst recht, wenn wir so genannte gebildete Menschen sind. Der Kern in uns, das Samenkorn, das sich nach einer Entfaltung und Kontinuierlichkeit sehnt, liegt deshalb erstickt und eingezwängt zwischen den falschen Tätigkeiten unserer vielen vermeintlichen „Ichs“. Während der acht Jahre des Schreibens ließ Gurdjieff täglich vor oder nach Tisch, im kleinen Kreis oder für viele Gäste das eine oder andere Kapitel in der einen oder anderen Sprache vorlesen. Gurdjieff beobachtete die Zuhörer und erkannte an ihnen den Grad der Vollendung des von ihm neu geschrieben wie auch die Exaktheit der Übersetzung. Oft wählte er Kapitel, die dem einen oder
anderen Menschentyp mehr entsprachen, oder aber das Kapitel über die Nation des Betreffenden. Neue Gäste waren erstaunt, dass er ein kleines Wort oder eine Satzverdrehung so wichtig nehmen konnte, die Übersetzer dagegen kannten Gurdjieff schon als Lehrer der Exaktheit. Für uns geschah die Übersetzung nicht eigentlich um der Übersetzung willen, sondern war unsere Schulung, die uns aus unseren subjektiven Vorstellungen und Ansichten herausschälte und mit der Schaffung einer neuen exakten Sprache zu einem Verstehen brachte, das wir am Anfang nicht einmal hätten ahnen können. Vor allem wurde in uns allmählich die Fähigkeit des „Sich- leer- machen- könnens“, des „Hören-könnens“ herangebildet. Nur wo Platz ist, kann etwas neues Platz finden, Nun ist das ein schwierigerer Prozess als die meisten Leute glauben wollen: Die Befreiung von dem automatisch erworbenen, rein subjektiven Denk- und Vorstellungskaleidoskops und die Erwerbung eines bewusst arbeitenden, immergültigen, objektiven an seiner Stelle. Alle möglichen Anekdotenillustrieren diesen Vorgang, und wenn sie erst einmal gesammelt werden, um Gurdjieffs Lehre in seiner grandios-humorvollen Weise zu veranschaulichen, werden die Übersetzereinen guten Beitrag liefern können. Aus dem Lesen um Gurdjieff erwuchsen allmählich Gruppen in den verschiedensten Hauptstädten der Welt, wobei die Zuhörer, jeder für sich, die erstaunliche Tatsache feststellten, dass seine erste Serie, dieses kosmische Märchen, wirklicher als alle Märchen, mit einer sicherlich außerirdischen Wissensquelle, die ihnen unerlässlich nötige Hilfe in der Erkenntnis ihrer selbst und aller Dinge in dieser Welt gibt. Wenn sie eine Frage hatten, auf die sie keine Antwort finden konnten, eine Schwierigkeit, die sie nicht annehmen oder überwinden konnten, so brachte ihnen dieses Buch die nötige Hilfe. Dabei konnte man im Laufe der Jahre bemerken, dass ihr äußerer Mensch, ihr sich Wichtignehmen, ihr mit tausend kleinen täglichen Aufregungen und Begeisterungen gefülltes Dasein gewöhnlich stiller, ruhiger und ernster wurde, und ihr innerer Mensch, der in fast keinem Menschen der heutigen Zeit zum Durchbruch kommen kann, anfangsgelegentlich und später häufiger in Erscheinung trat. Man musste nicht mit ihnen reden, aber man spürte, dass dieses Buch ihnen eine wirkliche Nahrung und Maßstab war. Selbstzufriedenheit konnte nicht auftreten, wenn man erkannte, wie lange es gebraucht hatte, bis man die eine oder andere Sache verstand, oder, richtiger gesagt, auf dem Wege war, zu verstehen; oder wenn man bemerkte, dass zwei Stunden des Zuhörens schon zuviel waren für unser nur auf flüchtige Beobachtung eingestelltes „Denken“ und unser immer flatterndes oder lahmes Gefühl. Jede Seite, jedes Kapitel in Gurdjieffs Schriften ließen den Zuhörer sein eigenes Unvermögen, seine eigene Uneinheitlichkeit, seine eigene Nichtigkeit erkennen und gleichzeitig verstärkten sie in ihm den Drang nach etwas Bleibendem, Sicherem, Dauerndem, erweiterten seineFragemöglich-10keiten, förderten sein Forschungsvermögen und seine nachdenkenden Fähigkeiten und erweckten in ihm Kräfte, die ihm zwar niemals recht, aber dafür den Geschmack dessen geben können, was ein Mensch sein könnte und sein sollte.
Gurdjieff sprach in den acht Jahren, in denen er die verschiedenen Serien seiner Schriften schrieb, oft von deren Veröffentlichung, ja, er fuhr sogar eigens nach Leipzig, um mir den Ort zu zeigen, wo seine Schriften gedruckt werden sollten. Damals, in den späten zwanziger und frühen dreißiger Jahren, verstand ich das Gedrucktwerden hauptsächlich indem Sinne, dass es in mir gedruckt werden müsse, nämlich, um in mir jenen Menschen zu erwecken und wach und tätig zu erhalten, der das Verlangen in meiner Kindheit gewesen war, wenn ich darüber nachsann, was es denn eigentlich bedeute, dieses „Lieben deinen Nächsten wie dich selbst“. Gerade als ich nach allen möglichen Versuchen und unter Zuhilfenahme der mir bekannten Religionen, philosophischen Richtungen, Wissenschaften und Künste endgültig die Hoffnungslosigkeit jedes wirklichen Versuches in dieser Richtungeingesehen hatte, hörte ich selber zum ersten Mal ein Kapitel aus „Eine objektivunparteiische Kritik des Lebens des Menschen“ (man konnte es damals nie selber lesen, nur hören), um ihm meine erste gesegnete schlaflose Nacht zu verdanken. Anfang 1949, bei einem Besuch in New York, sagte Gurdjieff im Kreise einigerseiner älteren Schüler, dass die Zeit gekommen sei, seine Schriften zu drucken und dass es noch im gleichen Jahre geschehen müsse. Er bestimmte, dass die erste Serie, die schwierigste, unbedingt als erste herauskommen müsse, und zwar im Taschenformat, damit jeder sie in seiner Tasche bei sich tragen könne. Gleichzeitig gab er die Erlaubnis, das letzte Werk von Ouspensky, der in England und Amerika sehr bekannt und ob seiner früheren Bücher sehr geschätzt wird, zu veröffentlichen: „Auf der Suche nach dem Wunderbaren, Fragmente einer unbekannten Lehre“ ist sowohl Vorläufer als auch ein erster Kommentar zu Gurdjieffs Schriften. In Deutschland las ich 1929 zum ersten Mal in Gegenwart von Gurdjieff einige Kapitel aus Beelzebubs Erzählungen vor. Es war im Hause von Alfons Paquet in Frankfurt. Zu der Lesung luden Paquet und ich Freunde ein; nach Gurdjieffs Weisung sollten mindestens sieben Familienväter darunter sein. Drei Stunden ununterbrochenen Lesen waren auch für die auf ihre Auffassungskraft stolzen Deutschen zuviel. Später wollte mich einer meiner Freunde enttäuschen, indem er mir sagte, nur ein Wort sei ihm von dem langen Lesen im Gedächtnis geblieben:„Kundabuffer.“ Mir schien dies genug: Kundabuffer an Stelle des echten Menschen, Täuschung an Stelle der Wahrheit, außerdem die erste und einzige Erklärung dessen, was in der Sprache der Kirche „Erbsünde“ genannt wird. Wider seinen Willen war mein Freund beim Regnen nass geworden. In Berlin ließ mich Gurdjieff als erstes das Kapitel über„Früchte alter Zivilisationen und die Blüten der modernen“ lesen, wobei mir schien, das einige der Anwesenden über das, was darin über die Erfindungen der Deutschen gesagt wird, fast Blut schwitzten. Beim Studium der Massenpsychose, jenem Gräuel, der die Entartung der der modernen Menschheit am schärfsten zeigt, nimmt
Gurdjieff alle Nationen untere seine Lupe, keine kann sich überlegen fühlen, alle sind in die Irregegangen. Inzwischen hat das Schicksal den Deutschen sehr mitgespielt und ihnen ihre liebsten Täuschungen, die manchem selbst lieber waren als das Leben, entrissen. Als ich Mitte der dreissiger Jahre wieder ein paar Jahre lang in Deutschland lebte, berührte es mich sehr schmerzlich, zu erkennen, wie der jedem Menschen innewohnende Drang nach einem Wegweiser, nach einem Lehrer oder Führer, in einer ganz falschen Richtung dort arbeitete. Auch die, die nicht davon verblendet oder angesteckt waren, tappten im Dunkeln und konnten nichts als ein leidendes, passives Ertragen aus dieser Massenpsychose machen. Gurdjieff dagegen lebte damals zurückgezogen in Paris, immer von einer Gruppe an sich arbeitender Menschen umgeben, war denselben äußeren Schwierigkeiten ausgesetzt wie alle anderen Menschen und machte seine grandiosen Statistiken. Ihm diente diese größte aller bisherigen Massenpsychosen zu einer letzten Überprüfung dieser Hauptkrankheit, die der Mensch selbst, durch Schaffung der anormalen äusseren Lebensverhältnisse verursacht hat, ein weder von der Natur noch von Gottgegebener Faktor. Mir scheint, dass das deutsche Volk vielleicht mehr als jedes andere danach lechzt, in Gurdjieffs Schriften und auch in den von Ouspensky aufgezeichneten Gesprächen die Gesetze eindeutig klar aufgezeichnet zu finden, nach denen diese entsetzlichen, des Menschen unwürdigenletzten Jahrzehnte verliefen. Wer schuld war, der Kaiser oder Hitler, die Engländer, Russen oder Amerikaner alle Theorien und subjektiven Deutungen werden bei ihm hinfällig. Viel nutzloses Gerede, viele nutzlose Bücher werden einfach verstummen. Was ist denn der Tod? Was wird durch ihn frei? Wozu dient es? Was kann an die Stelle von Krieg und äußerer Gewalt treten? Wo fängt der Krieg an, und wo ist er immer zu Hause? In jedem Menschen und in den Beziehungen jedes einzelnen zu den anderen. Wo kann er aufhören? Nur im einzelnen und in seinen Beziehungen zu den anderen. Hat der einzelne Mensch eine Wahl? Können wir lernen zu wählen? Deswegen muss dieses Buch, das aus einem wirklichen Wissen, aus einer Gerechtigkeit und Liebe, deren Ausmaß wir nicht begreifen können, geschrieben worden ist, jetzt an die Öffentlichkeit kommen. Sommer 1950 Louise March Frankfurt am Main, Praunheim, Alte Mühle 2