Ludwig Ganghofer
Gewitter im Mai und andere Hochlandgeschichten
Drömersche Verlagsanstalt Th. Knaur
Inhaltsverzeichn...
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Ludwig Ganghofer
Gewitter im Mai und andere Hochlandgeschichten
Drömersche Verlagsanstalt Th. Knaur
Inhaltsverzeichnis Gewitter im Mai
3
Die Mühle am Fundensee
173
Jerobeam Purzelbaum
215
Der rote Komiker
225
Der Schuss in der Nacht
243
Der Weißbacher und sein Freund
256
Die Brautfahrt des Damian Zagg
280
Die vier heiligen Dreikönige
339
Der nette Kerl
353
Egidus Trumpf, der Urmensch
405
2
Gewitter im Mai Wie schön das war, dieses stille Rasten, fern von aller Unruh da draußen, nach langen Jahren wieder in der Heimat, an solchem Morgen, in der linden Maiensonne! Ohne sich zu regen, die gebräunten Hände im Schoß, an die weißglänzende Mauer gelehnt und wunschlos träumenden Glanz in den blauen Jünglingsaugen, saß er zwischen Tür und Fenster auf der Hausbank und trank mit tiefen, ruhigen Atemzügen alle Schönheit in sich, die der Mai seiner Heimat um ihn herschüttete. Über dem vorspringenden Hausdach, dessen Ränder sich in der Sonne wie goldflimmernde Linien vom zartblauen Himmel abhoben, zwitscherte ein Schwalbenpärchen, das vom Nestbau ein wenig ruhte. Lockende Finkenrufe klangen im Garten von den Ulmen her, deren weitgespannte Zweige schimmerig übersät waren mit den jungen Blättchen, mit tausend kleinen, blaßgrünen Herzen, die sich zitternd sehnten, in die große Sommerfreude ihres kurzen Lebens hineinzuwachsen. Und manchmal hörte man einen süßen Amselschlag in der schwarzgrünen, von zahllosen jungen Trieben licht übersprenkelten Fichtenhecke, die wie eine hohe lebende Mauer den Hof 3
und Garten des Forsthauses umzog, als wär das eine abgeschlossene Welt für sich. Alles, was über der Hecke draußen war, schien ferner zu sein, weil es halb versunken lag: das ganze Dorf umher, die Nachbarhäuser, von denen man nur die rotbraunen Dächer mit den rauchenden Schornsteinen sah, die Kronen der blühenden Apfelbäume, die wie weiße Schneehügel über die Hecke hereinlugten, und die breite, zierlich ausgezahnte Wipfelreihe des Waldes, der zwischen Dorf und Bergen das Tal erfüllte. Nur der Kirchturm streckte lang seinen roten Hals und guckte von oben herab über die Hecke her, wie ein Neugieriger, der alles sehen will. Und in weitem Kreis der ergrünenden Berge, über deren höchsten Wäldern und Felsen der Schnee noch lag, übergossen vom Duft des Morgens, eine blau erstarrte Riesenwoge neben der anderen – und je weiter sich die Höhen hinausschwangen in die Ferne, um so blauer wurden sie, bis sie ganz mit dem Himmel verschwammen, als wäre das letzte Felsgewänd in durchsichtige Luft verwandelt. Rufende Stimmen klangen aus dem Dorf, Gebell der Hunde, Wagengerassel und der rastlose Hammerklang einer Schmiede, doch all diese Laute nur halb verständlich bei dem sanften Rauschen des jungen Laubes und bei dem spielenden Geplätscher, mit dem der glitzernde See seine kleinen, vom Morgenwind geschürten Wellen dicht vor der Hecke des Forsthauses an das kiesige Ufer spülte. Dieses gaukelnde Klingen der Wellen war wie die Trällerstimme eines Sängers, der sich bei schönem Wandern eines heiteren Liedes halb erinnert, immer wieder von vorne beginnt und das Ende nicht finden kann. 4
Und der ganze, weite See schien trunken von Sonne. Das Spiel seiner Wellen war wie ein Zaubertanz von Millionen weißen Flämmchen. Jeden anderen hätte dieses Glitzern und Gleißen geblendet. Doch der lächelnde Träumer dort an der leuchtenden Mauer sah mit ruhigem Blick über all das strahlende Geflimmer hinaus, denn seine Augen waren gewöhnt an den brennenden Glanz des Wassers. Und da lachte er plötzlich auf, als hätte ihn irgend etwas belustigt – irgend etwas an diesem lieblichen Gezitter und Geglitzer, mit dem sich der See in die blaue Ferne dehnte. Die Handvoll Wasser da – und das Meer! Wieder lachte er. Dieses kindliche Getändel der kleinen Wellen – und der Taifun bei Madagaskar, gegen den sein Schiff drei Tage hatte ringen müssen, bis es mit rasierten Masten unter dem Notsteuer den Hafen gewann! Und sieben Mann waren über Bord gegangen – mit ihnen sein bester Kamerad, Fritz Radspeeler, der Sohn eines Rostocker Reeders. »Min leiwer Jung!« Dem lachenden Träumer grub sich eine ernste Furche in die braune Stirn. Und während er hinausblickte über das sonnige Spiel der Wellen, stiegen die Bilder aller Gefahren vor ihm auf, die er überstanden hatte da draußen in fernen Welten. Der Schiffbruch an der kalifornischen Küste – auf seiner ersten Fahrt als Leichtmatrose. Sieben Tage im Boot! Und nach der Rettung das Gelbe Fieber. Und das Jahr darauf, als er schon die volle Heuer hatte, 5
die Revolte im chinesischen Theater zu Hongkong – die tausend bezopften Zuschauer in schreiender Wut gegen die vier deutschen Jungen, die beim Anblick dieser absonderlichen Kunst ein bißchen lustig und übermütig wurden. Wollten sie nicht erschlagen werden, so mußten sie sich mit dem blanken Messer einen Weg bahnen! Und die Tigerjagd in Indien, auf die der Prinz den jungen Försterssohn als Büchsenspanner mitgenommen hatte! Als der angeschossene Tiger, gereizt durch die Feuerbrände und den Paukenlärm der Treiber, dem Elefanten, der den Prinzen trug, auf die Schulter sprang, da hatte es gegolten, in allem Aufruhr einen sicher treffenden Schuß zu tun! – Und im Garten der Navigationsschule jener böse Sturz vom Top des Flaggenmastes! Und dieses traurige halbe Jahr auf dem Krankenbett! Und die Freude der Genesung! Dazu noch der Stolz auf die goldene Borte, als ihn Fritz Radspeelers Vater als Dritten Offizier für die ›Denderah‹ angemustert hatte! Und gleich auf der ersten Fahrt wieder die furchtbarste aller Gefahren – jene grauenvolle Nacht im Kanal, auf brennendem Schiff ... So stieg ein Bild um das andere vor ihm auf – doch alles mit gemildertem Schatten, alles in die linde Sonne dieses Morgens getaucht, der das vergangene Dunkel so schön und blau machte wie die Berge da draußen. In verklärendem Glanz und mit heiterem Geflimmer, wie die spielenden Wellen im See, glitt alles an seinen Augen vorüber, was er erlebt hatte in diesen sieben Jahren, seit ein unüberwindlicher Widerwille gegen die Schulbank den Fünfzehnjährigen aus der Heimat fortgetrieben und dem Seemannsberufe zugeführt hatte. Und jetzt die stolze Freude, so heimzukehren, mit der Offiziersborte, als ge6
machter Mann, der einen schönen Lebensweg vor sich hat – und eine Stellung, die was trägt! Das hatte er sich geschworen: nur so wieder heimzukehren. Und er hatte seinen Schwur gehalten – wenn ihm das Heimweh in der Brust auch gebrannt hatte wie zehrendes Feuer! Und diese zitternde Erwartung während der langen Bahnfahrt! Von Rostock bis in die Berge, eine Nacht und einen ganzen Tag! Und dieses Gehämmer in seinem Herzen, dieses Glühen im Blut, als er am vergangenen Abend bei sinkender Dämmerung die dunkelblauen Gipfel der heimatlichen Berge unterschied! Und jetzt daheim! »Vater! Mutter!« Wie schnell sich das machte, diese Versöhnung nach sieben Jahren, unter Lachen und Tränen! Und dann das Sitzen in der lieben Stube, deren weiße Mauern übergittert waren von den Schatten der Hirschgeweihe! Und all das Erzählen bis in die späte Nacht hinein – und alle mit großen Augen um den Tisch herum, die Eltern, der alte Forstwart und die neuen Jagdgehilfen, der weißhaarige Dekan und der Schulmeister, der vor Jahren am Förstner-Poldi seine dicksten Haselnußstecken entzweigepredigt hatte. Und die wunderlichen Gesichter, die sie machten zu seinem Durcheinander von heimischem Dialekt und seemännischem Platt, das er sich an Bord von den Matrosen angewöhnt hatte! Das war das einzige, was dem Vater an seinem Buben nicht gefiel. »Ist alles recht«, meinte der Alte, »aber kein Vogel sollt das Gesangl vergessen, das er gelernt hat in seinem Nest!« Da hatte sich Poldi alle Mühe gegeben, beim Erzählen die Sprache der Heimat wiederzufinden. Aber das wollte ihm nicht recht gelin7
gen. Damals vor sieben Jahren, als er an Bord gekommen, hatten ihn die anderen wegen seiner heimatlichen Sprache immer gehänselt und hatten ihm, weil er so gerne von seiner Mutter redete, den Spitznamen ›Muatterl‹ gegeben, wobei sie das ›u – a‹in die Länge zogen, als wär's ein Gähnen. Um diesem Spott zu entgehen, der ihm oft die Tränen in die Augen trieb, hatte er seine Zunge gemartert, bis sie sich an das Platt der anderen zu gewöhnen begann. Und die jahrelange Gewohnheit dieses fremden Klanges sollte er nun in der ersten Stunde unter dem Dach seiner Eltern wieder abwerfen, weil sich der Vater ärgerte über diese Sprache, die er nur halb verstand, und weil die Mutter so wehmütig lächelte bei diesen fremden Lauten, die ihr nur an das Ohr klangen, doch nicht ins Herz. Ihr zuliebe plagte sich Poldi redlich die ganze Nacht bis zwei Uhr morgens, um wieder so reden zu lernen, wie er einst daheim als Bub geschwatzt und geplaudert hatte. Und wenn er langsam sprach, gelang es ihm auch. Doch wenn er beim Erzählen in Erregung geriet, dann ging ihm wider Willen das gewohnte Platt von der Zunge, so daß die Mutter fragen mußte: »Was, Bub? Was hast gesagt?« Aber den frohen und zärtlichen Blick seiner Augen verstand sie leicht und ganz. Und wenn er sie mit solchen Augen ansah, fühlte sie auch in ihrem Herzen: Diese fremde Sprache, das ist nur ein äußerliches Ding, das hat mit seiner Liebe zu Mutter und Vater, mit seinem Festhalten an der Heimat nichts zu schaffen. »Bist halt doch mein Bub noch, gelt!« Diese Erkenntnis machte sie wieder froh – und wie Poldi sich plagte, so zu reden, daß ihn die Mutter verstehen möchte, so gab die Mutter sich alle Mühe, ihren Buben so zu verstehen, wie er redete. Der Vater brummte und lachte dazu – und so löste sich für Poldi der unbehagliche 8
Mißton, der seine Rückkehr ins Elternhaus schon bedroht hatte, zu glücklicher Heiterkeit. Und dann dieser feste, gute Schlaf in dem Stübchen seiner Schulzeit, in dem alten Bett mit den geblumten Kissen! Und jetzt dieser zaubervolle Morgen! Und Urlaub für zwei herrliche Wochen! Nur rasten – nichts anderes wollte er – nur rasten, so recht von Herzen die Ruhe in der Heimat genießen und die linde Sonne trinken, die Berge schauen, nur immer so sitzen wie jetzt! Wie schön das war! Dieses lächelnde Träumen unter dem leuchtenden Maienhimmel, wunschlos und fern von aller Unruh in der Welt da draußen, jede Minute wie ein ganzer Tag in stillen Herrlichkeiten! Auf dem Hausdach zwitscherte das Schwalbenpärchen. Doch plötzlich schwiegen die Zärtlichen und huschten unter den Vorsprung des Daches, wo das halbgebaute Nest an der Mauer hing. Ein Sperber war vom Walde her über das Haus geflattert. Auch in den Ulmen, in der Fichtenhecke, überall schwiegen die Vogelstimmen. Doch nicht lange. Nach einem Weilchen tönte schon wieder von allen Ecken das zärtliche Gepisper, das Locken und Schlagen. Aus dem offenen Hausflur klang die lebhaft heitere Stimme der Försterin, die sich in der Küche um die Leibspeisen ihres Buben sorgte und der alten Köchin von 9
Madagaskar erzählte, von den Elefanten auf Ceylon und von den indischen Tigern. Und in der Kanzlei, deren Fenster offen stand, brummte der Förster mit einer Bäuerin, weil sie Waldstreu in einer jungen Schonung gerecht hatte. Ein doppelter Forstfrevel! Denn erstens ist das Streurechen im Frühjahr überhaupt schon ein Kapitalverbrechen am Wald, der im frischen Safttrieb und bei den gefährlichen Nachtfrösten seine sichere Bodenwärme braucht. »Dir tät's auch nicht taugen, wenn du bei der ärgsten Kälten im warmen Bett liegst, und es reißt dir einer die Zudeck weg!« Und zweitens gehört der Staatswald nicht den Bauern – und was einem anderen gehört, das soll man in Ruh lassen! Diese alte Weisheit unterstrich der Förster mit so kräftigem Ton, daß der lächelnde Träumer, der draußen unter dem offenen Fenster saß, aus seinen schauenden Gedanken erwachte. Er tat einen Blick in die Runde und legte die Arme auseinander, als stünde der schöne, sonnige Frühlingsmorgen wie ein Glück vor ihm, das sich umarmen ließe. »Freilich, ja«, meinte die Bäuerin in der Kanzlei, »aber wenn die Kuh ihr Sach halt haben will! Und wenn's schon so ist in der Welt, daß das Beste allweil einem andern gehört!« »So? Und da muß man gleich stehlen, meinst? Nette Grundsätz! Brav! Jetzt mach, daß du weiterkommst, gelt! Und sei froh, daß gestern mein Bub heimgekommen ist und daß ich eine Freud im Haus hab! Sonst tät ich die Anzeig machen, und du könntest für acht Tag ins Loch spazieren! Soll's halt gut sein für heut! Punktum und Streusand drauf!«
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Die Bäuerin kam aus der Haustür, machte vor dem jungen Seemann ein Buckerl, als wär's der hochwürdige Herr Dekan, und sagte demütig: »Vergelts Gott, Herr Poldi, weil d' wieder daheim bist!« Poldi lachte, ohne den schlau vergnügten Blick zu gewahren, den die Bäuerin über das Kanzleifenster huschen ließ. Im Glanz dieses Morgens wurde alles für ihn zu traulicher Schönheit, und die alte verschmitzte Walddiebin verwandelte sich in ein liebes, freundliches Menschenkind, mit dem sich herzlich und heiter schwatzen ließ. Dann wieder dieses wohlige Ruhen, dieses lächelnde Träumen, das trinkende Schauen über den glitzernden See hinaus und in die blauen Berge – bis ihm eine linde, schmeichelnde Hand über das lockige Blondhaar streifte. Die Mutter stand vor ihm, halb städtisch und halb wie eine Bäuerin gekleidet, mit der weißen Küchenschürze. Ihr Haar war grau, doch in der Sonne schien es noch blonden Schimmer zu haben. Keine alte Frau. Sie hatte kaum ein paar Jährchen über die Vierzig. Aber in ihrem Leben waren Jahre, die doppelt und dreifach zählten. Sieben Jahre des Harrens, sieben Jahre der Sorge um ihren Buben hatten sich mit scharfen Linien in ihr Gesicht geschrieben und ihre Augen schwermütig und ernst gemacht. Doch an diesem Morgen sah sie aus, als wäre ihr mit dem Sohn auch ein Stücklein der eigenen Jugend wieder zurückgekommen. Stolz und Freude glänzten ihr aus den Augen, und eine Zärtlichkeit wie mildes Feuer war in ihren Worten, als sie sagte: »Gelt, Bubele, daheim ist's halt am schönsten?« 11
Er nahm ihre Hände und sah mit glücklichem Lächeln zu ihr hinauf. »Ja, Mutting!« Doch er merkte gleich, daß sie das fremde Wort nicht gerne gehört hatte – und drückte ihre Hände an seine Wange. »Mutterl, mein gutes!« Und nach einer Weile sagte er: »Weißt, meine Kameraden an Bord, wenn die von daheim so spraken hewwen... bei denen heißt es halt: Mutting. Dat is mi so im Ohr blewen. Und tausendmal hab' ich es gesagt... so oft ich heim hab' denken müssen.« Da strich sie ihm wieder mit der Hand übers Haar, zärtlich und langsam. »Sag halt, wie du magst! Ist der rechte Klang drin, schau, so ist jedes Wörtl gut.« Sie setzte sich zu ihm auf die Bank und fing zu erzählen an, vom Haus, das man hatte umbauen müssen, weil der Regen überall durch das morsche Dach gegangen war – und vom Garten, der vor sieben Jahren ganz anders ausgesehen hatte wie heute. Die hohe Fichtenhecke war damals noch eine magere Reihe kleiner Pflanzen gewesen, junge Setzlinge hatten sich inzwischen zu schattenden Bäumchen ausgewachsen, und von den Ulmen des Gartens hatte man eine vierhundertjährige fällen müssen, denn die Jagdgehilfen hatten, um ihre Büchsen einzuschießen, eine Scheibe an den Stamm genagelt, und schließlich war der Baum mit Bleikugeln so gespickt, daß die Krone dürr wurde. Mit aufgeregtem Gesicht erschien die alte Köchin unter der Haustür: Die Frau Försterin möchte doch nachsehen, ob der Teig für den Äpfelstrudel dünn genug ausgezogen wäre. »Leg ein Zeitungsblättl drunter! Kann man durchlesen, so ist der Teig gut!« 12
Aber besser war's doch, wenn die Försterin selber Nachschau hielt; denn an dieses erste Mittagsmahl in der Heimat, an diesen Parademarsch aller Leibspeisen, sollte ihr Bub noch denken müssen ›da hinten in Mexiko und da drüben in der Japanei!‹ Sie erhob sich und nahm den Blondkopf des Sohnes zwischen die Hände. »Laß dir halt die Zeit nicht lang werden, gelt! Ein Stündl muß ich schon in der Kuchl bleiben. Und der Vater hat Kanzleitag heut. Was tust denn derweil?« »So sitzen halt! Und schauen! Was Lieberes weiß ich mir nicht.« »Magst denn nicht ein bißl ins Dorf gehen?« Sie meinte in ihrem glücklichen Stolz: ›Daß doch die Leut meinen Buben sehen!‹ Aber sie sagte: »Daß doch schauen kannst, was deine Kameraden machen! Ja, Bub, die sind große Mannsbilder worden, alle! Dem Schulmeister der seinig! Und der Fischernaz! Und 's Nagelschmieds Domini! Den, mein' ich, freut's am meisten. Schau, dem sind Vater und Mutter derweil gestorben.« »Geh!« Er sagte viel mit diesem kurzen, bekümmerten Wörtchen. »Ja, Mutter, hast recht! Da möt ick hinschauen, zum Dom'ni! Und gleich!« Sie lief in den Hausflur und brachte ihm die Schirmmütze mit der Goldborte – ganz vorsichtig, zwischen den Fingerspitzen, trug sie dieses kostbare Ding. Und dann blieb sie in der flimmernden Morgensonne auf der Hausschwelle stehen und sah in ihrem Glück und Stolz dem 13
Buben nach, der über den leuchtenden Kiesweg auf das Tor der Hecke zuging. Wie schmuck er aussah in seiner knapp sitzenden Seemannstracht, in der kurzen Jacke mit den blitzenden Goldknöpfen, die schimmernde Mützenborte um das Blondhaar! Das hübsche Gesicht, in dem sich heitere Gutmütigkeit seltsam mischte mit jenem strengen Ernst, den die Stunden dunkler Gefahr in junge Gesichter zeichnen, war von der Tropensonne so dunkel gebräunt, daß das Bärtchen auf der Lippe und der leicht gekräuselte Flaum der Wangen fast weiß erschienen. Etwas ruhig Wiegendes war in der Art, wie er sich hielt – der Schritt energisch, und doch der Gang ein wenig schwerfällig, wie man sich das an Bord eines rollenden Schiffes so angewöhnt. Als er an der Hecke das Gatter öffnete und auf die Straße trat, kam der Vater aus dem Haus und blieb neben der Mutter stehen – in brauner Lederjoppe mit dem goldenen Eichenlaub auf grünem Stehkragen, ein derbknochiger Mann, im groben Wetter der Berge gehärtet, mit grauem Vollbart und über der furchigen Stirn einen dicken Haarschopf, der sich im Ärger der Kanzleistunden wie elektrisch gesträubt hatte. Dem Gesicht war es anzusehen, daß Beruf und Leben dem Förster Hohenleitner mehr Verdruß als Freude bereitet hatten. Aber das Vaterglück dieses Tages hatte auch in diesen müd-verdrossenen Augen einen hellen, heiteren Schimmer geweckt. »Wo geht er denn hin?« »Ein bißl ins Dorf halt. Dem Domini ›Grüß Gott‹ sagen.« 14
Poldi war schon auf der Straße verschwunden. Doch die beiden hörten noch seinen Schritt und ließen die Augen in freudigem Betrachten über die Hecke hingleiten, als wäre sie durchsichtig. Und schmunzelnd legte Hohenleitner den Arm um den Hals seiner Frau: »Gelt, Mutter, jetzt hat's der Herrgott halt doch mit unserem Buben noch gut und recht gemacht!« »Halt ja!... Freust dich, Xaverl?« »Und wie!« Sie schmiegten sich aneinander wie junge Liebesleute und lauschten. Denn vom Nachbarhaus herüber hörten sie die Stimmen, die ihren Buben begrüßten. Was das ein Aufsehen gab: der Förstner-Poldi wieder daheim! Mit einer Goldborte! Wie der Bezirksamtmann am Fronleichnamstag! Poldi brauchte eine Stunde, bis er an den paar nächsten Häusern vorüberkam. Überall rannten die Leute an die Zäune und schwatzten mit ihm und wollten gleich was erzählt bekommen. Und immer stand ein Häuflein Kinder um ihn her, die mit großen, staunenden Augen an ihm hinauf guckten, denn sie sahen nicht nur den FörstnerPoldi und die Goldborte, sie sahen ein riesenhaftes Schiff mit weißen Segeln, Wasserwogen wie Berge, Neger und Löwen, Haifische und Indianer. Auch in Poldi begann etwas zu erwachen, das der Märchenstimmung glich, die aus den Augen der Kinder leuchtete. Die Freude und Freundlichkeit, mit der ihn alle 15
Leute begrüßten, wärmte sein Herz; und das Gefühl, daß er für das Dorf eine Hauptperson geworden, um die sich alles zu drehen anfing, weckte etwas wohlig Heißes in seinem Blut, einen heiteren, glücklichen Stolz. Und wie die Augen der Kinder bei Poldis Anblick in märchenhafte Ferne schauten, so blickten seine eigenen Augen auf Schritt und Tritt zurück in die lieben Märchen der entschwundenen Kinderzeit. Da stand die Linde, in deren Gezweig er seine ersten Kletterversuche gemacht und sein erstes Höschen zerrissen hatte! Da standen die Apfelbäume, von denen er heimlich die verbotenen Früchte genascht – die erste Sünde seines Lebens. Das waren die Zäune, durch die er geschlüpft, die Wiesen, in deren kühlem Gras er gelegen, wenn ihm von Spiel und Lauf die Wangen glühten. Dieses schmale Sträßlein neben dem See, das war der Weg zur Schule, dieser rauhe Kriegspfad seiner Knabenzeit! Und am Ufer kannte er jeden Fleck – hier, in der kleinen Bucht hinter dem alten Badehäuschen, hatte er am liebsten mit der Angelrute gestanden – hier, wo das Wasser seicht wurde über weißem Kies, war er mit aufgestülptem Höschen an jedem Sommertag in den See gewatet, um die flachen Kiesel für seine Schleuder zu suchen, oder um das Schifflein, das er aus einer Borkenrinde geschnitten und mit weißen Lappen aufgetakelt hatte, in den Wind zu setzen für eine Fahrt, die immer mit einem Schiffbruch endete! Dort stand des Nagelschmieds Schiffhütte, das geheimnisvolle Paradies seiner Knabenfreuden, die ›Räuberhöhle‹ und ›Festung‹, die er mit seinem ›Blutsbruder‹ Domini gegen alle feindlichen Mächte siegreich verteidigt hatte. Und da drüben vor dem Garten des Altwirtes schwamm das große Fährfloß, bei dem er 16
das kleine Weber-Dorle aus dem Wasser gezogen hatte. Die Fähre war schon seit Jahren außer Dienst gestellt, denn Kielboote und Motoren vermittelten den gesteigerten Verkehr zwischen den Ufern – aber das alte Fährfloß mit den schwarzen, schlüpfrigen Balken schwamm noch immer im See. Auch sonst war vieles anders und neu geworden im Dorf. Die Häuser hatten sich verändert, um dem Geschmack der Städter zu dienen – fast an jedem Hause hing ein großer Zettel mit der Inschrift: ›Sommerwohnung‹ und ›Fremdenzimmer‹ –, neue Villen mit roten Ziegeldächern lugten zwischen den Baumkronen hervor, an der Seestraße entlang erhoben sich Stangen mit den Telephon- und Telegraphendrähten, und über alle Dächer hinaus ragten die plumpen, grüngestrichenen Masten der elektrischen Leitung. Den klugen Einfall, die gute und billige Wasserkraft der Ache für die Erzeugung elektrischen Lichtes nutzbar zu machen, hatte Nagelschmieds Domini gehabt. In einem langen, arbeitslosen Winter hatte der junge Bursch alles Eisenzeug für die Anlage und Leitung mit eigener Hand geschmiedet – und hatte seine Trauer um Vater und Mutter, die damals im Herbst gestorben waren, in das glühende Eisen hineingehämmert. Zuerst hatte man im Dorf über den ›neumodischen Planer‹ gelacht – bis der Erfolg die Leute bekehrte. Nach drei Jahren waren alle Schulden, die Domini für die Anschaffung der Dynamomaschine hatte machen müssen, bis auf den letzten Heller abbezahlt. Und im vergangenen Winter hatte man den ›Lichtschmied‹, wie man ihn zu nennen anfing, in den
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Gemeinderat gewählt – der erste Fall, daß man einem ledigen Burschen so ernste Würde übertrug. Als sich Poldi auf dem Seesträßlein der Nagelschmiede näherte, aus deren Werkstätte der rastlose Schlag der Hämmer tönte, konnte er's dem alten Haus auch von außen ansehen, daß unter dem Dach des Domini der Wohlstand einzukehren begann. Die Mauern waren frisch getüncht, Haustür und Fensterläden neu gestrichen, milchblau mit roten Linien, und im Garten waren Taglöhner beschäftigt, um den Zaun zu bessern, die neu angelegten Wege zu bekiesen, Bäumchen zu setzen und die Beete umzugraben. Das Haus, das vor sieben Jahren ein verwahrloster und brüchiger Bau gewesen war, schien wie für ein neues, festliches Leben aufgeputzt, wie geschmückt für ein wartendes Glück, das seinen Einzug halten wollte! Und über seinem Dach die strahlende Sonne, der Himmel in seinem reinen Blau, um die Mauern her ein Kranz von blühenden Obstbäumen – und das alles spiegelte sich im See, der sich mit einer windstillen Bucht bis an den Zaun des Gartens heranbog. Zu der warmen Sonnenfreude, die der schöne Morgen in Poldis Herz hineingeleuchtet hatte, kam beim Anblick dieses verwandelten Hauses noch die Freude über das werdende Glück des Freundes, der ihm von allen Kameraden immer der liebste gewesen, obwohl sie im Alter um fünf Jahre auseinander waren. Er machte raschere Schritte, als könnte er den Augenblick nicht erwarten, in dem er die Hände des Freundes in den seinen halten und zu ihm sagen durfte: ›Gelt, Domini, aus dir und mir ist was geworden! Jetzt hat ein jeder 18
von uns sein gutes Glück in der Hand – aber das deinige ist das bessere, weil es daheim ist – das meinige liegt in der Welt da draußen!‹ Schon wollte er von der Seestraße in den Fußweg einbiegen, der zur Nagelschmiede über eine Wiese führte, die mit Butterblumen gelb übersät war. Da ging ein junges Mädchen an ihm vorüber, das mit einem großen, steinernen Henkelkrug vom Altwirt kam – eine Gestalt, so zierlich schlank, als wäre eine zarte Städterin in dieses grobe, mit wenig Kunst geschneiderte Wollkleid verwunschen. Der derbe, braun und blau karierte Stoff wollte sich nicht in Falten schmiegen, und dennoch erkannte man die feinen Linien des jugendlichen Körpers, der sich unter dem Gewicht des schweren Kruges elastisch gegen den freien Arm zur Seite neigte. Ein weißes Kopftuch war offen um die Zöpfe gelegt, und unter dem Dächlein des Tuches lugte aus goldigem Schatten ein schmales, sanftes Gesichtchen hervor, mit rosigen Farben, mit spielenden Grübchen in den Wangen, ein freudig verlegenes Lächeln um den roten Mund und erregten Glanz in den nußbraunen Augen, über denen sich ein widerspenstiges Ringelchen des dunklen Haars in die weiße Stirn lockte. Sie zögerte ein wenig und machte kleinere Schritte, als möchte sie angesprochen werden – doch Poldi stand nur und schaute – und da wurde sie noch verlegener: grüßte ganz leise und ging vorüber. Er sah ihr nach. »Herr Gott, wat en smuckes Mäten!« Das war ihm so auf die Lippen gekommen, er wußte nicht wie! Wer war das Mädel? 19
Er meinte sie zu kennen – – Und jetzt stand sie da drüben still und sah sich um – nur ein wenig, mit halbem Gesicht, für einen flüchtigen Blick nur, dann ging sie hastig weiter und verschwand hinter einer Hecke, über deren grünen Saum ihr schimmerndes Kopftuch hinglitt wie ein silberweißes Täubchen, das über die Zweige trippelt. Wer war das Mädel? Immer suchte er in seiner Erinnerung und konnte dieses Gesichtchen nicht finden. War's eine Fremde im Dorf? Und hatte ihre Neugier nur seinem blauen Tuch und der Goldborte an seiner Mütze gegolten? Warum aber war sie so seltsam verlegen? So merkwürdig erregt? »De möt mi kennen!« Er suchte und suchte – – Wie alt sie wohl sein mochte? Zwanzig! Oder neunzehn erst? Kannte sie ihn, und war sie im Dorf daheim, so mußte sie damals, als er die Heimat verlassen hatte, ein zwölfjähriges Dingelchen gewesen sein! Alle die Kindergesichter, an die er sich erinnerte, ließ er an seinem Blick vorübergleiten – immer suchte und suchte er – – und als er in der Nagelschmiede unter die Tür 20
der Werkstatt trat, hatte er völlig vergessen, daß er dem Domini sagen wollte: ›Aus dir und mir ist was geworden! Du und ich, von uns beiden hat jeder sein Glück in der Hand!‹ Ganz verträumt, noch immer mit suchenden Augen, blickte er in den dämmerigen Raum mit den geschwärzten Mauern, die von der großen, glutstrahlenden Esse mehr Licht empfingen als von den kleinen Fenstern und der halb geöffneten Tür. Helles Klingen und hastiger Hammerschlag, dazu das schwere Fauchen des Blasbalges, der die Glut der Kohlen schürte, und das Sausen des Schwungrades, dessen Treibriemen durch zwei Mauerlöcher hinauslief in die Turbinenkammer. Und draußen das Rauschen und Geplätscher der Ache und der schütternde Lärm des Wasserwerkes. Alle Ecken des Raumes waren mit langen Eisenstangen angefüllt, und rings um die Mauern standen vier Gesellen vor den Nagelbänken, jeder bei einer kleinen Esse, jeder Gesell in der Linken das glühende Stabeisen und in der Rechten den rastlosen Hammer. Immer ein Dutzend flinker Schläge, und der fertige Nagel, noch ein wenig glühend, federte aus dem Kopfloch heraus und sprang in eine Eisenschale, um sich auszukühlen und geduldig abzuwarten, wem er dienen würde, dem Tischler, der für ein junges Glück den Hausrat bosselt, oder dem Schreiner, der die Särge macht. Vor der großen Esse, aus deren Höhle der rote Glutschein leuchtete, stand ein mächtiger Amboß inmitten des Raumes. Ein Lehrbub hielt in langer Zange einen weißglü21
henden Eisenklumpen, und Domini, mit nackten, rußgeschwärzten Armen, in dunklem Wollhemd, eine blauleinene Überhose über dem Beinkleid und mit dem ledernen Schurzfell, schwang über dem glühenden Eisen den schweren Streckhammer. Bei jedem Schlag ging ein Sprühregen blitzender Funken nach allen Seiten aus; das war über dem Amboß wie das Bild einer Sonne, während an den Nagelbänken nur kleine Sterne aufloderten. Schweigend legte Poldi seine Hand auf die Schulter des jungen Schmiedes. Domini ließ den Hammer rasten und drehte den Kopf. Als er den Freund erkannte, nickte er und lachte – in seinem berußten Gesicht blinkten die weißen Zähne wie beim Lachen eines Negers. Und Domini schien einer von den Menschen zu sein, in denen die Freude langsam wächst. Die paar zögernden Worte, die er sagte, blieben unverständlich bei dem Hammerschlag der Gesellen und bei all dem Lärm, der in der Schmiede herrschte. Dann aber glänzte es in seinen Augen auf, und er machte eine Bewegung, als wollte er den Freund an die Brust drücken. Doch lachend sah er seine Hände und sein Schurzfell an – und weil nun auch von den Gesellen einer nach dem andern den Hammer ruhen ließ, um in Neugier den Gast und die Goldborte an seiner Mütze zu betrachten, konnte Poldi verstehen, wie Domini zu dem Lehrbuben sagte: »Tu das Eisen in die Glut!« Lachend ging der Schmied auf einen Wasserbottich zu und begann die Hände und das Gesicht zu waschen.
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Alle Hämmer schwiegen. Nur der Blasbalg fauchte, mit Rauschen fuhr der Luftstrom durch die wachsende Glut der Esse, und draußen brummte die Turbine. Domini trocknete sich mit einem Handtuch, das er wie ein Mensch, der an Ordnung gewöhnt ist, wieder an den Nagel hängte. Dann kam er auf Poldi zugegangen. Dabei sah man, daß er mit dem rechten Fuß ein wenig hinkte – vor zehn Jahren, als er bei seinem Vater in der Lehre gestanden, war einem Gesellen während der Arbeit der Stiel des Streckhammers entzweigebrochen, und das schwere Eisen hatte dem Buben das Schienbein zerschlagen. Ganz war der Schaden nicht wieder gut geworden – und Dominis Vater und die anderen im Dorf hatten damals gesagt: »Was der Bub ein Glück hat! Jetzt muß er nimmer Soldat werden und kann daheimbleiben!« Lachend streckte der Schmied dem jungen Seemann die beiden Hände hin. »Grüß dich, Poldi! Die Freud, daß du wieder daheim bist! Ich wär schon gestern abend gern hinuntergekommen, Grüß Gott sagen. Aber weißt, ich hab zur Weberin hinauf müssen.« Es war etwas Langsames in seiner Art zu reden. Als dächte er sich bei jedem Wort viel mehr als er sagte. »Und heut in der Früh hat die Arbeit wieder angehoben. Die Leut, die pressieren halt. Aber allweil ist mir's fürgangen: Du kommst! Und Vergelts Gott halt, daß du denkt hast an mich! Gelt, bist mir noch allweil gut?« Poldi sagte kein Wort. Er lachte nur und drückte die Hand des Kameraden.
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»Aber geh, komm! Jetzt setzen wir uns ein bißl hinaus in die Sonn. Arbeit ist da wie Wasser beim Regen. Aber dir z'lieb leidet's schon ein Feierstündl! Und draußen hast ein leichters Reden!« Als sie zur Türe gingen, drehte Domini das Gesicht nach den Gesellen zurück. »Machts weiter, Leut!« Wieder klangen die Hämmer. Die beiden traten hinaus in den Glanz der Sonne, in den Duft der blühenden Apfelbäume, in allen Maienzauber des schönen Morgens. »Wart ein bißl!« sagte Domini und wischte sorgfältig mit dem Schurzfell die Hausbank ab. »Daß dir keinen Schaden tust an deiner nobligen Montur... Herr Kapitän!« »Kapthein! So weit sind wi noch lang nich! Aber wat nich is, kann noch werden!« Nun lachten sie alle beide, Poldi über seine Kapitänswürde und Domini über die fremdklingende Sprache, die er da zu hören bekam. Eine Weile saßen sie schweigend auf der Bank, und einer sah dem anderen in die Augen. Und Poldi nickte, als gefiele ihm, was er sah. Denn er merkte gleich: Aus dem übermütigen Kameraden von einst war ein ruhiger und ernster Mensch geworden, der weiß, was er will im Leben und der was vorwärtsbringt.
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Domini ging ins achtundzwanzigste Jahr. Doch er sah älter aus. All diese Jahre der Arbeit und Sorge, bis der Erfolg erzwungen war, hatten sich mit einer Furche auf seine Stirn und mit Gewicht auf seine Schultern gelegt. Aber das war ein Buckel, der schon was tragen konnte – eine Gestalt, gesund und fest, als hätte sie was von dem Eisen angenommen, das die Fäuste schmiedeten. Und dazu der richtige Mannskopf, nicht hübsch, und doch ein Kopf, den man gern betrachtete. Das braune Haar war kurz geschoren und das Gesicht rasiert, denn der Ruß einer Schmiede hängt sich in Haar und Bart, daß man den ganzen Tag zu waschen hätte und doch nicht sauber würde. Aber so ernst dieses glatte Gesicht auch war – wenn Domini lachte, bekamen seine harten Züge etwas Gutmütiges. Oder ging das von seinen Augen aus, die so klug zu schauen wußten und so hellen Schimmer hatten? Das waren die Augen eines Glücklichen, der die Freude seines Lebens gesichert weiß. Und dieser Glanz in seinen Augen wurde auch nicht trüb, als er sagte: »Gelt, einschichtig ist's worden bei mir im Haus! Vater und Mutter sind nimmer da.« Poldi legte die Hand auf Dominis Arm. »Gott lat de ollen Lüt selig rauhn!« Ein tiefer Atemzug hob die breite Brust des jungen Schmiedes, obwohl er ganz ruhig sprach. »Unser Herrgott soll s' selig haben! Sind gute Leut gewesen, der Vater und die Mutter! Und hart ist mir's worden in der ersten Zeit, so einschichtig weiterzuhausen. Ein Trost, daß ich schaffen und würgen hab müssen wie ein Narr. Sonst war mir 's Häusl und 's Geschäft auf der Gant hinuntergerutscht ins Wasser. Der Vater hat sich aufs Hau25
sen nicht verstanden... weißt ja selber, wie er gewesen ist, so viel gut, jeder hat ihn anschmieren können... und auf die Leut, die ihm schuldig gewesen sind, hat er allweil vergessen. Wie ich's Haus übernommen hab', ist's ein Elend gewesen vom Keller bis nauf ins Dach! Aber jetzt, Gottlob, jetzt geht's aufwärts!« Seine glänzenden Augen sahen über die blühenden Apfelbäume weg, als wäre da draußen in blauer Ferne etwas wundersam Schönes zu sehen. Dann lachte er plötzlich und faßte Poldis Hände. »Schau, so viel freut's mich, daß d' wieder daheim bist! Aber geh, verzähl doch ein bißl! Wie hat's dir denn allweil gangen? Und was bist denn jetzt? Ausschauen tust wie am Feiertag die goldige Herrgottfreud in der Kirch! Und deine lieben Augen von unserer Bubenzeit, die hast noch allweil!... Aber geh, so red doch ein bißl!« Poldi begann zu erzählen. Zuerst wie einer, der an andere Dinge denkt. Aber Dominis Lachen verscheuchte schließlich diese seltsam verträumte Stimmung, so daß es bald ein lustiges Schwatzen zwischen den beiden wurde. Und ihre Sprache kam sich immer näher. Weil Domini das Platt nur halb verstand und immer ›ausgedeutscht‹ haben wollte, was der andere sagte, gab sich Poldi wie am vergangenen Abend daheim wieder alle Mühe, den Schnabel laufen zu lassen, wie er ihm einst in der Heimat gewachsen war. Und immer näher rückten die beiden aneinander, mit den Schultern wie mit den Herzen. Auch was sie sprachen, drängte vom weiten Meer da draußen und aus dem Gluthauch der Tropensonne in die Heimat zurück. Alle tollen Streiche ihrer Knabenzeit wurden aus der großen Schachtel der Erinnerung herausgekramt. Das gab ein so fröhliches Lachen, daß die Schmiedgesellen, die ihren Meister so lustig noch nie gesehen hatten, mit 26
neugierigen Gesichtern durch die verstaubten Fenster der Werkstätte herausguckten. »Gelt, Domini?« Poldi legte den Arm um den Hals des Kameraden. »Gelt, wir sind allweil die alten, wir zwei?« »Ja, Bub, da hast recht!« »Und jeden Tag komm ick ruf tau di... « »Ja, Bub, jeden Tag mußt kommen... weißt, wann Feierabend ist! Oder ich komm zu dir ins Forsthaus nunter!« »Ih, nicks nich! Du mußt schaffen! Aber ich hab Zeit! Ick komm tau di! Ich zu dir! Un da sollst mal seihn... paß auf Dom'ni, was für eine lustige Zeit das wird, solang ich im Urlaub bin!« Dann mußte wieder der Domini erzählen. Der aber wollte lieber zeigen, als vom Erfolg seiner Arbeit schwatzen. »Geh, komm, meine Maschin, die mußt dir anschauen! Und den Akkumelater! Der funkzaniert schon großartig!« Durch die Werkstätte gingen sie in einen Neubau, den Domini den ›Lichtstadel‹ nannte. Eine weißgetünchte Halle war's, die Decke von zwei eisernen Säulen getragen. Hier stand die Dynamomaschine und sauste. Von den kupfernen Drahtbürsten, die auf der Leitungsrolle schleiften, stoben mit blauem Schein die elektrischen Funken auf. Und ein Geruch wie nach Essig erfüllte die Halle. Der kam von den Akkumulatoren her, in deren großen Plattenkufen die Säure unter der Spannung des Stromes kochte. 27
Umständlich, jeden Satz mit ein paar verstümmelten Fremdwörtern spickend, fing Domini zu erklären an, wie der elektrische Strom in der Maschine erzeugt und in den Akkumulatoren für den Gebrauch des Abends gesammelt würde, um in zehn Leitungsschlingen über das ganze Dorf zu laufen: »Unterdorf, Wechsel Numero eins bis viere... Oberdorf, Wechsel Numero eins bis sechs.« Poldi verstand das alles vom Schiff her zur Genüge; aber er wollte dem Freund eine Freude machen, stellte sich neugierig und ließ sich belehren. Sah er doch, wie dem Domini der Stolz auf dieses Werk, das er zur Hälfte mit eigenen Händen geschaffen hatte, aus den Augen leuchtete und auf den Wangen brannte. Als sie den schmalen Gang zwischen den Plattenkufen durchschritten und Poldi sich schwatzend umdrehte, drückte ihm Domini ganz erschrocken die Arme an den Leib: »Jesus, Bub! Jetzt wärst mir aber schier mit dem Ellbogen an die Drähte angekommen! Du, da hättst dich schön auszahlen können!« Poldi lachte. »Ach je, so gefährlich is dat nich!« »So? Meinst?« Domini wurde ganz ernst. »Das versteh ich besser, weißt! Da könnt einer hin sein! Der Elektri, der hat eine Kraft wie vierzehn Roß. Wenn da einmal die Verbindung da ist, schau, da geht's wie mit der Lieb'... da läßt's nimmer aus! Und da braucht's bloß ein einzig's Rührerl an den richtigen Draht. Das ist mir allweil die ärgste Sorg, daß im Ort einmal was passieren könnt... weil d' Leut halt so viel unverständig sind! Und ist ein Kurzschluß da oder fehlt was an der Leitung, da renn ich allweil gleich wie ein Narr, daß alles wieder in Ordnung 28
kommt.« In seiner Sorge ließ er Poldis Arme nicht mehr aus den Händen und schob ihn zur Türe. »Machen wir lieber, daß wir nauskommen! Und weißt, mein Gartl, das mußt auch noch ein bißl anschauen! Gelt?« Nun standen sie wieder draußen in der Sonne, in dem grünenden Garten hinter der Werkstätte, und Poldi mußte das Sommerhäuschen bewundern, das Domini an den Feierabenden der letzten Wochen gezimmert hatte, mußte von jedem Beet, das die Taglöhner umgruben, die Blumen erfahren, die da wachsen sollten, und von jedem blühenden Apfelbaum die Sorte, die da reifen würde. »Die Blüt könnt heuer nicht schöner sein!« sagte Domini mit seinem glücklichen Lachen. »Und kommt mir kein Wetter und kein Reif mehr in die Blühzeit, so gibt's ein Äpfeljahr heuer, wie schon lang keins gewesen ist! Freilich, heuer halt!... Wird schon wissen, der Herrgott, warum's heuer gar so schön maiet!« Als hätte er dem Freund ein Geheimnis anzuvertrauen, schlang er Poldis Arm unter den seinen und dämpfte die Stimme: »Komm, jetzt muß ich dir noch mein Stüberl zeigen!« Sie kamen durch eine kleine Küche in den Hausflur, in dem eine Magd die Dielen scheuerte, und traten in eine große, helle Stube. Die Wände blendend weiß, mit alten Geweihen und Bildern in neuen Rahmen. Auf den Fenstergesimsen standen Efeustöcke, deren Ranken man erst vor kurzer Zeit an den Mauern hinaufgebunden hatte, denn die Blätter trauerten noch ein wenig. Alle Möbel, in schmucken Formen aus Zirbenholz gefertigt, waren neu und glänzten im frischen Firnis. Eine allerliebste Stube! 29
Nur etwas Kaltes hatte sie noch – es fehlte ihr die Behaglichkeit, die erst der Gebrauch einem Räume gibt. Aber reizend sah sie aus. Und Poldi hielt auch mit seinem Lob nicht zurück und setzte sich gleich gemütlich in einen Lehnstuhl, dessen naturfarbenes Leder noch kein Flecklein hatte. Ein bißchen erschrocken hatte Domini die Hand gestreckt, als möchte er hindern, daß sich Poldi niedersetzte. Aber dann lächelte er. »Du darfst sitzen da! Weil du's bist, weißt! Ich selber hab mich noch nie in den Sessel gesetzt.« Poldi, der mit seinen fröhlichen Augen immer in der Stube herumguckte, schien nicht zu hören, was Domini sagte. Und lachend meinte er: »Dat Stüwel sieht ja aus wie fertig zur Hochzeit! Dom'ni, da kannst heiraten, wann du magst. Alles ist da! Fahlt nur noch 'ne lütte, nette Fru!« Dem jungen Schmied fuhr es dunkelrot über das Gesicht. Dann kam er, mit strahlendem Glanz in den frohen Augen und doch mit verlegenem Lächeln auf Poldi zugegangen und streifte ihm die Hand übers Haar, fast so zärtlich, wie es am Morgen die Mutter getan hatte. Und beugte sich nieder zu ihm und flüsterte: »Dir sag ich's, Poldi! Du bist der einzig...« Draußen im Hausflur ließen sich schlorpende Tritte hören, und der Lehrbub machte die Tür auf. »Meister...« »Bleib draußen!« rief ihm Domini zu. »Trägst mir ja den ganzen Kohlenstaub in die neue Stub herein! – Was ist denn schon wieder?« 30
»Der Zimmermann ist da und will seine Bolzen haben. Der schimpft wie narrisch!« Und richtig, von der Werkstätte herüber hörte man eine scheltende Männerstimme. »Jesus Maria!« Domini fuhr sich mit der Hand über den Scheitel. »Und recht hat er! Ich hab's ihm versprochen auf zehne.« Mit hastigen Schritten, bei denen er merklich hinkte, eilte er zur Stube hinaus. Poldi blieb im Lehnstuhl sitzen, um zu warten, bis Domini zurückkäme. Eine Weile sah er immer die geschlossene Tür an, guckte wieder im Stübchen herum und schwatzte mit heiterem Lachen vor sich hin: Jung, din Leben is gaud un recht in de Schuling! sicher vor bösen Winden Ein eigenes Haus, schmuck und fest, ein gutes Geschäft, ein freier Mensch – kann man's besser haben im Leben? Zu jeder Stunde konnte der Domini sein Glück da hereintragen in die neue Stube! Und in Aussicht schien er auch schon was zu haben – so 'ne nette, lütte Fru! Wer's auch so haben könnte, daß man nur zu sagen braucht: Heut will ich glücklich sein! Oder morgen! Träumend blickte Poldi zum Fenster hinaus, durch das die Sonne vier goldgelbe Felder auf die weiße Tischplatte malte. Wer nur das Mädel sein mochte? Diese nußbraunen Augen schienen so vertraulich zu fragen: Kennst du mich denn nimmer? 31
Das schoß ihm so durch den Kopf. Und plötzlich war er mit seinen Gedanken wieder Gott weiß wo! Weit draußen auf wogendem Meer! Und saß an der Reling des gleitenden Schiffes. Rings um ihn her die gaukelnden Bordlaternen mit ihren weißen, roten und grünen Lichtern – unter ihm das Rauschen der Kielwoge und draußen die Nacht, das schwarze Meer, die uferlose Ferne. Und wieder träumte er, was er hundertmal schon geträumt hatte: ein kleines, rotes Haus in grünem Garten, die Sonne drüber und am Fenster ein weißes, liebes Gesichtchen mit Augen, die in Sehnsucht nach den silbernen Wölklein am blauen Himmel spähten und zu fragen schienen: ›Hat er wohl gute Fahrt? Wann kommt er heim? Wann hab ich ihn wieder?‹ Die Sonne, die so warm und goldig durch die Fenster leuchtete, schien schwüle Luft in der Stube zu machen. Denn Poldi schob die Mütze zurück und schlug die Jacke auseinander, als möchte er's ein bißchen luftiger haben. So heiß war ihm das Blut geworden. Er lachte. Aber das klang nicht heiter. »Ach jo, dat is doch Unsinn!« Ein Seemann – und ein Haus! Sein Haus ist das Schiff. Die Schwalbe hat Flügel, und ein Haus hat die Schnecke. Und ein Seemann hat's im Leben am leichtesten, wenn er allein bleibt! Oder ist das vielleicht ein Glück: ein Weib haben, das ein halb Jahr einsam sitzen und trauern muß, um vier Wochen lachen zu dürfen, wenn der Mann daheim ist im Urlaub?
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Und es geht nicht jede Fahrt wieder heim, die hinaus geht. Da muß man stehen können auf dem Fleck seiner Pflicht, wie der deutsche Seemann sie versteht – und sterben – und lachen dazu – wie der Hanne Schmitt, sein Kapitän, damals bei dem Schiffbruch an der kalifornischen Küste! Der war ein lediger Mann gewesen. Aber hat einer Weib und Kind daheim, dem wird das Sterben hart und das Lachen noch härter. Einsam – so ist's für den Seemann am besten, für alle Fälle. Seemannsglück – das heißt: an Land und in die fremde Stadt hinein und zum Abend ein Mädel in den Arm genommen, an das man am Morgen noch nicht dachte – und am nächsten Tag: »Adjüs, en annermal widder!« Das wird er wohl auch noch lernen können – so, wie's die andern treiben. Die lachten ihn immer aus, wenn ihm die Schamröte ins Gesicht fuhr und wenn ihn der Ekel faßte – weil er meinte: Man muß doch eins liebhaben, um es an sein Herz zu reißen. Aber wer das Mädel nur sein mochte? Immer sah er diese braunen Augen wieder glänzen. »Ick will den Domini fragen ...« Aber wo der Domini nur blieb? Das war doch schon eine halbe Stunde, daß Poldi so allein da in der Stube saß! Als er aufhorchte, konnte er von der Werkstatt herüber in all dem kleinen Hammerschlag auch den Klang des schweren Streckhammers hören.
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Er ging zur Türe, ging hinüber in die Werkstätte – und da stand der Domini vor dem Amboß und schlug auf das glühende Eisen los, das sich unter dem Strahlenkranz der aufsprühenden Funken zu einem jener langen Bolzen streckte, mit denen man die Dachsparren aneinander schraubt. Lachend klatschte Poldi dem jungen Schmied die Hand auf den Rücken. »Brav, min Jung! Din Hammer sleiht äwer gaud!« Erschrocken ließ Domini den Hammer sinken, und das Gesicht brannte ihm vor Verlegenheit. »Jesus Maria! Vor lauter Arbeit hab ich jetzt ganz vergessen ...« Er wollte den Hammer fortlegen. Aber Poldi sagte lachend: »Nee! Slagg man tau! Arbeit geiht allem vör. Adjüs! Und hüt abend komm runn tau mi! Denn wulln wi snaken mitanner! Gelt?« Und lachend ging er. Domini warf den Hammer fort, wusch die Hände und rannte in den Hof hinaus. Doch Poldi war schon weit auf der Wiese draußen. Und da rief ihm Domini durch die gehöhlten Hände nach: »Recht, ja auf 'n Abend komm ich nunter zu dir! Gelt?« Poldi wandte sich in der Sonne, die auf der offenen Wiese um ihn her war, winkte mit der Hand und lachte. Dann schritt er weiter, gegen das Oberdorf hinauf. Und immer wieder mußte er vor sich hinkichern, weil der Domini vor lauter Arbeit völlig vergessen hatte, daß ein Gast in der neuen Stube war. 34
Zwischen Wiesen ging er, zwischen Weißdornhecken und Bretterzäunen, zwischen Gärten und blühenden Apfelbäumen, hinter denen halbversteckt die Häuser lagen. Überall riefen ihn wieder die Leute an, freuten sich mit ihm und lachten über das ›Auslandrische‹ seiner Sprache. Doch Poldi ließ sich nur immer ein paar Minuten halten. Es ging schon auf elf Uhr, und wenn er zu den Leibspeisen, die ihm die Mutter kochte, rechtzeitig heimkommen wollte, blieb ihm nur noch ein halbes Stündchen für einen Besuch bei Schulmeister Muckel. Der war ein Bildschnitzer geworden. Ob der wohl auch an einem Hirschkopf bosseln und dabei vergessen würde, daß der Poldi da war? »Jesses, Jesses, der Förstnerpoldi! Da ist er ja! Schau!« Das rief eine alte, flink-bewegliche Frau mit heiterem Gesicht unter den grauen, dünn gewordenen Zöpfen. Und in Freude kam sie auf die Hecke zugelaufen, an der Poldi gerade vorüberging. Es war die Wirib des Webers, der vor zehn Jahren bei einer Treibjagd verunglückt war. Poldi erkannte sie gleich. Denn die Weberin hatte sich in den sieben Jahren nicht viel verändert. So graue Haare hatte sie schon früher bekommen, gleich nach ihres Mannes Tod. Aber die verweinten Augen von damals waren wieder hell und heiter geworden. Und man sah es der Weberin auch sonst noch an, daß es ihr gut ging mit Haus und Geschäft – ein rundliches Frauerl und sauber gekleidet. Bei ihrem Anblick fiel dem Poldi auch gleich das kleine Dorle wieder ein, das er vor acht Jahren beim Fährfloß aus dem See gezogen. Da hatte er mit anderen Buben auf dem Floß geangelt, und Kinder waren dabei gestanden, auch das elfjährige Dorle – und bei dem heftigen Ruck, mit dem die Fähre an das Floß gestoßen, hatte 35
das Kind einen Purzelbaum ins Wasser gemacht. Die anderen Kinder waren im ersten Schreck mit Geschrei davongelaufen – und bis der Schiffsknecht mit seiner Stange gekommen wäre, hätte das Dorle ertrinken können, wenn nicht Poldi dem Kind gleich nachgesprungen wäre. Aber der Knecht mit seiner Stange mußte noch helfen, denn die Strömung des Wassers drohte den Buben, der selber schon zu schlucken anfing und doch das Dorle nicht aus den Armen ließ, unter die Floßbalken hinunterzuziehen. Da war's nun freilich kein Wunder, daß die alte Weberin den jungen Seemann, dem sie das Leben ihres Mädels verdankte, mit solcher Freude begrüßte. Gar nicht zu Wort ließ sie ihn kommen. Über der Hecke hielt sie seine Hand gefangen, schwatzte und schwatzte, stellte eine Frage um die andere, ohne die Antwort abzuwarten – und wie sich Poldi auch sträubte, sie tat's nicht anders, er mußte ›auf ein Sprüngerl‹ hereinkommen ins Haus, um ihr ›die Ehr' zu geben‹ und ein ›Stamperl‹ von ihrem ›Johannisbeerenen‹ zu kosten. Inmitten eines mit Sorgfalt gepflegten Gärtchens stand das Weberhaus, die kleinen Fenster halb versunken hinter grünen Blumengittern, deren Stöcke zu blühen begannen. Aus einem Anbau hörte man das Geklapper der Webstühle, und durch verstaubte Scheiben sah man undeutlich ein Gewirre beweglicher Latten und die Gestalten der Gesellen, die bei Schwung und Fang der Webspule hin- und herwackelten, als hätten sie auf ihren Sesseln das Gleichgewicht verloren.
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Im Hausflur konnte man sich kaum umdrehen – so eng machten ihn die Hunderte von Garnbündeln, die an den Mauern entlang von hölzernen Zapfen herunterhingen, jedes Bündel mit einem Strick umschnürt, an dem ein hölzernes Täfelchen mit dem Namen des Eigentümers hing. Aus all diesen Garnen strömte ein starker Geruch, der an Öl und Blumen erinnerte. Doch in der Stube merkte man ihn nimmer. Da dufteten nur die Blumen, die überall im Licht der Fenster standen. Ein Stübchen, so nieder, daß Poldi mit dem Scheitel fast an die Decke reichte. Und wie ein Kramladen der Gemütlichkeit war's. Jedes Flecklein an der Wand, jedes Winkelchen der Mauern mit irgendeinem freundlichen Tand geschmückt und angeräumt: klein gebosselte Kirchen und Almhütten, Wetterhäuschen und Holzfigürchen, Rehgeweihe und kleine Ehrenscheiben vom Zimmerstutzenschießen, Heiligenbilder und Reliquienkästchen, bunte Ämpelchen und kleine Zinnleuchter – und an einem Balken, der unter der Decke durchlief, waren ein altes Gewehr und ein Revolver festgenagelt: Erinnerungen an den Vater. Hinter dem grünen Kachelofen stand ein Ledersofa, und um die beiden Fensterwände lief eine abgewetzte Holzbank. An allem Gerät war der weiße Anstrich vor Alter schon gelb geworden, die Farben der auf die Schranktüren gemalten Blumen und Herzen waren schon verblichen. Doch so gemütlich war alles! So sauber! Die blank gescheuerten Dielen in die Kreuz und Quer mit Läufern aus grauem Leinen belegt. Und nicht nur ein Stübchen war das – zugleich auch ein Vogelheim und ein Wintergarten. Denn von den Fenstern zog sich alter, großblättriger Efeu über die ganze Stube hin. Allen Schmuck der Mauern, die Gesimse der Kästen, alles Ge37
bälk der Decke hatte er umsponnen und schickte von oben wie grüne Fransen Hunderte von jungen Trieben herab, die sich alle sehnsüchtig nach dem Licht der kleinen Fenster streckten. Und überall in den Lauben des Efeus hingen kleine Vogelkäfige, an die zwanzig, mit Kanarienvögeln, Meisen, Finken, Schwarzblättchen und Grasmücken – und das war ein Gezwitscher und Gepipser, ein Getriller und Geschmetter, als wäre der ganze Liederfrühling eines großen Waldes hereingeflattert in die kleine Stube da. »Herr Jeking«, sagte Poldi und bückte sich ein wenig, weil ihn die von der Decke niederhängenden Efeutriebe an der Stirn kitzelten, »dat Stüwel is jo as en lüttes leiwes Wunner!« Augen machte er, als hätte ihm das freundliche Märchen dieses kleinen Lebens einen warmen, träumerischen Hauch ins Herz geatmet. Die Weberin hatte seine Worte nur halb verstanden und fragte mit lustiger Neugier: »Was ist mein Stüberl?« »Ein liebes, kleines Wunder.« Lachend legte die alte Frau ihre Hände über die Schürze. »Gelt ja! 's Dorle halt, weißt! Das Mädel ist wie ein Spatz, der alles ins Nestl tragt. Allbot bringt sie was daher und hängt's in der Stuben auf, bald ein Bildl und bald wieder ein Vögerl. Oft krieg ich völlig Kopfweh vor lauter Pfeiferei da herin! Aber was will ich denn machen? Wenn 's Dorle halt ihr Freud dran hat!« Da schlug die alte Standuhr hinter dem Ofen mit feinem und raschem Glockenschlag die elfte Stunde. Ein Spiel38
werk setzte ein und zwitscherte in leisen Klängen irgendein längst vergessenes Liedchen aus der Großmutterzeit. Ein paar Augenblicke schwiegen die Vögel in ihren Käfigen – und dann, als wäre der Klang der Spieluhr ein Kommando für sie, erhoben sie plötzlich alle zusammen ein lautes Trillern und Geschmetter. Bei diesem Klang und Sang und Gezwitscher wurde die Stubentür geöffnet, und auf der Schwelle stand das junge Mädchen, das drunten am See mit dem schweren Krug an Poldi vorübergegangen war. Wieder glühte ihr schmales Gesichtchen vor Verlegenheit, auf ihren Wangen spielten die rosigen Grübchen, und wieder war in ihren braunen Augen dieser erregte Glanz der Freude. Zwischen den Händen hielt sie einen kleinen Rosenstock, dem sie frische Erde gegeben hatte – und weil sie nicht wußte, wohin sie, um nur flink die Hände freizubekommen, den Blumentopf stellen sollte, machte sie ein paar so unbeholfene Bewegungen, daß die Mutter laut zu lachen begann. Aber Poldi lachte nicht mit. Er machte Augen, als hätte sich nun wirklich das ganze Stübchen in ein liebliches Wunder für ihn verwandelt. Er schüttelte den Kopf, als könnte er's gar nicht begreifen, wie das möglich war, daß er sie nicht gleich erkannt hatte, auf den ersten Blick. Langsam die Hände streckend, kam er auf Dorle zugegangen. In wachsender Verlegenheit und Freude trat sie ihm ein Schrittlein entgegen, stellte hurtig der Mutter den Blumenstock auf die Arme und fuhr mit zitternden Händen über die Schürze hinunter. Nun hielt er sie fest und drückte ihre Hände, daß sie vor Schmerz ein wenig zuckte – und stand vor ihr und schaute sie immer an, mit großen Augen, lächelnd. Und so 39
leise, daß man bei dem lauten Getriller der Vögel und bei dem Klang der Spieluhr kaum seine Stimme hörte, sagte er: »Weiß Gott, dat Kind is in de Jahren kamen...un wir ick eins nich in 't Water sprungen, so wir de Welt um wat Leiwes ärmer!« Dorle und die Weberin hatten kein Wort verstanden. Aber wie Poldi, so dachten auch die beiden an das Fährfloß drunten im See. Und die Mutter puffte das Dorle, weil es noch immer nicht reden konnte, lachend an die Schulter. »So geh, du Dschaperl! So red doch ein Wörtel! Jetzt ist er doch da! Die ganzen Jahr her hast dir's allweil gewunschen, daß d' ihm einmal dein Vergeltswort fürs Leben sagen könntest! Und seit vom Altwirt daheim bist, allweil hast geredt davon! Und jetzt stehst da und machst den Schnabel zu wie's Zeiserl, wann der Schnee fallt! So red doch! Und sag's ihm!« Zögernd, in ihrer scheuen Freude, sah Dorle an dem jungen Seemann hinauf und lispelte: »Vergelts Gott halt!« Wie glücklich sie war, wie sie sich ihres geretteten Lebens freute, ihrer blühenden Jugend und dieser Stunde – das alles sagte sie ihm mit diesem kleinen Wort. Die Spieluhr schwieg, in dem alten Gehäuse tat's einen leisen Knax, als wäre eine Feder eingeschnappt. Die Vögel wurden still, und nur ein Schwarzblättchen zwitscherte noch schüchtern, während man aus den anderen Käfigen ein hurtiges Klipp und Klapp vernahm, wenn die stumm gewordenen Sänger von einem Stäbchen zum anderen hüpften. Poldi hatte Dorles Hände aus den seinen gelassen und die Mütze mit der Goldborte auf die Bank gelegt. Dann stan40
den die beiden wieder voreinander, sahen sich lächelnd an, als möchte jedes in den Augen des anderen die vergangenen Zeiten finden. Aber so stumm sie auch waren, diese zwei – es ging doch kein Engel durch die Stube, denn die Weberin schwatzte lustig drauflos, während sie aus einem Schrank die Flasche mit dem ›Johannisbeerenen‹ und drei kleine, dicke Gläschen hervorholte. Dann brachte sie noch einen geblümten Teller mit dünn geschnittenem Gugelhupf – nun saßen sie alle drei um den Tisch herum – und da wurde Poldi plötzlich so gesprächig, als hätte er von den Gläschen, die eben erst vollgeschenkt wurden, schon eines über den Durst getrunken. Dorle, deren Wangen immer heißer glühten, lauschte mit erregten Augen, weil sie von allem, was Poldi plauderte, kaum das zehnte Wort verstand. »So«, sagte die Weberin und stellte die Flasche nieder, »jetzt trinken wir eins zum lustigen Grüß Gott!« Da gab's auch wirklich gleich ein heiteres Lachen, denn ehe man die Gläschen heben konnte, mußte man den Kopf ducken und was absaugen – die Weberin hatte es mit dem Einschenken so gut gemeint, daß sich in jedem Gläschen von dem roten Likör noch ein Buckelchen über den Rand erhob. »Zum Wohlsein!« lispelte Dorle, und ihre Augen glänzten. Sie stießen an – aber die kleinen, dicken Dinger aus grobem Preßglas hatten keinen Klang. Und beim Trinken hätte sich Poldi fast ›verschluckt‹, weil er lachen mußte – 41
denn als er den Kopf zurückneigte, um das Gläschen zu stürzen, sah er über dem Tisch an der Stubendecke, halb versteckt zwischen den hängenden Efeuranken, die Glasbirne des elektrischen Lichtes. Mit jäher Komik hatte dieser Gegensatz auf ihn gewirkt: das Stübchen des Dorle – und Edisons Erfindergeist! Hüben und drüben – die Alte Welt und die Neue! Wie das zusammenkommt! Und während er so erheitert zu der gläsernen Birne hinauflachte, fiel ihm noch was anderes ein: daß aus Dorles Stübchen ein Draht hinüber lief in die ›Lichtschmiede‹ – er brauchte nur in die Leitung da an der Wand zu greifen und einen festen Ruck zu machen – dann gab's eine Störung in der ›Verbindung‹, und der Domini würde ›wie ein Narr‹ gelaufen kommen, um ein Unglück zu verhüten. »Gelt, jetzt haben wir 's Elektri!« sagte die Weberin. »Wir haben's billig, weißt! Sonst wär ich beim Petroli blieben. Aber kamod ist der Elektri, ja, gar arg kamod! Bloß ein Druckerl darfst machen!« Sie griff in die Fensternische und drehte den schwarzen Knopf des Schalters. »Da schau, jetzt brennt's.« Beim hellen Sonnenschein des Mittags merkte man freilich nicht viel davon. Nur die mattgeschliffene Glasbirne bekam einen gelben Schein, als wäre sie vergoldet; im Gewirr der Efeuranken hellten sich die Schatten auf, und dem Dorle, das plötzlich so seltsam nachdenklich wurde, fiel ein Schimmer über das braune Haar. »Ja, ja, kamod ist der Elektri schon!« Die Weberin drehte das Licht wieder ab. »Und der Efeu wachst auch viel besser, derzeit er auf'n Abend allweil das schöne Licht 42
hat an der Decken droben... 's Petroli hat er gar nicht gut vertragen. Mein, so ein Pflanzl ist halt grad so wie der Mensch, 's Bessere gefallt ihm allweil gleich, da braucht's nicht viel!« Sie schenkte das Gläschen wieder voll, das Poldi geleert hatte. »Gelt, gut ist er, mein Johannisbeerener? Ja, du, den hab ich selber angesetzt. Der Domini trinkt ihn auch allweil gern.« Lachend schob sie ihm das Gläschen hin. »So! Und jetzt mußt uns aber auch ein bißl was verzählen! 's Dorle ist eh schon ganz stad geworden... die möcht halt was hören, weißt!« Langsam griff er über den Tisch hinüber, faßte Dorles Hand, und lächelnd, mit seinen leuchtenden Augen, sah er das Mädchen an. Sie zuckte ein wenig, als möchte sie ihm die Hand entziehen – aber sie tat es nicht. Und ganz rot wurde sie, bis unter die Haare hinauf. Lachend fragte er, ob sich das Dorle wohl denken könnte, wann er draußen in der Welt zum erstenmal an sie gedacht hätte! Das wäre auf seiner zweiten Fahrt als Schiffsjunge gewesen. Da hätte ihn bei grober See eine Sturzwelle über Bord gespült. Damals wäre er noch kein sonderlicher Schwimmer gewesen – und mitten im ersten Schreck, als es ihn hinunterriß in das tosende Gesprüdel, wäre ihm völlig spaßhaft der Gedanke durch den Kopf gefahren, jetzt könnte er auch so einen brauchen, wie vor Jahren das Dorle, einen, der hurtig nachspringt! Bei dem halben Platt, das er redete, verstand sie nicht gleich und sah ihn erst eine Weile an, bis sie den Sinn seiner Worte erfaßte. Dann wurde sie ganz bleich und 43
klammerte ihre Hand um die seine, als wäre nun wirklich an ihr die Reihe, zu helfen. Heiter lachte er über den Schreck, den er aus ihren Augen las – und erzählte, wie ihm beim Auftauchen die Rettungsleine vor die Nase geflogen wäre und wie sie ihn nach dieser ersten Seetaufe glücklich wieder heraufgelotst hätten an Bord des Schiffes, wo er nach dem Schreck auch noch den Spott zu überstehen hatte. Da atmete sie auf und lachte mit. Wie man einem Kind erzählt, so schwatzte er weiter, von allerlei gruseligen Dingen, von Haifischen und Wasserhosen, vom Klabautermännlein und vom Seegespenst, von Tigern und Paradiesvögeln, von den gelben Chinesen und vom ersten Indianer, den er gesehen – der wäre aber nicht im Schmuck der Adlerfedern auf dem Kriegspfad gewandelt, sondern hätte einen schwarzen Frack mit weißer Krawatte getragen und wäre Kellner in einem Hafencafe gewesen. Dem Dorle wurde ganz heiß vor Staunen und Aufregung über all die exotischen Dinge, die da aus blauer Weltenferne hereinspazierten in das kleine, grüne Stübchen der Weberin. Und weil das Dorle immer wieder fragen mußte, wenn sie nicht verstand, gab sich Poldi alle Mühe, das Platt zu vermeiden und den Dialekt der Heimat zu schwatzen. Und weil er sah, wie sie sich ängstigte und ganz verstörte Augen bekam, wenn er von schweren Gefahren und harten Stunden erzählte, wollte er sie nimmer quälen und 44
begann ein lustiges Erlebnis nach dem anderen auszukramen. Als hätte die Stunde in diesem grünen Stübchen ein heißes Feuer in ihm entzündet, so sprudelte er von übermütiger Laune. Die Weberin lachte, daß sie immer wieder die Tränen von ihren Backen wischen mußte – das Dorle wurde so seelenvergnügt, als hätte sie süßen Wein getrunken, und wenn die drei so lustig zusammen kicherten, glaubten auch die Vögel in ihren Käfigen zu dieser Heiterkeit was beitragen zu müssen und erhoben ein Pfeifen und Trillern, daß die Weberin ein paarmal mit der Faust auf den Tisch klopfte und lachend rief: »Kreuz Teifel! So seids doch stad da droben! Man hört ja schon bald sein eigens Wörtl nimmer!« Dann schwiegen die Vögel. Doch wenn um den Tisch das Lachen wieder begann, ging auch in den Käfigen das Getriller wieder los. Noch mehr als Dorle und die Mutter über Poldis lustige Geschichten, lachten Poldi und Dorle über die drolligen Fragen der Weberin. Alles Mögliche und Unmögliche wollte sie wissen, und ganz besonders interessierte sie sich für alles Weibliche in der fernen Welt da draußen. Ob es denn wirklich wahr wäre, daß die Buschweiber ihren ganzen Hausrat in der Frisur umhertrügen. Und daß die Chinesinnen ihre ›Fußerln‹ zustutzten wie die Schulkinder den Griffel. Und daß die Japanerinnen so feine ›Halserln‹ hätten, daß sie immer nur ein einziges Reiskorn schlucken könnten – und auch das nur ganz weich gekocht. Natürlich! Das wäre alles wahr, so wahr wie das Gelbe im Ei! Und ganz andere Dinge könnte man in der Fremde noch sehen! Und von allen Frauenzimmern da draußen und da drunten die allermerkwürdigsten, das wären die 45
Gockelfrauen von Lugalonien. Die kämen mit einem Gockelschweif auf die Welt, den sie ganz an derselben Stelle hätten, wo der Henne die längsten Federn wachsen. Und dieser nützliche Federbusch wäre ihr Um und Auf für das ganze Leben. Ist es heiß, so haben sie gleich einen Fächer, mit dem sie sich kühlen können. Wird das Wetter naß, so machen sie mit den Federn ein Rad und schlagen es von rückwärts als Regenschirm über den Kopf herauf. Unter der Woche kehren sie mit ihrem Gockelbusch die Stuben aus, und immer für den Sonntag wird ein Federl ausgerissen, schön gekräuselt und ins Haar gesteckt. Die Weberin schien nicht recht zu wissen, ob sie lachen oder staunen sollte. Aber schließlich hielt sie doch das Lachen für das Richtige – und Dorle, unter lustigem Gekicher, gab dem Poldi einen leichten Schlag auf die Hand und schmollte: »Geh! Du! Gar so blau darfst die Mutter nicht anlaufen lassen!« »Ah, so einer! Wie der einen anlugt!« Die Weberin konnte vor Lachen kaum reden. »So einer! Den schau mir an! Und wer weiß, was er alles verzählen könnt von die Weiberleut da draußen... wann er bei der Wahrheit bleiben möcht! Weiß der Kuckuck, wo er überall in der Welt umeinander so ein Schatzerl sitzen hat, so ein heimliches, von dem er nicht gern verzählt! Gelt, ja?« Halb noch lächelnd, doch mit ernsten Augen sah Dorle zu Poldi auf. Der lachte und schüttelte den Kopf. »No ja«, meinte die Weberin, »von die Kohlrappenschwarzen wirst dir freilich keine ausgesucht haben. Und von die Gockeljumpfern hat dir wohl auch keine dein 46
Herzerl gestohlen. Aber in der Welt draußt, mein' ich, gibt's viel Mütter, die liebe Kinder haben. Gelt, jetzt lachst?« »Nee, Mutter Wewerin...« »Ja ja, wirst schon bei einer so ein kleines Herzzipferl lassen haben... bei so einer amerikanischen Millanärin – oder bei so einer englischen Miß Weryfein Buckskin?« »Nee, Mutter Wewerin! Mir hat noch nie ein Mädel gefallen«, sagte Poldi mit Lachen. Dann sah er das Dorle an. »Noch nie?« Seine Augen leuchteten. »Nee, Dorle, dat kann ick hüt nümmer seggen.« Immer, wenn etwas tief aus ihm herauskam, fiel er wider Willen in die Sprache, an die er gewöhnt war seit sieben Jahren. Dorle hatte seine Worte nur halb verstanden. Doch ganz verstand sie seinen Blick, und da schoß ihr das Blut mit heißer Welle ins Gesicht. Sie blieben still, die beiden – und während die Weberin noch immer über die Miß Weryfein Buckskin zu lachen hatte, ging die Tür auf, und der Förster trat in die Stube. »Richtig! Da bist du ja!« sagte er mit einer Lustigkeit, aus der es ein bißchen wie Ärger brummte. »Bub, denkst denn nimmer an die Mutter? Es ist ja schon bald zwölfe, und die Mutter daheim verzwazelt aus lauter Angst um ihren Äpfelstrudel!« »Herr Jeking!« lachte Poldi und schob sich aus der Bank heraus. Nun gab's einen flinken Abschied. An die Weberin, die mit dem Förster zu schwatzen anfing, dachte Poldi gar 47
nicht mehr. Nur dem Dorle reichte er die Hand, tauchte den Blick in ihre seltsam scheuen Augen und sagte: »Adjüs, Dorle!« Er zögerte ein wenig, um nach Worten zu suchen, die sie verstand. »Ich komm bald wieder, gelt? Morgen ist Sonntag ...« Da fuhr ihm der Vater in die Rede. »Tu mir den Gefallen, Bub, und versprich nichts für morgen! Weißt, morgen wird's Leut geben bei uns. Und die Mutter will dich auch ein bißl haben. Dein Urlaub wird geschwinder vorbei sein, als man's denkt. Und jetzt komm! Sonst brennt deiner Mutter der Äpfelstrudel an!« Bei der Türe konnte Poldi dem Dorle noch zuflüstern »Übermorgen!« Dann schritt er mit dem Vater aus dem engen, dunklen Flur hinaus in die Mittagssonne. Als er sich noch einmal umguckte mit seinen leuchtenden Augen, sah er zwischen den Blumenzweigen des kleinen Fensters etwas Weißes, als war's ein Gesichtchen, das sich verstecken wollte. Und im Flur hörte er einen der Webergesellen mit unwilliger Stimme fragen: »Was ist denn, Meisterin? Die Leut warten aufs Essen!« Halb verständlich hörte man die Weberin noch jammern: »Jesses, Jesses, ganz versäumt haben wir uns! Dorle! Jetzt aber flink...« Da fing der Vater zu reden an, während sie durch den Garten hinausgingen zur Straße: daß die Mutter schon um elf Uhr ›das Aufgeregte bekommen‹ hätte und daß er schon beim Domini und beim Lehrer gewesen wäre, um den Buben zu suchen.
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Poldi nickte zu allem, was der Vater sagte, und blickte mit heiter träumenden Augen von der Wiesenhöhe über den glitzernden See und über das grüne Tal hinaus. Das schien im Glanz des Mittags in die Breite gewachsen, denn der flimmernde Sonnenduft ließ die Berge ferner erscheinen, weil alle Schatten in diesem goldblauen Schimmer ihre Schärfe verloren. Ein leichter Windhauch hatte sich erhoben und trug die kleinen, schneeigen Blättchen der Apfelblüte spielend über die Hecken hin. »Vater! Wie schön das ist!« »Was denn?« »Alles .. . bei uns daheim! Schau, Vadder, ick heww, schau, ich hab doch den ewigen Sommer in den Tropen gesehen. Aber schöner ist mir die Welt noch nie gewesen als heut... so bei uns daheim... so im Maien, weißt!« »Hast recht, Bub! So was wird wohl schön sein! Und Gottlob, daß man wieder Frühjahr hat! Sechs Monat Bergwinter, das ist harte Zeit!« Da klang eine Stimme aus den Lüften: »So, Herr Förstner? Habts ihn gefunden, den Poldi?« Hohenleitner guckte ins Blaue hinauf. »Jetzt weiß ich nicht, hat der Heilige Geist geredt, oder. ..« Er lachte. »Natürlich, da hockt er schon wieder droben auf der Lichtstang!«
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Domini, mit den sichelförmigen Klettereisen an den Schuhen, saß ganz zuoberst auf einem Maste der elektrischen Leitung, die quer über die Straße ging, und hantierte mit einer Zange am Draht. »Fehlt schon wieder was?« fragte der Förster. »Ja, der Draht hat ein bißl nachlassen. Und da hab ich ihn lieber gleich wieder gestreckt, eh daß er mir reißt. Einen andern laß ich nicht gern über so was... da mach ich's schon lieber selber. Könnt leicht ein Unglück passieren mit 'm Elektri, wo der Draht über d' Straßen lauft! Aber ist schon wieder alls in der Ordnung!« Domini schob die Zange in eine Ledertasche, die er um die Hüften geschnallt trug, und stieg, mit den Klettereisen greifend, vorsichtig den Mast herunter. »Wie ein Krebs schaut er aus, der d' Schaaren an die Fuß hat!« sagte der Förster lachend und ging davon. Poldi wollte dem Vater folgen. Aber da rief ihm der Lichtschmied zu: »Geh, wart ein bißl!« Er stand am Boden. Wegen der sichelförmigen Eisen, die er an den Schuhen hatte, mußte er mit weitgespreizten Füßen gehen. Das sah so drollig aus, daß Poldi lachen mußte. Und Domini lachte mit. »Gelt, mit die Eisen marschiert man schlecht!« Er streckte dem jungen Seemann die Hand hin und sagte herzlich: »Bist mir harb, Poldi?« »Harb? Warum?«
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»Weil ich heut in der Früh vor lauter Arbeit vergessen hab, daß du in der Stuben bist?« »Nee, Dom'ni! Dat makt nix nich! Dat lat man sin!« Domini zog die Brauen zusammen, als müßte er schärfer horchen: »Was meinst?« »Das ist schon lang verschmerzt!« Poldi lachte. »Und das ist ganz gut gewesen so! Hättest du nicht vergessen auf mich, so war ich noch lang bei dir blewen ...« er sah über die Schulter zurück, »un ick hadd nich funnen, wat ick funnen heww.« Aufmerksam sah Domini in Poldis Gesicht. Und lächelte. »Was hast denn, Bub? Augen machst, so glanzig, als hältst eine liebe Freud in der Seel?« »Dei heww ick, jo!« »Was sagst?« Da legte Poldi dem Lichtschmied die Hand auf die Schulter. »Denk dir, Dom'ni... dat Mäten... aber du weißt ja noch gar nicht... ich hab dich noch fragen wollen, aber du bist ja nimmer gekommen!« »Was fragen?« »Drunten am See, da ist mir ein Mädel begegnet. .. und allweil hab ich mich fragen müssen, wer das Mädel nur sein könnt. Und nu heww ick sei wedder funnen. Dat Mäten, Dom'ni, dat war min lüttes Dorle, dei ick mi ut'n 51
Water togen heww vor sewen Johr! Dom'ni, ein Mädel... so was Liebes und Herzigs! Die hett mir gefallen! Un ick heww ihr...« Verwundert sah Poldi den Lichtschmied an. »Domini?« Er lachte. »Was er für Augen macht!« Da klang über die Hecken her die ärgerliche Stimme des Försters: »Bub? Was ist denn? Wo bleibst denn so lang?« »Gleich, Vater!« rief Poldi. Und in seiner lachenden Freude schlang er den Arm um Dominis Hals und flüsterte ihm ins Ohr, als war's ein Geheimnis, das sonst keiner hören dürfte als nur der Domini, sein ›Halbbruder‹ und liebster Kamerad: »Dat Mäten is gaud för mi! Dat wir so ne lütte, nette Fru! Ick nehm sei mit, un wir gahn tausammen.« Und lachend eilte er zwischen den Hecken hinunter, dem Vater nach. Mit verstörtem Blick – wie einer, der dunkel ein Unglück kommen sieht und nicht recht begreifen will – stand Domini neben der Hecke und starrte dem jungen Seemann nach. »Poldi... Jesus Maria ...« Er machte einen hastigen Schritt, verwickelte sich mit den Füßen in die Sicheln der Klettereisen und wäre zu Boden gestürzt, wenn er sich nicht rasch noch an den Mast der elektrischen Leitung geklammert hätte. So stand er eine Weile, sah in Gedanken vor sich nieder und schüttelte immer wieder den Kopf. Dann setzte er sich in den Straßengraben und schnallte mit zitternden Händen die eisernen Sicheln von den Füßen. 52
Als die Eisen bei der Zange in der Ledertasche waren, hatte er nichts mehr zu schaffen an der Stelle da – doch immer noch blieb er sitzen und schüttelte immer wieder den Kopf, als möchte er einen Gedanken von sich abwehren, der ihn peinigte. Und trieben ihm die spielenden Lüfte solch ein weißes Blättlein der Apfelblüte ins Gesicht, dann streifte er das kleine, schneeige Ding von sich ab wie ein widerliches Insekt. Plötzlich erhob er sich. Er schien zu einem Entschluß gekommen, schien ruhig geworden. Achtsam versteckte er die Ledertasche hinter dem jungen Grün der Hecke, sah noch einmal zum Mast der elektrischen Leitung hinauf, ob dort oben alles in Ordnung wäre, und ging der Straße nach, dem Haus der Weberin entgegen. Immer rascher wurde sein Gang – und je längere Schritte er machte, desto merklicher hinkte er. Als er in den kleinen Garten trat, schlug es Mittag auf dem Kirchturm, und die große Glocke begann zu läuten. Zwischen ihren hallenden Schlägen konnte Domini aus dem Stübchen der Weberin das helle, feine Gezirp der Spieluhr und das Getriller der Vögel hören. Und beim ersten Schritt in den Hausflur vernahm er die Stimme des Dorle. Zwischen den Garnen blieb er stehen, daß alle Sonne, die zur Haustür hereingefallen, durch ihn abgesperrt wurde. Aber die in der Küche beim Mittagessen um den Tisch saßen – Dorle und die Mutter, das Hausmädel, die vier Webergesellen und der Lehrbub – die merkten nicht, daß es in dem dunklen Flur noch dunkler geworden war. Das 53
erregte Stimmchen des Dorle lief wie ein Rädlein, das sich immer drehen muß, weil es getrieben wird vom Zug einer versteckten Feder – nur selten schwatzte die Mutter ein Wort dazwischen, und die anderen, während sie mit den Löffeln klapperten, lauschten auf die merkwürdigen Dinge, von denen das Dorle zu erzählen hatte: von Haifischen und Paradiesvögeln, von den Seegespenstern und vom Klabautermännlein, von den Chinesinnen mit ihren zugespitzten Füßerln und von den Gockeljungfern, die mit einem angewachsenen Regenschirm auf die Welt kommen. Und wie im Glanz der Mittagssonne das Tal viel größer und weiter geworden, so wurde alles, was Poldi in dem grünen Stübchen erzählt hatte, in Dorles Erinnerung viel größer noch, viel merkwürdiger und wundersamer. Als Dorle die vielseitige Verwendung des Federbusches der Gockelfrauen schilderte und ihr erregtes Stimmchen übertönt wurde von dem Gelächter der Gesellen, griff Domini im dunklen Flur mit zuckender Faust in eins der Garnbündel: »Der ist noch allweil da! Der redt aus dem Dorle heraus!« Über das Gelächter hob sich die Stimme eines Gesellen: »Sakra! Von dene Gockeljumpfern möcht ich mir eine zum Rupfen aussuchen! Das wären die richtigen Federln für mein Feiertagshütl! Da könnt ich Staat machen!« Wieder gab's ein Gelächter. Und Domini trat in die Küche. Er nickte wie sonst, wenn er kam, und sagte ruhig: »Grüß Gott beieinander!«
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Einer von den Gesellen meinte, jetzt käme der Schmied gerade recht zum roten Eisen – da gab' es was Lustiges zu hören, und da könnte er mitlachen. Aber plötzlich wußte das Dorle nichts mehr zu erzählen. »Grüß dich, Domini!« hatte sie gesagt und dabei den Teller fortgeschoben. Die Weberin zog noch einen Sessel an den Tisch. »Geh, setz dich ein bißl her! Magst nicht mithalten? Viel ist freilich nimmer da.« »Vergelts Gott! Bei mir ist d' Mahlzeit schon vorbei!« Domini ließ sich auf den Sessel nieder – und fragte, was er jedesmal zu fragen pflegte, sooft er kam: »Ist der Elektri in der Ordnung?« Die Weberin nickte und sagte mit vollem Munde: »Ah ja! Da fehlt kein Stäuberl! Wie der Förstner-Poldi da war, hat's nobel brennt.« »So so ... brennt hats? Am Tag?« »Weißt, weil ich's ihm halt zeigt hab, ja, wie kamod der Elektri ist.« Dann wurde wieder vom Förstner-Poldi gesprochen – und das dauerte, bis die Schüssel leer war. Nun standen sie alle auf und sprachen mit lauter Stimme das Gebet. Auch der Lichtschmied betete mit. Dabei sah er immer das Dorle an, während die anderen in den Winkel guckten, in dem das Kruzifix mit den Palmzweigen hing.
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Als die Weberin nach dem Amen das Kreuz machte, sagte sie zu Domini: »Aber ein Johannisbeerenen, gelt, den magst?« »Ja, Mutter! Und z'reden hätt ich auch ein bißl was.« Sie gingen zur Stube. Im Flur drehte Domini das Gesicht und sah, wie das Dorle mit erregter Hast dem Hausmädel behilflich war, das Geschirr abzuräumen. Auf dem Tisch in der Stube standen noch die drei Gläschen und die Flasche mit dem ›Johannisbeerenen‹. Die Weberin wollte eins von den Gläschen füllen. Aber der Lichtschmied sagte: »Mutter, das Glasl ist braucht.« »So heiklig bist?« fragte sie lachend und holte ein frisches Gläschen. Als es gefüllt war, schob sie es dem Lichtschmied hin. Doch er trank nicht. Und während er das Gläschen immer zwischen den Händen drehte, zitterten ihm die Finger. Die Weberin rückte in die Bank und legte die Arme über den Tisch: »Also, was gibt's?« »Schau, Mutter... wie wir an Weihnachten den Verspruch gehalten haben, ja, schau, da hab ich doch selber gemeint, wir sollten die Sach noch ein Jahrl unter uns lassen...« »Freilich! Weil halt 's Madl noch so viel jung ist. Und deintwegen hast du's ja auch verlangt.«
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»Weil ich mir denkt hab: Ich will erst 's Haus ein bißl in der Ordnung haben... und will mit dem Geschäft noch ein bißl aufwärtskommen. Aber nicht meintwegen, Mutter! Gott bewahr! Bloß dem Dorle z'lieb! Damit sie's recht gut haben sollt bei mir!« »Ja, ja, ich weiß schon! Und 's Madl macht ihr Glück mit dir. Besser hätt sie's ja nimmer treffen können.« Domini atmete auf und griff nach der Hand der Weberin. »Gelt, Mutter... gelt, das glaubst? Und 's Dorle... gelt, Mutter... 's Dorle hat auch kein andern Glauben? Gelt?« Verwundert sah ihm die Weberin ins Gesicht. »Aber Bub! Was hast denn heut? Was bringst denn jetzt da für Sachen daher? Und umeinanddrucken tust mit jedem Wörtl... was hast denn? Warum redst dir denn gar so schwer?« »Na, na, Mutter, ich hab nichts... und red, wie ich allweil red! Aber...« Domini unterbrach sich und zog die Brauen zusammen. »Aber tu mir den Gefallen, Mutter, und räum die drei Glasln da fort!« »Jesses, Jesses...« Die Weberin schien nicht zu wissen, ob sie lachen oder ob sie sich ärgern sollte. »So ein Ordnungspedanti, wie du einer bist!... No also, meinetwegen!« Sie trug die drei gebrauchten Gläschen zum Geschirrkasten hinüber und wischte noch mit der Schürze die Likörflecken vom Tisch. »Ist dir jetzt wohler?« »Ja, Mutter!« Domini versuchte zu lachen. »Und schau, im Haus daheim, da hab ich schon lang alles fertig... der 57
Verdienst laßt sich allweil besser an...« Wieder unterbrach er sich und warf einen Blick des Unbehagens zu den Käfigen hinauf, in denen die Vögel so lustig pfiffen und zwitscherten wie zuvor, als der andere am Tisch gesessen war. »Was hast denn schon wieder?« Domini schüttelte den Kopf. »Na, na, Mutter... mein, die singen halt so! Da wird's einem freilich hart mit'm Reden.« »Ja, da hast recht! Völlig brummen tut mir der Schädel oft vor lauter Pfeiferei. Aber da wirst dich dran gewöhnen müssen. Ohne ihre Vogerln geht dir 's Dorle einmal nicht nüber zu dir.« Wieder blickte Domini zu den Käfigen hinauf – aber jetzt mit ganz anderen Augen – und nickte dazu. Schmunzelnd strich ihm die Weberin mit der Hand über das kurzgeschorene Haar. »Gelt, denkst dir: Wenn s' nur schon drüben wären bei dir, die Vogerln ... und 's Dorle!« Da sah er mit ernstem Blick zu ihr auf. Und atmete tief. »Ja, Mutter, das hab ich mir denkt!« »No schau, so ein Jahrl ist bald vorbei.« »Freilich, ja... aber... und weißt, im Herbst, da hab ich mir halt auch noch allweil Sorgen gemacht mit'm Elektri. Oft hab ich mir denkt: Jetzt ist alles in der Ordnung... und da ist d' Störung wieder drin gewesen über Nacht. Aber 58
jetzt bin ich geschult drauf und versteh die Sach ... jetzt funkzaniert er, daß man seine Freud dran haben kann. So war halt alles in der Ordnung, ja!« Er sprach immer rascher. »Und schau, seit Ostern hat 's Dorle ihre neunzehn Jahr. Auf was warten wir denn eigentlich noch? 's Glück wird nicht besser, wenn's später kommt... und so was Heimlichs allweil... da könnt sich ein Schaden rauswachsen, man weiß nicht wie!« Seine Stimme wurde ganz rauh. »Und grad raus, Mutter, heut hab ich mir denkt: Weil morgen grad Sonntag ist... wann ich mit'm Dorle heut noch zum Herrn Dekan ging, daß er uns morgen 's erstmal verkündigen tat, so könnten wir Hochzeit machen über drei Wochen.« Vor Verblüffung geriet die Weberin ganz aus dem Häuschen. »Mar und Josef!« Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Bub? Bist narrisch worden von gestern auf heut? Was fallt dir denn ein? Na, Bub, na! Heiraten, wie sich der Spatz die Spätzin ins Nestl pfeift... na, na, Bub! So pressieren tut's nicht! Ich dank schön! Das könnt ein netten Tratsch abgeben in der ganzen Gegend!« Domini erhob sich, und der Zorn blitzte in seinen Augen. »Mutter!... Mich kennt man im Ort! 's Dorle und ich, da traut sich der Schlechtest kein Wörtl reden!« »No ja, no ja. ..« Verlegen und eingeschüchtert guckte die Weberin auf die Seite – man merkte ihr an, daß sie nach einer Ausrede suchte. »Das geht nicht, schau ... jetzt haben wir erst an Lichtmeß angefangen mit der Nahterei...«
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»Ich nimm 's Dorle, wie's geht und steht. Ich hab das Mädel so viel gern, Mutter... und z'erst will mein Herz sein Sach haben, fest und sicher. . . was in die Kästen gehört, das laßt sich allweil noch einhausen.« »Na, Bub, na! Alles was recht ist! Aber...« Er ging auf die Weberin zu und faßte sie am Arm – das war ein harter Griff – wie ein Schmied das Eisen faßt. »Sakra! Bub! Was machst denn? Laß aus!« »Mutter!« Seine Stimme klang wie zerdrückt. »Ich könnt ohne 's Dorle nimmer schnaufen! Tu mir den Gefallen, Mutter... sag ja! Mir hängt Leben und Seel dran, Mutter!« Erschrocken sah sie ihm in das erregte Gesicht. »Jesus, Bub! In dir ist ja 's Glück, daß man sich fürchten könnt!« Sie befreite den Arm und rieb ihn mit der Hand. »Meintwegen, du Kraftseppl! Mir kann's ja gleich sein, ob's heuer sein muß oder übers Jahr. .. ob ich's Anwesen heut verkauf oder morgen! Wärst mir nicht der Best für mein Mädl, so hätt ich an Weihnachten auch nicht ja gesagt. Und daß ich mein Stüberl krieg bei dir und mein ruhsamen Austrag hab, das wird ja doch alles bleiben, wie wir's ausgemacht haben?« »Das bleibt, Mutter! Und gut sollst es haben!« »In Gottes Namen! Will ich dir halt 's Mädl holen, die muß doch auch noch ein bißl gefragt werden!« Die Weberin ging zur Türe. »Dorle! Geh, komm eini!«
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Die Hände mit der Schürze trocknend erschien das Mädchen auf der Schwelle. »No also«, brummte die Weberin, »jetzt red!« Sie zog das Dorle tiefer in die Stube und drückte die Türe zu. »Was ist denn?« Dorle sah zuerst die Mutter an, dann den Lichtschmied. Der stammelte: »Geh, Mutter, sag's ihr du!« »Zum Dekan sollst du auffi mit ihm... und über drei Wochen will er Hochzeit machen.« »Jesus...« Dieser erloschene Laut – das war nicht Freude. Doch auch nicht Schreck. Nur die Ratlosigkeit der ersten Überraschung. Und plötzlich war es ganz still in dem grünen Stübchen. Alle Vögel schwiegen. Eine Weile hörte man nur das dünne Ticken der alten Spieluhr. Und dann war's ein Schwarzblättchen, das wieder zu pispern begann. Domini war bleich geworden. Seine Augen waren groß, fast ohne Glanz, und die harten Züge seines Gesichtes verschärften sich noch. Mit ein paar hinkenden Schritten ging er auf das Mädchen zu. »Dorle ... Was sagst für ein Wörtl? ... Was sagst für eins?«
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Sie sah zu ihm auf. Und schien wieder ruhig. »Wenn du's haben willst... und wenn's der Mutter recht ist, so... da hab ich doch auch kein Wörtl dagegen. Ich weiß ja doch, wie gut als ich's kriegen soll... bei dir! Bist ja der Brävst und der Best im Ort. Und die Mutter hat mir's doch allweil gesagt, was für ein Glück als ich mach!« »Das ist deiner Mutter Red!« Seine Stimme klang heiser. Doch der Liebreiz ihres feinen, rosigen Gesichtchens, der halb ängstlich scheue, halb lächelnde Blick ihrer Kinderaugen schien zu beschwichtigen, was in ihm kochte. »Aber du, Dorle?« Da wurde seine Stimme weich und zärtlich. Und wie ein furchtsames Betteln war es in seinem Blick. »Was hast denn du für ein Wörtl... du, aus dir selber, weißt?« »Ich versteh nicht, Domini... wie bist du nur heut?« Zögernd reichte sie ihm die Hand hin. Und in der Stube trillerten schon wieder alle Vögel, so laut, daß man das leise Stimmchen des Dorle kaum noch hörte. »Ich bin dir doch allweil gut gewesen! Das weißt ja doch!« Wie die Sonne in tiefes Dunkel fällt – so hell schien es plötzlich im Domini geworden. Seine Augen hatten wieder den glücklichen Glanz, den Poldi an ihnen gesehen. Als hätt' er ein Vögelchen zu fassen, das man nicht drücken durfte – so nahm er Dorles Hand zwischen seine groben Fäuste. »Vergelts Gott, Schatzl! Und jetzt ist alles wieder gut!«
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Und gleich auf der Stelle wollte er hinüberlaufen zum Herrn Dekan – und fragen, um wieviel Uhr sie kommen dürften, das Dorle und er. Lachend packte er seinen Hut und war schon bei der Türe. »He, du«, rief die Weberin, »Narrenschüppel, verliebter! Dein Glasl trink aus!« Und das Dorle, mit einem ganz merkwürdig verlorenen Blick, machte eine Bewegung, als hätte sie etwas zu sagen vergessen. Aber der Lichtschmied war schon draußen. Quer über die Wiesen schlug er den Weg zum Pfarrhof ein. Sonst merkte man kaum, daß ihm der rechte Fuß ein bißchen kürzer war. Doch jetzt, bei dieser Eile, hinkte er so stark, daß ein Bauer, der ihm begegnete, sich umguckte und sagte: »Was hat er denn, daß er gar so knappen tut?« Domini hatte den halben Weg zum Pfarrhof schon zurückgelegt, als ihm plötzlich seine Ledertasche hinter der Hecke einfiel. Die durfte er nicht liegen lassen. Klettereisen und Streckzange – das waren für den Lichtschmied die unentbehrlichsten Werkzeuge – die mußte er in jeder Stunde zur Hand haben. Denn jede Stunde konnte eine Störung in der Leitung bringen. Er kehrte um, holte die Tasche und nahm sie mit in den Pfarrhof.
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Das war im Försterhaus ein lachender Nachmittag. Immer die Stube voller Leute. Wenn einer ging, war gleich ein anderer da, der sich auf den freigewordenen Sessel setzte. Wer nur halbwegs ein Recht hatte, der Försterin in die Stube zu kommen, wartete nicht erst den Sonntag ab, um den Poldi zu sehen und von seinen Reisen was zu hören. Doch einer, der am vergangenen Abend fest versprochen hatte, zu einem Schälchen Kaffee zu kommen – der Herr Dekan – der war ausgeblieben. Aber in diesem lustigen Trubel merkte niemand, daß er fehlte. Auch ohne den Herrn Dekan wurde die Försterin ihren Kaffee los – dreimal mußte frisch gekocht werden, um die leergewordene Kanne wieder zu füllen. In ihrem Stolz, in dieser seligen Freude über ihren Buben, schleppte die Försterin alles herbei, was Keller und Speisekammer nur zu geben hatten. Und der Förster kam immer wieder aus seiner Kanzlei herüber und stellte sich hinter den Sessel seines Buben, um ein Viertelstündchen mitzulachen. Kam ein Holzbauer und mußte der Förster wieder ins ›Geschirr‹, dann brummte er jedesmal, so ungern verließ er die Stube. Und da traf er im Flur einmal mit seiner Frau zusammen, die einen frischgebackenen Guglhupf aus der Küche brachte. »Xaverl!« Sie lachte ihn an mit ihren junggewordenen Mutteraugen. »Was sagst? Unser Bub!« »Hast recht! Unser Freud können wir haben! Gestern am Abend hat man's noch gar nicht so gemerkt... heut taut er erst auf! Ganz narrisch macht er die Leut mit seiner Lustigkeit! Der hat 's Leben in ihm wie ein Brünndl, das am liebsten auffispringen möcht bis in d' Sonn.« Lachend trat 64
der Förster in die Kanzlei und konnte noch, als seine Frau die Stubentür öffnete, den vergnügten Jubel hören, der rings um seinen Buben war. Nicht nur in seiner Laune, auch in allem, was Poldi erzählte, war's wie ein Brunnen, der immer sprudeln mußte. Und alles Harte dieser vergangenen Jahre, alle Gefahr, all dieser ernste Kampf da draußen, alles wurde zu einem heiteren Erlebnis, über das die Gäste mit Lachen kein Ende fanden. Und wie sie sich über dieses Durcheinandergewirre seines heimatlichen Dialektes und seiner Seemannssprache belustigten! Immer toller und übermütiger wurde seine Laune. Und die Freude, die wie Most der Jugend in ihm schäumte, gab seinen Augen einen Glanz, so froh, so hell und strahlend, wie die Maiensonne am Morgen gewesen. Die Leute wollten gar nicht mehr aus der Stube gehen. Am Abend, gegen sechs Uhr, mußte die Försterin mit dem Zaunpfahl winken und Kehraus machen – um in die Küche zu kommen, wie sie sagte. Als der letzte der Gäste draußen war, griff Poldi nach seiner Mütze. »Adjüs, Mutting!« Sie machte ein enttäuschtes Gesicht – denn sie hatte gehofft, ihren Buben ein Stündchen für sich allein zu haben. Am Abend, das wußte sie, würde ihn der Vater wieder mitnehmen wollen in die Schützengesellschaft. »Gehst denn noch fort?«
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»Ein bißl auf den See will ich hinaus! Luft möt ick hewwen!« Aber versprechen mußte er, daß er bis acht Uhr wieder daheim wäre – es gäbe was Gutes für ihn. Lachend ging er davon. Ein Liedchen trällernd, machte er lange Sprünge durch den Garten. Vor der Schiffhütte, als er die Tür schon öffnen wollte, besann er sich – eine andere Absicht schien ihm durch den Sinn zu fahren; doch lächelnd schüttelte er den Kopf und trat in die dunkle Hütte. Unter langen, kräftigen Ruderzügen ließ er den Nachen hinausgleiten über das leuchtende Wasser. Ein wundervoller Abend war's. Nur ein bißchen kühl, denn der Wind kam über die Berge herabgezogen und übergoß das grünende Tal mit einem Hauch der Winterluft, die dort oben noch um die verschneiten Gipfel fröstelte. Doch in dieser Kühle bekamen alle Farben klare Kraft. Tief über dem See, in der niederen Talscharte gegen Westen, stand die Sonne, eine große rotglühende Scheibe. Alle Ufer und die Waldgehänge waren von rotem Schein überflutet, die Berge brannten, und der Himmel über ihnen hatte tiefes Blau, das sich gegen die Sonne hin in glühendes Gelb verwandelte. All diese Farben strahlte der See zurück in seinem leichten Wellengeschaukel, das sich ansah wie ein ruheloses Durcheinandergleiten von roten, gelben und blauen Sicheln. Und wohin der Nachen glitt, überall folgte ihm das ausgebänderte Spiegelbild der sinkenden Sonne wie ein breiter, gaukelnder Feuerstreif. Gleich schimmernden 66
Blutstropfen fiel's von den Rudern, wenn sie sich hoben, und die rauschende Kielwelle war wie ein Gerinne funkelnder Kristalle. Der den Nachen trieb, schien seine helle Freude an diesem Feuerspiel zu haben. Wollte sein Boot hinausgleiten aus der Glut, so trieb er es immer wieder mit einem kräftigen Ruderschlage mitten hinein in diese Flammenstraße der Sonne. Wie ein strahlender Schein war es um ihn her, während seine Gestalt und sein Boot ganz schwarz erschienen inmitten dieses Glanzes. Nun ließ er die Ruder fallen und lehnte sich auf die Bank zurück. Mit Glucksen schlugen die kleinen Wellen an den Nachen und trieben ihn langsam weiter. In Träumen lächelnd, spähte Poldi über die Dächer der am Ufer stehenden Häuser hinauf gegen die Wiesen des Oberdorfes. Zwischen den runden, vom Abendglanz der Sonne rosig angehauchten Kronen der blühenden Apfelbäume sah er dort oben den First eines Schindeldaches. Das mußte das Haus der Weberin sein, denn gleich in der Nähe stand jener Mast der elektrischen Leitung. »Dorle ... min lütte, leiwe Fru ...« Übermütig lachte er auf und wollte nach den Rudern greifen.
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Da sah er zwei Menschen über die Wiese hinter der Lichtschmiede hinaufgehen. Und trotz der weiten Entfernung erkannte er das Mädchen gleich. Die Mütze schwingend, sprang er auf und schrie einen klingenden Jauchzer in den Glanz des Abends hinaus. Das Mädchen dort oben blieb stehen und hob die Hand über die Augen. Poldi winkte mit der Mütze und jauchzte wieder – und sah, wie der andere, der mit dem Dorle ging, das Mädchen bei der Hand nahm und mit sich fortzog – ein langer Mensch in einem schwarzen Feiertagsrock – und mit dem rechten Fuß trat er so merkwürdig auf. »Herr Jeking, dat is jo ...« Als die beiden dort oben hinter den Hecken verschwanden, kam von den Bergen ein Echo des Jauchzers zurück, ganz matt und ohne Klang, wie ein Seufzer fast, der im Geplauder der Wellen kaum noch zu hören war. Poldi ließ sich nieder und faßte die Ruder. Doch er tat keinen Schlag. Nachdenklich blickte er noch immer gegen die Wiesen hinauf – und ein Gedanke, halb lustig und halb ärgerlich, fuhr ihm durch den Kopf: ›Der Domini wird doch nicht schwatzen, wird doch nicht ausplaudern, was ich ihm heut ins Ohr gewispert?‹ Da merkte er plötzlich, daß der Nachen heftiger zu schaukeln und sich zu drehen begann – er war in die
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Strömung der Ache geraten, die sich mit Gewirbel aus dem Turbinenkanal der Lichtschmiede in den See ergoß. Ein paar feste Ruderschläge brachten das Boot aus dem Zug der Strömung. Wieder trieb Poldi den Nachen dem halb schon erlöschenden Glanz entgegen. Ein Viertelstündchen noch, und die Sonne war drunten, alle Glut gedämpft zu einem kalten, bleichen Schein. Nur auf den Bergen war's noch rot. Und auch das erlosch. Als es zu dämmern anfing und eine weiche Glocke zu läuten begann, strahlte plötzlich am ganzen Ufer hin eine dünn gereihte Kette heller Sterne auf – und über dem Marktplatz flimmerte der weiße Glanz einer Bogenlampe. Das Licht des Domini! »Nu kommt hei wull bald!« Mit raschen Schlägen trieb Poldi den Nachen in die Schiffhütte, in der es schon finster war. Beim Eintritt in die Stube fand er unter dem elektrischen Licht schon den Tisch gedeckt – Vater und Mutter warteten schon. Nun gab's bei der Mahlzeit ein gemütliches Schwatzen, war's doch die erste Stunde, in der die drei für sich allein waren, die beiden Alten mit ihrem Buben. 69
Aber als die Teller abgeräumt wurden, seufzte die Mutter. Denn sie wußte, was kommen würde. Und das kam auch. »Nimm dein Käppi, Bub! Jetzt schauen wir noch ein Stündl nauf in die Schützengesellschaft! D' Mutter, scheint mir, brummt ein bißl, aber heut möcht ich Staat machen mit dir!« Lachend füllte der Förster die Zigarrentasche. »Sieben Jahr lang haben s' mich allweil gefragt, wo mein Bub in der Welt umeinanderfahrt! Heut kannst es ihnen erzählen!« Poldi wäre lieber daheim geblieben – und so merkwürdig erregt war er, als er sagte: »Der Dom'ni hat mir versprochen, dat hei kommen wüll!« »Der ist ja Mitglied in der Gesellschaft! Soll ihm d' Mutter halt sagen, daß er nachkommt.« Die Försterin nickte nur. Als aber Poldi die Mutter um den Hals nahm und ihr zärtlich die Wange küßte, wurden ihr die Augen wieder hell. »Gelt, Xaverl, bleib nur nicht gar so lang mit'm Buben! Zwei Tag hat er fahren müssen!« Unter der Haustür blieb sie stehen und lauschte in die Nacht hinaus, solange sie die Stimmen der beiden und ihren Schritt noch hören konnte. Dann setzte sie sich mit der Lampe zum Koffer ihres Buben und begann seine Wäsche durchzusehen. »Herr du mein lieber Gott!« Wie das alles aussah! Was neu war, lag sauber eingeräumt im Koffer. Aber das alte Zeug! »O mein, o mein!« Auf dem 70
Schiff, da müssen sie sich aufs Flicken und Stoppen verstehen, wie man die Pfannen flickt! Mit Draht! Denn viel dünner war das Garn nicht, mit dem die Löcher im Unterzeug auf einen Knoten zusammengezogen waren. Aus Sorge, daß sie in zwei kurzen Wochen mit all dieser vielen Arbeit nicht zustande kommen würde, fing sie gleich jetzt in der Nacht noch an mit Flicken und Nähen. Was sie wohl alles hineindachte in diese hastigen Stiche? Glück und Segen, alle verschwenderischen Wünsche eines mütterlichen Herzens! Und einmal drückte sie das Gesicht in ein Stücklein Wäsche und saß so ein ganzes Weilchen. Dann nähte sie wieder hastig drauflos. Und ehe sie sich umsah, war's Mitternacht geworden. Und die beiden waren noch immer nicht daheim! Und der Domini war nicht gekommen. Sie ging zu Bett, aber sie konnte nicht schlafen. Ein Uhr hörte sie schlagen, zwei Uhr – endlich, gegen drei Uhr morgens kamen die beiden, und die Mutter konnte sie draußen im Flur noch lachen und schwatzen hören. Als der Vater zu ihr in die Schlafstube kam, sagte sie: »Aber geh, Xaverl! So spät!« Er lachte, hatte einen kleinen Stich, war kreuzfidel und setzte sich noch zu ihr aufs Bett, um zu erzählen, wie ‹fein‹ es gewesen, wie die guten Schützenbrüder Maul und Augen aufgesperrt hätten und daß der Bub gewesen wäre wie ein lustiges Buch. Aber daß der Domini nicht 71
gekommen, das hätte ihn verdrossen. »So ein Lackl! Wann er's dem Buben doch versprochen hat, daß er kommt!« Sooft jemand ins Zimmer getreten wäre, hätte Poldi nach der Tür geguckt. Aber schließlich wäre der Bub so vergnügt geworden, daß es in der Schützengesellschaft ein Lachen und Trinken abgesetzt hätte, als wär' das hundertjährige Stiftungsfest. »No ja, ist ja alles gut... aber wie der Bub morgen am Sonntag ausschauen wird! Nach so einer Durchnacht!« Doch die Sorge der Försterin war überflüssig. Denn am Morgen sah Poldi aus wie das blühende Leben, frisch und lachend wie der schöne Tag, der mit Sonnenschein und blauem Himmel über See und Bergen glänzte. Und so fromm schien er zu sein! Daß er's kaum erwarten konnte, bis man zur Kirche ging. Und wie fein er sich machte für den lieben Herrgott! Immer hatte er an sich zu bürsten, immer wieder an seiner großen schwarzen Seidenkrawatte etwas zu knoten! Der Weg zur Kirche, zwischen all den Leuten mit ihrem Geschau und ihrem Grüßen – das war für die beiden Alten wie ein Festzug: die Försterin in ihrem schwarzen Seidenkleid, der Vater in seiner neuen Uniform mit dem Hirschfänger – und Poldi zwischen ihnen, wie aus dem Ei geschält, mit den blitzblanken Knöpfen an der blauen Jacke, mit der goldenen Ankernadel in der Krawatte und über den lachenden Augen die Mütze mit der schimmernden Borte.
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Im Kirchhof wurde unter der schönen, milden Sonne mit dem Doktor, dem Bürgermeister und anderen Honoratioren noch ein Weilchen geschwatzt – und da ging gerade die Weberin mit dem Dorle vorüber, Mutter und Tochter im besten Staat, als wäre das heut ein hoher Feiertag auch für diese beiden. »Gu'n Morgen, Dorle!« Die Hände streckend, ging Poldi auf das Mädchen zu, alle Sonne seiner Freude in den Augen. Dorle nickte, als hätte sie Eile, in die Kirche zu kommen, und lispelte erregt und verlegen einen leisen Gruß. Und während brennende Röte ihr Gesichtchen überfuhr, zog sie die Mutter mit sich fort, die verwunderte Augen machte und sichtlich mit dem Förstner-Poldi gern ein paar Wörtchen geplaudert hätte. Lächelnd sah Poldi dem Mädchen nach. »Wie rot sie geworden ist!« flüsterte er vor sich hin, und seine Augen blickten noch heller und sonniger als zuvor. Nun ging's in die Kirche, nicht zu den Betstühlen im großen Schiff, sondern durch die Sakristei hinauf zu dem kleinen ›Beamtenchörle‹, in dem die Honoratioren ihren Platz hatten. Durch ein zierlich vergittertes Fenster konnte man hinuntersehen zum Altar und zu den Betstühlen, die schon gefüllt waren. Hier am Fenster, zwischen seiner Mutter und der Doktorin, mußte Poldi seinen Platz nehmen. Er sträubte sich nicht gegen diesen Ehrenplatz, denn da konnten seine Augen drunten in der Kirche suchen, was sie finden wollten. Gar lange brauchte er auch nicht zu schauen, bis er das Dorle fand. Neben der Webe73
rin stand sie im vierten Betstuhl, hatte schon das Gebetbuch geöffnet und das Näschen dreingesteckt, als wäre in ihrem Herzen eine Andacht, die nur den lieben Herrgott sah, keinen Menschen in der Kirche. Nicht ein einziges Mal guckte sie auf. Aber so frühlingskühl es auch in der Kirche war – dem Dorle brannte das Gesichtchen heiß und rot. Mit seiner sanften, müden Greisenstimme begann der Herr Dekan die Predigt auf der Kanzel. Vom blühenden Frühling begann er zu sprechen als einem Bild der menschlichen Jugend, deren duftende Blüten im Sommer eines arbeitsfrohen und gottesfürchtigen Lebens reifen sollen zu schönen Früchten. Das alles klang wie eine freundliche Anspielung auf ein junges Glück. Und Poldi, bei seinem träumenden Lächeln, dachte sich: ›Wäre das Dorle heut meine Braut geworden, so könnte der Herr Dekan uns beiden nicht herzlicher predigen!« Bei solchen Gedanken sah er immer das Dorle an, das ohne Bewegung im Betstuhl saß und das tief geneigte Gesichtchen halb in das seidene Miedertuch vergraben hatte. Immer sah er hinunter – und es schien ihm, als wäre ein leises Zittern in ihren Händen, die im Schoße das kleine Gebetbuch umklammert hielten. Da sprach der Herr Dekan das Amen seiner Predigt. Doch er verließ die Kanzel nicht, sondern zog aus dem Brevier ein kleines Blättchen heraus, hob es dicht vor die Augen und las: »Verkündigung. Zum heiligen Sakrament der Ehe haben sich versprochen...« 74
Als er den Namen des Domini nannte, hoben alle Leute die Gesichter. Denn daß der Lichtschmied heiraten wollte – diese Neuigkeit fiel wie vom Himmel herunter. Und das Dorle! Das Dorle! Was das für ein Aufsehen in der Kirche gab, ein Gewisper und Geschau! Die einen streckten die Hälse, um die Braut in ihrem Betstuhl zu sehen, die anderen drehten die Gesichter, um nach dem Domini zu gucken, der droben bei der Orgel war, weil er in der Kirchenmusik die Baritonstimme sang. Auch auf dem Beamtenchörle hüb ein leises Schwatzen an. »Schau nur, das Dorle«, sagte die Försterin, »was die für ein Glück macht!« Und der Doktor lachte: »Einen guten Geschmack hat der Domini!« Nur einer schwatzte nicht mit. Der stand ganz regungslos vor dem Betschemel und starrte in das Schiff der Kirche hinunter. Aber nur ratloses Erstaunen war in seinen Augen, nichts anderes. Doch während er so stand und schaute, hörte er hinter sich den Doktor leise zum Vater sagen: »Ein Schlaumeier, der Lichtschmied. Der weiß, was er nimmt! Ich hab das Mädel im Winter behandelt... die hat ein Körperl wie von Marzipan!« Da drehte Poldi das Gesicht und zog die Brauen zusammen, als hätte er einen Schmerz in sich – – Die Sakristeiglocke läutete, die Orgel setzte ein, und der Priester ging mit dem Kelch zum Altar, um das Hochamt zu beginnen. Die Kirchenmusik ließ sich hören – mehr 75
Lärm als Musik – und manchmal unterschied man auch deutlich die Stimme des Domini – eine schöne Stimme – , aber ein bißchen falsch sang er, und unsicher. Während die Försterin mit den Augen bei ihrem Gebetbuch war, hörte sie plötzlich den Buben an ihrer Seite ganz erloschen vor sich hinmurmeln: »Dat Wurd, dat hadd hei mi seggen müßt!« Sie sah ihn an. Aber sie sah nicht viel, denn er hatte die Ellbogen aufgestützt und hielt wie in tiefer Andacht die Stirn auf die verklammerten Hände gedrückt. Was sie da gehört und nicht verstanden hatte – das waren wohl ein paar Worte aus einem Gebet, wie es die Seeleute sprachen? Und da hörte sie's zum zweitenmal: »Dat Wurd, dat hadd hei mi seggen müßt!« Sie stieß ihn leise mit dem Ellbogen an und flüsterte: »Bet doch ein bißl stader? Bub!« Er rührte sich nimmer, kein Laut mehr zitterte über seine Lippen. Dann kam in der Kirchenmusik die Solostelle des Domini, das Benediktus. Man merkte, wie er sich Mühe gab, recht feierlich zu singen. Und es war auch trotz aller Unsicherheit des Tones etwas tief Ergreifendes in seiner Stimme, als er sang: »Benedictus, qui venit...« 76
Soviel war in Poldi vom Latein seiner Knabenzeit noch hängengeblieben, daß er wußte, was das hieß: ›Gesegnet sei, der da kommt.‹ Er hob das Gesicht, das sich zu einem Lachen verzerrte. Dann beugte er die Stirne wieder auf die verschlungenen Hände, und so blieb er, bis das Hochamt zu Ende war. Als drunten in der Kirche das Gehen begann, blickte er hastig auf, wie ein Erwachender – und sah die Weberin mit dem Dorle aus dem Betstuhl treten. Das Mädchen machte das Zeichen des Kreuzes, knixte gegen den Altar – und als sie sich aufrichtete, warf sie einen schnellen, scheuen Blick zum Chörle hinauf. Der Förster war mit dem Doktor schon das steile Trepplein zur Sakristei hinuntergegangen, die Frauen wollten folgen – aber Poldi kniete noch immer, mit der Brust auf den Händen, mit vorgestrecktem Kopf. »Bub!« rief ihm die Mutter flüsternd zu. Er hörte nicht. Geduldig wartete sie ein Weilchen, dann ging sie zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter. Schwer atmend erhob er sich. Und als die Mutter sein Gesicht sah, erschrak sie. »Jesus, Bub, was hast denn? Ist dir nicht gut?«
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»Wat di innfällt, Mutting!« sagte er mit hartem Lachen. »Mi fahlt nicks nich!... Komm!« Er schüttelte sich und ging zur Treppe. Als sie aus der Sakristei heraustraten in die schöne, warme Sonne, gab es beim Friedhoftor ein Gedränge – dort gingen der Domini und das Dorle, und ein Dutzend schwatzender Leute war um das verlobte Paar. Der Förster mit den Seinen hatte anderen Weg, zu einem Seitentürlein des Kirchhofs hinaus. Während des ganzen Heimwegs redete Poldi kein Wort, aber zu allem, was der Vater schwatzte, lachte er. Und die Mutter in ihrer Sorge guckte immer wieder an dem Buben hinauf. Daheim gab es eine verdrießliche Mahlzeit. Jetzt fing auch der Vater zu fragen an: »Bub, was ist denn mit dir?« Poldi schüttelte den Kopf. »Nicks nich!« Und dann legte er plötzlich Messer und Gabel nieder und ging aus der Stube. Mit verdutztem Blick sah ihm der Vater nach. »Jetzt da schau ...« Der Försterin schoß das Wasser in die Augen. »Da hast es jetzt! Mit deiner Schützengesellschaft! Jetzt kann ihm übel sein den ganzen Tag! Und so viel hab ich mich gefreut auf heut... wo nach 'm Essen aus der ganzen Gegend her die Freundschaft kommt!... Jetzt hast es, Xaverl!«
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»Ja, freilich, ja«, Xaverl kraute sich schuldbewußt hinter den Ohren, »ein bißl früher hätten wir schon heimgehen können!« Dann fing er zu brummen an. »Die Seeleut, heißt's allweil, trinken den steifsten Grog wie's Wasser... und da können s' ein paar Halbe Bier nimmer vertragen!« Die Mutter ging hinaus, um den Buben wieder hereinzuholen. Unter der offenen Haustür stand er, mit aufgerissener Krawatte. »Gelt, es ist dir ein bißl besser in der Luft?« Poldi nickte. »Magst bleiben? Ich bring dir 's Essen aufs Bankl raus?« Er schüttelte den Kopf und ging mit der Mutter in die Stube zurück. »Iß nur fest!« riet ihm der Vater. »Ein schwacher Magen muß Unterstützung haben. Da wird's gleich besser... das weiß ich von mir.« Ehe der Tisch noch abgeräumt war, kamen schon die ersten Gäste. Und bis es zwei Uhr wurde, hatte die Försterin die ganze Stube voll mit Leuten. Aber heute war's anders als am vergangenen Nachmittag – heut schwatzten die Gäste, und Poldi schwieg. Und jeder neue, der kam, sprach wieder vom Domini und vom Dorle.
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Die Mutter meinte zu merken, wie schlecht ihrem Buben der Zigarren- und Pfeifenqualm bekam, der die Stube dick erfüllte. »Geh doch ein bißl hinaus in die frische Luft«, flüsterte sie ihm zu, »und setz dich ein Viertelstündl in die Sonn!« Er nickte und ging. Im Garten suchte er sich einen Platz, so weit vom Haus, daß er den schwatzenden Lärm in der Stube nicht mehr hören konnte, im halben Schatten einer alten Ulme, deren kleine, junge Blättchen noch so zart waren, daß die Sonne durchschimmerte und in das frische Grün einen Goldton hauchte. Alles zitterte von Licht, der Duft der ersten Blumen war um ihn her, und wie feine Musik war in der Luft das Gesumm der Bienen, die um die blühenden Apfelbäume schwärmten. Hier saß er, den Arm um die Lehne der Bank geschlungen, starrte wie mit erloschenen Gedanken vor sich hin und sah den Ameisen zu, die im Sande kribbelten, so hastig, als wüßten sie: Unser Leben währt nur einen kurzen Sommer – den müssen wir nützen. Da knirschte auf dem Gartenweg ein schwerer, langsamer Schritt. Als Poldi aufblickte, stand der Lichtschmied vor ihm. Domini brachte kein Wort heraus – und griff nach seinem Hut, um Poldi zu grüßen.
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Das erste, was in Poldi lebendig wurde, war eine Regung des Spottes. Er lachte. Denn Domini in seinem langen schwarzen Sonntagsrock und mit dem bleichen, rasierten Gesicht unter dem städtischen Hut, sah aus wie ein Schulmeister, der den Inspektor erwartet und kein gutes Gewissen hat. Doch als der Schmied den anderen lachen hörte, fuhr ihm das heiße Blut in die Wangen. Und wie Trauer war es in seinen Augen, als er sagte: »Poldi... das ist mir ein harter Weg worden, aber schau, ich hab her müssen zu dir... « Da fuhr der andere auf in Zorn: »Mi lat in Rauh! Du!« »Geh, Poldi, so laß dir doch sagen...« »In Rauh sallst mi laten! Ick wüll nicks nich witten!« Poldi ging ein paar Schritte von der Bank, und seine Augen blitzten, als er über die Schulter sagte: »Wat ick weit, dat is mi naug, dat gabt mi an't innerst Lewen... un dor brukst du nich för uptaukamen... du!« Schwer atmend warf er sich wieder auf die Bank und drehte das Gesicht gegen den Stamm der Ulme. Domini nahm den Hut ab und fuhr sich mit dem Ärmel über die Stirn, als wäre ihm schwül geworden. Und ratlos sah er den andern an. »Herr du mein... da ist freilich ein harts Reden! Schau, Poldi, ich versteh ja bloß zur Halbscheid, was d' sagst!« Poldi machte eine Bewegung, als wollte er heftig erwidern. Doch er schwieg und drehte das Gesicht wieder auf die Seite.
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»Da weiß ich ja gar nimmer, was ich sagen muß! Du tust ja grad, als ob ich weiß Gott was für ein Unrecht an dir verübt hätt, weil ich mich heut mit 'm Dorle hab verkündigen lassen! Ich bin doch mit dem Mädl schon im Verspruch seit Weihnachten!« Langsam hob Poldi die brennenden Augen. »Und dor hadd kin Minsch... das hätt kein Mensch im Ort gewußt? Mein Vater nicht? Und meine Mutter nicht? Un de Doktor nich... de entfamte Kirl, de! Und de Herr Dekan nich? Und niemand, niemand hätt das gewußt?« Domini schüttelte den Kopf. »Wir haben's ausgemacht an Weihnachten, daß wir's unter uns behalten, weil ich gern noch warten hätt mögen ein Jahrl. Aber dir, Poldi, dir hätt ich's verraten... mein Glück, mein liebs... und gestern in der Früh, wie du dich hineingesetzt hast in meinen guten Sessel... schau, da hab ich dir's sagen wollen...« »Ja, Dom'ni«, Poldi stand auf, »dat Wurd, dat haddst du mi seggen müßt!« Der Lichtschmied nickte und strich mit der schweren Hand über die Bürste seiner kurzgeschorenen Haare. »Ich weiß nicht, was ich gab drum, wenn der Zimmermeister nicht kommen war! Aber d' Arbeit... schau, das ist halt so bei mir... hat's mich, so läßt's mich nimmer aus... und kaum daß ich mich besinnen hab können, bist du ja schon draußen gewesen zur Tür. Und wie wir uns nachher troffen haben... bei der Lichtstang droben... und wie ich so jählings merken hab müssen, was dir im Blut ist... schau, Poldi, wie ich da erschrocken bin, das kann ich dir gar nicht sagen...« 82
»Nu verstah ick! Nu verstah ick!« Mit jähem Schritt auf Domini zutretend, faßte Poldi den Lichtschmied mit beiden Fäusten an den Klappen des schwarzen Rockes. »As ick rute kam ut Dorles Hus, as ick mit all min säuten Drom...« Ein Würgen kam in seine Stimme, und wie in Zorn über die eigene Sprache schüttelte er den Kopf. »Du willst ja doch auch verstehen! Du! Da muß ich doch reden, daß du verstehst! Denn ich versteh, Dom'ni! Ich versteh! Was du mir sagen hättst müssen, das hast du mir nicht gesagt... weil du Nägel hast schmieden möten... un as ick min Dorle funnen hadd... un äs ick in dat leiwe Stüwel kam, dor hett...« Wieder unterbrach er sich, und seine Stimme wurde ein zerdrücktes Schreien: »... da hat von uns drei kein einzigs, nicht das Dorle und nicht ihre Mutter und keins hat dran gedacht, was der Lichtschmied will über's Jahr... und dem Dorle sind die Augen gewesen wie Sonn und Freud... und mir ist das Glück in die Seel gefallen... und ich komm zu dir und seh: Dat is min Dom'ni, dat is min best Fründ ... das ist mir der liebste, dem muß ich es sagen, noch eh' ich's der Mutter und dem Vater sag... un ihrlich heww ick min Hart in din Händ legt... und da bist du gelaufen, von mir weg bist du hinterrücks zum Dorle gelaufen und hast ihr gesagt: Nicht übers Jahr, Dorle, morgen, dat möt morgen sin... dat hei hieren möt in de Kirch, wat min is. Und hast das Dorle zum Pfarrhof geführt... und wie ich geschrien hab in meiner Freud, auf dem See da draußen, und wie das Dorle hat schauen wollen nach mir... da hast du sie fortgezogen und... und hast...« Seine Fäuste schüttelten den Lichtschmied. »Ist das wahr, Dom'ni? Is dat wohr oder nich?«
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»Ja, Bub, das ist wahr!« sagte Domini mit bleichem Gesicht und suchte diese zerrenden Hände von sich fortzuschieben, während sich ein harter Zug um seine Lippen grub. »Mein Glück, das hab ich mir sichern müssen! Denn daß ich aus Gutigkeit grad alles laufen laß, wie's gestern hätt laufen mögen, für so dumm darfst mich nicht halten, Poldi!« »Jo, dat was klauk! Dat was hellschen klauk!« Unter heiserem Lachen stieß Poldi den Lichtschmied von sich. »Un nu bliw mi vom Liw! Mit so 'n klauken Menschen, als du will ick nicks nich mihr tau dauhn hewwn!« Domini hatte die Worte nicht verstanden – aber diesen Stoß begriff er, dieses höhnende Lachen. Seine Augen begannen zu brennen, und das Blut stieg ihm zu Kopf. »Gib acht, du!« Er zwang sich zur Ruhe. Doch seine Stimme blieb rauh und hart. »Im guten bin ich her zu dir... und gehen muß ich halt, wie du mich schickst! Ich hab dir gestern ein Wörtl verschwiegen, das ich dir sagen hätt müssen... und drum hast du meinem Glück einen schiechen Brocken ins lichte Wasser geworfen... denn 's Dorle...« Ein Schwanken kam in seine Stimme, und er sprach nicht zu Ende, was er hatte sagen wollen. »Aber jetzt sind wir wett miteinander! Ja, Poldi... meintwegen, jetzt lach! Du bist du, und ich bin ich, und zwischen dir und mir ist ein tiefer Graben. Und das bißl Glück, das ich noch allweil hab, das will ich mir hüten, verstehst?« Poldi sah, wie sich Dominis Hände zu Fäusten schlossen. Er lachte, schob die Daumen in die Hosentaschen und 84
ging auf ihn zu. »Mach Fäust, wie du magst! Ich fürcht mich nicht. Ne, min Jung! Ick heww schon anner Ding in die Welt tau seihn kregen as en Smidd, wat Nägel kloppen möt... und de hewwen mi ok nich grugeln maken.« »Ja, ja, schon gut!« Der Lichtschmied wandte sich ruhig ab. »Wo einer den andern nicht versteht, da ist kein Reden nimmer!« Er wollte gehen. Diese abweisende Ruhe weckte in Poldi den Jähzorn. Er sprang dem Schmied in den Weg und sah ihn mit funkelnden Augen an. »Wart, du! Ick will di noch ein Wörtl sagen, und eines, das du verstehst!« »Was denn für eins?« »Daß du dein Glück noch allweil nicht in der kalten Stub hast!« schrie ihm Poldi wie von Sinnen ins Gesicht. Dem Schmied ging ein Zucken über die Stirn. Doch ruhig sagte er: »Hast recht, ja, drei Wochen muß ich noch warten!« Und mit dem Arm schob er den andern aus seinem Weg. Erbleichend machte Poldi eine Bewegung mit der Hand – Da klang vom Haus herüber eine Stimme: »Bub!... Wo bist denn? ... Bub!« Die Stimme seiner Mutter! Das brachte ihn zur Besinnung – und er sah, daß er die Hand an der Hüfte hatte, wo sein Messer stak.
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Hinter den Büschen konnte er noch den schweren, klappenden Schritt des Schmiedes hören. Mit zitternden Händen griff er an seine Stirn, fiel auf die Bank, warf sich unter schluchzendem Laut gegen die Lehne und vergrub das Gesicht. So fand ihn die Mutter. Auf all ihr Jammern und Fragen hatte er keine Antwort, hielt nur immer den Kopf mit den Händen. Und da zog ihn die Mutter mit sich ins Haus, in die Küche, und rührte ihm ein Brausepulver an, mit Zitronensaft. »Ne, Mutting, dat hilft mi nich, lat gaud sin!« – doch er mußte trinken, ob er wollte oder nicht. Auch in die Stube durfte er nicht mehr hinein, in diesen Qualm und Lärm, sondern mußte hinauf in seine Kammer, mußte sich niederlegen und bekam einen kalten Umschlag um die Stirn. Schließlich wehrte er sich nimmer und ließ sich alles gefallen, was die Mutter haben wollte. Und als sie in der Kammer die Fensterläden geschlossen hatte und auf den Fußspitzen zur Tür hinausgegangen war, grub er das Gesicht ins Kissen und stöhnte: »Ick! Ick? Ne! Hei hett mi en Stein in' Water smiten, wat so klar was, dat sick Ird und Hewen in em spiegeln kunn!« Dann lag er, ohne sich zu regen – und stellte sich schlafend, sooft die Mutter das vorsichtige Nasenspitzel zur Tür hereinschob. Als man den Abendgruß läutete, wurde es drunten in der Stube still. Die Gäste waren heimgegangen. In Pantoffeln kam der Vater zur Kammer herauf und fragte durch einen Spalt der Türe: »Schlafst, Bub?« Als er keine Antwort hörte, ging er wieder davon. Dann kam noch die Mutter, 86
um eine Schale Tee zu bringen. Doch weil sich der Bub nicht rührte, trug sie die Tasse wieder fort. Als sie draußen war, setzte sich Poldi auf und drückte das Gesicht in die Hände. »Dat möt ick utreten ut min Hart! Ick möt! Ick möt! Dat is nu so un nich anners.« Wieder grub er die Augen in das Kissen. Und fand keinen Schlaf. Jeden Glockenschlag konnte er zählen. Gegen zwei Uhr morgens rührte sich was im Haus, und eine Weile später kam der Vater mit einem Licht in die Kammer. »Komm, Bub, steh auf! Ich nimm dich mit auf'n Spielhahnfalz. Auf der Schneid droben geht ein scharfs und gesundes Lüftl! Das blast dir den ganzen Jammer wieder naus aus'm Köpfl!« Poldi stand auf und kleidete sich in das warme Lodenzeug, das ihm der Vater gebracht hatte. Drunten in der Stube hatte die Mutter schon das Frühstück parat. Und dann ging's unter flimmernden Sternen den schwarzen Bergen zu. Der Vater trug eine Laterne, denn alle Wege waren finster, das Licht des Domini brannte nicht mehr. Sie kamen an der Schmiede vorüber. Da waren die Fenster dunkel. Aber die Turbine, die schon wieder für das
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Licht des folgenden Abends sorgte, brummte mit tiefem Ton. Über die Wiesen ging's hinauf durch das Oberdorf. Am Haus der Weberin war ein Fensterchen hell. »Da schau«, sagte der Vater und lachte, »'s Dorle, scheint mir, laßt ihrem Glück ein Kerzl brennen, damit sie's in der Nacht auch noch ein bißl betrachten kann!« Schweigend hatte Poldi in die Hecke gegriffen und eine Handvoll der jungen Blätter von den dünnen Zweigen gerissen. Und weiter. Durch den schwarzen Wald. Dann aufwärts, bis der Schnee begann. – – Gegen acht Uhr morgens, im Glanz der Sonne, kamen sie wieder heim, der Vater mit brummendem Ärger, weil der Bub den Hahn auf dreißig Schritte gefehlt hatte – und Poldi so todmüde, daß ihm die Lider wie Blei waren. Jetzt konnte er schlafen, so fest, daß ihn die Mittagsglocke gar nicht weckte. Erst spät am Nachmittag erwachte er. Als er sich in den Kissen aufsetzte und vor den Fenstern den Goldschein der Sonne flimmern sah und die Schwalben zwitschern hörte, war ihm ganz leicht ums Herz – als wäre all das Graue von gestern nur ein schwerer Traum gewesen. Der war vergangen mit dem Schlaf. Und Poldi atmete auf. Er konnte lächeln. Nichts anderes war in ihm als diese halbgestillte Müdigkeit, dieses leise Rieseln in allen 88
Gliedern. Kein Gedanke in seinem Kopf! Keine Qual in seinem Herzen! Nichts! Nichts! Wie glücklich die Försterin an diesem Abend war! Ihr Bub hatte wieder seinen hellen Kopf! Und immer saß er bei ihr! Zuerst auf der Hausbank draußen, solange die Sonne noch nicht drunten war. Schwatzen mußte freilich sie selber das meiste – aber daß er so still war, immer so kurze Antwort gab, das schrieb sie seiner Müdigkeit zu – solch eine scharfe Bergtour und das Waten im ›altbackenen‹ Schnee muß man gewöhnt sein, oder man spürt's noch lang in allen Knochen. Und über den Spielhahn, den er gefehlt hatte, ›sinnierte‹ er wohl auch ein bisserl – weil er so verträumt hinauf guckte zu den Bergen! Dabei hielt er einen blühenden Zweig in der Hand, den er immer zwischen den Fingern drehte. Sie lachte darüber, daß er dieses Spiel gar nicht satt bekam – und während sie, wie sie selber sagte, ›dem Teufel ein Ohrwaschel vom Kopf schwatzte‹, stichelte und nähte sie am Zeug ihres Buben, bis es zu dämmern anfing. Dann wurde in der Stube das Glühlicht aufgedreht. Und nach dem Essen setzte sich die Mutter wieder zu ihrer ›Nahterei‹, der Vater brannte die Pfeife an, nahm sein Schlagregister vor und begann zu addieren, halb im Kopf und halb mit den Fingern. Denn zu ›Adam Ries‹ stand Vater Xaverl in etwas gespanntem Verhältnis, und hatte er sich mit ihm zu raufen, so war's ihm gerade recht, wenn nicht viel geschwatzt wurde. So vergaß er immer, was ›ummikommt‹ von einer Kolumne zur andern. Das wußte die Mutter, und drum war ein Lächeln, ein zärtliches Nicken oder ein Augenblinzeln fast die ganze Unterhaltung, die sie mit ihrem Buben führte. Der saß im 89
Lehnstuhl – und neben seinem Bierkrug lag das blühende Zweiglein auf dem Tisch, mit müd gewordenen Blümchen. Solch eine Bergtour, wie die am Morgen war, macht dürsten. Immer wieder griff Poldi nach dem Krug – bis die Mutter sagte: »Schau, Bubele, es ist dir ja vergönnt! Aber heut solltest dich doch ein bißl...« »So laß ihn doch, wann's ihm schmeckt!« brummte der Vater und blies eine dicke Rauchwolke über die Zahlen hin. »Da schlaft er drauf! Und 's Bier ist gut. Das hat ihm auch nichts geschadet am Samstag! Der Dampf halt, weißt, den sie allweil machen in der Gesellschaft! Meine geehrten Schützenbrüder rauchen diemal ein recht ein Zweifelhaften. Ein paar hab ich eh' in Verdacht, daß ihr Havanna auf'm Kartoffelacker wachst! Oder auf der Roßkastani!« Poldi lachte – ein Lachen, so merkwürdig, daß ihn die Mutter ansah. Dabei gewahrte sie, daß er schon wieder die Hand so über die Augen deckte – wie zum Schutz gegen das weiße, grelle Licht der Glasbirne. Hastig legte sie das Nähzeug nieder, ging aus der Stube, brachte eine Petroleumlampe mit grüner Glocke, stellte sie auf den Tisch und drehte das Glühlicht ab. Vater Xaverl machte ein verdutztes Gesicht. »Aber Mutter! Was fallt dir denn ein! So sparen brauchen wir ja doch nicht, daß wir 's Petroli brennen müssen! Und wenn man sich gewöhnt hat an's Elektri, kann man so ein Grablicht gar nimmer haben!« 90
»Wenn aber 's Elektri dem Buben in die Augen weh tut!« »Geh, du! Den verzärtelst aber schön!« Der Förster lachte. »Möcht wissen, wer ihm auf 'm Äquator 's Petroli nachtragt und die Tropensonn abdreht.« Poldi sagte kein Wort – und dankte der Mutter nicht. Aber als sie schlafen gingen, schlang er draußen im dunklen Flur den Arm um ihren Hals, mit so heißem Ungestüm, daß sie vor Schreck und Schmerz beinah geschrien hätte. Und diese wilde Zärtlichkeit ihres Buben tat ihr doch so wohl! Die halbe Nacht, bis sie einschlief, konnte sie zehren daran. Aber am Morgen – diese Sorge wieder! Die harte Bergtour da in den Schnee hinauf war ihrem Buben doch wohl über die müde Kraft gegangen. Tiefe, blaue Ringe hatte er um die Augen. Und gerade heut wär' es der Försterin lieb gewesen, wenn ihr Bub wieder so frisch und prächtig, so gesund und lachend ausgesehen hätte wie am Samstag, als er heim kam von seinem ersten Weg ins Dorf. Denn heute mußte er diesen Besuch machen, den er nicht länger verschieben durfte – sie war überzeugt, daß sich der Herr Dekan nur deshalb nicht mehr im Försterhaus hatte sehen lassen. Der hatte den Poldi gewiß schon am Sonntag erwartet – und war gekränkt. Gegen zehn Uhr machte Poldi sich auf den Weg.
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Ein Morgen – so schön! Aber Poldi sah nur die Straße, nur immer das Flecklein, auf das sein Fuß gerade hintrat. Und wieder riefen ihn aus allen Gärten die Leute an. Aber Poldi nickte nur einen stummen Gruß und ging vorüber. »So ein hochmütiger Kerl, wie der ist!« brummte man hinter ihm her. »Weil er ein goldenes Börtl auf'm Kappl hat, meint er schon weiß Gott was!« Poldis Weg ging an der Lichtschmiede vorbei. Mit dem Gepolter des Wasserwerkes mischte sich der klingende Hammerschlag. Doch man hörte nur die kleinen Nagelhämmer der Gesellen, nicht den großen Streckhammer des jungen Meisters. Der war wohl in seinem ›Lichtstadel‹ und guckte in die Kufen, in denen unter der Spannung des Stromes die Säure kochte. Oder hatte er sich um andere Dinge zu sorgen? Denn überall im Garten wurde gearbeitet, und in den Stuben, deren Fenster offenstanden, sah man Handwerksleute, die beschäftigt waren. Poldi machte langsamere Schritte. Man geht am Hause eines Menschen, den man haßt, nicht schnell vorüber. Was sich der sonst denken möchte! Nach allen Fenstern sah er, nach dem Tor der Werkstätte, nach jedem Winkel des Gartens. Und ein hartes Lächeln war um seinen Mund, ein heißer Wille im Blick seiner Augen. 92
Doch als er vorüber war und zwischen den Hecken hinschritt, sah er nur wieder die Straße und ihre Steine – nichts anderes. Und wenn ihm der laue Frühlingswind solch ein weißes Blütenflöcklein ins Gesicht wehte, streifte er's von sich ab – wie es der Domini bei der Lichtstange getan. Er hatte den Pfarrhof erreicht, ein kaltes und stilles Haus, das mitten in einem großen, dicht verwachsenen Garten stand. Schon wollte er die Glocke ziehen. Doch er zögerte – als wäre in ihm ein dunkles Gefühl: Diese Stunde wird Schmerzen bringen. Und wie dann hinter der schweren Tür, in dem gewölbten Korridor mit den Steinfliesen, die alte große Glocke schrie und bellte – das war ihm unbehaglich zu hören. Das erinnerte ihn an bittere Stunden seiner Knabenzeit: Wenn ihn die anderen im Pfarrhofe wegen eines übermütigen Streiches verklatscht hatten, mußte er immer kommen, vor dieser Tür stehen und die Glocke ziehen. Die Widumshauserin öffnete ihm. Sie sah noch immer wie damals aus – so welk und alt, daß sieben Jahre keinen Unterschied machten. Nur daß sie ihn heute freundlich empfing und seinen Besuch als eine Ehre zu betrachten schien. Als die Tür hinter ihm zufiel, bellte die Glocke wieder. Über dem stillen Garten zitterte die Maiensonne, und in ihrer Wärme dampften die frisch besandeten Wege. Auf 93
dem Rasen blühten die Himmelsschlüssel und kleine, kurzgestielte Genzianen, deren blaue Glocken wie Kinderaugen aus dem handhohen Gras hervorlugten. Ein kleiner Hügel mit künstlichen Steingruppen war wie mit Gold überstreut von hundert und hundert Dolden der gelben Bergaurikel, deren süßer Wohlgeruch um den Hügel her die Luft erfüllte und von überall die Bienen rief. Als hinge mit Geglitzer ein fein beweglicher Schleier über dem Goldhügel – so war's über ihm von all den zahllosen, schwärmenden Trinkern. Wenn Gott den Honig der Blumen für die Bienen schuf, die ihn saugen dürfen – warum nicht auch das Glück für die Menschenherzen, die nach ihm dürsten? Fast eine Stunde war vergangen, als am Pfarrhof die Glocke wieder tönte und die Tür sich öffnete. Poldi trat in den Garten heraus, die Mütze in der Hand, und mit ihm der alte Dekan im Hauskäppchen, unter dem das weiße Haar mit ein paar dünnen Strähnen hervorquoll, und in einem abgetragenen Talar, der einen hager gebeugten Körper umschlotterte. Welch eine Kluft des Lebens zwischen diesen beiden, zwischen diesem Dreiundzwanzigjährigen in aller Kraft und mit allen heißen Wünschen seiner Jugend und doch mit einem Gesichte, so bleich, mit Augen, so verstört, als läge hinter ihm eine Stunde voll unerträglicher Qual – und zwischen diesem Greis in der müden Schwäche seines Alters, mit dem ruhigen Faltengesicht, mit diesem zufriedenen Lächeln nach erfüllter Pflicht, mit diesen stillen Augen, die klug waren, weil sie ohne Wunsch ge94
worden und Schmerzen der Seele nur noch bei anderen sahen! »Ein schöner Tag, heut! So ein schöner Tag!« sagte der alte Herr und nickte dem blauen Himmel zu, dem jungen Grün und den sprossenden Blumen. »Schau nur, wie die warme Sonne seit ein paar Tagen das Gras hat wachsen lassen! Da werden meine guten Bauern doch wieder einmal zufrieden sein mit dem lieben Herrgott! Ja, ja!« In seiner Stimme war ein milder, herzlicher Ton, der etwas Absichtliches hatte, als möchte er sagen: »Was wir in der Stube da drin miteinander reden mußten, das ist erledigt, und jetzt wollen wir gemütlich miteinander schwatzen von ganz was anderem, gelt?« Vor einem Fliederstock blieb der Dekan stehen und streifte sanft mit der welken Hand über die Zweigspitzen. »Der kommt jetzt auch schon! Ja, ja, schön langsam nach der Reih wird alles wieder lebendig, alles Tote wird wieder seine Blüte haben! Steckt man so mitten drin in der kalten, harten Zeit... das weiß ich ja von mir selber ... so möcht man schier denken, daß man den warmen, tröstenden Frühling gar nimmer erlebt! Und doch kommt er! Doch! ... Gelt, ja?« Es zuckte um Poldis bleichen Mund. Ein Wort schien ihm auf der Zunge zu liegen, doch er schwieg. »Aber geh, setz doch dein Kappl auf!« Der alte Herr lachte ein bißchen. »Freilich, wenn man das Kraushaar noch so dick auf dem Dächlein hat, da kann man Luft und Sonne vertragen. Aber bei mir da droben hat der Förster Zeit einen ›Radikalhieb‹ durch das Walderl ge95
schlagen ... wie dein lustiger Vater allweil sagt. Ich darf ohne Kappel nimmer zur Haustür hinaus, da hat's mich gleich!... Aber schau, der Schlehdorn wird auch bald blühen!« So gingen die beiden langsam über die weißen, sonnigen Wege hin, und unter freundlichem Schwatzen deutete der alte Herr auf alles junge Grün, auf jeden blühenden Zweig, auf jede Blume, auf alle diese tröstenden Zeichen froher Wiedergeburt des erfrorenen Lebens. »Und jetzt geh halt heim!« sagte er, als sie zum Zauntürchen gekommen waren. »Grüß mir deine Leut recht schön! Vielleicht komm ich am Nachmittag ein bißl hinunter zu euch. Und dann mußt du mir was erzählen! Gelt?« Poldi nahm die Hand, die der alte Herr ihm reichte. »Adjüs, Hochwürden!« Vorsichtig blickte der Dekan über den Zaun hin – draußen die Straße war still und leer – und da sagte er leise und eindringlich: »Wirst du auch halten, was du mir versprochen hast?« »Dat will ick halten! Ja! Weil ich es versprochen hab, und ...« ein müdes, wehes Lächeln irrte um Poldis bleichen Mund, »un weil mi dat Mäten tau leiw is, as dat ick ihr einen Stein in 't klore Water smeten kunn.« Freundlich streichelte der alte Herr die zitternde Hand, die er in der seinen hielt. »Das war ein gutes und schönes Wort! Und ich hab's verstanden. Und schau, jetzt tu 96
gleich noch ein Schrittl weiter! Sei nicht nur ein braver Mensch, sondern auch ein guter Christ... und trag's dem Domini nicht nach, weil er mir in seinem Herzenskummer alles so offen gesagt hat... und wenn du vorbeikommst an seinem Haus, so geh ein bisserl hinein zu ihm...« Poldi fuhr auf, als hätte er einen Stoß vor die Brust erhalten. Er wollte seine Hand befreien – doch der alte Herr hielt sie fest. »So schau doch! Sollst ihm ja nicht um den Hals fallen. Aber in der Werkstatt kannst dich doch ein bißl unters Tor stellen . . . und sagen: ›Gelt, heut macht's einen schönen Tag?‹ und kannst ihm dabei die Hand geben.« »Ne, Hochwürden! Dat kann ick nich! Das wär zu viel verlangt! Dat anner allens! Dat ick der Wewerin nimmer in't Haus komm... un dat ick dem Dorle keinen Weg nich abpaß, dat heww ick versprochen!... Awer dat mit dem Dom'ni? ... Ne!... Dat wir tau vel!« »Wenn's zuviel ist, in Gottes Namen, so geh halt vorbei an seinem Haus!« »Dat will ick dauhn! Adjüs, Hochwürden!« Dem alten Pfarrer sprach die Sorge aus den Augen, daß er mit diesem christlichen Rat viel mehr verdorben hätte als gutgemacht. Und wie heiß die Erregung in Poldi wühlte, das sah man dem Schritt an, den er einschlug – mit vorgebeugtem 97
Kopf, wie man anschreitet gegen brausenden Sturm. Und es rührte sich nicht das leiseste Lüftchen in der schönen Sonne. Als er zur Lichtschmiede kam, blieb er stehen – und lachte. Es war ihm eingefallen, wie entrüstet vor Jahren der Domini immer gewesen war, wenn einer ›seinen Poldi‹ im Pfarrhof oder beim Schulmeister verklatscht hatte! »Un nu hett hei sülwen mi verkladdert!« Wie er lachte! Und daß er so lachen konnte, das tat ihm wohl. Denn die Lichtschmiede und der in ihr hauste – die lagen jetzt hinter ihm! – Einer, der klatscht! – Jetzt war er fertig mit dem Domini! Jetzt erst! Da würde ihn kein Gedanke, keine Reue, keine Sorge mehr quälen! – Und wie hatte ihn das gemartert in diesen beiden Nächten! Daß er aufgestanden war in der letzten Nacht und das Messer über den Garten hinausgeschleudert hatte in den See! Aber dieses Gefühl der Erleichterung, in dem er lachen konnte, dauerte nicht lange. Als er hinunterkam zur Seestraße, war schon wieder eine tiefe Furche in seine Stirn gegraben. Wie ihn diese schwatzenden Leute quälten, ihre Freundlichkeit, ihr lustiges Grüßen! Und einer faßte ihn mit Lachen an der Jacke und hielt ihn fest. Der hatte was läuten hören über die Gockelfrauen 98
von Lugalonien. Und wollte wissen, ob das wahr wäre, daß diese hahnenfiedrigen Jungfern keine lebendigen Kinder kriegen, sondern Eier legen, die sie in den heißen Sand vergraben und von der Sonne ausbrüten lassen – wie man es den Berlinern im bayrischen Gebirg von den Gemsen erzählt. Die Berliner glauben das nicht – aber der gute Bayer, der den Poldi auf der Seestraße festhielt, schien den Gockeldamen von Lugalonien diese Erleichterung ihres weiblichen Berufs zuzutrauen. »Sag mir's ehrlich! Ist das wirklich wahr?« »Ja, Mensch, dat is wahr!« Poldi schob den Schwätzer aus seinem Weg. »So wahr as anner Ding, an de ick all min Dag nich globen hadd mögt!« Seine Stimme zitterte. Die Erinnerung an diesen kindischen Scherz, der mit den flinken Füßen, auf denen alle Dummheit läuft, im Dorf schon umherzuwandern begann, hatte plötzlich wie greifbare Wirklichkeit alles in ihm wachgerufen: diese ganze Stunde in dem grünen Stübchen, das Getriller der Vögel, den zirpenden Klang der Spieluhr, die Wärme des kleinen, linden Händchens, das er so fest umschlossen hielt, dieses liebe, süße Gesichtlein mit den strahlenden Augen und dem verlegenen Lächeln der Freude – alles, alles, alles – das ganze lachende Glück, das ihm ins Herz gefallen war, wie im Maien die Sonne ins offene Herz der Erde fällt! Und da fuhr es ihm plötzlich mit heißem Schreck durch jede Fiber seines Lebens – denn das Dorle stand vor ihm, mit dem steinernen Krug in der Hand, mit dem weißen Kopftuch über dem Haar, ratlose Angst in den großen
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Augen und um den lieben Mund das hilflose Lächeln einer beklommenen Sorge. »Gu'n...« Er hatte sagen wollen: Guten Morgen, Dorle! Aber die Erregung zerdrückte ihm das Wort in der Kehle. Stumm und ratlos standen sie voreinander – bis Poldi die zitternde Hand nach seiner Mütze hob. Jetzt brachte er's heraus: »Gu'n Morgen, Dorle!« Und das Wasser schoß ihm in die Augen, als er sich hastig abwandte und davonging. Ein paar Schritte war sein Gang so taumelig, als hätte er zuviel getrunken. Und mit der Faust wischte er die zwei Tränen fort, die ihm auf die Wangen geronnen waren. Und ging – und ging – immer schneller. – Das Dorle sah ihm nicht nach – nicht ein bißchen drehte sie das Gesicht. Langsam war ihr Köpfchen auf die Brust gesunken, so tief, daß ihr das Kopftuch mit seinem Dächlein ganz die Augen verdeckte. Und der schwere Steinkrug zog ihr den Arm immer tiefer hinunter. Dann fing sie zu gehen an, mit kleinen Schritten – und die wurden nicht schneller, sondern immer müder. Als sie zum Altwirt kam und die steinerne Freitreppe zur Haustür hinaufstieg, mußte sie sich am eisernen Geländer stützen.
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Sie trat in den Flur und blickte langsam über die Schulter zurück, bevor sie beim Ausschank die Glocke zog. Von innen wurde das Schubfenster gehoben, man hörte das lustige Schwatzen von ein paar Gästen, die in der Wirtsstube waren, und im Guckloch des Ausschankes erschien das derbe, rote Gesicht der Kellnerin. »So, Dorle, bist da? Hab schon gemeint, du kommst heut gar nimmer und bist uns mit der Kundschaft ausgestanden.« Lachend zog die Kellnerin den Steinkrug durchs Fenster in die Schänke. »Wie viel denn?« »Wie allweil!« Ganz erloschen klang diese Stimme. Das braune Brünnlein sprudelte und füllte schäumend den Krug. »So! Vier Maß! Und besser gemessen, als wie der Neuwirt mißt!« Die Kellnerin stellte den schweren Krug auf das steinerne Gesims – aber draußen streckte sich keine Hand, um den Krug zu fassen. »He, Dorle! Wo bist denn?« Verwundert schob die Kellnerin den Kopf zum Fenster hinaus und sah das Dorle mit kreideweißem Gesicht auf der Treppe sitzen, die neben dem Ausschank in den ersten Stock hinaufführte. »O du Heiliger! Madl! Was hast denn?« Erschrocken rannte sie aus der Schänke und machte in der Stube ein Geschrei, das die Wirtin und alle Gäste in Aufruhr brachte. Aber als das Häuflein Leute mit Lärm in den Flur gelaufen kam, stand das Dorle beim Ausschank und legte die paar Münzen für das Bier auf das Gesimse. Sie wollte den Krug nehmen und gehen. Doch da drängten sich die Leute um sie her, mit Fragen, in denen die Neugier größer war als die Sorge. Dorle mit ihren nassen, verstörten Augen sah die schwatzenden
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Menschen an und bettelte: »Jesus Maria! Ich bitt schön ... laßts mich doch gehen!« Die behäbige Wirtin legte sich ins Mittel. »Gehts weiter, Leut, laßts das Madl in Ruh! Die jungen Bräutln haben allweil solchene Sachen!« Sie lachte. »Das weiß ich von meiner Zeit her. Und nach der Hochzeit ist alles in Ordnung gewesen.« Unter dem Lachen der anderen trat Dorle ins Freie. Vor der Tür blieb sie wieder stehen und blickte mit angstvollen Augen über die Straße hinunter. Auf dem Kirchturme fing die Elfuhrglocke zu läuten an. Wie klingende Träume schwammen in der sonnigen Mittagsstille die Glockentöne über die Dächer und Gärten hin, über den blauen, spiegelglatten See hinaus und den Bergen entgegen. Jeder einzelne Schlag der Glocke weckte ein Echo in der Ferne, und das klang mit Hall und Widerhall, als stünden zwei Türme im Tal, jeder mit einem tönenden Herzen in seiner steinernen Brust – zwei klingende Seelen, die aus weiter Ferne miteinander redeten, die eine in hallender Kraft, die andere ganz leise, in scheuer Sehnsucht. Immer tönten die beiden Glocken, während Dorle, mühsam an dem schweren Steinkrug schleppend, mit hastigen Schritten die Straße hinunterging. Und als sie den Seitenweg erreichte, der gegen die Wiesen einbog, fing sie zu laufen an, als wäre etwas Entsetzliches hinter ihr. Die Woche verging, ein Tag immer schöner als der andere. 102
Wie fröhlich in so schöner Zeit die Leute wurden! Überall in den Gärten, überall auf den Feldern hörte man sie singen. Dem einen blühte in seinem Garten ein Baum, der reiche Früchte versprach – dem andern wuchs das Gras auf den Wiesen, die Saat auf den Feldern. Im höheren Bergwald begann nun auch das Sprossen, und die Lärchen wurden grün. Aber Vater Xaverl, obwohl er seinen Wald nicht weniger liebte als der Bauer seinen Acker, machte kein fröhliches Gesicht. War er draußen im Pflanzgarten oder auf den Holzschlägen, so bekamen die Arbeitsleute seine üble Laune hart zu spüren. Und daheim brummte er mit der Frau, weil sie immer wieder ›das Sorgenhaferl aufrühren‹ mußte. Stundenlang stand sie bei Vater Xaverl in der Kanzlei, und hatten sie sich abends niedergelegt, so ließ sie ihn die halbe Nacht nicht schlafen mit ihrem ruhelosen Gegrübel: »Was er nur haben mag, der Bub?« Aus ihm selber brachten sie nichts heraus – für all ihre Fragen hatte Poldi immer das gleiche müde Lächeln, hatte das gleiche ruhige Wort: »Ne, Vater, ne, Mutting, mi fahlt nicks nich!« Aber daß ihm was fehlen mußte, das stand ihm doch im Gesicht geschrieben – das verrieten die schlaflosen Nächte, von denen seine heißen Augen an jedem Morgen erzählten – das verriet die gereizte Unruhe, mit der es ihn den ganzen Tag umhertrieb, vom Haus in den Garten, vom Garten ins Haus, hinaus auf den See und aus dem Boot wieder heim in die Stube.
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Wollte die Mutter den Buben daheim haben, so nahm er die Mütze und rannte fort, Gott weiß wohin – aber nie ins Dorf, immer in den Wald hinaus, den Bergen zu. Und wollte ihn der Vater mitnehmen auf einen Waldgang, zum Abendschoppen oder in die Schützengesellschaft, dann schüttelte Poldi den Kopf und blieb bei der Mutter. Wenn sie aber allein mit ihm bei der Lampe saß – immer bei dieser Lampe mit der grünen Glocke, weil doch Poldis Augen das ›Elektri‹ so schlecht vertrugen – und wenn sie das Alleinsein benützen wollte, um aus dem Buben etwas herauszubringen, dann schien er so müde, daß die Ruhe in seiner Kammer droben für ihn das beste war. Der alte Dekan, dem die Försterin ihren Jammer klagte, suchte ihr alle Sorgen auszureden. Die Sache hätte keine Gefahr, denn das wäre nur die ›Luftkrankheit‹ – im Tiefland draußen und auf dem Meer, da wäre die Luft viel dicker und schwerer als im Bergland daheim, wo schon der Seespiegel seine achthundert Meter Höhe über dem Meer hätte. Drum wäre da die Luft viel dünner und leichter. Und wenn nun einer, der sich an die schwere Meerluft gewöhnt hätte, nach langer Zeit so plötzlich hereinkäme ins Gebirg, in diese leichte Luft, so gäbe das in seiner Natur einen Aufruhr, gerade wie beim Kochen. »Liegt ein schwerer Deckel auf dem Pfanndl, so tut das Wasser nur stille Waller... hebt man aber den Deckel auf, so geht der Dampf in die Höh und das Wasser brodelt.« Genau so wäre das bei der Luftkrankheit im Blut. Von den Norddeutschen, die das erstemal ins Gebirge kommen, hätten manche darunter zu leiden. Kommen sie aber das zweite- und drittemal, dann sind sie an die dünne Luft gewöhnt. »So wird's auch beim Poldi sein! Bis er das nächstemal wieder heimkommt, hat er alles überstan104
den. Und da wird er wieder Euer lustiger Bub sein! Und lachen! Aber jetzt... freilich, jetzt hat er halt die Krankheit im Blut! Und da muß man ein bisserl Geduld mit ihm haben, muß recht lieb und gut zu ihm sein, muß ihn nicht viel mit Fragen sekieren, die nichts helfen, und muß ihm schön seine Ruh lassen! Gelt?« Die Försterin begriff ein bißchen schwer, wieso ihr Bub sich der heimatlichen Luft so völlig hatte entwöhnen können. Aber war ihm denn nicht auch die heimatliche Sprache fast ganz von der Zunge gefallen? »Freilich, ja!« Dieses Argument überzeugte sie. Und der geistliche Herr mußte recht haben – denn sie merkte gleich, daß das angeratene Mittel wirkte: Je weniger sie den Buben mit Fragen quälte, je herzlicher sie in ihrer stillen Sorge mit ihm war, desto ruhiger wurde die Krankheit in seinem Blut, desto lieber saß er bei der Mutter daheim in der Stube. Und befiel ihn dann plötzlich wieder solch ein luftkranker Rappel, daß er die Mütze packte und davonrannte, dann ließ sie ihn ruhig gehen, obwohl die Sorge in ihr jammerte: »O du Jesu mein! Jetzt hat er doch die Luftkrankheit... und da rennt er noch allweil hinaus in die Luft!« Am Samstagabend, als gerade vom sonntägigen Kirchgang die Rede war – die Försterin hatte für die Gesundheit ihres Buben zwei pfundschwere Wachskerzen gestiftet – äußerte sich die Krankheit in einem so schweren Anfall wachsender Erregung, daß die Försterin in ihrer Sorge zum Doktor schickte, ohne daß sie ihrem Buben was sagte davon. Und das hatte eine böse Wirkung. Denn als der Doktor, einen zufälligen Besuch vorschützend, in die Stube trat, fuhr Poldi aus dem 105
Lehnstuhl auf, mit funkelndem Zorn in den Augen, und ging aus der Stube, ohne ein Wort zu sagen, ohne auf ein Wort zu hören. Und dieser Besuch hatte eine schlimme Wirkung auch auf die Mutter – er setzte ihr wieder den Zweifel ins Herz. »Luftkrankheit?« Dazu hatte der Doktor gelacht. »Das ist doch Unsinn! Die kann man sich auf einem Gletscher holen, dreitausend Meter hoch! Aber bei uns da herunten? Wer Euch das eingeredet hat, Frau Försterin, das muß ein schönes Kamel sein!« In ihrem ersten Schreck hatte die Försterin gar nicht den Mut, zu bekennen, daß der Herr Dekan dieses – diese medizinische Autorität wäre. Aber hat der Bub nicht die Luftkrankheit, was hat er dann? Vater Xaverl, dem die Sache ›zu dumm‹ wurde, begann wie ein Rohrspatz loszuschimpfen. »Will er nicht einbestehen, wo ihn der Stiefel druckt, so soll er's halt bleiben lassen! Wenn er den Wehdam nimmer derleidet, wird er schon sagen, was ihm fehlt!« Doch bei allem Schimpfen verschwieg er den Verdacht, der in ihm aufgestiegen war – den Verdacht: Der Bub hat Schulden, traut sich nicht heraus damit, und die Unruh treibt ihn so herum, weil er doch selber weiß, daß seines Vaters Geldbeutel mit einem mageren Faden gebunden ist! In dieser Sorge suchte Vater Xaverl vor allem das eigene Gemüt zu beschwich-
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tigen. Drum füllte er die Zigarrentasche, nahm seinen Hut und ging in die Schützengesellschaft. Nun saß die Mutter wieder allein – bei der Petroleumlampe mit dem grünen Schirm. Und während sie an dem Weißzeug ihres Buben nähte, während ihr ein Tränlein ums andere auf die Leinwand und auf die Finger tropfte, keimte auch in ihr ein Verdacht, der ihr das Herz wie mit kalter Eisenhand umkrampfte – der Verdacht, daß ihr Bub gar nicht krank wäre. Der hat nur Langweil daheim! Und die treibt ihn so herum. Und macht ihn so gallig und müd! Er ist den Eltern ein Fremder worden, und in der Heimat hat er Heimweh nach der fremden Welt da draußen. Und spürt, daß das ein Unrecht ist – weil er Vater und Mutter noch allweil liebhat – und das wirft ihm diesen ruhelosen Streit ins Herz! Da hörte sie draußen seinen Schritt. Doch er kam nicht in die Stube herein. Ohne sich um das Nachtmahl zu kümmern, das auf ihn wartete, ging er in seine Kammer hinauf. Am andern Morgen, gegen sechs Uhr – während Vater Xaverl noch schlief und den ›Qualm‹ verschnarchte, den er in der Schützengesellschaft hatte schlucken müssen – hörte die Mutter den Buben das Haus verlassen. Als es Zeit zum Kirchgang wurde, war er immer noch nicht daheim. Der Vater in seinem Katzenjammer und in seiner verdrossenen Art fing wieder zu schelten an. Aber die Mutter hoffte den Buben in der Kirche zu finden. Doch da war er nicht – und während die Försterin auf 107
dem Chörle am Fenster kniete, lauschte sie immer gegen die Treppe zur Sakristei hinunter, hörte nicht, daß der Domini und das Dorle ›zum anderenmal‹ verkündigt wurden, und hörte nicht, wie falsch der Lichtschmied das Benediktus sang – er hatte zu tief eingesetzt, und das hielt er mit eiserner Zähigkeit fest durch das ganze Solo, ohne sich um die Musik der anderen zu kümmern. Auf dem Heimweg rannte die Försterin in ihrer Sorge dem Vater voraus – und fand den Sohn daheim in der Stube. »Bub! Wo bist denn gewesen?« Er hätte in der schwülen Kammer die ganze Nacht kein Auge geschlossen, wäre in den Wald hinaus und hätte in der guten Luft einen Schlaf gefunden, so fest, daß ihn auch die Kirchenglocke nicht geweckt hätte. »Gott sei Lob und Dank... wenn's nichts anderes ist!« Und der liebe Herrgott, meinte sie, wird einen gesunden Schlaf ihres Buben im Wald draußen für eine bessere Andacht gelten lassen als ein müdes Vaterunser in der Kirche. Aber wenn ihm nur – jetzt glaubte sie plötzlich wieder an die Luftkrankheit – wenn ihm nur das lange Liegen in der dünnen Luft nicht mehr geschadet hat, als der Schlaf ihm nützte? Mit dieser Sorge schien es zu gehen wie mit dem Wolf, den man nicht nennen darf. Denn es wurde mit dem Buben schlimmer von Tag zu Tag. Je schöner diese Tage waren, Tage, als hätte die Zeit in Sehnsucht nach dem 108
Sommer einen Monat übersprungen, um so grauer hing die Schwermut um dieses verstörte junge Leben her. Am Mittwoch, nach dem Essen, als Poldi wieder seine Mütze genommen hatte, erwischte ihn der Vater unter der Haustür beim Ärmel und zog ihn mit in die Kanzlei. »So ein Zustand muß einmal ein End haben!« Xaverl machte grimmige Augen und blies die Backen auf, daß sich der graue Schnurrbart sträubte, als wären's Igelstacheln, nicht Haar. »Bub!... Hast Schulden? ... In Gottes Namen, so sag's halt! Müssen wir halt schauen, was wir machen! Ein paar lausige Pfandbrief haben wir noch, d' Mutter und ich! Die müssen wir halt verklopfen! Also sag's! Hast Schulden?« Mit großen Augen sah Poldi den Vater an. »Ick? Un Schullen? Ne, Vater! Ick heww mi säbenhunnert Mark sparen. De hett mi Herr Radspeeler up Zinsen leggt.« Jetzt war Vater Xaverl mit seiner Weisheit zu Ende. Ganz perplex guckte er drein und schien nicht zu wissen, ob er sich über diesen schönen Sparpfennig freuen oder über das unbegreifliche Wesen seines Buben ärgern sollte. Vermutlich entschied er sich für das letztere, denn er drückte die Fäuste aufs Haar und begann zu schreien: »Himmel Kreuz Teufel...« Doch er hätte die Rede, die er mit diesem christlichen Stoßseufzer beginnen wollte, an die Wand hin halten müssen. Denn Poldi war aus der Stube gegangen. Den ganzen Nachmittag saßen die beiden Alten in der Kanzlei beisammen. Wenn ein Arbeiter aus dem Saat109
kamp oder ein Holzbauer kam, wurde er zum Teufel geschickt, denn Vater Xaverl meinte, daß man ›ein einzigsmal im Leben‹ auch für sich selber ein Stünderl nötig hätte. Doch nach all dem stundenlangen Reden waren die beiden so ratlos wie zuvor. Als es auf den Abend zuging, hatte die Mutter in ihrem Gemüsegarten die jungen Pflanzen zu begießen, denn der wolkenlose Tag war heiß gewesen. Und da sah sie ihren Buben, von dem sie meinte, er wäre auf den See hinausgefahren, bei einer Ulme lang hingestreckt im Grase liegen, das Gesicht in die Arme gedrückt. Sie ging zu ihm. Wie ein Schlafender lag er da, und seine Schultern hoben und senkten sich unter schweren Atemzügen. Er schien den Schritt der Mutter nicht zu hören und machte keine Bewegung, als sie sich an seiner Seite niedersetzte ins Gras. Überall in den Bäumen das zärtliche Locken der Vögel, das Gezwitscher bei ihren Nestern. Und durch das grüne Gezweig und durch die Lücken der Fichtenhecke fielen von der tiefstehenden Sonne die goldenen Lichter über die beiden her, ein wenig zitternd, weil alles Grün sich im lauen Wind ein bißchen rührte. Sich niederbeugend, ganz leise, streifte ihm die Mutter mit der Hand übers Haar. Poldi fuhr auf, halb wie in Schreck und halb wie in Freude – doch es schien, als wäre ein anderer Gedanke in ihm gewesen, nicht der Gedanke an die Mutter. Er sah sie so seltsam an. Dann fuhr er sich langsam mit der Hand über 110
die Stirne, atmete tief und ließ sich halb wieder ins Gras sinken. Da nahm die Mutter seinen Kopf zwischen ihre Hände und sah ihm in die Augen. »Bubele! Um Tausendgotteswillen! Sag mir's doch endlich! Was hast denn? Schau, das bringt mich ja schier um, daß ich dich allweil so sehen muß!« Was ihn bezwang – war es die weiche Stimmung des Augenblicks, der zärtliche Klang in der Stimme seiner Mutter, die schwimmende Sorge in ihrem Blick? Vor seinem verschlossenen Herzen wollte der Riegel springen, und schluchzend grub er das Gesicht in der Mutter Schoß. »Ach, Mutting, Mutting, ick bin krank...« »O du lieber Herrgott!« stammelte sie und versuchte seinen Kopf an ihre Brust heraufzuziehen. »Sag doch, Bub! Geh, sag mir doch...« »Ick kann 't nimmer uthollen! Min Hart, Mutting, dat springt mi binäh vor Weih, mi schüddt as Fewer dörch de Knaken, un min Lewen is mitten utenanner klöwt! Ick ward nich mihr, Mutting! Ick ward nich mihr! Mi is wat intzwei!« »O heilige Mutter – « Mit beiden Armen umklammerte sie den Hals ihres Buben, küßte sein Haar und sah in ratloser Angst auf ihn nieder. Denn sie hatte kaum ein Wort verstanden, wußte nicht, was der Bub ihr sagen wollte – und verstand doch den Schrei seiner Qual, die Verzweiflung seines Herzens. »Bub! Mein Bub! So sag mir doch...schau, ich versteh ja kein Wörtl...« 111
Er umschlang sie und drückte das Gesicht an ihre Brust. »Ick kann 't nich seggen, Mutting! Mi wullen de Würd nich rut. Äwer so kann dat nich wider gahn! Ick möt furt, Mutting! Furt! Furt! Furt! Mi würd de Tid tau lang, dat holl ick jo nimmer ut... ick wull, ick wir up min Schipp!« Fort will er? Und die Zeit wird ihm zu lang? Und daheim hält er's nimmer aus? Und möchte schon gerne wieder auf seinem Schiff sein? Das hatte sie verstanden! Was seit vier Tagen immer wie eine scheue Angst in ihr gewesen – jetzt hatte er's ausgesprochen! Und so quälend war in ihm das Heimweh nach da draußen, daß es ihn ganz von Sinnen brachte, seine Gesundheit zerstörte und sein Gesicht entstellte? Doch ehe dieser Gedanke noch recht in ihr lebendig geworden, jagte sie ihn schon wieder aus ihrem erschrockenen Herzen hinaus. Ein Bub, den es forttreibt von seiner Mutter, klammert doch nicht so die Arme um ihren Hals! Sein Widerstreben überwindend, hob sie sein Gesicht von ihrer Brust, wischte ihm die Tränen aus den Augen und preßte ihre Wange an die seine. »Schau, Bubele...schau, ich weiß doch, daß ich dich falsch verstanden hab! Hängst ja doch an Vater und Mutter, gelt? So viel Langweil kannst doch nicht haben daheim, daß du von der Mutter weg willst... und wieder fort auf dein Schiff... und gern?« Er sah sie an. Und verstand. Und preßte die Mutter an sich – und da fand er auch plötzlich die Sprache seiner Heimat. »Aber geh, Mutterl! Wie kannst du nur so was 112
denken!« Unter müdem, traurigem Lächeln strich er das feuchte Haar von seiner Stirne zurück. »Jetzt darf ich dir's nimmer verschweigen und muß dir schon alles sagen!« Ganz in sich versinkend, drückte er das Gesicht in die Hände. »Mutter... ich hab das Dorle lieb!« »Mar und Josef!« stotterte die Försterin im ersten Schreck. »Der Weberin ihr Dorle?« Er nickte. »Aber die ist ja doch mit...« Sie hatte sagen wollen: mit dem Domini verkündigt! Aber das brachte sie nicht heraus. Und ratlos saß sie neben ihrem Buben im Gras, bis sie ihre aus den Fugen geratenen fünf Sinne so weit wieder beisammen hatte, daß sie fragen konnte: »Und 's Dorle? ... Was sagt denn 's Dorle dazu?« Er schwieg, immer das Gesicht in den Händen. Aber wie hätte es für die Försterin auf der Welt ein Mädel geben können, dem ihr Bub nicht gefiele: »'s Dorle wird dich halt auch mögen, gelt?« Poldi schüttelte den Kopf. »Dat weiß ick nich! Wie das erste Glück so gewesen ist in mir, da hab ich mir's eingebildet, daß sie mir gut sein könnt! Aber tät mich das Dorle mögen... sie hätt sich doch mit dem ›Anneren‹ nicht verkünnen laten!« »Jesus, Jesus! Bub! Wie hast denn so anrumpeln können!« Die Försterin fand in ihrer ratlosen Sorge kein klügeres Wort. 113
»Das ist schön gewesen! So schön, Mutting! So schön!« Die Arme auf den Knien, den Kopf zwischen den Händen, fing er mit leiser Stimme zu erzählen an, während das Blut der niedergehenden Sonne über Tal und Berge floß. Von der ersten Begegnung auf der Straße erzählte er, wie ihm das gleich so merkwürdig ins Blut gefallen wäre, daß es gar nimmer von ihm hätte lassen wollen – und von der lieben Stunde in dem grünen Stübchen, von dem Getriller der Vögel, von der Spieluhr, von dem Glanz in Dorles Augen, und von all dem frohen, lachenden Glück, das er in seinem Herzen mit heimgetragen hatte – von der Falschheit des ›Anderen‹, dessen Name nicht über seine Lippen wollte – und von aller Qual, die damals in der Kirche begonnen hatte, um zu wachsen mit jeder schlaflosen Nacht, mit jedem unerträglichen Tag. Die Försterin war so gerührt, daß ihr immer die Tränen auf das Halstuch hinunterkollerten. Wie sollten auch einer Mutter, die das Herz ihres Buben bluten sieht, die Augen nicht überlaufen! Aber ganz begriff sie diese traurige Liebe nicht, die ihrem Buben ins Herz geschlagen hatte wie der Blitz in den Baum. Wie kann denn nur so was über einen Menschen kommen – in einer einzigen Stunde, fast auf den ersten Blick? Das verstand sie nicht. Fängt man an, einem Menschen gut zu werden, so überlegt man doch erst und schaut und rechnet auch ein bisserl! Sie hatte ihren Xaverl doch auch von Herzen lieb gehabt, als sie mit ihm zur Kirche gegangen – aber das hatte drei Jahre gedauert, bis das so gekommen war, im-
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mer ein Fünklein zum Fünklein, bis ein schönes und warmes Feuerchen daraus geworden. Aber was sie nicht verstand, das fühlte sie doch mit banger Sorge: daß dieses Unglück ihrem Buben ans Leben ging. Doch sie war ratlos, daß sie nichts anderes wußte, als seinen Kopf an ihre Brust zu drücken, sein müdes, verstörtes Gesicht zu streicheln und sein Haar zu küssen. Und da stand der Vater Xaverl plötzlich vor den beiden, mit verdutzten Augen und ärgerlich gereizt. »Was habts denn ihr zwei miteinand? Der Bub ist doch keine drei Jahr mehr! Wie kann man denn einen ausgewachsenen Menschen so verkindeln!« An Poldis Gesicht und am Blick der Mutter schien er zu merken, daß er eine Beichtstunde unterbrochen hatte. »So so?... No ja, aber jetzt möcht ich schon bald auch einmal wissen, was denn eigentlich los ist, daß man gar kein Fried nimmer hat im Haus! Oder muß ich allweil der letzt sein, der was erfahrt?« Die Mutter, in Erinnerung an frühere Zeiten, schien einen bösen Auftritt zwischen Vater und Sohn zu befürchten. »Bubele, sei gescheit!« flüsterte sie in Poldis Ohr und strich ihm noch einmal mit der Hand übers Haar, während sie sich aus dem Gras aufrappelte. Dann nahm sie den Vater beim Arm. »Jetzt weißt, daß du allweil der letzte bist im Haus, das ist doch ein bißl übertrieben!« Sie zog ihn mit sich fort. »Geh komm! Und laß den Buben in Fried!« In der Kanzlei sagte sie ihm alles. Aber bei Vater Xaverl war's mit der Rührung nicht gar weit her. Im Gegenteil, 115
er schien erleichtert aufzuatmen, weil hinter dem verstörten Wesen seines Buben nichts anderes steckte als solch eine ›Narretei‹, bei der ohnehin nichts Vernünftiges herausgeschaut hätte. »Gott sei Lob und Dank, da ist die Katz wieder einmal auf die Füß gefallen!« meinte er. »'s reine Glück für uns, daß der Bub mit seiner narrischen Lieb ein verriegeltes Stadeltor gefunden hat und daß das Mädel schon in Numero Sicher ist; denn wann der Domini was hat in der Faust, so laßt er nimmer aus. Sonst hätten wir schöne Streich erleben können. Der Bub mit seiner Narretei wär imstand gewesen und hätt seine ganze Karrehri über den Haufen geworfen und hätt so ein Mädel geheiratet, die... na, ich will nichts sagen! Was wahr ist, soll wahr sein: Das Dorle ist ein braves und ein liebs Dingerl! Aber unser Bub, der in fünf, sechs Jahr den Kapitän hat, der kann sich was Besseres aussuchen!... Gott sei Lob und Dank, daß die Sach erledigt ist!« Die Försterin meinte mit einem Seufzer, so ganz erledigt wäre die Sache noch immer nicht! »Schau nur den Buben an! Was er für Augen hat!« »Jetzt sei zufrieden, Alte! Und mach dir keine Sorgen nimmer! Müssen wir halt die paar Tag, die er noch da ist, recht gut sein mit dem Buben. Das macht's ihm leichter. Und wann er fort ist, hat er 's Ärgste überstanden. Die Zeit wird ihm den hohlen Liebszahn schön langsam lupfen...und bis er wieder einmal in Urlaub kommt, lacht er selber darüber.« Da fiel der Försterin ein, was der Dekan ihr gesagt hatte, und nun glaubte sie zu verstehen, wie sein Trost wegen der ›Luftkrankheit‹ gemeint war! Und wie gerne hätte sie 116
sich trösten lassen! Wie gerne wäre sie ruhig und zufrieden gewesen! Aber eine bange, dunkle Sorge wühlte in ihrem Herzen. »Xaverl«, warnte sie, »nimm's nicht so leicht!« Und wieder sagte sie das gleiche Wort: »Schau dir den Buben nur an! Was er für Augen hat!« »Augen halt, wie sie der Fisch macht, wann er geschnappt hat und in der glanzigen Fliegen den Haken spürt! Aber unser Bub ist gesund! Der macht einen festen Zuck... und: Guten Morgen, Herr Fischer! Hat er 's klare Wasser wieder, so schaut er ganz anders drein!« »Xaverl! Mir ist so viel angst! Ich sag dir's, dem Buben reißt's am Leben!« »Geh, du!« Der Förster mußte lachen. »So was! Wie d' Weiberleut aber alles gleich übertreiben müssen!« Er setzte sich an den Schreibtisch. »Ich hab dich gewiß auch gern gehabt, aber wann ich dich nicht kriegt hätt, deswegen hätt ich noch lang nicht sterben müssen!« Es lag ihr auf der Zunge: ›Du! Und der Bub! Das ist doch was anders!‹ Aber sie verschwieg das, weil sie ihren Xaverl nicht kränken wollte. Und trug ihre wühlende Sorge in den schönen Abend hinaus. Auf dem See draußen sah sie ihren Buben im Nachen sitzen und rudern, daß vor dem Kiel das Wasser aufging, so weiß wie Schnee. Er ruderte, daß ihm der Schweiß auf die Stirne trat, ruderte immer den See hinauf, als möchte er das sinkende Licht mit Gewalt noch einholen. Aber der rote Feuerstreif 117
auf den Wellen war schon erloschen, die Sonne schon hinuntergegangen. Es fing zu dämmern an, und ehe noch am mattblauen Himmel sich die ersten Sterne zeigten, flammte pünktlich mit dem Abendläuten am ganzen Ufer das Licht des Domini auf. An diesem Abend wußte die Försterin, warum die Augen ihres Buben das grelle Licht so schwer vertrugen – und warum es ihn immer vom See hereintrieb in die Stube, sobald die Glocke zu läuten begann. Als sie auf dem gedeckten Tisch das grüne Glas über die Petroleumlampe hob, da hörte sie schon im Garten draußen seinen Schritt. Auch die Kanzleitür hörte sie gehen. Im dunklen Hausflur faßte Vater Xaverl den Buben ab, legte ihm den Arm um die Schultern und rüttelte ihn mit derber Zärtlichkeit, als hätte er einen Schlafenden aufzuwecken. »Sei gescheit, Manndele! Die Mutter hat mir alles gesagt. Und jetzt sei mir ein bißl vernünftig! Denk dir: Du bist nicht der erst, der mit der Lieb den Postwagen versäumt hat! In Gottes Namen, setzt man sich halt hin am Weg und laßt sich 's Warten nicht verdrießen... es kommt schon wieder ein Wagen ... einer, auf dem man viel besser sitzt. Und schau, wenn du dir die ganze dumme Geschicht mit Verstand überlegst, mußt dir doch selber sagen, daß da nichts rausgeschaut hätt dabei!« »Ne, Vater, nicks nich!« sagte Poldi mit leisem Beben in der Stimme. »Nicks nich... als bloß ein schönes und gutes Glück!« Er lachte. »Aber wozu braucht der Mensch auch 118
ein Glück! Ne, Vater! Dat möt nich sin! Der Mensch hat für Leben und Sterben ander Ding genug! Damit langt er gut bis zum kalten Grab!« Wieder lachend, befreite er sich aus dem Arm des Vaters und trat in die Stube. Vater Xaverl nahm diese Antwort nicht gar so ernst. Und um seinen Buben aufzuheitern, erzählte er beim Abendessen und bei der qualmenden Pfeife alle lustigen Jagdgeschichten, die er in dreißig Jahren erlebt hatte. Und als ihm nichts Erlebtes mehr einfiel, tat er einen tiefen Griff ins ›Lateinische‹. Dabei amüsierte er sich so gut, daß er ein um das andere Mal bei allen Heiligen schwor, er hätte in seinem ganzen Leben noch nie so viel gelacht wie an diesem lustigen Abend. Doch je lauter der Vater lachte, desto tiefer grub sich auf Poldis Stirn die Falte ein, die zwischen seinen Brauen lag. Und die Mutter hatte alle paar Minuten was in der Küche zu schaffen – um vor ihrem Buben die Tränen zu verbergen, die ihr immer wieder in die Augen traten.
Die schönen Tage begannen schwül zu werden – so schwül unter dem Dach des Försterhauses wie draußen unter dem freien Himmel mit seiner heißen Sonne. Von der ›dummen Geschicht‹, wie Vater Xaverl den Herzenskummer seines Buben zu nennen pflegte, wurde im Försterhaus nur gesprochen, wenn Vater und Mutter allein waren. Saß aber der Bub bei ihnen, dann schwatzte 119
man von hundert Dingen, nur von dem einzigen nicht, an das sie alle dachten. Und das war immer ein tröpfelndes Reden, ein müdes Lachen, ein beklommenes Verstummen. Wie lang ihnen allen solch ein Abend wurde – bei der trüb brennenden Petroleumlampe, um die noch Vater Xaverls Pfeife die grauen Schleier ihres Qualmes spann! Doch am Freitagabend – am letzten Abend vor Poldis Abreise – da wurde allen dreien das Schwatzen ein bißchen leichter. Jedes von ihnen schien zu denken: Morgen ist's überstanden! Die Alten sprachen immer vom nächsten Urlaub ihres Buben, Vater Xaverl braute einen Punsch, und da blieben sie lange sitzen, denn die Mutter hatte noch bis spät in die Nacht hinein zu nähen, um das Zeug ihres Buben völlig in Ordnung zu bringen, und am anderen Morgen, gleich in aller Frühe, gedachten sie den Koffer zu packen – Poldi mußte wohl erst am Abend gegen zehn Uhr von zu Hause fortfahren, um in der nächsten, eine Stunde vom Dorf entfernten Bahnstation den Anschluß an den Nachtzug zu erreichen – aber wenn der Koffer am Morgen schon fertig stünde, dann könnte man sich Zeit lassen, meinte die Mutter. »Und man hat sich doch noch ein bißl!« Als sie schlafen gingen, war Vater Xaverl vom Punsch so fidel geworden, als käme er aus der Schützengesellschaft. Er machte sich's in den Federn bequem und lachte und schwatzte, während die Mutter noch immer was zu kramen hatte. Aber schließlich wurde er still, und als er zu 120
sägen anfing, schlich die Försterin auf den Zehen aus der Stube und ging zur Kammer ihres Buben hinauf. An der Tür lauschte sie ein Weilchen. Alles war still da drinnen, doch es schimmerte noch Licht durch die Ritzen der Türe heraus – und als sie in die Kammer trat, sah sie ihren Buben halb entkleidet neben dem flackernden Kerzenlicht am Fenster sitzen. Wortlos, wie von einem schmerzenden Krampf geschüttelt, streckte er der Mutter die Arme entgegen und zog sie auf seinen Schoß und hielt sie umklammert und preßte das Gesicht an ihren Hals. Auch die Mutter brauchte eine Weile, bis sie sprechen konnte. Dann begann sie, ihn mit leisen Worten zu trösten, und redete so lange, bis er ruhig wurde. »Und schau, Bubele, jetzt vergönn dir doch auch ein bißl Schlaf! Morgen mußt ja die ganze Nacht durch fahren! ... Gelt, tust dich niederlegen?« Er nickte. »Gut Nacht, Mutterl!« Draußen vor der Türe wartete sie, bis das Licht erlosch. Dann ging sie nochmals hinein in die Kammer, die vom Mondschein matt erleuchtet war, tauchte den Finger in das Weihbrunnkesselchen, das neben der Türe hing, besprengte mit dem geweihten Wasser das Gesicht ihres Buben und küßte ihn auf die Wange. »Schau, so viel hart wird's mir morgen! Aber komm mir nur gesund wieder heim... und alles ist recht!« »Ja, Mutting!« 121
Sich bekreuzigend, mit einem geflüsterten Segenswunsch, verließ ihn die Mutter. Am andern Morgen waren sie alle drei ganz ruhig. Nur Vater Xaverl hatte Ursache, manchmal an seine Stirn zu greifen; er hatte zu viel Zucker in den Punsch gegeben. Gegen acht Uhr, als Poldis Koffer gepackt war, setzten sie sich zum Frühstück vors Haus, in den Schatten des vorspringenden Daches. Der Tisch war gedeckt wie zu einem Fest. Die Mutter hatte einen großen Blumenstrauß zwischen die Tassen und Teller gestellt und hatte Schinken, Eier, Kuchen und Gugelhupf so reichlich aufgetragen, daß Vater Xaverl lachend fragte: »Kriegen wir denn heut Einquartierung?« Während sie saßen, mußten sie mit dem Tisch immer rücken, um der Sonne auszuweichen. Die brannte am frühen Morgen schon so heiß, als wär's die Julisonne. Niederen Fluges schossen die Schwalben über die Wiesen und am Ufer hin. Und wenn ein Wagen die Seestraße hinunterfuhr, dampften graue Staubnebel langsam über das spiegelglatte Wasser hinaus. Kein Windhauch rührte sich – und doch war Bewegung am Himmel – denn weiße, faserige Wolken wuchsen aus dem Blau heraus, lösten sich wieder auf und bildeten sich an anderer Stelle wieder von neuem. Es war etwas Schwüles und Lauerndes in der ganzen Natur. »Heut will mir's Wetter gar nicht gefallen!« meinte Vater Xaverl.
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Und Poldi nickte. »Ja, Vater! Heute kommt noch wat!« Aber es blieb immer im gleichen, von Stunde zu Stunde. Gegen Mittag hatte die Mutter einen Weg ins Dorf zu machen, um für den Buben noch was einzukaufen: Nadeln, Faden, Litzen und Knöpfe – denn sie wollte ihm eine Nähschachtel zusammenrichten, damit er auf dem Schiff sein Zeug immer ordentlich ausbessern könnte. Und als sie von diesem Weg wieder heimkam, war es ihr anzumerken, daß irgend etwas geschehen war. Ganz aufgeregt war sie. Und Poldi fragte auch gleich: »Mutter, was hast du?« Sie erschrak vor seinem merkwürdigen Blick, wollte ihn beruhigen und redete ein Weilchen so herum, von ihrer Angst vor einem bösen Wetter und vom Krämer, dessen ›Anerith‹ Anerith = Barometer seit gestern einen Purzelbaum nach der schlechten Seite gemacht hätte, und wie aufgeregt sie darüber wäre, daß das grobe Wetter gerade jetzt beginnen sollte, wo ihr Bub wieder aufs Schiff müßte. Und so schwatzte sie, bis Poldi die Hand um ihren Arm klammerte und mit zerdrückter Stimme sagte: »Ne, Mutting! Dat möt wat anners sin! Und das sollst du mir sagen! Hast du das Dorle gesehen?« »Aber, Bub, was fallt dir denn ein? Du mußt dir ja Sachen denken... geh, sei doch ein bißl gescheit! Und wenn schon meinst, du mußt es wissen... no ja, in Gotts Namen: Der Domini ist mir halt begegnet.« »Der Dom'ni?... So?«
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»Und gefragt hat er mich halt, wie lang du noch bleibst. Und wie ich ihm gesagt hab, du fahrst heut am Abend um zehne, da hat er aufgeschnauft... und schau, Bub, da hat er mich derbarmt! Und angeschaut hat er mich, so verkümmert; und grad wie einer, der sich was Gutes derbettelt, so hat er mich gefragt, ob er nach 'm Essen nicht kommen dürft...« Mit angstvollen Augen sah die Mutter zu ihrem Buben auf und strich ihm mit der Hand über die Stirn, als möchte sie diese harte Furche glätten. »Geh, Bubele, sei gescheit! Schau, ich hab's ihm verlaubt, daß er kommt... weil ich mir denkt hab, es wär für dich und für uns alle am besten, daß man im Guten auseinander geht. Und wann er kommt und sagt dir in aller Güt ein ehrlichs Pfüegott... schau, da kannst ihm doch die Hand geben ...« Poldi schüttelte den Kopf. »Ne, Mutting, dat kann ick nich. Der Dom'ni und ich, wir haben einander nichts mehr zu sagen.« Dabei blieb er, wie die Mutter auch bettelte. Und gleich nach dem Mittagessen nahm er seine Mütze, ging zur Schiffhütte hinunter, löste das Boot und fuhr auf den See hinaus – weit hinaus. Draußen ließ er die Ruder sinken. Gebeugt, mit den Fäusten auf den Knien, saß er im Kahn und spähte immer gegen die Seestraße. Bald brannte die Sonne mit schwüler Glut auf ihn nieder, bald wieder glitt ein grauer Schatten der Wolken über ihn hin, die sich mit kugeligen Formen immer dichter am Himmel zusammenzogen. 124
Einen um den anderen sah Poldi die Seestraße herunterkommen – aber keiner trug den langen Sonntagsrock, keiner hatte den knappenden Schritt des Schmiedes. Bei diesem Spähen überkam ihn plötzlich ein quälendes Gefühl – der andere, wenn er käme, sollte ihn auf dem offenen Wasser nicht sehen, sollte nicht merken: Der weicht mir aus. Mit hastigen Ruderschlägen, die das Wasser rauschen machten, trieb er das Boot der nächsten Waldbucht zu. Aufatmend sprang er ans Ufer und zog den Nachen bis zum halben Kiel aufs Land. Ohne des Weges zu achten, den er einschlug, schritt er in den schwülen, schweigenden Wald hinein. Nirgends konnte er bleiben – wie eine brennende Unruh war's in ihm, die ihn trieb und trieb. Und als der Waldgrund zu steigen begann, überfiel es ihn mit irrsinniger Sehnsucht: Hinauf, hinauf, nur immer hinauf – um so rascher, je steiler das Gehänge wurde! Wie wohl ihm das tat, sich so abzuquälen, bis ihm der Atem verging und die Kraft erlahmte! Da lichtete sich der Wald zu einer weiten, wellig geneigten Weidefläche. Das war eine Niederalm – und dicht am Waldrand stand die Sennhütte. Zwei lachende Stimmen klangen aus dem niederen Blockhaus, dünne Rauchwolken kräuselten sich wie grauer Nebel aus den Lücken des steinbeschwerten Schindeldaches, und vor der offenen, von mattem Feuerschein umzitterten Türe stand ein leerer Handkarren – da hatte wohl der Bauer das Almgerät her-
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aufgefahren, um die Hütte häuslich einzurichten für die nahe Sennzeit. Eine Weile stand Poldi am Waldsaum und blickte zu der rauchenden Hütte hinüber, aus der die Stimmen klangen – die Stimmen eines Mannes und eines Weibes – und so fröhlich! Die beiden lachten, als säße das Glück bei ihnen am hellen Feuer! Um den Mund ein bitteres Lächeln, wandte sich Poldi in den Wald zurück. Ganz langsam ging er – ohne zu schauen, wohin. Immer wieder griff er in die grünen Zweige, nach einem Stamme, nach einem Fels – als hätte er eine Stütze nötig. Dieses sinnlose Aufwärtshetzen hatte ihn so müde gemacht, daß sein Gang wie das Taumeln eines Trunkenen wurde. Zwischen moosigen Steinen, wo der Schatten des jungen Laubes durchwebt war von hundert flimmernden Lichtern, warf er sich zu Boden. Kleine Meisen flogen mit erregtem Pispern hin und her, als hätte der Anblick dieses einsamen Menschen ihre Neugier geweckt. Und tiefer im Wald fing ein Kuckuck zu rufen an. Wer da das Waldorakel hätte befragen wollen: ›Wie lang leb' ich noch?‹... der hätte seine Freude gehabt! Denn der Kuckuck wollte mit Rufen kein Ende finden und schien die Jahre des Methusalem zählen zu wollen. Doch Poldi hörte nicht. Ohne sich zu bewegen, saß er, mit den schlaffen Armen über den Knien, und starrte immer vor sich nieder. 126
Die flimmernden Lichter um ihn her erloschen – eine dichte Wolke hatte sich vor die Sonne geschoben – und der grüne Wald wurde grau. Poldi hob das Gesicht, mit Augen, als wüßte er nicht, wo er wäre und wieso er da hergekommen. Er lachte heiser. Und pflückte eine Grasschmehle. Die sah er immer an und zog sie langsam durch die Finger – immer wieder. Der Kuckuck, der ein Weilchen geschwiegen hatte, fing etwas ferner wieder zu rufen an. Dann wurde er stumm, mitten im halben Rufen, und strich mit jenem gackernden Gelächter durch den Wald hinunter, das der Kuckuck hören läßt, wenn ihn der Schritt eines Menschen oder eines Wildes aufscheucht. In der dumpfen, grauen Schwüle ging ein langsames Rauschen über die Kronen der Buchen hin – und aus der Ferne hörte man etwas wie das Brausen eines mächtigen Wildbaches. Bei dem kühlen Hauch, der vom Tal her über den Berghang heraufwehte, kam plötzlich eine milde Seligkeit in die Luft, der Wohlgeruch des blühenden Waldmeisters und der weißen Maiblumen. Tiefatmend trank der Einsame den wehenden Duft in seine Brust. Und jählings – als wäre bei diesem Frühlingstrinken alle Sehnsucht seines Herzens schreiend geworden – warf er sich mit dem Gesicht ins Moos und brach in Tränen aus. 127
Es dauerte lange, bis dieser zuckende Kampf seines Körpers sich beruhigte. Und immer blieb er noch liegen, das Gesicht in die Arme gewühlt – und hörte nicht, daß jemand kam. Erst war's nur wie ein heller Schimmer, ferne, zwischen den Bäumen. Doch immer näher kam's – ein Mädchen, mit weißer Schürze und weißem Kopftuch. Langsam schreitend, ein Körbchen in der linken Hand, blickte sie suchend umher. Manchmal bückte sie sich und schob das grüne Stäudlein, das sie gepflückt hatte, unter den Deckel des Körbchens. Und das alles tat sie seltsam müde. Da fuhr ein Windstoß über den Wald hin. Nur ein kurzes, dumpfes Rauschen – und gleich wieder Stille. Doch alle Zweige hatten sich bewegt, alle Wipfel sich gebogen, und das schwankte noch immer, als in den Lüften schon wieder Ruhe war. Und wieder hörte man dieses Brausen in der Ferne, stärker als zuvor. Langsam hob das Mädchen die Augen und machte ein paar Schrittlein hin und her, um durch die Kronen der Buchen einen Ausblick nach dem Himmel zu finden. Was sie dort oben sah, das schien ihr nicht zu gefallen. Den Deckel des Körbchens fester schließend, begann sie rasche Schritte zu machen und wollte durch den Wald hinunter ins Tal. Das Dorle war's – aber nicht mehr mit dem rosigen Gesichtlein und den freudig glänzenden Augen wie damals im grünen Stübchen, als die Spieluhr zirpte und die Vögel trillerten. Sie hatte schmale, blasse Wangen, einen müden und traurigen Blick und um den Mund einen 128
schmerzhaft ängstlichen Zug – wie ein Kind, das gerne weinen möchte und doch nicht den Mut seiner Tränen hat, weil es den Ärger der Mutter fürchtet. Immer hastiger ging sie – und da stockte plötzlich ihr Fuß. Erschrocken blickte sie auf den Menschen nieder, der mit verhülltem Gesicht auf der Erde lag und zu schlummern schien. Aus ihren Zügen sprach es wie ratlose Angst – und doch wie Sehnsucht auch, die ihre Augen glänzen machte. Sie wagte sich eine Weile gar nicht zu rühren. Dann schien diese hilflose Angst in ihr das Stärkere zu werden – und als hätte eine grobe Faust sie von der Stelle gestoßen, begann sie durch den Wald hinunter zu flüchten. Da klang ein Laut. War es ihr Name, den dürstende Sehnsucht stammelte? Oder war's nur ein erstickter Schrei ohne Sinn? Der Klang dieser Stimme lahmte ihr alle Glieder – sie konnte nicht weiter, mußte bleiben – und als sie langsam das weiße Gesichtlein wandte, stand er schon vor ihr, mit verstörten Augen, mit zerwühltem Haar, in dessen Ringeln grüne Moosfäden und kleinzerknickte Reiser hingen, und auf den brennenden Wangen die grauen Striche der eingetrockneten Tränen. »Dorle? Wat heww ick di tau Leden dahn?« Die Erregung zerdrückte ihm jedes Wort, daß er kaum zu sprechen vermochte. »Segg mi dat blot, wat ick di tau Leden heww dahn, dat du Furcht hewwen möst vor mi, äs wir ick en wildes Dirt?« 129
Sie verstand nicht, was er sagte. Aber wäre ihr seine Sprache auch verständlich gewesen, sie hätte ihm doch nicht Antwort geben können – so zu Tod erschrocken stand sie vor dem Kummer, der aus seinem entstellten Gesicht zu ihr redete. »Segg mi, Dorle...« Das klang, als hätte ihr Schweigen seinen Zorn gereizt. »Segg mi... oder verstehst du mich schon wieder nicht? Sagen sollst mir, wat ick dir getan hab, daß du so hast davonlaufen müssen vor mir. Warum, Dorle, warum tust du mir noch so weh?« Der harte Klang seiner Stimme zerbrach, und das Wasser schoß ihm in die Augen. »Was hab ich dir denn getan... als bloß das einzige, daß du mir lieb bist? Und das tut doch mir selber weher... als dir!« Er lachte. »Odder heww ich wull min Wurd nicht gehalten, das ich dem Herrn Dekan hab geben müssen, weil... weil mich der >Anner< verkladdert hat? Sag mir, Dorle... bin ich zu dir in dein Haus gekommen? Heww ick di nich in Rauh laten? Heww ick di im Dorf drunten einen Weg abgepaßt? Bin ich nicht auf der Seestraß vorbei an dir... und hab mein Herz in die Faust genommen, daß es bluten hat müssen! Ist das wahr oder nicht? Un nu segg mi, Dorle... sag mir das einzige, warum du mich fürchten mußt? Warum, Dorle? Warum bist du vor mir davongelaufen? Warum?« »Weil...« Sie konnte nicht weitersprechen, denn alles zitterte an ihr, die Stimme, die Hände – das ganze, kleine, zarte Ding war zitterndes Leben, zitternde Angst. So stand sie vor ihm und hing mit ratlosem Blick an seinen nassen Augen. »Weil... so geh doch, schau, ich bin ja nur 130
so gelaufen, weil...« Wie schwer es ihr wurde, diese Ursache zu finden: »Weil ein arges Wetter kommt!« »Ein Wetter? So?« Er sah nicht zum Himmel auf, an dem sich die Wolken finster über dem jungen Maienleben des Waldes zusammenzogen – und sah nicht, daß sich rauschend unter einem Windstoß alle Laubkronen bewegten. Nur diese großen, angstvollen Augen sah er, die so starr an den seinen hingen. »Ein Wetter? So?« Und wieder lachte er. »Herr Jeking, jo... freilich, da mußt du laufen... dat is hellsehen wohr! So lauf doch, lauf! Sonst könnt sich einer sorgen um dich... bei dem argen Wetter... einer, den du lieb hast!« Sie sah ihn an und schwieg, als hätte sie nicht verstanden. Und er hatte doch halb die Sprache der Heimat geredet. »So lauf doch, lauf! Oder der Dom'ni wird bös werden, weil du nicht daheim geblieben bist... bei so einem Wetter...« »Aber geh!« Sie hatte eine Stimme, die gar nicht klang wie sonst. »Der Domini ist's ja doch selber gewesen ... der hat mich doch fortgeschickt, daß ich Waldmeister such... zum Ansetzen, weißt... weil der Waldmeister ein Heilkräutl ist... « »Der Dom'ni?« Eine harte Furche grub sich in seine Stirn. »Der hat dich suchen geschickt?« »Der Domini, ja! Vor dem Essen ist er gekommen, ich weiß nicht wie, ganz siedig ist er gewesen vor lauter Laufen, und – und auf der Stell hab ich fort müssen, und... 131
und Waldmeister suchen.« Immer an seinen Augen hängend, mit stockendem Atem und zitternd, sagte sie das her, wie ein Kind die auswendig gelernten Sünden aufsagt, wenn es das erste Mal zur Beichte geht. »Die Mutter hat gemeint, ein Wetter tat kommen und hat gescholten und hat mich nicht fortlassen wollen. Aber da ist der Domini ganz bös worden, und fort hab ich müssen, gleich auf der Stell... und das Wetter, hat er gesagt, das tät gar nimmer kommen, und morgen wär alles wieder gut! Und viel sollt ich suchen, recht viel, weißt, weil der Waldmeister so ein gutes Heilkräutl ist... und sollt nur ja um kein Aichtl früher heimkommen, eh's nicht Abend ist und eh nicht sein Licht wieder brennt!« So hastig hatte sie das hergestottert, daß ihr der Atem erloschen war wie beim Lauf über eine steile Höhe hinauf. »Aber schau nur, was für ein Wetter als kommt! Schau, da muß ich doch heim!« In heiseres Lachen ausbrechend, so lustig, als hätte man ihm die drolligste Geschichte der Welt berichtet, schlug Poldi immerzu mit beiden Händen auf seine Knie los. »Jesus Maria!« stammelte Dorle erschrocken. »Poldi? Was hast denn?« »Nu verstah ick! Nu verstah ick! Nu is mi allens klor!« Er lachte, daß ihm die Tränen kamen. »Schau nur, schau, wat de Dom'ni en klauker Mensch is! Seggt tau min Mutterl, dat hei kommen will... damit ich daheim bleib bis zum Abend und allweil warte auf ihn... und ist so klug doch, daß er Angst hat, ich könnt in der letzten Stund mein Herz nimmer zwingen, daß ich hinlaufen müßt zu dir und deine lieben Hand fassen...« Er streckte die Ar132
me, und seine braunen Fäuste klammerten sich um Dorles kleine Hand. Das Lachen war ihm plötzlich vergangen – doch die Tränen dieses Lachens, graue Tropfen, rannen ihm über die verhärmten Wangen, über den zuckenden Mund. »Und schau, Dorle... deswegen hat er dich in den Wald geschickt... bei so einem Wetter, Dorle... daß du nicht daheim wärst, wenn ich kommen müßt und allem, was mir lieb ist, noch das letzte Wort sagen: Adjüs, Dorle, adjüs, adjüs...« Zitternd, mit bleichem Gesicht und großen Augen, stammelte sie einen Laut, der im dumpfen Sausen erlosch, mit dem der Sturm begann. »Und schau, Dorle... jetzt hat dich der Dom'ni mit seiner Klugheit hergeschickt zu mir... und jetzt kann ich dir das sagen... mein letztes, liebes Wort: Adjüs, Dorle – « Seine Stimme brach – und einer von den grauen Tropfen kollerte ihm über die Backe hinunter und fiel auf Dorles Hand. Sie zuckte zusammen, als wäre das Tröpflein Wasser ein brennender Funke. »Adjüs, Dorle! Adjüs!« Da fand er dieses wehe, bittere Lachen wieder. »Und der kluge Dom'ni soll recht behalten, und morgen... morgen, wenn ich fort bin, soll alles wieder gut sein ... un de Dom'ni soll... der soll seine Ruh wieder haben ... und dich... und all mein süßes Glück... das alles soll er haben ... morgen! Und ich, Dorle... ich hab mein totes Herz und min daudes Lewen... un allens is gaud...« 133
»Jesus Maria...« Sie wollte sprechen und brachte keinen Laut mehr aus der Kehle. »Gelt, jo – un allens is gaud...« Er hatte das Gesicht von ihr abgewandt und wollte ihre Hand lassen. Doch dieses kleine, zitternde Händchen klammerte sich um seine Finger. »Jesus Maria...« Wie ein Krampf befiel es ihr Köpfchen, ihre Schultern, daß ihr das weiße Tuch vom Haar in den Nacken glitt – und das ganze zarte Körperchen überkam ein Schauern und Schüttern, als stünd' es mit frierendem Leben im tiefen Schnee. »O Jesus Maria...« Da sah er sie an. »Dorle... « Das war wie ein Schrei, der jubeln möchte und doch den Mut seiner Freude 'nicht hat – und das war wie der Blick eines Menschen, der aus bösem Traum erwacht und sieht: Das ist der Tag, der helle Tag und die warme Sonne! »Dorle...« Sie konnte nicht sprechen – und sie hätte auch gar nicht die Zeit zu einem Wort gefunden. Aus ihrem Zittern, aus ihrem verstörten und seligen Lächeln, aus ihren nassen und glänzenden Augen las er den Schreck, die Angst und alle Sehnsucht einer brennenden Liebe – und wie von Sinnen riß er das Mädchen in seine Arme, an seine Brust, und hielt sie umklammert, während der wachsende Sturm über die Kronen der Buchen brauste. 134
Das Körbchen, das sie hatte fallen lassen, kollerte über den Hang hinunter – von dem gesammelten Waldmeister flog ein Büschelchen ums andere heraus und streute sich zwischen die Steine – der Deckel hatte sich gelöst, rollte als kreisende Scheibe talab und machte hohe Sprünge, bis ihn der Sturmwind faßte und in die Büsche schleuderte. Die beiden hielten sich umschlungen – zwei Leben, die in dieser Stunde in eins verwachsen waren. Es wurde finster im Wald, und wirbelnd flogen die jungen Blätter und die dürren Reiser umher, die der Sturm von den rauschenden Bäumen brach. »Dorle! Mein Dorle!« Er weinte vor Glück. Und wollte sich lustig machen über sich selbst. »Schau nur, Dorle, mi wird tau Sinn, als wär ick en Kind!« Zögernd ließ er sie aus seinen Armen und nahm ihre beiden Hände. »Komm, Dorle, komm doch, schau... komm, sett di tau mi in dat Gras!« Er zog sie zu sich nieder, an seine Seite, lag auf den Knien vor ihr, hielt ihr glühendes Gesichtchen zwischen den Händen und sah ihr in die leuchtenden Augen. »Dorle ... dat mötst du mi seggen ... sag mir, Dorle,... sag mir's, ob du mir gut bist!« Noch ehe sie reden konnte, sprach schon ihr glänzender Blick, ihr frohes Lächeln. »Ich hab dich lieb .. . schau, so lieb hab ich dich...« Er lachte in seiner Freude. Und schrie: »Nu heww ick wunnen! Hurra, nu heww ick wunnen!« Und riß sie wieder in seine Arme und trank ihre Küsse – trank sie mit
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dem unersättlichen Durst, den die Sehnsucht all dieser schlummerlosen Nächte in ihm entzündet hatte. Da wurden die Lüfte dunkel, und mit Klatschen und Geprassel fiel es über die rauschenden Buchenkronen. »Dorle! Herr Jeking!« Lustig erschrocken sprang er auf, hob sie von der Erde und zog sie mit sich fort. »Dat Wetter kommt! Nu aber flink, Dorle, flink!« Er raffte im Lauf seine Mütze vom Boden. »Da droben weiß ick en lüttes Hus, da wulln wi unnerstahn!« Hand in Hand, Schulter an Schulter drängend, rannten sie durch den brausenden Sturm den Waldhang hinauf, in der Kraft ihrer Jugend so leicht wie flüchtende Rehe, immer lachend, in seligem Übermut, als hätte ihnen das böse Wetter, das da kommen wollte, alles Glück und alle Freude dieser Stunde gewürzt und süßer gemacht. Unter den Baumkronen spürte man den Regen noch wenig, obwohl er mit Rauschen auf die Blätter niederging. Aber draußen auf dem offenen Almfeld gab es keinen Schutz mehr gegen diesen strömenden Wassersturz. Dicht und grau kam er niedergeprasselt aus dem jagenden Gewölk – und doch mit einem Schimmer von Licht. Denn von irgendwo fiel noch ein verlorener Sonnenstrahl unter die Wolken her und zog durch den Regen einen glänzenden Streif, als hätten sich alle die tausend stürzenden Wassertropfen für eine blitzende Sekunde verwandelt in leuchtende Goldperlen.
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»Dorle, da müssen wir durch!« Lachend riß Poldi die blaue Jacke herunter, hüllte sie um Dorles Schulter, schlang den Arm um das Mädchen – und nun sprangen sie los. Wie das lustig war! Von den zerstäubenden Tropfen, die auf die beiden niederklatschten, war's wie ein weißlicher Schimmer um sie her. Und kam eine Pfütze, ein rinnendes Bächlein – hopsa! – und sie waren drüben mit Lachen und Gekicher. Jetzt hatten sie die Hütte erreicht. Aber die Türe war geschlossen. Auch jener leere Karren stand nicht mehr da. Während sich Dorle in den Schutz des vorspringenden Daches schmiegte und die Regentropfen von sich abschüttelte, schlug Poldi mit beiden Fäusten an die Tür. »He, do, Lüt! Upmaken! Upmaken!« Doch niemand öffnete, und in der Hütte war's still. Immer schwerer strömte der Regen, ein fahler Schein durchhuschte das gießende Grau, und aus der Ferne hörte man grollenden Donner. Unter Lachen und Schelten rüttelte Poldi am Schloß der Türe und stemmte mit aller Kraft die Schulter an. Da gaben die Bretter so plötzlich nach, daß Poldi beinah kopfüber in das Dunkel der Hütte gepurzelt wäre. »Komm, Dorle, nu hewwen wi en Dach!« Er haschte ihre Hand. »Da kann di dat Wetter nicks nich tau Schaden dauhn!« Hastig zog er sie in die Hütte, weil der Sturm schon den Regen unter das Dach hereinpeitschte.
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Ein hölzerner Riegel klapperte hinter der geschlossenen Tür, und Poldis heitere Stimme klang: »So, min Mäten, min leiwes, nu sett di hier mal her, un denn will ick Füer maken!« Es polterte wie von Scheiten, die auf steinerne Fliesen geworfen wurden. Dann ein helles, glückliches Lachen, das im wachsenden Rauschen des Regens und im Sausen des Sturmes unterging. Wie mit tausend Hämmern trommelte die fallende Flut auf das Schindeldach der Hütte. Die aufschlagenden Tropfen spritzten hoch empor, und es wurde von diesem Gewirr des Wasserstaubes und von der im Sturm zerflatternden Traufe rings um das Dach und die Balkenmauern so weiß, als hätte eine große, wehende Welle die ganze Hütte verschlungen. Der Himmel schien die Erde ertränken zu wollen – so fiel der Regen. Und unter den Ruten des Sturmes stöhnte und brauste der junge Wald. Manchmal flatterte aus dem weißen Gesprüh, das die Hütte umhüllte, etwas Dunkles in die Lüfte wie eine graue Möwe, die auf brandendem See den Schaum durchtaucht – eine morsche Schindel, die der Sturm davontrug. Und immer wieder im Schleier des stürzenden Regens dieses falbe Leuchten – immer wieder dieses dumpfe Rollen und Grollen, näher und näher. Da zuckte ein scharfer Strahl über den Wald hin – für Sekunden schien das weite Almfeld, die fallende Flut, die verschleierte Hütte und alles, alles in eine Hölle von wogendem Feuer verwandelt – und ein rüttelndes, prasselndes Krachen folgte, als wäre in den Wolken ein Berg 138
gebrochen und hätte die Lawine seiner Steine zur Erde geschleudert. Der Blitz hatte in den Wald geschlagen und hatte gezündet. Gelb, wie eine ins Riesenhafte gewachsene Ähre, stieg das Feuer des brennenden Baumes in den grauen Regen hinauf und erlosch in Rauch, erstickt von den stürzenden Wassern, noch ehe der Widerhall des Donnerschlages zwischen den Bergen verstummen wollte. Blitz auf Blitz, Donner und Echo – zwei brüllende Löwen, die sich Antwort gaben im Kampf der Lüfte. Doch immer schwächer klang es, immer ferner. Aber der Regen rauschte, rauschte und rauschte nieder, Stunde um Stunde. Durch dieses Brausen und Sausen klang aus dem tieferen Wald herauf eine schreiende Männerstimme. Immer war es der gleiche Laut – als schrie der Suchende dort unten einen Namen. Und immer schwächer klang die Stimme, immer ferner, erstickt vom Rauschen des Regens, übertönt vom rollenden Donner, der wieder näher klang. Wie ein gefangenes Raubtier den Raum des eisernen Käfigs umwandert, so umkreiste das von den Bergen eingeschlossene Gewitter den weiten Kessel des Tales. Und kam zurück. Wieder flammten die Blitze über den triefenden Wald hin, wieder rasselte der Donner wie stürzende Felsen; und als sollte nicht der dämmernde Abend kommen, sondern ein bleicher Morgen, so wurde plötzlich das Grau des Regens heller und wurde gelb. In den Lüften wuchs ein knatterndes Geräusch – wie der Lärm eines Bahnzuges, der schwankend auf ausgefahrenen 139
Schienen gleitet. Und jetzt ein Geprassel über allem Laub, ein Gerassel auf allem Grund – und alles wurde weiß vom wirbelnden Tanz der Hagelkörner, die so dröhnend fielen, daß man den Donner nicht mehr hörte. Nur die Blitze sah man. Und ihr Licht war blau – und das flammte immer schwächer in dieses kalte Weiß. Als der Hagel dünner fiel und versiegen wollte, klang das Rollen des Donners schon in weiter Ferne. Durch eine Scharte der Berge zog das Gewitter über den See hinaus in das ebene Land. Und da war es Abend geworden. Ein grauer, kühler, schwermütiger Abend. Über den Bergen die Wolken wie eine liegende Mauer. Und die Erde wie ein Frühling, der irrsinnig geworden und sich einbildete, daß er der Winter wäre! Handhoch lag der Hagel über dem Gras, durchwürfelt mit grünen Blättern, denn die Buchen standen halb entlaubt – ihre jubelnde Maienfreude war zerschlagen und verwüstet. Das erste, was sich dunkel aus dem weißen Grunde hob, war das Dach der Sennhütte. Auf der flachen Schindeldecke waren die Hagelkörner schon wieder zerschmolzen, und durch die Ritzen des Daches quoll ein dünner, bläulicher Rauch. Der wollte sich in der dunstgetränkten Luft nicht zerteilen und hüllte sich um das ganze Dach, wie der Nebel sich um eine Bergkuppe legt. An der Hütte wurde die Tür geöffnet, langsam, und Poldi trat über die Schwelle. Er deckte die Hände über die Augen, als hätte dieser trübe Abend so grelles Licht, daß es ihn blendete. So stand er eine Weile. Doch als er tief at140
mend die Arme sinken ließ, war ein frohes, glückliches Leuchten in seinem Blick. Lächelnd sah er über den weißen Grund hin und zum Himmel hinauf. »Allens is wedder gaud!« rief er mit halbem Lachen in das Dunkel der Hütte zurück. »Aber schau, Dorle... der Mai ist Winter worden!« In der Hütte kein Laut. »Dorle? ... So komm doch!« Aber das Dorle kam nicht. Und Poldi trat in die Hütte. Auch auf der Erde begannen die Hagelkörner zu schmelzen, und überall auf dem Almfeld tauchten die grünen Buckel aus dem Weiß hervor. Bleiche Nebel, zu langen Bändern ausgezogen, schwebten aus den Wäldern und krochen über die Wipfel hin, als lägen im Walde hundert Feuerstätten verborgen, die sich mit steigendem Rauch verrieten. All die Regenbäche, die von den Berggehängen niederrannen in die Täler, erfüllten die Luft mit einem Rauschen, so eintönig, daß es wie Stille wirkte. Am Himmel war das träge Gewölk in leichte Bewegung geraten. Es schien sich klüften zu wollen. Und draußen im Westen mußte die gesunkene Sonne noch einen Weg gefunden haben für einen letzten leuchtenden Gruß an die Berge, denn über die Wolken schwamm ein purpurner Schimmer hin wie der Abglanz einer Feuersbrunst.
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Dieser Glanz der Wolken warf einen rötlichen Schein auch über den zerschlagenen Wald, über den weißen Hagel, der noch in allen Mulden des Almfeldes lag, über das rauchende Schindeldach der Hütte und über die beiden stillen Menschen, die aus der Türe traten. Sie hielten sich eng umschlungen, und während sie langsam hinunterschritten gegen den Waldweg, drängte sich Dorle zitternd an die Brust des Geliebten und schmiegte sich in seinen schützenden Arm, als wäre ihr Weg nicht fester, sicherer Boden, sondern ein schmaler und gefährlicher Steg, unter dessen schwankenden Balken eine finstere Tiefe gähnte. Als die beiden, die das Glück so schweigsam machte, den dämmerigen Wald erreichten, flog ein Leuchtkäferchen aus den triefenden Büschen, gaukelte über den Weg hinunter und zog dabei so seltsame Linien, als möcht' es mit dem matten, blauen Fünklein seines Lebens irgendein Geheimnis in den sinkenden Abend schreiben. »Schau, Dorle!« Sie blieben stehen – unter dem Fall der schweren Tropfen, die von den Bäumen niederklatschten – und blickten dem taumelnden Lichtlein nach, bis es im Dunkel des Waldes verschwunden war. Dann küßten sie sich und schritten weiter. Bei einer Biegung des Weges konnten sie durch eine breite Waldgasse weit hinaussehen in das dämmernde Tal.
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Dort unten war alles weiß – als läge noch überall der Hagel. Aber das war der See im Schaum seiner Wellen, und was so weiß über allen Gärten lag, das waren die Apfelblüten, die der Hagel von den Bäumen geschlagen. Es sollte an ihren Ästen keine Frucht mehr reifen in diesem Jahr. Der Lärm des Dorfes tönte schon mit dem Rauschen der Wellen über den Wald herauf. Und wo sich der See mit breiter Bucht in den Wald hineinschob, dort unten klangen schreiende Stimmen, aus deren erregtem Hall es wie Angst und Sorge zitterte. Doch die beiden, die so still und langsam durch den Wald hinunterstiegen, eins an das andere gedrängt – die beiden hörten nicht. Der rote Schein der Wolken war erloschen. Doch manchmal leuchtete im Geklüft der ziehenden Nebel ein fahles Blau, und manchmal zeigte sich in einer Spalte des Gewölks ein heller Streif – doch nur für kurze Dauer – dann woben sich wieder die grauen Schleier darüber. Und immer schwiegen die beiden. Nur ihre Augen sprachen, die sich immer wieder suchten. Doch plötzlich, als begänne ihn dieses Schweigen zu quälen, sagte Poldi mit beklommenem Lachen: »De Unnerhollung gaht man swak vonstatten!« Zärtlich preßte er die Geliebte an sich und schmiegte die Wange an ihr Haar. Und bettelte: »Dorle, sag mir ein liebes Wort!«
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Sie schwieg – und vergrub das Gesicht an seiner Brust und umklammerte ihn mit zitternden Armen. Er hob ihr das Köpfchen und küßte sie auf beide Augen. Und schweigend gingen sie weiter. Der Weg verlor sich unter dunkle Tannen. Dann sah man wie durch ein großes, schwarzes Tor auf das graue Tal hinaus, auf den weißen See hinunter und auf die Häuser des Dorfes. Eine Glocke begann zu läuten, und drunten am See, in weitem Bogen um das Ufer, flammte eine Reihe strahlender Sterne auf. Dorle zuckte zusammen. »Jesus! ... Sein Licht!« Sie schlug die Hände vor die Augen, als könnte sie den Glanz dieser Sterne nicht ertragen. »Dat lat man sin, Dorle!« sagte er mit schwankender Stimme. »Das Licht soll brennen wie es mag! Der Dom'ni...« Er verschwieg, was er hatte sagen wollen. »Nein, Dorle! Du bist mein, und mein Leben ist dein! Un allens is gaud!« Er wollte ihr die Hände von den Augen ziehen. »Komm, Dorle! Mußt nicht Furcht haben! Was soll dir das dumme Licht da schaden? Schau mutig hinein in unser Glück! Dat is so fest und stark wie süß. Und sein Licht ist schöner wie dem Dom'ni seins! Komm, Dorle ...« Aber sie ließ die Hände nicht von den Augen und brach in Schluchzen aus.
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»Dorle!« Sie hörte den Schmerz in seiner Stimme zittern. Und stammelte: »Schau nur, schau... ich will dir ja doch nicht wehtun... schau, ich muß halt weinen!« Das nasse Gesicht an seinem Hals vergrabend, umschlang sie ihn, wie ein sinkendes Leben den letzten Halt umklammert. Langsam führte Poldi das Mädchen über die offenen Wiesen hinunter und sprach zu ihm, leise, doch mit aller Glut und Herzlichkeit seiner Liebe. Und wie er sich Mühe gab, die Sprache der Heimat zu reden! Damit sie nur ja jedes Wort verstünde, das er ihr zu sagen hatte. In zwei Stunden, um zehn Uhr, mußte er reisen! Das war nicht zu ändern – das war beschworene Pflicht – , er mußte auf seinem Schiff stehen, wenn es die Anker lichtete. Doch es galt nur eine kurze Fahrt, nur nach England hinüber, mit Eisen an Bord. In vier Wochen war er zurück, und dann in zwei Tagen daheim – bei ihr! Und gleich in der ersten Stunde, wenn er nach Rostock käme, wollte er mit seinem Reeder sprechen. Herr Radspeeler – so ein guter Mann wie der – nein, der würde ihm das nicht abschlagen. »Und wie er lachen wird, wenn ich dich bringe, Dorle, so ne lütte, nette Fru!« Aber sollte das wider Erwarten doch so kommen, daß Herr Radspeeler den Kopf schüttelte – dann gab's noch andere Wege zum Glück! Und noch andere Reeder! Und wenn es sein mußte, konnte er auch die blaue Jacke an den Nagel hängen. 145
»Für dich, Dorle ... für dich tu ich das auch. Für dich kann ick allens!« Ein Mensch, der jung und nicht dumm ist und schaffen will für sein liebes Glück, kann vieles anfangen in der Welt. Und das wäre gleich kein schlechter Gedanke: auf den See da drunten ein kleines Dampfschiff hinstellen für den wachsenden Fremdenverkehr. Siebenhundert Mark hatte er doch selber schon erspart, und ›klauke Menschen‹ würden schon dazugeben, was noch nötig wäre. Viel war's freilich, was man dazu noch brauchte – an die dreißigtausend – »Jesus Maria!« stotterte das Dorle im Schreck vor dieser Zahl. Und dann sagte sie mit zögernder Scheu: »Die Mutter, weißt, die tat schon auch ein bißl mithelfen!« Das Geschäft und Anwesen der Weberin war doch auch auf dreizehntausend geschätzt. »Herr Jeking!« Lachend drückte er das Dorle an sich. »Da hab ich ja ne reiche Braut! Dat heww ick jo gor nich wußt!« Aber nein – die Mutter Weberin, die sollte das Ihre nur schön behalten! Nur seiner eigenen Arbeit wollte er all sein Glück verdanken. Und wenn ihm alle Pläne fehlschlügen, konnte er noch immer zum niederen Forstdienst gehen. Viel war da freilich nicht zu holen – aber Menschen, die sich liebhaben, nähren sich von ihrem Lachen. Und Vater und Mutter sind doch auch immer glücklich gewesen!
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Aber er brauchte ja so weit noch gar nicht zu denken! Herr Radspeeler war doch ein guter Mann – und er wird's nicht vergessen haben, daß sein einziger Sohn der liebste Kamerad des Poldi gewesen. Und wie schön das sein wird: In Rostock, vor der Stadt draußen, in einem kleinen Garten solch ein rotes Häuschen mit grünen Läden und hinter der blanken Fensterscheibe solch ein rosiges, liebes Gesichtlein – Als Gedankenstrich hinter dieses glückliche Traumbild wurde ein Kuß gesetzt, der nicht enden wollte. Wie ruhig und heiter sie geworden waren, alle beide! In der sinkenden Dämmerung des Abends hatten sie noch eine letzte Wiese zu überschreiten, bis die Planken der Dorfgärten begannen. Kein Baum stand auf der graugrünen Fläche – und dennoch lag es mit zerstreutem Weiß über dem nassen, verwüsteten Grase: Tausende von Kelchblättern der zerschlagenen Apfelblüten, die der Sturm von den Gärten hergeweht hatte. In dem Graben neben dem Fußweg lag noch ein dünner Streif des Hagels. Und über der Wiese drüben stand ein Mast der elektrischen Leitung. Wie ein Arm, der greifen wollte, bog sich der eiserne Träger des Glühlichtes aus dem Baum. Aber jetzt konnte das Dorle ohne Schreck und Angst hinaufblicken zu diesem strahlenden Stern. Und doch – je näher sie dem Kreis dieser weißen, kalten Helle kam, desto schwerer wurde ihr das Atmen. Und als 147
sie den Schritt verhielt und zu Poldi aufblickte, lag eine bange Frage in ihren Augen. Er verstand sie. Noch enger preßte er den Arm um ihre Schultern und sagte: »Ja, Dorle, dat möt noch sin! Das muß ich noch auf gleich bringen. Eher darf ick nich fort! Jetzt führ ich dich heim, und dann geh ich zum Herrn Dekan!« Er neigte die Lippen zu ihrem Ohr und dämpfte die Stimme. »Dem muß ich alles sagen!« Hastig küßte er sie, als sie sprechen wollte, und richtete sich wieder auf. »Und vom Pfarrhaus muß ich zum Dom'ni gehen...« »Jesus!« Erschrocken schlug sie die Arme um seinen Hals, zitternd in Sorge. »Alles, Bub, alles, alles... schau, alles soll mir recht sein... aber geh mir dem Domini nicht ins Haus! Das gäb ein... Jesus Maria!« Sie konnte nicht weitersprechen und brauchte eine Weile, bis sie das herausbrachte: »Die Mutter und der hochwürdig Herr, schau, die tun's für uns, und die machen unser Glück! Aber geh dem Domini aus dem Weg! Das mußt mir tun! Aus Lieb, schau! Aus Lieb zu mir! Versprich mir's, Bub! Versprich mir's!« Er preßte sie an sich. Doch er schüttelte den Kopf und sagte ernst: »Dorle, das muß ich! Er hat gesagt zu mir: ›Das ist mein!‹ Jetzt will ich ihm sagen: ›Mein ist das, und was ich hab, das hab ich!‹« Aber sie hing an seinem Hals und bettelte unter Tränen und Küssen. »Versprich mir's! Versprich mir's!« Immer diese zwei gleichen Worte, bis die Sorge, die aus ihnen zitterte, seinen Willen wanken machte.
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»Dorle«, sagte er zögernd, »das tu ich nicht gern...« Sie nahm das schon als Erfüllung und lachte in ihrer Freude, weil er sie erlöst hatte von dieser bangen Angst. Und streckte sich an ihm hinauf, nahm sein Gesicht zwischen die Hände und sah ihm in die Augen, ganz nahe – weil es schon so dunkel war trotz der weißen, kalten Helle da drüben. »Vergelts Gott tausendmal! Und jetzt ist alles gut! Und alles bist mir, du! Alles, alles! Glück und Leben und alles! Und gar nicht ein bißl tu ich mich sorgen, weil du fort mußt! Denn schau, an dich glaub ich wie an Stein und Baum und Herrgott!« Sie küßte ihn heiß auf den Mund. Dann lachte sie wieder und sagte mit dem Ton eines sorgenden Mütterchens: »Aber jetzt mach, Bub, daß du heimkommst. Tust dich ja sonst versäumen!« »Ne, Dorle, ich bring dich zu deiner Mutter...« »Du Närrle, was denkst dir denn, so ein Umweg!« schalt sie. Und die Glocke half ihr, die auf dem Kirchturm die neunte Stunde schlug. »Hörst! So spät schon! Mach weiter, Bub!« Weil sie merkte, daß er selbst erschrocken war und mit der Stunde rechnen mußte, schlang sie zum Abschied die Arme um seinen Hals. Er drückte sie an sich, daß sie stöhnte. Und fast ersticken wollte er sie mit seinen Küssen – bis sie, besonnener als er, sich energisch aus seinen Armen löste. Da mußte er lachen. Wieviel Kraft in dem kleinen, zarten Dingelchen steckte!
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Er wollte ihre Hände wieder haschen, aber sie sprang schon über die graue Wiese hinüber. Bei den schwarzen Hecken blieb sie stehen, ganz umflossen vom Dunkel, und hob die Arme. »Alles Glück, Bub!« rief sie mit schwankendem Stimmlein, als wären ihr die Tränen nahe. »Alles Glück! Und komm mir nur gut wieder heim!« Poldi sprang über den Graben und ein Stück in die Wiese hinein, als möchte er das Dorle noch einholen. Aber da sah er, daß sie durch die Hecke huschte und in der Nacht verschwand. Mit beiden Händen griff er in die Luft und schrie: »Gah mit Gott, min Mäten! Un leww woll, du min einzigst Seel! Un äwer vier Wochen hewwen wi uns wedder!« Das hatte er mit so hallender Stimme gerufen, daß in der rauschenden Stille des Abends von den Bergen ein Echo klang. Die eigenen Hände küssend, als hielte er sein Glück noch in ihnen, stand er in der Wiese und lauschte – nicht auf das Echo – auf eine lebendige Antwort, die er noch zu hören hoffte. Doch vom Dorle kein Laut mehr. Kein Schimmer ihres weißen Tüchleins. Da drüben hinter der schwarzen Hecke war alles still und alles finster. Und immer noch blieb er in der Wiese stehen, mit den Händen an den Lippen.
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Ein Glockenschlag. »Herr Jeking!« Und Poldi fing zu rennen an, gegen die Seestraße hinunter, auf den Pfarrhof zu. Zwischen den ersten Häusern blieb er stehen. Sein Boot war ihm eingefallen, das über dem schäumenden See da drüben in der schwarzen Waldbucht lag. Und die Eltern! Was sich die wohl dachten? Halb lachend und halb in Sorge, begann er wieder zu rennen. Und sooft er an einem Mast der elektrischen Leitung vorbeijagte, glitzerte in dem kalten Licht die Goldborte an seiner Mütze und jeder blanke Knopf seiner Jacke. Da war das Pfarrhaus! Mit trüb erleuchteten Fenstern im schwarzen Garten. Die dunkle Luft erfüllt vom starken Wohlgeruch der Blumen, die der Hagel zerschlagen hatte und die nun sterbend allen Duft ihrer kleinen Seelchen in die Finsternis hauchten. Wie das bellte und rasselte, als er an der Widumstür die alte Glocke zog. Er stürmte in den dunklen Flur. Und blieb nicht lange im Haus. Ein paar Minuten nur. Und jagte wieder durch den Garten davon, während die dunkle Gestalt des alten Herrn mit ausgestreckten Armen in der matterleuchteten Haustür erschien.
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»Poldi! Poldi!« klang die erregte Stimme des Dekans, als hätte er drin in der Stube das Wichtigste zu sagen vergessen. Tastend zappelte er über die steinernen Stufen hinunter. »Poldi! Poldi!« »Ich hab nimmer Zeit, Hochwürden! Adjüs! Adjüs!« Das Zauntürchen zuwerfend, rannte Poldi die vom Regen aufgeschwemmte Straße hinunter und machte einen hohen Sprung, sooft eine Pfütze kam. Und lachte mit übermütigem Frohsinn vor sich hin. »Dat Gesicht, dat hei makt hett!« Er schüttelte sich vor Lachen. Und rannte, rannte. Doch bei der Lichtschmiede war es, als hätte sich unsichtbar ein Balken vor seine Eile geschoben – mit so jähem Ruck hielt es ihn fest. »Ne! Ne! Dat heww ick dem Dorle nich verspraken! Wat sin möt, möt sin! Ick sülwen möt ehm dat seggen! Ick möt! Ick möt!« Er schwang sich über den Gartenzaun und eilte auf die Lichtschmiede zu, in deren Hof eine Bogenlampe strahlte. Ein Gewirr von erregten und ärgerlichen Stimmen klang ihm entgegen. An die zwanzig Menschen, grell beleuchtet und mit schwarzen Schatten, standen vor dem stillen, verschlossenen Haus. Einer trommelte mit den Fäusten an die Türe, einer stieß mit dem Nagelschuh an das Tor der Werkstätte, einer pochte an das dunkle Stubenfenster – und alle schrien sie nach dem Lichtschmied – und immer wieder kam ein neuer gelaufen, in dessen Haus der ›Elektri‹ heute nicht brennen wollte. 152
Doch an der Schmiede wurde die Haustür nicht geöffnet, der Domini war nicht daheim. Und einer, der den Förstner-Poldi durch den Garten kommen sah, meinte, das wäre der Lichtschmied, und lief ihm entgegen. Doch als er im Schein der Bogenlampe die Goldborte flimmern und die Knöpfe funkeln sah, erkannte er den jungen Seemann und rief: »Jesses, Herr Poldi, machen S' um Gottes willen, daß S' heimkommen, d' Mutter ist ganz auseinander vor lauter Angst... und der Förstner sucht Ihnen schon den ganzen Abend!« Poldi sah noch hinüber nach der Lichtschmiede, vor deren geschlossener Tür die Leute schalten und lärmten – dann eilte er gegen die Seestraße hinunter, dem Haus seiner Eltern zu. Als er am Ufer zu der Stelle kam, wo das Fährfloß im Wasser lag, umplätschert von den kleingewordenen Wellen, schoß ihm die Erinnerung mit heißer Freude durch das Herz. ›Dor heww ick mi all min Glück ut'n Water togen!‹ Dieser Gedanke wurde ihm zu einem hellen, frohen Lachen – und er schrie einen klingenden Jauchzer in das kalte Licht, das ihn auf der Straße umzitterte. Das hörten sie, die in Sorge auf ihn gewartet hatten. Bei den Schiffhütten klang eine kreischende Stimme: »Da kommt er, Frau Förstnerin! Grad kommt er!« Und dann der frohe Schrei seiner Mutter: »Jesus! Bub!« Sie kam die Straße hergelaufen, so flink, als hätte die Erlösung aus aller Marter dieses Tages ihre müden Kräfte 153
verjüngt, und warf ihm die Arme um den Hals, mit einer Freude, als wäre er nicht vor vierzehn Tagen in die Heimat zurückgekehrt, sondern jetzt erst, in dieser dunklen Stunde seines Abschieds. Vater Xaverl brummte natürlich – und brummte so laut, daß es alle Nachbarsleute hören konnten, die schwatzend bei den Zäunen standen. Doch Poldi lachte zu allem, zu den glücklichen Tränen der Mutter wie zu der scheltenden Freude des Vaters. Immer fröhlicher lachte er, je mehr sie ihm von der Sorge erzählten, die sie ausgestanden, als das ›grobe‹ Wetter gekommen war, und von dem Schreck, der ihnen beiden ins Herz gefahren, als sie draußen auf dem weißen See den leeren Nachen schwimmen sahen, den die Wellen da drüben in der Waldbucht vom Ufer losgerissen hatten. Was das ein Aufruhr wurde in der ganzen Nachbarschaft! Und als sich das Wetter vertobt hatte, waren sie gleich hinübergefahren und hatten geschrien im Wald, immer nach ihm geschrien – bis der Vater auf dem Boden ein paar Fußtapfen fand, die der Regen nicht verwaschen hatte. Und nun die Hoffnung: Bei solchem Wetter ist der Bub so gescheit gewesen, hat den Weg übers Wasser gemieden, hat den weiten Umweg um das Ufer gemacht – und bis sie heimkommen, sitzt er schon gemütlich und sicher in der Stube. Aber als sie heimkamen in der Dämmerung, war der Bub nicht da! »Herr Jesus im Himmel!« Wieder schlang ihm die Mutter die Arme um den Hals. »Bub! Was hab ich ausgestanden! Und da kommst mir jetzt heim, so seelenvergnügt und lustig...« Sie verstummte, und beim Schein des Glühlichtes, in dessen hellem Kreis sie auf der Straße standen, guckte sie betroffen an ihrem Buben hinauf – denn auch 154
an jenem ersten schönen Morgen nach seiner Heimkehr hatte sie ihn nicht so glücklich und heiter gesehen wie jetzt! »Bub?... Was hast denn?« Auch in Vater Xaverl schien sich ein Verdacht zu regen. Er strich mit der Faust den Schnurrbart zu Borsten auf und fragte: »Manndele? Bist narrisch? Oder...« Poldi lachte. Und mit diesem glücklichen Lachen nahm er die Alten bei der Hand – so kräftig, daß Xaverl brummte: »Sakra! Was druckst denn so?« »Vater! Mutting!« sagte der Bub. Und da war er plötzlich ganz ernst geworden. »Nu is allends gaud! Nu kommt mal herein ins Haus mit mir, jetzt muß ich euch etwas sagen!« Die Alten schwiegen. Aber sie tauschten einen Blick. Und an dem Wagen vorüber, der schon vor dem Zauntor wartete, gingen sie in den Garten und traten ins Haus.
Hinter der schwarzen Hecke, durch deren zerschlagenes Gezweig sich das Dorle gedrängt hatte, war alles still geblieben, alles finster. Im Dunkel des Abends hatte kein Schimmer ihres weißen Tüchleins mehr geleuchtet – denn der Stamm eines kahl gewordenen Apfelbaums verdeckte sie ganz, als sie zitternd stand und auf Poldis Stimme lauschte, auf diesen letzten Schrei seiner Liebe: »Gah mit Gott, min Mäten! Un lew woll, du min einzigst Seel!« 155
Wie gut sie das verstand! Und wie glücklich sie hinauslächelte in die Nacht, mit den Händen auf ihrem pochenden Herzen! So stand sie noch immer, als sie auf dem harten, steinigen Weg dort unten den Hall der eilenden Schritte hörte. Das pochte so flink wie das Herz in ihrer Brust. Doch ihr Herz schlug immer weiter – aber die Schritte dort unten wurden still, ihr Hall erlosch in der Ferne. Und schluchzend fiel das Dorle in die Knie, umklammerte den Stamm des entblühten Baumes und preßte das Gesicht an seine Rinde, als wär's die Brust des Geliebten. Zwei Glockenschläge. Dorle erhob sich, müd und taumelnd. Mit der Schürze die Augen trocknend, schritt sie langsam über die Wiese. Das Gras war so triefend naß, als ginge sie durch Wasser. Aber das merkte sie gar nicht. Sie mußte in der Dunkelheit über eine Bretterplanke steigen, um auf das schmale Sträßlein zu kommen. Das führte über einen Wiesenbuckel hinüber, gegen das Oberdorf. Hinter ihr, bei der Seestraße drunten und in den Gassen des Unterdorfes war heller Schein. Doch wo sie ging, war alles finster. Kein Glühlicht brannte über dem Sträßlein – und sie ging doch soeben an einem Mast der elektrischen Leitung vorüber!
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Nur da und dort an einem Hause, dessen Dach und Mauern man gar nicht sah in der Dunkelheit, flimmerte um kleine Fenster eine trübe Helle wie von einem Kerzenlicht oder einer schlecht brennenden Öllampe. Dieses rötliche Glosten drang nicht weit in die Nacht. Aber Dorle merkte gar nicht, wie finster es war auf ihrem Wege. Da klangen ihr drei erregte Stimmen entgegen. Und etwas Närrisches kam die Straße daher. Wie zwei kleine, gelbe Sterne war's, die sich eine Heimat auf der Erde erwandern wollten, weil sie am wolkenverschlossenen Himmel keinen Platz zum Leuchten mehr gefunden. Der eine wanderte ganz auf dem Boden, der andere gaukelte hoch in der Luft – und gaukelte so ungeschickt wie ein Schmetterling, der eben erst aus der Puppe schlüpfte. »Dorle?« schrie von den drei Stimmen eine. »Dorle? Bist du's?« Sie erschrak, daß sie nicht Antwort geben konnte. Aber da stand der Lichtschmied schon vor ihr, hob die Laterne, die er in der Hand trug, und leuchtete dem Dorle ins Gesicht. »Gott sei Lob und Dank!« Das kam wie ein Lachen aus schwerem Herzen. »Weil du nur da bist! Mar und Josef... was hat die Mutter ausgestanden! Und ich erst!« Wenn er sich bewegte, klirrten die eisernen Werkzeuge in der Ledertasche, die er um die Hüften trug – und an seinem Körper klatschten die Kleider vor Nässe. »Mensch!« Er meinte den Lehrbuben, der bei ihm war. »Jetzt lauf! Und 157
sag's der Mutter! Das Dorle ist da!« Der Bub rannte davon. Und Domini lachte. »Weißt, wie das Wetter angehoben hat, hab ich mich gleich auf die Fuß gemacht und hab dich suchen wollen im Holz. Und völlig die Seel hab ich mir aus dem Hals geschrien.« Das konnte man an seiner Stimme hören – ganz heiser war sie. »Ja sag mir nur, wo bist denn gewesen? Was hast denn angefangen? Bei so einem Wetter! Mar und Josef! Mach nur, Schatzl, daß du heimkommst! Mußt ja naß sein bis aufs letzte Faderl!« Er griff nach dem Ärmel ihres Jäckleins. Der fühlte sich leidlich trocken an. »Dorle?... Wo bist denn gewesen, derweil's gewettert hat?« Sie wich zurück vor ihm und klammerte die Hand um einen Pfahl des Bretterzaunes. »Ich bin halt... bin untergestanden, weißt.« »Wo denn?« »... Im Buchwaldhüttl.« Er hob die Laterne wieder, als könnte er bei besserem Lichte sehen, was denn so Merkwürdiges an ihrer Stimme wäre. »Na also, Gott sei Lob und Dank!« Er lachte. »Da hab ich lang suchen können im Holz! Aber Gottlob... weil du nur gut unter Dach warst! So ein Wetter, wie das gewesen ist!« Jetzt wurde der Lichtschmied ernst. »Was mir das für einen schiechen Schaden gemacht hat! Bei mir im Gartl daheim ist alles hin. Meine schönen Äpfelbäum! Heuer im Winter, Dorle, essen wir zwei keinen süßen Apfel! Und im Elektri fehlt's. Und ich renn allweil und such, wo die Störung ist... Aber, Dorle, wo hast denn du dein Blumenkörbl?« 158
Sie sah ihre leeren Hände an. »Das hast halt droben lassen im Buchwaldhüttl, gelt?« Er konnte wieder lachen. »Meintwegen, soll's halt sein, wo's ist!« In seine Stimme, so heiser sie war, kam ein zärtlicher Klang. »Und schau, es hätt's gar nicht braucht, daß du Waldmeister suchst! Und morgen ist alles gut! Und schau nur, Schatzl, daß du heimkommst! Ich muß an d' Arbeit, weißt. Im ganzen Oberdorf ist der Elektri verloschen... die Störung muß in die Dräht wo sein. Da muß ich mich tummeln...« Er wollte gehen – und zögerte, als hätte er noch etwas zu sagen – und schlang den Arm um Dorles Schultern und zog sie an seine Brust. Sie wehrte sich mit beiden Fäusten gegen seinen Kuß. Aber ein Schmied hat Eisen im Arm. »Sakra, da ist hart zuschauen!« lachte der Gesell, der hinter dem Domini stand, mit einer haushohen Stange, an deren schwankender Spitze eine Laterne baumelte. Der Lichtschmied lachte mit. »Gut Nacht, Schatzl!« Er knappte davon, der elektrischen Leitung und dem nächsten Mast entgegen, an dem das Glühlicht heute nicht brennen wollte, und sah nicht mehr, daß das Dorle im Dunkel an der Bretterplanke stehenblieb und die zitternde Hand streckte, als möcht' es den Domini festhalten, ihm etwas sagen. Die zwei gelben Sterne wanderten, der eine ganz am Boden, der andere hoch in der schwarzen Luft.
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»Da, leucht auffi!« sagte der Lichtschmied, als er den Mast erreichte. Der Geselle hob die Stange mit der Laterne – und man sah die Drähte funkeln, die sich quer über die Straße spannten. »Alles in Ordnung!« Domini öffnete an der Bretterplanke ein Türchen, und die zwei gelben Sterne wanderten in die Wiese hinein, der eine hoch in der Luft, der andre tief am Boden. »Da! Schau!« Eine Heckenfichte, die der Sturm zu Boden geworfen, hatte einen Mast der elektrischen Leitung niedergedrückt und die Drähte entzweigerissen. »Jetzt lauf aber, Mensch!« Domini stellte die Laterne zu Boden, nahm dem Gesellen die Stange ab und bohrte sie in den Wiesengrund. »Lauf! Und heim! Und dreh mir den Wechsel ab... Oberdorf, Wechsel Numero viere!« Mit ein paar hastigen Sprüngen war der Gesell in der Finsternis verschwunden. Domini nahm eine lange Eisenzange aus der Ledertasche, hob die Laterne vom Boden, und während er kleine, vorsichtige Schritte machte, leuchtete er überall hin ins Gras. Da legte sich eine Hand auf seinen Arm.
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Der Lichtschmied fuhr auf und wurde grob. »Zum Teufel! Wer ist denn da? Und weg, sag ich!« Beim Schein der Laterne erkannte er das Dorle, und erschrocken stammelte er: »Mar und Josef! Mädl! Schau, daß du weiterkommst! Ich kann dich nicht haben da!« Sie stand und zitterte. »Domini... ich muß dir was sagen...« »Fort! Fort! Fort! Geh zur Mutter heim!« Mit der Eisenzange schob er sie zurück. »Ich muß dir was sagen, Domini!« Ihre Stimme klang nicht mehr so scheu und erloschen wie zuvor, sondern hell und ruhig. »Aber Schatzl, um Gottes willen...« »Das muß ich dir sagen! Und heut noch! Oder ich tät keine ruhige Stund nimmer haben!« Von ihrem Ton betroffen, hob er langsam die Laterne, um ihr Gesicht zu sehen. Das war ein stilles, ruhiges Gesicht – ein bißchen Angst in den großen glänzenden Augen, doch ein frohes, träumendes Lächeln um den Kindermund. »Dorle?« »Ja, Domini, das muß ich dir sagen. Du und ich... das kann nimmer sein. Du mußt mich freigeben.«
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Langsam ließ der Lichtschmied die Laterne sinken. »So so?... Meinst? ... Und warum denn?« »Weil ich den Poldi mag.« Domini blieb ruhig – und schwieg. Ohne sich zu regen, standen sie voreinander, von den Knien hinauf ganz schwarz, denn die Laterne leuchtete ihnen nur um die Füße her – und das gelbe Sternlein, das da drüben auf der hohen Stange schwankte, machte die Finsternis über den beiden nicht heller. Ein Laut wie ein harter Atemzug – fast ein Laut, als hätte der Lichtschmied gelacht. Dann sagte er mit einer Stimme, der man die Mühsal ihrer Ruhe anmerkte: »So so?... Schau, Dorle, ich hab mir schon allweil denkt, daß ich so was hören muß einmal. Ich kenn dich doch. In dir ist alles hell und ehrlich wie der liebe Tag. Und was du mir da sagst, das ist mir nichts Neues. Daß dir der Poldi das Köpfl ein bißl verdreht hat, das weiß ich schon lang. Und daß ich's merken hab müssen... schau, das hat mir das beste Blüml aus meinem Glück gerissen. Aber schlechter bist mir drum nicht worden. Und mein Glück mit dir, Dorle, das ist von meinem Leben die Seel!« Seine Stimme schwankte. »Und seine Seel, die hebt ein jeder, so lang wie's geht... ob sie gesund ist oder ob sie einen Weh hat kriegen müssen... ist alles eins! Und Rauch verfliegt. Deswegen kann alles bleiben zwischen dir und mir, wie's ist!« »Domini...« 162
»Laß gut sein, Dorle! Hat mir halt 's Wetter eine Blüt von meiner Freud geschlagen. Aber hundert sind noch übrig, und allweil bin ich noch besser dran wie heut meine Äpfelbäum! Geh heim, Dorle! Zur Mutter! Die tut sich ängstigen, weißt!« »Domini... du machst mir's hart! Soviel gut bist mir, und soviel weh muß ich dir tun! Aber ich muß, Domini!« »Ja, ja, Dorle, hast recht! Und geh halt heim!« Er schob sie wieder mit der Eisenzange ein Schrittlein von der Stelle. »Morgen soll mir alles gut sein! Ein halbes Stündl noch, und der Poldi ist draußen zum Ort. Und bis wir Hochzeit machen, hast alles vergessen!« »Domini...« »Daß du ihm gefallen hast müssen... schau, Dorle, das versteht keiner besser wie ich. Aber morgen haben wir unser Ruh wieder! Und schau, ich will dir's aufrichtig sagen... ich hab dich heut ins Holz geschickt, Waldmeister suchen, weil in mir die Angst gewesen ist, daß dir der Poldi auf die Letzt noch über den Weg rennt und macht dir das Herzl siedig.« »Domini! Da hättst mich daheim lassen müssen!« Ihre Stimme klang, als wäre sie das Kind nicht mehr, das sie noch am Morgen gewesen, als wäre sie in dieser Stunde älter geworden um ein reifes Jahr. »Denn im Holz, wo du mich hingeschickt hast, bin ich dem Poldi begegnet. Und wie's gewettert hat, bin ich untergestanden ... im Buchwaldhüttl... und der Poldi ist bei mir gewesen. Und jetzt haben wir uns lieb. Und wir lassen nimmer voneinander. 163
Und über vier Wochen ist der Poldi wieder daheim. Und wir haben uns wieder.« Dem Lichtschmied fiel die Laterne aus der Hand. Sie fiel ohne Laut in das dicke, nasse Gras und legte sich auf die Seite. Doch sie erlosch nicht. Die Kerze brannte weiter und berußte das Glas, das mit leisem Ton zersprang. Erschrocken war Dorle zurückgewichen. Denn der Lichtschmied hatte mit einem Fluch die eiserne Zange gehoben. Jetzt warf die Laterne ihren trüben Schein nach oben, am Domini hinauf. Und Dorle sah sein entstelltes Gesicht. »Der!... Der soll mir's büßen!« keuchte er und tat mit der Zange einen Streich. »Vom Wagen schlag ich ihn noch herunter... vom Wagen! Der soll mir nicht lebig zum Ort hinaus!« Die Zange wieder hebend, machte er einen taumelnden Schritt und trat in seiner Blindheit auf die Laterne. Das Glas zersplitterte, das Licht erlosch. »Jesus!« schrie das Dorle. Und in der Herzensangst um den Menschen, den sie liebte, stürzte sie auf den Lichtschmied zu, riß ihm die Zange aus der Hand, stieß ihn mit der Faust zurück – und wollte ihm zuvorkommen. Ihre Röcke flatterten – so rannte sie – an dem liegenden Baum vorüber, den der Sturm gebrochen hatte.
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»Dorle! Mar und Josef! Dorle! Dorle!« kreischte Domini, als hätte er plötzlich die Stimme eines Weibes bekommen. Ein klirrender Laut im Gras – und dem Dorle ringelte sich etwas um die Füße wie ein eisernes Schlänglein. Sie strauchelte und stürzte zu Boden. Zwei bläuliche Funken blitzten, als möchten in der Nacht zwei große, schöne Leuchtkäfer aus den Gräsern fliegen. Das Dorle seufzte. Und stand nicht wieder auf. Als der Lichtschmied, schreiend und schluchzend, die Regungslose an den Kleidern faßte und von der Stelle riß, leuchteten die zwei blauen Käfer wieder. Mit dem Dorle auf den Armen, rannte der Domini über die schwarze Wiese gegen das Sträßlein hinaus. Sein Ellbogen streifte die Stange, an deren Spitze die Laterne hing. Die Stange neigte sich – der gelbe Stern fiel langsam auf die Erde nieder, zerklirrte auf dem Boden und erlosch im Gras. Domini rannte. Und schrie, daß die Leute aus den Häusern gelaufen kamen. »Zum Doktor!« keuchte er, als ihm in der Finsternis jemand in den Weg trat. »Lauf zum Doktor! Lauf, Mensch, lauf, um Gotteschristi willen! Er soll zur Weberin kommen, zum Dorle...« Die Leute, die aus den Häusern kamen, trabten mit lärmenden Fragen hinter dem Lichtschmied her.
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Der rannte und rannte. »Mutter! Mutter!« schrie er, als er den Garten der Weberin erreichte. Das Haus stand offen, und im dunklen Flur, den der ölige Geruch der Garne erfüllte, wurde vor dem Domini die Türe des grünen Stübchens aufgerissen. Eine rauchende Petroleumlampe brannte auf dem Tisch, eine Kerze flackerte auf der Platte des Geschirrkastens, und so spärliches Licht erfüllte die Stube, daß die Efeutriebe gleich hundert schwarzen Fäden von der Decke niederhingen. Wie ein finsterer Schatten stand die Weberin in der offenen Türe. »Mutter! Mutter! Unser Dorle... schau...« Hinter dem Domini drängten sich fremde Leute in die Stube, und die Webergesellen kamen barfüßig und in Hemdärmeln aus ihren Kammern gelaufen, weil sie die Meisterin so schreien und jammern hörten. Von dem Lärm und all den Stimmen, die in der Stube waren, erwachten die schlummernden Vögel. Die einen flatterten scheu in ihren Käfigen umher, andere guckten mit zahmer Neugier aus den Drähten und begannen zu zwitschern, zu trillern und zu schlagen, als wollte schon der Morgen kommen. Während der Altgesell die Leute aus der Stube drängte, versuchten die Weberin und der Lichtschmied am Dorle jedes Mittel, das ihnen einfiel in ihrem ratlosen Jammer. Das Dorle lag auf dem Ledersofa, mit einem geblumten Kissen unter dem Nacken. Ihr durchnäßtes Röcklein hing 166
auf die Dielen nieder und hatte handbreit einen weißlichen Saum von den klebenden Apfelblüten, die das nasse Kleid aus den Gräsern gestreift hatte. Ihre Glieder waren regungslos, wie versteint, die kleinen Fäuste hart geschlossen. Doch in dem krampfhaft entstellten Gesichtlein kämpfte noch eine Spur des Lebens, und in den weitgeöffneten Augen war ein angstvoll suchender Blick wie eine quälende Sorge, die gerne reden möchte und nimmer kann. Da schlug mit feinen und hurtigen Glockentönen die alte Standuhr hinter dem Ofen die zehnte Stunde. Das Spielwerk setzte ein, und mit verschwommenen Klängen, in denen keine klare Melodie mehr war, zirpte die Uhr ein altes Liedchen, das man vor langen Jahren gerne gesungen hatte, in der Großmutterzeit. Bei diesen heiteren Klängen wurden auch die scheu gewordenen Vögel vertraut und erhoben wie die anderen ihr helles Trillern und Geschmetter. Das Dorle hatte die Augen geschlossen, aus ihrem Gesichtlein war der entstellende Krampf gewichen, und wie ein Lächeln, leise und zufrieden, lag es um den bleichen Kindermund. – Als der Doktor kam, sagte er dem Domini und der Weberin, daß das Dorle tot wäre. Und als er ging, weil nichts mehr zu helfen war, schimmerte bei dem trüben Schein der Lampe etwas Weißes auf den Dielen, auf dem Tisch und auf dem Fenstergesims – weiß wie frisches Linnen. 167
Es war der Mondschein, der durch die Fenster fiel. Wohl erstickten draußen am Himmel die ziehenden Wolken immer wieder den weißen Schein. Doch immer dünner wurden die gleitenden Nebel, immer heller und leuchtender die Silbersäume der Wolken, immer breiter die luftigen Klüfte, über die der Mond mit voller Scheibe langsam hinüberschwamm. Als der Doktor zwischen den Bretterplanken hinunterschritt gegen das Unterdorf, war's über dem schmalen Sträßlein so hell, daß man das erloschene Licht des Domini nicht vermißte. Und wie still war die Nacht geworden! Kein Hauch mehr in der kühlen Luft. Die Regenbäche hatten sich verlaufen, kaum noch vernehmlich rauschte der beruhigte See – und in dieser träumenden Stille hörte man weit über das Wasser her ganz deutlich das flinke Rädergerassel eines Wagens, der Eile hatte. Da fuhr ein Fröhlicher davon, die Freude im Blut und hoffendes Glück im Herzen. Wie schön das war in solcher Nacht zu reisen! Mit dem leichten Gepäck der lachenden Träume, die was Liebes in die Lüfte bauten – kein goldenes Schloß – nur ein kleines, rotes Häuschen mit grünen Läden und hinter blanken Scheiben ein süßes, rosiges Gesichtlein! So zu reisen – wie schön das war! Selige Zukunft in der Ferne – und aller Zauber stiller Mondnacht ringsumher!
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Der Himmel klärte sich. Wie diese Wolken am Morgen aus der Luft gewachsen und aus nichts entstanden waren, so lösten sie sich wieder auf ins Leere. Und die Scheibe des Mondes schwebte rein im grauen Blau. Die breite Straße leuchtete weiß. Nur die Schatten der Bäume, die am Wegrain standen, wuchsen wie schwarze Riesenpilze in diese bleiche Helle. Leises Glucksen und Flüstern ging durch das Schilf am Ufer. Ein feines Lichtgezitter war über den See gestreut. Manchmal blitzten lange, silberne Streifen auf und erloschen wieder. Und drüben, hinter den schwarzen Wäldern, waren die Berge von grauem Dunst umwoben. Die Räder des Wagens, der es so eilig hatte, rasselten in der stillen Nacht. Der Kutscher hätte gern ein bißchen geschwatzt, hätte gerne was gehört über Haifische und Indianer, über Tiger und Elefanten und über die Gockelfrauen von Lugalonien. Doch Poldi hörte nicht. In die Lederkissen der leichten Kutsche zurückgelehnt, träumte er mit glänzenden Augen hinaus in diesen bleichen Schein der Nacht. Und immer wieder drehte er das Gesicht, um noch ein Stücklein der Heimat zu sehen, wo das liebe Glück auf ihn wartete. So sicher! Denn der scheltende Widerstand des Vaters, der sich für seinen Buben ›was Besseres‹ ausgerechnet hatte, war durch Poldis Festigkeit besiegt – und die Mutter war froh und zufrieden, weil sie ihren Buben so in Freude und so glücklich sah. Und morgen in aller Frühe – das hatte sie ihm fest versprochen – wollte sie in ihrem besten 169
Staat, in ihrem schwarzen Seidenkleid, zur Weberin gehen – und zum Dorle. Poldi hatte den Arm über den Koffer gelegt, der hinter dem Wagen aufgebunden war. Und immer blickte er zurück nach der dunklen Heimat, bis ihre letzten schwarzen Wälder hinuntertauchten hinter die Hügel des Ufers. »Min Dorle!« Er hob das Gesicht, denn fern im Grau der Straße zwischen den schwarzen Baumschatten, meinte er was gesehen zu haben wie einen winkenden Menschen, der hinter dem Wagen herlief, um ihn einzuholen. »Halt mal en beten!« rief er dem Kutscher zu. »Da will noch wer mit!« Der Wagen hielt. Aber niemand kam – die Straße war leer. »Dat is doch narrschen! Jetzt weiß ich selber nicht, was ich da gesehen hab!« Poldi lachte. »Fahr zu!« Der Wagen rasselte in der stillen Mondnacht. Und dem Poldi war etwas Ernstes eingefallen – er schob die Mütze zurück und fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »De Dom'ni!«
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Seltsam, daß er den Domini nicht anders sehen konnte! Wie damals an jenem schönen Morgen, an dem sein Glück in dem grünen Stübchen begonnen hatte beim Getriller der Vögel und beim zirpenden Klang der Spieluhr – wie damals, genau so sah er ihn jetzt: hoch droben auf einer Lichtstange, mit dem sichelförmigen Klettereisen an den Füßen, in der Hand die schwere Streckzange, mit der der Lichtschmied die Drähte spannte. Nur daß die Sonne nicht schien, sondern der bleiche Mond! Ganz grau war der Domini. Poldi schüttelte sich, wie um einen quälenden Gedanken von sich abzuwehren. »Er hat sein Licht... und ich mein Glück!« Die Straße verließ den See und verlor sich in schwarzem Wald. Dann glosteten rote Lichter. Ein dumpfes Sausen, das sich aus der Ferne näherte. Und jetzt der schrille, langgezogene Pfiff einer Lokomotive. Der Kutscher peitschte auf die Pferde los. Und gerade noch rechtzeitig erreichte der Wagen den Bahnhof. Während sich der Kutscher mit dem Koffer schleppte, rannte Poldi zum Schalter. »München!« »Zweiter?« fragte eine Stimme aus dem Guckloch.
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»Ne, dritter!« Poldi lachte. »Dat is nobel genug für mich.« Er wollte sparen – für sein Glück! Das letzte Glockenzeichen. Und die jagende Reise durch die Nacht begann. Wohin? Übers Meer. Mit Eisen an Bord! – –
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Die Mühle am Fundensee Gegen Westen, jenseits der dunklen Massen des Kranzgebirges und der Palfenhörner, standen am nachtblauen Himmel noch mit sanftem Schein die Sterne, während sich im Osten zwischen tiefgesenkten Felsenscharten schon der erste fahle Schimmer des werdenden Septembertages zeigen wollte. Höher und höher zog das aufdämmernde Licht. Stern um Stern erlosch. In mattem Glänze tauchten die steilen Kuppen aus dem weichenden Dunkel hervor. Kleine, langgestreckte Wolken säumten sich schon mit blassem Rot, leise rauschend erwachte der Morgenwind, und tief im Tal begannen sich die schweren Nebel zu heben. Auch auf der schroffen Höhe des Stuhljochs, eines kahlen Ausläufers der Fundensee-Tauern, entwirrte das steigende Licht die hundertfältigen Konturen der klotzigen Steine. Und nun behauchte das flimmernde Frührot den Felsblock, der als höchster über seinen Brüdern thronte. Ihm zu Füßen saß ein junger Jäger. Quer im Schoße lag ihm die Büchse, und die beiden Arme hielt er um die aufgezogenen Knie geschlungen. Das hagere, bartlose Gesicht war gebräunt, doch blaß, mit schmalen, trockenen Lippen. Ein rötlich blondes Haar quoll in schlaffen Strähnen unter dem dunkelgrünen Hut hervor. Der Jäger rührte sich nicht. Nur in seinen Augen war Leben. Das waren große, dunkle Augen, in denen ein heißes, unruhi173
ges Feuer brannte. Zu dem furchtlosen Blick dieser Augen, die dem Gesicht einen kraftvollen Ausdruck gaben, bildete das Knabenhafte der schmalen Wangen und das runde, sanfte Kinn einen seltsamen Widerspruch. Aus diesem Gesicht redeten eine leidenschaftliche Seele und ein weiches, kindliches Herz. Immer höher stieg der Tag. In langen, farbigen Bändern schwamm das Licht der nahenden Sonne über den Himmel empor. Alle Spitzen waren in rosige Glut getaucht. Und während durch die mächtige Felsenscharte des Wildtores die übergossene Alm herüberblickte wie ein regungsloser Blut-See, deckten violette Tinten die wellige Fläche des Steinernen Meeres. Schon senkte sich das farbige Frühlicht in das von terrassenförmigen Höhen umschlossene Almental, das, zweitausend Meter über dem Meer, inmitten eines langgestreckten, grünen Weidelandes ein tiefes Becken bildet, in dem der Fundensee seine grünblauen, geheimnisvollen Fluten sammelte. Graue Nebel dampften von dem stillen Spiegel auf. Je höher sie stiegen, desto leichter wurden ihre Formen. Sie färbten sich violett und wogten im Streit des Morgenwindes hin und her, bis sie in den Lüften zu rosigem Dunst verflossen. Auf der Kuppe des Stuhljoches saß der junge Jäger noch immer unbeweglich zu Füßen der rotglühenden Steinzinne. Seine Augen hatten keinen Blick für die Schönheit des Morgens. Wohl glitten sie unter den häufig blinzelnden Lidern ruhelos umher, alles Sichtbare überhuschend. 174
Aber das waren nicht Blicke, welche sehen wollten – es waren ziellose Blicke von jenem unbestimmten Ausdruck, wie sie ein gespanntes Lauschen unterstützen. Nun schwellte ein tiefer, stockender Atemzug die Brust des Jägers. Langsam hob er die Hand und rückte den Hut. Geräuschlos richtete er sich auf, warf die Büchse hinter die Schulter, faßte den am Felsen lehnenden Bergstock und wollte gehen. Aber da stand er wie zu Stein geworden – auf der ihm gegenüberliegenden Felsenhöhe des Klunkerers war ein Schuß gefallen. Vorgeneigten Halses lauschte der Jäger dem verrollenden Echo. Sein Gesicht war fahl, seine Hände zitterten, und über die zuckenden Lippen klang es in zornbebenden Worten: »Wieder! Und wieder der gleiche Hall! Und wieder da, wo i net bin!« Noch eine Weile stand er so, als wär' ihm die Gewalt über seine Glieder entflohen. Dann reckte er die schlanke, sehnige Gestalt, hob drohend die Faust und stürmte den felsigen Hang hinunter. Er gelangte auf einen schmalen Wildpfad, zu dessen linker Seite die nackten Wände steil abfallen in eine Schlucht von schwindelnder Tiefe, in die »Pflaumscharte«, aus der, dem Stuhljoch gegenüber, das zackige Geschröff der Hochscheibe emporsteigt in die Lüfte. Sonst, wenn der Jäger auf stiller Pirsch diesen schmalen, gefährlichen Pfad einherstieg, setzte er achtsam Fuß vor Fuß, häufig mit der Hand an vorspringenden Steinen sich stützend. Nun aber sprang er auf diesem Wege mit tollkühner Eile zu Tal, als träte sein Fuß die breite, sichere 175
Straße. Unter seinen klirrenden Sohlen brachen die Steine und schlugen prasselnd in die Tiefe. Und manchmal bewahrte nur diese stürmende Eile den Jäger vor dem Sturz. Auf dem Felsgehänge sprang ein Gemsbock aus schartigem Versteck und flüchtete über das rappelnde Geröll der Höhe zu. Der Jäger achtete des Tieres mit keinem Blick – galt es doch für ihn, ein anderes Wild zu jagen, galt es doch die Jagd auf einen Räuber, dessen tückisches Treiben seit Wochen die Qual seiner Tage und die Pein seiner Nächte war. Rastlos stürmte er vorwärts. Keuchend ging sein Atem, in dicken Perlen rann ihm der Schweiß über die hohlen Wangen, über den nackten Hals, und die Haare klebten an seinen Schläfen. Da zerschnitt eine breite Felsenschrunde seinen Pfad. Er sprang. Und stürmte weiter. Was kümmerte ihn die Gefahr! Hier stand etwas auf dem Spiel, das ihm mehr galt als sein armseliges Leben: seine Ehre, seine Jägerehre! Jener Schuß – das war der neunte gewesen in diesem Sommer. Seit Wochen hatte er sich keine Ruhe gegönnt vom frühen Morgen bis zum Abend. Vergebens. Den Schlaf seiner Nächte hatte er geopfert. Umsonst. Wohl hatte er bald die Rotfährte, bald den Aufbruch des geraubten Wildes gefunden, doch nie eine Spur des Diebes. Die Blässe seiner hohlen Wangen, der heiße Brand seiner Augen, kränkende Mißachtung von Seiten seiner Dienstgenossen und 176
die mit Entlassung drohenden Vorwürfe seines Försters – das war bisher der einzige Erfolg seiner nie ermüdenden Mühe. Als der Jäger den gefahrvollen Pfad überwunden hatte, warf er sich mit der nach Atem ringenden Brust zu kurzer Rast über einen moosigen Steinblock. Und wieder stürmte er weiter, hinunter über das grobe Geröll des Stuhlgrabens, bis er das Weideland der auf der höheren Hälfte des Fundenseetales liegenden Feldalm erreichte. Hier blieb er in gedeckter Stellung und überflog mit brennendem Blick die spärlich bewaldete Höhe des ihm gegenüberliegenden Klunkerers. Dort oben rührte sich keine Spur von Leben. Nur Steine sah der Jäger, magere Fichten und von Latschen überwuchertes Felsgehäng. Jeden Block, jede Rasenwölbung und jeden Busch als Deckung nutzend, huschte er über das Weideland, der Richtung zustrebend, in der er den Hall des Schusses vernommen hatte. Jetzt erreichte er das unterste Gestrüpp des Berghanges. Schwer atmend schob er den Bergstock unter eine Föhrenstaude. Mit zitternden Händen spannte er den Hahn der Büchse und stieg lautlos der Höhe zu. Eine Stunde verrann. Er fand weder die rote Schweißfährte eines Wildes, noch die Spur eines menschlichen Fußes.
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Als endlich die Sonne mit ihrem weißen Lichte vollends emportauchte über die fernen Berge, schwand dem Jäger der letzte Rest seiner Hoffnung auf Erfolg. Der Schütze, der jenen Schuß getan, konnte lange schon über der nahen Grenze sein. Denn daß es einer von da drüben war, einer von den Tiroler Viehhirten des Steinernen Meeres, das stand in des Jägers Meinung wie beschworen. Die Tränen eines ohnmächtigen und schmerzenden Zornes traten ihm in die Augen, als er müde hinunterstieg ins Tal. Während des Abstieges peinigten ihn die Gedanken an den Empfang, der ihn im Forsthaus erwartete, wenn er am Abend hinunterkäme, um diesen neuen Schuß zu melden. Schon hatte er das Almental erreicht und wanderte, nachdem er seinen Bergstock wieder hervorgesucht, über den sanft geneigten Weidehang dem See entgegen. Plötzlich hielt er inne. Schwach abgedrückt im feuchten Sande, doch für sein scharfes Auge immer noch erkenntlich, sah er die Spur eines Trittes – die Spur eines nackten Frauenfußes. »Was hat denn die schon wollen da heroben, so früh am Morgen?« Er kannte diesen Fuß. Drunten in den Hütten am See, da hausten sieben Sennerinnen. Doch nur eine unter ihnen hatte solch einen Fuß, so kräftig und dabei so weich gerundet. 178
Die Stellung des Trittes zeigte gegen die Stuhljochwände. Und als der Jäger in dieser Richtung über das Weideland spähte, sah er zwischen den Büschen und Steinklötzen des ansteigenden Hanges einen weißen Schimmer und das Aufleuchten eines roten Rockes. Langsam löste sich aus dem dunklen Grün der Latschen die Gestalt eines Mädchens. Der Jäger atmete tief. Ein schmerzliches Lächeln zuckte um seinen Mund, und ein dürstendes Feuer glomm in seinen Augen. Langsam kam die Dirn gegangen: eine schlanke Gestalt mit festen Hüften und vollen Brüsten. Sie trug nur das Hemd und einen kurzen, aus roter Wolle grob gestrickten Unterrock. Braun waren die nackten Füße und braun die Arme, die sich aus den aufgestülpten Ärmeln senkten. Ein dicker Zopf von silberweißem Blond umschlang die Stirne. Auch das runde, ruhige Gesicht war von der Sonne stark gebräunt und hatte schwellend rote Lippen. Im Kontrast zu den hellen, über der Nase dicht verwachsenen Brauen und unter den langen, weißglänzenden Wimpern erschienen die dunkelblauen Augen beinahe schwarz; ihre Lichter waren matt und feucht, wie an Augen, die von scharfem Spähen müde geworden. »Grüß dich Gott, Burgei!« sagte der Jäger, als das Mädel sich genähert hatte. »Zeitlich bist auf!« »Ja!« Sie ließ unter leichtem Lächeln die blinkenden Zähne gewahren. »Weißt, ein Kalbl geht mir ab. Gestern am Abend hab ich schon gsucht. Und heut in der Früh hab ich mir denkt: Schaust einmal über d' Feldalm eini und gegen d' Stuhljochwänd zu. Gfunden aber hab ich nix. Warst am Klunkerer? Hast mein Kalbl net gspürt? 179
Das Dapperl liegt halt wo drin, wo's ihm grad taugt. Wann's Durst kriegt, nachher kommt's schon wieder. Aber nachschauen muß man halt doch ein bißl.« Der Jäger nickte, und seine Augen glitten über die Gestalt des Mädchens. »Gelt, ich schau noch net recht anzogen aus?« Burgei lachte und zog mit der Hand die Falten des Hemdes höher an den Hals, wodurch sich die Brüste schärfer in das weiche Linnen prägten. »Aber du, Gaby?« Sie musterte den Rucksack des Jägers. »Wo is denn der Gamsbock? Ich hab dich ja schießen hören.« »Wo warst denn, wie der Schuß gfallen is?« »Daheim in der Hütten. Grad bin ich aufgstanden, da hat's gschnallt. Aber geh, scham dich, triffst ja nie was!« Lachend puffte sie dem Jäger die Faust an die Schulter und wandte sich zum Heimweg. Eine Weile schritt Gaby schweigend neben dem Mädel, den Blick zu Boden gesenkt. Dann fuhr es aus ihm heraus: »Burgei! Der Schuß war net von mir!« »Geh!« Halb war es neugieriger Schreck und halb ein freundliches Bedauern, was aus diesem Worte sprach. »Und wieder nix hab ich gfunden! Wieder nix! Heut zum neuntenmal, seit ich heroben bin! Burgei, das bringt mich noch um!«
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»Geh, Gaby, schau, du nimmst die Sach viel ärger, als wie's is! Mit Recht kann dir doch kein Mensch ein' Vorwurf machen. Laufst dir ja die halbeten Füß ab, und Tag und Nacht vergönnst dir kein Ruh!« »Und was hilft's? Was hilft's? Und is denn das alles net wie verhext? Bin ich da drüben, so schießt er herüben, und bin ich herüben, so schießt er da drüben, der Lump! Ich muß schon bald denken, daß die Sach net zugeht mit rechte Ding. Sonst müßt ich doch einmal hinrennen an den Kerl.« Gaby blieb stehen und ließ das Mädel voranschreiten auf dem schmal werdenden Wege, der über einen steilen Weidehang zum See hinunterführte. »Es ist grad, als ob's der Lump jedesmal wüßt, wo ich bin! Und abpassen kann er mich doch net! Ich bin ja lang allweil schon droben in der Höh, eh der Tag kommt.« »Hast denn überhaupt ein Verdacht?« »Verdacht! So viel kann ich mir schon denken, daß 's ein anderer net sein kann, als wie einer von die Schafhüter am Steinernen Meer. Ein anderer, der net da in der Näh wo haust, der könnt's doch so unverschämt net treiben! Der einzige Hüter am Fundensee, der von der Stasi, das is ein alter Depp. Und der Hüter drunt, am Grünsee is ein Bub von vierzehn Jahr. Es is schon einer von über der Grenz her. Und ich kann mir schiergar auch denken, was für einer!« »Wen meinst denn? Geh, sag's?« »Den mit dem schwarzgrauen Bart mein' ich, der den Messerschnitt überm Backen hat. Aber was hilft der Ver181
dacht, wann ich den Kerl net erwisch, mit der Büchs in der Hand! Und allweil muß ich mich wieder fragen, wie er's macht, daß er jedesmal den Platz trifft, wo ich net bin. Schau, Burgei, du bist die einzig, die manchmal weiß, wohin ich mein Gang nimm. Und von dir kann ich doch net denken ...« »Was?« Scharf klang dieses Wort an Gabys Ohr, während Burgei den Schritt verhielt und das Gesicht wandte. In Zorn blickten ihre Augen, ihr Mund war schmal, und in die braune Stirn war eine Furche gesenkt. Betroffen sah Gaby in das verwandelte Gesicht der Sennerin. Dann senkte er die Augen, während auf seinen blassen Wangen ein mattes Rot erschien. »Mußt net harb sein! Hättst mich ausreden lassen, so hättst es ghört, daß ich dich net beleidigen will. Es trifft sich ja diesmal, daß eine Sennerin ein Schatz hat, der ein Lump is, und daß ihm d' Sennerin dem Jäger seine Weg verrat'. Aber du hast ja kein Schatz ...« Burgeis Gesicht hatte sich aufgehellt, und lächelnd fragte sie: »Daß ich kein Schatz hab? Weißt es denn so gwiß?« »Wenn's anders wär, müßt ich einmal was gmerkt haben. Ich hab dir aufpaßt gnug. Warum? Das kannst dir denken. Es is dir ja nix Neus!« »Was?« »Wie ich bin zu dir.« 182
Nun lachte Burgei, und lachend schritt sie weiter, mit den lustigen Worten: »No ja, ich bsteh's ein, ich hab kein Schatz. Es is eigentlich eine Schand für mich. Es wär an der Zeit, daß ich mir ein anschaff.« »Schau, da brauchst net weit suchen!« Herzliche Wärme sprach aus Gabys Worten. Burgei lachte und blickte zwinkernd über die Schulter zurück. Die beiden hatten den See erreicht, der sich hier in flachem Boden dem Anstieg der waldigen Höhe nähert, die den Klunkerer und Deltstein miteinander verbindet. Und so weit tritt das Ufer an die aufragenden Felsen heran, daß auf eine lange Strecke nur knapp noch Raum verbleibt für einen schmalen Pfad. Von einer nahen Stelle dieses Pfades klang den beiden ein dumpfes Brummen und Poltern entgegen. Eine Weile war Gaby, schweigend an den Lippen nagend, hinter dem Mädel einhergeschritten. Nun fing er wieder zu sprechen an, langsam. »Jetzt bin ich ganz abkommen von der Red. Ich hab auch net sagen wollen, als hättst es mit Wissen oder Willen tan. Aber schau, du bist die einzig, die mehr von mir erfahrt, als ich vielleicht von Dienst wegen sagen sollt. Aber wann ich halt so drin sitz bei dir in deiner Hütten, da druckt's mir alles raus, weil's mir wohltut, wenn ich mir 's Herz ein bißl leichtern kann. Und schau...« Gaby stockte.
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»Vielleicht hast halt doch, wann so einer einkehrt is in deiner Hütten, und wann grad gwußt hast, wo ich passen will, diemal ein paar Wörtln so rausgredt. Man redt ja diemal so eini in' Tag, ohne daß man viel denkt dabei. Und schau, da kann's dir ja passiert sein...« Burgei wandte sich und streckte dem Jäger die braune Hand entgegen. »Na, Gaby! Nie! Von dem, was du mir gsagt hast, hat kein Mensch ein Wort erfahren. Kein Mensch! Da hast d' Hand drauf! Der Teufel soll mich holen an dem Platzl, wann's net wahr is!« Und lachend fügte sie bei: »Das is grad der richtige Platz für so ein Schwur. Da hat der Teufel schon einmal ein' gholt!« Der Erde lauschend den Kopf entgegenneigend, raunte sie: »Horch, Gaby, wie's tut da drunt'.« Es war ein seltsam unheimliches Tönen, das sich unter der Stelle rührte, auf der die beiden standen. Da baute sich aus der Felswand in das schwarzgrüne Wasser hinein ein hoher Steinblock, durch den in der Breite des Pfades eine torförmige Lücke gesprengt war. Gegen den See hin zeigte der Stein die Form einer tief gehöhlten Muschel. Und das Wasser, das draußen im See sich still von Ufer zu Ufer dehnte, senkte sich im Schatten dieser Nische zu einem kreisenden Trichter, der die Grasbüschel, das welke Laub und die dürren Äste, die ihm aus dem nächsten Umkreis des Seespiegels hurtig entgegenschwammen, in gurgelndem Wirbel mit hineinriß in das Innere des Berges. Als zwängten und drängten sich die verschwindenden Wassermassen im Grund der Felsen durch enge Klüfte 184
und als stürzten sie hinunter in bodenlose Tiefen, so klang ein dumpfes Brausen empor durch das ruhelos rüttelnde Gestein. Es war ein Lärmen und Tosen, ähnlich dem Brummen und Rumpeln eines Mühlwerks. Und es heißt auch dieser Ort im Volksmund die Mühle – die Teufelsmühle. Vor vielen hundert Jahren – so berichtet die Sage – stand an der Stelle, die nun das dunkle Wasser deckt, eine Sennhütte auf grünem Weideland. Hier hauste ein reicher Senn, der, noch nicht zufrieden mit seinem Gut, einen Blutbund mit dem Bösen schloß. Doch sollte er, das bedang er sich aus, nur dann verdammt sein, wenn er am Sonnwendtage des dreißigsten Jahres den Weg in die Hölle fände, ohne daß ihn der Böse mit seinen Klauen berühre. Das war dem Teufel recht. Und so vermehrten sich die Kühe des Sennen wie die Hasen auf dem Felde. Es häufte sein Gut sich von Tag zu Tag. Bald wußte er nicht mehr wohin mit dem überreichen Almgewinn. Er wusch mit der Milch die Geschirre, schmierte mit Butter die Schuhe, pflasterte mit Käslaiben den Hüttengrund und konnte schließlich die vielen Kühe gar nimmer melken. Da gaben die Tiere von selbst ihre Milch, die sich zu Bächen sammelte und zu einem Strom ineinanderfloß, der seine weißschäumende Flut durch die Lahnergräben und das Schreintal auf stundenlangem Wege hinuntertrug in den Königssee. Als dann der Sonnwendtag des dreißigsten Jahres nahte, wurde dem Sennen bang um seine Seele. Er ließ einen geistlichen Bruder rufen, der ein großes Ansehen als Teufelsbanner genoß, und bestellte zwanzig Träger, die in Tragbutten das Weihwasser heraufschleppen sollten, damit der Pater Kapuziner ihn, die 185
Hütte und die vielen Kühe tüchtig weihen und feien könnte. Der Morgen des Sonnwendtages brach an. In Grauen und Bangen harrte der Senn des geistlichen Erlösers. Er stieg auf das Dach der Hütte, um den Kommenden früher zu gewahren. Endlich, als schon die Sonne emporstieg über die östlichen Berge, erschien auf der Paßhöhe der Pater mit den zwanzig Trägern. Nun merkte aber auch der Teufel, daß er um eine wohlverdiente Seele betrogen werden sollte, und mit einem Hieb seines höllischen Schürhakens schlug er von unten her den Erdgrund entzwei, so daß der Senn mitsamt seiner Hütte und seinen Kühen in die Hölle versank. Da wollte dann der Teufel das Loch wieder schließen. Doch einer der Träger hatte vor Schreck über den grausigen Vorgang seine Butte mit dem Weihwasser fallen lassen. Das heilige Naß war hineingeflossen in den Erdriß und war hinuntergesickert bis in die tiefste Hölle, so daß dem Teufel alle Macht versagte. Er mußte die Spalte bestehen lassen. Das Schneewasser füllte im Lauf der Jahrhunderte das gähnende Becken. Und heutigentags noch muß es der Teufel dulden, daß ihm durch jene Lücke das kalte Wasser in die heiße Hölle läuft. An diese Sage dachte Burgei, als sie ihrem Schwur die Worte beifügte: »Das is grad der richtige Platz, da hat der Teufel schon einmal ein' gholt.« Dem Jäger schien dieses lustige Wort nicht zu gefallen. Stumm ließ er Burgeis Hand aus seinen Fingern gleiten. Schweigend schritten die beiden am Ufer hin.
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Es zweigte sich der Pfad, linker Hand am Wasserrande weiterführend nach Burgeis einsam liegender Hütte, rechter Hand emporleitend zur Höhe eines latschenbewachsenen Hügels, der das kleine, weißblinkende Jägerhäuschen trug. Hier wandte sich Burgei. »Jetzt wirst auch froh sein, daß du heimkommst und ein paar Stund rasten kannst?« Die ruhige Gleichgültigkeit stimmte nicht zu ihrem forschenden Blick. »Schlafst ein bißl?« »Wenn ich's fertigbring, ja! Z'erst aber muß ich mir was kochen. Seit gestern z' Mittag hab ich kein Bissen net gessen. No, ich sieh dich nachher schon. Bhüt Gott derweil!« »Bhüt dich, Gaby!« Burgei nickte lächelnd. Sie bückte sich, riß aus dem feuchten Ufergras ein Büschel der halbverwelkten Ranunkeln, und langsam hinschreitend, zerzupfte sie die Stengel und Blüten und warf eine Handvoll der kleingerissenen Blumen hinaus auf das stille, schwarzgrüne Wasser. Gaby sah ihr nach. Ein Seufzer schwellte seine Brust. Und müde stieg er den Hügel hinauf. Droben angelangt suchte er den unter der Hüttenschwelle versteckten Schlüssel hervor, öffnete die Tür, durchschritt den Küchenraum und betrat die kleine Jägerstube. Er legte Gewehr und Rucksack ab. Den Hut über die Tischplatte schiebend, ließ er sich schwer niedersinken auf die Holzbank.
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So saß er lange, vor sich niederstarrend. Endlich erhob er sich wieder, um draußen in der Küche auf dem offenen Herd ein Feuer anzuschüren. Als dann die dampfende Pfanne vor ihm auf dem Tische stand, vermochte er kaum zu essen. Kein Bissen schmeckte ihm, und dennoch würgte er das Zeug hinunter, weil es ihm leid gewesen wäre, wenn die Speise hätte verderben müssen. Säuberlich räumte er das Geschirr in den Schrank. Und die schweren Schuhe von den Füßen streifend, streckte er sich auf das ächzende Heubett. Doch er fand weder Schlaf noch Ruhe. Mit wirrem Trubel kreuzten sich die Gedanken und Empfindungen in seinem Hirn und Herzen. Manchmal überkam ihn für Minuten ein dumpfer Halbschlaf. Und da quälten ihn bald Träume, in denen es um Blut und Sterben ging, bald sah er das zornige Gesicht des Försters, bald wieder die lächelnden Augen der Burgei. Es litt ihn nicht länger in der Stube. Er machte sich fertig zu einem Gang, der ihm das Herz schwer werden ließ, bevor er noch den ersten Schritt getan. Was würde der Förster sagen? Zu dieser Meldung? Als Gaby die Hüttentür versperrt hatte, zögerte er eine Weile. Er wußte selbst nicht warum. Dann schritt er den Hügel hinunter, Burgeis Hütte entgegen. Schon war er dem niederen Blockhaus nahe, durch dessen steinbeschwertes Schindeldach ein blauer Rauch sich in die Lüfte kräuselte. Da meinte er aus dem Innern der
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Hütte das Geräusch einer Tür zu hören, die man zugeworfen hatte. Er betrat die Almstube und sah Burgei ruhig auf einem Schemel vor dem flackernden Feuer sitzen, ihr Mittagsmahl bereitend. Die Kammertür war geschlossen. Burgei hatte sie wohl, so dachte Gaby, zugeworfen, um das Eindringen des Rauches in die Kammer zu verhindern. Er grüßte. Und Burgei, ohne das Gesicht zu wenden, nickte stumm. Als Gaby über dem Feuer die schwere Pfanne gewahrte, sagte er: »Heut mußt aber ein argen Hunger haben, weil dir gar so viel aufkochst.« »Ja!« Burgei lachte. »In mich geht was eini. Lang gnug bin ich ja.« Gaby ließ sich auf die Herdbank nieder. »Gehst am Berg?« fragte die Sennerin, während sie mit eisernem Löffel den Inhalt der Pfanne durcheinanderrührte. »Na, ich muß nunter zum Förster. Warum, das weißt ja. Und wenn leicht wer zusprechen tät in deiner Hütten und tät so rumfragen wegen meiner, gelt, nachher sagst nix, daß ich drunt in Barthlmä bin. Sagst halt, ich bin draußt im Berg!«
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»Kommst nimmer rauf in der Nacht?« »Vier Stund brauch ich nunter... und wer weiß, leicht kommt der Förster erst spät am Abend heim. Z'reden gibt's nachher auch ein bißl was. Und ich muß schon sagen, ich könnt den Ruckweg nimmer machen heut, so liegt's mir in die Füß. Ich muß schon drunt bleiben über Nacht. Und morgen wird's allweil zehne oder elfe, bis ich heroben bin.« Eine schmerzliche Bitterkeit klang aus Gabys Worten. »Wer weiß, vielleicht komm ich gar nimmer auffi. Am End schickt der Förster gleich ein andern... der besser is auf d' Lumpen!« »Meinst?« fuhr es dem Mädel mit erschrockener Frage heraus. Und die Lider zuckten über den großen, funkelnden Augen, die in Sorge an dem Gesicht des Jägers hingen. Dunkle Röte stieg in Gabys Wangen. »Burgei? Tätst dich ein bißl sorgen um mich, wenn ich nimmer käm?« »No ja, freilich!« Sie wandte sich langsam wieder dem Feuer zu. »Burgei? Is wahr?« Gabys Augen leuchteten. »Schau, es is net 's erstemal, daß ich um so was frag bei dir. Ein richtigs Ja hast mir nie net gsagt. Aber du hast mich auch nie net abgwiesen. Und schau, jetzt war grad die richtige Zeit, wo's mich aufrichten tät, wann ich wüßt, ich hab wen auf der Welt, der sich sorgt um mich. Da hätt ich gleich wieder ein andern Mut, wenn ich an ein Glück denken dürft, das mir zusteht, wann daheroben alles in
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Ruh und Ordnung is. Burgei? Kannst mich ein bißl gern haben?« An den Lippen nagend, hatte Burgei den Worten des Jägers gelauscht. Nun hob sie die runden Schultern und duckte kichernd den Kopf in den Nacken. »Burgei? Weißt jetzt da gar nix zum sagen?« »Mein, da hat ein Madl ein schweres Reden, bei so was!« Als hätte sie ein verräterisches Erröten zu verbergen, so beugte sie das Gesicht über den Herd und schob einen Bissen der dampfenden Speise zwischen die Zähne, um zu kosten. »Na also, 's ganze Salz hab ich vergessen!« Geschäftig ging sie zur Balkenmauer, um das Salzfaß zu holen. Als sie zum Herd zurückkehren wollte, vertrat ihr Gaby den Weg. Fest und ernst klang seine Stimme: »Burgei, soviel merk ich: Ja kannst net sagen. Gut! Aber so sag wenigstens: Na und nie! Nachher will ich dir nimmer im Weg sein. Und will lieber gleich selber zum Förster sagen, er soll einen andern schicken statt meiner.« »Na, Gaby, um Gottes willen, tu so was net!« Nach dem ersten Schreck, der aus diesen Worten geklungen hatte, lächelte Burgei wieder und guckte wie verlegen zu Boden. »Bist ein rechter Hitzteufel! Fallt man denn gleich mit der Kirch ins Haus? Im Ort drunt, da hat ein Madl ein leichts Reden. Aber daheroben auf der Alm, so ganz allein, da muß man sich bsinnen, bis man zu einem Burschen sagt: Du gfallst mir! Der tät sich gleich alles Teufelszeug einbilden.« Kichernd schob sie den Jäger 191
mit einem zutraulichen Druck des Ellbogens beiseite und wollte zum Feuer treten. Doch Gaby umspannte mit zitternden Händen ihren Arm. Die Freude blitzte in seinen Augen. »Burgei! Jetzt is alles gut! Und ich will nix weiter fragen, will mich zfrieden geben für heut. Aber schau, ich hab jetzt einen schweren Gang vor mir. Ein Bröserl Wegzehrung könntst mir schon mitgeben!« Lächelnd wandte ihm Burgei das Gesicht zu. Und Gaby klammerte lachend den Arm um ihren braunen Nacken und küßte sie mit allem Hunger seiner Liebe. Dann griff er nach Büchse und Bergstock, rückte den Hut übers Ohr, nickte dem Mädel mit leuchtenden Augen zu und trat hinaus über die sonnenbeschienene Schwelle. Burgei stand regungslos, den rasch verhallenden Tritten des Jägers lauschend. Ein Schauer rüttelte ihre Schultern. Hastig wandte sie sich zum Herd, spuckte ins Feuer und rieb mit dem Rücken der Hand die Lippen. Da klappte im Innern der Kammer ein hölzerner Riegel. Lautlos öffnete sich die Tür, und in die Almstube trat eine verwitterte Mannsgestalt. Ein spottendes Lachen grinste auf dem Gesicht, das umrahmt war von einem struppigen, grauschwarzen Bart. Über die rechte Wange zog sich eine wulstige, braunrote Narbe. Ein Fernrohr, das dem Mann vom Ledergurt über die linke Hüfte hing, kennzeichnete ihn als Schafhüter. Seine Zähne mummelten den Kautabak. Er näherte sich dem halb erblindeten Fenster und blickte gegen den Pfad hinunter. Dann sprach er lachend über die Schulter: 192
»Der hat aber schmalzig gredt.« Burgei schwieg. »Das muß schon einer von die ganz Dummen sein!« Wieder spähte der Schafhirte nach dem Pfad, über den der Jäger gegen die Almhöhe wanderte. – Aus Gabys Gliedern war alle Müdigkeit entflogen. Er hatte als Mannsbild das große Los gewonnen. Und da sah er auch gleich sein Mißgeschick als Jäger in einem helleren Lichte. Jetzt war das Glück mit ihm. Einer der nächsten Tage mußte den tückischen Wilddieb in seine Hände liefern. Auch der Gedanke an den Förster machte ihm keine Sorge mehr. Er konnte doch reden, konnte sich verteidigen, konnte berichten, wie rastlos er den Pflichten seines Dienstes nachgekommen wäre. Und ein rechtschaffener Jäger brauchte den Förster nicht zu fürchten. »Scharf is er schon, aber ungrecht nie net!« Unter solchen Gedanken hatte Gaby die Feldalm erreicht. Von hier aus führte der Pfad über einen steinigen Hang empor zu dem Orte, wo die Felswände des Stuhljoches und des Klunkerers sich einander nähern bis auf eine schmale Lücke, um dann vereint mit jäher Steile abzustürzen in ein langgestrecktes Almental, an dessen tiefster Stelle der kleine, schöne Grünsee still gebettet liegt zwischen ragendem Felsen, während sich der höhere Teil des Tales zu einem mit grobem Geröll übergossenen Hang verengert, der, den Namen »Pflaumscharte« führend, sich einzwängt zwischen die finstern Wände des Stuhljoches und der Hochscheibe.
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Als Gaby den nicht gefahrlosen Niederstieg über die in die Felsen eingelassenen Eisensprossen vollendet hatte und sich der Almhütte näherte, klang ihm lautes Lachen und heiteres Schwatzen entgegen. Ihn lockte das nicht. Er wanderte an der Hütte vorüber, dem See entgegen. Nur noch eine kurze Strecke trennte ihn vom Ufer, als er eine Stimme rufen hörte: »Gaby! He! Gaby!« Er wandte sich und sah vor der Tür der Sennhütte den Bartholomäer Forstgehilfen stehen, ohne Hut und Gewehr, die Pfeife im Munde – eine stämmige, mittelgroße Gestalt. »Grüß dich, Fröbl!« »Grüß Gott, Gaby! Jetzt bin ich nur froh, daß ich dich noch gsehen hab! Wo wärst denn hingrennt jetzt?« »Nunter zum Förster.« Fröbl lachte. »Willst ihm leicht den Schuß von heut in der Früh rapportieren?« Betroffen sah Gaby auf. »Wer hat denn gsagt...« »Gsagt? Kein Mensch hat was gsagt! Der Förster hat den Schuß selber ghört, wie er in die Seewänd drüben auf der Pirsch gwesen is. No, du, der hat weiters net aufbegehrt, wie er heimkommen is! Mich hat er gleich angefahren, als ob ich was dafür könnt, daß in deim Bezirk droben der Lumpengregori schon den ganzen Sommer dauert. 194
Und jetzt hat er mich auffigschickt zu dir, und ich soll dir sagen, daß er morgen kommt in der Fruh, weil er nachschauen will, wo denn die Gschicht ihren Haken hat.« Fröbl schwieg. Und während er den Wasserkolben seiner Pfeife entleerte, blickte er unter emporgezogenen Brauen hervor auf Gaby, der bleich geworden war. »Ja, schau«, sprach Fröbl nach einer Weile weiter, »ich muß selber sagen: so geht's nimmer länger. Es muß ein End haben! So was fallt auf uns alle. Es reden ja d' Leut schon davon. Kaum daß sich ein Jager wo sehen lassen kann, ohne daß er gspöttelt und ghieselt wird! Und alles wegen deiner! Da möcht sich unsereins bedanken!« »Aber Fröbl! Was kann ich denn dafür...« »Dafür können tust freilich nix, aber dafür tun hättst schon lang was sollen. Es wär doch zum Teufel, wann so ein Lumpenkerl, der sich den ganzen Sommer an eim Fleckl umeinandtreibt, net zum kriegen wär. Aber natürlich, da heißt's halt d' Schuh verwetzen und net die lederne Hosen reiben auf der Sennerin ihrem Bankl.« »Fröbl, ich sag dir's...«, fuhr Gaby drohend auf. »No, no, no, was hast denn? Das is doch was Alts, daß mein guter Freund Gaby in das weißzopfete Riesenweibl da droben verschameriert is bis übern Hals.« Tiefe Röte schoß in Gabys Wangen. »Ob's jetzt so is oder net? Wen geht's denn was an? Und wenn's so wär... d' Lieb müßt mich ja grad noch drauf hinweisen, daß ich ein 195
doppelten Eifer hab im Dienst. Und daß ich mich noch härter plag, als ich mich eh schon plagt hab!« Er schilderte dem Kameraden in Hast und Erregung die ruhelose Mühe dieser vergangenen Wochen. Dicke Rauchwolken paffend, hörte Fröbl zu und hob die Achseln. »No ja, ich glaub dir schon!« »Na, Fröbl! Du denkst von mir net um ein Granl besser als die andern. Und wann der Förster in der Letzt allweil so hergfahren is über mich, meinst, da hab ich's net rausghört, daß aus'm Förster noch ein anderer redt, den's leicht in d' Nasen gstochen hat, daß ich die ganze Zeit bei meine Fürgsetzten so gut gstanden bin... und der jetzt mein Unglück nutzt, um mich noch tiefer einiz'drucken, als ich eh schon drinsteck. Recht kameradschaftlich, ja, das muß ich sagen!« Mit zitternder Hand drückte Gaby den Hut in die Stirn und starrte hinauf zur kahlen Felsenhöhe der Tauern. Fröbl schien keine Zeit zur Antwort zu finden – so viel hatte er mit seiner leergerauchten Pfeife zu schaffen. Da nickte Gaby, verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln und sagte: »No also, bhüt dich! Und grüß mir die andern!« »Was hast denn? Wo willst denn hin?« »Mein Grenzgang will ich machen, damit ich mir sagen kann, daß ich bis zum letzten Augenblick in jeder Stund meim Dienst grecht gwesen bin... wenn's auch sonst keiner glaubt.« 196
»Jetzt sei net so verruckt! Heut machst die Sach auch nimmer anders. Und am hellichten Tag wird doch kein Lump umeinandsteigen. Geh, komm mit eini in d' Hütten zur Wabei! Mit der is ein lustiges Reden.« »Ich dank schön! Zum lustigen Reden is für mich keine Zeit net.« Fröbl zuckte die Achseln. »No ja, meinetwegen! Morgen in der Früh komm ich schon nauf, eh der Förster droben is. Vor neune, zehne kann er net da sein. Übernachten tu ich gleich da in der Grünseehütten.« »Da wünsch ich dir ein guts Liegen. Aber gelt, gib fein acht! Weißt, der Wabi ihr Bankl könnt auch ein bißl z' rauh sein für d' Jagerhosen. Wär schad um die deinig, wenn du's verwetzen tätst. Sie schaut so schön schwarz her.« Gaby lüftete den Hut und folgte dem Pfade, der vom Grünsee über die Wände emporführte bis zur Kuppe des Klunkerers. Während er über die verwitterten Felsstufen hinaufklomm, begann er seine Müdigkeit wieder zu spüren. Eine finstere Verdrossenheit lag in seinem Blick. Die eben erlebte Szene hatte ihn wieder aufgerüttelt aus dem Taumel seines Glücks. So schlimm also stand seine Sache schon! Man hatte seine Meldung nicht mehr abgewartet, er hatte eine Untersuchung zu gewärtigen, vielleicht war er selbst schon der
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Mitschuld verdächtig und Fröbl zu seiner Überwachung ausgesandt? Gabys Ehrgefühl bäumte sich unter solchen Vermutungen. Und die Gedanken, die ihm daraus erwuchsen, wurden ihm zur doppelten Marter, nun, da er um seiner Liebe willen wünschen mußte, in seinem Berufe unantastbar dazustehen. Als er den Gipfel des Berges erreicht hatte, setzte er sich auf einen Stein und neigte unter grübelndem Sinnen seine Stirn in die aufgestützten Hände. Gaby war kein Frömmler, jedoch ein frommer Sohn seines Glaubens, jenes Bauernglaubens, der untrennbar verwachsen ist mit allem Aberglauben. Hundertmal hatte sich Gaby in den vergangenen Wochen schon gesagt, daß dieses unentdeckte, geheimnisvolle Treiben nur mit Hilfe unheiliger Dinge bestehen könnte. Und als er nun in seiner Qual so dasaß auf dem kalten Steine, schoß ihm wider Willen der Gedanke durch den Kopf, daß er es gern mit einem Stück seines Lebens bezahlen würde, wenn ihm der Böse beistehen möchte zur Entlarvung des tückischen Diebes. Freilich verdammte er gleich diesen sündhaften Gedanken. Aber empfunden hatte er ihn doch. Und etwas Dunkles blieb in ihm zurück. Bitteren Unmut gegen sich selbst im Herzen, erhob er sich endlich und ging dem Tal der Feldalm zu. Als er eine weit über den Berghang hinausspringende Platte betrat, sah er in der Tiefe den Fundensee liegen, rot leuchtend im Widerschein der sinkenden Sonne. 198
Auch Burgeis Hütte lag vor seinem Blick. Das Herz schlug ihm an die Rippen, als er das Fernrohr hob. Das Mädel mußte in der Hütte sein, denn dicker Rauch qualmte aus dem Schindeldach. Vor der Türe sah Gaby die kleine Herde versammelt: die sieben Kühe und die beiden Kalben. Die beiden! Da hatte also wohl das verirrte Stücklein von selbst wieder den Heimweg gefunden. Es war dem Jäger eine Wohltat, sein Mädel um diese Sorge ärmer zu wissen. Hastig stieg er hinunter ins Tal. Vor der verlassenen Feldalmhütte blieb er stehen. Sein Herz zog ihn heimwärts, sein Pflichtgefühl widersetzte sich diesem heißen Wunsch. Er überschritt das Weideland und klomm über das Geröll des Stuhlgrabens hinauf bis zum Fuß eines wildzerrissenen, hart an der Landesgrenze liegenden Geschröffs, das den Namen »Schottmal« führt. Hier war eine Stelle, von dichtem Latschengestrüpp verdeckt und von einem vorspringenden Felsblock überdacht. Gaby hatte hier schon manchen Morgen und Abend mit vergeblichem Passen verbracht. Er zwängte sich durch die dichten Büsche, breitete den Wettermantel, den er im Rucksack getragen, über das zerlegene Moos und ließ sich nieder. Stunde um Stunde verging. Nichts rührte sich in der weiten Runde. Einmal nur hörte Gaby ein leichtes Steingeklapper. Er sah eine Gemsgeiß mit zwei Kitzen wegziehen über das Geröll.
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Tiefer und tiefer sank die Dämmerung, und immer schärfer wehte der Abendwind, der mit seinem eintönigen Liede hinfuhr über das zackige Gestein. Ein um das andere Mal waren dem Jäger bei regungslosem Lauschen schon die Lider zugefallen, und immer noch wehrte ihm die streng geübte Pflicht den Heimweg. Schon wurde der Abend zur Nacht, schon brachen aus dem lichtverarmten Blau die flimmernden Sterne. Und immer noch weilte Gaby. Gegen den Fels gelehnt, lag er in tiefem Schlummer, der wider den Willen des Jägers zu seinem Rechte gekommen war. Ein Lächeln umspielte Gabys Mund. Lautlos schwanden die Stunden der Nacht. Im Osten erglänzte der erste Schein, der die Sterne erblassen ließ und sich bald zu leuchtendem Rot verwandelte. Da fuhr der Jäger plötzlich auf. Es war ihm, als klänge in seinen Ohren der rollende Nachhall eines nahen Schusses. Er blickte verstört umher. Ein Blick auf den Himmel ließ ihn erkennen, daß er den Heimweg verschlafen hatte. Doch was hatte beim Erwachen in seinen Ohren geklungen? War das ein Traum gewesen? Zitternd vor Frost und Erregung lauschte er hinaus in die nebeldurchflatterte Morgenluft. Nun schwirrte durch die tiefe Stille ein Laut, kaum vernehmlich, nur dem scharfen Ohr eines Jägers erfaßbar. 200
Und mit funkelnden Augen spähte Gaby hinauf zur Grathöhe des Stuhljoches. Scharf abgezeichnet am blassen Himmel sah er den dunklen Leib einer mühsam flüchtenden Gemse. Nun tauchte hinter dem Wild eine Mannsgestalt über den Grat. Und jetzt verschwanden die beiden in dem grauen, schattendurchwirkten Ton des steilen Felsenhanges. Gaby streckte sich. »Wart, Lump! Jetzt ghörst mein!« Ja! Der da droben war ihm sicher. Hier gab es kein Entrinnen mehr. Von jener Höhe führte nur ein einziger Steig ins Tal – jener Steig, über den der Jäger am verwichenen Morgen herunterstürmte. Und Gaby mußte diesen Steig jetzt erreichen, bevor jener andere dort oben an die Rückkehr denken konnte. Mit zitternden Händen riß Gaby die Schuhe von den Füßen und verwahrte sie im Rucksack. Bergstock und Wettermantel ließ er in seinem Versteck zurück. Zwei Patronen schob er, um sie rasch bei der Hand zu haben, in die Westentasche. Und nun eilte er lautlos über das Geröll, ohne zu fühlen, daß ihm die spitzen Steine die nackten Sohlen blutig rissen. Als er den Anstieg des schmalen, steilen Pfades erreichte, hielt er kurze Rast, um seinen Atem in ruhigen Gang zu bringen. Dann faßte er die Büchse mit festem Griff, spannte die Hähne und stieg der Höhe zu, langsam, jedes lockeren Steines achtend, mit entschlossenem Blick vorausspähend über den Weg.
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Schon war er der Stelle nah, an der die Felsen sich verflachen, während der Steig hinweglenkt von den steil abfallenden Wänden der Pflaumscharte. Doppelt sein Ohr und Auge schärfend, verließ er den Pfad und strebte gebückten Leibes zwei mächtigen Steinblöcken zu, in deren schmalem Zwischenraum er günstige Deckung zu finden glaubte. Er hatte die Steine erreicht und wollte schon in die Spalte treten, als er hinter den Blöcken ein klirrendes Geräusch vernahm. Jäh schoß ihm das Blut im Herzen zusammen, und ein kurzes Zittern fuhr durch seine Hände. Doch diese Erregung währte nur ein paar Sekunden. Jeder Nerv an ihm war wieder entschlossene Ruhe, als er lautlos den hohen Fels umschlich. Vor seinem Blick weitete sich ein sanft geneigter, von gelblichem Berggras und schütteren Latschen bewachsener Hang. Zwischen diesen mageren Büschen sah Gaby einen Menschen knien, der dem Jäger den Rücken kehrte und die geraubte Gemse in den Tragriemen einzuschnüren begann. Das war nicht jener Schafhirt vom Steinernen Meer. Den hätte Gaby auf den ersten Blick erkannt. Außer Schuhen, Halbstrümpfen und kurzer Lederhose trug der Wilddieb nur ein graues, blusenartiges Hemd. Ein dickes schwarzes Tuch war um den Kopf geschlungen. Braun war der freie Nacken, weiß aber waren die Knie, als hätten sie die Sonne nie gesehen. 202
Gaby, jeden Busch als Deckung nutzend, huschte lautlos über den Hang. Nun stand er hinter dem Diebe. »Lump!« Die Büchse in der Rechten haltend, schlug er die Linke mit eisernem Griff in die Schulter des Knienden. Und da fühlte er nicht die Knochen eines Mannes, sondern lindes, üppiges Fleisch. Mit gellendem Schrei fuhr die Gestalt vor ihm so rasch in die Höhe, daß unter dem jähen Ruck das graue Hemd zerriß. Zurücktaumelnd, mit gurgelndem Laut, starrte Gaby entgeistert auf eine halbentblößte Mädchenbrust und in das bleiche Gesicht der Geliebten. Regungslos standen sich die beiden eine stumme Weile gegenüber. »Burgei? Du!« Ein Schauer rüttelte die Gestalt der Dirn. Mit zitternden Händen raffte sie die Falten des zerrissenen Hemdes über die Brust. Ihr Mund verzerrte sich unter einem erzwungenen Lächeln. Gaby stand mit klaffenden Lippen und fuhr immer wieder mit dem Arm über die nasse, kalkige Stirn. Nun streckte er sich und wies nach einem niederen Stein: »Da! Hock dich nieder derweil!«
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Schweigend gehorchte die Dirn. Und wortlos kauerte sie auf den Stein. Mit scheuem Blick verfolgte sie jede Bewegung des Jägers, als er den kurzläufigen Stutzen, der neben der Gemse lag, mit dem Fuß unter die dichten Zweige eines Latschenbusches schleuderte und sich niederkniete, um die Gemse tragfertig zu schnüren. Burgei sah, wie er die eigene Büchse zu Boden legte. Und als er mit den Händen die Riemen faßte, sprang sie auf und flüchtete dem Steige zu. »Burgei!« Drohend klang dieser Ruf. Die Dirn wandte das Gesicht. Und blieb stehen, als sie an Gabys Wange die Büchse sah. Wankend kehrte sie zurück. Und Gaby ließ die Waffe erst sinken, als Burgei wieder auf dem Steine saß. Nun sagte sie, halb in Zorn und halb in Furcht: »Und du willst mir einreden, daß d' mich gern hast!« Der Jäger schwieg. Seine Lippen waren so schmal geworden, daß sie die Zähne gar nicht mehr zu decken vermochten. Die Augen lagen eingesunken in den Höhlen. Dieses wächserne Gesicht glich einem Toten, dem liebevolle Hände die Lider noch nicht geschlossen. Die Kraft des Jägers schien gebrochen. Es gelang ihm schwer, die Gemse auf den Rücken zu heben. Dann faßten seine Hände die gespannte Büchse. »Ich denk mir, daß dein anders Gwand in der Näh wo versteckt is. Weil du's gestern so gschwind bei der Hand ghabt hast. Mach weiter! Und such's! Denn so kann ich dich net nunterführen.« 204
Burgei erhob sich und stammelte: »Gaby? Na! Du willst mich bloß erschrecken! Gelt? Ich kann's net glauben, daß...« Die Angst würgte an ihrer Kehle. »Was denn sonst? Da gibt's kein zweiten Weg. Ich führ dich, wo ich jeden andern hingführt hätt! Und jetzt kein Wörtl nimmer! Mach weiter!« Der Klang seiner Stimme zerdrückte ihr jede Widerrede. Wortlos ging sie dem Steige zu. Mit schweren Tritten folgte der Jäger. In seinem Gesicht zuckte kein Nerv, und wie angeschmiedet lag ihm die Büchse zwischen den Händen. Als sich der Weg zu gefahrvollem Pfad verengte, wurde Burgeis Gang unsicher und langsam. Bei einem Blick in die gähnende Tiefe vom Schwindel befallen, hielt sie das Gesicht gegen die Felsen gedreht und tastete sich mit zitternden Händen an den Steinen entlang. »Ich kann nimmer, Gaby!« Sie ließ sich niedersinken auf eine Felsstufe, über der sich eine nischenförmige Wölbung in die Steinwand senkte. Schwer atmend verhielt der Jäger den Schritt und lehnte sich rastend an den Fels. Scheu streifte Burgei sein totes Gesicht. Dann stierte sie eine Weile vor sich nieder, bis sie plötzlich, in Weinen ausbrechend, die Augen in die Hände preßte. »Du bist schuld, Gaby! Du! Verführt hast mich! Tag für Tag, ohne daß ich dich gerufen hätt, bist kommen und hast mir fürgredt, wie's nix Schönres gäb in der Welt, als so dro205
ben sein, wann d' Stern verblassen und der Tag kommt. Hundertmal hast mir gsagt, wie ei'm 's Herz auffischlagt bis in' Hals, wann der Gamsbock hersaust übers Gschröf. Ein wilds Blut hab ich ghabt, seit ich leb. Deine Reden haben's geweckt. Da hat kein Wehren gholfen. Ich hab's probieren müssen! Es is mir glückt aufs erstemal. Und da hat's mich ghalten wie mit eiserne Faust. Und naus hat's mich trieben. Allweil wieder.« »So?« Die Stimme des Jägers war ohne Klang. »Wann jeder alles ausführen möcht, wozu 's ihn treibt im Schlechten, da tät's bald traurig ausschaun in der Welt. Und schau, bloß ein Wörtl hältst mir sagen brauchen, und ich hätt dich mitgnommen in der Fruh, so oft's dich gfreut hätt. Aber freilich, das wär nachher net gstohlen gwesen und net betrogen!« »Ich hab mir net z' reden traut. Aber wann ich gwußt hätt, was ich weiß seit gestern...« »Geh! Hast dich doch vor mir net gforchten?« Ein bitteres Lächeln. »Hast doch sonst um alles fragen können, was d' wissen hast müssen, damit du's so hast treiben können die ganze Zeit her! Daß ich dir alles sagen muß... das hast net erst gestern erfahren.« »Na, Gaby!« Burgei suchte scheu die Augen des Jägers. »Aber seit gestern weiß ich's halt auch von mir!« Gaby sah ihr schweigend ins Gesicht. Dann sagte er langsam: »Burgei! Unser Herrgott soll dich net strafen. Aber mit die Lugen hör auf! In dir soll sich was rühren für mich? Und mein Vertrauen hast gnutzt und hast mir d' 206
Ehr bschandelt, daß mich 's Forstamt für ein Lumpen halt', den man heimlich überwachen muß! Und allweil hast zugschaut, wie ich die ganze Zeit umeinand grennt bin, halb verruckt vor Sorg und Elend. Und gestern hast mir mit deim Judaskuß den Verstand eingewickelt...« »Gaby! So kannst reden...« »Ja, so kann ich reden! Und wenn's mich umbringt! Meinst leicht, ich weiß net, was d' willst? Aber na, Burgei! Da gibt's kein Ausweg nimmer. Für dich net und net für mich. D' Lieb ist verspielt. Jetzt will ich d' Ehr wieder haben.« »Die sollst haben!« fiel Burgei mit jagendem Geflüster ein. »Und beweisen will ich dir, daß ich häng an dir wie d' Rind am Baum. Der Hüter vom Steinernen Meer... der is an allem schuld! Der hat mir 's Gewehr verschafft, und wann ich was gschossen hab, hat er's vertragen. Jetzt paßt er schon wieder drunt in meiner Hütten. Ich will dir sein Weg verraten, und wann er 's Gams am Buckel hat, packst ihn und führst ihn nunter statt meiner. Und kommst zu mir, und alles ist gut! Denn der verrat mich net!« »Weil er sich für sein Schweigen den gleichen Dank erhofft, den d' mir versprichst? Burgei! Jetzt erst kenn ich dich ganz! Und wenn ich schon mein', ich müßt dir d' Schand ersparen, die dir heut zusteht... aber eh ich zu so einer Schlechtigkeit d' Hand bieten möcht, eher springet ich lieber mit gleiche Füß da nunter über d' Wand!«
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Erblassend spähte die Dirn mit funkelnden Augen in die gähnende Tiefe. »Was aber möcht's dir helfen?« sprach der Jäger mit erwürgter Stimme weiter. »Da hättst zu allem andern noch mein Leben am Gwissen. Für nix! Heut kommt der Förster rauf, und drunt am Grünsee ist der Fröbl, der gwiß schon lang wo rumsucht in der Näh, weil er dein Schuß hat hören müssen. Und die zwei, Burgei, die haben offene Augen. Die zwei sind net verliebt! Es gibt kein andern Weg. Da heißt's halt tragen, was dir aufgladen hast. Dir und mir. So komm jetzt! Mach weiter!« Bevor er das letzte Wort gesprochen hatte, lag Burgei vor ihm auf den Knien und krampfte die Hände in seine Hüften. »Gaby! Ich bitte dich um alles in der Welt! Tu mir so was net an: daß am Weg ins Zuchthaus d' Leut herlaufen sollen hinter meiner mit Spott und Glachter...« »Und was meinst denn, wie's mir is, daß grad ich dich führen soll auf so eim Weg!« Von Gabys irrenden Augen rollten zwei dicke Tropfen über das kalkweiße Gesicht. »Wenn ich hundert Jahr noch leb... ich bin ein gstorbener Mensch vom heutigen Tag an.« »Siehst es, Gaby, deim Herzen kannst net wehren! Und was ich dir allweil gwesen bin, das bin ich dir jetzt noch grad so gut! Und ich will dir's vergelten, Gaby, mit Leib und Seel...« »Laß gut sein, Burgei! Ja, hast recht, ich kann meiner Lieb net wehren. Traurig gnug für mich! Aber zum Lumpen soll s' mich net machen. Auf mein Dienst bin ich 208
eingschworen. Und geht mir auch d' Lieb schon übers Leben, so geht mir doch über d' Lieb mein Schwur!« »So halt dem Teufel dein Schwur!« Die Büchse des Jägers beiseite schlagend, stieß Burgei dem Ahnungslosen mit wilder Gewalt die Fäuste gegen die Brust. Wankend taumelte Gaby. Während er mit schlagenden Armen das Gleichgewicht zu halten suchte, schwirrte schon die Büchse der Tiefe zu, und unter der Wucht des Aufpralls entlud sie ihre beiden Läufe. Gaby stürzte. Er fing sich im Sturz mit beiden Händen noch an dem zackigen Bord des Pfades. Da stieß ihm die Dirn, wie vom rasenden Wahnsinn befallen, den schwergenagelten Schuh auf die eingekrampften Finger. »Burgei!« Die starrblickenden Augen ins Leere gerichtet, öffnete Gaby die blutenden Hände und verschwand in der Tiefe. Seinen letzten Schrei erstickte das Geprassel der mitstürzenden Steine. Ein dumpfes Sausen und Brummen. Ein dröhnender Aufschlag. Und nun war's wieder still da drunten. Mit dem Rücken an die Felswand gelehnt, die Arme mit den gespreizten Fingern weit ausgespannt, so stand die Dirn und stierte hinunter in das stumme Dunkel der Schlucht. Nun hob sie den Kopf, und während ihr die Augen aus den Höhlen quollen, sog sie röchelnd die kühle Morgenluft zwischen die Zähne. Ein Zittern überlief ihren Leib. Die zuckenden Hände einkrallend in das verwitterte Gestein, wandte sie das 209
Gesicht bald zur Rechten, bald zur Linken, mit irren Blicken ausspähend über den öden Pfad. Da löste sich unter ihren Händen ein Stück des Gesteins und klirrte auf den Grund des Steiges. Heftig schrak sie zusammen. Ein gellender Schrei. Und in sinnlosem Laufe stürmte sie über den steilen Pfad dem Tal entgegen. Immer wieder wandte sie den glasigen Blick – und jeder Stein, jeder Schatten, jeder Rasen und jeder Zweig erschien ihr wie ein bleiches Gesicht mit nassen Augen. Jedes Geräusch, das sie vernahm, das Rollen und Fallen der Steine, das Klappen der eigenen flüchtenden Tritte, alles klang in ihrem Ohr wie ein klagender Ruf. Schon hatte sie den Stuhljochgraben erreicht. Ihre Kraft drohte zu versiegen. Aber Angst und Entsetzen trieb sie weiter, hinunter über das rasselnde Geröll und quer über das Weideland, der Feldalmhütte entgegen. Mit zitternden Fäusten drückte sie die morsche Tür aus den Fugen und verschwand in dem dunklen Raum. Als sie nach kurzer Weile wieder aus der Hütte trat, zitternd, mit martervollem Blick die stille Runde durchirrend, trug sie wieder die lichten Zöpfe und das Senngewand, den roten Rock und das weiße Leinenhemd. Die braunen Füße waren nackt. Wankend schlich sie dem See entgegen. Immer verhielt sie den Schritt und preßte die Fäuste an die Schläfe. Immer wieder schloß sie die Augen. Was half es ihr? Auch in diesem Dunkel sah sie das bleiche Gesicht mit den
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traurigen Augen. Und was zu ihr aus diesen Augen sprach, das war nicht Zorn und Verdammung, nur Liebe! Und plötzlich wandte sie sich – und griff ins Leere – und begann zu rennen, daß ihr der Atem verging. Als sie den Stuhljochgraben erreichte und sich keuchend emporarbeitete über das Geröll, war ein Gefühl in ihr erwacht, unter dem ihr das Entsetzen über ihre Tat zu würgender Marter wurde: die Hoffnung, noch zu helfen und zu retten – jenen zu retten, den sie hatte morden müssen, um zu erkennen, daß sie ihn liebte. Jeder Gedanke sagte ihr, daß es aus solcher Tiefe keine Rettung gab. Und dennoch hoffte sie. Mit blutenden Füßen erreichte sie die Höhe des Grabens und kletterte zwischen den Wänden über die klüftigen Steine hinunter in das dämmerige Dunkel des tiefer und tiefer sich senkenden Schluchtengrundes. Nun mußte die Stelle kommen, nun bald – und da war sie jetzt! Ein zerdrücktes Stöhnen rang sich aus der Kehle des zitternden Weibes. Schaudernd drückte sie den Kopf in den Nacken und schlug die Hände vor das Gesicht. Was da zu ihren Füßen lag, das war keine menschliche Gestalt mehr, nur ein graues Wirrsal zerfetzter Kleider und zerrissener Glieder, halb begraben unter Schutt und Steingeröll.
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»Jesus im Himmel! Was bin ich für eine!« Da, klangen Schritte. Über das Gezack der Felsen tauchte Fröbls stämmige Gestalt herauf. »Mar' und Josef!« schrie der Jäger in Entsetzen. Aufkreischend hatte Burgei die Arme fallen lassen. Und nun begann sie ein wirres Murmeln und Stammeln. Rückwärts taumelnd, wandte sie sich der Höhe zu. Und mit beiden Händen die Ohren deckend, kletterte sie bergan unter wimmerndem Geschrei, dessen Sinn den entsetzten Jäger zwang, die Flüchtige zu verfolgen. Eine wilde Jagd begann: empor über die steile Scharte zur Höhe des Stuhljochgrabens und durch den Graben hinunter ins Almtal. Auf den Steinen bezeichnete eine rote Fährte den Weg der Fliehenden. Ihre Zöpfe lösten sich, und gleich einem weißen wehenden Mantel flatterte hinter ihr das offene Haar. Die Verzweiflung gab ihr neue, doppelte Kräfte. So dehnte sich mehr und mehr der Raum zwischen ihr und dem Jäger. Schon hatte sie den See erreicht und gewann das Felsentor der Teufelsmühle, als Fröbl, niederkeuchend über den letzten Grashang, am oberen Ende des Sees den Förster gewahrte, der dem Jägerhaus entgegenwanderte. Rasch entschlossen schoß der Jäger seine Büchse ab und schrie mit kreischender Stimme über den See hinüber: »Förster! Förster! Halten S' das Weibsbild auf!«
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Unter der Tür von Burgeis Hütte war beim Hall des Schusses ein bärtiger Mensch erschienen. Der flüchtete mit jagenden Sprüngen der nahen Grenze entgegen, während die zwei Jäger das rennende Weib einzuschließen suchten auf jenem schmalen Ufersteig, der eingekeilt liegt zwischen glatten Wänden und bodenlosem Gewässer. Inmitten dieses Pfades hielt Burgei wankend inne. Von beiden Seiten sah sie die Verfolger kommen. Sie hörte jedes Wort, das Fröbl dem Förster zuschrie. Näher und näher kamen die Jäger. Schon streckte der eine die Fäuste, um das Weib zu fassen. Da sprang sie keuchend über das Ufer hinaus und verschwand im aufspritzenden Wasser. Triefend tauchte sie wieder auf und versuchte mit schlagenden Armen gegen das andere Ufer zu schwimmen. Doch wie mit eisigen Klammern faßte die Strömung des Grundes ihre Füße. Verzweifelt widerstrebte Burgei der dunklen Gewalt, die sie dem schäumenden Strudel der Teufelsmühle näher zog. Die Schwimmende versank. Und wieder kam sie herauf. Ein gellender Schrei:»Gaby, Gaby!« Noch ein letztes Mal hob Burgei die Arme aus dem Gewirbel des Wassers. Dann tauchte sie lautlos hinunter in den kreisenden Schlund, während ihr Haar für eine flüchtige Weile noch gleich weißem Moosgeschling die Wände des gurgelnden Trichters umspielte. Auf dem Pfade standen mit erblaßten Gesichtern die beiden Jäger.
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Unter ihren Füßen verstummte plötzlich jenes dumpfe Rollen und Tönen. Unheimliche Stille herrschte durch wenige Sekunden. Dann begann der Grund aufs neue sein Schwanken und Schüttern, aufs neue erhob sich im Innern der Erde das grollende Brummen und Brausen. Das gestörte Werk der Mühle ging wieder den alten Gang.
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Jerobeam Purzelbaum Vor Jahren, auf einer meiner Bergfahrten, kehrte ich zu Klausen im Wirtshaus ein. Während ich in der niederen Stube, die eine braungewordene Balkendecke hatte, bei meinem Trunk saß, gewahrte ich, daß die dunkle Holzdecke überall von weißen, sonderbaren Schrammen durchrissen war. Das sah sich an, als hätten da droben zwei Tiger miteinander gekämpft und hundert Spuren von ihren Krallenschlägen zurückgelassen. Ich fragte die Kellnerin, woher das käme. Und lachend sagte das Mädel: »Woaßt, weil der Purzelbamer all weil so hoach auffitanzt!« Daß in einer niederen Stube ein Schuhplattltänzer die genagelte Sohle im Sprung hinaufschlägt bis zur Stubendecke, das ist an sich nichts Merkwürdiges. Aber dieser ›Purzelbamer‹ mußte ganz absonderlich geartete Sprunggelenke besitzen! Nach der reichlichen Hieroglyphenschrift der Stubendecke zu schließen, schien er sich beim Tanze mit den Füßen mehr in der Luft als auf dem Fußboden zu bewegen. Auch sein Spitzname, Purzelbaumer, ließ eine verblüffend ausgebildete Beweglichkeit vermuten. Die Kellnerin mußte mir von ihm erzählen. Und sie leitete ihren Bericht mit den lachenden Worten ein: »So an Urviech gibt's auf der ganzen Welt nimmer!«
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Christian Überacker hieß er und war der Sohn einer zugewanderten Taglöhnerin. Schon als Kind verlor er die Mutter und wuchs nun so zwischen Armenhaus und Bergwald heran, kein Mensch wußte, wie! Und obwohl es ein unergründliches Geheimnis war, wovon der Bub lebte, wurde er immer dicker und fetter. Und war dabei kreuzfidel. Und schon in der Schulzeit war das seine Gewohnheit, daß er lieber auf den Händen ging als auf den Füßen. Für ein Butterbrot stellte er sich auf den Kopf, spreizte die Beine als Balancierstangen auseinander und blieb so auf dem Haardach stehen, bis das Butterbrot verzehrt war. Eine schwierige Kunst, das: immer nach aufwärts schlucken! Mit zwölf Jahren wurde er Geißhirt, vier Jahre später Galtviehsenn und Wilddieb. Einmal ertappte ihn der Förster auf einem schneidigen Felsgrat und schickte ihm eine Kugel nach. Als Christl sie pfeifen hörte, tat er einen vergnügten Juhschrei, stellte sich in der luftigen Höhe da droben auf den Kopf und strampelte mit den Beinen gegen den blauen Himmel. Dadurch bekam die ernste Sache für den Förster eine so drollige Wendung, daß er die Anzeige unterließ. Bei der Rekrutierung wurde der Christl nicht genommen wegen Fettleibigkeit. Daheim aber wußten sie, wie flink er war, trotz seines Speckes; und um ihn von seinem Hang zur Wilddieberei zu kurieren, verschaffte ihm der Förster eine Anstellung im Jagddienst. Nun hauste der Christl seit Jahren als Junggeselle droben auf der Windecker Leite, einem Weiler, der nur aus einem halbdutzend Häuser bestand und hoch im Gebirg 216
lag, zwei Wegstunden über dem Dorfe. Niemals hörte man davon, daß Überacker mit einem Mädel bandelte. Nur zwei Dinge schien er zu lieben: seinen Dienst im Bergwald und das Tanzen im Klausener Wirtshaus. Und beim Tanzen war er gar nicht heikel – hübsch oder häßlich, alt oder jung, Bursch oder Mädel, wenn's nur was Lebendiges war, das die Beine rühren konnte. Und wenn die anderen mit ihrem Atem fertig waren, tanzte der ›Purzelbamer‹ noch stundenlang für sich allein und erfand dabei so unglaubliche Kapriolen, daß ein alter Bauer einmal sagte: »Der macht ja Sprüng wie der Jerobeam!« Obwohl ich ziemlich bibelkundig bin, ist es mir nie gelungen, den tieferen Sinn dieses Vergleichs klar zu erforschen. Die Kellnerin im Klausener Wirtshaus vertrat die Ansicht: Jerobeam, das wäre der Name eines von der Springsucht befallenen Teufels, von dem der Herr Kaplan schon des öfteren gepredigt hätte. Mag nun die Sache sein, wie sie will – dem Christl Überacker blieb dieser Name, mit einer kleinen Abkürzung und mit dem Ton auf der ersten Silbe ›Jérobam!‹ Und das klang nicht übel mit seinem anderen Spitznamen zusammen:›Jérobam Purzelbamer!‹ Seine persönliche Bekanntschaft sollte ich noch am gleichen Abend machen. Durch Zufall fand sich da im Wirtshaus eine kleine, fidele Gesellschaft zusammen: der Förster, zwei Jagdgehilfen, der Lehrer und ein junger Postpraktikant, der virtuos die Mundharmonika blies. Und als man zu tanzen anfing, meinte die Kellnerin: »Schad, daß der Purzelbamer net da is!« Sie hatte das kaum ausgesprochen, da klang draußen im Hausflur ein 217
gellender Juhschrei, die Stubentüre wurde mit Gerassel aufgestoßen, und etwas Dickes, Fettes, Fleischiges, das nur eine entfernte Ähnlichkeit mit einem proportionierten Menschen hatte, schlug sich mit drei Rädern über die Schwelle herein. Dann stand ein Kerl vor mir, wie ein großmächtiger Gummiball mit Armen und Beinen, das zinnoberrote Vollmondgesicht behangen mit hundert Schweißperlen, die in der Lampenhelle genau so funkelten wie die kleinen, zwischen Fett versunkenen Augen. Während der Jérobam die Runde um den Tisch machte und jedes Krügl leerte, das ihm als Willkomm gereicht wurde, schwatzte er lachend ein Register von drolligen Redensarten herunter, denen es anzumerken war, daß sie der Christl Überacker bei ähnlichen Gelegenheiten schon zu hundertmalen gesagt hatte. Erst tat er noch einen tüchtigen Zug aus dem eigenen Maßkrug, den ihm die Kellnerin brachte – dann warf er die Joppe von den Schultern, lockerte die Hosenträger, spuckte in die Hände, packte die Wirtstochter und fing ein Tanzen an, wie ich das im Leben ein zweitesmal nicht mehr gesehen habe. Dieses Stampfen und Schnackeln, dieses Pfeifen und Schnalzen, Drehen und Platteln, Schwingen und Wiegen, das alles war anders, wie es andere machen – alles verdoppelt und verdreifacht an Übermut und Flinkheit, an Wildheit und Rasse, an Feuer und Schwung. Dazu immer wieder ein Rad und Purzelbaum, ein tischhoher Sprung und ein Sohlenschlag an die Stubendecke. Die Lebensfreude schien irrsinnig geworden, bevor sie diesem Menschen ins Blut und in die Knochen gefahren war. Und wie er mit dem ganzen, kugelrunden Körper immer in der Luft gaukelte, immer mit dem Kopf nach unten oder hinten, immer mit den Beinen in der Höhe – das war wie eine Negation der 218
Schwerkraft, wie ein Widerspruch gegen alles, was menschliche Bewegung heißt. Bei einem schlanken, gut gewachsenen Menschen hätte man solche Gelenkigkeit in allem Ernst bewundern müssen. Aber dieser wirbelnde, springende, ruhelose Fettballon wirkte mit einer Komik, daß man Tränen lachte. Als es auf zwölf Uhr ging, waren die beiden Wirtstöchter, die Kellnerin und das Küchenmädel schon ›firti‹, wie der Jérobam sagte – atemlos, mit erschöpften, glühenden Gesichtern hockten die vier Weibsleute auf der Ofenbank. Aber der ›Purzelbamer‹ tanzte und purzelte solo noch immer weiter, pfiff, daß es in den Ohren gellte, schrie und jauchzte, daß die Fensterscheiben klirrten, und schrieb mit den Schuhnägeln unverdrossen das Lied seiner wilden Kraft und Lebenslust an die Stubendecke. Um zwei Uhr ging ich zu Bett. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Meine Kammer lag gerade über der Wirtsstube – und das Gedudel da drunten wollte kein Ende nehmen. Und sooft die genagelte Sohle des Purzelbaumer gegen die Decke schlug, machte mein Bett den Hupf des Jérobam mit. Als der Morgen graute, bekam ich endlich Ruhe. Vom Hof herauf konnte ich noch die laute, fette Stimme des ›Purzelbamer‹ hören, der zum Förster sagte:»Jetzt muaß i aber flink auf'n Dürrkogl auffi, für'n Forstmoastr an Gamsbock ausmachen!« Er lachte. »Sakra! Sakra! Heut war's wieder amal fein!« Das war – für mich – das letzte Wort des Jérobam.
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Fünf Jahre später kam ich wieder nach Klausen. Aber da gab's keinen Christl Überacker mehr. Von dem wilden, nimmersatten Tänzer war nur noch ein kleiner grüner Hügel übrig, mit einem hölzernen, von Schnee und Stürmen schief gedrückten Kreuzlein drauf – und dazu die Geschichte einer grotesken Stunde, halb schauerlich, halb lustig bis zum Übermut. Wer nur immer von dem Toten redete, fing zu lachen an. Und der Förster erzählte mir ausführlich die Geschichte von den letzten Purzelbäumen des Jérobam. – Ein grimmiger Winter war über die Berge gefallen. Zwei Meter hoch lag der Schnee im Tal. Und droben noch höher. Von der Windecker Leite, wo der Christl hauste, konnten sie an Weihnachten nimmer zur Mette herunter. Und die weiße Mauer zwischen dem Dorf herunten und der Einöd da droben wuchs noch mit jeder Woche. Bis zum 14. Jänner hatte sich der Jérobam Tag für Tag durch den Schnee bis zum Futterstadel gearbeitet, um dem Hochwild das Heu vorzuwerfen. An diesem Vierzehnten kam er abends heim, in Schweiß gebadet, schauernd bis in die Knochen. Der Eckerbauer, bei dem der Christl hauste, kannte sich gleich aus. »Der hat 's Lumplfieber.« Das heißt: die Lungenentzündung. In der Nacht verlor der Jérobam das Bewußtsein – und da mußten sie ihm mit Stricken das Federbett über den Körper binden, weil der Christi in seinen Fieberträumen im Klausener Wirtshaus zu sein glaubte und immer mit den Füßen an die Decke wollte. Am Morgen lag er ganz still und schwatzte mit leiser Stimme dummes Zeug vor sich hin. Den Doktor zu holen, das war bei dem zwei Meter 220
tiefen Schnee ein Ding der Unmöglichkeit. Und gegen Abend fing der Jérobam unter dem Federbett wieder zu tanzen an. Sieben Nächte tanzte er mit dem Tod. Dann war der Christl ›firti‹ – und der andere, der Unermüdliche, der seit Jahrmillionen die Erschöpfung nicht kennenlernte, tanzte weiter – für sich allein. Den Jérobam, der das Springen aufgegeben hatte, nähten sie dick und fest in Sackleinwand, schnallten ihn mit ledernen Riemen auf ein schweres Lärchenbrett und legten den zahmgewordenen Tänzer in die Scheune – damit die Leiche gefrieren und sich erhalten sollte bis zum Frühling. Dann ging auf der Windecker Leite das harte, stille Leben zwischen den weißen Schneemauern ruhig weiter – bis es März wurde. Föhnstürme fielen ein. Und der kalte Schläfer auf dem Lärchenbrett begann in der Wärme langsam aufzutauen. Da mußte man den Christl Überacker hinuntertragen zum Friedhof. An einem himmelblauen Sonntagsmorgen nahmen der Eckerbauer, sein alter Knecht und die beiden Nachbarn das schwere Lärchenbrett auf die Schultern. Während sie den Jérobam trugen, beteten sie den Rosenkranz. Und schwitzten. Denn es war ein harter Weg. Je weiter sie hinunterkamen in den Wald, desto tiefer und zäher wurde der ungebahnte Schnee. Sie suchten, um es leichter zu haben, eine baumfreie Rinne auf. Aber da trat der alte Knecht unter dem Schnee auf eine Eisplatte und rutschte. 221
Auch die anderen verloren das Gleichgewicht und ließen das Brett mit dem Christl fallen. »Jöises, halts 'n auf!« schrie der Eckerbauer; aber das Brett fing schon zu gleiten an, schneller und immer schneller. »Mar' und Josef! A so an Unglück! Der derfallt si! Jöises, der tuat si an Schaden!« Zu vieren sprangen sie durch die Schneerinne hinunter. Aber der Jérobam war flinker als sie alle. Das wurde eine heiße Jagd. Bei einer Wendung der Rinne meinte der Eckerbauer den flinken Christl haschen zu können. Doch da fuhr das Brett mit dem Fußende gegen einen Baumstock, überschlug sich, stellte sich auf den Kopf und machte einen Purzelbaum um den andern. Schreiend, wie besessen, rannten und schlitterten die vier Leute hinter dem tollgewordenen Christi her – bis der alte Knecht, dem der Atem ausging, einen verständigen Einfalt hatte: »Bal 'r 's net anders tuat, so laßts 'n halt hupfen, in Herrgottsnamen!« Und der Eckerbauer, nach allem Schrecken, fing zu lachen an: »Der woaß, was 'r tuat! Meintwegen! Müassen mer eahm sei' letzte Freud halt lassen! ... Hupf zua, Christl! Hupf zua! Und tanz meintwegen, wia d' magst!« Durch dieses Wort war alle herkömmliche Ehrfurcht vor dem Tode auf den Kopf gestellt. Lachend standen die vier Männer bis an die Hüften im Schnee und guckten mit Wohlgefallen zu, wie der Jérobam seine Räder schlug. Und je tollere Sprünge der Christl machte, um so lustiger schrien die viere hinter ihm her, mit Gelächter und Jauchzen: »Hupf auf! Hoppsala! Sakra! Dösmal hat 'r aber an Satz gmacht! Da hätt 'r auffigroacht auf d' Stu222
bendecken! ... Jöises, Jöises, völli narret is 'r! So an Urviech! Schaugts'n nur an! Was für Sprung als 'r macht!... He! Hoppsala! Hupf auf! Hupf auf!« Und der Jérobam – als hätte er noch hörende Ohren für diese fidele Anerkennung, und als wäre sein Ehrgeiz wach und lebendig geworden – der Jérobam lupfte die Beine zum Himmel und begann ein Räderschlagen, wie er es auch in seiner übermütigsten Stunde im Klausener Wirtshaus nie getrieben hatte. Erst auf den glatten Schneeflächen der Wiesengehänge stellte er das tolle Springen ein – aber zum Beweise, daß er noch lange nicht ›firti‹ wäre, rodelte er schön lustig auf seinem Lärchenbrett über den Schnee hinunter bis zu den Häusern. Die viere, die sich die Lachtränen aus den Augen wischten, hatten eine halbe Stunde bis an die Brust im Schnee zu waten, um den rastenden Christl wieder einzuholen. Und im Dorfe merkten die Leute gleich, daß der Eckerbauer und seine Kameraden nichts Trauriges getragen brächten. Mit Gekicher begannen die viere zu erzählen, und bis sie den Christl Überacker zum Forsthaus brachten, hatte sich eine lachende Geleitschaft hinter dem Lärchenbrett zusammengefunden. In der Scheune des Försters wurde das dicke Schneepflaster vom ›Purzelbamer‹ abgeklopft – und wer an die Sackleinwand fühlte, glaubte zu bemerken, es wären dem Christi die steifen Glieder, mit denen er die Windecker Leite verlassen hatte, beim Tanze locker und biegsam geworden. Doch im Tal, in dem es um drei Uhr schattete, gab's einen kalten Abend. Und über Nacht war der ›Jérobam Purzelbamer‹ wieder fest gefroren.
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Am Morgen läuteten die Glocken. Und die Musikanten der Feuerwehr trompeteten einen Trauermarsch. Aber zu Klausen hat es seit Menschengedenken keine ›Leich‹ gegeben, bei der die Leute so wenig traurig waren. Sie konnten, trotz Litanei und Vaterunser, an nichts anderes denken als an die lustigen Purzelbäume des Jérobam.
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Der rote Komiker Sein Name war Lux. Man sollte diesen Namen mit lateinischen Lettern schreiben: LUX - das Licht. Er trug diesen Namen mit Recht. Denn er leuchtete wie der Tag. Nein, wie die Morgenröte! So feuerfarben! Wahrhaftig, er hatte ein brandrotes Fell. Und war ein Dackel. 225
Ein junger. Das blieb er auch. Alt ist er nicht geworden. Sein Schicksal war ihm vorherbestimmt. Er hat es erfüllt. Nach zwei vergeblichen Versuchen gelang es ihm. Und das kam so, weil er auf die Welt eine Marotte mitgebracht hatte, keinem Ding des Lebens aus dem Wege zu gehen. An einem Menschen nennt man es Mut und Unerschrockenheit - besonders, wenn dieser Mensch das Glück hat, daß die harten Dinge des Lebens ihm aus dem Wege gehen. Doch an dem kleinen Luxerl mußte man dieses wunderliche Beharrungsvermögen als Dummheit bezeichnen. Unleugbar war es auch eine. Als wir ihn bekamen, war er noch kaum ein Vierteljährchen alt. Und so klein! Meine hohle Hand diente ihm häufig als bequemer Fauteuil. Aber ich hütete mich stets, dieses Kunststück übermäßig lange auszudehnen. Und da wäre nun gleich eine passende Gelegenheit, um zu registrieren, daß er sich die Stubenreinheit niemals völlig aneignete. Nicht aus angeborener Liebe zum Unsauberen. Er wurde nur leider für dieses Erziehungsresultat nicht alt genug. Nun ist er bereits seit fünfundzwanzig Jahren tot, und man könnte ihn vergessen haben, ohne den Vorwurf der Pietätlosigkeit befürchten zu müssen. Doch immer noch, so oft ich den alten Smyrnateppich meiner Arbeitsstube sinnend betrachte, muß ich an den Luxerl denken. Das hat seine Gründe. Sie sind gelblich. Diese Farbe erinnert mich wieder an sein Fell. In frühester Jugend war es zart und lind wie Samt. Drum streichelte man den Luxerl so gern. Er gewann die Menschen 226
nicht etwa durch Seele oder tiefere Geistesgaben, sondern durch den Flaum seiner Epidermis. In diesem Punkte hatte er etwas Weibliches, obwohl er ganz ausgesprochen ein Männchen war. Er verführte und wirkte durch den Zauber seiner Haut. So etwas wie Seele hab ich nie an ihm entdeckt. Und bestechende Geistesgaben besaß er wahrhaftig nicht. Oder es müßte sein, daß sie noch nicht entwickelt waren, als er in der Blüte seiner Jugend die Augen schloß. Er wurde im Februar geboren. Seine Wiege, die ein Korb war, stand in Wien. Kurz vor Weihnachten begruben wir ihn. Wir? Nein. Ich weiß nicht, wer es tat. Es gibt Zoologen, welche behaupten, daß die Minderwertigkeit eines Sinnes bei Tieren die außergewöhnliche Entwicklung eines anderen Sinnes bedinge. Tiere mit schlechten Augen haben eine vorzügliche Nase, Tiere mit mangelhaftem Witterungsvermögen sehen ungemein scharf. Etwas Ahnliches war bei Luxerl auf intellektuellem Gebiete zu beobachten. Er war wirklich kein Genie, war wesentlich dümmer, als gemeinhin die jungen Hunde zu sein pflegen. Dafür besaß er aber einen frühreifen, außerordentlich entwickelten, unbewußten Humor. Man liebt zu sagen, Humor wäre eine Quintessenz des sublimsten Verstandes. Vielleicht ist das bei den Menschen so. Bei den Dackeln stimmt es nicht. Luxerl bewies es. Wenn er in seiner brandroten Kleinheit so dastand, mit den dummglotzenden Augen, mit den hängenden Ohrlappen, mit den verdrehten Beinchen, die X- und O- förmig zugleich waren - dann brauchte er an dem starr
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gestreckten Schwänzlein nur die Spitze ein bißchen krumm zu biegen, und man konnte Tränen lachen. In Wahrheit ist nichts von ihm zu erzählen. Aber dieses Nichts war immer so komisch - so komisch, daß sich über den Luxerl die Redensart zu bilden begann: 'Das ist doch ein ganz unglaubliches Vieh!' Neben seinem Humor besaß er noch eine zweite rühmenswerte Eigenschaft: eine Gutmütigkeit, die keine Grenzen kannte. Ob man Ball mit ihm spielte, ob man ihn auf dem beschädigten Smyrnateppich als Rollwalze in Aktion brachte, ob ihn unser kleines, blondes Mädel an einem Ohrlappen, an einer harmonikaförmigen Hautfalte, am Schwanz oder an einem der vier ungleichen Beinchen in die Höhe hob und herumschleppte - alles ließ er sich gefallen, ohne zu mucksen. Ein Denker behauptete, Luxerl wäre so dumm, daß er, obwohl er täglich alles Eßbare kurz und klein zernagte, seine Zähne noch immer nicht entdeckt hätte. Im Juni, als Luxerl vier Monate alt war, übersiedelten wir mit ihm zur Sommerfrische an den Königssee. Und wie das kleine rote Kerlchen da die großen grünen Berge anbellte - das war eines von den sieghaften Lustspielen des Lebens. Am Königssee gab's immer vom Morgen bis zum Abend einen lebhaften Wagenverkehr. Und da entwickelte sich Luxerl zu einem chronischen Kommunikationshindernis. Er sperrte die Einfahrt zur Schiffslände, stellte sich, so oft ein Wagen heranrollte, mitten auf die Straße hin, blieb da unerschrocken stehen und bellte sehr heftig. Nach 228
jeder Bellstrophe schüttelte er energisch die Ohren, als wären diese hohen Zanklaute seinem eigenen Trommelfell nicht angenehm. Die Pferde waren immer klüger als der Luxerl und blieben barmherzig vor dem brandroten Kläffer stehen. Der Rosselenker schmunzelte, die Leute im Wagen standen auf und lachten, und dann umfuhr die große Kutsche in vorsichtigem Bogen den Luxerl, der das Feld behauptete, sich nur umdrehte und weiter zankte. Beim nächsten Wagen, der gefahren kam, war's wieder so. Alle Lohnkutscher von Salzburg, Reichenhall und Berchtesgaden wurden mit dem kleinen, roten Komiker vertraut, huldigten seiner Unerschrockenheit und behandelten ihn nach dem berühmten Rezept vom vergeblichen Kampf der Götter. Einmal aber kam einer, der keinen Sinn für Humor hatte. Ein Metzger von Unterstein. Und ehe Luxerl nach der ersten Bellprobe die Ohren schütteln konnte, waren schon die zwei Räder über ihn weggegangen. Ein Glück, daß der humorlose Metzger nur ein leichtes Berner Wägelchen hatte, dem auch die zarten Knochen eines erst halbjährigen Dackels zu widerstehen vermochten! Luxerl überkollerte sich hinter dem Wagen noch ein paarmal, rannte hurtig und mit eingekniffenem Schwänzlein davon, schüttelte den weißen Staub aus dem roten Fell, ließ sich auf seine Schattenseite nieder und guckte stumm, neugierig und verwundert dieser unbegreiflichen Sache nach, die da über sein junges Leben hinweggerattert war. Trotz der sorgfältigsten Untersuchung vermochte ich an Luxerl nicht die geringste Verletzung zu entdecken. Eine halbe Stunde später hatte er den sonderbaren Schreck 229
bereits vergessen, sperrte wieder die Straße, bellte, schüttelte die Ohren und verursachte jedem Wagen einen kleinen Aufenthalt. Das Schicksal, das dem Luxerl seit Ewigkeiten vorbestimmt war, hatte mit dem Metzger von Unterstein eine ernste Warnung geschickt. Luxerl verstand sie nicht. Und da war's an dem Tag, an welchem Prinz Luitpold nach Antritt der Regentschaft seinen Einzug in Berchtesgaden hielt. An das Volksfest, das da gefeiert wurde, sollte sich eine feenhafte Illumination mit Bergfeuern anschließen. Es ist nicht zu verkennen, daß das Schicksal, wenn es sich auch als unerbittlich erwies, die schwere Lebenskatastrophe dem Luxerl doch wenigstens mit einem Zug ins Große inszenierte. Bei sinkendem Nachmittage wanderte ich mit meiner Frau von Königssee nach Berchtesgaden. Immer hörte man Böllerschüsse und ihr rollendes Echo, immer vernahmen wir die verwehten Klänge einer Blechmusik, sehr deutlich den Ton der großen Trommel, der wie ein aufgeregt pumpender Herzschlag war. Luxerl zappelte nach seiner Gewohnheit auf der Straße weit voraus. Zuweilen blieb er am Wiesenrande stehen, besah sich das wundervolle Panorama der Berge, bellte ein bißchen und trottete weiter.
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Ich war in Erinnerungen versunken. Bei diesem rollenden Echo der Freudenschüsse dachte ich an eine seichte Stelle im See von Starnberg. Und sah zwei große, schöne, vom Wahn umschleierte Augen. Und ein kleines Erlebnis fiel mir ein von jenem Tag, an dem die Kunde dieses tragischen Fürstentodes nach Königssee gekommen war. Damals am Nachmittage war ich zu Berg gestiegen. Es hatte mich hinaufgetrieben, hoch hinauf über die Täler der Menschen. Ein Gewitter zwang mich, Unterstand in einer Sennhütte zu suchen. Da waren noch andere, die der Regen hereingepeitscht hatte unter das steinbeschwerte Schindeldach: ein Jagdgehilf, ein paar Holzknechte, die Sennerin, der Hüterbub und ein wohlhabender Bauer aus der Ramsau, der Nachschau nach seinen Kalben gehalten hatte. Die Leute wußten noch nichts von dem Grauenvollen, das am Starnberger See geschehen war. Von ihm erfuhren sie's. Lange schwiegen sie, weil sie vor Schreck und Kummer nicht reden konnten. Das Volk der Berge liebte diesen schönen König. Und dann gab's ein aufgeregtes Reden rings um das flackernde Herdfeuer. Einer der Holzknechte schwatzte von den vielen Schulden, die der König nimmer hätte zahlen können. Und der schwere Bauer aus der Ramsau - ich werde seine Stimme nie vergessen - sagte bekümmert: "Jesus, jesus, warum hat er's denn mir net eingstanden! I hätt eahm doch geben, was er braucht hätt! Gern aa no!" 59 Damals wünschte ich, die Dinge der Welt so sehen zu können, wie dieser Bauer sie sah - ohne Maßstab!
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Aus solchen Erinnerungen fuhr ich auf, als ich plötzlich das wohlbekannte Bellkommando des kleinen Komikers hörte: "Wer da? Halt! " Unerschrocken stand Luxerl inmitten der Straße und ließ den Wagen, der da gefahren kam, an sich herankommen. Schlief der Kutscher? Waren die Pferde durch die Böllerschüsse und ihr Echo nervös gemacht? In böser Ahnung fing ich zu rennen an und brüllte: "Luxerl! Luxerl! Ob du hergehst!" Er ging nicht her. Das ist bei den Dackeln eine erbliche Belastung. Und bevor ich den Wagen erreichen konnte, war der Unerschrockene unter klappernden Pferdehufen und blitzenden Rädern verschwunden. Meine Frau tat einen gellenden Schrei. Ich beschimpfte in Zorn den Kutscher, der mit der Peitsche auf die Gäule losschlug, um rasch vom Fleck zu kommen. Ein schwerer, sehr schwerer Landauer war's. Und die fünfe, die im Wagen saßen, schienen aus fruchtbarer Gegend zu stammen. Mit neun Zentnern war ihr Gewicht nicht überschätzt. Als Luxerl hinter dem Wagen aus der verdampften Staubwolke heraustauchte, ging er langsam und ernst auf den Straßengraben zu und legte sich nieder. Die Mitte der Straße schien ihm nicht mehr zu gefallen. Das rote Züng-
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lein lechzte, und die einfältigen Augen guckten traurig ins beschädigte Leben. Meine Frau weinte, während ich das Hundl prüfend auf seine vier sinnwidrigen Beinchen stellte. Luxerl legte sich gleich wieder hin. Eine Wunde war nicht zu finden. Doch der Brustkorb hatte eine vertiefte Stelle, die mürb und schlottrig war. Drei Rippenbrüche. Ich trug den Luxerl zu einem nahen Bauernhof, hielt ihn unter den Brunnenstrahl, wusch ihn im Trog, umwickelte ihn mit meinem Lodenmantel - und dann fingen meine Frau und ich zu laufen an. Luxerls Augen träumten an meiner Brust sehr weltschmerzlich aus einer Falte des Mantels heraus. Atemlos erreichten wir bei Anbruch der Nacht den festlichen Trubel, der unter dem Glanz der aufbrennenden Illumination den Marktplatz von Berchtesgaden füllte. Bunte Trachten, schmucke Forstmannsuniformen, die schwarzen Stollenkleider und Federhüte der Salzknappen - und überall Musik, fröhliches Gedränge, übermütige Heiterkeit. Und rings in der dämmrigen Ferne leuchteten große, prachtvolle Sterne auf, als wären sie vom reinen Himmel auf die Gipfel der Erde gefallen - die Bergfeuer. In mir war alle Freude an diesem Glanz zunichte geworden. Mit vorgebogenem Arm den leidenden Luxerl schützend, bahnte ich für uns einen Weg durch dieses Gewühl und fragte nach einem Tierarzt. Zu Berchtesgaden gab es keinen. Da waren Vieh und Menschen so gesund, daß sie ärztlicher Hilfe nicht bedurften.
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Endlich, im Gasthause zur Post, erfuhr ich, daß eine halbe Stunde von Berchtesgaden entfernt, gegen Salzburg hin, ein altes Weiblein wohne, das sich auf die Heilung blessierter Tiere verstünde. Ich wollte gleich zu dieser weisen Frau, kannte aber den Weg nicht und hätt mich im Dunkel der Nacht sehr übel verlaufen können. Doch niemand wollte mich führen, kein Wagen wollte fahren. Ein Kutscher sagte: "Wann's Tag is, fahr i um fünf Markln aussi, bei der Nacht net um hundert." Diese weise Frau hieß die 'Freimännin' und war die Enkelin des letzten fürstpröpstlichen Henkers von Berchtesgaden. Alle Nachkommen dieses letzten Freimanns waren gestorben oder ausgewandert; nur diese Enkelin war noch übrig und hauste einsam auf dem ehemaligen Schindanger, durch den Aberglauben vom Leben der übrigen Menschen abgezäunt, von allen Leuten scheu gemieden, im Ruf einer 'Solchenen', vor der man sich hüten muß. Da war nichts zu wollen. Wir mußten den geduldigen, klaglosen Luxerl auf den Morgen vertrösten und verbrachten die Nacht damit, dem vor Fieber scheuernden Tierchen kalte Umschläge zu machen. Luxerl blieb auch jetzt noch immer komisch. Wenn er zwischen dem Wechsel der Umschläge auf dem Rücken lag, schnitt er so drollige Grimassen, machte mit den aufwärts gestreckten Beinchen so unwahrscheinliche Zuckbewegungen und knickte das leisbewegte Schwänzlein zu so wunderlichen geometrischen Figuren, daß wir bei aller Sorge um das kleine Kerlchen immer wieder lachen mußten.
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Als der Morgen graute, saß ich im Einspänner mit dem Luxerl auf meinem Schoß. Nach halbstündiger Fahrt hielt der Wagen auf der Straße, neben einem von Erlenzeilen und Stauden bewachsenen Bachtal. Der Kutscher deutete mit der Peitsche über die Wiesen hinunter. "Da drunt steht 's Freimannshäusl. Einifoahrn tu i net." Mit dem Luxerl auf den Armen lief ich zum Bach hinunter, fand eine kleine morsche Brücke, einen mit Gras bewachsenen Weg, einen mannshohen Plankenzaun, über den man nicht hinübersehen konnte - und durch ein Pförtlein, das in alten, schwergeschmiedeten Angeln knarrte, kam ich zu einem hübsch mit rötlichem Sand bestreuten Pfad. Eine gemähte Wiese, ein kleiner, braun verwitterter Holzstall, der nach Ziegen roch, ein Gemüsegarten mit vielen Blumen - und unter Obstbäumen, deren Aste sich vom Gewicht der Früchte zu biegen begannen, stand das winzige Haus, das, nach der Verschränkung des Gebälks zu schließen, aus dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts stammen mußte. Der Platz vor dem Haus war sorgsam gepflegt. Überall Blumen. Und ein Immenstand mit schwärmenden Bienen. Ich öffnete die Haustür, sah einen kleinen, mit allerlei Gerümpel vollgepfropften Vorraum, sah die offene Tür eines engen Stübchens und einen Winkel, der als Küche wunderlich eingerichtet war. Beim Herd, auf dem ein Feuerchen von dürrem Reisig brannte, stand die Freimannsenkelin, ein gebeugtes, etwas buckliges Weiblein, klein, sehr bunt gekleidet, nicht 235
altmodisch, aber auch nicht so, wie die Leute zu Berchtesgaden sich trugen. Eine Vision von zweihändigen Schwertern, von Ketten und Daumschrauben, von Strickschlingen, Blutgeruch und verzerrten Gesichtern huschte mir durch das Gehirn. Die Freimännin kam schnell auf mich zu, als möchte sie mich über die Hausschwelle zurückdrängen. Sie mußte schon über Fünfzig sein, war aber noch nicht grau, sondern hatte tiefschwarzes Haar, das wuschelig herumhing um das derbknochige, runzelreiche Altjungferngesicht. In den grauen, mißtrauischen Augen war die müde Klugheit eines einsamen Lebens, und der breite, häßliche Mund schien versteinert zu einem spöttischen Lächeln. Diese Gemiedene brauchte nicht zu reden. Auch ihr Schweigen erzählte. Ich hörte eine Geschichte von Dingen, die man schwer erträgt. Ohne eine Frage zu stellen, nahm sie den Luxerl von meinen Armen, und neben der Haustür, die sie zugezogen hatte, setzte sie sich mit ihm auf eine sonnige Bank hin. Geschickt und vorsichtig begann sie den Patienten zu untersuchen. Ihre Finger berührten ihn so zart, wie eine Mutter das leidende Kindchen behandelt, das sie liebt. Luxerl, geduldig auf dem Rücken liegend, rnit schlappen Beinchen, betrachtete aufmerksam das Gesicht des alten Weibleins und schnupperte gegen den roten Brustlatz hin. Nach einer Weile sagte die Freimännin mit einer harten Stimme: "Nach drei Wochen kann man 's Hundl wieder abholen." 236
In Freude fragte ich: "Glauben Sie, das Hundl wird wieder?" Sie nickte, nahm den Luxerl achtsam in ihre Schürze und verschwand durch die Haustür. Drinnen klirrte ein großer Riegel. Ich blieb noch stehen und besah mir den stillen Platz. Zwanzig Jahre später sind mir die Gedanken dieser fünf beschaulichen Minuten zu Bildern für den 'Mann im Salz' geworden. Meine Frau und ich und unser kleines Mädel, wir konnten den Ablauf der drei Kurwochen kaum erwarten. Einen Tag, bevor die festgesetzte Frist zu Ende ging -, an einem wundervoll milden Vormittag im September -, fuhr ich zur Freimännin hinaus. Das Laub der Ulmen und Ahornbäume begann sich schon gelblich zu tönen, die Farbe der Berge war wie Samt, die höchsten Gipfel waren zart beschneit, glitzernde Fäden flogen in der Luft, und der Himmel hatte ein Blau von geheimnisvoller Tiefe. Wieder blieb der Einspänner auf der Straße stehen und wollte nicht 'einifoahrn'. Als ich zu dem winzigen Häuschen kam, sah ich die Freimännin irn Schatten eines welkenden Apfelbaumes sitzen, der auf einem kleinen Hügel stand. In ihrem Schoße hatte sie den Luxerl liegen, von dessen Leib sie langsam einen schmalen, langen Leinwandstreifen herunterwickelte. 237
In meiner Freude mußte ich schreien: "Luxerl! Luxerl!" Beim Klang meiner Stimme fing der kleine Kerl zu winseln und zu zappeln an, entwand sich den zwei alten Händen, die ihn halten wollten, machte einen Sprung, überschlug sich, kollerte über den grünen Hügel herunter, wickelte sich dabei selber aus der langen Leinwandbinde heraus und kam unter schrillem Gebell und schwänzelnd auf mich zugesprungen, mit einem schwärzlichen Pechstreif um den Leib herum. Wahrhaftig, der kleine Kerl war völlig geheilt! Und ich mußte gleich wieder lachen über ihn. Gern hätte ich über diese Wunderkur und auch sonst noch über mancherlei Dinge mit der Freimännin geschwatzt. Doch das Weiblein schien sich in der Einsamkeit des Redens entwöhnt zu haben. Ein paar leere Worte; sonst nickte sie nur oder schüttelte den Kopf. Und dennoch glaubte ich zu merken, daß sie fröhlicher wäre als vor drei Wochen. Hatte der kleine rote Komiker auch dieser Einsamen ein bißchen Heiterkeit in das müde Leben geschwänzelt? Ich gab ihr die Hand. "Was bin ich schuldig, Frau?" Gleichgültig sagte sie: "Wieviel S' halt mögen." "Ach, nein, sagen Sie doch, ich mödite Ihnen nidit zu wenig geben." "No also, vier Markln halt." Das war mir zu wenig. Ich gab ihr ein Goldstück. Damals waren zwanzig Mark für mich eine Sache, die mir Kopf238
zerbrechen und schlaflose Nächte verursachen konnte. Aber der Luxerl war mir's wert. Die Frau betrachtete verwundert das Goldstück, lächelte ein bißchen, während sie die Münze irgendwo an ihrem bunten Mieder versteckte, und sah mich rnit unverhehlter Geringschätzung von oben bis unten an. Der Luxerl rannte wie verrückt in dem kleinen Hof herum, schnappte nach den Bienen und biß in die Gräser. Das Gesicht der Freimännin wurde wieder so ernst und müde, wie es vor drei Wochen gewesen. Sich niederbeugend, ließ sie einen leisen Lockruf hören. Und der Luxerl, der noch nie einem Menschen gehorcht hatte, kam herangeschwänzelt wie ein folgsames Lämmchen. Die Einsame nahm ihn mit beiden Händen, hob ihn zu ihrem Gesicht hinauf und schmiegte die runzlige Wange an seinen roten Kopf. So stand sie eine Weile unbeweglich. Dann stellte sie den Luxerl wieder auf den Boden hin, gab ihm einen Klaps, ging zum Haus hinüber und verschwand durch die niedere Tür. Drinnen klirrte der Riegel. Luxerl kratzte an der Schwelle und bellte sehr aufgeregt. Aus freien Stücken wäre er nicht mit mir gegangen. Ich mußte ihn auf den Arm nehmen. Als ich über den hübsch mit rötlichem Sand bestreuten Pfad davonging, krabbelte er zu meiner Schulter hinauf,
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streckte sich immer länger, guckte nach dem winzigen Haus und fing zu winseln an. Am Königssee wurde Luxerls Genesung mit Jubel gefeiert. Doch eine Woche mußte vergehen, bevor er sich gründlich zu Hause fühlte, die Frelmännin vergessen hatte und wieder ganz der unbewußte Komiker wurde. Und einen Monat brauchten wir, bis wir ihm die schwarzen Reste des Pechverbandes völlig aus den roten Haaren herausgezupft hatten. Sein unheimlich schreitendes Schicksal verzögerte den mörderischen Schritt. Der Verkehr am Königssee begann abzuflauen, und mit dem nahen Winter wurden die Metzgerwägelchen und die schweren Landauer immer seltener. Ende November kehrten wir heim nach Wien, und Luxerl wurde da der Liebling aller Menschen, die in unser Haus kamen. Wenn wir Gäste hatten, brauchten wir zu ihrer Belustigung kein Schrammelquartett, keinen Kunstpfeifer und keine Volkssänger zu engagieren. Luxerl genügte. Er sorgte nach dem Souper für allgemeine Heiterkeit. Auf die einfachste Weise. Wir setzten uns in einem großen, dichtgeschlossenen Kreis auf den Smyrnateppich meiner Arbeitsstube. Luxerl kam in die Mitte. Erst guckte er drollig, machte possierliche Sprünge, spielte den 'trockenen Schleicher', manchmal auch den feuchten, und plötzlich begann er wie verrückt im Ring herumzurasen, überschlug sich, raste weiter, und immer, immer, immer so zu - es war so wahnsinnig komisch, daß wir uns schüttelten vor Lachen.
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Aber das ist so, nach den Gipfeln kommen die Abstürze. Mit dieser roten Heiterkeit war es plötzlich aus. Ein paar Tage vor Weihnachten. Da hatte die Köchin den Luxerl wieder einmal - zu spät auf die Straße geführt. Es war überflüssig, aber man tat es doch. Aus Prinzip der Pädagogik. Und da kam das Mädel heulend in die Wohnung gelaufen: "Jesus Mariand, den Luxerl haben s' überfahren." "Lebt er noch?" Das Mädel schüttelte den Kopf wie die wortkarge Freimännin. Im ersten ratlosen Schreck telephonierten wir um die Freiwillige Rettungsgesellschaft. Sie war sehr beleidigt. Fremde Menschen begruben den Luxerl. Ich weiß nicht, wer. Ich weiß nicht, wo. Sein vorgesetztes Schicksal hatte sich erfüllt. Und das unberechenbare Fatum verband sich bei dieser Mordtat - da ein Komiker doch nicht traurig sterben darf - mit einem überraschenden Witz des Lebens. Das elegante Vehikel, das den unerschrockenen Haltrufer stumm gemacht hatte, gehörte dem 'Herrn Hofrat', jenem berühmten Gynäkologen, der zu Wien zwischen 1860 und 1890 vielen Tausenden von Kindern mit seiner zarten Hand den Eintritt in das helle Leben erleichterte. 241
Meinen Luxerl hat dieser segensreiche Lebenshelfer hinausbefördert in den dunklen Tod. Aber - das muß man zugestehen - auf möglichst schmerzlose Weise.
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Der Schuß in der Nacht Kaum einen Büchsenschuß vom Waldsaum stand das Haus meiner Eltern - das Forsthaus. Oh, ihr allzu nahen Bäume! Wie manche Portion wohlgesalzener Hiebe habt ihr mir eingetragen! Wenn ich da, ein achtjähriges Bürschlein, nach Hause kehrte, in zerkratzten Händen das 243
ausgenommene 'Eichkatzl', die junge Nebelkrähe oder den flatternden, kaum flüggen Kuckuck schwingend, so galt der erste Blick meiner guten Mutter durchaus nicht dem erbeuteten Getier; forschend überflog vielmehr ihr Auge die Ellbogen meines Jöppchens und die Knie- und Sitzgegend meiner Unaussprechlichen. Weh mir, wenn da zutage kam, daß die allzu spitzen Aststümpchen oder die Pechnarben der erkletterten Tanne dem teueren Buckskin ein Leids getan. Heute noch seh ich sie vor mir, die gefürchtete, langriemige Peitsche mit dem Rehfußgriff, die zu unbenutzten Zeiten im Hausflur zwischen Gewehren und Rucksäcken am Zapfenbrett hing. Wurde sie dann, was glücklicherweise nicht allzu häufig geschah, durch die Hand ihres gestrengen Herrn vom Haken gelöst, so verkrochen wir uns in alle Winkel, ich, Hektor, der hochstämmige Schweißhund, und Bursch, der krummbeinige Teckel. Jenen allzunahen Bäumen bin ich aber deshalb doch niemals gram geworden. Und heut noch gedenk ich ihrer in dankbarer Liebe. Strömte doch das geheimnisvolle Leben, das zwischen ihren weitgespannten Ästen und in ihrem moosigen Schatten webte und wirkte, jene unendliche Fülle grüner Poesie über die Zeit meiner frühesten Jugend aus! Wenn der Lenzwind leise durch die Wipfel plauderte und mit zischelndem Rauschen vom Waldsaum niederstrich über die rohrdurchwachsenen Teiche, wenn hoch in sonnigen Lüften der Weih seine stillen Kreise spannte, wenn aus den abenddunklen Buchen und Eichen das Gurren und Liebeslocken der Wildtauben klang, wenn im tauigen Wiesengrunde das schlanke braune Reh im Dämmerlicht zur Asung zog und der graue Reiher mit ruhigem Flügelzuge zu Horste strich - wenn dann erst die 244
Nacht herniedersank über die weite Flur, wenn ich pochenden Herzens am offenen Fenster saß, dem eintönigen Lied der Unken lauschte und dem schauerlichen Huhn des 'Holimanns', der draußen im schwarzen Wald seine Kinder, die Käuzlein, zum Nachtgejaide rief, da trieb meine jugendliche Phantasie ihre Blüten, so seltsam und zahlreich, wie der Waldgrund seine Pilze treibt nach einer lauen Regennacht. Und welch ein lautes, lustiges Jägerleben umgab mich im eigenen Hause! Da war der kiesige Hof mit den munteren, schmucken Hunden, da war der Wiesengarten mit dem Scheibenstand, an dem die Büchsen eingeschossen wurden, da war die Zwirchkammer, darin die erlegten Böcke, Füchse und Hasen an den schweißfleckigen Eisenhaken hingen, da sah man in allen Gängen und Gemächern Jagdgeräte und Jagdtrophäen - und wenn der Abend kam, dann saßen im traulichen Wohnzimmer rings um den Eichentisch die Jäger, hinter dem Bierkrug ihre Pfeifen schmauchend, und da gab es Jagdgeschichten, deutsch und lateinisch. Was Wunder, daß in solcher Umgebung die Liebe zum waldfrohen Weidwerk in meinem Herzen bald eine dauernde Wohnstätte fand! Schon als kleiner Junge schlich ich mich, die hölzerne Arrnbrust - vulgo Balester - auf dem Rücken, hinaus in den Wald und schnellte meinen Lindenbolz nach dem kreischenden Häher in das Buchenlaub. Und welch ein Vergnügen, da ich das erstemal als Treiber zum Fuchsriegeln mitgenommen wurde oder auf den Anstand und zur Hühnerjagd! Mit welcher Inbrunst drückte ich das kleine Zimmergewehr an die Wange, mit dem ich überrascht wurde, als ich nach dem ersten La245
teinschuljahr auf Ferien kam! Und als ich gar acht Jahre später mit dem roten Käpplein und einer guten Note heimzog, wurde ich vor Freude halb verrückt, als ich auf dem Tisch meines Ferienstübchens eine vollständige Jagdausrüstung, eine zierliche Büchsflinte und eine wahrhaftige Jagdkarte vorfand. Nun ging's aber an ein 'Jagern'! Tag und Nacht gönnte ich mir keine Ruh. Und als ich nur erst einen Rehbock mit der Kugel geschossen hatte, legte ich mich 'unter uns Jägern' breit in den Tisch und lateinerte mit den graubärtigen Hubertusjüngern um die Wette. Meine Phantasie hatte damals, um mich eines beliebten Ausdrucks zu bedienen, alle Hände voll zu tun, damit es meinem Jägerlatein nur niemals an Stoff gebrach. Aber dann ist mir ein ganz seltsames Abenteuer wirklich und wahrhaftig widerfahren - ja, ja, ein recht seltsames Abenteuer! Ein starkes Gewitter hatte mir die Frühpirsch verregnet. Als es aber neun Uhr vormittags wurde, ließ das Unwetter nach, die Sonne brach sich Bahn durch die treibenden Wolken, und in ihrer milden Wärme kräuselten sich blau und luftig die Wasserdünste aus den dunklen Wäldern. Da hatt' ich jetzt ein Pirschwetter, wie es ein Weidmann sich nur wünschen mag. Rasch nahm ich einen Imbiß zu mir, der mich das Mittagessen verschmerzen lassen konnte. Dann ging's hinaus unter die regennassen Bäume, von denen der leichte Wind die schillernden Tropfen auf mich niederstäubte.
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Lautlos gleitet zu solcher Zeit der Fuß des Jägers über den feuchten Waldgrund; da raschelt kein Laub, und unhörbar schmiegt sich das nasse Reisig unter dem Tritt ins weiche Moos. Und welch ein reiches Leben umgibt zu solcher Stunde den unter triefenden Asten spähend von Stamm zu Stamm sich schleichenden Jäger! Tausende von Käfern und flinkfüßigen Würmchen kribbeln und huschen zwischen den glitzernden Moosfasern und tropfenschweren Farnblättern hin und her; in gesteigertem Eifer reisen die fleißigen Ameisen durch die Rindenklunsen aller Bäume vom Grunde zu den Wipfeln und wieder niederwärts zur Erde; die Vögel, die sich während des Regens stumm und ängstlich unter die dichtesten Zweige duckten, recken und spreizen pispernd die nassen Flügel und schwingen sich zwitschernd von einem sonnigen Plätzchen zum anderen; unter Kreischen und Krächzen beginnen die Häher, diese Gassenbuben des Waldes, von neuem ihr lärmendes Flatterspiel. Da bockelt auch schon ein junges Häslein mit sorglosem Gleichmut, als gäb es weder Hund noch Jäger, über die vielverschlungenen Wurzeln dem Felde zu, manchmal sich verhaltend, um von dem winzigen Moosklee zu naschen; und die gehe, die nun in dem nassen Buschwerk ein gar unbehagliches Weilen haben, recken windend die zierlich schönen Köpfe aus den Stauden und ziehen äsend nach den grasigen Waldwegen und Lichtungen, um sich in der Sonne zu trocknen. Solche Lichtungen und Wege suchte ich schleichenden Fußes auf; und es währte auch nicht lange, da hatt' ich schon einen Rehbock, der mir auf zwanzig Gänge über
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den Weg getreten war, in der unverzeihlichsten Weise gefehlt. Durch dieses Mißgeschick - wir Jäger sagen 'Pech' - war ich unmutig, ungeduldig und unvorsichtig geworden, so daß ich, als ich nachmittags vier Uhr an der weitentlegenen Jagdgrenze aus dem Wald auf die Wiesen trat, einen völlig erfolglosen Pirschgang hinter mir hatte. Zu meinen Füßen im Tal, kaum zwanzig Minuten von der Stelle, an der ich stand, lag eine kleine Ortschaft, in der ich schon manchmal auf meinen Streifzügen ein paar Stunden hinter einem Kruge kühlen Sommerbieres gerastet hatte. Im aufziehenden Winde hörte ich von der Kegelbahn des Wirtshauses her das Rollen der Kugel, das Poltern der fallenden Kegel und ab und zu ein lautes, mehrstimmiges Gelächter. Ich traf also jedenfalls da drunten eine lustige Gesellschaft, die mir recht willkommen schien, um mir den Unmut über mein Weidmannspech aus den Gedanken zu treiben. Ich hatte Zeit bis sechs Uhr. Anderthalb Stunden brauchte ich dann für den Heimweg - und inmitten dieses Weges lag an der stillen Waldstraße eine vor wenigen Jahren erst neubebaute Windbruchfläche, die kreuz und quer von Wildwechseln durchzogen war. Da konnte ich vor Einbruch der Dämmerung noch eine Stunde ansitzen und, wenn Hubertus mir gnädig war, durch einen glücklichen Schuß das Mißgeschick des Morgens wieder gutmachen.
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In solcher Hoffnung schritt ich über den Hügel hinunter und dem lockenden Wirtshaus entgegen. Auf der Kegelbahn traf ich außer zwei rundlichen Geistlichen und einem mageren Alumnus den Förster und Jagdaufseher der nahegelegenen Wartei, sowie den Doktor und Schullehrer des Ortes, zwei große Jäger vor dem Herrn. Da war denn auch neben Sommerbier und Kegelspiel die Jagd das unversiegbare Gesprächsthema, bei dem uns die Zeit wie im Fluge verfloß, so daß erst die sinkende Dämmerung mich gemahnte, nach der Uhr zu sehen. Die dem 'Anstand' zugedachte Stunde war versäumt. Ich brauchte mich also mit dem Fortgehen nicht übermäßig zu beeilen und setzte mich behaglich wieder an den Tisch. Als aber um neun Uhr, nach dem Gebetläuten, die beiden Geistlichen mit ihrem zukünftigen Berufsgenossen sich verabschiedeten, wollte ich nach Büchse und Rucksack greifen; doch ich ließ mich vom Förster leicht überreden, für meinen Heimweg den Mond abzuwarten, der längstens in einer Stunde über die nachtschwarzen Baumwipfel emportauchen mußte. Nun waren wir Jäger unter uns. Und da kam nach mancherlei wunderlichen Geschichten auch jenes nur für Jägerohren ganz gerechte Gesprächskapitel an die Reihe: das Kapitel der Wildschützen. Die Einleitung bildete eine vom Förster an mich gerichtete Frage, wie es dem 'Deberjackl' ginge. Der 'Deberjackl', ein Bursche meines heimatlichen Dorfes, war ein Wilderer, der seit Jahren in den umliegenden Jagdgebieten großen Schaden angerichtet hatte, ohne daß man ihn jemals auf der Tat hätte er249
tappen können. Schließlich aber war ihm doch einmal ein nächtlicher Pirschgang übel geraten, denn er hatte statt der erhofften Rehgeiß ein paar Dutzend Schrotkörner im eigenen Fleische mit nach Hause gebracht. Von diesem Vorfall kamen wir auf Ähnliches zu sprechen; jeder meiner Gesellschafter wußte langes und breites über ein Zusammentreffen mit Wilddieben zu berichten; und besonders der Förster brachte Geschichten aufs Tapet, daß mir achtzehnjährigem Burschen ein wohliges Schaudern über den Rücken rieselte. Als ich gegen halb elf Uhr in die mondhelle Nacht hinaustrat, um heimwärts zu wandern, war mir nach allem Gehörten sonderbar zumut. Während ich auf schmalem Fußpfad über die feuchten Wiesen dem Wald zuschritt, sann ich immer wieder diesen gruseligen Geschichten nach, in denen es mit Schuß und Schuß um Tod und Leben gegangen war. Und als ich zwischen finsteren Tannen auf das schmale Sträßchen einlenkte, das sich in der Länge einer Wegstunde durch den Wald dahinzog, spannte ich unwillkürlich die linke Hand mit festerem Druck um meine Büchse. In raschem Gange schritt ich vorwärts. Eng flochten sich über mir die Äste der Bäume ineinander und gewährten dem Mondlicht nur in spärlichen Lücken einen Durchweg, so daß sich die Straße gerade noch in erkennbarem Dämmerschein von dem Moosgrund abhob. Ihr lehmiger Boden war von dem ausgiebigen Regen des Morgens her noch sehr erweicht, so daß mein Fuß lautlos darüber hinschritt. Kein Windhauch regte die Wipfel der dunklen Bäume. 250
Ich schalt mich selbst um der leichten Beklommenheit willen, die inmitten dieser atemlosen Stille mein Herz beschlich. Dann dachte ich an hundert lustige Dinge, um nur meine Gedanken von jenen blutigen Schauergeschichten loszureißen. Aber was half's? Bald vermeinte ich im Wald einen knisternden Fußtritt zu vernehmen, bald glaubte ich den Hall eines fernen Schusses zu hören, bald sah ich einen vom Mondlicht gestreiften Fichtenast für einen blinkenden Gewehrlauf an. Was würde ich tun, so fragte ich mich unter dem Zwange meiner aufgeregten Phantasie, wenn ich plötzlich an einer lichteren Stelle unter den Bäumen so einen Kerl gewahrte, der vor dem nächtlich erlegten Wild auf der Erde kniete? Sollt' ich ihn anrufen? Oder gleich - - ? Ein um das andere Mal nahm ich die Büchse von der Schulter und versuchte durch die Dunkelheit nach einem Baumstamme zu zielen; oder ich blieb minutenlang stehen und lauschte in den nachtstillen Wald hinein, worauf ich mit raschen Schritten wieder meinem Weg folgte. Erleichtert atmete ich auf, als die Straße heller und heller wurde. Eine Strecke von kaum hundert Schritten trennte mich noch von jener offenen Windbruchfläche, und wenn ich diese passiert hatte, war ich in einem halben Stündchen zu Hause. Schon traten linker Hand die hohen Bäume vom Wege zurück, und das grasüberwachsene Moos senkte sich in einen mannstiefen Graben, der die Straße bis zu den Wiesen hinaus geleitete. Nun trat ich unter dem Schatten der letzten Bäume hervor auf die mondbeschienene Lichtung, mein Auge schweifte 251
mit raschem Blick über den rechts ansteigenden, buschigen Hang - und ich vermeinte, das Blut müsse mir jählings zu Eis gerinnen. Denn mitten im Tannengestrüpp stand auf etwa sechzig Schritte vor mir ein langer, hagerer Kerl mit berußtem Gesicht, das Gewehr im Anschlag gegen meine Brust gerichtet. Doch nur für die Dauer einiger Sekunden hielt meine Erstarrung an. Dann riß ich die Büchse an die Wange. Mein Schuß krachte. Gleichzeitig hörte ich den Aufschlag der treffenden Kugel. Und ehe der Pulverrauch sich verzogen hatte, war ich von der Straße in den Moosgraben hinuntergesprungen, in dessen Schutz ich hastigen Laufes den Wiesen zustürzte. Unter welchen Empfindungen und in welcher Zeit ich damals den Hofraum meines Elternhauses erreichte, vermag ich nicht zu sagen. Es blieb nur die Erinnerung an den grauenvollen Gedanken: 'Du hast einen Menschen getötet!' Die Haustür fand ich versperrt. Aber die Kanzlei meines Vaters sah ich noch erleuchtet. Ich pochte an das Fenster. Und als mir eine Minute später mein Vater, die Lampe in der Hand, das Haus öffnete, erschrak er nicht wenig über mein blasses Gesicht und über mein verstörtes Aussehen. Auf seine besorgten Fragen brachte ich keine Antwort heraus. Unter keuchenden Atemzügen sank ich auf die Stufen der Treppe nieder. Und es währte geraume Zeit, bis ich imstande war, mich wieder zu erheben und Büchse und Rucksack abzulegen. Nun erst gewahrte ich, daß ich meinen Hut verloren hatte. Mit bleischweren Knien schritt ich meinem Vater voraus in die Kanzlei. 252
"Papa! Ich hab einen erschossen!" So leitete ich den Bericht des bösen Abenteuers ein, das mir vor kaum einer halben Stunde widerfahren war. Schweigend hörte mein Vater die Geschichte an. Als ich schwieg, durchmaß er eine Weile mit langen Schritten das Zimmer. Dann trat er auf mich zu, sah mir mit einem guten Blick in die Augen und sagte: "Leg dich jetzt schlafen! Morgen früh um fünf Uhr werde ich dich wecken. Und dann wollen wir ihn miteinander suchen ... den Toten." Als ich die Treppe zu meinem Stübchen hinaufstieg, lagen mir Müdigkeit und Erregung wie Blei in den Gelenken. Kaum hatte ich mich in die Kissen fallen lassen, da hörte ich die Turmuhr mit dumpfen Schlägen Mitternacht verkünden. Ein kalter Schauer rüttelte mich. 'Mörder! Mörder!' rief eine Stimme in meinem Gewissen. Heiliger Herrgott! Was hatte ich getan! Ich hörte ein Elternpaar, dem ich den einzigen Sohn getötet, um seine verlorene Lebensfreude jammern. Ich hörte ein Weib klagen, dem ich den Gatten, ich hörte Kinder weinen, denen ich den Vatet gemordet hatte. Und war's denn auch wirklich ein Wildschütz, auf den ich geschossen hatte? Oder war es der Förster, der bei Mondschein im Walde Schutzdienst machte? Oder von den Forstgehilfen einer, der mich für einen Wilddieb nahm und mich anrufen wollte, als ich ihn mit sinnloser Übereilung niederschoß?
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Ob ich solche Dinge bei wachen Sinnen dachte oder ob ich sie nur träumte, nachdem der Schlaf meines übermüdeten Körpers sich erbarmt hatte - das weiß ich nimmer. Als ich geweckt wurde, fuhr ich mit schwerem und dumpfem Kopf aus dem Kissen. Drunten im Flur fand ich meinen Vater schon wegbereit. "Wollen wir ohne Begleitung gehen?" fragte ich. Ein leichtes Kopfnicken war meines Vaters ganze Antwort. Und er sah mich fragend an, als ich nach meiner bei Jagdausflügen sonst so verachteten Studentenmütze und nach meinem Stocke griff. Nicht um alles in der Welt hätt' ich es vermocht, meine Büchse zu berühren. Schweigend durchschritten wir das erwachende Dorf. Und als wir uns nach kurzer Wanderung über die Wiesen dem Walde näherten, gewahrten wir von ferne schon im taunassen Gras den dunklen Streif, der den Weg bezeichnete, den ich in der Nacht aus dem Moosgraben quer durch die Wiesen genommen hatte. Am Saum der Windbruchfläche, während wir dem Waldsträßchen folgten, untersuchten wir die Gräser und Kräuter des Raines. Sie waren weiß und naß vom Tau. Kein Fuß hatte also während der Nacht den Rain überschritten. Wohl aber fanden wir die Stelle, an der ich in den Moosgraben hinabgesprungen war; da drunten lag auch mein Hut.
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"Bevor wir die Lichtung durchsuchen", sagte mein Vater, "müssen wir genau die Schußlinie feststellen. Geh also einige zwanzig Schritte ins tiefere Gehölz, kehre dann zurück, und wenn du unter den Bäumen hervortrittst, blicke genau nach der Richtung, in die du geschossen hast." Schweigend tat ich, was der Vater haben wollte. Und als ich aus dem Schatten der hohen Bäume ins Freie trat und über die Böschung hinaufspähte, fuhr aus meiner Kehle ein halblauter Schrei - der Verlegenheit. Da stand er wieder, der lange, hagere, rußgesichtige Wilddieb von heute nacht! Statt im fahlen Mondschein jetzt im lauteren Lichte der aufgehenden Sonne betrachtet, entpuppte er sich als der dunkle, halbvermoderte Strunk einer Föhre, die der Sturm vor Jahren gebrochen hatte. Ungefähr in der Armhöhe eines Mannes ragte aus dem Baumstumpf ein gebrochener, morscher Ast gegen die Ausmündung des Waldweges. Das Blut stieg mir vor Scham ins Gesicht. Mein Vater lachte. Und lachend winkte er mir, während er durch das junge Fichtengestrüpp dem verhängnisvollen Föhrenstrunke zuschnitt. Dicht über dem aussagenden Aste fanden wir das mürbe Holz von meiner Kugel durchbohrt.
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Der Weißbacher und seine Freud Als ich vor neunzehn Jahren den Mickei Weißbacher kennenlernte, wollte meine Frau keinen Pfannkuchen essen. Wir waren um die Mittagszeit in unserem Bauernwägelchen von dem einsam gelegenen Bergwirtshaus angefahren, und der Weißbacher, der mich auf die Gemspirsch führen sollte, trat freundlich grüßend an das Wägelchen heran, ein langer, kräftiger Mensch, in der üblichen Jägertracht des Hochlandes, mit einem gutmütigen, sonnverbrannten, von einem pechschwarzen Vollbart umrahmten Gesicht. Eins von jenen gesunden Durchschnittsgesichtern, wie sie häufig in den Bergen zu sehen sind: ein Mund, der lieber lacht als sich im Ernst verzieht, zwei dunkle Augen, scharf und glänzend, doch ohne jede Sprache, die von Gedanken erzählt. Nur etwas Nebensächliches fiel mir am Weißbacher auf. Er trug das schwarze Kopfhaar frisch gestutzt, ganz kurz -- und zwischen diesen winzigen, rußschwarzen Haarstacheln, von denen jede in der Sonne ein punktfeines Glanzlicht an der Schnittfläche hatte, leuchtete die Kopfhaut schimmernweiß heraus, während alles übrige, was es sonst an Haut beim Mickei Weißbacher zu sehen gab, so braun war wie mattes Kupfer. Dieser Kontrast wirkte ein bißchen komisch. Der Weißbacher trug meine Jagdsachen zu einem Gartentisch, während meine Frau das Mittagessen für uns bestellte: einen Pfannkuchen.
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Ich setzte mich neben den Weißbacher an den Tisch, und meine Frau promenierte im Schatten der Obstbäume, kam aber flink heran, als der Pfannkuchen gebracht wurde, und setzte sich mir und dem Weißbacher gegenüber. Das Aussehen des appetitlich duftenden Gerichtes schien ihren Beifall zu finden. »Gott sei Dank, weil wir nur endlich was bekommen! « sagte sie und wollte sich bedienen. Aber da Iegte sie plötzlich die Gabel nieder, drehte die Augen auf die Seite und guckte starr ins Grüne hinaus. »Was ist denn los?« Statt zu antworten, schob sich meine Frau aus der Bank heraus und entfernte sich fluchtartig in den Obstgarten. Ich ging ihr nach. »Aber Kind! Was ist denn? So komm doch her und iß! Es wird ja der Pfannkuchen kalt.« »Hör auf! Mir graust! « »Grausen? War denn etwas am Pfannkuchen? Eine Spinne?« »Nein! Aber hast du denn das gar nicht gesehen? Dieser Mensch ... wie er dasitzt ... so was Grausliches hab ich im Leben noch nicht gesehen! « Ich sah zum Tisch hinüber. Da drüben, hinter dem rauchenden Pfannkuchen, saß der Weißbacher und äugte verwundert zu uns herüber. Über die Brust herunter, fast bis zum Hosenbund, trug er das Hemd weit offen -- und da guckte was heraus, als hätte sich der Weißbacher ein
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schwarzgekräuseltes Lammfell breit über die Seele gebunden. Doch das Fell war angewachsen. Kein Zureden konnte meine Frau bewegen, an den Tisch zurückzukehren. Und daß ich den Jäger fortschickte, wollte sie auch nicht dulden, weil kein Grund vorläge, den harmlosen Patron zu beleidigen. Also mußte der Kutscher einspannen. Und meine Frau, der aller Hunger gründlich vergangen war, trat mit beschleunigtem Tempo die Heimfahrt an. Als ich mich dann bei dem kalt gewordenen Pfannkuchen einfand, fragte der Weißbacher mit gutherziger Besorgnis: »Was hat denn 's Frauerl ghabt?« »Ach, nichts! Ein bisserl übel ist ihr worden. Und da war's am besten, daß sie gleich wieder heimgefahren ist.« »So so?« Der Jäger sah mich schmunzelnd an. »Nno ... da gratalier i halt! So hat's die Meinig aa in iher Zeit oft g'habt. Und ausgrechnet allweil beim Essen.« Ich unterließ es, dieses Mißverständnis aufzuklären, bestellte mir Kaffee und Butterbrot, und der Weißbacher machte sich mit beneidenswertem Appetit über den kalten Pfannkuchen her. Dabei sagte er plötzlich, mit einem sonderbaren Gedankensprung: »Jetzt sollten S' es aber sehgn, unser Büaberl! Hansei hoaßt'r! Und gestern hat er die ersten fünf Schrittln gmacht vom Tisch bis zum Ofen, ja. Dös Manndei, dös kloane, dös is mei ganze Freid!« Als der Weißbacher diese letzten Worte vor sich hinlachte, hatte er völlig andere Augen als zuvor -- wunderschöne, leuchtende, glückliche Augen. 258
Ein paar Minuten später marschierten wir los, um die drei Wegstunden zur Jagdhütte hinaufzusteigen. Der Pfad führte durch dichten herrlichen Fichtenwald. Kaum hörbar ging ein leises Träumen über die Wipfel hin. Es war so schattenschön und still -- man pflegt zu sagen: wie in einer Kirche. Aber dieser Vergleich scheint nach einer Seite zu hinken. Wenigstens hab' ich von einer Kirche noch nie gehört: es wäre in ihr so still wie in einem hundertjährigen Walde. Und gute Vergleiche sollten auf Gegenseitigkeit beruhen. Für die blaugrüne Schönheit, die uns fein umflüsterte, hatte der Weißbacher kein Auge. Immer guckte er vor sich hin auf den Steig und fing von der Jagd zu schwatzen an, trocken und gleichmütig. Doch als wir aus dem Walde auf eine große Lichtung hinaustraten und einen zaubervollen Blick über das tiefe, von purpurnen Schatten umgossene Wiesental mit seinen zerstreuten Gehöften gewannen, da blieb der Weißbacher stehen, sah hinunter und bekam wieder jene schönen, leuchtenden, glücklichen Augen. Er deutete mit der kupferbraunen, haarigen Hand hinunter und sagte: »Schaugn S', Herr Dokter, dös Anwesen, dös gar so weiß auffispitzt aus die Baam, dös is mei Hoamatl. Dös Häusl, dös is mei ganze Freid!« Während wir über die Lichtung emporstiegen, guckte der Weißbacher hundertmal hinunter ins Tal -- und was er dabei auch redete, alles hatte einen warmen Klang, einen Ton, der irgend etwas Besonderes zu sagen schien.
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Auf der Höhe der Lichtung, als der Fernblick am schönsten wurde, setzte ich mich nieder, um ruhiger schauen zu können. Der Weißbacher hockte sich an meine Seite -und wenn er nicht schwieg oder gähnte, quasselte er gleichgültiges Zeug. Denn das Häuschen dort unten, das so winzig und blumenweiß aus den Äpfelbäumen herausgeschimmert hatte, war nicht mehr zu sehen. Und die ganze schöne übrige Welt um uns her schien für den Weißbacher nichts Beachtenswertes mehr zu haben. Am Abend, droben in der Jagdhütte, bekam der Weißbacher wieder die schönen, leuchtenden Augen. Ich hatte ihn eingeladen, bei meiner Konservenmahlzeit mitzuhalten. Doch der Weißbacher schüttelte den komischen Kopf, daß sein schwarzer Bart einen heftigen Wackler machte. »Vergeltsgott, Herr Dokter! I hab ebbes bessers.« Aus fettigem Zeitungspapier schälte er ein Stück Rauchfleisch hervor, auf dessen weißem Speck sich die ganze Schrift der Zeitung abgedrückt hatte. »Dös is fei a guats Bröckl! Dös hat mer mei Hannerl eingwickelt. Dö sorgt halt für mi! Is scho wahr, dös Weibl, dös guate, dös is mei ganze Freid!« Nach zwei Tagen war dem Weißbacher das gestutze Haar schon wieder so weit gewachsen, daß man nichts mehr von dem silberweißen Schimmer sah. Und auf der Gemspirsch -- ob wir nun in heißer Sonne gingen, oder ob am Morgen und Abend der schneidende Bergwind eiskalt herfuhr über die Schneefelder -- immer trug der Weißbacher das Hemd an der Brust weit offen. Was ein richtiger Pelz ist, der kühlt in der Hitze und wärmt in der Kälte! So was Ähnliches sagte der Weißbacher einmal. Und fügte die philosophische Bemerkung bei: »Drum san d'Viecher, 260
dö in der Wildnis leben müassen, alle haaret. Und gsund! Unser Herrgott woaß scho, was 'r tuat.« Über den Jäger, der im »gsunden« Weißbacher steckte, konnte ich mich nicht beschweren. Er war revierkundig, hatte immer den richtigen Einfall, wenn es zu handeln galt, und brachte mich in drei Tagen auf zwei gute Gemsböcke zu Schuß, die er gleich hinuntertrug ins Dorf --zu seiner »ganzen Freid«. Doch als wir zwei weitere Tage gepirscht hatten, ohne den dritten Bock auf die Decke zu bringen, fing der Weißbacher am Morgen beim Ausmarsch unter den funkelnden Sternen wie ein Wilder zu fluchen an: »Himi Kreuz Teifi Sakrament übereinander! Heut muaß ebbes her! Heut muaß i an Bock abitragen!« Auf den Bock kam es ihm dabei nicht an, nur auf das »Abitragen«, auf das Stündchen, das er daheim verbringen konnte, bei seiner ganzen Freud. An diesem Pirschmorgen leistete der Weißbacher als Jäger wahrhaft Übermenschliches. Er brachte mich auf einen Gemsbock zu Schuß, der unerreichbar schien. Aber die Wege, die wir gegangen, hatten mich erschöpft -- und ich schoß daneben. Und sah nicht dem davonsausenden Bock nach, sondern guckte erschrocken den Weißbacher an. Der nahm den Hut ab, fuhr sich mit dem Ärmel über die schweißbetropfte Stirn und sah über die Felswand in die Tiefe hinunter, wie auf den Untergang einer schönen Stadt und auf den Tod von tausend Menschen. Und sagte: »Ja, Herr! So geht's zua in der Welt! « Dann sprach er kein Wort mehr, auf dem ganzen Heimweg keine Silbe. Dieses enttäuschte Herz in seiner lechzenden Sehnsucht nach dem Hannerl weckte mein Erbarmen. Ich schrieb in 261
der Jagdhütte eine Postkarte und gab sie dem Weißbacher: »Da Mickei, trag sie hinunter! « Alles graue Unwetter seiner Seele war jäh verwandelt in lachende Sonne. Flink wie ein Wiesel sprang der lange Mensch davon. In seiner Freude mußte er auf dem Wege jauchzen -- immer wieder! Den Tag verschlief ich in der Hütte und erwachte erst, als der schöne Abend dämmerte. Der Weißbacher war noch nicht da. Ich setzte mich auf die Türschwelle und blickte träumend in den Glanz des Abends. Kein Windhauch mehr. Keine Tierstimme. Nirgends der Klang eines rieselnden Wassers. Nur Schweigen. Manchmal, als aller Glanz schon zu ergrauen anfing, kam ein zartes, kaum noch vernehmliches Tönen aus der Tiefe herauf. Es waren die Viehglocken der großen Alm, die hinter einem langen Waldstreif dort unten lag. Auf unseren Pirschgängen waren wir nie zu dieser Alm gekommen. Aber von den Graten aus, über die wir hingestiegen, hatte ich das weitgedehnte Weidefeld mit den dreiundzwanzig Sennhütten oft gesehen. Von diesen Hütten kam das feine, zärtliche Klingen heraufgeschwommen durch die Stille der versinkenden Abendglut. Und dann die kühl atmende Nacht, mit den schwarzen Mauern der Berge vor dem stahlblauen Himmel. Die großen Sterne funkelten so feurig, als wäre in jedem dieser fernen Weltenbürger die ganze Freude des Mickei Weißbacher brennend geworden.
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Jenes leise Tönen war nicht mehr zu hören. Doch etwas anderes vernahm ich. Immer wieder. Weit aus der Ferne. Ein ganz merkwürdiges Geräusch -- ähnlich dem Geplätscher, das ein Guß Wasser macht, der auf Steinplatten geschüttet wird. Ich konnte mir dieses Geräusch nicht erklären. Und grübelte immer. Plötzlich stand in der Finsternis der Weißbacher vor mir, ohne daß ich ihn hatte kommen hören. »Vergelt's Gott, Herr Dokter!« sagte er mit einer frohen Wärme in der Stimme. »Du! Mickei! Horch einmal!« Er lauschte in die Nacht hinaus. Und jetzt hörte man's wieder, dieses Merkwürdige. »Was ist denn das?« Der Weißbacher lachte. »Auf der Kermadenalm, da tean s'heut lampelspritzen.« »Lampelspritzen?« Ich verstand nicht, was er meinte. »Was heißt das?« Der Weißbacher erklärte mir die Sache. Morgen wäre ein hoher Feiertag. Und es wäre seit alten Zeiten so Sitte, daß die dreiundzwanzig Sennerinnen der Kermadenalm am Morgen dieses Feiertages den Pfarrer 263
mit einem lebensgroßen, ganz aus Butter zusammengekneteten Lamm beschenken, dem das gelockte Fell mit feinen Butterfäden aufgespritzt würde. Jede von den dreiundzwanzig Sennerinnen hätte für dieses Kunstwerk einen Ballen Butter zu spenden. In der zu höchst gelegenen Almhütte, bei der »alten Resl vom ledigen Hof«, kämen am Vorabend des Festes alle die Sennerinnen zusammen. Da würde dann das Kunstwerk geschaffen. Und die alte Resl mit ihrer Tochter, das wären zwei rassige Weiberleute. Drum ginge es beim Lampelspritzen gar lustig und übermütig zu. Und was ich da in der stillen Nacht vernommen hätte, dieses merkwürdige, mir unerklärliche Geräusch -- das wäre das Gelächter und Geschrei der dreiundzwanzig Sennerinnen. »Mickei! Da muß ich hinunter! Das muß ich sehen!« Der Weißbacher schüttelte bedenklich den Kopf »Dö lassen uns net eini in d'Hütten.« »Das wirst du schon fertigbringen. Also, vorwärts!« »Herr Dokter, Herr Dokter, dö Sach geht schiaf aus! Es is net der Brauch, daß beim Lampelspritzen Mannsbilder derbei san. Und die alte Resl und ihr Madl, dö zwoa san scho die richtigen! Und zwanzg andre noch dazua! Und wann amal d' Weiberleut in der Übermacht san, da haben s' koan Zaum und Zügel nimmer.« Dem Weißbacher kam ein beklommener Ton in die Stimme. »Und wissen S', mei Hannerl, dö hat mi halt soviel gern. Und da eifert s' halt auweil a bisserl. ja! Da is glei allweil Fuier am Dach. Drum mach i liaber an Umweg, wann i a Weibsbild
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siech. Und iatz glei zwei Dutzend beinander auf oam Schüppel! Lassen S' es guat sein, Herr Dokter! « Die Angst, die der Weißbacher hatte, reizte mich noch mehr. »Wenn du nicht willst, so geh ich allein. Das muß ich sehen.« Brummend steckte Mickei eine Kerze in die Laterne. »In Gotts Namen! Probieren mer's halt! « Während wir durch den finsteren Wald hinunterstiegen, erfuhr ich vom Weißbacher noch die Chronik einer ungewöhnlichen Familientradition. Die Resl nämlich, die heute als Lampelspritzerin fungierte, war ein fünfzigjähriges Mädchen, das mit seiner fünfundzwanzigjährigen Tochter Marei in der »öbersten« Almhütte hauste. Mutter und Tochter waren die Bäuerinnen vom »ledigen Hof«. Seit Menschengedenken hatte auf diesem Hof immer nur eine Bäuerin regiert, nie ein Bauer. Kam die junge Bäuerin in die »lebfrohen« Jahre, so nahm sie sich einen, der ihr gefiel. Aber vom Heiraten wollte sie nichts wissen, sondern blieb die ledige Bäuerin, gebar eine Tochter -und zwanzig Jahre später ging die Sache wieder von vorne an. Im Dorfe kannte man bereits vier Generationen dieser Art. Im ledigen Hof war immer nur eine Tochter geboren worden, nie ein Sohn. Der Weißbacher sagte: »Dö haben si seit hundert Jahr allweil oanseiti furtpflanzt.« Und während er das erzählte, klang vom Almfeld immer deutlicher das plätschernde Gelächter und Geschrei der dreiundzwanzig Sennerinnen herauf. Ehe wir den Waldsaum erreichten, blies der Mickei das Licht der Laterne aus. »Da müassen mer uns hoamli zu265
awimachen. Bal d'Madln mirken, daß a Mannsbild überzwerch is, lassen s' uns nimmer eini.« Wie ein schwarzer See mit erstarrten Wogen lag das weite Almfeld im Funkelglanz der Sterne. Unter den vielen Hütten hatte nur eine einzige die kleinen Fensterchen rot erleuchtet -- die Hütte, aus der immer wieder dieses lustig grillende Geschrei der Sennerinnen tönte. Wir hatten uns lautlos auf eines der roten Fensterchen zugeschlichen. Ich drückte vorsichtig die Nase gegen das trübe Glas und sah verschwommen in der Hütte ein Bild, das kaum zu schildern ist. Zwischen dem rußigen Sparrenwerk des Daches hing eine eiserne Pfanne, in der mit Qualm und rotem Geloder ein Pechfeuer brannte. Dieser zuckende Rotschein fiel über die zwanzig jungen und alten Weibsleute her, die mit Gekicher und Geschrei den Tisch umdrängten, auf dem -- verdeckt durch diesen ruhelosen Ring von grell beleuchteten Köpfen, glühenden Gesichtern und nackten Armen -- das butterige Lampel gespritzt wurde. Immer fuhr ein Gewirbel von roter Helle und schwarzen Schatten um den Tisch herum. Manchmal tauchte in einer Lücke etwas Buttergelbes auf und verschwand wieder. Alle paar Augenblicke hob sich über die zwanzig Zausköpfe ein scharfgeschnittenes Altweibergesicht herauf, mit aufgeblähten Backen, als hätte das Weib einen großen Knödel im Munde. »Dös is d' Resl vom ledigen Hof! « tuschelte der Weißbacher. Und unter den anderen Weibsleuten fiel mir eine junge auf, groß und üppig, mit lachenden Blitzaugen, mit einem dicken Blondzopf um die Stirn. »Dös is d' Marei, der Resl ihr Madl!« lispelte der Weißbacher. »Aber schaugn mer eini! Probieren mer's halt!« 266
Ich sah, daß sich der Weißbacher, bevor er die Hüttentür öffnete, das Gesicht bekreuzigte -- so, wie ein banger Christ es macht, der dem Teufel zu begegnen fürchtet. Ein rötlicher Qualm nebelte aus dem hellen Viereck heraus, und in der Sennstube wurde es für einen Augenblick ganz still. Die zwanzig rotglühenden Gesichter waren gegen die Tür gewendet. Dann erhob sich ein zeterndes Geschrei, und der ganze Schwarm dieser almerischen Amazonen fuhr mit erhobenen Fäusten auf den Weißbacher los. Der streckte zur Abwehr den Bergstock quer vor sich hin und brüllte: »Mar' und Josef! I will ja nix! Aber da is a stadtischer Jagdherr! Der möcht a bißl zuaschaugn beim Lampelspritzen!« Jetzt sahen sie mich erst -- weil ich aus dem Schatten heraustrat, den der Weißbacher auf mich geworfen hatte. Die einen fingen wieder zu kreischen an, die anderen wurden still. Die alte Resl schmunzelte, während sie zwischen den flinken Händen ein apfelgroßes Stück Butter zu einem runden Knödel rollte. Dann sagte sie mit ihrer scharfen Stimme: »Meintwegen! Sollen s' halt dableiben, dö zwoa Krippenreiter! Dö kon i grad brauchen. D' Sanftmuat hab i dem Lampel mit Butter scho auffigspritzt. Aber's Dumme muaß i no machen. Da leih i mer's Material von die Mannsbilder aus!« Die Almerinnen lachten, und wir beide lachten mit. Das fängt gut an! dachte ich und ging auf den Tisch zu, um das butterne Kunstwerk zu betrachten, das seiner Vollen267
dung entgegenschritt. Lebensgroß war die Gestalt des Butterlammes mit naiver Plumpheit über ein hölzernes Gerippe montiert und zur Hälfte schon mit gelben Krauslocken überspritzt. Die gelockte Schnauze erinnerte an einen Pudel, und mit den himmelblauen Augen, die aus zwei Enzianblüten gebildet waren, guckte das dicke Köpfel drastisch borniert ins Leben. Ich wollte die Technik dieses Geträufels genauer studieren und beugte das Gesicht. Aber da hatte mich die Marei schon beim Schopf erwischt und stieß mir die Nase in die fette Wolle des Lammes: »Gelt, dös gfallt d'r, Stadtischer?« Während ein vergnügtes Gejohl die Stube füllte, besserte die Resl den Schaden wieder aus, den das goldene Vlies genommen hatte. Sie tauchte den runden Butterknödel in das Wasser, das in einem großen Zuber auf dem Tische stand, nahm den Knödel in den Mund und preßte zwischen den gespitzten Lippen einen dünnen Butterfaden heraus, den sie auf dem Rücken des Lammes unter flinken Kopfbewegungen in Schlingen und Locken legte, wie ein Konditor den Zuckerguß auf die Torte spritzt. Die Butter von meiner Nase wischend, fragte ich lachend: »Weiß denn der Pfarrer, wie das Lampel gespritzt wird?« Unter dem Gekicher der anderen erwiderte eine Stimme: »No freili! Aber aufs Butterbrot weard eahm wohl die Köchin 's Lampel schwarli auffistreichen. Dös weard halt eingsotten auf Schmalz. Da kocht si nacher scho alles wieder auffi, was net einighört.«
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Die Resl hatte die letzte Locke verspritzt, wischte den Mund ab und sagte: »So geht's mit aller Süaßigkeit auf der Welt! Bal mas net zeitli zum Umsiaden ins Pfanndl schmeißt, weard's allwefl ranzet.« Sie guckte zum Weißbacher hinüber. »Und der da, mit seiner ganzen Freid, der weard aa bald einimüassen ins Pfanndl. Sunst kunnt si an seiner ewigen Seligkeit der Schimmel ansetzen! « Der Weißbacher, der zuvor auf meine Kosten lustig mitgelacht hatte, machte wütende Augen. Was die leuchtende Freude seines Lebens betraf, da schien er keinen Spaß zu verstehen. Er drohte: »Du! Auf mi kannst Kletten werfen, so lang als d'magst. Aber meine Leut dahoam, dö laßts mer in Ruah!« Das wirkte, als hätte der Mickei mit seinem Bergstock in einen Bienenkorb gestochen. Die spöttischen Schlauderwörtchen fielen schockweise über ihn her. Das ganze Doppeldutzend der Lampelspritzerinnen beteiligte sich an diesem Martyrium des Weißbacher. All seine körperlichen Eigenschaften und seine schönen Freuden, sein blumenfreundliches Haus, sein »haareter Prinz« und das »speckete« Hannerl --das alles wurde so schneidig unter die Hechel genommen, daß der Weißbacher in eine sinnlose Wut geriet. Aber je mehr der Mickei schimpfte, um so fideler lachten diese zwanzig Weiberleute, die im Gefühl ihrer Übermacht -- wie der Weißbacher richtig prophezeit hatte -- allen Zaum und Zügel zu verlieren begannen. Und als der Mickei im Zorn alle Heiligen und Teufel ins Feuer führte, kreischte von den Sennerinnen eine: »Sakra! Dös is a Scharfer! Mareidl, dös waar oaner für di! Du hast d' Haar auf die Zähn, und der ander hat's
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auf'm Herzfleck. Ös zwoa mit anand, dös kunnt a Rass' geben, a haarete! « Man lachte, daß die kleinen Fensterscheiben zitterten. Und die schmucke, kräftige Marei zeigte die weißen Blinkzähne und sprang im Übermut mit blitzenden Augen auf den Weißbacher zu. »Wia! Geh her, du! Laß di a bißl kosten! « Sie packte ihn am schwarzen Bart und wollte ihn auf den Mund küssen. Aber der Mickei wehrte sich wie ein Verzweifelter. Doch da hing ihm schon ein halb Dutzend von den Weibsleuten am rechten Arm, ein halb Dutzend am linken. Und bevor es der Weißbacher zu einem neuerlichen Fluch brachte, hatten sie schon das lange Mannsbild unter kreischendem Gelächter zu Boden gerissen und fielen wie ein tollgewordener Mänadenschwarm über den Wehrlosen her. Aber bei diesem Gebalge geriet die Resl vom ledigen Hof in Sorge um ihr buttriges Kunstwerk. Sie packte den großen Zuber, der auf dem Tische stand, und goß mit kräftigem Schwung seine reichliche Wasserfülle über den balgenden Schwarm hinunter. Unter Kreischen und Gelächter fuhr der Knäuel auseinander. Und ich, um diesem Wasserguß zu entrinnen, hatte einen flinken Sprung durch die Tür gemacht. Als ich lachend wieder eintreten wollte, kam mir der Weißbacher, triefend am ganzen Leib, entgegengerumpelt und zerrte mich in die Nacht hinaus. »Himi, Kreiz Teifi Sakrament überanander!« Er schüttelte das Wasser von sich ab. »Gelt, i hab's gsagt. Dö Sach geht schiaf! Himi und Teifel! Und bal mei Hannerl ebbes erfahrt! Mar' und Josef! Aber soll mer oane 's Maul aufmachen von dö Weibsbil-
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der! So verklag i s'alle mitanand wegen Körperbelästigung!« Je mehr der Weißbacher wetterte, um so lustiger mußte ich lachen. Und immer, während wir unter dem Gefunkel der schönen Sterne zum Wald hinaufstiegen, klang hinter uns das plätschernde Gelächter in der Hütte da drunten, deren kleine Fensterchen rot hinausglänzten in die stahlblaue Nacht. -- Es war meine Absicht gewesen, noch zwei Tage in der Jagdhütte zu bleiben. Aber den Triumphzug, den das butterne Lampel zum Pfarrhof machen würde, den mußte ich sehen. Früh um drei Uhr faßte ich diesen Entschluß. »Mickei, wir gehen heim! « Nach aller Verdrossenheit, die dem Weißbacher eine schlaflose Nacht verursacht hatte, bekam er wieder jene schönen, leuchtenden, glücklichen Augen. Als der Morgen zu grauen anfing, hörten wir ferne Stimmen und einen Jodelruf. »Da tragen sie 's Lampel abi! « sagte der Weißbacher. »Dö müassen drunt sein vor der Sonn. Sunst taat eahna 's Lampel derschmelzen.« Nun blieb er stehen und lachte. »I siehg's scho, mei Häusl! « Er deutete. »Da schaugn S'! Dös is mei ganze Freid! « Immer schwatzlustiger wurde der Weißbacher, je tiefer wir hinunterkamen ins Tal. Und immer seliger leuchteten ihm die Augen. Sogar die Sorgen wegen der Lampelspritzerei erloschen in ihm, und im Glanze seines reinen Gewissens dachte er lachend an die Eifersucht seines Hannerl und sagte über sein Haus, über seine Frau und seinen Buben so feine und wundersame Worte, daß in mir der Wunsch rege ward, diese drei köstlichen Extrakte 271
menschlichen Glückes kennenzulernen. Der Mickei hätte, als wir das einsame Bergwirtshaus erreichten, nicht erst zu bitten brauchen: » Gelten S', Herr Dokter, dös tean S' mer z'liab ... bal S' abimarschieren zur Lampelweih, da schaugn S' a Sprüngl eini zu mir! Passen S' auf, da haben S' a Freid! « Eine Stunde später, gegen halb acht Uhr; als die Morgensonne schon den Tau von den glitzernden Wiesen trocknete, wanderte ich hinunter ins Dorf. Bei der Mündung eines Fußpfades erwartete mich der Weißbacher, mit strahlendem Gesicht, schon in seinem Sonntagsstaat, das frische Hemd an der Brust weit offen. Schweigend, immer mit seinem seligen Lachen, ging er auf dem Fußweg vor mir her und guckte sich alle paar Schritte nach mir um, ob ich auch wirklich käme. Und als er an einem kleinen Gehöft das Zauntürchen öffnete, sagte er aufatmend: »So, Herr Dokter, jetzt haben mer 's Himmelreich! « Das Haus des Mickei, das weit abseits vom Dorf gelegen war, stand mit seinen weißen Mauern mitten in einem kleinen Obstgarten. Es war nichts Besonderes an ihm zu sehen -- ein Häuschen, wie sie zu Hunderten in den Bergen zu finden sind. Und auf der Schwelle stand ein derbes, rundliches Weiberl, das wenig zu reden wußte, mit gutmütigen Braunaugen, und mit etwas dünnen Zöpfen um die Ohren -- eine von jenen Alltagsgestalten, wie sie uns dutzendweis in jedem Dorf begegnen. Etwas Auffälliges war nur an dem zweijährigen Hansei zu bemerken, der auf dem Arm der Mutter saß -- das Bübchen hatte für
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seine zwei Jahre einen pechschwarzen, geradezu unglaublichen Haarwuchs. »Donner ... wetter! « sagte ich in der ersten Verblüffung. Und der Weißbacher drückte unter glücklichem Lachen stolz die Brust heraus. »Ja! 's Haarete, dös hat'r von mir. 's ander alles, die Guatigkeit und 's Liabe, dös hat 'r von der Muathr. Dö müassen S' anschaugn!« »Geh, du!« stotterte die Weißbacherin verlegen. Erst mußte der »haarete Prinz« zwischen Vater und Mutter fünf wacklige Schrittlein machen -- eine Leistung, die der Weißbacher hoch über die Erfindung des Schießpulvers zu stellen schien. Und dann führte mich der Mickei durch seine »ganze Freid«, durch die zwei ebenerdigen Stuben, in die Küche, in den Kuhstall und in den Holzschuppen. Und im Gartenhäuschen wurde mir der Kaffee vorgesetzt, den ich nur hinunterbrachte, weil dem Weißbacher die Augen so glücklich leuchteten. »Gelt«, sagte er, »so ein' haben S' no nia verschmeckt! « Und als das Hannerl ins Haus verschwand, um sich zum Kirchgang zu richten, fragte er mit hungrigem Blick: »No also? Was sagen S' jetzt?« »Ja, Mickei! Du bist ein glücklicher Mensch!« »Gelt, ja!« Er strahlte mich mit seinen seligen Augen an.
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Dann wanderten wir alle viere -- das haarige Hansei auf der Schulter seines Vaters -- die zwanzig Minuten zum Dorf und zur Kirche hinunter. Vor dem Wirtshaus standen viele Leute, die auf irgend etwas zu warten schienen. Jetzt unter dem Geläut der Glocken eine ohrenzerreißende Blechmusik. Aus einer Gasse kam der Zug der Larnpelspritzerinnen hervor, die Alten in blauseidenen Kopftüchern, die jungen in weißen Kleidern mit starren Falten, jede mit dem winzigen Blumenkränzlein des Jungfernbundes über den Zöpfen. Vier von ihnen trugen auf einer kleinen Stangenbahre das Butterlamm, das ein blaues Band mit silberner Schelle um den Hals hatte. Neben der Lampelbahre ging die alte Resl vom ledigen Hof einher und hielt einen roten Regenschirm über das buttrige Kunstwerk, damit es von der Sonnenwärme nicht leiden möchte. Aber trotz dieser Fürsorge hatten die Butterlocken schon die feingespritzte Form verloren, und das fette Lämmchen begann auf den Vorderfüßen einzuknicken. Als der Zug an uns vieren vorüberkam, hob die schmucke Marei vom ledigen Hof die züchtig niedergeschlagenen Augen, streifte den Weißbacher mit einem funkelnden Blick und schmunzelte. Dem Mickei fuhr es heiß ins Gesicht, und erschrocken sah er das Hannerl an. Aber die Weißbacherin guckte mit lachender Miene drein und tat, als wäre in diesem Augenblick außer dem Butterlamm nichts anderes auf der Welt. Daß im Hannerl die Eifersucht so leicht erwachte -- sollte das nur eine Einbildung des Mickei Weißbacher sein?
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Ein lärmender Leutschwarm umdrängte den Zug. Dann ging's mit Blechgeschmetter dem Pfarrhof zu, und die Weißbacherischen verabschiedeten sich von mir. Sechs Wochen sah ich den Mickei nimmer -- und es wäre mir lieber gewesen, ich hätte ihn überhaupt nicht mehr gesehen. Denn das Wort, das die alte Resl vom ledigen Hof beim Lampelspritzen gesprochen hatte, jenes Wort vom Umsieden der irdischen Freuden und Seligkeiten, sollte sich am Mickei Weißbacher als ein dunkles Omen erweisen. Am vierten Oktober war's. Und der Jäger mit dem üppigen Haarwuchs und der »driedoppelten Freid« erwartete mich zur Mittagszeit bei dem einsam gelegenen Bergwirtshaus, um mich auf einen schreienden Hirsch zu führen. Wieder stiegen wir durch den Fichtenwald hinauf. Und ehe wir das Ende erreichten, bekam er die leuchtenden Augen und sagte: »Da müassen mer's glei sehgn, mei Häusl! Ja, dös is mei ganze Freid! « Wir kamen hinaus auf die steile Lichtung, der Weißbacher spähte mit seinen Glücksaugen hinunter ins Tal, wollte deuten mit der Hand und verfärbte sich. »Mar' und Josef! « Dort unten, wo vor sechs Wochen das blumenfreundliche Haus zwischen den Apfelbäumen herausgeschimmert hatte, wirkte eine schwärzliche Rauchwolke.
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»Jesus Maria! « Das war ein Schrei, der nichts Menschliches hatte. Und der Weißbacher warf alles von sich, was er trug. Er drückte den Kopf in den Nacken, daß ihm der Vollbart senkrecht heraus stand, und preßte die Fäuste auf die nackte Brust. So stand er eine Sekunde wie gelähmt. Dann machte er einen Sprung gleich einem scheu gewordenen Pferd und stürmte über den steilen Hang hinunter. Bei jedem Satz, den er machte, hatt' ich das Gefühl: jetzt muß er den Hals brechen. Aber da war er schon dort unten in den gelben Stauden verschwunden -- und bevor ich mich noch von meinem Schreck erholen konnte, hörte ich schon von ganz unten im Tal seine brüllende Stimme: »Hannerl, i kumm scho! Hannerl, i kumm scho!« Die Rauchwolke da drunten wuchs immer dicker, und in dem schwarzen Gequirle sah ich feines, helles Aufblitzen. Hastig raffte ich das Zeug zusammen, das der Weißbacher von sich geworfen hatte -- Bergstock, Rucksack, Büchse und Hut -- und eilte über den Steig hinunter. Ich brauchte eine halbe Stunde, um das Haus des Weißbacher zu erreichen. Und da schien die Gefahr schon überwunden. Denn ich sah kein Feuer mehr, nur schwachen Rauch und weißlichen Dampf. Die Feuerspritze war noch gar nicht erschienen. Nur ein paar Dutzend Nachbarsleute waren herbeigelaufen und schleppten über zwei Leitern in Schäffern, Blechkannen und Stallzubern das Wasser hinauf, das der Weißbacher, der hemdärmelig und mit nackten Füßen dort oben stand, in 276
unermüdlichen Güssen über die qualmende Hälfte des Daches und über die glutenden Balken schüttete. Das kleine Hansei saß im Gras und guckte mit den runden, stillen Augen zu dem qualmenden Dach hinauf. Die Mutter war bei den Leuten, die unter Geschrei das Wasser schleppten, und beteuerte immer wieder, sie könne sich gar nicht denken, wie das Feuer entstanden wäre; denn in dem Häuflein Ruß und Asche, das sie, um das Geld für den Schornsteinfeger zu sparen, aus dem Kamin herausgekratzt und auf dem Dachboden hätte liegen lassen, wäre doch auf Ehr und Seligkeit kein glimmender Funke mehr gewesen. Ich stellte mich auch an die Leiter. Doch als ich ein paar Kannen gelupft hatte, kam die Feuerspritze angefahren. Nun war in wenigen Minuten das letzte Glühen erstickt. Aber jetzt fingen die Leute erst recht zu schreien an. Nur der Weißbacher lachte. Mit etwas steifen Knien und triefend von Schweiß und Wasser, kam er über die Leiter heruntergestiegen, das Hemd weit offen. Der schwarze Vollbart war in der Nässe ganz schmal und dünn geworden, und wie ein schwarzes Seidentuch klebte das tropfende Haar an seinem Kopf. Mich sah er nicht, auch sonst keinen Menschen -- nur für das Hannerl hatte er Augen. Und fragte nach seinem Buben. Die Weißbacherin holte den Kleinen und wollte ein schluchzendes Jammern um das Haus beginnen. Aber da legte ihr der Mickei den Arm um den Hals und sagte lachend: »Geh, mach d'r nix draus! Dös bissel Dach weard bald wieder droben sein! 's Beste han mer no all277
weil beinand! Und rnei ganze Freid ... « Er wollte sich zu seinem Buben hinunterbücken. Da fing er stumm zu taumeln an und stürzte vornüber aufs Gesicht. Die Weißbacherin stieß im ersten Schreck einen gellenden Schrei aus. Doch als die Leute zur Hilfe herbeisprangen, nahm sie die Sache schon nimmer gefährlich. »A bißl überschafft hat 'r si halt. Dös gibt si glei wieder. Wann mer eahm an Enzian einigiaßen taten, i moan, dös waar net schlecht.« Man trug den Weißbacher in die Stube, von deren Decke das vom Dach durchsickernde Wasser niedertröpfelte. Ein scharfer, fast unerträglicher Rauchgeruch war in dem kleinen Raum. Die hilfsbereiten Nachbarn öffneten dem Mickei, als er ausgestreckt auf dem Ledersofa lag, mit einem Blechlöffel die starren Zähne und gossen ihm den heilsamen Enzian ein. Aber der Weißbacher schluckte nicht -- der Enzian rann ihm wieder aus den Mundwinkeln heraus. Als nach einer Viertelstunde der Dorfarzt kam, ließ er den Weißbacher ins Bett legen, wußte aber sonst nicht viel Rechtes mit ihm anzufangen und redete was von einem Lungenschlag. Am Abend war der Mickei noch immer nicht aus seiner Ohnmacht aufgewacht. Und am Morgen, als ich nachsehen wollte, wie es dem Weißbacher ginge, lag in der breiten verwüsteten Bettstatt ein stiller, kalter Mensch.
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Das Hannerl, das mit dem haarigen Bübchen auf dem Schoß in der Morgensonne vor dem dachlosen Haus gesessen hatte, führte mich zum Mickei hinein, brach in Tränen aus und erzählte mir mit umständlicher Genauigkeit die ganze Geschichte dieser bösen Nacht. Nichts vergaß sie, nicht das Geringfügigste. Während dieser langen Geschichte lag der Weißbacher kalt und stumm in seinem Ehebett, mit einem strengen, fast erbitterten Ausdruck in dem kupferkahlen Gesicht. Als die Geschichte der Nacht zu ihrem Ende kam, hatte das Hannerl noch feuchte Augen und sah den stillen Mickei mit nickendem Erbarmen an. »So a braver Mensch! Und so viel guat hat 'r si allweil gstellt zu mir!« Fürsorglich knöpfte sie dem Weißbacher am Halse das offene Hemd zu. Und sagte: »Bal i wieder heiraten müaßt, da wear i mi hart an den andern gwöhna, ja!«
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Die Brautfahrt des Damian Zagg Bevor ich die Epopöe dieser merkwürdigen Brautfahrt erzähle, hab' ich von Damian Zagg noch manches andere zu berichten. Sieben Jahre stand er als Jäger in meinem Dienst, und obwohl er sich schließlich die Stange bei mir zerbrach, so daß ich ihn nicht mehr halten konnte, fiel es mir doch schwer, ihn gehen zu lassen. Da kam eines Tages der Förster zu mir und fragte, ob ich nicht einen Jäger brauchen könnte; er wüßte mir einen Menschen zu empfehlen, aus dem was zu machen wäre. Die Sache hätte nur einen kleinen Haken; der Damian Zagg wäre bisher ein scharfer Wildschütz gewesen. Und ein schlauer! Den man in zehn Jahren nicht ein einzigesmal erwischt hätte. Aber im Gefühl seiner erfolgreichen Schlauheit wäre er übermütig geworden und hätte am hellen Tag und ganz in der Nähe des Dorfes einen Rehbock geschossen. Und da wäre das Krüglein, das so oft 280
zum Brunnen gegangen, endlich zerbrochen. Und der Danüan hätte vierzehn Tage brummen müssen. Wenn mich das nicht scheniere -- ? Nein, das schenierte mich nicht. Wildschützen, die nicht aus Gewinnsucht, sondern aus Leidenschaft wildern, sind noch immer gute Jäger geworden. »Bitte, Herr Förster, schicken Sie mir den Mann!« Zwei Tage später kam der Damian Zagg. Ein Prachtmensch, der mir auf den ersten Blick gefiel. So an die Dreißig, und gewachsen wie ein Baum, mit pechschwarzem Haar und Vollbart, mit klugen, scharfen Augen, die feurig herausblitzten aus dem streng geschnittenen Gesicht. Sein breiter Rücken war ein bißchen gekrümmt -später sagte mir der Damian einmal: das käme vom Hirschtragen in der Nacht. Aber diese leichte Beugung tat seinem stattlichen Bild keinen Eintrag. Auch gut gekleidet war er. Man merkte gleich, daß Damian Zagg was hielt auf sich. »Also?« fragte ich. »Sie waren ein Wildschütz?« Bevor er antwortete, sah er mich an mit einem Blick, als müßte er mir durch die Nieren gucken. Dann sagte er ruhig: »Jetzt kon i allweil nimmer na sagen ... derzeit s' mi ein gspunna haben.« »Und jetzt wollen Sie Jäger werden?« »Ja, taat scho bitten.« »Warum?« 281
»Weil is net lassen kon. Und in der Grichtssuppen hab i a Haar gfunden. I bin a bessere Kost gwöhnt.« Wie er das sagte, das wirkte so drollig, daß ich lachen mußte. »Da! Nehmen Sie einen Stuhl und setzen Sie sich! « Er packte mit hartem Griff den hölzernen Sessel, stellte ihn fest auf die Dielen, strich mit der Hand über das Sitzbrett und ließ sich nieder. »Jetzt erzählen Sie einmal! Wie war das mit dem Rehbock? Und wie kam es, daß Sie erwischt wurden?« »Hat halt der Jager, dös Luader, z'Mittag amal net gschlafen! Sonst hat 'r sie allweil auffigflackt aufs Bett. Aber grad am selbigen Samste muaß 'r Spreißeln in die Augen ghabt haben! Und i hab halt dem Bock nimmer länger zuaschaugn kinna. Teifi, Teifi, a so a Bock! Und a Gwichtl! Da hab i koa zwoats net dahoam! Daß i dös Gwichtl nachher hergeben hab müassen ... dös hat mi anderst gfukxt.« Von seinem Hof aus mußte der Damian das täglich sehen, wie der Bock sich in der Mittagszeit auf einem sonnigen Schlag ein bißchen umtat. Und da konnte der »Teifi«, der im Zagg rumorte, nicht länger zugucken. An jedem schönen Samstag also lauerte Damian, bis der Jäger von der Frühpirsche heimkam, und dachte ein Stündl später: »So, jetzt schlaft 'r! « Aber der Jäger hörte den Schuß, sprang gleich mit dem Perspektiv ans Fenster und sah, wie der Damian sich mit dem Bock in die Stauden 282
drückte, um da gemütlich den Abend heranzuwarten. Doch statt der ersehnten Dunkelheit kam der herzogliche Jäger und stellte sich mit gespannter Büchse vor die Staude hin: »Geh, du, komm aussi! D' Schandarm, die warten scho drunt auf di!« Da half nun keine Schlauheit mehr. Und jeder Widerstand wäre nutzlos gewesen. »Mei Büxl hätt 'r aa no gearn haben mögen. Aber, du paß auf, hab i gsagt, da greif net oni, da is hoaße Fetten dran! Na na! 's Büxl hab i scho selber hoamtragen. Dös hätt i mer net nemma lassen, net ums Verrecken! Den Rehbock, meintwegen, den hat 'r tragen kinna.« Damian schmunzelte. »Geschwitzt hat 'r wie a Sau! ... No ja, nacher haben s'mi halt vierzehn Täg eingnaht!« Zu dieser Geschichte, die ich da knapp in ein paar Zeilen festhielt, brauchte der Damian Zagg eine geschlagene Stunde. So anschaulich erzählte er, daß ich jeden Grashalm sich biegen sah, jedes welke Blatt vor seinen schleichenden Füßen rauschen hörte, jeden Flimmerglanz der Sonne fühlte und fast jedes Härlein am Rehbock zählen konnte. Und als der herzogliche Jäger plötzlich vor der Staude stand, da sah ich sogar, daß ein Knopf an seiner Joppe fehlte und daß seine grüne Weste mit Eiergelb betrenzt war. Mochte aus diesem Wildschützen ein guter oder schlechter Jäger werden, gleichviel, diesen Damian Zagg wollte ich behalten, und wär' es nur, um ihn erzählen zu hören. Als ich ihm sagte, daß er sofort als Jäger bei mir eintreten könnte, blieb sein Gesicht ruhig. Nur in seinen Augen war ein Lachen. Und während ich ihm die Pflichten seines Dienstes vorhielt und beifügte, daß jeder tüchtige 283
Jäger friedlich mit mir auskäme, daß aber, wenn ich den Dienst leiden sähe, mit mir nicht gut kirschenessen wäre, guckte er mich aufmerksam an, und sein rechtes Auge wurde ein bißchen kleiner. Ich möchte wetten, daß er sich in diesem Augenblick dachte: »Mit dir wear i scho firti! Von uns zwoa bin allweil i der gscheider!« Dann stand er auf und streckte mir energisch die Hand hin: »Mit mir wearn S' zfrieden sein, Herr Dokter! Da weard nix fehlen! « Dieses Versprechen erfüllte sich auch, soweit es den Jäger betraf. Unter den vielen Jägern, die in 30 Jahren durch mein Leben gegangen sind, war Danüan Zagg der beste. Er war in seinem Revier daheim wie mit der Faust in der Joppentasche. Jeden Hirsch und Gemsbock kannte er, nicht nur nach Standort und Gewohnheit seines Wechsels, sondern so, wie unsereins die Menschen an den Gesichtern unterscheidet. Und im Winter sorgte er für sein Wild wie ein braver Hausvater für seine Familie. Mit ihm zu pirschen, das war ein Hochgenuß. Solange man nicht in Wildnähe war, erzählte und plauderte er mit einem trockenen Humor, den man nicht satt bekam. Und alles sah er, auf alles machte er einen aufmerksam. Er hatte Sinn für die Natur, für Stimmung und Beleuchtung, und liebte die Blumen. Auf jedes seltene Stäudlein wies er hin. Dann plötzlich sagte er: »Jetzt müassen mer aber stad sein! « Und da flüsterte er nur noch die nötigsten Worte, und seine Art, sich zu bewegen, wurde eine ganz andere. jeder Schlich und Wechsel des Wildes, die wirre Dickung und das einförmige Steinmeer waren ihm so vertraut wie dem Fuhrmann die Landstraße. Brachte die Pirsche eine Schwierigkeit, so wußte er im kritischen 284
Moment immer gleich das Richtige und tat es auch sofort. Doch bei aller äußerlichen Ruhe wühlte in ihm eine brennende Aufregung, die sich in etwas absonderlicher Weise bemerkbar machte: er mußte alle paar Minuten beiseite treten. Aber dieser Ausdruck ist nur sub rosa zu fassen, denn Damian tat dabei keinen Schritt nach rechts oder links. Ich fragte ihn einmal, ob er leidend wäre. »Gott bewahr! Aber bal ebbes Schußbars umanand is, kon i vor lauter Fiebern 's Brünndl nimmer derhalten.« Lag das Wild, dem der Pirschgang gegolten, so war dieses Leiden sofort verschwunden. War aber der Pirschgang resultatlos verlaufen, so pflegte es immer noch eine Weile anzuhalten. Daß man darüber lachen und Scherze machen konnte, begriff er nicht. »I woaß net, was unsere Herrn allweil haben! Dös macht ja bloß mir an Arbet!« Nicht nur als Jäger, auch sonst, in allen praktischen Dingen des Lebens, war er geschickt und findig. Wenn er was anpackte, traf er immer gleich den Nagel auf den Kopf. Alles Handwerk verstand er, und was er schlosserte, zimmerte oder schreinerte, das kam immer tadellos und sauber aus seiner Hand. »Bal ebbes machst, da muaßt es richti machen! « Das war einer von seinen Lieblingssprüchen. Freilich, der Gang seines Lebens war auch eine Schule für alle Arbeit gewesen. Er war der Sohn eines Försters, der den halbwüchsigen Buben lieber mit auf die Pirsche nahm, als daß er ihn in die Schule schickte. Und als der Vater frühzeitig gestorben war, mußte der Bub mit seiner Mutter weiterhausen und überall zugreifen, wo es was zu verdienen gab. Er wurde Holzknecht, Pechsammler, Schmuggler, Fischer, Flößer, Zimmermann, und schließ285
lich Träger und Treiber bei den großen Jagden des Herzogs, in dessen hirschreichen Revieren sich der Damian auch still und vorsichtig zum Wildschützen ausbildete. Weil er genügsam und haushälterisch war, brachte er auch was vorwärts und hatte sich ein kleines nettes Anwesen zusammengespart, das in einem fünf Stunden von unserem Jagdgebiet entfernten Dorfe lag und von seiner alten Mutter bewirtschaftet wurde, die der Damian, seit er mein Jäger geworden, jedes Jahr ein paarmal besuchte. Um von der Geschicklichkeit und rücksichtslosen Energie, mit der er eine ihm neue Sache anfaßte, ein Exempel zu bringen, will ich erzählen, wie der Damian Zagg das Radfahren lernte. Als damals das Radeln sich in den Gebirgsdörfern einbürgerte, meinte der Damian eines Abends, das wäre nicht schlecht, wenn er so manchmal an einem freien Sonntag die fünf Stunden zu seiner Mutter »aussisausen« könnte. Gleich am andern Morgen borgte er sich vom Postboten das Rad aus. Der Platz, auf dem er das Radeln üben wollte, war eine schlechte, mit groben Steinen besäte und von Schrunden durchrissene Waldstraße, zwei Meter breit, links die Felswand und rechts der Absturz in das Bachbett. Und das Rad packte er an, wie man einen Stier, dem nicht zu trauen ist, bei den Hörnern faßt. So hab ich in meinem Leben nicht oft gelacht wie damals, als ich dem Damian Zagg zuguckte, wie er das Radfahren lernte. Bei jedem Purzelbaum, den er machte, fluchte er verwundert: »Teifi, Teifi! Hat's mi scho wieder grissen! « Nach zwei Stunden war das Rad eine unreparable Ruine. Aber der Damian Zagg war ein perfekter Radfahrer. Dem Postboten bewies er, daß die Maschine »eh scho nix nutz« gewesen wäre, bezahlte ihm »aus reiner Guatigkeit« ein paar Mark Entschädi286
gung -- und für sich selber kaufte er ein neues, gutes Rad, das er so vorsichtig behandelte wie der Apotheker die Quecksilberflasche. Bei einer heitern Festlichkeit, die wir zum Gaudium unseres Personals veranstalteten, gab es auch ein Preis-Tennis für die Jäger, die natürlich noch nie ein Raket in der Hand gehabt hatten. Sie machten Sprünge nach den Bällen wie die Katze nach der flinken Maus. Es war, um sich krumm zu lachen. Diese plumpen, derben Kerle! Wie die da hüpften und sinnlos auf dem Rasen umherjagten, in den sie mit ihren Nagelflößen tiefe Löcher hineinsprangen! Die anderen, als sie nichts fertig brachten, wurden verlegen und schämten sich ihrer Ungeschicklichkeit und des Mißerfolges. Damian Zagg aber geriet in eine Wut, daß sein Gesicht mauerbleich war, und daß er an den Augen das Weiße herausdrehte. Sein Blick schärfte sich gleich dem Blick eines hungrigen Adlers, und an seinen Gliedern strafften sich alle Muskeln wie am Körper eines Raubtiers, das um sein Leben ringt. Und richtig wurde er Sieger im Turnier! Niemals hab ich im Blick eines Menschen solch einen heißen Stolz gesehen, wie er dem Damian Zagg in den Augen glänzte, als er den Preis in Empfang nahm: die zehn Mark und das seidene Fähnlein. Ähnlich war's auf der Kegelbahn -- da nahm er immer die Kugel in die Hand, wie ein starker Mensch sein Schicksal -- gleichviel, ob um Geld oder um die Ehre gekegelt wurde. Und das galt ihm wie ein hoher Merktag seines Lebens, als er endlich auf der neuen Bahn herausgefunden hatte, wie man für einen sicheren Schub die Kugel auflegen mußte. 287
Aber die höchste unter seinen Künsten war doch seine Art, zu erzählen. Aus der kleinsten, unscheinbarsten Sache wußte er was Merkwürdiges zu machen, durch die humoristischen Lichter, die er überall aufsetzte, und durch die spielende, spöttische Überlegenheit, mit der er den Stoff behandelte. Wenn er mit einem Jagdgast von der Pirsche heimkam, war es für mich immer ein Hauptvergnügen, mir die Geschichte dieses Pirschganges zuerst von dem Gast und dann vom Damian erzählen zu lassen. Das gab immer zwei Geschichten, die einander glichen wie Faust und Auge. Und ohne gerade was grob Verletzendes zu sagen, spickte Damian die Geschichte so reich mit den Kletten seines Spottes, daß der Gast sie nicht hätte hören dürfen. Da bekam er einmal einen ellenlangen Herrn zu führen, der mit Röhrenstiefeln zur Gemsjagd ausrückte. »Sakra«, staunte Damian, »Sö wearn aber die Gamsböck abireißen von der Wand! Wie der Burgermoaster die Kalenderblattln!« Am Nachmittag, als die beiden ohne Gemsbock heimkehrten, schmunzelte und nickte mir Damian schon von weitem zu. Der Gast, dessen Stiefelröhren von hundert Steinrissen durchsäbelt waren, erzählte schwitzend und erschöpft: das wäre ein hochinteressanter Weidmannsgang gewesen; er hätte drei kapitale Böcke rege gemacht; leider wäre ihm der erste Schuß vorzeitig abgegangen, das zweitemal hätte er so unsicher gestanden, daß die Lanzierung eines korrekten Schusses absolut unmöglich gewesen wäre, das drittemal hätte die Patrone nachgebrannt, und ein vierter Bock, den sie noch auf dem Heimweg überraschten, hätte sich französisch empfohlen. Aber ein herrlicher Anblick wäre das gewesen! Dieses 288
imposante Bild der Natur! Dieser grandiose Schwung der Berge! Auf Schritt und Tritt dieser heiß erregende Kampf mit der Gefahr! Einfach unvergeßlich fürs Leben! Damian Zagg, als er mit mir allein in meiner Stube war, fing zuerst unter Zorn und Lachen sein übliches Fluchen an: »Teifi, Teifi, Teifi! I hab scho viel umananderzarrt auf die Gamsberg. Aber so an stockboanigen Lippl hab i meiner Lebtag no net gsehgn. Dahergstiegen is er wie der Storchenvogel. Und bal der Steig schmäler woam is als an Meter, hat 'r vor Angst scho gnackelt an Händ und Füaß. Den Hals hat 'r wie a Wagendeixel aussigschoben und mit die Stiefelröhren hat 'r gscheppert, daß der Mesner am Karfreitag mit seiner Ratschen gar nix is! Natüarle san die Gamsböck auf fünffiundert Gäng scho davongsaust. Und da hat 'r nachipulvert, daß i gmoant hab, i bin bei Marladuhr! Wie er den dritten gfait hat, hab i gsagt: »Sö gfallen mer! Schaugn mer, daß mer hoam kemma! « Aber da hat 'r allweil gmoant: »Bropüren wür die Sache nochchch einmahl! « Ja, Schnecken, hab i mer denkt! Aber wie's der Teifi will, auf'm Hoamweg, da schaug i, der weil i grad mei Pfeifen stopf, so ummi über a Gratl, und da blitzt mer ebbes her durch die Graserln, dö si so fei allweil grüahrt haben im Sunnawind! Und richti! Liegt a Gamsbock da auf hundert Schritt. »Sö«, sag i und pack den Lippl bei der Stiefelröhren, »da liegt a Gamsbock, toan S' Eahna doch ums Herrgottswillen nieder! « Aber net ums Verrecken hätt 'r sie niedertan! »Sö«, sag i, »bal S' Eahna net niedertoan, muaß Eahna ja der Gamsbock sehgn!« Wissen S', was 'r gsagt hat? »Soll er müch sähen!« Da kunnt oan doch der Teifi kreuzweis holen! Natüarle hat der Gamsbock zammpackt und hat eahm übem Buckel her no ebbes gsagt.« Damian lachte. 289
»Aber dös hat der ander net verstanden, der muaß net gut deutsch kinna!« Ein andermal verbrachte Zagg mit einem Pirschgast die Nacht in der Jagdhütte am See. Nach der Heimkehr lachte Damian schon, als er in meine Stube trat. »Na, Dami«, fragte ich, »wie war's denn?« »Herr Dokter, dös is koa Mensch!« »Warum soll denn der Baron kein Mensch sein?« »Na! Dös is koaner! Dös is a Wasseramschtel!« »Was ist er?« »A Wasseramschtel! ja! Z'earst hat 'r an Gamsbock hergfait, den a Blinder mit'm Stecken hätt derschlagen kinna. Und auf d' Nacht, wia mer in d' Hütten kemma san, hab i eahm drei Zuber Wasser auffiholen müassen aus'm See. Und da hat 'r si nacket auszogen, wuzelnacket... ausgschaut hat 'r wie a Heiliger nach der Marterung ... und da hat 'r die drei Zuber Wasser über si abigossen. Und brietschelt hat 'r, grad wie a Wasseramschtel. Brrrrrr! Daß mer 's Wasser in d'Augen gespritzt is!« Dabei machte Damian mit Kopf und Armen ganz so flinke Bewegungen wie eine Wasseramsel, wenn sie badet. »Teifi, Teifi! A so a Narrenviech! Und den Bergstecken hat er allweil Ahlpensdock ghoaßen.« Er kratzte sich lachend hinter den Ohren. »Ja, is scho wahr! Heint in der Nacht, da hätt i bald an d' Seelenwanderung glaabt. « Dann machte er wieder ein ernstes Gesicht. »Und dö grauslichen Dinger, 290
dö er an die Händ hat? Haben S' dö scho gsehgn?« Er meinte die langen, zärtlich gepflegten Nägel, die der Baron an den kleinen Fingern hatte. »Is dös a Krankheit?« Das von der Seelenwanderung, das wußte er von mir. Davon hatte ich ihm einmal erzählt, um seine eigenen Ansichten über Leben und Sterben aus ihm herauszukitzeln. Aber allen spekulativen und religiösen Gesprächen gegenüber war Damian Zagg so vorsichtig, wie der Marder vor der schlecht geköderten Falle. So gesprächslustig er sich sonst auch gab -- wenn ich auf dieses Thema kam, schwieg er beharrlich, zuckte die Achseln oder schmunzelte pfiffig, oder stocherte in seiner Pfeife herum. Einmal sagte er: »Ja, mei, a so a gstudierter Herr, wie Sö oaner san, der kon si an Ausdruck geben. Aber unseroam, bal 'r von söllene Sachen redt, kunnt leicht ebbes Gfahrlis aussirumpeln. Na na! Da halt i liaber's Mäu.« Durch einen Zufall kam ich aber doch dahinter, daß es im Damian Zagg mit dem Glauben an die Unsterblichkeit der Seele recht windig bestellt war. Da saß er in der Sennhütte, hatte einen festen Sums vom roten Spezial und wollte den Senn zum Mittrinken animieren. Der aber schüttelte den Kopf; er hätte grade genug; und wer sich sieben Räusche in einem Jahr ansöffe, käme in die Hölle; sechse hätte er in diesem Jahrgang schon gehabt, da möchte er doch den siebenten nicht riskieren; sonst könnte es ihm »da drent« gar übel ergehen. »Da drent?« schrie Damian Zagg und versetzte dem Senn mit Lachen einen Puff vor die Brust. »Geh, laß d'r dein Verstand frisch sohlen! Ausgschnauft, einigraben, und aus und gar iss! Dös glaab i!« 291
Erschrocken machte der alte Senn einen Versuch, diesen lästerlichen Heiden zu bekehren, und rückte mit allem heraus, was in seinem grau gewordenen Gedächtnis vom kleinen Katechismus noch übrig war. Damian lachte. »Du! Bal der Briefbot amal a Postkarten bringt ... und da steht drauf. An den dümmsten Kerl von Europa ... nacher bringt er's dir.« Am folgenden Morgen, auf dem Heimweg von der Pirsche, wollte ich den Damian ans psychologische Schnürchen nehmen und hielt ihm vor, was ich durch das Fenster der Sennhütte gehört hatte. Staunend schüttelte er den Kopf-- »Na na! Herr Dokter, da müssen S'Eahna verhört haben! So ebbes kon i net gsagt haben. Dös gibt's ja gar net.« Als wir heimkamen, wollte ich den Senn als Zeugen anrücken lassen Aber der alte Heiter guckte genau so harmlos verwundert drein wie Damian Zagg. »Ah naaa! Von der Seel und söllene Sachen, da haben mer fei gar nix gredt. Na! Net a Wörtl.« Auf dieser Behauptung blieben die beiden stehen. Und ich lachte dazu. Aber Damian, der sich sonst nur selten Kirchen--Urlaub geben ließ, rannte in diesem Herbst jeden anderen Sonntag in das zwei Stunden vom Jagdhaus entfernte Dorf, um seiner Christenpflicht zu genügen. Und die sonst bei ihm so beliebten Scherze über den Kaplan und die Widumsköchin stellte er völlig ein. Auch an die Geschichte, die ihm mit dem jungen Pater Franziskaner passiert war, wollte er sich nimmer erinnern. Ich habe sie mir aber doch gemerkt: 292
»Da bin i durchs Holz amal ummi auf Mittenwald. Und gahlings hör i was truschpeln im Dicket. Und da kommt so a Franziskanerlehrling daher, a bluatjungs Bürschl, und allweil bleibt 'r mit der Kutten an der Brombeerstauden hängen. Wart, denk i mer, den kaaf i mer a bißl! »He, du«, sag i, »wo kommst denn her überzwerch?« »Ich habe mich verirrt im Walde, sagt'r. »Wo tatst denn hinmögen?« frag i. »Nach Mittenwald, in Gottes und aller Heiligen Namen«, sagt 'r. »Woaßt ebba den Weg net ummi?« frag i. »Nein«, sagt 'r. »So? Da muaßt di halt zuachi halten zu mir! I spring aa grad ummi auf Mittenwald!« sag i. Und hab'n allweil so von der Seiten angschaut. Und frag: »Weil gar so an langen Kittel hast, jetzt woaß i net, bist a Mannsbild oder a Weibsbild?« »Nein, nein«, sagt'r, »ich bin schon ein Mannsbild, kennst Du mein heiliges Kleid nicht?« »So«, sag i, »heilig is dein Gwand? Wie's an die Brombeerstauden hängenblieben is, da hab i gsehgn, was drunter is. Und dös hat fei gar net heilig ausgschaut!« Da is er wie a Madl fuiri woarn über's ganze Gsicht. Und i frag: »Was is denn nacher dei Gschäft?« »Ich«, sagt'r, »ich weise den Menschen den Weg zum Himmel! « »Was? Du Lapp?« sag i. »So endsweit auffi willst den Weg für die andern wagen? Und selber woaßt net amal dös Trümmel Weg bis auf Mittenwald?« ... Zeisi, Zeisi! Der hat aber dreingschaut!« Solche Histörchen wußte Damian Zagg im Dutzend zu erzählen. Vielen merkte man an, daß sie irgendwo aufgeschnappt und subjektiv adoptiert waren. Wenn er das auch mit erzählerischem Geschick zu machen verstand, so wirkte doch alles, was aus seinem eigenen Leben heraussprang, viel schärfer und charakteristischer. Was er mir auf hundert Pirschgängen und an hundert Abenden in 293
der stillen Jagdhütte aus seinem Holzer--, Schmuggler-und Wildschützenleben erzählte, würde ein Buch füllen, ein dickes und doch ein amüsantes. Besonders gerne ließ ich mir von dem großzügigen Jagdleben in den herzoglichen Revieren erzählen, wo er als Träger und Treiber gedient hatte. Und da ist mir eine Episode unvergeßlich: »Amal, da is der Herzog angsagt gwesen zur Jagd. In aller Fruah haben s' scho an Haufen Kufer einigfüahrt ins Jagdhaus. Und alls is für d'Jagd scho parat gstanden. Bal ebbes net klappt hat, da hat 'r koan Guten net graucht, der Herzog. Herrgott! Hat der schimpfen könna! Aber bal's mit der Jagd guat nausgangen is, da is 'r aa wieder freindli gwesen. Wann i eahm die Gamsböck abizogen hab vom Stand, de hat 'r mer oft a Zigarl gschenkt. No, und da is er selbigsmal so dahergritten auf seim Bräundl. Teifi, Teifi! A so a Rößl! So ebbes hat ma sehgn müassen! A Köpfl wie a Rehgoaß! Und kugelrund! Und d' Haar haben glanzt vor lauter Fetten. Freili, a schwarer Mo is'r gwesen. Der hat scho a Rößl braucht, dös ebbes tragen hat kinna. Und derweil i no allweil dös Rößl anschau, gibt mer der Sepp an Renner. »Du«, sagt'r, »was kommen denn da für zwoa Weibsbilder daher? Dö schaugn mer aber gar net nach der alten Herzogin aus.« Und da schaug i halt hin. Kreuz Teifi! 's Bluat is mer glei aussigfahren. Woaßt, neunzehn Jahr bin i halt selbigsmal gwesen. Und so ebbes schöns von zwoa Frauenzimmer hab i meiner Lebtag no riet gsehgn ghabt.«
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Als mir Damian diese Geschichte zum erstenmal erzählte, fragte ich: »Waren das Verwandte vom Herzog?« »Was woaß denn i?« Er schmunzelte. »Aber dö zwoa Weiberleut, dö hätten S'sehgn sollen! Teifi, Teifi! Die oane, so a Schwarzlechte ... wie a richtige Italänerin hat s' ausgschaut ... dö is auf an Schimmel gritten. Und Augen hat s' ghabt wia die höllische Gluat. Und mollet war dös Weiberleut, daß ma gmoant hat: wo mas anrüahrt mit an Finger, muaß a Krüawerl bleiben. Ferm wie d' Nudel, wann's frisch aus'm Schmalz kommt. Und die ander erst! Dös is a Blonde gwesen, in lauter weiße Spitzentüacheln eingnaht, dö allweil pludert haben, bal si a Lüftl grüahrt hat. Und is auf an Rappen gritten. Teifi, Teifi! Wias Christkindl is dös Madl drobengsessen. Kloaboanlet und fein, daß gmoant hast, mit an halben Schnaufer kunnst es übern Haufen blasen. Und wia der Herzog dös Madl abighoben hat vom Rößl, da hat's d'r an Lacher gmacht wie a silbrigs Glöckerl, und hat zum Hupfen und zum Fliagen und zum Tanzen anghebt, daß ma gmoant hat, sie müaßt a paar Schwalbenflügerl hinter die Achseln haben! Teifi, Teifi, Teifi!« Dem Damian wurde schwül beim Erzählen, und schnaufend schob er den Hut aus der Stirne. »Sunst is der Herzog allweil abi vom Bräundl und auffi auf 'n Stand. Aber am selbigen Tag, wie er einigritten is, da hat 'r koa Treiben nimmer ghalten. Am andern Morgen hat alles scho paßt um halber Viere in der Fruah. Aber Achte iss woarn, und Neune, und koa Herzog is zum sehgn gwesen. Und allweil san d' Laden no zuagwesen am Jagdhaus. Und der Wildmoaster hat gfluacht: »Ja 295
sakra, was is denn da, heut kommt er ja gar nimmer auffi!« Endli, um halber Elfe hat si der Herzog anschaugn lassen. Und da haben mer an kurzen Trieb gmacht. Doch hat 'r net auffimögen. Aber dö zwoa Weiberleut, dö haben mit auffi müassen auf'n Stand. Drei Gamsböck hat 'r gschossen. Und wia i auffikumm und will dö Gamsböck abiziahgn, sagt der Herzog: »Dami«, sagt 'r, »da droben hängen noch ein paar schöne Alpenrosen. Die hol mir mal herunter! Wie a Narr bin i auffigrumpelt und hab den Buschen abigrissen. Herrgott! Dö Röserln haben gleucht wia 's Fuier. Und den halben Buschen hab i der Blonden hinboten, und den halben Buschen der Schwarzlechten. Dö hat so gspassi dreingschaut mit ihre ruaßigen Hexenaugen. Aber die Blonde hat glacht. Und sagt: »Ich danke schön! « Und wia s' nacher davon san mit 'm Herzog, is um den ganzen Stand her a Gschmacken blieben, daß d' moana hättst kinna, ma hätt an ganzen Heuwagen voll süaße Bleamln ausglaart. Und akrat so hat die Kaleschen allweil gschmeckt, bal i 's waschen hab müassen, wann der Herzog mit dö Zwia von der Luftfahrt hoamkommen is! ... Teifi, Teifi, Teifi! ... Aber selbigsmal haben mer guate Zeiten ghabt. Dö ganze Nacht haben mer allweil schlafen kinna. Und vor Zehne, halber Elfe is ma nia net ausgruckt zum Treiben. Drei Wochen san s' blieben, dö Zwoa. Und in der Fruah amal, da sans davongfahren mit der Kaleschen. Und allweil haben 's auffigwunken mit die Schnäuztüachln. Ja! Und auf'n Abend is' die alte Herzogin dahergfahren in der Kaleschen. Und so a gspassige Nasen hat s' allweil gmacht, grad, als taat s' in der Kaleschen ebbes schmecken von dö süaßen Bleameln. Und der Herzog hat gsagt: »Grüß dich Gott, meine Liebe! Schön Wetter haben wir! Was?« Und am andern Tag haben mer um halber Viere scho ausrucken müassen zum 296
Treiben. Ja! Und scharf hat er's trieben mit der Jagd. Oan Tag um den andern. Da hat's koan Sunnte geben! ... Teifi, Teifi, Teifi! Selm haben mer schwitzen müassen.« Sooft mein Damian in besonders guter Laune war, mußte er mir diese Geschichte erzählen. Und da erwachten in seiner Erinnerung immer neue, charakteristische Züge. Nur schade, daß sich das alles nicht gut schreiben läßt! Eine Perle seiner Erzählungskunst war auch die ausführliche, mit dem drolligsten Humor und den schärfsten Beobachtungen gezierte Schilderung der vierzehn Tage, die er zur Sühne für jenen Rehbock hatte brummen müssen. Bis er die Gerichtsverhandlung überstanden hatte, war es Herbst geworden. Eine böse Zeit, um zu sitzen! Wenn draußen im Bergwald die Hirsche schreien und in der ungeheizten Gefängnisstube die Nächte so bitter kalt werden! Während Damian diese Stube und das unbehagliche Zusammensein mit den Vagabunden ausmalte, die man da und dort im Lande aufgegriffen hatte, roch man in dieser Schilderung förmlich das soziale Elend. Und den Atem der Ratten! Sooft er das erzählte, befiel ihn ein Ekel, der seinen Körper schüttelte. Und wie er diese Menschen zeichnete, die man da brachte und wieder fortführte! Und den Wärter! Und den Inspektor! Der hatte Stiefel, die immer knarrten, und wenn er unwillig den Kopf schüttelte, fielen ihm vom Bart die Schnupftabaksbröselchen auf den Bauch herunter. Zu Beginn der zweiten Woche kam der Wärter mit einer höflichen Frage. Keiner der Gefangenen wäre zur Arbeit verpflichtet -- vielleicht ließe sich aber doch ein Liebenswürdiger finden, der die Neigung hätte, für den 297
Herrn Inspektor ein Klafter Buchenholz klein zu machen? Unter dem Dutzend, das die Stube füllte, war Damian Zagg der einzig Gefällige -- weil ihm die Arbeit ein Mittel gegen die Langweile war, und weil er einen Vorteil witterte. Der stellte sich auch wirklich ein. Als die Frau Inspektor sah, wie sauber Damian Zagg das Holz zerkleinerte, wie fürsorglich er die appetitlichen Scheitchen hinauftrug in den dritten Stock und sie pendantisch aufschichtete nach der Schnur, da bewilligte die strenge Behörde sein Gesuch um eigene Kost und um eine separate reinliche Zelle. In dieser Zelle standen zwei Bettstellen. Und nun verfügte Damian Zagg über vier wollene Decken, mit denen er sich's in den kalten Nächten auf dem stramm gestopften, steinharten Strohsack ganz warm und behaglich machen konnte. Auch hatte er aus seinem Strohsack, um besser zu liegen, noch Stroh herausgenommen und hatte es drüben in den anderen Sack hineingestopft, der sich nun walzenförmig und eisenhart aus der Bettlade herauswölbte. Nach dieser kurzgefaßten Einleitung, an der mein Damian immer eine Stunde zu erzählen hatte, mag er nun selber reden: »Auf'n Abend amal, es is scho völli finster gwesen, und i bin scho bacherlwarm unter meine Decken glegen, da hat mas Tüarl aufgmacht, es pumpert oaner eini, und nacher hat si der Schlüssel wieder draaht. »Teifi, Teifi«, denk i mer, »jetzt muaß i zwoa von meine Decken hergeben! Teifi! Dös kunnt mer taugen! « Und da sagt der ander. »Malefiz no amal! Was is denn dös? Warum is denn da 298
so finster?« »Mei«, sag i, »der Fischkali hat halt's Elektrische no net. Hättst d'r halt a Kerzl mitbringa müassen! Wer bist denn du?« A junger Bauer is er gwesen, aus an guaten Anwesen. Und Nägelspacher hat 'r ghoaßen. Vor vier Wochen erst hat 'r Hochzet ghalten. Und in der Brautnacht hat er a Ruhestörung verüabt. Und da haben s' eahm vierazwanzg Stunden auffipelzt. Dös hat eahm gar net taugt. Und a verzartelts Luader muaß 'r gwesen sein. Was der allweil kreistet und gjammert hat! »Marundjosef«, hat er allweil gsagt, »ja wann i nur wieder bei meim Sepherl waar! Dös halt i net aus! A so a Nacht in der kalten Finstern! Wann i nur wieder bei meim Sepherl waar!« »Gelt«, sag i, »dös taat dir freili besser schmecken? Aber jetzt gib amal a Ruah! Daherin setzt ma in der Ordnung sei' Straf ab. Deswegen braucht ma net ander Leut aus'm gsunden Schlaf bringa!« »Schlafen?« sagt 'r. »No ja, meinetwegen! Wo waar denn die Bettstatt? Is mer ja alles finster vor die Augen.« »Muaßt halt greifen«, sag i, »wenn dei Sepherl da waar, gelt, dö taatst bald finden!« »Ja, Mensch«, sagt 'r, »da hast recht! « Und da fangt 'r 's Umanandertappen wieder an. « Bei dieser Stelle lachte der Damian immer, weil er sich das Gesicht vorstellte, das der Nägelspacher machen mußte, wenn seine tappenden Hände den steinharten, walzenförmigen Strohsack fanden. »Geh's, wias mag, hab i mer denkt, ich gib koa Decken net her! Und da tuats's an Rumpler, und der Nägelspacher kreistet: »Jöises, Jöises, jetzt hab i mers Mäusle aussigstössen aus'm Knia!« »Macht nix«, sag i, »da herinn san Mauslöcher gnua, da weard's scho wo einihupfen, dei Mäusle.« A halbe Stund lang hat'r so furtgjammert. Und 299
gahlings tuat 'r an Fluach ... dös is a gsunder gwesen! Woaßt, da hat 'r den Strohsack gfunden. Und derweil i mer unter der Decken 's Lachen verbissen hab, schreit er allweil, der ander: »Sakra, Himisakra! Da muaß ja der Mensch derfrieren! Is denn koa Decken net da?« »Na«, sag i, »da drent is koane. Müßt d'r halt i oane geben. Aber ans Beißen muaßt gwöhnt sein. Wanzen und Flöh san drin in die Decken, daß mas grad allweil so wuhrln spüart!' »Pfui Teifi«, sagt 'r, »i dank schön, na, da mag i nix wissen, bhalt deine Decken selber! Da hock i mi liaber die ganze Nacht auf'n Sessel. Is denn koa Sessel net da?« »Na«, sag i, »wearst di scho auffitrauen müassen auf'n Sack.« An Ewigkeit hat 'r so gsprissen. Aber gahlings hat 'r si do auffitraut. Und kaam liegt 'r droben, hat's 'n scho wieder abigrissen über d' Leiten. An Pumperer hat's gmacht aufm Boden, daß i gmoant hab, d' Mauer is eingfallen. Und der Nägelspacher rebellt und fluacht: »Ja Himisakra, was is denn dös für a Sack! Der is ja buckliger wia d' Welt! Da ka ma ja gar net liegen drauf! « »Ah freili«, sag i, »da ko ma scho liegen drauf, den Vorthl muaß ma halt aussifinden, woaßt! Da legst die auffi nüt'm Bauch, und d'Füaß muaßt ausanand spreizen, so weit wia s'roachen, und nacher muaßt di mit die Arm fest einikrailn untern Sack. Da liegt ma nacher nobel. Ja! « Dös hat 'r probiert. Aber garnet hat's eahm taugen mögen. Herrgott! Wia der umanand gwetzt hat auf 'm Strohsack! Und gahlings hat 'r 's Reahrn anghoben: »Marandjosef! Heilige Muatter! Ko denn dös mögli sein, daß a Strohsack gar so hürt is!« »Gelt«, sag i, »dei Sepherl taat si a bißl linder gspüaren?« Und nacher hab i d' Ohrwascheln einizogen unter meine Decken und hab mi auf d' Seiten draaht. In der Fruah, wias tagelet hat, bin i aufgwacht. Da hockt der Nägelspacher auf'm Boden, und vor Frieren hat 300
'r grad so gscheppert mit die Zähn. Jetzt hat'r mir erbarmt, is scho wahr! Und wia i zum Holzkliaben gangen bin, hab i eahm meine Decken geben, alle viere! Und hab eahm gsagt, jetzt brauchet 'r koa Sorg nimmer haben wann 's Tag weard, taat si 's Unziefer allweil verschliefen. Teifi, Teifi, der is einigfahren ins Bett! Und auf Mittag, da hat 'r si recht derkenntli zoagt. Sechs Maaß Bier und vier Niarnbraten hat 'r holen lassen. Is a richtiger Mensch gwesen, der Nägelspacher. Ja! « Ihr hättet das Schmunzeln sehen sollen, mit dem der Damian Zagg seine Geschichte zu schließen pflegte! Diese rhapsodischen Künste machten den Damian für mich zu einer Kostbarkeit, deren Besitz ich von Jahr zu Jahr immer teurer bezahlen mußte. Ich hatte ihn zum Oberjäger ernannt und jährlich sein Gehalt erhöht. Als Jäger verdiente er das auch. Aber er war von den Menschen einer, die es nicht ertragen können, wenn sie es allzu gut haben -- einer von denen, die keinen anderen neben sich dulden können und nie genug Raum um die Ellenbogen haben. Mit keinem Mitglied des Personals vertrug er sich lange. Das artete nie in offene Feindschaft aus, doch es blieb ein immer--währender versteckter Krieg. Damian war ein Meister in jenem Gestichel, bei dem man nichts zu beweisen braucht, ein Virtuose jener spöttischen Redensarten, die um so übler wirken, je harmloser sie sich zu geben wissen. Anfangs nahm ich das immer ernst, untersuchte, konfrontierte und hatte nutzlos eine Kette von Verdrießlichkeiten und Ärger. Oft sprach ich ihm scharf ins Gewissen. Aber das half nichts. Er konnte nicht anders, auch auf die Gefahr hin, es mit mir zu verderben. Weil ich ihn nicht verlieren wollte, 301
ertrug ich seine Art. Und wenn er seine stachligen Kletten warf, ging mir sein Wort zum einen Ohr hinein und zum andern wieder hinaus. Halb und halb verstand ich auch, warum er so sein mußte. Er war kein Herdentier, sondern ein Einsamer, sei es nun aus Anlage oder durch die Schulung seines Lebens, das immer die abgelegenen Wege hatte suchen müssen. In dem zwei Stunden vom Jagdhaus entfernten Dorfe hatte er eine Stube gemietet, aber nur für die hundert Geweihe aus seiner Wildschützenzeit; ihm selber war es am wohlsten, wenn er mit den Menschen nichts zu tun hatte und durch den ganzen, sieben Monate langen Winter einsam in der verschneiten Jagdhütte saß. Er war ein Stück harter, roher Natur, an die Natur unlöslich angewachsen, mit dem rücksichtslosen Egoismus, wie er im Raubtier steckt. Dieser Egoismus milderte sich bei ihm fast nie ins Menschliche, nur immer ins Kluge, das den besseren Vorteil hinter der Schranke sieht. Das Bewußtsein dieser Klugheit machte ihn hochmütig und spöttisch. Alle anderen Menschen standen minderwertig unter seinem ruhigen Blick. Schon gar die Jäger! Und da war er zumeist nicht mit Unrecht stolz; er überragte sie alle an Verstand und weidmännischen Fähigkeiten. Das mußte er sie fühlen lassen. Und noch ein anderes kam dazu: der Wildschütz, für den der Jäger ein Gegenstand des Hasses oder der Geringschätzung ist, bleichte im Damian Zagg nie völlig aus. Dieser Oberjäger erzählte aus seinem früheren Wildschützenleben am liebsten die Geschichten, in denen der Jäger die Rolle des Dummen spielte. Aber diese andere Seele von einst, die noch in Damian steckte, färbte nicht ab auf seinen Dienst. Niemals beging 302
er eine Unredlichkeit. Wenigstens bin ich ihm nie hinter eine gekommen. Aber was sich neben dem Dienst an Vorteil gewinnen ließ, das scharrte er alles für sich zusammen. Auch hätte er das gerne angefangen: manchmal einen guten Hirsch oder Gemsbock vor mir zu verschweigen, um ihn für einen Jagdgast zu reservieren, von dem sich ein schweres Trinkgeld erwarten ließ. Aber das gewöhnte ich ihm ab; denn ich war in meinem Revier nicht minder gut zu Hause als er selbst. Und wenn ich auch nicht immer der Klügere war, so spielte ich ihn doch. Stieg da ein Verdacht in mir auf, und Damian meldete, er hätte was gut Schußbares nicht gesehen, dann schmunzelte ich ein bißchen und sagte: »So?« Seine Augen studierten mich. Und gewöhnlich fragte er: »Wissen ebba Sie ebbes?« Ich schmunzelte wieder und schüttelte den Kopf. »Ich? Nein! Geh nur, Dami! « Und gewöhnlich kam es dann so, daß er am anderen Morgen mit dem Rapport erschien: »Teifi, Teifi, Herr Dokter, heut hab i aber an Bock gsehgn! So haben S'koan zwoaten im Revier.« Was man aber »die letzten Dinge« nennt, das erfuhr ich doch nie von ihm. Da war er wie die Natur, zu der er gehörte als ein Teil. Etwas Heimliches, etwas Verschwiegenes, irgend etwas ganz Verschlossenes mußte er immer haben. Niemals, weder als Jäger noch als Mensch, ging er völlig aus sich heraus. Wie offen er sich in guter Stunde auch geben konnte, immer blieb ihm eine letzte Mauer, über die er keinen hinübergucken ließ. 303
Jede Sentimentalität und Gefühlsschwäche war ihm fremd. Für ihn gab es nur die harten Dinge. Und die sah er eben so, wie sie sind. Leben oder Tod, das war für ihn kein Unterschied. Im Frühjahr einmal, da wurde er über Nacht von einem schweren Hexenschuß befallen. Er hielt das für eine Lähmung, für einen Schlaganfall. Und sagte in seinem Schmerze ruhig: »jetzt hat 's mi! Teifi, Teifi! Hab mer scho allweil denkt, daß mi der Höllische holt amal. Aber daß 's grad heut sein muß! « Ich hatte ihm nämlich für diesen Morgen den Abschuß eines Spielhahnes erlaubt. Drum hätte ihm das Sterben an diesem Tage nicht gepaßt. Ein andermal, im Sommer, kam er mittags in meine Stube. Als ich ihm ins Gesicht guckte, merkte ich gleich: heut hat der Dami nichts gesehen. Und da meldete er: »Unterm Wetterschrofen hab i an Touristen gfunden. Der muaß scho den ganzen Winter im Schnee drin glegen sein. Halbert haben ihn d' Füchs scho vertragen. A guate Hosen hat er an. Muaß aber doch nix Nobles gwesen sein. Der Pickel is schlechte Waar. Und vieradreißg Pfennig hat 'r im Sack ghabt.« So gleichgültig, wie dieser Tote, waren ihm auch die Lebenden. Nie hab ich an ihm eine Regung wahrgenommen, die man als Neigung zu einem Menschen hätte deuten können. Mir hatte er manches zu danken. Aber deshalb stand ich ihm nicht näher als andere. Er wahrte nur mir gegenüber die Form. Und das nahm in der Stunde ein Ende, in der wir auseinandergingen. Und doch war zwischen seinen derben Herzmuskeln ein wärmerer 304
Fleck. Der verriet sich im Verkehr mit den Kindern. Für die hatte er immer einen guten Blick, einen vertraulichen Klang, ein herzliches Wort. Aber Liebe war auch das nicht. Es war nur der unbewußte Ausdruck seiner ungestillten Sehnsucht nach eigenen Kindern, war an ihm ein Stück Natur, in der seit Ewigkeiten der Wille glüht, nicht zu vergehen, ohne neues Leben geschaffen zu haben. Daß ich mit dieser Deutung nicht fehl greife, das beweist mir der merkwürdige Vorgang seiner Brautfahrt -- ein Vorgang, den man heiter nehmen muß, obwohl die Tragödie einer guten, einsamen Menschenseele dazwischenklingt, die ihrem dürstenden Verlangen nach Glück und Lebensschönheit zum Opfer fiel. Trotz mancher Eigenschaft, die sich schwer ertragen ließ, war Damian Zagg ein Mensch, den man gernhaben konnte. Alles an ihm -- auch das, worüber man sich ärgerte -war kraftvoll und echt. In nichts war er kleinlich. Und neben seiner Erzählergabe und seinen Fähigkeiten als Jäger hatte er noch manche Lichtseite. Er konnte was Schönes verstehen, auch wenn es außerhalb seiner praktischen Interessen lag, er hatte Ehrgefühl und Vornehmheit, bis zu einer gewissen Grenze auch gute Manieren, und gegen Damen konnte er sich mit ritterlicher Liebenswürdigkeit benehmen, was ihn aber durchaus nicht hinderte, in ihrer Gegenwart zu rülpsen. Deswegen las ich ihm einmal die Leviten: das wäre unschicklich, so was müßte man in Gegenwart anderer Menschen unterdrücken. Er sah mich verwundert an: »Warum denn? So ebbes is gsund. Dö Damen weard aa oft der Luft plagen, wo s' froh waaren, wann s' 'n draußt hätten.« Es fiel ihm auch gar nicht ein, diese »gesunde Gewohnheit« abzulegen. 305
Durch alle sieben Jahre, die er in meinen Diensten stand, blieb er sich in seinem Wesen völlig gleich. Nur in seiner Unverträglichkeit wurde er reizbarer von Jahr zu Jahr. Wegen der harmlosesten Kleinigkeit konnte er einen Spektakel machen, daß es böllerte. Die anderen Jäger gingen ihm, soweit der Dienst das zuließ, mit Vorsicht aus dem Wege. Und das weibliche Dienstpersonal im Jagdhaus hatte eine zitternde Angst vor ihm. Das war nicht nur die Angst vor seinem Zorn, es war noch mehr die Angst vor seiner Gnade. Denn der Damian Zagg war unermüdlich auf der Suche nach dem ewig Weiblichen. Dabei ging er einen doppelten Weg. Auf dem einen holte er sich, was er, um es mit seinem eigenen Wort zu sagen, »für die Gsundheit brauchte«. Von Neigung war da nie die Rede; und er war auch gar nicht wählerisch; wo sich was erhaschen ließ, da griff er ohne viel Umstände zu; und dann war die Sache wieder für einige Wochen erledigt. Tauchte auf zwei Stunden in der Umgebung eine neue Sennerin auf, und sagte der Danüan von ihr. »Is gar koa unguats Frauenzimmer, dö!« -- das war immer ein Beweis, daß Danüan Zagg an seine Gesundheit dachte. Begann er dann plötzlich seine spöttischen Kletten nach dem Mädel zu werfen, und sagte er von ihr: »Ah mei! A so a Weibsbild! Was kannst denn machen mit so oaner?« -- dann wußte man immer, wieviel es geschlagen hatte. Und prompt erschien dann in der Wochenrechnung des Oberjägers ein Posten: »Der Sendrin, fir Ausputzen der Diensthütte -- 1 March 50.«
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Gegen diesen Posten war nie was einzuwenden, da sich der Bretterboden der Diensthütte tatsächlich immer als sauber gescheuert erwies. Nie hörte man vom Darnian über eine der Sennerinnen, die in unseren fünf Diensthütten von Zeit zu Zeit dieses notwendige Reinigungswerk zu erledigen pflegten, ein wärmeres oder gar ein zärtliches Wort. Die einzige Zärtlichkeit, deren er fähig war, reservierte er für seinen Hund. Das war ein ungemütliches, für die Jagd völlig unbrauchbares Tier. Aber für den Damian war dieser Hund ein Heiligtum, das ihm über alles ging. Dieser Bravo war so unverträglich wie sein Herr, duldete keinen anderen Hund in der Nähe und zauste mir meinen Bergmann jede Woche ein paarmal blutig bis auf die Knochen. Aber weil ich wußte, wie Damian an dem Hunde hing, wollte ich nicht verlangen, daß er ihn fortgäbe. Doch es kam zu einer Katastrophe. Eines Morgens, als ich mit Damian auf der Pirsche war, hatte ich einen Gemsbock angeschossen und löste auf der Schweißfährte meinen Bergmann. Der Hund fand den Bock und gab in einer Dickung Standlaut. Ich springe hinunter und gebe dem Bock den Fangschuß. Und während nun Bergmann mit den Vorderpranken auf dem verendeten Wilde steht und todtverbellt, kommt Damians Bravo wie eine rote Kugel dahergesaust und faßt auch gleich meinen Bergmann an der Gurgel. Erschrocken komm ich meinem Hund zu Hilfe, bekomme den Bravo am Halsband gepackt, reiße ihn zurück und spediere ihn mit einem kräftigen Schwung in die Stauden. Da springt der Damian durch die Latschen her und brüllt: »ja Himmelherrgottsakrament! Was machen denn Sie mit meim Hund da?« Sein Gesicht war kreidebleich, und in seinen Augen dun307
kelte eine Wut, daß ich in der ersten Sekunde dachte: jetzt schlägt er im Jähzorn auf mich los! Ich schau ihn an und sage: »Damian! Du scheinst zu vergessen, daß du vor deinem Jagdherrn stehst! « Da war sein ganzer Zorn im Nu erloschen. Mit zitternden Händen legte er seinen Hund an die Leine. Dann schlug er ihn mit der Faust auf die Schnauze. »So, jetzt beiß no amal!« Auf dem ganzen Heimweg sprach er kein Wort. Aber noch am gleichen Abend, ohne daß ich es verlangt hatte, schickte er den Bravo mit einem Hüterbuben die fünf Stunden zu seiner Mutter hinaus. Ich habe den Hund nicht mehr gesehen. Und Damian war ein paar Wochen lang gegen mich von einer Liebenswürdigkeit, wie ich sie sonst in sieben Jahren nicht oft von ihm erlebt habe. Im Herbst, einen Tag nach meiner Abreise, holte er den Hund; und im Frühjahr, einen Tag vor meiner Ankunft, schickte er ihn wieder fort. So machte er's drei Jahre hintereinander. Im letzten Frühling erzählte er mir gelegentlich, daß Bravo im Winter einen Strychninbrocken aufgenommen hätte, den Damian selber für die Füchse ausgelegt hatte. Mit seiner charakteristischen Ausführlichkeit, doch ohne die üblichen spöttischen Schlaglichter, schilderte er mir die Kur, die er mit schwarzem Kaffee versuchte, und die Todeskämpfe des Tieres. »Wie i gmerkt hab, daß nix mehr hilft, hab i den Hund aus der Stuben auffitragen aufn Schnee und hab eahm a Kugel geben, daß 'r nimmer leiden muaß. Nobel hab i 's eahm auffigschossen! Z'mittelst aufs Hirnplattl! Koan Muckser nimmer hat'r gmacht.«
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Ich tat ihm den Gefallen und sagte gegen meine Überzeugung: »Das war ein guter Hund!« Fügte aber bei: »Nur schade, daß er so unverträglich war.« Damian nickte. »Freili, ja! Unter ander Leut hat 'r net einipaßt. Aber auf mi hat 'r si verstanden. Ja! Und zum eingraben hat 'r mi greut. Vier Fallen hab i dermit anködert. Und hab zwoa Mader gfangt. Is scho wahr, der hat mer no ebbes gnutzt, derweil 'r scho hin war.« Zehn Mark »Faachlohn« für Raubzeug! Das war der praktische Dank der »Liebe«, die Damian Zagg für diesen Hund in seinem unberührbaren Herzen getragen hatte. Und dennoch war in dieser »Liebe« mehr an Zärtlichkeit, als manches Mädel von ihm erfahren haben mag. Völlig getrennt von dem einen Wege, auf dem der Danüan das Weib im Dienste seiner »Gsundheit« suchte und auch immer fand, ging der andere Weg einher, auf dem er seine ruhelosen Heiratspläne spann. Und da war er, ganz gegen seine sonstige Gewohnheit, so wählerisch und zuwartend, daß sich jeder neue Plan immer wieder zerschlug. In seinem dritten Dienstjahr sprach er das zum erstenmal gegen mich aus: daß er heiraten möchte. Aber auch bei diesen Plänen war nie von Neigung die Rede, nie von einer Frau, die er liebhaben könnte. Sie mußte nur die Bedingung erfüllen, die er sich für das Bild einer vollkommenen Ehe ausgedacht hatte. Vermögen brauchte sie nicht zu haben -- er selber hatte genug, um einen sorgenlosen Hausstand gründen zu können. Auch katholisch 309
oder lutherisch, das wäre ihm alles eins gewesen. Aber ein »Baurentrampel«, das war von vorneherein ausgeschlossen. Er wollte »ebbes bessers«, eine Frau, die »ebbes fürstellt«, und mit der man sich sehen lassen kann. Groß und stattlich mußte sie sein, und gesund, und mußte »Holz beim Zeug« haben. Auf alle bessere Arbeit im Hause mußte sie sich verstehen. »Für's Putzen und für's Gröbere, da halt i ihr scho so a Weibsbild.« Und vor allem mußte sie gut kochen können. Den ewigen Schmarren und schwarzen Kaffee, das »Gschlader«, das sich die Jäger bei ihrer knappen Zeit in der Diensthütte zusammenbrauen -- das hatte der Damian satt bis an den Hals. Drum wollte er heiraten und wollte die Sache so haben: Wenn er heimkam von der kalten Pirsche, sollte der Herd dampfen und der Tisch gedeckt sein, ein gewärmtes Hemd sollte am Ofen hängen und die brave Frau sollte ihm helfen beim Umziehen. »Und bal i sag: dös brauch i, jetzt spring, marsch weiter und füranand! ... nacher muaß aa scho alles gschehgn sein.« Das waren die Bedingungen, denen die Zukünftige des Danüan Zagg entsprechen mußte. Und zu diesen Bedingungen kam dann noch eine, unter allen die wichtigste: die Frau des Damian mußte Kinder bekommen! Vier Jahre wählte und wählte er. Doch er fand nicht die Richtige. Mit jeder, auf die er sein Auge geworfen, hatte es einen Haken. Erst handelte er mit einer Wirtstochter aus seiner Heimat, dann mit einer Restaurationsköchin aus dem nahen Städtchen, die er im Stellwagen hatte kennen lernen, dann kam die Schwester eines Jägers an die Reihe, der in unseren Diensten stand -- und so lange sich Danüan das mit dieser Schwester überlegte, hatte der Bruder gute Zeiten im Dienst. Und schließlich entschied 310
sich Damian Zagg für unsere Jagdhausköchin. Das war ein großes, resolutes Frauenzimmer, ein paar Jahre älter als Damian, ausgestattet mit allen möglichen guten Eigenschaften, verläßlich und arbeitsam, ehrlich und treu, dazu eine Meisterin der Kochkunst. Drei Sommer waren die beiden aneinander vorbeigegangen, ohne daß sich eins ums andere kümmerte. Doch als sich Damian zu denken begann: das könnte die Richtige sein! -- und als er wollte, da war die gute brave Person von heut auf morgen bis über die Ohren in den Zagg verschossen. Mir tat sie leid. Sie verdiente was besseres als ein Leben nach dem Motto: »Spring! Marsch Füranand!« Und ich wußte: sie würde mit dem Damian steinunglücklich werden. Drum redete ich mit ihr und suchte ihr die Augen zu öffnen. Aber da half nichts mehr. Sie war von dem Weg, für den sich ihr ehrliches Herz entschieden hatte, nicht mehr abzubringen. Den Sommer über gaben sich die beiden als erklärtes Brautpaar, und im Winter wollten sie heiraten. Doch ehe der Herbst kam, war die Sache zu Ende -- ich weiß nicht, warum. Das gute Frauenzimmer kränkte sich einen Monat lang, vielleicht noch länger -- und Damian ging so ruhig und fremd an ihr vorbei wie früher. Und tat, als wäre gar nichts gewesen. Nach zwei anderweitigen Versuchen, die der Damian auch wieder aufgab, kam das romantische Heiratsprojekt, das mit dieser merkwürdigen Brautfahrt endete, für deren Verständnis es mir nötig erschien, zuerst die Gestalt des Helden in allen Farben und Zügen klarzustellen. Dazwischen, neben den Heiratsplänen des Danüan, lag noch ein Intermezzo, das der Erwähnung wert ist.
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Da fragte ich eines Tages nach einem Gewehrriemen, den ich beim Sattler draußen im Dorfe bestellt hatte. »Ja«, sagte Danüan, »heut hat 'n die Meinige bracht.« »Die Deinige? Wer ist das?« »'s Madl von meiner Hauswirtin draußt.« »Das ist die Deinige? Willst du die heiraten?« »Ah nah! So oane übern Winter halt.« Er war in der Pflege seiner Gesundheit etwas bequem geworden und hatte über den vergangenen Winter seine »Geweihstube« in das Haus der verwitweten Leitnerbäuerin verlegt, die eine Tochter hatte. Und wenn es dann draußen im Dorfe was Dienstliches für ihn zu erledigen gab, übernachtete er in dieser Stube. Bei 20 Grad unter Null und bei dem meterhohen Schnee konnte Damian den Weg zwischen Dorf und Jagdhaus, der im Winter sechs Stunden Mühsal verlangte, an einem Tag nicht zweimal machen. Und von dieser »Seinigen« erfuhr ich dann so zufällig eine kleine Geschichte -- als mir Damian die Raubtierbälge zeigte, die er in diesem Winter erbeutet hatte. Unter ihnen war ein selten schöner Fuchsbalg. »Bei dem, da hat mer die Meinige gholfen!« sagte er. »Amal, da bin i auffi kumma, und da jammert d' Leitnerin, daß ihr der Fuchs drei Henna davon hätt. »Sei stad«, sag i, »den wear i bald haben!« Bei so an Schnee den Wechsel ausspüarn, dös is ja koa Kunst. Und auf' n Abend hab i 's Eisen glegt, a 312
dreihundert Schritt hinterm Haus droben. »Wart, Manndele«, hab i mer denkt, »da tappst mer scho eini!« Und richti! Gahlings in der Nacht, da weckt mi die Meinige. »Du«, sagt s', »lus auf, der Fuchs muaß hängen, an Spitakel macht 's, daß ma 's bis eini hört in d' Stuben! « I hock mi auf im Bett und lus. Aber da is koa Rüahrerl nimmer gwesen in der Nacht. »Geh«, sag i, »du wearst wohl traumt haben!« »Na«, sagt s', »ganz deitli hab i 's ghört, wie 's Eisen scheppert!« »No also«, sag i, »spring halt aussi und schau, und bal 's hängt, nacher holst mi. Marsch! Füranand! « A Kälten hat's ghabt, daß d' Eisbloama an die Fenster aufgfahren san wie Kaasrinden. Und Schnee hat 's ghabt, daß 'r oam auffi gangen is bis über d'Juppen. Teifi, Teifi! Da san dreihundert Schritt a Weg! Und an Endstrumm Weil hat 's dauert, bis die Meinige wieder einigrumpelt is in d' Stuben: »Hängt scho! Hängt scho!« Da bin i aber gschwind droben gwesen. Und bloß an Stroach no hab i eahm geben brauchen.« Weiter hab ich über die Fuchsbötin nichts mehr erfahren. Und weiß nicht, wie lange sie noch die Seinige blieb. Und das Jahr darauf, im Sommer -- es war von seinen sieben Dienstjahren das letzte -- zog er mit fünftägigem Urlaub auf diese merkwürdige Brautfahrt nach Wien. Da kam ich eines Tages zu ihm in die Jägerstube, um einen Pirschgang zu bereden. Als alles abgesprochen war, wollte ich aus der Stube gehen. Da sagte Damian: »Herr Doktor! Bal S' grad no an Schnaufer lang Zeit hätten, möcht i Eahna ebbes zoagen.« »Was denn?« 313
Er sperrte seinen Koffer auf, kramte von unten eine kleine Schachtel heraus und reichte mir die Photographie eines Mädchens. »Dö kunnt i jetzt heireten.« Das sagte er mit dem gleichen, ruhigen Ton, mit dem er vom Wetter zu sagen pflegte: »Da kon's jetzt guat wearn oder schlecht.« Das Bild, das die Firma eines Wiener Photographen trug und nicht mehr neu war, zeigte ein Mädchen von etwa 24 Jahren, anständig gekleidet, die Figur ganz schmuck gerundet, das Gesicht nicht hübsch und nicht häßlich, ein Dutzendgesicht, das aber doch was Fesselndes hatte: diese gutmütigen ehrlichen Augen. Die mußten blau sein, weil sie auf der Photographie einen so blassen Ton hatten. Aber das Haar war dunkel. Ich sagte: »Die sieht nicht übel aus.« Damian hob nachdenklich die Schultern. »Bal 's Bildl net lüagt.« »Wieso? Kennst du denn das Mädel nicht?« »Na!« »Aber Dami! Du wirst doch nicht eine Person heiraten wollen, die dir völlig fremd ist? Wie kommst du denn auf einen solchen Einfall?« Nun erfuhr ich, wie die Sache zusammenhing. Er hatte einen Freund. Der war noch ledig, war Förster in einem angrenzenden Jagdbezirk und schrieb in seinen Mußestunden schön aufgeputzte Artikel für Jagdzeitungen. 314
Durch seine feuchte Vorliebe für guten Tiroler waren seine Verhältnisse etwas aufs Trockene geraten, und da wollte er sich durch eine gute Heirat rangieren und veröffentlichte eine Annonce: »Deutscher Weidmann, gereifter Mann in sicherer Lebensstellung, gesund, von strebendem Geiste beseelt, sucht wegen Mangel an Damenbekanntschaft auf diesem Wege eine gutherzige und liebenswürdige Lebensgefährtin, die eine Freundin der Natur sein müßte und ein stilles trauliches Glück inmitten des rauschenden Bergwaldes allem leeren und hohlen Glanz des Stadtlebens vorziehen würde. Ernstgemeinte Anträge, mit beiliegender Photographie, unter »Treues Herz und grünes Heim« an die Exp. d. Bl. Anonymes wird nicht berücksichtigt. Vermittler verbeten. Das Herz rede zum Herzen. Strengste Diskretion ist Ehrensache!!!« Einen der Briefe, die auf diese Annonce einliefen, hatte der heiratslustige Förster dem Damian Zagg geschickt und mit Bleistift druntergeschrieben: »Lieber Dami! Das wär vielleicht was für Dich. Doch bitte um strengste Wahrung der Diskretion. Bei mir verschlagen die Rehböck schon. Bei Dir droben wird wohl noch der Eisriese Winter seine letzten Springkinkerln machen. Du, heuer hab ich wieder einen Magdalener, süffig bis zur Wonne. Also, überleg Dir's! Mit Weidmannsheil und treudeutschem Handschlag, Dein lieber usw.« Den Brief, unter den diese Freundesworte gekritzelt waren, gab mir der Damian zu lesen. Schade, daß ich mir diesen Brief nicht abgeschrieben habe! Aber damals, als die Geschichte anfing, nahm ich sie nicht so wichtig, wie 315
sie mir später erschien. Form und Wortlaut des Briefes sind, bis auf ein paar auffällige Wendungen, in meinem Gedächtnis erloschen. Doch Inhalt und Eindruck dieser vier engbeschriebenen Seiten sind mir in Erinnerung geblieben. Die Schreiberin dieses Briefes war ein Wiener Stubenmädel mit dem Vornamen Johanna. Der Zuname hatte ungarischen Klang. Und das Mädel schrieb: Sie hätte in der Neuen freien Presse die »Anonze« von der »Lebensgefährtin« gelesen, und obwohl es ihr gleich ganz heiß ums Herz geworden wäre, hätte sie doch eine Woche gebraucht, um den Mut zu finden, auf die »Anonze« zu antworten. Nun würde sie wohl schon zu spät kommen? Denn wie viele muß es in der Welt geben, die da gleich zugreifen! Gibt es denn etwas Schöneres als die Freiheit und das Glück und der schöne Wald und ein braver Mann und ein trauliches Heim? »Daderfür« könnte man doch arbeiten, bis einem das Blut aus den Fingern spritzt. Ach, das Land, das schöne Land! Ach, der Wald, der schöne Wald! Und die großen himmelsgroßen Berge! So groß sind die, daß einem angst wird. Und da kann sich eins nicht mehr helfen, daß man beten muß wie in der Kirche. Und die Berge sind doch noch hundertmal größer wie der Stefansturm, der in Wien der größte ist. Vor drei Jahren ist sie mit ihrer guten gnädigen Frau Hofrätin vier Wochen in Karersee gewesen. Da hat sie sich in Wien gar nicht mehr eingewöhnen können. Und Wien ist doch gewiß eine so schöne Stadt! Aber das Land und die »Bergesnatur«, die sind halt noch viel schöner. Wer da leben könnte in Glück und Freuden! Denn das Leben in der Stadt, auch wenn man eine gute gnädige Herrschaft hat, ist oft so grauslich. Und bei den Mannsbildern in der 316
Stadt, da merkt man immer gleich, was sie wollen. Und dann denkt man sich: Pfui Teufel! Und wenn man dann am Abend müd ist und doch nicht schlafen kann, und man liegt so in seinem dunklen »Kämmerlein« -- dann denkt man oft an einen Mann, den man gar nicht kennt, und der irgendwo daheim ist, man weiß nicht wo, und dann träumt man oft Sachen, daß man am andern Tag eine so verdrehte Gredl ist, daß die gute gnädige Frau oft sagen muß: »Aber Hannerl, wo hast du denn heut dein Köpfl wieder! « Und jetzt hat sie diese »Anonze« gelesen. Und seit acht Tagen rauscht ihr immer der »Bergeswald« in den Ohren! Und alles Schöne und Liebe, was sie so oft geträumt hat, könnte wahr werden. »Wenn es möcht!« Aber es wird halt nicht mögen. Denn wenn sie jetzt ehrlich und aufrichtig schreiben muß, was für ein armseliges Mädel sie ist, dann weiß sie doch gleich, daß es nichts wird. Ihr Vater ist gewesen, sie weiß nicht, wer. Ihre Mutter ist als Taglöhnerin gestorben. Und aus dem Waisenhaus heraus ist die Johanna gleich in einen Dienst getreten. Haben tut sie schon gar nichts. Nur ein Sparkassabüchl mit 800 Gulden. Und eine recht saubere Wäsch hat sie. Was ihr halt die gute gnädige Frau an Weihnachten immer geschenkt hat. Und von den Trinkgeldern hat sie sich Bettwäsch und Tischzeug dazu gekauft. Weil man doch immer denkt, man könnte es einmal brauchen. Das hat sie in der Nacht und an Feiertagen alles gesäumt und eingestickt. Nur auf den Vornamen. Und blau. Weil man dann den anderen Buchstaben mit rotem Garn drübersticken kann -- »wenn es so kommen möcht.« Aber was ist das alles für einen gereiften und sicheren Mann, der eine Stellung bekleidet und ein trautes Heim hat, inmitten des rauschenden, grünen »Bergwaldes«, und der einen Anspruch erheben kann. Sie weiß doch eh schon, 317
daß es nichts ist! Aber das Glück ist halt eine so eine schöne Sache! Und da probiert man's halt. Sie denkt sich »ohnedem«, daß sie gar keine Antwort bekommen wird. Aber wenn's halt doch sein könnte! Der sehr geehrte Herr würde gewiß mit ihr zufrieden sein als Frau. Aber da will sie lieber nichts versprechen, sondern alles durch die Tat beweisen, von heute an bis zu seiner seligen Sterbstunde. Sie hätte nur eine einzige Bitte. Wenn es auch nichts wäre, möchte ihr der sehr geehrte Herr doch wenigstens mit einer Zeile schreiben, daß es nichts ist. Damit sie nicht immer auf den Postboten wartet. Und daß es nicht so weh tut, möchte der sehr geehrte Herr ein Blümerl, das auf den Bergen gewachsen ist, in den Brief hinein legen. Das will sich die Johanna dann aufheben. Der Brief wirkte auf mich. Ganz verstanden hab ich ihn erst später. Aber ich fühlte doch gleich, daß trotz aller romantischen Überspanntheit des gezwungenen Stiles ein gutes, ehrliches und einfaches Menschenkind aus diesen Zeilen redete. Drum sagte ich: »Damian! Wenn du die bekommst, kannst du von Glück sagen.« »Ja!« Er schob die Fäuste in die Hosentaschen und spreizte das Leder auseinander. »D' Mutter, wia s' den Brief da glesen hat, dö hat's oa glei gsagt: dös müaßt a bravs Madl sein. Und mir hat 's aa gfallen, daß 's Madl schreibt, sie taat arbeten, bis ihr 's Bluat aus die Nägel spritzt. No, und da hab i mi aa glei hingsetzt und hab ihr gscluieben.« Er hatte noch das Konzept dieses Briefes. Der Inhalt und dieses Hochdeutsch -- das war zum Schreien!
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Jachthaus den 20. Julius 1904
Weidmannsheil,
Liebe Johanna! Ich habe deinen Briff mit lauffender Post erhalten. Aber so fil kan ich nicht schreiben als du, bin auch nicht so schulmeßig als du. Ich bin ein Jägersmann wo auf die Berge steigt und meinen Herrn seine Gamsen und Hirsen hütet. Und Zeit hab ich auch nicht so vill als du. Weil ich mein Dinst machen mus, was sehr streng ist. Da gibt's immer etwas. Also das wir gleich das Richtige machen. Dein Brif hat nür sehr gefalen. Da du so fleißig sein willst. Und meine Mutter hat's auch gesagt, Mein Sohn, die nimmst du, Und so machen würs. Ich nimm dich wenn du mich nimmst. Ich bitte mein Jachdherr um Urlab und reisse af Win, wenns auch deier is. Das es kurz wird, sag ich dir gleich ales. Ich besitze: Nro. 1 mein Gehalt, das ist hundert zen March im Monat, was in Jahr zwölfmal so vill macht, und mit Schußlöhn Fachlohn und Dusör von Jagdgest, was alls in Jahr auf zirker 1600 March auff und nider ankommt. Nro. 2 Mein Wonrecht im Jachdhaus mit Stub und Kuchen, und ein Garten is dabei, wo du alles bauen kanst was du an Gemüser nur haben willst was dein Herz begert.
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Nro. 3 ein schönes großes Anwesen, Hausnummer 132, in mein Heimatsort, ist Zweistöcket, hat Wonhaus, Stall, Holzleg, Obsgarten, Feld, Wiesen, Kataster Nummer 1009, mit Wald, Kataster Nummer 2013, dazu in Gemeindewald Holzrecht auf 3 Klafter Hart und 6 Klafter weich. Jetzt hats die Mutter, gehört aber meinn. Das können wir behalten oder verkaufen, das könn wür machen wie du willst und Was dir recht is. Nro. 4 1700 March Pfandbrif, von mir selm erspahrt. Is frier merer gwest, aber hab forix Jahr auf mein Haus, siehe Nomoro 3, ein neus Dach machen missen. Nro. 5. sonst nichts mehr, als mein sichern Dinst mit Gehalt Nomero 1. Jetzt sag ob dirs recht is. Lege auch mein Fotergrafi bei, is aber nicht gutt troffen, schau in würklich besser aus. Lege noch gewünschte Blume bei, wenn auch richtig was is, und gleich zwei, aus libe. Daß is Speik und Edelrauthen, und ist das schönste was man bei uns hat. Bin 19 hundert Metter und höcher hinauffgestiegen, um diese seltne Blume für dich zu broggen, meine libe Johanna. Also grieße ich dich! Und schreibe du mit Lauffender Post, ob es dir auch recht is. Also grieße ich dich in Treue und heb dein liber Damian Hausbesitzer und Ober--Jäger«
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Zagg,
Dieser Brief und dazu das ernste, erwartungsvolle Gesicht des Damian, der sich auf diese Leistung seiner Feder nicht wenig einzubilden schien -- das wirkte auf mich, daß ich flink aus der Stube mußte, um nicht laut herauszulachen. Was der Damian ernst nahm, durfte man nicht heiter finden. Da konnte er ungemütlich werden. Und ich wollte ihm die helle Laune seiner Ehestandsträume nicht verderben. Ob wohl der guten Johanna in Wien der schreiende Widerspruch zwischen diesem Brief und dem poetisch gefärbten Schwung der »Anonze« auffallen würde? Diese Frage beschäftigte mich. Doch ich glaube, die Johanna hat nie gemerkt und nie erfahren, daß Damian Zagg, der so nach der Nummer antwortete, ein völlig anderer war als der sehr geehrte Herr, an den sie geschrieben hatte. Eine Weile später kam der Damian zu mir hinauf ins Jagdhaus. Weil in einer halben Stunde die Post abginge, hätte er noch eine Bitte an mich. Ich wäre doch in Wien so gut bekannt. »Kunnten S' mehr da net den Gfallen toan und von meiner Johanna a bißl ebbes derfragen? Ob 's aa wahr is, daß si' s Madel so fleißi anstellt?« Das versprach ich ihm. Und fragte lachend: »Vermutlich willst du auch wissen, wie es bei der Johanna mit der Bravheit aussieht? Als Mädel?« »Ah na! Was ehnder war, geht mi nix an. Und bal mer amal gheiret haben, paß i scho selber auf, daß mehr d'Frau net außer der Hecken grast.«
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Ich schrieb noch in der gleichen Stunde an einen Wiener Freund und bat ihn, möglichst verläßliche Erkundigungen über die Johanna einzuziehen. Am andern Morgen, während ich mit dem Damian durch die graue Frühe zur Pirsche auszog, schwatzte er immerzu von dem »fleißigen Madl« -- ganz gegen seine sonstige Gewohnheit sagte er niemals »Frauenzimmer«. Doch als wir in Wildnähe kamen, hieß es wie gewöhnlich: »jetzt müassen mer aber stad sein! « Dann war ich eine Woche vom Jagdhaus abwesend. Bei meiner Rückkehr stand Damian Zagg schon auf der Lauer: »Herr Dokter! Seit gestern liegt scho allweil a Briaf da für Eahna. Aus Wean.« »So? Und da bist du wohl neugierig?« »Ja. Die Meining hat aa scho wieder gschrieben.« Er schmunzelte. »Dös Madl is scho völli narret.« »Gib mir den Brief!« »Den hab i der Muatter auffigschickt. Aber verhalten S' Eahna net! I geh mit auffi.« In meiner Stube fand ich die Antwort des Wiener Freundes. Der schrieb: Diese Johanna wäre eine ganz famose Person, über die man überall nur gutes zu hören bekäme; sogar der Hausmeister hätte nichts an ihr auszusetzen; sie wäre 29 Jahr alt und hätte seit 14 Jahren bei einer verwitweten Hofrätin gedient, zuerst als Extramädel, dann als Köchin und schließlich als Pflegerin der kränklichen 322
Frau. Der Hofrätin fiele es schwer, das Mädel herzugeben; aber sie würde der Johanna, wenn diese ihr Glück machen könnte, natürlich nichts in die Wege legen, ihr sogar durch eine Beisteuer zur Ausstattung die Gründung eines Hausstandes erleichtern. Das las ich dem Damian vor. Eine Weile besann er sich. Dann sagte er: »A neue Montur hab i mer scho machen lassen. Gestern hat mer's der Leitnerbäuerin ihr Weibsbild einibracht. Morgen haben mer Freitag. Wann i morgen roasen kunnt, woar i graad am Sunnte drunt in Wean.« Ich gab ihm die fünf Tage Urlaub, um die er bat. Und schrieb ihm die Reiseroute mit den Eisenbahnzeiten in seinen Taschenkalender. Damit ihm die Brautfahrt nicht gar zu teuer käme, wollte er dritter Klasse und mit dem Personenzug fahren. Dann mußte ich ihm das Telegramm an die Johanna aufsetzen: »Komme Samstag abends zehn Uhr mit Postzug, Gruß, Damian.« Weil er zuerst noch mit seiner Mutter reden wollte, radelte er am Nachmittag in seiner neuen Montur davon. Die war aus hechtgrauem Loden gefertigt, mit reichlichem Verbrauch von spinatgrünem Tuch für Aufschläge und Hosenstreifen. Taschen und Ärmel waren mit rotem Stoff gefüttert; und auf den Joppenkragen hatte er sich große, goldene Eichenblätter sticken lassen. Mit diesen Farben leuchtete der Damian Zagg in der Sonne wie ein Stieglitz in seinem Hochzeitskleid. , Während der folgenden Tage dachte ich viel an ihn -aber noch mehr an die Johanna. 323
Den Freitag hatte ich beim Urlaub nicht mitgezählt. Darum erwartete ich, daß der Damian am Mittwoch abend heimkommen würde. Aber am Dienstag in der Frühe, als ich vor der Tür des Jagdhauses in der Sonne stand, sah ich drunten durch den Wald etwas herblitzen. Und dann schob der Damian sein Radl über das Almfeld herauf. »Autsch!« dachte ich mir. »Die Sache ist schlecht ausgefallen!« Und ging dem Danüan entgegen. Er lupfte den Hut und lachte. »Gott sei Lob und Dank! Weil i nur wieder dahoam bin! Und an Wald schmeck! Teifi, Teifi! Und daß is glei sag, was mer passiert is ... wie i draußt vorbeiradl am neuen Schlag, steht z'mittest auf der Liachten der gute Zwölferhirsch, den i seit der Kolbenzeit nimmer gsehgn hab. Und völli verschlagen scho. Da müassen mer auffischaugn auf'n Abend. Passen S' auf, den schiaßen mer! Teifi, Teifi! Hat der a Gweih droben! « »Na. da bin ich neugierig.« Ich lachte. »Und die Johanna? Wie steht's denn mit der?« »Ah sooo?« Ernst vor sich hinguckend, rückte er den Hut aus der Stirne. Dann machte er eine merkwürdige Bewegung mit den Schultern -- die eine zog er in die Höhe, die andere nach abwärts. »Da kann's jetzt guat oder schlecht gehn. Müassen mer halt schaugn, wia 's werd.« Mit dem blauen Sacktuch begann er seine neue Montur abzustauben. »Was heißt das? So erzähl doch! «
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»Freili, ja! Aber z'erst muaß i mer an Kaffee kochen. Ganz derlechznet bin i. A so a Roas! Dös is scho ebbes saumassigs. Hin und her schier achtavierzg Stund in so an Hundsstall drin. Und so a Gstank von die Leut! Und dös Schwitzen! Und allweil dös Rotteln und Schotteln! Teifi, Teifi! Vierzehn Täg wear i scho brauchen, bis i meine Darm wieder auseinander klaub.« Er schob sein Radl zur Jägerhütte. Und bald darauf qualmte aus dem Schornstein ein blauer Rauch heraus, der sich in der schönen stillen Morgensonne wie ein blauer Schleier um die ganze Hütte wob. Anderthalb Stunden später, um acht Uhr, kam Damian Zagg in meine Stube, barfüßig und in seinem alten Pirschgewand. Er setzte sich zu mir an den Schreibtisch und zündete sich gemütlich die Zigarre an, die ich ihm gab. Dann begann er zu erzählen -- und erzählte zwei Stunden -- und war noch immer nicht in Wien, erst in St. Pölten, wo er sich vier Paar Würsteln mit Meerrettich kaufte. In Reckawinkel warf er das Papier zum Fenster hinaus. Von seinem Gespräch mit dem Portier der Abfahrtsstation bis zur Einfahrt in den Wiener Westbahnhof bekam ich mit Humor und Galle jedes kleinste Detail der Reise zu genießen, jeden Pfiff der Lokomotive, den er täuschend nachmachte, jeden Ruf der Kondukteure, das Bild eines jeden Reisenden, der da ein-- und ausstieg, jedes Gespräch im Coupé, jeden Wagenstoß, jeden Schnäuzer und jeden Schweißtropfen des heißen Tages.
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Als er bei Anbruch der Abenddämmerung das Wurstpapier zum Fenster hinausgeworfen hatte, machte er Toilette, erst zog er die Schuhe wieder an, dann putzte er an den Vorhängen des Coupés die Hände ab, wobei er die sonderbare Beobachtung machte, daß seine Hände noch schwärzer wurden. Und dann brachte er mit seinem Taschenkämmchen Haar und Bart in Ordnung. »Gahlings tuat's an Pfief, wia der Teifi, bal 's sei Großmuatter siecht. Und der Zug fahrt eini in so an Ennstrumm Glasstadel. A Spitakel is gwesen, und da Gschroa, und d' Leut haben gredt daß i 's nimmer verstanden hab. No also, hab i mer denkt, jetzt bin i da! Jetzt, Dami, jetzt paß auf! Und wia i aussisteig aus 'n Hundsstall, derspecht i gleich von aller Weiten so a blasselets Madl, dös den Kragen aussistreckt und d'Augen umanandscheankelt wie narret. Teifi, denk i mer, weard's do am End net dö sein? Dö schaut ja nach gar nix aus! Dö roacht mer kaam bis an d' Achsel auffi! ... Und richtig war s' es! ... Malefizfotergraf, hab i mer denkt! Was der auf seim Bildl alles zammglogen hat! 's Gsichtl hätt gar net so übel ausgschaut. Aber so viel kloan beinand is 's Madl gwesen. Bal i am Werktag zuagreif, hab i scho 's ganze Frauenzimmer in der Pratzen. Was bleibt denn da für 'n Sunnte übri?« Bedächtig streifte Damian die Asche von der Zigarre. »Am liabsten waar i glei wieder einigsprunga in mein Hundsstall. Aber 's Madl hupft scho auf mi zua, wia der Frosch, dem 's Truckene z'Iang dauert hat. Und »Herr Oberjäger«, sagt s', »gelten S', Sie sind's, Herr Oberjäger?« Und 's bloache Gsichtl is ihr fuieri woarn. Und 326
gschnauft hat s' wie a Schmalgoas, wann s' trieben weard. »No ja«, sag i, »freili bin i 's!« Da hat s' mer d' Hand geben. »Grüß Ihnen Gott, Herr Oberjäger!« »Grüaß Gott, Johanna«, hab i gsagt, »jetzt bin i da, und mit 'm Siesagen brauchst di net plagen, bei mir dahoarn sagt a jede Du zu mir.« Und derweil schaug i s' allweil so an von der Seiten. Und da weard 's Madl gahlings bloach. I moan, sie hat gmirkt, daß s' mer net gar so bsonders gfallt. No also, und nacher san mer halt aussi zum Tempel. Und derweil mi 's Madl einigfüahrt hat in d' Stadt, da hab i ihr verzählt, wia mer d' Roas gwesen is, und daß mer in Sankt Pölten dö Würstln so viel guat gschmeckt haben. »Da kannst du doch nicht genug haben«, sagt s', »du mußt noch etwas genießen! « Und da hat s' mi in so a nobels Resterante führen wollen. »Ah na«, sag i, »da schaut's mer z'teuer aus, und spendieren laß i mer nix, eh daß i net woaß, wie i dran bin.« Nacher san mer in an Kaffeehaus gangen, und da hat mi d'Johanna zu so an Wasserbründl gfüahrt. »Schau, Damian«, hat s' gsagt, »Schau, da kannst du dir die Hände waschen.« Dernach haben mer Kaffee trunken, i hab den meinigen zahlt, und 's Madl hat den ihrigen zahlen kinna. Dös hat's a bißl verschmaacht, daß s' net zahlen hat därfen für mi. Aber so ebbes mag i net, i zahl mei Sach selber. No, und nacher hab i halt so verzählt, wia 's ausschaugt bei uns, und von der Jagd, und von dahoarn. Und 's Madl is allweil naacheter zuachigruckt. Und gahlings nimmt s' mi bei der Hand und sagt mit so an Zwirnsfadenstimmerl: »Was meinst du, Damian? Meinst, daß du mich ein bisserl gern haben könntest? Viel kann ich nicht verlangen, das weiß ich schon. Aber doch ein bisserl halt?« Da hab i lachen müssen. »No«, sag i, »a bißl mehr als a bißl hab i di scho gearn.« jetzt hätten S' sehgn sollen, Herr Doktor, wia dös 327
Madl auf amal lusti woarn is! Schau, hab i mer denkt, dö waar net amal gar so übel! Aber wia s' nacher gmirkt hat, daß mer d'Augen schwaar san, hat s' gsagt: »Komm, Herzl«, hat s' gsagt, »komm, heut mußt du dich ausruhen! « Um Elfe in der Fruah, so haben mer ausgmacht, soll i auffikommen zu ihrer Gnädigen. Ja, hat s'gsagt, dera stellt sie mich für. Und nacher hat s' mit hoamgfüahrt ins Gasthaus, dös mer der Herr Dokter in der Mariahilferstraß rekammandiert haben. Und wie i d' Hausglocken zogen hab ghabt, da hat si s' Madl gahlings so an mir onighuschelet. Und völli ziedert hat s'! Da hab i wieder lachen müassen. Und hab ihr halt a Bussel geben, in Gottsnamen! Aber 's Madl hätt bald gar nimmer auslassen. »Sterben könnt ich«, hat s' gsagt, »schau, Dami, sterben könnt ich für dich! « »Dös braucht's net«, sag i, »mit 'm Sterben hat 's no Zeit, morgen reden mer z'erst amal über 's Leben! « Und grad, wie i dös sag, spirrt der Hausmoaster auf. Teifi, Teifi! Dö Nacht hab i aber guat gschlafen! Auf so a Roas auffi!« Eine Menge merkwürdiger Dinge wußte Damian von dem Gasthaus zu erzählen, von seinem Zimmer und von dem Frühstück, das er sich, als er hörte, was es kostete, am liebsten wieder »aussigrissen hätt ausm Magen«. Doch ich hörte nimmer recht auf den Damian. Vor meinen Gedanken war das Gesicht der Johanna aufgestiegen, dieses blasse Gesicht mit den armen Sehnsuchtsaugen. Damian wollte erzählen, was er an diesem Sonntag morgen von der Stadt und von ihrem Leben gesehen hatte. Doch ich sagte: »Das brauch ich nicht zu wissen. Wien kenn ich. Erzähle mir, wann du die Johanna wieder gesehen hast! « 328
»Punkter halber Elfe bin i vor'm Haustor gstanden. Und 's Madl hat schon paßt auf mi und hat mi auffigfüahrt zur alten Frau, dö so stad daghockt is in an Lehnstuhl. A feins Frauerl! Aber ausgschaut hat's wie a Tüachl voll Hasenboanln. I moan, dö muaß d' Schwindsucht haben. Aber freundli hat s' gredt mit mir. »Ja«, hat s' gsagt, »die Hannerl hat mir schon erzählt, wie freundlich Sie mit ihr waren, und wie gut ihr euch gestern gleich miteinander verstanden habt.« Und nacher hat s' Madl aus der Stuben müassen, und d' Frau hat so um alls zum fragen angehebt. Teifi, Teifi! Dö is neugiari gwesen! Und der Johanna ihre guaten Eigenschäften hat s' auffigstrichen übern Schellenköni. »Ja«, hat s' gsagt, »die Hannerl werde ich schwer vermissen. Aber der Mensch«, hat s' gmoant, »der woar net auf der Welt für ander Leut, sondern für eahm selber und für's eigene Glück!« Ja, ja, hab ich mer denkt, hast scho recht. « Dann durfte die Johanna dem Damian die große schöne Wohnung zeigen. »Teifi, Teifi! Dö Frau muaß a Saugeld haben! An der Schnuar hast aussigschaut durch sieben endsmäßige Stuben, oane schöner wia die ander. Und was für Sachen da umanandgstanden san! Teifi, Teifi! Und überall san so Knöpf an der Wand gwesen. Da hast bloß drahn därfen, und in der Stuben san d' Liachter dutzetweis aufgfahrn. Dös hat mer gfallen. Allweil hab i draht. Bis 's Madl gsagt hat: »Du, Herzl, das ist ein teurer Spaß! « Und allweil hat s' mi auf d' Seiten druckt, bald wieder so a Knöpfi kumman is.«
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Dann behielt die Hofrätin den Damian Zagg zum Mittagessen. Er durfte bei ihr am Tisch sitzen, während die Hannerl aufwartete. »No, und da hab i halt von der Jagd verzählt, und hab an Wein trunken, und hab so meine Gspasetteln gmacht, daß dös alte, kranke Frauerl völli gscheppert hat vor lauter Lachen. Und die Meinige, an dem glanzigen Gschirrkasten hint, dö hat allweil kudert vor lauter Freid. Und bal s' ebbes aufwarten hat müassen, hat s' mi allweil angschaut, und an Stolz hat s' ghabt mit mir wia der Bua mit der earsten Hosen. Ja! Und nach 'm Essen, wia die Meinig mit der Arbet firti war, no, da san mer nacher so beinandgsessen in der Meinigen ihrem Kamerl. Wie a Kirchl, a kloans, so hat dös Stüberl ausgschaut. Und da haben mer halt des ausgredt miteinander. Und 's Madl hat mer ihr Sach alles zoagt. Am ganzen Kasten voll Zuig hat s' ghabt. Und Bettwäsch und Tischtücher und Sach überanand, grad alles vom besten! Nach der Hirschbrunst, hab i gmoant, kunnten mer heireten. Solang i d'Jagdherrn im Revier hab, taat's mer net passen, und da hätt i aa koa Zeit net. Und 's Madl, derweil's ihren Kasten wieder einraumt, hat 's glei ausgrechnet, wieviel Täg dös no sein taaten. »Ach, Herzl«, hat s' gmoant, »noch zweiundachtzig Tage!« Da hab i lachen müassen. »Geh«, sag i, »geh her a bißl!« A Weil haben mer no so umanand gredt. Und nachher hab i's braucht.« Ich glaubte mich verhört zu haben. »Was hast du?« »No, braucht hab is halt.«
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Im ersten Augenblick verschlug mir's die Rede. »Aber Damian ... « Ich verschluckte, was ich sagen wollte. Und fragte nur: »Hat sich denn die Johanna das gefallen lassen?« »Gsprissen hat si' s Madl freili wie narret!« sagte er mit ruhigem Ernst. »Aber bal du di' net brauchen laßt, hab i gsagt, da kunnt i ja glauben, es taat ebbes fehlen dran. Wann oaner heiret, muaß oaner wissen, was 'r kriagt. Dös is bei uns dahoam allweil so. Da weard ma deintwegen koa neue Mod net einfüahren. Also! Ent oder weder, hab i gsagt. Und da hat s' dö Spreisserei gahlings aufgeben.« Damian zündete sich mit Verbrauch von einem Dutzend Schwefelhölzeln die Zigarre wieder an, die ihm beim Erzählen ausgegangen war. Ich sah ihn an und schwieg. Der unschenierte, gewichtige Ernst, mit dem der Damian Zagg seine Brautstandsmoral entwickelte, und der Lakonismus seiner Darstellung hatte einen starken Zug von Komik. Doch ich konnte nicht lachen. Neben der Komik, die vom Damian ausging, fühlte ich den Einschlag der Tragödie, die über das Leben dieses braven, anständigen Mädels gefallen war. Welch ein weher Kampf muß damals in der kleinen Kammer, die sich ansah »wie ein Kirchl«, durch Herz und Seele dieses Mädels gegangen sein! Sie hat schon an ein »bisserl« Liebe geglaubt -- und da erschrickt sie und wird an ihrem Glauben irr. Und sie kann diesen Glauben doch nicht sinken lassen. Darf das Glück nicht wieder verlieren, das schon so nah ist und herauslacht aus dem grünen Wald. »Ach, der Wald, der schöne Wald! Ach, das Glück, das schöne Glück! « Davon hat sie schon im Waisenhause geträumt. Und nun hat sich der Traum erfüllen wollen. Aber zwischen ihr und 331
dem nahen Glück steht plötzlich diese häßliche Mauer, über die sie nicht hinüber will. Alles in ihr wehrt sich dagegen, ihr Schamgefühl, alle Reinlichkeit ihres armen Lebens, alles Gute in ihr. Und das Glück da drüben, das ihr helfen will und herübergreift, hat so grobe, schmerzende Fäuste! Sie zittert, sie möchte schreien. Aber da drückt ihr die Sehnsucht nach dem Glück die Kehle zu. Sie verhüllt die Augen und hat keinen Willen mehr -- nur noch den Willen, ihr Glück nicht zu verlieren. »Entweder, oder! « Der Damian Zagg hätte in der kleinen Kirche dieses verwaisten Lebens ein stärkeres Wort nicht predigen können. Und daß ich in meinem Gedanken die Johanna nicht falsch gesehen hatte, das bewies mir der Damian gleich. »Dernach hat mi's Madl eigentli a bißl derbarmt!« erzählte er und blies während einer nachdenklichen Pause den Rauch seiner Zigarre in einem dünnen Faden vor sich hin. »Sö hat halt ehnder no nia mit oam ebbes z'toan ghabt. Allweil san ihr die staden Bacherln abigloffen. Und vor lauter Schenieren hat si 's Madl gar nimmer traut, daß 's mi anschaut. »Geh«, sag i, »sei net so dalket! Was is denn jetzt da dahinter?' Aber 's Madl schaugt allweil zum Fenster aussi und draht sie glei gar nimmer um. »No«, sag i und hab lachen müassen, »denkst ebba von mir jetzt aa so, wia du's von die Mannsbilder in deim Briaf drin gschrieben hast: Pfui Teifi!« Da hat s'mi gahlings um 'n Hals gnumma und hat zum reahrn anghoben, daß i 's schier nimmer gschweigen hab kinna. »Geh«, sag i, »sei stad, und brauchst koa Surg net haben, woaßt, bal alles in der Ordnung is, weard gheiret auf 'n Schnall.« Da hat s' mi 's earstmal wieder angschaut. Und dös hab i aa 332
no nia gsehgn, daß ma auf oan Sitz woana und lachen kon. »Geh«, sag i, »hock di her, daß mer no alles ausreden, der Abend weard glei da sein, und um Neune geht mei Zug.« »Jesus! « hat s' gsagt und hat si mauerbloach verfärbt übers ganze Gsicht. I hätt doch fünf Tag Urlab, hat 's gmoant, da könnt i do an Tag no zuageben. »Na na«, sag i, »d'Hauptsach haben mer ausgmacht, und jetzt treibt's mi hoam.« No, und da san mer no a Weil beinand ghockt, und derweil mer alles beredt haben, hat die Meinig a paar Tischtücher aus 'in Kasten gnumma und hat mit an roaten Faden a Zett übers blaue Jotta auffgnaht. Um a Fünfe nacher, da hat die Gnädige a paar Kaffeegäst kriagt, und die Meinige hat aufwarten müassen. Da hab i mi derweil einigsetzt in d' Kuchel. Teifi, Teifi! Dö Köchin! Dö hat mer gfallen. A Frauenzimmer wie a Kürrassier, und Augen wia der Höllische, und so a gsunde Bruscht hat s' auffigstreckt wia der Wetterschrofen sei Stoanasen! Teifi, Teifi! So oane, dö hätt i gheiret.« Damian lachte. »Die Meinig hat völli zum eifern angfangt. Und auf d' Letzt, da hat s'noh aufgschnauft, weil i am Abend scho hoamgroast bin.« Auf dem Bahnhof klammerte sich die Johanna so fest und lange an den Hals des Damian Zagg, daß sich der Kondukteur ins Mittel legen und mahnen mußte: »Frauerl, jetzt müssen S' aber Ihr Mannderl auslassen, sonst fahrt der Zug ab. Pfiffen hat 's schon.«
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Damian erzählte noch eine ganze Stunde. Aber von der Johanna sprach er kein Wort mehr, bis ich fragte: »Nach der Hirschbrunft willst du also heiraten? Er zog die Stirn in Falten. »So gschwind geht dö Sach no allweil net. Jetzt müassen mer z'erst amal abwarten, was die Meinig schreibt.« Dann wollte er noch wissen, wie es am Abend mit der Pirsche wäre --und ging aus der Stube. Weil er barfuß war, hörte ich draußen im Flur keinen Schritt. Doch die leichte Holzstiege krachte unter dem Gewicht des Danüan Zagg. Eine Sommerwoche um die andere verging. Wenn ich den Damian fragte, ob er noch nichts von Wien gehört hätte, sagte er immer das gleiche: »Dö hat scho wieder a paar Bögeln vull gschrieben. Aber nia steht ebbes drin.« Im Bergwald fing es zu herbsteln an. Und die Ringdrosseln zogen fort. Ende August sagte der Damian: »Wann s' jetzt net bald ebbes schreibt, nachher moan i allweil, mit uns zwoa weard's schlecht ausschaugn.« Dann war's in der ersten Septemberwoche. Da kam der Damian in meine Stube und hatte was Dienstliches mit mir zu reden. Und plötzlich, mitten im Gespräche über die Jagd, sagte er: »Fürgestern hat s' mer wieder gschrieben. Dö aus Wean.« »Nun, was schreibt sie?«
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»Es waar nix! Und dös dalkete Frauenzimmer hat no die größte Freud drüber.« »Und du? Was hast du ihr geschrieben?« »Wann's bei ihr nix waar, nacher waar's bei mir aa nix.« Dann guckte er mich mit scharfen Augen an, als hätte er irgendwas Merkwürdiges in meinem Gesicht gesehen. Nach einer Weile sagte ich: »Damian! Das ist hart für das arme Mädel.« Er zuckte die Achseln. »Du! Damian! Wenn du auf meinen Rat noch etwas gibst, dann heirate die Johanna.« »Na, Herr Dokter! Enkern Rat in Ehren! Aber da weard sie nix machen lassen. So a trückens Weibsbild. Was tua i denn mit so oaner? Dö kriagt koane Kinder.« Im Klang seiner Worte war etwas Brutales, etwas Eisenhartes und Vernichtendes. Und da mußte ich ihm in das Gesicht sagen: »Du! Die Johanna war doch bei dir nicht die erste. Wieviel Kinder hast denn du schon?« Im ersten Augenblick schien er das nicht zu verstehen. Dann lachte er mir ins Gesicht.
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So muß ein Gott lachen, wenn er merkt, daß ein Wurm an ihm zweifelt »Heut is 'r aber guat, der Herr Dokter! « Mit diesem Worte, lachend, ging der Damian aus meiner Stube hinaus. Von der Johanna sprachen wir nimmer miteinander. Doch Ende September einmal, da kam ich ins Jägerhaus. Der Danüan war nicht daheim. Und wie es der Zufall wollte, fiel mein Blick auf den Spiegel, an dem eine Postkarte stak, mit einer Ansicht von Riva. Am Gardasee hab ich schöne Zeiten verlebt. Ich nahm das Blatt, um es zu betrachten. Und da fand ich unter dem blauen See ein Dutzend eng mit Bleistift gekritzelter Zeilen: »Lieber D.! Gestern bin ich mit der Eisenbahn an den schönen Bergen vorbeigefahren, auf denen du wohnest. Ach, die Berge, die schönen Berge! Meine gute gnädige Frau mußfür den ganzen Winter nach Arco. Und da hat sie mich mitgenommen, daß ich ein bisserl was Schönes sehe. Also, so reise ich in die weite Welt. Also, so ist nun alles aus. Du wirst gewiß eine reiche, schöne Frau bekommen. Aber gewiß keine Treuere, als ich Dir gewesen wäre. Aber ich wünsche Dir von Herzen alles Gute. J. «
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Diese kleine Karte, auf der das südliche Ufer so grün und der See so blau war, hab ich lange betrachtet. Dann steckte ich sie wieder an den Spiegel. In den Tagen, die dann kamen, war der Oberjäger Zagg mit seinem Jagdherrn nicht zufrieden. Gegen mich benahm er sich mit spürender Vorsicht. Aber vor den Jägern und Dienstleuten räsonierte er: »jetzt spinnt 'r wieder amal. Woaß der Teifi, was 'r hat gegen mi? Fleißiger im Deanst bin i no nia net gwesen. Und pflichtschuldigst hab i eahm an jeden Hirsch und Gamsbock gmeldt.« Am 1. Oktober kam es wegen einer Wilddieberei, die man in meinem Revier verübt hatte, und die der Oberjäger durch richtige Einteilung des Schutzdienstes hätte verhindern können, zu einem bösen Verdruß. Bei dieser Gelegenheit fuhr mir die Galle aus der Leber. Ich wurde grob. Sehr grob. Die andern Jäger duckten die Köpfe. Aber Damian griff in die Joppentasche, legte sein Dienstbuch und seine Jagdkarte auf meinen Schreibtisch. Und sagte--. »So laß i net reden mit mir. Unseroans hat aa an Ehr im Leib. Heut is der earste. Mein Ghalt fürs Vierteljahr hab i gestern kriagt. Jetzt san mer firti nüt anander.« »Gut!« sagte ich. Und die Sache war erledigt. Er versuchte noch, die beiden anderen Jäger zum Ausstand zu bereden. Aber die waren der Ansicht:
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»Der Herr Dokter hat 's net so gmoant. Bal oam d' Lumpen z'mittelst im Revier drei Kälber niederschiaßen, weard si' der Jagdherr wohl ärgern Därmen.« Ein paar Stunden später fuhr ich ins Dorf hinaus. Auf der Straße überholte mein Wagen den Damian Zagg, der in seiner neuen Montur davonwanderte -- in der Montur, die er sich für die Brautfahrt hatte machen lassen. Er grüßte nimmer. Und sah über mich hin, als wär' ich Luft - mit einem Blick, wie man von hohem Berge über die kleinen, trüben Täler wegzuschauen pflegt. Mein Kutscher lachte und sagte über die Schulter: »Dös is oaner!« Trotz allem war es mir leid, daß ich ihn verloren hatte. Ich hörte ihn gern erzählen -- auch wenn er Dinge erzählte, die mir nicht gefielen. Und eines ist wahr: als Jäger hatte er nicht seinesgleichen.
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Die vier heiligen Dreikönige Seit Wochen hatte der kleine Schluckerfranzl ein hartes Leben. Nicht etwa, weil er mehr als bisher die Bitterkeit des Daseins verspürte, das die nicht immer gut gelaunte Vorsehung ihm und den Seinen zubestimmt hatte. Und es wäre ihm ein bißchen Unzufriedenheit hierüber doch sicher nicht zu verdenken gewesen. Seine Mutter war die Schluckerbastlerin -- ein Name, zu dem sich eine nicht sehr lustige Geschichte schreiben ließe. Ihr Mann hatte sich als Holzknecht im wahrsten Sinne des Wortes durch das Leben geschlagen, und da er Sebastian hieß und ein armer, notiger Schlucker war, nannten sie ihn im Dorfe den Schluckerbastl. Er war aber nicht nur ein armer, sondern auch ein braver Schlucker, der sich für Weib und Kind die Finger blutig arbeitete, bis ihn ein stürzender Baum erschlug und aller irdischen Plag und Sorgen ledig machte. Von nun an hatte die Bastlerin mit ihren Kindern ein noch härteres Beißen am Leben, und im Schluckerhäuschen gab es selten etwas anderes zu kosten als ungeschmalzene Brotsuppe und Erdäpfel mit der Montur.
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Aber was für die Bastlerin Kummer und Bitternis war, das war ein Gleiches nicht auch für ihren Franzl. Sein leichtes Kindergemüt tauchte durch alles kalte Dunkel immer an die warme Sonne, sein unsterblicher Knabenhunger zauberte ihm Brotsuppe und Erdäpfel in die köstlichsten Leckerbissen um, und auch außerdem hatte er alle Ursache, sich als kleiner Herr und König zu fühlen. Waren doch im schönen Sommer alle Straßen und Pfützen des Dorfes sein unbestrittenes Erb und Eigen, der grüne weite Wald mit den singenden Vögeln, die blumigen Wiesen mit den schlupfigen Hecken und der silberne Bach mit den Weidenstauden, auf denen die Maienpfeifen wachsen. Und im Winter, der gerade weiß und glitzernd über dem Dorfe lag, gehörten dem reichen Schluckerfranzl alle Schleif-- und Schlittenbahnen und die endlosen Felder mit dem vielen Schnee, den tausend Hände in tausend Jahren zu Schneeballen nicht völlig verarbeitet hätten. Nein! Was dem Franzl seit einigen Wochen das Leben erschwerte, das war nicht aus dem dürren, knauserigen Boden des Daseins in ihm hineingewachsen -- das kam nur von den Aufregungen her, die diese Wochen über ihn gebracht hatten. Zuerst die ebenso qual-- und zweifelvolle wie hoffnungsreiche Frage, was ihm das Christkindl bescheren würde! Und als diese Frage mit einer grobwollenen Ohrenkappe, einem Fäustlingspaar, sechs Äpfeln und zwanzig Nüssen befriedigend gelöst war, stand Franzl in peinigender Spannung schon wieder vor einer zweiten Frage: was ihm wohl das Neujahrswünschen beim Pfarrer, Lehrer, Förster und Bürgermeister eintragen würde? Auch diese Aufregung löste sich zu Franzls Zufriedenheit. Nur mit der Pfarrersköchin verdarb er es 340
dabei, denn in seiner siebenjährigen Unschuld wünschte er mit dem herkömmlichen Sprüchlein auch dem Hochwürdigen Herrn »ein guts neus Jahr und ein Christkindl mit Krausehaar«. Aber gleich der Abend des Neujahrstages brachte eine dritte, nach Wichtigkeit der Sache entsprechend gesteigerte Aufregung über ihn. Da saß er in der von einem brennenden Kienspan trüb erhellten Stube träumend hinter dem rissigen, nicht allzu warmen Kachelofen. Und da fiel ihm plötzlich ein Gedanke an, und mit einem vor Erregung heiseren Stimmchen fuhr er in die Höhe: »Mutterl! Du! Heuer möcht ich auch ein Heiligen Dreikönig machen! Jetzt bin ich alt gnug dazu, gelt, Mutterl, gelt?« »Ja, Franzerl, ja!« sagte die Bastlerin, die mit schwerfälligen Händen an einem Strumpfe stopfte. Weshalb auch hätte sie ihrem Buben diese Freude versagen sollen? War's doch eine billige Freude. Auch dachte sie an die guten und nützlichen Dinge, welche Franzl für sich selbst, für seine kleinen Geschwister und fürs Haus vom »Dreikönigsritt« mit heimbringen konnte. »Ja, Franzerl, ja«, sagte sie, »mußt dich halt morgen gleich um die zwei anderen umschauen und mußt dein Königssprüchl recht schön und fleißig lernen! « Franzls Augen leuchteten. Und nun half der Mutter kein Weigern, sie mußte gleich beginnen, ihm das Königssprüchlein vorzusagen, das er mit einer Andacht nachbetete, als wär's das heilige Vaterunser. Dann kam für ihn eine schlaflose Nacht; unermüdlich plapperte er die paar Reime herunter, die er sich schon gemerkt hatte, träumte sich dabei in seinen Königsstaat hinein und sah sich 341
schon mit Schätzen reich beladen am Abend des Dreikönigstages heimkehren von den Nachbardörfern und den einsam liegenden Bauernhöfen. Aber die stille Freude dieser Nacht wandelte der nächste Tag in bittere Kümmernis. Am Morgen rannte Franzl davon, um sich zwei Könige als Kameraden zu suchen --und kam gegen Mittag mit verweinten Augen zurück. »Franzerl, geh, weswegen weinst denn?« fragte die Bastlerin. »Weil mich keine net mitgehn lassen mögen!« schluchzte das Bürschlein in untröstlich scheinendem Jammer. »Ich tät ihnen z'Iumpig ausschaun, haben s' alle gsagt. Und überall sind schon alle drei beinander! « Die Mutter tröstete ihren Schmerzenreich, versprach ihm Hilfe, und richtig, am Abend schon brachte sie ihm die gute Nachricht heim, daß der Schreiner ihr zugesagt hätte, den Franzl mit seinen zwei Buben gehen zu lassen. Und sogar den allerschönsten unter den Heiligen Drei Königen dürfe er darstellen: den schwarzen, den Mohrenkönig! Wenn jetzt der Teufel in Gestalt des Schreiners dem Schluckerfranzl erschienen wäre und gefordert hätte: bete mich an -- der Franzl hätt' es ohne Zögern getan. Drei Tage vergingen, reich an Spannung, Sorgen und Aufregungen. Das Königssprüchlein war in seiner ganzen Länge zu lernen, und der Ornat des Mohrenfürsten mußte genäht, gewaschen und gekleistert werden. Endlich war alles in Ordnung und auch die letzte Nacht vergangen. Grau lag der Wintermorgen noch vor den Fenstern, da hatte Franzl schon seine Suppenschüssel ausgelöffelt und 342
stand nun vor der Mutter, um sich als Mohrenkönig »gwanden« zu lassen. Vor allem wurde er nach Möglichkeit warm angezogen. Er hatte ja vom frühen Morgen bis in den späten Abend umherzustapfen in Schnee und Kälte. Dann wurde ihm der weiße, den übrigen Anzug völlig verhüllende Königstalar angezogen, den die Bastlerin aus einem Hemde ihres seligen Mannes zurechtgeschnitten, und dessen verwaschene, zundermürbe Leinwand sie über und über mit roten, blauen und gelben Papiersternchen beklebt hatte. Gegürtet wurde er mit einem Stricklein, in das die Henkel der blechernen Sparbüchse und des kleinen Schmalztopfes eingeschlungen waren. Das frische, hübsche Bubengesicht wurde ihm mit Kienruß angestrichen, so daß es seltsam zu den blonden Ringelhaaren kontrastierte; auf den Kopf bekam er die wollene Ohrenkappe, auf der die goldene Papierkrone festgenäht war, an den linken Arm ein mit Heu gefülltes Körbchen für die Eier, auf die rechte Schulter den kleinen Zwerchsack für die Wecken, Kletzen, Äpfel und Nüsse -- und Balthasar, der heilige Mohrenkönig, war fertig. Als Franzl das Schluckerhäuschen verließ, da strahlte er, als wäre er nicht einer der »Magier«, sondern leibhaftig ihr goldener Stern. Dieser strahlende Glanz aber wurde zu trübem Wasser, als Franzl den Schreinerhof erreichte und dort erfuhr, daß die anderen Könige schon auf und davon wären ins nächste Dorf. »Jessas, Franzerl«, sagt die Schreinerin, »ich hab glaubt, du bist schon dabei, weil schon drei beinand waren ... und ein Schwarzer auch!«
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Wie versteinert starrte das Schluckerle, vom Bock gestoßen, eine Weile vor sich hin, bis es die Frage herausgurgelte: »Wo zu ... sind s' denn ... gangen?« »Da, d' Straßen gradaus! « Jetzt fing Franzl zu laufen an, was ihn seine kurzen Beinchen nur trugen. Das machte sich, soweit die Häuser reichten, noch ohne Mühe. Draußen auf dem offenen Feld aber, wo der Schnee tiefer lag und die Straße häufig ganz verweht war, hatte er ein bitteres Marschieren. Endlich sah er hinter einer dichten Hecke den goldenen, vom König Melchior auf einer dünnen Stange getragenen Kometen glänzen. Franzl lief, was er laufen konnte -jetzt schwenkte er um die Ecke -- und richtig, es waren ihrer drei: die zwei Schreinerbuben und der zehnjährige Schustermichel als Mohrenkönig. Anfangs schien es, als wollten die drei Weisen aus dem Morgenlande vor dem Schluckerle Reißaus nehmen; aber sie besannen sich eines anderen. Sie ließen den Franzl herankommen, und bevor er noch ein Wörtl herausbrachte, begannen ihn die zwei Schreinerbuben wegen seines Zuspätkommens -und er war doch früher als ausgemacht gekommen! -- in einer Weise abzukanzeln, daß ihm vor Angst und Schrecken das Zäpflein hinunter fiel. Als sie ihn nun so zerknirscht vor sich stehen sahen, fingen sie wieder gütlich mit ihm zu reden an und erlaubten ihm großmütig das Mitgehen. »Ja, aber da muß der Michel wieder heimgehen!« schmollte das Schluckerle.
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Davon aber wollte keiner der drei Weisen etwas wissen; und so entschied man sich, daß die Heiligen Drei Könige für diesmal eben zu vieren ausrücken sollten -- aber, sagte der Schustermichel unter lebhafter Zustimmung der beiden Schreinerbuben, eine Bedingung wäre noch dabei; es wäre von jeher so gewesen, daß der jüngste König das Reisegepäck seiner gekrönten Kameraden getragen hätte. »No ja, wann's halt sein muß! « stotterte das Schluckerle und lud die Eierkörbe und Zwerchsäcke der anderen auf seine Schultern und keuchte hinter den dreien einher, wie das gute Eselein, von dem in der Heiligen Schrift des öfteren zu lesen steht. Wollten seine Beinchen ermüden, dann wurde er mit Schneeballen gespornt, aber nicht etwa in den Flanken, sondern hinter den Ohren und im Nacken. Batsch! Wie das klatschte! Und es klebte, wie angefroren. Ein Gutes war aber doch bei der Sache: daß dem Schluckerle hübsch warm blieb, derweil die anderen Könige vor Kälte mit den Zähnen klapperten. Die Felder nahmen ein Ende, es kam der Wald, durch den sie ein halbes Stündlein zu wandern hatten, dann zeigten sich zwischen Hecken und beschneiten Bäumen die Dächer des Dorfes, in dem sie das »Königsreiten« beginnen wollten. Nun nahmen die drei Weisen dem Franzl ihre Sachen ab. »Sooodala!« sagten sie -- das heißt soviel als: jetzt sind wir fertig miteinander --dann rannten sie über Kopf und Hals davon, und der Schustermichel gab dem Schluckerle noch aus privatem Konkurrenzneid einen Stoß vor die Brust, daß es in einen mit Schnee überwehten Graben purzelte.
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Als Franzl wieder auf die Füße kam, sah er, daß der Schmalztiegel zerbrochen und die goldene Krone bedenklich zerknittert war. Bitterlich hub er zu weinen an, und dabei trollte er langsam dem Dorf entgegen, obwohl er nicht wußte, was er dort eigentlich suchen sollte. Er als einschichtiger König konnte doch nicht ans »Reiten« denken. Aber die Vorsehung dachte für ihn. Denn als er zu dem ersten Hause kam, guckte die Bäuerin aus dem Fenster, ein altes Weiblein mit freundlichem Runzelgesicht. Und da entspann sich folgendes Zwiegespräch: »Büble? Wer bist denn? Und wo kommst denn her?« »Der Schluckerfranzl heiß ich, und ein Heiliger Dreikönig bin ich.« »Wo hast denn deine zwei anderen König?« »Die sind mir davonglaufen und haben mich in die Gähwinden einigworfen.« »Ja warum denn?« »Weil s' mich net mögen haben.« »Ja geh! Das sind aber Schlankln! Aber schau, mußt net heinen, Büble! Bist ja so ein schöner König, ah, ah, gwiß, ein mordsschöner noch dazu! Und kannst ja allein umreiten auch! So geh, komm her und fang zum Singen an! « Mit nassen, schüchternen Augen kam das Schluckerle näher, machte, wie es die Sitte von einem Dreikönigsreiter heischt, vor dem Fenster der Bäuerin ein paar Galopp346
sprünge, die freilich recht müd und traurig ausfielen, und begann, von Schluchzen immer unterbrochen, sein Königssprüchlein herzusingen: »Die Heiligen Drei König mit ihrem Stern, Die essen und trinken und zahlen net gern, Sie reiten auf ein weißen Roß Vor jedes Haus, vor jedes Schloß Und tragen um zum Stopfen Ein leeren Sack und klopfen An alle Fenster, alle Türn, Ob s'net ebbes kriegen wern. Drauß in Tenna Laufn die fettn Henna, Droben in First Hangen die Würst Gebts mir die langen, Laßts die kurzen hangen! Kletzen raus, Küechle raus Oder ich schlag ein Loch ins Haus, Apfel raus, Birn raus, Geh mer in ein anders Haus! Klopf an, klopf an, Die Bäurin hat ein schöna Mann, Die Bäuerin is die schönste Fra Was sie hat, das gibt s'mir a... a... a...« Gerade beim Schluß seines Liedes stieß ihn der Bock noch einmal, so daß er das letzte Wort ausquiekte, wie eine stehenbleibende Spieluhr ihren letzten Ton. Die Bäuerin lachte, daß ihr die Schultern wackelten. »Ja, Büble, geben tu ich dir, was ich hab! « Sie verschwand 347
und erschien nach einer Weile mit gefüllter Schürze in der Tür. Einen Wecken, eine dicke Wurst, einen Rinken Kletzenbrot, zwei Eier, Äpfel und Nüsse, das alles gab sie dem Schluckerle, und zu guter Letzt ließ sie noch einen Sechser in seine Sparbüchse klappern. Franzl weinte noch immer, aber jetzt vor Freude. Und so zog er weiter mit seinem scheckigen Gesicht, von Haus zu Haus, und überall beschwerte ihm die rührende Geschichte seines einschichtigen Königtums den Korb, die Klapperbüchse und den kleinen Zwerchsack. Im Wirtshaus bekam er, da es gerade Mittag war, eine warme Suppe und ein riesiges Stück Guglhupf, das er mit Ehrfurcht verzehrte. Dann ging das »Reiten« von neuem an, von einem Bauernhof zum andern. Korb und Zwerchsack wurden immer schwerer, so daß er sie kaum mehr zu schleppen vermochte. Und wenn ihm das Tragen auch Stirn und Wangen mit Schweiß übergoß, so machte ihm doch die Kälte alle Finger starr, das Waten im Schnee die Füße steif und schwer. Er war plötzlich darüber erschrocken, daß sich der Himmel mit einmal so dunkel ansah. Und da gab er das »Reiten« auf, obwohl noch einige große Bauernhöfe verlockend in der Nähe standen, und keuchte über einen Feldweg der heimwärts führenden Straße zu. Als er sie erreichte, fing es zu schneien an. Alle hundert Schritte verhielt er sich, um zu rasten und den Schnee von sich abzuschütteln. Sein gestirntes Königshemd war bis auf die Hüften durchnäßt und wickelte sich beim Gehen hindernd um seine Knie. Er quälte sich ab mit seiner Last, und stechend drang ihm die Kälte in alle Glieder. Einmal kam ihm der Gedanke, Korb und Zwerchsack auf der Straße hegen zu lassen und nur heimzulaufen, was er noch laufen konnte. Aber es war 348
ihm leid um die guten Sachen, und so schleppte er sich frierend mit ihnen weiter und weinte dazu ein Gesetzlein ums andere. Bis in die Mitte des Waldes kam er. Dann war seine Kraft zu Ende. Eine Weile blieb er zwischen Korb und Zwerchsack laut schluchzend auf der verschneiten Straße sitzen; dann tat er einen tiefen Atemzug und verharrte still. Dicht fielen die Flocken, ein Viertelstündchen um das andere verstrich, und immer noch hielt das Schluckerle die Augen geschlossen wie in tiefem Schlaf. Aber nein! Wie konnte Franzl schlafen, wie konnte er die Augen geschlossen halten? Er sah ja doch -- sah wirklich und wahrhaftig, wie statt der grauen Nacht, die just noch über allen Bäumen gelegen, ein helles Licht den ganzen Wald durchzitterte. Nur so kalt war dieses Licht -- es leuchtete so schön und goldig wie die Sonne, und dennoch war dem Franzl, als hätte er statt der Arme und Beine vier große, lange Eiszapfen am Leibe hängen. Nur um die Stirne ging es ihm wie ein feuriger Kreis. Das war wohl die Königskrone, die ihn so drückte, und ihr »fuiriges« Gold! Er wollte mit beiden Händen nach seinem Kopfe fassen -- und konnte kein Fingerlein rühren. Nicht rühren können! Das ging ihm ins Herz, als hätte sich eine kalte Hand darum gelegt. Wenn jetzt der Schustermichel und die Schreinerbuben kämen, um sich über seinen Korb und seinen Zwerchsack herzumachen -- er müßte zusehen und könnte sich nicht wehren. Angstvoll starrte er in den wie Feuer leuchtenden Wald, und da war es ihm, als vernähme er Schritte und laute Stimmen. Und 349
wahrhaftig, dort kamen sie -- drei Könige, mit goldenen Kronen und schneeweißen Kitteln angetan. »Mutter! Mutter! « wollte das Schluckerle schreien. Aber seine Lippen blieben stumm, nur seine Zähne klapperten. Jetzt standen sie vor ihm -- aber das waren nicht die Schreinerbuben und der Schustermichel, sondern drei große, großmächtige Könige, noch größer ein jeder, als dem Schluckerle sein Vater gewesen war, und der allergrößte war der Mohrenfürst. Sie hatten lange, weiße Bärte, und ihre Kronen schimmerten, als wären sie aus der Sonnenscheibe herausgeschnitten. »Jeh, Melcher, da schau her«, sagte der schwarze König zu einem seiner Kameraden, »das Büble da schau an! « Und der Melcher beugte sich über das Schluckerle, streichelte ihm mit eiskalter Hand die Wangen und fragte: »Büble, wer bist denn und wo kommst denn her?« »Ein Heiliger Dreikönig bin ich.« Da lachten die drei Könige, und der schwarze sagte: »Wie kannst denn du ein Heiliger Dreikönig sein? Die Heiligen Drei König sind ja wir. Ich bin der Balthasar, und das da is der Melcher, und der ander is der Kasper.« »Ich möcht aber auch einer sein. Ich hab mich so viel drauf gfreut.« »So schau, es geht halt net. Wir täten dir gern den Gfallen. Aber vier Heilige Drei König kann's ja nie net geben. 350
Aber, weißt was ... mir fallt was ein ... der Schustermichel, so ein Lausbub da, der hat uns unsern Stern davontragen! Und wir können doch net heimgehn ohne Stern. Magst unsern Stern net machen, Büberl? Ein ganz ein schönen Stern?« »Ja, gern, ich mag schon, ja! Aber wer tragt denn nachher mein Körbl und mein Sack?« »Der Melcher und der Kaspar. Is dir's recht?« »Ja, ganz recht. Und ich mach den Stern. Ganz lüftig wird's mir schon ... ganz warm ... ich spür schon, wie ich brennen tu als Stern ... « »No also, komm! « Dazu winkte der Mohrenkönig, und Franzl fühlte, wie die Eiszapfenarme und Eiszapfenbeine von ihm abfielen. Er sah sich mitten in einer Kugel sitzen, die ganz aus Feuer war und doch so hell wie Glas. Nach allen Seiten schossen die Strahlen, und mitten aus seinem heißen Herzen kams herausgewachsen, eine lange, lodernde Garbe. »Jegerl, jegerl«, lachte der Schluckerle, »mir wachst die fuirig Ruten schon!« »Gelt, das ist schön! « nickte der Mohrenfürst. Und dann fingen die drei Könige zu wandern an, aber nicht die Straße entlang, sondern aufwärts von der Erde, über die Gipfel der Bäume hinaus, immer höher. Und das Schluckerle flog ihnen voran und jubelte: »Ein Stern! Ich bin ein Stern! Und fliegen kann ich! Fliegen ... «
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Und irgendwo im Walde war ein ruheloser Lauf Immer und immer wieder klagte diese Stimme: »Franzele? ... Franzele?«
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Der nette Kerl Ich hatte eine Jagd im Wiener Wald gepachtet und wollte, weil sich das Revier durch Zupachtung vergrößert hatte, noch einen zweiten Jäger für den Jagdschutz nehmen. In einer forstlichen Wochenzeitung schrieb ich diese Stelle aus. Was dann die nächsten vierzehn Tage brachten, das war eine schreckliche Sache. jeder Tag produzierte ein Dutzend »Anwärter«. Und immer nur mit 353
Aufwand eines gereizten Scharfsinnes gelang es mir, diese muffig gekleideten, nach Bier, schlechten Regiezigarren, saurem Wein, Dreikönigstabak und Schnaps duftenden Kerle wieder zur Wohnung hinauszubringen. Die fürchterlichsten waren jene, die sich streng an die Weidmannssprache hielten und mir mit hoheitsvollem Lächeln das Geständnis machten, daß sie Mitarbeiter von Jagdzeitschriften wären. Und die Geschichten, die sie mir von ihrem Lebenslauf und seinem Unstern erzählten! Einer sagte: widriges Gestirn. Ein zweiter: Dianens Ungunst. Ein dritter: Huberti Grimm. Und von ihren Lebensgeschichten glich eine der anderen, wie sich die Geschichten der verlorenen Mädchen gleichen. Schließlich wurde mir die Sache zu bunt, und ich gab unserer Köchin den strengen Auftrag, keinen stellensuchenden Jäger mehr vorzulassen. Das befolgte sie getreulich. Eines Morgens aber kam sie lachend und ein bißchen verlegen zu mir ins Arbeitszimmer: »Herr Dokter, i glaab, jetzt wearn S' mir schimpfen. Aber da steht jetzt aner draußt. Den hab i net stampern könna. A so a netter Kerl is 'r! Der schaugt anders aus wia die andern.« »Na, in Gottes Namen!« Meine Erwartungen waren gespannt. Aber sie wurden noch übertroffen. Er kam. Und wirklich: Wie das lachende Leben stand er auf der Schwelle meiner Stube. Ein Fünfundzwanzigjähriger. Gesund und schlank. Anständig gekleidet -- nicht jägermäßig, sondern städtisch, mit Röhrenstiefeln, die spiegelblank gewichst waren. Ein hübsches, rosiges Gesicht; auf dem schwellenden Mund ein dünnes, dunkles Schnurrbärtchen; nußbraunes, sorgfältig gescheiteltes 354
Haar; und helle, frohe, grundehrliche Augen, die, als er zu reden anfing, nicht stolz waren und nicht bettelten -Augen, aus denen ich es gleich herauslas. Der lügt nicht! Auch seine Stimme hatte was ruhig Lindes, einen einschmeichelnden Klang, etwas knabenhaft Reizvolles. Ich hörte ihn gerne sprechen, als er, nicht knapp und nicht weitschweifig, sein Curriculum vitae auskramte: er hieße Josef Aust, wäre der Sohn eines Försters, hätte Vater und Mutter schon längst verloren, wäre auf Kosten eines Onkels zwei Jahre Realschüler gewesen, dann Soldat, dann Jagdeleve auf einem herrschaftlichen Gut. Und nun möchte er recht schön bitten, daß er die ausgeschriebene Stelle bekäme. Mit einer manierlichen Verbeugung trat er auf meinen Schreibtisch zu und legte drei Zeugnisse vor mich hin. Sein Schulzeugnis, das war gerade nicht berühmt; an seinem Militärpaß fand ich nichts auszusetzen; in dem Zeugnis über seine Zeit als Jagdeleve fehlte wohl die Aufzählung weidmännischer Fähigkeiten; doch ich sah ein paar andere, lobenswerte Eigenschaften angeführt, unter denen zwei -- »gutmütig« und »von liebenswürdiger Nettigkeit« -- dick unterstrichen waren. Einen Moment beschlich mich der Verdacht: das ist eins von den Zeugnissen, mit denen man unbequem gewordene Leute wegzuloben und einem anderen Herrn aufzuhalsen pflegt. »Warum sind Sie denn auf dem schönen Gut nicht in Stellung geblieben?« »Verzeihung, die zwei Jägerposten waren schon besetzt, und ich war doch nur als Lehrling da.« Er sprach fast reines Hochdeutsch. »Auch war die Jagd nicht besonders. 355
Das wäre überhaupts kein Platz für mich gewesen. Ich möchte was lernen, möchte gern vorwärtskommen.« Als er eine Weile so weitergeplaudert hatte, ehrlich, nett und gutmütig, war mein Bedenken beschwichtigt. Bei dem weidmännischen Examen, das ich mit ihm anstellte, kam freilich nicht viel zu Tage. Aber er zeigte guten Willen und hoffte was zu lernen. Ich gab ihm wohlgemeinte Lehren, die er aufmerksam anhörte, wobei er in einer kindlichen Art die mollige Unterlippe ein bißchen hängen ließ. Als wir schließlich den Handschlag tauschten, war ich ihm bereits so gut geworden, daß ich du und Pepi zu ihm sagen mußte. Mit einem warmen Empfehlungsbrief an den Oberjäger und mit 20 Gulden Vorschuß schickte ich den Peperl noch am gleichen Mittag hinaus ins Revier. Zwei Wochen später kam ich für einen Tag ins Jagdgebiet. Der Pepi war draußen im Dienst; und der Oberjäger, bei dem ich mich nach der Führung seines neuen Untergebenen erkundigte, sagte lachend: »Oh, mit dem komm ich gut aus. Das ist ein netter Kerl. Und alles laßt er sich sagen.« Auch sonst im Dorfe, besonders von der Wirtin im Roten Hahn und von der jungen, hübschen Kellnerin hörte ich viel Gutes über den Peperl. Doch vor der Heimfahrt geriet ich mit dem Oberjäger in eine Meinungsverschiedenheit. Ich war des Glaubens, daß der Peperl am achten April seinen Dienst angetreten hätte -- und der Oberjäger behauptete: am Zehnten. »Das ist doch nicht möglich! Er ist doch mit meinem Brief noch am gleichen Tag herausgefahren. Und das war der achte April.« 356
»Herr Dokter irren sich! Das war der Zehnte. Ich weiß es ganz genau. Es war an dem Tag, an dem in der Früh das erste Gewitter war. Und wie ich da am Vormittag von der Pirsch heimgekommen bin, ist der Peperl grad dahermarschiert, tropfnaß am ganzen Leib.« »Am Vormittag? Das ist doch unmöglich. Er muß doch am Abend eingetroffen sein. Er war doch am Vormittag noch bei mir in Wien.« Der Oberjäger schien meinen verdutzten Blick als Vorwurf oder Mißtrauen zu deuten. »Herr Doktor, ich kann nichts anderes sagen, als was ich weiß. Und daß es der Zehnte war, das ist doch registriert.« Er zog den Jagdkalender aus der Joppe und wies mir eine Eintragung vor. In schwerfälligen Zügen und etwas unorthographisch -mein Oberjäger sprach korrekter, als er schrieb -- stand da unter dem Datum vom zehnten April zu lesen: »Heite der neiche Jäger eingetretten. Heist Josef Aust. Bewilichte sälbem fünf Gulden Forschus.« »Vorschuß? Aber der Pepi muß doch Geld gehabt haben?« »Nein. Der gute arme Kerl ist so hosensackblank gewesen, daß ich ihm einiges geben mußte, damit er sich ein Mittagsmahl und ein trockenes Hemd kaufen konnte.« »Ein Hemd kaufen? Hat er denn sein Zeug nicht mitgebracht?« »Damals nicht, nein. Und jetzt schreibt er immer um seinen Koffer. Aber der Koffer kommt nicht. Na, das wäre 357
nicht das Schlimmste. Meine Frau und ich, wir helfen dem Pepi gern aus. Weil er so ein guter, netter Kerl ist. Ich glaub, mit dem werden der Herr Doktor noch sehr zufrieden sein.« Ich konnte dieses Gespräch zu keinem Ende führen, denn ich mußte abfahren, wenn ich in der Bahnstation nicht den letzten Wiener Zug versäumen wollte. Während der ganzen Heimfahrt beschäftigte mich die Sache. Das sonnige Bild des Peperl hatte einen dunklen Fleck bekommen. Wo blieb sein Koffer? Und war der Pepi wirklich erst am Zehnten eingetroffen? Wo hatte sich dieser Josef die zwei Tage nach unserm Handschlag herumgetrieben? Und was hatte dieser nette Herr Aust mit den zwanzig Gulden angefangen, die er von mir als Vorschuß bekommen? Doch als das Bild meines neuen Jägers so von Gewölk umdunkelt war, guckte durch alle Verdüsterung wieder was Helles durch. Denn ich erinnerte mich an die letzten Worte des Oberjägers: von dem guten, netten Kerl, mit dem ich noch sehr zufrieden sein würde. Und schließlich kann sich doch alles Verdächtige als eine Harmlosigkeit erklären. Das ist ein abscheulicher Zug an uns Menschen, daß wir vom lieben Nächsten immer gleich was Schlechtes denken. Und richtig, als ich bei Aufgang der Rehjagd ins Revier hinauskam, löste sich die dunkle Sache zu freundlicher Helle. Natürlich zog ich beim Verhör eine strenge Miene auf. Doch während Josef Aust in manierlicher Haltung vor mir stand, mit dem frohen Sonnenblick eines schuld358
losen Engels, bekannte der Oberjäger in etwas verlegener Hast, daß er sich bei jener Taschenbuchnotiz um einen Tag geirrt hätte. Der Josef wäre weder am achten noch am zehnten April »eingetretten«, sondern am neunten. »Aust? Warum sind Sie erst am Neunten gekommen?« Wie hell und frisch der nette Kerl mich ansah! Und nüt seiner warmen, einschmeichelnden Stimme erzählte er: Beim Marsch von der Bahnstation zum Jagdhaus herüber hätte er sich, als ein Fremder in der Gegend, bös im Holz verlaufen, wäre in die Finsternis geraten, hätte bei Mutter Grünewald übernachten müssen und wäre erst aufgewacht, als am Morgen der Gewitterguß über ihn niedergegangen. Diese Geschichte spickte er so drollig mit netten Einzelheiten seines Abenteuers, daß ich ins Lachen geriet. »Aber die zwanzig Gulden Vorschuß, Josef? Die hat Ihnen das Gewitter doch nicht aus dem Sack herausgeschwemmt? Oder wollen Sie das Geld vielleicht verloren haben?« Er schüttelte lachend den hübschen, jungen Kopf. Aber dann wurde er ernst, ließ die volle, rote Unterlippe ein bißchen hängen, tat einen tiefen Atemzug, und mit beklommener Stimme, wie redliche Menschen ein drückendes Verschulden zu bekennen pflegen, gestand er mir: Sein Onkel hätte seit längerer Zeit nicht mehr »nachspicken« wollen, und drum wären aus der Elevenzeit etwas Rückstände dagewesen; und als nun der Josef die zwanzig Gulden auf die Hand bekam, dachte er sich, es wäre am besten, möglichst sauberen Tisch zu machen. Und so 359
schickte er 19 Gulden gleich »per Postanweisung« dorthin, behielt sich nur den einen Gulden für die Bahnfahrt und dachte: »Wo das Jagdhaus steht, da wird's schon wieder gute Menschen geben, die weiterhelfen, bis der Gehalt fällig wird.« An der Wahrheit dieser Geschichte war nicht zu zweifeln. Die unanfechtbarsten Beweise glänzten in Pepis Augen. Ich hatte meine Freude an der heiteren Ehrlichkeit. »Und sind denn jetzt die ganzen Rückstände aus der Elevenzeit gedeckt?« Er schwieg und sah mich an wie ein guter Junge, der weiß, daß er einen nachsichtigen Vater hat, und doch seine Strenge fürchtet. »Sag mir's, Pepi! Unscheniert! Wie viel hast du noch zu blechen?« »Noch ... noch vierzehn Gulden.« Die gab ich ihm, deckte auch den Vorschuß beim Oberjäger und erhöhte dem Pepi den Monatsgehalt um fünf Gulden, damit ihm die Rückzahlung leichter würde. Ihr hättet die Freude sehen sollen, die dem netten Kerl in den feuchten Augen schimmerte! Er suchte nach einem Wort, um mir zu danken -- und fand auch das beste: »Herr Dokter, auf Ehr und Seligkeit, durch die Tat will ich mich erkenntlich zeigen.«
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Während ich die Finanzgeschäfte erledigte, fiel mir die merkwürdige Haltung des Oberjägers auf. Der hatte schon eine Weile kein Wort mehr gesagt, stand stramm, als hätte er einen eisernen Ladstock verschluckt, war blaß über das ganze Gesicht und hatte groß geöffnete, kreisrunde Augen. »Mensch? Was haben Sie denn?« Er schüttelte den Kopf. »Nichts, Herr Dokter!« Dann sah er den lachenden Pepi an. Und sagte zu mir: »Ich hoffe nur, der Herr Dokter werden mir meinen Irrtum verzeihen. Von wegen des Datum. Weil es jetzt der Neunte sein muß.« »Na natürlich! Man kann sich doch irren. Deswegen brauchen Sie sich nicht aufzuregen. Ich weiß doch, wie korrekt und pünktlich Sie in allen Dingen sind. « Wir traten aus der Stube hinaus in den goldschönen Nachmittag. Wie grüne, weißgesprenkelte Wälle waren die Obstgärten mit ihren blühenden Bäumen um das kleine Haus herum. Und aus dem zarten Laub meiner zwanzig Rosenbäumchen spitzten gelb und rot schon an die hundert Knospen heraus. In der Ferne die sanft gebuckelten Höhen der Weinberge und die langen Züge der goldgrünen Buchen-- und Eichenwälder. Ein reiner Himmel über allem. Und diese wohlige Stille! Nur in einem Nachbargarten das leise Glucksen einer Mutterhenne. Und von einer nahen Waldzunge hörte man zuweilen den Gackerschrei eines balzenden Fasans. Und immer rieselte das feine Geplätscher des dünnen Brunnenstrahls.
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Die Frau des Oberjägers, die über den Brunnentrog gebeugt stand und Wäsche spülte, richtete sich auf und streckte, ganz von Sonne umgossen, die triefenden Hände von sich. Als sie meine gute Laune sah, nickte sie dem Pepi freundlich und wohlwollend zu. Wir zogen zu dritt auf die Abendpirsche. Der Oberjäger wußte einen guten Rehbock, der täglich um die Dämmerung auf ein Kleefeld austrat. Und da nahm ich den Pepi mit. Bei der Wanderung durch das Wiesental ging er immer neben mir her und plauderte mit seiner linden, wohltuenden Stimme. Er sagte nie was besonders Kluges, doch immer was Nettes. Und seinen Koffer mußte er auch schon bekommen haben. Er war anders gekleidet als damals in der Stadt, jagdmäßiger, schmuck und adrett -ganz ähnlich, wie sich der Oberjäger an Sonn-- und Feiertagen zu tragen pflegte. Dann saßen wir gut gedeckt am Waldsaum. Eine Goldamsel flötete den schönen Abend an. Aber die Schnaken machten das Sitzen ungemütlich. Weder Mückenschleier noch Handschuhe konnten mich schützen. Der Oberjäger saß wie ein Pfahl; den stach entweder keine Schnake, oder er spürte die Stiche nicht. Aber noch schlimmer als mir ging es dem Peperl. Der wetzte, schlug und scheuerte ununterbrochen. Als ich ihn einmal mit leisem Zischlaut zur Ruhe mahnte, tuschelte er hinter mir: »Ich hab so ein süßes Blut. Grad alle fliegen s' her auf mich. Schauderhaft ist das! « Der Rehbock kam nicht.
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Ums Finsterwerden stand der Oberjäger auf und stieß aus ergrimmter Seele einen galligen Fluch heraus. Und während des ganzen Heimweges sprach er keine Silbe mehr. In seinem Ärger machte er lange Schritte. Ich blieb mit dem heiter schwatzenden Peperl zurück. Und da flüsterte mir der nette Kerl plötzlich ins Ohr: »Herr Dokter, für morgen früh weiß ich einen Bock. Der ist todsicher! « Halb mißfiel mir das. Warum machte der Peperl aus diesem Bock ein Geheimnis vor dem Oberjäger? Aber halb gefiel es mir auch. Vielleicht hatte er den Ehrgeiz, sich auf eigene Faust ein bißchen auszuzeichnen? »Na, da bin ich neugierig! « Als wir ins Dorf kamen, lud ich die Jäger zum Nachtmahl in den Roten Hahn. Aber da war's nicht behaglich. In der Familie des Wirtes schien übel Wetter zu herrschen. Die Wirtin ging verdrossen umher, und die hübsche Kellnerin machte Augen wie eine gereizte Wildkatze. Einmal kam es mir so vor, als hätten diese bösen Augen mit dem Peperl was zu schaffen. Aber das war wohl eine Täuschung. Denn der nette Kerl war gleichmäßig freundlich gegen das übellaunige Mädel, verlor seine Heiterkeit nicht und plauderte in seiner drolligen, gewinnenden Art um so unermüdlicher drauflos, je schweigsamer der Oberjäger blieb. Daheim, bevor ich in meine Stube ging, sagte ich: »Morgen soll mich der Pepi führen.«
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»Bitte!« Der Oberjäger schlug nach seiner strammen Gewohnheit die Hacken aneinander. »Da wünsche ich Weidmannsheil!« Am Morgen führte mich der Pepi im Dämmergrau zu einer Waldwiese. Ein Reh zog äsend durch das betaute Gras. »Schießen S', Herr Dokter! Schießen S'!« Der Peperl war ein bißchen laut geworden, und das Reh sauste schreckend davon. »Aber Aust! Das war doch eine Geiß!« Er guckte mit verdutzten Augen drein, ließ die mollige Unterlippe hängen und wußte nichts zu sagen. Dann schüttelte er gekränkt und traurig den Kopf, als begriffe er den Zusammenhang der Welt nicht mehr, der ihm vor wenigen Minuten noch völlig klar gewesen. Wir kehrten in den Wald zurück, wanderten planlos eine Weile so zu -- und da sah ich plötzlich auf dreißig Gänge im Stangenholz einen Rehbock stehen. Er fiel im Feuer. »Jesus! Was ist denn?« stammelte hinter mir der Peperl. Aber da gewahrte er das rollende Wild, sprang wie irrsinnig darauf zu und begann vor Freude zu tanzen. Erst konnte er nur lachen und wußte nichts Vernünftiges zu sagen. Aber nach einer Minute hatte er um den Rehbock herum schon eine drollige Geschichte zusammengereimt, deren sprudelnden Bericht er immer wieder mit der Beteuerung unterbrach: »Das ist er! Natürlich! Das ist er ja, der meinige!« Ich ließ ihm seine Freude, obwohl ich des Glaubens war, daß der Peperl den »todsicheren« Bock, der mir da im 364
Zufall vor die Flinte gelaufen war, im Leben noch nie gesehen hatte. Während der Jäger die Beute heimtrug ins Jagdhaus, streckte ich mich unter einer wundervollen Buche zu einem Schläfchen ins Moos. Zwei Stunden später trafen wir uns wieder und bummelten bis zum Abend durch den Wald. An diesem Tage schmeichelte sich der nette Kerl so ganz in meine Gunst, daß ich mich in den folgenden Wochen, sooft ich ins Revier herauskam, immer nur vom Pepi zur Pirsche begleiten ließ. Der Oberjäger begann eifersüchtig zu werden und nahm einen spöttisch gereizten Ton gegen Pepi an, der diese stachligen Redensarten gutmütig überhörte. Aber niemals kam mir der Oberjäger mit einer dienstlichen Klage; er gewöhnte sich an, zu sagen: »Oh, der Pepi tut schon seinen Dienst.« Wenn ich um die Mittagszeit vor dem Jagdhaus anfuhr und in meine Stube trat, pflegte der Oberjäger heißköpfig davonzurennen, und draußen hörte ich ihn schreien: »Wo ist denn der Aust? Himmelsakrament! Wo ist denn der Aust schon wieder?« Dann lief die Frau des Oberjägers das Dorfgässel hinunter, und nach einer Viertelstunde kam der Pepi echauffiert und lachend dahergesprungen, um sich zum Dienst zu stellen. Mit diesen brennenden Wangen und nüt diesem gesteigerten Glanz in den Augen gefiel er nür immer am besten. Und wenn da manchmal Ursache gewesen wäre, ein bißchen zu schelten, machte ich die Sache gnädig ab. Die Gunst der Frau Oberjägerin schien sich der Pepi seit einiger Zeit verscherzt zu haben. Aber wenn sie so gegen den netten Kerl brummte, bekam sie von ihrem Mann immer einen Wink, der sie schweigen machte. Drum 365
fragte ich eines Tages: »Hat der Pepi Ihrer Frau Verdruß gemacht?« Er stellte sich stramm in Positur. »Oh nein! Durchaus nicht. Aber die Weiber sind halt so. Ich glaub, sie eifert ein bißl, weil der Josef jetzt alles gilt.« Der verschluckte Nachsatz wollte vermutlich sagen: »Und ich gar nichts mehr.« Lachend erwiderte ich: »Na, so schlimm ist die Sache nicht.« »Doch! Fein hat der Pepi den Herrn Doktor eingewickelt. Freilich, darauf versteht er sich.« Das klang, als sollte noch ein Aber nachkommen. Doch es kam nichts mehr -nur, daß der Obejäger am Abend, als ich mit dem Pepi leer von der Pirsche heimgekommen war, im Gespräch gelegentlich hinwarf: »So wenig wie heuer hat der Herr Doktor in der Pirschzeit noch nie geschossen.« Das stimmte. Und die jagdliche Unerfahrenheit des Peperl trug wohl die Schuld daran. Aber das vergrämte mich nicht -- das Totschießen war mir bei der Jagd nie die Hauptsache. Wenn der Pepi mit mir draußen war im Wald, da kam ich aus einer wohligen Stimmung nie heraus. Nie sagte er ein Wort, über das man sich ärgern mußte. Und hatte er jagdlich eine unangenehme Meldung zu bringen, so wußte er sie mit seinen molligen Klängen so einzukleiden, daß sie immer noch etwas Angenehmes hatte. Auch verstand er es, drollig und nett aus seinem Leben zu erzählen. Diese verschiedenen Geschichten paßten zwar nie recht zueinander -- jede schien immer aus einem anderen Leben genommen. Aber jede hatte 366
solch ein warmes, heiteres und reinliches Licht, daß sie mir gefiel. Auch schwatzte der Pepi nie von Frauenzimmern und zärtlichen Abenteuern. Die Weiber schienen für den Josef Aust nicht auf der Welt zu sein -- nach seinen Gesprächen zu schließen. Und durch den Pepi lernte ich erst die Gegend kennen, alle die kleinen Dörfchen in dem weiten Jagdrevier. Lange im gleichen Gasthaus zu verkehren, das liebte er nicht. Immer entdeckte er wieder was Neues, was Besseres, schleppte mich hin und war mit den Wirtsleuten gut Freund, bis er eines Tages plötzlich wieder den Staub dieses gastlichen Hauses von seinen Schuhen schüttelte, weil er was »Feiners« entdeckt hatte. Natürlich war der Pepi da immer mein Gast. Aber ich hatte ihm nie eine Unmäßigkeit, oder auch nur eine Unbescheidenheit vorzuwerfen. Immer war er mit seinem »einspännigen Schöpperl« zufrieden, ob's alter Wein oder Heuriger war. Doch eines Morgens -- wir hatten in einer Dorfschänke übemachtet -- duftete der Peperl beim Ausmarsch zur Frühpirsche ganz erschrecklich nach einem sauren Faß. Und er hatte doch am vergangenen Abend ebenso wenig getrunken wie sonst! Und war auch um die gleiche Stunde wie ich zu Bett gegangen. »Aber Josef! Wie kommt denn das, daß Sie so nach Wein riechen?« Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, weil der Morgen noch finster war. 367
Ein paar Minuten später wußte er sich die dunkle Sache plötzlich zu erklären: Er hätte seine Kleider beim Schlafengehen in den Flur hinausgelegt, und zwar auf ein Faß - und da hätte sein Gewand den säuerlichen Duft des Fasses angenommen. Als die Sonne kam, hatte der Pepi jenen gesteigerten Glanz in den Augen und jene brennenden Wangen, wie er sie immer hatte, wenn er bei meiner Ankunft im Jagdhaus schnell geholt wurde -- jenes Echauffement, das mir an ihm so gut gefiel. Aber diesmal gefiel es mir nicht. Denn seine Erklärung -- obwohl ich keine andere zu finden wußte --schien mir etwas sengerich. Und ich konnte an diesem Tage zu dem netten Peperl nicht mehr du sagen. Seit diesem Morgen roch er niemals wieder nach Wein -nur manchmal sehr intensiv nach Pfefferminz. Und immer hatte er eine kleine Tüte mit diesen weißen Kügelchen in der Westentasche. Einmal fragte ich ihn: »Josef? Warum legen Sie denn Ihre Kleider so oft auf eine Pfefferminzkiste?« Zuerst verstand er das nicht. Aber dann fing er furchtbar zu lachen an, drohte mir mit dem Finger und blinzelte mit den glänzenden Augen, als möchte er sagen: »Sie sind aber ein Filou!« Die offene Heiterkeit, mit der er meine gar nicht lustig gemeinte Anspielung aufnahm, beschwichtigte wieder meinen Verdacht. Eines Nachmittags -- schon im Hochsommer, zur Zeit der Hühnerjagd -- kam ich wieder vor dem Jagdhaus angefahren. Und wieder rannte, als mein Zeug in der Stube 368
war, der Oberjäger in seine Wohnung hinüber und fluchte: »Wo ist denn der Aust? Himmelsakrament! Wo ist denn der Aust schon wieder?« Und die Frau Obejägerin lief durch das Dorfgässel hinunter. Aber eine halbe Stunde verging, eine Stunde, ich wartete und wartete -- es ging schon auf den Abend zu, und der nette Kerl mit dem echauffierten Gesicht und den glänzenden Augen ließ sich noch immer nicht blicken. Ich wollte den schönen Abend nicht ganz verlieren und wanderte mit dem Oberjäger über die Felder hinaus, um Rebhühner zu verhören. »Der Aust? Der wird wohl irgendwo Dienst machen! Aber ich kann mir nicht denken, wo!« Das war alles, was der Oberjäger, der in sehr übler Laune zu sein schien, über den unsichtbaren Peperl zu sagen wußte. Dann sprachen wir von den Aussichten für die Hühnerjagd und wanderten auf schmalem Ackerweg einer Feldhöhe zu, die sich mit ihren leichtflutenden Kornfeldern und mit zerstreuten Haselnußstauden fein in den leuchtenden Himmel zeichnete. Uns zur Linken, in einer Entfernung von etwa dreihundert Schritten, zog sich der Saum eines Eichenwaldes über den Hügel hinauf. Die Sonne war schon so tief gesunken, daß wir sie nicht mehr sehen konnten. Doch während wir im Schatten wanderten, war die langgestreckte Laubwand des Eichenwaldes noch goldrot angestrahlt. In diesem glänzenden Schimmer gähnte zwischen den Stämmen jeder Eingang in das Innere des Waldes wie ein schwarzes Dreieck. Und in dieser Schwärze bewegte sich immer etwas Helles,
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huschte im finsteren Schatten des Waldes hin und her, tauchte scheinig auf und verschwand wieder. Ich fragte: »Was ist denn das? Im Wald drüben? Das Helle?« Der Oberjäger guckte und schob den mageren Hals aus den Schultern. Im gleichen Augenblick löste sich das Helle aus einem schwarzen Waldloch und kam über ein Kleefeld herübergeflattert -- ein schlankes Figürchen in hurtigem Lauf. Ich hob den Feldstecher vor die Augen und sah eine zierliche, feine Mädchengestalt, ohne Hut, in einem lichten, hellrot getüpfelten Waschkleidchen von städischem Schnitt. Ein allerliebstes, etwa siebzehnjähriges Kind, das in seinem blumenhaften Wuchs an ein Meißner Porzellanfigürchen erinnerte. Die Zauslöckchen des reichen Braunhaares wehten bei dem flinken Laufe um das zarte, rosige Apfelgesichtchen, und die flatternden Falten des lichten Kleidchens waren wie rührsame Schwanenflügel hinter dem reizenden Dingelchen her. Jetzt verschwand das Mädchen, uns schon näher um hundert Schritte, hinter einer langen Zeile der dichten Haselnußstauden. Ich sah den Oberjäger an und wollte was fragen. Aber da hörte ich hinter den Stauden schon das Kleid des flinken Mädels rauschen, immer näher. Und jetzt tauchte das hübsche Kind, zehn Schritte vor uns, in einem Durchbruch der Hecke auf, sah uns mit großen, braunen Augen erschrocken an, stieß einen leisen Schrei aus, machte kehrt, rannte davon, wie von einem Gespenst gejagt, und verschwand hinter dem gelben Wall eines reifen Kornfeldes.
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Verwundert sah ich über die nickenden Ähren hin. Dann fragte ich: »Was war denn das?« Der Oberjäger schmunzelte. »Mir scheint, die hat einen von uns zwei für Aust gehalten. Und drum ist sie auf uns zugelaufen.« Er lachte. »Die muß schön erschrocken sein! « »Sieh mal an! Einen guten Geschmack hat der Peperl. Und Glück hat er auch. So was Nettes zu fischen! Wer ist denn das Mädel? Das ist doch keine aus dem Dorf?« Lauschend streckte der Oberjäger den Kopf. »Horchen S', Herr Doktor! Da ruft schon ein Völkl! « In der leuchtenden Dämmerung klang immer wieder ein leiser, quarrender Laut, als würden zwei Feilen leicht und flink aneinander gerieben -- der Lockruf einer Rebhenne, die ihre Kinder zur Abendruhe sammelte. Ein gelbes Glänzen flammte über den Himmel hin, und während sich die Wiesentäler und die unter Obstbaumkronen versunkenen Dörfchen mit blauen Dünsten umschleierten, hoben sich alle Waldkämme und Feldhöhen, alle Hecken und Ackerkanten mit stahldunkeln Tinten in die Glut des Abends. Ein Krähenschwarm zog hoch in der brennenden Luft einem fernen Walde zu, lautlos, ohne Schrei. Und von drei Dörfern hörte man das Abendgeläute, sanft gedämpft -- es klang so fern, daß es die leisen, feilenden Laute nicht übertönte, die sich bald hier, bald wieder dort, aus dem Klee und aus dem finsteren Schatten der Hecken vernehmen ließen.
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Von sieben Stellen hörten wir die Hühner rufen. Gute Aussicht für den kommenden Jagdtag! Doch ich dachte nicht viel an die Beute, die mir dieses Locken verhieß. Immer mußte ich an den netten Kerl und an das niedliche Glück seiner Liebe denken. Das hübsche, feine Mädel hatte ihn wohl zum Stelldichein erwartet? Und der Peperl war nicht gekommen? Warum nicht? Weil er als Jäger pflichtgetreu und fleißig im Dienste war? Es dunkelte über den Feldern, und die Hühner riefen nicht mehr. Wir traten den Heimweg an. Und da fragte ich wieder: »Wer ist denn das Mädel?« »Die gehört zu einer Wiener Familli, die bei uns daheraußen in der Sommerfrisch wohnt.« »So ein junges Ding! Und ein Jäger, der nichts hat? Sind denn die Eltern damit einverstanden?« »Ich glaub, da wird sich der Pepi nicht viel drum kümmern. Der macht's wie der Habicht, wenn das Zeiserl singt.« Das sagte.der Oberjäger mit einer ganz absonderlichen Heiterkeit. Immer lachte er kurz und heimlich vor sich hin. Etwas wie Erbarmen um das junge, reizende Mädel rührte sich in mir. Ich nahm mir vor, dem Peperl ins Gewissen zu reden. Und unwillkürlich drehte ich das Gesicht, um noch einmal hinaufzublicken zu der Höhe, auf der das liebe Kind so glühend und erschrocken vor mir gestanden.
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Da gewahrte ich fern auf der finsteren Hügelkante ein männliches Figürchen, spannenhoch, wie eine kleine Marionette, schwarz abgehoben vom letzten gelben Brand des westlichen Himmels. Und dieses Männchen machte wunderlich gaukelnde Bewegungen. Wenn ein Jäger in der Dämmerung einen Menschen einsam über die Felder gegen den Wald zuschreiten sieht, erwacht immer gleich ein Verdacht in ihm. Drum hob ich den Feldstecher. Doch gegen den grellen Himmel war ein schlechtes Sehen. Das Figürchen vergrößerte sich wohl, verschwamm aber grau im Glas und hatte strahlende Ränder. Einen Augenblick war es mir, als könnte. das der Josef Aust sein. Kam er, nach erledigtem Dienst, so verspätet zum Kosestündchen? Aber Unsinn! Der Pepi hätte doch einen Hut haben und eine Flinte tragen müssen. Aber an dem schwarzen Teufelchen dort oben war nichts Gewehr--Ähnliches zu entdecken. Und diese wunderlichen Bewegungen? Das sah sich an, als fiele der Mensch da droben immer wieder auf die Knie und griffe wie suchend nach irgend einem Ding auf der Erde umher. Vielleicht ein Schlingenleger? Einer, der Laufdohnen für die Rebhühner stellte? Ich gab dem Oberjäger einen Puff mit dem Ellenbogen. »Was treibt denn der Kerl da? Wer kann denn das sein?« Der Oberjäger spähte scharf und lange zum Grat der Felder hinauf. Dann sagte er, mit einem mir unverständlichen Grimm in der Stimme: »Wieder ein besoffenes Schwein! Der Kerl torkelt ja vor lauter Rausch! Sehen Sie nur, Herr Doktor! « 373
Aber da war nichts mehr zu sehen. Das schwarze Figürchen war plötzlich verschwunden, als hätte der finstere Grund den Betrunkenen eingeschluckt. Während wir über die Felder heimwanderten, fingen die Sterne zu funkeln an. Es war schon ganz dunkel geworden. Da schlug in einem nahen Getreidefeld noch eine Wachtel, die wohl beim Hall unserer Schritte aus dem ersten Schlummer erwacht war und nun glaubte, es käme schon der Morgen. Der Oberjäger schritt eine Weile schweigend hinter mir her. Bevor der Fußweg in die Straße einbog, sagte er plötzlich, noch immer mit jener mir unbegreiflichen Erregung in der Stimme: »Herr Doktor, jetzt muß ich Ihnen aber doch was erzählen. Von diesem Mädel da. Aber bitte, sagen Sie dem Aust nichts davon! Es ist nur, daß Sie wissen, was es für Sachen gibt auf der Welt. Das junge Dingerl da, das so lieb und unschuldig ausschaut wie der Maikäfer im April, das ist entweder ein gründlich durchgesottenes Weibsbild ... oder der Pepi hat das Mädel in drei Wochen so auf den Glanz dressiert. Ich sag Ihnen, Herr Doktor, es ist einfach schrecklich, was ich erlebt hab! Da wird mir vorige Woche auf die Nacht, grad wie ich schlafen gehen will, von der Nachbarin angezeigt, daß im Tannenschachen eine Rehgeiß in der Schlinge hängt. Ich natürlich gleich heraus wie der Teufel! Und denk mir: da müssen wir passen in der Nacht, bis er kommt, der Lump! Und schrei gleich: »Wo ist denn der Aust, Himmelsakrament, wo ist denn der Aust schon wieder?« Aber da hätt ich lang suchen können. Sein Bett natürlich, das ist leer gewesen. Aber ich hab schon lang gemerkt, daß er mit der kleinen Wienerin 374
bandelt. Und denk mir: Der Aust muß her! Und lauf hinunter zu dem Bauernhäusel, in dem die Familli wohnt. Hab auch gewußt, daß der kleine Käfer parterre in dem Eckstüberl schlaft ...« »So?« »Ja ... weil ich am Abend beim Heimweg von der Pirsch an dem Häusl oft vorbei muß. Also spring ich halt hinunter und denk: Der Aust muß her, und wenn das Knödel einen Gulden kostet. Und an dem Eckstüberl, da ist vor dem Fenster ein Gartenhäusl an die Mauer angebaut, mit einem langen Tisch drin. Und da geh ich also bei der Finsternis hinein in das Gartenhäusl und tu zuerst ganz fein unseren Pfiff, den der Pepi kennt. Und weil sich ein Zeitl gar nichts rührt, geh ich aufs Fenster zu und klopf ein bißl an. In dem schwarzen Stübl springt was Weißes auf mich her. Ich will schon fragen: »Ist der Aust nicht da?« Aber da geht schon das Fenster auf, und der ganze Kreuzstock füllt sich aus mit einer schwarzen Sach. Das hat affweil so ein bißl gerauscht. Ich schau und schau, und da tuschelt in der Stub ein feines Stimmerl: >So nimm doch und zieh!< In Gottesnamen, denk ich mir, und greif halt zu. Und was glauben S', Herr Doktor, daß ich da aus dem Fenster heraugezogen habe? ... Eine Tuchent! ... Meiner Seel, das ist wahr! Und hinter der Tuchent sind zwei wollene Decken rausgerutscht. Und ein Kopfkissen. Und nachher ist das Mädel selber zum Fenster herausgeschlupft, auf und auf ganz weiß. Ich steh wie ein Narr und schau nur so. Und das Mädel wispert allweil, als tät ich der Pepi sein. Und steht ganz weiß bei dem langen Tisch und bettet auf. Ich sag Ihnen, Herr Doktor, grad nobel! Und wie sie mit Aufbetten fertig ist, 375
hupft das weiße Dingerl auf mich zu und tuschelt: »Wo bist du denn so lang geblieben?« Und da nimmt mich das Zeiserl um den Hals. Aber wie das Mädel meinen Vollbart spürt ... der Pepi hat ja nur ein so winziges Schnauzerl ... da hör ich einen Laut, als hätt sich das Mädel verschluckt. Und die Armerln sind ihr heruntergefallen, und so ist sie in der Finsternis dagestanden, auf und auf ganz weiß, und hat keinen Rührer nimmer getan, keinen Schnaufer nimmer hören lassen. Fluchen hätt ich mögen... ich weiß nicht, warum... und siedheiß ist mir's über den Buckel hinaufgefahren. Aber ich nimm mir einen Rand an und sag bloß: >Nette Sachen! Nette Sachen! Gleich aufbetten im Gartenhäusl!< Und nacher bin ich davon und hab nimmer umgeschaut. Und der Pepi ... weiß der Teufel, wo der gewesen ist! Mutterseelenallein hab ich bei der Rehgeiß passen müssen die ganze Nacht. Und der Lump von Wilddieb ist auch nicht gekommen. Und ein ums andermal hab ich fluchen müssen: Himmelsakrament! Himmelsakrament! Himmelsakrament!« Ich lachte hell hinaus in die stille, sternschöne Nacht. »Aber Herr Doktor! Wie kann man denn über so was lachen?« Er hatte recht. Diese Gartenhausgeschichte hätte mich eher nachdenklich stimmen sollen, sowohl über den netten Peperl wie über die hilflose Verlorenheit der armen, kleinen Weiberchen, wenn sie verliebt sind! Dieses junge, liebe blühende Geschöpf -- ein »gründlich durchsottenes Frauenzimmer«? Mit siebzehn Jahren? Mit diesem Unschuldsgesicht und diesen reinen Augen, die 376
so zu Tod erschrecken konnten? Nein, nein, nein! Da hatte der gewissenlose Teufel Mann sein viehisches Handwerk getrieben. Und der »nette Kerl« hatte dieses holde Kind »so auf den Glanz dressiert«, daß diese feine, zärtliche Lebensblüte beschmutzt, gebrochen und zertreten war, noch bevor sich ihre Knospe recht in der Sonne erschließen konnte. Am andern Morgen, früh um vier Uhr, als ich mich zur Hühneriagd fertigmachte, trat der nette Kerl beim fahlen Morgenlicht manierlich in meine Stube, freundlich lächelnd, mit echauffierten Wangen, in den Augen jenen gesteigerten Glanz. So frisch und rosig sah er aus, wie ein Gerechter nach dem gesündesten Schlaf. »Aust? Wo waren Sie gestern abends?« Er stutze, weil ich nicht du und nicht Pepi sagte. »Verzeihung, Herr Doktor, ich bin im Dienst gewesen. Weit draußen im Revier, auf den Kronsteiner Feldern, da hab ich die Hühner verhört, weil ich doch gewußt hab, daß der Herr Doktor heut kommen. Dreizehn Kitten haben gerufen.« »Gut. Dann wollen wir dort jagen. Aber noch etwas anderes. Gestern am Abend ist ein junges, hübsches Mädel auf uns zugelaufen, eine Wienerin. Mir scheint, die hat Sie gesucht?« »Mich?« Er sah mir mit seinen treuen, redlichen Augen verwundert ins Gesicht. »Herr Doktor, das muß ein Irrtum sein.«
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Ich dachte mir: »Ist es denn möglich, daß Menschenaugen so ehrlich blicken können, wenn sie lügen? Oder war der Oberjäger auf falsche Fährte geraten?« Der trat gerade in die Stube, fertig zur Jagd. Und ich konnte mir nicht erklären, warum er so bleich war und so übernächtigte, müde Augen hatte. »Jetzt gehen wir jagen. Aber wir sprechen noch von der Sache, mein verehrter Herr Aust! Und wenn ich draufkomme, daß Sie da eine Niederträchtigkeit begangen haben, jage ich Sie zum Teufel und haue Ihnen noch eine Gesunde hinter die Ohren.« »Herr Doktor werden sich nicht zu bemühen brauchen! « sagte er sanft. Dann ließ er die Unterlippe hängen, bekam feuchte Augen und sah mich traurig an. Dieser schuldlosen Miene gegenüber wußte ich mit meinem Zorn nichts Rechtes mehr anzufangen. Und als ich ratlos das blasse, unausgeschlafene Gesicht des Oberjägers betrachtete, stieg der Verdacht in mir auf: »Ob nicht der mich anlügt? Und der nette Peperl ist der Unschuldige?« Wir traten auf die Straße hinaus. Ein Morgen, als läge graue Seide über allen Dingen. Und der reine Himmel in seiner Windstille drohte mit einem heißen Tag. Ehe wir zu den Feldern kamen, sagte der Oberjäger plötzlich mit scharfem Akzent: »Wollen Herr Doktor nicht lieber dort jagen, wo wir gestern die sieben Kitten gehört haben?« 378
»Nein. Der Pepi hat dreizehn Kitten verhört. Da sind doch die Aussichten günstiger.« »Wie Herr Doktor meinen.« Der Oberjäger drehte das müde Gesicht und schoß einen wütenden Blick nach dem Pepi, der frisch, fröhlich und zuversichtlich in den sich sonnenden Morgen guckte. Eine Stunde hatten wir zu wandern, um das Feld zu erreichen, auf dem wir jagen wollten. »Die erste Kitt«, sagte der Peperl, »muß gleich da drüben im Kleefeld liegen.« Aber sie lag nicht da -- und war überhaupt nicht zu finden. Der Josef Aust schüttelte den netten Kopf. »Merkwürdig! Da muß in der Nacht wer durchs Feld gegangen sein.« Doch auf dem Klee lag noch der unberührte Tau. Genauso ging es mit der zweiten und der dritten Kitte, die der Peperl »nach aller Bestimmtheit« ansagte. Endlich fanden wir ein Völklein Hühner, ein paar hundert Schritte von der Stelle, wo Pepi die vierte Kitte verhört haben wollte. Und als ein halbes Dutzend Hühner an Peperls Patronentasche baumelte, zeigte er das lachende Gesicht eines Triumphators. Um mir die Jagd zu erleichtern, rannte er unermüdlich Feld ein und aus. jeden glücklichen Schuß, den ich machte, pries er als ein Wunder weidmännischer Geschicklichkeit. Und je heißer der 379
Tag sich anließ, um so frischer und flinker wurde der Peperl, während der Oberjäger sich immer müder und schlapper zeigte und bei der Mittagsrast am schattigen Waldsaum so fertig war, daß er keinen Bissen aß, sondern gleich die Augen zufallen ließ. Der hatte nicht geschlafen in der vergangenen Nacht -das hätt' ich beschwören mögen. Aber wenn nicht in seinem Bett? Wo war er in dieser Nacht gewesen? Allerlei Gedanken kreisten in meinem Kopf, während ich bald den schnarchenden Schläfer betrachtete, bald den frischen, munteren Peperl, der in seiner linden und einschmeichelnden Weise drauflosplauderte. Es fiel mir an ihm nur eines auf: daß er reichlicher schwitzte als sonst, und daß er von einem unstillbaren Durst gequält war. Seit dem Morgen hatte er das so getrieben: wo ein Wässerlein rann, da hatte er sich niedergeworfen und in gierigen Zügen getrunken, wie ein Wüstenwanderer, der nah am Verschmachten ist. Aber dieses durstige Elend trocknete seinen Humor nicht aus. Und als ich die Mittagsruhe aufhob und den Oberjäger weckte, sagte der Peperl mit Lachen: »Passen S' auf, Herr Doktor, jetzt, am Nachmittag, da kracht's! Neun Kitten haben wir noch. Und die sind sicher! « Fünf Stunden stolperten wir über die Felder und fanden auch nicht ein einziges Völklein Hühner. »Aust! Entweder haben Sie gestern abends an Halluzinationen gelitten, oder Sie sind ein Schwindler, wie mir ein zweiter im Leben noch nicht vorgekommen ist.« 380
Er schwieg, ließ die Unterlippe hängen und warf einen vorwurfsvollen Blick auf den Oberjäger. Als wir dann in der roten Dämmerung dem Kronsteiner Wirtshaus zuwanderten und der Oberjäger vorauseilte, um Quartier und Nachtmahl zu bestellen, guckte der nette Kerl mit düsterer Miene vor sich hin auf den Weg und schüttelte immer wieder den Kopf. Und plötzlich tat er einen tiefen Seufzer, blieb stehen und sah mich bekümmert an. »Herr Doktor! Hexereien gibt's keine. Aber Gemeinheiten gibt es. Gestern am Abend hab ich die dreizehn Kitten vernommen, so deutlich, wie der Herrgott das Weltradl laufen hört. Auf Ehr und Seligkeit, das ist wahr! Und ich kann mir nur denken, daß mir irgend jemand das zum Possen getan hat und ist in der Nacht mit dem Hund über die Felder geloffen und hat mir die ganzen Kitten ausgestöbert, daß ich bei meinem geehrten Jagdherrn in Verschiß komme.« Das war eine irrsinnige Hypothese -- aber ich mußte doch an die Müdigkeit und Schlafsucht des Oberjägers denken. Ein vergnügter Lärm klang uns entgegen. Und der Oberjäger kam mit der Meldung: »Herr Doktor, schlecht schaut's aus mit dem Platz im Garten. Bloß ein halber Tisch ist noch frei.« Der kleine Wirtsgarten, unter dessen Laubkronen die Windlichter in den großen Glaskugeln leuchteten, war angefüllt mit Ausflüglern und Wiener Sommergästen, die den schönen Abend heiter genossen. In einem dunklen Winkel wurde zu den Klängen einer Ziehharmonika lustig gesungen. 381
An dem Tisch, zu dem uns der Oberjäger führte, saßen zwei junge Frauen und zwei Kinder -- ein blondes, rundes und gemütliches Weiberl, dem das siebenjährige Bübchen zu gehören schien, und ein schlankes, hübsches schwarzhaariges Frauchen, das von quecksilberner Lebendigkeit war und ein fünfjähriges Mädchen flink auf den Schoß nahm, um uns bequemeren Platz auf der Bank zu machen. Man riet auf eine Ungarin, während man der rundlichen Blonden gleich die Wienerin ansah. Wir wünschten guten Abend, und das Gespräch begann mit leeren Redensarten zu tröpfeln. Doch der nette Peperl, der dem quecksilbernen Frauchen gegenüber und neben der gemütlichen Blonden saß, brachte bald eine muntere Konversation in Gang, indem er zuerst mit den Kindern scherzte und dann seine drohigen Späße mit den Müttern machte. Auch seine düstere Miene hellte sich hurtig auf, und der Kummerblick, mit dem er mich vor einer Weile noch angetrauert hatte, verwandelte sich in ein liebenswürdiges Augenleuchten. Dem Oberjäger fielen schon während der Mahlzeit halb die Lider zu. Ich quälte mich mit dem zähen Rostbraten und achtete nur wenig der animierten Unterhaltung, die der nette Peperl da in flottem Lauf erhielt. Es fiel mir nur auf, daß die blonde Wienerin plötzlich schweigsam wurde und ein bißchen von Pepi wegrückte, während das schwarzhaarige Frauchen immer lebhafter und lustiger plauderte. Dabei bekam ich zu hören, daß die Blonde die Frau eines Wiener Beamten, die Schwarze die Frau eines Kaufmannes in der Leopoldstadt wäre; vor einigen Tagen wären 382
sie nach Kronstein in die Sommerfrische gekommen, hätten ganz in der Nähe des Wirtshauses ein kleines, einsam stehendes Bauernhäuschen gemietet, und hier wollten sie mit den Kindern schöne Landwochen verbringen. Als ich mit dem Nachtmahl fertig war, erhob ich mich. »Es ist Zeit, daß wir schlafen gehen. Wir müssen morgen vor dem ersten Licht heraus. Um halb vier Uhr will ich geweckt werden.« Ich bekam eine muffige Kammer mit schlechtem Bett -die beiden Jäger, für die im Hause kein Platz mehr war, sollten in der Scheune nächtigen und über eine Leiter zum Heuboden hinaufsteigen. Lange fand ich keinen Schlaf. Draußen im Garten wurde gelärmt und gedudelt bis spät in die Nacht hinein. Als endlich die Ziehharmonika schläfrig wurde, fielen auch mir die Augen zu. Es war noch dunkel, als ich erwachte, ohne daß ich geweckt worden wäre. Ich zündete Licht an und sah nach der Uhr. Halb vier vorüber! Die Jäger hatten verschlafen. Rasch machte ich mich fertig für die Jagd und ging unter dem Glanze der Sterne in die Scheune hinüber. »He! Was ist denn! « Droben im Heu die schlaftrunkene Stimme des Oberjägers: »Jesus Maria! Ich bitt um Entschuldigung, Herr Doktor! « Es rumpelte auf dem Heuboden. »Aust! Aust! Aust! Himmelsakrament, wo ist denn der Aust?« Ein Geraschel im Heu. »Mar' und Josef! Der wird doch net 383
erstickt sein! Aust! Aust! Aust!« jetzt ein verdutzter Laut. »O du verfluchter Strohsack!« Im Dunkel der Scheune glitt etwas Schwarzes über die Leiter herunter. Der Oberjäger stand vor mir, und ich hörte, wie seine Hacken aneinanderschlugen. »Herr Doktor! Habe gehorsamst zu melden, daß dieser Aust nicht da ist.« Seine Stimme zitterte vor Wut. »Der Aust nicht da? Wo soll er denn sein?« »Seien Sie nur ganz ruhig, Herr Doktor! Der Aust muß her!« Mit diesem kategorischen Imperativ stürmte der Oberjäger zur Scheune hinaus. Ich wurde neugierig und marschierte hinter ihm her. Etwa hundertfünfzig Schritte ging es neben einem schmalen Bachlauf durch den ergrauenden Morgen. Zwischen Birnbäumen stand ein kleines, einstöckiges Häuschen, dessen Giebel sich schwarz gegen den fahlen Himmel hob, an dem die Sterne zu erlöschen begannen. »Himmelsakrament!« klang im Obstgarten die Stimme des Oberjägers. »Wo klopf ich denn jetzt da? ... Ah, was! « Ein Fenster klirrte. Und ich trat an den Zaun. Im Haus eine scharfe Frauenstimme: »Was ist denn das für ein Unfug?« Dann die Frage des Oberjägers, mit energischem Klang: »Bitte? Ist der Jäger Aust nicht hier?«
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»Aber das ist doch eine Unverschämtheit! Was glauben Sie denn? Glauben Sie vielleicht ... « Weiter war die empörte Stimme nicht zu hören. Denn sie wurde in der dunklen Stube drinnen von dem sanften Organ des netten Kerls unterbrochen: »Sei gut, Bruder! Ich komm gleich! « »Himmelsakrament!« fluchte der Oberjäger. »Das geht aber doch über den Schellenkönig.« Er trat auf den Weg heraus und sah mich stehen. Und stotterte erschrocken: »Prosit, Herr Aust!« Aber die Sache hatte allzuviel Komisches an sich, als daß ich sie hätte ernst nehmen können. Wir warteten unter dem schwarzen Laubdach eines Birnbaumes. Die Haustür quiekte. Und der nette Kerl kam durch die Dämmerung dahergesaust, in der einen Hand das Gewehr. Mit der anderen knöpfte er die Weste zu. »Da bin ich, Bruder!« Ganz heiter klang das. »Ist der Gottsoberste schon auf?« Ich sagte: »Ja, Peperl!« Dem netten Kerl verschlug es die Sprache. »Und Sie, mein verehrter Herr Aust, Sie können sich meinetwegen wieder niederlegen! Ich und der Oberjäger, wir gehen jagen. Tu, felix Austria, nube!« Der Josef guckte ratlos drein -- vermutlich, weil er nicht Latein verstand. Und wie eine Salzsäule blieb er unter 385
dem Birnbaum stehen, während ich mit dem Oberjäger davonging. Durch ein langes Wiesental wanderten wir beide im grauen Morgen einem Buchengehölz entgegen. Aber die Psychologie dieser Nachtgeschichte wollte ich klarstellen. Und fragte: »Hat denn der Josef dieses Frauenzimmer schon früher gekannt?« »Gott bewahre! Die hat er gestern am Abend zum erstenmal gesehen. Ich kann mir gar nicht denken, wie er das angestellt hat. Er ist doch mit dem Herrn Doktor vom Tisch weg und ist mit mir ins Heu hinaufgestiegen. Aber jedesmal geht das so! Es ist rein zum Teufelholen mit dem Kerl. Ich weiß gar nicht, wie er's macht. Wo ein Zöpfl hängt, da ist er dahinterher ... heute rot, morgen tot! Und das hab ich noch nie erlebt, daß er bei einer abgefahren ist. Bloß hinheben darf er das süße Leimrütl, und es hockt schon eine drauf. In der ganzen Gegend sind die Weibsbilder wie verrückt auf den Pepi. Da geht's ihm grad wie bei den Schnaken. Er muß so ein süßes Blut haben. Grad alle fliegen s' auf ihn her! Schauderhaft ist das! « Der Zorn, mit dem der Oberjäger das herausprasselte, erheiterte mich. Dann klangen Schritte hinter uns. Und als ich mich umguckte, sah ich den Peperl einhermarschieren. Zögernd kam er angeschlichen, geknickt und zerknirscht. So muß der Urvater der Menschen aus den Stauden getreten sein, als der Herr ihn fragte: Adam, wo bist du? 386
Mit feuchten, sanft flehenden Augen sah der nette Kerl mich an. »Ich bitte, Herr Doktor ... « »Peperl! Ihre Weste ist schief zugeknöpft.« Er ließ die Unterlippe hängen, brachte die schiefe Sache in Ordnung und sagte im molligsten Register seiner linden Stimme: »Herr Doktor, bitte, verzeihen Sie mir diese Verfehlung. Es war doch auch das erstemal, daß ich mir was zu Schulden hab kommen lassen.« »Das erstemal? Na, mein verehrter Herr Aust, Ihr Einmaleins scheint mit dem Neuner anzufangen.« »Ach, sehen Sie, Herr Doktor, man ist doch nur einmal jung.« »Ganz richtig! Doch ist das noch ein Unterschied: ein junger Mensch oder ein junger Hund. Aber was gehen mich schließlich Ihre Weibsbildergeschichten an. Nur will ich nichts merken davon. Und ich rate Ihnen, für die Zukunft doppelt pünktlich im Dienst zu sein.« Als ich dem Peperl den Rücken kehrte, konnte ich noch bemerken, wie seine Brust unter der grünen, schön zugeknöpften Weste erleichtert aufatmete. Der Oberjäger schien mit dieser friedlichen Lösung des Konflikts nicht einverstanden; denn er zeigte ein brennrotes, fuchsteufelswütiges Gesicht -- ein Gesicht, als wäre ihm in dieser Stunde der übelste Possen seines Lebens gespielt worden. Das verstand ich nicht, und die Sache machte nüch nachdenklich, um so mehr, weil der gute 387
Peperl, der doch mancherlei Ursachen zu einer tristen Stimmung gehabt hätte, im Handumdrehen wieder der nette, frische, liebenswürdige Frohling war wie immer. Er plauderte mit seiner rahmigen Stimme, daß mir ganz lind in den Ohren wurde -- und auch wieder weich um die strenge Jagdherrnseele. Schließlich sagte er: »jetzt muß ich aber das Schnaberl halten. Wo der Bock stehen könnt, das ist nimmer weit.« Der Rehbock stand nicht auf der Wiese, auf der wir ihn vermutet hatten. Er mußte schon in die Dickung eingewechselt sein; wir waren zu spät gekommen. Und der Oberjäger machte sich auf, um den Bestand einzukreisen und die Fährten abzuspüren. Der Peperl blieb bei mir in dem Wiesental zurück und stand bis über die Knie in dem tauigen Gras. Wir schwiegen. Und immer mußte ich ihn angucken. Dieser Forscherblick schien den Peperl ein bißchen zu belästigen. Er lächelte verlegen und bewegte unter der Joppe die Schultern, wie einer, der ein leises Jucken spürt. Ich sagte: »Peperl! Peperl! « Er wurde rot wie ein junges Mädchen, das einen Scherz nicht versteht und doch einen bösen Sinn dahinter wittert. »Josef! Ich sehe gern alle Dinge klar. jetzt sagen Sie mir ehrlich, ob Sie diese kleine Frau von gestern schon früher gekannt haben?« Er schüttelte den Kopf.
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»Aber zum Kuckuck! Die kleine Frau sah doch nicht aus wie eine, die sich von gestern auf heute wegwirft. Was haben Sie denn da getrieben? Ich hab doch nichts bemerkt?« Ein wohlwollendes Lächeln kräuselte seinen hübschen Mund. »Mein, ich hab sie halt so angeschaut. Das hat gleich gezunden. Und wir haben ... no, da haben wir uns halt so verständigt. Die Blonde, die hat's gemerkt. Ich hätt ein bißl vorsichtiger sein sollen. Denn die Blonde wär eigentlich die Nettere gewesen.« Das sagte er so drollig, daß ich den sittlichen Standpunkt verlor und loslachen mußte. »Und so machen Sie das immer?« Er hob die Schultern ein wenig. »Wenn's geht.« »Und da heißen Sie Josef? ... Aber wenn die Weibsleute so auf Sie zufliegen wie die Schnaken? Wie kommen Sie denn da immer wieder los?« Nicht oft in meinem Leben hab ich ein so klug vergnügtes Schmunzeln gesehen, wie es der Josef Aust bei dieser Frage zeigte. »Herr Doktor, da hab ich ein Rezept. Wenn ich genug hab, wart ich immer, bis sich das Frauenzimmer ins Unrecht setzt. Das geht oft geschwind. Einer jeden schießt einmal die Gall ein, und da sagt sie was, was man nicht sagen soll, oder tut was, was man nicht tun soll. Und dann baum ich auf in aller Ruh und sag: >Du, das geht nicht, ich bin ein Mensch, der Ehr im Leib hat, und so 389
was laß ich mir nicht sagen!< Und nachher tu ich einen Seufzer, als hätt's mir weh getan in der tiefsten Seel. Und sag: >Wie schad! Aber jetzt muß es aus sein!< Da hat nachher jede noch Respekt vor mir. Und noch jede ist mir freundschäftlich gut geblieben. Ich hab noch nie einen Verdruß gehabt. Man muß halt wissen, wie Gott die lieben Weiberln urganisiert hat! ... Aber ich red nicht gern von solchenen Sachen. Hab's eh nur getan, daß mir der Herr Doktor wieder gut ist.« Er lächelte mich liebenswürdig an und schien nicht zu bemerken, daß er sich gründlich über den Eindruck täuschte, den seine fünfundzwanzigjährige Lebensweisheit auf mich gemacht hatte. »Und die liebe, nette Kleine«, sagte ich, »die mir vorgestern abends auf dem Felde entgegengelaufen ist? Hat sich die auch schon ... ins Unrecht gesetzt?« Zu einer Antwort kam es nicht. Denn der Oberjäger brachte die Meldung, daß der Rehbock sicher in der Dickung stünde. »Da, über die Wiesen, geht der beste Wechsel. Den anderen Wechsel, im Hochholz drüben, muß der Aust verstellen. Und wenn der Aust ordentlich aufpaßt, bring ich den Bock schön sauber her. Haben S' nur Geduld, Herr Doktor! Und Weidmannsheil!« Die Jäger zogen ab. Als ich allein war, dachte ich: »Wenn ich über das schmale Wiesental hiniibergehe und mich droben auf dem Gehänge an den Waldsaum setze, hab ich besseren Ausschuß und weiteren Überblick.« 390
Ich ging hinüber und stieg über den Hügel hinauf. Da konnte ich die lehnige Dickung, in die der Rehbock eingewechselt war, gut übersehen. Und schön war das: wie die Morgensonne mit ihrem Gold das Gewirre der jungen Buchenstauden anschlug, während im Tal die schattige Wiese fein zu dampfen begann. Drüben auf der Lisiere zwischen der Dickung und dem Hochwald sah ich die beiden Jäger hinaufsteigen, sah, wie der Pepi seinen Platz einnahm und wie der Oberjäger weitervvanderte. Kaum war der nette Kerl allein, da stellte er sein Gewehr an eine Buche, streckte sich behaglich im Moos auf den Rücken aus, zog als Schnakenschutz den Hut übers Gesicht und verschränkte die Hände hinter dem Nacken. Eine halbe Stunde später wechselte, zehn Schritte vom schlummeroden Peperl entfernt, der Rehbock aus der Dickung. Und weil der Bock kein Frauenzimmer war, begann er natürlich zornig zu schmälen, als er das süße Blut des Pepi witterte. Der ganze Hochwald hallte von diesem Geblöcke. Doch der nette Kerl erwachte nicht. Als sich der Oberjäger mit wütendem Gesicht aus den Stauden herausschob, fing er gleich zu fluchen an: »Himmelsakrament! Was muß denn der Aust schon wieder gemacht haben?« »Der liegt im Schatten und schnarcht. Kommen Sie! jetzt lassen wir ihn liegen. Ich hab ihn satt, diesen netten Kerl! «
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Um die Mittagsstunde saßen wir beide im Kronsteiner Wirtsgarten. Die zwei jungen Frauen erschienen mit ihren Kindern. Doch bei unserem Anblick machten sie vor dem Gartenpförtchen wieder kehrt. Der Oberjäger sagte trocken: »Mir scheint, die haben Dreck am Stecken.« Ein Weilchen später kam der Peperl angerumpelt. Der Schlummer hatte ihm augenscheinlich nicht gut angeschlagen -- sein Gesicht war blaß, und seine glanzlosen Augen hatten eine stumpfe Müdigkeit. Er trat aufgeregt an unseren Tisch heran und rief im Ton eines empörten Gemütes: »Aber Herr Doktor! Herr Doktor! Warum sind Sie denn nicht auf dem Stand geblieben? Ich hab Ihnen den Rehbock hergebracht auf den schönsten Schuß.« »So?« sagte ich. Und der Oberjäger bewahrte eine kühle Ruhe; es zwinkerte nur um seine Augen. »Ja! Mit dem Hut hätten S' ihn niederwerfen können.« Und in einem Sturzbach von Worten erzählte der Peperl: Der Bock wäre bei ihm ausgebrochen, trotz aller Wehrkünste, und da hätte er, der Pepi, das Wild in der nächsten Dickung umgangen und hätte den Bock mit einer Menschengeduld und Jägerpfiffigkeit ohnegleichen wieder auf mich zugedrückt. »Hergesprungen ist er auf Ihren Stand, grad umblasen hätten S' ihn können. Aber der Herr Doktor? Guten Morgen! Wo ist der Herr Doktor?« »Aust!« In mir machte die Galle einen Purzelbaum. »So was ist mir im Leben noch nicht vorgekommen. Sie sind doch wirklich ein ganz unglaublicher Kerl! « 392
Verdutzt sah er mich an. »Ich? Wieso, Herr Doktor?« »Jetzt stecken Sie aber ein mit Ihrer Nettigkeit!« »Um Gottes willen, was soll ich denn schon wieder verschuldet haben?« »Sie unverschämter Patron! Wenn ich doch selber durchs Glas gesehen habe, daß Sie droben im Wald gelegen sind und geschlafen haben wie eine Ratte!« Der nette Kerl errötete zart, sah mich kummervoll an und sagte sanft: »Herr Doktor! Bitte zu bedenken ... ich habe doch heut die ganze Nacht kein Auge zugetan! « Es kostete mich Überwindung, nicht laut herauszulachen. Aber die strenge Tonart war angeschlagen; ich mußte sie weiterführen. »Dann gehen Sie nach Hause und schlafen Sie sich aus! Augenblicklich! Und das Gewehr hängen Sie an den Nagel! Wenn ich nach Hause komme, reden wir weiter. Adieu! « Er studierte ein Weilchen, ob da nicht was Kluges und Rettendes noch zu sagen wäre. Dann schüttelte er schwermutsvoll den hübschen Kopf, ließ die mollige Unterlippe hängen und ging seiner Wege. Der Oberjäger streckte die Fäuste hinter sich und atmete auf. »Gott sei Lob und Dank!« Aber dann sagte er: »jetzt tut er mir eigentlich leid!« Am Nachmittag, als wir beide eine von den Rebhühnerkitten suchten, die der Pepi verhört haben wollte, sprach 393
der Oberjäger immer wieder von den grünen Ohren und der dummen Hundsjugend des netten Kerls und suchte mich zu versöhnlicher Nachsicht zu stimmen. Das gelang ihm auch. Ich wollte unter strenger Zügelführung noch einen letzten Versuch wagen. Doch als wir heimkamen, war der Pepi nicht da. Es wurde finster, und der Josef kam nicht. Der Morgen glänzte, und von dem netten Kerl war noch immer nichts zu sehen. Beim ersten Grau hatte sich der Oberjäger auf die Suche gemacht --mit dem üblichen: »Himmelsakrament!« Früh um sieben Uhr kam er in meine Stube, kreidebleich über das ganze Gesicht, und brachte das Gewehr des Josef Aust. Ich erschrak. Doch bei einiger Überlegung hätt' ich mir diesen Schreck ersparen können. Der Oberjäger stellte sich vor mich hin und schlug die Hacken aneinander. »Habe zu melden, Herr Doktor, daß dieser Aust gestern nachmittags um drei Uhr beim Roten Hahn zugesprochen hat. Und da ist er gesessen und hat gesoffen bis heut in der Früh um drei. Und nicht bezahlt, natürlich. Bis man ihn hinausgeworfen hat. Und da ist er in den Wald gegangen. Und da hat ihn der Wiesbauer gefunden. Wie ein Schwein! Und hat ihm das Gewehr weggenommen, daß es ihm keiner stiehlt. Bitte, Herr Doktor ... hier ist das curpos dilecti.« Er legte ernst das Gewehr des Peperl auf den Tisch.
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»Gut! Schluß und fertig! Aus mit der Nettigkeit! Wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hat, bezahlen Sie ihm zwei Monate. Dann Marsch!« Da wurde der Oberjäger wie ein Rasender und hob die Fäuste gegen die Stubendecke. »Gott sei Lob und Dank! Gott sei Lob und Dank! Jetzt bin ich erlöst! Vier Monate hab ich mit diesem Menschen durchgemacht ... einfach schauderhaft! So viel gut bin ich diesem Kerl gewesen! Aber jetzt muß ich schon alles heraussagen. Und wenn es mich gleich meinen Dienst kostet. Denn ich habe vor meinem Jagdherrn gelogen und vertuschelt und verplempelt die ganze Zeit her.« Er schöpfte Atem. »Herr Doktor! Sehen Sie, das hat schon angefangen am ersten Tag. In Wien drinnen hat der Pepi die zwanzig Gulden Vorschuß durchgehaut mit solchenen Frauenzimmern. Damit er nicht gleich am ersten Tag schon geschaßt wird, hab ich lügen müssen; daß es der Neunte war. Hosensackblank ist er zu mir herausgekommen. Und mit dem Geld, das ihm der Herr Doktor dann gegeben hat, ist er in dritthalb Tag wieder fertig gewesen. Und jeden Monat ist das so gegangen: heut hab ich ihn ausbezahlt ... übermorgen: hosensackblank. Und jeden Tag seinen Rausch, wie der Pfarrer die Meß liest! Kaum ist der Herr Doktor im Bett glegen, ist der Pepi beim Faßl gesessen. Die einzigen Nächt, wo er nicht gesoffen hat, sind nur die gewesen, wo er bei den Weibsbilder gelegen ist. In der ganzen Gegend, in jedem Wirtshaus, hat er Schulden wie Heuschober. Gepredigt hab ich ihm wie ein Kapuziner, ein Loch hab ich ihm in den Bauch geredt. 395
Und nicht's hat's geholfen. Aber wenn er so gekommen ist, hosensackblank und mit dem lieben Schlappgöscherl und den gutmütigen Augen, da hab ich mich allweil wieder erbarmen müssen. Meine Frau, die narrische Gans, hat ihm auch allweil die Stang gehalten. Aber die ist noch eher gescheit geworden als ich ... weil's ihr zu dumm geworden ist, wie uns der Pepi in die Kästen und in die Schüssel greift.« Der Oberjäger schwieg ein paar Sekunden und griff mit der zitternden Hand an seinen Hinterkopf. »Einen Koffer hat er doch nie bekommen. Der Onkel und so weiter, das ist doch alles erstunken und erlogen gewesen. Von mir hab ich ihm ein Gewehr gegeben ... hier liegt es als curpos dilecti am Tisch ... meine Sonntagsmontur hat er getragen und verschlampt, meine Stiefel hat er krumm getreten, meinen Tabak hat er geraucht, in mein Bett hat er sich hineingeflackt ... und wenn er hosensackblank war, hat er den halben Monat bei mir gegessen und hat sich immer die besten Bröckerln aus der Schüssel herausgestochen. Und daß er nur halbwegs seinen Dienst macht, hab ich ihn allweil hüten müssen wie eine läufige Hündin. Was ich da durchgemacht hab, das war einfach schauderhaft! Und daß es der Herr Doktor nur wissen ... das schwarze Manndl neulich am Abend, wie das nette, liebe Mädel auf uns zugelaufen ist ... das schwarze Manndl, das der Herr Doktor gesehen haben, das ist natürlich dieser Aust gewesen. Besoffen wie ein Schwein! Und wie der Herr Doktor im Bette war, bin ich hinausgelaufen und hab den Kerl nach Haus geschleift und hab ihn in Gottes Namen wieder in mein Bett gelegt. 396
Und die ganze Nacht bin ich herumgesprungen und hab dem Pepi seinen Hut und sein Gewehr gesucht ... bitte, hier liegt es als curpos dilecti auf dem Tisch. Und in der Früh, wie ich hin und fertig war, ist der Pepi frisch gewesen wie ein Röserl und hat den Herrn Doktor eingeseift mit den dreizehn erstunkenen Hühnerkitten. Eine Gesundheit hat er ja wie ein Roß! Ich hab mich hundertmal gefragt: wie ist denn das möglich, daß ein Mensch das aushalt und allweil rote Backerln hat, und allweil lieb Äugerln und allweil ein süßes Göscherl, nach dem die Weibsbilder schnappen wie ein Karpf nach dem Honigwuzerl. Nett hat er sein können, das ist wahr. Wenn er mögen hat, da hat's keinen lieberen Menschen gegeben als den Pepi. Schad ist drum! Und wenn ich dran denk, daß er jetzt da draußen liegt im Holz, wie ein Schwein, da tut er mich völlig erbarmen. Und schauen Sie! Herr Doktor ... « Ohne den Satz zu vollenden, machte der Oberjäger kehrt und schoß zur Tür hinaus. Auch ich hatte ein dringendes Verlangen nach frischer Luft und nahm meine Büchse, um in den Wald hinauszubummeln. Auf der Straße begegnete mir langsam eine Kutsche, die in der Richtung gegen die Bahnstation hinausfuhr. Regunglos in die Ecke des Lederpolsters geschmiegt, saß jenes feine, liebe Mädel in dem Wagen, mit brennenden Wangen und verweinten Augen, auf dem kleinen Lodenhütl eine schillernde Fasanenfeder. Diese Feder war wohl ein Geschenk des netten Kerls? Und neben dem Mädel
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saß eine ältere Frau mit bleichem und verhärmtem Gesicht. Ich zog den Hut. Aber von den beiden dankte keines für meinen Gruß. Es wurde mir wohler, als ich in die leuchtende Kirche des Waldes trat. Ans Jagen dachte ich nicht. Immer wanderte ich so zu. Oder ich streckte mich eine Weile nieder, wenn ich ein schönes Plätzchen fand. Und Stunde um Stunde beschäftigte mich der Gedanke, warum das sein muß, daß die Natur, wenn sie Geschöpfe bildet, manchmal alle schrnucksten und zärtlichsten Farben von ihrer Palette nimmt, um einen üblen Kern gewinnend zu übertünchen? Das macht sich auch so bei der Kupfematter, die eines der schönsten und graziösesten Tiere der Erde ist. Und als ich noch ein Knabe war, hab ich zwei Kinder sterben sehen, weil sie von den glänzenden Tollkirschen gegessen hatten. So oft ich dann in den Wald kam und eine Staude mit diesen leuchtenden Beeren sah, hab ich sie in Wut mit einem Stecken zerschlagen. An solche Beeren erinnerten die Augen des netten Kerls, wenn sie ihren gesteigerten Glanz hatten. Nur war mir das früher nicht aufgefallen -- bevor ich nicht das liebe Kind sah, das vergiftet war. Es war um die zweite NachMittagsstunde, als ich unter solchen Gedanken auf einem Moosblock saß und gern die Natur verbessert hätte. Da machte ein Geräusch mich aufblicken. Ganz gemütlich zottelte der Peperl auf einem Waldweg einher. Sinnierend ließ er den Kopf und die mollige Unterlippe hängen und guckte vor sich hin. Jetzt sah er mich 398
und stutzte einen Augenblick; dann begann er lebhaft mit beiden Armen zu fuchteln und rannte auf mich zu. »Gott sei gesegnet und gebimmelt! Ja weil ich nur Sie find, Herr Doktor!« »So? Was beliebt?« »Denken Sie nur, Herr Doktor, was mir passiert ist! « Und mit hurtigem Gesprudel begann er loszuschwatzen. Und greulich sah er aus. Der Oberjäger hatte nicht übertrieben: wie ein Schwein! Als hätte man den Peperl durch eine Lehmgrube gezogen. Doch dieser Mangel an Nettigkeit zeigte sich nur an seinem Gewand. Sein Gesicht war frisch und rosig, wie das Gesicht der Unschuld ist, wenn sie aus süßem Schlaf erwacht. Und bei aller Aufgeregtheit, mit der da der Peperl seine Geschichte vorbrachte, behielt seine Stimme noch immer jenen linden, einschmeichelnden Glockenton. Eine halbe Stunde lang erzählte er, mit Einzelheiten, wie sie ein anderer nicht erfinden kann, sondern erleben muß. Gestern, am Nachmittag, als er »gestreng nach meinem Befehl« den Heimweg angetreten, hätte er den Wallner, einen mehrfach abgestraften Wilddieb, gegen die Buchendickungen der Hohenwarte hinaufschleichen sehen. »Pflichtschuldigst« hätte er sich gleich gedacht: »da muß ich nachschauen!« Und richtig -- als er hinaufgekommen, hätte er ein Reh in der Dickung klagen hören. Doch während er diesen »Schmerzeslauten« nachgegangen, wäre die Rehgeiß in der Schlinge verendet. »Geh's jetzt, wie's will, jetzt muß ich passen auf den Lumpen!« Bei diesen
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Worten hatte der Peperl den Augenblitz eines Helden, der ganz für sich allein eine feindliche Festung stürmen will. »Die ganze Nacht bin ich vor dem armen Viecherl in den Stauden gehockt und hab auf den gottvermaledeiten Schuft gepaßt. Und gählings, wie es so ein bißerl grau ums Tagwerden hergangen ist, da sind von hinten drei Kerle auf mich hergefallen ... « »Haben Sie denn die Kerle nicht kommen hören?« »Nein, Herr Doktor! Es könnte möglich sein, daß mir die Augen ein bißerl zugefallen sind ... weil ich doch in der letzten Nacht zu keiner Ruh gekommen bin. Herr Doktor wissen ja! Aber wie die drei mich so von hinten packen, spring ich auf und reiß mein Gewehr in die Höh ... « Jetzt kam die Schilderung eines fürchterlichen Kampfes, so anschaulich und spannend gemalt, daß es mir kalt über den Rücken lief, obwohl ich wußte, daß die ganze Geschichte erlogen war -- oder, wie der Oberjäger zu sagen pflegte: erstunken! »Wie ein Stier hab ich um mich geschlagen. Aber drei sind stärker wie einer! Herr Doktor, da kann ich nichts dafür.« Und wie die drei Stärkeren ihn zugerichtet hätten, das wäre noch jetzt mit »erschreckender Deutlichkeit« an ihm zu sehen. »Ohnmächtig bin ich dagelegen, ich weiß nicht, wie lang. Und wie ich aufgewacht bin, da ist mein Gewehr beim 400
Teufel gewesen, mein Geldbeutel und die Rehgeiß! ... Herr Doktor! Drei sind stärker wie einer. Aber ich habe meine Pflicht getan. Das werden Sie mir zubekennen müssen.« Ich überlegte einen Augenblick. Und es widerstrebte mir, diesem Helden der Pflicht ein Wörtchen zu sagen, das möglicherweise auf seine Tränendrüsen hätte wirken können. Helden sieht man nicht gerne weinen. »Ja, Peperl! Heut hab ich Respekt vor Ihnen! « Er fiel mit dem Ton ein bißchen aus der Rolle. »Gott sei Lob und Dank! « Wie mollig und nett, wie gläubig und froh das klang! Und wie beerenschön ihm die Augen glänzten! »Und da gehen Sie nur flink nach Hause und melden Sie die Geschichte dem Oberjäger! Denn da muß was Energisches geschehen. Noch heute! Und ziehen Sie saubere Kleider an... damit Sie wieder der nette Kerl sind, der Sie immer waren.« »Jawoll, Herr Doktor! « Er stellte sich stramm und schlug, wie es der andere zu machen pflegte, scharf die Hacken aneinander. Dann ging er hurtig davon, wie in Sorge, daß ich noch eine unbequeme Frage stellen könnte. Als ich am finsteren Abend unter dem Glanz der Sterne heimkam ins Jagdhaus, war der Josef Aust schon expediert -- aber noch nicht verschwunden. In seinem städtischen Anzug, mit den Röhrenstiefeln, stand er vor dem 401
Zauntor auf der Straße. Scheu trat er auf mich zu. Aus dem Fenster meiner Stube fiel die Lampenhelle über sein Gesicht, auf dem die Tränen glitzerten. Und so lind und zuckrig hatte mir seine Stimme noch nie geklungen, wie jetzt bei dieser Frage: »Herr Doktor? Kann denn das wahr sein?« »Was, Peperl?« »Daß ich entlassen bin?« »Ja, sehen Sie, mein netter Josef, drei sind eben stärker wie einer. Ihre Weibsbilderhetze, Ihr Suff und Ihre Verlogenheit, die drei sind stärker als der nette Kerl, für den ich Sie gehalten habe.« »Verlogenheit? Ich? Und lügen?« Im Ton dieser Worte klang die zärtlichste seiner Harfen. »Das tu ich doch wahrhaftig nur, weil ich muß! Wenn ich nur das andere nicht hätt ... aber wo ich ein Frauenzimmer husten hör, muß ich rennen, und wo ich ein Faßl riech, da muß ich hocken bleiben. Nachher ist das Elend da. Und da lügt man halt, weil man sich wieder aus der Bredulli ziehen möcht. Das ist doch menschlich, Herr Doktor! « »Menschlich, allzu menschlich! « Ich mußte lachen. Und der Peperl flötete: »Herr Doktor! Sie sind mir doch allweil so gut gewesen?« »Ja, Josef! Ich war Ihnen gut. Und jetzt will ich es machen wie die Frauenzimmer nach Ihrem Rezept. Ich will
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Ihnen in »Freundschäftlichkeit« gewogen bleiben. Adieu! « Der Pepi fing laut zu weinen an. Da war mir nun der Held in Feuchtigkeit doch nicht erspart geblieben. Am anderen Morgen hörte ich: der Josef Aust hätte die ganze Nacht beim Roten Hahn gekneipt und wäre von der Kellnerin geohrfeigt worden -- das erstemal, daß er mit »Verdruß« von einem Frauenzimmer schied. Sein Rezept hatte ihn im Stich gelassen. -Ich hörte späterhin, er wäre Gehilfe bei einem Geometer geworden. Aber aufs Maßhalten verstand er sich leider nicht. Dann war er zwei Monate Jäger bei einem Fürsten mit polnischem Namen, der auf »rski«, endete. Dann bekam er eine Stellung in der Dreherschen Brauerei. Aber die feuchte Herrlichkeit dauerte nur vier Tage. Und eines Abends erzählte mir der Oberjäger: »Denken S', Herr Doktor, der Pepi ist Beamter im Ministerium des Innern geworden und hat geheiratet.« »Gegen wen?« »Sie soll eine Wittib sein und soll was haben.« Zwei Jahre später begegnete ich dem Josef Aust an einem Sonntag auf der Wiener Ringstraße. Er war nett gekleidet, sah frisch und rosig aus, hatte einen glänzenden Zylinder über den Ohren und eine weiße Nelke im Knopfloch. So ging er eingehängt in den Arm einer üppigen Frau, deren strenges Gesicht noch Spuren einstiger Schönheit zeigte. 403
Als er mich bei jener Begegnung erkannte, wurde er rot wie ein junges Mädchen, zog höflich den Hut, ließ die kirschrote Unterlippe hängen und sah mich schwermütig an. In diesem Augenblicke glich der nette Kerl allem anderen, nur keinem Giftgewächs des Lebens. Und heute glaub ich auch nimmer, daß er eines war.
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Egidius Trumpf, der Urmensch Das war sein wirklicher Name: Egidius Trumpf. Wenn ihr's nicht glauben wollt, so könnt ihr im Lenggrieser Kirchbuch nachschlagen. Da muß sich der Name finden. Ihr sollt auch wissen, in welchem Jahrgang. Um das Jahr Achtzig lernte ich den Gidi kennen. Damals zählte er ein paar Jährchen über die Dreißig. Also muß seine Taufe ungefähr um das Revolutionsjahr im Lenggrieser Kirch405
buch verzeichnet stehen. Das war auch just die richtige Zeit, um solch ein brausköpfiges Menschenexemplar in die Welt zu setzen. Sein Vater war wohl einer von denen, die damals nach freier Jagd schrien und nicht erst lange warteten, bis sie von oben herab bewilligt wurde. Aber dieser Vater hieß nicht Trumpf, sondern anders. Den Zunamen hatte der Gidi von seiner Mutter. Und zu dem Übernamen, »der Urmensch«, kam er als neunzehnjähriger Bursch. Damals war der Gidi ein Holzknecht -- aber nur von sechs Uhr morgens bis sechs Uhr abends. Wenn die Sonne hinuntertauchen wollte, warf der Gidi die Axt aus der Hand und holte die unter Moos und Streu versteckte Büchse hervor. Fünf Minuten nach sechs Uhr abends war der Holzknecht schon in einen Wildschützen verwandelt und blieb es bis sechs Uhr morgens.. Wenn er dann am Sonntag aus dem Bergwald hinunterkam in die Kirche, schlief er sich aus. Und um das recht gründlich besorgen zu können, hatte er sich mit mancherlei Listen das sicherste Plätzchen in der ganzen Kirche erobert: dicht unter dem Kanzelboden. Beim Knien und Sitzen war da gerade so viel Raum, als der Gidi brauchte. Doch wenn er stehen sollte, mußte er ein »Hockerl« machen, um sein Haardach vor unangenehmen Berührungen mit den Stuckschnörkeln des Kanzelbodens zu behüten. Das war nun freilich nicht »kamod«. Aber das enge Plätzchen hatte den Vorteil, daß der hochwürdige Herr bei der Predigt nicht sehen konnte, wie sanft der Gidi unter dem Schutz des Kanzelbodens schlummerte. Und da war es um den »Wastelstag«. Und in der Sonntagspredigt schilderte der Hochwürdige das grausame Martyrium des heiligen Sebastian und malte den von 406
Pfeilen durchspickten Leib des frommen Dulders mit so viel roter Farbe, daß allen gutherzigen Weibsleuten vor Erbarmen die Augen zu tröpfeln begannen. »Nücht wahr, ühr chrüstkläubigen Zuhärer, wenn wür gewöhnlichen Mänschen uns nur mit einer kleunen Nadel stächen, empfünden wür schon den unanchönähmsten Schmörz. Und nun dänket euch hundert spützige, scharfe Pfeule ... « Der Hochwürdige, dem das Hochdeutsch eine schweißtreibende Mühe verursachte, ließ in der Schilderung des Martyriums eine Pause eintreten und spähte mit gerunzelter Stirn über alle Betstühle hin, als hätte er irgend etwas Verdächtiges vernommen. »Hundert spützige, scharfe Pfeule! Und dänket euch, wie diese haidnischen Werchzeuche den schmörzhaften Leub durchpohren ... « Abermals verstummte der Prediger. Und wie der Hochwürdige, so hörten auch alle Andächtigen in der Kirche ein lautes Schnarchen, das bei jedem Zuge mit kräftigem Gerassel einsetzte, um dann wohlig zu verhauchen. »Wer schloffft denn da scho wieda?« Bei dem dreifachen »fff« dieser Frage schlug der Pfarrer in gerechtem Zorn mit der Faust auf das Kanzelgesimse. Egidius Trumpf erwachte, sprang erschrocken von der Sitzbank auf -- und da gab's ein heftiges Gerappel und Gekrache. Denn der Gidi hatte mit seinem Haardach nicht nur die Stuckschnörkel der Kanzelkonsole gründ407
lich beseitigt, sondern das gesunde Eisenköpfl auch noch zur Hälfte durch den Bretterboden gestoßen. Der geistliche Herr, dem der feste Standpunkt etwas erschüttert war, klammerte sich im ersten Schreck mit beiden Händen an das Kanzelgesimse; dann guckte er, unter dem Gekicher aller Andächtigen, durch das aufgesträubte Bretterloch auf den von weißem Kalkstaub überpuderten Gidi hinunter und sagte: »Egüdius, du büst ein ... ein Urmensch!« Dieser Übername blieb dem Gidi. Ein Jahr nach dieser Kalktaufe wurde er Soldat und begann seine militärische Laufbahn mit einer Woche Dunkelarrest. Da hatte ihn ein Landsmann am Rekrutierungstage zu München ins »Ewige Licht« geführt, in jene berüchtigte Soldatenkneipe auf dem Marienplatz. Hier traf er mit einem Kürassier zusammen, der die selbstbewußte Meinung äußerte: »Mi sauft sobald net oaner hi'!« Solch eine stolze Rede vertrug sich nicht mit dem Ehrgeiz des Egidius Trumpf. Er schlug zur Wette einen Kronentaler auf die Tischplatte und schrie: »Geh her, du Lauser, bal die traust! « Natürlich traute sich der Kürassier. Um zehn Uhr vormittags begannen die beiden Kampfhähne dieses sinnlose Schlucken, und gegen sechs Uhr abends lag der Kürassier unter dem Tisch. Gidi sackte die beiden Kronentaler ein, und während die Unparteiischen dem stillen Reitersmann den Geldbeutel aus der rotgestreiften Hose zogen, um die verlorene Zeche zu bezahlen, erklärte der Gidi: »Sakra, soviel Bier, dös macht oan dürsti!« Sprach 's -- und faßte mit beiden Händen den unter dem Bierfaß stehenden Tropfganter -und schluckte das seit dem Morgen angesammelte Tropfbier mit samt den hundert ertrunkenen Fliegen glatt hinunter in seine heißgewordene Seele. Er fand noch auf 408
eigenen Füßen den Weg zur Kaserne. Den Kürassier mußten sie heimtragen. Der brauchte dann vier Wochen, bis er den bösen Katzenjammer los wurde, und wäre dabei schier raufgegangen. Eine Untersuchung wurde eingeleitet, und der Urmensch mußte eine Woche dunkel brummen. Noch zwölf Jahre später, als er mir die Geschichte erzählte, geriet er über diese »Ungerechtigkeit« in einen brüllenden Zorn: »Da rumpelst an so an Krippenreiter oni, der nix vertragt, und nacher spirren s' di acht Täg lang ein! Guat schaugt s' aus, dö irdische Grechtigkeit! Pfui Teufel! Da durft unser Herrgott scho bald wieder amal aufmischen.« Als Gefreiter machte Egidius Trumpf den Feldzug in Frankreich mit und holte sich vor dem Feinde das eiserne Kreuz und den Militärverdienstorden. Von diesem Feldzuge erzählte er gerne. Aber eine Geschichte des deutsch-französischen Krieges hätte man nach diesen Schilderungen nicht schreiben dürfen. Von Tapferkeit und ähnlichen Dingen pflegte der Gidi nie zu reden. Was von dieser Heldenzeit in seinem Gedächtnis geblieben war, das drehte sich um vermauerte, mit Scharfsinn ausgespürte Weinkeller, um »mudelsaubere Franzeesinna« und geprügelte Zuaven. Schade, daß man dieses Wort -- Zuaven -- nicht niederschreiben kann, wie es der Gidi aussprach. Wenn er das auf die Zunge nahm, da sah man gleich etwas Ungeheuerliches, etwas wunderlich Groteskes und unglaublich Komisches. Man mußte schon lachen, bevor der Gidi seine Geschichte noch begann. Was der Urmensch damals in Frankreich trieb, das nennt man mit einem Terminus der heutigen Kaffeehausphilosophie: sich ausleben! Und es hatte nichts Unwahrschein409
liches, wenn man aus seinen Erzählungen den Schluß zog, daß die Französinnen in den Quartierdörfern diesem übermütigen Kraftkerl nachrannten wie die neugierigen Kinder dem Bärentreiber. Wenn der Gidi erzählte, übertrieb er nur im Ausdruck. In der Sache selbst blieb er sicher bei der Wahrheit. Und man durfte ihm glauben, wenn er der Meinung war, daß er anno 70 und 71 zum Ausgleich der feindlichen Rassen ein Wesentliches beigetragen hätte. Doch für den sinngetreuen Bericht der Abenteuer, die Egidius Trumpf in Frankreich erlebte, hat die Literatur, die modernste nicht ausgenommen, eine geeignete Kunstform noch nicht entdeckt. Drum muß ich die einschlägigen Heldentaten des Gidi mit Schweigen übergehen -- bis auf eine. Die will ich erzählen, auch auf die Gefahr hin, daß sie den Gidi für euer Urteil in eine falsche Beleuchtung rückt. Doch ihn selbst darf ich dabei nicht schwatzen lassen. Da würde was Schönes herauskommen! Die lebendige Mauer war um Paris gezogen. Und das Regiment, bei dem der Gidi stand, lag irgendwo vorne dran. Nun war es um die Zeit, in der man zu Paris schon die Ratten nach ihrem Nahrungswert zu schätzen begann. Da kamen um die Dämmerung und in der Nacht zuweilen allerlei scheue Gestalten zwischen den Pariser Vorwerken herausgeschlichen, um von den deutschen Vorposten einen Bissen Brot zu erbetteln. Mit Worten konnte man sich nicht verständigen. Aber diese typische Bewegung der Hand nach dem Munde, dieser Faustdruck auf den hohlen Magen und dieser heiße Sehnsuchtsblick war leicht zu deuten. Auch für den Egidius Trumpf Der hat da wohl zu dutzendenmalen seinen Brotsack ausgeleert. Bei seiner haarigen Wildheit war der Urmensch immer ein 410
guter Kerl. Aber nicht nur Hungrige kamen da herausgeschlichen. Es stellten sich bei der Vorpostenkette auch findige und unternehmungslustige Pariser Dämchen ein, mit deren praktischer Gewinnfreude sich der Deutschenhaß recht gut vertrug. Solch einen Besuch erhielt Egidius Trumpf eines grauen Morgens, als er auf Vorposten stand. Und während die Pariserin und der Lenggrieser sich über politische und nationale Gegensätze verständigten, hörte der Urmensch immer etwas klappern und klingen. Im Gidi regt sich die Neugier. Und seine tastende Klaue greift an dem Rock der Pariserin eine Tasche, die schwer ist von Geld. Und da hat der Urmensch einen seiner »lustigen« Einfälle. Ganz heimlich holt er sein Messer heraus und macht einen flinken Schnitt. Und als die freundliche Pariserin mit einem schelmischen »Au revoir, monsieur! « davonhuscht, klappert und klingt es nicht mehr. Was da geklungen und geklappert hatte, das blieb im grauen Erwachen des Tages bei Egidius Trumpf zurück. Als der Urmensch diese Geschichte beim Herdfeuer in der Jagdhütte erzählte, regte sich in mir die Moral des Kulturmenschen. »Aber! Gidi!« »Was, aber? Is lauter boarisch Geld gwesen!« Dazu lachte der Urmensch, daß unter seinem schwarzen Bart die weißen Zähne blinkten. Und die kleinen Falkenaugen blitzten in der Freude des Erinnerns. So muß sich ein Fuchs freuen, der im Pfarrhof ein Perlhuhn gestohlen hat. Und da soll nun der Pfarrer oder sei411
ne Köchin kommen und dem Füchslein predigen, daß man so was nicht tun sollte. Der Fuchs würde wohl genau so dreingucken, wie der Egidius Trumpf bei meinem »Aber!« Ich weiß nicht, was ihr nach dieser Geschichte vom Urmenschen halten werdet. Denkt ihr schlecht von ihm, so bekommt sein Gesicht eine Linie, die es im Leben nicht hatte. Und vergeßt nur nicht, daß er trotz allem einer von den knochenfesten jungen war, die uns damals siegen halfen. Ich kann mir vorstellen, wie er feuerte und mit dem Kolben drosch! Und ich mag mir denken, daß sich jene kluge Pariserin lachend mit dem Sprichwort tröstete: »C'est la guerre!« Nach dem Friedensschluß verwandelte sich der Gefreite Egidius Trumpf in einen Floßknecht. Und wenn er nicht die langen Wasserstiefel trug, dann machte seine wachsende Jagdpassion alle um Lenggries gelegenen Reviere unsicher. Daß der Gidi »ging«, das wußten alle Jäger. Aber sie erwischten ihn nie. Um diesen Jagdschaden loszuwerden, gab es kein anderes Mittel, als den Gidi zum Jäger zu machen. Im Jahr 1876 wurde er königlicher Jagdgehilfe in der Wartei Fall. Und da erwies sich an ihm die Hypnose des ehrlichen Berufes. Der Urmensch färbte sich über Nacht in der Haut. Ein so rassiger Wildschütz er bisher gewesen, so ein rassiger Jäger wurde er jetzt. Dennoch merkte er, daß sich beim Jagdpersonal das Mißtrauen gegen ihn nicht völlig beschwichtigen wollte. Das ärgerte den Gidi. Und mit Sehnsucht harrte er auf eine Gelegenheit, bei der er sich im königlichen Dienste auszeichnen könnte. Doch so fleißig er auch bei Tag und Nacht auf den Beinen war -- das ersehnte Stündl, in dem 412
der Egidius Trumpf einmal auftrumpfen wollte, stellte sich nicht ein. Die Lenggrieser Wilddiebe wußten: der kennt unsere Schliche. Und drum verschonten sie das Revier des Gidi mit ihrem Besuch. Nun dachte sich der Gidi: »Da muaß i wildern, anderst geht's net!« Und in einer milchigen Mondnacht fing er über der Grenze drüben, im Revier des Herzogs von Koburg, einen Tiroler Wildschützen. Den lieferte er aber nicht in der Hinterriß beim Koburgischen Wildmeister ab, sondern trug ihn, wie einen Hirsch zusammengeschnürt, auf dem Rücken über die Grenze ins Bayerische herüber und die drei Stunden hinunter nach Fall. Damit hatte der Urmensch ein Novum in der Geschichte der Jägerei geschaffen: daß man nicht nur auf Wild, sondern auch auf Wilderer wildern kann. Natürlich saß der Gidi jetzt warm im Vertrauen seiner Vorgesetzten. Aber der Gewaltstreich hatte Folgen. Da saß der Urmensch ein paar Wochen später zu Vorderriß in der Leutstube. Am Nachbartische zechten ein paar Tiroler Holzknechte. Die spöttelten ein bißchen, schwatzten aber sonst ganz lustig und »verträuli« mit dem Jäger. Doch als sie sich erhoben, um sich wieder an die Arbeit zu machen, trat einer von ihnen auf den Gidi zu, holte eine Handvoll frischgegossener Zinnkugeln aus dem Hosensack heraus, hielt sie dem Jäger vor die Nase und sagte lachend, als gält' es einen Scherz: »Schaug on, jager, do isch die deinig auch derbei!« »So? Moanst?« Es blinkerte dem Urmenschen in den Augen. »Die wöll waar's denn nacher?« »Konscht d'r oane aussuachen!« 413
Gidi wählte lange, bis er sich für eine tadellos gegossene Kugel entschied. »Dö da! « sagte er kichernd. »Dö gfallet mer am besten! « »So mach a Kreizl drauf, woascht, daß es koa Verwechslung geit!« Immer lustig, den »Spaß« völlig verstehend, kritzelte Gidi mit dem Knicker ein kleines Kreuzl auf die Zinnkugel; während er sie in die Hand des Tirolers zurücklegte, gab er ihm noch lachend den Rat: »Gelt, halt fei guat hin! Daß d' mi net ebba faihst!« Der Tiroler schob die Kugeln wieder in den Hosensack und stapfte zur Tür hinaus. Noch ehe die folgende Woche vergangen war, wurde in der Gegend der Hinterriß ein Mensch vermißt. Das war aber nicht der Gidi. Der war kreuzgesund, tat in Ruhe seinen Dienst und guckte in den Wirtsstuben neugierig drein, wenn von dem vermißten Tiroler die Rede war. Später erzählte man zwischen Lenggries und Mittenwald, daß der Trumpf--Gidi an seinem Hals ein seidenes Schnürchen mit einer Zinnkugel trüge, wie andere am Hals einen geweihten Muttergottespfennig tragen. Aber dieses Gerede war Unsinn. Ich habe mit dem Gidi ein Jahr lang gejagt. Dabei hatte er immer, Sommer und Winter, das Hemd an der haarigen Brust weit offen. Doch ein seidenes Schnürchen hab ich nie an seinem Hals gesehen. Wahrheit ist nur das eine: daß es immer zu bösen Prügeleien kam, wenn der Urmensch in den Wirtsstuben mit Tirolern zusammentraf. Seine Vorgesetzten mußten 414
ihm einschärfen: sich auch im Wirtshaus daran zu erinnern, daß er ein königlicher »Biamter« wäre, der seiner Würde nichts vergeben dürfe. Wie sehr sich der Urmensch diese Warnung zu Herzen nahm, das konnte ich späterhin mit eigenen Augen gewahren. Im Sommer 1880 lernte ich den Gidi kennen. Da war ich, zu Anfang des August, seit einigen Tagen als Jagdgast in Fall. Eines Abends, als wir von der Pirsche heimkehrten, sah es nach schlechtem Wetter aus. Den Regentag, der da zu erwarten stand, wollte ich benützen, um mich wieder einmal auszuschlafen. Aber früh um acht Uhr, als ich erwachte, glänzte der schönste blaue Himmel durch die Scheiben herein. Mit einem gesunden Jägerfluche fuhr ich aus dem Bett und riß das Fenster auf. Ein Morgen war's, der das Blut zittern und die Seele dürsten machte. Und drüben, über den Wiesen der Dürrach, auf einem sonnbeglänzten Graslahner des nahen Jägerberges, schimmert ein roter Fleck. Hochwild? So spät am Morgen noch bei der Äsung? Unmöglich! Das muß was anderes sein! Flink wird das Fernrohr vom Zapfenbrett geholt, aufgezogen und gerichtet. Wie Feuer fährt mir's in die Glieder. Da drüben steht ein Hirsch! Und ein Fetzenkerl! Ein Vierzehnender! Meiner Lebtag bin ich nie so flink in die Hose gekommen wie damals. Und im Saus über die Stiege hinunter. Aber der Förster ist nicht daheim. Jesus Maria! »Und keiner von den Jägern?« »Ah woll, Herr Dokter! Grad is der Urmensch einitrappt in d' Jagerstuben.«
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Ich hatte den Urmenschen noch nie gesehen, wußte nur, daß er Jagdgehilf war, und kannte seinen Namen. Wie ein Narr fuhr ich zur Haustür hinaus und rannte um die Ecke, wo die Jägerstube lag. »Trumpf! Trumpf! Trumpf!! « Der Gidi kam aus der Tür gesprungen. Aber da hatte ich keine Zeit, mir den Urmenschen anzusehen. Ich sah nur den Hirsch da drüben. Und schwatzte und deutete. »Mar' und Josef! Hat der a paar Stangen droben! « Um das zu sehen, brauchte der Gidi kein Fernrohr. Der sah's mit freien Augen, obwohl es bis zu dem Lahner, auf dem der Hirsch weidete, etwa zwölfhundert Meter hinüber war. Im Laufschritt sausten wir, jeder mit der Büchse in der Hand, über die Wiesen. Dann mit Keuchen das steile Gehänge hinauf, gedeckt durch einen Waldstreif. Immer zitterte die Angst in mir, daß der Hirsche nicht aushielte. Und als wir auf zweihundert Gänge vor dem Lahner waren, ohne den Hirsch zu sehen, begann mich das Fieber zu beuteln. »Schnaufen S' aus!« zischelte der Urmensch. »Lassen S' Eahna derweil! Der Hirsch is no da.« »Woher weißt du denn das?«
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»Schmecken tuar i's. Geht ja der Wind grad her! Haben S' denn koa Nasen net?« Der Gidi schnupperte. »Dämpfen tuat 'r in der Sunn!« Für einen Augenblick kühlte mir die Verblüffung den schwülen Blutschlag des Hirschfiebers. War das ein Mensch? Oder ein Jagdhund. Und richtig -- als ich über den Waldgrat hinüberguckte, stand der Hirsch noch mitten auf dem Lahner. Hatte aber das Haupt schon aufgeworfen. Und als ich die Büchse hob, sah er den Sonnenblitz auf dem Lauf und sauste mit langen Fluchten davon. Der Schuß krachte. »Hat 'n scho! « schrie der Urmensch. »A bißl hoach haben S' 'n derwuschen. Glei weard 's 'n reißßßn.« Drüben im Buchenwald ein Gepolter und Gekrache -- da rollte der Hirsch durch den steilen Wald hinunter und zerschlug mit Geweih und Läufen die Zweige. In meiner Freude begann ich ein sinnloses Rennen -- damals war ich vier Wochen über die Fünfundzwanzig -- und immer tiefer ging's, immer hinter dem Hirsche her. Doch erst auf der Wiese erreichte ich ihn. Da saß er am Waldsaum, mit entzweigeschossenem Rückgrat, ein leises Zittern in den aufgestemmten Vorderläufen. Er machte keinen Versuch mehr, sich vom Fleck zu rühren, sondern sah mich mit stolzen, blutunterlaufenen Lichtern an. Aber was dieser Blick in mir erweckte, ging nur wie ein flüchtiger Nebel durch meinen Verstand. Es war mein erster Hirsch! Und die Freude war wie Irrsinn in meinem Blut. Wie soll man da denken, oder beobachten, oder den Vorwurf empfinden, daß man eine schöne Lebensform zerstört? Mir fiel 417
nichts anderes ein, als den Jägersieg dieses Morgens voll zu machen und dem Hirsch mit dem Messer den Fang zu geben. Die Klinge blitzte in der Sonne, und während ich mit der Rechten ausholte zum Stoß, faßte ich mit der Linken den Hirsch am Geweih. Da brüllte im Wald eine Stimme: »Sakrament no amal! Die Pratzen davon! « Aber im gleichen Augenblick verging mir Hören und Sehen --solch einen Purzelbaum ließ mich der Hirsch über seine Stangen machen. Im Dusel hörte ich noch den Hall eines Schusses. Und als ich mich wieder ermunterte und meine Knochen langsam aus dem Gras zusammenklaubte, lag der Hirsch verendet im Schatten einer Buche, und der Gidi stand vor mir und brüllte in heißem Zorn: »Sie Narrenschüppel! Da können S' von Glück sagen, daß Eahna der Hirsch die stadtischen Darm net auslassen hat! Wia ko ma denn an Hirsch, der dö halbete Kraft no hat, so mir nix dir nix angreifen! Sakrament no amal! Und i waar nacher verantwortle gwesen. Himmel Herrgott no amal! Daß d' Leut aber allweil jagern müassen, bal s' koan Dunst net haben davon!« Ich schnaufte. Der »edle Weidmannsstolz« dieses Morgens war mir gründlich beschnitten. Den Schmerz, der mir in allen Gelenken brannte, verbiß ich wohl. Aber zu einem Laut des Widerspruches schwang ich mich doch nicht auf, sondern guckte nur immer den Urmenschen an, der sich die Galle aus der Leber schimpfte. Und so im Zorn mußte man ihn sehen! Da sah er viel schöner aus, als wenn er gemütlich lachte. Er war nicht groß, fast unter dem Mittelmaß. Aber Beine hatte er wie Säulen und Arme wie Dreschflegel. Und 418
wenn er den Arm bog oder beim Gehen die Knie so hart durchdrückte, hatte man immer die Vorstellung: das sind eiserne Scharniere mit fest angezogenen Schrauben. Die Schultern waren unverhältnismäßig breit und wuchtig. Zu diesen Schultern hätte ein Mensch gehört, um einen Bauernschuh noch größer als der Gidi. Die Brust, an der das Hemd immer offenstand, war bis an die Halsgrube herauf ganz schwarz behaart. Kegelförmig strammten sich aus den Schultern die dicken Sehnen gegen den Hals hinauf, der den kleinen, flinkbeweglichen Kopf trug, umwustet vom schwarzen Ringelhaar. Und der schwarze Vollbart, der lang und starr über die Brust herausstand, hatte etwas Stilisiertes, etwas Altpersisches. Ganz merkwürdig war das anzusehen, wie diese harte, schwarze Bartflamme bei der hurtigen Beweglichkeit des kleinen Kopfes hin und her flog. Wenn der Gidi bei guter Laune war, trug er den mürbverwitterten zwiebelgelben Filzhut mit der Adlerfeder immer tief in die Stirn gerückt. Und da sah man unter dem schwarzen Haargewirr nicht viel von seinem Gesicht. Eine schmale, scharfe Nase mit ungewöhnlich beweglichen Nüstern stach heraus, im Schatten der Hutkrempe funkelten die kleinen, huschenden Augen ganz winzig, und beim Lachen blinkten die starken Zähne weiß aus dieser Schwärze. War aber der Urmensch wütend -- wie damals vor meinem Hirsch -- dann trug er den Hut übers Haar zurückgeschoben, die Stirne war kreidebleich, ein Netz von bläulich geschwollenen Adern zog sich über jede Schläfe hinauf, die erweiterten Augen blitzten wie polierter Stahl, auf den Wangen brannte die Haut unter dem Ansatz des Bartes wie Scharlach, und in
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seiner Stimme -- so laut er auch brüllte -- zitterte immer etwas unheimlich Versunkenes. Bei dem viereckigen Mißverhältnis zwischen Breite und Länge war der Gidi alles andere eher als das, was man einen schmucken Kerl zu nennen pflegt. Doch wenn ihm die Galle kochte, wurde er schön durch die Wildheit seines Zornes und durch das Wuchtige seiner Kraft. Damals, auf der Wiese unter dem Jägerberg, verschlug's mir die Sprache. Und ich guckte den Gidi immer an. Der wurde erst ruhiger, als er mir auf grünem Bruch die schönen Granen des Hirsches hinbot. Gegen 10 Uhr lag meine Beute schon in der Zwirchkammer. Und um den Urmenschen wieder gemütlich zu stimmen, ließ ich im Wirtshaus einen Eimer Bier auflegen. Der war um 5 Uhr abends leergetrunken. Wir rechneten nach: der Förster, der Wirt, die Tochter und der Sohn des Wirtes, ein Grenzaufseher und ich, wir hatten zusammen --ganz ehrlich gerechnet -- 33 Maß getrunken. Was zum Eimer noch fehlte -- 27 bayerische Maß -- hatte der Gidi für sich allein geschluckt. Da war er nun freilich gemütlich geworden. Aber um sechs Uhr lud er seinen schweren Rucksack mit dem Wochenproviant auf den Buckel und stieg noch die drei Stunden zur Lärchkogelhütte hinauf. Dann hab ich den ganzen Sommer und Herbst mit ihm gejagt, bis Ende November. Und was ich von ihm zu erzählen hätte, würde ein Buch füllen. Aber ich will aus dem Guglhupf dieses Kraftlebens nur ein paar Weinbeeren herausbohren. 420
Wir kamen da eines Vormittags von der Pirsche zurück und saßen im Wirtsgarten, der keinen Zaun hatte, aber zur Hälfte umzogen war von einer Mauer aus Scheitholz, das mannshoch für den Winter aufgeklaftert stand. Und während wir da beim Krug sitzen, kommt ein Tiroler Teppichhändler mit seinem Kasten, ein baumlanger, schwarzzottiger Patron. Dem zwinkert was in den Augen, als er den Gidi sieht. Doch er setzt sich zu uns an den Tisch, tut zuerst dreckfreundlich, fängt aber dann zu spötteln an, redet von Zinnkugeln und »Kkreizln« und gerät in Wut, weil der Urmensch so ruhig bleibt, als wäre der Tiroler Luft für ihn. Doch weil der Teppichhändler seine bedenklichen Späße immer dicker auflegt, guckt ihn der Gidi an und sagt: »Halt's Maul, du Lackl! I bin a Biamter, daß d' es woaßt!« »Wos bischt?« Dann kam eine Aufforderung, die ihr in Goethes Berlichingen nachlesen könnt. Der Gidi lacht. So was griff ihm nicht an die Ehre. Diesem Lachen gegenüber verliert der Teppichhändler die Besinnung. Er packt seinen Krug und schüttet dem Urmenschen das Bier ins Gesicht. Da steht der Gidi auf, schiebt den triefenden Hut zurück, und an seinen Schläfen erscheint jenes bläuliche Netz. »Sakrament no amal!« Mit beiden Fäusten will er zugreifen. Aber da schüttelt er den Kopf und brüllt: »Na, Brüaderl! Ah na!« Er schleudert den Hut ins Gras, reißt die Joppe herunter, nimmt einen Anlauf und springt wie verrückt ein dutzendmal über das aufgeklafterte Scheitholz hin und her, so lange, bis ihm der Atem zu keuchen be421
ginnt. Dann stemmt er sich mit dem Rücken gegen die schwere Holzmauer, bläst und keucht und schiebt und drückt, bis die ganze Scheiterbeuge mit Grassel über den Haufen purzelt. »So, Brüaderl, jetzt bin i grecht für di!« Nun packt er den Teppichhändler, wirft ihn zu Boden und drischt so grob auf ihn los, daß der Wirt, die Wirtin, der Hausknecht und die Wirtstochter gerannt kommen und mit Kreischen zu wehren beginnen. Ich helfe mit, und wie wir den schnaubenden Urmenschen endlich hinter dem Tisch haben, steht der Teppichhändler mit kreidebleichem Gesicht vom Boden auf, hebt den bunten Kasten auf seinen Rücken und macht sich schweigsam auf die Wanderung. »Mensch! « sag' ich zum Gidi. »Hast du denn völlig den Verstand verloren?« Und die Wirtin zetert: »Jessas, jessas, die ganze Scheiterbeug hat 'r mer aussidruckt! Dös Uuurviech!« Aber der Gidi, weil er den Teppichhändler nimmer sieht, ist schon wieder ganz ruhig und sagt: »Macht nix! I klafter 's Holz scho wieder auf! Woaßt, z'earst hab i mer d' Wuat a wengl abküahlen müassen. Sunst hätt i dem Kerl am End no ebbes toan! Und da hätt i wieder a Nasen vom Forstamt kriagt: daß i mi net als Biamter betragen hab.« Dann sieht er den Tisch an, auf dem eine Lache schwimmt. »Schad ums Bier! « Und geht auf die umgeschmissene Holzmauer zu und beginnt gemütlich die Scheite aufzuklaftern. Ein andermal, da wanderten wir am Morgen durch das Kotzental herunter nach Fall. Aus diesem Waldtal steigt 422
eine schneidige Bergrippe, der Scharfreitergrat, steil und hoch ins Blau hinauf, wie nach der Schnur gezogen. Unter der Hypnose dieses Namens -- Scharfreitergrat -und wie einem manchmal etwas Sinnloses durch den Verstand fährt, sag' ich zum Gidi: »Wenn da einer auffireiten tät auf der Lederhosen, dem zahlet ich gleich ein paar Maß Bier! « »Was?« schreit der Urmensch. »Zahlst es?« Er wirft sein Jagdzeug ins Gras, Hut und Joppe dazu, schwingt sich rittlings auf die Steinrippe, fängt zu rutschen an -- und reitet, reitet und reitet, bis er da droben für mein Auge so klein wurde wie ein Floh. Sechs geschlagene Stunden mußte ich warten, bis der Urmensch wieder kam. Und zu Fall im Wirtshaus mußte ich die vier Maß Bier bezahlen -- denn der Gidi behauptete: Ein paar', das wären höchstens fünfe, aber mindestens drei. Und da ging ich den Mittelweg. Ende August hausten wir miteinander in der Lärchkogelhütte. Der Proviant war uns ausgegangen, und der Träger wollte noch immer --nicht kommen. Im Zustand des Hungers pflegen die Grenzen zwischen Mein und Dein zu verschwimmen -- und so vergriffen wir uns an ärarialischem Eigentum, indem wir einem Gemsbock, den ich erlegt hatte, zwei handgroße Wildbretstücke von der Innenseite der Schlegel wegstibitzten. Und der Urmensch, der sich nicht übel aufs Kochen verstand, machte sechs »Karminadln« draus. Viere verspeisten wir; die zwei übrigen kamen ins Kellerloch, um am folgenden Morgen als Frühstück zu dienen. In der Nacht aber kam der Trä423
ger mit dem Proviant. Eine Woche später, als wir eines Nachmittags vor dem Abmarsch die Hütte saubermachten, höre ich im Kellerloch den Gidi schreien: »Mar' und Josef! Da san ja no dö zwoa Karminadln! « Auf dem Holzteller bringt er sie hergetragen. Sie waren von gut genährten Maden ganz lebendig. »Pfui Teufel! Hinaus!« »Ah, wos! Is no allweil a Fleisch. Da waar oft oaner froh drum.« Sprach's, wickelte die »Karminadln« mitsamt ihrem fetten Leben schmunzelnd in ein Zeitungsblatt und ging aus der Stube. Am Abend, als schon die blaue Dämmerung um die Berge träumte, kamen wir auf dem Heimweg an einer Hüterhütte vorüber, durch deren lückiges Balkenwerk ein roter Schein herausgloste. »Schaugn mer eini!« sagt der Gidi. »D kon i an der Gluat mei Pfeifl anzenten!« Wir traten in die Hütte. Und wo Kohlen glühen, setzt man sich gerne nieder. So saßen wir und schwatzten. In der dunklen Ecke hinter dem Herd war etwas Haariges und Plumpes, das sich träg bewegte und mit dem Atem rasselte wie ein Bär im Winterschlaf Da sagte der Gidi: »Hansl? Mogst a Fleisch?« »Ah woll! So ebbes rnog i allweil!« klang es aus der dunklen Ecke.
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Der Urmensch nahm aus seinem Rucksack ein in Zeitungspapier gewickeltes Packerl. Ich begriff -- der Ekel schüttelte mich -- aber die Neugier hielt mich fest; ich wollte den Moment nicht versäumen, in dem der Gidi den Dank seiner schenkenden Barmherzigkeit an den Kopf bekäme. In aller Gemütsruhe, ganz ernst, begann der Urmensch die Lebensgeschichte eines Gemsbockes zu erzählen, den er im verwichenen Herbst unter dem »Luderer Gwänd« erlegt hatte. Dabei raschelte in der dunklen Ecke das Zeitungspapier. Und während der Gidi erzählt, wie der Bock die Gais zu treiben begann, sagt der Hansl: »Herrgott! Is dös aber mürb! Dös laaft oam ferm über d' Finger abi.« »Gelt, Mannderl? So ebbes Guats hast im Leben no nia derwuschen?« »Na!« Und der Gidi erzählt: »No also, und wia der Bock die Goas so unter der Wand hin treibt, und in fünf Minuten dreimal stellt ... « Aus der Ecke hörte man immer wieder ein leises Knacken, wie wenn ein Bub auf grüne Stachelbeeren beißt. Dann frägt der Hansl: »Was muaß denn dös sein, was i da allweil derbeiß?« »Woaßt, da san Weinberln drin.«
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»Gelt, ja! Hab mer's aa scho denkt. Weil's gar so süaßelet.« Mit einem Sprung fuhr ich zur Hütte hinaus. Als mir der Gidi nach einer Weile in der Dunkelheit nachkam, sagte er: »Schaugn S', so ko ma oft oam Menschen a Freid machen! Freili hat alls seine zwoa Seiten. Aber bal oaner bloß die guate siecht ... « Eines Nachmittags, in den schwülsten Hundstagen, lagen wir in der Jagdhütte auf dem Heukreister und hielten Siesta. Die Glut des Tages und die Mucken quälten uns -Mucken von allerlei Arten. »Du, Gidi!« »Was?« »Weißt du, das ist ja wunderschön ... die Jagd, so den ganzen Sommer ... aber manchmal möchte man doch ein bisserl Abwechslung haben.« Er verstand mich gleich. Denn auch der Urmensch war dem ewig Weiblichen nicht feind, das uns hinanzieht. Sich halb im Heubett aufrichtend, tat er seinen Lieblingsfluch: »Sakrament no amal! jetzt dös is gspassi. Grad hab i aa dran denkt.« Eine Weile sinnierte er vor sich hin. Dann bekannte er mit rührender Offenheit: »Daß mer da bei uns umanander lauter Alte auf die Sennhütten haben, da bin fei i dran schuld. Dö Bauern lassen koa junge nimmer auffi.« Wieder studierte er und hielt die feucht schwimmenden Augen auf den grellen Sonnenfleck des 426
Fensters gerichtet. Und schlang die Arme um die aufgezogenen Knie. »Sakrament no amal!« jetzt sah er mich an, mit schmunzelndem Gezwinker. »Sö! Glei überm Berg da drent, da wußt i an Alm. Sieben Hütten stengan beinand auf'm schönsten Fleck. Und sieben Sennerinna! Mudelwollete Weibsbäder. Und oane säuberer wia die ander. Sakrament no amal!« Er stieß mich mit dem Ellbogen an. »Was moanen S'? Springa mer ummi, morgen in der Fruah?« »Wie weit haben wir denn da hinüber?« »Ah wos! So a Katzensprüngl!« »Na ja, aber ... da drüben kenn ich doch niemand?« »Bal Eahna i rekommandier! « jetzt konnten wir schlafen, trotz Hitze und Mucken. Früh um zwei Uhr weckte mich der Gidi. »Z'earst machen mer unser Pirsch. Der Earnst geht allweil für. Und bal mer um achte marschieren, kumma mer allweil no fruah gnuag ummi.« Ein wundervoller Morgen war's. Doch in der milden Kühle schien alles grüne Leben schon zu zittern vor den Gluten, die der Tag wieder bringen würde. Es gab an diesem Morgen mehr zu schauen als zu jagen. Denn das Wild begann sich schon zu verschliefen, als der erste Sonnenglanz die Bergspitzen anleuchtete.
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»Heut bideut's uns nix!« sagte der Gidi um halb sieben. »I moan, mier marschieren glei.« Ich nickte. So begannen wir die Wanderung, der Gidi mit hetzenden Schritten voraus, ich hinter ihm drein. Eine Hitze kam, daß ich erst die Joppe und dann die Weste herunterzog und in den Rucksack stopfte. Und immer rann ein Gesicker von heißen Tropfen über Stirn und Wangen, über den Hals und über den Rücken. Und keine Straße! Nur ein schlechter Fußweg, bald über Geröll, bald über Wurzelwerk. Und immer hinauf und hinunter, hinauf und hinunter. Gegen elf Uhr sagte ich: »Du! Wie lang dauert denn bei dir ein Katzensprung?« Er lachte. »jetzt haben mer's bald.« Aber auch ihm war es heiß geworden unter dem zwiebelgelben Hut. »Sakrament no amal!« Er wischte mit der Faust über die Stirne. Hinauf und hinunter! Und wieder hinauf, so steil, daß ich vor Ingrimm über meine Erschöpfung zu fluchen begann. Jeder Faden klebte mir naß am Leib. Und die Sonne brannte auf die Steine her, daß alles waberte in der Luft. In dem niederen Latschengestrüpp keine Flocke von Schatten. Nirgends ein Tropfen Wasser, nirgends ein Laut, kein Vogelruf nichts, nichts, nichts, was an Leben hätte denken lassen. Alles, was lebte, schien verschmachtet in dieser Schwüle. Und der harte Steinboden glutete, daß mir die Schuhsohlen heiß wurden. In die Höhe konnte ich nirnmer schauen -- so blendete der gleißende Son428
nenglanz, der über die weißen Kalksteinwände ausgeschüttet lag. Ich mußte immer mit gesenktem Kopf und halbgeschlossenen Augen gehen. Um ein Uhr sagte ich: »Gidi! Jetzt leg ich mich hin und stehe nimmer auf vor Nacht.« »Sakrament no amal! Dö paar Sprüngln bis da auffi wearn S' wohl no dermachen. Von droben sieht ma dö sieben Hütten scho.« »Na also! In Gottes Namen! « Als wir den Grat erreichten, deutete der Gidi: »Da schaugn S' her! Da haben mer jetzt dö sieben Hütten vor der Nasen.« Ich spähte mit meinen brennenden Augen in die Tiefe. Steingeröll, über dem die Hitze flimmerte und wogte! Dann Wälder und Wälder. Und in der Ferne ein graublauer Dunst. »Wo denn, Gidi?« »Ja san S' denn blind? Da liegen s' ja glei, dö Hütten, glei da draußt, wo d'Sunn a so nebelet.« Ich schwieg. Und wischte mit dem nassen Taschentuch über Gesicht und Hals. Und atmete auf -- nur weil es bergab ging. Nach einer halben Stunde erreichten wir den ersten Fichtenstreif, Waldschatten! Du wundersame Köstlichkeit! Wie ein Berauschter taumelte ich durch das kühle Grün. Eine Quelle! Und ein Trunk, so gierig, daß 429
es klunkerte im leeren Magen! Und jetzt ein Bach. Sich waschen können! Ein Fußbad nehmen! Wie viel herrliche Reize, wie viel namenlose Süßigkeiten doch das Leben hat! Aber der Gidi fluchte: »Sakrament no amal! So vertragen mer die beste Zeit. Bal mer uns net tummeln, derwischen mer koane nimmer. Dö müassen auf'n Abend ihr Vieh eintreiben.« Was ich mir bei dieser Mahnung dachte, verschwieg ich vor dem Gidi. Und schnürte ohne Übereilung meine Schuhe wieder zu, die ich zu Abkühlung in den Bach gestellt hatte. Gegen vier Uhr nachmittags erreichten wir die Alm mit den sieben Hütten. Und als ich mich in der Landschaft orientierte, machte ich die Entdeckung, daß wir durch drei Oberförstereien durchgewandert waren. Seit zwei Uhr morgens auf den Beinen! An einem solchen Tag! Bei dieser sengenden Glut! Vierzehn Stunden hatte der »Katzensprung« des Egidius Trumpf gedauert. In welcher Gemütsverfassung ich war, das könnt ihr euch denken. Doch der Urmensch beutelte sich in schmunzelndem Vergnügen. »Jetzt passen S' aber auf! « Er gab mir schäkernd mit der Faust einen Puff in die Seite und spazierte auf die erste von den sieben Hütten zu. »Da drin, da habn mer glei die säuberste von alle! Ja! Und Röserl hoaßt s'. Dö hat Schmalz an der Latten. Bei der, da bleiben S'! I schaug mer nacher scho um ebbes.«
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Wir traten in die Hütte. »Grüaß Gott, ös Zwoa!« sagte das Röserl, das beim Herd stand und die blaue Schürze herunternahm -- ein dickes, schwarzhaariges Weibsbild mit knallroten Wangen, deren Haut von Frost und Hitze aufgesprungen und bläulich geädert war wie die Nase eines Weinbeißers. Das Gewicht dieser holden Weiblichkeit durfte man gut auf zwei Zentner schätzen. Wenn das Röserl sich in Bewegung setzte, gingen die mächtigen Hüften auf und nieder gleich einer schweren Schaukel. Und beim Anblick des Urmenschen lachte diese vollerblühte Rose, wie ein Knecht meines Vaters immer zu lachen pflegte, wenn die Leberknödel aufgetragen wurden. Der Gidi begann auch gleich seine lustigen Redensarten zu machen, die das Röserl nicht ungerne zu hören schien. Ich legte inzwischen mein Jagdzeug ab. Dann steckte ich den Kopf in einen Wasserkübel, rieb das Haar mit der Joppe trocken, ließ mich auf den Herdrand nieder und streckte langsam die Beine -- sehr langsam. Während ich mir eine Zigarette anzündete, ging das Röserl zum Brunnen, um frisches Wasser zu holen. Gidi tappte lachend hinter diesen zwei schaukelnden Zentnern her und zwinkerte mir von der Tür nüt wohlwollender Gönnermiene zu. Draußen hörte ich die beiden wispern. Und als das Röserl den Kübel mit dem frischen Wasser in die Sennstube brachte, sah mich das gute Ding halb 431
verlegen und halb prüfend an und sagte: »jetzt muaß i auffi auf d' Leiten und 's Vieh eintreiben. Gehts ebba mit?« Sie sah nur mich an, fügte aber zögernd bei: »Ös zwoa?« Auch der Gidi sah mich an. »No also?« Und machte dazu eine Handbewegung wie eine Köchin, wenn sie den Schaum schlägt. »Ich danke! Nein! Geht nur ... ös zwoa! Ich lege mich schlafen.« Das Gesicht, das der Urmensch machte, kann ich nicht schildern. Ganz sprachlos war er. Und schüttelte immer den Kopf, während er hinter dem Röserl zur Tür hinausging -- um das Vieh einzutreiben. An der Tür, die von außen zugedrückt wurde, klapperte was. Aber ich achtete nimmer darauf, sondern riß so flink wie möglich meine Kleider herunter, um den Wasserkübel über meinen Nacken auszuleeren. Dann suchte ich eine Ruhestatt für meine mürben Knochen. Zuerst probierte ich's in der Kammer, im Kreister der Sennerin. Aber in diese muffige Seegrasmatratze waren Löcher und Höhlungen eingedrückt, in denen sich meine etwas herberen Formen nicht behaglich fühlten. Und in dem engen Bretterverschlag dunstete eine Hitze, um verrückt zu werden. Ich sprang wieder auf und legte mich in der Sennstube platt auf den Lehmboden. Aber kaum war ich eingeschlafen, da weckten mich die Fliegen und Schnaken wieder, die mich zu Hunderten mit hochsingenden Tönen umsummten und so gierig auf mich einflogen, als
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hätten sie, beim Röserl an fette Kost gewöhnt, nun plötzlich Geschmack an einem mageren Bissen gefunden. Aber draußen war ja der Abend nah. Da mußte doch irgendwo ein kühles Plätzchen zu finden sein. Ich fuhr in die Kleider. Und nun kam eine Überraschung. Der Urmensch und das Röserl hatten von außen die Tür versperrt, um meinen süßen Schlummer vor Störungen zu bewahren. Bei dieser Entdeckung befiel mich etwas, das der Tobsucht ähnelte. Aber schließlich gewöhnt sich der Mensch an alles, auch an die schwüle Kammer, die nach dem Röserl duftete, an sumsende Fliegen und Schnaken. Um mir die Zeit zu vertreiben, nahm ich mein Fernrohr, setzte mich an das kleine Fenster und begann den Berghang, der da drüben in der Abendröte vor mir aufstieg, nach Hochwild und Gemsen abzusuchen. Und während ich das Fernrohr so hin und her gleiten lasse, kommt mir plötzlich etwas Merkwürdiges in's Glas -- etwas Merkwürdiges, das ich nicht gleich erkannte, weil es von einer Erlenstaude überschattet war. -Eine Stunde später, als es schon zu schummern anfing, näherte sich der Hütte ein sanftes Geläut. die Glocken der Kühe, die da eingetrieben wurden. Dann nebenan im Stall ein ohrenbetäubendes Gebimmel. An der Tür rasselte was. Und das Röserl kam mit dem Urmenschen in die Stube. Die beiden sprachen vom Wetter, und der Gidi schwor bei allen Heiligen, daß es morgen wieder den schönsten Tag geben würde, mit »flaumenaperem« Himmel -- das sollte heißen: nicht nüt dem kleinsten Wölklein im Blau.
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Das Röserl fing zu kochen an. Aber der hungrig gewordene Urmensch wollte vorweg einen Bissen Brot haben. Die Sennerin legte ihm den schwarzen Laib auf die Bank, und Gidi griff nach seiner Messertasche. »Sakrament no amal! Wo hab i denn mein Gnicker?« Da sagte ich: »Der ist dir droben bei der Erlenstaude aus der Hose gefallen.« Das Röserl drehte das knallrote Gesicht über die Schulter. Und der Urmensch sah mich an, als hätte er Sorge um meinen Verstand. »ja Sakrament no amal! Woher wissen S' denn dös?« »Weil ich's mit dem Perspektiv gsehen habe.« Unter grillendem Schrei und mit einer Flinkheit, die ich diesen zwei Zentnern gar nicht zugetraut hätte, sauste das Röserl zur Tür hinaus. Der Gidi aber stellte sich breitspurig vor mich hin, stemmte die Fäuste in die Hüften und brach in sein brüllendes Lachen aus. »Sakrament no amal! Dö haben S' aber guat derwuschen.« Er wurde finster. Aber das Röserl ließ sich nimmer blicken. Der Urmensch ging, um das Mädel »zur Vernunft« zu bringen; doch er kam allein zurück. »Dös damische Luader geht nimmer eini. Net um a Schloß!« Um für das Röserl die Luft wieder rein zu machen, entschloß ich mich, noch die Stunde bis zum Dorf hinunterzuwandern. Der Gidi wollte mich wohl bereden, meine Ruhe in einer der sechs anderen Hütten zu suchen. Aber ich schüttelte energisch den Kopf. 434
»Sö san aber aa scho so a Hoakliger!« meinte der Urrnensch verdrossen. Und als ich hinauswanderte in die stille, schwüle Nacht, in der die Sterne ruhig funkelten, sagte er: »Marschieren S' nur derweil voraus! I muaß mein Gnicker no suachen. Den laß i net dahint!« Am anderen Morgen, gegen neun Uhr, kam er drunten irn Wirtshaus angerückt. »So lang hast du suchen müssen?« »Ah na! Mein Gnicker hab i glei wieder ghabt. Aber in die andern sechs Hütten hab i noa a bißl hoamgarten müassen. I laß hinter meiner net gern a Bileidigung zruck. So Weibsbilder, dö san oft so empfindle. Da hoaßt's nacher glei: es waar oaner zstolz! « Statt zu lachen, guckte ich in Sorge zum »flaumenaperen« Himmel hinauf, an dem die Sonne brannte, daß herunten über allen Steinen schon die Luft zu flimmern begann. Und fünfzehn Stunden nach Hause! Auf und nieder, auf und nieder, auf und nieder. Gegen Mitternacht, mit talergroßen Blasen unter den Sohlen, kam ich heim nach Fall. Und mußte acht Tage lang auf alle Jagd verzichten. Der Förster fragte: »Was is denn rnit'm Herrn Dokter?«
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»Mei«, lachte der Urmensch, »nix aushalten tuat 'r halt! Weil 'r allwei Söckeln tragen muaß, statt daß 'r nacket einischlupft in d'Schuach. So a Stodtgwax, so a zaartles!« »Habt's a grobe Pirsch gmacht?« »Net amal! A bißl auf Rekerazion sammer gwesen, und da hat's eahm en Hamur derkeit. Natüarle, und bal der Mensch koan Schwung hat, marschiert 'r schlecht.« Dieses Zwiegespräch, das ich durch die Tür mit anhörte, gab mir meine gute Laune wieder. Aber seit damals bekomme ich immer einen heiligen Schreck, so oft ich einen Jäger das Wörtlein »Katzensprüngl« sagen höre. -In der folgenden Woche stiegen wir wieder zur Lärchkogelhütte hinauf. Und während wir auf rauhem Pfad die Schutthalde unter dem »Luderer Gwänd« überschreiten, merke ich, daß mit dem Urmenschen irgendwas los ist. Er blinzelt immer so sonderbar über das Berggehänge hin, schmunzelt so merkwürdig und macht unglaublich vergnügte Schweinsäuglein. »Gidi? Was ist denn?« »Was soll denn sein? Nix! Ah na! Gar nix!« Aber dieses geheimnisvolle Gezwinker in seinem Gesicht wird immer fideler. Noch ein paarmal frage ich und bekomme immer die gleiche Antwort: »Nix! Gar nix! «
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»Gidi! Ich weiß doch, daß du lügst.« Er aber lachte nur, als hätte ich irgend etwas wahnsinnig Komisches gesagt. Nach hundert Schritten blieb er aus eigenem Antrieb stehen, sah mich mit seinen kleinen Blitzaugen an, kicherte in Glückseligkeit wie ein sanft Beschwipster und winkte mir mit einer kindlich grotesken Fingerbewegung. »Kummen S'! I zoag Eahna ebbes.« Immer vor sich hinkudernd stieg er über das Geröll hinauf, am Rand eines Steingrabens, der halb mit Felsschutt angefüllt war. jetzt blieb er stehen, spähte schmunzelnd nach allen Seiten, ließ sich auf die Knie nieder, und mit heimlich fidelem Geschäcker, wie man einen lustigen Knabenstreich beginnt, so fing er an, in dem Graben die Felsbrocken beiseite zu räumen. »Da!« Sein Gekicher erstickte ihm fast die Stimme. »Schaugn S' eini!« Ich beugte mich nieder. In dem Felsschutt lag eine Höhlung offen, wie ein großer Fuchsbau. Doch als ich hineinspähte, fuhr ich erschrocken zurück -- in dem Dunkel da drinnen flimmerte das weiße Skelett einer Menschenhand. Für meinen Schreck hatte der Gidi keine Augen. Er kicherte vergnügt, während er das dunkle, muffige Felsloch mit Steinbrocken wieder sorglich vermauerte. Und jedes Wort, das er sprach, war begleitet von einem halb unterdrückten Lachen: »Den hab i, hohohoho, da droben abigschossen vom Grat. Hehehehe! Koan Maunkser hat 'r 437
nimmer gmacht, und, hohohoho, wie er dringlegen is im Graben, hehehehe, da hab i a Stoanlawin drüber abilassen. Hohohoho! Den find net amal unser Herrgott am jüngsten Tag. Hihihihi!« Er drückte die Fäuste vor sein Gekicher und schüttelte sich in fideler Wohligkeit. Mir rann ein kalter Schauer über den Rücken. Aber ich habe späterhin niemals wieder im Gesicht eines Menschen solch einen leuchtenden Ausdruck von Behagen, Verschmitztheit und schattenloser Freude gesehen, wie damals im Gesicht des Egidius Trumpf. Und da soll nun unsereins, mit Plato, Paulus und Goethe in Herz und Kopf, solch ein eisenknochiges und stahlgemuskeltes Exemplar der Schöpfung kapieren! Der Namenlose, den der Gidi vom Grat der Luderer Wände kalt herunterschoß -- vielleicht war's der Holzknecht mit der Zinnkügel und dem »Kreizl«? -- war ein Wilddieb, ein Schaden für das Revier, eine schleichende Gefahr für das Leben der Jäger. Gut! Aber er war doch auch ein Mensch! Und das ist dem Gidi niemals eingefallen. Der hatte nur seine »damische Freid«, so oft er unter dem »Luderer Gwänd« über die Schutthalde marschierte und kichernd hinaufblinzelte zu dem Felsgeröll im Steingraben. Und da fürchte ich wieder, daß ihr den Urmenschen nicht seht, wie er war. Ich hatte ihn lieb. Aber wenn ich ihn schildere, kann ich nur sagen, wie er aussah, nur erzählen, was er tat. Doch es fehlt dabei der tobende Pulsschlag, der in seinem Leben war. Um ganz zu verstehen, daß ich nach einem Vierteljahrhundert noch mit Freude an den Gidi denke, hättet ihr ihn sehen müssen, im Stahl438
bild seiner Kraft, mit dem zurückgeschobenen Hut und mit dem bläulichen Netz an den Schläfen, in dieser verrückten Schönheit seines Zornes. Und dann sein wilder, urmenschlicher Tod! Ein Tod, bei dem ich mir sagte: so und nicht anders mußte der Eigidius Trumpf sein Leben enden. Da war er gegen Ende der achtziger Jahre nach Bartholomä versetzt worden, in jene einsame Wartei am Königssee. Eines Sonntags, als sich der strenge Winter schon zum Frühjahr wenden wollte, war der Gidi »auf Rekerazion« in Berchtesgaden draußen und schluckte vergnügt sein gewohntes Quantum, so an die zwanzig Maß. Am Abend setzte er sich noch zu Königssee vier Stunden beim Schiffmeister in der Schwemme fest. Um Mitternacht wollte er über den gefrorenen See nach Bartholomä hineinwandern. Das versuchten sie ihm auszureden -- seit drei Tagen, bis zum Morgen des Sonntags, hatte der Föhn geblasen, das Eis war von breiten Frageln durchrissen, und überall quoll schon das Wasser heraus. Aber der Gidi in seinem Kraftgefühl meinte lachend: »Bin ich aussi kemma, kumm i eini aa! Und hupfen kon i no allwei.« Dabei machte er, mit den fünfundzwanzig Maß im Magen, einen tischhohen Sprung. Und wanderte los in der stillen Frühlingsnacht. Am Morgen, als der Urmensch zu Bartholomä nicht eingetroffen war, stellte der Förster am Ufer den Tubus auf und sah im Weitsee draußen auf einer Stelle, so groß wie eine große Wiese, das Eis in Scherben geschlagen. 439
Weder in Bartholomä noch in den Holzerhütten am Ufer, noch in Königssee hatte man in der stillen Nacht einen Schrei vernommen. Der Urmensch und um Hilfe schreien? Nein! Stumm hatte Egidius Trumpf seine letzte Arbeit getan. Als er eingebrochen, war er vermutlich nüchtern geworden. Und hatte mit allem Aufgebot seiner eisernen Kraft sich zu retten versucht. Aber jede Scholle, auf die er sich hinaufschwang, brach wieder mit ihm hinunter. Immer wieder tauchte er auf und klammerte sich mit zäher Kraft an das Leben. Sein Hut schwamm wohl im Wasser oder war unters Eis geraten -- den konnte er nimmer zurückschieben über die Stirne -- doch an den Schläfen wuchsen ihm sicher vor Zorn die bläulichen Netze. »Sakrament no amal! « Er griff und lupfte, sank und hob sich, und zerbrach in weitem Umkreis mit seinen Knien und Ellbogen die morsche Eisdecke. Lange Stunden muß er so gekämpft haben, fast bis zum Morgen. Und als das kalte Wasser seine ringenden Glieder starr machte und der letzte Nerv seiner Kraft erlahmte, sank er lautlos in die Tiefe. Am Morgen fuhren sie von Bartholomä mit dem Eiskahn hinaus. Beim Anblick dieses weiten Feldes zerschlagener Schollen sagte der Förster: »Jesus Maria! Dös schaugt ja aus, als waar a Bergbruch einigfahren! « Sie fanden nur einen zwiebelgelben Hut. Sonst nichts.
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