LENI BEHRENDT
Durch Gewitter und Sturm
Es schien, als halte die Natur den Atem an, eine so unheimliche Stille brütete...
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LENI BEHRENDT
Durch Gewitter und Sturm
Es schien, als halte die Natur den Atem an, eine so unheimliche Stille brütete über der Landschaft. Unheimlich war auch die Beleuchtung, die alles ringsum in schwefelgelbes Licht tauchte. Und schwefelgelbe Wolken jagten auch am Himmel, worüber sich dann schwarzgraue wälzten, während es am Horizont reglos wie eine tintenblaue Wand stand. Einen Maler hätte dieses einzigartige Farbenspiel wahrscheinlich entzückt, jedoch dem jungen Mädchen, das über den Wiesenpfad hetzte, jagte es Furcht ein. Was sollte werden, wenn es keinen schützenden Unterschlupf erreichte, bevor das Gewitter mit entfesselter Kraft losbrach? Daß es bis auf die Haut naß werden würde, war noch das wenigste, aber die Angst, auf freiem Feld schutzlos den tobenden Elementen ausgesetzt zu sein, hätte auch robustere Menschen gepackt als dieses junge zarte Geschöpf. Es lief, was nur die Beine hergaben, ob den richtigen Weg oder nicht, war jetzt egal. Nur irgendwo unterkriechen. Nun grollte auch schon der Donner auf, der Blitz zickzackte durch die düsteren Wolken, die jetzt den ganzen Himmel bedeckten. Und dann tobte der Sturm los, der ja zur Begleiterscheinung eines heraufziehenden Gewitters gehört. Nun war es aus mit dem leichtfüßigen Lauf einer Gazelle, nun hatte das junge Mädchen Mühe, von der Stelle zu kommen. Keuchend kämpfte es gegen den Sturm an und mußte sich außerdem noch darüber argem, daß ihm eine Melodie im Köpf herumspukte. Ausgerechnet jetzt, wo es der jungen Maid alles andere als nach Singsang zumute war. Doch hartnäckig tönte es im Hirn: Durch Gewitter und Sturm durchs weite Meer, mein Mädel, ich bin dir nach… Wenn es nur so wäre und sie jetzt Schutz suchen könnte an einer starken Männerbrust – egal an welch einer – aber
leider. Doch dann weiteten sich ihre Augen. Denn plötzlich sah sie vor sich eine Männergestalt, weiß der liebe Himmel, woher die so unvermutet auftauchte. Allein, der Mann erschien nicht, um sie an seine Heldenbrust zu nehmen, sondern lief vor ihr mit so langen Schritten, daß der Zwischenraum zwischen ihm und ihr immer größer wurde. Und sie folgte seinen Spuren, wenn auch nicht errötend, so doch mit keuchendem Atem. Alle Teufel schienen losgelassen zu sein, so tobte es um sie her. Der Donner krachte, die Blitze zuckten – und nun fielen auch schon die ersten Tropfen. Aber auch die Rettung war nah. Denn vielleicht hundert Meter von ihr befand sich ein Gehöft, auf das der Mann vor ihr losraste und im ersten Stallgebäude verschwand. Ergo: Sie ihm nach – und das war höchste Zeit. Denn kaum, daß sie den Unterschlupf erreicht hatte, prasselte es auch schon vom Himmel hernieder in unwahrscheinlich großen Tropfen. Während sie nun ihr »Gott sei Dank«, aufseufzte, stolperte sie in dem dunklen Raum über ein Etwas, fiel – und spürte es naß über ihre Beine rinnen. Doch schon umschlang sie ein starker Arm, hob sie hoch, stellte sie auf die Erde, und eine lachende Männerstimme sprach: »Hallo, hallo, man nicht so stürmisch, mein Fräulein! Haben Sie sich weh getan?« »Nein«, konnte sie fröhlich mitlachen, da sie sich nun in Sicherheit befand. Wo, das konnte sie zwar in dem Dämmerlicht nicht sehen, aber da es um sie herum grunzte und quiekte, mußte ihr Obdach wohl ein Schweinestall sein. Schade, daß sie das Gesicht des Mannes, der neben ihr stand, nicht erkennen konnte. Aber groß war er, fast einen Kopf größer als sie, die sie mit ihren 1,68 gewiß nicht zu den kleinsten Mädchen zählte. Gern hätte sie gewußt, wer er war, aber im Schweinestall pflegt man sich ja nicht vorzustellen. Aber auf welchem Gehöft sie sich befand, das mußte sie unbedingt feststellen. »Ragaltshöfen«, erfolgte die Antwort auf ihre Frage, und da
lehnte sie sich gegen ein Schweinekoben und lachte so hellklingend und übermütig, daß darüber die Schweine erschrocken dazwischengrunzten. »Dann sind Sie gar der Verwalter hier, mein Herr?« wollte sie sich ausschütten vor Lachen, was den Mann äußerst befremdete. »Gewiß. Ich weiß nur nicht, was daran so lächerlich sein könnte.« »Nicht böse sein, Herr Baron«, streckte sie ihm nun leidlich ernst die Hand hin, die er nach kurzem Druck wieder fallen ließ. »Ich lache Sie ganz bestimmt nicht aus, sondern amüsiere mich köstlich darüber, daß unsere Bekanntschaft ausgerechnet im Schweinestall stattfinden mußte. Ich bin nämlich Birgit Holmsen, die Tochter des Besitzers des Gutes.« »Das war dann allerdings ein unwürdiger Empfang«, fiel er nun amüsiert in ihr erneutes Lachen ein, nachdem er seiner maßlosen Überraschung Herr geworden war. »Warum haben Sie sich denn nicht angemeldet, gnädiges Fräulein? Dann wären Sie gewiß mit allen Ihnen gebührenden Ehren empfangen worden.« »Weiß ich, aber so ist es entschieden amüsanter. Mal was anderes, so durch Gewitter und Sturm im Schweinestall zu landen und außerdem mit dem Naß bedacht zu werden, vor dem ich draußen so ängstlich Reißaus nahm. Aller Segen soll ja zwar von oben kommen, aber daß es auch von unten sein kann, hat die Erfahrung schlagend bewiesen. Hoffentlich war Wasser in dem Eimer drin – kein Drank.« »Sie scheinen eine Spottdrossel zu sein, mein gnädiges Fräulein.« »Sagen sie ruhig Speilzahn, das klingt vertrauter.« »Und was wird der Herr Vater sagen, wenn er von dem sonderbaren Empfang des Töchterleins hört?« »Er wird schmunzeln: Geschieht dir recht, Marjellchen. Übrigens erscheint er morgen, ich bin nur sein – Vorläufer, im wahrsten Sinne des Wortes. Denn die letzte Strecke bis
hierher legte ich im >Nurmilauf< zurück. Doch wie ist es, können wir diese penetrant parfümierte Stätte nicht bald verlassen? Ich bin gewiß nicht zimperlich, aber jetzt habe ich ein schier unbezwingbares Verlangen nach frischer Luft.« Eröffnete die Tür und schaute prüfend in das Gewitter hinaus, das sich langsam zu verziehen begann. Es regnete auch nicht mehr ganz so arg, genügte jedoch, um naß zu werden. »Wollen wir es wagen?« fragte Birgit. »Da Sie bis zu den Knien sowieso völlig durchnäßt sind, kommt es auf eine Dusche von oben auch nicht mehr an. Nur den Kopf müssen Sie schützen, gnädiges Fräulein. Es wäre schade um die Lockenpracht. Darf ich Ihnen dazu ein Taschentuch anbieten?« Ohne Ziererei nahm sie das saubergefaltete Tuch, band es um den Kopf und lachte ihn an. »So – zu neuen Taten gerüstet.« Ehe sie nach dem Köfferchen greifen konnte, das sie abgestellt, hielt er es bereits in der Hand. »Steckt wenigstens Reservekleidung darin, gnädiges Fräulein, damit Sie sich umziehen können?« »Das tut’s. Und ich segne meinen Einfall, der mich Vorsorgen ließ, obwohl es das schönste Maiwetter war, als ich mich zu Hause auf den Weg machte.« »Mußte das auf so primitive Art geschehen?« »Mußte nicht, aber ich geh nun mal gern auf Abenteuer aus. Und siehe da, ich kam auf meine Kosten.« »Kann man wohl sagen. Kommen Sie rasch, damit wir ins Haus kommen, bevor der Regen wieder ärger wird. Denn den Wolken nach zu urteilen zieht ein zweites Gewitter auf.« Hurtig ging es nun über den großen Hof, auf dem das Wasser in breiten Pfützen stand. Um darüber hinwegzubalancieren, dafür hatte man es zu eilig; denn es grollte und blitzte schon wieder stärker. Also ging Birgit mit ihrem Begleiter sozusagen durch dick und dünn. Ihm
konnte die Nässe auch nichts anhaben, da er wasserfeste Stiefel trug, doch ihre leichten Schuhe waren so viel Nässe denn doch nicht gewachsen, wie sie an den triefenden Füßen merkte. Trotzdem schritt sie wacker aus, und so lag das Herrenhaus bald vor ihnen. Ein langgestreckter Bau mit einem wuchtigen Portal, Obergeschoß und breiten Mansarden. Balkone und Erker zierten das Gebäude, das ohne sie gewiß nüchtern gewirkt hätte. So jedoch trug es den Namen eines Herrenhauses mit vollem Recht, peinlichst gepflegt und feudal. In der weiten, hohen und vornehm anmutenden Diele verneigte der Mann sich artig vor dem Mädchen. »Darf ich mir erlauben, Sie in Ihrem Hause willkommen zu heißen, gnädiges Fräulein?« »Danke, Herr Baron. Kann ich mich hier irgendwo umziehen?« »Es ist Ihr Haus, gnädiges Fräulein.« »Nicht meines – sondern das meines Vaters. Das wollen wir von vornherein richtigstellen, nicht wahr, Herr Baron?« »Danke. Gestatten Sie, daß ich vorgehe.« Sie folgte ihm die teppichbelegte Treppe hinauf, betrat einen langen, bequemen Gang, der durch ein festes Glasdach genügend Licht bekam. Rechts und links befanden sich hohe, breite Flügeltüren, von denen der Mann eine öffnete. »Bitte, gnädiges Fräulein, dieses Zimmer ist hier oben das schönste von allen. Gefällt es Ihnen nicht, können Sie ja später nach Geschmack wählen. Ich hoffe, Sie beim Abendessen wiederzusehen.« Eine tadellose Verbeugung, dann ging er rasch davon, während Birgit das Zimmer betrat und die Tür hinter sich schloß. Vor ihr lag ein weites, elegant ausgestattetes Gemach mit einem Stutzflügel in der Mitte. Indes sie noch an der Tür, durch die sie gekommen war, stand, um jede Einzelheit des Raumes geruhsam in sich aufzunehmen, hörte sie an der Tür links schließen, und gleich darauf schob sich ein dunkles Lockenköpfchen durch den Spalt.
Zwei große, hellgraue Augen starrten sie an. »Was haben Sie denn hier zu suchen?« kam es angstvoll von den jungroten Lippen. »Keine Bange, ich bin gut Freund«, lachte Birgit. »Treten Sie ruhig näher.« Zögernd schob sich nun eine zierliche Gestalt durch die Tür – und dann standen sich zwei junge Menschenkinder gegenüber, welche die Natur gar reizvoll ausgestattet hatte. Eines mit einem entzückenden schwarzbraunen Wuschelköpfchen, lichtgrauen Augen, sehr feinem, süßem Gesichtchen und mittelgroßer, feingliedriger Gestalt. Das andere mit lichtgoldenen Locken, Augen strahlend blau und kristallklar wie ein kühler Bergsee, einem schönen, ein wenig herben Antlitz und einem gertenschlanken, grazilen Körper. Beide Mädchen zu verschieden, doch beide von natürlicher, taufrischer Schönheit. Und zu gleicher Zeit fingen beide an zu lachen. »Na also«, sprach Birgit zuerst. »Nun wir uns so forschend betrachtet haben, als müßten wir unsere Seelen ergründen, kann Nam’ und Art erfolgen. Ich benamse mich mit Birgit Holmsen. Ja, warum starren Sie mich denn so angstvoll an?« »Um Gottes willen, Sie sind doch nicht etwa –?« »Ich bin’s, jawohl«, kam es mutwillig zurück. »Und warum sind Sie dann so naß – und so – so – « »Dreckig, meinen Sie doch wohl?« half die andere freundlich aus. »Weil ich aus dem Schweinestall komme, wo sich das Wasser aus einem Stalleimer segnend über mich ergoß.« »Aber – aber – Schweinestall – da gehören Sie doch wirklich nicht hin. Sie sind doch die Tochter des Besitzers von Ragaltshöfen – und dann Schweinestall – mein Gott, das geht doch nicht!« »Nun, ich will Erbarmen haben, und Sie nicht noch konsternierter werden lassen«, lachte Birgit hellauf. »Das war nämlich so…« Mutwillig schilderte sie ihren Einzug auf ihres Vaters Besitz,
und nachdem sie geendet, lachten die beiden Mädchen um die Wette. »Wenn das nicht Glück bringt?« Die kleine Dunkle wischte sich die Lachtränen aus 4en Augen. Doch dann wurde sie jäh ruhig und sah ihr Gegenüber zaghaft an. »Entschuldigen Sie, Fräulein Holmsen. Ich tu hier so wie mit meinesgleichen.« »Na und?« unterbrach die andere sie erstaunt. »Ich bin doch nur Angestellte hier und Sie die Herrin.« »Na, nun mal hoppla! Der Herr hier ist mein Vater, nehmen Sie das bitte zur Kenntnis. Welchen Posten bekleiden Sie hier?« »Ich bin die Lehrerin der Baronesse Vörswelde – und heiße Erla Tessau.« »Wunderbar, da habe ich gleich eine Gefährtin. Ich glaube, wir werden uns gut vertragen.« »An mir soll es gewiß nicht liegen«, bekannte die andere eifrig. »Jetzt werde ich mich nicht mehr so einsam fühlen – und nicht mehr so schrecklich graulen.« »Wovor denn?« »Oh, ich hause hier oben ganz allein. Die Herrschaften schlafen unten und die Dienerschaft in den Mansarden. Ich konnte manche Nacht vor Angst nicht schlafen. Es war gräßlich.« »Kann ich sogar verstehen. Ist dieses etwa ein Fremdenzimmer?« »Jetzt ja. Es wurde aber nie benutzt, weil es hier keine Gäste gibt. Jedenfalls ist in dem einen Jahr, da ich in Ragaltshöfen weile, noch nie ein Gast dagewesen. Die Herrschaften leben vollkommen zurückgezogen. Soviel ich hörte, haben die Töchter des Vorbesitzers diese beiden Räume bewohnt, bevor sie heirateten und ihren Männern ins Ausland folgten. Und da Ihr Herr Vater Ragaltshöfen in Bausch und Bogen erstanden hat, so ging die ganze Einrichtung des Hauses auch in seinen Besitz über.« »Herzlichen Dank für gütige Belehrung«, lachte Birgit das eifrige Fräulein freundlich an.
»Sie haben recht, Fräulein Holmsen, ich bin ein Schaf«, kam die Antwort kleinlaut. »Gebe der Tochter des Besitzers von Ragaltshöfen eine Erklärung ab wie einer Uneingeweihten.« »Nun, so eingeweiht bin ich nun auch wieder nicht«, beruhigte Birgit. »Zwar weiß ich, daß mein Vater den Besitz so wie er stand erwarb, aber daß dieses Zimmer hier früher ein Fräulein Ragalt bewohnte, ist mir dennoch unbekannt, obwohl ich den Plan des Gutes sowie des Herrenhauses genau studierte. Jedenfalls werde ich mich hier häuslich einrichten. Schon deshalb, damit Sie Hasenherz sich nicht mehr zu graulen brauchen. Das heißt, so ganz allein hier oben täte ich es auch. Außerdem besitzt der Flügel eine große Anziehungskraft. Und jetzt möchte ich baden. Ich lechze förmlich nach einer erfrischenden Dusche, auf daß ich den Schweinestallgeruch loswerde.« Lachend verschwand sie hinter der Tür rechts und stand in einem entzückenden Ankleidezimmer. Daneben lag das Bad. Birgit empfand es als Wohltat, die nassen, beschmutzten Sachen vom Körper zu ziehen, ein laues Duschbad zu nehmen und sich dann von Kopf bis Fuß frisch zu kleiden. Wie gut, daß sie alles Erforderliche mit hatte, sonst wäre sie übel dran gewesen. Als sie das Zimmer wieder betrat, rief sie Erla herbei, die sie nebenan herumgehen hörte. Sie erschien sofort und sah Birgit bewundernd an. »Oh, jetzt schauen Sie ganz anders aus, Fräulein Holmsen. Die nassen, schmutzigen Kleider und das Taschentuch um den Kopf störten mich sehr.« »Kann ich mir denken. Aber das Tuch hat meinem Haar vorzügliche Dienste geleistet. Wie gut, daß der Baron es mir zur Verfügung stellte, so blieb wenigstens der Kopf trocken. Aha, es gongt. Also auf zum Speisen!« Schon klopfte es, und ein Hausmädchen in der üblichen schmucken Kleidung trat ein. Die munteren Augen flitzten neugierig zu Birgit hin. »Der Herr Baron hat mich beauftragt, das gnädige Fräulein
zum Abendessen zu bitten.« »Ist gut, Urte, ich werde das gnädige Fräulein führen«, winkte Erla ab, worauf die Maid sich zurückzog, einen letzten Blick auf Birgit riskierend, was diese amüsiert auflachen ließ. »Nach der Neugierde des Mädchens zu schließen, muß mein Hiersein sich bereits herumgesprochen haben. So bin ich denn gewillt, mich dem staunenden Publikum vorzuführen. Allons, gehen wir!« Und so ging man den langen Gang entlang, die Treppe hinunter, durchquerte die Diele und betrat ein weites Gemach, wo der inmitten stehende Tisch gedeckt war, wie es verfeinerter Lebensgewohnheit entspricht. Birgit fühlte drei Augenpaare mit direkt spürbarer Spannung auf sich gerichtet und näherte sich der distinguierten Dame, die ihr zögernd die feine, sehr gepflegte Hand entgegenstreckte. »Seien Sie willkommen«, begrüßte sie das Mädchen mit einem Lächeln, das man mit »gefroren« bezeichnen konnte. »Es berührt mich peinlich, daß sich Ihr Einzug auf so unschöne Art vollziehen mußte. Was mein Sohn mir da erzählte, kann nur entwürdigend für Sie gewesen sein.« Dieser würdigen Dame, die ja sehr von oben herab tut, scheine ich alles andere als willkommen zu sein, zog es Birgit blitzschnell durch den Sinn. Kein Wunder, da sie“ bisher hier unumschränkt herrschen durfte unter dem milden Regiment des nun verstorbenen Herrn Ragalt, das sogar dem Verwalter nebst Angehörigen ein Wohnen im Herrenhause gestattete. Es tut mir ja sehr leid, meine liebe Frau Baronin, aber du wirst mich hier schon dulden müssen, und meine Lieben gleichfalls. Das waren Birgits Gedanken, während sie lachend sagte: »Diese Entwürdigung macht mir nichts aus. Ich hätte den Einzug in Ragaltshöfen ja feierlicher haben können, wenn ich auf meinen Vater gehört und morgen in seiner Begleitung auf regulärem Wege eingetroffen wäre. Aber da ich gern wandere, zog ich es bei dem herrlichen Maiwetter vor, auf eigene Faust hinaus in die Ferne zu schweifen. Daß
ich durch Gewitter und Sturm im Schweinestall landen sollte, stand gewiß nicht in meinem Programm.« »Haben Sie sich denn bei dem Gewitter draußen nicht gegruselt?« fragte das zwölfjährige Mädchen, das neben seiner Mutter stand und Birgit genauso von oben herab musterte wie die Frau Mama. Ein überzüchtetes Treibhauspflänzchen, stellte der »Eindringling« rasch bei sich fest. Zart, farblos, gewiß über die Maßen verzögen und somit eine kleine Tyrannin. Nun, sie würde sich diese immer hübsch drei Schritt vom Leibe halten – genauso wie die herablassende - um nicht zu sagen anmaßende – Frau Baronin. »Gegruselt habe ich mich schon«, gab Birgit jetzt Antwort. »Wer tut das wohl nicht, wenn er auf freiem Feld schutzlos den Elementen preisgegeben ist.« »Da haben Sie recht, gnädiges Fräulein«, sprach nun der Verwalter, der sich bis dahin schweigend verhalten hatte. Birgit musterte ihn diskret und kam zu dem Ergebnis: Ein deutscher Recke, in dem das ritterliche Blut seiner Ahnen pulst. Stolz, mit starren Grundsätzen, verschlossen und schwierig zu behandeln. Als man am Tisch saß, stellte die kleine Irina eine Frage, die peinlich anmutete: »Wenn ihr hier einzieht, müssen wir dann fort?« fragte sie nämlich geradeheraus. Es flammte rot auf der Stirn des Bruders auf, die Baronin kniff die Lippen ein, und Birgit war peinlichst berührt. »Wie kommst du darauf?« gegenfragte sie nicht gerade freundlich. Doch bevor das Kind antworten konnte, tat es bereits die Mutter. »Irina macht, sich eben ihre eigenen Gedanken, Fräulein Holmsen. Ja, was ich noch fragen wollte: Sind Sie etwa den Weg von der Stadt hierher zu Fuß gekommen?« »Gewiß, Frau Baronin. Die zwölf Kilometer sind für eine gute Fußgängerin wie mich eine Kleinigkeit.« »So – ja. Wie mein Sohn mir sagte, hat er Ihnen das beste Zimmer oben angewiesen.«
»Das der Tochter des Hauses auch zusteht, Mama«, warf der Sohn kurz ein. »Hoffentlich fühlen Sie sich darin wohl, gnädiges Fräulein. In Fräulein von Tessau haben Sie eine angenehme Nachbarin.« »Das ganz bestimmt.« Ein warmer Blick ging zu dem jungen Mädchen hin, das wie ein verschüchtertes Hühnchen dasaß. Du armes Ding, dachte Birgit mitleidig. Du hast bei dieser hochfahrenden Dame und ihrer unerzogenen Tochter gewiß nichts zu lachen. Aber laß gut sein, wir Holmsen bringen schon frischen Wind in die verstaubte Atmosphäre. Zwar ist alles äußerst feudal ringsum, selbst ein würdiger Diener serviert bei Tisch, aber das kann ja auch sein, ohne daß man wie auf Spinnweben sitzt. Vornehmheit ist etwas, verehrte Frau Baronin, vor der jeder artig den Hut zieht, aber wenn sich ihr Überheblichkeit beimischt, hat sie die erwünschte Wirkung nicht. Die Dame saß denn auch da wie ein Mensch, den man schwer gekränkt hat, was zu einer ungezwungenen Unterhaltung gewiß nicht beitrug. So schleppte sich diese nur mühsam hin, und die Tochter des Hauses war froh, als das Mahl beendet war. »Nun, eine fröhliche Gesellschaft seid ihr hier gerade nicht«, sagte Birgit zu Erla, als man wieder unter sich war. »Wenn das immer so trist zugeht, dann tun Sie mir leid, Fräulein von Tessau.« »So arg wie heute war es sonst nicht, Fräulein Holmsen. Sie müssen bedenken, daß der Baron und seine Mutter sehr niedergedrückt sind, weil sie nicht wissen, was nun aus ihnen wird, ob sie überhaupt in Ragaltshöfen bleiben dürfen. Es war ein harter Schlag für sie, als Herr Ragalt so plötzlich starb und die Erben, seine beiden Töchter, die mit ihren Familien im Ausland leben, das Gut zum Verkauf anboten, weil sie mit ihm nichts anzufangen wußten. Kennen Sie übrigens die traurige Geschichte der Herrschaften da unten?«
»Flüchtig. Einzelheiten zu hören, würde mich interessieren.« »So hören Sie zu: Seit sehr langer Zeit sitzen die Barone Vörswelde auf ihrem Erbgut Weide, das einige Meilen jenseits der Stadt liegt. Das stattliche Erbe fiel stets dem ältesten Sohne zu, so auch dem jetzigen. Er lebte mit seinem jüngeren Bruder solange im besten Einvernehmen – « »Bis er heiratete und die Frau, auf ihren Geldsack pochend, Unfrieden stiftete«, warf Birgit trocken ein, und Erla sah sie verdutzt an. »Wie wissen Sie das denn?« »Wissen direkt nicht, ich kann es mir nur denken. Denn so was ist zu alltäglich um tragisch zu sein.« »Und doch ungemein tragisch für den, den es angeht.« »Das allerdings. Also graulte die Xanthippe die Angehörigen ihres Gatten mit allerlei Niedertrachten hinaus, stimmt’s?« »Ja. Sie gingen aber erst, als Herr Ragalt dem Baron die Verwalterstelle hier anbot: Er räumte ihnen sogar den einen Flügel im Herrenhaus ein, dessen Räume die Baronin mit ihren eigenen Sachen möblieren durfte.« »Und nun kommt mein böser Vater und jagt die Ärmsten hinaus«, lachte Birgit dazwischen. »Beruhigen Sie sich nur, Fräulein von Tessau, dafür ist mein Paps nicht unmenschlich genug. Er besitzt im Gegenteil ein Herz voll Güte. Außerdem hat der Baron den Vertrag, der ihm die Verwalterstelle auf ein weiteres Jahr sichert, in der Tasche. Mein Vater hat gegenüber dem Notar, der den Gutskauf vermittelte und auch den Vertrag des Verwalters aufsetzte, ausdrücklich betont, es bei der Erneuerung des Kontraktes zu belassen, wie er zu Lebzeiten des Herrn Ragalt war.« »Auch daß der Baron mit den Seinen weiter im Herrenhaus wohnen darf?« »Selbstverständlich. Es ist ja so geräumig, daß wir alle reichlich darin Platz haben und uns Wunderbar aus dem Weg gehen können, wenn wir dazu Lust verspüren. Wo
sollte die Familie wohl auch wohnen, da die beiden Beamtenhäuser von den Inspektoren, die außerdem noch die Eleven und den Rendanten in Pension haben, voll belegt sind? Die Herrschaften in ein Insthaus zu stecken, das geht wohl nicht gut an. Soweit ich den Baron beurteile, würde dem das nicht viel ausmachen, aber die Frau Mama rührte dann bestimmt der Schlag«, schloß sie lachend. »Das glaube ich auch«, seufzte Erla. »Es wird der Dame sowieso schon schwer genug ankommen, daß sie jetzt nicht mehr so unumschränkte Herrscherin im Hause sein kann wie zu Herrn Ragalts Zeiten. Sie ist nämlich sehr herrschsüchtig.« »Habe ich bereits gemerkt.« Birgit schnitt eine Grimasse. »Damit wird sie wahrscheinlich auch ein gut Teil zu den unerquicklichen Verhältnissen in Weide beigetragen haben und ihre verzogene Tochter mit. Wie werden Sie überhaupt im Unterricht mit der fertig, Fräulein von Tessau?« »Ganz gut. Denn daß sie lernt, dafür ist selbst die verblendete Mutter, die einen Abgott in Irina sieht. Außer den Schulstunden läßt sie diese überhaupt nicht von ihrer Seite, selbst das Schlafzimmer teilt sie mit ihr. Behandelt sie immer noch wie ein Baby, das man ängstlich vor jedem rauhen Hauch schützen muß. Daher kommt es wohl, daß Irina körperlich hinter anderen Kindern ihres Alters zurücksteht.« »Ja, für zwölf Jahre ist sie zu klein und schwächlich«, bestätigte Birgit. »Der Altersunterschied unter den Geschwistern ist wohl sehr groß?« »Achtzehn Jahre. Dazwischen gab es allerdings noch einen Sohn und eine Tochter, die beide starben. Und da Irina von Geburt an äußerst zart war, zittert die Mutter nun um ihr Leben und verzärtelt und verwöhnt sie über die Maßen. Außerdem pflegt man Nachkömmlinge ja allgemein zu verziehen.« »Oh, ja, damit sie zum Kreuz ihrer Mitmenschen werden. Ich jedenfalls kann so was Vergöttertes bis in den Tod nicht leiden und bringe daher dem Abgott Irina von vornherein
meine Abneigung entgegen. Schrumm!« »O weh, Fräulein Holmsen, damit werden Sie sich aber sehr unbeliebt machen. Denn nach Irinas Pfeife muß hier alles tanzen.« »Traurig genug. Lassen Sie gut sein, bald tanzen andere Götter hier. Und zwar ich als erster. Denn auch ich bin etwas wie ein Nachkömmling, meine Brüder sind nämlich acht und zehn Jahre älter als ich. Was sehen Sie mich denn so entsetzt an? Sie haben von mir nichts zu befürchten, nur allein die tyrannische Baronesse. Die sollte mir mal uneben kommen, dann hat sie aber auch schon eine Ohrfeige weg.« »Um alles nicht!« Erla hob abwehrend die Hände. »Mit dem Augenblick würde der Baron seine Sachen packen.« »Allein sein Schaden. Wenn ihm die Launen seiner verzogenen Schwester mehr wert sind als eine gesicherte Existenz, dann bitte sehr.« »Sagen Sie mal, Fräulein Holmsen, sind Sie wirklich – so – so – oder tun Sie nur so?« fragte Erla zaghaft, und die andere tat forsch: »Ich bin – so – so. Aber nicht gegen so ängstliche, brave Wesen wie Sie, sondern gegen Übeltäter. Da allerdings kennt mein Zorn keine Grenzen. Und nun husch, husch ins Körbchen! Werden wir leben, werden wir sehen.« Am nächsten Vormittag traf dann der Besitzer von Ragaltshöfen ein. Groß, breit und urgemütlich stand er da. Er gehörte zu den Menschen, die durch ihr bloßes Erscheinen zu dem Stoßseufzer Anlaß geben: Jetzt ist er da, jetzt wird alles gut. »Da bin ich«, brummte er in seinem gemütlichen Baß. »Ergebensten Diener, Frau Baronin, guten Tag, Herr Baron. Wer diese junge Dame ist, ahne ich allerdings nicht.« »Die Lehrerin meiner Schwester, Fräulein von Tessau.« »Grüß Gott, gnädiges Fräulein. Da wird sich meine Tochter aber freuen, daß sie an Ihnen eine gleichaltrige Gefährtin hier hat. Also ist das Pusselchen da Ihre Schülerin?«
»Ganz recht, Herr Holmsen.« »Na schön, damit wäre die Bekanntschaft bewerkstelligt. Und wo steckt meine Tochter?« Das wußte keiner zu sagen. Die Baronin bat Platz zu nehmen, er tat es und lachte alle der Reihe nach an. Wie sich Birgit hier eingeführt hätte, wollte er dann wissen. Als der Baron es ihm ausführlich geschildert hatte, lachte er schallend. In dem Moment trat Birgit ein* »Tag, Paps, worüber freust du dich denn so?« »Weil Schadenfreude nun mal die reinste Freude ist, Marjellchen.« »Dann weißt du-?« »Hm – ich weiß. Flügelchen gestutzt?« »Von dem bißchen? Ich bin doch deine Tochter, die sobald nichts erschüttern kann.« »Wohl dir, mein Mädchen. Hast du den Herrschaften schon erzählt -?« »Nein, das überlasse ich dir.« »Sehr bequem. Also setz dich hin, und dann wollen wir uns alle mal gemütlich unterhalten. Bleiben Sie hier, gnädiges Fräulein«, sagte er freundlich, als Erla sich erhob. »Geheimnisse gibt’s keine. Und außerdem gehören Sie doch wohl zur Familie. So, meine Herrschaften. Da ich kein Freund von langen Erklärungen bin, pflege ich mich kurz zu fassen. Ergo: Es soll hier alles so bleiben wie es ist. Was Ihr Vertrag ja auch verbrieft und versiegelt, Herr Baron. Nur daß es Zuwachs durch meine Tochter gibt, die sich hier als Rendantin niederlassen wird. Dann hört der ewige Wechsel mit den nichtsnutzigen Leutchen auf, und alles ruht in zuverlässigen Händen. Dehn von dem Kram versteht meine Birgit was, sonst wäre auch das Geld für die höhere Handelsschule hinausgeworfen. Also halte die Ohren steif, Marjellchen, und mach mir keine Schande.« »Jawohl, Herr Chef!« »Nun, der ist in diesem Fall doch wohl der Herr Baron«, schmunzelte er. »Daher steh dich gut mit deinem
Vorgesetzten. Wenn er dich mal herunterpudelt, dann legst du hübsch die Ohren an und sagst dir: Dienst ist Dienst. Verstanden? So, das wäre alles, was ich zu verkünden hätte. Hier haben Sie meine Hand, Herr Baron, schlagen Sie ein, Manneswort zu Manneswort, dann klappt der Laden schon.« Zwei nervige Männerhände umschlossen sich mit festem Druck, dann legte Holmsen sich behaglich im Sessel zurück. »Ist das nicht zu wenig, was Sie meinem Sohn zu sagen haben, Herr Holmsen?« fragte die würdige Dame, und er lachte. »Das genügt doch, Frau Baronin.« »Sie kennen meinen Sohn doch gar nicht.« »Nicht vom Sehen, aber vom Sagen. Mein Vater und der Vorbesitzer hier waren nämlich die besten Freunde, und so ging ich denn schon als Junge in Ragaltshöfen aus und ein. Beinahe hätte ich auch eine Ragalttochter geheiratet, aber sie wollte mich nicht«, setzte er vergnügt hinzu. »Sie nahm lieber einen anderen und folgte ihm ins Ausland, ihre Schwester tat dergleichen – und ich ging nicht an gebrochenem Herzen ein. Und das nahm mir mein lieber Onkel Ragalt so krumm, daß er mich nicht nur beschimpfte, sondern sogar handgreiflich wurde, was ich nun wieder krumm nahm. Er war und blieb auch fernerhin von dem Wahn besessen, daß ich seine Töchter aus dem Land gejagt hätte. So wurde denn aus Freundschaft eine Feindschaft, die Ragalt direkt hätschelte. Ragaltshöfen blieb mir fortan verschlossen. Ich betrat es nach einunddreißig Jahren heute wieder zum erstenmal - und zwar als Besitzer. Die armen >Verjagten< überließen mir käuflich ihr Erbe nur zu gern, wie mir der Notar, der die Sache vermittelte, schmunzelnd mitteilte. Sie hätten für die fixe Idee ihres Vaters nie Verständnis gehabt und hofften, mir mit Überlassung ihres Väterlichen Genugtuung zu verschaffen. Nun, ich habe die Genugtuung, sie haben das Geld, somit ist beiden Teilen
geholfen«, schloß er lachend. »Aha, nun weiß ich auch, warum du Ragaltshöfen kauftest – nur um deine Genugtuung zu haben«, fiel die Tochter fröhlich in sein Lachen ein. Er besah sie sich zuerst mit väterlichem Stolz und zwinkerte ihr dann verschmitzt zu. »Vielleicht wirst du einmal von dieser Genugtuung profitieren, mein kleiner Speilzahn. Und ich habe mir hiermit zuerst einmal ein wundervolles Buen Retiro geschaffen und einen Alterssitz, wenn ich mich zur Ruhe setzen will. Ist nun alles klar zwischen uns, Herr Baron?« »Soweit ja, Herr Holmsen. Es steht nur noch die Frage offen, ob das Fräulein Tochter bei uns verpflegt werden soll oder ob es eigene Küche führen will.« »Na, das wäre! Sie ist hier weiter nichts als Rendantin, das Fräulein Birgit Holmsen und kommt hier in Pension. Allerdings werden auch wir andern Holmsen uns mit wenigen Ausnahmen geschlossen zum Wochenende einfinden. Wird es da gehen, daß wir alle aus einem Topf essen?« »Das ist doch selbstverständlich.« »Und die Mehrarbeit?« »Spielt keine Rolle. Man stellt dann eben noch eine Kraft mehr ein.« »Na schön. Aha, da ruft’s zur Futterkrippe. Habe auch schon einen Bärenhunger.« Es wurde ein fröhliches Mahl, was allerdings nur Vater und Tochter zuzuschreiben war. Ohne sich um die beleidigte Miene der Baronin zu kümmern, sprach man frisch drauflos. Man zog auch immer wieder Fräulein von Tessau ins Gespräch, während man Irina, die oft recht patzige Bemerkungen machte, überhaupt nicht beachtete. Und das kränkte das Mutterherz tief. Nach dem Essen gingen die Herren durch die Wirtschaft und Birgit schloß sich ihnen an. Man konnte sagen, daß überall vorbildliche Ordnung herrschte. Holmsen kargte nicht mit Lob, das der Verwalter verlegen entgegennahm.
Als sie dann vor den Rassepferden standen, wandte sich der Vater schmunzelnd der Tochter zu. »Ich spüre deine bettelnden Blicke bis in der großen Zehe, Marjellchen. Also, Herr Baron, suchen Sie bitte meiner Tochter ein geeignetes Reitpferd aus, nach dem schon längst ihr Sinnen und Trachten geht. Aber das sage ich dir, mein Kind, sofern du waghalsig werden willst, kommst du an die Kandare, verstanden?« »Jawohl.« »Geht in Ordnung. Auch bei Ihnen, Herr Baron. Haben Sie noch wichtige Fragen zu stellen?« »Nein. Ich möchte Ihnen nur für Ihr Vertrauen danken, Herr Holmsen.« »Was Sie auch verdienen, mein lieber Freund. Ich weiß besser über Sie Bescheid, als Sie ahnen«, setzte er lachend hinzu. »Denn um blind zu vertrauen, dafür bin ich denn doch zu sehr Kaufmann.« Die heue Rendantin nahm ihre Arbeit mit großem Eifer auf und mußte bald feststellen, daß auch hier alles in Ordnung war. Das gab ihr zu denken. Denn soviel sie wußte, hatten vier ihrer Vorgänger so vollkommen versagt, daß sie nach kurzer Zeit entlassen wurden. Sie grübelte jedoch nicht lange herum, sondern fragte den ersten Inspektor aus, als er einmal dienstlich in der Rentmeisterei erschien. »Ja, gnädiges Fräulein, das war nun schon eine verflixte Schweinerei.« Der biedere Mann kratzte sich den Kopf. »Pech am laufenden Band hatten wir in den letzten Monaten mit den Jünglingen und Maiden, die hier ihres Amtes walten sollten. Den beiden Burschen steckten die Mädchen im Kopf, den Fräuleins unser schneidiger zweiter Inspektor und die Eleven. Da blieb für die Arbeit wenig Zeit übrig. Zuerst ließ der Baron sie ungehindert herumwurschteln, nahmen sie an – in Wirklichkeit jedoch war er schwer paßauf. Und wenn die Herrschaften sich am meisten in Sicherheit wiegten, erschien er plötzlich in seiner gelassenen Art, revidierte die Bücher – und dann nuscht wie raus mit der faulen Bande! Dann saß er
während seiner Freistunden hier am Schreibtisch und brachte in Ordnung, was die Pflichtvergessenen verbockten. So ging es viermal – aber jetzt kommt ja wohl Zug in die Kolonne, was, gnädiges Fräulein?« »Will ich meinen«, lachte sie fröhlich mit ihm. »Jetzt wird der Herr Baron es bestimmt nicht mehr nötig haben, seine wohlverdienten Freistunden zu opfern. Allerdings werde ich ihn in erster Zeit noch viel mit Fragen belästigen müssen. Wenn ich auch bereits im Betrieb meines Vaters gearbeitet habe, so ist in der Landwirtschaft doch manches anders. Aber ich hoffe, mich bald so gut einzuarbeiten, daß ich ohne Hilfe vorankomme.« »Werden Sie das auch wirklich alles allein schaffen, gnädiges Fräulein?« fragte der Brave treuherzig. »Es gibt doch so allerlei Schreibkram.« »Den bewältige ich schon.« »Hm. Haben Sie es denn eigentlich nötig zu arbeiten?« »Nötig nicht, Herr Inspektor«, gab sie amüsiert zur Antwort. »Aber was zu tun muß der Mensch doch haben, sonst kommt er auf schlimme Gedanken.« »Sagen Sie das nicht. Ich kenne Gutsfräuleins, die nichts weiter tun als reiten, sofern sie das können, Tennis spielen, in Konditoreien, Kinos und Theater fahren, im Sommer faul wie die Robben am Wasser liegen und so weiter. Und gerade sind es diejenigen, deren elterlicher Besitz bedenklich wackelt.« »Es ist dann traurig genug, so ein Drohnendasein zu führen. Ich hoffe indes stark, daß ich mir trotz Arbeit erwähnte Vergnügen verschaffen kann. Man muß sich nur die Arbeit richtig einteilen, dann bleibt einem schon Freizeit übrig. Habe ich recht?« »Und wie, gnädiges Fräulein! Ich spüre schon, es weht hier der richtige Wind.« Lachend trennte man sich und kaum, daß der Inspektor gegangen war, trat der Verwalter ein. »Kommen Sie, um zu revidieren, Herr Baron?« fragte sie spöttisch, und gelassen kam es zurück:
»Ja. Denn schließlich sind Sie Anfängerin, gnädiges Fräulein.« Als er wie selbstverständlich am Schreibtisch Platz nahm und nach den Büchern griff, wollte sie empört auffahren, besann sich jedoch noch rechtzeitig und »legte die Ohren an«, wie der Vater ihr geraten hatte. Sie schwieg auch, als er sie auf diesen und jenen Fehler aufmerksam machte, sah ihn jedoch dabei so böse an, daß ein Lächeln seinen Mund umzuckte. »Feierabend!« kam da eine lachende Stimme von der Tür her. Sie fuhren herum – und schon lief Birgit auf eine Dame zu. »Muttilein, Mutz!« jubelte sie, ihr Gegenüber stürmisch umhalsend. »Wie schön, daß du da bist!« »Sehnsucht gehabt, Liebling?« »Dazu hatte ich bei der vielen Arbeit gar keine Zeit. Darf ich bekannt machen: Baron von Vörswelde – meine Mutter.« Die überaus charmante, noch so jugendlich wirkende Frau reichte dem Mann mit einem gewinnenden Lächeln die Hand, über die er sich artig beugte. »Revision etwa?« Sie zeigte auf die aufgeschlagenen Bücher. »Nun, die braucht mein gewissenhaftes Mädchen nicht zu fürchten – oder doch?« »Gewiß nicht, gnädige Frau. Das Fräulein Tochter hat sich in der einen Woche schon erstaunlich gut eingearbeitet.« »Mir hat er vorhin ganz was anderes gesagt«, brummte Birgit, und die Mutter lachte. »Wahrscheinlich will der Herr Baron mich in meiner Muttereitelkeit nicht kränken.« »Bist du in deinem Auto gekommen, Mutti?« »Ja, mein Kind. Da auch Paps und Wido um die Kaffeezeit hier einzutreffen gedenken, hat man mich vorgeschickt, um Quartier zu machen. Und da ich nicht so abenteuerlustig bin wie du, so ging meine Antrittsvisite hier auch nicht so abenteuerlich vor sich. Jedenfalls sauste ich nicht durch Gewitter und Sturm in den Schweinestall, sondern ging
hübsch brav bei Sonnenschein dahin, wo ich durch das geöffnete Fenster eine sonore Männerstimme und das bekannte Organ meines Töchterleins hörte«, schloß sie mit einem spitzbübischen Blick auf Birgit, die eine Grimasse zog. »Ist doch nur gut, geliebte Mutz, daß du dich über mich amüsieren kannst.« Während sie die Bücher vom Schreibtisch wegräumte, wechselte Frau Gina einige höfliche Worte mit dem Baron, in dessen Verlauf sie auch die Frage stellte: »Hoffentlich wird der Besuch Ihrer Frau Mutter nicht zu viel werden?« »Bestich, gnädige Frau? Es ist doch Ihr Haus!« »Sind Sie aber gründlich.« »Das ist er«, warf Birgit rasch dazwischen. »Leider auch bei meinem Kram hier.« Das klang so kläglich, daß man lachen mußte, und somit war eine Angelegenheit, die für alle Teile peinlich hätte werden können, harmlos überbrückt. Man ging zum Herrenhaus hinüber, wo die Baronin, von dem Eintreffen Frau Holmsens in Ragaltshöfen bereits unterrichtet, diese steif und förmlich willkommen hieß. »Ich bin nur die Vorhut«, erklärte Gina liebenswürdig. »Mein Mann und mein Sohn kommen in einigen Stunden nach. Wo ist denn das Töchterchen?« »Es hat Schulstunde wie stets am Vormittag. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?« »Danke, ich halte bis zum Mittagessen noch gut aus. Aber ein wenig frisch machen möchte ich mich.« »Dann komm, Mutti, ich habe bereits Zimmer für euch ausgesucht. Hast du übrigens meinen großen Koffer mitgebracht?« »Habe; ich. Also empfehlen wir uns einstweilen.« Die Räume waren recht behaglich, die Birgit für die Eltern hatte instandsetzen lassen. Ein weites, helles Schlafgemach, hinter einer Portiere der Ankleideraum und ein lauschiges Stübchen zum Verweilen.
»Gefällt dir dein Wochenend- und Ferienheim, Mutz?« »Sehr, mein Kind. Hier werde ich mich wohl fühlen können und unser Paps wird es bestimmt auch.« Sie öffnete die breite Glastür und trat auf den Altan hinaus. Entzückt ließ sie die Blicke über den Park schweifen, über die gepflegten weiten Rasenflächen, über blühende Blumen und Sträucher. »So wunderschön hätte ich mir Ragaltshöfen nicht gedacht, Birgit. Es ist ja ein wahres Buen Retiro für uns Stadtmenschen. Wenn es unsern Lieben hier ebenso gut gefällt wie mir, dann werden wir oft erscheinen, mindestens zu jedem Wochenende.« »Das freut mich, Mutti. Doch nun reiße dich von dem berauschenden Anblick los, und mach dich frisch! In zwanzig Minuten gibt es nämlich Mittag.« »So früh wird hier gespeist?« »Ja, um zwölf Uhr. Gemeinsames Frühstück um acht, Kaffee um drei, Abendessen um sieben. Alles pünktlich nach der Uhr, damit der Baron während der Arbeitspausen in Ruhe essen kann. Er hält sehr auf Ordnung.« »Das merkt man hier an allem. Ein Glück für uns, daß Ragaltshöfen einen so tüchtigen pflichtbewußten Verwalter hat. Ah, da steht ja bereits mein Koffer«, nickte sie befriedigt, als sie wieder das Zimmer betraten. »Habe gar nicht gemerkt, daß jemand hier hereinkam, während wir auf dem Altan standen.« »Dann war es gewiß der Musterdiener Jost«, lachte Birgit. »Der hat eine wunderbare Art, sich fast geräuschlos zu bewegen.« »Etwa in schlechtem Sinne?« »Wo denkst du hin, Mutz! Der ist die Lauterkeit in Person. Ein Inventarstück der Vörswelde, der seinem Liebling Odalf hierher folgte, als es in Weide krachte.« »Weißt du Näheres darüber?« »Ja, von Fräulein von Tessau. Ich erzähle es dir später. Jetzt muß ich an meinen äußeren Menschen denken, daher
verschwinde ich. Am Ende des Ganges ist übrigens ein Bad, wahrscheinlich für Gäste bestimmt.« »Davon werde ich abends mit Vergnügen Gebrauch machen.« »Na schön. Gehab dich wohl! Wenn es gongt, hol ich dich ab.« Zehn Minuten später betraten sie das Speisezimmer, wo Frau Holmsen nun auch Erla und Irina begrüßte. Erstere gefiel ihr gut, die andere nicht, wovon sie natürlich nichts merken ließ, obwohl ihr die dreiste, schnippische und vorlaute Art des Kindes auf die Nerven fiel. Das Mahl, welches der würdige Diener Jost servierte, war vorzüglich. Es gab zu Ehren Frau Holmsens einen Wein, bei dem Vorsicht geboten sein mußte. Als Irina in Befehlston auch ein Glas davon verlangte, sah Frau Gina sie so erstaunt an, daß dem Baron das Rot der Beschämung in die Stirn stieg und selbst die Mutter davon abließ, der Forderung des vergötterten Lieblings Folge zu leisten. Als dieser empört aufmucken wollte, traf ihn ein so drohender Blick des Bruders, daß die sonst so patzige Kleine es doch lieber vorzog, still maulend zu verharren. Den Hauptteil der Unterhaltung trug Frau Holmsen in ihrer charmant-liebenswürdigen Art. Sie hatte es glänzend heraus, auch dem oberflächlichsten Gespräch eine besondere Note zu geben. Oft perlte ihr Lachen in das der Tochter hinein zu einem fröhlichen Duett, wie es in dem feudalen Gemach wohl noch nie erklungen war. Man merkte nämlich darin in allem, daß die humorlose, überhebliche Frau Baronin Vörswelde hier residierte. Nach dem Essen trank man den Mokka in dem anstoßenden Gemach. An den Wänden hingen Bilder der Vorfahren des alten Geschlechts und gaben schon deshalb dem Raum ein seltenes Gepräge. Echte Teppiche, schwellende Polstermöbel, die silberne Kaffeemaschine, das feine Porzellan, echte Gediegenheit überall, hier sowie auch im Speisezimmer. Ein Glück für die Baronin, daß sie wenigstens ihr
persönliches Eigentum hinüberretten durfte aus den Trümmern einstiger Herrlichkeit. So war es ihr wenigstens vergönnt, sich damit ein sehr wertvolles Heim zu schaffen, und das bedrückende Gefühl, unter fremden Sachen leben zu müssen, blieb ihr erspart. Als der Mokka genippt war, zogen sich die Damen Holmsen in Birgits Zimmer zurück. »Schön hast du es hier, mein Kind«, sagte die Mutter erfreut. »Selbst das Bett stört nicht, es paßt mit seinen duftigen Vorhängen hinein in die lichte, sonnendurchflutete Pracht. Sogar ein kleiner Flügel steht darin in Weiß und Gold. Da lacht wohl dein musikliebendes Herz, mein Kleines, nicht wahr?« »Ja, geliebte Mutz, ich fühle mich hier pudelwohl. Wie mir Fräulein von Tessau erzählte, bewohnte dieses traute Gemach eine Ragaltstochter vor ihrer Verheiratung, das danebenliegende gehörte der anderen.« »Wer wohnt jetzt darin?« »Fräulein von Tessau.« »Wie nett für dich, Birgit, da hast du liebwerte Nachbarschaft. Bildhübsch ist die kleine Lehrerin und sicherlich auch von untadeligem Charakter. Nur zu bescheiden, beinahe schon verschüchtert. Wo ist sie überhaupt geblieben? Nach Aufhebung der Tafel sah ich sie nicht mehr.« »Wahrscheinlich sitzt sie nebenan und bläst Trübsal. Will sie mir gleich mal angeln.« Sie öffnete die Tür und rief lachend: »Natürlich wieder ein Buch in der Hand, die kleine Gelehrte. Lassen Sie ab davon, und treten Sie hier ein.« »Ich fürchte zu stören, Fräulein Holmsen.« »Wir fühlen uns nicht so leicht >gestört<, Sie überbescheidenes Mägdlein. Angetreten marsch, marsch!« »Kommen Sie her, mein Kind, und nehmen Sie Platz«, sagte Frau Holmsen herzlich zu dem Mädchen, das nun mit verlegenem Lächeln im Zimmer stand. »Wir wollen uns mal gemütlich unterhalten. Hast du die süße Schachtel
gefunden, die ich obenauf in den Koffer legte, Birgit?« »Jawohl, Mutti, herzlichen Dank.« »Dann bring’ sie her, und teile mit uns.« Dazu war die Tochter gern bereit. Ein Stück nach dem andern verschwand in den Leckermäulchen, zu denen auch Frau Gina gehörte. Man plauderte dabei vergnügt, und langsam wurde Erla zutraulich. Durch geschickte Fragen bekam Frau Holmsen das heraus, was sie gern wissen wollte. Nun tat ihr das Mädchen von Herzen leid. »Sind Sie als Lehrerin der schwierigen Irina nicht zu jung, Fräulein von Tessau?« »Mit meinen zweiundzwanzig Jahren eigentlich nicht, gnädige Frau.« »Also doch schon zwei Jahre älter als meine Tochter. Trotzdem sind Sie viel zu jung für das anmaßende Persönchen, das unter die Fuchtel einer echten Gouvernante gehört. Ist die Kleine übrigens krank? Sie sieht doch so blaßschnäbelig und verdrossen aus.« »Krank direkt nicht, aber sehr zart von Geburt an. Und da die Baronin zwei Kinder durch den Tod verlor, hütet sie dieses jüngste nun mit Überängstlichkeit.« »Kann man verstehen. Aber ob sie der Tochter damit einen Gefallen tut? So fanatisch behütete Kinder pflegen sich zu rechten Tyrannen auszuwachsen, von denen sich wiederum die Menschen ängstlich zurückziehen. Denn Launenhaftigkeit und krasser Egoismus fallen selbst dem Sanftmütigsten und Edelmütigsten mit der Zeit auf die Nerven.« »Ich darf eben keine Nerven haben, gnädige Frau.« »Kind, wie klingt das resigniert. Es gibt doch auch andere Stellen.« »Nein, bitte nicht.« Das Mädchen wehrte ängstlich ab. »Mir geht es hier ja nicht direkt schlecht. Während der Unterrichtsstunden werde ich ganz gut mit Irina fertig, zumal ihr das Lernen seltsamerweise Freude macht, und außerhalb der Stunden habe ich nichts mit ihr zu tun.« »Wird es Ihnen da nicht langweilig?«
»Nein, ich bin seit jeher an das Alleinsein gewöhnt. Meine Verwandten, bei denen ich aufwuchs, haben mich nie zu sich herangezogen.« »Armes Kind. Na lassen Sie nur, jetzt ist meine Tochter da, mit der Sie gute Kameradschaft halten können.« »Darüber bin ich ja auch so glücklich, gnädige Frau. Ich habe in der vergangenen Woche schon so viel gelacht, wie Jahre vorher nicht.« »Hörst du, Birgit? Hier kannst du Freude säen, die auf dankbaren Boden fällt.« »Aber dann bitte ich mir auch eine gute Ernte aus«, kam die Antwort fröhlich. »Und da ein Boden gedüngt werden muß, so greifen Sie nur ausgiebigst in die süße Schachtel hinein, Fräulein von Tessau. Soweit ich meinen Paps kenne, sorgt der bestimmt für Nachschub.« »Ich finde Herrn Holmsen wunderbar«, bekannte Erla treuherzig und schaute dann erschrocken drein, als Frau Holmsen lachend sagte: »Kind, Sie wollen ihn mir doch nicht womöglich abspenstig machen?« »Aber gnädige Frau – bitte – so doch nicht«, stotterte sie blutrot vor Verlegenheit. »Das ist doch sicherlich nur ein Scherz?« »Will ich meinen, Sie kleiner Hasenfuß. Aber Sie haben recht, mein Mann ist tatsächlich wunderbar.« »Nun hören Sie sich bloß meine Mutz an. Schwärmt wie eine sentimentale Braut.« »Und das ist schön«, kam es Erla so recht aus tiefstem Herzensgrund. »Einen Menschen lieb haben dürfen, nichts Beglückenderes kann ich mir denken.« Gerührt schaute Frau Gina auf das geneigte Köpfchen des einsamen Menschenkindes und strich dann liebkosend darüber hin. »Das werden Sie bestimmt auch einmal dürfen, mein liebes Kind«, sprach sie sehr herzlich. »Und nun wollen wir nicht sentimental werden. Immer lachen und fröhlich sein, dann erträgt man das Leben viel leichter, als wenn man es zu
ernst nimmt. Ob lachen oder weinen, an seinem Geschick ändert man ja doch nichts. Daß Sie sich vorher einsam hier fühlten, kann ich verstehen. Ich verstehe nur nicht, weshalb sich die Baronin nicht mehr Ihrer annimmt, daß sie ein so junges Menschenkind sich allein überläßt.« »Oh, ich bin so gern hier oben für mich allein«, erklärte das Mädchen leise. »Unten wäre ich doch nur der Herrschsucht Irinas ausgesetzt. Und tut man nicht, was die Tochter will, erzürnt man die Mutter.« »Unglaublich! Was sagt nun der Baron zu seiner anmaßenden Schwester? Ich schätze ihn nämlich als gerechtdenkend ein.« »Das ist er auch. Aber wenn er Irina scharf zurechtweist, ist seine Mutter so schwer gekränkt, daß sie tagelang kein Wort mit ihm spricht. Einmal war es so arg, daß die Frau Baronin ein Hausmädchen entlassen wollte, weil dieses Irina wegen einer Ungezogenheit anfuhr. Als jedoch Ihr Sohn dahinter kam, ging es hart auf hart. Das Mädchen blieb – aber auch eine schwüle Stimmung im Hause, die sich nur nach und nach verlor.« »Na, mir sollte das Gör mal frech kommen, dann hat’s aber gebumst«, empörte Birgit sich. »Das scheint ja der rechte Schrecken hier zu sein. Und die Frau Baronin sollte mich mal zurechtweisen, weil ich vor dein Abgott nicht anbetend in die Knie sinke, dann...« »Dann wirst du hübsch artig bleiben, wie es sich für ein junges Mädchen einer älteren Dame gegenüber gehört«, unterbrach die Mutter sie mit freundlicher Gelassenheit. »Ich will mir nämlich nicht nachsagen lassen, daß ich meine Tochter schlecht erzogen habe, nicht wahr, mein Kind?« Birgit brummte etwas, worauf die Mutter sie zu sich heranzog und herzlich küßte. »So, mein Kind, somit wären wir uns wieder einmal einig. Setz dich an den Flügel, und spiel uns etwas vor!« Wenn auch nicht gern, so doch ohne zu murren, kam die
Tochter dem Wunsch der Mutter nach. Ein Gewirr von Melodien klang unter den geübten Fingern auf, bis sich eine klare herausschälte und die Lippen den Text formten: »Durch Gewitter und Sturm…« »Ja, Birgit, was fällt dir denn ein«, lachte die Mutter herzlich dazwischen. »Gewitter und Sturm – wo draußen die Maisonne strahlt.« »O Sonnenschein, o Sonnenschein, wie scheinst du mir ins Herz hinein, weckst drinnen lauter Liebeslust, daß mir zu eng wird die Brust«, jubelte nun die herzwarme Stimme hinaus. Man hatte oben keine Ahnung, daß Herr Holmsen nebst Sohn bereits eingetroffen war und in der Diele von dem Baron begrüßt wurden. »Und enge wird mir Stub und Haus, und wenn ich lauf zum Tor hinaus, dann lockst du gar ins frische Grün die allerschönsten Mädchen hin.« »Aha, unsere kleine Nachtigall dehnt ihre Kehle«, schmunzelte Holmsen sen. Ganz still standen die drei Herren und lauschten andächtig, wie es da oben jubelte und lockte in süßseliger Schelmerei »O Sonnenschein du glaubst es wohl, daß ich wie Du es machen soll, der jede schmucke Blume küßt, die eben erst sich dir erschließt, hast doch so lang die Welt erblickt und weißt, daß sich’s für mich nicht schickt, was machst du mir denn solche Pein o Sonnenschein...« Man hörte jetzt oben Beifall klatschen. Da legte Wido
Holmsen die gewölbten Hände an den Mund und schmetterte ein Motiv in die Gegend, auf das die gesamte Familie zu regieren pflegte. Sofort öffnete sich oben eine Tür, laufende Schritte den Gang entlang, die Treppe hinunter, und Birgit umfaßte Vater und Bruder mit je einem Arm. »Man immer sachte, du Irrwisch, du wirst dir sonst bestimmt noch einmal die Beinchen verrenken«, schmunzelte Martin Holmsen. »Ah, da naht auch die geliebte Mutz. Sei mir gegrüßt, mein holdes Weib!« Froh begrüßte man sich und ging dann zur Terrasse, wo bereits der Kaffeetisch gedeckt war. Die Baronin, die nun auch den ältesten der Holmensöhne kennenlernte, mußte feststellen, daß er das verjüngte Ebenbild seines Vaters war. Man konnte ihn mit einem lieben, netten Kerl bezeichnen, der keiner Fliege etwas zuleide tat. Ein blonder Hüne mit einem weichen Herzen – aber auch von unnachsichtiger Strenge und Beharrlichkeit, wenn es sein mußte. Also auch charakterlich genauso wie sein Vater. »Wo ist denn die kleine reizende Lehrerin?« fragte dieser, als man schon einige Minuten an der Kaffeetafel saß, und die Baronin entgegnete gleichmütig: »Wahrscheinlich gongte der Diener nicht, weil er uns allesamt auf der Terrasse glaubte und so weiß das Fräulein nicht, daß wir bereits Kaffee trinken. Außerdem kann sie, wenn Gäste im Hause sind, ruhig auf ihrem Zimmer essen. Schließlich ist sie nur eine Angestellte.« »Du scheinst vergessen zu haben, daß Fräulein von Tessau das Recht auf Familienanschluß hat, Mama«, sprach der Sohn nun kalt in die peinliche Stille hinein. »Geh, Irina, und hol die junge Dame her. Das wirkt freundlicher, als wenn wir den Diener schicken.« »Vielleicht braucht sie sogar eine schriftliche Einladung«, bemerkte die Kleine patzig, ohne sich zu rühren. Sie bequemte sich erst, als des Bruders Blick auf ihr ruhte, der gewiß nichts Gutes verhieß. Maulend und aufreizend langsam schob sie davon, dann hörte man wenig später
ihre durchdringende Stimme von der Diele her: »Fräulein von Tessau, runter kommen, Kaffee trinken!« Da sprang Birgit auf, eilte davon und kam dann bald wieder, die verlegene Erla am Arm. »Das Mädchen hier war sehr erstaunt, als ich sagte, daß wir schon lustig kaffee’n. Darf ich bekannt machen: Mein Bruder Wido – Fräulein von Tessau.« Wie fasziniert schaute Erla in die lachenden blauen Augen des Mannes hinein, der sich artig vor ihr verneigte. Auch Holmsen sen. war aufgestanden, gleichfalls der Baron. Erst als die junge Dame Platz genommen hatte, setzten auch sie sich wieder. Man plauderte frisch drauflos, um Erla Zeit zu lassen, ihrer Verlegenheit Herr zu werden. Dann jedoch zog man sie immer wieder ins Gespräch, obwohl man merkte, daß die Baronin pikiert darüber war. Mochte sie nur, was ging das die Familie Holmsen an? Sie war von der hochfahrenden Dame nicht abhängig – Gott sei Dank! Nachdem der Kaffee getrunken war, äußerte Wido den Wunsch, das Gut zu besichtigen. Seine Angehörigen schlossen sich ihm an, und nun wußte Erla nicht, wie sie sich verhalten sollte. Also schob Birgit den Arm unter den der Zaghaften. »Sie kommen doch mit, Fräulein von Tessau?« »Wenn ich nicht störe, dann gern.« »Mutti, hör dir das bloß an«, lachte die Tochter. »Vorhin erst haben wir ihr klargemacht, daß wir nicht so leicht >gestört< sind, und nun wärmt dieses fast demütig anmutende Wesen die Angelegenheit wieder auf.« »Oho, Bescheiden ist zwar eine Zier, mein gnädiges Fräulein, aber Sie wissen ja, wie es weiter geht«, zwinkerte Holmsen sen. ihr vergnügt zu. »Gehen wir also. Begleiten Sie uns, Herr Baron?« »Bitte mich zu entschuldigen, Herr Holmsen, weil ich noch etwas Dringendes zu erledigen habe. Wenn das geschehen ist, komme ich sofort nach.« »Na schön, gehen wir vor.«
Als sie sich entfernt hatten, trat Odalf Vörswelde in aller Gelassenheit auf die Schwester zu und schlug ihr ins Gesicht. »So, mein Kind, das war die erste Ohrfeige deines Lebens. Weitere folgen ohne Erbarmen, sofern du dich noch einmal so unerhört benimmst. Zwar fühle ich ein Widerstreben, kleine zarte Mädchen zu ohrfeigen, aber da diese Zartheit bei dir nur äußerlich besteht, während du es innerlich mit jedem robusten Tunichtgut aufnehmen kannst… Ruhig, Mama!« gebot er kurz, als diese empört auffahren wollte. »Merkst du denn gar nicht, daß Familie Holmsen bereits Front gegen uns macht, weil Irina in ihrer unverschämten Art ihnen auf die Nerven fällt? Soll ich eines ungezogenen Kindes wegen etwa meine gute, gesicherte Stellung verlieren und wir dann auf der Straße sitzen? Geh in dich, bevor es zu spät ist, und faß Irina streng an.« »Ich soll, nur weil es diesen Menschen so paßt, mein Kind prügeln?!« Nun schlug die Empörung über der Mutter zusammen. »Das kannst du doch wohl nicht im Ernst von mir verlangen, Odalf. Und wenn du schon deinen Posten hier aufgeben müßtest, so gibt es noch andere.« »Aber keinen so selbständigen und gutbezahlten wie hier«, unterbrach er sie scharf. »Außerdem sind die Stellen für landwirtschaftliche Beamte sehr rar, das weißt du ebenso genau wie ich. Hast ja erfahren, wieviel Mühe es kostete, nach Ragaltshöfen zu kommen. Und dann würde es überall, wohin wir auch kämen, gleichfalls Ärger wegen Irina geben. Denn kein Mensch hat es nötig, sich von einem Kind Frechheiten bieten zu lassen. Das dir, Mama. Und dir, meine liebe Schwester, möchte ich folgendes klarmachen: Sofern ich noch einmal erfahre, daß du deiner Lehrerin gegenüber ungezogen bist, dann strecke ich dich übers Knie und verprügele dich, wie du es nicht besser verdienst. Nimm dich nur in acht! Fräulein von Tessau hat an Fräulein Holmsen nämlich einen so starken Rückhalt, der jedes Unrecht von ihr abwehrt. Und wenn du
dich bei Tisch nicht manierlich benehmen kannst und willst, so ißt du fortan auf deinem Zimmer, merke dir das.« »Na, das werden wir doch mal sehen!« schrie die Mutter den Sohn an, der noch nie so rücksichtslos mit ihr gesprochen hatte, zornig an. »Meine Tochter aus meinem Speisezimmer verbannen zu wollen, das spottet doch nun wirklich jeder Beschreibung. Eher bleiben die andern dem Raum fern.« »Also gut, Mama. Wenn du auf dem Standpunkt stehst, dann ist es wohl besser, dich von Ragaltshöfen zu entfernen. Ich werde dir in der Stadt eine kleine Wohnung mieten, wo du deinen Abgott immer weiter verziehen kannst. Erst soll dir das zur Warnung dienen, beachtest du diese nicht, werde ich handeln. Du weißt, daß ich mich nie mit leeren Redensarten abgebe, sondern immer zu meinem Wort stehe. Es wird also an dir liegen, ob biegen oder brechen.« Damit ging er, und als er sich Familie Holmsen zugesellte, merkte niemand ihm an, daß er vor zehn Minuten noch eine harte Auseinandersetzung mit der Mutter hatte. Höflich und sachlich beantwortete er alle Fragen. Zwar fiel es allen auf, wie blaß er war, doch taktvoll ging man darüber hinweg. Und als man später wieder die Terrasse betrat, fand man die Baronin nebst ihrer Tochter nicht darauf vor. Diese saßen voll ohnmächtigen Zornes im Zimmer und klagten einander ihr Leid – nur wie sie es bessern könnten, darüber fiel kein Wort. Verbissen grübelte die Baronin vor sich hin, während die Gedanken in Irinas Kopf rebellierten. Sie konnte einfach nicht fassen, daß plötzlich alles so anders geworden sein sollte wie zu Lebzeiten Herrn Ragalts, der sich nie darum gekümmert hatte, ob sie artig oder ungezogen war. Nein, die Familie Holmsen gefiel der anmaßenden kleinen Person ganz und gar nicht. Am wenigsten Birgit, die so ein Aufhebens mit Fräulein von Tessau machte, die doch ebenso wenig hier bedeutete wie die andern Angestellten
im Haus. Hoffentlich verschwand diese abscheuliche Birgit bald, und dann würde es auf Ragaltshöfen wieder schön werden wie früher. Dann durfte sie herumkommandieren, ohne daß man sie deswegen maßregelte. Und diese blöde Tessau wollte sie ärgern nach Herzenslust. Und sollte Odalf dahinter kommen, pah, was konnte ihr da schon viel passieren? Höchstens, daß er sie ausschalt oder schlimmstenfalls ohrfeigte – aber dann hatte sie wenigstens ihren Willen durchgesetzt. So ging denn Irina daran, ihrer Lehrerin das Leben so schwer zu machen, daß diese zuletzt kaum noch aus und ein wußte. Zu ihrem Pech war Birgit für eine Woche nach Hause gefahren, und so hatte sie niemand, den sie um Rat fragen konnte. Nachdem nun Irina an einem Tage, als die Lehrerin sie auf einen Schreibfehler aufmerksam machte, wütend das Heft zerriß, da konnte die geduldige Erla nicht mehr weiter. Die eine Woche, in der die Schülerin ihr wie eine kleine Teufelin zugesetzt hatte, hatten ihre ohnehin nur zarten Nerven zerrüttet »Und was sagen Sie nun?« fragte Irina frech. »Da sind Sie wohl machtlos, wie?« Erla, die bis in die Lippen erblaßt war, sagte nichts, sondern stand auf und ging hinaus. Wenig später betrat sie das Arbeitszimmer des Verwalters, der am Schreibtisch saß und sich bei ihrem Anblick erhob. »Nanu, Fräulein von Tessau, wie sehen Sie denn aus? Sind Sie etwa krank?« Da war es um Erlas Fassung geschehen. Sie ließ sich auf den nächsten Stuhl fallen, drückte das Gesicht in die Hände und weinte. Der Mann trat an den großen Schrank, goß stärkenden Wein in ein Glas und trat damit an die Schluchzende heran. »Fräulein von Tessau, nun heben Sie mal hübsch brav das Köpfchen, damit ich Ihnen den Trank hier einflößen kann. Sie scheinen mir nämlich mit Ihren Nerven nicht zu knapp herunter zu sein.« Gehorsam leerte sie das Glas mit kleinen Schlucken, dann legte sie sich im Stuhl zurück und schaute verlegen zu dem
Mann, der nun wieder im Schreibtischsessel saß. »Entschuldigen Sie, Herr Baron, daß ich mich so gehen ließ, aber ich konnte nicht anders. Jetzt geht es schon wieder, und so kann ich Ihnen auch sagen, warum ich Sie hier aufsuchte. – Es ist heute der 1. Juni – und ich bitte um meine Entlassung.« Augenblicklich blitzte es in seinen Augen überrascht auf, dann fragte er kurz: »Aus welchem Grunde?« »Weil ich mit Irina nicht mehr fertig werden kann.« »Also das ist es. Ich bitte um Ihren Bericht.« »Leicht hatte ich es mit der störrischen Schülerin immer nicht«, sprach sie nun in fliegender Hast. »Aber seit dem Sonnabend, da Familie Holmsen zuletzt hier war, ist sie dermaßen – anmaßend, daß ich einfach machtlos ihr gegenüber bin. Während ich spreche, grinst sie unverschämt, schmiert die Hefte voll, daß es zum Grausen ist, nennt mich blöd, will alles besser wissen – und riß heute sogar das Heft mittendurch, als ich sie auf einen Schreibfehler aufmerksam machte. Außerdem bemerkte sie noch höhnisch: Und was sagen Sie nun? Da sind Sie wohl machtlos, wie? Nun, ich war es tatsächlich, sagte nichts, sondern kam hierher und – « »Es war das Beste, was Sie tun konnten«, entgegnete er ruhig. »Haben Sie schon eine neue Stelle, weil Sie diese aufzugeben wünschen?« »Nein, Herr Baron. Bis heute hatte ich ja nicht die Absicht, Ragaltshöfen zu verlassen, weil ich immer noch hoffte, daß Irina zur Vernunft kommen würde. Aber der heutige Vorfall ließ mich erkennen, daß ich nicht die richtige Lehrerin für so eine störrische, unverschämte Schülerin bin. Ich besitze zu wenig Energie und kann mich daher nicht durchsetzen. Wenn ich bis zu meinem Fortgang noch keine andere Stelle habe, um die ich mich natürlich eifrig bemühen werde, dann miete ich mich in einer Pension ein und suche von dort weiter. Mit meinen Ersparnissen komme ich, schon eine Weile aus.«
»Also schon ein fix und fertiger Plan«, erwiderte er lächelnd. »Und wenn ich Sie nun bitten würde, weiter getreulich auf Ihrem Posten zu verharren wie bisher? Was dann, Fräulein von Tessau?« »Nein, Herr Baron, das könnte ich nicht verantworten.« »Aber ich. Ihnen soll fortan meine Unterstützung zuteil werden. Und dann wollen wir doch mal sehen, ob wir nicht mit vereinten Kräften ein störrisches Kind bändigen können.« »Dann würde uns die Frau Baronin aber sehr böse sein.« »Daraus dürfen wir uns nichts machen, Sie ängstliche kleine Person. Ihnen soll schon kein Unrecht mehr geschehen, dafür lassen Sie mich sorgen. Allerdings kann ich im Hause nicht immer zugegen sein, und da könnte es in meiner Abwesenheit schon geschehen, daß man Ihnen nicht so begegnet, wie Sie es verlangen dürfen. Und soweit ich Sie kenne, werden Sie jede Bitternis eher hinunterschlucken, als sich zu wehren. Aber da ist ja noch Fräulein Holmsen, das heute oder morgen hierher zurückkehrt. Und die junge Dame tritt schon für Sie ein, falls es nötig sein sollte. Und nun machen Sie nicht so furchtsame Augen, Sie kleiner Angsthase. Hier haben Sie meine Hand, schlagen Sie ein auf ein Schutz- und Trutzbündnis.« Zögernd legte sie die kleine zarte Hand in die schlanke, nervige, die sie mit festem Druck umschloß. »So, da fällt mir nun ein Stein vom Herzen. Denn offen gestanden, hätte ich Sie ungern von hier scheiden sehen. Was ich von Ihnen zu halten habe, das weiß ich. Aber man steckt ja in keinem Menschen drin, den man engagiert – und wenn man die Wahl auch noch so vorsichtig treffen würde. Haben Sie also herzlichen Dank, Fräulein von Tessau.« »Oh, Herr Baron, ich habe doch zu danken, da Sie ein solches Vertrauen in mich setzen.« »Na schön, streiten wir uns darüber nicht.«
Er drückte auf den Knopf und gab dem eintretenden Diener Bescheid, Irina herzuschicken. Diese erschien denn auch und meinte keck: »Also hat die Tessau gepetzt.« Diesmal klatschte es rechts und links auf den Kinderwangen, und ruhigen Tones sprach der Mann: »Du siehst, daß ich mein Versprechen wahr mache, du unglaublich freche Person. Ich erteile Fräulein von Tessau die Vollmacht, genauso mit dir zu verfahren, sofern du dich ihr gegenüber flegelhaft benimmst. Fortan wirst du mir jeden Tag deine erledigten Schularbeiten vorzeigen, und den Inhalt des Heftes, das du zerrissen hast, wirst du fein säuberlich in zwei Tagen abschreiben. Dann wünsche ich das vernichtete Heft nebst dem neuen zu sehen. Und nun entschuldige dich bei deiner Lehrerin wegen deines unerhörten Betragens. – Ach, du willst nicht«, klirrte seine Stimme auf, als das Kind trotzig verharrte. In seinen Augen wetterleuchtete es – und da zog das dreiste Persönchen es doch vor, lieber klein beizugeben. »Ich bitte um Entschuldigung, Fräulein von Tessau.« »Ein wenig reumütiger hätte es schon geschehen können«, bemerkte der große Bruder tadelnd. »Aber für den Anfang bin ich zufrieden. Du weißt nun, Irina, daß ich nicht lange fackle. Und nun trolle dich.« Wie gejagt lief die Kleine davon, und der Bruder lachte hinter ihr drein. »Sehen Sie, Fräulein von Tessau, das ging doch wunderbar. Natürlich darf man nicht verlangen, daß aus dem total verzogenen Mädchen von heut auf morgen ein Musterkind wird. Aber nach und nach bekommen wir es schon dahin, wo wir es haben wollen.« »Was wird die Frau Baronin dazu sagen?« bemerkte Erla ängstlich, und da wurde sein Gesicht hart. »Auf die Gefühle meiner Mutter kann und darf ich keine Rücksicht mehr nehmen, wenn ich nicht meine Existenz aufs Spiel setzen will. Darum brauchte ich nicht zu bangen, solange ich in Diensten des Herrn Ragalt stand, denn den
störten Irinas herrschsüchtige Allüren nicht – aber Familie Holmsen stören sie. Man kann den Besitzern ja schließlich nicht zumuten, sich von der Schwester des Verwalters beherrschen zu lassen. Geht Ihnen das ein, Fräulein von Tessau?« »Das schon, Herr Baron – aber es ist doch so entsetzlich traurig.« »Das ist das Leben für manche Menschen nun mal, mein Fräulein. Damit muß man sich abfinden, wenn man nicht unter die Räder des Schicksals geraten will. Und nun ist alles klar zwischen uns?« »Ja, Herr Baron.« »Welch ein tiefer Seufzer«, lachte er. »Halten Sie nur die Öhrchen steif, dann wird’s schon gehen.« Sie schieden mit warmem Händedruck, und Erla war so fertig, daß sie in ihr Zimmer flüchtete, sich dort aufs Bett warf und fassungslos weinte. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte, nahm sie eine Schlaftablette, kleidete sich aus und streckte sich auf die Lagerstatt. So kam es denn, daß Odalf Vörswelde allein am Mittagstisch saß, weil Mutter und Schwester aus Protest nicht daran erschienen und Erla über ihre Trübsal hinwegschlief. Bekümmert streiften die Augen des servierenden Dieners das harte, blasse Antlitz seines Herrn, der kaum etwas aß. Alle Ehrerbietung, die er für die Herrin hatte, aber sie sollte dem Sohn, der so rührend für sie sorgte, nicht so hart zu schaffen machen. Es gibt eben keine Dankbarkeit mehr auf der Welt. Erla schreckte aus tiefem Schlaf auf, schickte den Blick suchend umher, bis er an einem Gesicht haften blieb, das nahe über dem ihren war. »Oh, Fräulein Holmsen, wie schön, daß Sie da sind.« Die Schläferin war nun hellwach. »Ich habe auch schon so sehnsüchtig auf Sie gewartet.« »Scheint mir auch so«, war die trockene Erwiderung. »Wenn man nämlich Ihre Angstaugen sieht, dann weiß man Bescheid. Was hat’s gegeben?«
»Ach, Fräulein Holmsen!« »Ach, Fräulein von Tessau! Nicht weinen, sondern erzählen.« Mit wachsender Empörung lauschte Birgit dem Bericht, der unter Schluchzen und Stottern endlich zusammenkam. »Na, das ist ja die Höhe!« legte sie dann los. »Und Sie haben das bei dem unverschämten Balg so ohne weiteres durchgehen lassen? Das hätte ich mal bei meiner Lehrerin riskieren sollen, na, ich danke! Ein Glück, daß der Baron in seine Schwester nicht so vernarrt zu sein scheint, wie die Mutter es in die Tochter ist. Dann gäbe es wohl Reibereien am laufenden Band. Kaum zu glauben, was ein Kind für Unfrieden stiften kann.« »Der Baron tut mir schrecklich leid.« »Mir nicht. Wenn er schon zehn Jahre früher mit der Dressur der Schwester begonnen hätte, dann bliebe ihm der Verdruß, den er jetzt mit ihr hat, erspart. Was wollen Sie denn, etwa aufstehen?« »Ja, ich muß mich doch unten sehen lassen. Die Frau Baronin wird mir ohnehin schon zürnen.« »Eben – deshalb werden Sie sieh heute nicht mehr blicken lassen, damit sich das gekränkte Mutterherz beruhigen kann.« »Sie ist sehr nachtragend, wenn es um Irina geht.« »Auch das noch! Nun, das gewöhnen wir ihr schon ab. Es gongt zum Abendessen. Haben Sie auf irgend etwas besonderen Appetit?« »Auf ein Omelett schon. Aber die Frau Baronin liebt es nicht, wenn man Extra wünsche äußert.« »Mein liebes Fräulein von Tessau.« Birgit stand nun vor dem Bett, die Hände in die Hüften gestemmt. »Ich bin von Hause aus zwar nicht gewöhnt, die Herrin herauszukehren, habe daher auch keine Übung darin – aber ich kann’s doch, wenn es sein muß, verlassen Sie sich darauf. Jedenfalls sollen Sie das gewünschte Omelett haben, am besten gleich zwei. Welche Füllung?« »Kirschen.«
»Geht in Ordnung. Gehaben Sie sich wohl – und guten Appetit.« Lachend entfernte sich Birgit und kam gerade zurecht, als man sich an den Tisch setzte. Eine förmliche Verneigung zur Baronin, die sie bestimmt nicht freundlich musterte, ein Lächeln zu dem Verwalter hin, dann nahm sie Platz. »Warum erscheint Fräulein von Tessau nicht zu Tisch?« fragte die Dame knapp, und ebenso erfolgte die Antwort: »Weil sie sich nicht wohl fühlt und daher im Bett liegt.« »Etwas Besorgniserregendes, gnädiges Fräulein?« »Ich nehme es nicht an, Herr Baron. Wahrscheinlich die Nachwirkung der Aufregung am Vormittag.« »Wenn das Fräulein so sensibel veranlagt ist, dann hätte es nicht Lehrerin werden sollen«, meinte die Baronin ungehalten. »Fehlte gerade noch, mit einer Angestellten Aufhebens zu machen.« »Mama, ich bitte dich!« »Beruhige dich nur.« Ihre Lippen kniffen sich bitterböse zusammen. Doch als Irina etwas sagen wollte, was gewiß recht anmaßend gewesen wäre, winkte die Mutter ab. »Ruhig. Du weißt doch, daß wir beide jetzt hier nichts mehr zu melden haben.« Es flammte rot auf der Stirn des Sohnes auf, aber kein Wort entschlüpfte dem harten Mund, und auch Birgit hielt eine unwillige Erwiderung zurück. Zwar war es nicht ihre Art, älteren Menschen ungezogen zu begegnen, aber bei dieser aggressiven Dame war ein bestimmter Tön schon am Platz, wollte man nicht hilflos unter ihre Herrschsucht geraten. So sagte sie denn zu dem Diener, als dieser ihr die Platte mit gebackenen Eiern reichte: »Lieber Jost, sorgen Sie doch bitte dafür, daß Fräulein von Tessau zwei Omeletts mit Kirschfüllung nach oben gebracht werden. Dazu eine Tasse leichten Tee.« »Sehr wohl, gnädiges Fräulein, ich werde das sofort veranlassen.« Nachdem er gegangen war, fuhr die Baronin das Mädchen schroff an:
»Ich liebe es nicht, wenn über meinen Kopf hinweg etwas bestimmt wird, Fräulein Holmsen. Es ist hier nicht Mode, daß Angestellte Sonderwünsche haben. Sie sitzen hier an meinem Tisch, merken Sie sich das!« Eiskalt blitzte es in Birgits Augen auf, doch es klang beherrscht, als sie erwiderte: »Eine Kranke darf solche Wünsche schon einmal haben, Frau Baronin zumal Ihre ungezogene Tochter die Ursache dieser Krankheit ist.« Da sprang die Dame auf, griff nach Irinas Hand und zog die Widerstrebende hart mit sich fort. Die Tür klappte ins Schloß – und unter den Zurückbleibenden herrschte wohl eine Minute lang bedrückendes Schweigen, das Birgit dann brach. »Ob sie mich nun für taktlos halten, das bleibt Ihnen überlassen, Herr Baron.« »Das tue ich gewiß nicht, gnädiges Fräulein«, kam es ruhig zurück. »Sie haben das Recht, meiner Mutter noch etwas ganz anderes sagen zu können, nämlich: daß es wohl ihr Tisch ist, aber alles, was darauf steht, aus der Tasche des Besitzers von Ragaltshöfen bestritten wird. Denn er ist es, der den großzügigen Haushalt hier bezahlt.« »Ich bitte Sie, Herr Baron, so doch nicht.« »Wie denn sonst, gnädiges Fräulein? Es ist gut, zuweilen die Dinge beim richtigen Namen zu nennen, finden Sie nicht auch?« »Nein. Ich meine, daß derartige Unerquicklichkeiten sich vermeiden ließen, wenn man es will.« »Ganz recht. Aber meine Mutter will eben nicht und wird daher die Konsequenzen tragen müssen.« »Inwiefern?« »Das werden Sie bald erfahren, gnädiges Fräulein.« Es klang so hart und bestimmt, daß Birgit schwieg. Der Appetit war ihr gründlich vergangen. Sofern es nur angängig war, erhob sie sich vom Tisch und ging davon. Als sie sich an der Tür noch einmal umwandte, bemerkte sie, wie der Mann aufstöhnend den Kopf in die Hand
drückte. Da schloß sie die Tür leise hinter sich und brummte: »Alles das wegen eines ungezogenen Kindes. Wie können Menschen nur so verbohrt sein.« Unverweilt begab sie sich zu Erla, die ganz vergnügt im Bett saß und sich die Omeletts schmecken ließ. Um nicht auch ihr noch den Appetit zu nehmen, schwieg Birgit über das, was sich unten zugetragen hatte. Zart strich sie über das dunkle Köpfchen, dann ging sie in ihr Zimmer, setzte sich an den Flügel und schon brauste es auf: Durch Gewitter und Sturm... Meisterhaft wurde es gespielt – und unten saß ein einsamer Mann und sprach verbittert die Worte mit. Am nächsten Morgen fand man sich vollzählig auf der Terrasse zum Frühstück zusammen; denn auch Erla war dabei. Sie fühlte sich wieder kräftig genug, um etwaigen Stürmen standzuhalten. Allein, sie blieben aus. Zwar maulte Irina, griff dabei aber keinen direkt an – und ihre Mutter verharrte in eisigem Schweigen. Birgit tat so, als wäre das gestrige peinliche Vorkommnis nicht gewesen, sondern plauderte in ihrer frischen Art vergnügt drauflos. Als das Frühstück beendet war, sagte sie zu dem Verwalter: »Ich möchte Sie bitten, Herr Baron, mir verschiedenes in der Buchführung zu erklären.« »Gern, gnädiges Fräulein. Ich habe da einige Anmerkungen, die ohnehin der Erklärung bedürfen.« »Ist etwas verpatzt?« »Im Gegenteil, Sie haben sorgfältig gearbeitet.« »Das freut mich«, entgegnete sie lachend. »Ich muß gestehen, daß ich oft Angst schwitze, aber jetzt bin ich stolz. Denn eine Anerkennung aus Ihrem Munde wiegt doppelt schwer, Herr Baron.« »So arg ist es nun auch wieder nicht«, gab er amüsiert zurück. »Wollen wir gleich zur Rentmeisterei gehen, weil ich in einer Stunde eine Unterredung mit einem Händler
habe.« Sie erhoben sich und traten von der Terrasse ins Speisezimmer, die Tür hinter sich offen lassend. Doch inmitten des Gemachs verhielt der Mann den Schritt und horchte auf die scharfe Stimme seiner Mutter. »O nein, mein Fräulein, meine Tochter bleibt hier, weil ich es nicht dulden kann, das Kind von Ihnen im Schulzimmer drangsalieren zu lassen. Ich habe über alles zu bestimmen, nicht der Herr Baron, merken Sie sich das. Unerhört, den Bruder gegen die Schwester aufzuhetzen, Sie intrigante Person! Und so einer soll ich mein Kind anvertrauen? Dann würde ich ja unverantwortlich handeln. Sie verlassen noch heute mein Haus.« Da taumelte Erla davon, geradeswegs in die Arme des Barons hinein, der gleich Birgit bis in die Lippen erblaßt war. »Nicht schlapp machen, Fräulein von Tessau, hören Sie? Nehmen Sie sich bitte der Ärmsten an, gnädiges Fräulein.« Voll Erbarmen umschlang Birgit das zitternde Mädchen, führte es nach oben und bettete es auf den Diwan. Sie horchte auf; denn durch das geöffnete Fenster hörte sie deutlich von der Terrasse her die Stimme Odalfs, eiskalt und beherrscht: »Also du hast mich verstanden, Mama. Du beziehst in der Stadt eine kleine Wohnung, und Irina kommt in ein Internat.« »Junge, wie kannst du so entsetzlich hart sein!« schrie die Frau nun gepeinigt auf. »Mich von dem Kind trennen, hieße mir das Leben nehmen. Es ist doch mein ein und alles!« »Trotzdem handelst du gewissenlos, wenn du das Kind so unglaublich verziehst.« Der Mann blieb ungerührt. »Dann wird nichts weiter aus ihm als ein Tunichtgut, der uns nur Schande macht. Du bist mir einfach unbegreiflich, Mutter. Deine anderen Kindern hast du doch streng erzogen – streng oftmals bis zur Härte, und Irina gegenüber bist du schwach bis zur Lächerlichkeit.«
»Ich betrachte sie als Gottesgabe – als Ersatz für meine toten Kinder. Verstehst du das denn nicht?« »Nein.« »Außerdem ist sie krank, Odalf.« »Komm mir doch damit nicht, Mama. Wir haben Irina noch vor zwei Monaten von einer Kapazität beobachten lassen, die dann die Diagnose stellte: Gesund, nur verweichlicht und verzärtelt. Kein Wunder, da du schon in Aufregung gerätst, wenn die Kleine draußen herumläuft. Das muß ein Kind, um gedeihen zu können. Laß es sich unbeschwert austummeln, dann wird es guten Appetit haben und bald rote Wangen kriegen. Nun, spare ich mir meine Worte, weil ich genau weiß, daß sie doch nur in den Wind gesprochen sind. Dir das Leben zu nehmen, kann ich natürlich nicht verantworten«, setzte er ironisch hinzu. »Also behalte deinen Abgott, und werde in der Stadtwohnung selig mit ihm.« »Odalf, hab doch Erbarmen mit mir! Ich gehe in einer so engen Behausung einfach zugrunde.« »Auch wenn du deines Herzens Trost um dich hast? Merkwürdig. Das mit dem >Zugrundegehen< hättest du dir früher überlegen sollen, jetzt ist es zu spät. Wenn du mit Irina weiter hier bleibst, verliere ich meine Stellung. Und wovon soll ich euch dann unterhalten? Ergo: Da du mit Familie Holmsen keinen Frieden halten kannst, mußt du eben weichen. Oder verlangst du das etwa von den Besitzern?« »Sie sind ungemein herrschsüchtig.« »Das bist du und dein vergötterter Liebling«, rief er dazwischen. »Anstatt Irina dafür zu bestrafen, daß sie sich ihrer Lehrerin gegenüber so unerhört benimmt, hätschelst du sie, beleidigst in ihrer Gegenwart die junge Dame und wirfst sie gar zum Hause hinaus, das dir nicht gehört. Dann gestern die impertinenten Bemerkungen der Tochter meines Gebieters gegenüber.« »Sie war anmaßend.« »Das ist nicht wahr! Der Tochter des Hauses steht gewiß
das Recht zu, ein Omelett beim Diener zu bestellen, zumal ihr Vater den Haushalt hier bezahlt. Ich finde, daß die junge Dame sich tadellos benommen hat, eine andere, weniger gut erzogene, hätte dich schon in deine Schranken zurückgewiesen. Und nun Schluß! Richte dich darauf ein, daß du, sobald ich in der Stadt eine passende Wohnung gefunden habe, was hoffentlich schnell geschieht, dorthin übersiedelst. Heute habe ich keine Zeit, aber morgen begebe ich mich auf Suche.« Er ging, und die Frau weinte herzzerbrechend. Dasselbe tat oben Erla, die gleich Birgit jedes Wort der Auseinandersetzung mit angehört hatte. »Mädchen, so bleiben Sie doch wenigstens ruhig!« Birgit fuhr sich mit beiden Händen in die Haare. »Wenn ich gewußt, wie es hier zugeht, keine zehn Pferde hätten mich hergeschleift!« »Fräulein Holmsen, sei’n Sie doch nicht so böse.« »Na was, soll ich mich vielleicht freuen, wenn unten eine weint, oben die andere und der arme Kerl sich mit euch abplagen muß? Wenn ich er wäre, dann wüßte ich, was ich täte. Der rüpelhaften Schwester am Tag dreimal Prügel und einmal Essen, der verblendeten Mutter die kalte Schulter und Ihnen etwas Steifes ins Kreuz, auf daß es härter würde.« Brummend ging sie hinaus, und als sie zurückkehrte, war sie schon wieder vergnügt. »So, jetzt wird der Laden klappen. Und nun hopp ins Bett mit Ihnen, Sie Zimperlinchen!« »Darf ich nicht hier liegen bleiben?« »Aber nur, wenn Sie nicht mehr weinen. Hier haben Sie eine süße Schachtel, mit der Sie sich amüsieren können. Ich muß in die Rentmeisterei, wo mein Vorgesetzter schon ungeduldig meiner harren wird. Wenn ich wiederkomme, will ich ein fröhliches Gesicht sehen, verstanden?« In der Rentmeisterei fand sie einen Zettel vor, der sie davon unterrichtete, daß es dem Baron wegen Zeitmangels nicht
möglich wäre, sie heute noch zu unterweisen. Falls sie bei ihrer Arbeit nicht weiter wüßte, sollte sie sich aufs Pferd setzen und in die prangende Natur hineinreiten. Das tat sie mit dem größten Vergnügen, und als sie nach zwei Stunden wiederkam, sah sie das Auto ihres Vaters vor dem Herrenhaus stehen. Sie lachte in sich hinein, begab sich an ihren Schreibtisch, wo sie sich bemühte, auch ohne Erklärung bei der Arbeit voranzukommen. Indes betrat Herr Holmsen das Arbeitszimmer des Verwalters, der ihn höflich begrüßte, worauf der Chef schmunzelnd meinte: »Ich bin auf Veranlassung meiner Tochter hier.« »Wie soll ich das verstehen?« fragte sein Gegenüber erstaunt. »Werde ich Ihnen gleich erklären. Aber zuerst werden wir Platz nehmen und uns eine Zigarre ins Gesicht stecken, dann plaudert es sich gemütlicher.« Nachdem die Zigarre brannte, begann er ohne Umschweife: »Meine Tochter rief mich fernmündlich an und bat um mein Kommen. Wie sie erfahren hatte, wollen Sie Ihrer Frau Mutter und Ihrer kleinen Schwester eine Stadtwohnung mieten. Stimmt das, Herr Baron?« »Ja, Herr Holmsen.« Der Mann verbarg meisterhaft seine Überraschung. »Und warum, wenn ich fragen darf?« »Weil meine Mutter sich nicht in die veränderten Verhältnisse fügen kann.« Kurz gab er wieder, was geschehen, und Holmsen schüttelte verständnislos den Kopf. »Sie wollen ein Mann sein und werden nicht mit einem zwölfjährigen Kind fertig?« »Ich schon, aber man kann meine Mutter aufs höchste empören, wenn man nicht gleich ihr in Irina dem Abgott huldigt. Sie kann dann ungerecht werden bis zum äußersten. Und das geht doch nun wirklich nicht an, daß ein Kind das Haus beherrscht, in dem es nur geduldet
wird.« »Oha, mein lieber Freund, Sie drücken sich aber merkwürdig aus. Was heißt hier geduldet. Sie als Verwalter haben eine Wohnung auf dem Gut zu beanspruchen. Ob Sie darin nun mit Ihrer Frau und Ihren Kindern leben oder mit Mutter und Schwester, das bleibt sich egal. Und da keine andere Wohnung frei ist, muß eben das Herrenhaus herhalten. Der Kasten ist doch wahrlich groß genug, zumal meine Familie sich nicht ständig darin aufhält. Zum Kuckuck, man wird sich doch noch vertragen können!« »Die andern schon, Herr Holmsen, aber meine Mutter mit ihrem Abgott nicht. Die greift jeden an wie eine Löwin, deren Jungen man zunahe treten will.« »Na ja – gewiß, das ist sogar menschlich verständlich. Nachkömmlinge pflegen ja vielfach der vergötterte Liebling der Mutter zu sein, daher wird auch aus ihnen in den* seltensten Fällen etwas. Werden sie erwachsen, sind sie sich selbst und anderen ein Greuel. Aber wenn man eine Sache richtig anpackt, dann muß es doch irgendwie gehen. Wir sind doch keine Unmenschen, Herr Baron, und haben es daher nicht vor, Ihre Frau Mutter mit dem Töchterlein von hier zu vertreiben. Wenn uns das Dirnlein patzig kommt, na schön, dann stopfen wir ihm das vorlaute Schnäbelchen, natürlich bildlich genommen. Und wenn das Mutterherz sich gekränkt fühlt, reagieren wir einfach nicht darauf. Bedenklicher ist es schon mit der Lehrerin des kleinen Unnütz. Die hat ein zu weiches Rückgrat, die ängstliche Maid. Aber lassen Sie nur, meine Birgit putscht sie schon auf. Und wenn die Lehrerin ihrer bockigen Schülerin erst einmal Ohrfeigen versetzt hat, dann läßt diese es auf das volle Dutzend schon von selbst nicht ankommen.« Jetzt mußte der Verwalter denn doch lachen. »Eine einfache Rechnung, Herr Holmsen.« »Dafür bin ich ja auch Kaufmann. Schalten wir das Mutterherz mal ganz aus und nehmen das ungebärdige Füllen an die Kandare. Sollen mal sehen, wie bald es dann
pariert. Bedenken Sie mal, lieber Freund, wenn Sie Ihre Frau Mutter, die an das großzügige Landleben gewöhnt ist, plötzlich in eine enge Stadtwohnung sperren. Die Dame muß sich da doch kreuzunglücklich fühlen.« »Ich täte es auch nur der Not gehorchend, Herr Holmsen. Aber Sie haben ja keine Ahnung, wie aggressiv meine Mutter werden kann, wenn es um Irina geht. Schließlich haben Sie und Ihre Familie es nicht nötig, sich auf Ihrem Besitz beherrschen zu lassen.« »Wir wehren uns schon, das sei’n Sie gewiß. Und nun Schluß, es bleibt alles so, wie es ist. Das befehle ich Ihnen als Gebieter. Haben Sie mich verstanden, Herr Verwalter?« Betroffen sah dieser Holmsen ins Gesicht – atmete tief auf, als er die lachenden Augen bemerkte. »Ich danke Ihnen, Herr Holmsen. Leicht wäre es mir wirklich nicht gefallen, Mutter und Schwester von hier zu verbannen.« »Das weiß ich doch«, lachte der andere gemütlich. »Wie macht sich meine Tochter auf ihrem Posten?« »Überraschend gut. Die junge Dame besitzt ein helles Köpfchen und Pflichtbewußtsein.« »Möchte ich ihr auch geraten haben. Sie ist leider recht eigenwillig, aber meine Frau versteht sie prachtvoll zu nehmen. Bei der wird nämlich Liebe und gütiges Verständnis ganz groß geschrieben, daher konnten meine Kinder auch so gut einschlagen, obwohl sie eine Stiefmutter erzog. Doch diese Bezeichnung hassen sowohl meine beiden Söhne wie auch meine Tochter. Sie können bitterböse werden, wenn sie fällt. Und sie haben recht damit, denn eine leibliche Mutter könnte ihre Kinder nicht inniger lieben. Drei Jahre war Birgit alt, die Jungen elf und dreizehn, als meine zweite Frau sie an ihr Herz nahm. Die Bengel ließen sich leicht erziehen, aber das Marjellchen war ein kleiner Trotzteufel – und ist es zuweilen heute noch. Doch ein gütig mahnendes Wort der Mutter richtet mehr bei ihr aus, als tausend scheltende Worte anderer es zu tun vermögen.
Ja, unsere geliebte Mutz ist eben die Sonne, um die sich alles dreht. Und wenn ich sage, daß ich sie heute, nach siebzehnjähriger Ehe, noch mehr liebe denn als Bräutigam, so ist das kein leeres Gerede. Da es eben zur Futterkrippe gongt, wollen wir das Herz ausschalten. Alles klar zwischen uns, mein lieber junger Freund?« »Ja, Herr Holmsen, ich danke Ihnen. Sie haben mir mit Ihrem gütigen Verständnis eine schwere Sorge vom Herzen genommen.« »So sollte es immer sein, dann gäbe es bestimmt mehr Frieden unter den Menschen.« Bei der Mittagstafel gab es drei verweinte Gesichter – das der Baronin, das ihrer Tochter und das Erlas. Doch taktvoll ging Holmsen darüber hinweg. Er tätschelte liebevoll die Wange Birgits, die mit bangem Blick zu ihm aufsah. »Hast brav gemacht, Marjellchen, ich bin stolz auf dich. Hast dich wieder einmal glänzend bewährt – alles ist in Ordnung.« »Ach, Paps, hörst du den Mühlstein von meinem Herzen plumpsen?« »Will ich meinen«, schmunzelte er. »Da ich den goldnen Wein in Gläsern funkeln sehe, wollen wir mal anstoßen auf Friede und Eintracht. Nanu, unser Nesthäkchen soll etwa leer ausgehen? Jost, ein Glas. Siehst du, mein Mädchen, jetzt stoßen wir beide extra an. Schau mal, wie vergnügt die Birgit lacht, die gönnt dir den guten Tropfen von Herzen – und noch vielmehr dazu. Halte dich an sie, der ich ein Auto schenkte. Dann nimmt sie dich öfter einmal mit und deine liebreizende, sehr geduldige Lehrerin dazu.« So hatte der gütige Mann mit herzlichen Worten eine Angelegenheit überbrückt, die recht tragisch hätte werden können. Er wirkte wie ein Fels in der Brandung, an den man sich klammern konnte in höchster Not. Schade, daß der Mann gleich nach dem Essen aufbrach. Und nachdem die beiden jungen Mädchen sich zurückgezogen hatten, sagte der Sohn tiefernst zu seiner Mutter:
»Hoffentlich siehst du nun ein, Mama, welch prächtige Menschen die Holmsen sind. Die Tochter, die wahrscheinlich unser Gespräch, das wir am Morgen auf der Terrasse führten, mit anhörte, rief sofort den Vater fernmündlich an und bestellte ihn hierher. Er fand Worte, die mich davon absehen lassen, dir eine Wohnung in der Stadt zu mieten. Auf seinen Wunsch soll alles so bleiben, wie es jetzt ist. Und nun bitte ich dich inständigst, halte Frieden. Tust du es dennoch nicht, bleibt mein hartes Gebot bestehen. Sei nicht immer gleich gekränkt, wenn man Irina mal zurechtweist. Man wird es gewiß ohne Veranlassung nicht tun. Sei vor allen Dingen nett zu Fräulein von Tessau, die ein liebenswertes Menschenkind ist. Sollte sie Irina streng anfassen, so denke daran, daß es der Lehrerin ihrer Schülerin gegenüber zusteht. Was auch geschehen mag, so ist es nur zu deiner Tochter Heil. Ich will dir die Worte wiedergeben, die Herr Holmsen sprach: Nachkömmlinge pflegen vielfach der vergötterte Liebling der Mutter zu sein, daher wird aus ihnen in den seltensten Fällen etwas. Werden sie erwachsen, sind sie sich selbst und andern ein Greuel. Nimm dir diese Worte zu Herzen, Mutter, dann ist uns allen geholfen. Danken wir unserem Herrgott, daß er uns einen so gütigen, großzügigen Brotgeber bescherte. Es liegt nun in deiner Hand, ein friedliches, freudvolles Leben führen zu können. Wenn du jedoch auf deinem Herrscherwillen beharrst, wird es allein dein Schaden sein.« Tiefernst wie er gesprochen, ging er auch davon. Er hatte getan, was er konnte, mehr zu tun stand leider nicht in seiner Macht. Und es schien auch tatsächlich, als ob seine mahnenden Worte nicht in den Wind gesprochen wären, denn die Baronin gab sich alle Mühe, nett zu den beiden jungen Mädchen zu sein. Nicht herzlich, aber das verlangte auch niemand. Sie berief sogar Irina, wenn diese sich ungehörig benahm, was natürlich noch Ott vorkam, weil ein Kind
sich nicht schlagartig ändern konnte. Aber soviel hatte das anmaßende Persönchen denn doch begriffen, daß der Bruder sich nicht mit leeren Redensarten abgab. Jeden Tag ließ er sich die Schularbeiten vorlegen und sofern sie verpfuscht waren, mußten sie ohne Erbarmen wiederholt werden. Daß die Mutter hinterher verweinte Augen hatte, schien der Sohn nicht zu sehen. Er traf jetzt nur noch zu den Mahlzeiten mit ihr zusammen. Wenn er nicht gerade draußen war, hielt er sich in seinem Arbeitszimmer auf, wo es genug Schreibereien für ihn gab. An einem Tag, kurz vor dem Mittagessen, kam Erla zu Birgit ins Zimmer. Das zarte Persönchen zitterte am ganzen Körper vor Erregung, in den Augen flackerte Angst. »Was ist denn mit Ihnen schon wieder los? Sie sehen ja aus, als ob Sie dem Grabe entronnen wären.« »Ich – ich – habe – Irina geohrfeigt«, kam es von den zuckenden Lippen, und da lachte Birgit hellauf. »Herrlich – endlich einmal! Und nun hat so ein Dummchen natürlich Angst vor der eigenen Courage.« »Ja. Was wird bloß die Frau Baronin sagen?« »Die wird natürlich entrüstet sein«, kam es trocken zurück. »Aber wie sehen Sie denn aus? Ihre Hände sind schwarz, und auch das Kleid zeigt dunkle Flecke.« »Das kommt von der Tinte, deren Flasche Irina umwarf.« »Absichtlich?« »Das weiß ich nicht. Ich rügte sie, weil sie sehr nachlässig las, da fegte sie mit der Hand über’n Tisch. Leider stand die große Tintenflasche offen, die umfiel und den schwarzen Inhalt über alles rundum ergoß. Da ich nahe saß, bekam auch ich meinen Teil ab, was mich so empörte – daß – daß –« »Ihre Hand ausrutschte«, fiel Birgit lachend ein. »Schau, schau, unser Täubchen scheint Galle zu kriegen, recht so.« »Ja – aber jetzt habe ich Angst. Am liebsten möchte ich gar nicht zum Essen gehen.« »Und sich damit womöglich schuldig bekennen? Kommt gar nicht in Frage! Falls die Baronin Sie anfahren sollte,
wird ihr Sohn schon eingreifen.« Nun, das tat er ohnehin schon. Denn als er sich in seinem Schlafzimmer zum Essen umzog, erschien die Mutter sozusagen geladen. Sie hielt die Tochter an der Hand, die so aussah, als wäre sie einem Schonsteinfeger in die Arme gelaufen. Kleid, Gesicht und Hände schwarzbesudelt. »Jetzt ist aber Schluß!« schrie die sonst so würdige Dame krebsrot vor Zorn. »Schau dir mal meinen armen Liebling an! Unerhört, wie die Tessau ihn zugerichtet hat!« »Fräulein von Tessau?« fragte Odalf verwundert dazwischen. »Ja. Sie warf die Tintenflasche um und behauptete dreist, Irina hätte es getan. Als diese sich verantworten wollte, wurde sie von der unmöglichen Person brutal geohrfeigt.« »Soooo -?« dehnte der Bruder mit einem durchdringenden Blick auf die Schwester, die das Gesicht an den Arm der Mutter drückte. »Also gelogen«, stellte er sachlich fest – und das war der ohnehin schon schwergekränkten Mutter denn doch zu viel. Der Zorn tobte so heftig in ihr, daß sie erst einige Male nach Luft schnappen mußte, ehe es sich ihrer gepreßten Kehle entrang: »Du glaubst Irina nicht?!« »Nein«, kam es gelassen zurück. »Kommentar überflüssig. Ich werde Fräulein von Tessau fragen und dann die Wahrheit erfahren.« »So fest glaubst du an diese Person?« »Person? Das ist wohl nicht der richtige Ausdruck für so ein feines, charakterlich einwandfreies Menschenkind, Mama.« Zuerst wollte sie auffahren – doch dann umzuckte ein verächtliches Lächeln ihren Mund. »Ach, nun verstehe ich. Wenn es so ist, dann allerdings. Und das in meinem ehrbaren Hause. Du bist tief gesunken, mein Sohn.« »Mutter!« peitschte nun seine Stimme auf. »Ich verbiete dir, die junge Dame zu beleidigen! Ich habe nicht gewußt, daß du so niedriger Gesinnung fähig wärest, wie ich überhaupt
Charakterzüge an dir entdecken muß, die sich früher nie bemerkbar machten. Laß mich jetzt allein, damit ich mit der letzten Ungeheuerlichkeit fertig werden kann.« Bei der eisigen Haltung des Sohnes hielt die Mutter es für angebrachter, sich zurückzuziehen. Sie ging mit der Tochter ins Schlafzimmer, um diese zu säubern. Zehn Minuten später trat Odalf ein, immer noch eisig in Haltung und Wort. »Das einzige, was an Irinas Erzählung stimmt, ist, daß ihre Lehrerin sie ohrfeigte – und zwar mit Recht. Dein verlogener Abgott fegte nämlich wutentbrannt die Tintenflasche vom Tisch, als Fräulein von Tessau ihn wegen Nachlässigkeit rügen mußte. Zur Strafe wird Irina heute und morgen das Zimmer nicht verlassen.« »Dann bleibe auch ich hier.« »Ganz wie du willst, Mama. Es ist bestimmt auch besser so.« Ehe sie etwas erwidern konnte, hatte er sich entfernt. Er ging zum Speisezimmer, wo die beiden jungen Mädchen bereits hinter ihren Stühlen standen. »Bitte, die Damen Platz zu nehmen. Meine Mutter und Irina bleiben der Mahlzeit fern.« Es wurde ein recht schweigsames Mahl, bei dem allen der Appetit fehlte. Man atmete erleichtert auf, als man es beenden konnte. »Das hat wieder einmal gebumst«, lachte Birgit, als sie mit Erla ihr Zimmer betrat. »Machen Sie nicht ein so betretenes Gesicht, Kleine.« »Großer Gott, was soll das bloß noch werden!« »Das geht Sie doch nichts an, Fräulein von Tessau. Tun Sie Ihre Pflicht als Lehrerin, und lassen Sie getrost den Baron für alles andere sorgen. Allerdings möchte ich nicht in der Haut des Mannes stecken. Immer den Ärger mit der verbohrten Mutter und der rüpelhaften Schwester, das muß einen Menschen langsam zermürben.« »Ob ich nicht doch meine Stellung hier aufgebe, Fräulein Holmsen?«
»Und was sollte damit gewonnen sein? Bei Ihrer Nachfolgerin würde es noch ganz andere Auftritte geben, weil diese Ihre Geduld gewiß nicht hätte und dem unleidlichen Gör ganz anders käme. Der Baron weiß schon, weshalb er Sie um Ihr Bleiben bat.« Hätte die sensible Erla nur gewußt, wessen die Baronin sie beschuldigte, sie wäre gewiß keine Stunde länger in Ragaltshöfen geblieben. So jedoch war sie mit Freuden dabei, als Birgit sie aufforderte, eine Fahrt im neuen Auto zu machen, das am Vormittag angerollt war. Und während die beiden Mädchen vergnügt davonfuhren, erschien die Mutter bei ihrem Sohn im Arbeitszimmer. Zwei rote Flecke brannten auf ihren Wangen, die Augen funkelten böse. »Ich möchte ein Fuhrwerk haben, das mich und Irina zur Bahn fährt«, begann sie ohne Einleitung. »Ich fahre nach Weide und gedenke dort zu bleiben. Wenn mir und meinem Kind nicht gerade der Himmel auf Erden dort beschieden sein wird, so jedoch nicht ein Martyrium wie hier. Wenn in Weide alles klar ist, gebe ich dir Bescheid, damit du mir meine Sachen schicken kannst. Alles, außer deinem Schlaf- und Arbeitszimmer, gehört mir. Und dann magst du mit der verlogenen, intriganten Tessau glücklich werden. Hoffentlich nimmt Familie Holmsen keinen Anstoß daran.« Ohne den Sohn, der wie erstarrt dastand, noch eines Blickes zu würdigen, rauschte sie hocherhobenen Hauptes davon. Eine halbe Stunde später fuhr sie mit der Tochter davon, ohne von dem Sohn Abschied genommen zu haben. »Meine Mutter ist mit meiner Schwester verreist«, erklärte der Baron den beiden jungen Damen, als er mit ihnen an der Kaffeetafel zusammen traf. »Wie lange sie fortbleibt, ist ungewiß.« »Und was wird aus mir?« fragte Erla bedrückt. »Sie bleiben natürlich hier, Fräulein von Tessau. Erholen Sie sich von den Aufregungen der letzten Zeit, Sie sehen nämlich erbärmlich mitgenommen aus. Wenn Sie mögen,
können Sie Fräulein Holmsen bei der Arbeit helfen. Vorausgesetzt, daß diese damit einverstanden ist.« »Bin ich mit dem größten Vergnügen. Es gibt zeitraubende Arbeit genug, die ich dem gewissenhaften Fräulein ohne weiteres anvertrauen kann. Und da ich dadurch mehr Freizeit erhasche, werden wir beide die weidlich ausnutzen.« So geschah es denn auch. Am Vormittag wurde fleißig gearbeitet, der Nachmittag vergnüglich verbracht. Erla lebte förmlich auf und schloß sich immer inniger an die Gefährtin an. Was diese sagte und tat, war für das zaghafte Fräulein Evangelium. Aber ach, diese herrliche Zeit sollte nicht von langer Dauer sein. Am Montagnachmittag fuhr die Baronin ab – und am Freitagabend war sie schon wieder da. Jedenfalls fanden die beiden jungen Mädchen, als sie am Sonnabend zum Frühstück erschienen, die Friedensstörer am Tisch vor. Die Enttäuschung darüber konnte man ihnen direkt vom Gesicht ablesen, was die Mutter empörte, dem Sohn ein verstecktes Lächeln abnötigte. Und was war mit Irina geschehen? Das Gesicht verschwollen, das eine Auge blutunterlaufen. Selbst Odalf wußte nicht direkt, wie die Schwester dazu gekommen war, erriet jedoch die Wahrheit. Und die war so: Irina, die natürlich auch in Weide nicht Frieden halten konnte, verprügelte das dreijährige Söhnchen brutal – und dessen Mutter, die dazu kam, übte gerechte Vergeltung. Zu Irinas Pech hielt sie die Reitpeitsche in der Hand, mit der sie denn auch nicht fackelte. Anschließend gab es einen Krach, daß gewissermaßen die Wände wackelten. Denn die junge Baronin, auf Weide war nicht fein, auch nicht beherrscht, sondern sehr temperamentvoll, ausfahrend und – reich. Auf diesen Reichtum, den sie in die Ehe gebracht, pochte sie nun und stellte den ziemlich willenlosen Gatten vor die Wahl: Entweder seine impertinente Mutter mit ihrer rüpelhaften Tochter- oder sie
und ihr Knabe. Ein Zwischending gäbe es da nicht. Natürlich zögerte der Mann nicht einen Augenblick, sich für Frau und Kind zu entscheiden. Es fiel ihm noch nicht einmal schwer, seiner Mutter, für die er sowieso nicht viel übrig hatte nahezulegen, Weide sofort zu verlassen und es nie wieder zu betreten. Er wäre nun in der Lage, sie vollends auszuzahlen, gleichfalls Schwester und Bruder. Morgen noch werde er das Geld überweisen. Übrigens täte Odalf ihm von Herzen leid, daß er sein »Kreuz« herumschleppen müßte. Aber der wäre ja schon immer Idealist gewesen und gehörte somit zu den Dummen, die nie alle werden. Und so endete die Protestfahrt der Baronin Mildred von Ragaltshöfen nach Weide. Gedemütigt und das Herz mit Bitterkeit gefüllt bis zum Rande, erschien sie bei dem jüngeren Sohn, der gar nicht erstaunt war, als sie plötzlich vor ihm stand, die zerschundene Irina an der Hand. Er hatte nichts anderes erwartet, weil er die Verhältnisse auf Weide genau kannte. »Ihr werdet sicherlich hungrig sein«, ging er in seiner gelassenen Art zur Tagesordnung über. »Ich werde Jost den Auftrag geben, euch ein Mahl zu servieren. Indes macht ihr euch wohl ein wenig frisch.« Es zuckte in seinem Antlitz, als die Mutter gesenkten Hauptes davonging, die kläglich dreinschauende Tochter an der Hand. Gern hätte er der Frau ein liebes Wort gesagt – aber er durfte es nicht und wollte es auch nicht. Denn so herrschsüchtige Menschen müssen durch Erfahrung klug werden. Nun saß man am Frühstückstisch und gab sich alle Mühe, ein harmloses Gespräch in Gang zu halten, wobei sich Birgit wie stets glänzend bewährte. Sie redete wie ein Wasserfall, um nur keine schwüle Stimmung aufkommen zu lassen. Doch als sie mit Erla allein war, schüttelte sie sich. »Brrr, das war scheußlich! Die Leichenbittermiene der Baronin, die entstellte Tochter, der schweigsame Sohn und
die entsetzten Augen einer gewissen Erla – nein, Kinder, wenn das so weitergeht, dann reiße ich aus. Habe ja schließlich nicht nötig, mich in dieser explosiven Atmosphäre aufzuhalten, wo ich ein Elternhaus besitze, das von Frieden und Harmonie durchweht ist. Wenn meine Eltern heute kommen, dann werde ich sie anflehen, mich* bei der Abfahrt nicht zu vergessen.« »Und was soll ich hier ohne Sie wohl anfangen?« fragte Erla tränenerstickt. »Nanu, Sie haben das doch gewußt, bevor ich auftauchte.« »Da war alles anders. Die Baronin nebst Irina beherrschten das Haus, und der Baron ließ alles mit Gelassenheit über sich ergehen. Aber seitdem Sie hier sind, Fräulein Holmsen, rebelliert alles – selbst ich.« Es klang so kläglich, daß Birgit lachen mußte. »Da seien Sie doch froh, wenn ich entfleuche. Denn, Ihren Worten nach zu schließen, scheine ich ein arger Friedensstörer zu sein.« »O nein, Sie haben nur frischen Wind in die verstaubte Atmosphäre hineingebracht«, widersprach die andere heftig, und da lachte Birgit wieder. »Dafür gelangte ich ja auch durch Gewitter und Sturm hierher. Kein Wunder, daß ich da alles durcheinanderwirbelte. Wenn Irina nicht wäre, könnte es sich hier gut leben lassen, denn mit der Baronin allein könnte man es zur Not aufnehmen. Na, abwarten, was meine Eltern zu der Tragödie sagen, die es in den beiden Wochen, da sie nicht hier waren, gegeben hat. Die werden schon Rat wissen.« »Wie schön muß es sein, wenn man noch Eltern hat«, sagte Erla leise. Obgleich sie Birgit von Herzen leid tat, ließ sie sich davon nichts anmerken, um das verzagte Fräulein nicht noch rührseliger zu machen, zum Kaffee waren denn die drei Holmsen da und mit ihnen eine Welle von Fröhlichkeit. Der Verwalter entschuldigte das Nichterscheinen von Mutter und Schwester mit Unpäßlichkeit, was man mit gemachter Harmlosigkeit
hinnahm. Daß es im Herrenhaus Gewitter und Sturm gegeben hatte, wußte man bereits und ließ sich die Vorgänge von Birgit ausführlich erzählen, als man unter sich war, wozu man auch Erla rechnete. »Tolle Sache«, meinte der Senior zu Ende des Berichts. »Wo auch die Baronin mit ihrer Tochter in den Tagen gewesen sein mag, so war das bestimmt keine friedliche Stätte. Denn so wie du das Aussehen Irinas schilderst, Marjellchen, muß man sie irgendwo windelweich geprügelt haben. Und wenn die Baronin schon schwer gekränkt ist, sofern man ihren Abgott nicht liebevoll betrachtet, so mag sie da wohl in Rage geraten sein, wo man ihm unbarmherzig das Fellchen versohlte. Und der arme Kerl da unten hat nun wieder sein Kreuz im Hause.« »Du hättest ihm doch nicht abraten sollen, Martin, für Mutter und Schwester eine Stadtwohnung zu mieten, dann hätte er hier seine Ruhe.« »Oder auch nicht, Gina. Die unzufriedene Mutter würde ihm doch ständig zusetzen, wenn nicht mündlich, so doch schriftlich. Er müßte also immer zwischen hier und der Stadt pendeln, und da das bei seiner Gewissenhaftigkeit nicht während der Arbeitsstunden geschähe, würde er seine Freizeit dafür opfern. Da ist es schon besser so.« »Aber sehr aufregend und ungemütlich«, bemerkte Birgit. »Daher verzichte ich auf meinen Rendantenposten und kehre morgen mit euch nach Hause zurück.« »Also kneifen will meine Tochter,«, entgegnete der Vater mißbilligend. »Der hatte ich bestimmt mehr Schneid zugetraut.« »Das hat mit Schneid nichts zu tun, Paps. Bevor ich hier war, soll es bedeutend friedlicher zugegangen sein.« »Bist du denn, so zänkisch?« fragte er schmunzelnd, und da mußte sie lachen. »Natürlich. Bin ich doch bei Gewitter und Sturm hier hineingeplatzt, und nun wettert es um mich weiter.« »Und du meinst, wenn du bei Sonnenschein davonwandelst, so läßt du auch Sonnenschein zurück?
Mitnichten, mein Kind. Das Gewitter ist nun mal entfesselt und wird sich austoben – auch ohne daß du Blitzgewirr und Donnerkrachen mitmachst. Außerdem möchte ich gern, daß du hier bleibst, damit der Baron nicht wieder nachts in der Rentmeisterei sitzt und die Bücher revidiert, wie er es bei deinen Vorgängern tat. Wenn er dann eines Tages wegen Überbürdung zusammenklappt, kommen wir um unsern tüchtigen Verwalter- und dann kann ich mich mit seinem Nachfolger abplagen. Kapiert, Birgit?« »Wenn es so ist, Paps, dann will ich doch schon lieber auf dem Pulverfaß sitzen bleiben.« »Bist doch unser Liebherz«, sagte die Mutter zärtlich. »Wie können wir froh sein, Martin, eine so vernünftige Tochter zu haben. Denke nur, wenn sie wie Irina wäre – einfach grausig!« »So hätte sie bei deiner Erziehung niemals werden können, Fraule. Und nun wollen wir bei dem prachtvollen Wetter nicht einsitzen und über Dinge debattieren, die wir doch nicht ändern können, sondern uns auf den Tennisplatz begeben. Netz, Bälle und Dreß haben wir vorsorglich mitgebracht, und so wollen wir uns mal unsere Grillen aushopsen. Sie auch, gnädiges Fräulein?« »Ich kann nicht Tennis spielen, Herr Holmsen, weil ich nie Gelegenheit hatte, es zu erlernen. Wenn ich nicht über den Büchern saß, mußte ich im Haushalt der Verwandten arbeiten. Freizeit hatte ich nie.« »Da kann man wohl sagen: O wonnevolle Jugendzeit! Na, lassen Sie nur, kleines Fräulein, unsere Birgit wird Ihnen schon noch Freuden verschaffen.« »Ich bin auch ohne die glücklich, wenn Fräulein Birgit nur hierbleibt.« »Bescheidenes Gemüt. Hopp, Kinder, zieht euch um, damit wir vor dem Kaffee noch ein Spielchen machen können.« So klang dann bald vom Tennisplatz her Jubel und Lachen, dem die Baronin, die mit Irina in ihrem Zimmer am geöffneten Fenster saß, erbittert lauschte.
»Laß mich doch auch dorthin, wo es so lustig zugeht«, verlangte das Kind stürmisch, doch die Mutter winkte müde ab. »Nein, mein Herzblatt, mit dem zerschundenen Gesichtchen kannst du dich vor Familie Holmsen nicht zeigen.« »Das geht die doch nichts an.« »Gewiß nicht, aber man würde sich seine Gedanken darüber machen.« »Ich sage, daß ich gefallen bin.« »Dann würdest du wieder lügen, Irina, und du weißt, daß darauf die Strafe durch Odalf folgt – und ich müßte mit darunter leiden.« »Odalf ist jetzt einfach gräßlich geworden, ich kann ihn schon gar nicht mehr leiden. Früher war er nicht so streng zu mir.« »Ja, Kind, früher war auch alles hier anders. Mit den Holmsen ist unser Unglück ins Haus gezogen.« »Dann graulen wir sie eben wieder weg.« »Das geht nicht, Irilein. Sie sind die Herren.« »Und was sind wir?« »Nichts weiter als geduldete Kreaturen.« »Trotzdem gefällt es mir viel besser hier als in Weide. Dort tyrannisierte man uns ganz fürchterlich.« Jetzt wäre für die Mutter die passende Gelegenheit gewesen, ihr Kind durch gütige Ermahnungen auf den rechten Weg zu führen. Aber sie dachte gar nicht daran, sondern kniff die Lippen zusammen und starrte verbissen vor sich hin. Und noch jemand starrte einige Zimmer weiter vor sich hin, aber nicht verbissen, sondern versorgt und vergrämt. Auch er hörte das fröhliche Lachen der Menschen auf dem Tennisplatz und entlockte ihm ein bitteres Lächeln. So unbeschwert hätte auch er einmal sein mögen, allein, das kam ihm wohl nicht zu. Das Schicksal hatte ihm eine Sorgenlast auf die Schulter gepackt, die er nun schleppen mußte. Und wenn auch die Mutter, die ihm so arg zusetzte, nach Jahren dahingehen würde, so blieb ihm immer noch
Irina. Die würde ihm wohl Sorge und Kummer bereiten bis an sein Ende. Auch am nächsten Tag ließen Mutter und Tochter Vörswelde sich nicht blicken. Erst als die drei Holmsen abgefahren waren, kamen sie zum Vorschein, und zwar zum Abendessen. Irinas Gesicht sah noch ärger aus als vor zwei Tagen, weil es jetzt in allen Farben schillerte. Doch den Mund schien diese Radikalkur nicht gestopft zu haben, er machte sich schon wieder recht unliebsam bemerkbar. Die Mutter schwieg dazu, Birgit überhörte die Frechheiten, weil sie von den Eltern gütig ermahnt worden war, nachsichtig zu sein, Erla wagte sowieso nichts zu sagen – und der Bruder schickte die Schwester, die es zuletzt arg genug trieb, einfach vom Tisch. Brüsk erhob sich die Baronin und ging mit dem Kind hinaus. Am nächsten Morgen sollten die beiden jungen Mädchen eine Überraschung erleben. Als sie die Diele betraten, bat der Verwalter sie in sein Arbeitszimmer. »Gnädiges Fräulein, ich habe da eine Änderung geschaffen, die Sie gütigst verzeihen wollen, weil sie über Ihren Kopf hinweg geschah. Ich habe nämlich gestern abend noch das Zimmer, in dem Familie Ragalt früher speiste, instandsetzen lassen, damit wir dort ohne meine Mutter und ohne meine Schwester die Mahlzeiten einnehmen können, sofern Sie, gnädiges Fräulein, einverstanden sind.« »Ich schon – «, kam die Antwort zögernd. »Mir ist es ganz gleich, wo ich esse. Aber muß diese Änderung sein, Herr Baron?« »Ja, gnädiges Fräulein. Ich habe meine Nerven für die Arbeit so nötig, daß ich sie mir nicht durch den ewigen Ärger bei Tisch zermürben lassen darf. Und da ich meine Mutter aus dem Raum, der mit ihren Sachen möbliert ist, nicht vertreiben möchte, mußte ich zu einer anderen Möglichkeit greifen. Zürnen Sie mir deshalb, gnädiges Fräulein?« »Um Gott, Herr Baron, so töricht bin ich nicht. Aber wäre es nicht besser, wenn ich die Mahlzeiten auf meinem
Zimmer einnehmen würde? Dann könnte alles so bleiben, wie es vor meinem Erscheinen war.« »Dann hätte ich immer noch nicht beim Essen meine Ruhe.« »Also dann auf an die neue Futterkrippe!« Das Zimmer war zwar nicht so feudal eingerichtet wie das der Baronin, aber dafür gemütlich, licht und von Sonne durchflutet Sogar eine kleine Terrasse war vorgelagert, auf der ein Tisch mit bequemen Korbsesseln umgeben stand. Ersterer war bereits zum Frühstück gedeckt. »Herrlich ist es hier!« rief Birgit fröhlich. »Friede und Eintracht sollen stets wohnen, wo wir unsere Atzung nehmen, auf daß sie uns gut bekomme.« Kaum daß man Platz genommen hatte, brachte ein Mädchen in Häubchen und neckischer Schürze den Kaffee. Nachdem es gegangen war, sagte der Baron: »Ich habe Urte zu unserer Bedienung bestimmt, weil ich Jost meiner Mutter überlassen möchte: Der kennt seine Herrin gut genug, um ihr gewachsen zu sein.« Es wurde das erste gemütliche Mahl, das Birgit in diesem Hause einnahm. Sie war denn auch von einem Übermut, daß nicht nur Erla lachte, sondern auch Odalf, wenn auch nicht so oft. »Nun noch eine Frage, gnädiges Fräulein. Wie werden Ihre Angehörigen diese Änderung aufnehmen?« »Die werden mit ihr sehr einverstanden sein. Es wird ihnen jetzt so gut gefallen, daß sie noch öfter herkommen werden.« »Das sollte mich freuen. Und nun zu Ihnen, Fräulein von Tessau. Fassen Sie bitte Irina während des Unterrichts so streng an, wie Sie es für erforderlich halten. Meiner Unterstützung sind Sie stets sicher.« »Und wenn die Frau Baronin mich zur Rechenschaft zieht?« »Dann entfernen Sie sich von ihr.« »Das wäre doch unhöflich.« »Besser, als sich ungerecht angreifen lassen. Aber nicht wieder zaghaft werden, wollen Sie mir das versprechen?«
»Ja«, entgegnete sie so fest, wie man es noch nicht von ihr gehört. »Ich will mich von Fräulein Holmsen nicht beschämen lassen, die das Leben so fröhlich meistert.« »Ich sage ja, unser Täubchen kriegt Galle«, lachte Birgit. »Frisch an die Arbeit, da die Glocke draußen zu ihr ruft. Ich freu mich schon auf das gemeinsame Mittagsmahl. Nicht etwa, weil ich ein Nimmersatt bin, sondern weil dann ein gemütliches Plauderstündchen winkt, die ich stundenlang bei der Arbeit den Schnabel halten muß.« Lachend trennte man sich und ging seiner Beschäftigung nach. Als Erla das Schulzimmer betrat, saß Irina bereits darin und sah ihr herausfordernd entgegen. Aber bald machte sie ganz große Augen, weil die Lehrerin einen ungewohnten Ton anschlug, streng, kurz, sachlich. Daß ihr das Herz dabei bang klopfte, ahnte der kleine Tunichtgut gottlob nicht, sonst wäre er mehr obenauf gewesen denn je. So jedoch traute er dem Frieden nicht und benahm sich ganz passabel. Bis die Schülerin etwas durchaus besser wissen wollte als die Lehrerin und höhnisch meinte, daß diese dumm wäre, da wurde die Verhöhnte energisch. Am liebsten hätte sie dem Frechling ja eine Ohrfeige gegeben, aber das farbenschillernde Gesicht ließ sie davon absehen. »Du hältst jetzt deinen vorlauten Mund, Irina, hast du mich verstanden?!« trumpfte sie zum Erstaunen über sich selbst auf. »Du schreibst das, was ich dir gesagt habe.« »Erlauben Sie mal, Sie sprechen mit der Baronesse Vörswelde«, reckte sich das Persönchen hochmütig. »Mit einer Baronesse? Daß ich nicht lache! Mit einem Rüpel spreche ich.« »Ich werde es meiner Mutter erzählen, welch ordinäre Worte ich von Ihnen zu hören bekomme.« »Immer noch nicht ordinär genug für dein mehr als ordinäres Betragen«, kam es gelassen von der Tür her, durch die Odalf schritt. »Ich hielt es nämlich für angebracht, hinter der Tür zu lauschen, was ich übrigens oft zu tun gedenke. Also bist du vor mir nie mehr sicher, meine liebe Irina. Worum geht’s, Fräulein von Tessau?«
»Um diesen Satz.« Sie hielt ihm die französische Grammatik hin. »Irina hielt es jedoch für richtig, anders zu schreiben.« »Unglaublich. Und du willst mit dem straßenmädchenhaften Betragen eine Baronesse Vörswelde sein? Da ist die Bezeichnung Rüpel noch viel zu gelinde. Also, Fräulein von Tessau, greifen Sie ohne Erbarmen durch.« Ihr freundlich zunickend, ging er davon, und Irina bequemte sich zur Arbeit. Sie tat es jedoch so flüchtig und unsauber, daß die Lehrerin bei Durchsicht das Geschriebene einfach ausstrich und der fassungslosen Schülerin das Heft wieder zuschob. »So, das schreibst du noch einmal, aber tadellos. Tust du es nicht, geschieht es noch mehrmals.« Da sprang Irina auf, hochrot vor Wut. Die Tür knallte hinter ihr zu – und Erla zitterte vor Erregung. Angstvoll lauschte sie, und tatsächlich rauschte die Baronin ins Zimmer. Doch bevor sie ihrer Empörung Luft machen konnte, schlüpfte Erla an ihr vorüber. »Paß auf, Mama, jetzt läuft sie entweder zu Odalf oder Fräulein Holmsen«, sagte Irina enttäuscht, die sich schon auf die Abrechnung, die ihre Mutter halten wollte, gefreut hatte. »Und da kriegt sie recht.« »Leider – «, stieß die Dame verbissen hervor. »Wo ist das Heft?« »Hier. Ist das denn so miserabel geschrieben?« »Ja, mein Kind«, mußte sie nun zu ihrer Bestürzung hören. »Deine Arbeiten gewissenhaft verrichten, das mußt du schon, sonst wird ja nichts aus dir. Aber dazu gehört die richtige Anleitung, zu der die Tessau nicht fähig ist. Unerhört, einfach aus der Stunde fortzulaufen. Ein Zeichen, daß sie kein reines Gewissen hat. Nun, ich werde Odalf sagen…« Indes stürmte Erla in die Rentmeisterei, wo Birgit von der Arbeit auffuhr. »Hoppla, hoppla! Was ist denn in Sie gefahren, mein sonst
so behutsames Kind!« Als Erla das Geschehnis herausgesprudelt hatte, lachte die andere amüsiert. »Olala, Kleine, Sie machen sich. Recht so, speichern Sie nur die Galle, die Ihnen endlich zu wachsen scheint, brav auf, dann wird sie Ihnen schon zu gegebener Zeit platzen.« »Ich finde das gar nicht lächerlich, Fräulein Holmsen«, schmollte Erla. »Sie sind überhaupt an allem schuld.« »Ich?« »Ja – denn Sie haben mich aufgeputscht!« »Oh, wie mich das freut!« Auch Odalf freute sich, als er bei Tisch von Erlas Verhalten hörte. »So ist es recht, Fräulein von Tessau«, lobte er amüsiert. »Nun erst einmal der Bann gebrochen, ist mir nicht mehr bange, daß Sie sich bei Ihrer impertinenten Schülerin durchsetzen werden.« Als er dann am Abend die Aufgaben der Schwester, die sich nicht ganz wohl in ihrer Haut zu fühlen schien, nachsah, rauschte die Frau Mama herein. »Was sagst du nun dazu?« legte sie ohne jeden Kommentar los. »Skandalös, nicht wahr?« »Das kann man wohl sagen.« »Es freut mich, mein Sohn, daß du endlich dahinter kommst, daß man so einer ordinären Person unsere Irina nicht länger anvertrauen kann.« »Ich glaube, wir sprechen aneinander vorbei, Mama.« Diese Antwort ließ die Dame aus den Wolken ihrer Hoffnungsfreudigkeit fallen. »Ich finde es skandalös, daß Irina eine so schludrige Arbeit leistete und zwar aus Protest gegen die Lehrerin. Daß sie exakt arbeiten kann, ersehe ich nämlich aus der Abschrift, die sie auf meinen Befehl machen mußte.« »Du weißt aber noch nicht, daß die Tessau das Kind einen Rüpel schimpfte.« »Fräulein von Tessau meinst du doch wohl, nicht wahr, Mama? Zufällig hörte ich hinter der Tür mit an, in welchem
Zusammenhang das Wort fiel. Und ich finde, daß die junge Dame sich noch sehr gelinde ausdrückte, gemäß dem Betragen deiner Tochter. Ich jedenfalls habe mich meiner Schwester geschämt.« Ja, da war die Frau Mama denn doch zuerst sprachlos. Am liebsten hätte sie vor ohnmächtiger Wut getobt, begnügte sich ihrer Würde eingedenk denn nun, ihm verächtlich entgegenzuschleudern: »Du bist verblendet, mein Sohn!« »Eben nicht«, kam es in aufreizender Gelassenheit zurück. »Ich sehe sogar mit scharfen Augen.« »Und soll das immer so weiter gehen?« »Was denn?« »Der ewige Zank und Streit.« »Meine liebe Mama, wenn du und Irina diesen nicht heraufbeschwört, dann könnten wir alle in Frieden und Eintracht leben. Ich habe dir nun doch wahrlich alles aus dem Weg geräumt, was dich empören und ärgern könnte. Habe sogar, als du gestern äußertest, die beiden hätten nichts in deinem Speisezimmer zu suchen, sofort Abhilfe geschaffen.« »Die könnten ja auch in ihrem Zimmer essen.« »Die Tochter meines Gebieters?« Er sah sie so sonderbar an, daß sie nun doch seinem Blick auswich. »Du scheinst noch immer nicht begriffen zu haben, daß sie hier die Tochter des Hauses ist.« »Na schön«, lachte sie verärgert auf. »Aber dann könntest du doch wohl mit uns essen.« »Könnte ich wohl – aber ich will nicht, Mama. Ich möchte nämlich in Ruhe meine Mahlzeiten einnehmen. Und da ich das wegen deiner Herrschsucht und wegen Irinas rüpelhaften Betragens nicht kann, suche ich mir einen friedlichen Ort aus, wo mir nicht der Bissen im Hals stecken bleibt.« »Was bist du doch für ein liebevoller Sohn. Und ich wollte dich schon fragen, ob wir nicht unser Erbe, daß dein Bruder uns auszuzahlen verpflichtet ist, zusammenlegen
sollen und eignen Besitz dafür kaufen.« »Zu einem kleinen würde das schon langen. Aber bedenke, daß ich auch einmal heiraten werde. Und wenn das Mädchen, auf das meine Wahl fällt, nicht deinen Ansprüchen entspricht, wäre ein Zusammenleben unhaltbar. Also müßten wir uns trennen, ich müßte dein und Irinas Geld aus dem Besitz ziehen und könnte dann selber von ihm gehen. Daher fangen wir damit erst gar nicht an.« »Du könntest ja bei deiner Wahl auch auf meine Wünsche Rücksicht nehmen.« »Rücksicht würde ich allein auf mein Herz nehmen, Mama.« »So, so – «, lächelte sie verächtlich. »Da hat diese Person…« »Mutter!« peitschte seine Stimme dazwischen. »Kein Wort weiter vor den Ohren des Kindes, das ohnehin schon altklug genug ist. Laß mich jetzt bitte allein, bevor ich die Nerven verliere. Und das möchte ich mir selbst ersparen.« Am nächsten Morgen nach dem Frühstück, als Odalf sein Arbeitszimmer betrat, um einen wichtigen Brief zu schreiben, schob sich die Schwester durch die Tür und trat zögernd auf ihn zu. »Was willst du, Irina?« fragte er unfreundlich. »Ich habe jetzt keine Zeit für dich.« »Odalf, ich halte es nicht mehr aus.« »Ich schon lange nicht. Geli ins Schulzimmer und tu deine Pflicht.« Da schlich das Kind davon. Die Lehrerin saß schon auf ihrem Platz, und auch sie hatte für ihre Schülerin kein freundliches Wort, keinen freundlichen Blick. Streng und sachlich begann sie mit dem Unterricht, dem Irina zuerst auch folgte, dann jedoch brüsk das Buch weg schob und erklärte: »Ich halte das nicht mehr aus.« Und siehe da, sie erhielt dieselbe Antwort wie vorhin von dem Bruder:
»Ich schon lange nicht.« Da sprang die Kleine auf und lief davon. Aber nicht zur Mutter, um sich zu beklagen, sondern um die Tränen nicht sehen zu lassen, die ihr übers Gesicht liefen. Sie kam sich plötzlich verlassen vor, hungerte förmlich nach einem lieben Wort – aber nach anderm, als die Mutter es für sie hatte. Sich selbst wohl kaum bewußt, schlug sie den Weg zur Rentmeisterei ein, wo Birgit sie unwillig empfing. »Was willst du hier, mich etwa mit deinen Ungezogenheiten beehren? Mach schleunigst die Tür von draußen zu.« Also auch da schroff abgeblitzt. Als hätte sie Blei an den Füßen, so langsam setzte sie diese voran. Wo sollte sie nun noch hin? Etwa zur Mutter gehen, sich ihre verbissenen Klagen anhören, ihre Tränen ansehen, die seit gestern abend reichlich flossen? Immer wieder vorgehalten bekommen, daß sie ein undankbares Kind und so aufopfernder Mutterliebe nicht wert sei? Daß sich die Mama zu Tode grämen müsse über ihre mißratenen Kinder? Da ging sie lieber in das Schulzimmer zurück und ließ sich von der gräßlichen Tessau schikanieren. Sie atmete ordentlich erleichtert auf, als sie die Lehrerin noch vorfand. Und diese wiederum hatte Mühe, sich nichts davon anmerken zu lassen, wie bange Minuten sie verbracht, seitdem Irina davongestürmt war. Und nun kam diese wieder ohne die »geladene« Frau Mama, benahm sich sogar recht manierlich und folgte dem Unterricht aufmerksam – was Wunder, daß Erla beim Mittagessen ein strahlendes Gesicht zeigte. »Was ist Ihnen denn so Erfreuliches begegnet, Fräulein von Tessau?« erkundigte sich der Baron lächelnd. »Ihre Augen lachen ja förmlich.« »Ich habe heute den ersten Sieg über meine schwierige Schülerin davongetragen.« Frohbewegt gab sie das Geschehnis zum besten, und Birgit horchte auf. »Da möchte ich doch gern wissen, was Irina bei mir in der
Rentmeisterei wollte.« »Sie war bei Ihnen, gnädiges Fräulein?« fragte Odalf überrascht. »Ja. Aber ich schickte sie fort, weil ich es auf einen Zusammenstoß nicht ankommen lassen wollte«, entgegnete sie lachend. »Wenn nämlich Ihre Gnaden Irina auftauchen, ist allemal Vorsicht geboten.« »Leider«, gab er seufzend zu. »Das Mädchen hat es hier schon soweit gebracht, daß es wie der personifizierte Unfrieden gefürchtet wird. Hätte es mir nie träumen lassen, daß ein Kind einem so arg zu schaffen machen kann. Am besten wäre es ja, Irina in ein Internat zu geben, aber davor schrecke ich immer noch zurück. Denn erstens würde ich meine Mutter dadurch empfindlich treffen, und dann ist die Kleine, wenn auch nicht krank, so doch recht schwächlich. Sie sehen also, meine Damen, daß es nicht leicht für mich ist, das Richtige zu treffen.« O nein, der Mann hatte es nicht leicht – aber die kleine Schwester auch nicht, trotz der Vergötterung der Mutter. Ständig die verbitterten Klagen mit anhören zu müssen, ist gewiß nichts für ein zwölfjähriges Kind. Wenn es mit der unzufriedenen, wehleidigen Frau bei Tisch saß und frohes Lachen aus dem anderen Speisezimmer hinüberflatterte, so packte es die Sehnsucht, auch unter der fröhlichen Gesellschaft sein zu dürfen. Und da hatte das Schicksal mit der kleinen Irina ein Einsehen. Die Mutter erkrankte, und so tat es sich von selbst, daß die Tochter an den Mahlzeiten der anderen teilnahm. Was der Bruder ihr vorher angedroht, schrieb sie sich hinter die Öhrchen und benahm sich ganz manierlich. Wenn der kecke Mund auch manchmal noch durchging, nun, das sah man ihm schon nach. Denn so wie kein Meister vom Himmel fällt, konnte aus einem Teufelchen nicht von heut’ auf morgen ein Engelchen werden. Die Krankheit der Baronin gab übrigens zu ernstlicher Besorgnis Anlaß. Zwar ging die Erkältung bald zurück, doch die Lunge schien ein wenig angegriffen zu sein und
die, Nerven erst recht. So hielt der Arzt es für ratsam, die Rekonvaleszentin in ein Bad zu schicken, womit diese auch einverstanden war. Daß Irina sie begleitete, nahm sie als selbstverständlich an und geriet mit dem Arzt in erbitterten Streit, der die Begleitung des Kindes untersagte, weil sie absolut Ruhe haben müßte. Als die Dame sich recht kindisch benahm, riß ihm die Geduld und er sagte ihr auf den Kopf zu, daß die ungezogene Tochter ein Hemmnis für die Gesundung bedeutete. Diese unverblümte Sprache kränkte das Mutterherz natürlich tief. Und wer mußte für alles herhalten? Natürlich der arme Odalf. Die Mutter machte ihm dermaßen das Leben schwer, daß er alle erbarmte. Schon seinetwegen setzte der Arzt alles daran, daß die rücksichtslose Frau aus dem Hause kam. Endlich war es denn, soweit, sie reiste unter der Obhut einer zuverlässigen Pflegerin ab. Und somit gab es Ruhe nach Gewitter und Sturm. Selbst die beiden jungen Mädchen atmeten auf, obwohl sie mit der Baronin nichts zu tun gehabt hatten. Aber es herrschte eine so große Unruhe im Hause, die alle Bewohner ergriff. Nun saß man beim Mittagessen, schachmatt. Es war Irina nicht zu verdenken, als sie dem Stoßseufzer Raum gab: »Die Mama kann einem aber auf die Nerven fallen. Die letzten Tage waren einfach gräßlich.« Man überhörte ihre Bemerkung, die man nur zu berechtigt fand. Seit einer Woche ließ man sich wieder einmal die Mahlzeit gut munden und genoß dabei den Frieden im Hause mit allen Sinnen. Und dann brachte Irina das zur Sprache, was ihr angeblich am meisten am Herzen lag. »Wo soll ich nun schlafen, Odalf? Allein in Mamas Schlafzimmer graule ich, mich zu sehr.« »Komm doch mit zu mir«, erbot sich Erla bereitwillig. »In meinem Zimmer ist so viel Platz, daß da kein Bett bequem aufgestellt werden kann. Oder haben Sie etwas dagegen, Herr Baron?« »Wenn das Kind Sie nicht stört, wäre das die einfachste
Lösung«, gab er, dessen Antlitz in den beiden Wochen sehr schmal geworden war, Antwort. Er hatte ja auch so allerlei hinter sich, der bedauernswerte Mann. Schon Wochen vorher den ständigen Ärger mit der Mutter und Schwester, dann die Krankheit ersterer, ihr kindisches Gebaren danach, das konnte einen Menschen schon herunterbringen. Das weiche Herz Erlas zog sich bei seinem Anblick aus Mitleid zusammen, wohlgemerkt, aus Mitleid. Denn um Liebe zu dem Mann, der gewiß kein Dutzendmensch war, weder im Aussehen noch Charakter, zu empfinden, dazu war selbst das Herz der kleinen Lehrerin zu bescheiden. Sie bewunderte ihn, schwärmte ihn sogar heimlich an, aber das hatte nichts mit Liebe zu tun. Also hätte die Baronin ganz beruhigt sein können, die für ihren Sohn in bezug auf die Gattin die allerhöchsten Ansprüche stellte. Sie vergaß nämlich, daß er kein freier Mensch auf eigner Scholle, sondern ein Verwalter war, der bei einem Gebieter in Lohn und Brot stand. Das Schicksal hatte es immer noch nicht fertig bekommen, sie so zu ducken, daß sie sich bescheiden lernte. Ihr Sinnen und Trachten stand danach, eignen Besitz zu haben, auf dem sie ihrer Herrschsucht die Zügel schießen lassen konnte, wie sie es zum Beispiel in Weide getan. Aber das besaß nun der älteste Sohn, der das Gut hätte veräußern müssen, wenn sich nicht eine Frau gefunden, die es sanierte. Also war der Anteil, der Mutter, Schwester und Bruder von dem einst verschuldeten Erbe zustand, gewiß nicht so groß, daß es ausreichte, auch nur ein mittleres Gut zu erwerben. Doch so oft Odalf das auch seiner Mutter klarmachte, bekam er die Antwort, daß er ja nur so reich zu heiraten brauchte, wie sein Bruder. Und mit Irina hätte sie überhaupt die höchsten Pläne. Nun, das kleine Mädchen war noch lange nicht soweit, um diese Pläne zu verwirklichen- oder auch nicht. Vorläufig ging ihr Trachten dahin, im Zimmer der Lehrerin, die sie doch bisher so gräßlich gefunden, schlafen zu dürfen.
»Ich werde Fräulein von Tessau gewiß nicht stören, das verspreche ich dir«, beteuerte sie stürmisch, und da mußte er lachen. »Weißt du, Irina, deine Versprechen sind immerhin mit Vorsicht zu genießen. Doch wir wollen dir die Chance geben, dich zu bewähren, nicht wahr, Fräulein von Tessau?« »Ich bin mit Freuden dabei, Herr Baron.« Nun sollte Irina zum erstenmal in ihrem Leben kennenlernen, wie es tut, wenn man vom Rock einer überängstlichen, überzärtlichen, egoistischen Mutter gelöst ist und kein Aufhebens mit einem gemacht wird. Sie mußte zur gewohnten Zeit ins Bett, das Licht wurde gelöscht, aber dann herrschte nicht die Totenstille um sie wie im Schlafgemach der Mutter, sondern aus dem Nebenzimmer, dessen Tür offen stand, hörte sie die beiden jungen Mädchen lachen und schwatzen. Birgit setzte sich sogar an den Flügel, und unter den schmeichelnden Klängen schlief Irina beseligt ein. Als sie erwachte, hatte Erla bereits das Bett verlassen. Durch das weit geöffnete Fenster wehte die Morgenluft, Sonnenschein tauchte das Gemach in goldenes Licht. Draußen sangen die Vögel ihr jubelndes Lied, von den nahe Weiden brüllte eine Kuh, wieherte ein Pferd, von irgendwoher flatterte Lachen auf. Wunderschön ist so ein Erwachen, dachte Irina beglückt. Ganz anders als bei der Mama, die schon mit ihrer Überängstlichkeit begann, bevor sie die Augen noch richtig aufschlug. Ob sie gut geschlafen hätte, ob ihr nichts weh täte, ob sie sich auch ganz bestimmt wohl fühlte und lästiger Fragen mehr. Dann wurde sie wie ein Baby gebadet, angekleidet und alles bei geschlossenen Fenstern, damit sie nur ja keinen Zug bekäme. Dann die Quälerei hinterher mit dem Essen, da sollte ein Mensch nicht verdrießlich sein, zumal die Mutter auch tagsüber auf Schritt und Tritt hinter ihr her war. Wie ganz anders war das heute. Während sie sich noch wohlig im Bett streckte, trat Fräulein von Tessau ein.
»Einen schönen guten Morgen, Irina. Nun ‘raus aus den Federn, damit du zum Frühstück zurecht kommst. Urte wartet unten bereits, um dir beim Ankleiden zu helfen und deine >Rattenschwänzchen< zu flechten«, schloß sie lachend. »Pfui, Fräulein von Tessau, ich bin auf meine Zöpfe so stolz. Das heißt, mein Bruder findet sie auch scheußlich und hat der Mama wiederholt geraten, sie abschneiden zu lassen, damit das Haar dichter wird. Aber meine Mutter findet es auch so schön, wie alles an mir.« Ein Zeichen, wie blind vernarrt diese Mutter war. Denn schön konnte man an Irina nun wirklich nichts nennen. Zwar war das Gesichtchen fein geschnitten, aber zu blaß und zu hager. Die Gestalt erschreckend dünn und schlaksig. Wenn sich das nicht änderte, würde aus der Baronesse Vörswelde nie eine Schönheit werden, sondern ein farbloses, kraftloses Treibhauspflänzchen. »Nun, Iri, gut geschlafen?« empfing der Bruder sie am Frühstückstisch. »Herrlich, Odalf! Bei Musik schlief ich ein, und das war wunderbar. Werden Sie jeden Abend spielen und singen, Fräulein Holmsen?« »Wenn dich das nicht stört, dann schon.« »Sie werden doch womöglich auf das Kind keine Rücksicht nehmen, gnädiges Fräulein?« »Bestimmt nicht mehr als erforderlich ist, Herr Baron«, entgegnete sie lachend. »Dafür bin ich nicht sanft und milde genug. Mein Vater behauptet, daß ich jeher von allen am meisten zu Hause zu hören gewesen bin. Singend ins Bett, singend aus dem Bett und zwischendurch noch fröhlich gesungen.« »Das finde ich schön«, sagte Erla. »Ich mußte mich immer sehr leise verhalten, weil neben meinem Zimmerchen die beiden Basen schliefen, die auf Tantes strenges Gebot nicht gestört werden durften. Wenn ich nur ein wenig Unachtsam war, wurde ich verklagt und das Strafgericht folgte.«
»Ihre Verwandten müssen ja Seelen von Menschen gewesen sein«, bemerkte Birgit kopfschüttelnd. »Kein Wunder, daß aus Ihnen ein Wesen wurde, welches die andern um Verzeihung für die Kühnheit bittet, überhaupt geboren zu sein.« »Jetzt übertreiben Sie aber fürchterlich«, lachte Erla. »Ich habe mich unter Ihrem Einfluß ganz gut gemausert, will ich meinen.« »War auch die höchste Zeit«, entgegnete die andere trocken. »Wer so aussieht wie Sie, dazu so klug ist und einen so vorzüglichen Charakter besitzt, der darf schon mit gutem Recht seinen Platz im Leben behaupten. Stimmt’s, Herr Baron?« »Gewiß, gnädiges Fräulein. Mir wollte die junge Dame das immer nicht glauben, doch Sie scheinen diese endlich von ihrem Wert überzeugt zu haben. Ich jedenfalls freue mich über die Veränderung, die mit Fräulein von Tessau vorgegangen ist.« »Ich weniger«, wollte Irina rasch bemerken, hielt jedoch wohlweislich das Schnäbelchen, damit der Bruder nicht wieder unangenehm wurde. Sie fragte, wann es Sommerferien gäbe und erhielt den beglückenden Bescheid, daß sie bereits begonnen hätten. Zwar sollte heute, am Sonnabend der Unterricht noch stattfinden, aber so genau wollte man es nicht nehmen. »Nun will ich dir mal was sagen, Irina«, bemerkte der Bruder freundlich. »Tummele dich während der Ferien recht viel im Freien und sitze nicht ein, wie du es bei der Mama leider mußtest.« »Allein macht mir das keinen Spaß, Odalf.« »Das glaube ich dir und daher werde ich zusehen, dir eine Gefährtin zu besorgen. Es gibt ja genug Stadtkinder, denen einige Wochen Erholung auf dem Lande guttäten.« »Hoffentlich ist das Mädchen auch gut erzogen«, meinte Irina besorgt, was die anderen herzlich lachen ließ. »Ausgerechnet du hast es nötig, darüber in Sorge zu sein, du kleiner Unnütz.«
»Du brauchst darüber gar nicht zu spotten, Odalf. Die Mama sagt, daß schlechte Beispiele gute Sitten verderben.« »Eben – und deshalb wirst du bemüht sein, dem sicherlich gut erzogenen Mädchen seine guten Sitten nicht zu verderben. Sieh mich nur so groß an, leider muß man das bei dir befürchten.« »Du bist abscheulich, Odalf!« »Wollen wir lieber nicht ergründen, wer abscheulicher von uns beiden ist. Aber ich hoffe, daß ich mich meiner Schwester nicht mehr zu schämen brauche. Und was gedenken Sie während der Ferien zu tun, Fräulein von Tessau? Sie wissen ja, daß Sie über diese frei verfügen dürfen. Haben Sie Lust, zu verreisen?« »Ich wüßte nicht, wo ich hin sollte, Herr Baron. Zu meinen Verwandten mag ich nicht und wäre da auch nicht erwünscht, und allein in der Weltgeschichte herumzuzigeunern, dazu fehlt mir, offen gestanden, der Schneid. Daher möchte ich Sie bitten, hierbleiben zu dürfen.« »Wie Sie wollen, obwohl eine Abwechslung Ihnen guttäte. Ihnen steht jedenfalls jederzeit ein Gefährt zur Verfügung, das Sie zur Stadt bringt, wo Sie Zerstreuung finden können.« »So unbescheiden bin ich nicht; um das zu verlangen«, wehrte sie entschieden ab. »Ich weiß doch, daß während der Ernte selbst die Wagenpferde heran müssen.« »Was den übermütigen Rackern sehr dienlich ist«, gab er lächelnd zurück. »Außerdem habe ich ein Auto erstanden, das jeden Tag hier eintreffen muß. Auch der Fahrer, der gleichzeitig Gärtner ist.« »Odalf, davon weiß ich ja gar nichts!« rief Irina aufgeregt. »Bisher behauptest du doch immer, kein Geld zur Anschaffung eines Wagens zu haben – und – ach, ich weiß«, unterbrach sie sich frohlockend, »man hat dir in Weide dein Erbteil ausgezahlt. Stimmt’s?« »Vielleicht?«
»Sind wir jetzt reich?« »Je nachdem, was du darunter verstehst, Kleines«, gab er lächelnd zur Antwort und erhob sich dann, weil die große Hofglocke zur Arbeit rief, auch Birgit. So blieben denn Lehrerin und Schülerin allein zurück, da sie durch die Ferien aller Pflichten ledig waren. »Was werden Sie jetzt beginnen, Fräulein von Tessau?« »Zum See hinuntergehen, um ein Sonnen- und Schwimmbad zu nehmen.« »Darf ich mitkommen?« »Ich weiß nicht, Irina, ob ich die Verantwortung übernehmen kann. Da müßtest du erst deinen großen Bruder fragen.« Schon war das Kind davon, um einige Minuten später wieder zu erscheinen. »Odalf erlaubt es«, verkündete sie strahlend. »Ich soll mich gegen die pralle Sonne schützen und zuerst mal nur mit den Füßen ins Wasser gehen, da ich noch nie ein Seebad genommen habe, weil meine Mutter es nicht gestattete. Oh, ich bin ja so aufgeregt, fast wie zu Weihnachten!« »Hoffentlich lieferst du mir unten keine Bescherung«, entgegnete Erla lachend. »Warte hier, bis ich mich umgezogen habe.« Als sie dann im Bademantel vor Irina stand, meinte diese kleinlaut: »Und ich soll etwa so bleiben wie ich bin?« »Nicht ganz so. Unten ziehst du dir Kleid, Schuhe nebst Strümpfen aus.« »Gut, bescheide ich mich also. Aber mein Bruder muß mir auch alles das kaufen, was zum Baden gehört.« »Darum wirst du ihn schon bitten müssen, nicht wahr?« verbesserte Erla freundlich. Schon wollte die Kleine patzig werden, ließ es dann jedoch lieber bleiben. Sie sagte sich ganz richtig, daß es daraufhin ein unerquickliches Zusammensein werden, und sie sich somit die Freude verderben würde. Als Irina am See im Hemd und Höschen stand, sah Erla
erst, wie mager das Körperchen war. Und das bei einem Landkind, welches neben bester Verpflegung noch reine Waldluft hatte. Aber gerade vor dieser hütete die Baronin ihr Kind ja mit Überängstlichkeit, stets fürchtend, daß ein Windhauch es berührte. Wie würde die Dame außer sich geraten, könnte sie ihren Abgott so leicht bekleidet, mit den Füßen im Wasser plätschernd, sehen. Fürsorglich hatte Erla die freien Stellen des Kinderkörpers mit Creme eingerieben und den Kopf durch ein leichtes Tuch geschützt. So konnte dem Mädchen nichts passieren, das sich voll Eifer dem bisher unbekannten Vergnügen hingab. Wohl schwamm Erla wie ein Fisch in dem klaren Wasser, entfernte sich jedoch nicht weit, weil es ihr zu unsicher war, Irina allein zu lassen. Sie waren beide so vertieft, daß sie erschraken, als von der kleinen Veranda des Badehäuschens eine lustige Stimme rief: »Glaubt nur ja nicht, daß ihr allein in Sonne und Wasser schwelgen könnt!« Ein Sprung, ein Aufspritzen – und das lachende Gesicht Birgits tauchte aus dem Wasser auf. »Oh, Fräulein Holmsen, wie schön, daß Sie da sind«, freute sich Erla. »Ist es denn schon so spät, daß Sie Mittagspause halten können?« »Nein, wir können uns noch eine gute Stunde tummeln. Ich machte Schluß mit der Arbeit grauer Pflicht, weil ich es mir leisten kann. Habe mein Pensum geschafft. – Was haben wir denn da für einen Storch im Salat?« zeigte sie auf Irina, die am Rande des Wassers mit ihren langen, dünnen Beinen umherstelzte. »Ist die Kleine etwa ohne Erlaubnis ihres Bruders hier, Fräulein von Tessau?« »Werde mich hüten, so eigenmächtig zu handeln. Irina holte die erste Instanz ein und bewegt sich nun ganz nach Vorschrift.« »Nun, in dem lauen Wasser kann das dem >Spacheisterchen< gewiß nichts schaden.« Damit schwamm Birgit davon, und die Badekappe
leuchtete ferner und ferner. Bewundernd sah Erla ihr nach. Wenn sie auch eine gute Schwimmerin war, so weit wagte sie sich dennoch nie hinaus. Außerdem mußte sie auf Irina achten, die sie nun bedeutete, ihr Fußbad zu beenden. »Darf ich nicht noch ein Weilchen bleiben?« bettelte das Kind. »Es ist doch so wunderschön.« »Das glaube ich dir, aber du darfst dich nicht zu lange der prallen Sonne aussetzen. Wie leicht könntest du Sonnenbrand bekommen, der Herr Baron würde mir dann berechtigte Vorwürfe machen und dir selbst in Zukunft das Vergnügen untersagen.« Das sah Irina dann ein und ließ sich von der andern in den Liegestuhl helfen, den diese so vorsorglich unter den großen Schirm schob, daß er im Halbschatten stand. »So, hier kannst du dich nun ohne Bedenken aalen«, sagte sie fröhlich. »Ich ziehe mir meinen Luftanzug an und tue dergleichen.« Später gesellte sich noch Birgit hinzu, und ein netter Plausch kam zustande. Frohes Lachen perlte immer wieder auf, in das Irina plötzlich hineinrief: »Schaut mal, dort schwimmt mein Bruder! Er winkt uns zu.« Tatsächlich bemerkte man in Entfernung von gut zwanzig Metern auf dem Wasserspiegel einen Kopf und aufragend einen winkenden Arm. »Von welcher Stelle aus mag der Herr Baron wohl ins Wasser gegangen sein? Sicherlich ist es ihm zu genierlich zwischen uns Badenixen zu platzen, daher wählte er einen anderen Zugang.« »Ihm genierlich -?« dehnte Erla. »Ich denke, eher müßte uns das sein. Oder gehören Sie gar zu den Mädchen – « »Die sich halbnackt vor Männern präsentieren?« fiel Birgit mutwillig ein. »Eigentlich nicht.« »Na also, dann sind wir uns ja einig.« »Meine Mutter sagt immer, die Mädchen von heute wären schamlos«, bemerkte Irina altklug. »Es wird sie daher
freuen, daß Sie es nicht sind.« »Dann nimm, du Naseweis, dir nur ein Beispiel daran«, kam es von der Stelle her, wo ein Kopf wie selbständig auf dem Wasser schwamm. Immer näher kam er dem Ufer, dann streckte sich eine Hand aus der kühlen Flut und warf drei Seerosen auf den Sand. »Einen Gruß der Nixen den Nixen!« rief eine lachende Männerstimme, dann schoß der Kopf in entgegengesetzter Richtung davon, während Birgit aufsprang und nach den zarten Blüten griff, bevor eine vorwitzige Welle sie noch erhaschen konnte. »Oh, wie schön!« rief Irina begeistert. »Darf ich auch eine Blume haben, Fräulein Holmsen?« »Natürlich, es wird redlich geteilt.« Später erschienen die drei Mädchen an der Mittagstafel, das duftige Angebinde im Haar, was dem Spender ein Schmunzeln entlockte. Man war so fröhlich wie schon lange nicht mehr, ließ sich die Speisen gut munden, wobei selbst Irina, die bisher stets mangelnden Appetit gezeigt, eifrig mittat. »So ist es recht«, lobte der Bruder. »Wenn du immer so gut ißt, wirst du bald volle, rote Wangen bekommen. Ein Rosenschimmer liegt bereits auf deinem Gesichtchen.« »Freut dich das, Odalfbruder?« »Sehr, Schwesterchen. Sieh also zu, daß ich mich immer wieder über dich freuen kann.« Um die Kaffeezeit erschienen di$ drei Holmsen mit einem Sack voll Neuigkeiten, die sie bei Tisch gleich auskramten. »Denke dir nur, Birgit, Bodo hat sich verlobt«, berichtete die Mutter strahlend. »Und zwar mit einer jungen Ärztin, mit der er in der Klinik zusammen arbeitete. Er will bald heiraten und dann die Praxis des verstorbenen Sanitätsrats Waller übernehmen. Wie froh bin ich doch, daß wir den lieben Jungen ganz in unsere Nähe bekommen. Hoffentlich hat er eine gute Wahl getroffen.« »Nach dem begeisterten Brief zu schließen, soll die Liebste doch ein Ausbund an Schönheit, Klugheit und Herzensgüte
sein«, spottete Wido gutmütig. »Aber welch ein Mädchen ist das nicht – mit den Augen der Liebe betrachtet.« »Wie weise er daherredet«, schmunzelte der Vater. »Dir könnte das natürlich nicht passieren, nicht wahr, mein Sohn?« »Das will ich nicht behaupten.« »Du bist wenigstens ehrlich«, anerkannte Birgit vergnügt. »Wann werden wir das Wunderwesen in Augenschein nehmen dürfen?« »Schön in den nächsten Tagen«, gab die Mutter Antwort. »Und wenn die Frau Baronin erst ganz gesund ist, gedenken wir allesamt unsere Ferien hier zu verleben.« »Danke für gütige Rücksichtnahme, gnädige Frau«, schaltete sich Odalf nun ein. »Diese ist jedoch nicht erforderlich, weil meine Mutter gestern in ein Bad gefahren ist, um ihre Gesundheit vollends zu kräftigen.« Das war eine überraschende Nachricht für das Ehepaar Holmsen nebst Sohn. Es war ihnen gewiß nicht zu verdenken, daß sie heimlich aufatmeten. Denn sie hatten schon befürchtet, daß die unangenehme Dame die Harmonie ihrer Ferien stören würde. »Wie konnte es geschehen, daß die Frau Baronin ohne Irina fuhr?« erkundigte sich Gina zögernd, und der Mann konnte einen Seufzer nicht unterdrücken. »Das ging gewiß nicht kampflos vor sich, gnädige Frau. Gottlob hatte ich an dem Arzt einen starken Verbündeten, so daß der Sieg unser wurde. Ich hoffe, daß die Trennung Mutter und Tochter gleich guttun wird.« »Das spüre ich jetzt schon«, bemerkte das Kind vorlaut. »Es lebt sich ohne die Mama bedeutend besser und – « »Irina!« rief der Bruder mahnend dazwischen, worauf sie ein Mäulchen zog, es aber hielt. Gewandt plauderte man über das Peinlichkeitsgefühl, das die Worte der Kleinen hervorriefen, hinweg. Am nächsten Sonnabend rückte dann die Familie Holmsen sozusagen mit Sack und Pack an. Und zwar in dem großen Auto, in dem man gerade Platz fand. Denn unter ihnen
befand sich noch ein neunjähriges Mädchen, mit dessen Kommen man nicht gerechnet hatte. Verschüchtert stand es abseits, während die Begrüßung des Brautpaares mit Birgit erfolgte. Die Schwägerinnen betrachteten sich forschend, dann lachten sie sich an. »Na also.« Der junge Arzt rieb sich schmunzelnd die Hände. Er hätte mit seinem Vater nicht die verblüffende Ähnlichkeit wie Wido, war nicht ganz so groß und breitschultrig, nicht ganz so blond, zeigte jedoch große Familienähnlichkeit. Das Fräulein Doktor war das, was man mit einem liebenswerten Menschenkind bezeichnen konnte. Nicht schön, aber immerhin hübsch genug, um als guter Durchschnitt zu gelten. Mittelgroß und schlank, dunkelblondes Haar, klares Gesicht, graublaue Augen und eine ungemein wohllautende, warme Stimme. »Die gefällt dir, Schwesterchen, was?« neckte Bodo. »Wie hätte ich es auch wagen dürfen, mit weniger Liebem und Wertvollem unter eure kritischen Augen treten zu wollen.« »Dein Glück!« lachte Birgit fröhlich. »Gefällst mir gut, liebe Schwägerin.« »Ein dito«, war die lachende Erwiderung. Dann zog sie das kleine Mädchen zu sich heran. »Und was sagst du hierzu?« »Süß«, entgegnete Birgit, überwältigt auf das wunderschöne Kind schauend. Große dunkle Augen in einem feinen Gesichtchen, dunkle Locken bis auf die Schultern fallend, das Figürchen ungemein graziös. »Wer ist denn das, Nora?« »Mein kleines Schwesterchen Alexa. Seit dem Tode der Eltern habe ich mich von ihr nicht mehr getrennt, die als Nachgeborenes unser aller Liebling war. Und da Bodo mir zuredete, die Kleine mit in das Haus seiner Eltern zu bringen, wagte ich es.« »Und tatest recht damit«, bekräftigte Birgit. In den Kinderaugen leuchtete es auf, während das rosige Mündchen eifrig sprach: »Ich freu mich ja so, daß ich mit durfte, liebe Tante Birgit.
Ich will auch immer artig sein.« Während der Unterhaltung hielten sich der Baron, seine Schwester und Erla abseits. Nun wandte man sich ihnen zu, sprach einige verbindliche Worte und begab sich nach der Terrasse zum Kaffeetisch. Ein Gedeck für die nicht erwartete Alexa wurde rasch eingeschoben und zwar so, daß die beiden Kinder nebeneinander saßen. Da merkte man erst, wie kümmerlich Irina eigentlich war, wie sehr sie neben dem blühenden, gutentwickelten kleinen Mädchen abfiel. Die beiden Mediziner warfen sich einen fragenden Blick zu, der dem Baron nicht entging. Ein bitteres Lächeln umzuckte seinen Mund, während bange Sorge sein Herz erfüllte. Was sollte werden, wenn Irina sich mit der kleinen Alexa, die sicherlich auch sehr verwohnt war, nicht vertrug? Als Birgit später der Braut des Bruders das Zimmer zeigte, das sie für sie ausgesucht und wohnlich gestaltet hatte, bat diese, ein Bett für das Schwesterchen hineinzustellen, weil es sich allein in der fremden Umgebung fürchten würde. »Wird gemacht«, versprach Birgit fröhlich. »Graulen darf sich niemand bei uns. Jeder soll sich hier wie zu Hause fühlen.« »Was bei euch guten Menschen bestimmt nicht schwerfallen dürfte«, entgegnete die andere sehr herzlich. »Wie glücklich bin ich doch, meinen lieben Bodo gefunden zu haben und seine nicht minder lieben Angehörigen dazu. Und nun eine Frage im Vertrauen: Was ist mit der kleinen Baronesse los? Die sieht ja direkt verkümmert aus.« In kurzen Worten setzte Birgit der Schwägerin die Verhältnisse auseinander, worauf diese dann sagte: »Immer dasselbe Lied bei den Nachkömmlingen. Alexa ist zwar auch einer, trotzdem haben meine Eltern und ich uns bemüht, sie zu erziehen. Liebe hat sie allerdings viel genossen, doch wenn die richtig angewandt wird, kann sie kein Unheil anrichten.« »Ganz meine Ansicht, Nora. Jedenfalls rate ich dir, dein Schwesterchen nicht aus den Augen zulassen, damit es
nicht hilflos der Willkür der anmaßenden Baronesse ausgeliefert wird. Vorbeugen ist immer besser als heilen.« Es herrschte nun ein frohes Leben in dem Herrenhaus von Ragaltshöfen. Man war ein Herz und eine Seele, vertrug sich blendend und bedauerte es, daß der Baron sich dem harmonischen Kreis ausschloß, soweit es nur angehen wollte. Daß Erla unter ihnen weilte, dafür sorgte schon Birgit, und Irina fühlte sich einfach als zugehörig. Am liebsten hätte sie Alexa ganz mit Beschlag belegt, allein, deren Angehörige hielten Vorsicht für geboten. Es war immer jemand zur Stelle, wenn die beiden Kinder zusammenkamen. Das merkte der Baron sehr wohl. Zwar gab er sich alle Mühe, nicht ungerecht zu werden, aber daß man die Kleine vor seiner Schwester so ängstlich hütete, erbitterte dennoch. »Der arme Kerl kann einen in tiefster Seele erbarmen«, brummte Papa Holmsen, der mit den Seinen unter einer großen Linde im Park beisammen saß, indes Odalf mit Irina im Auto zur Stadt fuhr. »Nicht allein, daß er als zweitgeborener Sohn von dem Erbe seiner Väter weichen mußte und als Verwalter in Lohn und Brot gehen, da muß er sich außerdem noch mit einer hysterischen Mutter und einer verzogenen Schwester herumplagen. Wie kann eine Frau nur so verbohrt sein, ihr letztgeborenes Kind so maßlos zu verziehen. Denkt sie denn gar nicht daran, daß dieses, wenn es erwachsen ist, sich selbst und anderen zur Plage wird?« »So weit denken solche exaltierten Menschen nicht«, gab Bodo zur Antwort. »Sie sind krasse Egoisten, die nur an sich und nicht an das Wohl ihres Kindes denken. Das haben wir in unserer Praxis oft erfahren müssen, nicht wahr, Nora?« »Ganz gewiß, Bodo.« »Und dabei kennt ihr Irina noch nicht einmal in ihrem vollen Glanz«, meldete sich Birgit. »Da hättet ihr sie mal erleben sollen, als sie Hinterhalt bei ihrer Mutter fand. Wie sie sich ihrer Lehrerin gegenüber benahm, kann man nur
als rüpelhaft bezeichnen. Und griff der Bruder scharf durch, gab es Krach mit der impertinenten Dame. Fräulein von Tessau war schon so eingeschüchtert, daß sie ihrer frechen Schülerin nicht entgegenzutreten wagte und sich geduldig von ihr drangsalieren ließ. Sie hätte mit Irina überhaupt nichts anfangen können, wenn diese nicht aus sich selbst heraus die Gnade gehabt hätte zu lernen.« »Wo ist das Fräulein eigentlich geblieben?« erkundigte sich Frau Gina. »Unten am See, Mutti. Sie fürchtet nämlich, unsern Kreis zu stören und sucht ihn ohne mein Zutun nie auf. Dabei ist sie ein so wertvolles Menschenkind, nur viel zu bescheiden und zaghaft. Das macht das Aschenputteldasein, das sie jahrelang im Hause ihrer Verwandten führte, außerdem hat das Leben hier auch nicht dazu beigetragen, sich ihres Wertes bewußt zu werden. So leidet sie denn direkt an Minderwertigkeitskomplexen.« »Das hat sie gerade nötig«, grollte Papa Holmsen. »Zum Kuckuck noch eins, so ein bildhübsches Dirnlein, dazu von gutem Charakter, gescheit und aus guter, makelloser Familie, das muß sich doch überall behaupten können. Wie kommt die Baronin überhaupt dazu, es wie einen Kuli zu behandeln? Der müßte man gehörig den Standpunkt klarmachen, was man leider des Barons wegen nicht kann. Sie ist immerhin seine Mutter – wenn auch eine miserable!« »Aber lieber Mann, du wirst ja anzüglich«, lachte die Gattin. »Ergrimm dich nicht, es ist umsonst. Denn ändern kannst du an den Verhältnissen hier doch nichts.« »Leider. Da naht übrigens die gnädige Baronesse. Na warte, du anmaßendes Persönchen! Dir werde ich schon deinen vorlauten Schnabel stopfen, wenn auch nicht in Gegenwart des Bruders.« »Ich war mit Odalf in der Stadt«, tat sie sich wichtig, als’ sie heran war. »Im eignen Auto. Die Tessau sollte mitkommen –« »Fräulein von Tessau heißt es«, verbesserte Papa Holmsen,
und sie winkte herablassend ab. »Meinetwegen. Aber sie wollte nicht, sitzt lieber unten am See und heult – « »Weint – «, knurrte der Mann nun dazwischen wie ein gereizter Kettenhund, so daß die andern kaum ein amüsiertes Lachen zurückhalten konnten. Nur Irina sah ihn erschrocken an, lief zum Bruder, den sie gerade noch im Arbeitszimmer erwischte. Sie beklagte sich aufgebracht, daß Herr Holmsen sie grundlos angefahren hätte, worauf er sie durchdringend ansah. »Ohne Grund, Irina?« fragte er langsam. »Das kann doch wohl kaum stimmen. Ich möchte die Wahrheit hören.« »Du tust ja so, als ob ich immer lüge«, maulte sie, seinem Blick dabei ausweichend. »Ich habe nur gesagt, daß die Tessau nicht zur Stadt mitkommen wollte, sondern lieber am See sitzt und heult.« »Und da wunderst du dich, daß man dich beruft, wenn du so wegwerfend von der jungen Dame sprichst’ Mädchen, es ist schon ein Kreuz mit dir. Ich freute mich, daß du dich in letzter Zeit ganz manierlich benahmst, aber jetzt beginnst du wieder mit der alten Tour, so daß ich mich deiner schämen muß. Schau dir mal die kleine Alexa an, dieses liebe, wohlerzogene Kind.« »Laß mich bloß mit der in Ruhe!«, stampfte sie nun ungezogen mit den Füßen. »Das Getue der andern mit ihr ist geradezu lächerlich. Was sie auch tun und sagen mag, darüber ist man entzückt, während bei mir – « Aufweinend drückte sie das Gesicht an den Arm des Bruders, der lächelnd bemerkte: »Also Eifersucht. Nun, die kann, dir nicht schaden, Benimm dich so wie Alexa, dann wird man dich gleichfalls lieb’ haben, was man bei einem kleinen Scheusal unmöglich kann. Einen guten Rat will ich dir geben, Irina: Laß deinen Ärger an dem Mädchen ja nicht aus. Damit würdest du Empörung bei der gesamten Familie Holmsen hervorrufen, die mich zwänge, dich von hier zu entfernen.« Jetzt hob sie den Kopf, und die verweinten Augen starrten
ihn schreckerfüllt an. »Bitte, Odalf, tu das nicht. Ich könnte es nicht ertragen!« »Sieh mal an, du kannst nicht, aber ich muß mich immer weiter meiner Schwester schämen. Ist es denn so schwer, manierlich zu sein, Iri?« »Manchmal schon«, entrang sich ein Seufzer der beengten Brust. »Hauptsächlich dann, wenn man Alexa so ängstlich vor mir hütet.« »Ist das vielleicht ein Wunder? Man fürchtet, daß du ihr zu nahe treten könntest.« »Sie sollen sich bloß nicht so tun – « »Irina!« »Na ja, ich bin schon still. Ein Jammer, daß ich auch bei dir kein Verständnis finde.« Damit lief sie davon, und er seufzte. Was würde er mit dem störrischen Kind noch alles erleben müssen! Wie harmonisch könnte alles für ihn sein, wenn er den kleinen Störenfried nicht um sich hätte und den großen dazu, die Mutter. Jetzt war sie allerdings fern, aber einige Wochen nur. Wenn sie wieder hier weilte und feststellen mußte, wie sehr man Alexa liebte, während man für Irina nur Ablehnung fand, gab es Gewitter und Sturm, wovor ihn in tiefster Seele graute. Während der Mann seinen schmerzlichen Gedanken nachhing, stand Birgit vor Erla, die sie am See gesucht hatte und endlich in ihrem Zimmer vorfand. Die Augen verweint, um die Lippen ein zaghaftes Lächeln. »Warum sehen Sie mich denn so böse an, Fräulein Holmsen?« »Weil ich Veranlassung dazu habe, Fräulein von Tessau. Ist es eine Art, sich am See zu verkriechen und zu weinen, anstatt in unsern Kreis zu kommen und fröhlich mit uns zu sein? Soll ich Ihnen immer wieder erklären, wie gern meine Angehörigen und ich Sie mögen?« »Ich habe Angst.« Erla weinte heiß auf, und die andere betrachtete sie kopfschüttelnd. »Wovor denn, um alles in der Welt! Etwa vor uns
Holmsen?« »Ja – nein – ja – ach, ich möchte sterben.« Ratlos stand Birgit vor dem schluchzenden Mädchen und dachte angestrengt darüber nach, wer ihm etwas zuleide getan haben könnte. Ihre Angehörigen bestimmt nicht. Vörswelde? Ausgeschlossen! Bliebe also noch Irina. Aber deren Frechheiten nahm Erla in letzter Zeit nicht mehr tragisch, trat ihnen sogar entgegen. »Wollen Sie Ihr Herz nicht erleichtern?« begann sie behutsam, doch da starrten sie die grauen Augen fast entsetzt an. »Um Himmels willen – nein! Dann müßte ich mich ja schämen!« »Na nun schlägt’s dreizehn«, entgegnete Birgit verblüfft. »Sie und sich schämen müssen? Das wäre ja ganz was Neues!« »Neu ist es schon – nämlich mein Größenwahn«, kam die Antwort ganz verzweifelt – und da lachte ihr Gegenüber hellauf. »Größenwahn – Sie – Fräulein von Tessau? Das klingt direkt wie ein Witz. Leider gongt es in unsere interessante Unterhaltung hinein.« »Ich möchte am Mittagessen nicht teilnehmen…« »Was mit den verweinten Augen auch nicht ratsam sein dürfte. Wenn man auch taktvoll darüber hinweggehen würde, aber Ihnen selbst wäre es peinlich. Ich schicke Ihnen das Essen hierher.« »Bitte nicht, wenn Urte mich so sieht.« »Na schön, komm ich eben. Essen müssen Sie, damit der Weltschmerz nicht noch größer wird.« Da man allgemein wußte, daß Erla geweint hatte, erwähnte man ihr Fehlen bei Tisch nicht. Selbst die Kinder ließen davon ab, was der gewiß nicht taktvollen Irina hoch anzurechnen war. Doch so vergnügt wie; sonst konnte man nicht sein, weil es ein bedrückendes Gefühl ist, einen Menschen in seiner Nähe zu wissen, den Kummer plagt. Allein, als Birgit mit einem gutbestellten Tablett bei Erla
eintrat, hatte diese sich beruhigt. »Entschuldigen Sie meine Unbeherrschtheit«, sagte sie verlegen und die andere lachte. »Was heißt hier unbeherrscht? Wenn die Tränendrüsen voll sind, dann laufen sie einfach über. Sie wissen doch sicherlich, daß essen und trinken Leib und Seele zusammenhält, also richten Sie sich danach. Wenn ich Zeit habe, dann erscheine ich wieder. Jetzt muß ich zu den Meinen, die mich zum gemütlichen Plausch erwarten, und dann geht’s flott an die Arbeit. Ich habe ja keine Ferien, wie Sie beneidenswertes Wesen. Guten Appetit und auf Wiedersehen.« Wido Holmsen blieb zurück, als die Seinen zum See hinuntergingen, weil er einen dringenden Geschäftsbrief zu erledigen hatte. Wenn sein Vater und er sich auch im wohlverdienten Urlaub befanden, so ließen sie dennoch nicht das große Unternehmen, das aus Brennerei und Ziegelei bestand, nicht außer acht. Sie erhielten von dem Prokuristen, einem bewährten und äußerst zuverlässigen Mitarbeiter, tägliche Berichte. Fuhren abwechselnd auch hin, um im Betrieb nach dem Rechten zu sehen. So gab es manchmal Briefe zu schreiben, für die der Prokurist ohne die Chefs nicht die Verantwortung mochte. Und so ein Brief war es, den Wido erledigen wollte, wozu er sich zur Rentmeisterei begab, um dort die Schreibmaschine zu benutzen. »Ist’s erlaubt, Schwesterchen, das Allerheiligste zu betreten? Ich benötige nämlich eine Maschine.« »Gewährt, mein Sohn. Klappere nur drauflos, mich störst du nicht.« Er tat also und konnte bald das wichtige Schreiben in den Umschlag stecken. »Mach Feierabend, Kleine!« rief er der emsig Arbeitenden zu, doch sie schüttelte unwirsch den Kopf. »Störe mich nicht und verschwinde. Ich bin hier im Dienst, merke dir das. Du läufst ja in deinem Betrieb auch nicht einfach von der Arbeit fort.« .
»Sehr richtig«, schmunzelte er. »Gehab dich wohl. Wenn du fertig bist, 4arin komm zum See, wo unsere, Lieben es sich Wohlsein lassen, was auch ich zu tun gedenke. Den Brief lege ich hierher, damit er mit den andern Postsachen abgeht.« Vergnügt vor sich hinpfeifend, entschwand er. War tüchtig und gewissenhaft, die kleine Schwester, das mußte man ihr lassen. In seinem Zimmer zog er die Badehose an, schlüpfte in den Bademantel, ging hinaus und stieß in dem langen Gang auf Erla, die ihn so entgeistert ansah, als wäre er ein Gespenst. »Nanu, gnädiges Fräulein, ich fresse Sie bestimmt nicht«, spottete er gutmütig. Sie errötete bis zu dem Lockenköpfchen, murmelte eine Entschuldigung und verschwand in ihrem Zimmer. Was hat die Kleine denn, dachte er verwundert. Sollte sie etwa so prüde sein, daß sie an dem Bademantel Anstoß nimmt? Ohne ihn, nur in der Hose, das könnte man verstehen, aber so genügte er doch dem Anstand. »Sagt mal, ihr Lieben, sehe ich vielleicht unanständig aus?« fragte er, am See angelangt, wo man in Liegestühlen ruhte. Die beiden Damen in Luftanzügen, in denen sie dennoch angezogen wirkten, die beiden Herren in Polohemd und Shorts. »Unanständig?« fragte die Mutter verwundert zurück. »Warum denn?« »Das möchte ich auch gern wissen. Tatsache ist, daß Fräulein von Tessau, der ich im Gang der oberen Etage begegnete, mich so entsetzt ansah, als wollte ich sie beißen und dann vor mir davon in ihr Zimmer lief. Werdet ihr daraus klug? Ich nicht.« »Ich schon«, entgegnete die junge Ärztin, indem sie einen lächelnden Blick mit ihrem Verlobten tauschte. »Ich habe meine Beobachtungen gemacht, die ich jedoch für mich behalten möchte.« »Mir zu hoch, geliebte Schwägerin. Nun, vielleicht kommt mir noch die Erleuchtung.«
Sprach’s, warf den Bademantel ab, streifte die leichten Schuhe von den Füßen und war gleich darauf mit einem Hechtsprung von der Veranda aus im Wasser verschwunden. Die beiden Kinder, die am Rande eifrig damit beschäftigt waren, aus Sand eine Burg zu bauen, schrien erschrocken auf und lachten dann über den Schwimmer, der sich prustend bewegte. Oben blieb es zuerst still, bis Papa Holmsen schmunzelnd sagte: »Noralein, wenn ich das meine, was du meinst, dann liefe die Karre schon richtig.« »Ja, Paps, Gedanken lesen kann ich leider nicht. Da mußt du schon deutlicher werden.« »Das wird unsere Mutz für mich tun. Denn eine so zarte Angelegenheit kann nur durch einen Frauenmund erläutert werden.« »Oder gar nicht, mein lieber Martin«, gab sie lächelnd zurück. »Halten wir die Augen offen und warten ab.« »Hm. Willst du mir dann wenigstens sagen, wie dir die kleine Erla gefällt?« »Ich finde sie reizend im Aussehen und liebenswert im Charakter.« »Ich auch.« »Wir dito!« rief Bodo lachend. »Fehlt nur das Urteil der Hauptperson. Denn Birgits steht schon längst fest, Achtung, da stelz Irina auf uns zu. Also Vorsicht in den Äußerungen. Wenn die was aufschnappt, ist unser schönes Geheimnis futsch.« Jetzt war das Kind heran und wandte sich an den Arzt. »Herr Doktor, ich wollte Sie fragen, ob ich mit den Füßen ins Wasser gehen darf. Ich habe nämlich meinem Bruder fest versprechen müssen, Sie oder das Fräulein Doktor um alles erst um Erlaubnis zu bitten.« »Du darfst es, Irina«, entgegnete er freundlich. »Aber nur mit den Füßen, nicht weiter.« »Ich auch?« kam ein Stimmchen von unten. »Du auch, mein kleiner Schatz.«
»Ich schwimme aber schon, Onkel Bodo.« »Das tust du nachher mit mir zusammen. Jetzt mußt du auf Irina Rücksicht nehmen.« Sie war’s zufrieden, und so plätscherten denn die beiden Kinder mit den Füßen vergnügt im Wasser. »Schau mal an, die Baronesse kann auch manierlich sein«, schmunzelte Papa Holmsen. »Da muß ihr wahrscheinlich der Bruder gehörig die Wacht angesagt haben.« »Ist auch nötig«, bemerkte Bodo. »Die Kleine sieht erbärmlich aus. Wenn man nicht wüßte, daß hier um sie her Milch und Honig fließt, könnte man sie tatsächlich für unterernährt halten. Stimmt’s, Nora?« »Ja. Wie sollte sie aber auch anders beschaffen sein, da die verblendete Mütter sie eingesperrt hielt, immer fürchtend, daß ein kühles Lüftchen das Kind berühre. Ein Segen für das Kind, daß die unvernünftige Frau nun fern ist. Das mag vielleicht herzlos klingen, aber ich spreche hier vom ärztlichen Standpunkt aus. Nur einige Wochen ungebundenes Tummeln in dieser herrlichen Wald- und Seeluft, dazu den nötigen Appetit, dann dürfte man die jetzt so verkümmerte kleine Baronesse kaum wiedererkennen.« Prustend näherte sich Wido dem Ufer, und der Bruder rief ihm zu: »Schwimm ein wenig mit Alexa!« »kann unsere Süße das denn schon?« »Ja.« »Dann komm, mein Nixlein.« Jauchzend warf sie sich ihm entgegen und schwamm wie ein munteres Fischlein umher. Wido hielt sich dicht an ihrer Seite, während Irina mit sehnsüchtigen Augen zuschaute. »Schade, daß man sie nicht an die Angel nehmen kann«, meinte Nora bedauernd. »Aber dazu muß sie schon öfter im Wasser gewesen sein. Morgen führe ich sie bis zu den Knien hinein, heute bin ich zu faul. Da kommt übrigens Birgit, um ihr Bad zu nehmen – und tatsächlich, sie bringt
Fräulein von Tessau mit. Der gelingt aber auch alles.« »Da sind wir«, bedeutete sie strahlend. »Wo ist Irina? Aha, da stelzt sie ja herum. Komm mal her, wir haben was für dich.« Es war rührend, die Freude des Kindes zu sehen, mit der es die Badesachen betrachtete, die Erla ihm entgegenhielt. »Soll das für mich sein, Fräulein von Tessau? Wirklich für mich?« »Ja, Irina. Der Herr Baron brachte all die Herrlichkeiten aus der Stadt mit. Komm in das Badehaus und schlüpfe in den Anzug.« Als die Kleine wiederkam, lachte sie selig. »An alles hat mein guter Bruder gedacht. Dieser entzückende Badeanzug, dann Mantel, Schuhe, Kappe, sogar den Luftanzug hat er nicht vergessen. Jetzt bin ich eben so schick wie die anderen. Nehmen Sie mich nun auch ins Wasser mit, Fräulein von Tessau?« »Heute nicht, Irina, vielleicht morgen.« Sie warf flugs den Mantel ab und verschwand im See. »Die geniert sich vor uns«, lachte Birgit. »Nun steh nicht da wie ein bedripptes Hühnchen, Irina. Ich nehme dich mit. Wie weit darf sie hinein, Bodo?« »Heute erst einmal bis zu den Knien, dann täglich etwas weiter. Das heißt, wenn das Wetter so warm bleibt. Wenn es genug ist, dann rufe ich.« So ging denn Birgit mit Irina an der Hand geduldig im flachen Wasser hin und her. Indes entstiegen Wido und Alexa der kühlen Flut und zogen sich um. Entzückend sah das zierliche Persönchen in dem leuchtendroten Luftanzug aus. Wido dagegen in Polohemd und Shorts kraftstrotzend wie ein junger Hüne. »Was wird das zimperliche Fräulein Lehrerin bloß zu meinen blanken Beinen sagen, wenn sie schon den Bademantel beanstandete. Selbst im Wasser riß sie vor mir aus«, sagte er in so komischer Bekümmernis, daß die anderen Tränen lachten. »Laß man, mein Sohn, das gibt sich schon noch«, beruhigte
der Vater. »Besser so als anders.« Am nächsten Vormittag streifte Wido durch den großen Park, um ihn sich in aller Ruhe anzusehen. Alter Baumbestand, samtene Rasenflächen, blühende Sträucher und Blumenbeete entzuckten das Auge. Weiter hinten war alles nicht mehr so peinlich gepflegt, aber immer noch sauber gehalten. Nur durch einen Wiesenstreifen getrennt, schloß sich der Wald an. Ganz andächtig wurde dem gewiß nicht sentimental veranlagten Wido zumute angesichts des herrlichen Fleckchens Erde. Versunken im Schauen schritt er weiter und hätte fast die hellgekleidete Gestalt übersehen, die unter einem Rotdornbaum saß. »Hallo, gnädiges Fräulein«, sagte er verdutzt. »Sie verkörpern ja Dornröschen in bezauberndster Weise. Darf ich mich zu Ihnen setzen und den Prinzen gestalten?« »Bitte«, entgegnete sie, ihr Erschrecken tapfer bekämpfend. »Mich entschuldigen Sie wohl.« »Seien Sie doch nicht so abweisend.« Er sah sie mit seinen lachenden Blauaugen treuherzig an. »Ich habe Ihnen doch nichts getan. Schenken Sie mir ein Plauderstündchen. Ich weiß ohnehin nichts mit mir anzufangen, weil die Meinen zur Stadt gefahren sind. Da die kleine Baronesse so gern mitwollte, trat ich ihr meinen Platz im Auto ab. Meine Schwester sitzt wie angeklebt in der Rentmeisterei – und ich bin so allein«, klagte er. Da mußte sie lachen und blieb, obwohl sie lieber davongelaufen wäre. Er griff nach dem Buch, das aufgeklappt mit dem Deckel nach oben lag und las: »Kant, Kritik der reinen Vernunft. Aber gnädiges Fräulein, wer wird in Ihren jungen Jahren so vernünftig sein und so was Vernünftiges lesen? Da muß ich ja Respekt vor Ihnen haben – und das will ich doch nicht.« »Das könnte Ihnen gar nichts schaden«, lachte sie nun wieder, was ihn vergnügt schmunzeln ließ. »Sie scheinen mir nämlich reichlich – keck zu sein.« »Ich doch nicht«, verwahrte er sich treuherzig. »Ich bin ja so bescheiden. Begnügte mich sogar mit dem Abitur und
überließ das Studieren meinem Bruder.« »Eine sonderbare Bescheidenheit.« »Nicht wahr? Nun brenne ich brav Ziegel und fabriziere Schnaps.« »Es scheint Ihnen dabei recht gut zu gehen, wie ich an Ihrer Lebensweise feststellen kann.« Sie bewunderte sich selbst, weil sie einen so gleichmütigen Ton anschlagen konnte, obwohl ihr das Herz schwer wie ein Hammer in der Brust schlug. »Naja – ich bin’s zufrieden. Wie wäre es, gnädiges Fräulein, wenn wir beide einen netten Spaziergang machten? Durch diese kleine Pforte, den Wiesenpfad entlang zum Wald, das wäre doch herrlich, nicht wahr?« »In zwei Stunden gibt es Abendbrot«, versuchte sie abzulehnen, allein, da hatte sie nicht mit der Hartnäckigkeit Wido Holmsens gerechnet. Was der sich nämlich in den Kopf setzte, das führte er auch beharrlich durch. Und er dachte es sich ungemein reizvoll, an der Seite des entzückenden Mädchens durch die prangende Natur zu schreiten. »Zwei Stunden sind eine lange Zeit.« Er lachte sie gewinnend an. »Wir brauchen ja nicht weit zu gehen.« »Oh, über diesen hartnäckigen Menschen«, schüttelte sie seufzend den Kopf. »So kommen Sie denn, ich werde Sie ja doch nicht los.« »Will ich stark hoffen. Geben Sie die >reine Vernunft< her, ich stecke sie in die Rocktasche.« »Und wenn ich nein sage?« »Dann sagte ich ja«, kam es seelenruhig zurück. Vergnügt schritt er an der Seite des Mädchens dahin, das die Befangenheit vollends verlor und munter plauderte. Ganz reizend plauderte, wie er bei sich feststellte. Wenn sie gar lachte oder es in den samtgrauen Augen aufleuchtete, dann war sie einfach unwiderstehlich. Ganz heiß wurde ihm unter der Weste, obwohl er keine trug. Die Sonne stand schon ziemlich tief als sie den Wald betraten. Kirchenstill schien es um sie her zu sein – und
war doch alles so voller Leben. In der Ferne keckerte ein Fuchs, hämmerte ein Specht, Eichhörnchen huschten über den moosigen Grund – und nun begann gar noch eine Nachtigall ihr schluchzend Lied. Erla sprach kein Wort, ging mit gesenktem Kopf neben dem Mann her, der gleichfalls schwieg. Er sagte auch nichts, als eine Träne glitzernd von der Wimper des Mädchens sprang – nur sein Herz öffnete sich ganz weit und groß. Als er zur Umkehr mahnte, erwachte sie wie aus einem wunderbaren Traum. Wie weltentrückt war der Blick, der sich zu dem Mann fand. Und was er in den grauen Augensternen las, ließ ihm einen Herzschlag lang den Atem stocken. Scheues, kleines Mädchen, dachte er zärtlich, während er an ihrer Seite dahinschritt. Wenn du wüßtest, wie sehr du dich verraten hast. Aber ich werde mich hüten, das auch nur anzudeuten, sonst bekommst du es fertig, Hals über Kopf vor mir zu fliehen – und ich habe das Nachsehen. So einem schüchternen Rehlein muß man sich vorsichtig nähern, ganz langsam, Schritt für Schritt, sonst vergrämt man es für alle Zeit. Als sie die Wiese betraten, übergoldete die sinkende Sonne alles ringsum mit ihrem Schein. Kühl wehte die Luft. Nebel stiegen wie milchige Schleier langsam am Boden auf. Die beiden Menschen sprachen auch jetzt nur wenig, ließen sich von der traumhaften Stunde einspinnen. Als sie dann vor der Tür standen, die zu Erlas Zimmer führte, reichte sie ihm zaghaft die Hand, auf die er zart seine Lippen drückte. »Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein – es war für mich eine Feierstunde.« Rasch ging er davon, seinem Zimmer zu – und die »reine Vernunft« blieb in seiner Tasche. Erla jedoch trat in ihrem Zimmer an das geöffnete Fenster, sah in die prangende Blumenpracht hinunter und legte die Hände an die heißen Wangen. In ihren Augen stand ein tiefes Leuchten, in ihrem Herzen war ein Aufruhr, der sie erzittern ließ.
»Daß es so was gibt«, flüsterte sie beseligt vor sich hin. »So ein heißes, heiliges Gefühl. Jetzt will ich ganz zufrieden sein, will nicht mehr weinen, auch nicht mehr barmen – denn ich habe heute ein Zipfelchen reinsten, tiefsten Glücks erhascht.« Sie schrak zusammen, als im Nebenzimmer eine Tür ging und gleich darauf Birgit vor ihr stand. »Da sind Sie ja, Fräulein von Tessau. Ich suche Sie nämlich seit einer Stunde wie eine Stecknadel.« »Ich machte mit Ihrem Bruder einen Spaziergang.« Erla bemühte sich gleichmütig zu tun. »Es war ganz nett.« Nur ganz nett, mein Kind -! lachte die andere in sich hinein. Deine Augen reden eine ganz andere Sprache und deine Wangen glühen wie rote Rosen. Demnach muß der Spaziergang »himmelhochjauchzend« gewesen sein – und hoffentlich für meinen Bruder auch. Wenn du dieses treue Herz gewinnst, scheue, zaghafte Erla von Tessau, dann ruhst du daran warm und weich für alle Zeit. Laut jedoch sagte sie harmlos: »Also hat sich doch jemand gefunden, der sich des armen, verlassenen Knaben annahm. Er wußte so absolut nichts mit sich anzufangen, daß er sich sogar erbot, mir bei meinem Schreibkram behilflich zu sein. Als ich das ablehnte, zog er betrübt von dannen.« »Sind die Herrschaften schon aus der Stadt zurück?« fragte Erla hastig, um abzulenken. »Das hören Sie doch von der Terrasse her, wo Irina wie ein Hähnlein kräht. Gleich wird es gongen, und ich muß mich rasch ein wenig frisch machen.« Sie ging, während Erla an den Toilettentisch trat, um ihr Haar zu bürsten. Sie erschrak, als sie in das Spiegelglas schaute. Nein, so durften ihre Augen natürlich nicht strahlen. Was sollten wohl die anderen denken – vor allen Dingen der Mann, für den ihr närrisches Herz mit jeder Faser schlug. Das durfte er nie erfahren. Denn der reiche, bedeutende Wido Holmsen und die unbedeutende, arme Erla Tessau –
unmöglicher Gedanke! Gottlob ging es an der Abendtafel so munter zu, daß einer auf den andern nicht achtete. Obwohl der Bruder Irina wiederholt berief, führte sie dennoch das große Wort. »Lassen Sie die Kleine nur«, schmunzelte der Senior. »Wes das Herzchen voll ist, läuft der Mund einfach über. Erzähle nur weiter, kleines Mädchen. Wir hören gern zu, wenn du so lieb plauderst.« »Ja – dann fuhren wir zur Villa Holmsen, tranken dort Schokolade und aßen Kuchen mit Schlagsahne«, rührte sich der Plappermund weiter. »Das schmeckte mir so gut, wie nie in meinem Leben zuvor. Dann ging Fräulein Doktor mit Alexa und mir in ein Geschäft, wo sie uns süße Sonnenhüte kaufte, die wir am See tragen dürfen. Der Herr Doktor sagt, wenn ich kräftig genug bin, nimmt er mich an die Angel, damit ich schwimmen lerne. So, jetzt bin ich fertig, nun redet ihr.« So drollig klang es, daß man herzlich lachte und gleichzeitig gerührt war. Wenn die kleine Baronesse sich über etwas so sehr freuen konnte, was manche Kinder ihres Alters als Selbstverständlichkeit hinnahmen, wie arm mußte ihr bisheriges Leben gewesen sein – trotz der Vergötterung der Mutter. An diese dachte auch der Baron. Was sollte werden, wenn sie heimkehrte und Irina wieder vollständig mit Beschlag belegte, sie nach wie vor mit Überängstlichkeit bewachte? Das würde bei dem Kind, das sich jetzt unter fröhlichen Menschen so frei bewegen durfte, einen grenzenlosen Jammer geben. Am nächsten Tage regnete es, so daß man sich im Hause vergnügen mußte. Familie Holmsen, außer Birgit, dazu Erla und Irina, hielten sich auf der Veranda auf, die dem hinteren Teil des Hauses vorgelagert und so geräumig war, daß sie bequem Platz für alle bot. Wärmer gekleidet als an Sonnentagen saß man in Korbsesseln um den Tisch an einem Ende, während die beiden Kinder am gegenüberliegenden Halma spielten.
Die drei Damen stichelten an einer Handarbeit, die drei Herren schmauchten in Beschaulichkeit ihr Shagpfeifchen. Dazu unterhielt man sich an dem Tisch gemütlich, während es am andern lebhaft zuging. Dort führte wieder einmal Irina das große Wort. »Siehst du, da hab ich dich aufs neu«, frohlockte sie, und Alexa klagte: »Du spielst aber auch zu raffiniert.« »Ja, mein Kind, im Spiel kein Freund«, kam die Antwort großartig. »Da muß man zusehen, wie man am besten vorankommt. Wenn du aber so ein Schnutchen ziehst, dann will ich nicht so sein und ab und zu einen Zug verkehrt machen, wie meine Mutter es früher mit mir tat, damit ich nicht weinte. Jetzt laß ich mir das natürlich nicht mehr gefallen, jetzt wünsche ich ein faires Spiel. Doch da du drei Jahre jünger bist als ich, kannst du dich schon ein wenig schonen lassen.« »Das möchte ich aber nicht«, protestierte die Kleine. »Man darf sich nichts unverdient schenken lassen, sagt meine große Schwester.« »Das sagt mein großer Bruder auch. Du, der ist ungeheuer stolz. Der gibt lieber, als daß er nimmt.« Am andern Tisch hatte man Mühe, ein herzliches Lachen zu unterdrücken. Sie war eigentlich gar nicht so übel, die kleine Baronesse. Ein helles Köpfchen und anscheinend auch gutmütig. Wenn man ihr die Unarten abgewöhnte, wobei sie natürlich einen starken Halt brauchte, konnte schon noch ein liebenswertes Menschenkind aus ihr werden. Das dachte auch Erla, die schweigend an einer feinen Spitze häkelte und kaum den Blick zu heben wagte. Wenn sie es nämlich tat, schaute sie mitten in zwei lachende, blaue Männeraugen hinein – und das schien ihr gar zu gefährlich. Reizend sah die kleine Lehrerin aus in dem lichtgrünen Wollpullover und dem weiten Plisseerock. Wie Schlänglein ringelte sich das dunkle Haar auf dem feinen Köpfchen.
Das Gesichtchen weich und süß, die Hände kinderklein und zart. Wahrlich eine Augenweide, bei der einem schon das Herz aufgehen konnte. Widos Blick ruhte auch unausgesetzt auf dem geneigten Mädchenkopf. Die Augen redeten zeitweilig eine so unbedachte Sprache, daß sich seine Lieben verstohlen lächelnde Blicke zuwarfen. Endlich konnte der Senior nicht länger an sich halten und bemerkte vergnügt: »Somit wäre denn alles in schönster Ordnung.« »Was denn?« fragte Wido verständnislos. »Warum lacht ihr denn so übermütig?« »Über die Kinder«, entgegnete Frau Gina schnell gefaßt. »Über uns?« war es nun an Irina, verständnislos zu fragen. »Was tun wir denn so Lächerliches?« »Lächerliches nicht, mein Kind. Wir freuen uns, daß ihr so gut miteinander auskommt. Laßt euch nicht stören, spielt ruhig weiter.« »Siehst du, Alexa.« Irina war so stolz, als ob man ihr einen Orden verliehen hätte. »Wir vertragen uns jetzt ganz gut. Das heißt, du bist immer so brav, während meine Zunge trotz allen Bemühens doch zeitweilig ausrutscht. Aber laß man, das gewöhne ich ihr auch noch ab. Mein Bruder soll sich bald nicht mehr meiner zu schämen brauchen.« »Tut er das denn?« erkundigte sich Holmsen sen. harmlos. »Und wie! Wenn er mir das vorhält, sieht er immer ganz versorgt aus. Dabei hat er es schon ohnehin nicht leicht, der arme Kerl.« Ordentlich bekümmert klang es und löste bei den anderen amüsiertes Lachen aus, in das die Kleine fröhlich einstimmte. Indes betrat der »arme Kerl« die Rentmeisterei, wo Birgit fleißig arbeitete. »So, gnädiges Fräulein, an diesem Regentag, wo die Heuernte gezwungenermaßen unterbrochen werden muß, habe ich auch einmal Zeit für Ihre Angelegenheiten hier. Gestatten Sie, daß ich die Bücher einsehe?« »Bitte sehr. Hoffentlich ist alles einigermaßen klar, damit
Sie nicht gar zu viel in Ordnung bringen müssen.« »Das glaube ich nicht.« Er nahm ihren Platz am Schreibtisch ein, den sie bereitwillig räumte und sich in einen Korbsessel setzte. Während er sich in die Bücher vertiefte, hatte sie Muße, ihn genau zu betrachten. Sie sah sein Antlitz im Profil, hart war es geschnitten, stolz und kühn. Auf dem schmalen Kopf lag das Haar peinlich geordnet, die rassige Gestalt saß aufrecht im Stuhl. Die kühlen blauen Augen blickten suchend über die Zahlenreihen, die nervige Hand wandte Blatt um Blatt. Man sagte Birgit Holmsen nach, daß wohltemperiertes Blut in ihren Adern fließe, was sie selbst auch spürte und froh darüber war. Deshalb erfüllte es sie mit heißem Schreck, als ihr Herz plötzlich so sonderbare Sprünge tat, so daß sie hätte lachen und weinen mögen in einem Atemzug. Nein, du törichtes Herz, das laß gefälligst bleiben – lehnte sie sich sofort dagegen auf. Verliere dich nicht in einer blühenden Wildnis, in der du dich an Dornen und Disteln blutig reißt. Denn das Herz, dem du entgegenstrebst, das bleibt für dich tabu. Oder meinst du etwa, daß der stolze Mann seine Hand ausstrecken würde nach der Tochter des Besitzers von Ragaltshöfen, wo er Verwalter ist? Wo er außerdem noch seine herrische Mutter und seine ungezogene Schwester mit in die Ehe bringen müßte? Mit denen unter einem Dach zu leben, würde ein Mann wie er seiner jungen Frau nie zumuten. Und dann – und überhaupt – sein Herz müßte zu dem erglühen, dem er sich vermählte. Und daß du es nicht bist, du törichtes Ding, das laß dir nur klarmachen. Also bleib hübsch vernünftig. Sie schrak aus ihren Grübeleien auf, als der Mann sie ganz unvermutet ansprach: »Wollen Sie bitte herkommen, und mir verschiedenes hier erläutern, gnädiges Fräulein?« Schwer waren ihr die Füße, die sie vorwärts setzte, um dann neben dem Mann zu verharren. Ein Gemisch von
feinem Tabak und herbem Parfüm schlug ihr entgegen – und da schloß sie die Augen unter einem ihr unbekannten Gefühl, das ihr Herz erzittern ließ in Jubel und Pein zugleich. Sie biß die Zähne fest zusammen, holte mehrmals tief Atem – und dann ging es schon wieder. Aufmerksam folgte sie seinem Finger, der langsam über eine Zeile fuhr. »Wie hängt das hier zusammen, gnädiges Fräulein? Ich kann leider nicht klug daraus werden.« »So will ich es Ihnen erklären.« Sie bemühte sich, ihrer Stimme Festigkeit zu geben, was zu ihrer eigenen Genugtuung auch gut gelang. »Ich mußte es an dieser Stelle verbuchen, weil ein unverhoffter Eingang dazwischen kam. Hier ist der Beleg.« »Danke«, entgegnete er gelassen, nachdem er das Blatt geprüft hatte. »Jetzt bin ich im Bilde und muß schon sagen, daß Sie sehr exakt gearbeitet haben. Es ist eine Freude, die sauberen Bücher einzusehen. Ihr Herr Vater darf mit Recht stolz auf seine Rendantin sein.« Birgit ärgerte sich, daß ihr bei dem Lob das Blut heiß ins Gesicht stieg. Sie war ganz einfach eine dumme Gans! Wenn er doch endlich seine kühlen, forschenden Augen von ihrem Gesicht wenden würde. Aber sie ruhten darauf, als wollten sie ihre Seele ergründen – und das fehlte ihr gerade noch! Sich selbst zum Schutz warf sie den Kopf in den Nacken und meinte von oben herab: »Mein Vater hat meine Brüder und mich so erzogen, daß seine Pflicht zu tun eine Selbstverständlichkeit bedeutet. Stolz darauf zu sein, würde er als übertrieben erachten.« »Na schön.« Er löste mit bitterem Lächeln nun den Blick von dem hochmütigen Mädchengesicht. »Wohl dem Vater, der so prächtige Kinder sein eigen nennt. Aber meine Anerkennung müssen Sie sich schon gefallen lassen, gnädiges Fräulein.« Er stand auf, verharrte vor ihr in tadelloser Verbeugung, dann ging er rasch hinaus, während sie sich auf den
Schreibtischstuhl sinken ließ, das Gesicht auf die verschränkten Arme warf und so jammervoll weinte, als müßte ihr das Herz brechen. Zwei Tage hielt das Regenwetter an, dann gab es strahlenden Sonnenschein aufs neu. Familie Holmsen tummelte sich wieder im Park und am See, machte Spaziergänge, vertrieb sich die Zeit auf Ferienart – faul und behaglich. Anfangs wollte man nur vier Wochen dazu ausersehen, als jedoch im Holmsenschen Unternehmen alles wie am Schnürchen lief, entschloß man sich, noch Juli und den halben August über in Ragaltshöfen zu bleiben. Dann wollten die Verlobten mit Eifer daran gehen, das Haus, welches sie mit der Praxis übernommen, nach ihrem Geschmack einzurichten. Im September sollte dann die Hochzeit sein. Das Familie Holmsen – und Odalf Vörswelde? Er fürchtete sich vor dem Augenblick, da seine Mutter wieder in Ragaltshöfen auftauchen würde. Eigentlich beschämend, daß dem so war. Er müßte vielmehr die Mutter ungeduldig herbeisehnen und sie nicht mit Bangen erwarten. Ja, wenn er sich auf eignem Grund und Boden befände, dann sollte es ihm gleich sein, wie die aggressive Dame sich gebärdete. Aber da er hier nur ein Angestellter war, gab es auf seinen Brotherrn und dessen Familien Rücksicht zu nehmen an allen Ecken und Enden – und das zu tun lag der Baronin Vörswelde nun einmal nicht. Die wollte überall herrschen, selbst in dem Hause, das ihr nicht gehörte. Und dann war zu Mitte des Juli der Tag da, an dem die Baronin dem Sohn ihre Ankunft mitteilte. Er sorgte dafür, die wochenlang unbewohnten Räume wieder wohnlich zu machen. Ließ sie gründlich säubern, stellte Blumen hinein – aber nur aus einem Pflichtgefühl heraus, nicht aus Freude und glückseliger Erwartung. Man war gerade vom Mittagstisch aufgestanden, als der Bruder das Schwesterlein mahnte: »Halte dich bereit, Irina. In zehn Minuten fahren wir ab,
um die Mama von der Bahn abzuholen.« »Bitte, Odalf, laß mich hierbleiben«, flehte das Kind, doch er fuhr es hart an: »Du wirst gehorchen, verstanden? Was soll die Mutter wohl denken, wenn du zu ihrer Begrüßung auf dem Bahnhof nicht dabei bist? Es würde sie bitter kränken.« Dicke Tränen standen in den Augen des Mädchens, als es wie ein armer Sünder abtrollte. »Ist doch ein Skandal«, brummte Papa Holmsen, als die beiden außer Hörweite waren. »Anstatt so ein Kind sich über die Rückkehr der Mutter freut, sieht es ihr mit Bangen entgegen. Da fehlt doch gleich mit der Faust auf den Tisch zu hauen!« »Laß die Faust, Martin«, mahnte die Gattin gelassen. »Du würdest damit nur einen Skandal heraufbeschwören, den wir dem ohnehin schon geplagten Baron unbedingt ersparen müssen. Also, Kinder, geht der impertinenten Dame aus dem Wege, soweit ihr könnt. Darum bitte ich euch von Herzen.« »Wir können ihr wohl aus dem Wege gehen, aber Fräulein von Tessau nicht«, sprach Wido mit einem mitleidigen Blick in das blasse Mädchengesicht. Unendlich müde kam es von den zuckenden Lippen: »Was liegt schon an mir? Wie es auch kommen mag, ich muß zufrieden sein.« »Na, hören Sie mal, mein kleines Fräulein, es geht doch nun wirklich nicht, an, in ihren jungen Jahren so gottergeben zu resignieren.« Der Senior schüttelte mißbilligend den Kopf. »Donner noch eins, da muß es wohl einen Ausweg geben! Sie haben doch so niedliche. Zähnchen, wie wäre es, wenn Sie diese der hochfahrenden Baronin zu gegebener Zeit zeigten? Wenn das nicht hilft, geben Sie Ihren traurigen Posten einfach auf.« »Oh, bitte nicht.« Das Mädchen hob abwehrend die Hände. »Ich muß hier aushalten, weil ich es dem Herrn Baron versprach. Außerdem geht es mir gewiß nicht schlecht.«
»Natürlich«, stieß Wido grimmig zwischen den Zähnen hervor. »Sehr gut, muß man sagen, ein Pulverfaß ist gar nichts dagegen. Wehe, dreimal wehe – « »Wido!« rief die Mutter dazwischen, die gleich den andern das Lachen kaum verbeißen konnte. »Ich habe bisher nicht gewußt, daß du so fürchterlich in deinem Zorn sein kannst – du, die personifizierte Gemütlichkeit.« »Ach was«, brummte er verlegen. »Wer soll bei den miserablen Verhältnissen hier auch noch gemütlich bleiben?« Damit stürmte er davon – und Erla sah ihm sehnsüchtig nach. Ihr ganzes liebeerfülltes Herz lag in dem Blick. »Hm«, schmunzelte Papa Holmsen. »Da kann man wohl sagen – « »Martin-!« »Was willst du, Gina«, tat er harmlos. »Laß mich doch ausreden: Da kann man wohl sagen, daß unser Wido sehr langweilig ist. Nicht wahr, gnädiges Fräulein?« Das bekam große erschrockene Augen. »Um Gott, wie könnte ich mich erdreisten, Kritik an Herrn Holmsen zu üben!« »Na eben, Sie bescheidenes Mägdlein. Da höre ich unten das Auto abfahren. Was wird die Baronin wohl sagen, wenn sie ihr Töchterlein erblickt? In vier Wochen acht Pfund Gewichtzunahme, ist für ein Kind immerhin beträchtlich. Dazu braungebrannt und quietschvergnügt. Bei dem Anblick müßte wohl jeder Mutter das Herz im Leibe lachen. Übrigens sieht es so aus, als ob wir Gewitter bekämen. Die Wetterwolken am Himmel gefallen mir nicht.« »Gewitter und Sturm – das richtige Omen für den Einzug der Baronin«, lachte Birgit. Und tatsächlich blitzte und krachte es, als das Auto vor dem Herrenhaus hielt. Man hatte unter den Holmsen, außer Wido, der seinen Groll irgendwo auslief, beraten, ob man sich zum Empfang der Baronin einfinden sollte. Schließlich kam man davon ab. Weil man sowieso strenge Distanz zu wahren gedachte,
wollte man sich erst gar nicht blicken lassen. Also blieb man in dem behaglichen Gemach, das neben dem Speisezimmer lag, sitzen und horchte auf das Unwetter draußen, das sich langsam zu verziehen begann. Da stürmte Irina selber wie ein kleines Gewitter herein, ein zorniges Funkeln in den verweinten Augen. »Da haben wir die Bescherung!« Sie ließ sich auf den nächsten Stuhl sinken. »Kaum ist die Mama hier, überschüttet sie meinen Bruder auch schon mit Vorwürfen. Anstatt sich darüber zu freuen, daß ich mich so gut erholt habe, kam die ungnädige Bemerkung, daß ich wie ein dralles, braungebranntes Bauernmädchen aussähe. Als ich gar von meinen Schwimmübungen an der Angel erzählte, rang sie die Hände und sah mich schon umgebracht auf der Bahre liegen. Ferner beanstandete sie mein Schlafen in Fräulein von Tessaus Zimmer. Und das alles, während wir im Auto Ragaltshöfen zufuhren. Ein Wunder, daß Odalf uns nicht gegen einen Baum steuerte. Und jetzt redet die Mama auf ihn ein, sich mit einer jungen Dame zu verloben, die sie im Bad kennenlernte. Sie schilderte diese als so unvergleichlich, wie es bestimmt keinen Menschen gibt. Außerdem ist die Verherrlichte reich und würde dem zukünftigen Mann ein Gut schenken.« »Was sagt dein Bruder zu alledem?« forschte Papa Holmsen wie beiläufig. »Er sagte nur einmal: Nein! – und dann nichts mehr. Bei seiner harten Stimme fuhr mir dermaßen der Schreck in die Glieder, daß ich hierher flüchtete. Wäre die Mama nur noch nicht zurückgekehrt – « »Irina –!« rief Frau Holmsen mahnend dazwischen. »Kind, wie kann man sich nur so versündigen. Danke Gott, daß du noch eine Mutter hast – und so eine liebevolle dazu. Geh jetzt zu ihr, die dich vier Wochen entbehrte. Eine endlos lange Zeit für ein zärtliches Mutterherz.« Der Blick, der sie aus den Kinderaugen traf, schien zu sagen: Sprich doch nicht gegen deine Überzeugung. Allein, dem zusammengepreßten Mund entschlüpfte kein Wort.
Brüsk erhob sich die Kleine, hastete davon – und als sie gerade durch die Tür trat, brach durch die abziehenden Gewitterwolken die helle Sonne. Wie eine Verheißung schien es zu sein, daß auf Regen Sonnenschein folgt. Irina saß mit der Mutter beim Abendessen und stocherte unlustig in dem Fleischsalat. Zwar gab sie sich alle Mühe, den Teller leer zu essen, doch es wurde nur ein mühsames Herunterwürgen zusammen mit den Tränen, die ihr wie ein Kloß im Hälse steckten. Sehnsüchtig lauschte sie auf das Lachen, das aus dem andern Speisezimmer hinüberflatterte. Gestern hatte sie noch dabei sein dürfen, fröhlich unter den Fröhlichen – und heute… Heiß aufweinend ließ sie den Kopf auf den Tisch sinken, wobei die Mutter bis ins tiefste Herz erschrak. »Mein Goldkind, mein einziges, was hast du denn?! Bist du krank, tut dir etwas weh? Ich sage ja, die Unvernunft der Holmsen – « »Sei still, Mama!« rief das Kind heftig dazwischen. Dann sprang es auf, lief zum Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu. Als die Mutter sich aus ihrer Erstarrung soweit erholt hatte, daß sie der Tochter nachzugehen fähig war, lag diese bereits im Bett. Die Kleider, wahrscheinlich in fliegender Hast abgestreift, befanden sich auf dem Fußboden. So viel die Mutter auch schmeichelte und bat, der blonde Kopf blieb in den Kissen vergraben. Da rief die Frau angstvoll nach dem Sohn, der sofort herbeieilte. »Odalf, das Kind-!« Beunruhigt trat er an das Bett, drehte behutsam das Köpfchen zur Seite und sah in ein nassen Gesicht. Das Kissen, auf dem sie ruhte, war feucht von Tränen. Jetzt schlief das Kind, doch immer noch zuckte es um den Mund wie verhaltenes Weinen. Zart legte Odalf das Köpfchen in die alte Lage zurück und wandte sich dann der Mutter zu. Es war ein zornverdunkelter Blick, der sie traf. »Laß Irina schlafen«, sagte er kurz. »Was hat’s gegeben?« Sie erstattete Bericht, der mit den Worten schloß: »Wie konntest du das Kind nur so viel der Familie Holmsen überlassen, Odalf. Kein Wunder, daß es dabei
krank werden konnte.« Nun lachte er hart auf. »Natürlich, andere haben schuld. Suche sie lieber bei dir. Gute Nacht.« Schroff wandte er sich ab und ging nach seinem Arbeitszimmer, trat an das geöffnete Fenster und starrte in die Anlagen hinaus, die das Haus vom Wirtschaftshof trennten. Der Regen hatte die Natur wunderbar erquickt, wie frischgewaschen sah alles aus. Langsam verblaßte die Abendröte am Horizont. Er zuckte schmerzvoll zusammen, als ein herziges Lachen vom Park her aufflatterte. Das war die kleine Alexa, die unbekümmert ihr Kinderdasein durchleben durfte – während Irina… Hastig trat er vom Fenster fort, setzte sich an den Schreibtisch und arbeitete bis in die tiefe Nacht hinein. Als er am nächsten Morgen das Schlafzimmer der Mutter betrat, lag Irina noch im Bett. »Guten Morgen, du kleiner Faulpelz«, grüßte er frisch. »Willst du etwa um dein Frühstück kommen?« »Laß mich im Bett, Odalf. Ob ich hier liege oder neben der Mama sitze, bleibt sich gleich. Essen kann ich sowieso nicht, weil es mir wie ein Kloß im Hals steckt.« »Bist du denn krank, Kleines?« »Ja – aber anders als du annimmst. Hör mal, wie Alexa oben auf dem Altan lacht. Und ich – « »Aber Iri.« Er strich zärtlich über die Kinderaugen, in denen dicke Tränen standen. »Das Lachen verbietet dir doch niemand. Schau mal, die Mama – « »Laß mich mit der Mama in Ruhe!« rief sie heftig dazwischen. »Die ist daran schuld, daß ich nun nicht mehr mit den andern zusammen essen darf.« »Irina, jetzt bist du wieder ungezogen.« »Ach was, ich spreche die Wahrheit. Wenn die Mama mich wirklich so lieb hätte, wie sie immer tut, dann würde sie ganz anders handeln. Ich mag sie schon gar nicht mehr.« »Hör auf!« unterbrach der Bruder sie streng. »Wage nicht
noch einmal, so unerhörte Bemerkungen zu machen. Indes du dich ankleidest, gehe ich mit der Mama in den kleinen Salon.« Ihres Widerstrebens nicht achtend, zog er die Frau zu dem lauschigen Gemach, drückte sie in einen Sessel und blieb vor ihr stehen, die nun mit verkniffenem Gesicht dasaß. »Ist es denn so ungeheuerlich, was Irina von dir verlangt?« sprach er tiefernst auf sie ein. »Mütter sollen doch dazu imstande sein, ihrem Kind sogar große Opfer zu bringen – und dieses wäre doch so winzig klein. Geh in dich, bevor es zu spät ist. Erfüllst du Irinas Wunsch, wird sie dir gewiß von Herzen dankbar sein. Tust du es nicht – verlierst du die Liebe deines Kindes.« Damit ließ er sie allein. Ging in sein Arbeitszimmer, in das schon einige Minuten später die Schwester fertig angekleidet stürmte. Die Augen strahlten, der Mund lachte. »Odalf, denk dir nur, die Mama will fortan die Mahlzeiten im Speisezimmer der Holmsen einnehmen! Oh, ich bat vielmals um Verzeihung, weil ich sie vorhin kränkte. Sie ist doch gut, unsere Mama.« Weg war sie – und der Mann atmete auf. Eiligst gab er Urte Anweisung, zwei Gedecke mehr auf den Frühstückstisch zu legen. Kaum war das geschehen, gongte es, und die Baronin trat ein, die strahlende Irina an der Seite. Da ging der Sohn auf die Mutter zu, griff nach ihrer Hand und drückte stumm die Lippen darauf. Nun erschien auch Familie Holmsen geschlossen. Als Alexa die kleine Baronesse hinter ihrem Stuhl stehen sah, lief sie freudestrahlend zu ihr hin. »Iri, du ißt wieder hier? Wie schön! Das war gestern beim Abendessen gar nichts ohne dich, ich habe immer auf den leeren -Stuhl schauen müssen. Natürlich sitzen wir nebeneinander. Wenn wir auch nur reden dürfen, sofern wir gefragt werden, können wir uns wenigstens anlachen.« Lächelnd schauten die Erwachsenen auf die Kinder, die sich glückstrahlend bei den Händen hielten. Dann mahnte die junge Ärztin, die gleich ihrem Verlobten der Dame
vorgestellt worden war, das Schwesterlein: »Begrüße die Frau Baronin, Alexa.« Artig beugte das Kind sich über die Hand Frau Mildreds, die es nun für angebracht „hielt, einige konventionelle Worte zu sprechen: . »So eine kleine Schwester haben Sie noch, Fräulein Doktor?« »Sie ist ein Nachkömmling, Frau Baronin. Das heißt, zwischen uns gab es noch einen Bruder, der zu unser aller Schmerz starb.« Man nahm Platz und gab sich alle Mühe, ein reges Gespräch in Gang zu bringen, denn die Baronin in ihrem Speisezimmer zu sehen, überraschte Familie Holmsen nicht wenig, was man jedoch meisterhaft zu verbergen verstand – auch daß man die Anwesendheit der Dame als störend empfand. Wie ein düsterer Schatten saß sie da, hielt den starren Blick unausgesetzt auf die Tochter gerichtet, die ihrer Ansicht nach wie ein »Scheunendrescher« aß. Diese ließ den Milchbecher nachfüllen, verzehrte zwei Toasts mit Gelee, hinterher noch eine große, gutbelegte Schwarzbrotschnitte. »Irina, du wirst dir den Magen überladen«, war das erste, was die schockierte Dame sprach, doch das Töchterlein winkte beruhigend ab. »Laß nur, Mama, ich esse jetzt immer so viel. Ich darf das, solange es mir gut schmeckt, sagt der Herr Doktor. Und der weiß eine ganze Menge.« »Woraus schließt du das?« erkundigte sich der Arzt amüsiert, während die andern lachten. »Weil mein Bruder der Ansicht ist. Nehmen Sie mich heute wieder an die Angel, Herr Doktor?« »Nur, wenn es deine Mutter gestattet.« Ein bittender Blick des Kindes ging zu ihr hin, worauf sie nickte. Zwar widerwillig, wie sich nicht verkennen ließ, aber sie tat es wenigstens. Anschließend fragte sie: »Hast du denn noch immer Ferien, Iri?« »Bis zur nächsten Woche, Mama. Aber ich hoffe, daß Odalf
sie verlängern wird, bis Alexa zur Stadt zurück muß. Nicht wahr, du lieber großer Bruder?« »Schau mal an, wie liebenswürdig du sein kannst!« gab er lächelnd zurück. »Was meinen Sie, Fräulein von Tessau, können wir das verantworten?« »Gewiß, Herr Baron. Irina ist ja bedeutend weiter, als der Lehrplan es verlangt.« »Na also. Dann bitte die Mama nur schön, mein Kleines, daß sie dir weitere Ferien bewilligt. Aber nicht gleich«, wehrte er amüsiert ab, da das Kind die gefalteten Hände nach der Richtung streckte, wo die Mutter saß. »Jetzt mußt du wieder lieb dein Schnäbelchen halten.« Sie war’s zufrieden und verhielt sich ruhig. Doch nach dem Frühstück, als die Mutter ihr Zimmer aufsuchte, folgte sie ihr und umhalste sie stürmisch. »Nicht wahr, Mama, du erlaubst es? Sag bitte ja, sonst machst du mich wieder traurig. Ich würde nämlich während des Unterrichts unaufmerksam werden, wenn ich unten Alexa lachen hörte.« »Was fragst du mich überhaupt noch«, kam es pikiert über die verkniffenen Lippen. »Ich habe hier nichts mehr zu sagen.« »Eine irrige Ansicht«, bemerkte der Sohn, der hinzu kam, gelassen. »Eine Mutter hat immer über ihr Kind zu bestimmen.« »Das merkt man hier an allem«, lachte die Frau nun verbissen auf. »Vier Wochen genügten vollauf, um mir mein Kind zu nehmen. Ich bedeute nichts mehr als eine Staffage.« Betreten stand die Kleine da, und der Bruder strich zärtlich über das geneigte Köpfchen. Ein Seufzer hob seine Brust. »Mutter, du machst deinen Kindern wahrlich das Leben schwer.« »So kann ich ja gehen«, entgegnete sie spitz. »Liebevolle Kinder habe ich, das muß man schon sagen. Ein Sohn will nichts von mir wissen, der andere auch nicht – « »Jetzt hör aber auf, Mama!« unterbrach er sie unwillig. »Ich
glaube, daß ich als Sohn dir bisher noch nichts schuldig blieb. Du könntest hier den Himmel auf Erden haben, wenn du von deiner starren Unzugänglichkeit lassen wolltest. Schließ dich der Familie Holmsen an, diesen prächtigen Menschen, die sich so selbstlos deiner Tochter annahmen, obwohl sie zuerst recht ungezogen war. Dr. Holmsen sowie die junge Ärztin hatten es bestimmt nicht nötig, in ihren Ferien das fremde, unterernährte Kind – « »Unterernährt – das verbitte ich mir!« rief sie empört dazwischen, doch er sprach unbarmherzig weiter: »Jawohl – unterernährt und total falsch behandelt. Was Irina fehlte, war weiter nichts als ungebundenes Tummeln in frischer Luft, dazu verständnisvolles Eingehen auf ihre kindlichen Sorgen. Es mutet wie ein Wunder an, was die vier Wochen aus dem schwächlichen, verdrießlichen und unerzogenen Kind gemacht haben. Wenn du das nicht einsiehst, bist du ungerecht. Und du mach nicht so entsetzte Augen, Irilein. Verlaß dich nur auf deinen großen Bruder, der wacht auch ferner über dich. Lauf zu Alexa, deren frohes Stimmchen ich draußen höre.« Nur zu gern trollte das Kind ab, und Odalf sprach weiter auf die erbitterte Frau ein: »So werde doch endlich vernünftig, Mama. Werde gut Freund mit Familie Holmsen.« »Das kann ich nicht.« »Nun, mehr, als dir immer wieder zureden, steht leider nicht in meiner Macht. Wenn du durchaus an deiner starren Unzugänglichkeit festhalten willst, dann laß wenigstens Irina davon aus. Hör nur, wie fröhlich sie draußen lacht. Das ist Musik für meine Ohren, der ich nur ihr Bruder bin. Wieviel mehr müßte das für dein Mutterherz sein.« Er ging – und die Mutter starrte ihm verbissen nach. Die nächste Zeit sollte lehren, daß doch ein guter Kern in Irina steckte. Obwohl sie viel lieber weiter im Zimmer der Lehrerin geschlafen hätte, fügte sie sich dennoch darin, das
Schlafgemach ihrer Mutter zu teilen. Wenn sie sich im Kreis der Familie Holmsen vergnügte, lief sie plötzlich davon, um nach der Mama zu sehen. Und wenn sie diese in ihrem Zimmer fand, verbissen, murrend und klagend, dann wurde sie traurig. Genauso erging es Odalf – und selbst die andern waren nicht so fröhlich wie sonst, wenn sie mit der schweigsamen, hochmütigen Dame bei Tisch saßen. So wenig leid sie ihnen tat, um so mehr Sorge machte ihnen der Baron. Er sah tatsächlich aus, als ob er krank wäre. Das Gesicht war beängstigend schmal geworden und wirkte dadurch noch härter als gewöhnlich. Die Kleider schienen ihm zu weit geworden zu sein. »Sie sehen nicht gut aus, Herr Baron«, sagte Holmsen sen. eines Sonntags am Frühstückstisch. »Kein Wunder, da Sie sich kaum Ruhe gönnen. Tagsüber draußen strammen Dienst, bis zum späten Abend am Schreibtisch – dazu noch das ganze Drum und Dran, das hält kein Mensch auf die Dauer aus, mag er auch wie aus Stahl und Eisen sein. Denken Sie denn überhaupt nicht an sich?« »An mich zu denken habe ich mir längst abgewöhnt«, entgegnete er mit bitterem Lächeln, und da wurde der andere ärgerlich. »Dann werden wir Sie dazu zwingen, mein lieber Freund. Sie sind für Ragaltshöfen nämlich so wichtig, daß Sie nicht schlappmachen dürfen. Was gibt es für Sie überhaupt so viel zu schreiben? Kann das meine Tochter nicht erledigen?« »Ich möchte das gnädige Fräulein nicht überanstrengen. Es leistet schon gerade genug.« »Ja, ist denn das die Möglichkeit?« Holmsen schüttelte konsterniert den Kopf. »Mann, können Sie da nicht den Mund aufmachen und sagen, daß noch eine Hilfskraft fehlt? Sie bilden ja ein glänzendes Gegenstück zu dem kleinen Fräulein Lehrerin, das vor lauter Bescheidenheit auch das Schnäbelchen nicht aufkriegt. Also kurz die Rede, lang der Sinn: Es wird in der Rentmeisterei eine Hilfskraft
eingestellt, die dort meiner Tochter die Arbeit zum Teil abnimmt, damit sie frei für Ihren Schreibkram wird. Was sie nicht allein erledigen kann, diktieren Sie ins Stenogramm – nur Ihre Liebesbriefe müssen Sie allein schreiben«, setzte er schmunzelnd hinzu, was die andern befreit auflachen ließ. Denn man war mit Bangen der geharnischten Rede gefolgt. »Ach, wenn es sein muß, schreibe ich auch die noch«, erklärte Birgit trocken. »Dann weiß ich wenigstens, wie man so was zustande bringt.« »Mein Bruder schreibt überhaupt keine Liebesbriefe«, warf Irina ordentlich empört ein. »Dafür ist er viel zu anständig.« Jetzt mußte selbst die Baronin lachen. »Ja, Kind, was stellst du dir denn darunter vor?« »Als etwas Heimliches. Und alles Heimliche ist unanständig.« Eine einfache Logik, über die man sich köstlich amüsierte. Nach dem Frühstück suchte sich jeder sein Sonntagsvergnügen. Birgit ließ sich ihr Pferd satteln, einen rassigen Braunen, doch ohne jede Tücken. Also ein zuverlässiger Kamerad. Ein herrliches Gefühl, den Sattel unter sich zu haben und unbeschwert hineinzureiten in die Sommerpracht und später in den grünen Wald. Es war jedoch so drückend heiß darin, daß Birgit kehrt machte, dabei nicht auf den Weg achtete und ihn verfehlte. Nachdem sie sich dessen bewußt wurde, überkam sie ein Gruseln. Schauergeschichten fielen ihr ein, die sie über Wegelagerer, ausgebrochene Strafgefangene und ähnlicher dunkler Gesellen mehr gelesen oder gehört hatte. Wenn sich nun ein solches Individuum im Wald verborgen hielt und ihr entgegentrat, was dann? Und tatsächlich begegnete sie einem Mann, aber einem solchen, den sie bestimmt nicht zu fürchten brauchte. Er war gleich ihr hoch zu Roß, das er dann neben dem ihren zügelte.
»Ja, gnädiges Fräulein, wie kommen Sie denn auf diesen abgelegenen Weg?« fragte Vörswelde erstaunt. »Haben Sie sich etwa verirrt?« »Ganz recht.« »Wissen Ihre Angehörigen, daß Sie in den Wald geritten sind, den Sie erst so wenig kennen?« »Nein. Schließlich bin ich ja kein Kind mehr, das für alles, was es zu tun gedenkt, erst die Erlaubnis der Eltern dazu einholen muß«, entgegnete sie hochmütig; denn der Ton, in dem er mit ihr sprach, gefiel ihr ganz und gar nicht. Und nun sagte dieser Mensch auch noch in aller Gelassenheit: »Daß Sie sehr eigenwillig sind, mein gnädiges Fräulein, weiß ich längst. Daher wäre es töricht von mir, mich in Ihre Angelegenheiten zu mischen.« »Na also«, entgegnete sie kühl. »Wo befinden wir uns?« »Eine Reitstunde von Ragaltshöfen entfernt. Ich will versuchen, Sie einen Weg zu führen, bei dem wir eine gute Ecke abschneiden können. Hoffentlich ist der Moosboden fest genug, damit die Pferdehufe nicht zu tief einsinken. Wir müssen nämlich zusehen, so schnell wie möglich nach Hause zu gelangen, weil es Gewitter geben wird.« »Das gibt es in Ragaltshöfen oft«, entgegnete sie doppelsinnig und ärgerte sich, als er die passende Antwort darauf fand. »Das tut es – wenigstens in diesem Jahr.« Er bog nun in einen Weg ein, auf dem die Pferde nebeneinander nicht Platz hatten. »Gestatten Sie, daß ich vorreite, damit ich den Weg prüfen kann. Es wird gehen, das merke ich schon. Fürchten Sie sich daher nicht, wenn der moorige Grund Ihnen weich erscheinen sollte.« Ohne weiter auf sie zu achten, zügelte er sein Pferd vorsichtig den Weg entlang, während sie seinem Beispiel folgte. Sie konnte den Blick nicht wenden von der rassigen Reitergestalt vor ihr, von dem schmalen Haupt, auf dessen Blondhaar Sonnenreflexe spielten. Mein Gott, warum tat ihr denn plötzlich das Herz so weh?
So sehr, daß dieser heiße Schmerz ihr Tränen erpreßte. Und ausgerechnet in dem Augenblick mußte der Mann den Kopf nach ihr wenden. Ein forschender Blick, dann sagte er ruhig: »Nur noch einige Minuten Geduld, gnädiges Fräulein. Dann ist der Weg geschafft, der einem Nichtkenner unheimlich vorkommen muß.« Gott sei Dank, er nahm an, daß ihr vor Angst die Tränen in den Augen standen. Recht beschämend für sie, aber längst nicht so, als wenn er ihre Gedanken erraten hätte. Jetzt lenkte er das Pferd auf eine Straße, die so breit war, daß die Pferde nebeneinander traben konnten. Birgit mußte sich zusammenreißen und einen Gleichmut vortäuschen, von dem ihr Herz nichts wissen wollte. Die Schwüle wurde fast unerträglich. Wie erstarrt standen rechts und links die hohen Bäume, selbst die Wipfel rührten sich nicht. Ringsumher herrschte unheimliche Ruhe – die bekannte Ruhe vor dem Sturm, der bald losbrechen würde. In der Ferne hörte man bereits den Donner grollen. Durch Gewitter und Sturm – Mein Mädel, ich bin da... – zog es ihr schmerzhaft das Herz zusammen. Da war er wohl – und doch so fern – so unerreichbar fern – für sie. Wohl noch fünf Minuten ritten sie dahin, dann war der Wald zu Ende. Vor ihnen lag ein weites Getreidefeld und weiter hinten Ragaltshöfen. »Wo befinden wir uns denn jetzt?« fragte Birgit verwundert. »Dieses Gebiet ist mir ganz fremd.« »Das glaube ich, gnädiges Fräulein. In der kurzen Zeit, da Sie auf Ragaltshöfen weilen, war es nicht gut möglich, es bis in den kleinsten Winkel kennenzulernen. Doch nun wird die Sache ernst, der Sturm macht sich auf. Geben Sie dem Pferd den Kopf frei!« Darauf hatte das nervöse Tier nur gewartet. Mit dem Sturm um die Wette sauste es dahin, so daß der Reiterin angst
und bange wurde. Doch schon griff die nervige Männerhand in die Zügel, hielt sie eisern fest. Kopf an Kopf galoppierten die geängstigten Gäule dahin. Die ersten Tropfen fielen – und als Ragaltshöfen erreicht, waren Roß und Reiter triefen naß. Ein Stallbursche nahm die zitternden Vierbeiner in Empfang, während die Zweibeiner ins Haus liefen. In der Diele stand Familie Holmsen, schreckensbleich. Doch kaum, daß der Senior der eintretenden, triefenden Gestalten ansichtig wurde, lachte er auf wie ein Mensch, den man aus banger Sorge befreit. »Ach, Sie waren dabei, Herr Baron? Wenn wir das gewußt hätten, dann hätten wir um das Gör nicht so große Angst auszustehen brauchen. Ich dachte mich rührt der Schlag, als ich hörte, daß es ausgeritten wäre, wo doch das Gewitter bereits in der Luft lag.« »Das tut es hier oft«, gab Birgit mutwillig Antwort. »Aber man kommt immer gut durch Gewitter und Sturm – zumal bei einem Steuermann wie diesem.« Sie zeigte auf Odalf, der amüsiert lächelte. »Das klingt ja fast wie eine Anerkennung, gnädiges Fräulein.« »Ist auch eine. Und nun werde ich mich rasch umziehen. Denn ich sehe es dir an, geliebter Paps, daß du mich liebend gern bei den Ohren nehmen möchtest. Laß sie dazu erst trocken werden.« Lachend lief sie die Treppe hinauf, und der Vater schmunzelte ihr nach. »Ist doch ein Mordsmarjellchen, unsere Birgit. Wo andere Mädchen jammern würden, ist sie quietschvernügt. Wo haben Sie den Ausreißer denn erwischt, Herr Baron?« »Unterwegs, Herr Holmsen. Die junge Dame war so couragiert, daß sie auch ohne meine Begleitung gut nach Hause gekommen wäre.« Mit keinem Wort erwähnte er, daß die Reiterin sich im Wald verirrt hatte. Als er merkte, daß die Eltern Birgits sich bei ihm bedanken wollten, entfernte er sich mit einer
hastigen Entschuldigung, und Papa Holmsen sah ihm kopfschüttelnd nach. »Daß der Mensch doch keinen Dank vertragen kann. Was er auch tun mag, alles ist für ihn selbstverständlich. Nun, jedem Tierchen sein Pläsierchen. Kommt, Kinder, suchen wir uns ein Plätzchen, wo wir uns setzen können. Mir sind nämlich noch die Knie weich von dem ausgestandenen Schreck.« Nachdem sie sich in dem traulichen Wohngemach niedergelassen hatten, fragte Frau Gina: »Wo ist eigentlich Wido geblieben? Auch Fräulein von Tessau fehlt, gleichfalls Irina.« »Die ist zu ihrer Mutter gegangen, damit diese bei dem Gewitter nicht allein bleiben muß«, gab Alexa Antwort. »Wo die andern stecken weiß ich nicht.« »Ist ja auch weiter nicht wichtig«, bemerkte der Senior. »Zur Futterkrippe werden sie sich schon einfinden.« Während man geruhsam plauderte, nahm Birgit ein Bad, kleidete sich frisch von Kopf bis Fuß, und ging dann in ihr Zimmer zurück, wo sie betroffen aufhorchte: Klang von nebenan nicht ein Weinen? Beunruhigt öffnete sie die Tür. Tatsächlich, da lag Erla auf dem Diwan und weinte jämmerlich. »Fräulein von Tessau, was ist nun schon wieder los?« fragte Birgit unbehaglich. »Ich – er – ich – er-«, kam es dumpf aus dem Kissen, worin das Mädchen das Gesicht drückte. »Er – er – hat sich nicht schön benommen. Aber er kann sich das ja erlauben – bei einem Nichts – wie ich – es – bin.« »Wer, zum Kuckuck?!« wurde die andere jetzt ungehalten. »Wer ist denn dieser – er?« »Ihr – Herr – Bruder.« »Wido?« »Ja.« »Nanu, was hat er Ihnen denn Fürchterliches getan, daß Sie so verzweifelt weinen müssen?« Keine Antwort, nur hemmungsloses Schluchzen. Da fragte
Birgit nicht weiter, sondern begab sich auf die Suche nach dem Bruder, den sie in seinem Zimmer fand. Sein Gesicht war blaß, die Augen blickten finster. Wie gehetzt lief er auf und ab, die geballten Fäuste stießen zornig in die Hosentaschen. »Was willst du hier?!« schrie er die Schwester an. »Geh lieber zu deinem Fräulein von Tessau – dieser falschen Katze!« Birgit, die ihren Bruder noch nie in einer solchen Verfassung gesehen hatte, erschrak bis ins tiefste Herz. Am liebsten wäre sie feige davongelaufen. Aber da sie sich sagte, daß hier ein Mißverständnis vorliegen müsse, ließ sie sich mutig in einen Sessel sinken. »Wido, was ist dir denn geschehen?« begann sie behutsam, doch er winkte unwirsch ab. »Laß mich in Ruhe!« »Darf ich nicht, weil Fräulein von Tessau in ihrem Zimmer auf dem Diwan liegt und ganz fürchterlich weint.« »Dazu hat sie auch allen Grund.« »Inwiefern?« »Das laß dir von ihr erzählen.« »Sie tut’s aber nicht. Also wirst du dich dazu bequemen müssen. Denke daran, daß manche Liebe, manche Freundschaft einem Mißverständnis zum Opfer fiel.« Diese ernstgesprochenen Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Er nahm ihr gegenüber Platz. Sein Gesicht war blaß, in seinen Augen brannte der Schmerz. Die Hand, die dem Etui eine Zigarette entnahm und sie in Brand steckte, zitterte. Er tat einige lange Züge, dann sprach er: »Daß ich Fräulein von Tessau liebe, brauche ich wohl nicht zu betonen, weil ich deine Spürnase kenne und die unserer Lieben dazu. Obwohl die junge Dame scheu und zurückhaltend ist, glaubte ich aus mancherlei Beobachtungen entnehmen zu können, daß sie meine Neigung erwiderte. Ich wollte heute zuerst mit unserm Paps sprechen, bevor ich mich ihr erklärte, doch das heraufziehende Gewitter
brächte dann vorher die Entscheidung. Ich befand mich gerade im Park, als es losbrach. Und zwar so rasch, daß ich mich beeilen mußte, um unter Dach zu kommen. Also rannte ich davon und stieß mit Fräulein von Tessau zusammen, die aus einem Nebenweg herausflitzte – direkt in meine weitgeöffneten Arme hinein. Und als ich das angstzitternde Geschöpf an meinem Herzen hielt, nun, da schlug die Liebe über mir zusammen – und ich küßte es. Doch schon saß mir eine Hand im Gesicht. Todblaß, in den Augen ein empörtes Funkeln, fauchte mir die kleine Katze entgegen: Das war gemein von Ihnen, Herr Holmsen! Ich bin kein Freiwild, merken Sie sich das! Wie gehetzt rannte sie davon, und ich stand wie erstarrt. Es ist nicht die erste Ohrfeige, die ich von einem Techtelmechtel zum Beispiel erhielt, wenn ich zu kühn wurde. Die nahm ich dann gutwillig hin, weil ich sie verdient hatte. Aber hier habe ich sie nicht verdient. Denn ich liebe Fräulein von Tessau so treu und wahr, daß ich sie zu meiner Frau begehre. Und daher betrachte ich diese Ohrfeige als Schmach, die ich mir als aufrechter Mann nicht bieten lassen darf. Zum Kuckuck, sie muß doch auseinander halten können, ob man ein Abenteuer sucht oder sich ihr in lauterer Absicht nähert!« schloß er zornig, und Birgit lächelte. »Das bezweifelt sie einfach, mein lieber Wido. Sie ist so sehr bescheiden, wertet ihre Person so gering, daß sie nicht einmal daran zu denken wagt, ein Mann wie du könnte sie zur Frau begehren. Du solltest nur sehen, wie jammervoll sie weint, dein liebekrankes Herz würde sich umdrehen.« Ein Klopfen unterbrach ihre Rede. Nach der Aufforderung trat der Diener ein. »Was gibt’s, Jost?« »Die Herrschaften lassen fragen, ob das gnädige Fräulein schon soweit ist, um an dem Mittagsmahl teilnehmen zu können. Es ist heute sowieso später als sonst.«
»Bestellen Sie, daß man nicht länger warten soll. Mein Bruder und ich kommen nach.« Der Diener zog sich zurück, und Birgit erhob sich. »Mach nicht ein so grimmiges Gesicht, Wido. Man kann ja Angst vor dir kriegen. Das Mißverständnis muß sich doch aufklären lassen.« »Etwa von mir, was?« stieß er verbissen hervor. »Und wenn ich mein Herz auch noch so knebeln und knechten müßte…« »Na nun mal nicht so hitzig«, unterbrach sie ihn gelassen. »Daß du nach diesem für dich entwürdigenden Vorkommnis zu Kreuze kriechst, dafür bin ich auf keinen Fall. Erla wird sich bei dir entschuldigen. Aber dann spiele nicht womöglich den wilden Mann, sondern nimm das >Häufchen Unglück< diesmal ein wenig stürmischer an dein Herz, du geliebter Taps. Und nun komm zum Mittagessen.« »Du glaubst doch nicht etwa, daß ich bei dieser miserablen Verfassung auch nur einen Bissen hinunterkriege?« »Dann tu wenigstens so. Es ist nicht notwendig, daß unsere Lieben von deinem Zwiespalt erfahren, bevor ich alles geklärt habe. Erla werde ich an der Tafel glaubwürdig entschuldigen. Denn ich denke nicht, daß sie bei ihrer jammervollen Verfassung daran erscheint. Noch etwas, Bruderherz?« »Ich möchte dir nur noch sagen, daß – du eine ganz listige Eva bist.« Nach dem Essen, das friedlich verlief, ging Birgit sofort zu Erla, die noch immer auf dem Diwan lag. Zwar weinte sie nicht mehr, war aber dennoch in jammervoller Verfassung. Ihr schmerzverdunkelter Blick sah scheu zu dem Mädchen auf, das sich neben sie aufs Polster setzte und kopfschüttelnd das »Häufchen Elend« betrachtete. »Ach, über so ein kleines Schaf! Ich habe nämlich mit meinem Bruder gesprochen und bin genau orientiert. Er empfindet die Ohrfeige als Schmach. Liegenbleiben!« kommandierte sie, als Erla empört auffuhr.
»Jetzt spreche ich. Jawohl, er empfindet die Ohrfeige als Schmach, weil er sich Ihnen in keiner unlauteren Weise näherte, sondern Sie so innig liebt, daß er Sie als Frau begehrt. Und was sagen Sie nun?« »Das kann doch aber nicht möglich sein«, rang es sich mühsam von den entfärbten Lippen. »Warum nicht?« »Weil ich so ein Nichts bin – arm und einflußlos.« »Ich sage ja, daß Sie ein Schaf sind, Erla. Muß man denn immer einen Geldsack mit sich schleppen und wer weiß wie mondän tun, um von einem Mann geheiratet zu werden, der in einem warmen Nest sitzt und immer fünf Pfennig mehr in der Tasche trägt als er braucht? Nora verfügt ja auch nicht über Reichtümer – und doch haben meine Eltern sie als Schwiegertochter freudig willkommen geheißen. Nun sehen Sie mich nicht so verzweifelt an, Sie Dummchen, sondern nehmen mal Ihr Herzchen in beide Hände. Wenn Sie das nicht tun, machen Sie meinen herzensguten Bruder unglücklich – und sich mit. Wir wissen nämlich schon längst, daß Sie ihn lieben.« »Um Gottes willen, habe ich mich denn so schlecht beherrschen können?!« »Das nicht – aber Ihr Herz hat durch die Augen geplaudert, genau so wie bei Wido auch. Da Sie diese Sprache nicht verstanden, daraus erkennt man Ihre Weltfremdheit. Doch ich will nicht wie eine weise, erfahrungsreiche Tante daherreden, sondern Ihnen den guten Rat geben, so ein bißchen zu Kreuze zu kriechen. Daß mein Bruder es nach seiner Abfuhr nicht tun kann, ist selbstverständlich. Sonst wäre er ja kein Mann mit Ehrbegriffen. Also müssen Sie zu ihm gehen, lieb die Arme um seinen Hals legen und ihm ohne Scheu sagen, wie unendlich Sie ihn lieben. Es wird ihn so unaussprechlich glücklich machen, daß er Sie ohne jeden Kommentar fest an sein Herz nimmt.« »Ich habe Angst.« »Ja, Erla, da hilft nun alles nichts. Meine Mutter steht auf
dem Standpunkt, daß derjenige, der den Mut hat zu kränken, auch den Mut haben muß, wieder gutzumachen. Es wird nicht so arg werden, Erla. Ein liebes Wort, ein lieber Blick wird genügen, um das Herz Widos butterweich zu machen. Er ist ganz durcheinander, der arme Kerl. Seien Sie also mutig und verscherzen Sie sich durch Hemmungen nicht das große Glück, wie Ihnen ein solches nicht zum zweiten Mal begegnen dürfte. Am Herzen unseres prächtigen, grundguten Wido ruht es sich warm und weich, das können Sie mir schon glauben. Ist alles nun klar?« »Soweit schon«, kam es niedergeschlagen zurück. »Wenn ich nur wüßte, ob die Eltern mit der Wahl ihres Sohnes auch einverstanden sind. Ich bin doch – « »Ein Nichts, ich weiß«, warf Birgit lachend ein. »Das kann ich jetzt schon auswendig. Aber aus einem Nichts wird oft ein Viel. Leben Sie mal erst im Kreis unserer Familie, treu behütet und geliebt, dann werden Sie bald dahinter kommen, welch ein beachtenswertes Menschenkind Sie doch eigentlich sind. Und nun hopp, das flatternde Herz festgehalten! Nur wenige Minuten, dann sind Sie eine glückliche Braut.« »Was fällt Ihnen denn ein!« wehrte sie verlegen, als Erla voll überströmender Dankbarkeit die Lippen auf ihre Hand drückte. »Unter Schwägerinnen dürfte so was wohl nicht üblich sein. Lassen Sie mich lieber nicht immer weiter reden wie ein Buch, sondern lassen Sie mich Taten sehen. Ich bringe Sie noch in Widos Zimmer – doch dann müssen Sie Ihr Schicksal allein in die Hände nehmen.« Da sprang Erla auf. Wenige Minuten später führte schon Birgit sie über die Schwelle in des Bruders Zimmer. »Hier bringe ich dir eine reuige Sünderin!« rief sie lachend. »Sei gnädig zu ihr – ich laß indes Sekt kaltstellen.« Die Tür schloß sich – und Erla drückte sich mit zitternden Knien dagegen. Blaß vor Erregung sah sie zu dem Mann hin, der in eisiger Haltung vor ihr verharrte. Doch schließlich rührten die flehenden Blicke, die vor Weinen zuckenden Lippen, überhaupt das ganze angstzitternde
Geschöpf sein Herz so sehr, daß er schweigend die Arme öffnete, um sie dann fest um einen weichen Körper zu schließen. Ein heißer Kuß, der mehr als tausend Worte sprach – und es gab ein glückseliges Brautpaar mehr auf der Welt. »Nun, mein Mädchen, wirst du mir wieder eine Ohrfeige versetzen?« fragte der Mann, indem er die feste Umschlingung lockerte. »Jetzt nicht mehr, o nein. Ich liebe dich doch so unendlich. Niemals will ich vergessen, daß du, der einflußreiche Mann, mich an dein Herz nahmst.« »Na, so einflußreich bin ich nun auch wieder nicht«, entgegnete er verlegen. »Ist ja auch so unwichtig. Wichtig allein bleibt, daß wir uns liebhaben für alle Zeit. Das soll schon ein herrliches Leben werden, mein scheues Rehlein, was?« »Und wie herrlich, Wido. Wie schön der Name klingt, da ich ihn laut auszusprechen wage – Wido – Wido – Wido -!« Gerührt küßte er die jungroten Lippen, die so verführerisch zu ihm emporblühten. Zeit und Stunde darüber vergessend, in Glückseligkeit. Indes wartete man im traulichen Wohngemach des Ehepaares Holmsen geduldig auf das Brautpaar, das Birgit bereite avisiert hatte. Als es dann endlich erschien, gab es freudige Erregung. Erla wanderte von einem Arm in den andern, immer wieder dabei beteuernd, daß sie ihr Glück nur Birgit zu verdanken hätte. Als sie bei dieser angelangt war, bedankte sie sich mit herzrührenden Worten. »Sei doch nicht so unbequem dankbar«, wehrte Birgit verlegen. »Ihr hättet auch ohne mein Eingreifen zueinander gefunden. Aber ich hatte es mir nun einmal in den Kopf gesetzt, euch durch Gewitter und Sturm zuzuführen, weil es hier schon zum Symbol geworden ist, daß sich große Ereignisse bei Unwetter abspielen«, schloß sie lachend, und fröhlich fielen die andern ein. Als man an der Kaffeetafel die Verlobung bekanntgab, war der Baron gar nicht überrascht.
»Das habe ich kommen sehen«, meinte er lächelnd. »Die Herzen plauderten doch gar zu deutlich aus den liebesseligen Augen. Ich freue mich ehrlich über Ihr Glück, Fräulein von Tessau, wenn auch Ihr Scheiden von hier hauptsächlich für Irina einen Verlust bedeutet. Aber bei so glückstrahlenden Augen müssen alle egoistischen Wünsche schweigen. Sie haben eine gute Wahl getroffen, Herr Holmsen.« »Hab ich auch«, gab er vergnügt zu. »Nur die übergroße Bescheidenheit muß ich meinem Mädchen noch abgewöhnen. So was finde ich nämlich scheußlich.« Nun brachte auch die Baronin ihre Glückwünsche dar, die knapp und kühl ausfielen, dann kam Irina an die Reihe. »Fräulein von Tessau, das finde ich gar nicht nett, daß Sie mich im Stich lassen wollen«, bemerkte sie vorwurfsvoll. »Ich hatte mich so an Sie gewöhnt. Wer weiß, was für eine Lehrerin ich nach Ihnen bekomme«, schloß sie seufzend, und die andern lachten. »Hoffentlich eine echte Gouvernante aus dem vorigen Jahrhundert«, blinzelte Papa Holmsen ihr zu. »Die könnte dir nämlich gar nichts schaden, du verflixtes Rackerchen.« »Pfui, Herr Holmsen, wie können Sie nur. Ich war in den letzten Wochen so brav.« »Warst du auch«, nahm Frau Gina die Kleine in Schutz und zog sie liebevoll an sich, als sie mit dicken Tränen in den Augen klagte: »Nun gehen alle bald fort, die ich lieb habe.« »Aber Irilein, wie kann man nur so verzagt sein. Birgit bleibt doch ständig hier, und wir andern treten zu jedem Wochenende geschlossen an. Außerdem gibt es oft Fahrgelegenheit zur Stadt, so daß du rasch bei uns sein kannst.« »Darf ich denn das?« »So oft du magst, mein Kind.« Da war sie getröstet und wurde fröhlich mit den Fröhlichen. Sie durfte auch am Abend, als man bei einer rasch improvisierten Feier gemütlich beisammen saß,
gleich Alexa eine Stunde länger aufbleiben. Die Kinder bekamen sogar ein Glas leichten Wein zu trinken, worüber sie selig waren. Natürlich hatte man auch die Baronin gebeten, an der Feier teilzunehmen, was sie jedoch ablehnte. Sie wäre der Fröhlichkeit bereits so entwöhnt, daß sie nur störend wirken würde. Man sah es bei diesen Worten rot auf der Stirn des Sohnes aufflammen – und er tat den andern wieder einmal von Herzen leid. »Wie lange gedenkt das neueste Brautpaar die Verlobung auszudehnen?« erkundigte sich Papa Holmsen soeben. »Zwei Hochzeiten in einem Jahr dürften unserer geplagten Mutz denn doch zu viel werden.« »Da soll ich womöglich bis zum nächsten Jahr warten?« regte sich Wido auf. »Kommt gar nicht in Frage! In vier Wochen wird geheiratet – und damit holla.« »Paßt ja großartig«, lachte Bodo. »Dann steigen wir an einem Tag in die Ehe. Ein Abwaschen für Mutz.« »Also Doppelhochzeit – «, dehnte der Bruder. »Nun, mir würde das nichts ausmachen, aber ob die Bräute damit einverstanden sind? Die wollen ihren Ehrentag doch wohl für sich allein haben.« »Auf solche Äußerlichkeiten lege ich absolut keinen Wert«, bemerkte Nora. »Das Wie ist mir egal, nur das Nachher spielt für mich eine Rolle. Da allerdings möchte ich nicht teilen«, schloß sie lachend. »Da will ich meinen Mann für mich allein haben.« »Ich auch!« rief Erla glückstrahlend. »Und wenn ich mit hundert Brautpaaren zusammen zum Altar schreiten müßte, die Hauptsache, daß ich dabei meinen Wido am Arm habe.« »Vernünftige Marjellchen«, schmunzelte Papa Holmsen. »So ganz unserer Familie zugepaßt. Ihr habt in den Glückstopf gegriffen, Jungens. Hätte auch verflixt anders kommen können.« »So wie wir gebaut sind, Vater«, schlug sich Bodo stolz in die Brust. »Ehrensache, daß wir uns die Blumen aus dem
Mädchenflor pflückten, die nicht bald welken, sondern an unserm Herzen blühen ein Leben lang.« »Der Herr Doktor wird poetisch«, lachte die Mutter herzlich. »Ja, ja, was doch die Zauberin Liebe so alles zuwege bringen kann.« Birgit hörte das alles mit an – und das Herz tat ihr bitter weh. Wie einfach war es doch bei den beiden Paaren. Sie liebten sich, heirateten, wurden glücklich. Und sie –? Verstohlen suchte ihr Blick den Mann, für den ihr Herz so qualvoll schlug. Zwar war er heute nicht so unzugänglich wie sonst, aber noch lange nicht aufgeschlossen. Worin bestand das Hindernis, das sie von ihm trennte? Doch nur allein darin, daß sein Herz nicht dem ihren entgegendrängte. Denn ihre Eltern hätten einen solchen Schwiegersohn mit tausend Freuden begrüßt- und sie selbst so einen Gatten mit unsagbarer Glückseligkeit. Birgit beherrschte sich meisterhaft. Ließ durch nichts erkennen, wie jammervoll ihr zumute war. Und dennoch! Elternaugen sehen scharf, wenn es um ein geliebtes Kind geht. So warfen sie sich einen fast entsetzten Blick zu – und das Mutterherz zog sich schmerzend zusammen. Nach einer Woche ging es dann endgültig in die Stadt zurück. Wido nahm von seiner Braut Abschied, als gedächte er tausend Meilen zwischen sich und sie zu legen. »Erla, ist es nicht ein Skandal, daß wir nun statt vier Wochen sechs mit der Hochzeit warten müssen, weil das andere Paar so saumselig ist? Wieviel Tage sind das überhaupt?« »Zweiundvierzig, du Ungestüm«, lachte sie hellauf, und er sah sie vorwurfsvoll an. »Findest du das nicht unendlich lange?« »An den Jahrzehnten gemessen, die wir miteinander zu verbringen gedenken, ist das eine Lappalie«, gab sie ungerührt zurück. »Zumal wir uns fast jeden Tag sehen werden, mein anspruchsvoller Herr. Hörst du, die Eltern rufen bereits nach dir. Laß sie nicht warten.«
Noch einen Kuß, dann stürmte er davon, während Erla langsamer folgte. Man nahm herzlichen Abschied, dann fuhr der schwere Wagen an – und sie hatte das Gefühl, als wäre plötzlich alle Sonne fort, die doch so golden vom Himmel strahlte. Tränen traten in ihre Augen, die Birgit gutmütig bespottete. »Schließ die Tränendrüsen, geliebte Schwägerin. Geh nach oben und lies Chamissos >Frauenliebe und Leben<.« »Du bist abscheulich, Birgit!« rief das Fräulein von Tessau empört, das sich in der einen Woche, da sie Braut war, erfreulich verändert hatte. Sie fühlte sich so sicher im Schoß der Familie Holmsen, daß alle Minderwertigkeitskomplexe dahinschmolzen wie Schnee im Frühlingswehen. »Warte nur ab, wenn du einmal Braut bist, werde ich dich genau so hochnehmen.« »Recht so, Fräulein von Tessau«, lächelte der Baron, der nebst Mutter und Schwester Familie Holmsen verabschiedet hatte und nun die Neckerei mit anhörte. »Lassen Sie sich nicht verspotten.« »Tue ich denn das?« fragte Birgit harmlos. »Der Mann, dem ein Mädchenherz zuschlägt, ist doch nun einmal für dieses das Herzlichste von allen. Außerdem heißt es im Paganini: >Bist Sklavin mir – <« »Und Königin«, sang Erla jubelnd weiter. »Darin liegt nämlich der Unterschied, meine liebe Birgit.« »Mädchen, du hast dich während deiner kurzen Brautzeit fabelhaft entwickelt«, stellte diese lachend fest. »Ich sehe direkt das Krönchen auf deinem lockigen Haupt. Gehab dich wohl, ich muß zum Dienst.« Fort war sie, und Erla lächelte ihr nach. »Ich liebe meine Schwägerin«, sagte sie zu dem Baron und den Seinen. »Und zwar mit Recht. Denn so ein prächtiges Menschenkind gibt es nicht oft, Möge der Himmel geben, daß sie einen Mann findet, der ihrer würdig ist.« »Will Fräulein Holmsen sich etwa auch verloben?« fragte Irina interessiert, und Erla lachte.
»Noch nicht.« »Gott sei Dank!« atmete das Kind auf. »Verloben finde ich gräßlich, weil da so ein Mann kommt und fortnimmt, was einem lieb ist. Laden Sie mich wenigstens zur Hochzeit ein, Fräulein von Tessau?« »Natürlich, Iri. Willst du mir Rosen auf den Weg streuen, wenn ich zum Altar gehe?« »Dafür bin ich schon zu groß, für eine Brautjungfer noch zu klein. Es ist schon ein Jammer!« Lachend trennte man sich. Und als Erla am Abend mit Birgit beim gemütlichen Plausch saß, sagte sie: »Ich glaubte nicht recht zu hören, als Wido mir kurz vor seiner Abfahrt im Vertrauen mitteilte, daß unsere geliebte Mutz eine Stiefmutter wäre. Zwar zerbrach ich mir manchmal den Kopf, wie es möglich sein kann, bei so jugendlichem Aussehen schon einen dreißigjährigen Sohn zu haben, aber daß sie nicht eure leibliche Mutter ist, kam mir nicht in den Sinn. Wie alt ist sie überhaupt?« »Siebenundvierzig.« »Na, so was, man gibt ihr bestimmt zehn Jahre nach. Macht das die glückliche Ehe, daß sie sich so jung erhalten konnte?« »Wahrscheinlich, Erla. Glaube mir, sie trägt Beträchtliches dazu bei, daß die Ehe so glücklich ist. Man muß sich an ihr ein Beispiel nehmen.« »Das tue ich ganz bestimmt«, beteuerte die junge Braut eifrig. »Wido wird nie über mich zu klagen haben.« »Das glaube ich dir aufs Wort. Ein Segen für meinen Bruder und uns alle mit, daß es dich gibt, Erla.« »Ich danke dir, Birgit, für dieses Wort. Es macht mich stolz und froh. Aber wie ist es, willst du nicht musizieren?« »Erbarm dich, was für Liebeslieder müssen das wohl sein?« »Gar nicht so schlimm, du Spottdrossel. Die meisten Lieder handeln ja von Liebe, weil sie nun einmal das Köstlichste im Menschenleben ist.« »Danke für gütige Belehrung.« »Bitte sehr. Kann ich mir erlauben, weil ich darin Erfahrung
habe und außerdem älter bin als du.« »Schau mal an, wie schlagfertig das Kind geworden ist. Nur immer weiter so, dann kannst du mir direkt gefallen.« Lachend nahm sie am Flügel Platz, und schon klangen schmeichelnde Weisen auf. Deutlich drangen die Töne durch das abendliche Haus, bis hin zu dem Mann, der am Schreibtisch arbeitete, schließlich den Kopf in die Hand drückte und lauschend verharrte. Durch Gewitter und Sturm – o ja, so war das Mädchen hier hineingestürmt, um alles auf den Kopf zu stellen. Gewitter und Sturm würde es auch für ihn geben, wenn die unbekümmerte Sängerin da oben sich einen Gatten erwählte, der gewiß ein Landwirt war – und er von allem weichen müßte, woran er mit ganzer Seele hing. Es würde Herzblut kosten. Unendlich zart klang es nun auf: »Mein Herz und dein Herz sind ein Herz, dein Schmerz ist mein Schmerz, dein Glück mein Glück. Was du mir gibst, das gebe ich dir, vieltausendmal zurück…« O nein, was der jungrote Mund da sang, davon wußte das kühle, unbeschwerte Herz gewiß nichts. Dieses innige Bekenntnis wurde für die Braut gesungen, die ihm mit leuchtenden Augen lauschte. Das nahm der Mann an. Keine Ahnung kam ihm, daß es auch anders sein könnte. In den folgenden Wochen gab es für den Verwalter so strammen Dienst, daß er tagsüber kaum aus dem Sattel kam. Daher bedeutete es für ihn eine Entlastung, als eine Hilfskraft für die Rentmeisterei antrat und er seine Schreibarbeit, die er am Abend zu erledigen pflegte, der Rendantin übergeben konnte. Nur ganz wichtige Briefe gab er nach Feierabend ins Stenogramm. So rasch er auch diktieren mochte, die zarte
Hand flitzte mit. Wenn er schwieg, um nachzudenken, hingen die wunderschönen Mädchenaugen aufmerksam an seinem verschlossenen Antlitz. Kein privates Wort wurde gewechselt, nur strenge Sachlichkeit herrschte vor – und doch war diese Stunde für Birgit die schönste des Tages, auf die sie sich schon freute, wenn sie morgens die Augen aufschlug. So ging es zwei Wochen, dann machte der nimmermüde Verwalter plötzlich schlapp. Der Beweggrund dazu war eigentlich klein. Als er nämlich auf das Dach der Scheune stieg, um dort zwei junge Arbeiterinnen, die sich wütend in den Haaren lagen, auseinanderzubringen, stieß er mit dem Kopf so hart gegen die scharfe Kante eines Balkens, daß ihm dunkel vor Augen wurde. Aber welch ein echter Mann mißt dem wohl Bedeutung bei. Nicht einmal die Wunde, die er sich zwei Finger breit über der Schläfe geschlagen und aus der nun Blut sickerte, konnte ihn dazu bewegen, seinen Arbeitsplatz zu verlassen. Er hielt es noch nicht einmal für nötig, den klaffenden Riß zu desinfizieren, als er sich vor der Mittagstafel frisch machte. Bürstete nur die Haare darüber und vertraute seinem gesunden Blut, das rasch alles zum Heilen brachte. Aber diesmal sollte er sich denn doch verrechnet haben. Während des Mittagessens wurde ihm plötzlich wieder ganz schwarz vor den Augen. Taumelnd erhob er sich, griff nach einem Halt. »Odalf!« schrie die Mutter entsetzt auf. »Was hast du denn?!« Birgit dagegen erblaßte bis in die Lippen, eilte auf den Taumelnden zu – und blickte in ein totenbleiches Antlitz. Ihre Arme umschlossen, die schwankende Gestalt, und schon war auch Erla zur Stelle. »Um Gottes willen, er sinkt in sich zusammen«, flüsterte sie angstzitternd der Schwägerin zu. »Wir müssen versuchen, ihn in sein Schlafzimmer zu bekommen.« Zwischen den beiden Mädchen, die ihn fest umfaßt
hielten, setzte er mühsam Fuß um Fuß, bis er dann stöhnend auf sein Bett sank. Das Kissen, auf dem der Kopf lag, färbte sich rot von Blut. »Großer Gott – er stirbt!« jammerte die Mutter, und Birgit, die am ganzen Körper flatterte, fuhr sie ganz respektlos an: »Seien Sie doch ruhig, Frau Baronin! Ihre Hysterie ist hier ganz unangebracht. Lauf, Erla, rufe den Arzt an und hinterher den Paps.« Mit zitternden Knien eilte sie davon. Die Stimme wollte ihr kaum gehorchen, als sie mit den Erwähnten sprach. Der Arzt erschien zuerst, nähte die klaffende Wunde und traf mit der Ruhe des Unerschütterlichen weitere Maßnahmen. Als er jedoch davon sprach, den stark Fiebernden in ein Krankenhaus zu überweisen, stieß er bei dessen Mutter auf Widerstand. »Nein, Herr Doktor, ich gebe meinen Sohn nicht fort. Ich will ihn aufopfernd pflegen, Tag und Nacht.« »Aber nicht ohne die Unterstützung einer erfahrenen Pflegerin, Frau Baronin. Man kann nicht wissen, wie die Infektion sich auswirken wird. Außerdem ist der Blutverlust groß. Daher ist äußerste Vorsicht geboten.« »Alles will ich tun, was Sie für richtig halten, Herr Doktor. Nur lassen Sie mir meinen Jungen hier – bitte -!« Mittlerweile traf auch Holmsen ein. Prüfend ging sein Blick über die Mädchengesichter. Kein Wunder, daß sie blaß waren. Aber was da in den Augen seiner Tochter brannte, ließ auf mehr schließen als auf Angst und Schreck. Nun, sie würde tapfer durchhalten, seine Birgit, wenn es auch noch so arg kommen sollte. Und es wurde arg genug, eine ganze Woche lang, in der das Fieber durch den Körper des Verletzten raste. Und in den trostlosen Stunden, während die Baronin um das Leben ihres Sohnes bangen mußte, zog sie das Fazit – ihrer Schuld. Wie hatte sie doch allzeit dem Jungen das Leben schwer gemacht, sich starrsinnig seinen Bitten, seinen Vorstellungen und berechtigten Vorwürfen
entgegengestemmt, in krassem Egoismus ihrer Herrschsucht nachgegeben, immer nur an sich gedacht, niemals an ihn. Wenn er nun starb -? Großer Gott, alles, nur das nicht! Wie sollte sie dann wohl das Leben ertragen, mit einem Herzen voll Reue, mit quälenden Selbstvorwürfen und bohrendem Schmerz um unwiederbringlich Verlorenes! Zwar hätte sie diese Strafe verdient, aber war es nicht Strafe genug, daß sie so angstgefoltert um das Leben des Sohnes bangen mußte? Er war noch nie ernstlich krank gewesen – und jetzt… Nun ja, was er tat, das geschah eben gründlich, ganz oder gar nicht. So auch bei den Fieberphantasien. Entweder blieben die zersprungenen Lippen fest geschlossen oder sie taten sich auf zu einem flehenden, erschütternden Ruf. Dann neigte die gepeinigte Mutter demütig das Haupt und schickte ein heißes Gebet zum Höchsten empor, um Gnade bettelnd für den Sohn – und auch für sich. So heftig wie die Krankheit begann, so riß sie auch ab. Der Arzt, der zweimal am Tage nach dem Patienten sah, stand gerade über ihn gebeugt, als die umflorten Augen jäh klar wurden. Sie bohrten sich förmlich in das Gesicht des Doktors, der vor Spannung den Atem anhielt. Die Stirn des Kranken zog sich zusammen, unwillig öffnete sich der Mund. »Was wollen Sie eigentlich von mir? Lassen Sie mich doch endlich in Ruhe!« »Richtig so«, lachte der Mediziner herzlich. »Ich soll Sie in Ruhe lassen, mein ungnädiger Freund? Tun Sie es lieber mit mir, dann läuft die Karre richtig. Sie haben mir nämlich arg zu schaffen gemacht. Hunger?« »Nein.« »Müde?« »Ja.« »Denn man hinein ins Traumland! Solche Patienten wie Sie sind mir ungemein sympathisch.« Lächeln schaute er auf den Kranken, der nun ruhig schlief.
Da die Fieberröte aus dem Antlitz gewichen, sah man erst, wie abgezehrt es war. Der Arzt wandte sich der Dame zu, die mit angstzitterndem Herzen dem allen folgte. »Lassen Sie ihn ruhig schlafen, Frau Baronin. Denn der schläft sich unter Garantie gesund. Eine Natur wie aus Eisen, kann man wohl sagen.« »Herr Doktor, ist er jetzt – durch?« rang es sich mühsam von den zuckenden Lippen, und mitleidig sah er in das verhärmte Frauenantlitz. »Wahrscheinlich. Komplikationen sind bei dem Prachtkerl wohl kaum zu befürchten. Donner noch eins, der kann einen schon in Atem halten – kurz aber heftig. Nun denken Sie auch an sich, Frau Baronin, indes die Schwester wacht. Tun Sie einen erquickenden Schlaf. Wovor Sie sich jetzt fürchten müssen, ist das Erwachen unseres Patienten«, setzte er lachend hinzu. »Denn seine Laune wird miserabel sein.« Wenig später betrat der Arzt das Speisezimmer, wo Frau Gina mit Tochter und Schwiegertochter an der Mittagstafel saß. Erstere war wie selbstverständlich in dem Herrenhause von Ragaltshöfen erschienen, als sie von der Erkrankung des Verwalters hörte. Offiziell um nach dem Rechten zu sehen, in Wahrheit jedoch, um Birgit Halt zu bieten in deren Herzensnot. Irina hatte man nach dem Holmsenhaus gebracht, damit das Kind von alledem, was eine schwere Krankheit mit sich bringt, verschont bliebe. »Wie geht es dem Kranken, Herr Doktor?« fragte Frau Gina jetzt bang. »Er schläft«, erfolgte die Antwort schmunzelnd. »Daß dieser Staatskerl nicht lange fackeln würde, nahm ich wohl an, aber dieser kurze Prozeß überraschte mich denn doch. Und nun werde ich hier mal wacker mithalten; denn in der vergangenen Woche ist mir der Appetit vergangen.« Sprach’s und setzte sich an den Tisch. Als Jost ein Gedeck brachte, musterte der Arzt ihn scharf. »In Ihrer Haut hätte ich auch nicht stecken mögen, Sie Getreuer«, bemerkte er trocken. »Aber lassen Sie nur, bald
werden Sie Ihren Abgott wieder erstanden sehen in altgewohnter Körperkraft und Frische. Doch wie wär’s, gnädige Frau – einen guten Tropfen haben wir uns wohl redlich verdient, wie?« blinzelte er Frau Gina zu, die erst einige Male tief Luft holte und dann herzlich lachte. »Will ich meinen. Her damit, Jost! Aber etwas Extragutes, wenn ich bitten darf.« Verstohlen streifte ihr Blick die Tochter, die still, aber mit leuchtenden Augen dasaß. Mein Liebherz, mein tapferes – dachte die Mutter gerührt. Wie du dich in den Tagen voll quälender Pein gehalten hast, das soll dir mal einer nachmachen. Kein Jammern, kein Klagen. Nach außen hin gefaßt, doch innerlich schmerzzerrissen. Nicht das über die Lippen bringend, was tief verschlossen im Herzen ruht. Gott möge dir gnädig sein, du liebstes Kind, und da Rosen sprießen lassen, wo jetzt noch alles voller Dornen ist. »Scheußlich war das«, tat Birgit jetzt burschikos, um nur ja nichts von dem Jubel in ihrem Herzen zu verraten, und der Arzt lachte. »Scheußlich ist gut. Ich habe eine andere Bezeichnung dafür, gnädiges Fräulein. Die Damen sehen ordentlich blaßschnäbelig aus. Kein Wunder, wenn Krankheit im Hause ist. Da streikt der Magen, und die Sorge läßt nicht schlafen. Ah, da verteilt unser Jost bereits den guten Tropfen. Verflixt, wie Öl fließt das Zeug ins Glas.« »Trinken wir zuerst einmal auf die rasche Genesung des Barons«, hob Frau Gina das ihre. »Und dann kommen Sie an die Reihe, Herr Doktor. Oder wollen Sie etwa abstreiten, daß Sie sich um den Kranken ganz besonders bemühten?« »Wenn ich nun etwas von Pflicht fasele, lachen die Damen mich ja doch aus«, entgegnete er schmunzelnd. »Da sage ich schon lieber: Prosit!« Und während man es sich an der Tafel gut sein ließ, schlief Odalf friedlich der Genesung entgegen. Er tat es dreimal um die Uhr, und als er dann erwachte, verlangte er zu
essen. Das war Musik für die Ohren der Mutter. So freudig hatte sie wohl noch nie den Wunsch eines Menschen erfüllt. Viel war es nicht, was der Sohn von der leichten Kost zu sich nahm, doch für den Anfang immerhin ausreichend. Er schlief der Mutter fast unter den Händen ein. Tat es noch mit kurzen Unterbrechungen, da er Nahrung zu sich nahm, drei Tage. Dann hatte er es soweit geschafft, daß es zur schlechten Laune ausreichte, die sich sogar auf Papa Holmsen erstreckte, als er seinen ersten Krankenbesuch machte. »Da hätten wir den schneidigen Kerl ja wieder.« Er sah forschend in das Männerantlitz, das wohl schmal, aber verhältnismäßig frisch wirkte. »Mein lieber Freund, haben Sie ein Tempo! Brummt der Schädel noch?« »Nein, der ist klar«, kam es knapp zurück. »Daher halte ich es für eine Schande, während der Ernte, wo ich an allen Ecken und Enden nötig bin, hier faul herumzuliegen.« »Sind Sie aber eingebildet«, meinte der andere erstaunt. »Sie sollten mal sehen, wie flott es draußen auch ohne Sie vorwärts geht. Der Roggen ist bereits unter Dach und Fach, das nächste Getreide folgt.« »Und der ganze Schreibkram?« »Den erledigt meine Tochter sozusagen aus dem Handgelenk.« »Dann bin ich ja übrig auf Ragaltshöfen.« »Mann, haben Sie eine Laune! Aber schadet nichts. Wir sind geduldig und langmütig, nicht wahr, Frau Baronin?« »Allerdings, Herr Holmsen. Das alles nehme ich schon gern auf mich. Die Hauptsache, daß mein Junge mir erhalten blieb.« Nun fing die Sache an rührselig zu werden, und das konnte Papa Holmsen nicht vertragen. Das gab immer ein so seltsames Gefühl in der Magengegend. Rasch verabschiedete er sich und meinte vergnügt, als er wieder unter den Seinen saß: »Die Baronin hat eine Radikalkur hinter sich, die nicht so
ohne ist. Wozu Krankheiten doch manchmal gut sind. Sie lehren auch die störrischsten Menschen erst das in voller Größe schätzen, was sie bisher als selbstverständlich erachteten. Die wird ihren Sohn fortan nicht mehr quälen mit ihrem starren Sinn. Die ist so klein und häßlich geworden, daß es einen fast erbarmt.« Am nächsten Tage gestattete der Arzt seinem Patienten, aufzustehen, da dessen Ungeduld sich nicht länger zügeln ließ. Doch kaum stand Odalf auf den Beinen, merkte er erst, wie schlapp er war. Kaum schaffte er die Schritte vom Bett bis zum Fenster, wo ein bequemer Lehnstuhl stand. Doch von Tag zu Tag ging es immer besser, er merkte direkt, wie seine Kräfte zunahmen. So saß er auch heute wieder in dem Sessel und sah durch das weit geöffnete Fenster hinaus in den sommerlichen Park. Hinten im Garten sah er das Brautpaar Arm in Arm lustwandeln, ihr fröhliches Lachen klang bis zu ihm hin. »Sie sind doch wertvolle Menschen, die Holmsen«, sprach da die leise Stimme der Mutter neben ihm. »Fräulein von Tessau paßt zu ihnen. Während du schwer krank daniederlagst, hat sie den Verlobten gebeten, hier nicht zu erscheinen, worin er sich auch ohne Murren fügte. Man brachte dir überhaupt viel Teilnahme entgegen, mein Junge. Daraus kann man ersehen, wie beliebt du bei der ganzen Familie bist. Und wie liebreich sie sich Irinas annahmen, so was findet man nicht oft.« »Gewiß«, entgegnete er knapp, und die Mutter konnte einen schmerzlichen Seufzer kaum unterdrücken. Zwar war Odalf nie besonders zugänglich gewesen, aber jetzt hatte sie das Gefühl, als umgäbe seine Person ein undurchdringlicher Panzer. Er lehnte es auch schroff ab, als sie ihm zu verstehen gab, daß die drei Damen sich nach seinem Ergehen erkundigen wollten. Durch das Fenster ließe sich das wohl gut machen. »Bitte die Damen, davon abzusehen, Mama. Es wäre beschämend, mich ihnen in dieser Verfassung zu präsentieren. Das soll geschehen, wenn ich wieder
vollständig auf den Beinen bin, was bald geschehen dürfte.« Und tatsächlich setzte seine kräftige Natur sich so glänzend durch, daß es mit seiner Genesung rapide aufwärts ging. Sein fester Wille, seine eisenharte Energie taten ein übriges und so konnte es kommen, daß er nach drei Wochen wieder an der gemeinsamen Tafel teilnahm. Es war gerade ein Sonntag und Familie Holmsen vollzählig zugegen. Als er das Speisezimmer betrat, lief ihm Irina freudestrahlend entgegen. »Wie schön, daß du wieder da bist, Odalf. Ach, was habe ich geweint, als es dir so schlecht ging! Aber Alexa hat mich getröstet und gesagt, du würdest ganz bestimmt gesund. Geht es dir jetzt wirklich schon wieder ganz gut?« »Ganz wirklich, Irilein. Laß mich los, damit ich die Herrschaften begrüßen kann. Gnädige Frau, es tut mir sehr leid, daß ich solche Unruhe ins Haus brachte.« Er beugte sich artig über die Hand Ginas, die ihm liebenswürdig zulächelte. »Wenn die Unruhe nur alles gewesen wäre, Herr Baron. Alles andere machte uns weit mehr zu schaffen. Jedenfalls freue ich mich ehrlich, Sie wieder wohlauf zu sehen.« »Und ich erst«, schaltete sich Wido vergnügt ein. »Zehn Tage lang verbannte mich mein unbarmherziges Mädchen aus seiner Nähe.« »Dafür stand das Telefon nicht still!« rief der Bruder neckend dazwischen. »Wenn du die Gebühren dafür bezahlen müßtest, würdest du wohl ein saures Gesicht machen. Sie sehen tatsächlich schon wieder ganz ordentlich aus, Herr Baron. Nicht wahr, Nora?« »Kann ich nur bestätigen. Solche Patienten, die so rasch wieder auf die Beine kommen, wünsche ich mir zuhauf.« Auch Papa Holmsen fand für den Genesenen herzliche, humorvolle Worte – nur Birgit sagte nichts. Sie reichte ihm die Hand und gab sich alle Mühe, unter einer freundlichen Miene das zu verbergen, was ihr Herz bewegte. Das wurde nun ein recht fideles Mahl. All die Fröhlichkeit,
die bange Tage hindurch eingedämmt worden war, brach jetzt durch. Man schien wie eine große Familie, die miteinander lachte und weinte. Am nächsten Tag trat der Verwalter wieder seinen Dienst an. Die Leute brachten ihm direkt Ovationen, die er freudig bewegt entgegennahm. Und dann ging alles seinen alten Gang. Als Birgit sich im Arbeitszimmer des Verwalters einfand, den Stenogrammblock in der Hand, winkte er lächelnd ab. »Wozu das, gnädiges Fräulein? Sie haben doch auch ohne mich Hier alles glänzend geschafft.« »Das wäre! Bin manchmal ratlos genug gewesen. Dann lief ich zum ersten Inspektor, und wir schwitzten gemeinsam Angst.« »Wenn übertreiben – denn. Was soll ich überhaupt diktieren?« »Die Beantwortung dieser beiden Briefe, bei der ich mir arg den Kopf zerbrechen müßte. Und dazu verspüre ich keine Lust.« »Na schön«, nahm er die beiden Schreiben zur Hand, die als einzige noch unerledigt dalagen. Während er sie las, betrachtete sie verstohlen das rassige Männerantlitz, das genau noch so verschlossen erschien, wie vor der Krankheit des Mannes. Nichts war anders geworden – aber auch gar nichts. Sie schrak zusammen, als er sachlich sagte: »Schreiben Sie bitte, gnädiges Fräulein.« Wohl zehn Minuten lang flitzten die Finger über den Block, dann konnte sie gehen. Hätte er nur eine Ahnung gehabt, wie ungern sie es tat, wäre er wohl recht betroffen gewesen. Ein sonnenklarer Septembertag stieg auf, der vier liebeheißen Herzen die letzte Erfüllung bringen sollte. Die standesamtliche Trauung, an der Martin Holmsen und Odalf Vörswelde fungiert hatten, war vorüber, gleichfalls das anschließende Mahl. Eine knappe Stunde noch, dann begann das kirchliche Zeremoniell. Frau Gina betrat das Ankleidezimmer, in dem der Gatte vor dem großen Spiegel stand und sich mit dem schneeweißen
Binder abplagte. »Gut, daß du kommst, Fraule. Ich werde mit dem Dings einfach nicht fertig.« »Habe ich mir so ungefähr gedacht«, entgegnete sie lachend. »Halt mal fein still – siehst du, jetzt ist’s geschafft. Ein Gesicht machst du, als hätte man dir auf die Hühneraugen getreten. Und das am Hochzeitstag deiner beiden Söhne und ihrer prächtigen Auserwählten.« »Ach was«, brummte er, indem er sich den Frack anzog. »Daß man doch nie ganz unbeschwert in eine Sache hineinsteigen kann. Immer setzt das liebe Schicksal einem einen Dämpfer auf.« »Birgit -?« fragte sie leise. »Na was denn sonst?« kam es unwirsch zurück. »Hast du eine Ahnung, wie unserer Kleinen heute zumute sein muß? Wenn ich nur so könnte wie nicht, dann würde ich den verbohrten Baron bei den Ohren nehmen, ihn rütteln und schütteln, daß ihm Hören und Sehen vergeht. Verflixter Bengel! Könnte sich so leicht ins warme Nest setzen mit einer Frau – « »Die er nicht liebt«, ergänzte die Gattin trocken, und da brauste er auf. »Ja, was will der Mann denn überhaupt? Gibt es etwa ein liebenswerteres Menschenkind als unsere Tochter?« »Danach fragt die Liebe nicht, Martin. Laß ab von deinem Zorn, er nützt dir ja doch nichts. Komm, setz dich hin. Rauche eine Zigarre und gib mir eine Zigarette.« Nur widerwillig kam er ihrem Wunsch nach. »So, mein lieber Mann, jetzt wollen wir erst mal geruhsam verschnaufen, bevor der Rummel weiter geht. Hätte nicht gedacht, daß so viele Gäste zusammenkommen könnten. Und dabei sind es nur solche, die unbedingt eingeladen werden mußten.« »Das ist doch alles so unwichtig«, winkte er verdrossen ab. »Den Klimbim übersteht man schon. Zum Kuckuck, dieser Vörswelde ist einfach ein Narr!« legte er nun wieder los, doch die Gattin preßte ihm rasch die Hand auf den Mund,
weil sie Schritte im Nebenzimmer hörte. Gleich darauf stand Birgit auf der Schwelle. »Ist das die Möglichkeit!« rief sie lachend. »Unten steht man fast Kopf vor Aufregung, während unsere >Altchen< gemütlich sitzen und rauchen. Die ersten Wagen sind schon unterwegs, um Gäste zur Kirche zu bringen, und hier tut man so, als befände man sich auf einer einsamen Insel.« »Das war aber mal eine nette Standpauke.« Der Vater besah sich schmunzelnd sein Töchterlein. »Potztausend, Mädchen, du schaust ja aus wie ein Bild in deinem neuen Festgewand. Wenn ich nicht gerade dein Vater wäre, würde ich mich unsterblich in dich verlieben.« »Das könnte dir noch so passen«, tat Frau Gina entrüstet. »Ich zeige mich dir bereits eine halbe Stunde in meinem Glanz, den du überhaupt nicht bemerkt hast.« »Tatsächlich, Fraule«, kratzte er sich verlegen den Kopf. »Aber weißt du, der Mensch ist nun mal ein Gewohnheitstier. Wer ständig so was Bezauberndes vor Augen hat, sieht es zuletzt gar nicht mehr.« »Echt männlich.« »Böse, Liebchen?« »Fürchterlich, Schätzchen.« »Und das nach zwanzigjähriger Ehe«, besah sich die Tochter kopfschüttelnd das Elternpaar, das sich verschmitzt zulächelte. Gleich darauf stürmte Wido ins Zimmer. »Birgit, wo bleibst du? Der Baron steht sich unten die Beine krumm und du plauschst hier in aller Seelenruhe. Läßt den Wagen warten.« »Der sich die Räder krummsteht«, fiel sie ihm lachend ins Wort, und er tat fröhlich mit. »Kinder, was ist die eigene Hochzeit doch für eine aufregende Angelegenheit. Noch einmal mache ich so was bestimmt nicht mit. Komm, Schwesterlein, jetzt bist du am dransten.« »Was denn, um zu heiraten?« »Mädchen, mach mich nicht konfus. In die Kirche fahren
sollst du mit deinem Kavalier.« Wenig später stand Birgit vor dem eleganten Mann im Frack, der ihr mit tadelloser Verneigung einige auserlesene Blüten überreichte, bevor er ihr den Arm bot. Das Ehepaar Holmsen sah dem distinguierten Paar nach, und ihr Herz zog sich schmerzend zusammen. Wenn doch – ja wenn… Das Zeremoniell verlief in der Kirche mit üblicher Feierlichkeit, Irina, die eine solche zum erstenmal mitmachte, schmiegte sich eigen berührt an die Mutter, während Alexa es bei Frau Gina tat. Die Orgel spielte leise, eine sympathische Männerstimme sang, die Ringe wurden gewechselt – und zwei junge Frauen Holmsen verließen glückstrahlend die Kirche, von den ergriffenen Angehörigen gefolgt. Auch weiter verlief alles programmäßig, von der Festtafel bis zur Abfahrt der beiden jungen Paare. Jedes einem anderen Ziel entgegen, versteht sich. »So, das hätten wir geschafft.« Papa Holmsen wischte sich schmunzelnd den Schweiß von der Stirn. »Jetzt beginnt der gemütliche Teil.« Er hakte sich bei seiner Frau ein und gesellte sich mit ihr der Gruppe zu, wo unter anderen Gästen auch Vörswelde neben seiner Mutter saß. Vornehm sah die Dame aus in der schweren Seidenrobe und dem wohlfrisierten. Haupt. Wenn sie auch jetzt nicht sehr gesprächig war, so ging sie doch mehr aus sich heraus als gewöhnlich. Mit Staunen und Zufriedenheit zugleich hatte sie von der glänzenden Festgestaltung Kenntnis genommen. Wirklich über jede Kritik erhaben. Sie schienen ein vornehmes Haus zu machen, die Holmsen. Eben trat Birgit hinzu, bezaubernd anzuschauen in ihrem »Gedicht von Kleid«. Voller Stolz besah sich der Vater sein Töchterlein. »Wo steckten wir solange, mein Mädchen, hm?« »Oben bei Irina und Lexi. Die beiden kleinen Damen haben regelrecht getafelt, dabei ist ihnen der Wein in die Köpfchen gestiegen. Sie wollen sich über alles und jedes
halbtot lachen, tanzen dabei zur Rundfunkmusik quietschvergnügt. Sie meinen, was wir hier unten können, stände auch ihnen zu.« Da nun die Musik einsetzte, machten die Herren sich daran, zuerst einmal ihre Tischdamen aufzufordern. So verneigte denn Odalf sich vor Birgit, die ihm bangklopfenden Herzens auf das Parkett folgte. Ein Gefühl, wonnig und weh zugleich, erfüllte sie, als er den Arm um ihre Mitte legte. Er tanzte gut, wie man es anders wohl kaum erwarten durfte. Führte sie sehr korrekt und genug distanziert. Sein Antlitz blieb hart und verschlossen wie gewöhnlich. Und dabei sang doch die Geige so süß, ganz nah war ihm das zauberschöne Mädchengesicht. Papa Holmsen hatte recht – der Mann war wirklich ein Narr. Als er später mit Frau Gina tanzte, sagte sie besorgt: »Sie sehen blaß aus, Herr Baron.« »Das macht die Beleuchtung, gnädige Frau.« »Hoffentlich. Sie sollten sich beim Tanz nicht überanstrengen, der Sie noch vor Wochen schwer krank darniederlagen. « »Das ist doch schon längst vergessen. Außerdem soll der Tanz doch ein Vergnügen sein, keine Anstrengung.« »Das sagen Sie nicht. Nehmen wir als Beispiel die modernen Tänze, bei denen man sich so verrenken muß, als gälte es Steine zu karren oder Bäume aus der Erde zu reißen.« »Scheußlich«, ließ er nun sein dunkles, sonores Lachen hören. »So ein Kasperletheater mache ich erst gar nicht mit.« »Das hören wir Alten gern.« »Alt, gnädige Frau – Sie?« »Nun lacht der Mensch mich noch ganz respektlos aus«, tat sie entrüstet. »Bitte sehr, ich habe zwei verheiratete Söhne. Das heißt – « Fragend sah sie zu ihm auf, und er nickte. »Ich weiß Bescheid, gnädige Frau, durch Ihren Gatten. Eine
verpönte Bezeichnung in Ihrer Familie – und mit Recht. Wer eine so vorbildliche Mutter ist, der ist eben eine.« »Das war ein gutes Wort, Herr Baron«, entgegnete sie warm. »Ich liebe meine Kinder, deren es jetzt drei mehr gibt; denn auch Alexa rechne ich dazu. Gäbe Gott, zu ihnen gesellte sich recht bald noch ein Sohn.« Schien es nicht, als ob er erblaßte? Wohl nur eine Täuschung, weil er ruhig antwortete: »Dazu wünsche ich Ihnen alles Glück, gnädige Frau.« Oh, über diesen verbohrten Menschen -! dachte sie ärgerlich. Martin hat recht. Man müßte ihn bei den Ohren nehmen und gehörig zusammenschütteln. Gina wurde einer Antwort enthoben, da die Musik schwieg. An Odalfs Seite ging sie nach dem Tisch zurück, wo jetzt der Hausherr neben der Baronin saß. Sie waren beide so vergnügt, daß der Sohn die Mutter erstaunt ansah. »Siehst du, mein Junge, ich kann auch fröhlich sein«, nickte sie ihm mit ungewohnter Herzlichkeit zu, worauf er nach ihrer Hand griff und seine Lippen auf sie drückte. I du verflixter Bengel! dachte Holmsen, zwischen Ärger und Humor schwankend. Wie tief sich dein stolzer Nacken beugen kann – wenn er will. Wenn du es doch auch woanders tätest, wo es tiefste Glückseligkeit hervorrufen würde. Sein Blick suchte Birgit, die mit einem nicht mehr jungen Herrn vergnügt drauflos steppte. Recht so, mein Marjellchen, laß dir deine Fröhlichkeit nicht nehmen – auch von dem stolznackigen Baron nicht. »Ja, da werde ich wohl wieder mein Dienerchen machen müssen, bis ich die Damen bepflichttanzt habe.« Er erhob sich und zog die Weste glatt »Macht Spaß und nicht. Bei denen ersteres der Fall ist, trete ich gleich an, bei den andern lasse ich die Musik erst ein Weilchen spielen. Sie sollten sich meine vernünftige Taktik zunutze machen, Herr Baron.« Ihm vergnügt zublinzelnd ging er davon und hielt gleich darauf eine stocksteife Partnerin im Arm.
»Man sieht direkt, daß mit dieser Dame zu tanzen eine Arbeit ist«, bemerkte Frau Gina lachend. »Und gerade sie hält streng darauf, nur nicht übergangen zu werden.« »Aber Ihr Gatte scheint mit dieser schwierigen Angelegenheit recht gut fertig zu werden«, bemerkte die Baronin lächelnd. »Wie kommt es übrigens, daß keine Verwandten der beiden jungen Frauen zugegeben sind? Wurden sie nicht eingeladen?« »Nein, weil Erla sich dagegen sträubte. Das arme Kind muß böse Tage bei den herzlosen Menschen gehabt haben, so daß es jetzt nichts mehr von ihnen wissen will. Nora hingegen besitzt keine näheren Verwandten und mit den entfernten hat sie keine Fühlung. Meine Söhne können froh sein, so prachtvolle Frauen gefunden zu haben. Doch nun will ich dafür sorgen, daß die fleißigen Musiker eine längere Pause einlegen, in der sie sich genügend stärken können. Gleichfalls sollen es die Gäste tun. Bitte mich daher für ein Weilchen zu entschuldigen.« Mutter und Sohn blieben nun allein am Tisch zurück. Einige Minuten herrschte Schweigen zwischen ihnen, dann meinte erstere: »Gutes Haus hier.« »Hast du etwa daran gezweifelt, Mama?« »Das nicht, aber mancherlei überrascht mich dennoch. Jedenfalls haben die beiden vermögenslosen jungen Frauen sich hier ins warme Nest gesetzt.« Die letzten Worte hörte Birgit, die unbemerkt hinzutrat. Es war ein spöttischer Blick, der zu der Dame hinging und sie verlegen machte, während dem Sohn das Blut ins Gesicht stieg. Das Mädchen jedoch tat ganz harmlos, nahm Platz und sah vergnügt zu, wie die Gäste sich an den Tischen gruppierten. Sie waren so gestellt, daß man sich bequem miteinander unterhalten konnte. So flog denn auch manches Scherzwort hin und her. Der Sekt, der zu den Delikatessen gereicht wurde, löste die Zungen, so daß bald eine unbeschwerte Fröhlichkeit herrschte.
»Nun, Fräulein Birgit, jetzt sind Sie am dransten.« Ein bejahrter Herr hielt ihr sein Glas entgegen. »Sehen Sie zu, daß Sie uns gleich den Brüdern bald zu so einer vergnügten Feier wieder verhelfen. Einen Mann hätte ich für Sie. Wollen Sie ihn mal ansehen?« »Warum nicht?« gab sie mutwillig zurück. »Ansehen kostet ja nichts. Ist er schneidig, hat er Geld?« »Beides. Und Landwirt ist er auch.« »Großartig, dann müßte die Sache eigentlich klappen.« »Und das Herz?« rief eine jüngere Dame hinüber. »Das muß mit.« So trocken klang es, daß stürmische Heiterkeit ausbrach. Jedenfalls hatten die Eltern wieder einmal Grund, stolz auf ihre Tochter zu sein. Wo andere Mädchen, die das gleiche Herzweh trugen, sich wehleidig aller Freude ausgeschlossen hätten oder gar am Leben verzagt wären, kämpfte sie sich tapfer durch ihre Trübsal und brachte die Kraft auf, sich in Gegenwart anderer darüber hinwegzulachen. Sie vermied es sogar, die Lieben in ihre Herzensnot hineinzuziehen, weil sie wußte, daß diese dann mit ihr leiden würden. Also war das kein Mangel an Vertrauen, sondern nur zarte Rücksichtnahme. Nachdem die Gäste und auch die Musiker sich genügend gestärkt hatten, konnte wieder der Tanz beginnen. Da die älteren Herrschaften nun nicht mehr daran teilnahmen, sondern einen gemütlichen Plausch vorzogen, gab es auf dem Parkett reichlich Platz für die Tanzlustigen. Hauptsächlich der eine Herr, der leidenschaftlich gern tanzte, holte immer wieder die Tochter des Hauses, die auch wirklich eine glänzende Partnerin war. Seine Frau, die sich aus dem letzten Wochenbett immer noch nicht so recht erholen konnte, gönnte ihrem Mann das harmlose Vergnügen von Herzen, weil sie genau wußte, daß dem treuen Ehekameraden keine Frau gefährlich werden konnte – und mochte sie auch noch so zauberhaft sein wie Birgit Holmsen. Eben tanzte er mit ihr einen Paso doble. Wie ein
Wirbelwind ging es über das Parkett. »Das geht aber flott«, meinte ein dicker, asthmatischer Herr förmlich andächtig. »Wo die Leutchen die Puste herkriegen, das möchte ich gern wissen.« Nun, außer Atem waren sie schon, als sie Schluß machten. Heiß und leicht schnaufend ließ sich Birgit auf den Stuhl fallen. »Herrlich war das, aber jetzt habe ich für eine Weile genug. Laß nur, Mutz, ich trinke vorsichtig«, beschwichtigte sie die Mutter, die auffahren wollte, als sie nach dem Sektglas griff. »Du weißt, ich bin nicht unvernünftig.« »Nein, das bist du wirklich nicht«, betonte sie nachdrücklich. »Wohl dir, mein Kind.« Allmählich begannen die älteren Herrschaften aufzubrechen, doch die jüngeren mochten sich von der gastlichen Stätte noch nicht trennen. Eine junge Frau, die über eine liebliche Stimme verfügte, wurde gebeten, etwas zum besten zu geben. Sie tat es ohne Ziererei, beriet mit den Musikanten, und ein lustiges Potpourri stieg. Man lauschte mit Genuß und horchte dann auf, als eine innige Weise dazwischenklang. Mein Herz und dein Herz sind ein HerzWie ein jubelndes Geständnis kam es über die Lippen der Sängerin, die, wie bekannt, mit ihrem Mann in glücklicher Ehe lebte. Er lauschte mit leuchtenden Augen, und die anderen hatten ihre Freude daran. Nur Birgit hatte das Gefühl, als bohre es in ihrem Herzen herum wie mit eines stumpfen Messers Schneide. Sie wagte den Blick nicht zu heben, damit er nicht den Augen des Mannes begegnete, in denen gewiß ein nachsichtiges Lächeln lag – oder gar verletzende Ironie. Wie eine Marter erschien ihr die jubelnde Stimme. Sie atmete wie erlöst auf, als diese endlich schwieg. Und als später auch die letzten Gäste aufbrachen, da mußte die bezaubernde Birgit Holmsen feststellen, daß Baron
Vörsweide auf dem Fest nur einmal mit ihr getanzt hatte – und zwar den Pflichttanz. Birgit blieb noch einen Tag im Elternhause, dann fuhr sie wieder nach Ragaltshöfen und nahm Irina mit. Deren Plappermaul stand nicht still. So wunderschön wäre es gewesen, gar nicht zu beschreiben. Am liebsten bliebe sie immer bei Alexa und den guten Holmsens. Doch als sie Mutter und Bruder begrüßte, war sie dennoch froh, wieder bei ihnen zu sein. Aber still war es im Hause. Obwohl Erla gewiß kein Leben hineingebracht hatte, spürte man ihr Fehlen trotzdem. Hauptsächlich Birgit. Als sie ihr Zimmer betrat, kam es ihr seltsam öde und leer vor. Scheu streifte ihr Blick die Tür, durch die sich so oft ein dunkler Lockenkopf gesteckt hatte. Nun, der legte sich jetzt an ein Herz, da unten im Süden, wo es nur Glückstage gab für die einst so zaghafte, vom Schicksal stiefmütterlich behandelte Erla von Tessau. Ich bin ja töricht – sann Birgit verdrossen. Warum bleibe ich überhaupt hier, die ich ein so harmonisches, liebedurchwehtes Elternhaus habe. In der Rentmeisterei sitzt jetzt eine tüchtige Kraft, welche die Arbeit auch allein schaffen würde, und der Verwalter braucht mich für seinen Schreibkram auch nicht unbedingt. Bin ich also hier weiter nichts als eine Staffage. – Ich fahre morgen nach Hause und komme immer nur zum Wochenende mit den Eltern her. Aber kaum hatte sie das gedacht, wurde sie kleinlaut. Die Eltern, ja, was würden die wohl sagen, wenn sie, die kaum vor einem halben Jahr aus dem behüteten Nest frischfröhlich den ersten Flug unternommen, sich mit gebrochenen Flügeln zurückfand? Nein, das ging nicht, feige durfte sie nicht sein. Sie wollte und mußte durchhalten. Und es ging – wenn auch in den ersten Tagen nur widerwillig und verdrossen. Zum Wochenende waren dann wieder die Eltern nebst Alexa da, und schon gab es fröhliches Leben im Hause.
Die Baronin, die sich jetzt nicht mehr absonderte, sondern auch nach den Mahlzeiten mit Familie Holmsen zusammensaß, machte zumeist einen gedrückten Eindruck, wozu sie eigentlich keine Veranlassung hatte. Der Sohn war wieder vollkommen gesund, Irina prächtig erholt und recht manierlich, also hätte die Mutter von Herzen zufrieden sein müssen. Doch sie sah zuweilen blaß aus, in ihren Augen brannte es wie von ungeweinten Tränen. Und da bei jedem Menschen einmal die Nerven nachgeben, und mochten sie hart wie Stränge sein, so geschah es auch hier. Es war an einem Sonntag zwischen Mittag und Kaffee, als das Ehepaar Holmsen es sich auf der Terrasse in den Liegestühlen gut sein ließ. Man mußte die Sonnentage weidlich ausnutzen, die im Oktober rar zu werden begannen. Drei Wochen später kam der November, der mit dem schönen Wetter Schluß machte. Die Bäume prangten in ihrem Herbstschmuck aus farbigem Laub, gleichfalls die Blumen mit ihren leuchtendbunten Farben. Es war so still um die ruhenden Menschen, daß sie behaglich vor sich hin duselten. Weiter im Park hörte man fröhliches Lachen. Dort spielten die beiden Kinder mit Birgit Tennis. Plötzlich hob Frau Gina den Kopf – lauschte, dann rüttelte sie den Arm des Gatten. »Hör mal, Martin, weint da nicht jemand?« »Tatsächlich«, entgegnete er betroffen. »Wer kann das nur sein? Birgit und die Kinder befinden sich doch auf dem Tennisplatz.« Sie standen auf, legten sich über die Brüstung der Terrasse – da, jetzt klang es schon näher. Beunruhigt stiegen sie dann die Stufen hinab in den Park, gingen am Haus entlang – und schon fanden sie des Rätsels Lösung. Im Lehnstuhl am geöffneten Fenster ihres Zimmers saß die Baronin, hielt das Gesicht in den Händen und weinte jammervoll. Betreten schauten die Draußenstehenden sich an. Was war denn hier richtig, was falsch? Sollten sie sich taktvoll entfernen oder - In dem Moment hob die Weinende den Kopf,
erblickte die beiden Menschen, die Hand in Hand wie arme Sünder dastanden. »Oh, entschuldigen Sie«, stammelte der zuckende Mund. »Ich konnte nicht ahnen…« »Frau Baronin, kann ich Ihnen vielleicht helfen?« fragte Gina zaghaft, und die andere schüttelte den Kopf. »Danke – es ist schon vorüber. Ich schäme mich ordentlich meiner Schwäche.« »Dann kommen Sie wenigstens hinaus in die Sonne.« »Das kann ich tun.« Wenig später erschien sie auf der Terrasse, wohin auch die Gatten zurückgekehrt waren. Mitleidig schaute Gina in das verweinte, verhärmte Frauenantlitz, in dem es jetzt wieder arbeitete und zuckte. »Nein, Frau Baronin, so geht es denn doch nicht«, sagte sie entschieden. »Wir gehen in das kleine Zimmer, wo wir ganz ungestört sind. Dort erzählen Sie uns Ihren Kummer, und wir werden Ihnen zu helfen Versuchen.« Damit zog sie die Dame einfach fort, drückte sie in dem lauschigen Gemach in einen Sessel. Holmsen, der gefolgt war, schloß die Tür und nahm, gleich der Gattin, Platz, »Sie müssen nicht etwa annehmen, daß wir neugierig sind, Frau Baronin«, begann er verlegen. Doch sie winkte mit einem traurigen Lächeln ab. »Um das anzunehmen, kenne ich Sie schon zu gut. Es ist ja auch nichts Direktes geschehen. Ich bin hur in Sorge um meinen Sohn, habe Angst um ihn.« »Wie denn, ist etwas von seiner Krankheit zurückgeblieben?« forschte Gina bang. »Das nicht. Er trägt aber unstillbares Leid, das, wie ich fürchte, ihn langsam zermürben könnte.« »Kennen Sie das Leid?« »Ja.« »Und Sie sind nicht in der Lage, ihm zu helfen?« »Nein.« »Wir vielleicht?« »Sie nicht – aber – «
»So sprechen Sie sich doch aus, Frau Baronin«, bat Holmsen dringend. »Sie wissen doch, ganz genau, wie wichtig Ihr Sohn Ragaltshöfen und somit auch für uns ist. Wer kann ihm helfen?« »Ihre – Tochter.« Erst starrten die Gatten sich an – doch dann begriffen sie. »Ist denn das die Möglichkeit«, entgegnete der Mann konsterniert. »I, dieser verflixte Bengel!« Verständnislos schaute die Baronin auf die beiden Menschen, die absolut kein Mitgefühl zeigten, sondern sich vergnügt anlachten. Schon wollte sie sich gekränkt erheben, was Gina aber verhinderte. »Bitte nicht. Was mein Mann meinte, sollen Sie bald, erfahren. Hat der Herr Baron Ihnen gesagt, daß er Birgit – liebt?« »Nein, dafür ist er viel zu verschlossen. Nur während der Krankheit, da er zeitweise seiner Sinne nicht mächtig war, hat er den Namen gerufen – zärtlich, sehnsüchtig, in überströmender Liebe und Herzensnot. Und zwischendurch immer das flehende: Mein Herz und dein Herz sind ein Herz – ach, es war entsetzlich!« »Und weshalb bewirbt er sich denn nicht um meine Tochter?« fragte Holmsen mit einer Stimme, die nicht ganz klar klang. »Das weiß ich nicht. Ich weiß überhaupt nichts weiter, als was er in seinen Fieberphantasien verriet. Er ist ja so unzugänglich, der Junge, so unbarmherzig mit sich selbst. Fordert von sich eiserne Selbstdisziplin. Nie wird mir gegenüber das über seine Lippen kommen, was sein Herz bewegt. Aber heute, als ich in sein Arbeitszimmer ging, um etwas zu fragen, sah ich ihn versunken am Schreibtisch sitzen. Sein Gesicht zuckte, in der Hand hielt er ein Bild Fräulein Birgits. Wo er es her hat, entzieht sich meiner Kenntnis. Können Sie sich ungefähr denken, wie mir zumute war? Ich habe gewiß nicht gut an ihm gehandelt. Habe ihn gepeinigt und gequält mit meinem unverzeihlichen Egoismus,
meiner kindischen Unzufriedenheit. Erst als ich um sein Leben bangen mußte, stand meine Schuld riesengroß vor mir – ich fürchtete mich namenlos vor der Strafe der Vergeltung. Zwar blieb er mir erhalten, aber ich muß büßen fort und fort. Denn meine Schuld wird immer zwischen uns stehen.« Dieses trostlose Geständnis erschütterte die beiden Zuhörer tief. Es folgte eine bedrückende Stille, die Holmsen dann brach. »Das ist ja nun eine ganz verflixte Geschichte«, brummte er. »Wenn man nur wüßte, wie man da hinterhaken könnte. Da zerquälen sich zwei Herzen, daß Gott erbarm! Stolz steht gegen Stolz, Zweifel gegen Zweifel. Einer verbirgt seine Liebe meisterhaft, der andere auch. Ich kann doch unmöglich hingehen und sagen: Hören Sie mal, mein lieber Freund, ich biete Ihnen meine Tochter an. Zwar soll auch so was vorkommen, aber dann ist es ein Geschäft unter robusten Naturen.« Es klang so kläglich, daß die Gattin lachen mußte, so wenig ihr auch danach zumute war. Auf den fragenden Blick der Baronin gab sie Antwort: »Es ist so, wie mein Mann sagte. Auch unsere Tochter trägt Herzweh um ihre Liebe, die sie genauso tief in sich verschließt wie der Herr Baron.« »Aber dann kann ja noch alles gut werden«, kam es zwischen Hoffen und Bangen zurück. »Ob ich meinem Sohn einen Wink gebe?« »Nein«, widersprach Holmsen entschieden. »Wir haben es hier mit zwei stolzen, eigenwilligen Menschen zu tun, die aus sich heraus zueinander finden müssen. Ein gutgemeinter Rat oder ein unbedachtes Wort könnte da mehr schaden als nützen. Nun wollen wir ein frohes Gesicht machen, denn ich höre Birgit mit den Kindern kommen. Habt ihr euch jetzt genügend ausgehopst?« rief er ihnen vergnügt entgegen. »Und tüchtigen Hunger mitgebracht?« »Ja!« erfolgte die Antwort dreistimmig. Alexa umhalste ihre
geliebte Tante Gina stürmisch. »Wo Irina und ich die Bälle hingeworfen haben, darüber könnte man sich ausschütten vor Lachen.« »Aller Anfang ist schwer, Lexilein.« Die Dame strich zärtlich die Locken aus dem erhitzten Kindergesichtchen. »Birgit hat genauso begonnen wie ihr, und jetzt kann sie kaum noch ein Partner schlagen.« »Mein Bruder schon«, behauptete Irina großartig. »In Weide schlug er sie alle. Auch bei Ihnen wird er es tun, Fräulein Birgit. Wetten?« »Worauf denn?« »Daß Sie die Partie verlieren. Ich will mal gleich zu Odalf.« Weg war sie. Gleich darauf stürmte sie ins Arbeitszimmer des Bruders, der am geöffneten Fenster saß und in einer Illustrierten blätterte. »Odalf, man will mir nicht glauben, daß du jede Tennispartie gewinnst. Sag du es ihnen!« »Halt ein, du Ungestüm, du bist ja ganz aus Rand und Band! Es ist lieb von dir, daß du mich so herausstreichst, aber du weißt auch, wie wenig recht mir das ist. Wer soll denn überhaupt meine Partnerin sein?« »Fräulein Birgit. Das heißt, gesagt hat sie es nicht«, gab sie der Wahrheit die Ehre. »Du müßtest sie also erst zu der Partie auffordern.« »Aha, da kommt heraus, daß mein Schwesterlein wieder einmal auf eigene Faust gehandelt hat. Soll ich mich denn blamieren? Ich habe länger als zwei Jahre nicht mehr Tennis gespielt, während Fräulein Holmsen im Training ist. Da kann ich mich nicht mit ihr messen, siehst du das ein?« »Das schon«, versetzte sie kleinlaut. »Aber ich kann es nun durchaus nicht leiden, wenn man Fräulein Birgit herausstreicht und dich gar nicht beächtet.« »Irina, was sind das für häßliche Gedanken. Geht es dir immer noch nicht ein, daß Fräulein Holmsen die Tochter des Besitzers von Ragaltshöfen ist und ich nur der Verwalter bin?« »Du, das vergesse ich tatsächlich«, gab sie unumwunden
zu. »Weil wir doch hier viel freier leben, als es auf Weide der Fall war.« »Siehst du, daher müssen wir Familie Holmsen dankbar sein, die uns ein so schönes Leben ermöglicht.« Als man sich auf der Terrasse zum Kaffee zusammenfand, fragte Holmsen neckend: »Nun, Irina, wie steht’s mit der Wette?« »Die fällt ins Wasser«, mußte sie kläglich bekennen. »Mein Bruder fürchtet, sich zu blamieren, da er schon lange aus dem Training ist.« »Ja, gibt’s denn auch so was bei Ihnen, Herr Baron?« fragte Gina lachend. »Doch, gnädige Frau. Solange ich auf Ragaltshöfen weile, habe ich kein Rakett mehr in der Hand gehabt.« »Wollen wir beide es mal versuchen? Ich bin nämlich auch schon aus der Übung gekommen.« »Gern, aber ich bitte um gütige Nachsicht.« »Sollen Sie haben.« So stieg man denn nach dem Kaffee in den Dreß. Auch Birgit, die ihn beim Spiel mit den Kindern vorhin nicht trug. Diese erboten sich eifrig, die Bälle aufzuheben, während die Nichtspieler sich außerhalb des Platzes, wo unter einem großen Baum bequeme Bänke standen, niederließen. Interessiert verfolgte man das Spiel, das flott voranging. »Daß der Baron aus dem Training ist, kann man gerade nicht behaupten«, schmunzelte Holmsen. »Er macht seiner Partnerin ganz gut zu schaffen.« Tatsächlich mußte Gina sich tüchtig rühren. Trotzdem blieb das Spiel unentschieden. Als sie sich zu den anderen gesellte, sagte sie lachend: »Ist der Mann bescheiden! Tut so, als bekäme er den Ball nicht über das Netz und schlägt ganz raffiniert drein. Los, Birgit, stell dich ihm. Ganz einfach wirst du es bei dem Partner nicht haben. Oder sind Sie zu, müde zur neuen Partie, Herr Baron?« »Woher denn, gnädige Frau. Ich fühle mich kaum
angestrengt.« »Dann auf in den Kampf!« Es wurde wirklich ein Kampf, den man verbissen ausfocht. Den Kindern geriet es kaum, die Bälle zu sammeln, so rasch folgten die Schläge. Man merkte, wie das Mädchen allmählich nervös zu werden begann, während der Mann gelassen blieb. »Paß auf, Gina, der schafft’s«, stellte der Gatte sachlich fest, und sie nickte. »Kann sein, da Birgit heute nicht so kaltblütig spielt wie sonst. Ich gönne ihm den Sieg. Hoffentlich ist das ein gutes Omen für einen andern, schwerwiegenderen.« Und er blieb Sieger. Wenn auch nur knapp, aber immerhin. Ein amüsiertes Lächeln umzuckte seinen Mund, als er mit der Partnerin zu den Zuschauern trat, die sich offensichtlich ärgerte. Als sie jedoch das pfiffige Gesicht des Vaters sah, mußte sie lachen. »Dich freut wohl gar die Niederlage deiner Tochter, mein lieber Paps?« »Gewiß, Marjellchen. Denn so was sorgt dafür, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Es waren ja auch immer nur mittelmäßige Partner, mit denen du bisher spieltest. Aber an diesem scheinst du deinen Meister gefunden zu haben«, setzte er doppelsinnig hinzu, was den andern beiden Damen ein verstecktes Lächeln entlockte. Denn sie wußten ja, wie seine Worte gemeint waren. Seit dem Tage spielte das Paar öfter zusammen, auch am Alltag. Für Birgit war das ein guter Ausgleich nach dem stundenlangen Sitzen am Schreibtisch, für Odalf eine Erholung nach stundenlangem Sitzen im Sattel. Wenn er auch nicht immer Sieger blieb, so doch größtenteils. Sie ärgerte sich jedoch nicht mehr darüber, sondern nahm es gleichmütig hin. Anschließend unterhielten sie sich friedlich und kamen sich dadurch langsam näher. Es war wie ein behutsames Hineintasten in das Denken und Fühlen des andern. An einem Abend, als sie nach dem Spiel gemächlich dem
Hause zuschritten, bestellte Birgit Grüße von den beiden Flitterwochenpaaren, die selbstverständlich im siebenten Himmel schwebten, wie sie lachend hinzufügte. Und dann, so ganz ohne Übergang, fragte der Mann das Mädchen um Rat, was man mit Irina machen könnte, die nun ja wieder Unterricht haben müßte. Sie hätte ihn gestern darum gebeten, die Stadtschule besuchen zu dürfen, wobei er jedoch Bedenken hege. Schon allein die tägliche Fahrt bei Wind und Wetter zur Stadt hin und zurück. Zwar hätte sie sich in den letzten Monaten erstaunlich gut herausgemacht, wäre jedoch immer noch zarter als andere Mädchen ihres Alters. »Das ließe sich auch anders einrichten«, entgegnete Birgit mit einer Sachlichkeit, über die sie sich selbst freute. »Irina könnte im Hause meiner Eltern wohnen und zum Wochenende mit ihnen zusammen hierherkommen.« »Würden Ihre Eltern damit einverstanden sein, gnädiges Fräulein?« »Unbedingt. Ich fürchte nur, daß die Frau Baronin untröstlich sein würde, wenn sie Irina nicht täglich um sich hätte. Bedenken Sie, wie sehr die überängstliche Mutter schon hat nachgeben müssen. Man darf ihr auch nicht zuviel zumuten. Aber einen anderen Vorschlag will ich Ihnen machen. Fräulein Tey, die in der Rentmeisterei hilft, hat eine zwölfjährige Schwester, die in der Stadt das Lyzeum besucht. Nun ist der Vater, der im Nachbardorf Lehrer war, vor einem Vierteljahr gestorben und die Witwenpension Frau Teys nur klein, dazu drei ihrer Kinder noch schulpflichtig. Die beiden Söhne möchte sie nicht vom Gymnasium herunternehmen, da sie sehr begabt sind und auch Freischule bekommen. Trotzdem langt es nicht hin und her, obgleich die Mutter sich mit Heimarbeit noch redlich abplagt. Außerdem betreibt der Bruder, ein Junggeselle, noch eine kleine Landwirtschaft, die nicht nur den eigenen Bedarf abwirft, sondern auch noch manche Mark einbringt.
So schlagen sie sich recht und schlecht durch, doch ganz will es nicht langen. Daher soll die jüngste Tochter vom Lyzeum, worüber die Kleine unglücklich ist. Denn auch sie scheint gleich ihren Brüdern sehr begabt und ehrgeizig zu sein. Also können Sie ein gutes Werk tun, Herr Baron, wenn Sie eine Lehrerin ins Haus nehmen, die Irina mit dem andern Mädchen zusammen unterrichtet. Dann hat erstere eine Kameradin und dieser ist auch geholfen.« Aufmerksam hatte er zugehört, und dann trat ein warmer Schein in seine Augen. »Ich danke Ihnen, gnädiges Fräulein. Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe. Morgen schon suche ich Frau Tey auf und spreche mit ihr.« So kam es denn, daß bald darauf eine Lehrerin antrat, die Frau Gina ausgesucht hatte. Nicht mehr jung, doch erfahren in ihrem Fach, gescheit und sehr sympathisch. Auch die Mitschülerin rückte an. Ein reizendes Mägdlein, aufgeweckt und bescheiden. Irina war glückselig und schloß sich rasch an ihre Kameradin an- und somit löste sich alles in Wohlgefallen auf. Jetzt war auch das Zimmer neben Birgits nicht mehr leer. Und wenn die Nachbarin Birgit auch nicht so ans Herz wuchs wie Erla, so mochte sie diese jedoch gern. So gab es denn am Abend manch einen gemütlichen Plausch, und da Fräulein Hedwig vortrefflich Geige spielte, auch manches Konzert. Daß sie unten dabei dankbare Zuhörer hatten, ahnten sie allerdings nicht. Auch heute saßen Mutter und Sohn zusammen und ließen sich von den schmeichelnden Klängen einspinnen. Wenn zwischendurch Birgits fröhliches Lachen aufklang, huschte es wie Qual über das Männerantlitz. Die Mutter sah es wohl, schwieg jedoch mit sorgebangem Herzen. Der törichte Junge! Er begriff doch sonst alles so schnell, doch bei dem, was seine Liebe betraf, schien er direkt begriffsstutzig zu sein. Jetzt spielte man oben das »Ständchen« von Schubert. Süß sang die Geige, und süß sang die Mädchenstimme. So
zärtlich, so weich, so aus herzklopfender Tiefe heraus: »Leise flehen meine Lider, durch die Nacht zu dir – « Und dann weiter so flehend, wie der Text es verlangt: »Hörst du die Nachtigallen schlagen, ach, sie bitten dich, aus der Ferne mit süßen Klagen, flehen sie für mich. Sie versteht des Herzens Klage, Kennen Liebesschmerz rühren mit den Silbertönen jedes weiche Herz... « Da biß der Mann die Zähne zusammen wie in heißem Schmerz. Hastig erhob er sich und ging hinaus. Es war an einem Sonntag Ende Oktober. Wie gewöhnlich am Wochenende befand sich das Ehepaar Holmsen nebst Alexa wieder im Herrenhause von Ragaltshöfen. Man konnte sagen, daß man einen so schönen Spätherbst schon lange nicht mehr erlebt hatte. Zwar gab es zwischendurch auch mal Sturm und Regen, aber dann lachte die Sonne wieder vom Himmel hernieder wie im Sommer. So auch heute. Direkt heiß war es draußen. Natürlich nutzte man den herrlichen Tag aus und lag in Liegestühlen auf der Terrasse, die Baronin, Frau Holmsen, die Lehrerin und die beiden Kinder. Eben kam Holmsen mit dem Verwalter von einem Rundgang durch die Wirtschaft zurück. Da die beiden Herren gemeinsam die Terrasse betraten, mußte letzterer wohl oder übel es seinem Chef gleichtun und sich in einen Liegestuhl sinken lassen. »Ich glaube, wir kriegen ein Gewitter.« Holmsen wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Denn umsonst ist es nicht so schwül. Wo steckt denn Birgit?«
»Ins Dorf gegangen«, gab die Gattin Antwort. »Fräulein Tey feiert ihren Geburtstag und hat unsere Tochter dazu herzlich eingeladen. Um nicht das Pferd so lange warten zu lassen, ging sie zu Fuß. Zum Abendessen wollte sie wieder zurück sein.« »Hoffentlich gerät sie dabei nicht ins Gewitter hinein, Gina.« »Aber bester Mann, wie kommst du überhaupt darauf, daß ein solches aufziehen könnte? Schau dir mal den blauen Himmel an. Dazu rührt sich kein Lüftchen.« »Eben, die beängstigende Ruhe vor dem Sturm«, beharrte er eigensinnig. »Am liebsten möchte ich im Auto Birgit abholen.« »Wenn du dich von ihr auslachen lassen willst, dann nur zu.« »Na schön«, gab er nach, »Warten wir der Dinge, die da kommen werden.« Und sie kamen – und zwar so plötzlich, daß man sich kaum dessen versah. Mit Windeseile überzog sich der Himmel schwarzblau, die brütende Ruhe verdrängte ein orkanartiger Sturm. Man eilte ins Zimmer und schaute bang in das Unwetter hinaus. »Wie spät haben wir es?« fragte Frau Gina angstvoll. »Viertel vor sieben«, gab der Gatte Bescheid. »Großer Gott, dann ist Birgit bestimmt unterwegs! Martin, du mußt ihr entgegengehen.« »Da läuft mein Bruder.« Irina zeigte in dem Moment aufgeregt zum Fenster hinaus. »Er eilt bestimmt Fräulein Birgit zur Hilfe.« Nun, laufen war wohl nicht der richtige Ausdruck, wie die andern, die ans Fenster eilten, feststellen konnten. Vielmehr war es ein kämpfen durch Gewitter, Sturm und prasselnden Regen. Es sah gefährlich genug aus, wie der Mann mühsam davonschwankte. Daher konnten die angsterfüllten Menschen es nicht verstehen, als Papa Holmsen vergnügt lachte. »Martin, wie kannst du nur?!« rief die Gattin empört.
»Wenn den Baron nun ein Blitzschlag trifft?« »Der läuft unten durch, verlaß dich darauf.« Es war kein Wunder, daß diese stoische Ruhe den andern gehörig auf die Nerven fiel*. Die Kinder weinten, die Baronin war blaß vor Erregung, Frau Gina und Fräulein Hedwig gleichfalls – nur Papa Holmsen zündete in Gemütlichkeit sein Pfeifchen an. Indes kämpfte sich Odalf mühsam vorwärts. Der Regen, mit Hagel vermischt, prasselte unbarmherzig auf ihn nieder. In Strömen rann das unerwünschte Naß von seinem Wettermantel – doch unentwegt drängte der Mann durch das Unwetter vorwärts. Nur einen Gedanken dabei hegend, daß Birgit sich noch im Hause der Lehrerfamilie befinden möge. Denn diesen tobenden Elementen schutzlos ausgesetzt zu sein, konnte selbst einen mutigen Menschen in Angst versetzen. Allein, seine Hoffnung sollte zuschanden werden. Denn als er an der Haltestelle der Kleinbahn, die nur durch eine Blechbude gekennzeichnet war, vorüberhasten wollte, hörte er eine ihm wohlbekannte Stimme: »Hierher, Herr Baron!« Nur noch einige Meter in sorgender Hast davongeeilt, dann stand er dem gesuchten Mädchen gegenüber. »Um Gott, gnädiges Fräulein, wie konnten Sie bloß so leichtsinnig in das Unwetter hineingeraten?« »Ja, leider. Aber kommen Sie doch herein. Hier ist es wenigstens trocken, wenn auch unheimlich genug. Die Angst war nicht so ohne, die ich ausstehen mußte.« »Gnädiges Fräulein, Ihr Leichtsinn ist bewundernswürdig.« »Was heißt hier Leichtsinn? Wie konnte man auf den Gedanken kommen, daß es noch so ein scheußliches Gewitter geben könnte, wo der November vor der Tür steht? Das meinte auch Familie Tey und ließ mich ruhig gehen. Jedenfalls habe ich mit so unheimlicher Geschwindigkeit noch nie ein Unwetter aufziehen sehen. Warum mustern Sie mich denn mit so sonderbarem Blick?« »Weil Sie einem gebadeten Kätzchen nicht unähnlich
wirken«, kam es gleichmütig zurück. Er entledigte sich seines Wettermantels und legte ihn um die triefende Gestalt. Achselzuckend ließ Birgit es geschehen, setzte sich auf die Bank und schaute in das Unwetter hinaus, das unentwegt weiter tobte. Er nahm neben ihr Platz, legte den Kopf gegen die Blechbudenwand und verschränkte die Arme über der Brust. Es herrschte ein Schweigen zwischen den beiden Menschen, das an Herz und Nerven zerrte. Plötzlich zuckte er zusammen und starrte entsetzt auf den Feuerkranz, der mit unheimlicher Geschwindigkeit auf den alten, knorrigen Weidenbaum zuraste. Ein ohrenbetäubendes Krachen und Splittern, der alte Gesell sank in sich zusammen- und Birgit schrie laut auf. Fest legte sich der Arm des Mannes um den zitternden Mädchenkörper, zog ihn ganz nah zu sich heran. Das Gesicht drückte sich so eng an seine Brust, als wolle es in das hartklopfende Herz eindringen. »Ruhig, kleines Mädchen, es ist ja schon alles vorüber«, sprach eine unendlich zärtliche, unendlich betörende Stimme dicht an ihrem Ohr. »Uns hat es nicht erwischt – und das ist die Hauptsache. Die Zeit des uralten Weidenbaumes, der nun gefällt daliegt, war längst um. Er starb einen ehrenvollen Tod – doch das, was ich hier im Arm halte, ist lachendes, blühendes Leben.« Der Mädchenkopf hob sich, zwei leuchtendblaue Augen sahen zaghaft zu dem Mann auf – und da war es um seine mühsame Beherrschung geschehen. Sein Mund preßte sich auf den weichen, warmen, der so lockend, so süß zu ihm emporblühte. Zeit und Stunde schien stillzustehen in diesem Kuß heißer, beseligender Liebe. Kein Donnergrollen, kein zuckender Blitz waren stark genug, um Lippe von Lippe zu trennen. Mochten die Elemente auch noch so toben, hier pochte Herz an Herz in glücksverkündender Zweisamkeit. Keine noch so betörenden Worte hätten dem Mädchen klarmachen können, wie tief, wie unendlich der Mann es liebte. Daher
duldete Birgit es nicht, als dieser harte, stolze Mund sich später zu einem Bekenntnis öffnen wollte. »Still, Odalf, ich weiß Bescheid. Ich liebe dich, du liebst mich, alles andere ist unwichtig. Wenn sich durch Gewitter und Sturm Herz zu Herzen findet, das bleibt unlöslich für Zeit und Ewigkeit.« »Birgit, ich liebe dich.« »Das weiß ich doch bereits, du törichter Mann«, lachte sie mitten in seine liebesseligen Augen hinein. »Laß ab von deinen Sorgen und Bedenken. Deine Mutter ist meine Mutter, deine Schwester meine Schwester, meine Lieben sind deine Lieben – und mein Herz ist dein Herz. Und wenn du mir nun noch ein wenig mehr Luft lassen würdest, wäre ich ganz zufrieden.« Da lachte der Mann auf, so frei, so froh, so aus glückszitterndem Herzen heraus, daß dem Mädchen vor Erschütterung die Tränen in die Augen traten. Und als hätte sie Freude an diesem Lachen, funkelte die Sonne plötzlich durch die Gewitterwolken wie ein strahlendes, glücksverheißendes Omen. Derweil saß man im Herrenhause von Ragaltshöfen bangend und hoffend beisammen. Bangend, weil man Odalf draußen bei den tobenden Elementen wußte, hoffend, daß der Herrgott ihn beschützen möge vor allem Ungemach. Nur Papa Holmsen blieb von aller Not unberührt. Er rauchte in aller Beschaulichkeit sein Pfeifchen und schmunzelte zuweilen vergnügt vor sich hin. Er war gar nicht erstaunt, als das Unwetter sich so plötzlich verzog wie es gekommen war, und die Sonne aufstrahlte in all ihrer goldenen Fülle. »Na also«, brummte er zufrieden. »Da bist du ja wieder, du Sorgenbrecher der Menschheit. Ein gutes Symbol für uns.« »Martin, du bist mir einfach ein Rätsel.« Die Gattin besah sich kopfschüttelnd die personifizierte Gemütlichkeit. »Ehe man das Unwetter überhaupt ahnen konnte, machtest du dir Sorge um Birgit, und als es wirklich tobte, bliebst du
seelenruhig.« »Aber Fraule, wer wird sich denn ärgern. Freu dich lieber mit mir, daß wir bald unsern ersehnten Schwiegersohn in die Arme schließen werden.« Jetzt wurde sie endlich böse. »Hör mal, mein lieber Martin, Zuversicht soll ja wohl etwas Gutes sein. Aber deine fällt einem auf die Nerven.« »Auch das da?« Er zeigte schmunzelnd auf das junge Paar, das soeben eintrat, triefend naß, aber in strahlender Glückseligkeit. Augenblicklang blieb es beängstigend still – doch dann brach ein Jubel los, der sich kaum noch überbieten ließ. Man stürzte sich förmlich auf die beiden Menschen, umarmte sie, ungeachtet ihrer nassen Kleider. »Nun, Mutter, benetzte mich nicht auch mit deinen Tränen, der ich gerade schon feucht genug bin«, lachte Odalf, der so gar kein Verständnis für die fassungslos schluchzende Frau aufbringen konnte, die ihm am Halse hing. »Mein Junge – ich bin ja so glücklich!« »Also Freudentränen, die laß ich mir schon eher gefallen.« Als sie dann Birgit im Arm hielt, sagte sie fast demütig: »Ich danke dir, daß du meinen Sohn so glücklich machst.« »Dann müssen wir uns bei dem langen Schlingel gleichfalls bedanken«, polterte Papa Holmsen über seine Rührung hinweg. »Denn seinetwegen hat unser Marjellchen ja so liebesselige Augen. Und jetzt hopp, damit ihr in trockene Kleider kommt. Indes sorgen wir für ein festliches Mahl.« Das wurde denn auch in fröhlicher Stimmung eingenommen. Im Laufe des Gesprächs meinte Papa Holmsen ein wenig schadenfroh: »Ja, so geht das nun, geliebte Mutz. Kaum, daß du zwei Söhne ausgestattet hast, kannst du bei der Tochter von vorne beginnen. Oder gedenkt das verehrte Brautpaar der Ärmsten eine längere Atempause zu gönnen?« »Fünf Wochen, nicht länger«, entgegnete Odalf ungerührt, und Frau Gina lachte hellauf.
»Nun hört euch mal den Herrn Baron an. Schau, schau, er kann sogar egoistisch sein. Aber laß nur, mein Sohn, dein Wunsch ist mir Befehl. Werde mir Mühe geben, euch in der kurzen Zeit das mollige Nestchen zu schaffen. Hoffentlich wird es nicht zu klein, da die ganze Holmserei auch ihren Platz darin beansprucht.« »Der soll schon vorhanden sein«, bemerkte die Baronin, die man heute kaum wiedererkannte. Alles Steife, Förmliche war von ihr abgefallen, sie strahlte direkt Herzensgüte aus. »Zwei Speisezimmer sind jetzt ja nicht mehr erforderlich. Meines hat so viel Raum, um auch eine noch größere Familie bequem beherbergen zu können. Ich stelle euch überhaupt meine gesamten Räume zur Verfügung und richte mich oben ein. Irina bezieht Birgits jetziges Zimmer, wo auch Alexa schlafen kann, wenn sie hier ist. Wie gefällt euch mein Vorschlag?« Ausgezeichnet, wie man von allen Seiten beteuerte. Und später, als die Kinder schliefen und auch die Lehrerin sich zurückgezogen hatte, erklärte Holmsen, daß er dem jungen Paar Ragaltshöfen zum Geschenk mache. Wido würde später den Betrieb in der Stadt übernehmen und Bodo hätte durch sein Studium, der Übernahme der Praxis und dem Kauf des Hauses nebst dessen Einrichtung auch bereits einen großen Teil seines Erbes weg. Jedenfalls sorgte der Vater schon dafür, daß keines seiner Kinder benachteiligt würde. »Gut«, erklärte Odalf in gewohnter Gelassenheit. »Mein Geld stecke ich in Ragaltshöfen, Mutters bleibt ihr ungeschmälert, und Irinas wird mündelsicher angelegt.« »Bengel, sei doch nicht so unangenehm gründlich!« »Was denn sonst, Vater?« »Weil es zwischen dir und Birgit niemals ein Mein und Dein geben darf.« »Eben. Deshalb soll auch ihr gehören, was mein ist.« »Basta, Kommentar überflüssig«, lachte Frau Gina. »Laßt mir den Jungen in Ruhe, der weiß schon was er tut. Der paßt in unsere Familie genausogut hinein wie Nora
und Erla.« »Na schön.« Der Gatte gab sich geschlagen. »Wie ist es nun, wollen wir unsere beiden Flitterwochenpaare von der Verlobung benachrichtigen?« Man kam überein, daß man davon absehen würde. Diese Freudenbotschaft sollte eine Überraschung für sie werden, wenn sie nach zwei Wochen nach Hause zurückkehrten. In den ersten Tagen des Dezember gab es dann wieder eine Hochzeit, anschließend die Reise des jungen Paares, und Weihnachten fand man sich geschlossen unterm Tannenbaum zusammen. Nachdem das zur Zufriedenheit aller geklärt war, erhob sich Birgit und ging zum Flügel. Gleich darauf klang das Motiv auf, das hier zum Symbol geworden war. Mit dem Augenblick, wo Birgit durch Gewitter und Sturm in Ragaltshöfen hineingeplatzt war, stürmte und tobte es weiter – bis dann die Sonne sieghaft durchbrach, alles golden überstrahlend. Das waren die Gedanken der Menschen, die dem Gesang des glückseligen jungen Menschenkindes ergriffen lauschten. Es folgte ein buntes Durcheinander von Tönen, und dann kam es zärtlich und süß von den jungroten Lippen: »Mein Herz und dein Herz sind ein Herz – « Es zuckte und bebte in dem Antlitz des Mannes, dem dieses herzinnige Geständnis galt. Seine Augen leuchteten, die Brust schien ihm zu eng zu werden, so weitete sich sein Herz, das ausgefüllt war von der Liebe zu dem zaubersüßen Geschöpf. Sturmvöglein, geliebtes – dachte er zärtlich. Mein Herz und dein Herz sind ein Herz. So soll es bleiben, bis ein Höherer Herz vom Herzen löst. -ENDE-