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Dr. Fabian Steinhauer Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Eine Haftung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. © 2007 Springer-Verlag/Wien • Printed in Austria Springer-Verlag Wien New York ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.at Lektorat: Nadja Schiller, ZHdK Lay-out und Satz: Springer-Verlag, Wien Druck: Ferdinand Berger & Söhne Ges.m.b.H., 3580 Horn, Österreich Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF SPIN: 12043279 Mit einer Abbildung Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1863-6411
ISBN-13
978-3-211-71688-5 Springer-Verlag Wien New York
Recht, Rhetorik und kulturelle Evolution. . . . . . . . . . . I.
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Exempla trahunt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mimesis und Synallagma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Fusion der Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Design des gespaltenen Persönlichkeitsrechts . . . . . . . . . Zur Unwahrscheinlichkeit eines Inzestverbotes . . . . . . . .
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II. Interdisziplinäre Türsteher und strange loops . .
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III. Es gibt juristische Evolutionstheorien . . . . . . . . . . 86 Evolution als reflexiver Begriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 Was evolviert, wenn Recht evolviert? . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Ranking Inference und Multilevel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 Kopplungen und Katastrophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 IV. Kardinaltugenden der Evolutionstheorie . . . . . . . System vs. System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Harte vs. graduelle Autopoiesis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Endogene vs. exogene Faktoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Integration vs. Desintegration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V.
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Evolution und Rhetorik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Zur Komplementarität von Biologie und Rhetorik. . . . . . . 131 Jurisprudenz und Rechtsinstinkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
Re c h t , R h etorik u n d k u lturelle Evolut ion Die Topographie der Rhetorik entfaltet sich mit Zufällen.1 Manche Engländer übersetzen bloßer Zufall mit mere coincidence. Das ist zwar ein schöner Begriff, weil man mit ihm nicht nur – wie beim Zufall – Äußerlichkeit, sondern auch Interferenz assoziieren kann. Übersetzer bringt aber gerade diese Kombination aus Äußerlichkeit und Interferenz manchmal in die Bredouille: Wenn ein Eigenname besonders gut passt, dann sagt der Deutsche: „Das ist kein Zufall!“ Der mutige Übersetzer sagt: „That is coincidence!“ Der Gesprächspartner, der ein paar Monate in Deutschland Philosophie studiert hat und die deutsche Sprache ansatzweise beherrscht, ist irritiert und sagt zum Übersetzer: „But he said, it wasn't!?“ Der Deutsche möchte nun wissen, was sein Gesprächspartner einzuwenden hatte. Wie soll man den Einwand gegen die Übersetzung übersetzen? Man steht an einer quasi englisch-deutschen Grenze, an der sich auch das Meer der Fälle und die Landschaft des Gesetzes trennen, Passen und Nichtpassen aber zusammenfallen. An dieser Grenze entfaltet sich auch unser Thema: Gerechtigkeit als Zufall - eine seltsame Verstrickung von Äußerlichkeiten und Interferenzen.
In der Reihe „TRACE – Transmission in Rhetorics, Arts and Cultural Evolution“ geht es um Regeln sowie um die Prozesse ihrer Speicherung und Reproduktion vor dem Horizont einer Welt, deren Ordnung sich laufend ändert. Um nicht zu sagen, sie sei unordentlich und chaotisch. Es gibt Kulturtechniken der Reproduktion (wie sie die Rhetorik lehrt) und die 1
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CICERO, Topik I 1 beginnt mit zufälligem Besuch und Griff. Der Einfachheit halber sprechen wir von entfalteten Zufällen, obwohl Topica auf der Seereise entstand und durch Wellen konditioniert wurde.
Bedingungen, denen die Naturwissenschaft unter dem Namen Evolution einen Begriff gegeben hat. „TRACE“, das sind die Spuren, die sich zwischen Kultur und Natur finden. „TRACE“ ist Zeugnis einer Wissenschaft, die der ausschließenden Unterscheidung von Natur- und Kulturwissenschaften nicht folgen möchte – gerade weil wir im Folgenden noch auf einen unausgestandenen Streit um Erstzuständigkeiten treffen werden. Es gibt eine Tradition (man denke nur an Hobbes oder die scheiternden Pläne maßvoller Natur), in der die Natur für das Chaos und Kultur für die Ordnung steht. Es gibt auch eine Tradition, die es umgekehrt sieht und der die Kultur als destruktiver Abfall vom Naturzustand erscheint. „TRACE“, das sind die Spuren, die sich finden, wenn man Chaos in Ordnung bringt.2 Es sind Spuren, von denen man nicht gleich sagen kann, ob ihre Verfolgung für mehr Ordnung oder für mehr Unordnung sorgt. Die Orientierung auf eine ungewisse Zukunft hin haben diese Spuren gemein mit dem Zufall in der Welt der Physik und dem Gerücht in der Welt der Kommunikation. Auch das sind unsichere Ereignisse, bei denen sich verzögert zeigt, ob man sie sich eingestehen musste oder ob man sie ignorieren konnte. Erst zu einem späteren Zeitpunkt wird man das sagen können. Oft ist es dann zu spät und oft stellen sich dann schon wieder ganz andere Fragen. Man sollte sich darum erstens schnell und zweitens gründlich mit ihnen befassen. Dieser Text gewichtet Schnelligkeit stärker als Gründlichkeit. Keine Sorge, er wird den Leser mit Vertiefungshinweisen versorgen. Ich würde dem Leser dazu gerne noch mitteilen, um welche Gattung es sich bei diesem Text handelt (Einführung? Vertiefung? Übersicht? Lehrbuch?). Es handelt sich um die Gattung Bastardtext. Sie konfrontiert den Leser mit der Negativität des eigenen Textes. 2
Aus dem Adorno Zitat entsteht eine ganze Theorie des prozeduralen Rechts bei: WIETHÖLTER, Zur Argumentation im Recht: Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe?, in: TEUBNER (Hg.), Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe: Folgenorientiertes Argumentieren in rechtsvergleichender Sicht (1994), 89-120 (97).
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Man weiß weder, ob der Autor einer von uns ist, noch, ob der Text vom Autor abstammt.
Evolution ist Rhetorik. Die Evolutionstheorie sucht nicht das Wesen des Rechts, sondern seine ökologischen Beziehung. Sie sucht nicht seine Qualität, sondern seine Reflexivität. Sie verankert Recht nicht im Konsens, sondern im Konflikt. Was aber ist Rhetorik? Wir definieren die Rhetorik nicht – wie in der deutschen Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik üblich – über ihre Verfallserscheinungen.3 Wir definieren sie auch nicht – wie in der Rechts- und Gesellschaftstheorie üblich – über den Begriff der persuasio und die Idee, ihre Funktion liege in der Amplifikation von Kommunikation, sie stelle dabei zentral auf Reproduzierbarkeiten und Generalisierungen ab.4 Wir definieren Rhetorik als Theorie und Technik (!) über drei Merkmale: Die Rhetorik pflegt 1. ein Moduskonzept für Kommunikation, das über die Unterscheidung von Thema und Modulation einen Mechanismus der second-channel-communication einführt.5 Auf einer anderen Ebene pflegt und limitiert die Rhetorik 2. die Möglichkeit des mutierend figurativen Sprechens, d.h. des regelhaften Regelverstoßes.6 Daraus erwächst ihre Tradition der Irritation. Die Rhetorik sorgt sich 3. um die Adressierbarkeit der Sprache in einem polarisierten Ranking zwischen hohem, mittlerem und niedrigem Stil und sie stellt mit dieser Adresse einen mobilen Link zur common-sense-Epistemologie sozialer 3
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KASER, Römische Rechtsgeschichte (1967/1993), 170 ff.; CANARIS, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz (1968/1981), 140. LUHMANN, Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3 (1989), 173/175; DERS., Einige Probleme mit reflexivem Recht, ZFRs 6 (1985), 1-18 (15); DERS., Kunst der Gesellschaft (1995), 320. CICERO, Orator 14, 43; 16, 51; 21, 71; 22, 72. QUINTILIAN, Inst. Or. VIII 6 1: tropus est verbi vel sermonis a propria significatione in aliam cum virtute mutatio.
Formationen her.7 Alle drei Punkte sorgen sich im Zusammenspiel und ohne interne hierarchische Abschichtung ebenso um Themen wie um Äußerliches. Der reflexive Mechanismus des rhetorischen decorum/aptum-Prinzips hält dafür eine Hyperreferenz zur Verfügung, mit dem Kommunikation ökologischen Beziehungen angemessen wird. Was dem Biologen Fitness, ist dem Rhetor Angemessenheit. Was dem Biologen Zufall, ist dem Rhetor Akzidentielles. Wie passend dieser Vergleich für die Transmission juristischer Kommunikationssysteme ist, welche Gemeinsamkeiten und welche Unterschiede ihn rechtfertigen können, darauf kommen wir ebenso, wie auf die subversive Poetik des Bastards.
Die Regeln des Rechts unterscheiden sich von Moral und Sitte, von den Regeln einer Gruppe von Philosophen oder Fußballfans, des Flugzeugbaus oder des Kunstbetriebes. Ihre Eignung zum Unterschied und zur Abgrenzung macht sie hier zum Beispiel. Der Unterschied ist selbstverständlich und darum fällt es nicht so leicht, ihn auf den Begriff zu bringen. Eins fällt gleich auf: Der Unterschied zwischen Rechtsregeln und anderen Regeln ist schon in der Welt, bevor wir uns über ihn Gedanken machen konnten. Kaum in der Welt, stand die Ordnung des Rechts schon über, unter oder neben anderen Ordnungen. Wo sie allein und isoliert stand, da war sie schon eine gespaltene Ordnung. Sie ist das Leben der Menschen selbst, „von einer besonderen Seite angesehen“, sagt Savigny noch vorsichtig.8 „Janusköpfig“ nennt Jhering sie, sie zeige sich den Leuten von
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Z.B. CICERO, Orator 5, 20-22. SAVIGNY, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft (1814), in: HATTENHAUER (Hg.), Thibaut und Savigny. Ihre programmatischen Schriften (2002), 61-127 (74).
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den unterschiedlichsten Seiten.9 Die Unterscheidung von nomos und physis erzählt von diesem Nebeneinander ähnlich, wie die Unterscheidung von Regel und Ausnahme.10 Es gibt von den frühen Quellen bis heute lange erprobte eigensinnige Medien des Rechts, die diesem Neben- bzw. Übereinander eine Form geben sollen, wie das Gesetzbuch mit seinen fixierten, behüteten und kanonisierten schriftlichen Regeln und die zahlreichen Techniken, diese Regeln aus ihrer toten Fixierung heraus zu lösen und als Anwendung zu animieren. Es gibt Techniken, spontan erregte Äußerungen unter Entscheidungszwängen durch die Autorität eines alten Gesetzbuches oder einer altera vox abzusegnen.11 Entgegen mancher Vorurteile verfügt das Recht nicht über praktischere, rationalere, wirksamere, formalisiertere, zwanghaftere, dichtere oder normativere Regeln als andere gesellschaftliche Bereiche. Es geht im Recht nicht regelhafter zu als im Parlament, im Labor, im Atelier oder auf der Dult.12 In vielem erinnert die Geschichte der Unterscheidung zwischen Recht und anderen Regeln an die Geschichte der Unterscheidung zwischen Mensch und Tier, die lauter Vorschläge vorbrachte um durch spätere Gegenproben neue Vorschläge zu erzwingen.13 Der Waffen- und Symbolgebrauch, 9 10
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JHERING, Kampf ums Recht (1872/2002), 6. Zur sophistischen Unterscheidung: GAGARIN, Antiphon the Athenian (2002), 65; typisch beginnend mit Themis und Dike: HATTENHAUER, Europäische Rechtsgeschichte (2004); eine kurze Legende der Scheidung und Isolation erzählt SCHULZ, Prinzipien des römischen Rechts (1934/2003),13-26; zum Gesetz als Aussonderungslogik: AGAMBEN, Die Zeit die bleibt (2006), 56-66. GOODRICH, Reading the Law. A Critical Introduction to Legal Method and Technologies (1986). Zu Golfspiel und Recht KANTOROWICZ, Begriff des Rechts (1963), 98 f. Z.B. die mäandernde Definition von BROWN, Law and Evolution, Yale Law Journal 29 (1920), 394-400 (394): “I define “law” as the organic totality of the rules relating to external human action, together with the associated systems of rights and duties which those rules imply, affirmed by the state through official organs, maintained by the organized power of the state, and applied by the courts of the state in the discharge of their official function. The definition assumes the validity of certain arguments amplified in the preceding pages”.
die Erinnerung, die Kommunikation – wenig davon ist dem Menschen exklusiv geblieben. Dass das Tierreich ein Reservat niederer Sinne sei, das glauben spätestens seit der Entdeckung der Chimpanzee Politics nur wenige.14 Auch dem Recht ist kaum etwas exklusiv geblieben. So spontan, wie es sich organisiert, so prekär bleibt es auch – und immer verschiebt es seine Grenze. In der kulturellen Evolution ist die Fähigkeit zur Anpassung so erstaunlich, wie die Fähigkeit, weiterhin Exklusivität zu behaupten. Aus vielen Gründen hat das Recht einfach weiter Differenzen gepflegt. Bei allen diesen Differenzen und den von ihnen generierten Fronten und Fassaden läuft eine Tradition der zweiten Ordnung und des Komplementären mit.15 An ihr kann beobachtet werden, mit welchen Formen der second-channel-communication und second-order-structure eine Gesellschaft Formen aufbaut, um sich über die Einheit von Stasis und Wandel hinweg zu tradieren und sich immer im Recht zu wähnen. Die Gesellschaft verfügt also über Recht und das seit geraumer Zeit. So ist das Recht immer schon vor uns da. Die Anfänge liegen ewig zurück, aber einige ahnen, dass die Stämme der Mbuti und Hadzi des 20. Jahrhunderts Auskünfte darüber geben können, wie altes und anfängliches Recht ausgesehen haben könnte.16 Ein Teil der Rechtswissenschaft stellt sich diese Gruppen als konservierte Frühformen 14
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VOLAND, Von der Ordnung ohne Recht zum Recht durch Ordnung. Die Entstehung von Rechtsnormen aus evolutionsbiologischer Sicht, in LAMPE (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein (1997), 111-133 m.w.N. zu Fähigkeiten der Schimpansen; Vorformen in den Dig. Ulp. 1 inst. D. 1,1,1,3 (nam ius non humani generis proprium (…) videmus etenim cetera quoque animalia, feras etiam istius iuris peritia censeri); im jüdischen Recht: TALMUD Erubin 100b (Wäre die Tora nicht verliehen, so hätten wir den Anstand von der Katze, die Ehrlichkeit von der Ameise, die Einehe von der Taube und das rechte Benehmen vom Hahn gelernt). WIETHÖLTER, Begriffs- und Interessenjurisprudenz – falsche Fronten im IPR und Wirtschaftsverfassungsrecht. Bemerkungen zur selbstgerechten Kollisionsnorm, in: LÜDERITZ/ SCHRÖDER (Hg.), Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung im Ausgang des 20. Jahrhunderts. Bewahrung oder Wende? FS für Gerhard Kegel (1977), 213-263. WESEL, Geschichte des Rechts (2000/2006), 19-30.
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des Rechts und den Ethnologen als Zeitreisenden vor. Gestern, das liegt dort, hinter den sieben Bergen. Natürlich erhält man so nur Mutmaßungen über das, was sich vor 17.000 Jahren irgendwo zwischen Trondheim und Lascaux abspielte. Was sich vor 10.000 Jahren zur Zeit der neolithischen Revolution in Solingen zutrug, bleibt auch dunkel. Verblasst sei der universalhistorische Zweig der Rechtsethnologie, heißt es da schon.17 So kann man aber zumindest soziale Regelmäßigkeiten unter ähnlichen Umweltbedingungen beobachten, wie z.B. die exogamen Strukturen der Horde in der Wildnis, das gleichzeitige Vorkommen exklusiver, individueller, kollektiver und nicht-exklusiver Formen von Sachherrschaft, das Vorkommen von (reziproken) Tauschstrukturen, Medien und Verfahren der Konfliktlösung sowie Vorstellungen und Symbole für eine zusammenhängende Ordnung, die Grenzen setzt. Das sind so blasse wie destillierte Bedingungen der Ordnungsbildung. Der Geburtstag des Rechts wurde im Laufe der ewigen Feierlichkeiten irgendwann vergessen. Man weiß nicht mehr, wer es auf die Erde gebracht hat. Ob man aus dem Archiv des Rechts ausbrechen kann, um die Welt bei natürlichem Tageslicht nach der Quelle des Rechts zu durchforsten, das ist ebenso fraglich, wie der Sinn einer Reise hinter die sieben Berge. Vermutlich ist es sinnvoll, sich mit der Feststellung abzufinden, dass am Anfang kein Unrecht war.18 Das Recht war immer schon vor uns da. Pflegen die einen, sich über den Sonderweg einzelner Gesellschaften zu erstaunen, die ein abstraktes, rationales Verfahren der Konfliktlösung geschaffen haben, sind andere eher ernüchtert angesichts der Totalität eines juristischen Mediums in der globalisierten Welt.19 17 18
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ZWEIGERT/ KÖTZ, Einführung in die Rechtsvergleichung (1996), 9. LUHMANN, Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3 (1993), 11.; a. A. die Beiträge in LAMPE (Fn. 14), die eine evolutionäre Frühzeit des bloßen Seins bestimmen wollen. Zum Erstaunen klassisch WEBER, Wirtschaft und Gesellschaft (1922/1980), 387513 (395 f./ 462 ff.); zur Enttäuschung aktuell AGAMBEN, Homo Sacer (2002), 169198.
Das Recht kann foltern, abschieben und Entscheidungen über lebensverlängernde Maßnahmen treffen, ohne sein Gesicht zu verlieren. Wie weit kann es sich wandeln und mit sich selbst ähnlich bleiben? Verbunden sind die Bewunderer und Kritiker des Rechtsfortschritts nur durch viele Krisen der Formalisierung und Materialisierung des Rechts. Die evolutorische Rechtswissenschaft verspricht heute Instrumente für reflexiv gewordenes Recht – inwieweit sie damit den Krisen entgehen kann, ist zu überlegen. Vielleicht kann man darauf verzichten, den Unterschied zwischen juristischen Regeln und anderen Regeln auf den Begriff zu bringen. Im Unterschied zum Tod kann Differenzierung nämlich auf ein Beiwort verzichten. Der vorliegende Text probiert beides aus.20 Er nimmt den Status des Versuchs dafür gerne in Kauf und für den Leser kann es auch ganz angenehm sein, Rechtswissenschaft einmal ohne letzte Gewissheiten präsentiert zu bekommen.
Der Herausgeber hat die kapitolinische Wölfin als Emblem der Buchreihe gewählt. Rom gilt nicht nur als Zentrum der Rhetorik, sondern auch als Gedächtnis der Rechtsevolution.21 Das Recht war zwar immer schon vor uns da (also auch schon vor 753 v. Chr.) und es war seit legendären Zeiten schon ein Teil gespaltener Ordnungen, aber Rom beschert uns ein besonderes Paar, in dessen Nachfolge Recht evolviert. In Rom kommt es zu einer gepflegten Semantik der Juristen, zu dem schriftlich bewahrten und dogmatisch behüteten juristischen Wortschatz,
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Anders z.B. LUHMANN, Das Recht der Gesellschaft (1993), 211 der Unterschiede über Reflexivität und Funktion bestimmt; VESTING, Rechtstheorie (2007), Rnd. 32, der sie an formeller Spezifizierung festmacht; anders auch die Beiträge in LAMPE (Fn. 14), die dazu den Unterschied von Sein und Sollen voraussetzen. DI GIORGI, Rom als Gedächtnis der Evolution, Rechtsgeschichte 4 (2004), 142161.
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der in seiner Abstraktion, Formalität und Diskretion von nichts als von Recht erzählt. Und mit ihm taucht etwas wie ein ewiger indiskreter Begleiter auf – die Rhetorik. Zwischen Jurisprudenz und Rhetorik findet seit dem eine Oszillation statt, aus der ein Gewimmel der Kommentare, ein laufendes und rekursiv verknüpftes Gerede und Geschreibe ums Recht entsteht. Zumindest im Hinblick auf Speicherung und Übertragung ist dieses Paar der Doppelstrang, der die Art und Gattung des Rechts bestimmt motiviert – auch da, wo es sich vom wendigen Cicero oder von den Scheuklappen der Fachjuristen distanzieren will.22 Wir stellen uns hier dieses ewige Gespräch ganz und gar unromantisch vor und denken eher an Richard Burton und Elisabeth Taylor als an Adam Müller.23 Es sind polarisierte Reproduktionsfaktoren. Wir halten die Rhetorik weder für eine äußerliche Scheinordnung noch für die eigentliche Grundlage des Rechts, wir halten die juristisch-rhetorische Begleitung für eine Artistik, in der sich jene oben erwähnten Spuren zwischen Natur und Kultur finden. Zu der Einführung in die Theorie der Rechtsevolution kommen darum spezielle Ausführungen im besonderen Kontext einer Zusammenschau rhetorischer Kulturtechniken und der evolutorischen Rechtstheorie. Es gibt heute drei Schulen, deren juridische Evolutionstheorien unterschiedliche Genealogien aufweisen: Gesellschaftstheorie24, Soziobiologie25 und ökonomische Theorie26. Vom Erwerb kognitiver Fähigkeiten bis hin zu Rechtskollisionen in der Globalisierung werden Forschungsfelder definiert. Die Darstellung 22
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WIEACKER, Römische Rechtsgeschichte I (1988), 669 nennt den Gegensatz treffend ein erwartetes und genossenes Rollenspiel von Fachjuristen und Rhetoren, das im Plädoyer forciert und in der rhetorischen und juristischen Literatur zurückgenommen wurde. Die Romantik Müllers kritisiert und reproduziert: SCHMITT, Politische Theologie I (1922/1996). LUHMANN, (Fn. 20), 239-297 m.w.N. VOLAND (Fn. 14) m.w.N. ROE, Chaos and Evolution in Law and Economics, Harvard Law Review 109 (1996), 641-668 m.w.N.
versucht Neutralität zu wahren, kann nicht allem gerecht werden und wird ihre Präferenzen in entscheidenden Momenten zu erkennen geben. Der Blick wird durch den rhetorischen Horizont auf bestimmte Speicher- und Reproduktionsmedien des Rechts, wie Rituale, Schrift, Computer oder Körper geprägt. Neben der Evolution des schriftlichen Rechtscodes geht es um epigenetische Effekte jenseits der Schrift und des Gesetzbuches. Eine systemorientierte Evolutionstheorie gerät im Kontext kultureller Evolution an den Rand des Systembegriffs und sie interessiert sich für koevolvierende Ensembles diesseits und jenseits des Systems.27
I. Ex e m p l a trahu n t Kultur wird hier als Begriff für soziale Reproduktion definiert. Wir beobachten einen iterativen Pool übernommener und veränderter Informationen.28 Kultur ist weder Wesen noch Unwesen. Mit Kultur bezeichnen wir weder Substanz noch das unkonturierte Rauschen, wie es Kopierer im Stand-By-Modus von sich geben. Wir bezeichnen ein dynamisches Verhältnis, das über Variation, Selektion und Retention in Homöostase versetzt wird. Kultur kombiniert dabei Stasis und Wandel ebenso, wie Einheit und Vielfalt – einige Autoren schlagen darum vor, eher von Homöodynamiken zu sprechen und sich in der Pluralität auf Koevolutionen zu konzentrieren.29 Wir unterstellen nicht, dass Kultur unterschiedliche gesellschaftliche oder individuelle Bereiche bedingungslos determiniert und ihnen den Ei27
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KOSCHORKE/ VISMANN (Hg.), Widerstände der Systemtheorie. Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann (1999). MAYR, Das ist Evolution (2005), 201 ff.; WIEACKER, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (1967), 44. MATURANA/VARELA, Autopoiesis und Cognition (1980); Koevolution meint Prozesse, bei denen autologischen Reproduktionsprozesse wechselseitig Perturbationen erzeugen.
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gensinn nimmt. Wir wollen offen lassen, ob man angesichts der Geschichte des Kulturbegriffes nicht besser von Gesellschaft als von Kultur spräche, denn diese Geschichte ist ohnehin zweischneidig. Wir brauchen vorläufig einen Begriff und behalten uns vor, später weiter zu differenzieren.
Kultur kann in einem Augenblick friedlich und nichtfriedlich sein. In Augenblicken der Erregung mag sie schäumen und dabei nur Luftblasen werfen. Wer Kultur als Bewahrung eines Erbes versteht, dem sei davon nicht abgeraten, er soll aber auch einen Blick in die Kommentare zum Erbrecht werfen. Er wird auf ein endloses Archiv von Streitfällen (selbst in den besten Familien) treffen. Bewahrung bewahrt so einiges, mehr als man sich wünscht und weniger als man sich erhofft. „There is more to heredity than genes”, sagen Jablonka und Lamb.30 Genetische Rechtstheorie – das ist darum zu wenig.31 Wie kann man das Mehr und Weniger erklären? „longum iter est per praecepta, breve et efficax per exempla/Es ist ein langer Weg über Vorschriften, ein kurzer und wirkungsvoller über Beispiele“, heißt es in Senecas Briefen.32 Also sollen erst Fälle erläutern, was man meint und welche Fragen man aufwirft, wenn man von der Evolution des Rechts spricht. Vier Fälle, die die Evolution in vier Dimensionen, d.h. in genetischen und epigenetischen Strukturen, in kulturellen Lernstrukturen und in Symbolsystemen vorführen sollen.33 Vertrag, Verfassung, Person und Inzest sind die Figuren, um die ich eher rhetorisch
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JABLONKA/LAMB, Evolution in four dimensions (2005), 1. So titelt zwar LAMPE, Genetische Rechtstheorie. Recht, Evolution und Geschichte (1987), der Autor löst sich aber (S. 20 ff.) von dem strikten Bezug zur Genetik. SENECA, Epistulae morales ad Lucilium (62-65 n.Chr.), 6,5; TEUBNER, Münchhausen-Jurisprudenz, RJ 5 (1986), 350-356. Nach JABLONKA/ LAMB (Fn. 30).
als logisch und eher unsystematisch als systematisch kreise. Es geht in allen Fällen um juristische Reproduktionsfaktoren, um mögliche und unmögliche Bindungsformen, um plurale und vereinzelte Möglichkeiten juristischer Reproduktion. Teilweise überschneiden sich in den Fällen die Figuren (Vertrag und Person tauchen mehrfach auf), teilweise geht es in der Figur schon um Probleme der Überschneidung selbst (Verfassung, Inzest). Es sind alles keine reinen Beispiele, sondern hybride Exempel. Zur Verteidigung von Reinheitsphantasien taugt die Evolutionstheorie entgegen mancher Vorurteile nämlich nicht.34 Als hybride Exempel halten die vier Fälle keine analytische Distanz zum Gegenstand, sie führen sich eher vor, anstatt zu erläutern. Sie sprechen über Rhetorik rhetorisch, von Kopien und sind kopiert, über Evolution und versuchen sich performativ an den Mechanismen der Variation, Selektion und Retention. Sie spielen mit der Magie einer Welt, in der Sprache und Sprechen wie Genotyp und Phänotyp konfuse Relationen eingehen. Das erschwert vielleicht auf den ersten Blick die Einschätzbarkeit der Fälle, erhöht aber ihr reflexives Potential ungemein. Das scheint uns angemessen für den Gegenstand rhetorischer Evolution und ganz angemessen für vereinzelte Exempel, die behaupten, so laufe es immer zwischen Praxis und Symbolsystemen. Die Schrift eines römischen Rechtslehrers (1.), das implizite Regelwissen eines Theaterregisseurs im Umgang mit dem Europarecht (2.), die photographische Momentaufnahme eines Reichsgründers (3.) sowie das im Internet zirkulierende und digitale Wissen der darwinistischen Evolutionstheorie über Inzestverbote selbst (4.) konfrontieren in den folgenden Fällen juristische mit nichtjuristischen Speicher- und Reproduktionsmedien.
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A.A. mit einer Kombination aus Neukantianismus und Evolutionstheorie: LAMPE, Zur Entwicklung des Rechtsbewußtseins in der altrömischen Gemeinde, in: DERS. (Hg.), Zur Entwicklung von Rechtsbewußtsein (1997), 182-213 (190).
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Bei aller Mehrdeutigkeit ist nicht davon die Rede, inwieweit die biologische Evolution gutes, gerechtes oder gesetzmäßiges Verhalten des homo sapiens sapiens belohnt und ob nur solche Kulturen überleben, deren Mitglieder sich an bestimmte Gesetze wie z.B. die Scharia, das Lebensmittelrecht oder die Straßenverkehrsgesetze halten. Die Beispiele zielen auf die Evolution eines sozialen Systems, nicht auf die Evolution biologischer Populationen. Beides wird kategorial unterschieden. Ob es ein Gerechtigkeitsgen gibt, das die Menschen nach Recht suchen lässt, und ob genetische Erbinformationen aus den einen gesetzestreue Bürger, aus den anderen Lügner, Diebe und Räuber machen, bleibt in allen Fällen außer Betracht.35 Alle Exempel unterscheiden biologische von kultureller und noch mal kulturelle von rechtlicher Evolution. Sie unterstellen eine autologische Evolution des Rechts.36 Inwieweit Recht mit kulturellen und biologisch bestimmten Mustern koevolviert, darauf gehen wir stellenweise ein. Ob Interferenzen zwischen kultureller, biologischer und rechtlicher Konstitution wie der Baldwin-Effekt eine Rolle spielen, auch darauf kommen wir.37 Mimesis und Synallagma Der erste Fall spielt im römischen Recht.38 Weil wir uns keine Gedanken über Anfänge des Rechts, aber Gedanken über ent35
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Solche Überlegungen z.B. bei SCHURIG, Überlegungen zum Einfluss biosoziologischer Strukturen auf das Rechtsverhalten (1983). Detailliert: TEUBNER, Recht als autopoietisches System (1989), 39-41. Der Effekt meint Rückkopplungen zwischen kultureller und natürlicher Evolution, den Übergang von ontogenetischem Wissen in phylogenetisches Wissen, von horizontalen Lernstrukturen in angeborenes Wissen; zur Benennung DEPEW, Baldwin and his many effects, in: WEBER/ DEPEW (Hg.), Evolution and Learning. The Baldwin-Effect reconsidered (2003), 3-32. Der erste Fall ist schon kopiert von FÖGEN, Zufälle, Fälle und Formel. Zur Emergenz des synallagmatischen Vertrages, Rechtsgeschichte 6 (2005), 84-98.
wickelndes Recht machen wollen, greifen wir im ersten Fall auf eine fortschrittliche und unruhige Rechtsordnung zurück, in der altes und neues gleichzeitig existiert. Der Fall handelt von einem Kaufgeschäft. Ein römischer Bürger verkauft einem anderen römischen Bürger einen Sklaven und das entsprechende Geschäft nennt sich mancipatio. Außer den beiden Parteien waren an diesem Geschäft fünf mündige römische Bürger als Zeugen und ein Wagehalter derselben Rechtsstellung involviert.39 Nicht, dass der Sklave oder der Kaufpreis gewogen wurde. Der Wagehalter hielt zwar eine kupferne Waage in der Hand, aber das hat eine andere Funktion. Der Käufer ergriff zunächst den Sklaven und sprach mit dem spezifischen Klang einer römischen Stimme: HUNC EGO HOMINEM EX IURE QUIRITIUM MEUM ESSE AIO ISQUE MIHI EMPTUS ESTO HOC AERE AENEAQUE LIBRA./Ich behaupte, dass dieser Mensch nach quiritischem Recht mir gehört und er soll durch mich gekauft sein mit diesem Kupferstück und mit dieser kupfernen Waage.
Dann schlug er mit einem wertlosen Stück Erz, d.h. einer einzelnen Kupfermünze, an die eherne Wage. In diesem Augenblick muss ein heller, schellender Ton erklungen sein. Vielleicht kommt von den heutigen Austauschritualen das Glockenläuten in der katholischen Messliturgie dem nahe, zumindest wohl näher als das dumpfe und dunkle Hämmern des Auktionators. Und dann übergab der Käufer die Münze dem Verkäufer. Die Zahlung ist symbolisch. Der Käufer gab die Kupfermünze „sozusagen an Stelle des Kaufpreises“, wie Gaius sagt. Der wirkliche Kaufpreis konnte früher oder später gezahlt werden. Gaius erklärt das Ritual mit einem Hinweis auf alte Zeiten. Man hat das eben immer schon so gemacht, auch als es noch keine Gold- und 39
GAIUS, Institutiones, hrsg. und übersetzt v. Manthe (2004), I 1.119. ff.
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Silbermünzen gab und die Dinge nur Kupfermünzen kosteten. Das stabile Ritual sticht die instabile Währung. Der Verkäufer schweigt während des ganzen Rituals, weil der Gedanke eines konsensualen, zweiseitigen Vertrages in diesem einseitigen Geschäft nicht ausgeformt wird. Im Aufbau gleicht die mancipatio eher Anklage und fehlender Erwiderung. Gaius nennt die mancipatio in den Institutionen „eine Art symbolischen Verkaufs“. Sie ist dabei allein darauf gerichtet, dem wirksamen Übergang des Eigentums ein eindeutiges und wieder erkennbares Medium zu verschaffen. Die Verpflichtung zur Kaufpreiszahlung wird mit der mancipatio weder geschaffen noch berührt, es ist ein einseitiges Verfügungsgeschäft. Bestimmte Gegenstände (res mancipi) wie Sklaven oder Vieh konnten nur durch mancipatio übertragen werden. Es handelte sich um ein römisches Übereignungsritual aus einer Zeit, die voller Rituale war. In ihrer symbolischen Form imitiert die mancipatio andere Geschäfte. Mit ihren Imitierungen und Formalisierungen anderer, älterer Geschäfte war die Zeit der mancipatio alles andere als ursprünglich. Sie war jünger als andere Phasen der römischen und vorrömischen Rechtsgeschichte. Trotz ihres Alters war sie in ihrer symbolischen Form selbst schon eine Gedächtnisform, die auf ältere Zeiten verweist, in denen man unmittelbar Vieh und Kaufpreis wechselte oder Sklaven nur Kupferstücke wert waren. Vielleicht waren das unsichere Zeiten, weil die Verbindlichkeit eines Menschen seinem Gesicht nur schwer ablesbar, seine Möglichkeit zu enttäuschen aber unbegrenzt ist. Das Recht schafft sich Medien nur im Fall von Konflikten, das ist sicher. Für speicher- und reproduktionswürdig hält es nur die Erinnerung an eine Enttäuschung.
Der Verkäufer, der nun ausschließlich eine wertlose Kupfermünze in der Hand hielt, tat gut daran, sich vom Käufer die 15
Zahlung des Kaufpreises versprechen zu lassen. Unabhängig von der mancipatio gab es noch andere ritualisierte Rechtsgeschäfte wie z.B. die einseitig verpflichtende stipulatio.40 Mit ihr konnte sich der Käufer verpflichten, den Kaufpreis für den Sklaven zu zahlen. Die Formalisierung beschränkte sich bei ihr auf festgelegte Sprachwendungen zwischen den Parteien, von denen eine nur den römischen Bürgern, den Quiriten vorbehalten war:41 „Dari spondes? - spondeo! / Gelobst du, das gegeben wird? Ich gelobe!“ Anders als bei der mancipatio durfte hier von der sprachlichen Formel nicht abgewichen werden, dafür verzichtete sie auf Gebärden. Es wurde sogar bezweifelt, ob das Gelöbnis verpflichtend sei, wenn man Griechisch fragt und auf Latein antwortet. Die stipulatio ermöglichte als einseitiges Verpflichtungsgeschäft auch einen Vorgriff der Gegenwart auf die Zukunft, weil in ihr Verpflichtung und Vollzug nicht zusammen fielen. Die Kombination aus mancipatio und stipulatio ermöglichte unter römischen Bürgern Kreditgeschäfte, weil das Eigentum schon unabhängig von der Kaufpreiszahlung übergehen konnte.42
Neben der dogmatischen Dimension gibt es auch eine Dimension im Schnittfeld von Natur und Kultur. Sie betrifft die Frage, wie und was die mancipatio speichert – was ist das Medium der Transmission? Zuerst ist es ein Ritual, d.h. ein bewegter menschlicher Körper, der einen anderen bewegten Körper imitiert. Rituale treffen wir in jeder Rechtskultur, begünstigt durch den Umstand, dass der Mensch noch wesentlich besser Dinge imitieren kann, als es nichtmenschliche Primaten ver40 41
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Vgl. GAIUS (Fn. 39), III 92 ff. Gaius unterschied zwischen Sonderrecht der römischen Bürger (propria civium Romanorum est) und dem Völkergemeinrecht (ceterae veri iuris gentium sunt). LIEBS, Römisches Recht (1999), 170.
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mögen und weil soziale Reproduktion sich besonders einfach und besonders erfolgreich über Mimesis (Imitation/Inference) vollzieht.43 Man muss weder lesen noch schreiben können. Man darf zwar kein Affe, man muss aber auch kein Fachjurist sein, um eine mancipatio gut über die Bühne zu bringen. Die kulturelle Evolution korrespondiert insoweit locker mit der natürlichen Evolution. So locker, wie Bedingungen zwischen dürfen und nicht müssen sich fassen lassen.44 Es lassen sich dabei zwar Baldwin-Effekte zwischen der natürlichen Evolution der kognitiven Leistungen und der Evolution artifizieller sozialer Systeme beobachten, ihre Signifikanz bezieht sich aber nicht auf die konkrete mancipatio, sondern auf die Möglichkeitsbedingungen von Mimesis und Sprache. Es gibt vererbte kognitive Module, die Imitation bzw. Inference und Sprache ermöglichen, aber es handelt sich um bloße Dispositionen, denn natürlich werden weder Latein noch mancipatio genetisch vererbt. Signifikanter ist es, dass das einseitige Verpflichtungsgeschäft an einer sprachlichen Formalisierung hing, das einseitige Verfügungsgeschäft aber an einer körperlich bewegten Formalisierung. Es ist der spezifische Hinweis auf einen Abgleich zwischen medialem Ranking und sozialem Ranking. Die These lautet: je sensibler und prekärer die Übertragung, desto enger die Kopplung von unterschiedlichen Speichermedien und desto feierlicher das Bindungsarrangement. Die These bezieht sich auf einen instinktiven Automatismus konditionierter Amplifikationen in sensiblen Reproduktionsbereichen. Vielleicht erschien den Römern die Verfügung gewichtiger als die 43
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TOMASELLO, Do apes ape? in: GALEF/ HEYES (Hg.), Social Learning in Animals: The roots of culture (2003), 319-346; das Konzept der Nachahmung ist umstritten, einige sprechen von imitation, andere von inference, vgl. ATRAN, In Gods we trust (2004), 149-173 zu religiös-kultischen Komponenten des Rituals; 255-261 m.w.N. [zur Unterscheidung Imitation/Infernce]. Biology just furnishes the blank slate on which culture and personal experience write, schreiben BOYD/ RICHERSON, Not by genes alone (2005), 7 über die blassen und destillierten Frühstadien der Kulturanthropologie.
Verpflichtung, insbesondere wenn sensible Güter wie Vieh oder Sklaven betroffen waren. Das feierliche Ritual der mancipatio hat durch die Einheit von Raum, Zeit und bewegtem Personal gegenüber der sprachlichen mageren Formalisierung Vor- und Nachteile.45 Obwohl die Form schon generell eine technische Übertragung erleichtert, kommt bei der mancipatio noch etwas hinzu. Als artifizieller und wieder erkennbarer körperlicher Bewegungsablauf prägt sich die mancipatio den Köpfen und Körpern in der Rechtspopulation umfassender ein, als es Sprachwendungen alleine vermögen. Hippocampus und Amygdala werden in dieser mnemotechnischen Kombination stimuliert, womit in besonderem Maße neben dem semantischen, deklarativen Gedächtnis auch das episodische und das prozedurale Gedächtnis der Beteiligten aktiviert werden.46 Es ist, als schaffe sich die Rechtskultur ihre Instanz direkt im lebendigen Gehirn und im bewegten Körper des Römers. Das Ritual ist mit seiner Gebärdensprache ein Enkulturierungsprozess, d.h. dass ein biologisches Individuum Speicher- und Reproduktionsmedium kultureller, rechtlicher Information ist. Rechtliches Wissen, rechtliche Handlungsformen werden durch körpergebundene Rituale mimetisch weiter getragen. So ist das Ritual in einer engen räumlichen Ordnung stabil tradierbar. Als formalisierte Bewegung, die bei aller Natürlichkeit gepflegt und noch im automatischen Ablauf nicht mechanisch erscheint, wohnt den Ritualen wie auch den bei anderen Rechtsritualen gepflegten Berührungen, Körperdrehungen, Backen- oder Rutenstreichen, das Artifizielle und Feierliche inne, mit dem sich Kultur und Recht markieren lassen.47 Das Ritual erinnert und 45
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Zu der Bedeutung von Ritualen der römischen Frühzeit WIEACKER (Fn. 22), 68 f. m.w.N. (zu Ritus und Gebärden) und 272 ff. m.w.N. (zu Fragen einer genetischen Entwicklung zwischen ius sacrum und ius civile - kritisch, aber nichts beweisend und nichts ausschließend, wie er sagt). MÜHLMANN, Jesus überlistet Darwin (2007), 35 ff.; ATRAN (Fn. 43), 149-173. Zu diesen Medien SITTL, Die Gebärden der Griechen und Römer, Leipzig 1890, 129-146.
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es diszipliniert, es appelliert an den ganzen Körper. In seiner performativen Direktheit provoziert es nicht die Interpretation, die durch Schrift provoziert wird. Die enge Bindung von individuellem Körper, Kultur und Recht hat also Vorzüge für die Stabilität von Kulturen. Und es hat gewisse Nebeneffekte in der Abgrenzung gegenüber denen, die das Ritual nicht verinnerlicht haben. Man durchschaut Nichtrömer bei einer imitatio mancipaci so schnell wie Düsseldorfer Pärchen in Lederhosen und Dirndl auf dem Oktoberfest – auch das gehört zu den illusionistischen Selbstbezeichnungen des Rechts im Schutz vor Diffusion. Das ist dann solange stimmig, bis ein fremder Hochstapler durch gewieftes Training Zunge und Körper wie ein Römer bewegt.
Ob man sich damals zutraute, die Stimme und den Menschen besser auf mögliche Täuschungen zu durchschauen, als Schriften? Ob man der Verbindlichkeit eher im Ritual als in der Schrift traute? Weil das Recht vor allem die Erinnerung an Konflikte speichert, ist das schwierig zu beantworten. Platons Vorbehalte gegen die erinnerungslöschende Kraft der Schrift waren den Römern bekannt.48 Seit dem es aber Konkurrenz unter Medien gab, wurden solche Verdachtsmomente gegen jedes vereinzelte Medium inklusive des sprechenden und sich gebärdenden Menschen diskutiert. Man fürchtete die hohle Hülse der Schrift ebenso wie das bloße Rumoren der Rhetoren. Generell lässt sich die Frage nach einem prima Medium für das römische Recht nicht mehr beantworten, weil es schon so viele unterschiedliche und wechselseitig abhängige Medien des Rechts gab und unentscheidbar geworden war, ob Schrift,
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QUINTILIAN, Inst. Or. verweist im XI. Buch, 2,9 auf die Stelle im Phaidros Dialog, 275 a.
Stimme oder gestisch bewegter Körper das beste Speicher- und Reproduktionsmedium bot. So wurde der Verdacht ebenso zum Motor der Rechtsevolution wie das Vertrauen. Die lockere Korrespondenz zwischen kultureller und natürlicher oder zwischen biologischer und artifizieller Evolution hat im Paragone der Rechtsmedien weiter an Signifikanz verloren, schon weil der Mensch als soziobiologische Speicherinstanz des Rechts Konkurrenz durch extrasomatische Medien wie die Schrift erhielt.49 Körperlicher Zwang lässt sich so durch Bürokratie ersetzen, Archive und Bücher definieren die Einheiten des Rechts, Imitationslernen wird durch Lernen im Unterricht spezifiziert und es entsteht die Möglichkeit für ein eigensinniges juristisches Kommunikationssystem. Insbesondere in der Zeit des Humanismus erfährt das europäische Rechtssystem mit der Erfindung des Buchdrucks eine reproduktive Steigerung, durch die reiche juristischer Artefaktspeicher und ein anwachsender akademischer Juristenstand generiert werden.50 Die Population ist dann nicht mehr der Wirt, der Kollektivkörper, der Phänotyp oder das Organ des Rechts, sondern allenfalls ein (mal strikt, mal lose) gekoppeltes Medium des Rechts.51 Nur für bestimmte soziale Gruppen haben ritualisierte Formen dann noch absolute Vorzüge gegenüber schriftlichen oder formlosen Rechtsakten. Subkulturen wie die Gangs der Großstädte und mafiotische Organisationen pflegen auch heute noch lauter
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Evolutionstheoretiker sprechen auch von external memory, WIMMER, Theorien zur Entstehung des Staates und des Rechts, in: LAMPE (Fn. 14), 214-252 (233) m.w.N. Statt vieler siehe BELLOMO, Europäische Rechtseinheit (2005). Luhmann spricht nur im Fall loser Kopplung vom Medium, im Fall strikter Kopplung von Form, LUHMANN, Kunst der Gesellschaft (1997), 165 ff.
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ritualisierte Bindungs- und Rechtsformen.52 Sie hängen an der Gebärdensprache, schaffen Verpflichtungen, sie verfügen und sie stabilisieren Erwartungen. Auch im Mainstream des Rechts erhalten sich Gebärden und Rituale mit juristischer Relevanz, früher an kardinalen Stellen und heute noch an vielfältigen Randzonen.53 Eine einheitsstiftende Funktion kommt der Gebärde und dem Ritual im rechtspluralistischen Kosmos aber nur bedingt zu. Wir kommen auf die Marginalisierbarkeit und Zentrierbarkeit solcher Bedingungen später zurück. Auch auf Rankingstrukturen und konditionierte Amplifikationen kommen wir zurück.
Für die gute römische Gesellschaft war das körperlich ritualisierte und sprachlich formalisierte Recht nicht genug. Plötzlich erhält das Recht einen Sprung und es macht einen Sprung. Plötzlich gab es neben stipulatio und mancipatio noch etwas anderes, das Synallagma, d.h. den Konsensualvertrag, ein abstraktes zweiseitiges Rechtsverhältnis. Wo die Möglichkeit rechtlicher Bindungen in mancipatio und stipulatio an streng ritualisierte Körperbewegungen und/oder Sprachwendungen geknüpft war, reichte bei diesem Vertrag formloser Konsens. Zum Abschluss des synallagmatischen Vertrages bedurfte es weder eines Rituals noch vorgegebener sprachlicher For52
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Was die Frage aufwirft, ob mafiotische Regeln Perversionen in rechtsfreien Räumen sind oder ob sie strukturell eigensinnige, quasijuristische, parajuristische bzw. alternativjuristische Regimes darstellen. Im ersten Sinne: VARESE, How Mafias Migrate: The Case of the ‘Ndrangheta in Northern Italy, Law and Society Review, Vol. 40 (2006), 411-444, ssrn.com/abstract=900566; a.A. KANTOROWICZ (Fn. 12), 94 mit Bspn. zu Liebe, Bier und Räubern und TEUBNER, Recht als autopoietisches System (1989), 51. SCHMIDT-WIEGAND, Gebärde, in: Erler/ Kaufmann (Hg,) Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte Bd. 1 (1971), 1411-1419 m.w.N.; seit über 100 Jahren aktueller Fall juristischer Lehrliteratur der Trierer Weinversteigerungsfall: ISAY, Die Willenserklärung im Tatbestande des Rechtsgeschäfts (1899), 25.
men – stattdessen gab es plötzlich Schriften und Fachjuristen, die über die Möglichkeit informierten. Das Recht erhält also einen Sprung, weil mancipatio und stipulatio in ungewisser Abgrenzung zu dem Konsensualvertrag stehen und das Recht mit sich selbst kollidiert. Fragen tauchen auf: Wie konkretisiert sich formloser Konsens? Kann man die einen Formen mit der anderen Form umgehen? Dürfen Römer einen formlosen Konsensualvertrag über einen kreditfinanzierten Sklavenkauf schließen, wenn es doch mancipatio und stipulatio gibt? Wirken sich Formfehler nach dem ius civile auf das ius gentium/ius honorarium aus? Wie können Nichtrömer von Römern Sklaven und Vieh erwerben, wenn es noch so etwas wie res mancipi gibt, für die die Form der mancipatio reserviert wird? Und das Recht macht mit dieser eigenen Ungewissheit einen Sprung. Man konnte – wenn man denn bereit war, das juristische Risiko zu tragen – schließlich schriftlich oder nicht schriftlich, selbst oder durch Stellvertreter, in An- oder Abwesenheit der Parteien, hier oder über weite Distanzen hinweg, sofort oder später und mit bzw. unter Nichtrömern rechtsverbindlich miteinander kommunizieren, wo sonst unverbindliches bla bla/bar bar statt fand. Aus dem Rauschen der Versprechungen und Erwartungen filterte das Recht mit der Emergenz des Konsensualvertrages plötzlich neue rechtliche Informationen.54 Das korrespondiert mit einer Stufe des Rechtsbewusstseins, das zwischen Verpflichtung und Verfügung wie zwischen Versprechen und Vollzug unterschied.55
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Emergenz meint das Entstehen einer neuen Eigenschaft, die weder in den ursprünglichen Elementen enthalten noch auf sie zurückführbar ist, vgl. FÖGEN, Zufälle (Fn. 38), 85. LAMPE (Fn. 34), 200-204 geht von einer neuen Stufe aus.
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Wie kann man in der Gleichzeitigkeit einer bunten, vielfältigen und konfliktreichen Gegenwart Entwicklung erkennen und zu einer Ordnung sortieren?56 Was ist an mancipatio, stipulatio und Synallagma neu, was ist alt und was ist an dem Nebeneinander geordnet? In dem vielfältigen Netz zeitlicher Relationen erscheinen mancipatio und stipulatio im Verhältnis zum Konsensualvertrag gleich doppelt alt. Sie waren nämlich früher auf und aus der Welt. Erst aus weiter historischer Distanz ordnet sich das augenblicklich chaotische Recht in ein Vorher/Nachher. Aus heutiger Sicht sind diese Formen des Gebärdenrituals und des sprachlich formalisierten Gelöbnisses alt, weil sie sich praktisch nicht gehalten haben. Aus damaliger Sicht waren sie alt, weil man sie schon länger kannte, als das Synallagma.57 In dem gleichzeitigen Nebeneinander von mancipatio, stipulatio und Synallagma liegt eine gewisse Instabilität, Mehrdeutigkeit und Unverbindlichkeit des Rechts. Die Evolutionstheorie spricht in dieser Unruhe von Variation. Das Nebeneinander war durch den zunächst dysfunktionalen, unangepassten Aspekt ein Innovationsschub für das Recht.58 Der Konsensualvertrag war als mediale und strukturelle Veränderung Dynamisierung, mit der das Recht durch eigene Instabilität in einer instabilen Gesellschaft unvergleichlich expandierte – und durch die neuen Bindungsformen sich wieder temperierte. Der Konsensualvertrag, ein römisches Exportprodukt und Bindemittel, war in der Welt, und die war als Stadt schon nicht mehr zu erfassen. Die Grenze der römischen Stadt hatte zwar für geordneten 56
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Die erste Vertiefungsempfehlung: FÖGEN, Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems (2003); Programmatisch: DIES., Rechtsgeschichte – Geschichte der Evolution eines sozialen Systems. Ein Vorschlag. Rechtsgeschichte 1 (2002), 14-19. FÖGEN (Fn. 38), 87. Zu den dysfunktionalen Aspekten: LUHMANN, Evolution des Rechts, Rechtstheorie 1 (1970), 3 ff.
juristischen Eigensinn sorgen können, Irritationen durch die Welt jenseits der Stadtmauer ließen sich aber auf Dauer nicht ignorieren. Im Hinblick auf die Umwelt des Rechts, auf eine römische Gesellschaft, die selbst expandierte und sich mobilisierte, war der Konsensualvertrag die passende juristische Form. Selektion fand irgendwann statt, deren Alternativen die Römer erst mit der Unterscheidung von quiritischem ius civile und allgemeinem ius honorarium/ius gentium einen Begriff gaben und noch ergebnisoffen hielten. Man konnte im Laufe dieser Phase mit ungewissem Konfliktpotential sich durch die mancipatio, stipulatio oder den Vertrag binden und man konnte auf körperliche Rituale oder bloße Sprache und Schrift setzen. Es gab eine Zeit lang noch das umstrittene Reservat der res mancipi. Die mancipatio verschwand aber in der Spätantike ebenso, wie die stipulatio.
It fits, hätte Darwin gesagt. Damit ist eine grundlegende Umstellung der Evolutionstheorie gemeint. Sie beobachtet kein Wesen, sondern ökologische Beziehungen. Seltsamerweise und Gott weiß warum, kam es bald schon zur Substantivierung solcher Urteile, zur so genannten Fitness. So als würden Dinge nicht zu anderen passen, sondern als wären sie für sich mit Passendheit gesegnet.59 Vielleicht ist das Teil der strange revelation-Logik. Nun sind nicht alle prägnanten Begriffe der modernen Evolutionstheorie säkularisierte theologische Begriffe – aber immerhin konkurrieren sie. Im Genitiv Singular spricht man dann eifrig konkurrierend von der Fitness des römischen Rechts, man vermeidet den Dativ und verschweigt das barbarische Ökosystem darum herum. Mit einer Unterschlagung der Umwelt ist
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MAYR (Fn. 28), 188 f. sieht das Problem und schlägt hilflos den Begriff „Angepasstheit“ vor.
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man dann schon nah daran am evolutionstheoretischen Unsinn. Im Kampf ums Recht besaß der von den Körpern und Zungen der römischen Bürgerschaft gelöste Konsensualvertrag Vorteile gegenüber mancipatio und stipulatio. Das darf man aber nicht als immanent selbstbezogene Körperfitness eines römischen Supercorpus oder einer verkörperten Regeln banalisieren, weil der eine Körper nirgends abschließend greifbar wird, weil der evolutionäre Witz auch in der instabilen Lösung vom Körper und im Übergang von Ereignissen in Strukturen lag. Die Reproduktion der mancipatio ist also nicht aufgrund einer Schwäche der Römer eingestellt worden. Die tollen Römer haben sich munter weiter vermehrt, selbst wo sie am Schicksal des römischen Rechts keinen Anteil mehr nahmen – gleiches gilt im Hinblick auf die zweiten und dritten Roms und für die Vermehrung des römischen Rechts jenseits des römischen Volkes umgekehrt. Wir weisen darauf hin, weil von einer hohen Geburtenrate manchmal auf entsprechend hohe Reproduktionschancen bestimmter Verhaltens- und Rechtsregeln geschlossen wird, etwa wenn ängstliche Christen die Scharia allein schon wegen hoher Geburtenraten von Muslimen fürchten. „Haeres est nomen iuris, filius est nomen naturae“, heißt es in Francis Bacons Maximen des Rechts und der tapfere Bacon wird den Unterschied zwischen Söhnen und Erben gut gekannt haben. Wer weiß also, was aus der Scharia wird, wenn ihre Anhänger fruchtbar sind, sich mehren und der Islamismus auch ein Erziehungsproblem ist, in dem sich zornige Söhne gegen Väter und Mütter stellen. In der Evolution sind die Reproduktionsschleifen und die Relationen zwischen verkörperten Elementen mindestens so wichtig wie singuläre Körper.60 In den vielfältigen Relation 60
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Daran entzündet sich ein Streit um die Zentren und Peripherien der Evolution, also z.B. darum, welche Bedeutung dem Genotyp (und der Genetik) und welche Rolle dem Phänotyp zukommt. In diesem Streit entfaltet sich dann z.B. auch die Paradoxie der Unterscheidung von Egoismus und Altruismus; dazu § 4 – Kardinaltugenden der Evolutionstheorie.
von Rechtssystem und Umwelt und in den prekären Balancen einer Gesellschaft und kommender Wanderschaften sind Aussagen über die Stärke und Stabilität juristischer Institutionen solange unsignifikant, solange die vielfältig involvierten und variablen Relationen nicht bezeichnet werden können. In komplexen Zusammenhängen ist es nicht so einfach zu behaupten, was wozu passt. Der evolutionsbiologische Vorteil der menschlichen Imitationsfähigkeit brachte der mancipatio z.B. dauerhaft keinen Vorteil und einer bestimmten Rechtskultur brachte es hingegen Vorteile, auf die mancipatio zu verzichten. Rituell reproduzierte Rechtsformen werden insofern zwar evolutionsbiologisch begünstigt, aber dieser Vorteil erklärt nicht jene eben beschriebenen Variationen und Selektionen zwischen mancipatio und Konsensualvertrag, zwischen quiritischem ius civile und dem ius gentium. Denkbare biologische Begünstigungen schlagen in diesem Fall gegenüber der eigensinnigen juristischen Evolution nicht durch, als Isolationen können die Rituale sogar maladaptiv im Nichts enden. Die Metapher des Ab- oder Aussterbens wäre für die mancipatio insofern aber ebenso falsch, als wenn man vor ihr wie von einem Blinddarm (Caecum) sprechen würde. Ihre Aufnahme in das Lehrbuch des Gaius, in die Digesten der Spätantike und den corpus iuris der Humanisten hat die mancipatio in der Speicher- und Reproduktionsform eines Buches zwar blind erhalten. Das Buch ist dann schon eine komplexere Organisationsform, die performativ neutralisierte Regeln tradieren kann, weil das Buch seine Einheit weder in Praxis noch Performanz durchhalten muss und weil es viel Raum für Latenzen lässt. Der Selektionsdruck ist dann nicht mehr gegen die Regel oder das Institut, sondern gegen das Buch als Einheit der Institutionen gerichtet. Das Buch übernimmt auf einer Ebene der Multilevelselektion als komplexere Organisationsform den Selektionsdruck, dafür aber nicht mehr die starke Enkulturierung im biologischen Gedächtnis. Die mancipatio wurde nur noch im deklarativen 26
Gedächtnis der Rechtsschüler gespeichert, einige wenige können eventuell noch heute das Ritual im mündlichen Examen blind erklären. Aber die mancipatio als Blinddarm? Vielleicht erinnert man sich ihrer noch einmal anders, wenn Europa in tribalistische Kulturen zerfällt und sich dann noch irgendwo Kopien von Gaius Institutionen finden. Selbst wenn man sagt, dass der Vertrag eher einleuchtete und sich besser einprägte als die mancipatio, dann wäre das als Hinweis auf eine tiefere Bindung zwischen der Rechtsordnung und den psycho-somatischen Systemen des Einzelnen eine riskante Einschätzung komplexer Geschichte. Das Synallagma passte besser zur weiteren Entwicklung der Gesellschaften und es ist ungewiss, wie lange er sich noch episodisch, prozedural und deklarativ hält.61 Er ist Spur einer prekären Balance zwischen unterschiedlichen Gruppen und Organisationsformen, eine prekäre Einstellung vielfältiger Organisationen auf die vielfältigen Umwelten des Rechts.
Der Wechsel von den Ritualen zum formlosen Vertrag geht mit Instabilitäten der römischen Gesellschaft einher. Der neue Konsensualvertrag allein reichte als Element nicht aus, um das in Unruhe geratene römische Recht wieder zu restabilisieren. Allein schon die Expansion vom Körper des Juristen in das tote Medium der Schrift erhöht die Variationsmöglichkeiten des Rechts derart, dass es droht, im Unverbindlichen zu diffundieren. Schriftlichkeit löst, wie Marie Theres Fögen angemerkt hat, Explosionsgefahr aus, weil sie die unendliche Vermehrung des Rechts provoziert und sich Laien des Textes bemächtigen können.62 Auch darauf reagiert das Recht wieder evolu-
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AMSTUTZ, Die Verfassung von Vertragsverbindungen, KritV 89 (2006), 105-130. Weiter: FÖGEN, Rechtsgeschichten (Fn. 56), 132 ff.
torisch, d.h. mit der Retention der Kommunikationsformen in kanonischen Texten, in architektonischen Inszenierungen und priesterlich oder quasiliturgisch autorisierten Auslegungen. Die Durchsetzung des Konsensualvertrages gegenüber der mancipatio, die sich zeitlich über mehrere Jahrhunderte vollzog, ist ein Beispiel für evolutorische Prozesse, für den Wandel des Rechts in einer instabilen, sich wandelnden Umwelt. Und dazu ist dieser Wandel ein Beispiel für die Lösung juristischer Speichermedien vom menschlichen Körper zur Schrift, also für den Übergang von protoschriftlichen und oralen zu schriftinfizierten Rechtskulturen.63
Labeo (42 v.Chr. – ca. 21 n.Chr.), frühklassischer Jurist, berichtet von dem Synallagma – ohne jede Hast und Plötzlichkeit. Viele hundert Jahre römischer Rechtsgeschichte sind da schon vergangen. Die Stelle gilt, obwohl sie erst zur Zeit des Principats entstand, als früheste Quelle, die Auskunft über das Synallagma gibt. So wird der Konsensualvertrag in der ersten Quelle schon als selbstverständlich vorausgesetzt. Weil er schon in den schriftlichen Quellen plötzlich so selbstverständlich vorausgesetzt wird, sollen später andere berichten, Labeo sei der Erfinder gewesen.64 Ein schönes Gerücht, geboren aus dem Drang zur Personalisierung und vergleichbar mit dem Mythos, Minos habe den Menschen das Recht gebracht.65 Der 63
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LUHMANN, Das Recht der Gesellschaft (1995), 245-256 m.w.N. spricht sogar von Schriftzentriertheit und sieht einerseits im Wechsel zur Schrift eine Bedingung zur formalen Schließung des Rechts, andererseits aber auch einen Wechsel zu neuen Differenzen zwischen Text und Interpretation; LAMPE (Fn. 34), 203 behauptet übertrieben, daß Wort sei generell an die Stelle der Tat getreten, aber hier reist ihn das rhetorische Stimulationsregime zu biblisch und zu wenig faustisch mit. dazu detaillierter FÖGEN (Fn. 38). KELLER, Law in Evolution, Yale Law Journal 28 (1919), 769-783 (769) vergleicht schon diesen Mythos mit den legendären Autoren des Rechts.
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erste Fall erzählt in dieser Kombination aus Plötzlichkeit und Selbstverständlichkeit von der Emergenz des Konsensualvertrages im römischen Recht. Auf einer höheren Organisationsebene taucht ein juristisches Gebilde auf, das auf niedrigeren Organisationsebenen nicht erklär-, nicht auf diese zurückführbar ist. Das Kommunikationssystem des Rechts kommuniziert den Konsensualvertrag, ohne dass erklärbar wäre, wer ihn ins Gespräch gebracht hat oder dass nachweisbar wäre, auf wessen Konsens seine Einführung beruht. Darin unterscheidet sich die Evolutionstheorie ganz spezifisch von den Geschichtserzählungen mit ihren kausalen Schöpfungslinien.66 Vom Sprung des Rechts kündet in der Selbstverständlichkeit nur noch die Unterscheidung zwischen ius civile und ius honorarium. Eigentlich waren es Zufälle im Wandel der römischen Gesellschaft, vorübergehende Unverbindlichkeiten und Inkonsequenzen des Rechts, Variationen der Bindungsformen (mancipatio/Synallagma) die zu rechtsinternen Selektionen (ius civile/ius honorarium) führen und in der Retention durch die behütete Dogmatik den Konsensualvertrag durchgesetzt und ganz neue Wege der Koevolution eröffnet haben. Die Entwicklung des Eigentums z.B. koevolviert mit dem Vertrag, weil es unter Rückgriff auf den Vertrag als Institution der Zuteilung von Entscheidungskompetenz über gesellschaftliche Kooperation fungiert.67 Begleitet wird dieser Entwicklung dadurch, dass aus den Ritualen alter Übereignungsformen die Dogmatik des abstrakten, formalen römischen Rechts wurde und dass Gebärden als juristische Speichermedien zu einer Randerscheinung wurden. Die juristische Dogmatik wurde dadurch die Nachfolgeeinrich-
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LUHMANN, Evolution und Geschichte, Soziologische Aufklärung Bd. 2 (1975/2005), 187-211. Zur Evolution von Konsensualvertrag und Eigentum VESTING, Konnexionistisches (“netzwerkgerechtes”) Eigentum, in: Bauer et al (Hg), Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat (2006), 427-443; LADEUR, Negative Freiheitsrechte und gesellschaftliche Selbstorganisation (2000), 172/184.
tung für Rituale auf anderer Ebene. Wenn man so will, ist das eine höhere, weil komplexere Ebene, die als weiteres Medium die Schrift in den Verbund und das Ensemble der Rechtsmedien einbezieht. Wir treffen im ersten Fall auf Elemente wie die mancipatio oder den Vertrag. Manche halten sie sogar für Übertragungseinheiten (Meme).68 Wir treffen auf Strukturen wie die körpergebundenen Rituale oder die schriftlichen Speicherformen. Wir treffen auch auf das System des Rechts selbst, als einem unbestimmten und unbestreitbaren Zusammenhang aus Elementen, Strukturen und Eigenheiten. Und wir treffen im ersten Beispiel das erste Mal auf die evolutionstheoretische Trinität von Variation-Selektion-Retention.69 Die Fusion der Verfassung Das Recht hat die römische Stadtmauer übersprungen. Ein legendärer Moment, in dem nicht nur das Synallagma auftauchte, sondern auch die Summe des Rechts fragwürdig wurde. Es ist danach nicht mehr möglich, Mimesis und Konsens zu Ausgangskategorien zu erheben.70 Mit diesem Sprung kann das Ganze des Rechts weder tribalistisch gedacht noch mit einem
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DEAKIN, Evolution for our time: a theory of legal memetics, Current Legal Problems 55 (2003), 1-42. Das Problem liegt in der informationstheoretisch hypostasierten Vorstellung kleinster übertragbarer Einheiten und in der Überbewertung genzentrierter Beschreibungen. LUHMANN, (Fn. 63), 242 spricht als drittes von Restabilisierung, wobei er Variation auf Elemente eines Systems, Selektion auf Strukturen, die Restabilisierung auf die autopoietische Reproduktion des eigenen Codes bezieht und von der Binarität des Rechtscodes ausgeht. Der Konsensualvertrag, der eine Ausnahme gegenüber dem ius civile der Quiriten darstellt und keinen generalisierbaren Gedanken ausdrückt, ersetzt die Reziprozität des Rechts sogar schon durch Ansätze der Komplementarität. LUHMANN, Zur Funktion der „subjektiven Rechte“, in: Ausdifferenzierung des Rechts (1999), 360-373 (363). Gemeint ist, daß Rechte zuvor zwingend reziproke Beziehungen voraussetzen, während komplementäre Beziehungen über eine abstrakte dritte Ebene des Erwartens integriert werden.
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kontrollierten Kollektivkörper identifiziert werden.71 Gegenüber der Enkulturierung im Individuum wird das Recht eigenständig, zu seiner kleinsten Einheit wird ein Konflikt. Man kann das Recht nach diesem Sprung nicht mehr so erkennen, wie man Mitglieder der eigenen Population erkennt.72 Mit dem Sprung über die römische Stadtmauer ist das Recht noch wahrscheinlicher – und d.h. noch scheinhafter – geworden, als es ohnehin schon war.
Recht ist seit legendären Momenten nicht mehr nur das Recht der Quiriten. Wie kann sich das Recht sammeln, wie konzentrieren, wenn es nicht durch Bücher, Menschenmengen und Stadtmauern zusammengehalten wird? Von Rechtspopulationen so zu sprechen wie über eine Menge von Primaten, die bestimmte Techniken und Verhaltensweisen reproduzieren, ist nun nicht mehr möglich. Was ist dann die Instanz des Rechts, wenn Leute mitmischen, die weder in Sichtweite des Quirinal groß wurden, noch dem Quirinus opfern, von dem einige sagen, er sei Mars, andere hingegen, er sei sein Sohn, dritte, er sei Saturn, vierte er sei Romulus selbst?73 Volk-Raum-Gewalt soll nach mehreren tausend Jahren die Trinität sein, in der das Recht sich sammelt.74 Vor allem in der Phase des Nationalstaates erweckten die europäischen Rechtsschulen teil- und vorübergehenderweise den Anschein, man habe die Grenze des 71
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Gegen das Konzept sprunghafter Evolution, für eine engere soziobiologische Fundierung des Rechts in einem umfassenden Rechtsbewußtsein plädiert u.A. VOLAND (Fn. 14), 113 ff. Zu dem entsprechenden kognitiven Modul der folk sociology MÜHLMANN (Fn. 46). Kein Wunder, daß z.B. KASER, Römische Rechtsgeschichte (1967/1993), 130 anmerkt, der Begriff Quirites sei nicht vollständig aufgeklärt. Er steht für die nach dem Sprung einsetzende Unvollständigkeit des Rechts. Zur Trinität von Volk-Raum-Gewalt: JELLINEK, Allgemeine Staatslehre (1900/1956) 406 ff.
Rechtsystems an den mit Waffenmaterial bewachten Außengrenzen von Staaten zu suchen. Es gab und gibt dabei sowohl einen Nexus von Konstitutionalisierung und Staat, als auch von Konstitutionalisierung und Community, dem teilweise in der Urkunde von so genannten Vollverfassungen noch eine schriftliche Form gegeben werden soll.75 In allen Fällen handelt es sich um pseudoquiritische Reflexe, die die Ermordung Remus’ verarbeiten, in einer Kombination aus Erinnerung und Leugnung aber nur halbgar verarbeitet haben.76 Nur so starke Autoren wie Machiavelli legen den Reflex offen und erinnern an Remus’ Beitrag zur Verfassung.77
Mit dem Sprung werden zwar Vertrag und Konstitutionalisierung Schlüsselbegriffe für den Prozess der Speicherung und Übertragung von Recht. Zwischen ihnen gibt es aber keine wechselseitige Abhängigkeit, keine Reziprozität. Die Verfassung entsteht nicht aus einem Vertrag und sie gibt der Gesellschaft nicht den Vertrag. Zwischen beiden herrscht ein komplementäres und doppelt asymmetrisches Verhältnis mit schwankenden Subordinationen. Global soll heute die Verfassung bestimmen,
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Zum kontinentaleuropäischen Nexus zwischen Staatlichkeit und Konstitutionalisierung: GRIMM, Braucht Europa eine Verfassung?, JZ 1995, 581 ff.; DERS., Die Zukunft der Verfassung (1991), 399 ff. Zu Community und Konstitutionalisierung ESPOSITO, Communitas. Ursprung und Wege der Gemeinschaft (2004). Zur Genealogie der Vollverfassung und ihrer Gegentypen: VISMANN, Art 79 GG in: Denninger et al (Hg.) Alternativkommentar Grundgesetz (2002). Für die Vorgeschichte des Sprungs interessiert sich in der Nachfolge von Freuds Totem und Tabu die psychoanalytische Rechtstheorie, HÄUSSLER, Psychoanalytische Rechtstheorien, in: Buckel et al (Hg.), Neue Theorien des Rechts (2006), 305322 m.w.N.; sie ist darin ganz der Phase des nationalstaatlichen 19. Jahrhunderts verpflichtet und der Faszination des politischen Gesetzgebers erlegen. MACHIAVELLI, Discorsi (1531/1977), 36-38.
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wie und in welchen Grenzen Recht entsteht.78 Wegen der Unvollständigkeit konstituierter Ordnungen kann der Vertrag als Koordinierungsinstitution aber weiterhin lokale Prioritäten entwickeln.79 Und gerade weil es kein reziprokes Verhältnis zwischen Vertrag und Verfassung gibt, bildet der moderne Verfassungsbegriff eine Klammer, die nicht als Priorität gedeutet werden kann. Immer bleibt ein negatives Plus, eine „constitution outside the constitution“.80 Es bleibt damit offen, ob das Ganze des Rechts mehr oder weniger als die Summe seiner Teile ist. Verfassung ist die Umstellung von Status auf Neukoordination, die die Koordinationen umstellt. Einige sprechen von der evolutionären Errungenschaft der Verfassung, weil es sich offenbar um ein emergentes, sprunghaftes Surplus handelt. Die Errungenschaft liegt in der Reflexivität, die das Recht mit sich selbst und der eigenen Negativität konfrontiert und dadurch die Selbstbeobachtung auf eine abgesonderte Stufe hebt.
In der konstitutionell umstellten Reproduktionsidee ist die Verfassung die Summa des Rechts. Sie ist die reflexive Superformation aller juristischen Information. In einem politischen Verständnis soll sie das Produkt und der Produzent sein, mit dem das Polemische des Rechts ins Befriedete kippt und mit dem der nicht auflösbare Widerstreit und sein Aggressionspotential nach außen abgeleitet werden.81 Dieses Verständnis teilen kon78
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A.A. bei MAINE, Ancient Law (1863), 164 ff. nachdem das Zivilrecht sich evolutionär von status zu contract entwickelt haben soll; dazu: STEIN, Legal Evolution. A Story of an Ideal (1980), 86 ff. LADEUR, Der Staat gegen die Gesellschaft (2006), 10 sieht einen evolutionären Wechsel von Zustandsorientierung zur Koordination, den Vertrag aber als Element einer institutionell verfaßten Privatrechtsgesellschaft zuordnet. So titelt YOUNG, The Constitution outside the Constitution (2007), www.ssrn.com und deutet es als ein Verhältnis zwischen kanonischem Text und Verfassungsfunktionen. SCHMITT, Verfassungslehre (1928), 231/ 251.
servative Insider wie Carl Schmitt und revolutionäre Outsider wie Walter Benjamin – unabhängig davon, ob eher Friedenssehnsucht oder Aggressionspotential mobilisiert werden sollen. Die Verfassung soll – in einem anderen Sinne – durch Aufbau einer Schwelle im Chaos divergenter Rechtspopulationen für Konsensentlastung und für Zwang zur Kooperation sorgen.82 Ein Teil der Rechtswissenschaft hat wiederum ein Verständnis der Souveränität entwickelt, aus dem sich nicht nur die Differenzierung von Vertrag und Verfassung, von Ökonomie und Politik, von Privatrecht und öffentlichem Recht, von Strafrecht und Kriegsrecht weiter entwickelt, sondern mit dem auch eine Unterscheidung von Innen- und Außenrecht auf die Grenze von Staaten und auf eine körperliche, räumliche und hermeneutische Reichweite von Verfassungen bezogen wird.83 Es ist dies ein Verständnis der Souveränität, das unterstellt, im Inneren der Gesellschaft habe der Vertrag, nach außen habe das Schwert das letzte Wort. Es ist dies ein Verständnis, mit dem im Inneren das Schwert latent und im äußeren der Vertrag latent gehalten wird, um Regel und Ausnahmezustand zu unterscheiden.84 Wir treffen in der Jurisprudenz auf ganz verschiedene Verfassungsverständnisse – und doch ist es eine große Familie, die dem pseudoquiritischen Reflex meist nicht entgehen kann. Wir halten hier die Superformation der Verfassung ebenso für eine Legende, wie die von Jellinek verbuchte Trinität oder 82 83
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VESTING (Fn. 67), 434, ohne dies allerdings als Sorge des Souveräns zu deuten. SUÁREZ, De legibus (1612) I 6 21: „Omnis communitas perfecta est proprium corpus politicum/ Jede perfekte Gemeinschaft ist eigentlicher politischer Körper“; Das paradigmatische Bild liefert HOBBES, Leviathan, or the matter, form and power of a commonwealth, ecclesiastical and civil (1651); zur Verknüpfung von Raum und Hermeneutik als imperialer Bedingung politischer Befehle und juristischer Gesetze HEIDEGGER, Parmenides (1942/1992), 57-63; verdichtet zur Verfassung homogener Sprachgemeinschaft: KIRCHHOF, Deutsche Sprache, in: Isensee / ders. (Hg.), Handbuch des Staatsrechts Band I (1987), 745. Aporetisch: BENJAMIN, Kritik der Gewalt, Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik 47 (1921), 809-832; DERRIDA, Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität« (1991); AGAMBEN, Ausnahmezustand. Homo Sacer II 1 (2003).
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wie die Geschichte von Romulus und Remus. Vom römischen Sprung über die Stadtmauer bis zur modernen Verfassung ist es ein weiter Weg und wir werden ihn hier historisch ungehörig und selbst sprunghaft abkürzen.85 Sprunghaft, weil sich nur reflexiv der Sprung selbst fassen und wiederholen lässt. Nur ein bestimmter Teilaspekt interessiert uns an diesem Sprung über die Mauer, nämlich nur der Sprung im Begriff der Verfassung selbst, der in allen Formen juridischer Grundbegriffe mitgeschleppt wird, wenn sie reflexiv werden. Ein besonderer und (aus heutiger Sicht) metaphorischer Rest im Verfassungsbegriff verweist auf die Konstitution des anwesenden Redners, auf seine Fähigkeit zur Konzentration und die Fähigkeit, seine Lage auf die Menge zu übertragen.86 Selbst im Begriff der Organisation (und der damit einhergehenden Technisierung eines Organs) können wir einen solchen metaphorischen Rest ausmachen. Cicero und Quintilian präsentieren in diesem Kontext die Kulturtechnik der Resonanz durch Selbsteinstimmung als eigentliches Kunst- und Berufsgeheimnis des Redners.87 Beide beschreiben darin eine rhetorische Art der wechselseitig erregten Inkorporation – eher akzidentiell denn substantiell. Der metaphorische Rest des Verfassungsbegriffs verweist insoweit also ganz unmetaphorisch auf die Medien der Kommunikation als empathische Replikatoren – unabhängig davon, ob diese Medien nun Urkunden, kanonische Texte, Gerichtsdokumente, Architektur, Körper oder Ensemble aus Medien sind.
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Wobei wir unterschlagen, dass das pseudoquiritische Verständnis nicht von allen geteilt wird, TEUBNER, Globale Zivilverfassung: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie, ZaöR 63 (2003), 1-28 m.w.N.; zu segmentären Zwischenschritten zwischen Person und Staat siehe z.B. WIMMER (Fn. 49) m.w.N. LUHMANN, Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik Bd. 3 (1993), 65-148 schildert für die Phase der frühen Neuzeit anhand humanistischer Ratgeberliteratur solche Übergänge, in denen Metaphorik und Eigentlichkeit vielfältig gekreuzt und ausgetauscht werden. CICERO, De Oratore, 2. Buch, 189 f.; QUINTILIAN, Inst. Or. Buch XI 3 61 ff.
Die historische Erinnerung an einen humanistischen Begriff der Verfassung legt etwas Metaphorisches und etwas Unmetaphorisches offen.88 Die historische Rückschau kreuzt die Grenze zwischen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit der Sprache. An dieser historischen Grenze taucht einerseits die Zeit auf, in der der Redner in einer Verfassung war, andererseits die Zeit, in der Verfassungstexte sich gebärden, um zu sammeln und die in der Lage sind, Resonanz zu erzeugen. Die oben schon erwähnte juristische Randzone der Gebärden und Rituale tritt hier wieder in unser Blickfeld. Der metaphorische Rest des Verfassungsbegriffs soll die Probe sein, an der sich die geschilderte Vereinfachung mit ihren widersprüchlichen Effekten entfalten lässt. Auf erstaunliche Art und Weise schleppt die Verfassung hierbei die Unmöglichkeit der Mimesis und ihrer Inkorporationsimpulse mit sich. Eins lässt sich nicht bestreiten: Die pseudoquiritische Verfassung ist ungehörig. Schwierig zu sagen, ob sie eine Vereinfachung oder Verdichtung ist. 89 Sie nährt verkörperungssüchtige Identitätspolitik und zerstreute Autonomiebewegungen, Monotheismus und Polytheismen gleichermaßen. Und immer wird der Mord an Remus schief verarbeitet.90
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Die humanistische Referenz ist CICERO, De officiis, 3,33, dazu MONHAUPT, Verfassung, in: Brunner et. al. (Hg.), Historische Grundbegriffe Bd.6, 831-862 (841). Von einer drastischen Vereinfachung spricht ESPOSITO (Fn. 75), 21 und lässt offen, inwieweit erst die Drastik für Poetik sorgt. LEGENDRE, Die Juden interpretieren verrückt. Gutachten zu einem klassischen Text, in: Psyche 43 (1989), 20 ff. sieht in der Genealogie zwischen Kommunion und Konstitution, die er auch „die römisch-rechtliche Penetration des Christentums nennt“ das Spezifikum einer romzentrierten Rechtskultur; DERS., Der Take off des Westens ist ein Gerücht, in; Tumult 26 (2001), 102-118. Wir teilen die Ansicht, das posttribalistische Gesellschaften über eine nichtsomatische, spiritistische Hermeneutik verfügen, sehen in seiner Unterscheidung zwischen somatischer und psychosomatischer Interpretation aber die Reformulierung eines Universalisierungsproblems, das im Überschreiten (Roms) immer akut wird.
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Jenseits der römischen Stadtmauer begegnet uns eine Tafel mit vier Thesen, die Gunther Teubner dort für das Recht der Spätmoderne aufgestellt hat: (1) Die Bindungen des gegenwärtigen Rechts an die Gesellschaft sind nicht mehr umfassend, sondern im hohen Ausmaß selektiv; sie reichen von loser bis zu enger Kopplung. (2) Sie bestehen nicht zur Gesamtgesellschaft, sondern bilden sich an diversen Fragmenten der Gesellschaft aus. (3) Während früher das Recht mit der Gesellschaft durch seine Identität mit ihr verbunden war, werden Bindungen heute über Differenzen hergestellt. (4) Sie entwickeln sich nicht mehr in einer einzigen gesamtgesellschaftlichen Evolution, sondern in der konfliktreichen Interrelation zweier oder mehrerer autonomer Evolutionspfade.91
Das Schild teilt mit, dass wir uns in einer Zone unterschiedlicher gesellschaftlicher Reproduktionsfaktoren befinden. Das ist eine, wenn nicht die Folge, nachdem das Recht Sprünge gemacht und bekommen hat. Juristische Reproduktion ist nicht gleichbedeutend mit gesellschaftlicher oder kultureller Reproduktion – also sind auch rechtliche und kulturelle Evolution unterschiedliche Phänomene, die unterschiedliche Schicksale haben können. Erstens lösen Kulturen sich nicht auf, sobald sie eine Rechtsregel aufgeben oder -nehmen. Eine Rechtsordnung löst sich ebenso wenig gleich auf, wenn sie nicht enkulturiert wird. Sie sorgt für entsprechende Regeln wie „Unwissenheit schützt vor Strafe nicht“, für die Unterscheidung zwischen subjektiven und objektiven Tatbestandsmerkmalen oder für eine differenzierte Dogmatik der Willenserklärung mit einer Aufspaltung der Horizonte. Natürlich verwirklicht sich Recht nicht 91
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TEUBNER, Rechtsirritationen: Zur Koevolution von Rechtsnormen und Produktionsregimes, in: Dux/ Welz (Hg.), Moral und Recht im Diskurs der Moderne. Zur Legitimation gesellschaftlicher Ordnung (2001), 351-381.
nur für die Fachjuristen, die es verinnerlicht haben. Zweitens gibt es in der Übernahme von Rechtsregeln in Kulturen zahlreiche feine Unterschiede modifizierter Übertragungen. Die Importeure von Rechten können viele Lieder über informelle Hintergründe und Sinnverschiebungen singen. Im Hinblick auf die Schicksale von Recht und Kultur gilt drittens, dass der evolutionäre Sprung über die Stadtmauer mit der Evolution gespaltener Persönlichkeiten korreliert.92 Die Deterritorialisierung der Rechtsordnung korreliert mit der lokalen individuellen Fähigkeit, sich unterschiedliche Masken aufsetzen zu können wie mit der globalen sozialen Fähigkeit zwischen forum internum und forum externum zu unterscheiden.93 „Er ist Jurist und seine Frau stiehlt auch“, so reagiert der Volksmund auf diese faszinierende Fähigkeit der Rollenbildung und des pluralen Menschen, dessen Ordnungssinn sich selten mit einem allgemeinen Rechtsbewusstsein deckt. Konstitutionalisierung und Enkulturierung können konkurrieren, sie können auch kooperieren.94 Und möglicherweise gibt es dann trotz der drei Unterscheidungen kritische und katastrophale Kurzschlüsse, an denen mit einer Rechtsregel die gesamte kulturelle Reproduktion oder mit einem kulturellen Reproduktionsfaktor die ganze Rechtsordnung kippt. Vielleicht braucht es für diese Momente länger, vielleicht kürzer. Früher oder später können auch topographische Platzhalter sein. Eher hinterlistig positionieren wir Teubners Postmoderne-Schild vor die römische Stadtmauer. Es ist ein Feld, das historische Bestimmtheit gegen topogra92 93
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LUHMANN, Grundrechte als Institution (1967). Aus Sicht europäischer Universalisierung: PRODI, Una storia della giustizia. Dal pluralismo dei fori al moderno dualismo tra scienza e diritti (2000); zu einer entsprechenden Differenzierung in der islamischen Universalisierung: ROY, L‘Islam mondialisé (2002), FUKUYAMA, Identität und Migration (2007) www.perlentaucher. de/artikel/3670.html. Konstitutionalisierung bildet mit einem emergenten Sprung eine reflexive Ebene aus; Enkulturierung schafft nur die Menge einer Population, die bestimmte Praxen oder Überzeugungen teilt.
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phische Unbestimmtheit et vice versa austauschen kann. Darin liegt ein mnemotechnischer Reiz und daran hängt das ubiquitäre Auftauchen von Zeittopographien in den Ordnungsformen kommunizier- und reproduzierbaren Wissens.95 So können sich auch solche Jahrhunderte schon als fragmentiert erfahren, die später als Inbegriff des Klassischen gelten und man kann als kanonisch definieren, was im Streit lag. Das ist ein nicht zu unterschätzender rhetorischer Vorteil, um in Anbetracht von Evolution die Unterscheidung von Ordnung und Unordnung überhaupt aufrechterhalten zu können.
Was lässt sich Teubners Schild entnehmen? Es sind vielfältige Gemeinschaften und vielnamige Netzwerke, in denen Gesellschaft reproduziert wird, die eine engere und eine weitere Distanz zum Recht aufbauen und lockere oder feste strategische Allianzen zur gesellschaftlichen Reproduktion eingehen können. Reflexe davon lassen sich in fast jedem Rechtsgebiet finden. Die Irritierung der Verfassungstheorien besteht heute darin, dass sie unter solchen prekären Bedingungen die Bedeutung von Bindungsarrangements leicht über- und unterschätzen, aber nur schwer maßvoll einschätzen können. Es gibt sibyllinische Verwischungsmomente, die bei der Bindung zwischen Recht und Gesellschaft auf Alles und Nichts setzen.96 Und es gibt viele Momente unsicherer Einschätzung. Heute ist sowohl die Verfassungstheorie als auch die Rechtssprechung schon voller Verdachtsmomente, die auf die Schwächung der
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KOSSELECK, Zeitschichten. Studien zur Historik (2003), 19-96. So z.B. HELLER, Staatslehre (1934), 86. ff./ 94 ff., der Individuum und Kollektivkörper zwar „untrennbar dialektisch“ vereint, den Einzelnen aber gleich dann isoliert sieht, wenn sein Sinn jenseits des Unbewussten auf „Etwas“ gerichtet sei. Heller versteht dazu die Natur strukturanalog zum unbewussten Kollektivkörper und Kultur zu dem bewußten Individuum.
intermediären Institutionen des Rechts verweisen, so als gäbe es nicht nur geltende, nicht geltende, sondern auch starke oder schwache Verfassung.97 Bei aller Autonomie kann das lebende Recht auf extrajuristische Bindungsarrangements eben nicht verzichten. Das gilt schon deswegen, weil das Recht in seiner Retention auf Notation und kulturelle Reproduktion außerhalb des Gesetzbuches und außerhalb juristischer Verfahren angewiesen bleibt. Wenn Verfassung zu einem Schlüsselbegriff gemacht wird, dann nimmt er auch an parapositivistischen und paralegalen Eigenschaften Anteil, wie man sie z.B. für Ideologien, Kulturen, policies, Rechtsfamilien oder -kreise reserviert. Die Verfassung einer westlichen Rechtsfamilie fühlt sich darum auch herausgefordert durch Gemeinschaften, die sich scheinbar besser reproduzieren, die Politik, Recht, Religion und Kunst nicht auf die Art und Weise unterscheiden wie man selbst und die die Komplexität differenzierter Gesellschaften selbst wiederum unter dem Leitbild eines Kampfes gegen moderne Herausforderungen reduzieren können. Und sie ist trotz dieses Verdachtes voller Zuversicht, dass sich die Society of Societies ständig selbst erneuert, wenn sie nur der eigenen Ungewissheit und Vielfalt gedenkt.98 Leicht fällt es dabei, die Überschätzung von Bindungsinstitutionen und die Appelle an neue juristische
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Die Diagnose verbindet im deutschen Verfassungsrecht unterschiedliche Positionen wie LADEUR (Fn. 79), der im Interesse dezentraler Selbsterneuerungsprozesse appelliert, die Wissensbestände der Gesellschaft vom Staat zu lösen; HALTERN, Europarecht und das Politische (2004), der unentschlossen bleibt, ob man sich des politischen Opfers als Bindungsinstitution erinnern, oder ob man es besser vergessen sollte und DI FABIO, Die Kultur der Freiheit (2005), der im Genre juristischer Besinnungsliteratur mahnt: „Wer seine kulturellen Kraftquellen nicht pflegt, steigt ab,“ und der die sexuelle Fortpflanzung derer stimulieren will, die eine bestimmten Form des Rechts in Zukunft garantieren können. Aus der Rechtsprechung aber: PARHISI, Homosexualität als Asylgrund. Anmerkung zum Urteil des VG Stuttgart v. 29.06.2006; ZAR 2007, 96--98 mit Hinweisen auf kontraproduktive Überreaktionen des Gerichts. LADEUR (Fn. 79), 1.
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Energieversorgung und Krafttraining zu verspotten.99 Leicht fällt es, Unterschätzung und blinde Zuversicht ernst zu nehmen. Aber auch in der Kritik der Verdachtsmomente fällt es nicht leicht, den Bindungsarrangements gerecht zu werden, zu klären, in welchem evolutionären Stadium die Verfassung sich heute befindet, und welche Über- und Unterreaktionen man dabei ins verfassungsrechtliche Kalkül einbeziehen soll. Ein so stoischer wie sophistischer Stratege wie Cicero würde wohl darauf hinweisen, dass das Gefühl der Schwäche eher in Überreaktionen, das Gefühl der Stärke eher in Schwächungen mündet.100 Eine anspruchsvolle Rechtstheorie müsste die Situationen drohenden Zuviels und drohenden Zuwenigs in ein Konditionierungsverhältnis übersetzen.101 So könnte die Theorie dann mit Amplifikationen oder Reflexionen reagieren.
Wir kommen zum praktischen Fall. Er betrifft den am 29. Oktober 2004 in Rom unterzeichneten Vertrag über eine europäische Verfassung. Wir beobachten in diesem Fall den Plan eines (gescheiterten) juridisch-politischen Konstitutionalisierungsversuches und fragen uns, wie intelligent das Design ist. Fallfrage No. 1 lautet also: Hat Europa heute eine Verfassung? Abgewandelte Fallfrage No. 2: Gibt es in Europa heute mehrere Verfassungen? Bei der Vertragsunterzeichnung von 2004 han-
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FRANKENBERG, Die Zukunft als vollendete Vergangenheit. Überlegungen zur Kultur der Freiheit in der flüchtigen Moderne, Der Staat 45 (2006), 402-408; STEINHAUER, Non plus ultra. Zu einer neuen Form der Kulturwissenschaft im Recht, Der Staat (i.E. 2007). TEUBNER (Fn. 91) diagnostiziert im Prozess der Globalisierung eine simultane Zunahme von Konvergenzen und Divergenzen gesellschaftlicher Ordnungen und entsprechend die simultane Existenz schwacher und starker Kopplung zwischen Recht und Kultur. LUHMANN, Individuum, Individualität, Individualismus, in: DERS. (Fn. 18), 149-258 (150).
delt es sich um einen juristischen und performativen Akt, indem Konstitutionalisierung und Enkulturierung nach Vorstellungen der politischen Akteure kooperieren sollten. Das schon existierende primäre Gemeinschaftsrecht (seit den Römischen Verträgen von 1957 und zuletzt in Form des Nizza Vertrages von 2001) sollte unter dem Stichwort politische Institutionalisierung reformiert werden. Man versprach sich unter dem Stichwort gesellschaftliche Verankerung eine neue Einbindung der Bürger Europas, eine intensivierte Enkulturierung des Europarechts. Nicht nur eine effizientere Form der Bürokratie, auch mehr Anerkennung und Engagement durch die Bürger sollte gewonnen werden. Aus einer niedrigen Organisationsform sollte eine höherrangige Organisationsform des Rechts werden, so wie in evolutionären Multilevelorganisationen der Selektionsdruck von einer Einheit auf die komplexere Organisationsebene verschoben wird. „Constitutional Synallagma“ hat Guiseppe Martinicio das Ereignis genannt, in dem sich spannungsreich Vertragsbindung und Verfassung wieder begegnen.102 Und in dem Übergang von Ereignis in Struktur soll Constitution das Synallagma umstellen.
Was ist mit evolutionärer Errungenschaft der Verfassung gemeint? Wir übernehmen diese Wendung von der Systemtheorie.103 Gemeint ist die moderne Verfassung als eine neue Sorte von sekundärem, reflexivem Recht. Gemeint ist damit ein Recht, das gegenüber einfachem Recht reflexiv ist und zwar durch die erwähnte eigenartige Figur doppelter Asymmetrie, die Verfassung 102
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MARTINICIO, Complexity and Cultural Sources of Law in the EU Context: From the Multilevel Constitutionalism to the Constitutional Synallagma, GLJ 8 Nr. 3 (2007), abrufbar unter: www.germanlawjournal.com/article.php?id=802. LUHMANN, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), 176-220.
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von Status auf Koordination umstellt. Das soll u.a. durch eine institutionalisierte Reflexivität garantiert werden. Die Verfassung soll die Reproduktionsbedingungen des Rechts in einem erschwert veränderbaren formal-organisationsrechtlichen Teil durch unveränderbare materielle Grenzposten selbst festlegen und durch bestimmte Kollisionsregeln und eigene Instanzen sichern. Ein Teil der Geschichtsschreibung sieht das spezifisch Moderne an Verfassungen insoweit darin, dass sie nicht nur herrschaftsbegrenzend, sondern herrschaftsbegründend seien.104 Der moderne Verfassungsbegriff verbindet im systemtheoretischen Sinne den juristischen Bezug auf positivrechtliche Dekrete (ordinance/statute) mit dem politischen Sinn, der sich auf individuelle Körper (des Redners, Fürsten oder Herrschers) oder Kollektivkörper (z.B. Kirche, Gerichte) bezog. In diesem Sinne stellt die Verfassung eine strukturelle Kopplung zwischen dem politischen System und dem Rechtsystem dar. In der modernen Verfassung bekommt der politische Körper – der Staat als juristische Person – ein Statut und das Statut bekommt einen politischen Körper. Die Verfassung transformiert die Probleme der Unruhe, der Rivalität und der vielen flüsternden Ratgeber, die auch der angeblich absolute Fürst schon hatte, aber sie löst sich nicht von diesen Problemen. In einem systemtheoretischen Verständnis koppelt sich die Leistung des Rechts mit derjenigen der Politik. Erwartungen werden stabilisiert und Entscheidungen werden kollektiv gebunden. Marie Theres Fögen sieht darin einen Austauschmoment, indem das Recht von der Politik Autorität erhält und dafür Legitimität zur Verfügung stellt. Die Struktur dieser Kopplung und der Prozess dieser Verschmelzung sind als Überschneidungsphänomen voller pseudoquiritischer Reflexe und voller Übergänge zwischen metaphorischer und nicht metaphorischer Sprache. Natürlich
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sind der Körper des Staates und der Staat als juristische Person nur Metaphorik – aber inwieweit sich diese Vorstellung in Metaphorik erschöpft, das ist wegen der pseudoquiritischen Reflexe nicht leicht zu beantworten. Immerhin kann die Metapher nichts anderes als ein exkommunizierter Begriff sein.105 Die Metapher kann ein Begriff sein, der an der inneren Sicherheit einer Sprachcommunity keinen Anteil hat, und sei es bloß, weil er mangelhaft eingebürgert oder nicht hinreichend in ihren deklarativen, prozeduralen und episodischen Gedächtnissen verankert wurde. Die Metapher kann selbst eine Art Remus unter den Begriffen sein.
Luhmanns Titel von der „evolutionären Errungenschaft“ ist ein ironischer Neologismus zu der im Sozialismus gepflegten Formel von der revolutionären Errungenschaft. Die Planmäßigkeit des großen Umsturzes, die teleologische Leistung des Volkes wird in seinem Titel harsch konfrontiert mit der Blindheit und Planlosigkeit der Evolution. Und es gibt noch eine Reihe anderer Ambivalenzen und Aporien, die der Formel mit dem weggefallenen R zu abgründiger Ironie verhelfen. Ironien der Verfassung lassen sich nur schwer kritisieren, sie sind selbst in legendärer Form auch das Konzentrat der Paradoxien, die in der Gesellschaft laufend entfaltet und invisibilisiert werden. Die Errungenschaft liegt nach systemtheoretischer Ansicht darin, dass Politik und Recht durch die Kopplung funktional differenziert werden können. Eine Fusion zwischen Politik und Recht findet also nicht statt, stattdessen wird ein zentraler Fil-
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Vgl. nur SCHULZ (Fn. 10), 88 ff. der die Rhetoren und ihre figurative Rede aus dem Corpus der italisch-römischen Nation, ihrem Blut, Charakter und Geist, ausschließt.
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ter eingeschoben. Zugriff erhält die Politik auf das Recht nur über die Verfassung. Und das Recht kann die Politik nur über die Verfassung beobachten. Als Kern dieser These gilt der Umstand, dass die Verfassung zu dem einen höherrangigen und reflexiven Recht wird, mit dem das übrige Recht beobachtet und als rechtmäßig oder unrechtmäßig qualifiziert werden kann. Das Recht soll mit der Verfassung seine Selbstbeobachtung perfektionieren und zwar durch eine reflexive Schleife, die eine Unterscheidung auf sich selbst anwendet. Das Recht soll dann sagen, ob Recht rechtmäßig ist. Diesen epigrammatischen Satz müssten wir entfalten: Das Verfassungsrecht sagt, ob Akte der Gesetzgebung, der Rechtssprechung oder der Verwaltung rechtmäßig sind, oder nicht. Von Gott, König, Tugendterror oder Volkstyrannei soll Recht unabhängig werden. Wir beobachten mit der Entstehung der modernen Vollverfassung so wie schon zur Entstehung des Konsensualvertrages wieder einen Verschriftlichungsprozess. Verschriftlicht wird die Bindung des Souveräns. Das Paradox, ob der Souverän innerhalb oder außerhalb der Souveränität steht, wird in einer schriftlichen Form entfaltet, etwa dadurch, dass Verfassungsänderungen (vorher/nachher) unter erschwerten Bedingungen möglich werden und im Medium der Schrift leicht beobachtet werden können. Es dürfte klar sein, dass wir damit keine historische Errungenschaft beschreiben. Auch wenn die Verfassung populär und weit verbreitet ist, gibt es auch zeitgenössische europäische und außereuropäische Rechtsordnungen, die gut ohne sie funktionieren. Und wenn man die historischen und existierenden Verfassungen an den beschriebenen Eigenschaften messen würde, wäre weder eine letzte vormoderne noch eine erste, endgültig moderne Verfassung zu finden. Die Trennung von einfachem Recht und Verfassungsrecht gelingt den Rechtsordnungen nämlich immer nur unvollständig, laufend bauen auch Rechtsordnungen mit Verfassungstext Schleifen zwischen einfachem
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Recht und Verfassungsrecht auf.106 Ähnlich prekär bleiben die Verschriftlichung und die Kanonisierung der Texte. Die Reduzierung des Phänomens der Autopoiesis auf eine schriftzentrierte Selbstreferenz des positivistischen Rechts ist darum unzureichend. Zumindest unsere abgewandelte Fallfrage No. 2 können wir aber mit diesen Vorgaben schon mit Nein beantworten. In Europa ist insoweit nämlich weit und breit keine moderne Verfassung in Sicht – es ist nie modern gewesen. Weniger streng wollen wir auf das Idealtypische und Konstruktive einer modernen Verfassung hinweisen. Da gibt es doch einige, die dem Ideal und Modell konzentriert nacheifern. Und wir haben damit auch gleich eine Entschuldigung, warum wir hier verfassungstheoretischen Legendenmischmasch wie die Geschichte von Romulus und Remus tradieren.107
Die Fallfrage No. 1 wurde noch nicht beantwortet. Hat Europa eine Verfassung? Der Fall verlangt immer noch, dass wir uns vor dem Hintergrund prekärer Reproduktionsfaktoren und pseudoquiritischer Reflexe theoretisch mit Evidenz befassen. Wir schauen in ein Bild hinein und aus dem Recht heraus und vielleicht gelingt uns dabei ein Abgleich zwischen Theorie und Praxis. Als Beispielsfall für die Evolution geht es hierbei um die prekäre Grenze eines evolvierenden Rechts und den Versuch, sowohl 106
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Vgl. nur die Distanz zwischen normativem Anspruch und historischer datierbarer Erfahrung bei GRIMM (Fn. 75); lakonisch STOLLEIS (Fn. 104), 32 mit der Anmerkung: „Im Detail ist alles ganz anders!“ Zur vergeblichen Lösung von einfachem Recht und Verfassungsrecht u.a. WENGER, Die objektive Verwertung der Grundrechte, AöR 130 (2005), 618-628; für das Europarecht: AMSTUTZ, Zwischenwelten: Zur Emergenz einer interlegalen Rechtsmethodik im europäischen Privatrecht, in: JOERGES/ TEUBNER (Hg.), Rechtsverfassungsrecht (2003), 213-237; MARTINICIO (Fn. 102). Symptomatisch: HOFMANN, Vom Wesen der Verfassung, JÖR 51 (2003), 1-20 (3) spricht erst treffend vom Mythos der verfassungsgebenden Gewalt moderner Verfassungen, um dann aber die reale Volksferne neuerer Entwicklungen zu kritisieren.
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seine Eigenständigkeit, als auch seine kulturelle Bindungsfähigkeit zu behaupten. Wir wollen die formale Schließung des Rechts beobachten in einer Zeit, in der das Recht durch ein vielfältiges Bindungsangebot aus dem Arsenal der sozialen Reproduktionsfaktoren begleitet wird. Welche Rolle kommt einer postinstitutionellen Rhetorik da zu? Das Fallbeispiel erzählt im Interesse metaphorischer Restbestände von der Evidenz der Verfassung. Wir beobachten ein juristisches Ereignis, ein politisches Ereignis und ein Ereignis in den Massenmedien. Das ist, wenn nicht unsystematisch, so doch parasystematisch. Für eine Theorie der kulturellen Evolution ist so ein Ensemble aus Recht, Politik und medialem Spektakel interessant, weil man das diskrete Recht in indiskreter Umwelt beobachten kann. Man kann so das systematisch hochgezüchtete Recht vor dem Hintergrund anderer hochgezüchteter Systeme und anderer unsystematischer Phänomene beobachten. Die in der Luhmann’schen Theorie der evolutionären Errungenschaft ins Zentrum gerückte Kopplung zwischen Recht und Politik ist unzureichend – wenn schon nicht zu einseitig auf Schrift, dann doch zu zweiseitig auf Recht und Politik bezogen. Man muss den Rückgriff des Rechts auf Bindungsinstitutionen in einem vielfältigen Gewirr beobachten. Die Evolutionstheorie – so lautet die These – dient mit ihrem unbestimmten Begriff der Fitness der Registrierung von Bindungsintensitäten in medialen Ensembles und hybriden Netzwerken und der Übersetzung in Konditionierungs- und Steigerungsverhältnisse. Wenn wir Überund Unterreaktionen von pseudoquiritischen Reflexen entschlüsseln wollen, dann ist die Evolutionstheorie hierfür vielleicht ein geeignetes Instrumentarium.
Die Emergenz einer Verfassung entschlüsselt sich auch über das Evidenzerlebnis ihres Beobachters. Evidenz ist das rhetorische Bindungsarrangement, das uns als Probe aufs Exempel 47
hier besonders interessiert. Evidenz ermögliche es die Dinge zu zeigen, heißt es in den rhetorischen Anleitungstexten. Sowohl die Rhetoren als auch die römischen Fachjuristen reflektieren Evidenz als ein besonderes Qualitätsmerkmal der Kommunikation.108 Im engeren Sinne bezieht Cicero den Begriff auf die Gerichtsrede.109 Es geht um Sachverhalte, die kompliziert oder strittig sind und in einem besonderen Lichte den Richtern präsentiert werden müssen. Aber man kann den Begriff auch von der Situation eines Gerichtsprozesses lösen. Evidenz spielt dann eine Rolle, wenn wer auch immer das Recht beobachtet – und sei es das Recht selbst. Die Selbstverständlichkeit des Rechts hängt an einer poetischen Leistung, die das autopoietische Recht nicht alleine erbringen kann, es muss beobachtet und zeigbar gemacht werden. Das hängt auch im Moment der Selbstbeobachtung noch an namenlosen Rhetoren. Während die Rhetoren Evidenz zum Ideal einleuchtender Rede machen, beziehen die Fachjuristen der römischen Zeit evidentia auf einen Juridismus, nämlich auf die Fähigkeit, Urteil und Entscheidung fällen zu können. Typisch für die einleitend beschriebenen Distanzierungsversuche von der Rhetorik hat das Auftauchen des Begriffes ostendere in den juristischen Texten die Interpolationenkritik dazu geführt, eine Verfälschung der juristischen Originaltexte anzunehmen.110 Ostendere sei ein rhetorischer Fremdkörper im Kontext der fachjuristischen Ausführungen zur Evidenz, eigentlich müsste es probare heißen.111 108 109 110
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QUINTILIAN,Inst. Or. 6,2,32 und 4,2,63 ff., 83,86 CICERO, Topik, 97. Eine Darstellung der Distanzierungsversuche und Nachweise über die fachjuristische Zuverlässigkeit Quintilians bietet: TELLEGEN-COUPERUS, Quintilian and Roman Law, Revue Internationale des droits de l’Antiquité, 3ème série, XLVII (2000), 167-177. MAYER-MALY, Der Jurist und die Evidenz, in: Marcic et al (Hg.), FS Verdross (1971) 260-270 (kritisch und m.w.N.). Er setzt sich dazu mit MAX KASERS klassischer Unterteilung zwischen rationaler und intuitiver Rechtserfassung kritisch auseinander und merkt treffend an, fürs römische Recht könne ein klarer Unterschied nicht markiert werden.
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Nichtsdestotrotz begegnen uns diese rhetorischen Fremdkörper laufend in den infizierten, unreinen juristischen Texten.112 Der Fälschungsverdacht und die mitlaufende Austauschmöglichkeit weisen nur darauf hin, wie eng die rhetorische Ordnung an den Juridismus gekoppelt wird und wie eng das poietische Recht an namenlosen Rhetoren hängt. Der bodenlose Schein der Evidenz entschlüsselt das Bodenlose der Emergenz.
Es wird diskutiert, ob die Evidenz der Dinge eher im beobachtenden Subjekt oder im Leuchten und Scheinen der Dinge liege.113 Evidenz, so definieren wir für unseren kulturevolutionären Kontext, liegt vor, wenn ein kognitives Negativ reibungsgleich auf ein kognitives Positiv trifft.114 Ein Artefakt trifft auf das biologische Gedächtnis, seine Strukturen und seine deklarativ, prozedural und/oder episodisch gespeicherten Inhalte. Ein äußeres Bild trifft ein inneres Bild. Der rhetorische Idealtypus der Evidenz liegt vor, wenn ein Vorstellungsbild auf jenen Eindruck trifft, den der Redner uns von der Welt gibt. Ein Text ist evident, wenn ein inneres Vorstellungsbild widerstandslos auf einen Eindruck stößt, den uns die Schrift von der Welt gibt. Ob rechtlich geordnet oder verbrecherisch, eine ganze Welt kann sich aus dem Mund des Redners und aus der Hand des Schreibers offenkundig gebären, offenkundig Zustimmung oder Widerstand produzieren. Und wenn der Redner im Namen des Rechts spricht oder man die Welt mit den Augen des Rechts beobachtet, dann kann die Art und Weise, wie das Rechtssys112
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Die postrhetorisch moderne Verschlaufung von ostendere und probare findet gleich am Anfang bei DESCARTES, Meditationes de prima philosophia (1641/1992), VI 2 statt: „quae nova animi contentio differentiam inter imaginationem et intellectionem puram// clare ostendit“. TYRADELLIS. Leuchtet ein. Medien als Orte der Entscheidung, in: VISMANN/ WEITIN (Hrsg.), Urteilen/Entscheiden (2006), 143-153. Zu kognitiven Negativen und Positiven: MÜHLMANN (Fn. 46).
tem die Welt beschreibt und beobachtet, sich ebenso offenkundig gebären. Mit Wahrheit hat das nichts zu tun, es sei denn, man hält Offenkundiges für wahr. Dass Negativ und Positiv sich so reibungsgleich anpassen, heißt auch nicht, sie seien spannungslos. Ganz im Gegenteil. Die Dinge in der Welt müssen durch den Redner mit energeitischer Spannung versehen werden, um Evidenz zu entwickeln. Man muss die Welt auch dann ins rechte Licht rücken, wenn sich dadurch das Risiko eines Schlagschattens erhöht. Evidenz verlangt, dass man die Dinge ebenso passend trifft, wie den Zuhörer. Evidenz klärt die Lage zur Entscheidungs- und Urteilsfähigkeit. Insoweit bezieht sie sich eben auf das Leuchten der Dinge und einen erregten Beobachter. Der Reiz erklärt sich also durch den gleichlaufenden Takt von Interferenzen.115 Legendär ist jene Bemerkung, die Chief Justice Potter Stewart 1964 am US. Supreme Court zu der Frage machte, wie sich Pornographie angesichts unklarer moralischer Standards definieren ließe: „I know it, when I see it.“116
Der Witz des rhetorischen Bindungsarrangements liegt nicht darin, dass es das Recht bloß mit Schein versorgt. Die Rhetorik stellt dem Recht ein Bindungsarrangement zur Verfügung – aber zu dem Preis, ein eigensinniges Stimulationsregime zu sein. Die Rhetorik konditioniert, wie Recht sich zwischen Amplifikation und Reflexion auf zu wenig und zu viel Gesellschaft einstellen kann. Aus Sicht eines autonomen Rechts geht die rhetorische Bindung darum mit Rechtspathologien einher. Pathologien sind Störungen, die mit intensivierten Selbstbeobachtungen einhergehen.117 Der Witz des rhetorischen Risikos 115
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ut enim in vita, sic in oratione nihil est difficilius quam quid deceat videre (…) nos dicamus sane decorum, CICERO, Orator 21, 70. Concurring Opinion 378 U.S. 184 Jacobellis vs. Ohio; dazu GERWITZ, On I Know it, when i see it, Yale Law Journal 105 (1996), 1023-1047. IHERING (Fn. 9), 23; LUHMANN (Fn. 20), 565-568.
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liegt dabei in der Kopplung von Rankings. Heiner Mühlmann spricht von „ranking inference“ und behauptet, der zentrale Effekt der Rhetorik liege in der Verbindung von Erhabenem mit einem kulturendogenen Selektionsdruck. So lässt sich an zentrale Unterscheidungen ein internes Ranking koppeln und eine polemische Schwelle für ganze Kulturen aufbauen.118 Man denkt schnell an tribalistische, kriegerische und stratifikatorische Gesellschaften und ihren Ehrbegriff, wenn das Wort vom Erhabenen fällt. Es fällt leicht, diesen Begriff auf die Stimulationsregimes der Politik zu übertragen, die spontan an Tiefe und letzte Werte appellieren, sobald sie erregt sind. Man kann hier an die Suche des neuen völkerrechtlichen Diskurses nach einer colère publique mondiale denken.119 Schnell denkt man auch an empörte Parteien vor Gericht, die im Nachbarschaftsstreit Grill- und Grundrechte verteidigen wollen.120 Es ist zu überlegen, ob man den rhetorischen Maximalwert aber auch noch in disziplinierten Wissenschaftscommunities beobachten kann. Die sind vielleicht nicht so schnell erregt. Aber auch hier werden juristische Rangfolgen laufend verknüpft mit einem polarisierten Ranking zwischen hoch/niedrig, das mit dem logisch-systematischen Ranking des Rechtspositivismus soviel zu tun hat, wie der indiskrete Cicero mit den diskreten Fachjuristen seiner Zeit – oder wie video mit iubeo.121 Immer geht es um eine Kopplung von Epistemologie und rhetorischer Stimulation. Das constitutional synallagma trifft in jedem Fall Kognition und normative Erwartung und dieses Treffen ist in 118
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MÜHLMANN, Ästhetische Theorie der Renaissance. Leon Battista Alberti (1981/2005) über das rhetorische Ranking im decorum und den Bezug zur humanistischen Jurisprudenz; MARIN, Das Portrait des Königs (1981/2005), 30-63 über die Kopplung von Gerechtigkeitsdiskurs und Rankingdesign. FISCHER-LESCANO, Globalverfassung (2005); LUHMANN, Gibt es in unserer Gesellschaft noch unverzichtbare Normen? (1993), 29. Ähnlich BVerfGE 80, 137 zum Reiten im Walde und Persönlichkeitskern. Ein Teil der Rechtswissenschaft spricht in Bezug auf diese Relation sogar vom Taktschlag der europäischen Rechtswissenschaft und von polarisierter Stilcharakteristik, WIEACKER (Fn. 28), 20 m.w.N.
jedem Fall sprunghaft. Selbst so stoische Heterarchietheoretiker wie Teubner könnten, wenn es einen taxierbaren Maßstab des Stimulationsregimes gäbe, vielleicht einschätzen, wie nahe sie sich an der römischen Stadtmauer befinden, wenn sie plötzlich anfangen, von der Tiefe der Kultur zu sprechen.122 Ohne den taxierbaren Maßstab lässt sich zumindest die Ubiquität der polarisierten Rankings und der rhetorischen Stimulation beobachten. Ob man diese Beobachtung und ihre Appelle verstärken möchte, oder ob man sie sich vom Leib halten möchte, das ist wieder eine andere Frage.
Vergessen wir die Fallfrage nicht. Hat Europa eine Verfassung? We know it, when we see it. Lassen Sie mich zeigen, von welchem Bild der Konstitutionalisierung die Rede ist:
Unterzeichnung des Vertrages über eine europäische Verfassung 29. Oktober 2004 in Rom.
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TEUBNER (Fn. 91).
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Es ist eine Aufnahme aus den Massenmedien. Wir sehen die Südseite des Saals der Horatier und Curatier im Konservatorenpalast auf dem Kapitol in Rom. Wir erkennen in einer thronsaalartigen Architektur an der Kopfwand des Raumes ein großes Fresko von Romulus und Remus. Guiseppe d‘Arpino hat es gemalt. Wir sehen darunter überlebensgroß den gestisch bewegten Papst Innocenz X., ein Werk von Algardi. Unter der Geste des Papstes sehen wir Tony Blair und Jack Straw. Sie haben sich gerade an einen leuchtend blauen Tisch gesetzt, auf dem der europäische Sternenkranz strahlt und sie unterzeichnen den Vertrag über eine europäische Verfassung. Beide sind Akteure in einem Zeremoniell, das im Auftrag von Silvio Berlusconi von der Werkstatt Franco Zeffirelli inszeniert wurde. Es ist hier nicht der Raum, die ganzen Details der Inszenierung in Erinnerung zu rufen.123 Es handelt sich um eine genealogische Szene. Schaut man aus dem Fenster des Raums, sieht man über die Piazza del Campidoglio auf Sta. Maria in Ara Coeli, den Ort, an dem sich nach dem Pilgerführer Mirabilia Urbis Romae römisches Recht und christliche Propaganda vermählten, oder – wie Legendre sagt – penetrierten. Augustus erhielt hier die Prophezeiung von der tiburtinischen Sybille und hatte seine Vision von der Pax Romana, der Wiederkehr des goldenen Zeitalters, der Jungfrau, des kommenden Heilands und der zwölf Sterne. Im gleichen Raum wurden unter einem anderen Zeremoniell schon die Römischen Verträge von 1957 unterzeichnet. 2004 sollte betont werden, dass aus einer reinen Wirtschaftsunion eine politische Gemeinschaft würde. Dementsprechend änderte Zeffirelli den Stil des Zeremoniells. Aus der nüchternen büro- und technokratischen Inszenierung von 1957 im genus medium wurde durch die architektonische Rahmung, durch eine Spiegelung zwischen Historienmalerei
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Zum Bild detaillierter: STEINHAUER, Die Szene ist in Rom, in: SEITTER/ VISMANN (Hg.), römisch. Tumult 30 (2006), 121-132.
und aktuellem Geschehen und durch einen quasiliturgischen Bewegungsablauf eine Inszenierung im hohen, pathetischen Stil, im genus sublime. Papst Innocenz X., der das Pontifikat zum Zeitpunkt des Westfälischen Friedensschlusses innehatte, evoziert die neuzeitliche und souveränitätsorientierte Reformulierung der Pax Romana. Man sieht Romulus und Remus als die ersten Doppelgänger Roms; man sieht Tony Blair und den von ihm kurz darauf in Folge der Irakkrise entlassenen Jack Straw als die Doppelgänger der Vereinigten Königreiche. Gut gewählt erscheint die Position des Kameraauges. Es befindet sich an der gegenüberliegenden Seite des Saales, dort wo Berninis Figur des verkörperungssüchtigen Papstes Urban VIII. steht.124 Der Zuschauer blickt sozusagen mit den Augen Papst Urbans auf die genealogische Szene. Der Bildschirm des Fernsehers wird zum Auge des Gesetzes und das Bild appelliert daran, einen Tausch vorzunehmen. Der Zuschauer überlegt, ob er die Position des Papstes einnehmen und sich in diese Szene inkorporieren soll, so als wäre der Bildschirm das neue Auge des Gesetzes. Die ganze Szene stimuliert auf vielfältige Art und Weise pseudoquiritische Reflexe. Wer dabei an Täuschung denkt, signalisiert, dass er nicht zur Community gehört. Man kann sagen, es ist ein in vieler Hinsicht passendes und angemessenes Bild. Es hat sich auf die Situation der Konstitutionalisierung eingestellt.
Matthias Bruhn hat ein Phänomen in der Bildwirtschaft beobachtet, ich nenne es die Bruhn’sche Bewegung.125 Statt der viel beschworenen Bilderflut bemerkte er reduzierende Reproduktionsschleifen, die die Bilder in den Massenmedien 124
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Der mit der Reform der Accademia di San Lucca das System der akademischen Bildverwaltung den Bedingungen des rhetorischen decorum angepasst hat. BRUHN, Bildwirtschaft (2002).
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homogenisieren.126 Ereignisse finden ihre Bilder über selbst verstärkende Rückkopplungsschlaufen. So verdichten sich die vielen Bilder zur ikonischen Präsenz eines einzigen Bildes. Die Künstler, Photographen, Bildagenturen und -redaktionen sind dem gegenüber machtlos. Aus dem Archiv werden anfangs unterschiedliche Bilder eines Ereignisses lizenziert. Nach einer gewissen Zeit wird dann mit entsprechenden Verstärkungseffekten das Bild eher lizenziert, das schon häufiger lizenziert wurde. Nach weiterer Zeit wird sogar das so genannte key-wording in der archiveigenen Organisation auf die häufig abgefragten Bilder ausgerichtet. Sie werden sozusagen getauft und damit genauer und schneller wieder auffindbar. So kommt es, dass zum Beispiel von der Unterzeichnung der Römischen Verträge von 1957 nur noch ein einziges Bild in Lehrbüchern, Historischen Museen, offiziellen Internetseiten kursiert. Nach mehreren Jahren, wenn die analogen Archive der Bildwirtschaft mehr Platz brauchen, werden die offensichtlich unbrauchbaren analogen Bilder aussortiert. In den digitalen Archiven erscheinen die ungebrauchten Bilder in den Suchmasken immer weiter hinten, in den Bereichen, wo schon niemand mehr hinscrollen möchte, wenn es schnell gehen soll. Die telephonische Beratung in den Archiven zählt nur die wichtigsten Bilder auf. Heute kursieren vom 29.10.2004 noch viele Bilder in den Medien. Das schon häufig bei Reuters lizenzierte Bild von Tony „Romulus“ Blair und Jack „Remus“ Straw hat dabei eine gute Chance, zum offiziellen und schließlich einzigen Bild des gescheiterten pseudoquiritischen Konstitutionalisierungsversuches von 2004 zu werden.
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Es wäre zu überlegen, ob man die Bruhnsche Bewegung nicht auch an juristischen Texten und im Zitierregime des Rechts beobachten kann. Die weitere Entwicklung von Zitierrankings wie bei www.ssrn.com wird das zeigen.
Wann kann das Europarecht die Inszenierung von Zeffirelli anzapfen und die eigene Konstitution durch solche Inszenierungen verstärken? Wie kann man die Möglichkeit zu rhetorischen Amplifikationen in Zeiten einschätzen, in denen Menschen vom Recht über Massenmedien erfahren? Pathetische Inszenierungen von Gründungsmythen kollidieren schnell mit gleichrangigen Gründungsmythen, wenn es kein Überwölbung stiftendes decorum gibt.127 Dass die erste Tochter Roms – Frankreich – im anschließenden Referendum die Verfassung ablehnte, kann auch an einer Kollision der Bilder vom Capitol mit einer Kollision von Bildern der Pariser Marsfelder gelegen haben. Die Kritik, die nationale Eigenheiten der beteiligten Länder verteidigte, spricht dafür. Die Töchter haben sich vom römischen Ritual wohl emanzipiert und feiern seit dem eigenes Pathos. Es gibt politische Projekte wie Designing Europe! die trotzdem an einen intelligenten Plan glauben. Will man es aber richtig, d.h. passend und intensiv machen, hieße es eigentlich, dass in Zukunft alle EU-Bürger einmal in ihrem Leben durch den Saal der Horatier und Curatier geschleust werden müssten. Sie müssten, wenn sie das Bild in ihrer europäischen Heimat wieder sehen, sich an den besonderen Moment erinnern, an dem sie selbst dort waren, um zu dem kognitiven Positiv ein passendes Negativ abrufen zu können. In Art eines Pilgerrituals müsste man die Erinnerung an den Raum und seine Bilder episodisch, prozedural und deklarativ 127
Decorum ist eine zentrale Kategorie der rhetorischen Anleitungstexte (vgl. Fn. 116). Es hat sich in der historische Praxis aller regulierten Medien eingeschrieben. Es ist ein reflexiver Mechanismus der Kommunikation, der es ermöglicht Kommunikation einzupassen; Das Decorum liefert eine Hyperreferenz, die Kommunikation auf vielfältige Umwelten einstellt. Hyperreferenz meint, dass das decorum, ohne referentiell zu sein, Referenzen auffindbar macht. Es ist mehr als ein operatives Kopplungsphänomen und weniger als strukturelle Kopplung, Vgl. auch STEINHAUER, Bildregeln. Medienrecht und Decorum (i.E.2008).
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auch noch an das EU-Recht knüpfen, etwa indem man den Besuch mit der Feier der Erlangung von Geschäftsfähigkeit und des aktiven und passiven Wahlrechts verknüpft. Man müsste den Besuch mit einer gelungenen Inszenierung der römischen Gründungsmythen verbinden – und darin noch Pariser Bilder gegenüber römischen Bildern verorten, etwa in Art einer olympischen Götterversammlung. Dabei ist Stress wichtig. Hilfreich wäre es, man würde die EU-Bürger-Population während des Besuches stigmatisieren.128 Man könnte den Stress des juristischen Staatsexamens und anderer Initiationsrituale in den Räumen des Saals stattfinden lassen. Und natürlich müssten in der anschließenden Entspannungsphase bestimmte juristische Regeln mit einem positiven Erlebnis verknüpft werden, so dass die Besucher das Gefühl kriegen, Europa sei angenehm. Vielleicht könnte man dann rechtshermeneutische Reichweiten an das mnemotechnische innere Bild der Inszenierung knüpfen, schließlich geht es ja auch um eine schriftliche Verfassungsurkunde. Es gibt viele Techniken, um den Stress der Pilgerschaft zu intensivieren. Ein unübertroffenes Beispiel ist die Pilgerfahrt nach Mekka, die allerdings auf eine Inszenierung der Scharia verzichtet.129 Im Vergleich dazu ist das Bindungsarrangement des EU-Designs halbgar und schwach. Man ist inzwischen dazu übergegangen, die von Michelangelo gestaltete Piazza del Campidoglio auf die Euromünzen zu drucken, so wie einst Kaiser Augustus von den Münzen blickte. Wer die stressgesteuerte Pathosinitiation selbst nicht durchlief, sagt in Anbetracht solcher Versuche aber schnell lächerlich! Entweder, man überschätzt die Rolle, die das biologische Gedächtnis für eine Rechtsordnung wie das EU-Recht spielt et vice versa. Oder man unterschätzt die Divergenz und Pluralität der euro-
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MÜHLMANN, MSC–Maximum Stress Cooperation. Die Antriebskraft der Kulturen (2005). Vgl. TRÜBY, Exit-Architektur, TRACE Bd. 3 (i.E.)
päischen Rechtskulturen und ihrer diversifizierten Artefaktspeicher. Die Gedächtnisarchitektur Europas hat eben schon längst jenen viel zitierten Verlust der Mitte erlebt. Die evolutionäre Transformation nimmt den rhetorischen Bindungsarrangements nicht ihre Funktion, es erzeugt nur einen viel größeren gravitätischen Raum voller evolutionärer niche-constructions und polyzentrischer Bindungsarrangements.130 Den energeitische Aufwand, um divergente Communities wie die des Brüsseler Beamtenapparates, der Pariser Banlieues, der deutschen Staatsrechtslehre und der Society in Kensington konvergent zu stimulieren, kann man da nur falsch einschätzen.
Soll man weiter an die Legende der modernen Verfassung glauben, wie an die Geschichte von Romulus und Remus? Die Pflege eines sentimentalischen Konstitutionalismus gerät mit ihren Konzentrierungsversuchen in die Nähe pseudoquiritischer Reflexe. Was lässt sich einwenden? Ist die Rede nur von Oberflächenphänomenen? Ist Verfassung weniger von solchen Bindungsarrangements abhängig? Kommt es gar nicht auf Urkunden und Gedächtnis, Massenmedien und Münzen, sondern vielmehr auf autonome Strukturen und ihre Relationen zur informellen Verfasstheit der Gesellschaft an? Ist insoweit eher die Entscheidung des EuGH vom 5.2.1963 zu van Gend & Loos der Emergenzknall der europäischen Verfassung? Das wären alles Einwände, die auf der Autonomie und dem proprium juristischer Strukturen und Verfahren beharren würden. Früher oder später geraten diese Einwände aber im Maße ihres Appells an Autonomie immer an eine rhetorische Oberfläche (wie zum Luft hohlen), und sei es in der Art, van Gend & Loos
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Zu niche-construction: GRIFFITHS, Beyond the Baldwin-Effect, in: WEBER/ DEPEV (Fn. 37), 193-215 (209 f.)
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als eigentliche Verfassungsurkunde Europas zu bezeichnen.131 Man kann diese rhetorischen Momente nicht einmal als eigentlich ausschlaggebende Ordnungsimpulse bewerten, sie bleiben ihrer Uneigentlichkeit immer verhaftet. Und es gibt darum andere Einwände, die die Marginalität der rhetorischen Fläche mit ihrer vielfältigen Konjunktur begründen. Damit, dass es in Europa Verfassungen gäbe, die nicht die Selbstbeobachtung des Rechts perfektionieren, die nicht herrschaftsbegründend wirken, die nur unvollständig modern sind und ihren Akzent durch Akzidentielles setzen. Damit, dass Europa funktioniert, weil es nicht funktioniert. Oft genug interessieren sich verfasste Gruppen sogar überhaupt nicht für die Verfassung. So spricht man z.B. angesichts einzelner deutscher Clanverhältnisse, die sich aus so genannten Berlin-Libanesen zusammensetzen von antiemanzipatorischen Inseln.132 Natürlich emanzipieren sich diese Clans von einer allgemeinen deutschen Verfassung. Hinter dem Bild der antiemanzipatorischen Inseln steht die Homöostase polykonstitutioneller Gesellschaften, in denen Hülle und Fülle endogener und exogener Kräfte vielfältige Verfasstheiten und Verfassungen schaffen und ebenso viele polemische Schwellen aufbauen. Nicht nur die Festung Europa und Wal-Markt, d.h. nicht nur Staaten und juristische Personen des Privatrechts, auch unverkörperte Funktionslogiken, kollegiale Formationen und irrationale, vormoderne Loyalitätsgemeinschaften konkurrieren heute um Verfassung und Verfasstheit. Die Komplexität Europas ergibt sich dabei nicht einfach durch eine Übereinanderschichtung politischer
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MESTMÄCKER, Zur Wirtschaftsverfassung in der Europäischen Union (1994), in: DERS., Wirtschaft und Verfassung in der Europäischen Union (2003), 507-537 (513) meint damit die Transformation völkerrechtlicher Pflichten in subjektive Rechte der Bürger. MÖNCH, Das libanesische Problem, FAZ v. 14.03.2007, obwohl es sich nur sehr begrenzt um ein libanesisches Problem handelt.
Korporationsformen von der Gemeinde über das Land zur Nation und weiter nach Europa.133 Kulturell verfasste Rechtsfamilien wie jene libanesischen Clans in Berlin sind ebenso prekär wie Europa selbst, und kanonische Gesetzbücher spielen in ihnen eine Rolle, die ebenso marginalisierbar und zentrierbar ist, wie die Rolle von Bildern, Gesten oder Urkunden. Reflexive Codes können alle Formationen ausbilden, auch jenseits der offiziellen politischen Korporationsformen. Ähnlich wie bei der mancipatio wäre es sowohl im Hinblick auf die ewige Rückkehr zu rhetorischen Oberflächen als auch im Hinblick auf die vielen emanzipiert antiemanzipatorischen Communities falsch, die römische Konstitution mit ihrem unterschiedlichen Set pseudoquiritischer Verfassungen für ab- oder ausgestorben zu halten und zu glauben, es handele sich um ein nicht reaktivierbares Rudiment. Die Evolutionstheorie zeigt nur, was im intelligent design Europas alles schief gehen kann. Die Fusion der Verfassung, sie perfektioniert insgesamt nichts. Es lässt sich nirgends eine pansoziale Brown’sche Bewegung beobachten. Jede Homöostase begleitet eine Homöodynamik, jede scheinbare Reunion entpuppt sich als spontane Bifurkation. Es generieren sich nur neue hybride Teilverfassungen. Insgesamt ist Fall 2 ein passend blödes Beispiel für intelligentes design. Warum sollen Wissenschaften nicht auch mal enttäuschen. Design des gespaltenen Persönlichkeitsrechts Die rhetorischen Bindungsarrangements leisten Hilfe in der Konturierung von Communities und hybriden Rechtskulturen, und sie versagen schnell, wenn sie für das Ganze des Rechts in Anspruch genommen werden. Sie versprechen zwar immer einen Ausgriff aufs Ganze, lösen es aber immer nur in kleinen rhetorischen Ensembles ein. Sie sind pseudoholistisch und
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So z.B. PERNICE, Multilevel Constitutionalism in the European Union (2001).
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darin liegt das Bodenlose ihrer Stimulation. Das dritte Beispiel handelt von der Evolution des Persönlichkeitsrechts. Es geht im nächsten Fall um die Ausdifferenzierung des Rechts in spezifische und wenn man so will kleiner verfasste Teilbereiche, die wohl konturiert reproduziert werden. Es geht wieder um Speicher- und Reproduktionsmedien und um die begrenzte Rolle, die das Gesetzbuch als schriftliches Medium des Buchdrucks dabei spielt. Wie die neue Evolutionsbiologie die genzentrierte Sicht alter Evolutionsbiologie kritisiert, kritisieren wir hier die schriftzentrierte juristische Evolutionstheorie – ohne selbstverständlich leugnen zu können, dass es so etwas wie Schrift im Recht gibt. Der dritte Fall ist ein Rechtsfall, der 1899 vom Reichsgericht entschieden wurde. Es ist das letzte höchstrichterliche Urteil, das in Deutschland unter direktem Rückgriff auf den corpus iuris civilis, das römische Recht in seiner verbuchten Form, entschieden wurde. Der Fall ist interessant, weil er eine herausragende Rolle für die Emergenz des neuen Persönlichkeitsrechts spielt. Der deutsche Gesetzgeber hatte sich in den großen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts geweigert, ein eigenes Persönlichkeitsrecht zu schaffen. Und dann – so berichtet Joseph Kohler im Jahre 1900 – war dieses Recht trotz der politischen Verweigerung mit dem betreffenden Rechtsfall doch plötzlich da.
In der Kritik an den biologisch genzentrierten Evolutionstheorien wie an den juristisch gesetzeszentrierten Evolutionstheorien geht es zunächst um eine komplexere Berücksichtigung von Wechselwirkungen, etwa zwischen Natur und Kultur oder zwischen dem Recht und seiner Umwelt. In diesem konkreten Fall geht es um Wechselwirkungen zwischen Bildpraxis und Rechtspraxis, die beide nicht über determinierenden Einfluss auf den jeweils anderen Bereich verfügen. Nur über einen Pro61
zess der Irritation kann dann der eine Bereich Änderungen in dem anderen Bereich anstoßen. Wir haben in dem betreffenden Fall Informationen über die konkrete Gestalt der Irritation, die die rechtsevolutorische Folge von Variation, Selektion und Retention nach einer längeren Phase der Stasis in Gang gebracht hat. Hatte Lessing 1766 zu Beginn einer aufgeklärten Ästhetik noch angemerkt, dass es lächerlich sei, wenn die Alten auch die Künste den bürgerlichen Gesetzen unterwarfen, so war dem Recht das Lachen zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergangen. Die juridisch irrelevanten Regeln des Bildnisses wurden fürs Recht plötzlich relevant. Zwei Photographen waren in der Nacht nach dem Tod Bismarcks durch ein Fenster in das Sterbezimmer eingebrochen und hatten die Leiche des toten Fürsten bei Magnesiumlicht photographiert und später per Zeitungsannonce versucht, das Bild zu verkaufen. Es kam zum Prozess zwischen den Erben und den Photographen. Sie klagten auf Herausgabe der Negative und Positive. Und weil es für die Streitlösung zwar mögliche römisch-rechtliche Referenzen, aber keine passende Rechtsgrundlage gab, war das Persönlichkeitsrecht dann doch plötzlich da. Plötzlich war die Person im Bild und plötzlich war die Person im Recht. Natürlich kannte das Recht schon lange den Begriff der Person, das Rechtssystem hatte mit diesem Begriff schon lange an der Fabrikation des abendländischen Menschen mitproduziert. Besonders im 19. Jahrhundert war der Personenbegriff so populär, dass man schließlich auch Kapitalhaufen und den Staat als Person titulierte. Aber bisher konnte die Person mit einem eigenen Persönlichkeitsrecht keine Rechte an sich selbst haben. So wurde vorgetragen, dass das Persönlichkeitsrecht sich nicht in das System des Zivilrechts einfüge, vor allem nicht in die Unterscheidung nach Person, Sache und Geschäft. Das Persönlichkeitsrecht stellt tatsächlich eine Herausforderung für diese systembildende Unterscheidung dar, weil der Inhaber des Persönlichkeitsrechtes auf eigenartige Weise vom Zweck zum Mit62
tel werden kann. Wenn es ein Recht an einem selbst gibt, kann man plötzlich auch verfügbar werden, insbesondere die jüngere Entwicklung des Persönlichkeitsrechts sieht sich insoweit oft dem Vorwurf der Kommerzialisierung ausgesetzt. Der Gesetzgeber hatte also viele Gründe dafür, kein allgemeines Persönlichkeitsrecht zu kodifizieren. Es passt nicht zum System, also gehört es nicht zum System. Philosophisch gesprochen: Die Person konnte Subjekt, aber nicht zugleich noch Objekt von Rechten sein. Diese Doppelung blieb in ihrer Vollendung erst der Erfindung des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes vorbehalten. Diese Doppelung entstand legendär in dem Moment, als man im Bild einen Doppelgänger des Modells erblickte: Bismarck im Bild und Bismarck vorm Bild. Nach der Photographie Bismarcks soll es endlich so weit gewesen sein. „Ein neuer Morgen bricht an“, schrieb Joseph Kohler in einem Kommentar zu dem Rechtsstreit.134 Und heute, nach mehr als hundert Jahren schreiben die Kommentatoren, mit Kohler und dem Bismarckfall habe die Geschichte des Rechts am eigenen Bild als dem ersten Fall des anerkannt allgemeinen Persönlichkeitsrechts erst richtig begonnen. Kohlers Morgen dauert bis heute an.
Soweit die Legende. Der so genannte Anfang war alles andere als prinzipiell. Man konnte zudem in den römischen Digesten schon etwas finden, mit dem sich die Ansprüche der Erben Bismarcks begründen ließen: Die Richter des Reichsgerichtes griffen auf das Institut condictio ob iniustam causam zurück. Aber so richtig passte dieser Rückgriff ins römische Recht nicht mehr in die Welt des Kodaks. Die Diskussion um das allgemeine Persönlichkeitsrecht und seine besondere Ausprägung bei Bildern 134
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KOHLER, Zum Autorrecht und Individualrecht, GRUR 1900, 196-210 (196).
reicht zwar viel weiter zurück. Kohler, der schon lange um die Anerkennung dieses neuen Rechtes gekämpft hatte, ergriff nun aber die Gelegenheit beim Schopfe und kommentierte in mehreren Urteilsanmerkungen, Aufsätzen und einer Monographie zu der Rechtsprechung, dass der Bismarckfall die Notwendigkeit eines neuen Persönlichkeitsrecht evident mache, anders ließe sich der Streit um Individualrechte nicht mehr systematisieren. Der Streitgegenstand führe deutlich vor Augen, so sollten nach Kohler noch viele andere Kommentatoren in dem metaphorischen und mimetischen Moment des Rechtssystems schreiben, dass keine andere Lösung als die persönlichkeitsrechtliche Lösung, eine problemadäquate Lösung sei. Ein einzelner Fall sorgte mit seinen spezifischen Irritationen für evidente, energeitische Klarheit und es ist ein schöner Zufall, dass es sich bei diesem Streitgegenstand um eine Photographie handelt. Der Bismarckfall ist der Augenblick, an dem das Recht im Zeitfluss an die rhetorische Oberfläche drängt (wie zum Luft holen). Eine Schwelle für ein neues Recht wird aufgebaut. Eine Anfangsszene, die im Zeitfluss für Wirbel sorgt. Schöner Zufall, weil die Photographie hier idealtypisch zum Medium des rhetorischen Bindungsarrangements der Evidenz wurde, weil der Fall zum richtigen Zeitpunkt den Sprung vom Ende des corpus iuris in das Bürgerliche Gesetzbuch machte. Als das Bundesverfassungsgericht ca. ein Dreivierteljahrhundert später die zivilgerichtliche Rechtsprechung zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht absegnete, kamen die Autoren des Urteils konsequenterweise zu der Formulierung, man müsse als Richter Entscheidungen ans Licht bringen. Selbstverständlich war dieses neue Recht seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts da, ganz unabhängig davon, ob diese Selbstverständlichkeit zum Zeitpunkt von Kohlers Kommentar noch in einer juristischen Illusion oder in der photographierten Rechtswirklichkeit lag. Und weil diese erste Quelle so selbstverständlich von der Geburt des Persönlichkeitsrechtes ausging, sollten also später fast 64
alle juristischen Kommentatoren Kohlers Auseinandersetzung mit dem Bismarckfall als Schöpfungsmoment des Persönlichkeitsrechts beschreiben, so wie andere schon Labeo als Erfinder des Vertrages beschrieben.
Das alte Studiosystem, in dem Konflikte zwischen Maler, Modell und Auftraggeber abgestimmt werden konnten, verlor gegenüber der schnellen, beweglichen und einseitig ausführbaren Photographie an Bedeutung. Die neue Umwelt des Rechts und der Bilder schuf Irritationen. Der weder akademisch noch durch Auftrag gezähmte Bildproduzent konnte mit stilistischen Konflikten, d.h. mit Konflikten zwischen unterschiedlichen bildrhetorischen Genera, ganz anders erregen, als die Maler. Was sonst in der Absprache zwischen Künstler, Modell und Auftraggeber stabilisierbar war, verlor außerhalb des Studiosystems seine Stasis. Das gemalte Bild stand zudem auch in seiner realistischen und naturalistischen Fassung primär für die Repräsentation seines Schöpfers und nicht der Welt, die es abbildet. So ist es zum Beispiel bezeichnend, dass der Maler Jacques-Louis David eines der großen revolutionären Trompel’œil mit À Marat. David signierte und nicht mit Marat. De David. Die Präposition der Signatur verrät, dass das Bild eben trotz seines Realismus mehr David als Marat repräsentiert. Die Photographie galt hingegen als ungeschöpfte und technische Reproduktion. Für die Sphäre der Repräsentation galten darum in der Photographie nicht kunstästhetische, sondern rhetorische Bedingungen. Für die Photographie des toten Barschel in der Badewanne z.B. gelten insoweit ganz andere Bedingungen als für Davids Marat. Bezeichnend ist es hier, dass der Name des Photographen in der Regel gar nicht mitkommuniziert wird. Es ist insoweit auch wichtig, den Prozess um das Bismarckbild nicht als Konflikt zwischen den Erben und den Photographen 65
zu verstehen. Es war ein Konflikt zwischen Stilebenen, weil das Bild des toten Bismarck durch Anlass und Personal einen hohen Stil der Repräsentation versprach und dieses Versprechen in allen Details enttäuschte. Das Bild war auf verunglückte Art majestätisch. Mit dieser plötzlichen Unruhe wurden ikonische Differenzen in juristische Differenzen übersetzt. Aus dem Bilderstreit wurde in der Nachfolge des Bismarckfalls ein juristischer Bilderstreit. Aus visuellen Informationen wurden sanktionierbare und subsumtionsfähige Streitgegenstände. Plötzlich filterte das Rechtssystem aus dem Rauschen der Ästhetik, aus dem Rauschen der Bildrhetorik und aus dem Rauschen der Bildpoetik juristische Informationen: Es wurde plötzlich juristisch beobachtbar, ob Bilder legal sind oder illegal. Und seitdem kollidieren eben nicht nur die Geschmäcker, sondern auch juristischer Eigensinn – dogmatisch verfasst im Recht am eigenen Bild – und Bilderwelt. Es kollidiert das proprium des Rechts mit dem proprium der Bilder.
Der Gesetzgeber spielt hier eine untergeordnete Rolle, obwohl er im Jahr 1907 schließlich ein Recht am eigenen Bild schuf. Gegenüber der schriftlich nur marginal fixierten, dogmatisch aber abundant behüteten Regel, die Bilder legalisieren soll, behält der Bismarckfall als Medium der Resonanz erheblichen Eigensinn. In laufenden Rekursen wird der Bismarckfall als energeitisches und rhetorisches Ereignis zum Anfang eines neuen Persönlichkeitsrechtes gemacht, obwohl dieser Fall historisch und kausal in keiner Weise einen Anfang markiert. Und er steht schon für die Kontur eines Rechts, um das bis heute gestritten wird. Die evolutionäre Stabilisierung in den rekursiven Zitaten juristischer Kommunikation gestaltet in der laufenden Erinnerung an den Bismarckfall das Persönlichkeitsrecht. Und es versorgt eine teilrechtsspezifische policy mit Motiven, die 66
zum weiteren Motor systemerhaltender Stabilisierung werden. Es ist auch hier wieder nicht der Raum, die einzelnen Details zu erläutern, wie das Motiv vom Einbruch, das das Recht zwischen eigenen und fremden Bildern unterscheiden lässt, das Motiv des Vaters, das das neue Medium der Photographie in den genealogischen Verbund des Rechts einholt und schließlich das Motiv des Todes, das mit einem Appell an rhetorisch epideiktische Genera den rhetorischen Code des decorum ins moderne Recht einführt.135 Fall 3 – ein schönes Beispiel für die blinde Evolution des Rechts und die Art und Weise, wie in ihr gesetzliche und epigesetzliche Faktoren ein neues Persönlichkeitsrecht zu sehen geben. Ein Beispiel für den medialen Verbund, in dem die symbolische Variation des Rechts sich vollzieht. Zur Unwahrscheinlichkeit eines Inzestverbotes Fall 4: „Es ist eben nicht egal, ob die Eltern direkte Verwandte sind oder nicht. Defekte treten in dieser konkreten verwandtschaftlich sehr engen Konstellation fast unweigerlich auf. Ich hatte mal eine Freundin, deren Eltern ‚nur‘ Cousin und Cousine waren - ein vom Gesetzgeber nicht verbotener Vorgang. Und auch sie hat sehr unter diversen Zipperlein zu leiden gehabt, u.A. ein fast nicht ausgeprägtes Becken mit entsprechender Hüftgelenks-Problematik. Wenn Du einer Frau beim Aufstehen vom Sofa helfen mußt, weil ihre Hüfte mal wieder ausgerenkt ist, dann denkst Du sehr schnell anders über so was. Um es mal darwinistisch zu sagen: Nicht nur Genpool wird durch solche Menschen erheblich geschwächt, sondern man tut auch seinen direkten Kindern keinen Gefallen. Und da kann mir mit Ethik kommen wer will, ich sehe absolut gerechtfertigten Sinn in der Selektions-Technik der Natur. Damit will ich keine Euthanasie befürworten, sondern einfach nur den vermeidbaren Vorgang des Inzests anprangern. Mir tun behinderte genauso
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vgl. STEINHAUER (Fn. 128).
leid wie jedem anderen normalen Menschen. Aber wo eine Behinderung durch vernünftiges Handeln vermieden werden kann, da sollte jeder konsequent sein. Vor mir aus können Geschwister Sex haben bis der Arzt kommt, aber dann bitte mit Verhütung!“136
Mit Fallbeispiel 4 fassen wir uns kurz. Je näher man dem Überschneidungsbereich juristischer und biologischer Regeln kommt, desto tiefer wird der Einblick in den Abgrund, der beide trennt. Das vierte Exempel dämpft noch einmal die Erwartungen an eine große überwölbende prima Theorie.137 Und es dämpft die Erwartung mit Texten, die im Stil so ärgerlich oder peinlich sein können, wie der Eintrag eines verärgerten Lesers in den Kommentarforen der „Süddeutschen Zeitung“. Der Leser kommentierte eine Entscheidung des BVerfG vom März 2007 zum Inzestverbot des deutschen Strafrechts. Wir wollen am Anfang keinen Fachjuristen sprechen lassen, werden im Laufe des Exempels aber versuchen, den Gedankengang auf die innere Welt der Fachjuristen auszuweiten. Es ist ein tiefer Abgrund, der biologische und juristische Evolution unterscheidet und wir meinen das nicht bloß im Hinblick auf unterschiedliche Theorietraditionen und ihre Wissenschaftssprachen. In diesem Abgrund wollen wir hier wieder über die schwierigen Bedingungen der Koevolution zwischen Biologie und Jurisprudenz nachdenken. Fall 4 hat zwei Teile. Im ersten geht es um die Vermischung von Theoriesprachen und im zweiten Teil um die Vermischung von Genpools.
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Copy-Paste eines Forenbeitrags: www.sueddeutsche.de/deutschland/artikel/175/104071/ zum Beschluß des BVerfG v.01.03.2007. Erwartungsvoll aber: WILSON, Die Einheit des Wissens (2000), der von neuen Überwölbungen träumt. Lesenswert ist die deutsche Übersetzung, weil sie Wilsons begrenzte Lektürefähigkeiten reproduziert und mit zahlreichen Übersetzungsfehlern anreichert. Das Buch führt die Einheit des Wissens und die Schwierigkeiten ihrer Vererbung idealtypisch vor.
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Der Zusammenhang zwischen biologischer Evolution und juristischer Evolution mag in einzelnen juristischen Communities ein Tabu sein, das mit dem Inzesttabu vergleichbar ist. Innerhalb einer solchen Community dürfte ein Jurist mit einer Biologin sexuell verkehren, aber ihre Theorien und Begriffe dürften sich keinesfalls mischen. Auf diesen Vergleich würden vielleicht jene ärgerlich reagieren, die das strafrechtliche Inzestverbot als biopolitische Spur der Eugenik abschaffen möchten, aber selbst nicht im Verdacht stehen wollen, Kommunikationseugeniker zu sein. Dabei ist ausgerechnet das Tabu das letzte, was über die Distanz von Natur und Biologie Auskunft geben kann, weil das Tabu mit seinen stimulierenden Effekten ein eigenartiges Hybrid soziobiologischer Konditionen ist. Die biologische Anlage zwingt nicht zum Tabu. Sie stellt aber mit dem menschlichen Körper das Medium zur Verfügung, das Tabu am eigenen Leib zu spüren. Die Evolutionstheorie spricht bei solchem Zusammentreffen von pre-adaptive advances.138
Peinliche Begriffe und ärgerlichen Stil gibt es auch bei Fachjuristen und nicht nur in den Foren der Laien, die auf juristische Fachleute reagieren. Und die Pein ist dann eine Relation zu Affektregimes, die den Juristen mit juristischem Text verbinden. Die entsprechenden Bedingungen von Tabu und Pein kann man etwa daran beobachten, wie manche Fachjuristen auf Begriffe der juristischen Evolutionstheorie reagieren. Einzelne reagieren auf den Begriff der Selektion mit entschiedener 138
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Im juristischen Kontext sind mit pre-adaptive advances gesamtgesellschaftliche Möglichkeitsbedingungen für unplanmäßige Strukturveränderungen im Recht gemeint, also z.B. die Entstehung der Stadt, der Schrift, des Geldes, vgl. VESTING, (Fn. 20), Rnd. 274.
Antipathie, weisen darauf hin, dass sie bei der Nennung des Begriffs innere Bilder von Konzentrationslagern assoziieren und sich dann empört gegen ein Programm und das begriffliche Set der Evolutionstheorie wenden.139 Wenn wir davon ausgehen, dass diese Reaktionen keine Einzelfälle sind, sondern von Populationen mit kulturellen Reproduktionsfaktoren stammen, müssen wir davon ausgehen, dass sie mit einer bestimmten Lehre trainiert, konditioniert oder anerzogen wurden, Ethik vom Bereich der niederen Sinne scharf zu unterscheiden. Die Ethik soll dann etwas grundsätzlich anderes sein als eine Wissenschaft biologischer Körper und es gilt, Überschneidungen zu vermeiden. Diese theoretische Unterscheidung ist ebenso wenig angeboren, wie die Kenntnisse über Konzentrationslager und die Fähigkeit, den Begriff Selektion lesen und deuten zu können. Selbst wenn man die Reaktion also für persönliche Ansicht oder individuelle Überzeugung hält und die Zwänge pädagogischer Genealogie bestreitet, wird man nicht bestreiten können, dass bestimmte Dinge zu Lehrern wurden. Die Personen wurden irgendwie erzogen und trainiert, beim Auftauchen bestimmter Begriffe in bestimmten Kontexten mit Empörung oder Abneigung zu reagieren.140 Populationen schaffen sich so ein eigenes Set ruhiger Begriffe und ein eigenes Set peinlicher Begriffe, auch im Hinblick auf eine Semantik von Recht und Gerechtigkeit.141 Mensch, Person, Erziehung oder Gemeinschaft können dann zu ruhigen Begriffen, menschlicher Primat, Training oder Population zu nervösen Begriffen gemacht werden 139
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Lesenswert die entsprechende Reaktion von HORST H. JAKOBS, Umbenennungen, Rechtsgeschichte 1 (2002), 32 f., der auch mit den Hinweisen „Wer keine Gedichte schreibt, sollte Metaphern meiden“ und „…wenn es bei der exakten Sprache bliebe, der wir uns bisher befleißigt haben…“ an die sichere Einbürgerung bestimmter Begriffe in eine Rechtscommunity glaubt. So rät es der rhetorische Humanismus; vgl. QUINTILIAN, Inst. Or. I 2 30 zur Redekunst und ihrer bildmimetischen Grundlage. QUINTILIAN, Inst. Or., I 2 31 mit einem modifizierten Privatspracheargument über die Unmöglichkeit der Redekunst zu Einzelnen und über die mitlaufenden Bedingungen wechselseitiger geistiger und körperlicher Erregung.
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und umgekehrt, obwohl sie sich auf dieselben Dinge beziehen sollen. Die einen können Weltgesellschaft, die anderen Zivilgesellschaft, dritte Privatrechtsgesellschaft nicht mehr hören. Wieder andere reagieren mit Unbehagen auf das Schriftbild StudentInnen oder auf Wörter wie Kacke. Je verstrickter man in Auseinandersetzungen ist, um so eher verfügt man über so ein Set. Vereinzelt entzünden sich an Schlüsselwörtern schnell erregte Medienskandale, die wie ein Buschfeuer brennen und die dann bis zum nächsten Schlüsselreiz vergessen werden.142 Die Gemüter können sich erheblich unterscheiden, manche reagieren in der Erregung mit Zorn, andere mit Spott und in der Regel gilt die spöttische Reaktion auf hoch erregten Ton meist als souveräner und beherrschter. Frauen trainieren, lauter zu sprechen ohne höher zu sprechen, weil sie ein Publikum fürchten, das die hohe Tonlage für hysterisch hält. Insgesamt sind es also ungehörige rhetorische Bedingungen, unter denen menschliche Primaten streiten müssen. Auf irritierende Art und Weise kreuzen sich dabei biologische und rhetorische Konditionen, individuelle und soziale Bedingungen. Sie polarisieren so, wie sie adressieren. Ob die einen bloß Effekt der anderen seien, oder ob sich mit einem freien gesunden Geist nicht das eine und andere beherrschen ließe, diese Suche nach Determination und nach Ursache-Folge-Relationen ist in Anbetracht koevolvierender Bedingungen unangebracht. In diesen Bedingungen geht es nicht um Zwang oder Freiheit, sondern allein um verfügbare Medien der Kommunikation, um pre-adaptive advances, spontane und reproduzierbare Kopplungsmöglichkeiten.
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Z.B. SLOTERDIJK, Regeln für den Menschenpark 1999; ASSHEUER, Das ZarathustraProjekt. Der Philosoph Peter Sloterdijk fordert eine gentechnische Revision der Menschheit, Die Zeit 36 (1999); MOHR, Züchter des Übermenschen, Der Spiegel 36/ 1999, DERS., Fatwa aus Starnberg. Der Spiegel 38/ 1999; SUNSTEIN, Gesetze der Angst (2005), spricht von sozialen Kaskadeneffekten, 134-147.
Unterstellen wir, die auf die strikte Unterscheidung von Ethik und Biologie erzogene Community nennt sich Humanisten. Falls es sie nicht gibt, bilden wir einen Dummy-Humanisten. Seine Erziehung zum ethischen Humanismus hätte deklaratorisch nichts, methodisch nur bedingt mit dem rhetorischen Humanismus zu tun. Der rhetorische Humanismus deklariert schon im programmatischen Rückgriff auf die Anleitungstexte von Cicero, Quintilian und des Auctors ad Herennium, dass die niederen Sinne ins Kalkül der Erziehung einbezogen werden sollen.143 Und sein pädagogisches Programm richtet er auf entsprechende Stimulationen des biologischen Nachwuchses menschlicher Primaten aus. Die Erziehungsmethoden des Redners appellieren immer (bei gleichzeitiger Unterscheidbarkeit) an ein Zusammenspiel von Sinn und Sinnlichkeit. Das Geheimnis der Stimulationskünste selbst will der rhetorische Humanismus sogar weiterreichen, damit der biologische Nachwuchs irgendwann selbst über Zorn, Spott und Lässigkeit entscheiden kann. Der nichtrhetorische Humanismus übernimmt in einer ersten Generation vielleicht die Methode, indem zum Beispiel die Schüler darauf trainiert werden, beim Auftauchen der Begriffe Selektion oder System Bilder von Konzentrationslagern, Schäferhunden und den betroffenen Menschen zu imaginieren. Die negative Valenz der Bilder kann sich dann auf den Begriff übertragen und man kann dann schon mit körperlichen Abwehrreaktionen auf Begriff und Bild reagieren. Die Methode kann sehr erfolgreich sein, aber sie wird irgendwann ins Leere laufen, wenn dem humanistischen Nachwuchs nicht beigebracht wird, dass und wie die entsprechenden Stimuli weitertradiert werden müssen. Es kann dann sein, dass ein Humanist in tiefer Überzeugung seine Empörung über evolutions143
Siehe zur Behandlung der Kinder: QUINTILIAN (Fn. 48), I 3 1-18.
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biologische Begriffe äußert, und das Publikum ihn plötzlich als Gutmenschen beschimpft, weil das Publikum nicht sein Stimulationsset übernommen hat.
Zurück zu den Überschneidungen von Biologie und Rechtswissenschaft. Wir möchten in einer Dimension jenseits der rhetorischen Stimulation auf Fragen der Koevolution eingehen, auf die Frage, unter welchen Konditionen das Inzestverbot des deutschen Strafrechts, die Kultur und die Biologie zusammenhängen. In den Diskussionen um Inzestverbote werden in der Regel folgende Bereiche unterschieden: Recht, Ethnologie, Moral und Biologie. Um deren Autonomie wird gestritten und um Fragen des Einflusses, der Determination, um notwendige und um kontingente Zusammenhänge zwischen juristischen, moralischen, ethnologischen und biologischen Regeln. Es geht dabei auch um die Zusammenhänge, ob ontogenetisch erlerntes Wissen in die Phylogenese übergehen kann. In diesem Streit trifft man auf ein ganzes Set an Regeln, etwa den § 173 StGB, der sich ontogenetisch erlernen lässt. Man muss Jura studieren, um Aussagen über seine Bedeutung und Anwendbarkeit machen zu können. Man trifft auf die Regel des so genannten Westermarck-Effekts, die unterschiedlich beschrieben wird. „Bezeichnet wird damit der Sachverhalt, dass Menschen, die in ihrer Kindheit länger eng und vertraut zusammengelebt haben, wie etwa Geschwister, keine sexuelle Anziehungskraft füreinander besitzen. Da solche frühe Vertrautheit in der Regel zwischen Blutsverwandten herrscht, ist das ein Mechanismus zur Vermeidung von Inzuchtschäden“, heißt es bei Karl Eibel.144 „Empirische Untersuchungen belegen dagegen, dass Menschen
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Eibel, Warum der Mensch etwas Besonderes ist, www.literaturkritik.de 12.02.2007.
eine Abneigung gegen sexuelle Kontakte mit jenen Personen empfinden, mit denen sie die ersten dreißig Monate ihres Lebens eng verbrachten. Dieses Verhalten lässt sich bei allen Primaten beobachten. Solche epigenetischen Regeln haben eine große biologische Bedeutung, da Inzest zu katastrophalen Folgen führen kann“, heißt es bei Edward Wilson.145 Es scheint, dass es sich bei dem Westermarck-Effekt um phylogenetisch erlernte Reaktionsweisen, um Instinktwissen handelt. Umstritten ist, ob man den Westermarck-Effekt ethnologisch oder biologisch klassifizieren soll.
§ 173 StGB ist eine satzförmig formulierte Regel, sie verknüpft Tatbestand und Rechtsfolge nach einem quasikausalen Modell.146 Wenn du Inzest begehst, dann wirst du bestraft. Die Regel und ihre Anwendung sind durch eine unzählige Anzahl von anderen Regeln konditioniert: wenn wir dich erwischen, wenn der Richter nicht korrupt ist, wenn das Gesetz verfassungsgemäß ist, wenn das Gesetz durchsetzbar ist etc. Wir unterstellen hier hypothetisch, dass die Regel in einen Konditionszusammenhang autonomen Rechts gehört. Wir unterstellen hypothetisch auch, dass der Westermarck-Effekt in einen Konditionszusammenhang autonomer Biologie gehört. Unterstellt man damit, dass der Westermarck-Effekt auf einer autologischen biologischen Anlage beruht, hat man aber keinerlei regelhafte bzw. regelmäßige Lösung für die Erklärung oder Begründung von Inzestverboten. Nicht eine Aussage, Beobachtung oder
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WILSON, Die Biosoziotheologie. Gespräch mit Hubertus Breuer, Die Zeit 36 (1998), www.zeit.de. Zur Quasikausalität vgl. KELSEN, Reine Rechtslehre (1960/2000), 78-95, der bei charakteristischen Unterschieden (sein./.sollen) von einer funktionellen Analogie ausgeht.
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Feststellung über Inzestverbote wird dadurch berechenbarer. Man irritiert dann allenfalls mit der Autonomieprätention des Biologischen und des Juristischen die Art der biologischen Fragestellung mit typisch juristischen Folgefragen – und umgekehrt.147 Wie etwa: Wer lebt mit wem nach welcher sozialen Regel in dieser frühen Phase zusammen und wer nicht?148 Was, wenn empirisch beobachtbare Primaten keinen WestermarckEffekt aufweisen, sind sie dann wegen der statistischen Unwahrscheinlichkeit unnatürlich, anormal oder nicht-normativ? Sollte man eigentlich die frühe gemeinsame Erziehung in Kindertagesstätten verbieten oder fördern, weil sich der Westermarck-Effekt zwischen Geschwistern und Nicht-Geschwistern in ihrem Verband verstärkt, oder weil er sich in größeren und unübersichtlichen Gruppen selbst unter Geschwistern wieder abschwächt? Und was sind eigentlich die eintretenden Schäden und ab wann werden sie evolutionär katastrophal? Bei allen diesen Folgefragen geht es weder um Freiheit noch um Determination, weil weder Subjekt noch Objekt dieser beiden Kategorien bestimmbar werden. Der Begriff der Autonomie wird allerdings im gleichen Maße unbestimmt und undeterminiert, ebenso die Kategorien des Natürlichen und des Kulturellen.149
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Eher eine juristische dominierte Form der Biologie als eine biologisch dominierte Form der Jurisprudenz bietet: SZIBOR, Inzest und Konsanguinität. Eine Übersicht unter biologischen, soziologischen, klinisch-genetischen und rechtsmedizinischen Aspekten, Rechtsmedizin 14 (2004), 387-395; In diesem Streit zwischen juristischer und biologischer Autonomie ist die Ethnologie nicht neutral, sondern hybrid; ihr Vater ist Jurist und Evolutionär; MORGAN, Die Urgesellschaft oder Untersuchung über den Fortschritt der Menschheit aus der Wildheit durch die Barbarei zur Zivilisation (1877/1891). Über Beobachtungen des Westermarck-Effektes im Kibbuz SHEPHER, Incest. A biosocial view (1983). Von den meisten Autoren wird der Unterschied zwischen Natur und Kultur aber als gegeben vorausgesetzt, etwa wie Kelsen den Unterschied Sein./.Sollen voraussetzte; z.B. SALIGER, Brauchen wir eine genetische Rechtstheorie? RJ 7 (1988), 112-117 (114).
Was sagt die Biologie über den Westermarck-Effekt? Wenn der Westermarck-Effekt ein genetisch programmierter Effekt wäre, dann wäre es wahrscheinlich, dass er durch die biologische Anlage des Menschen in einer Phase restabilisiert wurde, in der Menschen in kleinen Gruppen lebten und Inzest für den ganzen Verband katastrophale Folgen haben konnte. So soll sich die körperliche Reaktion ins phylogenetisch angeborene Wissen der Primaten eingeschrieben haben. Sieht man die evolutionäre Retention in einer biologischen Anlage des Menschen, muss sie sich (anders als Variation und Selektion) in ganze Generationen eingeschrieben haben und unter Umweltbedingungen, die nicht im Europa des 20. Jahrhunderts gelten. Möglicherweise ließ sich in dieser Phase ein erster Baldwin-Effekt beobachten. Das heißt, dass Populationen, bei denen Westermark-Effekt und Inzestverbote zusammentrafen, sich in weiteren Generationen erfolgreicher reproduziert hätten als Populationen, in denen beides nicht zusammentraf. Möglicherweise lässt sich so auch das ubiquitäre Aufkommen von exogamen Strukturen in der Horde erklären. Aber gerade auf eine biogenetisch bedingte Anlage ist der Effekt dann nicht zu reduzieren, weil der Genpool in keiner Generation homogenisiert wird. Außerdem wird mit einer Zunahme dichter Bevölkerung und variabler Genpools der Westermarck-Effekt von den Inzestverboten wieder abgeschirmt, weil in dichten und variablen Populationen Inzest keine Auswirkung mehr für den Selektionsdruck der Population hat.150 Unter den evolutionären Umweltbedingungen des modernen Menschen ist Inzest eher marginal denn katastrophal, vielleicht wird sich also der Westermarck-Effekt in den
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Zum Shielding-Effekt: ACKLEY/ LITTMANN, Interactions between Learning and Evolution, in: Artificial Life II, Sante Fe Institut Studies in the Science of Complexity 10 (1989), 501 ff.
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folgenden Jahrhunderten in dichten Siedlungsgebieten wieder abschwächen. Bei allen diesen Fragen dürfte es für juristische Fragestellungen uninteressant sein, ob der Westermarck-Effekt biologischer Natur und biologisch verankert ist, oder nicht, weil der Mensch einen Überschuss an Reaktionsmöglichkeiten hat. Das zeigt sich etwa an den verwirrend unterschiedlichen Verwandtschaftskreisen, die in den unterschiedlichen Kulturen von Inzestverboten betroffen sind. Mal sind es nur Geschwister, mal auch die Cousinen, Cousins etc. Durch die biologische und genetische Anlage einer Regel kommt man nicht zu vorhersehbareren oder berechenbareren Urteilen, weder im juristischen, noch im biologischen Feld. Weder über Determination, noch über Freiheit gibt der Streit um die biologische Natur oder die kulturelle Natur des Westermarck-Effektes hinreichend feinkörnige Auskunft. Gene, so zeigen die Studien zur kulturellen Evolution, lassen sich genauso schwierig und genauso wenig isoliert lesen, wie juristische Gesetze.
Inzestkatastrophen dürften für die Evolution des Menschen ausgeschlossen sein, solange er in großen sozialen Verbänden mit variablen Genpools lebt. Aber was ist mit den individuellen so genannten Schäden wie jene „diversen Zipperlein“, von denen der laienhafte Kommentator oben berichtete? Alle Eigenschaften der Erbinformationen verstärken sich in der Verdoppelung des Ähnlichen.151 Sind die rezessiven, dominanten, intermediären Gene variabel, dann ist bei Inzest die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie identisch sind und sich auf den Phänotyp auswirken. Die Wahrscheinlichkeit einer als Abweichung oder Abnorm wahrgenommenen Eigenheit ist also im
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SUNSTEIN (Fn. 143), 148 meint sogar, das gleiche Gesetz bei sozialer Kommunikation beobachten zu können.
Fall von Inzest ebenso erhöht wie die Wahrscheinlichkeit einer als Genialität wahrgenommen Eigenheit. Aus dem normalen Durchschnitt mit seinen unsignifikanten Kombinationen aus Stärken und Schwächen werden Phänotypen mit signifikanten Stärken und signifikanten Schwächen. Sollte der Gesetzgeber die Möglichkeiten der Genetik weiter biopolitisch nutzen wollen, müsste er sich überlegen, ob er die Möglichkeit des Inzests von einem Gentest abhängig macht und je nach Ergebnis entweder mit Strafe belegt oder mit Kindergeld, steuerlichen Anreizen und kostenlosen Kindertagesstätten-Plätzen fördert. Die Geschichte des Adels erzählt zu den Eigenheiten des Inzests ebenso viele Legenden, wie die Geschichte von Dorfheiligen, von Trotteln und ungeahnten Genies aus dem Hinterwald. Von Heinrich VIII. und August dem Starken erzählt man sich wahre Wunder. Bei Rassehunden setzen skrupellose Züchter auf einen starken so genannten Founder-Effekt: Eigenwillige Rassen sollen sich auf ein genetisch ähnliches Vater- und Muttertier zurückführen lassen. Sie träumen vom Siegfried-Effekt und kalkulieren die signifikante Schwäche Siegfrieds nicht ein. Der wurde alles andere als tausend Jahre alt. Welchen klugen Rat können da die iurisconsulti in utramque partem geben?152 Wenn dem Leser wichtig bzw. unwichtig ist, was seine Nachbarn sagen und wenn er deswegen unbedingt ein Genie oder einen Trottel erzeugen möchte, sollte er unabhängig von den biopolitischen Erwägungen seines Gesetzgebers das Risiko eingehen, gegen Inzestverbote zu verstoßen. Er kann es minimieren, indem er in eines der zahlreichen Länder (wie Frankreich oder Holland) fährt, in denen Inzest nicht verboten ist. Weil dazu aber immer zwei gehören, sollte man versuchen, den begehrten Bruder/die 152
SCHULZ (Fn. 10) 88-91 hält den Rat in utramque partem übrigens für das Wesensmerkmal der Rhetoren, nicht der Juristen und verstrickt sich in eine Reinheitsphantasie über zur Eindeutigkeit gezüchtete Juristen. Schulz liefert ein historisches Beispiel für konzeptuelle Überschneidungen zwischen der Bestimmung von Genpools und Theoriesprachen bei gleichzeitiger Behauptung der Reinheit.
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begehrte Schwester möglichst von klein auf von sich fern zu halten. Selbst dann ist nicht garantiert, dass sie sich wechselseitig für sexuell attraktiv halten und die Fortpflanzung erfolgreich ist. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass in der evolutionsbiologischen Forschung nicht nur der Westermarck-Effekt sondern auch Gleich und Gleich gesellt sich gern beobachtet wurde. Leopold Szondi beobachtete 1937 den so genannten Genotropismus, nach dem sich Genverwandte besonders anziehend finden sollen, und er erklärte es mit der Eigenwilligkeit rezessiver Gene. Und jüngst berichteten Forscher in der Fachzeitschrift „Heredity“ auch noch, dass sexuelle Attraktivität angeblich mit Mutationsfreudigkeit einhergeht, sexuelle Präferenzen also unvorhersehbaren Nachwuchs erzeugen.153 Weder für den Ausgang des Ganzen noch für den Ausgang des momentan anhängigen Verfahrens über die Verfassungsmäßigkeit des Inzestverbotes beim BVerfG übernehme ich die Garantie. Wer weiß, welchen falschen und welchen richtigen Ansichten sich die Richter anschließen werden. Es ist ein Abgrund, der die juristische von der biologischen Evolution trennt. Und er ist voller Versuche, Chaos in Ordnung zu bringen.
II. In t e r d i sziplin äre Türsteher u n d st r an ge loop s Ich bin kein Kenner biologischer Evolutionsliteratur. Ich habe mein Wissen über die Evolutionstheorie aus Werken bezogen, die an ein Laienpublikum gerichtet sind und aus Darstellungen, die in der Präsentation ihrer Ergebnisse auf nachprüfbare Details verzichten. Ich habe Bücher gelesen um zu erfahren, was Evolution ist. Es sind Bücher, die in der Naturwissenschaft um-
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PETRIE/ ROBERTS, Sexual selection and the evolution of evolvability. Heredity 98 (2007), 198-205.
stritten sind und die bestimmte Formen der Evolutionstheorie favorisieren und kritisieren. Man kann entsprechende Stellen nach h.M. (herrschende Meinung) und a.A. (andere Ansicht) kennzeichnen. Dazu fehlt mir hier und jetzt die notwendige Übersicht und weiter fehlt mir die Geduld. Ich kenne weder die letzten abschließenden Entscheidungen über einzelne Streitgegenstände, noch wüsste ich, auf welchem Verfahrensstand sich die Evolutionstheorie momentan befindet. Die Unsicherheiten, die allgemein in der Naturwissenschaft über das Wesen der Evolution herrschen, werden hier also verstärkt durch die Unsicherheit, ob man selber denn die Evolutionstheorie beherrscht. Unter Biologen würde ich als ahnungslose Niete gelten. Manche von ihnen könnten stattdessen das Gefühl haben, ich hätte mich wie ein Räuber, Kuckucksei oder Bastard zwischen sie gemischt, ohne wirklich dazu zu gehören.
Vielleicht ist es Zufall, dass Boyd und Richerson ihr Buch“Not by genes alone“ mit einer juristischen Formel beenden: „With that thought, we rest our case/Mit diesem Gedanken schließen wir die Beweisaufnahme“.154 So zufällig die Prozessformel am Ende des Buches steht, der biologische Laie wird durch die schließende Gerichtsmetaphorik einerseits weiter verunsichert, andererseits fühlt er sich gerade als biologischer Laie souveräner. Vielleicht ist die Formel keine Metapher und/oder kein Zufall? Ein Jurist, der als Geisteswissenschaftler voller Hoffnung auf die präzisen Naturwissenschaften zurückgreift, ist einerseits bestürzt angesichts ubiquitär verbreiteter Juridismen in der evolutionsbiologischen Literatur. Die Formel von Boyd und Richerson ist nur ihr letzter Schlusspunkt. Es verstärkt den schon am Anfang geäußerten Verdacht, dass man 154
BOYD/RICHERSON (Fn. 44), 257.
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aus dem juristischen Archiv nicht ausbrechen kann, selbst wenn man in die Naturwissenschaften einbricht, um dort zu plündern. Andererseits adressiert dieser Schluss doch gerade den biologisch laienhaften Juristen und seine Fähigkeit, etwas zur Urteils- und Entscheidungsprognose beizutragen. Die Außenseiterrolle gegenüber der Biologie kann nur noch als captatio benevolentiae dienen, nicht aber zur Entschuldigung, sich nicht mit der biologischen Evolutionstheorie zu beschäftigen. In Form der Ahnungslosigkeit verkommt sie zum billigen rhetorischen Effekt. Aber als Poetik der Äußerlichkeit stößt die Rolle des Bastards die Effekte an, auf die rhetorische Billigkeit immer schon abzielte.
So wenig wie überall Klarheit über den Gegenstand der Evolutionstheorie herrscht, so wenig herrscht auch überall Unklarheit. Es gibt sicheres und unsicheres Wissen in der Evolutionstheorie und man kann beides im Hinblick auf einen state of the art unterscheiden. Dieser state of the art garantiert vielleicht noch mit seinen wissenschaftlichen Verfahrensregeln Rationalität und Richtigkeit. Es ist also nicht bloß ein state of the art sondern möglicherweise auch ein constitutional state of the art, der der Evolutionstheorie zu ihrer Gestalt und ihren Grenzen zwischen sicherem und unsicherem Wissen verhilft. Die Wissenschaft ist verfasst und hat ihre eigenen römischen Stadtmauern. Im Hinblick auf eine evolutorische Rechtstheorie würde die Bestimmung des state of the art ohnehin mit einem juristischen Eigeninteresse erfolgen, das sich dann auch eigensinnig in einen Streit um das Wesen der Evolution einmischen kann und im Maße seiner Eigensinnigkeit Fremdsinniges ignorieren kann. Die Naturwissenschaften sind selber wieder von einem Wissensbestand abhängig, dessen Modelle Anteil an einem eigensinnig juridisches Schicksal haben. Wenn Bio81
logen von einem evolutionären Prozess sprechen, dann mag die juristische Vorstellung der verfahrenden Wahrheitsfindung nur sehr vage und vielleicht sogar irrelevant im Hintergrund stehen. Heideggers Vorbehalte gegen den latenten Juridismus der nachgriechischen und römisch geprägten Wissenschaften mögen noch vager im Hintergrund stehen. Wenn Biologen in Anbetracht des Westermarck-Effektes von Regelmäßigkeiten sprechen, mögen sie nicht gleich an die positivierten Regeln sozialer Gesetze denken, obwohl soziale Verbände bei diesem Effekt eine Rolle spielen. Und wenn sie behaupten, dass der Mechanismus dieses Effektes vor Schäden schützen solle, dann denken sie vielleicht nicht unbedingt an Gene als Subsumtionsautomaten und daran, dass die Natur Schutzgüter definiert. Aber immer wieder wird man auch in den biologischen Modellen auf juridische Verstrickungen stoßen und auf Momente, in denen der Regelbestand so verfasst ist, dass einem juristisch geprägte Begriffe zur Beschreibung zur Verfügung stehen. Biologen müssen also juristisch aufgeklärt werden, so wie Juristen biologisch aufgeklärt werden müssen und hierbei sind Natur- und Rechtswissenschaften viel enger verstrickt, als es der Graben zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nahe legt. So unpräzise sind die Geisteswissenschaften nicht und so unhermeneutisch sind die Naturwissenschaften nicht, wie manche zur schnellen Unterscheidung von Natur und Kultur noch wähnen.155 Die Naturwissenschaft ist nicht der archimedische Punkt, den die Rechtswissenschaft braucht, um im Chaos Ruhe zu finden. Und die Rechtswissenschaft leistet auch nichts Vergleichbares für Biologie und Soziobiologie.
Die Kodifikationseuphorie, die die Rechtswissenschaft im 19. Jahrhundert durchmachte, machte die Genetik in der zwei155
RIEDEL, Kulturgeschichte der Evolutionstheorie (2003), 41 ff.
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ten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch. In beiden Fällen stand am Ende die Einsicht, dass Gene ebenso wenig und ebenso weit determinieren, wie Gesetzbücher. Hans Blumenberg, der in den 70er Jahren über die Resonanzen der Buchmetapher für die Biologie nachdachte, wies insofern gleich im Beginn seiner Überlegung auf wechselseitige Kopplungen unterschiedlicher Disziplinen hin. Ich zitiere hier Hans Blumenbergs Zitat von Erwin Schrödinger aus einem Text über das Leben, und die Kopplungen der Zitate geht ins Unendliche und ins Zirkuläre: „Dennoch besitzt eine solche Zentralstelle [des Lebens, Anm. FS] eine derartige Macht über die einzelne Zelle, dass wir sie ruhig mit einer örtlichen Regierungsstelle vergleichen dürfen, die mit anderen gleichartigen Ämtern, die über den ganzen Körper verteilt sind, mühelos mittels der gemeinsamen Schlüsselschrift verkehrt“.156 Das Zitat stammt aus einem Text, der vor der Entdeckung der DNA geschrieben wurde. Naturwissenschaftler operieren mit verwaltungsrechtlichen Vorstellungen von Macht, Regierungsstellen, Ämtern und der Beherrschbarkeit der Kommunikation, so wie Rechtswissenschaftler Vorstellungen über organische Rechtslehren oder evolutionstheoretische Modelle teilen. Das Zitat von Schrödinger interpretiert die Zentralstelle des Lebens als so diskrete wie souveräne Informationsmaschine. Das ist eine der Ideen, die im unsicheren Wissen der Biologie inzwischen für sicher widerlegt gelten.157 Ich lege Schrödingers Beschreibung trotzdem nicht als Schwäche aus, weder als Aberglauben noch als Unglücksfall einer Verhexung durch Sprache. Ganz im Gegenteil. Die Stelle steigert nur die Neugierde gegenüber den rhetorischen Resonanzen, die unterschiedene Wissenschaften in Bezug zueinander setzen und die mit ihren Unterschieden den Horizont für das Feld der 156
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BLUMENBERG, Die Lesbarkeit der Welt (1981), 374 zitiert SCHRÖDINGER, What ist Life? The Physical Aspect of the Living Cell. Based on Lectures delivered under the auspices of the Institute at Trinity College, Cambridge 1944, dt. Bern 1946. Vgl. JABLONKA/ LAMB (Fn. 30), 7.
Ähnlichkeit öffnen, für das wir uns hier mit einem Blick auf die rhetorische Evolution des Rechts interessieren. Das Feld der Ähnlichkeit und die ökologische Kommunikation der Interferenz nähert die Rechtswissenschaft auf seltsame Art und Weise an die Evolutionstheorie an, indem es Hyperreferenzen, d.h. Formen der second-channel-communication erzeugt.158 So falsch also Schrödingers Annahmen über die diskret und autonom agierende Zentralstelle auch war, so angemessen war der Rückgriff auf die juridische Metaphorik. Geschrieben vor der Entdeckung der DNA gilt sein Text heute zu Recht als einer der Anstöße, die die Forschung zur Genetik entschieden voran gebracht haben.
Die Arbeit im Überschneidungsbereich von Evolutionstheorie und Rechtswissenschaft ist durch strange loops und tangledhierarchy gekennzeichnet.159 Man sucht in fremden Disziplinen höheres und grundlegenderes Wissen und landet wieder dort, wo man anfing zu suchen. Eins bleibt festzuhalten: Auf der Schwelle der Erklärungen ist weder eine reine noch eine unschuldige Biologie, weder eine reine noch eine unschuldige Rechtslehre zu erkennen. Es ist auch kaum zu erkennen, was in diesen wechselseitigen Abhängigkeiten und Rückverweisungen dann die Supertheorie verbindlichen Wissens sein soll. Das ist allerdings gerade der Witz der Schwelle. Nicht jeden 158
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Vgl. Fn. 128; die second-channel-communication hat in der Rhetorik zwei Bereiche: a. das figurative Sprechen, das in einer Praxis regelhaften Regelverstoßes liegt (Metabolismus) und b. die modulierte Rede, die eine Differenz zwischen Thema und Modulation reflektiert. CICERO, Orator 16, 51 konzipiert dies als Modus der Rede. Mit Form/Inhalt wäre das nur unzureichend übersetzt, die rhetorischen Anleitungstexte beziehen das auf sein ganzes Set von Differenzen; z.B. sententia/verba CICERO, Orator 21, 71 oder res/verba CICERO, Orator 22, 72; Die Unterschiede zwischen inventio, dispositio, elocutio und actio tragen ebenfall dieser Modulierung Rechnung. Zu beidem: Teubner (Fn. 52) ),7-35.
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Tag steht man auf der Schwelle. Steht man einmal da, kann man vielleicht erkennen, dass es sinnvoller ist, nicht auf das Vorhandensein einer Supertheorie zu setzen. Man sollte ignorieren, ob es jenseits dieser Rückverweisungen eine unbewegte Supertheorie an hierarchischer Spitze gibt. Manche Rechtswissenschaftler sehen gerade deswegen die evolutorische Rechtstheorie als notwendig an, um die Kontingenzen des Rechts zu klären.160 So weit würden wir nicht gehen. Wir setzten bloß auf den Umstand der Fragmentierung des Wissens, der Differenzierung der Erklärungen, auf die damit einhergehenden steigenden Abhängigkeiten der Erklärungen und den Umstand, dass diese Abhängigkeiten nicht immer eingefordert werden können. Im Feld rhetorischer Resonanzen findet man schon oft genug einen Nachhall dieser Abhängigkeiten. Es gibt auf schwankendem Boden Schwellen der Erklärungen. Quid tum? Selbstverständlich gibt es Selbstverständlichkeiten, die die Rechtswissenschaft sehr klar von der Naturwissenschaft unterscheidet. Der Gegenstandsbereich der Rechtswissenschaft unterscheidet sich ganz selbstverständlich vom Gegenstandsbereich einer biologischen Evolutionstheorie und ganz selbstverständlich unterscheiden sich ihre Methoden und die Art und Weise, wie die Wissenschaften über die Ordnungen und Regeln in der Welt sprechen, wie die unterschiedlichen Praktiken ihr Wissen organisieren und wo sich Strukturen bilden. Aber dieser Unterschied ist nur selbstverständlich. Er ist nur plausibel. Seine Selbstverständlichkeit nimmt ihm nicht das Prekäre. Es sind Selbstverständlichkeiten, die über die Stabilitäten des Systems selbst entstehen und an ihrer prekären Stabilität hängen. Es sind Selbstverständlichkeiten des Rechts, die eine Strukturbildung voraussetzen und die an laufenden Reproduktionen hängen. Es scheint da empfehlenswert, das Ver-
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Vgl. ABEGG, Evolutorische Rechtstheorie, in: BUCKEL ET AL (Hg.), Neue Theorien des Rechts (2006), 371-391 (372).
hältnis zwischen Naturwissenschaft und Rechtswissenschaft als unausgestandenen, unausstehlichen und unausstehbaren Streit um Erstzuständigkeiten zu verstehen.161
III. Es g i b t juristische E volutio nst he or ie n Evolution als reflexiver Begriff Evolution ist blind, aber nicht unbeobachtet. „Evolution ist nicht nur eine Idee, eine Theorie oder eine Vorstellung, sondern der Name für einen natürlichen Vorgang“, merkt dazu Ernst Mayr an.162 Es ist klar was er meint: Evolutionstheoretiker phantasieren nicht, sie meinen es ernst.163 Uns interessieren hier zwei Stellen in dem programmatischen Satz, das „nicht nur“ und der „Name“. Die Evolutionstheorie ist also auch eine Idee, Vorstellung und Theorie. Und sie trägt einen Eigennamen, der zum symbolisch variablen Bestand der Wissenschaft gehört. Kein Wunder, dass es inzwischen programmatisch alternative Buchtitel gibt wie „Kulturgeschichte der Evolutionstheorie“ oder „Darwinism Evolving“, zwischen denen der Leser auswählen muss und die zur Variation, Selektion und Retention des Darwinismus im Wissenschaftsbetrieb und/oder zu seiner Tradition beitragen.164 Über diese Alternativen ist der Begriff der Evolution reflexiv geworden, d.h. er hat seine dialektische Initiation erfahren. Er wird auf sich selbst angewendet und mit dem Nichts konfrontiert; seine Reflexivität ist eine evolutionäre Errungenschaft, die die Evolution in Frage stellt. Der amerika161
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Jüngere Streitschrift mit ähnlichem Plädoyer, aber mit größerer Scheu vor der Natur und strengem, sprachphilosophischem Regime: JANICH, Was ist Information? (2006). MAYR (Fn. 28), 336. Das Konzept sei empirisch gut bewährt, sagt z.B. ASCHKE, Die Verfassung des Experiments Moderne, in RG 6 (2005), 101-121 (110) (allerdings auch, es sei noch bei weitem nicht umfassend verstanden.) RIEDEL (Fn. 156); DEPEW/ WEBER (Fn. 37).
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nische Jurist Donald Elliot spricht etwa von der evolutionary Tradition und man kann als Leser gar nicht sagen, ob das tautologisch oder widersprüchlich ist.165 Sobald ein Begriff reflexiv wird, laufen sowohl die Titel als auch so programmatische Feststellungen wie die von Ernst Mayr ins Leere. Es bleibt nicht nur programmatisch unsicher, ob und inwieweit die Evolution einen natürlichen Gegenstandsbereich kennzeichnet oder die Poetik ihrer Beobachter. Es bleibt sogar unsicher, wie weit der Gegenstandsbereich der Evolution reicht und wo die Poetik der Theorie beginnt.166 Es gibt einen Sprung zwischen Objekt- und Metaebene der Sprache. Es ist da einerseits eine Überschätzung des Begriffs, wenn man meint, dass es die Evolution erst gab, nachdem man einen Begriff dafür hatte. Ein wissenschaftshistorischer Aufriss der juristischen Evolutionstheorie ist da andererseits eine Unterschätzung der Evolution. Die Wissenschaftsgeschichte der Evolutionstheorie kennzeichnet nämlich einen Wechsel der blinden planlosen Erzählung zurück in den Modus von Schöpfern und Autoren. Man gerät bei entsprechendem Aufriss also in die Gefahr performativer Widersprüche und unreflexiven Geredes. Spricht die Geschichte des Darwinismus, so spricht – ach – die Geschichte des Darwinismus schon nicht mehr. Das ist freilich ein sehr allgemeines Problem des Sprechens. Es gibt aber einige spezifische Folgeprobleme für die Rechtswissenschaft, wenn der Begriff der Evolution zur Selbstbeschreibungsformel mit normativen Konnotationen wird.167 Reflexiv geworden erzeugt der Begriff seine eigene Paradoxie. Bezeichnend ist, dass die Rechtswissenschaft die Evolutionstheorie einerseits als wissenschaftlich präzise Form 165
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ELLIOT, The Evolutionary Tradition in Jurisprudence, Columbia Law Review 85 (1985), 38-94. Vgl. anhand des Baldwin-Effekts die Darstellung bei DEPEW (Fn. 37). Kurios und barock im Titel: HELSPER, Die Vorschriften der Evolution für das Recht. Eine naturwissenschaftliche Analyse des Gestaltungsspielraums von Juristen und Politikern mit Folgerungen für das Steuer-, Subventions-, Krankenversicherungs-, Rentenrecht sowie das Recht der EG-Marktordnung (1989).
für die juristische Entwicklung empfiehlt und andererseits auf die Planlosigkeit und Unvorhersagbarkeit der Evolution hinweist. Sie sensibilisiert sowohl für historische Abhängigkeiten als auch für zukünftige Offenheiten. Problematisch erscheint vor allem der Einsatz der Evolutionstheorie in der Kritik an juristischer Normativität – wir kommen unter den Stichworten Evolutionsfähigkeit und Gedächtnistauglichkeit am Ende dieses Kapitels darauf zurück.
In der Unsicherheit über ihren eigenen normativen Bestand hat sich die Rechtswissenschaft seit dem 19. Jahrhundert für die Evolutionstheorie interessiert. Die Kritiker der juristischen Evolutionstheorie halten diese Beschäftigung eher für ein modisches Ereignis, das die Rechtswissenschaft massenhaft und viel zu lange ergriffen hat.168 Ihre Jünger sehen sich eher als ignorierte Underdogs.169 Wie zentral, gewichtig oder einflussreich diese wissenschaftliche Beschreibungsform des Rechts sein soll, das ist da nur schwierig zu bestimmen. Gunther Teubner hielt die Evolution des Rechts 1982 schon differenzierter für ein „lange totgeglaubtes“ und „seit 10 Jahren wiederbelebtes“ Thema – und er sah darin schon wieder den Reichtum eines juridischen Evolutionismus vor sich.170 Hintergründig sprach Luhmann von einer „Welle des Evolutionismus“, die nun mal flutend verwüsten oder spurlos vorübergehen kann.171 Es gibt heute populäre und marginale Entwürfe über die Evolution des Rechts. Wir wollen dahinstehen lassen, ob sie vorherr168
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Im Ton zurückhaltend und im Ergebnis vernichtend spricht SALIGER (Fn. 150), 112 von einer gegenwärtig guten Konjunktur. LAMPE (Fn. 31), (Vorwort/9) spricht von gelegentlichen Meinungsäußerungen, Verblüffung und Unverständnis. TEUBNER, Reflexives Recht, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 68 (1982), 13-59 (13). LUHMANN (Fn. 58), 3.
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schend sind oder unterdrückt werden. Ihr wissenschaftshistorisches Gewicht interessiert hier nicht. Sie versprachen seit ihrem Aufkommen ohnehin nur besondere Auskünfte über die Entstehung, das Verwandeln und Vergehen von Regeln in den Bereichen, wo kein Gott, kein einzelnes vernünftiges Subjekt und kein Diktat ausfindig zu machen waren. Evolution wurde in den Erklärungsmodellen der Rechtswissenschaft zum Nachfolger der schottischen Vorstellungen von invisible hands.172 Sie wurde auch zum Nachfolger der schwäbischen Vorstellung von Dialektik, weil sie über die bloße Möglichkeit der historischen Registrierung von Änderungen hinaus eine Theorie der gesellschaftlichen Bewegung selbst anbieten sollte.173 Ein Schlüsselwort der Evolution heißt insoweit, egal ob es nun um schottische oder schwäbische Erbschaften geht, Selbstorganisation (was mancher Erbprätendent wiederum als Deregulierung deutet). Die Ökonomie juristischer Entwicklungstheorien spart in der Moderne, und ihr erstes Opfer wird die Figur eines unbewegten Vaters, der über die Gaben verfügt. Die Idee der Regelmäßigkeit und historischen Abkunft verdichtet sich zur Eigengesetzlichkeit, die der Autonomie verdichtet sich dabei zur Idee der Autopoiesis. Auch hierauf kommen wir später zurück. Wir verzichten hier sogar auf eine bibliographische Zusammenfassung und verweisen auf die Möglichkeit, das Stichwort Evolution in eine der Suchmasken der digitalen Archive (wie z.B. www.ssrn.com) eingeben zu können. Die anonymen Suchalgorithmen werden zuverlässiger und automatischer Auskunft über die aktuelle Entwicklung geben, als es so ein fixiertes Buch noch kann.
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Trotz Singularfassung steckt auch bei Adam Smith schon eine erstaunliche Polyvalenz hinter der Formel, ROTHSCHILD, Adam Smith and the Invisible Hand, The American Economic Review 84 (1994), 319-322. Das 19. Jahrhundert unterscheidet zwischen historistischem und naturwissenschaftlichem Entwicklungsdenken - die Nachfolge soll hier also weder als legitime Nachfolge noch als genetische Reproduktion verstanden werden.
Einzelne lassen die Geschichte der juristischen Evolutionstheorie schon in der historischen Rechtsschule des 19. Jahrhunderts beginnen. Sie begründen das damit, dass man Savignys Begriff der Entwicklung mit Evolution übersetzen müsse und das wiederum begründen sie damit, dass Savigny den Begriff der Entwicklung im Kontext von Begriffen wie organisch oder natürlich verwendet habe.174 Typisch evolutionär sei auch seine Kritik am Plan der Kodifizierung. Der Zusammenhang mit Begriffen wie organisch und natürlich liefert aber nur einen dünnen Evolutionsbegriff.175 Und die Kritik am Projekt der Kodifikation ist nur insoweit evolutionsspezifisch, soweit man nicht die evolutionstheoretische Begeisterung an der Kodifizierbarkeit des genetischen Codes teilt. In beiden Fällen ist also fraglich, ob man tatsächlich schon für die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eine spezifische juristische Evolutionstheorie ausmachen kann. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden zwar explizite Wendungen aus der Evolutionstheorie inklusive des Begriffes Evolution selbst übernommen und es findet eine juristisch Adaption von Theorien und Begriffen des Lamarckismus und Darwinismus statt.176 So gibt es eine Gemeinsamkeit zwischen Jherings „Kampf ums Recht“ und Darwins „Struggle for Life“.177 Unterschiedliche Autoren greifen verschiedene Motive der evolutionstheoretischen Modelle her174
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So z.B. ELLIOT (Fn. 166); die Nähe betont LAMPE (Fn. 31),18 f.; NÖRR, Savignys philosophische Lehrjahre (1994), 352-355 weist hingegen auf die Entfernung zwischen historischer Rechtsschule und moderner Evolutionstheorie, Savignys Konzept sei noch religiös eingefärbt; ihm fehle völlig die Vorstellung der Mutation. Vertiefungsempfehlung für den unspezifischen Umgang mit dem Begriff der Evolution WATSON, The Evolution of Western Private Law (1985); HUTCHINSON, Evolution and Common Law (2005). Vertiefungsempfehlung für das 19. Jahrhundert: KIESOW, Das Naturgesetz des Rechts (1997) mit einer Studie zu Albert Hermann Post. So WIEACKER (Fn. 28), 452; DERS., Jhering und der Darwinismus, in: FS Larenz (1974), 63 ff.
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aus, mal das Natürliche, mal das Kämpferische, mal das Adaptive, mal die Kontingenz, mal die ubiquitäre Gesetzmäßigkeit, mal die Planlosigkeit und mal die Teleonomie.178 Aber auch in der Übernahme bestimmter Motive und Wendungen bleibt unklar, ab wann man von einer spezifisch evolutionstheoretischen Rechtswissenschaft sprechen kann und was den Kern dieser Theorie ausmachen soll. Es ist programmatisch, dass man für den Beginn der juristischen Evolutionstheorie keinen Anfang markieren kann. Soweit die moderne Evolutionstheorie am Begriff der Emergenz hängt, soweit kann sie den spezifisch historisch revolutionären Bruch ihrer eigenen Theoriebildung nicht markieren. Hierin unterscheidet sie sich erheblich von den noch theologisch geprägten Formen politischer Rechtsphilosophie, die sehr spezifisch bestimmen kann, wann und gegen wen eine bestimmte Form der Rechtswissenschaft entstanden ist. Die politisch informierte Rechtsgeschichte entzündet ihre Motive an Revolutionen, die aus und gegen Begriffe der Väter gerichtet waren und die durch quasitheologische Schöpfungsmomente der Söhne in die Welt gebracht wurden. Hobbes etwa soll den fatalistisch säkularen „Leviathan“ gegen die democratic gentlemen des englischen Bürgerkrieges geschrieben und den Leviathan aus dem Nichts geschaffen haben. Gegen einen Gott nur ein Gott, mit dieser Formel beschrieb Hans Blumenberg den politisch-prometheischen Mythos der datierbaren Schöpfung neuer Legitimität.179 Die juristische Evolutionstheorie pflegt ihre eigenen Paradoxien, an solche Ursprungslegenden kann sie mangels eigenen Anfangs aber nicht so recht anknüpfen – sie liegen im blinden Fleck. Selbst wenn Darwin so ein Genie gewesen sein sollte, und, wie Kiesow formuliert, der Evolutionstheorie „endgültig zum Durchbruch“ verhalf, so
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Teleonomie meint zielgerichtete Prozesse, die in den Strukturen des Systems angelegt sind, COLIN PITTENDRIGH, Behavior and Evolution (1958). BLUMENBERG, Arbeit am Mythos (1979/1996), 433-604.
gibt es doch weder einen ersten noch einen endgültigen Darwin des Rechts.180
Die Evolutionstheorie gilt einigen als postontologische Theorie, der es nicht ums Sein, sondern ums Werden ginge. Auch damit ist man wieder nah dran am evolutionstheoretischen Unsinn. In den banaleren Rezeptionen Darwins gilt die Evolution nämlich als Kronzeuge des Umstandes, dass bisher noch alles gut gegangen sei. Selbst Täuschungen und Illusionen könnten sich als evolutionär erfolgreiche Rechtskonzepte bewähren.181 Dabei besagt das Konzept der Selektion aber, dass die Evolution über den Tod, das Aussterben und die Negation lernt. Kognition ist der Evolution immer auch Liquidation.182 Die Evolutionstheorie ist insofern nicht bloß Entwicklungstheorie, sondern auch eine Theorie des Beendens. Man muss ja nicht so weit gehen, und ihr einen messianischen Grundton unterstellen. Die Evolution horizontalisiert die Geschichte des Rechts. Die Entdeckung der Tiefenzeit verräumlicht die Geschichte. Es entsteht eine vielfältige Landschaft der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, in der Latenz und Aktualität des Historischen ungesichert konkurrieren. Das Interesse der evolutorischen Rechtstheorie gilt den Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen des Rechts. In einer schöpfungslogisch gedachten Sprache könnte man sagen: Es gilt dem Sprung vom Nichts ins Sein. Diese Sprache hat heute an Plausibilität ver180
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KIESOW (Fn. 177), 87; Bezeichnend, dass es weder in BRUNNER et al (Hg), Geschichtliche Grundbegriffe, noch in RITTER et a. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie einen Eintrag zum Begriff Evolution und Hinweise zum Ursprung gibt. Vgl. hingegen in beiden Bänden die Einträge zu Revolution. VAIHINGER, Philosophie des Als-Ob (1911/1918), 1-12 zum Denken als gelungenem Mittel der Selbsterhaltung. Elimination sagt z.B. MAYR (Fn. 28), 188; Extinktion ist ein weiterer üblicher Begriff.
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loren. Nicht, dass es nicht um Ontologie und die Dinge in der Welt ginge. Es geht aber eben nicht um einen theologischen Schöpfungsakt, weil die ganze Welt mit ihren Brüchen immer schon vor uns da ist. Der Sprung, der sich mit der Erfindung des Vertrages, des Persönlichkeitsrechtes, neuer Verfassungen oder neuer Grundrechte vollzieht, führt scheinbar vom Nichts ins Sein. Tatsächlich ist es aber eine eigenartige Kreuzung zwischen gleichermaßen anwesenden Zeiten, zwischen gleichermaßen existierenden Welten, etwa zwischen dem Recht und seiner religiösen, politischen, ökonomischen Umwelt, zwischen Modernität und Vormoderne. Zeiten sind insofern Chiffre für unterschiedliche Welten, gestern und heute sind andere Worte für hier und da. Die Scharia z.B. ist weder ein Gespenst aus der Vergangenheit toten Rechts noch ein Engel der Zukunft. Hier und da ist sie die aktuelle Referenz juristischer Entscheidungen, vor allem in islamischen Ländern, aber auch in Subkulturen Europas. Wo sie das Familienrecht einzelner Länder bestimmt, da kann sie über das Internationale Privatrecht sogar zum Gegenstand deutscher Gerichtsverfahren werden. Die Variationen, die das Recht anstoßen, sie kommen nicht aus dem Nichts. Sie kommen aus der Welt der Ökonomie, der Politik, der Religion, der Kunst, aus internationalen Anwaltskanzleien, argentinischen Protestbewegungen, aus den Strategien des Kriegstheaters, dem Silikon Valley, den Hügeln Hollywoods oder aus Kreuzberger Schlachthöfen. In der Weltgesellschaft kommen die Variationsangebote aus dem reichen Feld der Kollisionen zwischen nationalen Rechten, transnationalen Ordnungen wie dem Europarecht, völkerrechtlichen Regimes, technischen Standards im Internet, hybriden Netzwerken zwischen privatem Recht und öffentlichem Recht, und aus den informellen Clustern der Netzwerkökonomie.183
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FISCHER-LESCANO/ TEUBNER, Regime-Kollisionen (2006).
Plötzlich sind die evolutionären Errungenschaften da – und sie sind nie in der Rechtswirklichkeit angekommen. Sowenig die Evolutionstheorie auf Schöpfung ausgerichtet ist, sowenig ist sie als Beendigungstheorie auf Entsorgung ausgerichtet. Die Sorge geht vielmehr weiter. Statt Werten, Fundamenten oder ideologischen Unter- und Überbauten stoßen wir im evolutionären Recht immer nur auf einen Widerstreit und auf einen Austausch zwischen Recht und Unrecht. Was in den so wandlungsfähigen wie stabilen Reproduktionsschleifen neu, originell, revolutionär, informativ, de lege ferenda und was alt, unoriginell, konservativ, redundant, de lege lata ist, das lässt sich nur in Splittern fassen. Je größer die Perspektive desto kleiner die Splitter et vice versa. Man braucht daher die Änderbarkeit des Rechts gar nicht reflektieren, sie ergibt sich von selbst. Und dementsprechend ist die Streitentscheidung keineswegs durchweg eine Entscheidung zwischen altem und neuem Recht.184 Wir stoßen in der juristischen Evolution auf Konflikte zwischen A und B, auf Kollisionen zwischen den vielen Rechtsordnungen im globalen Recht. Wir stoßen sogar auf Paradoxien bei der Frage, ob die Unterscheidung von Recht und Unrecht Recht oder Unrecht ist und auf Dissonanzen bei den Versuchen, die Dynamik des Rechts wohl zu temperieren. Es ist eine Unruhe, die aus dem Streit so etwas wie ein Rechtssystem macht. Es ist ein Rechtssystem, das in seinem Zentrum stabil ruhen mag, aber dafür ist dieses fixierte Zentrum auch hohl, leer und unbestimmt. Am Rande oszilliert das Recht wild – aber am Rande gestaltet sich das System.185 184 185
Für beide Zitate LUHMANN (Fn. 63), 268. Das Zusammenfallen von Unruhe und Systembildung betont AMSTUTZ, Evolutorisches Wirtschaftsrecht (2001), 271 ff. unter Rückgriff auf Stuart Kaufmanns Idee spontaner Selbstorganisation und Gould/Eldredges Idee des puntuated equilibrium. Das Buch von Amstutz ist eine weitere Vertiefungsempfehlung, die anhand der besonderen Perspektive des Wirtschaftsrechts detailliert über die evolutionstheoretische Diskussion des 20. Jahrhunderts Auskunft gibt.
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Was evolviert, wenn Recht evolviert? Auf die Frage, was evolviert, wenn Recht evolviert, gibt es in der evolutionstheoretischen Literatur heute Antworten wie Sand am Meer. Information, antwortet Wieacker (wie Mayr und andere).186 Hinter dem gemeinsamen Begriff spannen sich ganz unterschiedliche Horizonte auf, von den genetischen Informationen angeborener kognitiver Fähigkeiten über soziale Konventionen bis hin zu juristisch-dogmatischen Figuren. Gemeint sind (genetische) Informationen wie z.B. darüber, wie man einen Rechtssatz lesen lernen kann, wie man einen Schwur nachahmt, wie sich Kategorien und Taxonomien bilden, was eine Forderungsabtretung ist, wie man Mord und Totschlag, Hypothek und Grundschuld, amerikanisches und deutsches Unternehmensrecht unterscheiden soll, welche Verfahrensregeln man vor Gericht zu befolgen hat oder welche Rechtsordnung in der Globalisierung zu bevorzugen ist. Gemeint sind Informationen, die über Generationen hinweg reproduziert werden können.
Wieacker benannte einst Imperium, Kirche und Schule als die drei großen Kopiermaschinen.187 Er hatte primär die sozialen Lernstrukturen, die großen Apparate juridischer Reproduktion mit ihrer bürokratischen Organisation und Befehlsstruktur, mit der Pflege und Kopie kanonischer Texte und mit der pädagogischen Tradition von Grammatik, Rhetorik und Dialektik im Kopf.188 Max Weber und die Vertreter der Freirechtsschule stritten um die Bias von Formalisierung und Materialisierung, also 186 187 188
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Vgl. zu Mayr und Wieacker Fn. 28. WIEACKER (Fn. 28), 26 ff. LAMPE (Fn. 31), 29 hingegen meint die „im Bewusstsein lokalisierten neuronischen Informationen über das Sollen aller Individuen“. Die Systemtheorie würde wiederum Informationen nicht lokalisieren.
um den ausgesonderten medialen Apparat der Beamten und des Juristenstandes, um formalisierte Sprache und informelle Konventionen als einen dualen Entwicklungsmotor des Rechts. Daneben sind es familiäre und andere soziale Gruppen, in denen die Transmission juristischer Informationen stattfindet. Juristische Informationen sind aus Konflikten resultierende Regelund Konventionsbestände lautet eine andere, ganz allgemeine Antwort. Sie kann sich auf die satzförmig formulierte Regel, die regelhafte Auslegung oder das Verhalten einer Gruppe und die von ihr kommunizierten Verhaltenserwartungen beziehen. Teilweise lassen sich Linien mit hoher Wiedergabetreue (high fidelity) beobachten, wie die dogmatische Transmission des Immobiliarsachenrechts. Teilweise beobachtet man Linien mit geringer Wiedergabetreue (low fidelity) wie die Transmission von Informationen zu sexuellen Sittlichkeit, die bei gleich lautendem Appell („Benimm dich!“) auch innerhalb einer Generation – etwa im Hinblick auf Kleiderregeln – wechseln können.
Seit dem 19. Jahrhundert sind Ausweitungen und Verschiebungen des evolutorischen Gegenstandsbereiches zu beobachten.189 Wie schon die Rechtsgeschichte einen Kosmos von Dogmen-, Institutionen-, Rechtsquellen-, Gerichtsverfassungs-, Wissenschafts-, Ideen-, Ideologie- und Kulturgeschichte des Rechts etc. hervorgebracht hat, so richtet die Evolutionstheorie ihren Blick auf einen ganzen Kosmos elementarer, struktureller, kontingenter und marginaler Reproduktionsbedingungen – bis hin zu jenem in Fall 3 erwähnten Einbruch der Photographen in das Sterbezimmer von Bismarck. Grob kann man die Theorien heute nach drei großen Schulen sortieren. Es gibt die Schule, die gesellschaftstheoretisch über die Evolution 189
Vertiefungsempfehlung: LUHMANN (Fn. 63), 239-296.
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des autopoietischen Rechtssystems (als einem autologischen Symbolsystem) forscht; diejenige, die in Nachfolge von Hayek über Recht und Marktverhalten forscht und schließlich diejenige, die soziobiologisch und evolutionspsychologisch über kognitive Fähigkeiten forscht. Es mangele der Evolutionstheorie oft an Klarheit im Hinblick auf den Evolutionsbegriff und an der Eindeutigkeit des Gegenstandes, auf den die Evolution bezogen sein soll, merkt Thomas Vesting desillusioniert an.190 Man könnte erwidern, dass die fachjuristischen Erwartungen an Klarheit und Eindeutigkeit kaum in evolutionären Horizonten einlösbar sind. Muss man aber nicht. Die Evolution des Rechts sorgt vermutlich ganz unabhängig von den evolutionstheoretischen Unbestimmtheiten für eigene Klar- und Bestimmtheiten, für eigene Plastizität des Rechts.
Die gesellschaftstheoretische Ausrichtung der Evolutionstheorie stellt darauf ab, dass es immer die Rechtskommunikation selbst sei, die evolviere.191 Es ist zweifelhaft, ob man diese Generalisierung und Zusammenfassung schon als Fortschritt begreifen kann. Erstens kennzeichnet die Evolutionstheorie schon von Beginn an eine Spannung zwischen Single und Serie.192 „Social evolution is the evolution of society and its institutions, not the evolution of a series of individuals”, merkte z.B. Keller 1915 an.193 Er versuchte, sich dabei von den fixen 190 191
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VESTING (Fn. 20), Rnd. 261. Amstutz sieht den Fortschritt der Theorie präziser darin, dass schließlich das Recht nicht mehr allein als von rechtsexternen Kräften (Variation, Selektion) gesteuert angesehen wurde, sondern dass schließlich die interne Dynamik des Rechts (Retention) als Evolution eines juristischen Propriums angesehen wurde. AMSTUTZ, Rechtsgeschichte als Evolutionstheorie, RG 1 (2002), 26-31. Für das 19. Jahrhundert: KIESOW (Fn. 177), 88 ff. KELLER, Societal Evolution (1915), 37; Zur Auseinandersetzung mit der Personalisierung und Verkörperung von Gesetzgebung siehe DERS. (Fn. 65), 769-783.
Individuen und biologischen Körpern zu lösen. Die Programmatik des Satzes wird also nicht richtig erfasst, wenn man sich Institutionen und Gesellschaften wie verkörperte Großindividuen, Superorgane oder den Leviathan vorstellt. Sie ist auch dann nicht richtig erfasst, wenn man meint, Keller wollte sich von Vorstellungen der kollektiven Identität oder globaler, komplexer und intelligenter Superstrukturen generell verabschieden. Die Differenz zwischen society und series of individuals bleibt schon in Kellers früher Programmatik gespannt, weil unentscheidbar wird, ob der Mehrwert der Gesellschaft in der Pluralität oder in der Singularität liegt und ob das Ganze mehr oder weniger als die Summe seiner Teile ist.194 Zweitens spielt sich Evolution in Relationen ab, so dass die Spannung zwischen Singularität und Pluralität nie aufgelöst wird. Die Unterscheidung von Genotyp und Phänotyp sperrt sich z.B. gegenüber der Übertragung in juristische Ereignisse und Strukturen. Evolution organisiert die Korrelation zwischen Einheit und Differenz. Koevolution ist darum zum Beispiel eine Formulierung, bei der (wie bei der evolutionary Tradition) unentscheidbar ist, ob sie tautologisch oder widersprüchlich ist. Bezeichnet Evolution nicht ohnehin dynamische Korrelationen und was ist dann an ihr so autologisch? Die Generalisierung zur Idee einer Evolution des juristischen proprium ist also soweit kein Fortschritt, soweit unbestritten bleibt, was dieses proprium ausmacht. Im Hinblick auf die vielen Medien des Rechts und das rhetorische Ensemble der Kommunikation bleibt zweifelhaft, ob das proprium ein juristischer Code ist und wieweit dieser Code reicht. Der komplementäre Gegenbegriff der indiskreten Rhetoren heißt gegenüber dem diskreten Code eines juridischen proprium decorum.195
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Zuletzt: NANCY, singulär plural sein (2005); LADEUR (Fn. 79), 10. Vgl. Fn. 128.
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In der Auseinandersetzung mit den Formalisierungen und Materialisierungen juridischer Eigenheit gibt es in juristischen Evolutionstheorien die Überlegung, die Reichweite des evolutorischen Horizonts mit Zentren und mit Peripherien zu gestalten. Das Parlament, die Gerichte, die Universität oder bestimmte reflexive Wissens- und Konventionsbestände gesellschaftlicher Teilsektoren, so schlagen unterschiedliche Autoren vor, sollen im Zentrum juristischer Reproduktionsbedingungen stehen. Andere schlagen einen quasigenetischen Rechtscode oder das Rechtsbewusstsein oder sogar das evolutionsbiologisch modellierte Gehirn als zentrale Instanz vor. Manche träumen, ein Hirnareal als Zentrum lokalisieren zu können. Und es gibt dabei die komplementäre Tendenz, von einer erweiterten oder lockeren Entfernung zur Form auf einen stabileren Reproduktionsmechanismus des Rechts zu schließen. Der parlamentarisch gegebene Rechtssatz ist etwa eine zentrale Formulierungsbedingung für Rechtsentscheidungen, aber die Form kann im Wege der Auslegungsmethoden auch am einfachsten umgangen werden. Die Gerichtsentscheidung steht alternativ im Zentrum und sie kann ebenso leicht zugunsten einer anderen Gerichtsentscheidung oder wegen nicht-identischer Sachverhalte ignoriert werden. Die wissenschaftliche Monographie, der Kommentar oder das Lehrbuch sind wiederum alternativ ein Zentrum juristischer Reproduktionsbedingungen – aber schnell veraltet heute die Auflage. Schwieriger wird es da schon mit den Konditionen jenseits der gebundenen Form. Ob es nun Dispositive, hegemoniale Strukturen, Geisteshorizonte, kognitive Module oder eine unbestimmte Kultur ist, sie haben am wenigsten Anteil an der Rechtsform des Satzes. Aber ihre informellen Reproduktionsbedingungen und die Art und Weise, wie sie die Kommunikation konditionieren, können am schwierigsten umgangen werden. Man muss dabei nicht, wie es ein Teil der 99
Rechtswissenschaft tut, an zwingende kulturelle oder psychologische Tiefe oder an eine weitere Umbenennung des ehemaligen Sittengesetzes denken. Ein Teil der Rechtswissenschaft denkt eher an die technischen Reproduktionsbedingungen in Akten, Büchern, oral oder digital.196 Evolutionsbiologie und Rhetorik denken gleichermaßen unspektakulär an mnemotechnische Konditionierungen und neurobiologische Dispositionen, deren Abstraktheit erst den Motor für unvorhersehbare juristische Entwicklungen und Anpassungskompetenzen in Gang setzen. Und unabhängig davon, ob es sinnvoll ist, von Zentrum zu sprechen, wenn es im Netzwerk des Rechts zahllose Zentren und Knotenpunkte gibt, kann man diese Ordnung auch mit ihren Zentren und Peripherien nicht als architektonisch stabile Struktur verstehen. In der Abhängigkeit der juristischen Reproduktion von unterschiedlichen gesellschaftlichen Institutionen und Selbstbeschreibungen ist selbst die Zuordnung zur Innen- und Außenseite des Rechts gleichermaßen lokal wie global mobilisiert. Das Recht ist auf Zentrum und Peripherie nicht festgelegt, es bedarf aber laufend der Zentralisierung und Marginalisierung. Diese Mobilität wird durch die Bindungsarrangements und Stimulationsregime konditioniert, die wir hier als rhetorisch bezeichnen.197
Während z.B. das gewalttätige Verhalten zwischen islamischen Ehepartnern in nichtislamischen Kulturen schnell als islamisch determiniert angesehen wird, wird die Beziehungstat eines Deutschen, der seine Frau aus Eifersucht erschießt (zumindest innerhalb Europas) kaum europäisch desillusioniertem Eifer 196
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Für eine Kombination aus Evolutions- und Medientheorie plädiert VESTING (Fn. 20), Rnd. 274-297 mit einer an primärer Oralität, Schrift, Buchdruck und Computer orientierten Phasenunterteilung. Vgl. MÜHLMANN, MSC. Die Antriebskraft der Kulturen (2005),32.
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oder liberalen Laxheiten zugerechnet. Es ist kein Wunder, dass der Beschluss des Amtsgerichts Frankfurt vom 20.03.2007 sowohl fachjuristisch als auch laienhaft kulturkämpferische Reaktionen hervorgerufen hat.198 Eine Amtsrichterin hatte in dem Beschluss über Prozesskostenhilfe auf eine Sure des Koran verwiesen und gesagt, dass Ehepartner nach marokkanischem Eherecht mit Schlägen in der Ehe rechnen müssten, also sei die nach deutschem Recht einzuhaltende Trennungsfrist von einem Jahr nicht unzumutbar. Kurz darauf wurde der Richterin wegen Befangenheit der Fall entzogen; ein kurzer Medienskandal setzte ein. Als wenige Tage nach dem Beschluss ein Deutscher seine Ehefrau am Stuttgarter Flughafen erschoss, waren weder Rechtssystem noch Massenmedien irritiert. Für das Ensemble der gleichen Kultur ist die Gewalt eine pathologische und singuläre Tat, die außerhalb juristischer Reproduktionsbedingungen liegt. Für das Ensemble der fremden Kultur stellt sich so ein Akt schon anders dar. Ein orientalischer Mufti würde in Anbetracht europäischer Beziehungstaten und autonomer Frauenhäuser zu dem Schluss kommen: So sind sie, die Europäer! Frauen schlagen und Frauenhäuser bauen! Die juristische Dogmatik selbst würde sich weigern, Schläge und Morde als Elemente juristischer Reproduktionsbedingungen zu sehen, sie sieht (bis auf Ausnahmen wie Walter Benjamin) Verbrechen allenfalls als Objekte oder Außenseiter des Rechts. Aber im Hinblick auf den erwähnten Beschluss der Amtsrichterin in Frankfurt gelten vergleichbare Konditionen inkludierter und exkludierter Reproduktionsbedingungen.199 Der Beschluss der Richterin gilt den Verteidigern des deutschen Rechtssystems
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Vgl. die Reaktionen und das Interview mit dem Bundesverfassungsrichter di Fabio auf www.spiegel-online.de und in den Kommentaren auf www.sueddeutsche.de sowie www.faz.net. Für die Schwierigkeit der Unterscheidung zwischen Innen und Außen: LADEUR, Computerkultur und Evolution der Methodendiskussion in der Rechtswissenschaft, ARSP 74 (1988), 218 ff., 222.
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als singuläres Außenseiterphänomen einer verirrten Richterin, während die Kritiker das deutsche Recht längst islamisch infiziert sehen, obwohl der Beschluss im Konflikt mit den Regeln richterlicher Unabhängigkeit aufgehoben wurde. In allen Fällen stoßen wir auf seltsam verschlungene Kreuzungen zwischen internen und externen juristischen Reproduktionsbedingungen. Was dabei Selbst- und was Fremdbeschreibung ist, changiert. Giorgio Agamben beschreibt so hypertroph wie konzentriert in seiner Kritik am modernen Recht lauter Zustände, in denen die Zuordnung zu In- und Exklusion unentscheidbar sind.200 Es ist dementsprechend konsequent, dass seine Zurechnung zum Kreis der Rechtstheoretiker heiß umstritten ist.201 Der Alltag selbst vollzieht Strategien, für die der Horizont der euklidischen Geometrie kaum mehr Metaphern parat hält.202 Es wurde weiter oben behauptet, die Evolutionstheorie bringe mit einem Blick auf die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen dem Recht eine histoire horizontale. Die mobilisierbare Bestimmung von Innen, Außen, nah, fern, Zentrum und Peripherie des Rechts verunsichert diese Ordnung – theoretisch. Die Praxis vollzieht, von diesem Zweifel gänzlich unbeeindruckt, ihre Inund Exklusionen.
Die Evolutionstheorie hält dazu weitere Ordnungsangebote zur Verfügung. Variation, Selektion und Retention sind aufgespaltete Elemente der evolutionären Reproduktion. Sie können sich 200
201
202
Als Gegenmodell für diese Verunsicherung siehe aus den 60er Jahren noch CANARIS, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz (1968/1983); dazu STEINHAUER, Das rhetorische Ensemble, RG 9 (2006), 125-137. STEINHAUER, Gestaltung des Rechts, in Buckel et al (Hg.), Neue Theorien des Rechts (2006), 187-211. KANTOROWICZ (Fn. 12), 22: „Nebenbei bemerkt, sind die überkommenden Definitionen der Geometrie von der modernen Wissenschaft fast bis zur Unkenntlichkeit verändert worden.“
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auf Ereignisse oder auf Strukturen beziehen. Und es können dabei interne oder externe Faktoren im Vordergrund stehen. In einem Teil der systemtheoretisch geprägten Evolutionstheorie sollen sich die Variationen auf Ereignisse und Selektionen sowie Retention auf Strukturen beziehen. Bei der Variation sollen externe Faktoren, bei Selektion und Retention interne Faktoren eine Rolle spielen. Es gibt bei den Zuordnungen allerdings auch in der Systemtheorie Differenzen.203 Luhmann hat in einem frühen Text zur Evolutionstheorie (vor seiner Wendung zur Autopoiesis!) etwa Variationen auf Normen bezogen, Selektionen auf institutionelle Strukturen und die Retention auf die dogmatisch-begriffliche Verarbeitung des Stoffes. Thomas Vesting liefert in Anlehnung an einen Beschluss des BVerfG ein anderes Beispiel: Es betrifft den verfassungsrechtlichen Schutz von Versammlungen. Bei der Versammlungsfreiheit handelt es sich um einen grundrechtlich qualifizierten Schutz, der nicht jede Gruppierung in der Öffentlichkeit schützt. Die Gruppe, die auf den Bus wartet, ist mangels eines normativ anerkannten Versammlungszweckes ebenso wenig grundrechtlich geschützt wie der Stau, der entsteht, wenn sich auf der Autobahn ein Unfall zugetragen hat. Im Einzelnen ist juristisch umstritten, wieweit der verfassungsrechtliche Versammlungsschutz reicht. Nun demonstrieren in Berlin unterschiedliche Gruppen für unterschiedliche Themen. Es gibt eine Zeit lang kanonisiert öffentliche Themen wie etwa Arbeitsbedingungen, Umweltschutz oder Verteidigungspolitik. Plötzlich treten Gruppen auf, die sich unter dem Namen Love- bzw. Fuckparade um und wegen Gruppensex und für bzw. gegen hämmernde elektronische Technomusik sammeln und hierfür das Grundrecht der Versammlungsfreiheit in Anspruch nehmen. Diese Gruppe soll erstens Ereignis, nicht Struktur sein. Und ihr Auftreten
203
Eine gute Darstellung zu Variation, Selektion und Retention und deren endogene und exogene Bedeutung bietet ABEGG (Fn. 161).
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soll, obwohl sie wie andere Gruppen auch grundrechtlichen Schutz in Anspruch nehmen will, ein externer juristischer Faktor sein. Das ist insofern plausibel, soweit man unterstellt, dass Gerichte diese Versammlung nicht für grundrechtlich schutzwürdig halten und einen stabilen Kanon themenfähiger Inhalte gepflegt haben. Wenn nun Gerichte über die Schutzwürdigweit der Love- und Fuckparade unterschiedlich entscheiden (noch Variation) kommt es irgendwann zu einer höchstrichterlichen Entscheidung und damit zu einem Übergang von Variation zur Selektion, von Ereignis zur Struktur und von externen zu internen Faktoren.204 Wenn es noch eine verfassungsrechtliche Regel gibt, die die Bindung anderer Gerichte an die Entscheidung bestimmt (§ 31 BVerfGG) dann konditioniert diese Bindungsregel schon die Restabilisierung der höchstrichterlichen Entscheidung in allen weiteren gerichtlichen Entscheidungen. Das ist dann noch keine hinreichende, aber eine erste Bedingung für den evolutionären Wandel des Versammlungsbegriffes. Weitere Bedingungen der Retention wären dann eine weiterlaufende semantische und performative Stabilität in den auftauchenden Themen, Titeln und Programmen von Versammlungen. Die Love- und Fuckparade dürfte zum Beispiel selbst kein Einzelfall bleiben. Und gerade in diesen weiteren Bedingungen der Retention bleibt die plausible systemtheoretische Entfaltung der Evolution instabil. Wenn schon eine satzförmig formulierte Regel keinen kausal determinierenden Gesetzescharakter hat, welche bindende und restabilisierende Wirkung geht dann von der gepflegten Semantik der Gerichtsentscheidungen, Kommentare und wissenschaftlichen Monographien aus? Je formalisierter und diskreter die juristische Entscheidung ist, desto brüchiger ist sie eben auch. „Omnis definitio in
204
BVerfG Beschluß v. 12.07.2001 („Love- und Fuckparade“).
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iure civili periculosa est; parum est enim, ut non subverti posset“, heißt es aus Javolenus’ Briefen in den Digesten.205 Ranking Inference und Multilevel Rechtswissenschaft und Rechtspraxis operieren mit einem Arsenal an Medien, das die Retention des Rechts strukturiert, ohne exklusiv juridisch zu sein. Man imitiert Recht mit einem unjuristischen Apparat (z.B. frische Studenten im ersten Semester, blankes Papier, leere Akten, unbeschriebener Speicherplatz). Und der Apparat ist für das Recht schon empfänglich. Ein Teil der Evolutionstheorie spricht darum von Inference, nicht von Imitation oder Interference, um jene vorbereiteten Anpassungsmöglichkeiten zu beschreiben.206 In der Organisationsform des Buches, mit den durch die schriftliche Sprache ermöglichten logisch-dialektischen Instrumenten und rhetorischen Mitteln und durch die begrifflichen Klassifikation gibt es eine systematisch stabile Abschichtung von Allgemeinem und Besonderem, von Abstraktem und Konkretem, dass die Order des Rechts epistemisch verdichtet. Sowohl die Systematik des parlamentarisch verfassten Gesetzes als auch die wissenschaftliche Mono205
206
Dig. 50, 17,202; eine Stelle zu Regeln findet sich bei Paulus, Dig. 50, 17,1 (non ex regula ius sumatur, sed ex iure quad est regula fiat). Die Kulturtechnik der Rhetorik wählt aufgrund der zwischen Diskretion und Indiskretion oszillierenden Kombination aus Regelskepsis und Regelbedarf, aus Definitionsskepsis und Definitionsbedarf die topische Ordnung und den reflexiven Mechanismus des aptum/decorum; vgl. CICERO, Orator 14 43 ff.: nulla praecepta ponemus – neque enim suscepimus –, sed excellentis eloquentiae specim et forman adumbrabimus; nec quibus rebus ea paretur exponemus, sed qualis nobis esse videatur(…) [Es folgt die Einführung in die topische Methode]; QUINITLIAN, Inst. Ora. XI 3, 177: unum iam adiciendum est, cum praecipue in actione spectetur decorum, saepe aliud alios decere. est enim latens quaedam in hoc ratio inenarrabilis, et ut vere hoc dictum est „caput esse artis decere quod facias“, ita id neque sine arte esse neque totum arte tradi potest. Der Begriff Inference taucht in der Theorie kognitiver Module auf um zu erklären, welche genetischen Dispositionen vorliegen müssen, damit Adaption möglich wird. Das Wiedererkennen von Gesichtern muss z.B. ontogenetisch gelernt werden, aber es gibt angeborene kognitive Module, die das Lernen ermöglichen und selbst evolutionäre Produkte sind; vgl. ATRAN (Fn. 43), 255-261.
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graphie und der hierarchisierte Aufbau von Gesetzgebungs-, Verwaltungs- und Gerichtsinstanzen korrespondiert mit dieser Form der Stabilisierung. Die juristischen Schulen mit ihrer in Klausuren und mündlichen Prüfungen gepflegten und eingeübten Semantik führen den juristischen Stand an diese Stabilisation heran. Die Pyramide, der Kreis, der Baum, der Pfeil, die Transversale und die Kette sind in juristischen Lehrbüchern die beliebtesten graphischen Gestaltungsmerkmale und Sprachbilder. Sie trainieren den juristischen Nachwuchs auf die Imagination der Normenpyramide, des eindeutig begrenzten Rechts und die Genealogie seiner bindenden Gesetze. Man könnte dies alles als interne Retentionsfaktoren begreifen. Am Rande des akademischen und bürokratischen Designtrainings treffen Rechtswissenschaft und -praxis aber auf einen fluktuierenden, spontanen und oszillierenden Aufbau der Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem. Dabei gerät auch die Unterscheidung zwischen Abstraktion und Einfühlung durcheinander. Das lebendige Recht liefert laufend Austauschsituationen und es beunruhigt die systematische Stabilisierung. Selbst die dogmatische Literatur, die eigentlich Stoppregeln zur Sicherung des Designs aufstellt, klagt offen über die Willkür und Bodenlosigkeit überbordenden Materials und sie kennt darum schon traditionell die Strategie, Definitionen zu vermeiden.207 Auch wenn Juristen versuchen, ihren Alltag in Monographien zu systematisieren, so stellt sich dieser Alltag eher stereoskopisch dar. Die Gestalt des Rechts entspricht eher einer Klein’schen Flasche denn einer Normenpyramide. Die postmoderne Rechtstheorie beschreibt insoweit einen Abbau von Hierarchien zu Gunsten eines Aufbaus von Heterarchie. Teilweise unterstellt sie dabei mit der Betonung moderner Fragmentierung, dass der Austausch eine historisch einseitige
207
PIEROTH/ SCHLINK, Grundrechte Staatsrecht II (2004), Rn. 610; KAHL, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt, Der Staat 2004, 167-202.
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Bewegung von geordneten zu ungeordneten Verhältnissen sei. Je stärker die Rechtswissenschaft Fragmentierungen betont, um so eher überschätzt sie aber die eigenen Archive. Ein Abbau findet nicht statt – nur eine durch die Kollisionslogik des Rechts bewegte Verschiebung durch Raum und Zeit.208
Die Evolutionstheorie spricht heute von Multilevelorganisationen bzw. Multilevelselektionen. Sie meint damit, dass im Aufbau komplexer Ordnung der Selektionsdruck nur auf bestimmten Ebenen der Organisation angesiedelt ist und eine ganze Reihe von Elementen und Strukturen vom Selektionsdruck befreit sind – was zur Retention beiträgt. In natürlichen Systemen ist der biologische Organismus des Menschen z.B. eine Multilevelorganisation. Die Zellen des Blinddarms sind vom Selektionsdruck befreit. Im artifiziellen System des Rechts kommen andere Dinge zur Systembildung und Bindungsfähigkeit in Betracht. Wir haben in Fall 1 das Buch als eine Form benannt. Die Institutionen des Gaius etwa müssen Einheit und Aktualität nicht performativ durchhalten, das ist einer der Vorteile aus der Entstehung kompilierter Schriften.209 Die moderne Verfassung ist eine andere Form der Multilevelorganisation, die sich sogar dann erhält, wenn verfassungswidrige Entscheidungen rechtskräftig werden oder wenn die Widrigkeit einer streitbefangenen Maßnahme wegen der Regeln zum Mehrheitsprinzip der richterlichen Entscheidungsfindung ebenso wenig festgestellt werden kann, wie ihre Verfassungsmäßigkeit. Vertragsverbünde und Netzwerke kommen ebenfalls als Formen der Multilevelselektion in Betracht. Jene pseudoholistischen Impulse rhetorischer Bindungsarrangements markieren mit 208 209
WENGER, Negative Jurisprudenz (2006), 19. Zu Vorzügen der Schrift, des Buchs und des Computers: VESTING (Fn. 20), Rnd. 274 ff.
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dem Aufbau polemischer Schwellen auch Zonen, die vom Selektionsdruck befreit sind. Zu guter Letzt ist Normativität ein ganz allgemeines Konzept, um das Recht über Enttäuschungsfälle hinweg zu erhalten. Diese Organisation ist aber keine stabile Normenpyramide. Der Unterschied liegt in der einerseits architektonischen Organisation von Normenpyramiden und Legitimationsketten und der andererseits bodenlosen spontanen homöostatischen Organisation, die mit Brüchen entsteht und Widersprüche in Kauf nimmt. Also blieb in Fall 2 unbestimmt, auf welcher Ebene in Europa emanzipatorische und auf welcher Ebene antiemanzipatorische Verfassungen angesiedelt werden können. Es ist dabei fraglich, ob das europäische Verfassungsrecht instabiler als die nationalen Rechtsordnungen ist oder ob sich in der Konkurrenz der Regimes Stabilität und Instabilität gegenseitig bedingen. Die Frage ist dabei auch, ob der Systemgedanke im Recht eine imaginäre, illusionäre Form der Multilevelorganisation ist, oder ob es eine globale intelligente, kommunikative und kognitive Superstruktur gibt, die über die Verteilung des Selektionsdrucks entscheidet.
Superstrukturen sind keine zentralen Instanzen. Für die Emergenz von Multilevelorganisationen und ihre Retention interessieren im Hinblick auf die rhetorische Evolution des Rechts Phänomene wie jene oben in Fall 2 beschriebene ranking inference. Die Order des Rechts modulieren sich über ranking inference. Sie lösen so die Kollisionen zwischen Rechtspositionen spontan und mit dem Versprechen auf Reproduzierbarkeit auf.210 Das so genannte fresh judgement, das einer Entscheidung innewohnt, muss sich über dieses Versprechen der Reprodu210
In der Systemtheorie wird ranking für eine historische Größe gehalten, die mit der segmentären und stratifikatorischen Differenzierung der Gesellschaft an Bedeutung verloren hat.
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zierbarkeit abkühlen. Im Phänomen der ranking inference liegt eine Art symbolischen Tauschs, der interne juristische Order an die Irritationen bindet, die sie herausfordern. Man imitiert Recht und bedarf dabei eines Apparates, der über die Disposition verfügt, perturbierbar zu sein. Die kodifizierte Abschichtung zwischen Allgemeinem und Besonderem, Abstraktion und Konkretem bildet in der Ökonomie juristischer Reproduktion insofern nur die halbe Miete. In der Kommunikation sorgt z.B. das rhetorische decorum als Bindungsarrangement für energeitischen Gehalt des Rechts und es ist dabei ein weiteres Phänomen zur Reproduzierbarkeit des Rechts. Der reflexive Mechanismus des decorum stabilisiert die Kommunikation homöostatisch und es ist nur eines von vielen Kopplungsphänomenen.211 Allgemein sprechen die juristischen Evolutionstheoretiker von pre-adaptive advances, Ko-Evolutionen und Baldwin-Effekten, die für komplexen Ordnungsaufbau und gekoppelte Reproduktion (des Rechts) sorgen sollen. Inference koppelt den phylogenetisch programmierten neuronalen Apparat an die Struktur kultureller Transmission und stellt insoweit die Disposition für einen Link zwischen vertikaler Vererbung und horizontaler Lehre her. Bei Thomas Vesting meint pre-adaptive advance das kontingente und erheblich verzögerte Zusammentreffen von sozialen Strukturen vor einem undeterminierten historischen Horizont, wie die Institution der bürgerlichen Ehe und leidenschaftliche Liebe, wie das Buch und die systematische Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts oder (unter Rückgriff auf Hegel) Freiheit und Eigentum.212 Zwischen den Elementen gibt es weder notwendige, noch kausaldeterminierende Zusammenhänge, ihr kontingentes und verzögertes Zusammentreffen begünstigt aber die Reproduktion bestimmter Rechtsordnungen. Bei Gunther Teubner meint Ko-Evolution die „Herausbildung
211 212
vgl. Fn. 128. VESTING (Fn. 20), Rn. 275.
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autonomer Evolutionsmechanismen in geschlossenen Systemen und deren wechselseitige strukturelle Kopplung“.213 Andreas Abegg bezeichnet mit „Morphogenese“ den Umstand, dass ein „System seine innere Konsistenz in einem Teilbereich senkt“, um sich in Anbetracht einer chaotischen Umwelt spontan zu organisieren. Durch die Aufspaltung in Teilbereiche nimmt das System wohl dosierte Unsystematik in Kauf, um Irritationen in die Vorgaben des Systems einzupassen.214 In allen Fällen ist die Evolutionstheorie voller Begriffe, die seltsame Interferenzen im Aufbau von divergenten Ordnungen beschreiben. Die sind seltsam, weil sie Differenz und Einheit der evolvierenden Systeme in Bezug zueinander setzen. Das artifizielle System des Rechts koppelt sich an natürliche Systeme wie den Menschen und menschliche Populationen. Das artifizielle Gedächtnis des Rechts und sein Archivspeicher koppeln sich darin noch an das biologische Gedächtnis einzelner Individuen. Die evolutionstheoretische Forschung expandierte insofern einerseits von der Genetik zu einer Evolutionsbiologie, die auch epigenetische und kulturelle Dimensionen der Evolution einbezieht, also zum Beispiel jene als Baldwin-Effekt bezeichneten Kopplungen zwischen der Evolution der Sprache und der Evolution des menschlichen Hirns. Andererseits expandierte die juristische Evolutionstheorie von einer um den positivistischen Code zentrierten Theorie zu einer Evolutionstheorie, die sich auch noch für das biologische Gedächtnis der Individuen und die emotionalen Affektregime einer Gesellschaft interessiert.215
213 214
215
TEUBNER (Fn. 52), 61. ABEGG, Regulierung hybrider Netzwerke im Schnittpunkt von Wirtschaft und Politik, KritV 89 (2006), 266-290 (271 f.) TEUBNER, Die anonyme Matrix. Zu Menschenrechtsverletzungen durch private transnationale Akteure, Der Staat 44 (2006), 161-187 (187).
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Kopplungen und Katastrophen Alles fügt sich? Alexandra Kemmerer hat zum internationalen Recht angemerkt: “Memory, however, is as fragmented as the world we live in. So many memories, so many hidden meanings.“216 Von Fragmentierung zu sprechen, ist eine ebenso prekäre Metapher, wie wenn am Feiertage man vom Gedächtnis des Rechts spricht. Die Kodifikationen des industriellen 19. Jahrhunderts, die historische Rechtsschule des frühen 19. Jahrhunderts, die revolutionären Kodifikationen des 18. Jahrhunderts, das aufgeklärte Naturrecht der spätabsolutistischen Phase, die Juristen in der Zeit der europäischen religiösen Konflikte und Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts, die Sammler des ius commune und all’ die anderen verschwundenen Juristen, sie haben auf andere Weise ähnliche Probleme der Reproduktion gehabt. Wählten Humanisten als Emblem das Motto Nihil firmum und das Bild eines erodierenden Tempels, würde man heute wohl eher eine Wanderdüne als emblematisches Motiv der juridischen Geschmeidigkeit wählen. Kein Wunder, dass Juristen Juristen als Partisanen des Augenblicks bezeichnen.217 Die Rechtstheorie diagnostiziert, dass der Gesetzgeber kein Konsistenzinteresse mehr verfolge, dass der Betrieb eine höhere Ambiguitätstoleranz entwickelt habe, die mit einer aufgeweichten Dogmatik, unbestimmten Rechtsbegriffen und Abwägungsformeln einhergehen würde.218 Verteidiger der dogmatischen Literatur würden das wohl bestreiten, aber sie können auch nur den Kopf schütteln über die vielen juristischen Ereignisse, die sich nicht an die Dogmatik halten oder bei denen trotz Dogmatik ganz anders als erwartet entschieden wird. Der Frage, ob heute unrecht ist, was gestern recht war, können
216
217 218
KEMMERER, The Turning Aside, in: Bratspies/ Miller (Hg.), Progress in International Organization (2007). KIESOW, Weltrecht-Ruinenrecht, in: Kursbuch 155 (2004), 98-107 (107). LUHMANN (Fn. 63), 279.
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sie auch mit ihrem Kopfschütteln nicht entgehen. Die Historiker würden die theoretische Analyse vermutlich auch bestreiten, zumindest die, denen die alte Welt auch nicht in Ordnung war. Die erste erstaunliche Gedächtnistauglichkeit des Rechts liegt also in der Fähigkeit, immer andere Operationen, immer andere Kommunikationen an erinnerte anzuschließen und auf erstaunliche Art und Weise Stasis und Wandel des Rechts als Einheit der Unterscheidung durchzuhalten. Die Fähigkeit des Rechts zur Erinnerung ist erstaunlich ähnlich der Fähigkeit, zu vergessen. Und erstaunlich ist es, dass die Fähigkeit zur Anpassung so groß ist wie die Fähigkeit, weiterhin Exklusivität zu behaupten.
Nur im Hinblick auf dieses Erstaunen sind die Metaphern der Fragmentierung und des Gedächtnisses im Recht angemessen. Man kann nämlich für einen Augenblick markieren, wo die Schwelle des eigenen Horizontes liegt und ein Augenblick ist alles, was man zur Entscheidung braucht. Ist Augenblick das passende Wort? Wenn die blinde Geschichte eine Lunge hat, dann sind die Begriffe Fragmentierung und Gedächtnis tiefe Atemzüge. Andere sprechen von Sattelzeiten, um diese Schwelle zu bezeichnen.219 Es ist ein Punkt, an dem Emergency und Emergenz in eins fallen. Wo liegt die Grenze der eigenen Plausibilität – und wo ist ihr Widerstand und ihre energeitische Versorgung darum am größten? Wo fallen die stabilisierenden Momente des Rechts mit dem Widerstand, den es erzeugt, in eins? Und wie bauen sich mit diesen Widerständen Phasen der Stasis und Phasen des Wandels auf? Über dies geben beide Begriffe hervorragend Auskunft. Für die Evolution des Rechts heißt das, dass Interferenzphänomene so signifikant sind wie 219
KOSELLECK (Fn. 95), 302.
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Katastrophen – oder anders herum sorgen nur Kopplungen und Katastrophen für die Signifikanz und Plastizität des Rechts. Die braucht es, weil nicht nur dessen Umwelt rauscht, das Recht selbst rauscht mit seinem abgestuften Verhältnis von Rechtsphilosophie und -theorie über Methodenlehre bis hin zur Dogmatik und der Masse praktischer Rechtsliteratur eben auch. Die juristische Berichterstattung in den Zeitschriften und den Kommentaren, die vielleicht als Archiv der Klarstellungen konzipiert wurden, liefert da zuerst News, also irritierenden und berichtenswerten Umgang mit dem Recht.220 Die kognitive Superstruktur des Rechts hängt dabei an Pathologien so, wie an der Immunität des Rechts.221 Es ist eine zugespitzte Selbstbeobachtung, die das Rechtssystem zur Selbstvergewisserung ad hoc und wie in Ausnahmesituationen mobilisiert. Es verleibt sich dabei ein, was ihm äußerlich ist. Und es versetzt sich auf einen Schauplatz außerhalb dessen, was es in Szene setzt.222 Das gilt nicht nur im Hinblick auf das Verhältnis des Rechts zur Gewalt.223 Diese Schlaufe findet sich auch im Verhältnis des Rechts zur Religion, zur Ökonomie, zum Betrieb der Massenmedien und anderen extrajuristischen Erscheinungen. Unter den Bedingungen der Retention, wie sie in Fall 2 geschildert wurden, zeigt sich jene seltsame Schlaufe eines abhängig-autonomen Rechts. Es tauscht über das sprunghafte constitutional synallagma unbestimmte Erwartungen in normative Erwartungen. „Und nur wenn sie vorhergesehen wird, kann die Enttäuschung bearbeitet und so neutralisiert werden. Auf 220
221 222 223
ERICSON, Why Law is Like News, in: Nelken (Hg.), Law as communication (1996), 195-230 geht aber unspezifisch und übertrieben davon aus, Recht und News seien Säulen gesellschaftlicher Order, „telling us who to be and what to do.“ IHERING (Fn. 9), 23 spricht von pathologischen Affektionen des Rechtsgefühls. ESPOSITO, Immunitas. Schutz und Negation des Lebens (2004), 60. Esposito beschreibt unter Rückgriff auf die Idee der mimetischen Gewalt von Girard eine Evolutionslinie des Rechts, die von der Prävention zur Heilung verlaufe – das Recht ersetze darin das rituelle Opfer, rationalisiere die Rache bis das Rechtssystem das Immunsystem der Gesellschaft selbst werde, ESPOSITO (Fn. 223), 53-66.
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genau diese Weise immunisiert das Recht das soziale System in seinem Ganzen: indem es unsichere Erwartungen ersetzt durch problematische, jedoch sichere Erwartungen. Und das heißt, indem es Instabilität nicht beseitigt, sondern ein stabiles Verhältnis zu ihr einrichtet: vorhersehbare Ungewißheiten sind besser als unsichere Gewißheiten.“224
Das Recht hat ein differenziertes Verhältnis zu Bindungsarrangements, d.h. zu seinen Kopplungsmöglichkeiten. Ein Teil der evolutorischen Rechtswissenschaft verfolgt dabei insbesondere die Kopplungen des Rechts mit der Politik und mit der Ökonomie, für die strukturelle Einrichtungen wie die Verfassung oder der Vertrag zur Verfügung stehen. Die Zweige der Evolutionspsychologie und Kognitionsforschung interessieren sich vor allem für die Kopplungen zwischen den Archiven mit ihren juristischen Figuren und den psychischen Systemen, also z.B. zwischen dem Institut der Schuld bzw. dem Gesetzesverstoß und Reaktionen der Scham und des Ärgers oder für die Kopplungen zwischen genetischer Disposition und Moral, die sich in Kooperations- oder Konfliktbereitschaften äußern sollen. Enkulturierung und Konstitution des Rechts können kooperieren und sie können konkurrieren. Und es kann trotz des gesellschaftlichen und juristischen Pluralismus zu solchen Katastrophen kommen, in denen mit einem Taktschritt der Transmission ganze Rechtsordnungen suspendiert und andere eingesetzt werden. Eine Umstellung in den Speicherund Reproduktionsmedien dürfte hier besonders sensibel sein. Cornelia Vismann diagnostiziert heute eine „Verfassung nach dem Computer“. Der Computer als neue Gedächtnisdependance des Rechts schafft eine eigene Katastrophe. Konnte 224
ESPOSITO (Fn. 223), 70 f.
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das Recht erfolgreich und über weiten historischen Horizont hinweg die eigene Medialität ausblenden, wird dieser blinde Fleck mit der symbolischen Maschine des Computers fatal. „Die Rechtsförmigkeit kreuzt sich mit der Computerförmigkeit des Codes. Die angestammten Plätze im Universum des Rechts werden neu besetzt.“225 Die Lösung des Rechts von nationalen Territorien ist dabei eine Folge, zentrale Institutionen wie das Eigentum bilden sich dann nicht nur am Modell des realen, sondern auch des virtuellen Raums. Mit dem intensivierten Zugriff auf Entscheidungstexte und ubiquitär verbreitete und geöffnete digitale Archive wird die geschmeidige Oberfläche übersichtlicher Praktikerkommentare spröde und porös. Und nicht zuletzt muss der Rechtsunterricht sich neu einstellen auf die digitalen Kompilierungstechniken der Studenten.
Evolutionsfähigkeit und Gedächtnistauglichkeit: Der erste Begriff taucht in der Theorie auf, um zu klären, ob bestimmte Entscheidungen oder Rechtsformen mehr Aussicht auf Zukunft haben als andere und ob sie wandlungsfähiger sind als andere. Der zweite Begriff kommt aus kulturtheoretischem und evolutionsbiologischem Kontext und bezieht sich auf die Mnemoaktivität des kommunikativen Designs. Er dient der Beobachtung der Evolution kultureller Symbole, des Gehirns und der Formen, die für die Enkulturierung im Individuum strukturell besonders geeignet sind. Er trennt also das kulturelle Gedächtnis als System von den individuellen Speichern und bezieht dann beides wieder aufeinander. Die Normenpyramide und der Kreis sind z.B. wesentlich einfacher reproduzierbar, als die Klein’sche Flasche. Ihr ubiquitäres Aufkommen im juristischen Ordnungsdesign liegt sowohl an der Absicherung in 225
VISMANN, Verfassung nach dem Computer (2007).
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rhetorisch-mnemotechnischer Tradition also auch an der Attraktivität für das biologische Gedächtnis. Der erste Begriff (Evolutionsfähigkeit) verfehlt aber die Struktur der Evolution in ihrer Liquidationsfähigkeit. Zur Fähigkeit der Evolution gehört eben nicht nur der Wandel, sondern auch die Stasis. Dazu gehört auch die Möglichkeit, dass Prozesse maladaptiv im Nichts enden. Der zweite Begriff (Mnemoaktivität) verfehlt die generalisierbare Rolle natürlicher Gedächtnisspeicher und die reproduzierbare Kopplungsfähigkeit zwischen Psyche, Affekt und Rechtssystem. Die Institutionen des Rechts erzeugen Sozialkapital, Konventionsbestände und Regelwissen eben durch kollektive Organisationsprinzipien wie die der Kapital- oder Versicherungsmärkte, der Massenmedien etc.226 Neben dem Gedächtnis der Juristen hat so auch das medial fixierte Systemgedächtnis einen eigenen Rang erfahren. Selbst die Affekte haben seit legendären Zeiten extrasomatische Speicher- und Reproduktionsmedien. Das individuelle Gedächtnis und seine Modell bildende Leistung erscheinen wegen dieser Organisationsprinzipien eher pathologisch als tragend. Als Pathologie der kognitiven Infrastruktur hat die Mnemotechnik der Singles an der Evolution des Rechts und seiner Adressaten aber weiter Anteil. Beide Begriffe haben Unrecht und nehmen darin Teil an dem laufenden Tausch zwischen Recht und Unrecht. Sie verfehlen manche Eigensinnigkeit und treffen doch die Art und Weise, wie sich Systeme in Umwelten zu arrangieren haben. Es gibt also juristische Evolutionstheorien und sie produzieren alle möglichen Fehleinschätzungen in den Übergängen zwischen Kopplungen und Katastrophen. Das Recht wird sich auch ohne sie in Zukunft auf das Design der Gesellschaft einstellen. Mit ihnen wird aber wegen möglicher Fehleinschätzungen der Sinn für die prekäre Stabilität juristischer Genera und Gemeinschaften geschärft. 226
LADEUR, Der Staat gegen die Gesellschaft (2006), 98.
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IV. K a r d i n altu gen d en d er E v o l u t ionstheorie Die römischen Kardinaltugenden lauten prudentia, sapientia, fortidudo und temperantia. Sie konditionieren auf das rechte Maß, auf Zurückhaltung und Einstandsbereitschaft, auf Urteilsfähigkeit und Verweigerungsschläue. Wenn Theorien Kardinaltugenden haben, dann liegen sie nicht in der Fähigkeit zur Feststellung sondern darin, drehen und wenden zu können. Handelt es sich um Amplifikationstheorien, dann können ihre Tugenden das Beobachtete plastischer machen und verstärken. Handelt es sich um Reflexionstheorien, machen ihre Tugenden beobachtete Impulse besser abwendbar. Man kann sich sowohl mit Amplifikations- als auch mit Reflexionstheorien dann irgendwie festlegen oder sich überlegen, ob man sich lieber doch nicht festlegen möchte. Die Kardinaltugenden der Theorie bereiten das vor, übernehmen es aber nicht. Das sind freilich sehr allgemeine Vorzüge, aber anhand einzelner Theorien lässt sich bestimmen, wie Kardinaltugenden konkret aussehen. Denn jede Theorie dreht und wendet die Dinge um bestimmte Punkte herum. Die Kardinaltugenden der Evolutionstheorie sind nicht ihre Grundlagen, es sind eher Formen teleonomisch fruchtbarer Polemik, die die Theorie so tugendhaft machen. Sie hängen mit einer Besonderheit in der Entwicklung des Begriffs der Autopoiesis zusammen, der über den Einfluss der Biologie ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, vermittelt über die Systemtheorie und ihr Interesse an Evolution Eingang in die Rechtswissenschaft gefunden hat und seit dem mit dem Begriff der Autonomie konkurriert.227 Autopoiesis soll erklären, warum Systeme bei allem evolutionären Wandel doch Systeme bleiben, warum etwa das Recht sich nicht bei jeder Variation oder Selektion
227
Letzte umfassende Vertiefungsempfehlung: TEUBNER (Fn. 52).
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auflöst und inwiefern es sich gegenüber Umwelten abschirmt.228 Das Konzept soll den morphogenetischen Strukturaufbau von Arten und Gattungen, sozusagen ihr Selbst und ihre Eigenheit in ökologischen Beziehungen klären. Je klinisch präziser der Begriff der Autopoiesis im Recht verwendet wurde, umso zauberhafter wurden begleitende Begriffe wie operative bzw. strukturelle Kopplung und re-entry oder jene zahlreichen Begriffe für die Interferenzphänomene der Evolution. So klar der Begriff der systematischen Autopoiesis z.B. den Körper der Juristen, die Architektur der Gerichtsgebäude, die Düfte des oikos oder das Gassen- und Marktgewirr der polis aus dem System der rechtlichen Kommunikation ausgeschlossen hat, so zwingend treten sie transformiert in die jüngere Theoriebildung wieder ein.229 Diese gleichzeitige Zunahme von klinischer Präzision und Zauberhaftigkeit der juristischen Evolutionstheorie sind kein Mangel der Theorie. Es handelt sich um einen theorieinternen Druckausgleich, der selbst ein Modell der Evolution ist. System vs. System Der Begriff des Systems ist mit der griechischen Architektur entstanden. Man könnte meinen, dass er mit dem historischen Angriff auf die Architektur auch wieder untergegangen ist.230 Einheitlichkeit, Ganzheitlichkeit, Lückenlosigkeit und die innere Notwendigkeit einer tragenden, tektonischen Statik sind dem Recht zugunsten von Pluralität, Heterarchie, Evolution, Oszillation und Ökonomie verlustig gegangen. Der Tod des Systems ist aber nicht eingetreten, im Gegensatz zu Begriffen wie corps hat er sich vom architektonischen Kontext besser lösen können. Man kann zu Beginn der neuen Wissenschaften verschlungene
228
229 230
Im engeren Sinne meint das zirkuläre Autopoiesis, TEUBNER (Fn. 52), 71: Zyklische Selbsterhaltung definiert die Toleranzgrenze für die Veränderung von Strukturen. FUCHS, Die Psyche (2005), 77-115 m.w.N. Zu dem Angriff: SEDLMAYR, Verlust der Mitte (1948), 98 ff.
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Transformationen beobachten, vor allem bei Descartes.231 Die interessanteste Kritik am Systembegriff stammt heute aus der Systemtheorie und nicht aus den Theorien, die sich nicht für Systeme oder nur für weite Felder interessieren.232 Es sind nicht die Widerstände gegen, sondern die Widerstände der Systemtheorie, die heute prima Einblicke in prekäre Grenzbildungen der Evolution gebracht haben.233 Danach gibt es Grenzen zwischen dem Rechtssystem, anderen sozialen Systemen, dem Bewusstsein, der Sprache, biologischen Populationen und Individuen. Die Systemtheorie hat den Systembegriff zentralisiert und dabei seine Ungreifbarkeit gesteigert. Er zielt heute auf nicht-architektonische Systeme ab, d.h. Systeme, in denen weder Statik noch Tektonik erste Prinzipien sind. Auch nicht allein evolutionäre Anpassung bzw. Fitness, sondern auch Zyklizität und Homöostase werden als Eigenarten vorgeschlagen.234 Ist es nach traditioneller Diagnose unangemessen, den Begriff der Architektur metaphorisch für Netzwerke zu verwenden, so hat sich der Systembegriff von dieser architektonischen Verankerung gelöst, er hat die Bodenlosigkeit in sich aufgenommen.
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233 234
Voller Architektur noch im allgemeinen Teil DESCARTES, Discours de la méthode (1637/1997), 18- 25; im besonderen Teil hingegen völlig in der Schwebe DERS., Les Meteores (1637/2006). Für zu offen halten wir auch die evolutionsbiologische Forschung, aus Neukantianismus und Bewusstseinsphilosophie kombinieren, wie LAMPE (Fn. 14) oder diejenigen, die sog. offene Märkte mit Evolution gleichsetzen wie WEHMEIER, Ein Europa – ein Markt – ein Recht. Eine verfassungsökonomische Analyse (1999); die Definition eines Marktes entspricht in der ökonomischen Evolutionstheorie zwar funktional der Lokalisierung von Selektionsdruck, überzeugt in den meisten Fällen aber nicht, weil die Austauschbeziehungen nicht nachvollziehbar begrenzt werden. VISMANN/ KOSCHORKE (Fn. 27). TEUBNER (Fn. 52), 74.
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Selbst wenn die Systeme weder architektonisch noch hierarchisch erscheinen sollten, so sind sie doch kollateral.235 Oder besser gesagt: Sie sind nicht-hierarchisch organisiert, soweit sie kollateral sind. Wer sich in Bezug auf Systeme (wie Luhmann vorschlägt) nachbarschaftliche Verhältnisse vorstellen möchte, dem sei trotz der bodenständigen Restmetaphorik hiervon nicht abgeraten. Es trifft die ökologische Konstitution. Er soll aber auch einen Blick in die Kommentare zum Nachbarschaftsrecht werfen, er wird wieder auf einen endlosen Streit stoßen.236 Letztlich behalten also auch die bodenlosen Systeme eine architektonische Restmetaphorik – wenn man so will, indem das System nicht vom Kopf auf die Füße gestellt, sondern um 90˚ gewendet wurde. Aus dem Boden wurde die Außenabgrenzung des Systems und aus der Behauptung und Fügung von Hierarchien die Sorge um die maßlose Expansion von Systemen. Der Kern der evolutionären Tradition liegt bei aller kosmologischen und gravitätischen Bewegtheit noch darin, den Aufbau der Systemgrenze morphologisch oder morphogenetisch zu fassen. Und wie in allen evolutionär generischen Absonderungen gibt es darum eine seltsam transformierte Wiederkehr des Architektonischen in die bodenlosen Systeme.237
Passend ist es, dass die Systemtheorie bei der Fixierung des Systembegriffs zerstritten ist. Sind Systeme offen oder geschlos235 236
237
LUHMANN (Fn. 63), 144. Zu § 919 BGB [Grenzabmarkung] siehe STAUDINGER-ROTH, Kommentar zum BGB (2002). Allerdings mit ganz unterschiedlichen graduellen Ausformungen. Zurückhaltend TEUBNER (Fn. 52), 62; zuspitzend ASCHKE, der sogar eine stärkere Erdung der Systemtheorie, eine Besinnung auf Schlusssteine und selbsttragende kohärente Ordnungsideen fordert. (Fn. 164), 115-118.
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sen? Oder sind sie informationell offen, aber operativ geschlossen? Man könnte diese Fragen für erledigt halten. Die evolutionstheoretische Literatur ist nämlich voller Erfolgsgeschichten, die auf die Errungenschaft bestimmter Einsichten abstellen.238 Wiederholt sprechen Evolutionstheoretiker insofern von überwundenen Mythen der Evolutionstheorie.239 Aber natürlich gibt es entgegen mancher Kanonisierungsversuche kein perfektes Theoriensystem der evolutorischen Systemtheorie. Und so ist der Streit um die Offenheit und Geschlossenheit von Systemen nicht erledigt, weil es nicht nur ein Streit um den Übergang von Information in Operation und von Ereignis in Struktur sondern auch ein Streit um das Verhältnis zwischen Systemen ist.240 Das betrifft den Kontext unterschiedlicher artifizieller Systeme – wie etwa den von verschiedenen Schulen fokussierten Nexus zwischen Rechtssystem, politischem System und Wirtschaftssystem. Es betrifft auch die Analyse der Ausdifferenzierung und Morphogenese von Teilrechtssystemen, wie etwa dem Kapitalmarktrecht, dem Umwelt- oder Medienrecht.241 Daneben betrifft es den Bezug zu natürlichen Systemen – etwa die Frage, welche Rolle Bewusstsein, Sprache und Körper des Juristen für das Recht spielen. Wenn das soziale System des Rechts nicht nur – wie Renate Mayntz einst feststellte – eine Dame ohne Unterleib, sondern auch – wie Luhmann ergänzte – eine Dame ohne Oberleib sei, dann gibt es über strukturelle Kopplungen der Sprache, des Bewusstseins und der Affektregime zahlreiche Wiedereintritte des Leibes.242 Neben den primär in Betracht gezogenen Beziehungen zwischen Recht, Politik und Ökono238 239
240 241
242
VESTING (Fn. 20), 114 f. m.w.N. Z.B. ASCHKE (Fn. 164), 111 behauptet, die falsche Fortschrittsgläubigkeit sei überwunden (zugunsten richtiger?). TEUBNER (Fn. 195). Oder zu kognitiven Modulen und ihren bereichsspezifischen Leistungen GRUNWALD, Kognitive Module und modulare Prozesse, in: Mühlmann (Fn. 46), VIII m.w.N. MAYNTZ, Politische Steuerung und gesellschaftliche Steuerungsprobleme (1987), in: Soziale Dynamik und politische Steuerung (1997), 199.
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mie sind es auch noch die Beziehungen des Rechts zur informellen Kultur, die als Beziehung von Systemen zu Systemen verstanden werden können. Ob das Recht ein Teil der Kultur bzw. die Kultur ein Teil des Rechts sei, ist ebenso eine Folgefrage, die am Systembegriff hängt, wie die Suche nach einem Supersystem, das auch noch den Rest bezeichnet. Kommunikation, Gesellschaft, Kultur, Civitas, Hegemonie, Weltgesellschaft – teuflisch viele unterschiedliche Namen werden hierfür vorgeschlagen. Ein Teil der Theorien zur kulturellen Evolution tendieren hierbei (über die Renaissance des Baldwin-Effektes) dazu, die Widerstände zwischen Systemen nur gering zu bewerten. Andere Theorien nehmen die Existenz von Systemen auch da an, wo kaum Widerstand, Systemgrenze, Kommunikationsmedium oder Leitcode auszumachen sind, wie etwa bei der Kunst oder den Massenmedien. In der evolutionstheoretischen Literatur tauchen heute also lauter Folgefragen auf, die an dem Streit zwischen der Offenheit und der Geschlossenheit der Systeme hängen und sich auch nicht mit einer Entscheidung für eine Theorie offener Systeme oder eine Theorie geschlossener Systeme erledigen lassen. Die Oszillation um die Grenze des Systems produziert in der Systemtheorie lauter Unerledigtes. Aber eben dem hat man sich weiter zu stellen. Wer den Begriff Systemtheorie schon über hat und ihn nicht mehr hören kann, kann ja in Zukunft von Grenzwissenschaft sprechen. Harte vs. graduelle Autopoiesis In der Evolutionstheorie gibt es eine weitere unerledigte Alternative, die wir hier als Kardinaltugend umformulieren. Sie macht sich an der Unterscheidung zwischen harter und gradueller Autopoiesis fest. Entweder sind Systeme zirkulär, oder sie sind es nicht. Entweder verfügen artifizielle soziale Systeme über ein eigenes Kommunikationsmedium und einen Leitcode, oder sie verfügen nicht darüber. Fazit: Entweder ist das Rechtssystem autopoietisch, oder es ist nicht autopoietisch. Es 122
gibt aber keine halb autopoietischen, halb allopoietischen Systeme. So lautet zumindest die harte Alternative einer ganzen Reihe von Systemtheoretikern.243 Oder etwa doch? Vielleicht kann man auch, so wie Gunther Teubner, von einer graduellen Autopoiesis ausgehen, also davon, dass Selbstreferenzialität unterschiedlich plastisch sein kann und die Autopoiesis durch mehrere, kumulative Elemente intensiviert und abgeschwächt werden kann.
Man kann in diesem Kontext gradueller Plastizität zum Beispiel an rhetorische Kopplungen und decorum-Bindungen denken und an ihre konditioniert starke oder schwache Intensität, d.h. an die von Wieacker so genannten Taktschläge und die polarisierte Stilcharakteristik der europäischen Rechtsgeschichte. Man kann an polarisierte Konditionen der Retention denken, wenn man einkalkuliert, dass ein verfassungstheoretisches Gefühl der Schwäche in Überreaktionen und ein Gefühl der Stärke in Unterreaktionen münden kann. Man kann auch an eine graduell gesteigerte Ausformung der spezifisch juristischen Medien denken, etwa an die Unterscheidung von Dialektik, Grammatik und Rhetorik, in deren Folge es möglich wird, richtiges Sprechen von Rechtsprechung zu unterscheiden, ein juristisches Vokabular abzusondern und kommunikatives Irritationspotential rhetorisch zu hegen. Man kann an die sequentiell einsetzende Unterscheidung von materiellem Recht und Prozessrecht denken, durch die Einführung einer Verfassung, durch die das Recht reflexiv wird und einen zweiten Code ausbildet, mit dem Rechtsunterscheidungen schließ243
LUHMANN, Einige Probleme mit reflexivem Recht, ZfRSoz 6 (1985), 1-18; zu dem Gradualismus der biologischen Evolutionstheorie und einem Abgleich mit juristischen Gradualismus (im Ergebnis für ein punktualistisches Konzept, dass Härte und Gradualismus aufeinander bezieht) AMSTUTZ (Fn. 186), 258-263.
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lich auf sich selbst anwendbar werden und weiter noch durch die verfassungsrechtliche Unterscheidung von materiellem Teil und organisationsrechtlichem Teil. Man kann zuletzt auch an die evolutionstheoretische Alternative denken, ob Evolution sprunghaft oder graduell erfolgt. Es ist in jedem Fall tugendhaft unentscheidbar, ob Autopoiesis harte Autopoiesis oder graduelle Autopoiesis bedeutet, weil mit jedem neuen und noch so weichen Grad die Autopoiesis des Systems auf dem Spiel steht. Endogene vs. exogene Faktoren Wie erfolgreich kämpft das autonome Recht um die Abwehr von Außeneinflüssen? Außeneinflüsse sind für das Recht dann ein Problem, wenn der Verweis auf sie vorschnell dazu dient, Kommunikation abzuschneiden bzw. umzustellen. Sie sind ein episodisches Problem. Sie sind ein Problem des Übergangs von Zeit in Topographien. Mit der Behauptung von Außeneinflüssen werden soziale Formationen gereizt und initiieren sich Kompartimentierungen, wie etwa an jenem Teubner’schen Postmoderne-Schild vor den Mauern von Rom. Weiter oben hatten wir schon auf die Verunsicherung in der Ordnung inklusiver und exklusiver Reproduktionsfaktoren hingewiesen. Und doch lässt sich bei allem evolutionären Wandel die Unterscheidbarkeit zwischen der inneren Welt des Rechts und seiner Umwelt nicht bestreiten. Nebeneffekt dieser Kardinaltugend: Der Horizont des evolutionären Rechts führt zu einer Rehistorisierung des Rechts am Leitfaden der episodischen Systembildung. Wenn das Recht sich schon immer geändert hat, so ist doch nicht zu bestreiten, dass es markierbare Unterschiede gibt und dass der ewige Fluss manchmal stockt und homöostatische Wirbel aufbaut. Dass es Revolutionen gibt, lässt sich ebenso wenig bestreiten, wie die Klage über eine Entfremdung des Rechts oder durch Recht. Die Evolution schafft weder die Klage noch die
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Revolution selbst ab.244 Nicht einmal den Gesetzgeber bringt sie zum verschwinden, transformiert in die Göttin Copia liefert Gesetzgebung noch genug Variationsangebote.245 Evolutionstheorie verweist allenfalls darauf, dass die Evolution selbst es ist, die sich die ihr angemessenen Revolutionen aussucht, d.h. zu einem evolutionär passenden Zeitpunkt. Aus der Evolutionstheorie ergeben sich darum – entgegen mancher ökonomischer oder neoliberaler Vorurteile – keine Argumente, politische Verfügungen über das Recht wegen feststehender Vergeblichkeit zukünftig gar nicht mehr zu versuchen. Die differenztheoretische Ausrichtung der Evolution bringt darum auch nicht den Gegenbegriff der Identität zum verschwinden, er bleibt korrelativ erhalten.
Wenn die Evolutionstheorie darum streitet, ob es exogene oder endogene Faktoren sind, die in der Evolution wirksam werden, so ist das auch noch ein Streit um richtige Zeitpunkte.246 Sie kennt auch hier lauter Erfolgsgeschichten, die angeblich eine abschließende Lösung dieser Streitfrage ergaben, und zwar jeweils für die Ebene von Variation, Selektion und Retention. Die Zuordnung zu juridischen Interna und Externa erfolgt aber eben nicht polemisch-unschuldig. Auch hier ist unbestritten, dass es kein stabiles Theoriensystem der Evolutionstheorie gibt und keine endgültige Feststellung, ob nun endogene oder exogene Faktoren eher zur Homöostase beitragen. Man könnte darum behaupten, dass Teubner mit einem komplementären 244 245
246
BERMAN, Recht und Revolution (2002), 10/34. U.A. VICO, De nostri temporis studium ratione (1708/1947), 30 f. würde empfehlen, nicht nur eine rationale Kritik des Wahren (verum), sondern auch komplementäre Standpunkte für Hülle und Fülle („copiosum“) bereit zu halten. LAMPE (Fn. 31) lokalisiert die Evolution juristischer Informationen in Bewusstsein und Gehirn, spricht aber auch von endosomatischen und exosomatischen Informationen.
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Modell von endogenen vs. exogenen Faktoren auf allen Ebenen die Kardinaltugend perfektioniert habe.247 Teubner geht von einer Internalisierung der Evolutionsmechanismen im autopoietischen Recht aus, beschreibt aber zugleich jene Perturbationsdispositionen, mit denen Recht Anschluss an die koevolutionäre Logik der Gesellschaft hält. Das Recht wird seiner Ansicht nach nicht von der Gesellschaft kausal beeinflusst, es verfügt aber über Einrichtungen, die sich durch Perturbationen anstoßen lassen. Das Recht determiniert seine Strukturen in Teubners Modell selbst, es lässt sich aber durch externe Einflüsse modulieren, d.h. es bleibt immer vorausgesetzt, dass die Perturbationen schon selbst juristisch themenfähig waren und vom Rechtssystem als juristische Konflikte erkannt werden können.248 Aber Kardinaltugenden kennen letztlich keine Perfektion.249 Sie kennen Episoden. Und über Episoden und die Dauer episodischer Atemzüge mobilisiert sich die Bedeutung interner und/oder externer Reproduktionsfaktoren des Rechts.250 Integration vs. Desintegration Führt die Evolution mit ihren Differenzierungsprozessen zu integrativen oder desintegrativen Prozessen zwischen Recht und Gesellschaft? Führt z.B. die Anerkennung autonomer religiöser Selbstverständnisse zur Sprengung der Gesellschaft? Ist die juristische Anerkennung des Schächtens, also des religiös ritu247
248
249
250
TEUBNER (Fn. 52), 73; dazu kritisch unterstützend AMSTUTZ (Fn. 186), 275-278, der i.E. ein Mehrphasenmodell von Boole’schen Netzwerken über adaptive Landschaften hin zu Ordnung am Rande des Chaos wählt. Vgl. bei Fall 3, mit welchen Einschränkungen (constraints) rhetorischem Konflikte justiziabel werden. Kein Wunder, daß Amstutz dem Teubner‘schen Modell eine letzte Unbestimmtheit vorwirft. TEUBNER (Fn. 52), 77; Was an sachlicher Härte des Entweder/Oder erzwungen wird, muss durch die Inanspruchnahme von Zeit, das heißt: von Verschiedenheit im Nacheinander, kompensiert werden. LUHMANN, Das Rechts der Gesellschaft (1993), 173.
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alisierten Schlachtens, bei dem nach einem schnellen Schnitt das unbetäubte Tier ausblutet, integrativ oder desintegrativ?251 Das sind jenseits abstrakter evolutorischer Morphologie und nicht-euklidischer Geometrie konkrete Rechtsfragen, an denen sich heute z.B. eine evolutionstheoretische Analyse entzündet. Auf einer Ebene geht es in diesem Streit um eine Regel, die die Betäubung der Tiere verlangt, und um die Möglichkeiten der Ausnahme für bestimmte Religionsgemeinschaften. Bei der Ausnahmeregelung spielt dann eine Rolle, inwieweit das religiöse Selbstverständnis der Religionsgemeinschaft als zwingende Vorschrift relevant ist, inwieweit eine Gruppe sich religiöse Unbestimmtheiten oder Streitigkeiten zurechnen lassen müssen und inwieweit diese Unbestimmtheiten und Streitigkeiten selbst wieder als Autonomisierungs- und Abspaltungsprozesse verstanden werden können. Nebeneffekt: Das Recht hält Religionen dazu an, ihr Profil zu schärfen. Ältere Gerichtsurteile unterschieden hier nach objektiven Vorschriften und subjektiven Vorstellungen der Religionsanhänger und hielten nur die ersten für geeignet, eine Ausnahme für das Betäubungsgebot zu rechtfertigen. Unter objektiven Regeln wurden eindeutig vorliegende Vorschriften verstanden, d.h. entweder verlangte man extrasomatische Speicher- und Reproduktionsmedien (schriftliche Zeugnisse, kanonische Texte, eindeutiger Wortlaut) für entsprechende Regeln oder Zeugnisse anerkannter Autoritäten. Auf die individuelle Sicht der Religionsanhänger selbst käme es nicht an.252 Das Verhältnis zwischen Konstitutionalisierung und Enkulturierung wird in diesen Urteilen zur Relevanz religiösen Selbstverständnisses sozusagen korporatistisch bestimmt; extrasomatische Speicher- und Reproduktionsmedien wie die als kanonisch definierten Schriften werden gewichtiger eingestuft als bloß oral tradiertes Wissen der Religionsanhän251 252
Zur kulturevolutionären Bedeutung des Tieropfers siehe MÜHLMANN (Fn. 46), 1-6. BVerwGE 99,1 mit Hinweisen auf Wortlaut des Korans sowie auf sachverständige Äußerungen sunnitischer und schiitischer Stellen.
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ger.253 Das hat sich in der jüngeren Entscheidungen des BVerfG geändert, die nun primär auf die Enkulturierung der Schlachtregeln in einzelnen Gruppen abstellen und weder die Mediatisierung in Schrift, noch im Amt sachverständiger Religionswissenschaftler oder priesterlicher Autoritäten abstellen.254 Man kommt dem Verständnis der Religion als forum internum näher und koppelt die religiöse Reproduktionsdynamik enger an informelle Populationen als an mediatisierte Institutionen.
„Die Moderne hat die Evolutionsfähigkeit der Gesellschaft drastisch gesteigert, weil sie Teilsysteme ausgebildet hat, die jeweils eigenständig das kreative und zugleich stabilisierende Potential evolutionärer Prozesse nutzen könnten. Damit habe die Moderne zwar eine zentrifugale Dynamik entwickelt, aber sie verfüge eben auch über evolutionäre Mechanismen der Integration“, schreibt Manfred Aschke in einer evolutionstheoretischen Anmerkung zu einem Urteil des BVerfG , bei dem es um die Verfassungsmäßigkeit des deutschen Tierschutzgesetzes – genauer gesagt, um Regel und Ausnahme des Schächtungsverbotes ging.255 „Die moderne Gesellschaft darf sich den Geltungsansprüchen von 253
254 255
In weitere historischer Perspektive gibt es einige Evolutionsschritte wechselnd zentralisierter Reproduktionsmedien, vgl. die Hinweise bei LADEUR/ AUGSBERG, Toleranz-Religion-Recht (2007), 15-28; ATRAN, In Gods we trust. The evolutionary landscape of religion (2004). Dazwischen – über prozedurale Organisationsstrukturen – BVerwGE 112, 227. Absatz 1: Ein warmblütiges Tier darf nur geschlachtet werden, wenn es vor Beginn des Blutentzugs betäubt worden ist. Absatz 2: Abweichend von Absatz 1 bedarf es keiner Betäubung, wenn (…) Nr. 2 die zuständige Behörde eine Ausnahmegenehmigung für ein Schlachten ohne Betäubung (Schächten) erteilt hat; sie darf die Ausnahmegenehmigung nur insoweit erteilen, als es erforderlich ist, den Bedürfnissen von Angehörigen bestimmter Religionsgemeinschaften im Geltungsbereich dieses Gesetzes zu entsprechen, denen zwingende Vorschriften ihrer Religionsgemeinschaft das Schächten vorschreiben oder den Genuss von Fleisch nicht geschächteter Tiere untersagen(…); bundesweit eingeführt durch § 4 a TierschG v. 12.8.1986.
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Religionsgemeinschaften öffnen, aber nicht ausliefern“, merkt Aschke an anderer Stelle seiner Analyse an. „Die Schächtentscheidung des Bundesverfassungsgericht vom 15. Januar 2002 hat die Integrationskraft der Verfassung aktualisiert und gestärkt. Darin liegt ihre richtungsweisende Bedeutung“ so lautet sein Fazit.256 Das Gericht liefert eine Richtschnur, die nicht nur in eine Richtung zeigt, sondern auch zukünftige Felder der Zustimmung und Ablehnung markiert. Was Aschke als produktives Verhältnis zwischen Islam und moderner Gesellschaft versteht, werden andere als Islamisierung der modernen Gesellschaft und wieder andere als Modernisierung der islamischen Gesellschaft beschreiben. Man entkommt mit den Exempeln auch dann nicht der Hybridisierung, wenn man auf weiteres polemisches Potential hinweist. Wie immer sich evolutionstheoretische Analysen zum Schächten verhalten, Evolutionstheorie, d.i. unreine Rechtslehre. Statt Momente der Reunion markiert sie Momente spontaner Bifurkation.
Exempel sind nie unschuldig, auch das letzte Beispiel ist polemisch verstrickt. Schnell erscheint es als Exempel für die Beziehung zwischen Recht und Kultur, aber darin würde die Polemik ungebrochen wirksam. Warum soll es kein Beispiel sein für das Verhältnis zwischen Recht und Recht? Versteht man den Fall als Kollision zwischen Recht und Kultur und als Beispiel für eine gelungene Entscheidung über Integration vs. Desintegration, dann sind bereits Vorentscheidungen getroffen, die eine Analyse gerade offen halten soll. Man hält dann vorschnell § 4a Abs. 1 TierschG (Verbot) für eine Rechtsregel und den Absatz 2 Nr. 2 (Ausnahme für Religionsgemeinschaften) für 256
ASCHKE (Fn. 164), 121 meint die Ausrichtung am Selbstverständnis der Religionsgemeinschaften und den Umstand, dass die verfassungsrechtliche Integration die Muslime in ihrer Selbstidentifikation respektieren und unterstützen müsse.
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einen Freiraum religiöser Regelungsmöglichkeit, obwohl beides gleichermaßen religiös und weltanschaulich wie rechtlich gedeutet werden kann. Man schließt bestimmte Religionsgemeinschaften zuerst völlig selbstverständlich aus der Gemeinschaft des Rechts aus, um dann feierlich ihre Integration zu verkünden. Und man ignoriert, dass die evolutionäre Bedeutung nicht in einem phänotypischen Konflikt zwischen Islam und Westen liegt, sondern in den möglichen genotypischen Konflikten und Kooperationen zwischen Enkulturierung und Konstitutionalisierung – in der Art und Weise, wie das Recht gesellschaftliche Reproduktionsbedingungen registrieren soll, inwieweit es unvermittelte Selbsttranszendierungen von Populationen und inwieweit es die prozedurale Institutionalisierung von Speicherund Reproduktionsmedien unterstützen soll.257
Als polemisches Exempel kann der Fall schnell überspielen, dass es Konflikte um Integration und Desintegration auch bei der Auseinandersetzung zwischen Teilrechtsordnungen geben kann, etwa wenn man darum streitet mit welchen Grenzen man Sonderprivatrechte bzw. besonderes öffentliches Recht aussondern kann. Es gibt z.B. ein besonderes Umweltrecht, obwohl das ganze Recht doch eine richtige Beziehung zur Umwelt aufbauen muss. Es gibt ein besonderes Informationsverwaltungsrecht, obwohl Recht doch selbst Information ist. Warum gibt es kein Evolutionsrecht? Solange das nicht beantwortet ist und die Differenzen zwischen Programmatik und Programm, zwischen Analyse und Norm gepflegt werden, werden auch die Kardinaltugenden der Evolutionstheorie ihre integrativen und desintegrativen Kräfte entfalten. Die genannten Kardinaltugenden drehen sich dabei um eine Morphogenese juridischer 257
Zum Unterschied von Konstitutionalisierung und Enkulturierung siehe Fn. 94
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Evolution, sie laufen damit immer wieder auf eine Abstimmung juristischer Grenzmarkierungen hinaus. Gegenüber einer wesentlichen Gleichsetzung zwischen Recht, Gesellschaft und Proprium bringen sie eine empfindliche Störung. Die digitale Festlegung juristischer Genera (Inklusion/Exklusion) wird durch die Evolutionstheorie immer wieder in Gang gebracht. So vervielfältigbar lässt sie sich vielleicht in ein konditioniertes Schema von Amplifikationen und Reflexionen übersetzen.258 In dem Streit der Kardinaltugenden erhalten die evolvierenden Informationen zwar Orte und Träger, aber weder bleibenden Ort und noch substantiellen Träger. Obwohl sie der Gegenstand der Evolutionstheorie selber sind, bleiben sie akzidentiell und docken mal strikter, mal lockerer an die Einheiten des Rechts an. Insoweit redimensioniert die Evolutionstheorie Begriffe wie Population, Netzwerk, Komplexe, Gender oder Ensemble, die ihrerseits schon von anderen Rechtsträgerbegriffen wie Volk, Person oder Staat abstrahierten. Evolution spaltet sich auf in Zentren und Peripherien. Die Logik von Reembedding und Disembedding zwischen Recht, Kultur und Individuum werden in Gang bzw. im Takt gehalten.
V. E v o l u t i o n u n d R hetorik Zur Komplementarität von Biologie und Rhetorik Dem Leser wurde ein Bastardtext versprochen. Sein hybrides Prinzip der Komplementarität soll in diesem Buch bis zum Schluss durchgehalten werden. Wir vertrauen darauf, dass das Ende des Textes den verbleibenden Beliebigkeiten, Un258
Insoweit würden wir gegen Aschke betonen, dass die gelobte Anerkennung der Selbstidentifikation von Teilgemeinschaften eine bloße Amplifikation von Inklusions- und Exklusionstendenzen ist, die in der strikten Kopplung von Population und Schlachtritual die Selbsttranszendierungen riskant erhöht.
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entschiedenheiten und Offenheiten ein Ende setzt. Die Komplementarität betrifft das Verhältnis zwischen Rhetorik und Evolution. In diesem Verhältnis gibt es die Simulation der Bindung des Richters an den Gesetzgeber, für die hyperbolisch der Begriff des Subsumtionsautomaten steht. Und es gibt die Stimulation einer inneren Stimme des Juristen. Meist lassen sich Simulation und Stimulation gut auseinander halten, etwa wenn man die strikte Unterscheidung zwischen produktiver Regel und reproduktiver Regelanwendung kritisiert, wenn man gesetzespositivistische Reduktion einerseits und hohle politische Neutralität der Rechtswissenschaft andererseits beklagt oder den Subsumtionsautomaten als Legende enthüllt. Beides lässt sich gut unterscheiden, wenn man entgegen der Behauptung deterministischer Bindung auf die Freiheiten des Rechtsanwenders hinweist. Und es lässt sich gut auseinander halten, wenn man darauf verweist, dass die Freiheit des Anwenders kein leerer Dezisionismus bedeutet, sondern die Bindung des Rechts an Wissens- und Konventionsbestände einer fragmentierten Gesellschaft. Im letzten Fall gerät die gute Unterscheidbarkeit aber an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Simulation und Stimulation der Autonomie werden dann auf einer weiteren Ebene verblüffend ähnlich. Das Arrangement, auf das der Jurist sich verlässt, wenn er auf seine innere Stimme hört, ist teuflisch ähnlich den Interferenzphänomenen kultureller Evolution. Und das Bindungsarrangement der Kultur ist verstrickt in das Stimulationsregime der Rhetorik. Kultur ist ein parahorizontaler Automat mit Kopierkonditionen, die immer noch weiter reichen, als wir ahnen. Man sollte sich deswegen nur begrenzt Sorgen machen, die Iterationen geben noch genug Spielraum.
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Der Unterschied des Rechts zu anderen Formen sozialer Reproduktion ist selbstverständlich und einleuchtend. Die Selbstverständlichkeit des Rechts hängt nicht allein am Rekurs auf die Formen aus dem juristischen Archiv, sondern auch am Phänomen der Inference. Auf rhetorisch modulierte Inference zielte dieser Text vor allem ab. Der Untertitel versprach dazu Auskunft über die rhetorische Evolution und er ließ unbestimmt, wer das Subjekt, wer das Objekt dieses Prozesses ist. Die Rhetorik oder die Evolution? Evolviert die Rhetorik oder sind die Beschreibungsformen der Evolutionstheorie rhetorisch? In den gesellschaftsorientierten Entwürfen evolutorischen Rechts (nicht den soziobiologischen Untersuchungen) bleibt bis heute umstritten, ob es sich bei dem Vokabular der naturwissenschaftlichen Evolutionstheorie um rhetorische Figuren handelt oder nicht. Es ist unsicher geblieben, ob die evolutionstheoretischen Begriffe Metaphern sind oder nicht. Kann man Fruchtfliegen und Vereine, Genetik und Grundgesetz, Lemminge und lex mercatoria vergleichen? Können wir sie vorbehaltlos vergleichen? Vielleicht hängt diese Übertragbarkeit von einer weiteren Organisation des Ähnlichen und einem Regulativ der Interferenz ab. Vielleicht handelt es sich aber auch um gar keine Übertragung, weil die Biologie die Erstzuständigkeit für die Bildung von Evolutionsmodellen verloren hat. In der Regel behält sich die evolutionstheoretische Rechtswissenschaft vor, dass die natürlichen Bedingungen grundsätzlich anders seien als die kulturellen und gesellschaftlichen Bedingungen des Rechts.259
259
Distanzierungen von der Naturwissenschaft findet sich z.B. auch bei ABEGG (Fn. 161), 373 m.w.N.; LAMPE (Fn. 31), 21; AMSTUTZ (Fn. 186), 137 verweist auf Bestandsaufnahmen der Distanzierungsversuche; gänzlich streitunwillig dabei sogar z.B. SALIGER (Fn. 150).
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Bei Marc Amstutz heißt es zur Distanzierung von den Naturwissenschaften: „Die vorangehenden Ausführungen lehren, dass nur die Metapher imstande ist, den normativ-analytischen Status des der Biologie entnommenen Evolutionsbegriffes im Recht angemessen zu beschreiben. Das heißt insbesondere: Nicht logische Folgerichtigkeit bei der Verwertung biologischer Evolutionserkenntnisse im Recht, sondern Rekonstruktion der Evolutionsmetapher anhand rechtsdiskuseigener Kriterien ist die richtige Methode für die Bildung einer Theorie von Evolution und Recht.“260 In den programmatischen Absatz haben sich irritierende Einzelheiten eingeschlichen. Amstutz spricht davon, dass nur die Metapher dazu „imstande“ sei, den Status biologischer Begriffe zu beschreiben und davon, dass ein Regulativ der Angemessenheit bestimme, wie man den richtigen Anschluss zwischen der Ordnung der biologischen Evolution und der Ordnung der juristischen Evolution herstellen könne. Bei beiden Formulierungen greift Amstutz rhetorische Schlüsselbegriffe auf: Mit der Statuslehre und der Forderung nach Angemessenheit greift er das rhetorische Regulativ des decorum auf (statt eines der Biologie).261 Es sei bloßer Zufall, dass Amstutz „imstande“ sagt und insoweit von Status spricht (er hätte statt imstande auch leistungsfähig oder wertvoll schreiben können), so könnte man einwenden und die Irritation nicht weiterverfolgen. Dass das bloßer Zufall sei, kann man auch aus der Warte rhetorischer Evolution sagen und muss dann aber diese Irritation erst recht weiterverfolgen. Die Irritation liegt in der Verwechselbarkeit von rhetorischer Angemessenheit (decorum) und ökologischer Anpassung (Fitness). Solche zufälligen Zusammentreffen fern liegender Kategorien ergeben sich, wenn
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AMSTUTZ (Fn. 186), 167. Vgl. Fn. 128.
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unterschiedliche Systeme wie Sprache, Recht, Bewusstsein und Wissenschaft aufeinander treffen, und einer Hyperreferenz bedürfen.262 Die Zufälle bedienen den Bedarf nach einem Symbolsystem, dass für soziale Gruppen ermöglicht, sich weiter im Recht zu wähnen. Oder sie bedienen den Bedarf, juristische Auseinandersetzungen weiter im Modus evolutionärer Theoriebildung voranzutreiben. Eins ist klar: Es gelingt nicht, für die Regulation des eigenen Theoriedesigns ein Reservat aufzustellen. The Evolution will not be televised.263 Die Distanzierung zwischen Evolution und Rhetorik ist und bleibt immer unperfekt, die Speicher- und Reproduktionsmedien des Rechts sorgen immer wieder für Nähe. Das theoretische Design bleibt in Zufälle so verstrickt, wie in Evolution und Rhetorik. Wenn etwa gegen Ende des vorliegenden Buches nicht mehr erkennbar sein sollte, ob der Autor überhaupt ernst meint, was er sagt oder ob alles ein maskiertes Vorbringen war, so kann aus dieser Unsicherheit heraus weder auf die Ubiquität noch auf eine Abwesenheit der Evolution geschlossen werden. Darin liegt der Ernst der Ironie. In der Evolutionstheorie feiert die Sprache.264 Wir und die Evolution feiern mit.
Die Distanzierung von soziobiologischen Bedingungen führt in der Rechtswissenschaft zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Die einen – wie Luhmann und Vesting – weisen darauf hin, dass man keine Begriffe von der Biologie übertrage, sondern selbstständig modelliere. Also könne es sich bei dem Vokabular 262 263 264
Vgl. Fn. 128. Original heißt es bei GIL SCOTT HERON, The Revolution will not be televised (1974). Das Wittgenstein-Zitat nimmt JANICH (Fn. 162), 128 zum Anlass einer Analyse über die Verwirrungen und Entfernungen zwischen Objekt- und Metasprachen zweiter, dritter und vierter Ebene in naturalistischen Theorien. Anders als er würden wir deswegen nicht auf die Sinnentleerung der Theorien schließen, sondern darin eine differenzierende Entwicklung mit dem Aufbau von Hyperreferenzen sehen.
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mangels Übertragung auch nicht um rhetorische Figuren bzw. Tropen handeln. Andere – wie Amstutz und Wieacker – verwenden die Evolutionstheorie wegen der Distanzierung methodisch nicht als argumentum a pari, sondern als argumentum a simile und die Begriffe als Analogien und/oder als Metaphern.265 Auch in dem Bezug zu den eigenen Distanzierungsformen ist die Rechtswissenschaft also gespalten.266 Und sie reproduziert darin kollaterale Konditionen der oben geschilderten Kardinaltugenden, weil unentscheidbar bleibt, ob die Distanzierung zwischen Recht und Natur eher im Modus rhetorischer Tropen oder im Modus wissenschaftlicher Eigentlichkeit gelingt. Die Wissenschaft behält sich zwar in beiden Fällen vor, über die Organisation des Ähnlichen und das Regulativ der Interferenz selbst zu bestimmen aber darin entgleitet ihr schon die Sprache. Vielleicht mag die Rechtswissenschaft das Konzept der Autorschaft nur ungern aufgeben. Vielleicht halten sich Rechtswissenschaftler sowohl mit dem Vorbehalt des Metaphorischen als auch mit der Verteidigung der Eigentlichkeit für die Kreatoren der Evolution, vielleicht für gewiefte Gentechniker, vielleicht
265
266
Während Wieacker (Fn. 28), 44 von Chiffren und Bildern spricht (Der Begriff der Kontinuität, mit dem der Historiker Wirkungen früherer Kulturen auf spätere auffasst, ist indessen vorerst noch unbestimmt. Ähnlich wie die einfacheren Bilder des Einflusses, der Vererbung, des Vermächtnisses, des Fortlebens und der Lehr eist es zunächst nur eine bloße Chiffre zur abkürzenden Bezeichnung komplexer und ungewisser Beziehungen die wir unserer täglichen Erfahrung mechanischer, biologischer oder psychologischer Wirkungszusammenhänge entlehnen. Es empfiehlt sich, solche für die Darstellung unvermeidlichen Modelle so zurückhaltend und geschmeidig zu wählen wie möglich. Vielleicht ist der Erfahrung des Historikers von den Wirkungen der antiken Kultur auf die europäische Tochterkultur am angemessensten das Vererbungsmodell der modernen Biologie, die die Weitergabe des Lebens im Wandel der Generationen als einen Informationsprozess beschreibt: lebendige Formen reproduzieren sich, indem ein System genetischer Informationen wie eine Matrize neue organische Substanz zu gleichen oder ähnlichen Gestalten aufbaut und organisiert.) unterscheidet Amstutz genauer zwischen Analogien und Metaphern. Symptomatisch: LAMPE (Fn. 31), 24 klärt mit einer Metapher, welche Form der Analogie er wünscht; generell kritisch: JANICH (Fn. 162), 128; im Detail zwar verteidigend, i.E. aber für Metaphern statt für Analogien AMSTUTZ (Fn. 186), 134 ff.
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nur für Züchter.267 Es ist vielleicht auch nur die Hoffnung, dass das eigene Theoriedesign in das, was evolviert, nicht involviert ist. Eine evolutorische Rechtstheorie ist und bleibt zweischneidig. Diesen unsicheren rhetorischen Status des evolutionstheoretischen Vokabulars nimmt der Bastardtext ins Blickfeld. Mit einem doppelten Ansatz nähert er sich der rhetorischen Evolution des Rechts, nimmt ihr die Zweischneidigkeit und kann sie nur durch weitere Zweischneidigkeiten ersetzen. Ist Evolution für die Rechtswissenschaft bloß eine rhetorische Figur oder ist auch Rhetorik bloße Evolution?268 Versteht man auch die Rhetorik schon als Selbstorganisationsform der Gesellschaft, die evolutionären Bedingungen unterliegt, dann wird es nicht sinnlos zu fragen, ob Evolution eine Metapher ist oder nicht. Die Frage wird nur komplizierter, weil das metaphorische Sprechen dann selbst ein evolutionärer Effekt sein kann.269 Es kann sein, dass die Angemessenheit der evolutionstheoretischen Figuren einem Programm folgt, das passende Stimuli für theoretische Populationen bereit hält und so Evidenz erregt.270 Komplikationen ergeben sich nicht aus einer Austauschbarkeit oder Gleichwertigkeit von Evolution und Rhetorik und auch nicht aus einem Zusammenbruch der Unterscheidungen. Sie ergeben sich daraus, dass die Vorstellung wegfällt, eine Wissenschaft wie die Jurisprudenz könne über die Organisation des Ähnlichen oder eine praktisch-semantische Morphologie für das Regulativ der Interferenz verfügen. Ihre eigene Gestalt und ihre eigene Figur nähern sich im Design der Form eines 267
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270
ABEGG/ AMSTUTZ/ KARAVAS, Soziales Vertragsrecht. Eine rechtsevolutorische Studie (2006), 55 vergleichen sich mit Tierzüchtern, die aufgrund einschlägiger Erfahrung die Evolution spielend nutzen, nicht aber suspendieren. Zur Biologie der Rhetorik MÜHLMANN, Die Natur der Kulturen (1996). Als kognitive Fähigkeit und kulturevolutionäre Errungenschaft beschrieben bei TOMASELLO, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens (2002), 200 f. Es ist zu beobachten, das Disziplinen, wie die anglo-amerikanische Tradition von Law and Economics mit ihren dogmatischen Texten, die evolutionäre Begrifflichkeit angeregt aufsaugen, um ihre Modelle juridisch gebundener Reproduktion weiter anreichern zu können; vgl. ROE (Fn. 26).
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automatischen und sprunghaften Gedankens an. Das Recht, es stottert immer noch theomorph. Kein Wunder, dass Heiner Mühlmann von „strange revelation“ spricht und Niklas Luhmann von der „Göttin Evolution“.271 Was ist an dem strange loop zwischen Rhetorik und Evolution fruchtbar? 272 Der blinde Fleck der Evolutionstheorie lautet heute Autopoiesis (nicht Fitness). Der blinde Fleck der Rhetorik lautet heute Fitness (nicht Autopoiesis). In der wechselseitigen Beobachtung des jeweils anderen blinden Flecks liegt die Möglichkeit, den Sinn für die Akzidentialien des Rechtssystems zu schärfen.273 Das Regulativ der Interferenz läßt sich vielleicht nicht regulieren, aber immerhin beobachten. Jurisprudenz und Rechtsinstinkt Nach vier Exempeln haben vier Kapitel Auskunft darüber gegeben, welche Denkstrukturen umgestellt werden, wenn man sich zufälligerweise mit Recht und Evolution beschäftigt und Modelle über Recht und Evolution neu bestimmt. Es sind Umstellungen von Konsens auf Konflikt, von Qualität auf Reflexivität, vom Wesen des Rechts auf seine ökologischen Beziehungen. Es sind keine notwendigen Remodellierungen, weil nicht alle Juristen Evolutionstheoretiker sind und umgekehrt. Und es sind auch deswegen keine notwendigen Umstellungen, weil sie auch anders als über eine Kombination von Rechtswissenschaft und Evolutionstheorie zu haben wären – wie, ist nur nicht Gegenstand dieses Buches. Mit dieser Umstellung befinden wir uns in einer unsicheren Lage, die der Verwechselbarkeit von Simulation und Stimulation eigenständigen Rechts, dem göttlichen Stottern der evolutionären Denkstrukturen, entspricht.
271 272 273
MÜHLMANN (Fn. 46), 92; LUHMANN (Fn. 20), 328. Zum strange loop vgl. TEUBNER (Fn. 36), 7-17. Wir folgen einer Anweisung von TEUBNER Ökonomie der Gabe – Positivität der Gerechtigkeit, in: Koschorke/Vismann (Fn. 27), 199-212.
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Der juristische Evolutionstheoretiker findet sich selbst in einer unbestimmten Zone der Regulierung, irgendwo zwischen Auto-x, Hetero-x und Allo-x: irgendwo zwischen Metanoia und Paranoia.274 Er manipuliert mit metabolischen Figuren das Symbolsystem, mit dem die Gesellschaft ihr Recht reproduziert.275 Er nimmt die Idee des Gesetzes als Programm eines vom politischen Befehl gefütterten Subsumtionsautomaten auseinander und rekonstruiert das Modell eines noch viel größeren und namenlosen Automaten. Man kann die damit einhergehende Unbestimmtheit als Folge des Umstandes ansehen, dass hier ein enger Begriff sozialer Reproduktion (Recht) und ein weiter Begriff sozialer Reproduktion (Kultur) benutzt und die Abgrenzung selbst problematisiert wird und dass man dementsprechend auch jeweils enge und weite Begriff von Verfassung, Gesetz, System, Evolution etc. verwendet. Wir sehen in diesem Nebeneinander von engen und weiten Begriffen wiederum kein Defizit der Theorie, sondern einen ersten Schritt, die theoretischen Instrumente von digitalen Ordnungsmustern auf polarisierte und graduelle Konditionierungsverhältnisse, d.h. Amplifikationen und Reflexionen umzustellen. Aber bisher liefern die juristischen Evolutionstheoretiker nur ein Programm – und eine eigenartig unbestimmte theoretische Zone.
In dieser unbestimmten Zone ist der Unterschied zwischen Natur und Kultur längst aufgehoben. Die Komplementarität von biologischer und rhetorischer Stimulation ist die Pointe dieser Aufhebung. Fitness und Decorum konkurrieren hier fruchtbar 274
275
NEVES, From the Autopoiesis to the Allopoiesis of Law, Journal of Law and Society 28 (2001), 242-264. Doppelbödig wie Marbury vs. Madison, 5 U.S. (1 Cranch) 137 (163): The Government of the United States has emphatically (!) termed the government of laws, not of men.
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um den Status als Autologie passender bzw. angemessener Modelle.276 Was fällt in dieser Konkurrenz auf?277 Im Theater dieser Konkurrenz tragen die verschiedenen Evolutionstheoretiker des Rechts noch unterschiedliche Methoden mit sich, die traditionell entweder in den Geisteswissenschaften oder eher in den Naturwissenschaften verankert sind. Eine gesellschaftstheoretische Form der Evolutionstheorie bemüht sich, operationabel zu werden, indem zuerst Anweisungen für weitere Strukturierungsleistungen gegeben werden. Ihre Modellbildung richtet sich direkt auf methodologische Figuren der Rechtsanwendung, auf dogmatische Figuren, Entscheidungsund Gesetzgebungsvorschläge.278 Eine naturwissenschaftliche Form der Evolutionstheorie beginnt hingegen, Experimente zu gestalten, also Laborsituationen zur Verifikation oder Falsifikation der Modelle zu schaffen.279 Ich tendiere zur ersten Strategie, aber ich bin auch als Jurist sozialisiert. Die Herausgeber dieser Reihe empfehlen mir dringend, den zweiten Weg einzuschlagen, aber sie haben sich auch in naturwissenschaftlichem Kontext formiert. Die Unterschiede zwischen Kultur und Natur sind in diesem Konflikt also nicht nur längst, sondern auch gut aufgehoben. Bei aller Offenheit dieser Konkurrenz kann auch nicht geleugnet werden, dass die unterschiedlichen Methoden 276
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Die ökonomische Evolutionstheorie schlägt hingegen Effizienz als Maßstabsgeber für die Entwicklung und Entsorgung juristischer Einrichtungen vor, vgl. kritisch ROE (Fn. 26). Hatte z.B. Thomasius in der frühen Neuzeit das decorum entmoralisiert und seinen natürlichen Bereich vom decorum politicum scharf unterschieden, so treffen die Sphären in der evolutionären Konkurrenz von rhetorischem decorum und Fitness wieder aufeinander; KAUFMANN, Die Rolle des decorum in der Ethik des Christian Thomasius, Jahrbuch für Recht und Ethik 8 (2000), 233-245. AMSTUTZ (Fn. 186), 309-345 schließt mit Anweisungen über Modelle der Rechtskonkretisierung; ABEGG (Fn. 215) bewertet Gerichtsentscheidungen; lakonisch über die mangelhafte Folgsamkeit des evolvierenden Rechts LUHMANN (Fn. 20), 296; HELSPER (Fn. 168) übersetzt seine Ergebnisse hingegen in ministerialamtstaugliche Parteiprogramme. Zum Unterschied hermeneutischer und experimenteller Methoden kritisch: TOMASELLO (Fn. 270), 7 f.
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weiter von völlig unterschiedlichen Programmen begleitet werden. Die einen Evolutionstheoretiker orientieren sich weiter an der Gesellschaft, sie sehen soziale Systeme als die entscheidenden Instanzen der Evolution und halten an der Idee eines evolvierenden Rechtssystems fest, das an biologische Populationen nur (mal locker, mal strikt) gekoppelt ist. Die anderen orientieren sich weiter an evolutionärer Psychologie, Verhaltensforschung und Neurobiologie, sie verstehen kognitive Module, Bewusstsein, limbisches System und zentrales Nervensystem als entscheidende Instanzen der Evolution und sie bevorzugen die Größe Population vor der Größe System. Beide Formen stoßen auf jeweils spezifische Probleme der Über- und Unterschätzung evolutionärer Formationen. Die einen überschätzen sozusagen das Archiv, die anderen die Archivare, dafür unterschätzen die einen die Archivare und die anderen das Archiv. Und die Lösung dieser Probleme kann nicht einfach in der Versöhnung liegen, weil in den unterschiedlichen Formen der Theorien nicht zufällig Zentren und Peripherien/Marginalien gesetzt werden. Die Paradoxie der Evolution, Einsichten in Zufälle zu schärfen und Ahnungen über parahorizontale Automaten zu verstärken, wird über diese Spaltung in Zentren und Peripherien nicht aufgelöst; sie wird in weiter Landschaft entfaltet.280 Evolution hat schließlich relativ wenig mit Determination und relativ viel mit Dispositionen zu tun. Entgegen mancher Vorurteile droht von der Evolutionstheorie an sich weder Reduktionismus, noch der berüchtigte naturalistische Fehlschluss. Der Versuch zur fruchtbaren Korrespondenz verschiedener Evolutionsmodelle kann nicht auf die Bestimmung eines einheitlichen Supermodells, das die Reproduktion von Informationen vom genetischen Code bis hin zur juristischen Dogmatik erklär-, berechen- und nutzbar machen wird, hin-
280
Das Leitbild der evolutionären Landschaft ATRAN (Fn. 43), 10-13 m.w.N. Besser noch, auch vom polyzentrischen Kosmos zu sprechen.
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auslaufen. Soll man etwa, wie Rechtshistoriker es gerne in zentralen Randbemerkungen tun, von einer angeborenen und geschulten menschlichen Fähigkeit zur intuitiven Erfassung der sachlich richtigen Entscheidung ausgehen und das Ganze einfach Judiz nennen?281 Von diesen zauberhaften Namensgebungen sieht die Evolutionstheorie ab. Die jüngere Forschung zur kulturellen Evolution versucht mit einem vierdimensionalen Modell von so genannten inheritence systems die unterschiedlichen Ebenen ohne Behauptung eines Supersystems in Bezug zueinander zu setzen. Sie unterscheiden sehr genau genetisches und epigenetisches System, die sozialen Lernstrukturen und als viertes sprachliche bzw. symbolische Kommunikationssysteme, die bei der kulturellen Evolution ineinander greifen.282 Ineinandergreifen meint hier keine kausaldeterminierenden Strukturen, sondern wieder die Komplexität koevolvierender Effekte und präadaptiver Vorteile. Unterschiedliche Rechtsordnungen stehen unter einem gesellschaftlichen Selektionsdruck, der von dem Selektionsdruck der Fortpflanzung des homo sapiens sapiens abgeschirmt ist. Es gibt eben kein Indiz dafür, dass sich gute Juristen und gesetzestreue Bürger erfolgreicher fortpflanzen als Popstars, Investmentbanker oder Künstler. Zwischen der juristischen Morphogenese und der biologischen Evolution liegen Welten. Ineinandergreifen ist da ein Euphemismus, man meint eigentlich einen gravitätischen Kosmos voller abgeschirmter autologischer Stränge, weder eine einheitliche Umwelt, noch einen panevolutionären Selektionsdruck. In der vielfältigen Landschaft und dem polyzentrischen Kosmos der Evolution entwickeln sich genetisch/epigenetisch programmierte kognitive Module, spezifisch und unspezifisch juristische Kognitionsfähigkeiten weiter.283 Von den phylogenetisch verankerten Imitationsfähigkeiten und Spracherwerbs281 282 283
KASER, Römische Rechtsgeschichte (1967/1993), 173. JABLONKA/ LAMB (Fn. 30), 2. Hierzu MÜHLMANN (Fn. 46) und dort Vorwort von GRUNWALD, V-XIX.
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möglichkeiten bis hin zur Möglichkeit, soziale Gruppen und Taxonomien zu klassifizieren und logisches Denken zu trainieren gibt es dabei heute zwar Hinweise auf die Sedimentierung juristischer Informationen im Instinktwissen.284 Aber diese Sedimentierung schafft natürlich keine Grundlage, sondern bloße, akzidentielle Dispositionen – und wenn man so will aufwirbelbaren Staub.285 Das Recht formiert sich, ohne an die Kontinuität der Reproduktion einer stabilen Ordnung gebunden zu sein.286 Es ist an den iterativen Pool der Kultur gebunden und voller Verschiebungen und Sprünge. Der gravitätische Kosmos der inheritence-systems lebt von einer Abschichtung von vertikaler und horizontaler Adaption (zwischen Generationen und innerhalb einer Generation), deren Gleichschaltung maladpativ wäre. In diesem polyzentrischen Kosmos gehören neben den kognitiven Modulen anwachsender Juristen weiter die veränderbaren familiären, schulischen und akademischen Lernstrukturen bis hin zur Wissensverwaltung sozialer Organisationen. Und in den Kosmos gehört schließlich der kumulativ von Fall zu Fall und von Generation zu Generation kondensierte und konfirmierte Bestand an dogmatischen und methodischen Figuren, der im engeren Sinne das Symbolsystem des Rechts bilden. Die Komplexität dieses gravitätischen Kosmos verschiebt die instrumentelle Nutzbarkeit des evolutionstheoretischen Wissens auf Morgen.
284
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286
Womit weder Sprache, Logik, Taxonomien oder soziale Formationen vererbt würden, sondern nur die kognitiven Module, solche Sinnsysteme ontogenetisch zu erwerben. A.A. MASTERS/GRUTER (Hg.), The Sense of Justice. Biological foundations of law (1992), wo die Autoren von Grundlagen etc. sprechen; im neuzeitlichen System der Wissenschaft gehört der aufgewirbelte Staub übrigens zu Theorie der Meteore/ Schwebeteilchen (Fn. 232). LADEUR, Negative Freiheitsrechte und Selbstorganisation (2000), 1.
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Das Recht ist ein System, das auf Kosten anderer Systeme sozialer Reproduktion expandieren kann.287 Rechtliche Formationen können seit Kreons Zeiten familiäre Gemeinschaften zerstören. Gesetze, die eine Haftpflicht einführen, können Verantwortungslosigkeit fördern. Wenn sich eine Hausgemeinschaft eine Hausordnung gibt, können Konfliktlösungen im Treppenhaus oder vor dem Aufzug plötzlich durch Anwaltsschreiben und Instanzenzüge ersetzt werden. Modernes Marken- und Urheberrecht kann dazu führen, dass traditionelles Wissen den Gemeinschaften enteignet wird, die es bisher gepflegt haben, das von informellen Strukturen wie den so genannten Bauernweisheiten abhängig war und als juristisches Muster verkümmert. Die Beispiele sind Legion, in denen Recht als Medium der Konfliktlösung die Konflikte verbreitet, die es eindämmen sollte. Auf dieser Ebene sind die Begegnung von Recht und Evolutionstheorie und die Verzögerung instrumenteller Nutzbarkeit schon gerecht. Aber sie ist auch nur dann gerecht, wenn ihre Subversivität nicht weiter reflektiert wird. Und gerecht bleibt das evolutionäre Recht nur dann, wenn statt der Subversivität weiter die Instrumentalisierbarkeit reflektiert wird. Nur mit einer weiterlaufenden Untersuchung evolutionärer Instrumente bleibt der extrajuristisch fruchtbaren Gesellschaft selbst die gerechte Möglichkeit, notfalls auf das Recht zu verzichten. Das gilt vor allem im Hinblick auf die Erwartung, dass die Aufhebung der Grenze zwischen Natur- und Kulturwissenschaft zu einer Supereinheit des Wissens führen werde.
287
TEUBNER, Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts (2007).
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Wenn ich Leiter eines Labors wäre, welche Experimente würde ich machen, um wegen des Paradoxiemanagements ungerechter Gerechtigkeit etwas über die Instrumentalisierbarkeit juristischer Evolution zu erfahren? Welche Experimente wären es im Hinblick darauf, dass man von anderen Experimenten weiß, und im Hinblick darauf, dass man auch als Laborleiter noch eine Nische besetzten möchte, die andere Laborleiter vermutlich nicht besetzen werden? Es wären Experimente zur rhetorischen Evolution des Rechts und sie würden dem Ineinandergreifen von Jurisprudenz und Rechtsinstinkt gelten. Sie suchten die Spuren zwischen biologischer Resonanz und rhetorisch-juridischer Figurationen und Spuren zwischen der Affektund der Symbolkommunikation des Rechts. Sie begäben sich an die Peripherie juridischer Enkulturierung um etwas über das Kalkül der pseudoquiritischen Reflexe und über Perturbationsdispositionen zu erfahren. Sie suchten statt eines binären Codes der Entscheidung zwischen reziproker Befriedigung vs. verbrecherischer Enttäuschung die polarisierten und graduell ausgeformten Mechanismen juristischer Bewegbarkeit bis hin zu jenen Regungen, die Cicero mit Hass und Liebe, Zorn und Begierde, Schmerz und Freude, Furcht und Hoffnung beschreibt.288 Die Laborleiter fragen mit ihren bisherigen Experimenten hingegen nach einem digitalen Schema und sie bestätigen moralische Dilemmata. Über die vielfältigen Dimensionen der Kopplungen zwischen Judiz und den niederen Sinnen, für die die rhetorische Theorie mit ihren Stimulationsprogrammen 288
nihil est enim in dicendo, Catule, maius, quam ut faveat oratori is, qui audiet, utique ipse sic moveatur, ut impetu quodam animi et perturbatione magis quam iudicio aut consilio regatur: plura einim multo homines iudicant odio aut amore aut cupiditate aut iracundia aut dolore aut laetitia aut spe aut timore aut errore aut aliqua permotione mentis quam veritate aut praescripto aut iuris norma aliqua aut iudici formula aut legibus, CICERO, De Oratore II 178; CICERO, Orator 38, 131 zählt ähnliche Affekte auf.
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sich interessierte, sagen sie nichts. Es gibt Experimente, die digital auf die Entscheidungen zwischen Regelbefolgung und Regelverstoß oder auf Entscheidungen zwischen Kooperation oder Verrat ausgerichtet sind. Den Experimenten über Reziprozitätsinstinkte ist z.B. gemein, dass sie bei Gesetzen an Befehle oder Forderungen denken, die man entweder befolgt, oder denen man sich widersetzt und in denen Reziprozität in einfachen Tauschstrukturen noch klar definierbar ist.289 Die Suche nach reciprocity-instincts wird vielleicht den Rechtsmodellen von Habermas und Rawls gerecht.290 Dem rhetorischen Programm niederer Sinne und der rechtlichen Realität wird das alles andere als gerecht. Teilweise wird in den Experimenten rechtliches Verhalten mit rechtskonformen Verhalten gleichgesetzt. Es wird sogar behauptet, der neuronale Apparat habe sich evolutionär so entwickelt, dass er reziprokes Verhalten mit Endorphinausschüttung belohne – und so die Grundlage für rechtmäßiges Verhalten entstünde.291 Kokain erzeugt einen ähnlichen Effekt – heißt das, es würde stärker wirken, wenn es wieder legalisiert würde?292 Die verhaltensorientierten Experimente der evolutionspsychologischen und neurobiologischen Forschung verstehen das Recht als Gesetz und das Gesetz als Befehl. Das Recht wird nicht als soziales Medium der Verarbeitung von Konflikten verstanden und es wird nicht mit einkalkuliert, 289
290
291
292
COSMIDES/TOOBY, Cognitive adaptions for social exchange, in: BARKOW (Hg.), The Adapted Mind (1992), 163-228; CHASIOTIS, Die Mystification der Homöostase, Gestalt Theory 17 (1995), 88-129. Habermas nutzt die Evolutionstheorie über ein Homologie zwischen sozialen Bewußtseinsstrukturen und der evolutionären Psychologie, HABERMAS, Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus (1976/1995), 13; Luhmann sieht mit der Entstehung der subjektiven Rechte einen evolutionären Wandel von Reziprozität zur Komplementarität des Rechts; vgl. LUHMANN (Fn. 70), 363. SCHWINTOWSKI, Juristische Methodenlehre (2005), 204; DANIELLI, Altruism and the internal reward system or the opium of the people, Journal of Social and Biological Structures, 3 (1980), 87-94; GRUTER, Ostracism on Trial, Ethology and Sociobiology 7 (1986), 271-279. Andere spöttische Reflexe zur These von evolutionärer Belohung rechtmäßigen Verhaltens liefern LAHUSEN/SIMON, Bücherstand I, KritV 2007, 6-89 (32).
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dass im Konflikt und seiner Lösung für juristische Foren eher gesellschaftliche Normbestände kollidieren denn individuelle Erwartungen. Rechtliche Fragen über die Verantwortbarkeit und Handlungsfähigkeit sozialer Organisationen, etwa Fragen über Haftungsregeln juristischer Personen oder über Mitbestimmungsregeln und die Bereitschaft, das eine einzuräumen und das andere zu gewähren, kann man in diesen Experimenten noch lange nicht stellen. Man kann noch lange nicht abfragen, welcher genetischen/epigenetischen Disposition und welcher kultureller Lernstrukturen es für jene Fähigkeit bedarf, Erwartungen bestimmt zu kommunizieren und im Enttäuschungsfall kompromissbereit zu bleiben. Es ist noch lange nicht abfragbar, welche kulturellen Dispositionen die Inanspruchnahme offizieller juristischer Konfliktlösungsforen fördern und ab wann Subkulturen ausschwärmen, um paralegale Konfliktlösungsstrategien zu formieren. Eine evolutionäre Epistemologie juristischer Organisation, die der Komplexität der modernen Gesellschaft gerecht wird, ist mit verhaltensorientierten Experimenten auch noch lange nicht beschrieben. Kann man das eigene Modell des Rechts für Experimente überhaupt axiomatisch festlegen oder soll man solche Experimente gestalten, die Auskunft darüber geben, in welchen Situationen Populationen mit welchen Modellen des Rechts operieren? Vielleicht wird in der axiomatischen Festlegung schon ein Instinkt wirksam, den man eigentlich in der Versuchanordnung selber noch untersuchen möchte? Gibt es Reizungen und Stimmungen, die in Populationen ein angespanntes Befehl-Befolgungsschema hervorrufen und gibt es Reize, die entspanntes Applikationsverhalten hervorrufen? Gibt es nervöse Auslegungsphasen und sichere Auslegungsphasen? Gibt es instinktive Reflexe, die bei der Konfliktlösung zur Ausbildung reflexiver Codes führen, d.h. die instinktiv und allopathisch die Bildung einer second-orderStruktur anstoßen? Gibt es einen Instinkt, der mit Formen der second-channel-communication juristische Kommunikation 147
verstärkt oder abmildert? Gibt es einen aequitas-Instinkt? Gibt es einen Instinkt gegen dogmatische Verhärtungstendenzen oder gegen orientierungslosen Abwägungspragmatismus? Gibt es einen Instinkt, sich den Zumutungen des Rechts früh genug entziehen zu können? Wie ließen sich diese Instinkte konditionieren, notfalls stärken, notfalls zähmen?
Europa hätte seine Pflege des Rechts längst aufgegeben, wenn es nicht in der Lage gewesen wäre, eigenes Recht zu überlisten und zu betrügen. Wäre es nicht in der Lage gewesen, mal Lokomotivführer, mal Trittbrettfahrer zu sein und im rechten Augenblick von juristischen Zügen abzuspringen, dann wäre die europäische Anomalie vermutlich längst verkümmert.293 Die fehlende Perfektion gehört zur koevolutionären Strategie ökologischer Rechtsbeziehungen. Ich würde weiter wissen wollen, wie die soziale Organisation von Amplifikationen und Reflexionen aussieht, wie sich Recht und Gesellschaft auf drohendes Zuviel und Zuwenig einstellen und wie dabei die unterschiedlichen inheritence systems zwischen genetischem Code und epigenetischen Faktoren, zwischen kulturellen Lernstrukturen und Symbolsystemen sich gegenseitig annähern und abstoßen. Die Sedimentierungen von Informationen zwischen symbolischen Artefaktspeichern aus dem Archiv der Juristen, zwischen kulturellen Einprägungen und den Dispositionen kognitiver Module könnten etwas erzählen über die Plastizität des Rechts – wenn es denn gelänge, die Sedimente aufzuwirbeln, ohne den Blick zu vernebeln.
293
Von der Anomalie spricht LUHMANN (Fn. 20), 586.
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By accident, by chance: Die rhetorische Evolution des Rechts stand seit der ersten Textzeile im Vordergrund. Aber was ist mit dem Titel, was mit Gerechtigkeit als Zufall? Davon konnte man nur am Rande lesen. Aber am Rand liegt auch der Ort der Gerechtigkeit. Man findet sie allenfalls akzidentiell, zwischen den Falten juristischer Gewänder. Als Säumnis erscheint die Figur der Gerechtigkeit. Zufällig. So, wie der ca. 40-jährige Jurist Gaius Trebatius Testa, der durch eine lockere Verkettung von Umständen von römischen Hauptwegen abkam, um in der Peripherie an Dinge zu geraten, die ihn eigentlich nichts angingen.294
294
CICERO (Fn. 1).
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Z u m Au t o r Fabian Steinhauer (geb. 1970). Studium der Rechtswissenschaft und Kunstgeschichte in Passau und St. Petersburg. War als Anwalt tätig und ist seit 2002 Mitarbeiter am Institut für öffentliches Recht der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt. Er lehrt Verfassungsrecht und Verwaltungsrecht. 2005 Gastdozent an der CUPL China University of Political Science and Law, Beijing. Der Forschungsschwerpunkt gilt Rechtstheorie und Rhetorik. Seine Arbeit „Bildregeln. Medienrecht und Decorum“ wurde 2007 mit dem Walter-Kolb-Gedächtnispreis der Stadt Frankfurt ausgezeichnet.
Z u r R e i h e T R A C E Transmission in Rh e t o r i c s, A rts and C u ltural E volut ion Kultur ist kein bleibender Wert. Kulturen sind dynamische Systeme. Sie greifen laufend in die Organisation unseres Lebens ein. Kulturelle Dynamik ist ein Transmissionsprozess. Die Buchreihe konzentriert sich u.a. auf die Frage nach der Gedächtnistauglichkeit der kulturellen Übertragungseinheiten. Zu den Übertragungseinheiten gehören: kulturelle Regeln, Gesetze, kulturelle Rezeptionsgewohnheiten, Bildtechniken, Architekturen, Theaternarrative, Melodien, Designobjekte, Zukunftsszenarien.
Bereits erschienen: Heiner Mühlmann: „Jesus überlistet Darwin“
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