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Heiner Mühlmann Countdown 3 Kunstgenerationen
mit Abbildungen von
Rainer Gabriel
SpringerWienNewYork
Professor Dr. Heiner Mühlmann Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. © 2008 Springer-Verlag/Wien • Printed in Austria Springer-Verlag Wien New York ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.at Lektorat: Nadja Schiller (ZHdK) Lay-out und Satz: Springer-Verlag, Wien Druck: Ferdinand Berger & Söhne Ges.m.b.H., 3580 Horn, Österreich Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF SPIN: 12184460 Mit 26 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 1863-6411
ISBN
978-3-211-76488-6 Springer-Verlag Wien New York
Countdown: 3, 2, 1, 0. Man zählt rückwärts, um auszudrücken, dass bei „0“ etwas Neues beginnt.
In h a l t
Generation 1 (1980 – 2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Parenthese I . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Generation 2 (1945 – 1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Parenthese II . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 Generation 3 (1910 – 1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Parenthese III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Crisis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Generation 3 (1910 – 1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Parenthese IV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Generation 3 (Fortsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Parenthese V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Generation 3 (Fortsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Generation 2 (1945 – 1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Generation 1 (1980 – 2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Parenthese VI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Generation 1 (Fortsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 Parenthese VII. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 Generation 1 (Fortsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 Parenthese VIII . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Generation I (Fortsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Parenthese IX . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Generation 1 (Fortsetzung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Bibliographie: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Personenregister: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 Zum Autor, zum Illustrator . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
VII
Warten auf den Einlass zu Gregor Schneiders „Weiße Folter“, 2007
G e n e r a t i o n 1 (1 9 8 0 – 2 0 1 5 )
Ein kurzes Schwindelgefühl signalisiert einen drohenden Orientierungsverlust und mahnt zur Konzentration. Leicht verwirrt, ja etwas benommen aber auch freudig erregt geht es weiter. Es ist noch keine Minute her, dass man die steilen Treppen hinabstieg und durch eine schwere Metalltür in das gleißende Licht eines Zellentrakts trat. Anfangs schmunzelte man noch über die Ratschläge des strikt agierenden Personals. Denn die Ordnungskräfte achten darauf, dass nur einzelne Personen in ausreichendem Abstand die Installation betreten. Bereits in der Warteschlange hatte sich die
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langsam anschwellende Nervosität von einem Besucher auf den anderen übertragen. Ein Spannungseffekt, den Gregor Schneider spitzbübisch in seine Installation integriert zu haben scheint. „Weiße Folter“ lautet der Titel der Installation. Gefangen zwischen Ästhetik und Affekt, muss man sich wieder und wieder ins Gedächtnis rufen: Es ist nur ein Museum, es ist nur Kunst – bleib cool! Gregor Schneider, der Meister der klaustrophobischen Raumgestaltung, bleibt sich auch bei seiner Inszenierung der Kellerräume im Düsseldorfer K21 treu und erfindet sich dennoch neu. Nach den eher privaten Ängsten, welche einem im „Haus Ur“ begegnen, öffnet der Künstler im ehemaligen Landtag die Tore zur dunklen Seite unserer Erlebniswelt. Auch hier scheint 9/11 den egozentrierten Blick auf globale Phänomene zu lenken. Von innen nach außen kehrt sich der Blick. Realität und Kunst verwischen sich zu einer eindrucksvollen Kritik an machtpolitischer Perversion. Wir werden alle zu Gefängnisinsassen von Guantánamo. Allerdings nur für die Dauer, die jeder benötigt, um sich durch das Schreckenslabyrinth zu arbeiten. „Immer vorwärts, nie zurück gehen“, lautete die streng intonierte Anweisung der Museumswärter. Das ästhetische Empfinden wird auf die Probe gestellt. Es befindet sich im Widerstreit mit angeborenen Urinstinkten, affektiven Wahrnehmungen und Erinnerungen an für uns glücklicherweise nur mediale Wirklichkeiten. Nach dem Zellentrakt und der situativen Eichung durch Pritsche, VA-Stahl-Waschbecken und Urinal, führt der Weg in einen mit Dämmmaterial ausgekleideten Raum. Dort werden neben den Schrittgeräuschen auch die letzten Reste des von außen einfallenden Lichts geschluckt. Von allen Wahrnehmungen isoliert, tastet man sich bis zum ersehnten Ausgang. Doch da richtet 2
sich der Blick erneut in den vermeintlich bekannten Zellentrakt. Die Türen, die weiterführen sollen, sind verschlossen. Beklemmung manifestiert sich. Schließlich möchte kein Besucher die Inszenierung zerstören. Wo wurde also ein Fehler begangen? Wo geht’s hier raus?
Gregor Schneider, Ansicht „Weiße Folter“, 2006
Erst nach diesem Moment der Irritation realisiert der Besucher, dass er sich in einer bautechnischen Spiegelung des Eingangstrakts befindet und dass er sich in der dem Ausgang entgegengesetzten Richtung bewegt hat. Durch eine Zelle führt der Weg dann in eine Hitzekammer, der eine Kältekammer und eine gespenstische Wellblechhalle folgen. Vor dem inneren Auge zeichnet sich aufgrund der Bauhöhe sofort der nicht vorhandene Galgen ab. Die Räume mögen eine stimmige Metapher sein, doch die Gefühle, die ihren Weg nach außen suchen, sind real. Ein subtiler Schrecken ist allgegenwärtig. Die permanente Konfrontation mit den unkontrollierbaren Affekten entführt den Ausstellungsbesucher aus seinen Konventionen. Das so entstehende Oszillieren zwischen ästhetisiertem Bewusstseinszustand und rein physischer Empfindung eröffnet irreale Momente. Man wird der Realität enthoben, im Museum, wie auf Guantánamo. 3
Gregor Schneider ist angekommen, in unser aller Horrorvision einer degenerierten Demokratie. Und auch in den Folterkammern des Kunstbetriebs. Ein Volltreffer – genau zwischen die Ohren. Das künstliche Grauen ist unsere Erlösung. So intelligent und innovativ wie Schneider seine Innenrauminstallationen konzipiert, so millimetergenau platziert er auch seine Objekte im öffentlichen Raum. Sein „Cube“, ein schwarz verkleidetes Gerüst in Form eines Würfels, entspricht in seinen Abmessungen genau der Kaaba in Mekka und steht, nach dem Eklat von Venedig, seit dem Frühjahr 2007 auf dem Platz vor der Hamburger Kunsthalle. In der Kunsthalle ist zeitgleich das schwarze Quadrat von Kasimir Malewitsch zu sehen. So wird die Installation im öffentlichen Raum zugleich Installation eines Bezugssystems von innen und außen. Die Innovationskräfte gehen überraschende Wege. Sie führen zu diesem fast genialen Koinzidieren zweier Kommentare zu sich andeutenden Zeitenwenden. Umstrittene Leitbilder in nach Orientierung suchenden Zeiten.
Kasimir Malewitsch, „Schwarzes Quadrat auf weißem Grund“, Öl auf Leinwand, um 1929
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Aber woran kann sich der Betrachter eigentlich noch orientieren? Schließlich wird nicht nur sein ästhetisches Empfinden angesprochen, sondern auch sein physiologischer Wahrnehmungsapparat, der sich nur bedingt durch die Ratio steuern lässt und permanent der Gefahr ausgesetzt ist, zu funktionieren statt zu interpretieren. Oder er verwandelt seine eigenen Interpretationen umgehend in Reaktionen, wie bei dem Schema Gefahr/Flucht. Das Spiel mit dem Präsentationsraum birgt auch Gefahren für die Kunst, da sich die Bewertungsparameter verschieben. Bei unklaren Grenzen zwischen Kunst und Wirklichkeit gewinnt womöglich der Instinkt über die bewusste, sinnliche Empfindung die Oberhand. Das Aufbrechen der gängigen ästhetischen Bewertungsschemata gehört jedenfalls schon lange zum verführerischen Spiel der Kunst. Variiert werden dabei die Mittel. Beim Duell zwischen Betrachter und Kunstwerk liegt die Wahl der Waffen beim Künstler. Dass Schneider mit seinem Fokus auf die Transformation von Räumen kein Einzelfall ist, zeigen weitere Beispiele aktueller Kunstinstallationen, bei denen der Raum/Werk-Kontext immer konkretere Bedeutung gewinnt. Hier scheint sich ein neuer Publikumsliebling zu entwickeln. Der bei Installationen getriebene Aufwand scheint zu explodieren, genau wie die Preise und die Popularität von Kunst. Ab 2007 lädt das Pariser Grand Palais jedes Jahr einen Künstler zum Dialog mit den Möglichkeiten des imposanten Gebäudes ein. Zum Start folgte Anselm Kiefer dem Ruf an die Seine.
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Anselm Kiefer, Installation, Grand Palais, 2007
In den ehrwürdigen Hallen schuf er, russischen Steckpüppchen nicht unähnlich, eine Ausstellung in der Ausstellung. Entschlossen eine optimale Wirkung seiner Bilder zu erzeugen, wurden im Grand Palais neue, innere Ausstellungsarchitekturen geschaffen und teilweise gleich wieder zu Ruinen niedergerissen. Ruinen, die seinen Bildern dramaturgisch zur Seite stehen. Das Bild, die Inszenierung und der sich im Ausstellungsgebäude befindliche architektonische Präsentationsraum verschmelzen zu einer überwältigenden, den Betrachter in sich aufnehmenden Einheit. Auch junge Stars der Kunstszene spüren bei ihrer Suche nach neuen Wegen instinktiv die Verlockung ganzheitlicher Gestaltungsprozesse. Die Werkschau „Mama Johnny“ von Jonathan Meese in den Hamburger Deichtorhallen präsentiert gleich mehrere raumgreifende Plastiken. Sie sind so groß, dass sie schon fast als Architektur begriffen werden können. Neben dem tatsächlichen, begehbaren Bühnenbild samt Rängen und einer Gesellschaft von Skeletten, scheint die gesamte Ausstellungshalle, auch in Abwesenheit des Performance-Künstlers, zur Bühne mutiert zu sein. Türme, Burganlagen, Zimmer, Felsformationen, alles in der bekannt rohen, aggressiven Ästhetik 6
ausgeführt, teilen den gewaltigen Raum. Immer wieder erschallen nicht identifizierbare Geräusche und Tonfetzen. Anwesende Kinder vermuten, dass da Gespenster ihr Unwesen treiben und veranlassen den geregelten Rückzug mit ihren Eltern. Das Künstliche, das ästhetische Empfinden, ringt auch hier mit dem Authentischen. Nur die Auseinandersetzung mit dem Werk befreit den Betrachter von der Angst, an den schroffen Materialien und den anstößigen Symbolen Schaden zu nehmen. Meeses Geister haben gesiegt. Die Kunst zeigt sich als AntiNatur und bedient sich dabei ganz natürlicher Reflexe. Alles wird erst schön schrecklich und dann schrecklich schön. Die Annäherung von Kunst und Rezipient durch Integration des Betrachters ins Werk ist nichts Außergewöhnliches. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie durch einen ausgelösten Affekt oder durch die räumliche Situation herbeigeführt wird. Es wird Anschlussfähigkeit gesucht. So werden geschlossene Sphären durchdrungen, um in anderen Sphären aufzugehen. Man sucht die Relevanz genauso wie die Akzeptanz. Im „Kunstsommer 2007“ wird, jenseits der durch die bloße Betrachtung erlebbaren Kunst, dem Gefühl und dem Mysterium große Aufmerksamkeit gewidmet. Erwartungen, Erlebnisse und Erfahrungen bestimmen die Darstellung in den Massenmedien. Ganz gleich, ob ein Koch eine „Documenta-Filiale“ bei Barcelona ausruft, Installationen von der Straßenmeisterei entfernt werden, Mutter Natur geplante Eingriffe in die Flora und Topographie scheitern lässt oder in Basel doch keine Rekordsummen verdient wurden, Kunst geht auf einmal alle an. Und sie scheint auch tatsächlich größere Teile der Bevölkerung zu interessieren. Sie ist auf dem Weg „Pop“ zu werden und zeichnet dabei selbst populäre Wege nach. Die Flut an innovativen Ansätzen und Konzepten findet immer neue, verblüffende Facetten wie beispielsweise die Kopplung an Effekte, die 7
Emotionen auslösen. Außerdem gibt es da noch die auf breiter Basis voranschreitende Rückkehr des Figürlichen. Denn wie sagt der Volksmund so treffend: Gutes kommt wieder. Die beliebtesten und begehrtesten Arbeiten von Daniel Richter sind erst nach dem abstrakten Frühwerk des Künstlers entstanden. Es sind die Bilder, die politische Kommentare mit zugänglichen Codes liefern und sich dabei historischer wie zeitgeistlicher Zitate bedienen. Lesbare Bilder, Bilder mit narrativen Inhalten. Der Erfolg von Neo Rauch, Martin Eder, Norbert Bisky und vielen anderen belegt diesen Trend. Bei dem deutschstämmigen Australier Ron Mueck besticht bereits die bloße handwerkliche Brillanz seiner Plastiken. Bei ihm gibt es eine auf den ersten Blick erkennbare Geschicklichkeit, die, unabhängig von allen Intentionen des Künstlers, für Verblüffung sorgt. Man meint, die Figuren könnten jederzeit zum Leben erwachen. Das macht ihre Wirkung im Spiel mit dem Maßstab so einzigartig. Den „Boy“ von Ron Mueck, diesen verlorenen Jungen, der zusammengekauert, verschüchtert in die Welt schaut, man möchte ihn sanft berühren. Man möchte ihm versichern, bald werde sich alles zum Guten wenden. Man möchte ihm über den Kopf streichen. Doch es geht nicht. Die Skulptur ist mit ihren Dimensionen von knapp drei mal fünf Metern viel zu groß.
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Ron Mueck, „Boy“, Mixed Media, 490 x 490 x 240 cm, 1999
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Die Kunst kehrt über direkte Rezeptionskanäle wieder zurück in den Alltag der Gesellschaft, nachdem das Alltägliche sie zuvor durchdrungen hat. Spätestens seit der „New British Art Kampagne“, einer Künstlergruppe aus dem Umfeld der Goldsmith Schule, unterstützt und gefördert durch den Sammler Charles Saatchi und auch von Tony Blairs „Cool Britannia“-Programm protegiert, spätestens seit dieser Kampagne etablierte sich die Gegenwartskunst als Medien- und Society-Darling. Nicht nur die emotionsgeladenen Bilder und Installationen verfügen über Schockpotential. Auch die begleitenden Schlagzeilen der Yellowpress liefern das, was verlangt wird: Sensations. Fast scheint es, dass in der Wahrnehmung die Werke hinter die Inszenierung der Künstler zurücktreten. Tracey Emins Auftritt bei der Eröffnung der Biennale 2007 in Venedig gilt vielen als Beleg für solche Verhaltensmuster. Ruhige Vertreter der Gruppe „Young British Artists“, zum Beispiel der Turner-Preisträger Gary Hume, fanden auf dem Peak ihrer Karriere in den Medien weniger Beachtung als eine Sauftour von Damien Hirst an der Seite des legendären Fußball Enfant terrible, Paul Gascoine. Die subtilen Anspielungen eines Hume auf Ikonen der Popkultur wie Kate Moss, glatte, farbenprächtige Oberflächen, schön aber austauschbar, verlangen nach genauerem Hinsehen oder setzen – mit Kant – ein „interesseloses Wohlgefallen“ voraus.
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Gary Hume, „Tony Blackburn“, Lack auf Spanplatte, 194 x 137 cm, 1994
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Ein kleines Zweimannzelt dagegen, auf dem die Namen der Beischlafpartner von Tracey Emin verewigt sind, wirkt sofort stimulierend. In welche Richtung zwischen abstoßend und erregend die Emotion auch ausschlagen mag, jede Erfahrung wird öffentlich, wird Kunst. Und die Kunst wird zur Erfahrung, wenn auch zur geteilten. Doch Klappern gehört nicht nur zum Handwerk, es gehört auch zur Kunst. „Die Unmöglichkeit für einen Lebenden, sich den Tod vorzustellen“ von Damien Hirst ist eines der populärsten zeitgenössischen Kunstwerke. Es handelt sich um einen toten Tigerhai von imposanten Ausmaßen. Er befindet sich in einem Formalintank. Das ist laut und eindrucksstark, ganz wie der Künstler selbst.
Damien Hirst, „Der Zorn Gottes“, Haifisch in Formalinlösung, 1991
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Dieser laut Presse reichste lebende Künstler hat dann bei einem berühmten Londoner Juwelier das teuerste Kunstwerk aller Zeiten anfertigen lassen. Der Titel „teuerstes Kunstwerk“ bezieht sich aber vorerst nur auf den Wert der verwendeten Materialien. Ob der mit Diamanten besetzte Totenkopf aus Platin inzwischen verkauft worden ist, kann nicht mit Bestimmtheit festgestellt werden. Er ist verkauft worden an ein Konsortium, zu dem der Künstler selbst gehört. Die Selbstreferenz scheint hier sogar in den Kunstmarkt einzudringen: Der Künstler verkauft das teuerste Kunstwerk an sich selbst und beweist damit, dass es das teuerste Kunstwerk ist. Ja, ja: Selbstreferenz und vanitas! Eitelkeit und Vergeblichkeit. Und das Symbol des Totenkopfs! Doch Hirst nimmt, wie er sagt, mit dem Vanitasmotiv die Heilsversprechungen der Konsumgesellschaft aufs Korn. Auch hier droht der Glamour-Effekt alles andere zu überdecken. Was vor 20 Jahren als innovativer Schritt aus dem Abseits begann, sieht jetzt nach ungeniertem Protzen mit Reichtum aus. Hirst versteht es virtuos, die Möglichkeiten seiner Zeit zu nutzen. So kann er es sich leisten, den illegal arbeitenden Street Artisten Banksy durch die Aufnahme in seine Sammlung zu adeln, oder seine Sammlung durch die Aufnahme von Street Art zu adeln. Einige seiner Farbtafeln an Bord einer Weltraumsonde sollen Hinweise auf intelligentes Leben auf unserem Planeten geben. Doch ohne das entsprechende Referenzsystem wird die Erkenntnisvermittlung bei einer Begegnung der dritten Art leider gering bleiben. Die Brüder Jake und Dinos Chapman bedienen sich leichter verständlicher Ausdrucksmittel. Ihre Plastiken phallusbenaster und anusmäuliger Mutanten in schicken Sneakern können auch ohne Hintergrundinformationen verstanden werden. Sie 13
sind massenkompatibel. In ihrer Arbeit „Hell“, einem Diorama in Form eines Hakenkreuzes, illustrieren die Brüder die verschiedenen Stationen des Tötungsprozesses innerhalb eines Vernichtungslagers. Es wird von Nazis betrieben, die seltsamen Mutanten gleichen. „Grauenhaft!“ sagten die Ausstellungsbesucher. Dabei konnten sie sich an den mannigfaltigen Gräueltaten nicht satt sehen. Alle Unmenschlichkeiten waren akribisch im Maßstab 1:48 nachgebildet: Pittoreske Leichenberge, detailverliebte Knochenmühlen und da, in einem kleinen Waldstück, wie überraschend und wunderbar: ein paar Flüchtlinge, die sich im Stacheldraht verfangen haben! Dies ist der wirkliche Schrecken für den Betrachter: die eigene Lust am Schauen, die begeisterte Suche nach Schrecklichkeiten, der Spaß am Modell-Holocaust. Kunst als miniaturisierte Katharsis. Flankiert wurde das Modell bei einer Werkschau der Brüder von drei langen signalroten Bannern mit einem weißen Kreis in der Mitte. Die Banner füllten den Raum von der Decke bis zum Boden aus. Die sofort als fehlend registrierten Hakenkreuze sind dreimal durch einen Smiley ersetzt worden. Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Immer nur lachen. Begleitet wurde der Besuch in der Chapman-Schau von einem unangenehmen Geruch, der bei dem richtigen Luftzug auf höchst passende Weise bis zu den unappetitlichen NS-Anspielungen durchdrang. In den oberen Räumen wurde nämlich zeitgleich verdaut. Nicht nur alles, was einem vorher aufgetischt worden war, nein, in Wim Delvoyes „Cloaca Original“ wurden tatsächlich Lebensmittel wie im menschlichen Verdauungstrakt zersetzt und in der bekannten Form am Ende der Installation ausgeschieden. Künstliche Exkremente: erhaben und niedrig zugleich! Entsprechend zerrissen schwanken die Eindrücke zwischen Faszination und Ekel. Doch der geübte Kunstfreund widmet sich unbeirrt der Kunstbetrachtung, auch wenn aufgrund des Geruchs sein Magen rebelliert. 14
Wim Delvoye, „Cloaca“, Mixed Media, 2000
Getragen von einer Duftwolke der künstlichen Fäkalien, schwebt der Besucher weiter zum nächsten Exponat und wir gehen weiter zum nächsten beispielhaften Künstler. Anfang der 1990er Jahre herrscht im Westen Goldgräberstimmung. Passend dazu zeigte eine Kölner Galerie Jeff Koons. In zentraler Lage strahlten dem Besucher in herrlichsten Farben zwischen schweinchen-rosa und quietsch-gelb die überlebensgroßen Statuen des frisch vermählten Liebespaares Jeff Koons/ Ilona Staller (Cicciolina) entgegen, natürlich beim Vollziehen 15
des Geschlechtsakts. Dies war der offizielle Beitrag zur Biennale in Venedig gewesen. Jetzt legte er eine kleine Verschnaufpause in der Domstadt ein. Flankiert von kleinen Glasstatuetten, die das gleiche Thema in unterschiedlichen Variationen darstellten, taucht der Besucher in den durch die schiere Größe des zentralen Objekts eng und gedrungen wirkenden Raum ein. Wie kaum ein anderer Künstler seiner Generation hat es Koons verstanden, Maßstäbe in Sachen Marketing zu setzen. Und das mit Ansage. Nach einem erfolgreichen Zwischenspiel in der Wirtschaft, besinnt sich der Absolvent des Maryland Institute of Art auf seine früheren Interessen und beginnt umgehend mit der Inszenierung seiner Künstlerkarriere. Genau so kundig wie er die Manufakturen zur Herstellung seiner Keramiken, Glasarbeiten oder Schnitzereien auswählt, und so wie er die einzelnen Objekte, Bilder und Plakate entwirft, so perfekt beherrscht er das Spiel mit den Medien. Innerhalb weniger Jahre hat er sein Ziel erreicht. Er bespielt inzwischen nicht nur Galerien, Messen und Museen, sondern er unterhält auch breite Bevölkerungsschichten durch seine Beziehung zu einer ehemaligen Pornodarstellerin. Die Dame hatte kurz zuvor für das italienische Parlament kandidiert. Sein Werk jenseits dieser Inszenierung findet dabei in den Massenmedien kaum Beachtung. Was zählt, ist nur die Marke Jeff Koons, deren Popularität wiederum auf den Marktwert seiner Kunst einzahlt. Die Medien sind jetzt Darstellungsmittel der Kunst. Der Adressat ist die Masse. Koons kollaboriert mit Modedesignern, liefert Vorlagen für Schmuck und Muster für Stoffe. Hier zeigt sich künstlerische Innovation in ihrer ganzen Radikalität. Koons funktioniert überall. Als Klatschgeschichte, als Kunstwerk, als Stoffmuster. Maßstab ist dabei der Mythos „Jeff Koons“. Er garantiert Originalität selbst beim textilen Musterdruck auf dem laufenden Meter Stoff. Durch seine Aura wird auch die Reproduktion zum innovativen Original. 16
Pa re n t h e se I Imitation war früher ein Schlüsselbegriff der Malereitheorie. Man imitierte die Bilder der römischen und griechischen Antike. Alle Akademien besaßen Gipsabgüsse der antiken Skulpturen. Die Schüler mussten sie zeichnen. Sie imitierten auf diese Weise die Darstellungstechniken der antiken Vorbilder. Die Darstellungsformen der Antike fungierten als Imitat. Die Akademie, die den Schülern der nächsten Generation mit Hilfe von Lehrern der vorangehenden Generation das Zeichnen beibrachte, fungierte als Imitant. Imitation, die Lateiner sagten imitatio, war auch das Kernstück der Denk- und Schreibmethode der Renaissance-Humanisten. Imitiert wurden die lateinischen Formulierungen der antiken Autoren. Diese Methode breitete sich in ganz Europa aus. Sie blieb vorherrschend bis zur Entstehung einer neuen Form des Humanismus im 19. und 20. Jahrhundert. Imitatio ist ebenfalls ein programmatischer Begriff in Ciceros und Quintilians Lehrbüchern der Rhetorik. Die Rhetorikschüler wurden angehalten, sich Vorbilder unter den großen Rednern zu suchen und sie zu imitieren. Quintilian lehrt (10.1.24), man müsse die Werke der besten Autoren (optimi auctores) als exempla (10.1.2) betrachten. Die exempla seien als Vorlagen der imitatio zu nutzen (10.1.3). Dieses Imitationsprinzip bildete die Grundlage der Produktionsregeln für die vormoderne westliche Kultur. Es erzeugte die kulturelle Selbstähnlichkeit aller Medien durch das immer vorhandene Durchscheinen von antiken Vorbildern. Das gilt für Theaterstücke, Bilder, Gebäude und Poesie. In den Imitationsgepflogenheiten der vormodernen westlichen Kultur erschienen als Imitat die Darstellungsstile der Antike. Mit anderen Worten: Imitiert wurde eine Präsentationstechnik. Die in der Präsentation erscheinenden Repräsentationen, mit anderen 17
Worten die „Contents“, wurden neu erfunden. Das Erfinden der Contents und das gleichzeitige Finden der geeigneten Darstellungsmittel, die aus einer vorangegangenen Epoche stammten, nannte man „inventio“. Imitation ist ein Verhalten, das auch von der Evolutionspsychologie erforscht wurde. Die Evolutionstheorie interessiert sich für die Fähigkeit, etwas zu imitieren, ohne es zu verstehen. Derartiges Imitationsverhalten ist bei den Kindern der Menschen stärker ausgeprägt als bei den Jungen von nichthumanen Primaten. Und da meint man immer, Affen könnten am besten nachäffen. Dieses Imitationsvermögen ist für die kulturelle Organisation unverzichtbar. Es ermöglicht die schnelle Anpassung ganzer Kulturen an sich verändernde Bedingungen. Kulturen geben die für ihr Überleben unentbehrlichen Informationen zunächst auf parentale Weise weiter. Parental bedeutet: Die Eltern übertragen das Überlebenswissen, das sie sich bis zur Zeit der Geburt ihrer Kinder angeeignet haben, an die Kinder. Das meiste von diesem Wissen haben sie selbst bereits von ihren Eltern übernommen. Dabei handelt es sich um die vertikale Transmission von kulturellen Informationseinheiten. Vertikal bedeutet: von Generation zu Generation. Wenn die Eltern sich so verhalten, dass sie vor allem die Übertragung der Gene an die nächste Generation sichern, heiraten sie früh und erzeugen früh möglichst viele Kinder. Kulturelle Übertragung, das Weiterleben der Wissenseinheiten, und genetische Übertragung, das Weiterleben der Gene in möglichst vielen Kindern, befinden sich in Übereinstimmung. Die Kultur verhält sich adaptiv. Das heißt: Die Kultur nützt dem transgenerationalen Überleben der Gene. Doch was passiert, wenn die Umweltbedingungen sich plötzlich ändern und das unveränderliche parentale Wissen die Überlebens18
probleme nicht mehr lösen kann? In diesem Fall muss Neues gelernt werden. Forscher und Lehrer müssen auf den Plan treten. Die Forscher müssen viel mehr Neues lernen als die Eltern. Dafür brauchen sie Zeit. Sie brauchen viel mehr Lernzeit als die Eltern, die früh heiraten. Deshalb können sie entweder erst sehr spät heiraten, oder sie können gar nicht heiraten. Das bedeutet: Sie verhalten sich maladaptiv. Ihre kulturelle Leistung schadet der Transmission ihrer Gene. Sie nützt aber der inklusiven Fitness der eigenen Kulturpopulation. Denn sie ermöglicht durch die Vermittlung von neuem Wissen das Überleben der Population. Die Forscher und Lehrer üben eine Vorbildfunktion aus. Sie werden von den anderen imitiert. Durch blinde Imitation können die anderen das neue Wissen sehr viel schneller übernehmen, als wenn sie alles erst selbst verstehen müssten. Die imitierenden Individuen können sich auf das Funktionieren von „black boxes“ verlassen: Dabei müssen sie nur auf Knöpfe drücken, um eine gewünschte Leistung zu erzielen. In die „black box“ hineinschauen, um zu verstehen, wie etwas funktioniert, müssen sie nicht. Die verständnislose Imitation ist das Erfolgsrezept der Kulturen. Imitation ist der kulturelle Replikator. Sie ist die kulturelle Entsprechung zur DNA, dem genetischen Replikator. Beide Replikatoren sind Transmissionsmaschinen. Sie arbeiten vertikal und horizontal. Horizontal bedeutet: unter Angehörigen derselben Generation. Die Imitation von Forschern und Lehrern durch den Rest der Bevölkerung ist eine horizontale Transmissionsbewegung. Replikationsmechanismen sind die Grundlage von ausgefuchsten kognitiven Strategien. Man stelle sich das Lernvermögen aller Forscher als Apparat mit begrenzter Lernkapazität vor. Ist eine Forschungsaufgabe beendet, wird das Wissen sofort in die Replikations- und Imitationsmaschinerie gestellt. Auf diese Weise 19
wird der Lernapparat wieder freigemacht für neue Aufgaben. So verhält sich auch der Forscher in weiten Bereichen seiner eigenen Überlebenspraktik imitatorisch. Andernfalls hätte er keine freien kognitiven Kapazitäten für seine Forschungsarbeit. Daraus folgt: Blinde Imitation ist kognitive Arbeit mit hoher Leistungsfähigkeit. Die Arbeitsteilung zwischen Innovationslernen und blinder Imitation gehört zu den raffiniertesten Kognitionstechniken, die das uns bekannte Universum zu bieten hat. Verglichen damit ist radikaler Individualismus, der in allen kulturellen Bereichen originell sein will, naiv. Doch die Replikationsdynamiken haben eine Schwachstelle. Es schleichen sich „selfish variants“, egoistische Übertragungseinheiten ein. Sie sind von keinerlei Nutzen. Sie sind egoistisch, weil sie nur dem Zweck der eigenen Replikation dienen. Wenn beispielsweise die Hirschfrauen nur Hirschmänner mit zu großen Geweihen heiraten, weil sie große Geweihe cool finden, schaden sie dem Überleben ihrer Art, weil ihr männlicher Nachwuchs sich zu oft mit dem Geweih im Gebüsch verheddert und dann von Wölfen, Bären und Füchsen gefressen wird. Dasselbe gilt für die überdimensionierten Federbälge der Paradiesvogelmännchen. Die Männchen können nicht mehr starten und landen. Dasselbe gilt für die kulturelle Imitation. Durch die Nachahmung von falschen Lehrern und Gurus können sich in der kulturellen Transmission schädliche Informationseinheiten breit machen. Sie bringen keinen Überlebensvorteil und schaden der genetischen Transmission, weil sie Zeit, die eigentlich für die Erziehung des Nachwuchses gebraucht würde, mit dem Imitieren von nutzlosem Wissen ausfüllen. Die schädlichen Vorbilder werden genau so imitiert, wie die nützlichen Vorbilder. Auf diese Weise entstehen „selfish cultural variants“. Sie sind „selfish“, d.h. egoistisch wie Viren. Ein Virus ist ein leerer Replikator. Seine 20
schädliche Wirkung auf den Wirtsorganismus resultiert aus dem Egoismus, der daraus besteht, dass der leere Duplikator keine eigene Arbeit für seine Energieversorgung leistet, sondern Energie und Baumaterial für seine Duplikation anderen Lebewesen stiehlt. Die Virus-DNA ist ein „Autoduplikator“. Die ZellkernDNA ist ein „Alloduplikator“. Die „selfish cultural variants“ machen sich das blinde Imitationsvermögen zu Nutze, um nur immer wieder sich selbst zu replizieren. Auch sie sind keine „Alloduplikatoren“ sondern „Autoduplikatoren“. „Selfish cultural variants“, inhaltesleere kulturelle Replikatoren. Imitation ohne Content, wie sieht sie aus? Wie verhalten sich Imitant und Imitat zueinander? Handelt es sich um Imitanten, die Imitanten statt Imitate imitieren? Könnte es sich gar um kulturelle Präsentationstechniken handeln, die nicht Repräsentation präsentieren, sondern Präsentation? Könnte es sich um Präsentation ohne Präsentate handeln?
G e n e r a t i o n 2 (1 9 4 5 ‒1 9 8 0 ) „Wir gehen in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald“. So lautet der Titel einer Installation von Martin Kippenberger aus dem Jahr 1989. Wie in einem beschwingten Traum geht es nun weiter zurück in der Zeit und in der Kunst. „Ach, Kippi, du hast es ja bestimmt gewusst, als du mal einen Teil deiner Bilder fotografiertest und die Abzüge schön gerahmt zur Hängung brachtest. Die Spaßgesellschaft ist nicht mehr zu stoppen. Widerstand zwecklos, der Kunstbetrieb ist auch nur ein Witz. Also noch einmal eine Serie raushauen und weiter verarbeiten.“ Mit solchen Gedanken könnte der Ausstellungs21
schädliche Wirkung auf den Wirtsorganismus resultiert aus dem Egoismus, der daraus besteht, dass der leere Duplikator keine eigene Arbeit für seine Energieversorgung leistet, sondern Energie und Baumaterial für seine Duplikation anderen Lebewesen stiehlt. Die Virus-DNA ist ein „Autoduplikator“. Die ZellkernDNA ist ein „Alloduplikator“. Die „selfish cultural variants“ machen sich das blinde Imitationsvermögen zu Nutze, um nur immer wieder sich selbst zu replizieren. Auch sie sind keine „Alloduplikatoren“ sondern „Autoduplikatoren“. „Selfish cultural variants“, inhaltesleere kulturelle Replikatoren. Imitation ohne Content, wie sieht sie aus? Wie verhalten sich Imitant und Imitat zueinander? Handelt es sich um Imitanten, die Imitanten statt Imitate imitieren? Könnte es sich gar um kulturelle Präsentationstechniken handeln, die nicht Repräsentation präsentieren, sondern Präsentation? Könnte es sich um Präsentation ohne Präsentate handeln?
G e n e r a t i o n 2 (1 9 4 5 ‒1 9 8 0 ) „Wir gehen in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald“. So lautet der Titel einer Installation von Martin Kippenberger aus dem Jahr 1989. Wie in einem beschwingten Traum geht es nun weiter zurück in der Zeit und in der Kunst. „Ach, Kippi, du hast es ja bestimmt gewusst, als du mal einen Teil deiner Bilder fotografiertest und die Abzüge schön gerahmt zur Hängung brachtest. Die Spaßgesellschaft ist nicht mehr zu stoppen. Widerstand zwecklos, der Kunstbetrieb ist auch nur ein Witz. Also noch einmal eine Serie raushauen und weiter verarbeiten.“ Mit solchen Gedanken könnte der Ausstellungs21
besucher die Fotoabzüge der Gemälde abschreiten. Er justiert den Betrachtungsabstand, erfasst erst die gesamte Komposition, verliert sich in Details und zeigt sich, je nach Naturell, erhellt oder erheitert und denkt sich: Dieser Kippenberger! Dabei steht die eigentliche Pointe im Rücken des Betrachters: Ein geschundener Abfallcontainer in dem die zerrissenen und zerschlagenen Originale auf verlorenem Posten ihren Ewigkeitsanspruch einfordern. Ein Manifest der Antikunst – Dada lässt grüßen. Alles am Ende, alle Mühen vergebens. Das Wahrhafte verschwindet im Müll und die Reproduktionen ernten den Beifall. Aber ist denn wirklich alles nichts? Gibt es keine Substanz, keine Genialität? Immer wieder hört man, wenn es um abstrakte Kunst geht: „Das kann doch jeder!“. Na dann, los! Ein kleiner Versuch: Die Raviolidose saust aus der Hand und beschreibt, an der Decke des Kellers mit einer Schnurr befestigt, im weiten Schwung einen Bogen. Durch das vorher noch mit dem Finger zugehaltene Loch im Boden der Dose läuft ein hauchdünner Strahl roten Autolacks. Leider hat die Dose soviel Schwung mitgenommen, dass der Farbstrahl am Todpunkt der Pendelbewegung schon über das ausgebreitete Papier schießt, bevor sich die Flugbahn des Farbreservoirs wieder auf dem weißen Bogen abzeichnet. Bei dem entstehenden Bild handelt es sich nicht um einen Jackson Pollock. Es handelt sich um einen Versuch, der einer Produktionsanleitung des Künstlers folgt, die völlig unironisch im Internet angeboten wird.
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Jackson Pollock, „Nummer 4“, Öl, Email und Aluminiumfarbe auf Leinwand, 124,1 x 94,3 cm, 1950
Trotzdem: Es kommt zu Augenblicken von tranceartiger Selbstvergessenheit. Die Zeit verlangsamt sich und bleibt schließlich stehen. Man folgt wie hypnotisiert den Farbschlieren. Fast automatisch versetzt man der Dose einen erneuten leichten Stoß, 23
um ein Auspendeln zu vermeiden. Dabei variiert man intuitiv den Druck so, dass die Schwingungsimpulse sich immer einen neuen Weg suchen. Man verliert sich in der Tätigkeit. Der Flow-Effekt setzt ein. Schon bald kann man nicht mehr unterscheiden, ob die Hand die Farbdose dirigiert oder ob das entstehende Bild die Hand dirigiert. Wie sich auf dem Testpapier nach dem Farbwechsel die einzelnen Spuren langsam zu Flächen addieren, so verschmilzt der „Maler“ mit seinem Handeln und dem Bild zu einer Einheit. Es entsteht ein malerischer Trance-Zustand. Eine Ruhe und eine Harmonie, die mit den Eindrücken bei der Betrachtung von Pollocks Abstraktionen kontrastieren und die Vermutung nahe legen, dass der Künstler es sich nicht so leicht gemacht hat wie unser Proband. Die transzendentale Energie aus Pollocks „Dripping Paints“ der 1950er Jahre ist in unserem Versuch nicht zu erkennen. Kein Kampf, kein Gefühl, nicht der Eindruck, das Bild wolle von innen heraus zerplatzen. Keine Bewegung, kein Drang und damit wohl auch kein gespartes Eintrittsgeld fürs Museum, denn die erhoffte erlösende Befreiung durch die Kunst bleibt bei dem dilettantischen Versuch mit der Dose und dem Pendel leider aus. Jeder ist dann wohl doch nicht zum Künstler berufen. Anfang 2007 wurde das Gemälde „White Center“ von Mark Rothko für eine Rekordsumme von knapp 51 Millionen Euro verkauft. Eine ökonomische Apotheose der abstrakten Malerei. Zwei in rot-orange Tönen gehaltene Rechtecke auf einem ebenfalls orange-roten Grund formen eine angenehme Spannung zwischen Flächen und Farben. Die verschwimmenden Konturen der Farbflächen steigern die Dynamik zwischen den Flächen. Sie lassen die Zwischenräume förmlich vibrieren. Raum entsteht. Hier zeigt sich die transzendentale Kraft, der Farbflächenmalerei, die zu Rothkos Metier wurde. 24
Mark Rothko, „White Center“, Öl auf Leinwand, 81 x 94,3 inches, 1950
Die Arbeit und der posthume Ruhm eines Künstlers sind bei Kippenberger, Pollock und Rothko auch durch tragische Schicksale und viel zu frühes Ableben untrennbar miteinan25
der verbunden. Zwar lässt sich beides auch separat betrachten, doch die Empathie, die in den Biographien mitschwingt, erzeugt eine Aura, die fest mit dem Werk verbunden bleibt. Nur durch diese Kopplung lassen sich sogar durch Reproduktionen erstaunliche Erfolge im Bereich des Kommunikationsdesigns erzielen. Ein Rothko-Plakat im Büro einer Filmproduktion ist für den Interessierten auch immer ein Bekenntnis zum Leiden an der Kunst. Ein Victor Vasarely-Poster im Wartezimmer einer Arztpraxis dagegen dient, ohne jegliche schicksalhafte Aufladung, nur der Auflockerung des Raums. Doch während sich die Formensprache der Op-Art schnell emanzipiert und aus den engen Grenzen des Bilderrahmens auf die benachbarten Tapeten übergreift, verschmelzen andere Künstler so sehr mit den Produkten ihres kreativen Ausdrucks, dass sie selbst zu Kunstwerken werden. Der Künstler ist Teil des Werks. Markus Lüpertz stilisierte sich äußerlich nicht ohne Grund als Kunstfigur zwischen Dandy und Halbweltgröße. Jörg Immendorf betrieb seine Bar in St. Pauli sicherlich auch nicht, ohne den Effekt eines Abstrahlens auf sein Image im Hinterkopf zu haben. Direkt am Hans-Albers-Platz lag die Spelunke. Sie machte seinen „Café Deutschland“-Zyklus als Erlebnisraum erst möglich. Arbeiten seiner Freunde und Weggefährten schmückten die Wände. Manchmal hatte ein Betrunkener ein Bild kurzerhand auf den Kopf gestellt, um einen Baselitz-Witz zu machen. Die Arbeiten wirkten wie Spiegelungen des Publikums, das sich an der Theke und auf den Toiletten allerlei Rauschmitteln hingab. Vor den Fenstern hielten die Prostituierten Ausschau nach Freiern. Die Konturen verschwimmen. Die Kneipe wird zum künstlerischen Kommentar der Gesellschaft. Das Leben selbst zum interaktiven Bild mit Erlebnischarakter. Und falls sich dieses ange26
nehm entrückte Gefühl, das die Menschen erfasst, wenn sie von der Kunst berührt werden, doch nicht einstellte, konnte man in der Kneipe gleich mit einem Herrengedeck oder einem doppelten Cognac nachhelfen. 1964 hatte Hermann Nitsch anlässlich der Biennale in Venedig ein Manifest verfasst, welches an alle bedeutenden Galerien der Welt verschickt werden sollte. Gegenstand des Schreibens war die Performance „Das Lamm“: Es ging um die Kreuzigung eines Opferlamms. Frisch geschlachtet wurde seinerzeit der leblose, verschmierte und blutnasse Tierkadaver zu einer weißen Bahn aus Leinen gebracht. Schnell zeichneten sich die ersten Spuren des vergossenen Lebenssafts auf dem reinen Untergrund ab. Durch einen Eingriff in der Stoffbahn konnte ein quer verlaufender Holzbalken erreicht werden, so dass die Vorderläufe des Opfertieres, zu den Seiten weggezogen und, gegen den Balken gepresst, an eben diesen Balken genagelt werden konnten. Der über den aufgeschlitzten Torso herabbaumelnde Kopf schien jedes Mal zu zucken, wenn ein Schlag die Nägel tiefer durch die Pfoten ins Holz des Balkens trieb. Am Ende hing der Körper des kleinen Tiers an dem Balken und ahmte die Haltung des gekreuzigten Jesus von Nazareth nach. Das Blut auf dem Leib des Tieres, das die Einzelheiten des Kadavers unkenntlich macht, verstärkt die Wirkung der eindeutigen Pose. Das Grauen wird Teil einer lebendigen Geschichte: Die Wirklichkeit wird zum Gestaltungsmittel der Kunst. Das Publikum ist schockiert und fasziniert zugleich. Ähnliche Aktionen enden nicht selten mit der Verhaftung des Künstlers. Eine positive Anschlussfähigkeit an das Publikum der Boulevardpresse wird nicht erreicht. Wohl aber erzeugt die Provokation Aufmerksamkeit und Ausgrenzungsreflexe. Eine autonome Parallelgesellschaft entsteht. Der Blutrausch wird 27
zum Kunstrausch. Wen das Ganze mehr an einen Schlachthof als an eine Kunstgalerie erinnert, der bleibt außen vor. So trug es sich zu, Augenzeuge war Joseph Schwarzbauer, dass es während einer dieser Performanceveranstaltungen heftig an der Tür der geschlossenen Gesellschaft klopfte. Als einer der Anwesenden die Türe der Wohnung öffnete, sah er sich mit einer aufgebrachten jungen Mutter konfrontiert. Im Rausch des Happenings war ein abgetrennter Schafskopf im hohen Bogen durch das offene Fenster auf die Straße geflogen und dort mitten in einem Kinderwagen gelandet. Nun stand die junge Frau schimpfend mit einem Tierschädel in der Hand im Hausflur, und die Wirklichkeit wurde zur Kunst. Die Anekdote stellt die Frau als nicht kunstverständig dar und zeigt, dass die Botschaft der Künstler doch wohl sehr esoterisch war. Es zählte somit, frei nach Aristoteles, nur die Meinung der Besten und nicht die der meisten. Ein Anspruch, der inzwischen aufgegeben wurde. Die Vermittlungsbemühungen eines Joseph Beuys waren da besser gelitten, erschien er doch in der E-Kultur nur als Opfer seiner selbst. Zumindest konnte sich die Putzfrau, die eine von Beuys installierte Badewanne mal ordentlich durchscheuerte, des Zuspruchs großer Teile der Bevölkerung sicher sein. Beuys dagegen erntete auf breiter Basis nur Hohn und Spott. Eine unterhaltsame Illustration für eine Misere intellektueller Kunst, die Generationen überspannt. Denn auch in der Blütezeit moderner und postmoderner, staatlich subventionierter Kunstproduktion erwiesen sich die Künstler als besonders einflussreich, die sich der Mehrheit gegenüber zugänglich präsentierten. Zugänglich im Sinne von Anwendbarkeit der eingeübten Sehgewohnheiten. Vor so manchen Konzernzentralen Deutsch28
lands steht seit den 1960er Jahren eine metallisch glänzende, üppig dimensionierte Henry Moore-Plastik. Sehr beliebt sind auch Niki de Saint Phalles farbenfrohe Frauenfiguren. Eine Beobachtung, die sich auch auf einflussreiche Kunstströmungen anwenden lässt. Die Alltagsmetaphern der Pop-Art wurden zum intellektuellen Spiel. Lichtenstein, Oldenburg und Warhol sind heute „household names“. Ihr Bezugssystem ist die sie umgebende Alltagskultur der damaligen Gegenwart. Ihre massenhafte Verbreitung resultiert aus der gesamtgesellschaftlichen Anschlussfähigkeit. Das ist eine Erfolg versprechende Innovation. Sie ermöglicht die Vermarktung zur eigenen Lebenszeit.
Roy Lichtenstein, „M – Möglicherweise“, Magna auf Leinwand, 152 x 152 cm, 1965
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P a re n t h e se II Wenn das von den Forschern und Lehrern erzeugte innovative Wissen der nächsten Generation vermittelt wird, verwandelt sich das Innovationswissen, das vormals horizontal imitiert wurde, in parentales Wissen, das vertikal imitiert wird. Es ist dann kein Innovationswissen mehr, denn die neuen Nutzer haben die Entstehungsphase nicht selbst miterlebt. Die Nachahmung des Wissens, das von einem Vorbild übernommen wird, hat einen anderen Effekt auf die Individuen als die Nachahmung eines anonymen Weltwissens, dessen Entstehungsprozess im Dunkel der Vergangenheit liegt. Die Gedächtnisspeicherung des horizontal nachgeahmten Vorbildwissens hat episodischen Charakter. Man erinnert sich an die Umstände seiner Erzeugung und Übertragung. Das unpersönliche Weltwissen ist zwar stabil im Gedächtnis gespeichert, doch es ist nicht mit den begleitenden Emotionen ausgestattet, die das episodische Vorbildwissen so lebendig machen. Die episodischen Nebenwahrnehmungen, die sich beim Vorbildeinfluss einstellen, haben oft anekdotischen Charakter. Auf diese Weise wird das Ansehen prominenter Vorbilder relativiert, etwa nach dem Motto: „Ach, das ist doch der Patentamtangestellte aus Bern mit der extravaganten Theorie vom nicht relativen Charakter der Lichtgeschwindigkeit. Wenn das mal stimmt.“Wenn dann Messungen der Lichtgeschwindigkeit, die irgendwo von ganz anderen Forschern durchgeführt werden, die Relativitätstheorie bestätigen, sagen die Zeitgenossen: „Einstein hat Glück gehabt.“ Die angehörigen der nächsten Generation haben diese Entstehungsphasen mit ihren Unsicherheiten und Zweifeln nicht miterlebt. Für sie war Einstein immer schon ein Genie.
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Wenn Vorbildeinfluss den Generationenwechsel überlebt, entsteht ein Transzendentalisierungseffekt.1 Vertikaler Vorbildeinfluss erzeugt Weltwissen. Es verschwinden die episodischen Nebeneffekte bei der Gedächtniseinspeicherung. Das Verschwinden der episodischen Erinnerung bei gleich bleibend hohem Vorbildcharakter erzeugt Transzendentalität. Das Wissen wird nicht mehr für das Resultat eines zeitlichen Entstehungsprozesses gehalten. Es wird für etwas gehalten, was schon immer da war. Wissen, das für überzeitlich gehalten wird, befindet sich in einer transzendentalen Position zu den Wissensnutzern.
G e n e r a t i o n 3 (1 9 1 0 ‒1 9 4 5 ) Nach der vorigen Jahrhundertwende tummeln sich im Biotop Kunst viele konkurrierende Künstler und viele konkurrierende Stile. Die meisten werden in der Bedeutungslosigkeit versinken, einige werden sich durchsetzen und überleben. In diesem variationsreichen Umfeld erscheinen auch die Kubisten auf der Bildfläche, und mit ihnen Pablo Picasso. In gedeckten, fast monochromen Farben werden von nun an Bilder seziert und zur genaueren Untersuchung frei gegeben. Trotz einer nicht gerade sanften Herangehensweise wirkt Marcel Duchamps „Akt einer Frau die Treppe herabsteigend“ von 1912 anmutig und dynamisch zugleich. Das poetische Gegenstück zum 1939 folgenden, rasant-technoiden „Sturzflug in die Stadt“ von Tullio Crali. Doch dem späteren Erfolg gegenstandsloser und abstrakter Malerei läuft eine andere, sehr erfolgreiche Entwicklung entgegen.
Die hier und im Folgenden benutzte Terminologie berücksichtigt nicht die in der Philosophie seit Kant übliche Unterscheidung von “transzendent” und “transzendental”. Im vorliegenden Text bedeutet „transzendental“ einfach „transzendenzartig“.
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Wenn Vorbildeinfluss den Generationenwechsel überlebt, entsteht ein Transzendentalisierungseffekt.1 Vertikaler Vorbildeinfluss erzeugt Weltwissen. Es verschwinden die episodischen Nebeneffekte bei der Gedächtniseinspeicherung. Das Verschwinden der episodischen Erinnerung bei gleich bleibend hohem Vorbildcharakter erzeugt Transzendentalität. Das Wissen wird nicht mehr für das Resultat eines zeitlichen Entstehungsprozesses gehalten. Es wird für etwas gehalten, was schon immer da war. Wissen, das für überzeitlich gehalten wird, befindet sich in einer transzendentalen Position zu den Wissensnutzern.
G e n e r a t i o n 3 (1 9 1 0 ‒1 9 4 5 ) Nach der vorigen Jahrhundertwende tummeln sich im Biotop Kunst viele konkurrierende Künstler und viele konkurrierende Stile. Die meisten werden in der Bedeutungslosigkeit versinken, einige werden sich durchsetzen und überleben. In diesem variationsreichen Umfeld erscheinen auch die Kubisten auf der Bildfläche, und mit ihnen Pablo Picasso. In gedeckten, fast monochromen Farben werden von nun an Bilder seziert und zur genaueren Untersuchung frei gegeben. Trotz einer nicht gerade sanften Herangehensweise wirkt Marcel Duchamps „Akt einer Frau die Treppe herabsteigend“ von 1912 anmutig und dynamisch zugleich. Das poetische Gegenstück zum 1939 folgenden, rasant-technoiden „Sturzflug in die Stadt“ von Tullio Crali. Doch dem späteren Erfolg gegenstandsloser und abstrakter Malerei läuft eine andere, sehr erfolgreiche Entwicklung entgegen.
Die hier und im Folgenden benutzte Terminologie berücksichtigt nicht die in der Philosophie seit Kant übliche Unterscheidung von “transzendent” und “transzendental”. Im vorliegenden Text bedeutet „transzendental“ einfach „transzendenzartig“.
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Aus der Vielfalt der wild wuchernden Innovationen schickt sich eine Variante aus dem Pool moderner Stilrichtungen an, die Ouvertüre für die große Tragödie des 20. Jahrhunderts zu spielen. Futuristen und Protofaschisten entwerfen Bildwelten und Menschenbilder, die in ihren Auswirkungen weit bewegender sind als die künstlerischen Abwehrreaktionen auf die Resultate faschistischer Gewalt; man denke an Picassos „Guernica“. Experimentelle Kunstformen wuchern. Es herrscht der unbedingte Wille zur Gestaltung. Es beginnt die Fragmentierung der Realität und es entstehen optische Splitter einer Welt, die aus den Fugen geraten ist. Entsetzen ist in den Bildern zu sehen. Entsetzen erfasst auch den Betrachter, der in immer neu arrangierten Zeichengefügen nach Orientierung sucht. Doch Perspektive gibt es nicht mehr. Aus allen Richtungen prasselt nur noch ein Stakkato von Formen und Farben auf die Netzhaut. Und während die Bilder explodieren, wird anderswo die konkrete Umwelt in den Rahmen der Kunst gepresst. Die Materialkollagen von Kurt Schwitters verdichten unsere Erfahrungswelt zu einer Serie von Reliefs. Definierbare Partikel verschiedener Materialien, Texturen, Objekte und Farben fügen sich, der Komposition des Künstlers gehorchend, zu einer neuen Ordnung. Durch die unterschiedliche Materialität der verwendeten Werkstoffe entstehen Lücken und Verwerfungen. Es entsteht Raum, und es entsteht eine Tiefe ganz neuer Art. Mit seinem Lebenswerk, dem MERZ-Bau, liefert Schwitters einen der wichtigsten Impulse für die spätere Entwicklung von Environments und Installationen. Gezwungenermaßen versuchte Schwitters, seine Vision zwischen 1918 und 1938 an mehreren Orten zu verwirklichen. Trotz der widrigen Umstände, die ihn immer wieder zum Neubeginn zwangen, erscheinen die während der Arbeit verstrichene Zeit und die 32
daran angeschlossenen Episoden seines Lebens wie Bausteine des MERZ-Baus. In ihm wuchern Säulen und andere Zitate aus Architektur und Natur. Es gibt Grotten und Höhlen, ebenso wie religiös anmutende Kuppeln. Eingearbeitet werden auch gefundene Objekte, kleinere Skulpturen, Abfall und politische Plakate. Kurt Schwitters entwirft einen Lebensraum als Spiegel seiner selbst. Er macht sich und seine Geschichte zum künstlerischen Monument. Was für eine Aufregung: Strahlend weiß und spiegelglatt schmiegen sich die sanften Rundungen an das Podest. Weiche Linien und ein stetiger Wechsel von konkaven und konvexen Formen paaren sich in perfekter Symmetrie zu einem harmonischen Ganzen, nur unterbrochen von einigen tiefschwarzen Öffnungen und der Signatur „R. Mutt 1917“. So zutreffend diese Beschreibung von Marcel Duchamps „Brunnen“, einem auf der Montageseite liegenden Urinal, auch sein mag, so unzutreffend ist sie gleichzeitig. Die dem Objekt innewohnende abstrakte Ästhetik verschwindet zu fast 100 % hinter der in ihm erkannten Funktion. Die Ausstellung wird zum Protest, das Objekt zur Geste. Ein Urinal in einem Ausstellungsraum lässt im ersten Moment nicht viel Spielraum für Reflektion. Es löst einen Schock aus, ähnlich dem KriegsSchock, der die Dada-Bewegung zu ihren wütenden Aktionen veranlasst. In beiden Fällen das Prinzip: Schlag ins Gesicht. Andere Readymades Duchamps nehmen sich, in der Interpretation des Protests, mehr zurück. Die Kegelform der in Frankreich üblichen Flaschentrockner wirkt lediglich interessant. Die ganze Konstruktion atmet die Aura des Artifiziellen und erscheint als reiner Selbstzweck. Gerade jenseits der Grenzen Frankreichs fällt es schwer, den vielen abstehenden Metallha33
ken eine Funktion im Bistrobetrieb zuzuordnen. Im Gegensatz zu dem Urinal, welches ja auch durchaus ästhetische Qualitäten besitzt, liefert der Flaschentrockner eine Instant-Projektionsfläche für transzendentale Phantasien aller Art. Zeitnah zu Duchamp provoziert Kasimir Malewitsch mit einer anderen Ikone der Moderne, dem „Schwarzen Quadrat“, jenem Bild, das 2007 Schneiders „Kubus“ in Hamburg Gesellschaft leistet und den Betrachter immer wieder wie mit einem magischen Bann in die Welt der Kunst entführt.
P a re n t h e se III Was passiert, wenn leere Replikation und Transzendentaleffekt zusammenfallen? Kulturelle „selfish variants“, die sich länger als eine Generation halten, werden zu „selfish transcendentals“. Gibt es auch „transcendentals“, die nicht „selfish“ sind? Regelwissen, dessen Entstehungszeit nicht mehr bekannt ist, und dessen Begründungen für niemand nachvollziehbar sind, kann für das Überleben der Population nützlich sein. In diesem Fall ist es angebracht, von kulturellen Instinkten zu sprechen. Es ist beispielsweise denkbar, dass es in einer frühen Kultur rituelle Waschungen gibt, deren Grund niemand einsieht, die aber aus religiösen Gründen durchgeführt werden. Möglicherweise gibt es in dieser Kultur weniger Infektionskrankheiten als in anderen Kulturen, so dass mehr Individuen überleben, die Kinder erzeugen, von denen die Waschungsrituale blind imitiert werden. Das Imitationsverhalten der nächsten Generation fungiert als Imitant. Die Waschung fungiert als Imitat. Sofern die blinde 34
ken eine Funktion im Bistrobetrieb zuzuordnen. Im Gegensatz zu dem Urinal, welches ja auch durchaus ästhetische Qualitäten besitzt, liefert der Flaschentrockner eine Instant-Projektionsfläche für transzendentale Phantasien aller Art. Zeitnah zu Duchamp provoziert Kasimir Malewitsch mit einer anderen Ikone der Moderne, dem „Schwarzen Quadrat“, jenem Bild, das 2007 Schneiders „Kubus“ in Hamburg Gesellschaft leistet und den Betrachter immer wieder wie mit einem magischen Bann in die Welt der Kunst entführt.
P a re n t h e se III Was passiert, wenn leere Replikation und Transzendentaleffekt zusammenfallen? Kulturelle „selfish variants“, die sich länger als eine Generation halten, werden zu „selfish transcendentals“. Gibt es auch „transcendentals“, die nicht „selfish“ sind? Regelwissen, dessen Entstehungszeit nicht mehr bekannt ist, und dessen Begründungen für niemand nachvollziehbar sind, kann für das Überleben der Population nützlich sein. In diesem Fall ist es angebracht, von kulturellen Instinkten zu sprechen. Es ist beispielsweise denkbar, dass es in einer frühen Kultur rituelle Waschungen gibt, deren Grund niemand einsieht, die aber aus religiösen Gründen durchgeführt werden. Möglicherweise gibt es in dieser Kultur weniger Infektionskrankheiten als in anderen Kulturen, so dass mehr Individuen überleben, die Kinder erzeugen, von denen die Waschungsrituale blind imitiert werden. Das Imitationsverhalten der nächsten Generation fungiert als Imitant. Die Waschung fungiert als Imitat. Sofern die blinde 34
Imitation den Replikationseffekt bewirkt, ist es angebracht, die Bezeichnung „kultureller Instinkt“ zu verwenden. Möglich ist auch das Eindringen einer Vorliebe für Reinlichkeit in die Gene, etwa durch den Baldwin-Effekt oder durch genetische Assimilation. Dann gibt es ein genetisch übertragenes Präferenzverhalten für Waschungen. In diesem Fall handelt es sich um einen echten Instinkt. Beide, kultureller Instinkt (Imitant/Imitat) und echter Instinkt können auch in Kombination auftreten. Kulturelle Instinkte, durch deren Einfluss die Fitness der Population vergrößert wird, sind „non selfish transcendentals“. Demnach wären „selfish transcendentals“ imitierte Regeln, die keine Fitnessverbesserung bewirken, sondern stattdessen die Fitness schwächen, weil sie der Kultur Zeit stehlen, die eigentlich für die Kindererziehung benötigt würde. Es wurde die Möglichkeit der leeren Replikation erwähnt. Dabei müsste es sich um eine Replikation handeln, bei der nur die Replikationsmaschinerie repliziert wird. Auf die Kultur übertragen würde das bedeuten: Der Imitant imitiert den Imitanten. Imitant des Imitanten ist die Signatur des „selfish transcendentals“. Die „non selfish transcendentals“ verstärken die inklusive Fitness, obwohl sie noch nie von jemand verstanden wurden, und obwohl sie nicht durch Forschungslernen, sondern durch Zufall entstanden sind. Vertikale blinde Imitation erzeugt immer Transzendentalität. Die Transzendentalität entsteht, sobald die Vorbilder durch den Generationenwechsel aus dem Blickfeld bzw. aus dem episodischen Gedächtnis verschwinden. Transzendentalität entsteht auch ganz einfach dann, wenn etwas funktioniert, und man weiß nicht wie. „Selfish transcendentals“ werden ebenfalls durch vertikale Imitation erzeugt. Sie überleben in der Evolution, obwohl sie nur 35
Fitnessschwächung bewirken. Die Imitation, von der sie übertragen werden, kann nur die leere, d.h. die contentlose Imitation sein. Es kann nur die Imitation vom Typ „Imitant des Imitanten“ sein. Das ist die Imitation im Stadium der Selbstreferenz. Kann es so etwas überhaupt geben? Es gibt artefaktgebundene Kognition und nicht artefaktgebundene Kognition. Zu den kognitiven Artefakten gehören u.a. beschriftete Papierseiten, photographierte oder gezeichnete Bilder von Menschen, Tieren und Göttern, Portraits von Individuen, in Stein gemeißelte Inschriften, Fahrpläne, Verkehrsschilder. Verkehrsschilder sind oft mit Piktogrammen ausgefüllt und bedeuten beispielsweise: „Achtung Steinschlag!“
„Achtung spielende Kinder!“
„Achtung Wildwechsel!“
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Wenn das Verkehrsschild
mit dem Piktogramm
ausgefüllt ist, dann sieht es so aus:
und bedeutet: „Achtung Verkehrsschild!“ Wir haben es mit einem selbstreferentiellen kognitiven Artefakt zu tun. Kognitive Artefakte müssen produziert werden und zugänglich gemacht werden. Produktion und Zugänglichkeit bilden die Präsentation des kognitiven Artefakts. Steinschlag, Kinder und Wildwechsel bilden die Repräsentation des kognitiven Artefakts. Die Zugänglichkeit der kognitiven Artefakte kann beispielsweise von der öffentlichen Aufstellung, vom Vertrieb durch einen Verlag oder von der Ausstellung in einem Museum ermöglicht werden. Man stelle sich eine Kultur vor, in der Straßenverkehr längst zur 37
Gänze von GPS-Systemen reguliert wird, und in der nur noch Verkehrsschilder vom Typ „Achtung Verkehrsschild“ an den Straßen aufgestellt werden. Die Schilder werden so hintereinander aufgestellt, dass ein Schild auf das nächste verweist, das nächste auf das übernächste, das übernächste auf das überübernächste und so weiter. Dann wird die Folge der Straßenschilder zu einem selbstreferentiellen System. Man stelle sich vor, diese Gepflogenheit wird von einer Generation auf die andere übertragen. Dann meinen die heranwachsenden Kinder: Es war schon immer so. In diesem Fall haben die Generationenübergänge Transzendenzeffekte erzeugt. Nun stelle man sich noch Folgendes vor: Nur der Staat hat das Recht, „Achtung Verkehrsschild“-Schilder aufzustellen. Die Aufstellung ist für den Staat ein Akt der Zurschaustellung von Macht. Außerdem betraut der Staat nur die höchst bezahlten Künstler mit der Anfertigung der Verkehrsschilder. Gleichzeitig sorgt er dafür, dass viele Schilder aus den von den Künstlern gefertigten und signierten Serien auf dem freien Markt angeboten werden, so dass auch Privatpersonen in den Besitz dieser Prestigeartefakte gelangen können. In dieser kulturellen Utopie wird das Imitationsverhalten auf mehrfache Weise vorgeführt. Die Schilderkünstler imitieren die vorangehende Generation von Schilderkünstlern und erfinden gleichzeitig Neues, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Kinder imitieren das respektvolle Verhalten, das ihre Eltern den Schildern entgegenbringen. Wenn selbstreferentielle kognitive Artefakte in die transgenerationale Imitationsmaschinerie gelangen, entstehen egoistische kulturelle Varianten. So lautet ihre immanente Beschreibung. Transzendental entstehen gewaltige kognitive Nebelwolken, die mit jedem Generationenwechsel undurchdringlicher werden. Eine Feststellung ist von grundlegender Wichtigkeit: Das Phänomen „Imitation“ ist das zentrale Funktionselement der Kul38
turen. Wenn du kulturelle Dynamiken verstehen willst, musst du die transgenerationalen Imitationsstränge finden. Suche sie! Du wirst sie finden. Lass dich nicht beirren von der Behauptung, für die Kulturen sei nur Originalität wichtig. Denn ohne die Imitation, die nicht versteht, was sie imitiert, gäbe es keine Kultur.
Cr i si s
Peter Paul Rubens, Ausschnitt „Löwenjagd“, (Original 249x377 cm), 1618
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turen. Wenn du kulturelle Dynamiken verstehen willst, musst du die transgenerationalen Imitationsstränge finden. Suche sie! Du wirst sie finden. Lass dich nicht beirren von der Behauptung, für die Kulturen sei nur Originalität wichtig. Denn ohne die Imitation, die nicht versteht, was sie imitiert, gäbe es keine Kultur.
Cr i si s
Peter Paul Rubens, Ausschnitt „Löwenjagd“, (Original 249x377 cm), 1618
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G e n e r a t i o n 3 (1 9 1 0 ‒1 9 4 5 ) Während der 1920er Jahre gab es die Bilder der Kubisten. Ihr Content waren die Motive des Stilllebens: Krüge, Blumenvasen, Tassen, Gläser, Zeitungen, Musikinstrumente: lauter Anspielungen auf das häusliche Leben. Die pictogrammartigen Abbildungen dieser Objekte waren in einen Rapport gebracht zu 2D-Ornamentstrukturen. Die Ornamentstrukturen hatten die Form von übereinander geblätterten Quadraten und Rechtecken. Diese Muster rund um den rechten Winkel füllten die Gemälderechtecke so aus, dass Tafelbilder von hoher dekorativer Qualität entstanden. Diese Objekte funktionierten als Dekorationen nur in einem einzigen Einrichtungsstil: dem Art Deco. Kubistische Bilder in Art Deco-Räumen erzeugen dekorative Effekte von großer Eleganz. Auch die Farbtöne der Ornamentmuster, vorzugsweise ein ockerähnliches Braun, passen bestens zu den Farben, die von den Designern des Art DecoMobiliars bevorzugt wurden.
Art Deco-Interieur
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Wer Art Deco-Räume als episodische Environments erleben will, besuche das Restaurant „Le boeuf sur le toit“ in der Rue du Collisée in Paris. Noch eindrucksvoller ist ein Art DecoRaum in Singapur. Um ihn zu sehen, lohnt sich jede Anreise. Es handelt sich um die Bar „DiVine“ im Park-View-Square-Building. Die Kunstwerke im „Boeuf sur le toit“ und im „DiVine“ sind episodisch, weil sie nicht ausgestellt sind. Sie fungieren nur als Dekoration, denn der Grund Ihres Besuchs, verehrter Leser, wird nicht die Kunstbetrachtung sein, sondern der Restaurant- oder Barbesuch. Sie werden die Kunstwerke nur auf zerstreute Weise wahrnehmen. Im Mittelpunkt Ihres Interesses werden die Speisen, die Getränke und die Gespräche mit Ihren Begleitern und Begleiterinnen stehen. Wenn man sich von der Kubistenzeit um einen weiteren Generationenschritt zurückbewegt, befindet man sich in der Epoche der Maler van Gogh und Gauguin. Sie standen unter dem Einfluss des „Japonisme“. Auch hier handelt es sich um die Evolution von Ornament. Sie wurde durch die Begegnung der westlichen Kultur und der fernöstlichen Kultur in eine neue Richtung gelenkt. Unter „Japonisme“ versteht man den Einfluss von Farbholzschnitten, die in Japan massenweise produziert wurden. Der „Japonisme“ war so etwas wie ein Globalisierungseffekt der Bildtechniken. Durch den Überseehandel wurden von Reisenden und Matrosen diese Bilder mitgebracht. Oft waren sie auf Papier gedruckt, das die heimkehrenden Europäer als Packpapier benutzten.
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Hiroshige, „Winter (Fuyu)“, Holzschnitt, 373x127 mm, veröffentlicht um 1834/5
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Die Bilder der Japaner unterschieden sich von den Bildern des Westens durch das Fehlen der dargestellten Raumtiefe. Seit der italienischen Renaissance arbeiteten die westlichen Maler mit der Zentralperspektive, die fiktive 3D-Räume in 2D-Räume projiziert und die Abbildung von Körperschwere ermöglicht. In den japanischen Holzschnitten wurden sowohl landschaftliche und architektonische Settings als auch Physiognomien und Körper als 2D-Figuren in 2D-Räumen abgebildet. Japanische Farbholzschnitte gelangten auch in die Ateliers der Pariser Maler. Sie hingen dort an den Wänden. Bildfiguren, Bildsettings, das Papier, auf das die Bilder gedruckt waren, und die Wand, an der die Bilder hingen, bildeten einen einzigen 2D-Raum. Seine Raumstruktur unterschied sich nicht von der zweidimensionalen Raumstruktur einer dekorativen Tapete. Womit wir wieder beim Ornament angekommen wären. Folgendes war nun ganz leicht: Als Vincent van Gogh den Père Tanguy portraitierte, bat er ihn, auf einem Stuhl vor einer Wand mit japanischen Bildern Platz zu nehmen. Auf van Goghs Bild gibt es dann nur noch einen einzigen 2D-Raum: In ihm befinden sich der Père Tanguy, die Figuren und Topographien der japanischen Drucke, die Wand, an der sie hängen, und die Wand, an der später van Goghs Portrait hängen wird.
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Vincent van Gogh, „Père Tanguy“, Öl auf Leinwand, 93 x 73 cm, 1887‒88
Noch eine Rückblende: Diesmal überspringen wir mehrere Generationen. Wir befinden uns im 18. Jahrhundert, in der Zeit der Chinoiserie. Auch damals waren Bilder aus dem Fernen Osten nach Europa gelangt. 44
Katsushige Iwasa, „Drei tanzende Samurai“, 1. Hälfte 17. Jht.
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Das Bildmedium war das chinesische Porzellan, das man importieren musste, weil man in Europa noch kein Porzellan herstellen konnte. Auch die Bilder der chinesischen Porzellanmalerei waren 2D-Bilder. Auch sie riefen eine Reaktion in den westlichen Medientechniken hervor. Die chinesischen 2DBilder wurden vom westlichen Ornamentsystem absorbiert. Die Paneele, Friese, Lisenen und Wandfüllungen der Arabesken, Grotesken und Rocaillen integrierten die chinesischen Figuren und Settings in ihren Ornamentrapport. Denn bei Arabesken, Grotesken und Rocaillen hatte es sich immer schon um zweidimensionale Verbindungstechniken gehandelt. Sie erzeugen hin und wieder chimärische Raumeffekte, indem sie Pflanzen, Muschelränder oder Fabelwesen zur Dreidimensionalität anschwellen lassen.
Dieses lokale Ornamentsystem war in ein globales, architektonisches Ornamentsystem eingebunden. Das globale Ornamentsystem bestimmte die Präsentation der medialen Einzelobjekte. Diese Form der Präsentation war immer wertend. Sie folgte einem anerkannten Ranking-System. Auf diese Weise kamen Grotesken, Arabesken und Rocaillen nur an untergeordneten Orten zum Einsatz. Sie wurden ferngehalten von den Orten, an denen sich die hochrangigen 3D-Bilder mit heroischen oder sakralen Inhalten befanden. Eine Zwischenbemerkung: Wir befinden uns im 18. Jahrhundert, der Spätphase der Vormoderne. Überspringen wie noch 46
einige Generationen und richten wir unseren Blick auf die Epoche der italienischen Renaissance: Der normale Kunstfreund unserer Tage ist der Meinung, autonome Kunst und autonome Künstler seien während der italienischen Renaissance entstanden. Dem ist nicht so. Die Gemälde und Skulpturen von Leonardo, Raphael, Michelangelo und ihren Nachfolgern haben mit Kunst im heutigen Sinn nichts zu tun. Sie gehorchen dem Ornament-Ranking, und ihr oberstes Ziel ist das Auslösen von Emotionen. Damit stehen sie im Gegensatz zur Aufmerksamkeitslenkung und zum Prinzip „aesthetical behavior“ der Moderne. Der Kunstfreund des 20. und 21. Jahrhunderts muss zur Kenntnis nehmen, dass die glanzvolle Epoche der Renaissance weder als Vorläufer noch als Legitimationslieferant der Moderne in Frage kommt. Auch sollte er anerkennen, dass die Künstler der Renaissance die intellektuelle und technologische Elite ihrer Epoche bildeten. Nehmen wir als Beispiel den Florentiner Filippo Brunelleschi. Seine Konstruktion der Florentiner Domkuppel ist eine technologische Pionierleistung. Auch an der Erfindung der Zentralperspektive war er maßgeblich beteiligt. Die Zentralperspektive stellt einen technologischen Durchbruch dar, vergleichbar der Erfindung des Films oder des Fernsehens. Doch das ist nicht alles. Die Zentralperspektive leitet auch eine neue Epoche der Mathematik ein. Sie erfindet den dreidimensionalen, umgebenden Raum, aus dem Descartes später den Raum der analytischen Geometrie entwickeln wird, und ohne den die Räume der Differentialrechnung und der Relativitätstheorie nicht möglich wären. Die Künstler der Renaissance waren den Künstlern der Moderne haushoch überlegen, obwohl sie keine autonomen Künstler waren. Denn die Eliten der Moderne sind eher unter den Physikern, den Wirtschaftswissenschaftlern, den Mathemati47
kern, den Neurowissenschaftlern, den Genetikern, den Computerwissenschaftlern und den Designern zu finden. Für die moderne Kunst gibt es keine Rückendeckung aus der Vergangenheit. Sie steht allein da und muss sich aus sich selbst rechtfertigen.
P a re n t h e se IV Kulturen erzeugen Display-Verhalten. Mediale Manifestationen produzieren zwei Kommunikationskanäle: einen Sachkanal und einen Display-Kanal. Der Display-Kanal wirkt präsentierend, der Sachkanal repräsentierend. Beispiele für Display-Verhalten: „Augendienerei“: Jemand gibt einem Bettler eine Münze, erstens, um dem Bettler zu helfen, und zweitens, weil eine Dame die Szene beobachtet. Der Almosenspender will nicht augendienerisch auftreten. Die bloße Anwesenheit eines Zuschauers macht ihm bewusst, dass Augendienerei im Spiel ist und verändert sein Verhalten. Der Sachkanal überträgt den Akt des Überreichens der Münze. Der Display-Kanal überträgt die Vorführung diese Akts an den Zuschauer. “Aus dem Fenster sprechen“: Jemand unterhält sich in einem Büro mit einer anderen Person. Die Tür zum Nachbarbüro ist offen. Das Nachbarbüro gehört einer einflussreichen Persönlichkeit. Sachkanal: sprechen mit der anwesenden Person. DisplayKanal: verändertes Verhalten der Sprecher wegen der Übertragung des Gesprächs an die Person im Nebenraum. „Rhetorik“: Der zentrale rhetorische Effekt wird nur erzielt durch das gleichzeitige Sprechen in einer korrekten und in einer figür48
kern, den Neurowissenschaftlern, den Genetikern, den Computerwissenschaftlern und den Designern zu finden. Für die moderne Kunst gibt es keine Rückendeckung aus der Vergangenheit. Sie steht allein da und muss sich aus sich selbst rechtfertigen.
P a re n t h e se IV Kulturen erzeugen Display-Verhalten. Mediale Manifestationen produzieren zwei Kommunikationskanäle: einen Sachkanal und einen Display-Kanal. Der Display-Kanal wirkt präsentierend, der Sachkanal repräsentierend. Beispiele für Display-Verhalten: „Augendienerei“: Jemand gibt einem Bettler eine Münze, erstens, um dem Bettler zu helfen, und zweitens, weil eine Dame die Szene beobachtet. Der Almosenspender will nicht augendienerisch auftreten. Die bloße Anwesenheit eines Zuschauers macht ihm bewusst, dass Augendienerei im Spiel ist und verändert sein Verhalten. Der Sachkanal überträgt den Akt des Überreichens der Münze. Der Display-Kanal überträgt die Vorführung diese Akts an den Zuschauer. “Aus dem Fenster sprechen“: Jemand unterhält sich in einem Büro mit einer anderen Person. Die Tür zum Nachbarbüro ist offen. Das Nachbarbüro gehört einer einflussreichen Persönlichkeit. Sachkanal: sprechen mit der anwesenden Person. DisplayKanal: verändertes Verhalten der Sprecher wegen der Übertragung des Gesprächs an die Person im Nebenraum. „Rhetorik“: Der zentrale rhetorische Effekt wird nur erzielt durch das gleichzeitige Sprechen in einer korrekten und in einer figür48
lichen Sprache (Verwendung von rhetorischen Figuren). Die korrekte Sprache erzeugt semantische Bezüge (Sachkanal). Die figürliche Sprache (Display-Kanal) muss passen zur Semantik und zum rhetorischen Setting. Diesen zweiten Bezug nennen wir Hyperreferenz. Die Hyperreferenz wird durch den Display-Kanal übertragen. In der Sprache der Logik von George Spencer-Brown würde man das Display-Verhalten die „Indikation“ der Sach-„Unterscheidung“ nennen.2 Jedes Wort erzeugt einen semantischen Unterscheidungsraum. Z.B. „Hund“ trifft eine Unterscheidung zwischen dem linguistischen Raum „Hund“ und dem linguistischen Raum „Nicht-Hund“. Im physischen Raum fällt diese Unterscheidung mit der Haut des Hundes zusammen, im fiktiven Raum der Bilder mit der Konturlinie, die die Raumgrenze des Tierkörpers nachzeichnet. Die rhetorischen Display-Regeln schreiben vor, wie man passend über Hunde zu sprechen hat: humorvoll, vielleicht wissenschaftlich, keinesfalls pathetisch. Der Begriff Display-Verhalten ist in der Zoologie, genauer gesagt, in der Ethologie entwickelt worden. Er bedeutet dort: von der Evolution verändertes Verhalten, das Information überträgt. Die Indikationstheorie von G. Spencer-Brown benutzt als Ausdruck für „Unterscheidung“ dieses Zeichen:
Spencer-Brown, George: Laws of Form, New York: E.P. Dutton, 1979. Die Worte „Indikation“ und „Unterscheidung“ sind die wichtigsten Elemente der SpencerBrown’schen Terminologie.
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Die konkave Seite bezeichnet das Unterschiedene, die konvexe Seite das, wovon es unterschieden wird. Im kulturellen Zusammenhang ist nur die Display-Markierung von Belang. „Display-Marker“ sei durch den Buchstaben d ausgedrückt. Dann bedeutet d „durch display markierte Unterscheidung“. Mit anderen Worten: Es handelt sich um kulturrelevante Zwei-Kanal-Kommunikation. Das Unterschiedene ist das Repräsentierte. Das DisplayVerhalten präsentiert das Repräsentierte. d bedeutet: Das Display-Verhalten ist in den eigenen, markierten Raum eingedrungen. Die Unterscheidung ist nicht displaymarkiert. Das bedeutet in unserem Zusammenhang: keine Kulturrelevanz. Das Spencer-Brown’sche Symbolsystem verwendet auch das Gleichheitszeichen = Wenn hinter dem Gleichheitszeichen nur der Punkt als Abschluss des Ausdrucks erscheint =. bedeutet das: Was auf der linken Seite von „=“ steht, ist nicht displaymarkiert. Erscheint auf der rechten Seite von „=“ das 50
Display-Zeichen „d“ =d so bedeutet das: Was auf der linken Seite steht ist displaymarkiert: d = d. Im kulturellen Zusammenhang enthält die Display-Markierung immer eine Ranking-Indikation. Der Display-Marker indiziert immer die Höchst- oder Niedrigstbewertung „high ranking“ oder „low ranking“, oder skalierte Abstufungen zwischen den beiden Extremen. Die Ranking-Indikation hat in der westlichen Kultur den Namen „decorum“. „High ranking“ hat die Namen „hypsos“ (griechisch: „hoch“), „sublimis“ (lateinisch) oder „erhaben“. „Low ranking“ hat die Namen „tapeinos“ (griechisch: „niedrig“),“humilis“ (lateinisch) oder „niedrig“. Beispiele für Display-Verhalten in den verschiedenen Medien: Theater: das Öffnen des Vorhangs in der Schauspieltechnik ist gleichbedeutend mit dem Weglassen der „vierten Wand“. Musik: das Ranking der Instrumente, das Ranking der rhetorischen Melodiefiguren. Malerei: das Ranking der Bildtypen „sakral“, „historisch“, „pastoral“. Rhetorik: das „Ornament“ der Sprache ist gleichbedeutend mit dem Ranking der Menge der rhetorischen Figuren. 51
Architektur: das „Ornament“ der Architektur ist gleichbedeutend mit dem Ranking der Menge aller Ornamente von Säulenordnungen (high) bis Grotesken/Arabesken (niedrig). Unter dem Stichwort „reentry“ analysiert Spencer-Brown das Phänomen der Selbstreferenz. In Zwei-Kanal-Systemen, die mit Display-Kanälen arbeiten, kann man mit Hilfe der SpencerBrown’schen Symbolsprache das Erscheinen von Selbstreferenz folgendermaßen ausdrücken: d =d Im Bereich der kulturellen Organisation sind nur zwei Zustände möglich. Die kulturelle Organisation befindet sich entweder im Zustand: d=d
(1)
oder im Zustand: d =d
(2)
(2) bezeichnet selbstreferentielle Zustände des Display-Systems. Im selbstreferentiellen Display-Verhalten verschwindet die Display-Absicht. Beispiel: Wenn in der Almosenszene über das Almosengeben gesprochen wird, wenn in der Szene „aus dem Fenster sprechen“ über das „aus dem Fenster Sprechen“ gesprochen wird, wenn in den Verkehrsschildern Verkehrsschilder erscheinen. Die Display-Absicht gibt der kulturellen Kommunikation einen Antrieb. Philosophen sprechen von „Konation“. Konation leitet sich ab vom lateinischen Wort „conatio“, der Antrieb. 52
Displaylose Kommunikation oder selbstreferentielles DisplayVerhalten ist ohne kulturellen Antrieb.
G e n e r a t i o n 3 (F o rtsetzu n g)
In der ersten Begegnungsphase zwischen westlichen und ostasiatischen Künsten wurden die eindringenden andersartigen Bilder vom westlichen Ornamentsystem neutralisiert. Es entstand die Chinoiserie, 18. Jahrhundert, die Zeit des Rokoko.
Paul Poiret, Hindustani-Muster für die Gazette du Bon Ton, 1920
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Displaylose Kommunikation oder selbstreferentielles DisplayVerhalten ist ohne kulturellen Antrieb.
G e n e r a t i o n 3 (F o rtsetzu n g)
In der ersten Begegnungsphase zwischen westlichen und ostasiatischen Künsten wurden die eindringenden andersartigen Bilder vom westlichen Ornamentsystem neutralisiert. Es entstand die Chinoiserie, 18. Jahrhundert, die Zeit des Rokoko.
Paul Poiret, Hindustani-Muster für die Gazette du Bon Ton, 1920
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Die zweite Begegnungsphase war der „Japonisme“, eine Generation vor Generation 3. Es entstanden Bilder, die sich besonders gut für die Wanddekoration eigneten. Diese neuen Bilder verzichteten auf die ehemaligen Bildqualitäten: 3D-Raum, Darstellung der Körperschwere, Darstellung der Emotionen. Nun beginnt der dreitaktige Generationencountdown, dem diese Studie gewidmet ist. Der erste Generationenschritt von der Gauguin/van Gogh-Zeit zur Generation 3 hat nur eine Vorläuferfunktion. Dieser Vorläuferschritt löste den ersten Transzendentalisierungseffekt aus. Die dekorativen Bilder von van Gogh und Gauguin, die von Cezanne übrigens auch, verwandelten sich in Kunstwerke der Moderne. Sie befanden sich von nun an im transzendentalen Raum der zeitlosen Kunst. Ihr Sinn hatte sich verändert. Sie wirkten nicht mehr dekorativ und elegant wie Gauguins Bilder zu Lebzeiten, und nicht mehr schrill und grobschlächtig wie van Goghs Bilder zu Lebzeiten. Sie waren zu Vorbildern geworden. Ihre transzendentale Botschaft lautete: Wir enthalten tiefen Sinn. Wir vermitteln Erkenntnis ohne Inhalt. Was das genau ist, wissen wir nicht. Aber die Sinntiefe ist in uns. Ihr findet sie durch ästhetisches Verhalten und selektive Aufmerksamkeit. Die Sinntiefe ist die Wahrheit. Sie kommt aus der Transzendenz. Kunst wurde von nun an gleichgesetzt mit Wahrheit. Kunstwerke waren während der Vormoderne nie für Wahrheiten gehalten worden. Es gab die Wahrheitsannahme höchstens für die ikonologischen Inhalte, z.B. die theologischen Botschaften der sakralen Gemälde. Bei den politischen Historiengemälden hätte ohnehin niemand von wahren Inhalten gesprochen. Man hielt allerdings ihre narrativen Botschaften für epideiktische Darstellungen der eigenen Geschichte. Für sie Partei zu ergreifen, war man jederzeit bereit. 54
Erster Generationentakt der Moderne:
Marcel Duchamp, „Akt, eine Treppe herabsteigend Nr.2“, Öl auf Leinwand, 147,5 x 89 cm, 1912
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„Nackte Frau die Treppe herabsteigend“ war ein kubistisches Gemälde im Stil der ockerbraunen Geometrieornamente. Marcel Duchamp hat es in mehreren Varianten gemalt. Die ornamentalen Art Deco-Qualitäten waren im Verhältnis zu Picasso, Braque und Gris noch gesteigert. Picasso hatte einige Jahre vorher die „Desmoiselles d’Avignon“ gemalt. Er hatte dabei, ganz wie in der Art Deco-Mode, auf asiatische und afrikanische Vorbilder zurückgegriffen. Bei Picasso waren es afrikanische Skulpturen aus dem Pariser Musée de l’homme. Nun sind aber sowohl die kubistischen Maler als auch die Kunsthistoriker stets der Meinung gewesen, in kubistischen Bildern werde die Raumzeit, d.h. der 4D-Raum dargestellt. Sie glaubten, in kubistischen Bildern den 4D-Raum zu erkennen. Beruhte dieser Glaube auf Transzendenzverhalten oder stützte er sich auf eine immanente Wahrnehmung? Welche Darstellungsverfahren stehen der Mathematik zur Verfügung, um höher dimensionale Räume in niedriger dimensionalen Räumen abzubilden? Da gibt es z.B. die „Blättertechnik“. Sie funktioniert so ähnlich wie ein Daumenkino. 3DRäume, die sich entlang der Zeitachse t verändern, werden zu den verschiedenen Zeitpunkten ihrer Veränderungsdynamik tn in jeweils einen 2D-Raum projiziert. Diese 2D-Räume werden als „Blätter“ vorgestellt und dann entlang der Zeitachse tn hintereinander gelegt wie die Blätter eines Daumenkinos. Wenn man die Konturlinien der Einzelbilder eines Daumenkinos übereinander in einen einzigen 2D-Raum projiziert, verschwindet die Erkennbarkeit der Bilder. Es bleibt nur ein Muster von Linien zurück. So ähnlich verlief die Entwicklung des Kubismus. Das Transzendentalverhalten der Kunstfreunde erkennt die Darstellung der Raumzeit. Die Kunstfreunde sehen im Duchamp-Bild eine sich bewegende nackte Frau auf der 56
Treppe. Der Immanenzwahrnehmung bietet sich nur ein Muster von Linien. In Duchamps kubistischem Bild sind deshalb für den nicht transzendentalen Blick keine Contents zu erkennen. Weder von der nackten Frau noch von der Treppe ist etwas zu sehen. Content ist nur im Titel enthalten. Wenn der Generationenschritt zwangsläufig eine Transzendentalisierung der Gauguin- und van Gogh-Bilder mit sich brachte, dann müssen wir trotzdem den transgenerationalen Imitationsstrang finden, der die Maler der Generation 3 mit den Malern der Gauguin-Zeit verbindet. Denn wir erinnern uns: Jeder Generationenwechsel bedeutet Imitationszwang. Ohne Imitation keine Kultur. Die Definition von Kultur lautet: transgenerationale Kontinuität. Die Maler der Generation 3 imitierten nur den 2D-Raum und das Rapportprinzip, das die Grundlage aller Ornamentstrukturen bildet. Sie erzeugten Muster wie z.B. die übereinander geblätterten Strukturen der kubistischen Gemälde. Sie ersetzten die Bilder in den Rechtecken der Gemälde durch Ornamente in den Rechtecken der Gemälde. Die rechteckigen Rahmen der Gemälde gehören derselben ornamentalen Realitätsebene an wie die ornamentalen Pattern, die nunmehr die Rechtecke der Gemälde ausfüllen. Damit ist die Entwicklungsstufe des selbstreferentiellen kognitiven Artefakts erreicht. Wann ist ein Generationenschritt vollzogen? Er ist vollzogen, wenn die Individuen, die die Ereignisse der vorangehenden Generation nicht auf episodische Weise miterlebt haben, mehr als 50 % der Bevölkerung ausmachen. Duchamp war ein wenig jünger als Braque und Gris. Bei ihm verschwanden die Contents aus den kubistischen Mustern. 57
Auch bei ihm behielten die kubistischen Ornamente ihre dekorative Eleganz. Seine selbstreferentiellen kognitiven Artefakte eigneten sich noch für die Dekoration. Das heißt: Seine kubistischen Bilder, die eigentlich keine Bilder mehr waren sondern nur noch Gemälde, waren attraktive Objekte, die in den Salons zum Verkauf angeboten wurden. Die Ausstellungen der Pariser Malereiszene des 19. und 20. Jahrhunderts hießen „salons“. Salon bedeutet „Verkaufsmesse“ wie im Begriff „Salon de l’automobile“. Marcel Duchamp hat dann später die wichtigste Entdeckung der modernen Kunst gemacht. Nach einigen unsicheren Näherungsversuchen gelang ihm mit der Ausstellung des Pissoirbeckens die Freisetzung der Ausstellungsmacht. Er hatte zufällig herausgefunden, dass durch die Salons bei den Besuchern ein Effekt der selektiven Aufmerksamkeit ausgelöst wird und dass dieser Effekt ausreicht, um das Phänomen „Kunst“ zu erzeugen.
Marcel Duchamp, „Fontaine“, 1917
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Duchamp hat seine Entdeckung wahrscheinlich durch Zufall gemacht. In seinem Oeuvre stellen die so genannten „Ready Mades“ nur ein Zwischenspiel dar. Seine späteren Arbeiten, z.B. „Neuvermählte von ihren Junggesellen entkleidet“ und „Quelle“, wenden sich völlig anderen Themen zu. Was wurde in Duchamps Pissoirbecken imitiert? Nur das Ausstellungsverhalten der Salonbesucher. Wir haben es bei dem Vorläufergenerationenschritt von der Zeit Gauguins zur Generation 3 mit zwei gleichzeitigen, Transzendenz erzeugenden Imitationstakten zu tun. (1) Der erste besteht aus dem Eindringen des ornamentalen Patternsystems in die rechteckigen Darstellungsfelder der Gemälde. (2) Der zweite besteht aus der Transzendentalisierung der Produktion von Kunstwerken bei gleichzeitiger Reduktion der Imitation auf das bloße Ausstellungsverhalten. (1) und (2) stehen in einer funktionalen Beziehung zueinander. Denn das Ornament war während der Vormoderne evaluierendes Präsentationsmittel bzw. evaluierender Display-Marker. Sein Evaluationsprinzip war die Ranking-Erkennung, die man „decorum“ nannte. Das Ornament wies den Bildern ihren Platz an. Wenn aber das Ornament selbst zum Bild wird, braucht man ein neues Präsentationsmittel. Die Präsentationsaufgabe fällt dann notwendigerweise der Ausstellung zu. Das Eindringen der Muster in die Bilder bewirkt die Entdeckung der Ausstellungsmacht. Weil Muster derselben ornamentalen Realitätsebene angehören wie Bilderrahmen, sind gerahmte Muster selbstreferentielle kognitive Artefakte wie Verkehrsschilderverkehrsschilder. Wenn also Ausstellungen selbstreferentielle kognitive Artefakte genau so gut ausstellen können wie kognitive Artefakte mit normalem Realitätsbezug, dann wird die Ausstellung zum wichtigsten Faktor bei der Kunst59
schöpfung. Es entsteht das Gespür für die Ausstellungsperformance. Das Pissoirbecken, das immanent ein Pissoirbecken und transzendent eine Fontäne war, bildet den Abschluss des Emergenzprozesses, der zur autonomen Ausstellung führt. Die weitere Generationenevolution wird zeigen, dass die Entwicklung der autonomen Ausstellung dominant verläuft, und dass die Entwicklung des selbstreferentiellen kognitiven Artefakts (sprich: gerahmtes Ornament oder „abstraktes Bild“) rezessiv verläuft. Die Ausstellung übernimmt die Macht, die vorher das Decorum hatte. Doch an die Stelle von Ranking-Evaluation und DisplayVerhalten tritt die Transzendentalität der Ausstellungsmacht. Ihre Macht gründet sich darauf, dass sie nicht wahrnehmbar ist. Damit steht sie im Gegensatz zur Macht des Display-Verhaltens, die im Ornamentsystem der Vormoderne bewusst zur Schau gestellt wurde.
P a re n t h e se V Ist die Kunst der Moderne Religionsersatz? Die zahlreichen Transzendenzeffekte, die durch sie ausgelöst werden, legen diese Vermutung nahe. Peter Sloterdijk beschreibt in seinem Buch über die drei monotheistischen Religionen sieben verschiedene Erscheinungsformen von Transzendenz.3 Er versucht, die Transzendenzphänomene „aufzuklären“, indem er die Transzendenzinhalte in die ihnen
Sloterdijk, P.: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt am Main: Verlag der Weltreligionen, 2007
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schöpfung. Es entsteht das Gespür für die Ausstellungsperformance. Das Pissoirbecken, das immanent ein Pissoirbecken und transzendent eine Fontäne war, bildet den Abschluss des Emergenzprozesses, der zur autonomen Ausstellung führt. Die weitere Generationenevolution wird zeigen, dass die Entwicklung der autonomen Ausstellung dominant verläuft, und dass die Entwicklung des selbstreferentiellen kognitiven Artefakts (sprich: gerahmtes Ornament oder „abstraktes Bild“) rezessiv verläuft. Die Ausstellung übernimmt die Macht, die vorher das Decorum hatte. Doch an die Stelle von Ranking-Evaluation und DisplayVerhalten tritt die Transzendentalität der Ausstellungsmacht. Ihre Macht gründet sich darauf, dass sie nicht wahrnehmbar ist. Damit steht sie im Gegensatz zur Macht des Display-Verhaltens, die im Ornamentsystem der Vormoderne bewusst zur Schau gestellt wurde.
P a re n t h e se V Ist die Kunst der Moderne Religionsersatz? Die zahlreichen Transzendenzeffekte, die durch sie ausgelöst werden, legen diese Vermutung nahe. Peter Sloterdijk beschreibt in seinem Buch über die drei monotheistischen Religionen sieben verschiedene Erscheinungsformen von Transzendenz.3 Er versucht, die Transzendenzphänomene „aufzuklären“, indem er die Transzendenzinhalte in die ihnen
Sloterdijk, P.: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt am Main: Verlag der Weltreligionen, 2007
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zu Grunde liegenden Immanenzprozesse übersetzt. Bei vier von sieben Transzendenzformen gelingt ihm, wie er selbst sagt, diese Übersetzungsarbeit. Wenn die Transzendenzphänomene durch funktionalistische oder naturalistische Beschreibungen ersetzt werden können, gelingt immer der Nachweis, dass die Transzendenzkognition auf der Verkennung von etwas beruht. So beruhe die Transzendenzerkennung der Ewigkeit auf der Verkennung der Langsamkeit von Generationen übergreifenden Prozessen.4 Die Transzendenzannahme von Gottesbegegnungen in militärischen Beinahekatastrophen beruhe auf der Verkennung des Stresstraumas. Die transzendentale Schuldzuweisung an die Götter nach dem Verlust eines geliebten Menschen beruhe auf der Verkennung der psychischen Reaktion, die ausgelöst wird durch eine plötzlich entstandene Leerstelle der emotionalen Wahrnehmung. Schließlich beruhe der transzendentale Charakter von sublimierenden Umwandlungen der Leiden in religiöse Leidenschaften auf der Verkennung von unverzichtbaren natürlichen und kulturellen Immunsystemen. Transcendentals können, wie in Parenthese III behauptet, selfish und nicht selfish sein. Das gilt sowohl für immanent erklärbare transcendentals als auch für immanent nicht erklärbare transcendentals. Zu den immanent nicht erklärbaren transcendentals gehört das endogen religiöse Transzendenzverhalten. Der transzendentale Charakter der modernen Kunst ist zur Gänze immanent erklärbar. Da ist zunächst die Verkennung der transgenerationalen Erinnerungen. Durch sie entsteht die transzendentale Annahme von der ewigkeitsartigen Zeitstruktur der Kunstwerke. Dann die Verkennung der transgenerationalen Transmis
siehe auch: Mühlmann, H.: „Die Ökonomiemaschine“, in Igmade (Hrgs.): 5 Codes: Architektur, Paranoia und Risiko in Zeiten des Terrors, Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser Verlag, 2006
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sion, die vom Imitationsverhalten ermöglicht wird. Durch sie entstehen die transzendentalen Annahmen absolute Kreation, absolute Originalität und absolute Innovation. Es folgt die Verkennung der Ornamentmuster. Durch sie entsteht die Annahme von den transzendentalen Inhalten der „abstrakten Bilder“. Schließlich die Verkennung der Ausstellungsmacht. Durch sie entsteht die Fiktion der transzendentalen Kultur. Die transzendentale Kultur ist ein mentaler Zustand. Er entsteht im Individuum, z.B. wenn es ein Museum betritt. Die transzendentale Kultur ist pseudoreligiös. Sie hat ihre pseudoheiligen Bezirke (Museen). Sie verfügt über fetischartige Objekte („abstrakte Bilder“). Und sie proklamiert den Ewigkeitswert von kulturellen Artefakten (transzendentale Kultur). Das religiöse Transzendenzverhalten beeinflusst das ethische Verhalten. Die transzendentale Kultur verlangt von den Menschen keine ethischen Konsequenzen. Bei ihr handelt es sich um eine Transzendenzarbeit, die nicht in die Realität zurückkehrt. Wenn man z.B. Land vermisst und dann Landkarten zeichnet, erzeugt man durch das Anfertigen der Landkarte einen Raum, der sich in einer transzendentalen Position gegenüber der realen Landschaft befindet. Wenn man dann die Landkarte benutzt, um in der realen Landschaft einen Weg zu finden, dann beeinflusst das Transzendenzverhalten das Immanenzverhalten. Es vergrößert die Fitness, weil es den Menschen dabei hilft, die richtigen Wege zu finden. Die Transzendenztechnik kehrt gewissermaßen in die Realität zurück. Wenn man aber die einmal hergestellte Landkarte nur dazu benutzt, um in der transzendenten Welt des Landkartenraums zu spielen, etwa indem man Spielfiguren virtuelle Wege zurücklegen lässt, ohne sich je dafür zu interessieren, wie diese Wege in der Realität aussehen, dann kehrt die Transzendenztechnik nicht in die Realität zurück. 62
Religiöse Transzendenz beeinflusst Aktionen in der Realität. Beispiele sind Kriege, die im Namen Gottes geführt werden, oder karitative Arbeiten, die für Gottes Lohn geleistet werden. In Parenthese III wurde in einem ähnlichen Zusammenhang von „non selfish transcendentals“ gesprochen. Die transzendentale Kultur verharrt in der Transzendenz. Sie erzeugt „selfish transcendentals“. Transzendenzspiele ohne Feedback in der Realität verringern die kulturelle Fitness. Die „selfish transcendentals“ sind nur dann kulturell relevant (relevant bedeutet in diesem Zusammenhang schädlich), wenn sie Generationen übergreifend imitiert werden. Wenn sie transgenerational imitiert werden, fungieren sie als Übertragungseinheiten der vertikalen Transmissionsdynamik. Selbstreferentielle kulturelle Artefakte, die sich im transgenerationalen Imitationsprozess behaupten, sind „selfish transcendentals“.
G e n e r a t i o n 3 (F o rtsetzu n g)
Adolf Hitler entdeckte eine wichtige Eigenschaft der Kunstausstellung: Es war die antizipierte Vertikalität. Er ließ das „Haus der deutschen Kunst“ bauen. Die monumentalen und pseudosakralen Eigenschaften dieses Gebäudes erzeugten den benötigten Publikumseffekt der selektiven Aufmerksamkeit. Hitler ging dann einen Schritt weiter. Er ließ Gemäldeserien von politisch protegierten Malern im „Haus der deutschen Kunst“ ausstellen. Alle Werke waren datiert und signiert. Er garantierte dann, dass einige Gemälde aus jeder Serie für immer im Staatsbesitz bleiben sollten. Dadurch antizipierte er den Transzendentalisierungseffekt. Denn Transzendentalisierung wird ja 63
Religiöse Transzendenz beeinflusst Aktionen in der Realität. Beispiele sind Kriege, die im Namen Gottes geführt werden, oder karitative Arbeiten, die für Gottes Lohn geleistet werden. In Parenthese III wurde in einem ähnlichen Zusammenhang von „non selfish transcendentals“ gesprochen. Die transzendentale Kultur verharrt in der Transzendenz. Sie erzeugt „selfish transcendentals“. Transzendenzspiele ohne Feedback in der Realität verringern die kulturelle Fitness. Die „selfish transcendentals“ sind nur dann kulturell relevant (relevant bedeutet in diesem Zusammenhang schädlich), wenn sie Generationen übergreifend imitiert werden. Wenn sie transgenerational imitiert werden, fungieren sie als Übertragungseinheiten der vertikalen Transmissionsdynamik. Selbstreferentielle kulturelle Artefakte, die sich im transgenerationalen Imitationsprozess behaupten, sind „selfish transcendentals“.
G e n e r a t i o n 3 (F o rtsetzu n g)
Adolf Hitler entdeckte eine wichtige Eigenschaft der Kunstausstellung: Es war die antizipierte Vertikalität. Er ließ das „Haus der deutschen Kunst“ bauen. Die monumentalen und pseudosakralen Eigenschaften dieses Gebäudes erzeugten den benötigten Publikumseffekt der selektiven Aufmerksamkeit. Hitler ging dann einen Schritt weiter. Er ließ Gemäldeserien von politisch protegierten Malern im „Haus der deutschen Kunst“ ausstellen. Alle Werke waren datiert und signiert. Er garantierte dann, dass einige Gemälde aus jeder Serie für immer im Staatsbesitz bleiben sollten. Dadurch antizipierte er den Transzendentalisierungseffekt. Denn Transzendentalisierung wird ja 63
unter anderem durch die Generationenfolge erzeugt. Plötzlich handelte es sich um die Generationenfolgen der Zukunft. Die nicht für immer im Staatsbesitz verbleibenden Werke der Serien wurden zu erschwinglichen Preisen verkauft. Jeder Käufer erhielt auf diese Weise die Garantie, dass er ein Kunstwerk mit nach Hause nahm, das Ewigkeitswert besaß, weil es das Äquivalent einer Werkserie war, von der andere Objekte für würdig befunden wurden, in die der Zeit enthobenen Regionen des Kunst-Pantheons einzugehen.5 Adolf Hitler leistete einen weiteren Beitrag, der für die Konsolidierung der so genannten Moderne von entscheidender Bedeutung war. Er veranstaltete die Ausstellung „Entartete Kunst“. Diese Ausstellung bot einerseits eine Werkübersicht des Kunstschaffens der Generation 3. Andrerseits stigmatisierte sie die Künstler und machte aus ihnen Leidende und Verfolgte. Die Ausstellung „Entartete Kunst“ leitete eine verhängnisvolle Entwicklung ein. Sie veranlasste die Überlebenden des Dritten Reichs zu der irrigen Annahme, man müsse sich nach der Beseitigung des Naziregimes nur zu der richtigen Kunst bekennen, um ein besseres Leben anzufangen. Es gab zwei Schicksalsausstellungen: die „Entartete Kunst“ und die „Documenta 1“ von 1954. Sie bilden ein Doppelsystem. Sie bewirken, dass von nun an das Wort „Kunst“ dem linguistischen Phänomen „Gegensinn der Urworte“ ähnlich wird. Um den „Gegensinn der Urworte“ handelt es sich, wenn ein einziges Wort beide Gegenteile bezeichnet. „Altus“ (lat.) bedeutet „hoch“ und „tief“ zugleich, „sacer“ (lat.) bedeutet „heilig“ und „verflucht“. „Altus“ erinnert den Lateiner daran, dass im Hohen das Tiefe immer mit enthalten ist. Das Wort „Kunst“ erinnert nach den
Ullrich, W.: „Adolf Hitler als Anlageberater“, in: Kulturkrieg. Hitlers Reden zur Kunst, Karlsruhe: Zentrum für Kunst und Medientechnologie, 2005
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beiden Schicksalsausstellungen daran, dass in der modernen Kunst die Nazikunst immer mit enthalten ist.6 Verhängnisvoll ist nach „Entartete Kunst“ und „Documenta“ die Ethisierung der Ästhetik. Die transzendentalen Qualitäten der Kunst, die durch die Verkennung der Generationendynamik entstehen, wurden immer schon mit dem Begriff „Wahrheit“ gleichgesetzt. Nun glaubt man in zunehmendem Masse daran, die Kunst sei nicht nur wahr, sondern sie mache auch gut. Doch leider ist man keineswegs sicher vor Faschismus, wenn man Anhänger der modernen Kunst ist. Man ist auch nicht automatisch ein Nazi, wenn man aus Versehen Gebäude von Speer und Plastiken von Breker schön findet. Das passierte einem völlig unverdächtigen Schweizer Studenten, der in einem Seminar, das ich in Zürich unterrichtete, ganz unverhohlen die Architektur von Albert Speer bewunderte. Die deutschen Seminarteilnehmer hörten dem Vortrag des Schweizers schweigend zu. Ihre Gesichter waren starr vor Entsetzen. Der Verdrängungsdruck nach der Nazizeit bürdete der modernen Kunst eine gewaltige Last auf. Mit einem Mal war der Transzendentalisierungseffekt zu einem gigantischen Götzen angewachsen. Der ethische Aberglaube, der sich von nun an auf die Kunst richtete, wird uns noch beschäftigen, wenn wir die drei Generationenschritte am Schluss unserer Überlegungen bilanzieren und auf ihren adaptiven bzw. maladaptiven Charakter prüfen.
siehe dazu: Brock, B.: „Der verbotene Ernstfall“, in: Der Barbar als Kulturheld, Gesammelte Schriften 1991 – 2002, Köln: Dumont Verlag, 2002. Gelegentlich eines Documenta-Vortrags prägte Brock den Begriff „der verbotene Ernstfall“. Er meinte damit nicht nur den militärischen Ausnahmezustand. Hier sei daran erinnert, dass die Naziregierung mit Hilfe der Ermächtigungsgesetze den Ausnahmezustand zur Dauereinrichtung gemacht hatte. Brock äußerte in seinem Dokumenta-Vortrag die Vermutung, zwischen gefährlichen Ausnahmezuständen und Kunst gebe es einen Zusammenhang.
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Die Documenta fasst die Transzendentalisierungsschritte der Generation 3 zusammen. Was ist geschehen? Ausstellungen werden immer veranstaltet, um Vorbildeinfluss zu erzeugen. Vorbilder sollen imitiert werden. Was ist in der Documenta imitiert worden, und auf welche Weise sollte die Documenta von der Generation 2 imitiert werden? Die Maler, deren Werke ausgestellt wurden, hatten allesamt die 2D-Strukturen der Generation Gauguin, van Gogh, Cezanne imitiert, nicht deren Contents. Die deutschen Expressionisten malten Schrilles und Verzerrtes in 2D. Im Blauen Reiter gab es ornamental Pastorales und „Abstraktes“ (Kandinsky). Damit waren contentlose Formen in ornamentartigem Rapport gemeint. In Malewitschs schwarzem Quadrat wird nur noch eine Regel imitiert. Sie lautet: Wenn du ein Objekt in Form einer rechteckigen bemalbaren Fläche erzeugst, kannst du es auf beliebige Weise ausfüllen und in Ausstellungen präsentieren. Du kannst es auch zur Dekoration von Wänden benutzen. Die Documenta selbst imitierte Hitlers Ausstellung „Entartete Kunst“, indem sie die dort gezeigte Werkschau nachahmte. Sie imitierte des Weiteren, allerdings mit entgegengesetzter Evaluation, den programmatischen Charakter von Hitlers Ausstellung und unterschied sich damit von den Verkaufssalons. Die propagandistische Aussage lautete nun: „Antifaschistisch durch Kunst.“ Bei Hitler hatte sie gelautet: “Faschistisch durch Kunst.“ Ein Wort zur Technik der selektiven Aufmerksamkeit, die von allen Museen und Kunstausstellungen bewusst oder unbewusst eingesetzt wird. Zur Beschreibung der psychologischen Haltung, die von den Betrachtern der Kunst entgegengebracht wird, hat der Anthropologe Jean-Marie Schaeffer den Begriff
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„conduite esthétique“ geprägt.7 Unter Verwendung einer neurowissenschaftlich beeinflussten Sprache lässt sich „conduite esthétique“ folgendermaßen definieren: Dämpfung bzw. totale Hemmung der Emotionen erzeugenden Gehirnareale bei maximaler Erregung der sensoriellen Kanäle. Was passiert in einer Ausstellung, in der die antizipierte Vertikalität zum Einsatz gelangt? Ausstellungen sollen Vorbildeinfluss für Imitationen erzeugen. Das kann auf verschiedene Weise geschehen. Wird auf der Ausstellung etwas verkauft, so kann dabei ein Enkulturierungsakt ausgelöst werden: etwa wenn eine gekaufte innovative Maschine vom Käufer zum ersten Mal benutzt wird. Wenn diese Maschine außerdem Überleben sichert, was ohne sie nicht möglich gewesen wäre, dann haben wir den oben beschriebenen Effekt der Übertragung von innovativem Forscherwissen durch bloße Imitation. Denn man kann die Maschine einsetzen, ohne sie zu verstehen. Historische Ausstellungen, d.h. Ausstellungen, die mindestens eine Generation nach der Entstehung der Exponate stattfinden, können auf epideiktische Weise die eigene Geschichte zum Vorbild für die Besucher machen. Diese Ausstellungen sind postvertikal. Sie finden nach einem vertikalen Prozess statt. Was passiert also in Ausstellungen, die Vertikalität antizipieren? Transzendentalität entsteht durch die Verwechslung von etwas, was langsam, transgenerational und kumulativ entsteht, mit etwas, was schon immer da war. Es ist ein Usurpationsakt, der die prävertikale Ausstellung hervorbringt. Prävertikal, weil Ver-
Schaeffer, J.-M.: „La conduite esthétique comme fait anthropologique”, in: Qu’ estce que la culture?, Paris: Odile Jacob, 2001
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tikalität vorwegnehmend. Vertikalität vorwegnehmen bedeutet: Durch einen Beschwörungsakt wird Transzendentalität erzeugt. Das ist wie Magie. Weil die wirklich einflussreichen Ausstellungen immer vom Staat veranstaltet werden, ist diese Magie vom auratischen Glanz der Staatssouveränität umgeben. Die Präsentationsstrukturen der postvertikalen Ausstellungen waren langsam transgenerational gewachsen. Die Präsentationsstrukturen der prävertikalen Ausstellungen kommen durch einen usurpatorischen Manipulationsakt zu Stande. Die souveräne Staatsmacht usurpiert das Ausstellungswesen. Das ist eine Ungeheuerlichkeit, die man mit dem Einführen von Staatsreligionen vergleichen kann. Wie also sieht die Documenta-Bilanz der ersten der drei Generationen aus? Das Prinzip 2D-Rapport im Gemälde ist state of the art. Die prävertikale Ausstellung vom Typ „Nazikunst“ wird mit modifizierter Evaluation an die nächste Generation übertragen. Die autonome Ausstellung, die durch das Pissoirbecken emergent gemacht wurde, ist noch nicht vorherrschend.
G e n e r a t i o n 2 (1 9 4 5 ‒1 9 8 0 ) Ist die Selbstreferenz in diesem Stadium bereits gleichbedeutend mit „selfihness“? Von Generation zu Generation übertragen wird durch Imitation. Demnach wäre leere Imitation so etwas wie kulturelle Übertragung als kettenreaktionsartige Wucherung. 68
tikalität vorwegnehmend. Vertikalität vorwegnehmen bedeutet: Durch einen Beschwörungsakt wird Transzendentalität erzeugt. Das ist wie Magie. Weil die wirklich einflussreichen Ausstellungen immer vom Staat veranstaltet werden, ist diese Magie vom auratischen Glanz der Staatssouveränität umgeben. Die Präsentationsstrukturen der postvertikalen Ausstellungen waren langsam transgenerational gewachsen. Die Präsentationsstrukturen der prävertikalen Ausstellungen kommen durch einen usurpatorischen Manipulationsakt zu Stande. Die souveräne Staatsmacht usurpiert das Ausstellungswesen. Das ist eine Ungeheuerlichkeit, die man mit dem Einführen von Staatsreligionen vergleichen kann. Wie also sieht die Documenta-Bilanz der ersten der drei Generationen aus? Das Prinzip 2D-Rapport im Gemälde ist state of the art. Die prävertikale Ausstellung vom Typ „Nazikunst“ wird mit modifizierter Evaluation an die nächste Generation übertragen. Die autonome Ausstellung, die durch das Pissoirbecken emergent gemacht wurde, ist noch nicht vorherrschend.
G e n e r a t i o n 2 (1 9 4 5 ‒1 9 8 0 ) Ist die Selbstreferenz in diesem Stadium bereits gleichbedeutend mit „selfihness“? Von Generation zu Generation übertragen wird durch Imitation. Demnach wäre leere Imitation so etwas wie kulturelle Übertragung als kettenreaktionsartige Wucherung. 68
Ausstellungen sind Vorbildveranstaltungen, die Imitation veranlassen. Beispiel: horizontale Technikausstellungen. Sie sollen die Übertragung von technologischen Innovationen in die Imitationsdynamik bewirken. Zweites Beispiel: vertikale Geschichtsausstellungen. Sie sollen transgenerationale Kontinuität für Kulturpopulationen erzeugen. Die erste Documenta war übrigens eine vertikale Kunstgeschichtsausstellung. Sie enthielt die Kunstgeschichte eines einzigen Generationentakts. Drittes Beispiel: horizontale Kunstsalons. Sie sollen zum Verkauf von neu angefertigten Kunstwerken beitragen. Möglicherweise sollen sie auch durch Erstbegegnungen Enkulturierungen durch neue Kunststile bewirken, etwa nach dem Motto: „Ich kaufe ohne Sammlerinteresse und ohne diesen Stil vorher gekannt zu haben ein kubistisches Gemälde, um es in meinem Art DecoSpeisesaal aufzuhängen. Damit imitiere ich die Erfindung von Malern und Möbeldesignern, die aus der Regel besteht: Wenn du ein kubistisches Bild in einem Art Deco-Raum an die Wand hängst, dann ist die Dekoration deiner Wohnung mondän. Wenn nun in einer Kunstausstellung, die ja Imitationseffekte auslösen soll, ein Objekt ausgestellt wird, das nur die Eigenschaft hat, nicht in eine Kunstausstellung zu passen, dann wird deutlich, dass die von Kunstausstellungen erzeugte selektive Aufmerksamkeit vom Typ „conduite esthétique“ das nicht ausstellungsgerechte Objekt trotzdem ausstellungsgerecht macht, und dass dasselbe Objekt, wenn man es anders betrachtet, wieder nicht ausstellungsgerecht wirkt. Auf diese Weise entsteht ein oszillierender Wahrnehmungseffekt, der zwischen der „conduite esthétique“ und der normalen, emotionsgelenkten Wahrnehmung hin und her pendelt. Im Fall des Pissoirbeckens enthält die normale Wahrnehmung eine leichte Beimischung der Emotion „Ekel“. Die „conduite esthétique“ dagegen inhibiert die Ekel-Emotion und exzitiert gleichzeitig die sensorielle Perzeptionsfähigkeit auf die höchst mögliche Stufe. 69
Das nicht ausstellungsgerechte Objekt steht in einer Ausstellung. Es bietet sich zur Imitation an, denn Ausstellungen präsentieren Imitationsvorbilder. Das nicht ausstellungsgerechte Objekt fungiert somit als Imitat. Doch was ist an ihm imitierbar, wenn es nicht ausstellungsgerecht ist und wenn ausstellungsgerecht sein imitierbar sein bedeutet. Der kulturelle Imitationszwang kann sich jetzt nur noch auf folgende Regel beziehen: Wenn du den Effekt der oszillierenden Wahrnehmung mit der darin zur Schau gestellten Ausstellungsmacht imitieren willst, dann musst du nicht ausstellungsgerechte Objekte finden. Nicht ausstellungsgerecht bedeutet: ohne Content-Imitation und ohne Stil-Imitation. Imitierbar ist nur noch der Akt des Ausstellens. Weil aber Ausstellungen Imitationsauslöser sind, entsteht ein Leerlauf der Imitationsauslösung. Die Ausstellung ist nicht mehr Vorbild für Künstler, die etwas herstellen, sondern nur noch Vorbild für Ausstellungsmacher. Es gibt kein Imitat mehr. Es gibt nur noch den leeren Imitanten. Er hat den Namen „autonome Ausstellungsmacht“. Wenn der leere Imitant die Hürde des Generationenübergangs nimmt, entsteht leere Transzendentalität. Wir erinnern uns: Eine Variante von Transzendentalität entsteht, sobald die Gedächtnisspeicherung einer Erinnerung keine episodischen Umstände der Erinnerung enthält. Beispiel: Duchamps Pissoirbecken. Es war für die meisten Zeitgenossen ganz einfach Unfug. Nach dem Generationenwechsel war es ein Kunstwerk der Kunstgeschichte. Transzendentalität dieses Typs bedeutet: Vorbildlichkeit ohne Sender/Empfänger-Kanal unter Lebenden. Was passiert, wenn der transzendental gewordene leere Imitant in die prävertikale Ausstellung einzieht? 70
Der prävertikale Zukunftseffekt könnte ohne die Transzendentalität, die aus der Vergangenheit stammt, gar nicht funktionieren. Erst die Transzendentalität ermöglicht die prävertikale Prophetie. Die prävertikale Prophetie fügt dann der bereits vorhandenen Transzendentalität eine gewaltige Menge neuer Transzendentalität hinzu. Prophetisch war Adolf Hitlers Erklärung: Die Bilder, die ihr kauft, werden Ewigkeitswert haben. Was also passiert, wenn der leere Imitant in die prävertikale Ausstellung einzieht? Er wird zur Prophetie ohne Prophezeiung. Während der Generation 2 breitet sich die Praktik der prävertikalen Ausstellung immer mehr aus. Das Prinzip „Prävertikalität“ ist inzwischen zu einem hoheitlichen Deklarationsakt geworden. Vom Staat unterhaltene Museen machen es sich zur Gewohnheit, Kunstwerke aus dem horizontalen Verteilungsprozess aufzukaufen und mit der Garantie „für immer unverkäuflich“ zu versehen. 1945‒1980: Die Kunstgeneration 2 vor dem Wechsel zur Kunstgeneration 1. Welcher horizontale Imitant wird den Sprung in die nächste Generation schaffen? Welcher Replikator verfügt über die größte Fitness? Die größte Fitness hat der Replikator, der die meisten Replikationstakte mit dem geringsten Energieaufwand zu Stande bringt. Geringster Energieaufwand bedeutet in diesem Zusammenhang: wenig Innovationslernen, wenig Trainingsbedarf beim Erwerb von handwerklichen Techniken wie Aktzeichnen, Perspektivzeichnen etc. Tatsächlich verlangt die Malerei der Moderne von den Künstlern nicht die komplexe Technikbeherrschung, die ihnen von der Historienmalerei abverlangt wurde. Die Komposition von Historiengemälden bestand aus einem komplizierten Planungsprozess, zu dem Emotionsstudien, Bewegungsstudien, Aktzeichnen, Architekturzeichnen, Landschaftszeichnen und vieles mehr gehörten. 71
Der Trend zum geringeren technischen Schwierigkeitsgrad zeigt sich bereits in der Generation von Manet und Monet. Sie legen in den Akademiefächern nicht die technische Virtuosität an den Tag, die wir zum Beispiel in den Historienbildern eines Ernest Meissonier finden. Manets „Frühstück im Grünen“ benutzte eine kopierte Komposition und die berühmten Melancholiebilder, z.B. das Barmädchen in den Folies Bergères, sind einfigurige Bilder mit dem zuständlichen Gesichtausdruck, den ein Modell am längsten durchhalten kann. Bilder dieser Art wären die leichtesten Übungen für die Historienmaler gewesen.
Edouard Manet, „Un bar aux Folies Bergères“, Öl auf Leinwand, 96 x 130 cm, 1881/82
Während der Kunstgeneration 2 dominierten zwei Imitationsstränge: Erstens die informelle abstrakte Malerei, oder wie sie in der Sprache dieses Textes genannt würde: die informelle „ornamentale“ Malerei, und zweitens die Erzeugung von Kunst durch den bloßen Ausstellungsakt. 72
G e n e r a t i o n 1 (1 9 8 0 ‒2 0 1 5 ) Kunst hat eine Eigenschaft, die für ihre Wahrnehmbarkeit in der Kultur unverzichtbar ist. Sie manifestiert sich in Stilen. Das Publikum fragt immer nach dem Stil, zu dem ein Kunstwerk gehört. Stile sind Namen von Äquivalenzrelationen, die sich aus den unvermeidlichen Gemeinsamkeiten beim Imitationsverhalten der Künstler ergeben. Von Stilen wurde früher angenommen, sie hätten Verbindung zum Zeitgeist. Deshalb war man der Meinung, es könne für eine gegebene Zeit jeweils nur einen Stil geben. Immer aber gab es neueste Stile und gleichzeitig ältere Stile, die weiterhin ihr Publikum fanden. Der neueste Stil der Generation 1 (1980‒2015), die zur Zeit der zwölften Documenta ihre halbe Laufzeit bereits hinter sich hat, ist die Installation. Was transzendentalisiert die Installation der Generation 1 von der Kunst der Generation 2 und was imitiert sie? Sie transzendentalisiert das einzelne Kunstwerk, indem sie gar keine Kunstwerke mehr herstellt. Sie transzendentalisiert auch das Non-Sense-Exponat à la Pissoirbecken, indem sie gar keine Objekte mehr ausstellt. Sie imitiert nur noch die Ausstellung. Kuratoren engagieren einen Künstler dafür, dass er ein ganzes Ausstellungsgebäude mit einer Installation überplant. Der Installationskünstler verfügt über einen Mitarbeiterstab, der in der Regel 30 bis 50 Personen umfasst. Dieses Installationspersonal muss die Vorstellungen des Künstlers umsetzen. Die Installationsfirmen übernehmen einen Installationsauftrag nach dem anderen. Es gibt genügend Museen, die ihre Leistungen 73
brauchen. Bezahlt werden sie aus öffentlichen Mitteln, denn die Preise der Eintrittskarten sind niedrig. Bei der Installation baut der Künstler ein neues Ausstellungsgebäude. Nein, das tut er natürlich nicht. Denn das Ausstellungsgebäude ist ja da, und sein Direktor hat den Installationsauftrag erteilt. Weil der Künstler also nicht neu bauen kann, baut er um. Er verändert die Architektur so weit dies möglich ist. Das tut er mit den Mitteln der temporären Architektur. Er greift in den Rohbau ein, bricht Löcher in nicht tragende Wände, benutzt Elemente des Innenausbaus, um Grundrisse zu verändern. Er benutzt Mobiliar und dekorative Elemente wie Skulpturen im weitesten Sinn und Gemälde im weitesten Sinn. Das Museum stellt nichts mehr aus. Es stellt sich selbst aus. Um dem Innovationsverlangen des Publikums gerecht zu werden, muss es sich dabei von Ausstellung zu Ausstellung verändern. Kuratoren und Kunstkritiker stimmen in der Mitte der Generation 1 darin überein, der „white cube“ sei nicht mehr zeitgemäß. Der „white cube“ ist der rechtwinklige weiße Ausstellungsraum, in dem man die Exponate der Moderne gut präsentieren konnte. Die heutigen Kuratoren suchen nach installationsgerechten, d.h. veränderungsfähigen Museumsbauten. In der Mitte der Generation 1 ist die Evolution der postvertikalen Imitation mit der unerbittlichen Logik von transgenerationalen Dynamiken an dem Punkt angekommen, an dem Ausstellungen keine Objekte mehr ausstellen müssen und trotzdem weiterhin als Ausstellungen fungieren können. Diese Ausstellungen stellen keine Objekte aus, die selbst keine Ausstellungen sind. 74
Was das bedeutet, weiß jeder, der auf dem Gymnasium etwas über das Lügnerparadox gehört hat, oder über den Barbier, der der einzige Mann im Dorf ist, der alle rasiert, die sich nicht selbst rasieren, und nicht weiß, wer ihn rasieren soll, oder über die Menge aller Mengen, die selbst auch eine Menge ist, und deshalb nicht die Menge aller Mengen sein kann. Der aufmerksame Leser erinnert sich an:
d =d
Auch Selbstreferenz ist eine Spielart der Transzendenz. Darstellungsmittel entwickeln in der Selbstreferenz ein Eigenverhalten. Der Benutzer bemerkt, dass die Darstellungsmittel ihren Bezug zu der ihm bekannten Welt verlieren. Entweder er erkennt die Selbstreferenz wie der Student im Logikunterricht, der mit dem Lügnerparadox oder mit dem Gödelparadox vertraut gemacht wird. Oder die Selbstreferenz bleibt unbemerkt. Dann löst sie für den Benutzer von Darstellungssystemen den Effekt eines Transzendenzerlebnisses aus. Ich will es nicht versäumen, meinen Lesern das Lügnerparadox in voller Länge vorzutragen: „Ich, Epimenides, Kreter und somit Lügner, sage die Wahrheit, wenn ich sage, dass alle Kreter Lügner sind.“ In seinem Brief an Titus bezieht sich der Apostel Paulus auf genau diesen Epimenides. Er schreibt, die Menschen von Kreta seien alle Lügner, das habe einer von ihnen, ihr eigener Prophet, gesagt. Er fügt hinzu: „Sein Urteil ist wahr.“ (Tit 1.13) Die Selbstreferenz bleibt unbemerkt. Paulus hat den Brief eingeleitet mit einer Autoritätsfloskel, die er ähnlich auch in seinem 75
ersten Römerbrief benutzt hat. Sie ist übrigens das zentrale Thema von Giorgio Agambens Buch „Die Zeit, die bleibt“.8 Die Floskel lautet: „Paulus, Sklave Gottes und zugleich Apostel Jesu, ausgesandt, um den Glauben (...) zu wecken, (...) und die Einsicht in die Wahrheit zu vermitteln.“ (Tit 1.1) In der nächsten Zeile steht der Satz: „ (...) und Gott kann nicht lügen.“ (Tit 1.2) Diese Zitate zeigen auf eindrucksvolle Weise, dass unbemerkte Selbstreferenz in einer Präsentation von hoher Autorität starke Transzendenzeffekte erzeugt. Bereits der Satz „und Gott kann nicht lügen“ tappt in die Selbstreferenzfalle. Gleichzeitig entwirft er ein radikal transzendentes Gottesbild. Wenn Epimenides auf plakative Weise sagt, er sei Kreter und alle Kreter seien Lügner, dann erfahren wir, weil wir die Selbstreferenz erkennen, dass man aus diesem Satz keine Information über das wirkliche Verhalten der Kreter gewinnen kann. Wenn nun Paulus diesen leeren Satz von Epimenides imitiert, ohne zu bemerken, dass er leer ist, und wenn dann dieser selbe Satz wegen der Vorbildfunktion des heiligen Apostels Paulus von allen nachfolgenden Christengenerationen imitiert wird, dann entsteht Imitation von Imitation ohne Inhalt. Das kognitive Modul „Imitation, die nicht versteht“, schaltet sich bei jedem Generationenwechsel von neuem ein, und zwar mit seiner ganzen Kraft. Die Imitation imitiert fortlaufend nur sich selbst. Die Selbstreferenz wird zur intergenerationalen selfishness des Imitationsapparats. Entscheidend für den Erfolg des selfishness-Effekts sind die über Generationen wirkende Vorbildfunktion des ersten Imitanten und die andauernde Leistungsfähigkeit des angeborenen Imitationsvermögens.
Agamben, G.: Le temps qui reste, Paris: Payot & Rivages, 2000
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Fassen wir zusammen: Kulturelle Techniken sind nur dann kulturelle Techniken, wenn sie aus Merkmalen (Transmissionsmerkmalen, „variants“) zusammengesetzt sind, die Generationen übergreifend übertragbar sind. Der Überträger dieser Übertragung ist die Imitation. Das Imitationsvermögen ist ein kognitives Modul und als solches Resultat von genetischer Übertragung. Das Imitationsvermögen fungiert als Replikator. Sobald es Imitation gibt, gibt es Imitant und Imitat. Sobald es Replikation gibt, gibt es Replikant und Replikat. Wenn eine kulturelle Technik kulturellen Nutzen erzeugt, indem sie Referenzen präsentiert, anders ausgedrückt: indem sie Repräsentationen präsentiert, noch anders ausgedrückt: indem sie Inhalte darstellt, noch anders ausgedrückt: indem sie Contents mit evaluierenden Display-Markern ausstattet und so der Kultur Absicht und Antrieb gibt, wenn kulturelle Techniken das alles bewirken können, dann ist die durch eine kulturelle Technik bewirkte Erzeugung von Selbstreferenz auf besondere Weise zu bewerten. Sie ist anders zu bewerten als Selbstreferenz in linguistischen oder theoretischen Beispielen. Selbstreferentielle kulturelle Techniken erzeugen nicht nur kognitive Selbstreferenz. Sie erzeugen physische Selbstreferenz wie Viren. Diese Selbstreferenz hat ein physisches Substrat, denn sie erscheint im kognitiven Artefakt. Als Produkte kultureller Techniken sind kognitive Artefakte Glieder einer materiellen Replikations- bzw. Imitationskette, die nicht abreißen darf. Die Selbstreferenz wird dann durch die Generationen übergreifende Transmission zur „selfishness“ bzw. zum Egoismus. Was ist egoistisch? Der Selbstreferenz replizierende Replikator. Denn wenn ein selbstreferentielles kognitives Artefakt imitiert wird, entsteht das leere Imitat. Wenn dieses leere Imitat eine Vorbildfunktion übernimmt und nach einer Generation imitiert 77
wird, entsteht leere Imitation von leerer Imitation. Diese leere Imitationskette kann sich dann bei jedem weiteren Generationenwechsel fortsetzen. Selbstreferenz zeigt sich im intragenerationalen Bereich. Die selfishness dagegen zeigt sich nur in der intergenerationalen Übertragung. Die Übertragungsmittel replizieren nichts außer sich selbst. Die Selbstreferenz kann nichts bedeuten, die Selbstreplikation kann nichts replizieren. Die Definition von maladaptiver Kultur lautet: kulturelle Replikation, die sich selbst repliziert. Oder mit anderen Worten: kulturelle Imitation, die kulturelle Imitation imitiert. Ich schlage vor, die maladaptive Kultur „Pseudokultur“ zu nennen. Ich habe die Frage gestellt: Wie und wann ist die Selbstreferenz in die transgenerationale Imitationskette „Kunst“ hineingelangt? Die Antwort lautete: Sie hat sich eingenistet, als die Bilder, die ehemals im 2D-Innenraum der gerahmten Gemälde zu sehen waren, zu Ornament-Pattern mutierten und dann zu transgenerationalen Vorbildern wurden. Denn Ornament bzw. Decorum war vor diesem Einzug in die Gemälde ein Präsentationssystem, das Contents evaluierte. Anders ausgedrückt: Es war ein evaluierender Display-Marker. Sein Evaluationsprinzip war die Ranking-Erkennung. Ranking-Erkennung ist gleichbedeutend mit Decorum. Decorum fungiert als evaluierendes Dekor ähnlich den Rangabzeichen auf Uniformen. Ranking-Erkennung, ein kognitives Modul, das genetisch übertragen wird, ist invarianter Bestandteil von kultureller Organisation. Wenn sie, wie bei der Entstehung der Moderne, aus dem Präsentationssystem verdrängt wird, muss sie anderswo einen Platz finden. Sie kann nicht verschwinden, so lange Kulturpopulationen weiter existieren. Wie die selbstreferentiellen Or78
nament-Germälde, die so genannten „abstrakten Bilder“ dann doch noch, gewissermaßen gegen ihren Willen, ihren Platz als Ornamenthintergrund finden, beschreibt Wolfgang Ullrich in seinem Buch „Mit dem Rücken zur Kunst“.9 Ranking-Effekte entstehen dann durch den Marktwert der Kunstwerke. Ornament, in der Eigensprache der modernen Malerei „Abstraktion“ genannt, war ursprünglich eine kulturelle Präsentations- oder Display-Technik: Es leistete die Präsentationsarbeit, indem es Referenzen (Contents) evaluierte. Wenn nun Ornament im Innern der rechteckigen 2D-Räume von Gemälden präsentiert wird, wird Präsentation präsentiert. Es tritt ein, was die Spencer-Brown’sche Gleichung so ausdrückt:
p =p
wobei „p“ Präsentation bedeutet. Das geschah in dem Generationenschritt von Gauguin zum Kubismus. Damit ist die Selbstreferenz in die Generationendynamik eingezogen. Doch diese Selbstreferenz blieb unbemerkt. Sie tarnte sich durch den Begriff „abstraktes Bild“. Die immanente Wahrnehmung erkennt Pattern, die transzendentale Wahrnehmung erkennt Bilder. In Anlehnung an den Begriff „Pseudokultur“ schlage ich vor, das „abstrakte Bild“ „Pseudobild“ zu nennen.
Ullrich, W.: Mit dem Rücken zur Kunst. Die neuen Statussymbole der Macht, Berlin: Wagenbach Verlag, 2000
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Was nun folgt, ist der Countdown „3 Kunstgenerationen“. Für das Verständnis der besonderen Generationendynamik, die sich im Bereich der Kunst manifestiert, ist die Beziehung zwischen Generationenübergang und Transzendenz besonders wichtig. Moderne Kunst ist immer Vermittlung von Transzendenzkognition. Man kann auch von der Vermittlung von transzendentaler Pseudokognition sprechen. Kunst ohne Transzendenzerlebnis ist in der Meinung des Publikums bloße Dekoration wie Tapeten oder Blumensträuße. Für den Kunstfreund ist transzendenzlose Kunst das, was für den Schnapsfreund alkoholfreier Schnaps ist. Vormoderne Kunst erzeugte Transzendenz nur durch ihre Contents. Beispiele: die christliche Ikonologie, die antike Ikonologie. Wie erzeugt die moderne Kunst ihre Transzendenz? Unter anderem durch den Generationenübergang. Genauer gesagt: Durch das Zusammenwirken von Imitationszwang und Innovationszwang, das dabei zum Tragen kommt. Imitationszwang ist Kultur konstituierend, denn Kultur ist transgenerationale Replikations- und Imitationsdynamik. Innovation muss sein, weil andernfalls das Interesse des Publikums erlischt. Die Kombination von Imitation und Innovation ist ein Darwin’sches Beschreibungsmodell. Das bedeutet: Durch die Leugnung der Imitation zwingen sich die Künstler der Moderne zu totaler Innovation. Man sprach in diesem Zusammenhang stets mit großer Bewunderung von den „Avantgarden“. Da die Kunst der Moderne ihren Innovationszwang nicht auf ikonologische Inhalte lenken kann, ist sie allein 80
auf den Bereich der Pseudobilder und der Ausstellungsmacht angewiesen. Durch das Erzeugen von immer neuen Varianten in diesem Bereich entstehen innovative Variationen, auf die dann Darwin’scher Selektionsdruck einwirkt. Denn Publikum, Sammler und Kuratoren sind unerbittlich. Sie wollen ständig Neues. Auf diese Weise wird ein Selektionsdruck erzeugt wie bei Viren, die unter dem Selektionsdruck der Medikamente stehen. Sie müssen durch immer neue Mutationen immer neue Varianten hervorbringen, um Überlebensnischen zu finden, in die der Destruktionsdruck der Medikamente noch nicht hineinreicht. Die Kunst der Moderne darwinisiert sich.
Pa re n t h e se V I Kollektives Präferenzverhalten in Populationen, die zu groß sind für eine tribalistische Eigenwahrnehmung, erzeugt Innovationszwang. Dieses Phänomen ist in Darwin’schen Wirtschaftsmodellen gut untersucht worden.10 Der Innovationszwang fungiert in diesen Modellen als Selektionsdruck. Märkte wachsen explosionsartig unter dem Einfluss von Innovation, bewegen sich dann für längere Zeit auf dem hohen Niveau eines reifen Markts und fallen in eine Depressionsphase, wenn die Ressource „Innovation“ aufgebraucht ist. Die Innovationspräferenz in Großpopulationen scheint einem kulturellen Instinkt zu entspringen. Deshalb ist konjunkturelle Normalität nur unter der Bedingung des ständigen Angebots von Innovation möglich.
siehe: Moore, G. A.: Dealing with Darwin. How Great Companys Innovate at Every Phase of Their Evolution, New York: Portfolio, 2005
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auf den Bereich der Pseudobilder und der Ausstellungsmacht angewiesen. Durch das Erzeugen von immer neuen Varianten in diesem Bereich entstehen innovative Variationen, auf die dann Darwin’scher Selektionsdruck einwirkt. Denn Publikum, Sammler und Kuratoren sind unerbittlich. Sie wollen ständig Neues. Auf diese Weise wird ein Selektionsdruck erzeugt wie bei Viren, die unter dem Selektionsdruck der Medikamente stehen. Sie müssen durch immer neue Mutationen immer neue Varianten hervorbringen, um Überlebensnischen zu finden, in die der Destruktionsdruck der Medikamente noch nicht hineinreicht. Die Kunst der Moderne darwinisiert sich.
Pa re n t h e se V I Kollektives Präferenzverhalten in Populationen, die zu groß sind für eine tribalistische Eigenwahrnehmung, erzeugt Innovationszwang. Dieses Phänomen ist in Darwin’schen Wirtschaftsmodellen gut untersucht worden.10 Der Innovationszwang fungiert in diesen Modellen als Selektionsdruck. Märkte wachsen explosionsartig unter dem Einfluss von Innovation, bewegen sich dann für längere Zeit auf dem hohen Niveau eines reifen Markts und fallen in eine Depressionsphase, wenn die Ressource „Innovation“ aufgebraucht ist. Die Innovationspräferenz in Großpopulationen scheint einem kulturellen Instinkt zu entspringen. Deshalb ist konjunkturelle Normalität nur unter der Bedingung des ständigen Angebots von Innovation möglich.
siehe: Moore, G. A.: Dealing with Darwin. How Great Companys Innovate at Every Phase of Their Evolution, New York: Portfolio, 2005
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Die wirtschaftlichen Innovationssysteme sind nicht selbstreferentiell. Sie werden gespeist aus naturwissenschaftlichen Forschungserfolgen, die dann in technologische Inventionsarbeit übertragen werden. Technologien erzeugen nicht-transzendentale Artefakte. Sie müssen immer auch einen Fitnessvorteil vermitteln. Insofern können sie nicht selbstreferentiell sein. Der Zufluss aus der Natur durch den Kanal der naturwissenschaftlichen Forschung ist unbegrenzt. Ebenfalls unbegrenzt sind die Rekombinationsmöglichkeiten der auf Naturwissenschaft aufbauenden technologischen Produktentwicklung. Anders verhält es sich bei Innovationszwang in selbstreferentiellen, geschlossenen Systemen. Hier stehen den Innovationsbemühungen nur begrenzt vorhandene Ressourcen zur Verfügung. Sobald ein Präsentationssystem nur noch mit selbstreferentiellen Artefakten arbeitet, ist der natürliche Zufluss von Rohmaterial für Innovation abgeschnitten. Die selbstreferentielle Innovation verfügt nicht über reale Contents. Darin unterscheidet sie sich vom Darwin’schen Innovationsmodell der Wirtschaftswissenschaften.
G e n e r a t i o n 1 (F o rtsetzu n g)
Die Leugnung der Imitation von Darstellungsmitteln verhindert den exogenen Zufluss von Innovationspotential aus den natürlichen Contents. Dieselbe Imitationsleugnung hat auch die Präsentations- und Display-Marker unerkennbar gemacht. Als Rohmaterial für Innovation stehen nur noch das Pseudobild und die Ausstellungsmacht zur Verfügung. Doch Pseudobild und Ausstellungsmacht sind selbstreferentiell geworden.
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Die wirtschaftlichen Innovationssysteme sind nicht selbstreferentiell. Sie werden gespeist aus naturwissenschaftlichen Forschungserfolgen, die dann in technologische Inventionsarbeit übertragen werden. Technologien erzeugen nicht-transzendentale Artefakte. Sie müssen immer auch einen Fitnessvorteil vermitteln. Insofern können sie nicht selbstreferentiell sein. Der Zufluss aus der Natur durch den Kanal der naturwissenschaftlichen Forschung ist unbegrenzt. Ebenfalls unbegrenzt sind die Rekombinationsmöglichkeiten der auf Naturwissenschaft aufbauenden technologischen Produktentwicklung. Anders verhält es sich bei Innovationszwang in selbstreferentiellen, geschlossenen Systemen. Hier stehen den Innovationsbemühungen nur begrenzt vorhandene Ressourcen zur Verfügung. Sobald ein Präsentationssystem nur noch mit selbstreferentiellen Artefakten arbeitet, ist der natürliche Zufluss von Rohmaterial für Innovation abgeschnitten. Die selbstreferentielle Innovation verfügt nicht über reale Contents. Darin unterscheidet sie sich vom Darwin’schen Innovationsmodell der Wirtschaftswissenschaften.
G e n e r a t i o n 1 (F o rtsetzu n g)
Die Leugnung der Imitation von Darstellungsmitteln verhindert den exogenen Zufluss von Innovationspotential aus den natürlichen Contents. Dieselbe Imitationsleugnung hat auch die Präsentations- und Display-Marker unerkennbar gemacht. Als Rohmaterial für Innovation stehen nur noch das Pseudobild und die Ausstellungsmacht zur Verfügung. Doch Pseudobild und Ausstellungsmacht sind selbstreferentiell geworden.
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Die bei den Kunstfreunden so beliebten Transzendenzerlebnisse entstehen unter anderem durch die Vergessensarbeit bei jedem Generationenwechsel. Auf diese Weise wird Innovation quasi automatisch erzeugt. Vergessen werden die episodischen Zeitstrukturen der Erinnerung. Übrig bleibt eine zeitlose Erinnerung. Die Replikation/Imitation von zeitlosen Erinnerungen erzeugt Transzendenzkognition. Das Transzendenzerlebnis löst ein pseudoreligiöses Gefühl aus. Es entsteht, wenn die emotionale Selbstbeobachtung bemerkt, dass die Aufmerksamkeit, die auf die Objekte der umgebenden Welt gerichtet ist, nicht mehr die Form von Wachsamkeit hat. Transzendenzerlebnis, „conduite esthétique“, selektive Aufmerksamkeit, Suspension der Wachsamkeit: Diese mentalen Konditionierungen werden verstärkt durch das rituelle Promenieren im Innern von Kunstausstellungen. Der Ausstellungsbesucher gerät in den seelischen Zustand der Ausstellungstrance. Die Ausstellungstrance löst ein Gefühl aus, das angenehm und „autotélique“ ist.11 „Autotélique“ bedeutet: „Hat sein Ziel in sich selbst.“ Ein autotelischer seelischer Zustand ist bestrebt, sich selbst möglichst lange zu erhalten. Résumé: Drei Generationenübergänge erzeugen dreimal Output der transzendentalen Kunstmaschine. Im Inneren der Kunstmaschine arbeiten Imitation und Innovation. Wir müssen also bei jedem Generationenübergang fragen: Was wird von der vorangehenden Generation imitiert, was wird in der neuen Generation innoviert? Wir unterscheiden also den Schritt zur nächsten Generation von der Generation selbst. In einer tabellarischen Übersicht stellt sich das wie folgt dar:
siehe Schaeffer, a.a.O.
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Imitation
Innovation
1. Schritt (zu Generation 3) von tiefenloser Ornamentik (Gauguin) zur Art-DecoOrnamentik (Kubismus)
Flächenornamentik
Aufhebung der Figürlichkeit
gleichzeitiger Schritt zum Non-Sense-Exponat
Exponat
Aufhebung der Herstellung von Kunstwerken
2. Schritt (von Generation 3 zu Generation 2) von Dekorationstauglichkeit (Art-Deco-Kubismus) zu reiner Abstraktion (Pollock, Rothko)
Ornamentik (Abstraktion)
Aufhebung der Dekorationstauglichkeit
gleichzeitiger Schritt vom Pissoirbecken zu Warhol und Aktionskunst
Ausstellungsmacht
Aufhebung der Einmaligkeit (Kopierverfahren) Aufhebung des Exponats (Aktionskunst/Performance)
3. Schritt (von Generation 2 zu Generation 1) von Aktion/Performance zur Installation
Festhalten am Museumsprinzip
Aufhebung der Ausstellungsfunktion (Museum als Kunstwerk)
gleichzeitiger Schritt von Documenta-Ausstellung zur Installation
prävertikale Themenausstellung
fast evidente Selbstreferenz (Ausstellung der Ausstellung)
nächster Schritt zur Evidenz der Selbstreferenz
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Am Startpunkt der drei Kunstgenerationen war die Selbstreferenz latent. Sie bestand aus der Präsentation des Ornaments, das selbst ein Präsentationsmittel ist, dessen Präsentationsfunktion aber von dem Begriff „Abstraktion“ verschleiert wurde. Am Zielpunkt der drei Kunstgenerationen besteht die Chance, die Selbstreferenz evident zu machen. Das wäre ein kultureller Lerneffekt. Die schematische Darstellung der Generationenschritte zeigt, dass in den Spalten „Imitation“ immer Präsentationsformen wie „Exponat“, „Ausstellungsmacht“ etc. erscheinen. Auf den einleitenden Seiten dieses Büchleins wurde hervorgehoben, dass im imitatio-Verhalten der Renaissance und der Vormoderne stets die Präsentationsformen und die Display-Marker der Antike imitiert wurden, dass die Repräsentationen jedoch neu erfunden wurden (inventio). So wurden beispielsweise christliche Inhalte mit antiken Darstellungsmitteln ausgedrückt. Dabei wurde auch deutlich, dass die imitatio Generationen übergreifend operierte, dass die inventio dagegen innerhalb der Generationen zum Tragen kam. Ferner wurde betont, dass die imitatio ein Lernziel war, das bewusst angestrebt wurde. Vor diesem Hintergrund wird Folgendes erkennbar: Die Künstler der Moderne lehnten die traditionellen Akademien ab. Sie lehnten auch die Tugend der imitatio ab. Diese Ablehnung ist schicksalhaft. Und schicksalhaft ist der Irrtum, der sich an diese Entscheidung knüpft: die irrige Annahme, es gebe für sie, die Künstler, keine Imitation mehr. Wir wissen, dass Stabilität von Kulturen gleichzusetzen ist mit der Stabilität der Generationen übergreifenden Übertragungsdynamik, dass Kulturen aussterben, sobald die Übertragungsstränge unterbrochen werden, und dass die Kernarbeit dieser Übertragung von der Imitation geleistet wird. Wir wissen also, 85
dass in der Moderne, wie in jeder anderen kulturellen Epoche, imitiert werden muss, auch wenn die Künstler das nicht wissen. Bis jetzt sind weder die westliche Kultur noch die Künste ausgestorben. Folglich muss Imitation im Spiel sein. Wenn wir also von der alten imitatio gelernt haben, dass Imitation in diesem besonderen historischen Beispiel immer mit Präsentation und Display-Verhalten gleichzusetzen ist, dann gelangen wir zu der Meinung, dass die nicht bewusste Imitation der modernen Künstler gleichbedeutend ist mit nicht bewusster Präsentation und nicht bewusstem Display-Verhalten. Es liegt also die Vermutung nahe, dass die Publikumserfolge der Moderne darauf beruhen, dass bestimmte Prozesse nicht im Bewusstsein erscheinen dürfen. Dazu gehört die Verborgenheit des Ornaments. Es versteckt sich hinter der vermeintlichen Abstraktion. Dazu gehört zweitens die Verborgenheit der Ausstellungsmacht. Sie versteckt sich hinter der vermeintlich allzeitlichen Selbstverständlichkeit der Kunst, etwa nach dem Motto: Kunst gibt es zu allen Zeiten bei allen Völkern. Wie man sie präsentiert ist unwichtig. Richtig wäre: Kunst im Sinne der Moderne entsteht nur durch die Art, wie man sie präsentiert. Durch das Verschwinden der bewussten transgenerationalen Imitation/Präsentation wird die Präsentation zu einem nicht wahrnehmbaren Vorgang. Er ist nicht wahrnehmbar wie das Auge beim Sehen. Verborgenheit der Ausstellungsmacht ist gekoppelt an die Verborgenheit der Präsentationsformen. Verborgenheit der Präsentation macht Präsentation und Repräsentation ununterscheidbar. Das führt auch auf der Ebene der Ausstellung bzw. Präsentation zu nicht erkannter Selbstreferenz.
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Präsentation, in der Vormoderne wie in der Moderne, ist immer architektonisch. Die Gemälde werden präsentiert von Altären und Gebäudewänden. Die Gebäude sind nach ihrem Ranking gekennzeichnet. Musik wird gespielt in Kirchen, in aristokratischen Sälen oder bürgerlichen Konzertsälen, oder auf Strassen und Plätzen. Skulpturen werden aufgestellt auf Sockeln oder in Nischen. Die Wahl des Ausstellungsorts ist eine Entscheidung des öffentlichen Rechts. Theater wird gespielt in Amphitheatern, vor Kathedralen, in Schlosshöfen oder in öffentlich zugänglichen Theaterbauten. Wenn also die Präsentation der bewussten Wahrnehmung entzogen wird, dann wird auch die Präsentationsarchitektur der bewussten Wahrnehmung entzogen. Das würde bedeuten: Museen sind unbewusste Architektur. Sie funktionieren nur, wenn man nicht weiß, wie sie bewirken, was sie bewirken. Zweimal erzeugt die Selbstreferenz durch die Tatsache, dass sie nicht bemerkt wird, Transzendentalitätserlebnisse beim Publikum. Erstens durch die Pseudobilder, die Präsentationsornament abbilden. Zweitens durch die Ausstellung, die nicht Kunst ausstellt sondern Kunst ist. Fazit: Bewusste transgenerationale Imitation = bewusste Präsentation Unbewusste transgenerationale Imitation = unbewusste Präsentation Die kritische Phase sowohl der bewussten als auch der unbewussten Imitation ist der Generationenwechsel. Bleibt die Imitation unbewusst, entstehen unbewusste Präsentation und un87
erkannte Selbstreferenz. Sie zeigen sich als subjektive Transzendenzbegeisterung. Die als Transzendenz getarnte, unerkannte Selbstreferenz ist die Manifestation des egoistischen Replikators. Denn die Imitation funktioniert bei jedem Generationenwechsel weiter, jedoch außerhalb der bewussten Kontrolle. Gibt es ein Heilmittel? Vielleicht. Heilmittel könnten sein: erstens: die Enttarnung der Ausstellungsmacht, zweitens: die Enttarnung der Pseudobilder als Ornamente und ihre Rückführung in die Dekoration von architektonischem Ambiente. Enttarnung der Pseudobilder und ihre Rückführung in die Dekoration entspricht der Umwandlung von Transzendenz in Immanenz. Resumé: (1) 80 Generationen Vormoderne: bewusste Imitation (2) Imitation = Präsentationsmittel = Display-Verhalten (3) Drei Generationen Moderne: unbewusste Imitation = unbewusste Präsentation (4) Unbewusste Präsentation = Ununterscheidbarkeit von Präsentation und Repräsentation (5) Das ermöglicht: Präsentation der Präsentation = Selbstreferenz = Imitation ohne Imitat = Replikation ohne Replikat
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(6) Selfishness der Replikatoren = Selbstreferenz der Präsentatoren (7) Selfishness = Maladaption der Teilkultur „moderne Kunst“ (3) enthält den Schlüssel für das Verständnis der 3-Generationen-Evolution. Mit dem Verdrängen der Imitation werden die Präsentationsmittel zum blinden Fleck des Systems. Ihr Einzug in die Content-Bereiche bleibt unbemerkt. Gibt es im 3-Generationen-Countdown eine Gesetzmäßigkeit? Wahrscheinlich gibt es sie. So könnte sie aussehen:
Pa re n t h e se V II Wenn in einer Kultur unterscheidbare Muster als Gebäude- oder Körperschmuck benutzt werden, dann drückt die Verschiedenheit der Muster Ranking aus. Die Kombination von Ranking und Muster sei „Ornamentmacht“ genannt. Wenn eine Kultur sowohl Ornamentmacht als auch Bilder erzeugt, dann werden die Bilder von der Ornamentmacht präsentiert. In der Präsentation sind Produktion und Erzeugung von Zugänglichkeit enthalten. Die Bilder werden von der Ornamentmacht auch evaluiert. Anders ausgedrückt: Sie werden mit Display-Markern versehen.
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(6) Selfishness der Replikatoren = Selbstreferenz der Präsentatoren (7) Selfishness = Maladaption der Teilkultur „moderne Kunst“ (3) enthält den Schlüssel für das Verständnis der 3-Generationen-Evolution. Mit dem Verdrängen der Imitation werden die Präsentationsmittel zum blinden Fleck des Systems. Ihr Einzug in die Content-Bereiche bleibt unbemerkt. Gibt es im 3-Generationen-Countdown eine Gesetzmäßigkeit? Wahrscheinlich gibt es sie. So könnte sie aussehen:
Pa re n t h e se V II Wenn in einer Kultur unterscheidbare Muster als Gebäude- oder Körperschmuck benutzt werden, dann drückt die Verschiedenheit der Muster Ranking aus. Die Kombination von Ranking und Muster sei „Ornamentmacht“ genannt. Wenn eine Kultur sowohl Ornamentmacht als auch Bilder erzeugt, dann werden die Bilder von der Ornamentmacht präsentiert. In der Präsentation sind Produktion und Erzeugung von Zugänglichkeit enthalten. Die Bilder werden von der Ornamentmacht auch evaluiert. Anders ausgedrückt: Sie werden mit Display-Markern versehen.
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Generation 3: Wenn die Bilder verschwinden und von Mustern ersetzt werden (Pseudobilder), und wenn die Ornamentpräsentation ebenfalls verschwindet, dann tritt die Austellungsmacht an die Stelle der Ornamentmacht. Es entsteht die „freche“ Ausstellung, die ornamentale Non-Sense-Bilder, hier selbstreferentielle kognitive Artefakte oder „Pseudobilder“ genannt, als Kunstwerke durchsetzt. Die Pseudobilder sind selbstreferentiell, weil sie Muster, d.h. Präsentationsmittel präsentieren. Wenn die Ausstellungsdirektoren die Ausstellungsmacht einmal entdeckt haben, dann können sie alles als Kunstwerk durchsetzen (Pissoirbecken). Die Ausstellungsmacht wird emergent. Generation 2 Wenn die Ausstellungsmacht vom Staat übernommen wird, dann entsteht das „autonome Museum“. Wenn das „autonome Museum“ institutionalisiert ist, dann kann alles als Kunst durchgesetzt werden, nicht nur Objekte, sondern auch Aktionen und Performances. Selbst wissenschaftliche Vorträge, wenn sie in Museen stattfinden, gehen als Kunst durch, solange sie nicht wirklich wissenschaftlich sind. Es entsteht eine neue szenische Konvention. Sie drückt aus: „Dies ist transzendentale Wirklichkeit“. Diese neue szenische Konvention ist anders als die Theaterkonvention, die ausdrückt: „Dies ist nicht Wirklichkeit sondern Schein“. Generation 1 Wenn das „autonome Museum“ alle Objekte und alle Aktionen als Kunst durchsetzen kann, dann kann es auch sich selbst als Kunst durchsetzen. Es entsteht die Installation. Durch die Installation wird das Museum selbstreferentiell. 90
Generation 3: das selbstreferentielle kognitive Artefakt (Pseudobild) Generation 1: das selbstreferentielle Museum. Der Antrieb der 3-Generationen-Dynamik ist die Ornamentmacht. Die Metamorphose der Ornamentmacht bildet die Crisis dieser Dynamik. Sie findet in Generation 3 statt. Die Generationen 2 und 1 sind dann nur noch Countdown.
G e n e r a t i o n 1 (F o rtsetzu n g)
Die tabellarische Darstellung der Imitations-/Innovations-Dynamik hat gezeigt, dass diese Dynamik die Zeitstruktur der Generationentakte hat. Sie hat auch gezeigt, dass die Innovation immer durch das Transzendieren von etwas ermöglicht wurde, was sich im Museum befand oder dort stattfand. Die Tabelle zeigt, dass in der Spalte „Innovation“ immer das Wort „Aufhebung“ erscheint. Das innovative Transzendieren von etwas, das sich vorher im Museum befunden hatte, bestand also immer aus der Aufhebung von etwas. Am Ende des Countdowns bleibt dann nur das leere Museum übrig, das sich auf sich selbst bezieht. Was kann ein weiterer Generationenschritt hier noch innovativ transzendieren beziehungsweise abschaffen? Er kann nur noch das Museum selbst transzendieren und auf diese Weise Innovation erzeugen. Gibt es in der Kultur Anzeichen dafür? Ja, Street-Art und Graffiti befinden sich außerhalb von Museen und Galerien. Doch betrachten wir ein letztes Mal die reguläre Kunst der Moderne. Betrachten wir sie in ihrer Funktion als Unterrichtsfach 91
Generation 3: das selbstreferentielle kognitive Artefakt (Pseudobild) Generation 1: das selbstreferentielle Museum. Der Antrieb der 3-Generationen-Dynamik ist die Ornamentmacht. Die Metamorphose der Ornamentmacht bildet die Crisis dieser Dynamik. Sie findet in Generation 3 statt. Die Generationen 2 und 1 sind dann nur noch Countdown.
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Die tabellarische Darstellung der Imitations-/Innovations-Dynamik hat gezeigt, dass diese Dynamik die Zeitstruktur der Generationentakte hat. Sie hat auch gezeigt, dass die Innovation immer durch das Transzendieren von etwas ermöglicht wurde, was sich im Museum befand oder dort stattfand. Die Tabelle zeigt, dass in der Spalte „Innovation“ immer das Wort „Aufhebung“ erscheint. Das innovative Transzendieren von etwas, das sich vorher im Museum befunden hatte, bestand also immer aus der Aufhebung von etwas. Am Ende des Countdowns bleibt dann nur das leere Museum übrig, das sich auf sich selbst bezieht. Was kann ein weiterer Generationenschritt hier noch innovativ transzendieren beziehungsweise abschaffen? Er kann nur noch das Museum selbst transzendieren und auf diese Weise Innovation erzeugen. Gibt es in der Kultur Anzeichen dafür? Ja, Street-Art und Graffiti befinden sich außerhalb von Museen und Galerien. Doch betrachten wir ein letztes Mal die reguläre Kunst der Moderne. Betrachten wir sie in ihrer Funktion als Unterrichtsfach 91
in Schulen. Unterricht ist Imitationsanleitung. Von hohem erzieherischem Wert sind Fächer, die ein langes und intensives Training verlangen. Sie erhöhen die inklusive Fitness einer Kultur, weil sie den Charakter der Kinder schulen.
P a re n t h e se V III Training bewirkt immer, dass Techniken im Körpergedächtnis gespeichert werden. Das Körpergedächtnis wird von den Neurowissenschaftlern „prozedurales Gedächtnis“ genannt. Wir sprechen von „starker“ im Gegensatz zu „schwacher Enkulturierung“, sobald eine kulturelle Technik so stark antrainiert wird, dass sie im Körpergedächtnis gespeichert wird. Enkulturierung nennt die Kulturanthropologie den Prozess, in dem Individuen sich der Kultur, in der sie leben, anpassen, und in dem gleichzeitig kulturelle Zugehörigkeitsgefühle erzeugt werden. Der Enkulturierungseffekt entsteht durch die Einspeicherung von kulturellen Informationseinheiten in das Gedächtnis von Individuen. Enkulturierungsforschung ist im wesentlichen Gedächtnisforschung. Außer der starken/schwachen Enkulturierung gibt es die komplette/partielle Enkulturierung und die emotionale Enkulturierung.12 Die komplette bzw. partielle Enkulturierung betrifft die Mindestmenge von Wissen, die man braucht, um in einer Kultur überleben zu können. Dieses Wissen wird im deklarativen Gedächtnis gespeichert. Es handelt es sich um das Wissen, das man bewusst abrufen kann.
Dieses Begriffssystem wurde von unserer Zürcher Forschungsgruppe TRACE eingeführt. Sie hat den gleichen Namen wie diese Buchreihe, und befasst sich mit neuroanthropologischer Gedächtnis- und Enkulturierungsforschung.
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in Schulen. Unterricht ist Imitationsanleitung. Von hohem erzieherischem Wert sind Fächer, die ein langes und intensives Training verlangen. Sie erhöhen die inklusive Fitness einer Kultur, weil sie den Charakter der Kinder schulen.
P a re n t h e se V III Training bewirkt immer, dass Techniken im Körpergedächtnis gespeichert werden. Das Körpergedächtnis wird von den Neurowissenschaftlern „prozedurales Gedächtnis“ genannt. Wir sprechen von „starker“ im Gegensatz zu „schwacher Enkulturierung“, sobald eine kulturelle Technik so stark antrainiert wird, dass sie im Körpergedächtnis gespeichert wird. Enkulturierung nennt die Kulturanthropologie den Prozess, in dem Individuen sich der Kultur, in der sie leben, anpassen, und in dem gleichzeitig kulturelle Zugehörigkeitsgefühle erzeugt werden. Der Enkulturierungseffekt entsteht durch die Einspeicherung von kulturellen Informationseinheiten in das Gedächtnis von Individuen. Enkulturierungsforschung ist im wesentlichen Gedächtnisforschung. Außer der starken/schwachen Enkulturierung gibt es die komplette/partielle Enkulturierung und die emotionale Enkulturierung.12 Die komplette bzw. partielle Enkulturierung betrifft die Mindestmenge von Wissen, die man braucht, um in einer Kultur überleben zu können. Dieses Wissen wird im deklarativen Gedächtnis gespeichert. Es handelt es sich um das Wissen, das man bewusst abrufen kann.
Dieses Begriffssystem wurde von unserer Zürcher Forschungsgruppe TRACE eingeführt. Sie hat den gleichen Namen wie diese Buchreihe, und befasst sich mit neuroanthropologischer Gedächtnis- und Enkulturierungsforschung.
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Um emotionale Enkulturierung handelt es sich, wenn Individuen, die einer kulturellen Gruppe angehören, innerhalb der Gruppe in Ereignisse verwickelt werden, die starke Emotionen auslösen. Beispiel: schwere Körperverletzungen durch Polizeieinsätze bei politischen Demonstrationen. Dabei stellt die politische Zugehörigkeit den kulturellen Gruppeneffekt her. Die emotionale Enkulturierung wird im emotionalen, nicht deklarativen Gedächtnis gespeichert. Es funktioniert anders als das prozedurale und anders als das deklarative Gedächtnis. Es kann beispielsweise nicht bewusst abgerufen werden. Die Erinnerung stellt sich eher durch die Rückkehr zu den Orten des Geschehens ein oder durch Wiederholungseffekte. Eine Mindestmenge von „starker Enkulturierung“ in Individuen und Populationen ist für die Stabilität der kulturellen Transmissionsdynamik von großer Bedeutung. Optimierungen von Enkulturierungsdynamiken in gegebenen Populationen hängen ab von der richtigen Verteilung der Anteile von kompletter, starker und emotionaler Enkulturierung. Techniken, die der starken Enkulturierung angehören, müssen im Körpergedächtnis gespeichert werden, um überhaupt funktionieren zu können. Das Autofahren beispielsweise: Es funktioniert nur, wenn man nicht mehr daran denken muss, mit welchem Fuß welches Pedal zu bedienen ist. Das Spielen von Musikinstrumenten: Klavier spielen kann man erst, wenn man nicht mehr an seine Finger denken muss. Alle Disziplinen des Sports erzeugen starke Enkulturierungseffekte. Diese Liste kann beliebig verlängert werden.
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G e n e r a t i o n I (F ortsetzu n g)
Die klassischen Akademiefächer der bildenden Künste, Aktzeichnen, Perspektivzeichnen, Landschaftszeichnen, gehören zu den Techniken, die durch Training im Körpergedächtnis gespeichert werden. Alle kulturellen Techniken, die nur unter der Voraussetzung der „starken Enkulturierung“ zum Einsatz gelangen, haben einen hohen erzieherischen Wert. Sie verhelfen der nachwachsenden Generation zu der Erkenntnis, dass nur Mühsal zum Erfolg führt. Die Renaissance-Humanisten hätten an dieser Stelle ein Sprichwort der Römer imitiert und gesagt: „Per aspera ad astra.“ (Durch Mühsal zu den Sternen.). Moderne Kunst hat als Schulfach keinen erzieherischen Wert. Das kann man schon daran erkennen, dass sogar die Befürworter des modernen Kunstunterrichts meinen, Kinder seien gerade dann besonders kreativ, d.h. besonders zu loben, wenn sie nicht durch Lernen verformt werden. Diese pädagogische Überzeugung lehnt Training und Imitation ab. Denn das Unterrichtsziel „Kreativität“ propagiert die totale Originalität. Man ist außerdem davon überzeugt, dass Kreativität von Natur aus in allen Menschen vorhanden ist, und dass man nur dafür sorgen muss, dass sie unverfälscht zur Geltung kommt. Denn alle können immer schon alles. Man muss eigentlich gar nicht lernen. Je mehr die Kinder in ihrem Naturzustand verharren, und je weniger sie von den Erwachsenen verformt werden, desto kreativer sind sie. Dieser vermeintliche Naturzustand hat mit Natur sehr wenig zu tun. Natürlich an ihm ist nur, dass er durch die Fehlerquellen der Evolution zu Stande kommt. Und was die Kreativität 94
betrifft: Sie gebiert transzendentale Gespenster. Der entscheidende Mangel, der die Kunst der Moderne mit ihrem System von Pseudobildern und Ausstellungsmacht zur maladaptiven Pseudokultur macht, besteht aus der Tatsache, dass man beim Generationenwechsel nichts lehren kann, weil es nichts zu imitieren gibt. Wir kommen zum letzten Fallbeispiel und zu der Frage: Was lernen wir von den Künstlern, die an der frischen Luft arbeiten und sich für Museen nur wegen ihrer besprühbaren Außenwände interessieren? Die erste Antwort lautet: Wenn man mit quantitativen Beschreibungsmitteln die Gesamtsituation der Präsentation von graphischen Artefakten betrachtet, stellt man fest, dass Graffiti beim Durchschnittsindividuum der westlichen Kultur die größte Zahl von Wahrnehmungskontakten pro Zeiteinheit erreichen. Denn man sieht Graffiti bei jeder Autofahrt, bei jeder Busfahrt und bei jeder Eisenbahnfahrt.13 Während das System „moderne Kunst“ eine transzendentale Kultur erzeugt, handelt es sich bei der Graffiti-Bewegung um eine reale Kultur. Mit anderen Worten: Graffiti werden in der Immanenz gesprayt. Der Kulturanthropologe freut sich, denn er trifft endlich auf das spannende Studienobjekt einer tribalistischen Protokultur. An anderer Stelle habe ich echte Kulturen definiert als Systeme, deren Merkmale mindestens einmal in die nächste Generation übertragen worden sind.14 Protokulturen nannte ich Systeme, die den Sprung über den Generationenhorizont noch nicht geschafft haben. Die Graffiti-Kultur befindet sich fast am
Den nun folgenden Abschnitt über Graffiti hätte ich ohne die kritische Lektüre und die geduldigen Belehrungen von Paul Kenig und Simon Bieling (beide Studenten an der HfG, Karlsruhe) nicht schreiben können. Mühlmann, H.: Die Natur der Kulturen, Wien/New York: Springer Verlag, 1996
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Ende ihres ersten Generationenzyklus’. Graffitikinder, die auf dem Weg der parentalen Übertragung ihre Kultur von Graffitieltern übernommen haben, sind noch nicht beobachtet worden. Es gibt aber die Übertragung von Graffitiregeln zwischen älteren Jugendlichen und jüngeren Jugendlichen. Was wird im bisher bekannten Transmissionsprozess der Graffiti-Kultur imitiert? Imitiert werden Graffiti spezifische Kalligraphie-Stile, die von Vorbildern übernommen werden. Die ersten Vorbilder stammen aus der New Yorker Szene der Anfangszeit. Plötzlich war damals der kulturelle Normalmensch mit kryptographisch anmutenden Schriftzeichen konfrontiert, von denen er weder verstand, weshalb sie da waren, noch was sie bedeuteten, noch weshalb sie ausgerechnet da waren, wo sie waren. Imitiert wird ferner das Territorialverhalten, die illegale Aneignung der Präsentationsflächen, die identity-construction und das Reputationsverhalten innerhalb der Graffiti-Szene; außerdem die Verwendung von Pseudonymen und die Spraytechnik mit ihren speziellen Anforderungen: Vorentwurf, präzise Spraylinien bei hohem Arbeitstempo, akrobatischer Zugang zu den Präsentationsorten. Imitiert wird schließlich das Signierverhalten, das auch in der regulären Kunst üblich ist. Bei den Graffiti gibt es allerdings kein Werk, das zu signieren wäre. Die Signatur steht für sich allein da. Sie soll möglichst groß sein. Monumentale Ausmaße der Signaturen tragen zur Vergrößerung der Reputation bei. Die Signatur drückt den Territorialanspruch aus. Weshalb freut sich der evolutionstheoretisch operierende Kulturwissenschaftler so sehr über die Graffiti-Kultur? Er ist, wie viele Kulturanthropologen, der Meinung, dass man bei der evo96
lutionstheoretischen Erforschung von Kulturen auf das Tribalismusmodell angewiesen ist, und dass man komplexe Großkulturen, wie z.B. die westliche Kultur, in tribalistische Untereinheiten zerlegen muss, um überhaupt einen theoretischen Ansatz zu finden.15 Wenn also eine Großkultur, die so komplex ist, dass sie sogar eine transzendentale Pseudokultur innerhalb ihres eigenen Systems hervorbringt, als Gegenreaktion eine tribalistische Marginalkultur erzeugt, freut sich der Evolutionstheoretiker, weil er endlich ein Beschreibungsobjekt nach seinem Geschmack vorfindet. Er freut sich darüber, dass die komplexe Großkultur sich aus eigenem Antrieb in tribalistische Unterkulturen zerlegt. Diese Entwicklung ist ihm ein Beweis dafür, dass tribalistische Organisationskräfte immer und überall wirksam bleiben. Beginnen wir mit der Betrachtung des Tribalismusmerkmals „Territorialverhalten“. Territorialansprüche werden in tribalistischen Kulturen durch so genannte „Marker“ ausgedrückt. Dabei handelt es sich um Artefakte, die stammesspezifisch sind. Angehörige anderer Stämme erkennen den Territorialanspruch des rivalisierenden Stammes und gehen ein Konfliktrisiko ein, wenn sie sich in einem mit Fremdmarkern gekennzeichneten Gebiet aufhalten. Graffiti sind mit unterscheidbaren, individuellen Kalligraphiestilen aufgetragene Marker, die einen symbolischen Territorialanspruch ausdrücken. „Identity-construction“: Die Sprayer verwenden Pseudonyme. Sie konstruieren auf diese Weise eine Parallelidentität neben ihrer zivilen Identität. Mit der Parallelindentität sind sie in der Sprayer-community bekannt.
Boyd, R. u. Richerson, P. J.: Not by Genes Alone, Chicago: The University of Chicago Press, 2005
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„Reputation“: Sie hängt von der Komplexität des individuellen Stils und von der Waghalsigkeit bei der Einnahme der Präsentationsorte ab. Identity-construction und Reputation sind Ordnungssysteme, die das Ingroup-Verhalten der Sprayer-communities organisieren. Diese Ordnungsstrukturen sind tribalistisch. Sie erzeugen Ingroup-Harmonie und Outgroup-Aggression. Outgroup-Aggressionsverhalten zeigt sich erstens beim Umgang mit den Präsentationsorten. Graffiti schmücken nicht wie Ornamente. Sie befallen Architektur wie Schimmelpilz Früchte befällt oder wie Ausschlag gesunde Haut befällt. Sie zerstören Immobilienwerte. Graffiti „passen“ nicht zu den Gebäuden. Ornament dagegen ist nur unter der Bedingung Ornament, dass es zum Gebäude „passt“. Zweitens zeigt sich Aggressivität auch beim Umgang mit den Ordnungskräften und mit der Justiz. Sprayer begehen Ordnungswidrigkeiten und verstoßen gegen Gesetze. Das Erzeugen von Unterscheidungsmerkmalen, das Erzeugen von Außengrenzen der Populationen und das Aggressionsverhalten jenseits der Außengrenzen sind Merkmale tribalistischer Organisation. „Technisches Training“: Die geforderte Präzision der Sprayarbeit ist nur möglich durch ein Training, das die Anforderungen der „starken Enkulturierung“ erfüllt. Nur wenn die Spraybewegungen im Körpergedächtnis gespeichert sind, gelingt die Anfertigung von Graffiti, die den Qualitätsstandards des erfolgreichen identity-construction- und Reputationsverhaltens genügen. In der ersten Evolutionsphase der Graffiti-Kultur rivalisieren Individuen miteinander. Die erreichte Reputation der einzelnen Sprayer ist der Respekt unter Rivalen. Innerhalb der Population aller Sprayer dominiert in dieser Phase die Rivalität. Tribalistisches Wir-Gefühl entsteht nur durch die aggressive Beziehung zwischen allen Sprayern und allen Ordnungskräften. 98
Doch die Evolution der Graffiti-Kultur bietet mehr. Es kommt zur Emergenz von multi-level-Selektion.
Pa re n t h e se IX Identity-construction und Reputationserfolge unterliegen Darwin’schen Selektionskriterien. In einer ersten Phase rivalisieren nur Individuen. Die Theorie der multi-level-Selektion behauptet, dass der Kampf um den Erfolg in Evolutionsdynamiken auf immer höhere Level steigt. Zunächst rivalisieren Einzeller, dann,- nächst höherer Level,- Mehrzeller, dann mehrzellige Säugetiere, dann Populationen, schließlich Kulturen. Des Weiteren wird behauptet, dass der Selektionskampf des jeweils vorletzten Levels marginalisiert wird, sobald der nächst höhere Level erreicht ist. So wechsle der Hauptschauplatz der Evolution vom Einzeller zum Mehrzeller, sobald es Mehrzeller gebe. Ebenso wechsle der Hauptschauplatz der Evolution vom rivalisierenden Individuum zur rivalisierenden Kultur, sobald es Kulturen gebe.
G e n e r a t i o n 1 (F o rtsetzu n g)
Die Graffiti-Kultur erreichte einen höheren Evolutionslevel, als die so genannten „crews“ entstanden. „Crews“ sind SprayerGruppen, die aus kooperierenden Individuen bestehen. Von nun an konkurrieren „crews“ untereinander. Eine „crew“ kann die Vorteile der Arbeitsteilung nutzen, um größere Projekte zu realisieren. 99
Doch die Evolution der Graffiti-Kultur bietet mehr. Es kommt zur Emergenz von multi-level-Selektion.
Pa re n t h e se IX Identity-construction und Reputationserfolge unterliegen Darwin’schen Selektionskriterien. In einer ersten Phase rivalisieren nur Individuen. Die Theorie der multi-level-Selektion behauptet, dass der Kampf um den Erfolg in Evolutionsdynamiken auf immer höhere Level steigt. Zunächst rivalisieren Einzeller, dann,- nächst höherer Level,- Mehrzeller, dann mehrzellige Säugetiere, dann Populationen, schließlich Kulturen. Des Weiteren wird behauptet, dass der Selektionskampf des jeweils vorletzten Levels marginalisiert wird, sobald der nächst höhere Level erreicht ist. So wechsle der Hauptschauplatz der Evolution vom Einzeller zum Mehrzeller, sobald es Mehrzeller gebe. Ebenso wechsle der Hauptschauplatz der Evolution vom rivalisierenden Individuum zur rivalisierenden Kultur, sobald es Kulturen gebe.
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Die Graffiti-Kultur erreichte einen höheren Evolutionslevel, als die so genannten „crews“ entstanden. „Crews“ sind SprayerGruppen, die aus kooperierenden Individuen bestehen. Von nun an konkurrieren „crews“ untereinander. Eine „crew“ kann die Vorteile der Arbeitsteilung nutzen, um größere Projekte zu realisieren. 99
Doch die Evolution der Graffiti-Kultur bietet mehr. Es kommt zur Emergenz von multi-level-Selektion.
Pa re n t h e se IX Identity-construction und Reputationserfolge unterliegen Darwin’schen Selektionskriterien. In einer ersten Phase rivalisieren nur Individuen. Die Theorie der multi-level-Selektion behauptet, dass der Kampf um den Erfolg in Evolutionsdynamiken auf immer höhere Level steigt. Zunächst rivalisieren Einzeller, dann,- nächst höherer Level,- Mehrzeller, dann mehrzellige Säugetiere, dann Populationen, schließlich Kulturen. Des Weiteren wird behauptet, dass der Selektionskampf des jeweils vorletzten Levels marginalisiert wird, sobald der nächst höhere Level erreicht ist. So wechsle der Hauptschauplatz der Evolution vom Einzeller zum Mehrzeller, sobald es Mehrzeller gebe. Ebenso wechsle der Hauptschauplatz der Evolution vom rivalisierenden Individuum zur rivalisierenden Kultur, sobald es Kulturen gebe.
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Die Graffiti-Kultur erreichte einen höheren Evolutionslevel, als die so genannten „crews“ entstanden. „Crews“ sind SprayerGruppen, die aus kooperierenden Individuen bestehen. Von nun an konkurrieren „crews“ untereinander. Eine „crew“ kann die Vorteile der Arbeitsteilung nutzen, um größere Projekte zu realisieren. 99
Das Graffiti-Verhalten wird überall imitiert. Die Graffiti-Kultur wird von einer rasanten Imitationsdynamik vorangetrieben. Sie ist ubiquitär. Ihre epidemiologische Replikationsorganisation ist faszinierend. Doch die meisten Graffiti-Artefakte entsprechen nicht den Qualitätsstandards, die aus den Reputationsregeln resultieren. Das meiste ist, gemessen an den eigenen Regeln, schlecht. Graffiti gehorchen in keiner Weise den Regeln einer Ornamentästhetik, denn sie passen nicht zu den Gebäuden, auf denen sie sich befinden. Sie befallen die Gebäude wie Krankheiten. Graffiti-Meisterwerke sind von einer eigenartigen Schönheit. Doch diese Schönheit verstärkt den Effekt des Unpassenden noch. Es ist wie bei Schimmelpilz, der schön ist, der aber die Schönheit der Erdbeere zerstört und sie außerdem ungenießbar macht. Das Erscheinen der Graffiti-Kultur in einer Wirtskultur, die eine transzendentale Teilkultur hervorgebracht hat, ist nicht ohne innere Logik. Die staatliche Präsentationshoheit ist mit dem autonomen Museum in die Falle der Selbstreferenz geraten. Es ist dann folgerichtig, dass in der letzten CountdownGeneration ein paralleler Evolutionsstrang entsteht, in dem es nur noch um Präsentationsmacht geht, und zwar um die illegale Aneignung von Präsentationsmacht. Die Graffiti-Kultur ist die immanente Antwort auf die transzendentale Teilkultur des autonomen Museums. Diese immanente Gegenkultur hat die organisatorische Eleganz einer subkulturellen Epidemie. Sie befällt die Hauptkultur, von der sie abstammt und die ihr Nährboden bleibt. Ich habe in meinen Seminaren Graffiti-Sprayer kennen gelernt, die gern darauf hinwiesen, dass Graffiti auch schon von Ku100
ratoren in Museen ausgestellt wurden. Die aus dem SprayerMillieu stammenden Studenten wollten damit die künstlerische Qualität von Graffiti-Produkten hervorheben. Dazu folgende Anmerkung: Liebe Graffiti-Sprayer! Eure Kraft liegt in der Wildheit eurer Präsentationsformen. Und nicht vergessen: Im Museum kann man alles zu Kunst machen, auch eure Socken und eure Zahnbürsten. Ein Detail ist nicht ohne Delikatesse: Moderne Gebäude bestehen seit der form-function-Aesthetik zu großen Teilen aus leeren Außenflächen. Wenn die legalen Gebäudebesitzer diese leeren Flächen vor der Verschandelung durch „unpassende“ Graffiti schützen wollen, müssen sie die leeren Flächen mit „passenden“ Formen ausfüllen. Dann aber wären sie wieder bei der Ornamentarchitektur angelangt. Denn „passende“ Formen, die auf Gebäude appliziert werden, sind Ornamente. Wir haben es im buchstäblichen Sinn mit einem horror vacui, mit einem Erschrecken vor der Leere zu tun. Leere Flächen machen Angst vor Immobilienschäden durch Graffiti-Befall. Der Kreis schließt sich. Am Ende steht die Ornamentmacht.
* Eine philosophische Schlussbetrachtung: Wenn eine Kultur fähig ist, mit Hilfe ihrer eigenen kognitiven Mittel und ohne äußere Zwänge die Hypothese ihres eigenen maladaptiven Charakters zu prüfen, dann hat sie eine höhere Entwicklungsstufe erreicht. 101
Die Kurzform der Maladaptions-Hypothese lautet: Selfishness der kulturellen Replikatoren bedeutet Maladaption der Kultur. Von der intergenerationalen selfishness der kulturellen Replikatoren führt ein Beziehungsstrang zur intragenerationalen Selbstreferenz der kognitiven Artefakte. Selbstreferentiellelle Artefakte lösen Transzendenzeffekte aus. Die maladaptive Kultur verbreitet in ihrem Inneren den süßlichen Geruch der Transzendenz.
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B i b l i o g r a p hie
Agamben, Giorgio: Le Temps qui reste, Paris: Payot & Rivages, 2000 Boyd, Robert and Richerson, Peter J.: Not by Genes Alone, Chigago: The University of Chicago Press, 2005 Brock, Bazon: „Der verbotene Ernstfall“, in: Der Barbar als Kulturheld. Gesammelte Schriften 1991-2002, Köln: Dumont, 2002. Moore, Geoffrey A.: Dealing with Darwin. How Great Companies Innovate at Every Phase of Their Evolution, New York: Portfolio, 2005 Mühlmann, Heiner: Die Natur der Kulturen, Wien/New York: Springer, 1996 Mühlmann, Heiner: „Die Ökonomiemaschine“, in Igmade (Hrgs.): 5 Codes: Architektur, Paranoia und Risiko in Zeiten des Terrors, Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser, 2006 Schaeffer, Jean-Marie: “La conduite esthétique comme fait anthropologique”, in: Qu’est-ce que la culture?, Paris: Odile Jacob, 2001 Sloterdijk, Peter: Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen, Frankfurt am Main: Verlag der Weltreligionen, 2007 Spencer-Brown, George: Laws of Form, New York: E.P. Dutton, 1979 Ullrich, Wolfgang: „Adolf Hitler als Anlageberater“, in: Kulturkrieg. Hitlers Reden zur Kunst, Karlsruhe: Zentrum für Kunst und Medientechnologie, 2005 Ullrich, Wolfgang: Mit dem Rücken zur Kunst. Die neuen Statussymbole der Macht, Berlin: Wagenbach, 2000
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P e r so n e n r egister Agamben, Giorgio 76 Banksy 13 Beuys, Joseph 28 Bisky, Norbert 8 Blair, Tony 10 Braque, Georges 56, 57 Breker, Arno 65 Brunelleschi, Filippo 47 Buonarroti, Michelangelo 47 Cezanne, Paul 54, 66 Chapman, Jake und Dinos 13, 14 Cicero 17 Crali, Tullio 31 Darwin, Charles 80, 81, 82, 99 da Urbino, Raphael 47 da Vinci, Leonardo 47 Delvoye, Wim 14, 15 de Saint Phalle, Niki 29 Descartes, René 47 Duchamp, Marcel 31, 33, 34, 55-59, 70 Eder, Martin 8 Einstein, Albert 30 Emin, Tracey 10, 12 Epimenides 75, 76 Gascoine, Paul 10 Gauguin, Paul 41, 54, 57, 66, 79, 84 Gris, Juan 56, 57 Hiroshige, Ando 42 Hirst, Damien 10, 12, 13 Hitler, Adolf 63, 64, 66, 71 Hume, Gary 10, 11 Immendorf, Jörg 26 Jesus von Nazareth 27 Kandinsky, Wassily 66 Kant, Immanuel 10 Katsushige, Iwasa 45
Kiefer, Anselm 5, 6 Kippenberger, Martin 21, 22, 25 Koons, Jeff 15, 16 Lichtenstein, Roy 29 Lüpertz, Markus 26 Malewitsch, Kasimir 4, 34, 66 Manet, Edouard 72 Meese, Jonathan 6, 7 Meissonier, Ernest 72 Monet, Claude 72 Moore, Henry 29 Moss, Kate 10 Mueck, Ron 8, 9 Nitsch, Hermann 27 Oldenburg, Claes 29 Paulus, Apostel 75, 76 Picasso, Pablo 31, 32, 56 Poiret, Paul 53 Pollock, Jackson 22-25, 84 Quintilian 17 Rauch, Neo 8 Richter, Daniel 8 Rothko, Mark 24-26, 84 Rubens, Peter Paul 39 Saatchi, Charles 10 Schaeffer, Jean-Marie 66 Schneider, Gregor 1-5 Schwarzbauer, Joseph 28 Schwitters, Kurt 32, 33 Sloterdijk, Peter 60 Speer, Albert 65 Spencer-Brown, George 49, 50, 52, 79 Ullrich, Wolfgang 79 van Gogh, Vincent 41, 43, 44, 54, 57, 66 Vasarely, Victor 26 Warhol, Andy 29, 84
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Zum Autor Heiner Mühlmann ist Kulturtheoretiker. Er hat gelehrt an der Universität Paris VIII, an den Universitäten Münster und Wuppertal, am Collège International de Philosophie, Paris. Er gehört der neuroanthropologischen Forschungsgruppe TRACE, Zürich an, ist Professor am Institut für Design und Technologie der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK). Gegenwärtig lehrt er an der ZHdK und an der HfG in Karlsruhe.
Z u m Il l u st r ato r Rainer Gabriel ist diplomierter Kommunikationsdesigner, lebt und arbeitet als Autor und Illustrator in Köln.
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Zu r R e i h e “T R A C E Tran smission in R h e t o r i c s, A rts an d C u ltural Evolut ion” Kultur ist kein bleibender Wert. Kulturen sind dynamische Systeme. Sie greifen laufend in die Organisation unseres Lebens ein. Kulturelle Dynamik ist ein Transmissionsprozess. Die Buchreihe konzentriert sich u.a. auf die Frage nach der Gedächtnistauglichkeit der kulturellen Übertragungseinheiten. Zu den Übertragungseinheiten gehören: kulturelle Regeln, Gesetze, kulturelle Rezeptionsgewohnheiten, Bildtechniken, Architekturen, Theaternarrative, Melodien, Designobjekte, Zukunftsszenarien.
Bereits erschienen: Band 1: Heiner Mühlmann: Jesus überlistet Darwin Band 2: Fabian Steinhauer: Gerechtigkeit als Zufall. Zur rhetorischen Evolution des Rechts Band 3: Stephan Trüby: Exit-Architektur. Design zwischen Krieg und Frieden
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