KNAUR SCIENCE FICTION
Herausgeber Werner Fuchs
Hraggellon ist ein Extremplanet: Eine Seite ist ständig der Sonne zuge...
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KNAUR SCIENCE FICTION
Herausgeber Werner Fuchs
Hraggellon ist ein Extremplanet: Eine Seite ist ständig der Sonne zugewandt und unerträglich heiß, auf die andere fällt nur das kalte Licht der Sterne. Dort, in Sternheim, der Schattenseite Hraggellons, lebten früher die Onhla, bis eine heimtückische Krankheit ihre Zahl drastisch reduzierte. Hult ist der letzte Überlebende. Er macht sich auf nach Norion, einer Stadt in der Übergangszone zwischen Sternheim und Lichtheim, wo das Klima für Menschen einigermaßen erträglich ist. Dort gibt es auch die Handelsniederlassung einer mächtigen interstellaren Organisation, mit deren Schiffe Hult zu der fremden Welt gelangen kann, auf die vor langer Zeit einer Legende zufolge viele Onhla umgesiedelt wurden. Wenn Hult ein Aussterben seiner Rasse verhindern will, muß er sich von jener fremden Welt eine Partnerin holen …
John Morressy, Jahrgang 1930, schreibt seit 1971 Science Fiction und hat seither etwa ein Dutzend Romane veröffentlicht. Viele davon sind abenteuerliche Space Operas, die sich inmitten der gleichen galaktischen Szenerie abspielen. Auch »Frostwelt und Traumfeuer«, sein bislang reifstes Werk, ist ein spannendes Weltraum-Epos, angesiedelt in einer völlig fremden Welt, die überaus plastisch und überzeugend dargestellt ist.
Deutsche Erstausgabe Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf. München/Zürich © 1977 by John Morressy Titel der Originalausgabe »Frostworld and Dreamfire« Aus dem Amerikanischen von Joachim Pente Umschlagillustration W. Siudmak Gesamtherstellung Hanseatische Druckanstalt GmbH, Hamburg Printed in Germany • 1 • 12 • 582 Scan by Frogtoprince 11/2010 ISBN 3-426-05747-6 1. Auflage
Science-Fiction-Roman Deutsche Erstausgabe
Knaur®
PROLOG Aus den Aufzeichnungen des SternvereinKontaktkommandos DUNUOS SYSTEM: ZWEITER PLANET Schwerkraft: Durchmesser: Rotation/Umlauf: Atmosphäre: N: Analogplaneten:
1,08 OES 13100 km 244,6 Tage GSK 77,86; O: 21,02; atembar Fode XII; Wodenhammar
Erste urkundliche Registrierung des Planeten: 2388; erste Eintragung in Sternkarten: 2469; erste SternvereinMission: gegenwärtig. Dunuos II ist der einzige bewohnbare Planet eines Fünf-Planeten-Systems. Er ist als Frostwelt zu klassifizieren: Achsenneigung und exzentrische Umlaufbahn bewirken, daß ein Segment von Dunuos II ständig der Sonne des Systems abgewandt ist und kein Licht außer dem der Sterne empfängt; ein ebenso großes Segment ist ständig der Sonne zugewandt. Zwar bewirkt die atmosphärische Hülle, daß die extremen Temperaturen leicht abgemildert werden, aber wir schätzen, daß sowohl die sonnenabgewandte als auch die sonnenzugewandte Seite für bekannte intelligente Lebensformen auf Dauer unbewohnbar sind. Die restliche Planetenoberfläche unterliegt einem jährlichen Wechsel von Licht und Schatten mit entsprechenden Temperaturunterschieden. In dieser Zone befindet sich ein Teil einer Kontinentalmasse sowie eine Inselkette. Wir finden Anzeichen intelligenter Lebensformen auf dem Kontinent, und zwar längs seines Hauptflußsystems … Wir empfehlen dringend die Entsendung einer Erstkontaktmission zum nächstmöglichen Zeitpunkt.
Vos Van Ellin, Missionskommandeur Dunuos-SystemPioniermission, 2606 GSK ADDENDUM: Der Name des Planeten in der Sprache der vorherrschenden Rasse ist Hraggellon. Von jetzt an wird dieser Name in allen Dokumenten und Aufzeichnungen verwendet werden.
TEIL EINS: WIEDERGEBURT Wie es heißt, lebt noch eine Rasse, die Onhla, in den als Schattenland oder Frostland bezeichneten Regionen. Dem Vernehmen nach sollen die Angehörigen dieser Rasse in der Lage sein, sogar in der ewigen Nacht der sonnenabgewandten Seite über eine gewisse Zeitspanne hinweg zu überleben. Abgesehen von Gerüchten ist über diese Rasse nur wenig bekannt. Dem Vernehmen nach verbringen sie ihre Kindheit und Jugend in einem tierähnlichen Zustand, oft in Gemeinschaft mit dem zu ihrem Stamm gehörenden Raubtierrudel. Sie sollen – so der Volksglaube – über die Fähigkeit verfügen, mit den Tieren zu kommunizieren, und angeblich besitzen sie Peil- und Ortungssinne, die den anderen humanoiden Rassen des Planeten unbekannt sind. Mit Beginn der Sexualreife – dem Haldrim – bekommt ihre äußere Erscheinung humanoide Züge und behält diese bis zum Lebensende. Die Legende erwähnt auch eine mysteriöse dritte Lebensphase, für deren Existenz es jedoch keinerlei Augenzeugenberichte gibt. Unserer Ansicht nach handelt es sich bei dieser dritten Lebensphase aller Wahrscheinlichkeit nach um die Manifestation eines Mythos von einem Leben nach dem Tode. (Vgl. der Vierte Geist der Jait, Copus IX.) Zum gegenwärtigen Zeitpunkt können wir noch keine endgültige Aussage zu diesem Phänomen machen. Eno Glaser, Tertiär Zweite Hraggellon-Kontaktmission
1. Erstes Ende Hult duckte sich tief unter die schneebeladenen Zweige der Feuerblume und spähte durch die eisige Luft auf den winzigen Feuerschein in der Ferne. Die Dunkelheit war ruhig und windstill. Schnee rieselte herab und fiel mit einem leisen, feinen Zischen auf die Erde. Hult tastete konzentriert. Nichts. Weder Leben noch Bewegung. Er warf den Kopf zurück und witterte. Die kalte Luft roch unverkennbar nach Onhla. Der Tormagon, der dicht an seiner Seite kauerte, spitzte ein Ohr, als er das leise Geräusch wahrnahm. Tief aus seiner Brust kam ein unterdrücktes Winseln. Er war ungeduldig. Hult strich ihm mit der Hand über den breiten, flachen Schädel und erwiderte das Winseln des Tieres mit einem leisen Knurren. Nicht mehr lange, beruhigte er seinen Gefährten. Die anderen Tormagon nahmen ihre Plätze ein. Vielleicht würde er sie nicht brauchen. Er hoffte es, aber in den Eiswüsten Hraggellons war Vorsicht das oberste Gebot. Er zupfte an der langen Mähne des Tormagon und stieß erneut ein Knurren aus. Das Tier wurde ruhiger. Bald, beruhigte Hult das große Jagdtier. Sehr bald. Von jenseits der Feuerstelle kam ein Heulen. Hult erwiderte es, und dann erhob sich rings um die Feuerstelle ein Heulton, der so markerschütternd und durchdringend war, daß selbst der Schnee zu erstarren schien. Abrupt brach er ab. Totenstille folgte. Hult wartete. Nichts. Keine Reaktion, keine Antwort. Von der Feuerstelle kam absolut nichts. Kein Heulen, kein Schrei. Wieder war er zu spät gekommen. Die Onhla saßen dicht nebeneinander in einer Reihe vor dem sterbenden Feuer. Das Gesicht hatten sie Sternheim zugewandt, der Stätte des Langen Träumens. All ihre Vorräte waren fort; ihre Tormagon hatten alles Brauchbare
mitgenommen. Die Onhla saßen paarweise nebeneinander, Männer und Frauen. Alle – Junge wie Alte – hatten pechschwarzes Haar, das von einer einzigen weißen Strähne durchwirkt war – die Farben des Stammes der Vodmar. Nicht Hults Stamm, aber seinem verwandt. Sie hätten ihn bei sich aufgenommen, ihn als gleichwertiges Mitglied ihres Stammes willkommen geheißen, wenn er sie rechtzeitig gefunden hätte. Aber er war zu spät gekommen. Hult war den Vodmar seit Einbruch der Dunkelzeit durch das Frostland gefolgt. Er hatte während der ganzen Zeit nicht eine Spur von anderen lebenden Onhla gesehen. Öfter als er sich erinnern konnte – oder wollte –, war er auf kleine Gruppen von Onhla gestoßen, die mit dem Gesicht nach Sternheim vor verkohlten Feuerstellen hockten. Er hatte die letzten seines eigenen Stammes gesehen, der Bachan; die letzten der Zabrosse, der Yapak, der Ibb und all der anderen; und nun die letzten der Vodmar. Und immer hatte sich ihre blasse, bläulichweiße Haut straff über ihre ausgemergelten, von der Schüttelkrankheit entstellten Körper gespannt. Nun gab es keinen Raum mehr für Hoffnung. Hult wußte, daß er nun der letzte noch lebende Onhla auf Hraggellon war. Die Stämme waren ausgelöscht, ihre lange Geschichte hatte ein Ende gefunden. Der letzte Knoten war geknüpft worden. Hult dachte eine Weile über diese Dinge nach. Er kniete sich in den Schnee neben den hageren Körper einer jungen Frau. Das Traumfeuer glomm immer noch. Er berührte das weiße Band an seinem Handgelenk, und die Armklinge sprang hervor. Zwei kleine Schnitte, ein einziger Tropfen des vergifteten Blutes auf seine Wunde, und es wäre vorbei. Er spürte ein Zerren an seinem Fellumhang. Als er sich umdrehte, sah er in die hellen, klugen Augen des alten Arll. »Das ist alles, was ich jetzt noch tun kann, Arll. Ich bin
der Letzte meines Volkes. Es gibt für mich keinen Grund mehr, warum ich weiterleben sollte«, sagte er in der Sprache des Tieres. Arll legte seine schwere Pranke auf die Hand, die die Klinge hielt. Er konnte eine solche Tat nicht zulassen. Das war nicht die Art eines Onhla. Hult überdachte den Einwand des alten Jagdgefährten und sah, daß er recht hatte. Er konnte sich noch immer nützlich machen. Er bog die Klinge wieder um sein Handgelenk, band sie fest und stand auf. Noch war es nicht Zeit zu sterben. Hult blieb den ganzen Winter über mit den Tormagon zusammen. Auf der Suche nach jagdbarem Wild und Unterschlupf kamen sie weit herum. Eine stetig wachsende Unruhe trieb ihn dazu, weit über die alten Grenzen hinaus vorzustoßen. Als die Nahrung immer spärlicher wurde, führte er das Rudel tief in die ewige Finsternis von Sternheim, wo der Wind niemals ruhte. Dort jagten sie den Eisgleiter, den langsamen Bucdyn und den Tulk. Das saftige Fleisch des Eisgleiters war ein seltener Festschmaus, in dessen Genuß sie bisher nur dann gekommen waren, wenn eins der scheuen Tiere sich zu weit aus der unwirtlichen Wüste ewigen Eises, die die dunkle Seite Hraggellons bedeckte, hervorgewagt hatte. Und nun stopfte sich das Rudel mit dem köstlichen Fleisch der Tiere voll, bis es sich vor Sattheit kaum noch bewegen konnte. Selbst die mächtigen Tulk mit ihren sensenartigen Stirnhörnern, die immun waren gegen die hypnotische Kraft der Onhla, waren machtlos gegen den planvollen Angriff der Tormagon, und ihr würziges Fleisch füllte die Bäuche des Rudels. Hult kehrte mit dem Bewußtsein in das Schattenland zurück, daß er seine Freunde in Jagdgründe geführt hatte, in denen kein Tormagon je gejagt hatte, und daß er sie alle, ohne Ausnahme, wieder zurückgebracht hatte.
Stolz ruhte sein Blick auf ihnen, wie sie zwischen den leuchtenden Blüten der Feuerbäume umhertollten, voller Saft und Kraft, nicht einer unter ihnen, der verletzt wäre oder auch nur eine Schramme davongetragen hätte, die glänzenden Felle satt gepolstert mit dem Fleisch ungezählter Festmahle. Ihre Taten würden neue Legenden unter den Rudeln entstehen lassen. Aber Hult war nicht glücklich. Als das erste Licht kam, der Himmel heller wurde und die Luft sich mit dem Duft neuen Lebens füllte, spürte er eine Unruhe in sich, die er nie zuvor gekannt hatte. Der Haldrim war über ihn gekommen. Er brauchte die Seinen, aber sie waren alle tot. Als sein Leben noch eine zielbewußte Suche gewesen war, hatte er jedes Heute hungrig genossen und sich auf jedes Morgen gefreut, das ihn seinem Ziel näherbrachte. Doch dieses Ziel war jetzt unerreichbar; dennoch ging sein Leben weiter, Tag um Tag, so wie es immer weitergegangen war. Ein Leben mit den Tormagon, ein Leben der Jagd und des Kampfes, ein Leben, dessen größtes Gut das Überleben war – das allein reichte nicht aus. Nun, da der Winter vorüber war, sprachen die Tormagon vom Paaren. Mehr als alles andere ließ dies Hult die Trennung von seinen Artgenossen spüren. Er dachte an die Feste seines Volkes, an die Zeit des Großen Sammeins, die nun niemals wiederkommen würde. Er stellte sich die Reiter vor, die Umhänge der Frauen, den bunten Wirbel von Leben und Farbe, und in der Erinnerung hörte er die Heldenlieder und den Gesang der Wiedergeburt und das Heulen der Stammesrudel. Und beim Großen Sammeln, der Zeit des Friedens und der Freude und des Paarens, hatte die Krankheit zugeschlagen und alle getötet, die den Namen und die Farben der Bachan trugen – alle, bis auf einen. Die anderen Stämme, die Kleto, die Pator, ja sogar die mächtigen Zabrosse, waren ihm ausgewichen und vor ihm geflo-
hen. Die anderen hatten immer die Bachan gefürchtet, hatten sie für arrogant und aristokratisch gehalten. Nur die Stammestiere hatten ihm die Treue gehalten und waren bei ihm geblieben. Doch nun spürte er eine wachsende Abneigung gegen die Tormagon. Zwar machte ihn der Gedanke, zu den schwachen Kreaturen zu gehen, die hinter Mauern in der erstickenden Hitze Lichtheims lebten, fast krank, aber sie standen ihm immer noch näher als das Rudel. Schon jetzt, da sein Kindespelz dünner wurde und seine Hautfarbe dunkler, begann er ihnen mehr und mehr zu ähneln. Er mochte in der Lage sein, Tormagon zu führen, aber er würde nie einer der Ihren werden können. Er konnte nicht bei ihnen bleiben, aber er wollte sich auch nicht den Menschen anschließen. Am wenigsten aber verspürte er Lust, allein in der Eiswüste zu leben und das Leben des scheuen Gorwol zu führen. Er fühlte sich in einer ausweglosen Lage. Bei seiner Rückkehr von einer langen, einsamen Jagd nahm der alte Arll ihn beiseite, der treue alte Arll, der Erste seiner Rudelgefährten. Arll war mit Narben gezeichnet, er war alt geworden und langsamer, aber er war klug und ein Beobachter der Wege des Menschen wie der des Tieres. Sie saßen auf einem Hügel, ein wenig abseits von den anderen. Mit leisen Hust- und Knurrlauten ertastete Arll die verstörten Gedanken des Jungen. Hult erklärte ihm seine Gefühle so gut er konnte. Die Sprache der Tormagon war nicht sehr kompliziert, und Hult, nun schon so lange allein und von Menschen isoliert, hätte selbst dann Schwierigkeiten gehabt, seine verschwommenen, ihm selbst kaum richtig bewußten Gefühle auszudrücken und verständlich zu machen, wenn er die Sprache der Menschen benutzt hätte. Er schlang seinen Arm um Arlls dicken, zottigen Hals und schilderte ihm stockend, immer wieder verzweifelt nach den richtigen Lauten suchend, die Probleme, die ihm zu schaffen machten. Arll hörte geduldig zu und unterbrach
ihn nicht, bis er fertig war. Seine Antwort war kurz und einfach. Was er sagte, bedeutete in menschlicher Sprache sinngemäß, daß alle Jungen gleich seien, aber ein Onhla ein Onhla sei, ein Tormagon jedoch ein Tormagon. »Und ich bin kein Junges mehr, nicht wahr, Arll?« sagte Hult. »Du bist Onhla, wir sind Tormagon.« Hult dachte darüber nach und akzeptierte das Urteil des Tieres. Jede Kreatur gehörte zu ihrem eigenen Stamm. So war es immer gewesen, und das galt auch noch heute. In Zeiten der Not konnte man einen Außenseiter aufnehmen, und er konnte einem auch von Nutzen sein. Hult hatte die Tormagon in neue Jagdgründe geführt, und dafür hatten sie sich seiner während seiner Wachstumszeit angenommen. Doch nun waren sie quitt. Er konnte ihnen nichts Neues mehr zeigen, und sie konnten ihm nicht seinen Hunger stillen, diesen unerklärlichen Hunger nach etwas, das zugleich neu und fremd und doch so vertraut und langerinnert war, als liege es ihm im Blut. »Zeit für mich zu gehen, Arll«, sagte Hult. »Zeit zu gehen«, pflichtete ihm das Tier bei. Es war soweit. Für Hult war nun die Zeit gekommen, da er sich von dem Rudel trennen und einmal mehr Mensch werden mußte. Er wußte, dies würde schwierig sein, weil es nun keinen Stamm mehr gab, der ihn willkommen heißen würde. Viele Prüfungen erwarteten ihn. Aber die Geduld und die Selbstdisziplin, die er im Frostland gelernt hatte, würde ihm helfen, sie zu bestehen. Er mußte noch eine Menge lernen, aber vieles davon würde er auf seinem Weg lernen. Er mußte jetzt gehen. Er legte die Hand auf Arlls Schädel. »Du bist jetzt der Anführer.« Der Tormagon sprang auf und drehte sich zu ihm herum. »Wir müssen Blut vergießen.« So lautete das Gesetz, und daran gab es nichts zu rütteln. Hult zog seinen Umhang zurück, bis der Hals freilag, dann
reckte er das Kinn hoch. Er stand reglos, mit lose herunterhängenden Armen, da. Arll sprang vor, legte beide Vorderpranken auf Hults Schultern, öffnete sein Maul und biß Hult mit seinen scharfen Zähnen ganz leicht in den Hals. Als die Haut aufplatzte und Blut hervorquoll, sprang er wieder zurück. Hult berührte die Wunden an seinem Hals mit den Fingerspitzen, streckte die blutverschmierten Hände vor und rieb damit das graue Maul Arlls ein. »Du hast gesiegt, Arll. Ich gehe jetzt.« »Gute Jagd«, knurrte der Führer des Rudels, dann wandte er sich um und hetzte davon, seinem wartenden Rudel entgegen. Hult schaute ihm nicht nach. Er gehörte nicht mehr zum Rudel. Er machte sich auf und wanderte der Sonne zu, durch die Wälder, dorthin, wo die Behausungen der Menschen waren. Ein altes Lied, das oft beim Großen Sammeln gesungen worden war, fiel ihm ein, und während er dahinschritt, sang er es mit rauher, unmusikalischer Stimme. Als Hult sich immer weiter von den Jagdgründen seines Stammes entfernte und den Wohnstätten der Menschen näherte, begannen sich in ihm längst vergessene Erinnerungen zu regen. Man hatte ihm einst über die Lebensweise der Menschen, die hinter Mauern lebten, erzählt. Die Menschen, so hatte man ihn gelehrt, glaubten an Güter und Besitz. Sie hatten mehr davon, als sie essen oder tragen konnten. Wenn er unter den Menschen leben wollte, dann würde er diese Dinge brauchen oder zumindest die Mittel, sie zu erlangen. Er erinnerte sich, daß der Pelz des Gorwol in den Siedlungen sehr begehrt war, deshalb wollte er diese Tiere mit all dem Geschick jagen, das er sich während der Jahre erworben hatte, die er mit den Tormagon verbracht hatte. Zwei volle hraggellianische Dunkelzeiten stellte er den scheuen Tieren nach, jagte, wo kein Onhla oder Tormagon je gejagt hatte, und war erfolgreich. Als er zum ersten Mal
Menschen ortete, in einer fernen Karawane weit außerhalb seiner Sichtweite, trug er auf seiner Schulter ein Bündel Gorwolpelze, das doppelt soviel wert war wie der gesamte Reichtum, den die Karawane mit sich führte. Er wollte sich der Karawane anschließen. Es würde eine gute Möglichkeit sein, sich wieder mit der Lebensweise von Menschen bekannt zu machen, und überdies gelangte er auf diese Weise am einfachsten und unauffälligsten nach Norion. Er sah keine Veranlassung, ihnen zu sagen, daß er ein Onhla war. Seine Haut hatte nun, da sein Kindespelz gänzlich verschwunden war, eine leicht rötliche Färbung angenommen. In seiner Haldrimphase sah er kaum anders aus als jeder beliebige rotgesichtige Norioniter. Nur die deltaförmigen Muskelpakete auf seinem Rücken kennzeichneten ihn als Onhla, und die konnte man verbergen. Als Kind hatte er das Ritual oft gesehen, es fiel ihm schnell wieder ein. Er stellte sich auf den Weg, den die Karawane nehmen würde, legte das Bündel vor sich, verschränkte die Arme vor der Brust und wartete. Erst als drei der Berittenen ihn umringten, sprach er. »Ich erbitte den Schutz der Karawane, bis wir den Fluß erreichen. Meinen Unterhalt will ich redlich verdienen.« Die Worte kamen ihm leicht über die Lippen, trotz seiner langen Einsamkeit. »Du kehrst aber sehr früh nach Norion zurück«, bemerkte einer der drei. »Meine Arbeit ist getan.« »Was für Güter hast du bei dir?« Statt einer Antwort entrollte Hult sein Bündel. Beim Anblick der funkelnden Pelze sprang der Anführer der drei von seinem Haxopoden und beugte sich über sie, um sie näher in Augenschein zu nehmen. »Das sind Gorwolpelze«, sagte er in einer vor Ehrfurcht und Erstaunen fast andächtig klingenden Stimme. »Und gleich vier auf einmal! Ich dachte, der Gorwol wäre ausgerottet!«
»Dies könnten die letzten von ihnen sein«, sagte Hult. Der Reiter hob einen der Pelze ans Licht und betrachtete ihn fast ehrfürchtig. Er leuchtete in seinen Händen. »Ich kann dir nicht verargen, daß du dich unter unseren Schutz stellen willst. Es gibt eine Menge Leute, die dich schon für einen dieser Pelze umbringen würden.« »Sie wären dumm, wenn sie es versuchten«, erwiderte Hult ruhig, und alle drei starrten ihn an. Ohne die geringste Regung erwiderte er ihren Blick. »Kein Grund zur Sorge«, versicherte ihm der erste Reiter. »Alles ehrbare Männer in dieser Karawane. Wir nehmen dich gern bei uns auf, wenn du bereit bist, dich um die Tiere zu kümmern.« So wurde Hult ein Teil der Karawane. Er tat seine Arbeit gewissenhaft und gut. Seit seiner frühesten Kindheit war er im Umgang mit Haxopoden vertraut, und es fiel ihm leicht, die reizbaren Tiere zu besänftigen und ihr Vertrauen zu gewinnen, so wie sein Volk es über Generationen getan hatte. Er sprach nicht mit ihnen, wie er es mit den Tormagon getan hatte; Haxopoden waren dumm, sie waren zufrieden, wenn sie ihre Lasten tragen konnten und ihr Fressen bekamen. Sie hatten ihm nichts zu sagen. Zu den Mahlzeiten pflegte Hult sich zu den anderen mit ans Feuer zu setzen, aber er beteiligte sich nicht an ihren Gesprächen. Die Geschichten, die sie sich erzählten und über die sie lachten, verstand er nicht, und er teilte auch nicht ihre Sorgen und Interessen. Einige von ihnen hielt er für kaum besser als die Haxopoden; bei anderen sah er überhaupt keinen Unterschied. Er zog es vor, als unauffälliger Beobachter ihren Gesten zu folgen, ihren Worten zuzuhören, ihr Verhalten zu studieren, damit er lernen würde, sich unter ihnen zu bewegen. Bald hatten sie sich dem Fluß auf zwei Märsche genähert. Die Sonne stand jetzt deutlich sichtbar über dem Ho-
rizont. Die Schatten waren kurz, der Boden wurde weicher. Der Fluß würde zu voller Stärke angeschwollen sein, wenn sie ihn erreichten. Wenn der Wind sich etwas legte, hörte er jetzt schon manchmal das ferne Rauschen von Wasser. Die Stimmung in der Karawane war gut, und Hult begann sich unter den anderen wohler zu fühlen. Er war auf dem Weg zum Feuer, um mit den anderen zu essen, als das Unglück passierte. Er fühlte sich plötzlich so elend und schwach wie noch nie zuvor in seinem Leben. Er taumelte und stürzte zu Boden. Wogen von Schmerz und Übelkeit rasten durch seinen Körper. Er würgte und erbrach sich. Er kämpfte sich auf die Beine, aber die Knie knickten unter seinem Gewicht ein, und er schlug der Länge nach auf das feuchte Gras. Eine ganze Zeit lag er unbemerkt da, unkontrolliert am ganzen Körper zitternd, bis sein Stöhnen zwei Männer auf ihn aufmerksam machte. Sie beugten sich über ihn und fuhren entsetzt zurück. »Die Schüttelkrankheit!« schrie der eine. »Der Fallensteller hat die Schüttelkrankheit!« Sofort brach im Lager ein Tumult aus. Männer rannten wild durcheinander und schrien einander zu, die Seuche sei unter ihnen. Hults Wahrnehmungsvermögen schwand dahin, seine Sinne begannen ihn zu trügen. Gestalten rasten an ihm vorbei und über ihn hinweg. Tiere brüllten und galoppierten in alle Richtungen davon. Das Lagerfeuer schien ihn zu umhüllen und zu verschlingen, sengte mit seiner Hitze sein Fleisch, während gleichzeitig ein eisiger Wind sein Herz zu umklammern schien. Er wollte sprechen, doch seine Zähne klapperten so heftig, daß er kein Wort herausbrachte. Sein Geist sprang hin und her zwischen Augenblicken der Klarheit und rasenden Trugbildern, in denen er Unmögliches sah: Männer und Frauen, die in wahnsinniger Geschwindigkeit an ihm vorbeihuschten, um sich einen Moment später so langsam vorwärtszubewegen, als kämp-
ften sie sich mühsam durch riesige Schneewehen voran: Dunkelheit und Licht, die einander mit der Geschwindigkeit einer Hand ablösten, die an seinem Auge vorbeifuhr; Gorwol, die ihn umzingelten, um ihre getöteten Brüder zu rächen; wilde Tiere, die in den Wäldern auf ihn lauerten, bereit, sich auf ihn zu stürzen; und dann verschwamm alles wieder zu einer schattenhaften, formlosen Masse, die sich drohend über ihn senkte, ihn mit ihrem fürchterlichen, ungreifbaren Gewicht zu erdrücken schien. Irgendwann wachte er auf, schwach noch und träge, doch erholt. Sein Kopf war klar. Er lag auf einer schmutzigen Decke, die er noch nie gesehen hatte. Neben ihm stand ein leerer Wasserkrug, daneben lagen ein paar Streifen Trockenfleisch. Sonst nichts. Sonst niemand. Er raffte sich mühsam auf die Beine und versuchte sich zu erinnern. Langsam, blaß erst, dann allmählich klarer werdend, kehrte die Erinnerung zurück. Zu Tode erschrockene Menschen, die mit weit aufgerissenen Augen zurückwichen vor einem, der die Krankheit hatte, die ganze Regionen entvölkert, ganze Stämme vernichtet hatte. Männer, die hinter vorgehaltener Hand tuschelten, eine Hand, die blitzschnell das Bündel mit den Gorwolpelzen wegschnappte, als er hilflos zitternd mit ausgedörrter Kehle am Boden lag. Das Geräusch sich entfernender Menschen, Tiere und Wagen – und dann die lange Stille. Er packte den Wasserkrug, hob ihn mit beiden Armen hoch über den Kopf und schmetterte ihn voller Grimm und Enttäuschung zu Boden. Dann fiel ihm das Wasser ganz in der Nähe ein. Er trank in tiefen Zügen und kaute einen der zähen Streifen Trockenfleisch. Die Krankheit war vorüber. Seine Kraft würde wiederkommen. Er hatte seine erste schmerzvolle Lektion über die Wege der Menschen gelernt: die Schwachen dürfen nicht mit Gnade rechnen.
Hult legte den Rest des Weges ohne Eile allein zurück und erreichte Norion kurz vor Einbruch der Dunkelzeit. Er fand Arbeit im Stall eines Gasthauses am Rande der Stadt. Es war nicht weit von den Flußkais und der Außenhülle; hier war das Gefühl des Eingeschlossenseins nicht so bedrückend, wie es weiter im Innern der Stadt gewesen wäre. Hult verrichtete seine Arbeit gut und sprach mit niemandem. Wenn jemand ihm zu nahe kam, zog er den Kopf ein und versteckte sich zwischen den Tieren. Sein seidiges Haar unter den Augen hielt er kurzgeschoren, und sein Rücken war stets bedeckt. Für einen nicht zu aufmerksamen Beobachter sah er ganz so aus wie ein normaler Einwohner Norions. Nur wenige der Gäste kamen ihm nahe, und die, die es taten, zogen sich schnell wieder von ihm zurück: der Stallgeruch, der ihm anhaftete, war selbst für die wenig geruchsempfindlichen Bewohner der geschlossenen Stadt Norion kaum zu ertragen. Hult wartete geduldig, bis seine Zeit kommen würde. Er sah Kaufleute, Händler, Hirten, Hausierer, gelegentlich auch Fremdweltler in ihren seltsamen Gewändern, die die landesübliche Sprache mit einem ungewöhnlichen Akzent sprachen. Er hielt Augen und Ohren offen, dachte nach, und das, was er sah und hörte, ließ ihn zu einem Ergebnis gelangen: die Schlauheit, die Geschicklichkeit und die Geduld, die ihm bei den Tormagon so viel geholfen hatten, waren Eigenschaften, die auch im Umgang mit den Menschen nützlich waren. Er wartete nur auf die Gelegenheit, sie anwenden zu können. Hult arbeitete schon fast zwei Dunkelzeiten in dem Gasthaus, als er ein Gespräch mithörte, das ihn tief über seine Zukunft nachdenken ließ. Zwei Kaufleute saßen im Aufwärmraum auf der Holzbank vor dem Feuer und besprachen geschäftliche Angelegenheiten, während sie ihr Mahl verdauten. Hult, der viel aus solchen Gesprächen ge-
lernt hatte, ging wie immer so dicht wie möglich heran und lauschte gespannt ihren Worten. Zuerst sprachen sie in klagendem Tonfall über den schlechten Stand der Dinge im allgemeinen, wobei jeder versuchte, den anderen mit seinen düsteren Prophezeiungen über den drohenden Ruin zu übertreffen. Hult kam zu dem Schluß, daß es ihm nicht viel Gewinn bringen würde, weiter zuzuhören. Er wollte schon weghuschen, als eine Bemerkung über den Pelzhandel ihn innehalten ließ. »Schon seit neun Dunkelzeiten habe ich keinen Gorwolpelz mehr gekauft oder verkauft, und fast ebenso lange keinen guten Tormagon mehr. Der Gorwol war früher der begehrteste Pelz, den ich hatte, und jetzt kriegt man auf dem ganzen Planeten nicht einen einzigen mehr«, klagte einer der Kaufleute. »Wir werden wohl auch nie wieder einen zu Gesicht bekommen. Die Fallensteller sind alle tot«, sagte sein Gesprächspartner. »Ich weine jedenfalls den Onhla keine Träne nach. Ich hatte bei ihnen immer ein unbehagliches Gefühl.« »Ich mochte sie auch nie sonderlich. Ich war mir bei ihnen nie ganz sicher, ob sie nun eigentlich Tiere oder Menschen waren … richtige Menschen, meine ich. Du mußt wissen, sie können mit Tieren sprechen. Ich habe es selbst einmal gesehen.« »Aber sie waren die einzigen, die uns Gorwolpelze hereinbrachten.« Nach einer Weile des Schweigens sagte der erste Kaufmann: »Übrigens, vor nicht langer Zeit … warte mal, ich glaube, so ungefähr vor zwei Dunkelzeiten, kamen ein paar sehr schöne mit einer Karawane herein. Hast du sie gesehen?« »Ja. Prächtige Stücke, die besten, die mir je zu Augen gekommen sind. Der Karawanenführer sagte, er hätte sie einem Toten abgenommen.« Der erste Kaufmann kicherte.
»Ich wette, das waren nicht die ersten Pelze, die er einem Toten abgenommen hat.« »Das ist das Risiko, das jeder eingeht, der sich in diese Wildnis hinauswagt. Ziemlich hart da draußen. Wenn dich die Tiere nicht erwischen, dann tun’s deine Freunde. Ist dir schon mal der Gedanke gekommen, daß der Tote vielleicht der letzte Stammesangehörige auf Hraggellon gewesen sein könnte?« »Hat der Karawanenführer denn so was verlauten lassen? Soviel ich hörte, hat er bloß etwas von einem Fallensteller erzählt.« Die Stimme des zweiten Kaufmanns klang nachdenklich. »Jedenfalls hat er gesagt, der Fallensteller wäre an der Schüttelkrankheit gestorben. Und die Schüttelkrankheit war es, die die Stämme ausgelöscht hat. Trotzdem hat er für die Pelze ein Vermögen bekommen.« »Wieso auch nicht? Gorwolpelze lassen sich waschen, und es waren vielleicht die letzten, die wir je sehen werden. Die Onhla sind weg, und die Gorwol ebenfalls.« Der erste Kaufmann stieß einen Seufzer aus. »Ich weiß nicht, was wir jetzt tun sollen.« Hult stahl sich leise davon und versteckte sich im hintersten Winkel des Stalls. Er brauchte Zeit, um über das nachzudenken, was er gehört hatte. Die Kaufleute irrten. Die Gorwol waren nicht ausgerottet, aber der Weg zu ihnen führte durch Sternheim, und nur ein Onhla konnte ihn gehen. Dies wußte Hult, denn er hatte sie gesehen und er hatte sie gejagt. Jene dichten, silbern schimmernden Pelze waren in Norion schon immer sehr begehrt gewesen, einmal, weil sie so selten waren, zum andern aber wegen ihrer einzigartigen Schönheit. Und nur ein Onhla konnte diese Pelze beschaffen, denn nur ein Onhla konnte die Kälte auf dem langen Weg in die Heimat des Gorwol und wieder zurück ertragen. Aber die Onhla jagten nicht zum Vergnügen anderer. Sie jagten, um zu
leben, und nicht, um Reichtümer anzuhäufen. Als Nomadenvolk machten sie sich nichts aus Reichtum und Wohlstand, und jede Art von Feilschen und Handeln war ihnen verhaßt. Mehr als einmal waren die Pelze, die nach Norion kamen, als Geschenke dorthin gelangt, und hätte Hult seine behalten, er hätte sie dem Erstbesten für das erstbeste Angebot überlassen und wäre froh gewesen, das abscheuliche Geschäft hinter sich gebracht zu haben. Doch nun dachte er an Reichtum und an das, was dieser ihm ermöglichen würde. Er erinnerte sich an eine alte Legende der Onhla, mit der er seit seinen frühesten Kindheitstagen vertraut war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er sie nicht geglaubt; nun jedoch war sie sein einziger Trost. Man erzählte sich bei den Stämmen, daß vor langer Zeit einige Onhla an einen fremden Ort namens Insgar gebracht worden seien. Niemand wußte, wo Insgar war oder warum sie dorthin gegangen waren. Man vermutete nur, daß Insgar sehr weit entfernt war, es irgendwo jenseits der Sterne liegen mußte und niemals jemand dorthin gegangen und wieder zurückgekehrt war. Vielleicht mochten Fremdweltler mit ihren großen Schiffen schon dorthin gefahren sein, doch noch nie war ein Onhla von dort zurückgekehrt. Darüber dachte Hult nach. Mit eigenen Augen hatte er noch nie ein Schiff gesehen, aber während seines Aufenthalts in dem Gasthaus hatte er manchmal davon sprechen hören. Es waren große Maschinen, die Fremdweltler von dem Boden unter ihren Füßen aufhoben und sie weit emportrugen. Einmal in der Luft, fuhren sie mit großer Geschwindigkeit zu anderen Welten, wie Hraggellon. Daß solche anderen Welten existierten, wußte er, denn die Knoten der Wettermacher und des Ersten Atems sprachen davon, und die Knoten logen nicht. Doch niemals in der langen Geschichte der Onhla war je ein Stammesmitglied in einer dieser Maschinen gefahren
und hatte später davon berichtet. Die Geschichte von Insgar war eine sehr zweifelhafte; keine wahre Legende, wie sie in den Knoten festgehalten wurden. Die Onhla brauchten und wollten keine anderen Welten. Sie hatten eine gute Welt, gute Partner und Jagdtiere und spürten kein Verlangen danach, durch fremde Wetter zu wandern oder in fremden, unbekannten Wäldern zu jagen. Das war nicht ihre Art. Doch wenn man der letzte Onhla war, hatte man andere Pflichten. Noch verstand sie Hult nicht klar, und er fühlte sich verwirrt. Einerseits schienen sie ihn an seine Welt zu binden, andererseits drängten sie auch, diese zu verlassen. Er dachte an die Träumer. Sie würden für immer dem Vergessen anheimfallen, weil ihre letzte Hoffnung auf einen anderen Planeten geflohen war; doch er hatte auch die Pflicht, seinem Volk zu neuem Leben zu verhelfen. Das alte Sprichwort sagte es klar: »Am Anfang Jäger, im Mittlicht Führer und Zeuger, dann die Dunkelheit und der lange Traum.« Für wenige Auserwählte folgte auf den Haldrim neues Leben und neue Weisheit. Doch das geschah nur selten, und der Weg dorthin war mühsam. Besser, man erfüllte seine Pflichten und hoffte auf eine lange und friedvolle Traumzeit. Er war nun im Haldrim, und seine Pflicht war es, einen neuen Stamm zu begründen. Dazu brauchte er jedoch eine Onhla-Partnerin. Die Pelze des Gorwol würden ihm eine Reise zu jeder beliebigen Welt erkaufen, und sie würden ihn zurück nach Hraggellon bringen. Wenn es wirklich Onhla auf Insgar gab – oder auf einer anderen Welt –, dann würde er sie finden und sie zurückbringen auf ihre Heimatwelt, wohin sie gehörten. Es würde einen neuen Anfang geben. Es mußte getan werden, und nur Hult konnte es tun.
EMPFEHLUNGEN, ABTEILUNG 3: I.
daß der Sternverein die gegenwärtig instabile politische Lage zu dem Zweck ausnutzt, ein bindendes und durchsetzbares Handelsabkommen zu schließen;
II. daß zu diesem Zweck so schnell wie möglich ein erfahrener Händler nach Hraggellon mit der Befugnis entsandt wird, offizielle und inoffizielle Abkommen zu schließen, je nachdem, wie die jeweilige Situation es ratsam erscheinen läßt. III. daß besagter Händler von einem Assistenten begleitet wird, dessen spezielle Aufgabe es ist, die Herrschenden von Norion im Sinne des Sternvereins zu beeinflussen. IV. Um den natürlichen Argwohn der Norioniter zu zerstreuen, ist es ratsam, die Sicherheitskräfte, die diese Mission begleiten, auf einem zahlenmäßig möglichst niedrigen Stand zu halten; sie sollten für die Dauer der Mission möglichst so lange an Bord des Schiffes bleiben, bis etwaige Komplikationen ihren Einsatz erforderlich machen. Havers Ruysche, Primär Fünfte Hraggellon-Mission
2. Die Sechste Hraggellon-Mission Norion stank. Zwar hatten sich die Zustände in letzter Zeit beachtlich gebessert, aber leider änderte das nichts daran, daß es nach wie vor stank. Gewiß, es war das Zentrum dessen, was Hraggellon an Zivilisation und Fortschritt zu bieten hatte, aber Seb Dunan hatte schon viele Welten gesehen und war nicht so leicht zu beeindrucken. Norion würde noch einen langen Weg gehen müssen, bevor er sich dazu durchringen würde, es als Stadt zu bezeichnen. Seb Dunan hatte fremde Welten und ferne Planeten zum Überdruß bereist. Er hatte in der Mutterstadt von Tarquin VII am großen Festgelage zum Jahrestag der Landung teilgenommen, hatte Handel getrieben auf dem öden Tricaps und im Hauptquartier der blühenden Planetenliga auf Mazat und den Wind in den Türmen des stillen Hovonor heulen hören. Er hatte zahllose Welten gesehen, junge, aufstrebende, und alte, längst vergessene Städte besucht. Glanz und Elend in engstem Beieinander gesehen. Für ihn war Norion nichts weiter als der primitive Außenposten einer unwirtlichen Barbarenwelt, eine öde, übelriechende Handelsstation, ein überdimensionales Rattenloch, vollgestopft mit ungewaschenen, ewig schlechtgelaunten und streitsüchtigen Exemplaren der Gattung Mensch, die sich dort vor einem mörderischen Klima verkrochen. Aber es war auch eine Herausforderung. Wichtiger noch, eine Chance, und nicht ohne interessante Perspektiven. Weit draußen in den Eiswüsten Sternheims gab es Pelztiere, deren Felle in der bekannten Welt ihresgleichen suchten. Sie waren unvorstellbar wertvoll. Es hieß, daß einer der trulbanischen Tyrannen für den Preis eines Krönungsgewands aus Gorwolpelz viertausend seiner Untertanen in die Sklaverei verkauft hatte. Zwar glaubte Dunan diese Geschichte
nicht, aber immerhin, sie gab einem zu denken. Würde mich gar nicht mal so sehr überraschen, wenn vielleicht doch was Wahres daran ist, überlegte er. Die Trulbaner sind ein verrückter Haufen. Tyrannen auch. Aber Hraggellon konnte auch noch mit ein paar anderen Erzeugnissen dienen, an denen sich vielleicht was verdienen ließ. Zum Beispiel diese Lichtkugeln. Gar nicht schlecht. Die Eingeborenen nannten sie »Tränen des Yadd«. Die vorangegangenen Kontaktmissionen hatten sie in ihren Berichten nicht einmal erwähnt. Nun ja, von dem Gestank, der in Norion während der Dunkelzeit herrschte, hatten sie ja auch nichts erwähnt. Seb Dunan fragte sich, ob die Kugeln wohl irgendeine religiöse Bedeutung haben mochten. Das würde den Handel mit ihnen natürlich erschweren. Ein Problem, sicher, aber eines, das man schon irgendwie umschiffen konnte. Eigentlich konnte man alles irgendwie umschiffen. Er hatte die Hände über seinem dicken Bauch gefaltet und lag mit leicht gerunzelter Stirn, völlig entspannt auf seiner Pritsche. Er dachte nach. Sein Verstand arbeitete in der gewohnten Geschwindigkeit. Er sah potentielle Schwierigkeiten voraus, aber keine, mit denen er nicht fertig werden würde. Die Norioniter waren ein stumpfsinniger Haufen. Dumm wie Quespodoner, jedenfalls das Gros von ihnen. Kein Wunder, daß sie auf die Knie fielen, als die ersten Fremdweltler landeten. Müssen geglaubt haben, sie wären Götter oder so etwas. Haben sich schnell vom Gegenteil überzeugen können, dachte Dunan und grinste. Trotzdem, selbst dieses Volk hätte sich unter anderen Bedingungen vielleicht ganz anders entwickelt. Ein Planet wie Hraggellon kann ein Volk schon abstumpfen, ihm alle zivilisatorischen Instinkte austreiben. Er erinnerte sich an das alte Sprichwort, das er einmal auf Toxxo gehört hatte: »Eine harte Welt schafft eine harte Rasse.« Dem konnte
man nur zustimmen. Der Folgesatz, Stinkende Rassen schaffen stinkende Städte, war genauso unbestreitbar. Er nahm einen tiefen Atemzug aus seiner Riechdose und fühlte sich gleich besser. Was aus den Onhla eine so harte Rasse gemacht hatte, war nicht schwer zu erraten, falls die Geschichten, die er gehört hatte, wirklich stimmten. Wer in Sternheim, wo die Kälte einem gewöhnlichen Menschen das Blut in den Adern gefrieren ließ, ehe er fünfzig Schritte zurückgelegt hatte, auf die Jagd ging, der mußte schon aus einem besonderen Holz geschnitzt sein. Dunan schauderte bei dem bloßen Gedanken. Ein Glück, daß ich mit den Städtern zu tun habe, dachte er mit einem Seufzer der Erleichterung. Wenn ich mir vorstelle, ich müßte meine Felle selbst jagen gehen. Zum Glück bekomme ich meine Pelze schon hier, von irgendeinem Händler, egal, wie hoch sein Preis ist. Und die Tränen des Yadd, die ich brauche, bekomme ich auch hier in Norion. Bisher hatte er noch nicht die Gelegenheit gehabt, sich eine dieser Lichtkugeln einmal näher anzuschauen. Er setzte sich auf und tippte vorsichtig mit der Fingerspitze gegen die leuchtende Halbkugel, die neben ihm in einem Halter in der Wand steckte. Sie strahlte keine Wärme aus. Behutsam hob er sie heraus und betrachtete sie. Dann hielt er sie unter die Nase und roch an ihr, danach dicht an sein Ohr, schüttelte sie und lauschte. Er ließ seine Finger über die glatte, ungleichmäßige Oberfläche gleiten. Er war genauso schlau wie vorher. Nichts, was ihm irgendeinen Anhaltspunkt hätte geben können. Weder roch sie, noch gab sie irgendwelche Geräusche von sich, noch wies ihre Oberfläche irgendwelche Besonderheiten auf. Was das Ding zum Leuchten brachte und wie und woraus es gemacht wurde, war ihm ein Rätsel. Vermutlich wurden sie überhaupt nicht gemacht, sondern kamen so in der Natur vor. Und was,
wenn sie eine bestimmte Art von Lebensform waren? Das könnte vielleicht ein Problem darstellen – im Preis, wenn nicht in anderer Hinsicht. Er drehte die Kugel zwischen den Händen. Das Strahlen wurde heller. Er drehte sie anders herum, sofort wurde es wieder dunkler. Nach ein paar Versuchen hatte er heraus, wie er die Helligkeitsstärke regulieren konnte, ohne jedoch den Mechanismus zu durchschauen. Das wiederum ließ einen natürlichen Ursprung der Kugeln weniger wahrscheinlich erscheinen. Es war in der Tat ein Rätsel. Rätsel oder nicht, die Kugel war brauchbar. Er drehte sie auf volle Leuchtstärke und hielt sie hoch über den Kopf, um die Schlafkammer, in der er sich befand, zu inspizieren. Es war ein quadratischer Raum, etwa sechs mal sechs Meter, mit einer niedrigen Decke. Dunan war nicht besonders groß, aber wenn er die Arme ganz ausstreckte, berührte die Lichtkugel in seiner Hand die Decke. Die Tür war gerade kopfhoch und fest zugesperrt. Schmale Schlitze in der gegenüberliegenden Wand sorgten für die einzige Belüftung; sie waren jetzt fest zugestopft wegen des Pundergorn, des heftigen Dunkelzeitwinds, der durch das Tal des Moharilflusses wehte. Zwei zylinderförmige Körbe für seine Habseligkeiten vervollständigten die Ausstattung der Kammer. Dunan drehte das Licht ein wenig herunter und steckte die Kugel wieder in ihre Halterung an der Wand. Er ließ sich vorsichtig auf die Pritsche zurücksinken, eine Holzplanke, die so hart und unnachgiebig war wie die Außenplatten eines Driveschiffes, und sagte sich seufzend, daß es keinen Zweck hatte, sich zu beklagen. So ungemütlich die Kammer auch sein mochte, sie war wahrscheinlich immer noch eine der besten Schlafkammern, die Norion zu bieten hatte. Wenigstens war er hier allein, und Alleinsein war ein äußerst seltener Luxus hier in Norion, besonders zur Dun-
kelzeit. Aber so war eben das Leben eines fahrenden Händlers, und niemand anders kannte dieses Leben besser als Seb Dunan. Er hätte unter ganz normalen Umständen in einem solchen Raum nicht einmal Vieh aufbewahrt, aber nach norionitischem Standard war er geradezu komfortabel. Die Hraggellianer waren schon ein seltsames Völkchen. Sie waren von kräftiger Statur, ähnlich gebaut wie die Skeggjatter, und sie verbrachten die gesamte Dunkelzeit im Innern ihrer Häuser – jedenfalls die Städter. Um so unverständlicher, daß ihre Behausungen durchweg freudlos, geradezu käfigartig und bar jeglichen Schmuckes waren. Vielleicht spielten da irgendwelche nostalgischen Gedanken an frühere, primitive Zeiten eine Rolle. Wenn man von ihrem gegenwärtigen Standard ausging, was Kultur und soziales Verhalten betraf, konnten diese Zeiten allerdings noch nicht allzu weit zurückliegen. Stupide Primitivlinge, alle miteinander. Selbst die Erinnerer standen nur unwesentlich über der Barbarei. Wenn man von ihrem Erinnerungsvermögen absah, war mit ihnen auch nicht viel mehr los als mit den anderen. In diesem Zusammenhang fiel ihm ein guter Handelsartikel ein, mit dem in Norion sicher einiges zu verdienen war – Bewegungsgemälde. Bestimmt würden sie verrückt danach sein. Nicht die echten natürlich. Wäre ja Perlen vor die Säue geworfen, selbst wenn er sie auftreiben konnte. Wir werden ihnen Imitationen andrehen, überlegte er. Sind zwar nicht ganz so schön, aber gut genug, um die Hraggellianer zu beeindrucken. Er erinnerte sich an die atemberaubenden wandgroßen Bewegungsgemälde, die er auf Barbary gesehen hatte, Werke der k’Turalp’Pa aus ihrer künstlerischen Glanzzeit. Schade, so etwas bringen sie heute nicht mehr zustande. Sind im Aussterben begriffen, wie ich hörte. Kein Wunder, mit so einem Namen, dachte er und stieß ein kurzes, trockenes La-
chen aus. Können ihn ja nicht einmal selbst richtig aussprechen. Er hob den Kopf und studierte die kahle Wand gegenüber seiner Pritsche. Ein Bewegungsgemälde würde sofort ein wenig Leben in den Raum bringen. Eine Festszene von einer der primitiven Kulturen vielleicht, eine Landschaft, eine Jahreszeitenfolge oder etwas Ähnliches. Das wäre genau das, was dieses öde Nest brauchte – Leben und ein bißchen Farbe. Etwas, das die Stimmung hebt. Die Waldstädte von Feofor wären genau das richtige; ihr Jahreszyklus stimmte in etwa mit dem Hraggellons überein. Norion als Ganzes beeindruckte Dunan als Rekonvaleszent, der dabei war, von einer beinahe tödlichen Krankheit zu genesen. Es sah einer langen und schmerzhaften Kur entgegen, und es bedurfte aller Hilfe, die es bekommen konnte. Dunan machte sich jedoch keine Illusionen, was die langfristigen Zukunftsaussichten der Stadt betraf. Selbst in normalen Zeiten sorgten schon das harte Klima und der unbarmherzige Wind dafür, daß die Hraggellianer ziemlich ums Überleben strampeln mußten. Und jetzt, nach Hungersnot, Pest und einem langdauernden Streit zwischen den herrschenden Familien, waren sie eine erschöpfte Rasse. Sie hatten keine Zeit, sich den Kopf zu zerbrechen, wie sie ihre Stadt verfeinern konnten. Oder sich selbst. Ein trüber Gedanke. Dunan ließ den Deckel seiner Riechdose aufschnappen und hielt sie unter die Nase. Nach ein paar tiefen Atemzügen fühlte er sich bedeutend besser. Mit der neugewonnenen Energie kehrte auch sein Tatendrang zurück, und er verspürte Lust, sich die Karawanserei, in der ihre vorsichtigen Gastgeber sie untergebracht hatten, näher in Augenschein zu nehmen. Einen großen Bahnhof hatte man ihm bei seiner Ankunft nicht bereitet. Eher das Gegenteil. Seb Dunan und sein Assistent hatten schnatternd vor Kälte vor der Tür gestanden, bei eisigem Wind, wie arme Verwandte, die um einen Teller Suppe betteln woll-
ten. Der Beiname »Friedensbringer« mochte ja auf Orm, den neuen Herrscher von Hraggellon, durchaus zutreffen, aber »Orm der Gastfreundliche« würde er sicher niemals genannt werden. Jedenfalls nicht von Seb Dunan. Aber ohne offiziellen Empfang hatte es folglich auch keine Vorschriften gegeben, die seine Bewegungsfreiheit einschränkten. Es war seine Idee gewesen, dieses geduldige Ausharren, bis irgendein Abgesandter Orms bei ihm auftauchen würde, um ihm die Grüße des Herrschers zu überbringen. Aller Wahrscheinlichkeit nach aber waren derartige diplomatische Gepflogenheiten noch nicht bis Hraggellon vorgedrungen. Er würde warten müssen, bis er schwarz wurde. Auf der Pritsche herumliegen und sich bis zur Hellzeit mit Selbstgesprächen zu unterhalten, ohne auch nur das geringste zu schaffen, das war nichts für ihn. Sprach sowieso viel zuviel mit sich selbst, wie alle Sternfahrer. Er war schon zu lange sein eigener Gesellschafter gewesen. Wird Zeit, daß ich etwas unternehme, sagte er zu sich selbst, stand auf und wählte aus seinen Kleidungsstücken einen warmen Umhang. Werde mich hier mal umschauen. Mal sehen, was sie hier so haben und was sie brauchen. Deshalb bin ich ja schließlich hergekommen. Als er den Umhang fest um seine Schultern raffte, begann der kleine Haftanhänger zu leuchten, schwach erst, dann heller, bis er wie ein hellgrüner Stern funkelte. Diese kleinen hübschen Dinger waren eine echte Entdeckung: harmlos, niedlich anzuschauen, das perfekte Hätscheltierchen. Diese kleinen käferartigen Wesen brauchten zum Leben nichts weiter als Luft und gelegentlich einen Tropfen Wasser, und doch funkelten sie wie ein kleiner Stern, sobald sie mit menschlicher Körperwärme in Berührung kamen. Der sehnige Brandlandgräber, der ihm den Anhänger verkauft hatte, hatte ihm eine wilde Geschichte über die angeblich potenzsteigernde Wirkung, die er auf seinen Träger haben würde,
erzählt. War natürlich eine Lüge, aber eine gute. Das Ding würde ein todsicherer Verkaufsschlager werden, besonders auf den vom Aussterben bedrohten inneren Welten. Die Karawanserei war U-förmig angelegt; ihr rundes Ende war genau dem unablässig blasenden Pundergorn zugewandt. Dunan verließ seine Kammer, ging die enge Galerie entlang zur gegenüberliegenden Seite des Uförmigen Gebäudes und stieg über die Rampe hinunter auf die große Arkade, die das Rückgrat von Norion bildete. Hier übertönte der Lärm der Passanten und Verkäufer das unablässige Heulen des Windes, und man hatte die Möglichkeit, sich wenigstens kurzzeitig der Illusion von Wärme hinzugeben, vorausgesetzt, man befleißigte sich eines strammen Schritts und blieb oft stehen, um sich an den Feuern vor den Verkaufsständen genügend Energie für die nächsten zwanzig feuerlosen Meter zu holen. Die Kuppel war ein imposantes Werk, besonders für eine Welt, die in den meisten anderen Aspekten so primitiv war; Dunan konnte nicht umhin, das anzuerkennen. Sie war an ihrem höchsten Punkt bestimmt an die 120 Meter hoch und maß an ihrer breitesten Ausdehnung etwa 250 Meter. Die Länge war schwer zu schätzen, aber Dunan tippte auf mindestens 800 Meter, wenn nicht mehr. Die Konstruktion war völlig freitragend, und sie widerstand immerhin einem Wind, dessen Dauerstärke niemals unter dreißig fiel, und das während der ganzen Dunkelzeit. Wer so etwas errichten kann, dachte Dunan, während er den Blick anerkennend über das Dach der Kuppel schweifen ließ, dem sollte man eigentlich zutrauen, daß er über ein fortschrittlicheres Beförderungsmittel als Muskelkraft und Beine verfügt. Aber andererseits, wozu eigentlich? Vielleicht sind sie doch nicht so dumm, wie sie auf den ersten Eindruck scheinen. Was soll man mit einem Transportmittel auf einer Welt, auf der es nicht lohnt, irgendwohin zu fahren? Die Arkade war schon
fast eine Lustpromenade. Die Dunkelzeit neigte sich bereits dem Ende zu, die ersten Vorboten von Licht und Wärme nahten, und die Stimmung der Hraggellianer schien sich allmählich aus der Dunkelzeitebbe zu heben, der Phase des Wahns, den sie »Memur« nannten. Hier und da sah Dunan einen Gesichtsausdruck, der schon einem Lächeln sehr nahe war. Kann verstehen, warum sie immer so schlecht gelaunt sind, dachte er. Die Kälte und die Dunkelheit und dieser ewige Wind können einem wirklich den letzten Nerv rauben. Hier zu leben wäre nichts für mich. Eigentlich ein Wunder, daß sie nicht noch viel verrückter sind. Aber bald würde der Wind umspringen, würden die Flüsse wieder fließen und das Land rings um Norion bis zum Einbruch der nächsten Dunkelzeit wieder zum Leben erwachen. Bis dahin würde er seine Arbeit getan haben. Und dann konnte Hraggellon seinetwegen zum Eisklumpen erstarren. Er blieb oft stehen, zum einen aus professionellem Interesse, zum andern der Wärme und des Gesprächs wegen. Er war sein Leben lang reisender Händler gewesen, und der Anblick eines Marktes ließ sein Herz noch immer höher schlagen. Er blieb vor einem Lebensmittelstand stehen, schnupperte hier und kostete dort, aß jedoch kaum mehr als ein paar Bissen. Die hraggellianische Kost war für seinen Geschmack und für seinen empfindlich gewordenen Magen zu schwer und zu stark gewürzt. Er sah sich Werkzeuge und Waffen an, feilschte zum Spaß um ein Paar Stiefel, ohne sie jedoch zu kaufen, und kam schließlich in die Nische eines Pelzhändlers. Dort ließ er sich ausgiebig Zeit. Von den Dutzend verschiedenen Pelzen, die der Händler feilbot, war nicht einer einen zweiten Blick wert. Ein paar waren zu rauh, andere waren zu spröde, wieder andere waren zu schwer. Und allen entströmte ein unangenehmer Geruch, der, wie Dunan aus Erfahrung wußte, dem späte-
ren Träger hartnäckig anhaften würde. Obwohl für ihn von vornherein feststand, daß er keinen dieser Pelze kaufen würde, beschloß er, zunächst einmal ein gewisses Interesse vorzuspiegeln. Er wußte, was er haben wollte. Seb Dunan hatte noch nie einen Gorwolpelz gesehen, aber er kannte die Beschreibung auswendig. Ein Silberweiß von solcher Leuchtkraft, als strahle es von innen heraus. So elastisch, daß man ihn mit einem leichten Druck mit der Handfläche auf Millimeterstärke zusammendrücken konnte, und wenn man wieder losließ, richteten sich die Haare sofort wieder zu voller Höhe auf, ohne auch nur die geringste Druckstelle zu hinterlassen. So leicht wie eine Feder, und dennoch wärmer als eine dreifache Lage jedes anderen bekannten Materials, dazu so unverwüstlich wie die zeitlosen Ruinen von Dumabb-Paraxx. Früher schon äußerst rar, mittlerweile als so gut wie unauftreibbar geltend, würden Gorwolpelze schon bald unbezahlbar sein. Er mußte eine Quelle auftun. Er ging von einem Fellhaufen zum anderen, nach außen hin eine gewisse Gleichgültigkeit zur Schau tragend, leicht gelangweilt, wie ein Mann, der sich die Zeit vertreibt. Doch während er hier mit den Fingerspitzen über einen Pelz strich, dort einen zweiten ans Licht hob, dort naserümpfend an einem dritten schnupperte, spähten seine Augen flink in jeden Winkel auf der Suche nach dem silbrigen Schimmer eines Gorwolpelzes. Doch er fand keinen. Eine rauhe Stimme ließ ihn herumfahren. »Ihr wollt den Moharil hinauf? Dann werdet Ihr einen warmen Pelz brauchen«, sagte der Kaufmann. Er zerrte aus einem Stapel einen dicken, zottigen Pelz und hob ihn mit sichtbarer Anstrengung hoch, damit Dunan ihn betrachten konnte. »Zu schwer für mich«, winkte Dunan ab. »Er wird Euch warm und trocken halten. Hier, fühlt einmal«, beharrte der Kaufmann. Dunan ließ seine Hand durch den dichten Pelz gleiten
und rieb mit den Fingerspitzen über den flauschigen Untergrund. »Der äußere Pelz ist zu rauh. Fühlt sich an wie Nadeln.« »Daran werdet Ihr Euch schnell gewöhnen. Tormagonpelz ist das Beste, was Ihr zur Zeit bekommen könnt.« »Tormagon?« Dunan schaute den Kaufmann verdutzt an. »Ich dachte, Tormagon sei halb menschlich.« Er zog seine Hand rasch aus dem Pelz zurück. »Es sind Tiere, Fremder. Gute Feilieferanten, nichts weiter.« »Aber sie sollen doch Intelligenz besitzen.« Der Hraggellianer stieß ein verächtliches Schnauben aus. »Der hier nicht. Sonst hätte er sich doch nicht fangen lassen, oder?« Dunan war sich nicht ganz sicher, ob dies eine Kostprobe hraggellianischen Humors sein sollte oder ob es sich um simple Gefühllosigkeit handelte. Der Gesichtsausdruck des Kaufmanns gab jedenfalls keinerlei Aufschluß über diese Frage, und Dunan vermutete, daß die letztere Möglichkeit wohl die wahrscheinlichere war. Ein einfacher, ungeschliffener Mann; na schön, dann wollen wir mal ganz einfach und ungeschliffen miteinander reden, dachte Dunan und kam ohne Umschweife zur Sache. »Ich suche nach Gorwolpelzen.« »Da werdet Ihr nicht mehr Glück haben als Daldirian auf der Suche nach der Feuerkrone. Gorwolpelze sind nicht mehr zu bekommen. Was seid Ihr, ein freier Händler?« »Das war ich einmal. Ich arbeite jetzt für eine Handelsorganisation. Wir zahlen gut, und wir nehmen Euch alle ab, die Ihr liefern könnt.« »Ihr kommt zu spät. Seit zwölf Dunkelzeiten habe ich keinen Gorwolpelz mehr gesehen. Irgend jemand brachte vor zwei Dunkelzeiten noch einmal welche nach Norion. Verkaufte sie an einen Freihändlerring.« »Zu welchem Preis?« fragte Dunan. Obwohl er wußte, daß der Kaufmann ihm eine übertriebene Summe nen-
nen würde, konnte er seine Überraschung nicht verbergen, als er den horrenden Preis hörte. Umgerechnet in Intersystem-Währung entsprach das den Kosten einer kleinen Driveschiffsflotte. Er zuckte mit den Wimpern und fragte: »So viel? Für vier Gorwolfelle?« »Nun, es waren halt ganz besondere Felle – die letzten auf Hraggellon.« »Seid Ihr da ganz sicher? Wie konnte denn das passieren? Daß der Gorwol schon immer sehr rar war, weiß man ja, aber daß sie kurz vor dem Aussterben standen, davon war nie die Rede. Wie konnte das so plötzlich passieren?« »Es liegt nicht nur daran, daß die Gorwol ausgestorben sind. Die Onhla auch.« Der Kaufmann zupfte sich am Ohr, blickte sich vorsichtig um und zog Dunan am Ärmel ein Stück näher zu sich heran. »Die Onhla waren die einzigen, die den Gorwol jagen konnten, und sie sind alle tot. Eine Seuche. Die Felle, von denen ich sprach – sie wurden bei der Leiche des letzten Onhla dieses Planeten gefunden. Ich weiß das von einem, der dabei war und es mit eigenen Augen gesehen hat.« »Leben nicht noch ein paar Onhla in Norion?« »Mischlinge«, sagte der Kaufmann mit einem verächtlichen Unterton in der Stimme und kratzte sich am Kopf. »Es sind Ausgestoßene. Würden niemals wagen, auch nur einen Fuß auf Stammesgebiet zu setzen. Taugen außerdem nichts als Jäger. Verweichlicht, versteht Ihr?« »Gut. Gehen wir davon aus, daß alle Onhla tot sind. Wißt Ihr niemand sonst, der sich auf die Gorwoljagd versteht?« Der Kaufmann runzelte die Stirn. »Nein. Welchen Zweck hätte das auch? Die Gorwol sind ja auch alle tot.« »Woher will man das so genau wissen?« beharrte Dunan. »Wir wissen es aber«, sagte der Kaufmann ungerührt. »Wieso, das kann ich Euch erklären. Um den Jägern zu entkommen, zogen sie sich immer tiefer nach Sternheim
zurück. Schließlich waren sie so tief im Innern Sternheims, daß ihnen keiner mehr folgen konnte, ohne zu erfrieren. Keiner – bis auf die Onhla. Aber drüben in Sternheim gibt es Gegenden, die sind so kalt, daß selbst die Gorwol dort nicht lange überleben können. Sie konnten also nicht weiter. Die Onhla holten sie ein und rotteten sie aus. Und dann kam die Seuche und rottete die Onhla aus.« Stolzgeschwellt über seine Demonstration in Logik, sah er Dunan an. »Hat man denn nicht versucht, vielleicht irgendwo überlebende Onhla zu finden?« Der Kaufmann schaute ihn verdutzt an. In seinem Gesicht begann sich leiser Argwohn breitzumachen. »Aber warum denn? Wir wissen doch, daß sie alle tot sind.« Es war klar, daß aus diesem Burschen oder aus seinen Nachbarn nichts mehr herauszubekommen war. Die Bretter vor ihren Köpfen waren genauso undurchdringlich wie die Kuppel über ihrer Stadt. Offenbar überstieg die Vorstellung, daß Lebewesen sich vielleicht bestimmten Umweltbedingungen anpassen konnten, ihr Begriffsvermögen – was in sich schon absurd war, wenn man bedachte, wie hervorragend sie sich selbst angepaßt hatten an eine Welt, deren einer Teil unter ewiger Nacht, Kälte und Dunkelheit lag, während der andere von Sonne durchglühte Wüste darstellte und deren Rest einen Turnus monatelanger Tage und Nächte durchmachte. Und so undifferenziert das Klima auf ihrem Planeten war, so schwarzweiß war auch ihr Denkund Verhaltensschema: simple Lösungen für alle Arten von Problemen, klare Antworten, die möglichst wenig Nachdenken erforderten. Keine Gorwolpelze mehr auf dem Markt? Nun, dann waren die Gorwol und ihre Jäger eben ausgestorben, basta. So einfach war das. Diese Idioten, dachte Dunan wütend. Soll sie allesamt der Blitz erschlagen! Er eiste sich aus dem Laden los, so schnell er konnte –
man mußte höflich bleiben in diesem Geschäft, selbst wenn man es mit Idioten zu tun hatte und ging den Weg zurück, den er gekommen war. Nicht gerade eine ermutigende Nachricht, was er da gehört hatte. Aber er war nicht bereit, sie so einfach hinzunehmen. Er konnte nicht zulassen, daß er sie glaubte. Wenn es wirklich keine Gorwolpelze mehr auf Hraggellon gab, dann war er in ernsten Schwierigkeiten. Nicht immer war sein Leben so wie jetzt gewesen. Mit einem Seufzen dachte er an die Zeiten, als er noch freier Händler gewesen war. Während er langsam seinem Quartier zustrebte, schwelgte er in Erinnerungen. Waren gute Zeiten gewesen, früher. Sicher, die Risiken waren oft groß gewesen, aber dafür hatte es sich auch meistens mehr als gelohnt. Wie viele Drahtseilakte zwischen Armut und Reichtum habe ich hinter mir, ging es ihm durch den Kopf. Er machte sich nicht die Mühe nachzuzählen. Es waren mehr als genug gewesen. Brauchte niemals einen einzustellen, den ich nicht mochte, damals nicht. Die freien Händler waren immer die freiesten Sternfahrer in der ganzen Galaxis. Sind nicht mehr viele von ihnen übriggeblieben, dachte er traurig. Die Galaxis wird immer durchorganisierter, unüberschaubarer, unpersönlicher. Muß mich anpassen, wenn ich heutzutage zurechtkommen will. Manchmal hat ein Mann eben keine Wahl. Er dachte an seinen eigenen Entschluß zurück, wenn das in seinem Fall überhaupt der richtige Begriff war. Machte gute Geschäfte auf einer abgelegenen Welt, bis eines Tages dieses weiße Schiff landete. Der Sternverein war gekommen, um Handel zu treiben. Aber er konnte nicht Fuß fassen. Seb Dunan hatte weiterhin den gesamten Handel auf dem Planeten in der Hand, denn ihm vertrauten die Bewohner, während sie die grimmigen Neuankömmlinge fürchteten. Es dauerte nicht lange, bis ihr Ultimatum
kam: Entweder Sie kooperieren mit dem Sternverein, oder wir können nicht länger für Ihre Sicherheit unter diesen Barbaren garantieren. Er hatte die Szene noch genau vor Augen. Es war in dem Kapitänsquartier auf dem weißen Schiff. Er stand vor dem breiten Schreibtisch des Kapitäns, um ihn herum eine Menge Bewaffneter, und keiner davon, den er zu seinem Freundeskreis hätte zählen können. Ihm war klar, wer die wahren Barbaren waren, aber er war Händler, kein Held. Und selbst ein gut ausgebildeter Kämpfer hatte keine Chance gegen den Sternverein. Keiner hatte eine Chance gegen den Sternverein. Ihm war nichts anderes übriggeblieben, als klein beizugeben, und jetzt durchforstete er im Auftrag des Sternvereins Hraggellon nach lohnenden Handelsartikeln. Wahrscheinlich das beste für mich, dachte er. Bin zu alt, um noch von System zu System zu hetzen, mich mit Piraten, Sklavenjägern, Provinztyrannen und Konkurrenten herumzuschlagen. So schlecht ist der Sternverein gar nicht. Jedenfalls bietet er seinen Mitgliedern den nötigen Schutz vor Angriffen Dritter. Hat den Laden im Griff, das muß man ihm lassen. Aber der Sternverein duldete kein Versagen. Und sein Auftrag auf Hraggellon lautete, Gorwolpelze und andere Luxusartikel aufzutreiben, denn Luxusartikel waren die einzigen Handelswaren, für die sich der finanzielle Aufwand des Intersystemhandels lohnte. Die Lichtkugeln und die Haftanhänger waren zwar nicht schlecht, aber sie würden ihm auch nicht dabei helfen, um den ausdrücklichen Befehl herumzukommen, Gorwolpelze zu besorgen. Wenn der Pelzhändler die Wahrheit gesagt hatte, würde er Ärger bekommen. Eine Menge Ärger sogar, und er würde der Prügelknabe sein, nicht der Pelzhändler oder sonstwer. Der Sternverein ließ keine Ausflüchte und Entschuldigungen gelten. Er fühlte, wie die Kälte ihm in die Knochen drang und hielt nach einem warmen Plätzchen Ausschau. Würde
mir ja gern mal einen Rauchartisten ansehen, dachte er, aber es ist zu kalt, um einer Freiluftvorstellung beizuwohnen oder einem Rezitator zuzuhören. Diese Norioniter stehen da und hören sich seelenruhig die Geschichten von ihrem Daldirian an, bis man glauben könnte, sie wären zum Eiszapfen erstarrt. Soll sie allesamt der Blitz erschlagen! Mittlerweile hatte er fast die Karawanserei erreicht, dennoch legte er einen Schritt zu. Im ersten Stock war ein Aufwärmraum, in dem ständig zwei riesige Feuer brannten. Genau das, was er jetzt brauchen konnte. Er ließ sich ermattet auf die Holzbank vor dem Feuer sinken und öffnete seinen Umhang, damit die wohltuende Wärme an seinen Körper konnte. An der Wand über dem Feuer hing der Kopf eines Tulk. Mit seinen scharfen Hörnern sah er ziemlich furchterregend aus. Er starrte grimmig auf die unten Sitzenden hinunter. Häßliche Kreatur, dachte Dunan. Genau das richtige für diese häßliche Welt. Er und Hraggellon verdienen einander. Dunan wandte seine Aufmerksamkeit den anderen Besuchern zu. Der Aufwärmraum war gut besucht, obwohl kaum einer der anderen so sehr an dem Feuer interessiert war wie er. Die Norioniter benutzten den Raum weniger zum Aufwärmen, sondern vielmehr als eine Art Gemeinschaftsraum, in dem sie soziale Kontakte pflegen konnten. Sie hatten ihre eigenen Methoden, gegen die Kälte anzugehen. Sie saßen zu zweit und dritt beisammen und tranken den starken, etwas milchigen hraggellianischen Schnaps. Sie waren ein recht trübsinniger, schweigsamer Haufen. Das ist hier kein Planet lustiger Zecher, dachte Dunan, jedenfalls nicht während der Dunkelheit. Bisher hatte er noch nicht erlebt, wenn einer vom Memur gepackt wurde, diesem hypnoseartigen Aggressionsrausch, der die Norioniter bisweilen während der Dunkelzeit schlagartig überkam. Er hatte auch keinen sonderlichen
Drang danach, so etwas zu erleben. Nach allem, was er davon gehört hatte, war der Memur nämlich genauso gefährlich für die Zuschauer wie für den Betroffenen. Kein Wunder, wenn sie aus der Haut fahren, dachte er, in dieser düsteren Höhle von einer Stadt, mit ihrem ewigen Wind und dem allgegenwärtigen Gestank von Menschen und Tieren, der sich hier zusammendrängt. Kann ihnen nicht übelnehmen, wenn sie da hin und wieder einfach explodieren. Muß aber nicht unbedingt gerade dann sein, wenn ich dabei bin. Unmittelbar hinter ihm saßen drei Männer, die sich im Flüsterton über das neue Regime unterhielten. Weiter hinten in einer Ecke waren vier Kaufleute dabei, einen komplizierten Vertrag auszuarbeiten. Zwei Erinnerer assistierten ihnen dabei als Zeugen. Die Fransen an ihren Umhängen wiesen sie als Lildoden aus, Wahrsprecher, Mitglieder einer der niederen Erinnererkasten. Daß es sich um rangniedrigere Erinnerer handelte, erkannte Dunan schon an der Art ihrer Arbeit. Die wirklich Ranghohen unter den Erinnerern bestritten ihren Lebensunterhalt nicht durch Auswendiglernen von geschäftlichen Transaktionen. Aber irgendeiner mußte es schließlich machen, wenn die hraggellianische Wirtschaft auf einen grünen Zweig kommen wollte. Komisch, dachte er, wie ein Volk ein Problem schafft, dann eine Lösung für dieses Problem schafft und sich dann selbst zu seinem Fortschritt beglückwünscht. Hraggellon hat keine geschriebene Sprache und will auch keine. Vermutlich irgend so ein Verbot aus grauer Vorzeit. Statt dessen entwickelte sich ein ganzer Volksstamm zum mündlichen Überlieferer und Aufzeichner ihrer Zivilisation. Erstaunliches Phänomen. Habe nichts dergleichen je auf einer anderen Welt gesehen. Lauttranskribierer, genau das ist es, was dieses Volk am besten gebrauchen könnte, dachte er
und faßte instinktiv nach seinem eigenen, der ihm an einer Schnur um den Hals baumelte. Klein, hundertprozentig akkurat und absolut zuverlässig. Maschinen vergessen nicht. Auch wenn jedermann behauptet, daß die Erinnerer so etwas auch nicht tun. Sollte die Sache jedenfalls mal irgendwo im Hinterkopf behalten. Aber was könnten sie mir als Gegenleistung bieten? Ich brauche keine Erinnerungen, sondern Gorwolpelze, und die bekomme ich bestimmt nicht von Erinnerern. Er schaute sich ein bißchen in dem Raum um, studierte unauffällig die Anwesenden, und als sein Blick auf die Tür fiel und insbesondere auf die Gestalt, die soeben in ihrem Rahmen aufgetaucht war, zuckte er unwillkürlich zusammen und zog den Kopf in der Hoffnung ein, daß der Neuankömmling ihn nicht gesehen hatte. Die letzte Person auf Hraggellon, der er jetzt – oder überhaupt – begegnen wollte, war sein Assistent. Daß er aber auch ausgerechnet jetzt hier hereinschneien mußte. Sollte ihn der Blitz erschlagen! Aber es war zu spät, um noch zu entwischen. Clell hatte ihn bereits gesichtet und strebte entschlossen auf ihn zu, um sich neben ihm auf der Bank niederzulassen. Der junge Mann stolzierte mit stolzgeschwellter Brust und in der Haltung eines Konquistadoren durch den Raum und erwiderte verächtlich die neugierigen Blicke der Anwesenden, die er durch sein protziges Gehabe auf sich zog. Clell Basedow, grünschnäbeliger Lehrling eines Händlers, aber herausgeputzt wie ein Großadmiral des Sternvereins und von einem Auftreten, als wäre er ein Imperator. Leider war er nichts weiter als ein aufgeblasener Dummkopf. Niemand hätte sich diesen gezierten Einfaltspinsel freiwillig als Assistent für eine derartige Mission ausgewählt. Seb Dunan hatte zeit seines Lebens entweder nur mit sorgfältig ausgewählten Kräften zusammengearbeitet oder eben den Job allein gemacht. Aber die Basedows waren eine einflußreiche Sippe
im Sternverein. Clell hatte immer bekommen, was er wollte. Zwar war er damit nie zufrieden gewesen, aber das war das Problem des Sternvereins, nicht Dunans. Bis zu dieser Mission jedenfalls. Dunan stieß einen leisen Seufzer aus und rückte ein Stück zur Seite, um Clell Platz zu machen. Die Mission fängt ja prächtig an, dachte er verzagt. Keine Onhla mehr, keine Gorwol mehr, und jetzt auch noch Clell Basedow auf dem Hals. Clell öffnete geziert seinen schwarz-silbernen Umhang und setzte sich neben den alten Händler auf die Bank. Das Feuer spiegelte sich rötlich auf den Litzen, Knöpfen und blankpolierten Stiefeln. Er würde hervorragend in eine trulbanische Hofzeremonie passen, dachte Dunan, aber in einer Umgebung wie dieser wirkt er mit seinem Putz einfach lächerlich. »Wo waren Sie denn auf einmal? Ich wollte mit Ihnen sprechen, aber da waren Sie schon verschwunden«, begrüßte ihn der junge Stutzer. Er vermied die hraggellianische Sprache und brachte seine Klage in gebieterischem Tonfall in der Sprache der Sternfahrer vor. »Ich bin zum Arbeiten hier. Ich habe mich ein wenig umgesehen. Wollte herausfinden, was es hier so alles gibt und was sie brauchen könnten.« »Sind Sie etwa in dieser Kleidung unter die Leute gegangen?« fragte Clell pikiert. »Wir sind Repräsentanten des Sternvereins. Sie sollten das auch durch Ihre Kleidung zum Ausdruck bringen. Man muß diese Halbwilden beeindrucken.« »Das überlasse ich Ihnen. Ich fühle mich wohl in meinen Sachen.« »Warum haben Sie mich nicht mitgenommen? Sie sollen mich doch einarbeiten.« »Keine Angst, ich werde Sie schon früh genug mitnehmen. Zuerst möchte ich mich mit der allgemeinen Situation hier vertraut machen. Hier hat sich eine Menge verändert, seit die Fünfte Mission hier war.« »Was sich auf jeden Fall verändert hat, ist das Klima. Wo ist denn das ganze Eis
geblieben, das sie in ihrem Bericht erwähnten? Kalt ist es ja, aber Eis habe ich bis jetzt noch nicht gesehen.« »Wenn Sie Eis sehen wollen, gehen Sie nach Sternheim«, schlug ihm Dunan vor. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als daß Clell auf seinen Vorschlag einging und aufbrach, um nie mehr wiederzukommen. »Ich will aber kein Eis sehen. Die Galaxis ist voll von Planeten, die mit Eis überzogen sind«, erwiderte der junge Mann gereizt. »Dann eben nicht«, entgegnete Dunan trocken. »Wie lange bleiben wir denn noch in diesem lausigen, stinkenden Kaff? Wenn wir noch lange hierbleiben, kriegen wir den Gestank ja nie mehr aus unseren Sachen raus.« »Wir sind ja eben erst angekommen. Gedulden Sie sich.« »Ich will mit dem Jagen anfangen. Haben Sie herausbekommen, wo die Gorwol sind? Wissen Sie, was wir an Ausrüstung brauchen?« Er kam gefährlich nahe an das Thema, das Dunan gern vermeiden wollte. Er mußte sich etwas einfallen lassen. Drastische Maßnahmen, so verführerisch sie auch sein mochten, verboten sich von selbst. Er war für die Sicherheit Clells verantwortlich. Aber es gab ja noch andere Mittel und Wege. »Sie sollten sich nicht so grämen, Clell. Trinken wir lieber einen, das wärmt uns auf«, sagte er jovial. Clell schaute ihn unentschlossen an. »Ich weiß nicht so recht. Wenn ich von dem Gestank hier auf die Getränke schließe, dann können die eigentlich nur schieres Gift sein, egal, was sie einem auch auftischen.« »Die Dritte Kontaktmission hat grünes Licht für alle landesüblichen Speisen und Getränke gegeben. Bloß einen Durt oder zwei, und wir können sie ja ganz langsam trinken. Um das Blut ein bißchen aufzuwärmen. Das gehört mit zu Ihrem Training.« »Training?« »Natürlich. Als ich im Skeggjatt-System arbeitete, spielte sich der gesamte Handel in Kneipen ab. Ich hab’ mir
damit zwar fast den Magen ruiniert, aber dafür hab’ ich auch die dicksten Geschäfte gemacht. Kommen Sie schon, Clell, wird Zeit, daß Sie mit dem Lernen anfangen.« Ohne eine Antwort abzuwarten, winkte er dem Kellner und hielt zwei Finger hoch. Ein Durt entsprach der Menge Flüssigkeit, die ein erwachsener Mann mit den zu einer Schale geformten Händen aufnehmen konnte, ohne etwas zu verschütten. Es war naturgemäß eine flexible Maßeinheit, aber selbst ein knapp bemessener Durt hraggellianischen Schnapses konnte bei einem Ungeübten schon verheerende Wirkung zeitigen. Drei reichten auf jeden Fall aus, jeden Nicht-Hraggellianer von den Beinen zu holen. Dunan, der die Kunst, andere betrunken zu machen und selbst nüchtern zu bleiben, meisterhaft beherrschte, beschloß, Clell das Höchstquantum von drei einzuflößen. Das würde ihm genügend Zeit einbringen, um unbehelligt von seinem Assistenten seine Nachforschungen anstellen zu können. Der erste Durt hatte noch keinen Einfluß auf Clells schlechte Laune. Er beklagte sich jetzt lediglich lauter als zuvor und wortreicher, wobei Dunan nicht entging, daß die Zunge des Assistenten hörbar größere Artikulierungsprobleme hatte. Er war froh, daß Clell die hraggellianische Sprache nicht beherrschte. Er sagte Dinge über Norion, die man einem Fremden für gewöhnlich nicht ungestraft über seine Heimat zu sagen erlaubt. Allein die Tatsache, daß er sie in einer fremden Sprache sagte, bewahrte sie vor einer unangenehmen Szene. Während Clell nunmehr vor seinem Durt weiterlamentierte, wanderte Dunans Aufmerksamkeit zu den drei Männern direkt hinter ihm, und er ertappte sich dabei, wie er interessiert ihren Worten lauschte. Zuerst hatten sie nur geflüstert, doch seit sie an seiner Sprache gemerkt hatten, daß er ein Fremder war, waren sie weniger vorsichtig ge-
worden, und ihre Stimmen waren gut zu verstehen, sofern Clells jammerndes Organ nicht gerade jedes andere Geräusch im Raum übertönte. Die drei waren nicht glücklich mit dem Regime Orms des Friedensbringers. Ihr mildestes Attribut für ihn war »Orm der Thronräuber«. Dunans Interesse erwachte sofort, und er versuchte, soviel wie möglich von ihrer Unterhaltung aufzuschnappen, ohne ihren Verdacht zu erregen. Das neue Regime war erst nach der Abreise der letzten Sternvereingesandtschaft an die Macht gekommen, so daß Dunan erst nach seiner Ankunft von dem Machtwechsel erfahren hatte. Orm und seine Anhänger waren eine geheimnisumwitterte Clique, und Dunan war froh über jede Information, die er bekommen konnte. Selbst wenn er gewisse Übertreibungen und Verzerrungen mit in Rechnung stellte, war das Bild, das sich von Norions neuem Herrscher ergab, erschreckend. Grausame Dinge hatten sich zur Zeit der Hungersnot und der darauffolgenden Seuchen abgespielt, aber Orms Greueltaten stellten alles bisher Dagewesene weit in den Schatten. Er hatte seine Verbündeten einen nach dem anderen verraten, seine Feinde gegeneinander aufgewiegelt, um sich dann mit dem Stärkeren gegen den Schwächeren zu verbünden, während er gleichzeitig schon ein Komplott gegen den Sieger schmiedete. Er hatte ohne Rücksicht auf Stammes-, Erbfolge- oder sonstige Gesetze getötet. Und nun, da er durch Mord und Verrat die Macht in Norion an sich gerissen hatte, eliminierte er systematisch alle Opponenten und potentiellen Rivalen. Jedenfalls behauptete das einer der drei Verschwörer, und er sparte dabei auch nicht mit Einzelheiten. Orms persönliche Meuchelmörderbande, die sogenannten Sechzig Namenlosen, schien die Fähigkeit zu besitzen, überall gleichzeitig zu sein. Hunderte waren schon auf geheimnisvolle Weise von ihnen umgebracht worden. Bestimmt stehe hinter alledem eine unbekannte, noch weit
größere Macht, deutete der Sprecher finster an. Man brauche bloß die Entwicklungen und Ereignisse der jüngsten Zeit zu betrachten: Vor ein paar Dunkelzeiten noch, als die Seuche zu Ende gewesen sei, wäre Orm nichts weiter als ein postenloser Intrigant aus einer der unbedeutenderen Familien gewesen, der nicht einmal eigene Erinnerer gehabt hätte. Und jetzt wäre er Herrscher, und seine Position werde mit jeder Dunkelzeit fester. Die anderen meldeten Zweifel an, aber der Sprecher bestand unbeirrt auf seiner Theorie. Ein Einzelgänger wie Orm hätte unmöglich so schnell in eine solche Position gelangen können, wenn er nicht irgendeine neue, unbekannte Macht im Rücken gehabt hätte. Sein Aufstieg sei zu plötzlich gekommen, zu glatt. Die Diskussion endete, ohne daß man sich in dieser Frage einigen konnte. Als die drei aufstanden und an ihm vorbei zur Tür gingen, warf Dunan ihnen einen verstohlenen Blick zu. Zwar gingen sie zu schnell, als daß er ihre Gesichter hätte erkennen können, aber langsam genug, daß ihm der mit groben Flicken ausgebesserte Tormagonumhang des einen auffiel, der die meiste Zeit geredet hatte. Die anderen zwei trugen unauffällige Allerweltsumhänge aus schwarzbraunem Fell, denen der typische ranzige Geruch entströmte. Dunan nestelte angewidert seine Riechdose hervor und nahm einen tiefen Atemzug. Mittlerweile war Clell Basedow schon erheblich ins Wanken geraten. Seine Stimme war kaum mehr als ein unverständliches Lallen. Auf dem Fußboden neben seinen glänzenden Stiefeln standen zwei leere Durte. Ein dritter würde nicht mehr nötig sein. Clell würde lange und fest schlafen, und auch nach dem Aufwachen würde er noch für eine gute Weile wenig Drang nach Betätigung verspüren. Dunan stellte seinen eigenen, immer noch randvollen und unangetasteten Durt auf den Fußboden und wuchtete
den inzwischen eingeschlummerten Assistenten mit einem kräftigen Ruck auf die Beine. Ihre Kammern lagen drei Rampen höher auf dem gegenüberliegenden Flügel, direkt hinter der dem Wind zugewandten Biegung. Es würde nicht leicht sein, einen stämmigen Burschen wie Clell so weit zu schleppen, und dann noch durch diese engen Galerien. Aber Dunan klagte nicht. Schließlich erkaufte er sich damit eine Weile Ruhe und Frieden. Sie verließen den Aufwärmraum und gingen – wobei Clell mehr getragen wurde – an den dunklen Warenballen vorbei, die in dem offenen Innenhof der Karawanserei aufgestapelt lagen. Hoch über ihnen, an der Unterseite der Kuppel, blitzten in unregelmäßigen Abständen Lichtkugeln auf, gerade hell genug, daß man mit einiger Mühe die Aufgänge zu den Rampen erkennen konnte. Dunan war nervös und hellwach. Die hraggellianische Tradition verbot zwar jeglichen Angriff auf einen Fremden, aber derlei Traditionen wurden nur zu oft gebrochen. Er fühlte sich unbehaglich an diesem düsteren, abgelegenen Ort, wo man nur Schatten erkennen konnte. Er hatte den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als er plötzlich ein undefinierbares Geräusch hörte. Er schaute nach oben und sah ein großes, dunkles Etwas auf ihn zufallen und mit einem dumpfen Aufprall fast genau vor seinen Füßen landen. Entsetzt schrie er auf und sprang zurück, Clell mit sich zu Boden reißend. Keuchend raffte er sich wieder auf und lehnte sich schweratmend mit dem Rücken an einen der Stapel. Das schwarze Ding lag reglos da. Es gab keinen Laut von sich. Clell stöhnte leise, versuchte aufzustehen und ließ sich wieder zurück in den Schlaf sinken. Das Ding – ein Mensch, wie Dunan jetzt mit großem Schreck erkannte – lag nach wie vor bewegungslos da. Dunan trat vorsichtig ein paar Schritte vor. Jetzt näherten sich andere, wohl von seinem Schrei alarmiert. Er knie-
te sich neben die zusammengekrümmt am Boden liegende Gestalt, und im Licht der Kugel des Kellners, der inzwischen ebenfalls herbeigeeilt war, erkannte er den geflickten Tormagonumhang wieder. »Das ist doch Osmidap, nicht wahr? Wie kommt der denn hierher?« »Ich sah ihn herunterfallen. Von der obersten Rampe.« »Er ist tot wie die steinernen Ritter von Hrull. Hat sich das Rückgrat gebrochen.« »Was hatte er denn da oben zu suchen?« »Wo sind die beiden Fremden, die bei ihm waren?« »Die hat der Memur gepackt. Einer von ihnen hat den Memur gekriegt, das hab’ ich genau gesehen.« »Nein, das kann nicht sein. Wir hätten ihn schreien hören.« Die Fragen kamen alle gleichzeitig, und dann, wie auf ein geheimes Kommando, verstummten alle. Betretenes Schweigen machte sich breit. Die Antwort auf alle Fragen war klar und unmißverständlich. Der Tote selbst hatte sie beantwortet: Die Sechzig Namenlosen waren überall gleichzeitig. Ein paar freundliche Hraggellianer halfen Seb Dunan, seinen schnarchenden Assistenten auf sein Quartier zu tragen. Als Dunan in seiner Kammer war, dachte er über das nach, was er gehört und gesehen hatte. Bisher hatte es noch keinen Ärger gegeben, nicht einmal andeutungsweise. Die Herrschenden hatten bis jetzt noch keinen Hinweis gegeben, ob sie überhaupt von seiner Anwesenheit auf Hraggellon wußten. Aber das konnte sich rasch ändern. Es war nicht auszuschließen, daß er jetzt schon in Gefahr war. Er hatte zufällig das Gespräch mit angehört und den Toten gesehen, diese Tatsache allein genügte schon. Am besten, er tätigte schnell seine Geschäfte und verschwand auf dem schnellsten Wege von diesem Planeten. Seine dringlichste Aufgabe war es jetzt, einen Onhla zu finden.
… daß irgendwann zwischen 2650 und 2710 GSK ein nicht zur Flotte gehörendes Driveschiff eine Gruppe Onhla auf eine andere Welt brachte. Es gibt einige Indizien dafür, daß es sich hierbei um den Planeten Insgar handelte. Die Anzahl der dorthin verfrachteten Onhla ist nicht genau bekannt. Einige Berichte sprechen von weniger als einem Dutzend, andere von einem kompletten Stamm. Der Erinnerer, der den detailliertesten Bericht gab, sprach von einem roten Schiff mit einer Besatzung aus großgewachsenen, braunhäutigen, weißhaarigen Menschen. Alle Berichte betonen übereinstimmend, daß die Onhla die Reise freiwillig unternahmen. Dies und die Beschreibung des Schiffes und seiner Mannschaft schließt die Möglichkeit eines Sklaventransportes mit Sicherheit aus. Die Beschreibung der Mannschaft paßt auf keine derzeit bekannte Menschenrasse. Wir vermuten daher … Eno Glaser, Tertiär Zweite Hraggellon-Kontaktmission
3. Das Zusammentreffen Die Sonne Hraggellons erschien am Horizont und begann ihren langsamen Aufstieg. Die Schattengrenze zog sich immer tiefer nach Sternheim zurück. Der Himmel über Norion wurde stetig heller. Das eintönige Summen des Pundergorn verebbte und erstarb, und der erste zarte Hauch des Lichtzeitwindes, des milden Galendergorn, strich durch die Stadt. Wieder war eine Dunkelzeit vorbei, und das Land rings um Norion erwachte zu neuem Leben. Der uralte Zyklus setzte sich einmal mehr in Bewegung. Flußaufwärts, wenn das Licht kam, und zurück nach Norion, wenn die Dunkelzeit nahte. Säen, ernten, ruhen; säen, ernten und Zuflucht suchen bis zur nächsten Dunkelzeit; dann wieder von neuem beginnen. Die ganze Stadt erwachte zu emsigem Treiben. Die riesigen Fensterläden, die nach Lichtheim zeigten, wurden aufgeschlagen, und die schmalen Windschlitze, die nach Sternheim zeigten, wurden geöffnet, damit der Galendergorn ungehindert seine Frische und Wärme durch die Stadt tragen konnte. Die erste Aussaat fand statt, noch ehe der Boden völlig aufgetaut war, denn die erste Ernte mußte eingebracht sein, bevor die sengende Hitze des Mittlichts die Erde zusammenbacken ließ und alle Vegetation verbrannte. Das Eis im Mohariltal begann zu brechen. Die lebenspendenden Fluten flössen zu den Feldern, die Flußschiffe wurden für ihre weiten Reisen aufgetakelt und instand gesetzt. Mit der Wiederkehr des Lichts schien auch die Verdrossenheit des Winters aus den Gesichtern der Norioniter zu weichen. Sie bewegten sich leichtfüßiger, fast beschwingt, schliefen weniger, aßen mehr und arbeiteten härter. Sogar Seb Dunan fühlte, wie die Wärme und die Helligkeit neuen Tatendrang in ihm wachriefen, obwohl
sein Organismus sich während seines kurzen Aufenthaltes noch gar nicht auf den hraggellianischen Lebensrhythmus eingestellt haben konnte. Wenn sein müder Körper zu ihm sagte: »Schlaf«, dann sagten seine Sinne: »Arbeite« und hielten ihn weit über seine eigenen Erwartungen auf Trab. Und wenn seine Energie einmal nachließ, dann war da immer noch die Riechdose, die ihn über Wasser hielt. Und Energie hatte er jetzt auch bitter nötig. Energie und vor allem Zeit. Norion hatte zur Dunkelzeit eine Einwohnerzahl von mehr als hunderttausend, und jeder davon konnte Informationen über die Onhla besitzen. In Anbetracht der unsicheren politischen Situation hielt Dunan es für das klügste, seine Nachforschungen auf eigene Faust zu betreiben. Das war sicherer, leider aber auch nervenaufreibend langsam. Seit Beginn der Dämmerzeit hatte er erst mit einem winzigen Teil der Stadtbevölkerung sprechen können, und nun, mit dem Beginn der Lichtzeit, machte sich fast die Hälfte der Stadt für den Aufbruch bereit. Verständlich, daß unter diesen Umständen nur wenige die Zeit erübrigen konnten oder wollten, einem alten Händler Fragen zu beantworten. Wenn es noch irgendwelche Onhla in Norion gäbe, dann würden sie die Stadt mit ziemlicher Sicherheit jetzt verlassen und flußaufwärts ziehen, der Schattengrenze nach. Die Onhla konnten sich zwar ohne Schwierigkeiten an die Hitze des Mittlichts anpassen, aber sie zogen die Kälte und Dunkelheit Sternheims vor, ihres angestammten Jagdreviers. Die Onhla schienen in der Lage, sich jedem Klima anzupassen. Ihre physische Anpassungsfähigkeit war in der Tat so groß, daß die Kontaktteams des Sternvereins lange geschwankt hatten, ob es sich bei ihnen um Angehörige einer einzigen Gattung oder mehrerer handelte. Sie paßten sich nicht nur dem jeweiligen Klima an, sondern durchliefen im Verlaufe ihres Lebens auch einschneidende äußere Veränderungen. Es war bekannt, daß sie im Kindes- und
Jugendalter physisch stark Tieren glichen. Viele junge Onhla wuchsen mit dem Tormagonrudel ihres Stammes auf und begleiteten es bei seinen Jagdzügen. Mit dem Beginn der Sexualreife nahmen sie eine humanoide Erscheinungsform an, die sie für den Rest ihres langen Lebens beibehielten. Was mit ihnen im Alter geschah, war ungewiß. Vermutlich starben sie – oder begannen den langen Traum, wie sie selbst es zu umschreiben pflegten. Aber es gab da vage Gerüchte über eine dritte Lebensphase, einen Zustand erneuter physischer Veränderung und neuer, ungeheurer geistiger Kräfte und Fähigkeiten, der nur höchst selten eintrat und nicht vorhersehbar war. Es hieß, daß die Alten, denen diese Lebensphase vergönnt war, die Fähigkeit oder das Verlangen verloren, sich klimatischen Veränderungen anzupassen. Sie zogen sich tief ins Innere Sternheims zurück, tiefer, als Menschen je vorgedrungen waren. Wie einleuchtend, dachte Dunan. Vermutlich eine primitive Erklärung dafür, daß keiner je einen von ihnen zu Gesicht bekommen hat. Alles Unsinn, mit Sicherheit. Die Onhla waren eine eigenartige Rasse, so eigenartig, daß Seb Dunan bei dem Gedanken, mit ihnen Handel zu treiben, einiges Unbehagen verspürte. Er hatte schon Geschäfte mit Dutzenden verschiedenen humanoiden Rassen gemacht, aber keine davon war ihm so fremd und andersartig erschienen wie die Onhla. Sie konnten sogar mit Tieren sprechen. Und einige wenige Leute in Norion schworen sogar felsenfest, daß die alten Onhla von Sternheim (die sie vorher nie gesehen hatten) Schwänze trugen. Aber Dunan brauchte in jedem Fall die Hilfe der Onhla, wenn er sein Ziel erreichen wollte. Er mußte sie ja nicht gern haben oder sich wohl in ihrer Gesellschaft fühlen. Er mußte sie bloß finden – oder wenigstens einen von ihnen – und dazu bringen, ihm Gorwolpelze zu besorgen. So simpel war das – wenn er erst einen gefunden hatte.
Dies war nun seine wichtigste Aufgabe, und sie beanspruchte seine gesamte Wachzeit. Er klapperte die Arkaden und Galerien Norions ab, durchstöberte jeden Winkel der Stadt, fragte jedem Pelzhändler, jedem neuen Bekannten Löcher in den Bauch und hörte immer wieder dieselbe Geschichte. Der Gorwol ist ausgestorben wie Abapp und die uralte Zwergenrasse. Die Onhla sind allesamt mausetot. Trotzdem forschte er unverdrossen weiter. Clell nörgelte von Mal zu Mal lauter, und die Leute von Norion arbeiteten weiter unter stetig heller werdendem Licht. Der Galendergorn wurde spürbar wärmer. Die ersten grünen Sprosse brachen aus der Erde. Auf den Kaianlagen am Fluß wimmelte es von Bergleuten und Pflanzern, die darauf warteten, flußaufwärts zu fahren und sich an ihre Arbeit zu machen. Seb Dunan schleppte sich erschöpft und enttäuscht in ein Gasthaus in der Nähe von Norions Sternheimtor. Ihm war jegliches Zeitgefühl verlorengegangen. Er wußte nur, daß er hungrig und krank vor Müdigkeit war und er sehr bald einen langen Schlaf brauchte, wenn er seine Suche fortsetzen wollte. Er bestellte die erstbeste Speise, die ihm ins Auge fiel. Die frisch gefangenen Handschuhfische aus dem Moharil waren köstlich, aber er hatte kaum Appetit. Er aß, soviel er hinunterbekam, raffte sich mühsam hoch und verließ den Gastraum über den Pfad, der am Stall vorbeiführte. Als er den Stallburschen sah, war seine Müdigkeit mit einem Schlag verflogen. Natürlich konnte man auf den ersten Blick nie ganz sicher sein, aber der Bursche ähnelte von seiner Statur und Physiognomie her verblüffend einem Onhla. Dunan ließ sich auf der Bank vor dem Stall in der Sonne nieder und studierte den Burschen. Seine Haut war leicht gerötet, aber sie hatte diesen leicht wächsern wirkenden Schimmer – eines der charakteristischen Merkmale eines erwachsenen Onhla. Seine Nase war platt, und über seinen tiefliegenden
Augen wölbten sich wulstige Brauen. Sein dichtes braunes Haar, das mit einer goldenen Strähne durchwirkt war, floß ihm über die Schultern bis fast zur Hüfte. Er hatte alle Merkmale eines Onhla. Er konnte ein echter Onhla sein, vielleicht der letzte auf Hraggellon. Seb Dunan spürte, wie sein Herz schneller schlug, und er zwang sich, eine Weile stillzusitzen. Er hielt sich seine Riechdose unter die Nase und atmete mehrmals tief ein. Das beruhigte. Freu dich nicht zu früh, Dunan, sagte er leise zu sich. Vielleicht ist er ein Mischling wie all die anderen und damit völlig wertlos. Die größte Schande, die ein Onhla auf sich laden konnte, war, sich mit einem Nicht-Onhla zu paaren. Das Kind, das aus einer solchen Verbindung hervorging, mochte zwar wie ein Onhla aussehen, aber es würde nie etwas mit seinem Stamm zu tun haben. Es würde alle Schwächen seiner beiden Elternteile in sich vereinigen, aber keine ihrer Stärken. Dunan tat einen tiefen Atemzug, ließ die Riechdose zuschnappen, erhob sich von der Bank und ging langsam auf den Stallburschen zu. Der Stallgeruch, der diesen wie eine Wolke einhüllte, wurde in seiner unmittelbaren Nähe fast unerträglich. Die Ställe waren um diese Jahreszeit stark belegt, da blieb wenig Zeit für Sauberkeit. Dunan klappte seine Riechdose erneut auf und behielt die Hand in der Nähe seines Gesichts. Als Dunan näher kam, drehte sich der Stallbursche zu ihm um. Er stand vor ihm wie eine Säule. »Was willst du?« fragte er den Fremden mit ausdrucksloser Stimme. »Ich will mit dir sprechen«, erwiderte Dunan. »Ein Stallbursche spricht nicht, er arbeitet. Ich habe viel zu tun.« »Ich glaube, daß du ein echter Onhla bist. Wenn das wahr ist, kann ich dir eine Arbeit anbieten, die besser zu dir paßt«, sagte Dunan rundheraus. Der Stallbursche schwieg einen Moment, ohne den Blick von dem Fremden abzuwenden. Dann sagte er: »Alle Onhla sind tot. Jeder in Norion sagt das.«
»Ich weiß. Ich habe das oft genug gehört. Ich glaube es aber nicht.« »Was ist das für eine Arbeit, die besser zu einem Onhla passen soll als die, die ich hier tue.« »Jagen.« Der riesige Kerl starrte ihn schweigend an. Eine ganze Weile stand er reglos da. Dann antwortete er: »Die Onhla sind tot, weggerafft von der Fallkrankheit. Geh weg.« Er drehte sich um und ging zurück in den Stall, ohne Dunan noch eines Blickes zu würdigen. Weiteres Reden war sinnlos. Er wußte, daß er jetzt nichts mehr tun konnte. Dunan verspürte keinen Drang, sich auch nur einen Augenblick länger in dem Gestank aufzuhalten und brach auf. Seine Kammer lag fast am anderen Ende der Stadt. Er hätte etwas drum gegeben, wenn er auf der Stelle hätte dort sein können. Ein herber Rückschag, den er da hatte einstecken müssen. Diesmal war er so sicher gewesen, daß er endlich seinen heißersehnten Jäger gefunden hatte, und dann war es doch wieder bloß so ein griesgrämiger Mischling. Sollte ihn doch der Blitz erschlagen! Zum Teufel mit diesem elenden Volk, zum Teufel mit diesem ganzen stinkenden Planeten! Seine Stimmung war auf dem Nullpunkt angelangt, und in seiner Müdigkeit fühlte er sich der Verzweiflung nahe. Während seines langen Rückwegs durch die Arkade nahm er kaum etwas von dem wahr, was um ihn herum vorging. Er ließ sich mitsamt seinem Umhang und seinen Stiefeln auf die Pritsche fallen und sank sofort in einen langen, erschöpften Schlaf. Das erste, was er sah, als er aufwachte, war der Stallbursche, der ihm gegenüber an der Wand stand und ihn musterte. Dunan fuhr hoch, rieb sich die Augen, blinzelte und schaute den Eindringling verwirrt an. »Was tust du hier? Wie bist du hier hereingekommen?« Seine Fragen blieben unbeantwortet. Ohne sich von der Stelle zu rühren, sagte der riesige Mann: »Du sprachst von Arbeit für einen Onhla. Erzähle mir mehr davon.«
Seb Dunan kam ohne Umschweife zur Sache. »Ich will Gorwolpelze, und nur ein Onhla kann sie beschaffen. Wenn du wirklich ein Onhla bist – und das glaube ich jetzt –, dann weißt du, daß du zum Jagen geboren bist, nicht zum Dienen. Bring mir Gorwolfelle, und ich zahle dir einen guten Preis.« »In Norion sagen alle, der letzte Gorwol sei vor langer Zeit gestorben, ihre Art sei gänzlich ausgerottet.« Dunan machte eine verächtliche Geste und entgegnete: »Sie behaupten auch, die Onhla seien tot. Ich glaube nicht viel von dem, was ich in Norion höre. Nimmst du mein Angebot an?« Wieder verfiel der Stallbursche in ein langes Schweigen. Schließlich erwiderte er: »Ich werde dich für eine Weile verlassen. Schlaf noch einmal, und dann komm in das Gasthaus. Dort wirst du meine Antwort erfahren.« Genau das tat Seb Dunan. Er stand auf, aß, schmiedete Pläne und war sehr zufrieden mit sich und dem Verlauf der Ereignisse. Dann bettete er sich genüßlich für seinen besten Schlaf seit seiner Ankunft auf Hraggellon. Clell bestand darauf, ihn zu dem Gasthaus zu begleiten, und Dunan willigte widerstrebend ein, jedoch erst, nachdem er dem Jungen das feierliche Versprechen abgenommen hatte, keinen Ton zu sagen, während er mit dem Stallburschen verhandelte. Wie weitreichend Clell Basedows Verbindungen auch sein mochten, er war immer noch ein Lehrling, und nicht einmal ein vielversprechender. Seb Dunan war verantwortlich für diese Mission, er hatte die Absicht, sie auf seine Methode durchzuführen. Clell akzeptierte den Maulkorb zähneknirschend, hielt sich aber dafür mit einem nervtötenden Klagelied über das Essen, den Lärm, die Menschenmassen, die Hitze und den Gestank von Norion an Dunans Nervenkostüm schadlos. Dunan ertrug es mit Fassung und Geduld, angefeuert von
der Vorfreude, seinen Assistenten in tiefen Zügen das reiche Stallaroma atmen zu sehen. Der Stallbursche wartete schon am Eingang. Obwohl er immer noch schmutzig war und die gleichen Lumpen trug, die er schon bei ihrem ersten Treffen angehabt hatte, erschien er Dunan irgendwie verändert. Er trug ein kleines Bündel über der Schulter. Seine Begrüßung war sehr direkt. »Nimm meinen Preis an, und ich werde für dich jagen.« »Sag mir deinen Preis.« »Bring mich nach Insgar und zurück, zusammen mit denen, die ich von dort mitnehme.« Dunan runzelte nachdenklich die Stirn. »Insgar ist sehr weit von hier. Weißt du etwas über Intersystemflug? Bist du schon einmal im Raum gewesen?« »Bring mich nach Insgar«, wiederholte der andere, ohne auf Dunans Fragen einzugehen. »Das ist der Preis, zu dem ich für dich jage.« »Und was bekomme ich dafür? Wieviel Gorwolfelle?« Der Stallbursche hob die Hand und spreizte vier Finger. »So viele.« Dunan winkte ab. »Nicht genug. So viele.« Er hob beide Hände und streckte alle zehn Finger aus. »So viele Gorwol kann ich nicht jagen.« Dunan nahm zwei Finger zurück, dann noch einen und nach einem kurzen Zögern einen weiteren. Bei sechs blieb er stehen. »So viele müssen es sein.« Der Onhla hob erneut eine Hand, streckte alle fünf Finger aus und hielt den Daumen der anderen Hand daneben. »So viele. Einverstanden.« »Gut. Ich gehe einen Wahrsprecher holen, und dann …«, begann Dunan, aber der Onhla schnitt ihm das Wort ab. »Wir brauchen keinen Erinnerer.
Wir sind keine Stadtleute. Die Vereinbarung ist getroffen, und wir müssen sie halten.« »Einverstanden. Wann willst du aufbrechen?« »Jetzt«, sagte der Onhla. Er setzte sich Richtung Flußufer in Bewegung, und die beiden gingen hinter ihm her. Clell, der an Dunans Seite ging, machte ein angewidertes Gesicht. Er war ein wenig weiß um die Nase. Seine brandneuen Stiefel waren mit Stallmist vollgeschmiert. Wiederholt rümpfte er angewidert die Nase. »Wenn Sie schlechte Gerüche nicht vertragen können, sollten Sie sich eine Riechdose besorgen«, sagte Dunan freundlich. »Ich glaube nicht an diesen Fremdweltlerhokuspokus«, war Clells knappe Antwort. »Kein Hokuspokus. Nichts weiter als ein mildes Stimulans mit einem angenehmen Aroma. Fast jeder benutzt es auf Tarquin.« »O ja, bloß ein mildes Stimulans«, erwiderte Clell säuerlich. »Genau wie dieses Teufelszeug, zu dem sie mich verführt haben, als wir ankamen. Ich hab’ lange gebraucht, mich davon wieder zu erholen.« »Das habe ich gemerkt. Schlimme Sache. Aber Sie werden lernen müssen, mit härteren Sachen umzugehen, wenn Sie es im Sternverein zu was bringen wollen.« »Apropos umgehen, ich wundere mich schon die ganze Zeit, wie Sie mit Ihrem neuen Freund umgehen. Haben Sie wirklich die Absicht, nach Insgar und zurück zu fliegen?« Seb Dunan warf seinem Assistenten einen tadelnden Blick zu. »Selbstverständlich habe ich die Absicht. So lautet schließlich unsere Vereinbarung.« »Aber was soll er denn dagegen machen können, wenn Sie ganz einfach die Gorwolfelle nehmen und dann von Hraggellon verschwinden? Sie haben den Sternverein hin-
ter sich, und er ist bloß eine semihumane Kreatur auf einem unbedeutenden Planeten.« »Wir haben eine Abmachung«, wiederholte Dunan. Er sprach jedes Wort langsam und akzentuiert aus. Basedow lachte. »Kein Erinnerer war als Zeuge zugegen. Der Onhla kann keine Erzwingung geltend machen. Ich finde, es ist töricht, dafür eine so lange und teure Reise –« »Schweigen Sie, Clell!« schnitt Dunan ihm barsch das Wort ab. »Was Sie finden, interessiert mich nicht. Wenn Sie sonst nichts von mir lernen, dann lernen Sie wenigstens, daß ein Händler Wort hält. Schreiben Sie sich das ein für allemal hinter die Ohren!« Clell schmollte, erwiderte jedoch nichts. Sie näherten sich jetzt den Kaianlagen. Der Onhla ging in einem Abstand von zehn Schritten vor ihnen her. Sein Schritt war kraftvoll und zielbewußt. Nicht einmal schaute er sich um. Aus heiterem Himmel fragte Basedow: »Warum will er denn bloß nach Insgar? Soweit ich weiß, ist es dort um keinen Deut besser als auf Hraggellon.« »Ich glaube, ich weiß, warum. Ich muß die Datenbank des Schiffes noch nach Einzelheiten abfragen, aber ich kann mich erinnern, einmal gehört zu haben, daß vor langer Zeit eine Gruppe Onhla nach Insgar gebracht wurde. Als ihm klar war, daß seine gesamte Rasse ausgestorben ist, muß er sich an die Geschichte erinnert haben. Und jetzt sind die Onhla auf Insgar seine einzige Hoffnung, sein Volk noch einmal auferstehen zu lassen. Ohne sie wäre er der letzte Onhla auf dieser Welt.« »Dann sind wir also so etwas wie interplanetarische Ehestifter.« »Wir tun das, was wir versprochen haben, vorausgesetzt, er liefert die Felle. Wir bringen ihn nach Insgar, und dann bringen wir ihn und alle, die er dort findet und mitnehmen möchte, hierher zurück nach Hraggellon. Ich für mein Teil hoffe, daß er einen
ganzen Stamm dort findet. Wenn die Onhla sich erst wieder erholt haben und wir mit ihnen einen Exklusivertrag über die Lieferung von Gorwolfellen haben, dann sind wir gemachte Leute. Selbst der Sternverein wird sich beeindruckt zeigen.« Sie gingen schweigend weiter. Kurz vor den Kaianlagen bog der Onhla plötzlich in einen Pfad ein, der flußaufwärts führte. Seb Dunan und Clell Basedow folgten ihm. Der Pfad endete auf einer Lichtung am Ufer des Moharil. Der Fluß war mächtig angeschwollen, die Strömung außerordentlich stark. Der Onhla trat bis dicht an den Rand des Wassers und wandte sich zu den beiden Händlern um. Mit den Worten »Paß darauf auf!« warf er Seb Dunan sein Bündel vor die Füße. Dann begann er seine schmutzigen Lumpen abzustreifen. »Was hast du vor?« fragte Basedow nervös. Der Onhla gab keine Antwort. Statt dessen ging er ein paar Schritte zum nächsten Busch, rupfte die kleinsten Blätter von den Zweigen und begann, sich die Haut damit abzureiben. Dann ging er zum Wasser zurück. »Tu das nicht!« schrie Dunan und stürzte mit weit aufgerissenen Augen auf ihn zu. »Die Strömung wird dich in den Tod reißen! Das Wasser ist eiskalt!« Der entschlossene Blick des Onhla ließ ihn mitten im Schritt verharren. Mit einem Schrei, der das Brausen des Flusses übertönte, stürzte der Onhla sich kopfüber in die reißende Flut. Seb Dunan und Clell rannten zum Wasser, sahen jedoch keine Spur von ihm. Der Moharil war durch das geschmolzene Eis, das durch die hochgezogenen Fluttore des Kariarsees ungehindert in den Fluß rauschte, so stark angeschwollen, daß er nur etwa eine Handbreit unterhalb des Ufers dahinschoß. »Er hat sich umgebracht«, sagte Clell tonlos. »In diesem Wasser kann keiner überleben.«
»Ein Onhla könnte es. Wenn er wieder herauskommt, dann wissen wir, daß wir den richtigen Mann haben.« »Und wenn nicht, bekommen wir Ärger. Man hat uns gemeinsam mit ihm den Gasthof verlassen sehen. Wer weiß, vielleicht hat uns jemand nachspioniert.« »Das bezweifle ich. Wenn er nicht mehr herauskommt, werfen wir sein Bündel in den Fluß und trinken einen Durt auf sein Seelenheil.« Dunan stieß einen Seufzer aus und schaute seinen Assistenten an. »Setzen Sie sich und machen Sie sich’s bequem. Ich warte so lange, bis ich sicher bin.« Clell indes blieb stehen und nutzte die Pause, seine Stiefel zu reinigen. Seb Dunan saß da und starrte unverwandt auf die brausenden Fluten. Plötzlich tauchte der Kopf des Onhla in einer Woge von Gischt aus dem Wasser und verschwand gleich darauf wieder unter der Oberfläche. Mit Verblüffung registrierte Dunan, daß der Onhla ein gutes Stück oberhalb der Stelle aufgetaucht war, an der er ins Wasser gesprungen war. Er hatte schon mehrmals Geschichten über die enorme Körperkraft der Onhla gehört, aber er hatte sie nie geglaubt. Jetzt war er eines Besseren belehrt. Wer gegen diese Strömung ankam, war mindestens so stark wie ein Quespodon. Seine Zuversicht wuchs beträchtlich. »Sieht ganz so aus, als hätten Sie Ihren Onhla gefunden«, bemerkte Clell. »Das hab’ ich. Wahrscheinlich der letzte auf Hraggellon, und jetzt arbeitet er für mich. Wenn wirklich noch irgendwo ein Gorwol übriggeblieben sein sollte, dann wird er ihn finden.« »Hört sich alles so furchtbar einfach an.« Dunan drehte sich ganz langsam zu seinem Assistenten um und starrte ihn ungläubig an. »Einfach? Ich glaub’, ich höre nicht recht! Einfach! Ich bin durch ganz Norion gelaufen, von einem Ende zum anderen, bin jede verdammte
Rampe in diesem Nest rauf- und runtergestiegen, habe in jedem stinkenden Winkel herumgeschnüffelt, und da kommen Sie daher und sagen einfach! O nein, Clell, es war nicht einfach, es war alles andere als einfach. Es mag Ihnen so vorgekommen sein, aber bloß deshalb, weil Sie nichts anderes getan haben, als Ihre Stiefel zu polieren, während ich mir bei meinen die Absätze schiefgelaufen habe.« »Ich weiß, daß Sie hart gearbeitet haben. Ich hätte Ihnen ja geholfen, aber Sie haben mich nie mitgenommen. Sie wollten ja unbedingt alles selbst machen«, schmollte Clell. »Die Hälfte der Zeit hatten Sie ohnehin offenbar Wichtigeres zu tun. Außerdem ist das mein Arbeitsstil. Ich bin zu lange Einzelgänger gewesen, um mich jetzt noch umstellen zu können. Vergessen wir’s. Aber wenigstens sollen Sie wissen, daß es keine leichte Aufgabe war, mein Junge.« Clell schien halbwegs besänftigt. »Ich wollte damit ja bloß sagen, daß nichts weiter nötig war als harte Arbeit und Fleiß. Der Onhla war doch hier in Norion, wo ihn im Prinzip jeder hätte finden können, wenn er es bloß versucht hätte. Warum ist keiner der Pelzhändler selbst auf die Idee gekommen, ihn zu suchen?« »Die Hraggellianer haben nicht diese Denkweise. Sie glauben, was ihnen erzählt wird. Sie hörten, daß die Onhla ausgestorben waren, und keiner von ihnen ist je auf die Idee gekommen, das könnte vielleicht gar nicht stimmen. Und wenn einer von ihnen den Stallburschen gesehen hätte, dann hätte er ihn für einen Mischling gehalten.« »Was für Idioten«, sagte Clell verächtlich. »So darf man das nicht sehen. Sie denken einfach anders als wir. Vielleicht hängt das mit dem Klima hier zusammen.« Als Clell ihn verständnislos anschaute, erklärte er: »Die Hraggellianer akzeptieren nur das, von dem sie wissen, daß es mit Sicherheit eintrifft. Ihr Leben verläuft glatt und schematisch. Der Wind legt
sich, der Fluß schwillt an, die Früchte wachsen, alles nach einem unveränderlichen Schema. Das Wetter auf dieser Welt ist schlimm, zugegeben, aber es ist voraussagbar. Und da sie immer genau wissen, was als nächstes kommt, verspüren sie keinen Drang und keine Ursache, irgendwelche Fragen zu stellen – weder über das Klima noch über sonst irgend etwas. Vielleicht sind sie tatsächlich Idioten. Ich weiß es nicht. Sie scheinen mir trotzdem ganz glücklich zu sein.« Seb Dunan verstummte. Er hatte den Onhla ein zweites Mal auftauchen sehen, diesmal noch weiter stromaufwärts. Die Kraft dieses Burschen war wirklich phänomenal. Jetzt tauchte er wieder auf, um sich zu orientieren, dann schwamm er mit kräftigen Zügen auf die Stelle zu, wo die beiden Händler warteten. Clell schien ihn nicht bemerkt zu haben; oder vielleicht hatte er ihn doch bemerkt, fand aber nichts Beeindruckendes daran. »Wenn sie immer so sicher sind, wieso brauchen sie dann überhaupt die Erinnerer? Ihr Onhla wollte jedenfalls keinen.« Seb Dunan antwortete, ohne sich umzudrehen. Sein Blick war auf die Gestalt fixiert, die jetzt schnell näher kam. »Sicher sein und sich erinnern können sind zwei Paar Stiefel. Wenn zwei Personen eine Vereinbarung treffen, dann ist es gut möglich, daß beide die Details innerhalb von zehn Dunkelzeiten wieder vergessen haben. Oder nehmen wir an, beide sterben. Dann müßte jemand anderes unter Mühen recherchieren, was sie vereinbart hatten. Die Erinnerer sind einfach notwendig.« »Manche Leute sind da anderer Ansicht«, sagte Clell geheimnisvoll. »Nun, es zwingt sie ja auch keiner dazu«, erwiderte Dunan. »Kommen Sie, wir helfen dem Burschen an Land.« Sie beugten sich über das Ufer und boten dem Onhla hilfreich die Hand, aber offenbar war ihre Hilfe nicht er-
wünscht. Der Eingeborene kletterte behende an Land, bedeutete ihnen mit einer Geste, auf Abstand zu gehen, dann schüttelte er sich wie ein nasses Tier. Danach zupfte er mit einer Behendigkeit, die Übung verriet, mehrere größere Blätter von dem nächstbesten Busch und rieb sich damit trocken. Als er damit fertig war, pflückte er eine Handvoll hellgrüner Beeren von demselben Busch, zerquetschte sie zwischen den Handflächen und schmierte sich den Saft über den Körper und das Haar. Die klare Flüssigkeit gab einen scharfen, angenehmen Geruch von sich. Dunan, dessen kaufmännische Neugier sofort erwachte, pflückte ebenfalls ein paar Beeren von dem Strauch, zerquetschte sie und verrieb den Saft über dem Handrücken. Er verursachte ein kühles Prickeln. »Wie heißt dieser Strauch bei euch?« fragte er den Onhla. »Rendrood, der Reiniger«, antwortete dieser, wobei er weitere Beeren pflückte. »Wir reinigen und trocknen unsere Haut damit. Richtigzubereitet, vertreiben die Beeren viele innere Schmerzen. Es ist eine nützliche Pflanze.« »Bestimmt ist sie das«, sagte Dunan nickend. Er brach einen prall mit Beeren behangenen Zweig und zupfte ein Blatt heraus. Ein guter Handelsartikel, dachte er. Der Onhla ging in die Hocke, um sein Bündel aufzuknüpfen. Während dieser Tätigkeit wölbten sich die massigen Muskeln auf seinem Rücken wellenförmig. In dem Bündel waren lediglich ein paar einfache Kleidungsstücke, die er sofort anzog. Über ein kurzes, ärmelloses Unterhemd aus weichem, hauchdünn abgewetztem Leder zog er ein lose hängendes, westenähnliches Gebilde aus geknoteten Lederstreifen. Weder Clell noch Dunan hatten je ein solches Kleidungsstück gesehen – wenn es überhaupt ein Kleidungsstück war –, und Clell konnte seine Neugier nicht im Zaum halten. »Was ist das?« fragte er.
»Die Geschichte des Stammes der Bachan, so wie ich mich an sie erinnere.« »Diese Knoten sind also so eine Art Schrift?« »Schrift?« Clell schaute ihn hilflos an. Dunan fiel ein, daß selbst der Begriff »Schrift« auf Hraggellon unbekannt war, und er versuchte, es dem Onhla zu erklären: »Schrift ist eine bestimmte Art, Dinge festzuhalten, die getan und gesagt worden sind, damit andere, die nicht dabei waren, als diese Dinge gesagt und getan wurden, davon erfahren können. Es ist ähnlich wie das, was die Erinnerer mit ihrem Gedächtnis machen.« Der Onhla dachte darüber nach, während er sein Oberkleid anzog, einen braunen Rock mit einembreiten goldenen Streif en, den Farben der Bachan. Nach einer Weile sagte er: »Ja, sie sind Schrift. Sie sorgen dafür, daß Worte und Taten weiterleben, wenn Sagen und Tun schon vorbei sind.« »Was sagen die Knoten?« fragte Dunan. »Nur ein Mitglied meines Stammes darf das wissen«, antwortete der Onhla. Er bückte sich, um den Rest seiner Utensilien von der Erde aufzuheben, zwei breite Dolche aus einem gelblichen, elfenbeinartigen Material, beide etwa von der Länge eines Unterarms. Dunan fragte ihn, ob er sich einen davon einmal ansehen dürfe, und der Onhla reichte ihn ihm. Er inspizierte ihn eingehend, während der Onhla sich den anderen um das Handgelenk legte und befestigte. »Sie sind aus einer Art Knochen gemacht, nicht wahr?« fragte Dunan. »Aus den Innenrippen des Gorwol.« »Das Material ist sehr biegsam. Ist es stark?« Der Onhla sagte nichts. Er ging zu einem der Sträucher am Rande der Lichtung, suchte sich einen Stengel von der Dicke seines Handgelenks, und winkte die beiden zu sich. Er deutete auf den Stengel und sagte: »Schlagt ihn mit eurer Klinge durch!« Dunan prüfte abschätzend die Dicke des Stengels und sagte: »Probieren Sie es, Clell. Sie sind der stärkere von
uns beiden.« Basedow warf seinen Umhang zurück, zückte seinen Dolch und postierte sich vor dem Strauch. Mit einem mächtigen Hieb trieb er die Klinge tief in das Mark des Stengels, durch fast zwei Drittel seines Umfangs. Er hatte so fest zugeschlagen, daß er einige Mühe hatte, die Klinge wieder freizubekommen. Jetzt trat Hult vor. Er streckte die geöffnete Hand aus, und Dunan gab ihm die gelbe Klinge zurück. Mit vier mühelos anmutenden Schlägen köpfte er in blitzschneller Folge die Spitze des Stengels und hieb darunter drei gleich große Scheiben ab. Er hob die Scheiben auf und gab den beiden Händlern je eine. Die dritte nahm er selbst. »Kaut das«, sagte er, während er die Klinge an seinem anderen Handgelenk befestigte. »Es schmeckt gut und gibt Kraft.« Dunan ließ die Scheibe in seine Tasche gleiten, in der auch schon der Rendroodzweig Platz gefunden hatte. Der Onhla erwies sich in der Tat als sehr nützlich. »Ich probiere es später«, sagte er. »Komm jetzt mit uns nach Norion, damit wir dir Proviant geben können.« »Ich brauche keinen Proviant.« »Aber du kannst doch nicht einfach ohne Proviant nach Sternheim …«, platzte Dunan heraus und brach ab, ehe er den Satz vollendet hatte. »Doch, du kannst es vielleicht. Aber wir können es nicht. Wir brauchen Kleider und Nahrung.« »Ihr braucht nichts. Ihr werdet nicht mit mir kommen. Ich jage allein.« »Wir wollen nur ein Stück des Weges mit dir gehen. Wir wollen dir doch helfen. Schließlich sind wir jetzt Partner.« »Ihr könnt mir nicht helfen. Nicht einmal ich halte es lange in dem Teil Sternheims aus, wo der Gorwol haust. Unsere Sonne scheint dort niemals. Ihr würdet sterben, lange bevor wir dort sind. Ihr braucht mir nur eine Fahrt stromaufwärts zu bezahlen und mir sagen, wo wir uns vor
Beginn der nächsten Dunkelzeit wieder treffen sollen.« Clell zupfte ihn verstohlen am Ärmel, aber Dunan schüttelte die Hand ab und sagte: »Einverstanden. Schlag einen Treffpunkt vor.« »An eurem Schiff.« Dunan überlegte einen Moment und nickte dann. Der Treffpunkt paßte ihm gut. Wenn er den Onhla am Schiff traf, hatte keiner viel Zeit herauszufinden, was er vorhatte. Er schickte sich an, dem Onhla den Weg zum Schiff zu erklären, aber dieser fiel ihm gleich nach dem ersten Satz ins Wort. »Ich weiß, wo dein Schiff ist.« Dunan warf ihm einen scharfen, taxierenden Blick zu. »Ich fange langsam an zu glauben, daß du genauso eifrig nach mir gesucht hast wie ich nach dir. Diese Fahrt nach Insgar muß dir wohl eine Menge bedeuten.« »Es ist unsere Abmachung.« »Ja. Und ich werde meinen Teil davon erfüllen. Bring mir die Gorwolpelze, und du bekommst deine Reise nach Insgar und zurück.« Sie gingen gemeinsam zur Kaimauer, und der Onhla schiffte sich auf einem Segelboot ein, das eine Gruppe von Bergleuten und mehrere Pflanzer flußaufwärts bringen sollte. Sein Abschiedsgruß war kurz und bündig. »Ich werde an eurem Schiff sein, wenn die Fluttore vor Einbruch der Dunkelzeit schließen.« Dann wandte er sich um und schlenderte die Laufplanke hinauf, ohne noch einmal hinter sich zu sehen. Erst in diesem Moment fiel Dunan ein, daß er seinen Namen überhaupt noch nicht wußte. Er gestattete sich jedoch nur eine Sekunde Ärger über diesen Schnitzer. Sich jetzt noch den Kopf zerbrechen, nein, dafür fühlte er sich zu gut. Er wußte, daß er sich auf diesen schweigsamen, ungeheuer starken Mann verlassen konnte, auch wenn er seinen Namen nicht kannte. Er würde die Pelze bringen, die Seb Dunans Platz im Sternverein für den Rest seines Lebens sicherte.
Die leuchtenden Segel, drei auf jeder Seite, bauschten sich im Galendergorn; das schlanke Fahrzeug glitt langsam flußaufwärts. Die beiden Händler standen am Kai und sahen ihm nach, bis es in einem Gedränge von Segeln verschwunden war. Dann machten sie kehrt und gingen längs der Kaianlagen zurück zur Stadt. Am Kai herrschte lärmendes, geschäftiges Treiben. Der Weg, der zur Stadt führte, war buchstäblich verstopft mit Bündeln aller Größen, Formen und Farben, die Luft war mit einer ebensolchen Vielzahl von Gerüchen geschwängert wie Norion zur Mittdunkelzeit. Man hatte Dunan darauf hingewiesen, daß sich die Hälfte von Norions Einwohnerschaft mit Beginn der Lichtzeit flußaufwärts begeben würde, aber der Anblick dieser Menschenmenge und die Vorstellung, ähnliche Massen mochten andere Anlegestellen bevölkern, ließ ihn eher zu der Vermutung gelangen, nicht die halbe, sondern die ganze Stadt sei unterwegs und Norion würde über kurz oder lang eine Geisterstadt sein. Bergleute, Fallensteller, Farmer und Holzfäller, alles, was Beine hatte, war aufgebrochen, das Land zu bearbeiten, das sich nun wieder für eine kurze Galgenfrist dem eisigen Griff der Dunkelzeit entwunden hatte. Und die meisten von ihnen hatten ihre Familien bei sich. Überall stapelten sich Werkzeuge, Ausrüstungsgegenstände aller Art und persönliche Habseligkeiten zu großen Haufen. Und allgegenwärtig waren auch die unvermeidlichen Schlachtenbummler, Marketender und Herumlungerer, die bei derartigen Aufläufen niemals fehlen. Es war eine geschäftige, lärmende, farbenprächtige Szenerie, nicht unangenehm anzuschauen für einen Reisenden, der soeben erfolgreich seine Geschäfte abgeschlossen hat und nun eine volle Lichtzeit zur freien Verfügung hat. Dunan ließ die Szenerie genußvoll und zufrieden lächelnd auf sich einwirken, während sie langsam der Stadt zuschlenderten.
»Wie heißt er überhaupt? Haben Sie ihn nicht nach seinem Namen gefragt?« riß Clells Stimme ihn aus seiner schwelgerischen Versunkenheit. »Wer? Meinen Sie den Onhla?« »Natürlich, wen sonst. Sie haben nie seinen Namen erwähnt.« Dunan überlegte rasch. »Sie sagen Außenstehenden niemals ihren Namen. Nur ein anderer Onhla darf ihn erfahren. Und er muß ein Mitglied ihres eigenen Stammes sein.« »Tatsächlich?« »Ja. Es war schon ein großer Vertrauensbeweis, daß er uns überhaupt verraten hat, er gehöre dem Stamm der Bachan an. Das kommt schon einer großzügigen Freundschaftsgeste gleich«, fabulierte Dunan kühn. Gell schaute ihn ungläubig an. »Davon habe ich ja noch nie gehört.« »Nun, jetzt wissen Sie’s. Dafür sind Sie ja hier, mein Junge, um was zu lernen. Sie brauchen bloß die Ohren aufzumachen und mir gut zuzuhören.« Sie bahnten sich ihren Weg weiter durch das Gedränge und kamen schließlich auf einen Platz, an dem sich eine stille Gruppe von etwa vierzig Menschen versammelt hatte, zusammen mit ihrer bescheidenen Habe. Ihre Kleider verrieten, daß es sich ausnahmslos um Erinnerer handelte. Am Fuße des Laufstegs auf einen majestätischen Neunsegler standen zwei Frauen, deren einfarbige, reich mit Fransen besetzte Gewänder auf ihren hohen Rang hinwiesen. Sie waren mit dem Schiffsmeister in eine Diskussion verwickelt. »Ein solches Bild werden Sie nicht allzu oft sehen«, erklärte Dunan seinem Assistenten, wobei er auf die Gruppe zeigte. »Erinnerer reisen für gewöhnlich nicht in so großen Gruppen.« »Nach allem, was ich gehört habe, werden sie ihre Gewohnheiten wohl schon bald ändern müssen«, sagte Gell mit der stolzen Miene des Lehrlings, der endlich auch einmal etwas weiß, das seinem Meister nicht geläufig ist.
»Oh! Und was, wenn ich fragen darf, haben Sie gehört, und wo? Und von wem?« »Ich habe da ein paar Leute kennengelernt, die über viel Einfluß in Orms Regime verfügen.« Er schaute Dunan beifallheischend an. Als dieser jedoch ausblieb, fügte er rasch und wie entschuldigend hinzu: »Sie haben immer gesagt, daß es klug sei, die Mächtigen kennenzulernen. Ich habe nur das getan, was ein Händler Ihrer Meinung nach tun sollte.« »Es ist klug, wenn man es richtig macht«, erwiderte Dunan, dessen Haare sich bei dem Gedanken sträubten, welchen Eindruck dieser aufgeblasene Trottel auf die Herren von Norion gemacht haben mußte. »Schön, erzählen Sie mal – was haben sie Ihnen gesagt?« »Die Erinnerer stehen nicht sehr hoch in Orms Gunst. Er glaubt, daß sie zuviel Macht und Einfluß über die Bürger von Norion haben. Und eigentlich sind sie ja auch bloß Parasiten: sie tun nichts, sie produzieren nichts, und trotzdem kontrollieren sie fast den ganzen Reichtum der Stadt.« Dunan blickte hinüber zu der Gruppe vor dem Laufsteg, runzelte die Stirn und sagte: »Sie sehen für meine Begriffe nicht gerade reich aus. Ist das alles, was Orm gegen sie vorzubringen hat?« »Er beschuldigt sie ja nicht, Reichtum zu besitzen, sondern ihn zu kontrollieren. Sie haben sämtliche Transaktionen, die in Norion stattfinden und stattgefunden haben, im Kopf. Stellen Sie sich doch einmal vor, Seb, was für ein Tohuwabohu sie anrichten könnten! Genau das ist es, was Orm Kopfzerbrechen bereitet. Er fürchtet um das Wohlergehen seiner Untertanen.« »Zum Fürchten liegt kein Grund vor. Die Erinnerer sind geradezu Korrektheitsfanatiker. Höchst unwahrscheinlich, daß sie ihre Position mißbrauchen könnten.« Clell ließ sich nicht so leicht von seiner Meinung abbringen. »Selbst wenn diese Möglichkeit ausgeschlossen
sein sollte, es ist kein Platz mehr für sie in Norion. Orm bringt dem Planeten ein neues Zeitalter, und die Erinnerer gehören der Vergangenheit an. Alles, was sie tun, ist, die Erinnerung an Vergangenes lebendig halten. Das ist alles, was sie in ihren Köpfen haben – die Vergangenheit, alte, unwichtige Dinge, die schon längst vergessen sein sollten. Sie haben sich einfach überlebt. Sie sind langweilig.« Dunan stieß ein mißbilligendes Knurren aus. Clell plapperte die typischen hohlen Phrasen von Emporkömmlingen nach, die neu an der Macht sind und nach einem Sündenbock suchen. Dunan selbst machte sich nicht viel Gedanken über das Schicksal der Erinnerer: er wußte, daß sie und ihr Gewerbe schon todgeweiht waren. In dem Maße, wie Hraggellon seine Handelsbeziehungen zu anderen Welten ausweitete, würden die Schwierigkeiten der Erinnerer, sich den neuen, komplexeren Erfordernissen des Lebens anzupassen, wachsen. Man konnte das bedauern, aber das war nun einmal der Preis für den Fortschritt. Trotzdem war das seiner Meinung nach noch lange kein Grund, sie zum Sündenbock zu stempeln. Er hatte bereits eine eindrucksvolle Kostprobe von Orms Grausamkeit erlebt, und der Gedanke, daß sie sich nun gegen diese harmlose Sekte richten sollte, störte ihn. Du wirst langsam alt, tadelte er sich mit einem Anflug von Wehmut. Jetzt fängst du schon an, dir den Kopf über Sachen zu zerbrechen, die dich nichts angehen. Die Erinnerer werden schon irgendwie klarkommen, auch ohne Seb Dunans Hilfe. Sind sie ja bis jetzt auch. Und wenn sie aus Norion verjagt werden, dann öffnet sich ein Markt für Lauttranskribierer. Lichtkugeln und Lauttranskribierer. Und ein paar hundert Haftanhänger. Und die Pflanzen, die der Onhla uns gezeigt hat … vielleicht könnten sie woanders auch gedeihen … werde das einmal ausprobieren müssen. Die Mission würde ein voller Erfolg. Er war sich dessen jetzt ganz sicher.
Die Kenntnisse über den Planeten sind äußerst gering, und die Bewohner zeigen nur wenig Interesse an einer weitergehenden Erforschung. Es existiert keinerlei Hochseeschiffahrt. Die Küstengewässer sind aufgrund ihrer starken Strömungen für Schiffe, wie sie den Hraggellianern bekannt sind, nicht befahrbar. Die Existenz weiterer Landmassen gilt allgemein als unwahrscheinlich. Es existiert ebenfalls keinerlei Luftverkehr. Der Planet beherbergt allem Anschein nach keinerlei flugfähige Lebewesen, und der Gedanke an Fliegen oder überhaupt die Vorstellung einer solchen Möglichkeit scheint den Bewohnern nie gekommen zu sein. Die Landfortbewegungsmittel sind primitiv. Die Norioniter bewegen sich innerhalb ihrer Stadt ausschließlich zu Fuß vorwärts. Haxopoden werden vorwiegend in den kälteren Regionen verwendet. Während der Dunkelzeit werden die gegen Wärme äußerst empfindlichen Tiere in Ställen an der Peripherie Norions gehalten. Der Handelsverkehr beschränkt sich auf die Wasserstraßen im Inland. Während der Helligkeitsperiode schwellen die Seen und Flüsse gewaltig an, und der Wind schlägt um. Flußabwärts fahren die Arbeitskräfte mit Hilfe der Strömung, flußaufwärts zum Kariarsee, einem riesigen Binnenmeer, verkehren die Schiffe mit Hilfe von Segeln. Mindestens fünf kleinere Flüsse münden in den Kariarsee, und über diese Verkehrswege … Volin Meibon, Sekundär Zweite Hraggellon- Kontaktmission
4. Flußaufwärts nach Sternheim Der Moharil hatte jetzt seinen Höchststand erreicht. Sein Wasser ließ die Felder erblühen und füllte die Vorratsteiche, Tanks und Zisternen Norions randvoll, bevor die lange Trockenheit der Mittlichtperiode anbrach. Zu dieser frühen Phase der Lichtzeit hatte der Galendergorn noch nicht seine volle Stärke erreicht, und die Fahrt flußaufwärts zur ersten Anlegestelle verlief langsam. Für den Großteil der Passagiere war sie überdies sehr unbequem. Hult indessen berührte das alles nicht. Er fand eine Stelle nahe beim Bug des Schiffes, wo er allein war, und ließ sich dort nieder, um sich auszuruhen. Wenn er gewollt hätte, hätte er zu Fuß – ja sogar schwimmend – schneller vorankommen können, aber er hatte es nicht eilig. Er wußte, wieviel Zeit seine Arbeit in Anspruch nehmen würde, und er wußte auch, daß er danach noch genügend Zeit haben würde, um ohne Hast pünktlich am ausgemachten Treffpunkt zu erscheinen. Er sparte sich seine Kräfte für die Jagd auf. Die kalte Gischt tat seiner Haut gut, und er schlief tief und fest, bis sie die Anlegestelle erreichten. Als er aufwachte, übertönte das Rauschen fallenden Wassers alle anderen Geräusche. Das Boot war inzwischen in eine ruhige Fahrrinne hinter einer Buhne eingelaufen, und als er aufstand, sah er, daß Matrosen schon die Anlegetaue bereithielten. Wenig später war das Boot fest vertäut, die Segel eingeholt, und die ersten Passagiere drängten sich zum Landungssteg. Sie sammelten sich am Ufer, um von dort aus den Aufstieg zum Kariarsee und zur zweiten Etappe der Reise in Angriff zu nehmen. Jeder trug sein eigenes Gepäck – man lernte in Hraggellon rasch, nur mit leichtem Gepäck zu reisen. Der Anstieg über den schmalen Bergpfad ging nur
langsam vonstatten. Hult blieb ein Stück zurück, um seinen Blick über das Land schweifen zu lassen. Es hatte unbestreitbar etwas Großes, Erhabenes an sich, und es gefiel ihm, daß er endlich einmal wieder die volle Sehkraft seiner Augen ausnutzen konnte. In der Enge der überdachten Stadt hatte er immer das Gefühl gehabt, als würde er von seiner Umgebung erdrückt, aber hier war die Sicht frei und ungetrübt. Das eisige Wasser brauste in einem schäumenden Bogen aus den Fluttoren, donnerte in die Tiefe und füllte die Luft mit einem feinen Gischtnebel. Als er hinunterschaute, glitt gerade ein leeres Boot mit eingerollten Segeln aus dem Schutz der Buhne hervor. Sofort wurde es von der reißenden Strömung des Flusses gepackt und schoß mit rasender Fahrt flußabwärts, unwiderruflich Norion entgegen. Dort angekommen, würde es sofort die nächste Ladung ungeduldig wartender Passagiere aufnehmen und erneut seine langsame Kletterfahrt gegen die Strömung beginnen. Hult sah dem Boot nach, bis es verschwunden war, dann machte er sich seinerseits auf den Weg. Er atmete tief durch, sog in vollen Zügen die kalte, wohltuende Luft ein. Er hatte zwei Dunkelzeiten in der Enge von Mauern verbracht, das war genug. Doch seine Geduld hatte sich bezahlt gemacht. Es war gut, wieder auf dem Weg nach Sternheim zu sein. Er schloß zu seiner Gruppe auf und reihte sich hinter zwei ehrwürdig aussehende Erinnerer ein. Während seiner Zeit in der Stadt hatte er viel Schlechtes über diese Leute gehört, aber er hatte nichts gesehen, was diese Ansicht bestätigt hätte. Für ihn waren sie redlicher als diejenigen, die ihnen übel nachredeten. Die, die Schlechtes über die Erinnerer sagten, waren Männer wie dieser junge Händler. Das war kein Mann, dem man trauen durfte. Der ältere dagegen schien aufrichtig, aber der jüngere war wie die Männer in den Gasthäu-
sern und den Versammlungsräumen. Er hielt sich für etwas Besseres, als er in Wirklichkeit war, und er würde nicht aus seinen Fehlern lernen. Solche Männer blieben nicht lange auf Hraggellon. Kein Fremdweltler tat das. Selbst der ältere Händler würde ihn wahrscheinlich betrügen, wenn sich die Gelegenheit dafür böte. So waren die Menschen nun einmal, und am schlimmsten die Fremdweltler. Die Menschen von Norion waren zumindest auf dieser Welt zu Hause und kannten sie, aber die Fremdweltler waren ein verdorbener, gesichtsloser Haufen – ein Wirrwarr von Formen, Größen und Farben, mit vielen harten, unangenehm klingenden Sprachen, mit stumpfen Sinnen, törichten Traditionen. In ihnen war keine Wahrheit. Ihre Farben bedeuteten ihnen nichts; sie trugen keine Geschichten an ihren Körpern, die ihnen Kraft gaben und Identität und Bedeutung. Sie konnten keine Hitze oder Kälte vertragen wie die Onhla. Gewiß, sie hatten Schiffe, die mit unvorstellbarer Geschwindigkeit von Stern zu Stern flogen, aber die Welten, zu denen sie flogen, waren unbedeutend. Es gab keine andere Welt von Bedeutung. Nur auf Hraggellon konnte man richtig leben. Die Fremdweltler hetzten von Welt zu Welt, weil sie alle dumm und gierig waren. Man konnte mit ihnen zusammenarbeiten, aber man durfte ihnen niemals trauen. Nur einem Onhla konnte man trauen. Der Pfad war steil, und die beiden älteren Erinnerer vor ihm hatten ihre Mühe mit dem Aufstieg. Jeder von ihnen trug ein großes Bündel. Sie taumelten unter ihrer schweren Last. Als sie zum zweiten Mal stehenblieben, um zu verschnaufen, sah Hult, daß sie kurz vor dem Zusammenbruch standen. »Ich trage die hier zum Boot«, sagte er, packte ihre Bündel und warf sie sich über die Schulter. »Wir danken dir, aber wir können dich doch nicht einfach um einen Gefallen bitten«, sagte einer der beiden.
»Ihr habt mich auch nicht gebeten. Ich habe es selbst angeboten«, erwiderte Hult. »Aber wir müssen … wir können doch nicht …«, setzte der andere verlegen an. »Meine Kraft ist größer als eure. Kommt jetzt«, beendete Hult die Diskussion und schritt kurzerhand vorneweg. Die Erinnerer folgten ihm. Hult handelte nicht aus Güte. Er wußte, daß die Angehörigen der anderen Rassen Hraggellons mit dem Alter schwächer wurden, aber es störte ihn einfach, zu sehen, wenn die Schwachen versuchten, eine Arbeit zu verrichten, die die Starken viel besser tun konnten. Außerdem waren die Erinnerer eine gute Informationsquelle. Es hieß, daß sie alles wußten, was auf Hraggellon geschehen war, selbst in längst vergangenen Zeiten. Er würde sie für seine Körperkraft mit ihrer Kraft bezahlen lassen, der Kraft des Wissens. Auch ohne sich umzudrehen, wußte er durch seinen Ortungssinn, daß sie dicht hinter ihm gingen. Er hörte, wie sie leise miteinander sprachen und verlangsamte seinen Schritt, bis sie auf Hörweite heran waren. Sie unterhielten sich in ihrer eigenen Sprache. Hult besaß eine gewisse Kenntnis von dieser Sprache, aber er konnte nicht alles verstehen, was sie sagten. Er konnte ihren Worten jedoch entnehmen, daß sie auf der Flucht waren und eine Zuflucht suchten. Aus dem Klang ihrer Stimmen hörte er deutlich die Unsicherheit des einen und die wachsende Furcht des anderen heraus. Was er im Gasthof aufgeschnappt hatte, stimmte also. Unter den neuen Herrschern von Norion wuchs die Ablehnung gegen diese Leute. Diese beiden Erinnerer und die anderen, die mit ihnen reisten, erhofften sich ein sichereres Leben in einer der Farmersiedlungen am Oberlauf des Moharil, jenseits des Kariarsees. Hult sah wenig Hoffnung für sie. Nur wenige Menschen lebten in jenen Siedlungen;
manche lebten sogar in noch abgelegeneren Dörfern, in Gegenden, wo die meiste Zeit des Jahres Dunkelheit und bittere Kälte herrschte. Außerdem konnte in der ewigen Dunkelheit Sternheims höchstens ein Onhla längere Zeit leben. Erinnerer lebten in Mauern. Zu lange schon hatten sie mit ihrem Geist und ihrem Gedächtnis gearbeitet, statt mit der Kraft und Ausdauer ihrer Körper. Sie unterschieden sich zu stark von dem harten Menschenschlag, der in den Siedlungen lebte, und Hult bezweifelte, ob sie die Fähigkeit besaßen, sich schnell genug den dort herrschenden Überlebensbedingungen anzupassen. Aus dem Klang ihrer Worte schloß er, daß sie fest daran glaubten, ein neues Leben sei für sie möglich. Seiner Meinung nach überschätzten sie sich, aber er sagte nichts. Ein Onhla gab einem Außenstehenden niemals Ratschläge, selbst einem anderen Onhla bot er sie nur selten an. Die wichtigen Lektionen durften nicht gelehrt, sondern mußten selbst gelernt werden. Sie erreichten den Bergkamm. Vor ihnen erstreckte sich der Kariarsee, ein riesiger Binnensee, der jetzt durch die Schneeschmelze auf das Fünffache seiner Dunkelzeitgröße angeschwollen war. Sein gegenüberliegendes Ende verlor sich im Dunst. Die Strömung des Sees war weit weniger stark als die des Moharil, und das große, breitbordige Seeschiff wirkte im Vergleich zu den schlanken Segelbooten des Flusses plump. Es war kaum mehr als ein besseres Floß mit hohen Masten, um auch den letzten Hauch des Galendergorn einzufangen, und neun stämmigen Ruderern auf jeder Seite. Als sie ankamen, war das Schiff schon fast voll beladen. Laute Rufe flogen an Bord hin und her. Eine Gruppe Erinnerer scharte sich ängstlich spähend an der Reling, und die Erleichterung, die auf ihre Gesichter trat, als sie die beiden Alten gewahrten, war unübersehbar. Hult trug die Bündel an Bord und wartete auf die beiden alten Männer.
Eine Frau trat vor ihn. Die Fransen an ihrem Gewand wiesen sie als Führerin aus. Sie legte die Fingerspitzen an ihr Ohrläppchen, dann an ihre Lippen, streckte die Hand mit der Handfläche nach unten aus und wartete auf seine Erwiderung. Hult erkannte den Gruß und erwiderte ihn. Sie sprach ihn im Dialekt Norions an. »Wir danken dir, daß du unseren Evoden behilflich warst. Waren sie mit ihren Kräften am Ende?« »Fast. Sie versuchten, mehr zu tragen, als ihre Kraft zuläßt.« »Wir sind alle schwer beladen.« »Das sehe ich«, entgegnete Hult und warf einen kurzen Blick auf die Bündel, die sich an Deck stapelten. »Ihr verlaßt Norion also für immer?« Sie zögerte mit der Antwort. »Wir gehen nur für gewisse Zeit fort.« »Ich hörte die Dinge, die man in Norion über die Erinnerer sagt. Es sind Lügen.« »Zu viele glauben sie. Es wurde zu gefährlich, dort zu bleiben.« Die beiden Alten, die Evoden der kleinen Gruppe, traten jetzt zu ihm. Sie entboten ihm ihren Gruß, und nachdem er ihn erwidert hatte, drückte ihm der ältere der beiden ihren Dank für seine Hilfe aus. »Was können wir dir als Gegenleistung anbieten?« fügte er hinzu. »Habt ihr einen Varasdoden unter euch?« »Nein«, antwortete die Frau. »Wir sind Mendoden und Paturdoden, dazu die zwei Evoden. Das ist alles. Ein paar Varasdoden sind in Norion zurückgeblieben.« »Ich brauche die Erinnerung eines Varasdoden. Als Gegenleistung dafür helfe ich euch beim Tragen eurer Bündel bis zur Anlegestelle am Oberlauf.« »Ich muß mit den anderen Frauen sprechen. Wenn sie einen Varasdoden kennen, der uns helfen könnte, nehmen
wir dein Angebot an. Andernfalls sind wir nicht in der Lage, dir deine Hilfe zu entgelten.« Sie ließ Hult mit den zwei Evoden allein. Er half den beiden gebrechlichen alten Männern, ihre Bündel im Windschutz des Stapels, der die Mitte des Decks einnahm, so auszubreiten, daß sie sich bequem darauf zur Ruhe betten konnten. Die beiden ließen sich nieder und zogen ihre Umhänge ein wenig fester um die Schultern. Jetzt gesellten sich zu ihnen noch zwei junge Mendoden, die sich neben den beiden Alten niederließen. Der ältere der Greise sah Hult an. »Wir werden jetzt eine Weile das Dur-ron-ag-Spiel spielen.« Er legte beide Hände sanft auf die Köpfe der Mendoden. »Es wurde vom Lehrer meines Lehrers begonnen, als er jünger war als diese beiden hier. Vielleicht werden ihre Schüler einst sein Ende erleben.« »Vielleicht«, sagte Hult. Er hatte schon einmal von diesem hochkomplizierten Spiel der Erinnerer gehört, aber er wußte nicht viel darüber und interessierte sich auch nicht sonderlich dafür. Das Dur-ron-ag wurde ausschließlich mit dem Gedächtnis gespielt. Ein einziges Spiel dauerte oft mehrere Generationen, da es vom Lehrer auf den Schüler und von diesem auf dessen Schüler überging. Es schulte die Disziplin der Jungen, diente den Alten zu Entspannung und bereitete allen großes Vergnügen. Doch nur ein Erinnerer konnte an diesem Spiel mit Gewinn teilnehmen. Der Alte schloß die Augen und konzentrierte sich. Die anderen blickten ihn voller Spannung an. Nach einer Weile öffnete er wieder die Augen und legte den anderen den Plan seines Spiels dar: »Der Weber begibt sich auf die dritte Ebene und rückt unbehelligt bis zu dem Platz zwischen den Zwei Türmen vor. Dort wartet er. Hinter dem Roten Berg versammeln sich die Steppenbewohner und bilden die Formation von Daldirian gegen den Altoboden, aber ihr Führer wird von den Gehörnten Reitern bedroht. Der Kraftmacher
dreht sich. Alle, die die fünfte Ebene überqueren, geraten in Verwirrung. Und hier die Probleme, die ihr lösen müßt: Erstens, findet den Wanderer und bestimmt seine Identität. Zweitens, schließt den Durchgang von der sechsten auf die fünfte Ebene, ohne jedoch die Novizen in Gefahr zu bringen. Drittens, hindert den Weber am Vorrücken über die Zwei Türme hinaus.« Die Mendoden schauten ihn ehrfurchtsvoll an. Der andere Evode verzog keine Miene. Er saß stumm da, mit geschlossenen Augen, und rief sich die Bewegungen und Gegenbewegungen von drei Generationen ins Gedächtnis zurück. Viele sprachen mit Ehrfurcht von dem Spiel der Erinnerer, aber auf Hult machte es wenig Eindruck. Er konnte nicht verstehen, daß solch weise Männer wie die Evoden ihre Kraft in einem Spiel vergeudeten. Für die Mendoden und Paturdoden mochte es ja noch einigermaßen sinnvoll sein, weil es ihre Konzentration schärfte, aber die Evoden waren die Bewahrer der Mythen und sollten ihre Begabung nicht sinnlos verschwenden. So dachte Hult, aber er enthielt sich jeglicher Kritik. Es war schließlich nicht seine Angelegenheit. Das Dur-ron-ag-Spiel wirkte auf einen uneingeweihten Beobachter eher langweilig. Hult ließ die vier Erinnerer allein mit ihrem Spiel und begab sich zum Bug, wo die Luft am kältesten war. Wenig später kam die Führerin der Erinnerer zu ihm. »Wir können dir die Hilfe eines Varasdoden nicht versprechen. Vielleicht wartet einer an der zweiten Anlegestelle, um uns in Empfang zu nehmen, aber das ist ungewiß. Willst du mir nicht sagen, welche Erinnerungen du wünscht?« fragte sie ihn. »Ich möchte wissen, was seit der Zeit der Schüttelkrankheit mit dem Onhla geschehen ist«, antwortete Hult.
»Ja, dafür brauchst du in der Tat einen Varasdoden. Stämme und Völker sind deren Gebiet. Aber vielleicht kann auch einer unserer Mendoden dir weiterhelfen. Sie besitzen Erinnerungen an Krankheiten und Heilungen.« Hult überdachte den Vorschlag und verwarf ihn. »Der Mendode kann mir nur sagen, wie viele starben. Ich würde aber gern mehr wissen.« »Vielleicht bringt dich das ein Stück weiter, wenn du erst weißt, wie viele gestorben sind. Wenn du willst, rufe ich den Mendoden sofort her. Wir möchten uns gerne für deine Hilfe erkenntlich zeigen.« Erneut schlug Hult das Angebot aus. Er hatte keinen Bedarf für die Flut von Erinnerungen eines Mendoden. Es führte zu nichts, wenn er zuhörte, wie ein junger Mann Zahlenreihen heruntersagte. Hult wußte auf eine für Außenstehende unbegreifliche Art, daß alle Onhla außer ihm an der Seuche und an dem darauffolgenden Wahnsinn gestorben waren. Was er wissen wollte, war die Reaktion der übrigen Hraggellianer auf diese Nachricht und ihre praktischen Folgen und Auswirkungen. Ein Varasdode verfügte über Erinnerungen an Stämme, Sippen und Siedlungen, er konnte Auskunft über alle größeren Bewegungen, Umsiedlungen, Wanderungen geben, die auf dem Planeten stattfanden. Wenn irgend jemand sich in die Jagdgründe der Onhla vorgewagt oder versucht hatte, sich die Tormagon untenan zu machen, würde ein Varasdode das wissen. Aber wenn sich kein Varasdode finden ließ, war es auch nicht tragisch: Hult würde die Antworten, die er suchte, bald selbst herausfinden. Lieber wäre es ihm jedoch gewesen, wenn er sie schon jetzt gewußt hätte. Wer in den kalten Regionen lebte, lernte sehr schnell, wie man Überraschungen möglichst vermied. Da sie seine Hilfe nicht mit ihrem Wissen bezahlen konnten, bestanden die Erinnerer darauf, ihr Mahl mit ihm zu teilen. Zu ihrem Glück durchlief Hult gerade eine Phase
metabolischer Veränderungen und aß daher nur eine Handvoll von den frisch gefangenen Handschuhfischen. Wenn sich sein Körper erst einmal an die Kälte des Schattenlandes angepaßt hatte, dann würde er in der Lage sein, während einer einzigen Mahlzeit die Hälfte seines Körpergewichts an Nahrung zu verzehren. Die Erinnerer machten keine Bemerkungen über seinen mangelnden Appetit, aber er spürte deutlich ihre Verwunderung. Nach dem Mahl verließ er die Erinnerer und machte es sich wieder an seinem Platz im Bug des Schiffes bequem. Die Luft wurde jetzt zusehends dunstiger, er spürte die ersten schwachen Vorboten des Windes, der aus Sternheim blies, auf seiner Haut. Die anderen Passagiere zogen sich fröstelnd zurück, aber Hult empfand die Kühle geradezu als Wohltat und genoß sie um so mehr, als nun keine zitternden Menschen mehr in seiner unmittelbaren Nähe waren. Er rekelte sich voller Behagen gegen einen Stapel, entspannte Körper und Geist, und richtete sein Augenmerk nach vorn auf den dichter werdenden Dunst. Das Stimmengewirr der Passagiere hinter ihm schwoll leise an und ab, dann verstummte es völlig. Nach einer Weile des Schweigens begann eine einzelne Stimme in rhythmischem Sprechgesang die allen Bewohnern von Norion und den Siedlungen so vertraute Sage von Daldirian zu rezitieren. Es war die Stimme des älteren der beiden Evoden. Der alte Mann sang die Geschichte von Daldirians Reise ins dunkle Königreich des Hrull und seiner Suche nach der schönen Gliantha. Dies war eine der bekanntesten und beliebtesten Geschichten. Hult hatte sie oft gehört. Er schloß die Augen und lauschte, und es dauerte nicht lange, bis er in einen tiefen, traumlosen Schlaf sank. Bald darauf lief das Floß seine erste Zwischenstation an. Die Ruderer, die Mannschaft und die Passagiere beeilten sich, an Land und in den Schutz der warmen Hütten zu
kommen. Hult indessen blieb an Bord und schlief behaglich weiter. Am fünften Landepunkt, der Anlegestelle für den Unteren See, verließen die Bergleute das Floß, um den Korkariar hinaufzufahren, zu den Erzminen in den Bergen. Hult war froh, daß sie gingen. Wie alle Onhla empfand er eine tiefe Abneigung gegen Menschen, die in der Erde arbeiteten. Am achten Landepunkt ging er an Land und aß ein wenig. Danach ließ er sich wieder am Bug nieder und starrte unverwandt nach vorn, dorthin, wo die Mündung des Oberen Moharil hinter einer dicken Nebelwand lag. Bald hatte der kalte, weiße Nebel das Floß völlig eingehüllt. Die anderen zogen ihre Umhänge noch ein wenig fester um die Schultern, doch Hult rekelte und streckte sich wohlig in der eisigen Luft. Das dunkle Wasser wurde unruhiger, die Ruderer legten sich kräftiger in die Riemen. Die Mündung des Flusses kündigte sich an. Noch zweimal legten sie an. Beim zweiten Mal verließen alle das Schiff, um ihre Reise flußaufwärts fortzusetzen. Von diesem Punkt der Reise an waren Segel nutzlos; schon während der Fahrt durch den Nebel hatten die Segel schlaff heruntergehangen und waren vor dem Erreichen der vorletzten Landestelle eingerollt worden. Der Galendergorn hatte spätestens hier all seine Kraft eingebüßt. Statt dessen wehte ein kalter Wind aus dem Tal des Oberen Moharil, zwar schwach zumeist, selten nur in heftigen Böen, doch stetig. Im Verein mit der starken Strömung machte er das Vorwärtskommen auf diesem Abschnitt des Flusses zu einem schwierigen, kraftraubenden und kostspieligen Unterfangen. Die einzige Antriebskraft waren die kräftigen Arme der Berufsruderer. Ohne sie war jede Bergfahrt unmöglich, und der Obere Moharil war die sicherste Route, nicht nur zu den Anbauterrassen, sondern auch zum Schattenland und nach Sternheim.
Hult hatte sein Quantum an menschlicher Gesellschaft im Übermaß gehabt. Er entschloß sich daher, von diesem Punkt an allein weiterzureisen, indem er dem Karawanenpfad folgte. Zu dieser Jahreszeit drohte einem einsamen, ohne Gepäck reisenden Wanderer auf dieser Straße keine sonderliche Gefahr. Erst zur Zeit der zweiten Ernte, in der Phase des Letztlichts, wenn die Jäger und Bergleute vollbepackt mit den Ergebnissen der Arbeit einer ganzen Lichtzeit nach Norion zurückkehrten, schlugen die Räuber und Wegelagerer zu. Jetzt jedoch war der Karawanenpfad sicher. Er brach sofort auf, nachdem das Schiff angelegt hatte. Ohne einen Blick auf die am Straßenrand feilgebotenen Waren zu verschwenden, ging er durch das geschäftige Hafenviertel. Die Rufe der Händler, die ihre Waren anpriesen, ignorierte er. Weder brauchte noch wollte er etwas von ihnen. Alles, was er an Kleidung benötigte, trug er am Leib. Für seine Nahrung würde er unterwegs sorgen; sie jetzt schon zu kaufen und den ganzen Weg mitzuschleppen war sinnlos. Seine Waffen trug er an den Handgelenken, und Werkzeuge brauchte er keine. Die lockenden Rufe der Frauen am Straßenrand ließen ihn kalt; sie waren keine Onhla. Der Karawanenpfad verlief eine Weile parallel zum Fluß und machte dann eine scharfe Biegung um den Nesarlasee herum. Längs des Seeufers führte der Weg durch dichten Wald. Hier verließ ihn Hult zum ersten Mal, um zu jagen. Er erlegte einen schnellfüßigen Seexet, garte ihn langsam auf einem kleinen Feuer und krönte das Mahl mit einer Handvoll köstlich mundender, golden schimmernder Triddbeeren. Als er satt war, suchte er sich eine schattige Stelle und schlief. Die nächste Etappe seiner Wanderung führte ihn in höhergelegene Regionen. In den Hügeln des Hochlandes sah er die ersten Sonnensucher in voller Blüte. Für einen, der sie nicht kannte, hatten diese Pflanzen etwas
Furchterregendes an sich. Für Hult indessen waren sie nur ein vertrautes Wahrzeichen. Vor ihm erstreckten sich, weit über das Land verstreut, Dutzende von riesigen schwarzen Scheiben, die aussahen wie gähnende schwarze Höhleneingänge. Es sah so aus, als schwebten sie knapp über der Erdoberfläche. Jede einzelne dieser Pflanzen hatte ihre trichterförmige Öffnung direkt auf Hraggellons Sonne gerichtet, die jetzt eine volle Unterarmlänge über dem Horizont hing. Das Innere des Trichters war mit einer samtartigen Schicht aus zahllosen, tiefschwarzen Fingern ausgeschlagen. Diese Schicht absorbierte Wärme und Sonnenlicht und wandelte diese in Nahrung um, die in den tief im Erdreich steckenden Knollenwurzeln der Pflanze gespeichert wurde und ihr das Überleben während der Dunkelzeit sicherte. Mit Beginn der Lichtzeit öffneten sich die samtschwarzen Trichter der Pflanze und folgten der Sonne in ihrem langsamen Aufstieg zum Zenit, bis sie zur Mittlichtzeit steil in die Höhe ragten wie ein riesiges Orchester gigantischer Trompeten, die sich zu einer stummen Fanfare erhoben. Und wenn die Sonne wieder sank, neigten sie sich langsam hinunter zum Horizont, um sich wieder zu schließen, sobald der letzte fahle Strahl des Letztlichts erloschen war. Noch dichter als hier wuchsen sie im Schattenland, und mehr als einmal hatten ihre bitter schmeckenden Wurzeln Onhla und Tormagon in Zeiten magerer Jagdbeute vor dem Verhungern bewahrt. Für Hult waren sie ein willkommenes Zeichen, daß er seinen Stammesjagdgründen nicht mehr allzu fern war. Er wanderte weiter, über Teppiche leuchtender kleiner Blumen, das gleichmäßige Licht der Sonne im Rücken. Bald vereinte sich der Pfad erneut mit dem Fluß und entfernte sich erst wieder von ihm, als Hult weitere sechs Ruhepausen hinter sich hatte. Er folgte ihm, bis er in der Ferne die Zwillingsberge auftauchen sah, die sich neben dem
schwarzen See erhoben, und verließ ihn dann, um dem alten Onhlapfad zu folgen. Die Sonne stand jetzt genau über seiner rechten Schulter. Er ging geradeaus weiter, bis sich zu seinen Füßen ein schwarzer See wie ein dunkler Spiegel auftat. Dieser bildete die Grenze des Onhlagebietes. Er hatte keinen Namen; er war schlicht das dunkle Wasser, das nur wenige überquerten. Er jagte, aß und schlief lange und fest an seinem Ufer. Dann sprang er hinein, um den weiten Weg zum gegenüberliegenden Ufer zu schwimmen. Kein Mensch hätte in dem eiskalten Wasser lange überlebt; auf ihn wirkte es hingegen erfrischend und belebend. Am anderen Ufer schüttelte er sich trocken und begab sich, nun wieder mit der Sonne im Rücken, auf die letzte lange Etappe seiner Wanderung. Die Schatten begannen länger zu werden, je weiter er vorankam, und die Wärme der Sonne war kaum mehr spürbar. Er legte jetzt längere Strecken in einem Stück zurück und rastete seltener. Als er die letzte der zerklüfteten Hügelketten überquert hatte, blieb er stehen und sog die Luft tief ein. Der Wind trug einen schwachen Geruch von Tormagon. Er ortete sie in weiter Ferne und lenkte seine Schritte in ihre Richtung. Er schritt kraftvoll aus und kam rasch voran. Jetzt brauchte er keine Rast mehr. Er war wieder zu Hause. Sie witterten ihn schon von weitem und sprangen ihm entgegen, um ihn zu begrüßen. Arll war noch immer der Führer des Rudels, und er begrüßte Hult mit der seiner Art eigenen wilden Zärtlichkeit. Knurrend und spielerisch raufend tollten sie herum und wälzten sich ausgelassen auf dem weichen Erdboden. Die anderen zögerten einen Moment, doch dann taten sie es ihrem Führer gleich, und die fröhliche Wiedersehens feier hatte erst ein Ende, als Arll zur Jagd und zu einem Begrüßungsschmaus rief. Als sie nach einer Weile um die Glut saßen und sich an den köstlich duftenden Seexet gütlich taten, ließ Hult sei-
nen Blick auf der Suche nach vertrauten Gesichtern aus seinen Kindertagen durch die Runde schweifen. Viele Gesichter fehlten. Vier Dunkelzeiten hatten große Veränderungen für das Rudel gebracht. Der alte Haggrap und Norlor, zwei der erfahrensten Jäger, waren im Kampf mit einer Herde Tulk getötet worden. Arll selbst hatte aus jener verlustreichen Schlacht eine lange Narbe mitgebracht. Die jungen Jäger, die die beiden alten Recken ersetzt hatten, waren kurz hintereinander, wegen ihrer Felle, von Menschen getötet worden. Junge gab es nur wenige, und die anwesenden waren dürr und knochig. Schlechte Zeiten waren über das Rudel gekommen. Das Problem war einfach: Die Nahrung ließ sich nicht mehr so leicht beschaffen wie in früheren Zeiten. Seit Hult sie nicht mehr führte, war ihre alte Furcht vor Sternheim zurückgekehrt. Die Eisgleiter hatten sich so tief ins Innere Sternheims zurückgezogen, daß sie ihnen nicht mehr folgen konnten, und auch die Bucdyn hatten im Schutz des ewigen Eises und der Dunkelheit Zuflucht gesucht. Zwar sah man jetzt die Tulk häufiger als früher, doch hatten diese gelernt, sich gegen die Tormagon zu verteidigen. Bald würde das Rudel zu klein sein, um während der Dunkelzeit erfolgreich zu jagen, wenn das Fleisch am besten war. Schon den größten Teil der soeben zu Ende gegangenen Dunkelzeit hatten sie sich von den Wurzeln des Sonnensuchers ernährt. Nicht wenige der Jungtiere hatten noch nie vom Fleisch des Sternheimwildes gekostet, lediglich vom häufig vorkommenden Seexet. Arll schaute Hult traurig an und sagte ihm, er glaube, daß die Tormagon bald aussterben würden, genau wie die Onhla. Hult widersprach ihm. Wenn die Zeiten schlecht seien und die alten Jagdgründe sie nicht langer ernähren könnten, dann müßten sie nach neuen Jagdgründen suchen. Sie müßten jetzt zurückkehren in die Kälte Sternheims und dort
nach neuen Herden suchen. Aber das Rudel sträubte sich dagegen. Es wollte nicht wieder in die Kälte zurück. Es sei die Zeit, da man der Sonne entgegengehen müsse, nicht die Zeit, um in die eisige Düsternis zu gehen. Es sei die Zeit der Paarung, die Zeit, da man nach den wohlschmeckenden Tieren des Wassers tauchen müsse, die Zeit, da man sich an den köstlichen Früchten der Feuerblume laben solle. Hult ließ sie geduldig ausreden; als alle zu Ende gesprochen hatten, sagte er trocken: »Tut das, und in drei Dunkelzeiten wird es euer Rudel nicht mehr geben.« Arll gab ihm recht. Das Rudel überlegte eine Weile. Gragunda, Arlls Gefährtin, fragte Hult, was er vorschlage. »Ich bin auf dem Wege nach Sternheim, um dort den Gorwol zu jagen. Ich brauche sein Fell, um dorthin zu gelangen, wo andere Onhla sind. Mein Weg führt in neue Jagdgründe, die nur ich kenne. Kommt mit mir. Dort gibt es für alle Nahrung im Überfluß. Das Rudel wird wachsen und wieder erstarken.« Arll war sofort einverstanden. Ein paar der alten Jäger und deren Gefährtinnen kannten ihn von früher her, als er noch ihr Führer gewesen war. Sie respektierten ihn und waren bereit, seinem Rat zu folgen. Aber auch etliche jüngere, zu jener Zeit noch nicht erwachsen, glaubten seiner Botschaft und traten an seine Seite, noch während er sprach. Hult war als vernunftbegabtes Wesen unter den instinktgeleiteten Tormagon aufgewachsen. Ihre Intelligenz glich der von Kindern. Sie experimentierten nicht und suchten nicht nach neuen Wegen. Sie taten das, was immer schon getan worden war. Wenn die althergebrachten Methoden nicht mehr funktionierten, dann starb das Rudel aus. Arll hatte zwar einiges von Hult gelernt, aber Arll besaß nicht genügend Intelligenz, um Hults Methoden zu übernehmen und sie erfolgreich anzuwenden. Hult kannte die Gründe für gute Jagdzeiten und für schlechte. Die Tiere,
die in Sternheim lebten, konnten sich nicht ständig dort aufhalten, denn in den Eiswüsten wuchs keine Nahrung, und das Eis war bis auf die äußersten Randzonen zu dick, um es zu durchbrechen. So mußten sie bisweilen Sternheim verlassen und auf Nahrungssuche gehen. Wenn sie nun nicht in ihre gewohnten Weidegründe kamen, dann deshalb, weil sie neue gefunden hatten. Die, die sich vom Tulk, vom Eisgleiter und vom Bucdyn ernährten, mußten ihm daher wohl oder übel folgen. Das mußte auch er, der er den Gorwol suchte. Wenn der Weg dorthin durch Sternheim führte, dann würde es hart werden. Aber es gab keine andere Wahl. Das Rudel beriet sich, schlief und beriet sich erneut. Es wurde beschlossen, daß Hult und Arll eine kleine Gruppe von Jägern nach Sternheim führen sollte, während der Rest des Rudels unter der Führung Gragundas dem Licht entgegengehen wollte. Als der Beschluß einmal gefaßt war, vergeudeten sie keine Zeit mehr, sondern teilten ihre Nahrungsvorräte und machten sich auf den Weg. Die Sonne versank hinter den Jägern und verschwand schließlich unter dem Horizont. Tiefer und tiefer stießen sie in das Eis und die Dunkelheit vor, immer heller und zahlreicher wurden die Sterne. Der Marsch war hart und entbehrungsreich. Ihre schützende Fettschicht war bald aufgebraucht, ihre Felle wurden zusehends lichter, aber sie murrten nicht. Sie schleppten sich weiter, Schritt für Schritt, unter dem kalten, freudlosen Licht der fernen Sterne. Hult kannte die Gefahr, und er trieb sie unerbittlich vorwärts. Sie standen kurz vor dem Zusammenbruch, als er die Mündung der Großen Schlucht durchquerte und sie zu ihrer Verwunderung wieder aus Sternheim hinauszuführen begann, auf den Rand von Lichtheim zu. Sie schauten ihn erstaunt und fragend an, aber sie sagten nichts. Sie vertrauten ihm. Ihre Vorräte wurden gefährlich knapp, Wild gab
es nur spärlich. Sie stießen auf ein verirrtes junges Bucdyn und töteten es, aber sein Fleisch reichte gerade, ihren ausgemergelten Körpern die Kraft für den nächsten Marsch zu geben. Der einsam umherstreunende Tulk, den sie bald darauf stellten, war keine so leichte Beute, aber er machte sie satt. Mit vollen Bäuchen und frischem Fleischvorrat marschierten sie mit neuem Schwung weiter. Bald darauf tauchte ein schmaler, goldener Streifen Sonne am Horizont auf, und Hult deutete auf die neuen Jagdgründe, die sich aus der weißen Ebene vor ihnen erhoben. Es war eine Insel, unberührt und frei von allen Jägern außer denen, die in der Lage waren, den langen Marsch über die gefrorenen Seen Sternheims zu überstehen. Das konnten nur Onhla und Tormagon. Auf der Flucht vor den Jägern hatte sich das Wild Hraggellons mit der Zeit immer weiter in die Regionen der Kälte und der Dunkelheit zurückgezogen. Im Schattenland war es zwar vor den Menschen sicher gewesen, aber nicht vor den Onhla. Um auch ihnen zu entgehen, war es nach Sternheim geflohen. Doch so weit es auch zurückwich, die Stämme waren ihm gefolgt. Auf dieser Insel schließlich hatte ein Teil von ihm seine letzte Zuflucht gefunden. Hult hatte es aus purem Zufall entdeckt, als er bei seinen einsamen Streifzügen während der Dunkelzeiten weit von den bekannten Pfaden abgewichen war. Er hatte das Eisfeld überquert und war weit in die dahinterliegenden Sonnenregionen vorgedrungen. Dort, in neuen und unbekannten Gebieten, hatte er Tulk und Bucdyn in Hülle und Fülle gefunden, ja sogar eine Anzahl Gorwol. Er hatte erfolgreich gejagt und die Felle erbeutet, die man ihm später während seiner Krankheit gestohlen hatte, doch als er zum Mittlicht zurückkehren wollte, sah er sich vom Festland durch einen reißenden Strom eisigen Wassers abgeschlossen, das selbst für einen Onhla nicht zu überwinden war. Er war auf der Insel ge-
fangen, bis der eisige Wind der Dunkelzeit das Wasser wieder so fest zufrieren ließ, daß er es ohne Gefahr überqueren konnte. Für den überwiegenden Teil des hraggellianischen Jahres lag die Meerenge zwischen der Insel und der Hauptlandmasse Sternheims im Dunkeln und war fest zugefroren. Menschen konnten dieses Eisfeld nicht überqueren; bevor sie die Insel erreicht hätten, wären sie erfroren. Sie hätten es höchstens mit der Hilfe eines Onhla schaffen können, doch solche Hilfe hätte kein Onhla einem Menschen zukommen lassen. Mit dem Anbruch der Lichtzeit schmolz das Eis. Nun war die Insel selbst für einen Onhla nicht mehr zu erreichen, denn die Ozeane Hraggellons waren für Menschen wie für Onhla unpassierbar. Reißende Strömungen und gewaltige Stürme verwandelten diese Gewässer in tosende Höllen, die jedes auf dem Planeten bekannte Schiff zerschmettert hätten. Die Binnengewässer hingegen waren zahm und nützlich; sie waren die Hauptverkehrsadern des Planeten. Die Flüsse trugen die Arbeiter jedes Jahr beim Anbruch der Lichtzeit zu ihren Arbeitsstätten, und sie trugen sie und ihre Güter und Waren schnell und sicher zurück in den Schutz ihrer Häuser und Städte, bevor die Dunkelheit anbrach. Mehr brauchte man nicht, mehr hatte man nie erstrebt. Das offene Meer hatte man den wilden Ungeheuern der Phantasie überlassen, und das Leben spielte sich wie eh und je in dem schmalen Streifen aus Licht und Dunkelheit längs der Flußufer und unter dem schützenden Dach der Stadt ab. Die Kontinente Hraggellons waren genauso voneinander isoliert wie die fünf Planeten des Sonnensystems, dem diese Welt angehörte. Die Zeit der Eisschmelze rückte jetzt rasch heran. Hult führte die Tormagon über das blanke Eis hinauf auf die Hügelkette, die sich hinter der Küstenlinie der Insel erhob. Auf dem Kamm des ersten Hügels machte er halt. Vor ihnen erstreckte sich eine weite, offene Ebene. Die scharfen
Augen der Tormagon folgten Hults ausgestreckter Hand, und das Rudel sah die winzigen schwarzen Flecken am Horizont. Hult legte die Hand auf Arlls Schulter und kraulte ihm das Fell. »Komm, alter Freund. Laß uns jagen.« Arll stieß angesichts der fetten Jagdbeute, die sie erwartete, ein leises, freudig erregtes Knurren aus. Flink und geschmeidig setzte das Rudel den Hügel hinunter und überquerte die Ebene. Der Hunger lag jetzt hinter ihnen. Die Jagd hatte begonnen. Das Abstreifen des Fells ist das erste Anzeichen für das Einsetzen des Haldrim. Mit dem Verschwinden des Kindheitsfells bilden sich die charakteristischen sexuellen Merkmale heraus, und der Onhla erhält seine menschliche Erscheinungsform. Das außerordentlich hohe Körpergewicht, besonders im oberen Rücken, resultiert aus einer stark ausgeprägten subkutanen Fettschicht. Die daraus resultierende Massigkeit der oberen Rückenpartie bildet im Verein mit dem abgeplatteten Gesicht, den stark vorspringenden Brauen- und Wangenknochen sowie den Haarbüscheln unterhalb der Augen das Haupterkennungsmerkmal der Rasse, wobei zu bemerken ist, daß viele Onhla während des Haldrim dem Menschen verblüffend ähnlich sehen. In der frühen Haldrimphase büßen sie einen Teil ihrer angeborenen Widerstandsfähigkeit gegen Kälte ein, sind aber trotzdem in der Lage, niedrigere Temperaturen als jede bekannte menschliche Rasse zu ertragen. Sichtbare Unterschiede zwischen einem reinrassigen Onhla und den Kindern aus Mischehen zwischen Onhla und Menschen konnten wir nicht entdecken. Die Onhla jedoch behandeln solche Mischlinge als Außenseiter und schließen sie von jeglichem Stammesleben aus. Auch der Zugang zum Stammesgebiet wird ihnen kategorisch verwehrt. Soweit wir dies beurteilen können, existieren keine Umstände, unter denen eine Heirat zwischen einem Onhla
und einem Außenseiter für einen Onhla zulässig wäre. Für eine mögliche dritte Lebensphase der Onhla haben wir keinen definitiven Beweis finden können … Soman Wirsing, Sekundär Vierte HraggellonKontaktmission
5. Im Weltraum Mit dem ersten Schließen der Fluttore verkümmerte der Moharil zu einem Rinnsal. Bald verwandelte die Hitze des Mittlichts Norion in einen Backofen. Die Rampen und Galerien waren fast menschenleer, und die Stadt lag still unter dem sengenden Gluthauch des Galendergorn. In den Siedlungen am Unterlauf des Flusses kam jegliche Aktivität außerhalb der Häuser zum Erliegen. Alles Leben zog sich bis zum Beginn der zweiten Aussaat hinter den Schutz dicker Mauern zurück. Clell Basedow verbrachte den größten Teil der Mittlichtperiode damit, daß er schlaff auf seiner Pritsche lag und die grausame Ironie bejammerte, die einen Mann auf eine Frostwelt schickt, damit er dort den Hitzetod erleidet. Seb Dunan hingegen war trotz der Hitze ständig aktiv. Er durchstreifte die verlassene Stadt, wanderte am Flußufer entlang, machte Abstecher zu den Kaianlagen, besuchte sogar die Farmsiedlungen, immer bereit, sofort zuzugreifen, falls sich irgendwo ein lohnendes Geschäft anbieten sollte. Wo immer er hinkam, sah er sich um, stellte Fragen, hielt Augen und Ohren offen. Mehr als einmal war er am Rande der Erschöpfung, aber er riß sich immer wieder zusammen und machte weiter. Die Mission mußte erfolgreich sein, und es gab keinen Erfolg ohne harte Arbeit. Außerdem dienten seine Bemühungen noch einem weiteren Zweck: sie halfen ihm, seine Gedanken von dem Onhla und den beunruhigenden Ereignissen in Norion abzulenken. Die Hitze des Mittlichts verging. Die Fluttore wurden wieder geöffnet, der Fluß schwoll erneut an. Die zweite Aussaat begann. Dann wurde die zweite Ernte eingefahren. Danach begann die trübe Zeit der langen Schatten, die Phase des Letztlichts. Nicht mehr lange, und die Dunkelzeit
würde anbrechen. Nun war es Zeit für die Wanderer, nach Norion zurückzukehren, und Zeit für die Händler, Hraggellon Lebewohl zu sagen. Seb Dunan konnte nun seinen nagenden Gedanken, denen er so lange erfolgreich ausgewichen war, nicht länger aus dem Weg gehen. Hätte ihn wenigstens nach seinem Namen fragen sollen, sagte er sich mindestens ein dutzendmal zwischen Aufwachen und Einschlafen. Doch gleichzeitig wurde ihm jedesmal bewußt, wie absurd dieser Gedanke war. Was nützte ihm der Name des Jägers? Wenn er den Entschluß gefaßt haben sollte, doch nicht zurückzukommen, dann würde die Kenntnis seines Namens auch nichts daran ändern. Ich bin ein Idiot, dachte Seb Dunan. Er wird schon zurückkommen. Ich darf mich jetzt nicht verrückt machen. Er hat mir sein Wort gegeben. Außerdem ist er ganz versessen auf den Flug nach Insgar, und ich bin der einzige, der ihm diesen Flug ermöglichen kann. Wenn auch nur eine einzige Onhlafrau noch auf dem Planeten gelebt hätte, wäre Dunan ohne jede Hoffnung gewesen. Er wußte, daß dieser Jäger sie mit Hilfe seiner geheimnisvollen Sinnesorgane, die jedem Onhla zu eigen waren, mit Sicherheit aufgespürt und damit jegliches Interesse an einem Besuch Insgars verloren hätte. Aber er hatte vorsorglich einige Varasdoden aufgesucht, die alles über die Stämme und Rassen Hraggellons wußten, was es zu wissen gab, und sie hatten ihm durchweg versichert, die Onhla seien ausgestorben. Sie irrten zumindest in einem Fall, aber er versuchte, sich durch diese Tatsache nicht verrückt machen zu lassen und seinen Glauben an sie nicht zu verlieren. Er zwang sich geradezu, ihnen zu glauben. Die Varasdoden waren nicht leicht zu finden gewesen. Von ihnen hatte es in Norion nie sehr viele gegeben, und seit Orms Machtergreifung waren alle Arten von Erinnerern Mangelware in der Stadt geworden. Dunan fand ihre
Fluchtgedanken durchaus verständlich, hatte er doch schon bei drei verschiedenen Anlässen Gelegenheit gehabt, mit eigenen Augen zu sehen, wie Orms Sicherheitskräfte mit ihnen umsprangen. Er konnte immer noch nicht begreifen, warum das neue Regime den Erinnerern mit solch unerbittlichem Haß entgegentrat. Sie waren harmlose, dabei für die Stadt lebensnotwendige Leute. Sicherlich würde Norion ihren Verlust bald schmerzlich spüren. Immer mehr verfestigte sich in ihm die Ansicht, daß Orm ein Dummkopf war. Er hatte die typische Angst des Dummkopfs vor allem und jedem, den typischen Minderwertigkeitskomplex und Verfolgungswahn. Charakteristisch war auch seine Hybris, seine maßlose Selbstgerechtigkeit und sein Glaube an die Gewalt als Vehikel zur Durchsetzung all seiner Ziele. Clell schien ihn als einen Giganten unter Menschen zu betrachten; das allein schon reichte aus, ernste Zweifel an Orms Person zu bekommen. Aber seine Herrschaft würde ebenso vergehen wie alle anderen. Seb Dunan kannte das Muster, nach dem so etwas abzulaufen pflegte: Orm würde den Bogen über kurz oder lang überspannen und gestürzt werden oder einem Attentat zum Opfer fallen. Noch ehe seine Leiche kalt wäre, würde der Sternverein schon seinem Nachfolger hofieren. Es war ein schlimmes, abstoßendes Geschäft. Er freute sich auf den Tag, an dem er wieder von diesem elenden Planeten verschwinden würde. Die Sonne war nur noch ein trüber Flecken Licht am Horizont, als Dunan und sein Assistent ihre Sachen an Bord des weißen Driveschiffs Grixlingen brachten und sich in ihrer Kabine niederließen, um auf die Ankunft des Onhla zu warten. Seb Dunan war damit beschäftigt, die Lichtkugeln, Haftanhänger und die zahllosen Pflanzen und Setzlinge, die er erworben hatte, zu verstauen. Seine Gedanken kreisten unentwegt um den Onhla und seinen Verbleib. Clell Basedows pausenloses Gejammere
war nicht dazu angetan, seine Nerven zu beruhigen. Sein Vorrat an pessimistischen Orakeln und Prophezeiungen schien unerschöpflich. Dunan versuchte gar nicht erst, seinen Redefluß zu bremsen, sondern ließ ihn ungehemmt lamentieren und versuchte, seine Ohren auf Durchzug zu stellen. Der Onhla hat uns vergessen. Der Onhla hat uns reingelegt und seine Pelze anderen verkauft. Der Onhla hat keine Gorwol gefunden, weil sie längst ausgestorben sind. Der Onhla ist gar kein richtiger Onhla, sondern ein Halbblut, das von anderen Händlern auf uns angesetzt worden ist, um uns zu täuschen. Der Onhla ist in Sternheim umgekommen. Man hat ihm aufgelauert und ihm die Pelze gestohlen. Er hat sich verirrt und findet den Weg zum Schiff nicht mehr. Und so ging es endlos weiter, bis Seb Dunan ihn in seiner Verzweiflung anflehte, er solle endlich den Mund halten. »Und was, wenn er nicht kommt? Wir wissen seinen Namen nicht. Wie können wir da in der Dunkelheit nach ihm fahnden? Wo sollen wir mit der Suche überhaupt anfangen?« fuhr Gell unbeirrt fort. »Er wird kommen. Wir geben ihm noch ein wenig Zeit«, erwiderte Seb Dunan geduldig. »Es ist schon fast Dunkelzeit. Die Fluttore werden jeden Moment geschlossen. Vielleicht sind sie es sogar schon. Er sagte uns, er würde –« »Ich weiß, was er gesagt hat. Und ich weiß auch, daß er unbedingt nach Insgar will und wir die einzigen sind, die ihn dahin bringen können. Haben Sie Geduld, Clell, und hören Sie auf, sich Gedanken zu machen. Wir bekommen unsere Pelze schon.« Damit hatte er Basedow ein neues Stichwort gegeben. »Aber bedenken Sie, was wir dafür bezahlen müssen! Ein Intersystemflug kostet eine Menge Geld. Ich fürchte, Sie werden einige Scherereien bekommen.« »Wieso Scherereien? Mit einem Gorwolpelz ist ein Flug nach Insgar mehr als bezahlt. Und wir bekommen sechs! Ich rechne nicht mit
Scherereien. Im Gegenteil, ich rechne mit einer Menge Dankbarkeit.« Clell runzelte die Stirn und wollte sich gerade anschicken, den Pinsel zu einer neuen Schwarzmalerei einzutunken, als ein Besatzungsmitglied in die Kabine kam, um zu melden, ein großer Eingeborener mit einem Bündel auf der Schulter stünde am Landungsring und wolle mit dem alten Händler sprechen. Zum ersten Mal wurde Dunan die verquere Situation bewußt. Während er sich die ganze Lichtzeit damit herumquälte, den Onhla nicht nach seinem Namen gefragt zu haben, hatte dieser überhaupt kein Interesse an seinem, Dunans, bekundet. Mit einem Aufschrei der Erleichterung und Freude sprang er hoch und eilte zur Einstiegsrampe. Clell folgte dichtauf, immer noch sprachlos. Das war zuviel für ihn, dachte Dunan schadenfroh. Vielleicht stopft ihm das jetzt erst einmal für eine Weile den Mund. Herrlich, was für ein dummes Gesicht er macht. Das entschädigt mich für meine Ängste, die ich ausgestanden habe. Der Onhla wartete am Fuß der Rampe. Er ließ Dunans überschwengliche Begrüßung ohne jede erkennbare Reaktion über sich ergehen und erwiderte knapp: »Ich habe die Gorwolpelze. Ich möchte jetzt aufbrechen.« »Das wirst du, mein Freund. Wir fliegen sofort ab, wenn du willst.« »Das will ich auch«, entgegnete der Onhla und stieg forsch die Rampe hinauf. Ohne sich auch nur noch einmal umzuschauen, hielt er auf die Einstiegsluke zu. Sofort stand Clell neben Dunan und zupfte ihn flüsternd am Ärmel. »Sie sollten ihn erst an Bord lassen, wenn Sie die Felle überprüft haben. Woher wollen Sie wissen, was das für Felle sind, die er dort in seinem Bündel hat, und wie viele? Sie lassen ihn so einfach an Bord gehen, als gehörte ihm die Grixlingen.« Dunan bewahrte mit Mühe seine Ruhe. »Wenn er uns reingelegt hat, können wir ihn noch immer vom Schiff wer-
fen. Ich bin überzeugt, daß er sein Versprechen gehalten hat. Er ist nicht zivilisiert genug, um ein Schwindler zu sein.« »Wie auch immer, jedenfalls ist er jetzt auf dem Schiff. Und wenn er sechs Gorwolfelle geliefert hat, dann kommen wir nicht drum herum, ihn nach Insgar und zurück zu bringen. Ich sehe einfach nicht ein, warum wir so zimperlich sein sollen. Warum werfen wir ihn nicht –« »Weil wir bei ihm im Wort stehen«, fuhr Dunan dazwischen. »Ein Kaufmann hält sein Wort, auch wenn es ihm weh tut. Denn wenn er es nicht hält, tut es ihm später mit Sicherheit noch viel weher. Im Handel ist kein Platz für Lügner, Clell, schreiben Sie sich das hinter die Ohren. Selbst wenn Sie sonst nichts auf dieser Reise lernen, haben Sie noch immer eine Menge gelernt.« »Aber ich finde trotzdem –« »Jetzt halten Sie endlich den Mund und gehen an Bord! Wir haben noch eine weite Reise vor uns«, herrschte Dunan ihn an. Und als sein Assistent erneut Anstalten machte, etwas zu erwidern, fügte er hinzu: »Noch ein dummer Vorschlag von Ihnen, wie wir den einzigen Lieferanten von Gorwolfellen auf diesem Planeten übers Ohr hauen könnten, und ich lasse Sie hier, bis wir wieder zurück sind.« Basedow schoß die Rampe hinauf wie eine Rakete und verschwand in der Einstiegsluke. Sie begutachteten die Felle in Dunans Kabine. Der Onhla hatte Wort gehalten. Der Anblick der silbern schimmernden Felle übertraf Dunans Erwartungen in jeglicher Weise. Er konnte sie nur immer wieder sprachlos anstarren. Selbst seinem Assistenten verschlug es für einen Moment die Sprache. Der glotzte die Pracht, die da auf dem Tisch vor ihnen ausgebreitet lag, mit offenem Mund an. Einmal entrollt, schienen die Felle erst richtig zum Leben zu erwachen. Dunan streckte fast andächtig die Hand vor, um seine Finger über den silbrigen Glanz gleiten zu
lassen. Seine Hand versank fast bis zum Handgelenk, bevor die Fingerspitzen das dichte Untervlies fühlten. Die langen, weichen Oberhaare streichelten seine Haut wie eine warme Brise. Er schob die Hände unter den Pelz und hob ihn in die Höhe. Das dicke, fast sechs Quadratmeter große Fell schwebte nahezu von allein hoch, so leicht war es trotz seiner Festigkeit und Dicke. Die Oberfläche blitzte mit jeder Bewegung hell auf; es schien, als sei das Fell von einem kalten, inneren Glanz erfüllt. Es war ein prächtiges Stück. Unglaublich, daß es von einem so stupiden, unbeholfenen Tier wie dem Gorwol stammt, dachte Dunan. Solche Schönheit von solch einem Vieh, und alles auf einer Welt wie Hraggellon. Die Galaxis stellte einen manchmal wirklich vor Rätsel. »Sie sind wirklich das Schönste, was ich je gesehen habe«, sagte Basedow tief beeindruckt. »Kein Wunder, daß der Sternverein sie unbedingt haben will.« »Jeder in der Galaxis will sie haben. Mißgönnen Sie dem Jäger immer noch seinen Flug nach Insgar?« Mit einem Mal war Clell Basedow ein Muster an Großzügigkeit. »Nein. Diese Felle sind mehr als hundert Flüge wert. Aber können wir sicher sein, daß er uns noch mehr liefert? Können wir ihn dazu bringen, einen Exklusivvertrag mit uns abzuschließen?« »Ich denke, ja«, antwortete Dunan. »Wenn uns das nicht gelingt, und das Hauptquartier sieht diese Pelze hier und findet heraus, daß wir ihm einen Flug –« »Lassen Sie das meine Sorge sein«, fiel ihm Dunan ins Wort. »Seien Sie erst einmal über diese Pelze hier froh. Wir haben eine lange Reise vor uns, daher sollten wir uns jetzt nicht den Kopf darüber zerbrechen, was alles noch schiefgehen könnte.« Dunans Ratschlag erwies sich als sehr vernünftig. Die Reise nach Insgar war von nervtötender Eintönigkeit. So-
bald der Sprung auf Drivegeschwindigkeit vollzogen war, bewegte sich die Grixlingen völlig lautlos und ohne die geringste Erschütterung in einem dimensionslosen grauen Tunnel vorwärts. Den Passagieren und der Besatzung ging jedes Gefühl für Geschwindigkeit oder Bewegung verloren. Das Schiff schien in diesem grauen, formlosen, lichtlosen Nichts einfach stillzustehen. Der Intersystemflug war kein Abenteuer; es war in erster Linie eine harte Geduldsprobe. Der Onhla war in einem winzigen Frachtraum direkt vor der Außenhülle untergebracht, wo es am kühlsten war. Zurückgezogen verbrachte er dort die meiste Zeit und sprach mit niemandem, wenn es nicht nötig war. Es war ein alter Brauch auf Driveschiffen, daß die Besatzung einem Weltraumneuling hin und wieder einen kleinen Schabernack spielte, aber irgendwie schien keiner der Männer ein Interesse daran zu haben, diesen Brauch bei dem schweigsamen, niemals lächelnden Onhla anzuwenden. Man ließ ihn in Ruhe und ging ihm, wenn möglich, aus dem Weg. Hults Äußeres konnte einem schon Furcht einflößen. Sein ohnehin mächtiger Oberkörper war in der Zwischenzeit noch massiger geworden, und die lange Zeitspanne anstrengender körperlicher Betätigung hatte das Ihre getan, ihn in ein wahres Muskelpaket zu verwandeln. Sein ganzes Erscheinungsbild hatte etwas Majestätisches. Das Haar auf seinen Wangenknochen, direkt unterhalb der Augen, war wieder zu voller Länge nachgewachsen, und er trug es jetzt nach Art der Onhla. Es floß auf beiden Seiten in einem goldenen Bogen die Wangen hinunter und vereinigte sich mit der goldbraun schimmernden Mähne, die ihm über Schultern und Hals quoll. Er war ganz in neue, prachtvoll schimmernde Felle gekleidet; ein zweiter, noch prächtigerer Pelzumhang, eigens für die Benutzung auf Insgar gedacht, lag sorgfältig verpackt in seiner Kammer bereit. Seine vormals helle, durch die Kälte Sternheims fast hellblau ge-
tönte Haut verdunkelte sich unter dem Einfluß der Wärme zusehends zu dem rötlichen Braun Dunans und seines Assistenten. Vor allem in seinem Verhalten unterschied Hult sich grundlegend von allen anderen an Bord der Grixlingen. Er schien Dinge zu sehen und Geräusche zu hören, die ihnen verborgen blieben; er bewegte sich mit verblüffender Selbstverständlichkeit durch Dimensionen, die sie nur verschwommen wahrnehmen und nicht erfassen konnten. Während des jahrtausendelangen Überlebenskampfes in der Kälte und Dunkelheit von Hraggellons Eiswüsten hatte sein Volk Sinne und Empfindungsfähigkeiten entwickelt, die anderen Völkern auf dem Planeten unbekannt waren. Doch Hults Mitpassagiere machten sich keine Gedanken über die formende und verändernde Kraft der Zeit, des Klimas und sonstiger Lebensbedingungen. Sie sahen in ihm lediglich ein fremdes, primitives Wesen und gingen ihm aus dem Weg. Nicht so Seb Dunan. Er hatte ein echtes Interesse an dem Onhla, nicht nur, weil er ihn als Quelle möglichen Reichtums betrachtete, sondern auch, und in erster Linie, weil er in ihm ein Wesen sah, das in seiner bisherigen Erfahrung einzigartig war. Von allen Außerirdischen, die er auf seinen zahlreichen Reisen kennengelernt hatte – und das waren Dutzende – war ihm keiner so fremd und unbegreiflich erschienen wie dieser wortkarge Jäger vom Stamme der Onhla. Es hatte nichts mit seinem Äußeren zu tun, denn in seiner derzeitigen Entwicklungsphase sah Hult fast genauso aus wie ein außergewöhnlich großgewachsener Homo sapiens der alten Erde. Auch an der Sprache lag es nicht, denn er sprach die Allgemeine Verkehrssprache völlig akzentfrei und ohne all die störenden Zisch-, Kehl- und Grunzlaute, die Dunan auf anderen Welten die Unterhaltung schon so oft erschwert hatten. Es war etwas, das viel tiefer lag als diese oberflächlichen Unterschiede, und das erstaunte und faszinierte den Händler.
Hult dagegen schien von seiner Umgebung nicht sonderlich begeistert. Die meiste Zeit blieb er unsichtbar; gelegentlich begab er sich ins Innere des Schiffes, um eine seiner riesigen Mahlzeiten einzunehmen. Wenn er damit fertig war, zog er sich jedesmal sofort wieder in seinen Frachtraum zurück. Dunans Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, doch er hütete sich, den Onhla zu einer Unterredung zu drängen. Schließlich wurde seine Geduld belohnt. Als er von einer stundenlangen Besprechung mit dem Bordschützen der Grixlingen, der einmal auf Insgar gewesen war, in seine Kabine zurückkehrte, fand er dort zu seiner Überraschung den Onhla vor. Hult saß seelenruhig da und hatte den Rücken gegen die kühle Wand gelehnt. Seine Begrüßung war schlicht und von verblüffender Direktheit. »Erzähle mir von Insgar.« Dunan gab sich größte Mühe, seine Verblüffung über die Frage zu verbergen. Es konnte eigentlich kein Zufall sein, daß der Onhla ausgerechnet in dem Augenblick, als er, Dunan, von einem informellen Instruktionsgespräch über den Planeten zurückkehrte, mit dieser Frage zu ihm kam. Ob der Onhla Gedanken lesen konnte? Weder aus seinem Verhalten noch aus seinem Gesichtsausdruck war etwas Dementsprechendes herauszulesen. Er saß ruhig da und wartete auf eine Antwort. Schließlich sagte Dunan: »Ich werde dir alles erzählen, was ich weiß. Aber ich möchte dafür von dir auch ein paar Fragen beantwortet haben. Was willst du über Insgar wissen?« »Wann die Leute aus meinem Volk dorthin gebracht wurden und warum. Wo sie jetzt leben, und wie ich sie finden kann. Sag mir das zuerst.« »Wie ich schon sagte, ich werde dir alles erzählen, was ich weiß. Ich kann dir jedoch nicht alle deine Fragen beantworten.« Dunan überlegte einen Moment, rief sich die Daten, die er im Informationszentrum des Schiffes erfahren hatte, in die Erinnerung zu-
rück und begann: »Die Onhla wurden vermutlich um das Jahr 2706 des Galaktischen Standardkalenders nach Insgar gebracht. In den Polarregionen Insgars lebten wertvolle Pelztiere. Zwar gibt es auf diesem Planeten nicht die extremen Temperaturunterschiede wie auf Hraggellon, aber die Pole sind immer noch so kalt, daß außer den Onhla dort niemand lange überleben kann. Also brachte man die Onhla dort zum Jagen hin.« »Welche Stämme?« »Das ist aus den Unterlagen nicht zu ersehen.« »Ist es sehr lange her?« »Nach dem Galaktischen Standardkalender fast zweihundert Jahre. Eine ziemlich lange Zeit. Ungefähr … hm … ungefähr zweihundertachtzig bis dreihundert hraggellianische Dunkelzeiten«, überschlug Dunan schnell. Der Onhla schien mit diesen Zahlen nichts anfangen zu können, wie seine nächste Frage bewies: »Wie viele Lebensalter?« Dunan hielt drei Finger hoch. »So viele, in Norion. Wie lange ein Onhla lebt, weiß ich nicht.« Hult schwieg einen Moment, dann fragte er: »Was ist Insgar?« »Es ist ein Planet ähnlich wie Hraggellon, aber mit einer anderen Art von Jahr. Er rotiert … sein Tag ist viel kürzer als sein Jahr. Sie sind nicht deckungsgleich so wie auf Hraggellon. Die Dunkelzeiten und Lichtzeiten folgen viel schneller aufeinander als auf Hraggellon. Vielleicht verstehst du es besser, wenn ich dir alles zeige, statt es dir zu erklären. Weißt du etwas über Planeten und Planetensysteme?« »Wir wissen, daß der Wettermacher viele kalte Stätten schuf. Manche davon sind auf Hraggellon, manche sind sehr weit entfernt. Doch sind sie alle gleich.« »Manche sind sehr, sehr weit entfernt. Hast du eine Vorstellung, wie weit es von Hraggellon nach Insgar ist?« »Zu weit für uns. Aber die Fremdweltler haben uns große Fahrzeuge gebracht, und nun können wir zu den anderen kalten Stätten reisen, wenn wir es so wollen.«
Dunan rieb sich nachdenklich den kahlen Schädel und sagte nichts. Daß jemand eine Sache wie den Interstellarflug mit einer derartigen Selbstverständlichkeit und Beiläufigkeit hinnahm, hatte er noch nicht erlebt. Die Norioniter waren vor den ersten Sternfahrern, die auf ihrem Planeten landeten, ehrfurchtsvoll auf die Knie gefallen, dieser primitive Jäger jedoch sah im Interstellarflug nichts weiter als eine nützliche Annehmlichkeit, derer man sich wie selbstverständlich bediente. Es schien tatsächlich so zu sein, daß die Onhla vor nichts und niemandem Angst hatten. Dunan hatte das öfter sagen hören, aber bis zu diesem Zeitpunkt nicht ernst genommen. Erneut spürte er die Fremdheit, die wie eine unsichtbare Barriere zwischen ihm und dem Onhla stand. Zwischen ihm und dem Onhla lagen im wahrsten Sinne des Wortes Welten. Doch obwohl ihm die Aussichtslosigkeit, dieses Wesen, dessen Gedanken- und Gefühlswelt so anders war als seine, jemals verstehen zu können, bewußt war, nahm er einen neuen Anlauf. »Der Interstellarflug ist keine gewöhnliche Art zu reisen. Es ist nicht so, als ob man den Moharil hinauffährt oder das Schattenland durchquert. Die damit verbundene Kraft und Geschwindigkeit ist unvorstellbar groß. Selbst die Zeit wird dadurch beeinträchtigt, so sehr unterscheidet sich der Interstellarflug von allen anderen Reisearten.« Er legte eine Pause ein, um die Reaktion abzuwarten, doch der Onhla zeigte keine. Nach einem Moment fuhr er fort: »Wenn wir nach Hraggellon zurückkehren, wird für die Hraggellianer mehr Zeit verstrichen sein als für uns an Bord der Grixlingen. Viel mehr Zeit. Wie das genau funktioniert, weiß ich nicht. Ich bin kein Wissenschaftler. Selbst die Wissenschaftler verstehen es nicht so ganz, aber wir alle wissen, daß es geschieht. Hast du eine Vorstellung von dem, was ich sage?« beendete Dunan hilflos seinen Vortrag. »Ja. So etwas geschieht auch den Onhla … manchmal.«
Dunan fiel keine bessere Entgegnung ein als: »Beunruhigt dich die Vorstellung einer Zeitabweichung?« »Nein. So haben die Gorwol mehr Zeit, sich zu vermehren.« Dunan antwortete mit einem Grunzen, dann sagte er: »Nun, jedenfalls bin ich froh, daß du an der Drivegeschwindigkeit Gefallen findest.« Hult ignorierte den verkrampften Scherz. »Erzähl mir von den Onhla auf Insgar. Wo leben sie, wie kann ich sie finden?« »Ich kann nur weitergeben, was mir der Bordschütze erzählt hat. Er meint, heutzutage würde kaum noch gejagt. Die meisten Onhla arbeiteten jetzt im Bergbau.« »Onhla im Bergbau?« Überraschung lag in Hults Stimme. »Ja, im Erzbergbau. Sie sind die einzigen, die die Temperatur aushalten können.« »Ein Onhla arbeitet nicht mit toten Dingen in der Erde. Er muß mit lebendigen Dingen arbeiten. Der Bordschütze hat dich belogen.« »Vielleicht haben die Onhla ihre Einstellung geändert, seit sie nach Insgar gekommen sind. Du darfst nicht vergessen, wieviel Zeit seither vergangen ist«, gab Dunan zu bedenken. »Wenn sie sich verändert haben, sind sie keine Onhla mehr.« »Verurteile sie nicht, bevor du sie nicht gesehen hast. Ich gebe ja nur wieder, was jemand anderes mir erzählt hat.« »Sagt er, daß alle Onhla sich dazu erniedrigt haben, mit toten Dingen zu arbeiten?« »Er sagte, die meisten, nicht alle. Er wurde nicht dorthin geschickt, um etwas über die Onhla zu lernen, deshalb hat er sich auch nicht bemüht, mehr herauszufinden. Das beste
ist, du gehst direkt zu den Erzfeldern und fragst sie selbst«, schlug Dunan vor. Hult schwieg eine Weile wie geistesabwesend, dann fragte er: »Wie weit ist es noch bis Insgar?« »Insgar ist dreihundertneunzehn Wachzeiten von Hraggellon entfernt. Wir haben schon mehr als die Hälfte hinter uns«, antwortete Dunan. Als der Onhla ihn daraufhin verständnislos anstarrte, fügte er hinzu: »Wir sind jetzt näher an Insgar als an Hraggellon.« Hult erhob sich, als wolle er gehen. Dunan hob die Hand. »Warte. Du hast versprochen, mir auch ein paar Fragen zu beantworten.« »Es gibt Dinge, die verraten wir keinem Außenseiter«, erwiderte der Onhla. »Ich will auch keines deiner Stammesgeheimnisse wissen. Sag mir erst einmal deinen Namen.« »Ich habe dich auch nicht nach deinem gefragt.« »Nein, das hast du nicht. Also gut, dann eben keine Namen. Wieviel Gorwol sind noch übrig? Kannst du mir das sagen?« Hult hielt die Finger beider Hände hoch. »Mehr als diese.« »So viele?« fragte Dunan und hielt zweimal kurz hintereinander die Finger beider Hände hoch. »Vielleicht. So viele habe ich nicht gesehen.« »Besteht die Gefahr, daß sie aussterben?« »Nein. Die Gorwol sind in Sicherheit.« »Gut. Hör zu, Jäger. Ich verstehe, warum du nach Insgar willst, und ich wünsche dir Erfolg. Ich werde dir dabei helfen, so gut ich kann. Angenommen, du findest dort wirklich Onhla, und ihr kehrt alle zurück nach Hraggellon und gründet einen neuen Stamm, erklärt ihr euch dann bereit, nur mir und den Leuten, die ich zu euch schicke, Gorwolpelze zu verkaufen?« »Ich erkläre mich bereit. Für die anderen kann ich nicht sprechen.« »Wirst du versuchen, sie dazu zu bringen, daß sie auch einwilligen? Das ist alles, worum ich dich bitte.«
»Ich werde es versuchen«, sagte Hult. Als der Onhla gegangen war, legte Dunan sich auf seine schmale Koje. Er öffnete die Riechdose und nahm ein paar tiefe Züge, um neue Kräfte zu sammeln. Er benötigte das Stimulans jetzt immer häufiger. Er fühlte sich müde, manchmal erschöpft, wie ausgepumpt. Er mutete seinem Körper einfach zuviel zu. Aber eine solche Mission forderte einem auch alles ab, besonders, wenn man einen Assistenten wie Clell hatte. Da mußte man schon alles selbst erledigen, sonst kam nichts dabei heraus. Wenigstens war jetzt das Gröbste geschafft. Die Anwesenheit und das ganze Verhalten des Onhla hatte sein Nervenkostüm arg strapaziert. Er war schweißgebadet, seine Eingeweide fühlten sich irgendwie verknotet an. Eine absurde Reaktion, dachte er. Dank meiner Person hat dieses Wesen die Chance, seine Rasse neu zu gründen. Wenn es ihm gelingt, werde ich vielleicht einer ihrer Halbgötter. Bei dem Gedanken lachte er leise in sich hinein. Ein fetter alter Händler, ein kleiner Handlanger des Sternvereins wird unsterblich. Aber trotz allem, irgendwie hat er was Furchterregendes an sich, gestand Dunan sich ein. Freundlich gesonnen oder nicht – und wer kann das bei einem Onhla schon unterscheiden –, er macht mir Angst. Da ist so viel in ihm, tief in seinem Innern, das er niemals einem Fremdweltler offenbaren wird oder jemand anderem als einem Onhla. Ich frage mich, wie er sich wohl gegenüber seinesgleichen verhalten würde. Er dachte eine Weile über diese Frage nach. Ganz plötzlich wurde ihm die aussichtslose Lage des Onhla mit einer Klarheit deutlich, die ihm das Herz zerriß. Es gab keine anderen. Dieser stille, verschlossene Riese war der Letzte seiner Spezies. Insgar war seine letzte Hoffnung. Danach gab es nichts mehr für ihn, keine Zukunft, nur Einsamkeit. Es war nicht der Gedanke an das Alleinsein, den Dunan so
beängstigend fand. Er war sein ganzes Leben lang allein gewesen, hatte nie eine Familie oder enge Freunde gehabt. Er hatte nicht einmal eine Heimatwelt. Derlei Bindungen waren für einen Sternfahrer nicht möglich. Eine Frau, Kinder, Freunde, eine Welt zurückzulassen, während man im All herumstreifte, hieß, sie der Zeit auszuliefern, während man selbst ihrem Lauf entfloh. Eine Rückkehr war zu schmerzhaft. Doch trotz alledem würde Dunan immer andere seiner Art haben, mit denen er reden konnte. Sie existierten, er brauchte sie nur aufzusuchen, wenn ihm danach war; er war nicht wirklich allein. Die trostlose Einsamkeit des Onhla dagegen war etwas auf Dauer Unerträgliches. Die Onhla müssen noch auf Insgar sein, dachte er, und sie müssen noch echte Onhla sein. Alles andere wäre schlimmer als der schlimmste Tod, den man sich vorstellen konnte. JANUSAITIS SYSTEM: ZWEITER PLANET Schwerkraft: Durchmesser: Rotation: Umlauf: Atmosphäre: N:
1,09 OES 12160 km 19,25 h GSK 349,52 Tage GSK 77,49; O: 21,68; atembar und unbedenklich für Typen 3 bis 14 Analogplaneten: Shantelaine; Sutt-23b-Griph Der Name des Planeten ist INSGAR. Erstentdeckung: 2361; erste Eintragung in Sternkarten: 2591; Pioniermission: 2609; erste Kontaktmission : SD Keersha, 2679. Der Planet ist teilweise industrialisiert. Sechs Landungsringe, volle Basiseinrichtungen; unabhängig. Bez.: Sternverein-Karte 716603B-85A-G4
6. Insgar Der alte Händler wollte ihm ein paar Hinweise auf die Unterschiede zwischen Insgar und Hraggellon geben, aber Hult hatte keine Zeit zum Zuhören. Er kannte seine Fähigkeiten. Wenn Anpassungen nötig waren, dann würde sein Körper sich anpassen; wenn er das nicht konnte, dann würde er eben leiden. Andere Onhla hatten dort überlebt, also würde auch er dort überleben. Was zu tun war, würde getan werden. Es grenzte an törichte Zeitverschwendung, über Dinge zu reden, die man durch Reden nicht ändern konnte. Sie verabredeten einen Treffpunkt, dann verließ Hult die Grixlingen, um sich auf die Suche zu machen. Ein paar grundlegende Unterschiede bemerkte er sofort. Licht und Dunkelheit wechselten auf dieser Welt sehr rasch, und die Temperatur war relativ konstant. Das war ein Vorteil, denn da auf dem Schiff ähnliche klimatische Bedingungen geherrscht hatten, brauchte er sich nicht erst sonderlich umzustellen. Schlimm hingegen war der Lärm, noch schlimmer manchmal die Luft. Insgar unterschied sich sehr von Hraggellon. Aber es hatte auch nicht mehr viel mit der spärlich besiedelten Urwelt gemeinsam, die die Onhla bei ihrer Ankunft einst vorgefunden hatten. Strukturen von der Größe der hraggellianischen Siedlungen schossen allenthalben wie Pilze aus dem Boden. Hult sah eine, die fast die Größe Norions hatte. Sie stieß Feuersäulen und dunkle Rauchfahnen aus. Der Wind, der über sie hinwegstrich und sein Schiff flußaufwärts zu den Erzfeldern trug, war mit dichtem Rauch geschwängert. Es war ein übler Geruch, der Gestank der toten Dinge aus der Erde, die zu berühren einem Onhla nicht gestattet war. Der Rauch schien ein böses Omen zu sein, denn die ers-
ten Informationen, die er erhielt, waren entmutigend. Wo auch immer er fragte, stets war die Antwort, die er erhielt, dieselbe: Die Onhla arbeiteten nicht mehr an den Flüssen, sie seien durch Maschinen ersetzt worden, die die Arbeit schneller und besser machten und sich niemals auszuruhen brauchten. Wohin die Onhla gegangen seien, wisse man nicht. Sie seien irgendwo weiter flußaufwärts. Das war alles, was er in Erfahrung bringen konnte. Hult reiste weiter. Wo immer er hinkam, bestürmte Lärm und Gestank von Maschinen seine Sinne. Ein schmerzvoller Zwiespalt wuchs in ihm: sosehr er sich auch nach dem Anblick anderer Onhla sehnte, ihm graute vor dem Gedanken, sie durch die Berührung von verbotenen Dingen entehrt zu finden. Genau das, was er befürchtet hatte, traf schließlich ein. Er hielt an einem abgelegenen Lager und stellte seine üblichen Fragen. Keiner konnte etwas mit dem Namen »Onhla« anfangen, aber sie erzählten ihm von anderen, die ähnlich wie er aussähen und deren Sprache ganz so wie seine klänge. Hult folgte den angegebenen Richtungen. Nach ein paar Tagesmärschen erreichte er ein kleines Lager hoch in den Bergen. Er hörte den Lärm der Maschinen, lange bevor er den ersten Qualm roch oder die riesigen Flammenzungen sah, die gegen den dunkler werdenden Himmel zuckten. In dem Lager befanden sich viele Onhla, und sie begrüßten ihn als einen der Ihren. Doch sie waren nicht länger die Seinen, denn in seinen Augen waren sie keine Onhla mehr. Sie hatten einen verbotenen Lebensweg eingeschlagen, indem sie die Oberfläche einer Welt aufgebrochen und tote Dinge aus der Erde hervorgeholt hatten, um mit Außenstehenden Handel zu treiben. Sie hörten Hults Worte und er ihre, doch sie blieben einander fremd. Hults Kleider erinnerten sie an die Kleidung
ihrer Vorfahren, der Tracht ihrer Heimatwelt. Ihre eigenen Kleider waren grau und schmutzig, passend zu dem Rauch und Staub Insgars. Sie trugen keine Pelze, keine Stammesfarben. Selbst die Stammesfarbe ihrer Haare war verschwunden und zu einem undefinierbaren, verwaschenen Braun abgestumpft. Ihre Handgelenke waren bloß; in ihren Gürteln staken Klingen, die aus dem toten Stoff gefertigt waren, den sie aus der Erde holten. Sie schliefen hinter Mauern. Sie kleideten sich wie Menschen und begannen diesen immer mehr zu ähneln. Ihre Denkungsart hatten sie schon angenommen, wie Hult bald erfahren sollte. Die Onhla versammelten sich nach Einbruch der Dunkelheit. Hult ergriff als erster das Wort und erzählte ihnen von seiner Reise und seinem Plan. Kaum hatte er zu Ende gesprochen, als eine Stimme fragte: »Wo sind die anderen?« »Es gibt keine andern. Ich bin der letzte«, erwiderte er und erzählte ihnen von der Schüttelkrankheit, wie sie die Stämme dahingerafft hatte. Danach herrschte lange Zeit Schweigen. Dann meldete sich eine andere Stimme: »Es war weise von dir, daß du jene tote Welt den Träumern überlassen hast. Hier kannst du gut leben. Auf dieser Welt gibt es keine mühselige Jagd mehr für die Onhla. Wir gewinnen unseren Reichtum aus der Erde.« »Das ist verboten«, sagte Hult. Die Antwort kam prompt und in herausforderndem Ton. »Es war auf Hraggellon verboten. Dort lag genug an der Erdoberfläche, um uns alle zu ernähren. Das hier ist Insgar, hier herrschen andere Gesetze. Unsere Vorfahren haben anfangs versucht, hier so zu leben wie auf ihrer Heimatwelt. Sie litten sehr. Wir jedoch leiden nicht.« »Ich halte mich an die Gesetze Hraggellons. Ich bin in meinen Haldrim gekommen, und ich brauche eine Gefährtin, wenn mein Stamm fortleben soll. Da es auf Hraggellon
keine Onhla mehr gibt, bin ich hierher gekommen, um mir eine Gefährtin zu suchen und mit ihr auf die Heimatwelt zurückzugehen. Sagt mir nun: Gibt es hier Onhla, die sich an die Gesetze Hraggellons gehalten haben und die alte Lebensart bewahrt haben?« Erneut setzte betretenes Schweigen ein. Dann erhob sich einer der Onhla, um zu antworten. Seine Stimme klang hart, als er sagte: »Wir sind von Insgar. Die Gesetze Hraggellons sind für uns nicht bindend. Wir haben keine Stämme, und bei uns gibt es auch kein Großes Sammeln mehr. Vor langer Zeit einmal hörte ich von welchen, die anders dachten und handelten. Sie gingen zu den kalten Stätten, um dort auf die Zeit der Rückkehr zu warten. Suche sie.« »Leben sie noch?« wollte Hult wissen. »Geh und suche sie«, wiederholte der andere. Danach sagte er nichts mehr. Trotz seiner Meinungsverschiedenheiten mit den anderen wurde Hult im Lager freundlich aufgenommen. Zumindest die alte Tradition, Wanderern Schutz und Unterkunft zu gewähren, hatten sie nicht gleichzeitig mit den anderen Sitten und Gebräuchen der Heimat aufgegeben. Er bekam gut zu essen, und danach richtete man ihm eine extra kalte Schlafstelle ein und versicherte ihm, daß er dort bleiben könne, solange es ihm beliebe. Hult blieb nur einen vollen Tag in dem Lager. Im Morgengrauen brach er zum Polargebiet auf. Das Lager und seine Bewohner bereiteten ihm Unbehagen. Mehr denn je sehnte er sich danach, richtige Onhla zu sehen, sofern überhaupt noch welche lebten. Die Richtung war nicht schwer zu finden, und der Weg war gut zu verfolgen, bis er an einen Punkt kam, wo die Tage merklich kürzer wurden und der Schnee höher. Zwar gab es hier keine bequemen Pfade mehr, aber dafür fühlte er sich in dieser neuen Umgebung wohler. Sie ähnelte sehr
dem Schattenland von Hraggellon. Gutes Land für Onhla. Er begann wieder zu hoffen. In dem Maße, wie die Temperatur sank, wuchs sein Appetit. Er fand genügend Wild und hatte keine Mühe, alles zu fangen, was er brauchte. Als er sich der Polarregion näherte, wurde das Wild seltener, aber das fette Kleinwild, das in Höhlen wohnte, bot ihm ausreichend Nahrung. Das Fleisch dieser Tiere war schmackhaft und sättigend. Immer noch sah er keine Anzeichen, die auf die Nähe von Onhla hindeuteten. Er wanderte weiter, immer tiefer in die Kälte und die länger werdende Dunkelheit hinein. Schließlich gewahrte er in der Ferne eine niedrige Gebirgskette, zu der es ihn unwiderstehlich hinzog. Keiner im Lager oder überhaupt auf Insgar hatte ihm gegenüber diese Berge erwähnt, aber tief in seinem Innern fühlte er die Gewißheit, daß sie der sicherste Weg zu seinem Ziel waren. Er durchquerte eine weite, offene Tundra, kämpfte sich gegen einen wütenden Wind in ein langgezogenes Tal und machte sich an den Aufstieg. Am Abend des zweiten Tages hielt er plötzlich verwirrt im Klettern inne. Er spürte eine vage Unruhe in sich. Er fühlte, daß er seinem Ziel nahe war, jedoch irgendwie die Richtung verfehlt hatte. Als es wieder hell wurde, kehrte er um und stieg ins Tal hinab, wo er zum Fuß des höchsten Gipfels aufbrach, den er ausmachen konnte. Erneut machte er sich an den Aufstieg. Diesmal war er völlig sicher, auf dem richtigen Weg zu sein. Nun lag sein Ziel kurz vor ihm. Wie und woher er das wußte, hätte er nicht zu sagen vermocht. Er wußte es ganz einfach, das war alles. Er fand den Onhla am Eingang einer Höhle. Es war ein Alter, der schon weit im Nithbrog war, jener seltenen dritten Stufe im Leben eines Onhla. Es war der erste Alte, den Hult je gesehen hatte. Er war doppelt so groß wie Hult und prachtvoll gewan-
det in den Farben eines Stammes, der auf Hraggellon unbekannt war. Die Haut seines Gesichts und seiner Hände war tiefblau. Sein Haar und der Haarring um seinen Hals waren von einem leuchtenden Weiß. Seine Schultern waren in einen Überwurf aus Gorwolpelz gehüllt. Darunter befand sich ein fest gewobenes Band aus geknoteten Lederstreifen, eine Stammesgeschichte von großem Alter. Der Alte sprach ganz langsam, so, als bereite ihm das Sprechen Mühe. Seine Stimme dröhnte, als würde eine große Trommel ganz langsam geschlagen. »Wir haben lange gewartet. Sag, von welchem Stamm du bist«, begrüßte ihn der Alte. »Ich bin Hult von den Bachan, die ihre Farben mit den Zabrosse und den Kleto teilen.« »Tritt näher«, sagte der Alte. Er studierte Hult lange und eingehend, betrachtete sein Gesicht und seine Kleider mit prüfendem Blick und ließ seine Fingerspitzen über das Unterhemd aus geknotetem Leder gleiten. Hult spürte die Kraft, die seinen Geist berührte, aber er versuchte nicht, sich dagegen zu wehren. Niemand konnte der geistigen Kraft eines Onhla widerstehen, der im Nithbrog war. Als der Alte seine Untersuchung beendet hatte, bedeutete er Hult mit einem Wink, zurückzutreten. Dann sagte er: »Dein Stamm und deine Geschichte gehören zur Heimatwelt.« »Ich komme von Hraggellon. Ich kam dort in meinen Haldrim und begab mich hierher, um mir eine Gefährtin zu suchen.« »Die Knoten sprechen von großem Leid auf der Heimatwelt, von Krankheit und sinnlosem Tod. Ist das der Grund, warum du nach Insgar gekommen bist?« fragte der Alte. »Bist du auf der Flucht?« »Ich bin hierher gekommen, weil ich der letzte Onhla auf Hraggellon bin.«
»Dann hat es sich erfüllt!« dröhnte der Alte mit einer Stimme, die wie Donner zwischen den Gipfeln rollte. »Alle sind von der Heimatwelt getilgt worden, und nun werden die Bachan von Hraggellon und die Jengg von Insgar einen neuen Stamm und ein neues Volk gründen!« »Ich weiß nichts von einer solchen Prophezeiung«, sagte Hult. Er sagte dies nicht, um den Alten herauszufordern, sondern um seine eigene Unwissenheit kundzutun. Ein Onhla, der den Nithbrog erreichte, bezog sein Wissen aus Quellen, die anderen nicht zugänglich waren. Eine Verständigung war schwierig. Ein Alter konnte leicht mißverstanden werden; er konnte Dinge sagen, die das Begriffsvermögen überstiegen, doch seine Worte wurden niemals angezweifelt. »Keine Prophezeiung. Ein Vorherwissen. Der Wandel bei uns auf Insgar hatte schon begonnen, als ich in den Nithbrog kam. Die Lebensart der Onhla geriet in Gefahr. Vor meiner Geburt brachte ein Führer der Jengg diejenigen an diesen Ort, die bereit waren, die alten Gesetze weiterhin zu befolgen. Hier wollten sie die Lebensweise der alten Onhla lebendig halten. Die anderen blieben zurück und nahmen die Lebensart der Außenstehenden an«, erklärte der Alte. »Ich habe sie gesehen und mit ihnen gesprochen. Sie graben in der Erde und haben keine Farben.« »Es war vorauszusehen, daß es so kommen würde«, sagte der Alte. Seine Stimme klang jetzt gedämpft, der Klang des Frohlockens war aus ihr gewichen. »Das Leben hier war härter als das Leben auf der Heimatwelt. Oft litten wir Hunger, und viele kehrten zu den Lagern unten zurück, um das Erbe ihrer Väter gegen die neuen Annehmlichkeiten einzutauschen. Andere jedoch hielten aus. Ich gab ihnen Mut und Kraft, weil ich wußte, daß du kommen würdest. Auch heute wußte ich es. Und nun bist du hier.«
Der Alte erhob sich. Seine riesige Gestalt füllte fast den Eingang der Höhle aus. »Komm und laß dich von Treborra betrachten.« Er drehte sich um und ging voran in das Innere der Höhle. Hults Augen weiteten sich in der Dunkelheit. Er gewahrte die Gestalt, die auf dem Boden der Höhle in einer Nische lag, auf einem Lager aus Fellen. Es war eine Frau. Sie war jung, kaum in der Blüte ihres Haldrims. Sie erhob sich von ihrem Lager, um ihn zu begrüßen, und der Alte zog sich schweigend zurück. Die Onhla kannten keine solchen Begriffe wie den der Liebe, denn ihre Sprache besaß keine Wörter für die sanfteren Gefühle. Ihre Lebensumstände hatten andere Qualitäten erstrebenswerter gemacht. Und eben diese Qualitäten sah Hult in der Frau vor ihm verkörpert. Die pralle Reife ihres Leibes und der satte Glanz ihrer Stammesfarben drückten Lebenskraft aus. Die Klarheit und Weisheit in ihren Augen ließen keinen Zweifel daran, daß sie eine Frau war, die einen Stamm gründen würde, der alle bisher dagewesenen übertreffen würde. Hult wußte, daß er endlich eine Lebensgefährtin gefunden hatte, eine, für die sich die lange Suche gelohnt hatte. Treborra musterte Hult ihrerseits, und er bestand die Prüfung. Die Farben seiner Mähne leuchteten von innerem Leben. Er hatte die kräftige Gestalt eines Jägers, und nur ein gewandter und umsichtiger Jäger konnte solche Felle erbeuten, wie er sie trug. Er war jung, aber er hatte große Weisheit und Entschlossenheit gezeigt. Um sie zu finden, hatte er die Sterne durchquert. Der größte Teil seiner Haldrimzeit lag noch vor ihm, wie bei ihr. Gemeinsam würden sie einen großen Stamm aufbauen können. Obwohl beide wußten, daß sie ein Paar werden würden, mußte zuvor das Ritual eingehalten werden. Dies war kein Großes Sammeln, mit Dutzenden von jungen Onhla, die
miteinander um die Ehre wetteiferten, neues Leben erschaffen zu dürfen. Treborra war das letzte Weib ihres Stammes, bewacht von dem letzten Alten und umworben vom letzten Onhla des Heimatplaneten. Trotzdem mußte Hult sich erst als ihrer würdig erweisen, und sie mußte ihre Wahl frei zum Ausdruck bringen. Sie legte die Hand auf den dichten Haarring um seinen Hals und vergrub die Finger tief in der goldbraun schimmernden Fülle seiner Mähne. Die andere Hand legte sie auf seine Brust. Einen Moment lang verharrte sie mit den Händen an seinem Körper, dann ließ sie von ihm ab und richtete sich auf. »Geh und tu deine Pflicht«, befahl sie. Hult schoß wie von einer Feder geschnellt aus der Höhle und stürmte, sich mehrmals überschlagend, in einer kleinen Lawine frisch gefallenen Schnees den Berghang hinunter. Auf dieser Welt gab es keine Mitbewerber, die ihm den Erfolg streitig machen konnten, wie es beim Großen Sammeln der Fall gewesen wäre, dennoch gebot es die Ehre, daß er sein Äußerstes an Schnelligkeit und Geschicklichkeit gab. Wie ein Sturmwind jagte er über die weiße Ebene. Mit Hilfe seiner ihm angeborenen Sinne hatte er viel Wissen über die Kreaturen dieser Welt erworben. Er wußte, wo er das beste Fleisch und die dicksten Felle finden würde. Aber er wollte mehr als das. Bald hatte er den Bergkamm erreicht, zu dessen Fuß sich der große Wald aus niedrigen, dickstämmigen Bäumen erstreckte. Er blieb stehen und sandte seine Sinneskräfte aus. Wie schlanke, tastende Finger, unsicher erst, doch rasch sicher werdend und fester zupackend, griffen seine Jagdsinne nach den Bewohnern dieser kalten Welt. Bald fand er das Leben, das er suchte. Unregelmäßig und wortlos sickerten die Reaktionen zu ihm zurück. Hult stieg hinunter und drang in den Wald. Seine erste Beute waren die fetten, kurzbeinigen Höhlentiere, deren
Fleisch so saftig war. Dann stieß er auf ein ängstlich am Erdboden zusammengekauertes Rudel von ihnen und erlegte es schnell und schmerzlos. Zweimal noch erbeutete er auf diese Weise Fleisch und Felle, dann hielt er inne. Er spürte eine neue Reaktion. Er blieb eine Weile ruhig stehen, machte seinen Geist vollkommen frei und konzentrierte sich dann erneut. Nahrung und Pelze hatte er beschafft; nun suchte er nach Jagdgefährten. Die Koomiok, die weißen Pirschjäger Insgars, spürten sofort die Herausforderung, die aus dem Nichts auf sie zukam. Sie wußten nicht, wie, doch plötzlich fühlten sie, daß eine starke, unbekannte Kraft in ihre vertrauten Jagdgründe eingedrungen war. Sie bot ihnen ein Bündnis an, das anders war als alle, die sie bisher gekannt hatten. Dies überstieg ihr Begriffsvermögen. Diese geheimnisvolle Kraft mußte entweder sofort gestellt und vernichtet oder auf immer akzeptiert werden. Sie zögerten, zutiefst verwirrt, und manche wandten sich zur Flucht. Andere jedoch blieben standhaft und beschlossen, ihr Territorium zu verteidigen. Lautlos glitten sie durch den Wald, huschten behende unter den niedrighängenden Zweigen hindurch und über schneebedeckte Lichtungen. Hult hörte kein Geräusch, doch er ortete die Kreaturen hinter seinem Rücken. Sie näherten sich rasch. Es waren zwei. Sie kamen aus verschiedenen Richtungen. Die Koomiok besaßen keinen Ortungssinn. Da sie sich lautlos gegen die Windrichtung näherten, noch dazu von hinten, rechneten sie mit einem schnellen Sieg. Doch Hult hatte sie lokalisiert. Er spürte, wie sie näher kamen. Ein dritter streifte seinen Ortungssinn, doch er war noch weit entfernt, gerade innerhalb seiner Reichweite; er stellte vorerst noch keine Bedrohung dar. Die zwei, die sich ihm näherten, suchten den Kampf, das spürte er sofort. Er wünschte sich, sie aus der Nähe betrachten zu können, ihre
Bewegungen, ihre natürliche Bewaffnung, ihre Angriffsmethoden studieren zu können, aber das war ohne eine gleichzeitige Preisgabe seiner Position und Kampfbereitschaft unmöglich. Auf seinem Weg in die Berge hatte er mehrere Koomiok von weitem gesehen, aber er hatte sie niemals auf der Jagd beobachten können. Diese Gelegenheit würde er bald haben. Er saß in der Mitte der kleinen Lichtung reglos neben seiner Jagdbeute, als der erste der beiden Pirschjäger aus dem Dickicht brach und auf ihn losstürzte. Mit einer einzigen, blitzschnellen Bewegung ließ er die Klinge von seinem Handgelenk schnappen und wirbelte herum, um den Angriff der Kreatur zu parieren. Hult, der ihm eine Chance geben wollte, wiederholte noch einmal sein Bündnisangebot. Der Koomiok nahm es zur Kenntnis und verwarf es mit einem wütenden Brüllen. Er wollte kein anderes Verhältnis als das zwischen Jäger und Gejagtem. Mit erhobenen Vorderpranken, das breite Maul weit aufgerissen, bereit zum Zuschnappen, sobald der Gegner zu Boden geschmettert war, warf sich der Koomiok auf ihn. Doch Hult war schneller. Mit einer geschickten Seitwärtsdrehung wich er dem Ansturm aus und ließ gleichzeitig seine Klinge mit der flachen Seite auf den breiten Schädel des Jägers niedersausen. Benommen taumelte der Koomiok für einen Moment auf seinen Hinterbeinen. Hult tauchte blitzschnell unter den immer noch erhobenen Vorderpranken weg und schlitzte mit einer einzigen Bewegung den Rumpf des Koomiok von der Gurgel bis zum Bauch auf. Dann packte er ihn mit der freien Hand an der Pranke und riß ihn mit einem kräftigen Ruck in den Schnee, wo er zuckend verendete. Der zweite Koomiok war vorsichtiger. Er stürmte auf die Lichtung, blieb stehen und bewegte sich dann in geduckter Haltung und weit zurückgebogenem Kopf langsam auf Hult zu. Hult sah die beiden messerscharfen Zahnrei-
hen im Maul des Tieres aufblitzen. Herausfordernd knurrte er es an, und es spie Haß zurück. Es bewegte sich schnell und behende seitwärts hin und her, schoß vor, um einen Angriff vorzutäuschen, sprang blitzschnell wieder zurück in Sicherheit. Dabei ließ es Hult keinen Moment aus den Augen. Sprungbereit umschlichen sie einander, jede Bewegung des Gegners genau studierend. Hult duckte sich und löste die Klinge von seinem anderen Handgelenk. Dann faßte er beide Klingen genau in der Mitte und schwang sie parallel zur Erde mit gesenkten Armen rhythmisch vor und zurück. Der Koomiok senkte wütend den Kopf und versuchte, nach einer der beiden Hände zu schnappen. In dem Moment, als der Kopf vorzuckte, ließ Hult die andere Klinge aus der Vorwärtsbewegung heraus los. Der Koomiok sah sie heranfliegen, doch zum Ausweichen war es zu spät. Sie bohrte sich tief in seine Gurgel. Mit einem markerschütternden Schmerzschrei bäumte sich das Tier auf, doch ehe seine Pranken trafen, war Hult zur Stelle, schlitzte es mit demselben vertikalen Schnitt auf und schleuderte es in den Schnee, wo es verblutete. Die Felle waren unbeschädigt. Er konnte Treborra jetzt zwei feine Pelze und einen beträchtlichen Vorrat an Fleisch vorweisen, doch er wollte mehr. Er wollte die Gewißheit haben, daß er den Sieg nicht nur deshalb errang, weil er keine anderen Mitbewerber auszustechen hatte. Er wollte eine Tat vollbringen, wie sie seit dem ersten Knoten der Onhlageschichte noch kein Freier je bei einem Großen Sammeln vollbracht hatte. Die anderen Koomiok hatten sich zurückgezogen; er spürte ihre An Wesenheit nicht mehr. Sofort machte er sich daran, die beiden, die er getötet hatte, zu enthäuten. Nachdem er die Häute behutsam und mit größter Vorsicht abgezogen hatte, um sie nicht zu beschädigen, säuberte er sie geschickt von allem noch anhaftenden Fleisch und hängte sie hoch über einen Ast. Die
Kadaver schaffte er von der Lichtung und warf sie ein Stück weiter entfernt in den Schnee. Dann ging er zurück, nahm die Hälfte des Fleisches der Höhlentiere und vergrub es vor sich im Schnee. Erneut sandte er seine Sinneskräfte aus, um Kontakt mit den Koomiok aufzunehmen. Er wußte nicht, ob er in der Lage war, die Gedankenmuster von Kreaturen einer fremden Welt zu durchdringen, aber er wollte es wenigstens versuchen. Die Koomiok waren nicht so grundlegend anders als die Tiere, die er auf Hraggellon gejagt hatte. Sie hatten auf sein erstes Tasten reagiert. Er hielt die Verständigung für möglich und einen Versuch wert. Er mußte sie nur nahe genug heranlocken. Er spürte, wie sie aus allen Richtungen herannahten. Sie kamen einzeln und in Paaren. Ängstlich und zugleich neugierig pirschten sie sich an die Stelle heran, an der dieses unbekannte, furchtlose Wesen auf sie wartete. Eine geheimnisvolle Kraft zog sie unwiderstehlich zu ihm hin. Doch diesmal griffen sie nicht an. Sie kauerten sich mit geduckten Köpfen vor Hult in den Schnee, äugten verstohlen hinauf zu den weißen Fellen und auf die roten Flecken im Schnee und warteten. Er spürte ihre Neugier und ihr Unbehagen. Als er keine weiteren mehr im Wald ortete, sprach er sie auf die gleiche Weise an, in der er früher mit den Tormagon gesprochen hatte. Ihre Sprache war einfach, und er lernte rasch, ihre Gedanken zu verstehen und zu deuten. Er erneuerte sein Bündnisangebot. Einige knurrten und erhoben sich zähnefletschend. Er hielt seine Klingen hoch, deutete auf die Häute und wiederholte seine Botschaft, worauf sie sich wieder ängstlich in den Schnee kauerten. Jetzt lösten sich zwei kleinere Koomiok aus der Gruppe und krochen, die Köpfe zum Zeichen der Unterwerfung gesenkt, langsam auf ihn zu. Zögernd folgten ihnen zwei weitere, gleich darauf noch zwei. Zum Schluß kamen auch die, die sich anfangs gesträubt und die Zähne gefletscht hatten, und
kauerten sich zu seinen Füßen nieder. Einen Moment stand er triumphierend da, dann beugte er sich hinunter, zog das Fleisch, das er vergraben hatte, aus dem Schnee hervor und befahl ihnen zu essen. Als sie satt waren, packte er sich das restliche Fleisch und die Pelze auf die Schultern. Mit dem Befehl, ihm zu folgen, wandte er sich um und machte sich auf den Weg zu der Höhle, in der Treborra auf ihn wartete. Der Alte saß, wie schon beim ersten Mal, am Eingang der Höhle. Er führte Hult erneut zu Treborra. Hult hatte getan, was sie von ihm verlangt hatte und den Beweis seiner Fähigkeiten geliefert. Beifällig glitt ihr Blicküber die Trophäen, die er mitgebracht hatte. »Die Koomiok sind gefährlich. Nur die besten Jäger erbeuten ihre Felle. Noch nie hat ein einzelner Jäger zwei davon gebracht«, sagte sie. Sie streckte ihre Hände nach Hult aus. Bevor sie die Worte der Einwilligung sprechen konnte, sagte er: »Ich habe noch mehr mitgebracht. Komm und schau.« Sie folgte ihm zum Eingang der Höhle und sah hinunter. Am Fuße des Berges saßen die Koomiok in einem Halbkreis. Auf einen stummen Befehl Hults hin blickten sie auf und stießen einen schrillen, hohl klingenden Schrei aus. »Ich bringe dir mein Jagdrudel«, sagte Hult. »Kein Onhla hat je die Koomiok zu zähmen vermocht«, erwiderte Treborra und blickte ihn bewundernd an. »Du wirst mein Gefährte sein, Hult. Wir werden zusammen einen neuen Stamm gründen.« »Nicht hier. Insgar ist eine arme Welt. Laß uns zurück nach Hraggellon gehen. Alle Onhla sind tot. Die Tormagon sind ohne Herren. Die Gorwol und die Tulk werden träge und müde. Die Heimatwelt wird uns gehören. Wir werden sie an unseren Stamm weitergeben.« Sie legte ihre Hände auf seine Schultern und preßte ihre Wange an seine Mähne. »Du bist für immer
mein Gefährte! Wir werden nach Hraggellon zurückkehren.« Eine Weile noch lebten sie zusammen in der Höhle. Am Tage jagten sie mit den Koomiok. Sobald es dunkel wurde, kehrten sie zur Höhle zurück, und nach dem Essen lauschten sie den Worten des Alten und suchten die tiefe Weisheit zu ergründen, die sich in seinen geheimnisvollen Äußerungen verbarg. Des Nachts lagen Hult und Treborra eng umschlungen auf ihrer Lagerstatt aus Fellen, während der Alte am Eingang der Höhle wachte. Hult war von tiefer Zufriedenheit erfüllt. Er hatte viel gewagt und viel gewonnen. Zwei Dunkelzeiten der Erniedrigung in den Mauern Norions und eine lange Reise durch die Leere des Alls hatten ihn schließlich zu einer feinen Gefährtin geführt. Vieles von dem, was er sich ersehnt hatte, war auf Insgar in Erfüllung gegangen, und als die Zeit ihrer Abreise nahte, kündigte sich eine neue Verheißung an: Treborra spürte neues Leben in ihrem Leib. Eines Abends verkündete ihnen der Alte, daß nun alles erfüllt sei und sie von nun an allein sein würden. Andere erwarteten ihn auf dem Gipfel des Berges, und es sei Zeit, daß er zu ihnen gehe. Er löste das Unterkleid aus geknoteten Lederstreifen von seinem Körper und wand es behutsam um Treborras Schultern. »Dies ist die Geschichte der Jengg und aller, die davor waren«, sagte der Alte. »Vereinigt sie mit der Geschichte der Bachan. Sie sind beide beendet. Nun beginnt ein neuer Stamm und eine neue Geschichte.« »Wie sollen wir unseren Stamm nennen? Welche Farben sollen wir tragen?« fragte Treborra. Der Alte schwieg einen Moment, dann sagte er: »Seid der Stamm der Koomiok. Tragt nur eine einzige Farbe, das Weiß der Koomiok.« Die letzten Worte eines Alten waren für einen Onhla von großer Bedeutung und Wichtigkeit.
Dennoch waren die beiden im ersten Moment verblüfft. Noch nie in der Geschichte der Onhla hatte es einen Stamm gegeben, der nur eine einzige Farbe trug. Doch war auch noch nie ein Stamm aus Onhla zweier verschiedener Welten hervorgegangen. Auch hatte noch nie ein Onhla ein Jagdrudel der weißen Koomiok von Insgar geführt. Dies waren neue Zeichen für eine neue Rasse. Hult fand Gefallen an den Worten des Alten. »Wir werden die Koomiok sein«, sagte er. »Du brachtest mir zwei Pelze als Geschenk. Wir werden aus ihnen neue Kleider machen in der Farbe unseres Stammes«, schlug Treborra vor, und Hult willigte sofort ein. In jener Nacht, als Treborra und Hult einander in den Armen lagen, ging der Alte fort. Er stieg den Berg hinauf zu der riesigen Felsspalte, wo die anderen, die vor ihm gegangen waren, beieinander saßen, die Gesichter der Dunkelheit zugewandt. Der Alte entfachte das Traumfeuer und nahm seinen Platz neben den anderen Träumern ein. Es gab keine große Abschiedszeremonie. Dies war eine Stunde der vollkommenen Erfüllung, nicht der Trauer. Am Morgen machten Hult und Treborra neue Kleider für ihre Rückkehr nach Hraggellon. Der Alte hatte seinen Umhang aus Gorwolpelz zurückgelassen. Treborra nahm ihn und rollte ihn sorgfältig zusammen, um ihn für seinen ausersehenen Zweck aufzubewahren. Als die Zeit gekommen war, führte Hult das Rudel zum anderen Ende des Waldes und ließ es frei. Ein paar nutzten die unerwartete Gelegenheit und stoben davon wie der Wind, froh darüber, endlich der Gefangenschaft entronnen zu sein, die dieses fremde Wesen ihnen auferlegt hatte. Andere zögerten, schwankten unschlüssig. Sie entfernten sich zuerst nur langsam, wandten immer wieder unentschlossen ihre Köpfe, doch als sie in einer gewissen Ent-
fernung von Hult waren, wurden ihre Schritte schneller. Schließlich waren auch sie außer Sichtweite. Zwei blieben, wichen nicht vom Fuß ihres Führers. Es waren die beiden jüngsten. Voll aufgerichtet, reichten sie kaum bis an Hults Brust. Sie waren die ersten gewesen, die sich ihm unterworfen hatten, und es gab für sie kein Zurück mehr. Erneut sagte er ihnen, daß sie frei seien, doch sie blieben zu seinen Füßen liegen. Er spürte die Angst vor dem Verlust in ihnen und die Einsamkeit. Deshalb zögerte er – nicht aus Mitleid, sondern aus Pflichtgefühl. Ein Onhla nahm seine Pflichten als Führer eines Rudels nicht auf die leichte Schulter. Wenn die Koomiok bei ihm bleiben wollten, dann konnte er sie nicht einfach davonjagen. Treborra meldete sich mit einem Vorschlag zu Wort. »Wenn wir den Namen der Koomiok annehmen, dann ist es nur recht, wenn wir sie mitnehmen. Sie könnten ebensogut auf Hraggellon jagen.« »Die Tormagon würden sie angreifen, sobald sie sie sähen.« »Die Tormagon würden dir gehorchen. Wenn du diese beiden zu unseren Stammestieren erklärst, dann würde niemand es wagen, sie anzugreifen.« Hult wußte, daß sie recht hatte. Treborras Rat war immer klug und wohlüberlegt. Der Gedanke, mit neuen Tieren in die Heimatwelt zurückzukehren, mit einem eigenen Rudel, war überzeugend. »Wie du gesagt hast: sie kommen mit«, verkündete er. Die Tiere verstanden. Ihre Gesichter waren nicht dazu geschaffen, Glücksgefühle auszudrücken, dafür zeigten dies um so deutlicher ihre Gesten und Bewegungen. Sie wälzten sich wie toll im Schnee, zwickten einander in die Schnauzen und strahlten eine Zuneigung aus, wie Hult sie seit seinen frühen Tagen unter den Tormagon nicht mehr erlebt hatte. Einer von ihnen kam zu Treborra und rieb sich wie wild an ihrem Bein, wobei er ein tiefes, langgezogenes Knurren des Wohlbehagens ausstieß. Sie
vergrub ihre Finger tief in seinem Fell und kraulte ihm die weiche Haut. Der andere Koomiok umkreiste in einem Ausbruch schierer Lebenslust Hult in ausgelassenen Sprüngen, daß der Schnee in alle Richtungen stob. »Sie müssen Namen haben«, sagte Treborra. »Gib ihnen welche, Treborra.« Sie überlegte einen Moment und sagte dann: »Dieser hier soll Jengg heißen, der andere Bachan.« Sie wanderten zum Flußtal, wobei sie um die Siedlung der gefallenen Onhla einen Bogen machten. Bald darauf schifften sie sich auf einem Floß ein, das flußabwärts fuhr. Die Floßschiffer fühlten sich unbehaglich in der Nähe der beiden Koomiok, obwohl es nur Junge waren. Und sie wußten auch nicht so recht, was sie mit diesem seltsamen, mit Koomiokfellen bekleideten Paar anfangen sollten. Doch Hult bezahlte sie großzügig mit den Fellen der Höhlentiere. Die Reise zurück zur Grixlingen verlief angenehm und ohne Zwischenfälle. Sie trafen zwei Tage vor der verabredeten Zeit ein. Seb Dunan und sein Assistent kamen einen Tag nach ihnen. Einen Tag später startete die Grixlingen zum Rückflug nach Hraggellon. Die hraggellianische Jahres/Tages-Periode – gemessen in Norion – entspricht einer Zeitspanne von 244,6 GSKTagen. Der komplette Jahreszyklus wird mit dem Begriff Dunkelzeit bezeichnet. Als Dunkelzeit bezeichneten die Einwohner ebenfalls die langanhaltende Dunkelheitsphase, die die Nacht bzw. den Winter dieses Planeten ausmacht. Der Zyklus beginnt mit dem sog. Erstlicht, dem Erscheinender Sonne am Horizont von Lichtheim, d. i. die sonnenzugewandte Seite des Planeten. Der Phase des Erstlichts folgt das Neulicht, die Zeit der Aussaat, und darauf folgt die Erntezeit. Das Mittlicht markiert die Mittags- bzw. Mittsommerperiode, wo die Hitze am größten ist und das Licht so weit nach Schattenland vordringt, daß es die
Grenze Sternheims (d. i. die sonnenabgewandte Seite des Planeten) erreicht. Während dieser Phase besteht latente Dürregefahr. Sämtliche Zisternen und Berieselungstanks werden zu Beginn des Mittlichts gefüllt, und die Fluttore am unteren Ende des Kariarsees werden geschlossen, um Wasser für die nächste Aussaatperiode zu sammeln. Während der Mittlichtperiode kommt das öffentliche Leben in Norion fast zum Erliegen. Die zweite Aussaat und zweite Ernte finden am Nachmittag bzw. Herbst statt. Zu Beginn dieser Periode werden die Fluttore wieder geöffnet, und die Arbeit wird wieder aufgenommen. Der Tag (das Jahr) endet mit dem Letztlicht. Die Fluttore werden dann wieder geschlossen. Die Wasserstraßen frieren zu. Über Norion breitet sich rasch Dunkelheit aus, die während der tiefsten Dunkelzeit von den flußabwärts gelegenen Siedlungen bis nach Sternheim reicht. 57,3 GSK-Tage später beginnt der Zyklus von neuem. M. B. B. Bartolin, Primär Dritte Hraggellon-Kontaktmission
7. Daheim Hult verbrachte auf der Rückreise keine Zeit mit den Händlern. Er betrachtete sein Geschäft mit ihnen als beendet, und er hatte kein Verlangen nach menschlicher Gesellschaft. Er hatte Wichtigeres zu tun. Die Koomiok brauchten viel Pflege und Zuwendung. Sie fühlten sich unbehaglich in der Enge des Driveschiffes; nur Hults ständige Gegenwart konnte sie einigermaßen beruhigen. Die Sternfahrerrationen waren knapp bemessen und schmeckten fade. Wenn Hult nicht bei ihnen war, weigerten sie sich, davon zu fressen. Treborra konnte ihm nicht helfen; sie hatte wichtige eigene Pflichten zu erfüllen. Aus dem Umhang des Alten fertigte sie eine Hülle aus Gorwolfell für die Geschichten ihrer alten Stämme. Als das erledigt war, begann sie, die Geschichte zu knüpfen, die sich just, während ihre Finger behende über das Leder glitt, zu entrollen begann: die Erschaffung des Stammes der Koomiok. So arbeitete jeder an seiner Aufgabe, Wachzeit um Wachzeit, in seiner eigenen, abgeschiedenen kleinen Welt im Leib der Grixlingen. Sie waren Onhla, und sie lebten so, wie die Onhla seit jeher gelebt hatten: abgeschieden. Sie aßen und schliefen, wie ihr Körper es verlangte, und gehorchten keinem anderen Befehl. Lange bevor die Reise zur Hälfte um war, hatte der größte Teil der Besatzung ihre Anwesenheit an Bord vergessen. Nicht so Seb Dunan. Er mußte oft an sie denken. Seit der Landung auf Insgar hatte sich sein Gesundheitszustand erheblich verschlechtert, und immer häufiger kreisten seine Gedanken um die Frage, was die Felle des Onhla ihm einbringen konnten. Je länger der Flug dauerte, desto stärker wurde in ihm der Wunsch, das geheimnisvolle Paar aufzu-
suchen. Viermal verließ er seine Kabine und durchquerte die Grixlingen, um zu ihrem abgelegenen Quartier zu gelangen. Jedesmal kehrte er wieder um. Er konnte dem unnahbaren Onhla nicht in seinem gegenwärtigen Zustand vor Augen treten. Mit jeder Wachzeit, die verging, fühlte er sich elender, und seine Entschlossenheit schwand mit seiner körperlichen Widerstandskraft. Dunan hatte sich einfach zuviel abverlangt. Er hatte alle Alarmzeichen ignoriert. Nun mußte er den Preis dafür zahlen. Seine Riechdose hatte ihm immer über Schwächeperioden hinweggeholfen, dafür hatte er sich in immer stärkerem Maße von ihr abhängig gemacht. Das Gefühl der Kraft und Euphorie, das sie ihm verschaffte, hatte ihn über seinen wahren Zustand lange Zeit hinweggetäuscht. Aber selbst die kräftigen Heilkräuter von Tarquin VII waren in ihrer Wirkung begrenzt, und diese Grenze hatte er überschritten. Zwei Hochgravitationsplaneten waren zuviel für ihn gewesen. Die Schmerzen in seiner Brust waren während seines Aufenthalts auf Insgar unerträglich geworden und hatten ihn hart an den Rand des Zusammenbruchs gebracht. Er vertraute immer noch darauf, daß seine Riechdose ihn schon irgendwie über Wasser halten würde. Am meisten Angst hatte er davor, sich in die Hände irgendeines ignoranten Quacksalbers zu begeben. Selbst der Medico der Grixlingen war nicht viel mehr als ein Flickschuster und Knochenklempner, der ihm sicherlich mehr schaden als nützen würde. Dunan wollte nur noch alles Nötige regeln und dann zur Basis zurückkehren, um einen ruhigen, sicheren Lebensabend zu genießen. Er war müde. Zum ersten Mal in seinem langen Leben spürte er Angst. Er streckte sich auf seiner schmalen Koje aus, atmete in flachen, fast vorsichtigen Zügen die schale, sterile Bordluft ein und verfluchte seine eigene Torheit. Die Rundtour zu den Erzfeldern von Insgar hat mir den Rest gegeben, dach-
te er selbstkritisch. Konnte die Schmerzen kaum noch aushalten. Dachte manchmal, ich würde nicht mehr lebend auf die Grixlingen zurückkommen. Ich muß unbedingt den Onhla sehen, sagte er sich. Und wenn er mir wieder mit seinen Ausflüchten kommt, dann gebe ich so lange keine Ruhe, bis ich ihm das feste Versprechen abgerungen habe, mit uns zusammenzuarbeiten. Und seiner Frau gleich mit. Die sieht so aus, als wäre sie ein ebenso guter Jäger wie er. Nun ja, irgendwie sind sie ja auch halbe Tiere. Aber immer noch allemal besser als diese Norioniter mit ihren Hundevisagen. Werden mir eine Menge Felle besorgen, die beiden, und das zu einem lächerlich geringen Preis. Und diese beiden Viecher, die sie mit angeschleppt haben, häßliche Tiere. Habe wieder vergessen, wie sie sie genannt haben. Besitzen schöne dicke Felle. Hätte nichts dagegen, sie zu den anderen sechs zu legen. Aber nein, das war nicht abgemacht. Muß mich an die Abmachung halten. Ein stechender Schmerz ließ ihn stöhnend hochfahren. Dann sank er wieder auf das Kissen zurück. Seine Gedanken waren ein rasendes Karussell aus Eis, Pelzen und Haftanhängern, aus Lichtkugeln und Riechdosen und Heilpflanzen und der Sage des Daldirian und steilen Bergpfaden und Erinnerern und einem bleichen, muskelbepackten Humanoiden, der in der reißenden Strömung des Moharil herumtollt wie ein Kind in einem Planschbecken. Er sank für eine Weile in tiefe Bewußtlosigkeit und erwachte plötzlich, besessen von einem Gefühl drängender Eile, die Gedanken ganz klar und scharf. Sollte den Medico rufen und mich von ihm in Tiefschlaf legen lassen, dachte er. Aber ich werd’ den Teufel tun. Ich hab’ kein Vertrauen zu ihm. Und zu den Kältetanks auch nicht. Als Eiszapfen durch die Galaxis zu reisen, tot wie ein Stein, bis irgendein Tech-
niker einen irgendwann wieder einmal auftaut – falls er es schafft – und falls die hohen Herren ihren Segen dazu geben. Da versuch’ ich mein Glück besser im Wachzustand. Wenn ich meine Arbeit erst getan habe … Er raffte sich mühsam von der Koje auf und verließ mit unsicheren Schritten die Kabine. Ich habe zu lange gewartet, dachte er, viel zu lange. Nur noch ein Dutzend Wachzeiten, bis wir wieder in Hraggellon sind, dann sind sie fort und ich sehe sie nie wieder. Der Schmerz wütete in seiner Brust, aber wie schon so oft ignorierte er dieses Alarmzeichen. Er mußte unbedingt den Onhla sprechen. Es blieb nicht mehr viel Zeit. Er mußte ihn jetzt sprechen, sofort. Er wankte die Kajütentreppe hinunter, die Hände am Geländer, vorsichtig und mit Anstrengung Stufe um Stufe nehmend. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn und perlten ihm die Wangen hinab, aber er zwang sich zum Weitergehen. Seine Beine versagten ihm fast ihren Dienst, und einmal geriet er ins Stolpern, aber er fing sich wieder und hielt sich mit letzter Kraft am Geländer fest. An einer Zwischenplattform stieß er sich vom Geländer ab und versuchte, wild mit den Armen rudernd, die gegenüberliegende Seite zu erreichen. Er schaffte es nicht. Nach zwei taumelnden Schritten sackte er in sich zusammen und schlug der Länge nach hin. Er hatte das Gefühl, als platze eine Bombe in seiner Brust. Es war zu spät. Er konnte sich weder bewegen noch sprechen, und er wußte, daß er dem Tode nahe war. Hilflos lag er eine Weile da, dann versuchte er aufzustehen. Ein wütender Schmerz umkrallte sein Herz und entriß ihm ein Stöhnen. Er sackte wieder zurück und blieb still liegen. Es war zu spät. Zu spät für den Onhla, zu spät für überhaupt noch irgend etwas. Hätte klüger sein müssen, dachte Dunan. War wirklich nicht nötig, auf Insgar wegen ein paar
Handelswaren herumzuhetzen. Nicht mit sechs Gorwolpelzen und einem Vorrat Lichtkugeln an Bord. Und außerdem noch diesen Pflanzen. Du hattest genug, murmelte er wütend zu sich selbst. Du brauchtest nicht mehr. Die Pelze wären genug gewesen. Aber diese Erkenntnis nützt dir jetzt auch nichts mehr. Es ist alles vorbei. Nichts kann dir jetzt mehr helfen. Nichts. Seine Hand faßte nach dem Geländer. Sie zitterte, und er griff ins Leere. »Nichts!« keuchte er mit einer Stimme, die nicht ihm gehörte. Dann starb er. Ein Besatzungsmitglied fand die Leiche zwei Wachzeiten später und alarmierte sofort Clell Basedow. Im ersten Moment traf den jungen Mann ein fürchterlicher Schock. Er wollte nicht glauben, daß Seb Dunan so plötzlich und unerwartet gestorben war. Der Verlust erfüllte ihn mit Trauer, denn auf seine Art hatte er Dunan gemocht. Der alte Händler war ein bärbeißiger Kauz gewesen, der oft schlechte Laune gehabt hatte, aber er kannte sein Metier besser als jeder andere, den Clell je kennengelernt hatte. Die Rückreise zur Hauptbasis würde lang und leer sein ohne ihn. Bei diesem Gedanken schlug die Stimmung des jungen Mannes um. Mit Seb Dunans Tod war er nun Chef der Handelsmission. Er würde von jetzt an keine Befehle mehr entgegennehmen, denn von diesem Augenblick an stand er auf einer Stufe mit dem Kapitän. Die Mission war ein Erfolg gewesen; und nun war es sein Erfolg, sein Triumph, seiner ganz allein. Er lächelte, brach plötzlich in schallendes Lachen aus; doch mit einem Schlag verdüsterte sich seine Stimmung wieder. Er hatte jetzt Aufgaben und Pflichten, Dinge, um die er sich kümmern mußte, Entscheidungen, die er fällen mußte, Arbeit, die getan werden wollte. Zum Lachen blieb ihm da keine Zeit. Er hatte ein großes Geschenk bekommen, doch reichte es nicht, dieses Geschenk einfach anzunehmen, so wie ein Kind es tun
würde. Er mußte einen Weg finden, wie er diese Mission wirklich zu seiner Mission machen und zeigen konnte, daß er nicht nur einfach Glück gehabt hatte. Er rief den Schiffsmedico und ließ ihn nach einem kurzen Bericht mit der Leiche allein. Er wollte darüber nachdenken, wie er sich auf dem Rest der Mission verhalten sollte. Er wollte nichts dem Zufall überlassen. Als die Grixlingen sich in den Landungsring auf Hraggellon einklinkte, stand sein Plan. Seb Dunan hatte viel getan, aber es gab eine Möglichkeit, noch mehr herauszuschlagen. Das Summen des Driveantriebs war noch nicht verstummt, als Basedow, begleitet von zwei bewaffneten Sicherheitskräften, in das Quartier der Onhla trat. Hult kam aus der Kammer und sah den jungen Mann vor sich stehen, flankiert von zwei größeren Männern, die lange Pistolen in der Hand hielten. Er wußte sofort, daß sich etwas zusammenbraute, aber er wartete, bis der andere sprach. »Wir müssen miteinander reden, Onhla«, sagte der junge Mann. »Warum?« »Es hat sich eine neue Sachlage ergeben, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben.« »Wir hatten eine Abmachung, der alte Händler und ich. Abmachungen verändern sich nicht«, erwiderte Hult ruhig. »Der alte Händler ist tot. Wir müssen eine neue Abmachung treffen«, sagte der junge Mann fest. Hult schaute ihn an, dann die Soldaten, und sagte: »Nein.« »Du scheinst etwas schwer von Begriff zu sein, Onhla, also hör mir gut zu. Du hast den alten Dunan mit einer List dazu herumgekriegt, dich in ein anderes System zu bringen, und das für lumpige sechs Felle. Nun, Dunan ist jetzt tot, und ich bin der Leiter dieser Mission. Ich bin nicht so leicht übers Ohr zu hauen. Ich will, daß du für die Benutzung eines Sternvereinschiffs auch einen angemessenen Preis entrichtest.«
Hult stand mit herunterhängenden Armen da und starrte den jungen Mann schweigend an. Ihm war klar, was dieser kleine, laute Mann wollte, und er überlegte, wie er die Situation am besten lösen konnte. Reden nützte jetzt nichts, das war klar. Während er dastand und überlegte, trat Treborra zu ihm und stellte sich an seine Seite. Auf den Armen trug sie die Hülle mit der Geschichte ihrer Stämme. Als Basedow die Hülle gewahrte, stieß er einen Schrei aus und deutete triumphierend mit dem Finger darauf. Treborra verstand seine Worte nicht, doch angesichts seiner eindeutigen Geste trat sie einen Schritt zurück und preßte die Hülle fest an ihre Brust. »Das ist der Beweis, daß du uns betrogen hast«, rief Basedow. »Du hast Felle für dich behalten, obwohl du sie uns versprochen hattest.« »Ich habe euch das gegeben, was wir vereinbart hatten.« »Du hast uns Felle vorenthalten. Du sagtest uns, es gebe nicht genug Gorwol mehr, und das sei alles, was du uns geben könntest, aber einen Pelz zumindest hast du für dich behalten. Das ist Diebstahl, Onhla, und es muß bestraft werden.« »Dieser Pelz ist nicht von Hraggellon. Er ist ein Geschenk von einem Alten vom Stamme der Jengg. Er hat ihn uns überlassen, damit wir aus ihm eine Hülle für die Geschichte unserer Stämme machen.« Auf diese Erklärung wußte Basedow nichts zu erwidern, doch nur für einen kurzen Moment. Er hatte sich schnell wieder gefaßt. Möglich, daß der Onhla sogar die Wahrheit sagte. Aber darum ging es ihm nicht. Es ging ihm um etwas anderes. Er wußte, was er wollte, und er wußte, was er tun mußte, um seinen Willen durchzusetzen. »Es spielt keine Rolle, woher dieses Fell stammt. Du hast uns betrogen, und dafür mußt du bezahlen. Ich bin ein gerechter Mann. Ich verlange nichts Unmögliches von dir,
lediglich eine angemessene Bezahlung für alles, was wir für dich getan haben. Wir waren nach hraggellianischer Zeit lange fort, und die Gorwol haben genügend Zeit gehabt, sich um ein Vielfaches zu vermehren. Du mußt uns mehr Felle bringen. So viele mehr.« Er spreizte die Finger beider Hände. »Wenn du das nächste Mal nach Hraggellon kommst, werde ich dir so viele Gorwolfelle bringen.« »Wir brauchen sie aber sofort.« »Nicht sofort. Erst müssen andere Dinge erledigt werden.« »Du bringst sie uns sofort, Onhla, wenn nicht, wird deine Frau – deine Gefährtin oder wie auch immer du sie nennst – dieses Schiff nicht verlassen.« Er gab den Soldaten einen kurzen Wink, und sie richteten die Läufe ihrer Pistolen auf Hults Bauch. Er hatte noch nie die Wirkung einer Sternvereinkanone auf einen menschlichen Körper erlebt, aber ihm war klar, daß es sich hier um Waffen von großer Kraft handelte. Er bewegte sich nicht. Gell fuhr fort: »Geh und jage. Wenn du uns die Gorwolpelze bringst, lassen wir sie frei. Ihr wird kein Haar gekrümmt.« »Es ist nicht recht, eine Abmachung zu verletzen.« »Erzähle mir nichts von Recht oder Unrecht, Onhla. Du hast versucht, den Sternverein zu übertölpeln, und der Versuch ist mißlungen.« Hult nahm Kontakt mit den Koomiok auf, die sich unruhig hinter ihm bewegten. Sie spürten seine Spannung und seinen Zorn und gehorchten seinem leise geknurrten Befehl. Clell, der den Laut ebenfalls gehört hatte, trat unsicher einen Schritt zurück, näher an die Soldaten heran. »Versuch nicht, mir Angst zu machen. Ich fürchte mich nicht vor dir. Durch Knurren kannst du auch nichts mehr ändern.« Er stand eingekeilt zwischen den beiden Soldaten. Die drei standen dicht beieinander. Die Situation war günstig. Hult sandte einen laut-
losen Befehl aus. Die zwei Koomiok stürmten hinter ihm hervor, tief geduckt, und ehe die beiden Soldaten reagieren konnten, fühlten sie ihre Pistolenhände von einem kräftigen Maul umschlossen. Mit der Wucht ihres Ansprungs rissen die beiden Koomiok die Männer zu Boden. Im selben Moment sprang Hult vor, packte Basedow bei der Gurgel und schleuderte ihn gegen das Geländer. Mit lautem Krachen zersplitterten Holz und Knochen, als Clells Körper das Geländer durchbrach und auf das Deck schlug, wo er reglos liegenblieb. Hult hob die beiden Pistolen auf und befahl den Koomiok, von den Männern abzulassen. Die beiden Soldaten hatten verzweifelt Widerstand geleistet und waren arg zerschunden, aber sie würden überleben. Hult zerrte alle drei in die Kammer und schloß sie dort ein. Dann nahmen er und Treborra je eine der Waffen. Sie hatten beide nur eine ungefähre Vorstellung, wie sie zu bedienen waren, aber es schien ihnen klüger, sie mitzunehmen. Sie gelangten ohne Schwierigkeiten zur Hauptausstiegsluke und wurden an der Rampe von einem der Schiffsoffiziere begrüßt. »Hat der Händler Basedow mit euch gesprochen?« fragte der Offizier. »Wir haben über unsere Abmachung geredet«, antwortete Hult. »Kommt er nicht an die Rampe, um euch zu verabschieden?« »Nein«, sagte Hult. Die Koomiok wurden langsam ungeduldig, und ihre Unruhe war von einer Art, die dem Offizier Unbehagen bereitete. Er beendete das Gespräch und trat zurück, um sie passieren zu lassen. Ohne sich umzudrehen, verließ der Stamm der Koomiok die Grixlingen und betrat wenige Augenblicke später den Boden seines Heimatplaneten. Sie waren zu einem späten Zeitpunkt im Jahreszyklus eingetroffen. Die zweite Ernte war bereits vorbei, und viele Arbeiter und Farmer waren schon von den Siedlungen am Fluß zurückgekehrt, um ihre Dunkelzeitquartiere in Norion aufzusu-
chen. Die Onhla verspürten kein Verlangen, die Stadt zu betreten. Sie verließen die Straße bald hinter dem Raumhafen und nahmen die Abkürzung durch die Hügel zum Kariarsee. Immerhin war es möglich, daß die Männer von dem weißen Schiff sie verfolgten, zumindest solange es noch hell war. Hult hielt es für das beste, den Weg durch möglichst unwirtliches Gelände zu nehmen. Das würde die Verfolger entmutigen. Auch war die Gefahr, dort jemandem zu begegnen, gering. Er hielt sich auf der Seite des Sees, wo es nur Bergwerkscamps gab. Da die Bergleute immer die ersten waren, die nach Norion zurückkehrten, hoffte er, auf diesem Weg niemandem zu begegnen. Sie überquerten den Unteren Kariar, der mittlerweile zu kaum mehr als einem Rinnsal geschrumpft war und wanderten weiter zur unteren Biegung des Sees, wo der eigentliche Kariarfluß begann. Auch dieser hatte fast seinen Tiefstand erreicht; dennoch war er immer noch ein breiter, tiefer Fluß, bei dessen Überquerung die Koomiok einige Mühe hatten. Sie waren noch jung, die Blüte ihrer Kraft lag noch vor ihnen. Bisher hatten sie nur die Flüsse Insgars kennengelernt, daher stellten sie die reißenden Ströme Hraggellons vor unbekannte Probleme. Doch sie kämpften sich hinüber, wobei Hult über den Mut erfreut war, den sie dabei an den Tag legten. Sie würden auf Hraggellon gut zurechtkommen. Sie wanderten am oberen Ende des Kariarsees entlang und erreichten die Mündung des Oberen Moharil. Seine Strömung war bereits zum Stillstand gekommen. Hult führte sie am Flußufer bis zu dem Punkt, wo auf der anderen Seite des Flusses der Pfad ins Gebiet der Onhla abzweigte. Hier schlugen sie ihr Lager auf und jagten, bis das Wasser endgültig zugefroren war. Erst dann gingen sie hinüber. Mit dem matten Nachglanz der untergegangenen Sonne zu ihrer Rechten machten sie sich auf den Weg in die Heimat,
vorbei an endlosen Reihen geschlossener und zusammengeschrumpfter Sonnensucher. Hult war von dem älteren Händler auf den Zeitverschiebungseffekt, der bei einer Reise mit Drivegeschwindigkeit eintrat, aufmerksam gemacht worden, aber er hatte dieser Warnung keine weitere Beachtung geschenkt. Wenn nach menschlichen Begriffen während seiner Abwesenheit viel Zeit auf Hraggellon vergangen war, dann berührte ihn das nicht. Die Namen, die die Menschen den sich wandelnden Positionen der Sterne und der Sonne, dem Länger- und Kürzerwerden der Schatten zuwiesen, mochten für ihre Zwecke bedeutsam sein – für einen Onhla waren sie ohne Belang. Hults Volk lebte nach einem anderen Rhythmus. Seine Zeitrechnung wurde nach eigenen, inneren Gesetzen gemessen, auf eine Weise, die kein Mensch je verstehen würde. Doch ob ihr Verlauf nun nach menschlichem oder Onhla-Maß bemessen wird – die Zeit ist der Wandel, und die Dunkelzeiten, die über Hraggellon hinweggegangen waren, hatten bedeutsame Veränderungen mit sich gebracht. Hult und Treborra konnten die Veränderungen ignorieren und sogar leugnen, daß sie überhaupt stattgefunden hatten; aber sie waren nicht immun gegen ihre Auswirkungen. Orm der Friedensbringer war mittlerweile ein betagter Tyrann, der Norion und die umliegenden Siedlungen mit der launischen Strenge unbestrittener Macht regierte. Er hatte letztendlich das seinem Namen innewohnende Versprechen erfüllt: Friede herrschte in Norion, und keine Stimme erhob sich dagegen. Die Sechzig Namenlosen hatten ganze Arbeit geleistet. Um hier und da aufflackernden Unmut kümmerten sich die öffentlichen Ordnungshüter. Das öffentliche Leben verlief in geregelten, wohlgeordneten Bahnen. In ganz Norion und den Siedlungen sah man kaum noch
einen Erinnerer. Vor langer Zeit, kurz nach dem Abflug der Grixlingen nach Insgar, war es während der Periode des Letztlichts in der Stadt zu Unruhen gekommen. Seit jeher war das Letztlicht eine besonders unruhige Zeit gewesen: die Stadt wimmelte von Heimkehrern aus den Bergwerkscamps und vom Oberlauf des Flusses, die alle die Taschen prall gefüllt hatten mit dem Verdienst einer ganzen Lichtzeit und nun noch einmal die Gelegenheit zu Amüsement und Geldausgeben nutzten, bevor die große Langeweile der Dunkelzeit über sie hereinbrach. Niemand wußte genau, wie es eigentlich angefangen hatte. Schon seit langem hätte keiner mehr gewagt, auch nur die Vermutung zu äußern, die ganze Sache sei von den Sechzig Namenlosen eingefädelt worden, doch damals hatte noch jeder geglaubt, sie steckten dahinter. Seit einigen Dunkelzeiten jedoch hatte sich allenthalben die Meinung durchgesetzt, daß das Ganze seinerzeit auf einen verfrühten Ausbruch des Memur zurückzuführen war. Was auch immer letztlich der eigentliche Grund gewesen sein mochte, jedenfalls war es zwischen einer Gruppe Mineralienhändler und zwei Erinnerern, jungen Lildoden, die einem Vertragsabschluß beiwohnten, zu einem heftigen Streit gekommen. Die näheren Einzelheiten dieser Auseinandersetzung waren, wie so vieles seither, seit langem in Vergessenheit geraten. Klar war nur noch, daß der daraufhin ausbrechende Tumult zu einem gewaltigen Aufruhr eskalierte, der bis tief in die Dunkelzeit hinein andauerte. Als es schließlich wieder ruhig wurde, waren die letzten Erinnerer Norions tot, Opfer der anonymen Brutalität des Mob. Die übrigen Erinnerer waren angesichts des wachsenden Grolls, der ihnen seit Orms Machtergreifung von der Bevölkerung entgegengebracht wurde, schon vorher in möglichst abgelegene Siedlungen geflohen. Auf dem Höhepunkt des Aufruhrs hatte es nicht wenige Stimmen gege-
ben, die zu einer Strafexpedition gegen die Flüchtigen aufriefen, zu einem letzten, endgültigen Vernichtungsfeldzug gegen die Feinde Orms und die Feinde des Volkes von Norion. Doch die Furcht, in der Kälte und Dunkelheit der hraggellianischen Nacht zugrunde zu gehen, war letztlich stärker gewesen als der Haß, und man hatte den Plan wieder fallenlassen. Als das Erstlicht kam und ganz Norion aufs Land zur Arbeit strömte, war von den Erinnerern keine Spur mehr zu sehen. Doch sie waren nicht tot. Von Zeit zu Zeit wurden kleine Gruppen von ihnen in den unwirtlichen Regionen am äußersten Rand der Schattenlinie, wo kein Mensch lange überleben konnte, gesichtet. Die Erinnerer hatten die Bösartigkeit der Menschen am eigenen Leib gespürt und die gedankenlose Grausamkeit der Natur als das kleinere Übel gewählt. Zuerst hatte es viele kleine umherstreifende Gruppen gegeben, doch mit der Zeit war ihre Anzahl geschrumpft. Einige waren der Eiseskälte der Dunkelzeit zum Opfer gefallen, andere hatten sich zusammengeschlossen, um zu überleben. Und in dem Maße, wie die Anzahl der Gruppen kleiner wurde, verringerte sich auch ihre jeweilige Stärke. Als Hult und Treborra nach Hraggellon zurückkehrten, durchstreiften nur noch neun kleine Erinnerergruppen die kalten Regionen des Schattenlandes. Doch diese Überlebenden waren ein anderer Schlag von Erinnerern. Sie hatten gelernt, wie man jagt und die Fertigkeit erlangt, die Häute und Felle der Jagdbeute als wirksamen Schutz gegen die Kälte zu verwenden. Ein Leben in Flucht und ständiger Wachsamkeit hatte sie gestählt. Zur Kraft ihres Geistes hatten sich die Kraft und Geschicklichkeit ihrer Körper hinzugesellt. Die Künste und Fähigkeiten, die sie so lange in ihrem Gedächtnis bewahrt und an andere weitergegeben hatten, lernten sie nun für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Noch immer lebte in ihnen die instinktive Furcht
des Städters vor der Weite, sein Unbehagen vor der langen Dunkelheit und der bitteren Kälte des offenen Landes, doch sie lernten durch Erfahrung, welche Maßnahmen man dagegen ergreifen konnte. Langsam, schmerzvoll, unter großen Opfern lernten sie sich anzupassen. Was die Erinnerer lernten, lernten die Tormagon nicht. Hult hatte seinem alten Rudel den Weg zum Überleben gewiesen, aber die überlieferten Verhaltensmuster steckten zu tief in ihnen. Die Tormagon verfielen bald wieder in ihren alten Trott, folgten den vertrauten, ausgetretenen Pfaden, jagten in denselben Jagdgründen und kehrten nie wieder zu der Insel zurück, die ihre neue Heimat hätte werden können. Zwei Dunkelzeiten, bevor die Grixlingen von Insgar zurückkehrte, brach der letzte ausgemergelte Tormagon auf dem schlammigen Pfad, der zu den ErstlichtJagdgründen führte, erschöpft zusammen und stand nicht wieder auf. Hult erriet schnell, was geschehen war, und sein Kummer vermischte sich mit Zorn. Er hatte den Tormagon den Weg zum Überleben gewiesen, aber sie waren zu dumm gewesen, ihm zu folgen; also hatten sie sterben müssen. So lautete nun einmal das eherne Gesetz des Lebens in diesem harten Land. Nun würde er mit den Tieren, die neben ihm und Treborra liefen, sein eigenes Rudel gründen. Das Leben würde weitergehen. Die Onhla würden zu neuem Leben erstehen. Hult und Treborra wanderten mit ihren beiden Pirschjägern Jengg und Bachan unter dem Glanz der Sterne zu ihren neuen Jagdgründen. Sternheim und das Schattenland gehörte ihnen, und sie sollten viele Dunkelzeiten in Abgeschiedenheit dort leben, behelligt weder von den Menschen Norions noch von den flüchtigen Erinnerern.
TEIL ZWEI: ERINNERUNG
ABTEILUNG 6, WEITERE EMPFEHLUNGEN:
Da der Pelzhandel niemals in Gang gekommen ist und der Gewinn aus dem Kräuter- bzw. Lichtkugelhandel meiner Auffassung nach zu gering ist, um eine Fortsetzung des Handels mit besagten Produkten lohnenswert erscheinen zu lassen, empfehle ich dringend eine völlige Neuüberdenkung unserer Hraggellon-Operation. Meine Vorschläge im einzelnen : I.
Daß der nächsten Hraggellon-Mission nur ein Primär vorangestellt werden sollte, der die Fähigkeit und die Bereitschaft mitbringt, auf die folgenden Ziele hinzuarbeiten: a)
b)
c)
Die eindeutige Festlegung auf hochwertige einheimische Rauchwaren als einziges Zahlungsmittel bei allen künftigen Geschäften zwischen Norion und dem Sternverein. Eine sorgfältige, geheim durchzuführende Analyse und Auswertung der politischen Situation in Norion. Die Schaffung eines günstigen Klimas für eine verstärkte Präsenz des Sternvereins in Norion.
II. Daß der Primär nur von einer vollen Einheit Sicherheitskräften und sonst keinem weiteren Personal begleitet werden sollte. III. Daß, falls der Mission kein voller Erfolg beschieden sein sollte, jeglicher Handel mit dem Planeten Hraggellon eingestellt wird. Morcon Gliss, Primär Dreizehnte Hraggellon-Mission
8. Rückkehr nach Hraggellon Orm der Friedensbringer starb erst in hohem Alter. Sein Sohn, Orm der Erbauer, trat sofort seine Nachfolge an. Der zweite Orm war bereits in seinen mittleren Jahren, als er an die Macht kam, und er fühlte sich von einem mächtigen Drang besessen. Er fand sich vom Schicksal ungerecht behandelt, weil ihm nur eine relativ kurze Zeitspanne vergönnt war, in der er seine Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte. Dementsprechend ungestüm legte er sich ins Zeug und zwang Norion, sein atemberaubendes Tempo mitzumachen. Die Stadt wurde vergrößert, alle Lagereinrichtungen erweitert. Die große Schutzkuppel wurde höher gezogen und um ein Fünffaches verstärkt. Mit Hilfe der Maschinen, die von den weißen Schiffen gebracht wurden, die alle paar Dunkelzeiten landeten, wurde bald ein Grad von Wohlstand Selbstverständlichkeit, der für die vorausgegangenen Generationen unvorstellbar gewesen wäre. Wenn Norion auch nicht gleich in ein Paradies verwandelt wurde, so nahm es doch einen bemerkenswerten Aufschwung: die Luft unter der Kuppel wurde beheizt und durch ein Ventilationssystem in ständiger Bewegung gehalten; die Arkaden und Gehsteige wurden regelmäßig gereinigt und vom Gestank befreit; Ausbrüche von Memur wurden seltener, und wenn sie vorkamen, waren sie weniger heftig. Zwischen den Landungsringen und der Stadt entstand eine schöne neue Straße. Die Fluttore verbesserte man erheblich, die vorhandenen Kaianlagen wichen neuen und größeren. Nichts hingegen tat man für die flußabwärts gelegenen Siedlungen und für die, die jenseits des Kariarsees lagen. Sie waren Orm dem Erbauer nicht wichtig. Für ihn zählte nur Norion. Er war von dem Wunsch beseelt, eine
Stadt zu hinterlassen, die der Residenz eines Herrschers würdig war – zum Aufpolieren von Bergwerkscamps blieb da weder Zeit noch Energie. Auf seinen überraschenden Unfalltod folgte ein blutiges Interregnum, eine Zeit der Unsicherheit und der Machtkämpfe, aus denen schließlich Orms jüngster Sohn, der ebenfalls den Namen Orm trug, als Sieger hervorging. Dieser legte sich den Titel »der Wohltäter« zu, ein Beiname, der in seiner Bedeutung weitaus eingeschränkter war als die seiner beiden Vorgänger, denn hatte der erste Orm tatsächlich Frieden geschaffen – wenn auch zu einem blutigen Preis – und war der zweite Träger dieses Namens in der Tat ein unersättlicher Erbauer gewesen, so hatte der dritte Orm auch nach zwölf Dunkelzeiten seiner Regierungszeit noch niemandem Wohltaten angedeihen lassen außer sich selbst. Es fehlte ihm sicher nicht an Energie, er wußte nur nicht, wohin damit. Da es weder Feinde gab, gegen die er hätte zu Felde ziehen können, noch Gebäude, die es zu errichten galt, vertrödelte er seine Zeit mit Sport, Trinkgelagen und dem Zeugen häßlicher Kinder mit rasch wechselnden, nicht minder häßlichen Frauenspersonen. Sein Leben verlief wie das der alten Herrscher, und er war damit nicht glücklich. Er war fest davon überzeugt, einer großen Tat fähig zu sein, doch ihm fiel keine ein. Deshalb langweilte er sich weiter von Dunkelzeit zu Dunkelzeit, und der schlaue Verstand in seinem bulligen Körper wurde immer frustrierter. Bis das weiße Schiff mit dem Sonderbeauftragten des Sternvereins als Missionsprimär landete. Es war das erste Schiff seit Beginn seiner Regierungszeit, daher beschloß er, den Abgesandten und seine Begleiter mit großem Pomp zu empfangen. Er war noch mit der Planung der Zeremonie beschäftigt, als der Gesandte auch schon allein vor der herrschaftlichen Residenz aufkreuzte und um eine Audienz nachsuchte. Solch kaltschnäuzige Direktheit verblüffte Orm. In Norion
hätte sich niemand so etwas erdreistet. Leise Unsicherheit machte sich in ihm breit; der da vor dem Tor stand, war ein Sternfahrer, einer, der andere Welten und ihre Wunder gesehen hatte, einer, für den Norion ungeachtet all seiner Pracht nicht den Gipfelpunkt allen menschlichen Schaffens markierte, einer, der nicht von Orm oder von seinen Vorgängern und ihren Werken beeindruckt sein würde. Für einen winzigen Augenblick erschien ihm Norion plötzlich als häßliches Nest. Er stellte sich den Fremden vor, wie er es mit einem toleranten Schmunzeln betrachtete, es mit geschwollenen, nichtssagenden Phrasen pries, um gleich darauf, wenn er wieder im Kreise der anderen Sternfahrer war, über diese Welt und ihren Herrscher geringschätzig zu lächeln. Orm duldete nicht, daß jemand auf seine Kosten lachte. Ein leises, unwillkürliches Knurren entfuhr ihm bei diesem Gedanken. Aber seine Stimmung hellte sich rasch wieder auf. Sollte der Abgesandte doch denken, was er wollte, Hraggellon besaß Dinge, die der Sternverein brauchte und die er sonst nirgendwo bekommen konnte. Er hatte keine andere Wahl, als seinen Herrscher mit Respekt zu behandeln. Er gab Befehl, den Abgesandten einzulassen und setzte sich auf seinen Thron. Um möglichst majestätisch zu erscheinen, empfing er ihn mit leicht vorgebeugtem Oberkörper, abgewinkelten Ellbogen, die Hände auf den wulstigen Hüften ruhend. Orm war beeindruckt und nach Kräften bemüht, sich das nicht anmerken zu lassen. Der Sternfahrer war groß – größer als die meisten Hraggellianer, ja selbst für einen Fremdweltler überdurchschnittlich groß – und ganz in eine schwarze Uniform und einen silberbetreßten Umhang gekleidet. Seine schwarzen Stiefel glänzten makellos. Sein kurzgeschnittenes schwarzes Haar war mit silbernen Fäden durchwirkt, doch er schien noch nicht weit über seine Ju-
gend hinaus zu sein und war offensichtlich in blendender körperlicher Verfassung. Das Verblüffendste an ihm war seine Körperhaltung. Steif und kerzengerade stand er da, und als er sich am Fuß des Throns vor Orm verbeugte, knickte sein Oberkörper von der Hüfte ab, als wäre er mit einem Scharnier daran befestigt. Er richtete sich wieder auf und starrte schweigend auf den Herrscher Norions. Orm sah etwas Dunkles, Drohendes hinter diesen stechenden Augen, das ihn beunruhigte. Er bedeutete dem Abgesandten, auf einer Bank zu seiner Rechten Platz zu nehmen. »Ihr seid hochwillkommen in Norion, Primär. Ich hatte gehofft, Euch und Eure Begleiter zu einem Gastmahl einladen zu können, bevor Ihr das Schiff verlaßt. Ich wollte schon einen Boten zu Euch schicken, aber nun kann ich Euch ja gleich persönlich einladen.« »Orm ist sehr freundlich«, erwiderte der Besucher. »Ich denke, es ist für beide Seiten gut, sich ein wenig näher kennenzulernen und mehr voneinander zu erfahren. Der Sternverein hat Hraggellon geholfen, wir haben ihn dafür mit hochwertigen Erzeugnissen für seinen Handel auf anderen Welten beliefert. Vielleicht können wir neue Möglichkeiten finden, wie wir noch besser als bisher voneinander profitieren können. Vielleicht können wir den Handel auf andere Erzeugnisse ausdehnen.« »Das Handelsabkommen neu zu erörtern ist der eigentliche Zweck unseres Besuchs«, antwortete der Abgesandte. »Gut. Sehr gut. Ich freue mich darauf.« »Wir. hatten auch gehofft, länger auf Hraggellon bleiben zu können als frühere Schiffe, falls der Wohltäter uns das gestattet.« »Bleibt, solange es Euch beliebt«, entgegnete Orm überschwenglich. Die steife Körperhaltung des Fremden bemerkend, fügte er hinzu: »Ich sehe, Ihr findet unsere Bänke unbequem. Sie sind nicht geschaffen für Wesen mit ungepolsterten Knochen. Ich gestatte Euch zu stehen oder Euch anderswo hinzusetzen, ganz wie Ihr wollt.«
»Es ist nicht die Schuld dieser ausgezeichneten Bänke, Wohltäter. Ich habe mir vor langer Zeit das Rückgrat gebrochen und trage ein Stützkorsett.« Orm zupfte sich am Ohr und nickte mitleidsvoll. »Ihr Sternfahrer lebt gefährlich. Aber andere sind gegen so etwas auch nicht gefeit. Mein Vater zum Beispiel starb auf die gleiche Weise, an gebrochenem Rückgrat, dennoch ist er sein Leben lang nicht aus Norion herausgekommen. Er inspizierte die Kuppel und fiel hinunter.« »Sehr bedauernswert«, murmelte sein Besucher. »Wieso bedauernswert? Schließlich kam ich dadurch auf den Thron!« erwiderte Orm barsch. »Ich wollte damit nur sagen, daß es eine unglückliche Todesart für einen Herrscher ist.« »Ich kenne keine glücklichen Todesarten. Ihr vielleicht?« »Nein, Wohltäter.« »Na bitte«, murmelte Orm und verfiel in Schweigen. Zurückhaltung hatte Orm nie gekannt. Das Bewußtsein der absoluten Macht machte es schwierig für ihn, sich unsicher zu fühlen. Trotzdem fühlte er sich in der Gesellschaft dieses schwarzgekleideten Fremdweltlers unbehaglich. Der Bursche war höflich, friedlich und legte ihm gegenüber auch den gebührenden Respekt an den Tag, der ihm als Herrscher eines Planeten zukam; doch selbst in seiner Unterwürfigkeit lag noch etwas Distanziertes, Hochnäsiges. Orm paßte seine Anwesenheit nicht, er empfand ihn als Eindringling. Andererseits wollte er ihn auch nicht zu schnell entlassen, denn er mußte vermeiden, daß er mit der Überzeugung wegging, der Wohltäter Norions sei ein wortkarger Grobian. Aber Orm wußte auch nicht, was er jetzt noch mit ihm bereden sollte, zuerst wollte er seine Erinnerer konsultieren und mehr über die Handelsabkommen mit dem Sternverein erfahren. Er fühlte sich in der Klemme. Das Handelsabkommen war für ihn im Moment ein zu brisantes Thema, aber er
hatte auch keine Lust, die Zeit mit dem Austausch hohler Artigkeiten zu füllen. Höfliches Geplauder war etwas, das seinem Volk nicht lag. Der Abgesandte betrachtete jetzt das Bewegungsbild, das eine Wand von Orms Gemach bedeckte und schnüffelte dabei – eine Idee zu geckenhaft, wie Orm fand – an einer tarquinischen Riechdose, die an seinem linken Handgelenk befestigt war. Nach einer Weile wandte er den Blick wieder von dem Gemälde ab, und Orm wartete, daß er etwas sagte. »Eine stimmungsvolle Szene, Wohltäter. Ein Geschenk des Sternvereins?« fragte der Besucher. »Der Sternverein macht uns keine Geschenke. Wir haben für diese Meeresszene dort zwei Schiffsladungen mit Tränen des Yadd bezahlt«, informierte ihn Orm. »Was die Handelswaren angeht, Wohltäter …« »Ja? Was ist damit? Sprecht nur frei heraus«, rief Orm, froh darüber, daß der andere von selbst mit dem heiklen Thema anfing. »Die Lichtkugeln gehen weiterhin recht gut, besonders auf den abgelegeneren Welten sind sie einigermaßen beliebt. Wir würden gerne weiter mit ihnen handeln … wenn auch vielleicht in einem etwas geringeren Umfang. Wir könnten im Tausch verbesserte Kälteausrüstungen anbieten, die helfen könnten, Sternheim für Euer Volk zugänglicher zu machen.« »Mein Volk braucht Sternheim nicht. Es hat Norion.« »Möglicherweise stecken in Sternheim große Reichtümer.« Orm lachte. »Eis und Wind ist alles, was Ihr in Sternheim findet. Wenn das Reichtum ist, dann ist Hraggellon in der Tat der reichste Planet der Galaxis.« »Es gibt dort noch andere Reichtümer. Feine Felle zum Beispiel. Und die sind sehr begehrt auf den Welten, wo keine Pelztiere existieren.« »Auf dieser Welt existieren leider auch nicht mehr viele Pelztiere. Vielleicht sogar überhaupt keine mehr. Ich habe schon seit der Zeit vor
meiner Thronbesteigung keinen nachweislich frisch gehäuteten Pelz mehr gesehen. Die Tormagon sind ausgestorben. Und die Gorwol waren schon ausgerottet, bevor ich geboren wurde.« »Vielleicht doch nicht, Wohltäter«, sagte der Abgesandte lächelnd. »Was soll das heißen, ›vielleicht doch nicht‹? Wollt Ihr etwa behaupten, Ihr wüßtet besser über Hraggellon Bescheid als ich?« »Ich habe da noch ein anderes Hraggellon im Sinn. Es ist lange her, seit ich hier war. Zur Zeit des Friedensbringers, als das Handelsabkommen geschlossen wurde. Ich habe den Friedensbringer noch persönlich kennengelernt und mit ihm gesprochen.« Orm glotzte ungläubig auf das bleiche, glatte Gesicht des Mannes zu seiner Seite. »Der Friedensbringer ist seit langem tot. Er herrschte viele Dunkelzeiten lang, und das Handelsabkommen wurde zu Beginn seiner Regierungszeit geschlossen. Und Ihr seht kaum älter aus als ich!« »Der Interstellarflug hat seltsame Auswirkungen auf den Verlauf der Zeit, Wohltäter. Nach dem Galaktischen Standardkalender bin ich ein sehr alter Mann – weit älter, als es der höchsten Lebenserwartung meiner Rasse entspricht. Aber mein Körper ist kaum dem Jugendalter entwachsen.« »Entweder seid Ihr nun alt, oder Ihr seid jung! Ihr könnt nicht beides gleichzeitig sein. Wie erklärt Ihr das?« »Die Erklärung ist für meine Kenntnisse zu kompliziert«, sagte der Abgesandte bescheiden. »Man sagt, lediglich eine Handvoll Männer in der gesamten Galaxis verstünden dieses Problem zur Gänze. Ich weiß lediglich, daß es so ist. Auch die Dunkelheit und das Licht kommen über Norion, ganz gleich, ob man das versteht oder nicht.« Orm grunzte leise und schaute ihn skeptisch an. »Mit dem Licht und der Dunkelheit ist das irgendwie was anderes. Diese Sache mit dem Älterwerden und zugleich Jungbleiben gefällt mir nicht. Es ist nicht natürlich.« Einen Moment starrte er grübelnd ins Leere, dann wandte er sich wieder sei-
nem Besucher zu und fragte: »Was für ein Mensch war der Friedensbringer? Kanntet Ihr ihn gut?« »Gesprochen habe ich nur ein einziges Mal mit ihm, aber ich habe ihn häufig gesehen. Er war von mächtiger Statur, ähnlich dem Wohltäter. Seine Kraft war verblüffend.« »Genau wie meine. Das ist ja bekannt. Habt Ihr auch den Erbauer gekannt?« »Er war noch nicht geboren.« »Noch nicht …? Er war alt, als er starb, und Ihr … wie konntet Ihr …?« Orm war völlig verwirrt. »Wie ich schon sagte, der Interstellarflug hat zur Folge, daß die Zeit für einen Sternfahrer anders verläuft als für andere.« Orm rutschte unbehaglich auf seinem Thron hin und her. Sein Vater hatte diese paradox klingende Sache einmal in seiner Gegenwart erwähnt, aber er hatte es immer für ein Schauermärchen gehalten, etwas, das man sich lediglich ausgedacht, um kleine Kinder in Erstaunen zu versetzen. Irgendwie ergab das alles keinen Sinn. Man wurde älter, und schließlich starb man. Was anderes gab es nicht. Keiner vermochte so alt zu werden, wie es diese Sternfahrer angeblich waren, und Generationen zu überleben, während man selbst kaum älter wurde. Das war nicht natürlich. Das war ungerecht. Orm grübelte einen Moment über den Gedanken nach und kam schließlich zu einem Schluß: Wenn jemand in den Genuß eines langen Lebens kam, dann sollte es ein Herrscher sein. Er selbst zum Beispiel. »Ich möchte mehr darüber wissen«, sagte er zu seinem Besucher. »Wie der Wohltäter wünscht. Unser Schiff steht ganz zu Euren Diensten, unsere Ladung steht zu Eurer Inspektion bereit, und unsere Sicherheitskräfte werden Euch auf jede erdenkliche Weise unterstützen.« »Gut, gut«, antwortete Orm mürrisch. Erneutes Schweigen folgte. Schließlich sagte der Abge-
sandte: »Hatten wir nicht vorhin damit begonnen, über das Handelsabkommen zu reden?« »Ja. Dazu kann ich Euch folgendes sagen: Wir haben eine neue Quelle für Tränendes Yadd entdeckt. Wir können in Zukunft weit mehr davon liefern als bisher. Dafür hätten wir gerne Maschinen, um mehr anbauen zu können. Dünger für den Boden wäre ebenfalls wichtig.« »Diesen Wunsch können wir gerne erfüllen. Aber dafür müßt Ihr auch unsere erfüllen.« »Was wollt Ihr?« »Es besteht auf einigen der Welten, mit denen wir Handel treiben, ein großes Interesse an feinen Pelzen. Hraggellon ist die Heimat des edelsten und seltensten Pelztiers überhaupt – ich meine den Gorwol.« »Es war die Heimat«, korrigierte ihn Orm. »Es gibt Leute, die denken da anders«, entgegnete der Abgesandte. »So! Wer sind diese Leute denn? Irgendwelche Schlaumeier, die noch nie einen Fuß auf Hraggellon gesetzt haben?« platzte Orm gereizt heraus. »Die auf überhitzten Planeten sitzen und mit Gerüchten und Lauttranskribiereraufnahmen und den Ideen anderer ihr Geld verdienen?« »Nein, Wohltäter. Ich selbst, um nur einen zu nennen, glaube ebenfalls, daß auch heute noch tief im Innern Sternheims Onhla leben und den Gorwol jagen.« »Dann glaubt Ihr an Unsinn. Ihre Jagdrudel sind alle längst tot. Nicht einmal ein Onhla kann ohne Jagdrudel überleben.« »Sie haben Jagdrudel. Weiße Tiere von einer anderen Welt mit Namen Insgar.« Orm überlegte, was er mit dieser Neuigkeit anfangen sollte. Hinter diesem Mann in Schwarz steckte doch weit mehr, als es zunächst den Anschein gehabt hatte. Möglicherweise konnte er noch eine ganze Menge anderer interessanter Dinge von ihm erfahren. Aber er wollte nicht zu neugierig erscheinen. »Es fällt mir schwer, das zu glauben«, nahm er den Faden wieder auf. »Solange ich lebe, hat
keiner einen Onhla gesehen. Sie sollen vor langer Zeit durch eine große Seuche umgekommen sein, noch vor der Zeit des Friedensbringers.« »Ich habe welche gesehen«, sagte der Abgesandte. »Hier? Auf Hraggellon? Wo?« fragte Orm. »Es ist lange her. Es waren zwei. Ein Paar. Sie waren unterwegs nach Sternheim, zusammen mit zwei weißen Jagdtieren. Zwar hat niemand je wieder etwas von ihnen gehört oder gesehen, aber ich glaube, daß sie immer noch dort leben. Wahrscheinlich sind es mittlerweile sogar wieder viele.« Die Neuigkeit versetzte Orm in Wut. »Und wieso wißt Ihr davon und ich nicht? Warum hat man mich nicht sofort davon unterrichtet?« »Ihr wart noch nicht geboren, Wohltäter. Und die, die es wußten, waren schwer verletzt und konnten lange Zeit nicht sprechen, geschweige denn reisen.« »So … da gibt es also Onhla, die ohne mein Wissen in Sternheim leben und jagen.« »Davon bin ich überzeugt.« »Und sie sind dort schon seit der Zeit des Friedensbringers.« Orm dachte einen Augenblick über die Konsequenzen dieser Tatsache nach und sagte schließlich: »Sie müssen viele Felle haben.« »Sehr wahrscheinlich. Wie gesagt, der Sternverein würde sich sehr erkenntlich zeigen, wenn er diese Felle bekommen könnte.« »Pelze waren aber kein Bestandteil des ursprünglichen Abkommens. Der Friedensbringer stimmte dem Handel mit Tränen des Yadd und bestimmten Pflanzen zu, aber nicht mit Pelzen. Ich bin kein Lildode, aber daran kann ich mich noch erinnern.« »Vielleicht sollten wir ein neues Abkommen aushandeln«, schlug der Abgesandte vor. »Vielleicht. Habt Ihr die Vollmacht dazu?« »Ich bin das Oberhaupt der mächtigsten Familie innerhalb des Sternver-
eins und ein angesehener Kaufmann. Ich war es auch, der den Sternverein vom Handel mit dem Rendrood und den Tränen des Yadd überzeugte. Und bei dieser Mission bekleide ich den Rang eines alleinverantwortlichen Primärs. Wenn ich spreche, dann spreche ich für den Sternverein, und niemand wird ein von mir ausgehandeltes Abkommen in Frage stellen.« »Gut. Zuerst müssen wir aber das alte Abkommen hören. Ich lasse etwas zu essen bringen und schicke nach meinen Lildoden.« Zum ersten Mal ließ der Mann in Schwarz eine gewisse Überraschung angesichts der Worte Orms erkennen. »Lildoden, Wohltäter? Ich dachte, laut Anordnung des Friedensbringers wären alle Erinnerer längst getötet oder aus Norion verbannt worden.« »Ein paar haben wir hierbehalten. Der Bequemlichkeit halber. Sie sind recht nützlich.« »Mit Sicherheit sind unsere Lauttranskribierer exakter und sorgfältiger, Wohltäter. Wenn nicht, werde ich dafür sorgen, daß eigens für Norion noch bessere konstruiert werden.« »Die Lauttranskribierer sind gut«, erwiderte Orm. Er genoß sichtlich das Gefühl des momentanen Oberwassers über seinen Besucher. »Ich bin mit ihnen zufrieden. Ich behalte die Lildoden lediglich als ein nützliches Werkzeug bei. Sie waren immer die brauchbarsten aller Erinnererkasten. Ihre Erinnerungen verursachten niemals Unruhen. Die anderen dagegen erinnerten das Volk ständig an irgendwelchen alten, längst vergangenen Kram, den man am besten für immer vergessen hätte. Es reicht vollkommen, wenn mein Volk sich an seine Abkommen und an seine Herrscher erinnert. Es braucht keine Erinnerer.« »Ich bin ganz Eurer Meinung, Wohltäter. Das war auch der Gedanke des Friedensbringers, als er sie davonjagte. Sind die anderen denn nun alle tot?«
»Aus Norion jedenfalls sind sie verschwunden. Ein paar treiben sich noch in den hintersten Regionen des Schattenlandes herum. Manche sollen sich sogar nach Sternheim vorgewagt haben.« »Und der Wohltäter läßt sie leben?« Orm rümpfte die Nase und zupfte sich beiläufig am Ohr. »Sie sind verbannt worden und genießen somit nicht länger meinen Schutz. Das ist Strafe genug. Sie leben so lange, wie ich nicht die Notwendigkeit sehe, sie auszulöschen.« Sein Besucher nickte mit dem Kopf. Nach einer gedankenschweren Pause sagte er: »Und doch; wer weiß, ob sie dort draußen, unbeobachtet von wachsamen Augen, nicht dabei sind, Pläne zu schmieden … nicht daß irgend jemand es wagen würde, sich gegen den Wohltäter zu erheben, undenkbar, aber wenn die Evoden all die alten Mythen wieder aufrühren und die Paturdoden die andern an die alten Sitten und Gesetze erinnern …« »Was wollt Ihr damit sagen? Glaubt Ihr, daß diese Weichlinge eine Gefahr für mich darstellen könnten?« »Wer würde es wagen, den Wohltäter zu bedrohen? Außerdem sind sie wahrscheinlich schon fast ausgestorben. Eine Handvoll Erinnerer stellt für niemanden eine Bedrohung dar.« Orms Stimme klang scharf, als er antwortete: »Die Erinnerer sind nicht die einzigen, die in die Verbannung gegangen sind. Da sind auch noch die, denen die Herrschaft des Friedensbringers und des Erbauers nicht paßte, und es gibt sogar ein paar, die sich liebend gerne meiner Herrschaft widersetzen würden. Nicht viele, aber sie existieren, und sie sterben nicht aus – jedenfalls jetzt nicht mehr. Immerhin haben einige von ihnen seit der Zeit des Friedensbringers überlebt. Wer sich jenseits des Kariarsees so lange hält, der stirbt nicht mehr so ohne weiteres aus.« »Möglich. Aber es steht mir nicht an, in Gegenwart des Wohltäters über hraggellianische Angelegenheiten zu urteilen. Ich soll-
te mich allein auf Angelegenheiten beschränken, die mit unserem beiderseitigen Handel zu tun haben«, erwiderte der Besucher. Orm brummte etwas, das wie »So ist es« klang und ließ seine Erinnerer rufen. Er war gereizt und beunruhigt über die Worte des Sternfahrers. War es möglich, daß eine Handvoll umherirrender Flüchtlinge, die sich selbst mit Mühe und Not in der Eiswüste am Leben hielten, eine Gefahr für Orm den Wohltäter darstellten? Allein der Gedanke schien so absurd, daß es sich nicht lohnte, ihn auch nur in Betracht zu ziehen. Aber wurden andererseits nicht auch Herrscher gestürzt, ja ganze Dynastien, und oft aus heiterem Himmel und durch unvermutete Ursachen? Er hatte von solchen Dingen gehört. Dieser Sternfahrer hatte ihm Sorgen gebracht, die er vorher nicht gekannt hatte. Aber er hatte auch die Verheißung ungeahnter Möglichkeiten mitgebracht. Orm dachte über diese Möglichkeiten nach. Ein Herrscher, der niemals alt wurde, würde mächtiger sein als jeder andere, der je das Szepter über Hraggellon geschwungen hatte. Er brauchte seine Feinde nicht zu vernichten – er brauchte bloß abzuwarten, bis sie starben. Die Zeit, die mächtigste aller Waffen, wäre in seiner Hand, wenn er es lernte, die Macht der Driveschiffe für seine Zwecke zu benutzen. Andererseits war es immer gut, seine Feinde zu vernichten, wenn sich die Gelegenheit dazu bot. Eine simple Expedition – eine Jagdgesellschaft, die beim Erstlicht aufbrach –, und das Problem wäre ein für allemal gelöst. Alle würden wissen, daß es vor Orm dem Wohltäter kein Entkommen gab. Es konnte ein kluger Schachzug sein – aber auch das Gegenteil. Orm runzelte die Stirn. Eine solche Entscheidung bedurfte reiflicher Überlegung. Während Orm vor sich hingrübelte, saß sein Besucher mit zufriedener Miene da. Gell Basedow, mittlerweile zu
einem hohen Sternvereinrepräsentanten avanciert, hatte lange auf diesen Tag gewartet. Und wie es aussah, lief alles nach Plan. Kaum war er auf Hraggellon gelandet, versprach seine Mission schon ein voller Erfolg zu werden. Dieser Orm war leichter zu manipulieren, als er gedacht hatte. Er war dumm, eitel und mißtrauisch – die perfekte Marionette. Jetzt saß er da und grübelte über die drohende Gefahr nach, die die Erinnerer für ihn darstellten; mit Sicherheit würde er seinen Gedanken bald Taten folgen lassen. Dann würde der Sternverein sich großzügig bereit erklären, ihn dabei zu unterstützen. Einmal in Sternheim, würde eine Sternvereinstreitmacht die Onhla zu Tode hetzen und dafür sorgen, daß ihr Vorrat an Gorwolfellen in die richtigen Hände geriete. Mit den überlebenden Erinnerern würden die Soldaten keine großen Probleme haben. Orm wäre für den Rest seines Lebens fest im Griff des Sternvereins, Hraggellon wäre in ihrer Hand. Die ganze Sache würde problemlos und reibungslos vonstatten gehen. Gell bedauerte nur, daß bis zu seiner Rückkehr nach Hraggellon so viel Zeit verstrichen war – nicht für ihn, er hatte sich ja im Raum aufgehalten, aber für Hraggellon. Dieser ungeschlachte Wilde, der ihm das Rückgrat wie ein Streichholz zerbrochen hatte, konnte unmöglich noch am Leben sein. Es hieß zwar, daß die Onhla eine sehr hohe Lebenserwartung hatten, aber ewig lebten sie nun auch wieder nicht. Den Kerl lebend in die Finger zu kriegen, das konnte er beim besten Willen nicht hoffen. Die Erinnerer betraten jetzt auf leisen Sohlen das Gemach und verbeugten sich tief vor ihrem Herrscher. Gell erhob sich steif und kerzengerade. Als er sah, daß er die gedrungenen Hraggellianer um Haupteslänge überragte, postierte er sich am Fuß des Throns, wo seine Körpergröße nicht ganz so auffällig wirkte. Auf einen Wink Orms hin begannen die Lildoden unisono und mit der für sie charakteristischen Monotonie
den Vertragstext zu rezitieren. Ein tristes Völkchen, dachte Gell und nahm einen Zug aus seiner Riechdose; leere Hülsen vergangenen Lebens, Relikte, Tote, völlig überflüssige dazu. Er hatte immer noch die Lauttranskribiereraufnahme vom alten Seb Dunan mit dem Originalwortlaut des Abkommens bei sich. Das monotone Gebrumme ihrer Stimmen ließ seine Gedanken abschweifen. Sein Feind war inzwischen sicher tot, aber er konnte ihn noch immer bestrafen. Jeder Onhla auf dieser Welt war ein Nachkomme dieses namenlosen Wilden. Er hatte einen Vertrag mit dem Sternverein verletzt, drei seiner Mitglieder zu lebenslänglichen Halbinvaliden gemacht. Bestimmt hatte er auch beim Tod des alten Seb Dunan auf irgendeine Weise seine Hand mit im Spiel gehabt. Dafür würden seine Nachkommen büßen müssen. Sie würden für seine schrecklichen Schmerzen und für seine lange Hilflosigkeit bezahlen müssen, voll und ganz. Was die Seuche nicht geschafft hatte, das würde er, Clell Basedow, schaffen. Nicht mehr lange, und die Onhla würden endgültig ausgerottet sein. In dieser Gesellschaft, in der keine Schriftsprache existiert, werden sämtliche geschäftlichen Transaktionen im Beisein von sog. Wahrsprechern getätigt, rangniedrigen Angehörigen einer Kaste sog. Erinnerer, welche die Funktion eines lebenden, kollektiven Archivs der hraggellianischen Zivilisation ausüben. Bestimmte Gruppen dieser Kaste stellen ihr Erinnerungsvermögen in den Dienst von Handel und Gewerbe, andere sind auf Formeln und medizinische Lehren spezialisiert, und die angesehensten von ihnen widmen sich ausschließlich der Aufgabe, die Daldiriansage und alles damit Zusammenhängende lebendig zu halten. Nach dem Gesetz kann ein Erinnerer niemals Vergeßlichkeit geltend machen. Sie tragen keine Waffen und
halten sich aus den unaufhörlichen Machtkämpfen, die Norion erschüttern, heraus. Sie sind zur absoluten Treue gegenüber den Fakten verpflichtet. Erinnerer benutzen weder Mimik noch Gestik, wenn sie einen Text aus dem Gedächtnis rezitieren. Sie werden von der Kindheit an darauf gedrillt, jegliches Einfließen persönlicher Gedanken oder Meinungen in den rezitierten Text peinlichst zu vermeiden. Die geringste Verzerrung des Inhalts, selbst das Hinzufügen oder Fallenlassen einer einzigen Silbe, gilt als grober Verstoß gegen das Berufsethos. Eine Lüge gar gilt als unverzeihliches Verbrechen. Eno Glaser, Tertiär Zweite Hraggellon-Kontaktmission
9. Erneute Flucht Die Erinnerer hatten gelernt, vorsichtig zu sein. Aus Gründen der Sicherheit lebten die einzelnen Gruppen in großer Entfernung voneinander und trafen niemals zusammen. Durch Kuriere wurde jedoch ein loser Kontakt aufrechterhalten. Einige hatten sich in den Tundragebieten jenseits der Pinjanariberge an der Ozeanküste niedergelassen. Sie stellten die kleinste Gruppe dar, die Überreste einer Schar, die versucht hatte, das wilde Wasser zu überqueren, um in das Land zu gelangen, das angeblich jenseits des Meeres lag. Man hatte nie wieder von ihnen gehört. Die zweite Schar war tief ins Innere Lichtheims vorgestoßen, bis zum Fuß der Ravagundhügel, wo eine kalte Ozeanströmung die Temperatur auf ein erträgliches Maß herabmilderte. Die dritte Gruppe war in das Schattenland gewandert und hatte sich am Ufer des schwarzen Sees, der die Grenze zu den Jagdgründen der Onhla bildete, niedergelassen. Der Anführer dieser Gruppe war eine Frau namens Shaelecc. In der langen Geschichte der Erinnerer war Herrschaft und Politik immer eine Sache der Frauen gewesen, während die Männer sich von ihrer Jugend an einzig dem Auswendiglernen und dem Üben ihres Gedächtnisses widmeten. Unter den harten Bedingungen der Flucht hatte sich diese Struktur als unheilvoll erwiesen, und als Shaelecc die Führung der Gruppe übernahm, änderte sie sie sofort. Vor die Pflicht des Erinnerns hatte sie die Pflicht des Überlebens gestellt. Seither übernahmen die Frauen einen Teil der Erinnerungsarbeit, und die Männer beteiligten sich in höherem Maße als bisher an den alltäglichen Belangen des Stammes. Als Shaelecc den Beschluß verkündete, hatte es zuerst einiges Tuscheln und Murren gegeben, doch alle
waren des Lobes voll über ihre Weisheit, als die Veränderung sich positiv auswirkte. Die Gruppe meisterte die Anforderungen, die das rauhe Klima an sie stellte und nahm bald an Stärke wie an Zahl zu. Mittlerweile war Shaelecc alt geworden. Ihr Mann und Hauptratgeber, Syger, war noch älter. Aber ihre Gruppe war stark und zuversichtlich, und alles deutete darauf hin, daß sie endgültig überleben würde. Seit vielen Dunkelzeiten schon war ihr Zuhause das Lager am See. Die gnadenlose Kälte der ersten Dunkelzeiten, die sie dort verbrachten, hatte zahlreiche Opfer gefordert; doch Kinder wurden geboren, den Platz der gestorbenen Alten einzunehmen, und diese waren zäh und hart. Sie wuchsen unter den Bedingungen des freien Lebens in der Eiseskälte Schattenlands heran und fürchteten sie daher weniger als die Alten. Die Erinnerung der Alten an gescheiterte Expeditionen und untergegangene Stämme, ihr Wissen um die Kunst des Fährtensuchens und Jagens in der Weite des Eises, der Nahrungssuche in den kurzen Helligkeitsperioden, ihre Kenntnis von Wind und Wetter und sicherem Terrain, all dies wurde nun ihr kostbares Handwerkszeug zum Überleben. Nicht länger waren diese Erinnerungen totes Wissen, das in den Köpfen der Mendoden und Varasdoden nutzlos angehäuft war, allein um seiner selbst willen; es wurde zu einem lebendigen Erinnerungsschatz, zu täglich aufs neue angewandtem praktischem Wissen, das jedem zugänglich war. Dies führte zwangsläufig zu einer Wertsteigerung mancher Erinnerungen, während andere sich als wenig brauchbar erwiesen und daher in zunehmendem Maße in Vergessenheit gerieten. Verträge und Abkommen, die andere irgendwann einmal miteinander geschlossen hatten, waren für die Erinnerer weder von Belang noch von irgendwelchem praktischen Wert. Diejenigen unter den Jungen, die eigentlich Lildoden geworden wären und Handelsverträge und geschäftliche Transaktionen auswendig
gelernt hätten, lernten jetzt statt dessen die Kunst der Jagd. Die Paturdoden, die einst in ihrem Gedächtnis die gesamte Geschichte Hraggellons bis zurück zu ihren Anfängen, als die ersten Tormagon den aufrechten Gang lernten und das dunkle Land verließen, um als Menschen weiterzuleben, festgehalten hatten, lernten nun alles über das Wesen und die Beschaffenheit des Landes und seinen rauhen Zauber. Nur die Evoden änderten sich nicht; sie bewahrten und hegten weiter die Mythen und Legenden ihres Volkes, und die Jungen, die aufgrund ihres besonderen Talents schon im frühesten Jugendalter zu ihren Nachfolgern auserwählt wurden, genossen wie eh und je den neidvollen Respekt ihrer Altersgenossen und der übrigen Stammesmitglieder. Die Evoden waren das Leben der Erinnerer. Andere Erinnerungen mochten dem Vergessen anheimfallen, doch solange noch ein Evode lebte, lebten alle. So reifte eine zweite Generation von Verbannten in dem Lager am Ufer des schwarzen Sees heran. In dem Maße, wie ihre Zahl größer wurde, dehnten sich auch ihre Jagdgründe aus. Andere, die wie sie vor der Grausamkeit der Orm-Dynastie geflohen waren, schlössen sich ihnen an. Einige der jungen Jäger wagten sich sogar nach Sternheim hinein, doch nur wenige drangen wirklich tief vor, und trotz ihrer Vorsicht kehrten nicht alle zurück. Sie durchstreiften das Schattenland nach beiden Seiten, bis in die Randgebiete des alten Onhlaterritoriums. Manchen war bei diesen Vorstößen nicht wohl. Die Onhla, so sagten sie, seien Barbaren und würden ihnen vielleicht etwas antun, falls sie eine Invasion ’argwöhnten. Die jungen Jäger hatten für solche Befürchtungen nur Spott übrig. Jeder wußte doch, daß die Onhla längst alle tot waren. Außerdem brauchte das Volk weder die Onhla noch sonst irgend jemanden zu fürchten. Sie, die Jäger, würden es schon beschützen.
Kein Onhla zeigte sich. Die Siedlung am schwarzen See wuchs und gedieh, und die Generationen, die Norion nicht mehr erlebt hatten, empfanden das Schicksal, welches sie dorthin verschlagen hatte, nicht als sonderlich hart. Die Schreckensnachricht kam mit dem Ende der Dunkelzeit. Norion lag bereits unter dem Erstlicht, der jährlich wiederkehrende Exodus der Arbeiter hatte begonnen. Mit den Arbeitern kamen auch die Neuigkeiten aus der Stadt und Nachricht von den anderen Erinnererlagern. Der Kurier der Pinjanari-Gruppe berichtete, daß in Norion eine Expedition vorbereitet werde. Er hatte nicht gewagt, sich der Stadt oder den Siedlungen zu nähern oder seine Neugier zu offen zu bekunden, aber alle, die er unterwegs getroffen hatte, hatten übereinstimmend die Meinung vertreten, bei dieser Expedition müsse es sich wohl um eine Strafexpedition handeln. Mehr hatte er nicht wissen wollen, denn es war klar, wem diese Strafexpedition gelten sollte. Die einzigen, die zu vernichten der Herrscher Norions ein Interesse haben konnte, waren die Erinnerer und ihre Freunde. Als der Kurier völlig ermattet von den Strapazen seiner langen Wanderung eintraf, war der Lichtheim-Horizont noch ein blasser Lichtstreifen. Nachdem Shaelecc seine Botschaft gehört hatte, rief sie ihre Ratgeber in ihrer Wohnhöhle zusammen und hieß den Kurier, seinen Bericht noch einmal vor allen in voller Länge zu wiederholen. Als er fertig war, entließ sie ihn und bat die anderen um ihre Stellungnahme. »Er hat uns nur sehr wenig gesagt. Aufgrund dieser spärlichen Informationen müssen wir wichtige Entscheidungen fällen«, sagte einer der Männer. »Wie groß ist diese Expedition, und wann genau bricht sie auf? Können wir überhaupt sicher sein, daß sie uns gilt?« »Seit unserer Flucht sind so viele Dunkelzeiten ins Land gegangen, und Orm ist schon lange tot. Können sie uns denn immer noch hassen?« fragte ein anderer.
»Wir haben nie erfahren, warum sie sich eigentlich so plötzlich gegen unsere Väter gewandt haben. Solange wir das nicht wissen, vermögen wir auch nicht sicher zu sagen, ob sie uns noch immer hassen. Solange wir uns nicht in Sicherheit wiegen können, müssen wir vorsichtig bleiben«, antwortete Shaelecc. »Gewiß, das müssen wir«, pflichteten die anderen ihr bei. »Haben die Lildoden in Norion uns keine Nachricht zukommen lassen?« wollte Syger wissen. »Sie machen jetzt gemeinsame Sache mit dem Unterdrücker. Wir können sie nicht länger als Freunde betrachten. Ich sage es noch einmal: Wir müssen vorsichtig sein.« »Aber wie vorsichtig? Sind wir hier sicher, oder müssen wir fort?« »Ich glaube, daß wir nicht tiefer nach Sternheim vordringen können. Hier können wir jagen und während der Mittlichtzeit sogar Früchte anbauen. Nur eine Aussaat zwar, aber es reicht für unsere Bedürfnisse. In Sternheim hingegen wächst nichts. Die Lebewesen, die dort hausen, müssen ständig auf der Suche nach Nahrung umherstreifen. Wir müßten ihnen folgen oder untergehen«, erklärte Shaelecc. »Wir müßten das Leben von Nomaden führen. Können wir unsere Lebensweise noch einmal ändern, ohne Gefahr zu laufen, endgültig unterzugehen?« Sie dachten über diese Frage nach, durchleuchteten sie von allen Seiten und kamen schließlich zu dem Schluß, daß sie nicht noch weiter in die Dunkelheit vorstoßen konnten, ohne Gefahr zu laufen, darin umzukommen. Eine der Frauen schlug vor, sie sollten nach Lichtheim ziehen und sich den Erinnerern anschließen, die dort am Ende des Landes, jenseits der Ravagundhügel, lebten. Die Aussicht auf ein Leben unter immerwährender Sonne und Wärme war verlockend, viele machten sich für diesen Vorschlag stark. »So wie Daldirian und Redmayne ihre Kraft verzehn-
fachten, indem sie die Kraft der Waffen mit der der Magie vereinten, würden auch wir durch eine Vereinigung mit denen aus Lichtheim an Stärke gewinnen«, erklärte Syger. »Größere Stärke könnte aber auch Gefahr bedeuten«, gab einer der Evoden zu bedenken. Und als die anderen ihn ob dieses Paradoxons erstaunt anblickten, erläuterte er seinen Einwand: »Die Sage selbst warnt uns vor solchem Handeln. Denkt an jene Stelle, wo Daldirian die Jagd auf dem brennenden Feld beschreibt und wo er sagt: ›Siehst du den Feind allein, Dann ziehe nicht dein Schwert. Doch wenn der Marschtritt einer Schar Zusammenprall verspricht Und Ruhm und Ehr’ dir winken, Dann zieh, und zage nicht!‹ « Die anderen lauschten schweigend der monotonen Stimme des alten Evoden. Ein paar murmelten: »So sei es erinnert.« Die Botschaft war klar. »Noch etwas spricht dagegen«, sagte eine der Frauen. »Seit zwei Dunkelzeiten ist kein Kurier von der RavagundGruppe mehr zu uns gekommen. Vielleicht sind sie längst in eine andere Gegend weitergezogen.« »Oder Hungers gestorben oder aufgespürt und vernichtet worden«, fügte Shaelecc hinzu. »Haben wir keine Möglichkeit, den wahren Zweck dieser Expedition in Erfahrung zu bringen – vorausgesetzt, sie existiert wirklich und ist nicht nur ein Gerücht? In der Dunkelzeit sprießen in Norion oft die seltsamsten Gerüchte. Vielleicht ist auch dies nichts weiter als ein bloßes Märchen«, sagte einer der Männer. »Wir haben weder in Norion Kundschafter noch in den Siedlungen. Orms Soldaten haben sie alle entdeckt und getötet oder gekauft«, erinnerte ihn Shaelecc.
»Aber Orm starb in der Dunkelzeit des Langen Himmelsleuchtens. Sein Sohn hat uns ignoriert. Welche Gründe sollte sein Enkel haben, die Verfolgungen wieder aufleben zu lassen?« »Ich wiederhole noch einmal: Wir wissen weder, warum es anfing, noch, warum es so plötzlich wieder aufhörte. Also können wir auch niemals sicher sein, daß es nicht ebenso plötzlich wieder anfängt. Wir können nur Obacht geben und auf der Hut sein.« »Dann müssen wir fort von hier«, gab Syger zu bedenken. »Der einzige Weg führt nach Sternheim, aber wir brauchen dort nicht zu bleiben. Vielleicht gibt es jenseits von Sternheim noch etwas – eine sichere Zuflucht, die bisher noch keiner erreicht hat.« Eine Frau meldete sich zu Wort. »Wir sind keine Onhla. Gewiß, wir haben vieles von der Kunst des Überlebens gelernt, aber die Kälte und die Dunkelheit Sternheims sind unendlich. Niemand kann dort lange überleben. Nach Sternheim zu gehen, würde bedeuten, ziellos durch unbekanntes Land zu wandern. Wir würden uns damit großen Gefahren aussetzen.« »Hierzubleiben bedeutet Gefahr. Uns mit den anderen Gruppen zu vereinigen bedeutet Gefahr. Nach Sternheim vorzudringen bedeutet Gefahr. Wir haben keine große Wahl«, bemerkte Syger. »Wir wissen nicht viel über die Gefahren Sternheims. Die Evoden kennen viele Legenden und Geschichten von der Kälte und der Leere und von fremden Wesen, die völlig anders sind als jene, die das Licht kennen. Aber die Varasdoden, die alle Rassen und Wesen kennen, besitzen keine Erinnerungen, die sie uns geben könnten. Vielleicht fürchten wir Gefahren, die nur in der Einbildung existieren«, sagte einer der Männer. »Erfrieren und Verhungern sind keine Einbildung. Das haben viele Erinnerer in den ersten Dunkelzeiten der Verbannung
schmerzlich spüren müssen«, entgegnete eine Frau. »Die ersten Dunkelzeiten der Verbannung liegen weit hinter uns. Wir haben viel gelernt. Unsere Jäger gehen jetzt sogar nach Sternheim und kehren wohlbehalten zurück.« »Nicht alle kehren zurück.« »Das kann ich nicht leugnen, aber Jagen ist eben immer mit gewissen Gefahren verbunden.« Darauf kehrte Schweigen ein. Alle dachten über das Problem nach. Nach einer Weile sprach Syger. Seine Stimme klang leise, fast behutsam. »Wenn wir warten, bis die Schattenlinie bis zu ihrem weitesten Punkt zurückgewichen ist, dann ist die Gefahr am geringsten. Dann könnten wir es wagen. Erinnert euch: Das gleiche ist schon einmal zur Zeit Marnons versucht worden, in der Dunkelzeit des Langen Hungers, als eine Gruppe von Fallenstellern von Norion aus losgeschickt wurde, um Vorräte für die nächste Dunkelzeit zu beschaffen.« »Und nicht einer von ihnen zurückkehrte. Sie sind alle in der Kälte umgekommen.« »Weil sie nicht vorbereitet waren und einen gewaltigen Weg zurückzulegen hatten. Wir hingegen befinden uns an der Grenze zu Sternheim und würden uns gut vorbereiten.« Shaelecc spann den Gedanken nach einem Moment des Überlegens weiter: »Eine kleine Gruppe, bestehend aus unseren besten Jägern, könnte sich für die schlimmste Kälte rüsten und der Schattenlinie nach Sternheim folgen. Wenn sie unterwegs Nahrungs- und Brennstoffdepots in ausreichender Zahl zurücklassen, kann der Rest der Gruppe gefahrlos folgen. Auf diese Weise könnten wir tiefer in die Dunkelheit vorstoßen als alle anderen vor uns.« »Aber warum sollten wir das? Was hat uns Sternheim denn zu bieten außer Kälte und Dunkelheit und der Gewißheit eines einsamen, qualvollen Todes?« fragte einer der Männer.
»Wir könnten an die Kante Hraggellons stoßen und ins Nichts stürzen!« »Erinnert euch – Vulo lieferte Beweise dafür, daß Hraggellon rund ist und nicht flach. Wenn es rund ist, dann besteht Hoffnung für uns«, entgegnete Syger. »Aber Shotol erbrachte den Beweis für seine flache Form!« Eine andere Stimme erhob sich. »Vielleicht hat Syger recht, und es gibt ein anderes Land – ein besseres Land – jenseits von Sternheim. Das Eis muß doch irgendwo aufhören.« »Möglich. Aber vielleicht reicht es so weit, daß wir sein Ende niemals erreichen können. Und falls doch, welche Gefahren erwarten uns dann? Vielleicht haben wir dann die ganze Wanderung nur gemacht, um noch schlimmere Tyrannen als Orm anzutreffen«, sagte der erste Sprecher. Ein anderer unterstützte ihn: »Wir alle erinnern uns an die Geschichten von Wuran, dem Schänder.« »Wir erinnern uns aber auch an andere Geschichten«, konterte Syger. »Die Fragmente aus der Zeit vor den Vergessenen Dunkelzeiten, die wir immer als Legende angesehen haben – sie verheißen Hoffnung.« »Legenden können töten. Sie sind keine Erinnerungen, auf die man sich verlassen kann. Sie sind Wunschdenken. Unsere Brüder schenkten den Legenden Glauben, die davon erzählten, daß man auf Wasser ebensogut reisen kann wie auf festem Boden, und nun sind sie tot«, sagte der andere. »Vielleicht nicht. Wir reisen ohne Schwierigkeiten auf den Binnengewässern; warum sollte es nicht auch möglich sein, die äußeren Gewässer ebenso gefahrlos zu überqueren? Wer weiß, ob unsere Brüder nicht vielleicht ein besseres Land gefunden haben und nun dort sogar auf uns warten?« Eine Frau erhob sich, alle anderen verstummten sofort. Es war Jeesha, die an Lebensalter und Autorität nur noch
von Shaelecc übertroffen wurde. Sie sprach selten, doch ihr Wort hatte großes Gewicht. Ihre Stimme klang ernst und würdevoll. »Ich höre vieles, das mich beunruhigt und erschreckt«, begann sie. »Der eine sagt, wir müssen in das Eis und die Dunkelheit ziehen, der andere sagt, wir müssen uns ins Meer stürzen. Die alte Weisheit wird in den Wind geschlagen, so als hätte sie keinerlei Bedeutung mehr. Und all das, nur weil ein Bote mit irgendeinem Gerücht aus Norion auftaucht.« »Wir müssen auf der Hut sein«, wiederholte Shaelecc. »Wir müssen vernünftig sein«, erwiderte Jeesha. »Erst müssen wir die Wahrheit wissen, erst dann …« Vom Höhleneingang her erschollen aufgeregte Stimmen. Die Alten fuhren erschreckt herum. Ein Jäger kam in die Höhle gestürzt. »Einer von der Ravagund-Gruppe!« rief er. »Er ist allein gekommen – verwundet. Ihr müßt ihn anhören!« »Bring ihn herein«, sagte Shaelecc ruhig. Der Kurier war kaum dem Kindesalter entwachsen. Er war in Kleider aus hellem, leuchtend farbigem Stoff gehüllt, seine Hände und Füße steckten in zerlumpten Stofffetzen. Als sie ihn vor das Feuer gebettet hatten und ein Mendode, der sich auf die Heilkunst verstand, seine Wunden zu untersuchen begann, bemerkten sie mit Verwunderung seine dunkle Haut, die so ganz anders war als das wächserne Weiß ihrer eigenen. Zwar hatten sie gehört, daß das ständige Sonnenlicht Lichtheims eine solche Veränderung der Hautfarbe bewirkte, aber der Anblick eines derart verwandelten Erinnerers verblüffte sie trotzdem. Einige warfen sich sogar besorgte Blicke zu. Sie dachten an Jeeshas Worte. Zu vieles war im Wandel begriffen. Und bei all diesen Veränderungen und Neuerungen ging mit Sicherheit etwas verloren. Die Verletzungen des Jungen waren nicht allzu schwer, aber er war völlig erschöpft und dem Hunger-
tod nahe. Mit Mühe nahm er ein paar Schlucke Wasser zu sich, doch als der Mendode versuchte, ihm Nahrung einzuflößen, spie er alles sofort wieder aus. Da braute der Heilkundige einen Stärkungstrank aus Kräutern, den der Junge langsam schlürfte. Diesmal behielt sein Magen die Flüssigkeit. Das Reinigen und Verbinden seiner Wunden ließ er still über sich ergehen, doch dann brach ein Schwall zusammenhangloser Wortfetzen aus ihm hervor. Die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus. Seine Stimme überschlug sich mehrmals, manchmal bebte sie vor Erregung oder versagte ihm ganz ihren Dienst. Die Evoden schauten sich besorgt an und mieden den Blick des Jungen. Daß ein Erinnerer derart die Kontrolle über sich verlieren konnte, war für sie unfaßbar. Eine solche Veränderung wie die, die sie jetzt erlebten, war weit beunruhigender als das bloße Dunklerwerden der Haut. In Veränderungen dieser Art lag der Untergang der Erinnerer. Jeder der Alten dachte in diesem Augenblick daran, aber sie schwiegen aus Mitleid. . Der Junge stieß einen gellenden Schrei aus, versuchte aufzustehen und verlor die Besinnung. Der Mendode, der neben ihm kniete, deckte ihn behutsam zu und rückte ihn ein wenig näher ans Feuer. Der Junge würde jetzt lange schlafen. Als er aufwachte, schien er weitgehend erholt. Er aß eine leichte Mahlzeit, trank ein paar Schlucke von dem Kräutertrank und erhielt Kleider, die besser für das rauhe Klima geeignet waren als die, in denen er gekommen war. Es war nicht leicht, passende Kleidung für ihn zu finden. Die Gewänder der anderen waren ausnahmslos zu groß für ihn. Anders als die Erinnerer des kalten Landes, die durchweg untersetzt und stämmig waren, zeichnete er sich durch schlanken Wuchs aus. Seine Muskeln waren deutlich ausgeprägt, da sie nicht wie bei ihnen von einer dicken, isolierenden Fettschicht gepolstert waren. Den jungen Jägern
erschien er wie ein Hungerleider, aber seine rasche Genesung beeindruckte sie. Nachdem er einen zweiten langen Schlaf hinter sich gebracht und eine volle Mahlzeit eingenommen hatte, traten die Alten erneut an sein Lager. Diesmal hatte er seine Stimme und seine Gefühle unter Kontrolle. Mit monotoner Stimme gab er Fakten und Beobachtungen in voller Objektivität wieder, wie es sich für einen Erinnerer geziemte. Aber die Anspannung, unter der er litt, war nicht zu übersehen. Die Erinnerungen, die er rezitierte, waren keine alten, durch die heilende Kraft der Zeit zu purer Geschichte gemilderten; es waren seine eigenen, selbst erlebten, frisch und schmerzhaft wie die Wunden an seinem Körper. Und das bißchen an Erleichterung, das der beruhigende Klang seiner Stimme ihnen bot, verflog sofort angesichts des beängstigenden Inhalts seiner Geschichte. »Die Frage, ob wir unsere Siedlung in der Küstenebene aufgeben sollten, erhob sich zum ersten Mal vor fünf Dunkelzeiten wegen der natürlichen Gefahren unserer Umwelt«, begann er. »Der Boden war fruchtbar, und wir bauten Frucht im Überfluß an, aber die Ernte war wegen der Stürme ungewiß, die in jener Region über die Küste hinwegfegen und die Pflanzen vernichten. Diese Stürme waren schlimmer als alle in unserer Erinnerung. Ich selbst habe gesehen, wie der Chedgorn, der ohne jede vorherige Warnung über die Küste braust, Häuser in die Luft hob und sie in die See blies. Der Fluß war reich an gutem, eßbarem Fisch, aber die Strömung war sehr stark. Seit Beginn unserer Siedlung dort wurden einundzwanzig Flöße über die Barriere gerissen und ins Meer gespült. Niemand ist je dieser Strömung entronnen. Aus diesen Gründen waren viele dafür, von dort wegzugehen und eine neue Heimat zu suchen. Andere hingegen neigten eher dazu, sich mit den bereits bekannten Gefahren auseinanderzusetzen, anstatt sich auf ein neues Leben einzulassen, das vielleicht um keinen
Deut besser sein würde. Nach sechs Beratungen und langen Debatten war noch immer kein Entschluß gefaßt. Da kam uns zu Ohren, daß man in Norion neue Ränke gegen die Erinnerer schmiedete. Einzelheiten konnten wir nicht erfahren. Es hieß lediglich, mit dem Beginn der Lichtzeit würde eine Expedition mit dem Ziel aufbrechen, uns aufzuspüren und zu vernichten. Sofort wurde eine neue Versammlung einberufen. Diese kam zu der Einschätzung, daß unsere einzige Überlebenschance im Zusammenschluß mit unseren Erinnererbrüdern im Schattenland bestand.« Er hielt inne, um Fragen zu beantworten. Als keine kamen, fuhr er mit derselben monotonen Stimme fort: »Um unsere Flucht geheimzuhalten, beschlossen wir, daß es das beste sei, die Meerenge zu überqueren und durch das dahinterliegende Ödland zu wandern, bis wir die Siedlungen der Männer von Norion umgangen hätten. Die Überquerung war riskant, wir verloren sechs Flöße, aber alle stimmten überein, daß diese Entscheidung notwendig und richtig war. Die Wanderung war hart und entbehrungsreich, aber wir stießen unterwegs nur auf diejenigen, die uns ihre Tiere verkauften.« Einer der Versammelten wollte eine Frage stellen. Der Sprecher hielt inne und faßte sich an Lippen und Ohrläppchen. »Zwei Fragen«, rief der Evode. »Erstens, wie konntet ihr die Meerenge überwinden, ohne allesamt unterzugehen? Es gibt keine Erinnerungen an eine solche Großtat.« »Ein Mendode schätzte, daß wir sicher hinüberkämen, wenn es uns gelänge, starke Seile zu spannen, an denen wir uns hinüberziehen könnten. Die ersten vier Flöße, die wir hinüberschickten, gingen unter, dem fünften jedoch gelang es, ein Seil ans andere Ufer zu bringen. Mit diesem Seil zogen wir weitere hinüber. Nachdem wir die Seile sicher befestigt hatten, brauchten wir zum Überqueren nur noch
Kraft. Bis auf zwei schafften es denn auch alle. Eines der beiden wurde von einem Stück Treibholz getroffen und fortgerissen. Warum das andere verlorenging, wissen wir nicht.« »Meine zweite Frage lautet: Wenn ihr sicher hinübergelangtet und unterwegs niemandem begegnetet, wo sind dann die anderen geblieben?« Der Junge holte tief Luft, sammelte sich und antwortete: »Wir zogen den Vensariarfluß hinauf und erreichten noch vor dem Licht den Durvensarsee. Er war noch fest zugefroren. Wir beschlossen, unser Lager auf dem Eis aufzuschlagen und erst unsere Vorräte aufzufrischen, bevor wir weiterzögen. Als wir aufwachten, begannen die Lildoden, Löcher in das Eis zu bohren. Ich stand auf, um die Tiere zu versorgen. Plötzlich begann das Eis um uns herum zu beben. Einige sagten, es begänne zu bersten, aber wir wußten, das Eis würde erst mit dem Beginn des Lichts bersten. Gleichzeitig erscholl ein lautes Brausen, dann ein Donnern, so als nahe ein Chedgorn. Es war dunkel, und wir konnten nichts sehen, weil unsere Augen sich noch nicht wieder an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Da ergriff uns Furcht. Alle rannten ziellos umher, rafften ihre Habe auf, ließen sie wieder fallen, schrien sich an. Niemals zuvor habe ich derart Schreckliches erlebt …« Wieder hielt er inne, aber alle Anwesenden wußten, daß er dies nicht tat, um auf neue Fragen zu warten, sondern um seine Fassung zu bewahren. Er riß sich zusammen, blickte auf und fuhr fort. »Da sahen wir plötzlich eine Wolke über das Eis auf uns zukommen. Das Donnern wurde lauter, und das Eis bebte unter unseren Füßen. Ich stieg auf einen der Haxopoden in der Absicht, auf höheres Terrain zu reiten, um den Sturm besser überblicken zu können, denn ich dachte noch immer, es handele sich um einen Sturm. Es war kein Sturm. In der Wolke ritt ein Trupp Männer. Sie ritten mitten durch das Lager und
machten jeden nieder, den sie erblickten. Alle wurden getötet, und ihre Habe wurde achtlos über das Eis verstreut. Ich will nichts mehr davon sagen. Als die Angreifer mich sahen, floh ich. Sie verfolgten und verwundeten mich, aber ich entkam ihnen.« »Waren die Angreifer Männer aus Norion?« fragte einer. »Ich kann es nicht mit Gewißheit sagen. Die Kleider, die sie trugen, ähnelten zweifellos keinen von denen, derer wir uns erinnern. Aber ich glaube, daß viele von ihnen aus Norion waren; ich erkannte es an der Art, wie sie ritten. Die anderen jedoch waren nicht aus Norion. Sie waren ganz in Schwarz gekleidet. Es waren Fremdweltler.« »Verfolgten sie dich lange?« »Ja. Ich versuchte sie auf eine falsche Fährte zu locken. Dabei haben sie mich verloren.« Es kamen keine weiteren Fragen. Der Junge wurde aus der Versammlungshöhle in eine andere Höhle geführt, wo er sich ausruhen konnte. Als er fort war, ergriff Shaelecc das Wort. »Sie sind gekommen, uns zu vernichten, und sie haben Fremdweltler bei sich. Sie verfügen über Waffen, die wir nicht kennen und unsere Vorstellungskraft übersteigen. Wir können nicht gegen sie bestehen. Wir werden nach Sternheim gehen.« Niemand widersprach. Ein paar von den jungen Jägern murmelten etwas von Dableiben und Widerstand leisten, aber sie fügten sich der Mehrheit. Nun, da die Entscheidung gefällt war, handelten die Erinnerer schnell. Das Lager wurde abgebrochen und die Haxopoden beladen. Noch vor dem Essen war alles zum Aufbruch gerüstet. Nachdem sie ihr Abschiedsmahl eingenommen hatten, wandten sie den Rücken dem Himmelsleuchten zu, jenem schimmernden Vorhang aus Licht, der am Lichtheim-Horizont zu funkeln und zu tanzen begonnen
hatte. Dann zogen sie fort in die Dunkelheit und ins Unbekannte. … keinen hieb- und stichfesten Beweis dafür finden können, daß diese Phase, die wahlweise als Nithboorg, Neethborg oder Nithbrog bezeichnet wird, tatsächlich existiert. Alle Berichte sprechen übereinstimmend von extremen physischen und psychischen Veränderungen, die in ihrer Gesamtheit so gravierend sind, daß man fast von einer Mutation in eine neue Spezies sprechen könnte. (Der die Mission begleitende Biohistoriker Stennsen glaubt, es handle sich hierbei um die Legendarisierung eines Erinnerungsreliktes an eine frühere, erfolglose Stufe in der physikalischen Evolution des hraggellianischen humanoiden Lebens, das auf die Onhla übertragen wurde.) Die Abwesenheit glaubwürdiger Augenzeugenberichte über dieses Phänomen wird damit erklärt, daß ein Onhla in der Nithboorg-Phase die Dunkelheit und Einsamkeit Sternheims aufsucht, wo er meditiert und mit den Geistern vergangener Generationen kommuniziert. Nach Überprüfung aller verfügbaren Hinweise und Berichte liegt der Schluß nahe, daß dieser Aspekt der Onhla-Kultur dem Reich der Legende zuzuordnen ist. Für eine primitive Rasse nomadischer Jäger ist die Entwicklung zu einem solchen Wesen, wie die Legenden es beschreiben, kulturell unmöglich. Wir haben es hier ganz offensichtlich mit einer Unsterblichkeitsphantasie zu tun. Es gibt keine dritte Onhla-Lebensphase. Höchstwahrscheinlich geht dieser Mythos auf die Existenz irgendeines seltenen, in Sternheim beheimateten Wesens von vage humanoidem Äußeren zurück, das sie durch simple Extrapolation des Phänomens ihrer eigenen Metamorphose vom Pelztier zum geschlechtsreifen Humanoiden
als dritte Onhla-Phase identifizieren. (Analogien: die Mu’ure von Prodengaria; der Yeti von Alt-Terra; der ozeanische Thagwondis von 3-Lathpen-267.) Soman Wirsing, Sekundär Vierte Hraggellon-Kontaktmission
1o. Zweites Ende Die Koomiok stürmten voraus, ihre flachen weißen Körper tollten wie Schneeflocken über den gefrorenen Boden Sternheims. Sie waren jung und voller Kraft. Es war eine Freude, sie bei ihrem ausgelassenen Spiel zu beobachten. Als sie seinen Blicken entschwanden, verfolgte Hult sie mit seinem Ortungssinn weiter, doch machte er keinen Gebrauch von seinen geistigen Zügeln und ließ ihnen freien Lauf, denn es gab keine Feinde hier. Die Koomiok kannten alle Vorzeichen von Gefahr in ihrer näheren Umgebung. Er machte sich keine Sorgen um ihre Sicherheit und schenkte ihrem fröhlichen Geschwätz nur flüchtige Aufmerksamkeit. Wenn Gefahr drohen sollte, dann genügte ein kurzer Ruf, und sie würden sofort zu ihm zurückkommen. Es waren gute, kräftige, kluge Tiere, die dringend körperliche Bewegung benötigten, zu lange hatten sie geduldig bei ihm gehockt, als er bei den stummen Körpern der toten Alten an der Traumstätte der Bachan saß und die geistigen Kräfte seines Nithbrog zur Entfaltung kommen ließ. Während all dieser Zeit hatte Hult sich nicht mit ihnen befassen können, denn er war vollkommen versunken gewesen in dem neuen Leben, das sich ihm offenbart hatte. Nachdem die ersten Schwäche- und Todesgefühle vorübergegangen waren, hatten seine äußeren Sinne eine nie gekannte Klarheit und Schärfe angenommen, und er hatte eine lange Phase des Schmerzes und der Verwirrung durchlaufen, als sein Geist und sein Körper von Signalen einer äußeren Realität bombardiert wurden, die sich plötzlich an Weite und Intensität verdoppelt und vervielfacht zu haben schien. Doch er hatte gelernt, die neuen Sinne und Geisteskräfte, die sich in der letzten großen Phase des Onhlalebens entfalteten, zu
beherrschen und nutzbar zu machen. Der Nithbrog kam nur zu wenigen, nun war er zu Hult gekommen. Er spürte mit jeder Faser seines Körpers und seines Geistes die Kraft und die Herrlichkeit seines neuen Zustandes, doch er wunderte sich noch immer, warum gerade ihm diese Gunst zuteil geworden war. Er wußte, daß es noch so viel für ihn zu lernen gab. Ein kurzes, stechendes Hungergefühl blitzte von den Koomiok zu ihm herüber, gefolgt von der flehenden Bitte, das Nahrungsversteck, das sie in ihrer unmittelbaren Nähe gewittert hatten, aufscharren zu dürfen. Hult gestattete es ihnen. Sofort spürte er, wie die überschäumende Vorfreude auf den Geschmack von Fleisch, auf das Zermalmen von Knochen zwischen ihren breiten Kiefern und auf einen vollen Bauch ihre simplen Gemüter durchpulste. Nun, da er in seinem Nithbrog war, verstand er seine Tiere anders und weit klarer als je zuvor. Ihnen war nichts Kompliziertes, Vielschichtiges zu eigen; ihre Triebe waren einfach, klar und unverhüllt: stetiger Hunger, plötzliches Aufflammen von Lust oder Wut und große Ehrfurcht vor ihren Onhla-Herren und insbesondere vor Hult, der einst ihre Vorfahren aus einem kargen, öden Land, das nun als eines der Lichter über ihren Köpfen funkelte, in diese wundervolle Welt geführt hatte. Sie konnten nicht einmal entfernt die Wahrheit ihres Ursprungs begreifen, doch war einst eine einfache Geschichte von Mutter und Vater an die ersten Jungen weitergegeben worden, und diese erzählten sie ihren Jungen, die sie wiederum ihren Nachkommen weitererzählten. Mittlerweile war sie zu einem Mythos gereift, zu ihrer eigenen, sagenumrankten Schöpfungsgeschichte, die heilig und unverletzlich war. Wenn sie erzählt wurde, hatte Hult oft bei ihnen gesessen, zugehört und beobachtet, wie sich ihre schmalen Augen weiteten, wenn sie ihm die Köpfe zuwandten und ihn anstarrten, ihn, der einst ihr Volk an diese Stätte geführt hatte. Er war ihr Gott, der
Erlöser der Koomiok, der erste und größte seines Volkes. Und nun war er der Phase des Haldrim entwachsen und ein Alter geworden, gewaltig von Gestalt und Körperkraft, mit Sinneskräften begabt, wie er sie in seinen früheren Lebensphasen nie erahnt hätte. Zum ersten Mal wurde er sich seiner Persönlichkeit bewußt. Er war Hult, er war einzigartig und allein. Sein Name hatte eine Bedeutung, und er hatte ein Leben, das anders war als das seiner Stammesbrüder. Doch mit dem Schauer des Bewußtseins seines neuen Selbst spürte er zugleich auch die Einsamkeit, die damit verbunden war. Aber Treborra würde bald an ihrem Wendepunkt angelangt sein. Wenn sie überlebte und wie er die Wandlung durchmachte, dann würden sie zusammen sein wie nie zuvor. Es würde ihre beste Zeit werden, der Gipfelpunkt ihrer Paarung – die völlige Verschmelzung ihres Seins. Hult konnte andere jetzt in all ihrer Tiefe verstehen, doch für einen im Nithbrog war es schwer, mit anderen zu kommunizieren, die nicht im Nithbrog waren. Die Weisheit bewegte sich in seinem Innern, und nur jene, die diese inneren Sinneskräfte mit ihm teilten, vermochten ihre Früchte zu ernten. Bei anderen war es ihm, als spräche er zu jungen Tieren oder zu Wesen, die die Sprache der Onhla nur bruchstückhaft beherrschten. Sie konnten nicht verstehen. Doch zwei im Nithbrog waren sich näher, als andere es je zu sein vermochten. Selbst in jenen Momenten, da sie eng umschlungen auf ihrer Lagerstatt aus weichen Fellen lagen und durch ihre Vereinigung das Leben eines neuen Stammes schufen, konnten sie nicht das Gefühl jener totalen Innigkeit der Berührung zweier Seelen erfahren, jenes tiefe, beglückende Erlebnis, äußere Eindrücke und innere Reflexionen auf eine ungekannte, völlig neue Weise zu teilen, beseelt von der Gewißheit allumfassenden gegenseitigen Verstehens. Dies war nur im Nithbrog möglich, und
für Hult und Treborra war dieser Moment noch nicht gekommen. Hult, dessen Körper mittlerweile den Endpunkt seiner Entwicklung erreicht hatte und der sich dem Gipfel der Entfaltung seiner geistigen Kräfte rasch näherte, war der einzige seiner Art und würde es vielleicht für immer sein. Er war sich seiner Einsamkeit bewußt, aber er haderte nicht mit seinem Schicksal. So etwas war einem Onhla fremd. Ein Onhla ertrug, was das Schicksal ihm bescherte. Leben bedeutete Erdulden: dies war die erste und wichtigste Weisheit. Und erduldet hatten sie viel. Hult dachte an ihren Erstgeborenen, der ohne einen Laut des Schmerzes gestorben war, obwohl der Tulk ihn fürchterlich zugerichtet hatte. Zu jener Zeit war alles sinnlos erschienen. Hult durchlebte jenen Moment noch einmal in plastischer Klarheit. Es war auf der ersten Jagd jener Dunkelzeit gewesen. Die Tulk zogen in großer Zahl über das Eis, es gab Fleisch in Hülle und Fülle. Sie hätten jenem Prachtexemplar mit seinen stolz aufgerichteten Hörnern und seinem keulenartigen Schweif nicht nachzusetzen brauchen. Aber das Jagdfieber hatte sie gepackt. Sie hatten den Tulk schließlich gestellt, vier der Jungen, begleitet von ihrem Koomiokrudel. Das riesige Tier hatte den kecken jungen Jäger mit einem Schweifhieb zum Straucheln gebracht und ihn sofort mit seinen Hörnern aufgespießt. Aber trotz seines Todes und der Tode anderer lebte der Stamm immer noch. Die ältesten waren bereits in ihrem Haldrim, und eine neue Generation war auf dem Wege, Kraft und Geschicklichkeit zu erlangen. Ausdauer und Beharrlichkeit war alles. Hult lernte, den Tod auf neue Weise zu sehen. Wie alles andere hatte auch er für ihn eine neue Bedeutung erlangt. Als er unter den zu Eis erstarrten Überresten jener vergangenen Generationen gesessen und ihre Weisheit und lange
Erfahrung in sich aufgesogen hatte, da war der Schmerz manches Mal so groß gewesen, daß er das Gefühl gehabt hatte, er müsse den Verstand verlieren. Jeder Nerv, jeder Sinn schien zu schmerzhafter Überempfindlichkeit gereizt. Aber er hatte ausgeharrt, und schließlich, in einem winzigen Augenblick schlagartiger Verzückung, war die Erleuchtung über ihn gekommen. Schranken waren in ihm gefallen, Mauern zerbröckelt, Tore weit aufgesprungen. Sinne hatten sich aufgelöst und miteinander vermengt, um sich gegenseitig zu befruchten und zu schärfen. Alles, was vorher gewesen war, begriff Hult nun auf neue Weise. Er sah die Pracht und die Notwendigkeit dessen, was kommen würde. Es gab keinen Tod mehr für die Onhla, sondern an seiner Statt ein Hinübergleiten auf eine neue Ebene gegenseitigen Verstehens. Der Friede des letzten langen Traums, wenn die Stille kam und alles sich verklärte, flackerte in seinem Bewußtsein auf wie das Himmelsleuchten am Horizont, ein quälender Vorgeschmack der letzten, endgültigen Weisheit. Alles, was außerhalb seiner selbst war, wurde realer, offenbarte sich voller und klarer, und seine neuen inneren Sinne ergründeten tiefste Wahrheit. Der Schmerz ging unter in der Flut ekstatischen Erwachens. Doch noch konnte er all dies mit niemandem teilen. Die neue Weisheit würde Eingang finden in die geknüpften Annalen seines Stammes, doch niemand würde sie voll begreifen, wenn er nicht selbst im Nithbrog war. Hult stapfte mit festem, gleichmäßigem Schritt voran – ein lebender Monolith, der sich langsam durch den schneidenden Wind und die bittere Kälte schob. Für ihn war der Sturm nur eine sanfte Brise, die Eiseskälte empfand er als Labsal. Er würde von jetzt an weit Schlimmeres ertragen können. Er schien wie ein Wesen aus Urfrost: seine Haut war blaßblau, sein langes Haar und der Pelz, der ihm dicht über
Schultern und Oberarme wucherte, waren weiß. Sein mächtiger Körper war eingehüllt in einen Umhang aus silbergrauem Gorwolfell. Er verspürte kein Unbehagen, nur einen immer stärker werdenden Drang, zu seinem Stamm zurückzukehren. Er sehnte sich danach, die Knoten der Vergangenheit zu lesen und mit seinen neuen Geisteskräften ihre Geheimnisse zu entschlüsseln. Etwas zwickte an seinem Geist. Es war schwach und sehr weit entfernt. Er spürte es nur einen winzigen Moment lang, aber es war unbestreitbar da … ein Ruf … ein Warnruf. Er tastete nach den Koomiok und ortete sie ein Stück voraus. Sie verhielten sich ruhig. Beruhigt registrierte er das Gefühl von Zufriedenheit und Behaglichkeit, das sie ausstrahlten. Sie waren jetzt zufrieden und satt. Narik, das Männchen, verspürte die ersten schwachen Regungen für das Weibchen, Dengar, doch sie war noch nicht soweit und wies seine Annäherungsversuche gereizt ab. Hult befahl ihnen, das Nahrungsversteck wieder zu schließen und an der Stelle auf ihn zu warten. Sofort gingen alle ihre anderen Gefühle in einer Flut von Willfährigkeit unter. Erzog sich aus ihnen zurück und wandte seine Gedanken wieder den Dingen zu, die er bei den schweigenden Leibern der Träumer erlebt hatte. Und wieder verspürte er dieses Zwicken, stärker jetzt als beim ersten Mal. Er blieb stehen. Auch die Koomiok schienen etwas gespürt zu haben, doch so schwach nur, daß sie es nicht einzuordnen wußten. Sie fühlten sich unbehaglich und wußten nicht, warum. Hult öffnete seinen Geist für alles um ihn herum. Doch da war nur die Stille Sternheims, das Heulen des Windes, das dumpfe Halbleben der Dinge, die in der Tiefe hausten, das Unbehagen der Koomiok. Er bündelte sein Bewußtsein und sandte es hinaus bis an die weitesten Grenzen, die seine Sinne zu erreichen vermochten. Da war etwas. Sein Geist erhaschte es, versuchte es zu
packen, doch es entschlüpfte ihm wieder. Er besaß noch nicht die volle Beherrschung über seine neuen Kräfte. Wieder tastete er sich vor, und er fühlte … Schmerz. Erstaunen, plötzlicher Schmerz, Verwirrung, und dann … nichts. Ein Onhla schwebte in großer Gefahr. Er eilte zu dem Nahrungsversteck, öffnete es und zog eine Tulkkeule hervor. Die Koomiok, die mit vollem Magen satt und schwer im Halbkreis um das Versteck hockten, verfolgten mit schläfrigen Blicken, wie er das gefrorene Fleisch hastig in Streifen schnitt und sich diese als Wegzehr an die Hüfte hängte. Eine lange Reise lag vor ihnen, und sie würden den direkten, den beschwerlichen Weg nehmen, wo keine Nahrungsdepots auf sie warteten. Hult verschloß das Versteck wieder. Während er sich noch mit den Zähnen ein Stück Fleisch vom Rest der Keule riß, ging er in die Richtung los, aus der das Signal gekommen war. Ohne Rast wanderten sie über die Eisfelder, schneller, als jedes andere Wesen es je in Sternheim vermocht hätte. Sie erklommen die Hügel, überquerten das Plateau und stiegen dann in die gefrorene Ebene hinab. Die ganze Zeit über vernahmen sie kein neues Signal. Zweifel keimte in Hult auf. Vielleicht hatten ihn seine neuen Sinne getäuscht. Er durchtastete sanft das Gedächtnis der Koomiok und atmete auf. Auch sie hatten das Signal gehört. Er stürmte die letzte Anhöhe hinauf. Oben angekommen, erblickte er das Lager der Onhla. Der Anblick, der sich ihm bot, ließ ihn für einen Moment entsetzt erstarren. Dann stürmte er den Abhang hinunter. Überall lagen Leichen, Onhla wie Koomiok, zerfetzt, zermalmt, gräßlich entstellt. Die Tiere hatte man hastig enthäutet, und ihre Kadaver ähnelten nackten, grotesk verformten Menschenleibern. Die toten Onhla, denen man ihre Kleider vom Leibe gerissen hatte, lagen mit unnatürlich verdrehten Gliedma-
ßen inmitten glitzernder Lachen gefrorenen Bluts. Fürchterliche Waffen hatten ihre Körper zerhackt und zerrissen. Alles Leben im Lager war ausgelöscht. Hult suchte unter den Toten nach Treborra. Er fand sie in der Mitte eines kleinen Ringes aus toten Leibern. Etwas hatte die Hälfte ihres Kopfes fortgerissen, und einer ihrer Schenkel war zermalmt. Im Todesschmerz zusammengekrümmt lag sie auf dem Rücken. Eiszapfen aus Blut hingen von ihrem zerfetzten Gesicht. Neben ihr lag mit gebrochenem Genick ein Mann aus Norion. Dicht daneben lag ein zweiter mit zerschmettertem Kopf. Den letzteren konnte Hult nicht sofort identifizieren. Seine Kleider waren wie die der anderen, doch sie trugen seltsame Zeichen. Der Mann war nicht von Hraggellon. Hult schritt durch das Lager und fand andere Norioniter, doch keinen weiteren Fremdweltler. Die Zerstörung war vollkommen. Alle erwachsenen Onhla waren tot, der größte Teil der Jungen ebenfalls. Der Verbleib der restlichen Jungen war ungewiß. Alle Gorwolpelze waren verschwunden, die Schutzhütten dem Erdboden gleichgemacht, alle Habe zerschlagen. Die Trümmer lagen wüst verstreut. Die geknüpften Annalen des Stammes waren in fingergroße Lederstücke zerhackt und achtlos zwischen den Toten verstreut worden. Die Vergangenheit des Stammes war vernichtet. Waren die vermißten Jungen ebenfalls tot, dann war es für die Onhla das endgültige Aus. Hult warf den Kopf zurück, reckte seine mächtigen Fäuste gegen die Sterne und stieß einen Schmerzensschrei aus. Er ließ seinen Blick über die Überreste seines Stammes schweifen und fühlte eine unsagbare Verzweiflung und Verwirrung sich seiner bemächtigen. Seine neuen Kräfte konnten ihm nicht helfen. Etwas Derartiges war noch nie zuvor auf Hraggellon geschehen, und sosehr er auch nach-
dachte, er konnte keinen Grund dafür finden. Nichts geschah ohne Grund, doch wie erklärte sich eine solch grausame Tat? Er wußte, daß die Menschen Norions in ihrem Kampf um die Macht sich solche Dinge antaten, aber sie hatten niemals zuvor die Onhla angegriffen. Warum also jetzt? Warum solche Grausamkeit? Und wer war der Fremdling? Sein Geist brauchte einige Zeit, um sich von diesem fürchterlichen Schock zu erholen, doch dann machte er sich daran, das ungeheure Ereignis aufzuklären. Er tastete sich tief in den dicht verfilzten Wirrwarr von Bewußtsein, der noch immer wie eine unsichtbare Wolke über der Szene hing. Behutsam entwirrte und sortierte er die einzelnen Fasern, setzte Stück für Stück Bilder, Vorstellungen, Gedanken zusammen. Als erstes kristallisierte sich Verblüffung angesichts berittener Menschen heraus, die sich so weit nach Sternheim vorgewagt hatten, vermengt mit der plötzlichen Furcht vor dem Ungewohnten. Dann Treborras beruhigende Worte, Erleichterung, das freundliche Begrüßen der Neuankömmlinge. Darauf erneut Verblüffung und Furcht, als die Fremden sich plötzlich im Lager verteilen. Dann Schrecken und Entsetzen, Todespein, und ein Gefühl, das sich in seine Seele bohrte und seiner Brust ein qualvolles Stöhnen entrang: Haß, bitterer Haß, wie Säure, die sich in rohes Fleisch frißt. Noch nie hatte Hult etwas Gleichartiges empfunden. Onhla hegten anderen Lebewesen gegenüber keine solchen Gefühle. Haß stellte eine Herausforderung gegen die natürliche Ordnung der Dinge dar. Aber diese Angreifer, wer auch immer sie sein mochten, waren voll von Haß wie Giftbecher. Hult hob den Körper des Fremdweltlers auf und studierte ihn eingehend. Unter dem seltsamen schwarzen Kleidungsstück, das seinen Körper völlig umschloß, kam eine schwarze Uniform zum Vorschein. Sofort tauchte in seiner
Erinnerung die Reise nach Insgar auf. Die Männer an Bord des weißen Schiffes hatten die gleiche Kleidung getragen – nicht die Händler, sondern die anderen, die mit den Waffen. Nur solche Waffen konnten ein Blutbad wie dieses anrichten. Er tastete sich in den Geist des Toten, doch er stieß nur auf Dunkelheit. Vielleicht versagten seine neuen Kräfte bei einem Geist, der so fremd und andersartig war, vielleicht hatte aber auch der jähe Tod des Mannes alle Bewußtseinsspuren ausgelöscht und ihn des langen Traums beraubt. Was auch immer die Ursache sein mochte, sein Geist jedenfalls blieb stumm. Doch Hult mußte wissen, was geschehen war. Das Massaker hatte erst vor ganz kurzer Zeit stattgefunden, und die Mörder konnten noch nicht weit sein. Er konnte ihre Spur mit Hilfe seiner gewöhnlichen Sinne und seiner Tiere verfolgen, aber dieser Weg war sehr langsam und barg selbst für ihn die Gefahr des Irrtums. Er konnte sich jetzt keinen Irrtum leisten. Wieder öffnete er seinen Geist weit. Er lauschte lange, doch nichts kam. Er verengte seine Sinneskräfte zu einem festgebündelten Bewußtseinsstrahl und sandte ihn gleich einem Lichtstrahl aus, der die Dunkelheit durchbohrt. Weit nach Sternheim hinein sandte er seinen Geist, doch er fand nichts. Er ließ all seine Willenskraft in den Strahl hineinfließen, aber erst, als er ihn nach Lichtheim richtete, spürte er plötzlich eine schwache Reaktion. Der Geist, den er berührte, war sehr jung und hilflos vor Angst. Er spürte nicht das Tasten von Hults Bewußtsein. Hult fühlte seine Furcht. Furcht … und ein Sträuben. Schmerz, doch nicht körperlichen Schmerz … eher eine Art Schmerz, wie das Gefühl des Zwanges ihn hervorruft. Vorsichtig tastete Hult sich weiter. Andere junge Geister öffneten sich ihm. Es waren junge Onhla, Gefangene der Mörder, und sie wurden nach Sternheim geführt. Sie waren
Gefangene, aber sie lebten. Der Stamm war also nicht ausgelöscht. Wenn es ihm gelang, sie zu befreien, dann konnte das Volk der Onhla vielleicht noch einmal wiedererstehen. Doch zuerst mußte er noch eine Pflicht erfüllen. Er trug die zerfetzten und zermalmten Leiber seiner toten Stammesbrüder zusammen und setzte sie in einer Reihe auf, die Gesichter Sternheim zugewandt. Dann schichtete er vor ihnen die Trümmer des Lagers auf und entfachte ein großes Traumfeuer. Als die Flamme erlosch, wandte Hult sich ab und rief Narik und Dengar zu sich. Mit gesenktem Kopf kamen sie zu ihm geschlichen. Sie waren verwirrt und verängstigt. Er legte seine Hände auf ihre breiten Schädel und tröstete sie. Sie beruhigten sich rasch und lauschten seinen Befehlen. Auf sein Geheiß stürmten sie in Richtung Lichtheim davon, Hult folgte in ihren Spuren. Die Angreifer waren zu viele, und Hult war allein. Er war stärker als der Stärkste von ihnen, aber er war nicht unverletzbar. Sie trugen Waffen, die fürchterliche Verheerungen anrichten konnten, er trug nur seine Gelenkklingen. Doch er besaß die Kraft des Nithbrog. Sie wurde mit jedem Atemzug stärker, und in dem Maße, wie sie wuchs, wuchs auch seine Fähigkeit, sie zu verstehen und zu beherrschen. Die Weisheit der Träumer war seine Rüstung und seine Stärke. … spektakuläre, als sog. Himmelsleuchten bezeichnete Erscheinung, die häufig zu sehen ist, wenn die Schattenlinie zur Mittlichtzeit ihren weitesten Rückzugspunkt erreicht. Ein solches Himmelsleuchten soll einmal die Mitglieder einer Jagdpartie vor dem Tode gerettet haben, indem es ihnen auf dem Weg nach Lichtheim als Orientierungsfeuer diente. Ungewöhnliche Lichteffekte machen im Zusammenwirken mit optischen Täuschungen und unbere-
chenbaren Wetterverhältnissen das Reisen durch Sternheim zu einer extrem gefährlichen Angelegenheit. Eine besondere Gefährdung stellen die häufig beobachteten Einbrüche plötzlicher Dunkelheit dar. Nicht auszuschließen ist eine Beeinträchtigung der Instrumente durch besagtes Himmelsleuchten. (Analogien: die Fata Morgana von Alt-Terra; die jahreszeitlich bedingten Blindstürme auf Loki.) Die von den Eingeborenen verwandten Begriffe wie Truggürtel, Sternenbrennen und Augenbeißen führen zur Unterminierung der Moral, weshalb wir empfehlen, ihren Gebrauch möglichst zu vermeiden. Trotz der bekannten, oben beschriebenen Schwierigkeiten glauben wir, daß der Einsatz der Sternverein-Klimaanzüge vom Typ D-6 ein sicheres und effektives Operieren unserer Truppen selbst in den kältesten Regionen Hraggellons gewährleistet. (Vgl. Zeugamtsbericht von Vergeltungsfahrt B 641 nach Hingwoll, Berichterstatter P. Ryne, S. 14 ff.) B. V. Jarmal, Tech I Zehnte Hraggellon-Mission
11. Die Furcht im Innern Ein Katarakt eisigen Windes blies vom Plateau herab, fegte über die Ebene und peitschte die lange Reihe Tiere und Menschen, die sich mühsam Richtung Sternheim vorwärtsquälte. Die zottigen, plumpleibigen Haxopoden stapften unbeirrt dahin, doch selbst sie gerieten hin und wieder ins Taumeln, wenn der Wind sich für einen Moment schlagartig legte oder eine heftige Böe sie von der Seite packte. Zweimal schon hatte die Karawane anhalten müssen, weil die Männer vom Wind umgeworfene Schlitten aufrichten und wieder beladen mußten. Clell Basedow verfluchte zum tausendsten Mal diesen Planeten, sein Wetter und alle seine Bewohner und drehte den Regulierungsknopf seines Klimaanzugs eine Stufe höher. Diese Einöde war von einer Trostlosigkeit, wie er sie sich schlimmer nicht hätte vorstellen können. Ewige Dunkelheit, nur die Sterne und das irrlichternde Himmelsleuchten am Horizont von Lichtheim zeigten den Weg. Kälte, ein eisiger, gnadenloser Wind und flacher, tief gefrorener Boden; das einzige Geräusch war das Tosen des Windes und die eigenen, angestrengten Atemzüge … es war grauenhaft. Im trüben Licht seiner rhythmisch auf und ab hüpfenden Stirnlampe studierte er die jungen Onhla, die, paarweise aneinandergefesselt, stumm auf ihren Haxopoden hockten. Ihre Gesichter waren dumpf und ausdruckslos. Sie waren unfähig, miteinander zu sprechen. Müssen vollkommen verstört sein, nach allem, was sie erlebt haben, dachte er. Erst müssen sie mit ansehen, wie ihr Stamm niedergemetzelt wird, dann die Ungewißheit über ihr eigenes Schicksal. Eigentlich sollten sie sogar dankbar sein, nicht nur, weil ich sie verschont habe. Clell Basedow fand, daß er diesen verhaßten Kreaturen einen Dienst erwies, indem er sie aus die-
ser Einöde herausholte und ihnen die Chance für ein nützliches und sinnvolles Leben in den Diensten des Sternvereins bot. Die Tatsache, daß ein einziger, ganz bestimmter Onhla ungeschoren davongekommen war, wurmte ihn, aber selbst in seiner Rachsucht blieb Clell ein praktisch denkender Mensch. Diese Biester würden bald nur noch von ihrem Äußeren her Onhla sein. Der Name würde in Vergessenheit geraten. Ihre Rasse war für immer ausgetilgt, ihre Geschichte ausgelöscht, ihre Heimat dem Erdboden gleichgemacht. Das einzige, was von ihnen übriggeblieben war, waren diese zwölf pelzigen, kaum dem Säuglingsalter entwachsenen Jungtiere. Und sie würden von seinen eigenen Dresseuren in Norion zu willfährigen Sklaven abgerichtet werden. Sie würden für ihn jagen, ihn bedienen … vielleicht würden sie eines Tages sogar seine Leibwächter sein. Die Ironie, die diesem Gedanken innewohnte, ließ ihn unwillkürlich lächeln. »Ihr scheint Euch wohl zu fühlen«, riß ihn Orms Stimme aus seiner lustvollen Grübelei. »O ja«, erwiderte Clell leicht verwirrt. Er hatte den anderen nicht kommen hören. »O ja, bis jetzt bin ich mit allem sehr zufrieden. Außer mit dem Klima.« »Schlimmer, als Ihr es Euch vorgestellt habt, nicht wahr? Jetzt wißt Ihr, warum wir Norioniter diese Einöde lieber den Flüchtlingen und Tieren überlassen.« »Unsere Anzüge werden uns schützen«, sagte Clell. »Das sagt Ihr so leicht. Die Kommunikatoren funktionieren jetzt schon nicht mehr, und wir sind kaum über die Schattenlinie. Ich frage mich, was wohl als nächstes kaputtgeht.« »Den Kommunikatoren fehlt nichts. Daß sie nicht richtig funktionieren, ist allein auf äußere Störungen zurückzuführen. Diese verfluchten Lichterscheinungen am Horizont oder vielleicht bestimmte mineralische Konzentrationen im Boden. Die Anzüge werden uns schon nicht im Stich lassen.«
»Bis jetzt haben sie ja gehalten«, gab Orm zu, »aber das Schlimmste liegt noch vor uns. Wir müssen tief nach Sternheim hinein, um den Erinnerern den Fluchtweg abzuschneiden. Sie werden niemals damit rechnen, daß wir von vorn angreifen.« Clell deutete mit dem Finger auf die jungen Onhla. »Was ist mit denen da? Werden sie eine solche Kälte überstehen?« »Das ist hier ihre Heimat. Sie haben schon hier gelebt, als Norion noch aus einem Haufen Lehmhütten am Ufer des Flusses bestand. Sie werden es überleben.« Clell nickte, enthielt sich aber eines weiteren Kommentars. Sie ritten eine Weile schweigend nebeneinander, vollauf damit beschäftigt, ihre schwankenden Tiere gegen den peitschenden Wind auf Kurs zu halten. Als der Wind wieder einmal für einen Augenblick nachließ, brach Orm das Schweigen. »Hat Spaß gemacht, die Onhla niederzumachen. Besser, als einem Haufen wimmernder Erinnerer hinterherzujagen. Wir haben zwar ein paar Mann verloren, aber die können wir entbehren. Beim Wuran, sie haben uns einen prächtigen Kampf geliefert!« »Und dabei einen meiner Leute getötet.« »Ihr könnt von Glück reden, daß sie nicht noch mehr erwischt haben. Selbst diese Jungen sind schon verdammt gefährliche Biester. Was habt Ihr mit ihnen vor?« »Ich lasse sie abrichten. Eines Tages gehen sie für mich auf die Jagd.« Orm entblößte die Zähne zu einem hämischen Grinsen. »Paßt lieber auf, daß sie Euch nicht jagen. Onhla haben ein gutes Gedächtnis.« »Wenn ich sie fertig abgerichtet habe, dann werden sie sich nur noch an das erinnern, was ich ihnen erlaube.« Orm schaute ihn eine Weile an und sagte: »Ihr haßt die Onhla ja sehr. War es ein Onhla, der Euch das Rückgrat
gebrochen hat?« »Ich hasse die Onhla nicht mehr und nicht weniger als Ihr die Erinnerer. Ich wollte die Jungen und konnte sie anders nicht bekommen«, erwiderte Gell, der es vorzog, diesem Barbaren nichts weiter von sich zu offenbaren. Sofort flammte Orms Ärger auf. »Die Onhla stellen für Euch nicht die Gefahr dar, wie die Erinnerer für mich. Ihr habt sie aus reiner Gewinnsucht überfallen und meine Männer dafür eingespannt, die Drecksarbeit für Euch zu erledigen. Zieht also keine Vergleiche, wo keine hingehören. Die Erinnerer halten die Zeiten lebendig, bevor der erste Orm in Norion an die Macht kam. Sie halten die Erinnerung an die alten Zeiten wach, aber mit mir sind neue Zeiten angebrochen. Ich will, daß die alten Zeiten endlich vergessen werden. Solange die Erinnerer leben, leben auch die alten Zeiten weiter und stellen eine ständige Bedrohung für das Wohl Norions dar.« »Gewiß, Wohltäter«, pflichtete Clell ihm in besänftigendem Ton bei. »Es ist Weisheit, was Euch dazu bewegt, sie auszurotten. Jeder weise Herrscher sieht die Notwendigkeit, alle Spuren zu beseitigen, die andere vor ihm hinterlassen haben. Dies dient dem Zweck, seine Untertanen zu befrieden.« Orm schien wieder ein wenig milder gestimmt. »So war es auch Brauch auf der alten Erde. Ihr selbst habt es mir erzählt. Und Vessius von den Drei Welten hat es auch so gemacht.« »Gewiß, Wohltäter. Ihr tut, was Ihr tun müßt.« »Die Erinnerer stellen eine Gefahr dar. Sie müssen verschwinden«, wiederholte Orm entschlossen. Clell gab keine Antwort. Er war sehr zufrieden mit sich. Orm war die perfekte Marionette. Er schnappte nach jedem Brocken, den man ihm hinwarf, fiel auf jede Einschmeichelung herein und griff jeden Vorschlag begierig auf. Richtig angefaßt, stellte er für den Sternverein kein Prob-
lem dar – im Gegenteil, im Rahmen seiner bescheidenen Grenzen war er sogar recht nützlich. Wenn nur seine Welt nicht so schrecklich öde und trostlos wäre, dachte Clell. Die eine Hälfte begraben unter immerwährender Dunkelheit und Kälte, die andere geröstet unter der Glut einer Sonne, die niemals unterging, mit Meeren, die so heftig brodelten, daß jede Schiffahrt unmöglich war, und nur einem schmalen Streifen Land, auf dem Menschen mit einem Tag und einer Nacht und Jahreszeiten halbwegs menschenwürdig leben konnten. Selbst dort war es für eine normale Existenz oft zu kalt oder heiß. Dunkelheit und Licht hielten Norion in gnadenlosem Wechsel gefangen. Dennoch hielt sich Leben auf diesem Planeten und überdauerte mit erstaunlicher Zähigkeit. Und nicht nur in Norion, auch in der Einöde des Schattenlandes, direkt am Rande Sternheims. Sogar dahinter, in Sternheim selbst, existierte noch Leben, gab es Menschen, Tiere und sogar Pflanzen. Clell hatte sie vor seinen Augen zum Leben erwachen sehen, als das Licht sie berührte. Staunend, wie verzaubert, hatte er dagestanden und beobachtet, wie jene großen Trompeten aus samtenem Schwarz sich gegen den Horizont reckten und gierig die schwachen Strahlen des Erstlichts tranken. Und erst die strahlende Schönheit der Feuerblume mit ihren prachtvollen, rotgoldenen Blütenblättern, die sich flimmernd gegen den grauen Horizont abhoben. Selbst die hungrigen Ranken des Hitzediebes, die sich jedem Körper, der ihnen zu nahe kam, entgegenschlängelten, um ihm die Wärme zu entziehen, die krallenartigen Dornen des Blutsaugers so unangenehm ihre Berührung auch war –, sie lebten und kämpften ihren zähen Kampf gegen die Widrigkeiten der Natur, die sie umgab. Die Onhla jedoch hatten aufgehört zu leben. Schon in diesem Augenblick existierte ihre Rasse nicht mehr, denn die-
se aneinandergefesselten Jungen waren nicht die letzten der Onhla, sie waren die ersten eines namenlosen, entwurzelten Sklavenvolks. Die Onhla waren für immer von dieser Welt getilgt, und die Erinnerer würden sehr bald schon ihr Schicksal teilen. Orm löste sich jetzt von Clells Seite und ritt nach vorn, an die Spitze des Zuges. Er war noch nicht lange fort, als die Karawane plötzlich zum Stillstand kam und sich zu einem wilden Knäuel aus schnaubenden Tieren und leise fluchenden Männern zusammenschob. Stirnlampen blitzten auf und fingerten in alle Himmelsrichtungen. Clell löste sich aus dem Knäuel und ritt nach vorn, wo Orm, die Kundschafter und der Führungsreiter sich bereits zu einer lautstark debattierenden Gruppe zusammengefunden hatten. Clell brauchte einige Zeit, um herauszufinden, was passiert war. Ein riesiger Gletscherspalt versperrte ihnen den Weg. Nun konnte man sich nicht einigen, ob die Expedition nach rechts ausweichen sollte, Richtung Lichtheim, oder nach links, was bedeutete, daß man viel weiter nach Sternheim hinein mußte als ursprünglich geplant. Zurück nach Lichtheim zu reiten, bedeutete, auf den Vorteil eines Überraschungsangriffs zu verzichten, aber es war sicherer. Die Kälte wurde immer bitterer, und noch weiter nach Sternheim zu reiten barg das Risiko des Erfrierens in sich. Die Norioniter waren gewohnt, Streitfragen möglichst durch Übertönen der Opposition zu klären. Da die Anzugsprechgeräte ihren Geist aufgegeben hatten, mußte Clell wohl oder übel bei der allgemeinen Brüllerei kräftig mitmischen. Er stimmte für die Rückkehr nach Lichtheim. Seine eigenen Ziele waren bereits erreicht, und er hatte keine große Lust, sich noch weiter in der Kälte herumzutreiben. Jetzt sah er die Gelegenheit, mit seinen Jagdtrophäen auf direktem Wege nach Norion zurückzukehren und den anderen die Jagd nach den Erinnerern zu überlassen.
Nachdem das Palaver noch eine ganze Weile hin und her gewogt hatte, sah es so aus, als hätte sich die LichtheimFraktion durchgesetzt. Doch da, inmitten der letzten Wortwechsel, spürte Clell Basedow plötzlich, wie eine Eiseskälte durch seinen Körper rieselte – eine Kälte, die weder vom Wind noch vom Eis Sternheims herrührte. Eine eisige Hand legte sich auf sein Bewußtsein. Als sie verschwand, fühlte er sich bei dem Gedanken, zum Licht zurückzukehren, von unaussprechlichem Grauen gepackt. Etwas Unbekanntes, Schreckliches erwartete ihn dort, und nichts auf der Welt hätte ihn dazu gebracht, diesem unbekannten Schrecken entgegenzugehen. Das Palaver verstummte schlagartig. In der plötzlichen Stille sah Clell sich langsam um. Als er die Gesichter der Männer von Norion sah, wußte er, daß auch sie es gefühlt hatten. »Wir gehen nach Sternheim«, befahl Orm und ritt los. Die Männer gehorchten fast freudig, keiner widersprach. Die Karawane formierte sich rasch wieder zu einer geordneten Kolonne und setzte sich in Bewegung. Clell nahm wieder seinen Platz an der Spitze der Vorratsschlitten ein, direkt hinter dem letzten der gefangenen Onhla; wenig später lenkte Orm seinen Haxopoden neben den seinen. Schweigend ritten die beiden Männer nebeneinander her. Beklommene Stille herrschte. Schließlich war es Clell, der das Schweigen nicht länger ertragen konnte. »Habt Ihr es auch gefühlt?« fragte er. »Was?« fragte Orm gedehnt. Seine Stimme hatte einen gehässigen Unterton. »Das einzige, was ich gefühlt habe, war die Kälte.« »Ich meine etwas anderes, etwas im Innern … Furcht … wie eine schlimme Vorahnung.« Orm verfiel erneut in längeres Schweigen, dann sagte er leise: »Ja, ich habe es auch gefühlt. Etwas wartet dort draußen auf uns, um uns zu vernichten, wenn wir uns Lichtheim nähern.« »Aber was ist es nur? Wie konnten wir
es alle fühlen?« Orm murmelte etwas Unverständliches und entfernte sich, ohne Clells Frage zu beantworten. Clell versank in tiefes Grübeln. Dieser plötzliche Anflug irrationaler Angst bereitete ihm Unbehagen. Langsam wand sich die lange Karawane auf den Großen Spalt zu, immer tiefer in die Kälte und Dunkelheit Sternheims hinein. Hult blieb stehen und öffnete sein Bewußtsein den Gefühlen der Mörder. Er hatte sie vorsichtig abgetastet, um einen Hinweis auf ihre Beweggründe und Pläne zu finden, aber ihre fremden Gedanken und Gefühle waren ihm verschlossen geblieben. Er hatte gefühlt, wie sie vor ihm zurückschreckten und sich sofort wieder aus ihnen zurückgezogen. Das einzige, was er wahrgenommen hatte, war eine flüchtige, stürmische Gefühlsaufwallung. Er spürte, wie sie immer tiefer nach Sternheim vordrangen, und er wunderte sich. Er konnte keine Erklärung für dieses seltsame Verhalten finden. Es waren Männer aus Norion und Fremdweltler, die Sternheim immer gemieden hatten. Ob sie plötzlich alle wahnsinnig geworden waren? Irgend etwas Geheimnisvolles ging da vor. Hult vermochte weder den dunklen Schleier ihres Willens zu zerreißen, noch gelang es ihm, sich in die verworrenen Emotionen dieser fremden Rasse einzufühlen. Sie waren zu andersartig. Er konnte nur immer wieder seine Fühler ausstrecken und Kontakt anbieten. Fand er Einlaß in einen Geist, der mit seinem harmonisierte, dann konnte er sein Bewußtsein mit dem des anderen verschmelzen und auf unmittelbarem Wege mit ihm kommunizieren; wurde er jedoch abgewiesen, dann zog er sich instinktiv zurück und ließ den anderen unverletzt. Lange stand er reglos da und überlegte. Dann machte er sich an die Verfolgung, begleitet von seinen Koomiok, die nicht von seiner Seite wichen. Welche Kraft auch immer es sein mochte, die die Menschen nach Sternheim trieb, er mußte ihnen folgen. Er wußte noch nicht, wie er es schaffen
würde, aber seine Pflicht war klar. Die Jungen mußten gerettet, die Mörder aufgehalten, die Gefahr beseitigt werden. Clell Basedow war von seinem tiefen Grübeln in einen Halbschlaf geglitten. Das plötzliche Auftauchen eines Reiters direkt neben ihm ließ ihn erschrocken auffahren. Verschlafen blinzelte er den jungen Oberleutnant an, der den Blick teilnahmslos und ohne eine Spur von Angst in den Augen erwiderte. Aber ein solches Gefühl, vergegenwärtigte sich Clell, war von ihm auch nicht zu erwarten. Die einzigen Regungen, die er jemals haben würde, waren Aggression und Selbsterhaltungstrieb. Wie alle Soldaten des Sternvereins hatte Oberleutnant Tassur sich der NoloBehandlung unterzogen. Basedow, der aufgrund seiner Stellung davon ausgenommen worden war, hielt nicht sonderlich viel von der Nolo-Behandlung, auch wenn er einsah, daß sie zur Aufrechterhaltung der militärischen Disziplin notwendig war. Er konnte sich des Verdachts nicht erwehren, daß die Behandlung nicht nur die Gefühle, sondern auch den Geist abstumpfte, und er sprach mit den Soldaten so wenig wie eben möglich. Sie ritten zusammen mit Orms Leuten vor und hinter ihm. Clell spürte die Rivalität zwischen beiden Truppen, aber er konnte sich auf die Disziplin der Sternverein-Soldaten hundertprozentig verlassen. Und falls diesen norionitischen Hundevisagen wirklich einmal die Nerven durchgingen, dann war er ganz sicher, daß seine Sicherheitskräfte kurzen Prozeß mit ihnen machen würden. In dem Punkt brauchte er sich keine Sorgen zu machen. »Was gibt’s, Oberleutnant?« fragte er barsch. »Ist der Plan geändert worden, Sir?« »Nein. Wir haben nach wie vor die Absicht, die Erinnerer von vorn anzugreifen.« »Wir marschieren immer tiefer nach Sternheim, Sir. Der ursprüngliche Plan lautete …«
»Ein Stück voraus ist eine Gletscherspalte, Tassur. Sie ist zu tief zum Überqueren. Wir hatten die Wahl, nach links oder rechts auszuweichen, und wir haben uns für das letztere entschlossen. Sobald wir drüben sind, marschieren wir in der ursprünglichen Richtung weiter.« »Jawohl, Sir. Danke, Sir.« Gell erwiderte seinen Gruß. Der Oberleutnant wendete sein Reittier und ritt wieder zurück zur Nachhut der langen Marschkolonne. Ob er auch diesen plötzlichen Anfall von Furcht gespürt hat? fragte sich Gell. Oder sind sie durch die Nolo-Behandlung gegen solche Gefühle immun? Wenn ja, würde es sich fast lohnen, die Behandlung einmal selbst auszuprobieren. Schrecklich, diese würgende Angst vorhin … so etwas möchte ich kein zweites Mal erleben. Kamen sie anfangs noch recht gut vorwärts, so zwang der immer heftiger stürmende Wind sie schließlich zu einer längeren Rast. Erst nach vielen vergeblichen Versuchen gelang es ihnen, die Zelte aufzustellen, aber ein kräftiges Mahl, eingenommen im Schutz der dünnen, flatternden Wände, ließ die Stimmung rasch wieder steigen. Die beruhigende, knisternde Glut der Feuerblöcke tat das Ihre, den Wind, die Kälte und die Dunkelheit für eine Weile vergessen zu machen. Als Gell aufwachte, erfuhr er, daß die Kundschafter einen sicheren Übergang gefunden hatten und man damit rechnen konnte, noch vor der nächsten Ruhepause die Gletscherspalte überwunden zu haben und wieder in Richtung Lichtheim unterwegs zu sein. Gell nahm es mit Erleichterung auf. Zwar vertraute er den Klimaanzügen, den Feuerblöcken und den ausreichend mitgeführten Vorräten, aber diese Eiswüste zehrte doch an seinen Nerven. Sie waren nicht weiter als vier lange Märsche nach Sternheim vorgedrungen, aber das reichte auch vollkommen. Sternheim war kein einladender Ort für Menschen, und er war froh, wenn er ihn bald wieder hinter sich hatte.
Sie erreichten den Übergang genau zur Zeit des Mittmahls. Sofort nachdem sie die Spalte überwunden hatten, machten sie halt und ließen sich zu einer kurzen Rast nieder. Physisch und geistig erfrischt, brachen sie wenig später in Richtung Lichtheim auf. Hult erreichte die Gletscherspalte und hielt inne. Er kannte einen Pfad, der auf die andere Seite führte. Für ihn würde die Überquerung ein leichtes sein, aber er war sich nicht sicher, was die Menschen vorhatten. Wenn sie lediglich die Absicht hatten, über die Gletscherspalte zu gelangen, dann hätten sie das viel leichter bewerkstelligen können, indem sie gleich an ihrem vorderen Ende nach Lichtheim abgebogen wären. Er verfolgte ihren Kurs bis zu dem Rastplatz. Bald darauf ortete er eine andere, kleinere Gruppe, die zu einer Stelle vorausritt, die sich für eine Überquerung mit Reittieren eignete. Nun bestand kein Zweifelmehr: Sie wollten nur auf die andere Seite hinüber, um gleich darauf wieder zurückzukehren. Selbst für Menschen und Fremdweltler ein sehr merkwürdiges Verhalten. Behutsam tastete er nach den Jungen, ohne seine Anwesenheit zu verraten. Sie waren jetzt nicht mehr so unruhig, und er spürte ihre Vorfreude, ja ihre Gewißheit, daß er sie befreien würde. Er bestärkte sie in diesem Gefühl, bis sie ganz ruhig waren. Dann ließ er sich in den Spalt hinunter, kletterte auf der anderen Seite wieder hoch und ließ sich nieder, um die Karawane zu erwarten. Der Glanz am Horizont war fern und schwach, aber er war unverkennbar. Vor ihnen lag Lichtheim. Irgendwo auf dem Weg dorthin würden sie den Pfad der Erinnererkarawane kreuzen. Wenn sie auf geradem Wege zum Küstenpfad vorstießen, würden sie den Flüchtlingen mit Sicherheit den Weg abschneiden. Ein kurzes Geplänkel, und dann nichts wie zurück nach Norion. Wie es aussah, würde die Mission ein totaler Erfolg werden. Clell spürte plötzlich
Wärme und warf einen Blick auf den Temperaturregler seines Anzugs. Überrascht stellte er fest, daß er ihn ohne es zu merken auf Stufe zehn gestellt hatte, nur zwei Striche unterhalb der Höchststufe. Sofort drehte er ihn zurück. Nur ein paar Märsche nach Sternheim hinein, und schon hatte er ihn so weit aufdrehen müssen … Der Gedanke ließ ihm einen Schauer über den Rücken laufen. Der Klimaanzug, den er trug, war das Beste und Wirksamste, was der Sternverein derzeit hatte. Wenn es in den tieferen Regionen Sternheims tatsächlich noch kälter sein sollte, dann würden sie auch mit den Anzügen nicht weit kommen. Erneut staunte er über die Unwirtlichkeit dieser Welt. Zum Glück war das Schlimmste überstanden, bald würden sie wieder in Norion sein. Die Stadt war sicher kein Paradies. Sie war trotz all ihrer neuen Gebäude und Einrichtungen immer noch eher ein Loch, passend zu ihren übelriechenden Bewohnern. Aber sie hatte ein Dach, und sie war warm. Man konnte es dort aushalten. Während der Mittmahlsrast brachten die Kundschafter Informationen über das vor ihnen liegende Gelände. Sie hatten weitere Gletscherspalten entdeckt, doch stellten diese ihrer Meinung nach kein großes Hindernis dar. Ihre Umgehung erforderte nur eine winzige Kursänderung in Richtung Lichtheim, nicht einen langen, mühsamen Umweg wie den, den sie gerade hinter sich gebracht hatten. Clell aß seine Ration auf und hielt die bloßen Hände über den glühenden Feuerblock. Es war unmöglich, mit den schweren Handschuhen zu essen, aber wenn man sie auszog, wurden einem binnen weniger Augenblicke die Finger taub. Er sah, daß Orm zu ihm hergeritten kam, begleitet von dreien seiner Leute. Er stand auf, um ihn zu begrüßen. Im selben Moment raste eine Woge des Entsetzens durch seinen Körper, so heftig und überwältigend in ihrer Wucht, daß er laut aufschrie, taumelte und keuchend nach
Luft rang. Sein Magen schien sich umzustülpen. Er würgte und fiel auf die Knie. Sein ganzer Körper wand und schüttelte sich vor entsetzlichen Krämpfen, er wimmerte wie ein völlig verstörtes Tier in Todesangst. Mühsam kam er auf die Beine. Rings um ihn herum gellten die Entsetzensschreie der anderen. Orm und seine drei Leibwächter sprengten bereits in vollem Galopp davon. Die Haxopoden, die in seiner unmittelbaren Nähe angebunden waren, bäumten sich brüllend auf und rissen in panischer Angst an ihren Pflöcken. Clell rannte zu ihnen, schwang sich auf den erstbesten und band mit fliegenden Fingern den Zügel los. Der Haxopode, der seine Angst fühlte, wirbelte herum und schoß wie von der Feder geschnellt los, zurück in Richtung Sternheim, hinter Orm her. Schreie ertönten hinter Clell Basedow, aber er ignorierte sie. Er hatte nur einen Gedanken – Flucht. Fort, nur fort von dieser grauenhaften Angst. Niemand konnte so etwas aushalten, ohne verrückt zu werden. Wie von Furien gehetzt, das Tier immer wieder mit Tritten und Schreien antreibend, jagte er weiter. Zweimal noch während seiner alptraumhaften, halsbrecherischen Flucht überschwemmte ihn die Furcht wie ein Gift, das langsam in den Blutstrom sickert. Die Sinne schwanden ihm, und er ritt nur noch im Unterbewußtsein, durchgerüttelt von dem stampfenden Schritt des Haxopoden, die Hände tief in das Fell des Tieres gekrallt. Sie hatten schon eine beträchtliche Strecke zurückgelegt, als sein Kopf wieder klar wurde und er merkte, daß er seine Hände nicht mehr spürte. Jedes Gefühl war aus ihnen gewichen. Als er sie aus dem zottigen Fell des Haxopoden zog, bemerkte er die unnatürliche Farbe seiner Finger. Sie waren weiß und außerdem völlig taub. Und an den Stellen, wo er sie sich während seiner wilden Jagd aufgerissen hatte, war kein Blut zu sehen. Mittlerweile hatte das erschöpfte Tier
seinen Schritt verlangsamt. Doch auch so war seine Gangart kaum weniger anstrengend für den Reiter. Nur mit großer Mühe und nach mehrmaligen vergeblichen Versuchen gelang es Clell schließlich, mit seinen tauben Fingern die Handschuhe aus der Schenkeltasche zu ziehen und sie so weit über die Hände zu stülpen, daß er sie mit den Zähnen packen und über die Handballen zerren konnte. Seine Hände würden bald anfangen zu schmerzen, aber dies war ein Schmerz, den man aushalten konnte. Alles ließ sich aushalten, wenn es ihn nur weit genug von der Quelle jener gräßlichen Angst wegbrachte. Den Blick auf die Fährten Orms und seiner Begleiter geheftet, ritt er weiter, und plötzlich wurde ihm in aller Deutlichkeit klar, daß sie alle sterben würden. Nach Lichtheim umzukehren war nicht möglich, Sternheim bedeutete jedoch den unvermeidlichen Erfrierungstod. Es gab keinen Ausweg, das Ende begann sich abzuzeichnen. Clell war über sich selbst erstaunt, mit welcher Gleichgültigkeit er diesen Gedanken hinnahm. Irgendwie erschien es ihm fast wie eine Erlösung. Erneut waren die Menschen umgekehrt und nach Sternheim geflohen. Diesmal war ihre Flucht eindeutig die Tat von Wahnsinnigen gewesen. Hult forschte in seinem Innern, aber weder seine Erfahrung noch die lange Geschichte der Onhla lieferte irgendeine Parallele. Diese Fremden handelten auf eine unergründliche Weise, und nur sie wußten die Antwort. Erneut tastete er nach ihnen. Jeder Geist, den er berührte, pulsierte von Gefühlen, die er nicht interpretieren konnte, Produkte eines fremden Gedanken- und Gefühlsmusters, das selbst von den Sinnen eines Onhla nicht zu durchdringen war. Irgend etwas schien diese Geister von innen her zu bestürmen und zu spalten. Sie kamen aus Lichtheim und sehnten sich nach Lichtheim zurück – die typische Sehnsucht des Lichtheimers nach Wärme, Ge-
borgenheit und Ruhe füllte ihre Gedanken aus –, und doch stürmten sie von Lichtheim weg, als beherberge es alle Schrecken des Universums. Diesem Verhalten haftete Wahnsinn an. Er suchte lange nach einer Erklärung. Schließlich kam ihm der Gedanke, er selbst sei vielleicht die Ursache ihrer Furcht. Aber das war höchst unwahrscheinlich. Ein Onhla konnte bei der Jagd sein Opfer in eine Lähmung versetzen, damit es beim Tod keinen Schmerz empfand, aber das ging nur bei Tieren. Diese Wesen jedoch waren Menschen, und Hult glaubte nicht, daß er derart stark auf sie einwirken konnte. Er hatte weder versucht, gewaltsam in ihren Geist einzudringen, noch, seinen Geist mit dem ihren zu verschmelzen wie bei einem Onhla. Er hatte lediglich die Oberfläche ihres Bewußtseins abgetastet und versucht, gleichsam wie durch ein Astloch in das dicht abgeschottete Innere zu spähen, das hinter der Barriere aus Andersartigkeit, Individualität und äußerlich sichtbarem Verhalten lag. Seine flüchtige, stumme Anwesenheit in ihrem Geist konnte unmöglich ein derart irrationales Verhalten ausgelöst haben. Viel wahrscheinlicher war es, daß derselbe unbegreifliche Zwang, der sie dazu getrieben hatte, seinen Stamm auszulöschen und die Jungen zu verschleppen, sie auch in die tödliche Kälte Sternheims trieb. Vielleicht war es der Memur, ein Selbstkasteiungszwang, wie er bei den Erinnerern auftrat, die falsch rezitiert hatten, oder der Ausbruch einer Massensehnsucht nach dem langen Traum. Er vermochte sich keinen Reim darauf zu machen und beschloß, das Problem erst einmal beiseite zu legen. Andere Dinge waren jetzt wichtiger. Bei ihrer überstürzten Flucht hatten die Marodeure die Gefangenen ihrem Schicksal überlassen. Die jungen Onhla hatten die Gelegenheit sofort genutzt. Sie konnten mit den Haxopoden zwar nur auf sehr bruchstückhafte Weise kommunizieren, aber es war ihnen gelungen, die Tiere ih-
rem Befehl zu unterwerfen. Als die Panik der Menschen auf die Haxopoden übersprang, waren diejenigen unter ihnen, die Onhla trugen, weitgehend immun geblieben. Sie hatten die Gefangenen davongetragen, weit weg von ihren Peinigern, und sich in alle Himmelsrichtungen verstreut. Viele der Onhla hatten die Tiere beruhigt, sich befreit und auf die Suche nach ihren Stammesgefährten gemacht. Hult sandte seine Kräfte zu allen Mitgliedern seines Stammes hinaus. Ihre Geister öffneten sich ihm und wurden eins mit dem seinen. Er spürte die Erleichterung und Dankbarkeit, die in ihnen aufwallte, kommunizierte mit jedem einzelnen, vom kleinen Sholot bis zum großen, bärbeißigen Roilan und sprach allen Trost und Mut zu. Als jeder von ihnen beruhigt war, befahl er ihnen, sich an der verlassenen Raststelle der Marodeure zu versammeln und dort auf ihn zu warten. Er zog sich aus ihrem Geist zurück und verfolgte jeden ihrer Wege. Die ersten eilten bereits zurück, stießen wenig später auf andere, mit denen sie gemeinsam dem vereinbarten Sammelpunkt entgegenstrebten. Manche jedoch waren bei der Flucht aus dem Lager zurückgeblieben und hatten seinem Ruf nicht geantwortet. Diesen wandte er sich nun zu. Er drang tief in sie ein, fand aber nur Leere. Zu früh waren sie in den langen Traum hinübergeglitten und hatten nichts zurückgelassen. Einer lag mit zerquetschtem Leib unter zwei Haxopoden, die in ihrer Panik zusammengeprallt und zu Boden gestürzt waren. Ein anderer war von seinem erschreckten Reittier über den Rand des Abgrunds in die Tiefe gerissen worden. Ein dritter war auf ganz unerklärliche Weise gestorben. Doch alle anderen lebten wenigstens; dies linderte den Schmerz über den Verlust der drei. Er machte sich auf den Weg zu der Raststelle, um die Jungen bei ihrer Rückkehr in Empfang zu nehmen. Als er
ankam, sandte er zur Vorsicht ein weiteres Mal seine Sinneskräfte nach den Marodeuren aus. In ihrem Wahn waren sie zu allem fähig, und möglicherweise befanden sie sich in diesem Moment schon wieder auf dem Rückweg zu ihrem Lager. Seine Sorge war unbegründet. Keiner von ihnen war in der Nähe. Doch stieß er bei seinem Tasten auf etwas anderes, und was er fühlte, überraschte ihn. Eine kleine Karawane, bestehend aus Männern, Tieren und Vorratsschlitten, folgte in geordneter Formation der Fährte, die die anderen auf ihrer wilden Flucht hinterlassen hatten. Sie waren Hults Aufmerksamkeit bis jetzt völlig entgangen, da er sich ausschließlich mit den Onhla befaßt hatte; doch nun hatte er sie entdeckt. Als er versuchte, in sie zu dringen, mußte er feststellen, daß ihr Bewußtsein dunkel und undurchlässig war. In den Seelen der anderen hatten unentzifferbare Gefühle von Menschen gebrodelt. Die Seelen der Neuankömmlinge, obgleich ebenfalls die von Menschen, waren wie Eisblöcke. Nichts bewegte sich in ihnen. Und doch folgten sie den anderen, waren ein Teil von ihnen und im Begriff, sich mit den Wahnsinnigen zu vereinigen. Die Wege der Menschen waren unergründlich. Ob Norioniter oder Fremdweltler, ihr Wesen entzog sich selbst ältester Onhla-Weisheit. Er, der er mehr Zeit unter ihnen verbracht hatte als jeder andere Onhla dieser Welt, mußte erkennen, wie wenig er von ihnen wußte. Doch dies waren Gedanken für eine spätere Zeit. Das Schicksal seines Stammes war jetzt wichtiger. Der Wind hatte nachgelassen, das Gelände war übersichtlich. Tassur und seine Männer folgten unerschütterlich der Fährte, die Clell Basedow hinterlassen hatte. Es war eine verworrene, ungleichmäßig verlaufende Fährte. Bisweilen verlief sie in Schlangenlinien, manchmal sogar im Kreis, aber die Männer wichen nicht einen Schritt von ihr und
folgten jeder Wendung und Biegung mit peinlicher Sorgfalt. Basedow war der Missionsprimär, und es war ihre oberste Pflicht, ihn zu schützen. Als die Spur nach einer Weile regelmäßiger wurde, ließ Tassur die Schlitten von seinen Männern weiterziehen. Die Tiere mußten um jeden Preis geschont werden. Ohne sie würde keiner von ihnen lebend nach Lichtheim zurückkommen. Selbst wenn alle Tiere am Leben blieben, konnte sich die Expedition auf einen strapaziösen Rückweg mit knurrendem Magen gefaßt machen. Nur zwei Vorratsschlitten waren übriggeblieben, und selbst die waren nicht einmal mehr zur Hälfte bepackt. Die übrigen waren verlorengegangen, als die Panik zum zweiten Male zugeschlagen hatte. Die Wirkung war viel stärker gewesen als beim ersten Male. Damals war sie so schnell wieder vorüber gewesen, daß Tassur kaum mitbekommen hatte, wie Basedow plötzlich ganz bleich wurde und glasige Augen bekam. Diesmal war es jedoch nicht zu übersehen gewesen. Tassur wunderte sich, aber er stellte keine Hypothesen auf. Er war kein Prophet, sondern ein Soldat. Was auch immer die anderen so sehr in Panik versetzt haben mochte, er und seine Männer waren davon unberührt geblieben. Vielleicht machte die Nolo-Behandlung sie gegen solche Dinge immun. Als Soldat neigte er natürlich eher dazu, es dem Mut und der Disziplin seiner Männer zuzuschreiben, aber er war sich nicht sicher. So wenig er Orms dickbäuchige Leibgardisten ernst nahm, so sehr schmerzte es ihn, gut ausgebildete Soldaten in heilloser Flucht vor einer unsichtbaren Bedrohung davonrennen zu sehen, ohne auch nur einmal nach ihren Waffen zu greifen. Ein solches Verhalten war eine Schande. Kein Sternverein-Soldat wäre je dazu fähig gewesen. Daß es sich um eine unsichtbare Bedrohung handeln mußte, etwas Übersinnliches, dessen zumindest war er sich sicher. In dieser unheimlichen Eiswüs-
te mit ihrem flimmernden Sternenlicht und ihrem Himmelsleuchten gab es manches zu sehen, was einen Mann dazu bringen konnte, an der Klarheit seiner Sinne zu zweifeln. Felsen und Berge erhoben sich, wo keine waren, und doch nahm das Auge sie wahr. Schauerliche Klänge, hervorgerufen von einem Wind, der ungehemmt über endlose Weiten brauste, trogen das Ohr. Doch die Furcht hatte andere Ursachen. Die Spur verlief jetzt gerade, und die kleine Karawane kam rasch voran. Schon bald kam eine ferne Gestalt in Sicht. Tassur versuchte es erneut mit seinem Kommunikator, doch das Gerät blieb stumm, wie immer, seit sie Sternheim betreten hatten. Aber die Gestalt schien ihre Lichter gesehen zu haben, denn sie blieb stehen, winkte steif mit den Armen und ging langsamer als vorher weiter. Wenig später hatten sie sie eingeholt. Tassur salutierte. Clell erwiderte den Gruß mit einer linkisch anmutenden Geste. »Alle Soldaten anwesend und einsatzbereit, Sir«, meldete Tassur. »Wir haben zwei Schlitten geborgen, jeweils zur Hälfte beladen. Genug Proviant, um sicher nach Norion zurückzukommen, vorausgesetzt, wir kehren auf der Stelle um und nehmen den direkten Weg.« »Zurück? Um das noch einmal zu erleben?« »Um was noch einmal zu erleben, Sir? Ich bemerkte die Panik und versuchte herauszufinden, warum alle anderen davonrannten, aber es war unmöglich. Einer von Orms Leuten wollte mich niederstechen, als ich ihm in den Weg trat.« »Und Sie haben nichts gefühlt, Tassur? Wirklich nichts? Keine plötzliche Furcht?« »Keiner der Soldaten hat irgend etwas gefühlt, Sir.« »Dann danken Sie auf Knien dem Mann, der die NoloBehandlung erfunden hat, Oberleutnant«, sagte Clell mit gequälter Stimme. »Er hat Ihnen unbeschreibliches Grauen erspart.« »Sir, wenn es eine Bedrohung gibt, dann sind wir
bereit, ihr entgegenzutreten. Das ist unsere Pflicht. Was auch immer es ist, gegen ein Sternverein-Kampfkommando hat es keine Chance. Wir werden während des ganzen Rückwegs die Wache verdoppeln.« »Ich sage Ihnen, Tassur, keine Macht der Welt bringt mich dazu, mich noch einmal diesem Grauen auszusetzen. Abgesehen davon finden wir ohne Orms Männer nicht zurück.« »Wir brauchen doch nur auf den Horizont Lichtheims zuzuhalten, Sir.« Gell blieb hart. »Niemals, Oberleutnant. Wenn Sie gefühlt hätten, was ich gefühlt habe, dann würden Sie mich verstehen.« »Wenn wir noch weiter nach Sternheim hineingehen, dann besteht die Gefahr, daß wir alle umkommen, Sir«, sagte Tassur ganz ruhig. »Ich nehme alles in Kauf, wenn ich dadurch verhindern kann, noch einmal … Wie auch immer, ohne Orm können wir auf keinen Fall zurückkehren. Norion ist sein Herrschaftsgebiet, wir haben es gemeinsam verlassen, und jetzt müssen wir auch gemeinsam zurückkommen, selbst wenn wir ihn als gefrorene Leiche in die Stadt tragen müssen. Der Sternverein möchte diesen Planeten nicht verlieren.« »Jawohl, Sir.« »Sehr gut. Wir werden hier eine volle Marschzeit kampieren und uns dann auf Orms Fährte setzen. Er hat etwas von möglichen anderen Rückrouten verlauten lassen, und wenn wir erst wieder zusammen sind, werden wir gemeinsam eine neue Route planen. Was ist übrigens mit den Gefangenen, Tassur? Haben Sie sie auch mitgebracht?« »Nein, Sir. Ihre Tiere sind mit ihnen durchgegangen. Meine erste Sorge galt den Vorräten. Wir haben zwei volle Schlittenladungen verloren. Sie sind in die Spalte gerutscht. Ein paar von den Gefangenen sind ebenfalls abgestürzt.« »Soweit also zu den Onhla«, sagte Gell leise, und lauter, im Befehlston: »Oberleutnant, kommandieren Sie einen
Mann für den Aufbau meines Zeltes ab. Außerdem brauche ich etwas zu essen. Meine Hände sind erfroren, ich kann sie nicht mehr gebrauchen. Ich werde Hilfe benötigen.« »Sofort, Sir. Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte, Sir – vielleicht wäre es klüger, Sie bleiben hier, und wir gehen schon voraus und suchen Orm.. Der Missionsprimär sollte möglichst kein Risiko eingehen.« »Es ist ein notwendiges Risiko, Oberleutnant. Orm wird nur mit dem Missionsprimär verhandeln. Es ist meine Pflicht, mitzugehen.« Das stimmte, aber es war nicht sein wahrer Beweggrund. Er wollte so weit wie nur möglich von dieser lähmenden Angst weg, die seine Sinne derart verwirrt hatte, daß er dem Wahnsinn nahe gewesen war. Die Flucht kostete ihn vielleicht das Leben – seine Hände hatte sie ihn wohl schon gekostet – aber lieber das, als umkehren und sich noch einmal diesem Grauen stellen. Die Berkenson-Behandlung eliminierte nicht nur den Sexualtrieb bei geschlechtsreifen weiblichen und männlichen Personen aller humanoiden Rassen mit einem Index von höher als 0,94 auf der Rassenkognationsskala, sondern führt gleichzeitig zu einer anhaltenden und meßbaren Verminderung der allgemeinen emotionalen Ansprechbarkeit. Wünschenswerte Emotionen wie z. B. Aggressivität können jedoch ohne Schwierigkeit weiterhin selektiv stimuliert werden. (Siehe Anhang und die Tabellen von Keitges.) Die Behandlung hat Langzeiteffekt, ist jedoch ohne weiteres chemisch reversibel. Auch bei wiederholter Behandlung sind bisher keine physiologischen oder psychologischen Nebeneffekte bekannt geworden. (Siehe Anhang I.) Im Gegenteil: Mehrfach behandelte Versuchspersonen scheinen körperlich stärker, geistig stabiler und weniger anfällig gegen emotionale Störungen, wie sie häufig bei Weltraumveteranen zu beobachten sind …
In Anbetracht der eindeutigen Vorteile, die die Berkenson-Behandlung gegenüber herkömmlichen Mitteln zur Aufrechterhaltung von Disziplin und Kampfmoral, insbesondere bei ausgedehnten Raummissionen, aufweist, empfiehlt das Komitee die sofortige Anwendung der Behandlung auf Versuchsbasis. Bericht über Projekt NOLO Sternverein-Ausbildungskommando, Occuch VERTRAULICH
12. Die Umwölkung Am Ende des dritten Marsches erreichte der Sternvereintrupp Orm und zwei seiner Männer, die zusammengekauert um einen Feuerblock saßen. Sie sahen das Leuchten schon von weitem, aber ihre Tiere waren erschöpft und brauchten lange, bis sie die Raststelle erreicht hatten. Die Norioniter hatten in einer Nische am Fuß einer niedrigen Eiswand Schutz gesucht. Der Wind, der jetzt wieder an Heftigkeit zugenommen hatte, fegte über sie hinweg. Die Flamme des Feuerblocks zitterte und flackerte in den eisigen Luftwirbeln. Niemand begrüßte Gell Basedow, als er ermattet in die Nische taumelte und vor der Flamme auf die Knie sackte. Nach langem Schweigen sagte Orm: »Was habt Ihr mitgebracht?« Clell schaute ihn verständnislos an, und Orm schrie: »Wieviel Proviant habt Ihr auf Euren Schlitten? Wieviel Feuerblöcke? Habt Ihr Zelte mitgebracht?« »Ein paar Lebensmittel, ein paar Feuerblöcke. Nicht viel. Der größte Teil des Proviants wurde in alle Winde verstreut. Meine Soldaten haben gerettet, was zu retten war«, antwortete Clell müde. Orm gestikulierte seinen zwei Männern. »Los, helft ihnen die Schlitten abladen und die Zelte aufbauen.« Als die Gardisten hinausstapften, den Oberkörper gegen den Wind gestemmt, sagte Clell: »Egal, wieviel wir mitgebracht haben, es muß auf jeden Fall so lange reichen, bis wir einen anderen Weg zurück nach Lichtheim gefunden haben. Ich jedenfalls werde nicht dorthin gehen, wo dieses Grauen mich noch einmal packen könnte.« »Ich auch nicht. Wir gehen weiter nach Sternheim hinein, bis wir zum Großen Spalt kommen. Wenn wir erst einmal in ihn hinabgestiegen sind, sind wir geschützt, und Nahrung können wir uns durch das Eis holen. Wir gehen durch den Spalt weiter
in Richtung Lichtheim, und dann kehren wir über den Küstenpfad und die Karawanenstraße nach Norion zurück.« »Haben wir überhaupt eine Chance, es zu schaffen?« fragte Clell. Orm antwortete nicht sofort. Nach einer Weile sagte er leise: »Nicht alle von uns. Mit den Vorräten, die wir haben, schaffen wir es höchstens bis zum Großen Spalt, aber nur, wenn wir unsere Rationen auf ein Überlebensminimum kürzen. Aber selbst dann werden wir noch Männer verlieren.« »Das heißt also, wir sind in jedem Fall erledigt.« »Erledigt sind wir erst, wenn alle tot sind«, meinte Orm nüchtern. Clell seufzte und schüttelte den Kopf. »Wenn wir weiter nach Sternheim hineingehen, bis zum Großen Spalt, dann werden einige von uns daran glauben müssen. Daran zweifle ich keinen Augenblick. Wenn wir kehrt machen … wir können nicht kehrt machen … dieses entsetzliche Grauen, was auch immer es ist … ich würde es nicht ein weiteres Mal überstehen. Wir sind am Ende. Ist Euch das nicht klar?« »Wenn Ihr so sicher seid, könnt Ihr ja hierbleiben. Auf diese Weise haben wir anderen einen Esser weniger. Schließlich ist es ja auch Eure Schuld, daß wir überhaupt hier sind«, erwiderte Orm. Und dann plötzlich heftiger, so als würde ihm diese Tatsache erst in diesem Moment so richtig bewußt: »Ihr wart es doch, der mich zu diesem verdammten Feldzug gegen die Erinnerer aufgestachelt hat! Ich hegte keine Haßgefühle gegen sie. Harmlose Schwätzer, das ist alles, was sie sind, aber Ihr habt so lange auf mich eingeredet, daß ich schließlich geglaubt habe, sie wären eine Gefahr für mich.« »Ihr seid aus freien Stücken mitgekommen.« »Ihr habt mich und meine Truppen für Eure Ziele eingespannt und mißbraucht. Ihr wollt die Onhla für Euch arbeiten lassen, wollt Euch Hraggellons Pelze aneignen, beraubt uns unserer Schätze. Und als Bezahlung stopft Ihr
uns unsere Stadt mit dem Abfall anderer Planeten voll! Ich habe Männer verloren und Tiere, das habe ich allein Euch zu verdanken! Ich könnte jetzt in Norion sitzen … ich könnte jetzt …« Er hatte sich so in Wut geredet, daß ihm plötzlich die Stimme wegblieb. Er schnappte keuchend nach Luft, unfähig, sich zu artikulieren. »Ihr habt uns das alles eingebrockt!« sagte er tonlos, erhob sich und baute sich drohend vor Basedow auf. Der Abgesandte des Sternvereins sah nicht einmal auf. Er erwiderte nur mit leiser Stimme: »Das Ding, das uns da verfolgt, stammt nicht von mir.« Orm wollte dem Fremdweltler schon eine Antwort entgegenschleudern, da sah er, daß die Männer wieder zurückkamen und es mehr Fremdweltler als Gardisten waren. Es war nicht der geeignete Zeitpunkt für einen Streit. »Ihr habt recht. Dieses Ding bedroht uns alle. Laßt uns jetzt erst einmal rasten, danach überlegen wir, wie es weitergeht.« Niemand widersprach seinem Vorschlag. Sie schliefen lange. Nach dem Aufwachen nahmen sie eine karge Mahlzeit ein und wärmten sich an einem einzigen Feuerblock. Orm legte seinen Plan in allen Einzelheiten dar, sagte jedoch nichts über die unvermeidlichen Verluste. Clell und die Gardisten unterstützten seinen Plan. Tassur war nicht überzeugt und sagte es frei heraus. Die anderen runzelten verärgert die Stirn, ließen ihn jedoch ausreden. »Ich sage, wir müssen sofort auf dem schnellsten Wege nach Lichtheim zurück. Meine Leute werden auf dem ganzen Rückweg rundum Wache halten. Was auch immer euch bedroht, an uns kommt es nicht vorbei.« »Hat es Euch nicht berührt, daß Ihr so keck darüber sprechen könnt?« fragte einer der Gardisten. »Weder ich noch einer meiner Soldaten hat irgend etwas gespürt. Wir sahen die Furcht der anderen, aber sie kam nicht an uns heran, und sie wird es auch nicht.«
»Es ist leicht, tapfer daherzureden, wenn Ihr nichts gespürt habt, wenn Ihr nicht gefühlt habt, wie dieses Ding in Eurem Kopf herumtastete«, entgegnete der Gardist und erschauderte. »Das ist genau meine Meinung: Wir haben es nicht gefühlt, also kann es uns auch nichts anhaben. Wir aber können es vernichten.« »Nichts und niemand kann dieser furchtbaren Macht widerstehen«, sagte Clell. »Sie verwandelt den Willen in Wasser. Der Geist bricht unter ihrer Berührung zusammen.« »Mit Verlaub, Sir, ich vermute, daß es bloß eine Art Krankheit ist. Sie hat uns nicht alle angesteckt, und diejenigen, die –« »Wollt Ihr mich etwa einen Irren schimpfen?« brüllte Orm wutentbrannt. »Nein, Wohltäter, das liegt mir völlig fern«, beeilte sich Tassur zu beschwichtigen. »Ich wollte nur die Vermutung äußern, daß vielleicht irgendein Gift oder etwas Ähnliches – möglicherweise dieselbe unbekannte Kraft, die unsere Kommunikatoren lahmlegt – für Euer Leiden verantwortlich ist und Euch vielleicht in einen sinnlosen Tod in Sternheim treibt.« »Vielleicht habt ihr Fremdweltler einfach zuviel Angst vor Sternheim«, erwiderte Orm. »Wenn wir genügend Proviant hätten, würde ich keinen Moment zögern, so tief nach Sternheim vorzudringen wie kein Mensch je zuvor. Aber ich bin lange genug Soldat, um ausrechnen zu können, wieviel Proviant wir brauchen, um alle den Großen Spalt zu erreichen, und wir haben nicht einmal ein Drittel davon.« »Rationen kann man kürzen. Wir könnten sie auf ein Überlebensminimum kappen«, wandte Clell nervös ein. »Mit Verlaub, Sir, aber das wären keine Überlebens-, sondern Verhungerrationen. Ich habe auf zwei kalten Wel-
ten gedient und weiß genau, was ein Mensch zum Überleben braucht. Wir haben einfach nicht genügend Vorräte. Wenn wir uns wirklich für den Marsch zum Großen Spalt entscheiden, dann sind wir alle tot, bevor wir angekommen«, resümierte Tassur nüchtern. Betretenes Schweigen stellte sich ein. Orm starrte Clell und die Gardisten an. Sie hatten das Grauen gespürt. Die Soldaten des Sternvereins nicht. Sie konnten es nicht verstehen. Tassur blickte die Führer an und wußte, daß er gegen eine Wand anrannte. Vernunft war eine unwirksame Waffe gegen die Urangst, die die anderen gespürt hatten. Er entschloß sich zu einem letzten Vorstoß, um seine Männer und die Mission zu retten. »Es gibt noch eine Möglichkeit – wenn ich sie äußern darf«, stieß er hastig hervor. »Sprecht«, sagte Orm. »Aus irgendeinem Grund hat dieses Ding keine Wirkung auf uns, die Soldaten. Vielleicht ist es machtlos gegen uns. Vielleicht könnten wir noch einmal umkehren, es aufspüren und vernichten. Dann könnten alle sicher zurückkehren.« »Wie wollen Sie das anstellen – es aufspüren?« fragte Clell. »Wir marschieren zurück zu der Lagerstelle an der Gletscherspalte und suchen es dort. Vielleicht befindet es sich immer noch in der Umgebung.« Clell nickte nachdenklich. Dies war der bisher vernünftigste Vorschlag, der einzige, der einigermaßen realistisch schien und Erfolg versprach. Während er noch überlegte, sprach Orm. »Ich bin einverstanden. Aber Ihr müßt sofort aufbrechen«, sagte der Wohltäter. Clell pflichtete ihm sogleich bei. »Wir nehmen Proviant für sieben Märsche mit, den Rest lassen wir hier«, sagte Tassur. »Sehr wahrscheinlich können wir an der Lagerstelle noch einiges von dem verstreuten Proviant bergen.«
Er rief seine Männer zusammen und beriet sich kurz mit ihnen. Dann brachen sie auf – zwölf gegen die Kälte und ein namenloses Grauen. Clell starrte ihnen nach, bis die Dunkelheit sie verschluckt hatte, dann wandte er sich um und zog sich an die Wärme des Feuers zurück. Seine Hände schmerzten fürchterlich, ein Handicap, das er vor Orm zu verbergen suchte. Er ahnte, daß der Wohltäter von Norion wenig Rücksicht auf einen Behinderten nehmen würde. Es würde nicht allzu schwierig sein, seinen Zustand zu verheimlichen, nur beim Essen würde er Schwierigkeiten haben. Aus diesem Grund beschloß er, allein in seinem Zelt zu essen. »Tapfere Männer, Eure Soldaten«, sagte Orm. »Ja, das sind sie unbestreitbar. Wenn dieses Ding auffindbar ist, dann werden sie es aufspüren und vernichten. Sie fürchten sich vor nichts.« »Wenn es auffindbar ist.« Clell sah überrascht auf. »Natürlich ist es auffindbar. Ich habe zwar noch nie in meinem Leben eine solche Angst verspürt, aber das heißt doch nicht, daß sie aus einer Quelle kommt, die wir niemals finden können. Hier draußen gibt es offensichtlich Wesen, die wir nicht kennen, die über Kräfte verfügen, die wir nicht oder noch nicht erfassen können. Ich garantiere Euch, Wohltäter, sie werden sie finden und vernichten, und wir werden alle unversehrt nach Norion zurückkehren.« »Eure Soldaten sind jetzt schon tote Männer. Er wird sie hinwegfegen. Dann wird er zu uns kommen und uns ebenfalls vernichten, wenn wir noch länger hierbleiben.« »Er? Wen meint Ihr mit er?« »Den Angstmacher. Ihr habt die Angst genauso stark verspürt wie ich. Auch Ihr seid Hals über Kopf davongerannt. Versucht jetzt nicht so zu tun, als wärt Ihr genauso tapfer wie Eure Soldaten.« Gell schaute ins Feuer und verzog sein Gesicht zu einem spöttischen Grinsen. »Ich habe ja gar nicht vor, den Helden zu spielen. Ich habe noch nie
solche Angst gehabt wie an dem Gletscherspalt; ich habe lediglich die Absicht, von jetzt an wieder meinen Verstand zu gebrauchen. Wenn wir jetzt losgehen, sind wir tote Männer. Und es wird nicht irgendein gestaltloses Grauen sein, das uns dann tötet, sondern unsere eigene kopflose Panik.« »Was wißt Ihr denn schon?« brummte Orm verächtlich. »Ihr seid nicht von Hraggellon, Ihr wißt nichts von seinen Geheimnissen und Eigenarten und würdet Euch auch gar nicht erst die Mühe machen, sie zu ergründen, weil Ihr uns insgeheim alle für Tiere und Wilde haltet. Das Ding, das die Angst in uns bewirkt, könnte der Geist eines verstorbenen Onhla sein, der gekommen ist, seine Kinder zu rächen. Ich habe schon von solchen Dingen gehört und glaube daran. Oder die Frostdämonen, die auf den Winden Sternheims reiten und Schlafenden die Warme aus dem Blut saugen. Es könnte einer von ihnen sein, der uns in die Erschöpfung treibt, um uns zu einer leichten Beute zu machen. Und die Erinnerer …« »Die Erinnerer?« fragte Clell ungläubig. »Wir haben Erinnerer getötet, und ihre Alten, die Evoden, wissen Wege, wie man gewisse Dinge herbeiruft … unsichtbare Dinge, die durch die Dunkelheit schweben.« Clell stand auf. Er fing an zu lachen. Die Situation war absurd. Ein Operettenkönig, ein hinterwäldlerischer Tölpel, der wie ein Kind von Dämonen, unsichtbaren Geistern und ähnlichem Firlefanz lallte, während die Kälte sie wie eine eiserne Faust umschlossen hielt. Sie schwebten in unmittelbarer Gefahr, zu verhungern und zu erfrieren, und er betete eine Kinderlitanei von Schauermärchen herunter. Er stand schwankend da, auf tauben, halberfrorenen Füßen und sagte: »Orm … ein Kleinkind, das von Geistern faselt … und so was nennt sich Herrscher … Ihr habt Euch wirklich nicht sehr weit von Euren Tormagon-Vorfahren weg-
entwickelt. Frostteufel und die Geister verstorbener Onhla …« Erneut begann er zu lachen, lauter diesmal und spöttischer als vorher. »Ich bin der Herr von Norion, und niemand darf es wagen, mich zu verspotten!« schrie Orm außer sich. Mit einer blitzschnellen Bewegung riß er seinen Dolch aus der Scheide und rammte ihn bis ans Heft in Clells Brust. Clells Lachen erstickte in einem harten Krächzen. Er stieß einen leisen Seufzer aus, taumelte, blieb jedoch einen Moment lang aufrecht stehen und starrte Orm mit einem Ausdruck größter Verblüffung an. Dann stürzte er vornüber, direkt auf den brennenden Feuerblock. Einer der Gardisten sprang zu ihm, doch Orm hielt ihn zurück. Der Gestank brennenden Stoffes machte sich breit. »Lade den Proviant auf«, sagte Orm zu dem Gardisten, und zu dem anderen gewandt: »Hol’ die Tiere. Wir reiten sofort zum Großen Spalt.« Tassurs Gruppe bewegte sich mit militärischer Disziplin vorwärts und erreichte das Lager am Ende des dritten Marsches. Sie fand ein wildes Durcheinander von Spuren und Fußabdrücken vor, darunter ein höchst merkwürdiges Paar Fußspuren, das sie alarmierte. Sie waren riesig, eindeutig humanoid, und ihr Besitzer war allein von Sternheim hergekommen und wieder nach Sternheim zurückgegangen, jedoch in einer Richtung, die vom Großen Spalt wegführte. Aber als das Wesen das Lager verlassen hatte, war es nicht länger allein gewesen, wie die neben ihm verlaufenden Fußspuren junger Onhla verrieten. Überlagert waren die Spuren darüber hinaus von den Kufenabdrücken eines Schlittens, der nur leicht beladen sein konnte. Die Spuren waren auf dem hartgefrorenen Boden nur schwach ausgeprägt, doch deutlich genug, um Tassurs geschultem Auge nicht zu entgehen.
Während er dabei war, die Spuren zu analysieren, kam der letzte Suchtrupp mit der Nachricht zurück, daß noch eine weitere Fährte existiere, weitab vom Lager, in entgegengesetzter Richtung und parallel zur ersteren verlaufend. »Ein Paar von diesen weißen Biestern, denen wir in dem Onhla-Lager das Fell über die Ohren gezogen haben«, sagte einer der Soldaten. »Das heißt, daß die jungen Onhla von irgend jemandem weggebracht worden sind, der zusammen mit einem Paar ihrer Jagdtiere unterwegs ist. Es muß sich um einen erwachsenen Onhla handeln, der uns irgendwie durch die Lappen gegangen ist«, antwortete Tassur. »Aber ein so riesiges Wesen? Kann das denn ein Onhla sein? Wenn man von den Fußabdrücken auf die Körpergröße schließt, dann ist dieses Ding riesig – größer als jeder Onhla, den wir je gesehen haben.« »Wir wissen nichts über die Wachstumsgrenzen der Onhla, Soldat.« »Könnte es nicht was anderes sein? Irgendein Tier, das bisher noch nie jemand zu Augen bekommen hat?« fragte ein anderer Soldat. »Das ist nicht auszuschließen. Auf einer Welt wie dieser ist alles. möglich«, erwiderte Tassur. »Glauben Sie, daß dieses Wesen die Ursache für die Panik der anderen sein könnte?« fragte Soldat Graff. Tassur grübelte einen Moment über die Frage nach, dann schüttelte er langsam den Kopf. »Ich habe noch nie von einem Wesen gehört, das in der Lage wäre, einen derartigen Einfluß auf den Geist eines Menschen auszuüben. Man sagt zwar, die Onhla besäßen die Fähigkeit, auf diese Weise mit ihren Tieren zu kommunizieren, aber es sind mir keine Fälle bekannt, wo sie so etwas mit Menschen gemacht haben.« Casserio, der Technikspezialist, meldete sich zu Wort: »Vielleicht sondert es einen bestimmten Geruch ab oder eine Art Vibrationen oder so etwas. Erinnern Sie sich noch an die stummen Sänger von Beta Zotra?«
»Ja. Aber sie beeinflußten uns sogar, obwohl wir unter Nolo standen. Die Panik, die die anderen packte, hat uns überhaupt nicht berührt, und ich glaube, daß wir das der NoloBehandlung zu verdanken haben«, erwiderte Tassur. »Ein Geruch oder Vibrationen wären genauso leicht zu uns durchgedrungen, wie zu den anderen. Dieses Ding ruft emotionale Reaktionen hervor, deshalb hat es uns auch nichts anhaben können.« »Irgendwie kann dieses riesige Wesen also auf den menschlichen Geist einwirken und Angst erzeugen. Hört sich einleuchtend an«, sagte Casserio. »Ich habe mein ganzes Leben noch keine derart verängstigten Menschen gesehen.« »Den Ringen sei Dank für Nolo«, murmelte Graff. »Das kann man wohl sagen. So, wir haben also jetzt die Spur dieser riesigen Kreatur, was auch immer es sein mag, der jungen Onhla und zweier Jagdtiere. Solange uns die Furcht nichts anhaben kann, haben wir eine Chance, ihn zu erwischen. Die Spur ist nicht älter als zwei Wachzeiten, und sie haben einen Schlitten bei sich … keine Haxopodenspuren?« »Keine, Oberleutnant«, antworteten gleich mehrere Stimmen auf einmal. »Dann kommen sie auch nicht schnell voran. Wir werden hier kampieren, den Tieren eine Extraportion Futter und genug Zeit zum Ausruhen gönnen und in zehn Chronometerstunden mit Volldampf losmarschieren«, sagte Tassur und bellte sogleich seine Befehle hinaus: »Casserio, Sie stellen die Wache auf. Zwei Männer für je zwei Stunden, und sie sollen auf Trab bleiben. Sobald sich irgend etwas nähert, schlagen sie Alarm und eröffnen sofort das Feuer. Kekring, Vuissens und Peyer, Sie suchen die nähere Umgebung nach allem Brauchbaren ab. Wir brauchen alle Rationen und Feuerblöcke, die wir bekommen können. Das Zeug liegt in der ganzen Gegend verstreut. Schaffen Sie es
her und laden Sie es auf einen Schlitten. Astrur, Sie und Graff bauen die Zelte auf und machen Feuer. Eine warme Mahlzeit jetzt und eine zweite, wenn wir aufbrechen; außerdem eine für jeden, der auf Wache geht. Wir haben reichlich Arbeit vor uns.« Sholot und Beleg brachen als erste zusammen. Sie stürzten zur Erde und begannen unkontrolliert zu zucken. Hult hieß die kleine Karawane anhalten, schickte die anderen in sichere Entfernung und kniete sich hin, um die zwei Jungen zu untersuchen. Es war die Schüttelkrankheit. Hult kannte die Symptome genau. Er befand sich im Nithbrog und war daher immun, nicht so die jüngeren Mitglieder des Stammes. Wenn die Krankheit auf sie übergriff, dann war das Ende der Onhla gekommen. Er rief Narik und Dengar. Die beiden Jagdtiere kamen sofort an seine Seite gesprungen, begierig, seine Botschaft zu hören. Er legte die Hände auf ihre breiten Schädel und pflanzte seine Gedanken in ihren Geist, behutsam, doch unauslöschlich. »Ich muß bei Sholot und Beleg bleiben. Führt die anderen zu der Höhle bei den Felsenriffen.« Er spürte, wie ihre Bereitschaft und Zuneigung ihm entgegenströmte und erwiderte ihre Gefühle. »Ein Nahrungsversteck an dem langen Abhang, ein zweites bei der Kerbe. Erinnert ihr euch daran?« Sie bejahten, und er fuhr fort: »Dann bringt den Stamm in Sicherheit und wartet auf mich in der Höhle. Ich werde kommen.« Aus seinen geistigen Zügeln entlassen, sprangen die Koomiok davon und eilten zu den wartenden Jungen. Hult verschmolz seinen Geist mit ihrem, befahl ihnen, den Anweisungen ihrer beiden Führer strikt zu folgen, sorgfältig auf den Schlitten achtzugeben, der die geborgenen Gorwolpelze trug und ebenso sorgfältig ihre Spuren zu verwischen. Er spürte ihre Verwirrung angesichts dieser plötzli-
chen Wendung der Lage und dämpfte ihr wachsendes Unbehagen, indem er ihnen die Vorstellung vor Augen führte, wie sie alle wieder zu einem Festschmaus im großen Höhlenkomplex bei den Felsenriffen vereint wären, die alten Legenden hörten und gemeinsam große Jagden planten. Ihre Furcht verblaßte in der Glut der Vorfreude, und sie sahen in freudiger Erregung dem Aufbruch entgegen. Er entließ sie mit der Zusicherung, den Kontakt mit ihnen aufrechtzuerhalten, bis sie im sicheren Schutz der Höhle wären. Als ihre Gegenwart verblaßt war, studierte Hult die beiden kranken Jungen, wobei sich sein Geist verdüsterte. Die Schüttelkrankheit war seit langem auf Hraggellon in Vergessenheit geraten, nun war sie durch den verstärkten Kontakt mit Menschen und Fremdweltlern wieder aufgelebt. Wo auch immer sie waren, in ihrem Schlepptau folgten Tod und Vernichtung. Sie schienen vom Schicksal dazu bestimmt, alles zu zerstören, was sie berührten, ob sie es wollten oder nicht. Sholot trat als erster in den langen Traum. Er hörte auf zu zittern, sein Atem wurde schwächer. Er sprach, doch seine Worte waren wirr und ergaben keinen Sinn. Hult fühlte sachte in sein Bewußtsein und sah, daß alles in seinem Innern verwirrt war. Er berührte die feinen Fasern einer Stimmung, tastete sich behutsam tiefer in Sholots Geist und flößte ihm sanft Frieden ein, während das Leben um ihn herum erlosch. Als das endgültige Schweigen kam, zog er sich zurück und wandte sich Beleg zu. Sie war stärker. Als ihre Geister sich trafen, spürte er in ihr eine solche Entschlossenheit, daß er sicher war, sie würde durchkommen. Doch plötzlich, mit einem Schlag, zerbrach auch sie. Die Kraft in ihr zerstob wie Rauch im Winde, und Schweigen senkte sich über ihn und seine Einsamkeit. Er zog sich aus ihrem Geist zurück und blieb eine Weile neben ihren Leichnamen sitzen. Er fühlte Mitleid, ein Gefühl, das neu
für ihn war. Behutsam hob er ihre Körper in Sitzstellung und drehte sie mit dem Gesicht nach Sternheim. Dann zog er einen Feuerblock aus seinem Umhang, entzündete ihn mit einem kurzen Schnippen seiner riesigen Finger und stellte das Traumfeuer so zwischen ihre Körper, daß es die Spitze eines Dreiecks bildete – eine Pfeilspitze, die in die tiefe Dunkelheit gerichtet war. Eine Weile saß er noch bei ihnen und lauschte, den Geist ganz dem ihren geöffnet; doch sie blieben stumm. Sie waren zu früh gegangen, um irgend etwas zu hinterlassen. Er dachte an den Stamm, dahingeschlachtet von Mörderhand, an die Jungen, dezimiert durch Unglück und nun durch die Schüttelkrankheit, an sich selbst, im Nithbrog und unfähig, dem Stamm neues Leben zu geben, lediglich in der Lage, zu führen und die zu beschützen, die schon lebten. Er fühlte eine große Leere. Dann fühlte er plötzlich noch etwas – etwas Kaltes drang in seinen geöffneten Geist. Er saugte es in sich, studierte es und erinnerte sich. Es war das Bewußtsein jener kleinen Menschengruppe, die sich anders verhielt als die anderen. Es waren die Undurchdringlichen. Sie waren sehr nah. Auch wenn er nicht in ihr Bewußtsein eindringen konnte, er konnte sie orten und jede ihrer Bewegungen verfolgen. Er tat es und stellte fest, daß sie sich bei der Lagerstelle aufhielten, von der die anderen geflohen waren. Sie verhielten sich still und bewegungslos. Keiner von den Ängstlichen war bei ihnen. Hult mußte mehr wissen. Zwar wußte er die Jungen jetzt in sicherer Entfernung, aber Menschen stellten immer eine Gefahr dar, und diese waren zu nah. Vielleicht waren sie sogar im Begriff, die Jungen zu verfolgen. Er sandte seine Kräfte aus, und seine feinen Fühler berührten jene verschlossenen und umwölkten Geister und tasteten behutsam nach einer Lücke, wo sie Einlaß finden konnten. Die meisten von ihnen schliefen, nur wenige waren
wach. Das zumindest erspürte Hult sofort. Jeden einzelnen von ihnen tastete er ab, doch er fand nichts. Und dann, ganz plötzlich, wie ein Schlüssel, der in einem Schloß klemmt und sich mit einem Mal umdrehen läßt, lag alles offen vor ihm. In diesen Menschen war weder Furcht noch Lust. Sie spürten seine Gegenwart nicht. Hult tastete und fühlte machtvolle Zwänge in ihnen, ungeheure Zerstörungstriebe, schlummernder Glut gleich, die, einmal entfacht, auflodern würde zu verheerender, alles hinwegzehrender Brunst. Er fühlte eiserne Disziplin und Selbstkontrolle, die selbst angesichts des Todes nicht zusammenbrechen würde. Es waren Menschen, und in ihnen steckte all die Vielfalt und Verzweigtheit menschlichen Seins, dennoch war alles in ihrem Bewußtsein irgendwie einfach und klar. Hult stieß tiefer vor und entdeckte, daß sie so gemacht worden waren. Andere hatten ihnen dies angetan, und sie hatten sich willig gefügt. Betroffen von dieser neuen Erkenntnis menschlichen Seins zog er sich aus ihnen zurück. Was sie seinem Stamm angetan hatten, war nicht schrecklicher als das, was sie sich selbst antaten und antun ließen. In sich fühlte er großes Mitleid mit solchen Wesen, die zugleich so stark und doch so schwach waren, doch sein Mitleid vermengte sich mit tiefer Furcht, als er sich ausmalte, zu welchen Taten diese armen Kreaturen von ihren verstümmelten Geistern verleitet werden mochten. Sie waren zu allem fähig. So viele Gefühle wie jetzt hatte er noch nie zuvor erfahren … Mitleid, Bedauern, Einsamkeit und Furcht. Der Beginn des Nithbrog, das Erblühen neuer, unbekannter Kräfte brachte schreckliche Pein mit sich. Der Preis innerer Weisheit war hoch. Hult dachte nicht lange über seine Probleme nach. Er nahm Kontakt mit dem Stamm auf. Alle waren wohlauf. Dengar führte die Gruppe an, Narik bildete die Nachhut.
Hult besuchte jeden einzelnen von ihnen. Sie waren erleichtert und guten Muts. Alle bis auf eine Ausnahme: Roilan. Sein Geist flackerte für einen Moment wie das Himmelsleuchten am Horizont von Lichtheim. Hult hielt für einen Augenblick inne und lauschte, ohne zu kommunizieren. Das Flackern ging vorbei, zurück blieb nur der Gedanke an Nahrung, baldige Rast, das dumpfe Bewußtsein von Schlittenriemen, die in die Schulter schnitten, und von Themle, der neben ihm vorwärtsstapfte. Hult atmete auf. Vielleicht war alles gut. Danach verließ er sie und wandte sich erneut den Menschen zu. Nun wußte er einen Weg in ihr Bewußtsein, und er wußte auch, daß ihnen seine Gegenwart verborgen blieb. Vorsichtig drang er in sie, legte Schicht um Schicht ihres Bewußtseins frei, durchstieß behutsam Barriere um Barriere. Bald würde er den Grund ihrer Mission erfahren. Tassur war schon nach der Hälfte der letzten Wache aufgestanden. Er inspizierte die Nahrungspakete, die sorgfältig auf die Schlitten gepackt waren. Er war zufrieden; es war mehr, als er erwartet hatte. Die Haxopoden schliefen tief und fest, zusammengerollt zu dicken Pelzkugeln. Ihr Atmen war kaum zu hören unter ihren dicken, zottigen Fellen. Das ist genau die Art von Isolierung, wie man sie braucht, wenn man in Sternheim überleben will, dachte er. Sie schlafen eine volle Wachzeit an ein und derselben Stelle, und wenn sie aufstehen, ist das Eis unter ihnen nicht einmal angeschmolzen. Bin froh, wenn ich diese Mission endlich hinter mir habe, dachte er. Die dritte Kaltweltmission hintereinander, das reicht. Bin jetzt fällig für eine Trainingsschicht auf Occuch. Vielleicht schicken sie mich danach irgendwohin, wo es warm und trocken ist. Selbst Xhanchos wäre mir jetzt recht, nach dieser elenden Kälte hier. Auf Xhanchos ist es warm, warm und trocken, und dann die blaue Stadt … und
die Pyramiden, eine neben der anderen … Mit einem energischen Ruck riß er sich aus seinen Träumereien. So was ging einfach nicht an, daß er hier herumschwärmte, nicht auf einer so schweren Mission, bei der die ganze Verantwortung auf seinen Schultern lastete. Er war noch nie ein Tagträumer gewesen, und dies war weder der richtige Ort noch die richtige Zeit, mit so etwas anzufangen. Immer noch wütend über sich selbst schlenderte er an einem Zelt vorbei und hörte leises Rascheln und unterdrücktes Murmeln. Er warf einen Blick hinein, aber drinnen schlief alles tief und fest. Das kommt davon, wenn man herumträumt, dachte er. Aber ein Mann, der unter Nolo steht, träumt nicht. Und schon gar nicht ein Sternverein-Offizier, der eine schwere Mission zu erfüllen hat. Irgendeine fremde Kraft mußte da auf sein Bewußtsein einwirken, anders war das nicht zu erklären. Etwas wirkte da auf sie alle ein; es rief keine Panik bei ihnen hervor, wie bei den anderen, sondern Zerstreutheit. Und in Sternheim war Zerstreutheit tödlich. Tassur traf seinen Entschluß sofort. Sie durften keine Zeit mehr verlieren. Sie mußten dieses Onhla-Untier aufstöbern, es töten, sie alle töten mitsamt ihren Tieren und die Gorwolpelze zurückbringen. Er machte kehrt und ging zu den Zelten. Die Truppe mußte sofort in Marsch gesetzt werden. Hult wußte nun, warum sie gekommen waren, und daß er sie aufhalten mußte. Ihre Waffen waren zu stark, er konnte sie nicht allein mit seiner Körperkraft überwinden, aber er verfügte selbst über eine Waffe ganz besonderer Art. Er bohrte sich in ihr Bewußtsein und tastete sich fieberhaft zu der Schicht vor, die Willenskraft und Erinnerungsvermögen beherbergte, wild entschlossen, sein Werk zu vollenden, bevor alle aufwachten und das kollektive
Bewußtsein stärker und widerstandsfähiger wurde. Er hatte Erfolg. Auf Tassurs donnerndes Weckkommando hin taumelten die Soldaten des Sternvereins schlaftrunken, aber mit schußbereiten Waffen aus ihren Zelten und glitten träge in Formation. Tassur sah zu, registrierte alles, doch mit einem Mal verstand er nichts mehr. Plötzlich war ihm alles klar. Er spürte, wie Zorn in ihm aufwallte und ihm fast die Stimme nahm. Diese Dummköpfe! Diese hirnlosen, faulen, verdammten Dummköpfe! »Wir schlafen hier neuneinhalb Chronometerstunden wie die Murmeltiere, während der Rest unserer Gruppe im finstersten Sternheim sitzt und auf diese Vorräte hier wartet!« brüllte er. »Auf geht’s, meine Herren, aber mit Volldampf, sage ich! Ich will, daß sofort heiße Rationen bereitet werden. Dann runter mit den Zelten, Tiere satteln, Schlitten beladen! Wir marschieren sofort nach dem Erstmahl los. Habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?« »Jawohl, Sir«, kam es unisono aus elf Kehlen. Als sie sich an ihre Pflichten begaben, sagte Graf f verwundert zu Casserio: »Möchte mal wissen, wieso der sich plötzlich so aufregt.« »Keine Ahnung. Hat er denn nicht ein Zehnstundencamp angeordnet?« Graff runzelte die Stirn, dachte über die Frage nach und schüttelte den Kopf. »Ich kann mich nicht erinnern. Hat er es denn nun angeordnet?« »Ich meine, ja. Vielleicht …« »Vielleicht nahmen wir das auch nur an. Normalerweise hat Tassur etwas gegen lange Rastpausen. Der ist immer gerne auf Trab, wenn er einmal auf Mission ist.« Casserio nickte. »Das stimmt. Hätte selber drauf kommen müssen. Aber bei den strahlenden Ringen, wie sind wir denn dann bloß auf die Idee gekommen, wir würden
eine Zehnstundenrast machen? Der Primär läßt uns dafür teeren und vierteilen!« »Die Kälte schafft uns langsam, aber sicher. Uns frieren die Gehirne ein.« Hult verharrte in ihrem Bewußtsein, aber er hielt seine Anwesenheit verborgen. Er bekam jeden ihrer Gedanken mit, doch er selbst verhielt sich stumm und reglos. Sie schöpften keinerlei Verdacht. Er blieb so lange in ihnen, bis sie ein gutes Stück desselben Wegs zurückmarschiert waren, auf dem sie auch gekommen waren; erst dann verließ er sie. Sie würden ihm jetzt nicht mehr folgen. Er und sein Stamm existierten nicht mehr in ihrem Bewußtsein, hatten nie darin existiert. Die Jungen waren in Sicherheit. Die Onhla würden leben. Hult war zufrieden. Er erhob sich und machte sich auf den Weg zu den Höhlen seines Stammes. Unterwegs stieß er auf die sitzende Gestalt Roilans, dessen Blick auf Sternheim und den langen Traum gerichtet war. Ein Stück weiter fand er Themle in derselben Stellung vor. Aber der Rest lebte und erwartete ihn am Höhleneingang. Tassur und seine Männer erreichten die Lagerstelle, fast ohne es zu merken. Sie sahen weder Licht noch irgendein Lebenszeichen. Die Tiere waren fort, der Proviantschlitten stand leer da. Tassur befahl den Männern, in Deckung zu gehen. Mit zwei anderen ritt er in das Lager. Dort fand er die Leiche des Missionsprimärs. Clell Basedow lag steifgefroren auf dem eisigen Boden, mit dem Gesicht nach unten. Sie drehten ihn auf den Rücken, so wie man eine umgekippte Statue umdrehen würde. Sowohl Kekring als auch Graff stießen einen erstickten Schrei aus, als sie sahen, was der Feuerblock angerichtet hatte. Die linke Hälfte von Base-
dows Brustkorb war bis auf die Knochen verbrannt. Durch das Herumwälzen der Leiche war überdies ein verkohltes Stück Schulter abgebrochen. »Was ist hier geschehen, Oberleutnant? Wo sind die anderen?« fragte Kekring. Tassur kniete sich hin und deutete auf etwas Weißes, das spitz aus Basedows Brust, direkt unterhalb des Brustbeins, herausragte. Es war vom Feuer unversehrt geblieben. Er faßte dahin, wo die Leiche gelegen hatte, und brach mit einem kräftigen Ruck den Griff eines Dolches vom Boden los: Er war genau über der Klinge abgebrochen. Die zwei Teile ließen sich haargenau aneinanderfügen. »Sie haben ihn umgebracht und sich mit dem Proviant aus dem Staub gemacht. Kekring, Sie gehen und holen die anderen. Graff, Sie fangen sofort mit dem Spurensuchen an. Ich werde Ihnen noch ein paar Männer schicken, die Ihnen dabei helfen«, sagte Tassur, ohne aufzustehen oder den Blick zu heben. Als die beiden davoneilten, erhob er sich. Er fühlte fast so etwas wie Erleichterung. Die Dinge lagen jetzt ganz klar. Er hatte einen Auftrag zu erfüllen, wie er einem Sternverein-Soldaten angemessen war, und er würde ihn erfolgreich zu Ende führen. Diese seltsame Verwirrung, die die ganze Expedition von Anfang an umgeben hatte, verschwand, als hätte ein kalter Wind sie weggeblasen. Ein einziger, klarer Imperativ loderte in seinem Gedächtnis auf wie ein Leuchtfeuer: Der Missionsprimär ist ermordet worden – Mörder aufspüren und vernichten. Der Sternverein kannte keine andere Gerechtigkeit, und die Soldaten waren diejenigen, die ihr Geltung verschafften. Die Tat war schnell rekonstruiert. Die Aufgabe war klar und eindeutig. Der Dolch gehörte Orm; sie alle hatten ihn in seiner Hand gesehen, wenn er aß. Die anderen zwei waren bei ihm, waren also mitschuldig. Sie alle würden be-
straft werden. Niemand, nicht einmal ein König, durfte ungestraft Hand an einen Sternverein-Repräsentanten legen. Sie schlugen ihre Zelte auf, aßen und ruhten sich aus, um neue Kräfte zu sammeln. Nach dem Erstmahl inspizierte Tassur persönlich die Ausrüstung jedes einzelnen Mannes und jedes Tier. Als die Inspektion beendet und zu seiner Zufriedenheit ausgefallen war, versammelte er die Soldaten um sich und sprach zu ihnen. »Wir sind als Sicherheitskräfte der Handelsmission auf diesen Planeten gekommen. Nun ist der Missionsprimär ermordet worden, und es ist unsere Pflicht, seine Mörder zu finden und zu bestrafen. Das ist eine Aufgabe, die besser zu uns paßt, als Proviantschlitten durch Sternheim zu schleppen«, führte er aus und blickte dabei jedem einzelnen von ihnen in die Augen. Sie nickten und bekundeten durch entsprechende Ausrufe ihre Zustimmung. Dann fuhr er fort. »Jeder trägt seinen eigenen Proviant. Wir lassen den Schlitten hier zurück und nehmen die Haxopoden als Reittiere für den Notfall mit. Der Schlitten ist bei dieser Temperatur zu schwer zu ziehen. Er würde uns bloß hinderlich sein. Orm und seine Gardisten haben einen nicht unerheblichen Vorsprung, aber sie marschieren ohne Ersatztiere. Sie haben eine gut sichtbare Fährte hinterlassen. Wir müßten sie innerhalb von zwölf Märschen eingeholt haben. Casserio, Sie wollen etwas fragen?« »Ihre Spur führt Richtung Sternheim, Oberleutnant – könnte das vielleicht ein Trick sein? Niemand, der klar im Kopf ist, marschiert noch tiefer nach Sternheim hinein, nicht einmal, wenn er auf der Flucht ist. Ich finde es schon seltsam, daß sie überhaupt bis hier marschiert sind. Kommt Ihnen das nicht auch irgendwie merkwürdig vor?« Tassur zögerte einen Moment. Er hatte das vage Gefühl, als läge ein Schleier über seinem Bewußtsein, etwas Milchiges,
Wolkiges, das sein Erinnerungsvermögen und seinen Verstand irgendwie blockierte. Es gab einen Grund, warum die Expedition sich so weit in diese mörderische Wüste aus Dunkelheit und Eis vorgewagt hatte. Er runzelte angestrengt die Stirn, in dem Bemühen, sich zu erinnern, und haschte nach dem ersten Funken einer Antwort, der plötzlich irgendwo in ihm aufblitzte. »Es gibt da noch einen anderen Weg, Casserio … Orm sagte etwas von einem sicheren Weg entlang des Großen Spalts. Er glaubt wahrscheinlich, wir würden ihm nicht weiter nach Sternheim folgen … und er könnte uns nach Norion zurück und uns dort in einen Hinterhalt locken. Deshalb hat er diesen Weg gewählt.« Je mehr er redete, desto sicherer war er, daß es so und nicht anders gewesen sein mußte. Die anderen hörten ihm zu und sahen sich einen Moment lang verwirrt an. Doch dann wurde plötzlich alles klar. Sie schüttelten die Köpfe ob ihrer eigenen Vergeßlichkeit. Natürlich – Orm hatte mehrmals von der Strecke entlang des Großen Spalts gesprochen – von natürlichen Hindernissen und Gefahren hatte er geredet, denen man damit ausweichen könne – Gletscherspalten, richtig, das war es gewesen. Nun, Orm würde sehr bald feststellen müssen, daß es größere Gefahren als Gletscherspalten gab, Gefahren, denen keiner entgehen konnte. Der Sternverein rächte die Seinen unerbittlich, und dieser Rache entging keiner. »So, damit wäre dann alles klar«, resümierte Tassur. Die anderen verfielen in aufmerksames Schweigen. »Wir folgen ihrer Spur in größtmöglichem Marschtempo. Sobald wir sie erwischen, haben wir zusätzlichen Proviant und genügend Tiere, so daß der Rückmarsch nach Norion kein besonderes Problem mehr darstellen dürfte. So, jetzt die Zelte zusammengepackt und aufgeladen. Wir brechen sofort auf.«
Auch zwei volle Dunkelzeiten nach dem Aufbruch der Expedition war noch kein Sternverein-Angehöriger zurückgekehrt. Die einzigen verbürgten Überlebenden waren sieben hraggellianische Gardisten, von denen drei starben, kurz bevor sie Norion erreichten. Die anderen gaben einen zusammenhanglosen, verworrenen Bericht, in dem mehrfach die Rede war von einem unerklärlichen, lähmenden Grauen, das plötzlich über alle gekommen sei und sie mit solcher Panik erfüllt habe, daß sie in alle vier Winde zerstoben seien. Es gibt keinerlei Informationen über das Schicksal des Primärs, des Sicherheitsoffiziers sowie der Sicherheitskräfte. Eine Rettungsexpedition zu organisieren scheint aussichtslos. Kos Lalor, Tech Eins/Stellvertretender Primär Vierzehnte Hraggellon-Mission
13. Der Anfang Brinbel war die letzte der Jungen. Hult setzte sie neben die 50 anderen, so daß ihre gebrochenen Augen nach Sternheim gerichtet waren, und entfachte den Feuerblock zu ihren Füßen. Er blieb so lange bei ihr, bis der Feuerblock kalte Asche war. Es dauerte lange, bis er sich erhob und seine Schritte der Höhle zuwandte. Narik und Dengar folgten ihm langsam und mit gesenktem Kopf. Sie waren niedergeschlagen. Sie hatten die Veränderung gespürt, die sich in ihrem Herrn vollzog, als sein Volk dahinschwand, einer nach dem andern, hinweggerafft von jenem zitternden, gnadenlosen Gifthauch, der ohne Warnung zuschlug. Sie waren besorgt. Sie fürchteten den Tod nicht; die Schüttelkrankheit befiel nur Onhla. Auch fürchteten sie nicht einen Moment, daß Hult ihr erliegen würde; Götter können nicht sterben. Er würde bei ihnen bleiben, sie führen, ihnen Weisheit und Mut einhauchen, für sie sorgen. Doch er hatte sich verändert, und sie hatten Angst davor, er würde sich ihnen immer weiter entfremden. Er war ihnen nicht mehr so gegenwärtig wie einst. Schon begleitete er sie nicht mehr bei der Jagd. Zwar spürten sie immer noch, wie seine Gegenwärtigkeit in ihnen aufblitzte, wenn sie den scharfen Hörnern eines Tulk auswichen oder einem jener aufgequollenen Seewesen nachsetzten, ihm den Fluchtweg abschnitten und es auf dem Eis in die Enge trieben, ihm den Todesstoß zu versetzen – aber er war nicht mehr körperlich an ihrer Seite, nicht vor ihren Augen, nicht in ihren Nüstern. Doch selbst während sie dies dachten, war Hult bei ihnen. Er rann wie ein warmer Schauer durch ihre Adern, und sie wußten, daß alles gut sein würde. Neues Leben wuchs in Dengar. Die Koomiok würden fortleben, die Jagd
würde immer besser werden. Von neuer Kraft erfüllt, hetzten die zwei Jagdtiere geschmeidig voran, um eine große Trophäe für Hult zu erringen. Hult verfolgte lange Zeit ihren Lauf. Sie waren die letzten Überlebenden seines Stammes. Es widerstrebte ihm, lange ohne sie zu sein. Nun, da das letzte Junge den Langen Traum begonnen hatte, war er allein wie kein Wesen je zuvor, denn nun gab es keine Zukunft mehr. Die Onhla waren für immer von Hraggellon gegangen. Und diesmal wartete kein ferner Planet, der sie noch einmal zum Leben erwecken würde. Erneut durchlebte er jene Momente vor vielen Dunkelzeiten, als er sich allein geglaubt hatte. Nun war es unwiderruflich so, nichts und niemand konnte daran etwas ändern. Kein Fremdweltlerschiff würde ihn diesmal zu einer Stätte der Legende tragen. Alles war nun zu Ende. Es war nicht das Gefühl der Einsamkeit, das ihn schmerzte: Die im Nithbrog lebten im Innern einer Körperburg, die ein sich ständig ausdehnendes Universum des Geistes umschloß. Auch wenn er allein war, so war er doch nicht einsam. Er würde nie wieder einsam sein können, denn er war ein Teil alles dessen geworden, was ihn umgab, und er erfuhr ein Einssein mit seiner Welt, wie er es niemals für möglich gehalten hätte. In seinen beiden früheren Lebensphasen hatte er wenig wahrgenommen, was über die Notwendigkeit des Augenblicks hinausging. Als Junges war sein Leben die Jagd und das Bündnis mit den Tormagon gewesen. Im Haldrim hatte er eine Gefährtin gesucht und gefunden, um einen neuen Stamm zu gründen und zu nähren, auf daß das Volk und die Wege der Onhla lebendig blieben. Nichts anderes hatte zu jener Zeit gezählt. Doch dann hatte er die letzte Verwandlung duchlebt, und nun lag alles Wissen des Planeten offen vor ihm: Die Geister der Träumer, die vor ihm gegangen waren, umgaben ihn wie ein See der Weisheit. Er
war eins mit ihnen in einer Synthese, die ihn befähigte, das überlieferte Wissen der Onhla von Anbeginn an zu enträtseln und zu entwirren. Er sah und verstand, was einst unergründlich gewesen war. Er wußte nun, warum sein Volk Worten mißtraute, warum es wenig miteinander und ’noch seltener mit Außenstehenden sprach. Für einen, der die Reife des Nithbrog erlangt hatte, enthüllten sich alle anderen Versuche, miteinander zu kommunizieren, als primitive, unzureichende Tastversuche. Das vage Wissen darum hielt die Zungen der Onhla im Zaum. Doch nicht nur mit den träumenden Alten war Hult eins. Er war eine Faser im Gewebe allen Lebens, allen Denkens, allen Fühlens auf dem Planeten, jetzt, in der Vergangenheit und in der Zukunft, in vergessenen Zeiten und in noch nicht erahnten. Alles war eins mit ihm, und er war in allen, ein Teil von allem. In ihm, vermengt mit dem Pulsieren seines eigenen Körpers, schlugen die komplexen Rhythmen Hraggellons und die alles Lebenden um ihn herum und auf den Sternen über ihm. Auf dieser Welt, die keine Musik kannte, erfüllte ihn plötzlich eine unendliche Symphonie, in der er Zuhörer, Musiker und Instrument in einem war. Hult ritt auf den Winden, die über die Welt fegten: dem strengen Pundergorn, Vater des Frosts und der Dunkelheit; dem Galendergorn, Sohn des Lichts und Lebensspender für die, die hinter Mauern wohnten; dem rohen, ungestümen Chedgorn, Entwurzler und Flutbringer; dem gefürchteten Gornthagorn, der nur einmal in vielen Lebenszeiten aus dem Nichts hervorbrach und alles, was in seinem Wege stand, mit sich riß. Er war eins mit den namenlosen sanften Brisen, die zur Erntezeit die Kornfelder streichelten; eins mit den ewigen Windströmen, die hoch über Hraggellon ihre Bahn zogen; eins auch mit ihren Vettern in der Tiefe,
den Strömungen, die am Grunde der Meere brodelten und schäumend gegen die Küsten peitschten, beißend, verschlingend, zerstörend, aufbauend und niemals zur Ruhe kommend. Er war eins mit der Stille des offenen Meeres, eins mit der langsamen Vorwärtsbewegung der gigantischen Felsplatten, die über Hraggellons halbflüssigen Kern schwammen und sich mit majestätischer Wucht ineinanderschoben, so daß die Erde ächzte und erbebte. Er hatte Teil an allem Leben um ihn herum. Nicht nur seine Koomiok, sondern alles, was lebte, kam in seinen Gesichtskreis. Er erfuhr den Dunkelzeitschlummer der Sonnensucher, erlebte ihr langsames Erwachen beim ersten schwachen Sonnenstrahl, die hungrige Zeit der Sehnsucht und des Verlangens, den Rausch der Sattheit und schließlich die wohlige Ermattung, wenn die Sonne tiefer sank und die Schatten länger wurden. Er spürte die schale Unpersönlichkeit der Kornährenheerscharen, die ruhige Kraft der Feuerblume, den peinigenden Hunger des Hitzediebs. Er fühlte die seelenlose Wut des Tulk, die Furcht des Gorwol, die Heiterkeit des Eisgleiters. Alle Lebewesen entblößten ihr Innerstes, wenn er sie berührte. Selbst die unsichtbaren, unermeßlichen Giganten, die in der alles erdrückenden Dunkelheit auf dem Grunde der Meere hausten, wurden ein Teil von ihm. Er erlebte Gefühle, die keines Menschen Geist je erahnt hätte, Gefühle, für die es keine Worte gab, weder in seiner noch in irgendeiner anderen Sprache. Diejenigen, die keine solchen Gefühle kannten, hätten sie nicht verstanden, wenn man sie in Worte gekleidet hätte, und diejenigen, die sie hatten, brauchten keine Worte mehr. Hult fühlte alles, wußte alles, und mit dem Wissen kam die Traurigkeit. Es war totes Wissen, ein Ende. Er würde es nicht weitergeben können. Er hatte den Nithbrog erreicht, und nun wurde er von niemandem mehr gebraucht. Er hatte keinen Stamm mehr.
Die Alten waren immer schwer zu begreifen gewesen, nun wußte er, warum. Ihr Geist konnte sich nicht anpassen an das magere Universum aus neun Sinnen und einem schlummernden Bewußtsein, an ein Leben, das hilflos und bewußtlos von der Vergangenheit in die Zukunft glitt, das alles ungeschmeckt, ungelernt, unbekannt an sich vorüberziehen ließ. Die im Nithbrog versuchten, die anderen an ihrer Weisheit teilhaben zu lassen, doch selbst in der totalen Verschmelzung des Geistes konnten sie nicht mehr geben als das, was die anderen zu begreifen in der Lage waren. Und so woben die Alten die Knoten der Weisheit, während die anderen suchend nach ihrer Bedeutung tasteten und auf den Tag hofften, an dem sie, selbst im Nithbrog, mit wissenden Fingern lesen konnten. Und die wenigen, die den Nithbrog erreichten, mußten feststellen, daß die Knoten nicht länger gebraucht wurden. Sie wußten, und die Knoten, die sie zuvor geknüpft hatten, erschienen ihnen nur mehr wie kindisches Gekritzel. Irgend etwas jedoch vielleicht war es Perversität, Furcht, Hoffnung oder vielleicht auch der unentrinnbare Druck althergebrachter Tradition bewegte jeden Alten dazu, die geknüpften Annalen zu vervollkommnen. Vielleicht war dies sogar ihr eigentlicher Daseinszweck, denn selbst Hult knüpfte – allein, wie er war, mit niemandem, der seine Worte empfangen konnte – seine Weisheit unbeirrt in dünne Lederstreifen. Die Hoffnung bewegte ihn dazu. Und in seiner Lage war Hoffnung ein Akt des Wahnsinns. Dennoch hörte er nicht auf zu hoffen. Zwei volle Dunkelzeiten verbrachte er in der Höhle. Nur selten ging er ins Freie. Er aß nur wenig; die Quellen seiner Nahrung waren jetzt anderer Natur. Die Streifzüge, die er unternahm, waren keine Streifzüge des Körpers. Sie führten ihn in das Innere seiner stetig größer werdenden Kräfte, in eine Vergangenheit, die nicht länger unerreichbar war, in
eine Zukunft, die mit kristallner Klarheit offen vor ihm lag. Es war eine Durchdringung allen Lebens, allen Seins. Die Zeit existierte nicht mehr. Was blieb, war die Hoffnung. Die Knotenstreifen wurden immer länger. Als Dengar niederkam, tauchte Hult aus seinem Innern auf und wurde eins mit den Koomiok. Er spendete Kraft und Trost, linderte die Schmerzen der Mutter, den plötzlichen Schrecken, der die Jungen erfüllte, die Verwirrung, die Narik angesichts der Metamorphose seiner Gefährtin befiel. Die Tiere und die Onhla waren wieder eins, wie früher, und Narik und Dengar und ihre winzigen, von dichtem Fell umhüllten Jungen waren von unbeschreiblichem Glück erfüllt. Doch dann zog Hult sich wieder in sein Inneres zurück. Als das Ende der zweiten Dunkelzeit nahte, spürte er, daß Ereignisse nahten, die einen Wendepunkt bedeuten würden. Er konzentrierte alle seine Kräfte in sich und stand auf. Shaeleccs Gruppe zählte noch sechsundneunzig Personen. Sie hatten viele auf dem langen, beschwerlichen Marsch verloren, nur die stärksten und wertvollsten waren übriggeblieben. Syger war während ihrer ersten Rast in Sternheim gestorben, und viele waren mit ihm dahingegangen, manche vor Kälte, manche vor Hunger und Erschöpfung. Die Überlebenden hatten viel aus dieser Zeit des Leidens gelernt, für die zweite lange Rast hatten sie ihre Vorräte verdreifacht. Dennoch war erneut ein Fünftel ihrer Gruppe den Strapazen erlegen. Die sechsundneunzig, die überlebt hatten, waren die letzten lebenden Erinnerer Hraggellons. Sternheim hatte einen hohen Zoll gefordert, aber noch war kein Ende ihres Leidens abzusehen. Doch sie konnten nicht mehr zurück. Was hinter ihnen lag, war schlimmer.
Ihr Feind war grausam und gnadenlos. Mit ihrer geringen Anzahl konnten sie keinen Widerstand leisten, auch wenn sie inzwischen kampferprobt waren. Jenseits von Sternheim erwartete sie vielleicht ein sicherer Hort. Sie wußten es nicht sicher, aber es war ihre einzige Hoffnung. Sie hatten keine andere Wahl als durchzuhalten. Sie wußten den genauen Weg nicht, deshalb verirrten sie sich oft. Ihre Schlitten hatten sie längst aufgegeben. Von ihren Reittieren waren ihnen ganze zwölf geblieben. Diese wenigen wurden ausschließlich dazu gebraucht, um die Kranken, Shaelecc und die Vorräte zu transportieren. Unter diesen Umständen war das Vorankommen noch mühsamer als ohnehin. Jeder Schritt kostete sie soviel Kraft wie ein langer Marsch. Nur die Hoffnung auf das erlösende Refugium jenseits von Sternheim hielt sie aufrecht und ließ sie unbeirrt weitermarschieren. Nach den Strapazen und Qualen Sternheims würde eine Stätte kommen, an der sie sich niederlassen, an der sie bleiben und leben konnten und sich nicht vor einem Feind zu fürchten brauchten, der aus dem Nichts über sie herfiel und sie ohne erkenntlichen Grund niedermetzelte. Doch als sie auf die gefrorenen Leichen stießen, zerstob auch ihre letzte Hoffnung. Verwirrung und tiefste Verzweiflung erfüllte sie. Sie hatten endlich den Großen Spalt erreicht und waren auf dem Weg zu seinem oberen Ende, tief im Innern Sternheims. Tolomors, einer der Evoden, hatte die Erinnerungen an eine Legende rezitiert, die von einem Fluß erzählte, welcher vom oberen Ende des Spalts durch Sternheim floß und in einem riesigen See mündete, der niemals zufror. Die Legende stammte aus grauer Vorzeit, aus einer Epoche, die sogar vor den Vergessenen Dunkelzeiten lag. Alle stimmten darin überein, daß es sich um eine Allegorie handeln mußte, doch es war möglich, daß die Allegorie auf Tatsachen beruhte. Deshalb machten sie sich auf die Suche nach besagtem Fluß.
Der Weg entlang des Spalts führte über terrassenförmig verlaufende, doppelt mannshohe Eisplatten. Die Erinnerer wählten die zweite Ebene, um den eisigen Winden zu entgehen. Drei weitere Stufen lagen zwischen ihnen und dem Spalt, doch sie fanden, daß die Stufe, die sie gewählt hatten, die günstigste war. Der Spalt war tief, und die Eisplatten waren äußerst tückisch. Die zweite Ebene war ausreichend gegen den Wind geschützt und dabei doch recht sicher. Ronlef und Tenik, die beiden Kundschafter, die vorausgeritten waren, tauchten ganz plötzlich und unerwartet wieder vor ihnen auf. Ungeachtet der Gefahr, auszugleiten und in die Tiefe zu stürzen, trieben sie ihre Tiere zu größter Eile an. Ronlef lenkte sein Tier direkt an Shaeleccs Seite und sprang ab, um seinen Bericht zu geben. Tenik war ein Stück voraus stehengeblieben und versperrte den Pfad. Ronlef berichtete Shaelecc atemlos von ihrer Entdeckung. Sofort gab Shaelecc den Befehl, umzukehren und eine geeignete Lagerstelle zu suchen. Dann sandte sie zwei Jäger voraus, die Tenik ablösen sollten, und beauftragte die verbliebenen Gesunden, so schnell wie möglich ein Lager aufzuschlagen. Dies war ein Ereignis, über das der Rat entscheiden mußte. Noch immer saßen ein paar der Alten im Rat, doch hatten sich unter sie mittlerweile viele neue, jüngere Gesichter gemischt. Viele der Alten hatten die Strapazen der langen Wanderung nicht überstanden. Shaelecc, die tief zusammengesunken in ihren Fellen saß, forderte den Bericht der Kundschafter. Ronlef trat vor, um für beide zu sprechen. »An einer breiten Stelle auf der Eisplatte fanden wir die gefrorenen Leichen von drei Fremdweltlern. Einer von ihnen hielt diese kleine Sprechmaschine in der Hand. In Norion nennen sie diese Maschinen ›Lauttranskribierer‹. Alle drei waren bewaffnet.« Er hielt das Gerät hoch, damit es
jeder sehen konnte und unterbrach seinen Bericht, um auf etwaige Fragen zu antworten. »Lagen sie auf der Lauer?« fragte Shaelecc. »Das glaube ich nicht. Wir sahen nirgends Nahrung, und die drei befanden sich in einem einzigen Zelt, in geschlossenem Schlafkleid. Ihre Körper schienen stark ausgezehrt. Wir glauben, daß sie aus irgendeinem Grund die anderen verloren haben und dann verhungert sind.« »Wann?« fragte ein Evode. »Das können wir nicht sagen.« »Du bezeichnest sie als Fremdweltler. Erkläre das«, sagte Shaelecc. »Ihre Körper sind zweifellos die von Menschen, doch unterscheiden sie sich ein wenig von unseren. Sie tragen Waffen, die es auf Hraggellon nicht gibt, und sie sind ganz in Schwarz gekleidet, wie die Fremdweltler, die mit Orm ritten. Der Lauttranskribierer ist ein Erzeugnis, wie es auf Hraggellon nicht hergestellt wird, und ihre Kleidung ist anders als unsere. Es ist kein Fell, sondern ein weiches, biegsames Metall, das sich wie Haut anfühlt. Es stammt ebenfalls nicht von Hraggellon. Auch ihre Sprache ist keine, die auf diesem Planeten gesprochen wird. Hört.« Er bückte sich, stützte sich mit einem Knie ab, legte den kleinen Lauttranskribierer auf den Oberschenkel seines anderen Beines und drückte auf eine Taste mit fremdartiger Markierung. Eine Stimme erklang schwach, aber klar. Sie lauschten in ehrfürchtigem, verständnislosem Schweigen der Botschaft des toten Mannes: »Oberleutnant Tassur, Sicherheitsoffizier, Vierzehnte Hraggellon-Mission … letzter Bericht. Orm ist tot, hingerichtet wegen Mordes an Missionsprimär Basedow. Die Gerechtigkeit des Sternvereins steht makellos … Casserio, Graff und ich haben uns diese Stelle zum Sterben gewählt. Wir sind zu schwach, um weiterzugehen. Hin-
ter uns liegen neun Männer des Sternvereins, begraben nach ihrem Brauch und gemäß unserer Kraft. Man soll wissen, daß wir unsere Pflicht getan haben und daß wir ohne Bedauern sterben …« Der Lauttranskribierer stellte sich selbsttätig ab. Lange Zeit sprach niemand. Schließlich sagte Shaelecc: »Ihre Sprache ist uns fremd, aber wir haben den Namen Orm gehört. Ich glaube, wir können mit einiger Sicherheit annehmen, daß die drei Toten zu den Fremdweltlern gehören, die zusammen mit Orms Leuten losgeritten sind, um unsere Brüder anzugreifen.« »Dann ist Orm vor uns!« schrie ein Evode. »Wir nehmen an, die drei haben sich verirrt«, sagte Ronlef. »Gehen Verirrte ihren Kameraden voraus? Nein! Orm ist vor uns und wartet auf uns – wir müssen sofort umkehren!« rief der alte Mann mit zitternder Stimme. »Aber vielleicht sind Orm und seine Männer hinter uns«, gab ein anderer zu bedenken. »Vielleicht sind Orm und seine Männer auch tot, und diese drei waren die letzten Überlebenden«, meldete sich eine Frau zu Wort. »Vielleicht. Aber wie wollen wir das wissen?« In das sich anschließende Schweigen hinein sagte Shaelecc: »Wir können es nicht herausfinden. Wir müssen uns entscheiden, auch wenn wir dabei Gefahr laufen, uns zu irren.« Die Beratung zog sich hin. Die Diskussion wurde immer hitziger, und schließlich wurde die Stimmung fast feindselig. Wut und Bitterkeit hatten nie zum Verhalten der Erinnerer gehört, doch die Erinnerer waren nicht mehr dieselben wie einst. Furcht und Verzweiflung bestürmten sie wie nie zuvor. Selbst die weisesten Alten vermochten nicht ihre Bitterkeit angesichts dieses letzten, endgültigen Schlages
zu verbergen, der ihre letzte Hoffnung zerstörte. Orms Gardisten und ihre fremden Helfer bedeuteten den sicheren Tod. Waren sie hinter ihnen, vielleicht schon ganz nahe? Oder hatten sie weiter voraus ihr Lager aufgeschlagen und warteten in einem Hinterhalt darauf, über die ahnungslose Karawane herzufallen und sie zu vernichten? Nicht auszuschließen war auch, daß sie gleichzeitig aus beiden Richtungen anrückten. Und selbst ohne Orms Grausamkeit waren sie so gut wie verloren: Die Eiseskälte Sternheims würde sie eines langsamen Todes sterben lassen; über kurz oder lang würden sie alle erfrieren. Orm würde sie bis in alle Ewigkeit verfolgen. Die Kälte würde niemals aufhören. Es gab kein Entkommen, keinen sicheren Hort, der auf sie wartete. Stimmen wurden laut, und einige riefen: »Wir müssen zurück! Orm wartet auf uns! Wir müssen zurück!« Andere riefen: »Wir müssen weiter! Orm kommt immer näher!« Wieder andere schwiegen, stumm vor Verzweiflung, gelähmt angesichts der Sinnlosigkeit einer Lage, die ihnen nur die Wahl zwischen verschiedenen Todesarten ließ. Ein Varasdode sagte: »Am besten, wir stürzen uns alle sofort in den Spalt, dann hat unser Leiden wenigstens ein Ende.« Und nicht wenige erhoben sich, um ihm beizupflichten. Shaelecc hörte ihnen zu, sah sie an und senkte schweigend den Kopf. Sie hatte sie weit gebracht. Doch nun schien es, als sei das Ende ihrer langen Wanderung gekommen. Sie hatten den Bruchpunkt erreicht. Niemals hatte sie ihren Glauben an die Geschichten über ein Land jenseits der Dunkelheit verloren, doch sie wußte, einmal entzweit, würden die Erinnerer dieses Land niemals erreichen. So weit gekommen zu sein und sich dann aus Furcht selbst zu vernichten … das konnte sie nie und nimmer zulassen. »Wir müssen weitergehen! Wir werden weitergehen!« schrie sie, und ihre dünne Stimme schnitt wie ein Messer
durch den Tumult. Ein Varasdode sprang vor und baute sich vor ihr auf. »Das werden wir nicht! Wir brauchen einen neuen Führer – einen, der uns in Sicherheit führt, nicht in den Tod.« »Einen neuen Führer!« Vielstimmig erscholl der Ruf. Sofort erhob sich aus zahlreichen Kehlen der wütende Gegenruf: »Shaelecc ist unsere Führerin!« Ronlef, Tenik und drei junge Jäger sprangen mit gezückten Waffen zu ihr und formten einen Verteidigungsring um sie. Überall im Zelt glitten Waffen aus den Scheiden. Totenstille herrschte. Die zwei bewaffneten Gruppen formierten sich, rückten zusammen und glitten langsam in Position, jede gespannt auf eine falsche Bewegung der anderen lauernd. Die Alten wichen mit erstarrtem Gesicht gegen die Zeltwand zurück und verhielten sich stumm. Sie sahen, daß ihre Autorität verfallen war, übergegangen auf die, die Waffen trugen. Shaelecc schien das Ende gekommen. Seit langem hatte es Anzeichen dafür gegeben, Warnzeichen, doch sie hatte die Augen vor ihnen verschlossen und sich statt dessen einer törichten Hoffnung hingegeben. Und nun, in einem erstarrten Augenblick der Zeit, wurde alles schlagartig klar und offenbar. Der langsame Verfall hatte seinen Ausgang mit dem Marsch nach Sternheim genommen, nun trat das Ergebnis zutage. Die Erinnerer waren wie die geworden, die sie verfolgten. Sie waren ihr eigener Feind. Erinnerungen zerbröckelten, Evoden starben oder wurden krank und schwach, bevor sie ihren gesamten Schatz an ihre Schüler weitergeben konnten. Die Jungen begannen ihrerseits das Interesse an den Dingen der Vergangenheit zu verlieren und wandten sich einem Leben der Tat und des Augenblicks zu. Sie wollten nur noch das lernen, was sie zu besseren Jägern machte. Das alte Spiel Dur-ron-ag war schon lange aufgegeben worden. Manche waren traurig darüber, doch viele bekundeten offen, daß sie froh darüber
waren, da sie das Spiel im Grunde nur noch als eine Vergeudung von Zeit und Kraft angesehen hatten. Der Mensch existierte, um zu jagen und zu überleben, sagten jene, und ein Leben, das man sitzend im Kreise stummer Spieler verbringe, die sich den Kopf über die geistigen Kunststücke anderer, längst verstorbener Spieler zerbrächen, wäre töricht und sinnlos. Der Verfall beschleunigte sich. Der Evode Jara starb plötzlich. Mit ihm gingen die Legenden über die frühesten Bewohner des Schattenlandes verloren. Ein Schlitten brach durch die trügerische Eisschicht über einer Spalte und riß zwei Paturdoden und zwei Mendoden mit sich in die Tiefe. Mit ihnen ging die Gesetzes- und Heilkunde von neun Stämmen verloren. Und nun mußte Shaelecc mit ansehen, wie Erinnerer sich feindlich gegenüberstanden, bereit, das Blut ihrer Brüder zu vergießen. Soweit war es gekommen. Niemand schien mehr in der Lage, den drohenden Sturz in die Barbarei aufzuhalten. Sie schrie auf mit all ihrer schwindenden Kraft, doch ein höhnischer Windstoß, der im selben Moment über das Zelt hinwegheulte, erstickte ihren Appell. Niemand hörte sie. Verzweiflung legte sich wie ein Leichentuch über sie, über alle im Zelt und über alle, die draußen vor dem Zelt warteten und harrten. Alle spürten eine Düsternis des Geistes, die tiefer noch war als die Düsternis, die über dem Herzen Sternheims lag. Doch dann, ganz plötzlich, wie das Dämmern des Erstlichts in ihrer alten Heimat, kam ein Friede über sie, und sie wußten, daß alles gut war. Ihre Feinde waren tot, und die Toten waren nicht länger Feinde. Sie waren sicher vor Orm und vor allen, die sie verfolgen wollten. Eine neue Heimat lag vor ihnen, und sie würden sicher dorthin geführt werden. Der aufrührerische Varasdode ließ seine Waffe sinken und verneigte sich tief vor Shaeleccs leuch-
tendem Antlitz. »Shaelecc ist unsere Führerin. Sie wird für uns entscheiden«, sagte er demütig. Die, die ihn unterstützt hatten, folgten seinem Beispiel. Ronlef, Tenik und die drei jungen Jäger legten ihre Waffen zu Boden und traten vor, um die anderen aufzuheben und in Frieden zu umarmen. Eine Woge von Frieden, Gewißheit und Eintracht durchflutete alle die, die im Zelt waren. Sie breitete sich aus wie eine unsichtbare, unaufhaltsame Flutwelle, und die verängstigt am Boden kauernden Flüchtlinge erhoben sich und schauten einander glücklich und verwundert an. »Shaelecc ist unsere Führerin. So sei es erinnert«, sagte der älteste der Evoden. Shaeleccs Stimme erhob sich, müde, doch durchdrungen von Zufriedenheit und Freude. »Meine Führerschaft geht ihrem Ende entgegen. Ein neuer Führer kommt und bringt uns sicher an unser Ziel.« Hult schritt langsam über das Eis, auf den Großen Spalt zu. Die prachtvollen Tiere seines Stammes umkreisten ihn wie leuchtende, gleitende Schatten. Er hatte viel von den Träumern gelernt, und nun hatte all seine Weisheit einen Sinn. Das Wesen und Sein der Onhla war mehr als vergängliches Fleisch, als Blut und Knochen. Körper starben, doch die Onhla würden weiterleben. Und nun, da alle Körper tot waren bis auf einen, würden sie dort leben, wo Krankheit und Haß sie nicht erreichen konnten. Die Onhla lebten fort in ihrem überlieferten Wissen, in ihrem Legendenschatz, sie lebten fort in den Erinnerungen, den Taten, den Wünschen aller vergangener Generationen ; sie lebten fort in den Legenden und Sagen vom Klingenmacher und den Ersten Gehern, in den Wundern Lathpens, des Blinden, in den langen Jubelrufen des Wettermachers, in den Riten des
Großen Sammeins, dem Züchten der Jagdrudel, dem Knüpfen der Vergangenheit. Ein neuer Stamm würde all dies in sich aufnehmen, und dieser neue Stamm, gleich welches seine Vergangenheit wäre, gleich welche Farben er trüge, würde Onhla sein. Hult sog die Geister der träumenden Generationen in sich und sandte jenes mächtige Bewußtsein voraus zum Gruße. Von den Erinnerern strömte eine Woge von Vorfreude zu ihm zurück. Während seiner Einsamkeit hatte Hult gelernt, daß es möglich war, den Geist des Menschen auf vielerlei Weise und auf vielen Ebenen zu berühren. Im Bewußtsein dieser Menschen hatte er Furcht vorgefunden, doch auch Mut und Überlebenswillen und eine tiefe Liebe zu allem Vergangenen. Und keinen Haß. Doch das Wichtigste, was er dort gefunden hatte, war Not und Bedrängnis. Es war eine Not, die der seinen entsprach. Die, die getötet hatten, waren tot und stumm. Er ertastete ihre gefrorenen Leiber und spürte, daß nichts in ihnen war. Die wenigen, die überlebt hatten, waren zitternd vor Grauen aus der Kälte in ihre Heimat zurückgekehrt. Sie würden niemals nach Sternheim zurückkommen. Sein neues Volk war sicher vor ihnen. Wenn er es erst über den gefrorenen See in die Heimat des Gorwol geführt hatte, würde es für immer sicher sein. Sie würden leben; die Onhla würden leben. Die Knoten der Weisheit würden von anderen Händen geknüpft werden, aber der letzte Knoten lag in ferner Zukunft.
EPILOG Letzte Eintragung Bis zum endgültigen Ergebnis der offiziellen Untersuchung über das Schicksal der Vierzehnten Mission ist jeglicher Kontakt mit dem Planeten Hraggellon abzubrechen bzw. zu unterbinden. Mit Wirksamkeit vom heutigen Tage an ist der Planet Hraggellon zum Sperrgebiet für alle Driveschiffe des Sternvereins erklärt. Alle Sternkarten sind entsprechend dieser Direktive zu kennzeichnen bzw. abzuändern. Norin Holoman-Leddendorf Oberkommandierender der Sternvereinflotte