Aus der Reihe »Utopia-Classics« Band 84
Jesco von Puttkamer
Elektronengehirne, Wurmlöcher und Weltmodelle Jesco von P...
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Aus der Reihe »Utopia-Classics« Band 84
Jesco von Puttkamer
Elektronengehirne, Wurmlöcher und Weltmodelle Jesco von Puttkamer x 11 Der 1933 in Leipzig geborene Autor verfaßte bereits 1952 vor seinem Studium an der TH Aachen seine erste SF-Story. In den Folgejahren wurde Jesco von Puttkamer, bevor ihn Wernher von Braun in die USA berief, wo er heute bei der NASA als Programm-Direktor für bemannte Weltraumprojekte tätig ist, trotz seines vergleichsweise kleinen Gesamtwerks zu einem Begründer der eigenständigen deutschen SF. Der vorliegende Band enthält insgesamt elf Erzählungen aus v. Puttkamers früher Schaffensperiode der 50er Jahre – und zwar unter anderem die Story vom Duell der Gigant-Gehirne – die Story vom integrierenden Faktor – die Story vom Ende der Zukunft – die Story von der Bestimmung des Menschen – die Story des mörderischen Wirtschaftsmagnaten – und die Story vom 200-Millionen-Jahre-Rennen.
Jesco von Puttkamer
Elektronengehirne,
Wurmlöcher
und Weltmodelle
Utopia-Classics Band 84
Scan by celsius232 K&L: tigger Freeware ebook, April 2003
VERLAG ARTHUR MOEWIG GMBH, 7550 RASTATT
UTOPIA CLASSICS-Taschenbuch Verlag Arthur Moewig GmbH, Rastatt Copyright der Stories © 1985, by Jesco Puttkamer Erstmals als Taschenbuch Titelbild: Hans-Günter Hauptmann Redaktion: Günter M. Schelwokat Vertrieb: Erich Pabel Verlag GmbH, Rastatt Druck und Bindung: Elsnerdruck, Berlin Printed in Germany Dezember 1985 ISBN 3-8118-5030-X
Statt eines Vorworts (1957)
Seite
7
Der Super-Zweikampf (1952)
Seite 22
Der integrierende Faktor (1956)
Seite 38
Zu jung für die Ewigkeit (1956)
Seite 47
Wer zuletzt lacht (1956)
Seite 69
Am Ende der Zukunft (1957)
Seite 83
Danke für den Tip (1957)
Seite 92
Heldentod (1957)
Seite 123
Hausieren verboten (1958)
Seite 130
Bestimmung (1959)
Seite 157
Selbst ist der Mann (1959)
Seite 180
Simultanzeit (1957/1985)
Seite 206
Bibliographische Anmerkungen
Seite 232
Nachwort des Herausgebers
Seite 234
Für Walter Ernsting
Statt eines Vorworts ÜBER DIE ARBEIT DER AUTOREN UTOPISCHER
LITERATUR – ANNO 1957*)
Meine Damen und Herren! Liebe Freunde!
Wenn ich Ihnen jetzt einmal etwas über die Arbeit der Auto ren der Science-Fiction-Literatur, gemeinhin SF genannt, aus persönlicher Sicht erzählen soll, so möchte ich zu Beginn auf eine Eigenheit hinweisen, die den SF-Autoren in erster Linie und am auffälligsten von anderen ähnlich obskuren Autoren unterscheidet: Während der »gewöhnliche« Schriftsteller (wenn ich ihn einmal so nennen darf) seine Arbeit in seine Schriftstellerei steckt und außer der Buchabsatzrate sowie den Kritiken der bezahlten Rezensenten kein weiteres Echo darauf zu erhalten scheint, gehört der SF-Autor von heute – und insbesondere der SF-Autor unseres Kontinents zu jener Gattung von Menschen, die stolze Empfänger von Zuschriften von privaten Bewunde rern oder Gegnern sind. (Ebenfalls zu dieser Gattung gehört übrigens, ganz nebenbei gesagt, der Filmstar.) Da ich neuerdings selbst zu der illustren Gemeinschaft der SF-Autoren zu gehören scheine, kann es nicht ausbleiben, daß auch ich Briefe und Karten aller Art aus der Leserschaft erhal te. Sie werden gewöhnlich dankbar und voller Erwartung in Empfang genommen, gebührlich gelesen und bedacht und schließlich ordnungsgemäß abgeheftet. Leider werden sie freilich nicht immer ordnungsgemäß beantwortet. Das aber nur nebenbei. Aus der Vielzahl der bei mir eingelaufenen Post – sozusagen aus dem Echo meiner Erzeugnisse – habe ich mir drei beson ders markante und denkwürdige Schreiben herausgepickt und *)
Text eines Vertrags des Autors, gehalten auf dem SF-Con 1957 des Science Fiction Club Deutschland (SFCD), Bad Homburg v.d.H. 7
sie meinen folgenden Ausführungen zugrunde gelegt. Der erste Brief stammt von einem Verleger und enthält unter anderem folgende Zeilen: »… Es ist der Durchschnittsleser, der selbst nach der Lektüre sämtlicher erschienener utopischer Romane aus meinem Verlag immer noch nicht begriffen hat, worum es sich bei einer echten Science-Fiction-Story handelt. Ihm muß ich gewisse Lesehilfen zur Hand geben, damit er nicht diese oder jene Geschichte als unverständlich und unsinnig ablehnt; gerne bemühe ich mich aber hierbei, möglichst auch dem Kenner die Freude an der Lektüre nicht zu verscherzen …« Soweit, meine Damen und Herren, der erste Briefauszug. Ich werde später genauer darauf eingehen. Zunächst soll das zweite Schreiben folgen, – das in diesem bewußten Fall eine Postkarte war. Unter anderem steht darauf: »… Ich habe gehört, daß Sie einen echten Science-FictionRoman geschrieben haben, und ich bin sehr gespannt auf ihn. Bitte, schreiben Sie auch mal eine Sache, die so richtig mit saftigen Science-Fiction-Ideen gespickt ist. Aber möglichst wahnsinnig soll sie sein! …« Dieses war der zweite Streich – und vielleicht können Sie bereits einen gewissen Zusammenhang zwischen den beiden Briefen erkennen. Beim ersten Beispiel handelt es sich um die Meinung des Durchschnittslesers, der an Masse dem Kenner bei weitem überlegen und daher für den Verleger interessanter ist. Das zweite Schreiben spiegelt dagegen den Wunsch des Kenners wider, der zwar ebenso wie der Durchschnittsleser genau weiß, was ihm gefällt, jedoch in weitaus geringerer Zahl vertreten ist. Und hier, in diesen beiden Briefen, zeigt sich in voller Herr lichkeit das große Problem, vor das sich der SF-Autor europäi scher Prägung gestellt sieht. Auf der einen Seite will er das schreiben, wozu er sich inner lich berufen fühlt. Um Science Fiction zu schreiben, muß man 8
»besessen« sein – das können Sie mir glauben! Leute, die SF zu schreiben versuchen, nur weil die Konjunktur im Augen blick dafür günstig ist, bringen nichts Gescheites zusammen – und manch einer von Ihnen, meine Freunde, hat sich schon ob der seltsamen Erzeugnisse dieser »Konjunkturritter« die Haare gerauft (so vorhanden). Nein, – gute Science Fiction schreibt sich nur mit Begeisterung, und der echte SF-Autor tut genau dies. Und wenn er dann so mitten drin steckt in seiner Arbeit, die er meistens als Liebhaberei betrachtet, dann kommt auch schon der böse »schwarze Mann«. Der Durchschnittsleser nämlich, der rigorose Forderungen sich zu stellen erdreistet und dem SFAutor auf allen Fronten sozusagen die Hörner stumpfen und die Nägel beschneiden will. Und von diesem Moment an sitzt der arme Autor dann in seinem persönlichen Dilemma. Er muß von nun an so schrei ben, wie es der Durchschnittsleser wünscht, denn die Meinung der Masse ist die Meinung der Verlage. Und andererseits bricht es ihm das Herz, aufzuhören, so zu schreiben, wie er sich berufen fühlt und Spaß hat, um fortan Kaugummi für die Masse zu produzieren. Für sein blutendes Herz ist dann auch der Honorarscheck kein Heftpflaster. Das ist in meiner Sicht das größte Problem des SF-Autors speziell bei uns, und ich bitte Sie, dieses Problem bei meinen folgenden Ausführungen vor Augen zu behalten. Sie werden dann manches verstehen, was sich hinter den Kulissen tut und den armen Autor dann hoffentlich gebührend bedauern und bemitleiden. (Clark Darlton, K.H. Scheer, W.D. Rohr und ich stehen nachher für Beileidsbesuche ausgiebig, aber demütig zur Verfügung. Durst haben wir übrigens auch.) Ich habe mir mein Thema in einzelne Punkte aufgegliedert – oder es zumindest versucht. Zunächst darf ich noch einmal auf die oft gestellte Frage eingehen: WAS IST SCIENCE FICTION?, und dazu habe ich auch einen besonderen Grund. 9
Ich will dabei versuchen, die Unterschiede gegenüber anderen Literaturgattungen aufzuzeigen, besonders aber die Unter schiede gegenüber Zukunftsromanen, Space Operas und Science Fantasy. Der zweite Punkt wäre dann eine Gegenüberstellung der Entwicklung von Science Fiction in den USA und in Europa. Und schließlich komme ich dann noch einmal auf den SFAutor selbst und seine Anliegen und Aufgaben zu sprechen. Wenn ich nochmals auf das Wesen der SF-Literatur eingehe, so hat das folgenden besonderen Grund. Auf eine meiner Veröffentlichungen erhielt ich einen Leserbrief, der u. a. folgendes enthält: »… Es ist einfach unmöglich, eine Pseudowissenschaft auf zubauen, die vielleicht einmal (egal wann) ins Stadium der Realisierbarkeit treten könnte. Dieser Nonsens wird verständ lich, wenn man sich über die Bedeutung der Silbe Pseudo im klaren ist. Zur Pseudowissenschaft zähle ich z. B. Hohlwelt theorie und Fliegen mit Überlichtgeschwindigkeit, also Dinge, die bewiesenermaßen unmöglich sind, und jeder Autor sollte sich hüten, sie unter der Bezeichnung SF, gleich welcher Klassifikation, zu führen …« Eine solche Zuschrift versetzt einem mit Begeisterung schreibenden SF-Autor einen Schlag ins Genick, gelinde gesagt, der dazu noch sehr heimtückisch geführt wurde. Denn mit solchen Worten wird die eigentliche Quintessenz der Science Fiction angegriffen und zu untergraben versucht. Natürlich könnte ich dem Briefschreiber kaltlogisch antwor ten, für eine Pseudowissenschaft, sei sie nun der Nexialismus in Van Vogts UNTERNEHMEN MILCHSTRASSE (»The Voyage of the Space Beagle«) oder der Überlichtgeschwindig keitsflug aus einem Original-Darlton, dafür gebe es heute überhaupt keine absoluten Beweise, weder dafür noch dagegen. Aber darauf kommt es ja nicht an. Es kommt einzig und allein darauf an, daß unter der Mehrzahl der sogenannten SF-Fans 10
noch heute teilweise oder völlige Unklarheit über das eigentli che Wesen von Science Fiction besteht. Und aus diesem kühlen Grund sehe ich mich motiviert, doch noch einige Worte hierzu zu sagen. Science Fiction, in der Definition des SF-Autors, ist ein Lite raturgebiet, auf dem Monat um Monat jedes gedruckte Wort Hunderttausenden von Menschen zuruft: »Seht her, die gesam te Schöpfung ist in einem ständigen Wandel und Wechsel begriffen! Die phantastische Geschichte von heute ist oft der Tatsachenbericht von morgen.« Wenn es eine Qualität gibt, die über allen anderen sowohl der SF als auch dem historischen Augenblick zu eigen ist, dann ist es Wechsel. Wechsel und Veränderung, das ist das immer wiederkehrende Motiv im Hauptteil der Science Fiction: Veränderung in der menschlichen Einstellung. Veränderung sogar in der Körper- und Geistesstruktur des Menschen. Und doch liegt das eigentliche Wesen der Science Fiction nicht darin, daß der Autor möglichst viele Neuheiten der Zukunft mit hellseherischer Fähigkeit beschreibt, lange bevor die Wissenschaft überhaupt an ihre Ausführung zu denken beginnt. Schließlich kommt auf ein paar Dutzend Autoren, die SF verfassen, ein Heer von Tausenden von aktiv tätigen Wissen schaftlern. Es wäre verfehlt, von einem SF-Autor zu verlangen, er solle Dinge beschreiben, die eines Tages tatsächlich wahr werden. Die Ausnahmen, die es hier gibt, etwa die eines Jules Verne, der das Atom-Unterseeboot prophezeit hat, oder eines Hugo Gernsback, von dem u. a. sowohl Fernsehen als auch Radar vorausgesehen wurden, sind eher eine Nebenerschei nung, ähnlich Treffern einer wild abgefeuerten Schrotladung, und sie bestätigen nur die Regel. Es ist m. E. gar nicht der Sinn von Science Fiction, das Kommende zu erraten und zu beschreiben. Der Sinn, wie ich ihn sehe, liegt eher darin, aufgrund logischer Schlußfolgerun 11
gen unterhaltend darzustellen, wie der Mensch und seine Welt in der Zukunft aussehen und auf bestimmte wohlkonstruierte Probleme reagieren könnten, wenn … Ja, dieses Wenn …! Da liegt des Pudels Kern, sozusagen. Die besten SF-Geschichten sind nämlich von der Frage aus gelöst worden: »Was würde geschehen, wenn …« Wir Autoren erklären zwar gerne, daß unsere Antworten auf derartige Fragen stets auf Extrapolation oder logischer Schluß folgerung beruhen. Aber wenn wir ehrlich sein wollen, müssen wir gestehen, daß die große Mehrheit der Antworten, aus denen dann die SF-Story entsteht, statt dessen auf Vermutungen und unbegründeten Annahmen basieren. Gelehrte und intelligente Vermutungen, wie wir hoffen, aber nichtsdestoweniger nur Vermutungen! Science Fiction ist und bleibt in erster Linie eine Literatur des Abenteuers, der Spannung, der Erforschung der Universen von heute und morgen und des Bekannten und Unbekannten – also eine Unterhaltungsliteratur. Sie ist nicht unbedingt besser oder schlechter als andere Literaturerzeugnisse, wie etwa der Gesellschaftsroman, die psychologische Erzählung, die histori sche Geschichte, die Biographie oder die Kurzgeschichte, die ihren Stoff aus dem vollen Leben schöpft. Nein, besser oder schlechter ist sie nicht. Sie ist nur – anders. Und daß sie anders ist, stellt wohl einen der Gründe dafür dar, daß Science Fiction von ihren Kennern bevorzugt und von manchen ihrer Kritiker rundweg verachtet wird, denn für den letzteren befindet sie sich auf einem etwas zu abwegigen Gebiet. Sozusagen »schöpft« sie aus einem »Leben«, das einem – definitionsgemäß – gänzlich fremd ist. Aber neben ihrer Eigenschaft als Unterhaltungslektüre erfüllt SF noch einen weiteren, tieferen Zweck. Sie führt den Men schen, beinahe ohne daß er es merkt, in die Welt der Wissen schaft und ihrer Denkprozesse ein und öffnet seine Augen gegenüber Tausenden von wissenschaftlichen Fakten und 12
Horizonten, Möglichkeiten und Unmöglichkeiten. Sie bereitet ihn sozusagen auf eine neue Ära vor – auf die Ära der Zukunft, die, wie wir heute schon erkennen können, die Ära der Technik und Naturwissenschaft ist, eingeleitet von dem größten menschlichen Unternehmen neben der Erfindung der Atom spaltung in diesem Zeitalter: der Weltraumfahrt im gegenwär tigen Internationalen Geophysikalischen Jahr. Daß sie daneben aber auch die jeweiligen Grenzen der Wissenschaft vor Augen führt und eine Ahnung des jenseitig Liegenden vermittelt, muß ihr ebenfalls positiv angerechnet werden. Science Fiction bereitet den Leser also mehr oder weniger schonend auf ein neues Weltbild und seine Abmessungen vor – und damit komme ich zurück auf das, was ich vor einiger Zeit im SFCD-Magazin ANDRO über das innere Wesen der SF gesagt habe: Science Fiction vergleiche ich mit einem Mythos, der eine neue Zeit einleitet, mit dem Schatten, den die bevorstehenden Ereignisse vorauswerfen, lange bevor die Wissenschaft sich ihrer annehmen kann. Der SF-Schriftsteller William Tenn schrieb einmal diesbe züglich sinngemäß: Der SF-Autor ist der Erbe des Dichters homerischer Epen. Er ist der Nachkomme des Wikingers, der in der Edda mit der Leier in der Hand die Heldentaten seines Volkes besingt. Er hat dessen Leier zwar mit der Schreibma schine vertauscht, und seine Stimme wird durch die Drucker presse enorm verstärkt, aber seine Rolle heutzutage entspricht im Grunde der des epischen Sängers. Wie es damals zuging, wissen Sie sicher, liebe Freunde: Kehrten die Stammeskrieger nach ihrem tatenerfüllten Tage werk des Schädelknackens und Schilderhackens in ihre rauch erfüllte hölzerne Halle heim, so flegelten sie sich zunächst auf ihre Felle, schnitten sich ein stärkendes Stück vom Ochsen am Bratspieß ab, rülpsten ein paar mal mit Gusto und befahlen dann lauthals: »He, du dort, mit dem seltsamen Körpergeruch! 13
Laß gefälligst die Hände von dem Weib und sing uns ein Lied, wie tapfer wir in der letzten Schlacht waren. Aber wehe dir, wenn es nicht interessant wird und nicht ordentlich stabt! Dann knackt dir dieses Trinkhorn den Schädel auf!« Sehen Sie, so ähnlich ergeht es heute manchem SF-Autor. Denn auch heutzutage muß sich der Autor bemühen, seine Story interessant zu machen und gewisse Strukturregeln zu beachten. Und da er erkennt, daß nur wenige Leute das RaumZeit-Segment, auf dem sie existieren, als geheimnisumwittertes Phänomen zu sehen vermögen, wie er, entfernt er sich von ihm so weit, wie er kann, ohne den Eindruck bzw. das Gefühl der Realität aufs Spiel zu setzen. Wie er dies tut, ist völlig ihm selbst überlassen, solange er die relativ strengen Gesetze beachtet, die eine echte SF-Story umschließt. Diese Gesetze sind wohl den meisten von Ihnen bekannt, wenn vielleicht auch nicht bewußt und ausdrucksfäl lig, so doch rein gefühlsmäßig. Es gibt nicht wenige ScienceFiction-Leser, die nach der Lektüre einer SF-Story klipp und klar sagen können, ob es sich dabei nun um Science-Fiction oder um ein verwandtes Gebiet gehandelt hat, und sie vermö gen dies rein gefühlsmäßig zu bestimmen. Andere Leser wiederum verlassen sich nicht auf ihr Gefühl, sondern legen an die Story den Maßstab bekannter Gesetze an. Paßt er, dann war es SF. Paßt er nicht, nun, dann war es eben alles andere, nur keine SF. Was es sonst so an verwandten Gebieten gibt, darauf werde ich gleich kommen. Meine Damen und Herren, Sie kennen die Gesetze, jedenfalls die meisten unter Ihnen. Einmal ganz juristisch ausgedrückt, würde ich sie etwa so auffassen: Paragraph 1: Jede SF-Story muß in erster Linie unterhalten, damit sie das Privileg hat, überhaupt gelesen zu werden. Paragraph 2: Jede Story muß sich mit Wissenschaft befassen oder darauf aufgebaut sein. Hierbei können alle bekannten Wissenschaften, wie etwa Naturwissenschaft, Technik, Völ 14
kerkunde, Geschichte, Soziologie, Psychologie usw. in Be tracht kommen. Zusätzlich ist es auch gestattet, Pseudowissen schaften einzuführen und die SF-Story darauf aufzubauen. Paragraph 3: Jede SF-Story muß eine Studie in angewandter Logik sein. Ich habe vorhin gesagt, daß der SF-Autor bei seinen Eskapaden in die entferntesten Regionen unserer und anderer Welten eines nicht aufs Spiel setzen darf: das Gefühl der Realität. Das ist natürlich nicht immer leicht zu erreichen, doch steht dem Autor ein ebenso einfaches wie durchgreifen des Mittel zur Verfügung, mit dem er den Anschein der Wirk lichkeit wahren kann: die Logik. Unlogische Stories lassen den Leser unbefriedigt. In man chen schnell zusammengehauenen utopischen »Romanen« von heute wird die Unlogik mitunter sogar so stark, daß der gute Leser mit Recht aufbegehrt und den Schmöker in die Ecke pfeffert. Die Ablehnung eines Teils der Bevölkerung gegen über Science Fiction liegt zu nicht geringem Anteil in derarti gen höchst unlogischen, ja dummen Erzeugnissen begründet. Paragraph 4: Jede SF-Story muß einen guten »Plot« enthal ten. Das heißt, sie muß mit Phantasie geschrieben sein und eine Idee verkörpern, die es wert ist, schriftstellerisch, wenn auch experimentell, behandelt zu werden. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen. Manche Stories von Ray Bradbury enthalten z. B. keinen Plot an sich, stellen dafür aber eine Studie in lyrischer Prosadichtung dar. Ich erwähnte bereits, daß man zwischen Science Fiction und den verwandten Gebieten scharf unterscheiden muß. Welches sind nun die großen Konkurrenten von SF, die sich den An schein von Science Fiction geben, im Grunde aber etwas ganz anderes sind? An erster Stelle gibt es da heute wohl die sogenannte Fantasy – oder, wie man in den Staaten auch sagt, die Science Fantasy (eigentlich ein Widerspruch in sich). Ray Bradbury hat den Unterschied zwischen den beiden Literaturgattungen einmal 15
sehr schön definiert – und warum soll ich hier eine neue Definition vom Zaun brechen, wenn sie bereits von einem erheblich Größeren geschrieben worden ist? Ray Bradbury also sagte: »Science Fiction ist der gesetzes fürchtige Bürger der ersonnenen Literatur, der die Regeln befolgt, seien sie nun physikalisch, sozial oder psychologisch. Fantasy andererseits ist der Verbrecher. Jede Fantasy bricht ein bestimmtes Gesetz – und wird erst damit zu dem, was sie darstellt. Science Fiction arbeitet Hand in Hand mit dem Universum. Fantasy spaltet das Universum mittendurch, krempelt es völlig um, löst es in Unsichtbarkeit auf und läßt es Unmögliches vollbringen. Science Fiction bringt den Leser an den Rand des Abgrunds. Fantasy stößt ihn hinunter.« Wenn Sie bereits Fantasy-Bücher gelesen haben, dann wissen Sie, was gemeint ist. Keine Science Fiction sind zum Beispiel jene Erzählungen, in denen Spukerscheinungen, Götter, Dämo nen, Elfen und das Übernatürliche überhaupt auftreten, ohne wissenschaftlich-logische Erklärungen zu finden. Es gibt deren viele. Andererseits wird mancher SF-Autor zu Unrecht als Fantasy-Autor hingestellt, da der Leser entweder keine Ahnung hat oder nicht weiß, welches das Kriterien ist, das Fantasy von SF abgrenzt. Das Kriterien ist einzig und allein die logische, d. h. aus den Prämissen des einmal vorgegebenen Weltmodells folgende Erklärung. Phantastische Geschichten ohne logische »Erklärung« können niemals Science Fiction sein, und ebenso kann die logische Erklärung manche phantastische Geschichte zur Science Fiction machen, wenn … ja, wenn die erwähnten vier Gesetze Beachtung finden. In der Vergangenheit haben zahlreiche Autoren, Herausge ber, Kritiker und Leser versucht, genau zu definieren, was wir mit den Worten Science Fiction eigentlich meinen. Manche der entstandenen Definitionen haben vieles für sich, aber keine von ihnen ist vollständig zufriedenstellen, auch meine eigenen Versuche nicht, da keine von ihnen jemals auch nur eine kleine 16
Majorität der an Science Fiction Interessierten, also zumeist Individualisten der einen oder anderen Art, befriedigt hat. Ich erwarte deshalb, daß man sich auch noch in Jahrzehnten nicht ohne Frust um entsprechende Definitionen bemühen wird. Mal ganz abgesehen von allen Definitionen, ist Science Fic tion ein ziemlich großer Bereich in der Literatur, der auf der einen Seite von der reinen Phantastik, wie etwa Tolkiens HOBBITS-Bücher oder Howards CONAN, auf der anderen Seite von realistischen Geschichten mit etwas Wissenschaft begrenzt wird. In sich selbst umfaßt sie mehrere Untergattun gen, die für mich die folgenden sind: Space Opera (Beispiel: Edmond Hamiltons »The Star Kings«, auf deutsch »Herrscher im Weltraum«), wissenschaftsenthüllende Fiktion (Jules Verne, »Von der Erde zum Mond«), zeitkritische Fiktion (Utopien und Gegen-Utopien wie Jonathan Swifts »Gullivers Reisen« und philosophischsoziologische Kritiken wie George Orwells »1984« und Ray Bradburys »Fahrenheit 451«), sowie antizipa torische Fiktion (etwa die sich auf ein gemeinsames vorgege benes Zukunftsszenario beziehenden Bücher von Robert A. Heinlein). Der Bogen der in diesen Erscheinungsformen von SF behandelten Themen ist dabei weitgespannt: von Invasion der Erde, Zeitreise, Simultanuniversen und Erforschung des Universums über Mutanten, verlorene Zivilisationen und Kybernetik bis zu Schilderungen des Weltendes, die der Edda Ehre machen könnten. Vom Standpunkt des Literaturkritikers aus gesehen, kann SF andererseits sehr einfach kategorisiert werden. In den Augen solch eines »normalen« Literaturkritikers ist Science Fiction lediglich eine von mehreren kuriosen Erscheinungsformen der volkstümlichen, kommerziellen, d. h. verkäuflichen Fiktion, zu denen auch Wildwestromane, Detektivgeschichten, SportErzählungen und Liebesgeschichten gehören. Ein solcher Kritiker wird auch nicht zögern, Autoren wie Bradbury, Stur geon und Van Vogt, Williamson, Heinlein und – ja, es ist noch 17
derselbe Atem! – Clark Darlton als gewöhnliche kommerzielle Schreiberlinge darzustellen, die sich zufällig – rein zufällig natürlich! – auf wissenschaftliche Phantasien spezialisiert haben, und die als solche mehr an einer stetigen Produktion einer Literaturart interessiert sind, die sich (wenigstens in den USA) gut verkaufen läßt, als in der Darstellung neuer, unge wöhnlicher und manchmal auch unpopulärer schöpferischer Gesichtspunkte. In den Augen dieses Kritikasters sind die literarischen Grundlagen von Science Fiction, etwa der Weltraum und die darin hausenden mordenden Monster, die die Erde vernichten wollen, nichts anderes als hochgesteigerte Versionen der grundliegenden Charakterzüge der Wildwest- und Detektivge schichten. Und er schließt wohl gar mit der Feststellung, daß die kommerzielle Literatur immer aus exzentrischen Anschau ungen bestanden habe, damit sie sich am Bahnhofskiosk verhökern läßt, aber daß die exzentrischen Anschauungen noch keine Literatur machen. Wenn man jedoch Science-Fiction-Schriftsteller von Talent näher kennenlernt und sich etwas mit ihnen unterhält, kann man einige hervorstechende Charakteristiken ausmachen, die ihnen zu eigen sein scheinen. Gewöhnlich sind es deren drei, und man findet sie sowohl bei A.E. Van Vogt als auch bei Darlton. Einmal glauben sie hartnäckig daran, daß Science Fiction eine Ausdrucksform der Literatur ist, der in unserer heutigen Zeit ein gewisser Stellenwert und eine besondere Bedeutung zukommt. Zum anderen sind sie sehr an ihrer eigenen Entwicklung als Autoren auf dem neuen und uner forschten Gebiet ihres Mediums interessiert und daher stark selbstanalytisch. Und zum dritten sind sie der Meinung, daß es nichts schaden kann, wenn sie mit ihrer Kunst des Schreibens ihr tägliches Brot verdienen. Nicht zuletzt wurde das sogenann te Goldene Zeitalter der Science Fiction in den USA, also die späten 30er und die 40er Jahre, von jungen Menschen wie z. B. 18
Van Vogt geprägt, die eine unwiderstehliche höhere Macht zum Schreiben antrieb: der verzweifelt knurrende Magen. Vielleicht sollten wir uns kurz einige der heute bekanntesten Autoren ansehen, um das oben Gesagte zu illustrieren. Da ist z. B. an – für mich – führender Stelle A. E. Van Vogt oder V2, wie er von Freunden auch genannt wird. Ich habe einige seiner Werke ins Deutsche übersetzt und viel Spaß, freilich auch Mühe damit gehabt. Beim Betrachten seiner Erzählungen und Romane könnte man denken, daß sein Satz bau manchmal zu wünschen übrig läßt, wie auch der innere Zusammenhang seiner Geschichten. Man könnte sagen, daß der rote Faden in seinen Stories oftmals gerissen ist, jedoch immer wieder irgendwie aufgegriffen wird. Jeder gewöhnliche Literaturkritiker würde nach dem eben Gesagten erklären, Van verstünde nicht viel von der Schriftstellerei. Aber auch wenn dies zuträfe, wäre es nicht das Wichtigste. Das Ausschlagge bende bei Van Vogt ist der Einfallsreichtum, den er zeigt, und die Hingabe, mit der er ihn zum Tragen bringt. Eine Phantasie, wie sie wohl wenige von uns im Normalzustand aufbringen können. Seinen quasi größenwahnsinnigen Helden ist nichts unmöglich. Sie durchstreifen fremde Welten und unerhörte Dimensionen, sie besiegen Leben und Tod, ja selbst die straff sten physikalischen Grundgesetze, und das alles mit einer frappanten nonchalanten Selbstverständlichkeit – die wahre Quintessenz von SF. Denn sie ist es, die das »Gefühl der Realität« erzeugt, von dem ich vorhin sprach. Oder nehmen Sie Robert A. Heinlein. Er ist nicht nur der große Antizipator, sondern auch der Humanist, der Romantiker unter den Science-Fiction-Autoren. Er verstrickt in seine Geschichten nicht nur seine beruflichen Qualitäten als Schrift steller, sondern auch seine persönlichen Qualitäten als Mensch. Er schreibt seine Stories mit überlegenem Können, und sie behandeln oft kontroversielle Themen, so daß er einer der meistdiskutierten Autoren auf dem SF-Gebiet ist. Das liegt 19
wohl nicht zuletzt daran, daß seine Geschichten hin und wieder etwas zu menschlich anmuten. In meinem bereits genannten Artikel im SFCD-Organ ANDRO schrieb ich, daß bei einer SFStory der Mensch in den Hintergrund tritt und die Idee selbst in den Vordergrund rückt. Zu dem rein Menschlichen, das Hein lein in seine Geschichten einflicht, kommen noch die feinen, unaufdringlichen Liebesgeschichten und die Tatsache, daß er in seinen Helden offenbar meistens sich selber verkörpert. Ray Bradbury andererseits ist der große Lyriker unter den SF-Autoren. Erwähnt werden müssen in diesem Zusammen hang auch Abraham Merritt und Edgar Rice-Burroughs, von denen heute nur noch selten gesprochen wird, die aber mitge holfen haben, Science Fiction aufzuziehen. Merritts sämtliche Werke, außer SHIP OFISHTAR und den beiden WITCHBüchern (das eine davon ist unter dem Titel DIE PUPPEN DER MADAME MANDILIP bei Pabel erschienen), sind m. E. als SF zu betrachten. Er schrieb von seltsamen Rassen und Mächten, als ob sie tatsächlich existierten. Das gleiche gilt für die Mars-Bücher des Tarzan-Schriftstellers Rice-Burroughs. Sie sind phantastische Space Opera, aber keine reine Fantasy. Zum Abschluß, liebe Freunde, bleibt mir nur noch übrig, etwas zum Anliegen und zur Aufgabe des SF-Schriftstellers zu sagen. SF-Autoren sind sich allgemein darüber einig, daß es ihre Pflicht und Aufgabe ist, das äußerst Phantastische zu nehmen, wenn es sein muß, und es dem Leser derart alltäglich und wirklichkeitsnah darzubieten, daß er sich ohne die geringste Schwierigkeit selbst in die Lage der handelnden Person zu versetzen vermag. Wenn ihm dies gelingt, dann ist er ein guter Science-Fiction-Autor, mit der Betonung auf Fiction. Wenn nicht, dann ist er ein schlechter SF-Autor, auch wenn seine Story noch so sehr von Schneller-als-Licht-Schiffen und futuristischen Wesen mit dreifachem Gehirn und mechanischen Fortpflanzungsorganen gespickt ist. Bitte, prüfen Sie Ihre SF 20
Autoren einmal von diesem Gesichtspunkt aus; dies sei insbe sondere dem frischgegründeten SFCD-Arbeitskreis »real SF« zugerufen. Auch wenn ich vorhin sagte, daß zwischen Science Fiction und Fantasy ein himmelweiter Unterschied besteht, so will das nicht heißen, daß das eben Gesagte einen Widerspruch dar stellt. Natürlich kann der SF-Autor das äußerst Phantastische nehmen und beschreiben, aber er muß a priori ein System von Gesetzmäßigkeiten einführen, entweder real- oder pseudowis senschaftlich, welches dieses Phantastische logisch erklärt und wirklichkeitsnah darstellt, um das »Gefühl der Realität« zu wahren. Das ist das Wesen des Unterschieds zwischen Science Ficti on und Fantasy und damit das Wesen der Aufgabe des SFAutors.
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Der Super-Zweikampf [1952] In den Zeitungen, Radioapparaten und Fernsehgeräten der ganzen Welt wurde der 18. März 1973 mit allen möglichen wohlklingenden und heroischen Attributen versehen. Man konnte wählen zwischen dem »Höhepunkt eines neuen Zeital ters«, der »Auseinandersetzung zweier Repräsentanten einer neuen Technik« und der »Entscheidungsschlacht auf dem Gebiet der Kybernetik«. Abgesehen von der sensationellen Poetik dieser Pressemel dungen, die sich im Lauf der Jahre kaum verändert hatte, mußten auch nüchterner Denkende zugeben, daß der 27. Juni 1973 einer der interessantesten und spannendsten Tage ihres bisherigen Lebens war. Selbst trockene, kritische Wissen schaftler hatten jenem Tag mit unverhohlener Aufmerksamkeit entgegengesehen, und die Philosophen und Psychologen der Welt hatten aus Anlaß der spannenden Vorgänge wieder einmal zur Feder gegriffen und den Erdball mit Voraussagen und Warnungen, Jubelgeschrei und Resignation über schwemmt. Es war in der Tat einer der bedeutendsten Tage in Wissen schaft, Technik und Kultur der Menschheit, und die Erinnerung wird als Teil unserer Geschichte bestehen, solange es Men schen gibt. Angefangen hatte alles damit, daß sich Professor Marc H. Slogan, Chefmathematiker der Harvard University, zusammen mit rund 500 anderen Mathematikern, Technikern, Kyberneti kern, Monteuren und Neuropsychologen an den Bau der größten Denkmaschine der Welt machte. Wieder einmal war es die Harvard University, die sich damit an die Spitze der Wis senschaft und Technik stellte, nachdem ihre Mathematiker und Assistenten im Jahr 1946 – vor rund 27 Jahren also – zum 22
erstenmal in der Geschichte ein elektronisches »Gehirn«, den Computer ENIAC, konstruiert hatten. Später waren darauf, wie jedes Kind heute weiß, die phänomenalen Denkmaschinen MARK I-IV sowie – noch später – das riesige Elektronenge hirn MAMAC gefolgt. Und nun sollte die Denkmaschine HAVAC (Harvard Automatic Computer) die glorreiche Ent wicklung fortsetzen. Es war wirklich ein epochales Unternehmen, und die Wis senschaftler der ganzen Erde blickten nach Pennsylvanien, wo das gigantische »Brain« nach fünf Jahren angestrengter Arbeit Gestalt anzunehmen begann. Staunend und von einer Gänsehaut überlaufen, nahm die Öffentlichkeit wahr, daß HAVAC rund 50 000 Elektronenröh ren besaß und sich aus über einer Million Einzelteile zusam mensetzte. Ihr Gewicht sollte irgendwo zwischen 300 und 500 Tonnen liegen, und ihre äußeren Abmessungen kamen denen eines kleineren Hochhauses nahe. HAVAC brauchte zur Stromversorgung ein eigenes Elektrizitätswerk und zur Küh lung ihrer elektronischen Bauteile eine eigene Pumpenstation, die ihr hektoliterweise Kühlwasser zuführte. Es war also – alles in allem – ein gigantisches Unterfangen, besonders im Hinblick darauf, daß HAVAC nach Professor Slogans Worten schneller, besser und mehr denken konnte, als der beste Denker unter den Menschen. Sie sollte ihre eigenen Gedächtnisspeicher besitzen – gigantische Aluminiumtrom meln mit einer magnetisierbaren Oberfläche –, die schier das gesamte Wissen der Menschheit enthielten. Allein zwei Jahre unausgesetzter Arbeit einer Armee von Fachleuten waren nötig, um dieses Wissen den langsam rotie renden Gedächtnistrommeln in konzentrierter Form zuzufüh ren, so daß die Maschine später selbsttätig darauf zurückgrei fen konnte, wenn sie es für erforderlich hielt. Das war nicht weiter phantastisch und schon gar nicht übersinnlich, denn bereits die uralte ENIAC von 1946 hatte mit ihrer – damals – 23
gewaltigen Gedächtniskapazität in zwei Minuten ein Problem durchrechnen können, mit dem ein Mathematiker der Sonder klasse sein ganzes Leben lang nicht fertig geworden wäre. Auch die spätere MARK III verstand es schon, 4000 Zahlen, auch Worte und sonstige Einzelheiten zu behalten. Und trotzdem stellte HAVAC für die meisten Menschen ein übersinnliches Phänomen dar, ein Wesen aus einer anderen, unbegreiflichen Welt. Ihr Gehirn war das beste der ganzen Welt; nur eines fehlte ihr nach Professor Slogans Worten: die Phantasie. Dagegen war ihr Erbauer wiederum der Meinung, wie er mir einmal erklärte, daß das Elektronengehirn »Leben« zeigte. Es sei genau so einzuschätzen wie ein menschliches Gehirn und unterliege zum Beispiel auch ganz ähnlichen Krankheiten wie dieses. So entstand also in Pennsylvanien HAVAC der Denkriese, das größte Elektronengehirn aller Zeiten. Das heißt – es war nicht das einzige seiner Art, das im Entste hen war. Professor William H. Raymond leitete an der Manchester University in England den Bau eines Computers, der dem HAVAC gleichkommen, wenn nicht ihn sogar übertreffen sollte. Im Gegensatz zu Professor Slogan von Harvard, der seinem künstlichen Gehirn Phantasie und Eigenwillen absprach, würde Raymonds SENAC (Super Electronik Automatic Computer), wie der Brite mir anläßlich der Grundsteinlegung seines Denk roboters erklärte, aufgrund seiner Bauweise und Programmie rung zu quasimenschlichen Denkfunktionen fähig sein. Er würde Attribute des menschlichen Geistes, wie z. B. Vorstel lungskraft, besitzen und sogar einen eigenen Willen entwik keln. Es läge nur an ihm – Raymond –, die Maschine so zu konstruieren, daß sie sich auch nach außen hin so verhalten konnte, als wäre sie menschlich. 24
Die Zeit verging. Die beiden gigantischen Robotergehirne wuchsen und gediehen. Sie wurden mit allem erfaßbaren menschlichen Wissen ausgerüstet, konnten als Experten jedes Problem in lächerlich kurzer Zeit lösen und beantworteten philosophische Fragen, die ihnen auf einer Art Schreibmaschi ne kodiert mitgeteilt wurden, in einer Weise, die selbst bei hartgesottenen Philosophen plötzliches Verstummen und tiefes Nachdenken verursachte. Bald konnte man auch Unterschiede zwischen den beiden Riesencomputern feststellen. Die amerikanische HAVAC löste alle ihr vorgelegten Pro bleme mit unübertroffener Genauigkeit in der Zeit von wenigen Sekunden, beging nie einen Fehler, und wenn in ihrem Innern ein Servomechanismus, eine Elektronenröhre, eine elektrische Weiche oder ein Register tatsächlich einmal durch einen Störimpuls oder Kurzschluß einen Fehler machte, korrigierte ihn HAVAC sofort selbständig durch Parallelrechnung. Doch stellte sich bald heraus, daß die Maschine nur das tat, was man ihr sagte und aufs genaueste vorschrieb. Wohl wickelte sie die Problemfolgen in ihrem Innern selbständig ab, griff bei Bedarf auf ihr phänomenales Gedächtnis zurück, informierte mit den dort gefundenen Daten Hunderte von Röhren und Servos, schüttelte das Problem durcheinander, wenn sie es für besser fand, es an einer anderen Stelle anzupacken, korrigierte Logik fehler und schrieb zum Schluß das Ergebnis auf einer elektri schen Schreibmaschine aus. Aber es fehlte ihr der eigene Wille, die Vorstellungskraft, die Erfindungsgabe – kurz, das Schöpferische. Auch von SENAC konnte man nicht gerade behaupten, daß sie diese Vorzüge besaß – aber ihr Verhalten vermittelte äußerlich den, Anschein größerer Autonomie. Kinderleichte Probleme, die man ihr zum Spaß stellte und die sie ihrer für unwürdig erachtete, wies sie zurück, entwickelte aber bei schweren Fragen einen hartnäckigen Ehrgeiz. Unterlief ihr bei 25
einer Kalkulation wirklich mal ein Fehler, den sie übersehen hatte und erst zu spät erkannte, so konnte es vorkommen, daß sie sich eigensinnig so lange weigerte, ein anderes Problem zu bearbeiten, bis man ihr die gleiche Aufgabe noch einmal gestellt und sie sie zu ihrer eigenen Zufriedenheit gelöst hatte. Sie verfügte über die Fähigkeit zu lernen. Aber ihr Eigenwil le drückte sich vor allem darin aus, daß man ihr selbst die Kontrolle über den ihre Funktion ermöglichenden Kraftstrom übertragen hatte. Es konnte vorkommen, daß SENAC inmitten eines Problems, das ihr wegen einer versteckten Unlogik unsympathisch wurde, ihren Hauptteil selbst ausschaltete und damit außer Funktion trat. Wenn die menschliche Aufsichts person die Stromzufuhr wieder herstellte, ohne die fehlerhafte Aufgabenstellung durch eine andere zu ersetzen, unterbrach SENAC die Stromzufuhr eigensinnig aufs neue – und tat dies so lange, bis man ihrem Willen nachkam. Auch auf der elektrischen Schreibmaschine machte sie bis weilen ihre Wünsche kund, und die Ingenieure kamen ihren Forderungen schleunigst nach, wenn auf dem Ausdruckpapier stand: »Spannungsschwankungen treten auf! Sofort Kraftwerk überprüfen!« oder: »Diese Aufgabe ist unlösbar! Bitte umge hend durch eine andere ersetzen!« In meiner Eigenschaft als Journalist war ich einmal selbst Zeuge, als sich SENAC bei der Ausrechnung eines Systems meterlanger Atomkern-Formeln unterbrach, das Zwischener gebnis mit ihrem Alu-Trommelgedächtnis verglich und dann auf der Schreibmaschine die Worte klapperte: »Berechnung der Formel ist zwecklos und unproduktiv. Hat die gleiche Lösung wie Problem Nr. 5 von gestern abend!« Zu meinem Erstaunen beeilten sich daraufhin die beiden wachhabenden Ingenieure, die gestellte Aufgabe für ungültig zu erklären und die nächste aufzurufen. HAVAC hätte die Atomformel dagegen stur auch ein zweites Mal durchgerech net. 26
So standen die Dinge also, und der Vergleich zwischen den beiden gigantischen Denkmaschinen fiel mir als neutralem Journalist nicht schwer. HAVAC war ohne Tadel, gehorsam und fehlerfrei. Sie tat haargenau, was ihr geheißen wurde – und keinen Deut mehr; persönlich war sie mir sehr sympathisch. SENAC war als Rechner ebenso perfekt, gab aber ihren Pro grammierern darüber hinaus Ärger, Sorgen und Unruhe, den Psychologen Veranlassung zum Stirnrunzeln und dem Publi kum Grund zum Lachen. Aber das war nur die Vorgeschichte des Ganzen. Die eigentli che Sensation begann damit, daß in der internationalen Presse ein Wettkampf zwischen HAVAC und SENAC vorgeschlagen wurde. Ein Zweikampf – und zwar mit den Waffen des »königlichen Spiels«: Schach! Sowohl Professor Slogan als auch Professor Raymond erklär ten sich sofort damit einverstanden. Jeder hatte seinem Schütz ling die Grundregeln und Finessen des Schachspiels mit den – wie jeder von ihnen glaubte – raffiniertesten Algorithmen und Suchstrategien in die Aluminium-Trommelspeicher eingeprägt, den konzentrierten Erfahrungsschatz mehrerer Generationen von Schachgroßmeistern von Capablanca bis Bogoljubow. Jeder der beiden Computer besaß damit die Intelligenz, unter Hunderten, ja Tausenden von möglichen Schachzügen den optimalen Zug zu finden. Ein großes Duell stand in Aussicht, und man bereitete fieber haft alles darauf vor. Raymond unterhielt sich tagelang mit seinem Schützling, um ihn auf den bevorstehenden Kampf vorzubereiten – Allüren wie ein plötzliches Selbstabschalten konnte sich SENAC dabei nicht leisten –, eine Maßnahme, die Slogan bei seinem HAVAC für unnötig hielt. Als Austra gungsort wurde der Zerstörer »Kansas« gewählt, der auf dem Atlantik, genau auf halber Strecke zwischen Pennsylvanien und 27
Manchester, festliegen sollte. Jeder Computer würde automa tisch seinen Schachzug über Funk zur »Kansas« senden, und die dort anwesenden Schachgroßmeister würden als Schieds richter wirken. Als der 18. März 1973 anbrach, befand ich mich auf der »Kansas«. An Bord weilten die Professoren Slogan und Ray mond, die sich anfangs mit eiskalten Blicken maßen, bald aber in ein tiefschürfendes Gespräch über Kybernetik an sich und ihre Schützlinge im besonderen verwickelt waren, ferner der Kapitän und seine Crew, zwei andere Herren und die kleine Gruppe der Journalisten der Weltpresse, zu denen ich gehörte. Der Beginn des Duells war auf 12 Uhr Greenwich Mean Time festgelegt worden, und sowohl in Harvard als auch in Manchester saßen bibbernde Ingenieure vor den Schalttafeln und Tastaturen ihrer Supergehirne. Wie Hochhäuser ohne Fenster erhoben sich diese auf freiem Gelände, und seit Stun den schon waren sie in Betrieb, um ihre Innentemperaturen zu stabilisieren. Beide »wußten« bereits, daß diesmal keine Atomformeln zu erwarten waren, sondern ein Schachspiel. Kurze Codesignale auf den Eingabemaschinen hatten sie veranlaßt, im Innern auf die entsprechenden Programme und Routinen »umzuschalten«. In der angenehm geräumigen Messe der »Kansas« befand sich an einer Wand eine Leuchttafel von vier Quadratmetern Fläche, auf der die 64 Felder des Schachbretts aufgetragen waren. Die Figuren – jetzt noch in der Grundstellung – wurden von hinten dagegen projiziert; später sollten sie je nach den Anordnungen der beiden Gegner ihre Stellungen ändern oder verlöschen. Die beiden Herren, die außer den Professoren, den Reportern und der Besatzung anwesend waren, hießen Awaloff und Meier – Namen, die heute jedes Kind kennt. Die beiden führenden Schachgroßmeister waren dazu ausersehen, das Spiel der Elektronengehirne kritisch zu begutachten. 28
Es war auf meiner Uhr genau 12 Uhr, als das Zeitzeichen aus Greenwich kam und beiden Computern das Zeichen zum Beginn gab. Und dann packte uns die Spannung. Es wurde fast unmög lich, die Augen von der Leuchtscheibe abzuwenden; die Umgebung wich in die Ferne zurück und wurde vergessen. Was sich da abspielte – das war gewaltig und für den normalen Verstand unfaßbar: ein Wettkampf der beiden größten Denk maschinen der Erde, ein Zweikampf von nie geahnter Art. Die genaue Entwicklung und der Fortgang des Spiels selbst sind in der Presse und Literatur zur Genüge behandelt und von Schachspielern auf der ganzen Welt unzählige Male nachge spielt worden, so daß ich mir eine Beschreibung der Züge hier ersparen kann. Das Spiel schritt mit einer Geschwindigkeit fort, die atembe raubend war. Die beiden Schachweltmeister, die bei ihrem letzten Wettkampf Remis gespielt hatten, schienen von Sinnen; sie hatten sich an den Armen gepackt, und ihre Blicke hingen starr auf der Leuchttafel. Leuchtende Bauern verschwanden dort in rascher Folge, wurden ersetzt durch Läufer und Sprin ger. Türme zogen zielbewußt über das Schachbrett und hielten unvermittelt an, mit einem Ziel, das noch nicht vorauszusehen war. Selbst die beiden Schachweltmeister, die bei ihren Spielen ein Dutzend Züge voraus dachten, vermochten nur bei wenigen Zügen zu sagen, was die »Gehirne« im Schilde führten –, warum sie gerade diesen Zug machten, dort eine Figur schlu gen, hier sich schlagen ließen, minutenlang den König unge deckt dem Gegner aussetzten oder mit der Dame tollkühn ins blutigste Gewühl vorstießen. Das Tempo war verwirrend. Keine zwei Sekunden vergingen zwischen Zug und Gegenzug. Und doch leisteten die Schach spieler in diesen wenigen Augenblicken eine Denkarbeit von unvorstellbaren Ausmaßen. Wenn HAVAC zum Beispiel durch Funk die Koordinaten 29
des gegnerischen Zuges empfing, brachte die Maschine anhand der empfangenen Nachricht in ihrem Arbeitsspeicher die Positionen der Figuren auf den neuesten Stand, erwog ihre eigene Position und fand, indem sie in ihren Schaltkreisen unzählige Suchstrategien unter Beachtung der Schachregeln durchlief, innerhalb von Sekundenbruchteilen den optimalen Gegenzug, den sie in Erwiderung auf SENACS Zug tun mußte. Genau wie ihr Gegner »dachte« sie 20 bis 30 Züge auf breiter Front im voraus, baute ihre Operationen auf lange Sicht auf und änderte ihr Programm laufend nach den neuesten Entwick lungen um, dabei, wenn nötig, auf eine gänzlich neue Strategie übergehend. Es war ein gewaltiger Kampf, und wir kläglichen Menschen sahen uns betroffen von der scheinbaren Überlegenheit der beiden Denkriesen in unserem ureigenen königlichen Spiel. Für SENAC gab es nur den Sieg, ohne Alternative. Sie hatte nach Raymonds Beteuerung ihren ganzen »persönlichen« Ehrgeiz darein gesetzt, HAVAC zu schlagen, und es standen ihr dazu Zehntausende von Elektronenröhren, Tausende von Kilometer Kabel, Tausende von Servorelais und Tausende von Kilowattstunden zur Verfügung, nicht zu vergessen ihre gigan tischen Gedächtnisspeicher auf ihren Aluminiumtrommeln tief in ihrem Innersten. HAVAC dagegen kannte nach Slogans Worten keine Gefüh le. Für ihre Algorithmen war es eine mathematische Bestimmt heit, daß sie das Spiel gewinnen würde, denn dafür waren sie geschrieben. HAVAC kannte keinen Ehrgeiz. Ihre Figuren opferte die Maschine freimütig, wenn sie aus ihnen keinen errechenbaren Vorteil mehr ziehen konnte. Sie machte das Spiel mit mathematischer Exaktheit, weil es ihre Programmie rer so wollten. Aber auch sie strengte ihre Röhren und Strom kreise, Widerstände und Verzögerungsglieder bis aufs Äußer ste an und griff pausenlos auf ihr phänomenales Gedächtnis zurück, um kaltblütig und – im wahrsten Sinn des Wortes – 30
maschinell die sich ihr stellenden Schachprobleme zu lösen. Minuten später waren auf dem Schachbrett an der Wand nur noch acht rote und acht blaue Figuren im Spiel. Der Kampf war dramatischer geworden. Die Lage hatte sich zugespitzt. Die beiden Großmeister schienen einer Herzattacke nahe. Ihre Lippen murmelten Spielfeldkoordinaten, und ihre Augen folgten den flinken Bewegungen der Figuren mit beängstigender Starrheit. Sie hatten sich allmählich in das Spiel hineingedacht, und sie begriffen nun bei den meisten Zügen die dahintersteckende Absicht der Elektronengehirne. Die Züge kamen nun in größeren Abständen, obwohl der Rechenaufwand durch den Wegfall so vieler anderer Figuren geringer geworden sein mußte. Aber in ihrer Blitzartigkeit waren sie noch immer vollständig unmenschlich. Als HAVAC noch vier, SENAC noch sechs Figuren besaß, schickte die letztere einen Läufer schräg über das Brett und bedrohte den König, den HAVAC durch ihren letzten Zug entblößt hatte. Schachmeister Awaloff stieß Meier in die Rippen. »Sehen Sie nur SENAC! Eine wunderbare Kombination! Hat den Gegner zuerst gezwungen, den königsdeckenden Turm wegzuziehen und nun bietet sie Schach!« Meier starrte angestrengt auf das Spiel. »Ein Matt ist es aber nicht. Dort hat HAVAC noch einen Turm, den sie dazwischen setzen kann. Ich kann SENAC nicht verstehen! Daß sie ihren Zug so unproduktiv verschwendet! Das hätte doch ein Anfän ger gesehen.« »Sie wird schon wissen, was sie tut«, warf Raymond etwas pikiert ein, und der Schachmeister verstummte verlegen. HAVAC tat jedoch nicht, was Meier vorausgesehen hatte. In weiser Voraussicht ließ sie ihren Turm stehen, wo er war, und rückte den König hinter seinen letzten Bauern aus dem Schach. Meier schüttelte nur noch den Kopf. 31
SENAC – wie durch den Erfolg kühn geworden – ging weiter zum Angriff vor und brachte mit ihrem nächsten Zug einen Springer in Bereitschaftstellung, von wo aus er mit dem näch sten Rösselsprung HAVACS König erneut bedrohen konnte. Mehrere Sekunden verstrichen. HAVAC rückte ihren ersten Turm wieder heran, doch konnte er nicht mehr rechtzeitig kommen. SENAC bot Schach, und nun stand der bedrohte König eingekeilt zwischen seinem Bauern, dem feindlichen Läufer und dem feindlichen Springer. Nur drei Möglichkeiten blieben ihm, aus dem Schach zu kommen. Die eine bestand darin, daß er dem feindlichen Springer auf den Leib rückte und ihn damit wegscheuchte – wenn er sich ließ. Awaloff und Meier erwogen gemeinsam diese Möglichkeit, wobei sie tuschelten, als ob sie auf die Tausende von Kilometer entfernten Spieler Rücksicht nehmen müßten, und schüttelten übereinstimmend die Köpfe. Mit ihren vier Figuren – dem König, den beiden Türmen und dem Bauern – war HAVAC ihrer Meinung nach verloren; ihre Attacke auf den Springer würde ihr nur einen kleinen Hinrichtungsaufschub gewinnen. Doch in den Rechenregistern und Schaltkreisen des Groß computers spielten sich Prozesse ab, deren Umfang die beiden Schachweltmeister noch nicht einmal erahnen konnten. Wir mußten wohl fünf Minuten lang auf HAVACS Meister zug warten. Er kam nicht. Dagegen wurde Professor Raymond plötzlich an den Fern sehsprecher gerufen. Seine Techniker in Manchester verlangten ihn dringend zu sprechen. Der leitende Ingenieur blickte vom Bildschirm. In der Hand hielt er einen langen Papierstreifen. »Chef, die Maschine reagiert exzentrisch. SENAC ist offen bar in ihre Persönlichkeitsroutinen gesprungen. Sie ist außer sich. Sie beschwert sich, daß im Spiel eine Pause eingetreten sei. Sie könne nicht glauben, daß ihr Gegner schon am Ende seiner Kraft wäre!« 32
»Reden Sie ihr gut zu, Jim, und bringen Sie sie wieder ins Hauptprogramm zurück. HAVAC kaut zur Zeit an einem schwierigen Problem«, rief Raymond dem Fernsehbild zu. Der Ingenieur nickte und verschwand. Dann machte sich Slogan mit dem Apparat zu schaffen und stellte eine Verbindung zu Harvard in USA her. Das gehetzte Gesicht seines besten Kybernetikers erschien auf der Scheibe. »Schmitt, was ist denn los? Warum antwortet die Maschine nicht?« »Professor«, antwortete Schmitt aufgeregt, »das Brain arbei tet ununterbrochen, aber die Arbeit scheint schwierig zu sein. Ich habe den Eindruck, daß HAVAC erst jetzt SENACS Charakterart erkannt hat und nun dabei ist, ihr ferneres Spiel darauf einzustellen. Dazu mußte sie auf ihr Lernprogramm zurückgreifen und dann die Suchstrategien selber ändern. Sie wissen ja, daß ein Elektronenrechner von HAVACS Typ niemals den gleichen Fehler zweimal begeht und schnell lernt. Aber der Zeitfaktor spielt hier offenbar doch eine Rolle. Sie hat in diesem Augenblick SENACS Mentalität analysiert, wenn ich’s mal so nennen darf, und wird nun versuchen, so zu spielen, daß sie sie überlisten kann – indem sie sie bei ihrer »Persönlichkeit« packt. Das erfordert jedoch Arbeit, und ich mache mir um sie Sorgen. Ihre Temperatur ist dicht am Gefah renpunkt. Sie fordert zwar ständig erhöhte Fördermengen von der Pumpstation, aber bis jetzt ist noch keine Temperatursen kung zu sehen …« »Hmmm, das klingt allerdings schlimm. Nun, wir werden ja sehen. Geben Sie ihr genügend Kühlung, Schmitt, dann wird HAVAC es Ihnen mit dem Sieg vergelten!« In diesem Moment schrie Awaloff auf und deutete zum Schachbrett. HAVAC hatte den nächsten Zug getan. Ihr König war wirklich dem Springer auf den Leib gerückt. Und es zeigte sich nun, wes Geistes Kind SENAC war. Sie hätte den Springer opfern können und mit dem dadurch ge 33
wonnenen Zug einen Turm zur Schachbietung herbeiholen können, wie es die phantasielose HAVAC wahrscheinlich getan hätte. Statt dessen verschwendete SENAC den Zug. Sie brachte den Springer fürsorglich aus der Gefahrenzone. Dieses eine Mal schien sie unter der Direktive ihres »Eigenprogramms« gehan delt und nicht sämtliche Züge im voraus berechnet zu haben. Denn nun ging HAVAC unter dem begeisterten Jubel Slo gans und der Großmeister zum Angriff vor. Die Maschine brachte ihren Turm nach vorne und bot dem feindlichen König, den SENAC durch die Entfernung des Springers seines Schut zes beraubt hatte, Schach. SENAC schien durch die Psycho-Falle, die ihr ihr Gegner gestellt hatte, den Kopf zu verlieren. Sie brachte ihren König erneut aus dem Schach. HAVACS Turm schlug ihren Bauern und bot erneut Schach, wodurch der König in die letzte Ecke des Brettes gedrängt und eingekeilt wurde. Und dann setzte HAVAC in Sekundenschnelle schlagartig zu ihrem letzten und einzig richtigen Zug an – dem Todesstoß. Ihr zweiter Turm, der die ganze Zeit über den feindlichen Läufer bedroht und sich nicht von der Stelle gerührt hatte, erwachte zum Leben. Er sauste die ganze Länge des Brettes herunter und pflanzte sich in der untersten Reihe auf. Schachmatt! Wir brüllten es im Chor förmlich heraus, und die Wände der »Kansas«-Messe erzitterten. Es war ein ganz simpler Mattzug gewesen – der König durch zwei Türme in einer Ecke ausge schaltet, aber er war in seiner elementaren Simplizität wie ein Blitz aus heiterem Himmel gekommen. Die beiden Schachmei ster starrten sich eine Weile lang unausgesetzt an, bevor sie es zu fassen vermochten. HAVAC, das Elektronengehirn ohne Phantasie und ohne Eigenwillen hatte SENAC, die Denkmaschine mit Eigeninitia tive geschlagen! Die Philosophen würden auf Jahre hinaus 34
Wasser für ihre Mühlen haben. Professor Raymond konnte in unseren Jubel über die Lei stung der Harvard-Maschine nicht einstimmen. Er zog ein säuerliches Gesicht und wandte sich niedergeschlagen ab. Doch da wurde er erneut an den Fernsehsprecher gerufen. SENACS Chefbetreuer blickte aufgeregt vom Bildschirm. »Professor Raymond, es ist etwas passiert. Bitte kehren Sie schnellstens zurück! Es ist sehr wichtig!« Raymond wurde noch eine Spur bleicher. »Nun, so rede doch endlich, Jim. Was ist los?« »Chef, ob Sie es glauben oder nicht: SENAC ist total ver rückt geworden. Sie ist übergeschnappt. Ich glaube, die Nieder lage hat sie wahnsinnig gemacht!« Einige Stunden später standen wir im Schaltraum des giganti schen »Gehirns« SENAC und blickten bestürzt und verständ nislos auf das unzusammenhängende Gestammel, das die Maschine auf das Schreibmaschinenpapier warf. Sie schien in ihrem Gedächtnisspeicher zu wühlen, jagte lange nicht mehr benötigte Daten durch ihre Schaltkreise, schüttelte Informatio nen durcheinander und gab schließlich ein Wirrwarr von mathematischen Größen, philosophischen Sätzen und wegge speicherten Schachzügen des verlorenen Duells von sich. Dann schrieb sie »Wurzel aus minus eins«, schaltete sich unvermit telt ab und wiederholte dies jedesmal, wenn Raymond die Stromzufuhr wieder herstellte. Erst am nächsten Morgen gelang es den Technikern, die Maschine wieder in Gang zu bringen und ihr eine Testaufgabe vorzulegen. Das Ergebnis lautete ungefähr: »Ein siebenstelliger Logarithmus kann Kant konnte 6 54 74 56 mal 10 hoch minus 26 und sagt das Leben ist nur ein kurzer Traum mal Pi ist 63 im Quadrat durch 3 mal Schopenhauer hoch 3 Lichtjahre entfernt …« usw. usw. »Ein noch größerer Unsinn, als gestern abend«, jammerte Raymond und raufte sich die Haare. 35
George Healy, der »Psychiater« des »Gehirns« schlug end lich vor, SENAC durch eine besondere Gedankenübung wieder auf die Beine zu bringen. Man probierte diese mentale Gymna stik aus. Sie bestand darin, daß die Stromzufuhr der Maschine mehrere Stunden lang an- und ausgestellt wurde, – immer wieder, in regelmäßigen Abständen. Etwa wie bei einem Menschen, den man dadurch weckt, daß man fortwährend das Licht an- und ausknipst. Aber SENAC sprach nicht darauf an. Sie blieb geistesgestört, wenn ich es mal so nennen darf, und Raymond gab schließlich auf. Ein Hochhaus voller Elektronenröhren und Servorelais, über einer Million Einzelteile und mit einem Kostensatz von 5000 Dollar je Stunde war wahnsinnig geworden – wertlos, ein lallender Idiot. Ein Fall für den Psychiater! So standen die Dinge, als George Healy mit einem neuen Gedanken auf den Plan trat. Wie es weiterging, ist allgemein bekannt. Später, als alles vorüber war, sprach ich mit ihm darüber, und er meinte wegwerfend: »Natürlich war es die einzige Möglichkeit. SENAC funktio niert wie ein menschliches Gehirn, nur viel exakter und unver gleichlich schneller. Es war darum nur logisch, sie durch die gleiche Methode zu heilen zu versuchen, die in der Psychiatrie auch bei menschlichen Patienten bisweilen angewendet wird.« »Sie hatten dabei keinerlei Bedenken?« fragte ich ihn. »Well, I hated doing it, as always. Aber auch wenn wir nicht genau wissen, wieso, klappte es tadellos. Genau wie bei einem Schizophrenen wendeten wir Schocktherapie an. Einen Strom stoß mit erhöhter Voltzahl durch SENACS Organe gejagt … nun, der plötzliche Impuls hat offenbar die durcheinandergera tenen Schaltkreise wieder an ihre ursprünglichen Positionen zurückgeworfen. Nun bittet sie uns inständig, es nicht noch einmal zu tun. Aber sie sehen den Erfolg! SENACS neueste Leistungen sind sensationell. Sie hat sich von dem verhängnis 36
vollen Schachspiel vollständig erholt und ihre Arbeit voll wieder aufgenommen!«
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Der integrierende Faktor [1956] Nein, mein Freund, deine Frage ist gar nicht so dumm. Weißt du, es scheint im Wesen der menschlichen Natur zu liegen, daß man seine Fehler erst dann erkennt, wenn es zu spät ist. Zu meist läßt sich aber aus den Folgen wenigstens lernen. Anders ist es bei den Fehlern, die das Ende bedeuten! Es gibt in unserer Geschichte zahlreiche Persönlichkeiten, die gegen die Ignoranz der Mehrzahl der Menschen ankämpfen wollten – ein Kampf, der schon bei seinem Beginn zur Nutzlo sigkeit verdammt war, weil er sich gegen das traditionelle Gebaren des Homo sapiens selbst richtete. »Traditionell« – so nannte man das Desinteresse, das der Mensch bevorstehenden und sich oft deutlich abzeichnenden Umstürzen in seinem Weltbild entgegenbrachte – nur um danach erstaunt von »Kulturschock« zu sprechen, – so nannte man die Inkonsequenz, mit der er seine Entschlüsse faßte. Mancher hat sich aufgerieben in diesem erfolglosen Kampf, der von zu wenigen oder zu einflußlosen Leuten geführt wurde, so daß ihre Stimmen ungehört verhallten. Und warum, glaubst du, hörte man die Warner nicht? Die Menschheit war nicht interessiert – sie brachte nicht die Kon sequenz auf, aus den vorliegenden Tatsachen auf die zukünfti gen Entwicklungen zu schließen. Die Mehrzahl von ihnen fuhr weiter fort, sich an Traditionen gebunden zu fühlen und dem entsprechend zu handeln. Wandel und Wechsel waren ihnen ein Greuel oder zumindest fremd – etwas, das möglichst zu vermeiden war. Ich erinnere nur noch an die Entwicklungsjahre der Welt raumfahrt! Du weißt es wohl auch. Die Presse überschlug sich damals täglich mit Nachrichten und Prognosen über die erste Raketenfahrt zum Mond; sie machte daraus einen Zirkus, und die Menschheit gab sich den Anschein, als ob sie interessiert 38
aufhorchte. Und doch – als man in dem Land, in dem kurz darauf das erste bemannte Raumschiff gebaut wurde, eine Umfrage veranstaltete und der Bevölkerung die Frage vorlegte: »Glauben Sie, daß in den nächsten fünfzig Jahren bemannte Raketen den Mond erreichen werden?«, wurde die wahre Einstellung der Menschen sichtbar: 11 Prozent der Befragten besaßen überhaupt keine Meinung, und 51 Prozent antworteten mit einem »Nein!« – Tatsächlich vergingen keine fünfzehn Jahre, bis John Davis zum Mond startete und dort auch Fuß faßte. Daß er niemals zurückkehrte, spielt hier keine Rolle. Ich könnte noch weitere Muster der beklagenswerten »Tradi tionsgebundenheit«, des Festhaltens an veralteten Strukturen anführen, lieber Freund, aber ich beschränke mich auf ein einziges Beispiel: auf das Beispiel, dessen Auswirkungen das Ende unserer Gesellschaft, wie wir sie kannten, herbeigeführt hat. Wieviele Menschen selbst in dieser entscheidenden Stunde an ihrer Ignoranz festhielten, ist mir unbekannt. Eines aber weiß ich gewiß: Ich war nicht darunter, das kannst du mir glauben. Denn ich kannte ja das »Gehirn«! Für die Öffentlichkeit begann es damit, daß ihr der 27. Juni 1992 mit den höchstklingenden Prädikaten vorgestellt wurde, deren die Weltpresse fähig war. Ausdrücke wie »Das Idol aller Grübler« und »Künstliche Intelligenz!« wurden zu populären Modebegriffen. Natürlich waren die Öffentlichkeit wie auch die Experten über den Stellenwert der neuen Errungenschaft geteilter Mei nung. Nichtsdestoweniger mußten auch nachdenklichere Bürger zugeben, daß der 27. Juni 1992 einer der interessante sten und spannendsten Tage ihres bisherigen Lebens gewesen war. Einer von diesen war ich. Denn, wie du dir denken kannst, bedeutete dieser Tag für mich den Höhepunkt meiner berufli chen Laufbahn, ja meines Lebens überhaupt. Es war der Tag, an dem das »Gehirn« in Tätigkeit gesetzt wurde. Die Feier, die damit zusammenhing, war großangelegt 39
und prächtig – zweifellos! Aber die Hauptperson dieser Veran staltung beteiligte sich nicht daran. Ein Robotgehirn gibt sich nicht mit vulgären Sektfeiern ab. Das »Gehirn« war nach zehn Jahren angestrengter Arbeit fertiggestellt worden, besaß rund 800 000 Elektronenröhren und Transistoren, und setzte sich aus über einer Million weite rer Einzelteile zusammen. Sein Gewicht lag irgendwo zwi schen 3000 und 4000 Tonnen, und seine äußeren Abmessungen glichen denen eines kleinen Wolkenkratzers. Es benötigte ein eigenes Kraftwerk und eine separate Pumpstation, die ihm Kühlwasser in Niagarafall-Mengen zuführte. Und ich war es, dem man den Posten des Direktors, Verwal ters, Wächters, Vormunds, Agenten und Anwalts des »Ge hirns« anvertraute – eine Aufgabe, vor der ich im ersten Au genblick unwillkürlich zurückschreckte, obwohl mir ein großer, gutausgebildeter Stab zur Verfügung stand. Denn mein Schützling stellte die riesenhafteste Denkmaschine dar, die jemals konstruiert worden war. Eine größere wird von Men schen niemals gebaut werden, aber das brauche ich dir freilich nicht zu sagen. Sie verstand es, schneller, besser und mehr zu denken, als der beste Grübler unter den Menschen. Sie besaß ihr eigenes Gedächtnis – endlose Speicherbänke auf giganti schen Aluminiumtrommeln mit einer magnetisierbaren Ober fläche – die das gesamte Fachwissen der Menschheit enthiel ten. Und das Wichtigste: Als erste Denkmaschine der Welt verfügte sie über ein unzweifelhaftes, wiewohl elementares Ego-Bewußtsein. Es fiel mir in den ersten Tagen beträchtlich schwer, meinem Amt gebührend nachzukommen. Das »Gehirn« allerdings machte mir keine Mühen; im Gegenteil, es überraschte mich durch seine Kooperation. Die Schwierigkeiten kamen von den Klienten des »Gehirns«. Kaum war es nämlich zum öffentlichen Gebrauch freigegeben, trafen aus der ganzen Welt scharenweise Menschen ein, die 40
eine Antwort auf ein sie bedrängendes Problem haben wollten. Wie ich mich erinnere, war die meistgestellte Frage von der Art: »Wie werde ich schnell reich?« Wo alle die Menschen herkamen, weiß ich nicht. Die »Gehirn«-Company hatte es ihnen – weiß Gott! – nicht einfach gemacht. Die Gebühr für eine Frage – von allerdings beliebi gem Umfang – betrug eine runde Million Dollar, mit besonde ren Sondertarifen für Terminverspätungen, Eilaufträgen und Fernanfragen. Meine Aufgabe war es, den Klienten zu empfangen, seine Papiere zu prüfen, einschließlich der Quittung über die entrich teten Gebühren, und mir dann das Problem vorzunehmen, das ihn quälte. Diese Arbeit wurde für mich und meine Program mierer bald zur Routine und verlief einigermaßen erträglich. In der Hauptsache handelte es sich um einen Übersetzungsprozeß aus der Umgangssprache des Kunden in die präzise definierte Semantik des »Gehirns«. Tagtäglich kamen die Antragsteller zum »Gehirn«, legten ihre Frage vor, die dem »Gehirn« nach entsprechender Reformulierung auf einer Spezialschreibma schine mitgeteilt wurde, erhielten in – oftmals – Sekunden schnelle ihre Antwort und zogen – meistenteils! – befriedigt ab. Was mich in jener Zeit dann und wann in äußerste Anspan nung versetzte, waren die häufigen Sabotageversuche, die von Systemgegnern auf das »Gehirn« unternommen wurden. Glücklicherweise hatte keiner von ihnen Erfolg. Das »Gehirn« war so gebaut, daß es sich gegen fremde Eindringlinge schüt zen konnte – sich selbst, seine Kraftstation, sein Pumpwerk und seine Mitarbeiter, darunter mich. Trotzdem fielen die Sabotageversuche nicht weiter auf – damals! So etwas war immer vorgekommen, in allen mögli chen Zweigen der Technik. Es war die Zeit der Terroristen. Warum nicht auch hier? Ich war mir klar darüber, daß manche Organisationen – religiöse Sekten, Wirtschaftskreise, politische Zirkel – mit der Existenz des »Gehirns« nicht einverstanden 41
waren. Aber bald fielen mir doch einige Dinge auf – nicht direkt im Zusammenhang mit meinem Schützling. Da war zunächst die erste interplanetare Expedition, die zu den äußeren Planeten starten sollte, aber im letzten Augenblick wegen eines Versagens ihres Antriebssystems abgesagt werden mußte. »Sabotage!« munkelte man. Aber ich erfuhr nie Ge naueres. Jedenfalls war die Raumfahrt ins weitere Sonnensy stem und außerhalb davon mit diesem Ereignis um Jahre verzögert. Kurz darauf erlag der Präsident der Vereinigten Staaten ei nem Attentat. Der Täter entkam unerkannt und wurde niemals gefunden. Er war nach dem Angriff unter rätselhaften Umstän den spurlos verschwunden. Es gab noch weitere Vorfälle, die mir in jener Zeit auffielen: Die wachsende Zahl der Atombombenexplosionen für Ver suchszwecke, die trotz der Warnung bedeutender Wissen schaftler stattfanden, und die daraus resultierende fortschrei tende Verseuchung unserer Atmosphäre und Verunsicherung der Öffentlichkeit, die Hitze – und Kältewellen, die um den Erdball gingen und keine ersichtliche Ursache hatten, das ununterbrochene Wettrüsten der Supermächte bis zum Absur den, das statistische Ansteigen der Verbrechen in der ganzen Welt, steigende Unruhen in der Bevölkerung, die sich in häufigen Massenhysterien und Gewaltausbrüchen äußerten, usw. Und dann fiel mir die Vergangenheit ein. Ich dachte an das erstmalige Auftauchen der sogenannten »Fliegenden Untertas sen«, an das oft gemeldete, aber nie aufgeklärte Verschwinden von Menschen, ja von ganzen Schiffen und Flugzeugen, an die Sabotageakte im Gebiet der Strahltriebwerkstechnik und an Katastrophen, deren Ursache niemand zu erklären vermocht hatte. Die Konfrontation mit diesen Tatsachen verschlug mir den 42
Atem. Was bedeuteten all diese Vorfälle der letzten hundert Jahre? Waren sie auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Hatten sie etwas gemeinsam? Der bloße Instinkt sagte mir in jenem Augenblick, daß es hier einen roten Faden geben mochte, der durch diese Tatsachen und Vorfälle hindurchführt. Ich hatte mein Material geordnet und trug mich mit der festen Absicht, diese Angelegenheit näher zu untersuchen. Was lag den zahlreichen unerklärlichen Vorfällen zugrunde? Gründeten sie sich vielleicht auf der damals oft vermuteten Unfähigkeit des Menschen, mit der fortschreitenden Technik nicht länger Schritt halten zu können? Oder hatte der Mensch in den letzten Jahrhunderten tiefbe gründete genetische Veränderungen durchgemacht, die jetzt allmählich zum Vorschein kamen? Und worauf wären diese zurückzuführen? War die moderne menschliche Gesellschaft etwa in einer Geistesentartung befangen, die über Neurosen zum psychotischen Endzustand führte? Das mußte untersucht werden! Es war mir ohne weiteres klar, daß nur das »Gehirn« auf dieses Problem antworten konnte. Ich wartete einen Augenblick ab, in dem die Reihe der war tenden Klienten abgefertigt war und keine weiteren Antragstel ler auf dem Tagesterminkalender standen. Da ich ohnehin die Aufgabe hatte, das »Gehirn« in solchen Momenten der Flaute weiterhin produktiv in Tätigkeit zu halten, stand meinem persönlichen Zugriff zu ihm nichts im Weg. Die Aufgabenstellung hatte sich als sehr umfangreich erwie sen. Mein Stab von Ingenieuren und Programmierern arbeitete einige Wochen daran, das Material vorzubereiten. Weißt du, zunächst mußten dem »Gehirn« Anweisungen gegeben wer den, die es veranlaßten, alle mich interessierenden Tatsachen und Vorfälle aus seinem gigantischen Gedächtnisspeicher hervorzukramen. 43
Als es schließlich die Unmenge von Berichten über Katastro phen, Terrorakte, das Verschwinden von Menschen, Auftau chen von unerklärlichen Phänomenen, unmotivierte politische Morde usw. usw. durchgekaut hatte, legte ich ihm meine Frage vor: »Zu suchen ist ein integrierender Faktor für die Gesamtheit dieser Daten!« Die nun folgende Wartezeit war für mich eine Qual, das kannst du mir glauben! Ich war es gewöhnt, vom »Gehirn« eine Frage in Sekundenschnelle beantwortet zu bekommen – aber diesmal brauchte es drei volle Tage. Dann kam seine Äußerung. Vor lauter Aufregung und Spannung war ich während dieser drei Tage kein normaler Mensch mehr gewesen. Als aber nun die Antwort so kurz, knapp und tödlich vor mir lag, nahm ich sie zunächst recht unbewegt und ungläubig hin. Die automati sche Selbstverständlichkeit, mit der sie das »Gehirn« ausge druckt hatte, war für mich ansteckend gewesen. Aber dann drang der Sinn der Meldung in mein Bewußtsein, und ich hielt den Atem an. »DIE INTEGRATION DER AUFGABE IST VOLLSTÄNDIG UND EINDEUTIG. DER GESUCHTE INTEGRIERENDE FAKTOR FÜR DIE EINGABEDATEN IST WIE FOLGT: DIE ERDE STEHT KURZ – ETWA DREI MONATE PLUS/MINUS SECHS TAGE – VOR EINER INVASION VON LEBEWESEN, DIE VON AUSSERHALB DES SONNENSYSTEMS KOMMEN. EINIGE DIESER INTELLIGENZEN LEBEN BEREITS SEIT ETWA 100 JAHREN UNTER DEN MENSCHEN, UM DEN ÜBERFALL VON SCHLÜSSELSTELLUNGEN AUS VORZU BEREITEN. ES IST ZU BEACHTEN: NACH BEKANNTGABE DIESER MITTEILUNG WIRD SICH DIE ZEIT BIS ZUM 44
EINFALL SCHÄTZUNGSWEISE VERRINGERN.«
AUF
DIE
HÄLFTE
Also anderthalb Monate höchstens! Das ließe sich vielleicht noch machen. Ich setzte mich sofort mit dem internationalen Blatt »Herald Tribune« in Verbindung. Wie die Nachricht von der Presse aufgenommen wurde, ist allgemein bekannt. Es war zutiefst beschämend. Wir gaben dem »Gehirn« noch einmal das gleiche Problem. Die Antwort war identisch mit der ersten Lösung. Die Reaktion der Menschen war niederschlagend. Einige Geheimdienste stürzten sich zwar mit verdoppeltem Eifer in die Untersuchungen, aber es fehlte das Wichtigste: die Mitar beit der Völker, der ganzen Menschheit. Die Mehrzahl küm merte sich nicht im geringsten um die Bekanntgabe des »Ge hirns«. Sie verlachten die Denkmaschine, nannten sie einen Super-Phantasten und lebten weiter im Gefühl ihrer Sicherheit – ignorant und traditionserstarrt. Ihr Desinteresse, ihre Apathie wurde sichtbar, als nach ein einhalb Monaten tatsächlich die Invasion stattfand. Die Irgeks, für uns seltsame körperlose Wesen aus dem Andromedanebel, die in andere Lebensformen als Wirtskörper schlüpfen, fielen in vielerlei Gestalt über die Erde her. Wie du weißt, stellte sich ihnen nur geringer Widerstand entgegen. Seit jener Zeit lebt die Menschheit in Sklaverei, unterjocht von außerirdischen Teufeln. Unsere Zahl nimmt rapide ab, seitdem die Irgeks die Geburten kontrollieren. Ab und zu erinnert sich noch einer an das »Gehirn« und an die Warnung, die von ihm kam, aber es ist zu spät. Das erste, was die Irgeks auf der Erde unternahmen, war die Demontage des »Gehirns«. Und mich steckten sie hier in eine Zelle ihres exobiologischen Forschungsinstituts. Damit soll es genug sein; ich habe dir genügend Information zur Anfertigung meines psychologischen Profils gegeben. Du 45
hast mir ja anfangs versichert, daß ich dich damit nicht von deinem Vorhaben abbringen könne, als nächsten Schritt in deiner Menschen-Forschung meinen Körper zu sezieren.
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Zu jung für die Ewigkeit [1956] Das Erwachen verlief völlig unbewußt. Als er die Augen aufschlug, durchzuckte ihn ein Schreck. Dichter grauer Nebel umgab ihn, nichts als Nebel, der sein Gesichtsfeld wie ein undurchdringlicher, gegenstandsloser Vorhang verhüllte. Verwundert schüttelte er den Kopf, aber die Schleier lüfteten sich nicht. Kein Geräusch drang an seine Ohren; er fühlte nichts. Seine Sinnesorgane versagten ihm den Dienst. Einen Augenblick lang schien es, als ob ihn Panik ergreifen würde, dann gewann nüchterne Überlegung die Oberhand. Er zwang sich zur Ruhe und begann zu denken. Verwundert fragte er sich, was geschehen war. Er mußte zweifellos besinnungslos gewesen sein, das war sicher, aber wie lange? Und was hatte sein Gehirn veranlaßt, den Dienst zu versagen? Er war eine Ungewisse Zeit lang ohnmächtig gewesen, das wußte er. Dann hatte sein Bewußtsein langsam wieder die Arbeit aufgenommen. Es mußte doch möglich sein, sich zu erinnern! Wie hieß er denn eigentlich? Moment – Henry – ja, Henry Steel! Soweit war also alles in Ordnung! Erleichtert schloß er die Augen und versuchte erneut, sich zu konzentrieren. Was tat er hier, was war seine Aufgabe? Er suchte in seinem Gehirn nach einem Anhaltspunkt. Immer wieder stellte er sich die gleichen Fragen, wartete er auf die Reaktion seines Ge dächtnisses. Wenn es seinen Namen nicht gelöscht hatte, mußte es auch andere Einzelheiten behalten haben! Wie lange war er besinnungslos gewesen? Warum konnte er sich an nichts erinnern? Was war überhaupt passiert? Was war mit dem Raumschiff geschehen? Raumschiff? 47
Elektrisiert zuckte er zusammen. Ja, das war es! Er suchte verzweifelt in seinem Gedächtnis. Da war doch ein Raumschiff – wie hieß es denn gleich? Trans … Trans … Ja, richtig, das war’s! Transzendor! Ein Forschungsschiff mit besonderer Aufgabe, und er war der Kommandant. Atemlos ließ er die hereinstürzenden Erinnerungen an sich vorbeiziehen, wagte nicht, ihren Strom zu unterbrechen. Er war der Captain einer kleinen Besatzung gewesen, die mit dem Raumfahrzeug Transzendor ein wichtiges Experiment durch führen sollte. Hatten sie es durchgeführt? Zweifellos, denn damit ließen sich seine Bewußtlosigkeit und Amnesie erklären. Der Transzendor war offenbar in den vierdimensionalen Raum gesprungen, mehr konnte er vorerst nicht sagen. Waren sie bereits wieder aus dem Hyperdrive zurückgefallen? Dann hatten die Umwandler versagt … Oder raste das Schiff immer noch mit superphotischer Geschwindigkeit durch das Konti nuum, was bedeutete, daß es im vierdimensionalen Raum stationär stand? Oder befand er sich gar nicht mehr an Bord des Schiffes? Schrecken und Entsetzen packten ihn bei dem Gedanken, und für einen Augenblick schien es ihm, als ob er wieder in Be wußtlosigkeit zurücksinken würde. Da – der graue Nebel schleier! Hatte er sich inzwischen nicht ein wenig gelichtet? Das Grauen wich von ihm, als er es feststellte. Erneut bemühte er sich, seinen klaren Verstand wiederzugewinnen. Eines war sicher: Irgend etwas stimmte ganz entschieden nicht! Dieser graue Vorhang. Litt er an Sehstörungen? Oder – toller Gedanke! – konnte sein Gehirn das, was seine Augen sahen, nicht verarbeiten und zeigte es ihm deshalb undefiniert als graue Nebelwand? Doch noch einmal von vorne: Das Raumschiff Transzendor. Und das Experiment. Das Experiment? Ja, natürlich! Das neue Wissen ließ ihn erleichtert rekapitulieren: Das Raumschiff stand unter seinem 48
Kommando und hatte noch zwei weitere Besatzungsmitglieder – Andy Richter und Nrola Onrlo, den Norlganer, ohne dessen Technologie die ganze unglaubliche Reise des Transzendor nicht möglich gewesen wäre. Und wie hatte es begonnen? Wie lange war es her, daß … Captain Henry Steel lehnte sich bequem in seinen Pilotensitz vor dem riesigen Steuerpult, das sich in Form eines Hufeisens auf der Kommandobrücke erstreckte. Die beiden anderen Sitze – wenn man Nrolas seltsames Gerüst einen Sitz nennen konnte – waren leer. Andy und der Norlganer standen an einem Bullauge und betrachteten einen fern zurückliegenden Planeten, dessen Oberfläche durch Wolkenbildung teilweise verdeckt war. »Ob wir sie wohl jemals wiedersehen werden?« hörte Steel Andy nachdenklich fragen. »Sprich keinen Unsinn, mein Freund!« Das war Nrola Onrlo. »Wiedersehen wirst du die Erde bestimmt – so oder so!« »Ich weiß«, gab Andy zu. »Doch was, wenn es das zweite so nicht gibt? Wenn Steels Theorien nicht stimmen? Wenn das Experiment fehlschlägt …« »Wenn das Wörtchen wenn nicht wär’, was dann? Aber laß mal. Was wollen wir wetten, daß es klappt?« Das KapellaWesen hatte eine Hauptleidenschaft: Wetten. Eifrig schwenkte es seine drei »Arme«. »Eine Bierration?« »Geht in Ordnung!« entgegnete Andy, und Nrola Onrlo schmunzelte. Das heißt, er machte die seltsamen Grimassen, die man auf seinem Heimatplaneten, der Norlga im fernen Kapella-System, als Schmunzeln bezeichnete. Nrola war ein waschechter Norlganer, ein Wesen, das nur aus mehr oder weniger runden Kugeln zusammengesetzt zu sein schien, wenn man es karikierte. Sein Körper näherte sich einer mathematisch genauen Kugel an, wenn er sich nicht im Erre gungszustand befand. Auf ihm saß ein kugelförmiger »Kopf« 49
ohne Hals. Onrlo konnte seinen Kopf nicht bewegen und schon gar nicht drehen, wie ein Erdmensch – aber das war auch nicht notwendig. Ein Norlganer besitzt kein Vorne und Hinten im menschlichüblichen Sinn; ja, auf Norlga gibt diese menschliche Eigenart Anlaß zu unzähligen urkomischen Witzen. Nrolas drei Augen, die in gleichen Abständen von 120 Grad auf dem »Äquator«-Umfang der Kopfkugel verteilt saßen, erlaubten ihm, nach allen Richtungen gleichzeitig zu blicken. Da die Sichtfelder seiner Augen überlappten, brauchte er nicht auf die Vorteile des räumlichen Sehens zu verzichten. Nrola Onrlo bewegte sich auf drei wurstähnlichen Gebilden vorwärts, organischen Stelzen sozusagen, die der Kugelgestalt durch ihre Dreifuß-Anordnung einen stabilen Halt verliehen. Es waren lange, nach allen Seiten bewegbare »Beine« ohne Füße. Seine drei Arme schließlich – ähnliche knochenlose, doch bemerkenswert feste Gebilde mit je drei langen knorpeli gen Fingergliedern – saßen in Abständen von 120 Grad auf dem Äquator der Körperkugel. Seine Mundmembrane bildete den Zenit der Kopfkugel, und die drei Ohren nahmen die freien Stellen zwischen den Augen ein. Nrola Onrlo war, wie alle Norlganer, eine Kapazität auf dem Gebiet der Psychotechnik und – nebenbei – Andy Richters bester Freund. Während die beiden am Fenster standen, hielt Steel seinen Blick auf die Fernsehschirme gerichtet, die ihm das Innere der Maschinenhallen und Stromräume des Transzendor zeigten. Massige Robotergestalten glitten dort auf und ab; sie warteten die haushohen Stromspeicheraggregate, die blauweiß leuchten den Pseudokabel der Stromleitungen, die unzähligen an der Überlastgrenze arbeitenden Isolatoren, die mächtigen Um wandler, aus denen die leise flüsternden unsichtbaren Reso nanzwellen kamen, jene unglaublichen Gravitationswellen, die das Steelsche Experiment überhaupt möglich machten – zusammen mit Onrlos Psychotechnik. 50
Die Raumschiffe des Jahres 2765 durchquerten das Weltall nicht mehr unter Feuer- und Qualmerscheinungen, wie 700 Jahre früher. Umwälzende Erfindungen hatten dem Menschen die Tore zu den Sternen geöffnet. Gewaltige Umwandler bildeten zwar auch heute noch den Hauptteil eines Raum schiffantriebs, aber sie waren nicht mehr dazu bestimmt, die Energie chemischer Reaktionen in kinetische Energie umzu wandeln. Auch entfesselten sie nicht die gewaltige Energie, die im Atom gebunden liegt, durch Fission oder Fusion. Aus den gigantischen Stromspeichern, die den größten Teil des Schiffes einnahmen, flossen Ströme in die Umwandler, Ströme von einer Stärke, wie sie nur die gegenseitige Vernich tung von Materie und Antimaterie zu liefern vermochte. Ein Teil dieser Ströme floß in die Beschleuniger, in denen weiterer Antimaterie-Treibstoff erzeugt wurde. Der größere Teil verließ die Umwandler in Form von Strahlen, den sogenannten Struk turwellen, die so kleine Wellenlängen unterhalb der Planck schen Länge von 10-33 cm besaßen, daß sie dem Aufbaufeld des Alls, der hyperfeinen Schaumstruktur des Raumes selbst, gewachsen waren und sich darauf stützen konnten, um das Raumschiff anzutreiben. Sie erzeugten dabei ein Abstimmfeld, das die quantendynamischen Fluktuationen der Raumgeometrie in Resonanz brachten und dadurch eine vorwärtstreibende »Raumfalte« entstehen ließen. Die aus den Stromspeicheraggregaten gezapften Energien vermochten einen ganzen Planeten mit Strom zu versorgen, aber die Umwandler verschluckten sie im Nu und trieben die Raumschiffe mit Geschwindigkeiten voran, die an sich keine mehr waren – denn kann man dieses Wort noch anwenden, wenn ein Raumfahrzeug plötzlich verschwindet, vor den Augen, und sich praktisch zur »gleichen« Zeit Tausende von Lichtjahren entfernt wieder materialisiert? Es ist seltsam, dachte Steel, auf die Fernsehschirme starrend, – wo bleiben die Gesetze der Alten? 51
Einsteins Gesetz hatte vor achthundert Jahren zum Ausdruck gebracht, daß die Masse eines Körpers mit seiner Geschwin digkeit ansteigt. Bei Lichtgeschwindigkeit würde sie unendlich groß werden. Und um einen Körper mit unendlich großer Masse anzutreiben, benötigt man unendlich viel Energie. Die Energie des gesamten Weltalls aber war endlich; selbst sie würde nicht ausreichen, um solch einen Körper fortzubewegen. Und trotzdem jagten interstellare Raumflieger, genannt »Schiffe«, mit Super-Lichtgeschwindigkeit von Sternbild zu Sternbild! Einfach deshalb, weil Einsteins Gesetz nur für unseren Welt raum galt, nur für die Tiefen und Weiten, in denen die Sonnen und Welten des Herkules, der Lyra, in denen die fernen Spiral nebel, die roten Riesen und weißen Zwerge liegen. Nur für unseren Weltraum, unser Raum-Zeit-Kontinuum. Sobald ein Raumschiff die Lichtgeschwindigkeit überschritt und su perphotisch wurde, befand es sich nicht mehr in unserem Weltraum, sondern in einem anderen, höherdimensionalen Raum, in dem andere Gesetze galten, die seine Existenz zulie ßen. Der Transzendor stand zwischen Merkur und Venus, an einer sorgfältig bestimmten Stelle des Schwerefelds der Sonne, als Steel das Experiment einleitete. Andy und der Norlganer hatten ihre Sitze am Kommando tisch wieder eingenommen und sich festgeschnallt, als sich der Kommandant ihnen zuwandte. »Wir können beginnen«, sagte er sachlich. »In fünf Minuten gehe ich in den Hyperdrive. Wie ihr wißt, unternehmen wir diese Fahrt, um zu erforschen, was während des Fluges durch den vierdimensionalen Raum eigentlich mit dem Menschen vorgeht. Bisher ist der Sprung der Raumschiffe durch den Überraum immer so schnell erfolgt, daß die Besatzungen erst dann aufwachten, als sie sich bereits wieder im normalen Raum befanden. Dies soll bei unserem Experiment anders sein. Ich 52
habe den gewöhnlichen Autopiloten, der normalerweise den Hyperantrieb im errechneten Augenblick abschaltet, ausbauen lassen und durch einen psychotechnischen Apparat ersetzt, den uns die norlganischen Techniker geliefert haben.« Er nickte Nrola anerkennend zu. »Dieses Psychorelais gestattet es uns, den Hyperantrieb durch die reinen Impulse unserer Gedanken abzustellen, – durch eine ganz bestimmte Formation von Alphawellen. Wenn meine Theorie stimmt, daß der menschliche Geist im vierdi mensionalen Raum bestehen kann, sollte es für uns leicht möglich sein, in unseren Weltraum zurückzukehren, wann immer es uns beliebt.« Er deutete auf das Armaturenbrett. »Wir haben hier ferner die Enzephalographen, die Gedankenschrei ber, die unsere Gedanken während der Fahrt auf Band aufneh men werden. Habt ihr alles in Ordnung?« »Okay, Darling!« flötete Nrola, der ab und zu seinen seltsa men Sinn für Humor zeigte und jetzt offenbar über Steels schulmeisterliche Ansprache amüsiert war. »Alles in Ordnung, Captain!« Das war Andy. »Na gut. Dann geht’s los! … Auf Wiedersehen, Jungs!« Bevor ihn das Gefühl der Unsicherheit, das er in sich aufstei gen spürte, völlig überfluten konnte, schaltete Steel mit einem raschen Griff in die Unmenge von Knöpfen und Hebeln vor sich die Gedankenschreiber ein, schaltete das Psychorelais an und legte dann beide Hände auf den großen, roten Hebel, der die Umwandler betätigte. Sie würden die flüsternden Reso nanzwellen abgeben, die wiederum den Transzendor mit Superlichtgeschwindigkeit fortbewegen und buchstäblich aus dem Weltraum hinauswerfen würden. Denn hier konnte das Schiff nicht bestehen – hier, wo seine Masse auf PlusUnendlich anwachsen würde. Es würde aus dem Weltraum ausgespien werden, in einen anderen Raum, in dem seine Masse keine Rolle spielte, in dem andere Gesetze, andere Grenzen galten. 53
Steel holte tief Luft. Das Gefühl der Unsicherheit in ihm war fast unerträglich geworden. Was, wenn alles schiefging? Wenn seine Theorie falsch war, seine tiefe Suche nach dem Beweis, daß der menschliche Geist im vierdimensionalen Raum beste hen konnte? Dann wäre das, was er im Begriff stand auszufüh ren, nichts anderes als Selbstmord, nein, nicht nur das, sondern auch Mord an seinen beiden Gefährten. Und plötzlich sah er ein weibliches Gesicht vor sich – Jane! Seine junge, hübsche Frau, die in Texas auf ihn wartete. Seine beiden Töchter, die in jeder freien Minute den Himmel über dem kleinen Ranchhaus bei Houston absuchten, um ihn und sein Schiff zu entdecken. Konnte – durfte er es wagen, war die Verantwortung nicht doch zu groß, das Risiko zu unvernünftig? In seinen Ohren klang das Krachen und Bersten der überladenen Leitungsstrah len aus den Stromräumen, das ganze Schiff erfüllend. Sie warteten nur noch auf den Startbefehl. Steel gab sich einen Ruck. Es gelang ihm mit eiserner Konzentration, sein Gehirn für einen kurzen Augenblick leerzuwischen, seine Unsicherheit war ausgeschaltet, das Bild seiner Familie verblaßt. Ein einzi ger Wille erfüllte ihn. Da warf er den großen roten Hebel bis zum Anschlag um. Das Krachen der Pseudokabel ionisierter Luft in den Maschi nensälen stieg zu donnerndem Toben an. Blauweiß schillernde Säulen unglaublicher Energie standen in den Stromräumen; gewaltige Funken schlugen knallend von Kontakt zu Kontakt. Das Heulen der Umwandler stieg bis zu schrillen Höhen an und verstummte schließlich in Ultraschallbereichen. Das Schiff erzitterte und erbebte; das Getöse aus den Stromräumen ver schluckte die Stimmen der Roboter aus den Lautsprechern, die ihre Meldekadenzen durchliefen. Stromkreise bauten sich mit Hilfe von Servomechanismen selbst auf und nahmen andere Formen an, wenn Materialgrenzen erreicht wurden. Dichte Ozonwellen drangen aus den Maschinenhallen, fluteten in die 54
Kabinen, nur um von aufheulenden Gebläsen zurückgeworfen zu werden. Steel war der Bewegung seiner Hände mit den Augen ge folgt. Ihre Knöchel waren weiß. Sie erschienen ihm wie selb ständige Lebewesen, über die er keine Gewalt hatte. Urplötz lich war die autosuggestive Leere in seinem Gehirn ver schwunden. Die Ungeheuerlichkeit seines Experiments brach in diesem kurzen Augenblick mit nie gefühlter Stärke über ihn herein. Der Mensch soll die Götter nicht versuchen! »Halt!« wollte er schreien. Unsagbare Furcht vor dem Kom menden packte ihn, nacktes Entsetzen erfüllte ihn bis zur Grenze des Erträglichen – und darüber hinaus. »Halt!« wollte er schreien, aber auch wenn er noch dazu gekommen wäre, hätte der Schrei nur unartikuliert geklungen. Denn was sich vor ihm wie unter Zeitlupe abspielte, dauerte in Wirklichkeit nur Sekundenbruchteile. Mit starren Augen sah er, wie seine Hände den Hebel bis zum Anschlag umlegten, der die Umwandler auf »volle Kraft« schaltete. Seine Ohren vernahmen noch das Einsetzen des Krachens der Stromsäulen aus den Maschinensälen, das un menschliche Brüllen des Chefroboters aus dem Lautsprecher, das Knistern der Funken, die auf dem Steuerpult wie Irrlichter umhertanzten; er sah das Leuchten der bläulichen Elmsfeuer und spürte das Zittern der mit Ultraschall heulenden Umwand ler, die ihre Resonanzlagen durchliefen und den Raum krümm ten. Dann warf sich finstere Nacht wie eine schwarze Decke auf ihn und seine beiden Gefährten, als der Transzendor zum Sprung über Zeit und Raum ansetzte. Eine Nacht, die so plötzlich kam, wie ein Schlag mit einer Keule, als sich der Raum konvulsivisch krümmte und das Raumschiff ausspie. Aber das war nichts Neues. Der Hyperdrive war immerhin bald 600 Jahre alt! 55
Steel mußte unwillkürlich lächeln. Es war nichts Neues, ja wohl, aber es blieb jedesmal ein Erlebnis auf Leben und Tod – ein gewalttätiger Schritt von einer Physik in die andere. Aber sein Experiment! War es also geglückt? Und was hatte es mit dem verdammten Nebel auf sich? Er schlug die Augen auf. Ja, die Schleier waren noch immer da, aber jetzt wurde es langsam heller. Mit banger Hoffnung wartete er, unbeweglich. Nur nicht rühren! befahl er sich, zuerst mal sehen, was überhaupt los ist. Der graue Vorhang wich von ihm und bewegte sich in die Ferne, löste sich auf. Seine Augen konnten wieder sehen. Mit einem Ruck setzte er sich aufrecht. Strahlende Helligkeit umgab ihn, eine Helligkeit, wie er sie noch nie erlebt hatte, die ihn jedoch nicht blendete. Seine Augen waren dieser Helligkeit seltsamerweise gewachsen, aber sein Bewußtsein, gestützt auf ein wieder perfekt funktionierendes Gedächtnis, erkannte sie als etwas Neues, noch nie Gesehenes. Gegenstände traten in sein Gesichtsfeld, Gegenstände, die ihm bekannt vorkamen. Das Hufeisen des Kommandotisches, die Unmenge von Schaltern, Hebeln, Knöpfen und Handrädern, das Innere des Cockpits, die Bullaugen und die Wände des Transzendor. Alles war unverändert, nur die Helligkeit, die war vorher nicht dagewesen, auch wenn die Sonne direkt in die Innenräume geschienen hatte. Er sah sich verwundert um. War das das Resultat seines Ex periments? Seine Gedanken jagten sich. Was konnte geschehen sein? Hatte der Hyperantrieb nicht funktioniert? Oder lief er noch immer, wie es von ihm erwartet wurde? Steel warf einen prüfenden Blick auf ein großes Instrument. Die Skala war geeicht in Parsek pro Sekunde, und der schlanke Zeiger stand zitternd weit im rechten Teil der Meßeinteilung. Eine Ge schwindigkeit, die bedeutungslos und unerfaßbar war. Er erhob sich und streckte die Glieder. Ein wohliges Gefühl durchrann ihn; er fühlte sich leicht und unbeschwert, und es 56
erinnerte ihn an Träume von früher. Er schritt zum Fenster. Es war wirklich seltsam: Während des »Gehens« schwebte er, fühlte sich dabei so leicht wie eine Feder. Es war nicht das Gefühl des Fallens oder Unterwasserschwimmens, das er als Raumfahrer während des schwerelosen Zustands so oft erlebt hatte. Es war ein angenehmes schwebendes Schreiten mit Bodenkontakt, ohne daß jedoch der Fußboden berührt wurde. Steel lächelte vergnügt. Er schritt durch die Luft! Als er aus dem Fenster blickte, stellte er etwas noch viel Erstaunlicheres fest: Das All war nicht mehr schwarz, nein, es war hell, strahlend hell, wie die Sonne selbst. Aber das Licht blendete ihn nicht. Es war ein klares, angenehmes Leuchten, das keine Quelle besaß und von nirgendwo herkam. Steel empfand sich von einem warmen Glücksgefühl übermannt. Dieses Licht, diese Farben, dieses schwerelose Schweben ohne Desorientierung, es war einfach – traumhaft. Er lachte vergnügt auf. »He, was gibt’s denn?« fragte eine Stimme klar und deutlich in seinem Bewußtsein. Mein Gott, schoß es ihm durch den Kopf. Nrola! Und Andy! »Ganz recht«, sagte die Stimme in ihm. »Der eine bin ich. Noch immer.« Steel wandte sich um. Obwohl er schwerelos war, konnte er sich umdrehen, ohne einen festen Gegenstand zum Abstoßen zu berühren. Welche Gesetze galten denn hier, wo Menschen sich wie Engel bewegten? Er schritt zum Kommandotisch zurück, einige Zentimeter über dem Fußboden. Als er an seinem eigenen Pilotensitz vorüberkam, sah er, daß er besetzt war. Eine dunkle Gestalt kauerte zusammengesunken darin. Unmöglich! Das ist nicht mein Sitz, meiner ist leer! »Hmm?« brummte die Stimme in ihm. Er beugte sich über die schlaffe Gestalt, deren Konturen ihm seltsam verwischt erschienen. Als er das harte, lederartige Gesicht erkannte, die schmale Nase, die Narbe am Kinn, die 57
von den Klauen eines Venus-Brughs stammte, zuckte er vor Überraschung zusammen. Aber das bin ja ich! schrie es in ihm. »Natürlich, Captain«, erwiderte die Stimme. »Wer denn sonst?« Aber – aber, das war doch unmöglich! Ein Körper konnte doch nicht an zwei Orten zugleich sein. Steel streckte seine Hand aus und ergriff seinen zusammengesunkenen Doppelgänger beim Arm. Das heißt, er wollte ihn beim Arm ergreifen. Seine Finger aber glitten durch das Handgelenk der Gestalt hindurch, als ob es überhaupt nicht vorhanden gewesen wäre. Die Form im Pilotensitz war für ihn ein schmutzigdunk ler Nebel, ein schmieriges Etwas, durch das sein neuer Körper ungehindert passieren konnte. Ich muß wohl träumen, dachte er. So etwas gibt’s doch nicht! »Warum nicht, Skipper«, sagte die Stimme in ihm. »Ist doch alles so schön logisch! Es verträgt sich durchaus mit Ihrer Theorie, Sir. Übrigens, Andy – ich habe meine Wette wieder einmal gewonnen.« »Bist du das, Nrola?« fragte Steel. »In Person, Captain«, kamen die Gedanken, und die Kugel gestalt des Wesens von der fernen Norlga erhob sich von ihrem Sitz. Nrola hielt es für unter seiner Würde, sich nach seinem schattenhaften Ebenbild umzuwenden, das dort zusammenge sunken zurückblieb, wie von Tiefschlaf umnachtet. »Na ja, du hast die Wette gewonnen«, gab Richter von sei nem Sitz her zu und erhob sich, ebenfalls ein graues Ebenbild seiner selbst zurücklassend. »Aber eines finde ich hier doch recht komisch, gelinde gesagt! Ich sehe doch genau, daß du nicht sprichst, und doch höre ich dich klar und deutlich.« »Natürlich, Telepathie!« meinte Steel. »Wenn ihr es noch nicht wißt: Offenbar befinden wir uns im vierdimensionalen Raum. Das Sprechen könntet ihr euch hier wohl schenken; wir unterhalten uns anscheinend besser mit Gedanken. Daran müssen wir uns erst gewöhnen, es erfordert eine besondere 58
Denkdisziplin.« Andy betrachtete seinen nebelhaften Doppelgänger mit zwei felnder Miene. »Und … das da?« Steel lächelte verschmitzt. Er hatte noch manche Überra schung für Andy bereit, jetzt, nachdem er die Tragweite seines Experiments erst richtig zu erkennen begann. »Es ist dein alter Körper, Andy. Du brauchst ihn vorläufig nicht mehr. Scheint’s haben wir hier einen neuen bekommen, den Korpus des Geistes sozusagen, den Astralleib, wie er auch genannt wird. Damit wäre wohl nachgewiesen, daß Geist eine Gestalt hat, die Gestalt des ursprünglichen Körpers.« Er prüfte wieder die Instrumente. Der Transzendor raste mit der unfaßlichen Geschwindigkeit von mehreren Parsek pro Sekunde durch den normalen Weltraum, nein – das war eine Unmöglichkeit! Vielmehr befand er sich im vierdimensionalen Hyperraum, wo er still stand und unbeweglich in einem neuen »Medium« verharrte. »Könnten wir die Kontrollen betätigen?« forschte Andy, obwohl er die Antwort vermutete. »Nur das Psychorelais, das den Hyperdrive ausschaltet«, entgegnete Steel. »Diese hier nicht. Schau her!« Andy sah es, ohne seine Astralaugen in die angegebene Rich tung zu wenden. Die langen, schlanken Finger des Komman danten griffen nach einem Schalter, wollten ihn ergreifen, glitten jedoch durch ihn hindurch und in das Armaturenbrett hinein, als ob es nicht vorhanden wäre. Der Norlganer stand am Fenster und blickte hinaus. »Vielleicht gibt es bewohnte Planeten in dieser Welt«, kam seine Gedankenbotschaft. »Vielleicht«, pflichtete Steel bei. Einen Augenblick überlegte er, dann rief er sich den Hauptmaschinensaal mit seinen Um wandlern und Robotern ins Gedächtnis. In Gedanken sah er ihn deutlich vor sich; er probierte eine Weile ratlos herum und gab 59
sich einen inneren »Ruck«, dann blickte er erleichtert auf. Seine Umgebung hatte sich urplötzlich verändert. Er stand nicht länger am Steuerpult auf der Brücke, sondern mitten im Maschinensaal. Befriedigt schmunzelte er vor sich hin, als er die Gedanken seiner beiden Gefährten fühlte, die über sein Verschwinden erschrocken waren. Er dachte einen kurzen Moment an die Kommandobrücke und sah im nächsten Augenblick Andy Richter und Nrola Onrlo vor sich, die ihn bestürzt anblickten. »Teleportation«, erklärte er. »Du denkst an dein Ziel, zu dem du willst, und schon bist du dort!« Er mußte bei sich lächeln, als er Richters verwirrte Gedanken vernahm, der ihn immer noch entgeistert anstarrte. Er hatte für den Jungen noch einige Überraschungen auf Lager. »Ich glaube, diese Fähigkeit wird uns jetzt von großem Nut zen sein, Männer! Wir wollen zu einem Planeten in diesem Universum, auf dem Menschen leben. Richtige zweibeinige Menschen, verstanden, Nrola? Wenn du nichts dagegen hast? Stellt euch solch einen Planeten mit mir zusammen lebhaft vor und wünscht euch dorthin. Auf Jetzt geht’s los. Jetzt.« Er bildete in seinen Gedanken eine Landschaft, wie er sie beschrieben hatte. »Hallo«, sagte jemand neben ihm verblüfft. »Das ging ja fix!« Sie standen inmitten eines Meeres von Blumen, so far benprächtig, wie er sie noch nie gesehen hatte. Paradiesische Vögel zwitscherten, und die strahlende, herrliche Helligkeit lag über der weiten grünen Ebene, über dem ganzen Land. Don nerwetter, dachte er. Klingsors Zaubergarten ist nichts dage gen! Ein Gedanke kam von Andy Richter: »Ich habe so etwas Schönes noch nie gesehen!« Steel registrierte ihn abwesend, mit seinen eigenen Impressionen beschäftigt. Hier bin ich schon oft gewesen, ging es ihm durch den Kopf. Im Traum … auf dieser Wiese … Wie oft habe ich mich auf dieser unendlichen Ebene gesehen! Er fühlte sich leicht wie 60
eine Feder, er verspürte keinerlei Bedürfnisse, ja, er brauchte offenbar nicht einmal zu atmen. Es war wie ein Traum. Sein neuer Leib hatte im Hyperraum eine vierte Größe bekommen, die Zeit! Die Zeit als Konstante. Das ewige Leben. Die Uhr stand. »Ganz recht, Captain!« dachte Nrola beeindruckt. »Wir be sitzen das ewige Leben. Aber haben wir es in Wirklichkeit nicht schon immer gehabt?« »Hmm?« brummte Andy verwundert. Das fragende Gedan kensymbol, das der Bayer ausschickte, ließ sich nicht anders ausdrücken. »Paß mal auf, Junior«, ereiferte sich der Norlganer, »du weißt, warum unsere normalen Körper im vierdimensionalen Raum nicht leben können?« »Nun, vermutlich fehlt ihnen eine Dimension.« »Richtig«, pflichtete Steel bei. »Unsere Körper sind dreidi mensional und können deshalb nicht im Hyperraum bestehen. Es fehlt ihnen eine Dimension, eine Seite, bildlich gesprochen. Doch etwas im Menschen besitzt diese vierte Seite: die Seele, der Geist. Jedermann weiß, und die Norlganer schwören sogar darauf, daß die Seele unsterblich ist. Seit Jahrtausenden weiß man das. Und was bedeutet diese Unsterblichkeit der Seele? Nichts anderes, als daß die Zeit – relativ zum menschlichen Körper immer eine Variable – für die Seele zur Konstanten wird. Zur fehlenden vierten Dimension! Die Seele, der Geist hat sie. Und sie allein kann hier leben.« Nrola Onrlo nickte zustimmend und ließ seine drei Arme kreisen. »Man denkt selten daran«, sagte er, »daß diese Seele auch eine Gestalt hat, eine Form, die natürlich nur von Augen gesehen werden kann, die ebenfalls über die vierte Dimension verfügen. Aber eine Gestalt, die der dreidimensionalen des Körpers offenbar durchaus entspricht.« Sie hatten sich inzwischen in Bewegung gesetzt und schritten 61
schwebend über die endlose Ebene, einem ungewiß lockenden Ziel entgegen. Es ist wirklich wie ein Traum, dachte Henry Steel und ließ den Blick über die weite Landschaft schweifen. Diese Farben pracht! Diese goldene Helligkeit! Diese Formen! Keine Wolke verdunkelte den Himmel. Er fühlte sich leicht und unbe schwert, wie nie zuvor. Er sah an seinem Leib herunter. Strah lend hell und weiß, war er noch immer in die gleichen Klei dungsstücke gehüllt, die er an Bord des Transzendor getragen hatte. Die leichte, weiße Baumwollhose, das weiße T-Shirt, der fleckenlos weiße kurze Labormantel darüber. Und er konnte seine Kleidung wechseln, wie es ihm paßte. Ein Gedanke genügte, und sein Wunsch ging in Erfüllung. Diese Welt war die Welt der Psychokräfte. Was im alten Weltraum das Reich der Materie und der Mechanik war, war hier die Domäne des Geistes und der psychischen Kräfte. Telepathie – das Verständigungsmittel. Teleportation – das Transportmittel. Telekinese – die Beeinflussung jeglicher Substanz durch Gedankenkraft, wozu im alten Weltraum die komplexen Psychoapparate – Gedankenrelais – der norlgani schen Techniker notwendig waren. Hellsehen, Präkognition … nur Rudimente dieser Anlagen waren auf Erden vereinzelt aufgetreten. Das ideale Leben. Wie im Traum, dachte er wieder. Eine neue Idee packte ihn. War es möglich, daß der menschliche Traum nichts anderes als ein Ausflug der Seele war? Daß die Seele während des Schlafs aus dem Körper wich und Zugang zum Hyperraum hatte? Man müßte doch irgendwelche Expe rimente durchführen können, die diese Hypothese untersuch ten! Er mußte dazu schleunigst zur Erde zurückkehren! Ein weiterer Gedanke durchzuckte ihn. Wie lange befanden sie sich nun schon in dieser Hyperweit? Seit wie vielen Tagen lebten sie auf diesem traumhaften Planeten? Wie lange? Er lachte laut 62
auf. Zeit gab es hier doch nicht, spielte hier absolut keine Rolle. Da sie relativ zu ihm still stand, würde sie ihnen über haupt niemals bewußt werden. Er könnte sich Tausende von Erdenjahren hier befinden, ohne jemals auch nur an Zeit denken zu müssen, denn sie war hier zum Raum geworden. Aber im normalen Weltraum? Dort bewegten sich Materie und Zeitgerade relativ zueinander weiterhin ungestört fort. Und das hieß? Die Erde würde älter und älter werden, mit allem, was sich auf ihr befand, ohne daß für ihn und seine Crew eine einzige Sekunde verstrichen war. Steel blieb stehen, als ihm die ganze Tragweite seiner Über legungen schlagartig bewußt wurde. Wieviel Zeit war denn nun schon auf der Erde seit ihrem Abflug vergangen? Drei Tage – fünf Wochen – dreißig Jahre – dreitausend Jahre? Ja, es war möglich, daß die Menschheit während seiner Abwesenheit zu existieren aufgehört hatte, daß die Erde zu alt geworden war, um ihre Kinder zu ernähren! Er konnte es nicht sagen, da ihm jeglicher Anhaltspunkt fehl te. Eines aber schien sicher: Die Zeit war im normalen Welt raum mit einer Geschwindigkeit fortgeschritten, über die er sich keinen Begriff machen konnte. Eine Gestalt materialisierte sich unversehens vor ihm. Steel wich überrascht zurück. Nrola konnte einen Schreckensruf nicht unterdrücken. Gedankensymbole drangen in den Vorder grund seines Bewußtseins, formten sich dort zu Wortgebilden. »Habt keine Furcht, Fremde! Ich komme in Freundschaft.« Er betrachtete die Erscheinung mit erwachendem Interesse. Verwundert machte er die Feststellung, daß der Ankömmling, in eine weiße Toga gekleidet war, die seine großgewachsene Gestalt mit anmutigen Falten umgab und an den Rändern und Säumen mit Mustern in leuchtenden Farben verziert war. Farben, die so intensiv strahlten, wie er es früher für unmöglich gehalten hätte – die sich dabei aber auch ständig zu verändern 63
schienen. Ja, das ganze Gewand kräuselte und schimmerte, als ob es fortwährend seine Form veränderte. Der Fremde war groß, beinahe gigantisch, und gutgewachsen. Seine Augen saßen wie schwarze Kohlen in ihren Höhlen, dichtes weißes Haar fiel von seinem Scheitel auf den Rücken nieder. Der Unbekannte hob grüßend eine sehnige Hand. »Seid willkommen«, drangen die Psychowellen in Steels Bewußtsein. »Man nennt mich Ben Rigel, Mentor 5. Ich bin hier, euch zu begrüßen und mich euch als Führer anzubieten, um euch in eure neue Welt einzuführen.« Steel mußte sich eingestehen, daß er leicht benommen war. »Wir danken dir, Ben Rigel«, antwortete er, in Ermangelung einer besseren Entgegnung. Der Fremde nickte zustimmend und betrachtete die drei Männer schweigend, einen nach dem anderen. Als sich sein Blick schließlich auf den Norlganer richtete, glitt der Ausdruck größter Verwunderung über sein friedvolles Gesicht, und Steel spürte einen Hauch von Genugtuung. Rigels Gedanken verrie ten, daß er nicht erwartet hatte, einen Kapellaner hier zu sehen. »Wie kommt es«, wandte er sich an Nrola Onrlo, »daß du hierher verschlagen worden bist? Haben dich eure Mentoren nicht zum Planeten der Kapellaner gebracht. Oder hast du dich verirrt?« »Was für Mentoren, Ben Rigel?« entgegnete Onrlo erstaunt. »Und welchen Planeten?« »Das ist doch ganz einfach«, sagte der Weißhaarige etwas ungehalten. Seine wirren Gedanken zeigten, daß er sich noch immer nicht zurechtfand. Eigentlich recht menschlich, dachte Steel befriedigt. »Ihr drei seid doch in euren Welten »gestor ben«, wie ihr es dort unten nennt, nicht wahr? Wir nennen es hier entfleischlicht oder diskarniert werden.« Steel begann zu begreifen. Er mußte grinsen. »Nein, Freund Rigel, wir sind nicht gestorben, obgleich man unseren jetzigen Zustand durchaus entfleischlicht nennen 64
könnte«, entgegnete er. Der Mentor sandte Psychowellen aus, die völlige Verwirrung verrieten. Offenbar sondierten sie andere Gehirne nicht unerlaubt, dachte Steel, wenn sie dies können. »Wir sind aus freien Stücken hergekommen«, erklärte Steel geduldig. »Aus eigenem Willen. Und zwar mit Hilfe eines Fahrzeugs. Du glaubst es nicht? Nun – es ist Tatsache! Blicke in meine Gedanken, wenn du willst. Du wirst dort die Wahrheit sehen.« »Ich … ich sehe sie. Aber – aber keine Maschine kann den Wall zwischen den beiden Welten durchbrechen, Fremder! Es ist unmöglich, weil nur der Geist dies kann, und eine Maschine hat keinen Geist.« »Wir haben ihr Geist verschafft, Ben Rigel. Unseren Geist. Indem wir mit diesem Fahrzeug die physikalischen Gesetze unseres Raumes brachen. Er konnte uns unter diesen Bedin gungen nicht halten und hat uns mitsamt unserem Fahrzeug ausgestoßen. Und hier sind wir nun.« Steel lächelte triumphierend, aber er fühlte wieder die alten Ängste in sich aufsteigen. Zum hundertsten Mal fragte er sich: Gab es noch ein Zuhause? Wie alt war die Erde inzwischen geworden? Gab es denn keine Gleichung, mit der sich dies berechnen ließ? Er zerwühlte sein Gehirn, fand keine Antwort. Würde seine Familie noch existieren? Seine Gedanken konzen trierten sich auf seine junge, hübsche Frau. Seine Sehnsucht nach ihr erfüllte ihn mit einem Mal mehr denn je zuvor. Er merkte nicht, daß Andy Richter, der seinen Gedanken unwill kürlich gelauscht hatte, über und über errötete. Der alte »Frem denführer« wandte sich ihm zu. Anscheinend hatte er endlich begriffen. »Ich beginne zu verstehen, mein Freund. Aber eines möchte ich gerne noch wissen: Warum überhaupt dieses Fahrzeug, diesen Transzendor, wie ihn deine Gedanken nennen? Du hättest den Übertritt in unsere Welt viel einfacher haben 65
können.« »Ich weiß«, nickte Steel, »indem ich drüben gestorben wäre. Leider hätte ich dann aber niemals wieder in meinen alten Körper zurückkehren können, Ben Rigel. Mit Hilfe dieses Fahrzeugs wird es mir jedoch immer möglich sein.« Der Mentor starrte ihn einen Augenblick lang verwundert an. Dann kamen seine erstaunten Gedanken: »Ja – willst du denn in deinen alten Körper zurückkehren?« Steel schwieg. Noch einmal glitt all das durch seine Gedan ken, was ihn in den letzten Minuten bewegt hatte. Er dachte an die Zeit, die auf Erden inzwischen verstrichen sein mußte. Er sah Jane vor sich, die älter und älter wurde, ohne daß für ihn auch nur eine Tausendstelsekunde verging, er sah seine beiden kleinen Töchter, die eines Tages älter als ihr Vater sein wür den. Er dachte an sein Ranchhaus zwischen den grünen Hügeln, an das Leben dort. Er sah die Mühsale des irdischen Daseins vor sich, Hunger, Krankheiten, Greisentum, verglich sie mit den traumhaften Schönheiten der Welt, wie sie ihm Ben Rigel vorführen wollte. Er dachte an die mühevolle Lebensweise der Menschen, die dazu verdammt waren, zu essen und zu schla fen, zu atmen und zu sprechen, zu laufen und zu reisen, sich zu wärmen oder sich zu kühlen, sich zu bekleiden und mühsam den Lebensunterhalt zu fristen. Abwesend registrierte er, daß Richter und Onrlo, die seinen Gedanken aufmerksam gefolgt zu sein schienen, langsam von ihm abrückten und sich zu Rigel gesellten. Ja, dachte er, sie würden hierbleiben, ohne zu zögern. Er würde sie nicht dazu zwingen, zurückzukehren. Andy Richter, keine Angehörigen, kein Zuhause. Er stammte aus Bayern, aber er kannte die Erde nicht, hatte sein Leben lang in Raum schiffen gehaust. Nrola Onrlo, auf der Erde nur Gast, auf der fernen Norlga dem Klima eines sterbenden Planeten ausgelie fert, auch er nur auf den Kommandobrücken der interstellaren 66
Raumschiffe zu Hause. Steel sah sich um, sog den Anblick der endlosen grünen Ebe ne ein, der wunderbaren Gebäude, die man sich durch reine Psychokräfte baute, fühlte das goldene Licht, das seinen Körper lockend umflutete, spürte die innere Leichtigkeit und das nie gekannte Glücksgefühl, die ihm der neue Leib verlieh. Und er verglich all das noch einmal mit dem Leben, das ihm die Erde bieten würde. Wie konnte er nur auf den absurden Gedanken kommen, jemals dorthin zurückzukehren? Er mußte laut auflachen und winkte seinen Gefährten. »Freund Rigel«, sagte er, »worauf warten wir noch? Eine neue Welt tut sich vor uns auf!« »Chef, ich bin froh, daß Sie in meiner Reichweite bleiben«, kam es von Nrola mit Wärme. »Ich war schon traurig, Sie verlieren zu müssen, Skipper.« Das war Andy. Der junge Mann blickte glücklich zu den Gebäuden hinüber, auf die sie sich nun zubewegten. »Auch für uns gibt es ein »Jenseits«. Wenn unsere Entwick lung einen bestimmten Punkt erreicht hat, passieren wir die Schwelle«, hatte Ben Rigel gerade auf eine Frage des Norlga ners geantwortet, als Steel unvermittelt wie festgewurzelt stehenblieb. Vor ihnen erhob sich etwa ein halbes Dutzend prachtvoller Bauwerke aus einem unbekannten weißen, ätheri schen Material. Der Mentor und die beiden Freunde schritten ein Stück weiter, Zentimeter über dem Boden schwebend, und wandten sich dann fragend um. Steel horchte einen langen Augenblick verwundert in sich hinein. Einen klaren Gedanken konnte er nicht finden, aber ein Gefühl, das jetzt, als er ihm lauschend Aufmerksamkeit zollte, so mächtig wurde, daß es ihn schier übermannte. Die gute alte Seele, dachte er unwillkürlich, sie hat ihre Ge fühle noch. Langsam hob er den Kopf und blickte den alten Mentor an. Ein strahlendes Lächeln lag auf seinen Zügen, 67
schwang in seinen Gedanken. »Adieu, Ben Rigel«, sagte er. Das Gefühl in ihm wurde so mächtig, daß er hätte jauchzen können. »Auf Wiedersehen, Andy! Auf Wiedersehen, Nrola, mein Freund! Ich hab’s mir überlegt. Ich muß zurück zur guten alten Erde. Ich bin noch zu jung für die Ewigkeit!« Bevor ihn die halb beschwörenden, halb resignierenden Ge danken seiner beiden Freunde erreichten, hatte sich seine Umgebung mit einem Schlag vollständig verändert. Er stand hochaufgerichtet auf der Kommandobrücke des Transzendor, der noch immer unverändert im Hyperraum hing. »Die Erde!« Seine Gedanken jagten sich, während er sich in seinen Pilotensitz niederließ und mit seinem schattenhaften Ebenbild verschmolz. Er wußte, daß es noch nicht zu spät war. Wenn Jane nicht mehr existierte, wäre sie ihm auf Ben Rigels Welt begegnet. Er würde eine kaum veränderte Erde wieder finden, eine Erde, auf der er seine Lebensspanne absolvieren würde, bis er eines Tages wieder auf jener endlosen traumhaf ten Ebene der Ewigkeit stand. »Die Erde!« Er gab dem Psychorelais den Gedankenbefehl, auf den es kodiert war. Der feine norlganische Mechanismus reagierte augenblicklich. Lautlos erlosch der Hyperdrive. Der Transzendor fiel mit einer qualvollen Eigenkrümmung in den alten Weltraum zurück. Bevor die Nacht der Transition über ihn hereinbrach, wurde es Steel in unvorstellbarer Klarheit bewußt, daß das überwälti gende Glücksgefühl, das ihn seit den letzten Augenblicken der Entscheidung anfüllte, unvergleichlich größer und schöner war als jene Empfindungen, die die Welt der Ewigkeit in ihm hervorgerufen hatte. Und es würde von nun an in ihm bleiben.
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Wer zuletzt lacht [1956] Die höchst merkwürdige Geschichte von Kapitän Stamm und der »Terra 5« begann eigentlich erst in dem Augenblick, als das Expeditionsschiff in weitgeschwungener Kurve zur Lan dung auf dem zweiten Planeten der Sonne Arneb ansetzte. Raumkapitän Stamm blickte gerade auf den riesigen Konti nent hinunter, den er sich zum vorläufigen Gegenstand seiner Untersuchungen ausersehen hatte, als er in seinen Betrachtun gen gestört wurde. Trent, der junge Beobachtungsoffizier, kam eilig von seiner Sensorenstation und näherte sich Stamm. »Es sind bereits ausgedehnte Wälder zu erkennen, Kapitän!« meldete er erregt und deutete hinunter auf den rasch empor steigenden Erdteil. »Die sichtbaren freien Stellen scheinen Steppen oder gar Wüsten zu sein, obwohl ich mir nicht vorstel len kann, daß Wald und Wüste so dicht nebeneinander beste hen können! – Dort drüben sind einige Binnenseen zu erken nen; sie sind durchweg von Wäldern eingeschlossen.« »Haben Sie irgendwelche Baulichkeiten entdecken können, Trent? Irgendwelche Spuren einer Zivilisation?« fragte der Kapitän sinnend. Seit vielen Wochen kreuzte die »Terra 5« in der Konstellati on Lepus, 150 Lichtjahre von Sol entfernt, um nach bewohnba ren Welten zu suchen. Bisher ohne Glück. Es war ihr noch nicht gelungen, in diesen von der Erde weit entfernten Regio nen einen Planeten zu finden, der menschlichen Auswanderern eine neue Heimat bieten würde. »Nein, Kapitän! Aber das hat doch nichts zu bedeuten. Wir sind noch zu weit entfernt, um derartige Einzelheiten ausma chen zu können, vor allem wenn es sich um eine ökologiebe wußte Gesellschaft handelt.« »Nun, dann gehen Sie wieder an die Arbeit, Trent! Bald wer den wir mehr wissen. – Andy!« 69
Der große, schweigsame Mann an den Steuerkontrollen wandte sich halb um. »Ja, Kapitän?« »Landen Sie das Schiff in jener Ebene dort, vorläufige Lan dekoordinaten 25-3!« Das Landungskoordinatensystem der »Terra 5« bezog sich stets auf den Punkt der Planetenoberfläche, der im Augenblick der Koordinatenfixierung, bei »Referenzzeit«, im Nadir lag, also lotrecht unter dem Standort des Schiffes. Da Andy, der Pilot, ein genaues Diagramm seiner Anflugbahn auf seinem Bildschirm hatte, konnte er mit Hilfe der genannten Koordina ten sofort den angegebenen Punkt identifizieren, eine Aufgabe, die ein Meister wie Andy im Kopf löste. Als die »Terra 5« sachte auf dem sandigen Boden der Ebene aufsetzte, kam Harry Rudolph aus seinem Laborquartier geschossen. »Herr Kapitän!« meldete er aufgeregt. Die Art seiner Bot schaft gab auch wirklich zu einiger Aufregung Anlaß. »Herr Kapitän, die Luftanalyse ist positiv! Die Atmosphäre dieses Planeten ist atembar. Etwas zu viel Sauerstoff, aber in durchaus gesunden Grenzen!« Kapitän Stamm sah ihn einen Augenblick an. Sollten sie tatsächlich endlich auf einen bewohnbaren Planeten gestoßen sein? Dann hatte sich die ganze Expedition wahrlich gelohnt! Ein Blick aus dem Kabinenfenster zeigte eine weite rötliche Sandebene, die in unregelmäßigen Abständen von spitzen Felszacken durchbrochen wurde. In der Ferne zog sich die dunkle Linie des Waldes entlang. Die Männer der Besatzung waren vollzählig auf der Kom mandobrücke der »Terra 5« versammelt. Der Kapitän ließ seinen Blick über sie schweifen. Tüchtige Burschen, dachte er. Leutnant Wilson Trent, Nachrichten- und Beobachtungsoffi zier, Leutnant Dr. Harry Rudolph, Chemiker, der Bordingeni eur Alec Heim und der breitschultrige Astronaut Andy Cairo, 70
der immer noch schweigend in seinem Pilotensessel lehnte. »Meine Herren!« sagte Stamm mit einer Stimme, in der das Zittern einer kaum mehr zu ertragenden Spannung schwang. »Mal herhören! Wir wollen uns diese Welt einmal ansehen! Vielleicht ist es uns vorbehalten, der Erde die erfreuliche Nachricht von der Entdeckung eines bewohnbaren Planeten zu überbringen. Überprüfen Sie jetzt noch einmal gründlich Ihre Stationen, und dann kann’s losgehen!« Unterdrücktes Lachen und erregtes Gemurmel mischte sich in das folgende Durcheinander, als die Leute zu ihren Abtei lungen eilten. Aber plötzlich geschah etwas völlig Unerwartetes im Kom mandoraum. »Willkommen auf dem Planet Urta, Wesen von einer anderen Welt!« Die Männer standen erstarrt. Es war kein Geräusch zu hören gewesen, und doch hatte sie eine laute, dröhnende Stimme in ihren Gehirnen angesprochen, eine Stimme, die sich machtvoll in ihre Gedanken eingeschaltet hatte. Stamm hatte so etwas noch nie erlebt. Er fragte sich verwun dert, ob er träumte. Doch das konnte es nicht sein. Dann fiel ihm eine zweite Möglichkeit ein. »Telepathie!« sagte er laut zu seinen Leuten. »Aber wie ist das möglich?« »Auf Urta ist vieles möglich, Fremde!« Die gegenstandslose Stimme schwoll in das wirre Durcheinander der sich jagenden Gedanken. »Verlaßt euer Schiff, damit wir euch gebührlich empfangen und begrüßen können!« Stamm eilte mit zwei Schritten zum Kabinenfenster. Der Ausblick hatte sich jedoch nicht verändert. Leer und öde erstreckte sich die Ebene rund um das Schiff. Stamm schüttelte den Kopf; ein unruhiges Gefühl begann von ihm Besitz zu ergreifen. Wenn die Bewohner dieser Welt über derart mächtige telepathische Fähigkeiten verfügten, 71
waren sie seinem Schiff und der kleinen Besatzung weit überlegen. Es erschien unter diesen Umständen kaum ratsam, noch län ger hierzubleiben, auf dieser deckungslosen Ebene, auf der die »Terra 5« jedem Angriff schutzlos ausgesetzt wäre. Die Wesen des Planeten Urta hatten sich zwar nicht feindlich gezeigt, aber es war in dieser gegenstandslosen Stimme etwas gewesen, das ihm einen kalten Schauer über den Rücken gejagt hatte. Es klang so, als ob diese Stimme über keinerlei Gefühle verfügte, als ob sie die Äußerung einer seelenlosen Maschine gewesen war. Eine Maschine konnte feindlich sein, ohne zu wissen, was Feindschaft ist, grausam, ohne Kenntnis von Grausamkeit … »Andy!« rief er scharf. »Bringen Sie die ›Terra‹ in die Höhe! Fünfhundert Meter genügt fürs erste. Dann wollen wir weiter sehen.« Der schweigsame Pilot drückte auf einige Knöpfe, dann schob er den Kontrollhebel nach vorne. Das Schiff rührte sich nicht von der Stelle. Eigentlich hätte das donnernde Krachen der Startdüsen einsetzen müssen, aber es herrschte tiefste Stille. Der Pilot bewegte sich auf einmal mit rasender Schnelligkeit; seine Hände glitten über das Steuerpult, bedienten einige Schalter. Dann wandte er sich achselzuckend um. »Sie reagiert nicht, Kapitän! Die Kontrollen sind tot. Ich habe das Schiff nicht mehr in der Hand!« Stamm verließ seinen Platz beim Fenster und durchquerte die Kabine. Das Gefühl der Unruhe in ihm wuchs zu überwälti gender Größe an. Ein seltsamer Schleier begann sich langsam über sein Bewußtsein zu legen. Verwundert griff er sich an den Kopf, wandte sich nach seinen Leuten um. Wie durch einen flimmernden Vorhang fallenden Wassers sah er sie erstarren. Cairo sprang mit einem scharfen Ausruf von seinem Sessel auf und blickte sich wild um. Harry Rudolph sank in die Knie und kippte langsam zur Sei 72
te. Er fiel bewußtlos zu Boden. Leutnant Trent taumelte eben falls schon, und Alec Heim fiel zur gleichen Zeit, als auch Andy zu Boden stürzte. Der Gedanke, einen unwiderruflichen Fehler begangen zu haben, erfüllte Kapitän Stamm, als es vor seinen Augen schwarz wurde. Den Schmerz des Niederfallens spürte er nicht mehr. Als sich das Bewußtsein wieder einstellte, erwartete er zu nächst, die vertraute Decke seiner Schlafkoje über sich zu sehen. Er lag flach auf dem Rücken. Seine Augen blinzelten einen Moment lang unsicher, dann kam ihm die Unmöglichkeit seiner Situation schlagartig zu Bewußtsein. Die Decke des Raumes war so hoch, daß er sie kaum mehr erkennen konnte. Ein seltsames diffuses Licht, das keine Quelle zu besitzen schien, umgab ihn, ebenso wie ein hohes Summen, das die Luft mit nervenerregender Eindringlichkeit erfüllte. Mit einem Ruck wollte er sich aufsetzen, doch gelang es ihm nicht. Er konnte sich nicht von der Stelle rühren. War er festgeschnallt? Er wandte den Kopf. Der Anblick, der sich ihm bot, verschlug ihm den Atem. Seine vier Leute lagen neben ihm, festgeschnallt auf hohen, metallisch glänzenden Tischen. Aber das Erschreckendste war ein Lebewesen, das aus einem Fabelbuch stammen konnte. Ein runder, blutroter, vogelartiger Körper, der auf zwei langen Storchenbeinen stand. Ein großer, gräßlicher Kopf auf einem langen Schwanenhals. Sechs lange, mit zahlreichen Saugnäpfen besetzte Arme, die vorne am Vogelleib saßen und sich schlangenartig ringelten und krümm ten. Stamm schloß krampfhaft die Augen vor dem Alptraum und hielt unwillkürlich den Atem an. Wenn er sie wieder öffnete, 73
würde die Szene verschwunden sein. Aber als er es tat, war das unmenschliche Wesen immer noch da, ja, es sah ihn in diesem Augenblick an! Machtvoll begannen sich Gedanken in seinem Bewußtsein zu formen. »Kapitän Stamm, ich begrüße dich aufs herzlichste!« Kalter Sarkasmus schien in der Stimme zu liegen. Aber nein, sie war vielmehr gefühlloser und steinerner als beim erstenmal. Und eine gefühllose Maschine kann keinen Sarkasmus empfinden. Aber auch nicht »aufs herzlichste« begrüßen! »Du wunderst dich über den Empfang, den wir dir und dei nen Leuten bereiten? Nun, Kapitän, wir werden dich nicht lange im Ungewissen lassen.« Vor Stamms entsetzten Augen erschienen vier weitere Ge stalten, ebenfalls bizarre Wesen mit Vogelleibern und Polypen armen. Sie schienen sich mit dem ersten Ungeheuer telepa thisch zu unterhalten; dann löste sich die Gruppe auf, und jeder der Urtaner gesellte sich zu einem der Gefangenen. Das Wesen, das zuerst »gesprochen« hatte, begab sich zu Stamm und blieb neben seinem Kopf stehen. Nur unter Aufbie tung seines ganzen Willens hielt er ihm sein Gesicht weiter zugewandt. Der Geruch des Vogelmenschen war unerträglich. Stamms Atem ging kurz und stoßweise. Wieder formten sich brutale Gedanken. »Wie du siehst, hat sich jeder meiner Gefährten einen von deinen Leuten ausgesucht. Wenn wir auch keinen Wert auf Äußerlichkeiten legen, so gestatte ich es meinen Gefährten doch, sich denjenigen Körper auszusuchen, der ihnen am meisten zusagt!« Eisiges Grauen schüttelte den Kapitän. Er fühlte, wie sich kalte Schweißtropfen auf seiner Stirn zu bilden begannen, wie sich seine Gesichtszüge verzerrten, und wie seine Augen aus ihren Höhlen zu treten drohten. Er wollte sie von dem grotes ken Wesen an seiner Seite abwenden, aber er konnte es nicht. 74
Sein Gehirn weigerte sich, den Sinn des eben Gehörten zu begreifen. Viel Willenskraft besaß er nicht mehr, aber es genügte, um das aufsteigende Entsetzen zu unterdrücken und mit verhältnismäßig ruhiger Stimme zu fragen: »Was soll das bedeuten, Urtaner? Was wollt ihr von uns?« Die Gedanken des unmenschlichen Wesens kamen schnell und tödlich: »Mein Name ist Rul. Du willst wissen, was mit dir und dei nen Gefährten geschehen wird? Das ist rasch erklärt! Wir haben noch ein wenig Zeit, bevor die Maschine ein genügendes Potential erreicht hat. Du dürftest bereits gemerkt haben, daß wir Urtaner über Wissenschaften verfügen, von denen ihr Menschen euch keine Vorstellung machen könnt. Unter anderem besitzen wir eine Maschine, die ich mangels besserer Verständigungsmöglichkeit einen »Identitätstauscher« nennen möchte. Was geschehen wird, ist folgendes: Du und ich, wir werden mittels dieser Maschine unsere Identitäten wechseln. Ebenso meine Gefährten und deine Leute. Wenn die Maschine mit uns fertig ist, wird sich unser Geist, unser innerstes Wesen in euren Körpern befinden – und umgekehrt eure Identität in urtani schen Körpern. Körper sind nur Äußerlichkeiten, sind nur Träger der Identität. Sie sind nicht besonders wichtig. Man kann seinen Trägerwirt wechseln, je nach Bedarf.« Der Kapitän konnte sein Zittern nicht mehr verbergen. Er zweifelte nicht daran, daß Rul in vollem Ernst sprach. »Und warum …?« Seine Stimme klang leise und abwesend. »Der Grund, warum wir diesen Tausch vollziehen werden? So wisse denn: In euren Körpern werden wir über unser urtani sches Wissen und Können verfügen, allerdings ohne die Fähigkeit der Gedankenübertragung. Dafür aber wird uns auch der Schatz deiner Erinnerungen, deines Gedächtnisses, deines Wissens offenstehen, der im Körper ebenso verankert ist, wie in der Seele. Und damit werden wir fünf in euren Körpern das 75
Raumschiff besteigen, das dich und deine Leute hierher ge bracht hat. Es wird uns zu deinem Heimatplaneten tragen. Dort angekommen, ist es unsere heilige Aufgabe, unerkannt, – denn wer wird schon die urtanische Identität in den mensch lichen Körpern vermuten? – das vorzubereiten, was wir seit einiger Zeit planen, und was ein Teil unseres ganzen Strebens ist: die Eroberung eines Planeten und – von dort ausgehend – des ganzen Systems. Eines Tages werden wir die Herrscher über die Milchstraße sein! Aber nun genug der Rede. Es ist Zeit!« Das nervenerregende Summen war höher und höher gestie gen und verlor sich nun in Ultraschallbereichen. »Halt!« schrie Stamm verzweifelt. Das eben Gehörte hatte ihn völlig überwältigt; er war zu keinem klaren Gedanken mehr fähig. »Halt, Rul! Du hast mir noch nicht gesagt …« »… was mit euren Identitäten geschehen wird? Nun – ihr werdet euch nach dem Tauschgeschäft in urtanischen Körpern wiederfinden! Diese müssen dann allerdings vernichtet wer den.« Stamm fühlte, wie sich sein Tisch in Bewegung setzte, aber diese Feststellung drang nur noch schwach in sein Bewußtsein. Mit Augen, die das Entsetzen unnatürlich weit aufgerissen hielt, sah er noch, wie sich die gewaltigen Röhren und Schalt elemente der Umwandlungsmaschine über ihn schoben. Seine letzten Gedanken galten der Erde. Sie war verloren, und es war allein seine Schuld! Er hatte versagt! Er hatte die ganze Erde ihrem Ruin zugeführt. Es konnte nie wieder rück gängig gemacht werden. Er merkte kaum noch, daß sich die Riemen lösten, die ihn festhielten. Dann explodierte mit einem Schlag sein Gehirn, und er versank in tiefster Nacht. Rul setzte sich mit einem Ruck aufrecht. Er blinzelte ver suchsweise in das Licht; dann sah er an seinem Körper herun 76
ter. Ein Lächeln der Befriedigung umspielte seine Lippen, aber überrascht war er nicht. Er glitt von der Tischplatte herab und reckte sich in der schlanken, aufrechten Gestalt Kapitän Stamms. Vier weitere menschliche Gestalten gesellten sich schweigend zu ihm. Bevor er jedoch dazu übergehen konnte, sich an seinen neuen Körper zu gewöhnen, blieb ihm noch eine kleine Aufgabe. Mit abschätzendem Blick betrachtete er die langhalsigen, storchenbeinigen Pterodaktyl-Wesen, die auf ihren Lagern unter der Maschine ruhten. Der eine dieser Körper war seiner gewesen, aber er trauerte ihm nicht nach. Körper, so dachte er befriedigt, sind nur die Träger der Identitäten. Sie können beliebig gewechselt werden. Das einzig Ausschlaggebende ist allein das innerste Wesen selbst. Als sich die fünf urtanischen Gestalten zu bewegen began nen, legte er eine Hand auf einen Hebel. Sie kamen langsam wieder zu sich, dann richtete sich eine von ihnen abrupt auf und warf alle sechs Arme in die Höhe. »Rul … Rul, warte noch …!« Wie ein Hilfeschrei klang der schrille Gedanke, aber er erreichte ein leidenschaftsloses Gehirn. Rul legte den Hebel um. Als die fünf Wesen zu schwarzen Klumpen verkohlt waren, wandte er sich seinen Leuten zu. »Menschen!« Seine Stimme klang etwas belustigt. »Men schen, es ist soweit! Die »Terra 5« wartet auf uns!« Als das Schiff in den Raum hinausschoß, saß Andy Cairo schweigend an den Kontrollen. Kapitän Stamm stand nach denklich am Kabinenfenster. Leutnant Wilson Trent war mit dem Bordbuch beschäftigt, in dem es manches auszubessern und zu ergänzen gab. Harry Rudolph und Alec Heim bedienten ihre Stationen mit der Sicherheit, die ihnen nur der jahrzehnte lange Dienst auf interstellaren Raumschiffen verschafft hatte.
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Kapitän Stamm saß bequem in seinem Hotelzimmer, hatte die Beine übereinandergeschlagen und rauchte eine duftende Zigarre. Mit befriedigtem Lächeln überdachte er noch einmal die Ereignisse der letzten Wochen. Nach der Landung der »Terra 5« in Starport, dem gewaltigen Raumhafen, hatte es zunächst einige Stunden der Anspannung und Aufregung gegeben. Die Formalitäten waren zu erledigen; er hatte seine Berichte abzuliefern und dann mit seinen Leuten die Quarantänestation zu passieren. Man hatte die Nachricht von der Entdeckung eines bewohn baren Planeten im Sternbild des Hasen mit heller Begeisterung aufgenommen. Auf sein Anraten begann man sofort mit den Vorbereitungen einer zweiten Expedition. Diesmal sollten die »Terra 6« und »Terra 7« nach dem System Arneb geschickt werden. Wie man ihm versicherte, würden sich bereits die ersten Auswanderer an Bord dieser Raumschiffe befinden. Besser konnte die Lage für ihn nicht stehen, denn dadurch würde er bald Verstärkung erhalten! Und dann die Unterredung mit dem Präsidenten der Raum flugorganisation. »Sie könnnen einige Monate Urlaub nehmen, Kapitän. Das schulden wir Ihnen.« hatte dieser erklärt, und Stamm hatte strahlend gelächelt, wie man es von ihm unter diesen Umstän den erwartete. Und dann war der ganze Papierkrieg erledigt, dann waren die Interviews und Empfänge überstanden, und er konnte sich seinen eigenen Interessen zuwenden. Die Besatzung zerstreute sich in alle Winde. Die einzelnen Mitglieder hatten ihre genau en Anweisungen und würden ihre Aufgabe erfüllen, wie er es von ihnen erwartete. Stamm blies behaglich einen Rauchring in die Luft. Heute abend hatte er einen Rundgang durch die Stadt gemacht. Die ersten Eindrücke waren recht vielversprechend. Er würde leichtes Spiel haben. Die Tür seines Hotelzimmers öffnete sich geräuschlos. Ein 78
kleiner, unauffällig gekleideter Mann erschien auf der Schwel le. Er sah aus wie ein Handelsreisender, unterschied sich aber von einem solchen in der einen Kleinigkeit, daß er mit einer Maschinenpistole bewaffnet war. »Ach, da sind Sie ja, Stamm!« sagte er beiläufig. Der Kapi tän fuhr aus seinen tiefsinnigen Betrachtungen auf. Das Gefühl der Befriedigung war mit einemmal verschwunden. Im Nu befand sich sein Gehirn in äußerster Alarmbereitschaft. War etwas schiefgegangen? »Was soll das bedeuten, Sir? Warum dringen Sie hier ein, ohne anzuklopfen, noch dazu mit einer Waffe?« »Gib dir keine Mühe, Stamm … oder soll ich Rul sagen? Wir wissen bescheid. Gestatte aber vorerst, daß ich mich vorstelle: Ralph Schneider, Sonderagent des Geheimdiensts, Spezialab teilung Infiltration außerirdischer Spione. Und das sind meine Männer!« Er trat zur Seite, und hinter ihm wurden die breiten Gestalten von einem halben Dutzend weiterer Geheimpolizisten sichtbar. Stamm ließ sich in seinen Sessel zurücksinken. Seine Gedan ken jagten sich, aber sein Gesicht zeigte nur den Ausdruck blanken Erstaunens. »Sagen Sie, Schneider, wovon sprechen Sie eigentlich? Daß ich Stamm heiße, haben Sie richtig mitbekommen. Daran kann ja wohl kein Zweifel bestehen. Aber Sie scheinen trotzdem nicht zu wissen, wer ich bin!« »Oh, doch!« Der kleine Agent lächelte freudlos. »Wir wissen es. Weißt du, Rul, dein Plan war recht nett ausgedacht. Du hast nur eine winzige Kleinigkeit außer acht gelassen. Eine Klei nigkeit, die deinen Begleitern …«, er blickte auf die Armband uhr, »… die deinen Begleitern sozusagen die Identität gekostet hat. Und der auch du zum Opfer fallen wirst! Wir dulden nämlich keine extraterrestrischen Agenten auf unserer Erde, auch wenn sie nur so etwas Harmloses wie eine Invasion vorbereiten wollen!« 79
Das Gesicht des Kapitäns überzog sich langsam mit Blässe. Kleine Schweißtropfen erschienen auf seiner Stirn. Er blickte sich wild um, aber es gab kein Entrinnen. Die breitschultrigen Männer hatten sich an den Wänden postiert und hielten ihre Waffen schußbereit. Schneider sprach ruhig weiter, beiläufig und abwesend, als ob er zur gleichen Zeit überlegte, was seine Frau heute zum Abendessen kochte. »Einen ganz kleinen Fehler hast du gemacht, Rul! Du bist natürlich nie auf den Gedanken gekommen, daß die Gefahr aus deinen eigenen Reihen kommen könnte. Du hast nie daran gedacht, daß einer von der Besatzung sofort nach der Landung zu uns kommen würde!« »Weil es unmöglich ist!« zischte Stamms Mund wütend. »Bei den Urtanern gibt es keinen Verrat!« »Das habe ich auch gar nicht behauptet, Rul. Ich will nur sagen, daß du eigentlich daran hättest denken müssen, daß deine Identitätentauschmaschine mal nicht so richtig funktio niert! Ja, du hast mich recht verstanden. Warum hast du nicht gemerkt, daß einer von den Besatzungsmitgliedern durch die Maschine völlig unverändert geblieben ist? Daß einer von ihnen mit dir zusammen zurückgekehrt ist, der dich den ganzen langen Weg von 150 Lichtjahren an der Nase herumgeführt und nun dich und deine Leute ans Messer geliefert hat!« »Wer?« Heiser entrang sich das Wort der Kehle, die einst Stamms Kehle war. »Wer? – Du hättest das eigentlich feststellen müssen, Rul, bevor du ihn der Maschine aussetztest. Wer? Du darfst raten! – Nicht? Nun, ich will es dir sagen: Cairo! Wer denn anders als Andy Cairo?!« Schneider zuckte die Achseln. »Du mußt dir vor Augen hal ten, Rul, daß wir auf solche Situationen, wie sie der Besatzung von »Terra 5« auf Urta begegnet ist, vorbereitet sein müssen. Und daß wir uns dagegen zu schützen wissen. Jede von diesen 80
Expeditionen, die die fernen Planeten erforschen, hat daher als Begleiter einen Mann dabei, der auf alle Zwischenfälle sicher, ohne Versagen und mit überschnellen Reflexen reagiert. Ein Mann, dessen Gehirn weder beeinflußbar noch zerstörbar ist, es sei denn durch einen Zehn-Tonnen-Hammer. Ein Mann, dessen Aufgabe es ist, die Besatzungsmitglieder davor zu bewahren, einen schwerwiegenden Fehler zu begehen, wenn ihre Urteils kraft durch den Anblick der Wunder und Schrecken fremder Welten gestört ist. Ein Mann, der selbst keine Gefühle kennt, außer einer tiefbegründeten Loyalität seinen Gefährten gegen über. Der trotzdem keine Identität besitzt, die ihm durch deine Maschine entrissen werden könnte, und von dessen wirklicher Veranlagung die übrigen Besatzungsmitglieder, vor allem der Kapitän, nicht die geringste Ahnung haben. Du kannst dir vorstellen, wie es psychologisch auf den Kapitän wirken würde, wenn er wüßte, daß sich jemand an Bord befindet, der besser und schneller denkt als er – kurz: ein kybernetisches Wesen, ein Android! Ein Roboter in Menschengestalt. Ja! In unserem besonderen Fall hast du dich von unserem Begleitandroid »AND/I«, Typenmuster Cairo, allgemein »Andy« genannt, narren lassen. Leider konnte er nicht verhin dern, daß du Stamm und seine Leute umbrachtest. Deshalb wird es dir ebenso ergehen. Und damit wir uns völlig im klaren sind, Rul: »Terra 6« und »Terra 7«, die beiden Expeditions schiffe, die nach Urta unterwegs sind, haben Besatzungen an Bord, die nur aus Androiden bestehen! Den Oberbefehl führt niemand anderes als dein Freund Andy. Du würdest dich wundern, wenn du wüßtest, was sie mit deinem Volk machen werden!« Das, was einst Kapitän Stamm gewesen war, setzte mit ei nem gewaltigen Sprung der Verzweiflung über den Sessel hinweg und suchte die Tür zum Nebenzimmer zu erreichen. Der dort postierte Agent trat vorsorglich zur Seite. Der kleine Agent Schneider hatte noch immer seinen ge 81
langweilten Ausdruck auf den Lippen, als er den Abzug seiner MPi durchzog. Aber in seinen Augen lag ein harter, gefährli cher Glanz.
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Am Ende der Zukunft [1957] Der alte Mann verkrampfte seine Hände ineinander und rieb sich leise ächzend die Finger. Ein kalter Wind strich über die Ebene, führ in den langen, grauweiß gesträhnten Bart des Alten und wirbelte ihn durch einander. Er führte den Hauch des Todes mit sich. Das Gesicht des Greises war zerfurcht und lederartig. An seiner geröteten Nase bildeten sich ab und zu kleine Tropfen. Sein Mund blieb zusammengekniffen und bildete einen waag rechten Strich, der von unzähligen Falten und Fältchen umge ben war. Der Alte starrte unbeweglich vor sich hin. Seine Augen sahen nichts. Sie waren leer, trocken, ausdruckslos. Es waren leblose Sinnesorgane, zu keinem Gefühlsausdruck mehr fähig. Und doch sprachen diese Augen auf seltsame Art. Es waren die Augen der Hoffnungslosigkeit und Sinnlosigkeit. Die Augen einer Gegenwart ohne Zukunft. Es waren die Augen eines Menschen, für den es kein Morgen mehr gibt. Die Augen gaben dem abgehärmten Gesicht das Gepräge. Ein Gesicht ohne Erwartung und ohne Hoffnung, ohne Licht und ohne Glanz. Ein Gesicht, das aus einer anderen Zeit stammt und sich nicht in die Gegenwart einfügen kann. Das Antlitz einer Statue. Der dürre, knochige Arm des alten Mannes streckte sich langsam aus und deutete mit den gekrümmten Fingern über die Ebene zum Horizont. Ein heller, rötlicher Stern blinkte dort inmitten anderer Sterne. »Da!« Die Menschen, die in der Nähe des Alten saßen, folgten der Richtung seines Armes gleichgültig mit den Augen. Sie wand ten ihre ausdruckslosen Gesichter wieder ab; was der Alte zu sagen hatte, war ihnen nichts Neues. Sie hatten es schon oft 83
gehört, aber es war zu einem nötigen Ritual ihres Lebens geworden, wie die Betrachtung eines zeitlosen Kunstwerks. Einige ließen ihre Blicke fragend auf den starren Zügen des alten Graubarts ruhen. Der hatte seine Stellung nicht verändert. Sein Blick wurde vage, als die Schemen der Vergangenheit vor ihm aufzogen. Erinnerungsbilder packten ihn, und mit leiser, lebloser Stimme begann er zu sprechen. Er sprach für niemand. Er hätte genauso gesprochen, wenn er allein gewesen wäre. »Ich erinnere mich der unendlichen Tiefe des Weltalls. Ja. Ich weiß um die Pracht der fernen Sonnen, der feurigen Sterne, die in der Schwärze des Raumes wie Fackeln lodern. Ich sehe noch die Schönheit und Unberührtheit ferner Planeten.« Der Erzähler hatte den Arm gesenkt und gestikulierte jetzt in die Runde. »Wir waren eine Expedition gewesen, deren Ziel die Erfor schung des Planeten Mars war. Gerade lag der große Krieg hinter uns, der die Technik in Riesensprüngen vorangetrieben hatte, und die schemenhafte Drohung weiterer Auseinanderset zungen zwischen den Supermächten ließ sie auch ferner nicht zur Ruhe kommen. Davon aber profitierte die Gesellschaft. In jener Zeit, als die menschliche Technik zunehmend beschleu nigt ihrem Höhepunkt zueilte, begann unsere Expedition. Wir waren achtzehn Männer und Frauen in unseren drei Schiffen, als wir die Erde verließen, um in die unbekannten Tiefen des Alls vorzustoßen. Wir waren die ersten Menschen, die den Griff nach den Sternen taten, um die fernen Planeten zu errei chen und auf fremden Welten neue Lebensmöglichkeiten für die Milliarden von Menschen zu schaffen, die der Erdball bald nicht mehr würde ernähren können. Der Funkverkehr zwischen uns und der Erde klappte tadellos; wir konnten ständig mit ihr in Verbindung bleiben. Noch gut erinnere ich mich jenes wunderbaren Augenblicks, als wir am 75. Reisetag die Erde vor der Sonne vorbeiziehen 84
sahen. So deutlich hob sich der Erdball in seinen Umrissen von der lodernden, flammenumhüllten Scheibe der Sonne ab, daß man meinen konnte, die Sonne habe ein Loch! Wir erreichten den Mars wohlbehalten nach achtmonatigem Flug. Zwei Jahre, eine synodische Periode, verbrachten wir in der fremden Welt mit Forschungen und Untersuchungspro grammen. Wir prüften die Zusammensetzung der Atmosphäre und des Bodens, und wir fanden, daß Menschen den Mars besiedeln konnten. Wir sahen seltsame Pflanzen und wunder bare Bodengestaltungen. Oft streifte ich in der Umgebung des Lagers umher, schritt über die schier endlosen Steppen aus rotem Sand und wand mich dann wieder durch die üppige grüne Vegetation an den Rändern der breiten Wasserläufe. Ich betrachtete einen farbenschillernden Sonnenuntergang von den Spitzen bizarr geformter Felsen, die mit anmutiger Leichtigkeit emporstreben, und sah dem Wechselspiel von Phobos und Deimos zu, den beiden Monden, die nachts am Himmel vor überzogen. Zwei Jahre nach der Abreise von der Erde geschah etwas, über das wir uns zuerst keine schwerwiegenden Gedanken machten. Die Funkverbindung mit der Erde, die wir all die lange Zeit hindurch aufrechterhalten konnten, brach unvermit telt ab. Unsere Funkgeräte schwiegen, und alle Anfragen bei der Erdstation blieben ohne Antwort. Wir nahmen an, daß die Störung nur vorübergehend sei, und verließen uns darauf, die Verbindung nach kurzer Zeit wiederherstellen zu können. Aber es vergingen Tag um Tag, Woche um Woche, Monat um Monat, ohne daß wir Antwort erhielten. Die Erde schwieg! Was war geschehen? Wir gerieten damals in gespannte Ner vosität, die sich allmählich zu ernstlicher Besorgnis steigerte. Man sprach von der Möglichkeit eines Sabotageakts. Wir konnten uns den plötzlichen Ausfall der Erdstationen nicht erklären und noch viel weniger die nun herrschende Funkstille, die nie wieder unterbrochen werden sollte. 85
Der Mars war zu jener Zeit zu weit von der Erde entfernt, als daß wir mit unseren beschränkten Treibstoffvorräten eine überstürzte Heimkehr hätten wagen können. Wir mußten eine Zeit von acht Monaten verstreichen lassen, bis wir an den Rückstart denken konnten. Wir fanden uns im Verlauf dieser Zeit mit dem Gedanken ab, die Funkverbindung nicht wieder aufnehmen zu können. Man vermutete, daß der Fehler letzten Endes doch bei unserer Bordfunkanlage liege, obwohl unsere Experten nichts finden konnten. Als uns am Tag des Abflugs die roten Steppen, die grün be kränzten Wasserläufe und die anmutig geschweiften Felsfor mationen des Mars ein letztes Lebewohl zuriefen und die Schiffe wieder in die Tiefen des Alls ablegten, in die Gemein schaft der Himmelskörper eingingen, da dachte kaum einer mehr an jenen Vorfall. Wiederum maßen wir uns ja mit den Kräften des Weltraums, den Göttern gleich! Die Rückreise nahm neun Monate in Anspruch, und die Zeit, während der die Schiffe in antriebslosem Flug als Konvoi zwischen den Sternen dahinzogen, benützte ich dazu, die Wunder des Alls in mir aufzunehmen. Ich konnte stundenlang an den Luken hängen und schwebend in die bodenlosen Ab gründe schauen, in denen die Sterne wie lodernde Fackeln flammten. Mit einer Klarheit, wie sie auf Erden unmöglich ist, leuchteten die Myriaden von Sternen. Die fernen Sonnen und Nebelhaufen, Planeten und roten Riesen strahlten mit einem Glanz, der unwirklich schien und die grundlose Schwärze des Raumes noch mehr hervorhob. Dort leuchtete die helle Venus einladend zu mir herüber, dort kreisten Merkur und Mars. Dort lockten alle die anderen weiten Planeten, und dort winkten aus unerreichbarer Ferne die Weltensysteme von Wega und Kapel la, Lyra und Aquila. Blauweiße Augen, die aus unendlicher Ferne aus dem Meer glitzernder Sterne einladend auf mich blickten. Eines Tages …! riefen ihnen meine Gedanken zu, und 86
ich breitete die Arme aus. Wartet nur! Eines Tages werden wir zu euch kommen. Und vor all der Pracht und Herrlichkeit, die in der unendli chen Tiefe des Raumes, der Unergründlichkeit und im stetigen Locken der fernen Welten unser harrte, wurde mir das Herz weit, und mit dem Kopf in den Wolken rief ich den Sternen jene unvergeßlichen Worte des alten Seefahrers Melville von der Größe des Menschen zu: …. dann werden wir nicht mehr den abenteuerlichen Berichten von Magellan und Drake lau schen. Dann werden wir Reisenden unser Ohr leihen, die um die Ekliptik segelten, Männern, die den Polarstern umfuhren, als ob es Kap Horn wäre! Und im Kopf koppelte ich Bahnkurven zwischen den Welten, führte Landungen auf fremden Planeten aus, wo mich nie geahnte Wunder erwarteten. In Gedanken raste ich durch die Weltenräume, wie es zukünftige Antriebe möglich gemacht hätten, umgeben von einem verschwommenen Bild verzerrten Sternenlichts, das flimmerte und zuckte und tanzte. Meteore griffen nach mir, aber sie konnten mich nicht aufhalten. Es war ja ein Mensch, der da kam, das Weltall zu erobern! Tiefen, tut euch auf. Der Mensch setzt zum Sprung an zu fernen, schöne ren Gestaden! In meiner Vorstellung eroberte ich die Planeten des Herkules mit meinen Gefährten für die Menschheit, faßte ich Fuß auf den Welten der Kapella, und auf uns lag der strahlende Glanz fremder Sonnen. Dann wieder bahnten wir Forschern den Weg auf den Jupi termonden, um rastlos weiter vorzudringen. Immer weiter, immer weiter, fernen Welten entgegen und großen Abenteuern, wie es nur die Jugend in ihrem Überschwang vermag. In der vordersten Linie der nachfolgenden Menschheit arbeiteten wir uns durch den unermeßlichen Raum, von Stern zu Stern, von Welt zu Welt, und trugen das Erdbanner bis in die entferntesten Winkel des Alls. Ein einziger gigantischer Entdeckungszug. Ein Magellan der fernen Zukunft. 87
Ja – eines Tages würden wir den Polarstern umsegeln, als ob er Kap Horn wäre! So dachte ich damals als junger Astronaut und träumte meine große Sehnsucht in den Raum hinaus. Meinen Kameraden ging es nicht anders. Wir alle hatten ja die Herrlichkeit des Sternen reisens gefühlt. Hatten in der Schwerelosigkeit geschwebt wie Götterboten und beim Betreten eines fremden Planeten jenes Gefühl empfunden, das sich zunächst noch unbestimmbar zu regen beginnt, bis es einen völlig ausfüllt. Dann strafft man die Schultern, schöpft tief Luft, reckt das Haupt und betritt mit sicherem Schritt den Boden, der noch nie eines Menschen Fuß gespürt hat. Wir taten es behutsam und in Demut, aber wir prägten unsere Fußstapfen in die roten Sandebenen des Mars und hieben unsere Zeichen in seine Felswände. Welches Gefühl konnte für uns Männer und Frauen schöner sein? Nach neun Monaten setzten wir zum Wiedereintritt in die Erdatmosphäre an. Da erfuhren wir den Grund des großen Schweigens. Wir erkannten, warum uns unser Heimatplanet seit 17 Monaten nicht mehr geantwortet hatte. Wir fanden die alte Erde nicht wieder. Vergebens suchten wir unsere Heimat weit. Was wir fanden, war ein Chaos, ein Chaos zerfallener Trümmer und Ruinen, öder Wüsteneien und verbrannter Wälder, die niemals wiederkehren werden, weil es kein Erd reich mehr gibt. Wo früher Binnenmeere waren, erstreckten sich jetzt kahle Sandflächen, wo früher Sandflächen waren, befanden sich heute Glasfelder und die Überreste einer Stadt, die vom Himmel heruntergekommen war. Zerfallene Maschi nen in wuchernden Gestrüppen, die früher so makellosen betriebserfüllten Verkehrswege in tausend Fragmente zerrissen und verfallen. Eisenbahnschienen, die sich mit abgeschmolze nen Enden kläglich gen Himmel recken, durch und durch von Rost zerfressen. Keine Bücher mehr und keine Schulen, keine 88
Städte und keine Staaten …« Der alte Mann unterbrach sich einen Augenblick und starrte mit seelenlosem Blick ins Feuer. Der kalte Wind brachte den Hauch des Todes mit sich. »Die ganze Erde zerstört! Unfruchtbar gemacht, mit Wunden bedeckt, die die Natur nie mehr zu heilen vermag. Unsere Expedition zerfiel in Nichts. Die einzelnen Mitglieder zerstreu ten sich in alle Himmelsrichtungen, getrieben auf der nie endenden Suche nach Angehörigen, nach einem Ende der Monotonie. Aber da waren keine Angehörigen mehr und kein Ende der Öde. Da war nur …« Der Greis richtete seinen leeren Blick auf die leere Sandwü ste, über der nun die Nacht mit all ihrer Macht hereinbrach. »… das Ende der Zukunft. Überall das gleiche Bild! Zerstö rung, Zerstörung und nochmals Zerstörung, die für immer Zerstörung bleiben wird. Ich fand eine kleine Gruppe seltsamer Wesen, die sich einst Menschen genannt hatten. In Höhlen lebten sie und in zerfallenen Kellergewölben, und ihre tägliche Arbeit bestand darin, die Gegend nach eßbaren Wurzeln und Tieren abzusuchen, nach Beeren und Würmern. Es war das Jahr der Ratte. Sie berichteten mir gleichgültig und resigniert von den Ge schehnissen. Sie waren nicht mehr dazu fähig, eine Erregung zu empfinden, als sie von jenem furchtbaren Tag sprachen, an dem der neue Krieg ausbrach. Jener Krieg, der nur einen Tag lang dauerte, und der im Zeichen der Sonne stand. Sonnen überall … so erzählte mir ein alter Mann und dabei mußte er kichern, Sonnen überall! Die entfesselte Kraft unzähliger Wasserstoffatome auf einem rasenden Sturm um die Erde … Wo die erste Atombombe gefallen war, wußte von den Le benden niemand. Das angegriffene Land hatte jedenfalls noch Zeit gehabt, seinerseits den Erdball mit Bomben zu bewerfen, und so ging während der Dauer eines einzigen kurzen Tages 89
die menschliche Zivilisation zugrunde, die zu ihrer Entwick lung Tausende von Jahren gebraucht hatte. Seit jenen Tagen ist die Erde tot. Die Fabriken, das Rückgrat unseres früheren Lebens, die Werke, in denen all die giganti schen Maschinen entstanden, die dem Menschen die Sterne erobert hätten, die Werke, die das Benzin, den Lebenssaft unserer Zivilisation, schufen, die gesamte riesige Industrie, ohne die der Mensch nicht leben kann, in Atome aufgelöst! Wälder zerstört, Seen verdampft und der Boden vielerorts auf Jahrhunderte radioaktiv verseucht …! »Da!« Der alte Mann erhob sich und streckte seinen knochigen Arm gegen das Firmament empor. »Dort oben könnten wir jetzt sein!« Seine Stimme wurde lauter, aber sie behielt ihren seelenlosen Klang. Die Mutanten unter den Menschen blickten unbeteiligt ins Feuer und packten ihre Holzkeulen fester. »Dort oben könnten Menschen einst von Stern zu Stern zie hen und die Wunder des Alls schauen. Dort draußen könnten sie Entdeckungsfahrten unternehmen, von deren Ausmaßen sich niemand mehr eine Vorstellung machen kann. Dort drau ßen hätten sie sich vermehren und ausbreiten, neue Welten gründen und das Geheimnis der fernen Riesensonnen ergrün den können, von denen ihre Substanz gekommen war.« Seine Stimme wurde leiser. »Dort oben könnten sie ihrem Drang nach fremden Fernen und großen Taten folgen, und dort, in jenen zauberhaften Tiefen der Schöpfung, hätten sie jene Worte von der Größe und Herrlichkeit des Menschen rechtfertigen können …« Der Alte brach ab und senkte den Arm. Er stützte sich und zitterte vor Kälte und Schwäche. Sein Kopf fiel auf die Brust; seine Stimme kam leise und wesenlos. »… und wir könnten Reisenden unser Ohr leihen, die um die Ekliptik gesegelt sind … Menschen, die den Polarstern umfuh 90
ren, als ob es Kap Horn wäre …« Seine Stimme erstarb in weiter Ferne. Er raffte die stinkenden Felle zusammen, die seine Beklei dung waren, wandte sich vom Lagerfeuer ab und verschwand langsam auf der öden Sandebene im Dunkel der Nacht. Der Wind pfiff kalt und mit dem Hauch des Todes über die Wüste.
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Danke für den Tip [1957] Um ihn herum war Dunkelheit. Eine Dunkelheit so tief und so schwarz, wie sie nur der Tod mit sich bringt. Er schwebte ohne Bewegung. Was ihn umgab, war nicht der Raum, sondern etwas anderes, Höheres. Er konnte es nicht benennen, weil ihm Vergleichsmöglichkeiten und Vokabular fehlten. Eine »Umgebung« war es zwar, aber nur im relativen Sinn, und das schien ihm selbstverständlich. Er hatte keinen Körper und keine Sinnesorgane. Er hörte nichts, noch sah oder fühlte er etwas. Er war reines Bewußt sein, zusammengeballt und konzentriert in einer kompakten kleinen Sphäre. Er wußte nicht, wie lange er diese Daseinsform beibehielt. Er war sich keines Zeitablaufs bewußt, aber es schien ein Ziel zu geben. Das Namenlose, worin er schwebte, schien außerhalb der Zeit zu liegen und dem Absoluten immanent zu sein. Aber plötzlich war da eine Stimme … »Na, wird’s bald!« rief der Lehrer und trommelte mit den Fingerspitzen ungeduldig auf die Schreibtischplatte. Nick Bedford hörte das aufgeregte Getuschel der Klasse. Sie schienen über irgend etwas belustigt zu sein. Alle – außer dem Lehrer. Verwundert blickte er sich um. Ein ganz gewöhnliches Klas senzimmer, wie er es aus seiner Schulzeit noch in Erinnerung hatte. Die große Fernschreibtafel am Kopf des Raumes, auf die jeder der dreißig Schüler nach einer Schalterbetätigung durch den Lehrer schreiben konnte, ohne seinen Platz verlassen zu müssen. Die fünfzehn Kunststoffbänke, in denen sie zu zweit saßen. Der riesige Schreibtisch neben der Tafel, und dahinter der grauhaarige, bebrillte Lehrer. Der Lehrer …! Er starrte ihn aus weitaufgerissenen Augen an. Die buschigen Augenbrauen, die lange graue Mähne, der 92
borstige Schnurrbart, der fleckige dunkelblaue Anzug! Das war doch …! »Na, wird’s bald?« wiederholte der Lehrer unmutig. Mr. Roberts! Bedford zwinkerte mit den Augen und sammelte sich müh sam. Er stand aufrecht in seiner Bank, und die Augen der ganzen Klasse hingen an ihm. »Nick Bedford«, meinte der Lehrer müde und beherrscht, »die Frage war: In welchem Jahr und durch welche Person wurde die Theorie vom Zeitquant aufgestellt?« Bedford wußte instinktiv, daß es vorläufig darauf ankam, sich den gegebenen Umständen gefügig anzupassen, bis er alles aussortiert hatte. Die in ihm herrschende Verwirrung konnte er auch nachher noch aufzulösen versuchen. Wie hatte Mr. Roberts’ Frage gelautet? Zeitquantentheorie? Zweifellos befand er sich also im Physikunterricht. Zeitquant … Zeitquant … Verdammt noch mal, hätte er doch damals, vor vierzig Jahren, besser aufgepaßt! Aber halt! Vor vierzig Jahren? Sein Physiklehrer war damals doch Mr. Roberts gewesen, dieser grauhaarige … Plötzlich hatte er die Antwort. Zeitquantentheorie … »Die Zeitquantentheorie wurde im Jahre 2145 von Seedy aufgestellt, Herr Lehrer!« »Setzen! Hat ja reichlich lange gedauert.« Der Lehrer wandte sich einem anderen Schüler zu, und Bedford ließ sich auf seinen Platz nieder. Der neben ihm sitzende Junge, ein hoch gewachsener, schlanker Bursche mit dunklem Haar, stieß ihn an. »Warum hast du denn nicht auf mich gehört? Habe es dir mindestens fünfmal zugeflüstert!« Bedford starrte ihn mit wachsender Verwunderung an. Das war doch Paul Logan, sein bester Freund! Er wandte seine Augen rasch wieder ab, um keinen Verdacht zu erregen und zuckte die Achseln. »Weiß nicht …« 93
Mit leerem Blick sah er auf den Lehrer, während sich seine Gedanken jagten, im krampfhaften Bemühen, die Situation, in der er sich befand, zu erfassen. Das große Problem hieß: Was war geschehen? Um ein Problem lösen zu können, benötigte man Informatio nen. Und die fehlten ihm, außer ein paar Kleinigkeiten. Er hieß Nick Bedford, war 54 Jahre alt und ein mit allen Wassern gewaschener Mann. Und er saß hier als Vierzehnjähriger unter 29 Gleichaltrigen im Physikunterricht, hatte Mr. Roberts als Lehrer, und der große Kalender an der Wand verkündete das Jahr 2156. Er durchwühlte sein Gehirn nach weiteren Einzelheiten. Ver geblich. Er fand nichts weiter vor, als daß er 14 Jahre alt war und mit seiner Mutter zusammen in einem kleinen Haus am Stadtrand lebte. Sein Vater war vor zwei Jahren durch einen Autounfall gestorben. Er zuckte die Achseln. Vorläufig ließ sich das Problem allem Anschein nach nicht lösen. Mit so wenigen, mangelhaften Daten … »… und damit machen wir für heute Schluß!« sagte der Leh rer und schaltete die Fernschreibtafel aus, auf die eben eine Schülerin aus der hintersten Bank eine Zeitquantformel ge schrieben hatte. Die Klasse verließ geräuschvoll das Zimmer, und Bedford schloß sich automatisch seinem Freund an. Der betrachtete ihn aufmerksam und forschend. »Nun, Nick. Hast dich heute nicht sehr wohl gefühlt, was?« Bedford nickte. »Jetzt geht’s mir aber schon bedeutend bes ser, Paul.« Logan lachte vergnügt. »Kein Wunder. Die Schule ist ja für heute zu Ende. Hast du auch Lust zum Baden? Wie wär’s mit dem alten Froschteich? Vielleicht gibt’s da ‘n paar Girls. Waren schon lange nicht mehr dort …« »Okay!« nickte Bedford. Auch daran erinnerte er sich. Der 94
Froschteich war ein kleiner, unergründlicher Tümpel mitten in den Wäldern, der unter hohen, schattigen Bäumen versteckt lag. Die Forstverwaltung hatte zwar nach der Neuanpflanzung des Waldes ein großes Verbotsschild aufgestellt, welches das Baden untersagte, aber Paul und er pflegten grundsätzlich darüber hinwegzusehen. Sie fuhren mit der U-Bahn bis zur Endstation und schlugen dann den Weg in die Wälder ein. Bald hatten sie die eigentliche Stadtgrenze hinter sich gelassen, und wenige Minuten später umgab sie die schattige Kühle des dichten Waldes. Sie verließen den Spazierweg und schlugen sich in die Bü sche. Der neue Pflanzenwuchs war hier sich selber überlassen worden und wucherte wild durcheinander, dem Wald einen dschungelähnlichen Charakter verleihend. Es war wie in einer anderen Zeit, überlegte Bedford unwill kürlich. Hier diese prähistorische Wildnis und wenige Kilome ter entfernt das supermoderne Großstadtleben mit seinen Riesenbauten, Neonlichtern, Prachtstraßen und Magnetzügen. In solchen Wäldern, wie diesem hier, waren früher die Men schen mit Vorderladern auf die Jagd gegangen, während man sich heute, sofern man das Glück hatte, ein Jagdgebiet ausfin dig zu machen, der höchst unsportlichen Laserpistole bediente. Bedford zuckte gewaltig zusammen und blieb stehen. Eine andere Zeit? Laserpistole? Die Worte fanden tief in seinem Gedankenzentrum Resonanz. Eine Resonanz, die sich bis ins oberste Bewußtsein verstärkte und nicht überhört werden konnte. Andere Worte klangen auf. Professor Ross … Planeta res Schutzamt … Doppelparagraph 533/34 … Schützer 28 720 … Eine überwältigende Menge von Erinnerungen. Eine bran dende Welle, die über sein vierzehnjähriges Bewußtsein hinwegspülte und ihn in eine andere Welt versetzte. Nick Bedford wußte nicht, was geschehen war …
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Die Halle besaß unvorstellbare Ausmaße. Ihre gläserne Kuppel befand sich in einer Höhe, die sich dem menschlichen Auge entzog, doch wußte er, daß es dort oben eine Decke gab, die gewölbt und aus Glas war. Er stand auf dem spiegelnden Boden der Halle, der sich auf allen Seiten bis zum Horizont erstreckte, und starrte mit wach sender Unruhe um sich. Er war vollkommen allein, ein einsa mer, kleiner Mann in einer riesigen Halle, deren Abmessungen alle Vorstellungen überstiegen. Angst begann in ihm aufzuwallen, unerträgliche Angst, die sein Innerstes zusammenkrampfte. Er stieß unter dem Zwang einen Schrei aus und hörte seine Stimme bis ans Ende von Raum und Zeit rollen. Er schrie noch einmal. »Ist hier niemand?« Er wirbelte herum. Ein Geräusch hatte er nicht vernommen, aber er wußte plötzlich mit untrüglicher Sicherheit, daß er nicht länger allein war. Er kniff seine Augen zu engen Schlitzen zusammen und starrte angestrengt in die Ferne. Dort hinten … dort hinten stand ein Mensch! Die überdimen sional große Gestalt eines Mannes, der einen hellbraunen Übergangsmantel und einen steifen Hut trug. Er lief taumelnd auf ihn zu, und der Fremde wuchs vor ihm größer und größer auf, bis er seinen Kopf in den Nacken legen mußte, um sein Gesicht erkennen zu können. »Hallo, Paul!« sagte er, keineswegs überrascht. Denn plötz lich war es, als ob er schon die ganze Zeit über gewußt hätte, wer der riesenhafte Fremde war. Paul rührte sich nicht. Er schien nichts gehört zu haben und beachtete ihn mit keinem Blick. »Hallo, Paul …«, wiederholte er leiser und senkte die Augen. Als er wieder aufsah, war der riesenhafte Mann im Überzieher verschwunden. Verwirrt blickte er sich um und gewahrte hinter sich in ge ringer Entfernung einen menschenleeren Bahnsteig und einen 96
langen Magnetzug, der auf ihn zu warten schien. Plötzliche Hoffnung durchdrang ihn mit neuer Energie. Noch war es nicht zu spät … Er setzte sich in Bewegung und eilte auf den Bahnsteig. Er erreichte ihn und hastete mit einem unbeschreiblichen Glücksgefühl auf die einzige offenstehende Wagentür des elegant geschnittenen Zuges zu. Noch bevor er jedoch seinen Fuß in den Wagen setzen konnte, schloß sich die Tür zischend. Er schrie auf und streckte flehend seine Hände aus. Der Ma gnetzug schoß davon und entschwand mit einem ohrenbetäu benden Schrillen. Ein bleiches, ausdrucksloses Antlitz blickte aus dem letzten Abteilfenster auf den Zurückbleibenden. Es war Paul. Das Schrillen hielt mit grausamer Unerbittlichkeit an. Nick Bedford schoß aus seinem unruhigen Schlummer empor und blieb einen Augenblick lang wie betäubt auf der Bettkante sitzen. Dann drang das Rufsignal des Visiphons in sein Be wußtsein, und mit einem wüsten Fluch auf den Lippen schalte te er das Gerät ein. »Nick Bedford, Schützer 2-8-7-2-0. Was gibt es?« Auf dem Schirm entstand ein Gesicht, das er zur Genüge kannte. Es war das Antlitz, das er in seinem Traum gesehen hatte. »Nick …«, sagte es freundlich, »du bist gerade frei, nicht wahr?« »Das schon …«, brummte Bedford und warf einen Blick auf seine Uhr. 6. Juni 2196, 7.05 Uhr. Kaum drei Stunden Schlaf gehabt, dachte er verärgert. Dem Boß war es völlig egal, ob seine Männer sich zu Tode schufte ten. Wetten, daß er seine acht Stunden geschlafen hatte? Selbstverständlich, er war ja auch der Regionalchef des Plane taren Schutzamts! Sein Boß schien seinen Ärger nicht bemerkt zu haben. Er 97
fuhr fort: »Schön, ich habe einen Auftrag für dich. Wichtige Angelegenheit … Zeitmaschine, oder so was Ähnliches. Mach dich fertig, und ich sehe dich in einer halben Stunde in meinem Büro. Klar?« »Klar, Boß.« Bedford schaltete das Visiphon aus. Während er im Badezimmer unter die Dusche trat und sich von dem kühlen Sprühregen die letzten Reste des Schlafs vertreiben ließ, beschäftigten sich seine Gedanken mit den Traumbildern, die ihn gequält hatten. Es bestand kein Zweifel, daß der Mann im Traum Paul Lo gan war. Paul Logan, Regionalchef des Planetaren Schutzam tes, und sein Boß. Bedford hob die Arme über den Kopf und ließ das kalte Wasser an sich hinunterströmen. Was bedeuteten diese Träu me? Wie würde sie ein Tiefenpsychologe auslegen? Er grinste und stellte die Dusche ab. Er sah das feierliche Gesicht eines solchen Komplexwühlers vor sich, wie er zu ihm sagte: »Tja, Mr. Bedford … die Sache ist ernst. In Ihrem Unterbewußtsein fühlen Sie sich … nun, woll’n mal sagen … vom Leben zurückgesetzt, quasi als Stiefkind behandelt. Verschiedene Mißerfolge in Ihrem Leben … hmm, und so glauben Sie, vom Schicksal ausgestoßen zu sein. Sie bilden sich ein, eine inferiore Persönlichkeit zu besitzen … hmm. Ja, ein ganz simpler Minderwertigkeitskom plex. Vermutlich geht das auf den Vater zurück. Und was Ihren Chef betrifft, den Sie in Ihren Träumen sehen, so ist sein Erscheinen unter diesen Gesichtspunkten ohne weiteres ver ständlich, Mr. Bedford. Bei den meisten Fällen von vaterfixier ten Minderwertigkeitskomplexen, mit denen ich zu tun habe, Mr. Bedford, bietet sich das gleiche Bild. Das Unbewußte sucht sich einen Sündenbock, auf den dann alles projiziert wird. Sehen Sie, Mr. Bedford, in Ihrem Unterbewußtsein geben Sie Ihrem Chef, Ihrem Vorgesetzten, der eine Ihnen überordne te Autoritätsposition einnimmt, die Schuld, statt Ihrem Vater 98
…« »Verdammt nochmal!« murmelte Bedford, während er sich mit dem Badetuch abrieb, »nicht nur in meinem Unterbewußt sein, du blöder Quacksalber!« Nein, ganz bestimmt nicht. Es war eine unumstößliche Tatsa che, die ihn nicht nur in seinen Träumen verfolgte, sondern die auch tagtäglich unablässig vor seinen Augen stand. Er hätte sie vielleicht vergessen können, überlegte er mißmutig, während er sich anzukleiden begann, wenn es ihm möglich gewesen wäre, einen anderen Beruf zu ergreifen. Aber dazu war es zu spät. Er war 54 Jahre alt und würde bis zur Pensionsreife Schützer 28 720 des Planetaren Schutzamts bleiben. Und bis an sein Lebensende würde er das Gesicht von Paul Logan ansehen müssen, das ihn jedes Mal schmerzlich an sein verpfuschtes Leben erinnerte und daran, wie es in Wirklichkeit hätte ausse hen können, wenn nicht damals … Bedford schnallte seine Laserpistole um und ließ das Koppel schloß mit einer ärgerlichen Bewegung einschnappen. Dann betätigte er einen mit »Frühstück« gekennzeichneten Knopf in einer Wandnische und ließ sich an dem Klapptisch nieder, auf dem in kurzer Zeit die fertig angerichteten Speisen aus der Zentralküche des Polizeikomplexes erscheinen würden. Er ließ sich noch einmal den Traum durch den Kopf gehen und grinste verächtlich. Paul Logan als Übermensch! Manch mal schien das Unterbewußtsein zu einem Witz aufgelegt zu sein. Um es bis zum PSA-Regionalchef zu bringen, brauchte man wirklich kein Übermensch zu sein. Er selbst hätte es auch geschafft, und genau genommen war er auch auf dem besten Weg dazu gewesen. Paul Logan hatte mit ihm zusammen die Schulbank gedrückt, damals in den fünfziger Jahren. Buchstäblich neben ihm! Und warum auch nicht? Sie waren die besten Freunde gewesen, die man sich nur vorstellen konnte. Wie oft hatten sie sich gegenseitig aus einer brenzligen Situa 99
tion gezogen, indem einer für den anderen eintrat! Wie Zwil linge hielten sie zusammen, wenn es galt, dem Lehrer einen Streich zu spielen und später die Suppe auszulöffeln, die sie sich eingebrockt hatten. Und nach der Schule gingen sie gemeinsam in die dichten Wälder zum Froschteich, kletterten in der riesigen hohlen Eiche herum, badeten trotz der großen Verbotstafel und fingen Kaulquappen. Und aus jener Zeit stammte auch ihr Entschluß, später einmal Polizisten zu werden. Bedford lächelte grimmig und zog das Tablett mit seinem Frühstück zu sich, das aus der Wandöff nung herausgeglitten war. Ja – sie hatten sich geschworen, einmal gemeinsam die Schützerlaufbahn beim Schutzamt einzuschlagen und TwoGun Barnes und den anderen Helden ihrer Lieblingsbücher nachzueifern. Nur ein Unterschied bestand zwischen ihnen, ein kleiner Unterschied, der sie jedoch später voneinander entfer nen und ihre Freundschaft zerstören sollte. Paul Logans Vater nahm eine bedeutende Stellung beim PSA ein. Und Nick Bedford hatte keinen Vater mehr. Das war alles. Kein himmelweiter Unterschied, genau genommen. Aber er genügte! Während der Jahre, die sie zusammen auf der Polizei- und Schützerakademie verbrachten, machte er sich zunächst nur wenig bemerkbar. Auch später nicht, während ihrer Lehrzeit als Schützer. Aber dann kam jener Tag, an dem sich für jeden von ihnen das Schicksal entschied. Es ging um den Posten eines Chef agenten. Nick Bedford, Schützer 28 720, und Paul Logan, Schützer 28 751, waren die beiden Anwärter, und Bedford besaß die besseren Qualifikationen. Den Posten jedoch erhielt Logan, durch Intervention seines Vaters, wie Nick nicht zu Unrecht vermutete. Er selbst blieb Schützer 28 720. Bedford schob das halbverzehrte Frühstück angewidert in die Wandöffnung zurück und erhob sich. Die Uhr zeigte den 6. 100
Juni 2196, 7.25 Uhr. In zehn Minuten spätestens erwartete ihn der Boß. Ja, dachte Bedford bitter, der Boß! Denn mit dem Chefagen ten hatte Logans Aufstieg noch kein Ende gefunden. Zwei Jahre später war er PSA-Distriktchef und sprach mit Bedford nur noch geschäftlich. Bedford selbst blieb Schützer 28 720. Auch damit war die Erfolgsleiter nicht völlig erklommen, und Papa Logans Einfluß konnte noch ganz andere Dinge schaffen. Es verging knapp ein Jahr, bis der damalige Regio nalchef abberufen wurde, und Paul Logan seine Stelle ein nahm. Von da ab erhielt Bedford nur noch Routineaufträge. Er blieb weiterhin Schützer 28 720. Er verließ seine kleine Dienstwohnung um 7.30 Uhr und trat auf das Rollband, das ihn rasch durch die endlosen Korridore des Polizeikomplexes trug. »Routineaufträge«, dachte er wütend, »immer nur Routine aufträge.« Was bezweckte Logan eigentlich damit? Wollte er ihn damit zu Boden halten? Wollte er verhindern, daß er – Bedford – ebenfalls die Erfolgsleiter emporklimmen und seine Stellung gefährden würde? Immerhin plausibel. Durch die Ausführung bloßer Routineaufträge, die jeder Schützervolontär erledigen konnte, würde es ihm natürlich nie gelingen, die persönlichen Leistungen zu vollbringen, die ein Schützer zeigen mußte, wenn er an einen Aufstieg dachte und kein hohes Tier beim PSA als Vater besaß. Routineaufträge, wie diese Zeitmaschi nensache, von der Logan gesprochen hatte. Die Anti–Zeitreise-Gesetze, Doppelparagraph 533/34 im Neuen Strafgesetzbuch, waren schon etwa achtzig Jahre alt. Zu einer Zeit erschaffen, als von Edmund Sack die erste praktisch verwendbare Zeitmaschine berechnet und der Planetaren Regierung vorgelegt wurde, mußten sie auch heute noch häufig in Anwendung treten. Die Sackschen Berechnungen und Pläne waren damals der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, 101
bevor die Planetare Regierung derartige Forschungsarbeiten untersagte und die Anti-Zeitreise-Gesetze verabschiedete. Aber die Universitäten, Technischen Hochschulen, Fach hochschulen und Forschungsinstitute ließen sich dadurch nicht abschrecken, bis … ja, bis 30 Jahre später die schwere Zucht hausstrafe, die auf illegales Arbeiten mit Zeitmaschinen stand, in die Todesstrafe umgewandelt wurde. Aber auch dann noch gab es fanatische, unethische Wissenschaftler … Bedford trat vom Rollband hinunter und blieb vor einer Glas tür stehen, die die Bezeichnung ›PSA Regionalchef‹ trug. Das Glas war milchig und rauh, aber er wußte, daß ihn Logan schon gesehen hatte. Von der anderen Seite her war die Scheibe klar und durchsichtig wie Luft. Die Tür öffnete sich vor ihm, bevor er klopfen konnte, und dann stand er vor dem Chef. Paul Logan war ein hochgewachsener, schlanker Mann mit dichten, grauen Haaren und einem sorgfältig gestutzten Schnurrbart. Er lehnte in lässiger Haltung in seinem Sessel hinter dem großen Schreibtisch, und seine langen, gepflegten Finger spielten mit den Knöpfen der Visiphon-Anlage. Er blickte Bedford nicht an und lud ihn auch nicht ein, Platz zu nehmen, als er sagte: »Oh, da bist du ja, Nick. Was war es doch wieder? Ach ja, die Zeitmaschine von Ross …« Er ergriff ein Blatt Papier, das auf dem Schreibtisch auf ei nem Stapel ähnlicher Blätter lag, und reichte es Bedford, ohne von der Tischplatte aufzublicken. »Anruf heute früh, von einer gewissen Frau Lippert … Putz frau bei einem Professor Axel Ross. Sie hat in der letzten Zeit öfters Gelegenheit gehabt, Gespräche zwischen dem Professor und seinem Assistenten, einem Individium namens Sam Ru gelman, zu belauschen. Schwört Stein und Bein, daß es sich um eine illegale Zeitmaschine handelt, die der Professor gebaut haben soll. Nähere Angaben findest du auf dem Wisch.« Er 102
nickte in Richtung des Zettels, den Bedford in der Hand hielt. »Nimm dich also mal der Sache an, nicht? Haussuchung und so weiter. Du kennst ja den Rummel. Hier«, er ergriff zwei weitere Schriftstücke und warf sie auf den Schreibtisch vor dem Schützer, »der Haussuchungsbefehl und der Haftbefehl. Das ist alles.« Bedford war entlasssen. Während er auf das Tranportband trat, das ihn in die Kellergewölbe des Komplexes bringen würde, betrachtete er den Zettel, den ihm der Chef zu Beginn gereicht hatte. Er enthielt alle notwendigen Angaben. »Eine Frau E. Lippert meldet mögliche Zeitmaschine bei Prof. Axel Ross, Universitätsstraße 27, Bezirk Gamma. Wahr scheinliches Versteck der Maschine: Kellergeschoß, Geheim raum hinter Bücherschrank.« Und das wäre alles, was er – Schützer 28 720 – zu tun hätte. Die angegebene Adresse aufsuchen, in den Keller steigen, den Geheimraum öffnen, die Zeitmaschine ausheben und dann den Professor verhaften. Und dazu nahm man einen Schützer, der schon über dreißig Jahre lang beim PSA war! Bedford schnaubte verächtlich, als er das Rollband im riesi gen Gewölbe des Polizeigebäudes verließ. In diesem kuppel überwölbten Raum liefen die unterirdischen Gänge zusammen, die aus allen Bezirken der Stadt kamen. Früher einmal zum Kanalisationssystem der Stadt gehörend, waren diese Tunnel gänge heute, als jedes Haus seinen auf dem Prinzip der LaserStrahlpistole beruhenden Mülldesintegrator besaß, mit Trans portbändern ausgerüstet und dienten den Schützern des PSA zum raschen Ortswechsel innerhalb der Stadt. Bedford suchte auf der Übersichtskarte den Bezirk Gamma, fand den betreffenden Tunnelgang und trat auf das Rollband. Er kam durch die Bezirke Omikron, Kappa und Epsilon und erblickte schließlich weit voraus in der Dunkelheit des Tunnels das Leuchtschild »Gamma«. Ein strahlender Pfeil zeigte die Stelle an, wo er das Transportband verlassen mußte. Es ging 103
eine enge Wendeltreppe hinauf, und dann stand er vor dem zylinderförmigen Betonhäuschen, das den Zugang zur Treppe verschloß. Einige Minuten später hatte er die angegebene Adresse gefunden und drückte auf den Klingelknopf. Es verstrich eine geraume Zeit, ohne daß sich jemand sehen ließ. Als er auch nach einem zweiten Versuch keine Antwort erhielt, nahm er die Strahlpistole aus dem Halfter, stellte ihren Spiegelprojektor auf Nadelstrahl ein und richtete sie auf das Türschloß. Es zerschmolz innerhalb von fünf Sekunden mit dem beißenden Geruch heißen Metalls, und die Tür ging auf. Bedford hielt die Waffe schußbereit in Hüfthöhe und trat ein. Er befand sich in einem großen Raum, der außer einem Tep pich, einigen Bildern und drei Sesseln nichts enthielt. Vier Türen mündeten in ihm, von denen drei geschlossen waren. Die vierte Tür jedoch war weit geöffnet, und in ihrem Rah men stand ein kleiner, alter Mann. Weißes strähniges Haar bedeckte seinen Kopf, eine altmodi sche randlose Brille saß auf der langen, spitzen Nase, und ein fleckiger blauer Arbeitskittel umhüllte lose den mageren, schmalbrüstigen Körper. Der Mann starrte Bedford mit er schrockenen Augen stumm an, und seine gekrümmten, knochi gen Finger zitterten. Zweifellos der Diener des Professors, dachte Bedford und senkte seine Waffe. Laut sagte er: »Holen Sie mir den Profes sor, Mann, aber schnell! Planetares Schutzamt.« Der alte Mann zuckte sichtlich zusammen und schluckte schwer. Er blieb reglos im Türrahmen stehen und sagte mit ausdrucksloser Stimme: »Ich bin Professor Ross. Was wünschen Sie von mir?« Bedford schob die Strahlpistole ins Halfter zurück und durchquerte den Raum mit raschen Schritten. »Sie haben hier im Haus eine Zeitmaschine, Professor. Machen Sie keine Ausflüchte, denn es würde Ihnen nichts nützen.« »Ich … ich weiß nicht, was Sie meinen. In diesem Haus? Das 104
ist nicht möglich!« »Ganz recht, in diesem Haus. Und jetzt sagen Sie bloß nicht, Sie wüßten von nichts. Wo ist der Eingang zum Keller?« »Aber … aber, mein Herr, ich weiß wirklich nicht …! Ich habe keine Zeitmaschine im Haus. Sie müssen sich irren …« »Das wird sich zeigen. Ich wiederhole: Wo ist der Eingang zum Keller?« Der Professor schluckte erneut und antwortete nicht. Aber seine Augen hatten ihn bereits verraten. Bedford lächelte versteckt und ging auf die verschlossene Tür zu, die dem Haupteingang genau gegenüber lag. Wider Erwarten ließ sie sich ohne weiteres öffnen. Hinter ihr zeigte sich eine schmale Steintreppe, die zum Kellergeschoß hinunterführte. Der Gelehrte verließ seinen Platz im Türrahmen und kam hastig hinter ihm hergeeilt. »Halt!« rief er bebend. »Sie haben kein Recht …« »Und ob ich das habe!« knurrte Bedford finster. Es war doch immer die gleiche Geschichte mit diesen verträumten Wissen schaftlern. Keiner von ihnen kam jemals auf den Gedanken, daß er sich wohlweislich schon vorher mit einem Haussu chungsbefehl versehen würde, wie es das Gesetz vorschrieb. Er zeigte dem Professor das Schriftstück und stieg dann in den Keller hinunter. Ein trübes Licht brannte in einer spinnwe benverhüllten Ecke, aber es genügte, um ihm auf den ersten Blick den riesigen, wurmstichigen Bücherschrank zu zeigen, der rechts von der Treppe an der Wand stand. Ohne die übrigen Kellerräume weiter in Augenschein zu nehmen, eilte er auf den Schrank zu. Der Gelehrte stand am Fuß der Treppe und zitterte vor Erregung. Er war vor Angst sprachlos. Als Bedford den Schrank mit einiger Anstrengung zur Seite geschoben hatte, zeigte sich eine dunkel gähnende Öffnung. Ohne sich weiter um den alten Wissenschaftler zu kümmern, der langsam hinter ihm herkam, bückte er sich und kroch durch 105
die Öffnung in den dahinterliegenden Raum. Nach einigem Suchen fand er den Lichtschalter. Im nächsten Augenblick war der Raum in strahlendes Licht getaucht, und die Zeitmaschine stand vor ihm. Schweigend betrachtete er die Einrichtung. Ein langer Tisch, bedeckt mit Meßtabellen, Skizzen und Berechnungen. Zwei Holzstühle. Ein Gewirr von Kabeln und Drähten, von Lötstellen und Widerständen, von Radioröhren und Meßinstrumenten, die sich alle in zwei Zentren vereinig ten. Das eine befand sich auf einem kleineren Holztisch in einer Ecke und wies eine improvisierte Schalttafel mit Rheo statknöpfen, Kippschaltern und Drucktasten auf. Das andere hing am Ständer einer ehemaligen Stehlampe und bildete eine kugelförmige Anordnung, die an ihrem Unterteil eine runde Öffnung auf wies. Beide Vorrichtungen waren durch einen Strang verschiedenfarbiger Drähte und dicker Gummikabel verbunden, die in unordentlichen Windungen auf dem rauhen Zementboden entlangliefen. Bedford wandte sich an Ross, der schweigend neben ihm stand und die Apparatur mit schmerzlich verzogenem Gesicht betrachtete. »Wo ist Ihr Assistent Rugelman?« Der Professor blickte auf die Uhr und zuckte unsicher die Achseln. »Er … er wird bald kommen. Wir wollten …« Er verstumm te. »Sie wollten ein verbotenes Experiment mit Ihrer Zeitma schine machen? Nicht wahr?« Bedford blickte den alten Wis senschaftler finster an. »Ist es das erste?« »Nein«, murmelte Ross und ließ den Kopf sinken. »Wir ha ben schon einige Versuche mit Tieren gemacht. Ratten. Und ein Kaninchen.« »Und die Zeitmaschine funktioniert?« 106
Ross nickte. »Heute wollten wir sie auf die menschliche Psyche, auf das menschliche Bewußtsein anwenden. Rugelman hat sich als Versuchsperson zur Verfügung gestellt …« »Nun, dann sind wir ja noch zur rechten Zeit eingeschritten. Es ist Ihnen natürlich bekannt, Professor, daß auf Experimen tieren mit Zeitmaschinen die Todesstrafe steht?« Ross breitete die Arme aus. »Aber es ist doch gar keine Zeitmaschine!« Bedford grinste spöttisch. »Ach, sieh mal an! Ist wohl ‘n Infragrill, was?« »Eine Zeitmaschine ist es nicht, das schwöre ich«, wiederhol te der Professor standhaft. Sein Gesicht verriet Bedford, daß er die Wahrheit sagte. Warum sollte sich die Reinemachfrau nicht geirrt haben? Aber, wenn es keine Zeitmaschine war, was dann? Und hatte Ross nicht eben noch von Experimenten mit Ratten, Kaninchen und seinem Adlatus gesprochen? Die Sache versprach, interes sant zu werden. Endlich einmal eine Entwicklung, die sich von den übrigen Routinefallen unterschied! Vielleicht war er hier über eine ganz große Sache gestolpert. Und wenn sich dies bewahrheitete, dann hatte sich Logan ganz nett in die Nesseln gesetzt. Der Professor sank auf einen der Stühle nieder und nahm seine altmodische randlose Brille ab. Während er sie umständ lich mit einem Zipfel seines blauen Arbeitskittels zu putzen begann, meinte er mit dem Eifer des stolzen Erfinders: »Sie werden selbst erkennen, daß es keine Zeitmaschine im herkömmlichen Sinn ist, wenn ich Ihnen einige Erklärungen geben darf …« Bedford nickte ungeduldig, und Ross fuhr fort: »Wie Sie wissen, beruht das Prinzip der bisherigen Zeitmaschinentheorie darauf, daß Materie, worunter auch der lebende Organismus zu verstehen ist, entweder in die Zukunft oder in die Vergangen heit versetzt wird. Schon Edmund Sack hat hier vor achtzig 107
Jahren in seinen klassischen Berechnungen gezeigt, daß uns der Weg in die Zukunft verschlossen ist, aber nicht so der Weg in die Vergangenheit. Die Sackschen Gleichungssysteme, und alles, was später, selbstverständlich illegal, auf diesem Gebiet erarbeitet wurde, waren jedoch falsch. Sack machte einen grundlegenden Fehler, und bis heute alle übrigen Zeitwissenschaftler mit ihm. Er ging von der Voraus setzung aus, daß sich Materie und Zeitlinie relativ und parallel zueinander bewegen. Ob es nun die Zeitlinie war oder die Materie, die sich – diesmal absolut genommen – bewegen, spielte ja keine Rolle. Kein Wunder also, daß Sack bei dem Versuch, die Zukunft zu erschließen, auf eine Mauer stieß. Denn, um es einmal recht banal auszudrücken, dort, wo man noch nicht war, d. h. wo man im Raum-Zeit-Gefüge seine Komplexschablone, sein Komplexmuster noch nicht eingeprägt hat, kann man sich auch nicht wiederfinden. Die Sacksche Zeitlinie ist in der Zukunft noch ein unbeschriebenes Blatt, und erst in der Vergangenheit enthält sie die zur Sackschen Zeitrei se erforderlichen Komplexschablonen oder – wie Sack sie nannte – Pattern.« Ross verstummte, als ihn Bedford mit einer unwilligen Handbewegung unterbrach. »Und was heißt das Ganze in normaler Sprache, klipp und klar?« »Nichts anderes«, beeilte sich der Professor fortzufahren, »als daß Sie in der Zeit nur dorthin reisen können, wo Sie schon einmal waren.« Bedford nickte. Ross’ Darlegung leuchtete ihm ein, obgleich er nur die Hälfte verstanden hatte. Aber was hatte das alles mit dieser Maschine hier zu tun? Er erhielt seine Antwort bald, als der Professor wieder das Wort ergriff. »Soweit also zu Sack und seiner irrigen Annahme der relati ven Bewegung zwischen Materie und Zeitlinie. Daß mit den 108
Sackschen Plänen niemals eine Zeitmaschine erbaut und praktisch erprobt worden war, liegt daran, daß man die Aus wirkungen der zwangshalber auftretenden Paradoxe vermeiden wollte. Das war auch der Grund, warum Doppelparagraph 533/34 eingeführt wurde. Man wußte nicht, welche Folgen ein Zeitparadox nach sich zieht, aber man ahnte nicht ohne Berech tigung, daß das Raum-Zeit-Gefüge erheblich erschüttert würde. Nun, ich kann Ihnen jetzt eines mit Bestimmtheit sagen: Wenn man Sacks Maschine jeweils erbaut und ausprobiert hätte, wären die Experimente samt und sonders mißlungen. Die Verurteilungen fanden zu Unrecht statt, und es liegt ein grotes ker Justizirrtum vor.« Bedford fuhr aus seiner gebückten Haltung auf. »Das ist eine unerhörte Beschuldigung! Sie meinen, die ganzen achtzig Jahre lang hat man etwas für illegal erklärt, was gar nicht funktio niert?« »Genau das«, nickte Ross. »Woher sollte man denn wissen, daß Sack unrecht hatte? Experimentieren wollte man nicht, aus Furcht vor Paradoxen, und seine Berechnungen stimmten. Darauf, daß er eine zwar allgemein akzeptierte, aber nichtsde stoweniger falsche Grundkonzeption vorausgesetzt hatte, kam man nicht.« »Das … das hieße …« Bedford verstummte verwirrt. Achtzig Jahre lang hatten die Menschen eine Wissenschaft verfolgt, die von vornherein falsch war – die einem unerreichbaren Phantom nachjagte! Und jetzt? Gab es jetzt die Lösung? Würden die AntiZeitreise-Gesetze gerechtfertigt – oder abgeschafft werden? Bedford blickte auf. »Sie haben den Beweis, daß Sack un recht hatte? Sie besitzen die richtige Lösung?« Ross nickte nüchtern. »Und … wird jetzt auch das Zeitreisen in die Zukunft mög lich?« »Ja und nein«, meinte der Professor lächelnd. »Ich sage ja, 109
weil man sich tatsächlich in die Zukunft begeben kann, und ich sage nein, weil es nur eine sehr beschränkte Zukunft sein wird. Ebenso steht es mit der Vergangenheit. Sehen Sie, die Mög lichkeit, die Edmund Sack außer acht gelassen hat, ist einfach die, daß zwischen Materie und Zeitlinie gar keine Relativbe wegung besteht!« Bedford sprang auf und eilte mit langen Schritten in dem Kellerraum auf und ab, als ihm die ganze Tragweite des Gehör ten klar wurde. »Aber … aber … das ist unmöglich! Zwischen Zeit und Ma terie muß doch eine relative Bewegung, eine Verschiebung stattfinden, denn …«, er suchte einen Augenblick krampfhaft nach Worten, »warum werden wir denn älter? Wenn Materie und Zeit relativ zueinander stillstünden, dann … hätten wir ja das ewige Leben!« »O nein«, meinte Ross mit feinem Lächeln. Bedford blieb stehen und starrte ihn verblüfft an. »Wieso nicht?« »Sehen Sie«, sagte der Professor ruhig, »es gibt nicht nur Zeit und Materie im Raum-Zeit-Kontinuum des Kosmos. Es gibt noch etwas Drittes.« »Und das wäre?« »Das Bewußtsein!« Bedford ließ sich auf den Stuhl niederfallen und blickte ihn sprachlos an. Der Professor breitete die Arme aus. »Stellen Sie sich ruhig die Zeit als »Linie« vor, wie es schon Sack getan hat. Das ist zwar nur ein Modell, aber es ist brauchbar. Sie besitzen solch eine Zeitlinie, ich besitze eine andere, jedes Individium besitzt eine. Und dann stellen Sie sich weiter vor, daß zu jedem Punkt solch einer Linie Materie gehört, die mit ihm fest verbunden ist. Eine Bewegung zwischen beiden gibt es also nicht. Und jetzt stellen Sie sich als drittes Ihr Bewußtsein, Ihren Geist vor, der von Punkt zu Punkt auf dieser Zeit-Materie-Linie entlang 110
gleitet. Und damit haben Sie alles! Daraus entsteht die Illusion eines ›Pfeils der Zeit‹.« »Das klingt nicht unvernünftig«, mußte Bedford zugeben. »Sie meinen also, daß zum Beispiel mein Körper unverrückbar mit der Zeitlinie verbunden ist?« »Genau das. Der Augenblick, das Jetzt, entspricht dem Punkt der Zeit-Materie-Linie, an dem sich Ihr Bewußtsein gerade befindet. Das Morgen entspricht dem nächsten, und das Ge stern dem vorherigen.« »Ja, ich fange an zu begreifen«, nickte der Schützer. »Und wie geht es jetzt weiter?« »Folgendermaßen: Obwohl das Bewußtsein, die Psyche, ruhig und gleichmäßig auf der Zeit-Materie-Linie von Punkt zu Punkt schreitet, besitzt sie die – vorläufig begrenzte – Mög lichkeit zu wandern, also Ausflüge und Abstecher von ihrem Weg zu machen. Und zwar besteht ein nicht unbedeutender Teil meiner Theorie in dem Postulat, daß sich das Bewußtsein während der Schlafperiode des lebenden Organismus auf der Zeit-Materie-Linie frei, wenn auch nicht unbegrenzt, bewegen kann. Man nennt es gewöhnlich Traum. Es besitzt die Fähig keit, ein gewisses Stück in die Zukunft und in die Vergangen heit zu reisen, kehrt aber beim Erwachen des Organismus an den dem »zeitgemäßen Ablauf entsprechenden Ort der ZeitMaterie-Linie zurück.« »Und Ihre Maschine dort …« Bedford wies auf die Vorrich tung. »Diese Maschine ermöglicht es nun, das Bewußtsein perma nent in Zukunft oder Vergangenheit zu schicken. Dort findet es den mit dem betreffenden ›Zeitpunkt‹ verbundenen Körper vor und läßt sich in ihm wie in einem Gefäß nieder. Das ist alles.« »Dann …« Bedford überlegte einen Moment angestrengt. »Dann gibt es wohl auch keine Paradoxie mehr?« »Nein. Es verändert sich ja nichts am Materiegehalt des be treffenden Zeitabschnitts.« 111
»Aber, gesetzt den Fall, jemand schickt sein Bewußtsein in die Vergangenheit zurück, wo es den ›damaligen‹ Körper wiederfindet. Ist es nun nicht möglich für diesen Jemand, die Zukunft, so wie er sie kennt, zu verändern, indem er einfach nicht das tut, was er beim erstenmal getan hat?« »Meine Theorie beschreibt dies«, nickte der Professor. »Aber ohne entsprechendes Experiment ist es nur eine Vermutung. Und zwar kommt hier noch eine weitere Eigenschaft des Raum-Zeit-Gefüges hinzu. Wir sprachen soeben von dem Modell einer Zeit-Materie-Linie. Das ist natürlich nicht ganz richtig, denn offenbar gibt es unendlich viele solcher Linien, die voneinander frei zugänglich sind. Sehen Sie, Ihr ›Jemand‹ beeinflußt also nicht etwa die Zu kunft, wenn er eine Handlung begeht, die er beim erstenmal noch nicht ausgeführt hat. Er rutscht dabei einfach – natürlich ohne es zu merken – von seiner Zeit-Materie-Linie zu einer simultanen Zeit-Materie-Linie hinüber, auf welcher die Zu kunft, so wie er sie zu schaffen im Begriff ist, schon verzeich net liegt. Ein Paradox ist also unmöglich, und die AntiZeitreise-Gesetze werden sinnlos.« »Wieso sagten Sie, daß die Zeitreise, das heißt, diese Be wußtseinswanderung, nur in beschränktem Maß möglich sein wird?« »Das leuchtet doch ohne weiteres ein, wenn man bedenkt, daß der zum reisenden Bewußtsein gehörende Körper nur eine beschränkte Zeit existiert. Das Bewußtsein hat nur Zugang zu den Punkten der Zeit-Materie-Linie, die diesen Körper enthal ten. Deswegen ist es unmöglich, seinen Geist in eine Zeit zu schicken, die vor der Geburt oder nach dem Tod des Körpers liegt.« »Und was passiert mit dem zurückbleibenden Körper dieses Zeitreisenden?« »Tot. Es sei denn, man hält ihn künstlich am Leben.« »Hmm.« Bedford schluckte. 112
Er saß eine Zeitlang schweigend auf dem Stuhl und verarbei tete das Gehörte in Gedanken. Die Tatsache, daß der Körper des »Zeitreisenden« leblos zurückblieb, gab seinem entstehen den Plan natürlich eine etwas andere Richtung. Aber wenn man es genauer betrachtete, so gewann er dadurch nur an Vollkom menheit, erhielt sozusagen seinen letzten Schliff! Bedford richtete sich in seiner sitzenden Stellung auf und straffte die Schultern. Jetzt konnte nichts mehr schiefgehen, es sei denn, daß … Und da war noch eine andere Sache. Er räusperte sich und betrachtete forschend die komplizierte Apparatur. »Ich glaube, Professor, Sie haben da eine ganz große Entdek kung gemacht. Durch Ihre Feststellung, daß es die Zeitparado xie überhaupt nicht gibt, werden, wie mir scheint, nicht nur die Anti-Zeitreise-Gesetze ihrer Berechtigung enthoben, sondern auch die zahlreichen inhaftierten Wissenschaftler, die auf ihre Exekution warten, gerettet und rehabilitiert.« Bedford machte eine Pause und folgte den dicken Kabelsträngen aufmerksam mit den Augen. »Aber … was den Bau und die Bedienung weiterer Apparate dieses Typs betrifft, so glaube ich, daß man wegen der Komplexität der Anlage …« »Aber sie ist nicht besonders komplex!« warf Ross rasch ein und trat an den langen Holztisch, an dessen Ende der Ständer mit der kugelförmigen Apparatur stand. Unter seinen Fingern lag ein kleiner weißer Druckknopf, der zur Hälfte in die Tisch platte eingelassen war. »Alles, was man zu tun hat, besteht darin, auf jener Skala dort am Schaltbrett die gewünschte Jahreszahl einzustellen. Alles andere verläuft völlig automatisch. Eine Sicherung ist eingebaut, die verhindert, daß man aus Unkenntnis eine Zu kunftszeit wählt, in der man nicht mehr existiert. Der Prozeß läuft dann einfach nicht ab. Man braucht sich nur noch auf den Tisch zu legen, diese Kugelapparatur auf sich herunterzuzie hen, so daß sie den Kopf wie ein Helm umschließt, und dann 113
den weißen Knopf hier zu drücken. Das ist alles!« »Ja, das ist alles«, dachte Bedford. Damit wurde nicht nur die Ausführung seines Angriffsplans gegen Paul Logan beschlos sen, sondern auch ein Lebensschicksal erfüllt. Er machte mit der Hand eine Bewegung, die schneller war als das Auge, und schoß noch aus der Hüfte. Die tödliche Energie traf den Gelehrten voll in die Brust, bevor er noch einen Schrei auszustoßen vermochte. Als Ross leblos zusammengesunken war, verstellte Bedford mit raschem Griff den Projektor auf Streuung, richtete ihn wieder auf den Professor und ließ den Fächerstrahl fünf Minu ten lang über ihn hinweg streichen. Als auch die letzten Spuren des Leichnams verschwunden waren und nur noch der beißende Geruch verbrannten Flei sches im Kellerraum lag, nahm er seinen Finger vom Abzug und schob die Pistole ins Halfter. Er erhob sich eilig und trat zu der Schalttafel, von der Ross gesprochen hatte. Er mußte sich beeilen. Der Assistent konnten jeden Augenblick kommen, um sich – wie hatte der Professor gesagt? – als Versuchsperson zur Verfügung zu stellen. Bedford betrachtete nachdenklich die große Skala, die in Jahren geeicht war. Ihr Bereich verlief von +100 bis -100, wobei das Plus ohne Zweifel die Zukunft und das Minus die Vergangenheit bedeuteten. Für ihn kam nur die letztere in Frage, fraglos. Denn darauf basierte sein ganzer Plan. Aber welches Jahr? Geboren war er im Jahr 2142, das lag nun 54 Jahre zurück. Zu weit. Aber wie stand es mit 2152? Nein, damals war er zehn Jahre alt und befand sich unter der strengen Hand seines Vaters, der zwei Jahre später starb. Also 2154? Hmm … Besser zur Sicherheit noch zwei Jährchen hinzulegen! Das ergäbe das Jahr 2156. Er wäre 14 Jahre alt, und das Ganze läge 40 Jahre zurück. Ja, so könnte es gehen. Perfekt! Er stellte den langen Zeiger der Skala auf »-40« ein und trat 114
einen Schritt zurück, um die Apparatur prüfend zu überblicken. Grüne und weiße Lämpchen leuchteten an vereinzelten Stel len auf der Schalttafel und zeigten zusammen mit dem dump fen Summen, das von irgendwo her durch den Raum vibrierte, daß die Maschine anscheinend betriebsbereit war. Ob sie so funktionieren würde, wie der Professor erklärt hatte, wußte er jedoch nicht. Aber er würde es schon merken, dachte er etwas unsicher. Es gab zwei Möglichkeiten: Entweder funktionierte sie – oder nicht. Im ersteren Fall stünde seinem Plan nichts mehr im Weg, und im letzteren … Er zuckte die Achseln. Die eine Möglichkeit, die sich daraus ergab: Die Maschine beeinflußte ihn nicht, und er blieb, wo er war, im Jahre 2196. Die Alterna tive: Das Ende. Bedford wandte sich entschlossen von der Schalttafel ab, trat an den Tisch und legte sich rücklings darauf. Der weiße Druckknopf lag unter seiner rechten Hand. Mit der linken langte er hinauf, faßte die kugelförmige Apparatur an einem dafür vorgesehenen Griff und zog sie auf sich herunter, bis sie sich mit der Höhlung in ihrem unteren Teil um seine Stirn und Schläfen legte. Bedford wußte, daß sich in diesem Augenblick alles in ihm gegen die Durchführung seines Planes sträubte, ein Vorhaben, bei dem er alles riskierte, bei dem es um Leben und Tod ging. Sein Verstand sagte ihm zwar, daß dies die einzige Möglichkeit war, ein neues Leben zu beginnen und ein altes Leben zu beschließen, in dem er immer Schützer 28 720 bleiben würde, einer von Paul Logans Vasallen, dazu ausersehen, einfache Routineaufträge auszuführen. Und trotzdem … Bedford fühlte, daß er nicht länger zögern durfte. Noch eini ge Augenblicke mehr, und das Gefühl in ihm, das sich gegen den bevorstehenden Selbstmord sträubte, würde überhandneh men und alles zunichte machen. Er mußte sofort handeln, oder es wäre für alle Zeiten zu spät. 115
Einen Moment lang konzentrierte er sich darauf, alle Gedan ken in seinem Gehirn auszuschalten. Eine halbe Sekunde lang erfüllte ihn eine gähnende Leere, in die im nächsten Augen blick ein mächtiger Gedankenbefehl hineinplatzte. Seine Armmuskeln zuckten unter den Stromstößen zusammen, die sie über die Nervenbahnen erreichten, und seine Hand preßte sich krampfartig auf den kleinen weißen Knopf. Einen Sekundenbruchteil später verstärkte sich das dumpfe Summen aus der Apparatur zu einem wütenden Brummen, dessen Vibrationen den Kellerraum und alles, was sich in ihm befand, ergriffen. Ein blauer Funke schlug knisternd am Schaltbrett über, und eine Anzahl farbiger Lämpchen glühten auf. Die Deckenbeleuchtung flackerte unsicher. In Erwartung des Bevorstehenden krampfte Bedford seinen Körper zusammen und schloß die Augen. Die Schwingungen schienen sich jetzt auf die Kopfapparatur zu konzentrieren, die seine Stirn und Schläfen eng umschloß. Ein unerträgliches Kribbeln ging von ihr aus, das sich zunächst in seiner Kopfhaut festsetzte, nach und nach jedoch tiefer drang und schließlich seine Gehirnrinde erfaßte. Er ballte die Hände zu Fäusten. Die Fingernägel gruben sich in seine Handflächen, aber er merkte es nicht. Sein ganzer Körper bebte unter der Anstrengung, die Abermillionen von feinen Nadelstichen an seinem Gehirn stilliegend zu ertragen. Und das Kribbeln drang tiefer. Bedford wollte seine Augen aufreißen, aber vergebens. Die Lider versagten ihm den Dienst. Er war wie gelähmt, sein Körper lag im Starrkrampf. Sein Bewußtsein wich mehr und mehr von der Außenwelt zurück und glitt tiefer und tiefer zum Zentrum seiner Psyche. Wilde, unmotivierte Gedanken schossen ihm durch den Kopf, überschattet von der alleserfül lenden nackten, rohen und instinktiven Furcht des Primitiven. Und die Vibrationen hielten weiter an. Das Kribbeln der Myriaden von Nadelstichen durchdrang mit tödlicher Langsamkeit seine Gehirnrinde, ergriff ein Zentrum 116
nach dem anderen und zog sein Bewußtsein mit hinein und hinunter. Die Außenwelt war jetzt völlig von ihm abgeschlos sen. Er hörte, sah und fühlte nichts mehr, nichts, außer den unzähligen Nadelstichen in seinem Gehirn. Sein Bewußtsein ballte sich im Zentrum seines Wesens zusammen, und die kribbelnden Vibrationen ergriffen von den Millionen und aber Millionen von Neuronen seines Gedankenzentrums Besitz, um das Bewußtsein enger zusammenzupressen. Als schließlich laut klappernd einige Relaisbänke in der Ma schine einfielen und das Brummen mit schwindelerregender Schnelligkeit bis in Ultraschallbereiche emporkletterte, merkte er es nicht mehr. Seine Psyche, in einem winzigen kompakten Ball konzen triert, ging auf die Reise. »Wie wär’s, wenn du jetzt aufhören würdest, Jogi zu spielen, Nick, und endlich kommst?« fragte Paul ungeduldig. Bedford kam zu sich. Noch immer stand er unbeweglich mitten im dichten Gestrüpp des Waldes, aber es konnten nicht mehr als ein paar Sekunden verstrichen sein, seit ihn die Erinnerungen mit plötzlicher Heftigkeit überfallen hatten. Logan befand sich wenige Meter vor ihm, damit beschäftigt, die Zweige eines dichten Gebüsches zur Seite zu schieben. Dahinter lag der Froschteich, seine schwarze Oberfläche glatt und eben wie ein Spiegel. Bedford sammelte sich und eilte hinter dem Freund her. Jetzt, da er das Problem seines Hierseins gelöst hatte, lag ihm auch sein Plan wieder scharf vor den Augen. Ein wunderschöner Plan, der all das mit sich bringen würde, was ihm sein »vorhe riges« Leben versagt hatte! Er lächelte vergnügt vor sich hin. Nicht noch einmal würde ihm Logan auf der Akademie den Rang ablaufen, einflußrei cher Vater hin oder her. Wenn nicht seine Erfahrungen als Schützer, die er natürlich von Anbeginn an mitbringen würde, 117
dazu ausreichten, ihm zur Stellung eines Chefschützers und später PSA-Regionalchefs zu verhelfen, so würde er mit Hilfe seiner Vorkenntnisse der zukünftigen Ereignisse etwas nach helfen. Jetzt bewährte es sich, daß er »damals«, als Schützer 28 720, fast sämtliche Rennen, die von 2160 bis 2196 in der Stadt abgehalten wurden, mit großem Interesse verfolgt hatte. Nicht etwa, weil er diese Situation vorausgesehen hätte, sondern aus reiner Leidenschaft am Roboterrennen. In der ersten Veranstal tung dieser Art, im Jahr 2160, also heute in vier Jahren, würde das Modell der Vereinigten Robot-Werke gewinnen, mit einer Quote von 2000:10. Fünf Jahre lang könnten die VRW ihre Siegesserie fortsetzen, bis im Jahr 2166 der große Außenseiter, das Modell der Maschinenmensch-AG, gewinnen und eine Quote von 6000:10 verzeichnen würde. Bedford lächelte wieder. Auf diese Weise konnte er seine finanzielle Unabhängigkeit sichern. Und wie stand es mit der Wirtschaft? Kursschwankungen, Zusammenbrüche, Aufstiege und Fusionen großer Finnen, Neuentdeckungen und Erfindun gen, neue Technologien, Marktentwicklungen … er erinnerte sich mehr als zur Genüge daran, um sich in seinem zukünftigen Leben Einfluß und Bedeutung zu verschaffen, hatte er doch vor seinen Mitmenschen das eine voraus, daß er die Zukunft kannte. Und eines Tages … Nein, diesmal konnte nichts mehr schiefgehen. Sein Leben lag wie eine hell erleuchtete Straße klar und deutlich vor seinen Augen. Sie hatten unterdessen den Froschteich erreicht. Der Junge namens Paul Logan schritt an seinem moorigen Ufer entlang, auf die große hohle Eiche zu, die sie stets als Umkleidekabine benützten. Bedford folgte ihm. Paul ließ sich am Fuß der Eiche auf einer mächtigen Wurzel nieder. »Jetzt erzähle mir mal, was eigentlich mit dir los ist, Nick!« 118
meinte er ruhig. Bedford setzte sich neben ihn und zuckte die Achseln. »Was soll denn mit mir los sein? Wie kommst du denn auf so einen Blödsinn? … Wollten wir nicht baden?« »Das hat noch einen Augenblick Zeit«, meinte der hochge wachsene Junge lächelnd. Er legte einen Arm in die dunkle Höhlung der Eiche. »Ich habe dir nämlich vorher noch einiges zu sagen.« Nick runzelte die Stirn und scharrte mit dem Fuß auf dem feuchten Boden. Seine Gedanken wandten sich wieder von der Gegenwart ab. »Nun?« »Es wird wirklich nicht lange dauern, Nick. Du mußt dir über eines klar sein: Die Gesetze sind aus gutem Grund geschaffen worden. Aus einem Grund, den du anscheinend trotz all der langen Jahre immer noch nicht erfaßt hast. Deshalb bist du der Allerletzte, der sie mißachten und brechen darf.« Bedford blickte seinen Freund verständnislos an. »Wovon sprichst du eigentlich? Habe nicht die geringste Ahnung, was du meinst.« »Wirklich? Nun, das ist vorläufig auch völlig belanglos. Es kommt in erster Linie darauf an, daß du dich schwer gegen die Gesellschaft vergehen willst und daran gehindert werden mußt.« Logan zog seinen Arm aus der Höhlung der Eiche zurück, und jetzt lag eine schwere, schimmernde Strahlpistole in seiner Hand. Sie richtete sich drohend auf Bedfords Brust. Nick war plötzlich hellwach. Sein Körper spannte sich, und seine Muskulatur bebte vor Erwartung. Sein altes Training als Schützer übernahm die Kontrolle seines Körpers, aber seine Gedanken jagten sich. War Paul plötzlich verrückt geworden? Hatte er statt eines Freundes einen psychotischen Killer vor sich? Oder war etwa … Die Strahlpistole mit ihrem blitzenden Projektor hielt ihn im Schach. Aber vielleicht ergab sich eine Möglichkeit, den 119
Freund zu überrumpeln und zu entwaffnen, bevor … Er zwang sich zu einem Grinsen. »Haha, ein guter Witz! Aber das hast du aus dem letzten Buch von Two-Gun Barnes. Es fehlt nur die zweite …« »Du irrst dich, Nick«, meinte Paul trocken. »Es ist kein Witz. Im Gegenteil. Du hast das schwerste Verbrechen begangen, das in unserer Welt möglich ist, und nicht genug damit! Du hast auch Professor Ross kaltblütig und wohlüberlegt ermordet.« Bedford erstarrte. Vor seinen Augen begann sich die Wald gegend zu drehen, und der Schwindel ergriff von seinem Bewußtsein Besitz. Seine Gedanken bildeten ein unentwirrba res Durcheinander, und nur ein einziges Gefühl behielt die Oberhand, alles andere überschattend. Angst. Kalte, ohnmäch tige Angst. Todesangst. »Es scheint sich deiner Kenntnis zu entziehen«, fuhr Paul fort, »daß die Anti-Zeitreise-Gesetze, Doppelparagraph 533 und 534, nicht aus Furcht vor einem Zeitparadoxon geschaffen worden sind. Jedenfalls nicht in erster Linie deswegen. Sie sollen hauptsächlich das verhindern, was du im Begriff stehst zu tun. Du hast vor, mit Hilfe deiner Vorkenntnis der Zukunft deine Mitmenschen zu überflügeln und dir Positionen in der Gesell schaft zu erringen, die sie dir Untertan machen. Dein Fehler, Nick Bedford, ist nämlich ein übersteigerter Inferioritätskom plex. Du fühlst dich vom Leben verfolgt und zurückgesetzt und willst dich dadurch rächen, daß du Anarchist wirst und danach strebst, die Macht über deine Mitmenschen zu erringen. Daß ich hierbei an erster Stelle stehe …« Paul lächelte schmerzlich, »… ist purer Zufall. Du planst, dich zum Oberhaupt des PSA aufzuschwingen und von dort die Regierung des Planeten zu übernehmen.« Paul schüttelte bedauernd den Kopf. »Und genau solchen Mißbrauch wie diesen sollen die Anti-Zeitreise-Gesetze ver 120
hindern.« Logan legte eine Pause ein und betrachtete Bedford gelassen. Nick saß noch immer völlig erstarrt und schien weder zu sehen noch zu hören. Aber seine Hände zitterten. »Du mußt wissen«, fuhr Logan nach einer Weile erklärend fort, »daß Professor Ross nicht der erste war, der eine funktio nierende Zeitmaschine – wenn ich es so nennen darf – gebaut hat. Zahlreiche andere kamen zu genau demselben Ergebnis, und alle bewiesen sie, daß es wegen der Simultan-Zeitlinien so etwas wie eine Paradoxie gar nicht gibt. Aber die AntiZeitreise-Gesetze wurden durch ihre Entdeckungen nicht sinnlos, und wir mußten sie zum Schweigen bringen und ihre Erkenntnisse geheimhalten und zerstören.« Bedford starrte seinen Freund aus blicklosen Augen an. Seine Lippen bewegten sich, und mühsam formten sich Worte. »Aber … wie kommst du …?« Logan lachte. »Das ist sehr einfach zu erklären. Als du von Professor Ross nicht mehr zurückkehrtest, ging ich persönlich hin und fand im Keller des Professors dreierlei vor. Erstens: Deinen Leichnam. Zweitens: Deine Strahlpistole, die kurz vorher gebraucht worden war. Und drittens: Sam Rugelman, den Assistenten. Ich wußte sofort Bescheid und ließ mir von ihm das Prinzip der Maschine erklären. Auf der Jahresskala sahen wir, wohin du gereist warst, und der Rest ergibt sich von selbst.« »Du bist mir gefolgt.« Verzweifelt rangen Bedfords Gedan ken nach einem Ausweg. Aber die Waffe zielte noch immer auf ihn. »Nicht nur das! Ich bin dir sogar zuvorgekommen. Siehst du, Nick, ich befinde mich schon seit einem halben Jahr in diesem Körper, um deine Ankunft nicht zu verpassen. Auch gab es noch einige Vorbereitungen zu erledigen …« »Vorbereitungen?« wiederholte Bedford mechanisch, wäh rend er die Lähmung aus seinen Muskeln schwinden fühlte. Er 121
spannte sich zum Sprung. »Na ja, ich mußte doch diese Szene hier vorbereiten. Es galt, eine Strahlpistole aufzutreiben – keine leichte Aufgabe für einen Vierzehnjährigen! – und sie in der hohlen Eiche zu verstecken. Und das Allerwichtigste: mein Alibi. Wenn ich das Todesurteil an dir vollstrecke, begehe ich ja – vom Standpunkt der Zeit gesehen, in der wir uns befinden – einen Totschlag. Bin ja schließlich noch nicht bei der Polizei. Aber das Alibi ist völlig narrensicher und deckt mich vollständig. Verständlich, wenn man ein halbes Jahr …« Bedford stieß einen rauhen Schrei aus und schnellte sich vorwärts. Noch ehe seine ausgestreckten Arme Logan erreich ten, traf ihn der zischende Strahl. Sein Körper sackte zusam men und rollte leblos auf den weichen Moorboden, wo er nach einigen konvulsivischen Zuckungen unbeweglich liegen blieb. Paul Logan verstellte den Projektor und bestrich den Leich nam mit dem opalisierenden Fächerstrahl. »Ein guter Plan, lieber Nick«, murmelte er leise. »Ein ausge zeichneter Plan. Danke für den Tip!« Als auch die letzten Spuren des Toten beseitigt waren, wisch te er den Griff der Strahlpistole ab und schleuderte die Waffe zur Mitte des Teiches hinaus. Dann drehte er sich ohne einen weiteren Blick um und strebte durch die Büsche zur Stadt zurück.
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Heldentot [1957] Sanders setzte sich mit einem Ruck aufrecht und starrte ver ständnislos um sich. Seine Finger verkrallten sich in die Armstützen, und seine Brauen zogen sich verwundert zusammen, während sein Herz einen Schlag aussetzte. Seine Psyche widerstand in diesem Augenblick einer ins Unermeßliche gesteigerten Attacke, die sich einerseits aus dem erst jetzt wirkenden Schock des soeben Erlebten, andererseits aus der Überraschung über die plötzliche Veränderung seiner Umgebung ergab. Sanders saß völlig starr; nur seine Augen bewegten sich. Sie glitten langsam von Seite zu Seite, verharrten einige Male an besonders charakteristischen Gegenständen und nahmen ihren Streifzug dann wieder auf. Das, was sie sahen, war für ihn durchaus nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil – Sanders kannte seine unmittelbare Umgebung besser, als irgend etwas anderes in seiner Welt. Dann löste sich seine Erstarrung, und er lehnte sich aufat mend in den tiefen Sessel zurück. Einen Moment lang genoß er das Gefühl intensiver Erleichterung. Er kniff die Augen zu sammen und schüttelte heftig den Kopf, um seine verwirrten Gedanken zu klären. Es mußte ein böser Traum gewesen sein. Ohne die Augen zu öffnen, tastete er mit den Fingern an den Armstützen des Sessels entlang. Sie waren ihm bis ins Kleinste vertraut, ebenso wie die übrige Ausrüstung des Torpedoboots. Sanders wußte: Er saß auf dem weichgepolsterten Pilotensitz, und vor ihm erhoben sich in einem Halbkreis die Bildschirme. Unter ihnen begann die schräggeneigte Fläche des Kontroll pults, das sich bis über seine Knie hinunterzog und eine Viel zahl von Meßskalen, Knöpfen, Instrumenten, Hebeln, Schal tern, Tasten und Signallämpchen auf wies. Zwischen seinen Knien ragte der Griff des Steuerknüppels hoch. Seine Füße 123
standen auf den Kontrollpedalen der lateralen Ausstoßrohre, und inmitten der Schalttafel leuchtete der rote Knopf der Torpedo-Abschußanlage. Er kannte jede kleinste Einzelheit. Er war mit der Bordausrü stung so gut vertraut, daß er sie im Schlaf hätte bedienen können. Und das war auch nicht weiter erstaunlich. Sanders, Leutnant in der irdischen Raumkampfflotte, saß seit zwei Jahren an den Kontrollen des Torpedoboots T-317. Mit zweihundert anderen Torpedobooten durchzog er in Rudelfor mationen die Tiefen des Alls zwischen Neptun und Pluto. Im Bauch des langen, schlanken Einmann-Raumschiffs schlum merten vier machtvolle Atomtorpedos, und sein Auftrag lautete, als Element der Vorpostenkette nach den angreifenden Gegnern Ausschau zu halten und die zwischen Jupiter und Uranus liegende Hauptkampfflotte zu warnen, sobald die ersten Feindschiffe im Bereich seiner Sensoren erschienen. Sanders wagte nicht, daran zu denken, was geschehen würde, wenn die beiden Raumflotten aufeinandertrafen. Die erste Berührung mit dem Gegner erfolgte im Jahr 2854; das lag jetzt zwei Jahre zurück. Damals war ein riesenhaftes unbekanntes Raumfahrzeug im System von Sol aufgetaucht und hatte die Erde mit ihren Streitkräften sowie ihre Kolonien auf Mars und Venus einer eingehenden Inspektion mit Fern sensoren unterzogen. Bevor die irdischen Verteidigungsanla gen in Aktion gehen konnten, war es wieder verschwunden. Zwei Monate später materialisierten sechs Raumschiffe von 1000 Meter Länge außerhalb der Plutobahn, jagten in wenigen Tagen quer durch das Sonnensystem und badeten die Kolonien auf Mars und Venus in vernichtendem Höllenfeuer. Die dort gelegenen Garnisonen gingen bis auf den letzten Mann unter. Die Kolonien wurden dem Erdboden gleichgemacht. Als sich die Schiffe hierauf der Erde zuwandten, standen die Kampfeinheiten bereit. Die Verteidigungsanlagen sprangen in Aktion. Die Schlacht währte nur kurze Zeit. 124
Als die Gegner schließlich wieder auf unbegreifliche Art verschwanden, ließen sie eines ihrer Schiffe als Wrack zurück, und die irdische Flotte hatte über 90 Prozent ihrer Einheiten verloren. Eines jedoch hatte das vernichtende Gefecht den Erdmen schen eingetragen: In den Trümmern des fremden Raumschiffs entdeckten sie mehrere Überlebende. Von ihnen erfuhren sie, daß der Gegner aus dem AndromedaNebel kam und einen Überlichtgeschwindigkeits-Antrieb besaß, über dessen Funktionsprinzip die Wrackteile einige Anhaltspunkte gaben. Von ihnen erfuhren sie ferner, daß die fremden Wesen – riesenhafte Amphibien – größeren Lebens raum suchten und das System von Sol erobern wollten. Und von ihnen erfuhren sie schließlich, daß die eigentliche Invasi onsarmee in 22 Monaten angreifen würde. Das war der Grund, warum Leutnant Sanders von der irdi schen Raumkampfflotte jetzt an den Kontrollen von T-317 saß und die äußeren Bereiche des Sonnensystems patrouillierte. Die Menschheit hatte in den vergangenen 22 Monaten gear beitet, wie niemals zuvor in ihrer Geschichte. Praktisch aus der Asche, einem Phoenix gleich, war die neue Raumkampfflotte entstanden. Die gesamte Industrie des Planeten wurde über Nacht auf Rüstung umgestellt. Ausgedehnte neue Fabriken entstanden über und unter der Erde. Sie wurde zur Heimatfront. Ihre Arbeitspotentiale wurden auf äußerste Leistung gesteigert, um dem Gegner etwas ihm Ebenbürtiges entgegenstellen zu können. Ob die neue Flotte jedoch schlagkräftig genug war, den Feind zu vernichten, mußte sich erst noch erweisen. Sanders war ein Professioneller; er zwang sich, nicht an die bevorstehende Schlacht zu denken. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrr … Das schrille Kreischen der Alarmglocke in seinem Cockpit schreckte ihn aus seinen Betrachtungen auf. Innerhalb eines 125
Sekundenbruchteils verwandelte sich sein hagerer, sehniger Körper in die Kampfmaschine, zu der er von den HypnoAusbildern der Erde gedrillt worden war. Eine blutrote Lampe flackerte hysterisch über den Sicht schirmen und löste bestimmte Reflexe in ihm aus. Sanders schnellte vorwärts, tötete die Alarmanlage mit einem Druck auf einen Knopf und heftete seine Augen auf die Schirme. Nichts zu sehen. Der schwarze Weltraum war übersät mit strahlenden Licht punkten, die ohne zu funkeln aus den Tiefen leuchteten. Die Sterne. Nein – nicht nur die Sterne! Lange, dunkelblaue Körper wuchsen vor der Kanzel des Torpedobootes auf. Sie erschienen aus dem Nichts und blähten sich zu riesenhafter Größe auf, als sie mit unvorstellbarer Geschwindigkeit heranrasten. Zuerst waren es ein Dutzend – dann hundert – dann tausend – und dann vermochte Sanders ihre Zahl nicht mehr zu schätzen. Bis in die endlosen Tiefen des Raums staffelten sie sich – Reihen über Reihen von kilometerlangen, tödlichen Groß kampfschiffen. Sanders schmetterte in purem Reflex die Faust auf den Knopf der Sendeanlage, die der wartenden Schlachtflotte das Warnsi gnal übermitteln würde. Gleichzeitig sah er die mächtigen schillernden Säulen der Vernichtungsstrahlen aus dem Bug des vordersten Schiffes hervorbrechen und auf sich zuschießen. Sanders kam nicht mehr dazu, einen Gedanken zu fassen. Seine schockgeweiteten Augen nahmen noch den Lichtschein der Explosion auf. Dann traf ihn ein schmerzhafter Schlag, der seine Ganglien verkrampfte und lähmte. Er versank in tiefer, grenzenloser Nacht. Die Vernichtungsstrahlen des Gegners lösten das Torpedo boot T-317 in Nichts auf. Gleichzeitig brachten sie seinen Atomantrieb und die Nuklearsprengköpfe der vier Kampftor 126
pedos zur Detonation. Die freiwerdende Energiemenge war – an kosmischen Mengen gemessen – nicht übermäßig viel. Aber auf einen relativ so kleinen Raumsektor konzentriert, mußte sie katastrophal wirken. Die Struktur des Raum-Zeit-Kontinuums vermochte die Be lastung an dieser winzigen Stelle nicht zu tragen; sie riß auf. Das Resultat war ein Wurmloch. Es war das persönliche Pech von Leutnant Sanders, daß ihn der Vernichtungsstrahl eine zehnmillionstel Sekunde zu spät erreichte. Als sich der Pilotensessel in Nichts auflöste, saß Sanders bereits nicht mehr in ihm. Er wurde der Zeitlinie entlang geschleudert. Die Energie vermochte ihn nur wenige Minuten in die Ver gangenheit zu werfen. Als er materialisierte, geschah dies an einer Stelle, an der sich schon ein anderer Körper befand. Zwei Körper können jedoch nicht im gleichen Raumteil existieren. Der bereits vorhandene Körper wurde um den gleichen Zeit abschnitt in die Zukunft geschleudert und zerkochte in der Explosion des Torpedoboots. Der Raum war frei für Sanders, und er materialisierte. Sanders setzte sich mit einem Ruck aufrecht und starrte ver ständnislos um sich. Seine Finger verkrallten sich in die Armstützen, und seine Brauen zogen sich verwundert zusammen, während sein Herz einen Schlag aussetzte. Seine Psyche widerstand in diesem Augenblick einer ins Unermeßliche gesteigerten Attacke, die sich einerseits aus dem erst jetzt wirkenden Schock des soeben Erlebten, andererseits aus der Überraschung über die plötzliche Veränderung seiner Umgebung ergab. Sanders saß völlig starr; nur seine Augen bewegten sich. Sie glitten langsam von Seite zu Seite, verharrten einigemale an besonders charakteristischen Gegenständen und nahmen ihren Streifzug dann wieder auf. Das, was sie sahen, war für ihn durchaus nichts Ungewöhnliches. Im Gegenteil – Sanders 127
kannte seine unmittelbare Umgebung besser, als irgend etwas anderes in seiner Welt. Dann löste sich seine Erstarrung, und er lehnte sich aufat mend in den tiefen Sessel zurück. Einen Moment lang genoß er das Gefühl intensiver Erleichterung. Er kniff die Augen zu sammen und schüttelte heftig den Kopf, um seine verwirrten Gedanken zu klären. Es mußte ein böser Traum gewesen sein. Sanders wußte: Er saß auf dem weichgepolsterten Pilotensitz, und vor ihm erhoben sich in einem Halbkreis die Bildschirme. Unter ihnen begann die schräggeneigte Fläche des Kontrollpul tes, das sich bis über seine Knie hinunterzog und eine Vielzahl von Meßskalen, Knöpfen, Instrumenten, Hebeln, Schaltern, Tasten und Signallämpchen aufwies. Zwischen seinen Knien ragte der Griff des Steuerknüppels hoch. Seine Füße standen auf den Kontrollpedalen der lateralen Ausstoßrohre, und inmitten der Schalttafel leuchtete der rote Knopf der TorpedoAbschußanlage. Er kannte jede kleinste Einzelheit. Er war mit der Bordausrü stung so gut vertraut, daß er sie im Schlaf hätte bedienen können. Und das war auch nicht weiter erstaunlich. Sanders ließ sich die Geschehnisse der letzten zwei Jahre durch den Kopf gehen. Rrrrrrrrrrrrrrrrrrr … Das schrille Kreischen der Alarmglocke in seinem Cockpit schreckte ihn aus seinen Betrachtungen auf. Innerhalb eines Sekundenbruchteils verwandelte sich sein hagerer, sehniger Körper in eine Kampfmaschine, zu der er von den HypnoAusbildern der Erde gedrillt worden war. Eine blutrote Lampe flackerte hysterisch über den Sicht schirmen und löste bestimmte Reflexe in ihm aus. Sanders schnellte vorwärts, tötete die Alarmanlage mit einem Druck auf einen Knopf und heftete seine Augen auf die Schirme. Nichts zu sehen. Der schwarze Weltraum war übersät mit strahlenden Licht 128
punkten, die ohne zu funkeln aus den Tiefen leuchteten. Die Sterne. Nein – nicht nur die Sterne! Lange, dunkelblaue Körper wuchsen vor der Kanzel des Torpedoboots auf. Sie erschienen aus dem Nichts und blähten sich zu riesenhafter Größe auf, als sie mit unvorstellbarer Geschwindigkeit heranrasten. Zuerst waren es ein Dutzend – dann hundert – dann tausend – und dann vermochte Sanders ihre Zahl nicht mehr zu schätzen. Bis in die endlosen Tiefen des Raums staffelten sie sich – Reihen über Reihen von kilometerlangen, tödlichen Groß kampfschiffen. Sanders schmetterte in purem Reflex die Faust auf den Knopf der Sendeanlage, die der wartenden Schlachtflotte das Warnsi gnal übermitteln würde. Gleichzeitig sah er die mächtigen schillernden Säulen der Vernichtungsstrahlen aus dem Bug des vordersten Schiffes hervorbrechen und auf sich zuschießen. Sanders kam nicht mehr dazu, einen Gedanken zu fassen. Seine schreckgeweiteten Augen nahmen noch den Lichtschein der Explosion auf. Dann traf ihn ein schmerzhafter Schlag, der seine Ganglien verkrampfte und lähmte. Er versank in tiefer, grenzenloser Nacht. Es war das persönliche Pech von Leutnant Sanders, daß ihn der Vernichtungsstrahl eine zehnmillionstel Sekunde zu spät erreichte. Im Kommandoraum des Siigh-Flaggschiffes saß Flottenadmi ral Gurl, ein riesenhaftes echsenartiges Wesen, vor den giganti schen Raumbildschirmen und beobachtete den blauweißen Feuerball des explodierenden Torpedoboots. Er winkte dem Waffenoffizier, die Vernichtungsstrahlen abzuschalten, und wandte sich an den Kapitän. »Wieder einer weniger«, sagte er telepathisch. »Na ja, bedauerlicherweise hat er nicht viel davon gespürt! Das war rasch und schmerzlos.« 129
Hausieren verboten [1958] 1. Herr Waldmeier liebte seinen bequemen Lehnsessel. Er rutsch te tiefer in ihn, streckte seine Beine aus, so weit es ging, und blätterte die Zeitung um. Der Zigarrenstummel zwischen seinen Lippen kräuselte zart blaue Rauchkringel zur Decke empor, unter der sich bereits grau dräuende Dunstschwaden angesammelt hatten. Seine Augen zwinkerten leicht schläfrig hinter den Gläsern der randlosen Brille, und der Kragen seines krawattenlosen Hem des stand offen. Studienrat Dr. Waldmeier genoß den schulfrei en Nachmittag, wie ihn nur ein Germanist genießen kann. Jemand öffnete die Wohnzimmertür und kam herein, aber Herr Waldmeier blickte nicht hinter seiner Zeitung hervor. Passables Feuilleton, mittelmäßig zwar, aber nicht uninteres sant. »Rudolf!« rief eine erregte Frauenstimme im Diskant des Entsetzens. »Wie oft soll ich dir noch sagen, daß du nicht im gleichen Raum rauchen sollst, in dem sich das Baby befindet? Das ist doch wirklich der Höhepunkt der Rücksichtslosigkeit! Einfach unerhört!« Herr Studienrat Waldmeier faltete langsam und peinlich sorgfältig die Zeitung zusammen. Er war mit einemmal wieder hellwach und gab seiner Frau die Schuld daran. Mißbilligend blickte er sie an. »Du gönnst mir nur meine Zigarre nicht!« sagte er vorwurfs voll. »Du brauchst mir gar nichts vorzumachen, Hedwig. Ich weiß sehr wohl, daß du dich mit dem Kindermädchen gegen mich verbündet hast!« »Rede doch keinen Unsinn, Rudolf!« lautete die energische Antwort. »Was bildest du dir jetzt schon wieder ein? Das ist 130
doch die Höhe!« Herr Waldmeier erhob sich, wobei er Kreuzschmerzen vor täuschte – das war immer zu etwas gut –, schlüpfte in die Pantoffeln und steuerte mit der Zeitung und Zigarre ächzend auf die Verandatür zu. »Nun, so dumm bin ich nicht, daß ich das nicht merke! Eure Raffinesse durchschaue ich schon lange. Während ich in dem Blatt vertieft war, hat Mimi heimlich den Säugling ins Wohn zimmer gebracht und sich dabei bemüht, so leise zu gehen, daß ich es nicht hörte. Und dann kommst du prompt hereingeplatzt und schlägst Krach. Wenn das kein abgekartetes Spiel ist …!« Herr Waldmeier murmelte noch eine Zeitlang aufgebracht vor sich hin, während er auf der Veranda einen Liegestuhl in den Schatten zog und sich darauf niederließ. Seine Augen glitten dabei mißtrauisch über den kleinen Vorgarten des Hauses, über den Fußweg, der durch die Blumenbeete zur Hauptstraße hinunterführte, und zum Horizont hinüber, als ob sich ihm von dort weitere Antagonisten entgegenstellen könn ten, die ihm seine wohlverdiente Nachmittagsruhe rauben wollten. Daß es eine Verschwörung gegen Studienrat Dr. Waldmeier gegeben hätte, war natürlich totaler Unsinn. Aber sein Ver dacht sollte sich als nicht vollkommen unbegründet erweisen. Leider wußte er das jedoch noch nicht. Er wandte seine Aufmerksamkeit erneut dem Tageblatt zu, rekelte sich behaglich im Liegestuhl und begann wieder zu gähnen, während seine Augen leicht schläfrig hinter den Gläsern der randlosen Brille zwinkerten und der Zigarren stummel zartblaue Rauchkringel in die Luft emporkräuselte. Nach einigen Minuten blätterte er die Zeitung mit ausholen den Armbewegungen um, sah einen Moment blinzelnd auf und fuhr im nächsten Augenblick zu Tode erschrocken zusammen. Seine erhobenen Arme fielen abrupt herunter. Die Zeitung segelte neben dem Liegestuhl zu Boden. Herr Waldmeier 131
vergaß sogar, an seiner Zigarre zu paffen. Dummerweise fiel in diesem Moment auch noch ihre Asche auf seinen Bauch und versengte seine Hose. Keine zwei Meter von ihm entfernt stand ein Mann. Das war an sich schon Schreckens genug. Weitaus verstärkt wurde der Effekt jedoch dadurch, daß er den Mann noch nie zuvor gesehen hatte. Und den Höhepunkt der Unglaublichkeit bildete schließlich die Tatsache, daß der Mann wenige Sekunden vorher noch nicht dort gestanden hatte. Der Fremde bückte sich, hob höflich die Zeitung auf und reichte sie dem entsetzten Studienrat. Herr Waldmeier öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Aber er brachte nur ein heiseres Krächzen heraus. Der Schreck war ihm in die Kehle gefahren. »Haa-hemm!« räusperte er sich ausgiebig und versuchte es noch einmal. »Was wollen Sie? Wo kommen Sie her?« Der Mann sah durchaus alltäglich und normal aus. Er trug jedoch trotz der sommerlichen Wärme einen weichen Hut und einen blauen Überzieher. In der Hand hielt er einen großen, robusten Lederkoffer, der Herr Waldmeier etwas eigenartig vorkam. Bestimmt aus Amerika, dachte er. Der Mann war noch jung, nicht mehr als fünfunddreißig, schätzte Herr Waldmeier. »Hmmm«, entgegnete der Mann, anscheinend etwas ratlos. Er sah sich langsam um und deutete dann rasch zum Garten weg und zur Hauptstraße hinunter. »Ich … ich bin dort herauf gekommen, noch keine Minute ist’s her. Sie haben mich nicht gehört, mein guter Mann. Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht erschrecken!« Herr Waldmeier runzelte mißtrauisch die Stirn. »Ich bin nicht Ihr guter Mann. Ich habe eben noch zur Hauptstraße hinunter geblickt und Sie nicht gesehen. Wie Sie sich überzeugen können, kann ich die Straße von hier aus gut zwei Kilometer überblicken.« 132
»Das ist möglich!« entgegnete der junge Mann rasch. Er schien sich inzwischen wieder gefangen zu haben. Von seiner anfänglichen Ratlosigkeit war nichts mehr zu erkennen. »Ich habe mich hinter jenen Büschen dort am Straßenrand etwas ausgeruht. Sie haben mich Ihrem Blick entzogen, Herr …« »Waldmeier«, ergänzte der Studienrat und wiederholte zur Sicherheit: »Rudolf Waldmeier.« »Mein Name ist Brammer. Hier – meine Karte!« Er zog eine Visitenkarte aus der Manteltasche und reichte sie Herrn Wald meier mit schwungvoller Geste. HORST M. BRAMMER Handelsvertreter »Sehr erfreut!« murmelte Herr Waldmeier etwas automatisch und kletterte vom Liegestuhl. Die Pantoffel standen natürlich mal wieder falsch herum. »Wenn Sie mir allerdings etwas verkaufen wollen, Herr … äh … Brammer, muß ich Sie leider enttäuschen. Ich bin bereits im Besitz eines Kühlschranks, auch eines elektrischen Rasierapparats«, – er gab dem jungen Mann die Karte zurück, dafür hatte er keine Verwendung – »und eines Fernsehgeräts und …« »Aber nein!« unterbrach ihn Brammer lächelnd, nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich will Ihnen nichts verkaufen, Herr Waldmeister …« »Waldmeier!« »Ach, entschuldigen Sie, Herr Waldmeier. Nein, ich beab sichtige nicht, Ihnen etwas zu verkaufen. Ich – äh – möchte Sie nur um ein Gläschen Wasser bitten. Ich fühle mich nicht gut.« Herr Waldmeier winkte leutselig ab. »Wenn es weiter nichts ist! Bitte, kommen Sie mit herein.« Er schritt voran, Würde und Beschaulichkeit ausstrahlend. Horst Brammer folgte ihm ins Wohnzimmer, ohne seinen Koffer abzusetzen. Waldmeier wies einladend auf einen Pol 133
stersessel, von dem aus er einen guten Blick auf den echten Heckel an der Wand haben würde. »Nehmen Sie doch bitte Platz. Und legen Sie Ihren Mantel ab. Kein Wunder, daß Ihnen nicht gut ist, bei dieser Hitze und im Mantel! Du meine Güte!« Der junge Mann folgte der Einladung mit dankbarem Lä cheln und ließ sich mit einem leichten Seufzer im Sessel nieder. Herr Waldmeier eilte am Rollbett seines acht Monate alten Babys vorbei zur Tür, öffnete sie einen Spalt und rief hinaus: »Ein Glas Wasser bitte, Mimi. Wir haben hier einen Gast.« Mimi erschien wenige Augenblicke später mit dem Ge wünschten. Der junge Mann erhob sich eilig und verneigte sich zuvorkommend. »Brammer«, sagte er. »Mir ist die Hitze anscheinend nicht gut bekommen, Frau Waldmeier.« Er nahm das Glas lächelnd von dem errötenden Kindermädchen entgegen und mußte sich verlegen ein zweites Mal verneigen, als ihn Herr Waldmeier auf seinen Irrtum aufmerksam machte und ihm die wirkliche Frau Waldmeier vorstellte. Er leerte das Glas auf einen Zug und sah sich dann aufatmend um. Genießerisch schnalzte er mit der Zunge, reichte der Hausherrin das Glas zurück und bedank te sich. Dabei fiel sein Blick auf das Säuglingsbett. »Ah!« rief er entzückt aus, die Hände erhoben. Mit wenigen Schritten trat er näher und blickte auf den Säugling hinunter. »Ein Baby! Und wie entzückend sieht es aus!« »Ja!« bestätigte Hedwig Waldmeier strahlend. Brammer hatte auf einen Schlag ihr Herz gewonnen. Es gab doch noch nette junge Männer in dieser unsicheren Zeit. »Es ist ein Junge. Ist er nicht süß? Aber …« – ihr Gesicht überzog sich mit Kummerfalten – »ich mache mir in letzter Zeit große Sorgen um ihn.« »Oh«, bedauerte Brammer mitfühlend. »Was fehlt ihm denn?« »Er will nicht mehr richtig essen!« entgegnete Frau Wald 134
meier betrübt. »Kaum hat er ein wenig zu sich genommen, weigert er sich schon, mehr zu essen. Wenn es nicht besser wird, muß ich wohl einen Arzt konsultieren.« »Das kann nie schaden«, warf der Studienrat ein, aus Erfah rung sprechend. »Hmmm«, brummte Brammer gedankenvoll und runzelte die Stirn wie in tiefem Nachdenken, als er auf den pausbäckigen, kugelrunden und kerngesunden Säugling hinuntersah. »Ich glaube … ja, ich glaube, ich kann Ihnen helfen, Frau Waldmei er.« »Ja?« rief sie freudig erregt. »Glauben Sie? Oh, bitte, helfen Sie mir!« Ein feiner Mensch, dieser Herr Brammer. Sie wandte sich an ihren Gemahl. »Siehst du, Rudolf, ich hatte doch gleich recht! Das Baby ist nicht gesund.« »Wieso ›siehst du‹?« brummte Herr Waldmeier unwillig. »Ich sehe keinen Beweis, höchstens einen betrüblichen Mangel an Logik, meine Liebe. Heh – was suchen Sie denn?« Letztere Frage richtete er an Horst Brammer, der vor seinem seltsamen Koffer niedergekniet war und jetzt Schlösser knallen ließ und den Deckel öffnete. »Es gibt ein Mittel«, beeilte sich der junge Mann zu erklären, »mit dem man Ihrem Söhnlein helfen kann, Herr Waldmeier.« Er entnahm seinem Musterkoffer eine kleine Phiole von eigen artiger Form. Herr Waldmeier hatte niemals zuvor dergleichen gesehen. Bestimmt amerikanisch, entschied er bei sich, also sicher etwas Gutes. »Es ist die allerneueste Säuglingsnahrung, die entwickelt worden ist, sozusagen eine Super-Babynahrung. Es nennt sich Wachstumskatalysator und – äh – fördert das Wachstum des Selbstbewußtseins des Kleinkindes. Jawohl. Sie haben gewiß davon gelesen.« Herr Waldmeier nickte rasch, obwohl es durchaus nicht zutraf. »Dadurch – hmmm – steigert sich auch sein Appetit, und es nimmt wieder normale Nahrung zu sich. Das leuchtet Ihnen doch ein, oder?« 135
»Hmmm!« brummte der Studienrat Waldmeier überlegend. Dann: »Ja, das klingt tatsächlich einleuchtend. Wie heißt denn das neue Mittel?« Bestimmt war es ein unaussprechlicher amerikanischer Name. »Nur Wachstumskatalysator. Darf ich um einen Teelöffel bitten, Frau Waldmeier?« »Ja, selbstverständlich.« Sie eilte zur Anrichte und kam we nige Augenblicke später mit einem kleinen Löffel zurück. »Das war sein Taufgeschenk, sehen Sie? Hier, lassen Sie mich das machen. Eine Mutter kann das besser.« Brammer gab ihr die merkwürdige Flasche. »Einen Löffel voll?« Der junge Mann nickte, und Hedwig füllte den Löffel mit der wasserklaren Flüssigkeit. »Komisch, die Flasche trägt gar kein Etikett!« »Stimmt!« pflichtete Brammer bei. »Die Hersteller – äh – lehnen jede Art von marktschreierischer Reklame ab. Außer dem – äh – wird die neuartige Form der Flasche in Zukunft den Inhalt zur Genüge kennzeichnen.« Das leuchtete Herrn Waldmeier ein. »Wie bei der Coca-ColaFlasche«, erklärte er seiner Frau. Frau Waldmeier nickte. Sie bückte sich, schob ihre linke Hand unter den Kopf des Babys und flößte ihm behutsam die Flüssigkeit ein. »So, mein Kleiner, jetzt wollen wir mal sehen, ob du mehr Appetit kriegst.« Dem Säugling schien das Mittel tatsächlich gut zu bekom men. Er leckte sich mit seiner winzigen rosigen Zunge die Lippen und ließ laute, schmatzende Geräusche hören. »Es wird wohl einige Zeit dauern, bis es wirkt«, meinte Herr Waldmeier. Er wandte sich an den jungen Mann, der wieder vor seinem Koffer kniete und die Flasche darin verstaute. »Ich danke Ihnen jedenfalls, auch im Namen meiner Frau. Hmmm, wie heißt denn die Firma, die Sie vertreten? Wenn das Mittel tatsächlich wirkt, werden wir wahrscheinlich noch mehr davon benötigen.« 136
Brammer erhob sich und zuckte verlegen lächelnd die Schul tern. »Wissen Sie, Herr Waldmeier, ich reise eigentlich nicht in Säuglingsnahrung. Es ist nur – äh – reiner Zufall, daß ich diese Probe mitführe. Ich kann sie Ihnen jedoch gerne verkaufen, wenn Sie …« Studienrat Dr. Waldmeier winkte ab. »Nicht so schnell, Herr Brammer. Als Wissenschaftler möchte ich mich zunächst von der Wirkung des »Katalysators« überzeugen, wie Sie das Mittel nennen. Welche Artikel vertreten Sie denn? Bürsten?« Brammer breitete die Arme aus. »Na ja, verschiedene Ge brauchsgegenstände, wie sie tagtäglich in jedem Haushalt benötigt werden. In jedem guten Haushalt. Dies und das, könnte man sagen. Jawohl, das könnte man sagen.« »Ach so«, lächelte Herr Waldmeier wissend, »Zahnbürsten, Kochtöpfe, Schuhkreme und dergleichen Hausiererwaren, eh?« »Nicht ganz!« erwiderte Brammer und machte plötzlich ein geheimnisvolles Gesicht. »Es sind alles Artikel, die dem täglichen Leben dienen. Gleichzeitig zeichnen sie sich alle durch eine Besonderheit aus.« »Und die wäre?« fragte Herr Waldmeier interessiert, seine erwachende Neugier jedoch geschickt überspielend. »Sind sie etwa alle aus Kunststoff?« »Nein!« entgegnete Brammer. Frau Waldmeier blickte von ihrem Baby auf, legte den Finger auf die Lippen und schickte sich an, das Rollbett behutsam aus dem Wohnzimmer in einen benachbarten Raum zu schieben. Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, fuhr der junge Mann fort: »Nein, das ist es nicht. Vielmehr stellen sämtliche Artikel sensationelle Neuer scheinungen auf dem Markt dar, die eine Art dritte industrielle Revolution herbeiführen werden, sobald sie in Massen produ ziert werden.« »Sie erregen meine Neugier«, mußte Herr Waldmeier beken nen. »Vielleicht habe ich Interesse an dem einen oder anderen Ihrer Artikel. Wollen Sie mir nicht mal dieses und jenes zei 137
gen?« Brammers Gesicht überzog sich mit einem Lächeln, aus dem einen Sekundenbruchteil lang ein Ausdruck des Triumphs sprach. »Aber gewiß doch, Herr Waldmeier.« »Doktor Waldmeier«, verbesserte der Studienrat mechanisch, seine Blicke bereits auf den Musterkoffer gerichtet. Brammer hatte sich gebückt und öffnete wieder den Koffer. Er entnahm ihm nach kurzem Zögern der Unschlüssigkeit ein schwarzes, kubisches Kästchen. Einen Moment lang schien er es wieder zurücklegen zu wollen, so daß Herr Waldmeier schon eingreifen wollte. Doch dann richtete er sich mit dem Gegenstand auf, und Herr Waldmeier betrachtete ihn mißtrau isch. Der schwarze Würfel wies äußerlich keinerlei Merkmale auf, außer einem kleinen, runden Knopf an einer der Seitenflä chen. »Was ist das?« Brammer stellte den Gegenstand auf den Tisch und ließ sich in dem Sessel nieder. Waldmeier zog ebenfalls einen Sessel heran und folgte seinem Beispiel. Vielleicht dauerte die De monstration länger. »Dies«, erklärte Brammer stolz und wies auf den Würfel, »ist eine Energiequelle!« »Eine was?« fragte Waldmeier verständnislos. Studienrat Waldmeier war zwar Germanist, wußte jedoch über Physik und Mathematik genügend Bescheid, um ganz genau sagen zu können, daß er den jungen Mann soeben mißverstanden haben mußte. »Eine Energiequelle. Ein Apparat, der Energie liefert. Ich habe noch ein Exemplar einer zweiten Ausführung dabei, die auf einem anderen Prinzip beruht, aber diese hier ist die inter essantere. Sie kostet – äh – zwanzigtausend.« »Zwanzigtausend?« stieß Studienrat Dr. Waldmeier fas sungslos aus. »Sind Sie denn noch bei Trost? Wer kann denn heutzutage solch einen Preis bezahlen?« 138
»Bedenken Sie, das hier ist eine Energiequelle, die Ihnen bis an Ihr Lebensende kostenlos Energie liefert!« »Hmmm – trotzdem!« entgegnete der Studienrat. »Soviel Geld! Und wie funktioniert diese … Energiequelle?« Herr Waldmeier war sich bewußt, daß er einen Betrüger vor sich hatte. Er beabsichtigte jedoch, den jungen Mann mit reiner Logik zu überführen, ihn sozusagen mit nüchternen physikali schen Überlegungen zu demaskieren. »Sehen Sie, dieses Gerät zapft die Energie der Sonne direkt an!« verkündete der Handelsvertreter langsam und eindring lich. Er bemühte sich, seiner Stimme einen möglichst überzeu genden Klang zu verleihen und seine innere Unsicherheit zu verbergen. Auch für den anerkanntermaßen besten Handelsver treter des Landes war es eine schwierige Aufgabe, ein Gerät zu verkaufen, von dessen Funktion er nur geringe Ahnung hatte, und dazu noch für zwanzigtausend Piepen! »Und wie bringt es das fertig, wenn ich fragen darf?« erkun digte sich Herr Waldmeier lauernd, nachdem er sich noch einmal vergewissert hatte, daß der mysteriöse Würfel auch keine photovoltaischen Zellen aufwies. Nur noch wenige Sekunden, dann würde sein akademisch trainiertes Gehirn zuschlagen. Es ging eben doch nichts über die gute deutsche Schulbildung. »Ich führe es Ihnen am besten einmal vor!« entgegnete Brammer. Er legte seinen Zeigefinger auf den runden Knopf an der Seite des Würfels. »Sehen Sie, wenn ich hier drücke, erzeugt das Gerät – äh – mehrfach ionisierte Atomkerne und schickt …« – er legte eine Kunstpause ein, während er auf den Knopf drückte – »…einen Ionenstrahl von hier bis zur Sonne!« Was jetzt folgte, geschah so schnell, daß Herr Waldmeier offenen Mundes starr in seinem Sessel saß und der Ausruf des Schreckens noch immer ungehört in seiner Kehle steckte, als die Hauptsache schon vorüber war. Im gleichen Sekundenbruchteil, in dem Brammer auf den 139
Knopf drückte, wurde das seltsame schwarze Gerät zum Zentrum eines etwa dreißig Zentimeter starken rotleuchtenden Strahls, der sich schräg zur Zimmerdecke hinauf erstreckte. Er endete jedoch nicht dort. Im Zeitraum einer millionstel Sekun de brannte er sich knisternd durch die Decke, durchstach knallend das darüberliegende Stockwerk und bohrte sich zischend durch das Dach. Beißender Ozongeruch stach widerlich in Herrn Waldmeiers Nase, als er mit aufgerissenen Augen entgeistert die teilweise Zerstörung seiner schönen Heimstatt erlebte. Sturzbäche von Mörtel und Gips prasselten von der Decke herunter, und der Gestank verbrannten Holzes und glimmenden Linoleums vermischte sich mit dem Ozongeruch. Der rotglühende Ionenstrahl jedoch nahm mit irrsinniger Geschwindigkeit weiter seinen Weg durch die Atmosphäre. In schnurgerader Linie ging er von dem schwarzen Kästchen aus, durchstach das Dach, entwipfelte eine Tanne und befand sich jetzt bereits in der Stratosphäre, in genauer Richtung auf die Sonne zuschießend. Herr Waldmeier stieß einen unartikulierten Schrei aus und fuhr in die Höhe. Stumm vor Entsetzen deutete er auf die rote Säule der heißen Ionen und starrte Brammer mit aufgerissenen Augen an. Der junge Mann machte erst jetzt den Mund zu. Das eigenar tige Verhalten des schwarzen Würfels hatte auch ihn offen sichtlich zutiefst überrascht und sehr erschreckt. Er blickte Herrn Waldmeier verschüchtert aus schmerzlich umwölkten Augen an und zuckte bedauernd die Schultern, die Hand auf dem Herzen. Der Studienrat rang nach Atem. »Mein Herr!« stieß er end lich hervor und fuhr sich mit der Hand über die schweißbe deckte Stirn. »Mein Herr! Ich mache Sie verantwortlich für den Schaden an meinem Haus. Sie werden ihn mir bis auf den letzten Pfennig ersetzen!« 140
Horst Brammer faßte sich schnell wieder. In seinem Beruf kam es in erster Linie darauf an, daß man sich nicht von unvorhergesehenen Ereignissen überraschen und verblüffen ließ. »Selbstverständlich, lieber Herr Dr. Waldmeier! Es tut mir furchtbar leid … Ich wußte gar nicht … Man hat mir nur gesagt … Aber bedenken Sie doch die Vorteile! Die Energiequelle arbeitet gratis …« »Das ist mir völlig gleich! Sehen Sie sich das Loch in der Decke an! Und im Dach … Hmmm, was sagten Sie da eben? Das Gerät liefert umsonst Energie? Wie funktioniert denn die Angelegenheit?« »Tja!« meinte Brammer und lächelte sein gewinnendstes Lächeln. Er deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger zuerst auf das Kästchen und dann auf die Sonne, die durch das Loch in der Decke herunterschien und von dem transparenten Ionen strahl nur wenig verdeckt wurde. »Wissen Sie, die Energie in der Batterie dieses Geräts reicht gerade so weit, daß der Ionen strahl bis zur Sonne geschickt werden kann. Dort trifft er dann auf die Korona, die aus zehn- bis vierzehnfach ionisierten Eisen- und Kalziumatomen besteht, was einer Temperatur von einer Million Grad Celsius entspricht. Der Ionenstrahl bildet also gewissermaßen einen Leiter, der …« »Ja!« stieß Herr Studienrat Waldmeier entsetzt aus, wich zurück und fuchtelte mit den Armen, »und wissen Sie, was dann passiert? Sobald der Strahl auf die Korona trifft, steigt die Stromstärke der Anlage so enorm an, daß ein Lichtbogen entsteht! Ein Lichtbogen! Mein Herr, bedenken Sie! Ich bin Gymnasiallehrer! Ein Lichtbogen, der von der Sonne bis zur Erde reicht, genau auf meinen Tisch! Er wird uns alle verbren nen, die ganze Erde!« Waldmeiers Stimme stieg an und über schlug sich vor Erregung. »Stellen Sie das Ding ab, Mann! Schnell, bevor es zu spät ist!« Brammer schnellte vor und drückte den Knopf. Der Ionen 141
strahl fiel sofort in sich zusammen. Die rotglühenden Ionen verteilten sich in der Luft und verschwanden. »Puuh, das ist noch einmal gut gegangen!« stöhnte Herr Waldmeier und fiel völlig erledigt in den Sessel. In diesem Augenblick wurde die Tür aufgerissen, und Frau Waldmeier erschien auf der Schwelle. Brammer zog in Erwar tung des Kommenden den Kopf ein; Sekunden später durch gellte ein fürchterlicher Entsetzensschrei den Raum. »Rudolf!« Frau Hedwig stand einige Augenblicke lang zur Salzsäule erstarrt. Dann aber schwankte sie und glitt langsam am Türpfo sten hinunter auf den Boden. »Mein Gott!« flüsterte sie. »Mein Gott! Das ist ja furchtbar! Was hast du da wieder angerichtet!« »Ich?« brauste Herr Waldmeier auf. »Ich habe nichts damit zu tun, Hedwig. Und das Loch in der Decke …« »Ach was! Das Loch ist nicht weiter schlimm, das kann man reparieren!« entgegnete Frau Hedwig immer noch völlig verzweifelt. »Aber … aber das da!« Sie streckte einen hageren Arm aus, und die beiden Männer folgten stumm der Richtung ihres langen Zeigefingers. Sie sahen aber nur den Fußboden des Wohnzimmers und den weichen Teppich, der jetzt allerdings von einer dicken Lage Mörtelstaub bedeckt war. »Wie soll ich das denn wieder sauberkriegen?!« Brammer tippte sich unversehens an die Stirn, grinste und sprang unternehmungslustig auf. »Da kann ich Ihnen helfen, liebe, gnädige Frau. Nichts leich ter als das! Passen Sie mal auf, das werden wir in Nullkomma nichts haben!« »Meinen Sie wirklich?« seufzte sie erleichtert und kletterte langsam auf die Füße, mit einer Hand dabei ihre Frisur in Ordnung bringend. »Oh, ich wäre Ihnen ja so dankbar, Herr Brammer!« 142
»Ja, das werden wir sofort haben!« entgegnete er zuvorkom mend, kniete vor seinen Musterkoffer nieder und öffnete ihn. »Was haben Sie denn da?« fragte sie neugierig und kam näher. »Nun, man könnte es einen Staubsauger nennen«, meinte er und entnahm dem Koffer verschiedene Einzelteile, die er schnell zusammensetzte. »Einen Superstaubsauger sozusagen. Genau, was Sie für diesen Job brauchen.« Er stand auf und hob das fertige Gerät hoch. Es sah in der Tat wie ein Staubsauger aus, allerdings wie ein sehr eigenartiger. In der Hauptsache bestand er nur aus einem langen Rohr, das an einem Ende in eine breite, flache Saugdüse auslief und am anderen Ende in einem runden, bauchigen Behälter ver schwand, der einen Traggriff, einen Drehknopf und einen Schalter auf wies. Das war alles. Herr Waldmeier runzelte mißtrauisch die Stirn und berührte das Gerät behutsam mit der Hand. »Das ist ja ein ziemlich seltsamer Staubsauger, das kann man wohl sagen. Wenn Sie glauben, damit diesen Mörtelstaub aufsaugen zu können …« »Misch dich nicht ein, Rudolf«, sagte Hedwig. »Kann ich!« nickte Horst Brammer eifrig und grinste gewin nend. »Wissen Sie, Herr Dr. Waldmeier, dieser Staubsauger vereinigt in sich einige ganz besondere Vorzüge. Er hat eine eigene eingebaute Energieversorgung, eine kleine Atombatte rie. Ferner saugt er nicht nur allen Schmutz auf, sondern desintegriert ihn noch dazu, so daß nichts von ihm übrigbleibt. Sie haben gewiß schon von Atomzertrümmerung gehört? Dann wissen Sie, was es bedeutet, wenn ich Ihnen sage, daß hier nicht nur die Atome, sondern die gesamte Materie zertrümmert wird. Die dabei freiwerdende Energie, die der vernichteten Masse proportional ist, betätigt dann wiederum den Saug- und Desintegrationsmechanismus. Die Atombatterie selbst wird während des Prozesses nicht mehr benötigt. Sie ist also gewis sermaßen nur eine Anlaßvorrichtung. Der Staubsauger versorgt 143
sich also selbst mit Energie, sobald er einmal läuft.« »Ein Perpetuum mobile?« fragte Hedwig Waldmeier erregt. Herr Waldmeier winkte müde ab. »Nein, völliger Unsinn, meine Liebe. Durch die Desintegration der Materie wird ihm ja ständig neue Energie zugeführt. Das ist also vollkommen falsch, was du sagst. Aber, Herr Brammer, führen Sie das Gerät doch einmal vor!« »Gerne!« antwortete Horst Brammer eilfertig, legte den Schalter um und begann sogleich mit der Entfernung und Desintegration der Staubschicht. Er führte die Saugdüse lang sam über den Boden, mit sicherem Griff seine souveräne Meisterung dieser traditionell doch unmännlichen Aufgabe zeigend. Der Staubsauger funktionierte tatsächlich so, wie er es gesagt hatte. Er schluckte den Staub sowie die Mörtelstücke und zertrümmerte sie. Aber damit nicht genug! Im Zeitraum weniger Sekunden hatte er auch den Teppich und den Linole umbelag vertilgt und machte sich nun an den Bohlen der Holzunterlage zu schaffen. Lange, faserige Stücke waren bereits aus den Bodenbrettern herausgebrochen, als diese traurigen Tatsachen in Horst Brammers Bewußtsein dämmer ten. »Hoppla!« sagte er, schaltete mit klammen Fingern das Gerät aus, richtete sich müde auf und blickte Herrn Waldmeier schweigend und etwas vorwurfsvoll an. Der Studienrat und seine Gemahlin starrten stumm auf den angerichteten Schaden. Dann quollen ihre Augen merklich hervor, wandten sich Brammer zu und fixierten ihn voll Mordgier. Der junge Mann ließ den Staubsauger fallen und hob flehend die Hände. »Nein, bitte!« stammelte er etwas ratlos und wich langsam zurück, während ihm das Ehepaar Waldmeister mit starren, marionettenhaften Bewegungen folgte. »Ich weiß gar nicht … Ich kann ja nichts dafür … Gar nichts! Ich muß die Maschine wohl etwas zu stark eingestellt haben. Der Dreh knopf da … Wissen Sie was, als Entgelt gebe ich Ihnen den 144
Staubsauger gratis.« »Hah!« schrien die beiden wie aus einem Mund und stürzten sich auf ihn. Brammer sprang mit einem Satz bis zur Wand zurück und hielt vor Entsetzen die Luft an. Da gellte ein gräßlicher Schrei durch das Haus. Er vibrierte im höchsten Diskant, dessen eine menschliche Stimme fähig ist, lahmte alles Lebende im Umkreis von hundert Metern bis auf die Knochen und verfiel dann in ein haltloses Schluchzen. Der Schrei war Horst Brammers Rettung. Die beiden Wald meiers verharrten auf der Stelle, ließen die Arme sinken und starrten sich fragend an. Dann warf Herr Waldmeier dem jungen Mann einen wütenden Blick zu. »Was war das?« Brammer zuckte die Schultern und hob bedauernd die Hände. Woher sollte er das wissen? Was hatte er sich da nur einge brockt! Er wünschte, er wäre niemals Handelsvertreter gewor den. »Die Mimi!« schrie Hedwig Waldmeier plötzlich mit gellen der Stimme, wirbelte herum und stürzte mit fliegenden Haaren zur Tür. Ihr Mann folgte ihr auf dem Fuß. Brammer schloß sich ratlos an. Sie rissen die Tür auf und platzten in den Nebenraum … … und standen zu Salzsäulen erstarrt. Das Bild, das sich ihren Augen bot, war ungeheuerlicher, als es ihnen selbst in einem Traum jemals hätte erscheinen können. An der Wand hielt sich Mimi, das Kindermädchen, mit zit ternden Beinen mühsam aufrecht. Ihre weiße Bluse war an der linken Schulter zerrissen. Sie preßte sich entsetzt an die Wand, und ihre Augen starrten weit aufgerissen zu dem Sessel hin über, der in der gegenüberliegenden Ecke stand. Frau Waldmeier folgte ihrem Blick, die Hand vor dem Mund. Sie sah, was sich dort befand, und stieß einen schrillen Schrei aus. »Rudolf!« »Reg dich nicht auf, meine Liebe!« sagte ihr acht Monate alter Säugling zu ihr. »Du machst mir nur die Pferde scheu. 145
Habe die größte Lust, euch alle zusammen rauszuschmeißen! Der Laden stinkt sowieso.« Die krummen Beinchen bequem übereinander geschlagen, lehnte er im Sessel, qualmte an einer zolldicken Zigarre, die in einem Mundwinkel hing, und wirbelte mit der rechten Hand Herrn Waldmeiers alte Pistole durch die Luft. Sie richtete sich jetzt wie von ungefähr auf den fassungslosen Studienrat, während sich der Säugling wieder abwandte und dem Mädchen aufmunternd zuwinkte. »Na, Puppe«, sagte er aus dem Mundwinkel, – aber nicht aus dem, in dem die stark paffende Zigarre hing, – »du machst mir wirklich Spaß! Wer wird denn gleich davonlaufen? Los, komm her zu Vati, Herzchen!« Frau Waldmeier fiel seufzend in Ohnmacht. Brammer sah mit weit aufgerissenen Augen zu, wie sie zu Boden sank, während er wie abwesend vor sich hin murmelte: »Der Wach stumskatalysator … der Wachstumskatalysator …« Herr Waldmeier jedoch beachtete seine Frau überhaupt nicht. Er grinste plötzlich fröhlich über das ganze Gesicht, tippte dem jungen Mann auf die Schulter und sagte: »Hören Sie mal, was ich kann!« Und er begann laut zu singen. Schwere Schritte polterten durch das Wohnzimmer, aber Herr Waldmeier ließ sich nicht stören. Dann sagte eine be fehlsgewohnte Stimme hinter Brammer: »Polizei. Herr Waldmeier, ich muß Sie wegen groben Unfugs mit Funkstörgeräten verhaften. Und wie ich sehe, haben Sie sich auch durch unerlaubten Waffenbesitz und Verstoß gegen das Jugendschutzgesetz strafbar gemacht. Ich muß Sie bitten, mir zu folgen, Sie alle zusammen!«
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2.
»Also Sie sind der Schuldige!« sagte Polizeichef Liebmann, bekannt für sein überragendes Können als Ein-MannSchöffengericht, und legte einen langen, anklagenden Zeige finger auf Brammer an. »Ja – das heißt, nein«, stammelte Horst Brammer er schrocken und sah sich hilfesuchend um. Da ihm nichts Besse res einfiel, deutete er auf seinen Musterkoffer. »Meine Artikel sind …« »Keine Ausflüchte!« schnappte der Polizeichef und nickte seinen Untergebenen bedeutungsvoll zu. Aufgepaßt, hieß diese Geste, jetzt versucht er sich herauszureden! »Die Anklage lautet wie folgt: Sie haben mit einer neuartigen Waffe, die wahrscheinlich aus Amerika stammt, einen Terror akt begangen und das Wohnhaus von Herrn Studienrat Dr. Rudolf Waldmeier und seiner Familie teilweise zerstört. Aber nicht genug damit! Nein! Sie haben auch damit den Funkver kehr im Umkreis vieler hundert Kilometer erheblich gestört. Durch diesen Sabotageakt mußte der Flughafenbetrieb zeitwei se stillgelegt werden. Außerdem unterbrachen sie bösartig den Sprechfunkverkehr mit unseren Funkstreifenwagen. Ferner haben Sie den Fußboden in Herrn Waldmeiers Wohn stube bewußt ruiniert und den Studienrat, einen sonst unbe scholtenen Staatsbürger und Steuerzahler, ins Irrenhaus ge bracht. Um hierbei gar nicht davon zu reden, daß Sie Waldmei ers acht Monate alten Sohn durch jugendgefährdende Mittel verdorben haben. Stimmt das?« Er warf einen bezeichnenden Blick auf die Gruppe seiner Untergebenen, der besagen sollte: Obacht! Sieht zwar nicht wie ein typischer Terrorist aus, aber das ist es ja eben! »Nein – das heißt, ja!« beeilte sich Brammer zu erklären. »Ich wollte nur …« Liebmann winkte ab. »Ausflüchte sind sinnlos. Es ist alles 147
bereits protokolliert. Was haben Sie in Ihrem Musterkoffer dort?« »In meinem was?« entgegnete der junge Mann. »Ach so, Sie meinen meinen Musterkoffer. Äh – so verschiedene Ge brauchsmuster. Ich will sie Ihnen gerne zeigen …« Er kniete eilfertig vor dem eigenartigen Behältnis nieder, öffnete es und entnahm ihm ein kleines, mehrfach zusammengelegtes Stück chen Tuch, das in seine Hüfttasche gepaßt hätte. »Das hier, zum Beispiel …« »Was ist das?« fragte der Polizeisekretär Hupfbach und beugte sich neugierig vor. »Das?« Brammer erhob sich. »Ach, ich glaube, das ist eine Super-Kombination.« Er faltete das Tuch auseinander, einmal, zweimal, dreimal, viermal … es wollte gar kein Ende nehmen. Immer kam noch eine weitere Faltung. Dann hielt er endlich eine Art Fliegerdreß in der Hand, der an der Vorderseite, an den Ärmeln und an den Hosenbeinen lange reißverschlußartige Vorrichtungen auf wies. Die anwesenden Polizeibeamten sahen sich bezeichnend an. »Sie besteht aus einem Stoff, der verschiedene unschätzbare Vorteile in sich vereint, meine Herren«, erklärte Brammer, sich rasch an der Aufgabe erwärmend. »Er ist sowohl kälte- als auch wärmeabstoßend, isoliert hundertprozentig gegen elektri sche Ströme, ist kugelsicher, wasserdicht und unbedingt reib-, schnitt- und rißfest. Dabei läßt er doch mehr Luft durch, als eine normale Kombination. Reagiert auch auf keine bekannte Säure oder Lauge und schützt gegen Radioaktivität jeder Art. Zudem ist er derart elastisch, daß er sich jeder Größe und Gestalt automatisch anpaßt.« »Hmmm«, brummte Polizeichef Liebmann nachdenklich. Sich jetzt nur nicht hinreißen lassen und sich eine Blöße geben. »Das klingt interessant. Wenn wir unsere Einsatzkommandos mit diesen Super-Kombinationen ausrüsten würden …« Nicht unphotogen, dieser Schnitt! Irgendwie italienisch. Das wäre 148
publikumswirksam, würde sich in den Medien gut ausmachen. Auf jeden Fall besser als der Grenzschutz. »Geben Sie das Ding her!« Brammer reichte ihm den Fliegerdreß mit einem kleinen Diener. Liebmann kletterte umständlich hinein. Tatsächlich paßte sich der Stoff seiner Figur an, und das wollte etwas heißen. Liebmann war stolzer Besitzer eines stattlichen Bier bauchs. Er zog die »Reißverschlüsse« zu und strich den Stoff glatt. Die restlichen Falten verschwanden wie aufgesaugt. »Hmmm«, brummte er wieder, während er mit langen Schrit ten auf und ab ging und sich versuchsweise bückte und drehte, eine imaginäre MPi unter dem Arm. »Nicht übel, Hupfbach. Wäre tatsächlich das Richtige für unsere Leute. Vielleicht noch einen Lederbeschlag hier und da. Na ja, wollen mal sehen …« Er griff nach dem großen »Reißverschluß« an der Vordersei te der Super-Kombination und zog. Eine halbe Minute später zog er noch immer, jetzt aber be deutend wütender und heftiger. Es hatte keinen Zweck. Der »Reißverschluß« öffnete sich nicht. Liebmann strengte seine ganzen Kräfte an und zerrte. Umsonst. Er kommandierte drei seiner Untergebenen zum Reißverschluß-Ziehen ab. Sie zogen gleichzeitig und einzeln, in kräfti ger Dauerbelastung und mit machtvollen Rucken, auch mit Schichtablösung, wobei sich immer zwei ausruhten. Verge bens. Die Schließvorrichtung rührte sich nicht. Leider hatten Horst Brammers Auftraggeber vergessen, ihn über die Methode aufzuklären, mit der sich die Verschlüsse öffnen ließen. Sie hatten angenommen, daß er die Gebrauchs anweisung, die sich im Koffer befand, lesen könnte. Dies traf nicht zu. Schließlich ließ sich Polizeichef Liebmann keuchend vor Anstrengung und Wut in einen Sessel fallen. Die SuperKombination umschloß ihn mit stoischer Ruhe und war hun dertprozentig reib-, schnitt- und reißfest, von ihrer unbedingten 149
Wärme-, Kälte-, Säuren- und Laugenbeständigkeit gar nicht zu reden. »Sie!« brüllte er den jungen Mann an. »Sie! Wie werde ich denn jetzt das Ding wieder los? Daran sind nur Sie schuld!« »Aber nein!« wehrte sich Brammer. »Als mir die Männer …« »Aha! Welche Männer?« »Nun, die mir die Energiequelle und die anderen Sachen gegeben haben!« Polizeisekretär Hupfbach, der etwas davon verstand, beugte sich zum zweitenmal interessiert vor. »Energiequelle?« »Ja!« antwortete Brammer nervös. »Eigentlich gaben sie mir ja zwei, aber die eine hat dieses ganze Unheil angerichtet. Warten Sie, ich werde Ihnen die andere zeigen …« Aus seinem Musterkoffer förderte er ein schwarzes, kubi sches Kästchen zutage, das dem ersten glich und sich nur darin von ihm unterschied, daß es neben dem Druckknopf noch ein langes, dickes Gummikabel aufwies, das in zwei kupfern blinkenden Litzen endete. »Hier ist es. Dieses Gerät wird an die Lichtleitung ange schlossen. Es liefert Strom bis in alle Ewigkeit, meine Herren! Niemand braucht mehr Steinkohle zu fördern.« »Einen Augenblick!« herrschte Liebmann. »Diesmal werden wir nichts wagen. Hupfbach, rufen Sie mal Knoll vom Labor her!« Knoll vom Labor erschien wenige Minuten später, nahm das Gerät in seine Obhut, versprach, es fachmännisch zu untersu chen, und verschwand dann wieder. Liebmann atmete auf. »Das wäre das. Und nun weiter, Brammer. Was haben Sie noch in Ihrem Koffer?« Brammer schob seinen Kopf für einen Augenblick in den Musterkoffer und erschien dann wieder, in jeder Hand einen Gegenstand. Der eine sah recht harmlos und ungefährlich aus. Ein Zylinder mit abgerundeten Kanten, der am einen Ende 150
einen Gummischlauch, am anderen eine Ausflußöffnung aufwies. Der junge Mann wies auf das Waschbecken in einer Ecke des Raums. »Darf ich?« Liebmann nickte stirnrunzelnd. »Das hängt davon ab.« Brammer sah es als eine Genehmigung an. Er schob den anderen Gegenstand in die Tasche und machte sich an der Wasserleitung zu schaffen. Er schob den Gummischlauch über den Wasserhahn, verschloß die Ausfluß-Öffnung des Beckens mit dem Gummistöpsel und drehte den Hahn auf. Das Wasser floß jetzt durch den schwarzen Zylinder und verließ ihn an seinem anderen Ende, um sich rasch im Wasserbecken anzu sammeln. »Das ist ein Katalysator«, erklärte Brammer und trat zurück. »Toll, nicht wahr? Er wird mit Hilfe einer eingebauten, sehr starken Atombatterie betrieben, entnimmt der umgebenden Luft Kohlendioxid und verbindet es mit dem Wasser. Das Ergebnis fließt dann unten heraus.« »Und was ist es?« fragte der Polizeichef gespannt. Von sei nem Sessel aus schien ihm die Flüssigkeit allenfalls Wasser zu sein. Brammer druckste einen Moment herum, während sich das Becken rasch füllte und nun einen beißenden Geruch verbreite te. Dann meinte er stockend: »Tja, die Männer haben mir gesagt, daß ein Stoff entsteht, den man chemisch mit der Formel – äh – Ce-acht Ha-achtzehn bezeichnet. Ferner ent stünde als Nebenprodukt noch Sauerstoff. Ganz nützlich, also.« »Ce-acht Ha-achtzehn?« meinte Liebmann ratlos und wandte sich an Hupfbach. »Sie verstehen doch etwas davon, Hupfbach. Was ist das?« »Ce-acht Ha-achtzehn? Hmmm, – und der Geruch. Ja, ich weiß es! Halt, Brammer! Es ist …« In diesem Augenblick hatte sich die Tür geöffnet, und einer von Liebmanns Untergebenen kam herein. Während er beim Anblick des von Hals bis Fuß in die Super-Kombination 151
gekleideten Chefs die Augen aufriß, nahm er automatisch die Zigarette aus dem Mundwinkel und schnippte sie zielsicher in Richtung des Waschbeckens, wie er es oft schon getan hatte. Ein ungeheurer Kanonenschlag erschütterte den Raum, und eine blendende Stichflamme schoß bis zur Decke empor. Decke und Wände überzogen sich sofort mit schwarzem Ruß, während die Flüssigkeit im Becken mit hohen, flackernden Flammen brannte. Der Katalysator schmolz in seine Bestand teile zusammen, das Becken sprang mit einem scharfen Knall auseinander, und die lodernde Flüssigkeit verbreitete sich auf dem Fußboden. »… Benzin!« stieß Hupfbach völlig verdattert aus. »Feuer!« brüllte Liebmann mit Stentorstimme. »Feuer! So löschen Sie doch!« »Die Super-Kombination ist auch feuerfest …«, bemerkte Brammer mit niedergeschlagener Stimme, während der völlig verblüffte Angestellte, der das Feuer entfacht hatte, langsam wieder aus seiner Erstarrung erwachte. Er eilte hinaus, kehrte mit einem überdimensionalen Feuerlöscher zurück und badete den Raum in weißes Pulver. Hustend und würgend verließen Polizeichef Liebmann und seine Leute das Zimmer. Als sie es sich in einem anderen Raum bequem gemacht hatten, der, wie sich Liebmann über zeugte, kein Waschbecken enthielt, wurde der Handelsvertreter Brammer erneut vorgeführt. Aus seiner Hosentasche ragte der Gegenstand heraus, den er vor der Demonstration des BenzinKatalysators dort verstaut hatte. Liebmann zerrte von neuem an seinen Reißverschlüssen, gab das Unterfangen schließlich auf und deutete auf Brammers Tasche. »Was haben Sie da versteckt, Sie …?« Das war doch unerhört, nach all dem, was schon passiert war! Der junge Mann nahm den Gegenstand heraus und betrachte te ihn nachdenklich. Polizeichef Liebmann hatte gesunde Reflexe. Er warf beide Arme in die Luft empor, und seine 152
Untergebenen folgten seinem Beispiel. Brammers Gesicht überzog sich mit einem verständnisvollen Grinsen. Er richtete die Pistole auf Liebmann. »Das hier, meine Herren«, erklärte er, »ist nicht etwa eine Pistole.« Der Polizeichef ließ seine Arme sinken, und seine Untergebenen folgten seinem Beispiel. »Es ist, wie mir die Männer sagten, ein Wahrheitssucher!« »Ein was?« »Ein Wahrheitssucher. Passen Sie auf!« Er hielt die »Pistole« auf Liebmann gerichtet und zog den Abzug durch. Es geschah scheinbar nichts. »Wo waren Sie gestern abend um zehn Uhr?« »Äh«, entgegnete Liebmann, »bei Marion.« Hupfbach riß die Augen auf. »Aber Herr Liebmann! Ihre Frau heißt doch Sieglinde!« Liebmann begann zu kochen. Sein Blick erdolchte zunächst Hupfbach. Dann ergoß sich ein Wutgebrüll über die übrigen Anwesenden. Schließlich kam Brammer an die Reihe. Der junge Mann ließ alles über sich ergehen und erfuhr schaudernd, daß er ein gefährlicher Schwerverbrecher und Terrorist war, der auf Lebzeiten ins Zuchthaus wandern würde. »Geben Sie das Ding da gefälligst her!« schnauzte ihn Lieb mann schließlich an. Er ergriff die »Pistole«, drehte sie herum und richtete sie auf den jungen Mann. Ein wohlgefälliges Grinsen überzog sein erhitztes, gerötetes Gesicht, und er warf seinen Untergebenen einen triumphierenden Blick zu. »Und nun, mein lieber Freund, erzählen Sie uns mal, wer Ihr Auf traggeber ist, wer jene ›Männer‹ sind, woher Sie diese ameri kanischen Geräte haben, und so weiter, kurz gesagt: alles, was Sie wissen!« Er zog den Abzug durch. Wieder geschah an scheinend nichts. In Gedanken sah er Marion unbekleidet, aber das kam bei ihm öfters vor. »Mein Name ist Horst Brammer«, sagte Horst Brammer wahrheitsgemäß. »Bis vor wenigen Monaten war ich als Vertreter für die Firma Kunterbunt-Kühlschränke in Fulda 153
tätig. Sie haben vielleicht von mir gehört, meine Herren. Durch einen Berufswettbewerb wurde ich einstimmig zum besten Handelsvertreter des Landes erklärt.« »Ach, Sie sind das«, warf Polizeisekretär Hupfbach ein, der etwas davon verstand. »Ja, aber wie ich heute weiß, wurde dadurch nicht nur unsere heutige Welt auf mich aufmerksam, sondern auch eine Welt, die einige tausend Jahre in der Zukunft liegt und unser Fernse hen monitort.« »Reden Sie keinen Unsinn! Das ist ja eine Unerhörtheit!« unterbrach ihn Liebmann. Er warf einen Blick auf die »Pistole« und stellte fest, daß der Drücker völlig durchgezogen war. Wie ist es denn möglich! Mit einem Achselzucken zeigte er Hupf bach sein Bedauern und befahl dann: »Weiter!« »Nun, ganz habe ich die Angelegenheit auch nicht verstan den!« bekannte Brammer ratlos. »Jedenfalls schlief ich eines Abends ein, und als ich plötzlich erwachte, befand ich mich in der Zukunft, einige tausend Jahre von heute, wie gesagt. Drei Männer standen um mich herum. Ihre Kleidung war eigenartig, aber nicht so, wie es sich unsere Science-Fiction-Schriftsteller immer vorstellen. Nur ein bißchen. Na ja, sie sprachen auf mich ein, dazu auch noch auf Deutsch, und erklärten mir, daß sie mich für einen Job ausgesucht hätten. Ich sei ein anerkannt guter Handelsvertreter und verstünde meine Arbeit. Jawohl. Nun, kurz gesagt, sie wollten, daß ich einige Artikel ihrer Welt mit zurücknehmen und in unserer Welt vertreiben sollte. Als Grund führten sie an, sie seien mit einer genauen Untersu chung der Zeitreise-Theorie beschäftigt und brauchten mich dafür. Soweit ich begriffen habe, sandten sie mich mit den Dingen zurück, um einige Aspekte der Zeitparadoxie zu überprüfen. Nun ja, ich erklärte mich bereit, den Vertrieb der Gegenstände zu übernehmen. Klare Sache, das.« »Was bot man Ihnen dafür an?« fragte Liebmann lauernd, der kein Wort glaubte. »Aber bitte nur die reine Wahrheit! Wie Sie 154
sehen, halte ich den Wahrheitssucher noch immer auf sie gerichtet!« Wahrscheinlich war Brammer dagegen immun, oder die Batterie war leer. »Sie versprachen mir, mich nach Erledigung meiner Arbeit sofort wieder zu sich in die Zukunft zu holen, wo ich dann bleiben könnte, wenn ich es wünschte. Man hätte dort ein nettes Mädchen für mich. Auch gestatteten sie mir, die Gegen stände zu meinen eigenen Preisen zu verkaufen und das Geld zu behalten.« »Aha! Und Sie haben …«, begann der Polizeichef wild, als er mitten im Satz unterbrochen wurde. Abrupt erlosch das Licht im Raum, und das leise Summen des Ventilators auf dem Tisch verstummte. »Was soll denn das schon wieder?« brüllte Liebmann mit überschlagener Stimme. »Hupfbach! Wo sind Sie? Was ist los?« Undurchdringliche Finsternis erfüllte den Raum. »Hier bin ich!« entgegnete der Sekretär mit leicht schlottern der Stimme. »Ich kann nichts dafür, Chef … Ich schwöre es. Das Licht … Was?« »Nun«, drängte Liebmann und zerrte an seinen Reißver schlüssen, »was ist denn? Warum sagen Sie denn nichts, Hupfbach!!« »Ich …« kam die leise Stimme aus der Dunkelheit. »Chef, sehen Sie aus dem Fenster! Kein einziges Licht. Die ganze Stadt ist stockdunkel! Eine Stadt von zehn Millionen Einwoh nern!« »Frechheit!« brüllte Liebmann. »Das ist doch die Höhe! Immer wieder dieser Brammer! – Brammer, wo sind Sie, zum Teufel?« Keine Antwort. Statt dessen klopfte es zögernd an die unsichtbare Tür. Leise quietschten die Angeln, als sie sich öffnete. Ein flak kernder Lichtschein schwankte herein, gefolgt von einer 155
schattenhaften Gestalt. Polizeichef Liebmann starrte die Er scheinung mit eulenartig aufgerissenen Augen an. Dann sam melte er sich zu einer letzten Anstrengung. »Wer sind Sie?« donnerte er die Schattengestalt an. Er richte te die Wahrheitspistole zitternd vor Erregung auf die ver schwommene Figur und drückte entschlossen ab. Scheinbar geschah überhaupt nichts. »Sagen Sie mir sofort, wer Sie sind!!« »Knoll vom Labor!« kam die bebende und leise Stimme hinter der erbärmlich flackernden Kerze hervor. »Knoll vom Labor, Chef. Wir haben das unbekannte Gerät untersucht und es dann an die Lichtleitung angeschlossen. Wir wußten nicht, daß es bereits eingeschaltet war. Im ganzen Land sind sämtli che Sicherungen durchgebrannt, und in den Generatoren aller am Netz angeschlossenen Kraftwerke sind leider die Wicklun gen verschmort.« Liebmann sank weinend in den Sessel. »Immer wieder dieser Brammer!« schluchzte er. Aber Horst Brammer war nicht mehr da. Er befand sich be reits einige tausend Jahre vom Tatort entfernt. Der ehemalige Polizeichef Liebmann saß fünf Jahre später noch immer in der Pflegeanstalt für Geistesschwache, nur durch eine Gummiwand von Herrn Dr. Waldmeier getrennt, der aus voller Kehle lieblich sang. Noch immer bemühte er sich vergeblich, die »Reißverschlüsse« seiner SuperKombination zu öffnen.
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Bestimmung [1959] Faustschläge von unwiderstehlicher Wucht hämmerten unver sehens auf seinen Körper ein. Er wurde wild hin und her gerissen und zur Seite geschleudert. Es blieb ihm keine Zeit mehr, einen Gedanken zu fassen. Schwarzer Tinte gleich ergoß sich tiefste Finsternis über ihn und schaltete alle Nervenzentren aus. Er fühlte als letztes, wie sein Geist in einen bodenlosen Abgrund stürzte. Dann stand die Zeit still. Er wurde buchstäblich zerfleischt. Es war seltsam, daß sich Paul Keller gerade in diesem bewuß ten Augenblick an die entsetzlichen Sekunden vor fünfzehn Jahren erinnerte. Es war jedoch weder seltsam noch Zufall, daß er sich in dieser Vorlesung befand. Aber das wußte er nicht. Im Hörsaal herrschte Unruhe, die nie vermeidbar war, wenn sich zweihundert Studenten auf ihre Plätze begaben und die Sitzreihen ausfüllten. Hier und dort in den Gängen standen noch diskutierende Grüppchen von Studikern, deren reaktionä res Streben nach Individualität es ihnen anscheinend verbot, sich der Masse anzuschließen, die bereits Platz genommen hatte und jetzt Kolleghefte, Notizbücher und Schreibstifte bereitlegte. Aber dann betrat der Professor durch einen kleinen Seiten eingang den Hörsaal, und auch die Individualisten tauchten in den Reihen unter. Heftiges Füßescharren begrüßte Professor Westenhoff, als er sich zu seinem hohen Pult vor der Tafel begab und einen kleinen Stoß beschriebener Blätter aus der Tasche zog. Er neigte grüßend und dankend das Haupt und begann mit seiner Vorlesung über die Entwicklungslehre. Paul Keller betrachtete den Professor interessiert. Der Ge lehrte war groß und hager. Er hielt sich leicht vornübergeneigt 157
und stützte sich mit den Ellbogen auf das Pult, während er sprach. Seine hohe, kahle Stirn glänzte im Licht der zahlrei chen hellen Lampen, und das schlohweiße Haar, das den hinteren Teil seines schmalen, scharfgeschnittenen Kopfes bedeckte, schimmerte wie Silber. Er sprach mit tiefer, dröh nender Stimme und begleitete seine Worte gelegentlich mit ausholenden Armbewegungen. Paul Keller achtete zunächst nicht auf die Vorlesung; er war zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Er studierte Physik und Mathematik und hatte eigentlich in einer Vorlesung über Entwicklungslehre nichts zu suchen, besonders in Anbe tracht der Tatsache, daß er kurz vor dem Abschluß des Studi ums stand. Demgemäß konnte es als ein reiner Zufall betrachtet werden, daß er sich heute hier befand. Ralf Heikert, ein ehemaliger Kriegskamerad und enger Freund von ihm, der mit viel Begei sterung Biologie studierte, hatte ihn mit enthusiastischen Worten überredet, Westenhoffs Vorlesung anzuhören. Wahr scheinlich beabsichtigte er, später eine heftige Diskussion mit seinem Freund über die ihn brennend interessierenden Fragen der menschlichen Abstammung vom Zaun zu brechen. Paul Keller dachte mit leichtem Schmunzeln an die vielen für den Biologen höchst schwer verständlichen Vorträge über Physik und Mathe, die er ihm über einem Glas obergärigem Bier gehalten hatte. Vielleicht wollte sich Ralf nicht gerade dafür rächen, ihm aber doch zeigen, daß auch die Biologie, wiewohl sie nicht so exakt sein mochte, doch ihre interessan ten, subtilen Seiten besaß. Zudem, so hatte Paul Keller überlegt, konnte ihm eine Vorle sung über die Entwicklungslehre durchaus nicht schaden. In gewisser Hinsicht stand sie ja auch unter dem Vorzeichen seiner eigenen Studienrichtung. Naturwissenschaft war Natur wissenschaft. Und so saß er jetzt hier unter zweihundert anderen Studenten. 158
Er langweilte sich ein wenig und vermochte sich zunächst nicht auf die Worte des Professors zu konzentrieren. Paul Keller war ein hochgewachsener, schlanker Mann von achtunddreißig Jahren, der sich unter den vielen weitaus jüngeren Studenten wie ein Greis vorkam. Seine äußere Er scheinung machte jetzt, da er still saß und die Augen umher schweifen ließ, einen derart sportlichen und energiegeladenen Eindruck, daß unbefangene Beobachter über seinen wirklichen Zustand leicht hinweggetäuscht wurden. Tatsächlich jedoch – und Paul Keller war sich dessen mit schmerzhafter Klarheit bewußt – hatte ihm der zweite Welt krieg übel mitgespielt. Unter seinem Sitz lagen die Krücken. Er hinkte auf dem rechten Bein, und die Knochen seines linken Unterschenkels und Knies wurden nur mit Hilfe eines langen Nagels und einiger Längen Silberdraht zusammengehalten. Sein linker Arm war überhaupt nicht mehr vorhanden; er trug an seiner Stelle eine Prothese. Eine Kunststoffplatte ersetzte ein Stück seiner Schädeldecke; in seinem Brustkasten fehlten ein Lungenflügel und ein paar Rippen, und eine Unzahl von Narben an seinem ganzen Körper erinnerten an Maschinenge wehrkugeln und Minensplitter, die er abbekommen hatte. Schuldbewußt erinnerte er sich an den Zweck seines Hier seins und konzentrierte sich auf die Worte des Professors. Westenhoff hatte sich mittlerweile in Eifer geredet. Seine Stimme war lauter und dröhnender geworden, und seine Armbewegungen holten weiter aus. »… und deshalb kommt Bolk zu seiner Aussage: Nicht weil der Körper sich aufrichtete, wurde der Mensch, sondern weil sich die Form vermenschlichte, richtete sich der Körper auf. Aber, meine Damen und Herren, lassen Sie mich jetzt noch einmal auf die Grundfrage eingehen: Was ist der Mensch?« Der Professor legte eine Kunstpause ein, blickte auf seine Notizen und sah dann wieder auf. »Wir vergleichen bei dieser Frage zwischen Mensch und 159
Tier. Das Tier besitzt seine Instinkte – seine Naturtriebe. Es ist fest daran gebunden. Betrachten wir den Menschen dagegen, so stellen wir fest, daß in ihm etwas zu fehlen scheint. Man könnte denken, daß er von der Natur anscheinend nicht zu Ende geführt worden ist, denn die Naturtriebe haben nur einen sehr geringen Anteil an seinen Handlungen. Ein Mangel – so sieht es aus. Aber dieser Mangel wird nach Meinung von vielen von uns dadurch wieder ausgeglichen, daß dem Men schen eine Geist-Seele mitgegeben worden ist, aus deren Existenz dem Menschen die Aufgabe erwächst, sich selbst zu leiten. Dieses Erfordernis der Selbstführung bringt jedoch noch eine größere Aufgabe mit sich, ohne deren Lösung eine Selbstfüh rung des Menschen illusorisch wird.« Der Professor verstummte wieder für einen Augenblick und sah ernst in die Runde. Zahlreiche Schreibstifte verharrten gespannt über den Kollegheften. Westenhoff fuhr fort: »Diese wichtigste und schwerste Aufgabe des Menschen besteht offenbar darin, über sich selbst und seine Bestimmung Klarheit zu erlangen. Wir vegetieren nicht wie die Tiere, sondern wir suchen. Aber wonach? Im Bestreben, über sich Klarheit zu erlangen, kann sich der Mensch allerdings leicht irren, denn seine Destination …« In diesem Moment geschah es. Paul Keller vernahm die Stimme des Professors nicht mehr. Sie wich in endlose Weiten zurück und wurde so leise, daß er sie nicht länger hörte. Sie war noch da – aber sein Bewußtsein nahm sie nicht mehr wahr. Zur gleichen Zeit verschwamm seine Umgebung vor seinen Augen. Es war keine Dunkelheit, die ihn umgab, sondern ein trüber, grauer Schleier, der keine Einzelheiten erkennen ließ. Er verhüllte den Hörsaal und isolierte Paul Kellers Bewußtsein völlig von seiner Umgebung. 160
Paul Keller saß unbeweglich. Die plötzliche Veränderung berührte die tiefsten Schichten seines Verstandes und schaltete sämtliche motorischen Reaktionen aus. Dann aber hob sich der graue Schleier langsam, zerteilte sich und verwehte wie Watte fetzen. Und vor Paul Kellers Bewußtsein entstand eine Szene, die schon fünfzehn Jahre in der Vergangenheit lag und sein schrecklichstes Erlebnis darstellte. Aber was weitaus bedeutungsvoller und wunderbarer war: Er erkannte die Bestimmung des Menschen … Der Spähtrupp erreichte den Rand des Waldes und kauerte sich auf ein Zeichen Kellers nieder. Vor ihnen lag eine weite, offene Wiesenfläche und dahinter ein kleines Wäldchen. Es herrschte Stille, und nichts regte sich. Paul Keller schob den Stahlhelm in den Nacken, wischte sich den Schweiß aus den Augen und betrachtete prüfend das Wäldchen vor ihnen. Die Männer trugen Handgranaten in den Koppeln und Maschinenpistolen in den Fäusten, und in die Tarnnetze ihrer Stahlhelme hatten sie dichtbelaubte Zweige gesteckt. Keller überlegte. Allen äußeren Anzeichen nach hielt sich der Iwan nicht in jenem Wäldchen auf, aber man durfte nicht zu sicher sein. Das Unangenehme war die freie Fläche vor ihnen, die sich zwischen den beiden Waldstücken erstreckte. Sie mußten jenes Wäldchen erreichen, komme, was da wolle – und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die deckungslose Wiese zu überqueren. Oberstleutnant Keller entschied sich schnell. Er gab seinen Männern ein Handzeichen und stürmte tief geduckt als erster hinaus. Sein Trupp folgte in weit auseinandergezogener Linie. Noch immer rührte sich nichts, und Keller legte die Hälfte des Weges zurück. Wieder mal Schwein gehabt, dachte er. 161
Seine Befürchtungen schienen sich als grundlos zu erweisen. Und in diesem Augenblick ratterte das feindliche Maschi nengewehr los. Faustschläge von unwiderstehlicher Wucht hämmerten un versehens auf seinen Körper ein. Er wurde wild hin und her gerissen und zur Seite geschleudert. Mit überdeutlicher Klar heit erkannte er, daß ihn die Maschinengewehrgarbe voll erfaßt hatte. Es blieb ihm keine Zeit mehr, einen weiteren Gedanken zu fassen. Schwarzer Tinte gleich ergoß sich tiefste Finsternis über ihn, schaltete alle Nervenzentren aus, und er fühlte als letztes, wie sein Bewußtsein in einen bodenlosen Abgrund stürzte. Er merkte nicht mehr, wie er, sich um sich selbst drehend, mehrere Schritte zur Seite taumelte und dann auf eine Mine trat. Er wurde buchstäblich zerfleischt. Das Nichts herrschte über ihn eine endlose Zeit lang. Aber das stimmte nicht ganz. Denn das Nichts – der Tod – steht außer halb von Raum und Zeit und kann nicht mit menschlichen Maßstäben gemessen werden. So war die Zeit, während der das Nichts herrschte, nicht nur endlos – nein, es gab überhaupt keine Zeit. Das Nichts war einfach da, und niemand hätte zu sagen vermocht, ob es nun – relativ gesehen – eine Mikrose kunde oder eine Ewigkeit andauerte. Aber es kam der Augenblick, in dem das Nichts aufhörte zu bestehen. Und an diesem Punkt begann die Zeit. Die leere, lichtlose Unendlichkeit, in der er schwebte, teilte sich, teilte sich noch einmal, ein drittes Mal, und immer wie der. Feste Formen begannen Gestalt anzunehmen, und das anfängliche trübe Dämmerlicht verstärkte sich und wurde blendend hell. Paul Kellers Bewußtsein nahm seine Umgebung wieder wahr. Er stand in einem wildverwachsenen Dschungel aus dichten Büschen, Bäumen und Lianen, und die Sonne fiel stellenweise 162
durch das verschlungene Laubwerk herein und zeichnete helle Kringel auf den moosigen Boden. Er stand eine lange Zeit völlig unbeweglich. Die Überra schung über die plötzliche Veränderung kam einem Schock gleich, mit dem sein Verstand nur langsam fertig werden konnte. Es wurde ihm zunächst nicht bewußt, daß sich der Schock nur geistig auswirkte und keine physischen Reaktionen hervorrief. In den wildverzweigten Ästen der Büsche zwitscherten Vö gel, und ein leichter Wind raschelte in den Blättern. Vereinzel te Tierstimmen drangen aus dem Wald an sein Ohr, aber abgesehen davon herrschte tiefste Stille. Und plötzlich wurde ihm das Eigenartige seiner Situation bewußt. Er war vollkommen nackt, fröstelte aber nicht im Wind. Und noch etwas … Eigentlich hätte sein Herz als Folge des Schocks wie rasend klopfen und seine Lungen nach Luft keuchen müssen. Und Schweiß sollte seine Haut baden, um gar nicht von trockenen Lippen und zusammengekrampfter Bauchmuskulatur zu reden. Aber nichts von alldem machte sich bemerkbar! Paul Keller tastete sich ab und hielt verblüfft inne, als er feststellte, daß er überhaupt keinen Herzschlag zu spüren vermochte. Er hatte keinen Puls, und als er die Hand auf die Herzgegend legte, fühlte er keinen Schlag. Seine Verblüffung wuchs noch, als er feststellte, daß auch seine Lungen nicht arbeiteten. Er atmete nicht! Sein Metabolismus lag still. Zutiefst verwundert blickte er sich wieder um. Wo befand er sich? Was war mit ihm geschehen? Warum stand er hier nackt im Unterholz eines Urwalds? Wo war er? Das letzte, woran er sich erinnern konnte, war … Der Spähtrupp! Und die Maschinengewehrgarbe, die ihn durchsiebt hatte! 163
Ruckartig senkte er den Kopf und blickte an sich hinunter, mit der Hand über seinen Körper streichend und aufs Schlimm ste gefaßt. Keine Wunde und keine Narbe verunzierte seine Haut. Es war, als ob er niemals durchlöchert gewesen wäre. Wieder dachte er krampfhaft nach. Seine letzte Erinnerung berichtete von einem Spähtrupp von abgesessenen Panzergre nadieren, den er angeführt hatte. Ja, das war es. Mitten in einem deckungslosen Gelände war er wie ein blutiger Anfänger in eine Maschinengewehrgarbe hineingelaufen, die seinem Leben ein Ende gesetzt haben mußte. Demnach war er tot! Er tastete sich noch einmal vollständig ab. Sein nackter Kör per war ebenmäßig und völlig unbeschädigt. Aber etwas hatte sich doch verändert: Der Leib schien ein eigenes Licht auszu strahlen – nur einen schwachen Schimmer, aber doch konnte nicht der geringste Zweifel bestehen. Er verglich ihn mit seiner Umgebung und nickte. Sein Körper war heller und leuchtender als ein normaler Menschenleib. Er phosphoreszierte förmlich. Er ließ die Arme an die Seiten fallen und stand wieder eine Zeitlang unbeweglich, die neuen Erkenntnisse innerlich verar beitend. Wie hatte jener Ausdruck gelautet? Astralleib? Er mußte unwillkürlich lachen. Demnach gab es tatsächlich ein Leben nach dem Tod! Es ließ sich nicht bezweifeln, daß ihn die Geschosse getötet hatten. Nur wenige Menschen waren jemals lebend aus einer Maschi nengewehrgarbe herausgekommen. Er war tot – mausetot … Und doch lebte er! Paul Keller zweifelte nicht länger an dem, was ihm sein Verstand sagte. Die Evidenz war unübersehbar. Er überwand in diesem Moment die letzten Folgen des Schocks und paßte sich der neuen Situation mit der ganzen Biegsamkeit an, deren der menschliche Geist fähig ist. Er griff nach einer Liane, die vor ihm herunterhing, und er 164
lebte den zweiten Schock seines neuen Lebens, wenn auch in erheblich schwächerem Ausmaß. Seine Hand glitt widerstands los durch die Ranke hindurch, als ob sie überhaupt nicht da wäre. Er starrte einen Moment lang reglos auf das seltsame Ereig nis und zog dann verblüfft die Hand zurück. Sie sah völlig normal und körperlich aus, ebenso wie die Liane. Aber als er jetzt noch einmal nach der Pflanze langte, fühlte er nichts, und sein Griff traf auf keinen Widerstand. Er langte hindurch wie durch einen Lichtstrahl. Verwundert schüttelte er den Kopf. Waren dies die Fähigkei ten, die sich mit dem Leben nach dem Tode verbanden? Er überwand auch den zweiten Schock und beschloß, der Sache vorerst nicht weiter nachzugehen. Es galt jetzt, seine Umgebung zu erkunden. Er mußte fest stellen, wie die Welt aussah, in der man nach dem Tod weiter lebte. Er schritt vorwärts und stellte dabei kopfschüttelnd fest, daß auch sein ganzer Körper ungehindert durch die Büsche und Bäume seiner Umwelt hindurchglitt. Er legte etwa hundert Meter zurück, dann lichtete sich der Urwald ein wenig. Er erkannte auch im nächsten Augenblick, weshalb. Vor ihm zogen sich die Überreste einer einstmals breiten und glatt betonierten Autobahn durch das Gestrüpp. Die Straßen decke war aufgesprungen und von zahllosen breiten Spalten durchzogen, durch die sich viele dichtbelaubte Büsche und Bäume emporreckten. Nur noch die vereinzelten Betonstücke ließen erkennen, daß hier vor langer Zeit eine breite, schnurge rade Überlandstraße das Gelände durchschnitten hatte. Der Dicke der Baumstämme nach zu schließen, die zwischen den Betonstücken hervorwuchsen, war die Straße schon seit minde stens hundert Jahren nicht mehr von Menschen befahren worden. Paul Keller ließ langsam seinen Blick umherschweifen. Was mochte den Menschen zugestoßen sein, die sich einstmals auf 165
dieser Straße fortbewegt hatten? Auf dieser Straße, die so breit und eben gewesen sein mußte, wie keine Straße seiner eigenen Welt. Er sah auf die Betonstücke hinunter, und dabei fiel sein Blick zufällig auf seine nackten Füße. Er erlebte den dritten Schock. Er stand nicht auf dem Boden. Er schwebte etwa zehn Zen timeter darüber in der Luft, auf der er so ungehindert zu gehen vermochte, als ob sie feste Materie wäre. Noch immer sah er verblüfft auf seine bloßen Füße hinunter, als sich plötzlich etwas veränderte. Ein undurchdringlicher Schleier legte sich unversehens über seine Augen, als ob sie ihm jemand zugehalten hätte. Es wurde ihm nicht schwarz vor den Augen, sondern schimmernd grau, – aber der Effekt war der gleiche. Er vermochte den Boden nicht mehr zu sehen. Verwundert blickte er auf. Noch grübelte er verdutzt über das Phänomen nach, das ihm seine Umwelt verhüllte, als sich der Schleier wieder zu lüften begann. Sein Blick drang weiter und weiter – und plötzlich war er wie weggewischt. Er konnte wieder sehen. Seine Umgebung hatte sich verändert, ohne daß er etwas davon gespürt hatte. Er schwebte jetzt in großer Höhe über dem Erdboden und blickte auf die Trümmer einer einstmals riesenhaften Metropole hinunter. Er war noch immer nackt und hing unbeweglich und anscheinend schwerelos zwischen Himmel und Erde, in einer Höhe von etwa zweihundert Me tern. Scheu und Beklemmung überkamen ihn, als er erkannte, wie groß die Stadt gewesen sein mußte, die sich unter ihm erstreck te – größer als alle Städte, die er jemals gekannt hatte. Sie dehnte sich unter ihm bis zum fernen Horizont aus, und auch dort ließ sich noch kein Ende feststellen. Vor seinen inneren Augen entstand das Bild, das sie einstmals dargeboten haben mußte. Titanenhafte, schlanke Turmbauten, deren Spitzen von Wolken umlagert wurden; Etagen über Etagen von harmonisch 166
angelegten, atemberaubend geschwungenen Straßen mit Magnetschienen, auf denen blitzende, spindelförmige Fahrzeu ge entlanggeschossen waren; Millionen und aber Millionen von Menschen, die in dieser Metropole lebten und ihren Geschäften und Leidenschaften nachgingen. Die Vision war von nieder schmetternder Wucht. Und dann richtete Paul Keller seine Aufmerksamkeit auf das, was er unter sich sah, und fühlte einen fast körperlichen Schmerz, als er sich der Zerstörung bewußt wurde. Der größte Teil der Wolkenkratzer war zusammengestürzt, und von den elegant geschwungenen Straßen bestanden nur noch Trümmer, aus denen sich die einstige Schönheit bloß erahnen ließ. Die Fensterhöhlen in den Gebäuden gähnten leer, und ein Meer von Unkraut, Gebüsch und Moos bedeckte die Trümmerhaufen und die zerbröckelnden Häuserschluchten. Und von den Millionen von Menschen, die hier einst in Pracht und Glanz gelebt hatten, war nicht ein einziger übriggeblieben. Tiere durchstreiften den Urwald der Trümmerstätte, und der Dschungel hatte sich bereits bis an den Stadtrand herangescho ben, um die ehemalige Metropole mit seinen wuchernden Pflanzen zu überziehen, sobald seine Vorläufer den Boden vorbereitet hatten. Paul Keller durchsuchte die Trümmer vergeblich nach Men schen und wandte sich dann niedergeschlagen ab. Hinter ihm erstreckte sich der Urwald bis zum Horizont. Nur rechts drüben – dort gebot ihm die Küste des endlosen, ruhigen Meeres Einhalt. Wieder senkte sich plötzlich der graue Schleier auf ihn. Und als er sich hob, sah er ein neues Bild. Es unterschied sich aber nicht besonders von den beiden vorherigen. Eine Stadt, die weitaus kleiner war als die erste, aber ebenfalls von wildem Dschungel überwuchert wurde. Und ein viertes Bild zeigte das gleiche.
Paul Keller begann, einen Zusammenhang zu erkennen. Al
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len diesen verschiedenen Ansichten, die sich ihm boten, lag ein bestimmtes Muster zugrunde. Sie alle zeigten eine Erde, die von Menschen verlassen war und sich allmählich im Lauf der Jahrhunderte in den Urzustand zurückentwickelte. Der Mensch mit seiner Kultur war von ihr verschwunden, und die Natur konnte wieder mit freier Hand schalten und walten. Der Mensch pfuschte ihr nicht länger ins Handwerk, aber … Was war mit dem Menschen geschehen? Paul Keller wußte es nicht. Auch wußte er nicht, woher der graue Schleier kam, und wer ihm die verschiedenen Ansichten der Erde aufzeigte. Eines jedoch schien sicher. Bisher hatte er noch nichts selbständig und aus eigenem Willen unternehmen können. Irgendein höheres Etwas herrschte über ihn und manipulierte ihn. Und schon wieder kam der graue Schleier und umlagerte ihn. Es verging eine lange Zeit, während der er mit blicklosen Augen in den perlartigen Schimmer starrte. Als er sich schließ lich hob, sah Paul Keller vor sich eine riesenhafte Kugel, die von zwei kleineren umkreist wurde. Sie schwebten in einer schwarzen Nacht, in deren endloser Tiefe unzählige nadel scharfe und strahlende Punkte leuchteten. Dann erkannte er, was er vor sich sah. Er schwebte im Welt all – nackt und ungeschützt in der sternengesprenkelten Schwärze! Und vor ihm drehte sich langsam ein Planet. Die beiden kleineren Körper mußten Monde sein, und die rötliche Färbung des Planeten deutete ebenfalls auf seine Identität hin. Der Mars! Paul Keller war zu sehr von der Größe des Augenblicks überwältigt, um sich mehr als gelinde darüber wundern zu können, daß ihm die Weltraumbedingungen trotz seines unge schützten Zustands anscheinend nichts anzuhaben vermochten. Der Planet schoß mit rasender Schnelligkeit auf ihn zu, wuchs gigantisch vor ihm auf, und dann schwebte er hoch über der rostroten, sandigen Oberfläche und starrte hinunter auf zerfal 168
lene Häuser, zerstückelte Straßen und leere Fensterhöhlen. Riesenhafte Sanddünen bedeckten bereits einen großen Teil der ehemaligen Stadt, und viele der Straßen ließen sich unter der tiefen Sandschicht nur noch vermuten. Auch hier hatte seit mindestens hundert Jahren kein intelligentes Wesen mehr gehaust. Der Schleier kam – und dann ein weiterer Planet. Die Venus. Er wußte, was er zu sehen bekommen würde. Letzte Überreste einer einstmals gigantischen Zivilisation. Er hatte sich nicht geirrt. Die Monde des Jupiter. Die Monde des Saturn. Neptun. Uranus. Pluto. Überall das gleiche desolate Bild. Verfall, Ruin, Trümmer, Auflösung. Die letzten Zeugnisse intelligenten Lebens, das eine hohe Stufe erreicht hatte. Von ihm selbst aber nichts mehr. Eine wahrhaft titanische Zivilisation von nie gesehener Pracht war im Sand der Zeit versickert. Paul Keller fühlte die Bilder der Zerstörung, die sich seinen Augen gezeigt hatten, wie ein schweres, drückendes Gewicht auf sich lasten. Sie überschatteten alle weiteren Gedanken und hielten ihn völlig in ihrem Bann. Es dauerte eine Zeitlang, bis er sich gefaßt hatte und gewahr wurde, daß ihn der dichte, graue Schleier wieder umschlungen hielt. Er schwebte bar jeglichen Gefühls in der grauen Gestaltlo sigkeit, die bis in die Unendlichkeit reichte. Er sah noch immer jene zerfallenen Städte und Straßen vor sich, aber die Gedan ken, die sich damit abquälten, wurden jetzt von der einzigen, riesigen Frage überlagert: Was ist aus den Menschen gewor den? Wo sind sie geblieben? Er hatte aufgehört, sich über den ihn umgebenden Schleier zu wundern, und fügte sich ergeben in das, was das erahnte höhere 169
Etwas mit ihm vorhatte. Aber er klammerte sich an diese einzige, übergroße Frage, die in ihm brannte: Wo ist der Mensch geblieben? »HIER«, hallte eine Stimme aus dem Nichts. Auch jetzt stellten sich die motorischen Reaktionen des Er schreckens nicht ein. Aber um so stärker wirkte sich der Schock auf seine Psyche aus. Einen Augenblick lang glaubte er, in schwarze Nacht versinken zu müssen – aber dann kämpf te sich sein Bewußtsein mühsam wieder an die Oberfläche empor. Er sah sich um, aber es gab nur die graue Unendlichkeit um ihn. »Du suchst die Menschheit«, sagte die Stimme. »Wir sind sie.« Paul Keller wußte, daß es nutzlos war, aber er versuchte trotzdem, den perlgrauen Schleier mit den Augen zu durch dringen. Währenddessen stellte ein Teil seines Verstandes fest, daß er die Stimme nicht mit den Ohren gehört hatte. Es war eine körperlose Stimme, die aus allen Richtungen aus dem grauen Nichts kam und mitten in seinem Geist zu sprechen schien. Es war nicht Telepathie – es war mehr. Es gab keine Worte der Beschreibung dafür, denn für den Verstand eines gewöhnlichen Sterblichen bildete es ein Abstraktum. Er versuchte, etwas zu sagen, aber kein Laut kam über seine Lippen. Verzweifelt dachte er: Wo seid ihr? »Du siehst uns nicht«, entgegnete die Stimme, »aber wir sind hier.« Es war eine seltsame Stimme – eine Stimme, wie er sie noch nie gehört hatte. Sie war maskulin und feminin zugleich. Sie schien alle Gefühlsregungen auszudrücken, deren ein Mensch fähig ist – und noch mehr. Er glaubte, den tiefen Schmerz einer verlorenen Seele heraushören zu können, verbunden mit jauchzendem Frohlocken über strahlende Triumphe und Erfol ge – und dazwischen alle jene unendlich vielen, unendlich fein differenzierten Gefühlsschattierungen, die eine menschliche 170
Seele zu empfinden vermochte. Er identifizierte in ihr Gefühle, die einen Namen besaßen, und er erkannte solche, für die es keine Worte gab. Die Stimme drückte die Vielfältigkeit des menschlichen Wesens aus, von schmerzlicher Resignation bis zum erhebenden Stolz, von tiefempfundenem Leid bis zum jubelnden Übermut. Aus der Stimme sprach die ganze menschliche Rasse, vom Urmensch an bis zum letzten Mitglied der Menschheit. Und Paul Keller lauschte der gigantischen Manifestation, und die überwältigende Ehrfurcht und die Demut in ihm erstickte alle eigenen Gedanken im Keim. »Wir sind die gesamte Menschheit«, fuhr die Stimme fort. »Wir sind sämtliche menschliche Geistseelen, die jemals existiert haben – zusammengefaßt und verbunden in einer einzigen, riesenhaften Einheit mit gemeinsamem Bewußtsein. Du kannst uns nicht sehen, weil wir eine Gestalt angenommen haben, die auf dieser Existenzebene die größte Wahrschein lichkeit besitzt.« »Ich …« Keller suchte nach eigenen Gedanken. Was er dach te, erschien ihm seicht und unwürdig. »Ich verstehe nicht …« »Der Mensch hat von Anbeginn seiner Geschichte gewußt, daß seine Seele unsterblich ist, und daß sie nach seinem Tod freigesetzt wird. Auch du hast dies gewußt.« Ja, dachte Paul Keller. Also bin ich auch … »Hast du noch gezweifelt? Du bist in der ersten Hälfte der Menschheitsgeschichte gestorben – in einem Krieg, den man den zweiten Weltkrieg nannte, und der in einer langen Reihe von Kriegen stand. Dein Geist jedoch lebt weiter – und wir haben ihn zu uns geholt. Wir leben jetzt in einer höheren Dimension von größerer Komplexität, in der die Zeit stillsteht, denn der Geist ist an keine Zeit gebunden.« Ja, das begreife ich, dachte Keller. Er rang mit seiner Be klemmung. Aber darf ich einige Fragen stellen? »Wir werden dir deine Fragen beantworten«, entgegnete die 171
Stimme der Menschheit, »denn von dir allein hängt der Fort bestand der Menschheit und die Erfüllung der menschlichen Bestimmung ab.« Keller schwieg, zu keinem klaren Gedanken fähig. Die zerfallenen Heimstätten, die ich gesehen habe, dachte er dann. Was … »Als dein Geist seinen Körper verließ«, erklärte die Stimme, und die ganze Skala der menschlichen Gefühle drückte sich in ihr aus, »brachten wir ihn in die Zukunft und zeigten ihm, wie die Welt der Menschen zugrunde gehen wird. Der Mensch wird die Planeten seines Sonnensystems besiedeln und gewaltige Metropolen errichten, aber eines Tages wird er die sich ge steckten Ziele erreicht haben und seine Grenzen nicht weiter ausdehnen können. Von diesem Tag an wird er dem Untergang entgegengehen, denn auf die jahrhundertelange Stagnation der Rasse folgt langsamer Zerfall und schließlich das Ende in Dekadenz. Das menschliche Geschlecht versickert im Sand des Kosmos, bevor es seine Bestimmung erreicht hat.« Aber sein Geist, dachte Keller verzweifelt, und seine Gedan ken kämpften gegen die ihn erdrückende Last der Bilder an, der lebt weiter … »Sein Geist lebt weiter – ja. Aber sein Bewußtsein bleibt ungenügend entwickelt. Wenn wir dir eben gesagt haben, daß der Mensch aus dem Raum-Zeit-Kontinuum aussterben wird, ohne seine Destination erreicht zu haben, so darfst du nicht glauben, daß seine wahre Bestimmung seinem vierdimensiona len Universum allein angehört. Sie ist von höherkomplexer Ordnung.« »Ich verstehe nicht.« Schmerzliche Verzweiflung. »Wir werden es erklären«, sagte die Stimme ernst, »aber dazu müssen wir Begriffe verwenden, die dir und deiner Welt geläufig sind. Bedenke, daß diese Begriffe nur Annäherungen an die Wirklichkeit sind.« »Ja«, sagten Kellers Gedanken. Er rang nach Erkenntnis. 172
»So höre denn! Das Gesetz des Überkosmos schreibt vor, daß die Menschen ihren Körper aufgeben und damit ihre Geistseele freisetzen. Sie gehört einer höheren Dimension an und verbin det sich nach dem Gesetz des Überkosmos mit allen anderen menschlichen Geistseelen zu einer einzigen Entität von unfaß barer Größe und Bewußtseinskraft. Darin besteht die ursprüng liche Bestimmung des körperlichen Menschen: sich in alle Himmelsrichtungen auszubreiten, sich zu vermehren, nach Ablauf seiner Lebenszeit seine Seele freizusetzen und sie in ein höheres Wesen einzuordnen, das aus allen menschlichen Seelen gebildet wird.« »Das begreife ich, glaube ich«, nickte Keller. »Aber der Überkosmos … Was ist das?« »Die Welt der körperlichen Menschen«, fuhr die Stimme fort, »basiert auf drei festen Dimensionen und einer Variablen – der Zeit. Die nächsthöhere Welt ist die Existenzebene des Geistes, und sie besitzt vier Dimensionen – der Vektor Zeit ist zu einem Skalar geworden – und ebenfalls eine Variable, die wir Laga nennen, nach einem mathematischen Symbol. Du nennst sie Liebe. Dieser Aufbau der Existenzebenen ist gesetzmäßig festgelegt – der Überkosmos. Vermagst du zu folgen?« Keller nickte. »Ja.« »Nach dem Gesetz des Überkosmos besitzt auch das fünfdi mensionale Geistwesen, das sich aus sämtlichen menschlichen Seelen zusammensetzt, eine Bestimmung – und das ist die höhere Bestimmung des Menschen. Sie erfordert ein komplexe res Bewußtsein. Wir wollen sie zu deinem Verständnis jedoch in einfachen Worten ausdrücken, aber sie ist damit nicht erklärt. Eine Einzelseele vermag sie nicht zu erfassen, nur die Gesamtzahl aller Seelen ist dazu fähig.« Keller nickte wieder, zu klaren Gedanken unfähig, und die Stimme fuhr fort: »Unsere Destination ist es, unsere fünfdimensionale Welt zu verlassen und Erkenntnis und Zugang zu einer nächsthöheren 173
Ordnung zu erlangen. Dies ist nur möglich, wenn der Vektor Laga einen bestimmten Wert erreicht hat, und ferner nur, wenn die Entität, die wir darstellen, groß und komplex genug gewor den ist. Mit deinen Worten ausgedrückt: Es gehört ein gewisser geistiger Umfang, eine gewisse Bewußtseinstiefe dazu, den Schritt zu tun, der unsere hiesige Bestimmung ist. Vergiß aber nicht, daß diese Worte nur die Modellprojektion der Wirklich keit auf deine Begriffsebene darstellen.« Kellers Gedanken mußten sich unter einer drückenden Last hervorarbeiten. Ich glaube, ich … verstehe. »Die von uns erstrebte nächsthöhere Welt wird es uns er möglichen, uns mit den Geist-Entitäten anderer großer Rassen des Kosmos, die mit uns verwandt sind, zu einem noch unge mein viel größeren, mächtigeren, komplexeren Geistwesen zusammenzuschließen. Aber auch damit ist noch kein Ende abzusehen. Der Prozeß läuft stufenweise weiter. Am Ende der Zeit jedoch werden sich die Seelen sämtlicher Universen zu dem einzigen höchsten Wesen, zu einer ultimaten Entität von unendlicher Macht und Größe und absolutem Bewußtsein zusammengeschlossen haben. Sie verkörpert die letzte Erfül lung und bildet das Ende allen Seins, stellt jedoch zugleich den Anfang einer neuen Welt dar. In ihrer absoluten Ruhe werden sich lokale Kräuselstellen bilden und neue, junge Universen werden aus ihr entstehen. Und der Prozeß beginnt von vorn. Der Anfang der Zeit.« Die Stimme schwieg, und Keller erkannte, daß sie auf eine weitere Frage wartete – vielleicht auf die entscheidende Frage. Langsam und zögernd entstand sie im Schwindel seines Be wußtseins. Warum, fragten seine Gedanken stockend, hängt von mir die Erfüllung dieser höheren menschlichen Bestimmung ab? »Ohne dich«, entgegnete darauf das Plenum der Stimmen, »bleibt unsere Destination unerreichbar. Du hast das weltliche Ende der Menschheit gesehen. In ihrem Untergang liegt es 174
begründet, daß wir unsere Bestimmung niemals zu erreichen vermögen, weil der körperliche Mensch seine Destination nicht erfüllt hat. Es war die wichtigste Aufgabe der Menschen, sich über ihre Bestimmung einmütig klarzuwerden – und sie haben es nicht getan. Sie haben einen Weg eingeschlagen, der zu ihrem vorzeitigen Untergang führte. Die Folge davon wirst du erkennen können …« Kellers Gedanken kamen rascher. Das Geistwesen, das da sprach, war nach dem Verschwinden der Menschheit noch nicht … komplex? bewußt? groß? … genug, um seine eigene Bestimmung zu erfüllen? Und als es keine Menschen mehr gab und keine weiteren und weiterentwickelten Geistseelen mehr zu ihm stießen, wuchs auch das Plenum nicht weiter. Die Entwicklung … an einem toten Punkt angelangt? »So ist es«, dröhnte die körperlose Stimme in ihm. »Und deshalb haben wir dich für einen letzten Versuch ausersehen, den Menschen vor diesem Schicksal zu bewahren und ihn seiner höheren Destination zuzuführen.« »Aber wie kann ich das?« stammelte er verblüfft und mutlos. »Ich … ich …« »Der Niedergang der Menschheit«, sagte die Stimme, »liegt in einer einzigen Gabelung der Zeitlinie der irdischen KulturEvolution begründet, in einer bestimmten materiellen Einzel heit, die die Wahl des weiteren Entwicklungsweges entschieden hat – oder entscheiden wird. Ändert sich diese, so ändert sich auch die Zukunft der Menschheit. Du hast gesehen, daß sich der Mensch in deiner Welt im Lauf der Jahrtausende bis zum Rand seines Sonnensystems ausbrei tete. Damit hat er jedoch seine Grenzen erreicht. Er hat die Technologie entwickelt, die ihn so weit bringen konnte, aber nicht weiter. Auf den Weg zum Sternenschiff hat sie ihn nicht gebracht. Versucht haben es einige Verzweifelte, in schweben den Kolonien antriebslos zu den Sternen zu treiben, aber sie sind verschollen in der Unendlichkeit. Selbst mit ihren höheren 175
technischen Errungenschaften war es der Menschheit nicht möglich, sich in der Galaxis und später zu anderen Weltinseln auszubreiten – und gerade die Ausbreitung und Vermehrung ist ja des Menschen Bestimmung. Statt daß seine Zahl weiter anstieg und er die fernen Sterne besiedelte, mußte er sich auf sein Sonnensystem beschränken. Es dauerte nicht sehr lange, bis er stagnierte, degenerierte und dem Untergang zuzustreben begann. Hätte er jemals die Werkzeuge entwickelt, die ihn schneller als das Licht zu den Sternen hätten tragen können, so wäre der Mensch niemals stehengeblieben, denn der Kosmos ist unendlich. Ihre Wurzeln hatte diese tragische Entwicklung in einer Technikfeindlichkeit unter den Menschen, die im wesentlichen deiner Generation entsprang.« Keller nickte. Der Mensch hatte damals vor sich selber Angst bekommen. »Aber wie kann ich …« »Wir haben dich dazu ausersehen«, sagte die Stimme ruhig, »dem Menschengeschlecht den Weg in eine andere Zukunft zu eröffnen, in der es nicht aus Angst seine Bestimmung versäumt. Für uns war es nicht schwer, die Wissenschaft und die Kon struktion des Sternenmotors zu entwickeln. Mache deine Gedanken frei von allen Zweifeln und Inhibitionen.« Keller versuchte, der Anweisung nachzukommen. Es war ein wenig wie Meditation. Er »öffnete« sich der unfaßbaren Entität, und sein Bewußtsein wich in einen kleinen, äußeren Winkel seines Geistes zurück. Im nächsten Augenblick spürte er fremde Gedanken, die in ihn eindrangen und sich einzuprä gen schienen. Unverständliche Formern und Gleichungen … in einer Kette ohne Ende … Sie kamen aus der grauen Gestaltlo sigkeit, und sein Geist sog sie auf. Diagramme und Darstellun gen, Rechnungen, Skizzen und Zeichnungen, Fragen und Antworten und Argumente … und dann klärte sich sein Verstand wieder, und die Stimme sprach ein letztes Mal zu ihm. »Wir haben das Geheimnis des Sternenflugs in dein Unter 176
bewußtsein eingeprägt und eine Verbindung zum Bewußtsein hergestellt, die jedoch durch eine mentale Barriere blockiert ist. Du wirst dich an überhaupt nichts erinnern können, wenn wir dich jetzt in deinen Körper zurückschicken und dich wie derbeleben, bis du ein Schlüsselwort hörst, das den Riegel öffnen wird. Du wirst deine körperliche Existenz auf Erden weiterführen und dich vorbereiten, und eines Tages wird irgend jemand das Wort zu dir sagen. Dann wirst du den Weg und die neue Technologie verstehen und die Menschheit ihrer eigentlichen Bestimmung zuführen. Das Schlüsselwort ist …« Die Stimme wurde leiser und leiser. »… DESTINATION.« Sie wich in die Ferne zurück. Paul Keller bemühte sich ver geblich, sie noch zu verstehen. Und gleichzeitig begann der graue Schleier um ihn dunkler zu werden. Er starrte paniker füllt um sich, als er die plötzliche Veränderung bemerkte. Aber die schwarze Nacht schloß sich bereits um ihn, und er versank in tiefer, grenzenloser Betäubung, die keinen Gedanken, kein Gefühl und kein Empfinden zuließ … Das erste, was in sein erwachendes Bewußtsein einsickerte, war wieder eine Stimme. Zunächst verstand er nicht, was sie sagte, aber allmählich erkannte er, daß es eine menschliche Stimme war. Die Stimme eines Mannes, der rauh, heiser und entmutigt sprach. Dann begann Keller langsam die Worte zu verstehen. »… da ist nichts zu machen – der Mann ist tot. Wenn ihn die Maschinengewehrgarbe nicht erwischt hätte, hätte es die Mine getan. Das übersteht kein Mensch.« »Der arme Hund sieht furchtbar aus«, sagte eine andere Stimme bebend, und die erste antwortete: »Was willst du machen, Kumpel? Krieg ist Krieg. Ich glaube nicht, daß er etwas gespürt hat. Komm, hilf mir ihn einbuddeln. Wir können ihn hier nicht einfach so liegenlassen, und auf den Pfarrer können wir nicht warten …« 177
Paul Keller fühlte keine Schmerzen, aber ein dumpfes, zie hendes Gefühl dicht an der Schwelle des Schmerzes ging durch seinen Körper. Von irgendwo her strömte Energie in ihn. Plötzlich fühlte er eine Hand, die auf seiner Brust nach der Erkennungsmarke tastete. »Keller, Paul. Oberleutnant«, las die Stimme, und da wußte Paul Keller, daß er es war, der zerrissen von Kugeln und Minensplittern am Boden lag. Er schlug die Augen auf und starrte in ein schmutziges, unrasiertes Gesicht, das sich über ihn beugte. Der Mann trug einen Stahlhelm mit Tarnlaub. Im nächsten Moment sah der Landser die offenen Augen, die ihm ins Gesicht starrten, und fuhr zu Tode erschrocken zurück. Es dauerte eine geraume Weile, bis er, nach Luft schnappend, seinen Schock so weit überwunden hatte, daß er Worte fand. »O Gott! Der lebt ja noch! Das ist doch nicht möglich …« Die rauhe heisere Stimme unterbrach ihn rasch. »Du siehst’s doch! Red’ jetzt nicht, Mensch, sondern hol’ den Sani! Der Mann muß schleunigst zum Verbandplatz! Dalli, dalli, lauf schon! Vielleicht …« Keller vergingen die Sinne, und er merkte nicht mehr, wie man Notverbände anlegte und ihn dann auf einem Panjewagen zum Frontlazarett abtransportierte. »… die Gesamtwirklichkeit der Welt baut sich aus vielen Schichten auf, die vom Anorganischen über das Organische und Geistige zum Seelischen überleiten. Jede dieser Schichten ist mit einem Grad von Bewußtsein assoziiert, selbst die anorganische Materie. Bei Teilhard …« Paul Keller wurde sich für einen kurzen Moment wieder der dröhnenden Stimme Professor Westenhoffs bewußt. Wer hätte das vor fünfzehn Jahren gedacht, als er in einem kleinen, improvisierten Zeltlazarett dicht an der HKL mit dem Tode rang und entgegen aller ärztlichen Meinungen den Kampf gewann, daß er sich nach seiner Genesung entschließen würde, 178
höhere Mathematik und Physik zu studieren, und daß er eines Tages friedlich unter zweihundert jungen Studenten sitzen und eine Vorlesung über die Entwicklungslehre des Menschen anhören würde! Dann verschwamm die Umgebung wieder um ihn, und er konzentrierte sich auf seinen Notizblock. Unter seinen raschen Handbewegungen entstanden die Grundzüge einer Hypertech nologie, die dem Menschen helfen würde, seine wirkliche Bestimmung zu erfüllen. Aber er wußte nicht, woher er das wußte. Als der Professor endete und die Studenten sich von ihren Sitzen erhoben und in tosenden Beifall ausbrachen, war auch Paul Keller mit dem ersten Ansatz fertig.
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Selbst ist der Mann [1959] Wimmelnde Geschäftigkeit herrschte in den glasumkleideten Büroräumen, als Don Douglas den Expreßaufzug verließ und mit langen Schritten durch den breiten Mittelgang seinem Privatbüro zustrebte. In gemessenen Abständen nickte er grüßend nach beiden Seiten. Nach einem Chorus von kurz gemurmelten »Guten Morgen, Mr. Douglas!« wandten sich dort die Reihen über Reihen von Angestellten eilig wieder ihren diversen Tätigkei ten zu. Jeder der zweihundertfünfzig Angestellten von D. D. DOUGLAS – EXTRATERRESTRISCHE UNTERNEHMUN GEN & FINANZIERUNGEN war sich mit schmerzhafter Klarheit bewußt, welchen Wert der Chef der Milliardenfirma auf strengste Zucht in seinem Reich und peinlichste Erfüllung des oft überwältigenden Arbeitspensums legte. Don Douglas lächelte ingrimmig, als er sein Privatbüro betrat und die Tür hinter sich ins Schloß zog Er begrüßte es, daß ihn die Leute fürchteten. Nur so konnte ein Unternehmen wie das seine ein Höchstmaß an Leistung erreichen und anno 2059 auf dem internationalen Markt gegen die Konkurrenz der Multis bestehen. Er warf den buntschillernden Dior-Umhang über einen Klei derhaken, schob die bauschigen Kurzärmel seiner weißen, gestickten Gucci-Bluse von den Ellbogen zurück und setzte sich an den Schreibtisch. Das Lächeln verweilte noch eine Zeitlang auf seinem Gesicht. Die eiserne Disziplin in seiner Firma war in den letzten Jah ren schon sprichwörtlich geworden. Aber nur er wußte, daß sie auch einen harten, praktischen Zweck verfolgte. Sie war unerläßlich für den geplanten meteorhaften Aufstieg, und die ihr entspringende Leistungssteigerung bildete sowohl die erste Waffe gegen seinen großen Gegner Mercator als auch das 180
Fundament des Weltreichs, das zu bauen er im Begriff war. Douglas langte aus und drückte die Taste des Sprechgeräts hinunter. Eine betont eifrige weibliche Stimme meldete sich beinahe sofort. »Ja, Mr. Douglas?« »Privatkorrespondenz?« »Jawohl, Sir. Ein chiffriertes Fernschreiben. Ich bringe es sofort hinein.« Douglas ließ die Taste los, in Gedanken noch immer bei seinem Plan. Das grimmige Lächeln grub sich tiefer in seine Züge ein, als er mit einem Stift auf dem vor ihm liegenden großflächigen Schreibblock eine waagrechte Linie zog und den darunter befindlichen Teil locker schraffierte. Das war das Fundament. Eiserne Disziplin, ein Höchstmaß an Leistung und weitgespannte Besitzanteile. Der Stift skizzierte zwei mächtige Pfeiler, die sich auf dem Fundament erhoben. Das waren die tragenden Säulen. Jede von ihnen besaß einen Namen. Quer über die linke Säule schrieb er »Connolly« und über die rechte »Dr. Monk«. Ein leises Klopfen an der Tür. »Herein!« Die Sekretärin kam eilfertig hereingetrippelt, legte das Fern schreiben vor ihm auf den Tisch und verschwand wieder. Sein Stift zog eine zweite waagrechte Linie, die die oberen Enden der Säulen miteinander verband, und schraffierte den darüberliegenden Teil. Das war sein Weltreich. Getragen von den beiden sicheren Säulen Connolly und Dr. Monk und begründet auf dem soliden Fundament Disziplin, Leistung und Besitz. Douglas’ Hand glitt zur rechten Seite des Schreibblocks und schrieb das Wort »Mercator«. Mit zwei kurzen, energischen Strichen kreuzte er den Namen aus, warf den Stift auf die Tischplatte und betrachtete nach 181
denklich die Papierfläche. Nach kurzer Überlegung langte er noch einmal zum Stift und setzte hinter den Namen Mercator ein kleines Totenkreuz. Das wäre Connollys Aufgabe. Mit einem knappen Auflachen über seinen selbstgefälligen Gedankenflug schob er Block und Stift zur Seite und griff nach dem Fernschreiben. Seine Miene wurde schlagartig ernst, und sein Kinn schob sich aggressiv vor. Er kannte das Codezei chen. Die Nachricht kam von Connolly. Don Douglas zog ein kleines, schwarzes Heft aus der Tasche, das den Schlüssel seines Privatcodes enthielt. Nach weniger als fünf Minuten hatte er den Text der Depesche dechiffriert. Er langte nach den Wähltasten des Videophons. Leise klickten sie unter seinen Fingern. Als er die Geheimnummer gewählt hatte, begann der Bild schirm aufzuleuchten, aber mit einer raschen Handbewegung warf er einen Kippschalter herum. Der Schirm wurde wieder dunkel. Die Audio-Trägerwelle summte kaum hörbar aus dem Lautsprecher. »Kein Video«, sagte Douglas kurz. Eine heisere Männer stimme antwortete ihm. »Mr. Douglas?« »Ja. Code B5-8870.« »In Ordnung.« Für jeden Außenstehenden, der das folgende Gespräch mit angehört hätte, wäre es nichts anderes gewesen, als eine harm lose Geschäftsbesprechung zwischen dem Chef einer großen Handelsfirma und seinem Außenmann. Nichts ließ erkennen, daß Douglas einen weltbewegenden Plan verfolgte, und daß sein Gesprächspartner in Wirklichkeit sein Leibwächter und Henkersknecht war. Sinngemäß jedoch sagte Douglas: »Hören Sie, Conolly. Ich habe soeben Ihr Telegramm erhal 182
ten. Sind Sie Ihrer Sache völlig sicher?« »Habe ich mich jemals geirrt, Mr. Douglas?« »Ich bezahle Sie nicht dafür, naßforsche Reden zu halten. Beantworten Sie gefälligst meine Frage. Haben Sie Beweise?« »Jawohl, Mr. Douglas«, entgegnete Connolly, eine ganze Tonlage unterwürfiger. »Sie erinnern sich zweifellos daran, daß es mir vor einigen Wochen gelungen ist, einen meiner besten Leute in Mercators Leibwächterschwadron einzuschleu sen. Einen Profi namens Ray Brack. Er kam vor einer knappen Stunde zu mir und unterrichtete mich über Mercators geplante Aktion.« »Wie viele sind es?« »Brack wußte von vier, aber niemand vermag zu sagen, ob Mercator nicht noch andere Leute eingesetzt hat, von denen wir nichts wissen. Auf jeden Fall hat Mercator seiner Killergruppe über einen Strohmann den unverblümten Auftrag erteilt, Sie zu liquidieren, Chef. Brack kam auf dem kürzesten Weg zu mir, aber die Attentäter sind ohne Zweifel bereits unterwegs.« Douglas dachte eine Zeitlang nach und kaute an der Unter lippe. Dann räusperte er sich. »Und was sind Ihre Gegenmaßnahmen, Connolly?« »Acht meiner Leute haben sofort den Abwehrschirm um Sie verstärkt, Chef. Sie werden nichts von ihnen sehen, aber sie sind da, ganz gleich, wohin Sie gehen mögen. Zwei weitere Experten bewachen Ihre Villa, damit sie von niemandem penetriert werden kann. Schließlich habe ich vier Agenten auf die Spur von Mercators Killern beordert.« »Hmmm … gut«, entgegnete Douglas, aber seine Stimme klang zweifelnd. Sein Blick glitt unwillkürlich zu dem Schreibblock und heftete sich auf den ausgekreuzten Namen Mercator. »Hören Sie, Connolly«, fuhr er dann fort, als er seinen Ent schluß gefaßt hatte. »Es wird Zeit, daß wir selber zur Aktion übergehen. Ich habe einen neuen Kontrakt für Sie.« 183
»Ich höre, Mr. Douglas.« »Welches sind Ihre besten Leute?« »Nun … da ist Lee Kwang Chung … Sam Cross … Hans Ehlers … Sol Rosenstein …« »Das genügt«, schnappte Douglas. »Vier dürften genügen, denn ich glaube, daß wir den Überraschungsfaktor auf unserer Seite haben werden. Heizen Sie ihnen gehörig ein, Connolly. Der Job darf nicht verpatzt werden.« »Selbstverständlich, Chef«, erwiderte die heisere Stimme Conollys eilig. »Und – … hmm … wem gilt der Auftrag?« »Mercator, natürlich. Kleiner Unfall oder etwas in dieser Richtung. Auf jeden Fall muß er weg, verstanden?« Don Douglas unterbrach die Verbindung und starrte auf die skizzierte Säule namens Connolly. Ein Koloß auf tönernen Füßen mag noch so kolossal sein, aber er ist vom Zeitpunkt seiner Entstehung an zum Untergang verurteilt. Das A und O bei der programmierten Erschaffung eines Weltreichs ist die Zementierung eines stabilen Funda ments. Eine einzige Säule genügte nicht, um das zu tragen, was unter Douglas’ meißelnden Händen zu entstehen im Begriff war, auch wenn sie das Welthandelsmonopol für extraterrestri sche Schwermetalle bedeutete, das ihm Connolly durch die Liquidierung seines einzigen großen Konkurrenten verschaffen würde. Er benötigte auch Technik und Wissenschaft – und das war die zweite Säule. Sie hieß Dr. Monk. Douglas schaltete den Bildempfänger des Videophons wieder ein und wählte eine mehrstellige Hausnummer. Dies war der zweite Schritt. Der Schirm leuchtete flimmernd auf. Dann entstanden die Umrisse eines menschlichen Kopfes, und schließlich blickte das zerknitterte, ausgedörrte Gesicht von Mortimer Cornelius 184
Monk von der Bildfläche. Das weiße Haar des Gelehrten war zerzaust, und auf seinem geröteten Gesicht lag ein ärgerlicher Ausdruck, der besagte, daß Monk den Anruf als Störung empfand. Sein Unwillen verging jedoch vor einem höheren Gefühl des Pflichtbewußt seins, als er Donald Douglas erkannte. »Labor 7C, Dr. Mortimer Monk«, sagte er und identifizierte sich damit, wie es die internen Vorschriften von D. D. DOUGLAS – EXTRATERRESTRISCHE UNTERNEHMUN GEN & FINANZIERUNGEN verlangten. »Zu Diensten, Mr. Douglas.« Douglas blickte auf seine Hände, die auf der Schreibtisch platte lagen. Eine ordentliche Maniküre wäre mal wieder angebracht, dachte er. »Wie geht es, Doktor?« »Danke, gut, Sir. Ich mache erfreuliche Fortschritte.« »Wie erfreulich?« fragte Douglas leichthin, ohne aufzublik ken. »Nun … äh … gestern haben sich die ersten Ergebnisse ge zeigt. Allerdings waren sie gänzlich anderer Natur, als erwar tet, Mr. Douglas. Ich möchte noch nichts Bestimmtes sagen. Ich muß die Daten zunächst prüfen und gegenprüfen …« »Wie lange?« »Äh … wie lange?« Monk hüstelte verlegen. »Nun, das kann man im Augenblick noch nicht sagen, Sir. Sie werden verste hen können, daß von den ersten positiven Ergebnissen bis zum tatsächlichen aktiven Einsatz der Maschine ein bestimmter Zeitraum verstreichen muß, während dem die Anlage kreuz und quer getestet wird. Dies gilt ganz besonders in Anbetracht des völlig überraschenden Resultats, das meine Untersuchun gen erbracht haben. Ich muß einige hundert Meßpunkte bestimmen, um die wichtigsten Diagramme aufstellen zu können. Wir müssen unserer Sache völlig sicher sein …« Douglas blickte langsam auf und sah Mr. Monk kalt in die 185
Augen. »Doktor, ich habe soeben einige Schritte unternommen, die für mich und die Firma von allergrößter Bedeutung sind. Es geht dabei um Leben und Tod. Sie erfordern unter anderem, daß mir Ihre Maschine ab sofort auf Abruf zur Verfügung steht. Mit anderen Worten: Ich habe mich völlig auf Sie verlas sen und fest damit gerechnet, daß Ihre Arbeit greifbare Früchte tragen wird. Wie ich sehe, war mein Vertrauen in Sie gerecht fertigt. Sie haben Erfolg gehabt. Sie werden mich doch nicht noch enttäuschen wollen, nicht wahr? Ich brauche die Maschi ne sofort.« Dr. Monks gnomenhaftes Gesicht verzog sich erschrocken. Er fuhr sich mit einer Hand durch den zerzausten weißen Haarschopf. »Aber, Mr. Douglas, das ist vollkommen unmöglich! Ich … ich habe zwar positive Resultate, wie gesagt, aber ich muß sie erst nachprüfen. Das müssen sie mir glauben! Es ist einfach undenkbar, die Maschine bereits jetzt in Betrieb zu nehmen. Alles Mögliche kann passieren! Es … es läßt sich einfach nicht machen, Mr. Douglas. Sehen Sie, die eigentliche Maschine ist auch noch gar nicht völlig fertig …« »Wann ist sie fertig?« fragte Douglas ausdruckslos. Zwischen seinen Fingern zerbrach ein Bleistift. Dr. Monk begann zu schwitzen. Seine blitzenden Brillengläser beschlugen sich. »Nun … ich könnte sie bis morgen abend einsatzbereit ma chen, aber … sie darf noch nicht benützt werden, Chef! Sie ist einfach noch nicht genügend erprobt … Und das Wichtigste … Mr. Douglas, hören Sie mich an! Ich habe ganz andere Resulta te erhalten … meine Untersuchungen haben mich auf ein völlig neues Gebiet geführt. Es besteht Anlaß zu der Vermutung, daß die Maschine nicht das ist, wofür sie ursprünglich gedacht war …« Typische Ausflüchte, dachte Douglas bitter. Jäh schlug er mit der flachen Hand auf den Tisch und funkelte den Gelehrten 186
wütend an. »Ich will Ihnen mal etwas sagen, Doktor Monk! Ich habe mich bereit erklärt, Ihr Projekt zu finanzieren«, – seine Stimme wurde lauter – »ich habe Ihnen ein eigenes Laboratorium eingerichtet mit allem Drum und Dran und Ihnen zwei Jahre Zeit gegeben. Die Zeit ist nun mal um! Ihre Arbeit hat ein Vermögen verschlungen, wissen Sie das? Mein Vermögen! Sie haben ein Dutzend teurer Spezialisten beschäftigt und frei über Zulieferfirmen verfügen können. Ohne mich säßen Sie heute noch in Ihrer Klause über Ihren theoretischen Abhandlungen.« Douglas hob die Hand und deutete mit dem Zeigefinger an klagend auf den Gelehrten. »Sie haben auf meine Kosten zwei Jahre lang Ihre Forschun gen betrieben, Dr. Monk. Ich habe Ihnen alles zur Verfügung gestellt, was Sie haben wollten, damit Sie Ihre verdammte Maschine bauen konnten. Vergessen Sie das nicht! Sie arbeiten für meine Firma an einer Vorrichtung, mit der nach Ihren Angaben die Gravitation neutralisiert werden kann. Das ist eine große Aufgabe, und meine Geduld ist endlos gewesen. Und nun kommen Sie daher und sagen, Ihre Maschine wäre morgen abend fertig, aber Sie könnten sie noch nicht zur Verfügung stellen. Dem Ganzen setzen sie die Krone auf mit der lächerli chen Ausrede, die Maschine wäre nicht das, wofür sie be zweckt war!« Douglas legte eine Pause ein und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Augen blickten kalt auf die schweißbedeckten Züge des Gelehrten. Dr. Monk versuchte vergeblich, zu Wort zu kommen. »Ich will nichts mehr hören, Doktor«, fuhr Douglas unter drückt fort. »Passen Sie auf. Ich gebe Ihnen bis morgen abend Zeit, den Antigravitator fertigzustellen. Wohlverstanden, keinen Tag länger! Sie werden das Gerät morgen abend um 21 Uhr höchstpersönlich zu meiner Privatadresse in der Park Avenue bringen und mir ausliefern! Sie können sich vermutlich 187
denken, was Ihnen passiert, falls Sie dies nicht tun sollten. Das ist alles, Doktor.« Douglas unterbrach die Verbindung. Er schüttelte unwillkür lich den Kopf und grinste dann grimmig. Diese Techniker! Stets hielten sie sich für klüger als die Kaufleute. Sie mochten zwar Grips genug im Kopf haben, um ihre Klystronen, Transistoren und Phasenregler zu verstehen, aber damit hörte es auch schon auf. Auf keinen Fall reichte es bis zu der Einsicht, daß es de facto die Kaufleute waren, die ihnen ihre Arbeit überhaupt erst ermöglichten. Der Hemm schuh des menschlichen Fortschritts auf geistigem und techni schem Gebiet bestand nicht im menschlichen Wesen selbst, wie von Philosophen vielfach behauptet wurde. Nein, dachte Douglas, im Grunde war es dieser Zwiespalt zwischen Techni ker und Kaufmann, an dem die Welt seit der Morgendämme rung der menschlichen technischen Zivilisation kränkelte. Der Kaufmann ermöglichte dem Techniker erst seine Arbeit. Und der Kaufmann sorgte auch dafür, so überlegte er grimmig, daß diese Arbeit nicht ins Bodenlose geriet und einen konkre ten Abschluß fand. Dr. Mortimer Cornelius Monk würde ihm morgen abend die fertige Maschine übergeben, das stand fest. Und bis dann würde auch Connolly seinen Auftrag ausge führt haben. Donald Douglas rieb sich zufrieden die Hände. Damit wären die beiden tragenden Säulen seines Reiches errichtet. Nach Mercators Liquidierung würden die Kursnotierungen der Mercator-Aktien an der Börse abgrundtief stürzen. Seine Strohmänner standen bereit, um sie schlagartig aufzukaufen. Verkaufsunwillige Aktionäre würden durch Connollys Exper ten durch direktere Mittel von der Ratsamkeit des Verkaufens überzeugt werden. Dann wäre D.D. DOUGLAS – EXTRATERRESTRISCHE UNTERNEHMUNGEN & FINANZIERUNGEN auf dem Gebiet der außerirdischen 188
Schwermetalle auf der Erde konkurrenzlos. Unzählige Stahlfä den liefen damit von ihr in alle erdenklichen Gebiete von Handel und Wirtschaft. Kam dazu noch eine unüberwindliche Supertechnologie in Gestalt des Monkschen Antigravitators, dann könnte nichts mehr das Weltreich von Donald D. Douglas ins Wanken bringen. Die mühsame Arbeit vieler Jahre würde endlich Früchte tragen. Ruhig, mein Junge, mahnte er sich. Noch ist es nicht soweit. Er preßte die Taste des Sprechgeräts. »Ja, Mr. Douglas?« »Kommen Sie zum Diktat.« Am späten Nachmittag wählte Douglas erneut die Geheim nummer und setzte das Video außer Tätigkeit. Connolly meldete sich aus seiner Limousine. »Wie steht die Angelegenheit?« fragte Douglas in Code. »Noch nichts Neues, Mr. Douglas.« Connollys heisere Stim me war kühl und gelassen. »Jedenfalls nichts, was Sie interes sieren könnte. Ich habe einen Mann verloren, Hans Ehlers, einen der besten. Meine vier Leute versuchen seit heute früh, an Mercator heranzukommen, und Ehlers wäre es fast gelun gen. Die drei anderen sehen sich jetzt doppelt vor. Sie haben auf meine Anweisung ihre Taktiken geändert, da Mercator nun offenbar weiß, daß wir hinter ihm her sind.« »Hmmm«, brummte Douglas unschlüssig. Dann: »Na ja, Connolly. Nur weiter so.« »Wir schaffen es, Chef! Wir schaffen es bestimmt. Bis mor gen abend spätestens.« »Damit rechne ich auch fest«, gab Douglas zurück. Wenn der Zeitplan eingehalten wurde, wäre die Finanzwelt übermorgen früh in seiner Hand. Unwillkürlich straffte er die Schultern. »Und was macht die andere Sache? Die Bluthunde, die hinter 189
mir sind?« »Noch nichts Neues, Chef. Meine Leute sind auf ihren Po sten. Wenn einer von Mercators Attentätern auch nur die Nase zeigt, kann er das Zeitliche segnen.« Das Sprechgerät auf dem Schreibtisch summte leise. »Hoffentlich noch bevor er mich erwischt«, meinte Douglas. »Nun, das wäre alles für den Moment, Connolly. Lassen Sie von sich hören, falls sich etwas Neues ergibt. Ich bin ab gleich unter meiner Privatnummer in der Park Avenue zu erreichen.« Er schaltete das Videophon aus. Das Sprechgerät summte wieder. Er drückte die Taste. »Ja?« »Mr. Douglas, ein Herr wünscht Sie zu sprechen. Es sei sehr dringend.« »In welcher Angelegenheit, gefälligst?« »Von der SEC, Sir. Er sagt, es handele sich um eine vertrau liche Sache.« Douglas überlegte kurz. Er mußte sich auf Connollys Leute verlassen; sie verstanden ihr Handwerk. »Schicken Sie ihn herein.« Der Besucher, der kurz darauf das innere Sanktum betrat, war ein großer, hagerer Mann mit spärlichen grauen Haaren. Er trug den buntschillernden Umhang und die engen, reichbestick ten Hosen vermögender Kreise. Seine Aktentasche bestand aus golddurchwirktem Kunststoff. Sie zeigte die übertrieben verschlungenen Initialen G.S. Er blieb einige Schritte vor dem Schreibtisch stehen und verneigte sich leicht. »Guten Abend, Mr. Douglas. Mein Name ist George Solon. Ich komme von der Security Exchange Commission.« »Ja, Mr. Solon? Womit kann ich dienen?« George Solon räusperte sich unschlüssig und sagte dann: »Ich muß Sie in einer Angelegenheit sprechen, die für Sie fraglos von größter Wichtigkeit ist, Mr. Douglas. Erlauben Sie, 190
daß ich Ihnen zunächst meinen Ausweis vorlege …« Er öffnete den Verschluß der glitzernden Aktentasche und griff mit der Rechten hinein. Im gleichen Augenblick wurde hinter ihm die Tür aufgeris sen. Ein kleiner, untersetzter Mann erschien plötzlich mit fliegendem Atem auf der Schwelle. Wie durch Zauberei lag plötzlich eine schwere Blitzpistole in seiner Hand. »Vorsicht!« Solon reagierte auf das Erscheinen des zweiten Besuchers mit peitschenschnellen Reflexen. Er ließ sich halb zu Boden fallen, und sein Gesicht verzerrte sich, als er unter Aufbietung äußerster Kräfte versuchte, die Bewegung seiner rechten Hand zu vollenden. Aber er kam zu spät. Douglas duckte sich hinter den feuersi cheren Schreibtisch. Aus der Waffe des kleinen, untersetzten Mannes an der Tür jagte eine glühende Kette von grellen Blitzkugeln quer durch den Raum. Solon stürzte verkohlt zu Boden. Seine Aktentasche schlug polternd neben ihm auf. Der kleine Mann ließ die Blitzpistole verschwinden und grin ste Douglas vertraulich zu. »Sorry, war draußen einen Augenblick verhindert«, sagte er ruhig, »durch den Check bei der SEC. Beste Grüße von Jeff Connolly. Das wäre Nummer Eins.« Im nächsten Moment hatten ihn die Vorzimmer verschluckt. Douglas richtete sich langsam hinter dem Schreibtisch auf, noch immer etwas verblüfft über den blitzartigen Ablauf der Geschehnisse. Beißender Gestank erfüllte den Raum. Die Klimaanlage brummte unwillig, als sie gegen den Qualm ankämpfte. Nach Ablauf von zwei Minuten war die Luft jedoch wieder klar und frisch, wie zuvor. Don Douglas erhob sich, ging um den Schreibtisch herum und hob die golden schimmernde Aktentasche auf, ohne dem verkohlten Leichnam einen weiteren Blick zu schenken. 191
Die Tasche enthielt nichts als einen schweren Blitzspeier. Die Sekretärin erschien aufgeregt auf der Schwelle und starr te mit aufgerissenen Augen auf den Toten am Boden. Ihr Gesicht wurde bleich. »Reißen Sie sich zusammen«, herrschte Douglas sie an, die Blitzpistole in seine Tasche schiebend. »Nur einer von Merca tors Killern. Sehen Sie zu, daß diese Sauerei bis morgen früh beseitigt ist. Ich gehe jetzt nach Hause. Verständigen Sie meinen Piloten.« Er warf sich den Umhang um und verließ das Büro. Sein Privatschrauber stand auf dem Dachparkplatz, aber Douglas wußte, daß es besser wäre, heute nicht auf seiner üblichen Route nach Hause zu fliegen. Die Chance war hundert zu eins, daß Mercators Scharfschützen seinen abendlichen Heimweg genauestens ausgekundschaftet hatten und jetzt lauernd im Hinterhalt lagen. Er nahm den Expreßlift in die Eingangshalle hinunter, wo ihn niemand vermuten würde. Von hier ließ er sich über Video phon mit einem Angestellten des Dachparkplatzes verbinden. Der Mann erschien auf dem Bildschirm. »Mr. Landen, sagen Sie meinem Pilot, er soll sofort den Kop ter herunter bringen, auf die Plaza vor dem Eingang.« »Jawohl, Sir. Sofort.« Douglas unterbrach die Verbindung und schritt zum Aus gang. Es war noch keine halbe Minute später, als ein ohrenbe täubender Krach von den benachbarten Häuserwänden aufge fangen und zurückgeworfen wurde. Das ganze Hochhaus erzitterte leicht, und aus den obersten Stockwerken klang das Klirren und Splittern der großen Glasfenster. Douglas wandte sich zur Eingangshalle zurück. Auf halbem Weg kam ihm ein Pförtner aufgeregt entgegengeeilt. »Mr. Douglas!« keuchte der Mann atemlos. »Ihr Kopter ist explodiert. Der Dachparkplatz meldet, daß Ihr Pilot noch kaum den Starter betätigt hatte, als die Maschine in die Luft flog. 192
Erheblicher Sachschaden, der Pilot und Landen sind tot …« Eine Bombe! Douglas lächelte grimmig und wandte sich wieder dem Ausgang zu. Mercators Burschen arbeiteten verdammt schnell. Es mußte sie allerhand Mühe gekostet haben, unbemerkt die Bombe im Koptermechanismus anzubringen, so daß sie von einem Druck auf den Starter ausgelöst wurde. Und er konnte sich nichts Besseres wünschen. Es würde einige Zeit dauern, bis die Bande feststellte, daß er nicht in der Explosion umgekommen war. Fürs erste war er in Sicherheit, auf jeden Fall so lange, bis er den Schutz seiner Villa erreichte. Don Douglas begab sich unter Ausnützung der öffentlichen Verkehrsmittel auf Umwegen nach Hause, anonym im Gedrän ge des Feierabendverkehrs. Seine Villa war ein zweistöckiger, kompakter Bau an der Park Avenue, der von ihm, seinem Leibarzt und einem halben Dutzend Bediensteter bewohnt wurde. Als er sich ihm näherte, vermochte er auch nicht die gering ste Spur von den beiden Spezialisten zu erkennen, die sein Haus Tag und Nacht bewachen würden, solange Mercator am Leben war. Er hatte es auch nicht erwartet. Connolly verstand seinen Job. In seinen Privatgemächern angelangt, warf Douglas den Um hang über einen Sessel und klingelte nach Dr. Strauss, seinem Leibarzt. Nach der Routineuntersuchung und der Juventus-Spritze, die er sich jeden Abend verabreichen ließ, nahm er ein kleines Diner ein und setzte sich dann mit einer angestaubten Flasche Château d’Yquem an den Schreibtisch. Unter seinen Händen entstanden die ersten Richtlinien, die später seinem Weltreich zugrunde liegen würden. Es gibt mehrere Methoden, eine Diktatur zu errichten. 193
Die Jünger der hohen Kunst der Massenpsychologie hatten es auf ideologischem Weg versucht – und stets damit Erfolg gehabt. Douglas würde es auf materialistischem Weg versu chen. Er wußte, daß eine Weltmonopolstellung auf kritischem Sektor, verbunden mit genügend großen Geldmengen, das gleiche zu erreichen vermochte, wie mitreißende Ideen und zündende Schlagworte. Seine Methode würde ebenfalls Erfolg haben. Mercators Liquidierung würde ihn an eine Stelle setzen, von wo aus er eine Lebensader der Welt abschnüren könnte. Und Doktor Monks Antigravitator bildete die geheime Trumpfkarte, die er beim Auftreten unvorhergesehener Hürden ausspielen könnte. Nein, sein Plan würde nicht fehlschlagen. Im Gegenteil: Sein Plan war allen bisher versuchten Metho den haushoch überlegen. Die menschliche Historie kannte zahlreiche erfolgreiche Diktaturen, aber alle hatten sie nur kurze Zeit gewährt, um dann wieder im Strudel der Zeit unter zugehen. Sein geplantes Reich könnte jedoch Millennien überdauern. Wenn sich alle bisherigen Diktaturen auf einzelne Nationen beschränkten, so würde ihm sein Plan auf lange Sicht die Herrschaft über die ganze Erde in die Hand geben. Darin lag der Unterschied. Eine Diktatur »alten« Stils wurde vom Augenblick ihrer Geburt an von zwei Feinden bedroht: Von Aufrührern aus dem Inneren und von Angreifern von außen. Dies wußte Douglas. Und er hatte sich vorgesehen. Bei einem Weltreich, in dem die Sonne nicht unterging, konnte es keine äußeren Feinde geben. Und was die Gefahr aus dem Innern betraf, – nun, dafür hatte er den Monkschen Anti gravitator. Als er die Papiere zur Seite schob und sich erhob, war es draußen schon dunkel. Das Haus lag in tiefes Schweigen gehüllt. 194
Die Stille vor dem Sturm, dachte Douglas, als er in das Schlafzimmer ging und sich auszukleiden begann. Conollys Leute waren bereits seit einigen Stunden unterwegs. Morgen vormittag spätestens mußten sie Mercator liquidiert haben, und eine halbe Stunde danach würde die Börse zusammenbrechen. Von da ab konnte nichts mehr schiefgehen. Am späten Nach mittag wäre bereits der Exo-Schwermetall-Welthandel in seiner Hand, und abends um neun Uhr würde Dr. Monk seine Ma schine bringen. Von diesem Augenblick an hätte er sein Ziel praktisch erreicht. Vorerst jedoch durfte er nicht außer acht lassen, daß Merca tors Attentäter noch auf freiem Fuß waren und alles daran setzen würden, ihn zu beseitigen. Er nahm den überdimensionalen Blitzspeier aus der Tasche, den er in Solons Aktentasche gefunden hatte, und legte ihn griffbereit neben das Bett. Dann streckte er sich auf dem Lager aus und schaltete das Netzwerk von Kraftfeldern ein, das ihn weich in der Schwebe hielt. Er fiel fast sofort in Schlaf. Als er erwachte, wußte er sofort, daß irgend etwas nicht in Ordnung war. Draußen herrschte noch immer Nacht. Das Schlafzimmer war in tiefe Dunkelheit gehüllt, an die sich seine Augen nur lang sam gewöhnten. Er richtete sich lautlos auf einen Ellbogen auf und griff mit der Rechten nach der Pistole. Es stand für ihn außer Zweifel, daß ihn ein fremdes Geräusch geweckt hatte. Er lauschte angestrengt, und seine Augen versuchten die Dunkelheit zu durchdringen. Dann sah er sich in seiner Vermutung bestätigt. Irgend jemand befand sich in seinem Schlafzimmer. Aus der Dunkelheit klangen tiefe, rauhe Atemzüge. Kurz darauf vernahm er ein leises Schleifen. Er spannte die Muskeln und brachte den Blitzspeier in Anschlag. Es schien undenkbar, 195
daß es einem von Mercators Leuten gelungen sein sollte, den Ring von Connollys Wachen zu durchdringen und bis in seine Privatgemächer vorzudringen. Aber ein Irrtum war ebenso undenkbar. Jemand befand sich wenige Meter von ihm ent fernt! Jetzt hatten sich auch seine Augen der Dunkelheit angepaßt. Vor dem schwachen Sternenlicht, das durch die Fenster sicker te, hob sich wie ein schwarzer Schatten in einer Schatten weit eine kauernde Gestalt ab. Als Douglas die Pistole auf sie richtete, bewegte sie sich und richtete sich auf. Es war unzwei felhaft die Gestalt eines Mannes, der reglos in der Mitte des Zimmers stand und suchend den Kopf nach allen Seiten be wegte. Douglas spannte den Finger um den Abzug. Im nächsten Augenblick machte die Gestalt einen raschen Schritt auf ihn zu und rief mit rauhem Keuchen: »Ha…!« Douglas drückte ab. Die Kette flammender Blitze verzehrte den Eindringling, der noch einige Sekunden lang wild gestikulierend umhertorkelte und dann funkensprühend und leblos zu Boden stürzte. Als Douglas die Zimmerbeleuchtung einschaltete und aus dem Bett sprang, fand er nur noch eine verkohlte Masse vor, der jegliche Identität abging. Aber fast im gleichen Moment erspähten seine Augen noch etwas anderes. Wenige Schritte hinter dem verkohlten Leichnam des Atten täters stand eine niedrige, breit ausladende Maschine. Douglas legte die Pistole zur Seite, zündete sich eine Zigarette an und schritt zur Tür. Sie war verschlossen, und der Schlüssel steckte innen. Eine kurze Überprüfung ergab, daß auch die Fenster noch verriegelt waren. Die Kraftfelder, die nur die frische Nachtluft, jedoch keine materiellen Objekte eindringen ließen, arbeiteten vorschriftsgemäß. 196
Douglas pfiff leise zwischen den Zähnen. Der Fremde konnte also weder durch die Tür, noch durch die Fenster eingedrungen sein. Und doch bildete seine verkohlte Leiche einen schlagen den Beweis dafür, daß er ins Schlafzimmer gelangt war. Gedankenvoll an einer Zigarette ziehend, wandte sich Dou glas der Maschine zu. Das Gerät war niedrig und breit. Sein Hauptmerkmal war ein flacher Fahrradsattel, der sich dicht über dem Boden befand. In Reichweite vor dem Sitz besaß sie zwei kleine Hebel und eine Skala, und der restliche Teil wurde von Transistoren, Wider ständen, Kabelverbindungen und einem horizontal angeordne ten Van-de-Graaf-Generator gebildet, zu dessen Antrieb offenbar ein Tretpedal diente. Ihr Gesamtaufbau sah sehr behelfsmäßig aus. Kein schützen des Gehäuse umschloß die empfindlichen elektronischen Eingeweide, und das tragende Rahmenwerk, das die Schalt elemente, die Hebel und den Sitz zu einer Einheit verband, schien aus handgeformten Teilen provisorisch zusammenge schmiedet zu sein. Sein Material war Douglas unbekannt. Und nirgends ließ sich auch nur der geringste Anhaltspunkt dafür finden, wie die Maschine trotz der verschlossenen Tür und Fenster in das Zimmer gelangt war, geschweige denn der Attentäter. Douglas nahm die Zigarette aus dem Mundwinkel und schüt telte den Kopf. Anscheinend hatte er Mercator erheblich unterschätzt. Er ging zum Audiophon und wählte Connollys Nummer. Das Rufsignal surrte einige Male. Dann meldete sich die heisere Stimme seines Agenten. »Noch nichts, Mr. Douglas. Mercators Abwehrkordon macht meinen Leuten erheblich zu schaffen, aber sie kommen lang sam voran. Zur Zeit rücken sie aus drei verschiedenen Rich tungen gegen ihn vor.« »Hören Sie, Jeff«, unterbrach ihn Douglas energisch. »Ich 197
möchte, daß die Sache bis Tagesanbruch erledigt ist. Sorgen Sie dafür! Und sehen Sie zu, daß Ihre Wachposten hier gefäl ligst nicht schlafen. Habe eben in meinem eigenen Schlafzim mer einen von Mercators Killern liquidiert. Die Leute sollen besser aufpassen, sonst geht es nicht nur mir an den Kragen, sondern auch Ihnen!« Betroffenes Schweigen antwortete auf die Worte. Dann ließ sich Connollys Stimme wieder vernehmen. »Aber, Mr. Douglas«, sagte sie grenzenlos verblüfft, »das kann doch nicht gut möglich sein! Zur Zeit bewachen acht Leute Ihre Villa. Noch vor einer Viertelstunde meldeten sie keine besonderen Vorkommnisse. Es ist praktisch unmöglich, daß jemand unbemerkt ihre Abwehrkette penetrieren kann.« »Das interessiert mich alles nicht«, entgegnete Douglas und warf die Zigarette in den Ascher, wo sie mit einem kurzen Aufblitzen verschwand. »Mir kommt es lediglich darauf an, daß Sie Ihre Pflicht tun. Angesichts der Leiche, die hier zu meinen Füßen liegt, will es mir scheinen, daß Sie es an der nötigen Sorgfalt ermangeln lassen. Mercator hat mehr Trümpfe in der Hand, als wir bisher annahmen. Ich vermute, daß er ebenfalls einige Wissenschaft ler an Forschung und Entwicklung neuer Technologien be schäftigt, wie wir. Der Mann, der vor wenigen Minuten bei mir eingedrungen ist, hat dazu nämlich weder die Tür noch die Fenster benützt.« »Zum Teufel! Er ist durch die Wand gekommen?« fragte Connolly ungläubig. »Ja, mit einer Maschine. Sie steht jetzt ebenfalls hier in mei nem Zimmer. Ich glaube, daß Mercators Forscherteam eine Möglichkeit gefunden hat, materielle Objekte für jeden belie bigen Gegenstand passierbar zu machen. Nur so kann ich mir die Tatsache erklären, daß jemand in mein Schlafzimmer eindringen kann, obwohl Tür und Fenster fest verriegelt sind und Ihr Abwehrkordon schwört, nichts gesehen oder gehört zu 198
haben. Sie können sich vorstellen, was das bedeutet, nicht wahr?« »Hmm, ja«, brummte Connollys heisere Stimme. »Er könnte Ihnen jetzt praktisch eine Bombe unter den Stuhl plazieren, ohne von unseren Leuten belästigt zu werden. Wir müssen schleunigst handeln.« »Genau das habe ich bereits gesagt«, erwiderte Douglas kurz. »Sie haben bis Tagesanbruch Zeit. Dann muß alles erledigt sein.« »Ich lasse von mir hören, Sir«, sagte Connolly, und dann unterbrach Douglas die Verbindung. Sinnend betrachtete er einen Moment lang die geheimnisvol le Maschine auf dem Fußboden, mit der man Wände durch dringen konnte. Ein triumphierendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Mercator hatte einen entscheidenden Fehler begangen. Das Risiko, daß seine Maschine in die Hände seines Feindes fallen könnte, hatte er offenbar nicht hoch genug eingeschätzt. Dieser Panzer zeugte von der Panik, in der er sich nach Ehlers miß lungenem Attentat befinden mußte. Douglas klingelte nach einem Diener, um die Leiche entfer nen zu lassen. Dann wandte er sich wieder seiner Liegestatt zu. Es wäre ein Leichtes für Monk, die Maschine in mehreren Exemplaren nachzubauen. Damit würde er eine weitere Ge heimwaffe in seiner Macht haben. Das schrille Surren des Audiophons riß ihn einige Stunden später aus dem Schlaf. Er schaltete die Kraftfelder ab, die ihn sanft getragen hatten, zündete sich eine Zigarette an und legte den Schalter des Geräts um. Es war Connolly. »Chef, die bewußte Sache ist erledigt«, meldete die heisere Stimme mit übertriebener Gelassenheit. »Lee Kwang Chung hat ihn vor fünf Minuten beim Frühstück liquidiert.« 199
Douglas atmete langsam aus und merkte erst jetzt, wie groß die Spannung war, die ihn umfangen gehalten hatte. Die Bedeutung des Gesagten sickerte rasch in sein Bewußtsein ein. Mercator war tot! Sein Plan konnte jetzt nicht mehr fehlgehen. Nur noch weni ge Stunden, dann … Der Tag hatte gut begonnen. »Hat es viel Aufsehen erregt?« fragte er jetzt, indem er sich zur Ruhe zwang. Es war Zeit für den zweiten Schritt. »Vorläufig noch nicht, Sir«, entgegnete der Agent. »Lee hat heute nacht Mercators chinesischen Koch beseitigt und dann seine Rolle übernommen. Die große Ähnlichkeit zwischen den beiden hat dabei geholfen. Mercator hat keinen Unterschied erkannt und ist der Maskerade auf den Leim gegangen. Zum Überfluß haben Cross und Rosenstein gleichzeitig von außen einen Angriff gestartet, um Mercators Leute abzulenken. Lee hatte einige Minuten lang völlig freie Hand und zögerte nicht lange. Allerdings erhalte ich eben die Nachricht, daß er dabei auf der Strecke geblieben ist, ebenso wie Cross und Rosen stein. Aber sie haben ihren Auftrag pflichtgemäß ausgeführt.« »Sehr lobenswert«, gab Douglas zu. Dann: »Können sie nicht zu Ihnen zurückverfolgt werden?« »Unmöglich. Sie hatten keinerlei Papiere bei sich, und ihre Waffen entstammen einem Polizeiarsenal. Nichts zu machen. Die Fährte beginnt und endet bei ihnen.« »Gut.« Douglas überlegte einen Moment und fuhr dann energisch fort: »Hören Sie, ich habe einen neuen Auftrag für Sie.« »Allzeit zu Diensten, Chef.« »Heute abend um 21 Uhr empfange ich einen Mann hier in meiner Villa, der mir eine Vorrichtung bringt. Weißes Haar und altmodische Brille. Sein Name ist Mortimer Monk. Lassen Sie ihn ungehindert eintreten. Ich habe mit ihm zu sprechen. Aber wenn er danach mein Haus wieder verläßt – und dabei 200
allein ist, dann verfolgen Sie ihn unauffällig, bis sich die Gelegenheit bietet, ihn zu liquidieren. Falls ich ihn aus dem Haus begleite, so ist das das Zeichen, daß der Auftrag zurück gezogen wird. Das wäre alles.« »Geht in Ordnung, Chef«, entgegnete Connolly kühl. Douglas schaltete das Audiophon ab. Er zog sich einen Morgenmantel über und ging in den be nachbarten Raum, wo sein Diener bereits das Frühstück aufge tragen hatte. Heute konnte er sich Zeit lassen. Zum erstenmal seit vielen Jahren brachte ihm der anbrechende Tag Ruhe und Gelassenheit. Mercator existierte nicht mehr. Nichts konnte sich jetzt mehr der Verwirklichung seiner Vision in den Weg stellen. Noch wenige Stunden bis zur Eröffnung der Börse – und seine Agenten standen schon bereit, von Connolly alarmiert. Am Abend würde er sein Ziel erreicht haben und an den Aufbau seines Weltreichs gehen können. Don Douglas genoß den Morgen. Nach dem ausgedehnten Frühstück schnaubte er minutenlang unter der Dusche. Dann kehrte er in sein Privatgemach zurück und kleidete sich an. Er zog sich die eng anliegende purpurfar bene Wrangler-Hose straff und schob die schneeweiße, gestick te Soho-Bluse mit den bauschigen Ärmeln unter den handbrei ten, reich verzierten Gürtel. Von seinem Diener ließ er sich die auf Hochglanz polierten Stulpenstiefel bringen und zog sie an. Schließlich fuhr er sich durch sein kurzes, krauses Haar und wandte sich der geheimnisvollen Maschine in der Mitte seines Zimmers zu. Die verkohlte Leiche des Eindringlings war bereits in der Nacht weggeschafft worden, und nur der Brandfleck auf dem Boden und das Gerät selbst zeugten von dem nächtlichen Ereignis. Die Maschine war trotz verschlossener Tür und Fenster in sein Privatzimmer gelangt. Dies legte den Schluß nahe, daß sie ihrem Benutzer die Fähigkeit verlieh, solide Wände zu durch 201
dringen. Es bestand jedoch kein Grund dafür, daß sich ihr Wirkungsbereich nur auf Gebäudewände beschränkte. Viel mehr schien es ebenso logisch, daß sie alle materiellen Objekte zu passieren vermochte. Douglas hatte keine Ahnung, auf welchem Prinzip ihre Funk tion beruhen konnte. Er vermutete jedoch, daß ihr Mechanis mus irgend etwas mit der Erzeugung von Schwingungen zu tun haben mußte. Hatte ihm nicht Dr. Monk kürzlich erklärt, daß das Atom weitaus eher einer schwingenden Welle gleichkam, als einem System der klassischen Mechanik? Und eine Ma schine, die solide Objekte durchdringen konnte, mußte zwangshalber auf die Atomstruktur selbst einwirken. Vielleicht paßte die Maschine ihre eigene atomare Schwin gungszahl und die ihres Benutzers den Atomvibrationen der zu passierenden Gegenstände an und machte es so möglich, daß die verschiedenen Atomstrukturen ungehindert einander durchdringen konnten? Douglas wußte es nicht, aber er würde das Problem heute abend Dr. Monk vorlegen. Vorläufig jedoch reizte es ihn, die Maschine auf seine Theo rie hin zu testen. Ihre Skala war von Null bis Hundert kalibriert. Der Zeiger stand auf der Marke Null. Douglas rätselte einige Minuten lang daran herum, bis er auf die Idee kam, daß er zur Einstellung der genauen Koordinaten des Bestimmungsorts dienen mochte. Behutsam verstellte er den Zeiger eine minimale Distanz von Null. So wenig konnte bestimmt nicht schaden. Er setzte sich auf den Fahrradsattel und stellte die Füße auf die Tretpedale des Generators. Unter seinen Händen lagen die beiden kurzen Hebel, und er bemerkte erst jetzt, daß sie mit den Worten VOR und ZURÜCK gekennzeichnet waren. Douglas hatte keine Ahnung, welchen Hebel der auf der Skala eingestellte Koordinatenwert erforderte. Am sichersten wäre es wohl, dorthin zu gehen, wo der Eindringling herge kommen war, also zurück. Er legte seine Hand um den Hebel 202
ZURÜCK und brachte den Van-de-Graaf auf Touren. Ohne lange zu zögern, warf er dann den Hebel um. Im gleichen Augenblick durchzuckte ihn ein würgendes Ge fühl des Schwindels. Die Umgebung begann vor seinen Augen zu kreisen, und ein hohes, singendes Geräusch ließ sich ver nehmen, von dem er nicht zu sagen vermochte, ob es seiner Einbildung entstammte oder nicht. Er kämpfte gegen das Würgen an und schluckte krampfhaft. Er spürte, wie der Hebel unter seiner Hand von allein wieder in die Ruhestellung zu rückschnappte, noch während er sich des dumpfen Pochens seines Blutes in den Ohren bewußt wurde. Dann ließ das schwindelnde Gefühl nach. Seine Umgebung verlangsamte ihr wildes Kreisen und kam zur Ruhe. Douglas hob die Augen von der matt glühenden Skala – der Zeiger stand wieder auf Null – und sah sich um. Tiefe Dunkelheit umgab ihn. Er saß noch immer auf dem Sattel der Maschine, und das Singen des Generators erstarb jetzt langsam, als seine Füße ihre Tretbewegung einstellten. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die Dunkelheit. Verschwommen erkannte er eine rechteckige, matt erhellte Fläche vor sich. Es vergingen mehre re verständnislose Sekunden, bis er erkannte, was sie war. Ein Fenster. Ein Fenster, durch das trübes Licht sickerte. Nach und nach begann er weitere Umrisse in seiner Umgebung zu erkennen. Er befand sich in einem Zimmer, und es war tiefe Nacht! Douglas saß mehrere Augenblicke lang reglos auf der Ma schine und suchte mit seinen Augen die Finsternis zu durch dringen, während alle seine Gedanken ratlos kreisten. Dann kam der Moment, in dem er die Einrichtung des Zim mers wahrnahm und die örtliche Zuordnung der Möbelstücke zueinander. Und das war der Augenblick, in dem er erkannte, wo er sich befand. 203
Er wollte jäh aufspringen, aber seine Muskeln versagten ihm zunächst im Schock den Dienst. Doch er konzentrierte seinen Willen auf sie und zwang sie zum Gehorsam. Sie reagierten nur zögernd. Langsam erhob er sich. Seine Gedanken jagten sich in einem wilden, verwirrten Kreislauf. Die Materiedurchdringungsmaschine war nicht das, wofür er sie gehalten hatte. Das erkannte sein hilflos taumelnder Verstand beinahe sofort. Sie entstammte auch nicht den Laboratorien von Mercator, wie er angenommen hatte. Sie kam aus seinen eigenen Werkstätten, genauer gesagt: aus dem Laboratorium 7C von Dr. Mortimer Cornelius Monk. Es war die Maschine, die er bei Dr. Monk in Auftrag gege ben hatte, und die ihm seine absolute Machtstellung in der Welt sichern helfen sollte. Noch während sein Bewußtsein erkannte, daß sich die Ma schine nicht von der Stelle gerührt hatte und er sich noch immer in seinem eigenen Zimmer befand, kam seinem wild arbeitenden Verstand die volle Erkenntnis der Lage. Er wußte jetzt, was die Maschine in Wirklichkeit war, und er erinnerte sich an die Beteuerungen des Gelehrten, den seine Forschungen nicht zu einer Antigravitationsmaschine, sondern auf eine neue, wenn auch verwandte Spur geführt hatten. Dr. Monk würde ihm die Maschine heute abend um 21 Uhr bringen … nein, er hatte sie ihm schon gebracht! Und war beim Verlas sen des Hauses plangemäß von Connollys Leuten liquidiert worden. Douglas wußte ohne den geringsten Zweifel, daß er die Ma schine unverzüglich in sein Privatgemach gebracht und aus probiert haben mußte, als ihm aus Monks erklärenden Worten klar geworden war, welche gigantische Macht er mit ihr in seinen Händen hielt. Und als er abrupt »Halt!« schreien wollte und von der dunk 204
len Gestalt auf der Liegestatt mit lodernden Blitzschlägen für immer unterbrochen wurde, erkannte er, daß die Markierungen auf der Skala Zeiteinheiten darstellten, und daß das Gerät in Wirklichkeit eine Zeitmaschine war, die ihn ein paar Stunden in die Vergangenheit gebracht hatte.
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Simultanzeit [1957 & 1985] 1. Als sie sich der Dunkelzone näherten, erhob sich der schwarze Jeremy und rüttelte Imu wach. Pascal VI hatte den Eskimo verlangt. Er brummte, als er von dem Vorsprung der Ganyme der erfuhr. Das würde er schon in Ordnung bringen; außerdem aber waren da die Antarier. Ihr Abstand war noch größer, sie lagen an der Spitze. Pascal VI hatte den Vorsprung der antarischen Sonnenschiffe auf 15,56029 Lichtminuten bestimmt, doch irgend etwas daran war mysteriös. Der Aluminiumstreifen, den er gerade aus astronomischer Ferne durch den Schiffskoordinator stanzte, wies in irgendeiner Form auf die Heisenbergsche Unschärfere lation hin. Imu hörte Wotan unbeirrt erwidern. Bevor er sich den Helm mit den empfindlichen Neuronentastern über die blauschwarz glänzenden Haare stülpte, schraubte er seinen Trankanister auf und blinzelte vergnügt zur Tür, durch die gerade Jeremy, vor Abscheu schaudernd, verschwand. Das Zeug schmeckte nach Walfisch und Eisbergen und Fanalen am Polarhimmel, fand er. Wenn die Nächte 24 Stunden lang sind und die Sonne die Zeit nicht mehr messen kann. Dann stand er am Koordinator. Unter seinen Händen begannen Wotans zahllose Meßgeräte zu spielen. Lomonossow gab die Koordinaten durch, und das Schiff tönte …
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2.
Axward lehrte auf der Schule für Organismische PsychoSozionetik. Sein Anliegen war eine neue Methode der Naturbe trachtung. Er suchte nach einem Modell, das nicht länger nur Teilabschnitten der Welt, sondern der Gesamtwirklichkeit kongruent war. Der Durchbruch kam in unerwarteter Weise. Eines Tages schuf er die Positronenkreuzer. Die Konzeption des Positronenkreuzers beruht auf den Prin zipien der Organismischen Psycho-Sozionetik. Zwischen Mensch und Natur besteht bei ihm kein Gegensatz mehr. Der Mensch ist nicht länger subjektiv, und die Natur steht ihm nicht mehr vollkommen isoliert als Objekt gegenüber – oder umge kehrt. Natur und Mensch sind eins geworden: sie stellen eine statische, unveränderliche Einheit dar. Das einzig Variable ist die Zeit, die an dieser Natur-Mensch-Einheit vorbeiläuft. Formeln, Begriffe, Gesetze sind nicht absolut und endgültig, sondern jeweils abhängig von der Art ihrer Definition. Denn weil keine Grenze mehr zwischen Mensch und Natur besteht, gibt es unendliche Möglichkeiten, einen Naturvorgang zu beschreiben. Alles ist nur eine Frage von Ansicht und Definiti on. Ursache und Wirkung sind damit ihrer Zeitlichkeit beraubt. Professor Axward hat die Kausalität abgeschafft und das Postulat von den »Uridentitäten« aufgestellt. Da die Zeit variabel ist, ist sie keine Meßgröße mehr. In einer Periode tiefster Meditation erkannte Axward deshalb eine neue NaturMensch-Konstante, die »Uridentität«. Er sah, daß sie als Modellvorstellung eine Skala darstellt, an der er die Abläufe, die nicht mehr Newtons Kausalität unterworfen sind, qualitativ messen konnte. Das ist die Brücke zur Rationalität: Das Ge schehen wird so für ihn ein rein statisches Faktum; das Wesen der Dinglichkeit einer Erscheinungsform aus Zeit und Materie liegt für ihn in der gegenseitigen Zuordnung der Uridentitäten. 207
Lange vor dem Rennen sagte er einmal zu Lowell: »Alles IST; – Werden und Entwicklung, Veränderung und Wandel sind alle nur eine Frage des Seins und Existierens. Der Begriff der Zeit ist zur mathematischen Hilfsgröße deklassiert. Heute brauchen wir sie nicht mehr.« Die Form selbst ist sekundär geworden und jederzeit auflös bar. Die Organismische Psycho-Sozionetik nimmt die Begriffe »Leben«, »Geist« und »Zweck« und erklärt, d. h. integriert sie in Ausdrücken von Axwards Axiomen, die um und aus der Uridentität heraus Spiralen: Damit fusioniert das Weltbild. Doch was ist die Uridentität? Das Atom? – Das Elektron? – Das Quark? – Der Geist? – Das Chaos? – Das Nichts? Nur wenige verstanden das. Der praktische Beweis für die Theorie aber waren die Positronenkreuzer. Es war im Jahr 3000 n. Chr. als sie im Interastralen Rennen um den Preis des Universums kämpften. Auf dem Spiel stand die Führung unter den Sternkulturen. Der Elektronendenker Einstein rief nach sechsmonatiger Prüfung die fünf fähigsten Männer und Frauen der Erde nach Detroit. Lowell war einer von ihnen. Innerhalb von vier Jahren bauten Raumpädagogen ihre psychologischen Komplexschablonen um. Ein weiteres Jahr benötigten sie für ihre Testzellen. Einstein diktierte Diät, verbot das Rauchen und mischte sich in die intimsten Dinge. Es war das größte Rennen der menschlichen Geschichte. 3. Das Zentrum der Dunkelzone war der Elektronenwirbel. Über fünf Lichtjahre erstreckte er sich durch sternenlosen Raum, und an seiner engsten Stelle maß er drei Lichtmonate. Nur Zinn war es im Jahr 2689 gelungen, ihn zu durchbrechen. Jeremy erschien das Unterfangen wahnwitzig. Was, wenn 208
Axward sich geirrt hatte? Da kam Einstein über die Neuronentaster: »… der Elektro nenwirbel ist ein scheinbares Zeitgefüge.« (Imu sah auf dem Teleschirm, wie das schwarze All an seiner Grenze einen dünnen glühenden Faden gebar). »Axward sagt: Das Wesentli che ist die Überwindung des subjektiven Begriffs …« (Der Faden wand sich wie eine leuchtende Schlange in höchster Qual und begann sich zu vergrößern, nahm die Gestalt eines wirbelnden Doppelkegels an). »…das objektive Ereignis löst sich dann als Organismus auf …« (Imu dachte an die Nordlich ter, aber das Ding da vorne war unendlich intensiver. Bläuliche Flammenzungen leckten meilenweit aus dem Gebrodel, änder ten die Form, fraßen den Raum und zuckten wieder in den blendenden Katarakt zurück). »… was bleibt, ist nur eine bloße Summe von Uridentitäten.« Die Myriaden freier Elektronen füllten jetzt den ganzen Vor dergrund aus. Für einen Moment verlor Imu die Konzentration, – aber da war wieder Einstein, das Gehirn von der fernen Erde, stark und patriarchalisch. Und Imu war sich überdeutlich bewußt, daß die Gefahr nur durch ihn selbst behoben werden konnte, allein mit Hilfe seines Verstandes. Die akute Gefahr lag damit mehr in ihm selbst als im Elektronenwirbel da vorne. Der Gegner war nicht in der Vortex, sondern in ihm, Imu, selbst. Die Jahrtausende voll Ignoranz, Unterdrückung, Frag mentierung und Machtrausch, die auch in seiner Erbmasse ihre Spuren hinterlassen hatten, verlangten ihren Zoll … Dagegen stand das neue System von Axward! Sekunden später war das All in gefährlich-blauen Schimmer getaucht. Die Titanwände des Schiffes schienen durchsichtig zu wer den … die Form ist sekundär, unwesentlich … Du kannst sie bekämpfen, sagte das Gehirn. Unbewußt hörte er hinter sich das unaufhörliche Gerassel von Wotan, dem Schiffskoordina tor, der die Felder aufzubauen begann. Dahinter lagen die 209
gedämpften Stimmen der Männer und das Brausen aus den Zinnschen Beschleunigungskammern. Imu verstärkte die Energiebarriere. Piotr Kirischenko nickte ihm zu. »Die Felder stehen stabil, soweit.« Jeremy »sprach« immer mit Lomonossow. Beide brachten die divergierenden Zeitordinaten in eine Ebene. Als Imu darauf das Zeichen gab, trennte Lowell für eine Zehntelsekunde die Erdverbindung mit den Gehirnen. Im selben Moment öffneten sich die Beschleunigungskammern. Die Positronen, die aus den elektromagnetischen Hohlspie geln in den Weltraum stürzten, trugen eine Energieladung von zehntausend Billionen Elektronenvolt. Sie warfen sich auf ihre Opfer – die Elektronen des interstellaren Wirbels. Ihre Verbin dung erzeugte Quanten ungeheurer Frequenz. Aus diesen rein elektromagnetischen Wechselwirkungen kamen Vektormeso nen, die im wesentlichen schwere Photonen waren. In blenden der Helle explodierte ein Loch durch den Wirbel – mörderische Gammastrahlung brandete gegen die Energiebarriere. Irgendwo im Schiff hörte man das leise Zählen eines Elek tronendenkers. 4. Der Start … Drei bioelektronische Supergehirne bildeten die Ursprünge eines gigantischen Ordinatensystems. Pascal VI in Göttingen, Lomonossow in Moskau und Einstein in Detroit. Das Schiff war der Schnittpunkt dieser Achsen. Der Mann, der die Ordina ten wie auf dem Konstruktionsbrett verschob, war Axward. Der Greis stand am Fenster seines Arbeitszimmers und sah in den Sternenhimmel. Von fern her spiegelten die metallenen Körper der Schiffe das Licht der starken Jupiterlampen. Sie 210
schienen den Gipfel eines riesenhaften Ameisenhügels zu bilden. Das Gewimmel um sie herum verschmolz im künstli chen Zwielicht zu einer wogenden Masse. Sie warteten. Raumstation GALAXY schickte durch die Explosion der Natriumbombe die gelbe Linie auf die Reise. Dies würde das Startsignal sein. Pascal VI streckte seine Pseudo-Augen – Axwards Augen – weit in den Weltraum. Zur Seite der Erdschiffe, an der Startflä che, warteten die Röhrenmänner von Xophyl, die Untertassen der Ganymeder, die berüchtigten Schiffe der von Iljaschenko entdeckten Schlammfresser von Alpha Centauri und natürlich die enigmatischen Antarier. »Endliches, aber unbegrenztes Kontinuum«, überlegte Ax ward, und sein gütiger Blick spiegelte die Sterne. Er würde hinausreichen und seine Spuren im blinden Gesicht der fernen Sonnen hinterlassen. »Modellbauer, der Mensch«, dachte er. Ob er wohl je über seinen eigenen Schatten springen könnte? Vielleicht war es zu spät. »Nicht sein Fehler«, murmelte er plötzlich vor sich hin, »sondern sein Adjektiv.« Diesmal ging es nicht mehr um einen lumpigen Asteroiden, sondern das Schicksal von Sol stand auf dem Spiel, – und das Universum. Das Rennen war der letzte Versuch der vermitteln den Xophylleute, den Planetenkrieg zwischen Antares und Sol abzuwenden. Eine Leistungsprobe. Der Streit dauerte nun schon bald hundert Erdjahre; der ursprüngliche Anlaß waren die Erzminen des Xeres gewesen. Er blickte zum Nachthimmel. Im Spektroskop die gelbe Linie … Dann war die Verbindung da: Göttingen – Moskau – Detroit. Professor Axward ging langsam an seinen Arbeitstisch und senkte den schmalen Kopf in die Hände. Das System stand.
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5. Die gelbe Linie … Da war sie! Es schien Lowell, als hätte sie das All aufgesogen wie ein Löschblatt, noch bevor eine Sekunde verstrichen war. Nach all den Jahren des Wartens und Vorbereitens fühlte er sich mit einemmal intensiv leer. Er dachte an das plötzliche Verschwin den der antarischen Sonnenschiffe. Das Startzeichen … ein Flimmern … sie krümmten sich in unfaßbare Dimensionen … der Startplatz war leer. Als die Sonne mit ungeheurer Gravitation nach ihnen krallte, wurde Jeremy geschäftig. Er stand am Koordinator, dem Zentrum der Gesetzmäßigkeit. Lomonossow berieselte Wotan mit Feldgleichungen und deren Konstanten. Das Schiff setzte sich mit einer Hundekurve auf die gravi-sphärische Geodätik, die den stark gekrümmten Raum als Großkreis umschließt. Erst später erfuhren sie, daß die Röhrenmänner von Xophyl weit zurückgefallen waren, weil ihr Navigationsroboter wegen Sabotage keinen Zugang zur sphärischen Trigonometrie gehabt hatte. Als Schiedsrichter hätten sie den Flug begleiten sollen. 6. Jetzt strahlten wieder die unwirklich großen Sterne von den Teleschirmen. Irgendwo hinter ihnen zerkochten die Ganyme der im Strudel der Elektronenvortex. Lowell übernahm Wotan. »Wenn alles gut geht, können wir in drei Tagen die Ammo niakseen von Xophyl erreichen«, sagte er zu den Männern. Nach Pascals letzter Schätzung mußten die An tarier schon nahe am Ziel sein, wenn sie – was Lowell befürchtete – nicht schon dort eingetroffen waren. Ihr Vorsprung war unbegreif lich. 212
Lowell bombardierte die Gehirne mit allen ihm bekannten Maßzahlen, Spezifikationen und Leistungsparametern der antarischen Sonnenschiffe, in der Hoffnung, daß es ausreichte. Stundenlang warteten sie dann auf Antwort. Die Gleichungen erwiesen sich als unlösbar. Die erhaltenen Magnetbänder und Neuronenimpulse enthielten keinen Sinn. Es gab Mehrdeutig keiten. Eine Gleichung mit mehreren Unbekannten, so schien es Lowell. Wie hatten sie das fertiggebracht? Es schien un glaublich. Die Positronenkreuzer waren geschlagen. Vielleicht … Lowell lehnte sich in seinem Schaumgummisessel zurück und versank in angestrengtem Denken. Der Steuerraum lag in dämmerndem Zwielicht. Rotierende farbige Bandspulen, die dann und wann als flirrende Scheiben erschienen, und glimmende Elektronenticker lösten die Stirn wand in buntes Geflimmer auf. Hinter sich hörte er das vertrau te Murmeln Wotans, dessen Systeme das halbe Schiff ausfüll ten: Peripherale, submikroskopisch gekerbte Ultra-ScaleIntegration-Kristallspeicherbänke, künstlich gewachsene Neuralschaltkreise und kilometerlange Glasfaserkabel. Sie trugen die Ordnung der Welt. Manchmal rasselten die Relais in Wotans Tiefe, dann änderte sich das Summen der Positronenmotoren, oder ein silberner Magnetstreifen schoß wie eine ringelnde Schlange über den Boden. Im tiefrot getönten Halbdunkel kauerten die Männer über den Instrumenten wie Mönche des Mittelalters in demuts voller Meditation. Außen preßte die Dunkelheit des Alls auf die dünne Wandung des Schiffes – und sie wußten, daß ir gendwo in einem anderen Fixsternsystem die grüne Kugel ihres Heimatplaneten kreiste, unendlich fern. Aber die Brücke stand noch: Einstein, Pascal VI und Lomonossow. Irgendwo da draußen waren auch die beiden Schiffe vom Antares. Lowell gab es auf. Jede Möglichkeit hatte er genau geprüft, aber immer stieß er gegen irgendeine Grenze, die gleich einer 213
unüberwindlichen Mauer vor ihm aufragte. Eine Grenze, die für menschliches Maß endgültig schien und keine Lücke zeigte. Er dachte an utopische Modellvorstellungen. Stern sprung? Nein, das war ganz unmöglich. Zinn hatte diese Phantasie schon vor vielen Jahrhunderten in seiner Schrift über die Zeit widerlegt. Seltsam – Axward hatte sich dazu eigentlich nie geäußert. Selbst sein System schien machtlos. Axward! Lowell gab eine Anweisung. Mehrere Kontaktketten rassel ten durch den Koordinator. Die Bildschirme hellten sich unmerklich auf. »Simultanzeit!« sagte das Antlitz auf dem Schirm ruhig. »Synchronisierung hat schon begonnen. Professor Lowell, Ihre Hyperflache beult sich! Sie zapfen unsere Zeit an. Achtung vor Massetransformation!« Der Bildschirm war leer. Lowell sprang auf. »Axward!« brüllte er verzweifelt. Sie versuchten nochmals, die Verbindung herzustellen, aber irgend etwas war schiefgegangen. Die Männer sahen sich schweigend an. Was bedeutete die Warnung? Jeremy eilte zum Koordinator und fütterte mehrere Integrale hinein. »Machen wir den Zeittest«, regte er an. Lomonossow auf der fernen Erde zog die Funktionsimpulse, die Wotan in den Pararaum schleuderte, wieder aus diesem heraus, modu lierte sie, stabilisierte sie. »Was zum Teufel soll das?« erkundigte sich Lowell und trat mit den anderen hinzu. »Man hat mich speziell auf diese Funktion vorbereitet«, wandte sich Jeremy erklärend an die erregten Männer. »Ich glaube, Hypnose wurde dazu benützt. Der Zeittest stellt eine Beziehung auf zwischen dem Planckschen Wirkungsquantum, das die kleinste Einheit innerhalb der drei Raumdimensionen darstellt, und dem von Seedy in seinen berühmten Vorlesungen postulierten Zeitquant. Auf Erdverhältnisse bezogen, und das 214
sind auch die Verhältnisse, wie sie in unserem Universum bestehen, ergibt die recht komplexe Tensorgleichung genau Eins. Die Heisenbergsche Unschärfe wird dabei durch einen Wahrscheinlichkeitsfaktor kompensiert, den die Rechengehirne unter Einbeziehung der Schrödinger-Gleichung kalkuliert haben. In jedem anderen Raum-Zeit-Kontinuum ergibt sich aber eine Abweichung von Eins, die das Mehrfache einer bestimmten Konstanten bildet, die in der Universalformel festgelegt ist. Je größer der Multiplikator dieser Konstanten ist, desto größer ist die Invarianz zwischen unserer Zeit und der Zeit – und damit dem Raumgefüge – jenes anderen Univer sums. Denn Raum, wenn wir ihn in den drei bekannten Dimen sionen ausdrücken, ist stets Raum, aber Zeit ist nicht immer Zeit. Es kommt auf das Universum an, in dem wir uns befin den. Es ist eine Sache der Definition, wie überhaupt die gesam te Gesetzmäßigkeit auch.« Er klopfte vielsagend auf Wotan. »Jene neue Zeit, die durch den Multiplikator dann als Paralle le zur konventionellen Zeit hinzutritt, nennt Axward Simultan zeit. Sie schneiden sich im Unendlichen. Sehen Sie, Schrödin gers Katze stellt in Wirklichkeit kein Paradox dar. Ihre Exi stenz ist ein unverändertes Faktum, garantiert durch die Ur identität. Damit dies so ist, muß ihr anderes Schicksal in der parallelen Simultanzeit durchaus real sein. Als einziges haben die Alternativen die Uridentität gemeinsam. Die Gefahr, in eine andere Zeit zu rutschen, ist dann groß, wenn wir uns im Para raum oder dicht daran bewegen, wie jetzt. Unter normalen Umständen aber ist dieser ›Zeitrutsch‹ unmöglich. Als Äquiva lenz bestünde dann auch eine Simultanmasse als Funktion der Simultanzeit …« Jeremy hatte mit ausdrucksloser, fast automatischer Stimme gesprochen, als die Unterbrechung kam. »Achtung – Achtung!« dröhnte plötzlich die Membranstim me von Lomonossow durch das Schiff, »asymptotische Zeitab spaltung! – Meine Zeitstabilen brechen zusammen!« Ohne 215
Konstanten schien das Gehirn die Zeit nicht mehr halten zu können. Der unsichtbare Gegner mußte in diesem Moment angegrif fen haben. Lowell hörte, wie überall im Schiff die Sirenen anliefen: Jetzt gab Pascal VI Raumalarm. Würden die Gehirne die Zeit stabil halten können? Seine Augen hingen an Wotans Kontrollampen – sie flacker ten rot – erloschen eine nach der anderen. Das Röhren der Klaxons schwankte ersterbend. Kirischenko blickte mit eulen artig aufgerissenen Augen von den Instrumenten auf und wartete auf Instruktionen, als um ihn herum die Gesetzmäßig keiten zusammenbrachen. »Energiesperren errichten!« rief Lowell den Männern zu. »Eins!« – »Eins!« kam die Antwort. »Zwei!« – »Zwei ist eingestellt!« Vorsorglich baute er die Positronenbatterie auf ihr Maximum auf. »Wir rutschen!« Jeremy sagte es, aber es klang wie ein Schrei aus vielen Kehlen. Über Millionen und Abermillionen von Kilometern hinweg badete Einstein das Schiff in telepathischem Nebel. Der gegnerische Angriff war ein ungeheurer, schmetternder Schlag in seinem Hirn. »Alles, was ist, endet!« ging es Lowell durch den Kopf. Doch gleichzeitig spürte er, wie ihm Einstein blockierend zur Hilfe kam und die psycho-sozionetische Schablone verstärkte. Natur und Mensch sind eins. Nur die Zeit ist veränderlich. Die Form ist sekundär. Dann sah er die Schwärze wie zähen Schlamm auf sich zukriechen, und sie sog das Rennen in sich auf und die Erinnerungen an die grünen Wiesen der Erde und die braunen Felder und den kühlen Wind, der abends vom Meer wehte … der Tag war blau gewesen und hatte den richtigen Hintergrund abgegeben für Anna, als sie mit dunklem, zerzaustem Schopf auf der Anhöhe stand und ihm zuwinkte … 216
Fortgelöscht alles, als ob es häßliche Tintenkleckse gewesen wären … verzehrt von Flammen, die keine waren … denn sie brannten schwarz und ließen nicht einmal Asche … Fortge löscht, bis nichts mehr blieb … 7. Zuerst ist das Nichts. »Seltsam«, dachte er, »ich bin nicht tot, ich kann noch denken.« Alles um ihn war grenzenlos. Es gab keine festen Anhalts punkte, kein Bezugssystem, aber der Geist Lowells war der absoluten Zeit immanent. Dann spürte er Wechselwirkungen elektrischer Kräfte – oder waren es winzige Energie-MasseFelder? Anziehen, abstoßen, auswählen. Ordnen – zusammen haften. Es gab einen zweiten Lowell, der der relativen Zeit unterworfen war, und er stand am Anfang der Zeit. Manchmal schien es ihm in der langen Nacht, daß er, daß seine schiere Existenz auf der Interferenz zwischen absoluter und relativer Zeit beruhen mußte. Das Beugungsbild seiner Pseudo-Existenz war ohne diese »Gleichzeitigkeit« nicht denkbar. »So muß sich Schrödingers Katze gefühlt haben«, dachte er. In seinem winzigen Protoplasmakörper waren keine Gedan ken, nur Reflexe – als Reaktion auf das Außen. Fortbewegung, Stoffwechsel, Wachstum, Fortpflanzung … van der Waals’sche Kräfte. Langsam floß er auf eine grüne Algenzelle zu. Die Amöbe teilte sich nach einiger Zeit unter seinem Willen; bald bildeten sich Membranen und Zellwände. Und ungezählte Jahrtausende verstrichen. Nach Axwards Axiomen ließ er die Zellen zur Organisation zusammentreten, programmierte er genetische Systeme. Sonnentierchen haben schon einen Lichtsinn. Lowell war 217
fasziniert, als er feststellte, daß das Nichts nun aus Hell und Dunkel bestand. Jetzt war die Möglichkeit des bewußten Klassifizierens gegeben: – Licht hatte offenbar positiven Einfluß auf seine Existenz, das Dunkel mußte vermieden werden. »Schade«, dachte Lowell wieder, »wenn sie in der Ethik bewandert wären, würden sie eine Religion begründen.« Wieder griff er ein und organisierte, prägte, ordnete. Er war ein kleiner grüner Polyp und angelte Wasserflöhe. Als Lanzett fischchen, noch immer hirnlos, aber nun mit einem rudimentä ren Nervensystem, durchzog er die ungeheuren Weiten des Ozeans. Eines Tages entstieg er dem Lebenselement Wasser. Mühsam zog er sich mit Hilfe seiner Flossen ans Ufer. Eine glühende Kugel brannte auf ihn herunter, aber er schleppte sich weiter. Aus weiter Zukunft, über 200 Millionen Jahre entfernt, lenkte Lowells Gehirn. Nur schwach kämpften die Ganglien gegen die Macht, die ihn weiter zwang. Der Fisch Lowell füllte seine Schwimmblasen mit Sauerstoff. Noch während ihn die dunkelgelbe Sonne zu Tode brannte, wußte er im Sterben, daß er es geschafft hatte. Die vielen Feinde im Meer fehlten auf dem Land, und seine Art vermehrte sich, wuchs unter tropischer Atmosphäre ins Riesenhafte. Ein paar Jahrtausende lang jagte Lowell Insekten. Sein Körper war von einem dichten Haarkleid bedeckt, aber der Libellenfresser war nicht größer als eine Ratte. Im Tertiär beschleunigte sich seine Entwicklung. Wie vielfältiger zeigte sich jetzt das Leben! »Das Ende ist noch lange nicht erreicht«, ging es ihm durch den Sinn, während er sich von Ast zu Ast schwang. »Gleiche Organismen kann ich wieder einander zuordnen … etwas Neues tritt auf, Spezialisation … dann wieder Zuordnung … ad infinitum?« Schließlich warf er sich über den Abgrund, hangelte sich bis in die Krone des riesenhaften Baumes und machte sich dort über die gelben Früchte her. Abends tanzte er mit den anderen 218
um das Feuer. Dumpf dröhnten die Rhythmen der Tom-Toms, und sie sangen den Gesang vom Feuergott und aßen Fleisch. Das Feuer rettete sie über die Eiszeit, und dadurch erhielten sie einen ungeheuren Vorsprung. Das ist Lowells Verdienst. Als sie die Mindel-Riss-Interglazialzeit erreicht hatten, spürte der Steinheim/Swanscombe-Mensch, der Lowell war, wie sich ein gewisses Muster in sein Raum-Zeit-System zu drängen suchte. Zuerst war es nur ein sanftes Schieben – wie wenn man leicht in eine Dampfwolke bläst. Schließlich kristallisierte sich das Bild Axwards aus dem Dunkel. Homo erectus sah das Axward-Hologramm an: »Es ist tatsächlich ganz einfach. Der Hinterhalt wurde durch die Antarier gelegt. Ihre Schiffe sind jetzt unreal im Sinn unseres absoluten Zeitbegriffs. Die geringe Massendichte der antarischen Planeten bedingt einen schnelleren Zeitablauf relativ zu Sol. Die Zeitverbindung geht über den sechsdimen sionalen Pararaum, in dem mehrere »Zeiten« nebeneinander bestehen können. Wir kennen kaum den fünfdimensionalen, wenn wir ihn auch bei Überlichtgeschwindigkeit benützen.« Er zuckte mit den fellbehangenen Schultern. »Ihre Schiffe als eine Funktion dieser Zeit …« Er erwog das Problem. »Das sagt mir nichts Neues«, murmelte Axward, und seine Augen schienen leer. Dem Mann mit der fliehenden Stirn und dem gewaltigen Unterkiefer war es, als blickte er durch sie in ein fremdes Universum. Axward sagte: »Sie müssen Ihren Weg zu Ende gehen, Lo well. Meine Existenz, Ihre Zukunft hängen davon ab. Es geht jetzt nicht mehr um das Rennen, sondern um das Bestehen und Erlöschen ganzer Weltordnungen. Antares hat schon vor dem Start unsere Botschafter atomisiert und die Xophylschiffe durch Sabotage außer Betrieb gesetzt. Es wird einen Vernich tungskrieg geben, – aber Sie können ihn verhindern. Pascal VI, Einstein und Lomonossow sind nach Parallelschaltung durch Überlastung durchgebrannt, als sie Ihr Problem angehen 219
sollten. Vorher ist es ihnen jedoch gelungen, die asymptotische Simultanzeit in eine Funktion zu zwingen, die sich mit der absoluten Zeit im Endlichen schneidet. Diesen Punkt bilden wir beide, und nur deshalb kann ich Ihnen erscheinen.« Etwas viel auf einmal, dachte Lowell. Das Beugungsbild … »Und wie denken Sie sich die Lösung?« Das Bild Axwards begann sich in unbegreifliche Krümmun gen zu verzerren … Lowell war allein. Nicht ganz. Die Höhle war im trüben Licht der Fackeln nur schwach erhellt. Das Licht flackerte schemenhaft über die Zaubermale reien und Salzablagerungen, die die Wände überzogen. Irgend etwas schien nicht in Ordnung. Plötzlich wurde er sich erneut der schreienden Frauen und Kinder bewußt. Im Dämmerlicht sah er, wie sie sich zusammendrängten und zum Ausgang starrten. Das gefährliche Brummen der Riesenbären und das Gebrüll der Männer erinnerten ihn wieder an die bedenkliche Lage, in der er sich befand. Mit Feuer verteidigten sie die Höhle gegen ihre aufgebrachten ursprünglichen Besitzer. Er war schon millionenmal gestorben, und doch hatte er im mer wieder eine neue Abneigung dagegen. Der Selbsterhal tungstrieb war stärker noch als die psycho-sozionetische Schablone, mußte er denken. Er rechnete damit, daß sie noch zwei Stunden durchzuhalten vermochten. Inzwischen konnte er zu einem Plan kommen. Diese Faustkeile und Steinäxte taugten nicht viel. Er sah sich in der Höhle um, fand aber nichts, was ihm im Moment gedient hätte. Als sein Blick die Wände entlangglitt, entdeckte er plötzlich die Antwort. »Rufe Kolo zu mir!« gab er einer Frau zu verstehen, die sich noch einigermaßen vernünftig verhielt. Sein Sohn Kolo war über und über mit Blut bespritzt. Einiges davon war sein eigenes; es entfloß vier tiefen, klaffenden 220
Schrammen auf seiner Brust. Seine Hände umklammerten ungeschlachte Steinkeile, von denen es rot tropfte. »Hör zu, mein Sohn: ich brauche die gelben Steine von der heiligen Quelle. Bringe mir sofort welche – sie können uns helfen.« Kolo verzog seine breite Nase und stürzte sich wieder in das Getümmel. Lowell konnte nur hoffen, daß er durchkam. Unter seiner Anleitung begannen die Frauen die Salpeterabla gerungen von den Wänden zu schaben. Dann zerkleinerten sie Holzkohle in den Kornmühlen. Während dieser Tätigkeit tobte vor der Höhle der Kampf weiter. Von Zeit zu Zeit taumelte ein Verletzter an ihnen vorbei in den Hintergrund, wo die Wasservorräte lagen. Vorne ging das Brennholz zu Ende. Lowell rechnete nur noch mit wenigen Minuten; bald würden die Bären hier sein. Vorsichtig mischte er das Kohlepulver mit dem Salpeter. Das richtige Mischungsverhältnis war ihm nicht bekannt; in seiner Zeit kämpfte man nicht mehr mit chemischen Mitteln. In dieser Zeit hätte er sein ganzes Vermögen für eine Laserpistole gegeben. Aber die wäre im Neozoikum ebensowenig real, wie er selbst. »Hallo«, sagte Kolo und schreckte ihn aus seiner beschauli chen Tätigkeit auf, »hier sind die gelben Brocken.« Es war ihm tatsächlich gelungen, bis zur Schwefelquelle durchzubrechen. Als Lowell soweit war, suchte er sich einen schönen großen Steinkrug aus und füllte ihn mit seiner Mischung. Ein mit Salpeterlösung getränkter Streifen Pflanzenbast diente als Zündschnur. Als sie trocken war, steckte er sie in das Gemisch und begann hierauf, den Topf mit nassen Lederstreifen zu umwickeln. Dabei ließ er sich Zeit und schien nicht zu merken, wie sich die Männer erschöpft an ihm vorbei in den hinteren Teil der Höhle zu den Frauen und Kindern verzogen, um dort ihre letzte Stunde abzuwarten. Er war schon zu alt, um sich allein fortzubewegen. Aber mittels einiger Ohrfeigen gelang es ihm doch noch, seine an 221
ihm zerrenden Söhne davon zu überzeugen, daß er nicht nach hinten, sondern an den Ausgang der Höhle wollte. Die Bären schickten sich gerade an, über die niedergebrannte Feuerbarrie re hinweg einzudringen, als er die Lunte in Brand setzte. Dann trugen sie ihn rasch nach hinten. Die Explosion war stärker, als er erwartet hatte. 8. »… war es allgemein gebräuchlich, die Veränderung der Raum-Zeit-Struktur nur im Sinn eines ›Pfeils der Zeit‹ aufzu fassen. Bis vor kurzem noch war dies ein wesentliches Hilfs mittel der Erkenntnistheoretiker gewesen. Heute ist die Zukunft nicht mehr eine Funktion der Vergangenheit. Jedes folgende Zeitquant negiert das vorhergehende, löst es auf. Die bisherige Physik ist nur bis zu einer Definition des Individuums gekom men; dabei hat sie aber die Zuordnung des Bestandteils zum Ganzen vollständig übersehen. – Danke, meine Herrschaften!« Er schaltete den Projektor ab. Im aufflammenden Licht sah er, daß er genau den richtigen Zeitpunkt getroffen hatte. Spon tan erhoben sie sich von ihren Sitzen und brachen in immensen Beifall aus. In wenigen hundert Jahren würde er sie soweit gebracht haben. Er fühlte sich unendlich müde, als er sich auf sein Meditationskissen zurücksinken ließ, und wartete, bis der letzte der Studenten den Saal verlassen hatte. Bei genauerer Überlegung war alles eigentlich doch sehr schnell gegangen. Seedy-Lowell dachte zurück an die Tage, als sie die Pyramiden bauten. Nachts hatte er die Priester im Lauf der Sterne unterwiesen, oder sie gewannen primitive Medika mente aus dem heiligen Nilschlamm, als er sich darin versuch te, sie aus den magisch-mythischen Phasen der Menschenent wicklung herauszulösen und der mentalen Phase zuzuführen. Oft genug hatte er sich damals über die Heimlichtuerei dieser 222
eingebildeten Kerle geärgert, aber man mußte Geduld haben. Die Zeit war noch nicht reif. Den Fehler, den er auf Atlantis in Gondwanaland begangen hatte, wollte er nicht wiederholen. Wie kann man Kindern einige Pfund Uran-235 zum Spielen geben! Die Folgen waren katastrophal gewesen. Er hielt sich von da an zurück und entwickelte bald ein feines Gefühl für zeitliche Gegebenheiten und Anachronismen. Doch hatte Lowell den Reifungsprozeß schon viel früher, noch vor der Riss-Wurm-Interglazialzeit, in Gang gesetzt, als es ihm klar geworden war, daß zu weiterem menschlichen Wachstum die technischkulturelle Evolution an die Stelle der biologischen Entwicklung treten mußte, die ihren Kurs gelau fen war. Bald schon hatte er seine Auswirkungen erkennen können: Vor etwa 20 000 Jahren machte der Zeitgeist seine erste wesentliche Wandlung durch, als die schollenverwurzelte matriarchalische Gesellschaft zu Ende ging. Seedy-Lowell dachte an jene kataklysmische Transition, die er mit ehrfürchtigem Staunen erlebt hatte. Bis zum Ende der letzten Eiszeit, Wurm III, und während des Prozesses der wirtschaftlichen Revolution, die nach dem Ende der Eiszeiten mit der Entwicklung der Hochkulturen Hand in Hand ging, hatte der Mensch das Los und die Abenteuer einer Gattung erlebt, die von allen anderen lebenden Wesen ausgestoßen worden war. Mit ihrer Abkehr von der Natur hatte die Menschheit in jenen unvorstellbaren zwanzig Jahrtausenden eine fast unablässige Folge von Schocks über sich ergehen lassen müssen, die ihre kulturellen Systeme bis in die Grundfesten erschütterten. Lowell hatte mitangesehen, wie der Mensch die großen Bilder stürme der Geschichte überlebte, um daran zu wachsen, wie er sich in den gewaltigen nationalen Großraumkriegen zerfleisch te, um danach als neugeborener Phönix aus der Asche seiner Zivilisation zu steigen, und wie er es lernte, Angst zu haben, und sich dagegen mit den lockenden Früchten der Macht 223
vergiftete – doch ohne daran einzugehen. Aber der furchtbarste Schlag von allen war – unter Lowells beharrlichem Ansporn – der Verzicht auf die Mythen und die Verdrängung des Bildes der Großen Mutter durch eine Welle von Abstraktionen, die ihren ersten Ausdruck in den paläolithi schen Höhlenmalereien des franko-kantabrischen Raums gefunden hatten. Mit der Abkehr vom Mythos und der Entthro nung der Götter war sich der Mensch der Zeit bewußt gewor den. Langsam begann sich damit die Tür zum Königsweg der Erkenntnis und des Wissens, der Meinung und der Ethik zu öffnen. Niemals zuvor oder danach waren Lowell die ungeheu ren Potentiale des menschlichen Geistes derart intensiv bewußt geworden – aber auch die darin verborgenen Gefahren. Vor rund 10 000 Jahren war Axward zum letztenmal erschie nen. Ihre Begegnung hatte nur kurze Zeit gedauert. »Alles liegt jetzt an Ihnen und mir«, hatte Axward mit tief stem Ernst gesagt. »Wenn Sie die Erde suchen, so ist es mög lich, daß Sie noch einige Milligramm davon in der Nähe von Andromeda herumschwimmen sehen können. Aber bitte nicht anfassen – die Gammastrahlung ist ganz außerordentlich.« »Ich verstehe nicht«, sagte der Pfahlbauer und dachte an psychologische Instabilitäten. Doch dann sah er Axwards Augen. Sie waren wieder menschlich. In ihnen lagen die Weisheit und die Traurigkeit einer verlorenen Rasse, tief und schwarz wie der ewige Weltraum, den sie hatten erobern wollen. »Es ist zu spät. Die Antarier haben unser System vernichtet. Die Sonne ist nicht mehr da, die Erde ist weg. Alle sind sie tot.« Lowell sah die Augen erblinden, und dann hatte er verstan den. Da blickte Axward plötzlich aus seiner Resignation auf. »Sie haben das Paradox der Zeit widerlegt?« Lowell nickte. »Die Explosion in der Höhle … Sie hatten 224
recht: Es gibt keinen intrinsischen Widerspruch. Ich glaube, ich schaffe es.« »Übereilen Sie nichts. Es muß gelingen! Natürlich wird Er ziehung der Schlüssel sein, aber ihre Überbetonung führt zu intellektueller Oberflächlichkeit. Davon haben wir weiß Gott genug gehabt. Das Wichtige ist der Weg, nicht das Ziel. Das Bild des Menschen, der zwar seine äußere Umwelt zu kontrol lieren vermag, sich dabei aber andererseits unfähig zeigt, seine eigenen inneren infantilen Motivationen zu kontrollieren, ist zutiefst abscheulich. Wissen ohne Weisheit hat uns getötet. Ein erschlitterndes Zerrbild. Diesmal müssen Sie es vermeiden.« »Übrigens, wie kommen Sie hierher? Leben Sie noch?« »Ganz einfach.« Nun begann Axward zu schmunzeln, und auf seinem Greisenantlitz breitete sich heitere Gelassenheit aus, als er die Lösung vor sich sah. »Simultanzeit! Als sie uns zu dem Rennen forderten, hatten die Antarier eine Fallgrube für uns gegraben, in die aber nicht wir hineinfallen, sondern sie selbst. Ein 200-Millionen-Jahre-Rennen …! Ich werde Sie natürlich nicht wiedersehen; was uns beide betrifft, so ist das Paradoxon leider nicht vollständig. Es gilt nur innerhalb unseres vierdimensionalen Systems.« 9. Lowell wurde zum Pädagogen der Menschheit. Er begründete Philosophien und widerlegte sie im nächsten Jahrhundert. Als Epikuräer identifizierte er das Sein mit Atomen und das Nichtsein mit der Leere. Als Stoiker nannte er dagegen die Vorstellung des leeren Raums als »Nichts« eine Absurdität und führte als Beweis an, daß ein bewegter Gegenstand offensicht lich den Raum durchmißt, der deshalb ein Plenum, keineswegs ein Nichts sein mußte. Er war Aristoteles und bekämpfte sich als Galilei. Man verbrannte ihn bei lebendigem Leib auf dem 225
Scheiterhaufen als Giordano Bruno, aber er stand unter den Zuschauern und sah zu. Kurz darauf saß er in einer Klosterzelle und arbeitete an seiner Zeit; Jahrhunderte später stand er auf den Tischen in den Bierkellern und hämmerte der Masse die Schlagworte einer Revolution in die Ohren. Aber er übereilte nichts mehr. Die Technik sollte niemals wieder zu einem Monstrum werden, das sich aus seinen dünnen Fesseln losriß und zurückschlug, dabei Spiritualität und Kreati vität, Humanität und Humanismus, Individualität und Offenheit unter sich erdrückend. Lowell verhinderte, daß neue Errungen schaften in Kriegen ausprobiert wurden. Ohne diese ließen sich schwerlich exakte Versuchsreihen fahren, geschweige denn Tabellen über die gefundenen Werte aufstellen. So verschoben sich die Schwerpunkte. Allmählich bestätigte sich ihm mehr und mehr, daß das Zeit paradoxon in der Tat kein eigentlicher Widerspruch in sich selbst war. Neben der »realhistorischen« Zeit bestand noch die Simultanzeit. Zwei verschiedene Dimensionen. Aber wäre es nicht möglich, daß die momentane Zeit, die er gerade erlebte, gar nicht die antarische Simultanzeit, sondern reale historische Zeit war – weil er sie dazu gemacht hatte? Nach dem Axward schen System wäre es vollkommen gleichgültig, welche Zeit nun als absolut oder relativ betrachtet würde. Seedy-Lowell sprang in höchster Erregung auf. Wie Triumph zog ihm eine Idee durch den Sinn: – Dann wird aus der antari schen Simultanzeit absolute Zeit von Sol! Und mit der zuneh menden Invarianz zwischen den Zeiten wuchs der Unwahr scheinlichkeitsfaktor der Antarier – und damit ihre Unbe stimmtheit. Das war, was Axward mit der Fallgrube gemeint hatte! Seine Existenz war kein Pseudozustand, sondern real. Der Saal hatte sich wieder gefüllt. Er schob das Meditationskissen beiseite, strich sich mit zit ternder Hand über die kahle Stirn und schob dann das erste Diapositiv in den Projektor. Die Vorlesung begann. 226
»Vor rund 600 Jahren machte die Wissenschaft die Atomisie rung von Masse und Energie zum Grundstock ihrer Forschung und zur Metrik ihrer Modelle. In der Absicht, alles in der Natur auf die gleiche Weise zu beschreiben, erschuf man die neue Quantenmechanik. Individualität wurde eine Angelegenheit von Form und Muster, aber nicht von unveränderlicher Sub stanz. Dergestalt akzeptierte man das Prinzip der Identität als neue Doktrin. Newtons Mechanik wurde durch die Atomisie rung von Masse und Energie in manchen Gebieten ersetzt, aber nicht in anderen. Als Folge davon brachen Makrokosmos und Mikrokosmos auseinander, und der menschliche Geist erwies sich als unfähig, die Fragmente wieder zusammenzufügen.« Er schob ein neues Dia ein. »Mit dem darauffolgenden rapi den Wachstum des bekannten Mikrokosmos durch die theoreti sche Physik schienen Ursache und Wirkung zum erstenmal voneinander unabhängig zu werden. Aber die äußere Weltord nung zeigte nach wie vor ein Verhalten, als ob sie sich entlang deterministischer Gesetze der Kausalität bewegte. Aus Be quemlichkeit lieh man sich aus der Mathematik die Statistik aus. So wurde das Weltsystem hochgradig schizoid; man dachte sowohl atomistisch als auch newtonisch und nannte den scheinbar stetigen Strom der Natur einfach ›makrokospischen Durchschnitt‹.« Ein weiteres Bild. »Die Entwicklung der Quantenmechanik durch Bohr und Heisenberg war ein beinahe erfolgreich verlau fener Versuch, Makrokosmos und Mikrokosmos wieder mit einander zu verschweißen. In einer der außergewöhnlichsten intellektuellen Synthesen, die der menschliche Geist jemals vollbracht hat, verknüpfte die Quantenmechanik entgegenge setzte Abstraktionen innerhalb eines einzigen und logisch rigorosen Modells. Doch konnte sie dabei nicht auf alle klassi schen deterministischen Grundannahmen verzichten – und hieran scheiterte sie letzten Endes.« Er deutete. »Um es über haupt so weit zu bringen, mußte die Wissenschaft nämlich den 227
Begriff der Zeit als nicht unwesentliches Werkzeug heranzie hen. Ohne das geringste Zögern, ohne nähere Beweise erklärte man sie daher kurzerhand zu einer Kategorie. Niemand erkann te, daß man damit überstürzt gehandelt und weitere Spuren verwischt hatte. Es wurde dabei nämlich übersehen, daß – erstens – der Begriff des Zeitquants der neuen Kategorie übergeordnet ist, d. h. eine tiefere Realitätsebene darstellt, und – zweitens – innerhalb einer gequantelten Zeit eine neue Absolute auftritt. Dadurch wird die Kategorie Zeit zur Hypo these. Aber keiner hat das damals gesehen …« Während er weitersprach, bremste Seedy-Lowell innerlich ab und schwenkte geschickt auf ein weniger kritisches Gebiet um. Die Zeit war noch nicht reif. Die Uridentität, die allein die vollständige Fusion des Weltsystems vollbringen konnte, hatte noch ein paar hundert Jahre Zeit, denn ohne Experiment würde die infantile Wissenschaft sie nicht akzeptieren. Zu sehr war sie in dem Postulat verwurzelt, daß jede neue Beobachtung minde stens soviel Information verschleierte, wie sie neue erbrachte. Auch die größten Forschungsanstrengungen könnten daher niemals alles enthüllen, ja den Menschen noch nicht einmal dem totalen Wissen und Bewußtsein näherbringen. Axward akzeptierte diese Doktrin; den Grund ihrer Gültigkeit aber erkannte er darin, daß die Wissenschaft nur einen Teilabschnitt des Ganzen als ihr Betätigungsfeld erklärt hatte. »Das beste Modell des Universums ist es selbst«, sagte er einmal. Doch den Beweis konnten nur die Positronenkreuzer erbringen. Seedy-Lowell hob den Blick zu den gestaffelten Rängen des Saales. Schade, daß sie niemals erfahren würden, daß Form und Muster nur sekundär waren, und daß die Uridentität, die neue absolute Größe, die oberste aller Kategorien war. »Die archaischen magisch-mythischen Phasen ihrer Bewußtseins entwicklung mögen sie glücklich hinter sich gebracht haben, aber abgespaltet haben sie sie diesmal nicht«, dachte er zufrie den. »Nur wenn diese durchscheinen, können sie es vom 228
heutigen Mentalen einst zum integralen Bewußtsein bringen.« Dann wäre es Zeit für die Positronenkreuzer. Seedys Theorie vom Zeitquant war sein Spezialgebiet gewe sen, damals in seiner frühesten Zeit. Nun wunderte es ihn plötzlich, wieviel er davon behalten hatte. Seine Studenten akzeptierten alles, anscheinend ohne einen Bruch oder eine logische Lücke zu entdecken. War er denn nun der »reale« Seedy? – Dann wäre der Stoff, den er ihnen beibrachte, wirk lich von ihm selbst, und dies wären demnach Seedys berühmte Vorlesungen, die in die Geschichte eingehen würden. Wieder dachte er an das scheinbare Zeitparadoxon. Dann wäre die Einführung von Axwards Uridentität dereinst ebenfalls seine Aufgabe? Eines Tages würde er wahrscheinlich auch die Positronenkreuzer erfinden müssen. Es schien unglaublich. 10. Im Jahr 2689 durchbrach Zinn-Lowell zum erstenmal den Elektronenwirbel des äußeren Raums und entdeckte Xophyl und die Röhrenmänner. Hundert Jahre später bekämpfte Iljaschenko-Lowell auf den Planeten des Alpha Centauri das gefürchtete »linksdrehende Epsilon-Virus«. Dann schloß er mit den geretteten »Schlammfressern« einen Beistandspakt. So verging die Zeit, und alles lief genau nach seinem Plan. Mit Befriedigung sah er die Früchte seiner Bemühungen. Die Menschheit war anders geworden. In ihrem Blut floß die Sehnsucht nach den Sternen; ihr Blick war frei, und ihr Herr scher war ihr Geist, nicht ihre Technik. Mit dieser stand sie in enger Partnerschaft, und damit lag das Feld weit offen für die Axwardschen Gedanken. Die Zeit war gekommen für Orga nismische Psycho-Sozionetik und die Positronenkreuzer. Die Antarier würden auf keinen Fall ein leichtes Spiel haben. 229
11.
Der Start … Drei bioelektronische Supergehirne bildeten die Ursprünge eines gigantischen Ordinatensystems. Pascal VI in Göttingen, Lomonossow in Moskau und Einstein in Detroit. Das Schiff war der Schnittpunkt dieser Achsen. Der Mann, der die Ordina ten wie auf dem Konstruktionsbrett verschob, war einzig und allein Axward-Lowell. Ein leichter Geruch nach Tran hing in der Luft. Das vertraute Summen und Rasseln Wotans war wieder da, und an die Außenhaut des Sternenschiffs plätscherten Wellen. Als er endlich die Augen wieder aufschlug, sah er über sei nen Körper ein grinsendes Eskimogesicht gebeugt. »Hat ja verdammt lange gedauert«, begrüßte ihn Imu. Der Ton seiner Stimme schien besorgt und erleichtert zugleich. »Hier, schaut ihn euch nur an!« Damit brachte er durch eine Handbewegung Jeremy, Piotr Kirischenko und die beiden anderen in den Vordergrund. Jeremy tönte vorwurfsvoll, doch mit versöhnlichen Obertönen: »Sie haben das halbe Rennen verschlafen, Herr Professor. Wir haben es aber trotzdem geschafft!« Lowell erhob sich und trat ans Fenster. Das Sternenschiff schaukelte sanft in einem der grünen Ammoniakseen von Xophyl. Unter den Zwillingssonnen, die bläulich über dem Horizont standen, dehnte sich die blanke, schillernde Fläche, so weit das Auge zu blicken vermochte. Leer. Sie waren die ersten. »Was ist mit den Antariern?« »Was soll mit denen sein? Laut Einsteins Berechnungen treffen sie erst in etwa 35 Stunden hier ein«, grinste Imu. »Er hat’s auf fünf Dezimalstellen genau.« Als er Lowells erstaun ten Blick bemerkte, zog er fragend die buschigen Brauen hoch. Lowell sah ihn prüfend an. »Haben wir sie also doch noch 230
geschlagen?« »Wieso denn? Wissen Sie nicht mehr, daß wir schon kurz nach dem Start die Führung übernommen haben? Wenn man einfach nur mit Zinkdampf fliegt, kann man die Positronen kreuzer natürlich nicht schlagen. Und außerdem …« Er grinste behaglich und langte nach seinem Trankanister, worauf sich Jeremy schaudernd verzog. »… außerdem scheint ihnen ein Simultan-Raum-Zeit-Gefüge gänzlich unbekannt zu sein.« 12. Als sie mit den neuen Kultur- und Handelsabkommen zur Erde zurückkehrten, war Axward schon verschwunden. Er befand sich in einer anderen Zeit auf der Reise nach der vorletzten oder Mindel-Riss-Zwischeneiszeit. ENDE
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Bibliographische Anmerkungen ÜBER DIE ARBEIT DER AUTOREN UTOPISCHER LITERATUR – ANNO 1957. Vortrag des Autors 1957 auf dem Kongreß des Science Fiction Club Deutschland (SFCD) in Bad Homburg v. d. H. DER SUPER-ZWEIKAMPF. Geschrieben 1952. Bisher unver öffentlicht. Copyright 1952, 1985 by Jesco von Puttkamer. DER INTEGRIERENDE FAKTOR. Erschienen 1956 in UTOPIA-Sonderband Nr. 2 (Erich Pabel Verlag, Rastatt). Copyright 1956, 1985 by Jesco von Puttkamer. ZU JUNG FÜR DIE EWIGKEIT. Erschienen 1956 in UTOPIA SF-Magazin Nr. 3 (Erich Pabel Verlag, Rastatt). Copyright 1956, 1985 by Jesco von Puttkamer. WER ZULETZT LACHT. Erschienen 1956 in UTOPIA SFMagazin Nr. 4 (Erich Pabel Verlag, Rastatt). Copyright 1956, 1985 by Jesco von Puttkamer. AM ENDE DER ZUKUNFT. Erschienen 1957 in UTOPIA SFMagazin Nr. 5 (Erich Pabel Verlag, Rastatt). Copyright 1957, 1985 by Jesco von Puttkamer. DANKE FÜR DEN TIP. Erschienen 1957 in UTOPIA SFMagazin Nr. 8 (Erich Pabel Verlag, Rastatt). Copyright 1957, 1985 by Jesco von Puttkamer. HELDENTOT. Erschienen 1957 in UTOPIA SF-Magazin Nr. 9 (Erich Pabel Verlag, Rastatt). Copyright 1957, 1985 by Jesco von Puttkamer.
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HAUSIEREN VERBOTEN. Erschienen 1958 in UTOPIA SFMagazin Nr. 11 (Erich Pabel Verlag, Rastatt). Copyright 1958, 1985 by Jesco von Puttkamer. BESTIMMUNG. Erschienen 1959 in UTOPIA SF-Magazin Nr. 21 (Erich Pabel Verlag, Rastatt). Copyright 1959, 1985 by Jesco von Puttkamer. SELBST IST DER MANN. Geschrieben 1959. Bisher unveröf fentlicht. Copyright 1959, 1985 by Jesco von Puttkamer. SIMULTANZEIT. Erschienen 1958 in UTOPIA SF-Magazin Nr. 14 (Erich Pabel Verlag, Rastatt). Copyright 1958 by Ralph Anders (Bogislav und Jesco von Puttkamer). Copyright 1985 by Jesco von Puttkamer.
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NACHWORT von Jörg Weigand Das Erscheinen der kurzen Erzählung »Der integrierende Faktor« in der zweiten Ausgabe des »Utopia-Sonderbandes« (ab Ausgabe drei hieß das dann »Utopia-Magazin«) markiert das Jahr 1956 als wichtiges Datum für die deutsche Science Fiction: Abseits der damals üblichen Wege, war es dem jungen Autor Jesco von Puttkamer gelungen, seine Vorstellungen von guter Science Fiction – durchaus abweichend von den bei deutschen Autoren der damaligen Zeit üblichen Schemata – in Erzählform zu fassen und veröffentlicht zu sehen. Es war dies, neben Walter Ernstings Beginn in der SF als der Pseudoameri kaner »Clark Darlton«, fast parallel dazu der erste Schritt hin in Richtung auf eine eigenständige Entwicklung der deutschspra chigen Science Fiction nach dem Krieg. In den Folgejahren wurde Jesco von Puttkamer ein wichtiger Autor in der deutschen SF, auch wenn er nur einige Jahre lang schrieb und sein Werk vergleichsweise klein blieb, da ihn Wernher von Braun sehr bald in die USA rief, wo er heute als Programm-Manager der NASA zuständig ist für die langfristi gen Vorhaben bemannter Raumprojekte. Geboren wurde Jesco von Puttkamer 1933 in Leipzig. Das Abitur legte er 1952 ab; bereits damals hatte er zu schreiben begonnen. Anschließend begann er an der TH Aachen zu studieren, übersetzte neben dem Studium amerikanische Science Fiction und veröffentlichte 1957, also ein Jahr nach seinem Debüt in »Utopia« seinen ersten Roman: »Der Unheim liche vom anderen Stern«, bei Dörner als Leihbuch. Der Titel des Buches ist für den Inhalt zu reißerisch, denn das ist keine primitive Räuberpistole à la »Western auf der Wega«, sondern eine durchaus eigenwillig konstruierte Space Opera – für die damalige Zeit von erstaunlicher Qualität, durchaus vergleich bar mit den hochgelobten Abenteuer-SF-Romanen aus dem 234
angelsächsischen Raum. Bereits mit diesem Roman bestätigten sich die Hoffnungen, die durch die ersten Erzählungen des jungen Autors geweckt worden waren. Es erschienen fünf weitere Romane von Puttkamer, davon einer, »Das unsterbliche Universum« (1959 bei Gebr. Zim mermann), in Zusammenarbeit mit Clark Bariton. War »Gala xis ahoi« (1959 bei Dörner) noch ein durchaus humorvoll zu nennender kosmischer Reiseroman, Beschreibung einer Touri stenfahrt durch die Milchstraße, so zeigte sich in den darauf folgenden Büchern zunehmend des Autors Hang zum mystifi zierenden Philosophieren. Deutlich wurde dabei auch der Einfluß verschiedener Autoren wie der Amerikaner Robert A. Heinlein und Frederic Brown sowie der Engländer Eric Frank Russell und Arthur C. Clarke. Am meisten aber ließ sich von Puttkamer ganz ohne Zweifel von A. E. van Vogt beeinflussen, vor allem stilistisch, eine leicht erklärbare Tatsache, hat er doch eine ganze Reihe Romane und Erzählungen dieses Autors ins Deutsche übertragen. Die Vorbilder des Autors von Puttkamer gehören quasi alle der Gründergeneration der modernen SF an, kein Wunder also, wenn er seine Motivation zu schreiben in einem Brief so begründet: »Es hat mich fasziniert, Visionen und Konzeptionen der Zukunft zu schaffen, mit denen das vor uns liegende große, schwarze Unbekannte strukturiert werden konnte. Ich glaube, ich mußte schon damals nach einem Sinn unserer Existenz suchen und – wenn es keinen gab – ihr einen geben. Zukunfts szenarios niederzuschreiben erlaubte es mir, sie mir bildlich auszumalen, und damit konnte ich sie auf ihren Stellenwert inspizieren.« Am anspruchvollsten von allen seinen Büchern sind mit Si cherheit die beiden ebenfalls als Leihbücher bei Gebr. Zim mermann veröffentlichten Romane »Das Zeitmanuskript« (1960) und »Die sechste Phase« (1961). In ihnen wurde die Aktion noch weiter zurückgedrängt, dominiert mehr metaphy 235
sische Sehnsucht und Ausdeutung großer Weltenrätsel – zu anspruchsvoll im Grunde für den Unterhaltungsappetit des damaligen SF-Publikums, das sich in der Hauptsache an Heftpublikationen hielt. Wesentlich mehr lag diesem Verlan gen nach Zerstreuung der Kurzroman »Die Reise des schlafen den Gottes«, der 1960 als Band 25 in der Reihe »Terra Sonder band« erschien; in einer erweiterten Neufassung kam der Roman 1981 als »Terra«-Taschenbuch wieder auf den Markt. Der schlafende Gott, das ist der in künstlichem Tiefschlaf gehaltene Mutant Chester King, der für das irdische Raum schiff »Tellus« in schwierigen Situationen das Trumpfas bildet. In einer amerikanisch geschriebenen Umarbeitung erschien dieser Roman 1978 als »The Sleeping God« in den USA – bearbeitet als mögliche Vorlage für eine Folge der TV-Serie »Star Trek« (»Raumschiff Enterprise«). In der relativ kurzen Zeit von sieben Jahren, in denen Jesco von Puttkamer für das deutsche Publikum SF geschrieben hat, ist sein Ansehen beim Leser kontinuierlich gestiegen. Seine Veröffentlichungen seitdem sind Sachbücher wie »Columbia, hier spricht Adler« (1969), Report der ersten Mondlandung, oder »Der erste Tag der Neuen Welt« (1981), Geschichte und Perspektiven der Raumfahrt, wozu gerade eine Fortschreibung erschienen ist. Im Rückblick stellt von Puttkamers SF-Werk ein wichtiges Verbindungsglied zwischen den Anfangsjahren gleich nach dem Krieg und der heutigen Zeit dar. Dieser Autor markiert energisch den Schritt von der Trivialität zur ernst zu nehmen den Literatur. Seine Romane und Erzählungen sind heute keinesfalls veraltet, sondern lassen sich genauso angenehm lesen wie in der Zeit der Erstveröffentlichung. Nachzulesen in der Taschenbuchreihe »Utopia Classics« des Moewig-Verlags, der die Romane von Puttkamers in den letzten Jahren wieder herausgebracht hat. Zu empfehlen auch denjenigen, die da behaupten, Ende der fünfziger Jahre habe es außer Amerika 236
nern und Engländern keine guten SF-Autoren gegeben. Es gab sie, auch bei uns. Dieser vorliegende Band sammelt die in den fünfziger Jahren erschienenen kurzen Prosastücke Jesco von Puttkamers in einer vom Autor überarbeiteten Form. Puristen, die auf der damals veröffentlichten Erstfassung bestehen oder sie vielleicht zum Vergleich heranziehen wollen, seien auf das »Utopia-Magazin« verwiesen; es ist nun mal das unumstößliche Recht eines jeden Autors, seinen frühen Erzählungen in einer späteren Überarbei tung den letzten Schliff zu geben. Zwei Erzählungen, nämlich »Der Super-Zweikampf« aus dem Jahre 1952 und »Selbst ist der Mann« aus dem Jahre 1959 erscheinen hiermit zum erstenmal, eine Abrundung des Bildes dieses Autors als Kurzgeschichtenschreiber. Ebenfalls in der Sammlung enthalten, sozusagen beispielhaft, die Kurzgeschichte »Simultanzeit«, ursprünglich 1958 erschie nen im »Utopia-Magazin« Nr. 14 unter dem Pseudonym »Ralph Anders«. Jesco von Puttkamer schrieb diese Geschichte zusammen mit seinem Bruder Bogislav von Puttkamer, der heute als Jurist in Frankfurt/Main arbeitet. Ebenfalls von dem Autorengespann »Ralph Anders« erschie nen damals drei weitere Stories, nämlich »Der Fisch« (UtopiaMagazin Nr. 19), »Das Gericht« (UM 22) und »Der Anfang« (UM 24). Ferner kam von ihnen 1960 als »Utopia«-Kleinband der Kurzroman »Welt ohne Menschen« heraus. Diese Titel auch noch in den Band aufzunehmen, hätte den Umfang des Taschenbuches erheblich gesprengt. Blieb nur die Lösung, eine Geschichte, pars pro toto, hier vorzustellen – als Hinweis auf bisher praktisch unbekannte Aktivitäten Jesco von Puttkamers. Nicht vergessen werden darf hier der Text, den der Autor anstatt eines Vorworts der Sammlung mitgegeben hat, atmet er doch viel von jener fast euphorischen Aufbruchstimmung in der SF der fünfziger Jahre. Manches in den hier versammelten Erzählungen ist in der Tat besser verständlich, wenn man als 237
heutiger Leser zuvor diese einführenden Seiten gelesen hat. Jörg Weigand
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Als UTOPIA-CLASSICS Band 85 erscheint:
Hans Kneifel
Planet in Flammen
Er kommt von einer fremden Welt – und entfesselt das Inferno Ein Fremder entfesselt das Inferno Der Atomschlag hat stattgefunden. Die Welle der Vernichtung ist über die Erde gerast und hat den Platen in eine radioaktive Wüste verwandelt. Dennoch gibt es Überlebende des weltweiten Holocausts. Da ist die Besatzung der Mondstation, die den Weltuntergang unbeschadet überstand, und da gibt es eine Handvoll Men schen auf der Erde selbst, die der Vernichtung entgingen. Wenn die beiden Gruppen zueinander finden, besteht die Hoffnung auf eine Renaissance der Menschheit – und die Möglichkeit, den Fremden von den Sternen zu stellen, der letztlich für die Entfesselung des atomaren Infernos verant wortlich war.
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